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Sinnsuche und Krise

2020
978-3-7720-5721-2
A. Francke Verlag 
Horst S. Daemmrich
Ingrid G. Daemmrich

Die AutorInnen deutschsprachiger Gegenwartsliteratur erlebten zahlreiche politische und gesellschaftliche Umbrüche: die Nachkriegszeit, die Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands, das Ende des Kalten Kriegs, zuletzt die Neuen Medien und die Digitalisierung. Der Verlust sinnstiftender Ideale und festgefügter Weltbilder prägen ihre Werke, die das Unbestimmte, Unübersichtliche literarisch zu erfassen suchen. Brüche und Orientierungslosigkeit bestimmen häufig auch Stil und Struktur der labyrinthischen Erzählschichten, die mit Zitaten, künstlerischer Selbstreflexion oder theoretischen Überlegungen angereichert sind. Anhand zentraler Themen wie Selbstverwirklichung, Liebesfähigkeit und Erkenntnis verhandeln die Texte das Bemühen ihrer Figuren, sich selbst in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verorten, und eröffnen dem Lesepublikum Perspektiven für die eigene Sinnsuche in wechselvollen Zeiten.

Sinnsuche und Krise Horst S. Daemmrich / Ingrid G. Daemmrich Sinnsuche und Krise Thematische Grundkonzeptionen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-7720-8721-9 (Print) ISBN 978-3-7720-5721-2 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0110-9 (ePub) Umschlagabbildung: Mauergedenkstätte Berlin Bernauer Straße. Ansgar Koreng / CC BY-SA 4.0, Wikimedia Commons. (Ausschnitt) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® In memoriam Ingrid 1. 9 2. 15 2.1. 15 2.2. 19 2.3. 28 3. 37 4. 55 5. 77 6. 97 7. 117 8. 133 9. 157 161 1. 161 2. 166 169 Inhalt Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Blick auf die Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachdenken, Leitgedanken, Anregungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronisten des politischen Zeitgeschehens . . . . . . . . . . . . . . . Darstellungen des menschlichen Zusammenlebens im prosaischen Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die existenzielle Situation: Wirklichkeitserfahrung, Entwicklung, Krise und Verunsicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einkreisung: Anpassung und Suche nach Orientierung . . . . . . . . . . . . . . Kritik der politischen und gesellschaftlichen Verfassung . . . . . . . . . . . . . Selbstverwirklichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbsterkenntnis: Bewusstsein des historischen Augenblicks . . . . . . . . . Spiraltendenz, Horizonterweiterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sinndeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literarische Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung ‚Bewundert viel und viel gescholten‘, diese Selbstdeutung Helenas in Goethes Faust II trifft sicherlich auf die deutschsprachige Gegenwartsliteratur zu. Sie steht anderen Literaturen gleichrangig zur Seite, hat Weltniveau und ist weg‐ weisend in einzelnen Werken. Dieses Urteil prägt zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen und Darstellungen einzelner Autor(inn)en. Demgegenüber beklagt eine beachtliche Zahl von Kritikern die Entwicklung der deutschen Literatur seit den fünfziger Jahren und attestiert ihr ein Versagen vor den wesentlichen Anliegen unserer Zeit. Die Vorbehalte sind widersprüchlich. Sie beanstanden, dass Texte einzelner Schriftsteller und Schriftstellerinnen ein einseitiges politisches Engagement zeigen. Außerdem bedauern sie die ermü‐ dende Kritik der Konsumgesellschaft und die fehlende europäische Perspektive in einzelnen Erzählungen und Bühnenstücken. Einige Kritiker loben, andere tadeln das ausgeprägte politische oder philosophische Engagement spezifischer Texte. Einzelne Rezensionen in der Presse messen die Werke an Übersetzungen amerikanischer Bestseller und sprechen von Kursverlust, schwer zugänglichen experimentellen Erzählungen, der Bindung an die Apokalypse in der Vergan‐ genheit und einer zweiten ‚Stunde Null‘. Die deutschsprachige Literatur im Spannungsfeld der Zeit ist mehr als ein Land, eine Nation oder die biographisch deutbare Verwurzelung einzelner Autoren und Autorinnen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sie schließt vieles und Widersprüchliches ein: etablierte Schriftsteller, die bereits in den Nachkriegsjahren Anerkennung fanden; Neuerscheinungen von älteren Autoren, die erhärtete Urteile und Vorurteile widerlegen; neue Auflagen von Wolfgang Borchert, Bertold Brecht, Alfred Döblin, Hermann Hesse und Thomas Mann; einzelne Veröffentlichungen von Autoren und Autorinnen wie etwa Birgit Vanderbeke, Manfred Bieler, Horst Bienek, Ulla Hahn und Stefan Hermlin, deren Stil zuweilen an das frühe 20. Jahrhundert erinnert; Texte, die auf Best‐ sellerlisten im In- und Ausland aufgeführt werden; avantgardistische und traditionsverpflichtete Werke; und schließlich die jüngste Generation, die sich durchaus selbstbewusst von der vorausgegangenen abhebt. Allgemein besteht die Tendenz, von Autor(inn)en ein wie auch immer gear‐ tetes gesellschaftliches, politisches oder historisches Engagement zu erwarten. Selbst in durchaus positiven Bewertungen der Gegenwartsliteratur klingt der Wunsch an, die Literatur solle deuten und dem Leben eine neue Sinnstiftung vermitteln. So entsteht der Eindruck, die Literatur werde an ihrer „Stellung‐ 1 Vgl. Fritz J. Raddatz. Zur deutschen Literatur der Zeit 3: Eine dritte deutsche Literatur. Stichworte zu Texten der Gegenwart. Reinbek: Rowohlt, 1987. 9. Die Rezensionen erschienen in maßgebenden Zeitschriften und Literaturmagazinen, u. a. Berliner, Leip‐ ziger, Süddeutsche Zeitung, FAZ, Spiegel. nahme“ gemessen. Beispielsweise kritisiert Fritz J. Raddatz die Konzentration der „westdeutschen“ Literatur auf subjektive Nuancen in der Figurengestaltung, die Ich-Suche und die Nichtbeachtung des politischen Horizonts. Im Gegensatz zu diesen Tendenzen findet er in den Schriften übergesiedelter DDR-Autoren und Autorinnen die bewusste Auseinandersetzung mit den wesentlichen Fragen der Zeit. „Es gibt eine dritte deutsche Literatur. Nach Jahren, in denen von einer ‚zweiten deutschen Literatur‘ - also der DDR-Literatur - gesprochen und in denen die Abgrenzungen der beiden Literaturen wie ihre gegenseitige Durch‐ dringung, auch Befruchtung diagnostiziert wurde, kann über den aktuellen Stand der literarischen Szene gesagt werden: Die zeitgenössische westdeutsche Literatur sieht den Menschen als genetischen Code, die Welt als ein System ohne Zukunft, die Kunst als Rätsel. Beide deutsche Literaturen bestimmen wesentlich Verkrochenheit, Ich-Bezogenheit und Aufarbeiten von Mythen und Träumen. Zwischen ihnen hat sich als besondere Kraft ‚eine dritte deutsche Literatur‘ etabliert - es ist die jener Autoren, die aus der DDR in die Bundesrepublik übergesiedelt sind … es sind Schriftsteller, die ihre historische Erfahrung, ihre politische Bildung und ihre moralische Interventionslust nicht als Gepäck an der Mauer abgegeben haben“. 1 Die durchaus selbstbewusste Rolle der Literatur tritt in Reflexionen, Hin‐ weisen und Aussagen über Texte in den Vordergrund. Sie ist maßgebend in der politisch-sozial bestimmten Gruppenidentität von Autoren im Westen und Osten. Sie ist richtungsweisend im Anspruch, entweder direkt politisch engagiert zu sein oder indirekt die empfundenen Fehlentwicklungen steuern zu können. Selbstsicher sind die zunehmenden Autorenlesungen, die literarische Kanonisierung der Gruppe 47, die an die tradierte Literaturgeschichtsvorstel‐ lung anschloss und darüber hinaus die gegenwärtigen Literaturtheorien berück‐ sichtigte und einbezog. Hinweise und Beobachtungen in Veröffentlichungen nach den sechziger Jahren veranschaulichen die fortgesetzte Auseinanderset‐ zung mit den literaturtheoretischen Erörterungen. Im Osten liegt die Betonung der Diskussionen auf der gesellschaftlichen Verantwortung der Autoren und der adäquaten Wirklichkeitsgestaltung, im Westen auf der gesellschaftskritischen Aufgabe der Literatur und der durch die zunehmend empfundene Verunsiche‐ rung in der Wahrnehmung der Wirklichkeit ausgelösten Suche nach immer 10 1. Einführung 2 Die Debatten über die Vielfalt der realistischen Schreibweise (Brecht), den Standort des Erzählers (Adorno), den nouveau roman (Butor, Robbe-Grillet, Sarraute), die Bitter‐ felder Konferenzen wie auch das deutsch-französische Schriftstellertreffen in Vézelay hinterlassen deutliche Spuren in Darstellungen, obwohl Autoren wie beispielsweise Jochen Beyse, Ulla Hahn, Radek Knapp, Herbert Rosendorfer, Peter Steiner, Urs Widmer oder Gerhard Zwerenz literarisch anspruchsvolle Erzählungen ohne theoretische Be‐ merkungen gestalten. 3 Günter Kunert. „Der Sturz vom Sockel. Zum Streit der deutschen Autoren.“ FAZ. 3.9.1990. 4 Horst S. Daemmrich. Vergangenheit. Perspektiven in der deutschsprachigen Gegenwarts‐ literatur. Tübingen: Narr Verlag, 2017. Die Darstellung belegt, dass die Auseinanderset‐ zung mit der Vergangenheit in der gesamten Gegenwartsliteratur eine wichtige Rolle spielt. Da für die Figuren damit häufig auch Fragen der Sinnsuche und Selbstfindung neuen Darstellungsformen. 2 Kurzgeschichten und Erzählungen übernehmen Elemente aus den Medien und dem Internet in die Substanzschichten der Texte. Die Vorherrschaft der Literatur wird von der Gesellschaft sanktioniert: Die Zahl der Literaturpreise geht schwunghaft in die Höhe; Übersetzungen ausländischer Bestseller erzielen beachtliche Auflagen; Zeitschriften veröffentlichen kritische Diskussionen von Autoren und Autorinnen und Lesungen werden selbst Ge‐ genstand einiger Erzählungen. Die Gegenwart schließt ein die Nachkriegsjahre, ein geteiltes und wieder‐ vereintes Deutschland, politische Proteste, gesellschaftliches Engagement, das Ende des ‚Kalten Krieges‘, die Auseinandersetzung mit literaturtheoretischen Überlegungen und immer im Schnittpunkt die Frage der Selbstverwirklichung in der Gegenwart. Günter Kunert referiert 1990: „Noch ist unbemerkt geblieben, dass ein wesentliches Ereignis, an dem doch alle teilnahmen, allen Schriftstel‐ lern, hier wie da, die Plattform entzogen hat, auf der sie noch zu stehen glaubten. Gemeint ist das Ende des ‚Kalten Krieges‘, das Ende der Teilung Europas, das Ende der Spaltung Deutschlands. Kurz gesagt: Der Bedarf nach politischer Aktivität von Schriftstellern ist unvermittelt erloschen … Nun ist die Literatur nichts anderes mehr als Literatur - kein Zeugnis für oder gegen etwas, kein Mittel für irgendwelche undurchsichtigen Zwecke.“ 3 Zustimmung und Beanstandungen betreffen allgemein die Erzählverfahren und Themenstellungen der Gegenwartsliteratur. Sie illustrieren einen kontinu‐ ierlichen Dialog mit der Literatur. Die Literatur stellt Fragen, sie kann nicht immer Probleme lösen. Die Themenforschung beleuchtet Gemeinsamkeiten im Rahmen kompositorischer Differenzen. Die vorliegende Untersuchung ist der zweite Band der Bestandsaufnahme: „Sechs Jahrzehnte Grundkonzeptionen und wegweisende thematische Entwürfe in der deutschsprachigen Gegenwarts‐ literatur unserer Zeit“. Der erste Band behandelte das zentrale Thema der Vergangenheit und die mit ihm eng verknüpften Motive. 4 Der zweite Band 11 1. Einführung damit verbunden sind, kommen die in Vergangenheit behandelten Werke und Beobach‐ tungen hier gelegentlich wieder zur Sprache. 5 Urs Widmer. Die sechste Puppe im Bauch der fünften Puppe im Bauch der vierten Puppe und andere Überlegungen zur Literatur. Grazer Poetikvorlesung. Graz, Wien: Droschl, 1991. 75. verdeutlicht, dass die Literatur heute, selbst im Zustand der Krise, an die literarische Tradition anschließt. Die Literatur unserer Tage schildert, was die Literatur zu allen Zeiten beschäftigte: menschliche Erfahrungen, Alltags- und Ausnahmesituationen, Liebe und gestundete Zeit, Jugend und Altern. Im Mit‐ telpunkt der Darstellungen stehen des Öfteren Auseinandersetzungen mit drei Themen: Selbstverwirklichung, Liebesfähigkeit und Erkenntnis. Diese Themen veranschaulichen dem Lesepublikum einen begehbaren Weg zur Bejahung des Lebens. Die vorliegende Darstellung verfolgt besonders wiederkehrende Kontraste und thematische Grundkonstellationen: Ich-Suche / Kontaktlosigkeit, Anpas‐ sung / Auflehnung, Liebe / Liebesverlust, politisches Engagement / Flucht ins Abseits, Jugend und Zukunftsvertrauen / Altern und Leiden, aber auch Bejahung eines erfüllten Lebens, Dialog mit der Vergangenheit, Selbstbejahung und Welterkenntnis. Im Vordergrund unserer Betrachtung stehen Werke, in denen sich kein Missverhältnis nachweisen lässt zwischen dem, was sich die Autoren und Autorinnen vorgenommen und dem, was sie erreicht haben. Die Qualitäten ihrer Prosa, ein Deutsch von größter Präzision und höchster Suggestibilität, lassen die Fülle vorüberfliegender Eindrücke der Massenmedien verstummen. Aus der Sicht der Themengeschichte stehen die Erzählungen unter dem Dreigestirn Ver‐ gangenheit, Gegenwart und Zukunft. Urs Widmer stellt fest: „Ohne Geschichte entsteht keine Literatur“. 5 Dem ist hinzuzufügen, ohne genaues Sehen, form‐ gebendes Gestalten, in dem die Erinnerung zu Wort kommt, entstehen keine Erzählungen. In Goethes unverwechselbarer Diktion der Römischen Elegien hört man den Wunsch, die Vergangenheit zum Sprechen zu bringen, um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu deuten. Deutlich ersichtlich ist, dass die jungen deutschsprachigen Autoren und Autorinnen den Verlust sinnstiftender Ideale und den Zusammenbruch festge‐ fügter Weltbilder erfahren haben. Ihr Verfahren, das Unbestimmte, Unübersicht‐ liche und ständig Wechselnde im heutigen Geistesleben, in der Wissenschaft und Politik zu erfassen, bedingt thematisch die Orientierungssuche, die Ortung und Bestandsaufnahme. Es zeigt sich im Stil, in der Struktur und in der Tendenz, labyrinthische Erzählschichten mit Zitaten, mit Selbstreflexion, theo‐ retischen Überlegungen zur gesellschaftlichen Verantwortung und adäquaten 12 1. Einführung 6 Ich danke Dr. Valeska Lembke für ihre Anregungen und die sorgfältige Überarbeitung des Manuskripts. Wirklichkeitsgestaltung sowie Analysen des künstlerischen Schaffensvorgangs anzureichern. Unmissverständlich in der Vielfalt der Texte bleibt das zentrale Anliegen der Sinnsuche im Rahmen der Selbstverwirklichung, deren vielfältigen Ausprägungen im Zentrum der folgenden Darstellung stehen. 6 13 1. Einführung 2. Blick auf die Gegenwart 2.1. Nachdenken, Leitgedanken, Anregungen Die Gegenwartsliteratur verhandelt dieselben Themen wie die Literatur aller Zeiten und Räume: Liebe und Verlust, Leben und Tod, Jugend und Alter, das Alltägliche und das Außerordentliche. Sie schließt kritische Auseinander‐ setzungen mit politischen Ereignissen, der gesellschaftlichen Verfassung und den vorherrschenden Lebensbedingungen ein. Die Gegenwartsliteratur ist mit gattungstheoretischen Kategorien nur bedingt entschlüsselbar. Die Lyrik, die Bühnenstücke, Dokumentarberichte und Erzählungen werfen Fragen auf, die dem Wunsch entspringen, das Verhältnis Einzelner zu anderen, zur Gesellschaft, zur Umwelt und zum Zeitgeschehen zu klären. Sprechende, beobachtende und handelnde Figuren bemühen sich, dem Geschehen Sinn abzugewinnen und ihr Ich zu erkennen. Die fiktionale Stilisierung der Beziehungen der Figuren zur Welt lässt keine einfachen Rückschlüsse auf die Wirklichkeit zu. Trotzdem spielt die thematisierte Wirklichkeit eine wesentliche Rolle in der Dokumentarliteratur, im klinischen Realismus und in Darstellungen, in denen sich Realität und Phantomwelten in der Erfahrung der Figuren vermischen. Der Substanzverlust der Wirklichkeit wird angesprochen in Erzählungen, in denen Figuren nicht mehr zwischen Realität und Bildern auf Monitoren oder Realität und erlebten Computerspielen unterscheiden können. Die Raumperspektive gibt Aufschluss über die existenzielle Situation. Die Figuren befinden sich in Räumen, in denen andere Personen Funktionen erfüllen und in denen Lebensprozesse als Funktionen ablaufen. Die Figuren suchen Halt und versu‐ chen, ihre besondere, individuelle Eigenart festzulegen. Sie suchen jedoch nicht nur Orientierung, sondern wollen auch aus dem Prozess ausscheren. Die Darstellungen schildern übereinstimmende und diverse Einstellungen, die von unterschiedlichen Formen der Anpassung bis zur freudigen Bejahung des Lebens und Selbsterkenntnis reichen. Bereits in den Nachkriegsjahren klingt in der Literatur das Entsetzen darüber an, dass eine vorbildliche Kulturgeschichte in Kriegsgeschichte und Verbrechen gegen die Menschheit einmündete. Die Erkenntnis dieser Situation ist wahr‐ scheinlich eine der Voraussetzungen für das „Schweigen“ einer Generation über ihre Erlebnisse. Das in zahlreichen Erzählungen diskutierte Verstummen bedingt beispielsweise die Ermüdung des fiktiven Autors („der Alte“) in der 1 Günter Grass. Im Krebsgang. Eine Novelle. Göttingen: Steidl, 2002. 99. Novelle Im Krebsgang (2002) von Günter Grass. „Niemals, sagte er, hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue vordringlich gewesen sei, schweigen … dürfen.“ 1 Die Erzählung erkundet wi‐ dersprüchliche und oft unvereinbare Auffassungen der Vergangenheit und der Politik der Gegenwart, aber enthält unverkennbar die Aufforderung zur aktiven Teilnahme an der sittlichen Grundlegung der Gesellschaft. Auch Christa Wolf, die selbst Jahre nach dem Mauerfall die positiven Aspekte der kommunistischen Utopie betonte, stellt im Überblick ihrer Kindheit in Kindheitsmuster (1976) wiederholt den allgemeinen Orientierungsverlust der Bevölkerung fest. Die Menschen wurden gleichgültig, konnten niemals die „richtigen Fragen“ stellen und entwickelten das Gefühl, einem unerkennbaren Prozess ausgeliefert zu sein. Wolf ist überzeugt, dass die Situation mit dem Verlust fester Normen einsetzte. Die Suche nach sinnvollen Normen verbunden mit der scharfen Kritik des pas‐ siven Einordnens in die gegebenen gesellschaftlichen Zustände charakterisiert ausnahmslos die Schriften von Hans Joachim Schädlich. Er beanstandet das utopische Denken, das mit Hilfe wissenschaftlich-technischer Entwicklungen eine friedliche, materiell und sozial leistungsorientierte Gesellschaft anstrebte. Schädlich, ähnlich wie Wolfgang Hilbig, Monika Maron und Christoph Hein, verurteilt die Auswirkungen der bestehenden Machtverhältnisse auf Menschen, die zu Identitätskrisen führen. Personen, die sich nicht dem gesellschaftlichen „Interesse“ fügen, erfahren nicht nur die Bedrohung durch das Staatswesen, sondern erleben die einmalige, eigenartige Situation, dass die Grenzen zwischen eigenen Vorstellungen und dem Wollen der Gesellschaft durchlässig werden. Diese Erfahrung, die von Wolfgang Hilbig in Ich (1993), Monika Maron in Pawels Briefe (1999) und Günter de Bruyn in Zwischenbilanz (1992) erörtert wird, kann Vorstellungen hervorrufen, in denen Realität, Wahn und Traum verschwimmen. Die Figuren sind verunsichert, erfahren Identitätsverlust, werden mit den sie überwachenden Agenten austauschbar, fühlen sich schuldig, selbst wenn sie schuldlos sind, und erwägen letztlich die Möglichkeit, sie hätten Handlungen begangen, an die sie sich nicht erinnern können. Der Orientierungsverlust erzeugt schwere Krisen in der Sinngebung und Deutung des Lebens, die in Darstellungen der Ich-Suche markant hervortreten. Zwei 1995 veröffentlichte Erzählungen Schädlichs geißeln den totalen Verlust jeder Sinngebung im Leben. Mal hören, was noch kommt schildert die letzten Stunden eines Sterbenden, dessen ganzes Denken einschließlich kurzer Rück‐ blicke um sein Ich kreist. Die konsequente Engführung der Erzählperspektive auf die physische Existenz (Triebleben, Fäkalien, langsames Verfaulen auf der 16 2. Blick auf die Gegenwart 2 Hans Joachim Schädlich. Mal hören, was noch kommt. Jetzt, wo alles zu spät ist. Zwei Erzählungen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1995. 84. Zur zweiten Erzählung s. u. Kapitel 5. 3 Hans Joachim Schädlich. Tallhover. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1986. 56-57. 4 Hans Joachim Schädlich. Versuchte Nähe. Prosa. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1977. 65. Matratze) vermittelt den Eindruck des völligen Verlusts der Orientierung. Der Bericht, in der Tonlage kühl und verhalten, konstatiert menschliche Defizite, den Untergang von Utopien und das Ende von jeder Sinnstiftung im Dasein. Das Schließen des Sarges entlarvt auch die im letzten Satz anklingende scheinbare Neugierde („Mal hören, was noch kommt“) als Illusion. Es kommt nichts. 2 Andere Figuren finden vermeintlichen Sinn und Halt in der unbedingten Hin‐ gabe an den Staat oder eine Ideologie. Schädlich trifft den Kern des Daseins aller Agenten in der von Günter Grass gelobten Erzählung Tallhover (1986) und im Trivialroman (1998). Der Erfahrungshorizont der Figuren wird beherrscht von dem Verlauf bedrückender, an Kafkas Prozeß erinnernder Ereignisse: Agenten, Chefs, das Archiv, anonyme Briefe, Telefonate, Aggression, Schuldgefühle, wütendes Aufbegehren und Lebensangst. Wenn Madai ahnungslos ist, „muß Tallhover es in Herrn von Madais Kopf denken, damit der es weiß“. 3 Die Beobachtung von Personen „hat das Folgende ergeben, sagt Tallhover.“ „Ich bin Arzt, sagt Tallhover im Tonfall von Professor Borchardt. Arzt sagt Tallhover.“ (178) Tallhover „träumt“, will die „Wahrheit“ über sich sagen und denkt über seinen Hass und seine Sympathien: „Sand, der den gleichen Vornamen wie ich trug, stach Herrn von Kotzebue in der Stunde meiner Geburt ins Herz, in den Mund und in den Leib, weil er meine Liebe zum reinen, unbedingten Staat, die Liebe seines Gegenbildes, treffen wollte; weil er meine Stimme, die ich für dieses Ziel gebrauchen sollte, ersticken wollte; weil er mich ehe ich geboren war, im Leib meines Vaters zu töten trachtete.“ (270) Patriarchalisch verbohrt und besessen vom Staatinteresse schließt sich Tallhover am Ende in seinen Keller ein, konfrontiert ein imaginäres Oberstes Gericht und wartet auf sein Ende: „Kommt! Helft mir! Tötet mich! “ (283) So fügen sich die Figuren bis zum Schluss in ihr Schicksal, das zu bestimmen sie anderen überlassen. Das Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins in einer ausweglosen Situation bringt die Erzählung Schwer leserlicher Brief auf den Punkt, in der ein Arbeiter das Gesuch stellt, aus dem Staat entlassen zu werden, weil ihm die Genehmigung verweigert wurde, seinen schwer erkrankten Vater im „westlichen Teil der Stadt“ zu besuchen: „Ich kenn mich nicht aus den Akten.“ 4 Gleichermaßen aufschlussreich ist der Schluss des Trivialromans, als sich der Verbrecher Feder überlegt, seine Aufzeichnungen über die Taten seiner Bande 17 2.1. Nachdenken, Leitgedanken, Anregungen 5 Hans Joachim Schädlich. Trivialroman. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1998. 156. 6 Ernst Jünger. Die Schere. Stuttgart: Klett-Cotta, 1990. 40-41. zu veröffentlichen. „Heute, genau 3 Tage nach dem Telefonat mit Biber, lag ein anonymer Brief unter meiner Tür: Feder, mach Dein Maul nicht auf, sonst schieben wir Dir Deinen Schuh rein! Du lebst nicht allein auf der Welt! Sag Dir immer: ‚Ich will nichts! Das ist es, was ich will! ‘“ 5 Feder gibt nach und besorgt sich eine Schachtel Zigaretten. Demgegenüber entwirft Ernst Jünger trotz scharfer Kritik eine positive Vorstellung der Gegenwart mit Ausblick auf die kommende Zeit in seiner Betrachtung der grundlegenden Erneuerungen der Technik, den sozialen Veränderungen und dem Wandel in den Künsten am Ende des 20. Jahrhunderts. Er hält sachlich in der Schere (1990) die Höchstleistungen auf den Gebieten der technischen Kommunikation, Medizin und Pharmaindustrie fest, findet jedoch, dass die moralischen Konsequenzen nicht eingehend genug untersucht werden. 6 Die Technik schafft jetzt, was im Vorausgriff die Mythologie, die Märchen und literarische Zukunftsphantasien festhielten. Ohne Rücksicht auf Maß oder Sicherheit nehmen Experimente ständig zu. Der allgemeine Zugang zu technischen Erneuerungen macht die Technik heute zur Weltsprache, die deutliche Spuren in den Künsten hinterlässt. Die eindringliche, unmittelbare Übermittlung von Bildern im Fernsehen und auf Monitoren erleichtert ein neues Verhältnis zur Sprache. „Das Auffluten von Bildern begünstigt ein neues Analphabetentum. Die Schrift wird durch Zeichen ersetzt, ein Verfall der Recht‐ schreibung ist zu beobachten. Vulgarisierung der Grammatik ist die Konse‐ quenz.“ (117-118) Jünger betont, dass die Symptome der Zeit deutliche Spuren in der Sprache hinterlassen, übersieht jedoch die zahlreichen literarischen Werke, in denen wie etwa in Jochen Beyses Ultraviolett (1990) und Larries Welt (1992) die Computer- und Fernsehwelt thematisch im Mittelpunkt der Darstellung steht. In diesen Erzählungen wird das in Computerspielen nachempfundene Leben zur Chiffre für den Identitätsverlust. Jünger hebt mehrmals die „Vereinzelung“ der Menschen hervor, hat jedoch festes Vertrauen, dass das Universum im Prinzip „harmonisch“ ist und sich unendlich in der Zeit in einer Spiraltendenz entfaltet. „Die erste Bewegung, etwa pulsierend vom Punkte zum Kreis und vom Kreis zum Punkte, oder windend vom Punkt zur Linie und Sprache, erzeugt nicht das Universum, sondern schließt es ein. Noch ist die Zeit ein Meer ohne Ufer, geräumig für alles, was je erscheinen und auch für das, was verborgen bleiben wird.“ (184) Einzelne Schriftsteller sind politisch engagiert, manche sind überzeugt, dass sie den Staat nicht lenken können und andere gehen auf zurückliegende 18 2. Blick auf die Gegenwart Kontroversen über die Aufgaben der engagierten oder unpolitischen Literatur und literarische Positionsbestimmungen ein. Autor(inn)en sind jedoch nahezu ausnahmslos von der gesellschaftlichen Verantwortung der Schriftsteller über‐ zeugt. Die Literatur soll unterhalten, aber auch das Leben deuten, scheinbar undurchschaubare historische Prozesse dechiffrieren und nicht kommentarlos widerspiegeln. Die Kritik des Wirtschaftswunders wird ersetzt durch die Selbst‐ besinnung auf das Leben im Informationszeitalter, die Kritik des politischen Systemzwangs tritt in den Hintergrund und Deutungen der Anpassungssymp‐ tome nehmen zu. In Texten, in denen die Einvernahme in die heutige von den Medien maßgebend bestimmte Gesellschaft abgelehnt wird, folgt der Rückzug auf das Ich und die damit verknüpfte Ich-Erkundung. Wenn sich das Ich als gefährdet erweist, entstehen einerseits Versuche, das Dasein ersatzweise mythologisch zu befestigen, andererseits konzentrieren sich die Texte auf alle mit der Selbstverwirklichung verknüpften Themen. Die Konzentration auf das Leben heute, die alltäglichen Freuden und Sorgen, die jüngste Vergangenheit in den deutschsprachigen Ländern und das Schicksal des unbehausten Menschen im Bild einzelner Emigranten, Immigranten oder Vertriebener verbindet die Literatur. Bei allen Unterschieden - Radek Knapp erzählt Geschichten wie Isaac Bashevis Singer, Peter Handke orientiert sich an Goethes Naturbeobachtungen und Jochen Beyse übertrifft William Gibson - zeichnen sich bemerkenswerte Parallelerscheinungen in Themen ab. Die thematische Orientierung und die Motivkreise schaffen Gemeinsamkeiten, die trotz großer stilistischer Unterschiede die Gegenwartsliteratur prägen. 2.2. Chronisten des politischen Zeitgeschehens Die Erörterungen, ob 1945 die ‚Stunde Null‘ war, ob 1989 eine umgreifende Zei‐ tenwende einleitete, Beobachtungen zum wechselvollen, langwierigen Prozess des Zusammenwachsens des ehemals geteilten Landes und Diskussionen über Kontinuität und Neuanfang der Literatur sind auch heute nicht abgeschlossen. Für Dieter Wellershoff stellt 1945 eine klare Zäsur im deutschen Geistesleben dar. Er entwickelt diese Vorstellung in Aufsätzen zur Gegenwartsgeschichte, zur Zeitenwende und zur Wiedervereinigung. Die Texte sind ein Appell an die Vernunft. Wellershoff befürwortet die Demokratie und bestehende Verfas‐ sung als positive Entwicklung in Deutschland, nimmt Stellung zu Gewalttaten gegen Ausländer und lässt wiederholt Rückblicke auf die Vergangenheit in 19 2.2. Chronisten des politischen Zeitgeschehens 7 Dieter Wellershoff. Angesichts der Gegenwart. Texte zur Zeitgeschichte. Mainz: Hase & Koehler, 1993. 8 Dieter Wellershoff. „Das Kainsmal des Krieges“ in: Merkur 52, Heft 3 (1998): 261-267. Zitat 266. 9 Günter de Bruyn. Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht. Frankfurt a. M.: Fischer, 1996. 256. die Erläuterung einfließen. 7 Sein Kurzbericht über ein Gespräch mit einem japanischen Germanisten in Berlin verdeutlicht, dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit den Hintergrund all seiner Darstellungen bildet. Der japanische Professor sagte: „Die sogenannte Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer Vergangenheit sei würdelos, denn man kritisierte seine Eltern nicht. Ich antwortete ihm, man nehme seine Eltern nur solange als lebendige, verant‐ wortungsfähige Menschen wahr, solange man sich mit ihnen auseinandersetze, und historische Wahrheit könne nur im Gespräch der Generationen gefunden werden.“ 8 Im Gegensatz zu Wellershoff sind zahlreiche Schriftsteller fest davon über‐ zeugt, dass die Exilliteratur, die Dichtung und einzelne Autoren wie etwa Gerhart Hauptmann eine Brücke zur Vergangenheit schlugen. 1945 bot wie die Wiedervereinigung die Möglichkeit zum Bruch mit der herrschenden Ideologie und die Chance zur geistigen Erneuerung. Jurek Becker, Günter de Bruyn, Günter Grass, Peter Hacks, Karl Krolow und Martin Walser glauben an eine nationale Kultur, die ihre Wurzeln im Denken der Aufklärung und Klassik hat, und die weder durch die propagierten Ziele des NS-Staats noch die DDR-Utopie einer sittlich-harmonischen Gesellschaftsordnung beseitigt wurde. Die politi‐ schen Maßnahmen der Regierungen verdeutlichten den Widerspruch zu den Endabsichten. Günter de Bruyn bemerkt nüchtern in seinem Lebensbericht, dass nicht alle seine Meinung teilen, betont jedoch: Die SED-Theorie von den zwei deutschen Nationen mit den zwei deutschen Kulturen, von denen die eine der anderen auch noch um eine Geschichtsepoche voraus sein sollte, hatte meine Überzeugung nicht ändern können, daß auch während der staatli‐ chen Teilung die eine Nation noch immer bestand. Ich glaubte nicht an die Möglichkeit einer baldigen Wiedervereinigung, wohl aber an die Beständigkeit einer nationalen Kultur. Meine Ansicht, daß nicht in Jahrzehnten zerstört werden könne, was sich in Jahrhunderten gebildet hatte, fand ich auch darin bestätigt, daß die Mauer und die politische Einbindung in den kommunistischen Osten keine Russifizierung zur Folge gehabt hatte und der Blick der DDR immer, ob freundlich oder feindlich, auf den freieren und größeren Teil Deutschlands gerichtet war. 9 Auch Schädlich lehnt jede Trennung zwischen DDR- und BRD-Literatur ab. Er weiß aus eigener Erfahrung, dass es eine Literaturpolitik in der DDR gab. 20 2. Blick auf die Gegenwart 10 Hans Joachim Schädlich. „Über systematische Irrtümer“ in: Über Dreck, Politik und Literatur. Aufsätze. Reden, Gespräche, Kurzprosa. Berlin: Colloquium, 1992. 74. 11 Volker Braun. „Bleibendes“ in: Texte in zeitlicher Folge. Halle, Leipzig: Mitteldeutscher Verlag, 1990. 2; vgl. dazu die Erklärung im „Brief an die Klasse 11 der EOS Ribnitz-Daum‐ garten“ (1970) in: ebd. 102-104. Trotzdem ist er überzeugt, dass Autor(inn)en gesamtdeutsche Werke schufen und gesamtdeutsch dachten. „Beide zusammen sind Deutschland.“ 10 Diese von vielen geteilte Überzeugung übergeht Ereignisse wie die Aus‐ bürgerung Wolf Biermanns 1976, die von Kritikern und Befürwortern kontro‐ vers diskutiert wurde, und die langjährigen Entwürfe über die Aufgaben der Schriftsteller und die Realismus-Diskussionen in der DDR, die nach der Wie‐ dervereinigung in Vergessenheit gerieten. Wie jede Kunst wurde die Literatur und Verantwortung der Autor(inn)en auf Parteitagungen besprochen. Schriftstellerverbände waren der Partei angeschlossen. Die Einstellungen der Par‐ teifunktionäre und Theoretiker waren richtungsweisend und sollten befolgt werden. Die Erörterungen betreffen weitgehend Fragen der ‚wahrheitsgetreuen Wiedergabe‘ der Wirklichkeit, das ‚gesellschaftliche Interesse‘ und die ideelle Erziehung der Werktätigen. Übereinstimmung herrscht darüber, dass die Lite‐ ratur auf die wesentlichen Anliegen der Zeit eingehen muss und keinen fatalisti‐ schen Eindruck erwecken soll. Diese Ansichten kommen deutlich zum Ausdruck in der vom Mitteldeutschen Verlag 1959 einberufenen Autorenkonferenz im Industriezentrum Bitterfeld (Bitterfelder Konferenz). Eine zweite Konferenz folgt 1964. Die Teilnehmer sind Schriftsteller, Korrespondenten, schreibende Arbeiter und viele Funktionäre. Die Forderungen sind eindeutig und verlangen das Mitwirken am Aufbau des sozialistischen Staates, Bejahung der politischen Ziele der Regierung, enge Beziehungen der Autoren zu Gegenwartsfragen, den Kampf gegen das Überlebte, aber auch Rückbesinnung auf das klassische Erbe. Das Resultat war ein politisch orientierter Oberflächenrealismus, der ohne Wirkung auf die nicht staatlich geförderte Literatur blieb. Volker Braun ist der entschiedenste Befürworter einer eigenständigen DDR. Er ist überzeugt, dass die sozialistische Gesellschaft im Gegensatz zur bürgerli‐ chen und zum Kapitalismus im ‚gesellschaftlichen Interesse‘ wurzelt. Er nimmt zur Kenntnis, dass die utopische Verheißung höchster Sittlichkeit möglicher‐ weise noch nicht völlig realisiert ist. Trotzdem ist die Gesellschaft im Werden und auf dem Weg zur Vervollkommnung. Braun kritisiert die „Selbstzufrieden‐ heit“ der Bürokraten und Sozialisten, die nicht mehr tätig an der Entwicklung der Gesellschaft mitwirken. 11 Das wahre Ziel liegt in der Zukunft. Das bisher geleistete genügt nicht: „In den Hallen früh, auf dem breiteren Feld, uns bleibt / Immer der Kampf: und es bleibt die Zeit des Volkes.“ (69) Brauns schärfste, ein‐ 21 2.2. Chronisten des politischen Zeitgeschehens seitige und teils unreflektierte Kritik in Unvollendete Geschichte (1975, 1988) und KriegsErklärung (1967) ist gegen den Kapitalismus, das Wirtschaftswunder und den Vietnamkrieg gerichtet. Aber Brauns Darstellung im Hinze-Kunze-Roman (1985) vermittelt den Eindruck, es sei anmaßend anzunehmen, das ‚gesellschaft‐ liche Interesse‘ verkörpere eine objektive Gesetzmäßigkeit. Matthias Matussek betrachtet nicht die Literatur, sondern die Einstellung der ehemaligen Bürger der DDR. Er legt zehn Jahre nach dem Fall der Mauer im Spiegel (8.3.1999) eine Zwischenbilanz unter dem Titel „Keine Opfer, keine Täter“ vor und kommt zu dem Fazit, dass in der Erinnerung vieler, besonders der Nutznießer, die DDR-Zeit beschönigt und rehabilitiert wird. Die Opfer sind ver‐ gessen. Wie schon nach dem Ende des NS-Staats werden Zweifel und kritische Fragen mit dem Hinweis abgewiesen: Man muss das eben selbst erlebt haben. Die Beteiligten empfinden sich nicht als Täter, sondern als Leidtragende. Diese Diagnose findet sich auch in literarischen Darstellungen der DDR. Thomas Brussig und Uwe W. Schmidt schildern in humoristischen Erzählungen das all‐ tägliche Leben in der DDR aus der Sicht von Nutznießern und Personen, die das System bejahten, ohne wie etwa Volker Braun, Stephan Hermlin oder Christa Wolf über die Utopie der neuen gesellschaftlichen Ordnung nachzudenken. Die Erzählungen verdeutlichen wahrscheinlich unbeabsichtigt das „Vor-sich-Hin‐ leben“ im Alltag, das in Auseinandersetzungen mit der kritiklosen Anpassung an die Gesellschaft im Mittelpunkt der Betrachtung steht. Brussigs Geschichten Helden wie wir (1995) und Am kürzeren Ende der Sonnenallee (1999) verdeutlichen die Einstellung von Menschen, die sich über Wasser halten, die täglichen Sorgen meistern, ein „bisschen“ schmuggeln und schwindeln und sich weder vom Staat noch von der Stasi bedroht fühlen. Die Erzählungen versuchen, ähnlich wie Uwe M. Schmidts Die Datsche oder Wie der 2. Sekretär der SED-Bezirksleitung Kahlow beinahe die DDR gerettet hätte (2000), im Lesepublikum das Gefühl erwecken: Ja, so war das. Das Ganze war doch erträglich. Uwe Schmidts Datsche fängt den Mentalitätswandel in der Einstellung zur DDR-Vergangenheit ein. Der Roman, zehn Jahre nach der Maueröffnung ge‐ schrieben, entwirft ein Bild alltäglicher Sorgen, gleichermaßen wichtiger und unwichtiger Bemühungen im Leben von DDR-Bürgern. Die Hauptfigur, Ewald Machmann, nimmt sich vor, die Einwohner Kahlows durch eine großangelegte Kleingartenplanung fester an ihre Heimat zu binden. Die Planung der Schreber‐ gärten im Sperrzonengebiet steht unter dem Motto: Wer im eigenen Grünen pflanzt und erntet, bleibt im Land. Die Banalisierung der sozialistischen Utopie erstreckt sich auf die Charakterisierung der Figuren. SED- und MfS-Funktio‐ näre wirken nicht bedrohlich. Sie haben dieselben Sorgen wie alle Bürger: materiellen Wohlstand, Liebeleien, nicht ernst zu nehmende Sollerfüllung und 22 2. Blick auf die Gegenwart Erfolg durch Anpassung. Was Schmidt besonders gut darstellt, ist der Geist des Kleinbürgerlichen, der den Staat beherrscht. Das von oben proklamierte gesellschaftliche Interesse verflacht im Alltag zu rein persönlichen Anliegen. Auch die von Funktionären ständig betonte Forderung der Sicherheit, die im sozialistischen Staat den geordneten Verlauf des Lebens garantiert, mündet in die Vorstellung der Einwohner, der Staat sei eine Lebensversicherungsanstalt. So erklärt sich auch die Nostalgie, mit der sich die Eheleute Katja und Ewald Machmann im Ausblick der Erzählung auf die Zeit nach der Wende an das Leben in der DDR erinnern. Sie sehnen sich nach den guten alten Zeiten und fragen sich, „ob die DDR nicht doch noch zu retten gewesen wäre.“ (254) Die nachdrückliche Betonung der kleinbürgerlichen Atmosphäre lässt alles ehemals Bedrohliche und Unmenschliche in Vergessenheit geraten und fängt auf diese Weise kunstvoll eine in den neuen Bundesländern verbreitete Vorstellung ein. Zugleich zeigt gerade Schmidts Erzählung, wie fremd die Vergangenheit bereits vielen Lesern ist: Das Buch endet mit Erklärungen, einem Glossar der gängigen DDR-Abkürzungen und Phrasen. Diese und ähnliche Apologien der DDR sind letztlich Versuche, aus der Sicht all derer zu schreiben, die sich anpassten und Karriere machten. Die Besinnung auf die existenzielle Situation der Menschen ist dennoch deutlich erkennbar in der scheinbar unbeteiligten Genauigkeit, mit der Volker Braun den Zusammen‐ bruch der kollektiven Identität im sozialistischen Staat schildert. Der Blick auf die Forderungen des Tages kennzeichnet nicht nur Braun, sondern auch die Vielfalt der Erzählhaltungen in Prosatexten und der Handlungsentwicklung in Stücken. Er ist deutlich in der leidenschaftlichen Teilnahme Monika Marons für die Erzählfigur in Animal triste (1996), die weder den Gigantismus der Saurier noch die absolut rationale Organisation der Ameisen in der menschlichen Ge‐ sellschaft wiederfinden will, und selbst in den von Thomas Bernhard stilisierten Monologen des atemlosen Sprechens, die leicht variiert in Erzählungen von Jochen Beyse und Birgit Vanderbeke die Vereinsamung Einzelner erfassen. Die ungelösten Gegensätze, unvereinbaren Widersprüche und fortbestehenden Probleme klingen in zahlreichen Erzählungen und Stücken an, in denen die Wiedervereinigung, der Mauerfall und die Mutmaßung einer ‚Zeitenwende‘ oder ‚Wendezeit‘ das besondere Kolorit für die menschliche Situation liefern. Thomas Hettche verwertet in Nox (1994) Details aus Augenzeugenberichten und Tagesnachrichten in Dokumentation eines Tages (9. November 1989). Die Ausschnitte fangen die Aufbruchsstimmung ein und vermitteln das Gefühl eines Volksfests, einer fröhlichen Anarchie. Die Zukunft wirkt hoffnungsvoll. In Ulrich Woelks Rückspiel (1993) erlebt der Ich-Erzähler, ein Architekt, die Maueröffnung am Brandenburger Tor. Woelk hält mit dokumentarischer Genau‐ 23 2.2. Chronisten des politischen Zeitgeschehens igkeit die zeitgenössischen Pressestimmen fest, in denen sich die verschiedenen Einschätzungen der Ereignisse spiegeln. Der Fall der Mauer ist aus westlicher Sicht ein Symbol für das Ende der Unterdrückung, aus der Sicht der Bürger der DDR ein Signal für den Aufbruch in die Konsumgesellschaft. Diese wie auch die Erzählungen von Brigitte Burmeister Unter dem Namen Norma (1994), Günter de Bruyn Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin (1992), Rita Kuczynski Mauerblume. Ein Leben auf der Grenze (1999), Heiner Müller Krieg ohne Schlacht (1992), Irina Liebmann Berlin (1994), Erich Loest Der Zorn des Schafes. Aus meinem Tagewerk (1990), Hans Pleschinski Ostsucht. Eine Jugend im deutsch-deutschen Grenzland (1993), Uwe Timm Johannisnacht (1996) und Klaus Schlesinger Trug (2000) bieten einen kaleidoskopischen Blick auf einen Abschnitt deutscher Geschichte. Vor Augen tritt die miterlebte Geschichte, ein Augenblick im Ablauf eines his‐ torischen Prozesses, der sich noch der Deutung entzieht. Diese Erzählungen, zu denen auch Andreas Neumeisters Ausdeutschen (1994) und Matthias Zschokkes Der dicke Dichter (1995) gehören, sind zugleich erste Ansätze, im Querschnitt durch das Leben der Einwohner einer Stadt moderne Zeitromane zu schreiben. Zschokkes dicker Dichter strebt nach Genauigkeit, indem er ruhig beob‐ achtet und aus der Distanz Stellung nimmt. Neumeisters Berichterstatter-Figur fährt unermüdlich durch Berlin, will alles aufnehmen, erkunden und erklären, das heißt „ausdeutschen“. Sie verliert jedoch die Orientierung im Strudel aktueller Nachrichten, Momentaufnahmen aus den Medien, den Bereichen der Philosophie, der Musik und der Literatur und selbst Kurzvignetten von Modeerscheinungen. Der Text verzeichnet einen Überfluss von Eindrücken, die jedoch scheinbar gleichberechtigt nebeneinander stehen und den Eindruck des Orientierungsverlusts erwecken. Das Nachdenken über die Folgen der Wiedervereinigung tritt viel stärker in den Vordergrund in den Romanen von Brigitte Burmeister Unter dem Namen Norma (1994 und Irina Liebmann In Berlin (1994). In beiden Romanen prägt die Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands den Lebensrhythmus der Figuren und beeinflusst ihre Vorstel‐ lungs- und Gefühlswelt. Konkrete historische Ereignisse erscheinen in ihren Auswirkungen. Das große geschichtliche Panorama bleibt im Hintergrund, während es bei Jurek Becker und Christoph Hein deutlich in den Vordergrund tritt. Jurek Beckers Erzählung Amanda herzlos (1992) ist wie Ein weites Feld (1995) und Mein Jahrhundert (1999) von Günter Grass eine ausgezeichnete, aufschluss‐ reiche und überzeugende Aufarbeitung der Zeit und der widersprüchlichen Vor‐ stellungen unterschiedlichster Personen. Beckers mehrschichtige Perspektive und die Gliederung in Berichten, Überblicken und Geschichte in der Geschichte vertieft die Erzählung. Der Titel „herzlos“ erfasst konzentriert die allgemeine 24 2. Blick auf die Gegenwart 12 Jurek Becker. Amanda herzlos. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992. 316-322. menschliche und gesellschaftliche Situation einer Welt ohne Karitas, Mitgefühl, Selbstlosigkeit und Hilfsbereitschaft. Der Roman veranschaulicht Amandas Leben und ihre Einstellung zur Gesellschaft aus der Sicht ihrer Ehepartner. Ihre Selbstbezogenheit und der Verlust einer sinngebenden Ordnung sind gleicher‐ maßen nachweisbar in kritischen Darstellungen des alltäglichen Lebens in der BRD und dem wiedervereinten Deutschland. Der Roman schildert außerdem die Reaktion verschiedener Figuren auf Ereignisse, die vom Staatssystem der DDR beeinflusst sind. Becker verdeutlicht nuanciert und überzeugend die unterschiedlichen Einstellungen zum System. Amandas Mutter Violetta Zobel kann nur die Schlagworte der Partei wiederholen und ist fest überzeugt, dass die Welt des Kapitalismus untergehen wird. 12 Humoristisch eingefärbt sind die Feststellungen des Anwalts Kraushaar, der eine DDR-Bürgerin heiratet und unter größten Schwierigkeiten in die Republik übersiedelt. Die Ehe ist ohne Bestand und hinterlässt in ihm die feste Überzeugung, dass die Menschen in dem System verurteilt sind, unmündig zu bleiben. Glauben Sie mir, sagte er, diese Leute sind für ein Leben in freier Wildbahn verdorben. Sie sind es gewohnt, in Gehegen zu existieren, alles Unerwartete versetzt sie in Panik … Ich habe vergessen zu erwähnen, daß diese Menschen kein Erbarmen kennen. In der Schule hat man ihnen eingebleut, daß das Mitgefühl im Kapitalismus den sicheren Tod bedeutet, und diese Lehre ist ihnen als einzige im Gedächtnis geblieben. Unsere Ehe bestand aus zwei Halbzeiten. In der ersten habe ich sie im Fach Lebensart unterrichtet; in der zweiten hat sie mir eine Lektion im Fach Gnadenlosigkeit erteilt. (299) Im ‚ersten Bericht‘ beschreibt der Journalist Ludwig Weniger für den Schei‐ dungsanwalt sein Leben mit Amanda. Er konzentriert sich auf ihre Schwächen, enthüllt jedoch zugleich seine eigenen. Die Ehe mit Amanda besteht aus ständigen Reibereien, weil sie es darauf anlegt, ihn zu ärgern. In ihr steckt „eine Niedertracht“, die keine Anstöße braucht, sondern „einfach da ist“. (72) Das Gesamtbild erfasst nur negative Eigenschaften: Amanda ist kalt, gefühlsarm, ei‐ gensinnig, berechnend, rechthaberisch und grenzenlos im Streit. (96) Außerdem lebt Ludwig, der sich völlig an das System angepasst hat, in ständiger Angst, dass die Ehe seiner Karriere schadet. Amanda versucht, als Schriftstellerin Karriere zu machen und nimmt Kontakt mit einem westdeutschen Verlag auf. Ludwig ist neidisch, liest heimlich in dem Manuskript und beurteilt es als misslungen. Seine Abneigung nimmt zu, als ihn Norbert, ein Stasi-Informant, wegen seiner Frau zur Rede stellt. Seine Reaktion verdeutlicht, dass er selbst alle negativen Eigenschaften hat, die er Amanda zuschreibt. Er ist außerdem bereit, seine Frau 25 2.2. Chronisten des politischen Zeitgeschehens 13 Jurek Becker. Nach der ersten Zukunft. Erzählungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1980. 169. zu bespitzeln, ist roh und will nur bewundert werden. Insgesamt entspricht sein Verhalten dem des Schriftstellers Fritz Hetmann, mit dem Amanda neun Jahre verheiratet ist. Hetmanns Bericht wiederholt und erweitert Ludwigs Beobachtungen. Het‐ mann ist Dissident, leistet jedoch keinen wirklichen Widerstand. Er erhält die Genehmigung, im Westen zu veröffentlichen, und lebt unangefochten in der DDR. Seine Gedanken kreisen um sein Ich, nicht um die gesellschaftliche Verfassung. Er will stark und verführerisch sein, will bewundert werden und findet seine schriftstellerische Arbeit besser als Amandas, deren „gespreizte Ausdrucksweise“ langweilig wirke. (162) Er glaubt, sie leide an Erfolglosigkeit und solle über seine „Schultern sehen“. Sein Egoismus ist deutlich in der Feststellung: „Immerhin, gab es ja auch ihn, und welcher junge Mensch, der zu schreiben anfängt, hatte schon das Privileg, in unmittelbarer Nähe eines leib‐ haftigen Schriftstellers zu leben.“ (178) Diese Feststellung wie auch alle Hinweise auf die persönliche Haltung, die politische und allgemeine gesellschaftliche Situation erweitern die Dokumentation unerfreulicher Ehen schließlich zu einer umfassenden Darstellung verfehlter Selbstentwicklung in der Gegenwart, die sowohl das Leben in der DDR als auch im wiedervereinten Deutschland kritisiert. Becker beschreibt das lustlose Vor-sich-Hinleben im quälenden Alltag glei‐ chermaßen eindringlich in den Erzählungen Der Verdächtige und Allein mit dem Anderen. Die Geschichten betonen die Widersprüche im Leben und die Schwierigkeit, eine erkennbare oder vorstellbare Wahrheit festzustellen. Der Verdächtige erscheint als Einwohner der DDR, der sich völlig von der Welt abschließt, um keinen Verdacht zu erregen. Er verfällt ins Schweigen, will dem Staatssicherheitsdienst nicht auffallen und so leben, dass er keinen Argwohn erregt. Nach einem Jahr kommt er zu der Überzeugung, dass nicht der unge‐ rechtfertigte Verdacht und das Interesse des Staates ihn in die Isolation getrieben hätten, sondern er selbst: Es tut „nicht weh, beobachtet zu werden“, stellt er fest und beschließt, sein Leben unter Beobachtung fortzusetzen. 13 Auch die Figur des Ich-Erzählers in Allein mit dem Anderen folgert nach quälenden Versuchen, dem Dasein Richtung zu geben, dass jedes wirkliche Handeln ihn um seine Stellung in der Gesellschaft bringt, aber jedes Nichthandeln zu Schuldgefühlen führt (211-226). 26 2. Blick auf die Gegenwart 14 Vgl. dazu Michael Schenkel. „Zur ‚Mikrophysik der Macht‘ in Heins Der Tangospieler“ in: Ders. Fortschritts- und Modernitätskritik in der DDR-Literatur. Prosatexte der achtziger Jahre. Tübingen: Stauffenburg, 1995. 168-176. Christoph Hein veranschaulicht eine vergleichbare Konstellation in Der Tan‐ gospieler (1989). 14 Der Roman erfasst in der kurzen Zeitspanne von acht Monaten die Selbstanalyse des Historikers Hans-Peter Dallow und seine Versuche der Einordnung in die Gesellschaft. Die Handlung spielt von Februar bis September 1968, also zur Zeit des Einmarschs der Warschauer Pakt-Truppen in die Tsche‐ choslowakei im August 1968, und die Darstellung enthält konkrete Hinweise auf die politische Lage der DDR und Gegenwartszitate. Vor diesem Hintergrund tritt der Wirklichkeitsanspruch des Romans scharf hervor in der nuancierten Veranschaulichung der Situation des Historikers, der nach 21 Monaten Haft aus dem Gefängnis entlassen wird und vergeblich versucht, wieder Fuß zu fassen. Die Bewusstseinslage Dallows tritt in seiner Erfahrung menschlicher Beziehungen, äußerer Ereignisse und der politischen Situation hervor. Dallow versucht, Anschluss an alte Bekannte zu finden, will neue Freundschaften schließen, verstrickt sich in Liebesabenteuer, bemüht sich, eine Anstellung zu finden und will seine Gefängniszeit vergessen. Alle Versuche scheitern. Er lehnt ein Stellenangebot vom Staatssicherheitsdienst ab, kann aber selbst als Kraftfahrzeugfahrer nicht unterkommen. Er trifft auf seinen Verteidiger und Richter und lernt, dass sich beide bestens verstehen und den Staat loben, denn man „ist vorwärtsgekommen“: Inzwischen würde Dallow nur noch gerügt, aber nicht mehr verurteilt werden. Der Gesamteindruck unterstreicht, dass das politische System die mensch‐ liche Verunsicherung erzeugt. Dallow ist nicht wirklich politisch engagiert, will nicht direkt vom Staat abhängig sein, ist aber bereit, sich anzupassen. Er ist jedoch nicht fähig, sich in der gegenwärtigen Situation zu entwickeln. Was er ständig erfährt, ist der Verlust der Orientierung und der Sinnstiftung im Dasein. Die Kritik ist gleichermaßen deutlich in allen Romanen von Be‐ cker und Hein und in zahlreichen Erzählungen, die das urteilslose, bequeme Vor-sich-Hinleben, die Verkümmerung der Liebe und die Unfähigkeit, aus der Selbstbezogenheit auszubrechen, thematisch erfassen. Für die jüngste Generation ist der Blick zurück hauptsächlich ein Anliegen der Sichtung besonders markanter Tendenzen, die im Nationalsozialismus zu voller Entfaltung kamen und heute abermals, wenn auch in verwandelter Er‐ scheinungsweise, erkennbar werden. Zur Diskussion stehen vereinzelte Exzesse radikaler Jugendlicher und die zuweilen im Ausland erhobene Beschuldigung eines im deutschen Volk ausgeprägten Antisemitismus. Niederschlag im literari‐ schen Schaffen dagegen fand eine durchaus kontinuierliche Entwicklung künst‐ 27 2.2. Chronisten des politischen Zeitgeschehens 15 Vgl. dazu die eingehende Darstellung Daemmrich. Vergangenheit. 