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Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien

2020
978-3-7720-5737-3
A. Francke Verlag 
Matthias Klinghardt

Die Studie beschreibt den Ursprung und den Weg der Evangelientradition vom Anfang bis zum kanonischen Vier-Evangelienbuch. Sie legt dar, dass das marcionitische Evangelium das älteste Evangelium ist, das von allen kanonischen Evangelien benutzt und bearbeitet wurde. Die Folge dieser These ist ein neues Bild von der Entstehung der Evangelien. Es unterscheidet sich grundlegend von allen anderen Modellen (z.B. der Zwei-Quellentheorie) - mit weitreichenden Konsequenzen für viele wichtige Bereiche der neutestamentlichen Wissenschaft. Bd. 1 enthält die methodische Grundlage: Den Nachweis, dass das kanonische Lk eine überarbeitete Fassung dieses ältesten Evangeliums ist. Auf dieser Grundlage wird dann ein Modell der Überlieferung der kanonischen Evangelien skizziert. Ein ausführliches Nachwort diskutiert die jüngsten Untersuchungen zu Marcions Evangelium. Es setzt sich mit kritischen Einwänden auseinander und analysiert die methodischen Grundlagen, auf denen die neueren Rekonstruktionen basieren.

T A N Z TEXTE UND ARBEITEN ZUM NEUTESTAMENTLICHEN ZEITALTER Ma hias Klinghardt Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien Band I: Untersuchung 2., überarbeitete und erweiterte Auflage Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien Band 1 T A N Z TEXTE UND ARBEITEN ZUM NEUTESTAMENTLICHEN ZEITALTER 60/ 1 herausgegeben von Matthias Klinghardt, Günter Röhser, Stefan Schreiber und Manuel Vogel Matthias Klinghardt Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien Band I: Untersuchung 2., überarbeitete und erweiterte Auflage Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb. dnb.de abrufbar © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0939-5199 ISBN 978-3-7720-8737-0 (Print) ISBN 978-3-7720-5737-3 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0125-3 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Aus dem Vorwort zur 1. Auflage »Wir sind wie Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen, so dass wir mehr und weiter als sie sehen können - allerdings nicht vermöge der eigenen Sehschärfe oder Körpergröße, sondern weil wir durch die riesenhafte Größe in die Höhe emporgehoben und erhöht werden.« 1 Ein älterer Kollege gab mir vor etlichen Jahren dieses Wort Bernhards von Chartres als freundliche Mahnung zu Bescheidenheit und Respekt mit auf den wissenschaftlichen Weg. Dass die eigene wissenschaftliche Erkenntnis immer auf dem Wissen unserer Vorgänger aufruht, erschien mir damals so selbstverständlich, dass ich Bernhards Diktum bald vergessen hatte. Erst die Arbeit an der vorliegenden Untersuchung hat es wieder in Erinnerung gerufen. Denn ihr Gegenstand, die Entstehung der neutestamentlichen Evangelienüberlieferung, reicht weit in die Forschungsgeschichte zurück und erfordert in zentralen Fragen die Auseinandersetzung mit Positionen, die bereits vor rund 150 Jahren entwickelt wurden und bis heute weithin in Geltung stehen. Sie haben schon seit langer Zeit eine magnitudo gigantea erreicht. Aber zunehmende Zweifel an den methodischen Grundentscheidungen und den zentralen Ergebnissen dieser Forschungsperiode machten die Frage unabweisbar: Was, wenn die Riesen der neutestamentlichen Wissenschaft des 19. und 20. Jh. schon seit geraumer Zeit in eine falsche Richtung gegangen waren? Der Verdacht gegenüber der Richtigkeit des eingeschlagenen Weges ließ es nicht geraten erscheinen, sich auf den Riesenschultern noch ein kleines Stück weiter in die Höhe zu recken, ut possimus plura eis et remotiora videre. Es war vielmehr geboten, die durchaus komfortable Huckepackposition in umeris gigantum zu verlassen, um auf den eigenen Beinen selbst nach dem richtigen Weg zu suchen. Diese Suche erwies sich als mühsames Geschäft. Dass die eigenen Schritte nach den Riesen-Fortschritten früherer Generationen oft entmutigend zwergenhaft wirkten, war dabei das geringste Problem. Aber die Notwendigkeit, einen eigenen ______________________________ 1 Johannes von Salisbury, Metalogic. III 4 (ed. J. A. G ILES , Oxford 1848, 131): Dicebat Bernardus Carnotensis nos esse quasi nanos gigantum umeris insidentes, ut possimus plura eis et remotiora videre, non utique proprii visus acumine, aut eminentia corporis, sed quia in altum subvehimur et extollimur magnitudine gigantea. - Anmerkung: Dieses Zitat Bernhards war etwa gleichzeitig mit der ersten Aufl. in einem ganz ähnlichen Zusammenhang erschienen: John Kloppenborg hatte es als Motto der Sammlung seiner Studien zum Synoptischen Problem vorangestellt (J. S. K LOPPENBORG , Synoptic Problems, Tübingen 2014, v). Das Zitat ist Teil der Widmung, die dem Gedächtnis »dreier Riesen der Synoptikerforschung« gilt: William R. Farmer, Michael D. Goulder und Frans Neirynck. Aufgrund seiner eigenen Beiträge zum Synoptischen Problem ist es keine Frage, dass Kloppenborg selbst als vierter in diese Reihe gehört. VI Vorwort Weg durch das unübersichtliche Gestrüpp der Literar-, Redaktions- und Textgeschichte bahnen zu müssen, war eine qualitativ neue Erfahrung. Dabei lag die Herausforderung nicht nur in der Heterogenität des Materials und der schier unübersehbaren Datenmenge, die zu berücksichtigen war. Es stellte sich vor allem als unumgänglich heraus, diese häufig getrennt behandelten Bereiche gleichzeitig ins Auge zu fassen und in einem integralen Modell zu erklären: Dies erfordert eine erhebliche Akkomodation des proprii visus acumen. Andererseits hat sich das häufig tastende Gehen als ebenso unersetzlich wie fruchtbar erwiesen: Aus der Bodenperspektive stellt sich das Terrain in vielen Fällen anders dar als aus der gewohnten Schulterposition. Am vorläufigen Ende des Weges bin ich der zuversichtlichen Überzeugung, dass die veränderte Blickrichtung nicht nur Anderes, sondern tatsächlich plura et remotiora zu erkennen gibt. Der hier dargelegte Vorschlag zur Entstehung und zum Verlauf der neutestamentlichen Evangelienüberlieferung ist kaum mehr als eine erste kartographische Skizze. Sie enthält nicht nur etliche unsichere Urteile, die man mit Gründen auch anders fällen könnte, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit auch manche Fehler und Versehen. Beides wird Korrekturen, vielleicht auch Modifikationen erfordern. Davon unberührt bleibt aber die grundlegende Frage, ob die veränderte Blickrichtung in der Lage ist, die Überlieferungsgeschichte der Evangelien mit ihren ineinander verschränkten Fragen der Text-, Literar- und Redaktionskritik plausibler zu erklären, als dies bisher der Fall war: Ob der hier vorgeschlagene Weg auch für andere gangbar ist, muss die zukünftige Diskussion erweisen. Viele haben bei der Erstellung dieser Skizze geholfen, allen voran die geduldigen und kritischen Gesprächspartner. Besonderer Dank gebührt David Trobisch (Springfield, MO - Nussloch), Ulrich B. Schmid (Birmingham - Wuppertal), Joseph B. Tyson (Dallas), Günter Röhser (Bonn) und Markus Vinzent (London - Erfurt): Ihre Einsichten und Einwände waren auch dann hilfreich, wenn wir über Ziel und Richtung uneins waren. Im Lauf der letzten Jahre konnte ich mich auf die Hilfe einer ganzen Reihe fleißiger Helferinnen und Helfer stützen: Mein Dank für ihre zuverlässige Mitarbeit gilt Claudia Ritschel, Marie-Luise Schmidt, Ivonne Rösler und Tobias Flemming. Am Ende haben sich Oliver John, Adriana Zimmermann und Jan Heilmann große Verdienste um die Korrekturen erworben. Ich danke ihnen allen, dass sie nicht nur die Aufregungen der Entdeckungen, sondern auch die Mühen der Ebene mit mir geteilt haben. Vorwort VII Vorwort zur 2. Auflage Wissenschaft ruht nicht, schon gar nicht in dynamischen, sich rasch verändernden Forschungsfeldern. Aus diesem Grund lege ich eine überarbeitete und erweiterte Neuauflage dieses Buches vor. Die Veränderungen gegenüber der ersten Auflage betreffen mehrere Aspekte. Zum ersten musste eine erhebliche Zahl von Fehlern und Versehen korrigiert werden; sie waren in einem unvertretbaren Ausmaß stehen geblieben und hatten teilweise sogar zu Irritationen geführt. Obwohl zahlreiche Versehen korrigiert und unzählige Details (vor allem im Bereich der textkritischen Daten) überprüft wurden, hege ich die Befürchtung, dass immer noch Ungenauigkeiten stehen geblieben sind; hier kann ich die geneigten Leser nur um Nachsicht bitten. Neben der Fehlerkorrektur waren auch zahlreiche sachliche Anpassungen nötig. Von Beginn an hatte ich damit gerechnet, dass manche Rekonstruktionsentscheidungen revidiert werden müssten. Ich hatte dabei vor allem an diejenigen Fälle gedacht, in denen die Rekonstruktion unsicher blieb, weil sie auf ambivalenten oder widersprüchlichen Bezeugungen beruhte. Dieser Verdacht hat sich erhärtet, und ich habe etliche Rekonstruktionsentscheidungen revidiert. In einigen Fällen hatte ich meine eigenen methodischen Prinzipien nicht konsequent angewandt (vgl. beispielsweise die Rekonstruktion zu *9,22 oder zu *11,2), in anderen habe ich von Kritikern und Kollegen gelernt und ihre besseren Vorschläge dankbar aufgegriffen. So hat beispielsweise die Berücksichtung zusätzlicher häresiologischer Quellen die Rekonstruktion verbessert (vgl. etwa zu *9,60), an anderer Stelle hat die genauere Interpretation der Quellen zu einer Präzisierung der Argumentation geführt (z. B. zu *22,19), und schließlich haben mich Einwände von Kritikern auch dazu veranlasst, an einer wichtigen Stelle den methodischen Zugriff zu präzisieren (vgl. u. S. 451f). Im übrigen hat mich die Lektüre der Arbeiten anderer auf ein peinliches Versehen aufmerksam gemacht, das hier korrigiert werden soll: Dem eigenen, besseren Wissen zum Trotz hatte ich nicht berücksichtigt, dass das marcionitische Evangelium einen Titel trägt. Zur Bezeichnung dieses Textes sollte konsequenterweise dieser Titel benutzt werden, nicht aber die künstliche Bezeichnung, die ich ursprünglich verwendet hatte. Die Änderung der Bezeichnung, die sich aus dieser Einsicht ergibt, hat zwar keinen Einfluss auf die Substanz der Argumentation oder auf den rekonstruierten Text, aber sie ist doch geeignet, die Wahrnehmung des Ganzen zu verändern (vgl. dazu ausführlicher unten S. 26ff). Zusätzlich zu diesen Korrekturen, Ergänzungen und Änderungen bin ich zu der Überzeugung gelangt, am Ende auch auf die Einwände der Kritiker reagieren VIII Vorwort zu sollen. Dazu hat mich vor allem der Umstand veranlasst, dass das wissenschaftliche Interesse an den hier verhandelten Fragen sehr viel größer war, als ich bei Beginn meiner Arbeit annehmen konnte: Im vergangenen Jahrzehnt hat das Marcionitische Evangelium ein erstaunlich großes Interesse auf sich gezogen und mehrere Forscher beschäftigt. Die meisten haben gleichzeitig und unabhängig voneinander gearbeitet, zumindest ohne eine genauere Kenntnis der methodischen Zugänge und Lösungen der anderen zu haben. Dabei wurden teilweise identische Fragestellungen von verschiedener Seite behandelt - in diesem Ausmaß eine forschungsgeschichtliche Rarität. Knapp 100 Jahre nach Harnacks Marcion-Buch sind auf diese Weise fast gleichzeitig drei verschiedene Rekonstruktionen des Marcionitischen Evangeliums erschienen. Allerdings weichen ihre Ergebnisse auf verstörende Weise voneinander ab. Mehr noch als die ungezählten Unterschiede bei einzelnen Rekonstruktionsentscheidungen irritiert dabei die tiefgreifende methodische Divergenz: Die Inkompatibilität der jeweiligen Voraussetzungen macht einen Vergleich dieser Rekonstruktionen fast unmöglich und behindert eine fruchtbare Diskussion in diesem komplexen und wichtigen Forschungsfeld. Aus diesem Grund habe ich darauf verzichtet, die abweichenden Rekonstruktionen von Fall zu Fall aufzuführen oder gar zu diskutieren; eine endlose Kette von Abgrenzungsmarkierungen hätte den Text unlesbar gemacht, ohne zusätzliche Erkenntnisse zu generieren. Statt dessen schien es mir sinnvoller, die grundlegenden (oft nur stillschweigend implizierten) methodischen Unterschiede aufzudecken und zu analysieren. Ich hoffe, dass dies dem Interesse der Leser entgegenkommt und dazu hilft, die wirklich kritischen Probleme in den Fokus der Diskussion zu rücken. Diese Diskussion voranzubringen ist meine Absicht. Aus diesem Grund danke ich allen Gesprächspartnern und Kritikern. Viele haben die hier vorgelegte Lösung begleitet, unterstützt, durch eigene Beobachtungen ergänzt, aber auch in Frage gestellt. In Dresden waren für mich die kritischen Einwände von Nathanael Lüke, Jan Heilmann und Kevin Künzl von unschätzbarem Wert. Viele andere, die ich nicht einzeln aufführen kann, haben mir durch ihre mündlichen und schriftlichen Reaktionen sehr geholfen. Ich bin ihnen allen für ihre Hinweise und Einwände sehr dankbar. In diesen Dank beziehe ich ausdrücklich auch diejenigen Kritiker mit ein, deren Einwänden ich meinte nicht folgen zu können: Sie alle haben mich genötigt, meine Argumentation zu überdenken und, wenn nötig, sie zu schärfen oder zu korrigieren. Dresden, im Oktober 2020 M. K. Inhalt Bd. I: Untersuchung Aus dem Vorwort zur 1. Auflage .............................................................................................. V Vorwort zur 2. Auflage ............................................................................................................ VII I. Fragestellung und Thema ............................................................................................... 1 § 1 Evangelienforschung im 19. Jh. ....................................................................................... 3 1. Der Diskurs über das Synoptische Problem .............................................................. 4 2. Der Diskurs über Lk und das marcionitische Evangelium .................................... 13 § 2 Fragestellung und These ................................................................................................... 20 1. Einige Ergebnisse und offene Fragen ........................................................................ 20 2. Thesen und Anlage der Untersuchung ..................................................................... 24 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche ................... 31 § 3 Die Bezeugung von *Ev durch die Häresiologen .......................................................... 33 1. Die Struktur der Vorwürfe gegen Marcion ............................................................ 33 2. Die Hauptzeugen für *Ev ............................................................................................ 46 3. Das methodische Problem der widersprüchlichen Bezeugungen ........................ 62 § 4 Umfang und Sprache des marcionitischen Evangeliums ........................................... 68 1. Nicht-lk Texte in Tertullians *Ev-Exemplar? .......................................................... 68 2. Die Sprache von Tertullians *Ev-Exemplar ............................................................. 74 § 5 Der Text von *Ev und die kanonische Textüberlieferung ......................................... 79 1. Die These eines Einflusses von *Ev auf den »Westlichen Text« ........................... 80 2. *Ev und der Text des ältesten, vorkanonischen Evangeliums ............................... 85 3. Zum Verhältnis von Überlieferungs- und Textgeschichte: Schlussfolgerungen ....................................................................................................... 102 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk ................................................ 125 § 6 Die Aporien der Lk-Priorität ....................................................................................... 127 1. Die Inkonsistenz der angeblichen Redaktion Marcions ..................................... 127 2. Der Umfang von *Ev und die »Überschüsse« in *Ev .......................................... 134 3. *Ev und das Problem des Kanons .......................................................................... 144 4. Der Ausweg aus den Aporien: Die *Ev-Priorität ................................................. 147 § 7 Der Anfang von *Ev und seine lk Bearbeitung ......................................................... 154 1. Der Anfang von *Ev: Bezeugung und literarische Struktur ............................... 154 2. Das redaktionelle Profil des Lk-Prologs (Lk 1,1-4) .............................................. 161 3. Die lk Redaktion der Nazarethperikope (Lk 4,16-30) ......................................... 173 X Inhalt § 8 Das Ende von *Ev: Tradition und Redaktion in Lk 24 ............................................ 177 1. Bezeugung .................................................................................................................. 177 2. Das redaktionelle Konzept von Lk 24 .................................................................... 179 § 9 Die *Ev-Priorität: Ergebnisse und weitere Fragen ................................................... 190 IV. Vom ältesten Evangelium zum kanonischen Vier-Evangelienbuch: Eine überlieferungsgeschichtliche Skizze ........................................................................ 197 § 10 *Ev und die Überlieferung der kanonischen Evangelien ........................................ 199 1. Offene Fragen zur Überlieferungsgeschichte der Evangelien ............................ 199 2. *Ev im Horizont der kanonischen Evangelien: Eine Arbeitshypothese ........... 206 § 11 Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Mk ................................................... 212 1. Auf dem Weg nach Jerusalem: *9,51-19,28 und Mk 8,(22-26)27-10,52 ........... 213 2. Mk 6,45-8,26: »Große Auslassung« oder »Große Ergänzung«? ........................ 221 3. Die »Mk-Q Overlaps«: Mk 9,41-10,12 und die Entsprechungen in *Ev .......... 233 4. Die *Ev-Priorität vor Mk: Anfang und Ende des Evangeliums ......................... 245 § 12 Das Mt-Evangelium als Kompilation von Mk und *Ev .......................................... 253 1. Methodische Grundfragen ...................................................................................... 253 2. Die mt-lk »Minor Agreements« .............................................................................. 255 3. Die Redaktion des Materials der Doppelüberlieferung bei Mt und Lk ............ 267 4. Die Komposition der mt Vorgeschichte: Eine Problemanzeige ........................ 280 § 13 Die literarischen Beziehungen zwischen *Ev, Joh und Lk ....................................... 297 1. Voraussetzungen und Fragestellung ......................................................................... 297 2. Lk-joh Übereinstimmungen gegen Mk: Passions- und Osterüberlieferung .... 301 3. Die Abhängigkeit der joh Passionsüberlieferung von *Ev .................................. 309 4. Die Rezeption von Joh durch Lk ............................................................................ 314 5. *Ev und die kanonischen Evangelien ..................................................................... 332 § 14 Die Kanonische Redaktion der Evangelien ............................................................... 339 1. Methodische Voraussetzungen ............................................................................... 339 2. Die Kanonische Redaktion von *Mk ..................................................................... 341 3. Die Kanonische Redaktion von *Mt ....................................................................... 350 4. Joh als Kanonische Redaktion von *Joh ................................................................ 358 5. Die Entstehung des kanonischen Vier-Evangelienbuches ................................. 373 V. Ausblick ......................................................................................................................... 379 § 15 Antworten und Fragen ................................................................................................. 381 1. Die *Ev-Priorität vor Lk ........................................................................................... 381 2. Zur Überlieferungsgeschichte der Evangelien ...................................................... 393 3. Text- und Überlieferungsgeschichte: Die Kanonische Ausgabe ........................ 403 4. Datierungen ............................................................................................................... 406 5. Marcion, *Ev und die Kanonische Ausgabe ......................................................... 413 Das marcionitische Evangelium in der Diskussion: Ein Nachwort zur Methodologie ......................................................................................... 427 1. Das zentrale Problem: Die Bearbeitungsrichtung und ihre Implikationen.................. 430 2. Einige Folgeprobleme ......................................................................................................... 449 Inhalt XI Literatur ................................................................................................................................... 467 1. Bibliographische Abkürzungen ......................................................................................... 469 2. Quellen und Hilfsmittel ...................................................................................................... 470 3. Sekundärliteratur .................................................................................................................. 483 Abbildungen Abb. 1: Die synoptischen Hauptrelationen: *Ev - Lk und Mk - Mt ............................ 206- Abb. 2: Die literarischen Beziehungen zwischen *Ev und den Synoptikern .............. 208- Abb. 3: Die Beziehungen zwischen *Ev, Joh und Lk ...................................................... 210- Abb. 4: Die Synoptischen Relationen nach der Zwei-Quellentheorie unter Berücksichtigung der Abhängigkeit Mk von Q ................................................. 243- Abb. 5: Die *Ev-Priorität vor Mk im Rahmen der synoptischen Beziehungen .......... 253- Abb. 6: Die Beziehungen zwischen *Ev, Mt und Lk im Rahmen der *Ev-Priorität .. 253- Abb. 7: Die literarischen Beziehungen zwischen *Ev, Joh und Lk ............................... 297- Abb. 8: Zwei-Quellentheorie und joh Passionsüberlieferung (Hans Klein) ............... 308- Abb. 9: Zwei-Quellentheorie und joh Passionsüberlieferung (Frank Schleritt) ......... 308- Abb. 10: Weitere Beziehungen zwischen den kanonischen Evangelien ........................ 332- Abb. 11: Die Überlieferungsgeschichte der Evangelien von *Ev bis Lk ......................... 339- Abb. 12: Die Kanonische Redaktion der Evangelien ........................................................ 341- Abb. 13: Protokanonische Sammlung (? ) und Kanonische Ausgabe der Evangelien 402- XII Inhalt Inhalt Bd. II: Rekonstruktion - Übersetzung - Varianten Anhang I Rekonstruktion: Der Text des ältesten Evangeliums ............................................ 525 Einführung .............................................................................................................................. 527 1. Grundlagen der Rekonstruktion ....................................................................................... 527 2. Hinweise zur Textgestaltung ............................................................................................. 528 3. Literatur ................................................................................................................................ 531 Rekonstruktion ....................................................................................................................... 533 *Titel ................................................................................................................................. 533 1,1-2,52; Prolog. Geburtsgeschichten des Täufers und Jesu ....................................... 534 *3,1a; Datierung. *4,31-37 Exorzismus in der Synagoge von Kapharnaum ............................................. 535 3,1b-4,13 Täuferüberlieferung. Taufe. Stammbaum. Versuchung ............................. 542 [ 4,14f Summar über Heilungen in Galiläa ] ................................................................ 543 *4,16-30 Ablehnung in Nazara ......................................................................................... 543 [ 4,38-39 Heilung der Schwiegermutter des Petrus ] ...................................................... 552 *4,40-41 Exorzismen am Abend. Messiasbekenntnis der Dämonen .......................... 554 *4,42-43 Jesu Rückzug in die Einsamkeit und Verweis auf seine Sendung ............... 555 *4,44 Summar - Verkündigung in den Synagogen von Galiläa ............................ 558 *5,1-11 Wunderbarer Fischzug. Berufung des Petrus und der Zebedaiden ............ 559 *5,12-16 Heilung des Aussätzigen. [ Rückzug Jesu ] ....................................................... 566 *5,17-26 Heilung des Gelähmten ..................................................................................... 572 *5, 27-32 Berufung des Levi. Zöllnermahl ....................................................................... 580 *5,33-39 Fastenfrage ........................................................................................................... 583 *6,1-5 Ährenraufen am Sabbat. {Sabbatarbeiter} ...................................................... 594 *6,6-11 Heilung der verkrüppelten Hand ..................................................................... 602 *6,12-16 Auswahl der Zwölf ............................................................................................. 610 *6,17-19 Abstieg vom Berg. Andrang der Menge .......................................................... 614 *6,20-26 Feldrede I: Makarismen und Weherufe .......................................................... 622 *6,27-38 Feldrede II: {Talio.} Feindesliebe. Zinsverbot. Barmherzigkeit ................... 630 *6,39-49 Feldrede III: Paränetische Sentenzen und Bildworte. [ Gleichnis vom Hausbau ] .................................................................................. 643 *7,1-10 Der Centurio in Kapharnaum und sein Sklave .............................................. 650 *7,11-17 Auferweckung des Jünglings in Nain .............................................................. 661 *7,17-23 Anstoß und Frage des Täufers .......................................................................... 664 *7,24-28 Belehrung über Johannes .................................................................................. 674 [ 7,29-35 Die Kinder der Weisheit ] .................................................................................. 678 *7,36-50 Salbung durch die Sünderin .............................................................................. 681 *8,1-3 Unterstützung durch vornehme Frauen ......................................................... 695 Inhalt XIII *8,4-17 Gleichnis vom Sämann. Parabeltheorie und Deutung .................................. 696 *8, 19 ‐21 Jesu Mutter und seine Brüder ........................................................................... 703 *8,22-25 Stillung des Seesturms ........................................................................................ 707 *8,26-39 Austreibung des Dämons Legion ..................................................................... 711 *8,40-56 Tochter des Jairus. Blutflüssige Frau ............................................................... 719 *9,1-6 Aussendung der Zwölf ....................................................................................... 726 *9,7-9 Urteil des Herodes über Jesus und Johannes ................................................. 732 *9,10-17 Rückkehr der Apostel und Speisung der Fünftausend ................................. 736 *9,18-22 Bekenntnis des Petrus. Ankündigung von Leiden und Auferstehung ....... 742 *9,23-27 Die Bedingungen der Nachfolge ...................................................................... 753 *9,28-36 Verklärung Jesu ................................................................................................... 758 *9,37-45 Tadel der ungläubigen Generation. Exorzismus des epileptischen Knaben. Erneute Leidensankündigung .................................. 765 *9,45-50 Rangstreit der Jünger. Fremder Exorzist ......................................................... 774 *9,51-56 Mission in Samaria ............................................................................................. 782 *9,57-62 Nachfolgesprüche ............................................................................................... 789 *10,1-16 Aussendung der 72 Apostel .............................................................................. 798 *10,17-24 Rückkehr der Zweiundsiebzig. Dankgebet Jesu ............................................. 811 *10,25-37 Die Frage nach den Bedingungen des Lebens [ Samaritanergleichnis ] ....... 823 *10,38-42 Maria und Martha .............................................................................................. 836 *11,1-4 Vaterunser ........................................................................................................... 840 *11,5-13 Belehrung über das Beten .................................................................................. 859 *11,14-32 Exorzismus des stummen Dämons. Beelzebulkontroverse. Rückkehr der Dämonen. Seligpreisung der Hörer des Wortes Gottes. Verweigerung eines Zeichens. Zeichen des Jona ....................................... 866 *11,33-36 Das Auge als Leuchte des Körpers ................................................................... 877 *11,37-48 Pharisäerrede I: Reinheit. Verzehntung. Prophetenmord ............................ 880 *11 , 49-54 Pharisäerrede II: Sendung und Mord der Propheten und Apostel. Abschluss ............................................................................................................. 890 *12,1-12 Warnung vor der Heuchelei der Pharisäer. Aufforderung zu furchtlosem Bekenntnis ...................................................... 894 *12,13-21 WarnungvorHabgier.Derreiche Kornbauer .................................................. 904 *12,22-34 Vom Sorgen. Streben nach der Herrschaft Gottes ........................................ 908 *12,35-48 Belehrung über Wachsamkeit und Zuverlässigkeit ....................................... 917 *12,49-53 Frieden und Zwietracht ..................................................................................... 924 *12,54-59 Beurteilung dieses Kairos. Versöhnung mit dem Prozessgegner ................ 931 13,1-9 Mahnung zur Umkehr. Gleichnis vom Feigenbaum .................................. 936 *13,10-17 Heilung einer Abrahamstochter am Sabbat ................................................... 939 *13,18-21 Die Gleichnisse vom Senfkorn und vom Sauerteig ....................................... 942 *13,22-30 Die enge und die verschlossene Tür. Erste und Letzte im Reich Gottes 945 13,31-35 Warnung vor Herodes. Klage über Jerusalem .............................................. 952 *14,1-6 Heilung eines Wassersüchtigen während eines Sabbatmahls ...................... 955 *14,7-24 Paränesen zum Thema Mahleinladungen ...................................................... 961 XIV Inhalt *14,25-35 Bedingungen für das Jüngersein ...................................................................... 970 *15,1-32 Gleichnisse vom verlorenen Schaf und von der verlorenen Drachme. Gleichnis vom verlorenen Sohn ................................................................... 976 *16,1-13 Gleichnis vom betrügerischen Verwalter. Von der Zuverlässigkeit im Umgang mit Kleinem und Großem ........................................................... 988 *16,14-18 Gegen die Pharisäer: Geldgier. Gesetz und Propheten. Ehescheidung und Wiederheirat ...................................................................... 997 *16,19-31 Gleichnis von dem armen Lazarus und dem reichen Neves ...................... 1005 *17,1-10 Rede an die Jünger über Verführung und über die Macht des Glaubens 1012 *17,11-19 Heilung von zehn Aussätzigen ....................................................................... 1025 *17,2021 Vom Kommen der Gottesherrschaft ............................................................. 1030 *17,22-37 Von der Parusie des Menschensohns ............................................................ 1032 *18,1-8 Gleichnis von der bittenden Witwe ............................................................... 1038 *18,9-14 Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner im Tempel ....................................... 1040 *18,15-17 Segnung der Kinder .......................................................................................... 1043 *18,18-23 Die Frage nach den Bedingungen des ewigen Lebens ................................. 1045 *18,24-30 Reichtum und Nachfolge ................................................................................. 1054 18,31-34 Dritte Leidensankündigung .......................................................................... 1060 *18,35-43 Blindenheilung in Jericho ................................................................................ 1062 *19,1-10 Bekehrung des Zachäus ................................................................................... 1068 *19,11-28 Gleichnis von den anvertrauten Minen. Ankunft in Jerusalem ................ 1073 19,29-48 Auffindung des Reittiers. Akklamation am Ölberg. Dominus flevit. Tempelreinigung. [ Lehre im Tempel. Tötungswunsch ] ........................... 1080 *20,1-8 Vollmachtsfrage ................................................................................................ 1092 20,9-18 Gleichnis von den Weingärtnern ................................................................. 1096 *20,19 Verhaftungswunsch ......................................................................................... 1101 *20,20-26 Frage nach den Steuern für den Kaiser ......................................................... 1102 *20,27-40 Frage nach der Auferstehung .......................................................................... 1108 *20,41-44 Der Messias ist Davids Herr, nicht sein Sohn .............................................. 1117 *20,45-47 Warnung vor den Schriftgelehrten ................................................................ 1124 *21,1-4 Die Gabe der Witwe ......................................................................................... 1126 *21,5-19 Endzeitrede I ..................................................................................................... 1128 *21,20-36 Endzeitrede II .................................................................................................... 1135 *21,37-38 Abschließendes Summar: Lehre in Jerusalem .............................................. 1146 *22,1-6 Tötungsplan des Hohen Rats. Verrat des Judas ........................................... 1148 *22,7-13 Vorbereitung des Passamahls ......................................................................... 1152 *22,14-23 Das letzte Passamahl. Ankündigung des Verrats ......................................... 1155 *22,24-34 Mahlgespräche: Rangstreit der Jünger. Ankündigung der Verleugnung des Petrus .................................................. 1168 22,35-38 Stunde der Entscheidung. [ Zwei Schwerter ] .............................................. 1177 *22,39-46 Gebet am Ölberg ............................................................................................... 1179 *22,47-53 Begegnung mit dem Verhaftungstrupp ........................................................ 1183 *22,54-65 Verleugnung des Petrus. Verspottung Jesu durch die Wachen ................ 1190 Inhalt XV *22,66-71 Verhör vor dem Hohen Rat ............................................................................ 1197 *23,1-5 Prozess Jesu I: Überstellung an Pilatus. Verhör. Erstes Urteil des Pilatus 1202 *23,6-12 Prozess Jesu II: Überstellung an Herodes. Verhör. Verspottung .............. 1212 *23,13-25 Prozess Jesu III: Wiederholung der Unschuldserklärung Barabbas. Verurteilung ...................................................................................................... 1217 *23,26-32 Kreuzweg: Simon von Kyrene. Die Frauen von Jerusalem. Zwei Übeltäter 1224 *23,33-49 Kreuzigung und Tod Jesu ................................................................................ 1231 *23,50-56 Begräbnis Jesu ................................................................................................... 1250 *24,1-12 Auffindung des leeren Grabes. Engelbotschaft. Mitteilung an die Jünger 1260 *24,13-35 Erscheinung des Auferstandenen vor Emmaus/ Amaus und Kleopas ...... 1276 *24,36-49 Die Erscheinung des Auferstandenen vor den Jüngern ............................. 1294 *24,50-53 Sendung der Jünger. Abschied Jesu. [ Himmelfahrt. ] Rückkehr der Jünger nach Jerusalem ............................................................ 1312 Anhang II Das älteste Evangelium (Übersetzung) .................................................................... 1319 Anhang III Die Übereinstimmungen zwischen *Ev und den Varianten der Lk-Handschriften ..................................................................................................... 1363 Einführung ............................................................................................................................. 1365- Die Übereinstimmungen zwischen *Ev und den Varianten der kanonischen Lk-Handschriften ................................................. 1371- I. Fra g e stellung und Thema § 1: Evangelienforschung im 19. Jh. Im zweiten Drittel des 19. Jh. führte die neutestamentliche Wissenschaft in Deutschland zwei grundlegende Debatten zur Literargeschichte der Evangelien. Es handelt sich einmal um die Diskussion des sog. »Synoptischen Problems«, also um die Frage nach den literarischen Beziehungen zwischen den drei ersten Evangelien. Dieser Diskurs fand bekanntlich mit der Entwicklung der Zwei-Quellentheorie 1 eine grundlegende und bis heute weithin akzeptierte Antwort. Die andere, sehr intensiv geführte Diskussion kreiste um die Frage nach dem literarischen Verhältnis zwischen dem kanonischen Lk-Evangelium und dem Evangelium, das seit der Mitte des 2. Jh. als Teil der Schriftensammlung Marcions bezeugt ist. Das Ergebnis dieser Debatte war die Annahme, dass dieses marcionitische Evangelium eine aus theologischen Gründen redigierte und verkürzte Fassung des kanonischen Lk- Evangeliums darstellte - eine Vorstellung, die ihren klassischen und forschungsgeschichtlich äußerst wirkungsvollen Ausdruck in Adolf von Harnacks großem Marcion-Buch 2 fand. Beide Diskurse fanden nicht nur in einem vergleichsweise überschaubaren akademischen Umfeld beinahe gleichzeitig statt, sie weisen auch eine ganze Reihe inhaltlicher Gemeinsamkeiten auf: Beide Fragestellungen wurden zwar schon in der Alten Kirche diskutiert, erhielten ihr volles theologisches Gewicht aber erst durch das Aufkommen der historischen Kritik in der Exegese und standen seit dem letzten Drittel des 18. Jh. auf der wissenschaftlichen Tagesordnung. Beiden Diskursen gemeinsam war das theologische Interesse an historisch zuverlässigen Jesusüberlieferungen. Beide nahmen dazu die historische Genese und die literargeschichtlichen Beziehungen zwischen den Evangelien in den Blick, um den ältesten und mutmaßlich zuverlässigsten Bericht zu identifizieren, und beide arbeiteten dabei mit dem gleichen methodischen Instrumentarium, nämlich einer extensiv ______________________________ 1 Obwohl es im Trend der Zeit zu liegen scheint, ist es aus methodologischen Gründen angezeigt, von der Zwei-Quellentheorie zu sprechen antatt von einer Zwei-Quellenhypothese,. Denn die Zwei- Quellentheorie verbindet eine ganze Reihe hypothetischer Annahmen (Mk-Priorität; Existenz von ›Q‹; Unabhängigkeit von Mt und Lk usw.) zu einem komplexen Modell, das sehr viel mehr zu erklären beansprucht als nur die literarischen Beziehungen zwischen den ersten drei Evangelien. Eine valide Theorie muss etliche Kriterien erfüllen, darunter Extension, Widerspruchsfreiheit, Sparsamkeit und Falsifizierbarkeit. Was eine Theorie wissenshaftstheoretisch von einer Hypothese unterscheidet, ist nicht ein höherer Grad an Gewissheit, sondern der Umstand, dass sie aus formalen Gründen widerlegt werden kann (vgl. u., S. 10 Anm. 25). 2 A. VON H ARNACK , Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott, Leipzig 2 1924 (= Ndr. Darmstadt 1996); in der Folge nur als H ARNACK zitiert. 4 I. Fragestellung und Thema durchgeführten Quellenkritik. Und schließlich fanden die Lösungen der beiden Debatten, die um die Mitte des 19. Jh. entwickelt wurden, gegen Ende des Jahrhunderts prominente Protagonisten, die ihre Ergebnisse aufgriffen und ihnen in kurzer Zeit zu einer sehr weitreichenden, allgemeinen Akzeptanz verhalfen. Deren Positionen bestimmten - wiederum in beiden Fällen - die gesamte Evangelienforschung durch das 20. Jh. bis heute auf das Nachhaltigste. Erst angesichts dieser engen Entsprechungen zwischen den beiden Fragekreisen erhält ein letztes, höchst erstaunliches Phänomen sein volles Gewicht: Die Fragestellungen beider Diskurse und ihre Ergebnisse wurden zu keinem Zeitpunkt zueinander in Beziehung gesetzt. Die Debatten verliefen vielmehr teils nacheinander, teils nebeneinander her, ohne sich je zu beeinflussen. Es ist das Ziel der vorliegenden Untersuchung, diese beiden Fragestellungen wie die zwei Brennpunkte einer Ellipse aufeinander zu beziehen und zu zeigen, dass zwischen ihnen über die thematischen Berührungen hinaus ein unmittelbarer und unauflöslicher, sachlicher Zusammenhang besteht. In Anbetracht der forschungsgeschichtlichen Bedeutung dieser beiden Diskurse sowie der Tatsache, dass sie bereits vor 150 Jahren zu längst klassisch gewordenen Grundentscheidungen in der neutestamentlichen Wissenschaft geführt haben, erscheint es angezeigt, den folgenden Untersuchungen als Einleitung eine kurze forschungsgeschichtliche Skizze an den Anfang zu stellen. Sie soll nicht nur die Ursachen dafür andeuten, warum diese beiden Diskurse sich nicht gegenseitig beeinflusst haben, sondern auch die weiteren sachlichen Fragestellungen erkennen lassen, die sich aus ihrer inneren Beziehung zueinander ergeben. 1. Der Diskurs über das Synoptische Problem Die Diskussion des Synoptischen Problems behandelt die Frage, wie die erkennbar engen Beziehungen zwischen den drei ersten Evangelien literargeschichtlich zu erklären seien. 3 Obwohl diese Frage sehr viel älter ist, wurde sie erst im letzten Drittel des 18. Jh. zu einer zentralen Aufgabe der Exegese. Das theologische Interesse, das ihre Klärung motivierte und vorantrieb, war durch das gesamte 19. Jh. hindurch die historische Frage: Welches der kanonischen Evangelien hat am ehesten Anspruch darauf, historisch zuverlässig über Jesus zu berichten? Die Lösungsansätze, die seit dem Ende des 18. Jh. diskutiert wurden, verstanden sich daher immer - zumindest: auch - als Beiträge zur historischen Jesusforschung, und sie korrelierten dem- ______________________________ 3 Für die ältere Forschungsgeschichte vgl. die immer noch unverzichtbaren Klassiker: A. S CHWEITZER , Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 9 1984; W. G. K ÜMMEL , Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, Freiburg - München 2 1970, 88-104.177-200. § 1: Evangelienforschung im 19. Jh. 5 entsprechend auch immer mit bestimmten Jesusbildern: Ein nicht zu unterschätzender Aspekt für die Akzeptanz und Durchsetzung einzelner Modelle war daher immer auch die Akzeptanz des dadurch gestützten Jesusbildes. Den entscheidenden Vorstoß zu einer historisch-kritischen Bewertung der Quellen stellte die Veröffentlichung einer Evangeliensynopse durch Johann Jakob Griesbach dar, die erstmals den Text der synoptischen Evangelien in Spalten nebeneinander abdruckte und so die Übereinstimmungen, vor allem aber die Unterschiede zwischen den drei Evangelien sichtbar machte: Beide Phänomene verlangten nach einer historisch plausiblen Erklärung. 4 Die wichtigsten Modelle, die in der Folge diskutiert wurden, sind bekannt und gehören in jeder Einleitung zum NT zu dem festen Grundlagenstoff: Neben den Theorien, die mit der Annahme gemeinsamer, aber unterschiedlich verarbeiteter Vorlagen operierten (Urkunden-, Diegesen-, Traditionshypothese) und dabei auch mündliche Überlieferungen mit einbezogen, standen die sog. Benutzungsmodelle, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Synoptikern dadurch erklärten, dass zwischen ihnen ein direkter literarischer Zusammenhang bestand: Sie haben sich gegenseitig benutzt. Grundlegend für alle Benutzungsmodelle wurde eine Beobachtung des Berliner Philologen Karl Lachmann, 5 der 1835 in seiner berühmten Untersuchung über die Reihenfolge des Erzählmaterials in den synoptischen Evangelien gezeigt hatte, dass die Übereinstimmungen in der Perikopenfolge zwischen Mt und Lk nur so weit gingen, als sie auch mit Mk übereinstimmen: Mk ist die gemeinsame Mitte von Mt und Lk. 6 Eine mögliche Erklärung für dieses Phänomen ist die Annahme, dass Mk die gemeinsame Quelle von Mt und Lk darstellt. Lachmann hatte diese Folgerung, die unter der Bezeichnung »Lachmann-Trugschluss« in die Diskussion eingegangen ist, 7 jedoch gar nicht gezogen. Sie ist auch nicht zwingend, da sich dieses Phänomen (wie die meisten literarkritischen Beobachtungen) auf verschiedene Weisen erklären lässt. Aber die mögliche Konsequenz, dass Mk durch Mt und Lk benutzt wurde, lag gleichsam in der Luft. Denn nur kurze Zeit später - und offensichtlich ohne Kenntnis von Lachmanns Arbeit - begründete Christian Gottlob ______________________________ 4 Synopsis Evangeliorum Matthaei, Marci et Lucae ed. J. J. G RIESBACH , Halle 1776. 5 Lachmann ist für die Erforschung des NT vor allem deshalb von Bedeutung, weil er als erster die Notwendigkeit eines zuverlässigen, kritischen Textes erkannt und eine Ausgabe vorgelegt hatte: Novum Testamentum Graece et Latine. Carolus Lachmann recensuit … I/ II, Berlin 1842/ 50. 6 Vgl. C. L ACHMANN , De ordine narrationum in evangeliis synopticis, ThStKr 8 (1835), 570-590. Eine engl. Übersetzung des Hauptteils dieser Abhandlung bei N. H. P ALMER , Lachmann’s Argument, NTS 13 (1967), 368-378: 370ff. 7 Vgl. dazu W. R. F ARMER , Lachmann Fallacy, NTS 14 (1968), 441-443; B. C HR . B UTLER , The Lachmann Fallacy, in: A. J. Bellinzoni et al. (eds.), The Two-Source Hypothesis, Macon 1985, 133-142; C HR . M. T UCKETT , The Argument from Order and the Synoptic Problem, ThZ 36 (1980), 338-354; F R . N EIRYNCK , The Argument(s) from Order, in: ders., Evangelica III, Leuven 2001, 363-370. 6 I. Fragestellung und Thema Wilke 8 in einer umfangreichen Arbeit die Mk-Priorität ausführlich: »Markus ist der Urevangelist. Sein Werk ist’s, das den beiden andern Evangelien des Matthäus und Lukas zum Grunde liegt. Dieses Werk ist nicht die Kopie eines mündlichen Urevangeliums, sondern es ist künstliche Komposition.« 9 Gleichzeitig mit Wilkes Nachweis der Mk-Priorität (und ebenfalls unabhängig von Lachmann) formulierte der Leipziger Philosoph Christian Hermann Weiße zum ersten Mal das Grundgerüst der Zwei-Quellentheorie: Mt und Lk hätten nicht nur das Mk-Evangelium, sondern daneben noch eine »Spruchsammlung« verwendet, und zwar unabhängig voneinander. 10 Für Weiße war die Wahrnehmung dieser zweiten Quelle abhängig von der vorangehenden Einsicht in die Priorität des Mk vor den Seitenreferenten. 11 Diese Lösung fand aber zunächst keine Befürworter. Als Weiße 18 Jahre später auf das Thema zurückkam, beklagte er sich, dass niemand den »durch die Untersuchungen Schleiermachers und Lachmanns angebahnten Weg gegangen ______________________________ 8 Dass Wilke ein »ehemaliger sächsischer Pfarrer« war, ist seit Albert Schweitzers kurzem biographischen Hinweis bekannt, demzufolge Wilke seine Pfarrstelle in Herrmannsdorf im Erzgebirge im Jahr 1837 niederlegte, »um seinen gelehrten Studien zu leben, vielleicht auch schon innerlich uneins mit sich selbst« (S CHWEITZER , a. a. O. 158). Diese letzte Andeutung bezieht sich auf Wilkes Konversion zur katholischen Kirche im Jahr 1846. Jedoch hat er sein Pfarramt nicht freiwillig aufgegeben, sondern wurde 1836 aus dem Dienst entlassen (allerdings nicht wegen katholisierender Tendenzen, sondern aus disziplinarischen Gründen: Aktenkundig wurden seine Grobheit im Umgang mit Gemeindegliedern und Kollegen sowie am Ende und entscheidend ein unerlaubtes Verhältnis zu seiner Haushälterin). Vgl. H. M ULERT , Zur Lebensgeschichte Chr. G. Wilkes, ThStKr 90 (1917), 198-206: 200f. Wilke lebte seit 1837 in Dresden, nach seiner Konversion im Jahr 1846 in Würzburg. 9 C HR . G. W ILKE , Der Urevangelist oder exegetisch kritische Untersuchung über das Verwandtschaftsverhältniß der drei ersten Evangelisten, Dresden - Leipzig 1838, 684. 10 C HR . H. W EISSE , Die evangelische Geschichte: Kritisch und philosophisch bearbeitet I, Leipzig 1838, 83: »Wir haben bereits angemerkt, daß wir dieses Verhältniß (sc. zwischen Mt und Lk) für ein unabhängiges erkennen, unabhängig nämlich in der Benutzung der gemeinschaftlichen Quellen durch jeden der beiden, nicht aber in dem Sinne, als ob jeder von beiden, durchgehends oder dem größern Theile nach, andere Quellen, als der andere, benutzt hätte. Nicht nur Marcus ist beiden gemeinschaftliche Quelle, sondern, unserer bestimmtesten Überzeugung nach, auch die Spruchsammlung des Matthäus« (Hervorhebung M. K.; da Weiße das Nebeneinander zweier Quellen anhand der zahlreichen »Doubletten« vor allem bei Mt entdeckt hatte, sprach er von der »Spruchsammlung des Mt«). 11 »Mich selbst hat nur die unwiderstehliche Evidenz, mit welcher sich dieselbe (sc. die Zwei- Quellenhypothese) mir bei anhaltender selbständiger Benutzung der Quellen aufdrang, bewegen können, sie aufzunehmen und mich ihr hinzugeben. Als ich zuerst das punctum saliens, von wo aus sich mir die Hypothese entwickelte, - die Originalität und Priorität des Marcusevangeliums vor den übrigen - gewahr ward, fand ich mich dadurch überrascht, ja erschreckt; ich mistraute meinem Funde lange Zeit und sträubte mich fast gewaltsam dagegen, da mir dasselbe keineswegs zu der in mir bereits festgestellten Grundansicht über den Inhalt dieser Urkunden zu passen schien, die sich, wie man leicht erachten wird, auch mir zunächst aus der unter den Theologen dieser Zeit fast allgemein geltenden Traditionshypothese entwickelt hatte« (W EISSE , a. a. O. V). § 1: Evangelienforschung im 19. Jh. 7 wäre.« 12 Die allgemeine Akzeptanz der Zwei-Quellentheorie begann erst mit Heinrich Julius Holtzmanns Arbeit über »Die synoptischen Evangelien«. 13 Holtzmann nahm eine Grundschrift (mit dem Sigel A bezeichnet) an, eine Art Ur- Markus, die von allen drei Evangelisten redaktionell bearbeitet worden sei, etablierte daneben die zweite Quelle, die er mit dem Sigel Λ (für λόγια) bezeichnete, und fügte eine Reihe von Exkursen an, in denen er das redaktionelle Verfahren der Evangelisten plausibel machte. Später gab er die Differenzierung zwischen A und Mk auf, sodass als Quellen für Mt und Lk tatsächlich nur Mk und die zusätzliche Quelle mit Jesuslogien übrig blieben. 14 Entscheidend für den Erfolg dieser Lösung war Holtzmanns Annahme, dass die beiden »ältesten Quellen« A und Λ (letztere in der Abfolge, wie sie in Lk aufgenommen ist) den Ablauf der Ereignisse im Leben Jesu übereinstimmend und zuverlässig darstellten. Vorausgesetzt ist dabei eine doppelte Unabhängigkeit: Einerseits seien die beiden Quellen (also: der »Urmarkus« A bzw. Mk und die »Logienquelle« Λ) unabhängig voneinander entstanden. 15 Holtzmann wertete die von ihm bemerkten Analogien im Aufriss als Zeichen für die historische Zuverlässigkeit der Berichte - ein Argument, das noch bis in die allerjüngste Zeit eine entscheidende Rolle in der historischen Jesusforschung spielt. Andererseits hätten Mt und Lk unabhängig voneinander auf diese beiden Quellen zurückgegriffen; diese Unabhängigkeit der redaktionellen Arbeit von Mt und Lk fungiert dabei als conditio sine qua non für die Rekonstruktion von Λ, denn wenn es eine direkte Beziehung zwischen Mt und Lk gegeben hätte, ließe sich das gemeinsame nicht-mk Material nicht auf eine gemeinsame Quelle zurückführen. Auch dieses Argument spielt in den Diskussionen um »Q« bis heute eine zentrale Rolle. Das Jesusbild, das sich auf diese Weise ergab, stellte die exegetische Grundlage für die zahlreichen Leben Jesu gegen Ende des 19. Jh. dar: Es war liberal, frei von allem Mythologischen und Eschatologischen, und es war psychologisch plausibel: Nach Holtzmanns Zwei-Quellentheorie entwickelte Jesus ein zunehmendes Bewusstsein seiner Messianität, offenbarte diese den Jüngern sukzessive bis hin zum Messiasbekenntnis in Cäsarea Philippi und scheiterte am Ende auf tragische ______________________________ 12 C HR . H. W EISSE , Die Evangelienfrage in ihrem gegenwärtigen Stadium, Leipzig 1856, 85. 13 H. J. H OLTZMANN , Die synoptischen Evangelien, Leipzig 1863. Zur forschungsgeschichtlichen Würdigung vgl. auch W. B AUER , Heinrich Julius Holtzmann (geb. 17. Mai 1832). Ein Lebensbild, in: ders., Aufsätze und kleine Schriften, Tübingen 1967, 285-341: 298-302. 14 H. J. H OLTZMANN , Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in das Neue Testament, Freiburg/ Brsg. 3 1892, 351ff; vgl. K ÜMMEL , a. a. O. 185. 15 Das für die Logienquelle gebräuchliche Sigel Q wurde vermutlich zuerst im Jahr 1880 von Eduard Simons und dann 1890 von Johannes Weiß verwendet. Vgl. Fr. N EIRYNCK , The Symbol Q (Quelle), in: ders., Evangelica I, Leuven 1982, 683-689; und DERS ., Note on the Siglum Q, in: ders., Evangelica II, Leuven 1991, 474. 8 I. Fragestellung und Thema Weise. Mit der Zwei-Quellentheorie hatte Holtzmann ein Modell präsentiert, das die methodischen Engführungen der Tübinger Tendenzkritik ebenso überwand, wie es die verstörenden Aspekte von David Friedrich Strauß’ Jesusbild vermied. 16 Dieser Befund erklärt die Ambivalenz von Albert Schweitzers Urteil über seinen Straßburger Lehrer Holtzmann. Auf der einen Seite hatte er für Holtzmanns historisches Urteil wegen dessen psychologisierenden Jesusbildes nur Spott übrig, auf der anderen Seite erkannte er seine Leistung bei der literarischen Analyse der Evangelien uneingeschränkt an: »Gesiegt hat nicht die reine Markushypothese, sondern die Markushypothese in liberal-psychologisierender Anwendung.« 17 Aber immerhin sei diese Markushypothese »durch Holtzmann auf einen solchen Grad der Evidenz gebracht, dass sie nicht mehr eine Hypothese genannt werden kann« 18 - die literarische und die historische Fragestellung beginnen auseinander zu treten. Schweitzers Einschätzung der Validität der Zwei-Quellentheorie ist, zumindest mit Blick auf die deutschsprachige Forschung im 20. Jh., sicher zutreffend: Auch, wenn es notwendige Differenzierungen und Weiterentwicklungen gab, wurde die Grundannahme doch nur selten wirklich in Frage gestellt. Schon 1904 konstatierte Richard Adolf Hoffmann angesichts der synoptischen Frage »ein gewisses Gefühl von Behaglichkeit«: »Endlich einmal ein gelöstes Problem nach den mannigfachen Irrgängen theologischer Forschung, ein ruhender Pol in der Erscheinungen Flucht.« 19 Es verwundert daher nicht, dass Willi Marxsen ziemlich genau 100 Jahre nach Holtzmann Schweitzers Einschätzung der Sache nach wiederholen konnte: »Diese Zwei-Quellentheorie hat sich in der Forschung so sehr bewährt, dass man ______________________________ 16 D. F R . S TRAUSS , Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet I/ II, Tübingen 1835/ 36. Klassisch ist die Darstellung von Inhalt und Wirkung dieses grundlegenden Werks bei A. S CHWEITZER , Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 9 1984, 106-154. 17 S CHWEITZER , a. a. O. 229. Mit dem Stichwort »Markushypothese« bezeichnet Schweitzer die Markuspriorität als wesentliches Merkmal der Zwei-Quellentheorie. Es ist einigermaßen charakteristisch, dass Schweitzer noch am Anfang des 20. Jh. Holtzmanns Leistung weniger in der Etablierung von Λ (oder Q) sah, als in der Begründung der Markuspriorität. Die rasche Etablierung der Markuspriorität und der Erfolg von Holtzmanns Propagierung der Zwei-Quellentheorie werden vor dem zeit- und geistesgeschichtlichen Hintergrund der Bismarckära verständlich, auch wenn man kaum sagen kann, dass das politische und geistige Klima im protestantischen Preußen diese Theorie erst hervorgebracht habe. Vgl. W. R. F ARMER , State Interesse and Markan Primacy: 1870- 1914, in: ders., H. Graf Reventlow (eds.), Biblical Studies and the Shifting of Paradigms, 1850-1914, Sheffield 1995, 15-49; D. B. P EABODY , H. J. Holtzmann and his European Colleagues. Aspects of the Nineteenth-century European Discussion of Gospel Origins, ebd. 50-131; D. L. D UNGAN , A History of the Synoptic Problem, New York 1999, 326ff. 18 S CHWEITZER , a. a. O. 227. 19 R. A. H OFFMANN , Das Marcusevangelium und seine Quellen, Königsberg 1904, 1. Dieser Fund bei A. F UCHS , Schrittweises Wachstum, in: ders., Studien zu Deuteromarkus II, Münster 2004, 115- 170: 115. § 1: Evangelienforschung im 19. Jh. 9 geneigt ist, die Bezeichnung ›Theorie‹ (im Sinn von Hypothese) dafür aufzugeben. Man kann sie in der Tat als ein gesichertes Ergebnis ansehen.« 20 Die englischsprachige Forschung, für welche die Verknüpfung von historischer und literarischer Fragestellung nicht in dem Maß prägend war wie für die deutschsprachige, hat die Zwei-Quellentheorie jedoch immer wieder grundsätzlich in Frage gestellt und alternative Modelle entworfen. Neben einer Reihe von flankierenden Argumenten ist dafür vor allem ein gewichtiges sachliches Problem verantwortlich, das sich nicht ohne weiteres im Rahmen der Zwei-Quellentheorie erklären lässt: Die sog. »Minor Agreements«. 21 Dieser Begriff, der sich nicht von ungefähr auch in der deutschsprachigen Forschung in seiner englischen Form eingebürgert hat, bezeichnet eine Vielzahl kleinerer Übereinstimmungen zwischen Mt und Lk gegenüber Mk innerhalb des allen drei Evangelien gemeinsamen Textbestandes: Sei es, dass beide übereinstimmende, aber von Mk abweichende Formulierungen verwenden; sei es, dass beide in den mit Mk gemeinsamen Erzählzusammenhängen zusätzliche identische bzw. sehr ähnliche Informationen liefern; sei es, dass in beiden die gleichen Aussagen aus Mk nicht enthalten sind. Unter der für die Entwicklung der Zwei-Quellentheorie grundlegenden Annahme, dass Mt und Lk ihre redaktionelle Zusammenfügung der beiden Hauptquellen unabhängig voneinander unternommen haben, stellen diese »Minor Agreements« eine schwere Beeinträchtigung für das Modell dar: Sofern sie einen direkten Zusammenhang zwischen Mt und Lk belegen, dürfte es sie eigentlich gar nicht geben. Die Vertreter der Zwei-Quellentheorie haben im Lauf der Zeit eine Reihe von hilfsweisen Lösungen angeboten, um die problematische Inkonsistenz zwischen dem Textbefund und der sie erklärenden Theorie zu beseitigen. 22 So gibt es die Annahme, dass Mt und Lk nicht das kanonische Mk-Evangelium benutzt hätten, sondern entweder eine ältere Fassung (also einen »Ur-Markus« analog zu Holtzmanns Quelle A) oder eine redaktionell bearbeitete Fassung von Mk (»Deutero-Markus«). 23 ______________________________ 20 W. M ARXSEN , Einleitung in das Neue Testament, Gütersloh 1963, 106. 21 Zu den »Minor Agreements« vgl.: F. G. D OWNING , Disagreements of Each Evangelist with the Minor Close Agreements of the Other Two, ETL 80 (2004), 445-469; A. E NNULAT , Die »minor agreements«, Tübingen 1994; M. D. G OULDER , Two Significant Minor Agreements (Mat. 4: 13 Par.; Mat. 26: 67- 68 Par.), NT 45 (2003), 365-373; F R . N EIRYNCK , Goulder and the Minor Agreements, in: ders., Evangelica III, Leuven 2001, 307-318; DERS ., The Minor Agreements and Q, ebd. 245-266; G. S TRECKER (Hg.), Minor Agreements, Göttingen 1993; R. B. V INSON , The Significance of the Minor Agreements as an Argument Against the Two-Document Hypothesis, Diss. theol. Duke Univ., 1984. 22 Vor allem Frans Neirynck hat sich darum bemüht, die »Minor Agreements«, deren Zahl (über die keine Einigkeit besteht) er für sehr viel geringer hält als andere, als identische, aber voneinander unabhängige redaktionelle Änderungen der Seitenreferenten zu erklären (vgl. F R . N EIRYNCK , The Minor Agreements and the Two-Source-Theory, in: ders., Evangelica II, Leuven 1991, 3-42). 23 Die Ur-Markus Hypothese wurde gegen Ende des 19. Jh. verschiedentlich vertreten, u. a. von R. A. Hoffmann (s.o., Anm. 19) und wird gegenwärtig wieder propagiert von D. B URKETT , The Case for 10 I. Fragestellung und Thema Erwogen wurde auch, dass diese Übereinstimmungen auf den Einfluss mündlicher Überlieferung zurückgehen oder aber sich einer späteren Angleichung der Textüberlieferung verdanken. Und schließlich wird überlegt, ob diese Übereinstimmungen nicht dadurch erklärt werden könnten, dass es eben doch - wenigstens gelegentlich - eine direkte Beziehung zwischen Mt und Lk gegeben haben könnte. 24 All diese Überlegungen sind zwar theoretisch denkbar, aber nicht unbedingt wahrscheinlich: Von einem Ur- oder Deutero-Markus fehlt jede handschriftliche Spur; es handelt sich um ein bloßes Postulat, das aus der Erklärungsnot geboren ist. Auch der Einfluss mündlicher Überlieferung auf Mt und Lk ist ein ungeeignetes Konstrukt; abgesehen von der prinzipiellen Unbeweisbarkeit, die mit der Kategorie der Mündlichkeit gegeben ist, werden so die kleinen und kleinsten Übereinstimmungen in den Formulierungen, die sich semantisch nur geringfügig oder überhaupt nicht auswirken, nicht erklärt. Genauso wenig plausibel ist die Annahme von Veränderungen in der handschriftlichen Überlieferung, die die Formulierungen von Mt und Lk aneinander angleichen: Wieso sollten diese Angleichungen nur in Mt und Lk, nicht aber auch in Mk geschehen sein? Die Überlegung schließlich, dass Mt und Lk zwar grundsätzlich unabhängig voneinander gearbeitet hätten, der eine den anderen aber eben doch gelegentlich zu Rate gezogen haben könnte, würde das Ende methodisch kontrollierter Arbeit bedeuten: Man kann nicht eine Theorie auf eine bestimmte Annahme gründen (hier: die prinzipielle Unabhängigkeit von Mt und Lk), dann aber genau diese Annahme preisgeben, weil die Theorie nicht alle Phänomene hinreichend zu erklären in der Lage ist. 25 ______________________________ Proto-Mark, Tübingen 2018 (mit einem forschungsgeschichtlichen Kapitel, das die wichtigsten Vorläufer auflistet: 7-24). Die Deutero-Mk-Theorie wurde in den letzten Jahren vor allem von Albert Fuchs in zahlreichen Beiträgen vertreten, die jetzt gesammelt vorliegen: A. F UCHS , Spuren von Deuteromarkus I-V, Münster 2004-2007; zur Rezeption vgl. beispielsweise U. S CHNELLE , Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 4 2002, 194f. 24 Als Beispiel kann dienen, was Chr. M. Tuckett auf M. D. G OULDER , On Putting Q to the Test, NTS 24 (1977/ 78), 218-234, antwortete, der eine Reihe von »Minor Agreements« als Argument gegen die Zwei-Quellentheorie angeführt hatte: »If one of his examples were established, this would indicate that Luke knew Matthew, but this would not of itself prove that the whole Q hypothesis was invalid. It might be that Luke used Q for most of the ›double tradition‹ but that he also knew Matthew’s gospel and used it occasionally« (C HR . M. T UCKETT , On the Relationship Between Matthew and Luke, NTS 30 [1984], 130-142: 130). Vgl. ähnlich auch F R . N EIRYNCK , Recent Developments in the Study of Q, in: ders., Evangelica II, Leuven 1991, 409-464; M. S. Goodacre, The Case Against Q, Harrisburg 2001, 165ff. 25 Vgl. M. K LINGHARDT , The Marcionite Gospel and the Synoptic Problem: A New Suggestion, NT 50 (2008), 1-27: 3f; J. K IILUNEN , »Minor Agreements« und die Hypothese von Lukas’ Kenntnis des Matthäusevangeliums, in: I. Dunderberg, Chr. M. Tuckett (eds.), Fair Play, Leiden u. a. 2002, 165-202. - Da die »Minor Agreements« eine literarische Beziehung zwischen Mt und Lk belegen, heben sie die theoretischen Grundlagen der Zwei-Quellentheorie auf (Unabhängigkeit von Mt und Lk): Die Zwei- Quellentheorie scheitert am Kriterium der Widerspruchsfreiheit, sie ist also formal falsifizierbar. § 1: Evangelienforschung im 19. Jh. 11 Angesichts dieser recht hilflos wirkenden Versuche zur Rettung der Zwei- Quellentheorie wird verständlich, dass man immer wieder auch grundsätzliche Alternativen erwogen hat. Vor allem drei Modelle wurden und werden ernsthaft diskutiert. Das erste ist die Wiederaufnahme des Modells, das bereits Griesbach vertreten hatte: Seit den 1960er Jahren haben William R. Farmer und andere in seiner Folge die Annahme der Mk-Priorität preisgegeben und stattdessen eine Theorie entwickelt, die unter der Bezeichnung Two-Gospel- (oder auch »Neo- Griesbach«-) Hypothesis firmiert. 26 Dieses Modell verzichtet auf die Annahme einer weiteren Quelle und erklärt die synoptischen Beziehungen durch ein reines Benutzungsmodell: Lk hat Mt benutzt und bearbeitet, Mk hat sowohl Lk als auch Mt benutzt. Im Unterschied zur Zwei-Quellentheorie (oder, in der älteren Terminologie, zur »Markushypothese«) ist Mk hier nicht der Ausgangs-, sondern der Endpunkt der synoptischen Überlieferungsgeschichte. Diese Überlegung bringt Lachmanns (prinzipiell neutrale) Charakterisierung von Mk als der Mitte von Mt und Lk nicht dadurch in ein diachrones Verhältnis zu den Seitenreferenten, dass er ihnen als Quelle vor-, sondern dass er ihnen als Epitome nachgeordnet ist. Die Dreifachüberlieferung erscheint nach diesem Modell als Ergebnis eines Extrakts, den Mk aufgrund der Gemeinsamkeiten von Mt und Lk hergestellt hätte. Zumindest auf dieser sehr abstrakten Ebene leuchtet ein, dass die für die Zwei-Quellentheorie so ärgerlichen »Minor Agreements« nach der Two-Gospel-Hypothesis kein Problem darstellen. Zugleich ist deutlich, dass die Annahme einer doppelten Abhängigkeit - Lk von Mt, Mk von Lk und von Mt - sowohl den notwendigen Spielraum für Veränderungen innerhalb der Überlieferung als auch die Möglichkeit einer treuen Bewahrung einräumt. Die andere Alternative zur Zwei-Quellentheorie rechnet ebenfalls mit einer doppelten Benutzung, hält jedoch an der Mk-Priorität fest, sodass Mt von Mk abhängig ist, Lk von Mk und von Mt. Dieses Modell ist mit einiger Zähigkeit im Lauf der Jahrzehnte wieder und wieder in die Diskussion eingebracht worden 27 und hat de facto die synoptische Frage als solche wirklich offen gehalten. Obwohl ______________________________ Darin unterscheidet sie sich von allen anderen Hypothesen zur Erklärung des Synoptischen Problems, deren Richtigkeit anhand des Grades ihrer (historischen) Plausibilität bewertet werden kann. 26 W. R. F ARMER , The Synoptic Problem, New York 1964 (= 2 1976); DERS ., The Present State of the Synoptic Problem, in: R. P. Thompson, Th. E. Phillips (eds.), Literary Studies in Luke-Acts, Macon 1998, 11-36; D. L. D UNGAN , A History of the Synoptic Problem, New York 1999; A. J. M C N ICOL et al. (eds.), Beyond the Q Impasse, Valley Forge 1996; A. J. M C N ICOL , Jesus’ Directions for the Future, Macon 1996. 27 A. F ARRER , On Dispensing with Q, in: D. E. Nineham (ed.), Studies in the Gospels, Oxford 1955, 55-88; M. D. G OULDER , Luke: A New Paradigm, Sheffield 1989; M. S. G OODACRE , Goulder and the Gospels, Sheffield 1996; DERS ., The Case Against Q, Harrisburg 2001. 12 I. Fragestellung und Thema dieses Modell, das auch unter der Bezeichnung »Markan-Priority-without-Q« Hypothese firmiert, im Unterschied zur Two-Gospel Hypothesis an der Mk- Priorität festhält, hat es mit ihr zwei wichtige Aspekte gemein: Beide rechnen damit, dass der letzte Bearbeiter zwei Evangelien vorliegen hatte, und beide gehen davon aus, dass Lk von Mt abhängig sei. Im Horizont eines reinen Benutzungsmodells bereitet vor allem dieser letzte Aspekt Schwierigkeiten, weil er zu der Annahme nötigt, dass Lk die mt Redekompositionen (vor allem die Bergpredigt) in kleinere Einheiten zerlegt und diese an sehr verschiedenen Stellen in seine Erzählung eingefügt hätte. 28 Dieser Einwand ist wohl hauptsächlich dafür verantwortlich, dass auch in der englischsprachigen Forschung, trotz der traditionell kritischeren Haltung, die Zwei-Quellentheorie heute de facto die mit Abstand am weitesten verbreitete Erklärung für das Synoptische Problem ist - mit allen Implikationen und Folgen für die damit zusammenhängenden historischen Fragen, die bei ihrer Entwicklung in der Mitte des 19. Jh. Pate standen. Ein letzter Versuch, den ärgerlichen »Minor Agreements« beizukommen, soll hier kurz erwähnt werden, nämlich die in den letzten Jahrzehnten (wieder) in die Diskussion eingebrachte Deuteromarkus-Hypothese. 29 Sie rechnet damit, dass das Mk-Evangelium in verschiedenen Textgestalten vorgelegen habe: Die Seitenreferenten hätten nicht die kanonische Mk-Fassung, sondern eine als Deuteromarkus bezeichnete Überarbeitung benutzt. In diesem Fall werden also die gemeinsamen Differenzen von Mt und Lk gegenüber Mk nicht auf einen älteren, sondern auf einen jüngeren (allerdings nicht erhaltenen und auch nicht bezeugten) Text zurückgeführt. Die »Minor Agreements« in Mt und Lk erscheinen hier also als Bestandteile einer sekundären Bearbeitung des Mk. Ob dieser Versuch »der Widerspenstigen Zähmung« 30 allerdings gelungen ist, erscheint fraglich. Denn dazu ist es nötig, die angenommenen Unterschiede zwischen dem kanonischen Mk und dem hypothetischen »Deutero-Markus« auf ein redaktionelles Konzept in »Deutero-Markus« zurückzuführen: Dieses Unterfangen ist zumindest problematisch. ______________________________ 28 Dieser Einwand hatte Burnett Streeter zu dem berühmten Urteil veranlasst, eine Theorie, die einen Autor eines solchen Verfahrens für fähig hält, sei nur dann haltbar, wenn es auch andere Gründe für die Annahme gäbe, er sei ein »Spinner« (»crank«: B. H. S TREETER , The Four Gospels, London 1924, 183). 40 Jahre später hat Reginald Fuller für dieses Verfahren die drastische (aber unübersetzbare) Metapher »unscrambling the egg with a vengeance« geprägt (R. H. F ULLER , The New Testament in Current Study, London 1963, 87). 29 Vor allem vertreten von Albert Fuchs, dessen einschlägige Untersuchungen zusammen mit zwei Beiträgen von H. Aichinger gesammelt vorliegen: A. F UCHS , Spuren von Deuteromarkus I-V, Münster 2004-2007. 30 Diese Bezeichnung bei A. F UCHS , Durchbruch in der Synoptischen Frage, in: ders, Spuren von Deuteromarkus I, Münster 2004, 101-115: 102. § 1: Evangelienforschung im 19. Jh. 13 2. Der Diskurs über Lk und das marcionitische Evangelium Im Unterschied zur Diskussion des Synoptischen Problems, das der neutestamentlichen Forschung zumindest als Fragestellung immer (wieder) präsent war, ist die Frage nach dem literarischen Verhältnis zwischen dem kanonischen Lk-Evangelium und dem marcionitischen Evangelium fast vollständig aus dem Bewusstsein der Forschung verschwunden. Dieser Diskurs spielt in der neutestamentlichen Forschung überhaupt keine Rolle mehr: Das Problem wird in der einschlägigen Literatur zum Lukasevangelium - also in Einleitungen und Kommentaren - noch nicht einmal als interessante forschungsgeschichtliche Fußnote erwähnt, geschweige denn ernsthaft diskutiert. Die literarische Verwandtschaft zwischen Lk und dem marcionitischen Evangelium findet allenfalls in der (patristischen) Literatur zu Marcion und zur Geschichte des Kanons gelegentlich Erwähnung. Als Problem war diese Fragestellung der patristischen Forschung durch die altkirchlichen Häresiologen - allen voran Irenaeus und Tertullian - aufgegeben: Sie hatten die große Ähnlichkeit der beiden Texte erkannt und übereinstimmend und vehement die Ansicht vertreten, dass der »Erzketzer« Marcion im 2. Jh. das kanonische Lk-Evangelium gemäß seiner theologischen Ansicht redaktionell bearbeitet und »verfälscht« habe. Diese Bestimmung der literarischen Abhängigkeit wurde erst am Ende 18. Jh. durch die historische Kritik in Frage gestellt. Johann Salomo Semler hatte als erster die Historizität von Tertullians Behauptung einer marcionitischen Redaktion des Lk angezweifelt. 31 In den folgenden Jahren wurde diese Sicht verschiedentlich aufgegriffen. 32 Eine entscheidende Rolle spielte dabei die Einsicht, dass sich die Differenzen zwischen Lk und dem marcionitischen Evangelium nicht wirklich aus einem redaktionellen Interesse Marcions erklären lassen: Auf der einen Seite enthält sein Evangelium Aussagen, die im Widerspruch ______________________________ 31 Vgl. J. S. S EMLER , »Vorrede«, in: Thomas Townsons Abhandlungen über die vier Evangelien. Mit vielen Zusätzen und einer Vorrede über Marcions Evangelium von J. S. S., Leipzig 1783 (62 S., unpag.). Semler, der das Problem nicht im Einzelnen diskutierte, störte sich vor allem an dem bloßen Behauptungscharakter von Tertullians Altersbeweis (Tert. 4,4,4): »Ich habe schon seit langer Zeit einen ernstlichen Unwillen wider dergleichen deklamatorische Stellen im Tertullian. … er hült sich ganz in Deklamationen; ehrliche Historie hatte er nicht, oder wollte sie nicht anwenden« (a. a. O. 26). Vgl. DERS ., Neuer Versuch, die gemeinnützige Auslegung und Anwendung des neuen Testaments zu befördern, Halle, 1786, 162f. Zur Forschungsgeschichte bis um 1840 vgl. A. R ITSCHL , Das Evangelium Marcions und das kanonische Evangelium des Lucas. Eine kritische Untersuchung, Tübingen 1846, 5-20. 32 Vgl. H EINRICH C ORRODI , Versuch einer Beleuchtung der Geschichte des jüdischen und christlichen Bibelkanons I/ II, Halle 1792 (= Berlin - Stet[t]in 1788); J OSIAS F R . C HR . L ÖFFLER , Marcionem Paulli epistulas et Lucae evangelium adulterasse dubitatur, in: Commentationes theologicae vol. I, Leipzig 1795, 180-218; J OHANN E RNST C HRISTIAN S CHMIDT , Das ächte Evangelium des Lucas, eine Vermuthung, Magazin für Religionsphilosophie, Exegese und Kirchengeschichte 5 (1796) 468-520. 14 I. Fragestellung und Thema zu seiner mutmaßlichen Theologie stehen und daher eigentlich »bereinigt« sein müssten, andererseits sind aber auch vollkommen unverdächtige Aussagen für Marcions Evangelium eindeutig anders überliefert als im kanonischen Lk: Die seit Irenaeus angenommene redaktionelle Tätigkeit Marcions lässt sich nicht mit seinen theologischen Interessen erklären. Dass man gleichwohl an dieser Erklärung festhielt, war der Grund für den empörten Einwand, dem Johann Ernst Christian Schmidt typographischen Ausdruck verlieh: »Aber! - - - ein vorsätzlicher Veränderer des Evangeliums, der sich einmal erlaubte, wegzuschneiden, was nicht für seinen Zweck diente, würde doch nicht so inconsequent verfahren haben, wie dieser gethan zu haben scheint. Nicht genug, daß viele seiner Aenderungen zwecklos sind; - - - er ließ judaisierende Stellen in Menge stehen, - - - er änderte seinem Zwecke entgegen! « 33 Johann Gottfried Eichhorn begründete 1804 die Semler’sche These erstmals im Zusammenhang. 34 Nachdem August Hahn 1823 die traditionelle Theorie der Lk- Priorität verteidigt und in diesem Zug zum ersten Mal eine Rekonstruktion von Marcions Evangelientext unternommen hatte, 35 nahm die Debatte in den 1840er Jahren plötzlich Fahrt auf: In kurzer Folge erschienen eine ganze Reihe von Monographien und größeren Aufsätzen in den »Theologischen Jahrbüchern« zu diesem Problem. 36 Den Anfang machte Albert Schwegler mit dem Nachweis, dass die traditionelle Annahme einer marcionitischen Redaktion von Lk in unübersehbare Schwierigkeiten führe und unhaltbar sei; stattdessen liege die umgekehrte Bearbeitungsrichtung nahe, auch wenn dies nicht nachweisbar sei. 37 Diesen Nachweis zu ______________________________ 33 S CHMIDT , a. a. O. 483. 34 J. G. E ICHHORN , Einleitung in das Neue Testament I, Leipzig 1 1804, 40-78. Aus den Jahren nach Eichhorns Einleitung vgl. etwa L. B ERTHOLDT , Historisch-kritische Einleitung in sämmtliche kanonische und apokryphische Schriften des alten und neuen Testaments III, Erlangen 1813, 1294ff; J. C. L. G IESELER , Historisch-kritischer Versuch über die Entstehung und die frühesten Schicksale der schriftlichen Evangelien, Leipzig 1818, 112f. 35 A. H AHN , Das Evangelium Marcions in seiner ursprünglichen Gestalt, Königsberg 1823. Die Rekonstruktion ebd. 132-223. 36 Zu dem Diskurs über das Verhältnis zwischen Lk und Marcions Evangelium in dem Jahrzehnt zwischen 1843-1852 vgl. M. K LINGHARDT , Markion vs. Lukas: Plädoyer für die Wiederaufnahme eines alten Falles, NTS 52 (2006), 484-513: 487-490; D. T. R OTH , Marcion’s Gospel and Luke: The History of Research in Current Debate, JBL 127 (2008) 513-527. 37 A. S CHWEGLER , Rez. W. M. L. de Wette, Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in die kanonischen Bücher des Neuen Testaments, 4. Aufl., ThJb 2 (1843), 544-590; in größerem Zusammenhang, aber insgesamt weitgehend identisch: A. S CHWEGLER , Das nachapostolische Zeitalter in den Hauptmomenten seiner Entwicklung I, Tübingen 1846, 260-284. Vgl. die Schlussfolgerung, das marcionitische Evangelium sei »eine von unserem dritten Evangelium unabhängige Evangelienschrift; dass es geradezu Quelle und Grundlage des Lucas war, näher, dass der Verfasser des dritten Evangeliums es katholisirt, und durch Beimischung judenchristlicher Stücke ein Gleichgewicht seiner Elemente herzustellen versucht hat, im Interesse einer Vermittlung zwischen der § 1: Evangelienforschung im 19. Jh. 15 führen unternahm dann Albrecht Ritschl. 38 Er ging über seine Vorgänger insofern methodisch hinaus, als er ein literarkritisches Kriterium für die Bestimmung der Bearbeitungsrichtung einführte: Er verglich den Zusammenhang der Perikopenfolge in beiden Texten und stellte fest, dass das Material, das Lk über das marcionitische Evangelium hinaus besitzt, einen ursprünglichen Zusammenhang störe und daher später eingefügt sei. 39 Ritschls Schlussfolgerung, dass das marcionitische Evangelium »nicht eine Verstümmelung des Evangelium des Lucas, sondern der Grundstamm desselben« sei, 40 wurde von Ferdinand Christian Baur positiv aufgegriffen. 41 Obwohl Baur nicht mit allen literarkritischen Entscheidungen Ritschls einverstanden war, passte das Ergebnis gut in sein Gesamtbild der Geschichte des frühen Christentums und erlaubte es ihm, die lk Redaktion als Ausdruck der judenchristlichen Antithese zum heidenchristlichen Paulinismus zu verstehen. 42 Als Reaktion auf diese Arbeiten erschienen 1850 fast gleichzeitig die Monographie des damaligen Jenaer Privatdozenten Adolf Hilgenfeld über die Geschichte der frühen Evangelienliteratur 43 und ein Beitrag des Fuldaer Gymnasialprofessors Gustav Volckmar in den Theologischen Jahrbüchern. 44 Obwohl beide im Ergebnis sehr dicht beieinander liegen, ist ihre Argumentation durchaus verschieden. Vor allem Volckmars Argumentation ist ein Lehrstück für die methodische Komplexität des Ganzen: ______________________________ paulinischen und petrinischen Richtung - diese weitere Annahme ist zwar nicht streng erweislich, aber, wenn doch einmal das marcionitische Evangelium als eine unabhängige Quellenschrift, und das Lucasevangelium seinerseits als Zusammenstellung paulinischer und petrinischer Stücke sich ausweist, im höchsten Grade wahrscheinlich« (I 284; Hervorhebung M. K.). 38 A. R ITSCHL , Das Evangelium Marcions und das kanonische Evangelium des Lucas. Eine kritische Untersuchung, Tübingen 1846. 39 »Die Merkmale, wodurch sich Ueberarbeitungen zu erkennen geben, sind in den meisten Fällen Verstösse gegen den Zusammenhang mit den Abschnitten, zwischen oder in welche Anderes, Fremdartiges eingeschoben ist. Denn ein Ueberarbeiter, welcher nicht das Ganze neu reproducirt, sondern nur geringe Veränderungen und Vermehrungen anbringt, kann der Gefahr kaum entgehen, den Zusammenhang bisher gut geordneter Stücke zu zerreissen oder einander widersprechende Stücke nebeneinander zu stellen« (R ITSCHL , a. a. O. 56; der entsprechende Nachweis im Einzelnen ebd. 73-130). 40 R ITSCHL , a. a. O. V. 41 F. C HR . B AUR , Der Ursprung und Charakter des Lukas-Evangeliums, ThJb 5 (1846), 413-615. 42 F. C HR . B AUR , Kritische Untersuchungen über die Kanonischen Evangelien, ihr Verhältnis zueinander, ihren Charakter und Ursprung, Tübingen 1847 (= Ndr. Hildesheim u. a. 1999). 43 A. H ILGENFELD , Kritische Untersuchungen über die Evangelien Justin’s, der clementinischen Homilien und Marcion’s. Ein Beitrag zur Geschichte der ältesten Evangelien-Literatur, Halle 1850. 44 G. V OLCKMAR , Über das Lukas-Evangelium nach seinem Verhältniss zum Evangelium Marcion’s und seinem dogmatischen Charakter mit besonderer Rücksicht auf die kritischen Untersuchungen Ritschl’s und Baur’s, ThJb 9 (1850), 110-138.185-235. Der Nachname »Volckmar« taucht in der Literatur gelegentlich in der Schreibweise »Volkmar« auf, vermutlich weil seine spätere Arbeit über die Evangelien (1870) mit dieser Autorenangabe erschien (vgl. R OTH , a. a. O. 519 Anm. 36). 16 I. Fragestellung und Thema Wichtig ist zunächst, dass Volckmar im ersten Teil seines Beitrags den (unstrittig bezeugten) Anfang des Evangelientextes Lk (1f)3f behandelte (Lukas-Evangelium 125-137): Er wählte einen methodisch gesicherten Ausgangspunkt, um von da aus dann auch die anderen, weniger sicheren Passagen zu beurteilen (a. a. O. 125.138). Für seine Analyse legte er ausdrücklich Ritschls literarkritisches Kriterium des integren bzw. gestörten Zusammenhangs zugrunde (a. a. O. 123) und erkannte auch ohne weiteres, dass der lk Zusammenhang in Lk 3f erheblich gestört ist. 45 Aber im Unterschied zu Ritschl und Baur, die daraus die Ursprünglichkeit der marcionitischen Textanordnung gefolgert hatten, zeigte Volckmar im Folgenden, dass auch der marcionitische Text nicht unproblematisch war: *4,24 sei im Rahmen der marcionitischen Fassung unpassend, vor allem, wenn die Vv. 25-27 gefehlt hätten; die Frage, was den Tötungsversuch motiviere, bleibe offen usw.: Unter der methodischen Prämisse Ritschls ließ dies auf eine Bearbeitung auch des marcionitischen Textes schließen. Vor allem aber sei nicht nachvollziehbar, inwiefern der lk Text als eine Bearbeitung des marcionitischen entstanden sein solle: Die Suche nach der redaktionellen Intention, die Baur und Ritschl im Ganzen als »katholisirend« bzw. judenchristlich beschrieben hatten, fände bei einer detaillierten Betrachtung keine rechte Lösung. Volckmar folgerte: »So steht das Marcion- Evangelium schon nicht mehr zu unserm Lukas im Verhältnis des in sich ganz Einigen (oder Ursprünglichen) zum Zusammenhanglosen, sondern es verhält sich dazu höchstens wie das minder Ungehörige und Corrumpirte zu dem mehr Unmotivirten« (a. a. O. 132). Am Ende stand für ihn daher die Erkenntnis, dass beide Texte Bearbeitungsspuren zeigten und daher nicht ursprünglich sein könnten, auch wenn diese Spuren in Marcions Evangelium geringer seien als im kanonischen Lk. Hilgenfeld, der eine neue Textrekonstruktion unternahm, kam in seiner Untersuchung zu dem Ergebnis, dass Lk zwar an einigen Stellen später überarbeitet wurde, im Verhältnis zum marcionitischen Evangelium aber als dessen Quelle angesehen werden müsse. 46 Obwohl Hilgenfelds und Volckmars Kritiken an Baur und Ritschl methodisch durchaus unterschiedlich argumentierten und auch in etlichen Einzelheiten divergierten, hatte ihre Annahme, dass das marcionitische Evangelium auf einer Quelle beruhe, von der auch Lk abhängig sei, der These der Priorität des marcionitischen Evangeliums die Spitze genommen. Baur und Ritschl haben auf Volckmars und Hilgenfelds Einwände repliziert, sind dabei aber zu recht unterschiedlichen Ergebnissen gekommen. 47 Baur räumte vor allem unter dem Eindruck von Hilgenfelds Argumentation ein, dass das marcionitische Evangelium in der Tat an einigen Stellen eine Bearbeitung von Lk ______________________________ 45 A. a. O. 125: »Dass hier kein Zusammenhang durchgreifend ist, ist längst aufgefallen und drängt sich auch für eine oberflächliche Betrachtung alsbald auf. Jesus ist bei Lukas vor diesem Auftreten in Nazareth noch gar nicht nach Capernaum gebracht worden, geschweige denn, dass er da Wunder gethan hätte, und doch wird in Nazareth davon schon geredet (V. 23).« 46 H ILGENFELD , a. a. O. 469-474 (Rekonstruktion: 398-442). 47 F. C HR . B AUR , Das Markusevangelium nach seinem Ursprung und Charakter, nebst einem Anhang über das Evangelium Marcion’s, Tübingen 1851; A. R ITSCHL , Über den gegenwärtigen Stand der Kritik der synoptischen Evangelien, ThJb 10 (1851), 480-538. § 1: Evangelienforschung im 19. Jh. 17 sei, hielt aber gerade für den Anfang die Priorität des marcionitischen Evangeliums fest: Lk 4,16-30 habe seine jetzige Gestalt erst durch diejenige spätere Redaktion erhalten, die auch Lk 1f dazugesetzt habe: Baur identifizierte den Bearbeiter mit dem Verfasser der Apostelgeschichte. 48 Da Baur sowohl in Lk als auch im marcionitischen Evangelium deutliche redaktionelle Spuren sah, postulierte er einen Ur-Lukas, der einerseits durch die »judenchristliche« Redaktion in Lk-Act ergänzt, andererseits durch Marcion aus theologischem Interesse redaktionell verkürzt worden sei. 49 Im Unterschied zu Baur, der seine ursprüngliche Position nur teilweise preisgab, reagierte Ritschl auf die Kritik mit einer umfassenden retractatio. Er akzeptierte vor allem Volckmars methodische Einwände: Einerseits habe Volckmar gezeigt, dass der Zusammenhang der Perikopen im marcionitischen Evangelium keineswegs integer und daher auch nicht ursprünglich sei: Seinem eigenen methodischen Kriterium zufolge müsse es als Bearbeitung eines älteren Textes verstanden werden. Andererseits überzeugte ihn auch der Einwand gegen sein Argument, das auf der Inkonsistenz zwischen Marcions Theologie und seiner mutmaßlichen Redaktion beruht: Denn dass Marcion konsequent redigiert habe, sei nicht unbedingt zu erwarten. 50 Am Ende akzeptierte Ritschl die Lk-Priorität fast auf der ganzen Linie und hielt die marcionitische Fassung nur im Text des Vater Unser für ursprünglicher als die kanonische Fassung. Nach dem turbulenten Verlauf der Debatte fasste Volckmar schon zwei Jahre später die Ergebnisse in dem Bewusstsein zusammen, dass »nun auch wohl im Wesentlichen sowol als hinsichtlich der meisten Einzelnheiten, über die man jetzt noch sehr different oder schwankend war«, ein sichereres Urteil möglich sei. 51 Wichtig ist, dass er in dieser Zusammenfassung der Debatte auch seine eigene Sicht korrigierte, dass sowohl Lk als auch das marcionitische Evangelium tiefgreifende ______________________________ 48 Vgl. B AUR , Markusevangelium 212ff. 49 Vgl. B AUR , Markusevangelium 225: »Es bedarf daher, um die verschiedenen Erscheinungen, welche am Evangelium Marcion’s vor uns liegen, in ihrer Einheit zu begreifen, nur der einfachen Annahme, daß es ein älteres Lukasevangelium war, das die Vorgeschichte und einige andere Stücke noch nicht hatte, und über das jene redigirende, Evangelium und Apostelgeschichte zusammenstellende Hand noch nicht gegangen war, die sich uns selbst in dem Vorwort des Evangeliums als eine zu den Arbeiten anderer erst hinzugekommene, dem ganzen Verlauf der Urgeschichte von Anfang an folgende ankündigt. So betrachtet stehen das marcionitische und das kanonische Lukasevangelium, dem ursprünglichen gegenüber, in gleicher Linie neben einander, beide haben es verändert, das eine hat hinwegethan, das andere hinzugethan …« 50 R ITSCHL , Stand der Kritik 530. 51 G. V OLCKMAR , Das Evangelium Marcions. Text und Kritik mit Rücksicht auf die Evangelien des Märtyrers Justin, der Clementinen und der Apostolischen Väter. Eine Revision der neuern Untersuchungen nach den Quellen selbst zur Textbestimmung und Erklärung des Lucas-Evangeliums, Leipzig 1852, VI. 18 I. Fragestellung und Thema Spuren einer redaktionellen Bearbeitung zeigten: Jetzt hielt er das marcionitische Evangelium insgesamt für eine redaktionelle Bearbeitung des kanonischen Lk: »Ja bei dem nähern, auf Erreichung von Gewissheit auch über die Einzelnheiten gerichteten Eingehen muss ich meine eignen frühern Annahmen, beziehentl. Zugeständnisse, dass vielleicht Manches, was Marcion nicht bietet … schon ursprünglich bei Lucas gefehlt haben möge, dahin genauer gestalten, dass in der That auch dies nicht der Fall ist. […] Kurz unser Lucas-Evangelium zeigt sich … wenigstens seinem ganzen Umfang nach als das ursprüngliche, so schon von Marcion vorgefunden und von ihm nur nach seiner speciellen Tendenz verkürzt u. verändert.« 52 De facto kehrte Volckmar damit zu Hahns Position mit der Begründung der traditionellen Sicht zurück, auch wenn er sich von diesem in seiner Begründung und in Einzelheiten der Textrekonstruktion unterscheidet. Auch Hilgenfeld kam noch einmal auf das Problem zurück und hielt die doppelte Position fest: Marcions Evangelium sei eine Redaktion des Lk, aber das kanonische Lk-Evangelium sei ebenfalls anti-marcionitisch bearbeitet worden, auch wenn sich diese sekundären Zusätze i. W. auf Lk 1f beschränkten. 53 Obwohl Hilgenfeld sich damit doch nicht unerheblich von Volckmars Position unterschied, ist dessen Arbeit als eine Art »letztes Wort« in der Frage nach dem literarischen Verhältnis zwischen Lk und dem marcionitischen Evangelium im kollektiven Gedächtnis der Forschung haften geblieben. Als Theodor Zahn sich im Rahmen seiner kanongeschichtlichen Fragestellung erneut damit beschäftigte, ging er gar nicht mehr auf das unübersichtliche Hin und Her dieses Diskurses ein. Seine eigene Rekonstruktion, die er in der für ihn typischen Weise mit umfangreichem Material untersetzte, ist zwar nicht von Volckmars abschließender Position abhängig, stimmt aber sachlich mit ihr überein: Marcions Evangelium sei eine redaktionelle Verkürzung des kanonischen Lk. Es ist diese Position, von der Harnack ohne weitere Begründung ausging und damit die Forschung des 20. Jh. nachhaltig bestimmte: »Daß das Evangelium Marcions nichts anderes ist[,] als was das altkirchliche Urteil von ihm behauptet hat, nämlich ein verfälschter Lukas, darüber braucht kein Wort mehr verloren zu werden.« 54 Wenn die neuere Forschung bei gelegentlichen Rückgriffen hinter Harnack auf die Debatte um 1850 sich mancherlei Ungenauigkeit hat zuschulden kommen lassen, 55 ist dies angesichts des Umfangs und der Komplexität der Auseinandersetzung nicht wirklich verwunderlich: In weniger ______________________________ 52 V OLCKMAR , a. a. O. 256 (Hervorhebungen im Original). 53 Vgl. A. H ILGENFELD , Das marcionitische Evangelium und seine neueste Bearbeitung, ThJb 12 (1853), 192-244. 54 H ARNACK 240*. 55 Vgl. dazu R OTH , a. a. O., der nicht nur die wichtigsten Schritte der Debatte zwischen 1843 bis 1853 beschreibt, sondern auch ihre Verwendung in den Arbeiten vor allem von J. K NOX , Marcion and the New Testament, Chicago 1942 (=1980) und, von diesem abhängig, von J. B. T YSON , Marcion and Luke-Acts, Columbia 2006. § 1: Evangelienforschung im 19. Jh. 19 als einem Jahrzehnt haben sich die fünf wichtigsten Protagonisten (Schwegler, Baur, Ritschl, Hilgenfeld und Volckmar) auf rund 2000 Seiten zur Sache geäußert und dabei in Kritik und Gegenkritik auch die jeweils eigene Position revidiert. Der Ertrag ihres Diskurses erscheint im Rückblick (nicht nur aufgrund der dominanten Position Harnacks) einheitlicher, als er tatsächlich ist: Auch die Diskutanten haben gelegentlich den Überblick verloren. § 2: Fragestellung und These 1. Einige Ergebnisse und offene Fragen Trotz seiner Kürze ermöglicht dieser Überblick über die Evangelienforschung in der Mitte des 19. Jh. einige weiterführende Einsichten. 1. Die erste betrifft den Zeitrahmen, denn er liefert eine erste Erklärung dafür, warum die beiden Evangeliendiskurse im 19. Jh. nebeneinander her verliefen und ihre Ergebnisse nie aufeinander bezogen wurden. Die Zwei-Quellentheorie war zwar schon 1838 durch Chr. H. Weiße in Grundzügen entwickelt worden, wurde von der Forschung aber erst seit 1863 mit Holtzmanns Erklärung der synoptischen Beziehungen wissenschaftlich wirksam. Als zwischen 1843 und 1852 das Verhältnis zwischen Lk und dem marcionitischen Evangelium diskutiert wurde, spielte die Zwei-Quellentheorie noch keine Rolle, und auch die Markuspriorität war zu dieser Zeit nur eines unter mehreren diskutierten Modellen. Als dann Holtzmann 1863 sein Zwei-Quellen-Modell erstmals vorstellte, war der Marcion-Lk-Diskurs bereits Vergangenheit: Zu dieser Zeit lag Schweglers erste Kritik an der traditionellen Lk- Priorität bereits 20 Jahre zurück. Als Holtzmann 1892 die für die Rezeption der Zwei-Quellentheorie so einflussreiche 3. Aufl. seines »Lehrbuchs« veröffentlichte, waren schon 40 Jahre seit Volckmars abschließendem Votum in der Marcion-Lk- Debatte vergangen. Die Zwei-Quellentheorie wurde also erstmals zu einem Zeitpunkt auf breitem Raum rezipiert und diskutiert, als das Verhältnis zwischen dem marcionitischen Evangelium und Lk schon längst im Sinn der Lk-Priorität entschieden zu sein schien: In den 1890er Jahren galt als ausgemacht, dass das marcionitische Evangelium als Bearbeitung des Lk-Evangeliums erst in das 2. Jh. gehöre und daher für die Vorgeschichte des Lk oder für die synoptischen Beziehungen irrelevant sei. In den für die weitere Evangelienforschung so formativen zwei Dezennien zwischen 1843 und 1863 hatte die von Weiße selbst beklagte mangelnde Rezeption seiner Hypothese weitreichende Folgen: Die Grundlagen der Zwei- Quellentheorie waren eigentlich schon bekannt, als das Marcion-Lukas-Problem diskutiert wurde. Dass in der Mitte des 19. Jh. die beiden Fragestellungen nie aufeinander bezogen wurden, ist ein erstes gravierendes Versäumnis, das im Ergebnis zur Dominanz der Zwei-Quellentheorie geführt und die neutestamentliche Forschung durch das 20. Jh. hindurch nachhaltig beeinflusst hat. 2. Eine zweite Einsicht betrifft die literarkritische Methodik. Denn ein eindeutiges literarkritisches Urteil über das diachrone Verhältnis zweier Texte, die literarisch voneinander abhängig sind, ist auf der Basis dieser Texte allein grundsätzlich nicht möglich. Dies hat vor allem Volckmars Kritik an Ritschl und dessen Replik im § 2: Fragestellung und These 21 Diskurs über das literarische Verhältnis zwischen Lk und dem marcionitischen Evangelium sehr deutlich gezeigt: Die Beobachtungen, die an beiden Texten gemacht wurden, also die Wahrnehmung der Textdifferenzen und das Urteil über die jeweiligen (mehr oder weniger integren) Zusammenhänge, sind synchrone Beobachtungen, aus denen sich noch kein diachrones Gefälle für eine historische Zuordnung der beiden Texte ableiten lässt: Synchrone Beobachtungen sind hinsichtlich ihrer diachronen Einordnung in der Regel ambivalent. Um zwei Texte in ein diachrones Verhältnis setzen zu können, bedarf es zusätzlicher Informationen, die eine bestimmte Bearbeitungsrichtung eher angezeigt sein lassen als eine andere. Im Unterschied zu Ritschls Einführung des synchronen Kriteriums der integren Perikopenakoluthie für die Bestimmung des Bearbeitungsgefälles (und der Konsequenz, mit der er daran auch dann festhielt, als es ihn zu einer Kehrtwendung in der Beurteilung des Verhältnisses zwischen Lk und dem marcionitischen Evangelium nötigte), hatte Baur sehr klare Vorstellungen von dem geschichtlichen Rahmen, in dem die »evangelische Geschichte« sich entfaltete. Dementsprechend hielt er gegen Hilgenfelds Kritik daran fest, dass die Kombination von Lk und Act zu wesentlichen Teilen auf eine antimarcionitische Redaktion zurückzuführen sei. Die starke Evidenz, die ein diachrones Gesamtbild der geschichtlichen Entwicklung für das literarkritische Urteil besitzt, ist auch für die synoptische Debatte deutlich geworden: Es ist fraglich, ob sich Holtzmanns Zwei-Quellentheorie so deutlich durchgesetzt hätte, wenn sie nicht mit seinem liberalen Bild des historischen Jesus verbunden gewesen wäre, das den Erfordernissen der Zeit so sehr entgegenkam. Es ist zwar weder möglich noch wünschenswert, diachrone Theorien ohne ein solches historisches Gesamtverständnis zu entwickeln. Aber zur Vermeidung zirkulärer Begründungen ist es notwendig, die Wechselwirkung zwischen der historischen Einordnung der Quellen und dem Bild, das sie zu zeichnen vermögen, im Auge zu behalten. 3. Für diese Wechselwirkungen zwischen den synchronen Daten und dem Entwicklungsschema, in dem sie diachron erklärt werden, sind zwei Perspektiven zu unterscheiden. Denn die literarischen Beobachtungen an den Evangelien wurden einerseits auf das Bild des »historischen« Jesus, also auf die geschichtliche Wirklichkeit des in den Evangelien Berichteten, bezogen. Andererseits lassen sie sich in die Geschichte der nachapostolischen Zeit einordnen und so auf die geschichtliche Wirklichkeit der Abfassungszeit der Berichte beziehen. Für die rückwärtsgewandte Perspektive der Rekonstruktion der allerfrühesten Jesusüberlieferung gibt es über die Evangelien hinaus keine belastbaren - d. h. vor allem: von den zu erklärenden Evangelien unabhängigen - Daten: Hier ist also die Gefahr zirkulärer Argumentation besonders hoch. Für die andere Perspektive jedoch stehen solche Daten durchaus zur Verfügung: Vor allem die Textgeschichte des NT (deren Rekonstruktion 22 I. Fragestellung und Thema heute auf einem sehr viel breiteren und festeren Fundament beruht als am Ende des 19. Jh.) sowie die Entdeckung und Erschließung außerkanonischer Quellen haben das Bild von der Entwicklung des Christentums im 2. Jh. gegenüber den Vorstellungen im 19. Jh. erheblich verändert. So hat vor allem die Entstehung der Sammlung der neutestamentlichen Schriften - also das, was man gemeinhin unter das Stichwort »Kanongeschichte« fasst - bei den Untersuchungen zum Synoptischen Problem bzw. in der Lk-Marcion-Frage überhaupt keine Rolle gespielt. Gerade für dieses Problem steht aber mit David Trobischs These der Endredaktion der Kanonischen Ausgabe 1 ein Modell zur Verfügung, das ein ungeheures, bislang noch nicht ausgelotetes Erklärungspotential besitzt. 4. Schließlich gibt die forschungsgeschichtliche Skizze zu erkennen, dass wichtige Fragen unbeantwortet geblieben sind. Diese Fragen betreffen vor allem die Diskussion des Synoptischen Problems. Die »Minor Agreements« stellen ein grundsätzliches, aber ungelöstes Problem für die Zwei-Quellentheorie dar: Auf der Grundlage der Prinzipien, nach denen sie entwickelt wurde, funktioniert sie nicht. Dass die (vor allem deutschsprachige) neutestamentliche Forschung diesen Selbstwiderspruch so weithin unbeeindruckt in Kauf genommen hat, lässt sich nur durch den Mangel an plausiblen Alternativen erklären. Denn auch die Benutzungsmodelle, die teilweise in direkter Auseinandersetzung mit der Zwei-Quellentheorie entwickelt wurden, lösen die Probleme nicht wirklich: Sie werden der Komplexität der synoptischen Beziehungen nicht wirklich gerecht. Neben die problematische These einer Benutzung des Mt durch Lk, die hier exemplarisch genannt wurde, treten dann noch weitere Phänomene. Denn in der Verarbeitung des Materials der mt-lk Doppelüberlieferung (also das, was unter der Geltung der Zwei-Quellentheorie unter »Q« subsumiert wird), fällt auf, dass in manchen Fällen Mt, in andern Lk den ursprünglicheren Wortlaut bewahrt zu haben scheint. 2 Dieses Phänomen einer alternierenden Ursprünglichkeit 3 lässt sich nicht durch einfache Benutzungsmodelle erklären, stellt aber umgekehrt für die Zwei-Quellentheorie kein Problem dar, wenn Mt und Lk unabhängig voneinander auf dieses »Q«-Material zurückgegriffen haben könnten. Aber gegen einen solchen unabhängigen Zugriff auf »Q« stehen die »Minor Agreements«. So bleibt hier am Ende eine offene Frage. ______________________________ 1 D. T ROBISCH , Die Endredaktion des Neuen Testaments, Fribourg - Göttingen 1996. 2 Die umfangreiche Dokumentation der Diskussion dieses »Q«-Materials aus den letzten 100 Jahren in den Bänden »Documenta Q« zeigt dieses Phänomen mit wünschenswerter Deutlichkeit. 3 M. S. G OODACRE , The Case against Q, Harrisburg 2001, 61-66, nennt dieses Phänomen ‘alternating primitivity’, H. F LEDDERMANN , Q: A Reconstruction and Commentary, Leuven 2005, 60-65, spricht von ‘priority discrepancy’. § 2: Fragestellung und These 23 5. Für beide Diskurse fällt aus der zeitlichen und sachlichen Distanz auf, mit welcher Leichtigkeit man in der Mitte des 19. Jh. auf zusätzliche »Quellen« schloss, um die komplexen literarischen Phänomene erklären zu können. Das gilt zunächst für das Synoptische Problem, das wegen der Komplexität der Beziehungen ohne die Annahme zusätzlicher Quellen überhaupt nicht lösbar ist: Ein reines Benutzungsmodell wurde ja wiederholt diskutiert, hat den Anforderungen jedoch erkennbar nicht genügt. Die zwingende Konsequenz dieses Befunds dient bis heute dazu, die Existenz von »Q« als Dokument zu rechtfertigen und die Einschätzung zurückzuweisen, es handle sich dabei um eine »hypothetische Quelle«. 4 Die Frage, wieso es weder ein direktes noch ein indirektes Zeugnis für diese »Quelle« gibt, ist für »Q« genauso wenig beantwortbar wie für andere hypothetische Quellen, die - von »Urmarkus« über »Deuteromarkus« bis zu »Protolukas« - zur Erklärung herangezogen wurden. Das vollständige Fehlen aller externen Hinweise beeinträchtigt zwar nicht die methodische Notwendigkeit, eine zusätzliche Quelle in das Gefüge einzubeziehen, wohl aber die Selbstsicherheit, mit der die Existenz der jeweils angenommenen Zusatzquellen behauptet wurde. Auch für die Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem kanonischen Lk- und dem marcionitischen Evangelium meinte man ohne die Annahme weiterer Quellen nicht auszukommen: Von Gustav Volckmar bis Andrew Gregory wird für das Verhältnis zwischen dem marcionitischen Evangelium und Lk eine weitere, unbekannte Fassung angenommen - sei es, dass beide auf eine gemeinsame Quelle zurückgehen, sei es, dass ein Bearbeitungsschritt zwischen ihnen liegt. 5 Auch diese zusätzliche »Quelle« ist kein leichtfertiges Postulat: Sie scheint dann unumgänglich zu sein, wenn man das marcionitische Evangelium als Bearbeitung des kanonischen Lk-Evangeliums erweisen will. Weil sich das nicht befriedigend zeigen lässt, scheint die Annahme einer vermittelnden Instanz gerechtfertigt zu sein, auch wenn sie methodisch problematisch ist. 6 Dass es in diesem Bereich nicht noch andere, neuere Quellenhypothesen gibt, liegt wohl nur daran, dass man das literarische Verhältnis zwischen Lk und dem marcionitischen Evangelium nicht in dem Maß als offenes Problem wahrgenommen hat, wie dies bei den synoptischen Evangelien der Fall ist. Als Problemanzeige bleibt daher für beide der genannten Fragekreise die Aufgabe, die jeweiligen literarischen Verhältnisse nach Möglichkeit ohne die ungeschützte Annahme zusätzlicher, aber gänzlich verlorener Quellen zu rekonstruieren. ______________________________ 4 Vgl. z. B. J. S. K LOPPENBORG , On Dispensing with Q? : Goodacre on the Relation of Luke to Matthew, NTS 49 (2003), 210-236: 211f. 5 Vgl. G. V OLCKMAR , Das Evangelium Marcions, Leipzig 1852; A. G REGORY , The Reception of Luke and Acts in the Period Before Irenaeus, Tübingen 2003; zum Problem vgl. u. S. 146f. 6 Vgl. zuletzt W OLTER , Lk 2f, zu Gregorys Argumentation. 24 I. Fragestellung und Thema 6. Die beiden Diskurse zum Synoptischen Problem und zum Verhältnis zwischen Lk und dem marcionitischen Evangelium sind Ausdruck der lebendigen und intensiven Forschung vor allem seit der Mitte des 19. Jh. Neben den überlieferungsgeschichtlichen Fragen stand ein weiterer, wichtiger Bereich, der jedoch nie einen nennenswerten Einfluss auf die überlieferungsgeschichtlichen Fragen besaß: Die Textkritik des Neuen Testaments machte in den fraglichen Jahrzehnten zwischen 1840 und 1890 ungeahnte Fortschritte, die ihren Niederschlag in den großen wissenschaftlichen Textausgaben von Lachmann, Tischendorf, Westcott/ Hort und anderen gefunden haben. Mit Blick auf die textgeschichtlichen Theorien, die in dieser Phase der Forschung entwickelt wurden, wird man einräumen, dass die umfangreichen Papyrusfunde des 20. Jh. noch nicht zur Verfügung standen. Gleichwohl ist festzustellen, dass sowohl die handschriftliche Basis als auch die wesentlichen Beobachtungen (vor allem zum »Westlichen Text«) bekannt waren, als Theodor von Zahn und Adolf von Harnack ihre maßgeblichen Rekonstruktionen vorlegten. Dass die textkritischen Beobachtungen gleichwohl keinen Eingang in die Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte der kanonischen Evangelienüberlieferung fanden, erscheint im Rückblick als ein weiteres methodisches Versäumnis, das in seiner Auswirkung nicht weniger folgenreich war als das zuerst genannte. 2. Thesen und Anlage der Untersuchung Die offenen Fragen und die methodischen Probleme lassen sich jedoch lösen, wenn die Fragestellungen der beiden Evangeliendiskurse aufeinander bezogen werden. Denn wenn man die Verhältnisbestimmung zwischen Lk und dem marcionitischen Evangelium gegenüber der (durch Volckmar de facto repristinierten) traditionellen Abfolge umkehrt, erhält man mit dem marcionitischen Evangelium einen zusätzlichen Text, der für das Geflecht der synoptischen Beziehungen höchste Relevanz besitzt. Diese Umkehrung des Bearbeitungsverhältnisses zwischen dem marcionitischen Evangelium und Lk bildet den Kern der vorliegenden Untersuchung. a. Die Hauptthesen Die Hauptthesen lassen sich in drei relativ einfachen Einsichten zusammenfassen: 1. Die erste betrifft die Priorität des marcionitischen Evangeliums vor Lk: Nicht Marcion hat das kanonische Lk-Evangelium redigiert und verkürzt, sondern Lk ist eine redaktionelle Bearbeitung (und zwar im Wesentlichen: eine Erweiterung) des Evangeliums, das von Marcion, aber auch von vielen anderen benutzt wurde. 2. Das marcionitische Evangelium ist jedoch nicht nur ein vorlukanischer, sondern ein vorkanonischer Text: Marcions Evangelium lag allen kanonischen Evangelien als Quelle vor und wurde von ihnen auf unterschiedliche Weise (und in verschiedener Intensität) benutzt. Das von Marcion rezipierte Evangelium ist § 2: Fragestellung und These 25 folglich die älteste literarisch greifbare Schilderung des Lebens Jesu. Damit ist noch nichts über die Datierung ausgesagt, aber es spricht vieles dafür, dass die Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. bereits vorausgesetzt ist. 3. Der Text des Lk-Evangeliums in den gängigen kritischen Ausgaben (NA 27/ 28 bzw. GNT 4 ) enthält in ungezählten textkritischen Einzelentscheidungen nicht die Formulierungen des Lk als Teil der Kanonischen Ausgabe des »Neuen Testaments«, sondern Lesarten dieses ältesten vorkanonischen Evangeliums. Für die Rekonstruktion des ältesten Evangeliums sind daher neben den literar- und redaktionskritischen Einsichten in die Überlieferungsgeschichte der Evangelientradition auch textkritische Beobachtungen zur Geschichte der Textüberlieferung entscheidend wichtig. b. Die Anlage der Untersuchung Diese Haupteinsichten sollen in der Untersuchung so weit als möglich in einzelnen, aufeinander aufbauenden Schritten entfaltet werden. Einzusetzen ist mit der Analyse der Bezeugung für das marcionitische Evangelium in der Alten Kirche (Teil II). Zunächst ist nach den Zeugnissen der altkirchlichen Häresiologen zu fragen (§ 3): Ihren Referaten verdanken wir die wichtigste Kenntnis des ansonsten verlorenen Textes. Es ist daher notwendig, sowohl das theologische Interesse als auch die methodischen Voraussetzungen der Häresiologen zu untersuchen, weil sich nur so die Zuverlässigkeit ihrer Referate einschätzen lässt. Neben der Behandlung von zwei kleinen Sonderproblemen (§ 4) ist darüber hinaus zu erkunden, welche Aufschlüsse die handschriftliche Überlieferung des kanonischen Lk-Textes für die Rekonstruktion von Marcions Evangelium bietet (§ 5). Dazu werden die Analogien zwischen dem durch die Häresiologen bezeugten Text dieses Evangeliums und den Varianten des kanonischen Lk-Textes untersucht. Die Komplexität dieses Abschnittes der Untersuchung macht jedoch die Berücksichtigung von Erkenntnissen erforderlich, die erst im weiteren Verlauf genauer erläutert und entfaltet werden können. In einem weiteren Kapitel ist dann die These der Priorität des marcionitischen Evangeliums vor dem kanonischen Lk genauer zu begründen (Teil III). Dafür sind zunächst die methodischen Voraussetzungen zu klären, unter denen sich die Bearbeitungsrichtung zwischen diesen beiden Texten bestimmen lässt (§ 6). An zwei herausragenden Beispielen, nämlich dem Anfang (§ 7) und dem Ende (§ 8), ist dann die Priorität von Marcions Evangelientext vor Lk zu zeigen. Ein letztes Kapitel zieht die überlieferungsgeschichtlichen Konsequenzen aus dieser Einsicht und skizziert die Geschichte der kanonischen Evangelienüberlieferung unter der Voraussetzung der Priorität des macionitischen Evangeliums (Teil IV). Dieser Abschnitt ist nicht mehr als eine Modellskizze. Sie erhebt gleichwohl den Anspruch, die wesentlichen Schritte der Überlieferungsgeschichte vom ältesten 26 I. Fragestellung und Thema Evangelium bis zum kanonischen Vier-Evangelienbuch gültig zu beschreiben. Nach der knappen Skizze einer Arbeitshypothese (§ 10) werden die wichtigen Relationen zwischen dem marcionitischen Evangelium und Mk (§ 11) bzw. Mt (§ 12) untersucht, außerdem das einigermaßen komplexe Verhältnis zwischen dem marcionitischen Evangelium, Joh und Lk im Rahmen des kanonischen Vier-Evangelienbuches (§ 13). Im Anschluss ist zu zeigen, dass und wie diese Texte im Rahmen der Kanonischen Ausgabe des Neuen Testaments einer Schlussredaktion unterzogen wurden (§ 14). Am Ende steht eine knappe Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse, verbunden mit der Frage, welche weitergehenden Fragestellungen sie eröffnen (§ 15). Die überlieferungsgeschichtlichen Untersuchungen in den Teilen III und IV haben jeweils nur Modellcharakter. Aber für die Bestimmung der Abhängigkeits- und Bearbeitungsverhältnisse ist es nicht erforderlich, alle Einzeltexte zu analysieren: Das Bearbeitungsgefälle, das sich aus exemplarisch untersuchten Textteilen ergibt, gilt auch für das jeweilige Textganze. Gleichwohl beruht das überlieferungsgeschichtliche Modell nicht nur auf den wenigen, hier behandelten Beispielen, sondern wird für alle Einzeltexte des marcionitischen Evangeliums durchgespielt. Dazu dient die Rekonstruktion (Anhang I). Ihre primäre Funktion besteht darin, die direkten Zeugnisse der häresiologischen Referate zu evaluieren. Aber die Berücksichtigung von Erkenntnissen, die sich aus der handschriftlichen Überlieferung des kanonischen Lk-Evangeliums ergeben, ermöglicht darüber hinaus in vielen Fällen ein begründetes Urteil auch für unbezeugte Textpassagen. Der auf diese Weise rekonstruierte Text des marcionitischen Evangeliums lässt dann auch (in vielen Fällen: sehr eindeutig) das Bearbeitungsgefälle zwischen diesem und dem kanonischen Lk-Evangelium erkennen, das den exemplarischen Analysen in Teil III entspricht und diese in großer Breite stützt. Ganz analog dazu generiert die Textrekonstruktion aber auch weitere überlieferungsgeschichtliche Erkenntnisse für die anderen Evangelien. Auch, wenn auf diese Weise nicht der gesamte Stoff der vier kanonischen Evangelien analysiert wird, bestätigt sich in vielen Fällen der Überlieferungsgang von Einzeltexten nach dem Modell, das in Teil IV vorgestellt wird. c. Terminologische Vereinbarungen Am Ende der Einleitung ist es sinnvoll, die wichtigsten terminologischen Entscheidungen zu erläutern. Auch, wenn sie in den meisten Fällen selbsterklärend sind, könnten sie doch ungewohnt erscheinen und Anlass für Missverständnisse bieten. 1. Am wichtigsten ist die Bezeichnung des marcionitischen Evangeliums mit dem Kürzel »*Ev«. Die Verwendung dieser Bezeichnung unterscheidet sich von der 1. Auflage. § 2: Fragestellung und These 27 Ursprünglich hatte ich die Abkürzung »Mcn« benutzt. Da dieses Evangelium nicht eine redaktionelle Bearbeitung des kanonischen Lk-Evangeliums, sondern dessen wichtigste Quelle ist, und da seine Benutzung (nicht nur, aber) in allererster Linie für Marcion und seine Anhänger gesichert ist, sollte das Sigel »Mcn« eine eindeutige Zuordnung erlauben. Aber wie ich schon damals befürchtete, gab diese Abkürzung Anlass zu dem Missverständnis, dass Marcion als »Namengeber« dieses Evangeliums auch sein Urheber sei, also etwa so, wie die altkirchliche Tradition die in den Evangelientiteln genannten Gewährsleute des »Evangeliums nach Matthäus, Markus usw.« als Autoren verstanden hatte. Obwohl ich dies ausdrücklich nicht gemeint hatte, ließ sich das Missverständnis kaum vermeiden, zumal die Idee, dass Marcion tatsächlich der Autor dieses Evangeliums ist, gegenwärtig auch vertreten wird. 7 Wegen fehlender Alternativen hatte ich (der mangelhaften Eindeutigkeit zum Trotz) an dieser Abkürzung festgehalten. Denn alle anderen und durchaus sinnvollen Bezeichnungen, die ich in Erwägung gezogen hatte, haben sich schon seit langer Zeit als Elemente ganz anders gearteter überlieferungsgeschichtlicher Modelle in der Fachterminologie eingebürgert: Inhaltlich wären die Bezeichnungen »Urevangelium« oder »Protevangelium« gut denkbar, die aber seit dem ausgehenden 18. Jh. ihren festen terminologischen Platz in den Diskursen über den Anfang der Evangelienüberlieferung besitzen. Auch die Bezeichnungen »Protolukas« oder »Protomarkus« wären angemessen, weil sie die überlieferungsgeschichtliche Position von *Ev im Verhältnis zu den kanonischen Evangelien angemessen beschreiben. Aber auch diese Bezeichnungen haben schon lange einen festen Platz im Diskurs über das Synoptische Problem: Sie sind »besetzt« und gehören in vollkommen andere Theoriemodelle. Aus diesem Grund war die Wahl des Sigels »Mcn« eher eine Notlösung. Unerklärlicherweise hatte ich dabei völlig übersehen, dass dieses marcionitische Evangeliem ja tatsächlich einen Titel hat: Es heißt εὐαγγέλιον, Evangelium. 8 Die Abkürzung dieses Titels (*Ev) hat einige Vorteile vor »Mcn« und soll deshalb hier eingeführt werden. Ganz eindeutig bezieht sich *Ev auf den Text und nicht auf den (angenommenen) Autor oder Rezipienten des Textes. »*Ev« verweist auf den individuellen Titel »Evangelium« und unterscheidet sich darin von der Gattungsbezeichnung, die in seiner Folge entstanden ist. Wie jeder andere Titel auch, werden »Evangelium« und die Abkürzung (*Ev) artikellos verwendet, also ganz entsprechend zu Mk, Mt, Joh usw. Dabei entspricht die Latinisierung (evangelium) des griechischen Titels (εὐαγγέλιον) der wissenschaftlichen Konvention für die Form antiker Werkbezeichnungen (und Autorennamen). Der beigegebene Asterisk ist ebenfalls konventionell: wie auch sonst markiert er die mutmaßlich ältere, aber verlorene Fassung eines Textes und bezieht sich deswegen auf eine Rekonstruktion. »*Ev« bezeichnet daher das Evangelium (εὐανγγέλιον), das als Teil der marcionitischen Schriftensammlung bezeugt ist, ohne damit Marcions Autorschaft oder auch ______________________________ 7 Vgl. M. V INZENT , Marcion and the Dating of the Synoptic Gospels, Leuven 2014; DERS ., Tertullian’s Preface to Marcion’s Gospel, Leuven 2016. 8 Vgl. dazu die Rekonstruktion, u. Bd. II, S. 533f; zur patristischen Diskussion über den Titel (bzw. dessen Fehlen) vgl. § 3 (u. S. 35f). 28 I. Fragestellung und Thema nur seine aktive Rolle bei der Zusammenstellung oder Promulgation dieser Sammlung zu implizieren. Im Unterschied zu »Mcn« lässt sich diese Abkürzung auch aussprechen. 2. Kapitulation und Verseinteilung von *Ev folgen denen des kanonischen Lk. Zur Unterscheidung der Angaben steht den Stellenangaben aus *Ev ein * voran (z. B. *3,1a), während Verweise auf den kanonischen Lk-Text wie gewohnt durch Lk eingeleitet sind (z. B. Lk 3,1b). Da auch die anderen Evangelien in einer vorkanonischen Fassung existiert haben, deren Gestalt an manchen Stellen noch sichtbar ist, wird auf den vorkanonischen Text dieser Evangelien auf entsprechende Weise verwiesen, also: *Mk; *Mt; *Joh. Die ausdrückliche Unterscheidung zwischen den vorkanonischen und den kanonischen Fassungen dieser Texte wird jedoch nur an denjenigen (wenigen) Stellen explizit gemacht, an denen sie für die Text- und Überlieferungsgeschichte von Bedeutung ist. Das zugrunde liegende Modell der Unterscheidung zwischen den vorkanonischen und den kanonischen Evangelien sowie der dazwischen liegende Schritt der Kanonischen Redaktion sind in § 14 erläutert. 3. Das hier entwickelte Modell der Entstehungsgeschichte der kanonischen Evangelienüberlieferung berührt zahlreiche Fragestellungen, deren Diskussion im methodischen Horizont anderer Modelle, vor allem in dem der Zwei-Quellentheorie, schon seit langem ihren festen Platz hat. Es schien nicht sinnvoll, auf die seit langem vertraute Terminologie (Q; Minor Agreements; Mk-Q Overlaps usw.) ganz zu verzichten. Da die methodischen Grundlagen, die zur Ausbildung dieser Terminologie geführt haben, hier jedoch nicht geteilt werden, werden diese in der Fachsprache eingebürgerten Abkürzungen in Anführungszeichen verwendet (also »Q«, »Minor Agreements« usw.) Unabhängig von bestimmten Erklärungsmodellen soll Dreifachüberlieferung das Material bezeichnen, das allen drei Synoptikern gemeinsam ist. Mit Doppelüberlieferung sind in aller Regel (und meist auch so angegeben) die mt-lk Doppelüberlieferungen gemeint, also i. W. das Material, das im Rahmen der Zwei- Quellentheorie als »Q«-Stoff bezeichnet wird. 4. Ein wesentlicher Teil der Untersuchung widmet sich den Fragen der Überlieferungsgeschichte. Überlieferungsgeschichte bezieht sich immer auf die Geschichte der Evangelienüberlieferung vom ältesten Evangelium über die verschiedenen Bearbeitungsstufen und revidierten Fassungen bis hin zur Vollendung des kanonischen Vier-Evangelien-Buches. Überlieferungsgeschichte bezieht sich daher immer auf schriftliche Texte und ist in erster Linie an dem Traditionsvorgang (traditio) interessiert, der sich in der Überlieferung und Rezeption konkreter Texte äußert. Davon unterschieden wird »Traditionsgeschichte«: Sie ist § 2: Fragestellung und These 29 in erster Linie an dem Überlieferungsinhalt (traditum) interessiert, der nicht an eine bestimmte Textgestalt gebunden ist. 5. Auch textgeschichtliche Fragen spielen eine wesentliche Rolle. Da die Textkritik des Neuen Testaments in den letzten über 100 Jahren sehr unterschiedliche Bezeichnungen für Textgruppen und -familien verwendet hat, hat sich keine durchgängige Terminologie entwickelt. Die für unsere Untersuchung wichtigen Handschriften(gruppen) D it sy zeigen eine lange Reihe von specifica differentia und werden deshalb seit dem ausgehenden 18. Jh. unter der Bezeichnung »Westlicher Text« zusammengefasst. Diese schon lange etablierte Bezeichnung ist gelegentlich übernommen, allerdings ohne dass damit ein textgeschichtliches Urteil verbunden wird; aus diesem Grund werden die Bezeichnungen »Westlicher Text« oder »Westliche Handschriften« immer in Anführungszeichen geboten. Die Siglen für die Handschriften folgen den Konventionen der kritischen Ausgaben (NA 27 / GNT 4 ), ebenso die übrigen textkritischen Zeichen und Kürzel. Alle typographischen Elemente und Siglen, die für die Textrekonstruktion, die Testimonienlisten und die textkritischen Abschnitte sowie für die Angaben der synoptischen Parallelen verwendet werden, sind in der Einleitung zu Anhang I erläutert (Bd. II, S. 530f). Weitere Siglen und Abkürzungen, vor allem zu den Varianten der handschriftlichen Überlieferung, sind in der Einleitung zu Anhang III (Bd. II, S. 1366ff) aufgeführt. II. Da s marcionitis che Evang elium und s ein Text in der Alten Kirche § 3: Die Bezeugung von *Ev durch die Häresiologen Von dem Evangelium, das neben der Sammlung von zehn Paulusbriefen Teil von Marcions Bibel war, haben sich keine Handschriften erhalten. Es lässt sich nur aus den Zeugnissen der altkirchlichen Häresiologen rekonstruieren. Deren Mitteilungen sind nicht nur ungenau, unvollständig und an etlichen Stellen widersprüchlich. Sie sind vor allem geprägt von der durchgehenden Polemik, mit der sich die entstehende katholische Kirche von den Marcioniten, ihrer Theologie und ihrer Schriftgrundlage abgrenzte. Vor dem Versuch einer Rekonstruktion von *Ev sind daher einige Vorüberlegungen notwendig: Zunächst ist (1.) die Struktur der Vorwürfe gegen Marcion zu skizzieren, weil sich daraus das argumentative Interesse ergibt, das die *Ev-Referate veranlasste. Im Anschluss muss (2.) die jeweilige Argumentationsstruktur und das Vorgehen der Häresiologen daraufhin befragt werden, welchen Aufschluss die Referenzen auf *Ev tatsächlich zu geben vermögen: Welcher Grad an Vollständigkeit und welches Maß an Zuverlässigkeit lassen die Referate erwarten? In diesem Zusammenhang ist (3.) ein methodisches Problem wenigstens anzuzeigen: In einer erstaunlich großen Zahl von Fällen bezeugen die Hauptreferenten unterschiedliche Textgestalten für *Ev: Die Widersprüche in der Bezeugung scheinen die Zuverlässigkeit der Referenten erheblich zu beeinträchtigen, werfen aber auch grundsätzliche Fragen nach dem Text von *Ev auf. Die Untersuchung beschränkt sich dabei auf die Hauptzeugen: Es sind dies an erster Stelle Tertullian, dessen viertes Buch von Adversus Marcionem ganz der Auseinandersetzung mit dem marcionitischen Evangelium gewidmet ist. Neben Tertullian tritt Epiphanius, der die Häresie der Marcioniten im 42. Buch seines Panarion ausführlich behandelt und in diesem Zug eine Liste mit 77 (78) Zitaten bzw. Paraphrasen aus *Ev liefert. Von den weiteren Zeugen, die Harnack am vollständigsten verzeichnet hat, 1 verdienen nur noch die ersten beiden Bücher des Adamantiusdialogs De recta in deum fide Erwähnung. 1. Die Struktur der Vorwürfe gegen Marcion In der uns interessierenden Frage nach dem Verhältnis zwischen dem kanonischen Lukasevangelium und *Ev sind sich die altkirchlichen Häresiologen trotz aller Differenzen hinsichtlich der Beurteilung der marcionitischen Theologie und seinem Text, den sie bezeugen, erstaunlich einig. Sie werfen Marcion nicht nur eine ______________________________ 1 H ARNACK 40*ff. 34 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche falsche Theologie, sondern auch die Verstümmelung des kanonischen Lukasevangeliums vor: Die »pontische Ratte« habe »die Evangelien zernagt«. 2 Wegen dieses engen Bezugs zwischen der »häretischen« Theologie und der »gefälschten« Bibel nimmt Marcion im Urteil der altkirchlichen Häresiologen eine Sonderstellung ein. Im Unterschied zu allen anderen gnostischen bzw. gnostisierenden Häretikern des 2. und 3. Jh. mit ihrer deutlich spekulativeren Theologie haben die Häresiologen Marcions Art der theologischen Argumentation als besondere Bedrohung wahrgenommen, weil sie der eigenen, auf Schriftauslegung beruhenden theologischen Urteilsbildung so ähnlich war. Bis heute gilt Marcion daher als »Bibeltheologe«. 3 Der enge Zusammenhang zwischen Marcions »falscher« Theologie und seiner damit korrelierenden Schriftgrundlage bestimmt daher die gesamte häresiologische Auseinandersetzung mit Marcion. Die antimarcionitische Argumentation besitzt - von Irenaeus über Tertullian bis Epiphanius - eine feste Struktur. 4 Dabei lassen sich fünf stereotype Argumentationsschritte voneinander unterscheiden. a. Marcion hat das kanonische Lukasevangelium verfälscht Damit ist eine redaktionelle Tätigkeit gemeint, die i. W. in Kürzungen bestand: Marcion habe Lk »zerschnitten«, »verdreht«, »verkürzt« und »verstümmelt« 5 bzw. Passagen daraus »gestrichen«. 6 Wichtig ist dabei die Feststellung, dass die Häresiologen von Anfang an keinerlei Zweifel daran ließen, dass es das kanonische Lk- ______________________________ 2 Tertullian, Adv. Marc. 1,1,5: quis tam comesor mus Ponticus quam qui evangelia corrosit? Vgl. Epiphanius 42,11,3 (u. S. 35 Anm. 7). 3 Besonders nachdrücklich T H . Z AHN , Geschichte des Neutestamentlichen Kanons I, Erlangen - Leipzig 1889, 586f; H ARNACK 35ff. 4 Die engen Entsprechungen zwischen der antimarcionitischen Argumentation bei Irenaeus und Tertullian sowie die Struktur von Irenaeus’ Marcionreferat haben zu der Vermutung Anlass gegeben, dass schon Irenaeus von einer Quelle abhängig war, die man in Justins verlorenem »Syntagma gegen alle Häresien« (vgl. Euseb, H.E. 4,18,9) zu sehen gemeint hat (zuerst ausführlich: Z AHN , a. a. O. 599f); vgl. z. B. G. M AY , Markion in seiner Zeit, in: ders., Markion. Gesammelte Aufsätze, Mainz 2005, 1-12: 3. 5 Iren., Haer. 3,12,12: Die gnostischen Häretiker »haben sich eingebildet, sie selbst hätten mehr als die Apostel gefunden, da sie noch einen Gott hinzu erfanden (alterum deum adinvenientes) … Deshalb sind Marcion und seine Anhänger hingegangen und haben die Schriften zerschnitten (unde et Marcion et qui ab eo sunt ad intercidendas conversi sunt scripturas); einige lehnen sie überhaupt ab, das Lukasevangelium und die Paulusbriefe kürzen sie dagegen, und als authentisch erkennen sie nur das an, was sie selbst verstümmelt haben (quasdam quidem in totum non cognoscentes, secundum Lucam autem evangelium et epistulas Pauli decurtantes, haec sola legitima dicunt esse quae ipsi minoraverunt).« S. auch Iren., Haer. 1,27,4; 3,14,4 (»Sie prahlen … mit dem Besitz eines Evangeliums, dabei verstümmeln [decurtantes] sie nur dasjenige des Lukas«). 6 Vgl. z. B. Tert., Adv. Marc. 1,1,5; 4,6,2 (»Sicherlich aus diesem Grund hat er, was seiner Lehre entgegensteht, gestrichen [erasit] … aber zurückbehalten, was mit seiner Lehre übereinstimmt«); 4,3- 5. Die wichtigsten von Tertullian verwendeten Ausdrücke sind: adulterare (z. B. 2,1,1; 4,2,1; 4,4,1; 4,5,1; Praescr. 38 uö.); emendare (Adv. Marc. 4,5,1; 4,4,5); interpolare (5,3,2); inferre (Paescr. 18; § 3: Die Bezeugung von *Ev durch die Häresiologen 35 Evangelium war, das Marcion bearbeitet hatte. So vergleicht Epiphanius das marcionitische Evangelium mit einem »Spiegel des Lukasevangeliums«, wenn auch mit dem Zusatz, dass ihm Anfang, Mitte und Ende fehlten: Es habe Löcher wie ein von Motten zerfressenes Hemd. 7 Der Hinweis, dass Marcion das kanonische Lk- Evangelium bearbeitet habe, interessierte die Häresiologen aus zwei Gründen: Auf der einen Seite werteten sie die enge Affinität von Lk und *Ev als Ausdruck dafür, dass Marcion eine bewusste Auswahl aus dem kanonischen Neuen Testament getroffen habe: Marcion hat weder die anderen kanonischen Evangelien (die mit ihren Verfasserangaben genannt werden) noch die Apokalypse rezipiert 8 - er hat folglich das kanonische Vier-Evangelienbuch emendiert. 9 Wichtig ist aber vor allem die Titellosigkeit des marcionitischen Evangeliums. Denn die Titel der kanonischen Evangelien mit ihren Verfasserangaben belegten ihre Herkunft von Aposteln bzw. Apostelschülern, mithin also ihren apostolischen Ursprung und damit sowohl die auf Jesus zurückgeführte Autorität als auch das höhere Alter (Tert. 4,2,1): Die Apostel Johannes und Matthäus hätten den Glauben geweckt, die Apostelschüler Markus und Lukas ihn erneuert, wobei es zwischen allen Vieren eine Übereinstimmung in den wesentlichen Aussagen gebe. Verständlicherweise bestimmt Tertullian diese Übereinstimmung zwischen den kanonischen Evangelien in einer Weise, die die wichtigsten Differenzen zur marcionitischen Theologie markiert: Der katholische Glaube beziehe sich auf den einen Gott und Schöpfer und auf seinen Christus, der von einer Jungfrau geboren wurde und die Erfüllung von Gesetz und Propheten ist. Tertullian folgert: Solange über diese Hauptstücke Einigkeit bestehe, fielen die Abweichungen in der literarischen Anlage (narrationum dispositio) nicht ins Gewicht - aber Marcion stimme gerade mit ______________________________ 38); inicere (Adv. Marc. 4,9,15); intexere (4,6,2); addere (4,25,18). - Epiphanius, Haer. 42,9,1; 10,2. Die Bezeichnung, die Epiphanius stereotyp für diese »Streichungen« verwendet, ist παρακόπτειν; s. u. 7 Epiph. 42,11,3: ὁ μὲν γὰρ χαρακτὴρ τοῦ κατὰ Λουκᾶν σημαίνει τὸ εὐαγγέλιον. ὡς ἠκρωτηρίασται μήτε ἀρχὴν ἔχον μήτε μέσα μήτε τέλος, ἱματίου βεβρωμένου ὑπὸ πολλῶν σητῶν ἐπέχει τὸν τρόπον. 8 Tert. 4,5,2f: Habemus et Ioannis alumnas ecclesias. Nam etsi A p o c a l y p s i n eius Marcion respuit, ordo tamen episcoporum ad originem recensus in Ioannem stabit auctorem … [3] Eadem auctoritas ecclesiarum apostolicarum ceteris quoque patrocinabitur evangeliis, quae proinde per illas et secundum illas habemus, I o a n n i s dico et M a t t h a e i , licet et M a r c u s quod edidit Petri affirmetur, cuius interpres Marcus. 9 Tert. 4,4,5: Nisi quod humanae temeritatis, non divinae auctoritatis, negotium est haeresis, quae sic semper emendat evangelia dum vitiat. 36 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche diesem caput fidei nicht überein (4,2,2). 10 Im Folgenden stellt Tertullian die Titellosigkeit von Marcions Evangelium dem vom Apostelschüler (apostolicus) Lukas verfassten kanonischen Evangelium gegenüber. Die gleiche Argumentation begegnet dann auch bei Adamantius, hier mit einer höchst aufschlussreichen Wendung (Dial. 1,5 [805b-d]). Der Marcionit Megethius eröffnet diesen Abschnitt des Dialogs mit der Ankündigung, die kanonischen Evangelien als gefälscht zu erweisen (ἐγὼ δύναμαι δεῖξαι ϕάλσα ἐστὶ τὰ εὐαγγέλια), und zwar auf der Grundlage eben dieser Evangelien. Als Adamantius ihn fragt, ob er denn auch seinen Gegenbeweis akzeptiere, dass die kanonischen Evangelien echt seien, stimmt Megethius zu, will aber die Namen der Verfasser der Evangelien wissen - an dieser Stelle entsteht der Konflikt, weil Megethius Markus und Lukas nicht als Jünger akzeptiert (Matthäus, dessen Name sich ja nur in der mt Jüngerliste findet, nicht aber im marcionitischen Evangelium, bereitet dem Marcioniten offen-sichtlich kein Problem! ). Als Adamantius ihm aus Kol 4 zeigen will, dass Markus und Lukas zu den 72 gehören, lehnt Megethius diesen Beweis mit Hinweis darauf ab, dass die kanonische Apostolossammlung (also auch Kol) gefälscht sei. 11 Das heißt: Die Verfasserangabe »Lukas« im Titel des kanonischen Evangeliums, die der katholischen Seite als Beweis für die Apostolizität und Ursprünglichkeit dient, wird von den Marcioniten als Beleg für seine Fälschung genommen. Der Konflikt über das »richtige« Evangelium ist zugleich der Konflikt über die kanonische Sammlung insgesamt. Wichtiger ist aber schon hier der Hinweis, dass die eindeutig bezeugte Anonymität von *Ev die Vertreter der Lk-Priorität vor große Schwierigkeiten stellt. 