16 Monika Maron, Nach Maßgabe meiner Begreifungskraft. Frankfurt a. M.: Fischer, 1993. 31. lerisch zunehmend gelungener Gestaltungen der Vergangenheitsthematik, 15 der existenziellen Situation der Menschen in der Gegenwart und des Lebens im weltweiten, postmodernen Informationszeitalter. Im Gegensatz zu Politikern ist für die Autoren und Autorinnen auch die Europäische Gemeinschaft kein zentrales Problem; sie leben in Deutschland, einige in anderen europäischen Ländern, aber schreiben in der deutschen Sprache, knüpfen an die deutsche und gemeineuropäische Kulturtradition an und konzentrieren sich auf das Leben im Alltag, ohne große Entwürfe einer deutschen Nationalliteratur zu machen. Monika Marons Antwort auf die Frage, worüber sie denn schreiben wolle, nachdem sie nach Westdeutschland umgezogen war, ist für viele gültig: Und was will die Frage von mir, ob ich nun, in meiner ‚neuen Heimat‘, über die Probleme des Westens schreiben wolle oder ob mir nun vielleicht der Stoff ausginge. Als hätte ich bislang über Känguruhs geforscht und nicht über Menschen geschrieben, und zwar deutsche, deren jüngste Vorgeschichte die aller Deutschen ist. 16 2.3. Darstellungen des menschlichen Zusammenlebens im prosaischen Alltag Das Erzählverfahren, das alles, was im Leben der Figuren eigentlich ungewöhn‐ lich erscheinen sollte, als alltäglich beschreibt, prägt die hier besprochenen Schilderungen. Sie thematisieren Kritik der gesellschaftlichen Verfassung und zugleich Anpassung an die Situation, Unzufriedenheit, Unbehagen im prosai‐ schen Alltag, Gefühllosigkeit, Orientierungsverlust und das immer wieder anklingende Bestreben einer möglichen Selbstentwicklung. Die allumfassenden Anliegen charakterisieren alltägliche Geschichten aus der DDR, der BRD, dem vereinten Deutschland, Österreichs und der Schweiz. Die Ereignisse, die Bernd Willenbrock in Christoph Heins Willenbrock (2000) direkt betreffen, charakte‐ risieren nicht nur seinen Ausschnitt aus einem scheinbar durchschnittlichen Lebenslauf, sondern erwecken zugleich den Eindruck einer zeitnahen Bestands‐ aufnahme. Willenbrock passt sich erfolgreich an die veränderten politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse an; er verspürt keine Nostalgie und verlangt keine Abrechnung mit ehemaligen SED-Mitgliedern oder Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes, selbst wenn diese, wie er jetzt weiß, ihm seine Arbeit erschwerten und Reisen ins Ausland verhinderten. Er betrachtet ironisch und 28 2. Blick auf die Gegenwart 17 Christoph Hein. Willenbrock. Roman. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2000. 127. distanziert das jüngste Zeitgeschehen. Er handelt mit Gebrauchtwagen, das Einkommen steigt ständig, das Unternehmen wird vergrößert, Bernd und sein Bekanntenkreis bejahen den Kapitalismus. Seine Ehe befriedigt ihn. Er findet jedoch, er müsse seinem Stand entsprechend auch erotische Erlebnisse haben. Seine Affären mit einer Angestellten, einer Hausfrau und einer Studentin hinterlassen in ihm das Gefühl, er habe ein von ihm erwartetes Soll erfüllt. Diese Schilderung unterstreicht den Eindruck der Anpassung an eine Konsumgesell‐ schaft, in der alle vor sich hinleben. Heins Roman charakterisiert jedoch zugleich in scharfen Vignetten (Diebstähle im Autohof, Einbruch im Sommerhaus, interesselose Polizei und Steuerbehörde, teilnahmslose Krankenschwestern, jeder soll sich wie der Taxifahrer eine Waffe kaufen, Ausschnitte aus dem Leben des polnischen Mechanikers Jurek) die Entgleisungen der Gesellschaft. Die Darstellung der Anpassung an die Umstände und zugleich Kritik der unhaltbaren Zustände in Heins Willenbrock vermittelt den Gesamteindruck einer überzeugenden Kritik der Gesellschaft und des Orientierungsverlusts der Personen, die sich mit den Umständen abgefunden haben. Die Beschreibung der Beerdigung von Bernds Schwiegermutter ist sowohl für sein Verhalten als auch für das anderer in der Gesellschaft aufschlussreich. Der Schwager lobt seine Frau für die Pflege der alten Mutter und ist zugleich froh, dass nun die Dachwohnung für die Tochter frei geworden ist. Sie „war bereits ausgeräumt und sollte in den nächsten Tagen tapeziert werden“. 17 Die Skizze des Essens nach der Beerdigung vertieft die Charakterisierung Willenbrocks als Experte eines Lebensstils ohne ethische Verpflichtung. Als die Kellnerin Bier an den Tisch bringt, fragt Bernd seinen Schwager sofort, ob er „ein Verhältnis“ mit dem Mädchen habe. Die peinliche, unpassende und dem Augenblick völlig unange‐ messene Frage entspricht Willenbrocks Erfahrungs- und Erwartungshorizont: Kontaktlosigkeit wird durch Augenblickserfahrungen überwunden. Die Lösung der Misere entzieht sich dem Einblick der Figuren. Deshalb stellt der Erzähler nur nüchtern fest: In Berlin beginnt „Sibirien neuerdings vor unserer Haustür“. (211) Willenbrock gehört in die lange Reihe von Figuren, deren Handeln und Unterlassungen allumfassende menschliche und gesellschaftliche Defizite be‐ leuchten. Die Figuren stellen Fragen, die jeden Leser berühren, aber finden keine Antwort. Die Texte verdeutlichen: Das Schweigen ist kein Verschweigen. Es ist der Tatbestand eines Leidens an einer verspürten Öde des Daseins. Jurek Becker schildert in Aller Welt Freund (1982), wie dieses Befinden schließlich in einem Selbstmordversuch mündet. Kilian, dessen Beobachtungen und Erfahrungen 29 2.3. Darstellungen des menschlichen Zusammenlebens im prosaischen Alltag 18 Jurek Becker. Aller Welt Freund. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1982. 170. einen Überblick des Zeitgeschehens vermitteln, ist Journalist, der Tagesnach‐ richten berichtet und kommentiert. Alle Nachrichten sind bedrückend und Kilian „leidet“ besonders an den „Zuständen, die dahintersteckten“. 18 Die Zu‐ stände bleiben stets dieselben: Borniertheit der Politiker, kriminelle Übeltaten, Hunger, Demonstrationen, staatliche Auseinandersetzungen, die die Furcht vor Kriegen schüren, Epidemien, nie endende Leiden der Menschen und ein Alltag, der von „lächerlichen Kleinigkeiten“ (Einkaufen, Trinken, Kino, Wochenende, Verdruss im Beruf) bestimmt ist. Das Resultat ist ein Symptom der frühen Vergreisung nicht nur in Kilian, sondern auch in zahlreichen Personen in seiner Umgebung. Ein Angestellter der Behörde, der Bruder Manfred, Kilians Freundin Sarah, der Arzt, der Pfarrer, die Mutter und Zimmervermieterin haben ein „Abwehrsystem“ eingebaut, um sich anpassen zu können. Die eingehenden Vorbereitungen auf den Selbstmord, der durch die zufällige Rückkehr der Vermieterin verhindert wird, enden schließlich in dem Entschluss, sich wie alle anderen an die bestehenden Gegebenheiten anzupassen. Kilian wird in Zukunft ohne die quälende Ermittlung einer möglichen sinnvollen Selbstentwicklung leben. Die Erfahrung, dass man es ohne gesellschaftskritische Auseinanderset‐ zungen schaffen kann, berufliche Erfolge hat und mit dem Alltag zufrieden ist, wird in Erzählungen aufgegriffen, die sich nicht auf die thematisierte Einkreisung konzentrieren. Die erstaunliche Sensibilität für Alltagssorgen ist nicht auf deutsche Autoren und Autorinnen begrenzt, sondern gehört zum Gesamtbild der deutschsprachigen Literatur. Trotz markanter Unterschiede im Lokalkolorit Österreichs und der Schweiz bestehen deutliche Übereinstim‐ mungen in der Gestaltung der geschilderten Lebensläufe. Da die Einkreisung, Orientierungssuche und Überwindung der Krise in den folgenden Kapiteln eingehend untersucht wird, verweise ich hier nur auf einige kennzeichnende Texte. Becker beschreibt in Irreführung der Behörden (1973) die Konjunktur des Romanciers Gregor, dessen Romane verfilmt werden und der sein ursprüngli‐ ches Unbehagen am Alltag als vorübergehende Erscheinung ablehnt. In Robert Menasses Erzählungen entsteht aus einer kaum merkbaren Verknüpfung von Entwicklungsthematik und Kulturkritik mit wechselnden Erzählperspektiven ein Gesamtbild unserer Tage. Menasse schildert die Lebensfahrt Roman Gi‐ lanians als Rückschau, kritische Sichtung der Vergangenheit und Bejahung widersprüchlicher Tendenzen in der Gegenwart. Die Trilogie setzt ein mit Sinnliche Gewißheit (1988), einem Roman, in dem die Reflexion, das grüblerisch Nachdenkende überwiegt. In Selige Zeiten, brüchige Welt (1991) gelingt der 30 2. Blick auf die Gegenwart Kunstgriff, die traditionelle Erzählperspektive des 19. Jahrhunderts zu beleben. Die Erzählperspektive wird dadurch ein wesentliches Element der Ortung der Vergangenheit. Sie fängt sowohl die Freude am Plaudern als auch die Vorstellung einer heilen Welt ein und verbindet sie mit der Sehnsucht nach einer Zeit, der permanente Identitätskrisen fremd waren. Schubumkehr (1995) verdeutlicht bereits in der diskontinuierlichen Formgeste, dass das Anlehnungsbedürfnis an die Vergangenheit verständlich ist, aber keine Lösung für die Ansprüche der Gegenwart bietet. Schubumkehr ist eine Zeitenwende in der Geschichte, im Tageslauf einer Dorfgemeinschaft und im Leben der Figur Roman Gilanian. Aber Roman, von der Mutter „Romy“ genannt, der das Leben der Einwohner der kleinen Gemeinde Komprechts im Schicksalsjahr 1989 und damit gewisser‐ maßen im Kleinen den Aufbruch zur neuen Zeit auf einer Videokassette festhält, stellt zu seiner Enttäuschung fest, dass sie leer ist. Komprechts, ein österreichischer Ort an der tschechoslowakischen Grenze, benötigt dringend wirtschaftliche Fördergelder, da die beiden wichtigsten Un‐ ternehmen, eine veraltete Glasfabrik und ein unrentabler Steinbruch, nicht mehr konkurrenzfähig sind. Der rührige Bürgermeister leitet die gesamte Umstrukturierung, die Schubumkehr, ein. Die Unternehmen, die Natur und die Menschen werden verändert, modernisiert und in die Neuzeit überführt. Der Vorgang ist begleitet von Ereignissen, Mord, Vergiftung, Ausländerhass, Unterdrückung, inzestuösen Neigungen, Magersucht, Leiden und Vernichtung sensibler Menschen. In den spannend geschriebenen Romanen entsteht ein thematischer Querschnitt durch die Zeit. Bei aller Sozialkritik sind sie letztlich lebensbejahend. Die allgemeine Umstrukturierung ist zugleich ein Aufruf, sich tätig dem Dasein zuzuwenden. Die phantastischen Geschichten aus dem alltäglichen dörflichen Leben in Polen in Radek Knapps Franio (1994) ähneln der Schilderung in Schubumkehr. Durch die nahtlose Verbindung von konkretem Detail, Traumvisionen und schweifender Phantasie entstehen kleine Meisterwerke des magischen Rea‐ lismus. Knapp, der seit 23 Jahren in Österreich lebt, gewinnt dem Leben auf dem Lande das ab, was weder die traditionellen Heimatromane noch die desil‐ lusionierende Anti-Heimat-Literatur bieten: Skurrile Bahnbeamte, weltfremde Grübler, in der Sonne träumende Kinder und selbst ein real wahrgenommener Teufel wirken belebt von einer nahezu greifbaren, plastischen Wirklichkeit des Seins. Die Figuren, Herr Trombka, der Bäcker Mostek, Schwager Wilhelm und Franio, sind belebt, nicht gedacht. Der Horizont ist offen, die Welt wirkt 31 2.3. Darstellungen des menschlichen Zusammenlebens im prosaischen Alltag 19 Radek Knapp, Franio. Wien: Deuticke, 1994. 131. 20 Adolf Muschg. Besuch in der Schweiz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1978. 19. versöhnlich und der Erzähler führt seine Leser in Dörfer und „Städtchen, wo sogar die Wolken anders sind als überall sonst“. 19 Der thematisierte Alltag in Schilderungen der Selbstentwicklung in den Werken von Silvio Blatter, Urs Faes, Perikles Monioudis und Adolf Muschg entspricht weitgehend den Erkundungen einer Gruppe von Schweizer Autoren und Autorinnen, die sich halbjährlich seit Anfang der 90er Jahre trafen und unter dem Namen NETZ bekannt wurden. In den Texten von Urs Richle, Ruth Schweikert, Perikles Monioudis und Peter Weber stehen Figuren, die Adolf Muschg als „Projektionsfiguren“ bezeichnet, im Schnittpunkt der Handlung. Sie vermitteln den Eindruck, in ihrer Heimat heimatlos zu sein; sie fallen aus der Gesellschaft und ihre Symptome berühren sich mit den Eigenschaften der Figuren in der österreichischen und deutschen Gegenwartsliteratur. In Silvio Blatters Roman Das blaue Haus (1990) versinnbildlicht das Haus die heile Heimat, einen sicheren Hafen für flüchtende Künstler während des Zweiten Weltkriegs und den Ort der Liebe zu Kindern. Das Haus wird am Ende enteignet, da ein Staudamm gebaut wird, der das ganze Land unter Wasser setzt. Der Aus‐ klang entspricht dem Dasein Heinrich Zinns, dessen ganzes Leben unter dem Zeichen eines aussichtslosen Kampfes gegen die Inhumanität seiner Umwelt steht. Die eingeschobenen Kommentare zum Zeitgeschehen und Vignetten von Lebensläufen in absteigender Linie beleuchten den verzweifelten Widerstand Einzelner gegen eine historische Entwicklung, die sich ihrem Einfluss entzieht. Adolf Muschgs Besuch in der Schweiz (1978) stellt im Rahmen einer möglichen unmöglichen Liebesgeschichte zwei unvereinbare Welt- und Lebensanschau‐ ungen gegenüber. Franziska lernt Heinz auf einem Kliniker-Ball kennen; sie korrespondieren und der in der Schweiz lebende Heinz sendet ihr einen Verlo‐ bungsantrag. Sie besucht ihn, lernt seine Mutter kennen, die Franziskas Cha‐ rakter und Benehmen als typisch deutsche „Nachkriegsmentalität“ beurteilt. 20 Die Mutter und Heinz halten an einer altväterlichen Welt „wahrer“, auf Ikonen festgehaltener Werte fest und können Franziskas Einstellung zum Leben nicht verstehen. Der Gegensatz von Heiligenbildern und Freude am Tanzen lässt keine Lösung zu. Franziska und Heinz erkennen, dass die angestrebte Verlobung ein Missverständnis war. Sie reist ab und er hält an den tradierten Werten fest, die, wie die eingeschobenen Beobachtungen festhalten, im gegenwärtigen Leben in der Schweiz unzeitgemäß wirken. Erzählungen und Kurzgeschichten von Perikles Monioudis veranschaulichen in der Sammlung Die Forstarbeiter, die Lichtung (1996) die Beobachtungen eines 32 2. Blick auf die Gegenwart 21 Perikles Monioudis. Die Forstarbeiter, die Lichtung. Zürich: Nagel & Kimche, 1996. 31. 22 Herta Müller. Reisende auf einem Bein. Berlin: Rotbuch, 1989. 139. Spaziergängers. Ausschnitte aus den Erlebnissen Einzelner beschreiben, wie sich alle mit den täglichen Ereignissen abfinden. Die Ereignisse - jemand schneidet sich Daumen und Zeigefinger mit dem Brotschneideapparat ab, ein Pfarrer begeht Selbstmord, weil Eltern über seinen Religionsunterricht entrüstet waren, 21 ein Mann hat einen unerwarteten Wutanfall, weil ihn ein Junge nicht gegrüßt hat, ein junger Baumgärtner leiht sich ständig Bücher und weigert sich, diese zur Bibliothek zurückzubringen, da er sie mit seinen Notizen gefüllt hat, ohne die er nicht existieren kann (36-38), ein Bäcker beobachtet die Welt, aber vergisst alles - regen zum Nachdenken an. Überall schlummern Probleme, aber der Alltag entzieht sich der Analyse. Der Spaziergang durch die Schweiz mündet letztlich in eine Kreisbewegung, in der sich der Alltag wiederholt. Herta Müllers Reisende auf einem Bein (1989) beschreibt die durchaus ver‐ gleichbare Situation in Deutschland. Die Erzählung schildert Ausschnitte aus dem Leben einer jungen Frau. Irene lebt in Deutschland, fährt ruhelos umher, erinnert sich an den Grenzübertritt aus Rumänien, das Übergangsheim, kahle Zimmer und unbestimmt unklare Stationen ihres Lebens. Sie versucht eine feste Bindung, einmal mit Thomas, einmal mit Franz, herzustellen. Ihr Gesuch, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten, wird genehmigt. Dass sie außer der Tatsache, dass sie sich irgendwo in Deutschland befindet, aber keine erkennbare Beziehung zu dem Land hat, unterstreicht die eigentümliche Gestaltung der Figur. Irene ist eine Fremde im Leben und steht der alten und neuen Heimat ebenso fremd gegenüber wie allen Menschen, denen sie begegnet. Ihr Fremdsein ist ihre existenzielle Verfassung. Ihr Sehen erfasst nicht das Wesen der Dinge. Müller schreibt: „So lebte Irene nicht in den Dingen, sondern in ihren Folgen.“ 22 Die Folgen sind assoziativ verknüpfte, sich ständig entziehende Vorstellungen von Möglichkeiten. Versucht man sie zusammenzusetzen, so entsteht weder ein Erzählzusammenhang noch ein erkennbares Bild der Gesellschaft und des Landes. Was sich ergibt, ist eine aus Elementen zusammengesetzte Atmosphäre des Dauerzustandes alltäglicher Leiden in einer sinnentleerten Welt. Die Leere im Herzen, im Magen und im Blick kennzeichnet die Situation. Müller versucht, durch Auslassungen, kurze Sätze, vorübergleitende Wörter und die allgemein reduzierten Sprachfügungen den dementsprechend reduzierten Bewusstseins‐ zustand der Figur zu deuten. Darüber hinaus wirkt sich die geistige Verfassung auf den physischen Zustand aus. Irene leidet. Sie ist nur vorübergehend am Leben, nur vorübergehend in einer Stadt am fremden Fluss gestrandet. Sie ist 33 2.3. Darstellungen des menschlichen Zusammenlebens im prosaischen Alltag 23 Gabriele Wohmann. Bitte nicht sterben. München: Piper, 1993. 17, 19. eine Bewohnerin „mit Handgepäck“, ständig aufbruchsbereit. Eine Erlösung aus dem Ennui bietet wahrscheinlich nur der Tod. Zum Alltag gehören heute Probleme des Alterns, der Sozialfürsorge und des Herausfallens aus der Gesellschaft. Alltagserzählungen schildern oft die Bedro‐ hung der Menschen von innen, die Gefährdung, die von einem unkontrollierbaren körperlichen Verfall ausgeht oder auch die Verletzung des allgemein Menschlichen durch den Alltag, der keine Rücksicht auf Alte oder Kranke nimmt. Beispielsweise verleiht Gabriele Wohmann in Bitte nicht sterben (1993) der Erzählerin der jüngsten Generation einen unschuldigen, manchmal staunenden, wenn auch leicht kritischen Blick, der die unmittelbare Sicht auf das tägliche Leben von drei Schwestern mildert. Louisa, Bertine und Marie Rosa leben bescheiden, führen ein genaues Haushaltsbuch, genießen Kleinigkeiten, helfen sich gegenseitig, teilen ihre Sorgen und haben sich mit der unabänder‐ lichen Tatsache des Alterns und des einsetzenden, langsam fortschreitenden körperlichen Verfalls abgefunden. Sie wissen um Krankheit und Tod, aber der Tod beherrscht nicht ihren Gesichtskreis. Trotzdem schildert die Erzählung kein Glück im kleinen Kreis und verzichtet auf jede Verklärung des Alterns. Was fehlt ist die Überzeugung, die Gewissheit, für andere von Bedeutung zu sein. Alle verlangen Liebe in einer eintönigen Welt. Da alle zu beschäftigt sind, fehlt dazu die Zeit. Die Erzählerin bemerkt mehrmals ganz nüchtern, dass die täglichen Anforderungen keine Zeit für das lassen, was alte Menschen im Stillen suchen: „In Gedanken war ich schon beim Aufbruch … Stirb nicht, Marie Rosa. Es paßt nicht in meinen Zeitplan. Verdammt alt, die Leute, die ich liebe.“ 23 Die Beobachtungen wiederholen sich ständig: „Wenn man sich so selten sieht, ist es anstrengend, sich überhaupt noch zu sehen. Am besten, man gibts gleich ganz auf.“ (25) „Wenn ihre Mutter bloß ahnte, wie mißmutig und ohne jede Anhänglichkeit, Diskretion, Erbarmen ihre Tochter zu ziemlich fremden Leuten über sie spricht.“ (32) „Kommt bald wieder, rief Bertine uns nach, und ich wußte, wie dringend sie das wünschte und wie gelassen sie es gleichzeitig in Kauf nahm, als selbstverständlich nahm wie ihr übriges Leben, daß bald vielleicht erst in einem Monat oder noch später wäre.“ (45) „Sie … rief uns kommt bald wieder nach.“ (60) „Vielen Dank für euren schönen Besuch, sagt meine Mutter, die das Lachen vorerst verlernt hat, vorerst. Aber nicht ihre Liebe. Sie bedankt sich für die paar Minuten an ihrem Bett.“ (347) Am Ende wird die Erzählung unversehens eine Schilderung der Liebesbereitschaft und der Lebenswürde alter Menschen. Der Überblick zeigt: Darstellungen von Lebensläufen im Alltag erfassen kritische Auseinandersetzungen mit der Gesellschaft, Orientierungssuche, An‐ 34 2. Blick auf die Gegenwart passung, Versuche, aus der Einkreisung auszubrechen, Ansätze zur Selbstver‐ wirklichung, Selbsterkenntnis und Bewusstwerden der historischen Voraussetzungen der Zeit. 35 2.3. Darstellungen des menschlichen Zusammenlebens im prosaischen Alltag 3. Die existenzielle Situation: Wirklichkeitserfahrung, Entwicklung, Krise und Verunsicherung Die traditionelle realistische Darstellung der Raumerfahrung einzelner Figuren konzentriert sich auf Haus, Garten, Land und Begegnung mit anderen, die die Vorstellung des ‚Behaust-seins‘ erweckt. Die Tradition konkreter Raumdarstel‐ lungen besteht in der Gegenwart fort in Kriegsgeschichten, der Heimatliteratur und zahlreichen Erzählungen, in denen individuelle Krisen im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Die Erzählungen von Walter Kempowski, Christoph Ransmayr, Herbert Rosendorfer und Jens Sparschuh sind aufschlussreich für diese Entwicklung. In der Nachkriegsliteratur und besonders in der Literatur seit den siebziger Jahren beleuchten Schilderungen des Raums zunehmend den Verlust der Orientierung. Deutlich ersichtlich ist die Verengung der Raumper‐ spektive. Die offene Landschaft wird verdrängt von Innenräumen; die konkrete Erfahrung der Natur wird ersetzt durch vorüberfliegende Bilder im Fernsehen oder auf den Bildschirmen der Computer. Einzelne Figuren verlieren sich in den Fernsehlandschaften, andere verlieren jede Orientierung in fiktiven Mosaiken. In Schilderungen existenzieller Konstellationen zeichnen sich zwei deutlich ausgeprägte Gestaltungen des Raums ab. Sie sind beeinflusst von der Erfah‐ rung und Auseinandersetzung mit den beschriebenen Zuständen der Umwelt. Einzelne Texte entwerfen die Möglichkeit eines menschenwürdigen Daseins im Dialog mit der Welt. Der Raum öffnet sich. Im Gegensatz dazu sezieren zahlreiche Texte die überwältigende Beeinflussung der Wahrnehmung durch die Medien, soziale Missstände, Identitätskrisen, menschliche Defizite, brüchige zwischenmenschliche Beziehungen, einengende Konventionen, den Verlust ordnungsstiftender Normen, besonders den Liebesverlust, die zunehmende Aggression und die Unfähigkeit, historische Entwicklungen zu verstehen. Die Darstellungen bevorzugen Begrenzungsmotive: Zellen, einheitliche Zimmer, Bergwerke, Höhlen, Schächte, Gänge unter der Erde. Die Wohnraumatmosphäre ist trügerisch; die Zimmer bieten keinen Schutz, denn die Bedrohung dringt von außen durch die Medien ein; darüber hinaus ist sie im Gedächtnis der Figuren und deren zwanghaft grübelnden Reflexionen ständig gegenwärtig. Die Figuren fliehen in die Welt trügerischer Fernsehbilder; sie erfahren fantastische Rekorde in imaginären Quiz-Shows oder verlieren sich in Traumvisionen, die wiederholt von traditionellen Vorstellungen der Antike und des Paradieses beeinflusst sind. 1 Christoph Ransmayr. Die Schrecken des Eises und der Finsternis. Wien: Brandstätter, 1984. 7. 2 Christoph Ransmayr. Geständnisse eines Touristen. Ein Verhör. Frankfurt a. M.: Fischer, 2004. 93. Darstellungen, in denen die Erfahrung der Wirklichkeit zugleich die Hori‐ zonterweiterung der Beobachter veranschaulicht, erwecken selbst wenn das Geschehen wie in Siegfried Lenz‘ Das Vorbild (1999) auf ein Zimmer konzentriert ist die Vorstellung des offenen Raums. Christoph Ransmayr entfaltet in Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984) die Illusion eines Expeditionsbe‐ richts, der scheinbar an Abenteuerliteratur anschließt. Der Bericht enthält Illustrationen, Zitate aus Tagebüchern und authentischen Aussagen, die im Kursivdruck zusammen mit den Überlegungen des Erzählers den Eindruck eines kritischen Kommentars erwecken. Die gesamte Schilderung konzentriert sich auf einen Ausnahmezustand, der jedoch von allen Figuren als selbstverständlich beschrieben wird. Die Wirklichkeit einer Expedition in die unentdeckte Fremde, dann Kaiser-Franz-Joseph-Land genannt, wird sachlich und ruhig geschildert. Hinter den Feststellungen von Carl Weyprecht, Julius Payer und Otto Krisch lauert jedoch das Grauen des existenziellen Ausgesetztseins. Ransmayr ver‐ zichtet auf Selbstanalysen und eingehende Charakterisierungen der Figuren. Stattdessen deutet ihr Handeln in der Einmaligkeit der Situation ihr Wesen und ihre Einstellung zur Welt. Die Zeitalter 1981, 1872, 1874 überschneiden sich; die Sachlage besteht fort: Mazzini verschwindet auf den Spuren arktischer For‐ scher „im Winter des Jahres 1981 in den Gletscherlandschaften Spitzbergens“. 1 Weyprecht erfährt 1872 die absolute Verlassenheit im Eis; alle erleben Skorbut, Schwindsucht, Reißen, Hungern und Tod. Indem der Erzähler versucht, das Unmessbare messbar zu machen und das völlig Neue zu erkunden, entsteht eine Spiraltendenz in die Richtung der Erfahrung der Gegenwart und der Selbsterkenntnis. Ransmayr glaubt, jede Geschichte habe ihre Zeit und lebe in der Gegenwart: „Ich habe meiner Meinung nach nie etwas anderes als die Gegenwart beschrieben, selbst wenn es, wie in der Letzten Welt, um einen verbannten Dichter der Antike ging oder in einem anderen Roman - Morbus Kitahara - um ein verwüstetes, zur Erinnerung und Sühne verurteiltes Kaff in einem Nachkriegseuropa, das es nie gegeben hat.“ 2 Ransmayrs Roman Die letzte Welt (1988) erweckt die Illusion einer Wirklich‐ keitserfahrung in der Antike. Die Handlung schildert die Suche des Römers Cotta nach seinem Freund Ovid und einer Abschrift von dessen Metamorphosen, um sie für die eigene Zeit und die Nachwelt zu bewahren. Cotta reist nach Tomi am Schwarzen Meer, dem Ende der zivilisierten Welt, wo sich der von Kaiser Augustus verbannte Ovid aufhält. Cotta verfolgt Spuren, findet Anhaltspunkte 38 3. Wirklichkeitserfahrung, Entwicklung, Krise und Verunsicherung 3 Ebd. 39. 4 Christoph Ransmayr. Morbus Kitahara. Frankfurt a. M.: Fischer, 1995. 19. in seiner vom Erzähler in detaillierten Beschreibungen veranschaulichten Umwelt, entdeckt Ovids alten Diener Pythagoras, lauscht auf das Stammeln Fremder, die scheinbar Geschichten aus den Metamorphosen kennen, wird mit den Bewohnern Tomis vertraut und durchforscht die Gebirgswelt. Überfallen von schweifender Unruhe, beobachtet Cotta seltsame Szenen, ins Fremdartige entstellte Personen und fragmentarische Inschriften. Er erlebt Gewalttaten, Plünderungen, Überfälle. Er sucht Halt in seiner Erinnerung an das Leben in Rom, überdenkt politische Ereignisse und versucht die politischen und persönli‐ chen Intrigen zu verstehen, die Ovid in die Verbannung trieben. Zugleich schafft seine Einbildungskraft Visionen, in denen die Realität Tomis, seine Träume und die Welt der Metamorphosen verschmelzen. Seine Einbildungskraft wird schließlich sehend: Er erlebt Metamorphosen und tritt ein in die vorhistorische Welt. Er selbst verwandelt sich, entdeckt die Märchenwelt in seinem Inneren, ruft Ovids Namen in die Wildnis und lauscht auf das Echo, das seinen eigenen Namen zurückträgt. Cotta findet sich, indem er sein Selbst aufgibt. Seine Erfah‐ rung des Raums wirkt realistisch und erweckt den Eindruck, die Vergangenheit sei Gegenwart. „Jeder Leser steht für eine andere, für seine Version meiner Geschichte und auch der Erzähler ist am Ende mit seiner Lesart nur einer unter vielen Weitererzählern, unterschieden von den vielen anderen nur durch die Tatsache, daß er den Urtext dieses Überlieferungs- und Verwandlungsspiels verfaßt hat.“ 3 Morbus Kitahara (1995) veranschaulicht eine zunehmende Verfinsterung der Welt im Rahmen eines Nachkriegszeitgeschehens, in dem das Leben aller nach dem ‚Frieden von Oranienburg‘ von den Auswirkungen des ‚Stellamour-Plans‘, eine Anspielung auf den Morgenthau-Plan, bestimmt wird. Der Plan wirft die Bevölkerung des besetzten Landes in eine vor-zivilisierte Steinzeit zurück, die zugleich die jüngste Vergangenheit symbolisiert. Die Erfahrung der Wirk‐ lichkeit in einer von der Außenwelt völlig abgeschnittenen Ortschaft, in der alle „Arbeitsfähigen“ gezwungen sind, in einem Steinbruch zu arbeiten, wird beeinflusst von bildlich konkret erfassten Details der Kleidung, der scharrenden Hühner, der „tierischen Laute“ 4 eines Rudels wilder Hunde und der langsamen Erblindung des Protagonisten Bering. Sie wird jedoch weitgehend bestimmt von Schreckensbildern im Gegenüber von Besatzungstruppen, organisierten Banden und kahlköpfigen Schlägern und Guerillas, die die Welt verunsichern. Die Auswirkung auf die Menschen sind Lagerpsychosen, die die Welt weiter entstellen. Das Blickfeld ist verengt. Alle leben in einer unfassbaren Verbannung 39 3. Wirklichkeitserfahrung, Entwicklung, Krise und Verunsicherung 5 Siegfried Lenz. Das Vorbild. Werkausgabe in Einzelbänden, Bd. 7. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1973. Vgl. auch Daemmrich. Vergangenheit. 211-216. und werden für ihr eigenes Verhalten, ihr Nicht-Handeln oder die Taten ihrer Väter bestraft. Das Vorbild (1973) von Siegfried Lenz ist eine künstlerisch anspruchsvolle Auseinandersetzung mit der Frage, welche Vorbilder für die Jugend unserer Tage angemessen sind. 5 Valentin Pundt, Rektor aus Lüneburg, Rita Süßfeldt, freie Lektorin und Herausgeberin von Lesebüchern, und Janpeter Heller, Studienrat am Diepholzer Gymnasium, treffen sich zu gemeinsamer Arbeit am dritten Kapitel eines Lesebuchs für den Deutschunterricht im achten Schuljahr. Das Buch entsteht im Auftrag eines Arbeitskreises der Kultusministerkonferenz und enthält unter anderem ein Kapitel „Lebensbilder und Vorbilder“. Auf der Suche nach geeigneten Geschichten zu diesem Thema stoßen die drei Experten auf Widersprüche und grundlegende Fragen: Welches Verhalten ist überhaupt aus welchen Gründen als „vorbildlich“ zu bewerten? Bieten Vorbilder die Vor‐ aussetzung zur menschlichen Entwicklung? Sind sie Orientierungshilfen oder Angstmacher? Die ganz unterschiedlichen Lebensläufe und Erfahrungen der Protagonisten begründen ihre unterschiedliche Einstellung zu diesen Fragen. Die Gegenüberstellung von Geschichten über Vorbilder, die von den Mit‐ gliedern der Arbeitsgruppe als geeignet angesehen werden, und wesentlichen Ereignissen aus ihrem eigenen Leben verdeutlicht die nahezu unüberbrückbare Kluft zwischen fiktiv gestalteten Denkformen und Widersprüchen des Daseins. Die Erzählung problematisiert drei Generationen. Pundt nahm am Weltkrieg teil, sein Sohn Harald engagiert sich bei den Studentenprotesten. Pundt hält sich für einen guten Erzieher, ist in der Beziehung zu seinem Sohn jedoch offensichtlich gescheitert, denn Harald hat sich das Leben genommen, nachdem er dem Wunsch des Vaters entsprechend, ein ausgezeichnetes Examen abgelegt hat, in dem er keinen Sinn sieht. Pundt muss feststellen, dass er weder für die Bedürfnisse seiner Schüler noch für seinen Sohn jemals wirklich zugänglich war, und bricht schließlich seine Mitarbeit im Projekt „Vorbildsgeschichte“ ab. Der Roman beleuchtet die Konflikte und kommentiert zugleich das Bedürfnis nach Vorbildern, die der eigenen Zeit entsprechen und der persönlichen Entwicklung Raum und Ziel geben. Die Darstellung der Figuren weckt Teilnahme, ruft Kritik hervor und fordert durch Handeln und Unterlassungen die Leser zur Bestimmung ihres eigenen Standorts auf. Auch Heller begeistert sich für die Studentenproteste. Er lehnt grundsätzlich jede Konvention und jeden Autoritätsanspruch ab und ist jederzeit bereit, sich zu empören, kann seinen eigenen Anspruch aber nicht einlösen, in dem er 40 3. Wirklichkeitserfahrung, Entwicklung, Krise und Verunsicherung sich etwa einer offenen Diskussion mit einem Schüler stellen würde. Über die grundsätzliche Kritik an den Verhältnissen hat er die Menschen in seinem unmittelbaren Umfeld aus dem Blick verloren. Seine Frau hat ihn verlassen, zu seiner Tochter kann er keine Beziehung aufbauen. Rita gehört ebenfalls zur Nachkriegsgeneration, ist jedoch anders als Heller zu Kompromissen bereit. Das Chaos in ihrer Wohnung entspricht dem Chaos ihrer Gedanken. Sie hält sich selbst nicht für ein Vorbild zu sein, ist aber überzeugt, eine vorbildliche Handlung deuten oder schreiben zu können. Deutlich wird, dass ihre festen Überzeugungen die Mitglieder der Arbeitsgruppe daran hindern, sich zu einer gemeinsamen Lösung zusammenzufinden, die zwar nicht dem Ideal entspricht, aber zwischenmenschliche Beziehungen fördern könnte. Demgegenüber gibt Das Vorbild die Antwort, dass Vorbilder die Forderung stellen, die Widersprüche anzuerkennen. Deutlich ersichtlich ist, dass selbst Erzählungen von Walter Kempowski, Herbert Rosendorfer und Peter Rosei, die traditionell vorgeprägte und passende Erzählsituationen oder Perspektiven übernehmen, wie auch die Prosatexte von Thorsten Becker, Thomas Bernhard, Jochen Beyse, Hubert Fichte, Ulla Hahn und Elfriede Jelinek, in denen realistische Details den Verlust menschlicher Entschei‐ dungsfreiheit in der historisch bedingten Sphäre zunehmender Verdinglichung und Standardisierung von Beziehungen hervorheben, eine Übereinstimmung in der Raumdarstellung aufweisen: Die Wirklichkeit ist widerspruchsvoll, selbst wandelbar und lässt unterschiedliche Perspektiven zu. Jede sinnvolle Gestaltung verbietet einen Oberflächenrealismus. Unverkennbar ist jedoch der Sachverhalt, dass in der thematisierten Einkreisung der Figuren trotz realistischer Einzel‐ heiten feste Ort- und Zeitbestimmungen verschwimmen. Kempowski stützt sich in seinen Erzählungen jedoch auf die Annahme, dass die Wirklichkeit erkennbar ist. Die von ihm geschilderten Erinnerungen dokumentieren eine historisch authentische, aber begrenzte Sphäre. Walter Kempowskis Schilderung der Gegenwart und seine Rekonstruktion der Vergangenheit im Spiegel einer Familiengeschichte als Alltagsgeschichte des deutschen Bürgertums erschien unter dem zusammenfassenden Titel Deutsche Chronik. Die von den Figuren auf das Lesepublikum übertragene Erfahrung der Wirklichkeit soll den Eindruck eines authentischen, zeitnahen, direkten Erleb‐ nisses erwecken. Die Romane verwerten Zeitungsberichte, Dokumente, Briefe, Archivmaterial und alte Rundfunknachrichten. Sie versuchen, die literarische Realisierung des Materials durch eine Form von Protokollierung zu erreichen, die eine Plethora von Einzelheiten mit den Lebensläufen einzelner verbindet. Aus der Bemühung, die Dokumentation in der Tradition des Familienromans zu befestigen, entstehen Darstellungen von Kindheit und Familie, Vignetten aus 41 3. Wirklichkeitserfahrung, Entwicklung, Krise und Verunsicherung 6 Walter Kempowski. Aus großer Zeit. Hamburg: Knaus 1978. 51, 177, 446. dem Leben einzelner, Ausschnitte aus dem Alltagsgeschehen der Zeit und kurze Beobachtungen, die die gesellschaftliche Atmosphäre beleuchten. Gespräche, Aussagen von Zeitgenossen, Äußerungen von Schulfreunden, einer Nachbarin, Wirtschafterin, Schneiderin, Tante, oder eines Kameraden facettieren das Ma‐ terial. Die historisch befestigten Zitate, das Idiom der bürgerlichen Sprache, die eingeschobenen pommerische Dialektstellen und die ideologische Verankerung der Ansichten verbürgen die Authentizität des Zeitbildbildes. Die Erzählungen streben an, den in das Zeitgeschehen eingebetteten Fami‐ liengeschichten die notwendige historische Vertiefung durch eine Optik zu geben, die persönliche Schicksale mit historischen Details und wechselnde Erzählerstimmen verbindet. Aus fiktiven, im Anspruch genauen Beobachtungen - Kinder auf dem Schulweg mit ihren Schiefertafeln, der Friseur, Herr Risse, bekommt „genau acht Pfennig für die Rasur erzählte Witze, Sonntagsausflug mit Kutscher und Pferdewagen, Tanzstunde, Besuch des Kaisers in Rostock, Lieder, beliebte Redensarten wie „Wer rastet, der rostet“, Begeisterung zu Anfang des Krieges 1914, Kriegsende am 11. November 1918, „um zwölf Uhr, genauer gesagt, um fünf Minuten vor zwölf “ und anschließende Räumung des besetzten Landes - entsteht eine Raumperspektive, die einen offenen Horizont vortäuscht. 6 Für die Einzelnen geht das Leben weiter. Mögliche tragische Erlebnisse verbleichen. Das umfangreiche Erzählwerk Herbert Rosendorfers (Hörspiele, Novellen, Romane, fantastische Geschichten) entschärft tägliche Probleme und verzichtet wie einige Erzählungen Peter Roseis auf philosophisch-kritische Auseinander‐ setzungen mit der von anderen Romanciers angenommenen gesellschaftlichen Misere unserer Tage. Der Raum ist offen. Scharf getroffene Details selbst in Rosendorfers skurrilen Abenteuern wirken nicht bedrückend und die Reaktion der Figuren entschärft die denkbare kritische Auseinandersetzung mit dem Problem der Selbstverwirklichung. Das Dasein wirkt erträglich, selbst wenn die Figuren zuweilen wie in Die goldenen Heiligen (1980) Endzeitgespräche führen oder wie der eifersüchtige Ehemann in Magdalena und der Mann mit den schönen Fingernägeln (1954) aus dem Fenster springen. Selbst der Teufel (Der Besuch, 1955) wirkt in dieser Welt als nicht bedrohlicher Außenseiter, da die Figuren das absolut Böse nicht kennen. Rosendorfer desillusioniert äußerst kritisch die Zuversicht auf gesellschaftliche Neugestaltung in Das Zwergenschloß (1982). Die Novelle setzt ein mit einem „unerhörten Ereignis“. Ein Kind kommt zur Welt. Das Mädchen Flavia ist verwachsen und wird nie normal groß werden. Der Vater Luigi, dessen Frau ihn nach der Geburt der Tochter verlassen hat, weiß: Er kann die Natur des Kindes nicht ändern. Er beschließt deshalb, er werde 42 3. Wirklichkeitserfahrung, Entwicklung, Krise und Verunsicherung 7 Herbert Rosendorfer. Große Prosa. Hg. v. Hans A. Neunzig. München: Nymphenburger Verlagsbuchhandlung, 1994. 63. 8 Peter Rosei. Fliegende Pfeile. Aus den Reiseaufzeichnungen. Stuttgart: Klett-Cotta, 1993. 47ff. 9 Peter Rosei. Rebus. Stuttgart: Klett-Cotta, 1990. 182. „die Welt zurechtbiegen.“ 7 Er umgibt Flavia mit Angestellten, Zwergen, völlig neu geschriebenen Büchern, Bildern und Statuen von Heinzelmännchen. Die Umwelt wird völlig neu gestaltet. Nicht geplant in der neuartigen Wirklichkeit bleibt sein Tod. Luigi stirbt. Die Mutter wird Vormund und Flavia folgt dem Vater nach einer Woche. Das Fazit: Das Anderssein ist Teil der Gesellschaft. Jede Reform von Bestand muss beim Einzelnen beginnen. Peter Roseis Reiseaufzeichnungen (Fliegende Pfeile, 1993) sind scharf präzi‐ siert. Die Einzelheiten werden befestigt aus der Sicht eines Beobachters, der jedem Eindruck gegenüber aufnahmebereit ist, aber zugleich alles durch stän‐ dige Vergleiche mit der literarischen und philosophischen Tradition bewertet. Jedes Sehen geht über in ein bewusstes Anschauen; jedes Anschauen führt zum Verstehen. Die Aufzeichnungen werden eine Besichtigung der europäi‐ schen Kulturlandschaft, die von der Tradition belebt ist. Meer, Strand, Fischer, Händler, Bettler, Szenen aus Almdorf und Prag und selbst Beobachtungen im Schlafwagen 8 werden durch Hinweise auf Turgenjew, den Rabbiner Löw, Kafka, Canetti und andere erweitert. Dieser Überblick des Raums vermittelt ein „Gefühl von Glück“. Der Beobachter kann sehen und im Dialog mit der Tradition bestehen. Roseis Erzählungen Von Hier nach Dort (1978), Die Milchstraße (1981) und Rebus (1990) entwickeln ein Panorama des Nebeneinanders vorüberfliegender widersprüchlicher Tendenzen, die den Eindruck eines unablässig ablaufenden Fernsehprogramms erwecken. Der scheinbar offene Raum wird desillusioniert. Das Karussell der Wahrnehmungen unterstreicht die Kreisbewegung. In Rebus werfen sich die Figuren Begriffe wie bunte Bälle zu. Sie reden ohne klares Verständnis von Jesus, Hegel, Marx, der Arbeitslosigkeit und Kapitalanrei‐ cherung. Und Literaten, Ideologen, Intellektuelle, Anarchisten, Angestellte, Großunternehmer, Arbeiter, Arbeitslose, Hausfrauen und Prostituierte gehen gleichermaßen an „innerer Fäulnis vor die Hunde.“ 9 Beobachtungen des Erzählers werden von kurz aufblitzenden Kindheitserin‐ nerungen und Gedanken an vergangene historische Ereignisse unterbrochen. Die Orte, zeitnah und zugleich zeitlos, spiegeln historische Prozesse, technische Entwicklungen und den Abbruch der Zivilisation wider. Der Dom, in Einzel‐ heiten des Torbogens und des Chorgestühls als romanisch-fränkischer Bau bestimmt, befindet sich gleichzeitig in Frankreich und in Santiago. Die Bauar‐ 43 3. Wirklichkeitserfahrung, Entwicklung, Krise und Verunsicherung 10 Jochen Beyse. Unstern Bericht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1991. 143. beiten außen dienen gleichermaßen der Restauration und der Neugestaltung, da Spielautomaten im Inneren des Doms den Besuchern Religionsersatz anbieten. Im „Gleisdreieck“ führen die Schienen in eine Behausung, in der Rundgänge, Treppen nach oben und Schlüssellöcher das Blickfeld bestimmen. Die Suche nach oben vermittelt die Hoffnung, Sterne zu sehen und das Ich mit der Welt zu verbinden. Der Versuch, andere zu erkennen, endet immer im Spiegelbild eines Auges. Im Dom sitzen schweigende Spieler vor Automaten; im Hospiz „Hougron“ kreisen alle Gedanken um den Wunsch einer echten menschlichen Begegnung, der unerfüllbar bleibt. Beyse gestaltet in Unstern Bericht (1991) die Ich-Suche aus der Sicht einer Forscher-Sucher-Detektiv-Figur. Die Figur lebt in einem Raum, in dem sich Flä‐ chenmaße ständig verschieben und jede Erfahrung der Zeit - seien es Stunden, Tage, Wochen oder Jahreszeiten - ins Ungewisse verläuft. Scheinwerfer strahlen den Himmel an. Oben kreisen beständig Hubschrauber und Zeppeline. Un‐ aufhaltsam wachsender Schutt bedeckt die Erdoberfläche. Die globale Firma ‚Hochtief ‘, die zeitgemäße Entsprechung für Olymp-Hades, organisiert das Leben der Bewohner. Beobachtungen des Universums, die Astronomen und Physiker zu neuen theoretischen Überlegungen anregen, überzeugen dagegen den Erzähler, dass der Kosmos eine unbegrenzte, gigantische Sphäre darstellt, in der sich Energie explosiv und expansiv entlädt. In späteren Äonen ballt sich die Materie zu nicht mehr messbarer Verdichtung. Der Kosmos erweckt den Eindruck eines nicht verständlichen Ungeheuers, das sich ewig verschlingt und neu hervorbringt. Die Welt spiegelt diese Situation. „Was tun Sie beispiels‐ weise, wenn Sie ein ungeheuer großes, doch vollkommen sinnloses Ganzes zu erforschen haben. Nun, Sie machen den Maßstab der Größe zum Maßstab der Sinnlosigkeit und finden so, im gedanklichen Modell, die Richtung in einem Labyrinth, dessen Gänge und Wände Sie niemals werden verlassen können. Es ist der Vorsatz, größer zu sein als das Denken, in dem man sich bewegt, verstehen Sie, diese Art von Gigantismus“. 10 Die Figur versucht, das Hochtief auszuloten, protokolliert alle Eindrücke, beobachtet Springer, die unentwegt an einem elastischen Sicherungsseil vom Dach springen, sucht im Tiefbau herum und steigt im Hochhaus nach oben. - „… nach unten, nach oben, erst Sturz, dann Himmelfahrt. Aber kann man unter diesen Umständen von Bewegung sprechen? “ (146). Eine Flut von Reizen stürzt auf den Beobachter ein. Schaufenster zeigen Reklamefilme; die Luftschiffe haben Projektionsflächen. Farbwände, elektronische Leuchtpunkte und Schwärme von Bildern ziehen vorüber. Die Ausmaße werden unberechenbar. Alles kippt gleichzeitig nach 44 3. Wirklichkeitserfahrung, Entwicklung, Krise und Verunsicherung 11 Jochen Beyse. Ferne Erde. Erzählung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997. 14-23. innen und außen (160). Plötzlich sitzt der Beobachter am Schreibtisch und starrt „mit verschwimmendem Blick auf x-beliebige Computerbilder“ (132). Die Überfülle der vorüberfliegenden Bilder führt zu Halluzinationen, bedingt jedoch gleichzeitig eine zunehmende innere Leere. Die Figur ruft sich selbst zur distanzierten Einstellung auf, erkennt aber, dass man „blindlings“ den Bildern folgen müsse (165). Die Eindrücke entziehen sich der Deutung; das Führen des Protokolls bestätigt nur, dass der Fall nicht zu lösen ist; ‚Hochtief ‘ kontrolliert das gesamte Dasein; alle müssen sich dem vorherbestimmten, deterministischen Geschehen fügen und im Labyrinth verbleiben. Besonders auffallend sind die beständigen Versuche des Beobachters, den vorüberfliegenden Eindrücken in seinem Protokoll feste Form zu geben. Diese Konstellation wirkt besonders eindringlich in Ferne Erde (1997). In der Erzählung verfolgt ein Schriftsteller seine Gedanken während einer Nacht allein im Zimmer. Er folgt den Spuren von Ahnungen, Bildern, Erinnerungen und plötzlich auftauchenden Vorstellungen. Die festen Konturen verblassen. Die Analyse schildert den Zustand des Beobachters und entwickelt eine Gegen‐ überstellung von Erzähler-Ich und Ich. Der Beobachter belauscht sein Sprechen, fixiert den Blick, will alles „klar“ erkennen, untersucht die Bedeutung seiner Gedanken und verfällt in einen Dauerzustand quälender Reflexion. Er will nicht den „Dingen“ entkommen, sondern „ihrer Anziehungskraft“ gehorchen und mit einem tastenden Gefühl“ den „entfernten Schatten ins Dunkel“ folgen. 11 Sobald die Schatten feste Formen annehmen - Kopfnicken, Geburtstagwünsche, ein Spiegel, ein Datum, der Rand des Himmels, ein Telefonanruf, ein leerer Bogen Papier, Kopfschmerzen, ein Hotelzimmer -, verblassen sie wieder. Erzähler und Ich suchen verzweifelt eine Sinnstiftung im Dasein, die sich ständig entzieht. „Hellwach wollte ich irgendein Ende, einen Abschluß, der von der Verantwortung befreite, dem Morgen einen Sinn zu geben.“ (101) Urs Widmers Erzählungen kommt in der thematisierten Wirklichkeitser‐ fahrung und Selbstentwicklung besondere Bedeutung zu, da die vorbildlich geschriebenen Geschichten ein Plädoyer für die kindlich magische Weltsicht enthalten, die die rationale Wirklichkeit trotz konkreter Darstellung verblassen lässt. Die Erzählungen erobern die Phantasie, verklären die Erinnerung und kon‐ frontieren Leser mit der Einsicht, dass Menschen lernen müssen, Widersprüche anzuerkennen. Die Dialoge sind nicht Kampfhandlungen, sondern förderliche Gespräche und Unterhaltungen in einem Kreis von Menschen, die sich wie etwa in Liebesnacht (1982) zusammenfinden. 45 3. Wirklichkeitserfahrung, Entwicklung, Krise und Verunsicherung 12 Urs Widmer. Liebesnacht. Erzählung. Zürich: Diogenes, 1982. 10. Die Erzählung verknüpft in Gesprächen von zwei Jugendfreuden Rückblicke auf die Vergangenheit und Schilderungen unterschiedlicher Einstellungen zum Leben mit dem Ausblick auf die Zukunft. Sie thematisiert das Reisen, den Aufbruch ins Unbekannte und die Heimkehr. Das Erzählgerüst stützt sich dementsprechend auf das Kontrastpaar Heimat / Ferne. Der Erzähler sitzt in seiner Wohnung mit Frau und Kindern. Er schaut aus dem Fenster und sehnt sich „nach Geschichten, die von einer Zukunft sprechen; von einer Gegenwart wenigstens …“ 12 Das, was er erzählt, scheint zu Eis zu gerinnen. „Diese Endzeit.“ Seine Klage entspringt dem Ungenügen an der Moderne. Alles Alte ist überholt so wie sein Haus, das ursprünglich eine Bahnhofswirtschaft war, die ihre Funktion verlor, als jeder anfing, mit dem eigenen Wagen zu fahren. Seine unbestimmte Erwartung erhält feste Umrisse in seinem Jugendfreud Egon, der am Abend auf das Haus zukommt. Der Besuch, zeitlich auf eine Nacht begrenzt, schafft die Voraussetzung zu Gesprächen, die das vergangene Leben der Freunde umkreisen und ihre Denkart verdeutlichen. Beide versuchen, in der Bejahung des Augenblicks dem Dasein Orientierung zu geben. Beide träumen von einer besseren Welt. Der Erzähler gibt seinen Träumen in der Kunst feste Kontur. Sein Freund dagegen wird ruheloser Wel‐ tenbummler, der sich in nahen und fernen Ländern, in Frankreich, Griechenland, den Kanarischen Inseln, Argentinien, in Hafenstädten und Dschungeldörfern, ständig verliebt sorglos Kinder zeugt, die er scheinbar innig liebt, die ihn jedoch nicht dazu bewegen können, sesshaft zu werden. Die Erzählungen in der Nacht, an denen sich der Erzähler mit eigenen Geschichten beteiligt, kreisen um wiederkehrenden Aufbruch, Reisen, Sehnsucht und Liebeserfahrungen jeder Art. Die Ekstase im Leben beherrscht den Gesichtskreis: Rausch in intimen Beziehungen, Rausch im Trinken, Rausch im seligen Augenblick. Das Ganze ist ein Versuch, das Entzücken im Dasein einzufangen. „Ganz ohne ein eigenes Glück lässt sich von Glück nicht sprechen. Es gibt welche, die schöpfen nicht aus einem Mangel, sondern aus dem Überfluss.“ (137) Widmer gelingt es, diese Fülle auf einen Augenblick zu bannen. Dann steht Egon auf und geht zurück in die Weite. Die literarisch anspruchsvollste Erzählung Widmers ist Das Paradies des Vergessens (1990). Die Erzählung thematisiert unterschiedliche Aspekte im Entstehen eines literarischen Textes: Phantasie, Entwurf der Hauptfigur, Nieder‐ schreiben, Einstellung des Autors zu der von ihm geschaffenen Figur, Nähe und Distanz, Verhältnis zum Verleger, zur Umwelt und zu anderen Autoren. In der Erzählung überschneiden und durchkreuzen sich die fiktive Welt des Romans 46 3. Wirklichkeitserfahrung, Entwicklung, Krise und Verunsicherung 13 Urs Widmer. Das Paradies des Vergessens. Erzählung. Zürich: Diogenes, 1990. 59-65. und die fiktive, aber als real geschilderte Wirklichkeit, in der sich der Autor bewegt. Das Erzählverfahren dieser Form des magischen Realismus ermöglicht die Schilderung von Szenen, in denen sich der Autor auf die Suche nach der von ihm erfundenen Figur des alten Mannes macht, mit ihm spricht und mit ihm surreale Ereignisse beobachtet. 13 Erzählt werden vier und andeutungsweise eine fünfte Geschichte. Im Mittelpunkt des Geschehens steht das Leben eines Autors, seine Beziehung zur Umwelt, seine literarischen Bemühungen und seine Beobachtungen während des Schaffensprozesses. Inhaltlich gleichberechtigt sind die in der Erzählung geschilderten Abenteuer eines alten Mannes, der an Gedächtnisschwund leidet, Symptome eines Alzheimer-Patienten hat, alles, selbst seine Kindheit und Jugendfreunde vergessen hat, aber kindlich voller Phantasie die Welt liebevoll betrachtet. Im Gegensatz zu ihm wirkt die Figur des Verlegers zuerst außerordentlich geschäftstüchtig. Aber auch dieser scheinbar nur an Bestsellern interessierte Macher und Zocker ist zugleich humorvoll als weltfremder, erheiternd wirkender Zeitgenosse entworfen. Er verliert ein Manuskript des Autors, geht mit ihm auf Radtouren, feiert, trinkt und isst mit ihm, übersieht, wie dieser seine Freundin Cécile verführt und wird am Ende unter 80.000 umstürzenden Bänden eines von ihm gedruckten Erfolgsromans begraben. Nahtlos integriert in das Geschehen sind nicht nur die phantastischen Vignetten aus dem Leben der Figuren und possierlich kritische Szenen gegen‐ wärtiger Zustände in der Schweiz, sondern auch die verwirrenden Leseeindrücke des Autors, in denen Widmer die kritisch wägenden und unkritisch einfühlsamen Erfahrungen des Lesepublikums beschreibt. Cécile Pavarottis großer Wurf, „Der Fall Papp“, parodiert einerseits das Verlangen, an Bestsellern Gewinne zu erzielen. Andererseits dient die einfältige Handlung - ein Millio‐ närskind macht große politische Karriere - dazu, das Handeln und Denken von Politikern lächerlich zu machen. Obwohl tiefernst im Anspruch, wirkt es erhei‐ ternd, wenn der Autor versucht, die Phantasie gegen die ständigen Ansprüche der krassen Wirklichkeit zu verteidigen. Seine Welt ist die dadaistischere Kunst. Er liest beispielsweise einen scheinbar von Cécile geschriebenen Roman, der ihr stellenweise bekannt ist, aber auch fremd scheint und möglicherweise von ihm selbst stammt. Da er meistens vergisst, was in seinem Manuskript stand, machen sich alle von ihm geschaffenen Figuren selbständig. Der Autor hat ein Liebesverhältnis mit Cécile; der alte Mann wird mit der Verwarnung, besser auf ihn aufzupassen, in sein Haus gebracht. Die Radtour führt zu dem Ort, „wo später Delphi gebaut werden sollte“ (63), und es fängt an zu schneien, 47 3. Wirklichkeitserfahrung, Entwicklung, Krise und Verunsicherung 14 Urs Widmer. Im Kongo. Zürich: Diogenes, 1996. 