12 Denn wegen der engen Verbindung von Lk-Act, die vor allem durch die beiden aufeinander verweisenden Prologe sichergestellt wird, müssen sie postulieren, Marcion hätte (1) ein zweiteiliges Werk getrennt, (2) den einen Teil verworfen, den anderen dagegen rezipiert, (3) den Titel dieses älteren Werkes unterschlagen ______________________________ 10 Tert. 4,2,2: Denique nobis fidem ex apostolis Ioannes et Matthaeus insinuant, ex apostolicis Lucas et Marcus instaurant, isdem regulis exorsi, quantum ad unicum deum attinet creatorem et Christum eius, natum ex virgine, supplementum legis et prophetarum. Viderit enim si narrationum dispositio variavit, dummodo de capite fidei conveniat, de quo cum Marcione non convenit. 11 Adam., Dial. 1,5 (806d): τῷ σῷ ϕάλσῳ οὐ πιστεύω ἀποστολικῷ. Diese Weigerung ist aufschlussreich, weil Kol ja zu den zehn Briefen der marcionitischen Apostolos-Sammlung gehörte. Zwar bezeugen weder Tertullian noch Epiphanius Kol 4,14 mit der für die Argumentation wichtigen Erwähnung des Lukas, aber Adamantius’ eigener Text enthält diesen Hinweis: Denn als Adamantius ihm anbietet, den Beweis aus Megethius’ eigenem Apostolos-Exemplar zu führen, willigt er ein. Jedoch enthält auch sein Exemplar die Wendung ἀσπάζεται ὑμᾶς Λουκᾶς καὶ Δημᾶς (807a): Er wird prompt überführt (auf das Fehlen der Worte [Λουκᾶς] ὁ ἰατρὸς ὁ ἀγαπητός bei Adamantius ist nicht viel zu geben). 12 Vgl. etwa H ARNACK 249* Anm. 3: »Daß er das Ev. namenlos, d. h. ohne den Namen des Lukas, von der Überlieferung empfangen hat, ist ganz unwahrscheinlich: menschliche Autoritäten will M., Paulus ausgenommen, den Christus erweckt hat, nicht gelten lassen. Man darf daher nicht etwa folgern, daß unser 3. Ev. ursprünglich ohne den Namen des Lukas überliefert worden sei, weil M. diesen Namen nicht bietet« - das ist eine klassische petitio principii. § 3: Die Bezeugung von *Ev durch die Häresiologen 37 und (4) die mit Sicherheit zu postulierende Verfasserangabe getilgt - und dies alles ohne irgendwelche Hinweise im Text! 13 b. Marcion hat das kanonische Lk-Evangelium aus theologischen Gründen redigiert Am deutlichsten hat Tertullian diesen Aspekt auf den Punkt gebracht: Da Marcion das eine Ziel verfolge, einen Widerspruch zwischen dem Alten und dem Neuen Testament, zwischen dem Schöpfer und dem Gott Christi usw. zu etablieren, habe er das, »was seiner Lehre entgegensteht, gestrichen, … aber zurückbehalten, was mit seiner Lehre übereinstimmt.« 14 Dieses Argument ist deshalb von größter Bedeutung, weil es die Korrelation der marcionitischen Theologie mit seiner Schriftgrundlage behauptet. Dabei fungiert die »Trennung von Gesetz und Evangelium« als Haupt- und Oberhäresie. 15 In Tertullians Verständnis kennzeichnen die Begriffe »Gesetz« und »Evangelium« dabei in gleicher Weise einerseits theologische Kategorien, andererseits aber auch die Schriftgrundlage aus denen sie sich ergeben: Marcions theologischer Antinomismus korrespondiert mit der Ablehnung der alttestamentlichen Schriften. 16 Wann immer Tertullian Marcion die destructio legis et prophetarum vorwirft, hat er diesen doppelten Aspekt im Blick. 17 Tertullians Verstümmelungsvorwurf hat daher eine kanonische Dimension: Die marcionitische Redaktion des Lk-Evangeliums sei Teil einer Bearbeitung der gesamten kanonischen Bibel, aus der Marcion alle Hinweise auf eine Verbindung von Altem und Neuem Testament, von Schöpfer- und Erlösergott getilgt habe. Erst vor diesem Hintergrund sind dann die weiteren theologischen »Irrlehren« Marcions verständlich. Epiphanius hat sie in seinem methodischen Vorgehen der Behandlung von Marcions Bibelausgabe vorangestellt (42,3-5). ______________________________ 13 Vgl. B OVON , Lk I 33. Bovon sieht diese Probleme für das angenommene vorkanonische Doppelwerk und konzediert, dass ihm das Fehlen des Verfassernamens »rätselhaft« bleibe. Für die Titellosigkeit postuliert er, dass ein ursprünglicher Titel als subscriptio am Ende von Apg bei der Trennung des ursprünglich angeblich zweiteiligen Werkes weggefallen sei - allerdings ohne irgendeine Spur in der handschriftlichen Überlieferung. 14 Tert. 4,6,2: … certe propterea contraria quaeque sententiae suae erasit … competentia autem sententiae suae reservavit. Vgl. auch Iren., Haer. 3,12,12 (o. S. 34 Anm. 5). 15 Tert. 1,19,4: separatio legis et evangelii proprium et principale opus est Marcionis. 16 Z. B. Tert. 4,6,1: »Mit Sicherheit hat er nämlich sein ganzes Werk, das er ausgearbeitet hat, auch durch die Voranstellung der ›Antithesen‹ zu dem Zweck unternommen, um einen Widerspruch zwischen dem Alten und den Neuen Testament aufzustellen (ut veteris et novi testamenti diversitatem constituat), um seinen Christus vom Schöpfer zu trennen, gerade so, als gehöre er einem anderen Gott an und sei dem Gesetz und den Propheten fremd (alienum legis et prophetarum).« 17 Tert. 4,36,11 (ed. Evans diff. Kroymann): Ab illo deo descendisse Iesum ad deiectionem creatoris, ad destructionem legis et prophetarum? Zur destructio legis et prophetarum vgl. auch 4,15,1; 4,25,7; 4,33,9. 38 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche Im Einzelnen zählt er auf: Der Dibzw. Tritheismus, also die Unterscheidung zwischen einem höchsten Prinzip, dem bonus deus, und dem Schöpfer bzw. Demiurgen; 18 Sexualaskese und Sabbatfasten; 19 Leugnung der resurrectio carnis; 20 deviante Taufpraxis (Taufwiederholungen und Taufe durch Frauen); 21 Ablehnung von Gesetz und Propheten sowie der himmlischen Herkunft Christi. 22 Wie charakteristisch diese Liste ist, muss offenbleiben. Immerhin ist deutlich, dass Epiphanius durchaus ein Interesse an den devianten Formen kirchlichen Lebens hat (Taufe; Sakramentsverwaltung; Askese). Harnacks ganz anders gelagertes Interesse bei der Zusammenstellung der Motive, die Marcion zu seinen Textänderungen veranlasst haben könnten, führt dazu, dass er ausschließlich dogmatische Überlegungen zum Ditheismus und seinen Konsequenzen (Antinomismus; Christologie) anführt. 23 Schließlich ist wenigstens noch darauf hinzuweisen, dass Tertullian sich - nach Ausweis seiner Argumentation in Buch 4 - vor allem am Doketismus Marcions stört; aber vielleicht hat ihm der Text des Evangeliums auch nur dafür die besten Anknüpfungspunkte geboten. Epiphanius’ Liste führt die Ablehnung von Gesetz und Propheten nur als einen Irrtum unter anderen auf: Seine Charakterisierung der marcionitischen Häresie entbehrt durchaus der »eindrucksvolle(n) Konsequenz und Geschlossenheit«, 24 die man Marcions Theologie des Gesetzes bescheinigt hat. Es ist möglich, wenn nicht wahrscheinlich, dass Epiphanius’ Sicht historisch zutreffender ist, als Tertullians Darstellung es zu erkennen gibt, der die gesamte marcionitische Irrlehre auf dieses eine proprium et principale opus Marcions zurückführt. So könnte am Ende Tertullians Darstellung der eigentliche Grund für den Eindruck der systematischen Geschlossenheit der marcionitischen Theologie sein. ______________________________ 18 Epiphanius, Haer. 42,3,1; das dritte Prinzip ist der Teufel als Ursprung des Bösen. Zu Marcions Gotteslehre vgl. auch: Epiph. 42,6,1-8,7; Euseb, H.E. 5,13,4; Hippolyt, Refut. 7,31,1f; Athanasius, Decr. Nic. 26,3f (22,10ff ed. Opitz = 464b MPG); Adam., Dial. 1,2 (805a); Cyrill, Cat. Illum. 16,4.7. 19 Epiph. 42,3,3f. Zur marcionitischen Askese vgl. Hippolyt, Refut. 7,30,3; Clemens Alex., Strom. 3,12,1f; 3,25,2; Tert., Adv. Marc. 1,14,5; 1,29,1. 20 Epiph. 42,3,5; vgl. dazu auch Iren., Haer. 1,27,3; Hipp., Refut. 10,19,3; Adam., Dial. 2,7 (825a-e). Dass nur die Seelen auferweckt werden, sagt Epiphanius ein Stück weiter (42,4,6-5,7); vgl. Hipp., Refut. 7,30,4. 21 Zur Taufwiederholung s. Epiph. 42,3,6-10. In diesem Zusammenhang teilt Epiphanius die polemische Notiz über Marcions Verführung einer christlichen Jungfrau mit (vgl. PsTert., Haer. 6 [CSEL 47, 223,2-5]: Marcion habe die dreifache Taufe als Freibrief nach seinem schweren Vergehen betrachtet). Zur Taufe durch Frauen und anderen liturgischen Abweichungen s. Epiph. 42,4,5; vgl. Tertullian, Praescr. 41. 22 Epiph. 42,4,2f; an dieser Stelle findet sich kein Hinweis auf den impliziten Doketismus - Christus ist aus dem Himmel emaniert, nicht aber geboren worden -, der sonst so wichtig ist (vgl. z. B. 42,1,7f). 23 H ARNACK 64f. 24 So z. B. W. A. L ÖHR , Die Auslegung des Gesetzes bei Markion, den Gnostikern und den Manichäern, in: G. Schöllgen, C. Scholten (Hg.), Stimuli, Münster 1996, 77-95: 80. § 3: Die Bezeugung von *Ev durch die Häresiologen 39 c. Die Marcioniten bestreiten den Fälschungsvorwurf und geben ihn an ihre katholischen Gegner zurück Wenn Irenaeus Marcions Anspruch mitteilt, seine Lehre sei »näher an der Wahrheit« als die der Apostel, dann bezieht sich dies auf »sein« Evangelium im Vergleich zum kanonischen (Lk)Evangelium. 25 Vor allem Tertullian lässt erkennen, dass der Vorwurf der Verfälschung des Evangeliums wechselseitig war. So erläutert er seinen eigenen Vorwurf, die Marcioniten hätten alle Hinweise auf die Zusammengehörigkeit der beiden Testamente gestrichen, durch die entgegengesetzte Behauptung der Marcioniten, es seien genau diese Elemente von den Befürwortern dieser Verbindung allererst interpoliert worden. 26 Tertullians Argumentation an dieser Stelle ist besonders aufschlussreich. Sie beginnt mit dem Hinweis auf den paulinischen Vorwurf, »gewisse Lügenapostel hätten das Evangelium Christi verfälscht«, 27 weswegen Marcion die Schriften der anderen Apostel verwerfe (Tert. 4,3,2). Tertullian löst das Problem, das der antiochenische Zwischenfall für die Integrität der apostolischen Verkündigung insgesamt aufwirft, auf gut wissenschaftliche Weise - er macht eine Unterscheidung: Die »Lügenapostel« seien zwar in der Tat von Paulus kritisiert worden, allerdings nur wegen ihres gewohnten Umgangs (conversatio), den Tertullian als Festhalten an Beschneidung und Kalenderobservanz spezifiziert. Dies sei aber etwas völlig anderes als ein Irrtum »in Bezug auf den Schöpfer und seinen Christus: Folglich sind die einzelnen Irrtümer zu unterscheiden.« 28 Dies ist eine gekonnte Volte, mit der Tertullian nachweist, dass nicht jede Kritik, die Paulus an anderen Aposteln übt, zu deren vollständiger Disqualifikation führe: Dieses Urteil treffe nur eine Abweichung in so zentralen Fragen, wie sie die marcionitische Häresie und der von ihr reklamierte Paulinismus darstellten. Erst nachdem die grundsätzliche Einheit der apostolischen Verkündigung auf diese Weise nachgewiesen ist, kommt Tertullian auf den wechselseitig erhobenen Vorwurf der Verfälschung des Evangeliums zu sprechen. Er zeigt zunächst, dass sowohl das marcionitische als auch das kanonische Evangelium den Anspruch erheben, mit dem ursprünglichen, apostolischen Evangelium identisch zu sein. 29 ______________________________ 25 Iren., Haer. 1,27,2: »Seinen Schülern redete er ein, er selbst sei näher an der Wahrheit als die Apostel, die das Evangelium überliefert haben (semetipsum veraciorem esse quam sunt hi qui evangelium tradiderunt apostoli). Dabei überlieferte er ihnen gar nicht das Evangelium, sondern nur einen kleinen Teil davon (non evangelium, sed particulam evangelii tradens eis).« 26 Tert. 4,6,2: quasi ab assertoribus eius intexta. 27 accusantis pseudapostolos quosdam pervertentes evangelium Christi. 28 Tert. 4,3,4: … si quid de deo creatore aut Christo eius errassent. Igitur distinguenda erunt singula. 29 Tert. 4,4,5 (ed. Moreschini diff. Evans): Aut si ipsum erit verum, id est apostolorum, quod Marcion habet solus, et quomodo nostro consonat, quod non apostolorum, sed Lucae refertur? Aut si non statim Lucae deputandum est quo Marcion utitur, quia nostro consonat, scilicet adulterato etiam 40 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche Um den Wahrheitsanspruch gibt es folglich ein »unentschiedenes Tauziehen«: »Ich behaupte, dass mein Evangelium wahr ist, Marcion, dass seines wahr ist; ich versichere, dass Marcions gefälscht ist, er dagegen, dass meines gefälscht ist.« 30 In wenigstens einem Fall wird aus Tertullians Argumentation ein solcher marcionitischer Vorwurf gegen die katholische Fälschung noch sichtbar: Strittig ist, ob der Gesetzeslehrer in *10,25 nach den Bedingungen des ewigen Lebens (so der katholische Text) oder - sine aeternae mentione - nur nach den Bedingungen des Lebens (so *Ev) gefragt habe (4,25,14). Nach einer längeren theologischen Abhandlung konzediert Tertullian die Möglichkeit, dass der marcionitische Text ursprünglich sei, setzt dann aber hinzu, es spiele letztlich gar keine Rolle, ob »die Unseren das Wort ›ewig‹ dazugesetzt« hätten. 31 Aber Tertullian beschränkt sich nicht nur auf die Feststellung der wechselseitigen Fälschungsvorwürfe, sondern teilt im Zuge seiner Argumentation auch Genaueres über die marcionitische Position mit: Marcion habe »in seinen ›Antithesen‹ argumentiert, das Evangelium sei von den Verteidigern des Judentums mit dem Gesetz und den Propheten zu einer Einheit verbunden worden, durch welche sie Christus auch von dorther erdichten.« 32 Diese Information ist höchst aufschlussreich. Denn Marcions Behauptung, die Tertullian zweifellos zutreffend referiert, lässt immerhin erkennen, dass er den katholischen Christen nicht einfach eine redaktionelle Bearbeitung seines Evangeliums vorwarf, sondern darüber hinaus dessen Integration in eine Bibelausgabe, die neben dem Evangelium auch Gesetz und Propheten (also wohl: das Alte Testament) enthielt: Die Verfälschung, die Marcion seinen Gegnern vorwarf, zielte daher nicht - oder doch nicht nur - auf judaisierende Veränderungen am Textbestand »seines« Evangeliums, sondern (zumindest: auch) auf den Interpretationsrahmen, den dieses Evangelium durch die Aufnahme in den katholischen Kanon gefunden hatte. Auf diese Darstellung der marcionitischen Position ist noch zurückzukommen (u. S. 148ff). Dass sie nicht aus der Luft gegriffen ist, zeigt auch eine Beobachtung, die Kelsos um 180 n. ______________________________ circa titulum, ceterum apostolorum est. Iam ergo et nostrum, quod illi consonat, aeque apostolorum est, sed adulteratum de titulo quoque. Die Schwierigkeit dieser Argumentation hat Evans (wohl zu Unrecht) zu einer Konjektur veranlasst. Tertullian will hier nur zeigen, daß Marcions und nostrum evangelium beide den Anspruch erheben, das apostolische zu sein. Dabei wertet Tertullian die Verfasserzuschreibung des Titels an einen apostolicus als Beleg für die katholische Ansicht. 30 Tert. 4,4,1: Funis ergo ducendus est contentionis, pari hinc inde nisu fluctuante. Ego meum dico verum, Marcion suum. Ego Marcionis affirmo adulteratum, Marcion meum. Zum marcionitischen Fälschungsvorwurf gegenüber den katholischen Christen vgl. Adam., Dial. 1,5 (805b-d), s. o. S. 39. 31 Tert. 4,25,18: Viderit nunc si aeternam nostri addiderunt. Die Argumentation besagt: Selbst wenn der Gesetzeslehrer nur nach den Bedingungen eines langen (irdischen) Lebens gefragt habe, habe ja doch »jener« (also der marcionitische) Christus zu einem Verhalten geraten, das zum ewigen Leben führe. Impliziert ist: Sachlich sei an einem solchen additum eigentlich nichts auszusetzen. 32 Tert. 4,4,4: … Marcion per Antitheses suas arguit ut interpolatum a protectoribus Iudaismi ad concorporationem legis et prophetarum. § 3: Die Bezeugung von *Ev durch die Häresiologen 41 Chr. 33 als Einwand gegen die Christen vorbrachte. Er verwies auf innerchristliche Auseinandersetzungen, denen zufolge einige Christen »das Evangelium nach seiner ersten schriftlichen Fassung dreifach und vierfach und vielfach umprägen und umformen, um kritische Einwände abstreiten zu können.« 34 Dies entspricht ziemlich genau dem Vorwurf der Marcioniten, die katholischen Christen hätten »das Evangelium« verfälscht und es in die Kanonische Ausgabe des NT integriert, hier zusätzlich garniert mit der Umkehrung des Vorwurfs gegenüber der katholischen Seite, die Veränderung des Textes sei ein Mittel der theologischen Auseinandersetzung. Kelsos’ Hinweis auf die drei- und vierfache Veränderung des Evangeliums gibt recht genau zu erkennen, dass er das kanonischen Vier- Evangelienbuch im Visier hat - und dies just zu der Zeit, zu der sich Irenaeus genötigt sieht, die Vierfalt des kanonischen Evangeliums um jeden Preis zu begründen. Als Origenes etwa 70 Jahre später Kelsos’ Verfälschungsvorwurf referierte und zu widerlegen suchte, hat er ihn ohne große Umstände auf die Häretiker umgeleitet: Er glaube nicht, dass andere das Evangelium verändert hätten als »die von Marcion und die von Valentinus und vielleicht die von Lukanus«. 35 Zunächst ist jedoch festzuhalten, dass nach Tertullians Zeugnis Fälschungsvorwurf gegen Fälschungsvorwurf bzw. Echtheitsanspruch gegen Echtheitsanspruch stand. Dabei ist bezeichnend, dass Tertullian diesen Antagonismus nicht ohne weiteres beseitigen konnte: Die relative Offenheit in dieser Frage markiert die besondere Problematik der häresiologischen Auseinandersetzung mit den Marcioniten. d. Das höhere Alter des kanonischen Evangeliums ist durch die apostolische Tradition gesichert Angesichts der Wechselseitigkeit der Fälschungsvorwürfe impliziert die Behauptung der Echtheit, dass das »unverfälschte« Evangelium älter sein muss als seine redaktionelle Bearbeitung. Tertullian hat dieses Argument, das bei Irenaeus mit dem »Verstümmelungsvorwurf« immer mitgesetzt ist, direkt begründet. Er führt aus, dass nur das Argument des höheren Alters (temporis ratio) die Autorität des kanonischen Evangeliums sicherstellen könne: »Denn im gleichen Ausmaß, in dem das Falsche eine Korruption des Wahren ist, muss die Wahrheit notwendigerweise dem Falschen vorangehen: Eine Sache muss früher sein als das, was mit ihr geschieht, und der Grundstoff früher als seine Nachäffung. Wie absurd wäre es anders: Dass nämlich - wenn wir unser Evangelium als älter bewiesen haben, Marcions aber später ist - unseres als gefälscht gilt, bevor es seine Grundlage von der Wahrheit hatte; oder dass Marcions ______________________________ 33 Zur Datierung vgl. H. E. L ONA , Die »Wahre Lehre« des Kelsos, Freiburg/ Brsg. u. a. 2005, 55-57. 34 Origenes, Cels. 2,27 (GCS 2, 156,1-5): μεταχαράττειν ἐκ τῆς πρώτης γραϕῆς τὸ εὐαγγέλιον τριχῇ καὶ τετραχῇ καὶ πολλαχῇ καὶ μεταπλάττειν, ἵνα ἔχοιεν πρὸς τοὺς ἐλέγχους ἀρνεῖσθαι. 35 Origenes, Cels. 2,27. 42 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche Evangelium eine Nachahmung durch unseres erfahren haben sollte, noch bevor jenes (sc. Marcions) veröffentlicht war; und wie absurd wäre es schließlich, wenn das für wahrer gehalten würde, das später ist, nachdem doch schon so viele und so umfangreiche Werke und Dokumente im Zeitalter der christlichen Religion veröffentlicht wurden, welche schlechterdings nicht hätten veröffentlicht werden können ohne die Wahrheit des Evangeliums, und das heißt: vor der Wahrheit des Evangeliums.« 36 De facto besagt dieser Altersbeweis: Erstens ist das Wahre immer älter als das Gefälschte, beides kann immer nur in einem Depravationsschema aufeinander bezogen sein. Denn umgekehrt kann Wahrheit nicht als Korrektur von Falschem entstehen, weil sie offenbarungstheologisch begründet ist. 37 Und zweitens stellt die schiere Existenz so vieler christlicher opera et documenta - wer denkt hier nicht an das Neue Testament! - das höhere Alter und damit die Wahrheit des kanonischen Evangeliums sicher. Am Ende behauptet Tertullian das höhere Alter der kanonischen Überlieferung mit dem historisierenden Argument, dass Marcion ja - bevor er mit seinem eigenen Evangelium an die Öffentlichkeit getreten sei - Glied der römischen Gemeinde gewesen wäre: Er hätte den Vorwurf der Interpolation durch die katholische Kirche gar nicht vertreten können, wenn er das (kanonische) Evangelium nicht schon vorgefunden hätte. 38 Für diese Argumentation ist der Gedanke zentral, dass Marcion seinen Evangelientext überhaupt erst dadurch erhalten habe, dass er ihn von den angeblichen judaistischen Zusätzen gereinigt habe. Die Möglichkeit, dass Marcion den älteren, unbearbeiteten Evangelientext zu Recht für sich beansprucht haben könnte, zieht Tertullian nicht einmal von ferne in Erwägung - verständlicherweise, denn er ist ja nicht nur von dem höheren Alter des kanonischen Evangeliums, sondern auch von dessen originärer theologischer Wahrheit ohne jeden Zweifel überzeugt. Aber angesichts des thetischen Charakters seiner Argumentation versteht man Semlers ______________________________ 36 Tert. 4,4,1f: In quantum enim falsum corruptio est veri, in tantum praecedat necesse est veritas falsum. (2) Prior erit res passione, et materia aemulatione. Alioquin quam absurdum, ut, si nostrum antiquius probaverimus, Marcionis vero posterius, et nostrum ante videatur falsum quam habuerit de veritate materiam, et Marcionis ante credatur aemulationem a nostro expertum quam et editum, et postremo id verius existimetur quod est serius, post tot ac tanta iam opera atque documenta Christianae religionis saeculo edita, quae edi utique non potuissent sine evangelii veritate, id est ante evangelii veritatem. 37 Dieselbe Denkfigur verwendet Tertullian auch an anderer Stelle: »Jede Veränderung (interpolatio) ist aber für das Spätere zu halten und geht auf die Nachäffung (aemulatio) zurück, die niemals früher existiert oder vertraut ist mit dem, was sie nachäfft. Daher ist es für jeden Verständigen ebenso unglaublich, daß wir, die wir doch die ersten sind und aus uns selbst, den fälschenden Griffel an die Schrift gelegt haben sollen« (Praescr. 38,6). 38 Tert. 4,4,4: utique non potuisset arguere nisi quod invenerat. § 3: Die Bezeugung von *Ev durch die Häresiologen 43 »Unwillen wider dergleichen deklamatorische Stellen« und den Mangel an »ehrlicher Historie« in Tertullians Argumentation. 39 e. Die Bekämpfung der Marcioniten wird als Nachweis von Widersprüchen zwischen Marcions Text und seiner Theologie geführt Da die Reklamation des höheren Alters - und damit: des apostolischen Ursprungs - auf Seiten der katholischen Häresiologen kaum weiterführte als der wechselseitige Fälschungsvorwurf, musste die Auseinandersetzung mit Marcions Theologie und seiner Schriftgrundlage andere Wege gehen. Für die Häresiologen stellte sich damit ein doppeltes Problem: Auf der einen Seite geriet eine formale Argumentationsstrategie (also der Nachweis der Echtheit und des höheren Alters des kanonischen Evangeliums) immer zu kurz, weil sie die behauptete Korrelation zwischen Marcions Theologie und seiner Bibel gar nicht erreichen konnte. Auf der anderen Seite ließ sich eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Marcion (also die Widerlegung seiner theologischen Ansichten) nicht dadurch führen, dass man die eigene Position als schriftkonform erwies, weil zwischen beiden Parteien ja die Schriftgrundlage selbst strittig und ein zentraler Teil des Problems war. Die Häresiologen lösten dieses Dilemma dadurch, dass sie von Marcions eigenem Bibeltext ausgingen und darin Widersprüche zu seiner Theologie identifizierten. Der Nachweis des Selbstwiderspruchs wurde deswegen zur zentralen Strategie der Widerlegung Marcions, weil sich auf diese Weise die beiden aufeinander bezogenen Pole der bekämpften Position - Marcion hat eine falsche Schriftgrundlage und eine falsche Lehre - in einem einzigen Arbeitsgang diskreditieren ließen: Die hermetische Zirkularität, die den Häresiologen in der antimarcionitischen Argumentation so große Schwierigkeiten bereitete, sollte auf diese Weise von innen aufgesprengt werden. Bereits Irenaeus hatte diese Strategie angekündigt, auch wenn sich von der Durchführung keine Zeugnisse erhalten haben. 40 Erst von Tertullian ist die Realisierung dieses Programms in aller Ausführlichkeit im 4. (und 5.) Buch von Adv. Marc. erhalten. Wie sehr Tertullians Vorgehen von diesem Nachweis der Selbstwidersprüche zwischen Marcions Evangelium und seiner Theologie bestimmt ist, zeigt noch die ______________________________ 39 J. S. S EMLER , Vorrede zu: Thomas Townsons Abhandlungen über die vier Evangelien (vgl. o. S. 13 Anm. 31). 40 Z. B. Iren., Haer. 1,27,4: »Aber weil er als einziger in aller Offenheit gewagt hat, an den Schriften herumzuschneiden (circumcidere spcripturas) und schamloser als alle anderen gegen Gott zu arbeiten, werden wir ihm in einer gesonderten Abhandlung widersprechen (seorsum contradicemus); mit Gottes Hilfe widerlegen wir ihn aus seinen eigenen Schriften und erledigen ihn aufgrund derjenigen Worte des Herrn und des Apostels, die er nicht gestrichen hat und selbst gebraucht (ex eius scriptis arguentes eum, ex his sermonibus qui apud eum observati sunt, domini et apostoli, quibus ipse utitur, eversionem eius faciemus).« Vgl. auch 3,12,12: »Ich werde sie (sc. die Marcioniten) aber mit Gottes Hilfe in einem anderen Buch (in altera conscriptione) sogar noch aus den Teilen widerlegen, die sie beibehalten haben.« Falls es dieses eigene Buch gegeben hat, hat es sich nicht erhalten. 44 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche triumphierende Schlussbemerkung am Ende seiner Analyse von *Ev: »Ich bemitleide dich, Marcion, du hast dich vergeblich abgemüht: Denn der Christus Jesus in deinem Evangelium ist meiner! « 41 Deutlicher lässt sich die Behauptung, dass der Text von Marcions Evangelium seine Theologie nicht trägt, kaum vertreten. Aber auch noch im 4. Jh. ist Epiphanius’ methodisches Vorgehen durch diesen Nachweis des Selbstwiderspruchs geprägt: »Ausgehend von genau dem Kanon, den er behält, dem Evangelium und den paulinischen Briefen, kann ich mit Gottes Hilfe beweisen, dass Marcion ein Betrüger ist und sich im Irrtum befindet, und ich kann ihn aufs wirksamste widerlegen. (6) Denn er wird aus genau denjenigen Werken widerlegt werden, die er ohne Einspruch anerkennt (ἐξ αὐτῶν γὰρ ἀναμϕιβόλως τῶν παρ’ αὐτοῦ ὁμολογουμένων ἀνατραπήσεται).« 42 Dieses für die antimarcionitische Argumentation so charakteristische Vorgehen ist der Grund dafür, dass wir durch die Häresiologen so gut über Umfang, Gestalt und Text von Marcions Bibel informiert sind. f. Konsequenzen Diese kurze Übersicht über die Struktur der altkirchlichen Auseinandersetzung mit Marcion erlaubt einige wichtige Schlussfolgerungen. Zunächst wird die Sonderstellung, die Marcion im Rahmen der altkirchlichen Ketzerbekämpfung einnimmt, verständlich. Sie beruht weniger darauf, dass Marcion eine besonders »falsche« Lehre vertreten hätte, als vielmehr auf dem Umstand, dass diese eng mit dem Text von Marcions Bibel zu korrelieren schien und die Häresiologen dazu zwang, ihre eigene kanonische Schriftgrundlage zu verteidigen und zu begründen. Diese Nähe und zugleich die Differenz der kanonischen zur marcionitischen Bibel macht zweitens auch die stereotype Beweisführung verständlich: Selbst, wenn bereits Irenaeus auf einer Quelle (z. B. Justins »Syntagma«) beruhen und diese auch noch die späteren Zeugen beeinflusst haben sollte, so hat doch schon diese kurze Problemanzeige deutlich werden lassen, dass es kaum Alternativen zu dieser argumentativen Strategie mit dem Aufweis der Selbstwidersprüche zwischen Marcions Bibeltext und seiner Theologie gab. Drittens nötigt diese spezifische Beweisführung dazu, die Mitteilungen der Zeugen über den Text von Marcions Bibel - in unserem Fall: seines Evangeliums - ernst zu nehmen. Denn im Unterschied zu den polemischen ______________________________ 41 Tert. 4,43,9: misereor tui, Marcion, frustra laborasti: Christus enim Iesus in evangelio tuo meus est. 42 Epiph. 42,9,5f. Vgl. auch 42,10,3: »Und so bin ich (all das) durchgegangen, worin offenkundig wird, dass er in seiner Einfalt diese übrig gelassenen Logien des Heilands und des Apostels zu seinem eigenen Nachteil beibehält (ἐν οἷς ϕαίνεται ἠλιθίως καθ’ ἑαυτοῦ ἔτι ταύτας τὰς παραμεινάσας τοῦ τε σωτῆρος καὶ ἀποστόλου λέξεις ϕυλάττων).« Zwar seien von ihm einige Worte gefälscht und in einer vom kanonischen Wortlaut abweichenden Form eingefügt worden (10,4), aber »anderes war ursprünglich, wie es auch das Evangelium und der Apostel hat: von ihm unverändert, und doch geeignet, seinen ganzen Fall zu widerlegen« (42,10,5). Vgl. auch 42,11,2.14. § 3: Die Bezeugung von *Ev durch die Häresiologen 45 Verzerrungen in der Darstellung von Marcions Theologie, und anders auch als bei der mit bösartigen Unterstellungen üppig angereicherten Schilderung seines Lebenswandels, konnten die Häresiologen es sich kaum leisten, in der Besprechung des marcionitischen Bibeltextes bewusst falsche Angaben zu machen, ohne dadurch ihr eigenes Beweisverfahren von vornherein zu desavouieren: Weil der marcionitische Bibeltext die Basis ihrer Argumentation liefert, sind sie zur korrekten Wiedergabe genötigt. Die wichtigste Einsicht ergibt sich allerdings aus dem Beweisverfahren selbst. Denn die Häresiologen wurden bei ihrer Suche nach Widersprüchen zwischen Marcions falscher Theologie und dem Text seines Evangeliums auf Schritt und Tritt fündig. Das bedeutet jedoch, dass die behauptete Korrelation zwischen Text und Theologie Marcions gar nicht existiert. Im Gegenteil: Die Inkongruenz zwischen diesen beiden Bezugsgrößen bildet sogar die Grundlage des gesamten Verfahrens! Dieses Phänomen ist ebenso verblüffend wie aufschlussreich, denn es verweist auf ein systemimmanentes und letztlich unlösbares Problem: Zwischen dem Vorwurf gegen Marcion (Fälschung des Evangeliums gemäß der Irrlehre) und der gegen ihn gerichteten Argumentationsstrategie (sein Bibeltext trägt seine Theologie überhaupt nicht) klafft ein Widerspruch, der erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der Angaben über Marcions Redaktion des kanonischen Bibeltextes weckt. Denn da die Beweisführung ja durchaus gelingt, kann der Widerspruch nur dahingehend aufgelöst werden, dass die Ausgangsbehauptung - »Marcion hat den Text des Evangeliums gemäß seiner Irrlehre verfälscht! « - unzutreffend ist. Der Versuch, die wechselseitige, zirkuläre Beziehung zwischen Marcions Theologie und seinem Evangelientext durch den Aufweis von Selbstwidersprüchen gleichsam von innen her aufzusprengen, ist also um den Preis eines logischen Selbstwiderspruchs erkauft, der auf die Häresiologen zurückfällt und ihre Behauptung diskreditiert, Marcion habe das kanonische Evangelium aus theologischen Gründen verstümmelt. Mit dem ihm eigenen Scharfsinn hat Tertullian die Inkonsequenz des Verfahrens - und damit: die Gefährdung seiner gesamten Beweisführung! - bemerkt. Er erklärt dazu: »Marcion wollte - wie ich glaube, mit Absicht - bestimmte Dinge, die seiner Ansicht entgegenstehen, nicht aus seinem Evangelium herausstreichen, um aufgrund dessen, was er hätte streichen können, aber nicht gestrichen hat, den Eindruck zu erwecken, er habe das, was er gestrichen hat, entweder gar nicht oder aber mit gutem Grund gestrichen. Er verschont (sc. von seinen Streichungen) allerdings nur, was er durch eine andere Interpretation (aliter interpretando) nicht weniger verdreht als durch eine Streichung.« 43 ______________________________ 43 Tert. 4,43,7: Et Marcion quaedam contraria sibi illa, credo industria, eradere de evangelio suo noluit, ut ex his quae eradere potuit nec erasit, illa quae erasit aut negetur erasisse aut merito erasisse dicatur. Nec parcit nisi eis quae non minus aliter interpretando quam delendo subvertit. 46 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche Mit anderen Worten: Die methodische Inkonsequenz des häresiologischen Beweisganges ist in Wahrheit ein hinterhältiges Vertuschungsmanöver des Häretikers, mit dem dieser seinen Widersachern das Leben schwer macht! Diese Erklärung, die im 19. Jh. wieder aufgegriffen wurde, 44 ist mehr als gesucht. Denn wenn Marcion sein Ziel einer Übereinstimmung von Bibeltext und Lehre auch aliter interpretando hätte erreichen können, stellt sich die Frage, warum er dann überhaupt die Mühe einer redaktionellen Bearbeitung des kanonischen Lk auf sich genommen haben sollte. In jedem Fall stellt die Inkonsequenz, mit der Marcion die postulierte Redaktion des kanonischen Lk-Evangeliums durchgeführt haben würde, ein zentrales Problem von größtem methodischem Gewicht dar: Es entzieht der Annahme einer solchen Redaktion die Grundlage. Darauf ist unten (§ 6) noch ausführlicher einzugehen. Zunächst ist zu klären, wie die Referate von Marcions Bibeltext insgesamt einzuschätzen sind. 2. Die Hauptzeugen für *Ev a. Tertullian Der wichtigste Zeuge für das marcionitische Evangelium ist Tertullian. Die fünfbändige Abhandlung Adversus Marcionem, Tertullians umfangreichstes Werk, ist klar strukturiert. Die ersten drei Bücher enthalten eine systematische Auseinandersetzung mit Marcion, nämlich die Widerlegung des marcionitischen Ditheismus aufgrund philosophisch-systematischer Implikationen in Buch 1, die Darstellung der (katholischen) Gotteslehre im Gegenüber zu der von Marcion behaupteten Diskontinuität zwischen dem Schöpfer und dem Vater Jesu Christi anhand alttestamentlicher Aussagen in Buch 2, sowie eine christologische Entfaltung der unterschiedlichen Ansätze in Buch 3. 45 Erst auf der Grundlage dieser systematischen Auseinandersetzung behandelt Tertullian, wie schon im ersten Buch angekündigt, 46 die Widersprüche zwischen Marcions Lehre und seinem Evangelium (Buch 4) bzw. seiner Sammlung der zehn Paulusbriefe (Buch 5). ______________________________ 44 A. H AHN , Das Evangelium Marcions in seiner ursprünglichen Gestalt, Königsberg 1823, 263. A. R ITSCHL , Das Evangelium Marcions und das kanonische Evangelium des Lucas, Tübingen 1846, 19, verweist außerdem auf: J. L. H UG , Einleitung in die Schriften des NT I, Stuttgart 3 1826; P. A. G RATZ , Kritische Untersuchungen über Marcions Evangelium, Tübingen 1818; H. O LSHAUSEN , Die Echtheit der vier canonischen Evangelien aus der Geschichte der zwei ersten Jahrhunderte erwiesen, Königsberg 1823; W. L. M. DE W ETTE , Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in die kanonischen Bücher des Neuen Testaments, Berlin 1830. 45 Vgl. dazu U. B. S CHMID , Marcion und sein Apostolos, Berlin - New York 1995, 35. 46 Tert. 1,29,9: ipsarum scriptarum examinatio. § 3: Die Bezeugung von *Ev durch die Häresiologen 47 Die vorliegende Ausgabe von Adv. Marc. stellt Tertullians dritten Anlauf zu diesem Unternehmen dar. Eine erste Ausgabe, ein primum opusculum, zog er später zurück: Sie sei überhastet abgefasst und sollte durch eine zweite, vollständigere Ausgabe ersetzt werden. Diese jedoch wurde vor der endgültigen Fertigstellung gestohlen und zirkulierte in einem unautorisierten und fehlerhaften Exzerpt. Tertullian sah sich daher zu einer dritten Auflage gezwungen, die er mit Korrekturen und umfangreichen Zusätzen versah. 47 Angesichts dieser Entstehungsgeschichte ist es zweifelhaft, dass das uns interessierende Buch 4 bereits in dem opusculum der ersten Ausgabe enthalten war. 48 Wahrscheinlicher gehören die Bücher 4 und 5 zu den Zusätzen der Ausgabe letzter Hand, die mit hoher Wahrscheinlichkeit erst im Jahr 207/ 208 n. Chr. erschien. 49 Tertullians Vorgehen in Buch 4 (ganz ähnlich in Buch 5) ist deutlich: Er geht den marcionitischen Text von Anfang durch, um Marcion aus dem Text seiner eigenen Bibel zu widerlegen (s. o.). Wie wichtig ihm der methodische Ansatz bei Marcions eigenem Bibeltext war, zeigt seine Diskussion von *16,18. Zunächst war Tertullian an dem Nachweis gelegen, dass Jesus - entgegen der marcionitischen Askese - die Ehe voraussetze. Aber das eigentliche Problem stellte für ihn die Verbindung zwischen der Unauflöslichkeit der Ehe gemäß *16,18 und dem Scheidungsrecht aus Dtn 24,1 dar (das Marcion ja gar nicht hatte). Um beides in Einklang bringen zu können, greift er auf Mt 19 zurück, denn dort wird sowohl die göttliche Stiftung der Ehe (Mt 19,5 mit Zitat Gen 2,7) als auch das Argument der Herzenshärte (Mt 19,8) erwähnt, mit dessen Hilfe das Scheidungsgesetz eingeschränkt und die Unauflöslichkeit der Ehe in der Lehre Jesu bestätigt wird. Dieser Rückgriff auf Mt - und also über Marcions Evangelientext hinaus - war Tertullian deutlich bewusst: Er machte eine gesonderte Begründung erforderlich. 50 Dieses ausgeprägte Bewusstsein für die methodische Begrenztheit seines Verfahrens ist auch sonst zu beobachten. 51 Tertullians Durchsicht des marcionitischen Evangeliums folgt dem Text Schritt für Schritt von Anfang bis Ende. Dass er dabei tatsächlich den marcionitischen ______________________________ 47 Tert. 1,1,1f: Si quid retro gestum est nobis adversus Marcionem, iam hinc viderit. Novam rem aggredimur ex vetere. Primum opusculum quasi properatum pleniore postea compositione rescideram. Hanc quoque nondum exemplariis suffectam fraude tunc fratris, dehinc apostatae, amisi, qui forte descripserat quaedam mendosissime et exhibuit frequentiae. [2] Emendationis necessitas facta est. Innovationis eius occasio aliquid adicere persuasit. Ita stilus iste nunc de secundo tertius et de tertio iam hinc primus hunc opusculi sui exitum necessario praefatur, ne quem varietas eius in disperso reperta confundat. 48 R. B RAUN , Tertullien, Contre Marcion I, Paris 1990, 40. 49 Vgl. Tert. 1,15,1 mit der Parallelisierung zwischen dem 15. Jahr des Tiberius und dem 15. Jahr des Sept. Severus. 50 Tert. 4,34,2: »Denn du hast das andere Evangelium nicht überliefert und seine Wahrheit und seinen Christus, in dem er Scheidung verbietet und die damit verbundene Frage löst.« 51 Vgl. etwa Tert. 5,4,2 zu *Gal 4,1f, wo er in seiner Begründung auf die nicht in Marcions Text enthaltenen Vv. Gal 3,15f verweist, diese Abweichung von seinem Verfahren aber ausdrücklich vermerkt (vgl. S CHMID , a. a. O. 37). 48 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche Text - nicht aber eine Exzerptensammlung o. ä. - in der Hand hatte, wird durch die Beobachtung erhärtet, dass er den vom kanonischen Text stark abweichenden Beginn von *Ev nicht eigens thematisierte, sondern einfach und konsequent an dem ihm vorliegenden Text von *Ev entlangging. 52 Dabei zog Tertullian aus *Ev heran, was ihm für seine leitende Fragestellung - Nachweis der Widersprüche zwischen Marcions Theologie und Bibeltext - geeignet erschien und referierte diese Passagen in seinem argumentativen Rahmen: Der Gesamtduktus seiner Widerlegung ist an der systematischen Geschlossenheit interessiert, nicht aber an einer vollständigen Wiedergabe von Marcions Bibeltext. Dieser literarische Grundcharakter erklärt einige Eigenheiten von Tertullians *Ev-Referat. 1. Die Referenzbezüge, mit denen Tertullian Texte aus *Ev in seine Argumentation einbindet, sind sehr unterschiedlich. In rund 50 Fällen liefert Tertullian ein genaues Zitat aus dem marcionitischen Text, das er durch die Zitationsformel inquit als solches kennzeichnet und einführt. Daneben finden sich wörtliche Zitate, die nicht als solche gekennzeichnet sind und häufig nur Satzteile oder gar nur einzelne Begriffe umfassen. Neben diesen (Teil-)Zitaten gibt es eine Fülle von Allusionen und Paraphrasen, mit denen Tertullian mitunter auch größere Zusammenhänge einfach sehr kurz zusammenfasst. 53 Dabei sind diese verschiedenen Arten der Textreferenz immer in den größeren argumentativen Zusammenhang eingebunden und meistens syntaktisch in ihn integriert. Ein Beispiel soll das Verfahren erläutern: In seiner Besprechung von *4,31f will Tertullian zeigen, dass der Jesus, den Marcions Evangelium darstellt, in der Tat zum Schöpfergott des Alten Testaments gehört. Er belegt dies gleich zu Beginn durch den Verweis auf die Erzählung von der Lehre Jesu in der Synagoge von Kapharnaum. 54 »Mir genügen die Taten anstelle der Worte. Nimm du ruhig die Worte meines Christus fort, seine Taten sprechen doch! Sieh, wie er in die Synagoge kommt: Natürlich zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel (ecce venit in synagogam; certe ad oves perditas domus Israelis)! Sieh, wie er das Brot seiner Lehre als ersten den Israeliten anbietet (ecce doctrinae suae panem prioribus offert Israelitis): Natürlich zieht er sie als Söhne vor! Sieh, wie er es anderen noch nicht gewährt: Natürlich übergeht er sie wie Hunde! Wem hätte er es aber eher zugeteilt als denen, die dem ______________________________ 52 Analog dazu wird auch die von der Kanonischen Ausgabe abweichende Reihenfolge der paulinischen Briefe (mit Gal zu Beginn) nicht als Problem thematisiert. S CHMID , a. a. O. 38f, ist aufgrund dieser und anderer Beobachtungen zu demselben Schluss gekommen, dass Tertullian wohl nur Marcions Bibelausgabe zur Hand hatte. 53 So verweist Tertullian beispielsweise mit den Worten ovem et dragmam perditam quis requirit? (Tert. 4,32,1) erkennbar auf die beiden Gleichnisse vom Verlorenen *15,3-10, wobei völlig offenbleibt, welche sprachliche Gestalt *Ev an dieser Stelle hatte (vgl. u. die Rekonstruktion z. St.). 54 Zum Wechsel zwischen den Namensformen Kapharnaum (in *Ev) und Kapernaum (in den kanonischen Evangelien) s. die Rekonstruktion zu *3,1a; *4,31-37. § 3: Die Bezeugung von *Ev durch die Häresiologen 49 Schöpfer fremd sind, wenn er selbst nicht in besonderer Weise dem Schöpfer gehört hätte? [7] Aber wie konnte er trotzdem in die Synagoge zugelassen werden, so plötzlich, so unbekannt, wo doch bis dahin niemand sicher war über seinen Stamm, sein Volk, sein Haus, oder schließlich auch den Census des Augustus, den die römischen Archive immer noch als treuestes Zeugnis für die Geburt des Herrn bewahren? Sie hatten doch sicher daran gedacht, dass sie ihm keinen Zutritt zu dem Allerheiligsten gewähren durften, es sei denn, sie kannten ihn als Beschnittenen. Aber auch, wenn die Synagoge allenthalben betreten werden durfte, dann war es doch nicht erlaubt zu lehren, es sei denn für jemanden, der bestens bekannt, überprüft und bestätigt war, der entweder schon für diese Gelegenheit selbst oder von anderswo her für dieses Amt empfohlen war. Aber ›alle staunten über seine Lehre‹ (stupebant autem omnes ad doctrinam eius). Natürlich. Denn, so heißt es, ›seine Predigt war in Vollmacht‹, denn schließlich lehrte er ja nicht gegen Gesetz und Propheten (quoniam, inquit, in potestate erat sermo eius, non quoniam adversus legem et prophetas docebat)« (Tert. 4,7,6f). Folgende Beobachtungen zeigen, auf welche Weise Tertullian auf *Ev Bezug nahm und welche Schwierigkeiten sein *Ev-Referat für die Rekonstruktion aufwirft: a. Die Argumentation ist stringent: In *Ev fand sich keine Entsprechung zu Mt 10,6; 15,24, was Tertullian mit der Bemerkung quittiert »Nimm die Worte meines Christus (aus deinem Evangelium ruhig) fort«, um danach die in *Ev enthaltene Erzählung von Jesu Lehre und Heilung in der Synagoge von Kapharnaum als Beleg für die entsprechende Haltung zu nehmen: »… die Taten sprechen doch.« Ähnliches gilt für die Erzählung von der Heilung der Tochter der Syrophönizierin (Mt 15,21-28), die ebenfalls nicht in *Ev enthalten ist, 55 auf die aber hier durch die Stichworte ut filios praefert bzw. ut canes praeterit deutlich erkennbar angespielt wird, ohne dass ein Zitat (in diesem Fall: aus Tertullians Bibel) vorliegt. b. Der Anfang von 4,7,7 verweist mit den Stichworten tribus, populus, domus und census Augusti auf die lk Geburtsgeschichte (Lk 2,1-21) und den Stammbaum Jesu (Lk 3,23-38), die in *Ev fehlten, wodurch sich für das erste Auftreten Jesu ein Legitimationsproblem ergibt. Die implizite Logik besagt: Einerseits fehlen in *Ev grundlegende Informationen über Jesus, andererseits setzt das Profil der Erzählung genau diese fehlenden Passagen sachlich voraus. c. Mit stupebant autem omnes ad doctrinam eius liefert Tertullian ein wörtliches Zitat aus *Ev (*4,32a: καὶ ἐξεπλήσσοντο ἐπὶ τῇ διδαχῇ αὐτοῦ), das allerdings nicht als solches gekennzeichnet ist. Die Weiterführung zeigt, wie Tertullian den Text von *Ev stückweise in seine Argumentation integriert und nutzt: Die Feststellung des Erstaunens liefert die Grundlage der Argumentation und ist Anlass für einen Kommentar Tertullians (plane), der dann wiederum eine Begründung erheischt. Diese gibt Tertullian wiederum aus *Ev - aber diesmal ist das Zitat als solches gekennzeichnet (quoniam, i n q u i t , in potestate erat sermo eius = *4,32b: ὅτι ἐν ἐξουσίᾳ ἦν ὁ λόγος αὐτοῦ). d. Am Ende des Zitats steht ein Zusatz Tertullians, der nicht als solcher kenntlich gemacht ist, sondern nur aus dem argumentativen Duktus als Tertullians eigene Deutung identifiziert werden kann: non quoniam adversus legem et prophetas docebat ist ein antimarcionitisches Argument, denn Marcions Jesus hätte - seiner Theologie zufolge - ja wohl gegen Gesetz und Propheten lehren müssen, dann aber kaum den Beifall der Menge erhalten. Schon dieses eine Beispiel zeigt deutlich die Dominanz des argumentativen Duktus, dem die unterschiedlichen Referenzen auf den Text dienstbar gemacht werden. ______________________________ 55 S. dazu u. S. 68f. 50 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche Erkennbar ist aber auch, wie schwierig es im Einzelfall ist, aus Tertullians Referat belastbare Rückschlüsse auf Wortwahl und Wortstellung in *Ev zu ziehen: Seine Art, Allusionen und Paraphrasen neben gekennzeichneten und ungekennzeichneten Zitaten in seine Argumentation einzubinden, setzt einer genauen Rekonstruktion des Textes von *Ev enge Grenzen. 2. Diese Art der Verwendung des Textes von *Ev erklärt auch, warum Tertullian Abweichungen vom kanonischen Text nur selten ausdrücklich vermerkt. Zwar lässt das genannte Beispiel aus Tert. 4,7,6f zu *4,31f erkennen, dass *Ev den Stoff von Lk 2f nicht enthielt, auch wenn das Profil von *Ev an dieser Stelle noch recht unklar bleibt. Vor allem aber spricht Tertullian das Fehlen gar nicht eigens an: Er thematisiert Marcions »Verstümmelung« des kanonischen Textes nicht. Es ist daher höchst unwahrscheinlich, dass Tertullian neben dem marcionitischen auch den kanonischen Text vor sich hatte und beide verglich: Wenn Tertullian Belege (vor allem aus dem AT) aus seiner kanonischen Bibel angibt, scheint er diese aus dem Gedächtnis einzubringen. Dies zeigt sich vor allem an den Stellen, an denen Tertullian Marcion Änderungen des kanonischen Textes vorwirft, die dieser aber gar nicht hergibt: Tertullian hat sich an verschiedenen Stellen nachweislich über den kanonischen Wortlaut in Lk geirrt. 56 Tertullian setzt also die Abweichungen zwischen dem kanonischen Text und *Ev voraus, begründet und erklärt sie aber nicht. Seine Argumentation ist nicht textkritisch orientiert: Sein Interesse gilt nicht den Widersprüchen zwischen dem marcionitischen und dem kanonischen Text, sondern den Selbstwidersprüchen zwischen Marcions Bibeltext und seiner Theologie. 3. Ein besonderes Problem stellt die Vollständigkeit dar, mit der Tertullian auf den Text von *Ev referiert. Da er die Texte aus *Ev nie um ihrer selbst willen heranzieht, sondern sie (nur) als Belege für seine Argumentation nutzt, lässt sich nur sehr schwer bestimmen, in welchen Fällen er eine Passage in *Ev entweder gar nicht gelesen oder aber - aus Desinteresse oder aus anderen Gründen - in seinem Referat einfach übergangen hat. So bleibt rund ein Fünftel des gesamten Umfangs des Lk-Evangeliums für *Ev unbezeugt; misst man die unbezeugten Passagen nicht am kanonischen Lk-Text, sondern an *Ev (in dem ja der Stoff von Lk 1,1-4,15 komplett fehlte), erhöht sich der Anteil der unbezeugten Passagen auf rund ein Viertel. Diese unbezeugten Passagen stellen ein besonderes Problem dar: Harnacks Rekonstruktion hat sie sehr großzügig aufgefüllt und sich dabei vom dem inhaltlichen Gesichtspunkt leiten lassen, welche Aussagen für die (von ihm rekonstruierte) Theologie Marcions akzeptabel bzw. inakzeptabel gewesen seien. Zwar ist dieses Verfahren grundsätzlich legitim und sinnvoll - jedenfalls solange die Konjekturen ______________________________ 56 Vgl. die Rekonstruktion zu *12,51; *23,34. § 3: Die Bezeugung von *Ev durch die Häresiologen 51 als solche deutlich erkennbar sind (was bei Harnack nicht immer der Fall ist) und ein insgesamt plausibles Gesamtbild ergeben. Gleichwohl ist die Abhängigkeit einer Rekonstruktion von »inneren Gründen« äußerst misslich und stellt eine erhebliche Belastung für die Genauigkeit der Textrekonstruktion dar. Zur Einschätzung der unbezeugten Passagen ist die Beobachtung von Bedeutung, dass die mutmaßlichen Lücken in Tertullians Referat nicht gleichmäßig auftreten, sondern gegen Ende hin immer stärker zunehmen. Es könnte natürlich sein, dass *Ev im Vergleich zu Lk gegen Ende hin größere Lücken aufwies als zuvor. Aber es ist wahrscheinlicher, dass Tertullian *Ev mit weiterem Fortschreiten seiner Arbeit großzügiger referierte als zu Beginn. Diese Vermutung lässt sich durch Erwägungen zur Länge des Buches und zur quantitativen Disposition des Gesamtwerks stützen: Tertullians Behandlung des marcionitischen Evangeliums in Adv. Marc. 4 hat den gleichen Umfang wie die ersten drei Bücher zusammengenommen und ist immerhin noch fast doppelt so lang wie Buch 5. 57 Angesichts dieser deutlichen quantitativen Unterschiede erhält die eingangs erwähnte planvolle Anlage des Gesamtwerks Gewicht: Tertullian wollte offensichtlich vermeiden, die Behandlung von Marcions Evangelium auf zwei Bücher aufzuteilen, musste dann aber darauf achten, dass der Umfang nicht über Gebühr anwuchs. Eine solche Berücksichtigung quantitativer Überlegungen, die ja auch sonst bezeugt ist, 58 könnte für die Zunahme der unbezeugten Passagen gegen Ende des vierten Buches verantwortlich sein. Zumindest ist für Tertullians Verfahren in Rechnung zu stellen, dass eine vollständige Bearbeitung von *Ev auf keinen Fall zu erwarten ist. b. Epiphanius Auch Epiphanius, der zweite Hauptzeuge für das marcionitische Evangelium, hat ebenfalls nicht gezielt nach Textdifferenzen zwischen *Ev und dem kanonischen Evangelium gesucht. Im Rahmen seiner Darstellung der Häresien seiner Zeit und ihrer Widerlegung zielte Epiphanius auf die marcionitische Theologie, die er zusammenfassend präsentiert und anschließend seiner Kritik aussetzt. Um den Wert von Epiphanius’ Bezeugung des Textes von *Ev einschätzen zu können, ist es unerlässlich, sich die Entstehungsgeschichte seines Marcionitenkapitels vor Augen zu führen. Denn nach einer Einführung, in der Epiphanius Allgemeines zu Biographie und Lehre Marcions mitteilt und den marcionitischen Apostolos kurz ______________________________ 57 In Evans’ Ausgabe umfassen die ersten drei Bücher zusammen, genau wie Buch 4, 250 Druckseiten, während das fünfte Buch 132 Seiten umfasst. 58 Vgl. dazu T H . Z AHN , Studien zu Justinus Martyr, ZKG 7 (1886), 1-84: 44f (zu Justin, Dial.); besonders aufschlussreich T H . B IRT , Das antike Buchwesen in seinem Verhältniss zur Litteratur, Berlin 1882, 147ff (mit einer Fülle von Beispielen). 52 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche beschreibt (42,1-9), erwähnt er ein eigenes früheres Werk (πραγματεία) gegen Marcion, aus dem er später zitiert. Über dieses Buch teilt er mit: »Um die lügenhafte Erfindung und die lächerliche Lehre dieses Marcion aufzuspüren, habe ich vor etlichen Jahren die Bücher des zuvor Erwähnten [, die er erworben/ gefälscht/ in Gebrauch hat,] 59 selbst zur Hand genommen, nämlich das von ihm sogenannte Evangelium und das bei ihm Apostolikon geheißene Buch. Aus den genannten zwei Büchern habe ich zusammengestellt und der Reihe nach ausgewählt, was ihn zu widerlegen in der Lage ist; so habe ich eine Art Leitfaden für eine Abhandlung (ἐδάϕιόν τι συντάξεως) angefertigt, die Abschnitte der Reihe nach geordnet und jedes einzelne Wort aufgelistet: Erstens, zweitens, drittens. [3] Und so bin ich bis zum Ende alles durchgegangen; darin macht er seine Dummheit offenkundig, denn er behält seiner eigenen Intention entgegen (καθ᾿ ἑαυτοῦ) auch die restlichen Worte des Heilands und des Apostels bei. [4] Von diesen wurden einige von ihm manipuliert (παρηλλαγμένως ὑπ᾿ αὐτοῦ ἐρρᾳδιουργήθησαν): Der Text des Lukasevangeliums enthält sie so nicht, und so ist es auch nicht die Bedeutung des apostolischen Kanons. 60 [5] Anderes aber ist genauso, wie es das Evangelium und der Apostel ursprünglich (ϕύσει) haben: Es ist von ihm nicht verändert und kann ihn (doch) widerlegen. Dadurch lässt sich zeigen, dass das Alte Testament mit dem Neuen übereinstimmt und das Neue mit dem Alten« (Haer. 42,10,2-5). Epiphanius führt im Folgenden noch einige zentrale Stichworte seiner Theologie an, die sich aus dem Text Marcions nachweisen lassen (Inkarnation; Auferweckung der Toten; Gott als Schöpfer) und leitet am Ende über: »Und dies ist im Folgenden die Abhandlung, die ich zusammengestellt habe; sie sieht folgendermaßen aus« (42,10,8). Epiphanius hat diesen »Leitfaden« komplett als elftes Kapitel in Haer. 42 übernommen. Es enthält 77 (78) Exzerpte aus dem marcionitischen Evangelium, danach 40 aus dem Apostolos. Im Anschluss hat er diese Exzerpte, die er als Scholien bezeichnet, noch einmal abgeschrieben und ihnen jeweils eine Widerlegung (ἔλεγχος) beigegeben. Diese zweite Liste der Scholien mit den Widerlegungen (Haer. 42,11,10-15) ist demnach das Werk, das Epiphanius um 375 n. Chr. im Rahmen seiner Abfassung des Panarion geleistet hat. Diese Vorgeschichte von Haer. 42,10-12 ist vor allem für die Rekonstruktion des marcionitischen Apostolos von Bedeutung, da Epiphanius die Briefe in verschiedenen Reihenfolgen bietet. 61 Für die Rekonstruktion des Evangeliums sind die Probleme geringer; folgende Gesichtspunkte sind jedoch von Bedeutung. ______________________________ 59 Statt κέκτηται konjiziert H OLL (mit J ÜLICHER ) περιέκοπται. S CHMID , , a. a. O. 151 Anm. 4, schlägt unter Verweis auf 42,9,3 (ταύταις δὲ ταῖς δυσὶ βίβλοις κέχρηται) vor, den Relativsatz insgesamt zu emendieren. 60 Oder: »Und dies ist auch nicht die Bedeutung der Schrift des Apostolikon« (οὔτε ἡ τοῦ ἀποστολικοῦ χαρακτῆρος ἔμϕασις). 61 Vgl. dazu S CHMID , a. a. O. 153ff. § 3: Die Bezeugung von *Ev durch die Häresiologen 53 1. Ganz analog zu Tertullian will Epiphanius Marcion durch den Nachweis von Widersprüchen zwischen seiner Theologie und seinem eigenen Bibeltext widerlegen: Er bemüht sich um eine Zusammenstellung »aus seinem eigenen Evangelium zur Widerrede gegen den tückischen Betrug, um denen, die sich mit seiner Arbeit auseinandersetzen wollen, ein Übungsgelände für ihren Scharfsinn zur Widerlegung seiner fremden Gedanken zu geben.« 62 Im Unterschied zu Tertullian beschränkt er sich dabei auf die mehrere Jahre zuvor angelegte Liste seiner Exzerpte aus dem marcionitischen Evangelium, das er, wie er selbst ausführt, direkt für diese Exzerpte benutzt hatte. 2. Bei der Abfassung von Haer. 42 stand Epiphanius offensichtlich kein *Ev- Exemplar zur Verfügung: Er stützt sich ausschließlich auf seine ältere Scholienliste. Dies wird durch die auffällige Genauigkeit belegt, mit der er die Scholienliste in der Elenchus-Liste wiederholt. Im Unterschied zu den Apostolosscholien, bei denen es in zwei Fällen erhebliche Differenzen zwischen der ursprünglichen Liste in 42,11 und der zweiten Liste mit der Ausarbeitung der Widerlegungen gibt, 63 entsprechen sich die Evangelienscholien bei nur wenigen minimalen Abweichungen sehr genau. 64 Die Frage, ob für die Evangelienscholien eine ähnlich komplizierte Entstehungsgeschichte anzunehmen ist wie für die Apostolosscholien, ist daher für unsere Fragestellung unerheblich. Wie mechanisch Epiphanius mit seiner eigenen Liste umgegangen ist, zeigt ein offensichtliches Versehen bei der Zählung: Die Scholien 56 und 57 (mit der Auslassungsnotiz zu Lk 20,37f) sind identisch; aus dieser Doppelung ergibt sich die unterschiedliche Zählung von 77 bzw. 78 Evangelienscholien. Epiphanius hat dieses Versehen (und die daraus resultierende irrtümliche Zählung) erst im zweiten Durchgang bemerkt, es dabei aber nicht korrigiert, sondern stattdessen die doppelte ______________________________ 62 Haer. 42,11,2: ἐκ γὰρ τοῦ παρ’ αὐτῷ εὐαγγελίου τὰ πρὸς ἀντίρρησιν τῆς πανούργου ῥᾳδιουργίας σπουδάσαντες παρεθέμεθα, ἵν’ οἱ τῷ πονήματι ἐντυχεῖν ἐθέλοντες ἔχωσι τοῦτο γυμνάσιον ὀξύτητος, πρὸς ἔλεγχον τῶν ὑπ’ αὐτοῦ ἐπινενοημένων ξενολεξιῶν. 63 S CHMID , a. a. O. 159-175. 64 In zwei Fällen sind Singular und Plural vertauscht: Schol. 15 zu *9,16: ἀναβλέψας εἰς τὸν οὐρανόν (42,11) - τοὺς οὐρανούς (42,12); Schol. 29 zu 12,6f (in einem Auslassungsvermerk: Epiphanius zitiert den kanonischen Text! ): Οὐχὶ πέντε στρουθία ἀσσαρίων δύο πωλοῦνται (42,11) - πωλεῖται (42,12). In Schol. 69 liegt ein Zeitwechsel vor: εὕρομεν (42,11) - ηὕραμεν (42,12, p. 151,18) bzw. ηὕρομεν (42,12, p. 151,27). In zwei Fällen wird ein anderer Ausdruck verwendet: Schol. 7 weicht die Formulierung von Elench. 7 ab (τοσαύτην - τοιαύτην [πίστιν]; daneben bietet Elench. 7 eine andere Wortstellung als Schol. 7, vgl. dazu die Rekonstruktion zu *7,9); Schol. 27 zu *11,47: οἰκοδομεῖτε τὰ μνήματα τῶν προϕητῶν (42,11) - τὰ μνημεῖα τῶν προϕητῶν (42,12). Ebenfalls semantisch unerheblich sind die Abweichungen in Schol. 38 (zu 13,4, wieder in eine Auslassungsnotiz: δεκαοκτώ in 42,11; δέκα καὶ ὀκτώ in 42,12) sowie in Schol. 52: Überflüssiges Schluss-ν in der Auslassungsnotiz zu 18,31-34 (παρέκοψε[ν], 42,12). 54 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche Anführung eigens begründet. 65 Unter diesen Bedingungen muss die ältere Scholienliste als zuverlässiger gelten und wird deshalb auch dann zugrunde gelegt, wenn es Abweichungen zwischen den beiden Listen gibt. 3. Das Ziel der Scholiensammlung ist in der Beschreibung der Abfassung des Leitfadens kurz umrissen. Epiphanius nennt zwei Kategorien von Scholien, nämlich einmal die Passagen mit einem veränderten Wortlaut und daneben »die restlichen Worte des Heilands«, die Marcion entgegen seinem eigenen Interesse beibehalten habe. Tatsächlich lassen die Scholien selbst jedoch drei verschiedene Kategorien erkennen: Neben veränderten und identischen Passagen steht eine ganze Reihe von Auslassungsvermerken. Für die Einschätzung des Verfahrens ist die Verteilung aufschlussreich. Identischer Wortlaut Als »gestrichen« bezeichnet Abweichender Wortlaut 2 3 5 6 7 12 22 25 28 29 1 4 8 19 26 9 10 11 13 14 31 38 40 41 42 30 34 35 48 50 15 16 17 18 20 47 52 53 55 56 69 70 21 23 24 27 32 (57) 58 59 63 64 33 36 37 39 43 67 72 77 44 45 46 49 51 54 60 61 62 65 66 68 71 73 74 75 76 78 Von den 77 (78) Scholien vermerken 43 die Übereinstimmung zwischen Lk und *Ev, in 22 (23) Fällen werden Passagen als »gestrichen« bezeichnet, und für zwölf Fälle zitiert Epiphanius aus *Ev einen vom kanonischen abweichenden Wortlaut. Dass mehr als die Hälfte der Scholien die Übereinstimmung von *Ev mit dem kanonischen Text bezeugt, macht einmal mehr deutlich, dass Epiphanius’ Ziel nicht in der Überführung von *Ev als Fälschung bestand, sondern in der Aufdeckung von Selbstwidersprüchen zwischen Text und Theologie Marcions. 4. Gerade die zahlreichen positiven Belege sind wichtig, weil sie die relative Genauigkeit in Epiphanius’ Textreferenzen zeigen. Für die Einschätzung der Genauigkeit der *Ev-Exzerpte gibt auch der Listencharakter der Scholiensammlung wichtige Aufschlüsse. Denn Epiphanius zitiert die Texte aus *Ev häufig nicht vollständig, sondern charakterisiert und bezeichnet sie durch kurze (und exakte) Zitate der Anfänge bzw. der Anfänge und Schlüsse längerer Passagen: Er geht also davon aus, dass der Text von *Ev ohnehin über weite Strecken mit dem kanonischen Lk identisch ist. Diese Abkürzungen bei den Zitaten begegnen vor allem in den Auslassungsvermerken: In einigen Fällen zitiert er nur die ersten Worte und verweist ______________________________ 65 Vielleicht hat Epiphanius auch nur deshalb auf eine Korrektur verzichtet, weil er in der Gesamtzahl seiner Scholien (78 + 40) eine göttliche Fügung sah (vgl. Haer. 42,13,3). § 3: Die Bezeugung von *Ev durch die Häresiologen 55 mit »und das Folgende (καὶ τὰ ἑξῆς)« auf den Rest. 66 An anderen Stellen teilt er nur die Anfänge der Verse mit, ohne die Auslassung des Restes genau zu vermerken. 67 Nur in wenigen Streichungsnotizen verzichtet Epiphanius vollständig auf ein Zitat und fasst stattdessen den Inhalt einer Passage paraphrasierend zusammen. 68 Epiphanius hat seine Zitierpraxis nicht ganz konsequent durchgeführt; in einer Reihe von Fällen hat er auf die etcetera-Formel verzichtet, 69 in anderen hat er den Inhalt ungenau oder doch mindestens missverständlich kontrahiert. 70 Trotz dieser Einschränkungen unterscheidet sich Epiphanius’ relativ mechanisches Verfahren bei der Erstellung der Scholiensammlung deutlich von dem Tertullians. Denn während dieser die Formulierungen aus *Ev in seine Argumentation eingepasst und dabei in Wortstellung, Syntax, Kasus usw. ohne weiteres verändert hat, liefert Epiphanius - bei allen Einschränkungen hinsichtlich seiner Konzentration und Genauigkeit - doch insgesamt belastbare Zitate, die aufs Ganze gesehen als Zeugnisse erster Ordnung gelten müssen. 5. Allerdings können Epiphanius’ Scholien keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Zwar ist deutlich, dass Epiphanius seine Liste »der Reihe nach« erstellt ______________________________ 66 Vgl. z. B. in Schol. 5; 59; 64. Als Beispiel vgl. Schol. 38: »Gestrichen war von dem ›Einige kamen und berichteten ihm über die Galiläer, deren Blut Pilatus mit dem der Opfer vermischt hatte‹ bis dahin, wo er von den Achtzehn, die im Turm von Siloah starben, spricht. Und das ›Wenn Ihr nicht umkehrt‹ und das Folgende (καὶ τὰ ἑξῆς) bis zu dem Gleichnis vom Feigenbaum, über den der Bauer sagte: ›Ich grabe (ihn) um und dünge ihn, aber wenn er nicht trägt, werde ich ihn umhauen‹.« Hier sind die verschiedenen Referenzarten - wörtliches Zitat, paraphrasierende Zusammenfassung, Verweis auf Folgendes - sehr schön nebeneinander aufgeführt. 67 Vgl. z. B. Schol. 41: »Wieder hat er gestrichen das ›Sie werden kommen von Osten und von Westen und werden sich in der Herrschaft Gottes niederlassen‹ und das ›Die Letzten werden die Ersten sein‹ und das ›Die Pharisäer kamen zu ihm und sagten: Auf, gehe fort, denn Herodes will dich töten! ‹ Auch das ›Er sagte: Geht und sagt diesem Fuchs …‹« usw. Hier ist deutlich, wie Epiph. durch die Satzanfänge jeweils größere Gefüge durch ein Teilzitat markiert. 68 Vgl. z. B. in Schol. 42 zu Lk 15,11-32 (»Wiederum hat er das ganze Gleichnis von den zwei Söhnen gestrichen, von dem einen, der sein Erbteil nahm und es mit Ausschweifung durchbrachte, und von dem anderen«) oder in Schol. 67 zu Lk 22,50 (»Er strich, was Petrus tat, als er zuschlug und dem Sklaven des Hohenpriesters das Ohr abschnitt«). 69 Vgl. zu Schol. 14; 21; 29; 43; 51. In Schol. 5 hat er καὶ τὰ ἑξῆς in der Elenchus-Liste nachgetragen, also das Fehlen in der ersten Scholienliste bemerkt. 70 Vgl. etwa Schol. 16 zu *9,22, wo die durch Tert. 4,21,7 gesicherten Worte καὶ ἀποδοκιμασθῆναι ἀπὸ τῶν πρεσβυτέρων καὶ ἀρχιερέων καὶ γραμματέων fehlen. - Schol. 51 fasst *18,35-43 in einem Satz zusammen, obwohl Epiphanius ganz sicher mehr als das von ihm Bezeugte gelesen hat (ἐγένετο δὲ ἐν τῷ ἐγγίζειν αὐτὸν τῆ ᾿Ιεριχὼ τυϕλὸς ἐβόα· ᾿Ιησοῦ, υἱὲ Δαυίδ, ἐλέησόν με. καὶ ὅτε ἰάθη, ϕησίν· ἡ πίστις σου σέσωκέ σε). - Schol. 74 (παρέκοψε τό Λέγετε ὅτι ἀχρεῖοι δοῦλοί ἐσμεν. ὃ ὠϕείλομεν ποιῆσαι πεποιήκαμεν) ist schwierig: Z AHN II/ 2, 481 hielt die Auslassungsnotiz zu Lk 17,10 für ungenau und vermutete, dass das ganze Gleichnis gefehlt habe. H ARNACK *223 erwog dagegen, dass in *Ev (wie im Sinaisyrer) nur das Wort ἀχρεῖοι gefehlt habe. Aber Epiphanius war vermutlich korrekt, vgl. u. die Rekonstruktion. 56 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche hat, 71 sodass die »Zählung für jeden einzelnen Eintrag« tatsächlich dem Verlauf von *Ev folgt. Dabei entspricht die Abfolge der Referenzen in *Ev der Struktur des Lk, was nicht überraschend ist, wenn Marcion (der häresiologischen Ansicht zufolge) den lk Text i. W. durch Kürzungen redigiert hat und ihn daher »wie ein Spiegel« reflektiert. 72 Nur in wenigen Fällen weicht die Abfolge seines Referats von der Perikopenakoluthie des Lk ab. Diese Abweichungen sind unterschiedlich zu beurteilen: In drei Fällen scheint es sich um Nachlässigkeiten zu handeln, weil der Ort der Perikopen in *Ev durch Tertullian als mit Lk übereinstimmend gesichert ist. 73 Eine wirkliche Abweichung der Perikopenakoluthie zwischen *Ev und Lk ist nur ein einem einzigen Fall bezeugt: Es handelt sich um die Umstellung von 4,16-31 und 4,31-37, die auch von Epiphanius als Problem vermerkt wird und die durch die anderen Zeugnisse für *Ev gesichert ist. 74 Ähnlich ist der unterschiedliche Ort von *4,27 (in *Ev im Kontext von *17,10ff) zu beurteilen: Auch, wenn Epiphanius dieses Phänomen nicht eigens thematisiert, ist die gegenüber Lk abweichende Stellung in *Ev durch Tertullians Zeugnis über jeden Zweifel erhaben. 75 Dass die Abfolge von Epiphanius’ *Ev-Scholien der Akoluthie des Lk-Evangeliums fast durchgängig genau entspricht, bedeutet aber nicht, dass er den Text vollständig referierte: Epiphanius hat keine Vollständigkeit angestrebt und hätte sie mit seinem Verfahren auch nicht erreicht. Denn dazu hätte es eines Vergleichs zwischen dem marcionitischen und dem kanonischen Text bedurft. Die Scholienliste stellt daher nur eine Auswahl derjenigen Passagen dar, die Epiphanius bei seiner früheren Durchsicht als für eine Widerlegung geeignet aufgefallen waren. Trotz des Eindrucks eines textkritischen Vergleichs, den seine Scholienliste manchmal hervorruft, ist seine Zusammenstellung, analog zu Tertullians Verfahren, inhaltlich orientiert und führt keinen Textvergleich durch. ______________________________ 71 Haer. 42,10,2: ἀκολούθως τάξας κεϕάλαια. 72 Epiph. 42,11,3: ὁ μὲν γὰρ χαρακτὴρ τοῦ κατὰ Λουκᾶν … τὸ εὐαγγέλιον. 73 Schol. 21 (zu *6,3) müsste eigentlich zwischen Schol. 2 und 3 stehen, steht aber zwischen Schol. 20 (*9,44) und 22 (*10,21). In den Schol. 51 (*18,35.38.42) und 52 (*18,31-33) sowie in Schol. 54 (*20,19) und 55 (*20,9) ist die Abfolge jeweils vertauscht. In keinem dieser Fälle deutet die Scholienfolge auf eine veränderte Abfolge des *Ev-Textes gegenüber Lk, wie Tertullians Referenzen in der aus Lk bekannten Abfolge belegen. Eine andere Erklärung als Nachlässigkeit bei der Erstellung der Liste (die sich ja auch in der Doppelung von Schol. 56 und 57 zeigt) habe ich nicht. 74 Haer. 42,11,6: »Er bleibt nicht bei der Abfolge (οὐ καθ’ εἱρμὸν πάλιν ἐπιμένει). Vielmehr schneidet er, wie gesagt, manches weg, anderes stellt er kopfüber um (τὰ δὲ προστίθησιν ἄνω κάτω) und schreitet nicht in der gewohnten Ordnung fort (οὐκ ὀρθῶς βαδίζων) …«. Unmittelbar zuvor stellt Epiphanius den Anfang von *Ev dar; die Umstellung ist gut gesichert, s. unten die Rekonst. z. St. 75 Epiphanius, Schol. 48; Tert. 4,35,6. § 3: Die Bezeugung von *Ev durch die Häresiologen 57 c. Adamantius Neben Tertullian und Epiphanius treten noch die ersten beiden Bücher des Dialogs De recta in deum fide, der unter dem Namen Adamantius verfasst wurde. 76 Im Unterschied zu Tertullian, der den ganzen Text des marcionitischen Evangeliums auf Selbstwidersprüche hin durchging, und anders auch als Epiphanius, der seine eigene Scholienliste mit Widerlegungen versah, ist der Dialog dramatisch angelegt, obwohl ihm ein narrativer Rahmen fehlt. In den ersten beiden Büchern führen der orthodoxe Christ Adamantius (= Origenes) und die beiden Marcioniten Megethius und Markus einen philosophischen Lehrdisput, bei dem der Nichtchrist 77 Eutropius als Schiedsrichter fungiert. Thema des ersten Gesprächsganges ist die Anzahl der göttlichen Prinzipien, wobei Adamantius ausweislich der verwendeten Terminologie eine erkennbar nicänische Position vertritt, während sich die beiden Marcioniten in der Annahme von zwei bzw. drei Archai unterscheiden. 78 Ab dem dritten Buch treten ein Bardaisanit namens Marinus sowie die als Valentinianer gekennzeichneten Droserius und Vales als Gesprächspartner auf und behandeln die Frage nach dem Ursprung des Bösen, der Inkarnation sowie der (leiblichen) Auferstehung. Der griechische Text der Adamantius-Dialoge geht auf nur eine einzige Handschrift zurück, die noch dazu durch eine Lagenvertauschung beeinträchtigt ist. 79 Daneben existiert noch eine Übersetzung Rufins aus der Zeit nach 400, deren Vorlage zwar noch intakt war, die aber gegenüber dem griechischen Text teilweise erhebliche redaktionelle Veränderungen vornimmt und daher als Zeuge für *Ev ausfällt. 80 ______________________________ 76 Zu Adamantius vgl. einleitend T H . Z AHN , Geschichte des Neutestamentlichen Kanons I, Erlangen - Leipzig 1889, 419-426; H ARNACK 56*-63*; S CHMID , a. a. O. 197-207; K. T SUTSUI , Die Auseinandersetzung mit den Markioniten im Adamantios-Dialog. Ein Kommentar zu den Büchern I-II, Berlin - New York 2004, 1-109. 77 Am Ende des ersten Gesprächsganges bezeichnet sich Eutropius als noch nicht zur Kirche gehörig (Dial. 2,22 [833e]): Als Noch-nicht-Christ an der Schwelle der Konversion ist er der ideale, unparteiische Schiedsrichter. 78 Dial. 1,2 (805c). Wie das Konzept der drei Prinzipien christologisch entfaltet werden konnte, zeigt der Fihrist des Ibn an-Nadīm (F LÜGEL 160): »Die Marcioniten behaupten, dass die beiden ewigen Principien das Licht und die Finsterniss seien und dass es ein drittes Wesen gebe, welches sich jenen beigemischt habe … Sie sind aber verschiedener Meinung darüber, was das dritte Wesen sei. Einige sprechen sich dahin aus, dass es das Leben d. i. ‘ Îsâ (Jesus) sei, andere behaupten, dass ‘ Îsâ (Jesus) der Gesandte dieses Wesens sei, der die Dinge auf dessen Befehl und vermittelst dessen Macht geschaffen habe. Alle dagegen stimmen darin überein, dass die Welt etwas Neuerschaffenes sei und dass die schaffende Hand sich darin nicht verkennen lasse.« 79 Der Zusammenhang nach 2,18 erscheint erst nach 5,28. Das Problem ist eingehend erörtert von T H . Z AHN , Die Dialoge des »Adamantius« mit den Gnostikern, ZKG 9 (1888), 193-239: 196ff. Vgl. auch T SUTSUI , a. a. O. 27-34. 80 Vgl. V. B UCHHEIT , Rufinus von Aquileija als Fälscher des Adamantiosdialogs, ByzZ 51 (1958), 314- 328. Zum Zeugniswert der Übersetzung Rufins vgl. auch S CHMID , a. a. O. 201f. 58 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche Der Zeugniswert des Adamantius ist zunächst abhängig von der Einschätzung, ob der Verfasser ein Exemplar von Marcions Bibel eingesehen haben konnte oder nicht. Dafür wiederum ist die Abfassungszeit zu bestimmen. Der terminus post quem ergibt sich aus der Abhängigkeit (vor allem des zweiten Teils) von Methodius von Olymp 81 sowie aus einigen inhaltlichen Beobachtungen, die am ehesten in die 30er Jahre des 4. Jh. weisen. 82 Diese relativ späte Abfassungszeit und mehr noch der Umstand, dass der Verfasser des Dialogs in den Büchern 3-5 seine Kenntnisse der bardaisanitischen bzw. valentinianischen Theologie aus Quellen geschöpft hat, lassen Zweifel daran aufkommen, ob die Hinweise auf Marcions Bibel wirklich auf Autopsie beruhen. Kenji Tsutsui hat zuletzt überzeugend nachgewiesen, dass Adamantius eine Quellenschrift (»Streitschrift A«) aus der zweiten Hälfte des 2. Jh. benutzte, die später noch einmal in einer Überarbeitung (»Streitschrift B«) modifiziert wurde. 83 Ausschlaggebend ist dabei die Beobachtung, dass die Zitate aus *Ev in Testimoniensammlungen erscheinen, die auf diese Quellenschrift(en) zurückgehen. 84 Damit verschiebt sich die Frage nach dem Quellenwert der Adam.-Belege für *Ev auf die Zuverlässigkeit dieser Testimoniensammlung(en). Angesichts des hypothetischen Charakters der Rekonstruktion ist das auf den ersten Blick eine höchst missliche Situation, denn die ausdrückliche Behauptung, dass Adamantius für seine Widerlegung des Megethius dessen eigene Bibel benutzt habe, 85 kann unter diesen Umständen nicht als Argument dienen. Allerdings lässt sich der Quellenwert der Adamantiusbelege nicht durch eine Rekonstruktion der literarischen Vorgeschichte des Textes bestimmen, sondern nur durch eine Analyse der *Ev-Zitate selbst. Für die Beurteilung sind folgende Beobachtungen entscheidend: 1. Gegen die Zuverlässigkeit der *Ev-Belege aus Adam. scheint zunächst zu sprechen, dass die Marcioniten bei den Zitaten aus ihrer Bibel wiederholt einen Text bieten, der dem kanonischen Mt entspricht: Wenn *Ev auf Lk beruhte, dann dürfte es diese Mt-Zitate gar nicht geben. Ich gebe dafür nur zwei Beispiele. Adam. 1,12 (812d) zitiert das Gebot der Feindesliebe in einer Form, die Mt 5,44 entspricht: ἀγαπᾶτε τοὺς ἐχθροὺς ὑμῶν καὶ εὔχεσθε ὑπὲρ τῶν διωκόντων ὑμᾶς. Zu erwarten wäre eigentlich eine ______________________________ 81 Zum literarischen Verhältnis zwischen Adam., Dial. und Methodius, de autoex. und de resurr. vgl. jetzt T SUTSUI , a. a. O. 44ff. 82 Vgl. S CHMID , a. a. O. 202-207. Durch diese Annahme werden dann die Änderungen in Rufins Übersetzung erklärbar: Sie versucht, Züge, die für die nachnicänische Zeit charakteristisch sind, zu tilgen, um so die Abfassung durch Origenes plausibel zu machen (vgl. B UCHHEIT , a. a. O.). T USTSUI , a. a. O. 105-108, datiert den Dialog in die zweite Hälfte des 4. Jh. 83 T SUTSUI , a. a. O. 78-91. 84 A. a. O. 93f. 85 Adam., Dial. 1,5 (806d); o. S. 36 Anm. 11. § 3: Die Bezeugung von *Ev durch die Häresiologen 59 Fassung, die Lk 6,28a entspricht, wo sich die zusätzliche Wendung εὐλογεῖτε τοὺς καταρωμένους ὑμᾶς findet, wie sie im Übrigen auch Tertullian für *Ev bezeugt. 86 In dem Zitat aus dem »Kinderevangelium« gibt Adam. 1,16 (814c) einen Wortlaut, der genau Mt 19,14 entspricht (τῶν γὰρ τοιούτων ἐστὶν ἡ βασιλεία τ ῶ ν ο ὐ ρ α ν ῶ ν ); der lk Text, der hier zu erwarten wäre (Lk 18,16), liest dagegen βασιλεία τ ο ῦ θ ε ο ῦ . Dieses Phänomen der »matthäischen« Form der *Ev-Zitate ist von großer Bedeutung - nicht nur für die Einschätzung der Zuverlässigkeit der Adamantiusbelege, sondern auch für die weitere Frage nach der Textgeschichte von *Ev sowie für das Problem der mt-lk Doppelüberlieferungen im Horizont der Geschichte der synoptischen Überlieferung. An dieser Stelle soll der Hinweis genügen, dass Adam. mit der »matthäischen« Form seiner *Ev-Zitate nicht alleine steht, sondern durch eine Reihe von Handschriften gestützt wird. So wird die »mt« Auslassung der Wendung εὐλογεῖτε τοὺς καταρωμένους ὑμᾶς in Lk 6,28a durch einige Minuskeln gestützt, 87 wie umgekehrt eine Reihe von Minuskeln sowie drei altlateinisch Handschriften für Lk 18,16 ebenfalls die »mt« Formulierung ἡ βασιλεία τ ῶ ν ο ὐ ρ α ν ῶ ν/ regnum c a e l o r u m bieten. 88 Die mt Textformen stellen schon deswegen keinen Einwand gegen die Zuverlässigkeit der Adamantiusbelege dar, weil die gleiche Beobachtung auch auf die *Ev-Zitate bei Tertullian und Epiphanius zutrifft. 89 Es wird zu zeigen sein, dass hier keine sekundäre Konformierung aufgrund einer Beeinflussung des Textes der synoptischen Parallelen vorliegt, wie sie der Apparat von NA 27 durch p) signalisiert. Vielmehr handelt es sich dabei um originäre Lesarten, die sich nicht nur in unterschiedlichen Handschriften erhalten haben, sondern auch in den *Ev- Exemplaren, wie sie unseren drei Hauptzeugen vorlagen. 2. Ein Sonderfall dieser »mt« Zitate aus *Ev ergibt sich aus Adam. 2,18 (830e): Dem Marcioniten Markus zufolge habe Christus nicht gesagt »Ich bin nicht gekommen, um das Gesetz aufzuheben, sondern um es zu erfüllen« (Mt 5,17), sondern genau das Gegenteil vertreten: »Ich bin nicht gekommen, um das Gesetz zu erfüllen, sondern um es aufzulösen«. 90 Dieses Beispiel gehört wegen der ersten Behauptung - dass Mt 5,17 in *Ev nicht enthalten sei - in den Zusammenhang der ______________________________ 86 Tert. 4,16,1: sed vobis dico, qui auditis, diligite inimicos vestros, e t b e n e d i c i t e e o s q u i v o s o d e r u n t , et orate pro eis qui vos calumniantur. 87 ευλογειτε … υμας και fehlt auch in den Minuskeln 115 477 517 544 1216 1675 2766 (s. Anhang III). 88 βασιλεια των ουρανων/ regnum caelorum: 157 472 579 983 1009 1187 1241 1604 2487 a b c vg 1ms . Vgl. dazu die Liste der Varianten (Anhang III). 89 Nur drei von sehr viel mehr Beispielen: *9,41a: Auslassung von [ὦ γενεὰ ἄπιστος] καὶ διεστραμμένη wie Mt 17,17 || Mk 9,19 auch bei Tert. 4,23,1 und Epiph., Schol. 19 sowie den beiden altlat. Handschriften a e. - *12,24: Auslassung von [οἷς οὐκ ἔστιν] ταμεῖον οὐδέ wie Mt 6,16 auch bei Tert. 4,29,1 sowie in e. - *21,8b: Der Zusatz [ἐγώ εἰμι] ὁ Χριστός wie Mt 24,5 auch bei Tert. 4,39,1-3 sowie in 157 1247 c aur c e ſſ 2 gat i l q r 1 s vg mss . 90 Adam. 2,18 (830e): τοῦτο οἱ Ἰουδαϊσταὶ ἔγραψαν, τό Ὀυκ ἦλθον καταλῦσαι τὸν νόμον ἀλλὰ πληρῶσαι. οὐχ οὕτως δὲ εἶπεν ὁ Χριστός, λέγει γάρ, ᾿Ουκ ἦλθον πλῆρωσαι τὸν νόμον ἀλλὰ καταλῦσαι. 60 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche angeblich »mt« Belege aus *Ev, unterscheidet sich aber dadurch von den genannten Beispielen, dass es für dieses Logion keine lk Parallele gibt. Dieses Beispiel ist notorisch: Tertullian hat mehrmals auf das Fehlen dieses Logions abgehoben (s. dazu u. S. 70ff), und noch Anfang des 5. Jh. taucht der entsprechende Vorwurf bei Isidor von Pelusium auf: »Sie (sc. die Marcioniten) lassen nämlich das Wort des Herrn weg, das besagt: ›Ich bin nicht gekommen, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen‹ und setzen stattdessen ›Glaubt ihr, dass ich gekommen bin, um das Gesetz und die Propheten zu erfüllen? Ich bin gekommen, um aufzulösen, nicht zu erfüllen‹.« 91 Verräterisch ist an dieser Aussage der Anfang: Denn Isidor konnte am Anfang des 5. Jh. schlechterdings keinen Lk-Text kennen, der die Aussage »Ich bin nicht gekommen, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen« enthalten hätte. Dementsprechend konnten die Marcioniten diese Aussage auch nicht »tilgen« (ἀμείψαντες) und an ihrer Stelle »etwas anderes dafür setzen« (ἐποίησαν). Isidors Bemerkung ist folglich kein Beweis für einen entsprechenden *Ev-Text zu Beginn des 5. Jh. Er belegt vielmehr eine feste antimarcionitische Tradition. 92 Die Frage, wie diese Tradition zustande kam, wird später zu beantworten sein (u. S. 83f). Für den Moment soll genügen, dass die entsprechende Behauptung des Marcioniten Markus den Quellenwert der Adamantiusdialoge nicht grundsätzlich einschränkt. 3. Die Frage nach der Zuverlässigkeit der *Ev-Zitate in Adamantius kann am Ende nur durch einen Vergleich mit den Belegen aus Tertullian und Epiphanius geklärt werden. Und in diesem Zusammenhang ist es entscheidend, dass Adamantius an zahlreichen Stellen Eigentümlichkeiten aus *Ev referiert, die so auch aus den anderen Referaten bekannt sind. Diese Übereinstimmungen beziehen sich sowohl auf größere, charakteristische Differenzen gegenüber dem kanonischen Text als auch auf kleinere Abweichungen. Sie sind hier nur kurz aufgeführt; für weiteres vgl. die Liste der Varianten in *Ev (Anhang III): 1. Übereinstimmungen zwischen Adam. und Tert.: *6,43a Auslassung von γαρ: Tert. 4,17,11 || Adam. 1,28 (821a). - *9,18: homines/ οι ανθρωποι anstelle von οι οχλοι: Tert. 4,21,6 || Adam. 2,13 (829c/ d). - *16,23a: Auslassung von και/ et: Tert. 4,34,12 || Adam. 2,10 (827a) (durch diese Auslassung wird der Anfang von *16,23 zum Ende des vorangehenden Satz gezogen: εταϕη εν τω ______________________________ 91 Isidor von Pelusium, ep. 1,371 (MPG 78, 393A): ἀμείψαντες γὰρ τὴν τοῦ κυρίου ϕωνήν ›᾿Ουκ ἦλθον, λέγοντος, καταλῦσαι τὸν νόμον ἢ τοὺς προϕήτας‹ ἐποίησαν ›Δοκεῖτε ὅτι ἦλθον πληρῶσαι τὸν νόμον ἢ τοὺς προϕήτας; ἦλθον καταλῦσαι, ἀλλ’ οὐκ πληρῶσαι‹. Zu den Verweisen auf Marcion bei Isidor vgl. R. R IEDINGER , Zur antimarkionitischen Polemik des Klemens von Alexandreia, VigChr 29 (1975), 15-32, der sich um den Nachweis bemühte, dass diese Stellen auf ein verlorenes Werk des Clemens Alex. zurückgehen; das ist möglich, für unsere Argumentation aber irrelevant: Auch, wenn die Echtheit dieser »Briefe« angezweifelt wird, so wurden sie doch (erst) im 5. Jh. dem Werk Isidors beigefügt. 92 Dies hat T SUTSUI , a. a. O. 253, zu Recht gegen H ARNACK 369* hervorgehoben. § 3: Die Bezeugung von *Ev durch die Häresiologen 61 αδη/ sepultus est in inferno). - *18,20b (Reihenfolge der Dekaloggebote: töten, ehebrechen usw.): Tert. 4,36,5 || Adam. 2,17 (832a). - *22,53b: καινω μνημειω/ sepulcro novo anstelle von εν μνηματι λαξευτω: Tert. 4,42,7 || Adam. 5,12 (857d). - *24,25: (locutus est) ad vos/ (ελαλησα) προς υμας anstelle von (ελαλησαν) οι προϕηται: Tert. 4,43,4 || Adam. 5,12 (857d). 2. Übereinstimmungen zwischen Adam. und Epiph.: *5,36: ρακους αγναϕου an Stelle von ιματιου καινου: Epiph. 42,2,1 || Adam. 2,16 (831b). - *5,36: ιματιω παλαιω anstelle von ιματιον παλαιον: Epiph. 42,2,1 || Adam. 2,16 (831b). - *16,25b: οδε anstelle von ωδε: Epiph., Schol. 45 || Adam. 2,10 (827b). - *16,31: ακουσουσιν αυτου anstelle von πιστευσουσιν: Epiph., Schol. 46 || Adam. 2,10 (827c). - *18,20a: οιδα anstelle von οιδας: Epiph., Schol. 50 || Adam. 2,17 (832a). - *23,51: Auslassung von ουτος ουκ ην συγκατατεθειμενος τη βουλη: Epiph., Schol. 74 || Adam. 5,12 (857d). - *23,53a: Auslassung von (ενετυλιξεν) αυτο: Epiph., Schol. 74 || Adam. 5,12 (857d). - *22,53b: Auslassung von (εθηκεν) αυτον: Epiph., Schol. 74 || Adam. 5,12 (857d). 3. Übereinstimmungen zwischen Adam., Tert. und Epiph.: *5,36: Umstellung von *5,36 nach *5,37f (vgl. dazu die Rekonstruktion, Anhang I). - *9,22: μετα τρεις ημερας/ post tertium diem anstelle von τη τριτη ημερα: Tert. 4,21,7 || Epiph., Schol. 16 || Adam. 5,12 (857c). - *23,50: Auslassung von βουλευτης υπαρχων και ανηρ αγαθος και δικαιος: Tert. 4,42,8 || Epiph., Schol. 74 || Adam. 5,12 (857d). - *23,51: Auslassung von και τη πραξει αυτων. απο αριμαθαιας πολεως των ιουδαιων ος προσεδεχετο την βασιλειαν του θεου: Tert. 4,42,8 || Epiph., Schol. 74 || Adam. 5,12 (857d). - *22,53b: Auslassung von ου ουκ ην ουδεις ουπω κειμενος: Tert. 4,42,7 || Epiph., Schol. 74 || Adam. 5,12 (857d). - *24,39b: Auslassung von ψηλαϕησατε με και ιδετε: Tert. 4,43,6-8 || Epiph., Schol. 78 || Adam. 5,12 (857e). Diese Beispiele zeigen zunächst mit hinreichender Deutlichkeit, dass Adamantius eine Reihe wesentlicher Eigentümlichkeiten bestätigt, die auch Tertullian und Epiphanius für *Ev bezeugen. Dies gilt insbesondere für die Übereinstimmungen mit den beiden anderen Zeugen in der dritten Gruppe, unter denen einige weitreichende Differenzen gemeinsam bezeugt sind: Adamantius muss daher in gleicher Weise wie Tertullian oder Epiphanius als ernstzunehmender Zeuge für *Ev gelten. Darüber hinaus wird deutlich, dass sich die Übereinstimmungen keineswegs nur auf große, inhaltliche Differenzen beziehen. Interessanterweise gibt es (vor allem in den beiden ersten Gruppen) auch Übereinstimmungen in den Abweichungen vom kanonischen Text, die sich semantisch kaum auswirken und eher stilistischen Charakter haben. Dass solche »kleinen« Übereinstimmungen wie die zweimalige Auslassung von αὐτό in *23,53a.b (gemeinsam mit Epiph.) oder die Ersetzung von οἱ ὄχλοι durch οἱ ἄνθρωποι (*9,18) bzw. die kleine, aber folgenschwere Auslassung von καί (*16,23a; jeweils gemeinsam mit Tert.) durch Adam. bezeugt sind, stellt die Zuverlässigkeit der Adam.-Belege unter Beweis. Denn an der Mehrheit der hier genannten Übereinstimmungen hatten die Referenten von *Ev gar kein inhaltliches Interesse: Falls diese Zitate aus *Ev eine längere Literargeschichte - von *Ev über mögliche Quellenschriften bis hin zur Endredaktion der Adamantiusdialoge - durchlaufen haben sollten, dann hat sich dies jedenfalls nicht auf die Genauigkeit ausgewirkt. 62 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche Diese Beobachtungen beziehen sich jedoch nur auf den griechischen Text, nicht auf Rufins Übersetzung, die an zahlreichen Stellen erheblich von der griechischen Vorlage abweicht. Vor allem durch Viktor Buchheits Untersuchungen ist deutlich geworden, dass Rufin gerade bei den Bibelzitaten nicht den griechischen Text übersetzt, sondern den ihm bekannten lateinischen Text einfügt. 93 Im Unterschied zum griechischen Adamantiustext entfällt daher Rufins lateinische Übersetzung als belastbares Zeugnis für die Rekonstruktion von *Ev. 3. Das methodische Problem der widersprüchlichen Bezeugungen Neben diesen drei Hauptzeugen gibt es noch eine ganze Reihe patristischer Quellen, die - mehr oder weniger deutlich - auf das Evangelium Marcions verweisen. 94 Es ist kompliziert, diese Zeugen einzuschätzen und ihre Zuverlässigkeit zu bestimmen. Auf der einen Seite geben die eingestreuten und vereinzelten Bemerkungen keine Zusammenhänge zu erkennen. In vielen Fällen ist unklar, ob sie sich überhaupt auf *Ev beziehen, in anderen ist nicht erkennbar, warum und mit welcher Absicht sie auf diesen Text verweisen. Ich hatte deswegen ursprünglich (in der ersten Auflage) geschlossen, dass sich wegen des fehlenden Zusammenhangs in einem größeren Kontext die Zuverlässigkeit nicht aus den Zeugnissen selbst begründen ließe. Aus diesem Grund hatte ich zwar etliche dieser Zeugnisse im Zusammenhang der Rekonstruktion mit angeführt, sie aber nicht systematisch ausgewertet - zu Unrecht, wie die kritischen Einwände gezeigt haben, von denen ich mich gern habe belehren lassen. 95 Tatsächlich lässt sich die Zuverlässigkeit aller Bezeugungen (das schließt die drei Hauptzeugen ausdrücklich mit ein) nicht durch Sekundärphänomene begründen, also durch Erwägungen zu Fragen wie: Hatte ein Autor Kenntnis von *Ev durch Autopsie oder (nur) durch die Vermittlung Dritter? Spricht die Übereinstimmung der Bezeugung für *Ev mit dem Lk-Text für Zuverlässigkeit? Begründet die Abweichung einer Bezeugung vom Lk-Text Zuverlässigkeit? Sprechen mt Formulierungen in den Zeugnissen für *Ev für oder gegen deren Zuverlässigkeit? All dies können Hilfsargumente für die Einschätzung der Zuverlässigkeit sein. Wirklich begründen lässt sich diese ausschließlich aufgrund der tatsächlichen Übereinstimmung mit *Ev. ______________________________ 93 Vgl. B UCHHEIT , Rufinus von Aquileia, 314-328; DERS ., Tyranni Rufini librorum Adamantii Origenis adversus haereticos interpretatio (STA 1), München 1966, XXXV-XXXVIII. 94 Dazu gehören vor allem: Justin, Irenaeus, Origenes, Ephraem, Isidor von Pelusium, Filastrius, Eznik von Kolb sowie Rufins Adamantius-Übersetzung. Die umfangreichste Sammlung der Belege findet sich bei H ARNACK 314*-433*. Diese Belege sind in den Ausgaben von R OTH und B E D UHN (in unterschiedlicher Weise) berücksichtigt. 95 J. B E D UHN , New Studies of Marcion’s Evangelion, ZAC 21 (2017), 8-24: 12f. Zu diesem Problem vgl. ausführlicher die methodologischen Überlegungen, die ich im »Nachwort« dazu angestellt habe (s. u., S. 450ff). § 3: Die Bezeugung von *Ev durch die Häresiologen 63 Weil *Ev aber erst rekonstruiert werden muss, bedarf es zusätzlicher Kriterien, die nicht einfach auf der Hand liegen, sondern aus dem Gesamtbild entwickelt werden müssen. Für die Hauptzeugen Tertullian, Epiphanius und Adamantius lassen sich (im Unterschied zu den diversen Einzelzeugnissen) solche hilfsweisen Gesichtspunkte für ihre Zuverlässigkeit anführen. Auch, wenn ihre Bezeugungen keine vollständige Rekonstruktion des *Ev-Textes zulassen, liefern sie doch verlässliche Informationen: Ihre Bezeugung verdient - aus durchaus unterschiedlichen Gründen - Vertrauen. Tertullian ist durch die komplizierte Diskussionslage, die ihm selbst sehr deutlich bewusst war, zur Genauigkeit seiner *Ev-Referate gezwungen: Da weder die inhaltliche Kritik an Marcions Theologie noch der formale Nachweis des höheren Alters des kanonischen gegenüber *Ev geeignet sind, die spezifische Gefahr des Marcionitismus zu bannen und die exegetische Begründung seiner Theologie zu widerlegen, darf Tertullian seinen Nachweis von Selbstwidersprüchen zwischen der marcionitischen Theologie und dem sie begründenden Evangelium nicht durch Ungenauigkeiten oder gar wissentlich falsche Zitate gefährden. Will Tertullian sein argumentatives Ziel nicht verfehlen, kann ihm der Nachweis, dass »der Christus Jesus in deinem Evangelium meiner« ist, nur dann gelingen, wenn er den Wortlaut dieses Evangelium so akkurat wiedergibt, dass ihn auch seine marcionitischen Kontrahenten als den ihren anerkennen können. Epiphanius’ Zeugnis verdient Vertrauen vor allem wegen der mechanischen Pedanterie, mit der er seine Scholienliste erstellt hat: Er hat nicht einmal seine eigenen, offenkundigen Versehen bei der älteren Zusammenstellung der Scholien korrigiert, sondern sie lieber in den Elenchi begründet. Auch, wenn die ursprüngliche Scholienliste keineswegs wertneutral war, so ist doch deutlich, dass die eigentliche Widerlegung der Marcioniten im Rahmen der Abfassung des Panarion sich vollständig und peinlich genau auf diese ursprüngliche Scholienliste verlassen hat. Die Zuverlässigkeit der Zeugnisse des Adamantius ist schwieriger darzulegen, weil sie durch die Abhängigkeit von Testimonien in älteren Quellen beeinträchtigt ist. Jedoch erweisen die Übereinstimmungen seiner Belege mit den anderen Bezeugungen - und zwar sowohl hinsichtlich der wichtigen und charakteristischen Differenzen, als auch bei den kleineren und semantisch unauffälligen - die hohe Zuverlässigkeit der *Ev-Zitate bei Adamantius. Adamantius’ *Ev-Referate beruhen nicht auf »Hörensagen«, sondern sind ausweislich der Übereinstimmungen mit Tertullian und Epiphanius nur durch die direkte Abhängigkeit von *Ev zu erklären. Für die Bewertung der Zuverlässigkeit spielt es keine Rolle, wenn diese Autopsie nicht für Adamantius selbst, sondern nur für seine Quellen angenommen werden kann. Aber gerade die Beobachtung weitreichender und spezifischer Übereinstimmungen zwischen den einzelnen Zeugen lenkt den Blick auf ein grundsätzliches Problem, das bisher noch gar nicht angesprochen wurde. Denn den Übereinstimmungen stehen 64 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche zahlreiche Widersprüche gegenüber: In vielen Fällen weichen die Bezeugungen für einzelne Texte nicht unerheblich voneinander ab. Ausmaß und Bedeutung dieser widersprüchlichen Bezeugungen erschließen sich jedoch nur durch den Größenvergleich mit den übereinstimmenden Zeugnissen. Als Grundlage für diesen Vergleich dient die Liste der Varianten aus *Ev in Anhang III: Diese Liste ist zwar nicht unproblematisch, 96 liefert aber die gemeinsame und überprüfbare Bezugsgröße. Diese Liste verzeichnet 566 Varianten in dem für *Ev bezeugten Text gegenüber dem Text der kritischen Ausgaben (NA 27 / GNT 4 ). In drei Vierteln dieser Varianten (nach der Liste: in 431 Fällen) wird *Ev nur durch einen einzigen der drei Hauptgewährsleute bezeugt. Für ein weiteres Viertel (in 135 Fällen) liegt eine Mehrfachbezeugung durch zwei oder alle drei der Hauptreferenten vor. Diese Mehrfachbezeugungen verteilen sich folgendermaßen: In 50 Fällen (also 37 %) stimmen die Bezeugungen überein, dagegen widersprechen sie sich in 62 Fällen (46 %). In 23 weiteren Fällen (rund 17 %) stimmen je zwei Referenten gegen den dritten überein. Wertet man diese Fälle als widersprüchliche Bezeugungen, dann hat dies das überraschende Ergebnis zur Folge, dass der größere Teil (nämlich 85 Belege oder 63 %) der insgesamt 135 Mehrfachbezeugungen widersprüchlich bezeugt ist: Die Widersprüche 97 überwiegen die Übereinstimmungen deutlich. Bei diesen widersprüchlichen Bezeugungen kommen alle Kombinationen vor: Tertullian gegen Epiphanius, Tertullian gegen Adamantius, Epiphanius gegen Adamantius. In etlichen Fällen steht ein Zeuge gegen die beiden anderen, 98 gelegentlich widersprechen sich sogar alle drei Zeugen. 99 ______________________________ 96 Die Liste ist erstens unvollständig: Sie enthält nicht alle Bezeugungen für *Ev. Vor allem das Fehlen einiger größerer Einheiten in *Ev gegenüber Lk (z. B. Lk 1f; 3,2-4,15; 15,11-32 usw.) ist hier gar nicht erfasst, das ja teilweise durch alle drei Referenten bezeugt ist. Zum anderen enthält diese Liste auch kleine und kleinste Abweichungen, die nicht in allen Fällen zwingend auf einen abweichenden Text zurückgeführt werden müssen. Die Liste dient daher nur als Orientierung für die Größenordnung. Die Verteilung der Bezeugung ist jeweils in der letzten Zeile der Einträge angegeben: EZ = Einzelzeugnis; ÜZ = Übereinstimmendes Zeugnis; WZ = Widersprüchliches Zeugnis. 97 Es handelt sich um die Bezeugungen zu: 4,27. - 5,14b (2). - 6,23c. - 6,27. - 6,28a. - 6,28b. - 6,29a. - 6,43a. - 7,9. - 7,19 (2). - 7,20. - 7,27 (3). - 7,38. - 8,20. - 9,20. - 9,22 (2). - 9,41b. - 10,1. - 10,21. - 10,22. - 10,28. - 11,11. - 11,13b. - 12,4 (2). - 12,5. - 12,30b. - 12,31 (2). - 12,51b. - 16,16c. - 16,29 (3). - 16,31 (2). - 17,14. - 18,18. - 18,19 (3). - 18,20a. - 18,38. - 22,15. - 23,34b. - 23,46. - 23,51. - 23,53a. - 23,53b (2). - 24,6a (2). - 24,7. - 24,25 (3). - 24,38 (2). - 24,39a (2). - 24,39b. Die jeweils abweichende Bezeugung ist aus der Variantenliste (Anhang III) leicht zu ersehen. 98 Unter den Dreifachbezeugungen gibt es insgesamt 23 Fälle, in denen jeweils zwei der drei Hauptzeugen gegen den dritten übereinstimmen; diese Fälle sind als ÜZ/ WZ verzeichnet. 99 Vgl. *9,22 ἀπὸ τῶν πρεσβυτέρων καὶ ἀρχιερέων καὶ γραμματέων: Während Tert. 4,21,7 und Adam. 5,12 (857c) unterschiedliche Wortfolge bieten, bezeugt Epiph., Schol. 16 Auslassung. § 3: Die Bezeugung von *Ev durch die Häresiologen 65 Diese widersprüchlichen Bezeugungen wiegen schwer und werfen ein grundsätzliches methodisches Problem auf, denn ihr großer Anteil an den Mehrfachbezeugungen stellt auch die Zuverlässigkeit der großen Masse der Einzelbezeugungen in Frage. Denn wenn der Faktor von 63% Widersprüchen bei den Mehrfachbezeugungen auf die Einzelbezeugungen hochgerechnet wird, dann müsste man annehmen, dass es zu rund 270 der über 430 Einzelzeugnise auch eine widersprüchliche Bezeugung geben müsste, die sich nur zufällig nicht erhalten haben. Muss man angesichts einer Quote von 63% Widersprüchen nicht schlussfolgern, dass die Bezeugung für *Ev, den oben genannten Argumenten für ihre Zuverlässigkeit zum Trotz, insgesamt so wenig vertrauenswürdig ist, dass eine auch nur halbwegs verlässliche Rekonstruktion gar nicht möglich ist? Eine methodische Konsequenz, die sich aus diesem Sachverhalt ziehen ließe, bestünde darin, nur die übereinstimmenden Bezeugungen als Grundlage für eine Rekonstruktion heranzuziehen. Dies hat David S. Williams getan, der sich nur auf die »explicit correlated readings« konzentriert. Da er seine Untersuchung auf Tertullian und Epiphanius beschränkt, bleiben 23 Passagen, von denen nur fünf ohne jede Abweichung übereinstimmen. 100 Aber ein solches Vorgehen wäre dem Gesamtbefund nicht angemessen, zu dem eben auch diese Widersprüche gehören. Denn bereits die altkirchlichen Häresiologen haben sie sehr klar wahrgenommen und als Zeugnis für die argumentative Schwäche der marcionitischen Position gewertet: Die Marcioniten würden ihr eigenes Evangelium »täglich verändern, je nachdem, wie sie von uns täglich widerlegt werden.« 101 Dieser Vorwurf steht nicht allein: Auch Adamantius und Origenes haben das so gesehen. 102 Was hier als polemischer Vorwurf der Inkonsequenz und Inkonsistenz aufgrund argumentativer Schwäche erscheint, ist nichts anderes als die Beobachtung der erheblichen Textabweichungen ______________________________ 100 D. S. W ILLIAMS , Reconsidering Marcion’s Gospel, JBL 108 (1989), 477-496. Allerdings intendiert Williams keine Textrekonstruktion, sondern untersucht nur die Frage, ob *Ev »einfach eine systematische Verkürzung des kanonischen Lk-Evangeliums« sei (478), die er verneint. Zu Williams’ Vorgehen s. R OTH 37-40. 101 Tert. 4,5,7: nam et cotidie reformant illud, prout a nobis cotidie revincuntur. 102 Adam. 2,18 (867a): καὶ οὗτοι μέχρι τοῦ δεῦρο περιαιροῦσιν ὅσα ἂν μὴ συντρέχῃ τῇ αὐτῶν γνώμῃ. Orig., Cels. 2,27: Marcioniten, Valentinianer und Anhänger des Lukanus würden den Text des Evangeliums verändern. Mit dieser Erklärung reagiert Origenes auf Kelsos’ Vorwurf, das Evangelium sei »nach seiner ersten schriftlichen Niederlegung (ἐκ τῆς πρώτης γραϕῆς)« aus Gründen theologischer Beweisnot »dreifach, vierfach und vielfach« verändert worden. Aber dieser Vorwurf richtet sich erkennbar nicht gegen die Marcioniten, sondern gegen die Evangelien der Kanonische Ausgabe des NT, die von den katholischen Christen verwendet wurden - und als solcher sieht sich Origenes ja auch zur Reaktion veranlasst (vgl. o. S. 41 mit Anm. 34). Vgl. außerdem den Fihrist des Ibn an- Nadīm aus dem 10. Jh.: »Die Berichte, die dem Marcion zugeschrieben werden, weichen sehr voneinander ab und sind vielen Schwankungen unterworfen« (F LÜGEL 160). Es gibt wenig Zweifel, dass die hier notierten Schwankungen dasselbe Phänomen reflektieren. 66 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche und Widersprüche zwischen einzelnen *Ev-Exemplaren. Harnack hat die Veränderungen und Widersprüche in der Textbezeugung dagegen auf die »fortgesetzten Arbeiten der Schüler Marcions am Bibeltext« zurückgeführt. 103 Das Phänomen der Widersprüche ist für sich genommen ebenso erstaunlich wie die Erklärungen, die dafür gegeben werden. Beides verlangt nach Erklärungen, die vermutlich aufs Engste miteinander zusammenhängen. Zunächst zeigen die patristischen Bemerkungen die große Verbreitung der marcionitischen Ausgaben: Nicht nur Tertullian, sondern ja zumindest auch Origenes und Adamantius mussten Kenntnis mehrerer *Ev-Exemplare haben, um auf die Textvarianten aufmerksam werden zu können. Es handelt sich mithin nicht um vereinzelte Abweichungen, sondern um ein Gesamtphänomen, das die Überlieferung des marcionitischen Evangeliums kennzeichnet. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass wir Mehrfachbezeugungen, die solche Widersprüche zu erkennen geben, nur für einen geringen Teil von *Ev besitzen: Die Dunkelziffer der Widersprüche zwischen den einzelnen *Ev-Exemplaren lässt sich nicht einmal grob schätzen, aber sie wird nicht unerheblich sein: Legt man das Verhältnis zwischen Übereinstimmungen und Widersprüchen bei den Mehrfachbezeugungen zugrunde, müsste man damit rechnen, dass zu rund 270 der insgesamt 431 Einzelzeugnisse noch eine abweichende Bezeugung existiert haben könnte. Die patristischen Erklärungen für diesen Befund setzen durchweg voraus, dass diese Veränderungen an *Ev sukzessive vorgenommen wurden, geben aber nicht zu erkennen, an welchen Merkmalen sie den prozessualen Charakter festmachen. Dass die Wahrnehmung der Textvarianten eine lebendige, andauernde Diskussion unter Marcioniten voraussetzt, wäre für Tertullian und Origenes wenigstens vorstellbar: Sie könnten das Problem aus eigener Erfahrung kennengelernt haben. Bezieht man aber das Zeugnis des Epiphanius in die Überlegung mit ein, dann ist diese Erklärung wenig überzeugend: In diesem Fall müsste man ja annehmen, dass dieser Diskurs zwischen der entstehenden katholischen Kirche und den Marcioniten sich nicht über einige wenige Jahrzehnte, sondern über mindestens 200 Jahre hingezogen und (in diesem Zeitraum! ) zu sukzessiven Änderungen von *Ev geführt hätte. Die patristische Deutung der Veränderungen von *Ev als Eingeständnis der theologischen Unterlegenheit durch die Marcioniten ist daher zwar als antihäretisches Argument nachvollziehbar, taugt aber nicht als historische Erklärung für dieses umfassende Phänomen. Aber auch Harnacks Erklärung, die Schüler Marcions hätten dessen »Textkritik« weitergeführt, erklärt nichts. Zunächst trifft die Vorstellung einer rein philologisch verfahrenden »Textkritik«, wie Harnack sie für ______________________________ 103 H ARNACK 241*; Harnack gibt (ebd. Anm. 2) nur wenige Beispiele und merkt an, dass sich »eine einheitliche Richtung oder Tendenz in den späteren Korrekturen (…) nicht nachweisen« lasse. § 3: Die Bezeugung von *Ev durch die Häresiologen 67 Marcion annahm, den Sachverhalt der angeblichen marcionitischen Redaktion gar nicht. 104 Davon abgesehen, müsste man in diesem Fall annehmen, dass die Marcioniten ihren Evangelientext durch die Konformierung mit dem kanonischen Text um genau diejenigen »judaistischen Interpolationen« wieder angereichert hätten, die Marcion angeblich durch sorgsame Korrektur gerade erst ausgeschieden hatte: Nicht erst die anzunehmende Geringschätzung für die Arbeit ihres Meisters führt diese Annahme ad absurdum. Im Blick auf die Liste der widersprüchlichen Bezeugungen stellen jedoch nicht die theologisch gehaltvollen, sondern die zahlreichen »kleinen«, semantisch unauffälligen Varianten ein Problem dar: Es ist schlechterdings nicht nachvollziehbar, dass sich die Marcioniten durch theologische Diskurse zu Korrekturen genötigt gesehen haben sollten, die in der Ersetzung durch Synonyme (*18,18), der Einfügung klärender Pronomina (*12,4) bzw. Adverbien (*12,31) oder der Ersetzung eines Pronomens durch Renominalisierung (*16,29) bestanden. 105 An dieser Stelle bleibt also zunächst ein offenes Problem zu konstatieren. Seine Lösung hat zunächst zu berücksichtigen, dass die Hauptzeugen den Text der ihnen jeweils vorliegenden *Ev-Exemplare weder schlampig noch großzügig, sondern ganz überwiegend korrekt referiert haben werden. Da sich die Divergenzen zwischen den Bezeugungen nicht auf eine absichtsvolle (also: redaktionelle) Angleichung von *Ev an den Text des kanonischen Lk-Evangeliums zurückführen lassen, weisen sie auf ein Phänomen der Textüberlieferung. Die widersprüchlichen Bezeugungen verlangen am Ende nicht nach einer literar- oder redaktionskritischen Antwort, sondern nach einer textgeschichtlichen. Das wichtigste Phänomen, das eine Erklärung der Divergenzen aus der Geschichte der Textüberlieferung von *Ev zu berücksichtigen hat, ist das Ausmaß der anzunehmenden Veränderungen: Es ist vielleicht nicht völlig singulär, aber doch ohne Zweifel in hohem Maß auffällig. Die Antwort ist unten (§ 5) ausführlich zu erörtern. ______________________________ 104 Vgl. dazu u. S. 130ff ausführlicher. 105 Derselbe Sachverhalt spricht auch gegen Harnacks Erklärung: Die angebliche »Reinigung« des Evangeliums von verfremdenden Zusätzen lässt sich an solchen Kleinigkeiten ja nur dann durchführen, wenn ein Vergleichstext vorliegt; aber den haben wir nicht. § 4: Umfang und Sprache des marcionitischen Evangeliums Die Beobachtungen zur Eigenart und Arbeitsweise der einzelnen Zeugen für das marcionitische Evangelium haben zwar insgesamt wahrscheinlich gemacht, dass die jeweiligen *Ev-Referate grundsätzlich zuverlässig sind und eine solide Basis für die Rekonstruktion abgeben. Einige speziellere Fragen bezüglich der *Ev-Referate und ihrer Zuverlässigkeit bleiben jedoch noch zu klären. Zur Behandlung dieser Fragen nötigt auch die Forschungsgeschichte, die hier durchaus kontroverse Ansichten vertreten hat. Zunächst sind zwei kleinere Probleme zu besprechen, die sich in erster Linie aus der bisherigen Forschungsgeschichte ergeben. In einem ersten Schritt muss geklärt werden, wie Tertullians Hinweise zu verstehen seien, dass Marcion angeblich Texte aus dem kanonischen Evangelium gestrichen habe, die sich überhaupt nicht in Lk finden (1.). Ein weiteres Problem ist (2.) vor allem durch Harnacks These auf die Tagesordnung gekommen, dass Tertullian einen lateinischen *Ev-Text vorliegen hatte; diese Annahme würde die Einschätzung seiner *Ev-Referate direkt tangieren. 1. Nicht-lk Texte in Tertullians *Ev-Exemplar? Wie bereits gezeigt, war Tertullian fest davon überzeugt, dass Marcion seiner Bearbeitung das kanonische Lukasevangelium zugrunde gelegt und alle anderen Evangelien verworfen habe; das ist der Grund für seinen methodisch begründeten Rückgriff auf Marcions eigenen Evangelientext. In Anbetracht dieser Ausgangslage müsste man postulieren, dass alle von Tertullian notierten Differenzen in *Ev Abweichungen gegenüber dem Text des kanonischen Lk darstellen. Dies ist aber nicht der Fall: Tertullian wirft Marcion mehrfach vor, Aussagen gestrichen zu haben, die sich jedoch gar nicht im kanonischen Lk-Evangelium, sondern in Mt finden. Dieses Problem wurde schon kurz für Adamantius angesprochen (o. S. 59f); es hat hier aber insofern ein eigenes Gepräge, als es sich nicht auf einzelne, matthäisch klingende Formulierungen innerhalb der mt-lk Doppelüberlieferung bezieht, sondern auf Aussagen, die sich nur in Mt finden. 1 Die nächstliegende Erklärung für dieses Phänomen ist die Annahme, dass Tertullian sich geirrt hat, wenn er Marcion die Streichung von Passagen vorwirft, die sich nicht in Lk, sondern nur in den anderen Evangelien finden. Diese Lösung, die unter anderem von Zahn und Harnack zu den fraglichen Stellen vorgeschlagen ______________________________ 1 Vgl. dazu D. T. R OTH , Matthean Texts and Tertullian’s Accusations in Adversus Marcionem, JTS NS 59 (2008), 580-597. § 4: Umfang und Sprache des marcionitischen Evangeliums 69 wurde, 2 ist grundsätzlich denkbar, weil Tertullian mit einiger Wahrscheinlichkeit keinen Textvergleich durchgeführt hat (s. o.). Aber abgesehen davon, dass die Annahme eines Irrtums nur die ultima ratio der Erklärung sein kann, konstituiert die Bestimmtheit, mit der Tertullian das Fehlen bestimmter Aussagen behauptet, eine Schwierigkeit, wenn die methodische Überlegung zutrifft, dass gerade bei den Zitaten aus Marcions Text Genauigkeit zu erwarten ist. 3 Der jüngste Erklärungsversuch nimmt daher an, dass Tertullians Lk-Text ganz anders als unser kritischer Text ausgesehen habe: Er hätte in der Tat diejenigen Passagen enthalten, deren Streichung Tertullian Marcion unterstellt. 4 Dieser Vorschlag setzt voraus, dass der kanonische Text der Evangelien noch zu Beginn des 3. Jh. starken Veränderungen unterworfen war: Die Variationsbreite innerhalb der so angenommenen kanonischen Textform(en) hätte ein Ausmaß besessen, das nur als Nebeneinander deutlich verschiedener Rezensionen bezeichnet werden kann. Obwohl diese Möglichkeit nicht von vornherein auszuschließen ist, kollidiert sie mit vielen grundlegenden Einsichten zur Textgeschichte, die man ungern um des begrenzten Erklärungswertes dieser Theorie willen preisgeben möchte. In Anbetracht dieser Schwierigkeiten ist es sinnvoll, die fraglichen Stellen noch einmal genau anzusehen. Es handelt sich insgesamt um drei Mt-Logien (15,24.26; 5,17), die Tertullian in *Ev vermisst. 1. Die beiden ersten finden sich in Tertullians bereits erwähnter 5 Diskussion des Anfangs von *Ev (Tert. 4,7,5f). Hier ist impliziert, dass *Ev keine Entsprechung zu Mt 15,24 bzw. 15,26 (|| Mk 7,27) enthielt: »(5) Aber vergeblich wird er (= Marcion) leugnen, dass Christus etwas (mit Worten) gesagt habe, was er sogleich teilweise tut (frustra negabit Christum dixisse quod statim fecit ex parte). Denn inzwischen erfüllt er die Prophezeiung 6 in Bezug auf den Ort: Vom Himmel sogleich in die Synagoge ______________________________ 2 H ARNACK 216* und 252* Anm. 2; T H . Z AHN , Geschichte des Neutestamentlichen Kanons I, Erlangen - Leipzig 1889, 604; II 477 (zu Lk 12,51). Diese Vermutung ist jedoch schon älter und wurde sowohl von den Vertretern der *Evals auch der Lk-Priorität angestellt. Vgl. J. G. E ICHHORN , Einleitung in das Neue Testament I, Leipzig 2 1820, 46f und 76f; A. H AHN , Das Evangelium Marcions in seiner ursprünglichen Gestalt, Königsberg 1823, 174; G. V OLCKMAR , Das Evangelium Marcions, Leipzig 1852, 31 u. a. (vgl. R OTH , a. a. O. 582 Anm. 4). 3 S.o. Vgl. auch B. M. M ETZGER , New Testament Studies, Leiden 1980, 167f. 4 D. S. W ILLIAMS , On Tertullian’s Text of Luke, Second Century 8 (1991), 193-199: 196ff. Neben den gleich zu diskutierenden Stellen begründet Williams diese Sicht mit zwei Justin-Stellen, die einen Mischtext aus Mt/ Lk bezeugen (Dial. 96,3b || Mt 5,45b || Lk 6,35b; (1)Apol. 15,13 || Mt 5,45 || Lk 6,36). 5 S. o. S. 48f. 6 Tertullian bezieht sich auf sein Zitat von Jes 8,23; 9,1 (LXX) in 4,7,3 (hoc primum bibito, cito facito, regio Zabulon et terra Nephthalim, et ceteri qui maritimam et Iordanis, Galilaea nationum, populus qui sedetis in tenebris …): Der Anfang von Marcions Evangelium schildere ja den Beginn im Γαλιλαία τῶν ἐθνῶν. 70 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche (de caelo statim ad synagogam). Wir kommen, wie man zu sagen pflegt, zum Punkt! Auf, Marcion, nimm doch auch jenes aus dem Evangelium fort (aufer etiam illud de evangelio): ›Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt‹ (Mt 15,24) und ›Es geht nicht an, das Brot den Kindern wegzunehmen und es den Hunden zu geben‹ (Mt 15,26), damit es nicht so aussieht, als gehöre Christus den Israeliten. (6) Mir genügen die Taten anstelle der Worte (sufficiunt mihi facta pro dictis). Nimm ruhig die Worte meines Christus fort (detrahe voces Christi mei), seine Taten (res) sprechen doch. Sieh, wie er in die Synagoge kommt: Natürlich zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel (ecce venit in synagogam; certe ad oves perditas domus Israelis)! Sieh, wie er das Brot seiner Lehre den Israeliten als ersten anbietet (ecce doctrinae suae panem prioribus offert Israelitis): Natürlich; er zieht sie als Söhne vor ...« (Tert. 4,7,5f). Vom Kontext her ist es völlig ausgeschlossen, dass Tertullian die beiden Logien Mt 15,24.26 an dieser Stelle in *Ev gelesen haben konnte: Sie sind nicht Teil des *Ev-Referats, sondern gehören zu Tertullians Argumentation. Deren Pointe zielt daher auch nicht darauf, dass Marcion diese Passagen aus dem kanonischen Lk- Evangelium gestrichen habe, sondern auf den Umstand, dass Marcions Evangelium, obwohl es die entsprechenden (mt) Aussagen gar nicht enthielt, ihren sachlichen Gehalt bezeugt. Die Wortwahl, mit der Tertullian Marcions Vorgehen beschreibt (negare; detrahere; auferre), scheint zwar dessen redaktionelle Streichungen nahezulegen, impliziert zunächst aber doch nur den Vorwurf, dass Marcion aus der kanonischen Bibel nur das »verstümmelte« Lk-Evangelium beibehalten habe. Darauf weist auch die Formulierung »Worte meines Christus« hin: Denn diese »Worte« finden sich nicht in Tertullians Lk-Exemplar, sondern in seinem eigenen Vier-Evangelienbuch, das erst in der Zusammenschau aller vier kanonischen Evangelien den von Tertullian propagierten Christus der entstehenden katholischen Kirche präsentiert. Die Argumentation zeigt: Tertullian hat die fraglichen Mt-Verse nicht nur nicht in *Ev gelesen, sondern ist sich auch darüber im Klaren, dass sie dort gar nicht gestanden haben können: Er ist sich deutlich bewusst, dass Marcion das Matthäusevangelium, »jenes andere Evangelium - mit derselben Wahrheit, demselben Christus - nicht übernommen« hat. 7 Der implizite Vorwurf zielt genau auf diese Nicht-Rezeption des Mt. 2. Auf der gleichen Linie ist auch der wichtigste Beleg für die »nicht-lk« Texte in *Ev zu verstehen: Gleich mehrfach 8 behauptet Tertullian, dass Marcion aus seinem Evangelium die Aussage »Ich bin nicht gekommen, das Gesetz (und die Propheten) aufzulösen, sondern um sie zu erfüllen« gestrichen habe. Diese findet sich bekanntlich nicht in Lk, sondern nur in Mt 5,17. Der erste von drei Belegen, ______________________________ 7 Tert. 4,32,2: Non enim recepisti illud quoque evangelium eiusdem veritatis et eiusdem Christi. 8 Vgl. außer den hier aufgeführten Belegen noch Tert. 4,36,6; 5,14,14; in diesen Fällen handelt es sich um freie Zusammenfassungen des Logions im Rahmen von Tertullians Argumentation ohne den Vorwurf der »Streichung«. § 4: Umfang und Sprache des marcionitischen Evangeliums 71 an denen das Logion ausdrücklich erwähnt wird, gehört in den gerade besprochenen Kontext der Diskussion des Anfangs von *Ev (Tert. 4,7,4ff). Christus habe »gleich bei seinem ersten Auftreten gezeigt, dass er nicht gekommen sei, um Gesetz und Propheten aufzulösen, sondern sie vielmehr zu erfüllen. Dies nämlich hat Marcion wie einen Zusatz gestrichen.« 9 Diese Bemerkung steht wie eine Überschrift über dem folgenden Nachweis mit der Argumentation »facta pro dictis«: Der marcionitische Christus stelle durch sein Verhalten (also durch seine res) faktisch genau das unter Beweis, was der marcionitische Bibeltext als Aussage Jesu (voces) nicht hergibt. Die Lösung ist hier natürlich die gleiche wie zuvor: Tertullian will Marcion - trotz der Formulierung ut additum erasit! - nicht unterstellen, seine lk Textvorlage um dieses Logion bereinigt zu haben: Es hätte an dieser Stelle (ganz analog zu Mt 15,24.26) überhaupt keine Funktion besessen. Vielmehr argumentiert er gegen den marcionitischen Antinomismus: Die Nicht-Rezeption des Mt mit seinen klaren, positiven Aussagen über das Verhältnis Jesu zum Gesetz des Schöpfergottes schützt Marcion nicht davor, dass sein Christus in seinem Verhalten genau dieses positive Verhältnis bezeugt. 3. Hat man einmal die Struktur von Tertullians Argumentation erfasst, stellen die beiden anderen Belege kein Problem mehr dar: Sie liegen durchweg auf der gleichen Linie. Im Zusammenhang seiner Besprechung der Heilung des Leprösen *5,12-14 nutzt Tertullian den Befehl Jesu *5,14 (vade, ostende te sacerdoti, et offer munus quod praecepit Moyses) zu einer längeren Widerlegung des marcionitischen Antinomismus und zeigt, dass Jesus in vollständiger Übereinstimmung mit den Forderungen des Gesetzes steht (Tert. 4,9,14f): »(14) Es macht natürlich überhaupt keinen Unterschied, auf welche Weise er das Gesetz bekräftigt hat - sei es als der Gute, als der Desinteressierte, sei es als der Geduldige, sei es als der Wankelmütige, solange ich nur dich, Marcion, aus deiner Position vertreibe! So hat er also befohlen, dass das Gesetz erfüllt werde. (15) Auf welche Weise auch immer er diesen Befehl gegeben hat, er konnte auf dieselbe Weise auch jenen Satz aufgestellt haben: ›Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern es zu erfüllen.‹ Was also war dir daran gelegen, das aus dem Evangelium zu streichen, das doch Gültigkeit besitzt? « 10 Die Argumentationsstruktur ist wieder die gleiche: »Es steht fest, dass er jenes Wort gesagt hat, weil er entsprechend gehandelt hat.« 11 Mit der Aufforderung *5,14 habe Jesus de facto die Befolgung des Gesetzes verlangt und dadurch dessen Gültigkeit bestätigt. Die Wendung potuit etiam illam praemisisse sententiam zeigt, dass diese ______________________________ 9 Tert. 4,7,4: … ostendentem in primo ingressu venisse se non ut legem et prophetas dissolveret, sed ut potius adimpleret. Hoc enim Marcion ut additum erasit. 10 Tert. 4,9,15: Quocunque modo praecepit, eodem potuit etiam illam praemisisse sententiam, Non veni legem dissolvere sed adimplere. Quid ergo tibi fuit de evangelio erasisse quod salvum est? 11 Tert. 4,9,15: Constat ergo dixisse illum, quia et fecit. 72 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche sententia gerade nicht in Tertullians Lk-Exemplar stand: Der Ausdruck erasisse für die Nichtbezeugung von Mt 5,17 meint daher auch hier nicht Marcions Korrektur am Lk-Text, sondern seine »Verwerfung« des Mt. Der letzte Beleg findet sich im Zusammenhang von Tertullians Besprechung der Sabbatkonflikte *6,1-10. Tertullian interpretiert das Sabbatgebot von seiner lebensrettenden Intention her und zeigt, dass Jesus pro anima gehandelt habe, als er den hungernden Jüngern Speise gewährte (*6,1ff) bzw. als er die verkrüppelte Hand heilte (*6,6ff). Auch hier steht wieder die Tat Jesu als Beleg für das, was er hätte sagen können (Tert. 4,12,14): »Überall zeigt er durch seine Taten: ›Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern es zu erfüllen‹ - auch, wenn Marcion ihm für dieses Wort den Mund verbietet.« 12 Auch hier impliziert die umständliche Formulierung (os obstruere) nicht »Streichung« aus dem kanonischen Lk-Text, sondern die »Unterschlagung« von Mt in Marcions Bibel. In keinem der besprochenen Fälle hat Tertullian Mt 5,17 in seinem Lk-Exemplar gelesen. Schon der jeweilige Kontext schließt diese Annahme aus, es sei denn, man nähme an, dass dieses Logion in Tertullians Lk-Text an drei unterschiedlichen Stellen enthalten war. Aber einen solchen Lk-Text hat es nicht gegeben. Wie einzelne Elemente der Argumentation zeigen, erhebt Tertullian seinen Vorwurf der Streichung »nicht-lk« Texte auch nicht irrtümlich: Er wusste genau, was in seinem eigenen Lk-Exemplar und was in *Ev stand. Tertullian wirft Marcion die Tilgung einer Mt 5,17 entsprechenden Aussage immer dann vor, wenn ihn der Kontext zu einer Stellungnahme über Jesu Verhältnis zum Gesetz nötigt. 4. Auffällig bleibt immerhin die Wortwahl (negare; detrahere; auferre; eradere ut additum), mit der Tertullian die Nichtbezeugung von Mt 5,17 in *Ev moniert: Man zögert, sie allein durch Marcions Nicht-Rezeption des Mt - non recepisti illud evangelium (4,32,2) - zu erklären. Ein zweites kommt hinzu: Wie oben schon deutlich wurde (o. S. 59f), begegnet der Vorwurf der Streichung von Mt 5,17 auch bei Adamantius und Isidor von Pelusium. Aber in diesen beiden Fällen steht neben der negativen Aussage - Marcion habe das Logion gestrichen - die Behauptung, dass *Ev die positive Aussage enthalten habe: »Ich bin gekommen, um das Gesetz aufzulösen« 13 - dies geht weit über Tertullians monita hinaus. Die Erklärung für diesen starken Vorwurf ergibt sich aus der *Ev-Fassung von *23,2: Im Zusammenhang des Verhörs Jesu vor Pilatus erheben die Ankläger den Vorwurf gegen Jesus: »Wir haben gefunden, dass dieser das Volk verführt und dass ______________________________ 12 Tert. 4,12,14: factis ubique ingerens, Non veni dissolvere legem, sed adimplere, si Marcion hac voce os ei obstruxit. 13 S. o. S. 59 Anm. 90f. § 4: Umfang und Sprache des marcionitischen Evangeliums 73 er das Gesetz und die Propheten auflöst.« 14 Im Unterschied zum Verhör Jesu vor dem Hohen Rat nach Mk 14,56-59 || Mt 26,60f, in dem die Vorwürfe gegen Jesus ausdrücklich falschen Zeugen in den Mund gelegt werden, fehlt ein solcher Hinweis in dem nur bei Lk bzw. Joh bezeugten Verhör vor Pilatus: Dass die Anklagen gegen Jesus (Verführung des Volkes, Verbot des Steuerzahlens, Auflösung von Gesetz und Propheten) falsch sind, müssen die Leser selbst erschließen - gesagt wird es nicht. Der Grund dafür liegt auf der Hand, weil ja keineswegs alle Anklagepunkte falsch sind: Der letzte Vorwurf lautet, Jesus habe »gesagt, dass er der Christus sei«. Darauf nimmt Pilatus Bezug und fragt Jesus direkt: »Bist du der Christus? «, worauf dieser antwortet: »Du sagst es! « (*23,3). Die eigentümliche Gestalt dieser Perikope mit der Reihe von falschen und zutreffenden Anklagen enthielt also ein ausdrückliches Geständnis Jesu. Natürlich bezog sich dieses Geständnis nur auf die Pilatusfrage, also auf den letzten - und aus Sicht des Textes: eindeutig zutreffenden - Anklagepunkt, dass Jesus der Christus sei. Aber wenn man diesen abschließenden Vorwurf als Zusammenfassung der vorangehenden - und aus Sicht des Textes: ebenso eindeutig unzutreffenden - Anklagepunkte verstand, dann bedurfte es weder besonderer Phantasie noch einer ausgesprochen böswilligen Unterstellung, hier die Behauptung Jesu herauszulesen, »er löse das Gesetz und die Propheten auf«: Sofern die marcionitische Theologie durch die kritische Distanz zum jüdischen Gesetz geprägt war, die die Häresiologen ihr durchweg vorgeworfen haben, dann lag eine solche Interpretation in der Tat nahe. Zumindest wird auf diese Weise verständlich, wie Adamantius und Isidor zu der Behauptung gelangen konnten, dass dem marcionitischen Evangelium nicht nur ein Mt 5,17 entsprechendes Logion fehlte, sondern dass es auch umgekehrt die positive Aussage der Auflösung von Gesetz und Propheten enthalten habe. Diese auf den ersten Blick absurd erscheinende Behauptung Jesu stellt also die Zuverlässigkeit der Zeugen nicht in Frage, sondern bestätigt sie sogar. Angesichts des antimarcionitischen Antinomismusvorwurfs wäre (aus Sicht der katholischen Gegner Marcions) eine klare Distanzierung Jesu von dem Vorwurf der Auflösung von Gesetz und Propheten, wie sie in Mt 5,17 vorliegt, durchaus wünschenswert gewesen. Aber sie war in *Ev nicht enthalten. Mit dieser Erklärung wird zweierlei deutlich: Zum einen enthielt Tertullians *Ev-Exemplar gar keine »nicht-lk« Texte - jedenfalls keine mt Texte und auch kein Logion im Sinn von Mt 5,17. Zum anderen erklärt die Gestalt von *23,2 in *Ev mit dem Vorwurf der Auflösung von Gesetz und Propheten und dem nachfolgenden ______________________________ 14 Nach Epiph., Schol. 69: Προσέθετο μετὰ τό Τοῦτον εὕραμεν διαστρέϕοντα τὸ ἔθνος· Καὶ καταλύοντα τὸν νόμον καὶ τοὺς προϕήτας. Schon hier sei darauf hingewiesen, dass dieser »Zusatz« - mit geringfügigen Erweiterungen - auch in der altlateinischen Überlieferung breit bezeugt ist: et solventem legem nostram (om nostram: c vg) et prophetas: b c e ſſ 2 gat i l q vg (4 mss) . 74 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche Geständnis Jesu das starke Unbehagen, das Tertullian angesichts des Fehlens einer eindeutigen Versicherung im Sinn von Mt 5,17 empfunden haben mochte. Denn sein Christus, der Christus des Vier-Evangelienbuches, hatte eine solche Klarstellung in Mt 5,17 ja ausdrücklich gegeben. Für den Christus in Marcions Evangelium konnte Tertullian dagegen nur auf dessen Taten (facta, res) verweisen, weil sich hier keine eindeutige Distanzierung Jesu vom Vorwurf der Auflösung von Gesetz und Propheten durch seine Worte (dicta, voces) fand. An dieser Stelle wird erkennbar, dass Tertullian, so sehr er bei dem Nachweis von Widersprüchen zwischen Marcions Theologie und Evangelium methodisch vom Wortlaut in *Ev ausgeht, doch sachlich die Christologie des kanonischen Vier-Evangelienbuches voraussetzt. Insofern ist die hier vertretene Lösung des Problems der »nicht-lk« Texte in *Ev dem alten Vorschlag durchaus verwandt, demzufolge Tertullians Vorwürfe, Marcion habe mt Texte aus seinem Evangelium getilgt, nicht auf redaktionelle Veränderungen Marcions am Lk-Text zu beziehen seien, sondern auf Differenzen gegenüber dem gesamten (kanonischen) Evangelienbestand. 15 Da Tertullian davon überzeugt war, dass Marcion nicht nur den Text des kanonischen Lk-Evangeliums redaktionell bearbeitet, sondern dieses auch aus dem Kontext der kanonischen Bibel herausgelöst hatte, konnte er den Vorwurf der Verstümmelung - in der für ihn charakteristischen Terminologie - auch mit Blick das Vier-Evangelienbuch erheben: Marcion habe eben nicht nur Lk, sondern die Evangelien insgesamt »zernagt« bzw. »emendiert«. 16 Die komplexe Argumentationslage, die sich aus *23,2 ergibt, macht darüber hinaus deutlich, inwiefern der theologische Antagonismus zwischen der marcionitischen und der katholischen Christologie gerade an dieser Stelle so pointiert als Vorwurf der redaktionellen »Streichung« von Mt 5,17 erscheinen musste - obwohl Tertullian sehr genau wusste, dass dieses Logion auch in Marcions »Vorlage« nicht enthalten war. 17 2. Die Sprache von Tertullians *Ev-Exemplar Eine weitere Schwierigkeit, die die Zuverlässigkeit von Tertullians Bezeugung von *Ev in Zweifel ziehen könnte, liegt in dem Umstand, dass Epiphanius und Adamantius *Ev auf Griechisch referieren, Tertullian dagegen auf Lateinisch. Es gibt keinen Zweifel daran, dass Epiphanius ein griechisches *Ev-Exemplar vor sich hatte, und ______________________________ 15 Z. B. W. R. C ASSELS , Supernatural Religion II, Boston 1875, 100f. Ähnlich auch B. F. W ESTCOTT , A General Survey of the History of the Canon of the New Testament, New York 1896, 321 Anm. 1. 16 Vgl. etwa Tert. 1,1,5 (quis tam comesor mus Ponticus quam qui e v a n g e l i a corrosit? ); 4,4,5 (negotium est haeresis, quae sic semper emendat e v a n g e l i a dum vitiat). 17 Das erklärt den diesbezüglichen Einwand von D. S. W ILLIAMS , On Tertullian’s Text of Luke, SC 8 (1991), 193-199: 194f. § 4: Umfang und Sprache des marcionitischen Evangeliums 75 im 19. Jh. ist man auch durchweg davon ausgegangen, dass das gleiche für Tertullian zuträfe: Er habe einen griechischen Text ausgewertet, den er - gebildet, redegewandt und zweisprachig 18 - bei der Lektüre ad hoc ins Lateinische übersetzt hätte. Nun gibt es einige philologische Auffälligkeiten, die darauf hindeuten könnten, dass Tertullian ein lateinisches *Ev-Exemplar vorliegen hatte. Harnack hatte zum ersten Mal umfassend zu begründen versucht, dass Tertullian eine lateinische Ausgabe der marcionitischen Bibel hatte; 19 andere sind ihm in dieser Einschätzung gefolgt. 20 Harnack war vom marcionitischen Apostolos ausgegangen, für den er einen lateinischen Text als erwiesen ansah. Als er von da aus zur Behandlung von *Ev überging, benötigte er für die entsprechende These nur noch flankierende Argumente. Neben einer Reihe von sprachlichen Beobachtungen zur unterschiedlichen Wortwahl in Tertullians *Ev-Zitaten und seiner eigenen Darlegung zählte für Harnack vor allem ein textgeschichtliches Argument, nämlich die häufigen Übereinstimmungen zwischen *Ev und dem sog. »Westlichen Text« (also i. W. D it sy): Da Tertullians *Ev-Exemplar nicht nur Übereinstimmungen mit dem (griechischen) Text von D und dem lateinischen der Vetus-Latina-Handschriften zeige, sondern gelegentlich auch mit diesen gegen D stehe, müsse ihm ein lateinischer Text zugrunde gelegen haben. 21 Diese Begründung setzt die grundsätzliche Einheitlichkeit eines »Westlichen Texttyps« voraus, die heute nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Es ist daher ratsam, die beiden Fragen nach der Sprache von Tertullians *Ev-Ausgabe und seiner Beziehung zum »Westlichen Text« zu unterscheiden und sie getrennt zu behandeln. Da die komplexen Beobachtungen zu den Analogien zwischen *Ev und dem »Westlichen Text« methodische Implikationen von großer Tragweite besitzen, sollen sie gleich etwas ausführlicher gesondert behandelt werden (§ 5). Hier ist also nur die Frage nach der Sprache der Vorlage zu besprechen. Tatsächlich ist Harnacks diesbezügliche Argumentation ausgesprochen dünn. Im Unterschied zu Tertullians Behandlung des Apostolos, die einen relativ großen Anteil an direkten Zitaten aufweist und daher verlässlichere Daten für einen Vergleich zwischen dem zitierten Text und der eigenen Argumentation liefert, ist seine Behandlung des Evangeliums insgesamt freier gehalten: Die *Ev-Referenzen ______________________________ 18 Dass Tertullian zweisprachig war, ergibt sich aus Adv. Prax. 3,2; mindestens eines seiner Werke ist auch auf griechisch erschienen (vgl. Cor. 6,3). 19 H ARNACK 47*-55*; 149*ff; 178*ff. 20 Vgl. H. VON S ODEN , Der lateinische Paulustext bei Marcion und Tertullian, in: Festgabe für Adolf Jülicher, Tübingen 1927, 229-281; K. T H . S CHÄFER , Die Überlieferung des altlateinischen Galaterbriefs I, Braunsberg 1939, 17; E. C. B LACKMAN , Marcion and his Influence, London 1948 (passim); H. V OGELS , Handbuch der Textkritik des Neuen Testaments, Bonn 2 1955, 79; H. Z IMMERMANN , Untersuchungen zur Geschichte der altlateinischen Überlieferung des Zweiten Korintherbriefes, Bonn 1960, 116f; T. P. O’M ALLEY , Tertullian and the Bible, Nijmegen 1967, 37-63. 21 H ARNACK 179*. 76 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche sind sehr viel stärker in Tertullians eigene Argumentation hinein verwoben und lassen oft nur schwer erkennen, was genau aus dem *Ev-Text stammt und was Tertullians eigene Formulierungen sind. Harnacks Rückschluss von seinen Beobachtungen zu Tertullians Apostolos-Text auf sein Referat des Evangeliums ist daher verständlich, methodisch aber nicht tragfähig. Denn nachdem bereits Gilles Quispel die These eines lateinischen Marciontextes erschüttert hatte, 22 hat die genaue Untersuchung von Ulrich Schmid ergeben, dass Tertullian mit hoher Wahrscheinlichkeit einen griechischen Apostolos-Text besaß. 23 Für das marcionitische Evangelium ist die Ausgangslage schwieriger, wenn anhand der Sprachverwendung gezeigt werden soll, dass sich die *Ev-Zitate »lexikalisch, syntaktisch und stilistisch scharf von der eigenen Sprache« Tertullians abheben. 24 Argumente, die auf Wortschatz- und Stilfragen beruhen, sind notorisch problematisch, wenn damit literarkritische Urteile begründet werden sollen (und darum handelt es sich ja bei der Erschließung einer lateinischen Quelle der *Ev-Zitate): Sie würden eine vollständige Analyse der Zitierpraxis Tertullians in allen seinen Schriften erfordern, denn nur so ließe sich eine verlässliche stilkritische Vergleichsbasis für die fraglichen Belege zum Beweis einer lateinischen Quelle etablieren. Eine solche Analyse kann hier auch nicht ansatzweise geleistet werden. Gleichwohl lässt sich bereits an Harnacks eigener, sehr überschaubarer Liste 25 zeigen, wie wenig überzeugend seine Argumentation ist. Neben dem generellen Verweis auf Tertullians eigene Sprache (der, wie gesagt, wenig aussagekräftig ist) nennt Harnack fünf Stellen, an denen sich die Unterscheidung von Zitat und Tertullians eigener Sprache zeigen lasse. Im Hintergrund steht die Überlegung, dass Tertullian bei einer eigenen Übersetzung aus dem griechischen Text Marcions von vornherein die ihm sinnvoll erscheinende Übersetzung geboten hätte: Der Wechsel zwischen Zitat und Tertullians eigener Formulierung belege daher, dass Tertullian die zitierte Formulierung (auf Lateinisch) bereits in seinem *Ev-Exemplar vorgefunden habe. 1. Im Referat zum Bildwort vom Flicken *5,36 äußert sich Tertullian zur Form der Gleichnisrede: »Auch die Redeform ist bei Christus nicht neu. Wenn er bei der Beantwortung von Fragen Bilder verwendet (similitudines obicit), dann kommt dies von Psalm 77: ›Ich werde‹, heißt es, ›meinen Mund für ein Gleichnis (parabola) öffnen‹, das heißt: für ein Bild (similitudo). ›Ich werde Dunkles reden (eloquar problemata)‹, das heißt: Ich werde Strittiges erörtern (edisseram quaestiones)« (Tert. ______________________________ 22 G. Q UISPEL , De bronnen van Tertullianus’ Adversus Marcionem, Utrecht 1943, 118-139. 