212. während die sommerliche Sonne scheint. Schließlich geraten alle in Gefahr, zum Spielball unerwarteter Ereignisse zu werden. Das Dasein erhält jedoch Sinn durch die ständigen Metamorphosen, die zugleich magisch und realistisch den Eindruck einer fortwährenden Erneuerung des Lebens erwecken. Das Ganze ist eine Liebeserklärung an den hoffnungsvollen Blick in die Zukunft, die bewahrte Phantasie und die Fähigkeit, die Welt aus der Perspektive der Verzauberung zu sehen. Die literarischen Ortsbestimmungen des Romans Im Kongo (1996), in denen Übergänge von der Realität in sowohl fiktiv exotische als auch spielerisch absurde, dadaistische Räume jederzeit möglich werden, sind der Kongo und scheinbar undurchdringliche, für den Erzähler aber dennoch begehbare Wälder. Der Roman setzt ein mit einer Beschreibung des Waldes, der das Elternhaus des Erzählers umringt und dessen Kindheit beschützt. Am Ende seiner Abenteuer, in denen sich exotische Reisen, Traumfahrten und Metamorphosen durchdringen, bejaht der Erzähler Kuno Lüscher die untrennbare Verknüpfung seines Lebens und verallgemeinernd des Lebens aller Menschen mit dem Wald. „Der Wald: das alles Beherrschende ist aber der Wald. Er ist überall, er umzingelt dich. Er schweigt und ist doch voller Stimmen, die du nicht deuten kannst. Menschen‐ wesen? Tiere? Geister? Er ist bewegungslos und kommt dir, ob du nun achtsam bist oder nicht, unaufhaltsam näher. Er wird dich, wenn du dich nicht wehrst - und auch wenn du es tust -, überwuchern, früher, später. Du wirst ihm nicht entgehen.“ 14 Im Roman ist der Wald das Uranfängliche, der Urgrund der menschlichen Psyche. Auch die erheiternde Inszenierung von Kunos Reise in den Kongo, der nach seiner Verwandlung in einen schwarzen Häuptling und Brauereibesitzer seine neue Heimat wird, maskiert kaum eine Entdeckungsfahrt ins Innere der menschlichen Phantasie. Unausgesprochen, mehrdeutig und an‐ spruchsvoll sind Anklänge von Goethes naturwissenschaftlichen Überlegungen. Widmer, der 1992 Joseph Conrads Heart of Darkness neu übersetzte und mit einem Nachwort versehen hat, kennt sicherlich Conrads Faszination für Goethes Bemühung, die Eigenart des Typischen und das Wesen der Urpflanze zu bestimmen. Bei Conrad taucht im Bericht des Sehens, Erkennens und Fangens eines seltenen Schmetterlings im afrikanischen Urwald unvermittelt ein Hin‐ weis auf Goethes Denken auf, in dem sich Sehen, Erkennen und Verstehen wechselseitig bedingen. In Widmers Roman wird die Reise in den Kongo zur Erkenntnisreise und Lebensfahrt zum Urgrund des Seins. Wünsche und Ängste, Sex und Liebe, Machttrieb und Leiden, Bejahung der Jugend und des Alterns bestimmen das Leben Kunos. Zu Beginn der Erzählung klagt Kuno, er habe kein 48 3. Wirklichkeitserfahrung, Entwicklung, Krise und Verunsicherung Schicksal; am Ende ist es deutlich, dass sein Schicksal stellvertretend für alle ist, die sich, betäubt von der Fülle vorüberfliegender Eindrücke, hinaussehnen aus dem Wirrwarr der Zeit. Der Wald ist die Heimat. Er ist Anfang und Ende. Die Metamorphose erfüllt die Sehnsucht nach Entselbsten und Verselbständigung. Zugleich ermöglicht sie, durchaus humorvoll, die Verjüngung des Erzählers in einen jugendlichen Liebhaber. Darüber hinaus zwingt uns die Erzählung ständig über Unwahrscheinliches und Undenkbares nachzudenken. Das Erzählverfahren, ein magischer Realismus, gibt dem Fiktiven größeren Wahrheitsgehalt als der Realität. Es wird vom Erzähler selbst an einer Stelle des Romans durch Kursivschrift hervorgehoben: „Weil es nichts Wirkliches in den Städten gibt - ich weiß es, ich sage es euch -, wird das Unwirkliche wirklich“ (91). Trotzdem ist der Aufbau des Romans übersichtlich angelegt. Der Erzähler Kuno berichtet drei Lebensläufe: seinen eigenen, den seines besten Freundes und den seines Vaters. Kuno ist sechsundfünfzig und arbeitet seit dem einunddreißigsten Lebensjahr als Pfleger in einem Altersheim, in das sein Vater eingeliefert wird, nachdem er aus Versehen auf einen Postboten geschossen hat. Kuno säubert das Zimmer für den Vater, unterhält sich mit Herrn Berger, einem freundlichen Zimmernachbarn. Er klagt laut: „Einzig ich habe kein Schicksal“ und gesteht dann, er habe der atemberaubend schönen Schwester Anne einen Liebes- und Heiratsantrag gemacht. Anne lachte und beschied ihn mit der Redewendung, mit der sie jeden ablehnt: „Da können Sie warten, bis Sie schwarz sind.“ (16, 18) Der Handlungsverlauf beglückt Kuno dann mit dem außerordentlichen Schicksal seiner Metamorphose und der rauschhaften Vereinigung mit Anne, die ebenfalls beim Osterbocktrinken in Kisangani völlig schwarz wird. Die Lebensgeschichte des Vaters ist gleichermaßen abenteuerlich. Beim Einzug ins Altersheim stellt er fest, dass Berger ein alter Freund ist. Ihre Reminiszenzen kreisen um die Vorkriegs- und Kriegsjahre, in denen sie für den Schweizer Geheimdienst tätig waren. Der scheinbar solide kleinbürgerliche Vater entpuppt sich als Leiter eines wichtigen Büros des Sicherheitsdienstes. Berger und Lüscher plaudern gesellig von allerlei möglichen und undenkbaren Ereignissen, die in die Kindheit Kunos fallen. Begegnung und Freundschaft mit Hitler, Schweizer Generäle, die Ermordung der Mutter, Verstellung, Intrige, heimliche Treffen und Pläne jeder Art überkreuzen sich in dem plötzlich schick‐ salhaft anmutenden Dasein der Biedermänner. Die erzählte Vergangenheit wirkt so phantastisch und erheiternd, dass die sicherlich ernstzunehmenden Anspie‐ lungen auf die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg in den Hintergrund treten. Der Bericht der pikaresken Abenteuer Willys konturiert die Lebensfahrt Kunos. Kuno glaubt, sie seien „unzertrennlich“. Er verehrt seinen „besten“ 49 3. Wirklichkeitserfahrung, Entwicklung, Krise und Verunsicherung Freund, ist gutmütig, vertrauensvoll und glaubt alles, was ihm erzählt wird. Er hat und behält ein kindliches Gemüt. Willy ist der schlaue Picaro, der seinen Freund immer im Stich lässt, bereits als Junge seine Umwelt durchschaut, immer seinen Vorteil wahrt, mit Kunos Freundin Sophie in den Kongo verschwindet, im Zuge seiner Anpassung an die Welt völlig schwarz wird, eine schwarze Tochter hat, sich zum gerissenen Geschäftsmann und Stammesfürsten entwickelt, das ganze Land mit Osterbock beliefert und am Ende durch einen Trick das gesamte Stammhaus der Schweizer Anselm-Brauerei in seinen Besitz bringt. Das geschilderte Milieu, der ungezwungene Plauderton, in dem sich der Erzähler mit seinem Publikum unterhält („ein sonst cooler Jüngling, wir outen uns, die Lastwagen wurde geentert“), die erheiternde Mischung von puerilen und pubertären Träumen mit Wunschvorstellungen alternder Menschen (der Vater hat sofort eine Affäre mit Cindy, einer amerikanischen Studentin), das Brechen aller gesellschaftlichen Tabus und die deutlich bemerkbare Lust am Fabulieren verleihen dem Roman eine selten erreichte plastisch anmutende Realität des Seins im fiktiven Schein. Die Verwandlung in Phantasiefiguren ist nicht nur im Urwald denkbar. Kuno macht auf dem Rückflug nach Zürich eine Spesenabrechnung und geht zur Toilette. „Als ich die Hände wusch und in den Spiegel schaute, sah ich, daß ich einen weißen Vollbart hatte. Kraushaare. Und daß mein Gesicht tiefschwarz war.“ (174) Im Altersheim erfährt er, dass seine Abenteuer und Metamorphosen innerhalb einer knappen Woche stattfanden. Die ausgesprochen positive Bejahung der menschlichen Entwicklung in den Widersprüchen des Daseins gibt der Darstellung die Dimension eines fausti‐ schen Abenteuers, das in dieser besonderen Form nur von Joseph Conrad und Saul Bellow in Henderson the Rain King (1958) entworfen wurde. Wie sieht die Welt vor der bevorstehenden Jahrtausendschwelle aus? Widmer geht auf die Frage in einundzwanzig kurzen Geschichten ein. Mehrere in Vor uns die Sintflut (1998) stehen unter dem Vorzeichen der von Ernst Jandl und Kurt Schwitters, Raoul Hausmann, Hugo Ball und Hans Arp in ihrer Lyrik und ihren Geschichten verwerteten kunstvollen Verknüpfung von Zeitkritik, Humor und Spielerei. Das Trauma unserer Zeit - Orientierungsverlust, mensch‐ liche Vereinsamung, gestörte Verhältnisse, Erinnerungen an Kriege, die Bombe von Hiroshima, die Fülle vorbeifliegender Nachrichten und Bilder - redet in allen Geschichten mit. Außerirdische experimentieren mit verängstigten Menschen; Fernseher und Computer beobachten die ahnungslos Dasitzenden; einige erstarren in Gedanken an all die bevorstehenden Ungeheuerlichkeiten, und mancher hat schon im Geist seine Arche bereit, um der erwarteten Flut zu entkommen. Alles Denk- und Undenkbare trifft ein. „Nichts, was denkbar ist, geschieht nicht; zudem oft das Ungedachte. Die Wirklichkeit läßt keine Unge‐ 50 3. Wirklichkeitserfahrung, Entwicklung, Krise und Verunsicherung 15 Urs Widmer. Vor uns die Sintflut. Geschichten. Zürich: Diogenes, 1998. 56. 16 Martin Walser. „Reflexion“ in: Werke in zwölf Bänden. Bd. 8: Prosa. Hg. von Helmuth Kiesel unter Mitwirkung von Frank Barsch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997. 447. 17 Wolfgang Hildesheimer. „Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge und anderes“ 1983 in: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Bd. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991. 432, 517. 18 Martin Walser. Ein springender Brunnen. Roman. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998. 409-413. heuerlichkeit aus. Die Phantasie ist längst eine kleine, sorgsame Anarchistin geworden, die in den verkrusteten Falten des Gedächtnisses herumkramt und Dinge zutage fördert, die kein Mensch mehr für möglich hält.“ 15 All dessen ungeachtet hat Widmer eine lebensbejahende Antwort für seine verstörten Zeitgenossen. Die Tür zum Paradies steht jedem im Getöse der Großstadt, am und im Inneren des Gotthard, auf dem Dorf und im Kaukasus offen. Die Voraussetzung, sie zu finden, ist die Freude am Leben. Jeder soll sich aufraffen, gerne zu leben: „Sogar angesichts unserer Welt.“ (145) Martin Walsers Kommentar zur Frage der Orientierung in der Gesellschaft, der Ich-Suche und Identitätskrise ist aufschlussreich für seine Haltung als Erzähler. Er betont die Unmöglichkeit, das eigene Ich zu erfassen. „Auf sich selbst kann man sich nicht konzentrieren. Ich - das wäre die reine Grundlosigkeit. Da würde man aus der Schulstunde heraus in eine tönende Unausdrückbarkeit versinken.“ 16 Wolfgang Hildesheimer äußert ähnliche Zweifel. Er stellt fest: „Ich habe meine Identität verloren uns mache mich auf die Suche nach meinem Ich. Schließlich finde ich einen ganzen Haufen von Ichs. Welches aber ist das meine? Mir dämmert Furchtbares: ICH BIN NICHT EINMALIG! “ 17 Das „Vorwort als Nachwort“ in Walsers Springender Brunnen  18 befestigt die Erzählung bewusst eindeutig mit Hinweisen auf und Erklärungen von Spracheigenheiten im dörflichen deutschen Sprachraum. Sowohl den Familien‐ romanen von Kempowski und Wackwitz als auch den Erinnerungsdiskursen von Grass, Maron und Ortheil vergleichbar, beleuchtet die Handlung einen Ausschnitt aus der deutschen Geschichte. Der Erzähler berichtet aus der Per‐ spektive der Geschäftsleute, die Gastwirtschaften führen und Kohlenhandel betreiben oder dem Obsthandel nachgehen und sich durch Grundstücksankäufe wirtschaftlich verbessern wollen. Die Zeit von der Weltwirtschaftskrise bis zu den Nachkriegsjahren erscheint im Spiegel der Auswirkungen auf das Kleinbür‐ gertum. Der Roman thematisiert jedoch nicht nur die Haltung der Menschen zu den Ereignissen, sondern auch in der Bewusstseinsbildung der zentralen Figur Johann dessen Ich-Suche und wachsende Erkenntnisfähigkeit. Darüber hinaus ermöglichen Johanns Versuche, seinen zurückliegenden Eindrücken eine feste Kontur zu geben, einen fortgesetzten Diskurs über die Frage, inwiefern 51 3. Wirklichkeitserfahrung, Entwicklung, Krise und Verunsicherung das Vergangene durch eine Niederschrift greifbar wird und gegenwärtig sein kann. Die Einsicht, dass jedes gestaltende Schreiben zugleich eine Auseinan‐ dersetzung mit gegenwärtigen Hoffnungen, Wünschen und Träumen ist, gibt dem Roman seinen Titel: „Die Sprache, dachte Johann, ist ein springender Brunnen.“ (405) Die Reflexionen belegen, dass Walser deutlich die Schwächen einer Erinnerungsliteratur erkennt, die durch größte Konzentration auf Details den Eindruck authentischer Wiedergabe erwecken will. Er zeigt dagegen in der Entwicklung Johanns, wie sich Personen ändern und die Vergangenheit ihren neu gewonnenen Ansichten entsprechend umgestalten. Die manchmal wuchernden Einzelheiten in Schilderungen der Landschaft, des alltäglichen Lebens und der Eindrücke Johanns sind konsequent bezogen auf den Ansatz, dem historischen Geschehen Sinn abzuringen. Das gelingt in der Gestaltung der Auswirkung des großen Hergangs auf die kleine Welt. Der Erzähler trifft den Nerv der dörflich kleinstädtischen Gemeinschaft am Bodensee in Gegensätzen und Übereinstimmungen, im Bestreben, der Wirt‐ schaftskrise zu entkommen, in der Veränderung in der Einstellung zur Tages‐ politik und zum Krieg. Besonders aufschlussreich sind die Einblicke in die Gefährdung der Menschen durch Handeln und Unterlassungen in den von den ökonomischen und politischen Ereignissen ausgelösten Lebenskrisen. Zugleich erfassen einzelne Aussagen und Reaktionen typische Verhaltensweisen. In ihnen kommen Grundwidersprüche der europäischen Welt und der deutschen gesellschaftlichen Entwicklung zu Wort. Der Rückgriff auf die Vergangenheit, in der Ereignisse aus dem Ersten Weltkrieg, aus der Wirtschaftskrise, aus den Jahren der Machtübernahme und des Zweiten Weltkriegs das Blickfeld der Betroffenen beherrschen, ermöglicht die Darstellung einer umfassenden Palette unterschiedlicher Gesinnungen. Walser schildert besser als Kempowski die Veränderung und Zurichtung der inneren Natur der Menschen im Wechsel der gesellschaftlichen Ansprüche. Manche empfinden, dass sie alles vergessen müssen, was sie gelernt haben. Die Not verlangt, eine Unterschrift zu fälschen, um das Restaurant zu retten. Die Angst verleitet dazu, nach der Kommunion den Hitler-Gruß zu üben oder wegzusehen, wenn ein halbjüdischer Schüler aus der Gruppe ausgestoßen wird. Ratlosigkeit und Sorge um die eigene Sicherheit münden in Schweigen, wenn Dachau erwähnt wird. Demgegenüber werden andere, für die ein Lehrer beispielhaft wirkt, überzeugte Anhänger der Partei, die rücksichtslos auf dem propagierten Fortschrittsprogramm bestehen und nachts Menschen verprügeln, die sich nicht der neuen Ordnung fügen. Einige wie etwa der Vater mit einer kleinen Gruppe Gleichdenkender ziehen sich hilflos zurück, ohne offenen Widerstand zu leisten. Die Anpassungskunst vieler wird deutlich im Entschluss 52 3. Wirklichkeitserfahrung, Entwicklung, Krise und Verunsicherung der Mutter, in die Partei einzutreten. Sie wird Mitglied nicht aus Überzeugung, sondern aus der nüchternen Überlegung, dass der Gasthof von dort abgehal‐ tenen Versammlungen der Nazis profitieren werde. Sie ist geradezu „erlöst“ von ihrer Entscheidung. In ihrer Erklärung kommen breite Bevölkerungskreise der Mitläufer und Nischensteher zu Wort: „Mein Gott, man kann doch nicht gegen die Leute leben, wenn man von ihnen leben muß, oder! “ (250) Diese Eindrücke wie auch die vom Radio übertragenen Reden in Berlin am 30.1.1933 die erste Liebeserfahrung, der Entschluss, sich freiwillig zu melden, der Tod des Bruders im Krieg und alltägliche Ereignisse, sei es das Abliefern von Kohlen oder die Ei‐ genart und die Leiden einzelner Einwohner, bestimmen den Erfahrungshorizont Johanns. Er denkt darüber während der Apfelernte und später am Schreibtisch nach. Als kritisch reflektierender Erzähler kommt er zu der Überzeugung, die Walsers eigener Überzeugung entspricht. Eine Lebensgeschichte ist keine faktische Dokumentation. Erinnerung ist Formgebung von Ereignissen. „Wir überleben nicht als die, die wir gewesen sind, sondern als die, die wir geworden sind, nachdem wir waren. … Ist jetzt im Vorbeisein mehr Vergangenheit oder mehr Gegenwart? “ (15) Die Ich-Suche ist erfolgreich. Die Betonung liegt auf dem Leben und der Orientierung im Mitleben. 53 3. Wirklichkeitserfahrung, Entwicklung, Krise und Verunsicherung 1 Zur Anpassung vgl. Horst S. u. Ingrid Daemmrich. Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch. 2. überarbeitete und erweiterte Neuauflage. Tübingen: Francke Verlag, 1995, S. 45-47. 2 Otti Pfeiffer. Der Mittelweg in: Mädchen, pfeif auf den Prinzen! Märchengedichte von Günter Grass bis Sarah Kirsch. Hg. von Wolfgang Mieder. Köln: Eugen Diederichs Verlag, 1984. 62. 4. Einkreisung: Anpassung und Suche nach Orientierung In der thematisierten Einkreisung der Figuren zeichnet sich weitgehend ein latentes Gefühl des Unbehagens am Alltag ab. In der Empfindung mischen sich Bewusstes und Unbewusstes, Langeweile und Unlust, Angst vor dem zur Konvention erstarrten Familienleben, in dem erschöpftes oder auch teil‐ nahmsloses Nebeneinander die Liebesbeweise und verbindenden Gespräche verdrängt hat, verhinderte Dialoge mit anderen, Altern, Sterben und Tod als alltägliche Ereignisse, das hilflose Bewusstsein, der Überfülle der auf Bild‐ schirmen vorüberfliegenden Nachrichten keinen Sinn abgewinnen zu können, und die erzwungene oder gewollte Anpassung an die bestehenden Verhältnisse. Die Veranschaulichung des Unbehagens hinterlässt Spuren in Darstellungen der hilflosen Anpassung und der verstörten Auflehnung. Die Thematisierung der Anpassung in der Gegenwartsliteratur knüpft an ein in der literarischen Tradition etabliertes Thema an: Erzählungen lassen die begrenzte Sicht der Figuren in den Vordergrund treten; sie passen sich an, um zu überleben, ohne bewusst über ihr Handeln nachzudenken. 1 Was die Schilderungen verbindet, ist die scharfe Profilierung des Orientie‐ rungsverlusts und der Unfähigkeit der Figuren, dem Leben einen richtungswei‐ senden Sinn abzugewinnen. Selbst der Versuch einer Anpassung als Mittelweg im Leben erscheint zweifelhaft: „Das Wasser des Lebens / Der goldene Mit‐ telweg / führt nirgends hin / führt nicht weiter / endet auch nicht / Immer rundum im Kreis / läßt er mich gehen / immer rundum im Kreis.“ 2 Offene Landschaften, weite Räume, Erinnerungsbilder und die gesamte Darstellung gesellschaftlicher Bedingungen sind weitgehend reduziert auf Zimmer, Warte‐ räume in Bahnhöfen, labyrinthische Straßen und vorüberfliegende Bilder am Fernsehen und auf elektronischen Maschinen (Computer, iPhone, iPod). Die Figuren rennen durch Straßen, steigen in Schächte, sitzen in einer Hütte auf der Müllhalde oder in anonymen Büros, beteiligen sich an Rekordrennen und schwimmen in einem Käfig im Meer. Der jeweilige Handlungsverlauf deutet aber an, dass sie von einer Flut von Bildern umgeben sind, Reize verfolgen und Visionen nachgehen. Sie verlieren sich in Sphären, die im Bildschirm beginnen und ins Unendliche führen. Die Grenzen zwischen Realität und gespielter Welt sind durchlässig. Übergänge sind jederzeit möglich. Ein Bild, eine Situation oder ein Wunsch löst eine Kette von Reaktionen aus. Eine Figur spielt ein Computerspiel und überträgt das Erlebnis auf andere Erfahrungsbereiche. Oder der Spieler verliert sich im Spiel und wird mithandelnde Person im Programm. William Gibsons Neuromancer (1984) beispielsweise ist weitgehend eine Erzählung von Ereignissen, die in Computer-Bildern stattfinden. Die Erzähler-Beobachter wirken mit. Sie haben teil am Geschehen, auch dann, wenn sie sich nur fragen, warum sie nicht gehandelt haben. Handeln und Nicht-Handeln verstrickt sie gleichermaßen in das Geschehen. Die Sünden des Unterlassens wiegen ebenso schwer wie die des Handelns. Sie überlegen, sprechen vor sich hin und versuchen, den Gedanken Authentizität zu geben. Perikles Monioudis thematisiert ständig wechselnde Wahrnehmungen, die zu keiner Erkenntnis führen, in der Kreisbewegung des Romans Das Passagierschiff (1995). Der Ablauf der Handlung führt vom Gasthof „Bären“ in Unterriet nach Zürich, dann im Flug nach Philadelphia, zurück nach Zürich und zum „Bären“ und endet mit dem Kapitel ‚Gebrüder Suter Elektronik A.G.‘, das jegliche Auskunft über die Firma vorenthält. Der Erzähler, Fernando Garcia, ist neu angestellt in der Personalabteilung der Firma Suter. Er erhält die Aufgabe, genaue Auskünfte über Herrn Fuhre, der sich bei der Firma beworben hat, zu ermitteln. Garcia beobachtet Fuhrer in Zürich, Philadelphia, Zürich und macht ständig Aufnahmen mit seiner Videokamera. Sein Bericht stützt sich auf die Bilder und erfasst nur Äußerliches: Fuhrer geht von Bank zu Bank, eilt zu Versicherungskonzernen, wechselt vier Anzüge, hat immer dieselbe Aktentasche, isst in verschiedenen Restaurants. Fuhrers Wesen, seine geistige Verfassung und Haltung zur Gesellschaft bleiben unbestimmbar. Die Bespre‐ chung nach Abschluss der Nachforschungen besteht aus Reaktionen auf völlige Belanglosigkeiten. Die wirklichkeitsnahen Beschreibungen konzentrieren sich auf Konturen, deren Wesen schemenhaft bleibt. Der Erzähler ist verunsichert. Er steht in einem Eisregen, sieht das Ereignis am Fernsehen, liest es in der Zeitung und glaubt nach dreifacher Vermittlung, dass er den Regen erlebt hat. Trotzdem verschwimmt alles wie die kurz abgelichteten Katastrophen am Fernsehen und die Eindrücke der Stadt Philadelphia. Das Passagierschiff unterstreicht den Kontaktverlust aller in der Spurensuche, welche die Wiederkehr derselben Episoden festhält. Der Kreislauf leitet keine Steigerung zu einer höheren Bewusstseinsstufe. Alle 56 4. Einkreisung: Anpassung und Suche nach Orientierung 3 Perikles Monioudis. Das Passagierschiff. Zürich: Nagel & Kimche, 1995. 166 ff. 181ff. 4 Perikles Monioudis. Die Forstarbeiter, die Lichtung. Zürich: Nagel & Kimche, 1996. 31-38. Figuren reden in Gemeinplätzen, stehen sich hilflos gegenüber und bleiben undurchschaubar wie die Firma. 3 Die Forstarbeiter, die Lichtung (1996) ist eine Sammlung kleiner Skizzen und Erzählungen, in denen ein kühl distanzierter Spaziergänger unterschiedliche Ereignisse, Begegnungen und Eigenheiten einzelner Figuren beobachtet und scharf ablichtet. Die Ausschnitte aus dem Leben Einzelner notieren Unfälle, den Selbstmord eines Pfarrers, den plötzlichen Wutanfall eines Mannes, weil ihn ein Junge nicht gegrüßt hat, und das Benehmen eines Exzentrikers. 4 Die Erzählungen verdeutlichen die eigentümliche Ambivalenz in menschlichen Beziehungen, die freiwillige Begrenzung, das völlige Ausklammern bedeutender Anliegen der Zeit und die Anpassung an die Umstände, die Monioudis ebenfalls in der Verwechslung (1993) herausarbeitet. Man begegnet anderen, nimmt teil an ihrem Leben, scheint jedoch auch wiederum alles sofort zu vergessen. Man folgt dem Mittelweg, der im Kreis führt. Der Verlust der Orientierung bestimmt das Leben. In einigen eindringlichen Darstellungen der Einkreisung, besonders in Aus‐ arbeitungen einer „nachgetragenen“, späten Liebe zu lange unverstandenen oder sogar verachteten Familienangehörigen, ist die distanzierte Haltung des Erzählers unverkennbar. Jakob Heins Familiengeschichte Vielleicht ist es sogar schön (2004) veranschaulicht das Alltagsleben und Aufwachsen in der DDR. Die Geschichte von Jakobs Kindheitsjahren, der Jugend und seines Studiums mit Aufenthalt in Amerika wird vertieft durch Rückgriffe auf die Vergangenheit, die Kindheit der Mutter, deren jüdischer Vater in den Wirren der Nazizeit ums Leben kommt, und einzelnen Kapiteln, die von der Krebserkrankung und vom Tod der Mutter berichten und die das Leben der unerfreulichen, verbitterten Großmutter beschreiben, die ihrem Geliebten nachtrauert, immer leidet, aber das Leiden genießt und schließlich einen überzeugten Kommunisten heiratet. Mit Ausnahme der Großmutter passen sich alle an die Umstände an. Die Familiengeschichte ist nüchtern, ohne Klage, ohne Nostalgie oder Lobgesang auf das verfehlte sozialistische Ideal wie etwa bei Peter Hacks, seinem Kreis und Christa Wolf. Selbst die kritische Sichtung des Daseins von Personen, die halbjüdisch sind, und die Problematik der jüdischen Gemeinde in Berlin, der Abriss der Krankenbehandlung und der Ärzte, die hilflos vor Kranken stehen, denen sie nicht helfen können, unterstreicht die Anpassung an die scheinbar unabänderliche Situation. Der Erzähler gewinnt Distanz und findet Orientierung in seiner nachgetragenen Liebe zur Familie. 57 4. Einkreisung: Anpassung und Suche nach Orientierung 5 Peter Härtling. Eine Frau. Darmstadt: Luchterhand, 1974. 59-62. Die in Peter Härtlings Gedichten, Kurzgeschichten und Romanen vermit‐ telten Eindrücke und geschilderten Erfahrungen einzelner Personen themati‐ sieren die Vergangenheitsbewältigung, die Einkreisung und das Fremdsein in der Gesellschaft und Versuche, durch Anpassung überleben zu können. Die Beobachtungen in Der Wanderer (1980) gehen anscheinend von Härtlings persönlichen Erfahrungen aus. Sie betonen Orientierungsverlust, Fremdsein und Suche nach Behausung. Die Erzählung stilisiert die existenzielle Notlage der Menschen im 20. Jahrhundert zur zeitlosen Wanderung, die nichts mit der Wanderlust der Romantik zu tun hat, sondern das Entsetzen aller Vertriebenen, Enteigneten, Verhafteten und Verschleppten einfängt. Das Leitmotiv „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“ unterstreicht die Notlage des Erzäh‐ lers, der weder richtet noch politisch konkrete Vorschläge zur Neuordnung der Welt macht. Auch die sorgfältig eingearbeiteten Skizzen aus dem Leben Wilhelm Müllers, Franz Schuberts, Seumes, Hölderlins und der Zeitgenossen Härtlings, besonders Werner Kraft in Jerusalem und seines Freundes und Mentors, des Malers Fritz Ruoff, sind Facetten einer archetypischen Situation: der grenzen‐ losen Erfahrung des mit dem Fremdsein verbundenen Orientierungsverlusts im Leben. Eine Frau (1974) ist im Umriss der Lebensbericht von Katharina Wüllner mit wechselnden Erfahrungen von der Kindheit bis zur Entscheidung ihrer Kinder, sie 1970 in ein Altersheim in Sillenbuch bei Stuttgart einzuliefern. Ihre Erlebnisse als Halbjüdin und Frau eines reichen Fabrikanten sind eingefärbt sowohl von den historischen Ereignissen der Kriege und der Reichsgesetze als auch durch das Leben in Prag und Brünn, der Tschechei und dem Protektorat und schließlich nach der Übersiedlung in Stuttgart. Die Erzählung veranschaulicht die sich langsam vollziehende Erkenntniserweiterung Katharinas aus einem behüteten Dasein in einem traumhaft entlegenen Garten über die Aufbruchsstimmung des Ersten Weltkrieges, 5 die unlösbare Verknüpfung des Persönlichen mit der politischen Entwicklung (135-195) und ihr Leben als Flüchtling (318 ff). Sie ent‐ wickelt ein Bewusstsein für die sich ändernden gesellschaftlichen Bedingungen, das jedoch auf eine humane Erweiterung des Gesichtskreises begrenzt bleibt. Sie hofft, zögert und verschiebt jede festumrissene Neuordnung in die undeutliche Zukunft. Ein konkretes Reformanliegen ist überschattet von dem Gefühl, dass sich nur wenig in der Haltung aller geändert hat: Man überlebt, indem man sich an wechselnde soziale und politische Zustände anpasst. Das wesentliche Thema des Romans Nachgetragene Liebe (1980) ist die Einkreisung, die der völligen bewussten und unbewussten Anpassung an die 58 4. Einkreisung: Anpassung und Suche nach Orientierung 6 Peter Härtling. Nachgetragene Liebe. Darmstadt: Luchterhand, 1980. 81. 7 Jochen Beyse. Das Affenhaus. Erzählung. München: List, 1986. 12-14. politische Konstellation vorausgeht. Die Erkenntnis des Erzählers, dass seine Liebesfähigkeit für den verstorbenen Vater zu spät kommt, entspringt seiner ebenfalls verspäteten Einsicht in seine Entwicklung, die parallel zum Aufstieg des Nazi-Regimes verlief. Der Erzähler erinnert sich an das Schweigen des Vaters, der unter der allgemeinen Angst litt und sich verschloss. Er weiß jetzt, dass er als aufwachsender Junge völlig vom Geist der Zeit beeinflusst war. Sein Verhältnis zum Vater ist einseitig geprägt: Er ersehnt eine „heldische Figur“ und diese soll den von Lehrern in der Schule eingeimpften Idealen entsprechen. 6 Der Junge findet eine neue große Familie im Jungvolk; er verfällt verständnislos dem Gruppengeist der Nazi-Ideologie und verkommt wie die anderen hasserfüllten Kameraden. Sein Absinken verläuft parallel zum Zusammenbruch des Reiches (118 ff.). Der Erzähler hat Eltern, einen liebevollen Vater, der aus Angst vor der Gesellschaft immer schweigt (111-112) und im Gefangenenlager stirbt (166), aber er hat keine Helfer, da er jeden Beistand ablehnt und da alle anderen in Klischees reden oder schweigen. Der Erzähler erkennt schließlich seine Schuld und die Schandtaten des Dritten Reichs. Er erkennt, dass das Schweigen aller ein Symptom ihrer völligen Entfremdung und Einkreisung war. In Jochen Beyses Das Affenhaus (1986) steht der Versuch, einen Dialog herzustellen, und der absolute Misserfolg, das Schweigen zu überwinden, im Schnittpunkt der Erzählung. Der Erzähler lebt in einem Pflegeheim und versucht, sein Ich im Verhältnis zu seiner Umwelt zu bestimmen. Er weiß, er muss mit anderen sprechen, muss einen Dialog entwickeln, bekennt jedoch zugleich, dass er gezwungen ist, „unaufhörlich“ mit „seltenen Vokabeln“ zu reden, und dass er von den „gewaltigen Bildern“ seiner Anschauungskraft überwältigt wird. 7 In seinen Halluzinationen tauchen tropische Landschaften, Erinnerungen an Tarzan und Affengestalten auf. Er betrachtet Zeichnungen von William Hogarth, taucht in den Bildern unter und will sie zum Sprechen bringen. Schließlich konfrontiert er den Schriftsteller Maude im Speisesaal. „Sie sind also Schriftsteller, schrie ich … Keine Antwort. Romane vielleicht, schrie ich. Erzählungen. Schweigen. Ich dachte nach. Novellen, schrie ich … Also Tiergeschichten, schrie ich.“ (36) Kein Dialog! Er ist verzweifelt und prüft den ersten Satz seiner eigenen Geschichte: „Und so erwachte ich eines Morgens voll Feuer und neuem Antrieb! schreie ich, und danach: Das ist der klassische Anfang für eine Tiergeschichte.“ (37) Plötzlich entsteht ein Kontakt. Maude schreibt auf eine Papierserviette: „Sie glauben, Sie sind ein Mensch, Sie Affe.“ (37) Die Feststellung führt zu langen Überlegungen, die ihn zwingen, Maude erneut zum 59 4. Einkreisung: Anpassung und Suche nach Orientierung Sprechen zu bringen. Der Erzähler will mit ihm über Proust, Burroughs und Emily Brontë sprechen und verlangt die Fortsetzung seines Satzes. Der Dialog versagt. Maude trommelt ihm mit einem Löffel auf den Kopf. Der Erzähler sucht neue Anfänge, will die Dinge zum Sprechen bringen, sucht eine neue Sprache, sucht Halt in der Literatur, alles misslingt und er erkennt zuletzt den völligen Orientierungsverlust in der Welt. Der Aufbruch in die Voraussetzung für normale zwischenmenschliche Beziehungen endet in Aggression. Die Erzählungen Wilma (1994) von Evelyn Grill und Die Beschattung (1989) von Martin Grzimek erfassen Rückfälle ins Barbarische in einer sinnlosen, medientechnologisch gleichgeschalteten Gesellschaft, in der Figuren umhertau‐ meln. Gestörte Familienbeziehungen, Liebesverlust, Brutalisierung scheinbar geliebter Menschen, Abrechnungen, misslungene Ausbruchsversuche, die Un‐ fähigkeit, Kontakte mit anderen aufzunehmen, hilflose Versuche einer Kritik und Anpassung an die gegebenen Bedingungen kennzeichnen die eindrucks‐ vollen Darstellungen von Hahn, Handke, Haushofer, Hein, Köhlmeier, Muschg, Reinshagen, Vanderbeke und Wohmann. Der amerikanische Bestsellerautor Stephen Edwin King verwertet die beson‐ dere Situation des Kampfes der Geschlechter zur Intensivierung des Grauens in seiner Schauergeschichte Misery (1987), in der eine Frau den Geliebten im Zimmer gefangen hält, züchtigt und terrorisiert. Die bekannte Lyrikerin Ulla Hahn vertieft diese Situation in ihrem Roman Ein Mann im Haus (1991). Die in der Erzählung geschilderte Abrechnung wurzelt in einem seit Jahren beste‐ henden intimen Verhältnis zwischen der Kunstgewerblerin Maria Wartmann und dem verheirateten Küster Hansegon. Maria träumt von Liebe, leidet, magert ab und wartet. Die kurzen Augenblicke ihres Glücks sind von Hansegons Terminen, dessen gutbürgerlichem Leben an der Seite seiner Frau und seiner Stimmung abhängig. Maria weiß, dass Hansegon auch während ihres Zusam‐ menseins auf Abruf an anderes denkt und zuweilen heimlich auf die Uhr schaut. Eine erlösende Liebesbeziehung kann nicht entstehen, denn die Stunden mit ihm sind von derselben Lieblosigkeit bestimmt, die im alltäglichen Leben Hansegons herrscht. Letztlich besteht eine Verbindung zwischen beiden nur im Sexuellen. Deshalb verzehrt sich Maria auch in der Vorstellung eines Mannes, der im Bett auf sie wartet. Ihre Abrechnung ist konsequent. Sie nimmt Hansegon gefangen, bindet ihn mit kunstvoll angefertigten Fesseln auf das Bett und klebt seinen Mund zu, um ihn am Schreien zu hindern. Daraufhin sorgt sie aufopferungsvoll für den Gefangenen, flößt ihm flüssige Nahrung mit einem Strohhalm ein, saugt seine Nase sauber, damit er besser atmen kann, und spielt zwischendurch mit seinem Geschlechtsteil. Die klinisch genauen Beschreibungen stilisierter Vergewaltigungen des Mannes, sexueller Entgleisungen und der Fäkalien im 60 4. Einkreisung: Anpassung und Suche nach Orientierung 8 Ulla Hahn. Ein Mann im Haus. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1991. 184. 9 Birgit Vanderbeke. Das Muschelessen. Berlin: Rotbuch, 1990. 21. Bett wirken gezielt abstoßend. Die Erotik endet im Kot. Hansegon wird in einen schmutzigen Balg verwandelt. Er wird völlig hörig, kleiner und dünner. Aber seine Leiden in der Anpassung, Erniedrigung und Demütigung lassen in Maria kein Gefühl des Triumphs aufkommen. Sie sieht nur ein Spiegelbild ihrer eigenen Not und Verzweiflung. Deshalb versucht sie schließlich auf dem Weg ihrer Kunst, den entsetzlichen Umständen einen Sinn abzugewinnen. Sie nimmt dem vergeblich schreienden Hansegon eine Totenmaske ab und benutzt sie als Modell für Masken von Engeln aus Silber und Gold, die der große Schlager des Weihnachtsgeschäfts werden. Hansegon ist überflüssig geworden. Maria fährt ihn aufs Land und wirft ihn mit der Bemerkung „Wir sind quitt“ 8 aus dem Wagen. Das unmissverständliche Fazit der Erzählung ist der Verlust der Menschenwürde in einer Welt der Erstarrung, in der jeder Anflug von Liebe auf das Triebhafte reduziert ist. Birgit Vanderbeke schildert in zahlreichen Erzählungen vergleichbare Aus‐ einandersetzungen zwischen Liebenden und ausweglose Situationen im Fami‐ lienleben, etwa in der Erzählung Das Muschelessen (1990). Sie belegt, dass selbst eine radikale Abrechnung mit dem Vater, dem Patriarchen, und selbst mit Gott keine Erlösung aus dem Schrecken des Alltags bietet. Anklänge an das Haus der Atriten von Tantalus bis Clytemnestra verstärken den Eindruck des düsteren Geschehens. Das Muschelessen setzt ein mit den Vorbereitungen auf ein Festmahl, mit dem die Beförderung des Vaters gefeiert werden soll. Der Vater kommt nicht. Während die gekochten Muscheln langsam gelb und ungenießbar werden, rechnet die Familie mit dem Patriarchen ab. Das Warten entwickelt sich zur Gerichtssitzung. Darin treten nicht nur die Verfehlungen des Vaters, sondern auch die menschlichen Schwächen der Mutter, des Sohnes und der Tochter deutlich hervor. Der Bericht der Tochter, durch kurze Bemerkungen wie „haben wir gesagt, hat er gesagt, hätte ich gesagt“ bekräftigt, setzt mit dem Warten ein, kreist um Ereignisse der Vergangenheit und kehrt zum gegenwärtigen Zustand der Erstarrung zurück. Die Abrechnung bringt keine Erlösung, denn sie bietet keine Voraussetzung für eine durchgreifende Reform von Bestand. In ihrer wortlosen Ergebenheit ähnelt die Familie den Muscheln im Topf. Mutter und Kinder haben den Schein einer heilen bürgerlichen Familie aufrechterhalten. Sie haben jedoch nur Rollen im Theater des glücklichen Zusammenseins gespielt. Der Vater ist ein Autokrat, ein „Stimmungs- und Spielverderber“, 9 der jede freie Entwicklung der Anlagen seiner Frau und Kinder unterbunden hat. Er organisiert das Leben, dominiert die Unterhaltung, bestimmt, was gegessen 61 4. Einkreisung: Anpassung und Suche nach Orientierung 10 Birgit Vanderbeke. Friedliche Zeiten. Erzählung. Hamburg: Rotbuch, 1996. 11 Birgit Vanderbeke. Alberta empfängt einen Liebhaber. Berlin: Fest, 1997. 44. wird, und plant alle Familienausflüge wie auch jeden Urlaub. Die Gespräche sind keine Aussprachen, sondern verlaufen in Form aggressiver Befehle. Die Familie spielt mit, entwickelt aber ein heimliches, nörgelndes Eigenleben, sobald der Vater auf Dienstreisen ist. Die bedrückende Atmosphäre entlädt sich, als die Mutter die Muscheln wegschüttet und das Telefon nicht abnimmt. Möglicherweise ruft der Vater an, vielleicht ist er nicht befördert worden, vielleicht ist er tot. Die Erzählung gibt keine Antwort. Das ist auch nicht nötig. Alle sind gleichermaßen schuldig an der menschlichen Verödung. Der Vater ist beseitigt, aber die Abrechnung bringt keine sinnvolle Orientierung im Dasein. Die Erzählerin in Friedliche Zeiten (1996) ist dem Muschelessen vergleichbar die Tochter, die sich mit der übertriebenen, tyrannischen Fürsorge der Mutter auseinandersetzt. 10 Die Gedanken der Mutter kreisen noch immer um den im Krieg gefallenen Verlobten, um ihren Mann, der möglicherweise nicht nach Hause kommen könnte, um den unwahrscheinlichen Fall, ein Mitglied der Familie könnte plötzlich einen Anfall von Kreislaufschwäche erleiden und ohnmächtig werden, kurz um unsicheres Leben und ihren frühen Tod. Türen sind unverschlossen, die Kinder grübeln im Bett über die Mutter nach, versuchen, alle banalen Ereignisse zu deuten und rätseln herum, auch über einen möglichen Unfall oder Selbstmordversuch der Mutter. Am Ende können sie nicht mehr sprechen und schweigen. Die Erzählerin reflektiert und erkennt die Ausweglosigkeit der Situation, bleibt aber im Kreislauf des Unentrinnbaren gefangen. Alberta empfängt einen Liebhaber (1997) verknüpft drei Geschichten. Das erste Kapitel schildert die Geschichte zweier Jugendlicher, Alberta und Nadan, die sich lieben, aber nicht recht zueinander finden. Diese Begebenheit wird von einer Frau berichtet, die mit ihrem Mann in der Nähe Lyons lebt und während der häufigen Abwesenheit des Mannes gelangweilt und auch besorgt mit ihrem Kind zu Hause sitzt. Die Geschichte soll ihre Ehe auffrischen. Als dies nicht so recht zu gelingen scheint, entschließt sie sich, eine Fortsetzung zu schreiben. In dieser Geschichte wird sie von Nadan angerufen und lädt ihn zum Essen ein. Sie empfängt einen Liebhaber. Nadan kommt und die Autorin erkennt, dass „Liebe im Kopf viel leichter ist als Liebe im Leben.“ 11 Der Epilog führt in den Alltag zurück. Der Mann liest die Erzählung und beglückwünscht seine Frau zu der gelungenen Geschichte. Vanderbeke betont, dass innerhalb der Erzählung die Unfähigkeit aller, einen verbindlichen Dialog herstellen zu 62 4. Einkreisung: Anpassung und Suche nach Orientierung 12 Vgl. dazu Richard Wagner (Hg.). „Ich hatte ein bißchen Kraft drüber“. Zum Werk von Birgit Vanderbeke. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch, 2001. 148. 13 Birgit Vanderbeke. Fehlende Teile. Erzählung. Frankfurt a. M.: Fischer, 1998. 14. können, offensichtlich wird. 12 Das Schweigen beherrscht die Situation. Was bleibt, ist die Anpassung an die Umstände. Die Erzählung Fehlende Teile (1998) berichtet einfühlend und zugleich kritisch distanziert die Geschichte einer jungen Frau, die nach vollkommener Liebe strebt. Die Erzählerin wählt den Namen Lila bewusst als Anspielung auf Lila in Frischs Roman Mein Name sei Gantenbein (1964), deren Existenz darin besteht, ein Wunschbild begehrenswerter Vorstellungen zu sein. Sie existiert nicht, dient aber als Kontrastfigur zur beruflich tätigen und tüchtigen Frau, die brauchbar und „langweilig“ ist. Lila gibt es nicht. „Es gibt sie zum Beispiel als Badeanzug.“ 13 Die Frau spielt die Rolle des „Lilalein-Seins“, um sich, ihren Mann und die Welt von ihrer Gesamtheit zu überzeugen. Schein wird Sein, aber die Frau kann die innere Ambivalenz nicht überwinden. Sie spürt im alltäglichen Zusammenleben den Stachel des Ungenügens am Wunschbild der Perfektion. Sie lebt im Zustand ständiger Sorge. Sie befürchtet, die Äußerungen der Liebe könnten zur Gewohnheit werden, in konventionellen Gesten erstarren und schließlich in gleichgültigem Nebeneinander versanden. Sie beschuldigt innerlich den Mann, die Gefahr nicht zu erkennen. Während er liebevoll ihren Nacken streichelt, denkt sie sich Strategien aus, um ihn aus seiner „Blindheit“ zu reißen. Sie spielt mit der Rolle einer Frau, die ein Verhältnis mit einem anderen Mann hat, reist nach Bremen, trifft sich mit einem imaginären däni‐ schen Hünen und verstreut fiktive, von ihr selbst geschriebene Liebesbriefe in der Wohnung. Sie denkt sich ständig neue Möglichkeiten verführerischer Ermunterungen aus, die sich ausnahmslos als aussichtslos erweisen. Sie spielt mit Gedanken körperlicher Verwandlung, die um gefärbte Haare, veränderte Wangenknochen oder Fußgelenke und einen üppigen Busen kreisen. Lila er‐ kennt ihr ergebnisloses Bemühen. Die Erzählerin stellt fest: „Manchmal fürchtet sie selbst um ihren Verstand, wenn sie feststellt, wie sehr sie im Bild ist.“ (80) Die Situation ist unveränderlich. „Gelegentliche Nackenverspannungen werden wiederholt weichgestreichelt. Gelegentliche Fälle und Anfälle von Mordlust oder Ermüdung treten wechselseitig auf …“ (86) So immer weiter bis ins Alter. Man muss sich nur ständig „etwas Neues ausdenken und einfallen lassen.“ Die Geschichte verzahnt innere Monologe, in denen augenblickliche Regungen, unklare Ahnungen, aber auch bewusste Reflexionen ausgesprochen werden, mit Beobachtungen der Erzählerin, deren Stimmlage konsequent der Figur angepasst ist. Lilas Verunsicherung äußert sich in langen Sätzen, Kaskaden und Girlanden von eingeflochtenen Nebensätzen und der Weiterführung von Gedanken, die 63 4. Einkreisung: Anpassung und Suche nach Orientierung 14 Birgit Vanderbeke. Ich sehe was, was du nicht siehst. Berlin: Alexander Fest Verlag, 1999. 7. hin und wieder durch Interpunktion gebremst, aber nie aufgehalten werden. Sie redet vor sich hin und liefert einen Überschuss an Wörtern. Das Verfahren hält im Redefluss die Fülle scheinbar unvereinbarer Eindrücke fest, die den Kreislauf des Alltäglichen bestimmen. Es unterstreicht eindrucksvoll die Situation der Figur und dient der konsequenten Entwicklung des Versuchs Lilas, ihr Leben zu begreifen. Aber was immer Lila zu enträtseln versucht - die Situation der Frau, Emanzipation, Kinderwünsche, Phase des Lesbischen als Gegenwartsproblem, Angst vor dem Alltag, Furcht vor Liebesverlust -, sie findet keine Lösung. Was bleibt, ist der wiederkehrende Ansatz in der Bemerkung: „man sollte darüber nachdenken.“ Lila ist gebannt von der Vorstellung, dass sich im Zyklus des Alltags die Gleichgültigkeit langsam und unaufhaltbar ausbreitet. Der durchgehaltene Monolog hebt die zur Tatsache gewordene Befürchtung eindringlich hervor. Die Voraussetzung für eine neue Orientierung im Leben wird nur andeutungsweise in dem ständigen Streben Lilas sichtbar. Nur der Durchbruch vom Monolog zum förderlichen Gespräch kann das Streben nach Glück im kleinen Raum auf eine verbindlich verbindende Grundlage stellen. Ich sehe was, was du nicht siehst (1999) verfolgt ähnlich wie Fehlende Teile die Spuren, die das Unbehagen im Alltag hinterlässt. Der erste Satz deutet scheinbar einen Ausweg aus der Situation an: „Man kann einfach weggehen, dachte ich.“ 14 Der Weg hinaus in die Befreiung bedeutet für die Erzählerin, weggehen, einen Mittelweg finden. Man muss über die Grenze. Aber die Grenze, die einst Deutschland teilte, besteht nur noch in der Erinnerung. Sie wird aufgefrischt durch Anrufe eines Bekannten, der sich verfolgt fühlt und glaubt, sein Telefon werde von Geheimdiensten überwacht. Man muss in ein anderes Land, muss mit der Gewohnheit brechen, die Briefe, Werbekarten und Telefonate vergessen und das Kind vom Fernsehen reißen. Die Erzählerin flieht letztlich nicht vor einer dunkel anklingenden irrealen Bedrohung, sondern vor dem Missbehagen an unerfüllter Lebenserwartung. Sie stellt fest: „Manchmal glaube ich, ich bin weggegangen, weil die Sachen, die ich lieber nicht gesehen hätte, immer mehr und mehr wurden und ich immer mehr Zeit damit zubringen mußte, sie nicht gesehen zu haben.“ (27) Der Entschluss, die Wohnung aufzugeben und nach Frankreich auszuwandern, verspricht eine Lösung. Die Alternative zum deutsch-deutschen Nebeneinanderleben ist ein anderer Kulturkreis, der jedoch alle Merkmale der Wunschvorstellung eines „heilen“ ländlichen Milieus hat. Trotzdem ist die Blickveränderung entscheidend. Man kann Dinge sehen, ohne sie wahrzunehmen, und das kaum Wahrnehmbare sehen. Die Eindrücke der ländlichen Umgebung und selbst die des etwas heruntergekommenen Hauses 64 4. Einkreisung: Anpassung und Suche nach Orientierung 15 Birgit Vanderbeke. abgehängt. Frankfurt a. M.: Fischer, 2001. sind frisch und erfreulich. Einkäufe auf dem Markt, ein Volksfest, im Fluss schwimmende Kinder, Fischreiher und selbst mächtige Gewitter beleben die un‐ mittelbare Anschauung. Die Postbotin Madam Teisseire ist entgegenkommend. Sie lädt die Familie zum Kaffee ein. Auch ein gefährlicher Waldbrand, der die Häuser bedroht und den Eindruck ungezähmter Natur macht, wirkt erfreulich real im Gegensatz zu der zurückgelassenen Phantomwelt der Zivilisation. Das „kleine Glück“ im „Niemandsland“ scheint vollkommen, nachdem René eintrifft. Der Mann wird wieder der liebende Geliebte. Man schaut den Wolken zu, spielt „Ich sehe was, was du nicht siehst“ und findet Zeit, sich morgens im Bett neu zu entdecken. Die Darstellung verdeutlicht jedoch, dass das geschichtslose Dasein im Niemandsland nicht von Dauer sein kann. Das Streben nach Glück mündet wieder in die Zeitlichkeit ein. Die alltäglichen Sorgen sind oberflächlich anders eingefärbt, bleiben aber dieselben. Das Kind lernt eine andere Sprache, lernt neue Freunde kennen, wird von einer besseren Lehrerin unterrichtet und erhält einen neuen Namen. Aber Nico hat eigentlich die gleichen Interessen wie früher. Die Forderungen des Tages bestehen fort. Der Vater René ist berufstätig, fährt weiterhin durch die Welt, um Gemälde zu begutachten. Die Mutter schreibt noch immer Sendungen für den Kinderfunk: Franz Marc, Paul Klee, Miro, Picasso, Cézanne und zögernd geplant van Gogh für Kinder. Das Urlaubsjahr geht über in den Alltag. Das Leben geht weiter. Die Polypen-Arme der fernen Großstadt werden das Land ergreifen. Die Existenz im Traum des Niemandslandes wird von der Realität verabschiedet. Das Idyll wird Neuland für Vorortwohnungen und Supermärkte. Computer, weltweites Netz und amerikanische Musik ge‐ hören bereits zum Kreislauf des Lebens. Der Wunsch, das Glück im Hier und Jetzt festhalten zu können, erweist sich als Irrtum. Was bleibt, ist die Anpassung, eine sanfte Klage ohne Trauer. Die Erzählung abgehängt (2001) rundet Vanderbekes Schilderungen des Unbehagens im Alltag ab. 15 Sie setzen ein mit der scharfen Abrechnung mit dem väterlichen Autoritätsanspruch im Muschelessen, der letztlich vom Alltag geprägt war, und führen zu Bestandsaufnahmen alltäglicher Unterlassungen und Bedrängnisse, die in den betroffenen Figuren das Gefühl monotoner, hilfloser Ausweglosigkeit auslösen. Die scharf profilierten Vignetten erfassen eine wiederkehrende Situation, die unabwendbar, unabänderlich, schicksalhaft wirkt. Das thematisierte Unbehagen im Alltag erfasst ein latentes, fatalistisches Gefühl, in dem sich Unbewusstes und Bewusstes durchdringen. Es setzt ein mit der Unlust am Alltag und der bedrückenden Verunsicherung, der verrinnen- 65 4. Einkreisung: Anpassung und Suche nach Orientierung den Zeit ausgeliefert zu sein. Die Erfahrung des zur Konvention erstarrten Familienlebens, in dem erschöpftes oder auch teilnahmsloses Nebeneinander die Liebesbeweise und verbindenden Gespräche verdrängt hat, intensiviert das Gefühl. Die Figuren sehen fern, hören Nachrichten aus aller Welt, summen Melodien amerikanischer Songs und reden vor sich hin. Sie können jedoch der Fülle der ständig wechselnden Eindrücke und Mitteilungen keinen Sinn abgewinnen. Was zunimmt, ist die Lebensangst. Das eigene Leben ist brüchig. Die anderen sind fremde Feinde, die ihre Aggression in anonymen Anrufen zum Ausdruck bringen. Die Erzählerin hängt ab und überlegt sich, Karate zu lernen oder wie ihre Freundin Pfefferspray zum Schutz in die Handtasche zu stecken. In ihrem Bewusstsein ist die Figur bereits von einem sinnvoll gestalteten Dasein „abgehängt“. Sie befindet sich im Zustand der Erstarrung und des Orientierungsverlusts, aus dem auch die verstörte Auflehnung keinen Ausweg bietet. Vanderbeke profiliert eine Situation und vermeidet konsequent jede erzähle‐ rische Handlung. Der Ansatz ist zugleich das Ende. Alles bleibt Wunsch. Er zeitigt die bevorzugte Losung der Figur: „Kugeln sollen nach oben rollen.“ Die Frau macht sich Sorgen um Tochter und Mann. Als Simmy klein war, verspürte die Mutter „kleine Angst“. Mit dem Aufwachsen wächst die Unruhe. Für Serge zitterte sie und lebte in „großer Angst“, als dessen Freund starb. Sie macht sich Angst um ihr Leben, findet aber keine Beruhigung. Sie arbeitet an einem Theaterskript und an Sendungen. Bücher kommen ins Haus, werden angelesen, bleiben liegen und landen im Müll. Das bereitet wieder neue Sorgen, da die deutsche Vergangenheit in dieser Hinsicht belastet ist und die Frau Bücher nicht vernichten will. Was sie aus dem Müll ausgräbt, eine Biographie Ingrid Berg‐ manns, wirkt belanglos, ist aber bedeutungsvoll. Sie schneidet Fotografien aus, Bergmann als junge Schauspielerin, Bergmann mit Kindern, die Ikonen einer illusorisch heilen Welt sind. Da die Erzählung jeden Hinweis auf die Wohnung mit Ausnahme der Fernsehsendungen und der gegenwärtigen amerikanischen Musik ausspart, entsteht der Eindruck eines Milieus, in dem nichts von Bestand bewahrt wird. Selbst die Vorliebe für Objekte, die in Texten anderer Autor(inn)en den Zerfall zwischenmenschlicher Beziehungen andeutet, ist verschwunden. Die Figuren versuchen, ihre Gefühle auszudrücken. Es gelingt nicht, weil die „Gewohnheit“ den Weg versperrt. Das Mädchen schaut Werbefernsehen an, sieht, wie man Millionär wird, fragt sich, was sie gewinnen kann, nimmt Harry Potter mit ins Bett und vergisst alles. Die Mutter findet Jazz und Rap gut, Blues gehöre in die Steinzeit, und was sie sonst hört und als avantgardistisch aufgebläht im Film sieht, ist aus Amerika importiertes Mittelmaß. Serge spielt Violine und träumt von Idealen, die sich nicht verwirklichen lassen. Das 66 4. Einkreisung: Anpassung und Suche nach Orientierung 16 Marlen Haushofer. Wir töten Stella. Novelle. Wien: Bergland, 1958. Neuausgabe: Wien: Jungbrunnen, 1991. 48. Leben verfließt. Die anonymen Anrufe kommen weiterhin. Simmy will sich tätowieren lassen. Das geht nicht. Eine unvermittelte Erinnerung an Hitler und die Lager scheint es zu verbieten. Aber das ist schon so „lange her“ und man vergisst das Ganze. Der Computer sagt: Sie haben Post. Und die Schrecken des Alltags bestehen weiter. Das Erkenntnisvermögen der Figuren ist begrenzt auf die ausweglose Notlage. Sie haben kein Verhältnis zur Gegenwart, Zukunft oder Vergangenheit. Eine Orientierung scheint unmöglich. Die Einkreisung ist absolut. Selbst Vanderbekes sprachbewusstes Schreibverfahren betont wie in ihren anderen Erzählungen diesen Sachverhalt. Der Redefluss, der hypotakti‐ sche, atemlose Stil, der Absätze vermeidet, das scheinbar atemlose Sprechen erfasst die besondere Seins-Verfassung der Sprechenden und nachdrücklich ihr Verhältnis zu anderen. Sowohl Aggression, Abrechnungen mit der Familie, den Ehepartnern und der Gesellschaft als auch Rechenschaftsberichte angesichts des Todes charakte‐ risieren die von Marlen Haushofer, Sibylle Knauss, Michael Köhlmeier, Adolf Muschg und Gabriele Wohmann geschilderten Identitätskrisen. Haushofers Novelle Stella schildert aus der Perspektive einer Frau in den vierziger Jahren die Ereignisse, die zum Tod Stellas führen. Anna, ihr Mann Richard, der Sohn Wolfgang und eine junge Tochter Annette bieten der Welt das Bild einer heilen bürgerlichen Familie. Die Abrechnung Annas, eine Selbstbezichtigung, enthüllt die innere Brüchigkeit des Familienlebens. Anna hat sich damit abge‐ funden, dass Richard ständig Liebschaften hat, deren Wechsel sie mittels des unterschiedlichen Dufts von Parfüm an seiner Haut notiert. Sie konzentriert ihre Liebe auf den Sohn, findet aber kein rechtes Verhältnis zur Tochter, deren oberflächliche Liebesbekundungen sie an ihren Mann erinnern. Nachts liegt sie mit geschlossenen Augen im Bett und atmet den Hauch anderer Frauen ein, bis Richard einschläft. Seine feste Hand auf ihrem Körper erinnert sie daran, dass er sie besitzt. Diese Tatsache bestimmt ihr Verhältnis seit dem Anfang der Ehe. Als sie ihn als junge Frau fragte, warum er sie liebe, kam „rasch und sicher“ die Antwort: „Weil du mir gehörst.“ 16 Anna vermeidet jede Störung, alle ‚Reibereien‘, jedes Gespräch, das die äußerliche Ruhe gefährden könnte, und verbringt die Tage ohne Hoffnung, Erwartung oder sinnvolle Orientierung. Die künstliche Ruhe wird durch den Hausgast Stella gefährdet, aber unter den einsetzenden extremen Bedingungen dennoch gewahrt. Stella, die Tochter einer Freundin, soll ein Jahr bei der Familie wohnen, damit sie in der Stadt ihre Ausbildung beenden kann. Das junge Mädchen, zuerst ungeschickt und 67 4. Einkreisung: Anpassung und Suche nach Orientierung nicht besonders anziehend gekleidet, verliebt sich in Richard, blüht auf und verwandelt sich in eine kleine „Prinzessin“. Richard nimmt von ihr Besitz, ist wie immer nach kurzer Zeit der Zuneigung überdrüssig und, wie ein lauter Wortwechsel im Zimmer andeutet, macht Stella klar, dass die Affäre beendet ist. Der Hinweis in der Erzählung, Stella habe einen Frauenarzt besucht, deutet die Möglichkeit der Schwangerschaft an. Jede weitere Störung des Familienlebens wird jedoch durch einen Verkehrsunfall verhindert. Stella läuft vor ein Auto und stirbt in der Klinik. Die Erzählerin ist beruhigt. „Stella war tot, und eine große Erleichterung überfiel mich.“ (86) Richard gibt der Rechtfertigung scharfe Kontur: „Es war ein Unfall“, sagte er, „ganz eindeutig ein Unfall.“ (88) Trotzdem zwingt der scheinbare Selbstmord Anna zur Analyse ihrer Existenz. Das Fazit: Sie steht am Fenster, beobachtet während ihrer Reflexion, wie ein verlassener, noch nicht flügger Vogel langsam verhungert, und bedenkt ihr Leben im Kerker, glaubt, der Garten ziehe sich vor ihrem Fenster zurück, erkennt ihr Versagen, verspürt Angst und Reue, aber erkennt, dass sie auch weiterhin so beziehungslos dahinleben wird. Haushofers Roman Die Wand (1963) folgt im Beschreiben des Geschehens dem Organisationsprinzip einer Robinsonade. Die verwitwete Erzählerin fährt mit einem befreundeten Ehepaar zu deren Jagdhaus in die Berge. Die Freunde gehen am Spätnachmittag ins Dorf. Als sie nicht zurückkommen, geht die Er‐ zählerin zu Bett, begibt sich aber am Morgen mit dem zurückgebliebenen Hund Luchs auf die Suche. Sie stößt auf eine durchsichtige, jedoch unüberbrückbare und unzerstörbare Wand. Die Lebewesen in der Außenwelt sind tot. Das Ende kam unerwartet und überraschte die Menschen bei alltäglichen Arbeiten. Das Vieh liegt tot auf den Wiesen, die Haustiere dort, wo sie sich gerade aufhielten. Die Erzählerin akzeptiert die Situation und richtet sich auf unbegrenzte Zeit ein. Im weiteren Verlauf der Erkundung ihres Landes, des Innenbezirks, in dem das Leben fortbesteht, findet sie eine trächtige Kuh und später eine Katze, die nach einiger Zeit Junge wirft. Sie sorgt für die Tiere, konzentriert aber ihre Energie auf das Vordringlichste: Sie legt ein Feld an, steckt Kartoffeln und Bohnen, hackt Holz, zählt die vorhandenen Streichhölzer, die etwa fünf Jahre reichen sollten, melkt, hilft der Kuh beim Kalben eines Stiers, geht auf die Jagd und erntet im nächsten Jahr. Sie verliert langsam den Zeitsinn, gibt den Tieren Namen, überlebt Krankheiten, setzt eine Almhütte in Stand und passt sich an. Dieses Dasein, das sich letztlich darin erschöpft zu überleben, wird jäh durch einen Fremden unterbrochen. Er steht plötzlich vor der Hütte, erschlägt den Stier brutal mit einer Axt und tötet Luchs. Die Erzählerin erschießt ihn und wirft seine Leiche eine Geröllhalde hinunter. Dann wendet sie sich wieder ihrer 68 4. Einkreisung: Anpassung und Suche nach Orientierung 17 Marlen Haushofer. Die Wand. Roman. Gütersloh: Mohn, 1963; Neuausgabe: Hamburg: Claassen, 1968. 131. Arbeit zu. Die in Robinsonaden hoffnungsvolle Rückkehr in die Zivilisation bleibt verschlossen. Das Erzählverfahren einer sukzessiven realistischen Schilderung der Ereig‐ nisse und der sich daran knüpfenden Überlegungen erweckt den Eindruck, die Frau finde Erfüllung in dem in die Natur eingebetteten Lebensbereich. Sie findet die Sorgen um die Tiere, die Kartoffeln und das Heu ganz natürlich und überwindet langsam die unbestimmte Furcht vor der Einsamkeit und dem Ausgesetztsein. „Die Angst, die mich nachts überfiel, schien mir dagegen völlig unfruchtbar, eine Angst um Vergangenes und Totes, das ich nicht neu beleben konnte und dem ich in der Dunkelheit der Nacht hilflos ausgeliefert war.“ 17 Die Außenwelt rückt zusehends in die Ferne. Sie denkt kaum an ihre fast erwachsenen Töchter, macht sich keine Gedanken über die Toten jenseits der Wand, beklagt nicht den Verlust medizinischer Hilfe, während sie eine vereiterte Zahnfistel ausschneidet und lässt nicht nur die Konvention, sondern auch die Grundlage des christlichen Glaubens fallen. Am Weihnachtstag stellt sie fest: „In Zukunft wird ein verschneiter Wald nichts anderes bedeuten als verschneiter Wald und eine Krippe im Stall nichts anderes als eine Krippe im Stall“. (134) Sie versucht auch nicht, die Ursache des außerordentlichen Ereignisses zu ergründen. Die Wand, möglicherweise ein fehlgegangenes Experiment, ist vom Schicksal verhängt. Was die Erzählerin auf vergilbtem Geschäftspapier und den Rückseiten alter Kalender mit einem Bleistift aufschreibt, entwirft kein Bild wiedergefundener paradiesischer Naturnähe und Unschuld. Zeugen, Geburt und Tod (Stier bespringt Kuh, Kater und Katze) wie auch Töten aus Selbsterhaltungstrieb auf der Jagd und beim Totschlag des Fremden bestehen fort. Das Leben in der abgeschlossenen Welt garantiert keinen Neuanfang. „Wenn die Zeit ohne Feuer und ohne Munition kommen wird, werde ich mich mit ihr befassen und einen Ausweg suchen.“ (275) Nach dieser Feststellung wendet sich die Erzählerin der Forderung des Tages zu: „Die Erinnerung, die Trauer und die Furcht werden bleiben und die schwere Arbeit solange ich lebe.“ (276) Die Erzählerin will und wird durchhalten, kann aber dem Dasein keine neue Sinnstiftung abringen, denn in ihrem Inneren bestehen alle Probleme der Gesellschaft fort, die einst hinter der Wand existierte. Die Nacht mit Paul (1994) von Sibylle Knauss schildert die Jugend und Entwicklung eines Mädchens, das ständig Missfallen erregt und nicht recht zur bürgerlichen Umgebung ihrer Freundinnen dazugehört, weil etwas im eigenen Haus nicht stimmt. Die aus Erinnerungsbildern zusammengesetzten 69 4. Einkreisung: Anpassung und Suche nach Orientierung 18 Sibylle Knauss. Die Nacht mit Paul. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1994. 94. Betrachtungen der jungen Frau setzen ein, als diese in der Wohnung Ordnung schafft, während die Mutter im Krankenhaus liegt. Sowohl Anfang als auch Entwicklung und Schluss der Erzählung sind feinfühlig motiviert. Die zuweilen hart hämmernde, manchmal lyrisch träumerische Diktion ist einer zwischen distanzierender Ferne und sinnlich erfahrener Gegenwärtigkeit wechselnden Perspektive angepasst. Die assoziativ verknüpften Erinnerungen, die auch zeitlich zurückliegende Ereignisse, Gespräche und Gedanken lebhaft vergegen‐ wärtigen, registrieren Julias Verhältnis zur Umwelt, das Zeitgeschehen und die alltäglichen Sorgen der Menschen nach 1945. Die junge Frau öffnet Schubladen, räumt alte Kartons aus, sortiert Rechnungen und betrachtet Fotos. Dabei denkt sie an ihren Vater, der irgendwo in der Steppe Russlands unter der Erde liegt. Die Fragen an den Toten gehen nahezu unmerklich über in Erinnerungen an die Kindheit und die eigene Identitätssuche. Die außergewöhnlich kunstvolle psychologische Motivierung der gleitenden Übergänge ist gleichermaßen cha‐ rakteristisch für die spannend entwickelten Mutmaßungen über den wirklichen Vater, die sofort einsetzen, als Julia feststellt, dass der im Krieg gefallene Mann aus zeitlichen Gründen nicht ihr Vater sein konnte, das rätselnde Nachdenken über die Mutter und ihre Freunde und das aus der Erinnerung eines aufwach‐ senden Mädchens gestaltete Zeitgeschehen. Knauss erfasst besonders eindringlich die Leiden der einsamen Frauen, der Witwen und ‚ewig Verlobten‘, die schweigsam und pflichtbewusst ihren Berufen nachgehen und schließlich ins Altersheim abgeschoben werden. Die Tanten, Lehrerinnen und Sekretärinnen saßen am Tag schweigsam im Büro; am Abend starrten sie auf die Fotos der Toten und Vermissten. Sie hatten den Krieg verloren. Niemand setzte ihnen ein Denkmal. „Fräulein Kopp, Fräulein Wagner, Fräulein Kalb und die anderen alle - an sie zu denken ist, als ob ein dünner Gesang in einen funkelnden, kalten Sternenhimmel steigt“. 18 Julias Mutter trauert dem ewig Gestrigen nicht nach. Ihr Wunsch, das volle, sinnlich erfahrbare Dasein zu ergreifen, überlebt den Krieg ebenso nahtlos wie den gegenwärtigen Geist des Bürger- und Spießbürgertums. Sie passt sich an jede Situation an. Sie verkauft das florierende Unternehmen ihres Mannes, reist, gibt gedankenlos das Geld aus, hat zahlreiche Affären und lebt schließlich mit dem dreizehn Jahre jüngeren, immer lustigen Hallodri Paul, einem Kellner, der sie heiratet und zum Hotelbesitzer aufsteigt. Julia weiß, dass etwas nicht stimmt. Sie hört von der Großmutter, dass der „gute Leumund“ das Wichtigste im Leben ist, und fühlt: „Unser Kellner. Unsere Schande. Unser Gigolo“ (118). 70 4. Einkreisung: Anpassung und Suche nach Orientierung 19 Michael Köhlmeier. Geh mit mir. München, Zürich: Piper, 2000. 132. Sie fällt ewig negativ auf, begehrt Paul und vereinsamt, als er das Haus verlässt. Julia sucht eigentlich ihr ganzes Leben in jedem Freund der Mutter eine Vaterfigur und hat schließlich Verhältnisse mit älteren Männern, mit wech‐ selnden Liebhabern und Lehrern. Sie kann keine feste Beziehung herstellen und erlebt auch als Studentin die Jahre der Studentenrevolten, ohne sich zu enga‐ gieren. Sie glaubt nicht an eine Reform, die nachhaltige Veränderungen bringen könnte, und lächelt über die Idee einer grundsätzlichen Neuorientierung. Julia ist sensibel und liebesbedürftig. Als sie später Paul zufällig wiedertrifft, weint sie vor Freude und verbringt die Nacht mit ihm. Dass sie ebenso zählebig wie die alten Tanten ist, ergibt sich aus der Enthüllung der Vatersuche: Paul ist ihr Vater. Der feinfühlig angedeutete Inzest unterstreicht die Identitätskrise. Michael Köhlmeiers Erzählung Geh mit mir (2000) beleuchtet wie sein Roman Bleib über Nacht (1993) gestörte zwischenmenschliche Beziehungen. Sie setzt ein mit der telefonischen Nachricht, der Vater des Erzählers Wise Fink habe einen Herzanfall erlitten, und endet mit einem Epilog auf Wises gelben Toyota Corolla, dem Inbegriff seines ruhelosen, unbehausten Daseins. Der Bericht der Fahrt nach Hause, die in der Gegenwart und Vergangenheit spielende Familiengeschichte, die Reise mit der Mutter durch Deutschland und kurze Erinnerungen an Kindheit und Jugend erzeugen den Eindruck einer belanglosen alltäglichen Geschichte. Die Menschen sind lebensversehrt. Der Vater, sein ganzes Leben beschäftigungslos, bestreitet den Lebensunterhalt vom Mietertrag eines geerbten Hauses. Die Mutter ist seit einer Fehlgeburt halbseitig gelähmt und kann sich nur mit Hilfe eines Stützapparats bewegen. Die Tochter hat das Haus verlassen und eine Stellung in Wien angenommen. Der neunzehnjährige Wise hat die Schule frühzeitig verlassen und träumt davon, irgendetwas zu tun. Er lebt bei einer Freundin, kocht und versorgt deren Kinder. Das Zusammen‐ leben ist angespannt und besteht scheinbar auf Abruf. Die Fahrt nach Hause leitet eine erinnernde Ortung der Familienverhältnisse ein, die nach der Ankunft beim alten Vater Fink, durch gegenwärtige Eindrücke aufgefrischt, zu einer Bilanz menschlicher und gesellschaftlicher Defizite wird. Der Familie fehlt jede sinnvolle Orientierung im Dasein. Sie ist aus der Ge‐ sellschaft gefallen, leidet am Verlust menschlicher Kontakte und verbittert das ohnehin freudlose Dasein durch quälende Reiberein und Streitigkeiten. Gespräche sind „wie ein verwilderter Garten“ 19 oder arten in Kämpfe aus. Zur Zerstreuung hört man amerikanische Musik, besonders Blues und Springsteen, schnupft aber auch Heroin, raucht Haschisch oder nimmt LSD, Psilocbin und Pervetin. Alle erkennen ihr Versagen und lehnen sich gegen das ‚Mittelmaß‘ 71 4. Einkreisung: Anpassung und Suche nach Orientierung 20 Michael Köhlmeier. Ballade von der sexuellen Abhängigkeit. Innsbruck: Haymon, 1996. 121. ihrer Existenz auf. Der Vater wollte ursprünglich das Abitur nachholen, besucht jedoch nicht den Unterricht, versteckt sich und belügt die Familie, die die Wahrheit kennt. Er kapselt sich ab, nimmt es hin, dass seine Frau ihn vor ihrer Lähmung betrogen hat, vernachlässigt Kleidung und Körperpflege und verbreitet eine Wolke von Tabakdunst. Ein Besuch Wises artet zur Kraftprobe aus, bei der beide schließlich qualvoll keuchend auf dem Boden liegen. Die Mutter „hatte den Wunsch, etwas Besonders zu sein“. Sie versucht, sich über die Misere zu erheben, indem sie ihre Lähmung als „Besonderes“ deutet. (118) Die Formulierung gibt ihr Halt, ändert aber nichts an der Bilanz ihres Lebens, die sie in beständiger Wiederholung des Ausdrucks „Scheiße“ zusammenfasst. Wise schlägt vor, mit ihr nach Gießen zu fahren. Sie nimmt an: irgendwo hin, weit weg. Der Ausbruchsversuch schlägt fehl. Die Fahrt von Österreich nach Deutschland endet in ziellosem Fahren auf Autobahnen, ein Besuch in Hamburg hinterlässt keine Spuren, die Landschaft wirkt so öde wie die Innenwelt der beiden. Was bleibt, sind Imbisse von Papptellern, Getränke aus Pappbechern, billiger amerikanischer Wein, das Rauchen von Joints, Erbrechen, betrunkenes Rollen auf der Erde, eine Frau, die sich besudelt, bis der Rollstuhl nach Urin riecht, und ein Sohn, der verzagt und versagt. Die Haltlosigkeit findet einen angemessenen Ausdruck in den Songs, die wie ein Uhrwerk immer wiederholt und abgespielt werden. Die mikroskopisch detailliert geschilderten Schattenseiten der ganzen Fa‐ milie und Gesellschaft erfassen einen endlosen Kreislauf, den Köhlmeier in der Ballade von der sexuellen Abhängigkeit (1996) in den Mittelpunkt völliger Hilflosigkeit stellt. Die Handlung führt einen nachspürenden Erzähler ein, der fünf Figuren in einem Café beobachtet und sich am Ende lakonisch verab‐ schiedet: „Ich habe mich auch bald auf den Weg gemacht …“ 20 Die drei Punkte ersetzen den Gedankenstrich. Die Situation erweckt den Eindruck typischer, jederzeit wiederholbarer Verhältnisse und verlangt deshalb Stellungnahme von den Lesern. Je zwei Männer gehören zusammen, sitzen in Nischen und bilden in ihren Problemen ein vergleichbares Gruppenbild. Die Frau sitzt in der Mitte des Cafés, isst Kuchen, verschränkt dann die Arme, wird weiß und lässt den Kopf auf den Tisch fallen. Die Männer, beim Rundfunk und im Verlag tätig, können Hinweise auf Wagner, Adorno, Comics und Mythen in der Mediengesellschaft in die Unterhaltung einfließen lassen. Die Gespräche kreisen jedoch um Versuche, menschliche Kontakte herzustellen. Die „Theorie des Aufrisses“ hebt hervor, dass jede Kontaktaufnahme im Verlangen wurzelt, eine Frau zu besitzen. Die 72 4. Einkreisung: Anpassung und Suche nach Orientierung 21 Adolf Muschg. Hindukusch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1976. 54. Selbstanalysen verdeutlichen die gestörten Beziehungen. Die Frau soll nicht Lebensgefährtin und gleichberechtigte Partnerin in sinnvollen Gesprächen sein. Sie ist ein Objekt, das man besitzen will, um sich der eigenen Männlichkeit bewusst zu werden. Die im Titel angesprochene „sexuelle Abhängigkeit“ wur‐ zelt in diesem Verlangen. Es überrascht nicht, dass die Kontaktaufnahmen scheitern, da ihnen die Voraussetzung verbindender Dialoge fehlt. Sie arten unter den Freunden in verbale Kämpfe wie auch in Ohrfeigen aus und rufen in der Frau Widerstand hervor, der in hilflosem Hass auf die ganze Welt gipfelt. Der Monolog der „Theorie der völligen Hilflosigkeit“ ist die überzeugende Gestaltung der Vereinsamung einer Frau, die in Hass auf die Nebenbuhlerin, Aggression und selbstzerstörerischen Hass umschlägt. Die Abrechnung mit der „Feindin“ schlägt ebenso fehl wie die Selbstmordversuche mit Schlaftabletten, die zum Erbrechen führen. Was bleibt, ist die Hilflosigkeit, der Schrei „Elend verreck! “ und für die Männer ein Pausenzeichen nach der nicht ernst zu nehmenden Sendung der „persönlichen Apokalypse“, der die Weltnachrichten folgen. Köhlmeiers Schilderung entwickelt in sorgfältig ausgearbeiteten Gesprächen, in denen die Figuren ein avantgardistisches Programm ihrer Beschäftigung mit dem eigenen Ich betonen, die Beziehungslosigkeit und den Kontaktverlust in der Gesellschaft. Was bleibt, ist die hilflose Anpassung an gestörte menschliche Beziehungen. Die Entwicklung der Geschichte Hindukusch von Adolf Muschg entspringt der anschaulich gestalteten Situation in einem Krankenzimmer. Der Sohn bringt seine Mutter zur Krebsoperation in die Klinik. Die Einlieferung ermöglicht einen Abriss des Lebens der Mutter, eine kurze Andeutung des verschlossenen, inner‐ lich alleinlebenden Vaters, des Aufwachsens und des Berufs des Sohnes und die eingehende Darstellung des Verhältnisses zwischen Sohn und Mutter. Die Ausführungen betonen den ständig verhinderten offenen Dialog als wesentliche Eigenschaft der Beziehung. Die beiden sprechen, aber können ihre Gefühle nicht äußern. Die Mutter schreibt Briefe, die der Sohn nicht liest. Er schreibt: „Liebe Mutter, das ist der letzte Brief, den ich dir schreibe. Morgen werde ich reden …“ 21 Dieses Reden wird jedoch zu einer kritischen Abrechnung mit der Mutter, die ihre Liebe nur im Ausdruck ständiger Sorge zeigen konnte. Sie pflegt ihn, putzt sein Zimmer, ist voller Liebe, die sich darauf konzentriert, dass der Sohn etwas „Höheres“, vielleicht Professor werden soll. Sie lebt in ständiger Angst vor der Zukunft und ihr Lebensweg einer Krankenschwester, die immer sparen muss und selbst die Kleider verstorbener Patienten trägt (37), 73 4. Einkreisung: Anpassung und Suche nach Orientierung über die eigene Krankheit bis ins Krankenbett im Vorzimmer des Todes ist gekennzeichnet von Lebensangst. Der Sohn, ein mittelmäßiger Student, wird Beamter bei der meteorologischen Zentrale. Er will das Wetter vorhersagen und wie seine eigene Zukunft berechnen. Auch er hat Angst: Alles entzieht sich der Vorhersage. Plötzlich steht er mit der Mutter vor dem Notfall, dem unerhörten Ereignis - nicht Krankheit oder Tod, sondern die Kosten der Operation und des Zimmers. Er klagt die Mutter innerlich an. Ausweglosigkeit, Armut und Tod. Es kommt zu keiner offenen Aussprache. Jeder bleibt allein. Lieblosigkeit, Lebensangst und Vereinsamung in der Zurückgezogenheit von der Gesellschaft kennzeichnen wiederkehrende Situationen in Liebesge‐ schichten (1972). Die Geschichten verdeutlichen, dass sich die Personen selbst im gemeinsamen Zusammensein isoliert und allein fühlen. Sie thematisieren wie die Erzählungen in Entfernte Bekannte (1976) und Leib und Leben (1982) unglückliche Ehen, Altern, Selbstmord, Vereinsamung, Furcht vor der Vergan‐ genheit und Angst vor der Zukunft, Vereinsamung und Verzweiflung angesichts des unabänderlichen Todes. Selbst das Körperliche, die Sphäre des Sexuellen wirkt eigentümlich negativ und ist nicht auf Beisammensein, sondern auf die Beziehungslosigkeit bezogen. Der Großvater sucht eine „kleine Freude“ im Besuch eines Bordells. Er fühlt sich einsam und verlassen, denn das Bordell erweckt den Eindruck einer kalten Leichenhalle. Er versucht dem Mädchen eine Geschichte ins Ohr zu flüstern, ist hilflos und sucht einen Kontakt, den er nicht findet. Die uneingeschränkte Kontaktlosigkeit im Sexuellen beobachtet ein Besucher eines japanischen Nachtklubs, der scheinbar auszog, das Fürchten zu lernen. Er berichtet im zweiten Teil der Erzählung Nur ausziehen wollte sie sich nicht (1995) gelassen und distanziert seine Eindrücke während des Besuchs. Der erste Teil ist dem misslungenen Versuch gewidmet, einen Film zu drehen, in dem sich die Schauspielerin ausziehen soll, um nackt aufzutreten. Sie weigert sich und der Film wird abgeblasen. Ihre Ablehnung stellt den scharfen Kontrast zum Geschehen im zweiten Teil her. Der Nachtklub entblößt die ganze Gesellschaft. Er bietet Aufführungen, bei der sich die Besucher-Zuschauer durch Ratschläge beteiligen oder von den Sex-Damen aus dem Publikum geholt werden, um sich an dem allgemeinen Rausch zu beteiligen. Die Auftritte schließen ein: Frauen, die sich selbst befriedigen und Männer, die auf einer hell angestrahlten auf- und niederschwebenden Bühne Geschlechtsverkehr mit den ‚Schauspielerinnen‘ haben. Das Ganze, einschließlich einer Szene des sexuellen Tobens, wirkt abstoßend, stellt jedoch die totale Beziehungslosigkeit der Figuren in den Vordergrund der Betrachtung. 74 4. Einkreisung: Anpassung und Suche nach Orientierung 22 Peter Handke. Die Stunde da wir nichts voneinander wußten. Ein Schauspiel in: Die Theaterstücke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992. 574. Gabriele Wohmann schildert in Kurzprosa, Fernsehspielen und Romanen oft die Überlagerung des Alltäglichen mit dem Außergewöhnlichen in scheinbar unlösbaren Lebenskrisen. Die Figuren leiden an gestörten Beziehungen (Wir sind eine Familie, 1980), erfahren trostlos die Schattenseiten des Alltags (Einsamkeit, 1982), sind selbst in der Jugend völlig hoffnungslos (Jetzt und Nie, 1958) und denken in der Klinik über die gescheiterte Ehe und eine Affäre nach, verspüren Angst und warten auf ein mögliches Dahinleben oder den Tod (Ernste Absicht, 1970). In der Erzählung Ein schöner Tag (Treibjagd. Erzählungen, 1970) bevorzugt die Ich-Erzählerin das Adjektiv und Adverb „schön“ vom Aufwachen am Morgen bis zum Abend. Parodie und Ironie erfassen alles: Ihr Mann „kriecht“ auf zwanzig Minuten in ihr Bett; nach einem „schönen“ Espresso und Frühstück kommen Besucher, die jedoch fernbleiben sollen, denn nichts darf die ‚Sicherheit‘ des schönen Lebens bedrohen; lass sie an der Tür klingeln; nach einem langweiligen Museumsbesuch endet der Tag. Sie ist beruhigt: „Die schönen Tage nehmen überhand.“ In der Erzählung Lese-Reisen fährt eine Autorin durch Deutschland von einer Lesung zur anderen. Ihre Reden müssen den Erwartungen des Publikums entsprechen. Ihr Leben gleitet wie ein fremder Zug vorüber. Es kommt zu keiner echten Begegnung. Die Situationen („Schöne Ferien“, „Treibjagd“) verhindern wahre Gefühle. Was bleibt, sind Angst und Anpassung. Wohmanns kritischer Stil formuliert die alltägliche Sprachhaltung und das unüberlegte Reden. Sie hält Plattheiten fest, denen die Erkenntnis abgeht. Blicke auf die Landschaft wirken oberflächlich. Der Besuch im Museum regt nicht zum Nachdenken an. Die Verminderung der Anschauungskraft betont das gestörte Verhältnis der Figuren zur Welt. Ihr Sprechen wirkt bedrückend. Sie können eigentlich nur über sich nachdenken. Dem Nachdenken fehlt jedoch jede Präzision. Die eigene Selbstvergewisserung versagt. Der ausnahmslose Kontaktverlust und völlige Einkreisung ist wahrscheinlich am besten veranschaulicht in dem Theaterstück Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (1992) von Peter Handke. Die Bühne präsentiert einen freien Platz in hellem Licht glänzend, umbraust von Getöse; am Ende bleibt der „helle leere Platz, in seinem Erinnerungslicht“. 22 Über diesen Platz ziehen, laufen, schlurfen und stürzen repräsentative Figuren der Welt: junge und alte, Arbeiter, Touristen, Postboten, Geschäftsleute, ein Gangster, ein Kellner, ein barfüßiger Gefesselter und anonyme Figuren. Die Bewegung erfasst völligen Kontaktverlust. Alle gehen aneinander vorüber und können nicht sprechen. Die Zuschauer hören kein einziges Gespräch, aber zuweilen „Winseln, Brüllen, 75 4. Einkreisung: Anpassung und Suche nach Orientierung Geheul, Gebibber, Gekreich“ (561). Sie sehen manchmal einen erfolglosen Versuch zu grüßen. Plötzlich hört man Getöse aus der Tierwelt: „Adlerschrei, Murmeltierpfiff, das Schrillen einer Zikade.“ (564) Die Aufführung erschöpft sich in endlosem „Kommen und Gehen, Kommen und Gehen. Damit ist der Platz dunkel geworden.“ (576) Dieser Platz symbolisiert den Verlust der Mitte. Das Licht scheint, bringt aber keine Erleuchtung. Die Figuren sind absolut vereinsamt und bewegen sich im Kreislauf der Leere. Muschg und Handke veranschaulichen keine atavistischen Rückfälle. Sie beleuchten äußerst kritisch und zugleich kühl distanziert eine Fehlentwicklung unserer Gegenwart. 76 4. Einkreisung: Anpassung und Suche nach Orientierung 5. Kritik der politischen und gesellschaftlichen Verfassung Die thematisierte Absonderung, Isolierung, Anpassung an die Konsumgesell‐ schaft und Einkreisung prägen zahlreiche Abrechnungen und Verurteilungen gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Zustände. Sie bilden die thematischen Gesichtspunkte in unverhüllt kritischen, zeitlich in Situationen in der DDR und den Jahren der Studentenauseinandersetzungen mit dem Staat verankerten Darstellungen wie etwa Christoph Heins In seiner frühen Kindheit ein Garten (2005) und Wolfgang Hilbigs Eine Übertragung (1989) und Das Provisorium (2000). Christoph Heins Schilderungen der Anpassung an Staat und Gesellschaft in Drachenblut (1983), Der Tangospieler (1989) und Willenbrock (2000) sind weitgehend Aufarbeitungen der jüngsten Vergangenheit, teilweise äußerst kritisch, aber ohne erkennbare Vorschläge für eine Neuorientierung. Sie sind zeitnah, da jede Beobachtung des sozialistischen Staates auch das Leben in der modernen Konsumgesellschaft betrifft. Die Figuren Hans Peter Dallow (Der Tangospieler) und Willenbrock erscheinen als anpassungsfähige Lebenskünstler, die sich klug und erfolgreich-vorteilhaft an die jeweilige Situation anpassen. Die Anpassung als einzigen Ausweg zum Überleben verdeutlichen Stefan Heyms Der König David Bericht (1972) und Jakob Heins Mein erstes T-Shirt (2001). Der Geschichtenerzähler Ethan in Heyms Bericht versucht, ‚historische Wahrheit‘ zu ergründen, wird aber von den politischen Forderungen der Gegenwart gezwungen, sich zu bescheiden. Er kann nur „ein Wörtchen hier“ und eine Zeile dort einfügen. Das Fazit: Der Kluge passt sich an und überlebt. Jakob Heins humoristische Erzählungen aus seiner Kindheit und den Schultagen in der DDR enthalten einige sozialkritische Beobachtungen. Insgesamt ist Mein erstes T-Shirt ein Überblick allgemeiner klagloser Anpassung. Erzählungen und Bühnenstücke von Gstrein, Haushofer, Meckel, Müller, Nöstlinger, Reinshagen, Jelinek, Schädlich und Schweikert vertiefen diese kritischen Schilderungen. Ingo Schulzes drastische Abrechnung mit der Wende, die keinen Mentalitäts‐ wandel einleitete, beschreibt das Dasein als So-Sein einer Reihe von Einwohnern der Thüringer Kleinstadt Altenburg. Die scharfen Angriffe gegen den Staat in Simple Stories. Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz (1998) und die vom Autor geplant kalte Darstellung menschlicher Schwächen und Verirrungen in den ‚einfachen‘ Geschichten präzisiert die Vereinsamung aller Figuren. Die Existenz ist so gefährdet, dass im Treppenschacht des Arbeitsamtes ein Netz aufgespannt ist, um Selbstmorde zu verhindern. Diese extreme Unterstellung charakterisiert 1 Herta Müller. Herztier. Reinbek: Rowohlt, 1994. 7. Deutschland, gesehen durch die neuen Bürger. Sie stürzen trotzdem kopfüber ins Treppenhaus; sie berichten von Italienreisen, wo sich ein jahrelang gehasster Lehrer für seine Leiden rächt; sie stellen fest, dass in einem Verkehrsunfall kein Dachs, sondern die Radfahrerin Frau Andrea überfahren wurde; sie halten in Selbstgesprächen fest, dass sie in schmutzigen Geschäften handeln; sie sitzen nackt vor einem Fernseher; sie verzweifeln, wenn sie im „Taucheranzug“ durch die Stadt gehen und Werbezettel für ein Fischrestaurant verteilen. Sie müssen überleben: ohne Hoffnung, ohne Selbsterkenntnis. Diese Bloßstellung menschlicher Schwächen und der gesellschaftlichen Verfassung wird weiter eingehend entwickelt in Herta Müllers und Wolfgang Hilbigs Erzählungen. Herta Müllers Abrechnungen mit der Diktatur Ceauçescus in Rumänien in Der Fuchs war damals schon Jäger (1992) und Herztier (1994) enthalten deutliche Anspielungen auf das Leben in der DDR und allgemeine Ungerechtigkeiten in Deutschland. Die lose verknüpfte Handlung besteht aus Vignetten, die das Leben der Lehrerin Adina veranschaulichen. Die Menschen existieren im Käfig. Sie müssen sich anpassen, um zu überleben: Arbeiter erfüllen ihr Soll; sie arbeiten in verrosteten Fabriken; der Rost färbt ihre Finger. Kinder werden zur Erntehilfe befohlen und zum Lügen erzogen. Sie lernen Parolen, die ihre Gegenwart bestimmen: Arbeit, Ehre, Partei. Die Menschen schauen sich nicht an; ihre Augen sind leer; sie haben das Lächeln verlernt. Alle leben in ständiger Angst vor Kontrollen, sei es beim Verlassen der Fabriken, in der Bahn, auf der Straße oder selbst in der Wohnung, wo man möglicherweise von Agenten der Geheimpolizei beobachtet wird. Jeder Gejagte ist jedoch zugleich Jäger und bereit, an der Misere mitzuwirken. Der Überblick lässt eine Frage unbeantwortet: Wie können Personen ohne Ideale, die nur Liebesverlust und Kontaktverlust erfahren, echte zwischenmenschliche Beziehungen herstellen? Herztier, in der Thematisierung dem Geist der jüngsten Literatur entspre‐ chend, ist ein weitgehend aus der Ich-Perspektive geschriebenes Exposé der Leiden junger Menschen während der kommunistischen Diktatur. Die Grund‐ konstellation der Handlung identifiziert eine verlorene Jugend und analysiert zwischenmenschliche Störungen, den Liebesverlust und die Kontaktlosigkeit. Besonders deutlich werden die zunehmenden aggressiven Tendenzen, die selbst das Zusammenleben aller erschweren, die unter dem Regime leiden. Alle scheinen die Fähigkeit verloren zu haben, wahrhaft sprechen zu können. „Wenn wir reden, werden wir lächerlich.“ 1 Sie sind gewohnt zu versagen: „Das Scheitern kam uns so gewöhnlich wie das Atmen vor.“ (229) 78 5. Kritik der politischen und gesellschaftlichen Verfassung 2 Wolfgang Hilbig. Abriß der Kritik. Frankfurter Poetikvorlesung. Frankfurt a. M.: Fischer, 1995. 72. 3 Vgl. dazu Thomas Rosenlöcher „Der Text von unten“ in: Uwe Wittstock (Hg.). Wolfgang Hilbig. Materialien zu Leben und Werk. Frankfurt a. M.: Fischer, 1994. 75-85. Die Erzählerin hält Leben und Tod der Protagonistin Lola als typisches Geschehen fest. Sie tritt der Partei im Ausbildungsheim bei. Die Parteibro‐ schüren stapeln sich neben ihrem Bett. Ihre ‚Liebe‘ ist reduziert auf anonymen Geschlechtsverkehr. Sie will die Gesichter der Männer nicht sehen. Die Empfin‐ dung wiederholt sich in ihrem Verhältnis mit dem Turnlehrer und verschiedenen Beamten der Parteihochschule. Sie erhängt sich schließlich verzweifelt mit dem Gürtel der Erzählerin im Schrank. Ihre männlichen Freunde Edgar, Kurt und Georg leben in einem Heim, studieren, träumen von Flucht und fürchten, verhört zu werden. Der Endpunkt ist bedrückend: Kurt erhängt sich; Georg stürzt sich in einem deutschen Übergangsheim aus dem Fenster; Edgar überlebt und passt sich illusionslos an. Er kann das Misstrauen, das alle menschlichen Beziehungen untergräbt, nicht überwinden. In seiner Poetikvorlesung Abriß der Kritik (1995) nimmt Wolfgang Hilbig Stellung zu seinem Leben in der DDR. Er erwähnt die harte Arbeit, die Lehre eines Lehrlings, den Normendruck und die Einstellung der Arbeiter: „eine mundtote Klasse“, deren Schweigen zugleich ihre Stärke war. 2 Als er sich nach seiner Verhaftung am 9. Mai 1978 weigert, für die Stasi zu arbeiten, wird er nicht als freischaffender Künstler zugelassen. Er wird Heizer in einer Maschinenfa‐ brik, bereitet aber den ersten Lyrikband vor. Staatsbeamte drohen, er werde nie veröffentlichen dürfen und lancieren die Nachricht in der westdeutschen Presse, Hilbig sei „umgedreht“ worden. (78) Beim Schreiben von Ich erkennt er, dass jeder ständig gefährdet war, in die Hände des Sicherheitsdienstes zufallen. Als Schriftsteller ist er überzeugt, man dürfe nie nachgeben und müsse gegen die ‚Mehrheitsmeinung‘ schreiben. Diese Haltung charakterisiert die Erzählungen Eine Übertragung (1989), Alte Abdeckerei (1991), Ich (1993) und Er, nicht ich und Grünes grünes Grab in Grünes grünes Grab. Erzählungen (1993). Weder Handlung und Kritik noch Staatsgebilde und Figuren sind eindeutig. 3 Der Autor, Berichterstatter, Erzähler und alle Figuren leiden in der Gesellschaft und stehen ihr kritisch gegenüber. Der Staat ist gigantisch und schließt alle denkbaren negativen Tendenzen ein. Die Erfahrungen der Erzähler sind repräsentativ für die der Personen in der Gesellschaft. Sie leben in Ost und West. Die Ausbruchs‐ versuche Einzelner scheitern; sie bewegen sich in einem labyrinthischen Kreis. In Eine Übertragung versucht ein Schriftsteller, seine Existenz und sein Verhältnis zur Gesellschaft zu deuten. Auf der Suche nach einer seiner Zeit angemessenen Geschichte findet er sich eingekesselt in der Sprachrealität der 79 5. Kritik der politischen und gesellschaftlichen Verfassung 4 Wolfgang Hilbig. Eine Übertragung. Frankfurt a. M.: Fischer, 1989. 115. 5 Wolfgang Hilbig. Alte Abdeckerei. Frankfurt a. M.: Fischer, 1991. 90ff. Gegenwart, die das Denken, die Ziele und das Interesse des Staates spiegelt. Der Autor muss aus dem bestehenden Sprachbereich ausbrechen oder er wird zum unbewussten Handlanger des Systems. Er erfindet eine angemessene Realität, die zuletzt auf ihn selbst als unwahrscheinlicher Vorfall wirkt. Dieser Vorfall charakterisiert jedoch zutreffend eine Welt, in der Handeln, Stimmen und Augen der Figuren austauschbar werden; alles ist gleichermaßen denkbar und undenkbar; die Ich-Erfahrung verebbt; was bleibt, ist eine kollektive Identität. Die Erzählung erfasst mit höchster Prägnanz diese Krisensituation, in der alles Persönliche austauschbar wird: „ich bin Heizer, Schriftsteller, Demonstrant, Opfer, Funktionär, Waller, Ziegenbein, verhaftet und freigelassen.“ Freiheit gibt es nur in der Zelle. 4 Alle Widersprüche des Lebens in einem Land, in dem das staatliche Interesse das Dasein beherrscht, hinterlassen Spuren im Gedächtnis: Man kann sich erinnern, aber auch nicht; mein Ich ist lästig, ich suche es; ich bin wahnsinnig, aber auch nicht; mein Kopf ist leer, ich habe ein Übermaß an Gefühl im Kopf. (136-147) Ich denke, weil ich bin. Ich denke in und zugleich gegen die Gesellschaft. Ich bin die Gesellschaft. Mein Leben ist eine „Übertragung“ und nur in der Anpassung, der völligen Identifizierung möglich. Die Alte Abdeckerei entwirft ein Bild des Staates als Krankheitssymptom. Für den Einzelnen besteht keine Hoffnung auf freie Entfaltung. Jede Selbstverwirk‐ lichung ist abgeschnitten. Der Erzähler hat seit der Kindheit das Verlangen, weg‐ zugehen. Aber der Weg nach außen ist abgeschnitten. Er muss im verseuchten Land bleiben. Er erfährt die erschreckende Umwelt: „milchfarbene Gewässer, Schaum auf dem Wasser, welke Krautfelder, seifiger Nebel, gedunsene Mauern, vom Brennen der Braunkohle atemberaubende Luft, unbenutzte Bahndämme und geschleifte Fabriken.“ Übrig geblieben ist nur die Abdeckerei Germania II. Die Firma hat NS- und SS-Offiziere aufgenommen; die Angestellten sind Sicherheitsbeamte und die unter der Erde schaffenden Arbeiter sind Krimi‐ nelle, „Deutsche, Polen, Russen, Abtrünnige, Kommunisten und Nazis … die Gesuchten und ihre Ermittler“ 5 und Hoffnungslose wie der Erzähler, der zu dieser Quelle des Leides vordringt, um dort zu arbeiten. Ich und Das Provisorium vertiefen die Erkenntnis, dass jeder ständig gefährdet ist, einem bedrohlichen System zu unterliegen. Der Staat kann das Leben kontrollieren; die Gesellschaft kann zur Anpassung und Normung anregen. Aber Staat und Gesellschaft können die Meinungsbildung Einzelner nur durch vollendete Sprachbefähigung beeinflussen. Deshalb müssen Autor(inn)en die „sinnentleerte“ oder „manipulierte Begriffswelt“ ständig befragen. Ich und 80 5. Kritik der politischen und gesellschaftlichen Verfassung 6 Wolfgang Hilbig. Ich. Frankfurt a. M.: Fischer, 1993. 206, 235ff. Das Provisorium verdeutlichen das durch die Sprachbeeinflussung entstehende verbissene Schweigen und verurteilen die Verarmung zwischenmenschlicher Beziehungen, die entstehende Gleichgültigkeit, die einen schwelenden Hass verdeckt. Die beiden wesentlichen und die Gesellschaft ständig beobachtenden Figuren in Ich sind der Erzähler M. W. und der Stasi-Oberleutnant Feuerbach. M. W. identifiziert sich weitgehend mit Feuerbach, beginnt wie er zu denken und schreiben, erkennt plötzlich, dass Feuerbachs Anordnungen auf seiner Maschine geschrieben sind und kann nicht immer zwischen eigenen Vorstellungen und denen Feuerbachs unterscheiden. 6 Die Wesenseinheit von Schriftsteller und Stasi-Offizier akzentuiert den Vorsatz der Darstellung: Beide beobachten die kollektiven Denkformen und das Unterbewusste der Gesellschaft. Das Verbind‐ liche und Erkennbare sind Abstumpfung, Gleichgültigkeit, Desinteresse und Schweigen. Diese Entwicklung in der Gesellschaft bringt das System stärker ins Wanken als offener Antagonismus. M. W.s Beobachtungen - eine verschmutzte Stadt, Rauch fällt unaufhörlich nieder, es ist immer nass, Schlaflosigkeit, Alkoholsucht, Genehmigung der ‚Szene‘, einer Organisation freischaffender Künstler, der auch asoziale Figuren beitreten, die Geschichte Harry Falbes, der als Homosexueller nicht dem Idealbild Feuerbachs entspricht und deshalb gezwungen wird, eine erfundene Beschuldigung zu unterschreiben, weil der Staat konkrete Beweise für ungesetzliches Verhalten braucht (214 ff.), der Lite‐ raturbetrieb in der DDR und im Westen ist identisch (201 ff.), der gärende Hass der Menschen, die ein Schattendasein führen, weil sie sich angepasst haben (370-372), er beobachtet und wird beobachtet - verdeutlichen den Existenzver‐ lust in uneingeschränkter Einkreisung. Das Provisorium schließt in der Konzentration auf die Selbstanalyse des Erzählers C. deutlich an die Problemstellung in Ich an. Die fiktiven autobiographischen Aufzeichnungen vermitteln das Gefühl einer rücksichtslosen bohrenden Analyse, in deren Verlauf alle vom Erzähler vorgebrachten Entschul‐ digungen für das hilflose Absinken in eine selbstzerstörerische Benommenheit und Ausweglosigkeit kritisch befragt, entlarvt und auf ihre Gültigkeit als verbindliche Aussage über eine allgemeine Existenzkrise in der Gegenwart untersucht werden. Der äußere Anstoß zu C.s Rechenschaftsbericht ist die Reisegenehmigung von DDR-Behörden zur Fahrt nach Westdeutschland, um dort Lesungen und Vorträge abzuhalten. Das Visum erlaubt wiederholte Aus- und Einreisen. Durch ein großzügiges Stipendium finanziell gesichert, erwartet C. neue Anregungen zum künstlerischen Schaffen. Er macht neue Bekannt‐ 81 5. Kritik der politischen und gesellschaftlichen Verfassung schaften, verliebt sich in Hedda, zieht in ihre Wohnung in Nürnberg, kann sich aber von seiner im Osten verbliebenen Freundin Mona nicht trennen. Er zögert, schwankt und ist unentschlossen. C. fährt zwischen Leipzig und Nürnberg, Berlin und München hin und her. Kurze Vortragsreisen nach Wien und Paris ändern nichts am Provisorium seiner Existenz. Seine Ruhelosigkeit findet Entsprechung in nächtlichem Umherlaufen, das er selbst treffend als Dreiecksbewegung charakterisiert. Der Roman schil‐ dert somit zeitlich aufgefächert und in Reisedetails die Bewusstseinslage eines Menschen im Zustand und Augenblick vor einer Entscheidung. Diese Kreisbe‐ wegung und Unentschlossenheit im ständigen Hin und Her spiegelt in der erweiterten Perspektive zugleich die allgemeine gesellschaftliche Situation. Die Verengung der Perspektive auf das Ich findet Entsprechung im Ausklammern der geschichtlichen oder gegenwärtigen Eigenart von Städten oder Landstri‐ chen. C. betrachtet das befristete Warten auf Bahnhöfen und das Übernachten in Hotels in Bahnhofsnähe als die ihm angemessene Lebensform. Er verspürt den Drang, diesem Zustand Dauer zu verleihen. Er versäumt Züge, um länger bleiben zu können, beobachtet das Gewirr auf dem Bahnhof, lernt aber nie eine Metropole oder den Stadtumkreis wirklich kennen. Der Motivkomplex von Bahnhöfen, kurzfristigen Übernachtungen, Bahn‐ fahrten und ziellosen Kreisbewegungen unterstreicht C.s Ruhelosigkeit. Das Provisorische seiner Existenz beruht anfangs auf seinem unschlüssigen Zögern, sich entweder für das Leben in der DDR oder in der BRD zu entscheiden. C. weiß aus eigener Erfahrung, dass die sozialistische Utopie von der Staatsideologie unterhöhlt ist. Er sieht zugleich überscharf die Schwächen der westlichen Gesellschaft, deren Ideale aus seiner Sicht auf wirtschaftlichen Gewinn zusam‐ mengeschrumpft sind. Seine Unfähigkeit, Entscheidungen treffen zu können, wird zum permanenten Zustand, den C. mit Hinweisen auf Psychosen in Auffanglagern nach dem Krieg als Ausdruck des Verlusts jeder lebenswürdigen Sinnstiftung deutet. Die vielfältigen Symptome der Entwurzelung sind kompositorisch streng auf die Gesellschaftskritik und die Schaffenskrise des Schriftstellers bezogen. Das Leben C.s steht unter den Vorzeichen des Verzagens und Versagens. Vortragsreisen, Veranstaltungen und Lesungen enttäuschen. Er kann scheinbar die Erwartungen der Hörer nicht erfüllen, beginnt an den Worten zu würgen, verspürt Übelkeit und flieht am Ende der Veranstaltungen. Bei Vorträgen, die er selbst besucht, merkt C., dass das Publikum weitgehend aus Berufskollegen besteht: „… es ging in den meisten dieser Texte um Existenzbedingungen 82 5. Kritik der politischen und gesellschaftlichen Verfassung 7 Wolfgang Hilbig. Das Provisorium. Roman. Frankfurt a. M.: Fischer, 2000. 118. von Schriftstellern. Schriftsteller reflektierten über Schriftsteller“. 7 Die Beob‐ achtung betrifft seine eigene Situation. C., der weder Apologet der sogenannten gesellschaftlichen Interessen des sozialistischen Staates noch Anwalt der nivel‐ lierenden Wirtschaftsideologie sein kann, versinkt im „Chaos“ seiner Gefühle und Gedanken, die er auf Zetteln festhält, denen er aber keine künstlerische Form geben kann. „Eines Tages, das war ihm klar, mußte er das Monster, das seinen Innenraum besetzt hielt, beschreiben und es der Öffentlichkeit ausliefern. Jener Öffentlichkeit, vor der er sich verkroch und die er gleichsam anbetete, der er sich mit allen denkbaren Tricks anglich und die er mit gerissensten Manövern hinterging, um sich ihr zu verkaufen, wie ein verschlagener alter skythischer Roßtäuscher. Und die Instanz dieser Öffentlichkeit war die Kritik, dem blutigen Rachen der Kritik mußte er die Bestie zum Fraß vorwerfen.“ (133) Schreibhemmungen nehmen zu. Literatur als Kritik bestehender Zustände ist nicht gefragt. Die Selbstanalyse zeitigt kurz aufflackernde Gedanken an Gott, Tod, Altern und mündet schließlich in die völlige Lähmung der Gedanken. Die der Schaffens- und Existenzkrise entspringende Bewusstseinslage der Verzweiflung untergräbt C.s Fähigkeit, menschliche Beziehungen aufrecht zu erhalten. Er weicht aus, flieht vor Hedda wie vor Mona, fährt in die Heimat, be‐ obachtet seine alte Mutter auf dem Weg vom Einkauf nach Hause und kann sich nicht dazu durchringen, sie zu besuchen. C. ist geistig in trostlosem Kreislauf seiner Gedanken gefangen. C. hat Panikanfälle und schwankt „zwischen Em‐ pörung und weinerlicher Empfindsamkeit, zwischen hektischer Aktivität und resignierter Unentschlossenheit“ (157). Seine Gemütslage spiegelt die von ihm wahrgenommene Verödung der Welt wider, die im Osten unter den Vorzeichen von Kohle, Ruß und Schmutz steht, und die sich in Nürnberg unmissverständlich in penetrant süßlichem Malzgeruch der Brauereien manifestiert. Er kommt physisch herunter, kann nicht ohne „Unterberg“ reisen, sitzt in verqualmten Zimmern, seine Finger am „Flaschenhals förmlich festgewachsen“ (129), trinkt bis zum Umfallen und Erbrechen (130, 170), verbringt kurze Zeit in einer Entzugsanstalt, ohne kuriert zu werden, empfindet immer wieder Selbstmitleid, hasst das „gequetschte Gewinsel“ seiner sächsischen Aussprache (240) und seinen verwüsteten Anblick, verspürt Angstanfälle bei Grenzübergängen, rennt in Peepshows, starrt sinnlos gebannt auf Sexfilme im Hotel, fühlt, er sei nichts als ein minderwertiger Parasit, und verspürt tiefen „Ekel“ vor sich selbst. „Kohlefarbene Tränen“ dringen aus allen Poren. (148) Wie in allen anderen Erzählungen Hilbigs, besonders in Die Kunde von den Bäumen (1992), werden Ruß, Kohle, schwarzer Abfall und Verfinsterung zu Symbolträgern der geistigen 83 5. Kritik der politischen und gesellschaftlichen Verfassung und gesellschaftlichen Verödung des Landes, in dem BRD, DDR und historische Ereignisse des 20. Jahrhunderts zur Einheit verschmelzen. Überzeugend gelungen im Erfassen der Ich-Krise ist nicht nur die Schilde‐ rung der Psychose, sondern besonders die Gestaltung des Vorläufigen und Bruchstückhaften der menschlichen Existenz in der Zeit vor einer eindeutigen Neuorientierung, einem Mentalitätswandel, der die Voraussetzung für ein neues Verhältnis zu anderen und zur Gesellschaft bietet. Hilbig thematisiert die Orientierungssuche mit wiederholten verhüllten Hinweisen auf die Flucht vor und dem Aufruf zu verantwortlichem Handeln und Schreiben. C. grübelt darüber nach, ob seine Impotenz ihren Ursprung in der Kindheit hatte, in der er das Bett mit der Mutter teilen musste (137). Er erkennt schließlich, dass die Impotenz Ausdruck ist für sein Zögern, seinen Zorn auf die Gesellschaft (142), der er zu unterliegen scheint, und seine Unfähigkeit, sich fest zu binden. Sie wurzelt in seiner erzwungenen Eingliederung in das System des DDR-Staates und den freiwilligen Anschluss an die BRD. Indem der Erzähler im Prozess ständiger Befragung, der seinen Erinnerungsdiskurs kennzeichnet, zuletzt jede Entschuldigung ablehnt, wirkt seine Notlage verbindlich für die Schaffenskrise der Autoren nach dem Mauerfall. Darüber hinaus wird C. zur repräsentativen Figur für lebensversehrte, aus der Gesellschaft gefallene Menschen der heutigen Zeit, die sich ihrer persönlichen Verantwortlichkeit mit Hinweisen auf undurch‐ schaubare politische Ereignisse und unkontrollierbare Mächte zu entziehen suchen. In der Bloßstellung des Liebesverlusts erscheint die Familienwohnung häufig als Zentrum aggressiver Handlungen. Die Abrechnungen in der Gegenwartsli‐ teratur verwandeln das das tradierte Motiv des Familientreffens, der frohen Vorbereitung und Heimkehr in das Gegenteil des lang ersehnten Kampfes und der Zerstörung. Die Feier artet entweder in körperliche Gewalttätigkeiten oder psychisch-psychologische Aggressionen aus. Die Begegnung wird zur Abrech‐ nung; wirklich erfahrene, subjektiv empfundene und erfundene Verletzungen kristallisieren latente Konflikte, die sowohl in der individuellen Sphäre Ein‐ zelner wurzeln als auch auf allgemeinen gesellschaftlichen Störungen beruhen. In Abrechnungen mit dem Vater kommt die Kritik an der patriarchalischen Ordnung, absolutistischen Tendenzen der Gesellschaft und der Vergangenheit zu Wort. Außerdem entlädt sich der angesammelte Stress des Alltags und der aufgespeicherte Hass auf alle anderen, die das Leben beherrschenden anonymen Funktionäre, den technischen Fortschritt und die genormten Wohl‐ standsvorstellungen. In den latenten Gefühlen mischen sich Unbewusstes und Bewusstes. Es schließt ein: das fatalistische Gefühl, der verrinnenden Zeit ausgeliefert zu sein; die Unlust am Alltag und die Langeweile; die Angst vor 84 5. Kritik der politischen und gesellschaftlichen Verfassung 8 Elfriede Jelinek. Die Liebhaberinnen. Roman. Reinbek: Rowohlt, 1975. 