23 U. B. S CHMID , Marcion und sein Apostolos, Berlin - New York 1995, 40-59. Auch andere sind in den letzten Jahren von der These einer lateinischen Apostolosausgabe abgerückt (ebd. 40 Anm. 32). 24 H ARNACK 49* (zum Apostolos). Dass Harnacks Kategorie des »Stilistischen« nicht durch belastbare stilkritische Argumente untersetzt ist, sondern nur sein eigenes Geschmacksurteil reflektiert, hat S CHMID , a. a. O. 41 Anm. 35, zu Recht hervorgehoben. 25 H ARNACK 179ff*. § 4: Umfang und Sprache des marcionitischen Evangeliums 77 4,11,12; Ps 78,2). Harnack folgerte daraus, dass Tertullian in *5,36 nicht ἔλεγεν δὲ καὶ παραβολήν gelesen hätte, sondern eine lateinische Übersetzung mit dicebat autem et similitudinem, weil Tertullian sich sonst seine Erklärung id est similitudo hätte schenken können. Aber da Tertullian selbst sowohl similitudo als auch parabola häufig benutzt, ist ihm nicht daran gelegen, hier zwanghaft die Brücke von similitudo zu parabola zu schlagen. Vielmehr geht es ihm darum, anhand des Psalmbeispiels die Vielfalt der Formen dunkler Rede herauszustellen (problemata, quaestiones, parabolae, similitudines): Dieses Beispiel stützt die These eines lateinischen *Ev-Textes nicht. 2. Tertullian referiert *6,24b ὅτι ἀπέχετε τὴν παράκλησιν ὑμῶν mit den Worten quia receperunt scilicet advocationem suam (4,15,9). Dies sei, so Harnack, »doch des Guten in wörtlicher Wiedergabe zu viel«, weswegen Tertullian in der eigenen Einleitung (4,15,8) lieber divites solatio iuvantur formuliere. Auf den ersten Blick überzeugend, wird dieses Argument schon wenige Zeilen später widerlegt, wenn Tertullian (4,15,11) - in seiner eigenen Interpretation! - genau die inkriminierte Formulierung wiederholt: Qui magis quam divites? quia receperunt scilicet advocationem suam, gloriam et honorem, sublimitatem ex divitiis (4,15,11). 3. Ähnliches gilt von Tertullians Referat von *9,24 (ὃς γὰρ ἂν θέλῃ τὴν ψυχὴν αὐτοῦ σ ῶ σ α ι , ἀπολέσει αὐτήν): Im Zitat (4,21,8) formuliert er animam suam s a l v a m f a c e r e , in seiner eigenen Deutung (4,21,9) dagegen qui animam suam … s e r v a t . Aber der Wechsel von salvam facere zu servare ist kein hinreichender Beleg, denn bereits vorher verwendet Tertullian die Wendung animam salvam facere in seiner eigenen freien Zusammenfassung der Erzählung von den Jünglingen im Feuerofen (Dan 3). 26 4. Besonders schlagend scheint Tertullians Zitat von *9,41 zu sein, wo er ῏Ω γ ε ν ε ὰ ἄπιστος durch O g e n i t u r a incredula wiedergibt (4,23,1). Dieses »stümpernd wörtliche und in der gebildeten Sprache hier unstatthafte ›genitura‹ … ersetzt er aber sofort, indem er zehn Zeilen darauf gut lateinisch schreibt …: O n a t i o incredula.« 27 Aber der Kontext zeigt, dass Tertullian sich hier nicht um die »gebildete Sprache« bemüht. Vielmehr ist der Wechsel des Vokabulars offensichtlich durch den biblischen Hintergrund bestimmt. Denn die beiden Ausdrücke γενεά/ genitura und ἔθνος/ natio stehen in Dtn 32,20f (LXX) nebeneinander und werden von Tertullian (4,31,6) auch so zitiert. 5. Das letzte Beispiel ist Tertullians Referat von *6,20 mit dem Wechsel von (beati) mendici - pauperes (4,14,1f). Tatsächlich spricht dieses Beispiel, wie Harnack selbst bemerkt, nicht für, sondern gegen seine Annahme einer lateinischen *Ev-Vorlage. Tertullian führt aus: »Selig sind die Armen (m e n d i c i ) - denn so erfordert es die Übersetzung des Wortes, das im Griechischen steht (sic enim exigit interpretatio vocabuli quod in Graeco est) -, denn ihrer ist das Reich Gottes« (4,14,1). Klarer lässt sich eigentlich nicht zeigen, dass Tertullians *Ev-Vorlage griechisch war. 28 Von diesen fünf Beispielen Harnacks lässt sich bestenfalls das erste als Beleg für einen lateinischen *Ev-Text in Erwägung ziehen, die folgenden drei legen dagegen ______________________________ 26 Tert. 4,21,8: salvas facit animas trium fratrum, qui eas pro deo perdere conspiraverant, Chaldaeorum vero perdidit, quas illi per idololatriam salvas facere maluerant. 27 H ARNACK 180*, mit Verweis auf Tert. 4,23,2. 28 H ARNACK 180f* (mit der Erklärung zu *6,20, warum Tert. eben doch einen lateinischen *Ev-Text hatte). Vergleichbare Hinweise auf den griechischen Bibeltext gibt Tertullian in Buch 4 noch zweimal in Bezug auf das AT: 4,8,4 (zu Jes 53,4); 4,11,8 (zu Cant 4,8). 78 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche eher eine griechische Vorlage nahe, wie sie dann im letzten Beispiel auch direkt vorausgesetzt ist: Harnacks Argumentation erscheint mehr als gesucht. Damit ist nicht gesagt, dass es keinen lateinischen *Ev-Text gegeben habe, sondern nur, dass Tertullian einen solchen nicht benutzte und dass Harnacks Belege seine anders lautende These nicht tragen. Für ein begründetes Urteil müssten alle Hinweise - über Adv. Marc. 4 hinaus - untersucht werden. 29 Aber immerhin lässt sich mit guten Gründen vertreten, dass die Beweislast nach wie vor bei der Annahme eines lateinischen *Ev-Textes liegt. Denn das direkte Zeugnis in Adv. Marc. 4 setzt neben 4,14,1f an mindestens einer weiteren Stelle eindeutig ein griechisches *Ev-Exemplar voraus: In seiner Besprechung von *9,41 zitiert Tertullian aus *Ev (*7,19 σὺ εἶ ὁ ἐρχόμενος) - und zwar auf Griechisch. 30 Tertullian hat also auf jeden Fall einen griechischen *Ev-Text besessen; dass er daneben auch einen lateinischen Text kannte, ist zweifelhaft und lässt sich nicht nachweisen. Angesichts dieser Lage spricht dann doch einiges für Zahns Urteil, der Tertullians Übersetzungsvarianten rechtfertigt: »Aber was sollte ihn, der besser griechisch verstand als Einer von uns, der selbst als griechischer Schriftsteller aufgetreten war, und der bei seinen Übersetzungen aus Mrc. häufig nach dem zutreffendsten Ausdruck sucht, verführt haben, ›fälschlich zu übersetzen‹? « 31 Bis zum Erweis des Gegenteils (der eine systematische und vollständige Analyse von Tertullians Zitierpraxis und seiner Mehrfachzitate erfordern würde) ist es daher geboten, für die Rekonstruktion von *Ev auf die Annahme eines lateinischen *Ev- Textes zu verzichten: Ich gehe davon aus, dass Tertullian - genau wie Epiphanius und Adamantius - einen griechischen *Ev-Text hatte. ______________________________ 29 A. J. B. H IGGINS , The Latin Text of Luke in Marcion and Tertullian, VigChr 5 (1951), 1-42, hat eine Liste mit ca. 60 Wortschatzvarianten zwischen Zitaten aus *Ev und Tertullians eigenen Formulierungen aufgestellt, aus denen er auf eine lateinische Vorlage schließt. Wie vollständig diese Liste ist (und ob sie tatsächlich den fälligen Beweis erbringt), habe ich nicht geprüft; immerhin ist zu notieren, dass Higgins angesichts der von Quispel beigebrachten Gegenargumente sich auf von Sodens Liste der Belege beschränkt (H IGGINS , a. a. O. 9f; vgl. H. VON S ODEN , Der lateinische Paulustext bei Marcion und Tertullian, in: Festgabe für Adolf Jülicher, Tübingen 1927, 229-281: 229ff). 30 4,23,1: Quisquis es, ἐπερχόμενε, prius ede quis sis, et a quo venias, et quod in nobis tibi ius, vgl. 4,25,7. S. auch Tert. 4,9,3 mit einem Zitat, das möglicherweise aus den Antithesen stammt. 31 T H . Z AHN , Geschichte des Neutestamentlichen Kanons II, Leipzig 1892, 452 (hier bei der Behandlung von *6,36 gegen A. H ILGENFELD , Kritische Untersuchungen über die Evangelien Justin’s, Halle 1850, 406). § 5: Der Text von *Ev und die kanonische Textüberlieferung Das größte Problem, das der für *Ev bezeugte Text aufwirft, besteht allerdings in der erstaunlich großen Zahl von Übereinstimmungen mit dem Text der Handschriften des sog. »Westlichen Textes« für das kanonische Lk-Evangelium. 1 Harnack gab ihre Zahl mit 200 bis 300 an 2 und lag mit dieser Schätzung noch zu niedrig. Die absolute Zahl dieser Übereinstimmungen ist, für sich genommen, jedoch wenig aussagekräftig: Die Größe des durch die Übereinstimmungen aufgeworfenen Problems ist zum einen abhängig von der Vergleichsbasis, zum anderen von der Gesamtzahl der für *Ev bezeugten Varianten. Beide Größen sind allerdings relativ: Einerseits enthalten alle Textausgaben, die als Vergleichsbasis in Frage kommen (also vor allem: Tischendorf, NT VIII ; der Textus Receptus von 1873, der der IGNTP-Ausgabe zugrunde liegt; NA 27 / GNT 4 ), einen eklektischen Text, dessen Gestalt von den Entscheidungen der jeweiligen Herausgeber abhängig ist. Andererseits ist das Größenverhältnis natürlich davon abhängig, was genau als Variante definiert wird. Zur Umgehung dieser Unsicherheiten liegt den weiteren Überlegungen der Befund der Variantenliste in Anhang III zugrunde: Sie verzeichnet die Varianten des von Tertullian, Epiphanius und Adamantius bezeugten *Ev- Textes gegenüber dem Text der gängigen kritischen Ausgaben (NA 27 / GNT 4 ), 3 und zwar nicht, weil deren Text »besser« ist als der anderer Ausgaben, sondern weil er sehr viel weiter verbreitet ist und sich daher als Arbeitsgrundlage anbietet. Die Variantenliste gibt darüber hinaus zu erkennen, welche Varianten genau als solche gerechnet sind: Für dieses Urteil gibt es keine objektiven Kriterien, weil die Trennlinie zwischen »echten«, semantisch relevanten, und kleineren, semantisch ______________________________ 1 Dass der »Westliche Text« weder wirklich »westlich« ist, wie die zahlreichen Berührungen zur syrischen (und ägyptischen) Textüberlieferung zeigen, noch eine einheitliche Größe darstellt, wie die Unterschiede vor allem zwischen Codex Bezae, der altlateinischen sowie der altsyrischen Überlieferung belegen, ist in der Textforschung längst ebenso anerkannt wie der Umstand, dass Lesarten, die noch vor 100 Jahren als distinkt »Westlich« galten, in zahlreichen anderen Texten bezeugt sind, vor allem im P 75 . Vgl. nur J. N. B IRDSALL , The Western Text in the Second Century, in: W. L. Petersen (ed.), Gospel Traditions in the Second Century, Notre Dame - London 1990, 3-17; K. A LAND , Die Bedeutung des P 75 für den Text des Neuen Testaments, in: ders., Studien zur Überlieferung des Neuen Testaments und seines Textes, Berlin 1967, 155-172; J. D UPLACY , P 75 (Pap. Bodmer XIV- XV) et les formes les plus anciennes du texte de Luc, in: Fr. Neirynck (ed.), L’Évangile de Luc, Leuven 2 1989, 111-128. Ich benutze die Bezeichnung »Westlicher Text« (und das Sigel W ) daher in erster Linie als etablierten Sammelbegriff (für D it sy), ohne damit eine bestimmte textkritische Theorie zu verbinden; bei der Behandlung textkritischer Fragen sind die Handschriften einzeln aufgeführt. 2 H ARNACK 243* (gegen den Text von Tischendorf, NT VIII als Vergleichsgrundlage). Dass das gleiche Phänomen (in geringerem Umfang) auch für den marcionitischen Paulustext vorliegt, sei hier nur erwähnt (vgl. H ARNACK 152* Anm. 1). 3 NA 28 (2012) bietet für Lk denselben Text wie NA 27 , aber einen umgestalteten Apparat mit deutlich weniger Informationen. Die gelegentlichen Verweisungen auf den Apparat beziehen sich daher immer auf NA 27 . 80 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche unwirksamen oder unerheblichen Varianten häufig unscharf ist und verschieden beurteilt werden kann. Auf der Grundlage dieser Variantenliste stellt sich das Problem der Übereinstimmungen zwischen dem für *Ev bezeugten Text und dem Text der kritischen Ausgaben folgendermaßen dar: Von den insgesamt 566 Varianten, die einer oder mehrere der Hauptzeugen für *Ev gegenüber dem Text von NA 27 belegen, besitzen 338, also rund 60 %, eine Entsprechung in einer oder mehrerer Handschriften, die üblicherweise dem »Westlichen Text« zugerechnet werden (D it sy). In weiteren 75 Fällen (also rund 13 %) gibt es Entsprechungen in den griechischen Handschriften bzw. in den Zeugen der orientalischen, vor allem der koptischen und äthiopischen Versionen. Nur 153 aller Varianten in *Ev gegenüber den kritischen Lk-Ausgaben (knapp 27 %) besitzen überhaupt keine Entsprechung innerhalb der kanonischen Textüberlieferung. 4 Dass deutlich mehr als die Hälfte der Varianten von *Ev gegenüber dem Lk-Evangelium Entsprechungen in der »Westlichen« Handschriftenüberlieferung besitzen, ist einigermaßen erstaunlich. Harnack zog aus diesem Phänomen den naheliegenden Schluss: »M.’s griechischer und lateinischer Text des LukasEv. … ist ein reiner W - Text«. 5 Für Harnack besagte diese Einsicht in Berührungen zwischen *Ev und dem »Westlichen Text«zunächst nur, dass der Text, den Marcion seiner angenommenen Revision zugrunde legte, ein Exemplar der Familie des W -Textes gewesen sein musste. In der Tat ist das Ausmaß der Berührungen so groß, dass für Harnack eine andere Erklärung kaum denkbar war: »Wo kämen wir hin, wenn wir alle Sonderlesarten des westlichen Textes dem Marcion als Urheber zuwiesen? « 6 1. Die These eines Einflusses von *Ev auf den »Westlichen Text« Harnacks Annahme, dass Marcion seiner angeblichen Revision des kanonischen Lk eine Handschrift des »Westlichen Textes« zugrunde legte und von dort eben auch »Westliche« Lesarten übernahm, ist im Rahmen seiner methodischen Grundannahme der Lk-Priorität ohne weiteres nachvollziehbar. Allerdings hatte Harnack darüber hinaus auch einen Einfluss von *Ev auf den »Westlichen Text« behauptet. Für Harnack spielten die engen Berührungen zwischen *Ev und den »Westlichen« Handschriften deshalb eine so große Rolle, weil er darin die Möglichkeit sah, Lücken in der Bezeugung von *Ev aus dem W -Text zu interpolieren: Harnacks zu ______________________________ 4 In der Liste in Anhang III ist die Zuordnung der Varianten zu einer dieser Gruppen markiert: ❶ zeigt das Fehlen von Analogien an, ❷ die Übereinstimmung mit D it sy, ❸ mit den orientalischen Versionen (sy co aeth georg), ❹ mit der griechischen Überlieferung. 5 H ARNACK 242* (Hervorhebung im Original). 6 H ARNACK 162*. § 5: Der Text von *Ev und die kanonische Textüberlieferung 81 Recht häufig kritisierte Großzügigkeit bei der Rekonstruktion von Marcions Bibel geht zu einem guten Teil auf diese Interpolationen zurück. Ein charakteristisches Beispiel ist Harnacks Vorgehen zu Lk 5,39. Das Logion von der Bevorzugung des alten Weins ist für *Ev unbezeugt: Aus Tertullians und Epiphanius’ Referaten allein lässt sich daher kein Urteil darüber fällen, ob sie diesen Vers nur übergangen oder ob sie ihn gar nicht in *Ev gelesen hatten. Da Lk 5,39 in einer Reihe »Westlicher« Handschriften fehlt (D a b c d e ſſ 2* l; außerdem Euseb; Iren), schloss Harnack, dass der Vers auch in *Ev gefehlt haben müsse: »Er ist echt und von Marcion gestrichen, und dies ist in die abendländische Überlieferung eingedrungen.« 7 Dieses Verfahren lässt sich bei Harnack häufig beobachten; in etlichen Fällen wird in seiner *Ev-Rekonstruktion nicht einmal deutlich, ob sein Urteil über einen Text von Tertullian und Epiphanius gestützt wird oder nur auf einer Interpolation per Analogieschluss aus der »Westlichen« Textüberlieferung beruht. Diese großzügige Interpolationspraxis belastet Harnacks Rekonstruktion des marcionitischen Textes in erheblichem Ausmaß und wurde in jüngster Zeit verschiedentlich kritisiert. 8 Die methodische Voraussetzung für dieses Verfahren bildete Harnacks Unterscheidung zwischen »neutralen« und »tendenziösen« Übereinstimmungen zwischen *Ev und dem »Westlichen« Text: Während die große Masse der übereinstimmenden »neutralen« Abweichungen vom Mehrheitstext einfach auf Marcions Benutzung einer »Westlichen« Vorlage beruhe, gebe es auch andere Übereinstimmungen, die auf die »absichtlichen und tendenziösen Korrekturen« 9 Marcions zurückgingen. Harnack rechnete also nicht nur damit, dass Marcion (unwillkürlich) »Westliche« Lesarten aus der Vorlage seiner Bearbeitung übernahm, sondern postulierte außerdem, dass der von Marcion redigierte Text seinerseits einen Einfluss auf die kanonische Textüberlieferung ausgeübt habe, sodass einige seiner »tendenziösen« Änderungen ihren Niederschlag in den entsprechenden Handschriften (vor allem des »Westlichen Textes«) gefunden hätten, also z. B. in *5,39. In dieser Ansicht sind auch andere Harnack gefolgt. 10 Allerdings ist diese Unterscheidung zwischen »neutralen« und ______________________________ 7 H ARNACK 190*. 8 Zu Recht kritisiert von U. B. S CHMID , How Can We Access Second Century Texts? The Cases of Marcion and Tatian, in: C.-B. Amphoux, J. K. Elliott (eds.), The New Testament Text in Early Christianity, Lausanne 2003, 139-150: 142f: »This is simply creating positive evidence … out of no evidence at all.« Diese Kritik ist berechtigt, trifft aber auch andere: So rechnet Kurt Aland *Ev ohne weiteres zu den Zeugen für die Auslassung von *5,39: Vgl. K. A LAND , Die Bedeutung des P 75 für den Text des Neuen Testaments, in: ders., Studien zur Überlieferung des Neuen Testaments und seines Textes, Berlin 1967, 155-172: 159 (vgl. dazu u. S. 120 mit Anm. 89f). 9 H ARNACK 246* (Hervorhebung M. K.). 10 Vgl. etwa H. L IETZMANN , Rm 14f: In der Mitte bzw. in der zweiten Hälfte des 2. Jh. hätten marcionitische Prediger »ihren« Paulustext ins Lateinische übersetzt; »diese Übersetzung hat dann die katholische Kirche übernommen und ihrem Text angeglichen, aber doch nicht überall die Spuren des Ursprungs verwischen können.« Ähnlich auch H. V OGELS , Der Einfluß Marcions und 82 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche »tendenziösen« Übereinstimmungen in hohem Maß problematisch, denn sie ist methodisch nicht kontrollierbar: Was unterscheidet beide voneinander, wenn nicht eine sehr bestimmte Vorstellung von der spezifischen marcionitischen Theologie, die zu den angeblichen Emendationen in *Ev geführt habe? Vor allem ist aber die zugrunde liegende Vorstellung, dass der von Marcion emendierte Text einen nennenswerten Einfluss auf die kanonische Textüberlieferung ausgeübt haben soll, nachgerade halsbrecherisch. Denn sie setzt voraus, dass ausgerechnet die »tendenziösen« Änderungen des Erzketzers den kanonischen Text beeinflusst haben sollen, obwohl doch von Justin und Irenaeus an nicht nur die Theologie, sondern vor allem der Text Marcions im Fokus der Häresiologen stand und Marcion wie kein zweiter wegen der »Verstümmelung« und »Verfälschung« seines Textes auf das heftigste bekämpft wurde! Wie schon Theodor Zahn sehr richtig gesehen hatte, ist dies völlig undenkbar. 11 Dass Harnack sich überhaupt auf eine derartig gewagte These eingelassen hat, ist nur aus seinem Interesse an den theologischen Emendationen Marcions zu erklären. Dies zeigt seine eigene (erstaunlich kurze) Liste der »tendenziösen« Übereinstimmungen zwischen *Ev und dem »Westlichen Text«. 12 Interessanterweise sind von den sieben Beispielen gleich fünf für *Ev überhaupt nicht bezeugt; in diesen Fällen handelt es sich um die für Harnacks Verfahren charakteristischen Interpolationen aus dem »Westlichen Text«: 5,39 καὶ οὐδεὶς πιὼν παλαιὸν θέλει νέον· λέγει γάρ, ῾Ο παλαιὸς χρηστός ἐστιν: om D a b c d e ſſ 2 l r 1 . Für *Ev nicht bezeugt. 24,12 ὁ δὲ Πέτρος ἀναστὰς ἔδραμεν ἐπὶ τὸ μνημεῖον, καὶ παρακύψας βλέπει τὰ ὀθόνια μόνα· καὶ ἀπῆλθεν πρὸς ἑαυτὸν θαυμάζων τὸ γεγονός: om D a b d e l r 1 g 1 gat. Für *Ev nicht bezeugt. 24,40 καὶ τοῦτο εἰπὼν ἔδειξεν αὐτοῖς τὰς χεῖρας καὶ τοὺς πόδας: om D a b d e ſſ 2 l r 1 sy s.c . Für *Ev nicht bezeugt. 22,43f (der Engel und die Agonie in Gethsemane): om P 69.75 א 1 A B N R T W 0211 69 124 158 543 579 713 788 1071* ℓ 844 f sy s.h sa bo. Für *Ev nicht bezeugt. 13 9,54b ὧς καὶ ᾿Ηλίας ἐποίησεν: om P 45.75 א B L Ξ 157 579 700 1241 1342 aur e g 1 gat l vg sy s.c sa bo mss . Durch Tert. 4,23,8 für *Ev bezeugt. ______________________________ Tatians auf Text und Kanon des Neuen Testaments, in: ders. (Hg.), Synoptische Studien, München 1953, 278-289; A LAND , a. a. O. 11 T H . Z AHN , Geschichte des Neutestamentlichen Kanons I, Erlangen - Leipzig 1889, 638. Vgl. ebd. 681: »Der bewußte Haß der Kirche gegen den Antichristen und Schriftenverfälscher Marcion macht es undenkbar, daß man in kirchlichen Kreisen dem marcionitischen Bibeltext einen positiven Einfluß auf die Gestaltung des kirchlichen einräumte.« 12 H ARNACK 247*f. 13 Diese Überlieferung ist »sicher echt, und M. hat sie aus dogmatischen Gründen getilgt. Ob der alexandrinische Text durch ihn beeinflußt worden ist oder die Alexandriner spontan Anstoß genommen haben, läßt sich nicht entscheiden; ersteres ist mir wahrscheinlich« (H ARNACK , ebd.). § 5: Der Text von *Ev und die kanonische Textüberlieferung 83 9,55b.56a καὶ εἶπεν· οὐκ οἴδατε οἵου πνεύματός ἐστε ὑμεῖς. ὁ γὰρ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου οὐκ ἦλθεν ψυχὰς τῶν ἀνθρώπων ἀπολέσαι, ἀλλὰ σῶσαι: om P 45.75 א A B C E G H L V W X Δ Ξ Ψ Ω 028 047 0211 mult lectt g 1 gat l sy s sa aeth mss . Die Bezeugung für 9,55b ist unklar (s. die Rekonstruktion z. St.); 9,56 ist für *Ev nicht bezeugt. 14 23,34a ὁ δὲ ᾿Ιησοῦς ἔλεγεν, Πάτερ, ἄϕες αὐτοῖς, οὐ γὰρ οἴδασιν τί ποιοῦσιν: om P 75 א c B D* W Θ 0124 579 1241 a b c d sy s sa bo (mss) . Für *Ev nicht bezeugt. 15 Diese Liste ist uneinheitlich: Die drei letzten Beispiele, von denen wenigstens eines für *Ev bezeugt ist, sind außer durch »Westliche« noch durch eine Reihe anderer Handschriften belegt. Diese Beispiele belegen also keine spezifisch »Westlichen« Lesarten. Unter Harnacks Annahme eines Einflusses von *Ev auf den W -Text hätte dieser Einfluss einen Großteil der gesamten Handschriftenüberlieferung betroffen, was insgesamt noch weniger wahrscheinlich ist als ein Einfluss (nur) auf den W - Text. Die ersten drei Belege sind dagegen Beispiele für die klassischen Western Non- Interpolations. Allerdings sind sie, genau wie 22,43f und 23,34a, für *Ev überhaupt nicht bezeugt: Hier hat Harnack also seine Theorie schlicht in einer Weise verallgemeinert, dass ihm ein tatsächlicher Beleg aus dem Text von *Ev verzichtbar erschien. Die methodische Kritik an diesem Verfahren ist bereits erwähnt (s. o. Anm. 8). Dass Harnack einen positiven Einfluss von *Ev auf die katholische Handschriftenüberlieferung postulierte, ist - sofern man seine Annahmen für die angeblich dogmatisch induzierten, tendenziösen Änderungen teilt - zwar vom Inhalt dieser Passagen her nachvollziehbar, lässt sich aber nicht methodisch absichern: Im einen Fall handelt es sich nicht um distinkt »Westliche« Lesarten, im anderen Fall gibt es keine Bezeugung für *Ev. Dies ist anders bei *23,2, dem letzten Beispiel aus Harnacks Liste, das schon für die Frage der »nicht-lk« Texte in *Ev eine wesentliche Rolle gespielt hat. Denn die Übereinstimmungen zwischen *Ev und den »Westlichen« Zeugen sind für *23,2 durch Epiphanius eindeutig bezeugt. Dieses Beispiel ist in mehrfacher Hinsicht von größter methodischer Bedeutung. Denn im Unterschied zu den anderen Belegen, die ja durchweg »negative« Übereinstimmungen zwischen *Ev und W gegen den Mehrheitstext erweisen, handelt es sich hier um »positive« Übereinstimmungen: *Ev bietet zusammen mit wichtigen W -Handschriften einen längeren als den ______________________________ 14 »Da die Stücke höchstwahrscheinlich bei M. standen und ausgezeichnet zu seiner Lehre passen, sind sie von ihm hinzugefügt und nun in die katholischen Mss. gedrungen. Wahrscheinlich gilt dies auch von dem Satz 9,56 […] leider fehlt uns hier der Marcion-Text; aber angesichts der überwältigenden Zahl von Zeugen gegen diesen Vers, kann er nicht ursprünglich sein. Wer aber sollte ihn hinzugefügt haben, wenn nicht M.? « (H ARNACK 248*). 15 Harnack hielt diese Passage für einen marcionitischen Zusatz, der in vielen Handschriften enthalten ist (darunter: A B D c d f ſſ 2 l vg). Denn dass dieses Stück, »obgleich ursprünglich, getilgt worden ist, ist ganz undenkbar« - folglich ist es »von M. hinzugesetzt« und von da in einen Teil der Handschriften eingedrungen (H ARNACK 248*). 84 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche kanonischen Mehrheitstext. Epiphanius hat diese Differenzen im Horizont der Lk- Priorität als »Zusätze« Marcions zum kanonischen Text aufgefasst. Die Bezeugung stellt sich folgendermaßen dar. Im Verhör Jesu vor Pilatus bezeugt Epiphanius für die Anklage gegen Jesus gleich zwei solcher »Zusätze«: »Er setzte aber nach dem ›Wir haben gefunden, dass dieser das Volk verführt‹ hinzu: ›Und dass er das Gesetz und die Propheten auflöst‹. - »Zusatz nach dem ›Er hat befohlen, keine Steuern zu zahlen‹: ›Und er machte die Frauen und Kinder abspenstig‹.« 16 Diese »Zusätze« sind auch in der altlateinischen Handschriftenüberlieferung bezeugt. Der erste erscheint mit kleineren Abweichungen in b c e ſſ 2 gat i l q vg, der zweite ist in c und e mit einer zusätzlichen Begründung in 23,5 belegt, stammt aber ursprünglich mit hoher Wahrscheinlichkeit aus der Reihe der Vorwürfe gegen Jesus in *23,2. 17 Diese positive Übereinstimmung wiegt schwer. Denn auf der einen Seite beweist sie, dass es in der Tat eine sehr enge Beziehung zwischen der altlateinischen Überlieferung und *Ev gibt, die über die kleinen oder »neutralen« Übereinstimmungen hinausgeht. Auf der anderen Seite ist dieses Beispiel vor allem deswegen aufschlussreich, weil die Abweichung gegenüber dem Mehrheitstext nicht nur nicht zu der angenommenen redaktionellen Intention Marcions passt, sondern dieser diametral widerspricht. Denn wenn Marcion tatsächlich daran interessiert gewesen wäre, seinen Jesus in Distanz zu »Gesetz und Propheten« zu bringen, dann hätte er natürlich den Vorwurf, Jesus habe Gesetz und Propheten aufgelöst, unter keinen Umständen unter die falschen Anklagen einreihen dürfen, sondern ihn positiv besonders herausstellen müssen; Adamantius und Isidor von Pelusium haben dies in ihrer Marcionrezeption ja auch sehr pointiert getan. Harnack und andere haben diesen Umstand, der ihrer These der Lk-Priorität und der damit verbundenen marcionitischen Redaktion so deutlich entgegensteht, nicht kommentiert. Harnacks Bestimmung des Verhältnisses zwischen *Ev und dem W -Text führt also am Ende in ein Dilemma, weil sich die einzelnen Beobachtungen im Horizont der traditionellen Theorie der Lk-Priorität nicht bruchlos aufeinander beziehen lassen: (a) Es gibt eine Vielzahl von kleineren und größeren Berührungen zwischen *Ev und dem »Westlichen Text«, die sich in etlichen Fällen durch die Bezeugung nachweisen, in anderen wenigstens vermuten lassen. (b) Dabei gibt es keine methodisch belastbare Möglichkeit der Distinktion zwischen den kleineren »neutralen« und den größeren »tendenziösen« Übereinstimmungen. Damit entfällt auch die Möglichkeit, zwischen dem Einfluss des W -Textes auf *Ev und dem Einfluss von *Ev auf den W -Text zu unterscheiden. (c) Gleichwohl bestand Harnack auf der ______________________________ 16 Epiph., Schol. 69: Προσέθετο μετὰ τό Τοῦτον εὕραμεν διαστρέϕοντα τὸ ἔθνος· Καὶ καταλύοντα τὸν νόμον καὶ τοὺς προϕήτας. Schol. 70: Προσθήκη μετὰ τό Κελεύοντα ϕόρους μὴ δοῦναι· Καὶ ἀποστρέϕοντα τὰς γυναῖκας καὶ τὰ τέκνα. 17 Vgl. im Einzelnen die Rekonstruktion z. St. (Anhang I). § 5: Der Text von *Ev und die kanonische Textüberlieferung 85 Annahme »tendenziöser« Eingriffe, weil er an dem entsprechenden Marcionbild der häresiologischen Literatur und der Lk-Priorität ohne jeden Zweifel festhalten wollte. Aber erst die Interpolationen aus der »Westlichen« Überlieferung verbreitern die Textbasis für die »tendenziösen« Emendationen in einer solchen Weise, dass für Marcions Redaktion ein erkennbares theologisches Profil sichtbar wird. (d) Allerdings ist ausgerechnet für die einzig nachweisbare Berührung zwischen *Ev und dem »Westlichen Text« in Harnacks Liste eine dogmatisch induzierte Interpolation durch Marcion völlig unwahrscheinlich. An dieser Stelle bleibt also ein Dilemma, das weitaus gravierender ist als die Frage nach den Berührungen zwischen *Ev und dem »Westlichen Text«. Es macht auf ein Problem aufmerksam, das die Textkritik der letzten 50 Jahre unter dem Einfluss der Entdeckung des P 75 ganz weitgehend hinter sich gelassen zu haben glaubte: Die Frage nach dem Ursprung der »Westlichen« Lesarten. 2. *Ev und der Text des ältesten, vorkanonischen Evangeliums »Wo kämen wir hin, wenn wir alle Sonderlesarten des westlichen Textes dem Marcion als Urheber zuwiesen? « 18 Mit dieser rhetorischen Frage glaubte Harnack die Notwendigkeit einer Unterscheidung von neutralen und tendenziösen Änderungen hinreichend begründet zu haben. Seine Denkfigur ist nachvollziehbar: Wäre man auf diese Distinktion zu verzichten genötigt, erschiene die übergroße Zahl Übereinstimmungen zwischen *Ev und den »Westlichen« Handschriften gegen den Mehrheitstext als einheitliches Phänomen, das nach Harnacks methodischer Überzeugung nur in Marcions Redaktion des kanonischen Textes liegen konnte, die dann in größter Breite den »Westlichen Text« beeinflusst hätte. Dies ist in der Tat nicht denkbar. a. *Ev als vorkanonischer Text Die folgenden Überlegungen nehmen Harnacks rhetorische Frage ernst, wenn auch unter veränderten methodischen Vorzeichen. Zu fragen ist daher: Wo käme man hin, wenn alle Sonderlesarten des »Westlichen Textes« ein Kennzeichen von *Ev wären? Für die Antwort sind an dieser Stelle im Vorgriff auf später darzulegende Ergebnisse zwei wesentliche methodische Voraussetzungen zu nennen. Die erste Voraussetzung betrifft das literarkritische Verhältnis zwischen *Ev und Lk: Die Bearbeitungsrichtung verläuft nicht (wie Harnack ganz selbstverständlich annahm) von Lk zu *Ev. Vielmehr hat das kanonische Lk-Evangelium das ältere *Ev redaktionell bearbeitet und ergänzt. Diese *Ev-Priorität vor Lk wird im folgenden Teil III begründet und dann in der Rekonstruktion (Anhang I) für jede Einzelperikope ______________________________ 18 H ARNACK 162*. 86 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche detailliert untersucht und nachgewiesen. Die zweite Voraussetzung besagt: *Ev ist nicht nur ein vorlukanischer, sondern ein vorkanonischer Text. Er lag allen vier kanonischen Evangelien voraus und wurde auch von allen benutzt. Diese These greift auf Ergebnisse voraus, die in der überlieferungsgeschichtlichen Skizze (Teil IV) begründet und durch zahlreiche Einzelbeobachtungen der Rekonstruktion (Anhang I) gestützt werden. Diese beiden Voraussetzungen verändern die Rahmenbedingungen, innerhalb derer die textgeschichtlichen Beobachtungen zu interpretieren sind. Denn in dieser Perspektive erscheint *Ev als eine Art »Urevangelium«. Seine textliche Gestalt scheint in den Varianten der Handschriften (vor allem, aber nicht nur) des »Westlichen Textes« noch durch. Diese These, die erst durch die weiteren Untersuchungen besser zu begründen ist, eröffnet den Raum für zwei Überlegungen: Zunächst bietet sie eine Erklärung für die zahlreichen Analogien zwischen dem Text der altlateinischen und der altsyrischen Überlieferung, die ja bis in die Textgestalt von Tatians Diatessaron hineinreichen. Denn sofern es eine breite, wenn auch variable, vorkanonische Textbasis für dieses Evangelium gegeben hat, müssen diese Gemeinsamkeiten der Vetus Latina und der Vetus Syra nicht durch das Nadelöhr einer Transmission durch Tatian vermittelt worden sein, um eine so breit gestreute Wirkung entfalten zu können. Auch der Umstand, dass Tatians Diatessaron auf eine Sammlung aus vier Evangelien reagierte und durch die redaktionelle Zusammenführung wieder ein Evangelium herstellte, lässt sich leichter erklären, wenn es (auch in Syrien) schon die lange und feste Tradition von einem Evangelium gab, das weite Verbreitung gefunden hatte. Die frappierende Beobachtung, dass schon sehr früh (nämlich bereits im 2. Jh.) die distinkt »Westlichen« Lesarten sowohl im lateinischen Westen als auch im syrischen Osten begegnen, findet auf diese Weise eine einfache Erklärung. Zu der Annahme, dass dieses urtümliche Evangelium schon früh große Verbreitung gefunden hatte, passt sodann die Beobachtung des Origenes, dass kein anderes Evangelium so intensiv von den Häretikern genutzt wurde wie das Lk- Evangelium: »Es gibt nämlich zahllose Häresien, die das Evangelium nach Lukas rezipieren.« 19 Dass diese Häretiker jedoch das kanonische Lk-Evangelium benutzt haben, ist wenig wahrscheinlich: Sie müssten es ja - ganz analog zu dem antimarcionitischen Vorwurf seit Irenaeus und Tertullian - als mit ihrer spezifischen Theologie korrespondierend erkannt und aus dem kanonischen Vier-Evangelienbuch herausgelöst haben. Dass aber außer den Marcioniten noch innumerabiles haereses ______________________________ 19 Origenes, Hom. in Lc 16,5: innumerabiles quippe haereses sunt, quae evangelium secundum Lucam recipiunt (GCS 49, 97,12f = FC 4/ 1, 188,6f). Vgl. dazu Iren., Haer. 3,15,1f: Irenaeus führt als Beispiel für Häretiker, die nur Lk, nicht aber Act rezipieren, die Valentinianer an. § 5: Der Text von *Ev und die kanonische Textüberlieferung 87 ihre je eigene, spezifische Theologie gerade durch das kanonische Lk-Evangelium repräsentiert gesehen haben sollen, ist schon deswegen wenig wahrscheinlich, weil ihre (aus katholischer Sicht: häretische) Theologie dem kanonischen Text ja keineswegs entsprochen haben wird. Es ist daher wenig überraschend, dass Origenes gegen »alle Häretiker, die das Evangelium nach Lukas benutzen« den Vorwurf des Selbstwiderspruchs zwischen ihrer Theologie und ihrer Textgrundlage erhebt, der aus der antimarcionitischen Kritik bekannt ist: Sie »verachten, was in ihm geschrieben ist.« 20 Es gibt also eine weitreichende Parallelität der häresiologischen Kritik gegenüber Marcion und den Marcioniten auf der einen Seite und »allen anderen Häretikern«, die Origenes erwähnt, auf der anderen: Alle Häretiker benutzen das Lk-Evangelium, und alle »verachten« seine kanonische Gestalt, was aus der Sicht der katholischen Häresiologen besagt: Sie verändern seinen Text. Will man nicht annehmen, dass Origenes mit dem Hinweis auf innumerabiles haereses und omnes haeretici nur die Marcioniten im Blick hat und maßlos übertreibt, dann belegen seine Äußerungen ein verbreitetes und über die Marcioniten hinausreichendes Phänomen: Die »Häretiker« sind (vermutlich nicht ausschließlich, aber doch in erster Linie) dadurch charakterisiert, dass sie nicht das kanonische Vier-Evangelienbuch lesen, sondern ein anderes, dem kanonischen Lk weitgehend ähnliches Evangelium. Das katholische Christentum der Häresiologen von Irenaeus über Tertullian bis zu Origenes und darüber hinaus ist wesentlich ein kanonisches Christentum, das sich in erster Linie über die gemeinsame Schriftgrundlage definiert und darin von anderen Gruppen mit einem anderen Evangelium unterscheidet: Die »Häretiker« haben die Bearbeitung von *Ev durch die lk Redaktion nicht mitvollzogen, sondern an dem ihnen bekannten Evangelium festgehalten und es weiter rezipiert. Der von Tertullian mitgeteilte Vorwurf der Marcioniten gegenüber den katholischen Christen, diese hätten das Evangelium verfälscht, erhält von hier aus eine weitere Bestätigung. 21 b. Interferenzen zwischen der vorkanonischen und der kanonischen Überlieferung Unter der methodischen Prämisse, dass das marcionitische Evangelium einen älteren, vorkanonischen Evangelientext repräsentiert, erhalten die zahlreichen Übereinstimmungen zwischen *Ev und dem »Westlichen Text« ein neues Gewicht und erlauben eine Reihe von weiterführenden Einsichten. Die erste und wichtigste bezieht sich auf das bereits vermerkte Phänomen, dass es in der Bezeugung für *Ev teilweise erhebliche Unterschiede und Widersprüche gibt: In knapp zwei Dritteln ______________________________ 20 Orig., Hom. in Lc 20,2: erubescant omnes haeretici qui evangelium recipiunt secundum Lucam et, quae in eo sunt scripta, contemnunt (GCS 49, 120,7ff = FC 4/ 1, 224,24ff). Ein Beispiel ist Lk 20,38: Origenes bezeugt, dass dieser Vers außer in der marcionitischen Bibel auch bei den Valentinianern gefehlt habe (Hom. in Lc, fr. 91, FC 4/ 2 = fr. 242, GCS 49). 21 Vgl. dazu o. S. 39ff. 88 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche der Zeugnisse für *Ev referieren die Hauptzeugen einen unterschiedlichen Text. 22 Für die Mehrzahl dieser widersprüchlichen Bezeugungen gibt es allerdings Entsprechungen innerhalb der kanonischen Textüberlieferung. Dieses Phänomen und seine Bedeutung sind an einigen Beispielen zu illustrieren: 1. Im Zusammenhang der Heilung des Aussätzigen bezeugt Epiphanius (Schol. 1) für *5,14b den kanonischen Mehrheitstext: προσένεγκε π ε ρ ὶ τ ο ῦ κ α θ α ρ ι σ μ ο ῦ σ ο υ κ α θ ὼ ς προσέταξεν Μωϋσῆς. Tertullian hat dagegen die kürzere Formulierung προσένεγκε τ ὸ δ ῶ ρ ο ν ὃ προσέταξεν Μωϋσῆς (4,4,9: offer munus quod praecepit Moyses). Diese Lesart findet sich auch innerhalb der kanonischen Textüberlieferung, und zwar in X 213 2487 b c sy p(mss) . Die Unterschiede in der Bezeugung für *Ev durch Epiphanius und Tertullian besitzen also in den Unterschieden der kanonischen Textüberlieferung ein genaues Pendant. Der semantische Unterschied der Varianten ist nur auf den ersten Blick geringfügig: Die von Epiphanius bezeugte Mehrheitslesart fordert zur Darbringung des Reinigungsopfers (καθαρισμός) auf, wie Mose vorgeschrieben hatte, nach der von Tertullian it sy usw. bezeugten Variante soll der Geheilte dagegen das Opfer darbringen, das Mose vorgeschrieben hat: In beiden Fällen kann es sich nur um das Reinigungsopfer nach Lev 14,1ff handeln. Die Lesart des Mehrheitstextes ist jedoch erkennbar spezifischer und setzt mit dem term. techn. καθαρισμός nicht nur die Kenntnis der Sache, sondern wohl auch des Textes von Lev 14 voraus (vgl. 14,32 LXX καθαρισμός). 2. In der Erzählung von der Salbung durch die Sünderin fasst Tertullian die Liebeserweise der Frau *7,38 dadurch zusammen, dass sie die Füße Jesu mit ihren Tränen genetzt und dann mit ihren Haaren abgetrocknet habe; 23 er setzt also die aus dem kanonischen Text bekannte Formulierung ἤρξατο βρέχειν τοὺς πόδας αὐτοῦ κ α ὶ τ α ῖ ς θ ρ ι ξ ὶ ν τ ῆ ς κ ε ϕ α λ ῆ ς α ὐ τ ῆ ς ἐ ξ έ μ α σ σ ε ν voraus. Epiphanius berichtet dagegen nur davon, dass sie die Füße mit den Tränen genetzt, gesalbt und geküsst habe: Er hat also das Abtrocknen der Füße mit den Haaren offensichtlich nicht gelesen. 24 Genau diese Fassung ist auch in der Afra-Handschrift (e) bezeugt: lacrimis suis lababat pedes eius et unguebat unguento. In diesem Fall ist der semantische Unterschied zwischen beiden Lesarten erheblich. Denn die Nichterwähnung der Trocknung der Füße mit den Haaren impliziert offensichtlich, dass die folgende Salbung keine Fuß-, sondern eine Kopfsalbung war: Auf diese Weise ergibt sich dann ein aufschlussreicher Einblick in die Überlieferungsgeschichte der kanonischen Salbungserzählungen (vgl. dazu die Rekonstruktion). 3. In *9,22 ist die Weissagung der Auferstehung Jesu unterschiedlich bezeugt: Epiphanius liest mit der großen Mehrheit der kanonischen Handschriften das Verb im Pass. Div. (ἐγερθῆναι). Tertullian und Adamantius bezeugen dagegen das Verb im Akt.: ἀναστῆναι/ resurgere. Auch diese Lesart wird von einer ganzen Reihe von kanonischen Handschriften gestützt, neben D it treten hier auch einige Majuskeln ( A C D K Π ) und zahlreiche Minuskeln sowie einige patristische Belege. In semantischer Hinsicht ist dieser Unterschied geringfügig, weil in jedem Fall klar ist, dass Gott das logische Subjekt der Auferstehung/ Auferweckung Jesu ist; aber in der Passivformulierung ______________________________ 22 Es handelt sich um 85 von insgesamt 135 Fällen. Vgl. o. S. 62ff (mit Anm. 97). 23 Tert. 4,18,9: ut cum pedes domini osculis figeret, lacrimis inundaret, c r i n i b u s d e t e r g e r e t , unguento perduceret … 24 Epiphanius, Schol. 10: ἔβρεξε τοῖς δάκρυσι τοὺς πόδας καὶ ἤλειψεν καὶ κατεϕίλει. Vgl. auch Schol. 11 (zu *7,44): αὕτη τοῖς δάκρυσιν ἔβρεξεν τοὺς πόδας μου καὶ ἤλειψεν καὶ κατεϕίλει. § 5: Der Text von *Ev und die kanonische Textüberlieferung 89 des auch von Epiphanius bezeugten Mehrheitstextes kommt dies deutlicher zum Ausdruck als in der Aktiv-Variante. 4. Am Ende des Gesprächs Jesu mit dem Gesetzeslehrer über die Bedingungen des Lebens (*10,25-28) bezeugt Epiphanius die Reaktion Jesu wie im kanonischen Mehrheitstext: ὀρθῶς ἀπεκρίθης· τοῦτο ποίει καὶ ζήσῃ. 25 In Tertullians Referat dieser Stelle sowie in einem Hinweis bei Origenes 26 fehlt jedoch jeder Hinweis, dass die letzten Worte (τοῦτο ποίει καὶ ζήσῃ) in *Ev enthalten waren. Nun belegt ein negativer Befund bei der Bezeugung das Fehlen in *Ev nicht zwingend: Die Referenten, in diesem Fall also Tertullian und Origenes, hätten diese Worte auf genau die gleiche Weise mit Stillschweigen übergangen haben können, wie sie ja auch den größeren Teil des vorangegangenen Gesprächs nicht erwähnen - das negative Zeugnis ist zunächst nicht zwingend. Auch, wenn die (direkte) Bezeugung auf den ersten Blick nicht konkludent erscheint, ist sie aussagekräftig. Denn nach Tertullians Zeugnis hat Lk 10,26.27a mit der Gegenfrage Jesu in *Ev gefehlt, sodass nicht der Gesetzeslehrer, sondern Jesus die Antwort auf die Ausgangsfrage gibt: Jesus selbst nennt das Gebot der Gottesliebe als Bedingung des Lebens. Eine Reaktion auf diese Antwort kann dann nur von dem Gesetzeslehrer stammen. Allerdings kann dessen Bestätigung sinnvollerweise nur lauten: ὀρθῶς ἀπεκρίθης, nicht aber auch: τοῦτο ποίει καὶ ζήσῃ. Diese letzte Aufforderung kann also tatsächlich nicht in Tertullians *Ev-Exemplar gestanden haben: Die unbezeugte Wendung (τοῦτο ποίει καὶ ζήσῃ) muss in *Ev gefehlt haben, wo die Perikope ein vollkommen anderes Gepräge besaß als in der kanonischen Fassung. Die Überlegung zum Fehlen von τοῦτο ποίει καὶ ζήσῃ in *Ev wird dadurch gestützt, dass diese letzte Wendung des Gesprächs auch in einigen (wenigen und entlegenen) Handschriften fehlt (1194 ℓ 1074 g 1 ). Dieser Befund ist insofern aufschlussreich, als diese Handschriften - im Unterschied zu Tertullians *Ev- Text - das vorangehende Gespräch zwischen Jesus und dem Gesetzeslehrer in der kanonischen Fassung enthalten, also in der Abfolge von Frage des Gesetzeslehrers - Gegenfrage Jesu - Selbstbeantwortung des Gesetzeslehrers (Gebot der Gottesliebe) - Aufforderung Jesu zum Tun: Sie bieten die Konformierung zweier deutlich verschiedener Fassungen. Die hier genannten Beispiele stehen für das irritierende Phänomen, dass fast zwei Drittel (! ) der Mehrfachbezeugungen für *Ev einen abweichenden Text referieren. 27 Neben größeren und semantisch auffälligen Abweichungen steht eine große Zahl von kleineren Differenzen: Das sind die von Harnack als »tendenziös« bzw. als »neutral« bezeichneten Varianten. Die Beobachtung der Entsprechung zwischen ______________________________ 25 Epiph., Schol. 23: καὶ ἀποκριθεὶς μετὰ τὴν ἀπόκρισιν τοῦ νομικοῦ εἶπεν Ὀρθῶς εἶπες. τοῦτο ποίει καὶ ζήσῃ. 26 Tert. 4,25,14. Vgl. Origenes, Hom. in Lc, fr. 166, GCS 49 = fr. 70, FC 4/ 2: »Diese Worte (sc. ὀρθῶς ἀπεκρίθης) richten sich gegen die Anhänger des Valentinus und des Basilides und auf die des Marcion, denn auch sie haben diese Stelle in ihrem Evangelium …« 27 Nämlich 85 von insgesamt 135 Belegen: 4,27. - 5,14 (3). - 6,23. - 6,27. - 6,28 (2). - 6,29. - 6,38 (3). - 6,43a (5). - 7,9. - 7,19 (2). - 7,20. - 7,27 (3). - 7,38. - 8,20. - 9,16. - 9,20. - 9,22 (2). - 9,35 (2). - 9,41. - 9,60 (2). - 10,1. - 10,21. - 10,22 (3). - 10,28. - 11,11. - 11,13. - 12,4 (2). - 12,5. - 12,30. - 12,31 (2) 12,51. - 16,16. - 16,29 (3). - 16,31 (2). - 17,14. - 18,19 (3). - 18,20 (2). - 18,38. - 22,15. - 23,34. - 23,46. - 23,51. - 23,53 (3). - 24,6 (2). - 24,7 (4). - 24,25 (3). - 24,38 (2). - 24,39 (3). Vgl. im Einzelnen die Variantenliste (Anhang III). 90 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche den Varianten in der kanonischen Textüberlieferung und der widersprüchlichen Bezeugungen für *Ev erlaubt dann einige weiterführende Schlussfolgerungen. 1. Diese Entsprechungen zu den widersprüchlichen Bezeugungen für *Ev in den Varianten der kanonischen Lk-Handschriften (vor allem, aber nicht nur, im sog. »Westlichen Text«) zeigen zunächst, dass die Bezeugung für *Ev grundsätzlich keine größere Disparität aufweist als die kanonische Textüberlieferung. Der gegenteilige Eindruck legt sich nur aufgrund der unterschiedlichen Zahl der jeweils verfügbaren Zeugen nahe. Die grundsätzliche Gleichartigkeit der Abweichungen innerhalb der direkten Bezeugung für *Ev auf der einen Seite und in der Kanonischen Handschriftenüberlieferung des Lk auf der anderen lässt sich dann eigentlich nur noch so erklären, dass *Ev in seiner charakteristischen Textgestalt das älteste bezeugte Beispiel eines sehr alten Evangeliums darstellt. Dessen Text musste bereits vor der Mitte des 2. Jh. weit über die ja schon sehr bald als häretisch bekämpften marcionitischen Gemeinden hinaus verbreitet gewesen sein. Denn der Umstand, dass die altlateinischen Evangelien und *Ev sich einerseits auf charakteristische, aber übereinstimmende Weise von den katholischen Zeugen des (i. W. »alexandrinischen«) Mehrheitstextes unterscheiden, zugleich aber untereinander in einem Ausmaß variieren, wie es in den anderen Textfamilien nicht der Fall ist, erklärt sich am leichtesten, wenn dieser urtümliche Texttyp eine vorkanonische Gestalt repräsentiert, die nicht durch eine gemeinsame Edition vereinheitlicht und dadurch in ihrer textlichen Gestalt weitgehend geschützt war. Das Phänomen der auffälligen Entsprechung zwischen den für *Ev bezeugten Widersprüchen und dem Kanonischen Mehrheitstext gegenüber den Varianten des »Westlichen Textes« usw. belegt daher eine wechselseitige Beeinflussung zwischen der vorkanonischen und der kanonischen Textüberlieferung: Für die Handschriftenüberlieferung der Kanonischen Ausgabe ist diese Interferenz in den Varianten gegenüber dem Mehrheitstext ersichtlich, für die Überlieferung des vorkanonischen *Ev schlägt sie sich in der widersprüchlichen Bezeugung für *Ev nieder. Diese beiden analogen Beobachtungen lassen sich leicht erklären und aufeinander beziehen: Einerseits haben die Häresiologen die Widersprüche in der Überlieferung des *Ev-Textes registriert, sie als Versuch einer sukzessiven Angleichung des »häretischen« an den kanonischen Text interpretiert und sie auf diese Weise ihrer antimarcionitischen Argumentation dienstbar gemacht. Wenn Tertullian den Marcioniten vorwirft, sie würden ihr eigenes Evangelium »täglich verändern, je nachdem, wie sie von uns täglich widerlegt werden«, oder wenn Adamantius sie kritisiert, sie § 5: Der Text von *Ev und die kanonische Textüberlieferung 91 würden »noch bis jetzt« Änderungen vornehmen, 28 dann bezeugen sie einen lange anhaltenden Prozess der Konformierung von *Ev an den kanonischen Text des Lk. Auf der anderen Seite sind die Handschriften des vorkanonischen Evangeliums mit dem Aufkommen der Kanonischen Ausgabe und ihres redaktionell gestalteten Vier- Evangelienbuches nicht einfach verschwunden, sondern haben - offensichtlich: noch eine lange Zeit - im Raum der entstehenden katholischen Kirche weiter existiert. Bei der Produktion von Kopien des kanonischen Vier-Evangelienbuches sind dann die Handschriften des vorkanonischen Evangeliums genutzt, aber nicht immer konsequent nach dem kanonischen Text korrigiert worden. 2. Die Annahme einer Interferenz zwischen den Textüberlieferungen des vorkanonischen und des kanonischen Evangeliums setzt voraus, dass beide durch eine tiefgreifende Redaktion voneinander unterschieden sind: Es handelt sich um verschiedene Ausgaben. Für das Verhältnis zwischen *Ev und dem kanonischen Lk-Evangelium bzw. für die signifikanten Varianten in der handschriftlichen Überlieferung des Lk lässt sich das methodische Postulat, bei der neutestamentlichen Textkritik stärker auf unterschiedliche Ausgaben zu achten, 29 jetzt ohne große Probleme untersetzen: Der grundlegende Bearbeitungsschritt, der eine neue Ausgabe geschaffen hat, ist in der lk Redaktion von *Ev zu sehen. Damit findet zunächst die Beobachtung eine einfache Erklärung, dass sich in der Überlieferung des Lk- Textes besonders viele und besonders deutliche Varianten finden, wie sich zunächst an den sog. Western Non-Interpolations zeigt: Von den insgesamt neun Western Non-Interpolations, die Westcott/ Hort in ihren Text aufgenommen hatten, finden sich acht in Lk. 30 Diese Liste ist allerdings wenig aussagekräftig: Ihr liegen die textkritischen Entscheidungen von Westcott/ Hort zugrunde, die i. W. auf inhaltlichen Überlegungen beruhen und (vor weit über 100 Jahren) von einem textgeschichtlichen Modell ausgegangen sind, das so kaum noch tragfähig ist. Neben diesen Western Non-Interpolations sind noch andere Auffälligkeiten im Lk-Text zu nennen: Die Einfügung der Perikope vom »Sabbatarbeiter« Lk 6,5 (D). - Der Text des Vater- Unser Lk 11,1-4, für den die charakteristischen Varianten nicht durch D it sy, sondern durch ______________________________ 28 Vgl. Tert. 4,5,7: nam et cotidie reformant illud, prout a nobis cotidie revincuntur ; Adam. 2,18 (867a): καὶ οὗτοι μέχρι τοῦ δεῦρο περιαιροῦσιν ὅσα ἂν μὴ συντρέχῃ τῇ αὐτῶν γνώμῃ; Orig., Cels. 2,27. Zum Problem o. S. 65 mit Anm. 101 und 102. 29 Vgl. dazu D. T ROBISCH , The Need to Discern Distinctive Editions of the New Testament in the Manuscript Tradition, in: K. Wachtel, M. W. Holmes (eds.), The Textual History of the Greek New Testament, Atlanta 2011, 43-48. 30 B. F. W ESTCOTT , F. J. A. H ORT , The New Testament in the Original Greek II, Cambridge - London 2 1896, 175-177: Lk 22,19b-20; 24,3; 24,6; 24,12; 24,36; 24,40; 24,51; 24,52. Daneben nur noch Mt 27,49. 92 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche andere Zeugen 31 überliefert sind. - Der sog. »Kurztext« des lk Mahlberichts mit den besonderen Problemen: Lk 22,19cd.20 fehlen in D a d ſſ 2 i l, während b e sy s.c.p Konformierungen zwischen Kurz- und Langtext bieten. - Die Erwähnung des Engels, der Jesus in seiner Agonie stärkt (Lk 22,43f), ist zwar in D it (sy) enthalten, fehlt aber in anderen wichtigen Zeugen. 32 - Auch das Fehlen von Lk 24,51 mit der Himmelfahrtsnotiz in א * D (it sy) Augustin usw. gehört zu den deutlichen Varianten der Handschriftenüberlieferung des Lk. Die textkritischen Entscheidungen zu all diesen Auffälligkeiten sind in der Rekonstruktion diskutiert und begründet. 3. Die Überlegung, dass die Existenz von zwei verschiedenen Ausgaben für diese Varianten verantwortlich ist, muss allerdings in doppelter Hinsicht erweitert werden. Denn zum einen sind hier nur die besonders deutlich bezeugten Varianten aufgeführt: Die Zahl der distinkt »Westlichen« Lesarten ist sehr viel größer als die eher zufällige Auswahl der neun Western Non-Interpolations, die Westcott/ Hort in ihren Text aufgenommen hatten. Aber für die textkritische Beurteilung einer Lesart sind weder die Zahl noch das ansonsten angenommene »Gewicht« der Zeugen für sich genommen ein ausreichendes Kriterium für die Beurteilung: Oft genügt ein einziger und gegebenenfalls entlegener Zeuge als Hinweis für eine Variante. Anstatt also einzelne Lesarten nach dem »Textwert« einzelner Handschriften zu beurteilen, ist es sehr viel sinnvoller, nach der möglichen Redaktion - und das heißt: nach der Passgenauigkeit in einer Ausgabe - zu fragen. Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich dann noch sehr viel mehr charakteristische Lesarten identifizieren, für die in jedem Einzelfall zu klären ist, ob sie eher dem vorkanonischen *Ev oder dem kanonischen Lk angehören. Zum anderen ist das Verhältnis zwischen der Textüberlieferung von *Ev und Lk wohl nur ein Ausschnitt: Wie noch genauer erläutert wird (s. u. § 14), ist die lk Redaktion von *Ev ein wesentlicher Teil der Redaktion der Kanonischen Ausgabe des Neuen Testaments. Man wird also damit rechnen müssen, dass die Redaktion der Kanonischen Ausgabe ähnliche Bearbeitungsspuren in denjenigen Texten hinterlassen hat, die bereits in einer vorkanonischen Fassung vorlagen. Das sind nicht alle neutestamentlichen Schriften, aber doch ein signifikanter Teil, nämlich wenigstens die anderen synoptischen Evangelien und ein Teil der Paulusbriefe: Zumindest für die handschriftliche Überlieferung in diesen Bereichen liegen ja bekanntlich ebenfalls charakterisch »Westliche« Lesarten vor. Für die Annahme der Bearbeitung vorkanonischer Einzeltexte für die Kanonische Ausgabe gibt es ein herausragendes Paradebeispiel, nämlich den sog. »sekundären Markusschluss« Mk 16,9-20: Er setzt ______________________________ 31 Neben zwei Minuskeln (162 700) sind vor allem die Bezeugung durch Gregor von Nyssa (De orat. domin. 3,5; GNO VII/ 2, 39,18f) und Maximus Confessor (Expos. orat. domin. 350; PG 90, 894B) zu nennen. 32 P (69) 75 א 1 A B N R T W 579 1071* pc lectt f sy s sa bo pt georg. Dazu kommt eine Reihe patristischer Zeugen: Clemens Alex.; Origenes (mss); Hieronymus (mss); Athanasius; Ambrosius; Cyrill Alex.; Johannes Damasc. § 5: Der Text von *Ev und die kanonische Textüberlieferung 93 nicht nur die Kenntnis der gesamten Kanonischen Ausgabe voraus (kann also erst auf dieser Ebene der Überlieferung Teil des Mk-Textes geworden sein), sondern ist zugleich in einer so überwältigenden Zahl von Handschriften bezeugt, dass er kaum eine nachträgliche Einfügung in die (fertige) Kanonische Ausgabe darstellt (wie dies beispielsweise für Joh 7,53-8,11 der Fall ist), 33 sondern durch und für die Kanonische Ausgabe ergänzt sein wird. 34 c. Methodische Kontrolle: Auktoriales (ὁ) κύριος bei Lk Wenn die Differenzen zwischen *Ev und Lk einerseits und die Varianten innerhalb der kanonischen Textüberlieferung andererseits in diesem Sinn als Interferenzen zwischen der Textüberlieferung zweier Ausgaben interpretiert werden, dann dürfte es für diejenigen Passagen, die aufgrund der häresiologischen Angaben in *Ev eindeutig gefehlt haben und nach diesem Modell sekundär durch die lk Redaktion eingefügt wurden, eigentlich keine nennenswerten Lesarten innerhalb der kanonischen Überlieferung geben. Dies ist, aufs Ganze gesehen, auch der Fall, wie schon eine kursorische Durchsicht der Varianten zu denjenigen größeren Passagen zeigt, die in Lk gefehlt haben. 35 Dass diese für *Ev als fehlend bezeugten Passagen in den »Westlichen« Handschriften durchweg enthalten sind, spricht nicht gegen die These der Interferenz zwischen den beiden Ausgaben, sondern bestätigt nur, dass diese Handschriften eine Konformierung zwischen der vorkanonischen und der kanonischen Ausgabe darstellen. Anders gesagt: Gerade die größeren, in *Ev fehlenden Passagen werden ohne große Probleme aus der kanonischen Überlieferung eingetragen bzw. beibehalten worden sein. Für die Überprüfung der These der Interferenz besitzen kleinere Abweichungen daher größere Signifikanz. Was damit gemeint ist, lässt sich an einem begrenzten, aber strukturell aufschlussreichen Phänomen zeigen. Wie verschiedentlich aufgefallen ist, wird Jesus innerhalb der synoptischen Evangelien nur in Lk von der Erzählstimme als κύριος bezeichnet. Da die entsprechenden Beispiele jeweils in Kontexten begegnen, die im Horizont der Zwei-Quellentheorie als lk »Sondergut« gelten, gilt dieser Sprachgebrauch schon länger als »typisch lukanische« Eigenheit. 36 Diese Einschätzung gilt ______________________________ 33 Vgl. dazu H. T HYEN , Jesus und die Ehebrecherin (Joh 7,53-8,11), in: A. von Dobbeler et al. (Hg.), Religionsgeschichte des Neuen Testaments, Tübingen 2000, 433-445. 34 Allerdings wird es auch andere Beispiele für die redaktionelle Ergänzung und Bearbeitung vorkanonischer Texte durch die Kanonische Ausgabe geben. In der Rekonstruktion wird an einigen, wenigen Stellen für Mk und Mt auf die Möglichkeit hingewiesen, dass bestimmte Lesarten den vorkanonischen Text (*Mk; *Mt) repräsentieren. 35 Vgl. zu Lk 1,1-2,52; 3,1b-4,15; 13,29-35; 15,11-32; 18,31-34; 19,29-35.41-46; 20,9-18.37f; 22,35- 37(38). 36 Vgl. I. DE LA P OTTERIE , Le titre KYRIOS appliqué à Jésus dans l’évangile de Luc, in: A. Descamps (ed.), Mélanges Bibliques, Gembloux 1970, 117-146; K. R OWE , Early Narrative Christology, Berlin - New York 2006, 119f. 94 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche jedoch auch unter der methodisch anderen Annahme der *Ev-Priorität: In keinem Fall ist absolutes, auktoriales (ὁ) κύριος als Bezeichnung Jesu in *Ev belegt. Es handelt sich also tatsächlich um ein Gestaltungselement der lk Redaktion. Dies ist umso auffälliger, als in mehreren Fällen jeweils der engere oder weitere Kontext für *Ev bezeugt ist: Die jeweiligen Perikopen waren im vorkanonischen Text enthalten, allerdings ohne das redaktionelle Gestaltungsmerkmal des distinkten Sprachgebrauchs. Interessanterweise gibt die handschriftliche Überlieferung an den meisten Stellen die entsprechenden redaktionellen Änderungen noch zu erkennen: In vielen Fällen zeigt vor allem die »Westliche« Überlieferung die typischen Spuren der uneinheitlichen und inkonsequenten Korrekturen des vorkanonischen nach dem kanonischen Text. Es handelt sich um folgende Belege. Lk 7,13 καὶ ἰδὼν αὐτὴν ὁ κ ύ ρ ι ο ς : Der Vers ist für *Ev unbezeugt, aber das handschriftliche Zeugnis ist deutlich: Während a aur b c ſſ 2 l q r 1 mit dem Mehrheitstext κυριος/ dominus lesen, haben D W f 1 700 1241 1242 pc d f gat vg mss sy s.j.p Tat arab.pers bo georg II armen ms Chrys GregNyss das vermutlich ursprüngliche ιησους/ Iesus bewahrt (in entfernteren Versionen findet sich dann auch die Konflation beider Lesarten). Lk 7,19 ἔπεμψεν πρὸς τ ὸ ν κ ύ ρ ι ο ν λέγων: 7,19 ist für *Ev nicht bezeugt. Allerdings zeigt die uneinheitliche Handschriftenüberlieferung die Veränderung der lk Redaktion an. Der vorkanonische Text ist mit hoher Wahrscheinlichkeit in D d (e) enthalten; er teilte den Sendungsauftrag in direkter Rede des Täufers mit: πορευθέντες εἴπατε α ὐ τ ῷ . Die lk Redaktion hat den Sendungsauftrag dagegen der Erzählstimme zugewiesen und dabei den Adressaten als den »Herrn« bezeichnet: ἔπεμψεν πρὸς τ ὸ ν κ ύ ρ ι ο ν λέγων. Während D d (e) diese Korrektur überhaupt nicht mitvollzogen und den vorkanonischen Text bewahrt haben, zeigt eine ganze Gruppe anderer Handschriften eine Konformierung der beiden Fassungen: Hier wird der Sendungsauftrag (wie in der Mehrheit der Zeugen) von der Erzählstimme mitgeteilt, aber die Eintragung von τὸν κύριον ist nicht mitvollzogen. 37 Lk 10,1 ἀνέδειξεν ὁ κ ύ ρ ι ο ς ἑτέρους ἑβδομήκοντα (δύο): Tertullian und Adamantius haben in *10,1 kein nominales Subjekt gelesen; es war wohl nur in der finiten Verbform enthalten. 38 Diese Überlegung zeigt sich auch an der handschriftlichen Überlieferung, bei der die Altlateiner wieder einmal in sich uneinheitlich sind: Mit Tertullian fehlt in D a c d e ein nominales Subjekt ganz, während b f r 1 Iesus ergänzen. Dagegen korrigieren aur l q vg nach dem ganzen Rest der Überlieferung dominus . Die Uneinheitlichkeit bestätigt auch hier, dass ὁ κύριος/ dominus auf die lk Redaktion zurückgeht. Lk 10,39 παρακαθεσθεῖσα πρὸς τοὺς πόδας τ ο ῦ κ υ ρ ί ο υ . - 10,41 ἀποκριθεὶς δὲ εἶπεν αὐτῇ ὁ κ ύ ρ ι ο ς . Die Perikope von Maria und Martha ist unbezeugt. Aufgrund der charakteristischen Lücke in 10,41f in der »Westlichen« Überlieferung (D a b d e ſſ 2 i l r 1 sy s ) lässt sich aber folgern, dass *Ev diese Episode (in genau diesem Umfang, also ohne 10,41f μεριμνᾷς … χρεία) enthielt (vgl. im Einzelnen die Rekonstruktion). Auffällig ist dabei, dass die handschriftliche Überlieferung ______________________________ 37 א A W Θ Ψ f 1 aur b c f l q r 1 lesen an dieser Stelle τὸν Ἰησοῦν/ Iesum. 38 Tert. 4,24,1: Adlegit et alios septuaginta apostolos super duodecim. Adam. 1,5 (806d): πρώτους ἀπέστειλε ιβ’ καὶ μετὰ ταῦτα οβ’ εὐαγγελίσασθαι. § 5: Der Text von *Ev und die kanonische Textüberlieferung 95 in beiden Fällen uneinheitlich ist: In 10,39 haben P 3 א B 2 D L Ξ 579 892 pc it vg sy c.p.hmg sa ms bo του κυριου, während P 45.75 A B* C 2 Θ Ψ f 1.13 33 M vg ms sy s.h sa mss bo mss (του) ιησου lesen. In diesem Fall gehen also D it (sy) mit dem (sekundären) Mehrheitstext, während die wahrscheinlich vorkanonische Lesart in *Ev sich auch in P 45.75 usw. findet. In 10,41 ist das Bild ganz entsprechend uneinheitlich: Das kanonische ὁ κύριος/ dominus ist nur in einem Teil der altlateinischen Handschriften enthalten ([a] aur ſſ 2 i l vg), während D b c d f q r 1 stattdessen Ἰησοῦς/ Iesus lesen. Es spricht alles dafür, dass der vorkanonische Text hier Ἰησοῦς hatte. Lk 11,39 εἶπεν δὲ ὁ κ ύ ρ ι ο ς πρὸς αὐτόν: Tertullian hat hier offensichtlich Ἰησοῦς anstelle von κύριος gelesen. 39 Diese Lesart hat sich auch in einer Reihe von Handschriften (U 16 472 1071 ℓ 10 ℓ 1642 e vg ms sy s.c Tat arab bo ms aeth mss ) erhalten. Auch diese Bezeugungslage ist auffällig: D und die Mehrheit der Altlateiner gehen mit dem kanonischen Mehrheitstext. Lk 12,42 καὶ εἶπεν ὁ κ ύ ρ ι ο ς : Der Kontext ist durch Tertullian bezeugt, der an dieser Stelle möglicherweise mit der Mehrheit der handschriftlichen Überlieferung (darunter auch einige Altlateiner: aur c d f ſſ 2 l q r 1 ) ὁ κύριος/ dominus gelesen hat. 40 Wenn diese Vermutung zutrifft, läge hier einer der Fälle vor, in denen Tertullians *Ev-Exemplar nicht den ursprünglichen, sondern bereits den nach der kanonischen Fassung korrigierten Text enthielt. Denn die Abweichungen in einigen Altlateinern (e [b] i) machen wahrscheinlich, dass ὁ κύριος/ dominus eine redaktionelle Änderung ist, die in diesen drei Handschriften nicht korrigiert wurde. 41 Lk 13,15 ἀπεκρίθη δὲ αὐτῷ ὁ κ ύ ρ ι ο ς : Der Vers ist unbezeugt, der Kontext jedoch gesichert. In diesem Fall ist die handschriftliche Überlieferung so gespalten, dass man ein ursprüngliches ὁ Ἰησοῦς anstelle von ὁ κύριος annehmen muss: ὁ Ἰησοῦς/ Iesus ist bezeugt von D F U Γ Θ mult lectt gat vg mss sy s.c.p.h(mg) Tat arab.pers bo mss armen mss georg II.III , während der Rest der Überlieferung ὁ κύριος/ dominus hat. Neben D gat ist die breite syrische Überlieferung an dieser Stelle bemerkenswert. Lk 16,8 καὶ ἐπῄνεσεν ὁ κ ύ ρ ι ο ς : Während der Kontext (*16,1-7.9) gut bezeugt ist, gibt es ernsthafte Zweifel, ob 16,8 in *Ev enthalten war. Die Zweifel sind vor allem redaktionsgeschichtlich begründet und basieren auf der Spannung zwischen Lk 16,8 und dem (gut bezeugten) V. *9 (s. dazu die Rekonstruktion). Wenn der gesamte Vers 16,8 redaktionell ist, dann steht zu erwarten, dass die handschriftliche Überlieferung - im Unterschied zu den anderen hier genannten Belegen für ὁ κύριος in der Erzählstimme - an dieser Stelle keinerlei Irregularitäten aufweist, die als Spuren einer inkonsequent durchgeführten Angleichung an den kanonischen Text zu verstehen sind: Die Handschriften enthalten den kompletten Vers, und es gibt keinen Anlass für Korrekturen an einzelnen Elementen. Dies ist tatsächlich der Fall, weswegen die einheitliche Überlieferung von ὁ κύριος 16,8 als Argument für den redaktionellen Charakter des ganzen Verses zu werten ist (s. auch gleich zu 24,34). Lk 17,5 καὶ εἶπαν οἱ ἀπόστολοι τ ῷ κ υ ρ ί ῳ . - 17,6 εἶπεν δὲ ὁ κ ύ ρ ι ο ς : Die Chrie über das Vermögen des Glaubens *17,5f ist zwar unbezeugt, aber aus text- und überlieferungsgeschichtlichen Gründen lässt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit folgern, dass sie in *Ev enthalten war (s. die Rekonstruktion). Dabei zeigen gerade die beiden Einleitungen mit dem absoluten, auktorialen ὁ ______________________________ 39 Tert. 4,27,2: Iesus autem etiam interpretatus est ei legem. 40 Vgl. die Zusammenfassung von *12,41-46 in Tert. 4,29,9 (… qui vero secus egerit, reverso d o m i n o qua die non putaverit, hora qua non scierit, … segregabitur). 41 e i: om ο κυριος/ dominus; b: add ο ιησους/ Iesus. 96 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche κύριος die typische Irregularität der handschriftlichen Überlieferung, die Kennzeichen für redaktionelle Eingriffe in einen durch *Ev vorgegebenen Kontext ist: In *17,5 fehlt τῷ κυρίῳ entweder ganz (l Tat pers ) oder es ist durch ein Pronomen vertreten (αυτω/ illi/ ei: 828* 1241 b c ſſ 2 l λ q r 1 vg ms georg II ) oder es taucht als Anrede in der unmittelbar folgenden Frage der Jünger auf (κυριε/ domine: 1241 ℓ 1016 e b c ſſ 2 1 g 1 gat λ q r 1 vg 7 mss ). In *17,6 sind anstelle der Wendung εἶπεν δὲ ὁ κύριος im Mehrheitstext folgende Alternativen bezeugt: ο δε ειπεν αυτοις (D a d e); και ειπεν αυτοις (b c ſſ 2 i q vg ms ); και ειπεν αυτοις ο ιησους (r 1 ); και ειπεν ο ιησους (vg ms ) usw. Für beide Fälle ist der redaktionelle Eingriff sehr wahrscheinlich. Lk 18,6 εἶπεν δὲ ὁ κ ύ ρ ι ο ς : Das Gleichnis von der bittenden Witwe ist durch Tertullians Zusammenfassung bezeugt, aber von 18,6 finden sich keine Spuren. Ein Urteil über den Ursprung des Verses hängt von der handschriftlichen Bezeugung von ὁ κύριος ab. Die geringfügige, aber charakteristische Abweichung (ιησους an Stelle von κυριος in 713 ℓ 524 sy s ) entspricht dem redaktionellen Konzept und ist als Zeichen zu werten, dass der Vers in *Ev enthalten war und bearbeitet wurde. Lk 19,8 σταθεὶς δὲ Ζακχαῖος εἶπεν π ρ ὸ ς τ ὸ ν κ ύ ρ ι ο ν : Während das Zachäuswort *19,8b wörtlich bezeugt ist, fehlt von der Redeeinleitung V. *8a jede Spur. Allerdings ist die handschriftliche Bezeugung derart uneinheitlich, dass man sich die breite Bezeugung von τὸν ᾿Ιησοῦν (G K M Π 063 mult lectt e vg mss sy Tat) wohl nur durch die Annahme erklären kann, dass dies die ursprüngliche, vorkanonische Lesart darstellt, die von der lk Redaktion durch τὸν κύριον ersetzt, aber nicht völlig aus der Überlieferung verdrängt wurde. Lk 22,31 (v. l.): Die Einleitung der Ankündigung der Verleugnung des Petrus stellt nur insofern eine Besonderheit dar, als NA 27 / GNT 4 die Wendung εἶπεν δὲ ὁ κ ύ ρ ι ο ς ( א A D W Θ Ψ f 1.13 lat sy (c.p).h bo mss M ) nicht in den Text aufgenommen haben; sie folgen hier der Lesart von P 75 B L T 1241 2542 c sy s co, die die vermutlich ein Relikt des vorkanonischen Textes darstellt. Die kritischen Ausgaben haben die Einleitungswendung komplett ausgelassen; kaum zu Recht. Zum Problem vgl. die Rekonstruktion zu *22,31. Lk 22,61 καὶ στραϕεὶς ὁ κ ύ ρ ι ο ς ἐνέβλεψεν τῷ Πέτρῳ καὶ ὑπεμνήσθη ὁ Πέτρος τοῦ ῥήματος τ ο ῦ κ υ ρ ί ο υ : *22,61 ist unbezeugt, aber aus Gründen der narrativen Logik muss die Verleugnungsszene in *Ev enthalten gewesen sein (s. zu *22,54-65). Dass auch *22,61 enthalten war, zeigt einmal mehr die uneinheitliche Handschriftenüberlieferung, die an den beiden Belegen für absolutes, auktoriales κύριος weit auseinandergeht. 42 Ganz offensichtlich sind ὁ κύριος bzw. τοῦ κυρίου redaktionelle Ersetzungen von ὁ ᾿Ιησοῦς bzw. τοῦ ᾿Ιησοῦ. Lk 24,3 εἰσελθοῦσαι δὲ οὐχ εὗρον τὸ σῶμα τ ο ῦ κ υ ρ ί ο υ ᾿Ιησοῦ: Auch in diesem Beispiel für auktoriales ὁ κύριος ist der nähere Kontext bezeugt, allerdings hat *Ev die Worte τοῦ κυρίου ᾿Ιησοῦ nach Tertullians Zeugnis nicht enthalten. 43 Interessanterweise stellt diese Abweichung ______________________________ 42 Im ersten Fall (καὶ στραϕεὶς ὁ κύριος) haben ιησους/ Iesus: D 063 0211 1 21 118 124* 131 205 209 472 903 1195 1241 1582 1604 1630 2631 d vg ms sy s.h.p Tat arab.pers bo mss aeth mss Ambr (Lc); Origenes läßt es ganz aus; κυριος/ dominus in: [a] aur b c e f ſſ 2 i l q r 1 sowie in der restlichen Überlieferung. - Im zweiten Beleg (τοῦ ῥήματος τοῦ κυρίου) steht κυριου/ domini in D und der gesamten altlateinischen Überlieferung; dagegen haben ιησου/ Iesu: N 13 346 472 543 826 828 1071 2643 sy s.p(ms) aeth mss . 43 Tert. 4,43,2: Corpore autem non invento. § 5: Der Text von *Ev und die kanonische Textüberlieferung 97 eine der klassischen »Western Non-Interpolations« dar, die in den »Westlichen« Zeugen ebenfalls fehlt. 44 Dieses Beispiel zeigt sehr deutlich das Phänomen der redaktionellen Erweiterung eines für *Ev belegten Kontextes, der in der weiteren Handschriftenüberlieferung seine Spuren behalten hat. Lk 24,34 λέγοντας ὅτι ὄντως ἠγέρθη ὁ κ ύ ρ ι ο ς : In diesem Fall liest die gesamte handschriftliche Überlieferung ausnahmelos ὁ κύριος, die ansonsten bezeugten charakteristischen Varianten fehlen. Allerdings ist es aus redaktions- und überlieferungsgeschichtlichen Gründen sehr wahrscheinlich, dass die vier Verse Lk 24,32-35 insgesamt eine redaktionelle Ergänzung darstellen (s. die Rekonstruktion z. St.). Die Erklärung für dieses Phänomen ist die gleiche wie für 16,8: Die lk Redaktion hat nicht ein vorkanonisches ὁ ᾿Ιησοῦς o. ä. durch auktoriales ὁ κύριος ersetzt oder ergänzt, sondern den gesamten Kontext neu geschaffen. Das Phänomen der Interferenz konnte also wegen des Fehlens einer »Alternativlesart« gar nicht auftreten: Die einheitliche Textüberlieferung passt daher vollständig in das textgeschichtliche Modell und bestätigt zugleich, dass Lk 24,34 als Teil der redaktionellen Einheit 24,32-35 in *Ev fehlte. Diese Belege für absolutes κύριος in der Erzählstimme und ihre Bezeugung in der Handschriftenüberlieferung besitzen grundsätzliche methodische Bedeutung für die Rekonstruktion des vorkanonischen *Ev-Textes und für die Art seiner redaktionellen Bearbeitung durch Lk. 1. Die Beobachtung, dass auktoriales ὁ κύριος ein charakteristisches Kennzeichen der lk Sprache ist, ist korrekt. 45 Von den insgesamt 15 Belegen ließ sich nur in einem Fall (18,6) der entsprechende redaktionelle Eingriff nicht mit der gewünschten Deutlichkeit nachweisen, in allen anderen ist er sehr wahrscheinlich und hat die erwartbaren Spuren in der handschriftlichen Überlieferung hinterlassen. Der Umstand, dass dieser spezifisch lk Sprachgebrauch nur in sog. »Sonderguttexten« begegnet, ist allerdings kaum ausschlaggebend. Denn wenn die lk Redaktion an der Eintragung von ὁ κύριος für Jesus interessiert war, dann hätte dies auch an anderer Stelle geschehen können. Die Frage, warum dies nicht auch in Texten geschehen ist, die gemeinhin der Dreifach- oder der mt-lk Doppelüberlieferung (»Q«) zugerechnet werden, ist aus methodischen Gründen nicht beantwortbar; es ist nicht ratsam, ihr zu viel Gewicht aufzubürden. 2. Viel zu wenig ist bisher beachtet worden, dass die meisten der genannten κύριος-Belege (mit Ausnahme von 16,8; 24,34) in der Textüberlieferung eine große ______________________________ 44 του κυριου Ιησου: om Tert D a b d e ſſ 2 l r 1 ¦ του κυριου Ιησου/ Domini Iesu: add aur c f q vg M ¦ του Ιησου 579 1071 1241 sy s.c bo ms . 45 Gegen J. J EREMIAS , Die Sprache des Lukasevangeliums, Göttingen 1980, 158, der absolutes ὁ κύριος als Tradition, nicht als Redaktion einstuft. Gerade mit Blick auf die »redaktionellen« Elemente im Nicht-Mk-Stoff liefert *Ev erstmals Kriterien, die diese Zuordnung einigermaßen sicher erlauben (zum Problem vgl. K. R OWE , Early Narrative Christology, Berlin - New York 2006, 117f Anm. 118). 98 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche Uneinheitlichkeit aufweisen. 46 Dies ist insofern ohne weiteres nachvollziehbar, als der Apparat von NA 27 nicht zu allen der hier genannten Belege die Varianten notiert. 47 Um das Phänomen in seiner Bedeutung zu erfassen, reicht es allerdings auch nicht aus, nur die Varianten im Codex Bezae (D) zur Kenntnis zu nehmen. 48 Denn dabei finden diejenigen Belege keine Berücksichtigung, an denen D mit dem Mehrheitstext κύριος liest. 49 Aber vor allem entsteht bei dieser engen Perspektive der Eindruck, dass die Varianten zu auktorialem κύριος sich entweder nur in D finden oder auf D zurückgehen. Bei dieser Betrachtung läge der Schluss nahe, dass D die »hohe« Christologie durch die Ersetzung von auktorialem κύριος durch Streichung oder Ersetzung durch ὁ Ἰησοῦς korrigiert hätte. Die Folge ist die Annahme, dass die D-Varianten gegenüber dem Mehrheitstext sekundär und Ausdruck eines spezifischen, theologischen Programms dieser Handschrift seien. Dieser Eindruck ist jedoch irrig, wie schon die ganz andere Verwendung von auktorialem κύριος im D-Text von Act zeigt. 50 3. Diese Beobachtung ist von erheblicher Bedeutung, weil sie deutlich macht, dass die charakteristischen Varianten im D-Text von Lk und Act auf unterschiedliche textgeschichtliche Phänomene zurückgeführt werden müssen. Die charakteristische Gestalt des D-Textes von Act, die das große Interesse der Forschung geweckt hat, erlaubt keine Rückschlüsse auf den D-Text von Lk. 51 Dessen Eigenheiten müssen also eine andere Erklärung finden. Die hier vorgestellten D-Varianten und ihre Einbettung in eine beachtliche, wenn auch uneinheitliche Gruppe von anderen Handschriften legen vielmehr nahe, dass in diesen Handschriften der vorkanonische Text noch durchscheint: ______________________________ 46 Vgl. G. D. K ILPATRICK , ΚΥΡΙΟΣ in the Gospels, in: J. K. Elliott (ed.), The Principles and Practice of New Testament Textual Criticism, Leuven 1990, 207-212; außerdem die Autoren bei R OWE , a. a. O. 142 mit Anm. 58f. 47 NA 27 verzeichnet keine Varianten zu: Lk 11,39; 12,42; 17,5f; 18,6; 19,8. 48 So bei R OWE , a. a. O. 234-236 (Appendix II: Κύριος in Codex Bezae’s Version of Luke). 49 Also 10,39; 11,39; 12,42; (16,8; ) 17,5; 18,6; 19,8; 22,61b. 50 Vgl. J. R EAD -H EIMERDINGER , The Bezan Text of Acts. A Contribution of Discourse Analysis to Textual Criticism, London 2002, 273: In Act verwendet der Codex Bezae κύριος für Jesus »more frequently than do the Alexandrian MSS.« Die »Tendenz« der Varianten im D-Text von Lk und von Act scheint sich also direkt zu widersprechen. 51 Vgl. C H . K. B ARRETT , Is There a Theological Tendency in Codex Bezae? , in: E. Best, R. McL. Wilson (eds.), Text and Interpretation, Cambridge 1979, 15-27; G. E. R ICE , The Alteration of Luke’s Tradition by the Textual Variants in Codex Bezae (Ph. D. Case Western Reserve University 1974); DERS ., Is Bezae a Homogeneous Codex? , Perspectives in Religious Studies 11 (1984), 39-54. Zuletzt (und mit umfassender Bibliographie): D. C. P ARKER , Codex Bezae. An Early Christian Manuscript and Its Text, Cambridge 1991, sowie D. C. P ARKER , C.-B. A MPHOUX (eds.), Codex Bezae, Leiden u. a. 1996, darin vor allem die Beiträge von: B. D. E HRMAN , The Text of the Gospels at the End of the Second Century, ebd. 95-122; M. W. H OLMES , Codex Bezae as a Recension of the Gospels, ebd. 123- 160; J.-M. A UWERS , Le texte latin des Évangiles dans le Codex de Bèze, ebd. 183-216. § 5: Der Text von *Ev und die kanonische Textüberlieferung 99 Nicht der Codex Bezae hat die Verwendung von auktorialem ὁ κύριος redaktionell eingearbeitet, sondern die lk Redaktion hat verschiedentlich ὁ κύριος gesetzt, wo vorher entweder ὁ ᾿Ιησοῦς stand oder gar kein nominales Subjekt genannt war. Im Unterschied zum sekundären Charakter des D-Textes von Act zeigt der D-Text von Lk deutliche Spuren des vorkanonischen Evangeliums. 4. Das erkennbar redaktionelle Interesse, das in diesen Varianten sichtbar wird, ist das der lk Redaktion. Damit ist zunächst die grundlegende Frage nach der Herkunft der zahlreichen redaktionellen Eingriffe innerhalb der Textüberlieferung beantwortet: Zugrunde liegen nicht Schreibversehen oder redaktionelle Eigenmächtigkeiten einzelner Kopisten (dies ist ohnehin eine sehr problematische Vorstellung), sondern eine regelrechte Redaktion - und zwar, so weit erkennbar, tatsächlich nur eine Redaktion. Denn die uneinheitliche Vielfalt der Textüberlieferung spiegelt nicht vielfache Eingriffe in den Text wider, sondern nur die Unachtsamkeit bei der Korrektur des vorkanonischen nach dem kanonischen Evangelientext: Die Konformierung zweier verschiedener Ausgaben. 5. Die Behandlung der κύριος-Varianten hat außerdem deutlich gemacht, dass die Textüberlieferung auch an denjenigen Stellen Hinweise auf den vorkanonischen Text zu geben in der Lage ist, für die es keine Bezeugung für *Ev gibt. Besonders die Erwägungen zu *17,5f sind hier einschlägig: Wenn die lk Redaktion verändernd in Kontexte eingegriffen hat, die in *Ev vorhanden waren, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Textüberlieferung an genau diesen Stellen die charakteristischen Irregularitäten zeigt. Umgekehrt haben die Beispiele von 16,8 und vor allem 24,34 gezeigt, dass längere und eigenständige redaktionelle Einfügungen komplett - und das heißt: ohne die signifikanten Varianten - übernommen werden: In diesen Fällen gibt es keinen Anlass für Variationen in der handschriftlichen Überlieferung. Diese Phänomene entsprechen daher dem Umgang mit den großen Passagen, die Lk redaktionell eingefügt hat und die ebenfalls keine nennenswerten Textvarianten in der kritischen Gruppe der »Westlichen« Handschriften aufweisen. Die Alternative zu der einheitlichen Rezeption redaktioneller Passagen in der Handschriftenüberlieferung ist ihre einheitliche Auslassung: Dieses Phänomen lässt sich an den sog. Western Non-Interpolations - am deutlichsten vielleicht an Lk 5,39 - beobachten. 6. Wenigstens hinzuweisen ist auf einige Besonderheiten, die der hier vorgeschlagenen Erklärung auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen: An einigen Stellen lesen D it sy usw. gegen den Mehrheitstext κύριος, und zwar in Passagen, die in *Ev mit Sicherheit gefehlt haben. Beides dürfte es eigentlich nicht geben, sofern man erstens davon ausgeht, dass diese Interferenzen nur dort begegnen, wo ein älterer, vorkanonischer Text vorlag, aber durch die lk Redaktion verändert wurde. Zweitens wäre in diesen Fällen außerdem zu erwarten, dass der Befund genau 100 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche umgekehrt aussehen müsste und κύριος im Mehrheitstext, nicht aber in D it sy auftaucht. Jedoch ist an den fraglichen Stellen nicht Jesus als κύριος bezeichnet, sondern Gott: 1. Lk 1,68 Εὐλογητὸς κ ύ ρ ι ο ς ὁ θεὸς τοῦ Ἰσραήλ. κυριος: om P 4 W a b β c ſſ 2 l r 1 vg mss sy co mss Euseb (Ps 88; PG 23, 1101) Iren (3,10,3) Cypr (Test 2,7; CSEL 3/ 1, 72) Prisc (Tract 1,39; CSEL 18, 32) PsVig (Varim. 3,41; CCL 90, 114) ¦ κυριος: add D M . 2. Lk 2,9 καὶ ἄγγελος κ υ ρ ί ο υ ἐπέστη αὐτοῖς. κυριου: om Γ 60 118 205 209 1194 1452 ℓ 184 e Tat arab.pers Orig vid (Joh 1,12; GCS 10,17) ¦ θεου: א 2 sy p.hmg (lac sy s ) ¦ κυριου: add D M (nicht in NA 27 verzeichnet). 3. Lk 2,9 καὶ δόξα κ υ ρ ί ο υ περιέλαμψεν αὐτούς. κυριου: om D ℓ 547 (b) β d ſſ 2 g 1 l ¦ θεου: א 2 Ξ Ψ 892 aur c e gat sy p.hmg (lac sy s ) Tat pers Euseb (Dem 7,2,6; GCS 23, 329) ¦ κυριου add: M . 4. Lk 3,6 ὄψεται πᾶσα σὰρξ τὸ σωτήριον τοῦ θ ε ο ῦ . κυριου: D d ¦ θεου: it M . Die textkritische Entscheidung der Herausgeber gegen ὁ κύριος in D (it sy) und für ὁ θεός im Mehrheitstext ist an diesen Stellen wohl gerechtfertigt. 52 Man muss das Phänomen dann so verstehen, dass D it sy hier ὁ κύριος für »Gott« setzen konnten, weil sie aufgrund des vorkanonischen Textbestandes ὁ κύριος nie für Jesus verwendeten. Dies ist im letzten Beispiel anders: In Lk 22,49 fügen D 0171 (it) gegen den Rest der Handschriften τῷ κυρίῳ für Jesus ein. 53 Da diese Handschriften aber den folgenden Vokativ der Anrede (κύριε) nicht enthalten, wird man an dieser Stelle wohl davon ausgehen müssen, dass die Anrede (aus der Figurenrede) versehentlich in die auktoriale Redeeinleitung gewandert ist: Das spricht nicht gegen die generelle Erklärung der Interferenzen, die sich durch die redaktionelle Einfügung von auktorialem ὁ κύριος in Lk ergeben haben. 7. Wenigstens hinzuweisen ist an dieser Stelle auf den joh Sprachgebrauch. Da Joh verschiedentlich auktoriales (ὁ) κύριος verwendet, scheint hier ein analoger Sprachgebrauch vorzuliegen. Neben der überwiegenden Mehrzahl der Verwendung von κύριος für Jesus im Mund der handelnden Personen stehen einige wenige auktoriale Verwendungen: Joh 4,1; 6,23; 11,2; 20,20; 21,7.12. In Joh 4,1 Ὡς οὖν ἔγνω ὁ Ἰ η σ ο ῦ ς ὅτι ἤκουσαν οἱ Φαρισαῖοι … stehen sich zwei Lesarten gegenüber: Die kritischen Ausgaben haben ὁ Ἰησοῦς (wie P 66 * א D Θ 086 f 1 565 1241 al lat sy c.p.h bo; Epiph). Daneben steht aber in der Mehrheit der Handschriften ὁ κύριος ( P 66c.75 A B C L W s Ψ 083 f 13 33 f q sy s.hmg sa bo ms M ). 54 Dieses Phänomen ist aus der lk Redaktion von *Ev bekannt, die das vorkanonische ὁ Ἰησοῦς durch ὁ κύριος ersetzt. Sollte diese Ersetzung an dieser Stelle auf ______________________________ 52 Zu vernachlässigen ist wohl die Bezeugung für *8,45 κύριος (teste Epiph., Schol. 14: καὶ εἶπεν ὁ κύριος· τίς μου ἥψατο; ). Da die Aussage im vorkanonischen Evangelium mit hoher Wahrscheinlichkeit deutlich anders ausgesehen hat, ist Epiphanius’ Zeugnis nur als recht freie Zusammenfassung zu verstehen, obwohl seine Erwähnung von κύριος durch zwei Lektionare (ℓ 253 ℓ 859) gestützt wird; vgl. die Begründung der Rekonstruktion z. St. 53 Lk 22,49 ἰδόντες δὲ οἱ περὶ αὐτὸν τὸ ἐσόμενον εἶπαν· κύριε …: (ειπαν) αυτω: 0171 vid ¦ (ειπαν) τω κυριω: D d (sed κυριε: om D 0171 d l! ). 54 Vgl. M ETZGER , Textual Commentary 205f z. St., der annimmt, dass ein nominales Subjekt zu ἔγνω ursprünglich fehlte und auf verschiedene Weise ergänzt wurde. § 5: Der Text von *Ev und die kanonische Textüberlieferung 101 die gleiche Weise zustande gekommen sein, müsste man die Minderheitslesart der kritischen Ausgaben für die vorkanonische Lesart halten, wogegen ὁ κύριος auf eine redaktionelle Änderung zurückginge, die schwerlich anders zu beurteilen wäre als im kanonischen Lk-Evangelium: Wahrscheinlich ist dieselbe Hand sichtbar. Dass die Herausgeber der kritischen Ausgaben sich bei ihrer Textherstellung immer wieder für eine wahrscheinlich vorkanonische Lesart entscheiden, fällt ja verschiedentlich auf 55 und sollte den Befund nicht trüben. Wenn diese Beobachtung stimmt, ergeben sich Folgerungen für die Beurteilung der »doppelte(n) Brückenfunktion« 56 von Joh 4,1-3: Diese Verse verbinden Joh 4,4-42 mit der vorausgehenden Täuferszene, zum anderen stiften sie die Verbindung zwischen den beiden σημεῖα in Kana (Joh 2,1-11; 4,43-54 mit dem ausdrücklichen Verweis 4,54). Die hohe narrative Kohärenz ist dann möglicherweise ein sekundäres Merkmal. Auch der nächste Beleg ist aufschlussreich: Joh 6,23 ἄλλα ἦλθεν πλοιάρια ἐκ Τιβεριάδος ἐγγὺς τοῦ τόπου ὅπου ἔϕαγον τὸν ἄρτον ε ὐ χ α ρ ι σ τ ή σ α ν τ ο ς τ ο ῦ κ υ ρ ί ο υ . Der abschließende Gen. abs. mit dem auktorialen ὁ κύριος ist wiederum zwar von der Mehrheit der Überlieferung bezeugt, fehlt aber wohl nicht zufällig in einigen wenigen Handschriften, vor allem den »üblichen Verdächtigen«. 57 Die Verteilung ist so charakteristisch, dass man kaum an einen Zufall zu denken wagt. Näher liegt daher, dass auch hier eine vorkanonische Lesart durch dieselbe redaktionelle Hand korrigiert wurde, wie es für Lk so deutlich geworden ist. Ferner fällt auf, dass die Notiz mit dem auktorialen ὁ κύριος ein starkes Kohärenzmerkmal liefert, das sich über den joh Erzählrahmen hinaus auch auf Mk 6 par. erstreckt. Joh 11,2 ἦν δὲ Μαριὰμ ἡ ἀλείψασα τ ὸ ν κ ύ ρ ι ο ν μύρῳ καὶ ἐκμάξασα τοὺς πόδας αὐτοῦ ταῖς θριξὶν αὐτῆς, ἧς ὁ ἀδελϕὸς Λάζαρος ἠσθένει: Dieser Vers ist ohne Varianten überliefert, und das scheint gegen die Überlegung zu sprechen, dass auktoriales ὁ κύριος immer auf dieselbe redaktionelle Hand (und das identische redaktionelle Interesse) zurückzuführen ist. Allerdings fällt auf, dass die identifikatorische Notiz Joh 11,2 die explizite Verbindung zwischen den »bethanischen Geschwistern« herstellt und dabei auf verschiedene synoptische Prätexte rekurriert. 58 Auch hier liegt also wieder ein stark ausgeprägtes Kohärenzsignal vor, das Joh mit den Synoptikern verbindet. Joh 20,20 ἐχάρησαν οὖν οἱ μαθηταὶ ἰδόντες τὸν κύριον ist ohne Varianten überliefert. Die Ursprünglichkeit von ὁ κύριος in der Erzählstimme ist in diesem Fall allerdings durch die v. l. der unmittelbar folgenden Notiz 20,21 εἶπεν οὖν αὐτοῖς [ὁ Ἰησοῦς] πάλιν· εἰρήνη ὑμῖν nicht ganz sicher: Die für Interferenzen zwischen den beiden Überlieferungen so anfälligen Zeugen 59 bieten gar kein nominales Subjekt. Die beiden letzten Belege für auktoriales κύριος geben keine weiteren Aufschlüsse: Joh 21,7 Σίμων οὖν Πέτρος ἀκούσας ὅτι ὁ κ ύ ρ ι ό ς ἐστιν und 21,12 εἰδότες ὅτι ὁ κ ύ ρ ι ό ς ἐστιν sind ohne Varianten überliefert. ______________________________ 55 Vgl. u. S. 121ff. 56 T HYEN , Joh 238. 57 D 091 pc a d e sy s.c . 58 Vgl. T HYEN , Joh 512f; DERS ., Die Erzählung von den bethanischen Geschwistern (Joh 11,1-12,9) als Palimpsest über synoptischen Texten, in: ders., Studien zum Corpus Iohanneum, Tübingen 2007, 182-212. 59 In diesem Fall handelt es sich um: א D (L W Ψ 050 pc) lat sy s co. 102 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche Der joh Befund ist also nicht einheitlich: Zwingende Schlussfolgerungen sind nicht möglich. Aber für Joh 4,1 v. l.; 6,23; 11,2 ist die Analogie zum Verfahren der lk Redaktion vielleicht doch zu eng, um gänzlich ignoriert zu werden. Die voranstehenden Bemerkungen haben daher lediglich die Funktion, das Phänomen zu markieren: Unter der Voraussetzung eines veränderten Bildes der Textgeschichte könnten sich auch für die Joh-Exegese überraschende Einsichten in den Redaktionsprozess ergeben. Ein Erklärungsansatz dafür ist unten vorgeschlagen (s. § 14.4). 3. Zum Verhältnis von Überlieferungs- und Textgeschichte: Schlussfolgerungen Wo käme man hin, wenn man die Sonderlesarten des »Westlichen Textes« ihren Ursprung in *Ev hätten? Unter den hier genannten Voraussetzungen heißt die Antwort: Man gelangt zum ältesten erreichbaren Text eines Evangeliums. Auch, wenn diese Voraussetzungen - die *Ev-Priorität vor den kanonischen Evangelien sowie die Identifizierung der lk Redaktion von *Ev als Teil der Kanonischen Redaktion - noch genauer zu begründen und zu entfalten sind, eröffnet diese Antwort weitere Einsichten für die Textkritik insgesamt und für die Rekonstruktion der Textgeschichte im Besonderen. Diese Schlussfolgerungen erstrecken sich (a.) auf die verschiedenen Beziehungen, die zwischen dem für *Ev bezeugten Text und der kanonischen Handschriftenüberlieferung existieren: Hier ist das Bild, das sich für die »Westlichen« Lesarten ergeben hat, für die weiteren Bereiche der Überlieferung anzudeuten. In dem Maß, in dem es gelingt, die kanonische Handschriftenüberlieferung und *Ev zueinander in Beziehung zu setzen, werden (b.) weitere Möglichkeiten zur Rekonstruktion des ältesten Evangeliums sichtbar. Das Gesamtbild für das Zustandekommen eines großen Teils der kanonischen Lesarten hat dann auch (c.) Auswirkungen für die textkritische Rekonstruktion des kanonischen Textes. a. Zum Text des ältesten Evangeliums und den Lesarten der Kanonischen Ausgabe Unter der Voraussetzung, dass die »Westlichen« Lesarten auf das vorkanonische Evangelium zurückgehen, das auch von den Marcioniten und anderen, als häretisch bezeichneten Gruppen benutzt wurde, ergeben sich zunächst einige Beobachtungen zum Verhältnis der »Westlichen« zu den anderen Varianten des Mehrheitstextes. Die Phänomene sind zunächst einmal getrennt für sich zu betrachten. 1. Die »Western Non-Interpolations« und der »Westliche Text«: Im Licht der engen Berührungen zwischen *Ev und den »Westlichen« Lesarten gewinnen an erster Stelle die sog. »Western Non-Interpolations« Bedeutung. Dass die Auswahl dieser Non-Interpolations, die Westcott/ Hort 1881 in ihrem Text des »New Testament in the Original Greek« berücksichtigt hatten, eher zufällig ist, wurde schon deutlich gemacht. Denn Westcott/ Hort waren erstens davon ausgegangen, dass nur § 5: Der Text von *Ev und die kanonische Textüberlieferung 103 diejenigen »Westlichen« Lesarten Anspruch auf Ursprünglichkeit haben konnten, die einen kürzeren Text als die Mehrheit der Handschriften boten, und zweitens hatten sie sich auf diejenigen Varianten beschränkt, in denen tatsächlich eine deutliche Mehrheit der »Westlichen« Handschriften die kürzere Variante bot. Da sie (und in ihrer Folge: die ganz überwiegende Mehrheit der Textkritiker) die Non- Interpolations immer nur als ein Phänomen der Überlieferung eines fertig existierenden Textes betrachteten, ist diese Einschränkung ebenso nachvollziehbar wie die Einschätzung, dass es sich dabei um Non-Interpolations handele. Diese Prämisse ist jedoch nicht haltbar, wenn zwischen den »Westlichen« Varianten und dem Mehrheitstext der redaktionelle Schritt der lk Bearbeitung liegt, und wenn diese Varianten Zeugnisse einer inkonsistenten und inkonsequent durchgeführten Korrektur des vorkanonischen nach dem kanonischen Text darstellen. Denn in diesem Fall stellen diese Varianten keine Nicht-Interpolationen dar, sondern repräsentieren Elemente des älteren Textes, wogegen die entsprechenden Abweichungen im kanonischen Mehrheitstext als »positive Interpolationen« der lk Redaktion erscheinen. Diese »Westlichen« Varianten belegen daher die textgeschichtliche Interferenz zweier Ausgaben. Aus diesem Grund ist die Zufälligkeit, mit der sie erhalten blieben, ein wesentlicher Teil der Erklärung für ihr Zustandekommen. Anders gesagt: Die Existenz der Varianten ist notwendigerweise ein Kontingenzphänomen: Man kann sein Zustandekommen zwar ohne weiteres nachvollziehen, aber es lässt sich nicht auf diejenigen Fälle beschränken, in denen alle oder auch nur eine signifikante Mehrzahl der »Westlichen« Zeugen übereinstimmen. Obwohl diese Varianten Ausdruck ein und desselben Phänomens sind, konstituieren sie keine klar abgrenzbare »Textfamilie«. Die acht lk »Western Non-Interpolations« von Westcott/ Hort gehören daher in die Kategorie der 338 Fälle, in denen der für *Ev bezeugte Text mit einer oder mehrerer Handschriften aus der Gruppe D it sy zusammengeht. 60 Sieht man diese Fälle insgesamt an, dann ist die Grundannahme, dass der »Westliche Text« nur bei Nicht-Interpolationen ursprünglicher als der Mehrheitstext sei, nicht zu halten. Denn in vielen Fällen bestehen die analogen Abweichungen darin, dass kleinere bis größere Veränderungen vorliegen, die nicht als »Lücke« im W -Text erscheinen, sondern einfach als abweichende Formulierungen. Daneben gibt es aber auch eine ganze Reihe von Beispielen, in denen der »Westliche Text« mehr Text bietet als der kanonische Mehrheitstext. 2. *Ev und die Varianten der Vetus Latina und der Vetus Syra: Nun gehörten bereits für Westcott/ Hort neben D nicht nur die Altlateiner, sondern auch die Altsyrer zu der Handschriftengruppe, die den »Westlichen Text« konstituierten: ______________________________ 60 In der Variantenliste Anhang III sind dies die Varianten der Gruppe ❷. 104 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche In den charakteristischen »Non-Interpolations« gehen diese mit jenen zusammen. Die Beobachtung der Zusammengehörigkeit der Vetus Latina und der Vetus Syra erlaubt zunächst, auch diejenigen (alt-)syrischen Varianten mit in das Bild einzubeziehen, die keine Entsprechung in D oder den Altlateinern besitzen. Einige dieser 37 Belege 61 sind in besonderer Weise aufschlussreich: So ist beispielsweise die Vater-unser-Bitte um die Erfüllung des Willens Gottes Lk 11,2d (γενηθήτω τὸ θέλημά σου, ὡς ἐν οὐρανῷ καὶ ἐπὶ γῆς) in D und den Altlateinern bezeugt, aber sie fehlt im Sinai- und im Curetonsyrer (daneben noch in einer Reihe weiterer Zeugen, darunter auch P 75 ). Die Bitte ist auch in Tertullians *Ev-Referat nicht bezeugt. Da Tertullian die einzelnen Bitten in *Ev durchgeht, hat diese Bitte mit großer Wahrscheinlichkeit in seinem *Ev-Exemplar gefehlt: Genau dies wird auch durch die Altsyrer (gegen D it! ) bestätigt. Besonders charakteristisch ist Lk 20,19c ἔγνωσαν γὰρ ὅτι πρὸς αὐτοὺς εἶπεν τὴν παραβολὴν ταύτην: Epiphanius hat diese Aussage zwar nicht als »gestrichen« gekennzeichnet, übergeht sie aber in seinem Referat, das *20,19a.b bezeugt (Schol. 54). Ohne weitere Hinweise wäre es schwierig, nur aufgrund der Nichterwähnung ein positives Urteil zu fällen. Aber da die Aussage auch im Sinaisyrer fehlt, kann man davon ausgehen, dass sie nicht im vorkanonischen Evangelium stand, sondern erst von der lk Redaktion in den Text eingefügt wurde. In diesem Fall besitzt die Einsicht in den sekundären Charakter von Lk 20,19c deshalb eine besondere Bedeutung, weil die Begründung des Verhaftungswunsches auf das Winzergleichnis Lk 20,9-18 zurückweist, das aber in *Ev sicher gefehlt hat. Der Verhaftungswunsch *20,19a.b war daher ursprünglich auf das Problem der Vollmachtsfrage *20,1-8 bezogen: Der Befund ist eindeutig und vollständig konsistent mit den anderen redaktionellen Beobachtungen, wird aber, außer durch Epiphanius, ausschließlich durch den Sinaisyrer bezeugt. Vermutlich aus diesem Grund ist diese Variante auch in NA 27 nicht im Apparat aufgeführt. Lk 21,18 καὶ θρὶξ ἐκ τῆς κεϕαλῆς ὑμῶν οὐ μὴ ἀπόληται hat nach Epiphanius (Schol. 58) in *Ev gefehlt. In der griechischen Handschriftenüberlieferung ist der Vers durchweg bezeugt, fehlt allerdings komplett im Sinaisyrer. In diesem Fall ist die Variante im Apparat von NA 27 aufgeführt, bezeichnenderweise mit dem Hinweis auf die synoptische Parallelüberlieferung, wie das Sigel p) anzeigt: Die Aussage fehlt in den entsprechenden Kontexten Mk 9,13 || Mt 24,13, und dieses Fehlen hätte dann auch die (sekundäre) Auslassung in Lk 21,18 angeregt bzw. beeinflusst. Aber die Vermutung einer negativen Beeinflussung ist äußerst unwahrscheinlich. Der Text von sy s bestätigt dagegen das Zeugnis des Epiphanius und zeigt: Lk 21,18 hat im vorkanonischen Evangelium gefehlt, dessen Text dagegen von Mk 9,13 || Mt 24,13 rezipiert wurde. Dazu passt dann die Beobachtung, dass das in mancher Hinsicht analoge Doppelbildwort von den Sperlingen und den Haaren auf dem Kopf in Lk 12,6f (wiederum nach dem Zeugnis des Epiphanius) in *Ev sicher gefehlt hat: Die Verheißung des besonderen Schutzes auch des Allergeringsten erweist sich als Anliegen der lk Redaktion. Umgekehrt ist kein theologischer Grund erkennbar, aus dem Marcion gerade diesen Aspekt hätte beseitigt haben sollen. Diese Beispiele zeigen, dass die Altsyrer nicht nur dann von großer textkritischer Bedeutung sind, wenn sie mit D it zusammengehen, sondern auch dann, wenn sie ______________________________ 61 In der Variantenliste Anhang III sind dies die Varianten der Gruppe ❸. § 5: Der Text von *Ev und die kanonische Textüberlieferung 105 jeweils für sich stehen. Denn die Varianten der Vetus Syra belegen (zumindest in der großen Mehrheit der Fälle) das identische textgeschichtliche Phänomen, das auch für den »Westlichen Text« insgesamt (D it sy) angenommen wurde: Es handelt sich um Spuren des vorkanonischen Evangeliums, die in die Überlieferung des kanonischen Textes eingedrungen sind und sich dort erhalten haben. In diesem Fall lässt sich auch die geographische Verteilung der Handschriften, die diesem »Westlichen Texttyp« seinen irreführenden Namen gab, gut nachvollziehen. Denn die Varianten aus dem vorkanonischen Evangelium haben sich insbesondere im lateinischen Westen (also wohl vor allem in Gallien, aber auch in Nordafrika) und im syrischen Osten erhalten und dort ihren Einfluss auf die kanonische Textüberlieferung ausgeübt. Das ist am leichtesten zu erklären, wenn das vorkanonische Evangelium schon vor der Redaktion der Kanonischen Ausgabe in Versionen existierte. Denn in diesem Fall musste sich nicht einfach die neue Kanonische Ausgabe gegen eine ältere Ausgabe durchsetzen, sondern die neue griechische Ausgabe musste auch die älteren Versionen verdrängen. Für die fraglichen Bereiche im Westen und in Syrien ist dies bekanntlich erst mit der Vulgata bzw. der Peshitta geschehen. 62 Da die Herstellung der Peshitta und ihre Durchsetzung gegenüber der Vetus Syra in einem länger andauernden und weniger einheitlichen Prozess verliefen, als dies bei der Vulgata gegenüber der Vetus Latina der Fall war, ist es auch wenig überraschend, dass die Peshitta insgesamt oder wenigstens in einzelnen Handschriften häufiger vorkanonische Lesarten der Vetus Syra enthält, als dies bei der Vulgata gegenüber der Vetus Latina der Fall ist. 63 3. *Ev und die Varianten der griechischen Überlieferung: Die Beobachtung, dass das charakteristische Phänomen der Interferenz zwischen der vorkanonischen und der kanonischen Textüberlieferung nicht nur dann anzunehmen ist, wenn D it sy in der Mehrzahl ihrer Zeugen gegen den Mehrheitstext übereinstimmen, sondern auch dann, wenn die Varianten nur von einzelnen Handschriften geboten werden, lenkt den Blick auf diejenigen Varianten, die nicht von D it sy bezeugt sind ______________________________ 62 Vgl. dazu die Beiträge in K. Aland (Hg.), Die alten Übersetzungen des Neuen Testaments, die Kirchenväterzitate und Lektionare, Berlin - New York 1972, insbesondere: B. F ISCHER , Das Neue Testament in lateinischer Sprache. Der Gegenwärtige Stand seiner Erforschung und seine Bedeutung für die griechische Textgeschichte, ebd. 1-92; M. B LACK , The Syriac Versional Tradition, ebd. 120-159; H. J. F REDE , Die Zitate des Neuen Testaments bei den lateinischen Kirchenvätern. Der gegenwärtige Stand ihrer Erforschung und ihre Bedeutung für die griechische Textgeschichte, ebd. 455- 478. Außerdem die Beiträge in B. D. Ehrman, M. W. Holmes (eds.), The Text of the New Testament in Contemporary Research, Grand Rapids 1995, insbesondere: J. H. P ETZER , The Latin Version of the New Testament, ebd. 113-130; T. B AARDA , Syriac Versions of the New Testament, ebd. 97-112. 63 In den textkritischen Abschnitten der Rekonstruktion (s. Anhang I, jeweils Abschnitt B. des Kommentars) bzw. in der Variantenliste (Anhang III) ist dieses Phänomen daran zu erkennen, dass sy p häufiger mit dem sicher oder mutmaßlich vorkanonischen Text geht als vg. 106 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche und die daher nie als Teil des »Westlichen Textes« verstanden wurden. Dies gilt zunächst für die 38 Entsprechungen zu dem für *Ev bezeugten Text, zu denen Varianten ausschließlich in Handschriften der griechischen Überlieferung (ohne D) vorliegen. 64 Das Phänomen ist wieder an nur wenigen Beispielen zu illustrieren: Adamantius (2,16; 831b) bezeugt für *5,36 ἐπίβλημα ῥάκους ἀγνάϕου ἐπὶ ἱματίῳ παλαιῷ anstelle des kanonischen ἐπίβλημα ἀ π ὸ ἱματίου καινοῦ σ χ ί σ α ς ἐπιβάλλει ἐπὶ ἱμάτιον παλαιόν. Das Fehlen von ἀπὸ … σχίσας sowie die Umstellung der Wortfolge ist auch durch eine einzige Majuskel (047) belegt. Diese Variante ist im Apparat von NA 27 gar nicht verzeichnet. Für *6,28 ist die direkte Bezeugung widersprüchlich: Tertullian hat offensichtlich die Aufforderung εὐλογεῖτε τοὺς καταρωμένους ὑμᾶς wie im kanonischen Mehrheitstext gelesen, 65 Adamantius (1,12; 812d) bezeugt dagegen die Aufforderung zur Feindesliebe (ἀγαπᾶτε τοὺς ἐχθροὺς ὑμῶν), wie sie auch aus Mt 5,44 bekannt ist (ἐγὼ δὲ λέγω ὑμῖν, ἀγαπᾶτε τοὺς ἐχθροὺς ὑμῶν). Dass Adamantius hier nicht irrtümlich die beiden kanonischen Fassungen durcheinander bringt, ist durch eine Reihe griechischer Minuskeln (115 477 517 544 1216 1675 2766) sichergestellt, die denselben Text lesen. Diese Bezeugung ist aufschlussreich für den Umgang mit den widersprüchlichen Zeugnissen für *Ev, darüber hinaus für das Phänomen der sog. »Synoptischen Paralleleinflüsse«, die im Apparat von NA 27 durch das Sigel p) ausgewiesen sind; auf beides ist gleich zurückzukommen. Ähnliches gilt für das Bildwort vom Leuchter: Tertullian bezeugt zwar Teile von *8,16a οὐδεὶς δὲ λύχνον ἅψας καλύπτει αὐτὸν (σκεύει ἢ ὑποκάτω κλίνης τίθησιν), scheint aber die positive Bestimmung der Nutzung des Leuchters in Lk 8,16b.c ἀλλ’ ἐπὶ λυχνίας τίθησιν ἵνα οἱ εἰσπορευόμενοι βλέπωσιν τὸ ϕῶς nicht in *Ev gelesen zu haben. 66 Dass Lk 8,16b.c tatsächlich in *Ev gefehlt hat (und nicht nur in Tertullians Referat übergangen wurde), zeigt wiederum die handschriftliche Überlieferung: Lk 8,16b fehlt in 472 903* 1009 1229 1355 1542* ℓ 253, Lk 8,16c in P 75 B, zwei Handschriften der »Top-Kategorie«. 67 Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass der vorkanonische Text nur *8,16a enthielt, und zwar ohne das Ende (σκεύει ἢ ὑποκάτω κλίνης τίθησιν), das jeweils in b und e in (verschiedenen) Teilen ergänzt wurde, und vor allem ohne Lk 8,16b.c. In diesem Fall lässt sich noch zeigen, woher die in *Ev fehlenden Teile der Aussage stammen: Das (für die Logik von *8,16 verzichtbare) Ende von Lk 8,16a und der Anfang von V. 16b (ὑποκάτω κλίνης τίθησιν ἀλλ’ ἐπὶ λυχνίας τίθησιν) stammen aus *11,33 (s. die Rekonstr.); der abschließende Finalsatz ist, wie die entsprechende und ebenfalls redaktionelle Formulierung in Lk 11,33 zeigt, eine lk Bildung auf der Grundlage von Mt 5,15. Für Lk 13,29 καὶ ἥξουσιν ἀπὸ ἀνατολῶν καὶ δυσμῶν καὶ ἀπὸ βορρᾶ καὶ νότου καὶ ἀνακλιθήσονται ἐν τῇ βασιλείᾳ τοῦ θεοῦ bezeugt Epiphanius (Schol. 41) eine »Streichung« durch Marcion. Da ______________________________ 64 In der Variantenliste (Anhang III) sind dies die Varianten der Gruppe ❹. 65 Tert. 4,16,1: et benedicite eos qui vos oderunt, et orate pro eis qui vos calumniantur. 66 Tert. 4,19,5: miror autem cum lucernam negat abscondi solere … cum omnia de occulto in apertum repromittit. 67 W OLTER , Lk 310 z. St. Der Apparat der IGNTP-Ausgabe verzeichnet noch andere (in NA 27 nicht angegebene) Lücken, die hier die uneinheitlich durchgeführten Korrekturen anzeigen: σκευει: om e; η υποκατω κλινης τιθησιν: om b; επι λυχνιας τιθησιν ινα: om E* usw. § 5: Der Text von *Ev und die kanonische Textüberlieferung 107 der Vers auch in einigen griechischen Handschriften fehlt (13 69 349 543* 544 788 826 1241), 68 hat das vorkanonische Evangelium diesen Vers nicht enthalten: Er ist sekundär und geht auf die Einfügung durch die lk Redaktion zurück, in deren literarisches Konzept er sich nahtlos einfügt. Als letztes Beispiel sei auf Lk 16,16c καὶ πᾶς εἰς αὐτὴν βιάζεται verwiesen. Während Epiphanius (Schol. 43) diese Wendung für *Ev bezeugt, fehlt sie in Tertullians Referat. 69 Hier liegt also eine der charakteristischen widersprüchlichen Bezeugungen vor. Da die Möglichkeit besteht, dass Tertullian hier nur unvollständig zitiert und den Schluss de Aussage einfach übergangen haben könnte, ist das entsprechende Zeugnis der handschriftlichen Überlieferung wichtig, weil der Vers in einigen wenigen - aber wichtigen - Zeugen fehlt ( א * G 115 716 788 1542): Tertullian referiert den ursprünglichen Wortlaut, während Epiphanius’ *Ev-Exemplar durch die kanonischen Handschriften beeinflusst ist. Diese Beispiele zeigen mit hinreichender Deutlichkeit, dass die Berührungen zwischen dem für *Ev bezeugten Text und den Varianten des Kanonischen Textes nicht auf die »Westlichen« Zeugen beschränkt sind: Das gleiche umfassendere Phänomen, das schon für die Berührungen mit den Varianten in D it sy sichtbar wurde, findet sich auch im Rest der handschriftlichen Überlieferung. Das Phänomen unterscheidet sich weder hinsichtlich des semantischen Gehalts noch hinsichtlich der Gesamtzahl der Varianten von den »Westlichen« Beispielen. In der Mehrzahl der Fälle - die hier gar nicht besprochen sind, sich aber leicht aus der Variantenliste ergeben - handelt es sich um unauffällige Abweichungen, die Harnack ohne weiteres als »neutrale« Varianten eingestuft und daher auf die »Westliche« Vorlage zurückgeführt hätte, die Marcion angeblich zu seiner Revision benutzte. Daneben finden sich aber auch gehaltvolle und (in Harnacks Terminologie) »tendenziöse« Varianten, wie sie zu Lk 13,29 oder 16,16 deutlich wurden: Textkritisch lässt sich zwischen diesen Varianten nicht unterscheiden, sie repräsentieren das gleiche Phänomen, das schon für die Varianten der »Westlichen« Zeugen sichtbar wurde. 4. *Ev und die Varianten in weiteren Versionen: Berücksichtigt man die Überlegung zur Durchsetzung der Kanonischen Ausgabe gegenüber den alten Versionen des vorkanonischen Evangeliums (it sy), dann sind hier noch diejenigen Varianten zu nennen, die nicht in der Vetus Latina und der Vetus Syra, sondern in anderen Versionen bezeugt sind: Es lässt sich ohne weiteres zeigen, dass die charakteristischen Berührungen zwischen dem für *Ev bezeugten Text und den Zeugen für das kanonische Lk-Evangelium nicht nur in D it sy, sondern auch in der koptischen, äthiopischen, armenischen, georgischen und gotischen Überlieferung auftauchen. Die entsprechenden Zeugnisse sind nicht vollständig verzeichnet, und sie sind in der Variantenliste (Anhang III) auch nicht als eigene Gruppe aufgeführt. Für die Varianten in den genannten Versionen vgl. daher die folgenden Belege. ______________________________ 68 Diese Variante ist im Apparat von NA 27 nicht verzeichnet. 69 Tert. 4,33,7: Lex et prophetae usque ad Ioannem, ex quo regnum dei annuntiatur. 108 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche copt: (sa und bo sind hier nicht unterschieden) 4,32.34. - 6,3.7.20.29.36f.43. - 7,27. - 8,18.25. - 9,6.18.24.26.33.35.54. - 10,1.9.11.19. - 11,2f.11.13.39.41. - 12,1f.9 (! ).10.31.39 (! ).56. - 13,10. - 16,9.19.22. - 18,16 (! ).20. - 20,44; 21,28. - 22,8.14f.16 (! ). aeth: 6,20.23.26.43. - 7,38. - 9,18.20. - 10,28. - 11,3.28.39.41. - 13,19. - 16,29. - 21,9. - 23,56. armen: 6,21. - 9,(30).33. - 11,28. - 21,19. - 24,6 (! ). georg: 9,33. - 11,2. - 21,7.19. - 22,67. - 23,56. - 24,6 (! ).9. got: 9,20. - 20,44. Auch für diese Zeugnisse gilt, dass bereits eine äußerst schmale Bezeugung aussagekräftig ist. Zur Illustration sollen wenige Beispiele genügen: In *18,16 fehlen die Worte καὶ μὴ κωλύετε αὐτά in zwei Minuskeln (1338 1352) sowie in einer einzigen bohairischen Handschrift. Die Bezeugung dieser Variante ist so schwach, dass sie nicht in den Apparat von NA27 aufgenommen ist. Aber da Adamantius (1,16; 814c) das Fehlen dieser Worte in *Ev belegt, wird man davon ausgehen, dass die Varianten in den drei Handschriften tatsächlich das Phänomen der Interferenz zwischen dem vorkanonischen und dem kanonischen Text belegt. Noch schmaler ist die Bezeugung zu Lk 22,16 λέγω γὰρ ὑμῖν ὅτι οὐ μὴ ϕάγω αὐτὸ ἕως ὅτου πληρωθῇ ἐν τῇ βασιλείᾳ τοῦ θεοῦ: Der ganze Vers fehlt in nur einer einzigen bohairischen Handschrift, die verständlicherweise in NA 27 wegen Geringfügigkeit nicht verzeichnet ist. Aber Epiphanius bezeichnet diesen sog. eschatologischen Vorbehalt als »gestrichen« (Schol. 63). Die vereinzelte koptische Handschrift hat hier also den Wortlaut des vorkanonischen Textes bewahrt. In textkritischer Hinsicht unterscheidet sich diese Variante allerdings in nichts von den Varianten, die Westcott/ Hort mit Blick auf den »Westlichen Text« als »Non-Interpolations« bezeichnet haben. Die Bedeutung der Varianten in diesen sekundären Versionen ist anders zu beurteilen als im Fall der Altlateiner und (Alt-)Syrer, weil sie i. W. von der Vulgata abhängig sind: Ihre Spuren des vorkanonischen Evangeliums setzen bereits den Text der Kanonischen Ausgabe voraus. Sie bezeugen das vorkanonische Evangelium also nicht direkt; stattdessen sind sie Zeugen zweiter Ordnung für die Textgeschichte der griechischen Kanonischen Ausgabe. Für sie gilt daher die gleiche Einschätzung wie für die kanonischen Lk-Handschriften: Sie belegen die starke Einwirkung der Textgestalt des vorkanonischen Evangeliums auf die kanonische Überlieferung. Denn nimmt man alle Variantengruppen - also die Lesarten der »Westlichen« Zeugen in D it sy, in der griechischen Überlieferung sowie in den davon abhängigen Versionen - zusammen, dann ergibt sich das schon genannte Phänomen, dass beinahe drei Viertel der Abweichungen von *Ev gegenüber Lk Entsprechungen in den Lesarten der kanonischen Textüberlieferung besitzen. 5. *Ev Varianten ohne Entsprechungen in der kanonischen Überlieferung: Mit Blick auf diese große Zahl der Entsprechungen zwischen *Ev und den Varianten der kanonischen Textüberlieferung lassen sich dann auch die restlichen Abweichungen in dem für *Ev bezeugten Text gegenüber dem kanonischen Text einschätzen: In über 150 Fällen, also in gut einem Viertel aller für *Ev direkt bezeugten Varianten, § 5: Der Text von *Ev und die kanonische Textüberlieferung 109 gibt es keine Entsprechungen in der Textüberlieferung des kanonischen Textes. 70 Man wird nicht fehlgehen in der Annahme, dass diese Varianten in *Ev deshalb ohne Entsprechung in der kanonischen Textüberlieferung sind, weil sie konsequent nach dem kanonischen Text korrigiert wurden: Sie haben keine Spuren hinterlassen. Diese Varianten entsprechen daher den eindeutig als fehlend bezeugten, längeren Passagen, also etwa Lk 1f; 3,1b-4,15; 15,11-32 usw., die ja ebenfalls keine Analogien in der kanonischen Textüberlieferung besitzen. Die Erklärung hatte sich bereits im Zusammenhang der Besprechung der Belege für auktoriales κύριος (o. S. 93ff) als Kennzeichen der lk Redaktion nahegelegt: Wenn die Handschriften des vorkanonischen Evangeliums nach dem kanonischen verglichen und korrigiert wurden, dann sind längere Passagen komplett aus den kanonischen Vorlagen übernommen worden. Die charakteristischen Interferenzen ergeben sich nur dort, wo die redaktionellen Abweichungen kleine Elemente auf der Ebene eines Satzes oder darunter betreffen. Alle umfangreicheren Änderungen sind korrekt nach den kanonischen Vorlagen korrigiert. Für die Varianten ohne Entsprechung in der kanonischen Textüberlieferung bedeutet dies, dass sie den anderen Gruppen grundsätzlich nicht widersprechen und Ausdruck des gleichen Phänomens sind: Sie belegen den Text des vorkanonischen Evangeliums. 6. *Ev und die sog. innersynoptischen Konformierungen: Zu den Eigenheiten dieses vorkanonischen Textes gehörte offensichtlich ein Phänomen, dessen textkritische Signifikanz sich verändert, wenn man von der Möglichkeit der Interferenz zwischen vorkanonischem und kanonischem Text ausgeht: Es gibt eine lange Reihe von Beispielen, in denen einige der kanonischen Lk-Handschriften Formulierungen und kürzere Passagen enthalten, die im Mehrheitstext fehlen, aber enge (und häufig wörtliche) Entsprechungen in den synoptischen Paralleltexten (Mk und Mt) besitzen. Der methodische Zugriff der kritischen Ausgaben behandelt diese Entsprechungen als sekundäre Konformierungen durch die synoptischen Parallelen auf der Ebene der Textüberlieferung: Sie haben diese Parallelen durch das Sigel p) markiert und durchweg in den Apparat verbannt. Angesichts der großen Breite, in der dieses Phänomen auftritt, ist dies auch nicht verwunderlich. Methodisch setzt dieses textkritische Urteil allerdings nicht nur voraus, dass die Passagen der Dreifachüberlieferung bzw. der mt-lk Doppelüberlieferung eine jeweils distinkte Textgestalt besaßen, sondern auch, dass diese Distinktion sekundär und gewissermaßen »eigenmächtig« durch die Kopisten beseitigt wurde. Aber unter der methodischen Prämisse der *Ev-Priorität verändert sich der Befund. Denn für etliche dieser »innersynoptischen Konformierungen« existiert ______________________________ 70 In der Variantenliste (Anhang III) sind dies die Varianten der Gruppe ❶. 110 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche eine entsprechende Bezeugung für *Ev. Auch dies sei wieder an einigen, wenigen Beispielen illustriert. In der Verklärungsszene lautet die Prädikation Jesu durch die Himmelsstimme im kanonischen Mehrheitstext von Lk 9,35: οὗτός ἐστιν ὁ υἱός μου ὁ ἐ κ λ ε λ ε γ μ έ ν ο ς . 71 Andere Handschriften haben dagegen das aus Mk 9,7 bekannte ὁ ἀγαπητός bzw. wie Mt 17,5 ὁ ἀγαπητός, ἐν ᾧ εὐδόκησα. 72 Die textkritische Einschätzung, dass hier eine der genannten Konformierungen durch die synoptischen Parallelen vorliegt, wird im Apparat von NA 27 durch p) angezeigt und von Metzger ausdrücklich begründet. 73 Jedoch wird die ἀγαπητός-Lesart durch Tertullian und Epiphanius auch für *Ev bezeugt. 74 Es liegt daher nahe, dass dies die Formulierung des vorkanonischen Evangeliums war, die dann zuerst von Mk 9,7 übernommen, von Mt 17,5 geringfügig erweitert (ἐν ᾧ εὐδόκησα) und schließlich von der lk Redaktion in ὁ ἐκλελεγμένος geändert wurde: Die lk Erwählungsaussage ist sekundär und Kennzeichen der lk Redaktion. Sie besitzt in der Verspottung des Gekreuzigten durch das Volk (Lk 23,35) eine Entsprechung: … σωσάτω ἑαυτόν, εἰ οὗτός ἐστιν ὁ χριστὸς τοῦ θεοῦ ὁ ἐ κ λ ε κ τ ό ς . Dies ist allerdings nur im Mehrheitstext der Fall, zu dem es folgende Varianten gibt: ο χριστος ο υιος του θεου: P 75 (070) f 13 ℓ 844 pc sy h co Eus ¦ ει υιος εστιν ο χριστος του θεου: B ¦ ει υιος ει του θεου, ει χριστος ει: D c d. Das bedeutet jedoch: Dass Jesus der Erwählte Gottes war, ist durch die lk Redaktion an zwei Stellen in den sicher bzw. mutmaßlich vorkanonischen Text eingetragen worden. Lk 9,35 v. l. ist daher keine sekundäre Angleichung an die synoptischen Parallelen durch einen Kopisten, sondern ein ursprüngliches Kennzeichen des vorkanonischen Textes. Das Logion über das Ziel der Sendung Jesu nach Lk 12,51 endet im Mehrheitstext mit den Worten: οὐχί, λέγω ὑμῖν, ἀλλ’ ἢ δ ι α μ ε ρ ι σ μ ό ν , unterscheidet sich daher von der Parallele Mt 10,34: οὐκ ἦλθον βαλεῖν εἰρήνην ἀλλὰ μ ά χ α ι ρ α ν. In einer einzigen Minuskel (1242*) findet sich diese Wortwahl auch für Lk 12,51 (οὐχί, λέγω ὑμῖν, ἀλλ’ ἢ μ ά χ α ι ρ α ν ). Die Bezeugung ist zu geringfügig, um im Apparat von NA 27 verzeichnet zu sein, aber es besteht wenig Zweifel, dass diese Begründung im Hintergrund der Herausgeberentscheidung stand. Allerdings bezeugt Adamantius genau diese Variante für *Ev, 75 die in 1242* folglich nicht sekundär ist, sondern eine ausnahmsweise nicht getilgte Interferenz zwischen dem vorkanonischen und dem kanonischen Text anzeigt. ______________________________ 71 So bezeugt von P 45.75 א B L Ξ (579) 892 1241 pc (a) aur ſſ 2 l vg sy s.hmg . Θ pc bieten: εκλεκτος. 72 αγαπητος/ dilectus: A C* W f 13 33 b (c: dilectissimus) d e f l q r 1 vg, vgl. Mk 9,7 ¦ αγαπητος εν ω ηυδοκησα: C 3 D Ψ bo ms . Vgl. Mt 17,5. 73 B. M. M ETZGER , A Textual Commentary on the Greek New Testament, Stuttgart 2 1994, z. St.: »The original Lukan reading is undoubtedly ἐκλελεγμένος, which occurs in a somewhat technical sense only here in the NT. The other readings, involving more usual expressions, are the results of copyists changing the word to agree with other passages (ἐκλεκτός, 23: 35; ἀγαπητός, Mark 9: 7; Luke 3: 22; ἀγαπητός ἐν ᾧ εὐδόκησα, Matt 17: 5)« (Hervorhebung M. K.). 74 Tert. 4,22,1: Hic est filius meus d i l e c t u s; Epiph., Schol. 18: οὗτός ἐστιν ὁ υἱός μου ὁ ἀ γ α π η τ ό ς. 75 Adam. 2,5 (824c): οὐκ ἦλθον, ϕησί, βαλεῖν εἰρήνην, ἀλλὰ μ ά χ α ι ρ α ν . Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass Tertullian die Formulierung des Mehrheitstextes bietet: non, dico vobis, sed s e p a r a t i o n e m (4,29,13). § 5: Der Text von *Ev und die kanonische Textüberlieferung 111 Ein gutes Beispiel für den angeblichen »Paralleleinfluss« aus Mt ist die typisch mt Formulierung βασιλεία τῶν οὐρανῶν, die einige Male auch in der Textüberlieferung des kanonischen Lk belegt ist. Die entsprechenden Beispiele sind so »schwach« bezeugt und erscheinen so eindeutig als synoptischer »Paralleleinfluss«, dass sie im Apparat von NA 27 gar nicht aufgeführt sind. So lesen etliche Zeugen in Lk 6,20b ὑμετέρα ἐστὶν ἡ βασιλεία τ ῶ ν ο ὐ ρ α ν ῶ ν anstelle von ὑμετέρα ἐστὶν ἡ βασιλεία τ ο ῦ θ ε ο ῦ im Mehrheitstext. 76 Interessanterweise bezeugt Tertullian beide Lesarten in seinem *Ev-Referat. 77 Da die Seligpreisung der Armen eindeutig auf den Lk- (und nicht den Mt-) Text der Makarismen verweist, stammt eine der beiden Formulierungen aus dem Text, die andere geht auf Tertullians eigene (und ungenaue) Wiedergabe des Textes zurück. Da Tertullian immer regnum dei sagt, wenn er selbst formuliert und nicht zitiert, muss man folgern, dass *Ev tatsächlich die »mt« Formulierung βασιλεία τῶν οὐρανῶν enthielt. Diese ist auch in Lk 13,18f v. l. bezeugt. Dieses Beispiel ist instruktiv, weil das Stichwort im Mehrheitstext nur in Lk 13,18 (τίνι ὁμοία ἐστὶν ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ …) auftaucht, nicht aber in Lk 13,19 (ὁμοία ἐστὶν κόκκῳ σινάπεως …). In Lk 13,18 steht in einigen Handschriften βασιλεία τῶν οὐρανῶν, wogegen der Rest der Überlieferung das vertrautere βασιλεία τοῦ θεοῦ bietet. 78 In 13,19 fehlt das Stichwort - verständlicherweise: die unschöne Wiederholung ist vermieden - in der Mehrheit der Handschriften ( a a 2 aur b c d f ſſ 2 i l q r 1 M ), wogegen einige τοῦ θεοῦ lesen ( c gat aeth ), das auch Tertullian für *Ev bezeugt (Tert. 4,30,1: simile est regnum dei … grano sinapis). Nur Petrus Chrysologus ( Serm. 98, PL 52, 475 ) bezeugt hier das Mt 13,31 entsprechende Syntagma βασιλεία τ ῶ ν ο ὐ ρ α ν ῶ ν . Am leichtesten lässt sich diese disparate Überlieferungslage verstehen, wenn bereits in *Ev in beiden Versen βασιλεία τῶν οὐρανῶν stand, das von der lk Redaktion in Lk 13,18 durch βασιλεία τοῦ θεοῦ ersetzt und in Lk 13,19 vollständig gestrichen wurde. Das letzte Beispiel ist die Begründung des »Kinderevangeliums« Lk 18,16 γὰρ τοιούτων ἐστὶν ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ bzw. die dazugehörige Warnung 18,17 ὃς ἂν μὴ δέξηται τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ ὡς παιδίον. Auch hier ist die Überlieferung wieder gespalten. 79 Während *18,17 für *Ev nicht bezeugt ist, referiert Adamantius für *18,16 wieder das »mt« βασιλεία τῶν οὐρανῶν ( 1,16; 814c ). Die Beispiele, an denen für solche »synoptischen Paralleleinflüsse« eine direkte Bezeugung für *Ev vorliegt, ließen sich noch deutlich vermehren. Die folgende Liste enthält die jeweiligen Stellenangaben mit dem Text des kanonischen Lk, die abweichende Bezeugung für *Ev, deren Entsprechung zu den Varianten der kanonischen Textüberlieferung sowie die Angabe der synoptischen Parallele. Die ______________________________ 76 Lk 6,20b (βασιλεια) των ουρανων/ caelorum: X* 69 118 157 179 205 109 265 489 517 544 903 954 1200 1219 1241 1342 1424 1654 1675 2487 2757 lectt c f sy s.j(1 ms) georg II got slav Basil (Moral. 48,3; PG 31, 769) Aphr (Dem. 20,17; 22,24; PS 1, 921.1037); (βασιλεια) του ουρανου: sa bo mss aeth ¦ (βασιλεια) του θεου/ (regnum) Dei: Tert [4,14,1] a aur b d e ſſ 2 l q r 1 M . 77 Tert. 4,14,1: beati mendici quoniam illorum est regnum d e i ¦ 4,14,13: beati mendici quoniam illorum est regnum c a e l o r u m . 78 Lk 13,18 βασιλεια των ουρανων: N U 179 472 827 903 1009 2766 aeth mss slav 2 mss ¦ βασιλεια του θεου: it M . - Lk 13,19 η βασιλεια του θεου/ regnum dei: Tert c gat aeth ¦ η βασιλεια των ουρανων: Petr. Chrys. (Serm. 98, PL 52, 475) ¦ om a a 2 aur b c d f ſſ 2 i l q r 1 M . 79 Lk 18,16 βασιλεια των ουρανων/ regnum caelorum: 157 472 579 983 1009 1187 1241 1604 2487 a b c vg 1 ms ¦ βασιλεια του θεου/ regnum Dei: aur d e f ſſ 2 i l q r 1 M . - Lk 18,17 των ουρανων: sy s ¦ του θεου: it M . 112 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche Liste ist nicht vollständig, und sie enthält nicht für alle Beispiele auch Entsprechungen in der kanonischen Textüberlieferung. Trotz dieser Einschränkungen sollten das charakteristische Phänomen und die Breite der Belege deutlich werden; im Einzelnen ist die Rekonstruktion (Anhang I) zu vergleichen. Nach der Stellenangabe wird der kanonische Mehrheitstext nach NA 27 geboten. Durch ≠ getrennt, folgt die abweichende direkte Bezeugung, die alle Unterschiede (abweichende Formulierung; kürzerer oder längerer Text) umfasst. Anschließend zeigt = die handschriftliche Bezeugung (soweit vorhanden) sowie die entsprechende synoptische Parallele. 5,24a: ἐπὶ τῆς γῆς ἀϕιέναι ἁμαρτίας ≠ Epiph., Schol. 2 = sy s Chrys (Hom.) = Mk 2,10. - 5,24b: καὶ ἄρας ≠ Tert. 4,10,1 = א D 0211 115 157 726 1424 1542* [a] aur b c d f ſſ 2 l q r 1 sy s.p Tat pers = Mk 2,11. - 5,24b: τὸ κλινίδιον ≠ Tert. 4,10,1: grabattum = D 517 954 1424 1675 c d r 1 = Mk 2,11. - 5,34: δύνασθε τοὺς υἱοὺς … ποιῆσαι νηστεῦσαι ≠ Tert. 4,11,6 = א * D a b c d e ſſ 2 g 1 gat = Mk 2,19. - 5,36: ἱματίου καινοῦ ≠ Epiph. 42,2,1(ῥάκους ἀγνάϕου) = Adam. 2,16 (831b) = 443* = Mk 2,21. - 5,36b: καινὸν σχίσει ≠ Epiph. 42,2,1 (πλήρωμα αἶρει) = Mk 2,21. - 5,36b: τὸ ἀπὸ τοῦ καινοῦ ≠ Epiph. 42,2,1 (μείζον γὰρ σχίσμα γενήσεται) = Mk 2,21. - 6,28a: εὐλογεῖτε τοὺς καταρωμένους ὑμᾶς  Tert. 4,16,1 (et benedicite eos qui vos oderunt) ≠ Adam. 1,12 (812d) = 115 477 517 544 1216 1675 2766 = Mt 5,44. - 6,28b: περὶ τῶν ἐπηρεαζόντων = Tert. 4,16,1 ≠ Adam. 1,12 (812d) = (e) Hieron = Mt 5,44. - 8,21: πρὸς αὐτούς ≠ Tert. 4,19,11 = Mk 3,33. - 9,35 (s. o.). - 9,41a: καὶ διεστραμμένη = Mt. 17,17 ≠ Tert. 4,23,1 = Epiph., Schol. 19 = a e = Mk 9,19. - 10,24: καὶ βασιλεῖς ≠ Tert. 4,25,12 = D a d ſſ 2 i l  Mt 13,17. - 11,2d: γενηθήτω τὸ θέλημά σου, ὡς ἐν οὐρανῷ καὶ ἐπὶ γῆς ≠ Tert. 4,26,4 = P 75 B L 1 pc vg sy s.c Orig = Mt 6,10. - 11,3: δίδου ≠ Tert. 4,26,4 = א D 2 27 28 71 115 472 1009 1010* 1071 1195* 1242* 1355 1458 1654 1675 2542 2613 2757* Orig (Sel. Ps 71; PG 12, 1525) = Mt 6,11. - 11,3: τὸ καθ’ ἡμέραν = Tert. 4,26,4 (= Orig? ) ≠ D 2542 a aur b c d e f ſſ 2 g 1 i l r 1 vg cl sy h bo mss aeth Ambr (Sacr. V 4,18; CSEL 73, 66) August (Ep. 130, 21f; CSEL 44, 63.65) Hilar (fr. 3; CSEL 65, 231) = Mt 6,11. - 11,4: τὰς ἁμαρτίας = Tert. 4,26,4 (! ) ≠ D 2542 b c d (e) ſſ 2 vg mss = Mt 6,12. - 11,13b: ὑπάρχοντες ≠ (Epiph., Schol. 24) = Adam. 2,20 (870f) = א D K M X Π mult it = Mt 7,11. - 11,42: τοῖς Φαρισαίοις ≠ Tert. 4,27,1 = Mt 23,23. - 12,24: οἷς οὐκ ἔστιν ταμεῖον οὐδὲ ἀποθήκη ≠ Tert. 4,29,1 = 907  157 e = Mt 6,26. - 12,39: οὐκ ἂν ἀϕῆκεν = Tert. 4,39,7 ≠ א 1 A B L Q W Θ Ψ 070 33 2542 f 1.13 33 M aur b c f ſſ 2 l q r 1 sy p.h sa mss bo = Mt 24,43. - 12,51b (s. o.). - 13,19: ἔβαλεν ≠ Tert. 4,30,1 = aeth = Mt 13,31. - 13,27: ἀπόστητε ἀπ’ ἐμοῦ, πάντες ἐργάται ἀδικίας ≠ Tert. 4,30,4 = c d (ſſ 2 ) M 27 71 1194 1485; πορευετε Cyr. (Ador. 15; PG 68, 981); πορευεσθε Dionys. Areop. (Ep. 8; PG 3, 1089) = Mt 7,23. - 17,2: λυσιτελεῖ ≠ Tert. 4,35,1= D d (e) = Mt 18,16. - 18,16b (s. o). - 20,41: Πῶς λέγουσιν τὸν Χριστὸν εἶναι Δαυὶδ υἱόν ≠ Tert. 4,38,10 = e = Mt 22,42. - 20,44: Δαυίδ ≠ Tert. 4,38,10 = 2372 = Mk 12,37. - 21,8b: ᾿Εγώ εἰμι ≠ Tert. 4,39,1-3 = 157 1247 c aur c e ſſ 2 gat i l q r 1 s vg mss = Mt 24,5. - 22,64: περικαλύψαντες αὐτὸν ἐπηρώτων ≠ Epiph., Schol. 68 = Mk 14,65. - 23,45: τοῦ ἡλίου ἐκλιπόντος ≠ Epiph., Schol. 71 = A C 3 D W Θ Ψ f 1.13 M it sy s.c.j.p Orig latmss = Mk 15,33; Mt 27,45. Ein Großteil dieser Varianten für das Phänomen der »synoptischen Konformierungen« ist in den gängigen kritischen Ausgaben (NA 27 / GNT 4 ) gar nicht verzeichnet. Die hier gebotene Erklärung könnte deshalb als lässliche Fingerübung und unnötige Kümmelspalterei erscheinen. Ihre methodische Bedeutung liegt jedoch darin, dass sie die Überlieferungs- und Entstehungsgeschichte der Evangelien in die Erklärung § 5: Der Text von *Ev und die kanonische Textüberlieferung 113 der Transmission des Textes miteinbezieht und dadurch die weithin übliche Abkoppelung der Theoriebildung zur neutestamentlichen Textgeschichte von den Modellen zur Überlieferungsgeschichte der Texte als unzureichend erweist: Beide Bereiche, die Entstehung der neutestamentlichen Texte und die Geschichte ihrer handschriftlichen Überlieferung, sind sehr viel enger aufeinander zu beziehen, als dies gemeinhin geschieht. b. Zur Rekonstruktion des Textes der vorkanonischen Ausgabe Die Berücksichtigung dieser komplexen methodischen Einsicht ermöglicht eine Reihe weiterführender Schlussfolgerungen für die Rekonstruktion der jeweiligen Textgestalt der beiden Ausgaben, des vorkanonischen *Ev und des kanonischen Lk. Die Einsichten verteilen sich dabei recht unterschiedlich: Im Rahmen dieser Untersuchung stehen naturgemäß diejenigen Fragen im Zentrum, die für die Herstellung des vorkanonischen Evangeliums wichtig sind. Aber die Einsichten, die sich daraus für die Beurteilung des kanonischen Textes ergeben, sollen wenigstens angedeutet werden, weil sie über die Frage des Verhältnisses von *Ev und Lk hinaus grundsätzliche Bedeutung für die neutestamentliche Textkritik und ihre Theoriebildung besitzen. 1. Die erste und wichtigste Einsicht aus der Interferenz zwischen der vorkanonischen und der kanonischen Textüberlieferung betrifft den ziemlich umfangreichen Textbestand von *Ev, für den keine direkte Bezeugung vorliegt. Aus diesem Grund ist noch einmal auf die Größenverhältnisse der einzelnen Variantengruppen zurückzukommen: Rund drei Viertel der für *Ev bezeugten Abweichungen vom kanonischen Text besitzen Entsprechungen in der kanonischen Textüberlieferung. Für das letzte Viertel liegt daher nahe, dass in diesen Fällen die abweichenden Formulierungen im kanonischen Text konsequent korrigiert wurden und nur aufgrund der Konsequenz dieser Korrektur keine Spuren in der handschriftlichen Überlieferung hinterlassen haben. Kehrt man die Perspektive um, dann geraten die Varianten der handschriftlichen Überlieferung derjenigen Passagen in den Blick, für die wir keine Bezeugung besitzen, aber aus verschiedenen Gründen annehmen können, dass sie in *Ev enthalten waren. Denn die grundsätzliche Überlegung, dass die Varianten vor allem des »Westlichen Textes« Spuren der Interferenz zwischen der Überlieferung des vorkanonischen und des kanonischen Textes darstellen, erlaubt dann die Schlussfolgerung, dass entsprechende Varianten auch dann als Zeugnis für *Ev herangezogen werden können, wenn eine direkte Bezeugung fehlt. Es geht also um das Problem, das im Zusammenhang von Harnacks großzügigen Interpolationen bereits angesprochen wurde (o. S. 80ff): Ist es möglich, aus den handschriftlichen 114 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche Varianten der kanonischen Textüberlieferung auf den Text von *Ev zurückzuschließen? In dem von Harnack und anderen zugrunde gelegten methodischen Rahmen ist dies nicht möglich. Denn unter der Annahme, dass Marcion das kanonische Lk-Evangelium bearbeitet habe, lässt sich nicht erklären, wieso - und: an welchen Stellen! - der von Marcion angeblich redigierte Evangelientext die kanonische Handschriftenüberlieferung beeinflusst haben sollte. Das von Harnack angewendete Interpolationsverfahren ist daher zu Recht kritisiert worden: »This is simply creating positive evidence … out of no evidence at all.« 80 Unter der Annahme der *Ev-Priorität gilt dieser Einwand jedoch nicht. Denn jetzt sind die Analogien zwischen den (überwiegend »Westlichen«) Varianten des kanonischen Lk-Texts und *Ev als Ausdruck ein und desselben Phänomens erweisbar: Die Varianten der kanonischen Überlieferung zeigen Spuren des vorkanonischen Evangeliums, das die Häresiologen direkt bezeugen. So ergibt sich die einigermaßen erstaunliche Folgerung, dass Harnacks Verfahren zwar methodisch unhaltbar ist, im Ergebnis aber in vielen Fällen zutrifft. Harnack war davon ausgegangen, dass die nachweislichen Berührungen des »Westlichen Textes« mit dem für *Ev bezeugten Text eine so große Nähe zwischen beiden Texten konstituierten, dass er dieses Phänomen auch für die unbezeugten Passagen annahm. Auch, wenn seine Begründung sich als unhaltbar erwiesen hat, ist es sinnvoll, unter dem Gesichtspunkt der Interpolation zunächst von den ganz charakteristischen »Western Readings« auszugehen. Unter Zugrundelegung der Liste mit den »Western Non-Interpolations« von Westcott/ Hort sind dies in erster Linie folgende Beispiele: 5,39 vs. om D a b c d e ſſ 2 l r 1 (lac sy s.c ) Iren Eus (*Ev non test.). - 10,41b.42a μεριμνας και θορυβαζη περι πολλα ενος δε εστιν χρεια: om D d (θορυβαζη) a b e ſſ 2 i l r 1 sy s Ambr Possidius (*Ev non test.). - 12,19b κειμενα εις ετη πολλα αναπαυου ϕαγε πιε: om D a b c d e ſſ 2 (*Ev non test.). - 12,21 vs. om D a b d (*Ev non test.). - 12,39 εγρηγορησεν αν και: om P 75 א * D d e i sy s.c sa mss achm armen (*Ev non test.). - 22,19b.20 το υπερ υμων διδομενον … το υπερ υμων εκχυννομενον: vss. om D a (b e in der Folge: 19a, 17, 18) d ſſ 2 i l (in sy c fehlt nur V. 20; die Reihenfolge ist: V. 19, 17, 18; sy s hat eine modifizierte Form von V. 19, 20a, 17, 20b, 18; sy pesh lässt V. 17f aus, hat aber V. 19, 20) (*Ev non test.). - 22,43f vss. om P 75 א 1 A B T W 1071* lectt f sy s sa bo georg (Clem Orig Athan Ambr Cyr JohDamasc) (*Ev non test.). - 22,62 vs. om 0171 vid a b e ſſ 2 i l r 1 (*Ev non test.). - 24,3 (ουχ ευρον το σωμα) του κυριου ιησου: om D a b d e ſſ 2 l r 1 Eus [579 1071 1241 sy s.c.pesh : του ιησου] *Ev teste Tert. 4,43,2 (corpore autem non invento). - 24,6 ουκ εστιν ωδε αλλα: om D a b d e ſſ 2 l r 1 georg II *Ev teste Epiph., Schol. 76; Tert. 4,43,5. - 24,9 απο του μνημειου: om D a b c d e ſſ 2 l r 1 (*Ev non test.). - 24,12 vs. om D a b d e l r 1 (*Ev non test.). - 24,36b και λεγει αυτοις ______________________________ 80 U. B. S CHMID , How Can We Access Second Century Texts? The Cases of Marcion and Tatian, in: C.