104. dem zur Konvention erstarrten Familienleben, in dem Gezanke verbindende Gespräche verdrängt hat; das hilflose Bewusstsein, der Fülle der an Bildschirmen vorüberfliegenden Nachrichten keinen Sinn abgewinnen zu können und die Lebensangst, die im Orientierungsverlust wurzelt. Sie begehren auf gegen die Wiederkehr des Gleichen in ihrer anonymen Existenz und finden eine Ich-Erfahrung im Augenblick willkürlicher Ausbrüche. Verneinen offener Liebe, Unbehagen in Familien und Aggression sind deut‐ lich in Elfriede Jelineks Stücken und Erzählungen und Birgit Vanderbekes Romanen. Jelinek prangert außerdem vorherrschende aggressive Tendenzen im Gesamtbereich der Gesellschaft an. Jelineks Die Liebhaberinnen (1975) setzt Ton und Blickrichtung für eine Reihe von Abrechnungen mit sozialen Störungen. Das Lesepublikum wird aufgefordert, das schöne Land und frohe Dasein genau kennenzulernen. „Für Ihr Geld können Sie hier nicht auch noch Naturschilde‐ rungen erwarten! … wir sind doch nicht im Kino.“ 8 Verdeutlicht wird: Der Wald ist eine Arbeitsstätte, wo jeder bis zum Umfallen schuftet; die Forstver‐ waltung „besitzt“ die Holzfäller, die Alkoholiker werden; die Fabrik besitzt die Näherinnen; kalte Kalkulation und Sex ersetzen Liebe; die Männer besitzen ihre Frauen, die davon träumen, diese mit Sex festzuhalten. Der monotone Kreislauf von Geburt, Windeln wechseln, dem anderen in täglichen Streitereien ausgelie‐ fert zu sein, bis zum Altern und Tod beschreibt den Einzelnen als „emotioneller Krüppel hinein und als emotioneller Krüppel hinaus.“ (90) Die sterbende Mutter lauscht auf ihren Unterleibskrebs, der sie langsam, schmerzerfüllt tötet. (76) Die Welt hat kein Mitleid: „die mutta ist wie eine leere bohnenschote oder wie ein leeres einkaufsnetz, aus dem längst alles herausgefallen ist. wie ein netz, das auch noch durchlöchert ist.“ (78) Das Leben bringt jeden Tag das Gleiche: absolute Einkreisung in der erzwungenen Anpassung. Die Ausgesperrten (1980) und Lust (1989) präzisieren, dass alle Ausbruchsversuche im Willen zur Macht und selbst in sinnlosen und kriminellen Vergehen scheitern. Die Kinder der Toten (1995) zählt alle denkbaren Defizite im heutigen Leben auf. Da Jelinek wie Marlene Streeruwitz glaubt, die Sprache sei beschädigt und unterliege patriarchalischen Vorstellungen, versucht sie eine der Erzählerin angemessene Tonlage zu finden. Diese soll im zeitweiligen Stammeln, Grunzen, unzusammenhängenden Übergängen, unerwarteten Beobachtungen, obszönen Vignetten und Fernsehgeplapper die Krankheitssymptome der Gesellschaft einfangen. Die beschädigte Sprache, die Zornesausbrüche gegen Männer, die li‐ terarische Tradition und Österreich einschließt, enthüllt die beschädigte Gesell‐ schaft. Die Kinder der Toten sind alle tot, ehe sie sterben. Ihre Seele ist das „Ge‐ 85 5. Kritik der politischen und gesellschaftlichen Verfassung 9 Elfriede Jelinek. Die Kinder der Toten. Reinbek: Rowohlt, 1995. 365. Franz Xaver Kroetz stilisiert dieselbe Situation in dem Bühnenstück Bauern sterben. Hochdeutsche Fassung, Calcutta 1985. schlecht“. 9 Ihre Einstellung zur Natur ist reine Täuschung, in der „Urlaubsfreude lodert“ (428); sie verneinen die trostlos verschmutzte Umwelt und träumen vor sich hin. „Das ganze Leben ist überhaupt ein Selbstbedienungsladen.“ (505) Alle denkbaren und undenkbaren Störungserscheinungen beherrschen das So-Sein: das Sexuelle verdrängt die Fähigkeit zu lieben; Brüder, Schwestern und Eltern vergehen in Auseinandersetzungen; Blutorgien, Kindermord, Frauenmord und Selbstmord sind Dauererscheinungen. Der Einzelne schwankt rat- und haltlos hin und her; weder Gegenwart noch Vergangenheit bieten Orientierungspunkte zur Selbstverwirklichung. „Das Fernsehen bescheinigt uns, daß es uns gibt.“ (471) Die Erzählung entlarvt alles, was sonst umschrieben, verklärt oder idealisiert wird. Kinder sind eine Last. Alte Frauen werden nicht berücksichtigt. Was bleibt, ist ein „schwarzes Loch“, ein Käfig der Gewalt, in dem alle gefangen sind. „Unser Denken vermag gar nichts gegen seinen Ursprung, des Wilden. Es springt aus dem Käfig, ob man die Tür jetzt offenhält oder nicht, es hupft heraus wie aus dem offenen Hosentürl, ein Fleischwolf, eine wütend spinnende Raupe, die den Stoff, den sie gemacht hat, gleich wieder zerreißt.“ (650) In der Darstellung gestörter zwischenmenschlicher Beziehungen durchaus unterschiedlich von Jelinek, aber in der scharfen Kritik der Krise im Alltag und in tragisch verzagenden Familienleben grundsätzlich vergleichbar sind Vander‐ bekes Erzählungen. Die Figuren befinden sich in Situationen, die scheinbar jede Entscheidung für eine Neuorientierung im Dasein verhindern. Was bleibt, ist die in abgehängt (2001) scharf erfasste Thematik des latenten Gefühls der Hilflosigkeit. Dieser Zustand kennzeichnet das Familienleben in Friedliche Zeiten (1996). Vanderbeke, die Ich-Erzählerin, beschreibt das Leben einer Familie (Vater, Mutter, drei Kinder), ehemalige Einwohner der DDR, in der die Mutter die Rolle des alles überwachenden Staatssicherheitsdienstes übernommen hat. Keine Tür in der Wohnung, selbst die der Toilette nicht, darf verschlossen werden; die Heizung wird heruntergedreht, damit sich keine schädlichen Bak‐ terien ausbreiten; der Vater muss anrufen, wenn er nicht pünktlich nach Hause kommt; die Mutter prüft ständig nach, ob jeder gesund ist; sie begleitet jedes Gespräch mit Bemerkungen des „Jung-Sterbens“ oder „Nicht-Alt-Werdens“; sie bespricht wiederholt die Möglichkeit einer Scheidung und versucht zuweilen einen nie recht gelingenden Selbstmord. Ihre hysterische Überwachung, von ihr als Selbstaufopferung betrachtet, verhindert jede freie Selbstentfaltung. Die Familienmitglieder sind entmachtet und sitzen wie die Figuren in Alberta empfängt einen Liebhaber (1997) in verschiedenartigen Realitäten. „Wir sitzen 86 5. Kritik der politischen und gesellschaftlichen Verfassung 10 Birgit Vanderbeke. Alberta empfängt einen Liebhaber. Berlin: Fest Verlag, 1997. 27. 11 Siegfried Lenz. Der Verlust. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1981. 221-222. im falschen Film. Jeder in einem anderen.“ 10 Sie haben kein Verhältnis zur Gegenwart, Zukunft oder Vergangenheit. Eine Orientierung scheint unmöglich. Vanderbekes sprachbewusstes Schreibverfahren betont in allen Erzählungen diesen Sachverhalt. Der Redefluss, der hypotaktische, atemlose Stil, der Absätze vermeidet, erfasst die besondere Seins-Verfassung der Vereinsamung der Spre‐ chenden. Sie ist uneingeschränkt. Der Verlust (1981) von Siegfried Lenz und Schlafes Bruder (1992) von Robert Schneider sind überzeugende und tiefgreifende Gestaltungen menschlicher Ver‐ einsamung. Schneider beschreibt das kurze Leben eines hochbegabten Jungen, der sich in dem bedrückenden Milieu seiner Umgebung nicht entwickeln kann. Seine Hoffnung, Erwartung, sein Aufbruch und seine Gottessuche in einer gottlosen Welt bleiben unerfüllt. Er endet in Selbstmord durch Tollkirschen. Das prägnante Geschehen in Der Verlust ist kurzgefasst, die Reaktion aller Beteiligten dagegen wird eingehend beschrieben. Der Fremdenführer Uli Martens wird plötzlich krank, während er einer Reisegruppe die Sehenswürdigkeiten der Stadt erklärt. Er steigt aus, geht zur Wohnung seiner Freundin Nora und erleidet einen Schlaganfall. Er ist halbseitig gelähmt und verliert das Sprechvermögen. Er liegt im Krankenhaus und will Kontakt mit Nora aufnehmen. Sie verspürt Angst vor seiner Rückkehr, Angst vor dem Leben mit einem gelähmten Menschen, der nicht sprechen kann, aber überwindet sich und besucht ihn. Uli, der jünger als Nora ist, erscheint plötzlich verändert: Er ist gehbehindert, fällt hin, ist sprachbehindert, wird nach dem Schlag als „Alter“ eingestuft. Er wird von Noras Eltern abgelehnt; er wird von Halbstarken angepöbelt und von Polizisten als „geistesgestört“ behandelt. Vignetten anderer Körper- oder Sprachbehinderter und alter Personen unterstreichen deren Kontaktverlust. Sie sind unmündig; die Welt ist nicht offen, sondern verschlossen. 11 Auch in Rückgriffen auf die Vergangenheit und die Antike stehen Abrech‐ nungen mit den Problemstellungen der Gegenwart und Familienkonflikte mit‐ unter im Schnittpunkt der Handlung. Die Darstellungen von Thomas Brasch Vor den Vätern sterben die Söhne (1977), Kargo. 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen (1977), Peter Hacks Omphale (1970), Amphitryon (1968), Heiner Müller Philoktet (1966), Stefan Schütz Odysseus’ Heimkehr (1972) und Christa Wolf Kassandra (1983) kommentieren das Zeitge‐ schehen mit Deutungen, die zwar an die Antike anknüpfen, aber grundsätzlich die heutige Zeit mit Fragen konfrontieren, die auf die existenzielle Notlage der heutigen Zeit hinweisen. Sie thematisieren hilflose Anpassung, verstörte 87 5. Kritik der politischen und gesellschaftlichen Verfassung Auflehnung, Aggression, Unterjochung, Freiheitsverlust und Reform, die nur Machthaber bereichert. Was die Schilderungen verbindet, ist die deutliche Profilierung der Unfähigkeit der Figuren, dem Leben einen richtungsweisenden Sinn abzugewinnen. Scharfe Kritik der menschlichen Beziehungen, die in völliger Entfremdung in der Familie oder in den Streit zwischen Frau und Mann ausarten, prägen die Schilderungen von Marlen Haushofer und Barbara Neuwirth. Die bereits im vorigen Kapitel besprochene Novelle Wir töten Stella von Marlen Haushofer konfrontiert die Vorstellung einer traditionellen „soliden“ bürgerlichen Familie mit der Realität von Liebesverlust, Affären und Fremdwerden. Das Ehepaar verkörpert den Verlust jeder sinnvollen Lebensgestaltung. Richard will Frauen besitzen. Sie sind Objekte seines Selbsterhaltungstriebs. Anna bewegt sich im Kreis des Vor-sich-Hinlebens in einer scheinbar unabänderlichen Situation. Hinter dem Schein der Familie steht die Grunderfahrung der Entfremdung des Ehepaars, das sich nicht aus der Ich-Bezogenheit und dem Überleben-Wollen lösen kann. Die Erfahrung des Hausgastes Stella unterstreicht diesen Zustand. Das Mädchen verliebt sich in Richard. Ihre Liebe ist für ihn eine Affäre unter vielen, die auch nach seinem Gutdünken enden muss. Der Liebesverlust siegt: Stella begeht möglicherweise Selbstmord; sie stirbt in einem Verkehrsunfall. Richard bleibt Meister der Familie; Anna starrt auf eine Welt vor dem Fenster, die undurchschaubar und tonlos ihre eigene Existenz abbildet. Thematisiertes Fremdsein und Aggression in der Begegnung der Menschen wird eindrucksvoll von Barbara Neuwirth in Dunkler Fluß des Lebens. Erzäh‐ lungen (1992) und Im Haus der Schneekönigin. Novelle (1994) gestaltet. Es erhält in ihren Erzählungen eine archaisch-mythische Dimension. Beispielsweise führt die Forschungsreise einer Gruppe von Wissenschaftlern diese in eine Stadt, die scheinbar vor dem Entstehen der Menschen von Giganten hoch oben im Himalaya erschaffen wurde und die hinter ihrem Tor die Urangst, das ganze Entsetzen der Menschen gebannt hält (Die Stille Stadt). Mit Ausnahme der einzigen Frau, einer Architektin, gehen alle zugrunde. Sie kehrt zurück, kann sich nicht einmal an den Namen der Stadt erinnern, und weiß nur, dass von allen Vorhaben, derentwegen sie einst aufgebrochen war, nichts gelungen ist. Im Gegenüber von Mensch und Natur wird die innere Verunsicherung sichtbar: Die Beobachtung verzerrt sich; die Gefühle wechseln unvermittelt; im einen Augenblick wirkt die Natur belebt, im nächsten ruft sie Abscheu hervor. Die Begegnungen von Frau und Mann stehen unter dem Dreigestirn von Suche nach Liebe, dumpf schwelender Hysterie und tödlichem Ausgang. Selbst mythisch gesteigerte Frauenfiguren, die sich befreien und selbstständig handeln wollen, stoßen immer auf Widerstand und unterliegen. Ehepaare stehen sich 88 5. Kritik der politischen und gesellschaftlichen Verfassung fremd gegenüber, sehen sich als Blutegel, der Mann will die Frau umbringen, diese reißt ihm die Augen aus dem Kopf, und er versinkt von Blutegeln umschlungen im Fluss (Eklige Egel allerorts). Eine Wassernixe (Nimm diese Rosen, Schöne) erfährt, dass der Angebetete unfähig ist, sie wirklich zu lieben. Ihr Wunsch, das Wesen der Liebe zu erfahren, geht nicht in Erfüllung. Die Erzählung Besitzgier schildert Herrn Baldwer, der automatisch lächelnd seine Funktion am Kassenschalter einer Bank ausübt, Geld kassiert, aushändigt und wechselt. Die Personen, die vor ihm stehen, bleiben gesichtslos. Er sucht Kontakt und erfindet das Phantom einer Frau, die ihn liebt und körperliche Wärme gibt. Sein Traum von Glück und Verzückung endet jedoch in einer Vision von Aggressivität. Sieh mich an mit deinen gelben Augen hält eine apokalyptische Vision der Gesellschaft fest, in der alle Leidenden und Körperbehinderten ausgeschlossen sind und der Nachwuchs genetisch manipuliert wird. In Gesprächen, die freundlich beginnen, tritt nach kurzer Dauer die innere Gereiztheit hervor. Sie enden in Wortkämpfen. Die Frau spürt, dass sie nur ein Objekt ist, nur die Funktion hat, der Lust zu dienen, nur eine Rolle zu spielen hat: die der Unterworfenen. Die Angst vor dem Alleinsein, vor dem Altern (Die Tochter der Künstlerin) und letztlich vor dem Tod (Unter dem Unter dem Äquator, Epilog: Das wertvollste Geschenk) beherrscht den Gesichtskreis aller. Selbst der Traum von Liebe, von menschlicher Berührung, durchaus sinnlich von Maria Im Haus erfahren, ist der Traum vom Tod. Es gibt keinen Ausweg: Der Mann, der möglicherweise Maria lieben könnte, ist zu schwach, ihre Liebe zu begreifen, und ihr eigener Mann kennt nur Besitzgier und muss sie töten, als er erkennt, dass Maria ihm entgleitet. Marlene Streeruwitz, deren Bühnenstücke in bedrückenden Räumen (U-Bahn, Pissoirs, ausweglose Gassen) spielen, beschreibt die völlige Aussichts‐ losigkeit des Wartens auf eine wahrhaftige Liebesbeziehung in der Erzählung Verführungen (1996). Helene, die Hauptfigur, ist eine alleinstehende, von ihrem Mann verlassene Mutter, die zwei kleine Töchter erzieht, im Beruf schikaniert wird und vom Alltag verzehrt wird. Sie wartet anhaltend, endlos auf einen Anruf, zieht aber immer den Stecker des Telefons aus der Steckdose. Sie sehnt sich nach einer echten Begegnung, nicht den angedeuteten Kontakt mit einem Liebhaber oder einem wildfremden, zufällig auftauchenden Autofahrer, der nur an Sex interessiert ist. Doch ein Treffen mit dem Ziel, tatsächlich mit einem anderen Menschen in Berührung und Kontakt zu kommen, kann unter den bestehenden Bedingungen der Kontaktlosigkeit und Brutalisierung der Liebe nicht stattfinden. Helen weiß das und muss den Anruf verhindern. Gerlind Reinshagen rechnet ab mit den nivellierenden Tendenzen der Gesell‐ schaft und der Vormachtstellung der wirtschaftlichen Interessen in Rovinato. 89 5. Kritik der politischen und gesellschaftlichen Verfassung 12 Gerlind Reinshagen. Rovinato oder Die Seele des Geschäfts. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1981. 144. 13 Gerlind Reinshagen. Die Feuerblume in: Drei Wünsche frei. Choristische Stücke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992. 195. 14 Gerlind Reinshagen. Am großen Stern. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1996. 106. 15 Gerlind Reinshagen. Jäger am Rande der Nacht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1993. 10. Die Erzählung behandelt bemerkenswerte und bedrückende Einzelschicksale in absteigender Linie, die in Anpassung oder Tod enden. Zentral ist jedoch die Figur Rovos, der alle Abteilungen des Geschäfts durchläuft und alle Angestellten beobachtet, die in Kurzporträts beschrieben sind und einen Querschnitt durch die Gesellschaft einfangen. Die Aufgaben im Geschäft - Schreiben, Verpacken, Verkaufen - sind ersichtlich; die Ware ist unbestimmt. Dass der ständige Prozess das Wesen des Unternehmens bestimmt, wird deutlich, als Rovo mit seinem Chef in ein Großunternehmen kommt, wo alle Angestellten wie Zwerge vor Terminals, Monitoren, Druckmaschinen und Computern sitzen: „ganz wie Puppen sitzen sie im Raum verteilt, in gleicher Richtung, gleichem Tempo sich bewegend, wie nach einem vorgezeichneten Plan.“ 12 Die Welt ist bevölkert von „Zwergwesen“, die sich monoton bewegen und monoton denken. Keiner kann entkommen. In dem choristischen Stück Drei Wünsche frei treten die Figuren als Typen auf: Architekt, Dichter, Lehrer, Biologe, Vater, der Alte, die Mutter und Halb‐ wüchsige. Ihre Reden enthüllen, dass sie alle Funktionen ausüben. Kollektives Sprechen und Volkstaumel mit Transparenten verhindert jeden Dialog. Aus‐ bruchsversuche der Ich-Behauptung scheitern. 13 In dem Roman Am großen Stern (1996), der eine verfehlte Liebe schildert, erweckt die Familienwohnung Angst und Schrecken. Als die Mutter am Abend eintrifft, „bekommt der Sonntag Kontur. Eine starke, schwarze allerdings die sich ihnen ins Gedächtnis graben wird. Beide spüren: um der Alten zu begegnen, um ihren Angriffen standzu‐ halten oder sie zu parieren, ist äußerste Geistesgegenwart vonnöten“. Die Mutter geht durch die Wohnung und schafft Ordnung wie in einer Armee: „Das alles geht rasch und wie im Handstreich vor sich, wie die Besetzung einer feindli‐ chen Stadt - Verstecke werden aufgespürt, Widerstandsnester gesprengt -, die Schritte des Belagerers auf dem hölzernen Boden dröhnen.“ 14 Die Familien‐ geschichte Jäger am Rande der Nacht (1993) erkundet das Leben einer Reihe labiler, kranker und verzweifelter Figuren. Sie reden vor sich hin, sterben allein, sind schwer krank, sind sich nicht im Klaren, wer der Vater ihrer Kinder ist, und haben gelernt, „daß man in niedrigen Räumen gebückt gehen muß.“ Im Verhältnis zu seiner Geliebten erwartet Spenz, eine Jedermann-Figur, nichts als „Gängelei, Erniedrigung, Verachtung.“ 15 Das Schreibverfahren erweckt den 90 5. Kritik der politischen und gesellschaftlichen Verfassung 16 Botho Strauß. Wohnen Dämmern Lügen. München: Hanser, 1994. 148. 17 Jurek Becker. Aller Welt Freund. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1982. 93-94. Eindruck, dass die Gesellschaft spricht, dass alle Betroffenen sprechen. Wieder‐ kehrende Reflexionen und Kapitelüberschriften („Wer spricht? “ Kapitel 20, 126, 189) unterstreichen das allgemeine Gepräge existenzieller Notlage. Stefan Schütz erwägt eine Endlösung aller menschlichen und gesellschaftli‐ chen Defizite in Galaxas Hochzeit (1993) in einer Welt, in der alle Personen in Parzellen verwandelt werden, die nur noch in Erinnerungsfeldern der Maschine existieren. Die neue Welt ist restlos vernetzt, Reflexe und Reaktionen sind programmiert, Drähte surren, Speicher werden gespeist und das Ganze kennt kein Ende. Im Gegensatz zu Schütz warten alle im Vorzimmer des Todes auf das unausweichliche Ende in den Erzählungen Wohnen Dämmern Lügen (1994) von Botho Strauß. Die Figuren reden vor sich hin, finden keine Kontakte, sind voller Angst. Wenn sie sprechen, wird es ein Zweikampf, der in die Isolation des Monologs mündet. Schließlich schrumpfen sie ein wie der an Krebs sterbende Wilhelm. Er war „zu einem schmächtigen Greislein geschrumpft, nicht mehr zu unterscheiden, ob weiblich oder männlich.“ 16 Die Erzählungen beleuchten einen allgemeinen Zustand, der im Unbehagen an der modernen Zivilisation wurzelt. Nicht Beklemmung, sondern ein Leben des verzweifelten, anhaltenden und aussichtslosen Kampfes gegen die Bürokratie und die Inhumanität der Umwelt kennzeichnet die Geschichte des Großvaters Heinrich Zinn. Silvio Blatters als Zeitbericht angelegter Roman Das blaue Haus, mit kurzen Vignetten, die das Zeitgeschehen der beiden Weltkriege, die Inhumanität der Schweizer Frem‐ denpolizei und den „schwarzen Abgrund“ der Heimat kritisieren, gestaltet eindrucksvoll einen Appell an das Gewissen des Lesepublikums. Das blaue Haus ist ein Ort des Schutzes für flüchtende Künstler und Mittelpunkt der Liebe zu Kindern, doch es wird enteignet, weil ein Staudamm gebaut wird, der das Land unter Wasser setzt. Zinn, der sich weigert, das Haus zu verlassen, wird überwältigt und in ein Heim eingeliefert. Der Aufbau und Umbau siegen. Das Unbehagen nimmt zu. Jurek Beckers Erzählungen Nach der ersten Zukunft (1980) und Aller Welt Freund (1982) schildern die allgemein um sich greifende Lustlosigkeit im quä‐ lenden Alltag. Die Figuren sind isoliert, können sich nicht auflehnen, haben ein „Abwehrsystem“ eingebaut, um sich anpassen zu können, und verfehlen selbst, ein klärendes Gespräch herzustellen: „Dich stört, daß ich deinen Vorstellungen nicht entspreche, und mich stören deine Vorstellungen.“ 17 Die Folge aller Versäumnisse ist die völlige Isolierung in der Anpassung. 91 5. Kritik der politischen und gesellschaftlichen Verfassung 18 Hans Joachim Schädlich. Mal hören, was noch kommt. Jetzt, wo alles zu spät ist. Zwei Erzählungen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1995. 84. 19 Dieter Wellershoff. Die Schönheit des Schimpansen. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1977. 154. Im Gegensatz zu Verena Stefans Es ist reich gewesen. Bericht vom Sterben meiner Mutter (1993), einer Beschreibung der Wache am Sterbebett der Mutter, die ein Leben voller Liebe und positiver menschlicher Beziehungen entfaltet, kritisieren zwei von Joachim Schädlich 1995 veröffentlichte Erzählungen den Verlust der Orientierung, die Sinnsuche und Selbsterkenntnis. Mal hören, was noch kommt beschreibt den Rückblick eines Sterbenden auf sein Leben, der langsam auf seiner Matratze verfault. Das Fazit: Sein Dasein war geprägt von „sinn-entleerten“ Handlungen im So-Sein der Anpassung an eine Welt, in der nichts kommt. 18 In der zweiten Erzählung versucht Schädlich die Stimmlage einer Frau zu finden. Die sexuellen Phantasien der Erzählerin und die absolute Verrohung aller zwischenmenschlichen Beziehungen wirken männlich. Der Überblick über das Leben enthält nichts, was nicht bereits in den Erzählungen von Elfriede Jelinek festgehalten wurde. Das Mädchen taumelt von Mann zu Mann, akzeptiert ihre Situation und erwartet nichts in der Zukunft. Die distanzierten Bestandsaufnahmen wirken erschütternd, weil sie jede Klage, Gesellschafts‐ kritik oder Selbstkritik ausklammern. Der völlige Verlust der Orientierung wird gleichermaßen deutlich in Erzählungen, in denen wie in Ruth Schweikerts Erd‐ nüsse. Totschlagen. Erzählungen (1994) die Handlungen das lustlose Dasein, das freudlose Nebeneinanderleben, das Misshandeln von Kindern und allgemeine aggressive Tendenzen schildern. Dieter Wellershoff erforscht ein völlig auf den Tod bezogenes Leben in der Schönheit der Schimpansen (1977). Die Lebensgeschichte von Klaus Jung wird charakterisiert von der Anziehungskraft, die von einer von ihm gekauften Holzfigur ausgeht und ihn in ihrem Bann hält: „… ein aus Holz geschnitzter, kauernder Schimpanse, der in seinen großen unbewußten Händen einen Toten‐ kopf hielt, auf den er wie gebannt hinunterstarrte.“ 19 Jungs Todesorientierung ist unübersehbar in seinen Träumen und seinem Handeln. Die Träume verfolgen ihn. Sie schließen ein: Hoffnungen der Mutter, ihre Wünsche von Aufstieg und Erfolg; seine eigene Aussicht auf Erfolg; seine Verzweiflung, da er nichts erreicht. Jung existiert im Zustand der Betäubung und gleitet aus der Gesell‐ schaft. Er ist verheiratet, aber glaubt, dass ihn seine Frau betrügt. Er hat eine Affäre mit einer flüchtigen Bekanntschaft, bleibt im Bett liegen, und als sie ihn auffordert, endlich aufzustehen, ermordet er sie. Nach der grässlichen Szene 92 5. Kritik der politischen und gesellschaftlichen Verfassung 20 Monika Maron. Die Überläuferin. Roman. Frankfurt a. M.: Fischer, 1986. 69, 116. 21 Jochen Beyse. Der Ozeanriese. 1981. München: Piper, 1989. 80. fährt er scheinbar ruhig weg, tötet sich jedoch schließlich selbst, indem er Abgase ins Innere des Autos leitet. Der Titel Die Überläuferin charakterisiert den Entschluss einer jungen Frau, sich fahnenflüchtig vom Leben abzusetzen und ins Jenseits überzulaufen. Mo‐ nika Marons Roman erfasst die Selbstanalyse von Rosalind Polkowski, die über vielfältige Eindrücke, Begegnungen, Berufserfahrungen und Freundschaften nachdenkt. Ihre Erinnerungen und Reflexionen stehen unter dem Vorzeichen des Sterbens. Ihr Leben erscheint als Vorausgriff auf den Tod. Maron lässt es im Unklaren, ob Rosalind am Bein verletzt ist oder ob die Lähmung als Ausdruck ihrer Unfähigkeit zu verstehen ist, weiter leben zu können. Die Raumperspektive eines verschlossenen Zimmers deutet an, dass der Weg hinaus in den Tod führt. Selbstanalyse und Suche finden Versäumnisse, Unterlassungen, Krisen und Verfehlungen. Ich habe „zu wenig gewollt“, war „stumm oder zaghaft“ und als Kind gehorsam und fügsam. 20 Wesentliche Ereignisse in ihrem Leben sind Selbstmorde, die Begegnung mit einem verkommenen alten Mann, dessen Gesicht ein verzerrtes Symbol des Todes ist (131-137). Rosalind fängt an zu hinken (145), nachdem sie Idas Wohnung nach deren Tod ausgeräumt hat (alle erfahrbare Welt muss „weggeräumt“ werden (142)); die Lähmung nimmt zu, die Welt schrumpft um das Zimmer und im Zimmer ein (221). Die Kritik des Überlaufens wird zur Kritik der Einkreisung. Beyse konkretisiert die vollendete Einkreisung im Bild eines Käfigs. Der Handlungskern in Der Ozeanriese (1989) veranschaulicht die Hochleistung des Schwimmers Brunswick, der vom Ortigosa-Strand auf Kuba über die Floridastraße nach Marathon in den Florida Keys in einem in ein Stahlfloß eingebauten Käfig schwimmt. Der Käfig, begrenzt auf 4,50 x 2,40 Meter, von einem Maschendrahtnetz umschlossen, hat eine am Netzboden entlanggezo‐ gene weiße Markierungslinie, auf die sich Brunswick konzentriert. Er ist vereinsamt, schwimmt unter Willenszwang und lebt in einer Falle, in der sein Trainer-Beobachter Bloch gleichermaßen gefangen ist. Der Beobachter nimmt teil an dem weltweit übertragenen Versuch, einen Weltrekord aufzustellen. Alle Beteiligten - Pressefotograf, Journalisten, Sportmediziner, Physiotherapeut - befinden sich in der Zwangsatmosphäre und werden zu Schauspielern in einer hermetisch eingeschlossenen „Theaterwelt“, in der der Käfig zum Bühnenbild wird, das zugleich die Realexistenz der Zuschauer charakterisiert. „Dieser Käfig ist die Welt, wie die Welt ihrerseits nur eine absurde Konstruktion ist, ein gigantisches Trommelgehäuse für eine wimmelnde Schar von Menschen.“ 21 93 5. Kritik der politischen und gesellschaftlichen Verfassung 22 Sibylle Berg. Sex II. Roman. Leipzig: Reclam, 1998. 24. 23 Jochen Beyse. Die Tiere. München: List, 1988. 78-80, 120. 24 Erwin Strittmatter. „In einer alten Stadt“ in: Bettina pflückt wilde Narzissen. 66 Ge‐ schichten von 44 Autoren. Hg. Manfred Jendryschik. Halle: Mitteldeutscher Verlag, 1972. 387. Die weltweiten Kommunikationsmittel, Fernsehen und die globale Vernetzung übertragen die Rekorde, illustrieren „Superman“, bieten eine Aufführung, in der Fiktion und Realität zusammengefasst sind und verdeutlichen, dass alte und neue Riesen die Entwicklung aller Beteiligten, Handelnder und Zuschauer, beeinträchtigen. Für Sibylle Berg ist die Käfig-Existenz der Menschen, die jede geistige Orientierung verloren haben, eine andauernde sinnlose Bewegung: „Alle Menschen sind zu Maden geworden und fahren auf mehrgeschossigen Rolltreppen hoch und runter. Ohne Ziel. Ohne Sinn. Hin und her.“ 22 Norbert Gstrein ironisiert in O 2 (1993) die hektische Jagd nach Sensationen und Rekorden in der Schilderung eines Weltrekordballonflugs. Die Möglichkeit des Scheiterns verführt die Teilnehmer zu Geständnissen von Sünden und Unterlassungen. Die glückliche Rettung mit Medienzauber und Zuschauern entbindet scheinbar humorvoll alle von der Aufgabe, ihr Leben zu ändern. Die Welt wirkt beglückt. Sie verneint die Notlage der menschlichen Verlassenheit im Rausch der rasanten Bilder und Berichte. Sie will und erhält Rekorde. Die Realität hinter der Illusion des Augenblicks ist eine Falle. Die Figuren sind eingekreist in der Mechanik eines sinnentleerten Daseins, eine Mechanik, die Beyse in Die Tiere (1988) zum Kern der Handlung macht. Die Figuren in der Erzählung sind gebändigt wie Tiere; spüren „eine Gebißstange“ im Mund 23 ; kriechen, stehen auf, kriechen und gehen ein. Die Wirklichkeit ist Illusion. „Die Wirklichkeit war in das Verbrechen eines Traumes verstrickt.“ (162) Nicht Träume, sondern schlaflose Nächte, überschattet von Todesahnungen, beschreibt Erwin Strittmatter in „In einer alten Stadt“. Sterbensmüdigkeit, Angst vor dem Altern und völlige Verunsicherung charakterisieren die Erfahrung eines Journalisten, der gerade eine viel jüngere Frau geheiratet hat. Er erkennt plötzlich sein Alter und schaut trostlos in die Zukunft. 24 Der Übergang von den eindeutigen Abrechnungen mit der Einkreisung und dem Orientierungsverlust zur Selbstverwirklichung wird ersichtlich in Nöstlin‐ gers Darstellung Werter Nachwuchs. Die nie geschriebenen Briefe der Emma K. (1988). Das Buch ist aus der Perspektive einer alleinlebenden Großmutter geschrieben. Sie beschreibt alltägliche Erlebnisse im Umgang mit der Familie, den Kindern, den Enkeln und der Schwiegertochter. Ihre allgemeinen Betrach‐ tungen über den „Werten Nachwuchs“ sind an die Gesellschaft gerichtet. Ihre Überlegungen halten den Kontaktverlust fest. Die Menschen sind nicht bösartig, 94 5. Kritik der politischen und gesellschaftlichen Verfassung versuchen auch manchmal nett zu sein, finden aber nie Zeit für ein liebevolles Zusammensein. Sie haben keine Zeit für alte Leute, keine Zeit für andere, aber auch keine Zeit, über ihr eigenes Leben nachzudenken. Die Schwiegertochter und der Sohn sprechen davon, dass die Oma viel arbeiten musste, viel entbehren musste und vermuten deshalb, dass sie wahrscheinlich nicht glücklich war. Ihre Annahme stützt sich auf ihr eigenes Leben im ständigen Stress: Abzahlungen für neue Möbel, ein neues Auto und das fortwährende Streben, schlank und jung zu bleiben. Im Spiegel ihres Verhältnisses zur Großmutter wird deutlich, dass man die alten Leute beiseiteschieben soll und ihre Vergangenheit am liebsten vergessen will. Die Erzählung berührt Fragen, die häufig gezielt und tiefernst in der Gegenwartsliteratur aufgeworfen werden, mildert jedoch den in Umrissen erkennbaren gesellschaftlichen Notstand durch die abgeklärte Weltsicht der Großmutter. Sie ist die einzige Person, die sich ein gewisses Maß von Humor in einer humorlosen Gesellschaft bewahrt hat. Nicht zu überhören ist der Aufruf, ein neues, auf Liebesbereitschaft gestütztes Verhältnis zu den Mitmenschen herzustellen. 95 5. Kritik der politischen und gesellschaftlichen Verfassung 6. Selbstverwirklichung Die Begriffsbestimmung der Selbstverwirklichung setzt voraus, dass individu‐ elle Verhaltensweisen nicht wahllos, sondern zweckbestimmt sind und in einer erkennbaren Persönlichkeitsstruktur wurzeln. Sozialpsychologen stimmen in der Annahme überein, dass das menschliche Verhalten organisiert ist. Die maß‐ gebenden Untersuchungen heben jedoch unterschiedliche Gesichtspunkte, vor allem biologische, juristische, theologische, psychologische, soziologische und biosoziale, in der Beurteilung der Persönlichkeitsentfaltung und -orientierung hervor. Ganz ähnlich vergegenwärtigen literarische Figurenkonzeptionen ent‐ weder dominante Charakterzüge, die die Persönlichkeit prägen, oder betonen Verhaltensweisen, die ihren Ursprung in der gesellschaftlich determinierten Selbsteinschätzung und der Beurteilung der Umwelt haben. Im weitesten Sinne schließt das Thema der Selbstverwirklichung alle Handlungsweisen ein, die die Integrität der Persönlichkeit in der ständigen Auseinandersetzung mit der Welt bewahren. Die thematische Beurteilung der Literatur zeigt wiederkehrende Grundkonstellationen der Selbstverwirklichung, die sich durch ähnliche Figu‐ renkonzeptionen und Motivzuordnungen auszeichnen. Detailschilderungen einzelner Eigenarten und die Erzählperspektive weichen in den Texten oft stark voneinander ab. Trotzdem zeigen die der thematischen Anlage und Lösung entsprechenden Ausprägungen der Figurenkonzeption eine hohe Frequenz vergleichbarer Merkmale. Figuren können als entwicklungsfähig entworfen werden und eine hohe Stufe der Welterkenntnis erreichen. Sie können so gewählt sein, dass sie in einem dramatisch zugespitzten Augenblick der Enthüllung ihre Schuld, ihren Irrtum, die Gebrechlichkeit der gesellschaftli‐ chen Verfassung oder das Netz der Umstände erkennen, die ihre freie Entwick‐ lung verhinderten. Unter diesen besonderen Voraussetzungen vermittelt das Wechselverhältnis von Figurenaufbau und Handlung gewöhnlich einen Aus‐ blick auf die abgeschnittenen optimalen Entwicklungsmöglichkeiten und regt zur Auseinandersetzung mit der Frage der freien oder vorherbestimmten Da‐ seinsgestaltung an. Die Begriffsbestimmung der Selbstverwirklichung schließt die bisher besprochenen Darstellungen aus, in denen das Schicksal unbeein‐ flussbar erscheint und in denen die Anpassung oder die gesellschaftliche Vormachtstellung eine sinnvolle Entwicklung menschlicher Eigenschaften un‐ terbindet. Die thematische Grundkonstellation der Selbstverwirklichung entwickelt un‐ terschiedliche Möglichkeiten der Gestaltung der wechselseitigen Beziehungen 1 Siegfried Lenz. „Von der Gegenwärtigkeit des Vergangenen“ in: Über das Gedächtnis. Reden und Aufsätze. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1992. 37. zwischen der Figur und der Gesellschaft, der Kultur und der Natur. Die Dar‐ stellungen bieten jeweils einzigartige, jedoch im Schema typische Lösungen des menschlichen Anspruchs auf Selbstverwirklichung. Die in der Gegenwarts‐ literatur am weitesten verbreitete Darstellungsform der Selbstverwirklichung erfasst Konfliktsituationen, in denen der Wille des Einzelnen, seine Selbstein‐ schätzung und Weltsicht, mit den in Gegenspielern verkörperten gesellschaft‐ lichen Vorstellungen, dem kollektiven Wollen, zusammenstoßen. Der Konflikt kann stark handlungsbetont im Rahmen des Geschehens stattfinden, aber auch ins Innere verlagert und im Erzählverlauf durch Erinnerungen der Figur oder des Erzählers veranschaulicht werden. Um Auseinandersetzungen kreisende Reflexionen können außerdem das zukünftige Geschehen vorwegnehmen. Die Gedankenverbindung und Handlungsverknüpfung von Mentalitätswandel, Erinnerung, Liebesfähigkeit und Selbsterkenntnis weisen den Weg zur Bejahung des Lebens. Siegfried Lenz veranschaulicht in Zaungast (2002) seine Beobachtungen während eines gigantischen Mahles bei Nachbarn in Jütland, einer Schulstunde in Japan, eines Besuchs in Australien, beim Aufräumen des Hamburger Hafens und in einer finnischen Sauna. Jeder Ausschnitt betont Gastfreundschaft und sinnvolles Handeln. In seinem Aufsatz über den Schriftsteller Sperber zitiert er zustimmend dessen Lebensregel: Handeln soll dem Leben Sinn geben, es nicht „sinnwidrig vergeuden“. 1 Dieser Grundsatz beleuchtet die Entwicklung Siegfried Jepsens in Deutschstunde (1968) und erfasst das Handeln der Figuren in Exerzierplatz (1985). Deutschstunde thematisiert außer eingehenden Schilderungen des NS-Re‐ gimes und des Zweiten Weltkriegs in erster Linie die Bewusstseinsbildung Siegfried Jepsens zur Selbsterkenntnis. Siggi, ein begabter Schüler, vom Vater verstoßen, von der Mutter verkannt, von Schulkameraden gehasst, zu drei Jahren Jugendstrafe verurteilt, muss in der Besserungsanstalt einen Aufsatz über das Thema „Die Freuden der Pflicht“ schreiben. Er denkt nach, findet keinen Anfang; das Thema ist zu umfassend. Um den Aufsatz nachzuholen, wird er zur Einzelhaft verurteilt und bleibt dort mit dem Einverständnis des Schulleiters. Allein, ein konzentrierter, nachdenkender Beobachter und Berichterstatter, be‐ schreibt Siggi sein Aufwachsen, Familienleben, Angst, Besorgnis um den Maler Max Ludwig Nansen, seine Befürchtung, dass dessen Bilder vernichtet werden, seine Versuche, diese durch Diebstahl zu retten, seine Verirrung und sein Reifen, 98 6. Selbstverwirklichung 2 Siegfried Lenz. Deutschstunde. München: DTV, 1973. 53. das weitgehend durch sein Verhältnis zum Vater bestimmt wird, dessen Wesen uneingeschränkt von seiner ideologischen Weltanschauung geprägt ist. Siggis Kindheit ist freudlos; er wird für jeden Unsinn bestraft und vom Vater oft gezüchtigt. Als gehasster ‚Vorbildsschüler‘ wird er von Klassenkameraden manchmal verprügelt. Er wächst auf ohne Liebe, Vorbilder, Leitbilder oder eine sinnvolle Deutung des Daseins. Er erhält nur die Maßstäbe des Vaters, die er während des Aufwachsens alle ablehnt. Seine Angst vor dem Vater steigt ständig an und er sucht Zuflucht und Liebe bei Nansen. Als er erfährt, dass dessen Gemälde, als entartete Kunst eingestuft, wahrscheinlich beschlagnahmt werden, stielt er nahezu alle Bilder und verbirgt sie in einer alten Mühle, um sie vor dem Zugriff der Nazis zu retten. Sein Verlangen artet schließlich zur Besessenheit aus; er entwendet Bilder nach dem Ende des Krieges; er entfernt heimlich Schlüssel, Schlösser und wertlose Objekte. Er wird letztlich vom Vater des Diebstahls überführt. Im Rückblick seiner Erinnerung erkennt Siggi seine Verfehlung, die ein Krankheitssymptom in einer erkrankten Gesellschaft war. Sein Weg zur Selbstentwicklung wird jedoch grundsätzlich von der inneren Auseinandersetzung mit dem Vater bestimmt. Siegfrieds Vater, der Landpolizist Jens Ole Jepsen, ist ein Musterbespiel der Hörigkeit im Ausführen aller Anordnungen des NS-Staates, seien sie einfach bürokratisch, unmoralisch oder menschenfeindlich. Seine einzige Lebensauf‐ gabe besteht in der Pflichterfüllung. Sein Erziehungsprinzip ist eindeutig: „Du brauchst nicht mehr zu verstehn, als du gesagt bekommst … Brauchbare Menschen müssen sich fügen …“ 2 Er ist nicht nur bereit, seinem Jugendfreund, den Kunstmaler Max Ludwig Nansen, der ihn in der Jugend vor dem Ertrinken gerettet hat, sofort das Malverbot der Regierung zu überreichen, sondern er übernimmt auch widerspruchslos die Überwachung des Verbots. Seine Beses‐ senheit als ewiger tadelloser Ausführer beruht auf einer einseitig beschränkten Vorstellung der Welt: Ole verabscheut alles, was neu, anders, lebensfreundlich, liebevoll und sinnvoll ist. Ole verspürt keine humane Regung. Sein Verhältnis zu Nansen artet in Manie aus, ihn zu verfolgen: Der Maler „muß einen Denkzettel bekommen“ (162), ich „werde ihn schnappen“ (222). Seine Einstellung zu seinen Kindern schlägt in Hass um, als diese selbstständig handeln. Sein Sohn Klaas erhält wie die Tochter Hilke „Hausverbot“; darüber hinaus verfolgt er mitleidlos Siegfried, der sich nicht fügt: „Ich trete nicht ab, bevor du zur Strecke gebracht bist.“ (371) Ole ist nicht nur Ausführender, sondern der Organisator der Angst, der seine Kinder beherrschen will und muss. 99 6. Selbstverwirklichung 3 Vgl. auch Daemmrich. Vergangenheit. 216-218. Die Niederschrift seiner Geschichte bringt Siegfried wesentliche Einblicke in seine Entwicklung, die Schwächen des Vaters und die Verfehlungen der Gesellschaft. Deutschstunde ermöglicht Lenz im Rahmen einer großangelegten Zeitgeschichte eine mögliche Form der Selbstverwirklichung zu entwerfen, die zeitlos wirkt. Der Roman Exerzierplatz schildert zwei eng verflochtene Lebensläufe. 3 Die Erzählfigur Bruno Messmer legt einen Rechenschaftsbericht vor, in dem sich Beobachtungen zur Gegenwart und Rückblicke auf seine Kindheit und Jugend durchkreuzen. Bruno verlor seine Eltern in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs beim Untergang eines Flüchtlingsschiffes und lebt fortan bei Konrad Zeller und dessen Familie. Zeller hat Bruno auf See das Leben gerettet und betreibt nach dem Krieg mit seiner Familie auf einem alten Exerzierplatz eine Baumschule. Brunos Denken und Fühlen ist vollständig von seiner bis zur Selbstaufgabe führenden Liebe zu Zeller geprägt. Verschiedene Hinweise, skiz‐ zierte autistische Symptome, Beschreibungen aus der Schulzeit, Andeutungen und kurze Bemerkungen Brunos lassen den Schluss zu, er sei entweder geistig behindert oder habe sein kindliches Gemüt bewahrt. Da er mit anderen Men‐ schen schlecht zurechtkommt und seine Versuche im Berufsleben scheitern, entscheidet Zeller, ihn bei sich zu behalten. Im Verlauf von etwa dreißig Jahren wird Bruno zuerst Lehrling, dann zuverlässiger Gärtner, Mitarbeiter und vertrauter Freund Zellers. Damit tritt er jedoch unwillentlich in Konkurrenz zu Zellers Kindern, die es ablehnen, ihr Erbe mit ihm zu teilen und den Vater entmündigen lassen wollen. Als Bruno erkennt, dass seine Anwesenheit den Familienfrieden gefährdet, verlässt er völlig selbstlos sein geliebtes Zuhause. Damit verurteilt er allerdings das Lebenswerk seines Ziehvaters zum Scheitern. Zeller ist es nicht gelungen, seinen Söhnen die Liebe zur Natur und ein Interesse an der Baumschule nahezubringen. Während er mit unnachgiebigem Willen für sein Unternehmen und gegen Nachbarn und Behörden kämpft, findet er nur in seinem Ziehsohn Bruno einen gleichgesinnten Unterstützer. Zellers Verwandlung eines Exerzierplatzes in fruchtbares Land und seine Festung inmitten der wiedergewonnenen Natur sollen ihn als Mahnmal überleben. Ohne Bruno wird Zeller den Verkauf des Exerzierplatzes nicht länger verhindern können. Ausschlaggebend ist jedoch nicht das letztendliche Scheitern, sondern seine Liebes- und Lebensbereitschaft. Zeller und Bruno erlangen eine hohe Stufe der Selbsterkenntnis und der Erkenntnis anderer und handeln sinnvoll. Thomas Bernhard verwendet in seinen Erzählungen und Stücken die Kompo‐ sitionstechnik des atemlosen Sprechens, in dem die Figuren sowohl andere an‐ 100 6. Selbstverwirklichung 4 Vgl. dazu Von einer Katastrophe in die andere. 13 Gespräche mit Thomas Bernhard. Hg. Sepp Dreissinger. Weitra: Bibliothek der Provinz, 1992. 5 Thomas Bernhard. Verstörung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch, 1988. 25 ff., 64-67, 76. sprechen als auch reflektierend ihr Ich zu Wort kommen lassen. Die Triebfeder ist die Kritik gesellschaftlicher Fehlentwicklungen und des geistigen Erbes. Die Erkundungen in den Monologen stoßen auf Grenzen des Fassungsvermögens, kehren zum sprechenden Ich zurück, setzen erneut an und bewegen sich im Kreis und in ständige einsetzender Spiraltendenz ins Neuland einer nur gedachten Zukunft. Die Anregungen zum Sprechen sind scheinbar unlösbare Kontraste: ich / andere; sprechen / schweigen; denken / schreiben; beobachten / beurteilen; die Welt kritisieren / sie deuten; Verstörung / Auslöschung. 4 Das Ergebnis der Betrachtung ist eine für Bernhard charakteristische Form der Selbstverwirklichung. Die Auslöschung (1986) versucht nicht nur die im Text angeprangerte Geisteswelt und Gesellschaft, sondern auch alle in Verstörung (1967) aufgeführten Missstände zu beseitigen. Im Erzählverlauf von Verstörung verschmelzen konkrete Beobachtungen mit surrealen Visionen, Krankheit und Tod, Isolierung und Verfaulen der Körper, Sprachverlust und Versagen des Dialogs. In derselben Weise bilden der monologische Redefluss Fürst Sauraus‘ und die Feststellungen des Arztes und der Bekannten eine Einheit. Die Handlung folgt einem Landarzt, der mit seinem Sohn Krankenbesuche macht. Beide haben Schwierigkeiten, offen mit einander zu sprechen, ein Hindernis, unter dem die ganze Gesellschaft leidet. Der Überblick des Arztes und die Wahrnehmungen Fürst Sauraus offenbaren eine „geistesschwache“, dahinsiechende Gesellschaft ohne Ideen, Fantasie, Kraft und den Willen, sinnvoll zu leben. 5 Hoch oben auf dem Bergschloss Hochgo‐ bernitz lebt Fürst Saurau. Er ist allein, denkt ständig an seinen in London lebenden Sohn, aber „sieht“ und „hört“ die Welt. Was er feststellt, wird zum Ausgangspunkt seines Dialogs mit der „Welt“ und der geistigen Tradition. Seine Perspektive registriert „Geräuschlärm“, „verfaulende Nutzflächen“, Computer und Rechenmaschinen, zugleich einen luftleeren Raum, auch eine „ungeheure Entfernung und Entfremdung.“ (115-117) Er träumt, glaubt, seine Träume werden zur Realität (118-131). Saurau erkennt seinen „hochgefährlichen Zustand“ und die Grenzen des Monologs: „wir sind in einem Zeitalter der Selbstgespräche. Die Kunst des Selbstgesprächs ist auch eine viel höhere Kunst, als die Kunst 101 6. Selbstverwirklichung 6 In Minetti. Ein Portrait des Künstlers als alter Mann. (1977) spricht Minetti, Zauber‐ künstler, Schauspieler, der König Lear spielt, eigentlich nur mit sich selbst, setzt sich eine ungeheuerliche Maske des tragisch-komischen Narren auf und stirbt allein, zugeschneit auf einer Bank im Schneegestöber. 7 Thomas Bernhard. Auslöschung. Ein Zerfall. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1986. 123. des Gesprächs.“ (138) Sein Ich wird zum „besten Gesprächspartner“. 6 Diese Perspektive ermöglicht seine eigenartige einseitige Selbstverwirklichung. Die Perspektive ist hochstilisiert und bestimmt auch das Erzählverfahren in Auslöschung. In Auslöschung erweckt der Erzähler die Vorstellung, dass er seinem Freund Gambetti seine Kindheitseindrücke, seine Beobachtungen, Gedanken und kritischen Überlegungen in Gesprächen mitteilt. Sein Sprechen, Nachdenken, Neuansatz im Sprechen wird durch wiederholte Feststellungen - sagte ich, habe ich Gambetti gesagt, hatte ich gesagt - verstärkt. Kurze Fest‐ stellungen Gambettis, der den Erzähler „einen maßlosen Übertreiber“ nennt, 7 dienen als Ausgangspunkt verschärfter Präzision der Beobachtungen und der Bestätigung der eigenen Geisteshaltung. „Und ich habe meine Übertreibungs‐ kunst in eine unglaubliche Höhe entwickelt …“ (128) Die Beweisführung für die Bestandsaufnahme der angeprangerten Gesellschaft und Geisteswelt beruht auf der Verknüpfung von Sprechen - Schreiben - Sprechen - vertieftes Schreiben durch Wiederholung, Erläuterung, Häufung, Steigerung und Präzi‐ sierung der Unterschiede. In seinen Reflexionen entwickelt der Erzähler eine überzeugende Selbstverwirklichung und Erkenntnis. Das Ziel seiner Kritik ist Wolfsegg, ein Ort, in dem alles Negative der Gesellschaft und Geisteslebens eingefangen ist, und ein Ort, den wir alle mit uns herumtragen. Wolfsegg bedeutet: Kulturschwund, Verlust der Tradition, Konsumgesellschaft, eine in Fotos gefälschte Realität, Leerlauf des täglichen Lebens, Taubheit für Literatur und Philosophie, Erkenntnisschwund. Der Beobachter glaubt, er habe den Scharfblick und richtige Erkenntnis. Zuhörer und Lesepublikum werden seinen Appell an die Vernunft zustimmen. „… mein Bericht ist nur dazu da, das in ihm Beschriebene auszulöschen, alles auszulöschen, das ich unter Wolfsegg verstehe … Mein Bericht löscht Wolfsegg ganz einfach aus.“ (199) Eine spätere Heimkehr nach Wolfsegg, eine Reise zu den Urgründen (311-651), wiederholt und beglaubigt im „Testament“ alle ursprünglichen Beobachtungen. Die nachträgliche Schlussfolgerung vertieft seinen Erkenntnisvorgang. Christa Wolf vermeidet die Monologisierung, verlagert aber stattdessen äußere Ereignisse in ihre gedanklich-bewusste Ortung in einer ihrer eingehenden Auseinandersetzungen der Figuren mit der gesellschaftlichen Verfassung. Einkreisung, die Unfähigkeit auszubrechen, historischer Fatalismus und Selbst‐ verwirklichung in der Gegenwart des Lebens in der DDR stehen im Mittel‐ 102 6. Selbstverwirklichung 8 Christa Wolf. Leibhaftig. Erzählung. München: Luchterhand, 2002. 47. Vgl. auch Daemmrich. Vergangenheit. 222-225. punkt ihrer Erzählung Leibhaftig (2002). Die Erzählerin liegt im Krankenhaus und hängt unter dem Einfluss von Schmerzmitteln träumend, dösend ihren Gedanken nach, Erinnerungen an die Vergangenheit und Beobachtungen zu den Vorgängen um sie herum. Die leitmotivisch wiederkehrenden Bezüge verweisen auf den übergreifenden Sinngehalt: Krankheitsbild, Leiden der Patientin und Befragung der Vergangenheit, die keine Antwort gibt, spiegeln gesellschaftliche Prozesse und Widersprüche. Die Erzählerin leidet an einer geheimnisvollen Vergiftung, deren Ursache unklar ist und deshalb nur unzureichend behandelt werden kann. Sie lässt klaglos alle Untersuchungen über sich ergehen, die ebenso wie die unter Devisenaufwand aus dem Westen bezogenen Medikamente kein Ergebnis bringen. Sie und alle anderen Figuren wirken eingekreist, sie haben das Vertrauen in die sozialistische Utopie verloren und befolgen doch weiterhin die sinnentleerten Regeln des Systems. Eine Flucht ist weder körper‐ lich noch in Gedanken möglich. Wolf stellt der Erzählerin eine zweite Figur gleichberechtigt an die Seite, die scheinbar handlungsfähig bleibt, indem sie sich dem staatlichen Interesse unterordnet: Urban ist hochintelligent und ein feinfühliger Interpret von Lite‐ ratur und Kunst. Er glaubt an den sozialistischen Staat, wird allerdings auch von Scham und Schuld durch Kindheitserinnerungen an die NS-Zeit und Konflikte in der Gegenwart gequält. Er ist erfolgreich als Kritiker und Zensor anderer und steigt im staatlichen Kulturbetrieb auf, verfügt jedoch selbst weder über künstlerisches Talent noch über Kritikfähigkeit. Die Erzählerin erinnert sich an eine Situation, in der Urban ihrer Vermutung nach „der vernichtenden Wahrheit innegeworden [war], daß er kein Talent hatte …“ 8 Er begeht Selbstmord nach einer Sitzung, in der er selbst scharf kritisiert wurde. Während Urban keine Heilung in der Literatur gefunden hat, sucht die Erzählerin nach Selbsterkenntnis mithilfe der Dichtung Schillers und Goethes. Schillers Denken ruft die Erzählerin zu verantwortlichem Handeln auf. Selbst‐ verantwortung im gegenwärtigen Zustand der Vergiftung des Lebens verlangt die Absage an die Vorstellung, die Erkrankung der gesamten Gesellschaft sei eine vom Schicksal, das heißt von undeutbaren Mächten verhängte Strafe. Es bedeutet weiterhin: alle müssen einen begehbaren Weg in die Zukunft finden. Der Appell an die persönliche Verantwortung jedes einzelnen steht wie ein Aufruf im Text. In einer anderen Gestaltung der Selbstverwirklichung stößt die Figur auf eine Folge von Ereignissen, welche die physische Kraft, das Selbstvertrauen, 103 6. Selbstverwirklichung die Geistesgegenwart und die Ausdauer in schwierigen Situationen prüfen. Die Erzählungen folgen einem Muster der Reihung der Geschehnisse und des sukzessiven Aufbaus der Handlung. Die Figuren bewähren sich und meistern alle Hindernisse, indem sie Eigenschaften entwickeln, die in der Gesellschaft geschätzt werden. Diese Prägung in der Thematik und im Figurenaufbau ist repräsentativ für etliche Romane in der DDR, in denen die Figuren ihre Lebenserfüllung im Ideal einer erstrebenswerten gesellschaftlichen Vollkom‐ menheit finden. Die Figuren erscheinen daher weniger differenziert, denn sie durchlaufen selten Stufen der Selbstverwirklichung, die über Irrtum, Zweifel und Schuld zur Selbsterkenntnis führen. Die Gewissheit, dass die DDR-Utopie sinnvoll, zeitgemäß und in der Gegenwart erreichbar ist, hinterließ nach der Wiedervereinigung keine anhaltende Wirkung. Kritik des Ewiggestrigen und Bejahung des sozialistischen Ideals charakte‐ risieren die Handlung in Horst Bastians Gewalt und Zärtlichkeit (1974); der Aufbau der sozialistischen Gesellschaft, der trotz aller Widersprüche erfolgreich ist, steht im Zentrum des Geschehens in Günter Görlichs Heimkehr in ein fremdes Land (1974); und Joachim Knappe veranschaulicht die oft schwierige, aber erfolgreiche Eingliederung in die sozialistische Gesellschaft in der Erzäh‐ lung Frauen ohne Männer (1973). Anspruchsvoller und in mit hoher Prägnanz geschilderten Details und Handlungsverläufen ist die Selbstverwirklichung des Redakteurs David Groth in Hermann Kants Das Impressum (1972). Die Berufung Groths zum Minister veranlasst eine Analyse der individuellen Integration in die Gesellschaft, einen Überblick der noch bestehenden Widersprüche in persönlichen Beziehungen und eine kritische Auseinandersetzung mit den Anforderungen des sozialistischen Staates. Die Erzählung betont, dass der Wer‐ degang, Aufstieg und Erfolg von David Groth eindeutig von der sozialistischen Gesellschaft ermöglicht wurde. Eingliederung in die Gesellschaft und kritische Auseinandersetzung mit der Umwelt kennzeichnen die umfassende, mit großer Fabulierfreude beschriebene Entwicklung von Stanislaus Büdner in Erwin Strittmaters Wundertäter-Trilogie. Stanislaus erfindet bereits als Schüler Geschichten, wird Bäckergeselle, wandert umher, meldet sich freiwillig zum Militärdienst, erkennt die Sinnlosigkeit des Zweiten Weltkriegs in Polen und flieht in Griechenland aus der deutschen Armee. Er kehrt nach Deutschland zurück - seine Liebe zu Rosa und sein ständiges Bemühen um künstlerische Entwicklung kennzeichnen die Handlung des zweiten Bandes - und folgt schließlich seiner Berufung. Trotz seiner Bega‐ bung wird sein Leben jedoch grundlegend von den Idealen der sozialistischen Gesellschaft bestimmt. 