-B. Amphoux, J. K. Elliott (eds.), The New Testament Text in Early Christianity, Lausanne 2003, 139-150: 142f. § 5: Der Text von *Ev und die kanonische Textüberlieferung 115 ειρηνη υμιν: om D a b d e ſſ 2 l r 1 (*Ev non test.). - 24,40 vs. om D a b d e ſſ 2 l r 1 sy s.c (*Ev non test.). - 24,51b και ανεϕερετο εις τον ουρανον: om א * D a b d e ſſ 2 l (lac r 1 ) sy s (lac sy c ) (*Ev non test.). - 24,52 προσκυνησαντες αυτον: om D a b d e ſſ 2 l (lac r 1 ) sy s (lac sy c ) (*Ev non test.). Für keine dieser »Westlichen« Lesarten bietet *Ev einen abweichenden, dem Mehrheitstext entsprechenden Text: In der Mehrheit der Fälle fehlt zwar für diese Stellen eine Bezeugung für *Ev. Aber in zwei Fällen (24,3.6) entspricht der für *Ev bezeugte Text exakt den »Westlichen« Lesarten: Da sich die »Westlichen« Lesarten im Horizont der *Ev-Priorität auf ein nachvollziehbares, redaktionelles Phänomen zurückführen lassen, ist es methodisch statthaft, sie auch dann heranzuziehen, wenn eine Bezeugung für *Ev fehlt. Die hier angeführten Beispiele - sie ließen sich ohne große Schwierigkeiten vermehren - lassen sich darüber hinaus insofern für *Ev plausibilisieren, als der davon abweichende kanonische Text in allen Fällen Elemente der lk Redaktion aufweist, die in der Begründung für die jeweilige Textrekonstruktion (s. Anhang I) im Einzelnen besprochen sind. Für die Rekonstruktion des Textes spielen neben den textgeschichtlichen auch die überlieferungsgeschichtlichen Einsichten eine Rolle. Im Unterschied zum Vorgehen Harnacks und anderer, die eine marcionitische Bearbeitung des kanonischen Lk annahmen, ohne ein entsprechendes redaktionelles Konzept für *Ev zeigen zu können, liegt die plausibilisierende Einheit der Abweichungen im redaktionellen Konzept der lk Bearbeitung von *Ev. 2. Die genannten Beispiele enthalten durchweg »Non-Interpolations«, bezeugen also einen geringeren Textumfang als der Mehrheitstext. Die Annahme, dass die beiden Ausgaben durch die lk Redaktion voneinander unterschieden sind, legt auch nahe, dass diese Redaktion eher Text hinzufügt (und darin ihr redaktionelles Konzept zum Ausdruck bringt) als streicht. Aber sicher ist dies nicht. Man muss auch damit rechnen, dass die lk Redaktion den vorausliegenden Text geglättet und dabei überflüssig oder verzichtbar Erscheinendes gestrichen hat: Die oben genannten Beispiele, an denen *Ev Passagen und Formulierungen enthielt, die aus den synoptischen Parallelen bekannt sind (o. S. 109ff), machen dies ja auch wahrscheinlich. In Verbindung mit der methodischen Einsicht, dass sich die Textgestalt des vorkanonischen Evangeliums aufgrund der charakteristischen Varianten auch für diejenigen Passagen rekonstruieren lässt, für die keine direkte Bezeugung vorliegt, bedeutet dies zunächst, dass auch alle positiven Varianten der kanonischen Textüberlieferung für die Rekonstruktion in Erwägung zu ziehen sind. Allerdings nimmt hier der Grad der Sicherheit erheblich ab, mit der sich von den Varianten der kanonischen Textüberlieferung auf den vorkanonischen Text schließen lässt. Dies liegt in erster Linie daran, dass die positiven Beispiele mit einem gegenüber dem Mehrheitstext »überschießenden« Textbestand, an vielen Stellen tatsächlich als sekundäre Konformierungen aufgrund der synoptischen 116 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche Parallelen zu beurteilen sind: Dies verrät bereits ein kursorischer Blick in die Varianten zu denjenigen Passagen, die im vorkanonischen Evangelium sicher gefehlt haben und die zugleich die für das Synoptische Problem charakteristische Mischung aus Entsprechung und Unterschied der synoptischen Parallelen aufweisen 81 - hier sind die Varianten (vor allem des »Westlichen Textes«) sicher als sekundäre Konformationen zu verstehen. In anderen Fällen, in denen insbesondere die narrativen Einleitungen von Perikopen aus den synoptischen Parallelen in einzelnen Zeugen des kanonischen Lk- Textes auftauchen, ist dies jedoch nicht so sicher: Gerade die Perikopenanfänge sind anfällig für redaktionelle Eingriffe, die gelegentlich den narrativen Anschluss zum Vorangehenden herstellen und so zur Kohäsion der Gesamterzählung beitragen. Auch hier gilt die Beobachtung, dass solche redaktionellen Eingriffe ihre Spuren in der handschriftlichen Überlieferung eher dann hinterlassen haben, wenn es sich um geringfügige Veränderungen handelt, wogegen größere und deutlichere Bearbeitungen komplett übernommen wurden und daher keine Interferenzmerkmale aufweisen. 82 Für die Rekonstruktion bedeutet dies, dass die Lesarten der kanonischen Textüberlieferung, die keine Entsprechungen in der Bezeugung für *Ev haben, zwar eine mögliche, aber keine sichere Bearbeitung anzeigen: Hier ist in jedem Einzelfall die Wahrscheinlichkeit zu prüfen und abzuwägen, mit der ein Rückschluss auf den vorkanonischen Text möglich ist. 3. Diese fallweise Abwägung ist auch dann angezeigt, wenn die Varianten der kanonischen Textüberlieferung eine Abweichung des kanonischen vom vorkanonischen Text nahelegen, obwohl die Häresiologen einen dem Mehrheitstext entsprechenden Wortlaut bezeugen. Denn die hier angenommene Interferenz zwischen der Überlieferung der beiden Ausgaben bedeutet zunächst, dass es in den jeweiligen Überlieferungsbereichen zu Abweichungen kommen kann, die sich dann innerhalb der kanonischen Textüberlieferung als charakterische Varianten niederschlagen, innerhalb der direkten häresiologischen Bezeugung für *Ev als widersprüchliches Zeugnis äußern. Diese Beobachtung ist hier also durch die Überlegung zu erweitern, dass diese Abweichungen erstens auch zwischen den beiden Bereichen möglich sind und dass sie auch dann identifizierbar sind, wenn die direkte Bezeugung nur durch einen einzigen Referenten sichergestellt ist. Anders ______________________________ 81 Dies ist beispielsweise der Fall bei den Varianten zu der in *Ev sicher fehlenden Täuferüberlieferung (Lk 3f) und ihren mt Entsprechungen, s. etwa zu: Lk 3,8.16f.19; 4,1.3f.5-12 usw. 82 Kleinere Veränderungen, die Spuren in der handschriftlichen Überlieferung hinterlassen haben, sind beispielesweise für *5,14.17.27.33 zu erwägen. Dagegen hat z. B. die mit hoher Wahrscheinlichkeit sekundäre Einfügung von Lk 15,1f, die das ganze Kapitel zu einer kohärenten Einheit mit einem klaren redaktionellen Konzept macht, keinen Niederschlag in den Handschriften gefunden: Sie war so dominant, dass sie durchweg rezipiert wurde (zur Begründung vgl. jeweils die Rekonstruktion z. St.). § 5: Der Text von *Ev und die kanonische Textüberlieferung 117 gesagt: Sofern eine (direkte) häresiologische Bezeugung mit dem Mehrheitstext geht, ihr aber eine charakteristische Variante der Textüberlieferung entgegensteht, ist die Möglichkeit zu prüfen, ob die Variante den ursprünglichen Textbestand repräsentiert und der direkt bezeugte Text bereits durch die kanonische Formulierung kontaminiert ist. Einige Beispiele machen das Problem deutlich. Für *11,4 bezeugt Tertullian (4,26,4: quis mihi d e l i c t a dimittet) mit der Mehrheit der Handschriften (a aur f g 1 gat i l q r 1 M [f 1 ]) die Bitte: (καὶ ἄϕες ἡμῖν) τ ὰ ς ἁ μ α ρ τ ί α ς . Dageben haben D 2542 b c d ſſ 2 vg mss die auch aus Mt 6,12 bekannte Formulierung (καὶ ἄϕες ἡμῖν) τ ὰ ὀ ϕ ε ι λ ή μ α τ α . In diesem Fall stimmen das direkte Zeugnis und die sich aus dem Handschriftenbefund nahelegende Rekonstruktion also nicht überein. Da die Möglichkeit einer sekundären Beeinflussung der Lesart von D it usw. durch die synoptische Parallele Mt 6,12 unwahrscheinlich ist, wird Tertullians *Ev-Exemplar an dieser Stelle bereits durch die Überlieferung des kanonischen Textes beeinflusst sein, sodass die vorkanonische Formulierung mit D it usw. - und das heißt: gegen Tertullians Zeugnis! - τὰ ὀϕειλήματα gelautet haben wird. Ganz ähnlich liegt der Fall auch in *12,24: Tertullian (4,29,1: c o r v i non serunt …) las in *Ev die vom Mehrheitstext überlieferte Formulierung (κατανοήσατε) τ ο ὺ ς κ ό ρ α κ α ς , wogegen wieder D it (d e [f] l r 1 ) das aus Mt 6,26 bekannte τ ὰ π ε τ ε ι ν ὰ τ ο ῦ ο ὐ ρ α ν ο ῦ bieten. Auch hier ist die »mt« Formulierung ein Hinweis auf den ursprünglichen, vorkanonischen Text, wie in diesem Fall P 45 beweist, der die klassische Konflation bietet (τὰ πετεινὰ τοῦ οὐρανοῦ κ α ὶ τοὺς κόρακας): Das ist das charakteristische Verfahren, das sich beim Vergleich von Handschriften unterschiedlicher Ausgaben ergibt. Für *23,45 bezeugt wiederum Tertullian 83 mit fast der gesamten handschriftlichen Überlieferung das Zerreißen des Tempelvorhangs nach dem Tod Jesu. Nur der Cod. Bezae (D d) berichtet dieses Ereignis (in geringfügig anderer Formulierung) unmittelbar vor dem Tod Jesu, also in der der gleichen Ereignisfolge wie Mk 15,37f || Mt 27,50f. Auch in diesem Fall spricht alles für die Ursprünglichkeit der stärker abweichenden Fassung von D d: Denn wenn diese Abfolge die Vorlage für Mk (und Mt) war, ist deren Text gut erklärbar. Erst die lk Redaktion hat diese Aussage hinter die Mitteilung des Todes Jesu verschoben. Diese Maßnahme lässt sich auch gut nachvollziehen, weil sie Hand in Hand geht mit der ebenfalls redaktionellen Einfügung des Sterbewortes Jesu (Lk 23,46: πάτερ, εἰς χεῖράς σου παρατίθεμαι τὸ πνεῦμά μου). Auch diese Beispiele stehen für eine deutlich größere Zahl von Fällen, an denen die Rekonstruktionsentscheidung aufgrund des handschriftlichen Befundes gegen die direkte Bezeugung durch die Häresiologen zu fällen ist. 84 Mit Blick auf die methodische Grundannahme der Interferenz zwischen der vorkanonischen und der kanonischen Textüberlieferung wird man noch nicht einmal sagen können, dass die Rekonstruktionsentscheidung für diese Fälle schwächer begründet ist als in den Fällen, für die eine widersprüchliche Bezeugung vorliegt. Denn in beiden ______________________________ 83 Tert. 4,42,5: et contenebrabit super terram. Scissum est et templi velum … 84 Vgl. beispielsweise noch die Rekonstruktion zu: *6,3; *8,45; *12,5.41.51.58; *21,26.37; *22,4; *23,46; *24,1.7.9.31 usw. 118 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche Fällen beruht die Entscheidung auf der gleichen methodischen Einsicht: Wenn es in der Bezeugung - für *Ev durch die direkten Referate, für den kanonischen Text durch die Handschriftenvarianten - signifikante Abweichungen gibt, dann spricht in der Regel alles dafür, dass die am weitesten vom Wortlaut des Mehrheitstextes entfernte Fassung den vorkanonischen Text repräsentiert. Diese Überlegung dient als Faustregel. Wie alle Faustregeln vor allem für textkritische Entscheidungen gibt sie eine generelle Richtung vor, darf aber nicht gepresst werden: Sie gilt nicht automatisch und nicht in allen Fällen. In den hier vorgestellten Beispielen ist ihre grundsätzliche Richtigkeit jeweils durch flankierende Beobachtungen gestützt, die nach Möglichkeit auch in den sonstigen Fällen Anwendung finden: In *11,4 ist die Lesart τὰ ὀϕειλήματα (D it usw.) durch die überlieferungsgeschichtliche Beobachtung zu der ersten Rezeption dieses vorkanonischen Wortlauts in Mt 6,12 gestützt. Für die Ursprünglichkeit von τὰ πετεινὰ τοῦ οὐρανοῦ in *12,24 (D it) gegen Tertullian spricht die textkritische Berücksichtigung der Konflation in P 45 . Und im letzten Beispiel lässt sich die Ursprünglichkeit der D- Variante gegen die direkte Bezeugung redaktionsgeschichtlich plausibilisieren. Erst der Verbund der verschiedenen methodischen Voraussetzungen erlaubt also eine halbwegs gesicherte Rekonstruktionsentscheidung. Da nicht in allen Fällen von abweichender Bezeugung solche hilfsweisen Beobachtungen zur Absicherung zur Verfügung stehen, besitzt das Urteil in diesen Fällen einen geringeren Grad an Zuverlässigkeit. c. Zur Rekonstruktion des Textes der Kanonischen Ausgabe Eine letzte Folgerung, die sich aus der grundsätzlichen Einsicht in die Interferenzen zwischen der vorkanonischen und der kanonischen Textüberlieferung ergibt, bezieht sich auf die kritische Herstellung des kanonischen Textes als Teil des Neuen Testaments. Dies liegt vor allem an der grundsätzlichen Einsicht, dass tatsächlich zwei deutlich distinkte Textgestalten sichtbar werden, die durch eine Redaktion voneinander getrennt (oder: miteinander verbunden) sind: Die beiden Texte gehören unterschiedlichen Ausgaben an. 85 Die grundsätzliche Einsicht in die *Ev-Priorität vor dem kanonischen Lk-Evangelium macht daher die Folgerung unabweisbar, dass der Mehrheitstext von Lk im Rahmen der kanonischen Ausgabe des »Neuen Testaments« jünger ist als der Text von *Ev. Dies verändert die Grundlage für das textkritische Urteil zur Herstellung des kanonischen Textes in ganz entscheidender Hinsicht. Denn im Unterschied zu den Bemühungen der Textkritik des Neuen Testaments in den letzten 200 Jahren ______________________________ 85 Vgl. D. T ROBISCH , The Need to Discern Distinctive Editions of the New Testament in the Manuscript Tradition, in: K. Wachtel, M. W. Holmes (eds.), The Textual History of the Greek New Testament, Atlanta 2011, 43-48. § 5: Der Text von *Ev und die kanonische Textüberlieferung 119 muss die Untersuchung nicht den ältesten erreichbaren, sondern den kanonischen Text aus der Fülle der Varianten herausfiltern. Dies ist beim Text der gängigen, kritischen Ausgaben jedoch nicht der Fall. Denn die textkritische Entscheidungsfindung basierte grundsätzlich auf der Überlegung, welche Lesarten sich als sekundäre Korrekturen oder Fortschreibungen anderer Lesarten plausibilisieren lassen und diese gegenüber jenen als »ursprünglich« erweisen. Dieses Vorgehen war solange völlig unproblematisch, als man die Identifizierung verschiedener Ausgaben des Textes nur als spätes Folgephänomen in den Blick nahm, die »den« Text des Neuen Testaments bereits voraussetzten. 86 Die Berücksichtigung verschiedener Ausgaben gewinnt jedoch dann größte textkritische Bedeutung, wenn man mit der Existenz einer vorkanonischen Ausgabe rechnet, die durch die kanonische Ausgabe bearbeitet und ersetzt wurde. Denn in diesem Fall führt die Identifizierung der jeweils ältesten Varianten nicht zum ursprünglichen kanonischen Text, sondern zu dessen vorkanonischer Gestalt. Dies ist in den kritischen Ausgaben des NT ganz offensichtlich der Fall: In vielen Beispielen haben die Herausgeber ihre Entscheidung nicht für die kanonischen, sondern für die »ursprünglichen« Varianten getroffen. Da hier nicht der Ort ist, die Grundlagen der neutestamentlichen Textkritik im Einzelnen zu besprechen, sollen einige allgemeine Überlegungen genügen. 1. Die erste betrifft die Korrelation zwischen der textgeschichtlichen Theoriebildung und den wichtigen kritischen Ausgaben sowie den Funden, auf denen sie beruhen. Tischendorfs große kritische Ausgabe (NT VIII ) 87 war wesentlich beeinflusst von seiner starken Berücksichtigung des Cod. Sinaiticus, der an vielen Stellen einen älteren Text zeigte, als ihn der Textus Receptus enthielt. Der Text von Westcott/ Hort 88 brachte demgegenüber insofern eine wichtige Neuerung, als hier zum ersten Mal an einigen wenigen, aber theologisch wichtigen Stellen die »Western Non-Interpolations« Berücksichtigung fanden, die dann auch in das »Novum Testamentum Graece« von Eberhard und Erwin Nestle (1898/ 1927) übernommen wurden, deren Text bis zur 25. Auflage (1963) bestimmend blieb. Eine der wesentlichen Neuerungen des seit der 26. Auflage gebotenen Textes (jetzt des »Nestle-Aland« von 1979) betraf wieder die »Western Non-Interpolations« und beruhte auf dem Bekanntwerden des P 75 : Die eckigen Doppelklammern , ______________________________ 86 Dies ist beispielsweise (und vollkommen unproblematisch) bei der »Byzantinischen Ausgabe« des NT der Fall. Vgl. etwa K. W ACHTEL , Der byzantinische Text der Katholischen Briefe, Berlin - New York 1995. 87 Novum Testamentum Graece ad antiquissimos testes denuo rec. etc. C. de Tischendorf I-III/ 3. Editio Octava Critica Maior, Leipzig 1869-1894. 88 B. F. W ESTCOTT , F. J. A. H ORT , The New Testament in the Original Greek I-II, Cambridge - London 1881. 120 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche die den darin eingeschlossenen Text als mutmaßlich sekundär gekennzeichnet hatten, verschwanden wieder. Denn P 75 (= P. Bodmer XIV/ XV; Ende 2./ Anfang 3. Jh.) repräsentiert einen Text, der sehr eng mit dem »alexandrinischen« Text, wie er vor allem durch den Vaticanus repräsentiert ist, zusammengeht und folglich diesen »Texttyp« schon für die Zeit um 200 n. Chr. sicherstellt. Vor allem Kurt Aland hatte daraus die grundsätzliche Überlegenheit des »alexandrinischen« über dem »Westlichen« Text gefolgert und sich bemüht, anhand innerer Kriterien den sekundären Charakter der Western Non-Interpolations darzulegen. 89 Dass diese Schlussfolgerung so einfach nicht ist, zeigen zunächst diejenigen Stellen, an denen P 75 mit dem »Westlichen Text« zusammen geht (z. B. 12,39; 22,43f). P 75 belegt also das Nebeneinander von »Westlichen« und »alexandrinischen« Lesarten. Unter der von Aland geteilten Prämisse der »Ursprünglichkeit« des kanonischen Textes (in seiner »alexandrinischen« Form) ließ sich dieses Phänomen nur als »buntes Gemenge« derjenigen Lesarten verstehen, »die später die ›Rezensionen‹ charakterisierten«. 90 Aland verstand also gerade die Disparatheit der »Westlichen« Überlieferung als Argument für ihren sekundären Charakter. Alands Urteil trifft daher zwar im Ergebnis zu, ist aber in der Begründung problematisch. Denn es lässt sich so gut wie nie plausibel machen, dass die »Western Non- Interpolations« auf sekundäre Streichungen zurückgehen sollten: Aus den von Aland geltend gemachten »inneren Gründen« spricht alles für ihre Ursprünglichkeit. Andererseits ist in fast allen Fällen die handschriftliche Bezeugung des Mehrheitstextes (vor allem seit dem Bekanntwerden des P 75 ) so breit und »gut«, dass man nicht an erst sekundäre Ergänzungen der durch die »Westlichen« Handschriften bezeugten Varianten glauben mag. Diese widersprüchliche Ausgangslage hat sich in den uneinheitlichen Voten des Editorial Committee von NA 26/ 27 und GNT 3/ 4 niedergeschlagen. 91 Tatsächlich haben in der Regel beide Voten - für und gegen die Ursprünglichkeit der »Westlichen« Lesarten - Recht: Auf der einen Seite sind die »Westlichen« Lesarten Relikte des älteren, vorkanonischen Evangelientextes, die in den Handschriften des kanonischen Lk-Textes nicht konsequent getilgt wurden: Sie zeigen den vergleichsweise älteren und in diesem Sinne »ursprünglichen« Text. Auf der anderen Seite sind die Lesarten des Mehrheitstextes demgegenüber zwar sekundär, im Rahmen der Kanonischen Ausgabe aber in der Tat »ursprünglich«: Sie sind ein originaler Teil des kanonischen Neuen Testaments. Da die kritischen Ausgaben den Anspruch haben, diesen kanonischen Text zu rekonstruieren, gehören diese »sekundären« Lesarten zu Recht in den Text. ______________________________ 89 K. A LAND , Die Bedeutung des P 75 für den Text des Neuen Testaments, in: ders., Studien zur Überlieferung des Neuen Testaments und seines Textes, Berlin 1967, 155-172: 162ff. 90 A LAND , a. a. O. 155. 91 Vgl. B. M. M ETZGER , A Textual Commentary on the Greek New Testament, Stuttgart 2 1994, der für nahezu alle »Westlichen« Lesarten neben der Einschätzung der Mehrheit der Herausgeber auch ein abweichendes »minority vote« registriert. § 5: Der Text von *Ev und die kanonische Textüberlieferung 121 2. Sofern man nicht mit der Möglichkeit einer vorkanonischen Ausgabe rechnet, hat die Suche nach dem ältesten Text eine Konsequenz, die in der textkritischen Arbeit der letzten Jahrzehnte eine große systemimmanente Bedeutung gewonnen und sich besonders in der »lokalgenealogischen Methode« niedergeschlagen hat. Denn die Suche nach den relativ ältesten Lesarten hat das Profil einzelner Handschriften innerhalb der Gesamtüberlieferung sichtbar werden lassen, das ihren »Textwert« zu bestimmen versprach: Wenn einzelne Handschriften eine signifikante Zahl »älterer« Lesarten enthielt, stieg ihr relativer Textwert gegenüber anderen Handschriften, die deutlich weniger oder gar keine »älteren« Lesarten enthielt. Der Apparat von NA 26/ 27 zeigt die Früchte der umfassenden und äußerst mühseligen Variantenanalyse in der Auswahl der »ständigen Zeugen« und in vielen einzelnen textkritischen Einzelentscheidungen. Das auf diese Weise entstandene Bild des »ältesten« Textes einer eklektischen Ausgabe ist jedoch irreführend, wenn die Gesamtüberlieferung durch die Spuren eines vorkanonischen Textes kontaminiert ist: Die methodische Annahme der Interferenz zwischen der vorkanonischen und der kanonischen Überlieferung hebt die Grundlagen der »Textwertbestimmung« auf und führt gerade bei den wichtigsten Zeugen zu einer wesentlichen Korrektur. Denn die relativ »ältesten« Lesarten sind häufig genug Ausdruck nicht des kanonischen Textes, sondern des vorkanonischen. Wenige Beispiele verdeutlichen das Problem. In Lk 12,25 ist (πῆχυν) ἕ ν α wahrscheinlich eine sekundäre Ergänzung der lk Redaktion (s. dort). Diese Lesart wird von der Mehrheit der Handschriften ( א 1 A L Q W Θ Ψ 070 f 1.13 33 a aur b c e f q r 1 sy M ) vertreten, während wenige andere Zeugen ( P 45.75 א * B D d ſſ 2 i l) den weniger spezifischen Text (ohne ἕνα) bieten. NA 27 / GNT 4 folgen der Lesart dieser Zeugen mit hohem »Textwert«. Sie repräsentieren damit jedoch sehr wahrscheinlich nicht den kanonischen, sondern den vorkanonischen Text. Lk 12,39 ἐγρηγόρησεν ἂν καί fehlt in P 75 א * D it sy, wird aber ansonsten von der gesamten Überlieferung bezeugt. Da die kurze Lesart durch Tertullian und Epiphanius bereits für *Ev bezeugt ist, ist sie tatsächlich älter als die des Mehrheitstextes, gehört aber dem vorkanonischen, nicht dem kanonischen Text an. Es ist wohl dem P 75 und א * zugeschriebenen »Textwert« geschuldet, dass NA 27 / GNT 4 die kürzere, aber vermutlich vorkanonische Fassung in den Text aufgenommen haben und den Mehrheitstext als mt Paralleleinfluss erklären. Lk 20,23 τί με πειράζετε, ὑποκριταί ist von der Mehrheit der Handschriften bezeugt. Die zahlenmäßig schwächer bezeugte Lesart ohne diese Wendung ( א B L e usw.) ist in den Text von NA 27 / GNT 4 aufgenommen: Die längere Lesart lässt sich gut als Bearbeitung der kürzeren verstehen, kaum aber umgekehrt. Sie beruht auf einer Anpassung an die synoptischen Parallelen (Mt 22,18 || Mk 12,15), zeigt also genau das ansonsten durch p) angezeigte Phänomen der »Synoptischen Konformierungen«, das jedoch nicht auf die Aktivität einzelner Kopisten zurückzuführen ist, sondern auf die lk Redaktion im Rahmen der Kanonischen Ausgabe. 122 II. Das marcionitische Evangelium und sein Text in der Alten Kirche Lk 22,31 v. l. stellt das umgekehrte Beispiel dar: Die Einleitung der Ankündigung der Verleugnung des Petrus enthält in der Mehrheit der Handschriften die Wendung εἶπεν δὲ ὁ κύριος ( א A D W Θ Ψ f 1.13 lat sy (c.p).h bo mss M ). NA 27 / GNT 4 haben diese Variante jedoch nicht in den Text aufgenommen und folgen hier dem Text von P 75 B L T 1241 2542 c sy s co ohne die Einleitung. Dass diese Wendung auf die lk Redaktion zurückgeht, ist wegen der auktorialen Verwendung von ὁ κύριος sehr wahrscheinlich. Ein auch nur kursorischer Blick in den Apparat von NA 27 genügt, um eine große Zahl entsprechender Belege zu Tage zu fördern: Die hohe Wertschätzung der Herausgeber für die jeweiligen Minderheitslesarten (vor allem von P 75 , Sinaiticus, Vaticanus und anderen) ist offenkundig. In den meisten Fällen ist das textkritische Urteil als Entscheidung für den mutmaßlich älteren Text auch ohne weiteres nachvollziehbar. Aber der auf diese Weise erstellte Text entspricht nicht dem des Lk-Evangeliums, das Teil der Kanonischen Ausgabe des Neuen Testamentes ist, sondern dem des vorkanonischen *Ev: Unter der Annahme, dass dem kanonischen Text eine vorkanonische Ausgabe zugrunde lag, die in der kanonischen Textüberlieferung ihre Spuren hinterlassen hat, ist der Textus Receptus (Oxford 1873) mit seinen vielen Mehrheitslesarten dem ältesten kanonischen Text aufs Ganze gesehen näher als der Text der kritischen Ausgaben. Dass die hier verwendete Bezeichnung »Mehrheitstext« (sowie die Sigle M in der Rekonstruktion und der Variantenliste) einigermaßen unscharf bleibt, ist dabei durchaus beabsichtigt: Weder das genaue Profil seines Textbestandes noch die wichtigsten Handschriften, die ihn repräsentieren, lassen sich eindeutig bestimmen; in beiden Aspekten werden nur Annäherungen möglich sein, aber auch die erfordern ein großes Maß an analytischer Arbeit, die erst noch zu leisten wäre. 3. Diese Überlegungen beziehen sich zunächst nur auf den vorkanonischen *Ev-Text und seine Einwirkung auf die handschriftliche Überlieferung des kanonischen Lk. Es lässt sich aber ohne weiteres vorstellen, dass Entsprechendes auch für andere Überlieferungsbereiche zutrifft. Denn es ist ja schon deutlich geworden, dass sowohl das Mkals auch das Mt-Evangelium in vorkanonischen Fassungen existierten (s. u. § 14). Deren Textüberlieferung enthält ebenfalls zahlreiche »Westliche« und andere Minderheitslesarten, zu deren prominentesten der Mk-Schluss in 16,8 gehört. 92 Sehr viel wichtiger ist vermutlich, dass das Verhältnis zwischen der marcionitischen Apostolosausgabe und den kanonischen Paulusbriefen auf eine Weise zu bestimmen ist, die dem Verhältnis *Ev-Lk entspricht. Sofern sich die Priorität der marcionitischen Apostolosausgabe gegenüber den kanonischen Paulusbriefen erweisen lässt, steht zu erwarten, dass es eine ähnliche Interferenz zwischen ______________________________ 92 Die Zurückhaltung der Herausgeber gegenüber Mk 16,9-20, die sich in der Kennzeichnung durch eckige Klammern zeigt, ist also unangebracht: Es handelt sich um einen Teil des kanonischen Mk. § 5: Der Text von *Ev und die kanonische Textüberlieferung 123 der vorkanonischen und der kanonischen Überlieferung der Paulus-Handschriften gibt: Hier eröffnet sich ein ungeahnt weites Feld für die neutestamentliche Textkritik. 93 * Die hier angedeuteten textkritischen Überlegungen gewinnen ihre Plausibilität allerdings ausschließlich unter den Voraussetzungen, dass *Ev erstens tatsächlich ein vor-lk Text ist und dass zweitens der für *Ev bezeugte Text sich tatsächlich in großem Umfang in (den Varianten der) kanonischen Textüberlieferung niedergeschlagen hat. Die erste Voraussetzung der *Ev-Priorität vor Lk ist daher zunächst eingehend zu begründen (§§ 6-8). Die zweite muss im Durchgang der Rekonstruktion von *Ev (Anhang I) auf Schritt und Tritt überprüft und nachgewiesen werden. In dem Maß, in dem dieser Nachweis gelingt, gewinnt eine zentrale methodische Grundeinsicht an Plausibilität: Die Felder der Textkritik auf der einen Seite und der Überlieferungs- und Redaktionskritik auf der anderen, die in den letzten 100 Jahren faktisch getrennt bearbeitet wurden, müssen aus zwingenden methodischen Gründen enger aufeinander bezogen und wieder zusammengeführt werden. ______________________________ 93 Zwei aktuelle Dissertationen spezifizieren dieses Modell und stützen die Priorität der marcionitischen Sammlung vor der kanonischen Ausgabe für den Rm und den Eph, vgl. A. G OLDMANN , Über die Textgeschichte des Römerbriefs, Tübingen 2020; T. F LEMMING , Die Textgeschichte des Epheserbriefes. Eine neue Perspektive auf den Laodicenerbrief der 10-Briefe-Sammlung (Diss. phil. TU Dresden 2019; demnächst in der TANZ-Reihe). III. Da s literaris che Verhältnis zwis chen *Ev und Lk § 6: Die Aporien der Lk-Priorität Die bisherigen Überlegungen zu *Ev, zu seiner Bezeugung durch die altkirchlichen Häresiologen und zu seinem Text haben ein komplexes Dilemma offenbar gemacht: Einerseits bekräftigen die Häresiologen übereinstimmend, dass Marcion das kanonische Lk-Evangelium redaktionell nach seinen theologischen Vorstellungen bearbeitet - es also »verfälscht«, »beschnitten« und »verstümmelt« - habe. Andererseits impliziert ihre eigene Beweisführung, dass die dafür anzunehmende Korrelation von Text und Theologie Marcions gar nicht zu erweisen ist. Vielmehr stellen Irenaeus, Tertullian und Epiphanius pointiert fest, dass Marcions Evangelium geeignet sei, seine eigene Theologie zu widerlegen. Ein ähnliches Bild zeigen die Überlegungen zum Text von *Ev. Denn die weitreichenden Affinitäten zwischen *Ev und dem »Westlichen Text« (D it sy) und darüber hinaus stellen unter der Annahme einer marcionitischen Redaktion des kanonischen Lk ein unlösbares Problem dar: Auf der einen Seite ist es unvorstellbar, dass der von Marcion redigierte, »verfälschte« Text in über 400 Fällen die »katholische« Textüberlieferung beeinflusst haben soll. Auf der anderen Seite versagt Harnacks Lösung einer Unterscheidung zwischen einer großen Zahl »neutraler« Übereinstimmungen (die auf einen gemeinsamen, vormarcionitischen Text zurückgehen) und einigen wenigen »tendenziösen« Änderungen, mit denen *Ev die »Westlichen« Zeugen beeinflusst haben sollte: Sie ist nicht nur methodisch undurchführbar, sondern würde auch voraussetzen, dass der heftig bekämpfte Text des »Häretikers« gerade mit den ihm vorgeworfenen Textveränderungen auf den katholischen Text eingewirkt haben sollte. Beiden Aporien liegt dieselbe, in der Regel nicht weiter begründete Annahme zugrunde, dass Marcion das kanonische Lk-Evangelium aus theologischen Gründen bearbeitet habe. Doch führt die Annahme der Lk-Priorität noch zu weiteren Schwierigkeiten. Wenigstens die wichtigsten dieser Aporien sind hier kurz zu besprechen, weil sie deutlich machen, welche Aspekte eine Lösung zu berücksichtigen hat. 1. Die Inkonsistenz der angeblichen Redaktion Marcions Es ist oben (S. 44f) schon deutlich geworden, dass die Häresiologen bei ihrem Versuch, Marcion durch den Nachweis von Widersprüchen zwischen seinem Bibeltext und seiner Theologie zu widerlegen, selbst einen fundamentalen Widerspruch produziert haben: Auf der einen Seite bescheinigen sie Marcion, dass er alles, was seiner Lehre entgegensteht, gestrichen und nur zurückbehalten habe, was mit seiner Lehre 128 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk übereinstimmt. 1 Auf der anderen Seite widerlegen sie seine Theologie auf der Basis seines eigenen Evangelientextes. Tertullian hatte die Inkonsequenz dieser Argumentation selbst bemerkt und erklärt: Marcion habe absichtlich manches stehen lassen, was seiner Theologie zuwiderlief, um durch diese Inkonsistenz den Eindruck zu erwecken, er habe überhaupt keine Bearbeitung vorgenommen (Tert. 4,43,7). Diese höchst gewundene Erklärung löst das Problem aber nicht, sondern stellt es nur in aller Schärfe heraus: Das Beweisverfahren hebt seine eigenen Grundlagen auf. Die Polemik von Tertullians Erklärung ist zwar aus seiner Situation der aktuellen Auseinandersetzung mit den Marcioniten gut verständlich. Aber ihre argumentative Schwäche ist deshalb ja nicht aufgehoben. Sie wurde erst mit dem Aufkommen der historischen Kritik offenkundig und gewann eine grundsätzliche, methodische Bedeutung in der frühen wissenschaftlichen Diskussion der literarischen Beziehung zwischen Lk und *Ev. 2 Johann Salomo Semlers frühe Nachfolger haben ihre Kritik an der Lk-Priorität vor allem mit dem Fehlen eines entsprechenden redaktionellen Konzeptes begründet: Fast gleichzeitig und unabhängig voneinander haben Heinrich Corrodi und Josia Fr. Chr. Löffler als erste diese Inkonsequenz zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen gemacht. Corrodi argumentierte, dass Marcion diejenigen Passagen nicht hätte stehen lassen, die Tertullian und Epiphanius zu seiner Widerlegung heranziehen. 3 Aus diesem Grund (und weil Joh der Tendenz des Marcion viel eher entsprochen hätte als Lk) folgerte er, dass Marcion die kanonischen Evangelien überhaupt nicht gekannt habe, und dass das marcionitische Evangelium eine ältere (heidenchristliche) Schrift sei, die dem kanonischen Lk zugrunde liege und in diesem durch judaisierende Stücke ergänzt sei. Bereits kurz zuvor hatte Löffler den Verdacht geäußert, »dass Marcion nicht das Lukas-, sondern ein anderes Evangelium benutzt habe, dem gleichwohl in weiten Teilen ______________________________ 1 Tert. 4,6,2. 2 S. o. S. 13f. 3 H. C ORRODI , Versuch einer Beleuchtung der Geschichte des jüdischen und christlichen Bibelkanons I/ II, Berlin/ Stet[t]in 1788 - Halle 1792: »Wer nun alles, was beide Kirchenväter (sc. Tertullian und Epiphanius) von diesem Aufsatz zu melden für gut befunden haben, ganz unparteyisch prüft, kann unmöglich wahrscheinlich finden, daß dieser Aufsatz des Marcion das Evangelium Lucas gewesen, welches Marcion zu seinem Zweck umgearbeitet und verstümmelt habe. Wenn Marcion diese Veränderungen gemacht hätte, so würde er, um diesen Aufsatz zur Begünstigung seiner Meinungen brauchbar zu machen, weit mehrere und zum Theil ganz andere Stücke weggeschnitten haben, als darin wirklich mangelten. Er würde seinen Gegnern nicht so viel Waffen übrig gelassen haben, die sie aus seinem Evangelium holten, und wider ihn gebrauchten. Er ließ ja so vieles stehen, daß wider seine Meinungen stritt« (II 169). § 6: Die Aporien der Lk-Priorität 129 eine große Ähnlichkeit mit jenem gemeinsam ist; von daher ist er vom Verbrechen der Verfälschung des Evangeliums freizusprechen.« 4 Löffler hatte die marcionitische Redaktion des Lk bezweifelt, weil in Marcions Evangelium auch solche Passagen fehlten, die seiner Position gar nicht widersprächen: »Am Ende schließlich darf man wohl nicht an dem vorübergehen, was in dieser Sache beinahe am schwersten wiegt, dass nämlich der Grund gerade nicht erkannt werden kann, aus dem Marcion dazu bewegt wurde, sich den Büchern des Lukas und des Paulus zur Interpolation zu nähern. Denn das, was von den kirchlichen Schriftstellern berichtet wird, dass dieser nämlich alles weggeschnitten und verändert hätte, was seinem System entgegen war, aber hinzugefügt habe, was ihm günstig war - das verflüchtigt sich bei einigermaßen genauer Erörterung fast ganz.« Löffler fasste seine Beobachtungen zusammen: »Erstens nämlich hat er (sc. Marcion) offenbar so viele Stellen intakt gelassen, dass sowohl Tertullian als auch Epiphanius in ihnen selbst ausreichend viel Material fanden, das sie als übriggelassen bezeichnen, um ihn zu widerlegen. Sodann sehen wir anderes von seinem Evangelium fehlen, von dem nicht einsichtig ist, warum er es in seiner Zusammenstellung ausgelassen hat, z. B. Luc. 15 das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Schließlich soll er anderes hier dazugetan haben, was ihm entgegengesetzt ist, z. B. Luc 17,14.« 5 Genau diese Überlegungen ließen Johann Ernst Chr. Schmidt nur wenig später urteilen, unter der Annahme der Lk-Priorität müsste Marcion ja »seinem Zwecke entgegen! « geändert haben. Er äußerte als erster die »Vermuthung«, dass das marcionitische Evangelium »das ächte Lukasevangelium« sei, aus dem durch weitere Zusätze das kanonische Lk-Evangelium entstanden wäre 6 - das ist die Theorie der *Ev-Priorität, die später von Albrecht Ritschl ausführlich begründet wurde. 7 Das Problem der Inkonsistenz der angenommenen Redaktion Marcions wurde jedoch von den Vertretern der Lk-Priorität nie gelöst: Es geriet bereits in der Mitte des 19. Jh. in Vergessenheit und wurde seither nur am Rande behandelt. Gleichwohl ist es methodisch von größtem Gewicht. Denn wenn *Ev das redaktionelle Konzept nicht erkennen lässt, das überhaupt erst zu seiner Herstellung geführt haben soll, dann ist die Annahme einer entsprechenden redaktionellen Bearbeitung insgesamt obsolet: Es gibt keinen Grund mehr, überhaupt eine Bearbeitung des kanonischen Lk-Evangeliums durch Marcion zu postulieren - abgesehen natürlich von den diesbezüglichen Beteuerungen der Häresiologen. Aber denen steht zumindest der umgekehrte Vorwurf Marcions entgegen. ______________________________ 4 J. F R . C HR . L ÖFFLER , Marcionem Paulli epistulas et Lucae evangelium adulterasse dubitatur, in: Commentationes theologicae I, Leipzig 1795, 180-218: 205); Löfflers Untersuchung erschien zuerst 1788 in Frankfurt/ O. 5 L ÖFFLER , a. a. O. 216f. 6 J. E. C HR . S CHMIDT , Das ächte Evangelium des Lucas, eine Vermuthung, Magazin für Religionsphilosophie, Exegese und Kirchengeschichte 5 (1796) 468-520: 483. 7 A. R ITSCHL , Das Evangelium Marcions und das kanonische Evangelium des Lucas, Tübingen 1846 (passim). Zur Reaktion auf Ritschl vgl. o. S. 15ff. 130 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk Nun lässt sich argumentieren, dass Marcion bei seiner angenommenen Redaktion nicht so sorgfältig und konsequent vorgegangen sein musste, wie man es ihm aufgrund der häresiologischen Kritik zu unterstellen geneigt ist. Dieses Argument, das schon vor 150 Jahren in der Auseinandersetzung zwischen Volckmar und Ritschl eine Rolle gespielt hatte, 8 tauchte 70 Jahre später bei Harnack wieder auf: Er räumte für Marcions redaktionelles Verfahren einen Mangel an Konsequenz ein und zog zugleich in Erwägung, dass Marcion später noch eine genauere Revision seiner textkritischen Arbeit geplant haben könnte. 9 Es ist Harnack gar nicht aufgefallen, dass er sich mit diesem Eingeständnis die methodische Grundlage seiner eigenen Rekonstruktion der Theologie Marcions und der damit begründeten Redaktion des kanonischen Evangeliums entzogen hatte. 10 Tertullian hatte in dieser Frage methodisch klarer gedacht: Ihm war der implizierte Selbstwiderspruch nicht entgangen, auch wenn er ihn kaum befriedigend auflösen konnte. Neben den methodischen Defiziten gibt Harnacks Hinweis auf die curae repetitae zu erkennen, dass er Marcions Redaktion primär als Interpolationskritik verstand, die - anders, als es ihm die Häresiologen durchweg vorwarfen - gar nicht auf einem theologisch begründeten Konzept beruhte: Marcion habe seine Bearbeitung nicht als theologischer Überzeugungstäter und als »Enthusiast« durchgeführt, sondern »auf innere Gründe sich stützend, lediglich mit den Mitteln der Philologie« 11 - Harnacks Marcion war als Reformator in erster Linie ein wissenschaftlich arbeitender Restaurator des ursprünglichen Textes. Dieses Bild Marcions (das Harnack selbst keineswegs konsequent voraussetzt! ) sieht auf den ersten Blick wie ein Selbstporträt des erfahrenen Herausgebers und Textkritikers Harnack aus; aber das muss ja nicht notwendig gegen seine Richtigkeit sprechen. Seine Bedeutung liegt prima facie darin, dass die Annahme einer »rein philologischen« Interpolationskritik ein konsistentes, redaktionelles Konzept überflüssig zu machen ______________________________ 8 Vgl. A. R ITSCHL , Über den gegenwärtigen Stand der Kritik der synoptischen Evangelien, ThJb 10 (1851), 530 (vgl. o. S. 17, Anm. 50). 9 H ARNACK 44 Anm. 1: »Wäre M. bei seiner Textkritik stets konsequent verfahren, so ließen sich ex analogia unter den von Tert. übergangenen Abschnitten und Versen nicht wenige bezeichnen, die gefehlt haben müssen. Allein diese Schlüsse sind unsicher, da M. nicht immer konsequent gewesen ist, wie nicht wenige Stellen beweisen, die ihm deutlich ungünstig sind und die er doch stehen gelassen hat. Vielleicht hatte er auch curae repetitae sich vorbehalten« (Hervorhebung M. K.). 10 Ähnlich J. M. L IEU , Marcion and the Synoptic Problem, in: P. Foster (ed.), New Studies in the Synoptic Problem, Leuven u. a. 2011, 731-751: 747, die davor warnt, das Argument der »consistency in ancient authors« zu strapazieren. Abgesehen davon, dass es zu allen Zeiten bessere und schlechtere Texte gab, ist das Argument wenig tragfähig. Denn die Häresiologen behaupten ja nicht, dass Marcion der Autor seines Evangeliums ist, sondern dass er alles daraus beseitigte, was ihm daran nicht passte: Für diese Art von Autorschaft wäre eine etwas größere inhaltliche Kohärenz im produzierten Text schon zu erwarten - und zwar auch in der Antike. 11 H ARNACK 42f (Hervorhebung im Original). § 6: Die Aporien der Lk-Priorität 131 scheint, das einer inhaltlichen Redaktion zugrunde liegen und sich daran auch erweisen lassen müsste. Harnacks These, dass Marcions angebliche Redaktion eine rein philologische Interpolationskritik gewesen sei, ist bis in die Gegenwart rezipiert und wiederholt worden. 12 Schon länger hatte Robert M. Grant das dafür angenommene Verfahren ausführlich begründet, weswegen sich die Besprechung sinnvollerweise auf ihn bezieht. 13 Grant argumentiert, Marcion habe seine Rezension im Horizont und mit den Mitteln der philologischen Wissenschaft seiner Zeit durchgeführt: Ein solches wissenschaftliches Verfahren sei vielleicht nicht objektiv, aber doch frei von dem Geruch eigenmächtiger Manipulationen des kanonischen Textes. Bei diesem Bild methodisch kontrollierter Wissenschaftlichkeit stand die alexandrinische Philologie Pate. Deren Methode der »inneren Textkritik«, die in der aristarchischen Maxime »Homer (allein) aus Homer (interpretieren)« ihren prononcierten Ausdruck gefunden hat, 14 liefert die erkenntnisleitende Analogie. Denn gemäß der an Homer und anderen Klassikern erprobten Methode ließen sich Texte auch dann von späteren Zusätzen »reinigen«, wenn dafür - wie im Fall Marcions - keine Vergleichstexte zur Verfügung standen. Grants Übertragung des alexandrinischen Verfahrens auf Marcion setzt das seit Harnack bekannte Modell voraus, demzufolge Marcion der Ansicht war, das eine, ursprüngliche Evangelium durch Beseitigung der »judaistischen Zusätze« wiederherstellen zu müssen. Aus diesem Grund seien - ganz analog zu zahlreichen Homerinterpolationen - vor allem die »legendarischen Erweiterungen« (z. B. in den Kindheitsgeschichten) und anderes zu streichen gewesen. 15 Es ist Grant zweifellos gelungen, das für Marcion angenommene Verfahren in den weiteren Rahmen antiker Interpolationskritik einzuordnen und ihm auf diese ______________________________ 12 Zuletzt C HR . M ARKSCHIES , Kaiserzeitliche christliche Theologie und ihre Institutionen, Tübingen 2007, 245-261; bes. 254f. Markschies’ Behauptung, Marcion habe nach Tertullians Ansicht »also eine philologische Maßnahme an einem Text vorgenommen, nämlich Einfügungen (interpolationes)« (ebd. 252), beruht auf einem Irrtum, denn Tertullian geht im Gegenteil davon aus, dass Marcion das kanonische Evangelium verkürzt und es »wie eine Ratte zerfressen« habe (Tert. 1,1,5 u. ö.). Das Stichwort der »Interpolation« stammt aus dem von Markschies unmittelbar zuvor erwähnten Vorwurf der Marcioniten (! ) gegen das katholische Evangelium (Tert. 4,4,4: interpolatum a protectoribus Iudaismi ad concorporationem legis et prophetarum; s. dazu u. S. 149f). Kritisch gegen diese Vorstellung der angeblichen Redaktion Marcions »in der Tradition alexandrinischer Editionsphilologie« äußert sich B. A LAND , Was heißt »Kanonisierung des Neuen Testaments«? , in: E.-M. Becker, S. Scholz (Hg.), Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion, Berlin - Boston 2012, 519-545: 523f. Sie verortet Marcion »eher in der Tradition handwerklicher, beruflich solider Kopisten des Neuen Testaments«: Sein Vorgehen entspreche in der Tendenz »durchaus der Methode von Schreibern«, was am Ende die mangelnde Systematik solcher ad hoc-Änderungen erkläre (ebd. 524). 13 R. M. G RANT , Marcion and the Critical Method, in: P. Richardson, J. C. Hurd (eds.), From Jesus to Paul, Waterloo 1984, 207-215; DERS ., Heresy and Criticism, Louisville 1993, 33-46. 14 G RANT , Marcion and the Critical Method 212f. Vgl. dazu R. P FEIFFER , History of Classical Scholarship from the Beginnings to the End of the Hellenistic Age, Oxford 1968, 225ff. 15 G RANT , Marcion and the Critical Method 213f; DERS ., Heresy and Criticism 36-41. 132 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk Weise historische Plausibilität zu verleihen - ganz abgesehen davon, dass er dabei zahlreiche hellenistische Belege für das exegetische Prinzip scriptura sui ipsius interpres zusammenstellt. Allerdings ist damit für das Problem der fehlenden Konsistenz von Marcions angenommener Bearbeitung nichts gewonnen. Zwei methodische Überlegungen zu dieser Lösung sind in dieser Hinsicht wichtig. Zunächst fällt Grants höchst eigenwilliger Umgang mit dem Zeugnis der Häresiologen auf: Auf der einen Seite akzeptiert er ihre grundsätzliche Aussage, dass Marcion eine Rezension des kanonischen Lk-Evangeliums hergestellt habe. Denn dass Marcion überhaupt die Bearbeitung eines Evangeliums unternahm, weiß auch Grant nur aus den entsprechenden häresiologischen Hinweisen der patristischen Quellen. Auf der anderen Seite aber verwirft er die Erklärung genau derselben Quellen, dass diese Bearbeitung theologisch begründet gewesen und auf ein inhaltliches Konzept zurückzuführen sei. Da die Häresiologen diese beiden Aspekte immer als zwei Seiten einer Medaille unmittelbar miteinander verbunden haben, stellt ihre widersprüchliche Bewertung ein gravierendes Problem dar. Wohlgemerkt: Der Einwand gegen Grants Argumentation richtet sich nicht gegen seine Kritik der patristischen Quellen, sondern darauf, dass er in diesen Quellen zwischen glaubwürdigen und unglaubwürdigen Informationen differenziert - und dabei durchaus unkritisch verfährt, weil er nicht zeigt, auf welchen Kriterien diese Unterscheidung eigentlich beruht. Anders gesagt: Wer den Häresiologen die eine Seite ihres Vorwurfs bestreitet, sollte doch angeben können, warum er die andere Seite so ohne weiteres akzeptiert. Eine zweite Beobachtung wiegt schwerer. Denn das philologische Verfahren der alexandrinischen Interpolationskritik ist, unbeschadet seiner Bezeichnung als Textkritik und auch unabhängig von dem wissenschaftlichen Selbstverständnis der Kritiker, genau das, was die moderne Exegese nicht als Text-, sondern als Quellen- oder Literarkritik bezeichnet. Denn die Beseitigung von Interpolationen gemäß der aristarchischen Maxime »Homer allein aus Homer« (oder, auf Marcion gewendet: »Das Evangelium allein aus dem Evangelium«) zu interpretieren, setzt eine Unterscheidung von Ursprünglichem und späteren Zusätzen voraus, die nicht auf einem Vergleich von Texten basiert. Die Identifizierung von Ursprünglichkeit ist vielmehr vollständig von denjenigen »inneren Gründen« abhängig, die schon Harnack dafür geltend gemacht hatte. Die Kritik beruht folglich auf nichts anderem als dem Bild, das sich der Interpolationskritiker (in unserem Fall also Marcion) von dem ursprünglichen Text gemacht hätte: Genau dieses »Bild des Ursprünglichen« aber wäre ein redaktionelles Konzept, wobei es keine Rolle spielt, ob dieses Bild philologisch, theologisch oder noch auf andere Weise konstituiert ist. Da jede Interpolationskritik eine solche Projektion des Ursprünglichen voraussetzt, § 6: Die Aporien der Lk-Priorität 133 lässt sie sich nur in dem Maß nachweisen, in dem ein konsistentes Bearbeitungskonzept mit einem klar erkennbaren Profil plausibel gemacht werden kann. Auch Grants Behandlung der marcionitischen Bearbeitung substituiert ein solches Konzept, das jedoch, seinem eigenen Ansatz entgegen, nicht durch sprachlich-formale, sondern ganz selbstverständlich durch theologisch-inhaltliche Kriterien konstituiert ist. 16 Aber der Nachweis genau dieses Konzeptes gelingt für *Ev notorisch nicht. Dies sieht im Ergebnis auch Grant nicht anders. Denn wenn er Marcions »philologische« Konjekturen als »durchaus unglücklich« bewertet und seinem philologischen Verfahren bescheinigt, keine »signifikanten Resultate« hervorgebracht zu haben, 17 dann bestätigt er genau dieses Defizit: Der Text von *Ev lässt kein Konzept erkennen, das Marcions interpolationskritische Bemühungen angeleitet haben könnte. Oder umgekehrt: Die einzelnen Änderungen, die Marcion vorgenommen haben soll, fügen sich nicht zu einem plausiblen Gesamtbild. Die Annahme einer philologischen Rezension (deren grundsätzliche Möglichkeit Grant für Marcions Zeit gezeigt hatte) besitzt daher die gleiche Voraussetzung wie die häresiologische Behauptung einer theologisch begründeten Manipulation des kanonischen Textes. Und sie scheitert aus dem gleichen Grund wie diese: Dem marcionitischen Evangelium fehlt die für beide Rezensionsverfahren erforderliche Konsistenz. Die von Harnack, Grant und anderen vertretene Vorstellung einer philologischen Interpolationskritik löst das Problem der inkonsistenten Bearbeitung nicht, sondern verschiebt es lediglich. Und selbst dies gelingt nur, wenn dafür das einmütige Zeugnis der Häresiologen großzügig übergangen wird. Man wird also daran festhalten müssen, dass Lk und *Ev tatsächlich durch eine Redaktion mit einem entsprechenden kohärenten, inhaltlichen Profil miteinander vermittelt waren. Hält man sich vor Augen, um welche Differenzen es sich eigentlich handelt, sollte der Nachweis einer solchen Redaktion auch möglich sein. ______________________________ 16 Vgl. G RANT , Heresy and Criticism 36-42. Dazu gehören z. B. die Distinktion im Gottesbild (36f), Protest gegen ein vierfaches Evangelium (38), Doketismus (38), negative Sicht von Gesetz und Propheten (40f). 17 G RANT , Marcion and the Critical Method 214: »None of this suggests … that his conjectures were in any way fortunate.« Vgl. ebd. 213: »This is not to say that in Marcion’s hands this method produced significant results« bzw. 215: »It is … hard to suppose that his philology really produced any valuable results« - diese Bewertung von Marcions angeblichem Verfahren konzediert die gleiche Inkonsequenz, die schon Harnack ihm eingeräumt hatte. Grants Einschätzung, dass Marcion »unglücklich konjiziert« habe, impliziert jedoch den Anspruch, besser als Marcion einschätzen zu können, was dieser eigentlich hätte verändern müssen: Dieses Verfahren entzieht jeder Rekonstruktion die kontrollierbare Grundlage. 134 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk 2. Der Umfang von *Ev und die »Überschüsse« in *Ev Der Umfang des für *Ev sicher bezeugten Textbestandes wirft eine weitere grundlegende Schwierigkeit für die Theorie der Lk-Priorität auf. Es ist methodisch von größter Bedeutung, dass sich in *Ev so gut wie keine nicht-lk Texte finden. Dass die angeblichen Zitate aus Mt - vor allem der notorisch schwierige Vers Mt 5,17 - nicht in *Ev enthalten waren, ist oben (o. S. 68ff) bereits gezeigt geworden. Gleichwohl wäre zu erwarten, dass eine inhaltliche Redaktion, wie sie die Häresiologen Marcion unterstellen, ihren Ausdruck in klärenden und vereindeutigenden Zusätzen gefunden hätte. Dies ist aber nicht der Fall: Nach der herrschenden Ansicht hätte Marcion nur gestrichen, aber so gut wie nichts hinzugefügt. a. Nicht-lk Texte in *Ev: Die angeblichen »Zusätze« Nun gibt es in der Tat eine Reihe kleinerer Differenzen im Textbestand, die für *Ev mehr Text ausweisen als für Lk. Aus Sicht der Lk-Priorität erscheinen diese Differenzen als marcionitische »Zusätze«. Harnack hielt ihre Zahl für »so verschwindend gering, daß man skeptisch gegenüber den wenigen Fällen wird, in denen solche angenommen werden müssen.« 18 Dementsprechend stiefmütterlich hat er sie auch behandelt: Seine Liste ist sehr kurz 19 und enthält überdies irrtümlich auch Beispiele, für die gar nicht für *Ev bezeugt sind. 20 Tatsächlich gibt es jedoch mehr Beispiele, als Harnack annahm. Die nachstehende Liste führt neben der Bezeugung für *Ev jeweils auch die Analogien aus der Handschriftenüberlieferung mit auf: 4,32 καὶ {πάντες} ἐξεπλήσσοντο ἐπὶ τῇ διδαχῇ αὐτοῦ: παντες/ omnes add Tert. 4,7,7 r 1 sy h sa 4,34 [῎Εα] τί ἡμῖν καὶ σοί {ἐστιν}, ᾿Ιησοῦ Ναζαρηνέ: εστιν/ est add Tert. 4,7,9 a 5,10b ἀπὸ τοῦ νῦν {γὰρ} ἀνθρώπους ἔσῃ ζωγρῶν: γαρ/ enim add Tert. 4,9,1 sy s (mss) 5,24 ἔγειρε καὶ ἆρον τὸν κράβαττὸν σου {καὶ} πορεύου εἰς τὸν οἶκόν σου: και/ et add Tert. 4,10,1 א D 0211 mult lectt it vg sy s.pesh Tat pers sa bo 6,27 {ὀϕθαλμὸν ἀντὶ ὀϕθαλμοῦ καὶ ὀδόντα ἀντὶ ὀδόντος}: add Tert. 4,16,2.4; Adam. 1,15 (814a) 6,27 ἀγαπᾶτε τοὺς ἐχθροὺς ὑμῶν {καὶ} καλῶς ποιεῖτε τοῖς μισοῦσιν ὑμᾶς: και/ et add Tert. 4,16,1 W gat 8,21 ὁ δὲ ἀποκριθεὶς εἶπεν πρὸς αὐτούς, {Τίς ἐστιν ἡ μήτηρ μου καὶ οἱ ἀδελϕοί μου}: add Tert. 4,19,11 8,21 εἰ μὴ οἳ ἀκούουσιν τοὺς λόγους μου {καὶ ποιοῦσιν αὐτούς}: και ποιουσιν αυτους add Tert. 4,19,11 ______________________________ 18 H ARNACK 61; ebd. 62 eine Aufzählung der Stellen. 19 H ARNACK 62 nennt: Lk 9,41; 9,54; 9,55 (οὐκ οἴδατε οἵου πνεύματός ἐστε ὑμεῖς); 16,28.29 (ἐκεῖ); 18,19; 18,20 (ὁ δὲ ἔϕη); 21,13; 23,2(5). 20 Nicht bezeugt ist 9,55 (οὐκ οἴδατε οἵου πνεύματός ἐστε ὑμεῖς); in 18,20 ist der angebliche »Zusatz« (ὁ δέ) vermutlich nur eine überleitende Einfügung des Epiphanius, mit der er den Einsatz der Antwort Jesu markiert (Schol. 50). § 6: Die Aporien der Lk-Priorität 135 9,41a ἀποκριθεὶς δὲ ὁ ᾿Ιησοῦς εἶπεν {πρὸς αὐτούς}, Ὦ γενεὰ ἄπιστος: add προς αυτους Epiph., Schol. 19 9,54 Κύριε, θέλεις εἴπωμεν πῦρ καταβῆναι ἀπὸ τοῦ οὐρανοῦ καὶ ἀναλῶσαι αὐτούς {ὧς καὶ ᾿Ηλίας ἐποίησεν}: ως και Ηλιας εποιησεν add Tert. 4,23,8 A C D W Θ Ψ f 1.13 a b c q r 1 10,1 ἀπέδειξεν δὲ ὁ κύριος καὶ ἑτέρους ἑβδομήκοντα δύο {ἀποστόλους ἐπὶ τοὺς δώδεκα}: αποστολους επι τους δωδεκα add Tert. 4,24,1 (Adam. 1,5; 806d) 10,4 μὴ βαστάζετε βαλλάντιον, μὴ πήραν, {μὴ ῥάβδον} μὴ ὑποδήματα …: μη ραβδον add Tert. 4,24,1 [12,30 ὑμῶν δὲ ὁ πατὴρ οἶδεν ὅτι χρῄζετε τούτων {τῶν σαρκικῶν}: των σαρκικων add Epiph., Schol. 32; Epiphanius bezeugt hier nicht einen längeren *Ev-Text, sondern präzisiert sein eigenes Zitat; s. dazu die Rekonstruktion z. St.] 16,29 ἔχω γὰρ {ἐκεῖ} πέντε ἀδελϕούς: εκει add Adam. 2,10 (827b) 16,31 οὐδ’ ἂν τις ἐκ νεκρῶν ἀπέλθῃ {πρὸς αὐτοὺς} ἀκουσούσιν αὐτοῦ: προς αυτους add D d r 1 (vgl. Adam) 17,1 οὐαὶ {ἐκεῖνῳ} δι’ οὗ {τὸ σκάνδαλον} ἔρχεται: το σκανδαλον add Adam (l) 17,2 συμϕέρει αὐτῷ εἰ {μὴ γεννηθῇ ἢ} λίθος μυλικὸς περιέκειτο …: μη γεννηθη η add Tert a b c ſſ 2 i l λ r 1 q 17,18 = 4,27: {καὶ πολλοὶ λεπροὶ ἦσαν ἐν τῷ ᾿Ισραὴλ ἐπὶ ᾿Ελισαίου τοῦ προϕήτου, καὶ οὐδεὶς αὐτῶν ἐκαθαρίσθη εἰ μὴ Ναιμὰν ὁ Σύρος}: vs. add Tert. 4,35,6; Epiph., Schol. 48 18,19 Τί με λέγεις ἀγαθόν; οὐδεὶς ἀγαθὸς εἰ μὴ εἷς ὁ θεός {ὁ πατήρ}: ο πατηρ add Epiph., Schol. 50 18,42 καὶ {ἀποκριθεὶς} ὁ ᾿Ιησοῦς εἶπεν αὐτῷ, ᾿Ανάβλεψον …: αποκριθεις add Adam. 5,14 (858d). 21,7 ᾿Επηρώτησαν δὲ αὐτὸν c {οἱ μαθηταὶ} c λέγοντες, Διδάσκαλε …: οι μαθηται add οι μαθηται: Tert. 4,39,13 D georg (d vg 1 ms ) 21,8 πολλοὶ ἐλεύσονται ἐπὶ τῷ ὀνόματί μου λέγοντες, ᾿Εγώ εἰμι {ὁ Χριστός}: ο Χριστος add Tert. 4,39,2; 5,1,3 157 1247 c aur c e ſſ 2 gat i l q r 1 s vg mss (vgl. Mt 24,5: ἐγώ εἰμι ὁ Χριστός) 21,13 ἀποβήσεται ὑμῖν εἰς μαρτύριον {καὶ εἰς σωτηρίαν}: και εις σωτηριαν add Tert. 4,39,4 22,8 καὶ ἀπέστειλεν Πέτρον  ? καὶ ᾿Ιωάννην?  {καὶ τοὺς λοιπούς} εἰπών …: και τους λοιπους add Epiph., Schol. 61 22,14 Καὶ ὅτε ἐγένετο ἡ ὥρα, ἀνέπεσεν καὶ οἱ {δώδεκα} ἀπόστολοι σὺν αὐτῷ: δωδεκα add Epiph. Schol 62 23,2 Τοῦτον εὕραμεν διαστρέϕοντα τὸ ἔθνος [ἡμῶν] {καὶ καταλύοντα τὸν νόμον καὶ τοὺς προϕήτας}: και καταλυοντα τον νομον και τους προϕητας add Epiph., Schol. 69 b c e ſſ 2 gat i l q (vg) 23,2 καὶ κελεύοντα ϕόρους [Καίσαρι] μὴ δοῦναι {καὶ ἀποστρέϕοντα τὰς γυναῖκας καὶ τὰ τέκνα}: και αποστρεϕοντα τας γυναικας και τα τεκνα add Epiph., Schol. 70 c e (ad 23,5) 23,52 καθελὼν {τὸ σῶμα} ἐνετύλιξεν: το σωμα add Epiph., Schol. 74 c d (a ſſ 2 ) 24,5 {οἱ ἐν ἐσθῆτι λαμπρᾷ} εἶπαν πρὸς αὐτάς: οι εν εσθητι λαμπρα add Epiph., Schol. 76 Die Liste enthält in rund der Hälfte aller Fälle Übereinstimmungen mit einem Teil der Handschriftenüberlieferung, vor allem den Altlateinern. Dies ist nach dem oben (S. 85ff) Ausgeführten nicht weiter verwunderlich und bestätigt die hohe Affinität zwischen *Ev und den »Westlichen« Zeugen. Die Nachlässigkeit, mit der Harnack diese Beispiele überging, ist Ausdruck seines nachvollziehbaren (aber 136 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk ungerechtfertigten) Desinteresses an diesen »kleineren« Varianten: Sie bewirken keine oder nur sehr geringe textsemantische Veränderungen und sind deshalb mit Blick auf die Bearbeitung, der Marcion das kanonische Evangeliums unterzogen haben soll, irrelevant. Genau in dieser semantischen Unauffälligkeit liegt jedoch ihre Relevanz: Weil diese »kleinen« Varianten kein theologisches Konzept zu erkennen geben, sind sie im Modell der umgekehrten Abhängigkeit des Lk von *Ev sehr viel leichter verständlich. Denn unter der klassischen Voraussetzung der Lk- Priorität müsste man erklären, wieso der *Ev-Text in so unwesentlichen Dingen einen so breiten Einfluss auf die katholische Handschriftenüberlieferung gewinnen konnte. Im umgekehrten Fall handelt es sich um Änderungen der lk Redaktion, die bei der Korrektur der vorkanonischen Manuskripte nicht konsequent eingetragen wurden. Nach den Überlegungen, die o. (S. 85ff) zu den Berührungen zwischen dem für *Ev bezeugten Text und den Varianten der kanonischen Handschriftenüberlieferung angestellt wurden, ist darauf hinzuweisen, dass *Ev mit großer Wahrscheinlichkeit noch an anderen Stellen solche überschießenden Elemente enthielt: Auch, wenn sie nicht direkt bezeugt sind, ist ihre Existenz aufgrund textgeschichtlicher Beobachtungen und überlieferungsgeschichtlicher Erwägungen wahrscheinlich. Die folgende Liste enthält die wichtigsten dieser nicht direkt bezeugten Überschüsse, die dann von der lk Redaktion gestrichen wurden. Da es für diese Beispiele keine direkte Bezeugung gibt (hier gilt jeweils: »*Ev non test.«), bleibt das Urteil naturgemäß unsicher. Aus diesem Grund ist jeweils die Begründung der Rekonstruktionsentscheidung zu vergleichen. *4,31 τὴν παραθαλάσσιον ἐν ὁρίοις Ζαβουλὼν καὶ Νεϕθαλίμ: D d (vgl. Mt 4,13) *5,14 ὁ δὲ ἐξελθὼν ἤρξατο κηρύσσειν καὶ διαϕημίζειν τὸν λόγον, ὥστε μηκέτι δύνασθαι αὐτὸν ϕανερῶς εἰς πόλιν εἰσελθεῖν, ἀλλ’ ἔξω ἦν ἐπ’ ἐρήμοις τόποις· καὶ συνήρχοντο πρὸς αὐτὸν καὶ ἦλθεν πάλιν εἰς Καϕαρναούμ: D d (vgl. Mk 1,45; 2,1a) *5,21 ἐν ταῖς καρδίαις αὐτῶν: D b d ſſ 2 g 1 l q (vgl. Mk 2,6) *5,27 καὶ ἐλθὼν πάλιν παρὰ τὴν θάλασσαν καὶ ἐπακολουθοῦντα αυτῷ ὄχλον ἐδίδασκεν· καὶ παράγων εἶδεν Λευὶ τὸν τοῦ ῾Αλϕαίου: D d *5,33 καὶ οἱ μαθηταὶ τῶν Φαρισαίων: D d (vgl. Mk 2,18) *6,4 τῇ αὐτῇ ἡμέρᾳ θεασάμενός τινα ἐργαζόμενον τῷ σαββάτῳ εἶπεν αὐτῷ· ἄνθρωπε, εἰ μὲν οἶδας τὶ ποιεῖς, μακάριος εἶ· εἰ δὲ μὴ οἶδας, ἐπικατάρατος καὶ παραβάτης εἶ τοῦ νόμου: D d *6,14 τὸν ἀδελϕὸν αὐτοῦ οὓς ἐπωνόμασεν Βοανηργές, ὅ ἐστιν υἱοὶ Βροντῆς: D d (vgl. Mk 3,17) *6,15 τὸν ἐπικαλούμενον Δίδυμον: D d (vgl. Joh 11,16; 20,24; 21,2) *7,19 λέγει· πορευθέντες εἴπατε αὐτῷ: D d (e) *8,18 οὐ δέδοται εἰ μή: e g 1 (sy s.c.p ) *8,45 ὁ δὲ Ἰησοῦς γνοὺς τὴν ἐξελθοῦσαν ἐξ αὐτοῦ δύναμιν ἐπηρώτα: D a d *9,56 ὁ γὰρ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου οὐκ ἦλθεν ψυχὰς τῶν ἀνθρώπων ἀπολέσαι, ἀλλὰ σῶσαι: K Γ Θ f 1.13 579 700 2542 mult a aur b c e f q r 1 vg mss sy (c.p.)h bo mss *11,2 ἐλθέτω τὸ πνεῦμά (σου) τὸ ἅγιον (ἐϕ’ ἡμᾶς) (καὶ καθαρισάτω ἡμᾶς): (Tert) 162 700 GregNyss MaxConf *11,43 καὶ τὰς πρωτοκλισίας ἐν τοῖς δείπνοις: C (D f 13 ) pc b d l q r 1 § 6: Die Aporien der Lk-Priorität 137 *14,35 καὶ καταπατήται ὑπὸ τῶν ἀνθρώπων: l (vgl. Mt 5,13) *16,16 ἐπροϕήτευσαν: D (Θ) 1223 c 1579 ℓ 950 d vg ms sy c ; προεϕητευσαν 577 1675 2643 *17,5 τῷ ὄρει τούτῳ, Μετάβα ἐνθεύθεν ἐκεῖ, καὶ μετέβαινεν· καί: D d sy s (  Ambr, Ps 36,77,2) *17,9 αὐτῷ; οὐ δοκῶ: D f 13 pc a d f sy p *19,27 καὶ τὸν ἀχρεῖον δοῦλον ἐκβάλετε εἰς τὸ σκότος τὸ ἐξώτερον· ἐκεῖ ἔσται ὁ κλαυθμὸς καὶ ὁ βρυγμὸς τῶν ὀδόντων: D d *19,38 Εὐλογημένος ὁ βασιλεύς: D a c d e f ſſ 2 g 1 gat i l s; ευλογημενος ο βασιλευς ισραηλ: 157 r 1 sy h (cum asterisco; mg: non in omnibus exemplaribus invenitur); ευλογημενος ο βασιλευς θεου: Tat pers *21,6 ἐν τοίχῳ ὧδε: D a d; εν τοιχω: l s; ωδε εν τοιχω: c ſſ 2 i q r 1 vg 2 mss *23,37 περιτίθεντες αὐτῷ καὶ ἀκάνθινον στέϕανον: D (c) d *24,1 ἐλογίζοντο δὲ ἐν ἑαυταῖς· τίς ἄρα ἀποκύλισει τὸν λίθον: D c (  D*: 1-6 αποκαλυπτει 8 9) 070 c d sa mss ; (1-7 + ημιν 8 9): 0124 sa 2mss (vgl. Mk 16,3) *24,13 καὶ Κλεοπᾶς: e ſſ 2 r 1vid ; cleofas et ammaus: b; cleopa et ammau: Ambst (Rm 1,4); cleopas cum socio suo amaus: Ambst (1Cor 15,5); cleop(h)as et e(m)maus; cleophas et amaus: Ambst (Quaest. 77,2) ¦ ουλαμμαους: D d *24,43 καὶ τὰ ἐπίλοιπα ἔδωκεν αὐτοῖς: K Π* f 13 ℓ 844 ℓ 2211 al r 1 sy c bo pt armen slav August (Spec. 242,2,2); και λαβων τα επιλοιπα εδωκεν αυτοις: 161* 713; λαβων τα επιλοιπα εδωκεν αυτοις: Θ aur c vg sy h* bo pt ; και εδωκεν αυτοις: August (Ps 147,17); και τα επιλοιπα ελαβεν και εδωκεν αυτοις: r 1 aeth mss Obwohl diese Liste unvollständig ist und obwohl das Urteil weniger sicher ist als in den Fällen, für die eine direkte Bezeugung vorliegt, lässt sie doch das Verfahren der lk Redaktion ahnen: Sie hat keineswegs nur Text hinzugefügt, sondern auch gestrichen und umformuliert. Einige dieser Beispiele sind für die Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte von erheblicher Bedeutung. Neben diesen »kleinen« Zusätzen enthält *Ev allerdings auch in mindestens drei Fällen gewichtige und semantisch in hohem Maß relevante »Überschusstexte« gegenüber Lk. Es ist wohl Ausdruck von Harnacks generellem Desinteresse an diesen »Zusätzen«, dass er keinen Versuch einer Erklärung unternommen hat. Zwei der drei Beispiele widersprechen der für Marcion angenommenen Theologie und stellen das Bild einer theologisch begründeten Redaktion des kanonischen Lk in Frage. In einem Fall jedoch hätte der für Marcion bezeugte Befund sehr gut in das Erklärungsmodell Harnacks und anderer gepasst, sodass das Fehlen einer Erklärung einigermaßen verwunderlich ist. 1. Dies ist das erste Beispiel: Für *6,27 ist die aus Mt 5,38 bekannte Talionsregel bezeugt. Harnack nimmt sie in seine Textrekonstruktion zu *6,29 auf 21 und kommentiert, dass »M.(arcion) einen aus Luk. und Matth. gemischten Text befolgt« habe. 22 Dies passt zwar zu seiner These, dass Marcion mit der Bearbeitung des Lk eine ______________________________ 21 Zur genauen Stellung der Talio im Kontext von *6,27ff vgl. die Rekonstruktion. 22 H ARNACK 193*. In dem Abschnitt »Der Weltschöpfer als der Judengott; die Gerechtigkeit als das Moralische; Gesetz, Propheten, Messias und h. Schrift des Judengottes« (a. a. O. 106ff), in dem eine Diskussion des Problems zu erwarten wäre, fehlt jeder Hinweis. 138 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk Auswahl aus allen Evangelien getroffen hätte, widerspricht aber der durch die Häresiologen sehr gut bezeugten Ansicht, dass Marcion ganz ausdrücklich nur das Lk-Evangelium bearbeitet habe. Die Bezeugung ist durch Tertullian und Adamantius sichergestellt. Im Kontext des ersten Adamantius-Dialogs will der Marcionit Megethius nachweisen, dass das Evangelium dem Gesetz entgegengesetzt ist und wertet dies als Beleg, dass der Demiurg nicht »gut« sei, da er sich selbst widerspricht. 23 Adamantius wendet ein: Widersprüchliche Gesetze seien kein Zeichen dafür, dass der Schöpfer nicht gut sei; denn auch Christus (dessen bonitas ja für Marcion vollständig außer Frage steht) habe einerseits geboten, die Feinde zu lieben, andererseits aber schicke er die »Feinde des Glaubens« in die äußerste Finsternis (Mt 8,12; 22,13; 25,30). Darauf Megethius: »Im Gesetz heißt es: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Aber der Herr, der gut ist, sagt im Evangelium: Wenn dich einer auf die Backe schlägt, halte ihm auch die andere hin! « 24 Megethius’ Hinweis auf das Gesetz lässt sich so verstehen, dass er auf das kirchliche Alte Testament anspielt. In diesem Fall würde er einen Gegensatz zwischen den beiden Teilen der katholischen Bibel etablieren. Da er aber das Alte Testament gar nicht anerkennt, und da sich alle Gesprächspartner darauf geeinigt hatten, ihre Diskussion auf der Grundlage von Megethius’ eigener, marcionitischer Bibel zu führen, liegt es sehr viel näher, dass das, was »das Gesetz sagt«, tatsächlich in Megethius’ eigenem Evangelium stand, und zwar am ehesten so, dass der »gute Herr« im Evangelium auf diesen Gegensatz hingewiesen habe. Nicht von ungefähr erinnert dies an die mt Form der Antithesen. Auch Tertullian deutet an, dass er die Talionsregel in einer entsprechenden Weise in *Ev gelesen hatte: »Christus lehrt offensichtlich eine neue Duldsamkeit, wenn er sogar die Vergeltung von Unrecht einschränkt, obwohl sie der Schöpfer erlaubt hat mit der Forderung: Auge um Auge, Zahn um Zahn.« 25 Das stärkste Argument für die Existenz der Talio in *Ev ist jedoch, dass Tertullian für *Ev in *6,27 mit dem anaphorischen ἀλλά/ sed den Gegensatz zu einer vorangehenden Aussage bezeugt. Dieser adversative Einsatz ist noch in der kanonischen Fassung enthalten, hat dort aber zu Beginn der neuen Einheit keine sinnvolle syntaktische Funktion mehr - ganz im Unterschied zu *Ev, sofern sich dort ἀ λ λ ὰ ὑμῖν λέγω gegen eine vorangehende Aussage wendet, wie sie in den mt Antithesen enthalten ist. Ich gehe daher davon aus, dass *Ev die Talio an dieser Stelle enthielt. Für Tertullian liegt das eigentliche Problem natürlich nicht darin, dass *Ev die Talio und eine Antithese Jesu enthielt (das kannte er ja aus dem kanonischen Mt), sondern in dem möglichen Widerspruch zwischen Ex 21,24 und dem Vergeltungsverbot Jesu; er löst es durch Verweis auf die Intention der Regel: Sie wolle nicht ein zweites Unrecht erlauben, sondern das erste einschränken. 26 ______________________________ 23 Adam. 1,15 (814a): δείξω ὅτι ἠναντίωται τὸ εὐαγγέλιον τῷ νόμῳ. 24 Adam. 1,15 (814a): ἐν τῷ νόμῳ λέγει Ὀϕθαλμὸν ἀντὶ ὀϕθαλμοῦ καὶ ὀδόντα ἀντὶ ὀδὸντος, ὁ δὲ κύριος, ἀγαθὸς ὤν, λέγει ἐν τῷ εὐαγγελίῳ Ἐάν τις σε ῥαπίσῃ εἰς τὴν σιαγόνα, παράθες αὐτῷ καὶ τὴν ἄλλην. 25 Tert. 4,16,2: Novam plane patientiam docet Christus, etiam vicem iniuriae cohibens permissam a creatore, oculum exigente pro oculo et dentem pro dente. 26 Tert. 4,16,4: In quantum ergo fidem non capit ut idem videatur et dentem pro dente, oculum pro oculo, in vicem iniuriae exigere qui non modo vicem, sed etiam ultionem, etiam recordationem et recogitationem iniuriae prohibet, in tantum aperitur nobis quomodo oculum pro oculo et dentem § 6: Die Aporien der Lk-Priorität 139 *Ev besaß an dieser Stelle eine große Affinität zu Mt, die einen wichtigen Hinweis auf den Gang der Überlieferungsgeschichte gibt: Die rhetorische Figur der Antithese zwischen den Aussagen des Gesetzes und der Lehre Jesu ist keine mt Erfindung, sondern lag bereits in *Ev vor. Während dieser »Überschuss« in *Ev gegenüber dem kanonischen Text sehr gut zu dem Bild passen würde, das die Häresiologen von der marcionitischen Theologie zeichnen, ist dies in anderen Fällen durchaus anders. 2. Daher ist das nächste Beispiel zentral, obwohl es auf den ersten Blick unscheinbar wirkt: Epiphanius las in *18,19 (οὐδεὶς ἀγαθὸς εἰ μὴ εἷς ὁ θεός) ὁ π α τ ή ρ . 27 Dass Jesus den Gott der Gebote als »Vater« bezeichnet, hat weitreichende Implikationen, wenn man *Ev mit den Augen etwa Tertullians liest. Denn nach Tertullians Darstellung basierte die marcionitische Gotteslehre auf der konsequenten Differenzierung zwischen dem deus bonus, dem Vater Jesu Christi, und dem creator als dem Gott der Gebote. Wenn *Ev hier beide miteinander identifiziert, wird das Problem unabweisbar, das die gesamte Perikope - mit der Erfüllung der Gebote als Bedingung der Rettung - für die ihm unterstellte Theologie ohnehin schon konstituiert. In seine Rekonstruktion hatte Harnack ὁ πατήρ mit der Einschränkung »[oder nur ὁ θεός]« aufgenommen; im Kommentar zur gesamten Perikope notiert er nur die Unsicherheit (wohl wegen der unterschiedlichen Bezeugungen), kommentiert aber nicht. 28 Dabei hätte hier eine Erklärung nahegelegen, da Harnack unter den Motiven für Marcions »Streichungen und Korrekturen« gleich an erster Stelle notiert: »Der Weltschöpfer und Gott des AT darf nicht als Vater Jesu Christi erscheinen.« 29 Im Unterschied zu Harnack hat sich Tsutsui um eine Erklärung bemüht, die jedoch nur das Dilemma offenbart: Denn einerseits habe Marcion den Dekalog akzeptiert, wie seine Rezeption von Rm 13,19a zeige. Auf der anderen Seite liege die Besitzverzichtsforderung *18,22 nicht auf der gleichen Ebene wie die Dekaloggebote. Deswegen ist es für Tsutsui wichtig, dass die Bezeugung von *18,22 (Tert. 4,36,4; Adam. 2,17 [832b]) keine Spur des ἔτι (ἕν σοι λείπει)/ noch (eines fehlt dir) zeige: »Das Adverb muss von Marcion absichtlich gestrichen worden sein, um die falsche Interpretationsmöglichkeit zu beseitigen: als ob das Dekaloggebot eine essentielle, ______________________________ pro dente censuerit, non ad secundam iniuriam talionis permittendam, quam prohibuerat interdicta ultione, sed ad primam coercendam, quam prohibuerat talione opposito, ut unusquisque respiciens licentiam secundae iniuriae a prima semetipsum contineret. 27 Epiph., Schol. 50: προσέθετο ἐκεῖνος ›ὁ πατήρ‹ καὶ ἀντὶ τοῦ ›τὰς ἐντολὰς οἶδας‹ λέγει ›τὰς ἐντολὰς οἶδα‹. 28 H ARNACK 226*. 29 H ARNACK 64. 140 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk integrale Vorstufe zur Erlösung sei. Es steht keineswegs auf derselben Ebene wie das darauffolgende, von Jesus selbst stammende Gebot.« 30 Diese Erklärung ist scharfsinnig gedacht und passt zu dem vorausgesetzten Bild der marcionitischen Redaktion. Aber sie übersieht, dass *Ev den Gott der Gebote mit dem Vater Jesu identifiziert und daher die beiden Forderungen tatsächlich auf einer Ebene versteht: Tsutsui hat Epiphanius’ Zeugnis an dieser Stelle überhaupt nicht erwähnt. Auch Harnack spielt es herunter: Er hält die Formulierung ὁ πατήρ für »zweifelhaft« und »unsicher«. 31 Das ist insofern unverständlich, als er zu Recht Epiphanius’ Zeugnis für das marcionitische Evangelium für noch »wichtiger als für das Apostol.(ikon)« hielt und seinen Angaben »unschätzbaren Wert« bescheinigt. 32 Die Bezeugung wird unterschlagen, weil sie dem intendierten Gesamtbild nicht entspricht: Bei der Annahme der Lk-Priorität hätte Marcion den kanonischen Lk- Text in einer Weise verändert, die seiner Theologie an einem zentralen Punkt direkt widersprochen hätte. 3. Dieses Phänomen ist noch sehr viel deutlicher im letzten Beispiel, nämlich in den »Überschüssen«, die *Ev in *23,2(5) gegenüber Lk aufweist, auf die oben bereits hingewiesen wurde. 33 Epiphanius bezeugt für das Verhör Jesu durch Pilatus zwei »Zusätze« (προσθήκαι): Epiph., Schol. 69: »Er setzte aber nach dem ›Wir haben gefunden, dass dieser das Volk verführt‹ hinzu: ›Und dass er das Gesetz und die Propheten auflöst‹. - Schol. 70: »Zusatz nach dem ›Er hat befohlen, keine Steuern zu zahlen‹: ›Und er machte die Frauen und Kinder abspenstig‹.« 34 Dass diese »Zusätze« auch in der altlateinischen Überlieferung bezeugt sind, wurde ebenfalls schon gezeigt (o. S. 84 mit Anm. 16): Der erste erscheint mit kleineren Abweichungen in b c e ſſ 2 gat i l q vg, der zweite ist in c e mit einer zusätzlichen Begründung für 23,5 belegt. Der unterschiedliche Ort, an dem die altlateinischen Evangelienhandschriften diese »Zusätze« enthalten, könnte Zweifel an der Korrektheit von Epiphanius’ Zeugnis aufkommen lassen, der beide in *23,2 gelesen hat. Vor allem drei Beobachtungen sprechen dafür, dass Epiphanius hier doch korrekt zitiert, und zwar den ursprünglichen Text, der noch nicht durch den kanonischen Text kontaminiert war: Seine Beschreibung von *Ev ist (1) ausgesprochen präzise: Er bezeichnet den Ort dieser »Zusätze« sehr genau innerhalb der Reihe der Vorwürfe von *23,2. Dazu stimmt (2), dass die von ihm zitierte partizipiale Form der beiden Überschüsse nur zu *23,2 passt: ______________________________ 30 K. T SUTSUI , Das Evangelium Marcions. Ein neuer Versuch der Textrekonstruktion, AJBI 18 (1992), 67-132: 116. Das lk Konzept zeigt, wie beide Aspekte problemlos zusammenpassen. Vgl. M. K LINGHARDT , Gesetz und Volk Gottes, Tübingen 1988, 132-135. 31 H ARNACK 62. Vgl. ebd. 226*: »Die übrigen Abweichungen … übergehe ich, da das, was M. selbst aufgenommen hat, unsicher ist.« 32 H ARNACK 180*. 33 Vgl. o. S. 73 Anm. 14. 34 Epiph., Schol. 69: Προσέθετο μετὰ τό Τοῦτον εὕραμεν διαστρέϕοντα τὸ ἔθνος· Καὶ καταλύοντα τὸν νόμον καὶ τοὺς προϕήτας. Schol. 70: Προσθήκη μετὰ τό Κελεύοντα ϕόρους μὴ δοῦναι· Καὶ ἀποστρέϕοντα τὰς γυναῖκας καὶ τὰ τέκνα. § 6: Die Aporien der Lk-Priorität 141 (τοῦτον εὕραμεν) διαστρέϕοντα … καταλύοντα … κελεύοντα … ἀποστρέϕοντα … λέγοντα. In *23,5 würde der Kontext dagegen eine finite Verbform erfordern (λέγοντες ὅτι Ἀ ν α σ ε ί ε ι …), wie sie in den altlat. Zeugen c und e denn auch vorliegt. 35 Und schließlich ist (3) dem Vorwurf der Verführung von Söhnen und Frauen in c e eine Begründung beigegeben, die Epiph. nicht in *Ev gelesen hatte: non enim baptizatur (e: baptizantur) sicut (e: et) nos (e: nec se mundant). Es ist sehr viel leichter vorstellbar, dass die Begründung für den Vorwurf - der sich ja aus der bisherigen Lektüre des Evangeliums nicht unbedingt nahelegt! - als Lesehilfe dazugestellt wurde, als dass sie gestrichen wurde. Für eine Erklärung dieser Differenzen zwischen Epiphanius auf der einen Seite und *23,5 (c e) auf der anderen ist zu beachten, dass der von Epiphanius bezeugte Text der problematischere ist: Er bietet alle fünf Vorwürfe in einer langen, überladen wirkenden Reihe, während die Wiederholung des Vorwurfs der Volksverhetzung in *23,5 (c e) nur dann eine wirkliche Bekräftigung (ἐπισχύω/ invalesco) darstellt, wenn sie auch inhaltlich weiter ausgeführt wird. Damit deutet alles darauf hin, dass *23,5 in der Fassung von c e gegenüber der von Epiphanius bezeugten Form redaktionelle Spuren aufweist und wohl sekundär ist. Dass dies sehr gut denkbar ist, zeigt die starke Variabilität innerhalb der altlateinischen Evangelienüberlieferung. Es ist oben schon deutlich geworden, dass diese »Zusätze« eine schwere Hypothek für die These der Lk-Priorität darstellen. Denn ein Vergleich zwischen der für *Ev bezeugten und der kanonischen Fassung von 23,1-5 zeigt noch weitere Bearbeitungsspuren im kanonischen Text, die in *Ev fehlen, vor allem die Pilatusfrage und die Antwort Jesu mit dem messianischen Bekenntnis. Für *Ev ist das primär religiös zu verstehende messianische Bekenntnis »Bist du der Christus? « bezeugt. 36 Die lk Fassung liest dagegen die nur politisch zu verstehende Frage: »Bist du der König der Juden? « Vermutlich ist die lk Fassung durch die synoptischen Parallelen (Mk 15,2 || Mt 27,11) beeinflusst: Auf jeden Fall hat die lk Redaktion durch diese Ersetzung einen schier unüberbrückbaren Gegensatz zwischen V. 3 und V. 4 geschaffen. Denn Pilatus’ Urteil in *23,4, er finde an Jesus keine Schuld, klingt schon als Reaktion auf das messianische Bekenntnis nur bedingt wahrscheinlich. Aber auf das nur politisch zu verstehende Geständnis Jesu hin, er sei in der Tat der König der Juden, ist das Urteil des Pilatus schlechterdings unmöglich: Die lk Redaktion hat hier eine höchst unwahrscheinliche, wenn nicht unmögliche Zusammenstellung produziert - ein typisches Zeichen von »redactional fatigue«! 37 Sehr viel schwerer als die überlieferungsgeschichtlichen Beobachtungen wiegt aber der unübersehbare Umstand, dass der - aus Sicht von *Ev eindeutig falsche - Vorwurf der Auflösung von Gesetz und Propheten der für Marcion angenommenen Theologie diametral widerspricht: Wenn Marcion eine theologisch induzierte ______________________________ 35 23,5 (c): at illi invalescebant dicentes quoniam c o n t u r b a t … et filios nostros et uxores a v e r t i t . 23,5 (e): ad illi invaliscebant dicentes c o m m o v e t populum … et … a v e r t i t … 36 Tert. 4,42,1. 37 Zu diesem Phänomen vgl. M. S. G OODACRE , Fatigue in the Synoptics, NTS 44 (1998), 45-58, DERS ., The Synoptic Problem, Sheffield 2001, 71ff. 142 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk Bearbeitung des Lk vorgenommen haben sollte, dann hätte er an dieser Stelle in der Tat »seinem Zwecke entgegen« geändert! 38 Im Horizont des altkirchlichen Verstümmelungsvorwurfs ist es schlechterdings undenkbar, dass Marcion diese Art von Sympathie für »Gesetz und Propheten« an den Tag gelegt haben soll. Aufschlussreich ist dabei nicht nur das Phänomen selbst, sondern auch seine Behandlung durch die Vertreter der Lk-Priorität: Sie haben diesen redaktionellen Unterschied nur nebenhin zur Kenntnis genommen, die gravierenden Folgen, die er für ihre eigene Theorie aufwarf, aber weder vermerkt noch gar zu lösen versucht. 39 Die Skepsis gegenüber marcionitischen »Zusätzen«, die vor allem Harnack geäußert hat, ist daher am ehesten Ausdruck der Verlegenheit, dass diese Beobachtungen sich nicht mit der (unbefragt vorausgesetzten) Lk-Priorität vereinbaren lassen: Im Rahmen des Gesamtmodells dürfte es diese »Zusätze« gar nicht geben! 40 b. Das Fehlen »redaktioneller Verstärkungen« als methodisches Problem Gleichwohl bleibt eine grundlegende Beobachtung Harnacks richtig und wichtig: Sieht man einmal von den hier angeführten drei Beispielen ab, an denen *Ev einen längeren Text hatte als Lk, hätte Marcion die für ihn angenommene Redaktion nicht durch die Einfügung weiterer Texte gestützt. 41 Ein solches Verfahren wäre in der Tat einzigartig. Denn alles, was wir über die redaktionelle Bearbeitung von Texten im nächsten Umfeld wissen, deutet darauf hin, dass inhaltliche Interessen (also: ein redaktionelles Konzept! ) außer durch Korrekturen vor allem durch Ergänzungen und Zusätze Ausdruck finden. Das nächstliegende und hinreichend deutliche Beispiel ist das Verhältnis von Mk und Mt: Unter der Voraussetzung der Mk-Priorität (etwa nach der Zwei-Quellentheorie oder dem Farrer-Goodacre- Modell) ist Mt eine erweiternde Redaktion von Mk, in dessen narrativen Rahmen er weiteres Material eingebaut hat. Die redaktionsgeschichtliche Forschung hat sich daher, mit einigem methodischen Recht, zunächst auf diejenigen mt Texte gestützt, die Mt über Mk hinaus hat (also das mt Sondergut und die Texte der mt-lk Doppelüberlieferung), um das redaktionelle Profil des Mt zu erheben. Weitere Beispiele, die nicht weniger schlagend sind, wären das Verhältnis zwischen Jud und 2Pe bzw. zwischen Kol und Eph: Für alle diese Beispiele ist ganz weithin akzeptiert, dass die Bearbeitungsrichtung vom kürzeren zum längeren Text verläuft, und dass die ______________________________ 38 J. E. C HR . S CHMIDT , Das ächte Evangelium des Lucas, eine Vermuthung, Magazin für Religionsphilosophie, Exegese und Kirchengeschichte 5 (1796), 468-520: 483. 39 Vgl. H ARNACK 235* (»Es sind also in v. 2 zwei Zusätze M.’s zu konstatieren, die im Abendland Aufnahme gefunden haben«) und T SUTSUI , a. a. O. 125 (»Die Zusätze, die die entsprechenden Lesarten nur in Itala-Handschriften finden, stammen wohl von Marcion«). 40 Deswegen ist Harnacks Annahme charakteristisch, die »Zusätze« seien von Marcions Schülern interpoliert worden; dafür gibt es keinerlei Hinweis (H ARNACK 44 Anm. 2). 41 Vgl. H ARNACK 61. § 6: Die Aporien der Lk-Priorität 143 für die Bearbeitung wichtigen inhaltlichen Elemente vor allem in den Überschüssen zu identifizieren sind. Eine Redaktion, die keinerlei Zusätze macht, um ihr redaktionelles Konzept positiv zum Ausdruck zu bringen, wäre mithin völlig singulär und ist von daher höchst unwahrscheinlich. 42 Dies gilt insbesondere dann, wenn man Marcions angebliche Redaktion neben die anderen Beispiele einer Fortschreibung der Evangelienüberlieferung im 2. Jh. stellt, die so reich an apokryphen Erweiterungen sind. Dass dies bei *Ev gerade nicht der Fall ist, haben die Vertreter der Lk-Priorität auch ganz zu Recht mit großer Verwunderung zur Kenntnis genommen 43 - ohne jedoch daraus Konsequenzen für ihre Grundthese der Lk-Priorität zu ziehen. Sieht man diese Beobachtungen zum Umfang des Textbestandes von *Ev zusammen, dann führt auch hier die Annahme der Lk-Priorität in eine Sackgasse. Drei Überlegungen sind wichtig. 1. Die »Zusätze« in *Ev gegenüber Lk (in *18,19; *23,2.5) stellen ein gravierendes Problem für die These der Lk-Priorität dar, dessen Behandlung durch die Vertreter der Lk-Priorität eine gewisse Betriebsblindheit offenbart: Sie konnten diese Zeugnisse nur entweder ignorieren oder ihrer Theorie eine wesentliche Grundlage entziehen. Denn wenn diese Texte von Marcion stammten, hätte er damit das ihm unterstellte (theologische) redaktionelle Konzept torpediert. Vor allem für *23,2 ist schlechterdings nicht erkennbar, welches Interesse Marcion an dieser Aussage hätte haben sollen. 2. In methodischer Hinsicht bleibt dieses Problem selbst dann bestehen, wenn man (mit Grant und anderen) keine theologische, sondern eine rein »philologische« Interpolationskritik annimmt. Denn diese kann - im besten Fall, wie die Beispiele aus der Homer- und Hippokratesexegese zeigen - nur interpolierte Zusätze wieder ausscheiden, nicht aber Verlorenes ergänzen: Woher sollten solche Wiederherstellungen auch stammen, wenn nicht aus einem anderen Text, den es aber nicht gibt und dessen Existenz aus methodischen Gründen ausgeschlossen ist? Die Annahme, dass Marcion eine Interpolationskritik nach Maßgabe der alexandrinischen Philologie durchgeführt habe, scheitert also nicht nur aus den genannten methodischen ______________________________ 42 Gegen diese Überlegung hat C HR . M. H AYS , Marcion vs. Luke: A Response to the Plädoyer of Matthias Klinghardt, ZNW 99 (2008), 213-232: 216, eingewandt, dass sich unter den Qumrantexten Beispiele für die redaktionelle Verkürzung von Texten fänden. Die Diskussion der betreffenden Texte durch E. T OV , Excerpted and Abbreviated Biblical Textes from Qumran, RdQ 16 (1995), 581-600, zeigt jedoch, dass die Analogie keineswegs so klar ist: Denn es behauptet ja niemand, dass Marcion den Versuch unternommen haben sollte, das kanonische Lk-Evangelium zu exzerpieren. Abgesehen davon sind die genannten Analogien in keinem Fall geeignet, die - für das Problem *Ev-Lk ja sehr viel näher liegenden - neutestamentlichen Beispiele zu entkräften. 43 Vgl. H ARNACK 35f; 61; 68-70; 253f* usw.; H. VON C AMPENHAUSEN , Die Entstehung der christlichen Bibel, Tübingen 1968, 188f. 144 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk Gründen, sondern auch daran, dass sie die »Überschüsse« in *Ev gegenüber Lk nicht erklären kann. 44 3. Schließlich wäre die redaktionelle Bearbeitung eines Textes, die keinerlei Zusätze und Ergänzungen im Sinn des redaktionellen Konzeptes vornimmt, schlicht singulär: Dafür gibt es in der nächsten kulturellen Umgebung des frühen Christentums keine auch nur halbwegs plausiblen Analogien. So wirft die Annahme der Lk- Priorität auch hier am Ende nur offene Fragen auf. 3. *Ev und das Problem des Kanons Eine letzte gravierende Aporie, in die die Annahme der Lk-Priorität führt, ergibt sich aus dem Verhältnis von Lk und Act. Dass hier ein Problem lag, wurde offenkundig, nachdem Harnack Marcions Bedeutung für die Entstehung des neutestamentlichen Kanons etabliert hatte: Dadurch war ein neuer Fragehorizont für die Diskussion um *Ev eröffnet, der seither bestimmend blieb. 45 Denn mit Harnacks These, dass Marcions zweiteilige Bibel die Entstehung des Neuen Testaments entscheidend befördert habe, musste geklärt werden, ob Marcion außer Lk noch andere Schriften des NT oder zumindest andere kanonische Evangelien gekannt hatte. Für unser Problem der Bearbeitungsrichtung zwischen Marcion und Lk scheiden sich an dieser Stelle die Geister: Unter der Semler-Eichhorn’schen Prämisse der *Ev-Priorität ist bereits die Frage nach Marcions möglicher Kenntnis anderer neutestamentlicher Schriften erkennbar obsolet: Sie stellt sich gar nicht. Unter der umgekehrten Voraussetzung der Lk-Priorität sind dagegen theoretisch viele Antworten denkbar, denn hier ist ja eine dogmatisch begründete Selektionsentscheidung Marcions vorausgesetzt: Ob Marcion für seine Auswahl nur das Lk- Evangelium oder das lk Doppelwerk oder die Vier-Evangeliensammlung oder das vollständige NT oder irgendwelche Zwischenformen kannte und nutzte, ist für eine Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte des Neuen Testaments von erheblicher Bedeutung; dieses Problem wurde und wird dementsprechend auch kontrovers diskutiert. 46 ______________________________ 44 Schon Campenhausen hatte zu Recht gefolgert: »Wer eine verlorene Urkunde zurückgewinnen will, muß es mit dem Entfernen der Einschübe und winzigen Korrekturen notgedrungen genug sein lassen, will er nicht zum Fälscher werden« (C AMPENHAUSEN , a. a. O. 189). 45 Wichtig vor allem: J. K NOX , Marcion and the New Testament, Chicago 1942; H. VON C AMPEN - HAUSEN , a. a. O.; vgl. jetzt aber J. B. T YSON , Marcion and Luke-Acts, Columbia 2006. 46 T H . Z AHN , Geschichte des Neutestamentlichen Kanons I, Erlangen 1889, 653ff und H ARNACK 21f; 40ff; 78ff usw. sind dafür eingetreten, dass Marcion die Vier-Evangeliensammlung und Act gekannt und verworfen habe. C AMPENHAUSEN , a. a. O. 184ff, hat diese Behauptung widerlegt. Zuletzt hat Ulrich Schmid dessen Position bestätigt und mit guten Gründen gezeigt, dass Marcions Kenntnis der kanonischen Evangelien nicht nachweisbar ist, obwohl er ihre Möglichkeit vom Alter der Handschriftenüberlieferung her einräumt: Vgl. U. B. S CHMID , Marcions Evangelium und die § 6: Die Aporien der Lk-Priorität 145 Während die Frage nach den Beziehungen zwischen *Ev und den anderen Evangelien in Teil IV dieser Untersuchung im Mittelpunkt steht, 47 muss die Frage, ob Marcion Act kannte, hier angesprochen werden. Denn das Verhältnis zwischen *Ev und Act erhält aufgrund der engen Zusammengehörigkeit von Lk-Act eine besondere Brisanz. Die deutlichsten Signale, die diese Zusammengehörigkeit konstituieren, sind die aufeinander bezogenen Prologe (Lk 1,1-4; Act 1,1-3), die narrative Anbindung von Act 1 an Lk 24 (Erscheinung in Jerusalem; Himmelfahrt) sowie zahlreiche weitere inhaltliche Bezüge. Zugleich ist aber deutlich, dass Act nicht nur nicht in Marcions Bibelausgabe enthalten war, sondern der marcionitischen Theologie auch deutlich widersprochen haben würde: Neben der zentralen Bedeutung Jerusalems und des Tempels sind vor allem der Apostelbegriff, die Bedeutung der Jerusalemer Apostel in Act 1-15 sowie die insgesamt positive Zeichnung des Judentums kaum mit der für Marcion bezeugten Theologie vereinbar. Nimmt man diese beiden Aspekte zusammen, dann ist die Folgerung, dass Marcion Act gezielt verworfen haben musste, im Horizont der Lk-Priorität naheliegend und kaum vermeidbar. 48 Dafür allerdings gibt es keine belastbaren Belege. 49 Für Harnack und andere in seiner Folge wurde an dieser Stelle ein gravierendes Problem unabweisbar: Einerseits hatte er im Horizont seiner Kanonstudien mit guten Gründen die kanongeschichtliche Priorität von Marcions Bibelausgabe vor dem kanonischen NT angenommen. Auf der anderen Seite war die Lk-Priorität - und das heißt: Marcions Kenntnis auch von Act - ein grundlegendes Element seiner Marcion-These. Beides zugleich geht aber nicht. Harnacks Lösung lautet daher notgedrungen, dass Marcion Lk-Act zwar als eigenständiges Doppelwerk, jedoch noch nicht als Teil des kanonischen NT kannte. Aber eine eigenständige, vorkanonische Existenz von Lk-Act ist aus einer Reihe von Gründen äußerst unwahrscheinlich. In allen Handschriften erscheinen Lk und Act verteilt auf zwei unterschiedliche Teilsammlungen des NT (Evangelien; Praxapostolossammlung), die jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit erst ein Produkt der Kanonischen Ausgabe des NT darstellen. 50 Die Zusammengehörigkeit von Lk-Act ______________________________ neutestamentlichen Evangelien. Rückfragen zur Geschichte der Kanonisierung der Evangelienüberlieferung, in: G. May, K. Greschat (eds.), Marcion und seine kirchengeschichtliche Wirkung, Berlin - New York 2002, 67-77: 69-74. 47 Ein wesentliches Element dieser Frage besteht in den zahlreichen mt-lk »Konformationen«, die für *Ev bezeugt sind. Vgl. L. E. W ILSHIRE , Was Canonical Luke Written in the Second Century? A Continuing Discussion, NTS 20 (1974), 246-253. 48 Vgl. H ARNACK 172*ff; 249*; 256*f u. ö. 49 Der einzige Hinweis, der diese These aber kaum zu tragen vermag, ist die kurze Bemerkung PsTert., Haer. 6: Acta Apostolorum et Apocalypsim quasi falsa reicit (CSEL 47, 223,1f). 50 Vgl. D. T ROBISCH , Die Endredaktion des Neuen Testaments, Fribourg - Göttingen 1996, 40ff; 122ff. 146 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk ergibt sich also nur durch die aufeinander Bezug nehmenden Prologe (Lk 1,1-4; Act 1,1-3). Allerdings enthalten diese Prologe keine Verfasserangabe, obwohl diese vor allem für den ersten Band aus Gattungsgründen dringend erforderlich wäre und angesichts der Abgrenzung von den »Versuchen« der vielen Vorgänger sowie des betonten historiographischen »Ich« geradezu zwingend postuliert werden müsste. 51 Während die Identität des Verfassers für die Leser eines isolierten, vorkanonischen »Doppelwerkes« Lk-Act verborgen bliebe, ergibt sie sich für die Leser der Kanonischen Ausgabe ganz problemlos: Sie ist aus der Überschrift des Lk unmittelbar ersichtlich und lässt sich von da aus, aufgrund der Entsprechung der Prologe, problemlos auch auf Act übertragen. Genau dieser kanonische Zusammenhang fehlt aber bei der Annahme einer (vorkanonischen) selbständigen Existenz des lk »Doppelwerks«. Eine Lösung dieses Dilemmas stellt die alte, von Gustav Volckmar 52 zuerst ausführlich entwickelte Theorie dar, dass Marcion gar nicht das kanonische - und das heißt: das mit Act verbundene - Lk-Evangelium redigiert habe, sondern einen vor-lk Text, der Lk zwar ähnlich gesehen habe, aber mit diesem nicht identisch war. Diese These wurde zuletzt von Andrew Gregory differenziert aufgegriffen. 53 Für unseren Zusammenhang ist an Gregorys Behandlung des Problems vor allem wichtig, dass sich seine Fragestellung von der seiner Vorgänger aus der *Ev- Forschung deutlich unterscheidet. Denn Gregory ist nicht an einer positiven Rekonstruktion von Marcions »Vorlage« interessiert: Da er nach der frühesten Bezeugung des Lk in der Zeit vor Irenaeus fragt, nimmt er *Ev nur unter der Fragestellung in den Blick, ob dessen »Vorlage« hinreichend genau als das kanonische Lk-Evangelium identifiziert werden könne. Gregory verneint diese Frage: Der von Marcion redigierte Text sei Lk zwar ähnlich, ließe sich aber nicht mit Bestimmtheit als das Lk-Evangelium in seiner kanonischen Gestalt erweisen. 54 Diese vorsichtige Antwort hält an der grundlegenden Annahme der Häresiologen fest, dass Marcion einen Text redigiert habe, vermeidet aber alle diejenigen text-, redaktions- und überlieferungsgeschichtlichen Aporien, die durch die Lk-Priorität aufgeworfen ______________________________ 51 Vgl. F R . B OVON , Lk I 33: Bovon sieht das Problem, gesteht aber, dass ihm das Fehlen des Verfassernamens »rätselhaft« bleibe und postuliert einen ursprünglichen Titel als subscriptio am Ende von Act, der bei der Trennung des zweiteiligen Werkes weggefallen sei. Dies bleibt rein hypothetisch, weil es dafür keinerlei Spuren in der handschriftlichen Überlieferung gibt. 52 G. V OLCKMAR , Das Evangelium Marcions. Text und Kritik, Leipzig 1852; s. o. S. 17f. 53 A. G REGORY , The Reception of Luke and Acts in the Period Before Irenaeus, Tübingen 2003, 173-210. 54 Gregory argumentiert »that Marcion neither drew on canonical Luke as we would recognise it in a modern eclectic text, nor that Luke was derived from Marcion’s Gospel, which best fits the evidence that we have for the relationship of Marcion’s Gospel and that known to us as Luke. It seems rather that Marcion drew on a text similar to Luke, a text containing material shared with Mark and also much but not all the Lukan single tradition« (G REGORY , a. a. O. 193). § 6: Die Aporien der Lk-Priorität 147 werden. Der Preis für diese vermittelnde Lösung ist allerdings hoch: Er besteht in dem Postulat eines zusätzlichen und vollständig unbekannten Textes, der notwendigerweise so konturenlos bleiben muss, dass man von ihm auf die offenen Fragen der Lk-Priorität gar keine Antworten erwarten kann. 55 Gregorys Antwort ist in den engen Grenzen seiner Fragestellung, die ja Marcions angebliche Redaktionstätigkeit überhaupt nicht in Frage stellt, korrekt: Die altkirchliche Bezeugung von *Ev, die ja ohne jeden Zweifel von der Lk-Priorität ausgeht, lässt in der Tat nicht zwingend darauf schließen, dass die Quelle der marcionitischen Redaktion (genau) das kanonische Lk-Evangelium gewesen sei; insofern bedeutet Gregorys ausgewogenes Urteil (unter der Voraussetzung der Lk-Priorität! ) in der Tat einen methodischen Fortschritt gegenüber Harnack und anderen. Allerdings bleibt Gregorys Urteil die Begründung für die wichtigste Annahme schuldig: Dass Marcion überhaupt eine Bearbeitung vorgenommen hat, begründet auch Gregory lediglich mit dem Verweis auf die entsprechenden häresiologischen Behauptungen. Sein vermittelndes Postulat eines Textes, der *Ev und Lk vorauslag und der von Lukas und von Marcion bearbeitet worden sei, ist demnach ein Konstrukt, das dazu dient, die offenkundigen Aporien der Lk-Priorität zu vermeiden. Dieses Ergebnis ist mit der Annahme der *Ev-Priorität leichter zu haben. So wirft also die kanonische Gestalt von Lk in der Verbindung mit Act eine weitere Aporie für die Annahme der Lk-Priorität auf. Ihre methodische Bedeutung wird vor allem mit Blick auf zwei zentrale Thesen Harnacks erkennbar, die jeweils weite Zustimmung gefunden haben: Zum einen hatte Harnack aus zahlreichen, sehr guten Gründen wahrscheinlich gemacht, dass Marcions »Bibel« dem neutestamentlichen Kanon vorausging und einen wesentlichen Anlass zur dessen Entstehung darstellte. Andererseits soll das marcionitsche Evangelium, das ja Teil seiner vorkanonischen Schriftensammlung war, eine Bearbeitung des kanonischen Lk- Evangeliums gewesen sein. Dieser fundamentale Widerspruch, den Harnack selbst offensichtlich gar nicht wahrgenommen hatte, lässt sich auch nicht durch die Annahme beseitigen, dass Marcion ein vorkanonisches Evangelium bearbeitet habe, das nicht mit Act verbunden war: Das ungeschützte Postulat eines ansonsten überhaupt nicht bezeugten Textes wäre ein viel zu hoher Preis für den Versuch, Marcions von den Häresiologen behauptete Redaktion des Lk wahrscheinlich zu machen. 4. Der Ausweg aus den Aporien: Die *Ev-Priorität Die Inkonsistenz der angenommenen marcionitischen Bearbeitung des kanonischen Lk, die »Überschüsse« in *Ev sowie das Verhältnis von Lk-Act sind hier lediglich ______________________________ 55 Vgl. dazu die berechtigte Kritik an Gregorys Vorgehen bei W OLTER , Lk 2f. 148 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk als Beispiele ausgewählt, um daran deutlich zu machen, in welche grundsätzlichen Schwierigkeiten die Annahme der Lk-Priorität führt. Tatsächlich lässt sich diese Grundaporie noch an vielen weiteren Beispielen zeigen: Das Problem der Inkonsistenz der angeblichen Redaktion wird am Vergleich der meisten Einzeltexte aus *Ev und Lk deutlich, die im weiteren Fortgang der Untersuchung besprochen werden. 56 Vor allem wird die Untersuchung zur Überlieferungsgeschichte der synoptischen Tradition und zur Entstehung des Vier-Evangelienbuches das gleiche Bild ergeben: All diese (und eine Reihe weiterer) Fragen lassen sich nicht befriedigend klären, solange die Lk-Priorität in Anlehnung an die Vorstellungen der Häresiologen die Voraussetzung für die Verhältnisbestimmung von Lk und *Ev darstellt. Die Hartnäckigkeit, mit der sich die These der Lk-Priorität allen ihr entgegenstehenden Beobachtungen zum Trotz bis heute gehalten hat, erklärt sich zum einen aus der zeitlichen Abfolge der wichtigen Forschungsergebnisse (vgl. o. S. 20): Denn als am Ende des 19. Jh. (in gerade einmal einem Jahrzehnt! ) die großen, bahnbrechenden und dauerhaft wirkungsvollen Untersuchungen zur Textgeschichte, 57 zum Synoptischen Problem 58 und zur Entstehung des Kanons 59 erschienen, war die These der Lk-Priorität vor *Ev schon lange etabliert. Daneben ist der sachliche Grund für das Festhalten an der Lk-Priorität im Zeugnis der Häresiologen zu sehen: Die große Einhelligkeit, mit der sie eine marcionitische Bearbeitung des kanonischen Lk bezeugen, hat keine Zweifel an dem Gesamtbild mehr aufkommen lassen, und die ihr tendenziell entgegenstehenden Einsichten (vor allem zur Textgeschichte und zum Kanon) wurden, mit mehr oder weniger überzeugenden Argumenten, in dieses Ausgangsbild integriert. Eine Kritik an diesem gesamten Komplex muss daher noch einmal bei dem Zeugnis der Häresiologen einsetzen. Wie schon hinreichend deutlich geworden ist, haben die Häresiologen Marcion die Verfälschung des kanonischen Lk-Evangeliums aus theologischen Gründen vorgeworfen. Ihr ganzes Interesse gilt dabei dem Nachweis des Widerspruchs zwischen Marcions Evangelium und seiner Theologie. Über die Motive, die Marcion zu seiner Redaktion veranlasst haben könnten, äußern sie sich nicht weiter: Ihnen genügt die Annahme, dass Marcion seiner Theologie durch die Manipulation des apostolischen Textes Ausdruck verleihen wollte. Das profilierte Bild einer Interpolationskritik, mit der Marcion das ursprüngliche Evangelium von den verfälschenden Zusätzen der Judaisten reinigen und auf diese Weise wiederherstellen ______________________________ 56 Vgl. dazu durchweg die Begründungen in der Rekonstruktion (Anhang I). 57 B. F. W ESTCOTT , F. J. A. H ORT , The New Testament in the Original Greek, Cambridge - London 1881. 58 H. J. H OLTZMANN , Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in das Neue Testament, Freiburg/ Brsg. 3 1892. 59 T H . Z AHN , Geschichte des Neutestamentlichen Kanons I/ II, Erlangen - Leipzig 1889-1892. § 6: Die Aporien der Lk-Priorität 149 wollte, findet sich bei den Häresiologen allerdings nicht. Dass Marcion für seine angenommene Redaktion ein nachvollziehbares Motiv besaß und der Überzeugung war, dass er das »wahre« Evangelium durch die Beseitigung von judaistischen Interpolationen überhaupt erst herstellen müsse, ist jedoch nicht Teil der antiken Argumentation, sondern erst der modernen: Das Bild Marcions als Restaurator und Interpolationskritiker geht erst auf Harnack und seine Nachfolger zurück. Sieht man genau hin, dann beruht diese Vorstellung fast ausschließlich auf einem einzigen Hinweis Tertullians auf die »Antithesen«: »Wenn nämlich das Evangelium, das bei uns dem Lukas zugeschrieben wird, … genau das ist, das Marcion durch seine Antithesen beschuldigt, es sei von den Verteidigern des Judentums zu einem mit Gesetz und Propheten verbundenen Corpus verfälscht worden, sodass sie Christus auch von dorther erdichten könnten, dann hätte er schlechterdings nur (das) beschuldigen können, was er (dort) vorfand.« 60 An der Richtigkeit dieser Information zu zweifeln gibt es keinen Anlass. Aber sie lässt sich auf zweierlei Weise verstehen. Die Schwierigkeit liegt in der Verbindung, die Tertullian zwischen Marcions Fälschungsvorwurf gegen das kanonische Evangelium und der Reklamation des höheren Alters des kanonischen Evangeliums vornimmt. Harnack hatte diese Äußerung auf den Akt der Herstellung von Marcions Evangeliums bezogen: Marcion habe den Text seines Evangeliums überhaupt erst dadurch erhalten, dass er die angenommenen judaistischen und sonstigen Verfälschungen aus dem kanonischen Lk-Evangelium wieder beseitigte; Marcions Evangelium sei daher gegenüber Lk sekundär. Dagegen steht die von Tertullian mitgeteilte Behauptung der Marcioniten, dass die protectores Iudaismi »das Evangelium« - also: das von ihnen benutzte *Ev - »judaistisch interpoliert« hätten. Für Tertullian geht es hier nur um die Frage, welcher der beiden Texte der ältere sei. Die Schlussfolgerung, dass das marcionitische Evangelium das Resultat einer entsprechenden Interpolationskritik und Ausdruck der Wiederherstellung des ursprünglichen Evangeliums sei, zieht Tertullian nicht: Das haben erst Harnack und in seiner Folge die moderne Marcionforschung getan. 61 Die Unklarheit beruht folglich darauf, dass der von Tertullian mitgeteilte marcionitische Fälschungsvorwurf gegenüber der katholischen Position nicht auf den ersten Blick zu erkennen gibt, ob er sich auf spätere (kanonische) Änderungen an Marcions Evangelium bezieht ______________________________ 60 Tert. 4,4,4: si enim id evangelium quod Lucae refertur penes nos … ipsum est quod Marcion per Antitheses suas arguit ut interpolatum a protectoribus Iudaismi ad concorporationem legis et prophetarum, qua etiam Christum inde confingerent, utique non potuisset arguere nisi quod invenerat. 61 Charakteristisch ist, dass der Beweis ausschließlich an dem entsprechenden Verständnis von Tert. 4,4,4 hängt. Zwar behauptet H ARNACK 41 Anm. 4: »so auch die anderen Zeugen«, kann diese Angabe jedoch nicht spezifizieren: Das Bild, das er auf den vorangehenden Seiten entwickelt hatte, ist sein eigenes, nicht das der Häresiologen. 150 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk oder auf vorausgegangene Interpolationen, die er zuerst einmal hätte beseitigen müssen, um auf diese Weise überhaupt zu »seinem« Text zu gelangen. Wer - wie Tertullian oder Harnack - ohne jeden Zweifel vom höheren Alter der kanonischen Evangelienüberlieferung überzeugt ist, kann nur die zweite Option wählen. Doch der Wortlaut, in dem Tertullian Marcions Vorwurf referiert, spricht entschieden dagegen. Denn dass das ursprüngliche *Ev von den »Verteidigern des Judentums« ad concorporationem legis et prophetarum interpoliert worden sei, lässt sich nur gewaltsam auf »judaisierende« oder »nomistische« Zusätze zu einem angeblich ursprünglichen Evangelium beziehen: Denn in diesem Fall müsste man ja annehmen, dass die concorporatio legis et prophetarum in der judaistischen Interpolation genau derjenigen Passagen bestanden hätte, die Marcion dann wieder gestrichen habe - also genau in den Textdifferenzen zwischen Lk und *Ev. Wie immer man diese Differenzen betrachtet: Als concorporatio legis et prophetarum lassen sie sich nicht bezeichnen. Der marcionitische Vorwurf bezeichnet vielmehr - vielleicht nicht vollständig, aber in der Sache doch ganz treffend - die Integration des (kanonischen) Lk-Evangeliums in ein corpus, das auch Gesetz und Propheten enthielt. Damit kann aber nach Lage der Dinge nur die kanonisch gewordene Bibel des Alten und Neuen Testaments gemeint sein. 62 Der marcionitische Fälschungsvorwurf bezieht sich demnach nicht in erster Linie auf die Differenzen zwischen »seinem« und dem kanonischen Evangelium - ein Problem, das die Häresiologen beschäftigt hat -, sondern auf dessen redaktionelle Einbindung in eine umfangreichere kanonische Bibel. Diese Interpretation von Tert. 4,4,4 ist ausdrücklich aufrechtzuerhalten gegen den Einwand philologischer Ungenauigkeit, concorporatio bedeute nicht die Einfügung des Evangeliums in ein (materiales) corpus mit Gesetz und Propheten (also die Herstellung eines Buches), sondern bezeichne deren »Harmonie« im Sinn von inhaltlicher »Übereinstimmung«. 63 Der Einwand basiert auf einer ungenauen und viel zu schmalen lexikalischen Basis. 64 Denn tatsächlich zeigt gerade Tertullians Sprachgebrauch, dass er unter dem Lexem concorporaimmer die Herstellung einer konkreten, physisch gedachten Einheit versteht. In Pud. 5,9 behauptet Tertullian, die Schrift verbinde (concorporauit) im Dekalog die Vergehen Ehebruch, Mord und Götzendienst. Wie physisch-konkret Tertullian sich diese Einheit vorstellte, zeigt seine Metapher, dass die Buchstaben ______________________________ 62 Wenn Tertullian behauptet, Marcions »ganzes Bemühen (totum quod laboravit)« ziele darauf, »einen Unterschied zwischen dem Alten und dem Neuen Testament zu errichten (ut veteris et novi testamenti diversitatem constituat)« (4,6,1), so ist dies aus seiner Perspektive nachvollziehbar. Dass dann allerdings eine »antijudaistische Bearbeitung« ausgerechnet des kanonischen Lk-Evangeliums das geeignete Instrument gewesen sein soll, um genau diesen Widerspruch zu markieren, ist schwer zu glauben. 63 C HR . M. H AYS , Marcion vs. Luke: A Response to the Plädoyer of Matthias Klinghardt, ZNW 99 (2008), 213-232: 219: »(the gospel) was altered … into harmony with the Law and Prophets.« 64 C. T. L EWIS , C. S HORT , A Latin Dictionary, Oxford 1879, 403 (s. v. concorporatio) geben an: »a union, harmony (eccl. Lat.)« und belegen dies mit Tert., Adv. Marc. 4, 4; Bapt. 8. § 6: Die Aporien der Lk-Priorität 151 der Kitt (glutina) seien, der sie zusammenhält! Ganz analog ist das Verständnis in Pud. 15,6 (von der Wiederaufnahme des Blutschänders aus 1Kor 5 in das corpus der Gemeinde: i llo enim c o n c o r p o r a t o rursus ecclesiae) oder in Adv. Valent. 23,2 (die physischen Elemente des Kosmos sind zu einem Körper verbunden [concorporificatus]). Auch in dem einen, von Hays selbst für seine Deutung herangezogenen Beleg (Bapt. 8,1) heißt concorporatio nicht Harmonie, sondern bezeichnet die Verbindung von Luft und Wasser in der Wasserorgel (Hydraulis) zu der physischen Einheit einer Drucksäule. Auch die weiteren lexikalischen Belege 65 für den Wortstamm concorporaentsprechen diesem Befund: In allen Fällen geht es nicht einfach um eine innere (harmonische) Übereinstimmung, sondern um die Einbindung unterschiedlicher Elemente in ein gemeinsames corpus. Die kritisierte Interpretation erweist sich in dieser Hinsicht keineswegs als »etymologically fallacious« (ebd. 219), sondern wird durch die breitere lexikalische Basis nur erhärtet. Auch Otto Zwierlein hat der hier vorgestellten Deutung von Tert. 4,4,3-5 widersprochen. 66 Strittig ist der Satz »evangelium … Lucae … interpolatum a protectoribus Iudaismi ad concorporationem legis et prophetarum.« Zwierlein behauptet, es könne »nicht zweifelhaft« sein, dass diese Wendung »im Sinne von … interpolatum …, ut ei legem et prophetas con-corporarent zu verstehen« sei, also: »von den Verteidigern des Judaismus interpoliert, um ihm [dem Lukasevangelium] Gesetz und Propheten einzugliedern.« 67 Dass diese Deutung dann doch durchaus zweifelhaft ist, wird schon daran erkennbar, dass Zwierlein die präpositionale Wendung ad concorporationem legis et prophetarum in einen finalen Nebensatz umwandeln muss, um ihr die gewünschte Eindeutigkeit zu geben: ut ei legem et prophetas con-corporarent. Denn nur aufgrund der beim Verb concorporare stehenden Dativ- und Akkusativobjekte werden die strittigen Beziehungen eindeutig. Aber weil Tertullian das Verb gar nicht verwendet, 68 halte ich dieses Problem allein aufgrund philologischer Erwägungen für nicht entscheidbar. Ich weise deshalb den »Beziehungsfehler«, den mir Zwierlein »im Jargon der Elementargrammatik« vorwirft, 69 aus sachlichen Gründen zurück. Denn der Doppelausdruck »Gesetz und Propheten« bezeichnet die Gesamtheit des Alten Testaments als Schrift. Man kann zwar einzelne Aussagen aus dem Gesetz oder aus den Propheten in das Evangelium einfügen, aber nicht das Alte Testament selbst. Was dagegen möglich ist, ist die Verbindung des Evangeliums mit Gesetz und Propheten zu einer Einheit, nämlich der christlichen Bibel aus Altem und Neuem Testament. Wenn Marcion seinen katholischen Kontrahenten vorwarf, dass sie »das Evangelium« durch die Integration in die Bibel aus Altem und Neuem Testament verfälscht hätten, können die protectores Iudaismi auch nicht die Judaisten sein, mit denen ______________________________ 65 Vgl. Eph 3,6 Vg (esse gentes coheredes et c o n c o r p o r a l e s et conparticipes promissionis in Christo Iesu per evangelium) oder Amm. Marc. 21,12,15; 28,5,7 (c o n c o r p o r a l e s als Waffenbrüder im corpus einer militärischen Einheit) u. ö. 66 O. Z WIERLEIN , Die antihäretischen Evangelienprologe und die Entstehung des Neuen Testaments, Mainz/ Stuttgart 2015, 79-83. Diesen Hinweis verdanke ich Kevin Künzl, Dresden. 67 A. a. O. 80 (Hervorhebungen im Original). 68 Aus diesem Grund ist Zwierleins Hinweis auf die häufig belegte »Konstruktion con-corporare aliquem/ aliquid mit Dat. sociativus« (ebd.) ebenso richtig wie unerheblich: Beim Verb concorporare sind die Beziehungen eindeutig, beim Nomen concorporatio dagegen nicht - und für diesen Sprachgebrauch führt Zwierlein keine Belege an. 69 A. a. O. 81, Anm. 174. 152 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk sich Paulus im Gal auseinandersetzen musste; Marcion hat vielmehr die »katholischen« Herausgeber der Kanonischen Ausgabe des NT im Visier. Die von Tertullian mitgeteilte Kritik der Marcioniten am kanonischen Evangelium zielte auf die kanonische Bibelausgabe aus Altem und Neuem Testament. Sie setzt daher voraus, dass die Textdifferenzen zwischen *Ev und Lk erweiternde Interpolationen darstellen, die im Zuge der Komposition der zweiteiligen Bibel an dem älteren Evangelium vorgenommen wurden, das Marcion und seine Anhänger benutzten. Diese Deutung von Tert. 4,4,4 setzt also die *Ev-Priorität vor Lk voraus. Für sie spricht zunächst, dass sie den zentralen Text, an dem sich die These der marcionitischen Interpolationskritik festmacht, besser erklärt als diese. * Die Bestimmung des Bearbeitungsgefälles zwischen *Ev und Lk als *Ev-Priorität ist zunächst nur eine Option. Immerhin zeigt der von Tertullian berichtete marcionitische Einwand gegen die katholische Bibel die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Einwand historisch eher zutreffen könnte als die von den Häresiologen behauptete Lk-Priorität. Die Richtigkeit dieser Interpretation lässt sich jedoch nur begründen, wenn sich die Differenzen zwischen *Ev und Lk insgesamt als redaktionelle Erweiterungen des Lk an diesem älteren Text erweisen lassen. Zur Charakterisierung des Verfahrens genügen vorab drei kurze Hinweise. 1. Die methodische Prämisse ist denkbar einfach: Die Differenzen zwischen Lk und *Ev besitzen eindeutig redaktionellen Charakter. Dies bestreitet letztlich auch niemand. Wenn sich die Differenzen aber nicht als Marcions redaktionelle Kürzungen und »Verstümmelungen« des kanonischen Lk-Evangeliums erweisen lassen, bleibt nur der umgekehrte Weg: Es ist nachzuweisen, dass und wie diese Differenzen sich als lk Ergänzungen zu *Ev zu einem konsistenten, redaktionellen Ganzen zusammenfügen. Methodisch ist dieser Schritt gerade wegen der Ambivalenz bei der Deutung literarkritischer Befunde von Bedeutung, die sich eben in verschiedener Richtung interpretieren lassen: So, wie die These einer marcionitischen Redaktion des Lk nur überleben konnte, weil sie in das redaktionelle Konzept der marcionitischen Theologie zu passen schien, ist jetzt die Gegenprobe für ein lk Konzept der redaktionellen Erweiterung des marcionitischen Evangeliums zu prüfen. 2. Damit ist auch deutlich, welche Anforderungen dieser Ansatz erfüllen muss, um als gelungen zu gelten: Für den Nachweis einer lk Redaktion müssen mindestens diejenigen Beobachtungen befriedigend erklärt werden, die als Einwände gegen die These der Lk-Priorität angeführt wurden: Konsistenz der Redaktion; Erklärung der »Überschüsse« in *Ev; Verhältnis von Lk-Act. Darüber hinaus bleibt die Aufgabe, die *Ev-Priorität für jede einzelne Abweichung zwischen den beiden Texten wahrscheinlich zu machen. § 6: Die Aporien der Lk-Priorität 153 3. Methodisch ist es geboten, von der einfachsten Beziehung zwischen *Ev und Lk auszugehen: Das ist die Annahme einer direkten literarischen Abhängigkeit, in diesem Fall des Lk von *Ev. Die vielfältigen Überlegungen, die von Volckmar bis Gregory über mögliche Vor- und Zwischenglieder in der literarischen Beziehung zwischen Lk und *Ev angestellt wurden, waren sämtlich aus der Verlegenheit geboren, dass die Annahme der Lk-Priorität ohne solche hypothetischen Zwischenstufen in unübersehbare Aporien führte: Die Theorie der Lk-Priorität »funktioniert« nicht ohne solche Zusatzhypothesen. Methodisch ist jedoch ein Erklärungsmodell zu bevorzugen, das mit möglichst wenigen ungesicherten Annahmen in der Lage ist, die vorliegenden Daten zu erklären. Solange also keine sachliche Notwendigkeit die Annahme vermittelnder Zwischenstufen zwingend erforderlich macht, bleibt eine direkte literarische Abhängigkeit das methodisch gebotene Erklärungsmodell. Sofern die Hypothese der *Ev-Priorität eine plausible Erklärung für das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk bietet, ohne dafür auf zusätzliche Hypothesen angewiesen zu sein, ist dies schon ein deutlicher Beleg für ihre Richtigkeit. Die Begründung der *Ev-Priorität durch den Nachweis der redaktionellen Kohärenz der lk Redaktion soll zunächst nur für ausreichend charakteristische und unstrittige Beispiele geführt werden. Die Auswahl folgt Epiphanius, der gleich zwei Mal mitteilt, dass Marcion das kanonische Evangelium am Anfang, in der Mitte und am Ende »beschnitten« habe. 70 Tatsächlich bieten sich die redaktionellen Differenzen zwischen *Ev und Lk am Anfang und am Ende des Evangeliums besonders an: Für diese Passagen ist nicht nur die Bezeugung ziemlich klar, sondern hier sind auch am ehesten redaktionelle Eingriffe zu erwarten. ______________________________ 70 Epiph. 42,9,2: οὐ μόνον δὲ τὴν ἀρχὴν ἀπέτεμεν … ἀλλὰ καὶ τοῦ τέλους καὶ τῶν μέσων πολλὰ περιέκοψε. Vgl. 42,11,3: ὡς δὲ ἠκρωτηρίασται μήτε ἀρχὴν ἔχον μήτε μέσα μήτε τέλος, ἱματίου βεβρωμένου ὑπὸ πολλῶν σητῶν ἐπέχει τὸν τρόπον. § 7: Der Anfang von *Ev und seine lk Bearbeitung Im Folgenden ist die Priorität von *Ev vor dem kanonischen Lk-Evangelium durch den Nachweis zu begründen, dass die von den Häresiologen bezeugten bzw. durch die textgeschichtlichen Beobachtungen wahrscheinlichen Differenzen zwischen diesen beiden Texten sich zu einem kohärenten, redaktionellen Konzept in Lk-Act zusammenfügen: Die Plausibilität der *Ev-Priorität steigt in dem Maß, in dem sich diese redaktionellen Differenzen als Elemente einer integrierenden lk Redaktion erweisen lassen. Da der Text von *Ev nicht einfach vorliegt, sondern erst aus den häresiologischen Referaten rekonstruiert werden muss, ist es sinnvoll, zunächst von solchen Beispielen auszugehen, für die der Textbestand in *Ev unstrittig ist, um die Gefahr einer zirkulären Argumentation zu reduzieren. Gleichzeitig sollen diese Beispiele charakteristische Elemente des redaktionellen Konzeptes von Lk- Act zu erkennen geben. Die Auswahl der hier zu besprechenden Beispiele folgt Epiphanius’ Charakterisierung, dass Marcion das kanonische Evangelium am Anfang, in der Mitte und am Ende »beschnitten« habe. Tatsächlich bieten sich die redaktionellen Differenzen zwischen *Ev und Lk am Anfang und am Ende des Evangeliums in besonderer Weise an: Für diese Passagen ist nicht nur die Bezeugung ziemlich klar, sondern hier sind auch am ehesten redaktionelle Eingriffe zu erwarten. Bei den hier besprochenen Texten handelt es sich allerdings nur um Beispiele, an denen die Bearbeitungsrichtung modellhaft zu demonstrieren ist. Neben ihnen steht eine große Zahl weiterer Texte, die in der Rekonstruktion (Anhang I) besprochen sind und die das gleiche Phänomen erkennen lassen. 1. Der Anfang von *Ev: Bezeugung und literarische Struktur a. Die Bezeugung für den Anfang von *Ev Der Anfang von *Ev bietet sich in besonderer Weise für eine Untersuchung an, weil die Differenzen zwischen *Ev und Lk hier ebenso eindeutig wie charakteristisch sind. Einzusetzen ist mit der Bezeugung durch die Häresiologen, die hier, anders als sonst häufig, vollständig übereinstimmen. Epiphanius teilt zum Beginn von *Ev mit: »Denn gleich zu Beginn hat er (sc. Marcion) die ganze Abhandlung bei Lukas am Anfang weggeschnitten, das ist, wo es heißt ›Nachdem es viele unternommen hatten‹ sowie das über Elisabet; über die Verkündigung des Engels an die Jungfrau Maria; über Johannes und Zacharias; über die Geburt in Bethlehem, die Genealogie und den Gegenstand der Taufe. (5) Dies alles schnitt er weg und überging es (ταῦτα πάντα περικόψας ἀπεπήδησεν) und stellte folgendes an den Anfang des Evangeliums: ›Im fünfzehnten Jahr des Tiberius Caesar‹ und so weiter. (6) Von da an also beginnt § 7: Der Anfang von *Ev und seine lk Bearbeitung 155 er, aber er bleibt wieder nicht bei der Ordnung (ἐντεῦθεν οὖν οὗτος ἄρχεται καὶ οὐ καθ’ εἱρμὸν πάλιν ἐπιμένει). Vielmehr schneidet er, wie gesagt, manches weg, anderes stellt er kopfüber um (τὰ μὲν ὡς προεῖπον παρακόπτει, τὰ δὲ προστίθησιν ἄνω κάτω) und fährt nicht in der gewohnten Ordnung fort (οὐκ ὀρθῶς βαδίζων), sondern schweift überall leichtsinnig umher.« 1 Auch Tertullian macht deutlich genug, dass die Kindheitsgeschichten und die Täuferüberlieferung in *Ev komplett fehlten. Er verweist insgesamt drei Mal auf den Anfang von *Ev 2 und setzt dabei jedes Mal *3,1a als Anfang voraus. Im Rahmen seiner sukzessiven Auseinandersetzung mit *Ev in Buch 4 spricht er nach *3,1a als nächstes *4,16-30 an (Tert. 4,8,1). Dass Tertullian auch Lk 3,1b-4,15 nicht in *Ev gelesen hat, erhellt auch aus seiner spöttischen Kritik, dass Marcion Jesus »vom Himmel sofort in die Synagoge« gehen ließ (4,7,5), also *4,31-37 in direktem Anschluss an *3,1a bot. Abgesehen von einigen Einzelheiten zum Wortlaut, 3 über die ______________________________ 1 Epiph. 42,11,4-6. 2 Tert. 1,15,1; 1,19,2; 4,7,1. 3 Tertullian hat verschiedentlich den Hinweis, dass Jesus de caelo nach Kapharnaum herabgekommen sei (4,7,1; vgl. 4,39,10 zu *21,27, wo Tertullian in *Ev et tunc videbunt filium hominis venientem d e c a e l i s anstelle von τὸν υἱὸν τοῦ ἀνθρώπου ἐρχόμενον ἐ ν ν ε ϕ έ λ ῃ las). Das ist für ihn ein dogmatisches Problem, weil der Himmel ja der Himmel des Schöpfergottes ist, und dementsprechend möchte er von Marcion »auch die übrige Ordnung des Abstiegs« wissen (4,7,2). Dem entspricht auch die Wiedergabe von *3,1a in 1,19,2 (anno xv Tiberii Christus Iesus de caelo manare dignatus est, spiritus salutaris). Aber es ist zweifelhaft, wie genau Tertullian hier auf *Ev referiert: Da er sich im Anschluss an die Formulierung spiritus salutaris (πνεῦμα σωτήριον) über Marcion lustig macht, scheint nahezulegen, dass er diese Formulierung bei Marcion gelesen hat, aber dafür gibt es ansonsten nicht den geringsten Hinweis. Es ist daher denkbar, dass der Himmel als Ausgangspunkt des »Herabkommens« Jesu ein interpretatment Tertullians ist, das er dann durch den spiritus salutaris erläutert. Darauf scheint auch die Wiedergabe bei Hippolyt, Refut. 7,31,5 hinzuweisen, demzufolge Marcion »durchaus die Geburt unseres Erlösers verwarf« und behauptete, »er sei ohne Geburt (χωρὶς γενέσεως) im 15. Jahr der Herrschaft des Kaisers Tiberius von oben herabgekommen (κατεληλυθότα αὐτὸν ἄ ν ω θ ε ν ).« Auch Adamantius lässt den Marcioniten Markus auf seine Frage, wann Christus herabgekommen sei, um die Menschen zu retten (πότε κατῆλθε σῶσαι τοὺς ἀνθρώπους), antworten: »Wie es im Evangelium enthalten ist: Zur Zeit des Kaisers Tiberius und des Pilatus« (Dial. 2,3 [823b = 64,14f]); die Diskussion des christologischen Problems in Adam. 2,19 (868a-869c) begründet die himmlische Herkunft Christi ausgehend von der Entsprechung zwischen dem ersten und dem zweiten Menschen nach 1Kor 15,45.47; der als Schiedsrichter fungierende Eutropius wendet gegen den Marcioniten Markus ein (868c = 100,24f): »Der Apostel sagt: Der zweite, der vom Himmel, ist nach eurer Ansicht der Herr (ὁ ἀπόστολος ἔϕη· ὁ δεύτερος, ἐξ οὐρανοῦ, καθ’ ὑμᾶς κύριος).« Hätte Adamantius’ *Ev-Exemplar in *3,1a von einem Herabkommen Jesu vom Himmel berichtet, wäre hier ein entsprechender Hinweis mit größter Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Aber wenn Adamantius selbst nur wenige Zeilen später auf *3,1a verweist, ist von dem Herabkommen vom Himmel nichts zu lesen: ἐπὶ Τιβερίου κατελθὼν ἐϕάνη ἐν Καϕαρναούμ (Adam. 2,19 [869a = 102,23]). So ist es also denkbar, wenn nicht wahrscheinlich, dass *Ev eine Wendung wie κατέρχεσθαι ἄ ν ω θ ε ν enthielt, wogegen der Hinweis auf das κατέρχεσθαι κ α τ ’ ο ὐ ρ α ν ο ῦ (o. ä.) unwahrscheinlich ist und eher auf die marcionitische Theologie zurückgeht als auf den Text von *Ev. 156 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk man mit Gründen verschiedener Meinung sein kann (ebenso zum Umfang von *3,1a), 4 ist es unstrittig, dass Marcions Evangelium mit *3,1a begann, den Rest von Lk 3 aber ebenso wenig kannte wie die Versuchungsgeschichte (Lk 4,1-13). Auch Epiphanius’ kritische Bemerkung über die Unordnung, in der *Ev nach den »Streichungen« am Anfang fortgefahren sei, ist gut rekonstruierbar. Noch die sehr allgemein gehaltene Notiz bei Adamantius, die das »Herabkommen« im 15. Jahr des Tiberius (*3,1) unmittelbar mit der »Erscheinung« in Kapharnaum (*4,31) verbindet, 5 lässt erkennen, dass *4,31-37 in *Ev vor *4,16-30 enthalten war. Diese Erkenntnis wird durch Tertullian (4,7f) gestützt, dessen Wiedergabe dieses Zusammenhangs mit Anklängen und Zitaten hinreichend genau ist. Nach Tert. 4,7,5-7 führte Marcion die Datierung *3,1a unmittelbar mit *4,31b fort: Seine Hinweise de caelo statim ad synagogam (4,7,5) und ecce venit in synagogam (4,7,6) sind wegen des Singulars von synagoga auf *4,31.33 zu beziehen, nicht auf die summarische Notiz Lk 4,14f; das gleiche gilt für den Hinweis, dass Jesus ad docendum in die Synagoge gekommen sei (4,7,7). 4,7,7 verweist mit stupebant autem omnes ad doctrinas eius … quoniam in potestate erat sermo eius auf *4,32. Ebenso eindeutig sind die Referenzen 4,7,9 auf den Exorzismus *4,33f (exclamat ibidem spiritus daemonis, Quid nobis et tibi est, Iesu? venisti perdere nos. scio qui sis, sanctus dei), sowie das Zitat aus *4,35 in 4,7,13 (atquin, inquis, increpuit illum Iesus). Tertullian hat also in *Ev im Anschluss an *3,1a die Perikope vom Exorzismus in der Synagoge in Kapharnaum *4,31-37 gelesen. Der Textbestand am Anfang des marcionitischen Evangeliums lässt sich aufgrund dieser Angaben recht genau erfassen: Es begann (1.) mit einem Hinweis auf den Anfang der Tätigkeit Jesu im 15. Jahr des Kaisers Tiberius, der mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Form von κατέρχεσθαι (ἄνωθεν? ) enthielt. Ob Jesus dabei »vom Himmel« (wie es Tertullian versteht) oder dem judäischen Gebirge oder - am wahrscheinlichsten - von Nazareth im galiläischen Hügelland in die tektonische Depression am See Genezareth nach Kapharnaum »herabkam«, bleibt unklar und kann hier auf sich beruhen. Als nächstes hatte *Ev jedenfalls (2.) den Stoff von Lk 4,31-37 (Exorzismus in der Synagoge von Kapharnaum), gefolgt (3.) ______________________________ 4 Unklar ist, ob Marcions Text neben dem 15. Jahr des Tiberius auch noch einen Hinweis auf Pontius Pilatus enthielt: Tertullian nennt ihn in keinem der drei Referenzbelege (1,15,1; 19,2; 4,7,1), ebenso wenig Epiphanius, wohl aber Irenaeus (1,27,2: temporibus Pontii Pilati praesidis, qui fuit procurator Tiberii Caesaris) und Adamantius (nur Dial. 2,3 [823b], nicht aber 2,19 [869a]). In jedem Fall kann die Pilatus-Erwähnung bei den Häresiologen auf Kenntnis des kanonischen Textes zurückgehen. Ziemlich sicher ist dagegen, dass die anderen Datierungen des Synchronismus Lk 3,1f (Herodes; Philippus; Lysanias; Hannas; Kaiphas) sich nicht in *Ev fanden. 5 Adam., Dial. 2,19 (869a): τότε πρῶτον, ὥς ϕασιν, ἐπὶ Τιβερίου κατελθὼν ἐϕάνη ἐν Καϕαρναούμ. Unklar ist dagegen Hippolyt, Refut. 7,31,5: Jesus sei »von oben herabgekommen, … um in den Synagogen zu lehren (κατεληλυθότα αὐτὸν ἄνωθεν … διδάσκειν ἐν ταῖς συναγωγαῖς).« Hier ist nicht deutlich, ob der Hinweis auf die Lehre in den Synagogen eher auf *4,15 oder *4,31.33 referiert. § 7: Der Anfang von *Ev und seine lk Bearbeitung 157 von der Erzählung der Ablehnung Jesu in seiner Heimatstadt Nazara/ Nazareth, 6 die wenigstens im äußeren Handlungsrahmen mit Lk 4,16-30 übereinstimmte. (4.) Im weiteren Verlauf bot *Ev dann den Stoff von Lk 4,40ff. Von Lk 4,38f findet sich keine Spur. b. Bezeugung und literarische Struktur von *4,16-30 Lk hat den Anfang von *Ev allerdings nicht nur ergänzt, sondern ihn durch die Umstellung von 4,16-30 vor 4,31-37 auch interpretiert. Darüber hinaus besitzt der Text von *4,16-30 in der Bezeugung für *Ev auch eine erheblich andere Gestalt als in Lk, der *Ev redaktionell erweitert und ihm so eine neue Sinndimension verliehen hat. Tert. 4,8,1f liefert dafür folgende Informationen: Die ganze Szene spielt apud Nazareth. 7 Dabei muss von der Lehre Jesu die Rede gewesen sein, denn Tertullian teilt mit, dass in seiner Predigt nichts Neues war (nihil novi notatur praedicasse) außer unum proverbium (4,8,2). Das referiert auf τὴν παραβολὴν ταύτην (*4,23). Auf jeden Fall enthielt *Ev mit Sicherheit einen Hinweis auf den Tötungsversuch der Nazarener, der dem kanonischen Text zumindest sehr ähnlich gewesen sein muss. Denn Tertullian berichtet, dass Jesus verjagt (eiectus) und an den Abhang gebracht wurde (4,8,2: captus … ad praecipitium usque protractus; vgl. *4,29: ἐξέβαλον αὐτὸν … ἤγαγον αὐτὸν ἕως ὀϕρύος τοῦ ὄρους), aber durch die Mitte entwich (4,8,3: per medios evasit; vgl. *4,30: διελθὼν διὰ μέσου … ἐπορεύετο). Neben den Entsprechungen zwischen Tertullians *Ev-Referat und dem kanonischen Text gibt es auch Unterschiede: So fehlen die Hinweise auf die Prophetenlektion (Lk 4,17-19 mit dem Mischzitat Jes 61,1f; 58,6), auf die Applikation auf Jesus und auf die Reaktion der Hörer (Lk 4,20- 22). Auch die Elia- und Elisabeispiele (1Kön 17,7-24; 18,1; 2Kön 5,1-14; Lk 4,25-27) sind nicht bezeugt. Unter der klassischen Prämisse der Lk-Priorität wird die Nichtbezeugung dieser Referenzen auf die Prophetentradition ohne weiteres der marcionitischen Redaktion zugerechnet. 8 Für die Frage der Bearbeitungsrichtung ist ein weiteres Element der Bezeugung in höchstem Maß aufschlussreich: Denn Tertullian und Epiphanius belegen eindeutig, dass *Ev das Beispiel des Syrers Naeman nicht im Kontext der Nazarethperikope hatte (hier ist 4,27 unbezeugt), sondern im Kontext der Heilung der zehn Aussätzigen in *17,11-19, am ehesten wohl im Anschluss an *17,18. 9 Die narrative Funktion ist in beiden Fällen ähnlich: Das Beispiel dient als Beleg aus der Schrift für den Antagonismus von Juden und Fremden und für die Bevorzugung des Fremden vor den Juden. 1. Aus diesen Angaben ergibt sich zunächst folgendes Bild für die Gestalt der Perikope in *Ev. ______________________________ 6 Zum Wechsel der Namensform Nazara (in *Ev) und Nazareth (in den kanonischen Evangelien) vgl. die Rekonstruktion zu *4,16-30. 7 Das ist von Bedeutung, weil Mk an dieser Stelle den Namen der Stadt nicht erwähnt (Mk 6,1: εἰς τὴν πατρίδα αὐτοῦ). Die eigenartige und für das Synoptische Problem so schwierige Namensform Ναζαρά (Lk 4,16 || Mt 4,13) stand also schon in *Ev; zu diesem Problem vgl. M. D. G OULDER , Two Significant Minor Agreements (Mat. 4: 13 Par.; Mat. 26: 67-68 Par.), NT 45 (2003), 365-373: 366-368. 8 Z. B. T SUTSUI 77f: Die Streichung dieser Verse sei »aufgrund der antialttestamentlichen Tendenz Marcions sicher.« 9 Tert. 4,35,6; Epiph., Schol. 48. 158 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk a. Die Nichtbezeugung der Prophetenlektion Lk 4,17-19 ist mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht auf Tertullians großzügiges Referat zurückzuführen, sondern darauf, dass er diese Verse nicht in *Ev gelesen hatte. In diesem Fall hätte er sie kaum übergangen, weil er an dieser Stelle seine grundsätzliche Tendenz, den marcionitischen Jesus in Verbindung mit Gesetz und Propheten zu bringen, explizit macht: Marcions Christus müsse »der Christus der Propheten sein, wo immer er in Übereinstimmung mit den Propheten gefunden werde«. 10 Wenn Tertullian das Mischzitat aus Jes 61; 58 hier gefunden hätte, hätte er sich diesen Hinweis kaum entgehen lassen. b. Die Applikation des Zitats in Lk 4,20f verweist zurück auf die Geistbegabung Jesu bei der Taufe (Lk 3,21f), die in seinem Rückzug in die Wüste (4,1: πλήρης πνεύματος ἁγίου) sowie in der Rückkehr nach Galiläa (4,14: ἐν τῇ δυνάμει τοῦ πνεύματος) sichtbar wird. Da diese Stellen sicher nicht in *Ev enthalten waren, wird Entsprechendes auch für die nicht bezeugten Vv. 4,(18)21 gelten: Die fünf Aussagen lassen die Kohärenz der Erzählung erkennen, die die pneumatische Qualität der Sendung Jesu am Anfang betont herausstellt. c. Die Reaktion und Verwunderung der Zuhörer (4,22) ist ebenfalls nicht bezeugt. Aber da *4,23 mit dem »Sprichwort« sicher bezeugt und am ehesten als Reaktion auf die ungläubige Verwunderung (»Ist das nicht der Sohn Josephs? «) zu beziehen ist, kann auch *4,22 für *Ev angenommen werden (möglicherweise ohne 4,22aα: καὶ πάντες ἐμαρτύρουν αὐτῷ). Dass ein Erzählzusammenhang mit diesem Profil denkbar ist, zeigen ja die synoptischen Parallelen Mk 6,1-3 || Mt 13,53-56. d. Für *4,23 gewährleistet Tertullians Hinweis auf unum proverbium, dass der ganze Vers in *Ev enthalten war. Denn das Sprichwort vom Arzt, der sich selbst heilen soll, hat nur dann eine Funktion, wenn damit zugleich der Hinweis verbunden war, dass Jesus in Nazara keine Wundertaten wie in Kapharnaum vollbrachte (vgl. dazu Mk 6,55 || Mt 15,38). e. *4,24 ist unbezeugt. Aber es ist sehr wahrscheinlich, dass *Ev eine Aussage über die prophetische Identität Jesu enthielt, weil Tertullian an dieser Stelle Jesus ausdrücklich mit Nazareth und den Propheten in Verbindung bringt (4,8,2; vgl. Anm. 10). Auch, wenn Tertullians Bemerkung kaum als direktes Zeugnis gewertet werden kann, setzt sie voraus, dass er in *Ev eine Information fand, die zumindest in diesem Konnex *4,24 entsprach. f. Für die beiden Beispiele aus 1Kön 17; 2Kön 5 in Lk 4,25-27 gilt im Prinzip das gleiche wie für das Jes-Zitat in 4,18f. Sie sind unbezeugt, obwohl eine Bezugnahme Tertullians zu erwarten wäre, wenn er diese Verse in *Ev gelesen hätte: Sie waren nicht in *Ev enthalten. Wichtiger ist, dass Lk 4,27 für *Ev in einem ganz anderen ______________________________ 10 Tert. 4,8,2: ceterum prophetarum erit Christus ubicunque secundum prophetas invenitur. § 7: Der Anfang von *Ev und seine lk Bearbeitung 159 Kontext bezeugt ist: Hätte *Ev die Aussage über den Syrer Naeman an dieser Stelle enthalten, würde es sich um eine kaum erklärbare Dublette handeln: Die Stellung von 4,27 im Kontext von *17,11-19 bestätigt die Vermutung, dass Lk 4,25-27 insgesamt gefehlt haben. g. Obwohl erst wieder die Vv. *4,29f bezeugt sind, wird *Ev auch eine *4,28 entsprechende Aussage über die Wut der Nazarener enthalten haben; sie motiviert den Tötungsversuch, der ja zweifelsfrei bezeugt ist, und zwar in einer sprachlichen Gestalt, die große Ähnlichkeiten zur kanonischen aufweist: Der Tötungsversuch wird in *Ev und Lk auf die gleiche charakteristische Weise geschildert. 2. Für die Frage nach dem Bearbeitungsgefälle sind diese Einsichten wichtig. Denn eine Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte dieser Perikope bereitet im methodischen Rahmen der gängigen Modelle zum Synoptischen Problem (die ja durchweg die Lk-Priorität vor *Ev implizieren) komplexe und viel diskutierte Probleme. 11 Die Schwierigkeiten resultieren daraus, dass Lk 4,16-30 einerseits enge Analogien zu Mk 6,1-6a || Mt 13,53-58 besitzt, die sicherstellen, dass in allen drei Texten von demselben Ereignis die Rede ist. 12 Im Horizont der Zwei-Quellentheorie werden diese Entsprechungen als Abhängigkeit der lk und mt Parallelen von Mk 6,1ff im Rahmen der Dreifachüberlieferung gedeutet, dessen Text bei Lk allerdings stark erweitert worden wäre. 13 Auf der anderen Seite konstituiert die auffällige aramäische Namensform Ναζαρά (Lk 4,16 || Mt 4,13) ein wichtiges mtlk Minor Agreement, 14 das es im Modell der Zwei-Quellentheorie eigentlich nicht geben dürfte, ganz abgesehen davon, dass Mt diesen charakteristischen Namen im selben Zusammenhang des ersten Auftretens Jesu in Galiläa bietet, nicht aber in dem mit Mk 6 gemeinsamen Zusammenhang der Ablehnung Jesu in seiner Heimatstadt in Mt 13,53ff. Daher wird auch erwogen, dass der Grundstock von 4,16-30 aus »Q« stammt; dies würde aber nicht nur einen der methodisch schwierigen ______________________________ 11 R. C. T ANNEHILL , The Mission of Jesus According to Luke IV 16-30, in: E. Grässer (Hg.), Jesus in Nazareth, Berlin 1972, 51-75: 53: »a patchwork of materials.