104 6. Selbstverwirklichung 9 Christoph Meckel. Bockshorn. München: Nymphenburger Verlagshandlung, 1973. 30. Weit differenzierter sind Darstellungen, in denen die Figuren einer Reihe von Ereignissen ausgesetzt werden, die sowohl scheinbar rein zufällige Begeg‐ nungen als auch archetypische Erlebnisse einschließen. Die daran anknüpfenden geistigen Auseinandersetzungen ermöglichen die kritische Betrachtung der im Text dargestellten gesellschaftlichen Struktur, der politischen Organisation und der geistigen Tradition. Die Selbstverwirklichung in einer zutiefst menschlichen Begegnung von zwei Jugendlichen steht im Brennpunkt von Christoph Meckels Bockshorn (1973). Die Handlung, auf einige wesentliche Monate im Leben des zehnjährigen Sauly und des vierzehnjährigen Mick begrenzt, beschreibt deren Abenteuer in einer fiktiven Großstadt, einem Ort am Meer, auf Gassen und Lastwagen, im Umgang mit sowohl gutmütigen als auch bösartigen Erwachsenen und ihre in das Unbekannte und wahrscheinlich auch Unerreichbare führende Suche. Außer einem Matchsack besitzen die beiden nichts; sie übernachten in abbruchreifen Häusern, treiben sich herum und wollen schließlich nach Botnago am Meer trampen. Auf einem Lastauto mitgenommen, geraten sie an einen wildfremden Ort. Nachts setzt sich ein übler Typ namens Landolfi zu ihnen, der behauptet, er handle mit Schutzengeln und habe Sauly seinen „Schutzengel weggenommen“ 9 und verkauft. Zu Micks Entsetzen glaubt Sauly die Geschichte. Er ist jedoch bereit, mit Sauly den Engel und seinen angeblichen neuen Besitzer Paul Miller zu suchen. Auf ihrer Suche, einer Irrfahrt durch ein der Gegenwart angemessenes Land, kommen sie mit einem Querschnitt der Bevölkerung in Berührung, verspüren Angst, sind erschöpft, lehnen aber die Hilfe von „Nasbärten“ (Er‐ wachsenen) ab. Sauly wird schwer krank; Mick rettet ihn und bringt ihn auf ein Landgut, wo er ärztliche Hilfe erhält. Als der Gutsbesitzer gute Ratschläge erteilt, verschwinden sie wieder. Die Suche endet: Sie finden Landolfi, der Sauly zu Boden schlägt, als dieser seinen Schutzengel verlangt. Mick trägt den schwerverletzten Sauly in einen unbewohnten Bungalow, kann ihn jedoch nicht retten, schaufelt ein Loch, beerdigt seinen Freund und kehrt in einer Oktobernacht nach Baan zurück (237). Er wird von einer Frau mitgenommen, die ihm helfen will (245); er lehnt jede Hilfe ab und steigt aus. „Er selber war genau so stark wie die Sache, solange er nicht um Hilfe schrie.“ (247) Mick ist mündig geworden. Er wird mündig in einer Welt, in der einige Hilfe anbieten, die meisten jedoch keine Eigenschaften haben, die den Jugendlichen einen begehbaren Weg zum verantwortlichen Handeln weisen. Die Erzählung legt alle Gefühle auf Eis; sie vermeidet die literarische Tradition und Bildungserlebnisse; sie bietet die knappe lakonische Prosa des Trampens. Sie schildert jedoch zugleich eine 105 6. Selbstverwirklichung 10 Birgit Vanderbeke. Gut genug. Erzählung. Berlin: Rotbuch Verlag, 1993. 7, 35. 11 Jens Sparschuh. Der Zimmerspringbrunnen. Ein Heimatroman. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1995. 105. wahre menschliche Begegnung, eine selbstlose Hilfe, hinter der jeder Selbsttrieb verblasst und die Selbstverwirklichung eines tatsächlich liebesfähigen Jungen aufscheint. Der Epilog, eine Traumvision, in der Mick den Freund ausgräbt und selbst den Schutzengel zurückbringt, unterstreicht diese Lösung: Mick steht auf der Straße. Allein. „Wahnsinnig stark, seine Sache und er.“ (247) Die persönliche Entwicklung als alltägliche Geschichte, in der Personen zu der Einsicht kommen, das ganze Dasein sei nicht besonders gut, aber gut genug zum Überleben, prägt Birgit Vanderbekes Erzählung Gut genug (1993). Die Ich-Erzählerin, die schwanger wird, bleibt anonym. Vanderbeke erfasst die Einstellung der Figur durch kurze Sätze, knappe Feststellungen und plötzliche, impulsive Äußerungen. Die Stimmlage hält den Befund fest: So ist es. Am An‐ fang der Erzählung heißt es, man lebt oder stirbt. „Selbstmord, Suff, Unfall und Krebs.“ 10 Die Feststellung klingt leitmotivisch wiederholt in unterschiedlichen Formulierungen an. Sie wurzelt in Lebensangst, Angst ein Kind zu bekommen, Mutter zu werden und den Hausputz als Lebensprojekt empfinden zu müssen. Auch ihr Lebensgefährte A. C. kann sich nicht vorstellen, „Vater zu sein … Vater ist eindeutig lebensgefährlich.“ (29) Dessen ungeachtet kommt das Kind zur Welt; neue Sorgen, schlaflose Nächte, Klagen der Wohnungsnachbarn, die nicht schlafen können. Der ganze Lebensbereich wimmelt plötzlich von Kindern, alle Frauen sind erschöpft (77); man passt sich an, jählings sind „die achtziger Jahre“ um; auch der Großvater tut, was jetzt erwartet wird: „… er geht zum Rauchen auf den Balkon.“ (111) Das Kind wächst auf; die Eltern vergessen ihre Angst und bejahen das Leben wie es ist. Der im Plauderton geschriebene ‚Heimatroman‘ Der Zimmerspringbrunnen (1995) von Jens Sparschuh beschreibt den Siegeszug eines nostalgischen Einfalls durch die alte und neue Heimat. Der Erzähler Lobek, neu angestellt als Verkäufer des altmodischen, nicht besonders gesuchten ornamentalen Springbrunnens ‚Jona‘, repariert ein Exemplar und macht es fertig zum Verkauf. Der Zufall greift in Lobeks Leben ein. Er gibt dem Brunnen die Form der ehemaligen DDR. Fortuna lächelt. Der neue Brunnen ‚Atlantis‘ wird der größte Verkaufsschlager der neuen Bundesländer. Lobek beginnt einen „Siegeszug“ durch das Land. Die Menschen betrachten das Ornament. Nostalgische, wehmütige Gefühle erwachen. Sie reichen Lobek von Hand zu Hand. Er wird der erfolgsreichste Vertreter der Firma, hastet täglich von Kunde zu Kunde und arbeitet nächtelang: „nachts aber saß ich in meinem Hobbyraum und frisierte Stück für Stück die Jona-Modelle um.“ 11 Jedes Stück ist ein Original: Karl-Marx-Stadt, „vulkani‐ 106 6. Selbstverwirklichung 12 Sparschuh schildert eine übereinstimmende Einstellung zum Leben nach der Wieder‐ vereinigung in: Eins zu eins. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2003. 13 Christa Wolf. Unter den Linden. Berlin: Aufbau, 1974. 38-39. sche Ausgestaltung“ der Landschaft, Umriss der DDR. Die Kunden behandeln ‚Atlantis‘ als Kultgegenstand, der besonders bei den Mitgliedern des bisher un‐ bekannt gebliebenen „DDR-Heimatvertriebenen-Verbandes“ bewundert wird. Lobeks Ehe geht auseinander, aber das Leben geht „einfach weiter.“ 12 Freudiges, scheinbar anspruchsloses Anerkennen der bestehenden Verfas‐ sung und Denkweise kennzeichnet die Stimmung einer Familie in Christa Wolfs Juninachmittag. Die Novelle schildert das scheinbar alltägliche Beisammensein von Eltern und Kindern in ihrem Garten, der an die Tradition anschließend ein erstrebenswertes Paradies im Kleinen veranschaulicht. Der Geruch des Gartens, Schnittlauch, Minze, Kräuter, verkörpert eine heile, gepflegte Natur. 13 Die Mutter liest ein Buch über Italien und das Mittelmeer; der Junge sitzt vor ihren Füßen, sagt „Mir ist langweilig! “ (43); der Vater unterhält sich mit dem Nachbarn; die Tochter kommt; ein Flugzeug fliegt hoch oben vorüber und die geographische Lage ist plötzlich eindeutig: Ostberlin zur Zeit der Mauer. Man kann vom Mittelmeer lesen, aber nicht hinfahren. Man kann den Garten hegen, aber die Tagesnachrichten schildern ein Eisenbahnunglück mit Verletzten und Toten. Die Nachbarin ist hilfsbereit und freundlich, aber die oben im Flugzeug haben wahrscheinlich kein Interesse für das unten vorüberfliehende Land. Trotzdem bejahen alle im kleinen Kreis die bestehende Beschaffenheit ihrer Welt. Die anschließende Erzählung Neue Lebensansichten eines Katers, die E. T. A. Hoffmanns Lebens-Ansichten des Katers Murr (1820-1822) aufgreift und belebt, setzt sich eingehend mit dem Vorbild der sozialistischen Gesellschaft und jeder Utopie auseinander. Die Handlung ist konzentriert auf die Ausarbeitung einer Theorie menschlicher harmonischer Einordnung in die Gesellschaft und dadurch erreichter idealer Selbstverwirklichung. Drei Wissenschaftler - Rudolf Walter, Professor der angewandten Psychologie, Lutz Feltback, Ernährungswis‐ senschaftler und Physiotherapeut, und Guido Hinz, kybernetischer Soziologe - arbeiten an dem vorerst streng geheim gehaltenen Entwurf von TOMEGL, des totalen Menschenglücks. Die Voraussetzung für die Verwirklichung des Ideals ist die Entwicklung der Menschen in einer absolut stabilen Umwelt SYMAGE. SYMAGE ist ein System der maximalen körperlichen und seelischen Gesundheit. Die Wissenschaftler klassifizieren alle menschlichen Eigenschaften, alle mögli‐ chen Varianten, Situationen, Triebe, Ahnungen, Wünsche und Regungen, kurz alles, was Menschen in Unglück und Missverständnis verwickelt. Ein Computer verarbeitet die Daten und vermittelt das Resultat. Die Menschen müssen durch 107 6. Selbstverwirklichung 14 Christa Wolf. Auf dem Weg nach Tabou. Texte 1990-1994. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1994. 259. 15 Christa Wolf. „Wo ist euer Lächeln geblieben“ in: Auf dem Weg nach Tabou. Texte 1990-1994. 57. vollkommene Gleichschaltung und Anpassung zum Glück gezwungen werden. Hinweise auf die deutsch-nationale Sicht der Romantik, den Anspruch des Weltbürgertums in der Klassik, den internationalen Marxismus und seine natio‐ nale Ausprägung, Freude und Schrecken, Forschung und Ergebnis werden vom Kater kommentiert. Der Kater, der modern-zeitlose Schriftsteller, der sein Lesen und Schreiben verheimlicht, nimmt sein Wissen aus Tagesveröffentlichungen. Er verwendet scheinbar naiv, aber ironisch die Formeln und Schlagworte der Zeit. Er hebt hervor den „technisch-wissenschaftlichen Fortschritt“, das „staatsbürgerliche Pflichtgefühl“ und die „Wahrheitsnorm“. Seine Sprache wirkt oft wie die Prosa, auf die Wolf in einem Brief an Günter Grass hinweist. „Was nun in den Berichten der Stasi-Leute als angeblich meine Aussage steht, das kann ich weder bestätigen noch widerlegen. ‚Stasi-Prosa‘ nennt Heiner Müller das. Wenn ich diese Sprache lese, bricht mir der Schweiß aus, aber ich weiß ja, so haben wir damals gesprochen …“ 14 Seine Witze enthüllen jedoch seine ironische Distanz zum Zeitgeschehen. „Sage mir, was du ißt, und ich sage dir, wer du bist! “ (71) Die ausgearbeiteten Zielsetzungen erweisen sich als unvereinbar. Die Dik‐ tatur der Vollkommenheit beruht auf der völligen Gleichschaltung und beein‐ trächtigt die freie Selbstverwirklichung. Wolf kontrastiert in Wo ist euer Lächeln geblieben die Neuzeit nach der Wende mit den sozialistischen Idealen der DDR-Vergangenheit und kommt zum gleichen Ergebnis: „Alles wird besser, nichts wird gut.“ 15 Sie stellt fest: „Entfremdung folgt auf Entfremdung.“ (46) Und in ihrer Rede an der Dresdner Staatsoper „Abschied von Phantomen. Zur Sache Deutschland“ gipfelt die Bestandsaufnahme des „dumpfen Unbehagens“ der Zeit in dem Vergleich der deutschen Situation mit dem Struwwelpeter. Niemand will die Suppe auslöffeln und essen, die von den Deutschen selbst gekocht wurde. Wolf erkennt, dass die Voraussetzung zur Selbstverwirklichung eine Gesellschaftsordnung ist, die sich entwickeln kann und nicht auf einem unveränderlichen Ideal besteht. Andere Darstellungen konzentrieren sich auf den geistig-seelischen Prozess der Selbstentwicklung, der organisch verläuft, aber auch über eine Identitäts‐ krise zu einer rauschhaften Bestätigung des eigenen Ichs führt oder eine neue Haltung zur Umwelt einleitet. Die thematische Formung versucht, die Unsicherheit und Unbestimmtheit der modernen Welterfahrung zu erfassen. Die Texte verfolgen Lebenswege, indem sie multiperspektivisch gebrochene 108 6. Selbstverwirklichung 16 Monika Maron. Animal triste. Frankfurt a. M.: Fischer, 1996. 28. Erinnerungsmuster entwerfen, von der Ortung der gegenwärtigen Situation zur Erinnerung der jüngsten Vergangenheit übergehen oder durch Vergleiche zwi‐ schen Gegenwart und Vergangenheit die Situation der Hauptfigur objektivieren. Reflektiv-erinnernde Momente kennzeichnen diese Form der Erfahrungssuche. Die Darstellungen beziehen sowohl Generationskonflikte als auch den Kampf mit gesellschaftlichen Bedingungen ein, die die Figuren auszugrenzen drohen. Die Erzählerin in Monika Marons Animal triste (1996) analysiert kühl-nüch‐ tern ihr ‚Schicksal‘ - ihr Handeln, ihre Umwelt - mit dem Ergebnis, dass ihre vorzivilisatorische, gesetzlose, rauschhafte Leidenschaft die einzige Quelle ihrer Selbstverwirklichung war. Sie ist verheiratet, hat eine Tochter und arbeitet als Paläontologin im Berliner Naturkundemuseum. Dort trifft sie zufällig vor einem Brachiosaurusskelett einen Ameisenforscher, der sie durch die Bemerkung „ein schönes Tier“ überrascht. Die beiden treffen sich, verlieben sich, aber ihre ‚Liebe‘ schwillt sofort zu einer alles umfassenden, maßlosen Leidenschaft an. Ihr Rückblick erweckt den Eindruck, dass ihre Ekstase zeitlos war und ist. „Es ist gleichgültig, ob ich hundert oder erst achtzig bin, ob ich seit vierzig, dreißig oder sechzig Jahren darüber nachdenke …“ 16 Die im Text verzahnten Anspielungen auf Heinrich von Kleists Penthesileia (1808) verstärken das Gefühl der zeitlosen Wiederholung einer Leidenschaft, die den Geliebten entweder völlig besitzen oder opfern muss. Sie lebt in ständiger Angst, Franz zu verlieren, verfolgt ihn, als er mit seiner Frau nach England fliegt, spürt seiner Frau nach, gesteht ihr ihre Liebe zu ihrem Mann, aber kann einen Bruch der Ehe nicht erzwingen. Die Erzählerin fragt deshalb auch am Ende ihrer Erkundung, ob sie wissentlich-unwissentlich am Tod des Geliebten teilhatte oder darüber hinaus für das Ende verantwortlich sei. Sie hält ihn fest, stößt ihn, als er zum Bus eilt. Er fällt unter die Räder und wird zermalmt. „Ich habe Franz getötet. Oder war ich es nicht? Habe ich ihn nicht gestoßen? “ (238) Die Fragen heben hervor, dass die Erzählerin kein Schuldgefühl verspürt. Sie muss im Sinne ihrer Leidenschaft handeln. Das vorzivilisatorische Bekenntnis zur Leidenschaft ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Konvention greift nicht nur auf den Gesichtskreis der Erzäh‐ lerin über, sondern verwandelt sie ins Tierische. Der Bettlagen ist mit Sperma befleckt. „Der Bezug ist mit großen, in kräftigem Rot, Grün und Lila gehaltenen Blumen bedruckt, die mich an die Blüten fleischfressender Pflanzen erinnern.“ (14) Das Pflanzliche verschwimmt und wird im Lauf der Zeit von einem gefährlich-bedrohlichen, fleischfressenden Organismus verdrängt. Schließlich sieht sich die Erzählerin inmitten einer Tierwelt liegen, ist eine „braunhaarige 109 6. Selbstverwirklichung Äffin“ und schlingt ihre Arme um den Leib. Der Metamorphose in die Äffin, die sich an Franz klammert (207), entspricht der Wandel der Frau von der Liebesbereitschaft zum Besitzen-Wollen und der radikalen Verwandlung der Umwelt in einen tosenden Brachiosaurus des Abbrechens, Aufreißens und Umbauens. Die oberflächlichen Beobachtungen, reine Klischees, die nicht zum Nachdenken anregen, vermitteln die Vorstellung, dass die Frau nur in ihrer Leidenschaft lebt. Die Welt - Wende, Neuanfang, gesellschaftliche, politische und ökonomische Veränderungen - ist nur Kulisse für den maßlosen Egoismus der Selbstverwirklichung der Bewahrerin eines Skeletts. Sie fühlt, die Welt habe sich zu einem „maßlos fressenden und maßlos verdauenden Ungeheuer“ entwickelt. Sie ist jedoch nicht nur den Sauriern verwandt, sondern gehört zu ihnen und bekennt sich zum Leitspruch „gewinnen oder umkommen“. Maron schildert in der Entwicklung der Frau einen Prozess der Vereinsamung, einen Vorgang, in dem äußere Ereignisse kaum noch wahrgenommen werden, weil sich die Figur nur der Leidenschaft hingibt. Die Selbstverwirklichung ist auf eine Ich-Erfahrung begrenzt. Gert Hofmann gestaltet das uneingeschränkte Gegenbild zu zerstörerischer leidenschaftlicher Liebe in der Erzählung Die kleine Stechardin (1994). Die historisch verbürgte, aber völlig zeit- und grenzenlose Liebesbereitschaft eines jungen Mädchens und eines dreiundzwanzig Jahre älteren Mannes ist in der Verkörperung der harmonischen Selbstverwirklichung in einer reinen Liebe ein Meisterwerk gegenwärtiger Erzählverfahren. Lebensabrisse von Georg Chris‐ toph Lichtenberg verzeichnen die Krise in seinem Leben, die durch den plötzli‐ chen Tod seiner innig geliebten Maria Dorothea Stechard verursacht wurde. Der Erzähler fängt durch Rückgriffe auf sorgfältig ausgewählte Einzelheiten der Lichtenberg-Forschung, geschickte Montagen von Lichtenbergs Aphorismen und Zitaten aus seinen ‚Sudelbüchern‘ sowie Beobachtungen des Zeitgesche‐ hens den Geist der Göttinger Aufklärungszeit ein. Das Geistesleben, in dem der zwerghafte, mit einem riesigen Buckel entstellte und zugleich berühmte Gelehrte eine führende Rolle spielte, gibt der Erzählung das historische Kolorit für eine zeitlose Liebe und ideale Selbstverwirklichung. Damals wussten alle, was in Lichtenbergs Haus vorging, und konnten viel darüber reden, denn das war leichter, als die Aphorismen zu deuten. Das Lesepublikum von Hofmanns Buch erfährt etwas völlig neues und anderes. Das siebzehnjährige Mädchen, schüchtern, Analphabetin, voller Liebe zu dem Buckligen, wird krank und stirbt. Der Gelehrte, hilflos in seinem Glück bis zum Tod der Geliebten, weiß plötzlich, dass diese Liebe zeitlos festen Bestand in der Erinnerung haben wird. Und die feinfühlige Gestaltung der Erzählung vermittelt dieses Erinnerungsbild. 110 6. Selbstverwirklichung 17 Monika Maron. Flugasche. Frankfurt a. M.: Fischer, 1990. 78. Erinnerte Vergangenheit, bedrückende Gegenwart und erschreckend fantas‐ tische Zukunft beherrschen den Gesichtskreis in einigen Erzählungen von Mo‐ nika Maron, Bernhard Schlink, Peter Rosei und Klaus Middendorf. Marons Flug‐ asche (1981) verwendet eine ständig wechselnde Zeitperspektive, wandelnde Bewusstseinslagen, Träume, Visionen und entstellte Situationen, um einen Lebensausschnitt als beispielhaft für einen ganzen Lebensinhalt zu gestalten. Die Journalistin Josefa Nadler fährt in die Fabrikstadt B. zur Berichterstattung. Sie soll einen „positiven“ Artikel für die ‚Illustrierte Woche‘ schreiben, der die Arbeiter schildert, die ihre Pflicht im sozialistischen Staat vorbildlich erfüllen. Josefa merkt, dass sie die Reportage nicht wunschgemäß liefern kann. Sie sieht die Realität der Stadt: der Baumkohlenschmutz überlagert die Stadt, Flug‐ asche aus dem überalterten und umweltgefährdenden Kraftwerk rieselt über Einwohner und das ganze Land. Josefa erkennt, dass sich die Arbeiter wie ihre eigenen Kollegen an die bestehende Situation angepasst haben. Im Gegensatz zu allen Mitarbeitern und Kolleginnen, deren Haltung durch die Parteigebote „Ordnung, Disziplin und Treue“ 17 geprägt wird, misst Josefa die Gegenwart an einer utopischen Zukunft. Sie erkennt, dass ihr Ideal unzeitgemäß ist, und fühlt sich betrogen: „Sie betrügen mich um mich, um meine Eigenschaften. Alles, was ich bin, darf ich nicht sein. … Sie fordern mein Verständnis, wo ich nicht verstehen kann, meine Einsicht, wo ich nicht einsehen will, meine Geduld, wo ich vor Ungeduld zittere.“ (78) Die Gesellschaft verlangt, dass Josefa ihre Gefühle, ihr Denken und ihre Erkenntnis des allgemeinen Verlusts der Liebe zum Mitmenschen verleugnet. Sie ringt sich durch und schreibt die „Wahrheit“ über B., eine Stadt, die für das Land steht. Ihr Artikel wird nicht erscheinen, aber vom Kollektiv als „ungeheuerliche Anmaßung der Genossin Nadler“ gebrandmarkt. (188) Josefa setzt sich durch. Die Genossen der ‚Illustrierten Woche‘ überprüfen, ob Josefa Nadler überhaupt noch Mitglied der Partei sein dürfe. Während ihrer Diskussion wird ironischerweise das alte Kraftwerk stillgelegt. Aus der Partei auszutreten, bedeutet aus der Gesellschaft ausgestoßen zu sein. Aber die von Maron angedeutete Selbstverwirklichung als Außenseiterin wirkt vorbildlich. Im Handlungsverlauf einer kritischen Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit in Bernhard Schlinks Das Wochenende (2008) zeichnet sich eine nahezu euphorische Selbstverwirklichung in politischer Aktion ab. In der Zeitspanne von Freitag bis Sonntag treffen sich alte Bekannte: ein Rechtsanwalt, ehemals Rebell gegen die ‚kapitalistische‘ Regierung, und Schwester und Sohn des begnadigten Terroristen Jörg. In ihren Gesprächen kommen Erinnerungen an die Tage der Studentenunruhen, Vietnam-Proteste, Anschläge gegen die 111 6. Selbstverwirklichung 18 Bernhard Schlink. Das Wochenende. Zürich: Diogenes, 2008. 159. 19 Peter Rosei. Die Milchstraße. Salzburg: Residenz Verlag, 1981. 19-20. Machthaber und der Banküberfall, an dem Jörg beteiligt war, zur Sprache. Bei dem Anschlag wurde der Leiter der Bank, ein harmloser, schuldloser Bürger, erschossen. Jörgs Sohn Ferdinand übernimmt die Rolle eines Anwalts für alle leidtragenden Überlebenden und verlangt von seinem Vater ein Geständnis und besonders eine Erklärung oder mögliche Rechtfertigung. Dieser sitzt vor ihm mit aufgerissenen Augen und halboffenen Mund. Sein Gedächtnis versagt. Der Sohn faucht als Vertreter einer neuen Generation: „Du bist zur Wahrheit und zur Trauer so unfähig, wie die Nazis es waren. Du bist keinen Deut besser - nicht als du Leute ermordet hast, die dir nichts getan haben, und nicht als du danach begriffen hast, was du getan hast. … Dir tun nicht die anderen Leid, du tust dir nur selbst Leid.“ 18 Ferdinands Anklage verdeutlicht, dass die Überzeugung, sichere Gewissheit und unerschütterliches Vertrauen auf ihre Berufung der Weltreformer-Terroristen sein Fassungsvermögen überfordert. Sie wollten die Welt verändern, verbessern und eine perfekte gesellschaftliche und politische Verfassung erzeugen. Sie erfuhren euphorische Augenblicke höchster Selbstverwirklichung in der Bewusstseinslage der Zukunftsfantasie. Eine Schriftstellerin erkennt diese Tatsache am Wochenende im Rückblick auf die Vergangenheit des Rechtsanwalts Jan: „Endlich lebte er in der Selbstlosigkeit, Unbedingtheit, Eindeutigkeit des Kampfs. Er war frei, war niemandes Schuldner, zu keiner Liebe, keiner Freundschaft, keiner Rücksicht verpflichtet, nur zur Hingabe an die Sache. Was für ein Glück, was für ein Rausch der Freiheit.“ (112) Peter Roseis Die Milchstraße (1981) erklärt nicht die Galaxie als flache Scheibe, die aus Milliarden von Sternen besteht und am Nachthimmel für Menschen sichtbar ist, sondern beschreibt in sechs Büchern eine Elendsstraße, in der sich alle Einwohner an den Alltag anpassen, der angefüllt ist mit Essen, Trinken, Sex, Untreue, Altern und Selbstmord. In dem einem Panorama vergleichbar angelegten Roman besucht der Beobachter Ellis eine Reihe von alten Bekannten und erfährt deren bemerkenswerte Erlebnisse und Lebensläufe. Seine Einblicke werden durch abschließende Briefe vertieft. Sein erster Besuch auf einer Land‐ partie bei Leon, dessen Frau und zwei Kindern ist richtungsweisend für alle folgenden Beobachtungen: Die Familie hat sich an den Alltag gewöhnt. Leon hat zwar Zweifel, aber so ist das Leben. 19 In einem Brief an Ellis schreibt er später, er sei glücklich und zufrieden mit seinem Familienleben (295-297). Die Geschichte Noras enthüllt unerfüllbare Träume in einem unbefriedigten Dasein; die Leiden Marias, die Selbstmord begangen hat, werden von ihrem Freund, einem Tankwart, erzählt. Der Tag vergeht mit Geschichten von Selbstmorden 112 6. Selbstverwirklichung 20 Die Bejahung steht in gänzlichem Widerspruch zu der von Peter Rosei geschilderten Flucht aus dem Leben und vor jeder Selbsterkenntnis in der Erzählung Von Hier nach Dort (1978). 21 Klaus Middendorf. Wer ist Patrick? Oder Das Tagebuch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992. 168; die Fragestellung ähnelt Evo Präkoglers Nicht schon wieder …! München: Matthes & Seitz, 1990. (144); die Geschichte von Kiernan, der mit drei Frauen lebt und betont, er sei „überglücklich“ (156), und die anderen Berichte schildern eine hoffnungslose Welt von Krüppeln und Prostituierten, die sich jedoch alle mit dem gegenwär‐ tigen Zustand abgefunden haben. Weitaus positiver sind Roseis scharf präzisierte Reiseaufzeichnungen Flie‐ gende Pfeile (1993). Der Beobachter steht allen Eindrücken offen gegenüber, erweitern sie jedoch durch ständige Vergleiche mit der literarischen Tradition. Jedes Sehen geht über in ein bewusstes Anschauen, jedes Anschauen mündet durch Vergleiche in ein Verständnis der europäischen Kulturlandschaft. Sie schließt ein: Meer, Strand, Fischer, Händler, Bettler, einen Buckligen, ein Almdorf, Canetti, Kafka, Turgenjew, Rabbi Löw, traumhafte, aber immer kon‐ krete Beobachtungen von Himbeeren und eigener Gedanken im Schlafwagen, Friedhöfe, das KZ von San Sabba, menschliche Verirrung und Hoffnung. Der Erfahrungshorizont des Beobachters erweitert sich: Er bejaht seine Existenz und bejaht die Möglichkeit der Selbsterkenntnis. 20 Middendorfs „Tagebuch“ Wer ist Patrick? soll den Eindruck genauester Be‐ obachtungen erwecken; es ist jedoch Science Fiction, die eine fantasievolle Deutung zukünftiger Selbstverwirklichung beschreibt, die nicht verheißungs‐ voll wirkt. Patrick, der technische Leiter eines Medienkonzerns, arbeitet am Entwurf eines „Welt-Simulators“, der sichere Voraussagen über die Planung von Produkten, Marktabsatz, aber auch über soziale und gesellschaftliche Entwicklungen machen kann. Der Simulator soll zum Wegbereiter einer neuen Welt werden, in der die Menschen von den „Relikten“ ihrer „animalischen Vor‐ geschichte befreit werden“. 21 Die neuen Wirklichkeiten bieten eine unendliche Erweiterung des Erfahrungshorizonts, der sowohl die gesamte Tradition als auch das völlig Unerwartete einbezieht. Das Leben wird von der Schwerkraft der Materie befreit, wird etwas „Immaterielles“ (84), aber „… das Sein wird heute durch das Nichtsein der virtuellen Projektionen verdrängt.“ (85-86) Die Strahlbilder schließen überlieferte philosophische und religiöse Erläuterungen der Wirklichkeit ein: Leibniz und die Kirchenväter, technologische Erfindungen und Gottesvorstellungen berühren und ergänzen sich und heben sich schließlich auf: „wahre Wirklichkeit … ist Gott und durch Gott. Also ist die Welt unwirklich. Eine simultane, göttliche Simulation.“ (188) Die neue Realität der gelungenen 113 6. Selbstverwirklichung 22 Durch Wellershoffs eigene Hinweise angeregt, hat die Literaturkritik eingehende Interpretationen besonders der Sirenen-Tradition vorgelegt. Siehe Dieter Wellershoff. „Der Gesang der Sirenen“ in: DW. Literatur und Lustprinzip. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1993; ders. Das Verschwinden im Bild. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1980; Hans-Gerd Winter. „Ergib dich mir; und ich werde dir alles geben“ in: Hans-Gerd Winter. „Uns selbst mussten wir misstrauen“. Die „junge Generation“ in der deutschspra‐ chigen Nachkriegsliteratur. Hamburg: Dölling & Galitz, 2002. 163-173. 23 Dieter Wellershoff. Die Sirene. Eine Novelle. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1980. 20. Selbstverwirklichung Patricks enthüllt den unerwarteten Sachverhalt, dass Patrick selbst eine „elektronische Impulseinheit“, eine künstliche Intelligenz ist, die von einem unbekannten Programmierer geschaffen wurde. Unbeantwortet bleibt die Frage, ob das Ganze ein Marionettendasein schildert oder der Fantasie freien Spielraum ermöglicht. Die Sirene. Eine Novelle (1980) ist die wahrscheinlich ausführlichste, span‐ nende und zum fortgesetzten Nachdenken anregende Darstellung themati‐ sierter möglicher und zugleich aussichtsloser Selbstverwirklichung. Sirene und Novelle weisen hin auf ein unerhörtes Ereignis. Aber wenn der Ablauf des Geschehens die alltägliche Geschichte einer Verführung oder die banale Krise im Leben eines Forschers beschreibt, ist das Ereignis wahrscheinlich spannend, aber nicht unerhört. 22 Die Krise ist deutlich. Professor Elsheimer, auf Forschungsurlaub, muss, will, versucht eine Untersuchung über „Selbster‐ kenntnis oder über die Entstehung des Ichs“ zu schreiben. 23 Während er über das Thema nachdenkt, das nie eindeutig als Selbstverwirklichung bestimmt wird, erhält er einen Anruf von einer scheinbar verstörten Frau, deren Stimme ihn bannt. Der Handlungsverlauf in drei Kapiteln (Das Rufen; Die Entrückung; Der Kampf) vertieft Einblicke in das Leben Elsheimers, sein Verhältnis zu seiner Familie und den Alltag. Aus den ständigen Anrufen entsteht ein Verhältnis, das Stufen seines Themas in seiner Reaktion durchläuft. Er ist befremdet, freundlich, betört, sexuell erregt, verstört und völlig verzaubert. Die Stimme bringt seine Ehe und sein Familienleben an den Rand der Verstörung und Zerstörung. Er hat unklare Ahnungen von Altern und Tod, liest ein Buch, das „handelte jetzt vom Sterben. Alles, was berührt, wahrgenommen und zum Leben erweckt wurde, mußte auch wieder wegschmelzen und verschwinden. Das Berührbare war das Nicht-zu-Haltende.“ (106) Die Stimme führt zum Selbstverlust. Die Realität wird durchlässig. Das Ich ist undeutbar: „Alle sind verloren, dachte er, ohne jeden Zusammenhang.“ (143) Er bricht zuletzt den Bann, wendet sich der Routine des Alltags zu, will „schnell“ einen Aufsatz „über ein Unterthema veröffentlichen“ (210) und vernimmt den vertrauten Klang der Zivilisation. Er legt eine Schallplatte auf: „Festliches Barock, ein Potpourri aus Vivaldi, Bach und 114 6. Selbstverwirklichung Händel, den großen Meistern der prunkvollen Lebensfreude.“ (212-213) Alles ist wieder normal und vertraut. Die Verwirklichung im kleinen Kreis ist möglich. Die Verführungsgeschichte erkundet teils bewusste, teils unbewusste Wün‐ sche, Hoffnungen und Befürchtungen in Figuren, die scheinbar fest im Alltag verwurzelt sind. Eine Stimme ruft. Das vernünftige Dasein verbleicht. Es ist so alltäglich. Der Ausbruchsversuch erweist sich als Irrweg, der in ein Labyrinth von Phantomen mündet. Das Ich, Elsheimer, erfährt das Allein-Sein. Seine tiefgreifende Erfahrung ist der Selbstverlust im Tod. Er erlebt eine undeutbare Welt des Schnees und Eises. „Das Weiß hatte ihn geschluckt.“ (125) „Bleib hier, sagte der Schnee, hier in der Stille, in der Sanftheit … leg dich auf den Rücken, laß dich zudecken, das willst du doch.“ (178) Sein Aufbegehren gegen die Todessehnsucht misslingt wie sein Eingehen in das rein Sexuelle beim Besuch eines Bordells, in dem die Prostituierte als „ein zappelnder, nackter Harlekin“ (208) erscheint. Elsheimer ahnt und träumt. Die Ich-Suche stößt auf bisher unerkannte Möglichkeiten, aber der Überfluss entzieht sich dem Begriffsvermögen. Elsheimer muss sich bescheiden und das Leben wie es ist bejahen. 115 6. Selbstverwirklichung 7. Selbsterkenntnis: Bewusstsein des historischen Augenblicks Günter Grass schreibt: „Ich, ausgetauscht gegen mich, bin Jahr für Jahr dabei‐ gewesen.“ Das trifft zu auf den Versuch, das Bewusstwerden einer Generation zu schildern, die zwei Weltkriege, die Weltwirtschaftskrise, die NS-Zeit, ein geteiltes und wiedervereinigtes Land, die sozialistische Utopie, das Wirtschafts‐ wunder, Studentenunruhen und den unvermeidlichen Alltag erlebte. Der Band, Bestseller im Großformat, ist gut lesbar, aber schwierig zu verstehen, wenn man die verarbeiteten Einzelheiten verfolgt. Mein Jahrhundert (1999) erweckt den Eindruck einer Dokumentation. Das kunstvoll hochentwickelte Erzählver‐ fahren der Mehrstimmigkeit verzeichnet bekannte Autor(inn)en, Philosophen, Politiker, schließt Zitate ein, die nicht jedem vertraut sind und hebt Stimmen hervor, die oft nicht zu Wort kommen. Der Überblick überschaut ein weites Feld. Das angestrebte Verständnis des Jahrhunderts verlangt die Mitarbeit in einer Geschichtsstunde und einer Deutschstunde, die sich über lange Zeit erstreckt. Das Buch spricht in vielen Tonlagen - jung, alt, weiblich, männlich - und erkundet die Einstellung zum Zeitgeschehen von allen Betroffenen. Die Einsicht von Grass, dass alle beteiligt waren, vertieft die gesamte Darstellung. Es gibt keine Nischensteher. Mitmachen, Widerstehen, Anpassen, Durchhalten und Überleben sind die unausgesprochenen Parolen der Tage. Die Erzählung ist chronologisch nach Jahren eingeteilt; sie beginnt 1901 und endet 1999. Grass berichtet über sich selbst, das Schriftstellertreffen in der DDR, den Mauerfall, seine Wahlbeteiligung und seine Haltung im Kosovo-Krieg. Die Darstellung in den einzelnen Jahren enthält häufig Hinweise auf Ereignisse und Personen aus völlig anderen Jahren und der Gegenwart. Dieses Verfahren unterstreicht den Erinnerungsdiskurs, in dem Erlebnisse vergangener Jahre bewusst im gegenwärtigen Augenblick überdacht werden. Nicht jedes Jahr ist ein Krisenjahr, aber Jahre, die im Geschichtsunterricht wahrscheinlich als unbedeutend übergangen werden, vermitteln kurzgefasste, treffende Einblicke in das tägliche Leben. Diese Vignetten erinnern an Kempowskis Schilderungen, verlieren sich aber nicht in einer Flut von Details. Sie sind wesentlich in der Konzentration auf einzelne für die gesamte Darstellung bemerkenswerte Erlebnisse, Wünsche, Hoffnungen und Erkenntnisse Einzelner, eines Arbeiters am Fließband, eines ehemaligen Boxers und Gastwirts, eines Frontsoldaten, von Kindern, der Mutter und der Großmutter, vertiefen die Gesamtschau einer belebten Welt. 1 Günter Grass: Mein Jahrhundert. Göttingen: Steidl, 1999. 79. Ein genauer Blick auf einige Jahre zeigt die von Grass verarbeiteten Elemente, die das Zeitgeschehen im Rahmen der historischen Situation veranschaulichen. Die Jahre 1914 bis 1918 setzen mit dem Interview einer Journalistin mit Ernst Jünger und Erich Maria Remarque ein und überliefern im Erinnerungsdiskurs deren Erfahrungen. Die gegensätzlichen Einstellungen zum Krieg, deutlich in ihren Büchern In Stahlgewittern (1920) und Im Westen nichts Neues (1929), färbt ihr Nachsinnen. Das Interview konstatiert keine Meinungsveränderung. Beide reisen ab. „Fünf Jahre später starb Herr Remarque. Herr Jünger hat offenbar vor, dieses Jahrhundert zu überleben.“ 1 Grass schildert das Jahr 1930 aus der Sicht von Stammtischlern in Dieners Biertresen. „Als gelegentlicher Gast in Franz Dieners Biertresen bekam ich mit, was am Stammtisch, der jeden Abend hochkarätig besetzt war, an Groß- und Kleinereignissen feuchtfröhlich verhandelt wurde.“ (120) An den Wänden im Lokal des ehemaligen deutschen Schwergewichtsmeisters im Boxen hängen gerahmte Fotografien von berühmten Boxern und „einst und immer noch be‐ kannter Größen des Kulturlebens“. (120) Unerwartete Hinweise auf Hochhuths Stellvertreter, ein Schauspiel, das erst 1963 erschien, Adenauer und Friedrich Dürrenmatt verunsichern die Zeitbestimmung. 1930 ist plötzlich Gegenwart. Hochhuth war umstritten, „doch sonst blieb die Politik ausgespart“, denn die Gespräche kreisen um Schmeling und seinen Weltmeisterkampf in New York. Die „Rückbesinnung meist älterer Herren spielte sich, was die Politik jener Jahre betraf, wie im luftleeren Raum ab: kein Wort über die Regierung Brüning und den Schock, als die Nazis aus der Reichtagswahl mit einem Schlag als die zweitstärkste Partei hervorgingen.“ (122) Die Gespräche der politisch nicht engagierten Stammtischler lassen noch keine Unruhe oder Sorge erkennen. Der Filmregisseur Josef von Sternberg, Gustaf Gründgens‘ Tod, Brecht und Friedrich Dürrenmatt sind interessanter als der Anfang der Weltwirtschaftskrise, der Tod von Horst Wessel oder Hitler. Die Zeitperspektive verdeutlicht, dass die Vergangenheit in unpolitischen Gesprächen gegenwärtig ist. Das Jahr 1933 erscheint im Licht der Erfahrung eines Mannes, der Angst um seine Kunstsammlung hat und sich Sorgen um seinen Freund Liebermann und seinen jungen Mitarbeiter Bernd macht. Er hat bereits Gemälde von Kirchner, Pechstein und Nolde nach Holland ausgelagert, aber von Liebermann sind noch Bilder in der Galerie. Er glaubt, die Bilder seien nicht ‚entartet‘ im Sinne der nationalsozialistischen deutschen Kunst, findet jedoch, dass Liebermann und dessen Frau als Juden „gefährdet“ waren. (133) Er macht sich auf den Weg zu Max Liebermanns Haus am Pariser Platz hinter dem Brandenburger Tor, steht 118 7. Selbsterkenntnis: Bewusstsein des historischen Augenblicks mit dem Ehepaar auf dem Flachdach des Hauses und sieht den Fackelzug einer Flut von SS-Leuten, die durch und um das Tor marschieren. Die Masse war un‐ aufhaltbar. „Diesem erhaben fortschreitenden Verhängnis war nichts in den Weg gestellt.“ (135) Und dann zitiert Grass die Feststellung Liebermanns, die in jedem Buch über den Künstler erwähnt wird: „Sich von dem geschichtsträchtigen Bild wie von einem firnisglänzenden Historienschinken abwendend, berlinerte er: ‚Ick kann janich soviel fressen, wie ick kotzen möchte.‘“ (135) Der Hinweis, dass 14 bedeutende Gemälde Liebermanns in der Schweiz deponiert und gerettet wurden und dass Bernd geflohen ist, beendet das Kapitel. Dass sich Liebermann zurückzieht, vereinsamt und zwei Jahre später in seinem Haus am Berliner Platz stirbt, wird nicht berichtet, denn das Kapitel 1935 ist dem Ausbau des Autobahnnetzes und den überforderten Arbeitern gewidmet. Die Einweihung des ersten Teilabschnitts der Reichsautobahn fand am 19. Mai „in Gegenwart des Führers … im offenen Mercedes stehend und die hunderttausend Schaulustigen mal mit der geraden, mal mit der angewin‐ kelten Rechten grüßend“ statt. (143) Das Kapitel berichtet jedoch eingehend die Unfallversorgung eines Arztes, Dr. Brösing, und dessen Gehilfen (ich, der Erzähler) von Arbeitern, die Jung und Alt beim Schaufeln immenser Erdmassen einen „Knacks zwischen den Schulterblättern … einen Abrißbruch der Wirbel‐ dornfortsätze“ verspürten und arbeitsunfähig wurden. Die Verletzung, von Dr. Brösing „Schipperknacks“ genannt, wird zwar in keinen medizinischen Bericht erwähnt, akzentuiert aber eine allgemeine Situation - Schwerarbeit - beim Ausbau der Autobahn, welche die historische Erkenntnis vertieft. Viele der einzelnen Kapitel sind ausgerichtet, in den Lesenden deren eigene Erinnerungen zu wecken und in einen fortgesetzten Dialog mit den Beobach‐ tungen einzuspeisen. Das Erkennen geht über in ein Verstehen des historischen Augenblicks. Andere Kapitel sind verschlüsselt, obwohl sie bekannte, wenn auch nicht geläufige Zitate enthalten. Typisch für diese Gestaltung ist das Treffen von zwei Dichtern am Kleistgrab mit Blick auf den Wannsee im „März jenes trauertrüben Jahres“ 1956. Ihr Gespräch wird belauscht und ergänzend zusammengereimt von einem Studenten der Germanistik, der uns sofort infor‐ miert, dass beide noch in diesem Jahr sterben werden. (227) Alter und Monat des Todes werden verzeichnet, ihre Gedichte zitiert, ihre Namen nicht genannt, denn jeder Germanist, selbst wenn er wie der Zuhörer das Studium aufgibt, um an der TH das „Maschinenbauwesen zu studieren“, weiß: Hier treffen sich Benn und Brecht. Beide rezitieren, mal „genüßlich“, mal „ein wenig salopp“, die Verse des anderen. Zitiert werden „Der Nachgeborene“, „Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke“, „An die Nachgeborenen“, erwähnt werden Zeilen aus dem gegensätzlichen politischen Engagement der Dichter, dann machen sie sich 119 7. Selbsterkenntnis: Bewusstsein des historischen Augenblicks 2 Peter Handke. Selbstbezichtigung in: Die Theaterstücke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992. 63. lustig über Thomas Mann und kritisieren Becher und Bronnen. Das scheinbar aufgeräumte, aber tiefernste Gespräch kreist um die Erfahrung finsterer Zeiten, des unabwendbaren Sterbens und des gegenüberstehenden „Nichts“. Beide erwähnen die politische Lage nicht. „Kein Wort über die Wiederbewaffnung im westlichen und östlichen Staat.“ (229) Kein Wort über die Studentenproteste in Warschau und Danzig oder den Aufstand in Posen. Das ist alles eingefangen in den zitierten Strophen der Gedichte. Beide wissen jedoch, dass ihre Schriften ihr Bewusstsein des historischen Augenblicks festhalten und einen Weg in die Zukunft weisen. Deutlich erkennbar ist die nachgetragene Liebe für die Mutter. 1927, das Geburtsjahr von Grass, entwirft ein Bild der Mutter, des Elternhauses und des Onkels Max, weist aber sofort darauf hin, dass Heideggers Sein und Zeit erschienen ist. Was ist wichtiger, die stabilisierte Reichsmark, die Familie oder dass „jeder Feuilletonbengel unterm Strich zu heideggern begann? “ (111) Die Antwort bleibt offen. Alltag, Literatur, Philosophie, Geschichte und Weltge‐ schehen kommen zu Wort in der kurzen Bestandsaufnahme des mühevollen Lebens der Mutter. Sie bejaht das Leben trotz aller Kriege. Die Zukunft ist offen, wenn auch unerforschlich. Eine Sprecherin und ein Sprecher erscheinen als Stellvertreter aller und erheben den Anspruch des allgemein Gültigen in dem Sprechstück Selbstbe‐ zichtigung (1966) von Peter Handke. Beide stimmen überein im sprechenden Ich, das Zeugnis für alle Unterlassungen im Leben ablegt. Das Ich erkennt sich und seine Stellung im historischen Augenblick. Von der Geburt über Lebensläufe ständiger Fragen bis zum Ich-Bewusstsein bemüht sich das Ich, endlich den Anspruch des Tages, des Lebens zu begreifen. Es stellt ständig Fragen, hat „an andere gedacht“ 2 , zählt die gewöhnlichen Alltagssünden auf: bin „bußpflichtig, wohnsitzpflichtig, ersatzpflichtig, steuerpflichtig, zahlungs‐ pflichtig, unterhaltspflichtig“ geworden (65), „habe verantwortungslos Kinder in die Welt gesetzt“ (74), und erkennt sie als Verfehlungen. Das Ich versucht, der Verantwortung zu entgehen, bin „mit der Erbsünde behaftet auf die Welt gekommen“ (73), aber begreift schließlich die Wahrheit: „Ich habe nicht nach Wahrheit gesucht.“ (74) Sprecherin und Sprecher erkennen ihre Sünden. Aber ihre Einsicht, dass sie sich nicht frei und vollständig entwickelt haben, dass sie nicht das Wagnis einer offenen Begegnung mit den Mitmenschen eingegangen sind, verdeutlicht den Verlauf einer außerordentlichen Bewusstseinsentwick‐ lung und Selbstverwirklichung. 120 7. Selbsterkenntnis: Bewusstsein des historischen Augenblicks 3 Peter Handke. Wunschloses Unglück. Salzburg: Residenz Verlag, 1972. 10. Nicht eigene Unterlassungen, sondern die Erfahrung eines scheinbar unver‐ änderlichen gesellschaftlichen Zustands charakterisiert das Leben einer Mutter in Wunschloses Unglück (1972). Die außerordentliche scharfe Kritik der sozialen Missstände und überlieferten Vorurteile sowie der Selbstmord der Mutter in Handkes Erzählung behindern nicht den Versuch der Darstellung einer Selbsterkenntnis, die in bewusstem Freitod endet. Sondern vertiefen sie. Der Sohn analysiert und berichtet distanziert, „veräußerlicht und versachlicht“ den „Fall“ seiner Mutter. 3 Sie wächst auf in einem kleinen Ort in Österreich. Hier „herrschten noch die Zustände vor 1848.“ (12) Der Vater der kleinbäuerlichen Familie verwendet jeden Augenblick seines Lebens, seinen winzigen Besitz zu vergrößern. Sein rituelles Sparen für Ausstattung, nicht Ausbildung der Kinder bleibt durch Wirtschaftskrise, Inflation, Abwertung und Neuwertung erfolglos. Er muss immer wieder von vorn anfangen. Die Tochter will lernen, bettelt „etwas lernen zu dürfen“ (19), aber ihr Wunsch wird als „undenkbar“ abgelehnt. Das verneinte Interesse für das Weltgeschehen wird ersetzt durch den Vorsatz, Kochen zu lernen. „Gegessen wird immer werden.“ (19) Die Mutter wird Köchin, führt die Buchhaltung in Österreich und im Schwarzwald, erlebt den Zusammenschluss und Krieg, verliebt sich in einen bereits verheirateten Soldaten, wird schwanger, heiratet einen anderen, treibt ein Kind ab, erlebt die Zeit der russischen Besatzung in Berlin, schüttelt sich vor Elend und Ekel und verlässt den Ostsektor im Frühsommer 1948 mit dem Sohn und einem knapp einjährigen Mädchen. Die Misere findet auch im Geburtshaus in Österreich kein Ende: Sie wird die „Mutter im Haus“, so von allen, auch ihrem Mann genannt, der seine Arbeitslosenunterstützung in Gasthäusern vertrinkt und seine Frau verprügelt, während die Kinder zuhören. Kurz vor dem vierzigsten Lebensjahr wird die Mutter nach ihrer dritten Abtreibung nochmals schwanger und muss das Kind austragen, da keine Abtreibung möglich ist. Ihr Leben ist jetzt gekennzeichnet von Bittgängen, um dem trunksüchtigen Mann eine Anstellung zu verschaffen, den Mittellosigkeitsnachweis für den studierenden Sohn zu erhalten, Wanderungen von Amt zu Amt, Gesuche für Krankengeld, Kinderbei‐ hilfe und „Ermäßigung der Kirchensteuer“. Aber ein Wunder geschieht: Handke will sein Märchen, will sein Ziel einer Welt, die nicht aus den Fugen ist. Die Mutter sucht Orientierung, liest mit dem Sohn und versteht die Erzählungen von Fallada, Hamsun, Dostojewski, Gorki, Thomas Wolfe und William Faulkner. Ihr Horizont erweitert sich. Sie entwickelt Interesse für Politik und Weltgeschehen. Sie wird krank, fürchtet die nicht abreißende Tortur des Alltags und entschließt sich, ihr eigentliches Selbst im Tod zu retten. Die Erfahrung eines bestürzenden 121 7. Selbsterkenntnis: Bewusstsein des historischen Augenblicks 4 Hermann Burger. Brenner. 1. Brunsleben. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989; 2. Menze‐ mang. Kapitel 1-7; Fragment aus dem Nachlass. Frankfurt a. M.: Suhrkamp,1992. Hier 1. 231. Daseins erweitert sich zur traumhaften Vision einer besseren Möglichkeit in der historischen Entwicklung. Die Suche nach der verlorenen Zeit, die Ermittlung des historischen Augen‐ blicks und die Erkundung einer möglichen Neuordnung des Daseins bestimmen das Nachdenken eines Erzählers, der weiß, dass „seine Stunde unabänder‐ lich geschlagen hat.“ 4 Hermann Burger findet in Brenner eine angemessene Sprachgebung und Perspektive, die das erdrückend Faktische des modernen Lebens überspielt und nicht in allgemeine Klischees existenzieller Selbstdeutung mündet. Stark ausgeprägt und Handke vergleichbar ist die Schilderung des Tief-Bedeutsamen der abgelegenen Natur für die große Welt. Die zahlreichen Traditionsanschlüsse und Hinweise auf Benn, Broch, Celan, Hesse, Thomas Mann, Fontanes Stechlin, Goethes Dichtung und Wahrheit, Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Klee, moderne Kunst und selbst Literaturkritik erweitern die Ortung des historischen Augenblicks. Der Erzähler betrachtet sich als Chronist und Kritiker, der sein Schreiben nachdrücklich überlegt und durch Hinweise auf die Berufung und Arbeit eines Schriftstellers die Optik der Darstellung erweitert. Er stellt sich vor als Hermann Arbogast Brenner, Enkel der „Cigarren-Dynastie Brenner Söhne“, der über seine Kindheit, Jugend, Urerlebnisse und Bildungseinflüsse nachdenkt. Er findet für jedes Kapitel seiner Aufzeichnungen eine angemessene Zigarre, deren Aroma eingehende Beschreibungen von Tabaksorten, Anpflanzungen, Ernten, Zubereitung, Herstellung und Verkaufs der Zigarren einleitet. Diese Einzelheiten stehen scheinbar gleichberechtigt neben historischen Details, statistischen Unterlagen, Beschreibungen von Ortschaften, der Architektur einzelner Bauwerke, der Bodenformation, des Wetters und nachdenklichen Überlegungen der literarischen und kulturellen Überlieferung. Wiederholte und erneuerte Hinweise auf Herodots Bericht von der Insel Araxes, Strabos „Rauchesser“, Fontanes Stechlin, Manns Zauberberg und die Zubereitung von Speisen sollen den Eindruck eines langatmigen Erzählers erwecken. Distanzierte Beobachtungen und umfassende Hinweise erweitern die Perspektive persönli‐ cher Erlebnisse. Die Zigarre verdeutlicht zugleich das Zeitgefühl des Erzählers. Der langsam dahinschwebende Rauch erweckt die Illusion, er habe viel Zeit zu ruhiger Betrachtung, die in Widerspruch zu seinem bevorstehenden Tod steht. „Zigarette, Cigarre und Pfeife sind Theateruhren, sie sagen innerhalb der gerafften Zeit, in der das Stück spielt, etwas aus über das Zeitgefühl des Autors …“ (76) Er will Präzision, stellt fest, „die Dichter arbeiten zu wenig 122 7. Selbsterkenntnis: Bewusstsein des historischen Augenblicks 5 Vgl. dazu Burgers Aussage über seine Prosa: „Nie bin ich glücklicher, als wenn es mir gelingt, das Verrückte dank vorgetäuschter Recherchen als wirklich und die bare, aus irgendeinem Jahrbuch herauskopierte Realität als verrückt erscheinen zu lassen. Das ist die Eigenart meiner Prosa …“ Hermann Burger. Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben. Frankfurt a. M.: Fischer, 1986. 11. mit statistischen Werten“ (68), zitiert Aufsätze aus Lokalzeitungen für Kolorit (73-74), stellt sich aber auch vor als „Hochstapler“, „Illusionist“ und „Jongleur“. Er ‚bekennt‘ überdies: „Man hat natürlich längst gemerkt, daß ich mich in Ermangelung des soliden Romanhandwerks von Reizwörtern in die Kreuz und Quer leiten lasse“ und stellt sofort die Frage, „ob diesem Irrsinn nicht doch eine Methode zu unterschieben sei.