« Zu den diversen Lösungsversuchen vgl. den Forschungsüberblick bei C. J. S CHRECK , The Nazareth Pericope. Luke 4,16-30 in Recent Study, in: Fr. Neirynck (ed.), L’Évangile de Luc - The Gospel of Luke, Leuven 1989, 399-471. 12 Die Analogien sind: Zeit und Ort (Sabbat; Synagoge), wobei der Name »Nazareth« nur in Lk genannt wird (Lk 4,16 || Mk 6,1f || Mt 13,54); das Staunen der Synagogenbesucher über die Rede Jesu (Lk 4,22 || Mk 6,2 || Mt 13,54); die daraus resultierende Frage nach seiner familiären Identität (»Ist dieser nicht …? «: Lk 4,22b || Mk 6,3 || Mt 13,55f); das Wort vom Propheten, der in seiner Heimatstadt nicht anerkannt ist (Lk 4,24 || Mk 6,4 || Mt 13,57). 13 Außer den Komm. (F ITZMYER ; R ADL ) vgl. z. B. M. R ESE , Alttestamentliche Motive in der Christologie des Lukas, Gütersloh 1969, 143ff. 14 Die Namensform Ναζαρα Mt 4,13 nur in א 1 B* Z 33 k mae. Sehr viel weiter verbreitet ist Ναζαρετ (B 2 L Γ 565 700 892 1241 1424 pm aur) bzw. Ναζαρεθ ( א * D K W Θ 0233 f 1.13 579 pm lat sa bo) und Ναζαραθ (C P Δ pc). 160 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk »Mk-Q Overlaps« voraussetzen, sondern auch weitere Unklarheiten mit sich bringen. 15 Dieser kurze Überblick zeigt, wie verworren die Lage im Rahmen der Zwei- Quellentheorie ist: Der Befund lässt sich unter der Annahme, dass Lk 4,16-30 nur von Mk 6,1-6 abhängig sei, nicht hinreichend erklären, sondern erfordert zusätzlich die hypothetische Erweiterung der (Grundannahmen der) Zwei-Quellentheorie durch die »Mk-Q Overlaps«. Aber selbst dann bleibt immer noch ein »Minor Agreement« unerklärt. Im umgekehrten Fall der *Ev-Priorität entfallen diese Schwierigkeiten, weil dann Mk 6,1-6a || Mt 13,53-58 von *4,16-30 abhängig wären, nicht umgekehrt. Diese Lösung kann hier jedoch nur angedeutet, nicht aber umfassend begründet werden: Dazu ist es notwendig, alle synoptischen Beziehungen einzubeziehen (u. Teil IV). Aber schon hier ist evident, dass die Annahme der *Ev- Priorität das traditionelle Bild der literarischen Beziehungen zwischen den Evangelien erheblich verändert und seine Komplexität deutlich verringert. 3. Wenigstens für ein kleines Element, nämlich für die Umstellung der Perikopen Lk 4,16-30 und 4,31-37, lässt sich dies verdeutlichen. Unter der Annahme der *Ev- Priorität geht diese Umstellung auf die lk Redaktion zurück. Sie ist aufschlussreich, weil sie die narrative Logik erheblich beeinträchtigt: Denn der Verweis auf das, »was in Kapharnaum geschehen war« (4,23), ist in der kanonischen Perikopenfolge nicht mehr durch eine vorangehende Erzählung gedeckt, wie sie *Ev mit *4,31-37 hatte und wie sie auch von Mk 1,21f (|| Mt 4,13) und 1,23-28 bezeugt wird. Zwar versucht Lk diesen Bruch durch die Einfügung des Summars 4,14f zu kaschieren, 16 aber nur mit mäßigem Erfolg. Denn dass die Lehre von 4,15 auch Heilungen und Wunderzeichen mit einschließt, wie sie in 4,23.(25-)27 vorausgesetzt sind, ist nicht unmittelbar einsichtig. Wenn Lk 4,16-30 programmatisch Jesu erstes öffentliches Auftreten erzählen sollte, hätte sich der narrative Bruch nur durch Streichung von *4,23 wirklich vermeiden lassen; aber diese Aussage ist für die Intention der Nazarethperikope in Lk unverzichtbar, der narrative Widerspruch folglich systembedingt und unvermeidbar. Dass Lk hier die Perikopenfolge um der programmatischen Herausstellung der Nazarethperikope willen redaktionell verändert und dafür eine schwere Beeinträchtigung der narrativen Kohärenz in Kauf genommen hat, ist schon immer gesehen ______________________________ 15 Z. B. C HR . M. T UCKETT , Luke 4,16-30, Isaiah and Q, in: J. Delobel (ed.), Logia, Leuven 1982, 343- 354. Tuckett schlägt vor, Lk habe 4,16-21.23.25-27 aus Q übernommen, während Mt diese Passagen wegen der ihm unpassend erscheinenden prophetischen Christologie ausgelassen hätte (ebd. 354) - da Q nicht existiert, kann dieser Vorschlag weder bestätigt noch widerlegt werden: eine wohlfeile Lösung. 16 Charakteristischer Weise ist hier distanziert von »ihren« Synagogen die Rede (4,15 diff. Mk 1,14b.21 || Mt 4,17). Dieser Distanzierung entspricht später die Rede von der »Synagoge der Juden« (Act 13,5.42; 14,1; 17,1.10) - m.E. ist hier der Redaktor Lk zu hören. § 7: Der Anfang von *Ev und seine lk Bearbeitung 161 worden. 17 Allerdings hat Lk in 4,16-30 nicht Mk 1,21-28 18 und/ oder Mk 6,1-6a bearbeitet, sondern *Ev: Wie Tertullians Referat mit wünschenswerter Deutlichkeit zeigt, 19 enthielt *Ev über Mk 6,1-6a hinaus Hinweise auf die Feindseligkeit der Nazarener Juden, ihr Tötungsvorhaben »am Abhang« und Jesu Entkommen. Lk 4,16-30 ist demnach nicht eine redaktionelle Erweiterung von Mk 6,1-6a, sondern von Marcions Evangelium, das zwar (im Unterschied zu Mk 6) einen Hinweis auf den erfolglosen Tötungsversuch enthielt, aber weder das Jesajazitat mit seiner Deutung noch die Verweise auf Elia und Elisa als Beispiele für das Wirken von Propheten außerhalb Israels kannte. Damit lassen sich damit die Veränderungen der lk Redaktion folgendermaßen beschreiben: Lk ergänzte (1.) den Prolog (Lk 1,1-4) und (2.) die komplette sog. Kindheitsgeschichte mit den Verheißungen und Berichten von den Geburten des Täufers und Jesu, mit den Erzählungen von der Darstellung Jesu und dem Zwölfjährigen im Tempel (1,5-2,52). Außerdem komplettierte er (3.) die Datierung des ersten Auftretens Jesu im 15. Jahr des Tiberius (und - möglicherweise - zur Zeit des Pilatus) durch einen (vierbzw.) fünffachen Synchronismus, und er fügte (4.) die umfangreiche Täuferüberlieferung mit Taufe und Versuchung Jesu einschließlich seines Stammbaumes (3,1b-4,13) ein. Schließlich stellte Lk außerdem (5.) die Geschichte vom Exorzismus in der Synagoge in Kapernaum (4,31-37) um und zog die Nazarethperikope (4,16-30) betont an den Anfang und bearbeitete sie intensiv durch die Einfügung 4,25-27 (6.). Mit Lk 4,14f schuf die lk Redaktion (7.) darüber hinaus in Angleichung an *4,31f; *4,33 ein überleitendes Summar, das für die Aufforderung von Lk 4,23b und die weiterführende Pointe von Lk 4,25-27 erzählnotwendig war. Für den Nachweis dieser redaktionellen Erweiterungen ist es an dieser Stelle nicht nötig, alle Differenzen im Einzelnen zu erklären (dazu gleich). Ich beschränke mich darauf, die Plausibilität einer lk Redaktion des marcionitischen Evangeliums mit einigen Bemerkungen zum Prolog und zur Nazarethperikope zu skizzieren. 2. Das redaktionelle Profil des Lk-Prologs (Lk 1,1-4) Dass Lk 1,1-4 in Marcions Evangelium fehlte, ist durchweg akzeptiert, aber nie wirklich gedeutet worden, obwohl hier ein zentraler Schlüssel für das Verständnis von Lk-Act liegt. Die Bedeutung des Prologs bezieht sich weniger auf die immer ______________________________ 17 Außer den Komm. vgl. U. B USSE , Das Nazareth-Manifest Jesu, Stuttgart 1978, 19f. 18 Dies ist schon dadurch ausgeschlossen, dass Tertullian bei *Ev ja *4,31-37 || Mk 1,21-28 vor *4,16ff las. Die Hinweise auf *4,31ff in Tert. 4,7,5ff (z. B. das Zitat *4,32 in 4,7,7) sind ebenso eindeutig wie das Referat von *4,16ff in 4,8,1ff. 19 Tertullian erwähnt, dass Jesus »verjagt«, »gefangen« und »an den Abhang gebracht wurde,« aber »durch die Mitte entwich« (4,8,2f). 162 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk zahlreicher vermerkten gattungsgeschichtlichen Parallelen, die das Werk in den Kontext hellenistisch-römischer Historiographie stellen und seinen literarischen Anspruch deutlich machen, 20 als auf die Leserlenkung durch die einzelnen Angaben zu Anlass, Verfahren und Ziel der Unternehmung als ganzer. 21 Entscheidend für unsere Fragestellung ist jedoch, dass erst der Prolog Lk und Act als zwei Teile eines zusammengehörigen Werkes ausweist. Ich skizziere zuerst diese grundsätzliche Bedeutung und komme dann auf einige inhaltliche Aspekte zu sprechen. a. Die Zusammengehörigkeit von Lk und Act Erst der Prolog konstituiert die Zusammengehörigkeit von Lk und Act als Teile eines Werkes: Beide »Bände« sind in der handschriftlichen Überlieferung ausnahmslos auf unterschiedliche Sammlungseinheiten (das Vierevangelienbuch und die Apostolossammlung) verteilt, und wegen der festen Reihenfolge der vier Evangelien (Mt - Mk - Lk - Joh) stehen sie selbst dann nie unmittelbar nacheinander, wenn die Praxapostolossammlung unmittelbar auf die Evangelien folgt. 22 David Trobisch ______________________________ 20 Vgl. für die ältere Forschung: W. C. VAN U NNIK , Remarks on the Purpose of Luke’s Historical Writing (Luke I 1-4), in: ders., Sparsa Collecta I, Leiden 1973, 6-15; zuletzt und ausführlich: L. A LEXANDER , The Preface to Luke’s Gospel, Cambridge 1993. Bereits G. Klein hatte darauf aufmerksam gemacht, dass die Sammlung von Analogien nicht von der Aufgabe der Interpretation der spezifischen Angaben des Prologs suspendiert, sondern diese erst in ihrer Schärfe hervortreten lässt: G. K LEIN , Lukas 1,1-4 als theologisches Programm, in: G. Braumann (Hg.), Das Lukas- Evangelium, Darmstadt 1974, 170-203: 170. 21 Das Potential des Prologs zur Steuerung der Lektüre hat zuletzt R. D ILLMANN , Das Lukasevangelium als Tendenzschrift. Leserlenkung und Leseintention in Lk 1,1-4, BZ NS 38 (1994), 86-93, hervorgehoben. Daneben sind vor allem die redaktionsgeschichtlichen Arbeiten zum Prolog zu nennen; vgl. außer K LEIN (a. a. O.) vor allem: S. B ROWN , The Role of the Prologues in Determining the Purpose of Luke-Acts, in: Ch. Talbert (ed.), Perspectives on Luke-Acts, Danville 1978, 99-111; J. K ÜRZINGER , Lk 1,3 … ἀκριβῶς καθεξῆς σοι γράψαι, BZ NS 18 (1974) 249-55; E. L OHSE , Lukas als Theologe der Heilsgeschichte, EvTh 14 (1954), 256-74; G. S CHNEIDER , Zur Bedeutung von καθεξῆς im lukanischen Doppelwerk, ZNW 68 (1977), 128-33; M. V ÖLKEL , Exegetische Erwägungen zum Verständnis des Begriffs καθεξῆς im lukanischen Prolog, NTS 20 (1973/ 74), 289- 99. 22 D. T ROBISCH , Die Endredaktion des Neuen Testaments, Fribourg - Göttingen 1996, 40ff. Zu den Teilsammlungen e, a, p und r vgl. Nestle-Aland 27 (40*) sowie die Angaben zum Umfang der Handschriften in Appendix I (683-718). Abgesehen von fragmentarischen Handschriften, die den Text von nur noch einer neutestamentlichen Schrift enthalten, zählt Trobisch 19 Handschriften (Papyri, Majuskeln, Minuskeln), die Reste von mehr als einer Schrift enthalten, aber zu fragmentarisch sind, um daraus genaue Rückschlüsse auf Umfang und Anordnung ziehen zu können (Endredaktion 45f). Nur fünf (! ) der vorbyzantinischen Handschriften weisen eine abweichende Reihenfolge auf. Von denen sind für unser Problem (Lk - Act) nur zwei von Bedeutung: P 45 aus der Chester-Beatty-Sammlung enthält die vier Evangelien und Act (bis 17,17); wenn auf Act die katholischen Briefe folgten, hätte der Kodex einmal 60 Doppelblätter (= 240 Seiten) besessen (Endredaktion 52f); er würde also die Teilsammlungen e und a komplett repräsentieren und genau in das postulierte Bild passen, auch stehen Lk und Act nicht nebeneinander. Eine wirkliche Ausnahme § 7: Der Anfang von *Ev und seine lk Bearbeitung 163 hat gezeigt, dass die Teilsammlungen und die Reihenfolge der in ihnen enthaltenen Schriften nicht auf zufälliges Wachstum zurückgehen können, sondern sich einer einheitlichen Redaktion verdanken müssen, die er als Kanonische Ausgabe bezeichnet. 23 Mit Blick auf die Zusammengehörigkeit von Lk-Act wird das einheitliche redaktionelle Konzept dieser Ausgabe vor allem in denjenigen Handschriften deutlich, die nur Lk oder Act enthielten, also entweder die Vierevangeliensammlung ohne den Praxapostolos oder den Praxapostolos ohne die Evangelien. 24 Diese These hat weitreichende Konsequenzen für die Entstehung der kanonischen Sammlung. Für unser Problem des Verhältnisses von Lk und Marcion stellt sie in methodischer Hinsicht die entscheidende, neue Einsicht dar: Denn sie belegt, dass die patristischen Nachrichten über Marcions Bibel die einzige wirklich alternative Ausgabe zum kanonischen NT bezeugen, für die wesentlich ist, dass sie neben den zehn Paulusbriefen das Evangelium ohne Act enthielt. Unter der hier vertretenen Prämisse der *Ev-Priorität ergibt sich daher für die lk Redaktion als erstes und wesentliches Ergebnis, dass durch die redaktionelle Hinzufügung des Prologs Lk und Act als zwei zusammengehörige Bände eines Werkes konstituiert werden. Wegen der Aufteilung beider Schriften auf verschiedene Teilsammlungen kann dies nur in großer zeitlicher und sachlicher Nähe zur Endredaktion der Kanonischen Ausgabe geschehen sein. Während die Zusammengehörigkeit von Lk-Act unter der Annahme der Lk- Priorität unübersehbare Schwierigkeiten aufwirft, 25 gewinnt sie im Rahmen der *Ev-Priorität eine hohe Plausibilität, weil sie als wichtiges Element der lk Bearbeitung von *Ev verständlich wird: Indem die lk Redaktion dem Evangelium den Prolog voranstellte, schuf sie zusammen mit dem komplementären Act-Prolog überhaupt erst das »lk Doppelwerk.« Dieses hat demzufolge nie als eigenständiges Werk unabhängig von der Kanonischen Ausgabe existiert. Der fehlende Titel dieses Werkes ist ein Problem nur für diese angenommene unabhängige Existenz, denn im Rahmen der Kanonischen Ausgabe tragen beide Bücher Titel, die auf den Herausgeber der Kanonischen Ausgabe zurückgehen. 26 Wichtiger ist, dass der Titel des kanonischen Evangeliums ja auch den Verfasser »Lukas« nennt und so ______________________________ stellt der Codex Bezae Cantabrigiensis (D 05, 5. Jh.) dar, der die Evangelien (in abweichender Reihenfolge: Mt, Joh, Lk, Mk) gefolgt von 3Joh und Act bietet; wegen der Zweisprachigkeit und der uneinheitlichen Stichometrie stellt D einen nicht repräsentativen Sonderfall dar (Endredaktion 51). 23 Vgl. die Zusammenfassung, Endredaktion 122ff. 24 Das betrifft also vor allem folgende Kombinationen von Teilsammlungen ohne a (e, e p, e r, e p r) bzw. solche ohne e (a, a p, a r, a p r); vgl. dazu K. A LAND , B. A LAND , Der Text des Neuen Testaments, Stuttgart 2 1989, 90f. 25 S. o. S. 144. 26 T ROBISCH , a. a. O. 58ff. 164 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk die ursprüngliche Anonymität, die *Ev und die frühe kanonische Evangelienüberlieferung insgesamt auszeichnet, auf dezente Weise rückgängig macht. Man muss also folgern, dass die lk Redaktion nicht nur - durch den Prolog - Lk und Act miteinander verband, sondern dem ursprünglich anonymen Evangelium und zugleich der Apostelgeschichte durch den Evangelientitel einen Verfasser zuschrieb. 27 b. Der Lk-Prolog und der Joh-Epilog Das Profil dieser lk Redaktion im kanonischen Horizont wird daran deutlich, dass sie den fiktiven Autor des Prologs »Ich« sagen lässt (ἔδοξε κἀμοί, 1,3), was innerhalb der Evangelienüberlieferung höchst ungewöhnlich ist: Ein vergleichbares Phänomen liegt nur in der Schlussnotiz Joh 21,25 vor, wo sich ebenfalls eine 1. Pers. Sg. zu Wort meldet (οἶμαι). 28 In beiden Fällen wird außerdem neben der 1. Pers. Sg. noch eine weitere Gruppe in der 1. Pers. Pl. genannt: In Lk 1,1f schließt sich der fiktive Autor mit seinem Widmungsträger Theophilos gleich zweimal zu einem »wir« zusammen (τὰ πεπληροϕορημένα ἐ ν ἡ μ ῖ ν πράγματα; καθὼς παρέδοσαν ἡ μ ῖ ν οἱ ἀπ’ ἀρχῆς αὐτόπται); und in Joh 21,24 stehen »wir« für die Richtigkeit des Überlieferungsgehaltes ein (οἴδαμεν). Diese Übereinstimmungen zwischen dem Lk-Prolog und dem Joh-Epilog sind kaum zufällig. In der synchronen Leserperspektive der Kanonischen Ausgabe sind sie vielmehr miteinander verschränkt und verweisen aufeinander: Die grundlegende Bewahrheitung der Richtigkeit der Tradition ist die Funktion einer Gruppe: »Wir haben unsere Kenntnis von Augenzeugen empfangen« bzw. »Wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist« - das kollektive Zeugnis besitzt eine größere Glaubwürdigkeit als das eines Einzelnen. Die Autorität für die Richtigkeit der Überlieferung liegt bei der Gruppe, in die sich die individuellen Gewährsleute einordnen. In beiden Fällen ______________________________ 27 Die Anonymität von Marcions Evangelium war für Harnack ein Problem: »Daß er das Ev. namenlos, d. h. ohne den Namen des Lukas, von der Überlieferung empfangen hat, ist ganz unwahrscheinlich: menschliche Autoritäten will M., Paulus ausgenommen, den Christus erweckt hat, nicht gelten lassen. Man darf daher nicht etwa folgern, daß unser 3. Ev. ursprünglich ohne den Namen des Lukas überliefert worden sei, weil M. diesen Namen nicht bietet« (H ARNACK 249* Anm. 3) - das ist eine klassische petitio principii, die überdies durch Tertullian (4,2,2) eindeutig widerlegt ist: »Marcion schreibt seinem Evangelium keinen Verfasser zu (evangelio … nullum adscribit auctorem) - gerade so, als hätte es ihm, der es nicht für ein Verbrechen hielt, das ganze Werk selbst zu ruinieren, nicht auch freigestanden, dazu auch noch einen Titel zu erfinden (quasi non licuerit illi titulum quoque affingere).« Vgl. auch Adam. 1,5 (806b-807b): Der Vorwurf des Marcioniten Megethius gegen Adamantius, dass Markus und Lukas keine Apostel Jesu seien (weil ihre Namen in den Jüngerlisten nicht begegnen), setzt voraus, dass *Ev keine Verfasserzuschreibung besaß. 28 T ROBISCH , a. a. O. 125f, versteht Joh 21,25 als »Editorial« der Kanonischen Ausgabe. Das betonte »Ich« des Visionärs Johannes (Apc 1,9), das in diesem Zusammenhang bisweilen erwähnt wird (Apc 1,1. 4. 9; 22,8), ist wegen des brieflichen Charakters und der mehrfachen Nennung des Namens im Text nicht unmittelbar vergleichbar, gehört aber in denselben Kontext der Traditionssicherung. Zu diesem Urteil vgl. auch u. § 14. § 7: Der Anfang von *Ev und seine lk Bearbeitung 165 bezieht sich die Funktion der Gruppe (»wir«) für die Richtigkeit der Tradition eher auf die inhaltlichen Aspekte der Überlieferung (traditum) als auf die formalen des Überlieferungsprozesses (traditio). Im Unterschied dazu äußert sich in beiden Fällen das »Ich« zu dem Problem der schriftlichen Abfassung der Evangelien. Hier geht es weniger um den Nachweis, dass der Inhalt korrekt ist und mit den Ereignissen übereinstimmt, als um die Frage, warum es dann mehrere voneinander abweichende Evangelien gibt, die gleichwohl den Anspruch auf Richtigkeit erheben. Dabei besitzt die Aussage des Lk-Prologs in der joh Schlussnotiz ein Widerlager, dessen Notwendigkeit sich erst auf der Ebene der Evangeliensammlung erweist: Beide Aussagen über das »Ich« reflektieren auf unterschiedliche Weise das Problem der Vielfalt - genauer: der Vierfalt - der Evangelien: Während der Lk-Prolog die Notwendigkeit der Abfassung einer zusätzlichen Evangelienschrift begründet, obwohl es doch schon andere gibt (»Ich habe, wie andere vor mir, ein Evangelium verfasst«), hat die Bemerkung Joh 21,25 - die ja wohl im Sinn von »Ich glaube, vier sind genug! « zu verstehen ist - die Funktion, diese Vielfalt zu begrenzen. Joh 21,25 setzt also die Lk 1,1-4 begründeten Vielfalt voraus und erkennt sie an, begrenzt sie aber auf die vier kanonischen Evangelien, und zwar in Verbindung mit dem Votum für den Lieblingsjünger, dessen »Zeugnis wahr« ist. 29 Die Zwillingstexte können die Glaubwürdigkeit der Tradition allerdings nicht anonym vertreten: Das »Ich«, mit dem der fingierte Autor des gesamten »Doppelwerks« Lk-Act sich für die Zuverlässigkeit seiner eigenen διήγησις verbürgt, ist nur dann wirksam, wenn den Leserinnen und Lesern seine Identität bekannt ist. Damit gilt für ihn das gleiche wie für den Jünger von Joh 21,24, der »über diese Dinge Zeugnis abgelegt und geschrieben hat«: Beide sind über die Evangelientitel mit den Verfasserzuschreibungen durch die Leser als »Lukas« bzw. als »Johannes« identifizierbar. Im Blick auf den Lk-Prolog muss man daher sagen, dass seine Beziehung zum Evangelientitel mit der Verfasserzuschreibung für die redaktionell intendierte Wirkung konstitutiv ist: Für Leser eines vorkanonischen, eigenständigen lk Doppelwerks bliebe das »Ich« des Prologs anonym und nichtssagend, für die Leser der Kanonischen Ausgabe gewinnt der fingierte Verfasser »Lukas« durch seine Identität (als Apostelschüler und Paulusbegleiter) Glaubwürdigkeit und Autorität. 30 Dass die Kanonische Redaktion des marcionitischen Evangeliums die ______________________________ 29 Die kanonische Pespektive von Joh 21,25 lässt sich auch aufgrund weiterer Beobachtungen wahrscheinlich machen. S. dazu u. § 14.4. 30 Zum Konzept der Autorisierung der neutestamentlichen Schriften durch die (pseudonymen) Verfassernamen vgl. T ROBISCH , a. a. O. 73ff; M. K LINGHARDT , Die Wahrheit der Fälschung, ZGP 22 (2004/ 4) 2-4. Unabhängig davon, wie man das literarische Phänomen der Wir-Berichte in Act deutet, ist klar, dass die 1. Pers. Pl. aus Leserperspektive auf den fingierten Autor »Lukas« bezogen wird und ihn als Begleiter des Paulus ausweist. 166 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk Versicherung der Überlieferung nun gerade dem Paulusschüler Lukas zuschreibt, ist sicher kein Zufall: Die Verbindung zwischen Marcions Evangelium und Paulus wurde ja seit Irenaeus gesehen. Dabei spielte die Tatsache, dass das Evangelium des Paulusanhängers Marcion (im Gefolge der Anonymität, die die vorkanonische Evangelienabfassung auszeichnet) keinen Verfasser nennen konnte, das kanonische Lk-Evangelium aber gerade vom Paulusbegleiter »Lukas« stammte, für die katholischen Gegner Marcions eine wichtige Rolle: Der argumentative Triumph fiel noch beeindruckender aus, wenn man zeigen konnte, dass Lukas und Markus als Apostel des irdischen Jesus Paulus gewissermaßen »überlegen« waren. 31 Als Teil der lk Redaktion von *Ev gewinnt der Lk-Prolog sein Profil und seine Wirkung also erst im Rahmen der Kanonischen Ausgabe, nicht in einem davon unabhängigen Doppelwerk. Und nur in diesem Rahmen werden die Einwände der Titellosigkeit und der fehlenden Verfasserangabe gegenstandslos. Die wiederholt angestellten Überlegungen, ob denn der Lk-Prolog sich nur auf das Lk-Evangelium oder auf das Gesamtwerk Lk-Act beziehe, 32 lassen sich von daher präzisieren: Zwar leitet Lk 1,1-4 zunächst nur das Evangelium ein und bezieht sich mit der Abgrenzung von den »Vielen« erkennbar auf andere (aber defizitäre) Evangelien, nicht jedoch auf andere »historiographische« Werke, die bis in die eigene Gegenwart reichen. Aber obwohl der Prolog mit seiner strukturierenden Funktion den Inhalt des Evangeliums von Act abgrenzt, 33 blickt er auf das »lk Gesamtwerk« ______________________________ 31 Vgl. Adam. 1,5 (806b/ 807b): Adamantius widerlegt den Vorwurf des Megethius, dass die kanonischen Evangelien falsch seien (weil Markus und Lukas nicht in den Jüngerlisten der Evangelien auftauchen) mit dem Hinweis, dass Christus noch andere Apostel hatte: »[Ad.] Er sandte zuerst die Zwölf und danach die 72 aus, um das Evangelium zu verkünden. Markus und auch Lukas, die zu diesen 72 gehörten, haben zusammen dem Apostel Paulus das Evangelium verkündet. - [Meg.] Das ist unmöglich, denn wann hätten sie Paulus gesehen? - [Ad.] Ich werde dir beweisen, dass der Apostel (sc. Paulus) selbst für Markus und Lukas Zeugnis ablegt! - [Meg.] Ich glaube deinem falschen Apostolikon nicht! - [Ad.] Dann nimm dein Apostolikon, auch wenn es sehr verstümmelt (περικεκομμένον) ist, und ich werde beweisen, dass Markus und Lukas Mitarbeiter des Paulus waren. - [Meg.] Zeige es! - [Ad.] Ich lese am Ende des Kolosserbriefs des Paulus … (folgt Zitat von Kol 4,10.14 mit der Nennung des Markus und des Lukas). Ich habe die Beweise des Briefes dargelegt! Du siehst, dass der Apostel selbst für sie Zeugnis ablegt! - [Eutr., der Schiedsrichter] Der Beweis für sie ist offenkundig.« 32 Vgl. S. B ROWN , The Role of the Prologues in Determining the Purpose of Luke-Acts, in: Ch. Talbert (ed.), Perspectives on Luke-Acts, Danville 1978, 99-111: 101f, der diese Frage für nicht beantwortbar hält. Zumindest dürfte klar sein, dass sie sich - angesichts des redaktionellen Charakters von 1,1-4 - nicht »aus dem Einzelwortlaut des Proömiums selbst im Vergleich mit dem Inhalt der folgenden beiden Schriften« lösen lässt (so W. R ADL , Lk I 26): Das wäre nur dann eine naheliegende Option, wenn der Prolog mit dem gesamten Text von Lk und Act gleichursprünglich wäre. 33 J. S CHRÖTER , Lukas als Historiograph. Das lukanische Doppelwerk und die Entdeckung der christlichen Heilsgeschichte, in: ders., Von Jesus zum Neuen Testament, Tübingen 2007, 223-246: 230f. § 7: Der Anfang von *Ev und seine lk Bearbeitung 167 voraus, da seine Einfügung von derselben redaktionellen Hand stammt, die Lk und Act zu einem Ganzen kombiniert hat. Nimmt man die neueren Beobachtungen hinzu, dass die Zusammengehörigkeit von Lk-Act sich auf der Ebene des Inhalts, nicht aber auf der der Erzählform realisiert und daher von den Lesern selbst bei der Rezeption zu konstituieren ist, 34 dann verstärkt sich das Gewicht der Beobachtung zur handschriftlichen Überlieferung, dass Lk und Act nie in unmittelbarer Folge und nie in einer Sammlungseinheit bezeugt sind: Die literarische Einheit, innerhalb derer der Lk-Prolog seine Funktion gewinnt, ist die gesamte Kanonische Ausgabe. 35 c. Antimarcionitische Elemente im Lk-Prolog Mit der Erkenntnis, dass der Prolog - und damit: die redaktionelle Verbindung von Lk und Act zu ihrer jetzigen literarischen Gestalt - auf die Ebene der Kanonischen Redaktion (oder wenigstens in ihre unmittelbare Nähe) gehört, gewinnen auch die meisten Einzelfragen, die zu fast jedem einzelnen Wort des Prologs kontrovers diskutiert werden, ihr eigenes Profil. Ich greife nur einiges heraus. Der ἵνα-Satz 1,4 beschreibt die redaktionelle Intention der Verbindung von Lk und Act sehr betont in Achterstellung als Vermittlung von »Sicherheit über die Worte, über die du unterrichtet wurdest.« 36 Vorausgesetzt ist dabei, dass der fingierte Leser Theophilos 37 zwar einerseits eine christliche (und vom fingierten ______________________________ 34 Vgl. z. B.: M. C. P ARSONS , R. I. P ERVO , Rethinking the Unity of Luke and Acts, Minneapolis 1993, 45-83; D. M ARGUERAT , Luc-Actes: une unité à construire, in: J. Verheyden (ed.), The Unity of Luke-Acts, Leuven 1999, 57-81. 35 Die Forschung hat in der Frage des Bezugs von Lk 1,1-4 stark divergierende Lösungen angeboten (vgl. die kurze Übersicht bei R ADL , Lk I 30 Anm. 1). Ich werte diesen Umstand als Indikator dafür, dass die literarischen Beziehungen zwischen den Prologen bzw. zwischen Lk und Act am Ende doch weniger klar sind, als sie im Horizont der Lk-Priorität weithin schienen. 36 Es ist verschiedentlich aufgefallen, dass der Wortstamm ἀσϕαλin Act mehrfach auftaucht, und zwar verschiedentlich im Sinn der Zuverlässigkeit der Tatsachen (vgl. Act 2,36; 5,23; 16,23f; 21,34; 22,30; 25,26), s. I. J. DU P LESSIS , Once More. The Purpose of Luke’s Prologue (Lk I 1-4), NT 16 (1974) 259-271: 267f. Je näher diese ἀσϕαλ-Aussagen dem redaktionellen Konzept kommen, desto stärker stehen sie selbst im Verdacht, Teil dieser Redaktion zu sein. 37 Unter der Perspektive der Leserorientierung erweist sich die Frage, ob »Theophilos« vielleicht eine reale Person sei, als obsolet: Die Leser von Lk-Act im Rahmen der Kanonischen Ausgabe sollen ihn nicht identifizieren, sondern sich in ihm wiederfinden. Die altkirchliche Rezeption hat diese »Leseanweisung« auch so verstanden. Vgl. etwa Origenes, Hom. in Lc 1,6 (FC 4/ 1, 69): »Vielleicht meint jemand von euch, Lukas habe sein Evangelium für einen bestimmten ›Theophilos‹ geschrieben. Ihr alle jedoch, die ihr uns reden hört, seid ›Freunde Gottes‹, wenn ihr so seid, dass ihr von Gott geliebt werdet.« Ähnlich auch Ambrosius, Expos. Ev. Luc. 1,11 (CSEL 32, 4,18); vgl. dazu R. D ILLMANN , Das Lukasevangelium als Tendenzschrift. Leserlenkung und Leseintention in Lk 1,1-4, BZ NS 38 (1994), 86-93: 89; M. K LINGHARDT , Erlesenes Verstehen. Leserlenkung und implizites Lesen in den Evangelien, ZNT 21 (2008), 27-37: 36f mit Anm. 22. 168 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk Autor »Lukas« akzeptierte) Unterweisung erhalten hat, zugleich aber über deren Richtigkeit verunsichert ist. Die Frage, wodurch diese Verunsicherung entstanden sein könnte, ist komplex und kann nicht unter Absehung des redaktionellen Charakters von Lk 1,1-4 beantwortet werden. Die nächstliegende Antwort verweist auf die »vielen Versuche«, auf die der Prolog Bezug nimmt. Jedoch ist die Wendung »Viele haben den Versuch unternommen (πολλοὶ ἐπεχείρησαν)« alles andere als eindeutig. Der Hinweis, dass vergleichbare Aussagen gattungstypisch 38 sind, klärt weder, ob ἐπιχειρέω neutral oder in malam partem zu verstehen ist, 39 noch worauf (oder auf wen) πολλοί eigentlich referiert. Da »viele« mindestens zwei sind, verweist man meistens auf Mk und Q. 40 Die traditionelle Ansicht, die mit einer (von der Kanonischen Ausgabe) unabhängigen Existenz des Doppelwerks Lk-Act rechnet, gerät hier in eine Zwickmühle: Wenn man πολλοὶ ἐπεχείρησαν nicht als Kritik versteht und aus der Wendung ἔδοξε κἀμοί (Lk 1,3) die Kontinuität mit den Vorgängern herausliest, in deren »Versuche« sich der Prolog einreiht, 41 dann bleibt das Problem, warum durch diese akzeptablen »Versuche« der Vorgänger eine solche Verunsicherung entstanden sein sollte, die am Ende die Abfassung eines neuen Evangeliums notwendig macht: Die »Worte, über die du unterrichtet worden bist« (Lk 1,4), wären in diesem Fall mit den »Versuchen« der Vielen identisch, und es müsste an sich genügen, deren Richtigkeit nachzuweisen - ein weiterer, alternativer Versuch könnte da eigentlich nur störend wirken. Wenn man dagegen aus ἐπεχείρησαν einen Antagonismus gegenüber den Vorgängern heraushört und πολλοί als Referenz auf die anderen (kanonischen) Evangelien versteht, dann wäre die »Verunsicherung« Defiziten geschuldet, die aus der kanonischen Evangelienüberlieferung resultieren: Der Prolog würde diese Evangelien (Q? Mk? Mt? ) nicht stützen, sondern ihnen mit exklusivem Geltungsanspruch (»erst meine kritische Überprüfung der gesamten Überlieferung ermöglicht Sicherheit«) die Legitimation entziehen. Für diesen Fall bliebe unklar, worauf sich eigentlich die katechetische Unterweisung des Theophilos ______________________________ 38 Vgl. zuletzt L. A LEXANDER , The Preface to Luke’s Gospel, Cambridge 1993, 107. 39 Die Kritik an den Vorgängern ist einer der festen Topoi vergleichbarer Proömien (vgl. nur Josephus, c. Ap. 1,6ff; 14ff; Polybios 12,28,1ff). Dass die Konventionalität des Topos keinerlei Rückschlüsse auf das Verständnis von Lk 1,1 mehr zulasse (so A LEXANDER , a. a. O. 110), bedeutet die Kapitulation der Interpretation vor der Analogiensuche. Verschiedentlich ist vermerkt und betont worden, dass Lk auf direkte Kritik an seinen Vorgängern verzichtet (Belege bei R ADL , Lk I 27 Anm. 36). 40 Z. B. B OVON , Lk I 34. Das setzt (im Rahmen der Zwei-Quellentheorie) voraus, dass Mt und Lk unabhängig voneinander entstanden sind; das gilt jedoch gerade für diejenigen Partien nicht, die (wie der Prolog) redaktionell eingearbeitet wurden: Der Redaktor des Prologs hat z. B. auch Lk 3,1b-4,15 eingefügt und kannte Mt mit Sicherheit. 41 Vgl. nur R ADL , Lk I 27 mit den Anm. 36f genannten Autoren. § 7: Der Anfang von *Ev und seine lk Bearbeitung 169 gestützt haben könnte, denn die wird ja durchaus positiv gesehen. Schwierig ist an dieser Erklärung aber vor allem der Umstand, dass eine solche Kritik an anderen Evangelien bzw. an der Vielfalt der Evangelienüberlieferung im Rahmen der Kanonischen Ausgabe stehen geblieben sein sollte: Sie ist eigentlich nur unter der Voraussetzung einer von der Kanonischen Ausgabe unabhängigen Publikation von Lk-Act denkbar, die aber aus anderen Gründen auszuschließen ist. Für das Verständnis des Prologs sind also zwei Momente festzuhalten: Auf der einen Seite ist die grundsätzlich positive Bewertung der Evangelienüberlieferung unaufgebbar, die »Worte, in denen du unterrichtet wurdest« (und die ja Jesusüberlieferung enthalten haben müssen), werden bestätigt und gutgeheißen. Auf der anderen Seite impliziert die »Verunsicherung«, gegen die der Prolog angeht, kritische Distanz; es ist schon von der Konstruktion dieses Satzgefüges her kaum möglich, sie auf etwas anderes als auf die »Versuche der Vielen« zu beziehen. Wie der Prolog die »Worte, in denen du unterrichtet wurdest« positiv bewerten und sich zugleich kritisch von den Versuchen der »Vielen« absetzen kann, zeigt vielleicht am ehesten Origenes; er behauptet, dass Lk 1,1 »eine versteckte Anklage gegen diejenigen enthält, die ohne Inspiration durch den heiligen Geist sich erkühnt haben, Evangelien zu schreiben.« 42 Davon sind natürlich die anderen kanonischen Evangelien ausgenommen. 43 Nimmt man noch Origenes’ Beobachtung dazu, dass »Lk« das von den Häretikern am intensivsten rezipierte Evangelium war, 44 dann ist das ein schöner Hinweis, der perfekt auf Marcion passt. Tatsächlich lässt sich der ἵνα-Satz Lk 1,4 unter den geschilderten Bedingungen im Rahmen der Kanonischen Ausgabe ja auch kaum anders verstehen: Wenn das kanonische Lk-Evangelium die Zuverlässigkeit der »Worte, in denen du unterrichtet wurdest« vermitteln will, dann können diese nicht sehr viel Anderes enthalten haben als das, was Lk dann tatsächlich bietet. Die Verunsicherung ist also nicht durch die sachlichen Unterschiede zwischen den kanonischen Evangelien hervorgerufen worden, sondern durch andere »Versuche«, die eine große Ähnlichkeit mit Lk haben mussten. Sofern die »Worte, in denen du unterrichtet wurdest« auf Mk und Mt verweisen, blickt der Prolog also durchaus positiv auf diese Evangelien zurück, die dem kanonischen Lk nicht nur in der Anlage der Vier-Evangelien- Sammlung, sondern (wie der Redaktor mit Sicherheit weiß) auch zeitlich vorangehen. Aber so wenig, wie die anderen kanonischen Evangelien die beklagte Verunsicherung geschaffen haben, so wenig können sie diese beseitigen. Wie der Prolog erkennen ______________________________ 42 Origenes, Hom. in Lc 1,1: hoc quod ait: ›Conati sunt‹, latentem habet accusationem eorum, qui absque gratia Spiritus sancti ad scribenda evangelia prosiluerunt. 43 »Allerdings haben Matthäus, Markus, Johannes und Lukas nicht ›den Versuch unternommen‹ zu schreiben, sondern sie schrieben Evangelien voll des Heiligen Geistes« (ebd.). 44 Origenes, Hom. in Lc 16,5; 20,3 (o. S. 86f Anm. 19f). 170 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk lässt, sind sie dazu schon deshalb nicht in der Lage, weil sie die »unter uns 45 zur Vollendung gelangten Ereignisse« ja überhaupt nicht schildern: Dieses Element ist dem (neu entstandenen) Doppelwerk Lk-Act vorbehalten. Mit πολλοὶ ἐπεχείρησαν umschreibt der Prolog daher am einfachsten das Evangelium Marcions, das er natürlich nicht beim Namen nennen kann, ohne sein eigenes Konzept zu diskreditieren. Die Verunsicherung, der das kombinierte Doppelwerk Lk-Act wehren soll, ist ebenso einfach wie plausibel auf die Irritationen zurückführen, die durch die Diskrepanz zwischen *Ev gegenüber dem eigenen »Versuch« im Rahmen der Kanonischen Ausgabe entstehen mussten. Der Prolog fungiert hier folglich als selffulfilling prophecy: Er verspricht eine Lösung für genau diejenigen Schwierigkeiten, die erst durch die redaktionelle Überarbeitung (zu der auch die Abfassung des Prologs gehört) und ihre Einbindung in die Kanonische Ausgabe entstehen: Die Verunsicherung des »Gottesfreundes« resultiert aus der Diskrepanz zwischen dem vorkanonischen *Ev, das ja - wie die Untersuchung zum »Westlichen Text« ergeben hatte - weit verbreitet war, und der abweichenden kanonischen Fassung des Lk, wogegen die Zuverlässigkeit der kanonischen Ausgabe auf Elementen beruht, die der Prolog anpreist. Dazu passt, dass der Prolog die »Unsicherheit« ja auch nicht durch Verweis auf die Apostolizität der anderen kanonischen Evangelien beseitigen will. Vielmehr reklamiert er die Überlegenheit von Lk-Act gegenüber den »Versuchen der Vielen« aufgrund der bekannten Elemente: Übereinstimmung mit denen, die »von Anfang an Augenzeugen« waren; genaues und umfassendes »Nachgehen von ganz vorne an«; Abfassung in der richtigen Reihenfolge (καθεξῆς). Diese drei Elemente hängen eng miteinander zusammen: Erstens bezieht sich die Berufung auf »die Augenzeugen von Anfang an (οἱ ἀπ’ ἀρχῆς αὐτόπται)« bekanntlich auf »alles, was Jesus gesagt und getan« hatte (Act 1,1). Nach den Kriterien von Act 1,21f stellt die Johannestaufe den Beginn (ἀρχή) dieser Augenzeugenschaft dar. 46 An dieser Stelle zeigt sich die redaktionelle Verklammerung von Lk und Act besonders deutlich, denn *Ev besaß ja überhaupt keine Taufüberlieferung: Die redaktionelle Erweiterung von *Ev um die Tauf- und Versuchungstradition (Lk 3,1b-4,13) wird hier durch Act 1,1f.21f gestützt. Denn ______________________________ 45 Dieses »wir« (ἐν ἡμῖν 1,1) fingiert den impliziten Leser und seine Zeit: Der Lk-Prolog erweckt den Eindruck, als gehörten der Verfasser »Lukas« und der implizite Leser »Theophilus« der zweiten apostolischen Generation an, wogegen der reale Autor sein Werk erst im zweiten Drittel des 2. Jh. verfasst hat. Auf diese Weise wird das (im Vergleich zu Marcions Tätigkeit) größere Alter von Lk- Act festgeschrieben, das Tertullian gegen die Authentizität von Marcions Evangelium ins Feld führt. Tertullian hat diese Fiktion der Abfassungszeit so wenig durchschaut wie viele seiner Nachfolger. 46 Auch nach Act 13,24 ist die Umkehrtaufe des Johannes die εἰσόδος Jesu, von der Act 1,21 spricht. § 7: Der Anfang von *Ev und seine lk Bearbeitung 171 wenn »Diener des Wortes« nur werden kann, wer »angefangen von der Johannestaufe« »in der ganzen Zeit« (ἐν παντὶ χρόνῳ) mit uns gegangen ist, weil er nur so »über alles« (περὶ πάντων) orientiert ist, was Jesus gesagt und getan hat, dann verfehlt *Ev schon aufgrund seiner defizitären Kürze die Voraussetzungen für diese Legitimation. Der betonte Verweis auf die Vollständigkeit ist hier unbeschadet seiner gattungstypischen Analogien 47 sachlich notwendig, weil die umfangreichere Überlieferung im kanonischen Lk selbst zum Nachweis der Überlegenheit wird. Die Wirkung dieses Nachweises ist allerdings auf die Zusammengehörigkeit von Lk-Act angewiesen: Sie setzt das redaktionelle Konzept der Kanonischen Ausgabe voraus und bestätigt es zugleich. Die Begründungsfunktion der umfangreicheren Überlieferung in Lk 1-4 ist - zweitens - davon abhängig, dass sie inhaltlich zuverlässig ist. Ihre Glaubwürdigkeit wird dadurch sichergestellt, dass »ich von Anfang an allem sorgfältig nachgegangen bin (παρηκολουθηκότι ἄνωθεν πᾶσιν ἀκριβῶς).« Da πᾶσιν maskulinisch oder neutrisch verstanden werden kann, ist nicht klar, ob παρακολουθέω hier »hinter jemandem hergehen« oder »eine Sache verfolgen« bedeutet. In der Regel nimmt man unter Verweis auf die historiographischen Analogien das sorgfältige Quellenstudium des »Historikers« Lk an, wofür auch ἄνωθεν und ἀκριβῶς sprechen: Wenn ἄνωθεν hinter die durch Autopsie gesicherten Ereignisse »von Anfang an (ἀπ’ ἀρχῆς)« zurückgreift, dann könnten damit die Kindheitsgeschichten Lk 1f gestützt worden sein. 48 Aber wie kann man sich den sorgfältigen Zugang zur vollständigen Information vorstellen, solange schriftliche Quellen nicht als solche etabliert waren, wenn nicht als direkten Kontakt zu den Augenzeugen? Gerade unter dem Gesichtspunkt, dass die lk Redaktion eine ältere Quelle verdrängen will, ist der Gedanke nicht von der Hand zu weisen, dass παρακολουθέω auf dezente Weise an den unmittelbaren Kontakt des fingierten Verfassers »Lukas« zu Paulus anspielt, der sich aus der Perspektive der Leser zwingend aus den Wir-Passagen in Act ergibt. 49 Drittens ist schließlich für die Überlegenheit des kanonischen Evangeliums von Bedeutung, dass der fingierte Autor »Lukas« seinen Bericht »folgerichtig« abgefasst hat. Die genaue Bedeutung von καθεξῆς ist bekanntlich umstritten und viel debattiert, 50 weil die nächstliegende Bedeutung (»der Reihe nach«) hier nicht ______________________________ 47 Vgl. L. A LEXANDER , The Preface to Luke’s Gospel, Cambridge 1993, 109 (zur Abgrenzung von den »vielen« Vorgängern). 48 Vgl. G. K LEIN , Lukas 1,1-4 als theologisches Programm, in: G. Braumann (Hg.), Das Lukas- Evangelium (WdF 280), Darmstadt 1974, 170-203: 191. 49 Vgl. z. B. A. J. B. H IGGINS , The Preface to Luke and the Kerygma in Acts, in: W. W. Gasque (ed.), Apostolic History and the Gospel, Exeter 1970, 78-91: 79-83. 50 Vgl. S. B ROWN , The Role of the Prologues in Determining the Purpose of Luke-Acts, in: Ch. Talbert (ed.), Perspectives on Luke-Acts, Danville 1978, 99-111; J. K ÜRZINGER , Lk 1,3 … ἀκριβῶς καθεξῆς 172 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk zu passen scheint: Das Programm deckt sich »nicht mit der Folge der Ereignisse, wie sie Lukas von seinen Vorgängern überliefert und sicher auch von ihm selbst erkundet worden ist.« 51 In der Tat lässt sich die Anlage der Erzählfolge gerade in dem wichtigen Fall der Täufertradition kaum anders beurteilen denn als »Freiheit, Späteres vorwegzunehmen« und »ganze Erzählstücke entgegen dem tatsächlichen Verlauf umzustellen.« 52 Aber diese »Freiheit« hat Lk sich nicht gegenüber Mk oder Mt genommen, sondern gegenüber *Ev. Vor allem aber hat er es peinlich vermieden, den Eindruck zu erwecken, sich irgendwelche »Freiheiten« in der Präsentation seines Stoffes zu erlauben. Wollte man nämlich die »sorgfältige Nachforschung« auf die Übereinstimmung des Lk mit Mt, Mk oder gar mit »Q« beziehen, wäre es um sein Ziel der Vermittlung von Sicherheit in der Tat schlecht bestellt: Lk hätte im Vergleich zu diesen Texten ja sehr viel mehr Differenzen produziert als beseitigt. Aber die historisch-kritische Dimension der Rekonstruktion der synoptischen Überlieferungsgeschichte trifft nicht das redaktionelle Verfahren. Denn wenn Verunsicherung überhaupt erst durch die Diskrepanzen zwischen *Ev und Lk entsteht, genügt es für die intendierte Etablierung von »Zuverlässigkeit«, das marcionitische Evangelium durch den Nachweis einer falschen Reihenfolge zu diskreditieren, die ja bereits durch die Umstellung von Lk 4,16-30 vor 4,31-37 evident ist. Die redaktionelle Funktion von καθεξῆς ist also im Rahmen des literarischen Konzeptes von Lk-Act rein negativ zu verstehen: Sie richtet sich gegen einen Evangelientext, der dem kanonischen Lk sehr ähnlich ist, die Ereignisse aber in einer anderen Abfolge erzählt: *Ev. Fragt man nach dem redaktionellen Interesse des Prologs und nach der Kohärenz, die der Prolog im Gesamtzusammenhang von Lk-Act besitzt, dann ist deutlich: Das redaktionelle Interesse, das der Prolog in allen seinen Bestandteilen zu erkennen gibt, ist seine deutliche anti-marcionitische Tendenz. Diese bezieht sich nicht so sehr in materialer Hinsicht auf die dogmatische Kritik an der Theologie Marcions und der Marcioniten, sondern ist eher formal zu verstehen und auf die literarische Diskreditierung des älteren (auch von Marcion benutzten) Evangelientextes zu beziehen, der durch den redaktionell erweiterten (und kanonisch gewordenen) ersetzt werden soll. Die im engeren Sinn theologische Intention dieser Redaktion lässt sich daher weniger dem Prolog selbst entnehmen als dem gesamten redaktionellen Verfahren, mit dem das ältere marcionitische Evangelium bearbeitet, erweitert, mit Act zu einem »Doppelwerk« verbunden und ______________________________ σοι γράψαι, BZ NS 18 (1974) 249-55; G. S CHNEIDER , Zur Bedeutung von καθεξῆς im lukanischen Doppelwerk, ZNW 68 (1977), 128-33; M. V ÖLKEL , Exegetische Erwägungen zum Verständnis des Begriffs καθεξῆς im lukanischen Prolog, NTS 20 (1973/ 74), 289-99. 51 R ADL , Lk I 32. 52 R ADL (ebd.) mit Verweis auf Lk 3,19f (diff. Mk 6,21-29) und 4,16-30 (diff. Mk 6,1-6a). § 7: Der Anfang von *Ev und seine lk Bearbeitung 173 in die Kanonische Ausgabe integriert wurde: Dies ist zwar nicht exakt eine Interpolation ad concorporationem legis et prophetarum, wie sie Marcion seinen katholischen Gegnern vorgeworfen hatte, 53 aber sie kommt ihr doch auf eindrückliche Weise nahe. 3. Die lk Redaktion der Nazarethperikope (Lk 4,16-30) Es gibt kaum einen besser geeigneten Text als die Nazarethperikope, um die lk Bearbeitung von Marcions Evangelium im Rahmen eines stringenten, Lk und Act verbindenden redaktionellen Konzeptes zu erweisen: In Lk 4,16-30 sind zahlreiche, längst erkannte redaktionelle Linien wie in einem Knoten geschürzt, die als Ausdruck der programmatischen Gestaltung zu gelten haben. 54 Für das hier zu klärende Problem der Bearbeitungsrichtung zwischen *Ev und Lk besitzen diese Elemente insofern grundlegende Bedeutung, als sie nur durch Lk, nicht aber durch *Ev bezeugt sind. Ich begnüge mich mit einigen kurzen Hinweisen auf das Offensichtliche. 1. Das erste programmatische Auftreten Jesu in der Öffentlichkeit besitzt eine enge Parallele im ersten Auftreten des Paulus in Act. 55 Die Schilderung des ersten Auftretens des Paulus nach seiner Berufung in der Synagoge von Damaskus (Act 9,19-25) ist von der Struktur Lk 4,16-30 sehr ähnlich. a. Lk lässt Jesus wie Paulus ihr öffentliches Auftreten damit beginnen, dass sie »in den Synagogen« verkündigen bzw. lehren (Lk 4,15; Act 9,20). b. Der Inhalt der jeweiligen Verkündigung ist christologisch akzentuiert und impliziert im lk Kontext eine universale Dimension: Jesus ist der Gesalbte Gottes (Lk 4,21 unter Bezug auf das Mischzitat Jes 61,1f; 58,6) bzw. der Sohn Gottes (Act 9,20b, was sogleich dahingehend präzisiert wird, dass er der Gesalbte ist: 9,22). c. In beiden Fällen reagiert die Menge in der Synagoge mit Staunen bzw. Entsetzen (Lk 4,22; Act 9,21), das d. in ähnlich formulierten Fragen nach der wahren Identität des Sprechers konkretisiert wird (Lk 4,22: Sohn Josephs; Act 9,21: Christenverfolger). e. In beiden Fällen gibt es einen Tötungsversuch bzw. -beschluss (Lk 4,28f; Act 9,23), aber beide entkommen (Lk 4,30; Act 9,25). Neben dieser Szene steht noch die erste ausgeführte Paulusrede im pisidischen Antiochia (Act 13,14-52). Auch zu dieser Rede gibt es offenkundige Parallelen, 56 die weit über strukturelle Entsprechungen hinausgehen. ______________________________ 53 Tert. 4,4,4, o. S. 149 Anm. 60. 54 Vgl. zuletzt zusammenfassend F R . N EIRYNCK , Luke 4,16-30 and the Unity of Luke-Acts, in: J. Verheyden (ed.), The Unity of Luke-Acts, Leuven 1999, 357-395. 55 Vgl. P H . E SLER , Community and Gospel in Luke-Acts, Cambridge 1987, 235 mit Anm. 39. 56 Vgl. vor allem W. R ADL , Paulus und Jesus im lukanischen Doppelwerk, Bern - Frankfurt/ M. 1975, 82-100; M. K ORN , Die Geschichte Jesu in veränderter Zeit, Tübingen 1993, 56-85. 174 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk Einleitung der Perikope mit der Ankunft in der Stadt; Eingangswendung (Hineingehen in die Synagoge am Sabbat); 57 Lesung aus (Gesetz und) Propheten; Lehre im Sitzen bzw. Stehen; erste positive Reaktion durch die Hörer; Thema der Heidenmission; daraufhin Eifersucht der Juden mit Ablehnung und Verfolgung; Jesus bzw. Paulus und Barnabas gehen einfach ungehindert fort. Die strukturellen Entsprechungen, vor allem der Wechsel von anfänglicher Zustimmung und folgender Ablehnung, sind kein Zufall: Es handelt sich um das bekannte Schema, das sich in anderen wichtigen Texten in Act fortsetzt. 58 Unabhängig davon, wie man dieses Schema interpretiert, ist doch offenkundig, dass hier das für Lk zentrale Thema des Verhältnisses von Juden und (Heiden- )Christen diskutiert wird - und dass diese Verhältnisbestimmung bereits in Lk 4,25-28 im Mund Jesu antizipiert wird. Dabei wird der Akzent der biblischen Beispiele in Lk 4,25-27, dass das Heil nicht Israeliten, sondern Fremden zukommt, erst durch die Act-Erzählung realisiert. Diese Beobachtung ist von größter Bedeutung für die Frage der Bearbeitungsrichtung. Denn im Horizont der Lk-Priorität müsste man annehmen, dass Marcion peinlich genau all diejenigen Elemente aus Lk gestrichen hätte, die eine konzeptuelle Fortsetzung in Act besitzen und so die beiden Bücher als ein Doppelwerk in zwei Bänden konstituieren. Diese Vorstellung ist völlig unwahrscheinlich: Marcion hatte überhaupt keine Probleme mit der Heidenmission oder mit ihrer theologischen Begründung durch Jesus oder durch die Propheten. Im Zusammenhang der Nazarethperikope wird dies am Beispiel des Syrers Naemans deutlich, das *Ev nicht in 4,27, wohl aber in *17,18 enthielt (vgl. die Rekonstruktion): Wieso sollte er dieses Beispiel in Kap. 4 gestrichen, es dann aber in Kap. 17 eingefügt haben? Ein theologisches Argument für Marcions angebliche Eingriffe in Lk 4,16-30 gibt es also nicht. Die Wahrnehmung der übergreifenden redaktionellen Linien fügt dem inhaltlichen Argument aber auch ein formales hinzu: Denn während Marcions angebliche Redaktion mit Blick auf die Beseitigung theologisch missliebiger Inhalte vollkommen inkonsequent verfahren wäre, hätte er es geschafft, alle Spuren komplett zu tilgen, die eine kompositionelle Verbindung zwischen Lk und Act konstituieren - obwohl er sich an den entsprechenden Aussagen inhaltlich überhaupt nicht gestört haben dürfte. Diese Annahme ist völlig unglaubhaft. 2. Auch für die zwei wichtigen Petrusreden Act 2 und 10 lassen sich Verbindungen zu Lk 4,16-30 ziehen. Zur Pfingstrede Act 2,17-40 fällt zunächst wieder der analoge ______________________________ 57 Zu Lk 4,16 vgl. außerdem Act 17,1f. Die engen Entsprechungen in der Formulierung verraten dieselbe gestalterische Hand auch in den anderen Paulusreden in Synagogen. 58 Zu Act 13,(42-)46; 17,4f; 18,6; 28,28 usw. vgl. (mit Lit.! ) J. B. T YSON , The Jewish Public in Luke- Acts, NTS 30 (1984) 574-583; DERS ., Jews and Judaism in Luke-Acts: Reading as a Godfearer, NTS 41 (1995) 19-38. § 7: Der Anfang von *Ev und seine lk Bearbeitung 175 Aufbau der jeweiligen Szenen auf. 59 Sodann ist die vergleichbare Funktion der Prophetenzitate 60 zu nennen: Beide setzen einen pneumatologischen Akzent und implizieren, dass die Gabe des Geistes die Brücke darstellt, die es einmal erlaubt, dass Jesus die Verheißungen nach Jes 61 und 58 durch die Elia- und Elisabeispiele in der Erstreckung auf Nicht-Israeliten konkretisiert; im anderen Fall gilt die Verheißung des Geistes nach Joel 3,1-5 eben nicht nur den anwesenden Israeliten und ihren Nachkommen, sondern auch »allen in der Ferne« (Act 2,39). Noch deutlicher ist die Entsprechung zu Lk 4,18f in Act 10,38: Hier wird die Folge der Geistesgabe in einer Formulierung ausgedrückt, die erkennbar von Jes 61,1f par. Lk 4,18f geprägt ist (ἰώμενος πάντας τοὺς καταδυναστευομένους ὑπὸ τοῦ διαβόλου). Es ist daher kein Zufall, dass der explizite Hinweis auf die Johannestaufe in Act 10,37, der seine nächste Parallele in Act 1,22 und 13,24 besitzt, nur im Horizont der Täuferüberlieferung Lk 3 verständlich wird, die ja erst durch die Redaktion von *Ev Teil des Lukasevangeliums wurde. 3. Ein letzter Hinweis bezieht sich auf das Ende der Apostelgeschichte: Hier legt Paulus den angesehenen römischen Juden ausgehend »vom Gesetz des Mose und den Propheten« (28,23) das Evangelium dar und reflektiert dann mit dem Zitat des Verstockungsauftrags aus Jes 6,9f die geteilte Reaktion der Juden. Die Ansage der Verstockung Israels mündet hier ausdrücklich in die Sendung zu den Heiden. Die Entsprechungen zwischen Lk 4,16-30 und Act 28,23-30, die (mit Unterschieden in Einzelheiten) schon häufig vermerkt wurden, 61 sind deshalb wichtig, weil ihre Stellung am Anfang und am Ende von Lk-Act das kompositionelle Interesse deutlich macht: Ohne Act 28,23-30 würde der Hinweis auf die Fremden in Lk 4,25-27, an denen sich das Heil Gottes erfüllt, ohne erzählerisches Gegenstück bleiben. 4. Die Überlegungen zur lk Redaktion der Nazarethperikope dienen hier lediglich dem Nachweis, dass die lk Redaktion von Marcions Evangelium in der Tat ein konsistentes redaktionelles Konzept erkennen lässt. Während der umgekehrte Versuch einer Rekonstruktion der marcionitischen Theologie aus dem Text seines Evangeliums auf der ganzen Linie gescheitert ist, bereitet es überhaupt keine Schwierigkeiten, aus den redaktionellen Erweiterungen wesentliche Aspekte der lk Theologie zu erheben. Die hier vorgeschlagene Redaktion des älteren Evangeliums ______________________________ 59 Zuletzt A. L INDEMANN , Einheit und Vielfalt im lukanischen Doppelwerk, in: J. Verheyden (ed.), The Unity of Luke-Acts, Leuven 1999, 225-253: 225-237 mit der Übersicht 228. 60 Vgl. H. B AARLINK , Die Bedeutung der Prophetenzitate in Lk 4,18-9 und Apg 2,17-21 für das Doppelwerk des Lukas, in: Verheyden, a. a. O. 483-491. 61 R. M ADDOX , The Purpose of Luke-Acts, Göttingen 1982, 2ff; J. T. S ANDERS , The Jewish People in Luke-Acts, SBL 1986 Seminar Papers, 110-29; F R . N EIRYNCK , Luke 4,16-30 and the Unity of Luke- Acts, in: ders., Evangelica III, Leuven 2001, 167-205 u. a. 176 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk (*Ev) in Zusammenhang mit der Komposition bzw. Redaktion von Act durch »Lk« erlaubt es zudem, die notorisch schwierige Verhältnisbestimmung von Lk und Act zu klären. 62 I. H. Marshall hatte die unterschiedlichen Möglichkeiten für dieses Verhältnis in vier grundlegenden Modellen beschrieben. (1) Es besteht keine Verbindung zwischen Lk und Act, beide stammen von unterschiedlichen Autoren. (2) Der Verfasser von Lk hat auch Act abgefasst, entweder (a) als zwei eigenständige Werke mit je eigenem Thema oder (b) mit einer zunehmenden Assimilierung während der Abfassung. (3) Lk und Act sind von einem Autor von Anfang an als ein Werk in zwei Bänden geplant. (4) Lk-Act war als ein Werk geplant, das später auf zwei Bände aufgeteilt wurde. 63 Die Lösung, die sich durch unsere Überlegungen nahegelegt, ist nicht enthalten: Dass nämlich zwei unabhängige Werke (von denen wir über das eine in groben Zügen informiert sind, während die Gestalt des zweiten weitgehend im Dunkel bleibt) erst durch eine tief greifende Redaktion miteinander verbunden wurden. Auf diese Weise lassen sich sowohl die Brüche und Unterschiede zwischen Lk und Act erklären, als auch die unbestreitbaren Verbindungslinien. Diese Lösung stellt die communis opinio 64 zum Verhältnis von Lk und Act in Frage, eröffnet aber neue Perspektiven für die Diskussion, die es erlauben, ohne allzu komplizierte Modelle 65 ein Maximum an Phänomenen zu erklären. ______________________________ 62 Diese Frage war das Thema des 47. Colloquium Biblicum Lovaniense, das seinen Niederschlag in dem von J. Verheyden hg. Sammelband gefunden hatte; zur Sache vgl. vor allem den einleitenden Beitrag von J. V ERHEYDEN , The Unity of Luke-Acts. What Are We Up To? , in: ders., The Unity of Luke-Acts, Leuven 1999, 3-56. In grundsätzlicher Weise war das Problem in den letzten Jahren aufgeworfen worden durch M. C. P ARSONS , R. I. P ERVO , Rethinking the Unity of Luke and Acts, Minneapolis 1993. 63 I. H. M ARSHALL , Acts and the »Former Treatise«, in: B. W. Winter, A. D. Clarke (eds.), The Book of Acts in Its Ancient Literary Setting, Grand Rapids - Carlisle 1993, 163-182. 64 »Today, the discussion on the common authorship of Lk and Acts … is closed.« Diese Bemerkung von V ERHEYDEN (a. a. O. 6 Anm. 13) charakterisiert die Diskussionslage treffend. Sie ist, was mindestens genauso charakteristisch ist, Teil seiner Darlegung, warum weder die Verfassernoch die Kanonfrage für Lk-Act ein Problem darstellen: Nach meiner Überzeugung lässt sich die Frage nach der Abfassung bzw. Redaktion von Lk-Act gar nicht unabhängig von der Kanonfrage lösen. 65 Vgl. z. B. das bidirektionale Schichten-Modell von M.-É. B OISMARD , A. L AMOUILLE , J. T AYLOR , Les Actes des deux apôtres I-III, Paris 1990, das mit einer wechselseitigen Beeinflussung zwischen Lk und Act rechnet. § 8: Das Ende von *Ev: Tradition und Redaktion in Lk 24 1. Bezeugung Ein letzter für unsere Fragestellung wichtiger Textkomplex ist das Ende von *Ev, das ganz sicher anders aussah als die kanonische Fassung, wenn auch nicht ganz klar ist, wie. Epiphanius berichtet zweimal summarisch Kürzungen Marcions auch am Ende des Evangeliums, 1 gibt aber in seiner (sicherlich unvollständigen) Scholienliste am Schluss keine ausdrücklichen Auslassungsvermerke. 2 Auch Tertullians Referat, das gegen Ende ohnehin immer großzügiger wird, erlaubt keinen eindeutigen Aufschluss. Die Argumentation muss daher von den eindeutigen Bezeugungen ausgehen, daneben aber auch weitere Kriterien für die Beurteilung der Ursprünglichkeit in Rechnung stellen. Aus Lk 24 sind folgende Aussagen für *Ev bezeugt: Aus 24,1-12 hat Tertullian bei Marcion *24,1.3f.6f.9-11 3 gelesen (4,43,1-5), *24,4-7 ist auch durch Epiph., Schol. 76 sichergestellt. Von 24,2.8.12 gibt es dagegen keine Spuren. Während 24,2 unproblematisch ist und sehr wahrscheinlich vorhanden war, sind die Zweifel für V. 8 gut begründet, für V. 12 sehr gut: V. 8 ist mit einiger, V. 12 mit größter Wahrscheinlichkeit redaktionell in den Kontext von *Ev eingefügt wurden. Daneben sind einige kleinere, aber wichtige redaktionelle Veränderungen an dem schon für *Ev bezeugten Text anzunehmen: Auf der einen Seite scheint die lk Redaktion aus *24,1b die Worte ἐλογίζοντο δὲ ἐν ἑαυταῖς· τίς ἄρα ἀποκύλισει τὸν λίθον gestrichen zu haben. Wichtiger sind auf der anderen Seite die sehr wahrscheinlichen Ergänzungen gegenüber *Ev: Lk 24,2.9 (ἀπὸ τοῦ μνημείου); 24,3 (τοῦ κυρίου Ἰησοῦ); 24,6a (οὐκ ἔστιν ὧδε, ἀλλὰ ἠγέρθη); 24,7 (εἰς χεῖρας ἀνθρώπων ἁμαρτωλῶν); 24,9 (ἕνδεκα καὶ πᾶσιν τοῖς λοιποῖς); 24,10 (καὶ αἱ λοιπαὶ σὺν αὐταῖς). Diese kleineren Textabweichungen sind in der Rekonstruktion (s. zu *24,1-12) im Einzelnen erörtert und begründet. Die folgende Episode mit den »Emmaus«-Jüngern ist gut belegt: Aus Lk 24,13-35 ist durch Tertullian *24,13-16.25 für *Ev gesichert (4,43,3f), *24,18.25f.30f durch Epiph., Schol. 77, *24,25f darüber hinaus durch Adam. 5,12 (857d). Von den nicht belegten Passagen sind Aussagen, die *24,17.28f inhaltlich entsprechen, aus Gründen der narrativen Logik für *Ev zu postulieren, ebenso eine wenigstens kurze Angabe über das Unverständnis der beiden Jünger (in Entsprechung zu Lk 24,19-23), das Jesus in *24,25 aufgreift (Tert. 4,43,4); Epiph. hat für die Reaktion Jesu dagegen eine Auslassung vermerkt, 4 die sich vermutlich nicht auf die von ihm zitierten Worte in V. *25 ______________________________ 1 Epiph. 42,9,2; 11,3 (o. S. 153 Anm. 70). 2 Schol. 76 bezeugt *24,5-7 (vgl. dazu Tert. 4,43,5); Schol. 77 vermerkt für *24,25 eine andere Lesart; Schol. 78 bezeugt mit anderer Lesart *24,38f (vgl. dazu auch Tert. 4,43,6; Adam. 5,12 [857e]) - danach bricht die Liste ab. 3 Anstelle der ἕνδεκα (24,9) und der ἀπόστολοι (24,9f) erwähnt Tertullian nur discipuli, hat also wohl μαθηταί gelesen (4,43,3: incredulitas discipulorum perseverabat). Allerdings hatte *10,1 die Siebzig als ἀπόστολοι bezeichnet (Tert. 4,24,1: adlegit et alios septuaginta apostolos super doudecim), die Lk nur als ἑτέρους ἑβδομήκοντα bezeichnet (vgl. den Hinweis von T SUTSUI 71ff). 4 Schol. 77: παρέκοψε τὸ εἰρημένον πρὸς Κλεοπᾶν καὶ τὸν ἄλλον, ὅτε συνήντησεν αὐτοῖς τό Ὦ ἀνόητοι καὶ βραδεῖς τοῦ πιστεύειν … 178 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk bezieht, sondern am ehesten auf Lk 24,26b.27: Der Hinweis auf das christologische Verständnis von »Mose und allen Propheten« geht (vornehmlich: aus inneren Gründen) auf die lk Redaktion zurück. 5 Die Erzählung über die Rückkehr der beiden Jünger nach Jerusalem und ihr Bericht vor den dort Versammelten (*24,33.35) war im Kern vorhanden, ist aber (neben weiteren, kleineren Änderungen) mit größter Wahrscheinlichkeit vor allem durch die Einfügung von Lk 24,34 ergänzt worden. Die für unsere Fragestellung mit Abstand interessanteste Frage, ob Lk 24,27 mit der Erwähnung von »Gesetz und Propheten« bereits in *Ev enthalten war, lässt sich leider nicht mit der gewünschten Sicherheit beantworten, 6 obwohl es Gründe für die Annahme gibt, dass dieser Vers redaktionell (= lk) ist. Der Bericht von der Erscheinung des Auferstandenen vor den Jüngern (Lk 24,36-44) war in *Ev ebenfalls im Kern enthalten: Für die Vv. *37-39.41 gibt es zwar keine vollständige, aber doch eine hinreichende Bezeugung. 7 Die Erscheinung Jesu *24,36 ist daher zwingend vorausgesetzt. 8 Von *24,42f findet sich eine Spur bei Eznik von Kolb, demzufolge die Marcioniten ihre (Fleisch-) Askese damit begründet hätten, dass Jesus hier Fisch statt Fleisch gegessen habe. 9 Angesichts der dichten Bezeugung für *24,36-43 ist die Nichtbezeugung von Lk 24,44-49 mit der Belehrung durch den Auferstandenen und der Ankündigung der Zeugenschaft »vor allen Heidenvölkern, angefangen von Jerusalem« (V. 47f) sowie der Verheißung des Geistes (V. 49), in hohem Maß auffällig: Vor allem der erste Teil über die christologische Prophezeiung der Schriften hätte den Häresiologen hochwillkommene Anhaltspunkte für den Nachweis von Selbstwidersprüchen zwischen der marcionitischen Theologie und ihrem Evangelientext geboten. Lk 24,44-49 haben mit großer Wahrscheinlichkeit in *Ev gefehlt. Für die abschließende Szene Lk 24,50-53 gibt es nur den Hinweis, dass der Auferstandene die Apostel aussandte, »damit sie allen Völkern verkündigen« (Tert. 4,43,9). 10 Die knappen Notizen über die Entrückung Jesu (Lk 24,51c) und die Anbetung durch die Jünger (V. 52) haben mit größter Wahrscheinlichkeit gefehlt, ebenso der letzte Satz über den Lobpreis im Tempel ______________________________ 5 Für die Begründung im Einzelnen vgl. die Rekonstruktion (Anhang 1). 6 Für die Vertreter der Lk-Priorität ist klar, dass Marcion diese Aussage gestrichen haben musste, weil sie nicht in das ihm unterstellte Konzept passt. Vgl. H ARNACK 239* (»27 unbezeugt und sicher gestrichen«); T SUTSUI 128f. 7 Vgl. Tert. 4,43,6-8; Adam. 5,12; Epiph. Schol 78. 8 In der Literatur heftig diskutiert wird *24,37, wo *Ev mit hoher Wahrscheinlichkeit ϕάντασμα statt πνεῦμα hatte (Tert. 4,43,6: phantasma; Adam. 5,12 [857e]: ϕαντασία), weil in *24,39 ebenso sicher πνεῦμα stand. Die möglichen oder tatsächlichen theologischen Implikationen, die hier diskutiert werden, sind für unsere Fragestellung nur insofern von Belang, als sie nur bei Annahme der Lk- Priorität das (dann in der Tat kaum lösbare) Problem aufwerfen, aus welchen inhaltlichen Gründen *Ev so inkonsistent formuliert haben sollte; eine kleine Auswahl von Versuchen, mit diesem Problem zu Rande zu kommen bei H ARNACK 239*; T SUTSUI 129ff; M. V INZENT , Der Schluß des Lukasevangeliums bei Marcion, in: G. May, K. Greschat (Hg.), Marcion und seine kirchengeschichtliche Wirkung, Berlin - New York 2002, 79-94. 9 H ARNACK 240*; Eznik, De Deo IV 12 (W EBER 171). 10 Tert. 4,43,9 zu *24,47: et apostolos mittens ad praedicandum universis nationibus. Dass ἀρξάμενοι ἀπὸ ᾿Ιερουσαλήμ nicht in *Ev enthalten war, leuchtet mir ein (wenn auch aus anderen Gründen als H ARNACK 240* dafür geltend macht; s. die Rekonstr.). Schleierhaft ist mir dagegen, mit welcher Begründung H ARNACK (ebd.) annimmt, dass in *24,47 die Worte (κηρυχθῆναι) μετάνοιαν εἰς ἄϕεσιν ἁμαρτιῶν enthalten gewesen seien. Offensichtlich von hier aus ist diese Vermutung weiter gewandert, z. B. zu V INZENT , a. a. O. 84. § 8: Das Ende von *Ev: Tradition und Redaktion in Lk 24 179 (24,53). Dagegen lässt sich - allerdings nur aus inneren Gründen - wahrscheinlich machen, dass die Lokalisierung der letzten Szene in Bethanien (*24,50) bereits in *Ev enthalten war. Dieser Rekonstruktion zufolge hat *Ev mit dem Hinweis geendet, dass Jesus »wegging« (ἀπέστη) und die Jünger nach Jerusalem zurückkehrten. Legt man diese Rekonstruktion für *Ev zugrunde, dann ergeben sich im Gegenzug die Elemente der lk Redaktion. Lk hat demnach (1.) die Erzählung von der Auffindung des leeren Grabes in *Ev vorgefunden, sie aber vermutlich durch 24,8.12 ergänzt und bearbeitet. Dass Tertullian diese Verse in seinem Referat nicht übergangen hat, sondern dass sie tatsächlich in *Ev fehlten und auf das Konto der lk Redaktion gehen, bedarf noch der genaueren Begründung. (2.) Lk 24,12 hat mit hoher Wahrscheinlichkeit in *Ev gefehlt und ist durch Lk nachgetragen. Dafür sprechen nicht nur redaktionelle Gründe, sondern auch die fehlende Bezeugung im »Westlichen Text«. 11 (3.) Lk hat die sog. »Emmaus«-Perikope, die in *Ev in einer kürzeren Fassung enthalten war, durch die Vv. 24.27.34.35a ergänzt und sie an einigen weiteren Stellen redaktionell bearbeitet. (4.) Ganz ähnlich hat die lk Redaktion auch die Erzählung von der Erscheinung Jesu vor den Jüngern (*24,36- 43) um charakteristische Elemente in den Vv. 36 (καὶ λέγει αὐτοῖς· εἰρήνη ὑμῖν), 38 (διὰ τί διαλογισμοὶ ἀναβαίνουσιν ἐν τῇ καρδίᾳ ὑμῶν) und 39 (ἐγώ εἰμι αὐτός; ψηλαϕήσατέ με καὶ ἴδετε, ὅτι; σάρκα καί) erweitert; wie die handschriftliche Bezeugung nahelegt, ist auch V. 40 wohl erst eine lk Ergänzung. 12 Vor allem aber hat Lk (5.) die folgende Belehrung 24,44-49 über die prophetische Funktion der Schrift und die Ankündigung der Geistesgabe und Sendung der Jünger neu geschaffen. (6.) Die letzte Szene mit der Sendung der Apostel und dem Abschied Jesu hat Lk intensiv bearbeitet: Er hat die Notiz über das Weggehen Jesu in *Ev durch die Einfügung von καὶ ἀνεϕέρετο εἰς τὸν οὐρανόν als seine Entrückung in den Himmel interpretiert (Lk 24,51) und deren grundlegende Bedeutung durch die Proskynese der Jünger (24,52: προσκυνήσαντες αὐτόν) herausgestellt. Auch das Ende des Evangeliums mit der Mitteilung über den Lobpreis der Jünger ἐν τῷ ἱερῷ ist, zumindest in dieser Gestalt, mit größter Wahrscheinlichkeit eine Ergänzung der lk Redaktion. 2. Das redaktionelle Konzept von Lk 24 Die grundlegende methodische Frage lautet: Sind diese Differenzen zwischen dem sicher bezeugten bzw. sehr wahrscheinlichen Text, der für *Ev rekonstruiert wurde, und dem des kanonischen Lk eher Streichungen, die Marcion am kanonischen Text ______________________________ 11 24,12: vs. om D a b d e l r 1 . Diese Bezeugung konstituiert also ein typisches Beispiel für eine »Western Non-Interpolation« nach Westcott/ Hort. 12 Vgl. dazu 24,36 καὶ λέγει αὐτοῖς, Εἰρήνη ὑμῖν: om D a b d e ſſ 2 l r 1 . - 24,40 καὶ τοῦτο εἰπὼν ἔδειξεν αὐτοῖς τὰς χεῖρας καὶ τοὺς πόδας: vs. om D a b d e ſſ 2 l r 1 sy s.c . 180 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk vorgenommen hat, oder aber Ergänzungen des vorkanonischen Evangeliums durch die lk Redaktion? In diesem Fall lässt sich die Bearbeitungsrichtung sehr zuversichtlich bestimmen. Die Annahme der *Ev-Priorität liegt insgesamt sehr viel näher als die Vorstellung, dass Marcion das kanonische Evangelium um die strittigen Elemente »bereinigt« hätte: Das Kriterium der größeren redaktionellen Plausibilität spricht ganz eindeutig für die *Ev-Priorität. a. Die Protophanie vor Petrus Zunächst hat die lk Redaktion eine Reihe von szenischen Verknüpfungen vorgenommen und aus der eher episodischen Reihung von vier Einzelperikopen in Marcions Evangelium (*24,1-11.13-35.36-43.49-52) eine narrative Einheit von hoher Komplexität und Kohäsionskraft geschaffen. Zwischen Grab- und Emmausszene hat Lk Petrus’ Gang zum Grab und Autopsie eingefügt (24,12). Dass die charakteristisch »Westlichen« Lesarten als Hinweise auf die Interferenz zwischen der kanonischen und der vorkanonischen Überlieferung zu verstehen sind, ist oben (§ 5) ausführlich begründet. In diesem Fall ist die textkritische Beurteilung von Lk 24,12 in den vergangenen Jahrzehnten besonders intensiv und strittig diskutiert worden. Da der Vers in D it ( a b d e l r 1 ) fehlt, wurde er vor dem Aufkommen des P 75 ganz weitgehend in der Folge der Westcott/ Hort’schen Theorie über die Western Non-Interpolations für eine sekundäre Einfügung gehalten. 13 Die Einschätzung, dass P 75 ein sehr alter und sehr zuverlässiger Zeuge sei, hat dieses Urteil in den letzten Jahrzehnten weitgehend umgekehrt. 14 Bedeutung gewinnt das textkritische Urteil vor allem wegen der offenkundigen und bis in die Formulierungen hineinreichenden Beziehung zwischen Lk 24,12 und Joh 20,3.5.10. Sofern man diese Beziehung nicht durch gemeinsame Abhängigkeit von einer »lk-joh Sonderquelle« für die Passions- und Ostererzählungen erklären will, bleibt für das Verhältnis zwischen Lk und Joh nur die Alternative, dass Lk 24,12 entweder ein knapper Querverweis auf Joh 20 ist und diesen Text also voraussetzt oder aber dass die Wettlauferzählung Joh 20 aus der »unbeholfenen, beinahe hölzernen« Notiz Lk 24,12 herausgesponnen wurde. 15 Aber Lk 24,12 erweckt nur ______________________________ 13 Vgl. nur die Lit. bei A. D AUER , Lk 24,12 - Ein Produkt lukanischer Redaktion? , in: Fr. Van Segbroeck et al. (eds.), The Four Gospels II, Leuven 1992, 1697-1716: 1713f, bzw. bei R. J. D ILLON , From Eye-Witnesses to Ministers for the Word, Rom 1978, 60 Anm. 174. 14 Vgl. F R . N EIRYNCK , John and the Synoptics, in: L’Évangile de Jean, Gembloux - Leuven 1977, 73- 106, 98: »The recent trend is now clearly in favor of the authenticity of the verse in Luke, and with good reason.« Vgl. auch die von D AUER , a. a. O. 1713-1716, genannte Lit. 15 So z. B. K. A LAND , Die Bedeutung des P 75 für den Text des Neuen Testaments, in: ders., Studien zur Überlieferung des Neuen Testaments und seines Textes, Berlin 1967, 155-172: 168: »Die komplizierte Erzählung bei Joh. (sc. Joh 20) ist ohne weiteres als aus der unbeholfenen, beinahe hölzernen Notiz bei Luk. herausgesponnen zu erklären.« Vgl. ansonsten die Komm. zu Joh 20. § 8: Das Ende von *Ev: Tradition und Redaktion in Lk 24 181 dann einen kryptischen Eindruck, wenn man das Lk-Evangelium ohne weiteren Kontext liest. Im Rahmen der kanonischen Ausgabe des NT ist die Bemerkung dagegen ein unübersehbares Konhärenzsignal, das die Kenntnis von Joh 20 voraussetzt und abruft. In dieser Spannung gewinnt dann die Annahme der *Ev-Priorität Gewicht. Denn wollte man das Fehlen von Lk 24,12 (D it) als Zeugnis für Marcions sekundäre Streichung des Verses aus Gründen der narrativen Plausibilität verstehen, müsste man ja wohl postulieren, dass diese Leseerleichterung auch andere »unbeholfene und hölzerne« Passagen getilgt haben würde. Unter dieser Voraussetzung wäre damit zu rechnen, dass nicht nur schwierige und »dunkle« Aussagen redaktionell geglättet, sondern auch alle textexternen Referenzen beseitigt sein müssten, in denen der Text über sich selbst hinaus weist. Das ist jedoch erkennbar nicht der Fall: Hätte Marcion dunkle, textexterne Referenzen tilgen wollen, hätte er dazu in ungezählten anderen Fällen mehr Anlass gehabt als in Lk 24,12. Aber im umgekehrten Fall der *Ev-Priorität ergibt eine sekundäre Eintragung von Lk 24,12 in den Kontext von *Ev einen sehr guten Sinn. Denn der Hinweis auf Petrus’ Autopsie des leeren Grabes bereitet den Bericht der Jerusalemer über seine Protophanie des Auferstandenen in Lk 24,34 vor. Diese Aussage ist mit hoher Wahrscheinlichkeit sekundär, wie die v. l. λέγοντ ε ς anstelle von λέγοντ α ς in D (it) sy usw. zeigt: In den »Westlichen« Handschriften sind als Subjekt dieser Aussage nicht die Jerusalemer Jünger, sondern die beiden zurückgekehrten »Emmaus«- Jünger vorausgesetzt; da sie diese Information über die Protophanie jedoch gar nicht geben konnten, ist der gesamte Vers nachgetragen: Der Nominativ λέγοντες ist hier versehentlich stehen geblieben - ein typischer Fehler, der bei sekundären, redaktionellen Bearbeitungen häufig begegnet. Das aber heißt, dass das Fehlen von Lk 24,12 (D it) dem von 24,34 (D it sy) korrespondiert: Beide Verse sind sekundär ergänzt worden. Das redaktionelle Interesse für eine solche Einfügung ist ohne weiteres erkennbar: Es geht um die Beseitigung von Widersprüchen, die sich ansonsten auf der Ebene der Kanonischen Ausgabe ergeben würden. Denn die Protophanie des Auferstandenen vor Petrus ist in 1Kor 15,5 (ὤϕθη Κηϕᾷ) vorausgesetzt: Indem die lk Redaktion die Protophanie durch den Bericht in 24,34 sicherstellt, entspricht die Abfolge von Lk 24,12.34.36ff der paulinischen Vorgabe: Der Auferstandene erschien zuerst dem Petrus, dann den Zwölfen (1Kor 15,5: ὤϕθη Κηϕᾷ ε ἶ τ α τοῖς δώδεκα). Dabei ist eine Unausgewogenheit zwischen 24,12 und 24,34 erhalten geblieben: 24,12 spricht nicht von der Erscheinung vor Petrus, sondern - nur - davon, dass er das Grab leer fand. Die lk Redaktion konnte die Protophanie in dem durch *Ev vorgegebenen narrativen Rahmen nicht als Erzählung unterbringen, sondern nur in dem Bericht von Dritten mitteilen lassen. Aber die Notwendigkeit, Petrus zum ersten Zeugen des Auferstandenen zu machen, 182 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk ergab sich erst in dem Moment, in dem die Kanonische Ausgabe das Interesse hatte, die einzelnen Elemente und Schriften zu einem möglichst widerspruchsfreien Ganzen zu verbinden - und dadurch ihre inhaltliche Überlegenheit gegenüber der älteren marcionitischen Ausgabe zu erweisen. Das gilt nicht nur mit Blick auf die ausdrückliche Protophanie vor Petrus, sondern auch für die Entsprechung zwischen Lk 24,12 und Joh 20. Der Nachweis, dass 24,12 von dem joh Bericht über den Wettlauf zwischen Petrus und dem geliebten Jünger abhängt, ist relativ leicht zu führen. 16 Denn das Nebeneinander der beiden, das hier zur Konkurrenz wird, ist ein durchgängiges Merkmal des Joh und strukturell in ihm verankert: Es ist für das redaktionelle Konzept des Joh konstitutiv. 17 Lk war dagegen nur an Petrus interessiert, weil der Gang zum Grab die Protophanie zwar nicht gewährleistet, sie aber doch vorbereitet. Aus diesem Grund lässt 24,12 Petrus allein zum Grab gehen, aber nach dem Bericht der beiden »Emmaus«-Jünger sind »einige von uns« zum Grab gelaufen (24,24: ἀπῆλθόν τινες τῶν σὺν ἡμῖν …). Hier ist noch unmittelbar erkennbar, wie beabsichtigt die ungenaue Referenz von Lk 24 auf Joh 20 ist: Die lk Redaktion nutzt Joh 20,3-10 als Ausgangspunkt für die Plausibilisierung der (nirgends erzählten) Protophanie vor Petrus: Sie gibt zu erkennen, dass nicht nur Petrus, sondern auch andere, wenigstens aber ein anderer, mit ihm zum Grab gelaufen sind (Lk 24,24), erzählt aber nur von Petrus (24,12). Alle drei Referenzen - Lk 24,12.24.34 - konstituieren daher eine narrative Isotopie und gehören auch literarkritisch auf dieselbe Ebene der lk Redaktion: Lk 24,12 ist gegenüber dem vorkanonischen *Ev sekundär. 18 Durch die redaktionelle Einfügung von Lk 24,12.34 werden die Ereignisse des Ostertags mit der Auffindung des leeren Grabs durch die Frauen (*24,1-11), der Offenbarung des Auferstandenen vor den beiden Jüngern »als sie das Brot nahmen« (*24,13-35) und seine Erscheinung »in ihrer Mitte« (*24,36-43) szenisch sehr eng aufeinander bezogen. Wie das Fehlen von ἐν αὐτῇ τῇ ἡμέρᾳ *24,13 in einem kleinen Teil der Überlieferung zeigt, war das vermutlich nicht immer so. 19 Die ______________________________ 16 Zu den Entsprechungen s. im Einzelnen die Rekonstruktion. 17 Vgl. H. T HYEN , Noch einmal: Johannes 21 und der »Jünger, den Jesus liebte«, in: ders., Studien zum Corpus Iohanneum, Tübingen 2007, 252-293; DERS ., Der Jünger, den Jesus liebte, ebd., 603- 622. 18 So auch R. M AHONEY , Two Disciples at the Tomb, Frankfurt/ M. - Bern 1974, 41ff; D AUER , a. a. O. 1697-1716; DERS ., Zur Authentizität von Lk 24,12, ETL 70 (1994), 294-318; B. S HELLARD , The Relationship of Luke and John - A Fresh Look at an Old Problem, JThS 46 (1995), 71-98: 93-96. Zum textkritischen Problem von Lk 24,12 s. die Rekonstruktion z. St., zu der Frage des Verhältnisses zwischen Lk und Joh vgl. ausführlicher u. § 13. 19 Die Wendung fehlt im Cod. Vercellensis (a) und bei Amphilochios von Ikonion (Exerc. 189a; F ICKER , Amphilochiana I 75). Eine Spur der redaktionellen Eingriffe zeigt sich noch im apokryphen EvJoh (arab.), das die Emmausepisode konsequent auf den zweiten Tag nach der Auferstehung datiert § 8: Das Ende von *Ev: Tradition und Redaktion in Lk 24 183 Konzentrierung der Ereignisse in Lk 24 auf den Ostertag stellt also ein wichtiges, aber redaktionell verstärktes Element dar. 20 So ergeben die sicheren bzw. sehr wahrscheinlichen Differenzen zwischen dem kanonischen Lk gegenüber dem vorkanonischen *Ev bezüglich der Erwähnung des Petrus als Zeugen des leeren Grabes bzw. der Auferstehung Jesu ein gutes, konsistentes Bild. In der umgekehrten Perspektive der Lk-Priorität ist dies dagegen nicht der Fall. Denn sie müsste ja annehmen, dass die Petrusreferenzen absichtlich gestrichen worden sind. Angesichts der paulinischen Kritik an Petrus als einem Judaisierer wäre das verständlich - wenn denn Petrus tatsächlich als Erstzeuge der Auferstehung erwähnt wäre. Aber Tertullian erwähnt als Differenz zwischen Paulus und Petrus lediglich die Auseinandersetzung in Gal 2 um die Frage der Beschneidung. 21 Hätte Marcion dagegen die auf der Protophanie beruhende Autorität des Petrus in Zweifel gezogen, hätte er wohl 1Kor 15,5 ändern müssen. Das ist, so weit wir wissen, nicht der Fall gewesen. 22 Dagegen wissen wir, dass Marcion sich offensichtlich überhaupt nicht an der herausragenden Stellung des Petrus gestört hat, wie seine Rezeption von *5,1-11 beweist. 23 Die These, dass die Petrusaussagen 24,12.24.34 sekundär gestrichen wurden, ist aus Gründen der redaktionellen Plausibilität unhaltbar. b. Die Schrift als hermeneutische Referenz Der umfangreichste und am intensivsten bearbeitete inhaltliche Komplex, der sich aus den Differenzen zwischen *Ev und dem kanonischen Text von Lk 24 ergibt, betrifft das Wissen 24 um die Identität Jesu und die Notwendigkeit seines Leidens. Dieses Thema dominiert das gesamte Kapitel und zeigt zugleich, dass diese Differenzen ein umfassendes, intentionales Konzept erkennen lassen, sofern man sie als Zusätze des kanonischen Textes versteht. a. In der Grabszene (24,1-9) ist Lk 24,8 nachgetragen worden, was sehr gut dazu passt, dass der belehrende Dialog zwischen Jesus und den beiden Jüngern für *Ev ebenfalls nicht bezeugt ist (24,19-24). Tatsächlich wird hier gleich mehrfach auf die Leidensankündigung Jesu referiert: In 24,6 fordern die Engel die Frauen ja nicht nur auf, sich an die Leidensankündigungen zu ______________________________ (50,1: ut dies s e c u n d u s fuit ex quo surrexit Christus Deus ex sepulcro; G ALBIATI I 305); s. im Einzelnen die Rekonstruktion (Anhang I) zu *24,13. 20 Vgl. etwa W OLTER , Lk 777. 21 Die Differenzen zwischen Paulus und den Jerusalemer Aposteln beziehen sich allein auf die Frage der Beschneidung aufgrund der Verteidigung des Gesetzes (Tert. 5,3,2: s o l a m circumcisionis quaestionem). 22 1Kor 15,1-11 sind unbezeugt. Nach der summarischen Behandlung von 1Kor 11-14 in Tert. 5,8 kommt Tertullian direkt auf 1Kor 15,12ff zu sprechen (Tert. 5,9,1). 23 Vgl. Tert. 4,9,1f und die Rekonstruktion. 24 S. bes. K. L ÖNING , Das Geschichtswerk des Lukas I, Stuttgart u. a. 1997, 19-57. 184 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk erinnern, sondern sagen ihnen den Inhalt auch noch direkt vor (24,7), worauf der Erzähler in 24,8 das Einsetzen der Erinnerung ausdrücklich feststellt. b. In Lk 24,20 wird der sachliche Gehalt (zumindest der ersten Hälfte) der Ankündigung noch einmal im Mund der beiden Jünger wiederholt. Da die lk Redaktion besonders intensiv daran interessiert ist, was es über Jesus zu wissen gibt, wird man geneigt sein, ihr auch die Einfügung von 24,27 (ἀρξάμενος ἀπὸ Μωϋσέως καὶ ἀπὸ πάντων τῶν προϕητῶν ...) zuzuschreiben: Neben dem Erinnern an die Worte Jesu, das von den Lesern ein Zurückblättern im Evangelienbuch verlangt, werden hier die Schriften als hermeneutische Referenz eingeführt (διερμήνευσεν αὐτοῖς ἐν πάσαις ταῖς γραϕαῖς). c. Das gleiche Thema ist auch in die Szene mit der Erscheinung Jesu vor den Jüngern in Jerusalem (24,36-49) eingefügt worden, die dadurch ein vollständig neues Profil erhält. Gleich mehrere Aspekte, die in den ersten beiden Szenen ergänzt wurden, werden aufgegriffen und im Mund Jesu vor allen Jüngern wiederholt: Die Leidensankündigung (die 24,46 zum dritten Mal innerhalb des Kapitels inhaltlich mitgeteilt wird! ), die Schrift als Grundlage des Verstehens (24,45, mit Rückbezug auf 24,27) sowie das Verstehen, das durch die Verbindung von beidem als »Öffnung der Augen« erwähnt wird. 25 Die hier implizierte Hermeneutik enthält zwei für unsere Fragestellung wichtige Aspekte: Dass zunächst die Engel am Grab und später der Auferstandene selbst inhaltlich gar nichts Neues mitteilen, sondern nur auf Bekanntes verweisen, an das sich die Leser erinnern müssen, macht zunächst deutlich, dass die lk Redaktion hier nicht in erster Linie an dem materialen Gehalt eines »christlichen Wissensbestandes« interessiert ist, sondern an der Frage, auf welche Weise man verlässlichen Zugang zu diesem Wissen erhalten kann. Genau diese Vermittlung von Zuverlässigkeit (ἀσϕάλεια) hinsichtlich der Überlieferung, in der Theophilos, der ideale Leser, unterrichtet wurde, ist dem Prolog zufolge die Absicht der Abfassung des Lk und ein wesentliches Element des redaktionellen Konzeptes. Die Antwort, die der Prolog auf diese Frage gab, war der selbstreferentielle Verweis auf dieses, das vorliegende Lk-Evangelium: Gemeint ist, in erkennbarem Gegensatz zu den früheren Versuchen, die »viele unternommen haben«, der lk redigierte Evangelientext. Er wird, vermittelt durch den fingierten Autor, durch die drei Elemente Augenzeugenschaft, Nachforschung »ganz von Anfang an« und Genauigkeit des Verfahrens autorisiert (Lk 1,2f). Die Antwort von Lk 24 schlägt einen weiteren Bogen: Das verlässliche Zeugnis ist in den Schriften Israels enthalten, die allerdings richtig gelesen werden müssen. Den Schlüssel zu dieser richtigen Lektüre vermittelt erst die Belehrung durch Jesus. ______________________________ 25 Der Öffnung der Schrift (24,45: διήνοιξεν … τὰς γραϕάς) korrespondiert die Öffnung der Augen (24,31: διηνοίχθησαν οἱ ὀϕθαλμοί), die zuvor »gehalten« waren (24,16: οἱ δὲ ὀϕθαλμοὶ αὐτῶν ἐκρατοῦντο) und deshalb nicht »sahen« (vgl. 24,24, über die Frauen am Grab: αὐτὸν δὲ οὐκ εἶδον): Wem die »Augen geöffnet« werden, so dass er den Auferstandenen »sieht«, dem ist auch der »νοῦς geöffnet«, so dass er die Schrift richtig versteht - und umgekehrt. § 8: Das Ende von *Ev: Tradition und Redaktion in Lk 24 185 Das hermeneutische Konzept, das hier entfaltet wird, enthält also zwei Elemente, die sich wechselseitig bedingen: Die heiligen Schriften Israels enthalten alle Informationen, von denen aus sich das richtige Verständnis Jesu und seines Geschicks erschließt; umgekehrt eröffnet erst Jesus das richtige Verständnis der Schrift. Sofern erst diese wechselseitige Verweisung das volle Verstehen Jesu und der Schriften Israels ermöglicht, dient sie auch zur Legitimation der beiden Pole. Diese Strategie der wechselseitigen Autorisierung - des Geschicks Jesu durch die Schrift und der Schriften Israels durch Jesus - ist einigermaßen erstaunlich. Denn das Gefälle der Erzählung verlangt zwar nach einer Erklärung für die Notwendigkeit der Passion und der Auferstehung Jesu (die hier durch die Schriften gegeben wird), nicht aber nach einer Legitimation von Mosegesetz, Propheten und Psalmen: Diese Referenz erfüllt offenkundig eine Begründungsfunktion, die außerhalb der Erzählung liegt, gleichwohl für die Redaktion eine unverzichtbare Bedeutung besaß. Von hier aus wird der andere aufschlussreiche Aspekt dieser spezifischen Hermeneutik deutlich. Denn die durch den Auferstandenen vermittelte »Öffnung des Verstandes zum Begreifen der Schriften« (Lk 24,45) setzt ja einen fest umrissenen Bestand von Texten voraus. Er wird hier, bekanntlich zum ersten Mal überhaupt, mit den großen Teilsammlungen des AT exakt benannt: Gesetz des Mose, Propheten, Psalmen (24,44). 26 Die hermeneutische Argumentation ist reflektiert und von nahezu hermetischer Geschlossenheit: Nur der richtige (und das heißt natürlich: der lk) Jesus »öffnet« die Schrift; nur die richtige Schrift (und das heißt hier: die Sammlung von Mosegesetz, Propheten und Psalmen) ermöglicht den Zugang zu diesem Jesus. Der Verweis auf die »Schriften« ist demnach selbstreferentiell zu verstehen und auf das christliche Alte Testament zu beziehen: Das hermeneutische Konzept intendiert nicht, Außenseitern durch eine praeparatio evangelica den Zugang zum Christentum über die jüdischen Schriften zu eröffnen, sondern will den christlichen Lesern »Mose, Propheten und Psalmen« als den heuristischen Horizont ihrer eigenen Christologie vermitteln. Der Jesus der lk Redaktion ist in der Tat ein kanonischer Jesus. Die beiden Pole dieses hermeneutischen Konzeptes unterscheiden sich diametral von Marcions zweiteiliger Bibel: Marcion kannte keine Sammlung alttestamentlicher Schriften, und sein Evangelium schildert auch keinen Jesus, der Augen und Verstand zum Verstehen des Alten Testaments öffnen würde. So entspricht die redaktionelle Ausgestaltung am Ende des Lk dem Prolog am Anfang. In beiden Fällen wird auf das Problem reflektiert, wie Zugang zu relevantem Wissen auf sichere Weise möglich ist, und in beiden Fällen enthält die Antwort Elemente, die am ehesten ______________________________ 26 Auch 24,27 ist durch die Formulierung ἐν π ά σ α ι ς ταῖς γραϕαῖς eine abgeschlossene Sammlung vorausgesetzt. 186 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk antimarcionitisch zu verstehen sind: Im Prolog sind dies die Verweise auf die Augenzeugen von Anfang an (οἱ ἀπ’ ἀρχῆς αὐτόπται), die richtige Reihenfolge der Darstellung (καθεξῆς), die Traditionskette von Jesus über die Augenzeugen bis auf den fingierten Verfasser usw. Am Ende des Evangeliums ist es der Verweis auf »das Gesetz des Mose, Propheten und Psalmen«, die allererst das richtige und verlässliche Verstehen Jesu sicherstellen. Dieses hermeneutische Konzept ist jeder synchronen Lektüre von Lk 24 zugänglich und hängt nicht von diachronen Erwägungen zum Verhältnis zwischen *Ev und Lk ab. Aber die Tatsache, dass dieses Konzept gerade durch die redaktionellen Elemente in Lk 24 konstituiert wird, die ihm ein kohärentes, durchaus antimarcionitisch zu verstehendes Profil verleihen, bestätigt die methodische Voraussetzung auf überraschende Weise. Denn der marcionitische Vorwurf, das (kanonische Lk-) Evangelium »sei, verfälscht von den Verteidigern des Judentums, mit dem Gesetz und den Propheten zu einer Einheit verbunden worden, durch welche sie Christus auch von dorther erdichten«, 27 wird angesichts dieses hermeneutischen Konzeptes unmittelbar nachvollziehbar: Er klingt wie ein direktes Echo auf die redaktionellen Interpolationen in Lk 24,27.44-46. 28 Auch für diesen thematischen Komplex bestätigt die Gegenprobe die methodische Grundannahme der *Ev-Priorität. Denn während sich die hier besprochenen Differenzen ohne weiteres zu einem sinnvollen und umfassenden Konzept fügen, ist dies für das umgekehrte Modell der Lk-Priorität nicht der Fall. In diesem Fall müsste man ja annehmen, dass Marcion die Hinweise auf die Schrift als Referenzrahmen für das Verständnis Jesu, seiner Passion und Auferstehung aus denjenigen theologischen Gründen getilgt hätte, die seit der Alten Kirche für seine »Verstümmelung« des kanonischen Lk angenommen werden: Sein »Antinomismus« und die Ablehnung des Alten Testaments. Das wäre zwar grundsätzlich denkbar, scheitert jedoch daran, dass *Ev ja sehr eindeutige positive Bewertungen der Schrift als »Wort Gottes« und deren ewige Geltung enthält. 29 Die Inkonsistenz der angeblichen Redaktion Marcions spricht auch für die hier genannten Elemente ganz eindeutig für eine Bearbeitungsrichtung, die von *Ev zu Lk verläuft, nicht aber umgekehrt. ______________________________ 27 Tert. 4,4,4. 28 Die katholische interpolatio bestünde dann nicht nur in der redaktionellen Verbindung von (Lk-) Evangelium mit Gesetz und Propheten in der Kanonischen Ausgabe (concorporatio legis et prophetarum), sondern auch in der Verfälschung des Textes, das diese concorporatio begründet. 29 *8,21; *16,17.29; *21,33; vgl. auch *23,2 (als Aussage der falschen [! ] Zeugen). Vgl. zum Ganzen M. K LINGHARDT , »Gesetz« bei Markion und Lukas, in: D. Sänger, M. Konradt (Hg.), Das Gesetz im frühen Judentum und im Neuen Testament, Göttingen - Fribourg 2006, 99-128: 112ff. § 8: Das Ende von *Ev: Tradition und Redaktion in Lk 24 187 c. Die Himmelfahrt in Bethanien und die Rückkehr der Jünger in den Tempel Auch die letzte Szene mit dem Gang nach Bethanien, der Himmelfahrt sowie der Rückkehr der Jünger nach Jerusalem in den Tempel weist einige wichtige Differenzen zwischen *Ev und dem kanonischen Text auf, und auch hier spricht alles für sekundäre Erweiterungen durch die lk Redaktion, nicht aber für »Streichungen« durch Marcion. Die Korrespondenz von Lk 24,50-53 mit Act 1,9-11 schafft (trotz der Unterschiede) 30 eine beabsichtigte Brücke zum »zweiten Buch«. Das zeigen einige gemeinsame Elemente deutlich genug: Die Belehrung beim gemeinsamen Mahl (Lk 24,43ff; Act 1,4); der Hinweis auf die Zeugenschaft vor allen Völkern bzw. bis an die Grenzen der Erde (Lk 24,48; Act 1,8); die Aufforderung, Jerusalem nicht zu verlassen sowie die Verheißung der Gabe des Geistes (Lk 24,49b; Act 1,4); der Lobpreis der Jünger ἐν τῷ ἱερῷ (Lk 24,53; Act 2,46f). Dabei dienen die theologisch zentralen Aussagen der Belehrung durch Jesus (Lk 24,46-49) nicht nur als programmatische Ankündigung dessen, was dann in Act erzählt wird, sondern schlagen mit dem Stichwort »Umkehr zur Sündenvergebung für alle Völker« (Lk 24,47) den Bogen zurück zu den programmatisch redigierten Aussagen der Täuferschilderung und der Nazarethperikope: Die Formulierung μετάνοια ε ἰ ς ἄ ϕ ε σ ι ν ἁ μ α ρ τ ι ῶ ν (εἰς πάντα τὰ ἔθνη) ist typisch für die lk Redaktion von *Ev. 31 Dabei stellen die rekurrenten Belege in Act die Kohärenz und Zusammengehörigkeit der beiden Bücher sicher. 32 Der Gang nach Bethanien und die Rückkehr der Jünger nach Jerusalem (*24,50-53), den die lk Redaktion vermutlich im Tempel enden ließ, markiert dabei ein weiteres, wichtiges Kompositionssignal. Denn der Weg von Bethanien über den Ölberg nach Jerusalem in den Tempel wiederholt den Weg Jesu beim Einzug nach Jerusalem mit der Königsproklamation durch die Jünger (Lk 19,29ff mit 19,37f) und der Tempelreinigung (Lk 19,45-48), die den Tempel als Ort des ______________________________ 30 Die Unterschiede beziehen sich eher auf den Termin (Lk 24,50: in derselben Nacht; Act 1,3: nach 40 Tagen) als auf den Ort (Lk 24,50: in der Nähe von Bethanien; Act 1,12: Ölberg), weil Lk sich offensichtlich Betanien, Bethphage und den Ölberg als eine geographische Einheit denkt (19,29). Zur Art der Beziehung der beiden Himmelfahrtsszenen vgl. M. C. P ARSONS , The Departure of Jesus in Luke-Acts, Sheffield 1987, der darauf hinweist, dass die Differenzen eine Folge der jeweiligen narrativen Funktion darstellen. 31 Lk 1,77; 3,3 vom Täufer (κηρύσσων βάπτισμα μετανοίας εἰς ἄϕεσιν ἁμαρτιῶν) bzw. 4,18f im Mischzitat mit den Stichworten πνεῦμα (κυρίου) - ἄϕεσις - κηρύξαι ἐνιαυτὸν κυρίου δεκτόν. 32 Act 2,38; 5,31; 10,43; 13,38; 26,18. Zu 13,38 vgl. M. K LINGHARDT , Gesetz und Volk Gottes, Tübingen 1988, 99ff. Von dem Versuch, die Formulierung ἄϕεσις ἁμαρτιῶν … (καὶ) ἀπὸ πάντων ὧν οὐκ ἠδυνήθητε ἐν νόμῳ Μωϋσέως δικαιωθῆναι (Act 13,38) als von Paulus unabhängig zu erweisen, würde ich in der Zwischenzeit deutlich abrücken. Vgl. K LINGHARDT , »Gesetz« (s. Anm. 29). 188 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk Gebets und der Lehre qualifiziert. Wie Epiphanius’ Bezeugung zeigt, hat der gesamte Abschnitt (τὸ κεϕάλαιον) Lk 19,19-48 in *Ev gefehlt. 33 Die lk Redaktion hat an dieser Stelle also die Einzugserzählung aus Mk 11,1b-10 || Mt 21,1b-9 eingefügt; gegen die beiden synoptischen Parallelen hat sie auch die aus Ps 118,26 stammende Proklamation um den Königstitel ergänzt (Lk 19,38a: εὐλογημένος ὁ ἐρχόμενος ὁ β α σ ι λ ε ὺ ς ἐν ὀνόματι κυρίου). Das lk Interesse, Jesus als König zu porträtieren, war bereits für die Pilatusfrage 23,3 aufgefallen: Hier hatte die lk Redaktion das »Bist du der Christus? « aus *Ev durch »Bist du der König der Juden? « ersetzt und für diese Änderung eine schwere Beeinträchtigung der narrativen Logik in Kauf genommen, weil Jesus die Frage bejaht und Pilatus ihn daraufhin für unschuldig befindet (23,4). Lk lässt die Jünger ihren Weg nach Jerusalem hinein und zum Tempel (Lk 19,29ff) in 24,50ff wiederholen und macht auf diese Weise sein redaktionelles Interesse deutlich: Das Königtum Jesu muss proklamiert werden. Wenn die Jünger dies nicht tun, werden die Steine schreien, und dies haben sie, in der Perspektive der lk Redaktion, ja auch unüberhörbar getan: Die Zerstörung Jerusalems und des Tempels wird zum Wahrheitsbeweis für das Königtum Jesu. Analog zu diesem Zeugnis der Steine steht die Proklamation der Jünger. Dass ihre Königsproklamation gerade auf dem Weg vom Ölberg zum Tempel verortet wird, verweist dann auf die Entsprechung in Act 1,4-14. Denn auch hier wird das Königtum Jesu thematisiert (Act 1,6-8), jetzt aber mit der Zuspitzung, dass Jesu βασιλεία τ ῷ ᾿ Ι σ ρ α ή λ (die erkennbar auf Lk 23,3 red. zurückweist) gerade dadurch realisiert wird, dass die Jünger dieses Königtum »bis an die Enden der Erde« proklamieren, und zwar ausgehend von Jerusalem (genauer: vom Tempel, Act 22,17f), in dem die Jünger im Gebet verharren (Lk 24,53; Act 2,46; vgl. 1,14). Damit ist für die lk Redaktion deutlich: (1) Das Königtum Jesu ist ein wesentliches Element des redaktionellen Konzeptes, das dementsprechend in der Proklamation der Jünger (Lk 19,38) sowie im Pilatusverhör (Lk 23,3) nachgetragen wird. - (2) Jesu Königtum ist zunächst seine βασιλεία τῷ ᾿Ισραήλ. Aber die Herrschaft über Israel realisiert sich gerade darin, dass sie nicht auf Israel beschränkt bleibt, sondern sich auch auf die Heiden erstreckt. Dies entspricht der zentralen Aussage des (redaktionellen) Nunc dimittis. Das Heil, das Simeon gesehen hat, besteht darin, dass Jesus das ϕῶς εἰς ἀποκάλυψιν ἐθνῶν und darin zugleich die δόξα λαοῦ ᾿Ισραήλ ist (Lk 2,32): Jesu Königtum über Israel ist universal. 34 - (3) Gleichwohl ______________________________ 33 Vgl. die Rekonstruktion z. St. Epiphanius’ Auslassungsvermerk (Schol. 53) fasst einen größeren Kontext (τὸ κεϕάλαιον) zusammen und referiert auf die Einzugserzählung Lk 19,29-38, auf die Dominus-flevit-Szene Lk 19,41-44 sowie auf die Tempelreinigung mit der dazugehörigen Reaktion (Lk 19,45-48). 34 Auch von Lk 2 - in *Ev mit Sicherheit nicht enthalten - lassen sich weitere kompositionelle Linien in das Gesamtwerk Lk-Act ausziehen; vgl. dazu W. R ADL , Die Beziehungen der Vorgeschichte zur § 8: Das Ende von *Ev: Tradition und Redaktion in Lk 24 189 ist das universale Königtum Jesu angemessen als βασιλεία τ ῷ ᾿ Ι σ ρ α ή λ bezeichnet, denn die Bewegung, die die Heiden mit in diese Königsherrschaft einbezieht, nimmt ihren Anfang im Jerusalemer Tempel (Lk 24,47; Act 1,6ff; 22,17f) und erweist so ihre Übereinstimmung mit den Verheißungen Israels. - (4) Die Wiederholung des Wegs der Jünger vom Ölberg zum Tempel (Lk 19,29ff; 24,50ff) ist dabei als narrative Entfaltung dieses Aspekts der Universalisierung einer nationalen Erwartung zu verstehen: Sie erzählt das Konzept von Jesu universaler Königsherrschaft über Israel und bildet das narrative Widerlager zu den programmatischen Aussagen in Lk 1f. - (5) Dass Jesus der König ist, der »Israel erlösen« werde (*24,21), ist daher richtig, aber nur die halbe Wahrheit, weil diese Qualifizierung den universalen Zug dieser βασιλεία nicht unmittelbar erkennen lässt. Dieses Verständnis bedarf daher der Hermeneia Jesu, der erklärt »was von Mose und den Propheten in allen Schriften über ihn geschrieben ist« (Lk 24,27). Die Zusammenhänge zwischen dem universalen Königtum Jesu und dem Tempel, die über Lk hinaus auch die Komposition von Act mitbestimmen, sind allesamt nicht neu und wiederholt gesehen und bearbeitet worden. 35 Aber sie gewinnen doch angesichts der Tatsache ein neues Gewicht, dass die für dieses Konzept konstitutiven Elemente durchweg redaktionell sind: Keines von ihnen war in *Ev vorhanden. Angesichts der hohen literarischen Komplexität und der Verknüpfung so vieler wichtiger Kompositionslinien in Lk 24, die allesamt in Marcions Evangelium fehlten, fällt es sehr schwer, die traditionelle Sicht der Lk-Priorität aufrecht zu erhalten. Unter der Annahme der *Ev-Priorität erhalten alle diese lk-redaktionellen Elemente einen sinnvollen Platz in einem reflektiert komponierten, konsistenten theologischen Konzept. ______________________________ Apostelgeschichte dargestellt an Lk 2,22-39, in: J. Verheyden (ed.), The Unity of Luke-Acts, Leuven 1999, 297-312. 35 Zum Tempel allgemein s. M. B ACHMANN , Jerusalem und der Tempel, Stuttgart etc. 1980, 315ff; zum Tempel speziell als Ort von Lehre und Gebet sowie in Verbindung mit Heidenmission s. K LINGHARDT , Gesetz und Volk Gottes, Tübingen 1988, 276ff. Zu Lk 24 und dem Übergang zu Act vgl. auch G. W ASSERBERG , Aus Israels Mitte - Heil für die Welt, Berlin - New York 1998, 191ff. § 9: Die *Ev-Priorität: Ergebnisse und weitere Fragen Am Ende dieses Kapitels ist es angezeigt, die Ergebnisse, die sich unter der Annahme der *Ev-Priorität für die wichtigsten Differenzen zwischen *Ev und Lk ergeben haben, auf ihre methodischen Prämissen zurück zu beziehen, die oben (S. 152f) als Kriterien für eine tragfähige Lösung genannt waren, wenn die Aporien der Lk- Priorität überwunden werden sollten. 1. Das Kriterium der redaktionellen Kohärenz Die wichtigste Einsicht bezieht sich auf das grundlegende Problem der Kohärenz der Redaktion. Die seit Irenaeus traditionelle Annahme einer marcionitischen Redaktion des kanonischen Lk-Evangeliums scheitert durchweg an der Beobachtung, dass die für diesen Fall anzunehmenden Veränderungen kein kohärentes Bearbeitungskonzept in *Ev erkennen lassen: Dieses Phänomen ist nicht erst von der älteren kritischen Forschung unter dem Einfluss von Joh. Salomo Semler (z. B. von Johann Ernst Christian Schmidt oder Albrecht Ritschl) hervorgehoben worden, es hat seinen Niederschlag schon bei den antiken Häresiologen gefunden: Sie mokieren sich darüber, dass Marcion die ihm unterstellte Redaktion derart fehlerhaft durchgeführt habe, dass ihnen die Widerlegung seiner Theologie auf der Grundlage seines eigenen Evangelientextes ohne weiteres gelingt. Die umgekehrte Annahme der *Ev-Priorität vor Lk resultiert dagegen in dem schlüssigen Konzept der lk Redaktion: Die Differenzen zwischen beiden Texten konstituieren ein durchweg konsistentes Bild, und zwar gerade an den für redaktionelle Eingriffe besonders anfälligen Passagen am Anfang und am Ende. Damit ist jedoch sehr viel mehr gewonnen als nur die Bestätigung der generellen Einsicht, dass eine inhaltlich motivierte Überarbeitung von Texten tendenziell eher dazu neigt, Erweiterungen anstelle von Kürzungen vorzunehmen, wie im nächsten Umfeld am Verhältnis von Mk - Mt, Kol - Eph oder Jud - 2Pe erkennbar wird. Denn im Unterschied zu diesen Beispielen lässt sich die Bearbeitungsrichtung von *Ev zu Lk noch deutlich besser begründen, weil die kompositionellen Linien, die das inhaltliche Profil der Bearbeitung konstituieren, über Lk hinaus auch in Act zu identifizieren sind: Die lk Redaktion von *Ev zeigt die umfassende Kohärenz der Theologie von Lk-Act, die bis in die kompositionellen Grundstrukturen von Act hineinreicht. Methodisch ist diese Beobachtung von großer Tragweite. Denn der synchrone Vergleich zwischen literarisch voneinander abhängigen Texten kann ja nur die Differenzen und Übereinstimmungen verzeichnen. Dieser Befund bleibt notgedrungen ambivalent und erlaubt in aller Regel keine eindeutige diachrone Zuordnung § 9: Die *Ev-Priorität: Ergebnisse und weitere Fragen 191 in einem Bearbeitungsgefälle. Die Beobachtungen konstituieren häufig eine »Kippfigur«, die je nach Perspektive ein unterschiedliches, aber jeweils in sich stimmiges Bild zu erkennen gibt. Dieses Phänomen liegt denn auch der Kritik 1 an dem hier vorgestellten Ansatz der *Ev-Priorität vor Lk zugrunde: Wegen des ambivalenten Charakters der Bearbeitungsrichtung sei die hier vertretene Umkehrung der traditionellen Bearbeitungsrichtung aus inneren Gründen gar nicht widerlegbar. 2 Die Schlussfolgerung, unter diesen Bedingungen dann doch lieber bei der alten Theorie zu bleiben, ist zwar verständlich, am Ende aber nicht nur unhaltbar, 3 sondern auch unnötig: Die Bestimmung der Bearbeitungsrichtung zwischen *Ev und Lk ist nicht auf ambivalente »innere« Kriterien angewiesen, sondern kann sich auf zusätzliche externe Argumente stützen. Die Bestimmung des redaktionellen Gefälles zwischen *Ev und Lk ist also alles andere als ein Vexierbild, das je nach Blickwinkel ein anderes, aber jeweils plausibles Bild zu erkennen gibt. Die traditionelle Ansicht der Lk-Priorität war von der bereits im 2. Jh. behaupteten Korrelation zwischen Marcions häretischer Theologie und seinem Bibeltext ausgegangen und musste daher aus methodischen Gründen eine konsistente Bearbeitung postulieren: Wie anders als durch die konsequente »Korrektur« des Bibeltextes hätte Marcion sein Ziel sonst erreichen können? Dass der Befund diese Konsistenz nicht erkennen lässt, ist erkannt und durchweg zugestanden: Dieses Problem hatte ja bereits Tertullian zu seiner gewundenen Erklärung veranlasst. 4 Für die umgekehrte Annahme redaktioneller Erweiterungen und Veränderungen von *Ev durch die lk Redaktion wäre ein entsprechendes Postulat durchgängiger Konsistenz dagegen erkennbar unsinnig: Für diese Annahme genügt es, dass Lk- Act ein plausibles und i. W. widerspruchsfreies Konzept zu erkennen gibt - also genau das, was die redaktionskritische Forschung in zahlreichen Untersuchungen zu Tage gefördert hat. Am Ende ist der Vorwurf der »Nichtfalsifizierbarkeit« der *Ev-Priorität nichts anderes als das Eingeständnis, die für diese Ansicht vorgebrachten Argumente nicht widerlegen zu können. ______________________________ 1 C HR . M. H AYS , Marcion vs. Luke: A Response to the Plädoyer of Matthias Klinghardt, ZNW 99 (2008), 213-232. 2 So bescheinigt Christopher Hays der These der *Ev-Priorität eine »internal unfalsifiability« (H AYS , a. a. O. 228). 3 So hält Hays (mit Blick auf Lk 4,16-30) die Begründung der *Ev-Priorität für so »zwingend«, dass sie sich letztendlich selbst unterminiere: »Ein etwas nachlässigerer Redaktor besitzt mehr Plausibilität als ein brillianter« (H AYS , a. a. O. 228). Die Annahme, dass eine schlechter begründete Theorie wahrscheinlicher sei als eine schlüssig begründete, ist methodisch abenteuerlich und bedeutet das Ende jeder rationalen Exegese; sie wird nur aus dem Bestreben heraus verständlich, um jeden Preis an der traditionellen Theorie festzuhalten. 4 Tert. 4,43,7, o. § 3, S. 45 Anm. 43. 192 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk 2. Der Umfang der lk Redaktion Wie umfassend diese Redaktion verfahren ist, zeigt sich auch daran, dass sie die großen Linien nicht nur durch die Einfügung größerer Textkomplexe herausstellt, sondern auch kleinere Änderungen in dieses Bild integriert. Ein Beispiel dafür ist die geringfügig wirkende Veränderung von *23,3 mit der Ersetzung von Χριστός durch βασιλεὺς τῶν ᾿Ιουδαίων. Diese eher unscheinbare Änderung ist Teil einer großen redaktionellen Linie, die das Königtum Jesu herausstellen will und in Lk 19 und 24 zu umfangreichen redaktionellen Erweiterungen geführt hat. Obwohl die lk Formulierung von Lk 23,3 die narrative Wahrscheinlichkeit aufs Äußerste strapaziert (wogegen die für *Ev bezeugte Fassung erkennbar weniger problematisch ist), zeigt das redaktionelle Gesamtbild, dass diese Probleme um der theologischen Kohärenz willen in Kauf genommen wurden. Ähnliches hat sich auch für die Umstellung von Lk 4,16-30 vor 4,31-37 gezeigt: Der redaktionelle Gestaltungswille (in diesem Fall: die programmatische Herausstellung der Nazarethszene) war so stark, dass er durch diese Umstellung eine Reihe von Unwahrscheinlichkeiten produzierte, die (durch Lk 4,14f) nur ansatzweise kaschiert werden konnten. Diese Beobachtungen lassen sich nur unter der Annahme der *Ev-Priorität plausibel machen, nicht aber im Rahmen der klassischen Annahme der Lk-Priorität. Die hier skizzierten Beispiele für die lk Redaktion am Anfang und am Ende des Evangeliums sind zunächst nur erste Hinweise: Sie sollen die Bearbeitungsrichung grundsätzlich plausibilisieren. Der Umfang der redaktionellen Eingriffe geht über diese Beispiele selbstverständlich weit hinaus und wird in der Rekonstruktion (Anhang I) sichtbar: Hier werden alle kleineren und größeren Veränderungen analysiert und im Einzelnen begründet. Die Frage, welche Erkenntnisse diese Veränderungen im Umkehrschluss für das literarische und theologische Profil von *Ev bedeuten, ist allerdings offen: Ihre Beantwortung muss späteren Untersuchungen vorbehalten bleiben. 5 3. Das Konzept der lk Redaktion Der redaktionelle Gestaltungswille als Teil eines umfassenden Gesamtkonzeptes kommt vor allem im Prolog (Lk 1,1-4) zum Ausdruck. Denn etliche Elemente des Prologs sind am ehesten verständlich als der Versuch, genau diejenigen Schwierigkeiten zu lösen, die sich überhaupt erst aus der Differenz zwischen diesem älteren Evangelium und der redaktionellen Erweiterung in Lk ergeben. Der Lk-Prolog hat daher (zumindest: auch) das Ziel, dieses ältere, von Marcion und den Marcioniten benutzte Evangelium zu diskreditieren und zu ersetzen - jetzt allerdings nicht allein durch Lk, sondern durch das kanonische Vier-Evangelienbuch. ______________________________ 5 Vgl. dazu den knappen Ausblick u. S. 390ff. § 9: Die *Ev-Priorität: Ergebnisse und weitere Fragen 193 Denn das hermeneutische Konzept, das durch die redaktionellen Elemente vor allem in Lk 1 und 24 konstituiert wird, zeigt nicht nur eine hohe systematische Geschlossenheit, sondern impliziert auch den kanonischen Rahmen, in dem Lk verstanden werden will. Zu diesem Rahmen gehören nicht nur die anderen (kanonischen) Evangelien, sondern mindestens auch Act sowie das christliche AT mit seinen Bestandteilen Gesetz, Propheten und Psalmen. Vor diesem Hintergrund gewinnt die marcionitische Replik des gegen sie gerichteten Verfälschungsvorwurf unmittelbare Konkretion: Die als protectores Iudaismi bezeichneten Vertreter der entstehenden katholischen Kirche haben das (marcionitische) Evangelium tatsächlich interpoliert und in ein corpus mit Gesetz und Propheten integriert. 6 Das Verfahren der lk Redaktion und der marcionitische Vorwurf gegen die katholischen Christen in der Mitte des 2. Jh. entsprechen sich also sehr genau. Auch diese Entsprechung ist als ein textexternes Argument zu verstehen, das die Bearbeitungsrichtung festschreibt. Auch diese Hinweise auf die inhaltlichen Komponenten der lk Redaktion sind nur Beispiele. Sie sollen in ausgewählten Passagen die Kohärenz des redaktionellen Konzeptes erkennen lassen. Aber das inhaltliche Konzept der Redaktion erschöpft sich nicht in der Einbindung des Lk in die Kanonische Ausgabe: Eine monokausale Erklärung greift, wie immer in diesen Fällen, zu kurz. Aus diesem Grund sind alle weiteren redaktionellen Änderungen, die sich aus der Rekonstruktion ergeben, mit in das Bild einzubeziehen. Wie die redaktionskritische Forschung im Zusammenhang des Synoptischen Problems schon lange gezeigt hat, lässt sich das redaktionelle Konzept allerdings auch nicht allein auf die redaktionellen Änderungen reduzieren: Das literarische Konzept erweist sich am Gesamttext, also an dem Ineinander von »Redaktion« und »Tradition«. Die Leistungsfähigkeit einer literarischen Analyse des kanonischen Lk unter der methodischen Prämisse der *Ev-Priorität muss sich dann daran erweisen, ob sie die verbleibenden Inkonsistenzen und Brüche besser zu erklären in der Lage ist, als dies unter der Annahme etwa der Zwei-Quellentheorie möglich ist. 4. Direkte literarische Beziehung Die Unmittelbarkeit, mit der sich die lk Redaktion auf das marcionitische Evangelium beziehen lässt, hat die methodisch gewichtige Konsequenz, dass eine Suche nach möglichen Vor- oder Zwischengliedern im literarischen Verhältnis zwischen *Ev und Lk sich erübrigt. Die Frage, ob Lk und *Ev direkt voneinander abhängig sind oder ob ihre Beziehung durch einen dritten Text vermittelt ist, hatte bereits die ältere Diskussion in den 1840er Jahren intensiv beschäftigt (o. S. 15ff); die Ansicht einer solchen Vermittlung ist durch John Knox’ Abhandlung bis in die Gegenwart ______________________________ 6 Tert. 4,4,4; s. o. S. 149f. 194 III. Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Lk hinein lebendig geblieben. 7 Die gründlichen, methodischen Überlegungen von Andrew Gregory 8 zu dieser Frage zeigen, dass eine solche Vermittlungsinstanz (in Form einer gemeinsamen Quelle für Lk und *Ev) nur für die Annahme der Lk- Priorität eine gewisse Plausibilität besitzt: Sie dient zur Erklärung genau derjenigen Probleme, die unter der methodischen Prämisse der Lk-Priorität unbeantwortbar bleiben. Für die Annahme der *Ev-Priorität hat die Konsistenz der lk Redaktion dagegen deutlich werden lassen, dass eine solche Vermittlungsinstanz überflüssig ist und deswegen auch nicht ohne Not postuliert werden darf. Auch dieser Aspekt ist bei der literarkritischen Analyse aller Einzeltexte im Auge zu behalten. Der Verzicht auf die Annahme einer Vermittlungsinstanz zwischen *Ev und Lk wirkt sich nicht in erster Linie auf die Fragen der literarischen Beziehungen zwischen *Ev und Lk aus, sondern auf das Bild, das man sich von der historischen Gestalt Marcion zu machen hat. Denn wenn es keine gemeinsame Quelle für *Ev und Lk gibt, dann ist - unter der Prämisse der *Ev-Priorität - die Annahme obsolet, dass Marcion überhaupt einen Evangelientext bearbeitet hat. Die Konsequenzen dieser Einsicht betreffen in erster Linie historische Fragen im Bereich der Patristik: Die Bewertung Marcions als »Reformer«, die Einschätzung der Zuverlässigkeit der historischen Angaben in der häresiologischen Literatur; die Existenz eines vor- und außerkanonischen Evangeliums. Diese Fragen werden hier zunächst nicht weiter verfolgt: Auf sie ist am Ende zurückzukommen. 9 5. Folgerungen Die These der *Ev-Priorität, für die sich hier einige erste, grundlegende Einsichten ergeben haben, hat jedoch noch weitere Folgen. Denn wenn *Ev die wichtigste Quelle des kanonischen Lk-Evangeliums war, dann stellt sich die Frage nach dem Gang der synoptischen Überlieferung völlig neu. Es ist daher verständlich, dass eine erste Reaktion auf diese These vor allem bemängelt, dass der für *Ev bezeugte Text auch Einflüsse durch Mk, »Q« und S Lk zeige. 10 Dieser Einwand widerlegt zwar die These der *Ev-Priorität nicht, aber er macht deutlich, dass die Frage der literarischen Beziehung zwischen *Ev und Lk nicht unabhängig von einem neuen ______________________________ 7 Vgl. G. V OLCKMAR , Über das Lukas-Evangelium nach seinem Verhältniss zum Evangelium Marcion’s, ThJb 9 (1850), 110-138.185-235; J. K NOX , Marcion and the New Testament, Chicago 1942 (= 1980); A. G REGORY , The Reception of Luke and Acts in the Period Before Irenaeus, Tübingen 2003; J. B. T YSON , Marcion and Luke-Acts, Columbia 2006; J. M. L IEU , Marcion and the Synoptic Problem, in: P. F OSTER et al. (eds.), New Studies in the Synoptic Problem, Leuven u. a. 2011, 731-751: 747. 8 G REGORY , a. a. O. 173ff, mit der Annahme einer gemeinsamen Quelle, die Lk 3-24 ohne Act enthalten habe. Zur Kritik vgl. auch M. W OLTER , Lk 2. 9 Vgl. u. S. 413ff. 10 W OLTER , Lk 3. § 9: Die *Ev-Priorität: Ergebnisse und weitere Fragen 195 Bild der literarischen Beziehungen zwischen allen kanonischen Evangelien zu beantworten ist: Dass es dafür in der Tat großen Bedarf gibt, ist zu Beginn (§ 1) schon deutlich geworden. Dieses Problem steht im Zentrum von Teil IV dieser Untersuchung. Wenn *Ev aber ein vorlukanischer Text war, dann ist auch die historische Frage neu zu stellen, welche Bezeugung es für dieses Evangelium gibt. Im Zusammenhang der textgeschichtlichen Überlegungen (o. § 5) ist bereits deutlich geworden, dass die engen Affinitäten zwischen dem Text von *Ev und den altlateinischen Evangelien die große Verbreitung eines solchen »urtümlichen« Evangeliums nahelegen. Auch die Hinweise auf die vielfältige Rezeption (nur) des Lk durch Häretiker wären dann in dieser Richtung zu verstehen. 11 Es wird also zu fragen sein, ob dieses Evangelium außerhalb des durch das kanonische NT bestimmten katholischen Bereichs bezeugt ist. ______________________________ 11 Origenes, Hom. in Lc 16,5; 20,3 (o. S. 86f Anm. 19f); vgl. auch Iren., Haer. 3,15,1f. IV. Vom älte sten Evang elium zum kanonis chen Vier-Evang elienbuch: Eine überlieferung sg e s chichtliche Skizz e § 10: *Ev und die Überlieferung der kanonischen Evangelien Die These der *Ev-Priorität vor Lk, die sich durch die Analyse des Bearbeitungsgefälles zwischen beiden Texten bestätigt hat, besitzt wesentliche Konsequenzen für das Bild der Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien. Dies ist zunächst evident für das sog. Synoptische Problem, weil die komplexen, aber überwiegend engen literarischen Beziehungen zwischen den synoptischen Evangelien nur quellenkritisch erklärt werden können: Da *Ev älter ist als Lk und von diesem als seine Hauptquelle benutzt und redaktionell bearbeitet wurde, liegt für die Überlieferungsgeschichte der synoptischen Evangelien erstmals eine zusätzliche Quelle vor, deren Existenz außer Frage steht - im Unterschied zu der aufgrund eines methodischen Postulats im Horizont der Zwei-Quellentheorie nur hypothetisch erschlossenen Quelle »Q«. Die Aufgabe dieses letzten Kapitels besteht darin, ein Bild der Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien unter Einzeichnung von *Ev zu skizzieren. Wegen der großen Nähe zwischen den drei ersten Evangelien betrifft dies zunächst das Synoptische Problem, für das sich eine Lösung anbietet, die sich von den großen, bis heute kontrovers diskutierten Modellen unterscheidet. Wie zu zeigen sein wird (s. § 13), hat die Einzeichnung von *Ev in die literarischen Beziehungen allerdings auch Auswirkungen auf den überlieferungsgeschichtlichen Ort des Joh. Am Ende sollte der komplette Verlauf der Evangelienüberlieferung von den ältesten, literarisch greifbaren Anfängen bis zum kanonischen Vier-Evangelienbuch deutlich werden. Es ist daher sinnvoll, sich vorab über die Fragen klar zu werden, die in diesem Zusammenhang zu beantworten sind: Die Tauglichkeit des Modells ist daran zu messen, ob es in der Lage ist, diese offenen Fragen befriedigend zu beantworten. 1. Offene Fragen zur Überlieferungsgeschichte der Evangelien a. Das Scheitern der klassischen Lösungen für das Synoptische Problem Die offenen Fragen betreffen in erster Linie das sog. Synoptische Problem, das durch die Komplexität der literarischen Beziehungen der ersten drei Evangelien konstituiert ist. Der Umstand, dass dieses Problem trotz der faktischen Dominanz der Zwei-Quellentheorie bis heute kontrovers diskutiert wird, ist ein erstes Indiz für die Insuffizienz dieses und anderer gängiger Modelle. Die jüngste Debatte im Anschluss an Mark Goodacres prononciertes Votum für die Farrer-Goulder-Theorie hat die Aporien dieser Modelle deutlich werden lassen. 1 Denn das Ergebnis dieses ______________________________ 1 Vgl. M. S. G OODACRE , The Case Against Q, Harrisburg 2001. Aus der sich anschließenden Diskussion vgl. etwa: J. S. K LOPPENBORG , On Dispensing with Q? : Goodacre on the Relation of 200 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch Diskurses lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass die beiden wichtigsten in diesem Zusammenhang diskutierten Theorieansätze - also die Zwei-Quellentheorie und die Markan-Priority-Without-Q-Hypothese - in ihrer kritischen Bewertung des jeweils anderen Modells vollkommen überzeugend sind, in ihrem jeweils eigenen Lösungsvorschlag aber erkennbare Schwächen enthalten. Geht man von diesem jüngsten Diskurs aus, dann ergeben sich die folgenden offenen Fragen, die eine positive Antwort verlangen. 1. Wie seit langem bekannt ist, stellen die sog. mt-lk »Minor Agreements« in der Tat ein gravierendes Argument gegen die Zwei-Quellentheorie dar. Da dieses Modell von der prinzipiellen Unabhängigkeit von Mt und Lk ausgeht, belegen diese Übereinstimmungen eine literarische Beziehung, die es gar nicht geben dürfte. Die Diskussionen, die seit langem über das Ausmaß dieses Phänomens und sein methodisches Gewicht geführt wurden, sind überhaupt nur verständlich als der (letztlich) unzureichende Versuch, die Zwei-Quellentheorie zu »retten«. Insbesondere die Ansicht, dass die Unabhängigkeit von Mt und Lk zwar prinzipiell, aber eben nicht zwingend auch für jeden Einzelfall anzunehmen sei, erweist sich ohne weiteres als ein methodisches non liquet: Es ist aus methodischen Gründen grundsätzlich ausgeschlossen, eine Theorie auf bestimmten, prinzipiellen Einsichten zu fundieren und dann genau diese Prinzipien preiszugeben, weil die Theorie am Ende nicht alle Phänomene zu erklären in der Lage ist. Die »Minor Agreements« sind daher in der Tat »fatal« für die Zwei-Quellentheorie. Ein tragfähiges Modell der Überlieferungsgeschichte der Evangelien muss das Phänomen der »Minor Agreements« plausibel - und das heißt: nicht nur unter der Konzession von Ausnahmen - erklären können. 2. Das Gegenstück zu dieser Einsicht liegt in der Kritik an dem auf James Ropes zurückgehenden Modell, das nach seinen Hauptvertretern als Farrer-Goulder- Theory oder (sachlich genauer, wenn auch umständlicher) als »Markan-Priority- Without-Q-Theory« bezeichnet wird. 2 Diese Theorie erklärt die synoptischen Beziehungen in einem reinen Benutzungsmodell, verzichtet also auf die Annahme zusätzlicher hypothetischer Quellen wie »Q«. Die angenommene Abhängigkeit des Mt von Mk sowie des Lk von Mk und Mt hat erkennbar keine Schwierigkeiten mit den »Minor Agreements«, wirft aber andere Probleme auf. ______________________________ Luke to Matthew, NTS 49 (2003), 210-236; P. F OSTER , Is it Possible to Dispense with Q? , NT 45 (2003), 313-337; F. G. D OWNING , Dissolving the Synoptic Problem Through Film? , JSNT 84 (2001), 117-119; E. C. S. E VE , The Synoptic Problem without Q? , in: P. Foster et al. (eds.), New Studies in the Synoptic Problem, Leuven 2011, 551-570 u. a. 2 G OODACRE , a.a.O.; vgl. auch J. H. R OPES , The Synoptic Gospels, Cambridge (MA) 2 1960; M. E NSLIN , Christian Beginnings, New York 1938; A. F ARRER , On Dispensing with Q, in: D. E. Nineham (ed.), Studies in the Gospels, Oxford 1955, 55-88; M. D. G OULDER , Luke: A New Paradigm, Sheffield 1989 (dazu auch M. S. G OODACRE , Goulder and the Gospels, Sheffield 1996). § 10: *Ev und die Überlieferung der kanonischen Evangelien 201 Das erste dieser Probleme ist die redaktionelle Unwahrscheinlichkeit des Modells. Diese Schwierigkeit zeigt sich an vielen Beispielen der mt-lk Doppelüberlieferung, an denen eine lk Abhängigkeit von Mt ausgesprochen problematisch erscheint. Das Paradebeispiel für dieses Problem ist das Verhältnis zwischen der Bergpredigt Mt 5-7 und dem entsprechenden lk Material, das sich ja nicht nur in der Feldrede Lk 6,20-49 findet, sondern darüber hinausgeht: Lässt sich mit Blick auf dieses Material wirklich ernsthaft behaupten, dass die Bearbeitungsrichtung von Mt zu Lk verläuft? Dazu müsste man annehmen, dass Lk die mt Komposition der Bergpredigt aufgelöst, einen erheblichen Teil ihres Materials übergangen und den Rest auf rund ein Dutzend verschiedener Kontexte in Lk 6 und 11-16 verteilt hätte. 3 Schon Burnett Streeter hatte mit Blick auf dieses Phänomen die berühmte Wendung geprägt, dass ein solches redaktionelles Verfahren nur einem literarischen »crank« zuzutrauen wäre. 4 Die Komposition der Bergpredigt ist zwar nicht das einzige Beispiel, das gegen die lk Abhängigkeit von Mt spricht, aber an dieser Stelle bündeln sich die entsprechenden Beobachtungen auf besonders deutliche Weise. Dass die Vertreter der Farrer-Goulder-Hypothese diese Einwände zu entkräften versucht und dafür auch Argumente angeführt haben, 5 hebt ihr Gewicht nicht auf. Für eine Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte der Evangelien ist daher in Rechnung zu stellen, dass die postulierten Bearbeitungen jeweils auch in ein plausibles redaktionelles Konzept münden müssen. Mit Blick auf die Bearbeitungsrichtung zwischen Mt und Lk stellt das Material der mt Bergpredigt einen wesentlichen Prüfstein für die Tauglichkeit des Modells dar. 3. Die Annahme der lk Abhängigkeit von Mt wirft noch ein weiteres, gravierendes Problem auf, nämlich die alternierende Ursprünglichkeit im Material der mt-lk Doppelüberlieferung. Gemeint ist damit das Phänomen, dass das Material, das im Rahmen der Zwei-Quellentheorie zu »Q« gerechnet wird, an manchen Stellen in Lk, an anderen aber in Mt ursprünglich zu sein scheint. Zu den Paradebeispielen, die in diesem Zusammenhang immer wieder diskutiert werden, gehört die erste Seligpreisung: Lk 6,20 Μακάριοι οἱ πτωχοί erscheint gegenüber Mt 5,3 Μακάριοι οἱ πτωχοὶ τ ῷ π ν ε ύ μ α τ ι ohne weiteres als die ursprünglichere der beiden ______________________________ 3 Zum methodischen Problem vgl. M. K LINGHARDT , The Marcionite Gospel and the Synoptic Problem: A New Suggestion, NT 50 (2008), 1-27: 17f. 4 B. H. S TREETER , The Four Gospels, London 1924, 183. 5 Zum Problem vgl. nur G OODACRE , a. a. O. 105-120. Die narratologischen Argumente, die Goodacre gegen dieses Argument vorgebracht hat, sind insgesamt nicht überzeugend. Vgl. M. S. G OODACRE , The Synoptic Jesus and the Celluloid Christ. Solving the Synoptic Problem Through Film, JSNT 80 [2000], 31-4); kritisiert etwa von F. G. D OWNING , Dissolving the Synoptic Problem Through Film? , JSNT 84 (2001), 117-119. 202 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch Fassungen. 6 Dasselbe gilt beispielsweise für die Zahl der Vaterunser-Bitten: Die kürzere Reihe der fünf lk Vaterunser-Bitten (Lk 11,2-4) wird im Vergleich zu den sieben mt Bitten (Mt 6,9-13) durchweg für ursprünglich gehalten. Auf der anderen Seite gibt es einen breiten Konsens darüber, dass etliche Formulierungen der mt Vaterunser-Bitten älter sind als die der lk Bitten. 7 Die Überlieferung des Vaterunser ist ein herausragendes Beispiel für dieses Phänomen der alternierenden Ursprünglichkeit auf engstem Raum. Dieses Phänomen, für das es noch ungezählte weitere Beispiele gibt, ist eines der stärksten Argumente für die Zwei-Quellentheorie, denn diese setzt ja methodisch voraus, dass Mt und Lk »Q« von unabhängig voneinander rezipiert und bearbeitet haben. Auch dieses Argument der alternierenden Ursprünglichkeit scheint auf den ersten Blick keine harten, unwiderlegbaren Argumente gegen die lk Abhängigkeit von Mt zu liefern. Denn die Bestimmung, welche der beiden Fassungen am ehesten den Anschein der größeren Ursprünglichkeit erweckt, ist in den seltensten Fällen eindeutig: Die umfangreiche Materialsammlung zur Geschichte der »Q«-Forschung in den Bänden »Documenta Q« mit ihren Pro- und Contra-Listen zeigt dies auf eindrückliche Weise. Aber das kumulative Gewicht der Beobachtungen, die hier aus einer über 100-jährigen Forschungsgeschichte zusammengetragen sind, wiegt schwer. Es widerlegt die von der Farrer-Goulder-Hypothese angenommene Abhängigkeit des Lk von Mt genauso deutlich wie die Umkehrung einer einfachen Abhängigkeit Mt von Lk: Wenn man die Texte der mt-lk Doppelüberlieferung nicht von vornherein in ein bestimmtes Überlieferungsmodell pressen will, sondern sich locker auf die Beobachtungen am Text einlässt, dann liegt die Lösung einer gemeinsamen Vorstufe, wie sie »Q« darstellt, in der Tat nahe: Das Phänomen der alternierenden Ursprünglichkeit ist kaum bestreitbar, obwohl dies natürlich verschiedentlich versucht wurde. Der Anspruch der Zwei-Quellentheorie, »Q« sei keine hypothetisch erschlossene Quelle, sondern eine zwingende Konsequenz aus den textlichen Beobachtungen, ist daher gut nachvollziehbar. 8 Denn die Alternative zur ______________________________ 6 Vgl. C HR . M. T UCKETT , Q and the History of Early Christianity, Edinburgh 1996, 223: »In the first beatitude, most would agree that the object of the beatitude in Q is the ›poor‹, and that Matthew’s ›poor in the spirit‹ is due to his redactional change, ›spiritualizing‹ the beatitude in the same way as he has modified the ›hungry‹ of Matt 5: 6 to refer to those who ›hunger and thirst for righteousness‹.« Zum Problem vgl. auch G OODACRE , a. a. O. 133-151 (mit Lit.). 7 Vgl. z. B. F R . N EIRYNCK , Documenta Q: Q 11,2b-4, in: ders., Evangelica III, Leuven 2001, 432-439, sowie die eindrucksvolle Liste mit den Voten für die Ursprünglichkeit der mt Formulierungen bei S H . C ARRUTH , A. G ARSKY , Q 11: 2b-4, 128-144. 8 Vgl. nur als Beispiel K LOPPENBORG , a. a. O. 211, der sich gegen den hypothetischen Charakter von »Q« verwahrt: Die Logienquelle sei nicht »a hypothesis on its own, despite those who tirelessly refer to ›the Q hypothesis‹. Rather, Q is a corollary of the hypotheses of Markan priority and the § 10: *Ev und die Überlieferung der kanonischen Evangelien 203 Annahme der gemeinsamen (aber unabhängigen) Benutzung von »Q« durch Mt und Lk wäre ja eine wechselseitige Abhängigkeit: Dass Mt von Lk und zugleich Lk von Mt abhängig sei, ist logisch ausgeschlossen. Angesichts dieser Überlegungen avanciert dieses Phänomen der alternierenden Ursprünglichkeit im Material der mt-lk Doppelüberlieferungen ohne weiteres zu einem Zentralproblem für die Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte der Evangelien. Ein Hauptkriterium, an dem die Tauglichkeit eines solchen Modells zu messen ist, besteht darin, ob und wie dieses Phänomen erklärbar wird. 4. Ein letztes Problem für die Theorien zum Synoptischen Problem stellen die sog. »Mk-Q Overlaps« dar. Diese Doppelüberlieferungen bzw. Überlagerungen in dem Material, das Mk und die mt-lk Doppelüberlieferung gemeinsam haben, ist zunächst eine Schwierigkeit für die Zwei-Quellentheorie: Die »Overlap«-Texte belegen eine literarische Beziehung zwischen Mk und »Q«, für welche die Zwei- Quellentheorie keine überzeugende, systemimmanente Lösung anbietet, sich auch lange Zeit gar nicht darum bemüht hat. Tatsächlich unterscheidet sich das Phänomen der »Mk-Q Overlaps« nur graduell von dem der »Minor Agreements«: In beiden Fällen geht es um mt-lk Übereinstimmungen gegen Mk. 9 Von daher überrascht es kaum, dass die »Mk-Q Overlaps« für die Farrer-Goulder-Theorie kein Problem darstellen. Irritierend ist eher, dass die Vertreter der Zwei-Quellentheorie dieses Problem erst spät zu lösen versucht haben. 10 Die in diesem Zusammenhang zuletzt vertretene Ansicht, dass Mk von »Q« abhängig sei, 11 hebt die für die Zwei-Quellentheorie ursprünglich wichtige Voraussetzung eines doppelten Ursprungs der Evangelienüberlieferung in Mk und »Q« auf. Die literarischen Beobachtungen, welche diese Ansicht stützen, sind für ein überlieferungsgeschichtliches Modell zu berücksichtigen. Sieht man die offenen Fragen zum Synoptischen Problem zusammen, bleibt eine letzte Überlegung wichtig, nämlich die methodische Nötigung zu einem ökonomischen Umgang mit Postulaten. Diese als »Occam’s Razor« bekannte methodologische Forderung wurde wiederholt kritisch gegen die Zwei-Quellentheorie eingewandt: Deren wichtigstes Element, die Existenz von »Q«, stellt ein solches Postulat dar, für das es abgesehen von theorieimmanenten Notwendigkeiten keine unabhängigen Hinweise gibt. Ähnliche Einwände sind dann auch gegen die Deutero-Markus- ______________________________ independence of Matthew and Luke, since it is then necessary to account for the material that Matthew and Luke have in common but wich they did not take from Mark.« 9 Vgl. M. S. G OODACRE , A Monopoly on Markan Priority? Fallacies at the Heart of Q, SBL.SP 39 (2000), 538-622; DERS ., The Case Against Q, Harrisburg 2001, 163ff. 10 Vgl. etwa R. L AUFEN , Die Doppelüberlieferungen der Logienquelle und des Markusevangeliums, Königstein/ Ts. 1980; H. T. F LEDDERMANN , Mark and Q, Leuven 1995 (vgl. dazu F R . N EIRYNCK , Mark and Q: Assessment, in: ders., Evangelica III, Leuven 2001, 505-545). 11 F LEDDERMANN , a. a. O. (passim). 204 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch Hypothese und andere Erklärungsmodelle geltend zu machen. Es mag Fragestellungen geben, die ohne solche Postulate nicht zu lösen sind. Aber bevor man zusätzliche Erklärungselemente postuliert, ist in jedem Fall eine Überprüfung der Fragestellung angezeigt: Wenn Generationen von Gelehrten mit großer Mühe und viel Scharfsinn ein Problem nicht befriedigend zu lösen vermögen, sind vielleicht die Bedingungen für die Formulierung der Ausgangsfrage zu korrigieren. b. Synoptiker und Joh Die Dominanz des Synoptischen Problems hat in den letzten rund 150 Jahren die Frage nach den überlieferungsgeschichtlichen Beziehungen zwischen Joh und den Synoptikern in den Hintergrund treten lassen. Obwohl diese Beziehung immer wieder reflektiert wurde, haben sich für ihre Klärung keine Lösungen herausgebildet, die denen zum Synoptischen Problem hinsichtlich der inhaltlichen Präzision oder der methodischen Reflexion entsprechen. Das liegt vor allem am literarischen Charakter des Joh, der sich deutlich von den Synoptikern unterscheidet: Nur in wenigen Fällen sind die literarischen Beziehungen zwischen Joh und den Synoptikern so erkennbar eng wie diejenigen zwischen den Synoptikern, was dazu geführt hat, dass immer wieder die literarische Unabhängigkeit des Joh von den Synoptikern vertreten wurde. Diese Debatte ist hier nicht zu darzustellen. Allerdings betreffen die johsynoptischen Beziehungen in erster Linie literarische Phänomene, die Joh und Lk gegen Mk und Mt gemeinsam haben. Vor allem die Passions- und Osterüberlieferung zeigt solche Berührungen, die dann auch zu spezifischen überlieferungsgeschichtlichen Theorien geführt haben. 12 Da sich Lk als redaktionelle Bearbeitung von *Ev erwiesen hat, stellen diese joh-lk Berührungen eine besondere Aufgabe dar. Die Tauglichkeit eines überlieferungsgeschichtlichen Modells muss sich daher auch daran messen lassen, wie gut es in der Lage ist, diese spezifisch joh-lk Beziehungen zu erklären. Denn die gelegentlich vertretene Ansicht, dass die joh und die lk Passionserzählungen auf einem (natürlich verlorenen) älteren »Passionsbericht« basieren, ist ja nur ein weiteres ungeschütztes Postulat: Das sollte tunlichst vermieden werden. c. Zum Verhältnis von Überlieferungs- und Textgeschichte Ein weiteres Problem, das in einem Modell für die Überlieferungsgeschichte der Evangelien berücksichtigt werden muss, hat in der Vergangenheit so gut wie keine ______________________________ 12 Vgl. etwa A. D AUER , Die Passionsgeschichte im Johannesevangelium, München 1972; H. K LEIN , Die lukanisch-johanneische Passionstradition, ZNW 67 (1976), 155-186; M. A. M ATSON , The Influence of John on Luke’s Passion: Toward a Theory of Intergospel Dialogue, in: P. L. Hofrichter (Hg.), Für und wider die Priorität des Johannesevangeliums, Hildesheim 2002, 183-194; F R . S CHLERITT , Der vorjohanneische Passionsbericht, Berlin u. a. 2007. § 10: *Ev und die Überlieferung der kanonischen Evangelien 205 Rolle gespielt, nämlich die Textgeschichte des Neuen Testaments. Zwar sind immer wieder textkritische Einzelfragen im Zusammenhang der Diskussion des Synoptischen Problems behandelt worden, 13 und für bestimmte überlieferungsgeschichtliche Fragen ist die Bedeutung der Textkritik ohne weiteres evident. 14 Aber diese Überlegungen wurden nie zu einem einheitlichen Modell verbunden und schon gar nicht systematisch für die überlieferungsgeschichtlichen Fragen fruchtbar gemacht. Dagegen hat die Analyse der Berührungen des für *Ev bezeugten Textes mit den Varianten der kanonischen Lk-Überlieferung (o. § 5) zu dem vorläufigen Ergebnis geführt, dass ein erheblicher Teil der Varianten des kanonischen Lk- Textes nicht auf sekundäre Änderungen (Kopistenversehen oder absichtliche Eingriffe) zurückgeht, sondern die Spuren einer vorkanonischen Ausgabe zeigt: Dies ist das Phänomen, das hier als Interferenz zwischen der Textüberlieferung der vorkanonischen (*Ev) und der kanonischen Ausgabe (Lk) bezeichnet ist. Die neue Einsicht, die für die Überlieferungsgeschichte Berücksichtigung finden muss, ist die Differenzierung zwischen zwei Ausgaben des gleichen Textes. Dieses Phänomen, das für das Verhältnis zwischen *Ev und Lk beschrieben wurde, ist grundsätzlich auch für die anderen Evangelien anzunehmen. Denn wenn es eine Kanonische Ausgabe des Neuen Testaments gab, in der die einzelnen Schriften (in diesem Fall: die Evangelien) planmäßig bearbeitet und zusammengeführt wurden, dann ist dieses Phänomen auch für die anderen Evangelien in Anschlag zu bringen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die einzelnen Evangelien bereits existiert haben, bevor diese Kanonische Ausgabe erstellt wurde: Die Alternative wäre die Überlegung, dass einzelne Evangelien überhaupt erst für diese Ausgabe verfasst wurden. Methodisch liegt diese Überlegung auf einer anderen Ebene als die zuvor genannten Kriterien für ein überlieferungsgeschichtliches Modell, weil die Fragen der Textgeschichte bisher noch nicht systematisch für die Entstehung der Evangelien ausgewertet wurden: Dieses Kriterium ist davon abhängig, dass es eine solche Kanonische Ausgabe des Neuen Testaments tatsächlich gab. Insofern verstehen sich die diesbezüglichen Überlegungen (u. § 14) als integraler Teil eines umfassenden Modells: Es hat den Anspruch, einen erheblichen Teil der handschriftlichen ______________________________ 13 Z. B. J. K. E LLIOTT , The Relevance of Textual Criticism to the Synoptic Problem, in: D. L. Dungan (ed.), The Interrelations of the Gospels, Leuven 1990, 348-359; P. M. H EAD , Textual Criticism and the Synoptic Problem, in: P. Foster et al. (eds.), New Studies in the Synoptic Problem, Leuven 2011, 115-156 (mit Lit.). 14 Vgl. beispielsweise A. D AUER , Lk 24,12 - Ein Produkt lukanischer Redaktion? , in: Fr. Van Segbroeck et al. (eds.), The Four Gospels II, Leuven 1992, 1697-1716; DERS ., Zur Authentizität von Lk 24,12, ETL 70 (1994), 294-318; B. S HELLARD , The Relationship of Luke and John - A Fresh Look at an Old Problem, JThS 46 (1995), 71-98 u. a. 206 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch Varianten des kanonischen Evangelientextes für die Rekonstruktion der Vorgeschichte des Neuen Testaments fruchtbar machen zu können. 2. *Ev im Horizont der kanonischen Evangelien: Eine Arbeitshypothese Das diachrone Modell zur Überlieferungsgeschichte der Evangelien geht von zwei Voraussetzungen aus, die hier nicht ausführlich zu begründen sind. Dies ist zum einen die *Ev-Priorität vor Lk, zum anderen die Mk-Priorität vor Mt. Die erste Relation ist oben (§§ 6-8) nachgewiesen worden und bedarf keiner weiteren Erklärung mehr. Aber auch die Mk-Priorität vor Mt wird hier nicht in Frage gestellt. Denn die umgekehrte Annahme der Mk-Posteriorität spielt nur im Rahmen der »Neo-Griesbach«- oder »Two-Gospel«-Hypothese (William Farmer u. a.) zur Klärung der komplexen synoptischen Beziehungen eine Rolle: Hier erscheint Mk als Epitome aus Mt und Lk. Sieht man jedoch von diesem weiteren Erklärungsinteresse einmal ab, ist die Mk-Posteriorität im direkten Vergleich zwischen Mk und Mt äußerst unwahrscheinlich: Sie wird daher unabhängig von der Two-Gospel-Hypothesis auch gar nicht ernsthaft diskutiert. Andererseits setzen sowohl die Zwei-Quellentheorie als auch das von Farrer, Goulder u. a. vertretene Modell zu Recht die Mk- Priorität vor Mt voraus. Deren Argumente müssen hier nicht wiederholt werden: Dass Mt eine erweiternde Bearbeitung von Mk darstellt, wird nicht in Zweifel gezogen. Dies ergibt sich nicht nur aus der grundsätzlichen Übereinstimmung in der Akolouthie, sondern auch aus einer Fülle weiterer Beobachtungen; am deutlichsten sind die mt Zusätze zu den mit Mk gemeinsamen Überlieferungen. Als Beispiel dafür sei auf Mt 14,28-31 verwiesen: Mt fügt die Petrusepisode in den aus Mk 6,45-52 stammenden Kontext ein (Mt 14,22-27.32f || Mk 6,45-52 || Joh 6,16-21). Da diese gesamte Seewandelerzählung in *Ev gefehlt hat und auf die mk Redaktion von *Ev zurückgeht (s. u. S. 221ff), belegt diese redaktionelle Einfügung die mt Abhängigkeit von Mk. a. *Ev und die Synoptiker Die Rekonstruktion der literarischen Beziehungen zwischen den synoptischen Evangelien hat daher von diesen beiden grundlegenden Bearbeitungsverhältnissen auszugehen. *Ev-------------- -- - - Mk- - ----- ① - ---- - - - --- ② - --Lk-- - - ----- - Mt- Abb. 1: Die synoptischen Hauptrelationen: *Ev - Lk und Mk - Mt § 10: *Ev und die Überlieferung der kanonischen Evangelien 207 Diese beiden Hauptrelationen ① zwischen *Ev und Lk und ② zwischen Mk und Mt konstituieren den diachronen Rahmen und markieren zugleich die eigentliche Aufgabe: Auf welche Weise sind die Beziehungen zwischen diesen beiden Bearbeitungslinien zu erklären? Um eine Arbeitshypothese für den Gang der synoptischen Überlieferung formulieren zu können, die eine Antwort auf diese Frage liefert, sind vorab drei Überlegungen wichtig. 1. Zum einen haben die textgeschichtlichen Überlegungen (s. o. § 5) bereits erkennen lassen, dass *Ev sehr wahrscheinlich nicht nur ein vor-lk Text ist, sondern das älteste Evangelium überhaupt: Die große Zahl der gemeinsamen Varianten von *Ev und den »Westlichen« Handschriften (D it sy) hat die Vermutung nahegelegt, dass dieses Evangelium vor der Erstellung und Verbreitung der Kanonischen Ausgabe bereits in Versionen, der Vetus Latina und der Vetus Syra, rezipiert wurde. Unter dieser Voraussetzung gehören *Ev und Mk nicht auf dieselbe Überlieferungsebene: Es ist zu vermuten, dass *Ev vor dem kanonischen Mk angesiedelt werden muss. Aufgrund des umfangreichen gemeinsamen Materials und wegen der zahlreichen, bis in den Wortlaut hineinreichenden Analogien zwischen *Ev und Mk ist daher die erste Verbindung zwischen den beiden zugrunde gelegten Bearbeitungslinien ① und ② als Einfluss von *Ev auf Mk zu fassen. 2. Da *Ev nachweislich einen großen Teil des Stoffes der mt-lk Doppelüberlieferung enthielt (also das Material, das im Rahmen der Zwei-Quellentheorie als »Q«-Stoff bezeichnet wird), ist darüber hinaus auch ein Einfluss von *Ev auf Mt wahrscheinlich: Dies ist die zweite Verbindung zwischen den beiden Hauptrelationen. Mt erscheint demzufolge als redaktionelle Ergänzung von Mk durch Material aus *Ev, wobei Mk das narrative Grundgerüst vorgibt, in das die Ergänzungen aus *Ev eingefügt sind. 3. Da schließlich viele der redaktionellen Linien, die in der lk Bearbeitung von *Ev sichtbar wurden, auch die redaktionelle Gestalt von Act beeinflussen, liegt es nahe, Lk als die jüngste Bearbeitung des Evangelienstoffes innerhalb der drei ersten Evangelien anzusehen. Während die Zwei-Quellentheorie aus prinzipiellen Gründen damit rechnen musste, dass Mt und Lk unabhängig voneinander auf Mk und »Q« zurückgriffen, ist diese Einschränkung im methodischen Horizont der *Ev- Priorität nicht gerade wahrscheinlich. Nach Lage der Dinge bedeutet dies, dass Lk (auch) von Mt abhängig ist: Dies wäre die dritte Verbindung zwischen den beiden Hauptrelationen ① und ② . Diese anfänglichen Überlegungen resultieren in einer Arbeitshypothese für die Überlieferungsgeschichte, deren einzelne Elemente sich diachron folgendermaßen aufschlüsseln lassen: 208 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch *Ev-------------- --- - - - ----------- ③--- --- - - - - - Mk- ----------- ---------------------- -------------④--- ------------ ① - ---- - - - ---- ②- - ------------ - - - ----- - - Mt- -- - ------ ⑤- - -- - --Lk- --------- Abb. 2: Die literarischen Beziehungen zwischen *Ev und den Synoptikern Dieses Modell legt sich nach den bisherigen Überlegungen als Arbeitshypothese nahe, ist jedoch alles andere als gesichert. Insbesondere die drei wichtigen »Querverbindungen«, also die Relationen ③ , ④ und ⑤ , bedürfen einer eingehenderen Untersuchung, die vor allem jeweils die Bearbeitungsrichtung begründen soll. Dies gilt zunächst für die Beziehung ③ zwischen *Ev und Mk. Die hier angenommene *Ev-Priorität vor Mk versteht sich nicht von selbst 15 und ist unten (s. § 11) ausführlich zu begründen. Ähnliches gilt für die Relationen ④ zwischen *Ev und Mt sowie ⑤ zwischen Mt und Lk. Sie sind insofern komplementär, als sie i. W. das Material der mt-lk Doppelüberlieferung enthalten. Allerdings erscheint dieses Material hier auf zwei verschiedene Bearbeitungsgänge verteilt, die ihren gemeinsamen Schnittpunkt in der mt Redaktionsarbeit besitzen: Die Relation ④ zwischen *Ev und Mt wird zum größten Teil durch Material konstituiert, das Mk übergangen und das Mt aus *Ev nachgetragen hat. Die Relation ⑤ zwischen Mt und Lk besteht dagegen aus Texten, die nicht aus *Ev stammen, sondern erst durch Mt geschaffen wurden und die Lk von da übernommen hat. In dem Maß, in dem es gelingt, diese beiden Bearbeitungsschritte ④ und ⑤ wahrscheinlich zu machen, wird auch die Priorität des Mt vor Lk und damit der gesamte Verlauf der Entwicklung von *Ev bis Lk plausibel (dazu u. § 12). Dass damit noch nicht alle Bearbeitungsrelationen genannt sind, die sich nachweisen lassen oder wenigstens sehr wahrscheinlich sind, sei hier schon angedeutet; sie sind unten kurz erläutert. 16 b. *Ev, Joh und die Synoptiker Dieses Bild ist jedoch unvollständig: Es beschränkt sich auf die synoptischen Evangelien. Die Rekonstruktion der kanonischen Evangelienüberlieferung wäre ______________________________ 15 In einem früheren Versuch, die synoptischen Beziehungen unter Berücksichtigung von *Ev zu skizzieren, hatte ich die Bearbeitungsrichtung zwischen *Ev und Mk zwar ausdrücklich offen gelassen (M. K LINGHARDT , The Marcionite Gospel and the Synoptic Problem: A New Suggestion, NT 50 [2008], 1-27, 22: »a mere guess«), jedoch im Diagramm den Pfeil, ebenso konservativ wie inkonsequent, von Mk zu *Ev verlaufen lassen (ebd. 21). Dieses Bild ist hier ausdrücklich zu korrigieren. 16 Zu den weiteren Bearbeitungsschritten ⑧ (zwischen Mk und Lk) s. u. § 12.1 mit Abb. 6; zu ⑨ (zwischen Mt und Joh) sowie ⑩ (zwischen Mk und Joh) s. u. § 13.5 mit Abb. 8. § 10: *Ev und die Überlieferung der kanonischen Evangelien 209 jedoch ohne den Einschluss des Johannesevangeliums nicht vollständig: Die in den letzten 20 Jahren wieder intensiv verhandelte Fragestellung »Johannes und die Synoptiker« 17 gehört also auf jeden Fall mit in das zu erstellende Bild. Es liegt auf der Hand, dass nicht alle Modelle, die für die joh-synoptischen Beziehungen diskutiert werden, in gleicher Weise geeignet sind, das hier zu erstellende Bild der kanonischen Evangelienüberlieferung zu komplettieren. Aus diesem Grund bleiben diejenigen Modelle außer Betracht, die literarkritische Schichtungen innerhalb von Joh annehmen und mit der literarischen Abhängigkeit einer vor-joh Schicht von den Synoptikern rechnen. 18 Auch die Annahme einer Beziehung auf der Ebene der mündlichen Tradition hilft hier wenig weiter. 19 Angesichts der vor allem im deutschen Sprachraum vorherrschenden Ansicht einer literarischen Abhängigkeit des Joh von allen drei Synoptikern 20 ist jedoch im Auge zu behalten, dass in den letzten Jahren verstärkt die umgekehrte Perspektive einer Abhängigkeit der Synoptiker von Joh vertreten wurde. Dies ist besonders für die Frage nach dem Verhältnis zwischen Lk und Joh von Bedeutung. 21 Die Bestimmung der literarischen Beziehung zwischen Joh und den Synoptikern ist also von einem Konsens denkbar weit entfernt. An dieser Stelle hilft zunächst die Beobachtung, dass der Lukasprolog Lk 1,1-4 und der Johannesepilog Joh 21,24f aufeinander verweisen. Dies legt nahe, dass ______________________________ 17 Die Frage ist natürlich älter, wurde aber seit den 1990er Jahren verstärkt diskutiert. Vgl. etwa A. D ENAUX (Hg.), John and the Synoptics, Leuven 1992; M. H ENGEL , Die johanneische Frage, Tübingen 1993; J. F REY , Das Vierte Evangelium auf dem Hintergrund der älteren Evangelientradition. Zum Problem Johannes und die Synoptiker, in: Th. Söding (Hg.), Das Johannesevangelium, Freiburg/ Brsg. u. a. 2003, 60-118; P. L. H OFRICHTER , Modell und Vorlage der Synoptiker. Das vorredaktionelle Johannesevangelium, Hildesheim 2 2002; M. L ANG , Johannes und die Synoptiker, Göttingen 1999. Vgl. auch den Literaturbericht von S. S CHREIBER , Kannte Johannes die Synoptiker? Zur aktuellen Diskussion, VuF 51, 2006, 7-24. 18 Vgl. etwa A. D AUER , Spuren der (synoptischen) Synedriumsverhandlung im 4. Evangelium. Das Verhältnis zu den Synoptikern, in: A. Denaux (Hg.), a. a. O., 307-339; ähnlich auch H. W EDER , Von der Wende der Welt zum Semeion des Sohnes, in: ebd. 127-145. 19 Vgl. nur als Beispiele in dem Sammelband von Denaux (a. a. O.) die Beiträge von B. L INDARS , Rebuking the Spirit: A New Analysis of the Lazarus Story of John 11, ebd. 542-547; M. J. J. M ENKEN , The Quotations from Zech 9,9 in Mt 21,5 and in Jn 12,15, ebd. 571-579; C. B REYTENBACH , MNHMONEYEIN. Das »Sich-Erinnern« in der urchristlichen Überlieferung. Die Bethanienepisode (Mk 14,3-8 / Jn 12,1-8) als Beispiel, ebd. 548-557. 20 Vgl. etwa M. L ABAHN , M. L ANG , Johannes und die Synoptiker, in: J. Frey, J. Schlegel (Hg.), Kontexte des Johannesevangeliums, Tübingen 2004, 443-515, außerdem die neueren Kommentare, z. B. U. W ILCKENS , Joh; H. T HYEN , Joh, u. a. 21 Vgl. besonders M. A. M ATSON , In Dialogue with Another Gospel? , Atlanta 2001; DERS ., The Influence of John on Luke’s Passion: Toward a Theory of Intergospel Dialogue, in: P. L. Hofrichter, Für und wider die Priorität des Johannesevangeliums, Hildesheim 2002, 183-194; R. M ORGAN , The Priority of John over Luke, in: Hofrichter (Hg.), a. a. O., 195-211; B. S HELLARD , The Relationship of Luke and John - A Fresh Look at an Old Problem, in: Hofrichter (Hg.), a. a. O., 255-280; DIES ., New Light on Luke, London u. a. 2004. 210 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch beide Texte auf ein und derselben redaktionellen Ebene zusammengehören; für die beiden Evangelien gilt dies dann zumindest für ihre kanonische Endgestalt. 22 Im Rahmen der üblichen Zuordnungen zwischen den Synoptikern auf der einen und Joh auf der anderen Seite ist dieses Phänomen nicht wirklich deutbar. Aber wenn man Joh in die überlieferungsgeschichtliche Rekonstruktion einzeichnet, werden zahlreiche Beobachtungen erklärbar, die bislang in stark divergierenden Modellen eine wichtige Rolle spielten. Die überlieferungsgeschichtliche Arbeitshypothese ist daher um zwei weitere Bearbeitungsrelationen zu erweitern. -- *Ev-------------- --- - - ------------- ③--- --- - - - - Mk- ------------------- -------------------------------④---------- -------------⑥- -----①- - ---- - ----②- - ------------ - - --------- ⑧ ----- - -Mt- -- - - - - - Joh- -- -- - ---------- ⑤ - ---------------- -------⑦- -- - - - -- ---Lk Abb. 3: Die Beziehungen zwischen *Ev, Joh und Lk Die Bearbeitungsrelationen ⑥ zwischen *Ev und Joh sowie ⑦ zwischen Joh und Lk erlauben es, eine Fülle von Beobachtungen als Ausdruck literarischer Abhängigkeit zu verstehen, die sich ansonsten in direkt antagonistischen Modellen unvereinbar gegenüberstehen: Während ⑥ die grundsätzliche Abhängigkeit des Joh von einem guten Teil des Stoffes plausibel macht, der für die Synoptiker charakteristisch ist, erlaubt die Relation ⑦ das Verständnis der komplexen Beziehungen zwischen Lk und Joh vor allem in den Passions- und Osterberichten. Auch diese Erweiterung der Arbeitshypothese ist unten noch ausführlich zu begründen (§ 13). * Das hier skizzierte Modell dient als Arbeitshypothese in erster Linie dazu, den folgenden Untersuchungen einen Rahmen zu geben und die Einordnung der literarischen Beobachtungen zu erleichtern, die sich mit der Einzeichnung von *Ev in das Gesamtbild der kanonischen Evangelienüberlieferung ergeben. Modelle reduzieren Komplexität. Dies trifft auch hier zu: Das Modell ist ein Ideal, und die Wirklichkeit könnte viel verwirrender aussehen. Auf der anderen Seite besteht der ______________________________ 22 Für die Zusammengehörigkeit des Lk-Prologs mit dem Joh-Epilog vgl. o. S. 164 sowie M. K LINGHARDT , Markion vs. Lukas: Plädoyer für die Wiederaufnahme eines alten Falles, NTS 52 (2006), 484-513: 499-503; für die Zusammengehörigkeit der kanonischen Endgestalt des Lk und des Joh s. u. § 14.4. § 10: *Ev und die Überlieferung der kanonischen Evangelien 211 Anspruch, die Bearbeitungsrelationen gültig zu beschreiben: Die Bearbeitungsrichtung zwischen zwei redaktionell miteinander verbundenen Texten kann nicht für einen Textteil stimmen, für einen anderen aber nicht. Inwieweit dieses Modell die zuvor genannten Kriterien erfüllt, muss die Durchführung im Einzelnen ergeben. § 11: Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Mk Es steht außer Frage, dass *Ev und Mk literarisch miteinander zusammenhängen. Ob direkt oder indirekt, ist zunächst offen. Aber die Tatsache, dass zwischen beiden Texten eine literarische Beziehung besteht, lässt sich nicht zu bezweifeln: Dies ergeben die zahlreichen und teilweise wörtlichen Übereinstimmungen, die im Rahmen der Zwei-Quellentheorie die Abhängigkeit des kanonischen Lk von Mk begründen. Diese Übereinstimmungen sind, jedenfalls grosso modo, auch für das Verhältnis zwischen Mk und *Ev anzunehmen. Für die Bestimmung der Bearbeitungsrichtung zwischen *Ev und Mk ist im Folgenden als Arbeitshypothese die *Ev-Priorität vor Mk vorausgesetzt. 1 Wenn *Ev, wie sich aus den textgeschichtlichen Beobachtungen nahegelegt hatte, schon vor der Erstellung der Kanonischen Ausgabe in Versionen weite Verbreitung gefunden hatte (Vetus Latina; Vetus Syra), ist die Vermutung sinnvoll, dass dieser Text auch älter ist als Mk. Als Arbeitshypothese ist daher davon auszugehen, dass Mk die erste Bearbeitung dieses mutmaßlich ältesten Evangeliums darstellt. Unter dieser Annahme der *Ev-Priorität vor Mk sind dann die Differenzen zwischen beiden Texten daraufhin zu überprüfen, ob sie sich tatsächlich als Ergebnis der mk Redaktion von *Ev wahrscheinlich machen lassen. Das vermutete Bearbeitungsgefälle von *Ev zu Mk ist dabei für unterschiedliche Phänomene zu erweisen. Zunächst sind die großen Unterschiede im Materialbestand zwischen *Ev und Mk zu erklären. Sie beziehen sich zum einen auf diejenigen Texte, die in *Ev vorhanden sind, aber in Mk keine Entsprechung besitzen. Das herausragende Beispiel dafür ist die (im Rahmen der Zwei-Quellentheorie für den Vergleich zwischen Mk und Lk so genannte) »große Einschaltung«: Die Texte von *9,51-18,14 besitzen kein Pendant in Mk. Vor dem Hintergrund der angenommenen *Ev-Priorität müsste sich für diese Texte zeigen lassen, dass es wahrscheinlicher ist, dass Mk sie übergangen hat, als dass *Ev sie sekundär gegenüber Mk ergänzt hat (1.). Allerdings ist das Urteil über den negativen Bestand (also die Nichtberücksichtigung von Material aus *Ev durch Mk), das hier zu erwarten ist, weniger aussagekräftig, als es im umgekehrten Fall möglich wäre. Daher rücken (2.) diejenigen längeren mk Passagen in den Fokus, die kein Gegenstück in *Ev besitzen. Das Paradebeispiel für dieses Phänomen ist die (wiederum im Rahmen der Zwei- Quellentheorie) sog. »große Auslassung«: Im Modell der Arbeitshypothese handelt es sich bei Mk 6,45-8,26 um eine redaktionelle Ergänzung, die Mk nach *9,17 einer ______________________________ 1 Dies ist die Relation ③ in Abb. 2 (o. S. 208). Bei dieser Verhältnisbestimmung ist zunächst nicht zwischen dem kanonischen Mk und dem vorkanonischen *Mk unterschieden. Vgl. dazu u. § 14.2. § 11: Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Mk 213 Quelle *Ev hinzugefügt hat. Für diese dürfte der positive Nachweis der Bearbeitungsrichtung leichter fallen, weil sich diese »Zusätze« zu einem einheitlichen redaktionellen Konzept in Mk fügen lassen müssten. Neben diese Beobachtungen zu den Unterschieden im Gesamtmaterial treten dann noch die redaktionellen Differenzen an dem Material, das *Ev und Mk gemeinsam ist. Außer zahlreichen Einzelbeobachtungen, die hierfür am Material der sog. Dreifachüberlieferung zu machen sind (sie sind in der Rekonstruktion jeweils vermerkt), stellen die sog. »Mk-Q- Doppelüberlieferungen« ein besonderes Problem dar (3.): Hier ist auf einige wenige Beispiele zu verweisen, durch welche sich die Bearbeitungsrichtung an kleineren Veränderungen zeigen lässt. Die Methodik der Überlieferungsanalyse ist für das Verhältnis zwischen *Ev und Mk die gleiche wie für das Verhältnis zwischen *Ev und Lk (§§ 6-8): Das Kriterium für die Bestimmung der Bearbeitungsrichtung ist die jeweils größere redaktionelle Plausibilität. Ebenfalls analog zur Verhältnisbestimmung zwischen *Ev und Lk ist dabei die Annahme, dass die jeweils einfachste Beziehung einer direkten Abhängigkeit (A von B oder B von A) der Vermittlung von A und B durch einen dritten Text (A und B abhängig von C) solange vorzuziehen ist, als nicht eindeutige Hinweise zu der Annahme einer solchen Vermittlung zwingen. 1. Auf dem Weg nach Jerusalem: *9,51-19,28 und Mk 8,(22-26)27-10,52 Der erste große Bereich, der für die Bestimmung des Bearbeitungsgefälles zu untersuchen ist, ist das Material von Mk 8,(22-26)27-10,52 bzw. von *9,51-19,28: Es handelt sich um die Texte, die Jesus auf dem Weg von Galiläa nach Jerusalem zeigen. Dieses Material bietet sich aus verschiedenen Gründen für die Bestimmung des literarischen Verhältnisses zwischen Mk und *Ev an. Zum einen ist der größte Teil dieser Texte für *Ev bezeugt, besitzt aber keine Entsprechung in Mk. Es handelt sich um das überlieferungsgeschichtliche Phänomen, das im Rahmen der Zwei-Quellentheorie als »große Einschaltung« bekannt ist: Unter der Annahme der Zwei-Quellentheorie, die Lk im Wesentlichen auf Mk beruhen lässt, hätte Lk den mk Erzählfaden nach der Perikope vom »fremden Wundertäter« (Mk 9,40 || Lk 9,50: »wer nicht gegen uns ist, ist für uns«) verlassen und ihn erst wieder mit dem »Kinderevangelium« in Lk 18,15 || Mk 10,14 aufgenommen, allerdings umfangreiches Material dazwischen »eingeschaltet«. Für die Bestimmung der Bearbeitungsrichtung lautet die generelle Fragestellung: Ist es leichter vorstellbar, dass Mk diese Texte seiner Vorlage übergangen oder dass *Ev sie sekundär in die mk Vorlage eingefügt hat? Nach der als Arbeitshypothese angenommenen *Ev-Priorität vor Mk muss die erste Option wahrscheinlich gemacht werden. Allerdings ist die Begründung eines 214 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch negativen Überlieferungsbefundes ein methodisches non liquet: Warum der Redaktor (hier also Mk) eines älteren Textes (hier also *Ev) bestimmte Aussagen oder Passagen nicht rezipiert hat, lässt sich nie mit der gleichen Zuverlässigkeit darlegen wie der umgekehrte positive Fall der redaktionellen Ergänzung. Gleichwohl lässt sich die mk Auslassung des fraglichen Materials wenigstens ansatzweise wahrscheinlich machen. a. Der sog. »Reisebericht« in *Ev Das Problem ist allerdings differenzierter und komplexer, als diese einfache Alternative erkennen lässt. Denn der Stoff von Mk 9,41-10,12 besitzt zwar keine genauen Entsprechungen in *Ev, aber zu einigen, wenigen Einzellogien aus Mk 9,41-10,12 gibt es eben doch Entsprechungen in *Ev. Es handelt sich um das Logion vom Salz *14,34 || Mk 9,50 || Mt 5,30; das Wort über Ehescheidung und Wiederheirat *16,18 || Mk 10,11f || Mt 5,32; 19,9; sowie die Warnung vor der Verführung »eines dieser Kleinen« *17,(1)2 || Mk 9,42 || Mt 18,(7)6. Da diese Berührungen jeweils auch Parallelen in Mt besitzen, gehören sie im Rahmen der Zwei-Quellentheorie zu den sog. »Mk-Q Overlaps«, die unten (S. 233ff) behandelt werden. Darüber hinaus ist die Frage der Bearbeitungsrichtung durch den Umstand erschwert, dass ja sowohl *Ev als auch Mk eine je eigene Geschichte erzählen und dabei naturgemäß auch unterschiedliche kompositionelle Schwerpunkte und Gliederungssignale setzen. Dies hat zur Folge, dass sowohl der Umfang dieser großen Erzähleinheiten in *Ev und in Mk als auch ihre Abgrenzung vom jeweiligen Kontext unterschiedlich zu bestimmen sind. Gerade diese kompositionsanalytischen Probleme sind für den sog. »lk Reisebericht« notorisch, der zum größten Teil durch das Material der »großen Einschaltung« gebildet wird. Da der lk Reisebericht gegenüber *Ev nur geringfügige Erweiterungen aufweist, lassen sich die Beobachtungen, die zu Lk 9,51-19,28 gemacht wurden, ceteris imparibus auch für *Ev in Anschlag bringen: Neben der Bestreitung, dass sich dieser Reisebericht überhaupt als eine abgegrenzte literarische Einheit in Lk feststellen lässt, 2 ist vor allem fraglich, wo das Ende dieses Berichts zu sehen wäre. 3 Entgegen einigen älteren Annahmen 4 ist sich die Forschung allerdings ______________________________ 2 So pointiert: R. VON B ENDEMANN , Zwischen ΔΟΞΑ und ΣΤΑΥΡΟΣ, Berlin - New York 2001. 3 Vgl. VON B ENDEMANN , a. a. O. 65-70 (mit Lit.). Als Ende wurden vorgeschlagen: 18,30 (z. B. T H . Z AHN , Lk 397); 18,35 (N OLLAND , Lk II); 19,10 (z. B. M ARSHALL , Lk 400ff; E. M AYER , Die Reiseerzählung des Lukas, Frankfurt/ M. 1996, 178); 19,27 (A. D. B AUM , Lukas als Historiker der letzten Jesusreise, Wuppertal - Zürich 1993, 189 und passim; B OVON , Lk I 15; G RUNDMANN , Lk 198); 19,44 (B ROCK , Lk II 957ff); zu weiteren Vorschlägen s. VON B ENDEMANN , a. a. O. 4 Z. B. B. H. S TREETER , The Four Gospels, London 1924, 203; K LOSTERMANN , Lk 110; A. D ENAUX , The Delineation of the Lukan Travel Narrative within the overall Structure of the Gospel of Luke, in: C. Focant (Hg.), The Synoptic Gospels, Leuven 1993, 357-392 u. a. § 11: Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Mk 215 darin weitgehend einig, dass die »große Einschaltung« und der »Reisebericht« nicht kongruent sind: Der literarkritische Befund deckt sich nicht mit dem redaktionskritischen. Dies gilt jedoch zunächst für das Verhältnis für Lk zu Mk. Für die Verhältnisbestimmung zwischen *Ev und Mk ist dagegen in Rechnung zu stellen, dass in *Ev einige Elemente gefehlt haben, die für die lk Komposition als wichtig erachtet werden: Die Unterschiede zwischen *Ev und Lk erstrecken sich auch auf die Texte des Reiseberichts bzw. der »großen Einschaltung«. Für die mit der Rekonstruktion des Reiseberichts verbundenen Probleme sind daher einige Eigenheiten von *Ev im Auge zu behalten. Zwar sind die Reisenotizen *9,57 und *17,11 für *Ev wahrscheinlich bzw. bezeugt (wenn auch in geringfügig anderer Form, s. Rekonstr. z. St.), nicht aber das Summar in Lk 13,22, das vermutlich in *Ev gefehlt hat und erst durch die lk Redaktion eingefügt wurde (s. Rekonstr.). Wichtiger ist schon, dass die Erwähnung von Jerusalem als Ziel der Reise schon für *9,51 mehr als fraglich ist (s. Rekonstr.) und die wichtige Aktualisierung dieses Ziels in Lk 13,33 mit Sicherheit nicht in *Ev stand. Am wichtigsten sind jedoch die redaktionellen Eingriffe der lk Bearbeitung am Ende des angenommenen Reiseberichts: Das »Kinderevangelium« *18,15-17 ist für *Ev bezeugt. Im Modell der Zwei-Quellentheorie würde an dieser Stelle die Wiederaufnahme des mk Erzählfadens durch Lk liegen. Auch die folgende Perikope mit der Frage nach den Bedingungen des ewigen Lebens (*18,18-23) ist bezeugt, ebenso (mit großer Wahrscheinlichkeit) die sich daran anschließende Belehrung über Reichtum und Nachfolge *18,24-30. Dagegen hat die sog. dritte Leidensankündigung Lk 18,31-33(34) mit Sicherheit in *Ev gefehlt und ist durch die lk Redaktion nachgetragen. Die zwei in Jericho lokalisierten Perikopen, die Blindenheilung (*18,35-43) und die Zachäuserzählung (*19,1-10), sind für *Ev gesichert, auch das nachfolgende Gleichnis von den anvertrauten Minen (*19,11-28). Dieses wurde allerdings intensiv bearbeitet und erweitert. Zu diesen Erweiterungen gehört auch die für die kompositionelle Struktur des Reiseberichts nicht unwichtige Bemerkung, dass Jesus zu diesem Gleichnis veranlasst wurde, weil er sich Jerusalem genähert hatte (Lk 19,11b: διὰ τὸ ἐγγὺς εἶναι ᾿Ιερουσαλὴμ αὐτόν). Von der kanonischen Fassung der Einzugserzählung Lk 19,29-48 war mit größter Wahrscheinlichkeit nur der knappe Einzugsbericht *19,36-40 in *Ev enthalten. Damit geht die eng geführte Reihe der Mitteilungen über die schrittweise Annäherung an Jerusalem auf die kanonische Redaktion zurück: In *Ev war nur der Hinweis *19,37 enthalten, dass sich Jesus dem Abstieg von Bethanien näherte (ἐγγίζοντος δὲ αὐτοῦ ἤδη πρὸς τῇ καταβάσει τοῦ ὄρους τῶν ἐλαιῶν). Die anderen »Annäherungsnotizen« stammen von der lk Redaktion: Nach Lk 19,29 kam Jesus »nahe an Bethphage und Bethanien am sog. Ölberg«. Nachdem er den Abstieg erreicht hatte (*19,37, schon in *Ev), »näherte er sich der Stadt« (Lk 19,41) und »ging in den Tempel« (Lk 19,45). Mit den hier genannten redaktionellen Elementen fehlten in *Ev die wichtigsten Signale, die für Lk die Annahme eines kompositionell strukturierten Reiseberichts begründen: *Ev gibt in *9,51-19,28 gibt noch weniger zu erkennen, was für Lk 9,51-19,28 neuerdings angezweifelt wird, nämlich die Existenz einer literarisch abgrenzbaren Einheit »Reisebericht«. Allerdings ist die Einsicht in die redaktionellen 216 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch Erweiterungen durch Lk in der Lage, die Schwierigkeiten bei der Identifizierung der kompositorischen Struktur des »Reiseberichts« und seinem theologischen Profil zu erklären: Die »kleinen« Reisenotizen *10,38, *14,25, *17,11 waren (genau wie die Annäherungsnotiz *19,37) bereits in *Ev enthalten. Die kompositorisch wichtigen Signale in Lk 9,51; 13,22.33 sind dagegen erst Zutaten der lk Redaktion. Darin entsprechen sie den letzten »Annäherungsnotizen« (Lk 19,29.41.45), die Jesus dann tatsächlich nach Jerusalem und bis in den Tempel gelangen lassen. Für die kanonische Fassung des Reiseberichts wird daher die sehr uneinheitliche Diskussionslage verständlich: Auf der einen Seite bestätigen die kompositionellen Signale Lk 9,51; 13,22.33 das relative Recht, von einem lk »Reisebericht« zu sprechen. Auf der anderen Seite erklärt ihr redaktioneller Charakter den Eindruck, dass erstens die solcherart hervorgehobene »Reise« Jesu keinen (geographischen oder sachlichen) Fortschritt verzeichnen kann,5 und dass zweitens Jesus ab Lk 9,51 ja gar nichts anderes tut, als er schon ab Lk 8,1 getan hat: »Er wandert verkündigend umher« 6 und richtet seine Belehrung abwechselnd an Jünger und an Außenstehende. Die Schlussfolgerung aus diesen Beobachtungen, dass die These eines tiefen narrativen Einschnitts in Lk 9,51 nicht wirklich trägt, 7 hat daher auf der einen Seite richtig gesehen, dass das Kompositionskonzept nicht durchgehalten ist, muss aber auf der anderen Seite die Bedeutung genau derjenigen kompositionellen Signale leugnen, die Lk tatsächlich gesetzt hat: Diese Erklärung für den uneinheitlichen Befund konnte unter der heuristischen Prämisse der Zwei-Quellentheorie gar nicht in den Blick kommen, nach der Lk von Mk abhängig ist. An dieser Stelle besitzt die These der *Ev-Priorität vor Lk eine wichtige Konsequenz: Die ganz weitgehende Strukturlosigkeit des Materials des »Reiseberichts« ist ein Kennzeichen bereits von *Ev. Die lk Redaktion hat sich darum bemüht, durch wenige Einfügungen deutlich zu machen, dass sich Jesus auf dem Weg nach Jerusalem befindet: Jerusalem ist als Ziel (Lk 9,51) so wichtig, weil Propheten nur dort ums Leben kommen können (Lk 13,33) und weil das eigentliche Ziel Jesu der Tempel in Jerusalem ist (Lk 19,29. 41.45), in dem sich nach der Himmelfahrt Jesu die Jünger dann versammeln (Lk 24,52f; Act 2,46). Mehr, als diese gelegentlichen Signale zu setzen, war der lk Redaktion nicht möglich, wenn sie *Ev nicht tiefgreifend umgestalten wollte. ______________________________ 5 Vgl. dazu schon die Beobachtung von K. L. S CHMIDT , Der Rahmen der Geschichte Jesu, Berlin 1919, 269, dass Jesus zwar »immer nach Jerusalem reist, aber auf dieser Reise gar nicht recht weiterkommt.« Es sei daher »die Eigenart dieser Überlieferung, daß sie Einzelperikopen herausstellt, die nicht nur ortlos, sondern auch zeitlos sind« (270). 6 W OLTER , Lk 367. 7 Vgl. R. VON B ENDEMANN , a. a. O. 132-138; K LOSTERMANN , Lk 95; Z AHN , Lk 396. § 11: Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Mk 217 b. Der mk Bericht über den »Weg« nach Jerusalem 8,22-10,52 Auch, wenn der größte Teil des Materials aus *9,51-18,14 in Mk fehlt 8 und die wichtigen Signale für einen kompositorisch abgesetzten »Reisebericht« (Lk 9,51; 13,22.33) erst auf die lk Redaktion zurückgehen, schildert Mk den Weg Jesu von Galiläa nach Jerusalem und hat diese »Reise« auch durch kompositorische Signale sehr deutlich von dem vorangehenden und dem nachfolgenden Kontext als eigenen Erzählabschnitt abgesetzt: Der mk »Reisebericht« findet sich in dem Abschnitt Mk 8,22-26 bzw. 8,27 bis 10,52. Dieser Abschnitt ist bekanntlich durch zwei kompositorische Merkmale strukturiert und als literarische Einheit konzipiert: Auf der einen Seite dienen die drei Leidensweissagungen Mk 8,31; 9,31; 10,33f als sehr deutliche Gliederungssignale, auf der anderen Seite konstituiert die wiederholt aktualisierte Mitteilung, dass sich Jesus und die Jünger »auf dem Weg« (ἐν τῇ ὁδῷ) befinden, ein Wortfeld, das der ganzen Einheit ein hohes Maß an Kohärenz verleiht. 9 Der strukturierende Einschnitt, den Mk 8,27 setzt, ist so deutlich empfunden worden, dass die kritischen Ausgaben an dieser Stelle eine (natürlich unkommentierte) Leerzeile einschießen. 10 Diese Strukturierung ist längst erkannt und vielfach so ausführlich begründet worden, dass sich eine Wiederholung erübrigt. Für die Bestimmung der Bearbeitungsrichtung zwischen *Ev und Mk genügt daher der Hinweis auf zwei Phänomene. Das erste ist die kompositionelle Entsprechung zwischen den beiden Blindenheilungen Mk 8,22-26 und 10,46-52. Sie bilden einen Rahmen um den großen Abschnitt über den »Weg« Jesu mit den Jüngern (Mk 8,27-10,45) und liefern daher wesentliche Einsichten in das Gesamtverständnis. Denn am Ende des »Weges«, in Jericho als der letzten Station vor Jerusalem, folgt der geheilte Bartimäus Jesus auf seinem »Weg«, obwohl der dann nur noch die vergleichsweise kurze Strecke bis Jerusalem umfasst. Sowohl die Heilung der Blindheit des Bartimäus als auch seine Nachfolge (10,52: ἠκολούθει αὐτῷ ἐν τῇ ὁδῷ) sind symbolisch zu verstehen und aufeinander zu beziehen: Bartimäus erkennt die (zuvor für die Leser narrativ entfaltete) Notwendigkeit der Leidensbereitschaft und folgt Jesus auf dem Weg in ______________________________ 8 Ausnahmen sind nur die genannten »Mk-Q-Doppelüberlieferungen« in diesem Abschnitt *14,34 || Mk 9,50 || Mt 5,30; *16,18 || Mk 10,11f || Mt 5,32; 19,9; *17,(1)2 || Mk 9,42 || Mt 18,(7)6. Vgl. dazu u. S. 233ff. 9 Vgl. Mk 8,27 (ἐ ν τ ῇ ὁ δ ῷ ἐπηρώτα τοὺς μαθητὰς αὐτοῦ …); 9,33 (τί ἐ ν τ ῇ ὁ δ ῷ διελογίζεσθε; ); 9,34 (πρὸς ἀλλήλους γὰρ διελέχθησαν ἐ ν τ ῇ ὁ δ ῷ τίς μείζων); 10,17 (καὶ ἐκπορευομένου αὐτοῦ ε ἰ ς ὁ δ ὸ ν …); 10,32 (ἦσαν δὲ ἐ ν τ ῇ ὁ δ ῷ ); 10,46 (καὶ ἐκπορευομένου αὐτοῦ […] τυϕλὸς … ἐκάθητο π α ρ ὰ τ ὴ ν ὁ δ ό ν ); 10,52 (καὶ ἠκολούθει αὐτῷ ἐ ν τ ῇ ὁ δ ῷ ). Zur literarischen Funktion vgl. B. M. F. VAN I ERSEL , Locality, Structure, and Meaning in Mark, LingBibl 53 (1983), 45-54; DERS ., Markus - Geographie und Bedeutung, in: ders., Mk 272-300. 10 Z. B. im alten »Nestle« bis zur 25. Auflage und im »Nestle-Aland« seit der 26. Auflage. 218 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch die Passion nach. Die Intentionalität dieser symbolischen Konnotationen ergibt sich aus dem narrativen Widerlager dieser Erzählung, der Heilung eines Blinden in Bethsaida (Mk 8,22-26). Auch bei ihm ist die Blindheit symbolisch konnotiert und auf sein (mangelndes) Verstehen bezogen, wie die enge Entsprechung zu der Taubstummenheilung Mk 7,31-36 sowie zu dem als »Taubheit« und »Blindheit« gefassten Unverständnis der Jünger zeigt. 11 Diese beiden Blindenheilungen belegen daher, wie wohlüberlegt die literarische Anlage der ganzen Einheit konzipiert ist: Während Jesus den Geheilten von Bethsaida wieder nach Hause zurück schickt (Mk 8,26: καὶ ἀπέστειλεν αὐτὸν εἰς οἶκον αὐτοῦ), folgt der geheilte Bartimäus Jesus auf dem Weg in die Passion (Mk 10,52): Die Beseitigung der Blindheit des Bartimäus verkörpert für die Leser seine Einsicht auf einer Ebene, die über das Sehen des Geheilten in Mk 8,26 hinausgeht. Der Unterschied zwischen den beiden Heilungen von »Blindheit« wird narrativ entfaltet. Denn die erste Blindenheilung in Bethsaida geht nur schrittweise vonstatten: Weil die Sehfähigkeit nach der ersten Handauflegung nur sehr unvollkommen ist (8,24), muss Jesus nachbessern und seine Hände nochmals auflegen (8,25 πάλιν). Bartimäus wird dagegen »sofort« geheilt (10,52 καὶ εὐθὺς ἀνέβλεψεν). Vielleicht darf man auch verstehen: Bei dem Blinden von Bethsaida kommt die Heilung von außen durch die Handauflegung und die magischen Praktiken, bei Bartimäus beruht die Wiederherstellung seiner Sehfähigkeit auf seinem Glauben (10,52: ἡ πίστις σου σέσωκέν σε). Das verbindet ihn nicht nur mit der »blutflüssigen Frau« (Mk 5,34), sondern vor allem mit der Syrophönizierin, deren theologische Einsicht zur Heilung ihrer Tochter führt. 12 Der eigentliche Grund für die plötzliche und vollständige Wiederherstellung der Sehfähigkeit des Bartimäus, die ihn zur Nachfolge befähigt, liegt allerdings in der Einsicht all dessen, was Mk durch das zwischen den beiden Heilungserzählungen platzierte Erzähl- und Redematerial deutlich macht: Wer verzichtet und zum Verzicht auch auf das Leben bereit ist, wird das Leben erlangen. Diese sehr klaren und absichtsvollen Kompositionssignale in der Rahmung des mk »Reiseberichts« gewinnen ihre überlieferungsgeschichtliche Bedeutung im Vergleich mit *Ev. Denn für die erste mk Blindenheilung (Mk 8,22-26) gibt es weder in den Seitenreferenten noch in *Ev eine Entsprechung. Dagegen besitzt die zweite Blindenheilung Mk 10,46-52 ein Gegenstück in *18,35-43. Für diese Fassung der Blindenheilung in *Ev lässt sich wahrscheinlich machen, dass die Nachfolgenotiz in V. 43 (καὶ ἠκολούθει αὐτῷ δοξάζων τὸν θεόν) ursprünglich gefehlt hat und erst durch die lk Redaktion eingefügt wurde. Abgesehen davon, dass δοξάζειν τὸν θεόν eine lk Vorzugswendung ist, stößt sich diese Reaktion mit derjenigen der Menge (Lk 18,43c): Diese doppelte Reaktion ist ausgesprochen ungewöhnlich. 13 Für die ______________________________ 11 Vgl. M. K LINGHARDT , Boot und Brot. Zur Komposition von Mk 3,7-8,21, BThZ 19 (2002), 183- 202: 188f mit Anm. 24f sowie 199f. 12 Zu διὰ τοῦτον τὸν λόγον Mk 7,29 vgl. K LINGHARDT , a. a. O. 196f. 13 Zu weiteren, überlieferungsgeschichtlichen Gründen für den redaktionellen Charakter von Lk 18,43b καὶ ἠκολούθει αὐτῷ δοξάζων τὸν θεόν s. die Rekonstruktion z. St. § 11: Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Mk 219 Frage der Bearbeitungsrichtung weisen die mk Kompositionsmerkmale sehr eindeutig auf die *Ev-Priorität hin. Denn im umgekehrten Fall müsste man annehmen, dass *Ev exakt diese kompositorischen Klammern sehr präzise beseitigt und einen überlegt strukturierten Text literarisch verstümmelt hätte. Das Argument für die *Ev-Priorität ist daher das gleiche, das Burnett Streeter mit Blick auf das Material der Bergpredigt bei Lk gegen die These einer lk Abhängigkeit von Mt vorgebracht hatte: Ein solches Vorgehen wäre nur einem literarischen »crank« zuzutrauen. 14 Die zweite Beobachtung an Mk 8,22-10,52 zur Bestimmung des Bearbeitungsgefälles zwischen *Ev und Mk bezieht sich auf die drei mk Leidensankündigungen und ihre Entsprechungen in *Ev. Während Mk 8,31 || *9,22 und Mk 9,31 || *9,43 eindeutig belegte Entsprechungen in *Ev besaßen, bezeugt Epiphanius ebenso eindeutig, dass die dritte Ankündigung Mk 10,33f || Lk 18,31-33 in *Ev gefehlt hat: Sie ist erst durch die lk Redaktion eingefügt worden. Diese Beobachtung ist höchst aufschlussreich. Denn Lk hatte offensichtlich die symbolischen Konnotationen der mk Aussagen über die »Blindheit« der Jünger durchaus richtig verstanden: Er fügt in Lk 18,34 gegenüber seiner mk-mt Vorlage eine entsprechende Notiz über das Unverständnis der Jünger ein: Jesu »Rede war vor ihnen verborgen.« Die kryptische Qualität der Leidensankündigung liegt für Lk darin, dass die Jünger πάντα τὰ γεγραμμένα διὰ τῶν προϕητῶν (Lk 18,31 ÷ Mk 10,33 || Mt 20,18) nicht verstehen. Die hier erwähnte Verborgenheit der Rede Jesu und ihr Zusammenhang mit »allem, was durch die Propheten geschrieben ist«, wird erst durch den Auferstandenen beseitigt (Lk 24,27.44-46 red., s. dort). Damit löst Lk eine Verheißung ein, die sich nur aus der Zusammenschau der Leidensankündigungen und der Unverständnisnotizen in Mk ergibt, dort aber gar nicht entfaltet wird. Denn für Mk enthält das Verbot Jesu, die Jünger sollten vor der Auferstehung des Menschensohns nicht über die Verklärung reden (Mk 9,9f || Mt 17,9), auch das Moment ihres Unverständnisses: Wie die Reaktion der Jünger auf die zweite Leidensankündigung bei Mk zeigt (οἱ δὲ ἠγνόουν τὸ ῥῆμα Mk 9,32a ≠ καὶ ἐλυπήθησαν σϕόδρα Mt 17,23c), konnten die Jünger die Verklärung Jesu solange gar nicht angemessen verstehen, als ihnen der Zusammenhang zwischen Verklärung und Auferstehung verborgen blieb. Allerdings erzählt Mk das Einsetzen des Verstehens nicht. Was für Mk ein wesentlicher Teil seines literarischen Konzeptes ist, hat Lk als Mangel empfunden: Die Auflösung des Unverständnisses der Jünger innerhalb der Erzählung. Die Einfügung der dritten Leidensankündigung mit dem erweiternden Hinweis, dass das Nichtverstehen der Leidensankündigung seinen Grund im Nichtverstehen der prophetischen Schriften hat, beseitigt ______________________________ 14 B. H. S TREETER , The Four Gospels, London 1924, 183: »A theory which would make an author capable of such a proceeding would only be tenable if, on other grounds, we had reason to believe he was a crank.« 220 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch demnach ein Defizit, das Lk an der mk Erzählung wahrgenommen hatte: Lk füllt eine narrative Leerstelle, die sich gar nicht aus Lk (und schon gar nicht aus *Ev) ergibt, sondern nur aus Mk. Dieses Verfahren setzt nicht nur die literarische Abhängigkeit (Lk von Mk) voraus, sondern zeigt auch, dass Lk neben Mk gelesen werden will. Denn diese Art der Kohärenzstiftung ist überhaupt nur dann sinnvoll, wenn die solcherart verknüpften Texte nicht als autarke »Einzeltexte« existieren, sondern als Teiltexte einer Sammlung nebeneinander rezipiert werden: Das ist die Kanonische Ausgabe. So, wie die dritte Leidensankündigung Lk 18,31-34 sich gegenüber Mk 9,30-32 als sekundär erweist, so ist auch Mk 9,30-32 gegenüber *Ev eine sekundäre Ergänzung. Vergleicht man die beiden »Reiseberichte« in Mk 8,22-10,52 und *9,51-18,14 unter dem Gesichtspunkt der Schlüssigkeit ihrer jeweiligen kompositionellen Konzepte, spricht alles deutlich für die *Ev-Priorität vor Mk. In diesem Fall lässt sich dann auch die schrittweise Entstehung der Idee eines solchen »Reiseberichts« nachvollziehen. In *Ev waren schon ab *8,1 verschiedentlich kleinere Hinweise enthalten, dass Jesus unterwegs war (*9,57; *10,38; *14,25; *17,11). An keiner Stelle haben sie eine strukturierende Funktion oder lassen eine umfassende kompositionelle Absicht erkennen: Sie begegnen ebenso planlos und zufällig wie andere szenische Einleitungen, die ebenfalls ohne Ortsangabe auskommen. Aber sie führen am Ende tatsächlich nach Jerusalem, wie die Annäherungsnotiz *19,37 zeigt, auch wenn die Ankunft Jesu in Jerusalem in *Ev nicht so deutlich herausgestellt war wie in Lk. Immerhin zeigen die beiden Erzählungen, die in Jericho spielen (*18,35-43; *19,1-10), dass *Ev durchaus zutreffende geographische Vorstellungen besaß. Mk hat die Bemerkungen über das Unterwegssein Jesu aus *Ev rezipiert, sie aber zu einem planvollen Konzept ausgearbeitet. Dieses Konzept ist ja schon daran kenntlich, dass auch der mk Jesus bereits vor Mk 8,22 unterwegs ist und sich dabei auch weit von seinem Ausgangspunkt in/ um Kapernaum entfernt. Aber diese mk »Reisenotizen« (Mk 3,7.13.20; 4,1; 5,1.21; 6,1.45.53; 7,24.31; 8,4) sind anders besetzt als die Erwähnung des »Weges« in Mk 8,27-10,52: Mk hat aus den kontingenten Reisenotizen in *Ev ein Netz geknüpft, das erstens die Nachfolge der Jünger ins Leiden thematisiert (in Mk: zum ersten Mal); das zweitens die darin implizierten Einsichten über das Verhältnis von Leiden und Herrlichkeit, von Groß und Klein planvoll entfaltet; und das drittens insgesamt durch die drei Leidensankündigungen strukturiert ist. Erst in Mk 8,27-10,52 - und nicht schon in *Ev - bezeichnet der geographische Fortschritt von Caesarea Philippi nach Jerusalem einen Erkenntnisfortschritt. Die Metaphorik des Unterwegs-Seins und ihre theologische Konnotation zeigt sich bekanntlich vor allem darin, dass die Metaphorik des »Nachfolgens« (ἀκολουθεῖν) in diesem Abschnitt mit der Bereitschaft zu § 11: Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Mk 221 Verzicht und Leiden verbunden ist. 15 Die didaktische Absicht dieser Planmäßigkeit ist in der überbietenden Entsprechung der beiden Blindenheilungen (8,22-26; 10,46-52) noch gut zu beobachten: Am Ende zeigt das Verhalten des Bartimäus, wie die Jünger ihr Unverständnis über die Notwendigkeit der Leidensbereitschaft schrittweise überwunden haben, das sie in Mk 8,14-21 noch gezeigt hatten und das in der Blindenheilung in Bethsaida durch die Zurücksendung des Geheilten »in sein Haus« (Mk 8,26) zum Ausdruck kommt. Für die narrative Gestaltung dieses Konzeptes war der Großteil des Materials aus *9,51-18,14 wenig oder gar nicht geeignet. Obwohl es methodisch kaum möglich ist, die Gründe dafür zu benennen, warum ein Autor bestimmte Dinge nicht erzählt, liefert die Einsicht in die maßgeblichen Strukturelemente der Komposition von Mk 8,27-10,52 doch eine plausible Erklärung dafür, dass Mk das Material der irrtümlich so genannten »großen Einschaltung« übergangen hat. Lk hat dieses mk Konzept der Koppelung von räumlichem und epistemischem Fortschreiten jedoch durchaus verstanden und aufgegriffen. Aber weder konnte er *Ev mit dem Material in *9,51-18,14 übergehen, noch verstand er das Unverständnis der Jünger und seine Überwindung auf genau die gleiche Weise wie Mk: Während Mk in erster Linie an dem Nachweis interessiert ist, dass die »Nachfolge« der Jünger ihre eigene Leidensbereitschaft erfordert, weil sie die unvermeidliche Voraussetzung für die daraus resultierende Herrlichkeit ist, geht es Lk um die Einsicht in die Unvermeidlichkeit des Leidens Jesu, die er durch die Kongruenz zwischen dem Geschick Jesu und »allem, was durch die Propheten über den Menschensohn geschrieben ist« (Lk 18,31), belegt: Erst das Verstehen der »Schrift« gewährleistet die Einsicht in den heilsgeschichtlichen Plan und seine Erfüllung, weswegen dieses Ziel auch erst mit der entsprechenden Belehrung durch den Auferstandenen (Lk 24,27.44-46) erreicht wird. Gleichwohl hat Lk einzelne Elemente des mk Konzeptes des Erkenntnisweges aufgegriffen und in das ihm in *Ev vorliegende Material eingefügt (Lk 9,51; 13,22.33 red.). 2. Mk 6,45-8,26: »Große Auslassung« oder »Große Ergänzung«? Im Unterschied zum »Reisebericht« aus *Ev, dessen narratives Material Mk zum großen Teil übergangen hat, liegt in Mk 6,45-8,26 ein großer Erzählabschnitt vor, der in *Ev (und in Lk) kein Gegenstück besitzt. Im methodischen Horizont der Zwei-Quellentheorie mit ihrer Annahme der lk Abhängigkeit von Mk wird dieses ______________________________ 15 Vgl. Mk 8,34 (vgl. aber die v. l. ελθειν in א A B C 2 K L Γ f 13 33 579 892 1241 2452 al aur c d l bo; sowie die Konflation ελθειν και ακολουθειν in Δ sa mss ); 9,38; 10,21.28.32 (om D K f 13 700 al a b! ). Die Lesarten ohne das zentrale Stichwort ακολουθειν sind möglicherweise Spuren des vorkanonischen *Mk-Textes, der durch die Kanonische Redaktion von *Mk bearbeitet und vereinheitlicht wurde (s. dazu § 14.2). 222 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch Phänomen als »große Auslassung« bezeichnet. Für die hier vorausgesetzte Bearbeitungsrichtung zwischen *Ev und Mk ist dieser Abschnitt dagegen eine »große Ergänzung«, die Mk gegenüber dem Material aus *Ev hinzugefügt hat. Wenn diese Arbeitshypothese zutrifft, müsste sich die mk Redaktion tatsächlich anhand seines redaktionellen Konzeptes nachweisen lassen. Dieser positive Nachweis ist nicht nur viel einfacher zu führen, sondern besitzt eine deutlich größere Plausibilität als die Erklärung eines negativen Überlieferungsbefundes. a. Szenische Verknüpfungen in Mk 6,45-8,26 Der fragliche Abschnitt Mk 6,45-8,26 schließt an die erste Speisungserzählung Mk 6,30-44 an und verknüpft die Seewandelperikope mit der typisch mk Einleitungswendung (6,45: καὶ εὐθύς) szenisch unmittelbar mit dieser. Tatsächlich sind die folgenden Perikopen (vielleicht mit Ausnahme von Mk 7,1ff) jeweils durch szenische Verbindungen und durch Übergangsnotizen sehr eng miteinander verknüpft: Die narrative Kohärenz zwischen den einzelnen Erzählabschnitten ist charakteristisch für die Anlage der gesamten Einheit Mk 6,45-8,26. Mk 6,53f schließt mit der Notiz über die Ankunft in Gennesaret die Seewandelerzählung ab und leitet zugleich zu dem summarischen Bericht über die Heilungen über (καὶ διαπεράσαντες ἐπὶ τὴν γῆν … καὶ ἐξελθόντων αὐτῶν ἐκ τοῦ πλοίου …): Die Verbindung wird durch die Bootsfahrt und durch die Ausstiegsnotiz gesichert. Da dem summarischen Bericht über die Heilungen in Gennesaret 6,53-56 »jegliche erzählerische Substanz« fehlt, 16 ist eine isolierte Tradierung unvorstellbar: Der Abschnitt ist auf den vorliegenden Zusammenhang der mk Komposition hin formuliert. 17 Die Exposition des Gesprächs über Reinheit und Unreinheit Mk 7,1-23 wirkt abrupt: Es gibt keine szenische Verbindung bezüglich der Zeit oder dem Ort der erzählten Handlung zum Vorangehenden. Allerdings verweist die auffällige Formulierung ἐσθίουσιν τοὺς ἄρτους (7,2) über 6,45-56 hinweg auf die Speisungserzählung zurück (6,31.36f) und belegt auf diese Weise die kompositionelle Zugehörigkeit von 7,1-23 zu der ganzen Einheit. Die folgende Exposition der Erzählung von der syrophönizischen Frau bezieht sich sachlich direkt auf diese Belehrung über rein und unrein. Die szenische Verbindung ist durch den expliziten Ortswechsel an (Mk 7,24: ἐ κ ε ῖ θ ε ν δὲ ἀναστὰς ἀπῆλθεν …) gewährleistet, der aus inhaltlichen Gründen notwendig ist: Das Gespräch mit der Griechin, einer »Syrophönizierin von Geburt« (7,26), muss in einer paganen Umwelt angesiedelt sein. Die Exposition der folgenden Taubstummenheilung stellt mit den geographischen Angaben der ungewöhnlichen Reiseroute 18 eine explizite Verbindung mit der vorangehenden Perikope ______________________________ 16 L ÜHRMANN , Mk 123. 17 D. A. K OCH , Die Bedeutung der Wundergeschichten für die Christologie des Markusevangeliums, Berlin 1975, 169. 18 »Eine Route von Tyrus über Sidon (! ) an (! ) den See Galiläa mitten (! ) in das Gebiet der Dekapolis ist auf den ersten Blick kaum verständlich« (J. S CHREIBER , Theologie des Vertrauens, Hamburg 1967, 171; Hervorhebungen im Original). Die Route weist nicht auf geographische Unkenntnis, sondern auf redaktionelle Absicht. Vgl. T H . S CHMELLER , Jesus im Umland Galiläas. Zu den § 11: Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Mk 223 her: Mk 7,31 (καὶ πάλιν ἐξελθὼν ἐ κ τ ῶ ν ὁ ρ ί ω ν Τ ύ ρ ο υ ) verweist zurück auf 7,24 (ἀπῆλθεν ε ἰ ς τ ὰ ὅ ρ ι α Τ ύ ρ ο υ ). Die Exposition Mk 8,1 (ἐν ἐκείναις ταῖς ἡμέραις …) zeigt auf den ersten Blick keine szenische Verbindung mit dem Vorangehenden, aber in der Abfolge von 7,31-36 und 8,1-10 wird man die Bemerkung über die Anwesenheit des πολὺς ὄχλος wohl als Anschluss an die Erwähnung der Menge (ὄχλος 7,33) und ihrer großen Verwunderung (7,37) verstehen dürfen: Es handelt sich um eine andere, aber analoge »Menge«. Der Abschluss der zweiten Speisungserzählung Mk 8,9f entspricht in mancher Hinsicht dem des ersten Berichts in 6,44f: Zunächst sind die Zahlenangaben, die jeweils die Speisungserzählungen abschließen, parallel formuliert (6,44: καὶ ἦσαν οἱ ϕαγόντες τοὺς ἄρτους πεντακισχίλιοι ἄνδρες; 8,9a: ἦσαν δὲ ὡς τετρακισχίλιοι). An sie schließt in beiden Fällen die Aufbruchsnotiz mit der Erwähnung des Bootes und der Zielangabe an (6,45: καὶ εὐθὺς … ἐμβῆναι εἰς τὸ πλοῖον καὶ προάγειν εἰς τὸ πέραν …; 8,10: καὶ εὐθὺς ἐμβὰς εἰς τὸ πλοῖον … ἦλθεν εἰς τὰ μέρη …). Der knappe Bericht über die Begegnung mit den Pharisäern in Dalmanuta und ihrer Zeichenforderung (Mk 8,11-13) lässt sich nur mit Mühe als eigenständiger Abschnitt ausmachen: Die Lokalisierung ist durch den Schluss von 8,10 gegeben, die Aufbruchsnotiz in 8,13 (καὶ ἀϕεὶς αὐτοὺς ἐμβὰς πάλιν εἰς τὸ πλοῖον ἀπῆλθεν) wird sofort im Anschluss wieder aufgegriffen (8,14: ἐν τῷ πλοίῳ): Dass sich Jesus und die Jünger »in dem Boot« befinden, stiftet eine schon fast übertrieben erscheinende szenische Klammer. 19 Das Ende der letzten Bootsfahrt ist in der Exposition der letzten Perikope der »großen Auslassung«, der Blindenheilung in Bethsaida, noch zu spüren (Mk 8,22: καὶ ἔρχονται εἰς Βηθσαϊδάν): Mit dieser letzten Bootsfahrt erreichen die Jünger das Ziel, das Jesus für sie bereits in Mk 6,45 ins Auge gefasst hatte, das sie jedoch zunächst verfehlt hatten. Angesichts der oft bemerkten episodischen Erzählweise des Mk, die Einzelperikopen häufig ohne erkennbare szenische Verbindung nebeneinander stellt, 20 sind die hier notierten Übergänge und Verbindungen bemerkenswert und als Hinweis intentionale Komposition zu werten. Insbesondere die penetrant wirkende Erwähnung des Bootes (Mk 6,54; 8,10.13.14) deutet auf die gestalterische Absicht hin. b. Die Komposition von Mk 3,7-6,44 Allerdings ist mit dieser Einsicht die kompositionelle Struktur noch nicht erklärt, die gerade für den weiteren Kontext dieses Abschnitts ab Mk 4,35 immer wieder ______________________________ markinischen Berichten vom Aufenthalt Jesu in den Gebieten von Tyros, Caesarea Philippi und der Dekapolis, BZ 38 (1994), 44-66. 19 Die Doppelung der Erwähnung des Bootes in 8,13.14 (εἰς τὸ πλοῖον - ἐν τῷ πλοίῳ) ist schon in der handschriftlichen Überlieferung beseitigt worden. Ich halte die v. l. 8,13 (mit εἰς τὸ πλοῖον) in A f 1 sy (s).h sa (P 45 D W Θ f 13 579 892 1241 1424 2427 2542 pc it vg bo pt ) usw. für ursprünglich; die von NA 27 im Text gebotene Minderheitslesart ( א B C L Δ: ohne εις το πλοιον) hat diese ungeschickt erscheinende, aber beabsichtigte Doppelung der Erwähnung des Bootes gestrichen. Die modernen Übersetzungen haben dasselbe Problem auf analoge Weise gelöst und unterschlagen die Erwähnung des Bootes entweder in der Wiedergabe von 8,13 (z. B. Elberfelder; New American Standard Bible; New Jerusalem Bible usw.) oder in 8,14 (z. B. Einheitsübersetzung). 20 Vgl. C. B REYTENBACH , Das Markusevangelium als episodische Erzählung, in: F. Hahn (Hg.), Der Erzähler des Evangeliums, Stuttgart 1985, 139-169. 224 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch als problematisch angesehen wird. 21 Nimmt man jedoch die Erwähnung des Bootes als kompositionelles Signal, dann erschließt sich die narrative Kohärenz eines übergreifenden Zusammenhangs von Mk 3,7-8,21: Hier entfaltet Mk, was Jüngerschaft bedeutet und wie sie durchgeführt wird. 22 Neben der Erwähnung des Bootes liefern die beiden erkennbar parallelen Bestimmungen über das Jüngersein Mk 3,14f; 6,7 die entscheidende strukturelle Klammer: Nach 3,14f hat Jesus die Zwölf »gemacht«, damit sie »mit ihm seien und damit er sie aussende« (ἵνα ὦσιν μετ’ αὐτοῦ καὶ ἵνα ἀποστέλλῃ αὐτούς), wobei das Ziel der Sendung als Verkündigung (κηρύσσειν) und Übertragung der Vollmacht zum Austreiben von Dämonen (ἔχειν ἐξουσίαν ἐκβάλλειν τὰ δαιμόνια) spezifiziert wird. Mk 6,7ff greift die zweite Hälfte dieser Bestimmung wieder auf: Nach 6,7 sendet Jesus die Zwölf aus (τοὺς δώδεκα; ἀποστέλλειν) und gibt ihnen die Vollmacht über die unreinen Geister (ἐξουσία τῶν πνευμάτων τῶν ἀκαθάρτων). Der folgende summarische Bericht zeigt die Jünger dann bei der Befolgung genau dieses Auftrags: Sie verkündigten und trieben viele Dämonen aus (6,12f: ἐκήρυξαν … καὶ δαιμόνια πολλὰ ἐξέβαλλον). Die doppelte Bestimmung der Jüngerschaft als »Mit-ihm-Sein« und »Aussendung zur Verkündigung und Exorzismus« liefert die grobe Struktur der Einheit: Zu Beginn müssen die Jünger bei Jesus sein. Mk erzählt diese qualifizierte Nähe dadurch, dass er die Jünger von anderen absetzt, die in größerer Distanz bleiben (3,13): Er lässt sie mit Jesus in ein Haus gehen (3,20), wo sie - im Unterschied zu den »draußen Stehenden« (3,31f) - seine Lehre hören (3,34f). Und er platziert die Jünger bei Jesus im Boot (4,1), wo sie - im Unterschied zu »jenen draußen« (4,11: ἐκεῖνοι οἱ ἔξω) - nicht nur die Gleichnisse, sondern auch deren Deutung zu hören bekommen. 23 Das bevorzugte Vehikel, das dieser qualifizierten Nähe zwischen Jesus und den Jüngern Ausdruck verleiht, 24 ist das Boot. 25 Die Nähe des »Mit-ihm-Seins« ermöglicht den Jüngern zunächst, die Lehre Jesu zu hören, die ihnen das Geheimnis der Basileia erschließt (4,10-12). Nach diesem eher kognitiven »Unterricht im Jüngersein« bricht Jesus mit den Jüngern auf und lässt sie bei seiner eigenen missionarischen Tätigkeit »hospitieren«. Von Mk 4,35-6,6a sind die Jünger zwar dauernd »mit ihm«, treten aber nicht aktiv ______________________________ 21 Vgl. F. M. B. VAN I ERSEL , Mark 123: »The structure of the third section of the first main part (i. e. 4,35-8,21) is less transparent than the reader would wish.« Zu den Problemen der Kompositionsanalyse vgl. auch E. K. W EFALD , The Separate Gentile Mission in Mark: A Narrative Explanation of Markan Geography, the Two Feeding Accounts and Exorcisms, JSNT 60 (1995), 3-26. 22 Vgl. dazu und zum Folgenden ausführlicher: M. K LINGHARDT , Boot und Brot. Zur Komposition von Mk 3,7-8,21, BThZ 19 (2002), 183-202. 23 Zur Entsprechung von »Haus« und »Boot« vgl. F. M. B. VAN I ERSEL , Concentric Structures in Mark 2,1-3,6 and 3,7-4,1, in: C. Focant (ed.), The Synoptic Gospels, Leuven 1993, 521-530: 523f. 24 Vgl. 4,10: κατὰ μόνας; 4,34; 6,31f; 7,33: κατ ʼ ἰδίαν. 25 Vgl. 3,9; 4,36; 6,31f; 6,45; 6,54. § 11: Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Mk 225 in Erscheinung: Sie werden auf beiden Seiten des Sees Zeugen von großer exorzistischer Vollmacht (5,1-20.21-43), aber auch von Ablehnung (5,14-17; 6,1-6a). Sie erfahren auf diese Weise, was sie erwartet, wenn sie selbst ausgesandt werden - das ist ja die zweite Bestimmung des Jüngerseins nach Mk 3,14f; 6,7. Der innere Grund für diese Aussendung ist in der kompositionell sorgfältig gestalteten Entsprechung von 4,10-12 und 4,21-25 sichtbar. Denn wenn »alles Verborgene offenbar« werden soll (4,22), dann gilt das auch für das Verborgen-Sein vor »jenen draußen« (4,12): Ihr Nicht-Verstehen ist also zeitlich begrenzt, sie sollen jetzt noch nicht, später aber sehr wohl verstehen. Diese zeitliche Differenzierung hat ihren Grund darin, dass die Jünger die Funktion übernehmen sollen, »jene draußen« zu belehren. Aus diesem Grund müssen sie gut aufpassen (4,24: βλέπετε τί ἀκούετε), weil sie das, was sie »haben« (4,25: ὃς γὰρ ἔχει), später ihrerseits weitergeben sollen: Der Erfolg, den die Jünger bei der (späteren) Belehrung »derer draußen« haben, ist das Kriterium ihrer eigenen Belohnung (4,25). In diese Funktion, andere zu belehren, werden die Jünger ab Mk 6,6b eingewiesen: Sie sollen jetzt (nicht allein, sondern jeweils zwei und zwei) selbst tun, was sie zuvor ab 4,35 als beobachtende Hospitanten von Jesus lernen konnten: Verkündigung und Exorzismus. Bei allem Erfolg, den die Jünger dabeihaben (6,12f), ist doch gleich zu Beginn angedeutet, dass die ihnen aufgetragene Lehre gefährlich werden und sie äußerstenfalls auch den Kopf kosten kann (6,14-29). Aber zunächst offenbart der Erfolg ihrer Mission ein anderes Problem. Denn er führt dazu, dass so »viele Menschen kommen und gehen«, dass die intime Gemeinschaft der Jünger mit Jesus gestört ist; sie haben nicht einmal Gelegenheit zum Essen und sollen deshalb an einen einsamen Ort fahren, wo sie mit Jesus κατ’ ἰδίαν sein können (6,31): Mk rekurriert hier auf die zuvor entfaltete Vorstellung der privilegierten Nähe. Aber die Menge will auf die Gegenwart Jesu und der Jünger nicht verzichten, sondern eilt ihnen voraus und kommt so in den Genuss der Lehre (6,34): Die Menge der ersten Speisungserzählung (»an die 5000«) besteht aus denjenigen, die als Folge der Aussendung der Jünger »kommen und gehen«. Das Problem, dass die Jünger wegen des Andranges der Menge keine Gelegenheit mehr haben, κατ’ ἰδίαν mit Jesus zu sein und zu essen, ist daher nicht nur nicht gelöst, sondern deutlich größer geworden, denn jetzt muss auch die Menge gesättigt werden. Da der Andrang der Menge als Reaktion auf die Verkündigung der Jünger erscheint, ist es nur konsequent, dass Jesus die Sättigung der Menge als Aufgabe der Jünger versteht (6,37). Allerdings scheint sein Auftrag (»Gebt ihr ihnen zu essen! «) die erste Bestimmung des Jüngerseins aufzuheben. Denn wenn die Jünger »weggehen« müssen, um für die Menge »Brote« zu kaufen (6,37), würden sie ja die Gemeinschaft mit Jesus verlassen und nicht mehr »mit ihm sein.« Jesus erweist sich als geduldiger Lehrer (in erster Linie der Jünger, nicht der Menge) und zeigt, 226 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch dass sie seine Gegenwart überhaupt nicht verlassen müssen, um die Menge zu sättigen: Er hält an der Verantwortung der Jünger als »Gastgeber« fest, lässt sie das Mahl der Menge organisieren und teilt ihre Brote aus. Die Speisungserzählung thematisiert also keine Brotvermehrung, sondern illustriert, was den Jüngern und den Lesern schon zuvor im Senfkorngleichnis verheißen war: Aus dem geringen Anfang resultiert erstaunliches Wachstum. Dass dieses Wachstum hier als Suffizienz der Brote der Jünger gefasst wird, setzt ganz selbstverständlich die längst schon usuell gewordene Speisemetaphorik für die Lehre voraus. 26 Vergleicht man die hier angedeuteten Kompositionsentscheidungen in Mk 3-6 mit der entsprechenden literarischen Anlage in *Ev (*6,12-9,17), dann kann es über die Bearbeitungsrichtung kaum zwei Meinungen geben. Die mk Erzählung ist sehr viel stringenter angelegt als *Ev, die Signale ihrer Komposition sind teilweise überdeutlich sogar gegen das normale Sprachempfinden 27 gesetzt, die entscheidenden semantischen Felder sind kohärent und über einen sehr umfangreichen Kontext hinweg entwickelt und mit großer Präzision entfaltet. Hätte *Ev diese kunstvolle Komposition einfach so zerstört, wäre er der seit Streeter sprichwörtlich gewordene Sonderling. Zwar muss man grundsätzlich mit der Möglichkeit rechnen, dass der Bearbeiter eines Textes dessen Qualitäten entweder gar nicht erkennt und ihn durch seine redaktionellen Eingriffe »verschlimmbessert« oder aber an ihnen kein Interesse zeigt. Aber das würde in diesem Fall voraussetzen, dass *Ev exakt die entscheidenden mk Kompositionssignale getilgt hätte, ohne etwas Entsprechendes an ihre Stelle zu setzen, wie ein Vergleich der jeweiligen Akoluthie der Perikopen zeigt. An dieser Stelle ist es ausreichend, die Abweichungen zwischen *Ev und Mk in den Blick zu nehmen, um daran deutlich zu machen, welche der komplexen mk Kompositionssignale *Ev zerstört hätte, wenn denn die Bearbeitungsrichtung von Mk zu *Ev verlaufen würde. 1. Die erste Abweichung ist die unterschiedliche Abfolge von Mk 3,7-12 || *6,17-19 und Mk 3,13- 19 || *6,12-16. Unter der Annahme der Mk-Priorität hätte *Ev diese beiden Perikopen umgestellt. Er hätte dabei den Rückzug Jesu an den See (Mk 3,7: ἀνεχώρησεν) nach dem Todesbeschluss der Pharisäer und Herodianer (Mk 3,6 || *6,11) zu einem einfachen Hinabsteigen »zu dem ebenen ______________________________ 26 Vgl. B ORGEN , Bread from Heaven, Leiden 2 1981, 99-146; M. K LINGHARDT , Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft, Tübingen 1996, 433-441. 27 Das zeigen diejenigen Erwähnungen des Bootes vor allem in den Ein- und Ausstiegsnotizen, die für den Fortgang des Plots überflüssig sind und störend wirken. Mt hat sie daher etliche Male ausgelassen. Vgl. (τὸ) πλοῖον Mk 4,38 ÷ Mt 8,24; Mk 5,2 ÷ Mt 8,28; Mk 5,18 ÷ Mt 8,34; Mk 5,21 ÷ Mt 9,18; Mk 6,54 ÷ Mt 14,35; Mk 8,13 ≠ Mt 16,4; Mk 8,14 ÷ Mt 16,5. Analoges gilt auch für die überbetonte Formulierung »die Brote essen« in Mk 3,20 (ὥστε μὴ δύνασθαι αὐτοὺς μηδὲ ἄ ρ τ ο ν ϕαγεῖν) und 6,44 (καὶ ἦσαν οἱ ϕαγόντες τ ο ὺ ς ἄ ρ τ ο υ ς πεντακισχίλιοι ἄνδρες): Normal und erwartbar wäre in beiden Fällen der Gebrauch von ἐσθίειν/ ϕαγεῖν ohne Objekt. Mt 14,21 hat dies im Übrigen genauso gesehen und das ihm verzichtbar erscheinende Objekt gestrichen. § 11: Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Mk 227 Ort« (*6,17: καταβὰς … ἐπὶ τόπου πεδινοῦ) geändert, ohne deutlich zu machen, von wo Jesus »herabkam«, denn er erzählt zunächst vom »Aufstieg auf den Berg«, auf dem Jesus die Zwölf berief (*6,12: καὶ ἀναβαίνει εἰς τὸ ὄρος). Zugleich hätte *Ev den Hinweis gestrichen, dass der Andrang der Menge Jesus zur Bereitstellung des später benötigten (und kompositionell zentralen) Bootes veranlasste (Mk 3,9 ÷ *6,18). In der Perikope von der Auswahl der Zwölf Mk 3,13-19 || *6,12-16 hätte *Ev die für die mk Gesamtanlage wichtige Bestimmung der Jüngerexistenz (Mk 3,14f: ἵνα ὦσιν μετ’ αὐτοῦ καὶ ἵνα ἀποστέλλῃ αὐτοὺς κηρύσσειν) und damit den entscheidenden Strukturhinweis für die ganze Einheit beseitigt: Dass Jüngerschaft in erster Linie »Mit-ihm-Sein« bedeutet, wird bei *Ev gar nicht sichtbar. 2. Unter der Voraussetzung der Mk-Priorität hätte *Ev sodann die Ringkomposition Mk 3,20-35 über die Lehre Jesu »im Haus« mit der Beelzebulkontroverse und der Distanzierung von der Mutter und den Brüdern Jesu übergangen. Mit μὴ δύνασθαι αὐτοὺς μηδὲ ἄρτον ϕαγεῖν Mk 3,20 hätte *Ev ein weiteres wichtiges Gliederungssignal ersatzlos gestrichen. Allerdings hätte *Ev das Wort von den wahren Verwandten, die seine Worte hören, aus diesem mk Kontext herausgelöst und an das Ende der Gleichnisrede gestellt (*8,20f; s. Rekonstr.). Anstelle dieser Einheit aus Mk 3,20-35 hätte *Ev im Anschluss an Mk 3,19 einen langen Erzählzusammenhang eingefügt, der im Rahmen der Zwei-Quellentheorie bisweilen als »kleine Einschaltung« bezeichnet wird. Dieser Abschnitt umfasst die Feldrede (*6,20-46), die Erzählungen über den Centurio und seinen Sklaven (*7,1-10) und den Jüngling von Nain (*7,11-17), die Täuferfrage und die Belehrung Jesu über den Täufer (*7,17-23.24-28), die Erzählung von der Salbung durch die Sünderin (*7,36-40.44-50) sowie die Notiz über die Unterstützung durch die Frauen (*8,2f). Da die Kontextverklammerungen nur in wenigen Fällen narrativ plausibilisiert sind (etwa am Übergang von *7,17-23 zu *7,24-28), müsste man unter der Voraussetzung der Mk- Priorität annehmen, dass *Ev den kohärenten Erzählzusammenhang aufgelöst und stattdessen eine weitgehend ungeordnete Folge von Einzeltexten geboten hätte. 3. Die Abfolge der einzelnen Elemente der Gleichnisrede Mk 4,1-25 || * 8,4-18 ist im Großen und Ganzen in *Ev und Mk parallel und belegt den engen literarischen Zusammenhang: Einleitung; Gleichnis vom Sämann; Parabeltheorie; Deutung des Sämanngleichnisses; Logion vom Verborgenen und Offenbaren. Aufschlussreich sind die Unterschiede, wie sie sich unter der Annahme der Mk- Priorität darstellen würden: Zunächst hätte *Ev die für die mk Komposition ganz entscheidende Szenerie »am See« aufgegeben, die für die differenzierte Belehrung von Menge und Jüngern im Boot konstitutiv ist und die auch den weiteren Kontext (Mk 4,35ff) bestimmt. Anstelle dieser Einleitung hätte *Ev schlicht mitgeteilt, dass Jesus »ein solches Gleichnis zu ihnen sagte« (*8,4 εἶπεν παραβολὴν τοιαύτην πρὸς αὐτούς). Sodann müsste man annehmen, dass *Ev die Aufforderung zum rechten Hören (*8,18) aus dem mk Kontext im Wort vom Offenbarwerden des Verborgenen (Mk 4,24a.25) herausgelöst und es zwischen Mk 4,11 || *8,10a und Mk 4,12 || *8,10b gestellt hätte. An dieser Stelle ist es zwar nicht funktionslos, 28 aber es zerstört die kunstvolle Bedeutung, die Mk diesem Logion im Zusammenhang der gesamten Einheit gibt. ______________________________ 28 Dies zeigt ja die mt Parallele Mt 13,10-13: Mt folgt an dieser Stelle nicht Mk, sondern *Ev. Allerdings entsteht dadurch ein statischer Gegensatz zwischen den Jüngern auf der einen Seite und den Juden auf der anderen: Die redaktionelle Intention, die Mt dazu veranlasst, diesen Gegensatz 228 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch 4. Unter der Annahme der Mk-Priorität hätte *Ev auch den Abschluss der Gleichnisrede empfindlich gestört: Er hätte das Gleichnis vom Senfkorn (Mk 4,30-32) übergangen, das für die metaphorische Wirkung der ersten Speisungserzählung mit dem Gegenüber von wenigen Broten am Anfang und vielen Körben übriger Brote am Ende so wichtig ist. Auch die zusammenfassende Charakterisierung der Gleichnisrede (Mk 4,33f) hätte *Ev ersatzlos gestrichen und damit das mk Konzept ruiniert, nach dem die Jünger durch die nachhaltige Instruktion durch Jesus auf ihre Multiplikatorenfunktion vorbereitet werden. 5. Die folgende narrative Sequenz Mk 4,35-6,44 besitzt, aufs Ganze gesehen, wieder eine Entsprechung in *Ev (*8,22-9,17; zu *8,19-21 s. o.). Allerdings sind auch hier wichtige Unterschiede im Einzelnen zu verzeichnen, die für die Bestimmung der Bearbeitungsrichtung von Bedeutung sind. Zunächst unterscheidet sich Akoluthie von *Ev darin von Mk, dass die Erzählung von der Ablehnung Jesu in seiner Heimatstadt (Mk 6,1-6a) keine Entsprechung in diesem Erzählzusammenhang besitzt. Vielmehr enthielt *Ev zu Beginn der ganzen Erzählung in *4,16-30 einen entsprechenden Bericht, der sich jedoch von Mk 6,1-6a dadurch unterscheidet, dass er den Aspekt des gewaltsamen Vorgehens der Nazarener gegen Jesus enthält (s. dazu o. § 7) und der damit von Anfang an die Gegnerschaft gegen Jesus deutlich macht. Für die mk Komposition ist jedoch wichtig, dass erstens die Jünger die Ablehnung Jesu beobachten (das spielt für *4,16-30 überhaupt keine Rolle) und dass zweitens das Moment der tödlichen Bedrohung erst in der Folge (ab Mk 8,11-13) aufgebaut und als eigenes Problem entfaltet wird. Unter der Annahme der Mk- Priorität vor *Ev hätte *Ev diesen für die mk Komposition wichtigen Gesichtspunkt zerstört. Dieser kompositionelle Zusammenhang zeigt sich auch im Verhältnis von Mk 6,14-29 zu der knappen Notiz *9,7-9: Das Urteil des Herodes über Jesus und Johannes besitzt bei *Ev keine erkennbare Verbindung zum näheren Kontext, zumal der Tod des Täufers nur im (inneren? ) Monolog des Herodes (*9,9: εἶπεν δὲ ῾Ηρῴδης, ᾿Ιωάννην ἐγὼ ἀπεκεϕάλισα) vorkommt, aber nicht erzählt wird; die entsprechende Notiz Lk 3,19f hat ja in *Ev mit Sicherheit gefehlt. Sieht man diese Differenzen zusammen, ist deutlich, dass die Bearbeitungsrichtung sehr viel eher von *Ev zu Mk verlaufen ist als umgekehrt. Denn in diesem Fall hätte *Ev entscheidende Strukturmerkmale aus der mk Komposition herausgelöst, ohne sie durch andere Kompositionssignale zu ersetzen. c. Die Komposition von Mk 6,45-8,26 Dies gilt umso mehr, als die kompositionellen Linien, die seit Mk 3,7 angelegt und entfaltet wurden, von 6,45 an höchst kunstvoll weitergeführt werden: Die »große Auslassung« erweist sich als »große Ergänzung«, die Mk gegenüber dem aus *Ev stammenden Material hinzugefügt hat, wobei die bereits redaktionell angelegten Linien weitergeführt wurden. Dies wird leicht erkennbar, wenn man die ganze Einheit Mk 3,7-8,26 unter dem Gesichtspunkt der Einweisung der Zwölf in die Jüngerschaft versteht: Nach der anfänglichen Instruktion der Jünger durch Jesus, die durch die qualifizierte Nähe des Mit-ihm-Seins gekennzeichnet war (Mk 3,7- ______________________________ dadurch herauszustellen, dass er *Ev und nicht Mk folgt, ist gut erkennbar: Mt hat die Grundsätzlichkeit dieses Gegensatzes durch das Reflexionszitat Jes 6,9f und den Makarismus 13,16f begründet. § 11: Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Mk 229 4,34), erzählt Mk von einer Hospitationsphase, in der die Jünger Jesus bei Lehre, Exorzismus und Heilung beobachtet haben (5,1-43). Dabei konnten sie auch lernen, dass zur Verkündigung der Basileia auch der Aufbruch zu neuen Ufern gehört, der Unbill mit sich bringt (4,35-41), dass selbst die unbestreitbare Vollmacht über Dämonen nicht zwangsläufig zum Erfolg der Verkündigung führt (5,17-19), und dass solcher Erfolg auch vom Glauben der Empfänger abhängig ist (6,5). Nach dieser Phase sollen die Jünger ab 6,6b selbständig tun, worauf Jesus sie vorbereitet hat und wobei sie ihn selbst beobachtet haben: Missionarische Verkündigung, Exorzismus und Heilung. Ein erstes Hindernis für diese selbständige Aussendung besteht in der scheinbaren Unvereinbarkeit von »Mit-ihm-Sein« und Aussendung/ Weggehen von Jesus (Mk 6,37: ἀπελθόντες ἀγοράσωμεν … ἄρτους; ). Nachdem die Jünger in der ersten Speisungserzählung gelernt hatten, dass sie zur Erfüllung ihres Auftrages die Gegenwart Jesu gar nicht zu verlassen brauchen (6,32-44), lässt Jesus sie jetzt allein über den See fahren: Die Jünger wiederholen, was sie zuvor mit Jesus zusammen erlebt hatten. Die Erfahrung, dass die Präsenz Jesu sie vor der Unbill des Sturms bewahrt hatte (4,35-41), wird jetzt auf die Probe gestellt, weil sich Jesus nicht physisch bei ihnen befindet. Die Jünger versagen: Obwohl Jesus zu ihnen kommt, und obwohl sich der Sturm daraufhin legt, fürchten sich die Jünger. Der Erzählerkommentar (6,52: »Denn sie hatten bei den Broten nicht verstanden«) stellt einen Zusammenhang zwischen der ersten Speisungserzählung und der Seewandelperikope her, der für die Gesamtanlage von großer Bedeutung ist. Dieser Zusammenhang bestätigt die »didaktische« Intention der Speisungserzählung (und damit: die konnotative Symbolik der »Brote« als Lehre), wird aber nicht erläutert: Die Leser, auf die der Erzählerkommentar ja zielt, wissen (noch) nicht, welche Einsicht die Jünger »bei den Broten« hätten gewinnen können, die sie dann vor der Furcht auf dem See bewahrt haben würde. Mk lässt das Boot mit Jesus und den Jüngern nicht am intendierten Ziel Bethsaida ankommen (vgl. 6,45), sondern in Gennesaret (6,53). Wie 8,22 zeigen wird, ist dies kein Versehen, sondern kompositionelle Absicht: Erst in Mk 8,22 haben die Jünger ihr vorläufiges »Lernziel« erreicht. Zuvor aber erzählt Mk von der Kontroverse über Reinheit und Unreinheit (7,1-23). Obwohl sich der Widerspruch der Pharisäer und Schriftgelehrten an der Mahlpraxis der Jünger entzündet (7,2), nehmen diese an dem Gespräch gar nicht teil. Sie hören die Antwort Jesu, die wiederum der Erzähler als Reinerklärung aller Speisen deutet (7,19), und bekommen anschließend die Bedeutung der Antwort Jesu erläutert (7,18-23): Verunreinigung passiert nicht durch Speise, sondern durch Taten. Mit Blick auf die zuvor intensiv verwendete Metaphorik »Speise für Lehre« bleibt diese ganze Abhandlung vollständig im semantischen Bereich des zuvor Entfalteten. 230 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch Was es jedoch in diesem Sinn bedeutet, dass Jesus »alle Speisen für rein erklärt«, bleibt zunächst offen. Erst die folgende Erzählung von der Frau, die als Ἑλληνίς und Συροϕοινίκισσα auf doppelte Weise als Nichtjüdin gekennzeichnet wird, klärt dieses Problem. Denn die erbetene und von Jesus zunächst abgelehnte Heilung der Tochter wird in dem Dialog metaphorisch als »Sättigung durch Brot« verhandelt: Jesus begründet seine Verweigerung der Heilung, weil dies bedeute, das »Brot der Kinder den Hündchen vorzuwerfen« (7,27). Die Frau kontert, dass Hündchen und Kindchen (beide Male Diminutiv) von ein und demselben Brot essen. Auf die so formulierte Einsicht (λόγος) hin erklärt Jesus die Tochter für geheilt (7,29), und die Frau findet »das Kindchen« gesund (7,30). Im Licht der seit 6,32 vorbereiteten Metaphorik »Speise/ Brot für Lehre« wird jetzt deutlich: Es gibt nur eine heilsame Lehre für Juden und für Heiden - das ist die Bedeutung der Reinerklärung aller Speisen. Die Jünger waren in dieser Episode aus gutem Grund nicht zugegen; sie werden erst Mk 8,1 im Zusammenhang der »Speisung der 4000« (8,1-9) wieder in die Erzählung eingeführt. Diese zweite Speisungserzählung ist keine Dublette der vormk Überlieferung, 29 sondern wurde erst von Mk geschaffen, und zwar in Entsprechung zu 6,32-44 und in gezielter Weiterentwicklung von 7,24-30. Denn jetzt wird die Menge »mitten im Gebiet der Dekapolis« (7,31) durch dezente, aber deutliche Hinweise als heidnisch gekennzeichnet. 30 Als Jesus sich der Menge »erbarmt«, 31 begreifen die Jünger sofort, dass die Sättigung der Menge ihre Aufgabe ist und stellen damit ihren Lernerfolg seit 6,32-44 unter Beweis: Sie wissen sich verantwortlich und haben auch die falsche Alternative »Mit-ihm-sein« oder ______________________________ 29 So z. B. P. J. A CHTEMEIER , Toward the Isolation of Pre-Markan Miracle Catenae, JBL 89 (1970), 265-291; DERS ., The Origin and Function of the Pre-Markan Miracle Catenae, JBL 91 (1972), 198-221. 30 Vgl. M. K LINGHARDT , Boot und Brot. Zur Komposition von Mk 3,7-8,21, BThZ 19 (2002), 183-202: 197: Die Menschen haben nichts zu essen (8,2: οὐκ ἔχουσιν τί ϕάγωσιν), und einige von ihnen sind von weither gekommen (8,3: τινες αὐτῶν ἀπὸ μακρόθεν ἥκασιν). Darin entsprechen sie der Tochter der Syrophönizierin, die ebenfalls »kein Brot zu essen« bekommen soll und die weit entfernt wohnt. 31 Mk 8,2 σπλαγχνίζομαι ἐπὶ τὸν ὄχλον entspricht Mk 6,34 εἶδεν πολὺν ὄχλον καὶ ἐσπλαγχνίσθη ἐπ ʼ αὐτούς. Allerdings hat das Erbarmen in beiden Fällen unterschiedliche Gründe, die in der unterschiedlichen Charakterisierung der beiden Gruppen liegen: Wenn die Menge in 8,2 eine Menge von Heiden ist, ist die Notwendigkeit, dass sie von Jesus belehrt und dann auch gesättigt wird, unmittelbar einsichtig. Dagegen wird das Erbarmen Jesu in 6,34 dadurch erläutert, dass sie »wie Schafe waren, die keinen Hirten haben«: Diese traditionelle Metapher für Führungs- und Orientierungslosigkeit (vgl. Num 27,27; 1Kön 22,17; Jud 11,19; Ez 34,5.8; 2Chron 18,16 usw.) setzt voraus, dass diese »Schafe« von ihren »Hirten« vernachlässigt und eben nicht angemessen »gesättigt« wurden. Aus diesem Grund kann die Menge auch nicht εἰς τοὺς κύκλῳ ἀγροὺς καὶ κώμας geschickt werden, um sich von dort her zu verpflegen (6,36): Im Unterschied zu 8,3 steht dem nicht der lange Heimweg entgegen, sondern der Umstand, dass der Mangel der Menge an orientierender Lehre ja in genau diesen »Weilern und Dörfern« entstanden ist. Vgl. dazu K LINGHARDT , a. a. O. 193f. § 11: Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Mk 231 »weggehen« hinter sich gelassen, die bei der ersten Speisung der Durchführung ihres Auftrags im Wege gestanden hatte. Dagegen liegt ihre Schwierigkeit jetzt darin, dass sie Heiden satt machen sollen: »Von woher (πόθεν) kann jemand diese hier (τούτους) sättigen mit Broten in der Wüste? « (8,4). 32 Die Jünger bleiben also hinter der von der Syrophönizierin formulierten Erkenntnis zurück, dass es nur ein Brot - und das heißt in diesem Kontext ja schon längst: nur eine Lehre - für Juden und Heiden gibt. Aber die Jünger waren bei diesem Gespräch ja auch nicht zugegen: Ihr Unverständnis gibt den Lesern Gelegenheit, ihr eigenes (größeres) Verstehen ins Spiel zu bringen. 33 Am Ende erfahren die Jünger, dass ihre eigenen Brote für die Sättigung auch von »diesen hier in der Wüste« mehr als ausreichend sind (8,5-8): Jetzt darf man auch bei ihnen die Erkenntnis der Syrophönizierin voraussetzen, dass es nur eine Lehre für »Kindchen« und für »Hündchen«, für Juden und Heiden, gibt. In den beiden rahmenden Heilungsgeschichten (Mk 7,31-37; 8,22-26) ist dieses Unverständnis der Jünger narrativ gefasst. Beide behandeln auf jeweils ganz analoge Weise die Beseitigung von Wahrnehmungshindernissen. 34 Dass die Heilung von Taubheit und Blindheit auf die Überwindung des Unverständnisses (der Jünger) zielt, zeigt der entsprechende Vorwurf Jesu in Mk 8,17f.21. Aber das Nichtverstehen ist hier gegenüber der mangelnden Einsicht bei der zweiten Speisung schon wieder weiterentwickelt. Denn als Folge der Sättigung der Heidenmenge verlangen die Pharisäer von Jesus ein Zeichen. Man darf verstehen: Dieser Legitimationsausweis wird notwendig, weil und sobald die Jünger Jesu mit ihrer Lehre auch Heiden »sättigen«. Dass die Zeichenforderung nicht nur ein Problem theologischer Einsicht thematisiert, zeigt die letzte Überfahrt (8,13-21) mit Jesu Warnung vor »vor dem Sauerteig der Pharisäer und dem Sauerteig des Herodes« 35 (8,15). Vor dem Hintergrund der Speise/ Lehre-Metaphorik bezieht sich diese Warnung vor der ______________________________ 32 Mt 15,33 verändert mit dem Satzbau die Logik und macht aus einem qualitativen ein quantitatives Problem: »Woher gibt es für uns in der Wüste so viele Brote (ἄρτοι τοσοῦτοι), um eine so große Menge (ὄχλον τοσοῦτον) satt zu machen? « 33 Zur hermeneutischen Funktion der Unverständnisnotizen vgl. M. K LINGHARDT , Erlesenes Verstehen. Leserlenkung und implizites Lesen in den Evangelien, ZNT 21 (2008), 27-37. 34 Die Eingangswendungen Mk 7,33 (καὶ ϕέρουσιν αὐτῷ κωϕὸν καὶ μογιλάλον καὶ παρακαλοῦσιν αὐτὸν ἵνα ἐπιθῇ αὐτῷ τὴν χεῖρα) und Mk 8,22 (καὶ ϕέρουσιν αὐτῷ τυϕλὸν καὶ παρακαλοῦσιν αὐτὸν ἵνα αὐτοῦ ἅψηται) entsprechen sich fast aufs Wort genau. Außerdem wird nur in diesen beiden Geschichten von einer magischen Handlung im Zusammenhang der Heilung berichtet (7,33; 8,23.25). 35 Auch hier zeigt die v. l. wahrscheinlich den vorkanonischen *Mk-Text. Anstelle von Ηρωδου (M) lesen P 45 W Θ f 1.13 28 565 2542 pc i k sa mss : των Ηρωδιανων. Die Herodianer sind in Mk 3,6 neben den Pharisäern genannt als diejenigen, die den Todesbeschluss fassen. Herodes ist in Mk 6,24-26 für den Tod des Täufers verantwortlich. Zum Problem s. u. § 14.2. 232 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch ζύμη auf die Lehre der Pharisäer, 36 die jedoch in Verbindung mit den Herodianern bzw. mit Herodes auch ein Gefährdungspotential sichtbar macht. Dass die Jünger bei dieser letzten Seeüberquerung vergessen hatten Brote mitzunehmen und »außer dem einen Brot keines bei sich hatten« (8,14) und dass sie sich darüber Gedanken machen (8,16), kennzeichnet ihr Bewusstsein, dass sie sich einer realen Gefahr aussetzen, wenn sie die zuletzt gewonnene Einsicht des Einen Brotes für Juden und Heiden in ihrer missionarischen Verkündigung realisieren. Auf genau diese διαλογισμοί (8,16f) bezieht sich die harsche Kritik Jesu (8,17-21): Den Jüngern fehlt noch die Einsicht in die Notwendigkeit ihrer eigenen Leidensbereitschaft. Wenn Jesus von der Lehre der Pharisäer und der durch sie heraufbeschworenen Gefahr redet, die Jünger sich dagegen Gedanken um ihre »Brote« machen, dann reden sie nicht aneinander vorbei, 37 sondern benennen das gleiche Problem aus unterschiedlicher Perspektive. Der von Jesus kritisierte Mangel an Einsicht in die Notwendigkeit der Leidensbereitschaft der Jünger wird anschließend behoben: Diese Einsicht werden die Jünger in der Nachfolge Jesu »auf dem Weg« nach Jerusalem lernen, wie die Heilung der Blindheit des Bartimäus und seine unmittelbare Bereitschaft zur Nachfolge gegenüber der Heilung des Blinden in Bethsaida deutlich macht (Mk 8,22-10,52, vgl. o. S. 213ff). * Diese etwas ausführlichere Paraphrase von Mk 6,45-8,26 hat die Funktion, die narrative Stringenz und die kompositionelle Kohärenz der gesamten Erzähleinheit Mk 3,7-8,22(26) deutlich zu machen: Die durch die semantischen Leitbegriffe »Boot« und »Brot« gekennzeichneten Erzähllinien waren in 3,7-6,44 angelegt und werden in diesem Abschnitt konsequent weitergeführt. Dabei hat Mk die symbolischen Konnotationen kunstvoll weiterentwickelt und die μαθηταί Jesu als seine lernwilligen (und lernfähigen! ) Schüler proträtiert: Ihr »Unverständnis« ist keine bleibende Dummheit oder gar Verstocktheit, sondern verlagert sich schrittweise in dem Maß, in dem sie neue Erfahrungen in das je und je neu Erlernte integrieren müssen. Die kompositionelle Kohärenz, die für diesen Abschnitt sichtbar wird, hat wichtige überlieferungsgeschichtliche Konsequenzen, weil sie die Frage der ______________________________ 36 Dass die Lehre der Pharisäer gerade als Sauerteig(brot) gefasst wird, beinhaltet die feine Ironie, dass nicht die einheitliche Lehre der Jünger für Juden und Heiden verunreinigt, sondern die Lehre der Pharisäer: Sauerteig ist nicht nur »ansteckend«, sondern auch weniger rein als Ungesäuertes (vgl. Ex 12,15; 13,3-7; Dtn 16,3f). Der Hinweis auf die ζύμη der Pharisäer verweist daher zurück auf Jesu Belehrung über Reinheit und Unreinheit (Mk 7,1-23). 37 Vgl. M. D. H OOKER , Mk 195: »why are you discussing the lack of bread, when I am talking about something quite different? « Daher ist auch die literarkritische Lösung obsolet, dass V. 15 ein aus einem anderen Zusammenhang stammender Einschub sei (a. a. O. 194). § 11: Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Mk 233 Bearbeitungsrichtung zwischen *Ev und Mk klärt. Denn wäre Mk 6,45-8,26 (unter der Annahme der Mk-Priorität vor *Ev) tatsächlich von *Ev »ausgelassen« worden, müsste man annehmen, dass *Ev diese große Komposition zerstört hätte, ohne etwas wenigstens ansatzweise Vergleichbares an ihre Stelle zu setzen. Der umgekehrte Prozess ist daher sehr viel wahrscheinlicher: Mk hat die Anregung zum Thema Jüngerschaft aus dem Bericht *6,12-9,17 bezogen. Aber er hat dieses Thema durch einige kleinere redaktionelle Änderungen in Mk 3,7-6,44 in ein stimmiges Konzept gegossen, das er dann ab Mk 6,45 selbständig weiterentwickelt hat. Die »große Auslassung« ist in Wahrheit eine »große Ergänzung« durch Mk. Nach dem Kriterium der je größeren redaktionellen Plausibilität kann kein Zweifel an der *Ev-Priorität vor Mk bestehen. 3. Die »Mk-Q Overlaps«: Mk 9,41-10,12 und die Entsprechungen in *Ev Die im Horizont der Zwei-Quellentheorie als »Mk-Q Overlaps« bezeichneten Texte stellen ein besonderes überlieferungsgeschichtliches Problem dar, weil sie eine Beziehung zwischen zwei Überlieferungsbereichen konstituieren, die nach den Grundannahmen der Theorie eigentlich gar nicht vorgesehen war, nämlich zwischen Mk und »Q«. 38 Schon früh hatte man die Möglichkeit einer (mündlichen oder schriftlichen) Beziehung zwischen Mk und »Q« in Erwägung gezogen 39 und daraus dann weitreichende Schlussfolgerungen für die Historizität des Materials abgeleitet. Es ist an dieser Stelle weder nötig, das Problem der »Mk-Q Overlaps« für die Zwei-Quellentheorie zu diskutieren, noch gar deren angenommene Bedeutung für die historische Jesusforschung zu behandeln: Durch den Nachweis der *Ev- Priorität vor Lk ist die Annahme von »Q« obsolet und die Zwei-Quellentheorie hinfällig geworden. Daher soll hier nur untersucht werden, welchen Aufschluss diese »Doppelüberlieferungen« für die Frage nach dem Bearbeitungsverhältnis zwischen *Ev und Mk zu geben vermögen, und dazu lassen sich auch Beobachtungen nutzbar machen, die im Rahmen der Zwei-Quellentheorie gemacht wurden. Als Beispiele für die Behandlung der »Mk-Q-Doppelüberlieferungen« sind hier nicht die »klassischen« Fälle ausgewählt: Es gibt eine Reihe von Überlieferungsbereichen, an denen die Überschneidungen zwischen »Q« und Mk besonders ______________________________ 38 Diese Sicht hat sich dementsprechend bei zahlreichen Autoren gehalten. Vgl. nur die Liste bei H. T. F LEDDERMANN , Mark and Q, Leuven 1995, 13f Anm. 49. 39 Vgl. nur (mit jeweils unterschiedlicher Abhängigkeitsvermutung) B. W EISS , Lehrbuch der Einleitung in das Neue Testament, Berlin 1886, 506ff; J. W ELLHAUSEN , Einleitung in die drei ersten Evangelien, Berlin 1905, 64-79; W. S CHENK , Der Einfluß der Logienquelle auf das Markusevangelium, ZNW 70 (1979), 141-165 u. a. 234 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch deutlich sind, z. B. die Täufertradition mit der Taufe Jesu, die sog. Beelzebulkontroverse, die Aussendungsrede und anderes. 40 Für diese Beispiele genügt der Verweis auf die unterschiedlichen Bearbeitungsrelationen, die sich in diesem Modell der *Ev-Priorität ergeben. Stattdessen sollen hier nur die Belege aus Mk 9,41-10,12 zur Sprache kommen. Sie sind für die überlieferungsgeschichtliche Analyse besonders aufschlussreich, weil dieses mk Material keine genaue Entsprechung in Lk besitzt und natürlich auch in *Ev fehlt; im Rahmen der »Zwei-Quellentheorie« wird es daher auch als »kleine Auslassung« bezeichnet. Für die Bestimmung der Bearbeitungsrichtung zwischen *Ev und Mk wirft dieser Befund auf den ersten Blick die gleiche Alternative auf wie die »große Auslassung« (Mk 6,45-8,26): Sofern Mk von *Ev abhängig ist, hätte er dieses Material selbständig in seinen Text eingefügt. Im umgekehrten Fall der Mk-Priorität müsste man annehmen dass *Ev diese mk Texte übergangen hat. Es ist jedoch schon deutlich geworden, dass diese Alternative so einfach nicht ist, weil einzelne Elemente aus Mk 9,41-10,12 durchaus Entsprechungen in *Ev besitzen: *14,34 || Mk 9,50 || Mt 5,13; *16,18 || Mk 10,11f || Mt 5,32; 19,9; *17,(1)2 || Mk 9,42 || Mt 18,(7)6. Diese Berührungen sind allerdings in Mk und Mt jeweils breiter entfaltet als in *Ev und ermöglichen daher weitere Aufschlüsse für die Überlieferungsgeschichte. a. Das Logion vom Salz *14,34f || Mk 9,50 || Lk 14,34f || Mt 5,13 Das erste dieser Beispiele von »Mk-Q-Doppelüberlieferungen« innerhalb der »Kleinen Auslassung« ist das Logion vom Salz, das in den drei kanonischen Fassungen jeweils in unterschiedlichem Kontext begegnet und daher besondere überlieferungsgeschichtliche Probleme aufwirft. ______________________________ 40 Vgl. zum Problem s. R. L AUFEN , Die Doppelüberlieferungen der Logienquelle und des Markusevangeliums, Königstein/ Ts. 1980; H. T. F LEDDERMANN , Mark and Q, Leuven 1995. § 11: Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Mk 235 *14,34f 41 Lk 14,34f Mt 5,13 Mk 9,50 καλὸν οὖν τὸ ἅλα· καλὸν οὖν τὸ ἅλας· ὑμεῖς ἐστε τὸ ἅλας τῆς γῆς· καλὸν τὸ ἅλας· ἐὰν δὲ καὶ τὸ ἅλα μωρανθῇ, ἐὰν δὲ καὶ τὸ ἅλας μωρανθῇ, ἐὰν δὲ τὸ ἅλας μωρανθῇ, ἐὰν δὲ τὸ ἅλας ἄναλον γένηται, ἐν τίνι ἐν τίνι ἐν τίνι ἐν τίνι ἀρτυθήσεται; ἀρτυθήσεται; ἁλισθήσεται; αὐτὸ ἀρτύσετε; οὔτε εἰς γῆν οὔτε εἰς κοπρίαν εὔθετόν ἐστιν· οὔτε εἰς γῆν οὔτε εἰς κοπρίαν εὔθετόν ἐστιν, εἰς οὐδὲν ἰσχύει ἔτι ἔχετε ἐν ἑαυτοῖς ἅλα καὶ εἰρηνεύετε ἐν ἀλλήλοις. ἔξω βάλλεται ἔξω βάλλουσιν αὐτό. εἰ μὴ βληθὲν ἔξω καὶ καταπατήται ὑπὸ τῶν ἀνθρώπων. καταπατεῖσθαι ὑπὸ τῶν ἀνθρώπων. ὁ ἔχων ὦτα ἀκούειν ἀκουέτω. Sofern man das Logion als eine selbständige Einheit betrachtet, lässt sich kaum ein begründetes Urteil fällen, ob die »Q«-Fassung, die hinter Lk 14,34f || Mt 5,13 vermutet wird, älter ist als Mk oder umgekehrt. 42 In diesem Fall muss man sich damit begnügen, die Abweichungen der Fassungen zu notieren. Denn die Feststellung, dass das mk ἄναλον γένηται eine Präzisierung des weniger eindeutigen μωρανθῇ (etwa »dumm werden«) darstelle (und deswegen sekundär sei), macht unhaltbare linguistische Voraussetzungen. 43 Aber im Horizont der *Ev-Priorität muss die Frage der ursprünglichen Kontextstellung nicht offenbleiben: Der Kontext in *Ev, dem Lk (wie fast immer) folgt, liefert hier das maßgebliche Vergleichskriterium für Mk 9. Das Logion *14,34f beschließt die Nachfolgebelehrungen mit den Bedingungen für das Jüngersein (*14,25-35; unbezeugt, aber vermutlich vorhanden). Die Metaphorik des Salzes bezieht sich hier auf die Funktion der Jünger, die alles verlassen haben bzw. ihr Kreuz auf sich nehmen (*14,25): Im Blick ist die Radikalität der Jüngerexistenz, die der Würzigkeit des Salzes entspricht. Darum gilt dann umgekehrt: Eine Jüngerexistenz ohne diesen radikalen Verzicht hat keine würzende Qualität mehr und ist obsolet. Diese Begründungsfunktion des Salzlogions ist ziemlich klar und wird nur dadurch ein wenig verstellt, dass die Gleichnisse vom Turmbau bzw. von der Kriegsplanung zwischen den eigentlichen Aufforderungen *14,25-27 und ______________________________ 41 Zum Wortlaut, insbesondere zur Begründung für die letzte Zeile, vgl. die Rekonstruktion z. St. 42 Für die Priorität der Mk-Fassung votierte R. S CHNACKENBURG , »Ihr seid das Salz der Erde, das Licht der Welt«, in: ders., Schriften zum Neuen Testament, München 1971, 177-200: 180; für die »Q«-Fassung argumentierte F LEDDERMANN , a. a. O. 166-169. 43 So das wesentliche Argument von F LEDDERMANN , a. a. O. 168. Vgl. dagegen zu Recht W OLTER , Lk 520 z. St. 236 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch ihrer Begründung stehen, aber die Aufforderung zum Verzicht *14,26 wird in *14,33 mit der Spezifierung auf den Besitz ja wiederholt: Der semantische Zusammenhang ist klar. In Mk 9,50 steht das Logion vom Salz dagegen nach der Warnung vor Verführungen (Mk 9,42-48). Dafür bildet Mk 9,49 πᾶς γὰρ πυρὶ ἁλισθήσεται einen Übergang, der eine gegenüber *14,34f ganz anders geartete semantische Verwendung anzeigt. Deren Sinn ist jedoch alles andere als klar: Die Schwierigkeiten, den semantischen Gehalt von Mk 9,49 zunächst für sich bestimmen zu können, belasten die Bestimmung der Bearbeitungsrichtung in erheblichem Maße. Erschwerend kommt hinzu, dass für Mk 9,49 drei Hauptlesarten bezeugt sind: (1) πᾶσα γὰρ θυσία ἁλὶ ἁλισθήσεται: D b c d ſſ 2 i (2) πᾶς γὰρ πυρὶ ἁλισθήσεται: B C L Δ 0274 f 1.13 28* 565 700 pc sy s sa bo pt (3) πᾶς γὰρ πυρὶ ἁλισθήσεται καὶ πᾶσα θυσία ἁλὶ ἁλισθήσεται: A C K Θ Π Ψ 2427 al lat sy p.h bo pt M . Die Variante (3) stellt eine offensichtliche Konflation aus den beiden Lesarten (1) und (2) dar und ist diesen gegenüber sekundär. Daher bleibt nur die Frage, welche von diesen am ehesten ursprünglich ist. Die gängige Erklärung, dass die Lesart (1) in D (it) mit dem Zitat aus Lev 2,13 als Marginalglosse zu dem ansonsten kaum verständlichen Text der kritischen Ausgaben (B C L Δ 0274 usw.) angeführt und von dort in den Text eingedrungen sei, 44 ist wenig wahrscheinlich: Zum einen bietet Lev 2,13 kaum eine akzeptable Erklärung für den Text von (2) in B C L usw., zum anderen legt die Bezeugung von (1) in D it nahe, dass dies der Text des vorkanonischen *Mk war (s. § 14.2). Diese mutmaßlich vorkanonische D-Lesart (1) besitzt eine noch schwach erkennbare Verbindung mit der vorangehenden Warnung vor Verführung. Sie betrachtet Salz im Sinn von Lev 2,13 LXX (ἅλα διαθήκης) als positives Zeichen des Bundes, das bewahrt werden muss, und zwar, wie der Gleichklang der Imperative in 9,50c zeigt, durch die Bewahrung des Friedens untereinander: Dies wäre ein Verhalten, das der Verführung »eines dieser Kleinen, die an mich glauben« (9,42), entgegengesetzt ist. Die mutmaßlich kanonische Lesart (2) in B C L usw. hat die Beziehung zwischen dem Salzwort und der vorangehenden Warnung vor Verführung auf andere Weise verstanden: »Jeder wird mit Feuer gesalzen« besagt dann, dass niemand der Überprüfung durch das Gericht entgeht. Das gemeinsame Stichwort πῦρ in 9,42.48 auf der einen Seite und in 9,49 auf der anderen wäre dann die semantische Brücke, die jedoch nicht ganz glatt anschließt, denn das Feuer von 9,49 wird ja ausdrücklich als etwas Positives gewürdigt (9,50: καλὸν τὸ ἅλας), wogegen die Feuermetapher in 9,42-48 weniger die Funktion der Überprüfung als die der Strafe kennzeichnet. Diese Überlegung besagt für die Bestimmung der Bearbeitungsrichtung zwischen *Ev und Mk, dass der primäre Vergleichstext für das Salzlogion *14,34f in *Mk 9,49f (D it) zu sehen ist. Die wesentliche Gemeinsamkeit ist dann die positive ______________________________ 44 Vgl. etwa. M ETZGER , Textual Commentary z. St.: »At a very early period a scribe, having found in Lv 2.13 a clue to the meaning of Jesus’ enigmatic statement, wrote the Old Testament passage in the margin of his copy of Mark.« § 11: Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Mk 237 Bewertung des Salzes (*14,24a || Mk 9,50a: καλὸν οὖν τὸ ἅλα): Im Kontext von *Ev bezeichnet sie die Radikalität des für die Jüngerexistenz notwendigen Verzichts, im vorkanonischen *Mk dagegen die Vermeidung der Verführung als Kennzeichen der Bewahrung des Bundes. Die genaue Bearbeitungsrichtung zwischen beiden Texten lässt sich wegen der semantischen Unklarheiten nicht mit der gewünschten Sicherheit feststellen. Allerdings deutet die Rezeption des Salzlogions in Mt 5,13 auf die überlieferungsgeschichtliche Priorität von *14,34f vor *Mk 9,49f (D it) hin. Denn Mt folgt hier nicht der mk Komposition, sondern hat - darin *Mk/ Mk entsprechend - ein einzelnes Logion aus dem Kontext von *Ev herausgelöst und ihm in der Komposition der Bergpredigt einen neuen Kontext gegeben. b. Von Ehescheidung und Wiederheirat (*16,18 || Mk 10,11f || Mt 5,32; 19,9) Für die Frage der Bearbeitungsrichtung ist das nächste Beispiel aufschlussreicher: Das Verbot von Ehescheidung und Wiederheirat (*16,18 || Mk 10,11f || Mt 5,32; 19,9) hat in *Ev als Einzellogion die Funktion, die ewige Geltung des Gesetzes zu verdeutlichen (*16,17). Mk 10,11f || Mt 19,9 enthalten das Logion im Rahmen des Gespräches Jesu mit den Pharisäern über die Ehescheidung (Mk 10,2-12 || Mt 19,3-9), die Jesus in versucherischer Absicht fragen (πειράζοντες αὐτόν Mk 10,2 || Mt 19,9); in Mt 5,32 begegnet es ohne diesen Kontext in den Antithesen. *16,18 Mt 5,32 Mt 19,9 Mk 10,11f ἐγὼ δὲ λέγω ὑμῖν ὅτι λέγω δὲ ὑμῖν ὅτι 11 καὶ λέγει αὐτοῖς· ὃς ἂν ἀπολύσῃ πᾶς ὁ ἀπολύων ὃς ἂν ἀπολύσῃ ὃς ἂν ἀπολύσῃ τὴν γυναῖκα τὴν γυναῖκα αὐτοῦ τὴν γυναῖκα αὐτοῦ τὴν γυναῖκα αὐτοῦ παρεκτὸς λόγου πορνείας μὴ ἐπὶ πορνείᾳ καὶ ἄλλην γαμήσῃ, ποιεῖ αὐτὴν καὶ γαμήσῃ ἄλλην καὶ γαμήσῃ ἄλλην μοιχεύει, μοιχευθῆναι, μοιχᾶται. μοιχᾶται ἐπ’ αὐτήν· καὶ ὃς ἂν καὶ ὃς ἐὰν 12 καὶ ἐὰν αὐτὴ ἀπὸ ἀνδρὸς ἀπολελυμένην ἀπολελυμένην ἀπολύσασα τὸν ἄνδρα αὐτῆς γαμήσῃ, γαμήσῃ, γαμήσῃ ἄλλον ὁμοίως μοιχός ἐστιν. μοιχᾶται. μοιχᾶται. Die Rekonstruktion der Fassung von *Ev beruht auf Tertullians Zitat. 45 Sie weicht in mancher Hinsicht von der kanonischen Lk-Fassung ab, die dann auch für die Erkundung der »Q«-Fassung ______________________________ 45 Tertullian referiert das Logion zweimal in geringfügig unterschiedlicher Fassung. Die Rekonstruktion folgt dem (durch inquit angezeigten) wörtlichen Zitat in 4,34,4, das sich von der etwas freieren Wiedergabe in 4,34,1 in wenigen Einzelheiten unterscheidet: uxorem + suam; committit anstelle von commisit; qui dimissam a viro anstelle von qui a marito dimissam. 238 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch eine Rolle gespielt hat. Die Beobachtungen, die in diesem Zusammenhang diskutiert wurden, 46 sind daher für die weitere Fragestellung obsolet. Das gleiche gilt auch für die Schlussfolgerungen, die für das Verhältnis der mutmaßlichen »Q«-Fassung und Mk 10,11f gezogen wurden. 47 Da Mt einerseits die »Unzuchtsklausel« (παρεκτὸς λόγου πορνείας bzw. μὴ ἐπὶ πορνείᾳ) erkennbar eigenständig einfügt und ebenso sicher für die kausative Formulierung ποιεῖ αὐτὴν μοιχευθῆναι (Mt 5,32) verantwortlich ist, und da andererseits die partizipiale Fassung von Lk 16,18 erst auf die lk Redaktion zurückgeht, wird die große Ähnlichkeit zwischen *Ev und Mk deutlich: Der jeweilige Wortlaut lässt überhaupt keine redaktionellen Anzeichen erkennen, die sich für die Bestimmung der Bearbeitungsrichtung auswerten ließen. 48 Aus diesem Grund ist wieder der unterschiedliche Kontext zu berücksichtigen, in dem das Logion in *Ev und in Mk erscheint. Unter der Voraussetzung der *Ev- Priorität vor Mk hätte dieser das Logion im Zusammenhang von *16,16-31 vorgefunden, also als Teil einer Abhandlung, in der es durchweg um die positive Bewertung des Gesetzes und seine andauernde Geltung geht. Die unmittelbare Abfolge von *16,17 und *16,18 stellt daher ein Problem dar: Zu den »Häkchen der Worte des Herrn« gehört dann eben auch die Scheidungsregelung von Dtn 24,1-4, sodass die Kontextverbindung in *Ev an dieser Stelle einen Gegensatz konstituiert, der nicht ohne weiteres aufzulösen ist. Die Abfolge der Vv. *17 und *18 läge bestenfalls vor dem Hintergrund der Ehebruchsmetaphorik von Hos 2 nahe; dies ist denkbar, aber der Text lässt diesen Zusammenhang nicht einmal ansatzweise erkennen. Auch Tertullian hat einen solchen metaphorischen Zusammenhang nicht gesehen, obwohl er ihm durchaus gelegen gekommen wäre. An dieser Stelle bleibt also ein unlösbarer Widerspruch. Umgekehrt bieten Mk und Mt das Logion im Rahmen der Pharisäerfrage Mk 10,2-12 || Mt 19,3-9. Deren Stellung im Zusammenhang des mk Berichts über den »Weg« Jesu nach Jerusalem (Mk 8,27-10,52) ist einigermaßen überraschend. Denn in diesem Erzählabschnitt behandelt Mk ansonsten ausschließlich Fragen der Jüngerexistenz, zu der die Auseinandersetzung mit den Pharisäern nicht gut passt: Diese wollen Jesus aufs Glatteis führen (πειράζοντες αὐτόν) und fragen nach dem ______________________________ 46 Vgl. dazu G. S CHNEIDER , Jesu Wort über die Ehescheidung in der Überlieferung des Neuen Testaments, in: ders., Jesusüberlieferung und Christologie, Leiden u. a. 1992, 187-209. 47 Vgl. dazu F LEDERMANN , a. a. O. 172-174; R. L AUFEN , Die Doppelüberlieferungen der Logienquelle und des Markusevangeliums, Königstein/ Ts. 1980, 343-347. 48 L AUFEN , a. a. O. 347, setzt voraus, dass die partizipiale (lk) Fassung älter ist als der konditionale Relativsatz bei Mk (und Mt) und schließt daraus, dass die mk Fassung eine ältere »Q«-Fassung bearbeitet habe. Dagegen geht F LEDDERMANN , a. a. O. 173f, davon aus, dass die älteste Fassung »palästinische Verhältnisse« spiegele, nach denen nur der Mann das Recht zur Scheidung habe, wogegen die mk Fassung auch der Frau die Möglichkeit der Scheidung einräume und daher gegenüber der »Q«-Fassung sekundär sei. Ich halte beide Überlegungen für methodisch unzulässig: Selbst wenn die jeweiligen Implikationen zutreffen sollten (was fraglich ist), lässt sich daraus kein überlieferungsgeschichtliches Urteil ableiten. § 11: Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Mk 239 Erlaubtsein (εἰ ἔξεστιν) der Scheidung. Schon diese Einleitung »ist merkwürdig, weil für den Juden diese Frage durch Dt 24,1-4 hinreichend geklärt ist.« 49 Die feindselige Haltung der Fragesteller ist also evident, und deswegen würde man diese Perikope eher im Kontext der Jerusalemer Streitgespräche ab Mk 11,27 || Mt 21,23 erwarten. Der für die mk Komposition des Abschnitts Mk 8,27-10,52 charakteristische Aspekt der Jüngerbelehrung findet jedoch darin Ausdruck, dass der mk Jesus im Anschluss an das Streitgespräch mit den Pharisäern den Jüngern eine spezielle Belehrung über diesen Sachverhalt »im Haus« zuteilwerden lässt (Mk 10,10-12) und in diesem Kontext das Ehescheidungslogion mitteilt. Das Problem der ungewöhnlichen Stellung der Perikope würde sich also gut erklären, wenn Mk das Logion in *Ev vor den Jerusalemer Auseinandersetzungen ab *20,1ff vorgefunden hätte (nämlich in *16,18) und er die für sein redaktionelles Konzept typische Jüngerbelehrung (Mk 10,10-12) dadurch geschaffen hätte, dass er ihm eine öffentliche Szene (Mk 10,2-9) voranstellte. Dass Mk dafür als Gesprächspartner die Pharisäer (und nicht etwa die Schriftgelehrten) wählte, ergibt sich ebenfalls aus *Ev, denn hier ist die ganze Einheit *16,14-31 als Rede gegen die Pharisäer konzipiert. 50 Auch in inhaltlicher Hinsicht ist es plausibel, dass Mk 10,2-12 die Fassung in *Ev voraussetzt. Denn Mk lässt Jesus die Ausgangsfrage der Pharisäer ja nicht mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten. Da die Pharisäer nach dem Erlaubtsein der Scheidung im Sinn einer gesetzlichen Regelung fragen, zielt die mk Komposition der Einheit von Anfang an auf das Problem der hermeneutischen Differenzierung der Geltung des Gesetzes: Es geht nicht um die Scheidung, sondern um die Geltung des Gesetzes. Die Kritik, dass die Regelung der Ehescheidung nur πρὸς τὴν σκληροκαρδίαν ὑμῶν erlassen worden sei, 51 greift die aus *Ev vorgegebene Rahmenthematik auf, entwickelt sie aber weiter, indem sie durch die (von Jesus freigelegte) Schöpfungsordnung eingeschränkt wird. Der mk Kontext löst also ein Problem, das überhaupt nur durch die widersprüchlich erscheinende Abfolge von *16,17 und *16,18 vorgegeben war und das Mt durch die Einfügung der Unzuchtsklausel (Mt 5,32; 19,9) noch weiter zu reduzieren bemüht ist. Unter der umgekehrten Annahme der Mk-Priorität vor *Ev müsste man annehmen, dass *Ev die hermeneutische Einschränkung der Geltung des Gesetzes durch die Schöpfungsordnung beseitigt hätte: Er hätte genau den Widerspruch geschaffen und durch die Komposition von *16,17f in aller Schärfe herausgestellt, für den die mk Komposition des Streitgesprächs bereits eine Lösung bietet. Da eine ______________________________ 49 S CHNEIDER , a. a. O. 198. 50 Der Gegensatz zu den Pharisäern in *16,14 ist durch Tertullian eindeutig gesichert (Tert. 4,33,2: irridebant denique pharisaei pecuniae cupidi …), s. die Rekonstr. z. St. 51 Vgl. zu diesem Topos K. B ERGER , Hartherzigkeit und Gottes Gesetz. Die Vorgeschichte des antijüdischen Vorwurfs in Mc 10,5, in: ders., Tradition und Offenbarung, Tübingen - Basel 2006, 1-43. 240 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch solche Ungeschicklichkeit nicht anzunehmen ist, begründet auch dieses Beispiel die *Ev-Priorität vor Mk. c. Die Warnung vor dem σκάνδαλον (*17,1f || Mk 9,42 || Mt 18,6f) Für die Warnung vor dem Anstoß gegenüber »einem dieser Kleinen« ist weniger deutlich, dass hier eine der sog. »Mk-Q-Doppelüberlieferungen« vorliegt, als dies in den vorangehenden Beispielen der Fall ist: Im Rahmen der Zwei-Quellentheorie bleibt strittig, ob es eine »Q«-Fassung des Logions überhaupt gab. 52 *17,1f Mk 9,42 Mt 18,7b.a.6 1 Εἶπεν δὲ πρὸς τοὺς μαθητὰς αὐτοῦ, ἀνένδεκτόν ἐστιν τοῦ 7b ἀνάγκη γὰρ ἐλθεῖν τὰ σκάνδαλα μὴ ἐλθεῖν, τὰ σκάνδαλα, πλὴν οὐαὶ ἐκεῖνῳ πλὴν οὐαὶ τῷ ἀνθρώπῳ δι’ οὗ τὸ σκάνδαλον ἔρχεται· δι’ οὗ τὸ σκάνδαλον ἔρχεται. 7a Οὐαὶ τῷ κόσμῳ ἀπὸ τῶν σκανδάλων· Καὶ ὃς ἂν σκανδαλίσῃ 6 Ὃς δ’ ἂν σκανδαλίσῃ ἕνα τῶν μικρῶν τούτων τῶν πιστευόντων εἰς ἐμέ, ἕνα τῶν μικρῶν τούτων τῶν πιστευόντων εἰς ἐμέ, 2 συμϕέρει αὐτῷ εἰ καλόν ἐστιν αὐτῷ μᾶλλον εἰ συμϕέρει αὐτῷ ἵνα μὴ γεννηθῇ ἢ λίθος μυλικὸς περιέκειτο περίκειται μύλος ὀνικὸς κρεμασθῇ μύλος ὀνικὸς περὶ τὸν τράχηλον αὐτοῦ περὶ τὸν τράχηλον αὐτοῦ περὶ τὸν τράχηλον αὐτοῦ καὶ ἐρρίπτετο καὶ βέβληται καὶ καταποντισθῇ εἰς τὴν θάλασσαν εἰς τὴν θάλασσαν. ἐν τῷ πελάγει τῆς θαλάσσης. ἢ ἵνα σκανδαλίσῃ ἕνα τούτων τῶν μικρῶν. Der im Rahmen der Zwei-Quellentheorie fragliche literarische Zusammenhang zwischen Mt 18,6 und Lk 17,2 ist durch die Verbindung mit dem Wehe-Ruf Mt 18,7 || Lk 17,1 allerdings sehr wahrscheinlich. Auffällig sind jedoch die mk-lk Gemeinsamkeiten gegen Mt, die sich bei näherem Zusehen als Gemeinsamkeiten ______________________________ 52 Häufig wird Mt 18,6 || Lk 17,2 nicht zum Bestand von »Q« gerechnet. Vgl. D. L ÜHRMANN , Die Redaktion der Logienquelle, Neukirchen-Vluyn 1969, 116; S. S CHULZ , Q. Die Spruchquelle der Evangelisten, Zürich 1972, 7-9; P. H OFFMANN , Studien zur Theologie der Logienquelle, Münster 2 1972, 5. Aus diesem Grund verzichtet R. Laufen darauf, das Logion unter den Beispielen für die Mk- Q-Doppelüberlieferungen zu behandeln (L AUFEN , a. a. O. 87). F R . N EIRYNCK , Recent Developments in the Study of Q, in: ders., Evangelica II, Leuven 1991, 409-464: 432, hält nur Lk 17,1b für einen Bestandteil von »Q« und schreibt Lk 17,2 komplett der lk Redaktion von Mk zu. § 11: Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Mk 241 von *Ev und Mk erweisen. 53 Für unsere Fragestellung nach der Bearbeitungsrichtung zwischen *Ev und Mk stellt sich dieses Problem anders dar, weil das Logion in der hier rekonstruierten Form durch Tertullian und Adamantius für *Ev bezeugt ist. Wiederum ist die jeweilige Stellung im Kontext aufschlussreicher als der Vergleich des Wortlauts in beiden Fassungen. *Ev enthielt die Warnung vor der Verführung »eines dieser Kleinen« als erstes einer Reihe von Einzellogien, die nach dem an die Pharisäer gerichteten Lazarusgleichnis (*16,19-31) gegenüber den Jüngern neue Themen anschneiden. Nur mit dem folgenden Logion über die Vergebungspflicht gegenüber dem Bruder (*17,3f) besteht ein gut nachvollziehbarer Zusammenhang, aber diese Einheit ist weder nach hinten noch gar nach vorne erkennbar sinnvoll in den Kontext eingebunden. 54 Immerhin ist für diese kleine Einheit (*17,1-4) der textsemantische Zusammenhang klar. Der Anstoß, der unweigerlich kommen wird (*17,1) und trotzdem zu vermeiden ist (*17,3a), besteht darin, dem Bruder, »der gegen dich sündigt«, die Vergebung zu verweigern, obwohl er Reue zeigt und Besserung verspricht (*17,4). Das Demonstrativum εἷς τῶν μικρῶν τ ο ύ τ ω ν *17,2 verweist kataphorisch auf ὁ ἀδελϕός σου *17,3b voraus: Er ist ein »Kleiner«, weil er sich »an dir versündigt«. Hier sind also ganz betont die Verhältnisse innerhalb derselben Gruppe im Blick. Im Unterschied dazu ist die Warnung vor dem Anstoßgeben bei Mk und Mt in eine längere Belehrung an die Jünger eingebettet, deren sachliche Zusammengehörigkeit auch durch die raum-zeitliche Einheit der Szene zum Ausdruck kommt (Mk 9,33-50). Mk 9,42 schließt dabei direkt an das vorangehende Wort über den »fremden Wundertäter« (9,39-41) an: Das Demonstrativpronomen (ἕνα τῶν μικρῶν τ ο ύ τ ω ν ) verweist anaphorisch auf den Wundertäter zurück und qualifiziert ihn als einen »dieser Kleinen«. Man versteht dann zweierlei: Zum einen ist der Wundertäter ein »Kleiner«, weil er nicht zu denjenigen gehört, die »mit uns nachfolgen«, 55 und darin ähnelt er dem Kind aus Mk 9,36f. Zum anderen wird der Versuch der Jünger, den fremden Jesusanhänger am Exorzismus zu hindern (Mk 9,38), mit der Verführung eines »dieser Kleinen« parallelisiert, ohne damit identisch sein zu können. Wenn also εἷς τῶν μικρῶν τούτων als gemeinsamer Referent für das Kind und den Wundertäter dient, versteht man τῶν πιστευόντων εἰς ἐμέ als präzisierenden Zusatz, der sinnvoll ist, weil die (an Alter, Körpergröße ______________________________ 53 Drei mk-lk Gemeinsamkeiten gegen Mt sind zu notieren: (1) περίκειται Mk || Lk ≠ κρεμασθῇ Mt (das lk Präsens geht allerdings auf Mk zurück; *Ev bietet Aor.). (2) εἰ Mk || Lk ≠ ἵνα Mt. (3) εἰς τὴν θάλασσαν Mk || Lk ≠ ἐν τῷ πελάγει τῆς θαλάσσης Mt. 54 Mit Bezug auf den Lk-Text bemerkt Wolter resignierend das Fehlen einer szenischen Einbettung dieser Jüngerrede: »Lukas macht sich nicht einmal mehr die Mühe, sie von der vorangegangenen Rede an die Pharisäer zeitlich und räumlich zu distanzieren« (W OLTER , Lk 564). 55 Mk 9,38 (D). Die handschriftliche Überlieferung ist disparat, die D-Lesart (ος ουκ ακολουθει μ ε θ η μ ω ν και εκωλυομεν αυτον) repräsentiert möglicherweise die vorkanonische *Mk-Fassung. 242 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch oder sozialem Ansehen) »Kleinen« nicht notwendig Angehörige derselben Gruppe sind. Diese Unterschiede haben dann zur Folge, dass auch das in *Ev und Mk gemeinsame Wort vom Mühlstein eine jeweils unterschiedliche semantische Funktion besitzt. *Ev drückt damit die Schwere des Gerichts über diejenigen aus, die einem ihrer geringen Brüder die Vergebung verweigern. Die für *Ev bezeugte Parallelisierung des Bildes vom Mühlstein durch »(es wäre besser,) er wäre nicht geboren« macht deutlich: Das Schicksal, das einen solchen treffen wird, ist schlimmer als tot bzw. überhaupt nicht geboren zu sein. Die Logien über die Selbstverstümmelung, die bei Mk mit dem Wort vom Mühlstein verbunden sind (Mk 9,43.45.47), basieren zunächst auf der gleichen Kontrastierung: Es ist besser, »verstümmelt in das Leben einzugehen« als mit allen Gliedern in der Hölle zu schmoren. Aber die darin implizierten Aufforderungen, sich von denjenigen Gliedern zu trennen (ἀπόκοψον/ ἔκβαλε), die Anlass zum Anstoß bieten, ist hier doch deutlich mehr gesagt als ein Vergleich zwischen Tod/ Nicht-Geborensein und den drohenden Höllenqualen. Denn der paränetische Aspekt bezieht sich dann auch auf den Umgang mit solchen Vergebungsverweigerern: Sie haben keinen Platz bei denen, die Jesus nachfolgen. Diese Unterschiede erweisen die mk Fassung gegenüber *Ev als sekundär. Dies wird noch deutlicher, wenn man den weiteren kompositorischen Rahmen in Mk 9,33-50 beachtet. Denn Mk hat hier aus verstreuten und gerade nicht direkt miteinander verbundenen Logien eine einheitliche Szene geschaffen und diese durch die Einleitungsnotizen in 9,33 und 10,1 auch deutlich von weiteren Kontext abgesetzt. Würde man den mk Kontext für ursprünglich, *Ev dagegen für sekundär halten, müsste man annehmen, dass *Ev einen Teil dieser Komposition (nämlich den Stoff von Mk 9,41-10,12) redaktionell getilgt und sie auf diese Weise zerstört hätte, was schon für sich genommen wenig Wahrscheinlichkeit hat. Darüber hinaus hätte *Ev aus diesem (ansonsten ausgelassenen) Zusammenhang aber zwei Einzellogien (Mk 9,42 || *17,2; Mk 9,50 || *14,34f) an anderer Stelle, ohne den jeweiligen Kontext und in anderer semantischer Verwendung rezipiert. Das ist nicht wahrscheinlich. Sehr viel näher liegt, dass Mk den ihm in *Ev vorliegenden Zusammenhang ergänzt und daraus eine in sich weitgehend stimmige Komposition geschaffen hat, die einen wichtigen ekklesiologischen Beitrag zum Thema »Präferenz der sozialen Niedrigkeit« leistet. Dieser Abschnitt wird kompositionell durch die zweite Leidensankündigung (Mk 9,30-32) eingeleitet, die ihn auch theologisch bestimmt. § 11: Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Mk 243 d. Methodische Folgerungen In methodischer Hinsicht eröffnen die hier erwähnten Beispiele für die »Mk-Q- Doppelüberlieferungen« wichtige Einsichten. Zunächst bestätigen sie die *Ev- Priorität vor Mk, die allerdings auch sonst durch den Vergleich kompositionskritischen Vergleich von *Ev und Mk deutlich geworden ist: *Ev hat nicht nur Lk als Quelle vorgelegen, sondern auch Mk. Die sog. »Mk-Q Overlaps«, die eine schwere methodische Beeinträchtigung für die Zwei-Quellentheorie darstellen, sind daher eine Folge der mk Redaktion seiner Quelle *Ev: Sie zeigen gerade in denjenigen Aspekten, in denen Mk und *Ev sich unterscheiden, die ordnende und planvoll gestaltende Hand von Mk. Dies gilt auch für andere »Mk-Q-Doppelüberlieferungen«, die hier nicht eigens besprochen sind. Vor allem der Vergleich der jeweiligen sprachlichen Gestalt hatte Harry Fleddermann dazu veranlasst, in den »Overlap«-Texten jeweils die mk Fassung gegenüber »Q« für sekundär zu halten und die Unterschiede zwischen beiden Fassungen auf mk Redaktion zurückzuführen. 56 Die Berücksichtigung der Kontextanalyse und die Beachtung kompositioneller Kriterien hat in diesen Beispielen die mk Redaktionstätigkeit bestätigt - mit dem entscheidenden Unterschied natürlich, dass der Vergleichstext für Mk nicht »Q« ist, sondern *Ev. Gleichwohl bleibt Fleddermanns Einsicht methodisch wichtig. Da er im Rahmen der Zwei-Quellentheorie operiert, rechnet er mit einer doppelten Abhängigkeit der Seitenreferenten (Mt; Lk) von ihrem Ausgangstext »Q«: Zum einen gibt es die direkte Rezeption von »Q« durch Mt und Lk in den Schritten ② und ③ , zum anderen die durch Mk vermittelte in den Relationen ④ und ⑤ . Das Diagramm, dessen Aussagekraft von Frans Neirynck durch die veränderte Darstellung noch hervorgehoben wurde, macht diesen doppelten Einfluss deutlich. - - - -- Q- - - - ---------Q- ---------- ①- Mk- - --------------- ② - - --- - ---------- ---------①- --------③ - ---- ④ ------ - - -- ③ - ------------ ----------------- ② --------------Mk-------------------- ----------------------- ⑤ --------------------------------------- - - -- ④------⑤ - Mt- - - - Lk- - -------------Mt- - ----------------Lk- Abb. 4: Die Synoptischen Relationen nach der Zwei-Quellentheorie unter Berücksichtigung der Abhängigkeit Mk von Q 57 Über die hier zu klärende Frage nach dem Bearbeitungsverhältnis zwischen *Ev und Mk hinaus hat die in diesem Diagramm sichtbar werdende doppelte Abhängigkeit ______________________________ 56 H. T. F LEDDERMANN , Mark and Q, Leuven 1995 (passim und die Zusammenfassung 209ff). 57 Das linke Diagramm nach F LEDDERMANN , a. a. O. 215, das rechte nach Neiryncks »Assessment« zu Fleddermanns Untersuchung (F R . N EIRYNCK , Mark and Q: Assessment, in: Fleddermann, a. a. O. 263-307: 300 = F R . N EIRYNCK , Evangelica III, 505-545: 542). 244 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch der Seitenreferenten von dem Ausgangstext der Überlieferung einige Konsequenzen, von denen nur drei kurz zu nennen sind. Zum ersten fällt die strukturelle Ähnlichkeit dieses überlieferungsgeschichtlichen Modells mit dem oben skizzierten ins Auge (s. S. 208): Die neutestamentliche Evangelienüberlieferung hat sich nicht aus zwei voneinander unabhängigen Überlieferungssträngen heraus entwickelt, sondern geht auf einen einheitlichen Ursprung zurück. Dass dieser eine gemeinsame Ursprung nicht in »Q«, sondern in *Ev zu finden ist, erhärtet dieses Urteil. Denn in diesem Fall wird eine zentrale Frage beantwortet, die in Fleddermanns Modell offenbleibt: Läge der Ursprung der Evangelienüberlieferung in »Q«, müsste man annehmen, dass die älteste Jesusüberlieferung ganz weitgehend ohne Erzählmaterial und vor allem ohne Passionstradition ausgekommen ist. Das hinter Fleddermanns Modell stehende Bild der Entwicklung der Jesustradition verläuft von einem weisheitlich-charismatischen Propheten hin zu einem Märtyrer, von der Sammlung seiner Worte hin zum Bericht über sein Schicksal. 58 Wenn dagegen der gemeinsame Ursprung nicht »Q«, sondern *Ev ist, trifft dieses Bild der frühesten Entwicklung nicht zu: Die älteste, schriftliche Jesusüberlieferung war nicht überwiegend durch (weitgehend selbständiges) Redematerial charakterisiert, sondern enthielt dieses von Anfang an eingebettet in den narrativen Rahmen einer biographischen Erzählung über Jesus. Diese Unterschiede sind hier nicht weiter auszuführen. Es ist aber leicht erkennbar, dass sie eine Reihe von Fragestellungen betreffen, die für die Rekonstruktion der frühesten Geschichte des Christentums von entscheidender Bedeutung sind, also etwa zur Entwicklung der frühesten Christologie oder zu den Trägern der frühen Jesusüberlieferung. Eine zweite Folge dieses Modells eines einheitlichen Ursprungs der Evangelienüberlieferung bezieht sich auf die historische Jesusforschung und die Einschätzung der Möglichkeit, im Gesamtbestand der Evangelien »authentische« Überlieferungen zu identifizieren. Will man den gemeinsamen Ursprung nicht einfach für »historisch« erklären, lässt sich die Identifizierung »authentischer« Traditionen jedenfalls nicht mehr mit überlieferungsgeschichtlichen Argumenten stützen. Für die Feststellung der Historizität bleiben also nur noch »innere« Kriterien. Da diese notwendigerweise immer zirkulär sind, unterliegt die Unterscheidung zwischen »authentischen« und »sekundären« Traditionen, aufs Ganze gesehen, einem methodischen non liquet. Die Suche nach verlässlichen Jesusüberlieferungen, die im ausgehenden 18. und im 19. Jh. die Evangelienforschung und ihre quellenkritischen Bemühungen motivierte, bleibt ohne ein methodisch valides Ergebnis. ______________________________ 58 Dieses Entwicklungsmodell wurde insbesondere seit den 1960er Jahren angeregt durch H. K OESTER , J. M. R OBINSON , Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums, Tübingen 1971. § 11: Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Mk 245 Eine dritte Einsicht zu dem gemeinsamen Ursprung der Evangelienüberlieferung bezieht sich auf das Zustandekommen der »Mk-Q Overlaps«. Denn für diese gilt auf der Ebene größerer redaktioneller Eingriffe das gleiche, was auch schon für die »Minor Agreements« auf der Ebene kleiner und kleinster Veränderungen zu beobachten war: Sie können auf zwei grundsätzlich verschiedene Weisen entstanden sein. Die oben besprochenen Beispiele (*14,34 || Mk 9,50; *16,18 || Mk 10,11f; *17,(1.)2 || Mk 9,42) gehen durchweg auf die redaktionellen Erweiterungen von *Ev durch Mk zurück. Die Entsprechungen dazu in Mt und Lk waren durchaus unterschiedlich, sodass, zumindest im Fall von *17,1f, die Zugehörigkeit des Logions zum Bestand von »Q« strittig ist (vgl. o. S. 240 Anm. 52). Aber es ist ebenso gut denkbar, dass solche »Mk-Q Overlaps« dadurch entstehen, dass Mt redaktionelle Änderungen an Mk vornimmt, denen Lk folgt: Im Unterschied zur Zwei-Quellentheorie, die aus methodischen Gründen prinzipiell auf die Unabhängigkeit von Mt und Lk setzen muss, ist für das vorgeschlagene Modell der Überlieferungsgeschichte eine solche Abhängigkeit ohne weiteres vorstellbar (s. u. § 12). 4. Die *Ev-Priorität vor Mk: Anfang und Ende des Evangeliums Ein letzter Bereich, in dem die Bearbeitungsrichtung von *Ev zu Mk deutlich wird, betrifft den kompositionellen Rahmen der jeweiligen Gesamterzählungen. Wie bereits im Verhältnis von *Ev und Lk, ist es auch für das Verhältnis von *Ev zu Mk besonders aufschlussreich, die jeweilige Gestaltung von Anfang und Ende der Erzählungen miteinander zu vergleichen. Dieser letzte Abschnitt soll die Bearbeitungsrichtung von *Ev zu Mk anhand der literarischen Konzepte der jeweiligen Gesamterzählung illustrieren. a. Der Anfang des Evangeliums in *Ev und Mk Der Beginn von *Ev ist vergleichsweise schlicht erzählt: Nach der Datierung lässt *Ev Jesus »nach Kapharnaum herabkommen« und schildert in der dortigen Synagoge seine Lehre »in Vollmacht« und einen ersten Exorzismus (*3,1a; *4,31-37). Die erste Aussage über die Identität Jesu ist dem Dämon in den Mund gelegt: »Ich weiß, wer du bist: Der Heilige Gottes« (*4,34). Nach *4,36f (möglicherweise in *Ev enthalten, s. dort) hat die Menge diese Identifikation gehört. Aber sie reagiert nicht auf das Bekenntnis des dämonischen Geistes, sondern auf den λόγος … ἐν ἐξουσίᾳ καὶ δυνάμει, der sie in Entsetzen stürzt. Auf diese Weise bleibt das Bekenntnis des Dämons die Grundlage der religiösen Qualifizierung Jesu in der weiteren Erzählung. Das dämonische Bekenntnis wird kontrastiert durch die folgende Erzählung von der Ablehnung Jesu in seiner Heimatstadt: Die Identifizierung Jesu durch die Synagogenbesucher (*4,22c: »Ist dieser nicht der Sohn Josephs? «) drückt erkennbar eine Distanzierung und unzureichende Qualifizierung aus. Aber wer Jesus wirklich 246 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch ist, sagen danach wieder die Dämonen: »Du bist der Sohn Gottes« (*4,41). Dass die zutreffende Identifizierung Jesu ausgerechnet im Mund der Dämonen begegnet, ist misslich. Zwar könnte man sich vorstellen, dass die Opposition zwischen den Dämonen mit der richtigen und den Menschen mit der falschen Identifizierung beabsichtigt ist. Dies ist jedoch nicht wahrscheinlich: Die Zeugen der Exorzismen in Kapharnaum bringen die Kranken und Besessenen zu ihm (*4,40) und bedrängen ihn später am See Genezareth, »um das Wort Gottes zu hören« (*5,1): Ihnen scheint unmittelbar einzuleuchten, dass Jesus die βασιλεία τοῦ θεοῦ zu verkündigen hat (*4,43). Im Unterschied zu den Nazarener Synagogenbesuchern hat die Menge das Urteil der Dämonen ohne weiteres übernommen. *Ev rechnet also von Anfang an mit dem Wissen der Leser, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und dass ihm daraus die Aufgabe der Verkündigung der Basileia zuwächst. Auffällig ist daran weniger, dass *Ev bei seinen Lesern zentrale Kenntnisse über Jesus voraussetzt, sondern vielmehr, dass er sich keine Mühe gibt, diese Kenntnisse in irgendeiner Weise narrativ einzubetten und zu plausibilisieren. Ganz im Unterschied dazu zeigt Mk gleich zu Beginn das Bemühen, das erste Auftreten Jesu in einen Rahmen zu stellen, der das entscheidende Wissen über Jesus auf nachvollziehbare Weise mitteilt. Die zentrale Funktion der Eingangssequenz Mk 1,1-15 ist schon lange gesehen und insbesondere im Zusammenhang der neueren literaturwissenschaftlichen Auslegungen gewürdigt worden. Die wesentlichen Elemente dieses Anfangs zur Steuerung des Leseverhaltens müssen hier nicht im Einzelnen erörtert werden; es genügt, sie kurz aufzuzählen. 1. Die Tatsache, dass Mk einen Titel trägt, ist aufschlussreich, und zwar unbeschadet der strittigen Frage, ob Mk 1,1 ein grammatikalisch autarkes incipit über dem Rest der Erzählung darstellt oder eine syntaktische Einheit mit 1,2ff darstellt und dann als Beginn (nur) dieser Einleitungssequenz über den Täufer fungiert. In jedem Fall zeigt Mk 1,1 ein ausgeprägtes Bewusstsein dafür, dass die Überschrift die Leseerwartungen kanalisiert und steuert. 2. Dass der Titel das Stichwort Evangelium enthält, ist von größter Bedeutung. Denn einerseits ist mit εὐαγγέλιον Mk 1,1 und 1,15 eine Klammer um die Eingangssequenz gelegt, die sie als Einheit konstituiert und von der weiteren Erzählung absetzt. Auf der anderen Seite zeigt diese Verwendung die unterschiedlichen semantischen Elemente von εὐαγγέλιον, zunächst als Kennzeichnung des narrativen Berichts über Jesus (Mk 1,1: Ἀρχὴ τοῦ εὐαγγελίου Ἰησοῦ Χριστοῦ), danach als Zusammenfassung seiner Verkündigung (1,15: πιστεύετε ἐν τῷ εὐαγγελίῳ). Die theologische Bedeutung dieser doppelten Perspektive, in der Jesus einmal als Verkündiger, einmal als Inhalt des εὐαγγέλιον erscheint, ist schon lange gesehen worden. Allerdings hat Mk εὐαγγέλιον nicht zum ersten Mal als Gattungsbezeichnung für den Bericht über Jesus verwendet: So weit wir sehen können, trug *Ev den Titel εὐαγγέλιον, offensichtlich ohne weitere Spezifizierung, wie sie Mk 1,1 vornimmt oder wie sie in dem sekundären Titel mit der § 11: Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Mk 247 Tradentenangabe sichtbar wird. 59 Die Bezeichnung Εὐαγγέλιον ist jedenfalls für *Ev als Teil der vorkanonischen Ausgabe Marcions neben dem Ἀποστολικόν gesichert: Alle Häresiologen erwähnen *Ev als »Evangelium«, und wenn sich etwa Tertullian über die Titellosigkeit von *Ev mokiert (Tert. 4,2,1ff), dann zielt er nur auf das Fehlen einer Verfasserangabe, wie sie die kanonischen Evangelien in ihren sekundären Zuschreibungen besitzen. Ansonsten ist immer klar, dass der Text, auf den sich die Häresiologen beziehen, einfach Εὐαγγέλιον heißt. Das bedeutet jedoch, dass Mk 1,1 auf den Titel von *Ev zurückgreift: Die doppelte Bedeutung von εὐαγγέλιον zum einen als Bezeichnung des Berichts über Jesus (also beinahe schon in der Funktion einer Gattungsbezeichnung) und als Kennzeichnung des Inhalts der Verkündigung Jesu (Gen. subj.) zum anderen ist also keine mk Erfindung, sondern geht schon auf *Ev zurück. Im Unterschied zu *Ev zeigt die mk Verwendung ein hohes Maß an theologischer Reflektion. 3. Dass dieses εὐαγγέλιον einen Anfang (ἀρχή) besitzt, der erzählt werden kann, ist ebenfalls aufschlussreich: Der betonte Hinweis auf den »Anfang« kennzeichnet das gleiche Bewusstsein für den geschichtlichen Ursprung des Evangeliums, den *Ev mit der Datierung *3,1a zum Ausdruck bringt. Aber während die Datierung in *Ev zusammen mit dem Hinweis auf das Auftreten Jesu in der Synagoge von Kapharnaum nur die raum-zeitliche Verortung der Erzählung absteckt, hat Mk das theologische Problem gesehen und gelöst, dass diese für die Geschichte des gesamten Kosmos so entscheidende Begebenheit, kontingent - irgendwann und irgendwo - passiert sein soll: Er stellt den »Anfang« des Evangeliums in den großen heilsgeschichtlichen Rahmen, der durch die Prophezeiung Mal 3,1; Jes 40,3 (LXX) aufgespannt ist, und erklärt auf diese Weise auch den Ort des Anfangs »in der Wüste«. Wie *Ev setzt Mk damit ein umfangreiches religiöses Wissen voraus, im Unterschied zu *Ev macht er aber diese textexternen Bezüge explizit. 