“ (91-92) 5 Die Methode wird im Verlauf der Erzählung deutlich. Zigarre und Rauch symbolisieren das Durchhalten, Fest‐ halten im Schreiben und am Leben Sein. Aufgezeichnete Details und Vignetten werden durch Zitate verbürgt. Das Erlebnis eines Tages im August wird durch den Hinweis auf Gottfried Benns „Einsamer nie als im August“ erweitert zu einer Stufe der Bewusstseinsentfaltung, in der im begrenzten Augenblick die Geschichte mitspricht. Das Lesepublikum wird ständig angesprochen, sich am anhaltenden und aktuellen Bewusstwerden zu beteiligen. Ausgehend vom Text - „wir lösen am laufenden Band Gleichungen mit drei Unbekannten, X ist der Plot, Y das ausgewählte Material, Z die definitive Form“ (192) -, übergehend zum Augenblick der Erfahrung, ergänzend durch den Rückblick auf die Tradition und in unbekannte Zukunft weisend, sollen alle „geneigten Leser“ ihren eigenen Erfahrungshorizont erweitern. Die Erfahrung ist eine Absage an das „blutlose Ich“, das „Entsetzen des Daseins“, das Altersheim und die Todesangst. „Auch die drei Komponenten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, was autobio‐ graphisch wahr und somit richtig, oder sagen wir etwas modester rückblickend überhaupt erkennbar ist, hängt davon ab, wie ich heute lebe und was mich morgen erwartet …“ (58) Dieser Augenblick im Geheimnis der Kunst einer makellosen Prosa, bereichert durch ständige Selbstkritik und hohes Bewusstsein der Tradition, eingefangen, verlangt die Bejahung einer lebenswürdigen Hal‐ tung. Für Burger und manche Leser ist Fontane-Lesen tägliche Pflicht; für alle ist Horizonterweiterung das Erlebnis der Selbstverwirklichung. Im Gegensatz zu der Besonnenheit in Brenners Orientierungssuche proji‐ zieren Beyses Erzählungen Unstern Bericht (1991) und Ferne Erde (1997) eine atemlose, nie endende Ermittlung in einer Welt unaufhörlich wechselnder Eindrücke. Die Ich-Suche der Figuren und das Bewusstsein des historischen Augenblicks sind deutlich ausgeprägt; die mögliche Selbstverwirklichung ist angedeutet. Die Erzähler existieren in Räumen, die scheinbar begrenzt sind - 123 7. Selbsterkenntnis: Bewusstsein des historischen Augenblicks 6 Jochen Beyse. Unstern Bericht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991. 215. 7 Jochen Beyse. Ferne Erde. Erzählung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997. 101. 8 Christa Wolf. Kindheitsmuster. Berlin: Aufbau, 1976. 226. ein Zimmer in Ferne Erde, ein Wohn- und Schlafzimmer in Unstern Bericht -, aber durch Beobachtungen einer Projektionsflut und Visionen ins Unendliche, oft nur Ahnbare erweitert werden. Sie verfolgen Spuren in Erinnerungen und versuchen, aufblitzende Bilder zu deuten. Zeitabschnitte verlieren Konturen, verlaufen ins Ungewisse, aber finden Halt in den wiederholten Spiegelungen von Erzähler-Sucher-Ich und einem denkbaren Personen-Ich. Beyse schildert einen Verlauf im Nachdenken, in dem jeder Gedanke und jede Erinnerung neue, auch unerwartete Assoziationen auslöst. Alles wird gegenwärtig: Glückwün‐ sche zum Geburtstag, Hubschrauber, Scheinwerfer, Helme, Geflüster, Figuren, die unentwegt an einem elastischen Sicherungsseil vom Dach springen, elek‐ tronische Leuchtpunkte, Computerbilder, Umweltkatastrophen, Telefonanrufe, ein Bogen Papier, auf dem nichts erscheint, und ständig wiederkehrend die Suche im Bild der Flugsehnsucht. „Es geht immer höher. Merkwürdiger Blick auf die Gegend, auf die Schwankungen des Lichts, des Hoch und Tief des Horizonts. Am Ende, bei entsprechender Sicht … aber nein … Mein Agentenherz schlug. Es würde schlagen, bis ans Ende, bis an den Anfang und immer weiter -“ 6 Die Suche: „Hellwach … dem Morgen einen Sinn geben.“ 7 Die Suche nach der Substanz der Visionen führt zur Erkenntnis, dass der historische Augenblick nicht befestigt werden kann. Jeder hat einen „Chip des Sicherheitsdenkens“ in sich. Aber die Selbstverwirklichung verlangt einen „existentiellen Sprung“ ins Unerwartete und ist ein nicht abschließbarer Vorgang. Der Rückblick der in der DDR aufgewachsenen Erzählerin Christa Wolf auf die Zeit der Kindheit in Schlesien setzt ein mit einem Besuch in Polen, dem ehemaligen schlesischen Gebiet. Ihre Erinnerung in Kindheitsmuster (1976) wird mehrfach unterbrochen und vertieft durch Reiseerlebnisse in den USA und kritische Beobachtungen des Vietnam-Krieges, des Zweiten Weltkriegs und des sozialistischen Staates. Die Aufarbeitung der Vergangenheit mit Hinweisen auf Nachrichten des Senders Gleiwitz mit Dauersondermeldungen „schöner Erfolge“ 8 , auf Filme wie etwa Der Mustergatte mit Heinz Rühmann, mit Einbli‐ cken sowohl in die Existenz im KZ als auch in die Taten der Gestapo („Aus dem Gestapokeller kein Tonband“ (238)) und mit Berichten vom Besuch in Bibliotheken und der Lektüre von historischen Zeitungsberichten, erhält größte Schärfe durch Wolfs erstaunliche Einfühlung in die Spracheigenheiten der Zeit. Der Rückblick ist jedoch konzentriert auf die eigene Verantwortung. Diese wird entschlüsselt durch das Bewusstwerden einer Situation, in der ein allge- 124 7. Selbsterkenntnis: Bewusstsein des historischen Augenblicks 9 Günter Grass. Ein weites Feld. Göttingen: Steidl, 1995. Vgl. dazu Hans Joachim Schädlich. Tallhover. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1986, sowie Daemmrich. Vergangenheit. 228-232. meiner Orientierungsverlust einsetzte, als feste Normen verblichen, die gültige Vergleiche ermöglichten. Alle Betroffenen entzogen sich der Verantwortung mit dem unbestimmten Gefühl, die politische ‚Ordnung‘, die gesellschaftliche Ver‐ fassung und der Krieg seien Symptome eines Prozesses, der undurchschaubar und unkontrollierbar ist. Jede sinnvolle Selbsterkenntnis setzt ein mit der Ab‐ sage an die chronische Abhängigkeit von undurchschaubaren Ereignissen. Der Ausgangspunkt der Erkenntnis des historischen Augenblicks in Kindheitsmuster ist die Prüfung persönlicher und politischer Freiheit. Die persönliche Freiheit gewährt die Entwicklung aller im Einzelnen ruhenden Anlagen und verlangt in der Verknüpfung mit der Gesellschaft die freie Entsagung von Verlangen, die die Gesellschaft bedrohen. Die politische Freiheit gewährt ein Leben ohne Un‐ terdrückung, die Sicherheit vor Übergriffen, die das Leben Einzelner bedrohen und die freie Meinungsbildung aller. Für Wolf setzt jeder Freiheitsbegriff ein mit dem ständigen Aufruf zur eigenen Verantwortung. Historische Standortsbestimmungen können nicht nur eingehend und kri‐ tisch ausgewogen wie Ein weites Feld (1995) 9 von Günter Grass das Leben heute und in der jüngsten Vergangenheit schildern, sie können in der Themenver‐ flechtung mit Bestandsaufnahmen einer Gruppe, wie etwa der Literaturszene in Josef Haslingers Opernball (1995), mit dem thematisierten Klassengeist oder dem Aufwachsen in der Gegenwart in den Erzählungen von Marie-Thérèse Kerschbaumer und selbst im Rahmen einer radikalen Gesellschaftskritik oder in einer begrenzten Situation das Bewusstwerden stichpunktartig erfassen. Einige, durchaus unterschiedliche, aber in ihrer realistischen Detailnotierung verwandte Darstellungen ermitteln den permanenten Umbruch und die Ver‐ wandlung und Veränderung der Natur in ein Baugelände. Thomas Hürlimanns Das Gartenhaus (1989) und Robert Schindels Gebürtig (1992) verdeutlichen diese Situation. Selbst die auf Strecken kursiv gedruckten Ausrufe und Anklagen in Josef Winklers Menschenkind (1979) und Der Ackermann aus Kärnten (1980) verflechten die umfassende Gesellschaftskritik mit der Ermittlung des histori‐ schen Augenblicks. Besonders beachtenswert sind die Schilderungen des erwachenden Selbstbe‐ wusstseins in den Kindheits- und Jugendjahren eines Menschen in Marie-Thé‐ rèse Kerschbaumers Die Fremde (1992) und Ausfahrt (1994). Die Autorin thema‐ tisiert im Rahmen einer Entwicklungsgeschichte das Fremdsein im Kreis der Familie und in der Begegnung mit anderen und erfasst damit ein wesentliches Anliegen der Zeit. Barbarina, die Tochter einer Österreicherin und eines Kuba‐ 125 7. Selbsterkenntnis: Bewusstsein des historischen Augenblicks ners, kommt in Paris zur Welt und wird zum Großvater nach Tirol geschickt. Sie erlebt die Kriegs- und Nachkriegsjahre in Österreich. Sie möchte gern wie alle anderen sein, erwartet ein freundliches Wort und hofft auf eine Geste der Zuneigung. Sie stößt stattdessen auf Ablehnung und wird als Fremde, als nicht zugehörige Außenseiterin stigmatisiert. Sie lernt, sich anzupassen, träumt von einer anderen, fremden, besseren Welt und denkt an den fremden, aber dennoch vertrauten Vater, der irgendwo in Zentralamerika lebt. Als Sechzehnjährige nimmt sie eine Stellung in England als Au-pair-Mädchen an. Ihre Gastfamilie hat wenig Verständnis für Barbarina. Sie ist die „eigenartige“, die komische Fremde, das „funny girl“ im Haus. Die Sprache ist weniger aggressiv als zu Hause in Österreich, aber der geschliffene Ton unterstreicht die kühle Distanz der Umgebung und lässt keine echte Begegnung zu. Trotzdem setzt sich das Mädchen durch, entwickelt die in ihr schlummernden Anlagen und erreicht ein geistiges Niveau, das sie zu erstaunlichen Einblicken in die Gesellschaft befähigt. Ihre Sicht wird die des Berichterstatters einer kritischen Ortung der historischen Zeitspanne. Die Erzählperspektive verbindet realistisch präzise Vignetten der Gegenwart mit scharf belichteten intensiven Erinnerungsbildern vergangener Tage. Durch das Überblenden von Gegenwart und Vergangenheit wird im Prozess der Erin‐ nerung das gesamte Geschehen gegenwärtig. Zugleich vermittelt der Kunstgriff den Eindruck, dass die Erfahrungen des Mädchens und in erweiterter Perspek‐ tive das Leben selbst einen nicht abgeschlossenen Vorgang bilden. Indem jede Erinnerung und jedes neue Erlebnis vom Sehen in ein Verstehen übergehen, werden die Erzählungen bei aller Kritik ein Zeichen der Bejahung des Daseins. Die Darstellungen, die sachlich ein Jahrhundert besichtigen, in Lebensläufen Einzelner oder in Abrechnungen mit menschlichen und gesellschaftlichen De‐ fiziten und kurzen Vignetten den historischen Augenblick festhalten, verzichten weitgehend auf eindeutige Hinweise auf eine Neugestaltung der Zustände. Sie gipfeln in der Forderung an alle, einer höheren sinnvollen Selbstverwirklichung entgegenzustreben. Martin Walser hält diese Forderung fest in prägnanten Ausschnitten aus der verwirrenden Vielfalt der Erscheinungen im Dasein. Walsers Kurzgeschichten und Novellen scheinbar alltäglicher, aber erstaunlicher Ereignisse verweisen häufig auf Denkvorstellungen aus unterschiedlichen Bereichen, die durch ihre Zusammenstellung den Augenblick und das Überlieferte befragen und neue, unerwartete Perspektiven erschließen. „Templones Ende“, „Das letzte Matinee“, „Nachruf auf Litze“, „Eine unerhörte Gelegenheit“, „Erlebnis“ und besonders „Die Rede des vom Zuschauen erregten Gallistl“ vermitteln wesentliche Ein‐ blicke in die geistige Verfassung der Figuren. Sowohl ihre Erkenntnis der 126 7. Selbsterkenntnis: Bewusstsein des historischen Augenblicks 10 Martin Walser. Gesammelte Geschichten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1983. 73. Situation als auch ihre im Blitzlicht erfasste Blindheit im So-Sein vermitteln we‐ sentliche Einblicke in die geistige Verfassung der gegenwärtigen Gesellschaft. Die Geschichte Templones schildert aus seiner Sicht die Veränderung in seinem luxuriösen Villenviertel. Der von ihm als furchterregender Umbruch erfahrene Zeitwechsel erweist sich am Ende als alltägliches, gegenwärtiges Geschehen. Templone muss „das Viertel halten“ und muss jede Änderung vermeiden. Die Zeit muss im „Villendasein“ stillstehen. „Er und seine Freunde waren zu sehr daran gewöhnt, daß die Annehmlichkeiten ihres Villendaseins, daß ihr Selbst‐ bewußsein und ihre Sicherheit letztlich darauf beruhten, daß sie auf wertvollen Besitzungen lebten …“ 10 Templones „Besitzerhirn“ diktiert sein ganzes Handeln. Er baut mit Hilfe seiner Tochter in der gesamten Villa Beobachtungsstände ein. „Sorgfältig bauten sie Fernrohre auf, drapierten sie mit Vorhängen, umgaben sie zur Tarnung mit harmlosen Vogelkäfigen, Blumentöpfen … und verblichenen Gobelins. Abwechselnd hielten sie nun Wache, rannten von Fernrohr zu Fernrohr …“ (77) Zwischen Beobachtungen sitzt Templone in seiner Biblio‐ thek und liest nahezu hypnotisiert in den gebundenen „Zeitungen der letzten fünfzig Jahre.“ Er bleibt jedoch blind und verkennt den Wechsel der Zeit, der schließlich selbst seine Tochter und seinen Untermieter Professor Priamus, der an einer mehrbändigen historischen Untersuchung arbeitet, einbezieht. Er sucht Hilfe in seiner Bibliothek, greift nach einem Band und wird von einem seiner „schweren Zeitungsbände“ erschlagen. Die Nachbarn kommen und sorgen für seine Beerdigung. Der historische Augenblick der unaufhaltsamen gesellschaftlichen Veränderung ist scharf getroffen in dem vereitelten hilflosen Versuch Templones, die Zeit still stehen zu lassen. Wie sehen Wendezeiten und der mit ihnen verbundene Mentalitätswandel aus? Grass schildert die Zeit im Zweiten Weltkrieg, Berlin, die DDR und das wiedervereinte Deutschland. Walsers Geschichten verzeichnen eine historische Zeitspanne des Umbruchs, der Veränderung und des Neuen im zuweilen aufbewahrten Alten. „Es ist ja fast ein alltägliches Ereignis heute, daß sich Menschen zusammenscharen, auf die Straße gehen, um für oder gegen etwas zu demonstrieren.“ (95) Ein Journalist hält Eindrücke fest, glaubt nicht, man könne in ihnen „ein Gesetz“ entdecken, verbucht sie jedoch als beispielhafte Tatsachen. „Aber erschreckend war es, wie schnell den Autos das Halten gelang … Vor verfaulenden Gemüseläden versuchten Frauen, in Knäueln beieinander zu bleiben. Ein Gewirk Kinder trieb vorbei … Überall hörte ich Sätze rasch zur äußersten Gereiztheit gelangen, so daß ich mich schon fragte worauf treiben wir zu? “ (175) Todesanzeigen, besonders Selbstmorde, sind die wichtigen 127 7. Selbsterkenntnis: Bewusstsein des historischen Augenblicks Nachrichten; sie werden sorgfältig geschrieben und von Lesern gewürdigt. Der Journalist Litze bereichert den gegenwärtigen Augenblick mit Triumphen der Vergangenheit. Er ist der „Geschichtsschreiber“ der brandenden Zeit und erhängt sich schließlich atemlos an einem „vergoldeten“ Wäschedraht. Ein Fotograf fährt unter trübem Himmel aus Stuttgart durch Württemberg auf der Suche nach Madonnen in entlegenen Kirchen und hört im Radio, dass ein Krieg ausgebrochen sei. „Natürlich dachte ich sofort: An diesem Sonntag mußte ein Krieg ausbrechen. Nicht bloß des Himmels wegen. Auch meinetwegen“ („Eine unerhörte Gelegenheit“, 237). Alles betrifft ihn. Das Ich ist Ausgangspunkt und Endzweck seiner Orientierung. Sie lotet aus, was „mich betrifft“. Das ständig wiederholte Festhalten am Ich findet seine volle Bestätigung im Bündnis von Ich und Geschichte. Der Fotograf berichtet: Ich „tappte in finsteren Kirchen herum, warf Heiligen hilfesuchende Blicke zu, verfiel in ein endloses Kyrie eleison, erbat mir vom blauschwarzen Himmel einen Blitz, hörte endlich aus dem Radio, daß ich erhört worden war: in Korea war ein Krieg ausgebrochen.“ (244) Die Grunderfahrung des historischen Augenblicks im Ich wird durch Wiederkehr, Variation und Steigerung zum bestimmenden geistigen Orientierungspunkt. In „Erlebnis“ beglaubigt der Erzähler sein „ich“ ununterbrochen (19-mal, 268) und besteht darauf, dass er „von Ewigkeit bis Ewigkeit“ seine Zeit erkennt. Er ist überzeugt, alles Wahrgenommene (‚Sonne, Granaten, Bordelle, Federn, Beine, Perlen, Blut, Schwärze, Gestank‘) sei das „Motiv“ der Zeit. In einer anderen Kurzgeschichte wird das Ich wird zum „idealen Punkt“ jeder Erfahrung (271-274). Die Summe aller Medienstichwörter (‚Sinn, Glück, Sieg‘, „Triumph. Rache. Verantwortungslosigkeit. Guter Ausgang. Befriedigender Ausgang. Belohnung.“ 176) und Anklagen („Alle Vormacher, Gelungenheitsveranstalter, Feinsinnig‐ keitsproduzenten, Sensibilitätsprotze, Talentlumpen, Politlächler, Sinnlosig‐ keitsvirtuosen, Menschheitsbeleidiger, Einzigartigkeitsbehaupter … soll man totschlagen … Schluß mit der Bosse-Kultur. Zündet an. Sprengt die Darstel‐ lungsanstalten. Zerschlagt die Medienpaläste. Henkt die Clique aus Springer-SPD-Grunerjahrbertelsmann-Regierung-Opposition-plus-Spiegel-plus-Millionäre-plus-Bankiers-plu-plu-plus.“ 276-277) erfasst die Verunsicherung des Daseins in der Gegenwart und konkretisiert die Erfahrung des historischen Augenblicks. Die radikale Thematisierung der Notlage des Individuums gipfelt in der „Rede des vom Zuschauen erregten Gallistl vom Fernsehapparat herunter, daß es keine Wirklichkeit geben dürfe“ in Ausrufen, die seine Hilflosigkeit unterstreichen. Der Erzähler registriert jedoch sachlich den Ausbruch der Hilf‐ losigkeit, den vorübergehenden Triumph und die Resignation: „Dann löschte er das Licht und ging so leise als möglich ins Bett, um Marianne, die vor ihm 128 7. Selbsterkenntnis: Bewusstsein des historischen Augenblicks 11 Guntram Vesper. Nördlich der Liebe und südlich des Hasses. München: Hanser, 1979. 156. aufstehen mußte, nicht zu stören.“ (278) Das Netz der Beziehungen in den Geschichten vermittelt Einblicke in die Ambivalenz von Erfahrungen, die aus den unterschiedlichen Voraussetzungen eines „alltäglichen Lebens“ und eines kritisch-wertenden Bewusstseins beurteilt werden. Das Leben geht weiter, aber das historische Bewusstsein ist erwacht. Guntram Vesper nähert sich dem historischen Augenblick wie Grass durch eine Besichtigung des ganzen Jahrhunderts. In seinem Roman Nördlich der Liebe und südlich des Hasses (1979) ist die Stimme des Erzählers eindeutig die eines deutschen Autors, dessen gesamte Erfahrung, Selbstentwicklung und Bestim‐ mung der gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Konstellation der Besinnung auf seine Verbundenheit mit Deutschland entspringt. Ich, Sprache, Themen, geschilderte Ereignisse und Schicksale Einzelner in der Gegenwart und Vergangenheit sind untrennbar mit dem Land verknüpft. Der historische Augenblick erweitert sich durch diese Hinweise zur umfassenden Bestands‐ aufnahme. Die Darstellung erfasst ein Grundmuster übereinstimmender indi‐ vidueller und kollektiver Vorstellungen. Sie setzt ein mit einem Blick auf das Vor-sich-Hinleben im Alltag eines permanenten Umbruchs der Erneuerung von Wohn- und Arbeitsplätzen, Fortschritte in Technik und Medizin, oberfläch‐ liche menschliche Beziehungen, Liebesverlust, Geldmangel und Angst vor dem Altern und Tod. Der Erzähler lebt in diesem Augenblick: „Heute kann ich noch ultramontan schreiben und morgen schon nationalliberal … Heute liegen die Meinungen und Urteile in jedem Rinnstein …“ 11 Aber er erweitert seine Perspektive durch ständige Vergleiche mit der Vergangenheit und ein Komposi‐ tionsprinzip der wechselseitigen Erhellung mit einer Reihe von Erzählungen, die das Gerüst der ganzen Bestandsaufnahme befestigen und an Goethes Wilhelm Meister anschließen. Aus den ständigen Vergleichen entsteht ein Mosaik, in dem sich Gegenwart und Vergangenheit durchdringen und in dem das zentrale Anliegen menschlicher Hilfsbereitschaft und erfolgreicher Entwicklung alle beschriebenen Missstände in den Hintergrund drängt. Die kritische Selbstanalyse des Erzählers, Erinnerungen an seine Kindheit und sein Aufwachsen, Überlegungen zu seiner Beziehung zu anderen, und per‐ sönliche Ansichten über die gegenwärtigen Zustände in einem österreichischen Dorf bestimmen den Handlungsverlauf in Josef Winklers Muttersprache (1982). Das Buch ist nicht in Kapitel gegliedert. Es soll den Eindruck einer nahezu atemlosen Selbstanalyse erwecken. Winkler stellt dem Roman ein Zitat von Oscar Wilde voran, in dem der Dichter Christus beurteilt: „… auf eine Weise, die von der Welt noch nicht begriffen worden ist, betrachtet er Sünde und Leiden als 129 7. Selbsterkenntnis: Bewusstsein des historischen Augenblicks 12 Josef Winkler. Muttersprache. Roman. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch, 1984. 8. etwas an sich Schönes, Heiliges und als Varianten der Vollendung.“ 12 Die Leitmo‐ tive Ich / Puppe, Tod, Totenmaske und „Ans Kreuz mit ihm“ charakterisieren die Erfahrungen des Erzählers, der eine nahezu ekstatische Selbstverwirklichung im Kampf zwischen Gut und Böse, Andacht und Sünde findet. Primär ist eine nahezu rauschhafte Erfahrung seiner traumhaften, wirklichen, aber auch in Visionen erlebten Sünden. Unübersehbar sind seine Leiden. Rückblickend glaubt er, dass er bereits als kleines Kind zu einer Einheit mit seiner Puppe verschmolz. Das ständige Spielen mit der Puppe, das Verrenken ihrer Beine, Verdrehen des Kopfes, Reißen der Haare und früh, aber besonders während der Pubertät sexuelle Gesten einschließt, überzeugt den Erzähler, dass er selbst zum Spielball eines ablaufenden Geschehens geworden ist. Das Gedächtnis hält hauptsächlich Sünden („daß ich so eine Sau bin“ (22); „stehle Geld“; „urinierte ins Badewasser“ (86)) fest und konzentriert sich auf alles, was ihm angetan wurde. In der Kindheit wurden Wünsche nicht erfüllt. „Ich hätte damals meine Mutter am liebsten geschlagen, als sie auf meine Bitte, mir ein Kasperlbuch zu kaufen, sagte, Das wäre noch schöner, dafür haben wir kein Geld. Weinend lief ich zur Tür hinaus.“ (69) Der Erzähler wollte endlich anders sein. Er war ein „Findelkind … in einem Brustkörbchen schwimmend … im Schilf.“ (164) Der jüngere Bruder Michel wurde von allen Verwandten mehr geliebt. Er „wurde vom Opa bis auf das Totenbett hin gehätschelt und verehrt… Ich war Opas Bösling.“ (84) Er litt und hatte wiederholt einen Hautauschlag. „Während der Pubertätszeit heilte dieser Hautauschlag lange nicht. Ich versuchte ihn abzukratzen, bis ich blutete. Durch die Blutung entstand eine neuerliche Wunde, die länger nicht heilte als der bloße Eiterausschlag, der mir lange den Beinamen Das Krätzengesicht einbrachte.“ (130) Aber er avanciert zuletzt im Dorf zum Vertreter des Pfarrers und lebt sich wenn auch nur kurz in die Rolle des Bekehrten ein: „In den roten Ministrantenkleidern lief ich im Schneetreiben über den lotrechten Balken des Dorfkruzifix, die Hostien an die Brust haltend …“ (139) Der Erzähler fragt sich, ob er wirklich existiert. „Vor dem Spiegel mein Spiegelbild im Spiegel des Spiegelbildes im Spiegelkabinett sehen, bis ich wie ein Stein in den Wasserspiegel eintauche und in mir selbst verschwinde? “ (20) Er überlegt, ob er wirklich in der Muttersprache denkt und schreibt. „Ob ich jetzt durch Sprache die eigene Familie und das Dorf unterdrücke, wie ich körperlich und seelisch unterdrückt worden bin? “ (118) Ich verziere meine zehn Finger, „während ich schreibe.“ (34) Er hält Details fest, während der Pfarrer vom Selbstmord zweier Brüder berichtet. Er denkt immer wieder an 130 7. Selbsterkenntnis: Bewusstsein des historischen Augenblicks den Tod, erinnert sich an das Buch Abschied von den Eltern (1961) von Peter Weiss und dann fällt ihm auf, „daß ich gerade die Stellen, wo Weiss den Tod seiner Schwester beschreibt, angestrichen habe.“ (72) Seine Faszination für den Tod ist deutlich in wiederholten Erinnerungen an Begräbnisse und Besuchen von Gräbern und Friedhöfen. Die Leser hören, dass Kokoschka seine Puppe begraben hat, dass der Erzähler sich selbst im Sarg sieht, dass Dorfbewohner Heiligenbilder in die Gräber legen, oder dass Frauen den Sarg von Johannes Paul I. küssen. Die Todesbezauberung führt zu ständig wiederkehrenden Bemü‐ hungen, seinem Gesicht Totenmasken aufzusetzen. Er bindet sich die eigene Totenmaske, die seines Vaters und die von Else Lasker-Schüler an den Kopf. Er zieht sich Mädchenkleider an und denkt das Leben im Dorf. „Als ich in den Mädchenkleidern, die Hände auf dem Schoß, aus dem Fenster blickte, dachte ich an den Aichholzefriedl, er soll mich vergewaltigen, sonst vergewaltige ich ihn, denn ohne Gewalt gab es im Dorf keine Liebe.“ (120) Aber die Gedanken kehren zum Tod zurück. Der Gekreuzigte besucht das Dorf. „Die Herzen aller Toten im Dorf lagen auf einem Haufen hinter der Friedhofsmauer und pochten im Rhythmus, so daß man in diesem Augenblick im Dorf ein überlaut pochendes Herz hören konnte.“ (230) Der Gekreuzigte in der Erzählung wird eins mit dem Erzähler (38), steigt vom Kreuz und tötet einen Stier mit der Keule (60), „schreit mit der Stimme eines gezüchtigten Kindes“ (341) und ist immer in Sterbebüchern gegenwärtig und redet in Weihnachtslieder hinein. „‚Pilger sag, wohin dein Wollen mit dem Stabe in der Hand‘ ist ein Totenlied, das wir immer zu Weihnachten gesungen haben“ (356). Der Erzähler denkt an sein Ende. „Natürlich liegt es jetzt näher, daß ich mich mit einer schwarzen Nylonstrumpfhose an der Türklinke meines Zimmers aufhänge als in der Kirche mit einem Kalbstrick von Jesu Schulter springe.“ (373) Er wollte immer alles wegwerfen und vergessen. „Könnte ich nur meinen Kopf chirurgisch öffnen und alle Bilder, die sich unter meiner Kopfschwarte verbarrikadieren, herausnehmen, sie verheizen, so daß ich mich nicht mehr an Vater und Mutter, an meine Kindheit, an Hanspeter, an Jakob und Robert, die drei Gekreuzigten diese Dorfkruzifix erinnern kann, an nichts mehr möchte ich mich erinnern, alles wegwerfen, alles.“ (151) Aber der Wunsch zu schreiben, zu kommentieren siegt. „Er riß das Gipfelkreuzbuch aus seiner Verankerung, las die großzügigen Unterschriften, die Berg- und Heimatlandsprüche und schrieb ‚Ich danke Gott für die Fehler in seiner Schöpfung‘ hinein.“ (381) Diese Feststellung erfasst den Weg zur Selbstverwirklichung der Ich-Puppe. Ich lebe, ich sündige, ich bin. 131 7. Selbsterkenntnis: Bewusstsein des historischen Augenblicks 1 Vgl. dazu die eingehende Untersuchung von Horst S. & Ingrid Daemmrich. Spirals and Circles. A Key to Thematic Patterns in Classicism and Realism. 2 Bde. New York: Peter Lang, 1994. 2 Urs Widmer. Das Paradies des Vergessens. Erzählung. Zürich: Diogenes, 1990. 3 Wolfgang Bächler. Ausbrechen. Gedichte aus 30 Jahren. Frankfurt a. M.: Fischer, 1976. 8. Spiraltendenz, Horizonterweiterung Die Spiraltendenz in literarischen Werken ist das uneingeschränkte Gegenbild zur thematisierten Kreisbewegung, in der Figuren keine Möglichkeit sinnvoller Selbstverwirklichung finden. 1 Sowohl der Kreis und die mit ihm verknüpfte Einkreisung als auch die Spirale und die in ihr angedeutete Erweiterung sind einfache Formen. Die thematische Formung der Einkreisung versucht, die Unsicherheit und Unbestimmtheit der modernen Welterfahrung zu erfassen. Die Texte verfolgen Lebenswege, indem sie multiperspektivisch gebrochene Erinnerungsmuster entwerfen, von der Ortung der gegenwärtigen Situation zur Selbstanalyse übergehen oder durch Vergleiche zwischen Gegenwart und Ver‐ gangenheit die Situation der Hauptfigur objektivieren. Das Zusammenwirken von Individuellem und Gesellschaftlichem wird deutlich in der Konfrontation von typischen Situationen des aktuellen Geschehens mit Versuchen, einen Ausweg aus dem determinierten Dasein zu finden. Die thematisierte Spirale konzentriert sich auf den geistig-seelischen Prozess der Selbstfindung, der über eine Identitätskrise zu einer neuen Haltung zur Umwelt und einer höheren Stufe der Erkenntnis führt. Die Spirale führt aus dem begrenzten Dasein in die Höhe, in das Unendliche eines Horizonts, der sich ständig erweitert. Sie bietet den Figuren eine geistige Steigerung aller in ihnen schlummernden Anlagen und symbolisiert eine Bewegung auf ein Ziel zu, das sich ebenfalls bewegt, zeitlich verändert und in die Zukunft weist. Die Spiraltendenz war hochentwi‐ ckelt in der Aufklärung, der Goethezeit und im 19. Jahrhundert. Sie wurde im Naturalismus von der scharfen Kritik der sozialen Missstände verdrängt. Hermann Hesses Das Glasperlenspiel (1943) und Thomas Manns Joseph und seine Brüder (1933-1943) entwickeln Figuren, deren Selbstverwirklichung zu einer das Leben bejahenden Spiraltendenz führt. In der Gegenwartsliteratur lebt sie auf als ‚Zukunftsmärchen‘ und ist oft eng verbunden mit der Suche nach dem Gral und dem verlorenen Heil der Menschheit. Die Märchen sind nicht begrenzt auf die kindliche Fantasie eines alten Mannes, welche die Welt verklärt; 2 sie sondieren Neuland. Die Spiraltendenz gibt Windhühnern Richtung, ermöglicht das „Ausbrechen“ aus der Begrenzung von „Wortzäunen“, 3 4 Horst Bienek. „Lake Eyre“ in: Gleiwitzer Kindheit. Gedichte aus zwanzig Jahren. Mün‐ chen: Hanser, 1976. 5 Volker Braun. Gegen die symmetrische Welt. Gedichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1974. 6 Beatrix Brockman. und leg ich mich in eine nacht. Lyrik. Weiden: hs-Literaturverlag, 2003. 51. 7 Stefan Schütz. Medusa. Reinbek: Rowohlt, 1986. 44. 8 Vgl. Max Lüthi. Märchen. 2. Aufl. Stuttgart: Metzler, 1962. 1. Lüthi weist hin auf das spannungsvolle Verhältnis von Wert und Unwert, Dichtung und Lüge in dem Begriff. vertieft durch Lesen den Blick auf die erforschte-unerforschte Welt, 4 vermittelt in Brauns „An Friedrich Hölderlin“ das Verständnis eines Gedichts 5 und bejaht das Leben: „denn leben ist leben / ist leben.“ 6 Stefan Schütz konstatiert: „Nur in beiden entwickelt sich der Mensch, im Bösen wie im Guten, und wenn nicht das Bewußtsein sich dazu aufrafft, der Vollendung der Schrecken die Spirale einer höheren Entwicklung entgegen zu stellen, wird es sowieso ein Ende mit Schrecken …“ 7 Die spiralförmige Entwicklung eines Menschen, seines zunehmenden Be‐ wusstwerdens und sein Bekenntnis zur weiteren Entfaltung stehen im Schnitt‐ punkt der Handlung in Klaus Hoffers Bei den Bieresch (1983). In diesem Märchen für unsere Zeit, nicht ‚es war einmal‘, sondern ‚es wird einmal sein‘, reist der Erzähler Hans aus der Stadt in das rätselhafte Dorf Zick am Neusiedler See und fügt sich einem überlieferten Brauch, der vorschreibt, der nächste männliche Verwandte müsse auf ein Jahr das Leben und alle Aufgaben eines gerade Verstorbenen übernehmen. Er lebt sich in seine Rolle ein, lernt die anderen Nachfahren Verstorbener kennen, liest Literatur und Philosophie, hört „Erklärungen des Lebens“ und erfährt Leid und Verfehlungen. Sein Einleben wird zur ständigen Metamorphose, die jedoch den Weg zur Klärung weist. Eine Spirale ins Unbekannte. Klaus Hoffer bestätigt diese Interpretation und stellt in einem Brief vom 14.10.1996 an Horst S. Daemmrich fest: „Ihre Beobachtung bezüglich der ‚spiralförmigen Entwicklung‘ des Menschen in meinem Roman trifft punktgenau.“ Ein intensives Lesen von Silvio Blatters Avenue America (1992) kann zu der Ansicht führen, die Erzählung sei ein Märchen für unsere Zeit, ein Märchen, in dem eine „höhere Welt erscheint.“ 8 Diese Vorstellung wird verstärkt durch das Märchendetail eines fliegenden Teppichs, die Realisierung von Träumen und die Sublimierung fabelhafter Wünsche. Die Erzählung vermittelt eine stark ausgeprägte Deutung menschlicher Eigenschaften. Sie will eine klare Ansicht und ein wünschenswertes Ziel vermitteln. Entwicklung, Begegnung mit anderen, Altern und selbst der unvermeidbare Tod erscheinen im Licht der Lebensbejahung, Liebesbereitschaft und persönlichen Kontaktfähigkeit, die den Leser mit der Begrenzung im Dasein versöhnen. Das Dreigestirn im Leben der 134 8. Spiraltendenz, Horizonterweiterung 9 Silvio Blatter. Avenue America. Frankfurt a. M. & Leipzig: Insel, 1992. 106. Figuren: Träumen, Denken, vorbildlich Handeln, wird ersichtlich im Erzählen. Das Erzählen setzt „die Welt, wie sie ist (oder zu sein behauptet) außer Kraft und erfindet seine eigene nach seinem Geschmack.“ 9 Es kann Wünsche erfüllen, bezaubern, verführen, aber muss vieles auslassen. „Allein, was ein Junge (oder ein amerikanischer Fürst) in einer einzigen Minute alles sieht und denkt und spürt und riecht und hört, würde ein Buch füllen.“ (126) Nino, der Junge, der ständig trommelte, und ein alter Mann, der träumende Madox III., der sich als amerikanischer Fürst vorstellt, sind die Hauptfiguren in dem Roman. Ihre schicksalhafte Begegnung, ihre Abenteuer und ihre kleine Reise, die mittels des fliegenden Teppichs zur Weltbesichtigung führt, leiten das Nachdenken über den Sinn des Lebens ein. Der Junge, groß, stark, schwarzes Haar, hellgrüne Augen, nennt sich Blinky und ist ein Bild kraftvoller Jugend. Der alte Mann, klein, haarlos, federleicht, sieht nur noch, was er sehen will. Er trägt eine große Lederjacke mit siebzehn Taschen, aus denen er herauszieht, was er braucht. Die magischen Taschen enthalten jedoch nichts Gefährliches. Er weiß, dass er am Lebensende steht, aber hat auf den Jungen gewartet, denn die Begegnung war vorherbestimmt. Beide setzen sich in Bewegung zum Meer, zum Urgrund des Lebens: Ihre „Gedankenwelt war hell und warm.“ (13) Auf dem Weg träumen die beiden, denken über Vergangenheit und Zukunft nach, befürchten Bevorstehendes, erinnern sich an die Kindheit, grübeln nach über das Altern, verspüren Angst. Madox will einem Altersheim entkommen, in dem jeder in Einzelhaft lebt, und stellt sich vor, dass er dem Tod, ein „stählerner Pilot“, der „einen roten Ferrari fährt“ (18), entrinnen kann. Sie stehen plötzlich einem Löwen gegenüber und bestehen die Prüfung. Madox will sich sofort für Blinky opfern: Friss mich, aber schone den Jungen. (36) Nachdem sie im Unrat einer verlassenen Tankstelle den alten Teppich finden, besteigen sie ihn und folgen dem Gesetz des fliegenden Teppichs: Sie müssen schweigen oder stürzen ab. (60) Sie besichtigen das humoristisch, ironisch geschilderte Land der Maschinen, Computer, Kassetten, der ständigen Termine und der Einteilung aller Bewohner in aktive Jugendliche und versorgter, alter Personen. Madox überlistet das Schweigegebot, indem er erzählend-schreibend seine Gedanken-Beobachtungen festhält. Sie treffen einen Zirkusdirektor; Blinky verliebt sich in dessen Tochter und wird zusammen mit dem Löwen die Hauptattraktion im Zirkus. Und Madox erkennt die Macht des Erzählens: „noch nie ist ein Erzähler vor dem Ende seiner eigenen Geschichte gestorben.“ (136) Eine weiterer Teppichflug führt zum Paradies, das leider nicht dem Ideal ent‐ spricht. Sie landen schließlich auf einer Insel, die menschliche Wünsche in sich 135 8. Spiraltendenz, Horizonterweiterung aufnimmt. Sie besteht aus drei Regionen: die mittlere, bewohnte und kleinste gehört den Lebenden; die zweite, etwas größere ist das Totenreich; die dritte und größte ist das Land der noch nicht geborenen zukünftigen Teppichfahrer. Die Dynamik der Insel - Ruhe und Unruhe, Gewissheit und Ungewissheit, Realität und Traum - entwickelt eine Spiraltendenz, die mit der Überzeugung des Lebens als „Kostbarkeit“ (216) und der Neubelebung klassischer Denkformen einsetzt und in der märchenhaften Wunschvorstellung einer harmonischen Welt in die Zukunft weist. Handkes ‚Zukunftsmärchen‘ entwickeln die Spiraltendenz im Rahmen einer allumfassenden Suche. Sie schließt ein: das Ich in der Zeit, Ortung zwischen‐ menschlicher Beziehungen, Verständnis der Natur, Erkundung der Vergangen‐ heit, Belebung der kulturellen Tradition und Zielsetzung einer denkbaren Neuordnung der Gesellschaft. Die Spirale ist richtungsweisend im vertieften Verständnis der Sinndeutung des Daseins. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftsvorstellungen kommen zu Wort in Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten (1994) und in dem Roman In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus (1997). Der Erzähler in Mein Jahr beobachtet und untersucht alle, auch scheinbar geringfügige Einzelheiten in der Natur an einem kleinen Weiher, die ihn nicht nur zum Rückblick auf sein Leben und die Vergangenheit anregen, sondern auch vorausahnend zu Überlegungen führen, in denen sein bevorstehender Geburtstag und die Zukunft zu Wort kommen. In seinen Gedankenflügen erweitert sich der Alltag zur Geschichte und schließlich zu einer möglichen Menschheitsgeschichte. Die Handlung beginnt und verfolgt bis zum Ende die Voraussetzung, Verpflichtung und Zielsetzung des Erzählens. Sie vermittelt das Gefühl des Aufbruchs in ein neues, gleichwohl traditionelles Darstellungsverfahren, das aus der verwirrenden Vielfalt der Erscheinungen im Dasein die Totalität formgebender Kräfte erfasst und exemplarisch gestaltet. Diese Aufgabe bedingt die Figurenkonzeption eines entwicklungsfähigen Men‐ schen und Erzählungen, in denen der Erzähler objektiv wirkt und die keine unmittelbaren Antworten auf gesellschaftliche und politische Verhältnisse aufweisen. Deutlich ersichtlich ist jedoch, dass Handkes Ortung mit einer unausgesprochenen Feststellung einsetzt: Die menschlichen Beziehungen heute vergegenwärtigen den Verlust individueller Entscheidungsfreiheit in der histo‐ risch bedingten Sphäre zunehmender Verdinglichung und Standardisierung von Beziehungen. Nicht die gesellschaftskritische Verpflichtung, sondern die Suche nach dem verlorenen Heil in der Geschichte der Menschheit, erweitert zur Suche nach höchstmöglicher Erkenntnis bisher nur erahnbarer Selbstverwirklichung, biete die Voraussetzung für eine sinnvolle, humane Neuorientierung. 136 8. Spiraltendenz, Horizonterweiterung 10 Peter Handke. Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1994. 890. Das grundlegende Formprinzip in Mein Jahr ist die kunstvoll ausgearbeitete Polarität von Beobachtung des Kleinsten und Suche nach dem Gral, dem Orientierungspunkt in der Sinndeutung des Daseins. Die Erzählung setzt ein mit dem Versuch, einen Dialog mit der Natur herzustellen, und geht dazu über, das Fassbare in symbolisch vertieften Bildern und Visionen zu erweitern. Der Beobachter sitzt auf einem alten Baumstumpf, betrachtet Blätter, Pilze, Kröten, wilde Bienen, spürt den Regen auf seiner Haut und nimmt das or‐ ganisch Wachsende war. Mit deutlich erkennbaren Rückgriffen auf Goethes naturwissenschaftliche Schriften und Beobachtungen verwandelt der Erzähler sich selbst und die Natur, die ihrerseits zu unerwarteten Fragen anregt. Er spricht mit einem Steinpilz, fragt „Ja, wo kommst du denn jetzt her? “, 10 lauscht auf das Wildbienengetöse im Felsblock, hört das Singen der Vögel und denkt an Abenteuer. Jedes Sehen geht über in sorgfältiges Betrachten, dieses führt zu neuen Fragen, die zum Nachdenken und Neubeginn anregen. Das Nachdenken schließt die Vergangenheit und Zukunft ein. Es erfasst Eindrücke aus der Kindheit, Österreich, Deutschland, Europa und Amerika. In dem dynamischen Prozess nehmen ‚Anderssuchende‘ Gestalt an und fordern durch ihre Gegenwart die Kritik des eigenen Denkens. Diese Erweiterung verleiht der kleinen Welt die Symbolkraft des großen Weltgeschehens (709-710). Die Überlegungen veranlassen kritische Auseinandersetzungen mit der Be‐ rufung eines Schriftstellers und der Bestimmung der erzählten Geschichte. Sie soll die Suche nach einer heilen Welt, einer Welt ohne Katastrophen schildern. Handke verallgemeinert die Suche. Sie soll alle, Leser, Leserinnen, Freunde, Bekannte, Fremde einschließen und vom Zwang der Umgebung und den Ansprüchen der Gesellschaft befreien. Sie verwandelt das Kind in Hermes, vom Ich zum Wir, vom Stillstand zur Entwicklung. Sie sieht in der Niemandsbucht den Urgrund des Lebens (822 ff.) und führt aus diesem zu einer Neuorientierung im Dasein. Sie führt in der dynamischen Wechselwirkung von Beobachtung, Erfahrung und Visionen des Möglichen aus einer Vielfalt von Bildern zu einem allumfassenden Gesamtbild der entwicklungs- und verwandlungsfähigen, der befreiten Menschheit (927 ff.), die ins nur Ahnbare nach oben strebt. Handkes Roman In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus (1997) wurde als Abenteuer- und Liebesgeschichte gelobt, aber auch als „heillos wirre Heilsbeschwörung“ kritisiert: „Das Merkwürdige, Staunenswerte an diesem Buch ist nicht die Komposition, die hier Rittersleut’ und Western-‚Desperados‘, Bürgerkrieg und Naturlyrik zusammenfügt, sondern allenfalls die Konfusion, 137 8. Spiraltendenz, Horizonterweiterung 11 Wolfgang Höbel. „Die Weisheiten des Konfusius.“ Der Spiegel 17 (1997), 213. 12 Das Epos des Löwenritters wurde im deutschsprachigen Raum durch Hartmanns von Aue Iwein (ca. 1200) bekannt. 13 Peter Handke. In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2019. 21. 14 Die Säftelehre und der Anbau von Nutz- und Heilpflanzen in Klöstern werden noch von Hildegard von Bingen im 12. Jahrhundert in ihren Texten der Heilkunde (Causae et curae und Physica) betont. Sie führt außerdem Pflanzen aus der Volksheilkunde auf und übernimmt aus dieser Tradition zahlreiche Rezepte. Vgl. dazu auch Peter Handke. Versuch über den Pilznarren. Berlin: Suhrkamp, 2013. mit der das geschieht.“ 11 Der Ansatzpunkt für die widerspruchsvollen Urteile ist eine zielbewusste und im Text ausgearbeitet Verknüpfung gegensätzlicher und möglicherweise auch unvereinbarer Elemente: Wirklichkeit - Gegenwart / Mittelalter; Realität / Traumvisionen; Dreieck / Linie; Kreis / offener Horizont; Erzähler-Ich / Figur, die alles niederschreibt; Frau - Geliebte / Frau, die den Erzähler verprügelt; schwarz / grelles Licht; Kainsmal - Töten / allen helfen; Rabe / Adler; sprechen / verstummen; mittelalterliche Ritter- und Zauberepen / Flugzeuge und rasende Autos; schwarzes Loch / Durchbruch zum Licht. Die Erzählung will alles „in der Schwebe lassen“ steuert aber auf eine Lösung zu, die eine Neuorientierung im Leben und Neuordnung der Gesellschaft anstrebt. Deutlich verständlich sind Handkes Anspielungen auf Chrétien de Troyes’ altfranzösische Verserzählung Yvain (1180-1190), 12 seine eigenen Werke und die Medizin des Mittelalters. Verschleiert bis zum Durchbruch ins Neuland bleibt die Spiraltendenz der Erzählung. Alle Ereignisse, Erfahrungen und Abenteuer betreffen den Apotheker der Adler-Apotheke in Taxham. Alle Rückblicke, Überlegungen, Auslegungen des Mittelalters, Visionen und Entschlüsse zu handeln, gehen von ihm aus. Er er‐ zählt seine Geschichte dem Schriftführer-Berichterstatter-Kommentator. Seine Arbeit als Apotheker fußt auf dem Grundsatz, allen Kranken zu helfen. „Das konnte geschehen, und geschah vor allem, indem er ihnen Medikamente strich, statt welche hinzuzufügen oder durch andre zu ersetzen - nicht alle auf der Rezeptliste, doch das eine und das andere.“ 13 „Und tatsächlich gab es in dem Ort nicht wenige, denen er so helfen konnte“. (21) Für sein eigenes Wohlergehen isst er Pilze, die er selbst sucht und zubereitet, die ihm auch im Gasthof vom Wirt serviert werden. Seine Pilzleidenschaft ist unverkennbar. Er liest nicht nur in einem Buch über das Mittelalter, sondern sucht Orientierung in einer Schrift über die Medizin des Mittelalters, denn er betont mehrmals nachdrücklich, dass die Säfte der Pilze die Gesundheit und das Wohlbefinden erhöhen. 14 Er ist weithin als ‚Pilzkundiger‘ bekannt. Im Gegensatz zu anderen Apothekern, die zwar zu Beginn des Sommers Schautafeln mit genießbaren und giftigen Pilzen 138 8. Spiraltendenz, Horizonterweiterung in ihre Auslagen stellen, aber keine Pilze kennen, wusste der Apotheker von Taxham „auf den ersten Blick, … was man ihm da angebracht hatte (manche kaum unterscheidbaren Arten erkannte er allein an den jeweils verschieden‐ artigen Würmern, Schnecken, Ohrenschleichern, Spinnen auf und in ihnen).“ (39) Seine Leidenschaft veranlasst ihn besonders im Herbst, das ganze Haus und selbst den Garten mit Pilzen, diesen „Naturgaben“, diesen „Herrlichkeiten“, zu füllen. Sie „leuchteten und rochen … erkennbar unter den Sträuchern und aus den Baumlöchern heraus, am ärgsten, wie ein Hundekadaver, die Stinkmor‐ chel, die in jungem Zustand, taubeneigroß, eine noch nirgends beschriebene Delikatesse ist, roh-geschnitten, zum Beispiel mit Salz und Olivenöl! “ (40-41) Er zwingt seine Frau, mit ihm Pilze zu essen, und fragt sich auch, ob diese Besessenheit verantwortlich für ihre Trennung sei. Er versucht, ein Pilzbuch zu schreiben, in dem er nicht nur alle ihm allein bekannten essbaren Pilze, sondern auch „traumerweiternde“ Traumpilze aufführen kann. Pilze gehören zu den Medikamenten, die er für eine bevorstehende „Notzeit“ herstellt. Das alltägliche Leben des Apothekers scheint begrenzt auf das übliche Verhalten von Personen, die sich mit dem So-Sein abgefunden haben: Frau, die allein sein will; eine Freundin, die er scheinbar kurzfristig liebt; einen Sohn, den er „verstoßen“ hat; eine Tochter, die er zuweilen sieht; Arbeit in der Apotheke, Essen im Gasthof in der Nähe des Flughafens. Zu Mittag geht er durch einen von der Zivilisation verdreckten Wald („selbst die Bäume, bis hinauf in die Kronen, waren bestückt mit Papier und Plastik“ (44)) in ein Wäldchen, das von einem Wassergraben umgeben, ursprünglich, unberührt, geheimnisvoll und verschlossen innerhalb des bekannten Waldes liegt. Hier isst er und liest „wie üblich im Sommer eines der mittelalterlichen Ritter- und Zauberepen.“ (47) Hier schließt er die Augen und sieht „ganze unterirdische Heerscharen, grau in grau, aber auf dem Sprung, Farbe zu bekennen … gesattelt … hier unter der Sommer Ebene.“ (48) Er macht diese Erfahrung des ‚Draußenstehens‘ zuweilen allein, zuweilen von stummen Waldarbeitern umgeben. Die sommerliche Flucht ins Zauberland bleibt so kurzfristig wie seine Visionen von Festumzügen, Priestern, Kruzifixen, Schachspielen mit sich selbst, Flug im Zeppelin, die Begegnung mit dem spanischen Ministerpräsidenten und auch einer amerikani‐ schen Filmschauspielerin. Zurückgekehrt in die Zivilisation, akzeptiert er seine Kontaktlosigkeit: „‚Wenn ich mir ein Sitten- oder Lebensgesetz geben könnte‘, sagte er, ‚dann das: Verhalte dich so, daß deine gerade abwesenden Angehörigen - Angehörige im weitesten Sinn -, guter Dinge irgendwo, ohne dich, immerzu so in der Ferne bleiben können, ungestört! “ (35) Die Erzählung betont, dass er völlig eingekreist ist. Er lebt in einem Dreieck - Haus, Apotheke, Flughafen - „Fernzuggleisen, Autobahn und Flugfeld“ -, in dem alle Straßen im Kreis 139 8. Spiraltendenz, Horizonterweiterung führen. Der Ort ist von zwei Sperrgürteln umgeben, einem äußeren von uner‐ reichbaren Straßen und einem inneren Kreis von angepflanzten „baumhohen, dichtverzahnten Hartholzhecken“. (12-13) Der Mittelpunkt der Enklave für Kriegsflüchtlinge, Vertriebene, ‚Aussiedler‘ und Ansiedler ist die Apotheke ‚Zum Adler‘, das Gemeindezentrum, das einmal als Kiosk und auch wiederholt als Bunker charakterisiert wird. Alle kennen den Apotheker in seiner Apotheke. Sobald er sie verlässt, ist er unbekannt, namenlos. Er will hinaus, will „die Fortsetzung“ seiner Geschichte. Er muss etwas tun, „nicht unbedingt Tiefseetauchen oder Auf-den-Himalaya-Steigen“ (67), sondern auf die Suche gehen. Diese Suche bedingt die Lossagung von seiner Welt und seinen Vorstellungen von der Vergangenheit, der herrlichsten Auen der Welt, wo „man gewiß sein konnte, der jeweilige Held werde da gleich auf ein Schreckensbild stoßen, einen blutenden Ritter auf einer Bahre, mit abgeschlagenen Beinen und nur noch halbem Kopf, oder auf eine Jungfrau mit den Zöpfen in einen Baum gehängt.“ (72) Die Suche, eine Fahrt ins Unbekannte, auf der er sich bewähren muss, beginnt nach einer Begegnung mit einem Raben, aus dessen ganzer Botschaft nur ein Satz erwähnt wird: „‚Ab heute, bis zum Ende der Geschichte, keine Zeitung mehr.‘ (Der Rabe.) Und in der Tat war ja die Zeit, da diese Geschichte spielt, nicht Zeitungszeit.“ (75) Dieser Rabe, der ihn auch an der Stirn verletzt, erscheint bis zum Ende der Abenteuer am Himmel. Der Apotheker fährt in den Wald, steigt bei ständig zunehmendem Regen aus, erhält einen Schlag oder mehrere Schläge auf die Stirn, erinnert sich deutlich: „Der Schlag im Finstern hatte den letzten Apotheker- und Laborgeruch aus mir herausgeklopft … Blutstropfen auf dem Laubboden … Mit dem Schlag war ein Geruch verbunden gewesen, ein Duft, oder am ehesten etwas wie eine Würze.“ (82) Und plötzlich merkt er, dass er die Sprache verloren hat. (86) Abends in der Wirtschaft begegnet er einem prominenten Sportler-Weltmeister und einem berühmten Dichter, Flüchtling und Ausländer, der alles in deutscher Sprache geschrieben hat. Die beiden begleiten den Stummen, den sie als seit langem Bekannten erkennen, auf der abenteuerlichen Fahrt und Suche nach Santa Fe. Der Grundstruktur der Erzählung entsprechend ist diese Stadt die Metropole des ‚Heiligen Glaubens‘, nicht eine Großstadt in Spanien oder Amerika. Die Fahrt führt aus dem vertrauten Dreieck in ein neues, größeres. Sie fahren durch einen Tunnel. Der Slalomchampion setzt sich neben den Apotheker, erinnert ihn daran, dass er ihn schon lange kennt: Er habe ihm bei einem „Unfall in den Rocky Mountains Erste Hilfe geleistet“ und sei sogleich verschwunden (95), später habe er ihn wiedergesehen, beim Schwimmen in Schwarzen Meer „ganz weit draußen“, wo niemand sonst schwimmen kann. Der Dichter redet vom Rücksitz auf ihn ein. Der Verstummte hört zu, antwortet nicht, aber stellt 140 8. Spiraltendenz, Horizonterweiterung fest, dass alle drei frei waren und besonders: „Die beiden Mitfahrer waren offensichtlich ohne jede Verpflichtung, und das bis an ihre fernes oder nahes Lebensende.“ (97) Die drei erkunden die Welt, durchqueren Alpenpässe von Blitz und Donner begleitet, über die Grenze, und kommen in der Einöde zum hell erleuchteten Haus einer Frau, der ‚Siegerin‘, deren Mann am Vortag begraben wurde und die mit Windeseile alles ausräumt, was an ihn erinnern kann. Sie bekommen Zimmer im Nebenhaus, und in der Nacht verprügelt die Frau den Apotheker „mit solcher Wucht, daß er zuletzt aus seinem schmalen Bett fiel.“ (105) Diese Medusa-Figur blickt ihn nicht an, schaut über ihn hinweg, er versteinert nicht, sondern schläft sofort tief ein. Die Frau ist die Hüterin von zwei Wasserscheidenquellen, deren Wasser das Schwarze Meer und das Mittelmeer bewahrt. Die drei stehen verständnislos an der Quelle des Lebens und setzen ihre Suche fort. ‚Er allein‘ erblickt kurz die Frau „oben auf einem Felssporn“, glaubt, er bewege sich in einer nicht vorhersehbaren Zeit in akuter Lebensgefahr, und erkennt schließlich, er lebe in einem ‚Geschehen‘, einer undeutbaren ‚Sphäre‘. Sie symbolisiert ein Schwarzes Loch, dessen Masse auf ein extrem kleines Volumen, eine sogenannte Singularität, konzentriert ist. Das Loch erzeugt eine so starke Gravitation, dass nicht einmal Licht entkommen kann. In dieser Sphäre, in der Zeit, da die Geschichte spielt, gehen alle Straßen „im Kreisverkehr vor sich, und zwar auf dem ganzen Kontinent.“ (119) Man verliert die Richtung, ist ermüdet von dem Karussellfahren und glaubt, am Ende der Fahrt sei man wieder am Ausgangspunkt gelandet. Um die Fahrt zu erleichtern, haben Techniker Tunnel gebaut, die jedoch das Gefühl der Einkreisung nicht beseitigten. „Solche Untertunnelung des Erdteils trug dazu bei, daß jedes langandauernde Unterwegssein zuletzt etwas von einer Geisterbahnfahrt hatte, bei der der Ausstieg gleich neben dem Einstieg zu liegen schien.“ (121) Das Wagnis, aus dem Tunnel und der Begrenzung auszubrechen, erzeugt ein neues Bewusstsein: das eines Abenteuers „Gegen das Gesetz? Gegen den Lauf der Welt? “ (123) Sie sehen einen Ausgang, brechen aus dem Tunnel, steuern ins Licht, niemand folgt, niemand kommt ihnen entgegen, und sie durchqueren die gesamte historisch erwähnte und gegenwärtig existierende Welt. Das Dreieck wird linear. Sie finden eine Stadt: „in der Unterwie in der Oberstadt, zeigten sich Festorte.