4. Das Wissen um Johannes den Täufer in Mk 1,4.6.14 bezog Mk wohl aus *Ev: In *7,17b (s. dort) ist Johannes als »der Täufer« bezeichnet (ὁ βαπτιστής). Dass er von Herodes (eingekerkert und) enthauptet wurde (Mk 1,15; 6,14-29), konnte Mk aus *9,9 wissen. Was aber in *Ev nur allgemeine und unverbundene Andeutungen über Johannes sind, ist bei Mk zu einem kohärenten Bild verbunden. Dazu gehört vor allem der Bericht über die Tauftätigkeit, für die Mk in *Ev (abgesehen von dem Titel ὁ βαπτιστής) keinen Ansatzpunkt finden konnte. Wenn diese Information nicht auf allgemein zugängliches »Weltwissen« zurückgeht, konnte Mk davon etwa aus Josephus wissen, der nicht nur vom Ende des Täufers, sondern auch von seiner Tauftätigkeit (im Zusammenhang ihrer sündentilgenden Wirkung) berichtet. 60 5. Der mk Bericht über die Taufe Jesu stellt den Beginn des Evangeliums nicht nur in einen heilsgeschichtlich-historischen Rahmen, sondern gibt auch die Gelegenheit, Gott selbst die wahre ______________________________ 59 Die Titel der Evangelien in der Kanonischen Ausgabe (»Nach Markus« usw.) sind ausweislich ihrer einheitlichen, aber weithin unableitbaren Gestalt ([εὐαγγέλιον] κατὰ + n. pr.) ein wesentliches Merkmal der Kanonischen Redaktion und daher ein wichtiges Element des kanonischen Neuen Testaments, s. D. T ROBISCH , Die Endredaktion des Neuen Testaments, Fribourg - Göttingen 1996, 59-61. Zum Problem s. auch u. § 14.5. 60 Jos., Ant. XVIII 116-119. Johannes habe die Juden aufgefordert, sich »einer Taufe anzuschließen« (βαπτισμῷ συνιέναι; a. a. O. 117). Wenn Josephus ausdrücklich festhält, dass diese βάπτισις »nicht zur Beseitigung irgendwelcher Sünden« (μὴ ἐπί τινων ἁμαρτάδων παραιτήσει) gedient habe, sondern zur Heiligung des Körpers, dann ist dies vermutlich seine interpretatio Romana genau dieser Funktion der Taufe: Ant. XVIII 117 stellt keinen Widerspruch zu Mk 1,4 dar. Zu der in diesem Fall vorausgesetzten Datierung des Mk s. u. § 15. 248 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch Identität Jesu als »mein geliebter Sohn« kundtun zu lassen (Mk 1,11). Im Vergleich zu der Identifizierung Jesu durch die Dämonen am Anfang von *Ev ist dies eine sehr gekonnte Weiterentwicklung. Sie bereitet die Zusammenfassung der Botschaft Jesu vor, nachdem dieser seine Sohnschaft dadurch unter Beweis gestellt hat, dass er in der Wüste den Versuchungen des Satan widerstanden hatte (Mk 1,12f). Diese Zusammenfassung greift das Titelstichwort εὐαγγέλιον gleich doppelt auf und macht damit deutlich: Das Evangelium, dessen Anfang hier erzählt wird, ist das Evangelium Gottes (1,14), sein entscheidender Inhalt ist die Erfüllung der Zeit(en) und die Nähe der βασιλεία τοῦ θεοῦ. 6. Dass Jesus der Sohn Gottes ist, als den ihn die Himmelsstimme identifiziert hat, ist dann offensichtlich auch in den Titel eingedrungen: Ἀρχὴ τοῦ εὐαγγελίου Ἰησοῦ Χριστοῦ υ ἱ ο ῦ θ ε ο ῦ . An dieser Stelle ist auf den schon mehrfach vermerkten Umstand hinzuweisen, dass der Bearbeitungsschritt der Kanonischen Redaktion nicht nur zwischen *Ev und Lk liegt, sondern auch zwischen dem vorkanonischen *Mk und dem kanonischen Mk. In diesem Fall ist die v. l. ohne die Erwähnung der Gottessohnschaft (vielleicht sogar: ohne den Namen Ἰησοῦ Χριστοῦ) 61 mit großer Wahrscheinlichkeit die vorkanonische Fassung in *Mk. Wenn das zutrifft, hätte erst die kanonische Redaktion die etwas überladene Folge der Genitive durch den Zusatz von ( Ἰησοῦ Χριστοῦ) υἱοῦ θεοῦ geschaffen. Diese Beobachtungen sind allesamt nicht neu. Im Zusammenhang der Frage nach der Bearbeitungsrichtung erhalten sie jedoch Gewicht, weil sie deutlich machen, in welchen Redaktionsschritten diese theologisch zentrale Erzähleinheit geschaffen wurde. Dass sie eine entscheidende Funktion für die Gesamtanlage von Mk 1,1- 16,8 besitzt, ist ebenfalls verschiedentlich aufgezeigt worden und muss hier nicht wiederholt werden. 62 b. Das Ende des Evangeliums in *Ev und Mk Zusammen mit dem Anfang liegt der wichtigste Schlüssel für das literarische Konzept der beiden Evangelien in der literarischen Gestaltung ihres Endes. Die unterschiedlichen narrativen Lösungen für das Ende von *Ev und Mk sind ein wichtiger Indikator ihrer jeweiligen Geschlossenheit und erlauben daher Schlussfolgerungen für die Bearbeitungsrichtung. Das Ende von *Ev ist in mancher Hinsicht recht uneinheitlich: Am Ostermorgen haben die Frauen das Grab leer gefunden, dafür die Engelbotschaft von der Auferstehung gehört, die sie den Jüngern weitererzählen, ohne jedoch Glauben zu finden (*24,1-11). Anschließend erzählt *Ev von der Begegnung des Auferstandenen mit den beiden Jüngern Emmaus und Kleopas (*24,13-35; s. dort). 63 Nach der Erscheinung vor den Zwölfen (*24,36-43) führt der Jesus in *Ev die Jünger nach Bethanien. Er segnet sie, sendet sie aus und beauftragt sie »allen Völkern zu ______________________________ 61 υιου θεου: om א * Θ 28 ℓ 2211 pc sa ms Orig ¦ Ιησου Χριστου υιου θεου: om Iren Epiph. 62 Vgl. VAN I ERSEL , Mark 88-108; C. H. G IBLIN , The Beginning of the Ongoing Gospel (Mk 1,2-16,8), in: Fr. Van Segbroeck et al. (eds.), The Four Gospels II, Leuven 1992, 975-985. 63 Zu den Namen und zum Profil der Erzählung in *Ev s. die Rekonstruktion. § 11: Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Mk 249 verkündigen«; danach geht er fort, die Jünger kehren zurück nach Jerusalem und loben Gott (*24,50-53). An diesem Erzählzusammenhang stimmt wenig zusammen: Seine Kohärenz ist lückenhaft. Nachvollziehbar ist, dass die Jünger der Botschaft der Frauen nicht glauben (*24,11). Der Bericht, den die beiden Jünger auf dem Weg Jesus geben, bezieht sich auf diese Episode (*24,23). Aber obwohl die beiden den Auferstandenen am Ende erkennen, beziehen sie diese Einsicht nicht auf den Unglauben gegenüber der Botschaft der Frauen, sondern darauf, dass ihr Herz auf dem Weg verdeckt war (*24,32): Dass die Erscheinung des Auferstandenen vor den beiden auch die Frauen ins Recht gesetzt hat, muss sich der Leser selbst ausdenken. Ähnliches gilt auch für die Zwölf, die in Jerusalem geblieben sind. Sie hören den Erscheinungsbericht von Emmaus und Kleopas (*24,34f), 64 gelangen aber selbst dann nicht zum Glauben, als der Auferstandene mitten unter sie tritt und ihnen seine Hände und Füße zeigt (*24,39). Obwohl der Auferstandene als Reaktion auf den bleibenden Unglauben (*24,41: ἔτι δὲ ἀπιστούντων αὐτῶν) vor ihren Augen etwas isst, wird nie erzählt, dass die Jünger zum Glauben kommen: Das müssen die Leser selbst erschließen. Auch die Sendung der Apostel »zu allen Völkern« produziert einen Mangel an narrativer Kohärenz: Die Jünger gehen gar nicht, wie ihnen aufgetragen ist, zu allen Völkern, sondern kehren nach Jerusalem zurück und loben dort Gott »allezeit« (*24,52f). Keine dieser narrativen Inkonsistenzen schafft unlösbare Widersprüche: Jeder Leser kann sich ohne große Schwierigkeiten vorstellen, dass und wie die beiden Jünger angesichts ihrer Erkenntnis des Auferstandenen beim Mahl zum Glauben kommen. Auch der bleibende Unglaube der Jerusalemer Apostel lässt sich problemlos als ungläubiges Staunen vor lauter Freude - und darin eben doch: als Glauben - verstehen. Noch nicht einmal bei der narrativ nicht eingelösten Aussendung der Apostel wird die Phantasie der Leser überfordert, wenn sie sich vorstellen, dass die Jünger dann doch irgendwann nach der erzählten Zeit von Jerusalem »zu allen Völkern« aufgebrochen sind und ihren Auftrag erfüllt haben. Aber all das wird nicht erzählt. *Ev hat sich keine große Mühe gegeben, dem Ende seiner Erzählung eine kohärente Textur zu verleihen, obwohl dies ohne weiteres möglich gewesen wäre. Das einzige Kohärenzsignal ist die lapidare Bemerkung, dass Jesus von den Jüngern wegging (*24,51: ἀπέστη ἀπ’ αὐτῶν). In ihrer Schlichtheit entspricht diese Bemerkung der Eingangswendung (*3,1a; 4,16): So unspektakulär, wie Jesus in die Erzählung eingeführt wird, indem er am Anfang »nach Kapharnaum hinab kommt« und dann einfach da ist, so lapidar vermerkt der Schluss, dass er weggeht und dann einfach fort ist. Dagegen hat Mk das Ende seiner Erzählung bekanntlich sehr viel enger gestrickt und reflektierter gestaltet. 65 Die Episode von der Auffindung des leeren Grabes mit dem Auftrag des Jünglings an die Frauen endet zwar abrupt, aber nicht unüberlegt. ______________________________ 64 *24,34f hatte in *Ev eine dezidiert andere Gestalt als in Lk, weil der Bericht der Jerusalemer Jünger über die Erscheinung vor Petrus gefehlt hat; s. dort. 65 Vgl. dazu VAN I ERSEL , Mark 492-506; D. H. J UEL , A Master of Surprise, Minneapolis 1994, 115ff. 250 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch Denn der Jüngling wiederholt erkennbar genau das, was Jesus selbst zuvor den Jüngern verheißen hatte (Mk 14,28): Nach seiner Auferstehung werde er ihnen in 66 Galiläa vorangehen. Die Wiederholung der Verheißung Jesu durch den Jüngling am Grab ist beabsichtigt, wie der ausdrückliche Hinweis zeigt (16,7: καθὼς εἶπεν ὑμῖν). Obwohl die Frauen die ihnen aufgetragene Botschaft nicht ausrichten, fehlt den erzählten Jüngern keine Information: Dass Jesus ihnen vorangehen werde, wussten sie schon zuvor, denn sie hatten ja allen Grund, den Verheißungen Jesu zu trauen. Die Wiederholung des Hinweises, dass Jesus den Jüngern in Galiläa vorangehen werde, zielt daher auch nicht auf die erzählten Jünger, sondern auf die impliziten Leser, die sich hier als die μαθηταί Jesu angesprochen fühlen sollen. Wenn Jesus ihnen »vorangeht« (προάγειν), heißt das, dass sie hinter ihm hergehen: Die im Auftrag des Jünglings intendierten Jünger sollen also genau das tun, was zuvor Simon und Andreas (Mk 1,18), die Zebedaiden (1,20), 67 Levi (2,14) und andere getan hatten: Jesus »nachfolgen« (ἀκολουθεῖν). Was sich auf der Ebene der Akteure der Erzählung als Wiederholung darstellt, ist in Wahrheit eine Verheißung an die Leser: Wenn sie sich in die Schuhe der erzählten Jünger stellen und hinter Jesus hergehen, werden sie »ihn sehen«. Die Verortung dieses Geschehens »in Galiläa« weist sie zurück auf den Anfang der Erzählung (1,14: ἦλθεν ὁ Ἰησοῦς εἰς τὴν Γαλιλαίαν): Die impliziten Leser sollen sich (genau wie die erzählten Jünger) als Jesu »Nachfolger« verstehen und Schritt für Schritt den literarisch vorgezeichneten Weg von Galiläa nach Jerusalem zurücklegen, den die erzählten Jünger gegangen sind und der ja über weite Strecken deren Erkenntnisfortschritt abgebildet hat (s. o.). Wenn dies geschieht, werden die Leser Jesus so sehen, wie ihn die Jünger der Erzählung gesehen haben, und dann werden die Leser-Jünger verstehen, wie die Jünger der Erzählung zum Verstehen gelangt sind. Das Ende der mk Erzählung bezieht sich daher nicht nur auf den Anfang in Galiläa zurück, sondern erweist sich durch die auktorialen Aufforderungen zum »Verstehen« (6,52; 13,14; im Mund Jesu: 8,17-21) als ein integraler Teil des literarischen Konzeptes. Dieses Konzept ist anspruchsvoll und setzt zwingend eine Mehrfachlektüre voraus, wenn die symbolischen Konnotationen denn vollständig entschlüsselt werden sollen. 68 Zur Umsetzung dieses Konzeptes musste Mk jedoch das Ende von *Ev neu fassen. Er konnte die Erscheinungsberichte aus *Ev gar nicht übernehmen, wenn er sein ______________________________ 66 Zur syntaktischen Verwendung von εἰς anstelle von ἐν s. BDR § 205 (vgl. z. B. Mk 10,10: εἰς τὴν οἰκίαν … ἐπηρώτων αὐτόν); zum vorliegenden Problem s. B. M. F. VAN I ERSEL , »To Galilee« or »in Galilee« in Mark 14,28 and 16,7? , ETL 58 (1982), 365-370. 67 Zu Mk 1,20 vgl. die v. l. ἠκολούθησαν αὐτῷ: D W 1424 it vg, die hier (wie andernorts häufig) den vorkanonischen Text in *Mk repräsentiert. Die Lesart des Mehrheitstextes (ἀπῆλθον ὀπίσω αὐτοῦ) vermeidet die Wiederholung gegenüber 1,18. 68 Vgl. M. K LINGHARDT , Erlesenes Verstehen. Leserlenkung und implizites Lesen in den Evangelien, ZNT 21 (2008), 27-37. § 11: Das literarische Verhältnis zwischen *Ev und Mk 251 literarisches Konzept nicht unterlaufen und sein eigenes textpragmatisches Ziel nicht verfehlen wollte: Die Aufforderung an die impliziten Leser, den Weg der erzählten Jünger zu wiederholen und sich auf diese Weise deren Erkenntnisfortschritt anzueignen. Dieses Verständnis des Mk-Schlusses eröffnet eine Reihe von Einsichten, von denen hier nur zwei zu nennen sind. Zum ersten wird auf diese Weise verständlich, wie es zur Ausbildung von Erscheinungstraditionen in Jerusalem (*24,36ff; Joh 20,11-29; Lk 24,34.36ff) und in Galiläa (Mt 28,9f.16-20; Joh 21) kommen konnte. Überlieferungsgeschichtlich ist die Lokalisierung der Erscheinungen in Jerusalem älter als die in Galiläa: Die Jerusalemer Erscheinungstradition stand schon im vorkanonischen Evangelium. Die galiläische Erscheinungstradition geht dagegen auf die *mk Redaktion von *Ev zurück: *Mk kannte die Darstellung der Jerusalemer Erscheinungen Jesu aus *Ev, hat sie aber aus den genannten kompositionellen Gründen unterschlagen. Sein Hinweis, dass Jesus den Jüngern in Galiläa vorangehen werde und sie ihn dort sehen würden (Mk 16,7: ἐ κ ε ῖ αὐτὸν ὄψεσθε), war jedoch weder als Ersatz für die Jerusalemer Erscheinungen gedacht noch als autorisierende Begründung eines galiläischen Christentums. Die Verheißung Mk 16,7 zielt vielmehr auf die literarische Imagination der impliziten Leser, nicht jedoch auf die »Erscheinung« des Auferstandenen im Sinn einer »historischen« Christophanie vor den Jüngern. Die Verheißung Mk 14,28; 16,7 kann daher auch nicht als Ankündigung einer Autorisierung der Visionsempfänger verstanden werden. Daneben wird jedoch auch erkennbar, dass der sog. »Lange Markusschluss« (Mk 16,9-20) sehr wahrscheinlich erst durch die kanonische Redaktion geschaffen wurde. 69 Das uneinheitliche Bild der Handschriftenüberlieferung ist bekannt und muss hier ebenso wenig dargestellt werden wie die zahlreichen Einzelelemente des »Langen Schlusses«, die als gezielte Querverweise in andere Texte und Teilsammlungen der Kanonischen Ausgabe wesentliche Kohärenzsignale setzen. 70 Die hier angestellten Überlegungen zur Überlieferungsgeschichte der Evangelien und zur Geschichte der kanonischen Textüberlieferung zeigen jedoch, auf welche Weise diese Uneinheitlichkeit entstanden ist: Der »lange Markusschluss« ist ein redaktionelles Element der Kanonischen Ausgabe und gehört daher auf dieselbe Ebene wie die lk Redaktion von *Ev. Dass sich auch Handschriften erhalten haben, ______________________________ 69 Vgl. dazu ausführlicher u. S. 341ff. 70 Vgl. K. A LAND , Der wiedergefundene Markusschluß? Eine methodologische Bemerkung zur textkritischen Arbeit, ZThK 67 (1970), 3-13; DERS ., Der Schluß des Markusevangeliums, in: M. Sabbe (ed.), L’Évangile selon Marc, Gembloux 2 1988, 435-470. 573-575. Zur Redaktion des kanonischen Schlusses vgl. J. A. K ELHOFFER , Miracle and Mission, Tübingen 2000. 252 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch die diesen Schluss nicht enthalten, 71 wird vor dem Hintergrund des oben (§ 5) zu den Interferenzen zwischen der vorkanonischen und der kanonischen Handschriftenüberlieferung Ausgeführten verständlich: Das Verhältnis zwischen dem vorkanonischen *Mk (*1,1-16,8) und dem kanonischen Mk (1,1-16,20) entspricht recht genau dem Verhältnis zwischen *Ev und Lk. Das bedeutet, dass der Text, der zu Recht in eine Ausgabe des (kanonischen) »Neuen Testaments« gehört, der »lange« Mk-Text bis 16,20 ist, wogegen *Mk 16,8 das Ende des vorkanonischen Evangeliums darstellt, das sicher noch nicht die Überschrift »Evangelium nach Markus« trug. Mit der redaktionellen Anfügung von Mk 16,9-20 hat die kanonische Redaktion das ursprüngliche literarische Konzept von *Mk allerdings verdeckt. ______________________________ 71 Es sind vor allem א B 304; zu den weiteren Zeugen (Versionen und patristische Zeugnisse) s. u. § 14.2, S. 341f. § 12: Das Mt-Evangelium als Kompilation von Mk und *Ev 1. Methodische Grundfragen Wenn *Ev die einzige oder doch wenigstens die eine grundlegende Quelle von Mk (genauer: des vorkanonischen *Mk-Evangeliums) war, ist neben den beiden Hauptrelationen ① zwischen *Ev und Lk sowie ② zwischen Mk und Mt ein weiterer Bearbeitungsschritt der synoptischen Überlieferung gesichert: Die mk Rezeption und Bearbeitung von *Ev ③ konstituiert eine erste Verbindung zwischen den beiden grundlegenden Hauptrelationen *Ev - Lk und Mk - Mt, durch welche zumindest ein Teil der engen Entsprechungen zwischen den drei synoptischen Evangelien erklärbar wird: - -- ----------*Ev-- - - - - ------------------------③--- --- - - -- - -- ---------Mk- ----------------------------------- ①---------------------- ---------- -- - ---- - - - --------------②- - - ------------ - - - - ----- - - -- - - - - - - -- ------------Lk- --------- - ---------Mt- Abb. 5: Die *Ev-Priorität vor Mk im Rahmen der synoptischen Beziehungen Was dieses einfache Modell nicht leistet, ist die Erklärung der mt-lk Übereinstimmungen gegen Mk, also im Wesentlichen das Material, das in der Zwei-Quellentheorie als »Q«-Stoff erscheint, aber auch etwa die »Minor Agreements«. Es muss also weitere Verbindungen zwischen den beiden Hauptrelationen ① und ② geben, die eine mindestens teilweise von Mk unabhängige Beziehung zwischen Mt und Lk konstituieren. *Ev-------------- --- - - - - - -③--- --- - - -------------④ - - - Mk- ---------- - --------------①---------------------- ---------- -- - ---- - - - - ----②- - - ---------- - ----------⑧- - - - - - ----- - - Mt- -- - - - - - --⑤- - -- - --Lk- --------- Abb. 6: Die Beziehungen zwischen *Ev, Mt und Lk im Rahmen der *Ev-Priorität 254 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch Diese zusätzlichen Berührungen sind am einfachsten entlang der Bearbeitungslinien ④ von *Ev zu Mt und ⑤ von Mt zu Lk vorstellbar. Bei dem durch diese beiden Relationen angezeigten Material handelt es sich um Überlieferungen, die Mt und Lk über Mk hinaus gemeinsam haben. Im methodischen Rahmen der Zwei- Quellentheorie konstituiert dieses Material die sog. mt-lk Doppelüberlieferungen der Logienquelle »Q«, auf die Mt und Lk jeweils unabhängig voneinander und ergänzend zu ihrer jeweiligen Mk-Rezeption zurückgegriffen haben würden. Die methodischen Anforderungen an eine valide Erklärung dieser mt-lk Doppelüberlieferungen unter Berücksichtigung von *Ev sind bereits genannt (vgl. § 10.1): Sie muss in der Lage sein, das Phänomen der alternierenden Ursprünglichkeit zu erklären, mit der dieses Material einmal bei Mt, einmal bei Lk erscheint. Mit Blick auf das Material der Dreifachüberlieferung muss die Zuordnung von Mt- und Lk- Evangelium darüber hinaus erkennen lassen, auf welche Weise die für die Zwei- Quellentheorie so problematischen (mt-lk) »Minor Agreements« zustande kommen. Das hier vorgeschlagene Modell der *Ev-Priorität verteilt dieses Material dagegen auf zwei sukzessive Überlieferungsschritte und schlägt sie einmal der mt Redaktion von *Ev, das andere Mal der lk Redaktion von Mt zu. Die Nachvollziehbarkeit dieser beiden Schritte setzt jeweils die Unterscheidbarkeit zwischen dem für *Ev rekonstruierten Evangelium und dem kanonischen Lk voraus: Die Übereinstimmungen zwischen *Ev und Mt gegen Lk in diesem Material der Doppelüberlieferungen zeigen daher die getreue Rezeption des älteren Materials aus *Ev durch Mt an, während Lk dieses Material redaktionell verändert hat. Umgekehrt sind Übereinstimmungen an diesem Material zwischen Mt und Lk gegen *Ev durch die lk Rezeption von mt Veränderungen an *Ev zu erklären. Die Begründung für dieses Modell muss also in erster Linie die Mittelstellung von Mt zwischen *Ev und Lk deutlich machen: Hier liegt der wesentliche Fortschritt des Modells der *Ev- Priorität gegenüber dem reinen Benutzungsmodell »Markan Priority without Q« (Farrer, Goulder u. a.), das mit der einfachen Abhängigkeit des Lk von (Mk und) Mt rechnet. Die Erklärung dieser beiden Bearbeitungsschritte ④ und ⑤ kann knapp ausfallen und sich auf eine grobe Skizze beschränken. Denn die meisten relevanten Beobachtungen sind im Rahmen der Zwei-Quellentheorie schon lange notiert, auch wenn sie häufig unterschiedlich beurteilt wurden: Diese Ambivalenz lässt sich durch die Einzeichnung von *Ev in das Gesamtbild - genauer: durch die Unterscheidung zwischen dem (vor-mt) *Ev und dem (nach-mt) Lk - fast durchweg beseitigen. Die Aufgabe beschränkt sich daher auf die Illustration der beiden Bearbeitungsrelationen ④ und ⑤ anhand ausgewählter Beispiele. Da es dabei um die Unterscheidbarkeit der einzelnen Bearbeitungsschritte geht, kommt vor allem solches Material der mt-lk Doppelüberlieferung in Betracht, für das sich diese Unterschiede § 12: Das Mt-Evangelium als Kompilation von Mk und *Ev 255 zeigen lassen. Dieser Nachweis ist auf drei verschiedenen Ebenen zu führen. Auf der untersten Ebene der kleinen und kleinsten Einheiten sind die sog. »Minor Agreements« in das Modell einzuzeichnen (2.). Da das Modell mit einer Abhängigkeit des Lk von Mt rechnet, stellen diese mt-lk Übereinstimmungen gegen Mk zwar kein grundsätzliches Problem dar, aber mit Blick auf die Bedeutung dieses Phänomens im Rahmen der Zwei-Quellentheorie ist eine knappe Behandlung angezeigt. Daneben soll die Plausibilität der mt »Mittelstellung« zwischen *Ev und Mk auf der einen Seite und Lk auf der anderen anhand der redaktionellen Bearbeitung von Einzelversen bzw. -perikopen gezeigt werden (3.). Dieses Feld, das in der Vergangenheit am intensivsten für den synoptischen Vergleich bearbeitet wurde, soll anhand des prominentesten Beispiels untersucht werden: Der Komposition der Bergpredigt. Allerdings erstrecken sich die Einsichten dieses überlieferungsgeschichtlichen Modells auch auf Texte, die bisher so gut wie gar nicht in den Blick gekommen sind, weil sie sich dem Modell der Zwei-Quellentheorie zu entziehen scheinen, nämlich die sog. »Kindheitsgeschichten« (4.). Anhand von Mt 1f und Lk 1f ist also zu untersuchen, ob sich die angenommene lk Abhängigkeit von Mt entlang der Bearbeitungsrelation ⑤ auch jenseits des klassischen »Q«-Materials plausibel machen lässt. 2. Die mt-lk »Minor Agreements« Die sog. mt-lk »Minor Agreements« im Material der Dreifachüberlieferung sind an dieser Stelle zu behandeln, weil sie eine literarische Beziehung zwischen Mt und Lk konstituieren, die nicht über Mk vermittelt ist. In dem hier vorgeschlagenen Modell können diese Übereinstimmungen auf zweierlei Weise entstanden sein: (a) Mt und Lk können gegen Mk übereinstimmen, wenn beide ihren Prätext *Ev unverändert übernommen haben (also in den Bearbeitungsrelationen- ① - zwischen *Ev und Lk bzw.- ④ zwischen *Ev und Mt), während Mk in der Bearbeitungsrelation- ③- Änderungen an *Ev vorgenommen hat. (b) Das gleiche Ergebnis der mt-lk Übereinstimmungen gegen Mk wird aber auch erzielt, wenn Mt in der Bearbeitungsrelation ② den mk Text geändert hat, Lk aber in seiner Mt-Rezeption ⑤ von diesem und nicht von *Ev ① oder von Mk ⑧ abhängig ist. Beide Phänomene zusammen konstituieren die »Mittelstellung« des Mt zwischen Mk und Lk, und für beide gibt es Beispiele. a. Mt und Lk rezipieren *Ev unverändert, Mk ändert *Ev: *Ev || Mt || Lk ≠ Mk *5,12-14: Die Perikope von der Heilung des Leprösen enthält eine ganze Reihe von »Minor Agreements«, 1 von denen zwei auch für *Ev bezeugt sind. Tertullian hat in *5,12 ganz offensichtlich ______________________________ 1 Vgl. dazu F R . N EIRYNCK , The Minor Agreements of Matthew and Luke Against Mark with a Cumulative List, Leuven 1974, 64ff; DERS ., The Minor Agreements in a Horizontal-Line Synopsis, Leuven 1991, 17f; A. E NNULAT , Die »minor agreements«, Tübingen 1994, 50-58. 256 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch die Anrede κύριε gelesen. 2 Diese Anrede findet sich auch in Mt 8,2b (λέγων, κύριε, ἐὰν θέλῃς …), nicht aber in Mk 1,40 (λέγων αὐτῷ ὅτι ᾿Εὰν θέλῃς …). Dass Mt und Lk *Ev rezipieren, während Mk redaktionelle Änderungen vollzieht, ist auch *5,13a || Mt 8,3a ≠ Mk 1,41 zu beobachten: Lk hat wie Mt die Wortfolge ἐκτείνας τὴν χεῖρα ἥψατο α ὐ τ ο ῦ aus *Ev übernommen. Mk 1,41 ἐκτείνας τὴν χεῖρα α ὐ τ ο ῦ ἥψατο stellt demgegenüber um: Hier ist das Pronomen αὐτοῦ Attribut zum Objekt: Er streckte seine Hand aus. Bei Mt und Lk ist das Pronomen das Objekt zum Prädikat: Er berührte ihn. Dieses Verständnis ist bereits für *Ev sichergestellt, dessen Text Tertullian zusammenfasst (4,9,4: tetigit leprosum). *8,20f: In der kurzen Perikope von Jesu Mutter und Brüdern stimmen Mt 12,47 ἑστήκασιν ἔξω || Lk 8,20 gegen Mk 3,32 überein, der für diese Formulierung keine Entsprechung bietet. 3 Der mt-lk Wortlaut ist durch Tertullian schon für *Ev sichergestellt. 4 Dieses Beispiel ist für die fragliche »Mittelstellung« des Mt zwischen Mk und Lk aufschlussreich. Denn Mt folgt, wie auch sonst durchweg, in erster Linie seiner mk Vorlage, wie hier insbesondere die rhetorische Frage Mk 3,33 || Mt 12,48b oder die Entsprechung von Mk 3,34 || Mt 12,49 ÷ Lk 8,21 zeigt. In der Exposition hat Mt den Hinweis, dass die Mutter und Brüder Jesu »draußen standen«, von Mk übernommen. Aber anders als Mk, der in 3,32 die Wiederholung dieser Formulierung umgeht (Mk 3,32: nur ἔξω), hat Mt 12,47 sie aus *8,20 übernommen und dadurch eine unschöne Doppelung geschaffen (Mt 12,46f: εἱστήκεισαν ἔξω … ἔξω ἑστήκασιν). In diesem Fall lässt sich gut erklären, warum Mk 3,31 diese Bemerkung gegen seine Quelle *Ev in die Exposition gezogen hat: Er ist in besonderer Weise an dem Gegensatz von Außen und Innen interessiert, den er auch an anderer Stelle kompositionell ausgestaltet. 5 Die redaktionelle Änderung von Mk 3,31 gegenüber *Ev lässt sich also kompositionskritisch begründen. Die unschöne Doppelung, die Mt 12,46f geschaffen hat, geht dagegen möglicherweise erst auf die Kanonische Ausgabe zurück: Es ist gut möglich, dass Mt 12,47 im vorkanonischen *Mt nicht enthalten war. 6 *8,24: Die Erzählung von der Stillung des Sturms Mk 4,35-41 || Mt 8,23-27 || Lk 8,22-25 enthält eine lange Reihe von mt-lk Übereinstimmungen gegen Mk, die es mehr als unwahrscheinlich machen, dass Mt und Lk ihren mk Prätext unabhängig voneinander geändert haben sollten. Eine Erklärung für diesen Befund stellt die Deuteromarkus-Hypothese dar. 7 Aber die wenigen für *Ev bezeugten Beispiele zeigen, dass die mt-lk Übereinstimmungen auf die gemeinsame Quelle *Ev zurückgehen: Mk 4,39 ἐπετίμησεν τῷ ἀνέμῳ κ α ὶ ε ἶ π ε ν τῇ θαλάσσῃ ≠ Mt 8,26 ἐπετίμησεν τοῖς ἀνέμοις καὶ τῇ θαλάσσῃ || Lk 8,24 ἐπετίμησεν τῷ ἀνέμῳ καὶ τῷ κλύδωνι [τοῦ ὕδατος]. ______________________________ 2 Tert. 4,9,4: Itaque d o m i n u s volens altius intellegi legem per carnalia spiritalia significantem (…) tetigit leprosum … 3 Vgl. dazu A. E NNULAT , Minor Agreements 111-114; F R . N EIRYNCK , Minor Agreements 1974, 85ff; DERS ., Minor Agreements 1991, 30. 4 Tert. 4,19,7: quod mater et fratres eius f o r i s s t a r e n t quaerentes videre eum. 5 Zur kompositionellen Entsprechung von Mk 3,20-35 und 4,1-34 s. o. S. 227; vgl. M. K LINGHARDT , Boot und Brot. Zur Komposition von Mk 3,7-8,21, BThZ 19 (2002), 183-202: 188-190. 6 Der V. fehlt in א * B L Γ pc ſſ 1 k sy s.c sa. Dass die Wiederholung in Mt 12,47 auf mt Redaktion zurückgehen soll (so U. L UZ , Mt II, 286 Anm. 3, z. St.), ist daher ganz unwahrscheinlich. 7 A. F UCHS , Die Seesturmperikope Mk 4,35-41 parr im Wandel der urkirchlichen Verkündigung, in: ders., Studien zu Deuteromarkus II, Münster 2004, 53-93, hat zu zeigen versucht, dass die mtlk Übereinstimmungen Ausdruck einer theologisch konsistenten und gegenüber Mk sekundären Bearbeitung seien (ebd. 80-88). § 12: Das Mt-Evangelium als Kompilation von Mk und *Ev 257 Epiphanius bezeugt die Formulierung mit nur einem Verb (Schol. 13: ἐπετίμησε τῷ ἀνέμῳ καὶ τῇ θαλάσσῇ); sie ist mit geringen Veränderungen von Mt (Pl. τοῖς ἀνέμοις anstelle des Sg. τῷ ἀνέμῳ) und Lk (τῷ κλύδωνι [τοῦ ὕδατος] anstelle von τῇ θαλάσσῇ) übernommen worden. *20,1-8: Auch in der Perikope von der »Vollmachtsfrage« Mk 11,27-33 || Mt 21,23-27 || Lk 20,1-8 gibt es deutliche mt-lk Übereinstimmungen gegen Mk, 8 auch hier wurde zur Lösung der Schwierigkeiten für die Zwei-Quellentheorie die Deuteromarkus-Hypothese bemüht. 9 Auch wenn Tertullians sehr knappe Bezeugung (4,38,1f) den genauen Wortlaut von *Ev nicht zu erkennen gibt, lassen sich doch aufgrund der kompositionellen Gestaltung Rückschlüsse auf das Zustandekommen wenigstens zweier dieser Übereinstimmungen ziehen. Zunächst fällt in der Exposition der mt-lk Hinweis auf die Lehre Jesu auf (διδάσκοντος Lk 20,1 || διδάσκοντι Mt 21,3 ÷ Mk 11,27). Im Rahmen der Zwei-Quellentheorie ist dieser Hinweis schwierig, weil zuvor von der Tempelreinigung (Mk 11,15-17 || Mt 21,12-13 || Lk 19,45f) sowie von dem darauf reagierenden Tötungsbestreben der Hohenpriester und Schriftgelehrten (Mk 11,18f || Lk 19,47f ÷ Mt 21) berichtet wurde: Dass Jesus nach der drastischen Tempelreinigung ungehindert im Tempel lehrt und von den Jerusalemer Führungskräften, die ihn eigentlich töten wollen, lapidar nach seiner Vollmacht (zum Lehren! ) gefragt wird, ist wenig wahrscheinlich. Das Problem entsteht durch eine Reihe von redaktionellen Änderungen, die auf verschiedenen Überlieferungsstufen an *Ev vollzogen wurden: In *Ev haben Tempelreinigung und Tötungsbestreben der Jerusalemer Führer gefehlt (Lk 19,45-48; s. in der Rekonstr.); hier ist die Lehre Jesu *20,1 die erste Tätigkeit Jesu im Tempel. Mk hat gegenüber *Ev die Tempelreinigung ergänzt und sie von der Vollmachtsfrage szenisch getrennt, indem er die Erklärung für den verdorrten Feigenbaum an dieser Stelle einfügt (Mk 11,20-26 || Mt 21,20-22). Von daher ist es sehr wahrscheinlich, dass der Hinweis auf die Lehre Jesu im Tempel *20,1 in *Ev enthalten war und bei Mt und Lk stehengeblieben ist, während Mk ihn gestrichen hat. Noch deutlicher ist die doppelte Aufforderung zur Antwort in Mk 11,29.30: ἀποκρίθητέ μοι Mk 11,29 ≠ εἴπατέ μοι Lk 20,3c || εἴπητέ μοι Mt 21,24; ἀποκρίθητέ μοι Mk 11,30 ÷ Lk 20,4 || Mt 21,25. Der mk Text ist sehr viel griffiger und pointierter als die Fassungen bei Mt und Lk. Denn Mk schafft durch die doppelte Einfügung von ἀποκρίθητέ μοι ein prononciertes Gegengewicht zu dem schon für *Ev wahrscheinlichen ἀπεκρίθησαν μὴ εἰδέναι πόθεν *20,7 (καὶ ἀ π ο κ ρ ι θ έ ν τ ε ς τῷ Ἰησοῦ λέγουσιν/ εἶπαν· οὐκ οἴδαμεν Mk 11,33 || Mt 21,27). *22,41: Im Gebet Jesu am Ölberg ist - neben anderen Beispielen 10 - eine negative mt-lk Übereinstimmung gegen Mk zu verzeichnen: ἵνα εἰ δυνατόν ἐστιν παρέλθῃ ἀπ’ αὐτοῦ ἡ ὥρα Mk 14,35b ÷ Mt 26,39 || Lk 22,41. Da Epiphanius *22,41 genau referiert (Schol. 65), ist der kurze Text für *Ev gesichert, dem Mt und Lk folgen. Die indirekt mitgeteilte Bitte um das »Vorübergehen ______________________________ 8 Vgl. N EIRYNCK , Minor Agreements (1974), 148ff; DERS ., Minor Agreements (1991), 65f; E NNULAT , Minor Agreements 258-263. 9 A. F UCHS , Die Frage nach der Vollmacht Jesu, in: ders., Spuren von Deuteromarkus IV, Münster 2004, 195-233; vgl. E NNULAT , a. a. O. 262f; K LEIN , Lk 621 Anm. 1. 10 πάτερ Lk 22,42 || Mt 26,39 ≠ Mk 14,36b (Αββα ὁ πατήρ). - πλήν Lk 22,42c || Mt 26,39c ≠ Mk 14,36d (ἀλλ’). - πρὸς τοὺς μαθητάς Lk 22,45a || Mt 26,40a ÷ Mk 14,37. - εἰσέλθητε Lk 22,46d || Mt 26,41b ≠ ἔλθητε Mk 14,38b. - πλὴν μὴ τὸ θέλημά μου ἀλλὰ τὸ σὸν γινέσθω Lk 22,42c || γενηθήτω τὸ θέλημά σου Mt 26,42c ≠ ἀλλ’ οὐ τί ἐγὼ θέλω ἀλλὰ τί σύ Mk 14,36d; vgl. dazu N EIRYNCK , Minor Agreements (1974), 173ff; DERS ., Minor Agreements (1991), 79f; E NNULAT , Minor Agreements 346-352. 258 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch dieser Stunde« Mk 14,35 ist also eine redaktionelle Verstärkung, die Mk gegenüber seiner Quelle *Ev hinzugefügt hat. Sie hat dann Eingang gefunden in die joh Gestaltung der letzten öffentlichen Rede Jesu (Joh 12,27). Dieser Hinweis erklärt dann auch die weiteren Elemente der mk Ausgestaltung der Szene, die Mt übernommen hat: die dreimalige Aufforderung zum Wachen sowie die namentliche Nennung der drei herausgehobenen Jünger Petrus, Jakobus und Johannes. *22,64: Als letztes Beispiel für diese Art der mt-lk Übereinstimmungen ist eines der wichtigsten »Minor Agreements« zu nennen: In der Verspottungsszene Mk 14 par. fehlen die bei Mt und Lk überlieferten Worte τίς ἐστιν ὁ παίσας σε (Lk 22,64 || Mt 26,68 ÷ Mk 14,65). Diese positive mtlk Übereinstimmung gegen Mk ist so gewichtig, dass sie schon längst zu einem Testfall für das Problem der »Minor Agreements« geworden und dementsprechend intensiv diskutiert worden ist. 11 Die verschiedenen (insgesamt kaum überzeugenden) Lösungsversuche, die im Rahmen der Zwei-Quellentheorie dafür angeboten wurden, sind jedoch überflüssig. Denn Epiphanius bezeugt genau diese strittigen Worte schon für *Ev (Schol. 68; s. in der Rekonstruktion z. St.). Das bedeutet, dass Mk diese Worte gestrichen hat, während Mt und Lk sie aus *Ev übernommen haben. Im Rahmen der oben begründeten *Ev-Priorität sowohl vor Lk als auch vor Mk sind diese Beispiele für sich genommen wenig aufregend. Sie bestätigen zunächst in kleiner Münze, was insgesamt bereits erkennbar war: Dass nämlich *Ev die Hauptquelle des Lk war, der er in aller Regel folgt, und dass *Ev außerdem durch Mk redaktionell bearbeitet wurde. Darüber hinaus geben diese kleinen Übereinstimmungen zu erkennen, dass Mt, dessen Abhängigkeit von Mk außer Frage steht, diesem nicht blind gefolgt ist, sondern verschiedentlich auch auf *Ev zurückgegriffen hat. b. Mt redigiert Mk; Lk folgt Mt gegen *Ev und Mk: *Ev || Mk ≠ Mt || Lk Methodisch interessanter ist das komplementäre Gegenstück zu dieser Annahme: So, wie Mt sich gelegentlich von seiner Hauptquelle Mk entfernt und *Ev rezipiert, hat auch Lk seine Hauptquelle *Ev nicht bedingungslos übernommen, sondern ist gelegentlich den Änderungen gefolgt, die Mk und/ oder Mt an *Ev vorgenommen haben. Auch hier sollen wenige Beispiele zur Illustration genügen. *5,17-26: Für die Erzählung von der Heilung des Gelähmten sind etliche »Minor Agreements« zu verzeichnen, die im Rahmen der Zwei-Quellentheorie keine befriedigende Antwort finden. 12 ______________________________ 11 Vgl. M. D. G OULDER , Two Significant Minor Agreements (Mat. 4: 13 Par.; Mat. 26: 67-68 Par.), NT 45 (2003), 365-373: 371-373; F R . N EIRYNCK , ΤΙΣ ΕΣΤΙΝ Ο ΠΑΙΣΑΣ ΣΕ: Mt 26,68 / Lk 22,64 (diff. Mk 14,65), in: ders., Evangelica II, Leuven 1991, 95-138; J. K IILUNEN , »Minor Agreements« und die Hypothese von Lukas’ Kenntnis des Matthäusevangeliums, in: I. Dunderberg, Chr. M. Tuckett (eds.), Fair Play, Leiden u. a. 2002, 165-202 u. a. Zu den verschiedenen Lösungsvorstellungen s. die Rekonstruktion (Anhang I), z. St. 12 Vgl. ἰδού Lk 5,18 || Mt 9,2a ÷ Mk 2,3. - ἐπὶ κλίνης Lk 5,18 || Mt 9,2a ÷ Mk 2,3. - αἰρόμενον ὑπὸ τεσσάρων Mk 2,3 ÷ Lk 5,18 || Mt 9,2. - τῷ παραλυτικῷ Mk 2,9 ÷ Lk 5,23 || Mt 9,5. - καὶ ἆρον τὸν κράβαττόν σου Mk 2,9 ÷ Lk 5,23 || Mt 9,5. - εἰς τὸν οἶκον αὐτοῦ 5,27 || Mt 9,7 ÷ Mk 2,12. Zur Diskussion vgl. E NNULAT , Minor Agreements 58-68; F R . N EIRYNCK , Les accords mineurs et la § 12: Das Mt-Evangelium als Kompilation von Mk und *Ev 259 Eine der Übereinstimmungen besteht darin, dass Mk an drei Stellen das Bett des Gelähmten als ὁ κράβαττος bezeichnet (Mk 2,4.11.12), dieser Ausdruck sich aber weder bei Lk noch bei Mt findet: ὁ κράβαττος Mk 2,4 ≠ τὸ κλινίδιον Lk 5,19 ÷ Mt 9,2. - ὁ κράβαττος Mk 2,11 ≠ τὸ κλινίδιον Lk 5,24 || Mt 9,6. - ὁ κράβαττος Mk 2,12 ≠ ἐϕ’ ὃ κατέκειτο Lk 5,25 ÷ Mt 9,7. Der mk Ausdruck κράβαττος findet sich nicht nur einigen altlateinischen Lk-Handschriften, 13 sondern ist von Tertullian auch für *Ev bezeugt (4,10,1: exsurge et tolle grabattum tuum). In diesem Fall entsteht das »Minor Agreement« dadurch, dass Mk seiner Vorlage *Ev folgt, während Mt und in seiner Folge Lk das seltene Wort meiden und es entweder durch τὸ κλινίδιον (Lk 5,24 || Mt 9,6) ersetzen, es umschreiben (Lk 5,25) oder es ganz übergehen (Mt 9,2.7). *6,5: Von den zahlreichen »Minor Agreements« in der Perikope vom Ährenraufen am Sabbat 14 ist in diesem Zusammenhang nur die vergleichsweise unauffällige Wortstellung am Ende von Interesse: Κύριός ἐστιν τοῦ σαββάτου ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου Lk 6,5b || Mt 12,8 ≠ κύριός ἐστιν ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου καὶ τοῦ σαββάτου Mk 2,28. Wie der D-Text von Lk 6,5 zeigt, hat Mk die Wortstellung mit großer Wahrscheinlichkeit aus *Ev übernommen, die von Mt und in seiner Folge von Lk verändert wurde. *9,7-9: Im Urteil des Herodes über Jesus findet sich ein bekanntes und für die »Mittelstellung« des Mt instruktives »Minor Agreement«: ῾Ηρῴδης ὁ τετραάρχης Lk 9,7 || Mt 14,1 ≠ ὁ βασιλεὺς ῾Ηρῴδης Mk 6,14. Zwar ist der Text von *9,7 nicht bezeugt, aber er lässt sich in diesem Fall mit überlieferungsgeschichtlichen Argumenten rekonstruieren: Allen drei synoptischen Fassungen ist gemeinsam, dass sie nicht nur den Namen, sondern auch den Titel des Herodes nennen; der war daher vermutlich schon im vorkanonischen *Ev enthalten. In diesem Fall ist davon auszugehen, dass *Ev den auch von Mk 6,14 bezeugten König (ὁ βασιλεύς) enthielt, nicht aber den von Mt und Lk bezeugten Tetrarchen (ὁ τετραάρχης). Das Argument für diese Annahme ist weniger, dass Herodes Antipas tatsächlich »nur« Tetrarch war, sodass ὁ τετραάρχης historisch zutreffend ist und die ungenaue (wenn nicht falsche) mk Königstitulatur korrigiert: Mk könnte ja durchaus Gründe für seinen »historischen« Irrtum gehabt haben. Aber im folgenden Bericht ______________________________ rédaction des évangiles: L’épisode du paralytique (Mt., IX,1-8 / Lc., V,17-26, par. Mc., II.1-12), ETL 50 (1974), 215-230; A. F UCHS , Offene Probleme der Synoptikerforschung. Zur Geschichte der Perikope Mk 2,1-12 par Mk 9,1-18 par Lk 5,17-26, in: ders., Spuren von Deuteromarkus II, Münster 2004, 19-52. 13 Lk 5,18 haben die Altlateiner durchweg in lecto/ super lectum für ἐπὶ κλίνης, das hier mit einiger Wahrscheinlichkeit ursprünglich ist. Dagegen findet sich grabattus in Lk 5,19 c d e; in Lk 5,25 a c d e. Die Disparität der altlateinischen Handschriften geht zurück auf die inkonsequent durchgeführte Korrektur des vorkanonischen nach dem kanonischen Text: Es gibt noch weitere Mischformen (vgl. dazu die Rekonstruktion z. St.). 14 Vgl. ὁδὸν ποιεῖν Mk 2,23 ÷ Lk 6,1 || Mt 12,1. - καὶ ἤσθιον Lk 6,1c || καὶ ἐσθίειν Mt 12,1 ÷ Mk 2,23. - εἶπαν Lk 6,2a || Mt 12,2a ≠ ἔλεγον Mk 2,24a. - εἶπεν Lk 6,3a || Mt 12,3a ≠ λέγει Mk 2,25a. - ὃ οὐκ ἔξεστιν τοῖς σάββασιν/ ἐν σαββάτῳ Lk 6,2b || Mt 12,2 ≠ τοῖς σάββασιν ὃ οὐκ ἔξεστιν Mk 2,24b. - χρείαν ἔσχεν καί Mk 2,25c ÷ Lk Lk 6,3 || Mt 12,3. - ἐπὶ ᾿Αβιαθὰρ ἀρχιερέως καί Mk 2,26a ÷ Lk 6,4 || Mt 12,4. - ἔδωκεν τοῖς μετ’ αὐτοῦ Lk 6,4c || Mt 12,4c ≠ τοῖς σὺν αὐτῷ οὖσιν Mk 2,26d. - μόνους Lk 6,4d || μόνοις Mt 12,4d ÷ Mk 2,26. - τὸ σάββατον διὰ τὸν ἄνθρωπον ἐγένετο καὶ οὐχ ὁ ἄνθρωπος διὰ τὸ σάββατον Mk 2,27b ÷ Lk 6,5 || Mt 12,6. Zum Problem vgl. T. S CHRAMM , Der Markus-Stoff bei Lukas, Cambridge 1971, 111f; E NNULAT , Minor Agreements 77-84; H. A ICHINGER , Quellenkritische Untersuchung der Perikope vom Ährenraufen am Sabbat Mk 2,23-28 par Mt 12,1-8 par Lk 6,1-5, in: A. Fuchs, Spuren von Deuteromarkus I, Münster 2004, 199-244. 260 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch über die Enthauptung des Täufers (Mk 6,17-29 || Mt 14,3-12), den Mt wie auch sonst häufig gegenüber Mk ausdünnt, hat Mt die Notwendigkeit zu dieser Korrektur allerdings aus den Augen verloren: Er folgt versehentlich dem mk ὁ βασιλεύς (Mk 6,26 || Mt 14,9). Lk bezeichnet dagegen Herodes Antipas konsequent als Tetrarchen (Lk 3,1.19; 9,7), nie als König. Das mt-lk »Agreement« ist daher aus der mt Korrektur an (*Ev und) Mk entstanden, die Lk noch konsequenter als Mt übernommen hat. *22,62: Am Ende der Szene von der Verleugnung des Petrus stellt die Bemerkung über das Weinen des Petrus ein bemerkenswertes »Minor Agreement« dar: καὶ ἐπιβαλὼν ἔκλαιεν Mk 14,72d ≠ καὶ ἐξελθὼν ἔξω ἔκλαυσεν πικρῶς Lk 22,62 || Mt 26,75c. 15 Das Zustandekommen dieser Übereinstimmung ist aufschlussreich, weil Lk 22,62 in einem Teil der altlateinischen Zeugen fehlt: Der Vers sieht aus wie eine »Western Non-Interpolation«, auch wenn Westcott/ Hort dieses Beispiel nicht in ihren Text aufgenommen hatten. 16 Diese handschriftliche Bezeugung hat das Problem zum Vexierspiel gemacht: Auf der einen Seite hat man erwogen, ob Lk 22,62 erst sekundär aus Mt 26,75 interpoliert worden sei, 17 weil es für eine sekundäre Streichung dieses Verses keine erkennbaren Anhaltspunkte gibt. Auf der anderen Seite ist die Liste der Zeugen mit diesem Vers doch so beeindruckend, dass eine textkritische Lösung des überlieferungsgeschichtlichen Problems als »in keiner Weise vertretbar« und als »Wunschdenken« abgelehnt wurde. 18 Die disparate Bezeugung von Lk 22,62 und ihre uneinheitliche Beurteilung lassen sich jedoch lösen, wenn man das Phänomen der Interferenz zwischen der vorkanonischen und der kanonischen Handschriftenüberlieferung berücksichtigt: Unter dieser Voraussetzung repräsentieren die Altlateiner a b e ſſ 2 i l r 1 den vorkanonischen, der Rest der Überlieferung den kanonischen Text. Das bedeutet, dass Lk 22,62 erst durch die lk Redaktion eingetragen wurde - und zwar in Anlehnung an Mt 26,75, wie die identische Formulierung beweist. Unter dieser Voraussetzung ist klar, dass das »Minor Agreement« Lk 22,62 || Mt 26,75 ≠ Mk 14,72 durch die einzelnen Schritte der Überlieferungsgeschichte entstanden ist: *Ev hatte das »Weinen« des Petrus überhaupt nicht erwähnt; Mk 14,72 lässt Petrus erstmals »anfangen zu weinen« (ἤρξατο κλαίειν bzw. ἐπιβαλὼν ἔκλαιεν); 19 Mt 26,75 hat diese schlichte Formulierung verstärkt und lässt Petrus hinausgehen und »bitterlich« weinen - und genau diese Formulierung hat Lk 22,62 von Mt übernommen. Diese Beispiele erklären das Zustandekommen der für die Zwei-Quellentheorie so problematischen »Minor Agreements« auf noch einem anderen überlieferungsgeschichtlichen Weg. Die Bedeutung dieser (und zahlreicher weiterer) Belege liegt ______________________________ 15 Vgl. außerdem: οὐκ οἶδα Lk 22,57b || Mt 26,70b ≠ οὔτε οἶδα οὔτε ἐπίσταμαι σὺ τί λέγεις Mk 14,68b. - Der Hahn kräht nur einmal Lk 22,60 || Mt 26,74, Mk 14,68.72 dagegen zweimal (nach der ersten und der dritten Verleugnung). - [ὑπ]εμνήσθη ὁ Πέτρος τοῦ ῥήματος Lk 22,61 || Mt 26,75 ≠ καὶ ἀνεμνήσθη ὁ Πέτρος τὸ ῥῆμα Mk 14,72. Zur Diskussion vgl. E NNULAT , Minor Agreements 364-378. 16 Lk 22,62: om a b e ſſ 2 i l r 1 ¦ add aur c d f l q vg sy c.s.h.p M . 17 Vgl. die Vertreter bei E NNULAT , a. a. O. 378 Anm. 92. 18 L UZ , Mt IV 213. 19 Mit einiger Wahrscheinlichkeit lautete die vormk Formulierung *Mk 14,72 »er begann zu weinen« (ἤρξατο κλαίειν: D Θ 565 it vg sa mss ). In diesem Fall ist das stärkere »er warf sich nieder und weinte« im Mehrheitstext (ἐπιβαλὼν ἔκλαιεν: א 2 A B L W [Δ] Ψ 0250 f 1.13 33 2427 sy h M ) eine Veränderung der Kanonischen Redaktion unter Einfluss von Mt 26,75 || Lk 22,62. § 12: Das Mt-Evangelium als Kompilation von Mk und *Ev 261 in dem Nachweis, dass Lk tatsächlich auch von Mt abhängig ist: Diese Möglichkeit ist gegenüber der Zwei-Quellentheorie neu. c. Komplexe Beispiele Die beiden hier genannten Möglichkeiten für das Zustandekommen der »Minor Agreements« sind lediglich Modelle für die verschiedenen überlieferungsgeschichtlichen Bearbeitungsrelationen. Die modellhafte Gegenüberstellung dieser Bearbeitungswege lässt jedoch nur unzureichend erkennen, auf wie engem Raum beide Varianten nebeneinander begegnen und wie genau sich kleine und kleinste Veränderungen nachweisen oder wahrscheinlich machen lassen. Auch dafür seien nur wenige Beispiele genannt. *6,6-11: In der überschaubaren Perikope von der Heilung der verdorrten Hand Mk 3,1-6 || Mt 12,9-14 || Lk 6,6-11 liegen die beiden Möglichkeiten für das Zustandekommen von »Minor Agreements« unmittelbar nebeneinander. Auf der einen Seite stehen Beispiele für mk Veränderungen von *Ev, z. B.: ἐξηραμμένην Mk 3,1 ≠ ξηρά Mt 12,10 || Lk 6,6. Zwar ist der Text von *6,6 nicht direkt bezeugt, aber die handschriftliche Überlieferung legt nahe, dass das mt-lk ξηρά bereits in *Ev stand (s. die Rekonstruktion). Ähnlich zu beurteilen ist auch συλλυπούμενος ἐπὶ τῇ πωρώσει τῆς καρδίας αὐτῶν Mk 3,5 ÷ Mt 12,13 || Lk 6,10: Es handelt sich um eine redaktionelle Ergänzung, die Mk gegenüber *Ev vorgenommen hat, die aber weder Mt noch Lk mit vollzogen haben. Unmittelbar daneben finden sich Beispiele dafür, dass Mt den Text von *Ev geändert hat und Lk ihm darin gefolgt ist: οἱ δὲ ἐσιώπων *6,9 || Mk 3,4c ÷ Lk 6,9 || Mt 12,12. - ἐν ὀργῇ *6,10 || μετ’ ὀργῆς Mk 3,5a ÷ Lk 6,10 || Mt 12,13. - λέγει *6,9a || Mk 3,4a ≠ εἶπεν Mt 12,11a || Lk 6,9a. *13,18f: Das Gleichnis vom Senfkorn Mk 4,30-32 || Mt 13,31f || Lk 13,18f enthält einige so deutliche mt-lk Übereinstimmungen gegen Mk, dass man im Rahmen der Zwei-Quellentheorie mit einem »Mk-Q Overlap« gerechnet hat. 20 Maßgeblich für dieses Urteil ist vor allem, dass das in Mt und Lk unmittelbar folgende Gleichnis vom Sauerteig in Mk fehlt (Mt 13,32 || Lk 13,20f ÷ nach Mk 4,32): Das wäre ein »Major agreement«. Eine Durchsicht der einzelnen Agreements ergibt folgendes Bild. a. Eine Reihe von Übereinstimmungen folgt dem ersten Überlieferungsweg: Mt und Lk rezipieren *Ev unverändert, Mk greift mit redaktionellen Änderungen ein. Dazu gehört zunächst die Übereinstimmung ὃν λαβὼν ἄνθρωπος Lk 13,19b || Mt 13,31c ÷ Mk 4,31. Sie geht bereits auf *Ev zurück, 21 dessen Text Mt und Lk übernehmen, während Mk diesen Aspekt auslässt. Auch die Nuance, dass der Sämann den Samen »in seinen Garten/ auf sein Feld« aussät, ist bereits für *Ev bezeugt. 22 Auch hier hat Mk den Wortlaut von *Ev geändert: εἰς κῆπον ἑαυτοῦ *13,19b || ἐν τῷ ἀγρῷ αὐτοῦ Mt 13,31c || Lk 13,19b ≠ ἐπὶ τῆς γῆς Mk 4,31. Tatsächlich ist die mt-lk Entsprechung noch größer, weil die v. l. Lk 13,19 ( P 45 א D F K L X Θ Ψ Π) usw. nahelegt, dass der vorkanonische Text nicht das ἑαυτοῦ des kanonischen Mehrheitstextes enthielt, sondern das auch von Mt bezeugte αὐτοῦ. Zu diesem Überlieferungsweg gehört dann auch das Gleichnis vom Sauerteig ______________________________ 20 Vgl. dazu R. L AUFEN , Die Doppelüberlieferungen der Logienquelle und des Markusevangeliums, Königstein/ Ts. 1980, 174-200; H. T. F LEDDERMANN , Mark and Q, Leuven 1995, 90-99. 21 Bezeugt durch Tert. 4,30,1: quod accepit homo … 22 Tert. 4,30,1: … et seminavit in horto suo. 262 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch (Mt 13,33 || Lk 13,20f ÷ Mk 4,32). Tertullian stellt es in einer sehr allgemeinen Formulierung für *Ev sicher, 23 Mt und Lk haben es von dort übernommen, Mk hat es ausgelassen. b. Ein anderes Phänomen zeigt sich an μικρότερον ὂν πάντων τῶν σπερμάτων Mk 4,31 || ὃ μικρότερον μέν ἐστιν πάντων τῶν σπερμάτων Mt 13,32 ÷ Lk 13: Die Betonung der Kleinheit des Senfkorns, die den Vergleich mit dem großen Baum hervorhebt, geht erst auf die mk Bearbeitung zurück, der das Wachstum des Senfkorns stark herausstellt (μ ι κ ρ ό τ ε ρ ο ν ὂν πάντων τῶν σπερμάτων - γίνεται μ ε ῖ ζ ο ν πάντων τῶν λαχάνων - ποιεῖ κλάδους μ ε γ ά λ ο υ ς ). Mt ist dieser Ergänzung gefolgt. Aber der Gegensatz zwischen dem kleinen Senfkorn und der großen Staude ist von der lk Redaktion aufgegriffen worden: Wie die uneinheitliche Handschriftenüberlieferung zeigt, hat sie das ἐγένετο εἰς δένδρον aus *Ev entlang der von Mk und Mt vorgegebenen Linien präzisiert: ἐγένετο εἰς δένδρον μ έ γ α . 24 c. Eine Reihe weiterer mt-lk Übereinstimmungen gegen Mk bleibt wegen der mangelnden Bezeugung für *Ev unklar: ηὔξησεν *13,19c || αὐξηθῇ Mt 13,32b ≠ ἀναβαίνει Mk 4,32. - καὶ ἐγένετο εἰς δένδρον *13,19d || καὶ γίνεται δένδρον Mt 13,32c ≠ καὶ ποιεῖ κλάδους μεγάλους Mk 4,32. - ἐν τοῖς κλάδοις αὐτοῦ *13,19e || Mt 13,32e ÷ nach Mk 4,32. Die Vermutung, dass diese Übereinstimmungen auf die gleiche Weise zustande gekommen sind wie die zuvor genannten, liegt nahe, ist aber nicht beweisbar. d. Die einleitende Frage ist unbezeugt: ὁμοία ἐστὶν ἡ βασιλεία Lk 13,18b || Mt 13,31b ≠ πῶς ὁμοιώσωμεν τὴν βασιλείαν Mk 4,30. Allerdings ist es aufgrund der handschriftlichen Überlieferung sehr wahrscheinlich, dass *13,18b wie Mt 13,31 von der βασιλεία τ ῶ ν ο ὐ ρ α ν ῶ ν sprach, nicht von der βασιλεία τ ο ῦ θ ε ο ῦ . Mit dieser Änderung von τῶν οὐρανῶν in τοῦ θεοῦ hat die lk Redaktion gewissermaßen ein weiteres »Minor Agreement« getilgt, das im Mehrheitstext gar nicht mehr sichtbar ist. Ein ähnliches Phänomen liegt in Lk 13,19 vor: Wie Tertullians Referat zeigt (4,30,1: seminavit), stand in *13,19 wohl das auch in Mt 13,31 enthaltene ἔσπειρεν, das noch in σπαρῇ Mk 4,31 durchscheint. Die lk Redaktion hat ἔσπειρεν in ἔβαλεν geändert: Die große Nähe der einzelnen Fassungen ist im Mehrheitstext weniger deutlich als im vorkanonischen Text. *9,43-47: In der Erzählung vom Exorzismus des epileptischen Knaben Mk 9,14-29 || Mt 17,14-21 || Lk 9,37-43 lassen sich die verschiedenen Wege für das Zustandekommen von mt-lk Übereinstimmungen gegen Mk auf engstem Raum beobachten. Auf der einen Seite ist οὐκ ἴσχυσαν Mk 9,18 ≠ οὐκ ἠδυνήθησαν *9,40 || Mt 17,16 zu nennen. Der semantische Unterschied zwischen dem mk ἰσχύω und dem mt-lk δύναμαι ist marginal; gerade deshalb stellt dieses »Agreement« ein Problem für die Zwei-Quellentheorie dar: Es lässt sich kaum begründen, wodurch Mt und Lk bei einer so wenig relevanten Formulierung unabhängig voneinander zu einer gleichlautenden Änderung gekommen sein sollten. In diesem Fall ist das mt-lk οὐκ ἠδυνήθησαν durch Epiphanius (Schol. 19) für *Ev sichergestellt: Mk hat den Text aus *Ev geändert, den Mt und Lk unverändert übernehmen. Gleich im nächsten Vers liegt ein weiteres Agreement vor: καὶ διεστραμμένη Lk 9,41b || Mt 17,17 ÷ Mk 9,19. In diesem Fall ist der kürzere Mk-Text (nur ὦ γενεὰ ἄπιστος) durch das übereinstimmende Zeugnis Tertullians (4,23,1f) und Epiphanius’ ______________________________ 23 Tert. 4,30,3: fermento enim comparavit illud, non azymis quae familiariora sunt creatori. 24 μεγα: add P 45 0303 A W Θ Ψ f (1).13 33 aur c f q sy p.h bo pt M ¦ om P 75 א B D L 070 892 1229 1241 2542 a a 2 b d e ſſ 2 i l r 1 sy s.c.j sa bo mss armen georg. § 12: Das Mt-Evangelium als Kompilation von Mk und *Ev 263 (Schol. 19) jedoch bereits für *Ev bezeugt. 25 Die mt-lk Übereinstimmung gegen Mk geht also darauf zurück, dass Mk *Ev unverändert übernimmt, wogegen Mt ergänzt: ὦ γενεὰ ἄπιστος *9,41b || Mk 9,19 ≠ ὦ γενεὰ ἄπιστος καὶ διεστραμμένη Lk 9,41b || Mt 17,17. Lk folgt an dieser Stelle also nicht seiner Hauptquelle *Ev, sondern der Ergänzung von *Ev durch die mt Redaktion. Dass es neben diesen beiden »Agreements« noch weitere Beispiele gibt, sei hier nur angemerkt. 26 Vor allem sind natürlich die umfangreichen Elemente der mk Erzählung gegenüber Mt und Lk zu nennen (Mk 9,14.20b-24.25b-27.29b): Sie machen eine Erklärung des überlieferungsgeschichtlichen Befundes nach der Deuteromarkus-Hypothese gänzlich unwahrscheinlich. 27 Denn in diesem Fall müsste man annehmen, dass die Erzählung sekundär durch »Deuteromarkus« gekürzt worden wäre, dessen Text Mt und Lk folgen. Stattdessen sind diese »Überschüsse« Ergänzungen, die Mk gegenüber dem knappen *Ev-Text vorgenommen hat. Versucht man, sich das Zustandekommen dieses Befundes hinsichtlich des formalen Verfahrens konkret vorzustellen (zu den inhaltlichen Fragen vgl. u. die Rekonstr. zu *9,37-45), gelangt man zu einem einigermaßen erstaunlichen Resultat. Relativ leicht verständlich ist die erste Bearbeitung des Ausgangstextes *Ev durch Mk: Neben einigen »kleineren« Änderungen, die am ehesten als stilistisch zu beurteilen sind, stehen die umfangreichen Ergänzungen, die ein »Major Agreement« konstituieren. Mk hat aus der *Ev-Erzählung mit der Belehrung über die knappe Zeit bis zum Ende eine Erzählung über die Jünger gemacht: Das passt genau in sein redaktionelles Profil, das sich auch sonst nachweisen lässt. 28 Aus diesem Grund fügt Mk eine spezielle Jüngerbelehrung κατ’ ἰδίαν an (9,28f): Jesus versetzt die Jünger in die Lage, auch diese besondere Dämonenart austreiben zu können. Mit dieser Pointe hat Mk der Erzählung eine Richtung gegeben, zu welcher der Schluss der Erzählung in *Ev mit der zweiten Leidensankündigung (*9,43b-45) nicht mehr passte: Mk hat sie szenisch abgetrennt (Mk 9,30), aus der Belehrung über das nahe Ende des Menschensohns eine Weissagung über sein Leiden und seine Auferstehung gemacht (Mk 9,31) und auf diese Weise das für Mk 8-10 programmatische Verhältnis von Niedrigkeit und Hoheit zur Geltung gebracht. ______________________________ 25 Dass einige Handschriften (P 45vid [W] f 13 2542 pc) in Mk 9,19 die längere (mt-lk) Formulierung ὦ γενεὰ ἄπιστος καὶ διεστραμμένη bieten, ist in diesem Fall tatsächlich als sekundäre Konformierung unter Einfluss der synoptischen Parallelen zu verstehen, die in NA 27 durch p) angezeigt ist. 26 λέγων *9,38 || Mt 17,15 ÷ Mk 9,17. - ᾿Ιησοῦς εἶπεν *9,41a || Mt 17,17 ≠ αὐτοῖς λέγει Mk 9,19. - ὧδε *9,41d || Mt 17,17 ≠ πρός με Mk 9,19. - ὁ ᾿Ιησοῦς *9,42c || Mt 17,18 ÷ Mk. - καὶ ἰάσατο τὸν παῖδα *9,42d || καὶ ἐθεραπεύθη ὁ παῖς Mt 17,18 ÷ Mk 9,27. - μέλλει (…) παραδίδοσθαι *9,44 || Mt 17,22 ≠ παραδίδοται Mk 9,31. Vgl. außerdem N EIRYNCK , Minor Agreements (1974), 126ff; DERS ., Minor Agreements (1991), 53ff; E NNULAT , Minor Agreements 208-213. 27 Vgl. den Versuch von H. A ICHINGER , Zur Traditionsgeschichte der Epileptiker-Perikope, in: A. Fuchs, Spuren von Deuteromarkus I, Münster 2004, 245-280. 28 Die umständliche Doppelung der Schilderung der Besessenheit des Sohnes (Mk 9,18: durch den Vater; Mk 9,20b-26: durch den Erzähler) erklärt, dass die Jünger (nachdem sie ja schon längst problemlos Dämonen ausgetrieben hatten: Mk 6,13) hier in der Tat auf ein sehr spezielles dämonisches γένος gestoßen sind. Im Übrigen ließ der vermutlich vorkanonische *Mk-Text Jesus zusammen mit den Jüngern, die mit auf dem Berg waren, »zu den Jüngern« kommen und sehen (ελθοντες … ειδον: א B L W Δ Ψ 892 2427 pc k sa). Die kanonische Redaktion hat dies geändert: Sie lässt Jesus allein zu den Jüngern kommen (ελθων … ειδεν: A C D Θ 067 vid f 1.13 lat sy p.h bo M) und reiht Petrus, Jakobus und Johannes in die zu belehrende Jüngerschar ein. Die kritischen Ausgaben haben einmal mehr den vorkanonischen Text übernommen. 264 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch Mt hatte demnach zwei deutlich verschiedene Fassungen der gleichen Erzählung vorliegen: Die knappe Erzählung in *Ev über das bald bevorstehende Ende und die ausführlichere mk Fassung. Obwohl Mt grundsätzlich der mk Akoluthie folgt (wie die Entsprechung von Mk 9,2-32 || Mt 17,1-32 zeigt), legt er seiner Erzählung von der Heilung des epileptischen Knaben in erster Linie die Fassung von *Ev zugrunde. Aber er vergleicht sie mit Mk 9,14-29 und arbeitet Elemente der mk Redaktion in die Grundfassung in *Ev ein: Mt 17,15 greift auf den zweiten Bericht des Vaters Mk 9,22 zurück, 29 integriert die Schilderung der Besessenheit aber in die Heilungsbitte aus *9,39 am Anfang. In der Exposition Mt 17,14 finden sich Elemente sowohl aus *Ev 30 als auch aus Mk. 31 Am Ende fügt Mt 17,19-21 die aus Mk 9,28f stammende Jüngerbelehrung κατ’ ἰδίαν ein und gibt ihr mit dem Hinweis auf die ὀλιγοπιστία der Jünger eine charakteristisch mt Wendung, indem er aus *Ev das Logion über die Größe des Glaubens (*17,6, s. dort) hier einfügt. Der sorgfältige und souveräne Vergleich der beiden Prätexte - Mk und *Ev - ist ohne weiteres deutlich. Lk ist i. W. an der *Ev-Fassung der Erzählung orientiert. Aber er kennt und nutzt auch die mt Version, wie die aus Mt 17,17 stammende Ergänzung in Lk 9,41b (καὶ διεστραμμένη) belegt. Ob Lk auch die mk Fassung verglich, bleibt offen. Deutlich ist jedenfalls, dass der Rezeptionsvorgang auf allen Stufen ein hohes Maß redaktioneller Sorgfalt und die Kenntnis jeweils aller zur Verfügung stehenden Quellen zeigt. *19,36-40: Ein letztes Beispiel ist die Rezeption der Einzugserzählung mit der folgenden Tempelreinigung Mk 11,1-17 || Mt 21,1-17 || Lk 19,28-46. Da von diesem großen Erzählzusammenhang nur *19,36-40 in *Ev enthalten waren, lassen sich die meisten der mt-lk Übereinstimmungen gegen Mk ohne weiteres erklären (Mt 21,1-7.10-17 || Lk 19,29-35.(41-44)45f ≠ Mk 11,1-7.11-17): Sie kommen dadurch zustande, dass Mt seine mk Quelle bearbeitet hat und Lk diese mt Bearbeitungen kennt und übernimmt. 32 Für den bereits in *Ev enthaltenen Abschnitt *19,36-40 sind zwei Übereinstimmungen zu notieren: εἰς τὴν ὁδόν Mk 11,8 ≠ ἐν τῇ ὁδῷ Lk 19,36 || Mt 21,8. - λέγοντες Lk 19,38 || Mt 21,9 ÷ Mk 11,9. - εὐλογημένη ἡ ἐρχομένη βασιλεία τοῦ πατρὸς ἡμῶν Δαυίδ Mk 11,10 ÷ Lk 19,38 || Mt 21,9. Die erste Übereinstimmung ist nicht konklusiv. Aber da Mk wiederholt εἰς + Akk. für das ______________________________ 29 Vgl. πολλάκις γὰρ πίπτει εἰς τὸ πῦρ καὶ πολλάκις εἰς τὸ ὕδωρ Mt 17,15c || καὶ πολλάκις καὶ εἰς πῦρ αὐτὸν ἔβαλεν καὶ εἰς ὕδατα Mk 9,22a. 30 Jesus trifft auf die Menge, nicht die Jünger: καὶ ἐλθόντων πρὸς τ ὸ ν ὄ χ λ ο ν Mt 17,14 || συνήντησεν αὐτῷ ὄ χ λ ο ς πολύς *9,37 ≠ καὶ ἐλθόντες πρὸς τ ο ὺ ς μ α θ η τ ά ς Mk 9,14. 31 Jesus kommt nicht allein, sondern mit den Jüngern, die bei der Verklärung dabei waren: καὶ ἐλθόντων Mt 17,14 || καὶ ἐλθόντες *Mk 9,14 ≠ ἐλθών Mk 9,14 || καθελθόντα αὐτόν *9,37. 32 αὐτοῦ Mk 11,1b ÷ Lk 19,29b || Mt 21,1b. - ἀποστέλλει … καὶ λέγει Mk 11,1f ≠ ἀπέστειλεν … λέγων Lk 19,29f || Mt 21,1f. - λύσατε … καὶ ϕέρετε Mk 11,2 ≠ λύσαντες … ἀγάγετε Lk 19,30e || Mt 21,2. - εἴπατε Mk 11,3 ≠ ἐρεῖτε ὅτι Lk 19,31 || Mt 21,3. - καὶ ἀπῆλθον Mk 11,4 ≠ ἀπελθόντες δὲ οἱ ἀπεσταλμένοι Lk 19,32 || πορευθέντες δὲ οἱ μαθηταί Mt 21,6. - καθὼς … αὐτοῖς Lk 19,32 || Mt 21,6 ÷ Mk 11,4. - ἀϕῆκαν αὐτούς Mk 11,6 ÷ Lk 19,34 || Mt 21,6. - ϕέρουσιν Mk 11,7 ≠ ἤγαγον Lk 19,35 || Mt 21,7. - καὶ ἐδίδασκεν Mk 11,17 ÷ Lk 19,46 || Mt 21,13. - Mk 11,17 ÷ 19,46 || Mt 21,13. - πᾶσιν τοῖς ἔθνεσιν Mk 11,17 ÷ Lk 19,46 || Mt 21,13. - οὐ γέγραπται … ; (Frage) Mk 11,17 ≠ γέγραπται (Aussage) Lk 19,46 || Mt 21,13. - ὑμεῖς δὲ πεποιήκατε αὐτόν Mk 11,17 ≠ ὑμεῖς δὲ αὐτὸν ἐποιήσατε (1 2 4 3) Lk 19,46 || ὑμεῖς δὲ αὐτὸν ποιεῖτε Mt 21,13. Vgl. dazu Vgl. außerdem N EIRYNCK , Minor Agreements (1974), 143ff; DERS ., Minor Agreements (1991), 63ff; E NNULAT , Minor Agreements 245-252. § 12: Das Mt-Evangelium als Kompilation von Mk und *Ev 265 lokale ἐν + Dat. verwendet, 33 könnte dieses Agreement auf seinen Sprachgebrauch zurückgehen, sodass ἐν τῇ ὁδῷ Mt 21,8 || Lk 19,36 wohl den Text von *Ev reflektiert. Wichtiger ist die zweite Übereinstimmung mit der Akklamation der Menge (Mk 11,10 ÷ Lk 19,38 || Mt 21,9). Da es keine direkte Bezeugung für *Ev zu diesem Abschnitt gibt, muss der dessen Text, der die Grundlage des Agreements bildet, aufgrund der handschriftlichen Bezeugung rekonstruiert werden. Wie unten ausführlicher dargelegt ist (vgl. die Rekonstruktion z. St.), ist der Text von *Ev mit großer Wahrscheinlichkeit in den beiden Altlateinern e l enthalten. Damit stellt sich die Überlieferungssituation folgendermaßen dar. *19,38 e l Mk 11,9f Mt 21,9 Lk 19,38 ῾Ωσαννά· ῾Ωσαννὰ τῷ υἱῷ Δαυίδ· Εὐλογημένος Εὐλογημένος Εὐλογημένος Εὐλογημένος ὁ ἐρχόμενος ὁ ἐρχόμενος ὁ ἐρχόμενος ὁ βασιλεύς· ὁ βασιλεὺς ἐν ὀνόματι κυρίου· ἐν ὀνόματι κυρίου· ἐν ὀνόματι κυρίου· Εὐλογημένη ἡ ἐρχομένη βασιλεία τοῦ πατρὸς ἡμῶν Δαυίδ· εἰρήνη εἰρήνη ἐν οὐρανῷ ἐν οὐρανῷ καὶ δόξα ῾Ωσαννὰ ῾Ωσαννὰ καὶ δόξα ἐν ὑψίστοις ἐν τοῖς ὑψίστοις ἐν τοῖς ὑψίστοις ἐν ὑψίστοις Am Anfang der Überlieferung enthielt *Ev eine einfache Königsakklamation (εὐλογημένος ὁ βασιλεύς), gefolgt von einer doppelten Doxologie: Friede im Himmel, Herrlichkeit in der Höhe! Mk hat die erste Doxologie gestrichen, die zweite in eine Hosanna-Doxologie umgewandelt und an den Anfang einen absoluten Hosanna-Jubelruf gestellt und dadurch die ganze Einheit durch das doppelte Hosanna gerahmt. Außerdem hat er die Akklamation des Königs durch die des »Kommenden im Namen des Herrn« geändert, eine Akklamation der kommenden Basileia ergänzt und die Friedens-Doxologie gestrichen. Mt hat seine beiden Prätexte verglichen. Zwar hat er i. W. den Mk-Text rezipiert, aber daran zwei Änderungen vorgenommen: Zum einen hat er den absoluten Hosanna-Jubelruf am Anfang in eine Akklamation für den Sohn Davids umgewandelt (das passt sehr genau zur mt Christologie), zum andern hat Mt die von Mk gegenüber *Ev ergänzte Basileia-Akklamation ausgelassen. Lk wiederum zeigt, dass er sowohl von *Ev als auch von Mk/ Mt abhängig ist: In der Gesamtstruktur hat er die Form der Akklamation aus *Ev rezipiert, aber die einfache Königsakklamation mit der mk/ mt Akklamation des Kommenden konformiert: εὐλογημένος ὁ ἐρχόμενος, ὁ βασιλεὺς ἐν ὀνόματι κυρίου. Da Lk wie Mt die von Mk ergänzte Basileia-Akklamation nicht übernimmt, entsteht hier ein »Minor Agreement«. ______________________________ 33 Vgl. BDR § 205 Anm. 2: Mk ist der einzige nt.liche Autor, der häufiger εἰς + Akk. als ἐν + Dat. verwendet. 266 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch d. Zur methodischen Bedeutung der »Minor Agreements« Die Untersuchung der »Minor Agreements« hat in diesem Zusammenhang eine sehr begrenzte Funktion: Sie soll zeigen, in welchen Überlieferungsschritten die für die Zwei-Quellentheorie so problematischen mt-lk Übereinstimmungen gegen Mk entstanden sind. 34 Die genannten Beispiele sollten für den Nachweis genügen, dass ihnen entweder der von Mt und Lk gemeinsam rezipierte *Ev-Text zugrunde liegt, den Mk redaktionell verändert hat, oder aber die lk Rezeption von mt Veränderungen gegenüber *Ev und Mk. Im Rahmen der Frage, wie sich Mt in das überlieferungsgeschichtliche Bild einfügt, hat sich die »Mittelstellung« des Mt für diejenigen Beispiele erhärten lassen, die eine literarische Abhängigkeit des Lk von Mt belegen. Dieses Bild der Überlieferungsgeschichte wird durch zahlreiche weitere Beispiele gestützt. Sie werden in der Rekonstruktion jeweils in Auswahl aufgeführt und teilweise besprochen. Eine vollständige Erfassung ist weder angestrebt noch sinnvoll, weil das Modell als solches ja Bestand hat. Aber die methodische Bedeutung der »Minor Agreements« geht über die Bestätigung dieses Modells hinaus. Es lässt sich forschungsgeschichtlich leicht zeigen, dass die »Minor Agreements« immer nur im Zusammenhang der Kritik an der Zwei- Quellentheorie Interesse gefunden haben. Das ist insofern ein Glücksfall, als die anhaltende Diskussion des Synoptischen Problems zu einer zunehmenden Verfeinerung der Analyse und zur genauen Registrierung auch kleinster Phänomene geführt hat: Die »Minor Agreements« sind häufig wirklich »kleiner« und besitzen in vielen Fällen nur eine geringe oder gar keine semantische Auswirkung. Im Unterschied zu der gelegentlich geäußerten Ansicht, die »Minor Agreements« seien zu gering, um überlieferungsgeschichtliches Gewicht zu tragen, 35 hat die Diskussion des Synoptischen Problems in den vergangenen Jahrzehnten gezeigt, dass eine Theorie nicht nur in groben Zügen überzeugen, sondern auch im Detail standhalten muss. Für das vorgeschlagene überlieferungsgeschichtliche Modell ist daher wesentlich, dass es in diesen kleinen und kleinsten Aspekten »funktioniert«. Dass dies auch für die großen Einheiten gilt, ist gleich zu zeigen. Daneben geben die »Minor Agreements« einen wesentlichen und durchaus erstaunlichen Einblick in den literarischen Entstehungsprozess der Evangelien. Denn sie erweisen die Überlieferungsgeschichte tatsächlich als ein in höchstem Maß ______________________________ 34 Da es in diesem Zusammenhang (nur) um den Nachweis der mt »Mittelstellung« geht, reicht es aus, die klassischen mt-lk »Agreements« zu besprechen. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass es solche kleinen und kleinsten Übereinstimmungen auch zwischen Mk und Mt gegen Lk bzw. zwischen Mk und Lk gegen Mt gibt. 35 Vgl. Chr. M. T UCKETT , Q and the History of Early Christianity, Edinburgh 1996, 28: »The fact that the Minor Agreements are so minor makes it very hard to believe that Luke has been (…) influenced positively by Matthew’s text in such (substantively) trivial ways …«; s. auch M. S. G OODACRE , The Case Against Q, Harrisburg 2001, 163ff. § 12: Das Mt-Evangelium als Kompilation von Mk und *Ev 267 literarisches Phänomen. Gerade mit Blick auf die zuletzt genannten komplexeren Beispiele, in denen die verschiedenen Bearbeitungsrelationen auf engstem Raum unmittelbar nebeneinander wirksam werden, lässt sich der Überlieferungsprozess nur als sehr sorgfältige »Schreibtischarbeit« mit genauestem Textvergleich verstehen. Denn diese Beobachtungen setzen voraus, dass die späteren Bearbeiter ihren Prätext bzw. ihre Prätexte nicht nur sehr genau kannten (und in der Disposition ihres Materials sehr souverän damit umgehen konnten), sondern dass sie diese Texte auch durchweg vorliegen hatten und offenkundig Schritt für Schritt vergleichend zu Rate zogen. Diese Erklärung kommt nicht nur ohne die Annahme einer fest geprägten mündlichen Überlieferung aus, sondern schließt diese letztlich aus. Damit ist nicht gesagt, dass es eine solche mündliche Überlieferung nicht gegeben haben kann, wohl aber, dass sie auf die Gestaltung der Texte keinen erkennbaren Einfluss ausgeübt hat. 3. Die Redaktion des Materials der Doppelüberlieferung bei Mt und Lk Über die »Minor Agreements« hinaus lassen sich die fraglichen Bearbeitungsrelationen ④ (zwischen *Ev und Mt) sowie ⑤ (zwischen Mt und Lk) allerdings auch auf andere Weise belegen: In der für die Zwei-Quellentheorie üblich gewordenen Terminologie steht hier das Material der mt-lk Doppelüberlieferung zur Debatte, also diejenigen Texte, die üblicherweise zum Bestand von »Q« gerechnet werden. In methodischer Hinsicht besteht die Aufgabe folglich darin, innerhalb dieses »Q«- Materials beide in Frage stehenden Relationen zu identifizieren: Es muss sich nachweislich auf die beiden Bearbeitungsschritte verteilen lassen. Diese Differenzierung innerhalb der mt-lk Doppelüberlieferung ist ohne weiteres möglich. Als exemplarischer Ausgangspunkt ist dabei die Komposition der Bergpredigt gewählt. Denn das Verhältnis zwischen dem gemeinsamen Material von Mt 5-7 und Lk hat in der Vergangenheit eine erhebliche Rolle in der Diskussion des Synoptischen Problems gespielt. Die überlieferungsgeschichtliche Analyse der Bergpredigt besitzt paradigmatischen Charakter: Ihre Ergebnisse besitzen Gültigkeit auch für den Rest der Komposition des Mt. Die folgende Übersicht zeigt, wie sich die synoptischen Parallelen zu dem Material von Mt 5-7 einerseits auf Lk, andererseits auf *Ev verteilen. 36 ______________________________ 36 Die Stellenangaben für *Ev in Klammern ( ) zeigen an, dass diese Passagen nicht direkt bezeugt sind; zu diesen Stellen ist jeweils die Begründung der Rekonstruktionsentscheidung zu vergleichen (Anhang I). Die mk Parallelen sind in der rechten Spalte mit Unterstreichung angegeben. 268 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch Mt Lk *Ev Inhalt 5,1 5,2 — 6,20a — *6,20a Einleitung (vgl. Mk 3,13a) Makarismen: 5,3-12 5,3 6,20b-21 *6,20b-21 Arme 5,4-5 — — Leidtragende, Trauernde 5,6 6,21a *6,21a Hungernde — 6,21b *6,21b Weinende 5,7-10 — — Barmherzige, die reinen Herzens sind, Friedfertige, Verfolgte 5,11 6,22 *6,22 Geschmähte 5,12a 6,23a — Aufforderung zur Freude 5,12b 6,23b *6,23b So haben sie die Propheten verfolgt Salz der Erde, Licht der Welt: 5,13-16 5,13a — — Ihr seid das Salz der Erde 5,13b-d 14,34-35 (*14,34-35) Bildwort vom Salz (vgl. Mk 9,49-50) 5,14 — — Ihr seid das Licht der Welt; Stadt auf dem Berg 5,15 Bildwort vom Licht 5,15a 8,16; 11,33a *8,16a *11,33a Niemand verbirgt Licht … (vgl. Mk 4,21a) 5,15b 8,16b 11,33b — *11,33b … unter einem Gefäß … (vgl. Mk 4,21b) 5,15c 8,16c 11,33c — *11,33c … sondern setzt es auf einen Leuchter … (vgl. Mk 4,21c) 5,15d 8,16d 11,33d — *11,33d … damit es allen leuchtet 5,16 — — Lasst euer Licht leuchten Gesetz und Propheten - die bessere Gerechtigkeit: 5,17-20 5,17 — [*23,2.5! ] Jesus ist nicht gekommen, Gesetz und Propheten aufzulösen, sondern zu erfüllen 5,18 16,17 *16,17 Himmel und Erde vergehen eher als Gesetz (vgl. *21,33; Mt 24,35; Mk 13,31; Lk 21,33) 5,19-20 — — Kleine im Himmelreich; größere Gerechtigkeit Antithesen: 5,21-48 5,21-26 Vom Töten 5,21-22 — — Töten und Zürnen 5,23 — — Versöhnung mit dem Gegner v. d. Altar 5,24-26 12,57-59 *12,57-59 Versöhnung mit dem Prozessgegner 5,27-32 Von Ehebruch 5,27-28 — — Verbot von Ehebruch und Begehren 5,29-30 — — Verführung zum Abfall; Amputation des § 12: Das Mt-Evangelium als Kompilation von Mk und *Ev 269 (18,8-9) (17,1-2) (*17,1-2) anstoßgebenden Gliedes (vgl. Mk 9,43-48) 5,31.32 Von Ehescheidung und Wiederheirat 5,31 — — Gebot der Ehescheidung 5,32 16,18 *16,18 Ehescheidung und Wiederheirat (vgl. Mk 10,11f) 5,33-37 — — Vom Schwören 5,38-42 Von der Vergeltung 5,38 — *6,27a Talio 5,39-42 6,29-30 *6,29-30 Verzicht auf Vergeltung (Backe; Mantel) 5,43-48 Von der Feindesliebe 5,43 — — Nächstenliebesgebot 5,44 6,27-28 *6,27-28 Aufforderung zu Feindesliebe und Fürbitte für Verfolger 5,45 — — Die Sonne über Bösen und Guten 5,46-47 6,32-33 — Was ist der Lohn, wenn ihr die liebt, die euch lieben/ denen Gutes tut, die euch Gutes tun? 5,48 6,36 *6,36 Seid vollkommen/ barmherzig wie der Vater Frömmigkeitsregeln: 6,1-18 6,1-4 — — Almosen 6,5-15 Beten 6,5-6 — — Nicht in der Öffentlichkeit beten 6,7-8 — — Nicht plappern wie die Heiden — 11,1 *11,1 Bitte um Gebetsbelehrung 6,9-13 11,2-4 *11,2-4 Vater Unser 6,14-15 — — Vergebung durch Gott, wenn ihr Menschen vergebt (vgl. Mk 11,25-26) 6,16-18 — — Fasten Paränetische Konkretionen: 6,19-7,11 6,19-21 12,33-34 (*12,33-34) Sammelt unvergängliche Schätze! 6,22-23 11,34-36 (*11,34-36) Das Auge als Licht des Leibes 6,24 16,13 *16,13 Niemand kann zwei Herren dienen! 6,25-34 12,22-32 *12,22-27 *12,29-32 Vom Sorgen 7,1-5 Vom Richten 7,1 6,37a *6,37a Richtet nicht! 7,2a — — Ihr werdet nach eurem Recht gerichtet … 7,2b 6,38c *6,38c … und nach euren Maß wird euch zugemessen (vgl. Mk 4,24a) 7,3-5 6,41-42 *6,41-42 Splitter und Balken im Auge 7,6 — — Entweihung des Heiligen/ Perlen vor die Säue 7,7-11 11,9-13 *11,9-13 Belehrung über Gebetserhörung 7,12 6,31 *6,31 Zusammenfassung: Goldene Regel 270 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch Warnung vor Nichterfüllung: 7,13-28 7,13-14 13,23-24 (*13,23-24) Von den zwei Wegen 7,15-20 An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen! 7,15 — — Warnung vor falschen Propheten 7,16-18 6,43-44 *6,43(-44) Der gute und der schlechte Baum 7,19-20 — — Schlechte Bäume werden verbrannt; an den Früchten sollt ihr sie erkennen 7,21-23 Herr-Herr-Sagen 7,21 6,46 *6,46 Nicht alle Herr-Herr-Sager werden in das Reich kommen 7,22-23 13,25-27 *13,25-27 Abweisung der Übeltäter 7,24-27 6,47-49 (—) Haus auf dem Felsen Abschluss der Rede: 7,28-29 7,28 7,1 *7,1 Abschluss der Rede 7,29 4,32 *4,32 Lehre in Vollmacht (vgl. Mk 1,21-22) Die folgenden Überlegungen zur mt Komposition nehmen ihren Ausgangspunkt bei Beobachtungen an dieser Übersicht zur Bergpredigt. a. Die mt Integration von *Ev in Mk Eine erste Beobachtung ist wenig aufregend, weil sie die als unkritisch eingestufte Bearbeitungsrelation ② zwischen Mk und Mt bestätigt: Mk stellt die Hauptquelle dar, in die Mt weiteres Material eingearbeitet hat. 37 Für die große Redekomposition Mt 5-7 38 ist das an den Übergängen zu Beginn (Mt 4,25-27; 5,1 || Mk 3,7-13a || Lk 6,17-19) und am Ende (Mt 7,28f || Mk 1,21f) kenntlich. Dass die Bergpredigt nicht allein aus Stoffen der mt-lk Doppelüberlieferung komponiert ist, zeigen die sehr wenigen mk Parallelen. Unter ihnen nimmt das Logion über das Gebet ohne Groll gegen den Mitmenschen (Mt 6,14f || Mk 11,25f) eine Sonderstellung ein: Im methodischen Rahmen der Zwei-Quellentheorie gehört dieses Wort nicht zur Dreifachüberlieferung: Lk hat es nicht. 39 ______________________________ 37 Vgl. als Beispiel für viele: U. L UZ , Matthäus und Q, in: R. Hoppe, U. Busse (Hg.), Von Jesus zum Christus, Berlin 1998, 201-216, 207: Mt kann »als Neuausgabe des Markusevangeliums verstanden werden … Die Logienquelle dagegen hat Matthäus ›ausgeschlachtet‹ und dabei ihren Aufbau zerstört.« Vgl. DERS ., Das Matthäusevangelium: Ein neues Evangelium oder ein neu redigiertes Evangelium? , in: S. Chapman u. a. (Hg.), Biblischer Text und theologische Theoriebildung, Neukirchen-Vluyn 2001, 53-76. 38 Zur inhaltlichen Gliederung vgl. den Vorschlag von C HR . B URCHARD , Versuch, das Thema der Bergpredigt zu finden, in: ders., Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments, Tübingen 1998, 27-50. 39 Die textkritische Besonderheit der Überlieferung von Mk 11,26 (om א B L W Δ Ψ 565 700 892 2427 pc k l sy s sa bo pt ) legt es nahe, dass Mk 11,26 nicht bereits im vorkanonischen *Mk enthalten war, sondern erst auf der Ebene der Kanonischen Redaktion in Analogie zu Mt 6,15 eingefügt wurde. § 12: Das Mt-Evangelium als Kompilation von Mk und *Ev 271 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die mt Rezeption von Mk durchaus in das überlieferungsgeschichtliche Bild unter Einzeichnung der *Ev-Priorität auch vor Mk passt. Dass Mk die Hauptquelle des Mt ist, lässt sich anhand der Bergpredigt (mit der kleinen Ausnahme Mt 6,14 || Mk 11,25) gerade nicht zeigen. Denn die weiteren Parallelen zwischen Mt 5-7 und Mk gehen auf Texte zurück, die bereits in *Ev enthalten waren, sodass sich die direkte Abhängigkeit des Mt von Mk an dieser Stelle weniger gut zeigen lässt als an den zahlreichen weiteren Beobachtungen, zu denen vor allem die Übernahme der mk Akolouthie durch Mt ab Mk 2,23 || Mt 12,1 gehört. b. Mt rezipiert Material aus *Ev, das Lk redaktionell verändert Neben der Bearbeitungsrelation ② zwischen Mk und Mt belegt die Übersicht zu Mt 5-7 vor allem die Bearbeitungsrelation ④ zwischen *Ev und Mt. Auch diese Beobachtung ist auf den ersten Blick wenig aufregend, sie ähnelt den Erklärungen der Zwei-Quellentheorie: Der Großteil des Stoffes der Bergpredigt gehört der mt-lk Doppelüberlieferung an, den Mt in den durch Mk konstituierten Erzählrahmen integriert. Unter der Prämisse der *Ev-Priorität lag dieses Material allerdings nicht in »Q« vor, sondern in *Ev, von dem Mt abhängig ist. Dass Mt (in diesem Stoff) nicht von Lk, sondern entlang der Bearbeitungsrelation ④- von *Ev abhängig ist, lässt sich an einer ganzen Reihe von Beispielen zeigen, nämlich immer dann, wenn Mt den Wortlaut von *Ev rezipiert hat, Lk ihn aber (oft nur geringfügig) verändert. Dieses Phänomen ist gegenüber der Behandlung der »Minor Agreements« neu: Diese werden durch die Übereinstimmungen von Mt und Lk im Rahmen der Dreifachüberlieferung konstituiert. Hier geht es dagegen um mt-lk Differenzen im Rahmen der Doppelüberlieferung. Mt 5,3-10: In den ersten acht Makarismen bietet Mt 5,3-10 die Apodosis in der 3. Pers. und unterscheidet sich darin von den drei ersten Makarismen der lk Feldrede (Lk 6,20f), deren Apodosis, analog zum letzten Makarismus, in der 2. Pers. gehalten ist. Diese Inkongruenz ist bereits ein Merkmal der Makarismen in *Ev, wie Tertullians Referat zeigt (s. die Rekonstr. zu *6,20f). Die Formulierung der ersten drei Makarismen Lk 6,20f in der 2. Pers. im kanonischen Lk-Text ist also das Ergebnis einer redaktionellen Angleichung aller vier (lk) Makarismen. In der handschriftlichen Überlieferung zu Lk 6,20f (it sy usw.) haben sich die Spuren von *Ev noch erhalten. Das bedeutet, dass Mt 5,3-9 von *Ev abhängig ist: Er hat *6,20f so bearbeitet, dass er ein Glied (*6,21b: Weinende) gestrichen, sechs weitere ergänzt (Mt 5,4f.7-10: Leidtragende; Trauernde; Barmherzige; die reinen Herzens sind; Friedfertige; Verfolgte) und die restlichen beiden (*6,20b.21b) »spiritualisierend« bearbeitet hat. Mt 5,3b: In der Apodosis des ersten Makarismus findet sich die typisch mt klingende Formulierung vom »Reich der Himmel« (βασιλεία τ ῶ ν ο ὐ ρ α ν ῶ ν ). Die lk Entsprechung bietet dafür das in Lk sehr viel breiter bezeugte (Lk 6,20b: βασιλεία τ ο ῦ θ ε ο ῦ ). Allerdings bezeugt Tertullian (4,14,13) die »mt« Formulierung βασιλεία τῶν οὐρανῶν bereits für *Ev. Auch diese Lesart hat sich noch in einigen Zeugen der handschriftlichen Überlieferung erhalten (darunter sowohl Altlateiner 272 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch als auch Altsyrer). 40 Obwohl Mt eine deutlich erkennbare Vorliebe für die Formulierung βασιλεία τ ῶ ν ο ὐ ρ α ν ῶ ν besitzt, hat er sie nicht erfunden. Vielmehr hat er sie bereits *Ev vorgefunden 41 und sich dadurch zu seinem charakteristischen Sprachgebrauch anregen lassen, den er redaktionell ziemlich konsequent beibehalten hat, sowohl in eigenen Formulierungen als auch in Änderungen der Formulierung βασιλεία τοῦ θεοῦ aus Mk und *Ev. Mt 5,26: In der ersten Antithese vom Töten und vom Zürnen bringt Mt 5,24-26 die Aufforderung zur Versöhnung mit dem Prozessgegner, die Lk in dem ganz anderen Kontext über die Notwendigkeit der Erkenntnis der Zeichen der Zeit enthält (Lk 12,57-59). Dieser Kontext ist ursprünglich, wie die Bezeugung für *Ev belegt (Tert. 4,29,15f). Auch in diesem Fall hat Mt den älteren *Ev- Wortlaut genauer bewahrt als Lk: Der »letzte Heller«, von dem das Beispiel spricht, ist in Mt 5,26 ein κοδράντης (ein quadrans im Wert von einem ¼ As), in Lk 12,59 dagegen ein λεπτόν (im Wert von ½ As). Der mt κοδράντης ist nicht nur durch Tertullian für *Ev bezeugt, sondern hat sich auch noch in Lk 12,59 in einer Reihe von Handschriften (D it) erhalten. Mt 5,38-42: In der Antithese über die Vergeltung findet sich Mt 5,39 die Aufforderung, auch die andere Backe hinzuhalten, die Lk im gleichen Kontext der Feldrede bietet: Mt 5,39 ὅστις σε ῥαπίζει εἰς τὴν δεξιὰν σιαγόνα || Lk 6,29 τῷ τύπτοντί σε ἐπὶ τὴν σιαγόνα. Beide Fassungen unterscheiden sich nicht nur in der syntaktischen Form (konditionaler Relativsatz bei Mt, Partizipialsatz bei Lk), sondern auch in drei weiteren Formulierungen: σε ῥαπίζει Mt ≠ τύπτοντί σε Lk; εἰς Mt ≠ ἐπί Lk; Mt δεξιάν ÷ Lk. Alle Merkmale der mt Fassung einschließlich der syntaktischen Form sind bereits für *Ev bezeugt. Auch hier übernimmt Mt den ursprünglichen Wortlaut unverändert, während Lk ihn stilistisch verändert. Die hier genannten mt-lk Differenzen im Material der Doppelüberlieferung gehen also auf den unterschiedlichen Umgang mit der gemeinsamen Quelle *Ev zurück: Lk hat geringfügige Änderungen vorgenommen, die sich häufig genug als kleine stilistische Glättungen bzw. Präzisierungen verstehen lassen, Mt hat dagegen *Ev unverändert übernommen. Von besonderer semantischer Signifikanz sind diese Differenzen nicht: Darin gleichen sie den »Minor Agreements«. Aber es gibt auch Beispiele von großer inhaltlicher Bedeutung. In dieser Hinsicht ist eine doppelte Beobachtung von größtem Gewicht. Zunächst bezeugen sowohl Tertullian als auch Adamantius für *6,27 die Talio-Regelung (Ex 21,24; Dtn 19,21; Lev 24,20), die auch Mt 5,38 enthalten ist. Mit großer Wahrscheinlichkeit besaß sie in *Ev nicht nur eine Einleitung, die ausdrücklich auf das Gesetz verwies (ἐν τῷ νόμῳ λέγει …), sondern auch die Fortführung mit der typisch mt Einleitung der Antithesen (ἀλλὰ ὑμῖν λέγω τοῖς ἀκούουσιν …). 42 Mt hat also 5,38 i. W. aus *Ev übernommen, während Lk den Wortlaut verändert hat. Die inhaltliche Bedeutung ergibt sich allerdings erst aus der schon mehrfach ______________________________ 40 βασιλεια των ουρανων: X* mult lect c f sy s.j(1 ms) georg II got slav Bas Aphr; βασιλεια του ουρανου: sa bo mss aeth. 41 Vgl. außerdem zu *13,18f; *18,16f; *19,27. 42 Tert. 4,16,1.2.4; Adam. 1,15 (814a). Zum genauen Wortlaut und zur Stellung im Kontext vgl. die Rekonstruktion z. St. § 12: Das Mt-Evangelium als Kompilation von Mk und *Ev 273 angesprochenen Beobachtung zur Anklage Jesu vor Pilatus: *23,2 enthielt unter den falschen Anklagen auch den Vorwurf, Jesus würde »das Gesetz und die Propheten auflösen.« 43 Dieser Vorwurf ist im Kontext von *Ev gerade mit Blick auf *6,27 ἐν τῷ ν ό μ ῳ λέγει … ἀ λ λ ὰ ὑμῖν λέγω nicht ganz von der Hand zu weisen, obwohl im Gesamtzusammenhang deutlich ist, dass *Ev fraglos davon überzeugt war, dass eher Himmel und Erde als nur »ein einziges Häkchen der Worte des Herrn« vergehen (*16,17). Die inhaltliche Spannung zwischen Mt 5,17-20 auf der einen Seite und den Antithesen (Mt 5,21-48) auf der anderen war der Sache nach also schon in *Ev enthalten. Die Entstehung dieser Spannung, die durch die gesamte Rezeptionsgeschichte hindurch kreative hermeneutische Lösungen produziert hat, 44 lässt sich jetzt einigermaßen nachvollziehen. Denn die ewige Geltung von »Gesetz und Propheten«, die Mt 5,17-20 mit starker Betonung vor die Antithesen stellt, liest sich wie eine direkt auf *23,2 bezogene Klarstellung: Der Vorwurf in der Anklage vor Pilatus, dass Jesus Gesetz und Propheten auflöse, ist eine lügenhafte Unterstellung der Synhedristen. Vielleicht hat Mt sich zu dieser Klarstellung veranlasst gefühlt, weil die Reihe der Vorwürfe gegen Jesus in *23,2 neben den falschen Anklagen ja auch den einen zutreffenden Aspekt enthielt (»er ist der gesalbte König«), den Jesus auf die Rückfrage des Pilatus hin ausdrücklich bestätigt (*23,3). Wenn Mt nicht nur allegemeine Kenntnisse von *Ev besaß, sondern so souverän über seinen Inhalt verfügte, dass er ohne Schwierigkeiten auch entfernte Texte in den Kontext der Bergpredigt integrieren konnte, dann ist es eine naheliegende Vermutung, dass er die lügenhafte Anklage (»er löst das Gesetz und die Propheten auf! «) durch Jesus selbst entkräften ließ: »Glaubt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzulösen. Nicht zum Auflösen bin ich gekommen, sondern zum Erfüllen! « Ob die Vv. 5,17-20 bereits eine antimarcionitische Tendenz verfolgen, lässt sich nicht ausmachen. Aber dass sie das durch Marcion sehr deutlich problematisierte Verhältnis der entstehenden Kirche zum Judentum anhand einer theologischen Klärung der Geltung des »Gesetzes« thematisieren, lässt sich nicht bestreiten. Mt hat den seiner Ansicht nach falschen Gegensatz zwischen dem Gesetz und der Lehre Jesu nicht nur dadurch zu beseitigen versucht, dass er den Antithesen Mt 5,17-20 programmatisch vorangestellt hat. Er hat auch den expliziten Hinweis auf das Gesetz aus *6,27 getilgt: Die Lehre Jesu richtet sich nicht gegen das Gesetz, ______________________________ 43 Epiph., Schol. 69: Προσέθετο μετὰ τό Τοῦτον εὕρομεν διαστρέϕοντα τὸ ἔθνος· Καὶ καταλύοντα τὸν νόμον καὶ τοὺς προϕήτας. 44 Eine kleine Auswahl bei L UZ , Mt I 247ff. 274 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch sondern gegen das, was »zu den Alten gesagt ist«. 45 Diese theologische Korrektur ist verantwortlich für das Problem, dass sich nicht genau unterscheiden lässt, ob der mt Jesus sich gegen Bestimmungen der Tora oder gegen (aufweichende) Interpretationen richtet. 46 Lk hat das gleiche sachliche Problem auf andere Weise gelöst: Er hat sowohl den Hinweis auf das, »was im Gesetz gesagt ist«, als auch die antithetische Einleitung der Lehre Jesu gestrichen (*6,27 ἐν τῷ νόμῳ λέγει … ἀλλὰ ὑμῖν λέγω). Der Preis dieser Lösung ist der Verzicht auf den expliziten Hinweis auf das Neue der Lehre Jesu. Diese hier genannten Beispiele für die mt Rezeption von *Ev entlang der Bearbeitungsrelation ④ im Unterschied zur lk Rezeption von *Ev in der Relation ① bestätigen zunächst nur das Phänomen, dass Mt auf *Ev (und nicht auf »Q«) zurückgegriffen hat, um die aus Mk stammende Jesuserzählung zu ergänzen. Da auch Lk *Ev ausschreibt, entstehen hier die als mt-lk Doppelüberlieferungen bekannten Entsprechungen. Die hier vorgestellten Beispiele zeigen eine erste Möglichkeit für das Zustandekommen dieser Entsprechungen, und sie zeigen auch, auf welchem Wege die kleineren Differenzen in diesem Material zustande kommen konnten. c. Mt ergänzt und redigiert Material aus *Ev, Lk übernimmt die mt Änderungen Die große Ähnlichkeit zwischen *Ev und Lk bei der gleichzeitigen Unterscheidung ihrer Positionen im Verlauf der Überlieferungsgeschichte konstituiert die Differenz zwischen den beiden Bearbeitungsrelationen ① auf der einen Seite sowie ④ und ⑤ auf der anderen. Aus diesem Grund können die mt-lk Differenzen im Material der Doppelüberlieferung auf verschiedene Weise entstanden sein: Nicht nur dann, wenn Mt den Wortlaut aus *Ev bewahrt, Lk ihn aber redaktionell verändert hat, sondern auch dann, wenn Mt redaktionelle Änderungen bzw. Ergänzungen gegenüber *Ev vorgenommen hat und Lk diese mt Änderungen übernimmt. Da Lk diesen mt Änderungen nicht blind folgt, sondern sie seinerseits bearbeitet, ergibt sich eine zweite Möglichkeit für das Zustandekommen der kleineren Differenzen im Material der mt-lk Doppelüberlieferung. Auch dieser Überlieferungsweg lässt sich am Material der Bergpredigt zeigen. Mt 5,12: Am Ende der Makarismen haben Mt und Lk eine Aufforderung zur Freude, die anschließend begründet wird (Mt 5,12a.b || Lk 6,23a.b). Im Rahmen der Zwei-Quellentheorie steht die Zuweisung dieses Verses an »Q« außer Frage. 47 Aber die Aufforderung zur Freude Mt 5,12a || Lk 6,23a hat in *Ev gefehlt (zur Begründung s. die Rekonstruktion): Erst Mt hat sie nachgetragen, und Lk ist ihm ______________________________ 45 Mt 5,21.31.33: ἠκούσατε ὅτι ἐρρέθη τοῖς ἀρχαίοις (vgl. jedoch 5,31 v. l. τοις αρχαιοις: om k sy s Iren lat ; dies ist wahrscheinlich der vorkanonische Wortlaut in *Mt); 5,27.38.43: ἠκούσατε ὅτι ἐρρέθη. 46 Vgl. dazu C HR . B URCHARD , Versuch, das Thema der Bergpredigt zu finden, in: ders., Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments, Tübingen 1998, 27-50: 40-44. 47 Vgl. als Beispiel für viele L UZ , Mt I 202: »Wahrscheinlich ist, daß der Spruch in der Gemeinde (…) gebildet wurde, sicher, daß er in Q stand.« § 12: Das Mt-Evangelium als Kompilation von Mk und *Ev 275 darin gefolgt. Für mt Redaktion spricht der charakteristische Sprachgebrauch. 48 Lk übernimmt ihn teilweise, aber auch er ändert die Formulierung. 49 Die redaktionelle Einfügung von Mt 5,12a ist dadurch veranlasst, dass Mt die unterschiedliche Formulierung der drei ersten Makarismen (in *Ev ) in der 3. Pers. (*6,20b.21) für Mt 5,3-10 übernommen hat, den letzten Makarismus aber (wie *6,22) in der 2. Pers. formuliert. Da Mt die Weherufe *6,24-26 übergeht, leitet die direkte Anrede im letzten Makarismus direkt zu 5,13 ὑμεῖς ἐστε τὸ ἅλας τῆς γῆς über. Die Begründung, die Mt 5,12b ergänzt, passt nicht besonders gut und wird daher als »Anhang« beurteilt: »Inwiefern die Verfolgung der alttestamentlichen Propheten die Verheißung des himmlischen Lohns begründet, bleibt unklar.« 50 In *Ev ist die begründende Funktion von *6,23b (im Anschluss an *6,22) etwas klarer (obwohl die kausale Konjunktion fehlte): *Ev sprach nicht von »ihren«, sondern von »euren Vätern« und kontrastiert das Verhalten der Väter (die Unrecht zugefügt haben) und das der Söhne (die Unrecht erleiden). Mt 5,46f: Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Logion über die Reziprozität der guten Taten in der letzten Antithese über die Feindesliebe (Mt 5,46f || Lk 6,32f). Auch, wenn letzte Sicherheit wegen der fehlenden direkten Bezeugung nicht zu erlangen ist, spricht vieles dafür, dass Lk 6,(30b)32f(34b) in *Ev fehlte (vgl. im Einzelnen die Rekonstruktion). Das würde bedeuten, dass diese aufeinander Bezug nehmenden Passagen über die Überwindung des Prinzips der Reziprozität der Gaben erst auf die lk Redaktion zurückgehen, die dann durch die redaktionelle Einfügung von Mt 5,46f angeregt worden wäre. Das bleibt allerdings unsicher. Mt 6,30: In dem längeren Abschnitt über das Sorgen (Mt 6,25-34 || Lk 12,22-32) hat Lk 12,28 || Mt 6,30 in *Ev gefehlt, wie Epiphanius vermerkt (Schol. 31). Der restliche Kontext war i. W. (allerdings ohne Lk 12,33a) in *Ev enthalten. Das heißt: Mt fand die Abhandlung über das Sorgen in *Ev vor, hat sie von dort in die Bergpredigt übernommen und verschiedentlich geringfügig bearbeitet. Vor allem hat er die Schlussfolgerung mit dem Schluss a minore ad maius in Mt 6,30 ergänzt und dadurch die Parallelität zu οὐχ ὑμεῖς μᾶλλον διαϕέρετε αὐτῶν Mt 6,26 || πόσῳ μᾶλλον ὑμεῖς διαϕέρετε τῶν πετεινῶν *12,24d geschaffen. Das Stichwort ὀλιγόπιστοι erweist die mt Diktion dieses Verses, den Lk 12,28 aus dem Kontext der mt Bergpredigt übernommen hat. Beide Ergänzungen - zuerst entlang der Relation ④ von *Ev zu Mt und dann entlang der Relation ⑤ von Mt zu Lk - belegen, wie genau auch Lk seine Vorlagen verglichen hat: Er hatte bei der Bearbeitung von *12,22ff auch Mt 6,25ff vorliegen und hat *Ev nach Mt komplettiert. Mt 7,24-26: Am Ende der Bergpredigt hat das Gleichnis von dem auf Fels bzw. auf Sand gebauten Haus Mt 7,24-27 || Lk 6,47-49 mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls in *Ev gefehlt (vgl. die Rekonstruktion). Es wird im Rahmen der Zwei-Quellentheorie ohne weiteres »Q« zugeschlagen. 51 ______________________________ 48 ὁ μισθός ist ein mt Vorzugswort (vgl. die Liste bei L UZ , Mt I 45). Auch der Plural ἐν τοῖς οὐρανοῖς ist typisch mt, Lk ändert ihn in den Singular. 49 Vgl. σκιρτήσατε anstelle von ἀγαλλιᾶσθε; die Wendung ἰδοὺ γάρ ist typisch lk (vgl. etwa K LEIN , Lk 249 Anm. 45). 50 L UZ , Mt I 215, der exemplarisch für viele andere steht. Dasselbe Problem stellt sich für Lk 6,23b: es »bleibt unklar, was dieser Satz begründen soll; die Konjunktion γάρ geht irgendwie ins Leere« (W OLTER , Lk 251 z. St.). 51 Vgl. L UZ , Mt 1 412; K LEIN , Lk 265. Wegen der geringen Übereinstimmung zwischen den beiden Texten wurden auch zwei verschiedene Fassungen erwogen. Vgl. H.-T H . W REGE , Die Überlieferungsgeschichte der Bergpredigt, Tübingen 1968; N OLLAND , Lk 310. 276 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch Aber vermutlich ist dieses Gleichnis erst eine mt Bildung, die Lk - an der entsprechenden Stelle der Feldrede, aber in eigener Formulierung - von Mt übernommen hat. Das Phänomen, dass spezifische Entsprechungen zwischen Mt und Lk gegenüber Mk auch dadurch zustande kommen können, dass Lk redaktionelle Änderungen und Ergänzungen von Mt übernimmt, die dieser gegenüber seinen Quellen Mk und *Ev vorgenommen bzw. eingefügt hat, ist schon zu den »Minor Agreements« aufgefallen: Das Phänomen ist nicht weiter erstaunlich, es ist auch nicht auf die Bergpredigt beschränkt. Tatsächlich gibt es eine ganze Reihe weiterer Texte, die im methodischen Horizont der Zwei-Quellentheorie »Q« zugerechnet werden, die unter der Prämisse der *Ev-Priorität aber auf die mt Redaktion von *Ev zurückgehen und die Lk aus Mt übernommen hat. Nur zwei Beispiele sollen das Verfahren illustrieren. Mt 11,16-19: Die Belehrung über die »Kinder der Weisheit« (Mt 11,16-19) ist Teil der mt Belehrung über den Täufer. Dieser ganze Abschnitt geht auf *Ev zurück: Mt hat die Anfrage des Täufers und die Antwort Jesu bereits in *Ev gefunden (*7,18-28) und sie von dort übernommen (Mt 11,2- 11), wobei er einige wichtige Änderungen vornahm. Vor allem hat Mt den Aspekt gestrichen, dass der Anlass für die Frage des Johannes darin lag, dass er, als er von den Taten Jesu (Auferweckung des Jünglings in Nain! ) hörte, Anstoß an ihm nahm (*7,18: ἀκούσας τὰ ἔργα αὐτοῦ ἐσκανδαλίσθῃ, vgl. die Rekonstruktion). Dementsprechend ist auch der abschließende Makarismus der Antwort Jesu (Mt 11,6 ≠ *7,23) nicht in der 2. Pers. gehalten (»Selig bist du, wenn du an mir keinen Anstoß nimmst! «), sondern in der 3. Pers. An die aus *Ev stammende Belehrung der Menge (*7,24-28 || Mt 11,7-11) hat Mt zunächst ad vocem Johannes den sog. »Stürmerspruch« (Mt 11,12f || *16,16) angefügt und am Ende eine eigene, redaktionelle Erklärung geliefert, dass Johannes der verheißene Elia sei (Mt 11,14f). Der Sache nach geht diese Erklärung sehr wahrscheinlich auf Mk 9,13 zurück, aber Mt lässt es nicht auf einer Andeutung beruhen, sondern schafft Eindeutigkeit. An diese Identifizierung hat Mt die Kritik an »diesem Geschlecht« angefügt, das nicht auf die Ansprüche des Täufers und Jesu reagiert hat, obwohl diese doch ganz verschieden waren (Mt 11,16-19). Ob Mt dieses Gleichnis von den spielenden Kindern selbst gebildet oder aus einer (welcher? ) Quelle übernommen hat, bleibt offen. Lk hat die ganze Einheit bei Mt gelesen, sie in den ihm vorliegenden Kontext *7,18-28 eingearbeitet und dabei auch einige der mt Veränderungen gegenüber *Ev mit übernommen (z. B. Lk 7,23 || Mt 11,6 ≠ *7,23). An der Stelle, an der Mt die Identifizierung des Täufers mit dem verheißenen Elia vornimmt und aus *Ev das Urteil über Johannes aus *16,16 einfügt (Mt 11,12- 14), ist Lk von beiden Quellen abgewichen: Er hat mit Lk 7,29f einen eigenen Rückverweis auf die Täuferüberlieferung eingefügt (vgl. Lk 7,29 mit 3,7-14! ), der seinerseits durch die mt Täuferkomposition beeinflusst ist (Mt 11,2 || Lk 3,20: Johannes im Gefängnis). Diese Einfügung bildet die Überleitung zu dem aus Mt 11,16-19 stammenden Gleichnis der spielenden Kinder (Lk 7,31-35). Die Spuren dieser beiden redaktionellen Einfügungen in den Kontext von *Ev sind noch sichtbar: (1) Indem Lk mit 7,29f einen eigenen (von Mt 11,12-15 abweichenden) Übergang vom Urteil Jesu über den Täufer zu dem Gleichnis von den spielenden Kindern (Lk 7,31-35) schafft, hat er die Belehrung Jesu unterbrochen, die bei Mt als durchgehende Jesusrede gestaltet ist (Mt 11,7b-19). Die Konsequenz ist, dass die Wiederaufnahme der Jesusrede in Lk 7,31 gar § 12: Das Mt-Evangelium als Kompilation von Mk und *Ev 277 nicht erkennen lässt, dass nicht der Erzähler, sondern Jesus das Subjekt von ὁμοιώσω ist (Lk 7,31). (2) Durch die Einfügung von Lk 7,31-35 kommt der Vorwurf, Jesus sei ein »Fresser und Weinsäufer« unmittelbar vor der Erzählung über seine Einladung zum Essen zu stehen (*7,36ff). Auch, wenn Jesus sich in dieser Episode tatsächlich als ϕίλος τελωνῶν καὶ ἁμαρτωλῶν (Lk 7,34) erweist, ist es doch einer der gerade kritisierten Pharisäer (Lk 7,30), der ihn zum Essen einlädt (*7,36). Mt 12,39-42: Eine entsprechende Überlieferungsgeschichte ist auch für Mt 12,39-42 || Lk 11,29- 32 anzunehmen. Die Zeichenforderung (Mt 12,38 || Lk 11,29) war bereits in *Ev enthalten (*11,29), allerdings (ganz analog zu Mk 8,12) ohne die letzten Worte mit dem Hinweis auf Jona: *11,29 Mk 8,12 Mt 12,39 Lk 11,29 (…) ἤρξατο λέγειν· ὁ δὲ … εἶπεν αὐτοῖς· (…) ἤρξατο λέγειν· ἡ γενεὰ αὕτη γενεὰ πονηρά ἐστιν· τί ἡ γενεὰ αὕτη γενεὰ πονηρὰ καὶ μοιχαλὶς ἡ γενεὰ αὕτη γενεὰ πονηρά ἐστιν· σημεῖον ζητεῖ, ζητεῖ σημεῖον; σημεῖον ἐπιζητεῖ, σημεῖον ζητεῖ, καὶ σημεῖον οὐ δοθήσεται αὐτῇ. ἀμὴν λέγω ὑμῖν, εἰ δοθήσεται τῇ γενεᾷ ταύτῃ σημεῖον. καὶ σημεῖον οὐ δοθήσεται αὐτῇ καὶ σημεῖον οὐ δοθήσεται αὐτῇ εἰ μὴ τὸ σημεῖον Ἰωνᾶ τοῦ προϕήτου. εἰ μὴ τὸ σημεῖον Ἰωνᾶ. Nach dem Zeugnis des Epiphanius (Schol. 25) fehlte in *Ev der abschließende Hinweis auf Jona sowie die folgenden Vv. Lk 11,30-32. Sie haben eine Parallele in Mt 12,40-42, nicht aber in Mk. Auch, wenn die Mehrheit der Exegeten den Ursprung des Doppellogions über Jona und über die Königin des Südens in »Q« vertritt, ist die Überlieferungsgeschichte vor allem wegen der Entsprechung zu Mk alles andere als klar: Die Zeichenforderung Mt 12,38-42 || Lk 11,29-32 hat zwar die Entsprechung in Mk 8,11f, aber im unmittelbaren mt-lk Kontext finden sich die Beelzebulthematik (Mt 12,22-30 || Lk 11,14-23 || Mk 3,22-27) sowie die Warnung vor Rückfall (Mt 12,43-45 || Lk 11,24-26): Im einen Fall fehlt eine mk Entsprechung, im anderen hat sie einen ganz anderen Kontext. Aus diesen Gründen nehmen manche eine »Mk-Q-Doppelüberlieferung« an, 52 andere rechnen mit dem Einfluss mündlicher Überlieferung. 53 Diese Schwierigkeiten lösen sich problemlos, weil Mk die Beelzebuldiskussion (*11,14ff || Mk 3,22ff) aus kompositionellen Gründen nach vorne gezogen hat, die Zeichenforderung aus *Ev aber in den ebenfalls aus inhaltlichen Gründen stark bearbeiteten Zusammenhang in Mk 8 übernommen hat. Mt hat den Exorzismus des »stummen Dämons« mit der Beelzebuldebatte (*11,14-23 || Mt 12,22-30) übernommen, die in *Ev unmittelbar folgende Belehrung über die Rückkehr der Dämonen (*11,24-26 || Mt 12,43-45) aber hinter die Zeichenforderung (*11,29 || 12,[38]39) umgestellt und dazwischen die eigene redaktionelle Bildung über das Jonazeichen und die Königin des Südens (Mt 12,40-42) eingefügt. Lk ist wie immer der Akoluthie von *Ev gefolgt, hat aber die mt Ergänzung (Mt 12,40-42) bemerkt und sie mit einigen Veränderungen übernommen (Lk 11,30-32): Die Umstellung der Vv. ______________________________ 52 Vgl. H. T. F LEDDERMANN , Mark and Q, Leuven 1995, 130-133: Mk kannte »Q«. 53 Beispielsweise J. S CHRÖTER , Erinnerung an Jesu Worte, Neukirchen-Vluyn 1997, 274: Es handele sich um zwei verschiedene literarische Ausprägungen derselben mündlichen Tradition. 278 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch 32.31 gegenüber Mt 11,41.42 ist sein Werk. Die komplizierten Rekonstruktionsversuche zur »Q«- Fassung von Lk 11,29-32 sind daher obsolet. 54 Für das Phänomen, dass Mt das aus *Ev übernommene Material durch redaktionelle Einschübe ergänzt, die Lk von ihm übernommen (und dann seinerseits redaktionell bearbeitet und angepasst) hat, gibt es eine Reihe weiterer Beispiele. 55 Das bedeutet: Nicht alle Texte, die im Rahmen der Zwei-Quellentheorie zu »Q« gerechnet werden, haben einen einheitlichen Ursprung. Ein Teil dieses Materials geht auf *Ev als gemeinsame Quelle zurück, ein anderer Teil auf mt Redaktion. Die Voraussetzung dieser Unterscheidung liegt in der überlieferungsgeschichtlichen Differenzierung zwischen den Bearbeitungsrelationen ④ (zwischen *Ev und Mt) und ⑤ (zwischen Mt und Lk). Sie bestätigt die Abhängigkeit des Lk auch von Mt. d. Mt ergänzt *Ev um redaktionelle Passagen Daneben ist auch das Phänomen zu beobachten, dass Mt eigenständig redaktionelle Ergänzungen gegenüber dem Material aus *Ev vornimmt, die Lk jedoch nicht rezipiert: Das ist das Material, das im Rahmen der Zwei-Quellentheorie als »mt Sondergut« bezeichnet wird. Dass dieses Material in einer Quelle vorlag, wie sie Burnett Streeter vorgeschlagen hatte, 56 ist unwahrscheinlich: Diese mt »Sondergutpassagen« weisen alle Merkmale der mt Redaktion auf und dürften von Mt selbst gebildet worden sein. 57 Über die Gründe, aus denen Lk diese mt Passagen nicht übernommen hat, kann man bestenfalls Vermutungen anstellen: Warum etwas nicht vorhanden ist, lässt sich aus grundsätzlichen methodischen Gründen nicht erklären. Innerhalb der Bergpredigt gehören zu diesen redaktionellen Einfügungen: Die Ergänzung der Makarismen in *Ev durch Mt 5,4f.7-10; die Einleitung des Wortes über das Salz (5,13a) sowie die analoge Bildung des Wortes vom »Licht der Welt« (5,14-16); die Forderung nach der »größeren Gerechtigkeit« (5,19f); der Anfang der ersten Antithese über das Töten mit der Aufforderung zur Versöhnung am Altar (5,2-23); die Einleitung zur zweiten Antithese vom Ehebruch (5,27f); in der dritten Antithese das Gebot der Ehescheidung (5,31); die vierte Antithese vom Schwören komplett (5,33-37); in der sechsten Antithese das Nächstenliebesgebot (5,43) sowie 5,45; die Passagen über das Almosengeben (6,1-4) und über das Fasten (6,16-18) ganz, im Abschnitt über ______________________________ 54 Vgl. nur die knappe Übersicht bei L UZ , Mt II 273. 55 Vgl. z. B. den Abschnitt über den Prophetenmord in der Weherede (Mt 23,34-36 || Lk 11,49-51); die Versicherung, dass die Jünger mehr wert sind als die Sperlinge (Mt 10,29-31 || Lk 12,6f); die Verheißung, dass von Osten und Westen Gäste zum Mahl kommen werden (Mt 8,12 || Lk 13,29); die Weissagung über Jerusalem (Mt 23,37-39 || Lk 13,34-35). 56 B. H. S TREETER , The Four Gospels, London 1924, bes. 249-261, mit der Annahme einer Sondergutquelle »M«. 57 Das zeigen vor allem die Untersuchungen zum distinkten Sprachgebrauch in denjenigen mt Passagen, die weder auf Mk noch auf »Q« (bzw. *Ev) zurückgeführt werden können, vgl. L UZ , Mt I 31ff. § 12: Das Mt-Evangelium als Kompilation von Mk und *Ev 279 das Beten die Einleitung zum Vater-Unser (6,5-8); das Logion über das Gericht nach den eigenen Maßstäben (7,2a) in Analogie zu dem Wort vom Maß; die Warnung vor der Entweihung des Heiligen (7,6); die Warnung vor den falschen Propheten (7,15); und die Gerichtsdrohung, dass schlechte Bäume verbrannt werden (7,19f). Schon eine kursorische Durchsicht macht deutlich, dass diese sehr unterschiedlichen und überwiegend kleinen Passagen nicht Teile einer literarischen Quelle gewesen sein können: Es handelt sich um eigenständige Bildungen, die überwiegend durch den (in *Ev bzw. Mk vorgegebenen) Kontext angeregt waren und von Mt zur Klärung und zur Präzisierung eingearbeitet wurden. Solche Erweiterungen haben alle Evangelien vorgenommen. e. Wechselnde Ursprünglichkeit im Material der mt-lk Doppelüberlieferung Ein letztes Phänomen, das gegen das Modell der »Mk-Priorität ohne Q« (Farrer; Goulder; Goodacre u. a.) die methodischen Grundlagen der Zwei-Quellentheorie zur Geltung zu bringen scheint, ist die wechselnde Ursprünglichkeit, die das Material der mt-lk Doppelüberlieferungen einmal bei Mt, einmal bei Lk zu besitzen scheint: Bei einem großen Teil des Materials der mt-lk Doppelüberlieferungen zeigen die Fassungen bei Mt und Lk uneinheitliche Bearbeitungsspuren: In manchen Fällen sind diese Bearbeitungsspuren bei Mt sehr viel deutlicher, sodass (in der Terminologie der Zwei-Quellentheorie) der »Q-Wortlaut« eher in der Lk-Fassung vorliegt, in anderen Fällen aber in der Mt-Fassung. Dieses Phänomen schließt eine direkte literarische Abhängigkeit mit einer einheitlichen Bearbeitungsrichtung - sei es Mt von Lk, sei es Lk von Mt - aus: Im literarkritischen Vergleich zweier Texte nötigt die Beobachtung der »alternierenden Ursprünglichkeit« zur Annahme, dass beide Texte durch eine dritte Instanz miteinander vermittelt sind: als unabhängige Bearbeitung derselben Quelle. Im Rahmen der Zwei-Quellentheorie ist dies das stärkste methodische Argument für »Q«, und die umfangreichen Debatten um den »ursprünglichen Q-Wortlaut«, die in den Bänden der »Documenta Q« gesammelt sind, bestätigen dieses Phänomen. Aber es ist ohne weiteres einsichtig, dass die Annahme, Mt und Lk würden (neben Mk) auf eine weitere Quelle zugreifen und diese eben in unterschiedlicher Weise redaktionell bearbeiten, nicht zwingend auf »Q« schließen lässt, sondern genauso auch für *Ev zutrifft. Da *Ev im Unterschied zu »Q« rekonstruiert werden kann, lässt sich die unterschiedlich genaue Rezeption durch Mt und Lk auch nachweisen. Zum Nachweis für dieses Phänomen genügt es, hier auf die Beobachtungen zu den Makarismen zu verweisen: Die Reihe der neun mt Makarismen ist schon immer gegenüber den vier lk Seligpreisungen für eine sekundäre Bearbeitung des Mt gehalten worden - zu Recht, wie die Rekonstruktion für *Ev zeigt. Analog dazu ist auch die mt Formulierung des Makarismus der Armen (Mt 5,3: μακάριοι οἱ πτωχοὶ τ ῷ π ν ε ύ μ α τ ι ) gegenüber dem einfacheren lk (Lk 6,20: μακάριοι οἱ πτωχοί) sekundär. Da die lk Fassung *Ev entspricht, wie Tertullian (4,14,1.13) belegt, 280 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch ist diese Beobachtung zutreffend. Umgekehrt hat die Bezeugung für *6,20b ergeben, dass die Apodosis des ersten Makarismus in *Ev nicht das lk βασιλεία τ ο ῦ θ ε ο ῦ enthielt, sondern die angeblich typisch mt Formulierung βασιλεία τ ῶ ν ο ὐ ρ α ν ῶ ν . Auch diese Beobachtung bestätigt die Differenzierung zwischen *Ev und Lk: Obwohl beide Texte sehr ähnlich sind, gehören sie zwei verschiedenen Ebenen der Überlieferungsgeschichte an: Die alternierende Ursprünglichkeit der Mt und Lk gemeinsamen Überlieferungen bestätigt das Nebeneinander der Bearbeitungsrelationen ① , ④ und ⑤ ---und damit die »Mittelstellung« von Mt zwischen *Ev und Lk. 4. Die Komposition der mt Vorgeschichte: Eine Problemanzeige Ein letzter Aspekt der Entstehung des Mt in Abhängigkeit von Mk und *Ev kann hier nur angedeutet werden, obwohl er in inhaltlicher Hinsicht ein großes Gewicht besitzt. Denn wenn Mt nicht nur von Mk abhängig ist, wie nach den meisten überlieferungsgeschichtlichen Modellen angenommen wird, sondern auch von *Ev, und wenn Lk und Mt nicht unabhängig voneinander sind, sondern dieser durch jenen benutzt wurde, dann hat dies weitreichende Konsequenzen für die Einschätzung der überlieferungsgeschichtlichen Einflüsse auf die Gestaltung des Anfangs der mt Erzählung. a. Die mt Vorgeschichte und ihre lk Redaktion Im Unterschied zu *Ev, das Jesus in seine Erzählung einführt, indem es ihn lapidar »nach Kapharnaum herunterkommen« lässt (*3,1a; *4,31-37), und anders auch als Mk, der Jesus durch das Zeugnis des Täufers und durch die Himmelsstimme bei der Taufe (Mk 1,7-11) grundlegend charakterisiert, bevor er ihn als Handlungsträger entwickelt, bietet Mt eine umfangreiche Vorgeschichte mit dem Stammbaum, der komplexen Erzählung von (der Verheißung und) der Geburt Jesu, der Verfolgung, Flucht und Rückkehr nach Nazareth, sowie der umfangreichen Tauf- und Versuchungserzählung. Auf die literarische Gestaltung und die darin zum Ausdruck gebrachten theologischen Urteile dieser mt Vorgeschichte ist hier nicht einzugehen: Sie sind gut erforscht und bekannt. Eine Schwierigkeit des umfangreichen Textkomplexes Mt 1-2 liegt jedoch im Verhältnis zu Lk 1-2: Trotz der starken Eigenständigkeit der beiden Erzählkomplexe über die Geburt Jesu besitzen sie eine ganze Reihe von Entsprechungen, die eine literarische Beziehung nahelegen, ohne dass diese Beziehung im Rahmen der Zwei-Quellentheorie befriedigend zu klären wäre - wenn denn das methodische Basiskriterium der Zwei-Quellentheorie auch für diese Vorgeschichten konsequent beachtet wird, dass Mt und Lk unabhängig voneinander entstanden sind. Zu diesen Gemeinsamkeiten zählen: § 12: Das Mt-Evangelium als Kompilation von Mk und *Ev 281 1. Die sog. Stammbäume (Mt 1,2-17 || Lk 3,23-28) sowie die sich daraus ergebende Davidssohnschaft Jesu (Mt 1,1.20 || Lk 1,27.32f); 2. die Tatsache, dass Jesus in Bethlehem geboren wurde (Mt 2,1; vgl. 2,6 || Lk 2,4-21), aber in Nazareth aufwuchs (Mt 2,23 || Lk 1,26; 2,51); 3. die Datierung der Geburt Jesu durch die Einbettung in die große, politische Geschichte (Mt 2,1.19-23 || Lk 1,5.26; 2,1ff). Besonders eng sind die lk Parallelen zu Mt 1,18-25: 4. Joseph und Maria sind verlobt, nicht verheiratet (Mt 1,18 || Lk 1,5); 5. Joseph ist Davidide (Mt 1,20 || Lk 1,27); 6. die Geburt wird durch einen Engel angekündigt (Mt 1,20 || Lk 1,30-35); 7. Maria ist Jungfrau (Mt 1,18.23 || Lk 1,34); 8. die Zeugung geschieht durch den Geist (Mt 1,18.20 || Lk 1,35); 9. die Aufforderung zur Namensgebung (Mt 1,21 || Lk 1,31); 10. die Charakterisierung Jesu als Retter (Mt 1,21 || Lk 2,11); 11. die Gottessohnschaft Jesu (Mt 1,23 || Lk 1,32.35; 3,38). Diese Übereinstimmungen werden in den verschiedenen Modellen zum Synoptischen Problem sehr unterschiedlich beurteilt: Für die »Markan-Priority-without-Q« Hypothese stellen sie überhaupt kein Problem dar. Da sie grundsätzlich mit der lk Abhängigkeit von Mt rechnet, ist hier eine deutlich größere Bereitschaft zu erkennen, diese Abhängigkeit auch im Vergleich von Mt 1f und Lk 1f zu entdecken. 58 Im Einflussbereich der Zwei-Quellentheorie ist dies naturgemäß ganz anders: Hier hat die Forschung die literarkritische Analyse dieser Übereinstimmungen ausgesprochen stiefmütterlich behandelt. Sofern man die Berührungen als literarkritisches Problem nicht schlicht ignoriert, 59 wird ihre Bedeutung heruntergespielt. 60 Mit Blick auf die ungeheure Zahl der Beiträge zu kleinen und kleinsten Beobachtungen im Kontext der Rekonstruktion von »Q« ist diese Zurückhaltung erstaunlich und nur aus der faktischen Dominanz der Zwei-Quellentheorie erklärbar, die ja eine direkte literarische Beziehung zwischen Mt und Lk a priori ausschließt. Aus diesem Grund müssen dann die Unterschiede zwischen den beiden Erzählungen als ______________________________ 58 Vgl. etwa: J. D RURY , Tradition and Design in Luke’s Gospel, London 1976, 122-127; A. F ARRER , On Dispensing with Q, in: D. E. Nineham (ed.), Studies in the Gospels, Oxford 1955, 55-88: 79f; M. D. G OULDER , Luke: A New Paradigm, Sheffield 1989, 205-264; H. B. G REEN , The Credibility of Luke’s Transformation of Matthew, in: Chr. M. Tuckett (ed.), Synoptic Studies, Sheffield 1984, 131-156: 143-145; E. F RANKLIN , Luke: Interpreter of Paul, Critic of Matthew, Sheffield 1994, 353-366. 59 Z. B. W OLTER , Lk, der die möglichen Quellen nur zum Magnificat und zum Benedictus erörtert, ansonsten die Frage der verwendeten Quellen aber erst in der Kommentierung ab Lk 3 berücksichtigt. 60 Z. B. L UZ , Mt I 87: »Die Berührungen (sc. von Mt 1-2) mit der lukanischen Geburtsgeschichte sind minimal … An manchen Punkten sind beide Überlieferungen nicht nur verschieden, sondern unvereinbar.« 282 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch »Indiz dafür gelten, daß die klassische Annahme der literarischen Unabhängigkeit des Mt und des Lk nach wie vor richtig ist.« 61 Aber die Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte unter der Prämisse der *Ev-Priorität macht das methodische Postulat dieser Unabhängigkeit im Rahmen der Zwei-Quellentheorie obsolet: Lk kannte Mt. Unter dieser Voraussetzung ergeben sich dann Gesichtspunkte für die Interpretation der Berührungen. Die Mt- Priorität vor Lk ist für diesen Bereich nur knapp anzudeuten, mehr als anfängliche Vermutungen können hier nicht angestellt werden. b. Die Differenz zwischen Nazareth und Bethlehem Ausgangspunkt ist die in Mt und Lk gemeinsame Differenz zwischen Bethlehem als Geburtsort Jesu und Nazareth als Ort seiner Herkunft. Dass Jesus aus Nazareth stammte, war durch *Ev vorgegeben: Nach *4,16 kam Jesus nach Nazara (! ), und dieser Ort wird dann als seine πατρίς identifiziert (*4,23). Mk hat diesen Hinweis aufgegriffen: Er hat die Ablehnung Jesu in seiner πατρίς in Mk 6,1-6 erzählt, sie allerdings um den misslungenen Anschlag (*4,29f) 62 gekürzt; das Pendant dazu hat Mk 3,1-6 mit dem Tötungsbeschluss der Pharisäer und Herodianer, ähnlich prominent wie *4,16-30, an den Anfang der Erzählung gerückt. Die Schlussfolgerung, dass Jesus ἀπὸ Ναζαρὲτ τῆς Γαλιλαίας stammte (Mk 1,9), konnte Mk ohne Schwierigkeiten ziehen. Mt und Lk sind ihm darin gefolgt. Da sie aber Jesu Geburt in Bethlehem erzählen (Lk) bzw. auf sie verweisen (Mt), müssen sie die Differenz zwischen dem Herkunfts- und dem Geburtsort narrativ ausgleichen. Mt tut dies durch die gesamte Anlage der Geburtserzählung: Maria und Joseph stammten aus Bethlehem, mussten aber vor Herodes fliehen und sind erst nach seinem Tod zurückgekehrt - und zwar nach Nazareth in Galiläa, das jetzt zu dem Ort wird, an dem Jesus aufwächst. Lk leistet den Ausgleich zwischen Nazareth und Bethlehem auf andere Weise: Er hält grundsätzlich an Nazareth als Herkunftsort 63 fest und lokalisiert nur die Geburt in Bethlehem, und zwar als Folge des Census zur Zeit des Quirinius. Da Nazareth als Herkunftsort durch *Ev (und Mk) vorgegeben war, lautet die entscheidende Frage: Woher kam eigentlich das gemeinsame Wissen um die bethlehemitische Geburt Jesu, die Mt und Lk gleichermaßen zu so verschiedenen Ausgleichsmanövern nötigte? Die Antwort liefert Mt 2,5f mit dem Reflexionszitat aus Mi 5,1: Aus eigener schriftgelehrter Reflexion - denn auf anderem Wege konnte man nicht von Bethlehem als Herkunftsort des Messias wissen. ______________________________ 61 L UZ , ebd. 62 Zu *4,29f und zur mk Rezeption vgl. o. S. 157ff und die Rekonstruktion z. St. 63 Vgl. die redaktionelle Einfügung οὗ ἦν τεθραμμένος Lk 4,16. § 12: Das Mt-Evangelium als Kompilation von Mk und *Ev 283 Bethlehem wird als Herkunftsort Davids außer in Mi 5 noch in 2Sam verschiedentlich erwähnt, kommt aber in den messianischen Traditionen des hellenistischen Judentums überhaupt nicht vor. Auch das rabbinische Judentum hat diese Beziehung so gut wie nicht hergestellt: Der wichtigste der seltenen Hinweise, die talmudische Erzählung von der Geburt des Messias namens Menahem in pBer 2,4 (5a,12), 64 ist verdächtig. Denn er setzt die Geburt des Messias in Bethlehem in Beziehung zur Tempelzerstörung und reagiert erkennbar auf christliche Traditionen. Dass »in ntl. Zeit die Erwartung eines Messias ›aus dem Hause David‹ mit dem Ort (sc. Bethlehem) verbunden war«, 65 gilt bestenfalls in der Folge der von Mt 2 || Lk 2 ausgehenden und sich rasch verbreitenden Ansicht, nicht aber unabhängig davon: Bethlehem ist als Geburtsort des Messias erst durch die mt-lk Geburtsgeschichte bekannt geworden. Die schriftgelehrte Reflexion, die es erlaubt, Bethlehem als Geburtsort Jesu zu identifizieren, hat Mt 2,5f geleistet, und zwar erstmalig: Für Mt besitzt der Geburtsort Bethlehem eine wesentliche theologische Bedeutung, wogegen Lk zwar die Lokalisierung der Geburt in Bethlehem übernimmt, im Unterschied zu Mt damit aber keine weitergehenden theologischen Aussagen verbindet. 66 c. Die Davidssohnschaft Jesu Die theologische Funktion Bethlehems in der Komposition der mt Vorgeschichte besteht darin, durch das narrative Setting die Davidssohnschaft Jesu zu erweisen. Mt hat auf diesen christologischen Aspekt größten Wert gelegt, wie er bereits im Titel seiner Erzählung deutlich macht (Mt 1,1: Βίβλος γενέσεως Ἰησοῦ Χριστοῦ υ ἱ ο ῦ Δ α υ ὶ δ υἱοῦ Ἀβραάμ); das Bethlehem-Reflexionszitat stellt die gleiche Intention sicher. Lk hat die Davidssohnschaft Jesu auf andere Weise zum Ausdruck gebracht, namentlich in Lk 1f durch das Benedictus (Lk 1,69), aber für ihn besitzt die Geburt Jesu ἐν πόλει Δαυίδ (Lk 2,11) keine Beweiskraft dafür, dass er der υἱὸς Δαυίδ ist. Die Frage, ob Jesus ein oder gar der Sohn Davids sei, wurde in der Geschichte der Überlieferung der Evangelien unterschiedlich beantwortet: An dieser Stelle wirft die überlieferungsgeschichtliche Rekonstruktion Licht auf die Entwicklung der Christologie. Denn die alte Ansicht, dass Jesus am Anfang der Überlieferung nicht als Davidssohn gesehen wurde, 67 lässt sich jetzt nicht nur für Mk, sondern schon für *Ev bestätigen. ______________________________ 64 Die rabbinische Rezeption der bethlehemitischen Geburt des Messias setzt erst im 4. Jh. ein (C H . H. D ODD , The Interpretation of the Fourth Gospel, Cambridge 8 1969, 90); B ILL . I 83 (zu Mt 2,5) kann neben diesem Text und dem davon abhängigen Midrash Ekha Rabbati 1,16 (58b) nur noch auf Pirqe R. Eliezer 3 (2b) verweisen. 65 A. S TROBEL , Art. Βηθλέεμ, EWNT I 513-515: 514. 66 Mt erwähnt Bethlehem in 16 Versen vier Mal (Mt 2,1.5.6.8.16). Den Kern der Aussage bildet Mt 2,4-6, weil das Zitat aus Mi 5,1 im Mund der Magier die Herodesfrage beantwortet, »wo der Messias geboren wird« (2,4: ποῦ ὁ χριστὸς γεννᾶται). In Lk 2,4 ist Bethlehem der Herkunftsort Josephs und nur deshalb der Geburtsort Jesu (Lk 2,15). 67 Vgl. W. W REDE , Jesus als Davidssohn, in: ders., Vorträge und Studien, Tübingen 1907, 147-177. 284 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch Am deutlichsten wird dies in *20,41-44: Jesus weist die Ansicht der Schriftgelehrten zurück, dass der Christus der Sohn Davids sei (zum Text vgl. die Rekonstruktion). Die weiteren Hinweise auf die Davidssohnschaft Jesu gehen auf die lk Redaktion zurück: In der Einzugserzählung (*19,36-40) enthielt die Akklamation *19,38 keinen Hinweis auf David. Erst Mk 11,10 (mit dem Hinweis auf die »kommende Herrschaft Davids«) bzw. Mt 21,9 (mit der Hosanna-Doxologie τῷ υἱῷ Δαυίδ) führen das Thema der Davidssohnschaft in diesen Kontext ein. Der einzige Hinweis auf die Davidssohnschaft Jesu in *Ev ist daher der Hilferuf des Blinden in Jericho (*18,38). Im Unterschied zur kanonischen Fassung hat die verstärkende Wiederholung dieses Hilferufs (Lk 18,39) in *Ev gefehlt. Mk hat diese kritische Sicht aus *Ev übernommen: Auch er versteht die Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten Mk 12,35-37 als Widerlegung der Ansicht, dass der Messias der Sohn Davids sei. Ganz analog zu *Ev fehlte im vorkanonischen *Mk mit großer Wahrscheinlichkeit die Wiederholung der Bitte des blinden Bartimäus (Mk 10,48), wie die uneinheitliche Textüberlieferung anzeigt. 68 Der einzige über *Ev hinausgehende Hinweis auf David ist die Ergänzung der Akklamation in Mk 11,10 (εὐλογημένη ἡ ἐρχομένη βασιλεία τοῦ πατρὸς ἡ μ ῶ ν Δαυίδ). Aber dass »die Jesus begleitende Menge von der ›Herrschaft unseres Vaters David‹ gesprochen hatte, bezeichnete Jesus gerade nicht als ›Sohn Davids‹.« 69 Es ist für den hier interessierenden Zusammenhang von Davidssohnschaft und bethlehemitischer Geburt in Mt von Bedeutung, dass Mk in der Bartimäuserzählung die nazarenische Herkunft und die Davidssohn-Adressierung unmittelbar nebeneinander stellen konnte (Mk 10,47: Ἰησοῦς ὁ Ναζαρηνός … υἱὲ Δαυὶδ Ἰησοῦ). Für Mt war dies eine contradictio in adiecto, die er durchgängig vermeidet: Jesus war der Davidssohn, und diese Davidssohnschaft hängt wegen Mi 5,1 aufs Engste mit der bethlehemitischen Geburt zusammen. Daher beseitigt Mt konsequent die Bezeichnung Jesu als ὁ Ναζαρηνός, soweit ihm diese Verbindung durch *Ev oder Mk vorgebeben war. 70 Angesichts der großen Rolle, die der Davidssohntitel bei Mt spielt, 71 kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Auseinandersetzung um die Davidssohnschaft des Messias (Mt 22,41-46) anders zu verstehen ist als in *20,41-44 bzw. Mk 12,35-37: Zwar erschöpft sich für Mt die Identität Jesu als Gesalbter (Mt 1,16) nicht darin, dass er der verheißene Sohn Davids ist (9,27; 15,22; 20,30f; 21,9); viel wichtiger ist natürlich, dass Jesus als der Gesalbte der »Sohn des lebendigen Gottes« ist (Mt 16,16). Aber für Mt ist er dies nur als der verheißene Davidide. Aus Sicht des Mt konstituiert die aus *20,41-44 rezipierte Alternative daher eine falsche Antinomie, da sie in Jesus überwunden ist: Er ist sowohl der Sohn Davids als auch sein »Herr«. ______________________________ 68 Vgl. dazu die Rekonstruktion zu *18,39. 69 L ÜHRMANN , Mk 208 (zu Mk 12,35). Nur angemerkt sei, dass βασιλεία τοῦ πατρὸς ἡμῶν Δαυίδ in Spannung zu der ansonsten bei Mk vorkommenden βασιλεία τοῦ θεοῦ steht: Die ungenaue Einschätzung, welche βασιλεία mit dem Einzug Jesu in Jerusalem ihren Anfang nimmt, zeigt »ein nur halbwegs richtiges Verständnis dessen, wer Jesus ist« (L ÜHRMANN , a. a. O. zu Mk 11,10). 70 Mt übergeht den Exorzismus in der Synagoge von Kapernaum Mk 1,23-28 || *4,33-37 ganz (und damit auch Mk 1,24 || *4,34); auch zu *24,19 gibt es keine mt Entsprechung. In den beiden mt Rezeptionen der Blindenheilung ist der Hinweis jeweils ausgelassen (ἀκούσας ὅτι Ἰησοῦς ὁ Ν α ζ α ρ η ν ό ς ἐστιν Mk 10,47 || *10,47 ≠ ἀκούσαντες ὅτι Ἰησοῦς παράγει Mt 20,30; 9,27), ähnlich auch in der Engelbotschaft am Grab ( Ἰησοῦν ζητεῖτε τ ὸ ν Ν α ζ α ρ η ν ὸ ν τὸν ἐσταυρωμένον Mk 16,6 ≠ Ἰησοῦν τὸν ἐσταυρωμένον ζητεῖτε Mt 28,5). In der Verleugnungserzählung formuliert Mt die Anklage der Magd um (σὺ ἦσθα μετὰ Ἰησοῦ τοῦ Γαλιλαίου Mt 26,69 ≠ καὶ σὺ μετὰ τ ο ῦ Ν α ζ α ρ η ν ο ῦ ἦσθα τοῦ Ἰησοῦ Mk 14,67). 71 Vgl. C HR . B URGER , Jesus als Davidssohn, Göttingen 1970, 72-106. § 12: Das Mt-Evangelium als Kompilation von Mk und *Ev 285 Die Zurückhaltung des Mt gegenüber der Herkunft Jesu aus Nazareth kommt ausgerechnet an dem Punkt zum Ausdruck, an dem Mt den Ausgleich zwischen den beiden Ortstraditionen leistet, nämlich im Reflexionszitat Mt 2,23 im Zusammenhang mit der Rückkehr aus Ägypten. Mt kommentiert den neuen Wohnort Nazareth: ὅπως πληρωθῇ τὸ ῥηθὲν διὰ τῶν προϕητῶν ὅτι Ν α ζ ω ρ α ῖ ο ς κληθήσεται. Mit dieser Erklärung hat Mt den Exegeten ein Interpretationsproblem aufgebürdet, für das jetzt eine Lösung sichtbar wird: Erstens findet sich ein entsprechendes Zitat gar nicht, was vielleicht die ungenaue Angabe »durch die Propheten« erklärt. Vor allem aber gibt es keine etymologische Brücke zwischen Ναζωραῖος und Ναζαρηνός: Mt liefert eine falsche Erklärung, weil er aus der Herkunft Jesu aus Nazareth gerade nicht den Schluss gezogen haben möchte: »Daß Jesus Nazarener genannt werden würde, war in der Schrift geweissagt.« 72 Lk hat angesichts dieser unterschiedlichen Verhältnisbestimmungen zwischen Jesus und David erkennbar für die mt Lösung der Überbietung optiert: Auch er hält Jesus für den Davidssohn und macht diese Davidssohnschaft verschiedentlich in redaktionellen Passagen deutlich (Lk 1,32.69; 3,31). Seine Gestaltung der Pfingstrede des Petrus (Act 2,29-36) lässt erkennen, wie er sich den semantischen Gehalt von Lk 20,41-44 denkt: Obwohl Jesus eine »Frucht der Lenden« und daher der »Sohn« Davids ist (Act 2,30), ist er aufgrund seiner Auferstehung (Act 2,31) und Erhöhung (Act 2,34) David überlegen und von Gott zum κύριος und zum Χριστός gemacht worden (Act 2,36). Genau dieses Verhältnis wird Lk 1,26-38 narrativ geklärt: »Der ›Messias‹ und ›Kyrios‹ Jesus ist Davidssohn, weil Gott selbst ihn … dazu gemacht hat.« 73 Diese überlieferungsgeschichtliche Rekonstruktion zeigt nicht nur die Entwicklung christologischer Ansichten, sie macht auch deutlich, dass die entscheidende Innovation von der mt Redaktion in Szene gesetzt wurde: Sein Interesse an der Davidssohnschaft Jesu ist erkennbar größer als das des Lk. Vor allem hat erst Mt die wesentliche Bedingung geschaffen, die eine Übertragung des Davidssohntitels auf Jesus ermöglichte: Die bethlehemitische Geburt. Die kritische Haltung gegenüber der Davidssohn-Identifizierung in *20,41-44 || Mk 12,35-37 und die Bedeutung der bethlehemitischen Geburt zu ihrer Überwindung sind bei Joh noch gut zu erkennen, der hier mit seinen Prätexten spielt. Auch, wenn Joh Nathanael distanziert fragen lässt, was »denn aus Nazareth Gutes kommen« könne (Joh 1,46), ist doch die Kenntnis der bethlehemitischen Geburt immer vorausgesetzt, wie Philippus’ Hinweis auf »Jesus, den Sohn Josephs aus Nazareth« (Joh 1,45) deutlich zeigt, der die Kenntnis von Mt 1f bzw. Lk 2 voraussetzt. Das Problem wird dann in Joh 7,41f aufgegriffen. Als in der Menge die Meinung aufkommt, Jesus sei der Christus (7,41a), kontern andere mit dem ______________________________ 72 So L UZ , Mt I 131 (Hervorhebung M. K.). Aus diesem Grund ist es sehr viel einfacher und näher liegend, dass Mt dieses Reflexionszitat nicht in irgendeiner Quelle gefunden, sondern selbst gebildet hat. 73 W OLTER , Lk 662 (zu Lk 20,44). 286 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch Hinweis auf die galiläische Herkunft Jesu und stellen dem entgegen, dass die Schrift sagt, dass der Christus aus dem Samen Davids und aus Bethlehem, »dem Dorf, wo David war«, herkomme: Hier sind alle Elemente wieder zusammen, die erst Mt 2,5f mit dem Reflexionszitat aus Mi 5,1 in die Debatte um die Identität Jesu eingeführt hatte. Die joh Rezeption ist ohne Kenntnis der mt Geburtsgeschichte schlechterdings undenkbar. Denn sie setzt bei den Lesern voraus, dass ihnen einerseits die Herkunft Jesu aus Nazareth geläufig ist, sie andererseits aber wissen, dass Jesus sowohl ἐκ τοῦ σπέρματος Δαυίδ ist, als auch ἀπὸ Βηθλέεμ kommt. Dieses »intertextuelle Spiel« 74 können allerdings die Leser nur des Joh gar nicht verstehen, sondern nur die Leser der ganzen Kanonischen Ausgabe, die neben Joh eben auch Mt und Lk enthält. d. Die Geschichte Jesu und die »große Geschichte« Obwohl Mt und Lk sehr verschiedene Lösungen für den Ausgleich zwischen der auf *Ev zurückgehenden Nazarethüberlieferung und der bethlehemitischen Geburt präsentieren, entsprechen sich beide darin, dass die notwendige Ortsveränderung durch die Einflüsse der großen politischen Geschichte veranlasst ist. Auch dieser Aspekt ist aufschlussreich, weil er Eingang in die jeweils weitere Komposition gefunden hat. Mt motiviert die Ortsveränderung durch die Erzählung von der Nachstellung durch Herodes, die sehr eng mit der Magiererzählung verbunden ist (Mt 2,1-12). Beide Elemente werden in 2,13-23 aufgegriffen, indem Herodes die Täuschung durch die Magier erkennt (2,16) und sich daher zu dem Mord an den bethlehemitischen Kindern veranlasst sieht (2,16-18). Zusammen mit der Traumoffenbarung an Joseph (Mt 2,13) und ihren engen Entsprechungen (1,20-23; 2,12) entsteht auf diese Weise ein enges narratives Geflecht, das die hohe Kohärenz von Mt 1,18-2,21 erweist. Die beiden Schlussverse der mt Geburtserzählung mit der Notiz von der Rückkehr aus Ägypten (Mt 2,22f) sind alles andere »als bloße geographische Überleitung«, 75 sie bilden den Zielpunkt der gesamten Komposition. Die Rückkehr der »heiligen Familie« aus Ägypten wird wiederum durch politische Veränderungen motiviert: Herodes ist tot, sein Sohn Archelaos regiert 76 in Judäa, sodass eine Rückkehr denkbar ist - wenn auch nicht nach Judäa, sondern nach Galiläa. Dass das Ausweichen nach Galiläa durch Josephs Furcht vor Archelaos »wegen seines Vaters Herodes« (Mt 2,22) veranlasst war, ist ein kleiner Schönheitsfehler, denn Mt hat gewusst, dass in Galiläa ______________________________ 74 Vgl. T HYEN , Joh 410: »Dabei besteht die Ironie dieses Spiels darin, daß es jetzt ahnungslose Juden sind, die gegen die Messianität Jesu und das bessere Wissen des impliziten Lesers geltend machen, daß er nicht in Bethlehem geboren sei.« 75 L UZ , Mt 1 131. 76 Wenn auch nicht als König, sondern als Ethnarch (Jos., Bell. II 1-13). Insofern ist βασιλεύειν Mt 2,22 ungenau. § 12: Das Mt-Evangelium als Kompilation von Mk und *Ev 287 ebenfalls ein Herodessohn regierte. 77 Aber das spielt für Mt keine Rolle, ihm ist nicht an historischer, sondern an narrativer Plausibilität gelegen, und für diese genügt es, die Ortswahl Nazareth zu motivieren. Entsprechendes trifft für den König Herodes (d. Gr.) zu. In die Schilderung Mt 2 mögen historische Reminiszenzen an die Ermordung seiner eigenen Söhne aus Gründen der Dynastiesicherung eingeflossen sein, die spätestens seit Josephus’ Werken im letzten Viertel des 1. Jh. allgemein bekannt waren. 78 Auch wäre es grundsätzlich möglich, 79 dass die Erzählung von der Huldigungsreise der Magier angeregt oder beeinflusst war von der prunkvollen Reise, die Tiridates unter der Begleitung von Magoi im Jahr 66 n.Chr. zu Nero unternahm. 80 Für das Verständnis von Mt 2,1ff ist die Annahme solcher Einflüsse jedoch nicht notwendig: Mt hätte diese Elemente auch aufgrund allgemeiner kultureller Kenntnisse selbst erfinden können. Sehr viel wichtiger ist die Beobachtung, dass Mt mit Herodes’ Versuch, den neugeborenen König zu beseitigen, ein kompositionelles Strukturmerkmal geschaffen hat, das seine Erzählung in einem weiten Bogen bis Mt 28 prägt: Die jüdischen Machthaber versuchen, Jesus zu beseitigen, scheitern damit aber. Am Ende sind es die Hohenpriester (und Pharisäer), die erst das Grab bewacht haben wollen (Mt 27,62-66), dann aber die Wächter zu ihrer Falschaussage bestechen (Mt 28,11-13) und sich auf diese Weise selbst des Betrugs schuldig machen, den verhindern zu wollen sie vorgeben (Mt 27,64). In der großen narrativen Komposition erzählt Mt, wie der Versuch, die Ausübung der von Jesus beanspruchten ἐξουσία zu vereiteln (Mt 28,18), gescheitert ist. Lk hat an der Erwähnung der bekannten Gestalten der großen Politik ein anderes Interesse: Ihm ist an dem Nachweis gelegen, dass sich die Geschichte Jesu und der Kirche »nicht in irgend einem Winkel« zugetragen hat (Act 26,26). Aus diesem Grund stellt er immer wieder Verbindungen zu allgemein bekannten Ereignissen her. So lässt er die bethlehemitische Geburt Jesu durch eine Anordnung des Kaisers Augustus zu dem Census unter der Statthalterschaft des Quirinius veranlasst sein. Noch deutlicher ist der Beginn der öffentlichen Wirksamkeit durch den sechsfachen Synchronismus datiert: Lk setzt dadurch »eine eindrucksvolle Markierung im Lauf der Geschichte, die den Zeiger der Weltenuhr gewissermaßen für einen Augenblick ______________________________ 77 Dass Herodes Antipas kein König, sondern ein Tetrarch ist, hat Mt an anderer Stelle zu Recht gegenüber Mk korrigiert (῾Ηρῴδης ὁ τετραάρχης Mt 14,1 || Lk 9,7 ≠ ὁ βασιλεὺς ῾Ηρῴδης Mk 6,14), wenn auch inkonsequent (vgl. ὁ βασιλεύς Mk 6,26 || Mt 14,9). 78 Zur Hinrichtung der Mariamne-Söhne Alexander und Aristobul in Sebaste im Jahr 7 v. Chr. vgl. Jos., Bell. I 538-551; Ant. XVI 361-394; zum Verfahren gegen den Doris-Sohn Antipatros und zu seiner Hinrichtung im Jahr 4 v. Chr. vgl. Jos., Bell. I 620-640.661-664; Ant. XVII 93-132.182-187. 79 Gegen L UZ , Mt I 115, der dies »aus zeitlichen Gründen« für unwahrscheinlich hält. 80 Diese Vermutung geht zurück auf A. D IETERICH , Die Weisen aus dem Morgenland, ZNW 3 (1902), 1-14. 288 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch innehalten läßt«. 81 Genannt sind das 15. Jahr der Herrschaft des Tiberius; 82 die Statthalterschaft des Pontius Pilatus; die Tetrarchie der Herodessöhne Herodes (Antipas) in Galiläa sowie Philippus in Ituräa und Trachonitis; die Tetrarchie des Lysanias in Abilene sowie die Hohepriesterschaft des Hannas und des Kaiaphas. Auch, wenn diese Angaben weniger genau sind, als der Historiker, der gerne eine breitere Quellenbasis hätte, sich wünscht, sind sie doch sehr präzise oder - vielleicht genauer - sehr präzise gemeint. 83 Ein schwieriges, aber aufschlussreiches Problem stellt in diesem Synchronismus das Nebeneinander von Hannas und Kaiaphas dar. Lk setzt den Singular, nennt aber zwei Pesonen: »Als Hannas Hoherpriester war und Kaiaphas« (ἐπὶ ἀρχιερέως Ἅννα καὶ Καϊάϕα). Beide haben das Amt nacheinander ausgeübt: Hannas von 6-15 n. Chr. (Jos., Ant. XVIII 26.33-35), sein Schwiegersohn Kaiaphas von 18-36 oder 37 n. Chr. (Jos., Ant. XVIII 35.95; vgl. Joh 18,13). Dass Hannas zu Beginn der Wirksamkeit Jesu als Hoherpriester amtierte, ist also ausgeschlossen, wenn Jesus im 15. Jahr von Tiberius’ Prinzipat »etwa 30 Jahre alt« war (Lk 3,23). Allerdings haben die zahlreichen Ernennungen und Absetzungen der amtierenden Hohenpriester vor allem seit der Zeit der judäischen Praefektur (6 n.Chr.) dazu geführt, dass es immer eine ganze Reihe ehemaliger Hoherpriester gab, denen aufgrund ihrer Amtsführung eine bleibende Sonderstellung zukam. 84 Aus diesem Grund erwähnt das NT die Hohenpriester (οἱ ἀρχιερεῖς) fast durchgängig als einflussreiche Gruppe, auch Josephus spricht gelegentlich von mehreren (namentlich genannten) Hohenpriestern. 85 Dass Hannas-Ananos eine besondere Rolle unter diesen ehemaligen Hohenpiestern ______________________________ 81 R ADL , Lk 150. 