“ (141) Die Einwohner sprechen in ‚sämtlichen Sprachen‘ der Welt. Sie sind in der Nachtwindstadt, in Santa Fe, aber noch immer auf dem Weg. Deutlich ist „die Tatsache, daß sie sich zusammen unterwegs in einer Geschichte wußten“ (144) und dass die Straße ins Unbekannte übergehen würde. Sie verlieren das Zeitgefühl, sind in der Zeit ‚verirrt‘, finden eine ‚Weltheimat‘, in der Ausschnitte aus der Geschichte und Gegenwart vorüberrollen: Troja, Jerusalem, 141 8. Spiraltendenz, Horizonterweiterung Byzanz, Venedig, Boston, Stromzähler, vertrocknete Steppen, Priester, Kirche, die Skulptur von Jesus, Leprakranke, wahnsinnige Tänzer, eine Tribüne mit mittelalterlichem Hofstaat, gesellschaftliche Missstände: „auf Mann und Frau wartet heute von Anfang an der Haß“ (160-161) und eine unwahrscheinliche Begegnung des Apothekers mit seinem Sohn. „Das sind Festtage. So ist es, sagte der Apotheker.“ Die Suche geht weiter, führt in ein Steppenland, wo die drei Forscher als Lokalarbeiter angestellt werden. Sie passen sich an und leben nochmals in einer Jetztzeit. „Und schon nach ein paar Tagen waren sie von den mehr oder weniger zünftigen Arbeitern in der Stadt kaum zu unterscheiden. Die Haare fast unkämmbar geworden. Schleifende Schritte. Hängende Hosenböden. Ungeniert lauthalses Reden …“ (183) Sie müssen „hinaus aus dem Kreis oder Dreieck.“ Dichter und Sportler werden innerhalb einiger Tage uralt und sind fast zahnlos. Die Stirn des Apothekers blutet erneut. Er sucht wieder Pilze, aber die Jahreszeiten verschwimmen: Frühling und Herbst, Sommer und Winter sind im gleichen Augenblick gegenwärtig. Und endlich / plötzlich, dem Leser kaum erkennbar, befindet sich der Apotheker im Evangelium des Matthäus und in Kafkas Prozeß. Eine Tür, dahinter Tür nach Tür. Soll er klopfen? Wird sie aufgetan? Vielleicht stehen da entsetzlich große Türhüter. Die Erfahrung des Apothekers wird vom Geist der Erzählung, dem Über-Ich des Beobachters beschrieben. „Zwar gab es eine Tür … sogar mehrere Türen. Aber diese standen, nein, lehnten eine hinter der andern, und schöbe oder höbe man eine weg - das war die einzige Möglichkeit des Öffnens -, käme gleich die nächste dran, undsofort, bis man am Ende des Türwegschiebens eben, statt in einem Innenraum, wieder draußen im Freien wäre.“ (210) Er zögert. Die Überlegung versetzt ihn nochmals in die zu erzählende Geschichte. Er hört Schreie, erblickt wilde Burschen, die den Dichter und Sportshelden überfallen und töten wollen, und kann wieder sprechen: „Das durfte nicht sein! Nein! “ (222) Er findet den geraden zielgerechten Weg, rettet die Angegriffenen, „rannte den Burschen … einfach nieder, und der andere fiel gegen die Arenenmauer und stand nicht mehr auf.“ (222) Er hilft anderen. Und er geht „energisch weg von der Menschenwelt. Energisch ging er hinaus in die Steppe.“ (228) Der Adler fliegt über ihn. Er wird frei. Er gerät an die Grenzen der Welt, indem er in der Erzählung-Dichtung aufgeht. „Innen und Außen durchdrangen einander, wurden eins am anderen, ganz. Und so war man am Platz. Entdecke‐ risch wirkte ein derartiges Erzählen, schuf Übergänge, brachte zum Aufschauen, auch im Sinne einer Aufschau, Vogelschau, Adlerschau.“ (246) Er kehrt in die Welt zurück, beseitigt im ‚Vorbeilaufen‘ zwei Motorradfahrer, die nicht in die Geschichte gehören, erkennt, dass Liebe möglich ist, und versteht die Pflicht des 142 8. Spiraltendenz, Horizonterweiterung 15 Adolf Muschg. Der Rote Ritter. Eine Geschichte von Parzivâl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1993. 204. Tages: Er kann und muss den Patienten helfen. (297 ff.; 311) Er kann sich auch immer weiter in seiner Geschichte, in der Literatur entwickeln: Verwandle den Raben in einen Adler. „‚Schrei und brüll nur, du Rabe … Ich weiß doch, daß du auch anders kannst.‘“ (316) Leser und Leserinnen, die mit den altfranzösischen Werken von Chrétien de Troyes Perceval und Yvain ou Le Chevalier au Lion (1180-1190) oder dem mit‐ telhochdeutschen Parzival (1200-1210) von Wolfram von Eschenbach vertraut sind, werden sich wahrscheinlich in der Flut der Namen und detailreichen Schilderungen von Bekleidung, Lebenskreisen, Sitten und Natur in Muschgs 1006 Seiten langer Erzählung Der Rote Ritter. Eine Geschichte von Parzivâl (1993) zurechtfinden. Allen anderen, die von einer Artus-Legende für unsere Zeit unterhalten werden wollen, hilft das eingehende Register der Hauptpersonen und Schauplätze am Ende der Fabel. Der Eindruck, die Geschichte sei eine Nacherzählung mittelalterlicher Epen, ist jedoch irreführend, denn Muschg schließt zwar an die historische Überlieferung an, spielt jedoch mit ihr und macht ausgesprochen kritische Feststellungen. Als beispielsweise Sigûne das Lesen lernt, was bereits ungewöhnlich ist, da viele der edlen Ritter in der Erzählung weder lesen noch schreiben können, bemerkt der Erzähler: „Und so studierte man das Ritter- und Damengefabel in gemeinsamen Lesestunden, kostete von der sogenannten Spannung und beherrschte seine Ungeduld.“ 15 Muschg benutzt die Romanform des kontinuierlichen Erzählens und schildert das Leben der Figuren in einer erkennbaren Zeitspanne. Die Sprache belebt Elemente des Fränkischen und Mittelhochdeutschen und ist ausgeprägt realis‐ tisch wirklichkeitsbezogen. Die Beschreibungen ermöglichen heutigen Lesern nicht nur ein Verständnis der historischen Grundlage, sondern vermitteln die Empfindung des Miterlebens. Im Kapitel „Die Magd“ berichtet der Erzähler, wie Sigûne am Morgen fröstelnd im Turm erwacht und den neuen Tag beginnt. „Ein fader Hauch stieg an ihren nackten Beinen empor, die sie rasch wieder bedeckte. Das Geschirr in der einen, die Kerze in der anderen Hand, klapperte sie die Wendeltreppe hinab in den Vorraum, wo das Waschwasser gefroren im Krug stand. Das Weidengitter, mit dem sie Brot, Salz und Milch vom Vortag zugedeckt hatte, war durchgebissen, die Mäuse hatten nur noch Krumen übriggelassen. Die Milch würde Sigûne später im Ofenloch auftauen. Erst mußte der Ofen wieder warm werden.“ (211) Die Einzelheiten sind überwältigend und veranschaulichen das Vergnügen Muschgs am Geschichtenerzählen. Sie dokumentieren höfische Sitten, hohe 143 8. Spiraltendenz, Horizonterweiterung keusche Minne, ‚unverhohlene Frauenlust‘ in einem Gedicht der Königin Frank‐ reichs (79), ein Brief-Gedicht, das die ‚Unschuld des Herzens‘ feiert (779), einen ‚albernen und empörenden‘ Abschiedsbrief Gahmurets an seine erste Frau, die Mohrenkönigin Belakâne, der von seinem Pfaffen geschrieben wurde, da Gahmuret selbst nicht schreiben kann (180-181, 183), und einen ins Gigantische gesteigerter Abriss der Geburt Parzivâls. Herzeloyde redet keuchend. „Von einem Drachen sprach sie, den sie gebären wollte, auf daß die Welt von ihm erlöst würde, und von seiner minniglichen Zunge, die ihr das Herz aus der Brust reiße … Und jetzt sah man ihn tanzen, den Dämon. Er hüpfte und tobte unter der zum Reißen gespannten Bauchhaut, während er zugleich heulte, lachte, rülpste und pfiff aus Frau Herzeloydes Lefzen.“ (246-247) Die Beschreibungen erfassen unter anderemerz aus der BriH ein Turnier, dessen Konvention und ihre Missachtung, die zu offenen Kampfhandlungen führt, die Elster sowohl als Götterbote als auch als Vogel der Todesgöttin, einen Galgenvogel wie den Raben, Wachteln und gebratene Tauben, ein Frühstück und ein Hochzeitsfest in kleinsten Einzelheiten das Mahls, eine eingehende Illustration einer Szene, in der Parzivâl in der Burg von Gurnemanz gebadet wird (363 ff.), die Armut vieler Ritter und die gesellschaftlichen und religiösen Bedingungen, die zugleich als Kommentar gegenwärtiger Zustände dienen. Der Erzähler weist mehrmals auf die allmähliche, langatmige Entwicklung der Fabel hin, die es geradezu verlangt, die Details aufzuzählen und auch zu wiederholen. „Es gab heißen Braten, Darmwurst, Hammel und Magen, Kragen und Kröse, Hirn und Schlegel, Haupt und Waden, Bug und Grieben. Fisch gab es nicht. Dies war jedoch kein Fastenmahl! Dafür gab es kleingeschnittenen Kohl und reifen Käse; für jeden eine Gans am Spieß. Und zweierlei Huhn, gekochtes und gebratenes.“ (117) Die zahlreichen ähnlichen eingehenden Schilderungen unterliegen jedoch dem Prinzip, formgebende Kräfte zu erfassen und exemplarisch zu gestalten. „Denn es ist kein Ende der Einzelheiten, denen die Geschichte, wenn sie endgültig aufhörte Fabel zu sein, gerecht werden müßte.“ (570) Außerdem manövriert Muschg seine Leser in einzelnen Kapiteln wie „Die Fibel“ in die Zwangslage, eine gesamte Weltgeschichte in abstrahierten Begriffen und Ab‐ kürzungen zu beurteilen. Die in der Erzählung systematisch entwickelte Dar‐ stellung menschlicher Entwicklungsmöglichkeiten betont, dass die Wirklichkeit nicht nur widerspruchsvoll und wandelbar ist, sondern auch Nichtfassbares enthält. Der Erzähler (wir, die alles wissende Fabel) arbeitet in den Text die ‚Agenten‘ der Geschichte als Pekadî, Kadipê und Dipekâ (3 Eier: Sprechen, Hören, Sehen; Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft) ein. Die Literatur, diese Fabel, soll sinnlich und geistig erfahrbar sein. „Jemand muß diese Fabel doch erzählen. Dazu ist etwas höhere Gewalt unerläßlich, gehobene Mitwisserschaft, 144 8. Spiraltendenz, Horizonterweiterung eine vorwaltende Intelligenz.“ (104) Die Fabel kann einen Augenblick festhalten, um das ritterliche Dasein zu erläutern. „Wir aber tun Uns und Frau Herzeloyde - sie mag zusehen oder nicht - den Dienst, die Herren in voller Karriere einzufrieren, zum Zweck ritterlicher Betrachtung. Das können Wir …“ (32) Die Fabel kann im bereits geschriebenen Rückblick wieder ins Leben der neuen Fabel eingreifen. Sigûne informiert ihre Tante: „So reden die Romane, die ich vorlesen muß, und ich gebe mir Mühe, das Gelernte anzuwenden.“ (42) Der Erzähler ironisiert selbst die Erzählschwelgerei: „Dabei ist nicht etwa das Blutige oder Grausame das Schlimmste, sondern die Langsamkeit! - die unerträglichen Umtriebe und Umschweife.“ (111) Trotzdem hat die Fabel ein Ziel - „den Zusammenhang von Allem mit Allem“, das sie „vielleicht nicht erreichen kann“ (108), aber den Weg kann sie weisen. Und diese höchste Erzählinstanz des ‚Alleswissens‘, die nur „das Mögliche“ schildert, bewirkt am Ende der Geschichte die Bewegung aller in eine nur denkbare Zukunft. (954 ff.) Diese ist jedoch undenkbar ohne die Verwandlung Parzivâls, die nur durch die Erziehung am Hofe von Gurnemanz, „den guten Glauben anderer, durch die Unterweisung Trevrizents und die Liebe seiner Frau“ (975) möglich wurde. Parzivâls Entwicklung, Suche und Lebensfahrt wird einerseits eingehend beschrieben, andererseits erläutert und vertieft durch Spiegelungen und Ver‐ gleiche mit den Lebens- und Todeserfahrungen anderer, die weitgespannte Bezüge herstellen. Parzivâls Fahrten, selbst wenn sie mit fester Erwartung beginnen, führen primär ins Unbekannte und Unvorhergesehene. Die Begeg‐ nungen vertiefen in ihm die Spannung zwischen Fremdsein in der wachsenden Zuversicht auf eine sinnvolle Ordnung. Wesentliche Einblicke für das gesamte Geschehen vermitteln Liebe, Heirat und Tod von Gahmuret und Herzeloyde, Artûs und Ginovêr, Jeschûte und Orilus, Gâwân und seine zahlreichen Liebes‐ geschichten und Cunnewâres Erlösung in befreiendem Lachen. Der Konflikt zwischen Sinnlichkeit und Liebesideal, Körper und Geist wird in allen Erlebnissen der Figuren entweder angedeutet oder ausführlich be‐ schrieben. Die überspannten, ausgeschmückten Beschreibungen des Sinnlichen, die mitunter nur Berichte oder Zeugnis von Vorstellungen sind und wie in Klinschors Gespräch mit Herzeloyde ins Obszöne ausarten (165-166), sind als Antithese zur möglichen höchsten geistigen Entwicklung entworfen. Das ‚Teufelsbett‘ des Sexuellen ist augenfällig gegenwärtig wie der Zauberer, der feststellt: „… aber ich muß es nun einmal verkörpern, das Häßliche des Mannes.“ (166) Es hat Symbolwert. Trotzdem betont der Erzähler, bekräftigt die Fabel: „Das Fleisch erfährt der Ehre leider nie zu viel. Und es ist auch in unserer Fabel von allen Stoffen, mit denen sie in Berührung kommt, der Ehre am würdigsten, ehrwürdig nicht zuletzt durch die Ruhe, mit der das Fleisch Ehrensachen der 145 8. Spiraltendenz, Horizonterweiterung Lächerlichkeit preisgibt. Leider auch Diejenige und Denjenigen, der die Ehre gegen die Wahrheit, gegen die dunkle Unbestechlichkeit des Fleisches zu retten versucht.“ (170) Die Geschichte von Parzivâls Eltern wirkt als Vorausdeutung seiner Ent‐ wicklung. Der Versuch Sigûnes, die idealisierte reine Minne zu realisieren, vertieft den Vergleich mit Parzivâls Liebe. Die Beschreibungen der ritterlichen Gesellschaft und die des zentralen, immer im Hintergrund anwesenden Mit‐ spielers Lähelîn ermöglichen die Einsicht in die Lebensfahrt. Die Chronik der Begegnung, Liebesnacht-Heirat und sofortige durch Gahmurets Suche des Nichterfahrbaren hervorgerufene Trennung ermöglicht sowohl eine detaillierte Schilderung ritterlicher Turniere als auch die Erklärung von Parzivâls Herkunft. Sie ist außerdem eine der bedeutenden, mehrfachen Spiegelungen menschlicher Lebensfahrten. Herzeloyde, deren erster Mann, König Castis, von einem ‚rätsel‐ haften Blitz‘ auf der Treppe des Münsters erschlagen wurde, beauftragt ihren Majordomus Kyberg, ein öffentliches Turnier auszurufen, in dem der Sieger die „Witwe und Jungfrau zugleich“ heiraten soll. Das Turnier beginnt; Gahmuret, ein Feenkind, bekannt als heilkräftiger roter Ritter und König von Zazamanc, dessen Geliebte, die Mohrenkönigin Belakâne, am ‚Liebestod‘ gestorben ist, nachdem er sie auf seiner endlosen Suche verlassen hat, erscheint und besiegt alle Ritter. Er bricht den Kampf ab, lüftet seinen Zauberhelm, geht zur Seite, beschenkt die gesamte Ritterschaft mit Gold, muss aber am Ende den Wunsch Herzeloydes erfüllen: Rausch, Liebesnacht, Liebesglück, Zeugung eines Kindes. Sein Drang, das nur Ahnbare zu finden, veranlasst seinen Abschied, der den Eindruck des Auszugs eine ruhelosen Wandererfigur hinterlässt. Er überträgt Lähelîn das Reich zur Verwaltung, zieht in das ‚Morgenland‘, wo er im Dienste des „größten Herrn der Heidenheit“ Wunder an Tapferkeit vollbringt. Er wird im Kampf getötet, nachdem ein Zauberer seinen ihn immer schützenden Dia‐ manthelm mittels Bocksblut erweicht hatte. Er wird heilig gesprochen. Heiden und Christen verehren sein ‚Heiliges Grab‘ und „knien vor dem unverweslichen Leib und beten in seinem Namen um Erlaß ihrer zahllosen Sünden.“ (239) Die Figur Gahmurets erscheint somit als das Mögliche in der Fabel. Er ist eine Märchenfigur, die andere heilen kann. Er zaubert Gold hervor, das die gesamte Ritterschaft in eine gierige, vom Goldrausch besessene Schar verwandelt. (88-90) Er ist Christ, Heide und Nachchristlich; er ist sinnlich und sittlich; er kann einen Kampf abbrechen, kämpft aber immer weiter; er ist der ruhelose Wanderer, der sein Ziel nur ahnt und nicht findet. Die Schilderung Herzeloydes als Zuschauerin des Turniers, während der Aussicht auf die Hochzeit und ihres sinnlichen Entzückens, das in einem fantastischen Rausch gipfelt, betont ihr überspanntes Verlangen, schwanger zu 146 8. Spiraltendenz, Horizonterweiterung werden. Sie betet vor dem Bild Marias, die Herzeloydes Wünsche hört und sich mit ihr unterhält. Deutlich ist das zentrale Anliegen: „… ich möchte einen Sohn wie du.“ (137) Der Bescheid, dass Christus einmalig war, vertieft nur Herzeloydes Drang. Die Spiegelung des Gesprächs ist die Unterhaltung mit dem Zwerg und Zauberer Klinschor, in dem das ganze Elend der Welt zu Wort kommt. Es endet mit der Prophezeiung, dass dem Kind eine gefährliche Lebensfahrt bevorsteht. „Ihr müßt es zur Welt bringen, Euer Kind, und wißt doch in welche Welt. Er wird nicht blühen, Euer Sohn … Ihr quält Euch mit dem Fleisch und wollt noch mehr davon. Das Wort, das Ihr dem Grâl gegeben habt - ins Fleisch wollt Ihr’s setzen. Es ist grauenhaft, was Ihr tut, und Ihr tut gut daran.“ (169) Und sie vollbringt es in der Hochzeitsnacht. Der Sohn wird einmalig sein in Leiden, Mühsal, Suche und Erkennen. Herzeloyde bemüht sich bis zur Ausfahrt des Sohnes, diesen im Zustand einer unkritischen Kindheit zu bewahren. Der Versuch misslingt und sie fällt wortlos tot zu Boden, als Parzivâl in seiner Narrenbekleidung in die Welt reitet. (315) Das Verhältnis von Sigûne, der Nichte Herzeloydes, und Schiônatulander, dem Knappen Gahmurets, wird als Realisierung des Minne-Ideals geschildert, belächelt und kritisiert. Das Ideal menschlicher Begegnung steht unter dem Motto: „Wem nie von Liebe Leid geschah / Dem geschah auch Lieb von Liebe nie.“ (103) Sigûne liest nicht nur Ritter- und Minnegeschichten, sondern will diese auch in ihrem Leben verwirklichen. Sie besitzt eine Zaubertafel, deren geheimnisvoll erscheinende Schrift das Wesen der Suche, der Fahrt und der Lebensfabel zu deuten versucht. (221-225) Sie lebt: „so weit so gut.“ Sie verklärt den jungen Mann: „Sie beschloß, Schiônatulander zu lieben, und zwar ohne Maß.“ (103) Sie verzehrt sich vor Sehnsucht, weint einsam im Bett, will ein Stern werden (129), widersteht jeder Versuchung (149), vertraut schließlich dem idealen Maß, belehrt ihn, dass er sie nur keusch küssen darf, und lässt ihn in die Ferne ziehen. Er kehrt heil zurück, „verwaltet“ mit Sigûne das Land und bejaht ihre Lebenshaltung: „Denn wir sind nicht gekommen, die Welt zu genießen, sondern sie aufzuheben, und das ist unser Schicksal! “ (267) Die beiden halten Hof „im engsten Kreise, indem sie einander Geschichten erzählten und in die Augen blickten, während er sich auf der Laute begleitete.“ (288) Diese „Hochkultur von zarter Traurigkeit“ endet, als Schiônatulander von Lähelîn Rechenschaft für dessen Geldverschwendung verlangt und ihn zum Duell fordert. Lähelîn lässt sich von seinem Bruder, der Kampfmaschine Orilus, vertreten. „Der Roman, in dem sie sich befanden, nahm seinen Lauf.“ (310) Mit Kettenhemd, Ritterstiefeln und Beinschienen bekleidet, reitet der Minnesänger hinaus. Der Zweikampf endet, ehe er eigentlich beginnt. Das Pferd Schiônatulanders stolpert über eine Wurzel und der Held fällt kopfüber in die gestreckte Lanze des Gegners. Das in 147 8. Spiraltendenz, Horizonterweiterung ritterlichen Geschichten gepriesene Ideal wird von der Wirklichkeit überholt: „Der stockdumme Zufall kam seinem Mut zuvor und brach ihn entzwei.“ (327) Der Handlungsverlauf führt einzelne Ritter als Erzieher und Ratgeber, andere als Gegensatzfiguren ein. Sie heben sich sowohl voneinander als auch von der ritterlichen Gesellschaft ab. Gurnemanz, der Erzieher der Jugend, der auch Parzivâl unterweist, belehrt und ihm als Erster erklärt, dass der Geist wichtiger als bloße Sinnlichkeit ist, ist belesen, kann schreiben und handelt vorbildlich. Er ist zugleich menschlich - allzu menschlich: macht schlechte Witze und betrinkt sich zuweilen. Gâwân, ein Königssohn und Neffe des Königs Artûs, wird in der Fabel als vorbildlicher Ritter und Doppelgänger Parzivâls eingeführt. Als Doppelgänger entwickelt er Charaktereigenschaften, denen Parzivâl widersteht. Er duelliert sich mit Fürsten, Christen, Heiden und einer Löwin. Er ist begeistert von Zweikämpfen, bis er von Parzivâl lernt, den Kampf aufzugeben und ein „unentschieden“ anzunehmen. Er verehrt Damen, schützt ihre Ehre, hat zahlreiche platonische Liebschaften, welche die Fabel übertreibt: „400 Frauen hatte er erlöst“ (814), aber die unstillbare Sehnsucht Parzivâls nach einer Geliebten ist ihm fremd. Gâwân ist der Märchenheld der Blüte der Ritterschaft und zugleich eine Jedermann-Figur, von der alle Edeldamen schwärmen. Er findet feste Bindung in der Eheschließung mit der Witwe Orgelûse. (770 ff.) Die eingehenden Schilderungen seiner Abenteuer und Feuertaufen vertiefen das Gesamtbild des Rittertums. Lähelîn ist von zentraler Bedeutung für die gesamte Erzählung. Er lernt lesen und schreiben im Kloster der ‚Toten Brüder‘ und übernimmt schließlich die Wirtschaft des Landes. Die mehrfach ausführlich beschriebene ritterliche Gesellschaft widerspricht den idealisierten Auffassungen von Tugend, Ehre, Treue und Sittlichkeit. „Was heißt Ritterschaft? Will man nicht den eigenen Schädel gespalten bekommen, muß man handlich genug sein, um einen an‐ deren zu spalten.“ (242) Die meisten Ritter leben wie die ihnen dienstbare Bevölkerung vor sich hin und verfallen auch zeitweise wie das ‚Volk‘ nach einem Festessen von der Paarung eines Katers mit der Katze der Fürstin angeregt ins Sinnlich-Tierische. (116-129) Viele sind „verkommen“ und laufen auf Gasse herum, um „den Bock zu machen bei jeder Ziege, die ihnen über den Weg läuft.“ (215) Sie sind geldgierig, wollen sich bereichern und säckeln wie besessen das Gold ein, das ihnen Gahmuret schenkt. Als Parzivâl zum ersten Male den Artus-Hof und die Tafelrunde erblickt, ist der gesamte Eindruck erschreckend und steht im völligen Widerspruch zum Ideal der Ritter. Erst nachdem Parzivâl und sein Bruder Feirefîz, der Wunder wirkende König aus dem Morgenland, den gesamten Hof und die Grâlsritter durch ihr vorbildliches Handeln belehren, die Mauern aufbrechen, um Licht in die Welt zu bringen, 148 8. Spiraltendenz, Horizonterweiterung alle blutigen Fehden für immer abweisen (795 ff.) und der verletzte Grâlshüter geheilt wird, entwickelt sich die Ritterschaft zum Vorbild in der Fabel. Das Land erblüht zum Paradies. Das Geschehen wird zur Bühnenhandlung, in der alle dem Ideal entgegenstreben können. Fürst Lähelîn ist das Symbol einer zeitnahen und zugleich zeitlosen Wirt‐ schaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Er ist sowohl eine Kontrastfigur zu Parzivâls Suche als auch eine Personifikation jeder ökonomischen Entwicklung. Dieser Ritter im rötlichen Festrock erhält von Gahmuret das Königreich An‐ schouwe. „Herr Lähelîn, der hier vor dem Fremden kniete, war mit einer Schwurformel, die ihm ohne Stocken von den Lippen ging, zum mächtigsten Fürsten des Abendlandes geworden.“ (87) Er ist der Meister des mittelalterlichen Wirtschaftswunders. Verwalter der großen Lehen, zugleich ihrer Landwirt‐ schaft, Gründer von Ortschaften und Städten. Er leitet Produktion und Verkauf der Güter, er betrachtet den Krieg als technisches Geschäft, das beliefert werden muss, und versteht, vom „Reliquienwesen“ zu profitieren. (232 ff., 240 ff.) Er ist Förderer der Ökonomie und des wachsenden Verlangens, der „Begierde nach Gütern“ in der gesamten Bevölkerung. „Sein Wesen war tausendfüßig.“ Er lächelt, man lächelt dankbar zurück. „Wer lächelt, hat Zukunft, und Zukunft hat Kredit.“ (290) Er gründet ein neues Wirtschaftssystem, welches das alte ritter‐ liche abschafft. Künstliche Grenzen und Zölle werden beseitigt. Die Lähelînische Herrschaft breitet sich aus. „Kampflos und Unerträglich“ (285 ff.) werden die Länder einschließlich Wâleis teil des Herrschaftsgebiets des Fürsten. „Es gab in Lähelîns Herrschaft immer weniger leere Stellen, und auch diese entwickelten einen Sog und zogen sein Wesen unfehlbar an. Er braucht nicht persönlich zu kommen.“ (287) Die Figur Lähelîns wird auswechselbar, denn er symbolisiert ein weltweites Wirtschaftssystem. As Parzivâl Lähelîns Bruder Ithêr, den Roten Ritter, tötet, nimmt er irrtümlich an, er habe den bösen Feind erschlagen (350, 353). Parzivâl zieht dessen Rüstung über seinen blutenden Körper an und wird der Rote Ritter. Aber diese äußerliche Umstellung der Bekleidung besagt keine Umgestaltung der Wirtschaft. Lähelîn besteht im Laufe der Zeit fort, denn er vertritt die nicht gern benannte, aber grundsätzliche Struktur in der Wirtschaftsordnung der Gesellschaft. „Nennen wir das Namenlose beim Namen: Geld, nochmal Geld und immer mehr davon. Geld war die Flüssigkeit der Ströme und befestigte zugleich ihre Ufer; denn es ließ sich, wenn es tüchtig fließen durfte, auch in Festes verwandeln, gesetzt, man hatte genug davon oder wußte wenigstens zu tun, als ob.“ (287) Lähelîn belächelt Ideale („die Welt ist nicht zu retten“), weiß aber: „Der Grâl ist zwar die Quelle des Überflusses, aber überflüssig ist er nicht.“ (881) Er begleitet zuerst Parzivâl nicht zum Grâl, aber hat am Ende freien Zutritt zur Grâlsburg und „blickte in freier Nachdenklichkeit auf 149 8. Spiraltendenz, Horizonterweiterung die Bühne des Oktogôns, die ihm so plastisch den Beweis für das Unumstößliche von Handel und Wandel lieferte.“ (915) Sein Blick erfasst somit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Mutter erzieht Parzivâl, wenn man ihr Unterfangen als Erziehung ver‐ stehen will, indem sie ihm alle Information und normale Erfahrungen, die Kinder und Jugendliche während des Aufwachsens machen, vorenthält. Sie will absolut verhindern, dass ihr Sohn je eine Berufung zum Rittertum empfindet. Sie glaubt deshalb, dass die gesellschaftliche Norm unerreichbar bleiben muss. Das Kind wächst im Jagdschloss Soltâne auf. Er kriecht, geht, wird Jüngling. Die Fabel erfindet Wörter für sein Glück und die „Verstoßung aus dem Paradies“. „Wer sich in dieses Labyrinth begibt, den führt kein Weg zurück. Er muß durch das Tal des Todes, um das Ding ohne Namen zu finden (diese Fabel nennt es den Grâl).“ (272) Das von keiner gesellschaftlich gelenkten Vorstellung von Sittlichkeit geprägte Wachstum zeitigt eine naiv animalische Erfahrung der sinnlichen Be‐ gierde seines Körpers. Parzivâls erwachender und schließlich hochentwickelter Geschlechtstrieb feiert Triumphe, die jeder ritterlichen Vorstellung hoher Minne widersprechen. Sein Geschlechtstrieb überwältigt ihn: „Jetzt tu ich’s mit der Scheckigen … mit der Ziege.“ (282) Herzeloyde ist ratlos. Die Handlung zeigt jedoch überzeugend nicht nur das sinnliche Erwachen, sondern eine langsame Bewusstseinsbildung des Jungen im Jagschloss und der Umgebung, die er auf seinen Streifzügen kennenlernt. Herzeloyde kann nicht verhindern, dass der „Liebeguteschöne“ Ordnungsprinzipien erfindet und in die Umwelt hineinträgt. Sein Sehen ist sensitiv. An der Hell-Dunkel-Grenze ist der Rand im Dunkel dunkler, der Rand des Hellen heller. Diese Wahrnehmung wird später die Voraussetzung für die Symbolik des verklärt leuchtenden Grâls und des schwarzen Lochs. Seine Sinnesempfindungen sind nicht auf die Mutter begrenzt, obwohl sie das scheinbar wünscht. Der ‚Dümmling‘ ist hellwach. Er hört den Gesang der Vögel, das raschelnde Gras und die Reden der Bauern. So entsteht eine Wechselwirkung zwischen Parzivâl und Umwelt. Er sieht, erfährt und ordnet die Eindrücke. Er normiert die äußeren Tatsachen und lernt, dass seine Vorstellung und sein Handeln selbst im Rahmen der kleinsten Gesellschaft von Mutter und Sohn widersinnig sind. Das Kapitel „das Leben der Vögel“ ermittelt sowohl diese Situation als auch den Sachverhalt, dass die Mutter in ihrem Verlangen, das Kind immer glücklich zu machen, bereit ist, völlig unsittlich zu handeln. Parzivâl lauscht auf das Singen der Vögel, weint, tötet einige und macht seinen handgeschnitzten Bolzen verantwortlich. Er hat nur geschossen; der Bolzen hat getötet. Die Mutter indessen hat die Arbeiter beauftragt, alle Singvögel zu töten, damit der „Liebegute“ nicht mehr weint. Sie erkennt ihren Irrtum, belehrt dann den Sohn: „Gott hat sie zum Singen 150 8. Spiraltendenz, Horizonterweiterung geschaffen.“ (280) Sie fährt fort, Gott als strahlendes Licht zu deuten. Ihre Einstellung ist eindeutig. Der gegenwärtige Zustand der Welt, Gut und Böse, Grâl und Teufel, selbst alle Naturgesetze sind streng determiniert durch das göttliche Wesen. Parzivâl rennt weg, erinnert sich aber später im Leben an ihre Vorstellung. Er trifft auf seinen Streifzügen einen Ritter und glaubt, dieser sei Gott, da er noch nicht zwischen Wirklichkeit und Abstraktion unterscheiden kann. (297 ff.) Der Ritter stutzt. In der Begegnung erläutert die Fabel das Ereignis. „Die Fabel wird an jedem, der Parzivâl begegnet, zuerst dieses Stutzen zu bemerken haben. Es ist ungemein charakteristisch. Parzivâls Anblick trifft jeden und alle wie ein kleiner Schlag, von dem sie sich nur allmählich erholen.“ (298) Der Graf hält sein Pferd still, erklärt Parzivâl, was ein Ritter ist, und erweckt in ihm die Sehnsucht, ein Ritter zu werden. Herzeloyde kann ihn nicht mehr halten. Sie kann ihm nur letzte, ihm völlig missverständliche Ratschläge geben, die ihn in Kürze in einen ‚heillosen‘ Geschlechtsverkehr verwickeln und später Fehleinschätzungen verursachen. Sie ist im Zustand höchster Erregung und will unter allen Umständen sein mögliches Rittertum verhindern. Sie stattet ihn mit einem Narrengewand aus und gibt ihm eine alte Bauernmähre. Alles bleibt erfolglos. Die Figur, nun der Held, springt auf das Pferd und „war ein Ritter“. Die Fahrt in die Welt beginnt mit Abenteuern von Grenzüberschreitungen des zivilisierten Daseins im Tiefstand menschlicher Existenz: sexualisierte Gewalt, hemmungslose obszöne Sprache und Totschlag. Parzivâl wird bis zu seiner Ausbildung durch Gurnemanz als naiv heranwachsender Jüngling beschrieben, der weiterhin den gutgemeinten Reden seiner Mutter folgt. Die Fabel vergibt seine Vergehen, die Vergewaltigung Jeschûtes, der Frau von Orilus, seine Reden (320), seine Begegnung mit dem Roten Ritter König Ithêr (338 ff.) und dessen Totschlag mit dem selbstverfertigten Wurfgeschoss (350-351), und seine Reden am Artus-Hof, dessen Ritterschaft auch als völlig verkümmert erscheint, als Jugendsünden, Missverständnisse und teils „sackgrobes“, teils „hochmodisches“ angelerntes Geplapper. Sein Ritt zum Graukopf Gurnemanz wird sowohl als märchenhafter Flug über große Entfernung als auch als unkontrollierbares Versinken in körperlicher Notdurft geschildert. Er sitzt in seinem eigenen Kot im Rittergewand, als er bei Gurnemanz ankommt; er wird wie ein Baby gebadet und kommt unter der Obhut von Gurnemanz neu zur Welt. „Er hatte es auf eigenen Armen zu Bett getragen, das Kind der Welt, nackt und schauderhaft. Er hatte seine Blöße bedeckt und hütete es nun, ohne Sehnsucht und Trauer ganz hüten zu können im Angesicht der Gottes Kunst.“ (362) Die Lehrzeit Parzivâls in Anlehnung an Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795) bildet ihn zu einem vorbildlichen gesellschaftswürdigen Gentleman aus. Er lernt, wie 151 8. Spiraltendenz, Horizonterweiterung man sich bei Tisch benimmt, lernt ritterliche Sitte, verliebt sich keusch in Liâze, die Tochter von Gurnemanz, geht zum Gottesdienst, begreift einige abstrakte Begriffe wie Ehre und Gnade, versteht, wie man sich verhält, wenn man beim Turnier verletzt wird, wird mit der Schöpfungsgeschichte vertraut und hört von Sühne, Vergebung und Erlösung. Seine Wanderjahre beginnen nach der ritterlichen, begrenzten Belehrung, die erst nach seinem Unterricht von Trevrizent zur Ausbildung wird, die eine bewusste Entwicklung ermöglicht. Seine Erfahrungen schließen ein: sowohl Unterricht, Belehrung, Lernen als auch die Erweiterung eigener Empfindungen des Leidens, Duldens und der Trauer. Die zahlreichen Abenteuer bilden im po‐ sitiven Sinn die Voraussetzung zur Selbsterkenntnis. Er befreit die Hungerburg von der Belagerung. Er verliebt sich und heiratet Condwîr âmûrs. Die Hochzeit wird als zutiefst menschliche Begegnung in der Achtung und Verehrung des anderen, der Bereitschaft zum Mitleben und förderlichen Dialog beschrieben. Er verlässt jedoch seine Frau, denn der Zwang zur Suche überwältigt ihn. Er deutet die Fahndung als Suche nach seiner Mutter, die im Gegenbild von Feirefîz als Suche nach dem Vater auftaucht, aber in der Erzählung eine schicksalhafte Verknüpfung mit der Lebensfahrt eingeht. Er kommt zur Tafelrunde, die glei‐ chermaßen mittelalterlich und hochmodern wirkt, wird festlich empfangen, befreundet sich mit Gâwân und muss erkennen, dass das Rittertum mit seinen Bräuchen und Zeremonien ‚allgemein‘ geworden ist. Ein Abt informiert ihn. „So würde es bald überall zugehen: Kleriker turneyten, Ritter schrieben Buchstaben, Juden empfingen den Ritterschlag, Bürger nahmen Zins und sangen von hoher Minne, und Bauern warfen nicht mehr mit Steinen auf Krähen, sie jagten mit Falken.“ (621) Er versöhnt Orilus mit seiner Frau, hört: jeder weiß jetzt, „daß es den Grâl nicht gibt. Er ist nur ein Bild für unsere Seele, beziehungsweise das Fünklein darin.“ (624) Er vernimmt aber auch Trevrizents Feststellung: „Der Grâl ruft durch die Schrift, die auf ihm erscheint.“ (648) Der Einsiedel Trevrizent, Bruder des Grâlskönigs Anfortas, nimmt ihn in Obhut und macht ihn zum Kandidaten einer kurzfristigen, aber eingehenden Ausbildung in der Kunst des Schreibens, des Lesens, der christlichen Lehre und der Fähigkeit, abstrakte Begriffe zu begreifen und ihren tieferen Sinn und auch ihre Mehrdeutigkeit zu verstehen. Trevrizent erläutert Parzivâl die sieben Todsünden und warnt ihn besonders vor Überheblichkeit und Anmaßung, die seines Erachtens die gesamten Zeremonien des Rittertums bestimmen. Er predigt wahre Demut angesichts eines göttlichen Wesens und sittliches Handeln im zeitlichen Geschehen. „Denn zwar seid Ihr geschaffen zu sterben, und doch nicht zum Sterben geschaffen; weil Ihr zum Tode bestimmt seid, seid Ihr’s auch zum Leben. Also erhebt Euch doch in Eurem eigenen Namen und verlaßt Euch 152 8. Spiraltendenz, Horizonterweiterung ruhig darauf, daß Ihr es auch in Gottes Namen tut, und daß es noch gute Weile haben wird, ehe Ihr Euch damit überheben könnt! “ (644) Damit ist Parzivâls Selbstverwirklichung bestimmt. Er wird in der Zeitlichkeit leben und handeln und findet weinend, aber im Bewusstsein von Schopenhauers sachlich-kühler Feststellung „Alles Leben ist Leiden“ das befreiende Zauberwort, das Anfortas von seinen Leiden erlöst: „Oheim, was tut dir weh? “ Der Bann ist gebrochen (841 ff.). Der Grâl - Schale, Stein, Schrift - wird in Anlehnung an Johannes 1 das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort. In seinem Leben lernt er noch, wie man Länder verwaltet, Menschen vergibt und mit seiner geliebten Frau glücklich heimkehrt. Als „dauerhafter“ zeitloser Roter Ritter besteht seine Lebensarbeit darin, „den Anfang zu beglaubigen“ und in den Menschen im Sinne der Fabel „das Stutzen“ zu vertiefen. Somit sind wir wieder in der Gegenwart, verstehen alle englisch „WELL DONE“ und glauben dem Autor, dass uns die Literatur wirklich etwas zu sagen hat. Wie die mittelalterlichen Romane von Parzivâl, die ihn zunächst als kindli‐ chen ‚Tor‘ zeigen, der kein Verständnis für die Wirklichkeit hat und über Versuch und Irrtum zur Erkenntnis gelangt, vermittelt Der Rote Ritter ein aktuelles Bild menschlicher Entwicklung. Muschg schildert die Lebensfahrten der Figuren, die manchmal im plötzlichen Tod enden, manchmal ein Menschenalter umfassen und im Dasein Parzivâls zur Ahnung einer zivilisierten Welt führen, unter dem Vorzeichen einer fremdgewordenen Welt, in der der Mensch seine eigene Existenzgrundlage erst schaffen muss. Der Erkenntnisvorgang, dass ein Begriff über der Materie existiert, dass eine Spiraltendenz möglich ist, wird auf die Leser übertragen. Die thematische Darstellung der Selbstverwirklichung in dem Roman ist unlösbar mit dem fortschreitenden Prozess der geistigen Horizont‐ erweiterung verknüpft. Der Aufbau der Fabel versetzt alle zentralen Figuren in einen kritischen und manchmal unlösbaren Konflikt zwischen krasser Sinn‐ lichkeit und Geist, Leidenschaft und Liebesbereitschaft. Die Handlung vertieft die Suche zunehmender Selbst- und Welterkenntnis durch Untersuchungen des menschlichen Verhältnisses zur Natur, von zwischenmenschlichen Beziehungen und Sozialfragen. Die thematische Entwicklung vermittelt durch einen dialektischen Prozess ständiger Befragung der bereits erworbenen Erkenntnisse den Eindruck einer allgemeinen Bewusstseinserweiterung. Es gehört zu der beson‐ deren Eigenart des Themas, dass der Vorgang der fortgesetzten Horizonterwei‐ terung nie wirklich abbricht. Er führt zu immer neuen Stufen der Erkenntnis. Er versucht schließlich im Symbolgehalt des Grâls das Wesen des menschlichen Denkens zu deuten. Parzivâl ist als Gegenwartsfigur entworfen, die eine neue Ordnung menschlicher und gesellschaftlicher Beziehungen anstrebt. 153 8. Spiraltendenz, Horizonterweiterung Im Verlauf seiner Selbstverwirklichung überwindet Parzivâl seine Ich-Bezo‐ genheit. Er entwickelt ein Gespräch mit den Dingen, verknüpft Vielfältiges, sinnt über Zusammenhänge nach und beginnt zu verstehen. Er betrachtet die Umwelt mit anderen Augen und gewinnt eine neue Erkenntnisgrundlage. Die Natur im Sinnbild der Vögel ist in ihren Einzelheiten durch Naturgesetze determiniert. Die gegenwärtige Gesellschaft orientiert sich an Vorbildern und Leitgedanken, lebt jedoch in ständiger Spannung zwischen Trieb und Geist, harten, dem Zufall unterliegenden Bedingungen und Vertrauen auf eine bessere Zukunft. Die menschliche Unzulänglichkeit verhindert eine augenblickliche Lösung, in der Einzelne oder die Gesellschaft die absolute Wahrheit finden. Parzivâls Lebensfahrt endet mit Krönung und Heimkehr. Das Land erblüht. Wie in allen hoffnungsvollen Märchen wird die Hauptfigur zum Anwalt einer möglichen Neuordnung der Gesellschaft, die auf der sittlichen Verpflichtung aller beruht, die Mitmenschen zu achten und „An die Freude“ in die Tat umzusetzen. Die Fabel strebt eine Persönlichkeitsverwandlung im Sinne der Spiraltendenz an. Sie endet mit der Erkenntnis: Das Ideal in der Literatur ist in ständiger Bewegung und entzieht sich wahrscheinlich dem Wissen der Zeit. Die Erziehung der Figuren und des Lesers gipfelt in der Erkenntnis, dass Zusammenarbeit und soziale Integration sowohl das Individuum als auch die Gesellschaft fördern. Die thematische Lösung vermittelt den Eindruck einer organischen Ordnung, die das Zufällige der Erfahrung und die Widersprüche des Lebens überwindet. Der Rote Ritter vermittelt die Vorstellung, dass die christliche Tradition, die Grâlssuche und die historische Entwicklung erklärbar sind und deshalb von der Gesellschaft gesteuert werden können. Die Figuren‐ konzeption betont die Veränderungsfähigkeit des Menschen. Parzivâl löst sich aus der Befangenheit seiner Zeit. Die Krönung weist der Gesellschaft den Weg zur sittlichen Erneuerung. Der Ausklang der Erzählung bleibt zeitbezogen im Fortbestehen der kapi‐ talistischen Marktwirtschaft Lähelîns, endet aber in einer allgemeinen Verbrü‐ derung. Er verknüpft Heimat, Suche und Fahrt, Ost und West, Religionen, griechische, römische und germanische Mythologie, Parzivâl mit Feirefîz, dessen Gottheiten Juno und Jupiter sind, Parzivâl mit seinen Helfern, den Zwillingen Castor und Pollux, die, so sagt die Fabel, aus einem Ei geboren wurden, Schutzpatrone der Reitkunst wurden und unsterblich im Sternbild fortleben, und Parzivâl mit seiner geliebten Frau. Der zeitlose Rote Ritter wird zum Ideal der Zukunft. „Ritter“ steht „für hergebrachte Bräuche“. „Rot steht für das Neue … für das Unerhörte, sagte der andere Zwilling, daß Ihr ein Herz habt für die Beladenen und Benachteiligten. Ihr werdet der erste Ritter sein, der sich leistet weder Verstand zu unterdrücken noch sein Gefühl. Deshalb werdet Ihr 154 8. Spiraltendenz, Horizonterweiterung frei sein vom Bedürfnis der Unterdrückung anderer.“ (927-928) Der Grâl wird zum Symbol und schwingt ins Unendliche des blauen Himmels, der zum Anfang der Fabel die Kindheit behütete. Die Spiraltendenz geht über in einen Traum, ein Märchen für die Zukunft. 155 8. Spiraltendenz, Horizonterweiterung 1 Friedrich Schiller. „Das Glück“ (1799). 9. Sinndeutung Ein Rückblick auf die Themen der besprochenen Literatur kann mit einer Fest‐ stellung Friedrich Schillers einsetzen: „Alles Menschliche muß erst werden und wachsen und reifen, Und von Gestalt zu Gestalt führt es die bildende Zeit.“ 1 Die Beobachtung kennzeichnet die Entwicklungsthematik, die in allen Gestaltungen der Selbstverwirklichung anklingt. Sinnsuche, Krise, Anpassung, Kritik, Werden und Reifen sind Stufen des menschlichen Bewusstwerdens. Die angestrebten Sinndeutungen und richtungsweisende Anregungen kennzeichnen zahlreiche Texte der Gegenwartsliteratur. Sie fordern nicht nur zur Besinnung auf das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft auf. Sie erstreben eine Neuordnung des menschlichen Zusammenlebens. Die Frage, wie Einzelne den Ruf zur Selbstverwirklichung beantworten, entschlüsselt die künstlerische Darstellung unterschiedlicher Verhaltensweisen. Die unterschiedlichen Verhaltensweisen im Rahmen der Grundfiguren der Einkreisung und der Spiraltendenz sind thematisch verknüpft mit Anpassung, Widerstand, Suche, Fahrt, Liebe, Prüfung, Bewährung und menschlicher Begegnung im Dialog, der das befremdende Ge‐ genüber in ein „Du“ verwandelt und dadurch das „Ich“ zum „Selbst“ entwickelt. Die Zielsetzung der Selbstverwirklichung bestimmt die Möglichkeiten der Entwicklung, die ihr angeschlossenen Motive und den Aktionsradius der Fi‐ guren. Sowohl das Wechselverhältnis von Figurenkonzeption, Entwicklung, Thema und Motiv als auch die angestrebten Zielsetzungen kennzeichnen weitgehend die deutschsprachige Literatur unserer Zeit. Die kritischen Ausein‐ andersetzungen mit der Vergangenheit und den politischen Entwicklungen der Gegenwart, die ständigen Neuansätze in der Orientierungssuche und das Bestreben, im Unterhalten zugleich eine aufschlussreiche Beobachtung zu machen, bestimmen weitgehend die Gedichte, Dramen und Erzählungen. Fahrt, Wandern und Suche fangen die Dynamik des Werdens ein. Wegscheide und Stationen der Fahrt verlangen Entscheidungen. Bei Becker, Handke, Hilbig, Muschg und Wellershoff tritt der Ablauf der Selbstverwirklichung besonders wirksam hervor, da sich die Figuren frei entscheiden müssen, dem ungewissen Ziel zuzustreben. Besonders bemerkenswert ist die in einzelnen Texten entwi‐ ckelte Bereitschaft, das Wagnis der ungewissen Fahrt einzugehen und aus der Einkreisung auszubrechen. Die Verinnerlichung der Fahrt zur Erkundung des Unterbewussten zeitigt Erkenntnisse der besonderen Seins-Orientierung, in der das Individuum das Gefühl entwickelt, der gesellschaftlichen und politischen Verfassung hilflos ausgeliefert zu sein. In diesen Darstellungen ist die Raumge‐ staltung genauestens auf die Einkreisung eingestellt. Die bevorzugten Begren‐ zungsmotive bei Beyse, Härtling, Hahn, Hilbig, Monioudis und Vanderbeke der abgeschlossenen Zimmer, Zellen, flimmernden Bilder auf Bildschirmen, Kohlebergwerke, Höhlen, Schächte und Gänge unter der Erde vertiefen die Vorstellung, dass sich die Figuren in einem ausweglosen Labyrinth befinden. Die Kritik der gesellschaftlichen und politischen Verfassung im Rahmen der Selbstverwirklichung konzentriert sich auf die erstrebenswerte und mögliche Veränderung der bestehenden Zustände. Diese sind erklärbar; sie sind nicht Phasen eines Prozesses, dessen Ursachen im Dunkel bleiben; die Gründe werden erörtert; die Gegenwart verlangt einen Mentalitätswandel. Die Orientierungs‐ suche der Figuren findet sinnvolle Ziele. Sie setzt ein mit einem förderlichen Dialog, der sich von Einzelnen auf die Gesellschaft ausdehnt. Das Verhalten der Figuren verdeutlicht, dass sie eine neue Bewusstseinsstufe erreichen, in der die Aufforderung zum Mitleben zugleich zur Erkenntnis des historischen Augenblicks führt. Die Kritik schließt ein: Bestandsaufnahmen des Alltags, Aus‐ einandersetzungen mit der jüngsten Vergangenheit und Versuche, die NS-Zeit zu begreifen. Die Gespräche mit allen Betroffenen (Kriegsteilnehmer, Mitschul‐ dige, Mitläufer, Personen, die am Leben blieben) lehnen die gängige Antwort ab: „Das kann nur der verstehen, der das mitgemacht hat“. Die Gespräche münden in den Aufruf zur Neuorientierung. Bestandsaufnahmen des Alltags schildern zuweilen einen permanenten Um‐ bruch. Die Moderne erscheint im Bild eines permanenten Umbruchs, in dem sich das ständige Bauen, Umbauen und Neubauen dem Verständnis verschließt. Andererseits erfassen sie Familienleben, Liebe, Arbeit, Krankheit und Altern. Versuche, den Alltag schlicht und nüchtern festzuhalten, führen schließlich zu einer überzeugenden Gegenwärtigkeit des Daseins, die eine eingehende Aus‐ einandersetzung mit der Welt verlangt. Ein Vergleich von Gabriele Wohmanns Erzählungen, Schwaigers Geschichten aus dem österreichischen Alltag und den Bestandsaufnahmen des Lebens in der Schweiz in den Geschichten und Stücken von Urs Faes und Adolf Muschg zeigt daher auch, dass Unterschiede in den jeweiligen Einzelheiten des Lokalkolorits, jedoch kaum in den angesprochenen menschlichen Problemen bestehen. Auch in diesen Erzählungen klingt die Ich-Suche an. Das Ich ist nicht einseitig, es ist weder positiv noch negativ begrenzt. Es bleibt der Ausgangspunkt zur Orientierung und Selbstverwirkli‐ chung. Es bietet die Voraussetzung zur Selbst- und Welterkenntnis. In den Werken lassen sich unterschiedliche Deutungen der Begriffe des „Ich“, des „Selbst“ und des „Bewusstseins“ nachweisen. Ich-Suche, Selbster‐ 158 9. Sinndeutung 2 Günter Grass. Ein weites Feld. Göttingen: Steidl, 1995. 776. fahrung und Selbstverwirklichung sind mit durchaus unterschiedlichen Figu‐ renkonzeptionen verbunden. Sie stimmen jedoch in Motivbezügen überein. Darüber hinaus übernehmen Autoren und Autorinnen Begriffe aus der For‐ schung, teilweise um ihre eigenen Darstellungen abzustützen, teilweise auch ausgesprochen ironisch, um die wissenschaftlichen Reizwörter, die bereits zum Alltagsjargon gehören, bloßzustellen. Die unterschiedlichen Ansatzpunkte hinterlassen Spuren nicht nur im Erzählverlauf, sondern auch in besonderen Stileigenheiten. Der klinische Realismus hat zur Voraussetzung, dass Gene und Umwelt das Geschehen im Gehirn prägen. In einigen Texten ist die Biologie, auf den Sexualtrieb reduziert, der Schlüssel zum Handeln der Figuren. In anderen entspricht das neuronale Reiztheater im Gehirn den wechselnden Mustern auf den Bildschirmen der Computer. Einige der Anspielungen in Texten zielen auf ein quantenmechanisches Rechennetzwerk im Gehirn, andere greifen auf den Dualismus von Descartes zurück; vereinzelte Autoren halten fest, dass es ohne positive Sinnstiftung keine Selbsterkenntnis gibt und die überwiegende Mehrzahl der Schriftsteller entwerfen Erzählvorgänge, in denen die Figuren mit der bewussten Wahrnehmung des Ich und der Außenwelt ringen. Zuweilen kann ein Text das Ich entthronen und als reine Illusion darstellen. Sicher ist jedoch, dass die Literatur nicht zufrieden ist mit der These, Ich und Selbst seien eine vom Gehirn erfundene Illusion, die es dem Menschen ermöglicht, sich in der Welt zu orientieren. Die Literatur stellt Fragen nach der individuellen Verantwortlichkeit, nach Unterlassungen, Schuld und Sühne. Deshalb bilden die beiden Grundfiguren Einkreisung und Spiraltendenz das bedeutendste Stilelement der Gegenwartsliteratur. Die Spiraltendenz entwickelt die Vorstel‐ lung, dass die Liebesbereitschaft Einzelner, die Bewahrung der Phantasie, die Wiederentdeckung einer kindlich-magischen Weltsicht und das Verständnis der Vergangenheit zu einer bewussten Haltung führen: Sie bejaht die Widersprüche des Lebens und strebt einem positiven Ziel in der Zukunft zu. Das Dasein gewinnt eine positive Sinnstiftung. Suche und Fahrt, Tradition und Neuansatz sind immer gegenwärtig. Der Wirtschaftsminister des Mittelalters und der Agent des 19. und 20. Jahrhunderts leben fort im Bewusstsein aller. Deshalb kann Theo Wuttke bei seinem Abschied von Hoftaller zutreffend feststellen: „‚Fahren Sie! … Fahren Sie, wohin auch immer. Sie werden überall gebraucht.‘“ 2 159 9. 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DDR 10, 20-26, 57, 77-79, 82, 84, 102, 104, 106, 108 de Bruyn, Günter 16, 20, 24 Döblin, Alfred 9 Einkreisung 30, 35, 41, 7, 55, 57f., 67, 75, 77, 81, 85, 93f., 102, 133, 141, 157, 159 Entwicklungsthematik 30, 157 Entwurzelung 82 Erzählverfahren 11, 28, 47, 49, 69, 102, 110, 117 europäische Perspektive 9 existenzielle Situation 15, 23, 28, 7, 37, 58, 87, 91 Familie 41, 57, 61f., 67, 71f., 84-86, 88, 107, 112, 114 Fichte, Johann Gottlob 41 Fontane, Theodor 122f. Frisch, Max 63 Gegenwart 11f., 7, 16, 18, 20, 26, 28, 30, 37-39, 41, 76, 78, 81, 86f., 102, 109, 111, 117, 123, 133, 138, 150, 157f. Gesellschaftskritik 82, 92 Gibson, William 19, 56 Goethe, Johann Wolfgang 9, 12, 19, 48, 122, 129, 137, 151 Görlich, Günter 104 Grass, Günter 16f., 20, 24, 51, 55, 108, 117-120, 125, 159, 164 Grill, Evelyn 60 Gruppe 47 10 Grzimek, Martin 60 Gstrein, Norbert 77, 94 Hacks, Peter 20, 57, 87 Hahn, Ulla 9, 11, 41, 60f., 158 Handke, Peter 19, 60, 75f., 120-122, 136-138, 157 Härtling, Peter 58f., 158 Hauptmann, Gerhart 20 Haushofer, Marlen 60, 67-69, 77, 88 Heimat 22, 31-33, 46, 91, 106, 154 Hein, Christoph 16, 24, 27-29, 77 Hein, Jakob 57, 60, 77 Hermlin, Stephan 9, 22 Hesse, Hermann 9, 122, 133 Hettche, Thomas 23 Heym, Stefan 77 Hilbig, Wolfgang 16, 77-81, 83f., 157 Hoffer, Klaus 134 Hoffmann, E. T. A. 107 Hofmann, Gert 110 Ich-Suche, Ich-Erkundung 10, 12, 16, 19, 44, 51, 53, 115, 123, 158 Isolierung 77, 91, 101 Jelinek, Elfriede 41, 77, 85f., 92 Jünger, Ernst 18, 118 Kafka, Franz 17, 43, 113, 142 Kant, Hermann 104 Kempowski, Walter 37, 41f., 51f., 117 Knapp, Radek 11, 19, 31f. Knappe, Joachim 104 Knauss, Sibylle 67, 69f. Köhlmeier, Michael 60, 67, 71-73 Krebserkrankung 57, 73, 85, 91, 106 Kreisbewegung 33, 43, 56, 82, 133 Kroetz, Franz, Xaver 86 Kunert, Günter 11 Lebensangst 17, 66, 74, 85, 106 Lenz, Siegfried 38, 40, 87, 98-100 Liebesbereitschaft 34, 95, 110, 134, 153, 159 Mann, Thomas 9, 120, 122, 133 Märchen 18, 121, 133f., 136f., 154f. Marktwirtschaft 154 Maron, Monika 16, 23, 28, 51, 93, 109-111 Meckel, Christoph 77, 105 Menasse, Robert 30 Metamorphose 38, 48-50, 110, 134 Middendorf, Klaus 111, 113 Mitleben 53, 152, 158 Monioudis, Perikles 32f., 56f., 158 Müller, Heiner 24, 77, 87, 108 Müller, Herta 33, 78 Neuwirth, Barbara 88 NS-Regime 20, 22, 57, 59, 98f., 158 Ortheil, Hanns-Josef 51 Parzivâl 143-152, 154 Pfeiffer, Otti 55 Plauderton 50, 106 Ransmayr, Christoph 37-39 Raum 37-39, 41-44 Realismus 15, 21, 31, 47, 49, 159 Reinshagen, Gerlind 60, 77, 89f. Rosei, Peter 41-43, 111-113 Rosendorfer, Herbert 11, 37, 41-43 Schädlich, Hans Joachim 16-18, 20f., 77, 92, 125 Schlink, Bernhard 111f. Schmidt, Uwe 22 Schneider, Robert 87 Schulze, Ingo 77 Selbsterkenntnis 15, 35, 38, 78, 92, 98, 100, 104, 113f., 7, 121, 125, 152, 159 Selbstmord 30, 33, 40, 57, 68, 74, 77, 86-88, 93, 103, 106, 112, 121, 130 Selbstverwirklichung 11-13, 19, 35, 42, 80, 86, 94, 7, 97, 100-105, 107-111, 113f., 120, 123, 130f., 133, 136, 153f., 157-159 Sirene 114 Sparschuh, Jens 37, 106f. Spiraltendenz 18, 38, 101, 7, 133, 136, 138, 153-155, 157, 159 Stasi 22, 25, 79, 81, 108 Stefans, Verena 92 Strauß, Botho 91 170 Register Streeruwitz, Marlene 85, 89 Strittmatter, Erwin 94 Vanderbeke, Birgit 9, 23, 60-66, 85-87, 106, 158 Vereinsamung 23, 50, 73f., 77, 87, 110 Vergangenheit 9, 11f., 16, 19f., 22, 30, 39, 41, 46, 49, 52, 57, 61, 66, 74, 77, 84, 86f., 95, 103, 108f., 111, 123f., 133, 136f., 140, 150, 157-159 Vorbild 38, 40f., 99, 107, 149 Wahrheitsgehalt 49 Walser, Martin 20, 51f. Wellershoff, Dieter 19f., 92, 114, 157 Widmer, Urs 11f., 45-48, 50f., 133 Wirklichkeit 10, 15, 21, 31, 38f., 41, 45, 47, 94, 113, 138, 144, 148, 153 Wohmann, Gabriele 34, 60, 67, 75, 158 Wolf, Christa 16, 21f., 57, 87, 102f., 107f., 124 Zeitkritik 50 Zschokke, Matthias 24 171 Register