82 Die Tiberius-Datierung ist eindeutig und bezieht sich auf das Jahr 14 n. Chr. (vgl. D. K IENAST , Römische Kaisertabelle, Darmstadt 3 2004, 76ff). Die technische Formulierung von der ἡγεμονία Τιβερίου Καίσαρος ist korrekt und verweist auf den Beginn des Prinzipats des Tiberius (am 19. August 14 n. Chr.); gegen A. S TROBEL , Plädoyer für Lukas, NTS 41 (1995), 466-469, der aufgrund einer Angabe bei Clemens Alex. an Tiberius’ Mitregentschaft ab 11/ 12 n. Chr. denkt. 83 Vgl. K. L. S CHMIDT , Der Rahmen der Geschichte Jesu, Berlin 1919, 23: »Dieser Synchronismus sieht sehr viel gelehrter aus, als er wirklich ist.« Alle Angaben sind ansonsten zwar nicht auschließlich, aber doch ganz überwiegend, durch Josephus bekannt (über Tiberius und Pontius Pilatus verraten auch andere Quellen etwas). Vgl. Jos., Ant. XVII 188.318 (zu Herodes Antipas); Jos., Ant. XVII 189; Bell. I 668; II 95 (zu Philippus). Zu Lysanias (über den ansonsten fast gar nichts bekannt ist) vgl. Jos., Ant. XIX 275 (Ἄβιλα Λυσανίου); XX 138 (Claudius hat Agrippa II. eine Tetrarchie namens Abela geschenkt, die vorher Lysanias gehörte); Bell. II 215.247. 84 Vgl. mHor III 4b: »Und zwischen dem diensttuenden [Hohen]priester ( שׁ ֵ מּ ַ שׁ ְ מ ַ ה ן ֵ ה ֹ כּ ) und dem zurückgetretenen [Hohen]priester ( ן ֵ ה ֹ כּ ר ַ ב ָ ﬠ ֶ שׁ ) besteht kein Unterschied, außer dem Jungstier am Versöhnungstage und dem Ephazehntel. Dieser und jener sind gleich[berechtigt] beim Dienst am Versöhnungstage« (ÜS W. Windfuhr). 85 Z. B. Jos., Bell. II 243 (»die Hohenpriester Jonathan und Ananias«); Vit. 193 (Ananos und Jesus, Sohn des Gamala); Bell. IV 151 (Ananos, der Älteste der Hohenpriester); Bell. IV 160 (Gamala, Sohn des Jesus, Ananos, Sohn des Ananos, die geachtetsten der Hohenpriester) usw. § 12: Das Mt-Evangelium als Kompilation von Mk und *Ev 289 spielt, ist leicht verständlich, weil ihm mindestens fünf seiner Söhne in diesem Amt nachgefolgt sind. 86 Diese Situation erklärt zwar das Phänomen einer einflussreichen Gruppe von Hohenpriestern in Jerusalem, nicht aber das Nebeneinander von Hannas und Kaiaphas in Lk 3,2: »Wenn einer von beiden Ende der 20er / Anfang der 30er Jahre Hoherpriester war, dann war es Kaiaphas.« 87 Die Erwähnung von Hannas als Hoherpriester im 15. Jahr des Tiberius ist also ein Irrtum. Dessen Zustandekommen lässt sich auch gut nachvollziehen. Denn *Ev hatte keinen der beiden namentlich genannt, auch bei Mk tauchen sie nicht auf. Zum ersten Mal hat Mt Kaiaphas als denjenigen Hohenpriester genannt, in dessen Palast zunächst »die Hohenpriester und die Ältesten des Volkes« den Plan zur Beseitigung Jesu fassen (Mt 26,3) und in dem dann das nächtliche Verhör mit den falschen Anklagen gegen Jesus stattfindet (Mt 26,57): Erst Mt hat, darin über Mk 14,60ff hinausgehend, Kaiaphas als denjenigen identifiziert, der das Unrechtsurteil gegen Jesus gefällt hat (Mt 26,62ff). Diese Information hat Eingang in Joh gefunden. Die Szene mit dem Tötungsbeschluss aus Mt 26,3 hat Joh 11,47ff aufgegriffen und ausgebaut, indem er dem Kaiaphas die Begründung in den Mund legt, es sei besser, dass »ein Mensch für das Volk stirbt, als dass das ganze Volk zugrunde geht« (Joh 11,50). In der Verhörszene greift Joh 18,13ff auf Mt 26,57 zurück: Der Hohepriester Kaiaphas wird noch einmal als derjenige identifiziert, der den Tötungsbeschluss begründet hatte. Dieser explizite Rückverweis auf Joh 11,49f ist (gegenüber Mt 26,3.57ff) sinnvoll, weil die joh Disposition der Erzählung die umfangreichen Abschiedsreden (Joh 12-17) dazwischen gestellt hatte. Nach der Verhaftung wird Jesus zuerst zu Hannas gebracht (Joh 18,13a: καὶ ἤγαγον πρὸς Ἅνναν π ρ ῶ τ ο ν ): Bei Joh führt, jetzt im Unterschied zu Mt, nicht Kaiaphas, sondern sein Schwiegervater Hannas das nächtliche Verhör (18,13b) und schickt Jesus daraufhin zu Kaiaphas weiter (Joh 18,24: οὖν), der ihn am kommenden Morgen in das Prätorium zu Pilatus bringen lässt (18,28). In der Verhörszene wird Hannas allerdings nicht durch seinen Namen, sondern durch die Amtsbezeichnung ἀρχιερεύς nominalisiert (Joh 18,19.22). Da unmittelbar zuvor Kaiaphas als der ἀρχιερεύς in diesem Jahr genannt war (18,13f), bleibt unklar, mit welchem Hohenpriester (Hannas oder Kaiaphas) der »andere Jünger« bekannt war (18,15f), der Petrus den Zugang zum Hof des hohepriesterlichen Palastes ermöglichte. Vor allem aber erscheint Hannas hier als der Hohepriester, der Jesus verhörte. ______________________________ 86 Als erster folgte Eleazar seinem Vater Hannas im Jahr 16/ 17 n. Chr. nach (Jos., Ant. XVIII 34), danach: Jonathan (36/ 37 n. Chr.; Jos., Ant. XVIII 95.123; XIX 213 usw.); Theophilos (nach 37 n. Chr.; Jos., Ant. XVIII 123); Matthias (nach 41 n. Chr.; Jos., Ant. XIX 316); Ananos-Hannas d. J. (62 n. Chr.; Jos., Ant. XX 197-203; Bell. II 563.648-653; Vit. 193-196 usw.). 87 W OLTER , Lk 156. 290 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch Das bedeutet: Indem Joh das nächtliche Verhör durch Hannas, »die graue Eminenz innerhalb der tonangebenden Priesterschaft Jerusalems«, 88 führen lässt und ihn dabei als ἀρχιερεύς bezeichnet, hat er die Grundlage für die problematische Kombination ἐπὶ ἀρχιερέως Ἅννα καὶ Καϊάϕα Lk 3,2 geschaffen. Diese Erklärung funktioniert allerdings nur, wenn man für Lk 3,2 die Kenntnis von Joh 18 voraussetzen kann: Diese Option ist erst noch darzulegen (s. u. § 13). Auf jeden Fall versteht man auf diese Weise, inwiefern Lk auch in Act Hannas von Kaiaphas abhebt und ihm - als ἀρχιερεύς! - eine Führungsrolle in dem Vorgehen gegen Petrus und Johannes zuschreibt (Act 4,5f): Hannas war im Vergleich mit Kaiaphas mit Sicherheit die wichtigere und historisch einflussreichere Persönlichkeit. Wenn Lk also schon in der Erzählung von der Geburt Jesu die Großen der Geschichte nennt, dann ist dies ein durchgehender Zug seiner redaktionellen Intention, die sich in Act noch weiter fortsetzt. e. Die lk Rezeption von Mt 1f Mt und Lk haben also ihre redaktionellen Interessen sehr deutlich in die Komposition der »Kindheitsgeschichten« einfließen lassen: Sie sind integrale Bestandteile der jeweiligen Gesamtkompositionen. Für Mt war dies nie strittig, für Lk 1f hat dies die redaktionsgeschichtliche Forschung gegen anfängliche Skepsis gezeigt. 89 In der Konsequenz der Einsicht, dass die Evangelisten eher die Autoren ihrer Kindheitsgeschichten sind als die Rezipienten ihrer Quellen, hat die jüngere Forschung die literarkritische Frage nach den Quellen weitgehend aus den Augen verloren. Sofern man (im Horizont der Zwei-Quellentheorie) mit der prinzipiellen Unabhängigkeit von Mt und Lk rechnete, war die Perspektive ohnehin ausgeschlossen, dass beide literarisch miteinander verbunden sind. Aber die eingangs genannten engen Übereinstimmungen auch in Details (o. S. 280f) machen die eine solche Unabhängigkeit völlig unwahrscheinlich: Die grundsätzliche Möglichkeit der Mt-Priorität vor Lk, die sich in erster Linie aus den methodisch ganz anders gelagerten Beobachtungen zu der »Mittelstellung« des Mt zwischen *Ev bzw. Mk und Lk ergab, eröffnet die Perspektive, auch für die Komposition der Kindheitsgeschichten damit zu rechnen, dass Lk 1f die Kenntnis von Mt 1f voraussetzt. Die entscheidende Frage ist natürlich, wie die gelegentlich vermerkten Unterschiede zwischen beiden Erzählungen sich zueinander verhalten. Zur Beantwortung hilft die folgende Übersicht. ______________________________ 88 T HYEN , Joh 712. 89 Vgl. die wichtigen Arbeiten von P. S. M INEAR , Die Funktion der Kindheitsgeschichte im Werk des Lukas, in: G. Braumann (Hg.), Das Lukas-Evangelium (WdF 280), Darmstadt 1974, 204-235; W. B. T ATUM , Die Zeit Israels: Lukas 1-2 und die theologische Intention der lukanischen Schriften, ebd., 317-366; R. C. T ANNEHILL , The Narrative Unity of Luke-Acts. A Literary Interpretation I, Philadelphia 1986, 15-44. Diese redaktionsgeschichtlichen Arbeiten bezogen sich auf die einflussreiche These von H. C ONZELMANN , Die Mitte der Zeit, Tübingen 6 1977, der Lk 1f für »un-lk« hielt. § 12: Das Mt-Evangelium als Kompilation von Mk und *Ev 291 Mt Lk 1,2-17 Geschlechtsregister Jesu (mit charakteristischen Änderungen in Lk 3,23-38) 1,5-25 Ankündigung der Geburt des Täufers Erscheinung eines Engels »in den Tagen des Herodes, des Königs von Judäa« (1,5) 1,18-24 Ankündigung der Geburt Jesu Erscheinung des Engels vor Joseph Maria ist Jungfrau Empfängnis durch den Geist Kind ist Sohn Gottes/ Retter Aufforderung zur Namensgebung Joseph bekundet sein Einverständnis (»tat, was der Engel … befohlen hatte«) 1,26-38 Ankündigung der Geburt Jesu Erscheinung des Engels bei Maria Maria ist Jungfrau Empfängnis durch den Geist Kind ist »Sohn des Höchsten« Aufforderung zur Namensgebung Rückverweis des Engels auf Elisabeth Maria bekundet ihr Einverständnis (»Ich bin die Magd des Herrn«) 1,39-56 Maria besucht Elisabeth Aufbruch Marias »in diesen Tagen« Elisabeth begrüßt Maria als »Mutter meines Herrn« Magnificat Rückkehr »nach drei Monaten« (1,56) 1,57-80 Geburt des Täufers Benedictus Notiz über das Wachstum des Täufers Ausblick auf das Auftreten in Israel 2,1-21 Vor der Geburt Jesu »in jenen Tagen« veranlasst Augustus den Census (2,1) Joseph und Maria reisen von Nazareth nach Bethlehem (2,4) 1,25a Jesu Geburt … Jesu Geburt (2,6f) Angelophanie; Huldigung und Rückkehr der Hirten (2,8-20) und Namensgebung (1,25b) Namensgebung (2,21) 2,22-39 Darstellung Jesu im Tempel nach der »Reinigung« (= nach 40 Tagen) Simeon (Nunc dimittis); Hanna 2,1-12 Nach der Geburt Jesu Nach der Geburt in Bethlehem »in den Tagen des Königs Herodes« kommen die Magier zu Herodes; Huldigung und Rückkehr der Magier 2,13-18 Flucht nach Ägypten; Kindermord 292 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch 2,19-23 Nach dem Tod Herodes’ d. Gr.: Rückkehr nach Nazareth 2,40-52 Der Zwölfjährige Jesus im Tempel Pilgerreise von Nazareth nach Jerusalem Wie schon angedeutet, sind die Entsprechungen zwischen Mt 1,18-25 und Lk 1,36-38 besonders eng: Die Ankündigung der Geburt Jesu wird einmal als Erscheinung eines Engels vor Joseph κατ’ ὄναρ erzählt (Mt 1,20), das andere Mal als direkte Erscheinung Gabriels vor Maria (Lk 1,28: καὶ εἰσελθὼν … εἶπεν). Diese Ankündigung der Geburt ist das einzige Ereignis, das in beiden Fassungen erzählt wird. Da sich die Ankündigung einmal an Joseph richtet und der Engel ihm Anweisungen gibt, das andere Mal an Maria, ist dieses Nebeneinander als komplementäre Ergänzung zu verstehen. Im Licht der schon deutlich gewordenen Mt-Priorität vor Lk wäre zu präzisieren: Als lk Ergänzung zu der Geburtsankündigung vor Joseph bei Mt. Auch die anderen lk Passagen der Geburtsgeschichte sind solche komplementären Ergänzungen: Lk füllt die narrativen Lücken der mt Erzählung auf. Besonders deutlich ist dies bei der mageren Notiz von der Geburt Jesu, die Mt 1,25 nur knapp erwähnt, um im Anschluss daran mitteilen zu können, dass Joseph den Befehl zur Namensgebung (Mt 1,21) ausgeführt hatte (Mt 1,25b: καὶ ἐκάλεσεν τὸ ὄνομα αὐτοῦ Ἰησοῦν). Lk dagegen erzählt die bekannte Weihnachtsgeschichte und bringt zwischen der Mitteilung der Geburt Jesu (Lk 2,7) und der Namensgebung (Lk 2,21: καὶ ἐκλήθη τὸ ὄνομα αὐτοῦ Ἰησοῦς) nicht nur die Windeln und die Krippe unter, sondern auch die Hirten bei ihren Herden, die himmlischen Heerscharen mit ihrem Lobpreis, die Huldigung durch die Hirten und ihre Rückkehr. Für die literarische Gestaltung sind die anderen Ergänzungen aufschlussreicher. Denn Lk ergänzt die Erzählung von der Geburt des Kindes »aus dem Haus und Geschlecht Davids« (Lk 2,4) um die Ankündigung (Lk 1,5-25) und die Geburt des Johannes (1,57-80), der aus (hohe-) priesterlichem Geschlecht ist (1,5). Die Kunstfertigkeit, mit der er dies tut und mit der er die beiden Erzählstränge in Lk 1,39-56 miteinander verknüpft, ist häufig beschrieben worden. Unmittelbar nach der Erzählung von der Geburt Jesu berichtet Lk von der Darstellung Jesu im Tempel (2,22-39), die man sich, die übliche Frist für den καθαρισμός vorausgesetzt, 40 Tage nach der Geburt vorstellen muss. Die folgende Erzählung (Lk 2,40-52) macht demgegenüber einen Zeitsprung von zwölf Jahren: Wo Jesus und seine Eltern in der Zwischenzeit waren und was in dieser Zeit geschehen ist, lässt Lk im Dunkeln, deutet aber an, dass sie κατ’ ἔτος nach Jerusalem zum Passafest nach Jerusalem pilgerten (2,41). Lk hat also einerseits die Lücken der Erzählzeit in der mt Geburtserzählung gefüllt und sie zugleich in der entscheidenden Erzählung von der Ankündigung der Geburt durch die Perspektive der Maria ergänzt. Die Unterschiede zwischen Mt 1f und Lk 1f sind folglich das Resultat dieser Ergänzung: Lk erzählt andere Ereignisse, aber die gleiche Geschichte. Trotz der Unterschiede kann die Identität der beiden Geschichten ohne weiteres erschlossen werden: Generationen von Lesern haben das auch verstanden und beide Erzählungen (bis in die Krippenspieltradition) ohne jedes Problem miteinander verbunden und als eine Geschichte wahrgenommen. Sofern Lk bei den Lesern die Kenntnis der mt Erzählung voraussetzt, kann sein § 12: Das Mt-Evangelium als Kompilation von Mk und *Ev 293 Evangelium jedoch nicht für sich stehen: Es ist neben Mt Teil der Kanonischen Ausgabe und für diese konzipiert. Gegen diese Annahme der literarischen Abhängigkeit des Lk von Mt 1f scheinen aber zwei Grunddifferenzen zu sprechen, die als Zeichen ihrer Unvereinbarkeit 90 gewertet wurden: Ort und Zeit scheinen nicht zusammen zu passen. a. Das Orts-Problem ist relativ leicht zu klären. Es besteht darin, dass die mt Anlage des Erzählzusammenhangs die Differenz zwischen Nazareth als dem Herkunfts- und Bethlehem als dem Geburtsort Jesu mit der Flucht vor den Nachstellungen durch Herodes erklärt, wogegen Lk davon ausgeht, dass Joseph und Maria schon vor der Geburt in Nazareth wohnten und nach der Geburt auch dahin zurückkehrten. Das Gefälle der mt Erzählung legt zwar nahe, dass Joseph und Maria schon vor der Geburt Jesu in Bethlehem lebten und daher nach der Rückkehr aus Ägypten als Exulanten zum ersten Mal nach Nazareth kamen, aber dieser Umstand wird an keiner Stelle explizit gemacht. So bleibt hier eine Unbestimmtheit, die Lk (auf seine Weise) vereindeutigt hat: Er gibt zu verstehen, dass Maria und Joseph nur zur Geburt Jesu in Bethlehem waren, ursprünglich aber aus Nazareth stammten und (nach der Reinigungsfrist und der Vorstellung Jesu im Tempel) auch dorthin zurückkehrten (Lk 2,39). Für Lk ist dies wichtig wegen des Tempels, der für seine theologische Topographie entscheidend ist: Die geographische Nähe von Nazareth zu Jerusalem ermöglicht es ihm, Jesus und seine Eltern jährlich zum Passafest nach Jerusalem pilgern zu lassen (Lk 2,41), auch, wenn er nicht ausführt, von welchem Ort aus sie diese Reisen antraten. Nur für die Zeit, als Jesus zwölf Jahre alt war, macht Lk deutlich, dass die Familie in Nazareth lebt und von dort aus zur Pilgerreise aufbricht (Lk 2,43.51). Da Lk jedoch an keiner Stelle explizit macht, dass die Familie ununterbrochen in Nazareth lebte, eröffnet diese Unbestimmtheit die Möglichkeit eines zeitweiligen Ägyptenaufenthalts, wie ihn Mt 2,14.22 voraussetzt. Allerdings ist das topographische Setting der mt Erzählung erkennbar kohärenter und bestimmter als bei Lk. Denn Mt 2,14 spricht davon, dass Joseph noch in der Nacht der zweiten Traumoffenbarung (und das heißt offensichtlich: von Bethlehem aus) nach Ägypten aufbricht (Mt 2,13f). Unter der Annahme einer direkten literarischen Beziehung lässt sich dieses Phänomen nur so verstehen, dass Mt die Grundlage für die lk Erzählung liefert, nicht aber umgekehrt. b. Das größere Problem stellt die Frage der Chronologie dar: Mt datiert die Geburt Jesu in die Zeit Herodes’ d. Gr., also spätestens vor 4 v. Chr., Lk datiert sie in die Zeit der judäischen Praefektur, setzt also einen Zeitpunkt frühestens nach 6. n. Chr. voraus, sodass beide Datierungen durch einen Zeitraum von wenigstens zehn Jahren getrennt sind. Das ist jedenfalls die absolute Chronologie, wie sie sich für den ______________________________ 90 Vgl. z. B. L UZ , Mt I 87, Anm. 6. 294 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch kritischen Historiker darstellt. Ob diese Differenz auch antiken Autoren bewusst war, die 100 oder mehr Jahre nach den geschilderten Ereignissen schrieben, ist zwar nicht sicher, aber doch sehr wahrscheinlich. Das gilt vor allem dann, wenn man das Interesse an historiographischer Genauigkeit bei Lk (und seine Kenntnis der Schriften des Josephus) voraussetzt. Allerdings enthält die Chronologie von Lk 1f weitere Probleme. Die Differenz der Datierung taucht nicht nur im Vergleich zwischen Mt und Lk gegenüber der absoluten Chronologie auf, sondern auch innerhalb der relativen Chronologie bei Lk. Lk datiert die Ankündigung der Geburt des Täufers in die »Tage des Herodes, des Königs von Judäa« (Lk 1,5). Elisabeth wird μετὰ δὲ ταύτας τὰς ἡμέρας schwanger (Lk 1,24): Auch, wenn hier kein unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang zwischen der Ankündigung der Geburt und der Schwangerschaft der Elisabeth hergestellt wird, wird man den Zeitraum eher nach Tagen oder Wochen als nach Monaten oder Jahren denken, wie die beiden folgenden Zeitangaben zeigen: Elisabeth war etwa fünf Monate lang schwanger (1,25), im sechsten Monat erschien Gabriel bei Maria (1,26), um ihr die Geburt Jesu anzukündigen. Dass Marias Besuch bei Elisabeth ἐν ταῖς ἡμέραις ταύταις (1,39) in unmittelbarem Zeitabstand zu Gabriels Erscheinung zu denken ist, wird daran deutlich, dass Maria ὡς μῆνας τρεῖς bei ihr blieb (1,56), bevor Elisabeth mit Johannes niederkam (1,57ff): Bis hierher ist der Zeitrahmen von der Ankündigung »in den Tagen des Herodes« bis zu der Geburt des Johannes exakt abgesteckt. Die Spannung entsteht dadurch, dass Lk den zeitlichen Rahmen der Geburt Jesu durch den Befehl des Augustus zum Census »in jenen Tagen« (2,1) datiert. Fraglich ist, worauf ἐν ταῖς ἡμέραις ἐκείναις referiert: Wenn sich diese Angabe auf die Notiz über das Heranwachsen des Johannes und seinen Wüstenaufenthalt (Lk 1,80) bezieht, könnten zwischen der Geburt des Täufers und der Geburt Jesu mehrere Jahre liegen. 91 Dazu muss man jedoch voraussetzen, dass Maria bei ihrem Besuch bei Elisabeth noch gar nicht schwanger war, dass also Elisabeth über den zukünftigen καρπὸς τῆς κοιλίας Marias jubelt (1,42) und in Maria nicht die werdende, sondern die zukünftige μήτηρ τοῦ κυρίου μου (1,43) sieht. Demnach setzt Lk den Beginn der Schwangerschaft Marias in den unbestimmten Zeitraum, den er für das Aufwachsen des Johannes angibt (1,80). 92 Diese Lösung wirft aber zwei Fragen auf: Warum hat Lk den Zeitpunkt der Schwangerschaft Marias nicht deutlicher markiert? Und warum datiert er, wenn er denn an der Datierung der Geburt Jesu im Zusammenhang mit dem Census des Quirinius interessiert war, die Ankündigung der Geburt des Täufers überhaupt »in die Tage des Herodes, des Königs von Judäa«? Die Annahme, dass Lk die mt Kindheitserzählung voraussetzt, gibt die Antwort auf beide Fragen. Denn die »Tage des Königs Herodes« waren als chronologischer Rahmen für die Geburt Jesu durch Mt 1,5 vorgegeben. Lk reserviert diesen Hintergrund für die Geburt des ______________________________ 91 Vgl. K. H AACKER , Erst unter Quirinius? Ein Übersetzungsvorschlag zu Lk 2,2, BN 38/ 39 (1987), 39-43: 40. 92 So der Vorschlag von M. W OLTER , Wann wurde Maria schwanger? Eine vernachlässigte Frage und ihre Bedeutung für das Verständnis der lukanischen Vorgeschichte (Lk 1-2), in: R. Hoppe, U. Busse (Hg.), Von Jesus zum Christus, Berlin - New York 1998, 405-422. § 12: Das Mt-Evangelium als Kompilation von Mk und *Ev 295 Täufers, will aber die Geburt Jesu nicht in dem durch die Erwähnung der »Tage des Königs Herodes« markierten Horizont Judäas verorten, sondern gibt ihr einen weltgeschichtlichen Rahmen (Lk 2,1f). Diese Differenz zwischen Johannes und Jesus, zwischen der judäischen Wirkung des einen und der weltweiten des anderen, macht »bereits zu Beginn des lukanischen Doppelwerks jene Spannung erkennbar, die sich bis zu seinem Ende durchhalten wird.« 93 Die Differenz gegenüber der mt Datierung der Geburt Jesu hat also redaktionelle Gründe. Lk war daran gelegen, diese redaktionelle Intention zum Ausdruck zu bringen, konnte und wollte aber der mt Chronologie nicht offen widersprechen. Er hat diese Spannung dadurch gelöst, dass er den Zeitpunkt, zu dem Maria schwanger wurde, im Unklaren ließ. Nur eine sehr sorgfältige Lektüre wird herausfinden, dass sich ἐν ταῖς ἡμέραις ἐκείναις Lk 2,1 nicht auf die »Tage des Herodes, des Königs von Judäa« (1,5) bezieht, sondern auf den unbestimmten Zeitraum, in dem Johannes »an Geist zunahm und in der Wüste war« (1,80). * Die literarkritische Analyse der Beziehungen zwischen Mt 1f und Lk 1f bestätigt also grundsätzlich die Bearbeitungsrelation ⑤ : Lk ist abhängig von Mt und hat dessen Erzählung von der Geburt Jesu ergänzt und bearbeitet. Damit ist klar, dass Lk 1f nicht auf eine Sonderquelle zurückgeht, die Lk als ganze vorgefunden hätte. 94 Auch die verbreitete, auf Martin Dibelius zurückgehende kompositionskritische Ansicht lässt sich nicht bestätigen, dass Lk 1f in Form eines »Diptychons« gestaltet sei. 95 Die narrative Konzentration auf Johannes in Lk 1 und auf Jesus in Lk 2 verknüpft zwar beide Geburtserzählungen miteinander, gestaltet sie aber nicht in spiegelbildlicher Entsprechung. Diese kompositionsanalytische Einsicht 96 lässt sich unter der Voraussetzung der lk Abhängigkeit von Mt jetzt auch literarkritisch untersetzen. Die literarkritische Analyse des überlieferungsgeschichtlichen Ortes des Mt hat dessen »Mittelstellung« zwischen *Ev bzw. Mk und Lk bestätigt, die durch zwei Bearbeitungsschritte konstituiert wird: Auf der einen Seite haben zahlreiche Beobachtungen zur Bearbeitungsrelation ④- zwischen *Ev und Mt eine Grundannahme der Zwei-Quellentheorie bestätigt: Mt hat neben Mk auch auf eine weitere Quelle ______________________________ 93 W OLTER , a. a. O. 439. 94 Gegen W. R ADL , Der Ursprung Jesu, Freiburg/ Brsg. u. a. 1996. 95 M. D IBELIUS , Die urchristliche Überlieferung von Johannes dem Täufer, Göttingen 1911, 67ff. Diese Ansicht besitzt eine »Tenazität, die innerhalb der neutestamentlichen Forschung nicht eben häufig anzutreffen ist« (W OLTER , a. a. O. 420, der Anm. 56 einige Vertreter auflistet). 96 W OLTER , a. a. O. 416ff; DERS ., Lk 71f 296 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch zurückgegriffen, die einen großen Teil des Materials der mt-lk Doppelüberlieferung enthielt, und zwar in der aus Lk bekannten Akoluthie. Diese zusätzliche Quelle ist allerdings nicht »Q«, sondern *Ev. Auf der anderen Seite korrespondiert die Bearbeitungsrelation ⑤ zwischen Mt und Lk mit vielen Beobachtungen der zuletzt von Michael Goulder und Mark Goodacre wieder ins Spiel gebrachten »Markan-Priority-without-Q«-Hypothese, die ja mit einer Abhängigkeit des Lk von Mt rechnet. Für die sog. »Kindheitserzählungen« eröffnet die Annahme der lk Abhängigkeit von Mt ein Feld von Einsichten und Fragestellungen, die im methodischen Rahmen der Zwei-Quellentheorie gar nicht in den Blick kommen konnten. § 13: Die literarischen Beziehungen zwischen *Ev, Joh und Lk 1. Voraussetzungen und Fragestellung Mit der Einzeichnung des Mt in die Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien sowie dem Nachweis, dass Lk neben *Ev und Mk auch Mt kannte und bei seiner Redaktion berücksichtigt hat, sind die literarischen Beziehungen zwischen den synoptischen Evangelien komplett. Allerdings ist damit die Bedeutung von *Ev und der *Ev-Priorität vor Lk, Mk und Mt in den Bearbeitungsrelationen ① , ③ und ④- noch nicht vollständig erfasst: Zu klären bleibt, ob und wie Joh und *Ev miteinander verbunden sind. Nach dem vereinfachten Schaubild geht es also um die Bearbeitungsrelationen ⑥ zwischen *Ev und Joh sowie ⑦ zwischen Joh und Lk. Beide sind nur komplementär sinnvoll und basieren auf der grundsätzlichen Unterscheidbarkeit zwischen *Ev und Lk. *Ev-------------- --- - - ------------- ③--- --- - - - - Mk- ----------- ①---------------------④----------- --- ⑥ - -- - ---- - - ---- ② - - ----------- - - - - ----- - Mt- -- - - - - - Joh- -- -- - -------- ⑤ - --------- ⑦ - ---- --Lk- ------ Abb. 7: Die literarischen Beziehungen zwischen *Ev, Joh und Lk Die Verbindung von Joh und den Synoptikern in einem auf literarischer Abhängigkeit basierenden Modell der Überlieferungsgeschichte bedarf allerdings vorab einer Begründung, die wenigstens die Grundlagen des eigenen Vorgehens sichtbar machen sollte. Denn das Verhältnis zwischen Joh und den Synoptikern ist ein seit langem intensiv diskutiertes Problem. Seine bleibende Virulenz scheint weniger in grundsätzlichen methodischen Defiziten überlieferungsgeschichtlicher Erklärungsmodelle zu liegen, wie es etwa im Diskurs über das Synoptische Problem der Fall ist. Die große Disparatheit der Erklärungsansätze beruht eher auf dem (im Vergleich zu den Synoptikern) so anders gearteten literarischen Erscheinungsbild des Joh: Die narrative Gesamtanlage, die sich von der weitgehend einheitlichen Anlage der Synoptiker unterscheidet; die auf den ersten Blick erkennbare Komposition großer Szenen anstelle der kleinteiligen Gliederung in (semi-)autark erscheinende Perikopen; 298 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch die distinkt joh Sprache mit ihrer reflektierten Begrifflichkeit und anderes mehr markiert eine literarische Eigenständigkeit des Joh, die offensichtlich auch auf die überlieferungsgeschichtlichen Beziehungen übertragen wurde: Für die an den synoptischen Beziehungen geschulte literarkritische Analyse und das daraus gewonnene Modell der »Redaktion« scheint Joh eine eigene Welt darzustellen, für die literarische Beziehungen zu den Synoptikern schwer vorstellbar sind. Dabei gibt es eine große Zahl von thematischen Überschneidungen zwischen Joh und den Synoptikern, die von spezifischen Einzelheiten (etwa die »dienende Martha« Joh 12,2 || Lk 10,40; πτύω Joh 9,6 || Mk 8,23) über umfangreiches gemeinsames Material der Erzähl- und der Logienüberlieferung bis hin zu kompositionellen Analogien reichen. Die Frage der joh-synoptischen Beziehungen ist überlagert durch die vor allem seit Rudolf Bultmann vorgebrachten Thesen zur joh Literarkritik, die in den letzten Jahrzehnten in verschiedenen Spielarten rezipiert und weiterentwickelt wurden. Wenn man mit der Verarbeitung spezifisch joh Quellen (etwa der Semeia-Quelle) oder mit der Bearbeitung eines vorkanonischen Joh durch eine kirchliche Redaktion usw. rechnet, dann verlagert sich die Frage der möglichen Beziehung zwischen Joh und den Synoptikern auf überlieferungsgeschichtliche Stadien vor den jeweiligen Endtexten: An die Stelle der Kenntnis und Verarbeitung von Texten tritt dann die Rezeption allgemeiner Traditionen, die nicht mehr mit konkret identifizierbaren Texten in Zusammenhang gebracht werden (können). Die überlieferungsgeschichtliche Frage der literarischen Abhängigkeit hängt aufs engste mit der literarkritischen Beurteilung der literarischen Integrität des Joh zusammen. 1 Diese Ausgangslage ist verantwortlich dafür, dass die joh-synoptischen Beziehungen bis in die Gegenwart sehr unterschiedlich beurteilt werden: Neben der These der literarischen Unabhängigkeit 2 gibt es eine breite Palette unterschiedlicher Modelle der literarischen Abhängigkeit, die von der Joh-Priorität vor den Synoptikern 3 bis ______________________________ 1 Die Identifizierung von vor-joh »Quellen« (unabhängig von den Synoptikern) wurde seit Bultmann vor allem für die sog. Semeia-Quelle und für den Passionsbericht erwogen. Vgl. dazu die Komm. und R. F. F ORTNA , The Fourth Gospel and its Predecessor, Edinburgh 1989. 2 Z. B. M. T HEOBALD , Herrenworte im Johannesevangelium, Freiburg/ Brsg. 2002; J. B ECKER , Das vierte Evangelium und die Frage nach seinen externen und internen Quellen, in: I. Dunderberg et al. (Hg.), Fair Play, Leiden 2002, 203-241; DERS ., Joh I 42ff. In diesem Fall werden die Übereinstimmungen auf gemeinsame mündliche Überlieferung zurückgeführt. Auf das artifizielle Modell »sekundärer Mündlichkeit« (z. B. M. L ABAHN , Jesus als Lebensspender, Berlin - New York 1999, 195 mit Lit.) ist hier nicht einzugehen. 3 Z. B. K. B ERGER , Im Anfang war Johannes, Gütersloh 3 2004; P. L. H OFRICHTER , Modell und Vorlage der Synoptiker, Hildesheim 2 2002; DERS . (Hg.), Für und wider die Priorität des Johannesevangeliums, Hildesheim 2002. § 13: Die literarischen Beziehungen zwischen *Ev, Joh und Lk 299 zu verschiedenen Möglichkeiten der literarischen Abhängigkeit des Joh (gelegentlich auch: vor-joh Überlieferungen) von den Synoptikern (oder auch von vorsynoptischen Überlieferungen) reichen. 4 Dieses disparate Bild der Forschungslandschaft soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in den vergangenen Jahrzehnten eine sehr deutliche Mehrheit für die literarische Abhängigkeit des Joh von den Synoptikern votiert. 5 Auch, wenn Meinungen nicht gezählt, sondern gewichtet werden müssen, ist dies der Punkt, an dem die Auseinandersetzung beginnen muss. Diese Einschätzung hängt ganz wesentlich mit der Einsicht in die literarische Integrität des Joh zusammen: Dass Joh (in seiner kanonischen Gestalt! ) am besten verstanden wird, wenn man auf die literarkritische Identifizierung von Vorstufen oder joh Sonderquellen verzichtet, hat zuletzt Hartwig Thyen sehr eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Dieses Urteil geht Hand in Hand mit der Annahme, dass Joh alle drei synoptischen Evangelien kannte. Thyens umfangreicher Kommentar hat die joh Bezugnahmen auf die Synoptiker nicht nur durchweg plausibel gemacht, sondern sogar zum Strukturprinzip erhoben: Joh »ist ein Text über ihre Texte, ein Spiel mit ihnen, in das er seine Leser verwickeln möchte«. 6 Aber obwohl ______________________________ 4 Z. B. A. D AUER , Die Passionsgeschichte im Johannesevangelium, München 1972. 5 Ich verweise hier nur auf die Arbeiten von F R . N EIRYNCK (z. B. in: ders., Evangelica III, Leuven 2001, 549-628), M. S ABBE (in: ders., Studia Neotestamentica, Leuven 1991, 331-513) sowie den Forschungsbericht von S. S CHREIBER , Kannte Johannes die Synoptiker? Zur aktuellen Diskussion, VuF 51, 2006, 7-24. Seither z. B. Z. G ARSKÝ , Das Wirken Jesu in Galiläa bei Johannes, Tübingen 2012; S. A. H UNT , Rewriting the Feeding of Five Thousand, New York 2012. 6 H. T HYEN , Die Erzählung von den bethanischen Geschwistern (Joh 11,1-12,9) als Palimpsest über synoptischen Texten, in: ders., Studien zum Corpus Iohanneum, Tübingen 2007, 182-212: 183; vgl. DERS ., Joh (passim); DERS ., Johannes und die Synoptiker, in: ders. Studien zum Corpus Iohanneum, Tübingen 2007, 155-181. Das literarische und hermeneutische Verfahren ist beschrieben in: ders., Das Johannesevangelium als literarisches Werk, ebd., 351-369. - An dieser Stelle sei wenigstens angemerkt, dass die (von G. G ENETTE , Palimpseste, Frankfurt/ M. 1993, entlehnte) Metapher »Palimpsest« gerade nicht zur Beschreibung des literarischen Verfahrens der intertextuellen Bezugnahme eignet, das sich Thyen für das Verhältnis von Joh und den Synoptikern vorstellt (für Genette gilt Analoges): Das Palimpsest ist ja dadurch ausgezeichnet, dass der ältere Text abgewaschen wird und idealerweise vollkommen verschwunden ist. Aus diesem Grund gibt es keine innere Verbindung zwischen dem älteren und dem wiederbeschrifteten Text: Ausgangstext und Palimpsest stehen hinsichtlich Alter und Autor, Gattung und Inhalt, Sprache und Umfang höchstens zufällig in einer Beziehung. Abgesehen von der Tatsache, dass sie nacheinander auf denselben Schriftträger aufgetragen wurden, haben sie nichts gemein (wie beispielsweise das berühmteste neutestamentliche Palimpsest, der Ephraemi Rescriptus C 04 sehr deutlich zeigt). Tatsächlich geht es Thyen, seiner anderslautenden Bemerkung zum Trotz, gar nicht darum, die älteren Texte »durch seine (sc. des Palimpsests) hier und da hindurchschimmernde Originalbeschriftung zu entziffern« (Die Erzählung von den bethanischen Geschwistern, 182). Vielmehr setzt er - mit gutem Grund! - die synoptischen Prätexte (in ihrem bekannten Wortlaut) für seine Intertextualitätsanalyse jeweils voraus. Die auf den Beschriftungsvorgang bezogene paläographische Metapher des Palimpsests verfehlt daher per definitionem das intendierte Erklärungspotential für literarische Bezugnahmen. Anstelle der für Palimpseste konstitutiven Unabhängigkeit zwischen Ausgangs- und Folgetext gilt 300 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch Thyen, so konsequent und ertragreich wie kein anderer, die diachrone Perspektive der literarischen Bezugnahme für seine Interpretation des Joh fruchtbar zu machen versteht, und obwohl er außerdem davon überzeugt ist, dass »Johannes nicht nur die von unseren synoptischen Evangelien bezeugte Tradition, sondern diese Evangelien selbst in ihrer literarischen Endgestalt gekannt und auf seine Weise benutzt hat«, 7 unternimmt er keinen Versuch einer überlieferungsgeschichtlichen Zuordnung. Seine Weigerung, sich mit der historischen Frage der Textentstehung und den konkreten Voraussetzungen der Textproduktion auseinanderzusetzen, ist vor dem Hintergrund der älteren Literarkritik gerade zu Joh zwar verständlich, zahlt aber einen hohen Preis: Die historische Dimension gerät aus dem Blick, die gerade für die Bestimmung der Situation der Leser wichtig wäre, die ja doch dieses intertextuelle »Spiel« mitspielen sollen. Anders gesagt: Gerade, wenn Joh die Synoptiker nicht nur als Quelle seiner eigenen Kenntnis über die Geschichte Jesu voraussetzt, sondern wenn diese Kenntnis auch für seine Leser konstitutiv ist, weil sie sich nur so in das intertextuelle Spiel verwickeln lassen können, gewinnt die Frage, in welcher Form diese vier Evangelien den Lesern vorlagen, eine zentrale Bedeutung. Das von Thyen entfaltete Verständnis von Joh impliziert daher als heuristischen Horizont das Vier-Evangelienbuch: Der überlieferungsgeschichtliche Weg, auf dem dieses Vier-Evangelienbuch zustandekam, ist das Ziel des hier vorgestellten Modells. Die Frage nach den joh-synoptischen Beziehungen lässt sich jedoch präzisieren, weil es eine ganze Reihe von joh-lk Gemeinsamkeiten gegen Mk und Mt gibt. 8 Diese spezifisch joh-lk Übereinstimmungen begegnen besonders auffällig in der Passionsgeschichte; sie bildet daher den Ausgangspunkt der Analyse (2.). Aufgrund der Unterscheidbarkeit zwischen *Ev und Lk lassen sich diese spezifischen Berührungen ______________________________ für das Phänomen der Intertextualität: »In der Regel brauchen Prä- und Posttext einander wechselseitig, so daß von einer Verdrängungsabsicht gar keine Rede sein kann« (T HYEN , Johannes und die Synoptiker 172). Genau diese vollständige Verdrängung des einen (früher aufgetragenen) durch den anderen (später aufgetragenen) Text macht jedoch das Wesen des Palimpsests aus. 7 T HYEN , Johannes und die Synoptiker 169 (Hervorhebungen im Original); vgl. DERS ., Die Erzählung von den bethanischen Geschwistern 184. 8 Vgl. beispielsweise J. S CHNIEWIND , Die Parallelperikopen bei Lukas und Johannes, Darmstadt 3 1970; F R . R EHKOPF , Die lukanische Sonderquelle, Tübingen 1959; J. A. B AILEY , The Traditions Common to the Gospels of Luke and John, Leiden 1963; P. P ARKER , Luke and the Fourth Evangelist, NTS 9 (1963), 317-336; F. L. C RIBBS , St Luke and the Johannine Tradition, JBL 90 (1971), 422-45; DERS ., The Agreements that Exist Between Luke and John, SBL.SP 1 (1979), 215-251; A. D AUER , Johannes und Lukas, Würzburg 1984; M. M YLLYKOSKI , The Material Common to Luke and John, in: P. Luomanen (Hg.), Luke-Acts, Helsinki - Göttingen 1991, 115-156; B. S HELLARD , The Relationship of Luke and John - A Fresh Look at an Old Problem, JThS 46 (1995), 71-98; DIES ., New Light on Luke, London u. a. 2004; G. B LASKOVIC , Johannes und Lukas, St. Ottilien 1999; M. A. M ATSON , In Dialogue with Another Gospel, Atlanta 2001 u. a. § 13: Die literarischen Beziehungen zwischen *Ev, Joh und Lk 301 zwischen Lk und Joh auf zwei verschiedene Bearbeitungsschritte verteilen, nämlich auf die komplementären Relationen ⑥ zwischen *Ev und Joh (3.) sowie ⑦ zwischen Joh und Lk (4.). Am Ende soll ein Gesamtbild der überlieferungsgeschichtlichen Verhältnisse zwischen *Ev und den vier kanonischen Evangelien stehen (5.). In methodischer Hinsicht beruht die überlieferungsgeschichtliche Analyse zwischen *Ev, Joh und Lk auf den gleichen Voraussetzungen, die sich schon zuvor für die Verhältnisbestimmung zwischen *Ev und Mk (§ 11) bzw. für die Positionierung von Mt (§ 12) als verlässlich erwiesen haben. Dies ist zum einen die Bevorzugung des einfachsten Modells direkter literarischer Abhängigkeit vor der Annahme vermittelnder Zwischenstufen: Solange solche Zwischenstufen vom Befund her nicht unumgänglich notwendig sind, ist ihre Annahme methodisch unzulässig. Zum anderen liegt der Analyse der lk-joh Beziehungen die Unterscheidbarkeit von *Ev und Lk zugrunde. Die wesentliche Aufgabe für die Analyse besteht also in der Differenzierung der Bearbeitungsrelationen ⑥ zwischen *Ev und Joh und ⑦ zwischen Joh und Lk. 2. Lk-joh Übereinstimmungen gegen Mk: Die Passions- und Osterüberlieferung Die Beobachtung, dass die lk-joh Berührungen (gegen Mk und Mt) in der Passions- und Osterüberlieferung besonders charakteristisch sind, ist nicht neu. 9 Sie konstituieren ein Problem, das sich nicht erst für die Frage der joh-synoptischen Beziehungen stellt, sondern auch für die Überlieferungsgeschichte des Lk-Evangeliums. Um das Phänomen in seiner Tragweite zu erfassen, ist es daher sinnvoll, die Auflistung der wichtigsten literarischen Beobachtungen an Lk zu orientieren. a. Lk-joh Übereinstimmungen gegen Mk/ Mt am Material von Lk 22-24 Es erscheint zunächst angebracht, sich wenigstens die charakteristischsten Daten vor Augen zu führen, die das überlieferungsgeschichtliche Problem konstituieren. Die wichtigsten Übereinstimmungen 10 sind daher kurz zusammengefasst; sie beziehen sich sowohl auf strukturelle Beobachtungen (Zusätze bzw. Fehlen von Erzähleinheiten; unterschiedliche Abfolge einzelner Ereignisse) als auch auf enge Berührungen im Wortlaut. ______________________________ 9 Vgl. z. B. A. D AUER , Die Passionsgeschichte im Johannesevangelium, München 1972; H. K LEIN , Die lukanisch-johanneische Passionstradition, ZNW 67 (1976), 155-186; M. A. M ATSON , The Influence of John on Luke’s Passion: Toward a Theory of Intergospel Dialogue, in: P. L. Hofrichter (Hg.), Für und wider die Priorität des Johannesevangeliums, Hildesheim 2002, 183-194; F R . S CHLERITT , Der vorjohanneische Passionsbericht, Berlin u. a. 2007 (vgl. auch die Forschungsübersicht, S. 3-63) u. a. 10 Vgl. die Übersichten von K LEIN , a. a. O.; W OLTER , Lk 689ff; M ATSON , Dialogue 94-117; S CHLERITT , a. a. O. 110f. 302 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch Der Verrat des Judas, mit dem die Passionsüberlieferung beginnt, wird von Mk 14,1 datiert: Das Passafest und das Fest der Ungesäuerten Brote ist »nach zwei Tagen« (μετὰ δύο ἡμέρας). Der lk Passionsbericht datiert die folgenden Ereignisse anders: ἤ γ γ ι ζ ε ν δὲ ἡ ἑορτὴ τῶν ἀζύμων Lk 22,1 || ἦν δὲ ἐ γ γ ὺ ς τὸ πάσχα τῶν Ἰουδαίων Joh 11,55. Nach Lk und Joh hat der Verrat des Judas darin seinen Ausgangspunkt, dass »Satan in ihn fuhr« (εἰσῆλθεν δὲ σατανᾶς εἰς Ἰούδαν Lk 22,3 || εἰσῆλθεν εἰς ἐκεῖνον ὁ σατανᾶς Joh 13,27). Mk 14,10 || Mt 26,14 lassen Judas dagegen einfach zu den Hohenpriestern gehen und Jesus verraten. Allerdings bringen Lk und Joh die Rolle Satans beim Verrat an unterschiedlichen Stellen im Erzählablauf unter: Nach Lk 22,3 motiviert Satans Besitzergreifung von Judas dessen Gang zu den Hohenpriestern, den Lk analog zu Mk 14,10 || Mt 26,14 erzählt, nach Joh 13,27 fährt der Satan beim letzten Mahl »zusammen mit dem Bissen« in Judas. 11 Auf Judas’ Besessenheit durch Satan hatte bereits Joh 6,70f (καὶ ἐξ ὑμῶν εἷς δ ι ά β ο λ ό ς ἐστιν. ἔλεγεν δὲ τὸν Ἰούδαν Σίμωνος Ἰσκαριώτου) und 13,2 (τοῦ δ ι α β ό λ ο υ ἤδη βεβληκότος εἰς τὴν καρδίαν ἵνα παραδοῖ αὐτὸν Ἰούδας Σίμωνος Ἰσκαριώτου) proleptisch hingewiesen. Die Bezeichnung des Verräters: Lk 22,21-23 || Joh 13,21-30 stimmen gegen Mk/ Mt darin überein, dass sie die Ankündigung des Verrats und die Bezeichnung des Verräters im Anschluss an das letzte Mahl erzählen (Lk 22,15-20; Joh 13,27 beendet den Bericht vom Mahl, das nach der Fußwaschung zu denken ist, mit dem »Satansbissen«, den Judas zu sich nimmt). Mk 14,18-21 || Mt 26,21-25 lassen ihre Mahlberichte (Mk 14,22-25 || Mt 26,26-29) dagegen mit der Bezeichnung des Verräters beginnen. Die Ankündigung der Verleugnung durch Petrus: Lk 22,31-34 || Joh 13,36-38 platzieren die Ankündigung der Verleugnung in unmittelbarem Anschluss an das letzte Mahl, also noch vor dem Gang zum Ölberg (Lk 22,39 || Joh 18,1). Mk und Mt enthalten die Ankündigung (Mk 14,29- 31 || Mt 26,33-35) nach der Mitteilung, dass Jesus und die Jünger zum Ölberg gegangen waren (Mk 14,26 || Mt 26,30). Lk und Joh teilen die Ankündigung der Verleugnung in dem gleichen von Mk und Mt abweichenden Wortlaut mit, wenn auch in unterschiedlicher Wortfolge: οὐ ϕωνήσει … ἀλέκτωρ ἕως … Lk 22,34 || Joh 13,38 ≠ ταύτῃ τῇ νυκτὶ πρὶν … ἀλέκτορα ϕωνῆσαι Mk 14,30 || Mt 26,34. In Lk 22,61 erinnert sich Petrus dann allerdings an die Ankündigung in der mk-mt Formulierung: πρὶν ἀλέκτορα ϕωνῆσαι σήμερον ἀπαρνήσῃ με τρίς. Für *Ev ist dagegen folgender Wortlaut wahrscheinlich: πρὶν ἀλέκτορα ϕωνῆσαι τρὶς ἀπαρνήσῃ με μὴ εἰδέναι με (s. die Rekonstruktion z. St.). Lk 22,61 ist also redaktionell an Mk/ Mt angepasst. Im Zusammenhang der Ankündigung der Verleugnung sind noch weitere Übereinstimmungen zu vermerken: Lk 22,33 (μετὰ σοῦ ἕτοιμός εἰμι … πορεύεσθαι) und Joh 13,37 (δύναμαί σοι ἀκολουθῆσαι) verwenden für das Treuebekenntnis des Petrus das Bild der Nachfolge bzw. des Mitgehens. Dagegen behauptet Petrus nach Mk 14,29 || Mt 26,33, er werde »keinen Anstoß nehmen« (σκανδαλίζεσθαι). Außerdem fehlt bei Lk und Joh die bekräftigende Wiederholung von Petrus’ Treuebekenntnis sowie der Hinweis, dass »alle (Jünger) das gleiche sagten« (Mk 14,31 || Mt 26,35 ÷ Lk || Joh). Die Verhaftungsszene weist gleich mehrere lk-joh Berührungen gegen Mk-Mt auf. Zunächst stimmen Lk und Joh gegen Mk und Mt darin überein, dass Judas den Ort für den Verrat kannte, weil Jesus sich dort schon mehrfach aufgehalten hatte (ἐπορεύθη κατὰ τὸ ἔθος εἰς τὸ ὄρος τῶν ______________________________ 11 Beachte jedoch Joh 13,27 v. l.: μετὰ τὸ ψωμίον om D d e bo ms . § 13: Die literarischen Beziehungen zwischen *Ev, Joh und Lk 303 ἐλαιῶν Lk 22,39 || πολλάκις συνήχθη Ἰησοῦς ἐκεῖ μετὰ τῶν μαθητῶν αὐτοῦ Joh 18,2). Sodann erzählen Mk 14,46 || Mt 26,50 die Festnahme vor dem Schwertstreich, Lk 22,54 || Joh 18,12 berichten sie erst danach. Dadurch erhält die Schwertstreichepisode eine unterschiedliche Bedeutung: Bei Lk und Joh ist sie als Widerstand gegen die Festnahme Jesu zu verstehen, bei Mk und Mt entsteht der Eindruck einer versuchten Gefangenenbefreiung. Auch das Verb, mit dem die Festnahme Jesu ausgesagt wird, ist unterschiedlich: συλλαμβάνω Lk 22,54 || Joh 18,12 ≠ κρατέω Mk 14,46b || Mt 26,50. Im Unterschied zu Mk 14,50 || Mt 26,56 berichten Lk und Joh nichts von einer Flucht der Jünger, obwohl sie sachlich vorausgesetzt ist: Petrus folgt (offensichtlich als einziger der Jünger) dem Trupp nur mit großem Abstand (Lk 22,54: μακρόθεν), in Joh 18,15 ist neben Petrus nur noch der ἄλλος μαθητής zugegen. Am wichtigsten ist in diesem Zusammenhang, dass Lk und Joh gegen Mk und Mt darin übereinstimmen, dass dem Sklaven des Hohenpriesters das rechte Ohr abgetrennt wurde: καὶ ἀϕεῖλεν τὸ οὖς αὐτοῦ τ ὸ δ ε ξ ι ό ν Lk 22,50 || καὶ ἀπέκοψεν αὐτοῦ τὸ ὠτάριον τ ὸ δ ε ξ ι ό ν Joh 18,10 ≠ ἀϕεῖλεν αὐτοῦ τὸ ὠτάριον Mk 14,47 || ἀϕεῖλεν αὐτοῦ τὸ ὠτίον Mt 26,51. Diese Gemeinsamkeit kann nicht auf Zufall beruhen, sondern setzt eine literarische Beziehung voraus. Das Verhör im hohepriesterlichen Palast: Mk 14,53 || Mt 26,57 berichten von einer nächtlichen Synhedrialversammlung der (Hohenpriester,) Ältesten und Schriftgelehrten, die als Gerichtsverfahren zu verstehen ist: Es werden nicht nur Zeugen gehört (wenn auch falsche: Mk 14,55-59 || Mt 26,59- 61), sondern am Ende steht auch ein Urteil (Mk 14,64 || Mt 26,66). Lk 22,66 lässt das Synhedrium dagegen erst am nächsten Tag zusammentreten (ὡς ἐγένετο ἡμέρα); es findet kein Verfahren gegen Jesus statt, sondern eine Befragung, die der Hohepriester vornimmt (vom Synhedrium oder seinen Mitgliedern wird nichts gesagt) und zu der weder Zeugen noch ein Urteil gehören. Erst am folgenden Morgen wird als Folge der Befragung eine Anklage vor Pilatus erhoben (Lk 23,2 || Joh 18,29). Die Frage nach der Messianität Jesu, die Lk im Rahmen dieses Verhörs berichtet, hat eine enge Entsprechung in der Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Juden während des Tempelweihfestes in Joh: εἰ σὺ εἶ ὁ χριστός, εἰπὸν ἡμῖν Lk 22,67 || εἰ σὺ εἶ ὁ χριστός, εἰπὲ ἡμῖν παρρησίᾳ Joh 10,24. Der erste Teil der Antwort Jesu auf diese Frage bei Lk entspricht dabei ihrer Fortführung in Joh: ἐὰν ὑμῖν εἴπω, οὐ μὴ πιστεύσητε Lk 22,67 || εἶπον ὑμῖν καὶ οὐ πιστεύετε Joh 10,25. Beides hat bei Mk/ Mt keine Entsprechung. Mit diesem Verhör/ Verfahren ist in allen Evangelien die Verleugnung des Petrus verbunden, auch wenn sie an verschiedenen Stellen erzählt wird. Dabei stimmen Lk und Joh darin überein, dass sie die Verleugnung direkt auf die Gefangennahme Jesu folgen lassen (Lk 22,54-62 || Joh 18,12-18.25-27), während Mk 14,53-64 || Mt 26,57-66 zuerst das nächtliche Verfahren mit dem Schuldspruch berichten und danach noch die Verspottung Jesu mitteilen (Mk 14,65 || Mt 26,67f), bevor sie die Verleugnung berichten (Mk 14,66-72 || Mt 26,69-75). Innerhalb Verleugnungsszene stimmen Lk und Joh im Wortlaut, mit dem die Verleugnung ausgedrückt wird, gegen Mk und Mt überein: καὶ σὺ ἐξ αὐτῶν εἶ - οὐκ εἰμί Lk 22,58 || σὺ ἐκ τῶν μαθητῶν αὐτοῦ εἶ … οὐκ εἰμί Joh 18,(17.)25 ≠ ὁ δὲ ἠρνήσατο […] λέγων· οὔτε οἶδα […] σὺ τί λέγεις. Umgekehrt ist im Auge zu behalten, dass Joh mit Mk und Mt in der Einleitung der zweiten Verleugnung gegen Lk übereinstimmt: ὁ δὲ Πέτρος ἔϕη Lk 22,58 ≠ πάλιν οὖν ἠρνήσατο Πέτρος Joh 18,27 || ὁ δὲ πάλιν ἠρνεῖτο Mk 14,70 || καὶ πάλιν ἠρνήσατο Mt 26,72. 304 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch Jesus vor Pilatus: Da Jesus nach Mk 14,64 || Mt 26,66 bereits in der nächtlichen Synhedrialversammlung verurteilt wurde, ist gar nicht klar, welche Form das Verfahren vor Pilatus (Mk 15,1-15 || Mt 27,11-26) eigentlich besaß. Von einem Urteil des Pilatus ist jedenfalls nichts berichtet. Dagegen fällt Pilatus bei Lk und Joh sein Urteil gleich dreimal und stellt die Unschuld Jesu fest, und zwar jeweils in sehr ähnlichen Formulierungen: οὐδὲν εὑρίσκω αἴτιον ἐν τῷ ἀνθρώπῳ τούτῳ Lk 23,4 (vgl. 23,14.22) || ἐγὼ οὐδεμίαν εὑρίσκω ἐν αὐτῷ αἰτίαν Joh 18,38 (vgl. 19,4.6). Nur bei Lk und Joh taucht der Vorwurf auf, Jesus würde sich als König ausgeben, und nur hier wird der daraus resultierende Gegensatz zum Kaiser thematisiert: κωλύοντα ϕόρους Κ α ί σ α ρ ι διδόναι καὶ λέγοντα ἑαυτὸν χριστὸν β α σ ι λ έ α εἶναι Lk 23,2 || πᾶς ὁ β α σ ι λ έ α ἑαυτὸν ποιῶν ἀντιλέγει τ ῷ Κ α ί σ α ρ ι Joh 19,12. In der Abfolge der einzelnen Teilszenen gibt es folgende Übereinstimmungen zwischen Lk 23,13-18 || Joh 18,38-19,1: Nachdem Pilatus die Unschuld Jesu erklärt hat (Lk 23,14 || Joh 18,38 ÷ Mk || Mt), will er ihn freigeben (Lk 23,16 || Joh 18,39b ≠ Mk 15,9 || Mt 27,17). Dabei wird die flagellatio vor dem Urteil erwähnt 12 (Lk 23,16 || Joh 19,1) und hat die Funktion, die Unschuld Jesu deutlich zu machen: Pilatus will sie anstelle der Hinrichtung durchführen lassen. In Mk 15,15b || Mt 27,26 ist die Geißelung dagegen die Folge des Urteils und Teil des Exekutionsverfahrens. Die im Zusammenhang des Verfahrens vor Pilatus berichtete Barrabasepisode ist in allen Evangelien enthalten. Aber in der eigenartigen Abfolge, in der sie erzählt wird, stimmen Lk und Joh gegen Mk und Mt überein: Sie berichten zuerst die Forderung der Menge nach Freigabe des Barrabas und erklären später, wer er ist und was er getan hatte. Mk und Mt liefern diese Information bereits zu Beginn in der Exposition der Barrabasepisode (Lk 23,18f || Joh 18,39f ≠ Mk 15,11.7 || Mt 27,21f.16f). 13 Dabei stimmen Lk und Joh wieder in einer Kleinigkeit gegen Mk und Mt überein, nämlich in der Geminatio des Crucifige-Rufs der Menge: σταύρου σταύρου Lk 23,21 || σταύρωσον σταύρωσον Joh 19,6 ≠ σταύρωσον Mk 15,13 || σταυρωθήτω Mt 27,22. Ganz ähnlich entsprechen sich Lk und Joh in der Wortwahl und verwenden αἴρω in der Bedeutung »hängen, hinrichten« (αἶρε τοῦτον Lk 23,18 || ἆρον ἆρον Joh 19,15 ÷ Mk || Mt). Die Kreuzigung: Im Unterschied zu Lk und Joh berichten Mk und Mt, dass die Soldaten Jesus gemischten Wein anboten, bevor sie ihn kreuzigten, den Jesus aber ablehnte: καὶ ἐδίδουν αὐτῷ ἐσμυρνισμένον οἶνον Mk 15,23 || ἔδωκαν αὐτῷ πιεῖν οἶνον μετὰ χολῆς μεμιγμένον Mt 27,34 ÷ Lk 23,33 || Joh 19,17. Im Rahmen der Verspottung durch die Soldaten stimmen alle vier Evangelien darin überein, dass diese dem Gekreuzigten sauren Wein (ὄξος) anbieten; hier stimmen Lk und Joh in der Wortwahl für die Darreichung (προσϕέρω) überein (προσϕέροντες αὐτῷ Lk 23,36 || προσήνεγκαν αὐτοῦ τῷ στόματι Joh 19,29 ≠ ἐπότιζεν αὐτόν Mk 15,36 || Mt 27,48). Allerdings stimmen Mk, Mt, und Joh gegen Lk darin überein, dass die Soldaten dazu einen Schwamm benutzen, den sie auf ein Rohr (Ysop) stecken. Zu Beginn der Kreuzigungsszene berichten Lk und Joh von den beiden Übeltätern (und dem Spott des einen: Lk 23,32f || Joh 19,18). Mk 15,27-30 || Mt 27,38-40 teilen diese Begebenheit erst später mit (Mk 15,27 || Mt 27,38) und berichten davor noch die Teilung der Kleider Jesu (Mk 15,24 || Mt 27,35). 14 Nur Lk und Joh berichten, dass in der Menge auch die Frauen unter dem Kreuz »standen« (εἱστήκεισαν Lk 23,49 || Joh 19,27 ≠ ἦσαν δὲ … γυναῖκες Mk 15,40 || Mt 27,55). ______________________________ 12 Vgl. M YLLYKOSKI , a. a. O. 122. 13 Vgl. D AUER , a. a. O. (Passionsgeschichte) 157. 14 Vgl. S CHNIEWIND , a. a. O. 78; D AUER , a. a. O. 222. § 13: Die literarischen Beziehungen zwischen *Ev, Joh und Lk 305 Begräbnis und Auffindung des leeren Grabes: Während der mk Bericht gleich zu Beginn das Datum der Kreuzigung am »Rüsttag« (παρασκευή) mitteilt (Mk 15,42), liefern Lk 23,54 || Joh 19,42 diese Information erst am Ende des Berichts von der Grablegung. 15 Am Ostermorgen finden die Frauen bei Lk und Joh im Unterschied zu Mk und Mt zwei Männer/ Engel (ἰδοὺ ἄνδρες δύο Lk 24,4 || δύο ἀγγέλους Joh 20,12 ≠ νεανίσκον Mk 16,5 || ἄγγελος Mt 28,2ff). Allerdings treten die beiden Männer Lk 24,4 herzu, wogegen die drei anderen Evangelisten den Jüngling bzw. den oder die Engel sitzend schildern (νεανίσκον καθήμενον Mk 16,5 || ἄγγελος … καὶ ἐκάθητο Mt 28,2ff || δύο ἀγγέλους … καθεζομένους Joh 20,12). Eine höchst charakteristische Übereinstimmung findet sich überhaupt nur bei Lk und Joh: Sie lassen Petrus (Joh: Petrus und den »anderen Jünger«) zum leeren Grab gehen (Lk 24,12 || Joh 20,3-10 ÷ Mk || Mt). Die Aktion am Grab, die einmal von Petrus, das andere Mal vom Lieblingsjünger berichtet wird, ist fast identisch formuliert: καὶ παρακύψας βλέπει τὰ ὀθόνια μόνα Lk 24,12 || καὶ παρακύψας βλέπει κείμενα τὰ ὀθόνια Joh 20,5. Auch diese Entsprechung setzt eine enge literarische Beziehung voraus. Erscheinung des Auferstandenen in Jerusalem: Nur Lk und Joh erzählen die Erscheinung des Auferstandenen vor den Jüngern in Jerusalem (Lk 24,36-49 || Joh 20,19-22), wogegen Mk überhaupt keine Erscheinungen in Jerusalem berichtet, Mt 28,9f immerhin das Erscheinen vor den Frauen. Die lk-joh Erscheinungstradition weist eine Reihe sehr enger Beziehungen auf: Jesus tritt »in ihre Mitte« (ἔστη ἐν μέσῳ αὐτῶν Lk 24,36 || ἔστη εἰς τὸ μέσον Joh 20,19), grüßt die Jünger (καὶ λέγει αὐτοῖς· εἰρήνη ὑμῖν Lk 24,36 || Joh 20,19). Dann zeigt er ihnen seine Hände und Füße bzw. seine Seite (καὶ τοῦτο εἰπὼν ἔδειξεν αὐτοῖς τὰς χεῖρας καὶ τοὺς πόδας Lk 24,40 || καὶ τοῦτο εἰπὼν ἔδειξεν τὰς χεῖρας καὶ τὴν πλευρὰν αὐτοῖς Joh 20,20); daraufhin wird die Freude der Jünger mitgeteilt (ἀπὸ τῆς χαρᾶς 24,41 || ἐχάρησαν Joh 20,20). Am Ende sendet Jesus die Jünger aus (Lk 24,45-48 || Joh 20,21), und verheißt ihnen dazu den Geist (Lk 24,49 || Joh 20,22). Diese Übereinstimmungen erhalten ihre überlieferungsgeschichtliche Signifikanz dadurch, dass Lk neben diesen Übereinstimmungen mit Joh noch eine ganze Reihe weiterer Besonderheiten gegenüber Mk aufweist. Besonders wichtig sind dabei die strukturellen Differenzen, also Überschüsse, Lücken und Umstellungen. 16 1. Lk Überschüsse gegenüber Mk betreffen zunächst zwei ganze Szenen: Die Überstellung Jesu an Herodes Antipas Lk 23,6-12 hat überhaupt keine Entsprechung in den anderen Evangelien und wird daher üblicherweise zum lk Sondergut gerechnet. Anders ist dies bei dem Gespräch, das Jesus mit den Jüngern im Anschluss an das letzte Mahl führt (Lk 22,24-38). Die darin enthaltene Belehrung über Herrschen und Dienen hat eine Entsprechung in Mk 10,41-45 in einem ganz anderen Kontext. Das Logion über den Lohn der Nachfolge Lk 22,28-30 hat keine Entsprechung in Mk, wohl aber in Mt 19,28 (und wird daher zum »Q«-Bestand gerechnet). Das Gespräch über die Schwerter (22,35-38) ist ohne Parallele, genauso auch das Wort an Petrus (22,31f), dessen Abschluss (22,33f) aber wieder bei Mk und Mt belegt ist, wo es den Übergang zur Ankündigung der Verleugnung bildet (Mk 14,29f || Mt 26,33f). Daneben gibt es aber lk Überschüsse auch innerhalb von szenischen Settings, die in Mk (und Mt) enthalten sind: In der Szene im Garten Gethsemane den Bericht über die Agonie Jesu und den Stärkungsengel (Lk 22,43f). In der Verhandlung vor Pilatus: die Anklage der Synhedristen ______________________________ 15 Vgl. M YLLYKOSKI , a. a. O. 135. 16 Die folgende, ausgesprochen instruktive Übersicht bei W OLTER , Lk 688f. 306 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch (Lk 23,2-5) sowie das dreimalige Urteil des Pilatus (Lk 23,4.14.22), das ja eine der lk-joh Übereinstimmungen konstituiert. In der Kreuzigungsszene: die Klage der Frauen von Jerusalem (23,27-31); die Vergebungsbitte (23,34); die Verspottung durch die Soldaten (23,36f); das Gespräch mit den Übeltätern (23,39-45); das letzte Wort (23,46). 2. Im Vergleich zu Mk weist der lk Bericht aber auch Lücken auf. Dazu gehören: Die Salbung in Bethanien (Mk 14,3-9), die aber eine entfernte Entsprechung in Lk 7,36-50 besitzt; die Jüngerflucht und der »nackte Jüngling« (Mk 14,50-52; vgl. oben zu den lk-joh Übereinstimmungen), ebenso die Ankündigung der Jüngerflucht (Mk 14,27f); im Synhedrialverfahren fehlen die (falschen) Zeugen und das Urteil (Mk 14,55-61.64); die Verspottung Jesu durch die Soldaten (Mk 15,16-20); der Versuch der Soldaten, Jesus bei der Kreuzigung Wein zu geben (Mk 15,23) und die Verspottung durch die Passanten (Mk 15,29f). 3. Die wichtigsten Umstellungen sind schon genannt, weil Lk sie mit Joh gemeinsam hat: Die Bezeichnung des Verräters wird nicht wie in Mk 14,17-20 vor dem letzten Mahl erzählt, sondern erst danach (Lk 22,21-23). Und Lk erzählt die Verleugnung des Petrus (22,56-62) sowie die Misshandlung Jesu (22,63-65) vor dem Verhör durch das Synhedrium, nicht danach wie in Mk 14,65-72). 4. Daneben ist auch noch auf spezifische lk-mt Übereinstimmungen zu verweisen, die sich in den »Minor Agreements« zeigen, insbesondere Lk 22,62 || Mt 26,75; Lk 22,64 || Mt 27,68. b. Erklärungsmodelle Dieses Syndrom von lk Abweichungen gegenüber Mk, mt-lk Gemeinsamkeiten gegen Mk und lk-joh Gemeinsamkeiten gegen Mk (und Mt) resultiert für die überlieferungsgeschichtlichen Bedingungen von Lk 22-24 in einer Komplexität, die vor schier unüberwindliche Hindernisse stellt: »Ein überlieferungsgeschichtliches Modell, das das Zustandekommen dieses Befundes so erklären könnte, dass keine offenen Fragen zurückblieben, gibt es nicht.« 17 Nach den Überlegungen zu den synoptischen Beziehungen im Rahmen der *Ev-Priorität reduziert sich die Komplexität allerdings erheblich. Denn in diesem überlieferungsgeschichtlichen Modell lassen sich die Übereinstimmungen zwischen je zwei der drei synoptischen Evangelien gegenüber dem dritten ja durchaus verstehen. Zu erklären bleiben daher die charakteristischen lk-joh Berührungen. Wie immer, gibt es drei Möglichkeiten, die literarische Abhängigkeit zwischen Texten überlieferungsgeschichtlich zu verstehen: A ist von B abhängig; B ist von A abhängig; A und B sind durch eine dritte Instanz C miteinander vermittelt. Alle drei denkbaren Modelle wurden für die lk-joh Übereinstimmungen diskutiert. 1. Joh setzt die Synoptiker insgesamt - und eben auch Lk - voraus. In diesem Fall gehen die lk-joh Übereinstimmungen gegen Mk (und Mt) auf die Rezeption und Bearbeitung von Mk 14,1-16,8 durch Lk zurück: Die lk-joh Berührungen beruhen auf der Abhängigkeit des Joh von Lk. Diese Lösung setzt also voraus, dass Joh genau an denjenigen Stellen von der mk Erzählfolge abweicht, an denen auch ______________________________ 17 W OLTER , Lk 691. § 13: Die literarischen Beziehungen zwischen *Ev, Joh und Lk 307 Lk davon abweicht. Das ist grundsätzlich denkbar, aber nicht sehr wahrscheinlich. Denn diese Erklärung ist methodisch dadurch belastet, dass sie die prinzipiell auf die Quellenverwendung abzielende Literarkritik an den entscheidenden Stellen verlässt und die lk-joh Abweichungen gleich in doppelter Hinsicht redaktionskritisch erklären muss: Denn zum einen müssten sich (unter der durchweg vertretenen Mk- Priorität) die mk-lk Differenzen als redaktionelle Änderungen des Lk an Mk erklären und zugleich (! ) die lk-joh Übereinstimmungen als joh Rezeption von Lk (gegen Mk) kompositionell plausibilisieren lassen. Dieser Wechsel der grundlegenden methodischen Perspektiven ist deshalb wenig überzeugend, weil die (insgesamt sehr zahlreichen) Vertreter dieses Modells für die Erklärung der innersynoptischen Beziehungen in aller Regel die Zwei-Quellentheorie voraussetzen: Deren literarkritische Orientierung erklärt die gemeinsame Abweichung zweier Texte gegenüber einem dritten durchweg mit der Annahme einer gemeinsamen Quelle. 2. Eine andere Lösung, die nach älteren Vorarbeiten in den letzten Jahren wiederholt vertreten wurde, geht davon aus, dass Lk nicht nur von Mk, sondern auch von Joh abhängig ist. 18 In einigen Fällen ist diese Annahme der Joh-Priorität vor Lk sehr überzeugend: Etliche strukturelle Phänomene und einige Berührungen im Wortlaut lassen sich tatsächlich leichter erklären, wenn das Bearbeitungsgefälle von Joh zu Lk anstatt von Lk zu Joh verläuft. Der methodische Preis dieser Lösung ist allerdings hoch. Denn zum einen wird die auffällige Koinzidenz zwischen den lkmk Differenzen und den lk-joh Übereinstimmungen in überlieferungsgeschichtlicher Hinsicht nur auf Joh verlagert, dem Lk dann (immer wieder: gegen Mk) folgt. Zum anderen ist diese Lösung nur für Teile der joh Passionsgeschichte plausibel, nicht aber für den Rest des Evangeliums, also etwa für die lk-joh Berührungen in der Salbungserzählung (Lk 7,36-50 || Joh 12,3-8) oder in der Erzählung vom wunderbaren Fischfang (Lk 5,1-11 || Joh 21,1-14): In diesen Überlieferungen lässt sich die Joh- Priorität vor Lk nur sehr gezwungen zeigen. 3. Die dritte Möglichkeit rechnet damit, dass die lk-joh Berührungen auf die literarische Abhängigkeit von einer gemeinsamen Vorlage zurückgehen, die dann als eigenständige Passionsgeschichte oder als gemeinsame »Sonderquelle« oder auch als die Quelle des lk Sonderguts identifiziert werden kann. 19 ______________________________ 18 B. S HELLARD , The Relationship of Luke and John - A Fresh Look at an Old Problem, JThS 46 (1995), 71-98; M. A. M ATSON , In Dialogue with Another Gospel, Atlanta 2001. Vgl. aber schon P. P ARKER , Luke and the Fourth Evangelist, NTS 9 (1963), 317-336; F. L. C RIBBS , St Luke and the Johannine Tradition, JBL 90 (1971), 422-450; DERS ., The Agreements that Exist Between Luke and John, SBL.SP 1 (1979), 215-251. 19 F R . B OVON , The Lukan Story of the Passion of Jesus (Lk 22 - 23), in: ders., Studies in Early Christianity, Tübingen 2003, 74-105; J. B. G REEN , The Death of Jesus, Tübingen 1988; M. M YLLYKOSKI , The Material Common to Luke and John, in: P. Luomanen (Hg.), Luke-Acts, Helsinki - Göttingen 1991, 308 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch Schon Friedrich Rehkopf hatte auf die lk-joh Berührungen in der Passions- und Osterüberlieferung hingewiesen und eine lk »Sonderquelle« postuliert. 20 Eine solche gemeinsame lk-joh Überlieferung nimmt auch Hans Klein an: Er rechnet mit einer »Grundschicht« (G), von der die gemeinsamen Vorlagen der joh und der lk Passionsgeschichte abhängig seien (JV; LV). Diese Grundschicht »G« gehe auf eine mk Vorlage zum Passionsbericht (MkV) zurück, die dann wiederum (neben einer »heidenchristlichen Passionstradition«) die Grundlage für Mk bilde. 21 Die angenommene Überlieferungsgeschichte lässt sich dann folgendermaßen schematisieren: Heidenchristliche- Passionstradition- - - - MkV- - - - - - - --Mk- - - -----------G- - - - - - - - - LV- - - -----JV- - - - - - --------Lk- - - - - -------------------Joh--- Abb. 8: Zwei-Quellentheorie und joh Passionsüberlieferung (Hans Klein) Etwas anders stellt sich Frank Schleritt die Entwicklung der Passionsüberlieferung vor: Er geht von der Grundschicht eines Passionsberichts (PB G ) aus, von der einerseits die Vorlage für Mk (PB Mk ) und andererseits die gemeinsame Vorstufe des lk-joh Passionsberichtes (PB Lk/ Joh ) abhängig sind. Letztere sei dann von einem vor-lk (PB Lk ) und von einem vor-joh Passionsbericht (PB Joh ) benutzt worden, auf die jeweils Lk und Joh zurückgingen. 22 - - ----- -----------PB G -- - - PB Mk - - - - - -------------PB Lk/ Joh - - - - - - ----------PB Lk - - - - ------PB Joh - - Mk- - - - - - - -----------Lk- - - - -------Joh- Abb. 9: Zwei-Quellentheorie und joh Passionsüberlieferung (Frank Schleritt) Bei allen Unterschieden im Einzelnen entsprechen sich beide Modelle darin, dass sie für die Erklärung der Beziehung zwischen den drei kanonischen Passionserzählungen (die hier jeweils hervorgehoben sind) nicht weniger als vier bzw. fünf zusätzliche Überlieferungsstufen ins Spiel ______________________________ 115-156; F R . R EHKOPF , Die lukanische Sonderquelle, Tübingen 1959; V. T AYLOR , The Passion Narrative of St Luke, Cambridge 1972 u. a. 20 R EHKOPF , a. a. O. 84 u. ö. Diese Theorie hatte vor allem B. H. S TREETER , B. The Four Gospels, London 1924, 199-222, entwickelt. 21 K LEIN , a. a. O. 156. 22 S CHLERITT , a. a. O. (passim; das Diagramm ebd. 114). § 13: Die literarischen Beziehungen zwischen *Ev, Joh und Lk 309 bringen, deren Existenz lediglich hypothetisch erschlossen ist und für die es keine weiteren Hinweise gibt. Unter dem Gesichtspunkt der methodisch gebotenen Ökonomie bei der Erstellung überlieferungsgeschichtlicher Stemmata ist dieses Modell nicht eben überzeugend. Die Annahme einer gemeinsamen Quelle für Lk und Joh ist daher zwar attraktiv, aber wohlfeil: Denn da das literarische Profil einer solchen hypothetischen Quelle nicht zu eruieren ist, dient sie - ähnlich wie »Q« im Rahmen der Zwei-Quellentheorie - lediglich als Lückenbüßer im heuristischen Rahmen der Theorie und zeigt deren Insuffizienz an. Angesichts des komplexen überlieferungsgeschichtlichen Befundes der lk-joh Berührungen in der Passions- und Osterüberlieferung wird die Einschätzung verständlich, dass sich »neuere Äußerungen zum Thema durch eine zunehmende Unschärfe und Diffusität« auszeichnen. 23 Aber für die Erklärung der überlieferungsgeschichtlichen Zusammenhänge der lk-joh Passionsüberlieferung sollten die gleichen methodischen Kriterien gelten wie für das Synoptische Problem: Ein Modell darf nicht nur in großen Zügen plausibel sein, sondern muss auch im Detail standhalten. Es ist an dieser Stelle zwar nicht nötig, die einzelnen Modelle mit ihren Stärken und Schwächen genauer zu besprechen. Aber unter der Voraussetzung der *Ev-Priorität ergeben sich Gesichtspunkte, die zu einer genaueren Analyse derjenigen Beobachtungen nötigen, die den beiden letztgenannten Modellen zugrunde liegen. Denn die Unterscheidbarkeit zwischen *Ev und Lk ermöglicht es, sowohl die lk-joh Abhängigkeit von einer gemeinsamen Quelle als auch die lk Abhängigkeit von Joh in einem integralen Modell zu erklären: Im ersten Fall ist die gemeinsame lk-joh Abhängigkeit von *Ev zu zeigen, im zweiten Fall die lk Abhängigkeit von Joh. Die Aufgabe besteht folglich darin, die oben genannten Bearbeitungsrelationen ⑥ und ⑦ innerhalb des hier vorgestellten Materials zu identifizieren. 3. Die Abhängigkeit der joh Passionsüberlieferung von *Ev Aus methodischen Gründen bietet es sich an, für diese Differenzierung zunächst die joh Abhängigkeit von *Ev plausibel zu machen. Das methodische Potential der *Ev-Priorität ist mit Blick auf das letzte der zuvor genannten Modelle leicht erkennbar, nach dem die Gemeinsamkeiten der lk und der joh Passionsüberlieferung auf die Abhängigkeit von einer gemeinsamen Quelle zurückgeführt werden: Die Notwendigkeit für die Annahme hypothetischer Zwischenstufen - also bei Klein: G, LV und JV; bei Schleritt: PB G , PB Lk/ Joh , PB Lk und PB Joh - beruht auf der Voraussetzung, dass der Ursprung der gemeinsamen Passionsüberlieferungen in Mk (bzw. dessen Vorlage) zu sehen sei. Geht man dagegen von der *Ev-Priorität vor Mk aus (o. § ______________________________ 23 W OLTER , Lk 691, der daraus konsequent folgert: »Das ist wohl auch der einzige Darstellungsmodus, der dem Sachproblem einigermaßen gerecht wird.« 310 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch 11), lässt sich zunächst die hier erschlossene vor-mk Passionsüberlieferung (also: MkV bzw. PB G ) identifizieren: Es handelt sich um die Passionsgeschichte von *Ev. Darüber hinaus wäre zu zeigen, dass die lk-joh Gemeinsamkeiten nicht auf einer zusätzlichen Bearbeitung beruhen (hier also: G bzw. PBLk/ Joh), sondern direkt auf *Ev zurückgehen. Die Differenzen zwischen der mk(-mt) und der lk-joh Überlieferung (hier: G gegenüber Mk bzw. PB Mk / Mk gegenüber PB Lk/ Joh ) müssen daher nicht auf eigens postulierte Zwischenschritte verteilt werden, sondern lassen sich durch die mk Redaktion von *Ev erklären. Anders gesagt: Das Gros der lk-joh Übereinstimmungen gegen Mk/ Mt geht auf den gemeinsamen Bestand in *Ev zurück. Dies lässt sich zunächst an den großen strukturellen Gemeinsamkeiten zeigen, die durchweg für *Ev bezeugt bzw. wahrscheinlich sind. Der Nachweis, der hier anhand nur weniger Beispiele geführt werden soll, beruht auf der kompositionellen Plausibilisierung der mk Redaktion; methodisch entspricht er dem Verfahren zum Nachweis der *Ev-Priorität vor Mk (s. o. § 11). 1. Die Lokalisierung der Bezeichnung des Verräters im Anschluss an den Bericht vom letzten Mahl (Lk 22,21-23 || Joh 13,21-30) ist so schon für *Ev bezeugt (vgl. Tert. 4,40,4; 41,1). Diese Gemeinsamkeit geht also auf eine Änderung der Erzählfolge durch Mk zurück. Dessen redaktioneller Eingriff lässt sich auch kompositionskritisch plausibilisieren (s. die Rekonstruktion z. St.). Denn der Mahlbericht in *Ev, in dem der lk Nachtischbecher und seine Deutung (Lk 22,19cd.20) fehlte, ging direkt von der Deutung des Brotes (*22,19a) zur Bezeichnung des Verräters V. *21 über. Mk hat dagegen (möglicherweise unter Einfluss von 1Kor 11,23-25) in Parallelität zum Brotwort den (Nachtisch! -)Becher und seine Deutung eingefügt; dies hatte dann auch die Verschiebung des sog. »eschatologischen Vorbehalts« an das Ende der Einheit zur Folge (Mk 14,25 || Mt 26,29 ≠ *21,18). Gleichwohl hat Mk daran festgehalten, die Bezeichnung des Verräters in engem Zusammenhang mit dem eigentlichen Mahl zu berichten und so den Gegensatz zu der von Jesus proklamierten Einheit des Leibes (τοῦτό ἐστιν τὸ σῶμά μου *22,19a || Mk 14,22b) beim Essen her-vorzuheben: Dass die »Hand (χείρ) meines Verräters mit mir auf dem Tisch« ist (*22,21), lässt sich vom gemeinsamen Trinken während des Symposions weniger gut sagen als vom gemeinsamen Essen. Sowohl Mk als auch Mt haben diesen Aspekt sehr genau gesehen und ihn dadurch zum Ausdruck gebracht, dass der Verräter seine Hand (χείρ) bzw. seinen Bissen (ἐμβαπτόμενος) mit Jesus in dieselbe Schüssel taucht (Mt 26,23 || Mk 14,20). Diese Umstellung der Ankündigung des Verrats vor den eigentlichen Mahlbericht (Mk 14,22-25 || Mt 26,26-29) machte dann eine eigene Einleitung erforderlich, die Jesus und die Jünger bereits beim Essen zeigt (καὶ ἀνακειμένων αὐτῶν καὶ ἐσθιόντων Mk 14,18 || καὶ ἐσθιόντων αὐτῶν Mt 26,21). Die dadurch entstandene Störung des Erzählablaufs ist noch gut erkennbar, weil die Austeilung des Brotes, mit der das eigentliche Mahl beginnt (καὶ ἐσθιόντων αὐτῶν Mk 14,22 || ἐσθιόντων δὲ αὐτῶν Mt 26,26), erst berichtet wird, nachdem Jesus und die Jünger das Mahl bereits begonnen hatten (Mk 14,18 || Mt 26,21). § 13: Die literarischen Beziehungen zwischen *Ev, Joh und Lk 311 2. Ein weiterer Komplex, der sich für die Analyse der strukturellen Unterschiede zwischen dem lk-joh und dem mk-mt Bericht anbietet, ist die Abfolge von Festnahme, Verleugnung durch Petrus, Verhör durch den Hohenpriester und das Verfahren vor Pilatus. Da die einzelnen Elemente in der lk-joh Abfolge bereits durch *Ev bezeugt sind, müssen auch hier die Änderungen auf den Gestaltungswillen der mk Redaktion zurückgeführt werden. Sie erschließen sich am leichtesten vom Ende her. Die dreifache Unschuldserklärung im Verfahren vor Pilatus Lk 23,4.14.22 || Joh 18,38; 19,4.6 ist bereits für *Ev bezeugt (*23,4) bzw. wahrscheinlich (*23,14.22); für *23,14 ist aufgrund der handschriftlichen Überlieferung auch der charakteristische Wortlaut dieser Unschuldserklärung wahrscheinlich. 24 Diese Unschuldserklärungen strapazieren die sachliche Plausibilität aufs Stärkste. Denn unter den (falschen) Anklagen der Hohenpriester und Führer des Volkes erscheinen ja auch die eindeutig politischen Anklagen, also der Aufruf zur Steuerverweigerung gegenüber dem Kaiser und die maiestas-Anklage, Jesus habe sich zum βασιλεὺς Χριστός erklärt (*23,2): Dass in *Ev Pilatus als Reaktion auf diese Anklagen erklärt, er finde keine Schuld an Jesus, stellt eine schwere Beeinträchtigung des Verisimile des ganzen Verfahrens dar. Mk hat dieses Problem dadurch gelöst, dass er die Anklage erstens ausdrücklich falschen Zeugen in den Mund legt und diese zweitens nicht vor Pilatus, sondern im nächtlichen Synhedrialverfahren auftreten lässt (Mk 14,55-57). In diesem Rahmen war dann die antirömisch-politische Anklage gegen Jesus nicht sinnvoll: Mk hat sie daher in gewisser Weise entpolitisiert und durch primär religiöse Anklagen ersetzt, nämlich durch das »Tempelwort« (Mk 14,58) bzw. durch die von Jesus beanspruchte Gottessohnschaft (Mk 14,61). Indem Mk das eigentliche Verfahren gegen Jesus in das nächtliche Verfahren vor dem Synhedrium verlegt, bleibt das Verfahren vor Pilatus seltsam konturenlos: Die im nächtlichen Synhedrialverfahren gegen Jesus erhobenen Anklagen (Tempelwort; Gottessohnschaft) werden nicht wiederholt, Mk lässt Pilatus (auch darin noch den Einfluss von *Ev verratend) lediglich fragen, ob Jesus der »König der Juden« sei. 25 Auch, wenn dies nicht die einzigen Gründe dafür sein werden, dass Mk das Verfahren gegen Jesus nicht tagsüber vor Pilatus, sondern in krass rechtswidriger Weise nachts und vor dem Synhedrium stattfinden lässt, ist doch sein redaktioneller Gestaltungswille gut erkennbar. Eng verbunden mit dieser redaktionellen Änderung von *Ev ist die Funktion der Auspeitschung, die Lk 23,16 || Joh 19,1 vor dem eigentlichen Urteil erwähnen (für *Ev nicht direkt bezeugt, aber wahrscheinlich, s. die Rekonstruktion): Pilatus kommt der Forderung der Hohenpriester und Führer des Volkes dadurch ein Stück entgegen, dass er Jesus nicht ungeschoren lässt, obwohl er keinen Urteilsgrund gegen ihn findet. Im Kontext von *Ev, den Lk und Joh übernehmen, fungiert die auf diese Weise ins Spiel gebrachte flagellatio letztlich als Beleg der Unschuld Jesu: Sie tritt an die Stelle einer Verurteilung. Da Jesus bei Mk und Mt bereits im nächtlichen Synhedrialverfahren schuldig gesprochen wurde, ist bei ihnen die Auspeitschung durch die Soldaten des Pilatus die ______________________________ 24 Vgl. *23,22 v. l. (D it): οὐδεμίαν αἰτίαν θανάτου εὗρον ἐν αὐτῷ. 25 Vgl. Mk 15,2 (σὺ εἶ ὁ βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων; ) mit Mk 14,61 (σὺ εἶ ὁ χριστὸς ὁ υἱὸς τοῦ εὐλογητοῦ; ). Die narrative Kohärenz hat durch die redaktionellen Veränderungen des Mk erheblich gelitten: Wie hätte Pilatus auf die idee kommen können, Jesus nach seinem Königtum zu fragen, selbst wenn ihm die Anklagen vor dem Synhedrium bekannt waren? Diese Frage stammt aus *Ev. 312 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch Folge des Urteils (Mk 15,15b || Mt 27,26), das dieser tatsächlich nur bestätigt und exekutiert, nicht aber selbst fällt. 3. Auch die strukturellen Abweichungen von Lk und Joh gegenüber Mk und Mt in der Kreuzigungs- und der Begräbnisszene gehen auf mk Änderungen an *Ev zurück: Die Erwähnung der beiden Übeltäter vor der Kreuzigung (Lk 23,33 || Joh 19,18 ≠ Mk 15,27-30 || Mt 27,38-40); das Angebot von Wein nach der Kreuzigung (Lk 23,36 || Joh 19,29), das Mk und Mt vor der Kreuzigung berichten (Mk 15,23 || Mt 27,34); sowie die Datierung der Kreuzigung auf den »Rüsttag« erst am Ende der Begräbnisszene (Lk 23,54 || Joh 19,42 ≠ Mk 15,42) sind schon für *Ev bezeugt bzw. wahrscheinlich. 26 Zu Beginn der Kreuzigungsszene berichten Mk und Mt anstelle der Erwähnung der beiden Übeltäter (*23,33 || Joh 19,18), dass die Soldaten Jesus vermischten Wein anbieten (ἐσμυρνισμένον οἶνον Mk 15,23 || οἶνον μετὰ χολῆς μεμιγμένον Mt 27,34). Dieses Element hat keine Entsprechung in Lk und Joh - verständlicherweise, denn dieses Element stammt aus der Verspottung durch die Soldaten (*23,36) nach der Kreuzigung, die den Königsanspruch Jesu dadurch verhöhnen, dass sie Jesus mit saurem Essig(-Wein) huldigen. 27 Da Mk und Mt keine eigene Teilszene mit der Verspottung des Gekreuzigten durch die Soldaten erzählen, haben sie dieses Element an den Anfang des Kreuzigungsberichtes gezogen (Mk 15,23 || Mt 27,34). 28 Dies hat zur Folge, dass *23,36 bei Mk und Mt doppelt rezipiert wird, nämlich einerseits in dem Weinangebot in Mk 15,23 || Mt 27,34, andererseits aber mit dem Angebot von Essig(-Wein) in Mk 15,36 || Mt 27,48. Im ersten Fall ist die Verspottungsfunktion von *23,36 deutlich erkennbar aufgegriffen, 29 im zweiten Fall ist der Bezug auf *23,36 daran kenntlich, dass die Soldaten Jesus ὄξος anbieten, also einen minderwertigen, sauren Wein. Dieses ὄξος-Angebot ist bei Mk und Mt gleichermaßen Ausdruck des Mitleids wie des Unverständnisses der Soldaten: Sie halten das Gebet Jesu für den delirierenden Ruf nach Elia (Mk 15,34f || Mt 27,46f). Obwohl Mk und Mt die Erwähnung der beiden Übeltäter am Anfang durch diesen Begrüßungstrunk ersetzen, haben sie die Struktur ihrer doppelten Erwähnung beibehalten, die ihnen durch *Ev vorgegeben war (*23,33.39-42 || Mk 15,27.32 || Mt 27,38.44), ohne allerdings den Spott des einen und die Widerrede des anderen zu übernehmen. ______________________________ 26 Für die Übeltäter zu Beginn der Kreuzigungsszene s. Tert. 4,42,4; für die Datierung auf ἡ ἡμέρα προσαββάτου s. *23,54 v. l. (D d). 27 Vgl. R. E. B ROWN , The Death of the Messiah II, New York u. a. 1994, 997. 28 Die Verspottung durch die Soldaten ist bei Mk und Mt in die Szene mit der Verurteilung Jesu vorgezogen (Mk 15,17-20 || Mt 27,28-31) und wird daher im Kontext der Kreuzigung nicht noch einmal erzählt. 29 Mk erreicht dies durch Kontrastierung, Mt durch Überzeichnung: Bei Mk bieten die Soldaten Jesus einen besonders guten Wein (nämlich den mit Myrrhe versetzten μύρρινος) an, der aufs Schärfste mit der elenden Erscheinung des Gekreuzigten kontrastiert. Mt 27,34 bringt die verhöhnende Funktion dieses Begrüßungstrunkes dadurch zum Ausdruck, dass die Soldaten Jesus nicht einfach Wein anbieten, sondern diesen durch Beimischung von Galle ungenießbar machen (οἶνον μετὰ χολῆς μεμιγμένον). § 13: Die literarischen Beziehungen zwischen *Ev, Joh und Lk 313 Diese strukturellen Differenzen zwischen Lk und Joh auf der einen Seite und Mk und Mt auf der anderen gehen also am ehesten auf die redaktionellen Änderungen zurück, die Mk gegenüber *Ev vorgenommen hat. Da Joh ganz eindeutig auch den mk Passionsbericht voraussetzt, bleibt unter der Prämisse der *Ev-Priorität vor Mk und Lk nur die Folgerung, dass diese joh-lk Übereinstimmungen auf die gemeinsame Abhängigkeit von *Ev zurückgehen: Das ist ihre gemeinsame und zugleich vor-mk Quelle. 4. Diese gemeinsame lk-joh Abhängigkeit von *Ev lässt sich nicht nur in den strukturellen Unterschieden auf der makrotextuellen Ebene zeigen, sondern auch in einzelnen Formulierungen. Auch hier genügen wieder wenige Beispiele. In der Ankündigung der Verleugnung stimmen Lk und Joh in der Formulierung des Bekenntnisses des Petrus gegen Mk und Mt überein: μετὰ σοῦ ἕτοιμός εἰμι … πορεύεσθαι Lk 22,33 || δύναμαί σοι ἀκολουθῆσαι Joh 13,37 ≠ εἰ καὶ πάντες σκανδαλισθήσονται, ἀλλ’ οὐκ ἐγώ Mk 14,29 || εἰ πάντες σκανδαλισθήσονται ἐν σοί, ἐγὼ οὐδέποτε σκανδαλισθήσομαι Mt 26,33. Zwar ist der Wortlaut von *22,33 nicht direkt bezeugt, aber Tert. 4,41,2 fasst die Aussage zusammen; es besteht kein Anlass, hier eine andere als die kanonische Formulierung anzunehmen. Das aber bedeutet, dass die mk-mt Metaphorik des »Anstoßnehmens« (σκανδαλίζομαι) auf die Redaktion des Mk zurückgeht, die Mt von ihm übernommen hat, wogegen Lk und Joh ausu *Ev die Metapher des »Mit-Gehens« bzw. »Nachfolgens« rezipieren. Auch in der Formulierung, mit der die Festnahme Jesu ausgesagt wird, stimmen Lk und Joh überein: συλλαμβάνω Lk 22,54 || Joh 18,12 ≠ κρατέω Mk 14,46b || Mt 26,50. Diese Entsprechung ist deshalb wichtig, weil sie mit einer strukturellen Veränderung einhergeht: *22,54 || Joh 18,12 teilen die Festnahme Jesu erst nach der Auseinandersetzung mit dem Verhaftungstrupp zu Beginn der folgenden Szene mit. Ähnlich instruktiv ist auch die übereinstimmend formulierte Frage nach der Messianität Jesu: ἐὰν ὑμῖν εἴπω, οὐ μὴ πιστεύσητε Lk 22,67 || εἶπον ὑμῖν καὶ οὐ πιστεύετε Joh 10,24.25 ≠ σὺ εἶ ὁ χριστὸς ὁ υἱὸς τοῦ εὐλογητοῦ Mk 14,61 || (ἐξορκίζω … ἵνα ἡμῖν εἴπῃς) εἰ σὺ εἶ ὁ χριστὸς ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ Mt 26,63. Dieses Beispiel ist instruktiv, weil sich zwar die Wahl der Lexeme und die Wortfolge von Lk 22,67 und Joh 10,24f aufs Engste entsprechen, nicht aber die Syntax. Vor allem aber hat Joh die Frage nach der Messianität *22,67 nicht im Rahmen der nächtlichen Befragung durch den Hohenpriester (Joh 18,19-24) rezipiert, sondern im Zusammenhang der Auseinandersetzungen während des Tempelweihfestes (Joh 10,22-39). Dies ist überlieferungsgeschichtlich aufschlussreich: Denn der im gleichen Zusammenhang berichtete Blasphemievorwurf (Joh 10,33: σὺ ἄνθρωπος ὢν ποιεῖς σεαυτὸν θεόν) hat zwar in Mk 14,63f eine Entsprechung, nicht aber in der Verhörszene in *Ev-Lk: Joh kennt Mk also. Umgekehrt reklamiert der joh Jesus für sich die Aussage υἱὸς τοῦ θεοῦ εἰμι (Joh 10,36), obwohl Joh diesen Anspruch gar 314 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch nicht mitgeteilt hat. Dagegen ist anzunehmen, dass er ihn aus der nächtlichen Befragungsszene *22,70 kennt: εἶπαν δὲ πάντες, Σὺ οὖν εἶ ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ; ὁ δὲ πρὸς αὐτοὺς ἔϕη, ῾Υμεῖς λέγετε. Wie der entsprechende Duktus zeigt, hat Joh dieses Element in leicht veränderter Form im Verhör vor Pilatus übernommen (Joh 18,37: οὐκοῦν βασιλεὺς εἶ σύ; ἀπεκρίθη ὁ Ἰησοῦς· σὺ λέγεις). Dieses Ineinander von Elementen der Passionsüberlieferung von *Ev und Mk in dem szenisch davon unterschiedenen Kontext der Auseinandersetzung auf dem Tempelweihfest ist ein weiterer Beleg für das komplexe Spiel des Joh mit seinen Prätexten. Dass es nicht auf den Versuch einer redaktionellen Harmonisierung seiner Quellen reduziert werden kann, wird gleich deutlich werden. 30 Weitere Beispiele für die lk-joh Abhängigkeit von *Ev sind: καὶ σὺ ἐξ αὐτῶν εἶ - οὐκ εἰμί *22,58 || σὺ ἐκ τῶν μαθητῶν αὐτοῦ εἶ … οὐκ εἰμί Joh 18,(17).25 ≠ ὁ δὲ ἠρνήσατο […] λέγων· οὔτε οἶδα […] σὺ τί λέγεις Mk 14,68 || Mt 26,70. - σταύρωσον σταύρωσον *23,21 || Joh 19,6 ≠ σταύρωσον Mk 15,13 || σταυρωθήτω Mt 27,22. - αἴρω *23,18 || Joh 19,15 ÷ Mk || Mt. - εἱστήκεισαν *23,49 || Joh 19,27 ≠ ἦσαν δὲ … γυναῖκες Mk 15,40 || Mt 27,55. - ἰδοὺ ἄνδρες δύο *24,4 || δύο ἀγγέλους Joh 20,12 ≠ νεανίσκον Mk 16,5 || ἄγγελος Mt 28,2ff. So erweist sich zunächst die überlieferungsgeschichtliche Annahme als zutreffend, dass die joh-lk Übereinstimmungen in der Passions- und Osterüberlieferung gegen Mk/ Mt auf der Abhängigkeit von einer gemeinsamen Quelle beruhen. Im Unterschied zu den genannten Modellen, die mit einer gemeinsamen vor-lk/ vor-joh Passionsquelle rechnen, ist von dieser Quelle jedoch auch Mk (und Mt) abhängig: Unter der Prämisse der *Ev-Priorität vor Mk (sowie Mt und Lk) wird deutlich, dass und warum die hypothetischen »Zwischenstufen« verzichtbar sind, wie sie etwa Hans Klein oder Frank Schleritt angenommen hatten: Sie sind nur dann methodisch notwendig, wenn man, etwa im Horizont der Zwei-Quellentheorie, die Mk-Priorität vor Lk als »gesetzt« ansieht, die in den genannten Modellen ja unbefragt vorausgesetzt wird. 4. Die Rezeption von Joh durch Lk Joh ist also nicht nur von Mk und Mt, sondern auch von *Ev abhängig. Um diesen Einfluss, den *Ev entlang der Bearbeitungsrelation ⑥ auf Joh ausgeübt hat, sicher nachweisen zu können, ist es allerdings notwendig, zwischen den Berührungen von *Ev und Lk zu Joh zu unterscheiden. Das Potential dieser Differenzierung hat sich für die überlieferungsgeschichtlichen Verhältnisse zwischen *Ev und allen drei synoptischen Evangelien erwiesen. Die Analyse der weiteren lk-joh Übereinstimmungen hat die Funktion, das Gefälle der Bearbeitungsrelation ⑦ zwischen ______________________________ 30 Zum ganzen Zusammenhang vgl. S CHLERITT , a. a. O. 369ff, der aus dem Befund allerdings andere überlieferungsgeschichtliche Folgerungen zieht. § 13: Die literarischen Beziehungen zwischen *Ev, Joh und Lk 315 Joh und Lk eindeutig zu bestimmen. In diesem Fall geht es also darum, direkt bezeugte oder doch sehr wahrscheinliche Unterschiede zwischen *Ev und Lk in dem Material zu identifizieren, das Lk und Joh gegen Mk und Mt gemeinsam haben. Da *Ev die Hauptquelle von Lk bildet, der dieser fast immer folgt, steht zu erwarten, dass makrotextuelle Beobachtungen zur Akoluthie für diese Untersuchung kaum Relevanz gewinnen können. Im Mittelpunkt stehen stattdessen kleinere Übereinstimmungen zwischen Lk und Joh: Die Berührungen der jeweiligen Formulierungen. Für die Identifizierung dieser Schnittmenge zwischen den Differenzen von *Ev und Lk und den Übereinstimmungen von Lk und Joh bieten sich zunächst diejenigen Beispiele an, für die sich *Ev in Abweichung zu Lk aufgrund der häresiologischen Referate genau rekonstruieren lässt. a. Satan und der Verrat des Judas Das erste Beispiel ist die Rolle, die Satan für den Verrat des Judas spielt. Während Judas nach Mk 14,10 || Mt 26,14 einfach zu den Hohenpriestern geht und Jesus verrät, begründet Lk diesen Verrat dadurch, dass »Satan in Judas hineinfuhr«. Die Formulierung εἰσῆλθεν δὲ σατανᾶς εἰς Ἰούδαν Lk 22,3 hat in Joh eine beinahe wörtliche Entsprechung (Joh 13,27: εἰσῆλθεν εἰς ἐκεῖνον ὁ σατανᾶς). Die große Nähe zwischen Lk 22,3 und Joh 13,27 hat schon länger nach einer Erklärung verlangt. Das Problem der Beziehung ist allerdings schwierig, weil Joh auch an anderer Stelle den Verrat des Judas mit dem Teufel in Verbindung bringt. Joh 6,70 erklärt Jesus, dass einer der Zwölf, die er erwählt hat, ein Teufel ist (καὶ ἐξ ὑμῶν εἷς διάβολός ἐστιν); der Erzähler erklärt daraufhin, dass dieser eine Judas Iskariot sei, »der ihn verraten sollte« (6,71). Zu Beginn der Mahlszene erklärt wiederum der Erzähler, dass der Teufel Judas, dem Sohn des Simon Iskariot, schon ins Herz gegeben hatte, ihn zu verraten und auszuliefern (Joh 13,2). An diesen beiden Stellen ist allerdings nicht vom Satan (σατανᾶς) die Rede, sondern vom Teufel (διάβολος). Darüber hinaus ist der syntaktische Bezug in Joh 13,2 τοῦ διαβόλου ἤδη βεβληκότος εἰς τὴν καρδίαν ἵνα παραδοῖ αὐτὸν Ἰούδας Σίμωνος Ἰσκαριώτου nicht eindeutig. Liest man mit der Mehrheit der Handschriften den Genitiv Ἰούδα, muss man übersetzen: Der Teufel hatte es in das Herz des Judas gegeben, ihn (Jesus) zu verraten. Liest man dagegen mit P 66 א B L W X Ψ 0124 1241 usw. den Nominativ Ἰούδας, muss man reflexiv verstehen: Der Teufel hatte es schon in seinem (eigenen) Herzen beschlossen, dass Judas ihn verraten solle. 31 Im ersten Fall ergibt sich eine größere Nähe von Joh 13,2 zu Lk 22,3 (der Teufel/ Satan hatte schon im Zusammenhang mit dem Verrat agiert), aber eine Spannung zu Joh 13,27 (denn dann müsste angenommen werden, dass der Teufel/ Satan zu unterschiedlichen Zeitpunkten von Judas Besitz ergriffen habe). Im zweiten Fall besteht die Spannung zu Lk 22,3. Diese Unklarheiten haben eine eindeutige überlieferungsgeschichtliche Zuordnung von Lk 22,3 und Joh 13,27 weitgehend verhindert: Alle denkbaren Lösungen ______________________________ 31 Zu den textkritischen Fragen vgl. M ETZGER , Textual Commentary z. St., der für den (schwierigeren) Nominativ votiert; so schon B ARRETT , Joh 439. 316 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch werden vertreten. 32 Aber in diesem Fall ist die Beantwortung der überlieferungsgeschichtlichen Frage nicht allein von internen Kriterien abhängig. Denn Tertullian bezeugt sehr deutlich, 33 dass Lk 22,3 in *Ev gefehlt hat: Der Vers ist eine sekundäre Ergänzung durch die lk Redaktion, das Bearbeitungsgefälle verläuft eindeutig von Joh zu Lk. Die Überlieferungsgeschichte lässt sich dann folgendermaßen nachvollziehen: Lk hatte in Joh mehrfach davon gelesen, dass der Teufel für den Verrat bzw. die Auslieferung Jesu durch Judas verantwortlich war: Diese Überlegung hat nach Joh 6,71 die Funktion zu erklären, wieso dieser Verrat aus dem engsten Kreis der Zwölf kommen konnte. Diese Klärung war notwendig, weil schon zuvor das »harte Wort« (Joh 6,60) der vorangegangenen Belehrung zum Murren und zur Spaltung der Jüngerschaft geführt hatte (6,61: γογγύζουσιν; 6,66: πολλοὶ τῶν μαθητῶν αὐτοῦ ἀπῆλθον). Zu dieser Spaltung gehört auch, wie der Erzähler erklärt, dass Judas Jesus verraten werde (6,64). Diese Ankündigung steht in hartem Kontrast zu der Erklärung desselben Zusammenhanges, dass nur diejenigen zu Jesus kommen (d. h. an ihn glauben) können, denen es vom Vater gegeben ist (6,65). Dieses erwählungstheologische Kriterium für die Jüngerschaft der Zwölf (an deren Stelle Petrus hier spricht), macht eine Erklärung erforderlich, wieso aus diesem Kreis derer, die bei Jesus bleiben, am Ende doch der Verräter hervorgeht. Genau diese Erklärung leistet 6,70f. Joh 13,2 hat diesen proleptischen Hinweis auf den Verrat des Judas (und den Anteil des Teufels daran! ) aufgegriffen. Es spricht alles dafür, dass 13,2 ein gezielter Rückverweis auf 6,70f ist. Er erklärt, wieso Jesus über den Verrat Bescheid wissen konnte, bevor der Verräter selbst es wusste: Der Satan hatte es in seinem Herzen so beschlossen. Die Minderheitenlesart ( P 66 א B L W X Ψ 0124) mit dem Nominativ Ἰούδας ist sehr wahrscheinlich ursprünglich. Joh 13,27 rekurriert auf diese beiden Ankündigungen. Der Leser weiß Bescheid, dass jetzt, im Verlauf des Mahles, die entscheidende Aktion des Teufels zu erwarten ist: Erst jetzt findet die vom Teufel schon früher beschlossene Inbesitznahme des Judas statt. Aber Jesus bleibt auf doppelte Weise Herr des Geschehens: Er löst das Geschehen durch die Bezeichnung des Verräters mit dem Bissen, den er eintaucht und dem Judas gibt, aus (13,26), und weist Judas mit der Aufforderung ὃ ποιεῖς ποίησον τάχιον in die Rolle ein, »zu der er erwählt ist« (13,27). 34 ______________________________ 32 Gemeinsame (lk-joh) Tradition: V. T AYLOR , The Passion Narrative of St Luke, Cambridge 1972, 65f; M. L. S OARDS , The Passion According to Luke, Sheffield 1987, 49. - Einfluss von Lk 22 auf Joh 13: J. A. B AILEY , The Traditions Common to the Gospels of Luke and John, Leiden 1963, 30f. - Joh Einfluss auf Lk: M. A. M ATSON , In Dialogue with Another Gospel, Atlanta 2001, 266-270; auch erwogen von B. S HELLARD , New Light on Luke, London u. a. 2004, 240-243. 33 Tert. 5,6,7 (ad 1Kor 2,8): Scriptum est enim apud me satanam in Iudam introisse. Secundum autem Marcionem nec apostolus hoc loco patitur ignorantiam adscribi virtutibus creatoris in gloriae dominum, quia scilicet non illas vult intellegi principes huius aevi. Die Differenzierung zwischen dem, was apud me und was secundum Marcionem geschrieben ist, ist exklusiv gemeint: satanam in Iudam introisse steht nur in Tertullians katholischer Bibel, nicht aber in Marcions Evangelium (s. im Einzelnen die Rekonstruktion z. St.). 34 T HYEN , Joh 602. Auch hier zeigen die Varianten, dass der Text überarbeitet wurde. Vor allem die in D it fehlenden Worte μετὰ τὸ ψωμίον sind verdächtig: In der Mehrheitslesart weiß Jesus nicht § 13: Die literarischen Beziehungen zwischen *Ev, Joh und Lk 317 Diesen Zusammenhang hat Lk rezipiert und in die ihm vorliegende Erzählung vom Verrat des Judas (*22,1-6) integriert. Durch die Bearbeitung hat Lk die Kohärenz zwischen den Evangelien deutlich verstärkt: Vor allem wird die Frage nach der (letzten) Verantwortung für die Auslieferung Jesu in dem Sinn geklärt, dass die joh Beteiligung des Teufels in den aus *Ev und Mk/ Mt bekannten Verratsbericht integriert wird. Indem Lk den Satan schon vor dem letzten Mahl in Judas »hineingehen« lässt (Lk 22,3), hat er allerdings auch eine Spannung zu Joh 13,26 geschaffen. Diese Spannung wird - wahrscheinlich durch dieselbe redaktionelle Hand - dadurch gemildert, dass der aus dem vorkanonischen Text von *Joh 13,2 stammende Nominativ Ἰούδας in den Genitiv Ἰούδα geändert wird, wie es in der Mehrheit der Handschriften enthalten ist: Der Teufel hatte es in das Herz des Judas gelegt, Jesus zu verraten. Aber Lk hat die Verratsszene Lk 22,1-6 nicht nur dadurch erweitert, dass er Satan von Judas Besitz ergreifen lässt. Er hat auch die am Verrat (und am Tod Jesu) interessierten Hohenpriester um die στρατηγοί ergänzt. Die gelegentlich geäußerte Vermutung, dass der überlieferungsgeschichtliche Einfluss von Joh zu Lk verläuft, lässt sich in diesem Fall also sehr nachdrücklich bestätigen. b. Die Festnahme Jesu Die Verhaftungsszene enthält ein zweites und gleichermaßen eindeutiges Beispiel: Lk und Joh stimmen gegen Mk und Mt darin überein, dass dem hohepriesterlichen Sklaven das rechte Ohr abgetrennt wurde. 35 Epiphanius bezeugt eindeutig, dass die Vv. Lk 22,49f in *Ev gefehlt haben. 36 Da die Verletzung des Ohres die Voraussetzung für die im Anschluss berichtete Heilung ist, hat Lk 22,51 ebenfalls mit Sicherheit gefehlt. Das Gefälle der Bearbeitung, die diese lk-joh Entsprechung gegen Mk und Mt produziert hat, verläuft also ganz eindeutig von Joh 18,10 hin zu Lk 22,50. Die Überlieferungsgeschichte der Verhaftungsszene lässt sich also folgendermaßen rekonstruieren: 1. *Ev berichtete von dem Eintreffen des Verhaftungstrupps auf dem Ölberg (*22,47f. 52f). Im Mittelpunkt dieses Berichts steht der Kontrast zwischen der Intimität des Begrüßungskusses, die Jesu Frage *22,48b zum Ausdruck bringt, und dem Vorwurf, den Jesus gegenüber dem Verhaftungstrupp erhebt (*22,52f): Es hätte des ganzen nächtlichen Manövers nicht bedurft, weil Jesus täglich im Tempel war. Der letzte Satz Jesu bringt zum Ausdruck, dass er sich der Androhung von Gewalt beugt: »Diese Stunde und die Macht der Finsternis gehört euch« (*22,53). Mit dieser Bemerkung, die sachlich dem kurz zuvor mitgeteilten Gebet (*22,42) entspricht, lässt sich Jesus ______________________________ nur, wen sich der Teufel schon ausgeguckt hatte, sondern er macht ihn dadurch zum Verräter, dass er ihm den Bissen gibt, mit dem »Satan in ihn hineingeht.« 35 καὶ ἀϕεῖλεν τὸ οὖς αὐτοῦ τὸ δεξιόν Lk 22,50 || καὶ ἀπέκοψεν αὐτοῦ τὸ ὠτάριον τὸ δεξιόν Joh 18,10 ≠ ἀϕεῖλεν αὐτοῦ τὸ ὠτάριον Mk 14,47 || ἀϕεῖλεν αὐτοῦ τὸ ὠτίον Mt 26,51. 36 Epiph., Schol. 67: Παρέκοψεν ὃ ἐποίησε Πέτρος, ὅτε ἐπάταξε καὶ ἀϕείλετο τὸ οὖς τοῦ δούλου τοῦ ἀρχιερέως. 318 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch festnehmen und abführen, wie erst zu Beginn der folgenden Szene knapp mitgeteilt wird (*22,54). Die durch die »Schwerter und Spieße« repräsentierte Gewalt kommt nicht zum Einsatz. 2. Diese zwar nicht undramatische, aber doch handlungsarme Szene hat Mk deutlich umgestaltet. Zunächst hat er die Erklärung über das Verratszeichen vor den Begrüßungskuss gestellt (Mk 14,44) und so die ungeschickte Analepse von *22,47b geheilt. Indem Mk das Wort Jesu an den Verräter (*22,48) übergeht, entsteht die enge Handlungsfolge von Kuss und Festnahme entsprechend der vorangestellten Erklärung: »Welchen ich küssen werde, der ist es, den ergreift« (Mk 14,44). In der Folge der Festnahme (Mk 14,46: οἱ δὲ … ἐκράτησαν αὐτόν) fügt Mk erstmals die gewalttätige Intervention mit dem Schwertstreich ein, mit dem einer der Dabeistehenden dem Knecht das Ohr abtrennt. Täter und Opfer sind hier noch anonym. Durch dieses Erzählelement verliert das Wort an den Verhaftungstrupp (Mk 14,48f || *22,52f) an Gewicht. Denn während *Ev den Kontrast zwischen der bewaffneten Festnahme und der täglich sich bietenden Gelegenheit, Jesus im Tempel gewaltfrei festzunehmen, thematisierte, hat Mk durch den Schwertstreich gezeigt, dass die Bewaffnung des Trupps durchaus angebracht war: Das Wort Mk 14,48f || *22,52f stört den Handlungsablauf und wird dem dramatischen Geschehen nicht ganz gerecht, das sich in der Folge in der tumultuarischen Jüngerflucht zeigt. Mk hat auch dieses Element (zusammen mit dem Hinweis auf den »nackten Jüngling«, Mk 14,51f) zusätzlich eingefügt. 3. Mt folgt insgesamt der mk Anlage der Szene, ergänzt sie aber noch weiter. Aus *22,48 übernimmt Mt 26,50a die Entgegnung Jesu auf den verräterischen Kuss; sie ist auch hier als vorwurfsvolle Frage gestaltet (ἑταῖρε, ἐϕ’ ὃ πάρει), wenn auch in anderem Wortlaut. Wie bei Mk folgt auch hier auf die Identifizierung Jesu durch den Kuss seine Festnahme. Den mk Schwertstreich hat Mt als eigene Teilszene gestaltet: Den Schwertstreich führt nicht mehr »einer derer, die dabeistanden« (Mk 14,47), sondern einer von denen, die »mit Jesus« waren (Mt 26,51). Aber während Mk das Wort an den Verhaftungstrupp unmittelbar auf den Schwertstreich folgen lässt, belehrt der mt Jesus erst noch den schwertführenden Jünger darüber, dass er dieser Hilfe nicht bedürfe, weil der himmlische Vater ihm mehr als zwölf Legionen Engel zu Hilfe schicken könne (Mt 26,52-54). Erst danach wendet sich Jesus an den Verhaftungstrupp (26,55f || Mk 14,48f). Dass Mt dieses Wort mit einem Hinweis auf »diese Stunde« einleitet (26,55: ἐν ἐκείνῃ τῇ ὥ ρ ᾳ εἶπεν ὁ Ἰησοῦς τοῖς ὄχλοις), geht sehr wahrscheinlich auf *Ev zurück (*22,53b: αὕτη ἐστὶν ὑμῶν ἡ ὥ ρ α ). Die abschließende Jüngerflucht (26,56b || Mk 14,50) ist als Abschluss nur knapp mitgeteilt, die Episode mit dem »nackten Jüngling« übergeht Mt: Während Mk die Szene aus *Ev durch Handlungselemente angereichert hat, fügt Mt unter Rückgriff auf *Ev und durch eigene Ergänzungen zusätzliche Redeelemente ein und verlangsamt so das Erzähltempo wieder. 4. Joh greift auf die drei Prätexte *Ev, Mk und Mt zurück, erzählt aber eigenständiger: Er hat den allen drei Vorlagen gemeinsamen Judaskuss übergangen, zeigt aber doch den jeweiligen Einfluss: Aus *Ev stammt beispielsweise die Information, dass Judas den Ort am Ölberg kannte, weil Jesus sich hier häufiger aufzuhalten pflegte (Joh 18,2 || *22,39). Anstelle der Bezeichnung Jesu durch den verräterischen Kuss stellt sich Jesus dem Trupp freiwillig, weil »er alles wusste, was ihm widerfahren würde« (Joh 18,4). Indem Jesus sich selbst stellt (18,5.8), verhindert er, dass die Jünger in Mithaftung genommen werden. Der Erzähler begründet das mit dem ausdrücklichen Verweis, dass keiner der ihm Anvertrauten verloren gehen sollte (18,9): Die Bewahrung der ihm Anvertrauten ist ein wichtiges joh Thema, das vorher schon mehrfach angesprochen war (6,39; 10,28), zuletzt im »Hohepriesterlichen Gebet« (17,12). Aufgrund dieser Bewahrung der Jünger durch Jesus hat der mk-mt Bericht von der Jüngerflucht bei Joh keine Funktion. Dass Joh gleichwohl auch den mt Kontext kennt, verrät seine Rezeption von Mt 26,53f. Allerdings bringt § 13: Die literarischen Beziehungen zwischen *Ev, Joh und Lk 319 er den Hinweis auf die mögliche himmlische Hilfe in dem anderen Kontext des Verhörs durch Pilatus unter (Joh 18,36). Besonders aufschlussreich ist die joh Bearbeitung der Schwertstreichepisode: Joh hat die allgemeinen Informationen aus Mk und Mt konkretisiert, indem er die beiden Beteiligten namentlich identifiziert (Petrus und Malchus) und außerdem mitteilt, dass es das rechte Ohr des Sklaven war, das verletzt wurde (18,10). Die Abhängigkeit von Mt ist für die Aufforderung, das Schwert in die Scheide zu stecken, evident (ἀπόστρεψον τὴν μάχαιράν σου εἰς τὸν τόπον αὐτῆς Mt 26,52 || βάλε τὴν μάχαιραν εἰς τὴν θήκην Joh 18,11). 5. Lk setzt alle vier Prätexte voraus, auch, wenn die Abhängigkeit von Mk an dieser Stelle nicht genau erweisbar ist. Er folgt grundsätzlich der narrativen Anlage von *Ev mit dem Judaskuss und dem Wort an den Verhaftungstrupp. Dazwischen hat Lk allerdings die Schwertstreichepisode eingefügt, die Elemente der einzelnen Prätexte zeigt: Die Einleitung zeigt sich durch Joh beeinflusst ( Ἰησοῦς οὖν εἰδὼς πάντα τὰ ἐρχόμενα ἐπ’ αὐτὸν ἐξῆλθεν καὶ λέγει … Joh 18,4 || ἰδόντες δὲ οἱ περὶ αὐτὸν τὸ ἐσόμενον εἶπαν … Lk 22,49). Die Kenntnis, dass das rechte Ohr verletzt wurde, belegt diese Abhängigkeit eindeutig (Joh 18,10 || Lk 22,50). Die Reaktion Jesu gegenüber dem namenlosen Jünger bzw. Petrus (Mt 26,52-54 || Joh 18,11) hat Lk in der kurzen Bemerkung ἐᾶτε ἕως τούτου (Lk 22,51) aufgegriffen. Außerdem hat Lk noch selbständig die Information hinzugefügt, dass Jesus das verletzte Ohr wieder heilte: Mit diesem Zug geht Lk (in charakteristisch lk Wortwahl) 37 über alle seine Prätexte hinaus. Die beiden hier genannten Beispiele konstituieren aufgrund der Differenz zwischen *Ev und Lk die lk Abhängigkeit von Joh. Das charakteristische Zusammentreffen dieser Differenz von *Ev und Lk mit der joh-lk Übereinstimmung gegen Mk und Mt lässt keinen anderen Schluss zu: Die Bearbeitungsrelation ⑦ zwischen Joh und Lk verläuft eindeutig von Joh zu Lk. c. Petrus’ Gang zum leeren Grab Diese beiden Beispiele beruhen auf der direkten Bezeugung der Häresiologen für *Ev und der daraus resultierenden Differenz zwischen *Ev und Lk. Die Textbasis für die Bestimmung der Bearbeitungsrichtung lässt sich allerdings noch verbreitern, wenn man das indirekte Zeugnis der handschriftlichen Überlieferung berücksichtigt, deren Bedeutung für die Rekonstruktion von *Ev oben deutlich wurde (§ 5): Für die zahlreichen Berührungen zwischen dem für *Ev bezeugten Text und den Varianten (insbesondere, aber nicht nur) der »Westlichen« Handschriften für das kanonische Lk-Evangelium hatte sich eine doppelte Schlussfolgerung ergeben: Zum einen zeigen diese Varianten das gleiche überlieferungsgeschichtliche Phänomen wie der von Lk abweichend bezeugte *Ev-Text: Zwischen beiden liegt der Bearbeitungsschritt der lk Redaktion. Aus dieser Beobachtung ließ sich zweitens schließen, dass dieses Phänomen auch für diejenigen Passagen anzunehmen ist, für die es keine direkte Bezeugung gibt. Diese textgeschichtlichen Erwägungen ______________________________ 37 ἰάομαι ist ein lk Vorzugswort, mit dem er wiederholt seine Quelle *Ev redaktionell ergänzt, vgl. Lk 5,17; 6,19; 9,2.42 (s. jeweils dort); vgl. ansonsten nur noch die unbezeugten Belege 9,11; 14,4. 320 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch liegen den folgenden Analysen zugrunde. Obwohl sie den *Ev-Text nur indirekt bezeugen, kommt ihnen in methodischer Hinsicht kein geringeres Gewicht zu als den direkten Bezeugungen der häresiologischen Referate: Die widersprüchliche Bezeugung für *Ev durch Tertullian, Epiphanius und Adamantius hatte sich aufgrund dieser Beobachtungen als Folge des gleichen Phänomens der Interferenz zwischen der vorkanonischen und der kanonischen Textüberlieferung erwiesen. Diese Varianten des kanonischen Lk-Textes sind daher ein wesentliches Kriterium für die Feststellung der Differenz zwischen *Ev und Lk. Die Bestimmung der Bearbeitungsrichtung von Joh zu Lk lässt sich mit diesen Hinweisen noch weiter stützen, wie wiederum nur anhand ausgewählter Beispiele gezeigt werden soll. Das erste Beispiel ist Petrus’ Gang zum leeren Grab (Lk 24,12) mit der Parallele Joh 20,3-10. Die Entsprechungen zwischen beiden Texten sind deutlich. Lk 24,12 Joh 20,3.5.10 ὁ δὲ Πέτρος ἀναστὰς ἔδραμεν 20,3 ἐξῆλθεν οὖν ὁ Πέτρος καὶ ὁ ἄλλος μαθητής, καὶ ἤρχοντο ἐπὶ τὸ μνημεῖον, εἰς τὸ μνημεῖον […] Καὶ παρακύψας βλέπει τὰ ὀθόνια μόνα· 20,5 καὶ παρακύψας βλέπει κείμενα τὰ ὀθόνια, οὐ μέντοι εἰσῆλθεν […] Καὶ ἀπῆλθεν πρὸς ἑαυτὸν θαυμάζων τὸ γεγονός 20,10 ἀπῆλθον οὖν πάλιν πρὸς αὐτοὺς οἱ μαθηταί Die joh-lk Berührungen sind deshalb aufschlussreich, weil sich hier verschiedene Phänomene zu einem unübersichtlichen Knoten schürzen: 1. Die Berührungen im Wortlaut legen eine literarische Beziehung nahe: Die Bezeichnung des Grabes als τὸ μνημεῖον Lk 24,12 entspricht zwar der Wortwahl von 24,9, unterscheidet sich aber von 24,1 (τὸ μνῆμα); Joh hat dagegen durchweg τὸ μνημεῖον (sieben Mal in Joh 20,1-8). Das Ptc. παρακύψας ist identisch, ebenso das Praes. hist. βλέπει. Die Kombination παρακύψας βλέπει ist so spezifisch, dass die literarische Beziehung nicht fraglich ist. Schließlich wählen beide Texte dieselbe Bezeichnung für die Leichenbinden (τὰ ὀθόνια); dies entspricht dem Sprachgebrauch von Joh 19,40, unterscheidet sich aber von dem in Lk 23,53 (ἡ σινδών). 2. Die Klärung der genauen Beziehung zwischen Lk 24,12 und Joh 20,3ff ist weiter dadurch erschwert, dass Lk 24,12 in einer Reihe von Handschriften (D a b d e l r 1 ) fehlt. Aus diesem Grund wurde die Authentizität in den vergangenen 100 Jahren sehr unterschiedlich beurteilt: Westcott/ Hort hatten den Vers 24,12 für eine »Western Non-Interpolation« gehalten und folglich aus ihrem Text ausgeschieden. Unter der Wirkung dieses Urteils war Lk 24,12 bis zur 25. Aufl. des Novum Testamentum Graece von E. und E. Nestle nicht in den Text aufgenommen. 38 Mit dem ______________________________ 38 Der Apparat des Novum Testamentum Graece von E. (und E.) Nestle führte bis zur 25. Aufl. unter den Zeugen für das Fehlen von 24,12 auch »Mcion« an. Dieses Urteil, dass Lk 24,12 ursprünglich gefehlt habe, ist verschiedentlich übernommen und begründet worden. Vgl. etwa. J. A. B AILEY , The Traditions Common to the Gospels of Luke and John (NT.S 7), Leiden 1963, 85 Anm. 3. A. D AUER , Lk 24,12 - Ein Produkt lukanischer Redaktion? , in: Fr. Van Segbroeck et al. (eds.), The Four § 13: Die literarischen Beziehungen zwischen *Ev, Joh und Lk 321 Bekanntwerden des P 75 , der den Vers enthält, hat sich diese Einschätzung gewandelt, sodass Lk 24,12 in den letzten Jahrzehnten fast durchgängig als ursprünglicher Bestandteil des Textes galt. 39 3. Das überlieferungsgeschichtliche Urteil darf sich allerdings nicht allein auf Lk 24,12 konzentrieren, sondern muss auch den klaren Rückverweis auf 24,12 im Bericht der beiden Jünger (Lk 24,24) mitberücksichtigen. Möglicherweise ist auch der eng verwandte Hinweis auf die Erscheinung des Auferstandenen vor Petrus Lk 24,34 relevant: Hält man 24,12 für einen sekundären Eintrag unter dem Einfluss von Joh 20,3ff, fehlt ein narratives Widerlager für Lk 24,24(34). Die Erklärung der engen Entsprechungen bedarf also einer textkritischen und zugleich einer überlieferungsbzw. redaktionskritischen Begründung. Diese erschließt sich am einfachsten vom textkritischen Befund her. Denn in der Einschätzung, dass Lk 24,12 eher sekundär ergänzt wurde, als dass der V. nachträglich »ausgefallen« oder gestrichen worden sei, hatten Westcott/ Hort durchaus Recht. Sie hielten 24,12 für eine der acht von ihnen identifizierten lk »Western Non-Interpolations«. 40 Da sich gleich drei dieser acht Beispiele im Bericht von der Auffindung des leeren Grabes finden, lässt sich das überlieferungsgeschichtliche Urteil noch zuversichtlicher fällen. 41 Diese Koinzidenz zwischen den Varianten der handschriftlichen Überlieferung des kanonischen Lk und der Bezeugung für *Ev (vgl. o. § 5.2) legt das gleiche Phänomen auch für den unbezeugten V. 24,12 nahe: Er hat in *Ev gefehlt und ist erst durch die lk Redaktion eingetragen. In diesem Fall ist aufgrund der Entsprechungen zu Joh 20,3-10 klar, dass die lk Redaktion Kenntnis von Joh 20 haben musste: Die Komplexität der Beurteilung von Lk 24,12 mit ihren texkritischen und überlieferungsgeschichtlichen Aspekten ist Ausdruck eines einfachen ______________________________ Gospels II, Leuven 1992, 1697-1716: 1713f, hat eine Liste mit den Vertretern zusammengestellt, die Lk 24,12 für einen sekundären Eintrag halten. 39 Vgl. F R . N EIRYNCK , John and the Synoptics, in: L’Évangile de Jean, Gembloux - Leuven 1977, 73-106: »The recent trend is now clearly in favor of the authenticity of the verse in Luke, and with good reason« (98). Neirynck selbst hat dieses Urteil mehrfach begründet, vgl. F R . N EIRYNCK , Le récit tu tombeau vide dans l’évangile de Luc (Lc 24,1-12), in: Evangelica I, Leuven 1982, 297-312; DERS ., Lc. XXIV 12. Les témoins du texte occidental, in: Evangelica I, Leuven 1982, 313-328; DERS ., The Uncorrected Historic Present in Lk. XXIV. 12, in: Evangelica I, Leuven 1982, 329-334; DERS ., Ἀπῆλθεν πρὸς ἑαυτόν: Lc 24,12 et Jn 20,10, in: Evangelica I, Leuven 1982, 441-455.; DERS ., John and the Synoptics: The Empty Tomb Stories, in: Evangelica II, Leuven 1991, 571-599. Die neueren Kommentare teilen diese Einschätzung. Vgl. G RUNDMANN , Lk 439f; E RNST , Lk 654; S CHMITHALS , Lk 232; S CHWEIZER , Lk 243; F ITZMYER , Lk I 131; W OLTER , Lk 773. Vgl. auch die Bibliographie bei D AUER , a. a. O., 1713-1716. Auch Harnack setzte die Ursprünglichkeit von Lk 24,12 voraus und urteilte, der Vers sei »von M. gestrichen, der Petrus hier nicht wollte« (H ARNACK 238*). 40 B. F. W ESTCOTT , F. J. A. H ORT , The New Testament in the Original Greek II, Cambridge - London 2 1896, 175-177. 41 Die beiden anderen »Non-Interpolations« sind für *Ev auch direkt bezeugt: In Lk 24,3 stimmt Tertullians Zeugnis für *Ev (4,43,2: corpore autem non invento) mit D a b d e ſſ 2 l r 1 darin überein, dass die Worte τοῦ κυρίου ᾿Ιησοῦ fehlten. In Lk 24,6 fehlt die gesamte Phrase οὐκ ἔστιν ὧδε, ἀλλὰ ἠγέρθη in *Ev (vgl. Tert. 4,43,5) sowie in D a b d e ſſ 2 l r 1 armen mss georg II . 322 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch Phänomens: Lk ist von Joh abhängig. Diese Beobachtung erklärt dann auch andere Auffälligkeiten der joh-lk Berührungen in der Erzählung von der Auffindung des leeren Grabes. a. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das Grab in *24,1 nicht als μνημεῖον, sondern als μνῆμα bezeichnet wird: Die μνημεῖον-Terminologie stammt dagegen aus Joh 20,3-10. Auch im Bericht vom Begräbnis Jesu ist nicht ganz klar, ob hier τὸ μνῆμα (Adamantius D u. a.) oder τὸ μνημεῖον (Epiphanius u. a.) stand. Denn in Lk 24,9 fehlt τὸ μνημεῖον wiederum in den charakteristischen Zeugen D it (Tat usw.) und erweckt den Eindruck, erst von der lk Redaktion eingetragen worden zu sein. Aufgrund dieser Beobachtungen wird dann auch μνῆμα in *23,55 (D) gegenüber μνημεῖον in der Mehrzahl der Handschriften ursprünglich sein. b. Analoges gilt dann auch für den Zusammenhang mit dem Bericht vom Begräbnis Jesu. Σινδών als Bezeichnung der Leichenbinde, in die Joseph den Leichnam wickelte (*23,53), geht mit großer Wahrscheinlichkeit auf *Ev zurück. Der davon abweichende Sprachgebrauch in Lk 24,12 (τὰ ὀθόνια) stammt dagegen aus Joh 19,40. c. Die gemeinsame joh-lk Terminologie (μνημεῖον; ὀθόνια) gegen die Formulierungen von *Ev (μνῆμα; σινδών) zeigt nicht nur den joh Einfluss auf Lk, sondern auch eine einheitliche Bearbeitung, die Lk aus einem zentralen theologischen Grund übernommen hat: Dass in dem Grab »noch niemand zuvor gelegen hatte« (Lk 23,53 || Joh 19,40 ÷ *23,53! ) ist wichtig, weil die Leichenbinden, die Petrus (Lk 24,12) bzw. Petrus und der andere Jünger (Joh 20,5-7) im leeren Grab sehen, nicht von einem anderen Leichnam, sondern nur von dem Begräbnis Jesu stammen können. Sie dienen daher als sichtbarer Beweis für die Auferstehung und wecken folgerichtig (bei dem anderen Jünger) Glauben: εἶδεν καὶ ἐπίστευσεν (Joh 20,8). Wenn Lk 24,12 von Petrus betont: βλέπει τὰ ὀθόνια μ ό ν α , dann ist genau dieser Sachverhalt impliziert: Er sieht nur die Binden, aber nicht den Leichnam. Dieser Aspekt erklärt dann auch die Bezeugung und die Überlieferungsgeschichte von *23,53. Tertullian und Adamantius bezeugen für *Ev, dass Joseph den Leichnam in ein neues Grab legte (*23,53: ἐν κ α ι ν ῷ μνημείῳ/ sepulcrum n o v u m [conditum]); Epiphanius bezeugt dagegen den Text, den auch die kritischen Ausgaben enthalten: ἐν μνήματι λαξευτῷ. Dass es sich um ein »(aus)gehauenes« Grab handelt, bildet die Voraussetzung für den Rollstein, mit dem das Grab verschlossen wird (*24,2). Mk folgt *Ev, präzisiert aber das »ausgehauene« Grab als ein »aus Felsen herausgehauenes« Grab. Dass Joseph von Arimathaia Jesus in ein neues Grab legte, sagt zum ersten Mal Mt 27,60 (ἔθηκεν αὐτὸ ἐν τῷ κ α ι ν ῷ αὐτοῦ μνημείῳ ὃ ἐλατόμησεν ἐν τῇ πέτρᾳ). Für ihn ist dies Ausdruck von Josephs Reichtum, den er Jesus zur Verfügung stellt (27,57: ἄνθρωπος πλούσιος … αὐτὸς ἐμαθητεύθη τῷ Ἰησοῦ). Dass das Grab neu war, sagt auch Joh 19,40, für den diese Qualität allerdings nicht als Indikator von Reichtum wichtig ist, sondern weil auf diese Weise sicher gestellt ist, dass »noch niemals jemand darin bestattet war« (μνημεῖον κ α ι ν ὸ ν ἐν ᾧ § 13: Die literarischen Beziehungen zwischen *Ev, Joh und Lk 323 οὐδέπω οὐδεὶς ἦν τεθειμένος). Da die entsprechende Formulierung Lk 23,52 (ἐν μνήματι λαξευτῷ) οὗ οὐκ ἦν οὐδεὶς οὔπω κείμενος in allen drei Zeugen fehlt, hat Lk sie (wohl aus den gleichen Gründen wie Joh) von dorther eingetragen. d. Wenn Lk 24,12 in *Ev gefehlt hat und sekundär durch die lk Redaktion eingefügt wurde, dann ist zu folgern, dass auch der Bericht, den die beiden Jünger dem unerkannten Auferstanden über das geben, was »in diesen Tagen in Jerusalem geschehen ist« (24,18), redaktionell bearbeitet ist: Ihre Mitteilung darüber, dass »einige von uns zum Grab gingen und alles so fanden, die die Frauen gesagt hatten« (Lk 24,24), kann nicht in *Ev gestanden haben und geht auf dieselbe redaktionelle Hand zurück wie Lk 24,12. Mit Blick auf die glaubensbegründende Autopsie des leeren Grabes durch den »anderen Jünger« (Joh 20,8) könnte man sogar überlegen, ob Ähnliches nicht im Hintergrund des Berichts der Jerusalemer Jünger an die beiden Emmausjünger steht: Dass der Auferstandene dem Petrus erschienen sei (Lk 24,34) hat mit allergrößter Wahrscheinlichkeit in *Ev gefehlt (s. dort). Da dieses Ereignis nur im Bericht der Jünger mitgeteilt, nicht aber erzählt wird, ist es gut denkbar, dass Lk diesen Bericht als Pendant zum Glauben des geliebten Jüngers (Joh 20,8) verstanden haben wollte. Die komplexen textkritischen und überlieferungsgeschichtlichen Fragen zu Lk 24,12 lassen sich also tatsächlich im Modell der *Ev-Priorität sehr einheitlich erklären: Der Vers ist sekundär und referiert auf die Wettlauferzählung Joh 20,3- 10. Allerdings versucht Lk gar nicht, die gleiche Geschichte noch einmal zu berichten. Vielmehr ergänzt er den joh Bericht aus anderer Perspektive: Ist Joh 20 vor allem daran interessiert zu erzählen, dass und wie der geliebte Jünger durch die Ansicht des leeren Grabes zum Glauben kam, teilt Lk 24 das Geschehen aus der Perspektive des Petrus mit. Irritierenderweise wird von ihm aber keine Reaktion - Glaube, Zweifel, Unglaube, Furcht, Freude - mitgeteilt, die dann in eine Beziehung zum weiteren Geschehen gesetzt werden könnte. Diese scheinbare narrative Funktionslosigkeit wurde dann ja auch immer wieder als Argument gegen die Authentizität des Verses angeführt. Allerdings ist Lk 24,12 nicht wirklich ohne eine übergreifende narrative Funktion. Diese erschließt sich jedoch nicht im Kontext von Lk allein, sondern erst im Miteinander von Lk und Joh. Lk 24,12 fungiert als wesentliches Kohärenzmerkmal, das diese beiden Evangelien als zusammengehörige Teile eines Textes erweist. d. Die Erscheinung des Auferstandenen vor den Jüngern (*24,39-43 par.) Als letztes Beispiel sei hier auf die Erzählung von der Erscheinung des Auferstandenen vor den Jüngern verwiesen: Dass der Auferstandene in Jerusalem vor den Jüngern erscheint (Lk 24,36-43[44-49]; Joh 20,19-23.24-29) ist eine weitere Gemeinsamkeit, 324 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch die Lk und Joh von Mk und Mt unterscheidet. 42 Die Überlieferungsgeschichte dieser Erscheinungstradition ist deshalb aufschlussreich, weil an dem hier zu diskutierenden Material beide Bearbeitungsrelationen wahrscheinlich gemacht werden können, die in diesem Zusammenhang wichtig sind, also die redaktionellen Schritte ⑥ zwischen *Ev und Joh sowie ⑦ zwischen Joh und Lk. 1. Ausgangspunkt ist der Bericht *24,36-43, dessen Besonderheiten im Vergleich zur kanonischen Erzählung Lk 24,36-49 hier nicht zu begründen, sondern nur kurz zusammenzufassen sind (vgl. im Einzelnen die Rekonstruktion). *Ev erzählte im Anschluss an den Bericht des Emmaus und des Kleopas, dass der Auferstandene mitten unter die Jünger trat. Sie erschraken, weil sie meinten, eine Erscheinung (ϕάντασμα) zu sehen. Jesus fragt, warum sie sich erschrecken, und fordert sie auf: »Seht meine Hände und meine Füße: Ein Geist hat keine Knochen, wie ihr sie mich haben seht.« Weil die Jünger weiterhin ungläubig sind, fragt er sie nach etwas Essbarem. Sie geben ihm ein Stück gekochten Fisch, er nimmt es und isst es vor ihren Augen. Diesen vorkanonischen Text hat die lk Redaktion um einige wichtige Elemente ergänzt: 1. Lk 24,36b ergänzt den Gruß (καὶ λέγει αὐτοῖς· εἰρήνη ὑμῖν) und wahrscheinlich auch die (in den kritischen Ausgaben fehlenden) Worte ἐγώ εἰμι, μὴ ϕοβεῖσθε. 2. In V. *37 enthielt *Ev das Stichwort ϕάντασμα. Die lk Redaktion hat dies an das auch in V. *39 bezeugte πνεῦμα angeglichen und so die disparate Begrifflichkeit beseitigt. 3. Lk ergänzt *Ev mit Frage in V. *38 (τί τεταραγμένοι ἐστέ; ) um eine zweite: καὶ διὰ τί διαλογισμοὶ ἀναβαίνουσιν ἐν τῇ καρδίᾳ ὑμῶν; 4. In V. 39 sind die Ergänzungen besonders wichtig: Nach der Aufforderung, seine Hände und Füße anzusehen, ergänzt Lk zunächst die Worte ἐγώ εἰμι αὐτός, dann die Aufforderung zur Berührung: ψηλαϕήσατέ με καὶ ἴδετε ὅτι, die auch die bereits vorangegangene Aufforderungen zum Sehen noch einmal wiederholt und die folgende Aussage kausal anschließt. In diese Begründung hat Lk die Worte σάρκα καί (ὀστέα οὐκ ἔχει … ) eingefügt. 5. V. 40 hat in *Ev ganz gefehlt und ist von der lk Redaktion ergänzt: καὶ τοῦτο εἰπὼν ἔδειξεν αὐτοῖς τὰς χεῖρας καὶ τοὺς πόδας. 6. In V. 41 stammen die Worte ἀπὸ τῆς χαρᾶς καὶ θαυμαζόντων vermutlich ebenfalls erst von der lk Redaktion. 7. Das gleiche gilt schließlich auch von der umfangreichen Belehrung Jesu in Lk 24,44-49, die für *Ev nicht bezeugt ist und die mit größter Wahrscheinlichkeit auch nicht enthalten war. Sie geht auf die lk Redaktion zurück. 2. Für die Frage nach der Beziehung zwischen Lk 24,36-49 und Joh 20f ist zunächst in Rechnung zu stellen, dass Joh den Kontext von *Ev kannte und verwendete. Dieser Aspekt bezieht sich zunächst auf die größeren, strukturellen ______________________________ 42 An dieser Stelle ist zu präzisieren: Die Erscheinung konstituiert eine Gemeinsamkeit gegenüber *Mk (und Mt); denn der kanonische Mk-Schluss verweist auf diese Texte (ὕστερον δὲ ἀνακειμένοις αὐτοῖς τοῖς ἕνδεκα ἐϕανερώθη καὶ ὠνείδισεν τὴν ἀπιστίαν αὐτῶν καὶ σκληροκαρδίαν ὅτι τοῖς θεασαμένοις αὐτὸν ἐγηγερμένον οὐκ ἐπίστευσαν). Vgl. dazu o. S. 251f. § 13: Die literarischen Beziehungen zwischen *Ev, Joh und Lk 325 Gemeinsamkeiten zwischen *Ev und Joh, die am Ende die distinkten Übereinstimmungen zwischen Lk und Joh gegenüber Mk und Mt konstituieren: (a) Der Auferstandene erscheint den Jüngern in Jerusalem (*24,36a || Joh 20,19). (b) Jesus tritt unvermittelt in den Kreis der Jünger. (c) Von den Jüngern wird berichtet, dass sie sich fürchten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen: Nach *24,37 ist die Furcht Reaktion auf die Erscheinung Jesu, weil sie ein ϕάντασμα zu sehen meinen; nach Joh 20,19 begründet die Furcht der Jünger vor den Juden, dass sie sich hinter verschlossenen Türen versammeln. (d) Jesus zeigt den Jüngern seine Hände und Füße (*24,39) bzw. seine Hände und seine Seite (Joh 20,20). Diese strukturellen Gemeinsamkeiten lassen sich ohne weiteres entlang der Bearbeitungsrichtung ⑥ als joh Rezeption von *Ev verstehen. 3. Im Vergleich zwischen *24,36-43, Joh 20,19-23 und Lk 24,36-43 gibt es jedoch eine sehr enge Berührung zwischen Lk und Joh gegen *Ev. Lk 24,36 Joh 20,26 (αὐτὸς ἔστη ἐν μέσῳ αὐτῶν) (καὶ ἔστη εἰς τὸ μέσον) καὶ λέγει αὐτοῖς, καὶ εἶπεν, Εἰρήνη ὑμῖν Εἰρήνη ὑμῖν Lk 24,40 Joh 20,20a καὶ τοῦτο εἰπὼν καὶ τοῦτο εἰπὼν ἔδειξεν αὐτοῖς τὰς χεῖρας καί (…) ἔδειξεν αὐτοῖς τὰς χεῖρας καί (…). Da beide Passagen in *Ev gefehlt haben, lässt sich die enge literarische Berührung nicht durch die Abhängigkeit von der gemeinsamen Quelle *Ev erklären. Vielmehr liegt hier eine direkte literarische Abhängigkeit vor, und zwar entlang der Bearbeitungsrichtung ⑦ von Joh zu Lk. Von einiger Bedeutung ist der Umstand, dass die enge Berührung αὐτὸς ἔστη ἐν μέσῳ αὐτῶν καὶ λέγει αὐτοῖς … Lk 24,36 || καὶ ἔστη εἰς τὸ μέσον καὶ εἶπεν Joh 20,26 sich nicht auf den ersten Erscheinungsbericht (Joh 20,19-23) bezieht, sondern auf die Thomasperikope: Dieser Erscheinungsbericht ist in Joh szenisch und zeitlich (Joh 20,26: μεθ’ ἡμέρας ὀκτώ) abgesetzt und präsentiert sich als Wiederholung der ersten Erscheinung, jetzt aber unter Einschluss von Thomas, der bei der ersten Erscheinung nicht dabei gewesen war (Joh 20,24. 26). Der Wiederholungscharakter dieses Erscheinungsberichts ist nicht nur direkt benannt (Joh 20,26: πάλιν), sondern auch durch die identischen Rahmenbedingungen deutlich gemacht: Die Jünger sind »drinnen« und die Türen sind verschlossen (20,26 || 20,19); Jesus begrüßt sie mit dem Friedensgruß; Jesus zeigt seine Nägelmale (an den Händen und Füßen) und seine Seite; am Ende wird bei den Erscheinungsempfängern der Glaube registriert: Die Jünger freuen sich und Thomas bekennt seinen Glauben. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass diese Thomasepisode eine von Joh geschaffene Verdoppelung des ersten Erscheinungsberichtes ist. Sie verstärkt seine narrative Funktion und 326 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch sein theologisches Interesse, das vor allem in der Überwindung des (bei Thomas) bleibenden Zweifels zu sehen ist: Er macht seinen Glauben von der Autopsie abhängig (Joh 20,25.28). Entscheidend ist dabei das theologische Interesse an den Wundmalen Jesu: Während Joh 20,20 lediglich sagt, dass Jesus den Jüngern seine Hände und seine Seite zeigte (ἔ δ ε ι ξ ε ν τὰς χεῖρας καὶ τὴν πλευρὰν αὐτοῖς), stellt die Thomasperikope eine Präzisierung dar. Deren theologischer Mehrwert gegenüber 20,19-23 liegt nicht darin, dass Thomas den Auferstandenen nicht nur sieht, sondern auch berührt, 43 sondern in seiner Autopsie der unverwechselbaren Wundmale Jesu (20,25.28): Sie stellen die Identität des Erscheinenden mit den Gekreuzigten sicher. Da erst die Erkenntnis dieser Identität Thomas’ Glauben hervorruft, kann man schließen, dass sich sein Zweifel (20,25) auch genau auf diesen Zusammenhang richtete: Er zweifelt nicht an der Tatsache, dass die anderen Jünger eine Erscheinung des Auferstandenen hatten, er zweifelt auch nicht daran, dass ein Toter auferweckt werden kann, sondern daran, dass dieser Erscheinende der Herr ist (20,25: ἑωράκαμεν τὸν κύριον). An der Erscheinung vor Thomas sind zwei Aspekte für unseren Zusammenhang wichtig: Zum einen ist aufgrund des Verdoppelungscharakters wichtig, dass auch Joh 20,24-29 auf *24,36-43 basiert: Joh hat also aus der einen Erscheinung vor den Jüngern eine zweite »herausgesponnen«, um daran sein theologisches Interesse deutlich zu machen, und zwar gegen den Ausgangstext in *Ev. Denn wenn in *Ev Jesus den Jüngern seine Hände und Füße zeigt, dann will er damit beweisen, dass er Knochen hat und also kein ϕάντασμα ist. Daraus erhellt zum anderen, dass die lk Redaktion genau diese semantische Intention sekundär verstärkt hat. Denn Lk fügt zur Aufforderung in *Ev zum Sehen noch die zum Anfassen hinzu: ψηλαϕήσατέ με (Lk 24,39b). Es ist leicht vorstellbar, dass dieser Aspekt angeregt ist durch die entsprechende Aufforderung Jesu in der Erscheinung vor Thomas, der mit seinem Finger »sehen« und seine »Hand in die Seite legen« soll (Joh 20,27: ϕέρε τὸν δάκτυλόν σου ὧδε καὶ ἴδε … ϕέρε τὴν χεῖρά σου καὶ βάλε εἰς τὴν πλευράν μου). Die Thomasperikope erweist daher die überlieferungsgeschichtliche »Mittelstellung« von Joh zwischen *Ev und Joh und zugleich zwischen Joh und Lk. 4. Allerdings gibt es auch Inkongruenzen zwischen *24,36-39 und Joh 20,19- 23: Dazu gehört zunächst, dass Jesus die Jünger nach etwas Essbarem fragt und vor ihren Augen »gebratenen Fisch« isst (*24,41-43). Da dieser demonstrative Akt durch den noch bleibenden Unglauben der Jünger veranlasst ist, hat er die gleiche (allerdings verstärkende) Beweisfunktion wie das Zeigen der Hände und Füße (*24,39): Jesus beweist durch das Essen, dass er kein ϕάντασμα ist. Er zeigt, dass er nicht nur Fleisch und Knochen, sondern auch Zähne habe, wie Tertullian richtig versteht. 44 Obwohl Joh an dem Aspekt der Körperlichkeit des Erscheinenden kein ______________________________ 43 Joh 20,25: ἐὰν μὴ ἴ δ ω … καὶ β ά λ ω τ ὸ ν δ ά κ τ υ λ ό ν μου … οὐ μὴ πιστεύσω. Aber nach 20,28 geht es ausschließlich darum, dass er Jesus gesehen hat (ὅτι ἑώρακάς με πεπίστευκας). 44 Tert. 4,43,8: Atquin adhuc eis non credentibus propterea cibum desideravit, ut se ostenderet etiam dentes habere. § 13: Die literarischen Beziehungen zwischen *Ev, Joh und Lk 327 besonderes Interesse hat, wie seine Rezeption von *24,39 in Joh 20,(20.)25-29 deutlich macht, hat er diesen Aspekt aufgegriffen und in der Erzählung vom »wunderbaren Fischfang« (Joh 21,1-14) weiter verarbeitet. Joh hat diese Erscheinung ausdrücklich als die dritte (nach 20,19-23.24-29) gekennzeichnet (21,14) und lässt mit dieser Zählnotiz erkennen, dass ihm seine »Verdreifachung« von *24,36-39 bewusst ist: Joh 21 verarbeitet gleich mehrere Prätexte aus *Ev. Evident ist zunächst der Rekurs auf *5,1-11, der durch eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten sichergestellt ist. 45 1. Gemeinsamer Handlungsort ist der See Genezareth, auch, wenn er unterschiedliche Namen trägt (*5,1: παρὰ τὴν λίμνην Γεννησαρέτ. - Joh 21,1: ἐπὶ τῆς θαλάσσης τῆς Τιβεριάδος). 2. *Ev und Joh bezeichnen Jakobus und Johannes nur in diesem Kontext als »die (Söhne) des Zebedäus« (*5,10: ὁμοίως δὲ καὶ Ἰάκωβον καὶ Ἰωάννην υἱοὺς Ζεβεδαίου. - Joh 21,2: καὶ οἱ τοῦ Ζεβεδαίου). 46 3. Der Fischfang in der vorangegangenen Nacht war erfolglos (*5,5: δι’ ὅλης νυκτὸς κοπιάσαντες οὐδὲν ἐλάβομεν. - Joh 21,3b: καὶ ἐν ἐκείνῃ τῇ νυκτὶ ἐπίασαν οὐδέν). 4. Auf Jesu Geheiß hin unternehmen die Jünger am folgenden Tag einen erneuten Versuch (*5,4: ἐπὶ δὲ τῷ ῥήματί σου χαλάσω τὰ δίκτυα. - Joh 21,6: ὁ δὲ εἶπεν αὐτοῖς· βάλετε … τὸ δίκτυον - ἔβαλον οὖν). 5. Die Folgen des wunderbaren Fischfangs betreffen zunächst die Netze, wenn auch auf unterschiedliche Weise: Sie reißen bzw. sie reißen gerade nicht (*5,6: διερρήσσετο δὲ τὰ δίκτυα αὐτῶν. - Joh 21,11: καὶ τοσούτων ὄντων ο ὐ κ ἐσχίσθη τὸ δίκτυον. 6. Die staunenswerte Größe des Fangs wird in beiden Texte doppelt demonstriert (*5,6.7: die Netze reißen; die zu Hilfe gekommenen Boote gehen unter. - Joh 21,6.11: Petrus und seine Genossen können das Netz nicht einholen, »denn es war so voller Fische«; im Netz sind 153 Fische, »und obwohl es so viele waren, zerriss das Netz nicht«). 7. Von Petrus wird eine Reaktion berichtet, wenn auch unterschiedlich (*5,8: Πέτρος προσέπεσεν τοῖς γόνασιν. - Joh 21,7b: ἔβαλεν ἑαυτὸν εἰς τὴν θάλασσαν). 8. Jesus wird als Herr angesprochen (*5,8b: ἔξελθε ἀπ’ ἐμοῦ, ὅτι ἀνὴρ ἁμαρτωλός εἰμι, κύριε. - Joh 21,7: Σίμων οὖν Πέτρος ἀκούσας ὅτι ὁ κύριός ἐστιν). 9. Beide Erzählungen münden für Petrus in eine Verheißung und eine Berufung. Beides bezieht sich auf die Funktion, die Petrus für andere besitzt, vgl. *5,11: ἀπὸ τοῦ νῦν ἀνθρώπους ἔσῃ ζωγρῶν mit Joh 21,15-18: (15) βόσκε τὰ ἀρνία μου; (16) ποίμαινε τὰ πρόβατά μου; (18) βόσκε τὰ πρόβατά μου (…) ἄλλος σε ζώσει καὶ οἴσει ὅπου οὐ θέλεις. Über *5,1-11 hinaus zeigt Joh 21,7 Kenntnis von Mt 14,28-31. Das ist plausibel, weil Joh 21 insgesamt von der Re-Institution des Petrus nach seiner Verleugnung handelt, wie die Entsprechung zwischen der dreifachen Frage Jesu (21,15-17) und der dreifachen Verleugnung (vgl. *22,57.58.60 || Joh 18,17.25.27) 47 zeigt: Da es in ______________________________ 45 R. P ESCH , Der reiche Fischfang, Düsseldorf 1969, 60-64; B OCK , Lk I 449; B ROWN , Joh II 1090; G. B LASKOVIC , Johannes und Lukas, St. Ottilien 1999, 43-87. 46 Vgl. schon P. P ARKER , Luke and the Fourth Evangelist, NTS 9 (1963), 317-336: 322. 47 In *Ev-Lk ist die Dreimaligkeit der Verleugnung deutlich herausgehoben (*22,34.61: τρίς). Der Rückgriff auf die Verleugnungsszene ist sichergestellt durch die komparativische Form der Frage 328 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch Joh 21 um die »Tragfähigkeit« von Petrus’ Glauben geht, ist ein kohärenzstiftender Querverweis auf Mt 14,28ff sinnvoll, weil Petrus hier wegen seiner ὀλιγοπιστία getadelt wird und untergeht. In Joh 21,7 fehlen beide Aspekte: Petrus hat diesen Test seines Glaubens bestanden. Neben diesen Querverweisen ist die Szene am Ufer des Sees von Tiberias aber auch durch *24,41-43 beeinflusst. Der enge Bezug ist aufgrund der Parallelität der Fragen (παιδία, μή τι προσϕάγιον ἔχετε; Joh 21,5 || ἔχετέ τι βρώσιμον ἐνθάδε; *24,41) ohne weiteres ersichtlich, die den Einfluss von *Ev auf Joh zeigt. Joh motiviert mit dieser Frage den wunderbaren Fischfang: Die Jünger haben (dem noch unerkannten) Jesus nichts zu essen anzubieten und fahren infolgedessen auf den Befehl Jesu hin noch einmal hinaus. Aber als sie mit ihrem überreichen Fang zurückkehren, finden sie das Feuer mit Fisch und Brot bereits vor (Joh 21,8f): Entgegen der Lesererwartung bieten nicht die Jünger Jesus von ihren Fischen an, sondern er lädt umgekehrt sie zum Essen ein: δεῦτε ἀριστήσατε (21,12). Überraschenderweise steht dabei der Fisch, der zuvor so zentral war, gar nicht mehr im Mittelpunkt. Vielmehr nimmt Jesus »das Brot und gibt es ihnen, genauso auch den Fisch« (21,13). Dass der Auferstandene zum Gastgeber der Jünger wird, geht mit einiger Wahrscheinlichkeit ebenfalls auf *Ev zurück: Aufgrund der handschriftlichen Bezeugung (it sy u. a.) ist es wahrscheinlich, dass *24,43b am Ende die Worte καὶ τὰ ἐπίλοιπα ἔδωκεν αὐτοῖς enthielt (s. dort). Joh hat also die eine Szene mit der Erscheinung des Auferstandenen (*24,36- 43) in drei Szenen (Joh 20,19-23.24-29; 21,1-23) aufgeteilt, sie jeweils mit weiterem Material aus den Prätexten (*Ev und Mt sind nachweisbar) angereichert und zu einer großen Komposition verbunden. Das Urteil, dass Joh 21 ein integraler Bestandteil der joh Gesamtkomposition ist, 48 lässt sich auf diese Weise auch überlieferungsgeschichtlich untersetzen. 5. Unter der Voraussetzung der engen literarischen Beziehung zwischen *24,39-43 und Joh 20,19-23 fällt eine weitere Inkongruenz auf, die darin besteht, dass Joh gegenüber seinem Ausgangstext *Ev auch »Überschüsse« enthält, nämlich die Gabe des Geistes in Verbindung mit der Sendung der Jünger (Joh 20,22) sowie den Auftrag zur Sündenvergebung (Joh 20,23). a. Vergleicht man diese Elemente zunächst mit den synoptischen Parallelen in den kanonischen Evangelien, ergibt sich ein deutliches Bild: Die abschließende ______________________________ Jesu Joh 21,15 (ἀγαπᾷς με π λ έ ο ν τ ο ύ τ ω ν ; ): Im Kontext nur von Joh 21 ist sie funktionslos; in der Zusammenschau der joh Prätexte verweist sie auf Mk 14,29 || Mt 26,33 und stellt ein wichtiges Kohärenzsignal dar. 48 Vgl. z. B. H. T HYEN , Das Johannesevangelium als literarisches Werk, in: ders., Studien zum Corpus Iohanneum, Tübingen 2007, 351-369; DERS ., Noch einmal: Johannes 21 und der »Jünger, den Jesus liebte«, ebd., 252-293 (zuerst 1995). § 13: Die literarischen Beziehungen zwischen *Ev, Joh und Lk 329 Verheißung zur bleibenden Gültigkeit der Sündenvergebung (Joh 20,23) hat erkennbar enge Analogien in Mt 16,19; 18,18, auf die Joh hier zurückgreift. Im Kontext des Mt zielen diese Aussagen sehr deutlich auf die Entsprechung zwischen der irdischen Zusage der Sündenvergebung und ihrem Bestand sogar auch im Himmel: Das ist der wesentliche Aspekt des redaktionellen Konzeptes zur Sündenvergebung, das Mt in einer weiten kompositionellen Linie entfaltet. 49 Joh 20,23 hat zwar die Grundstruktur der bleibenden Gültigkeit der Vergebung aus diesen Logien beibehalten, den für Mt entscheidenden Aspekt der Entsprechung von Erde und Himmel aber übergangen: Das war für Joh nicht wichtig. Diese unterschiedliche Gewichtung spricht dafür, dass Joh auf Mt zurückgreift; diese Bearbeitungsrichtung wird auch durch andere (und teilweise sehr viel deutlichere) Hinweise gestützt. b. Das Syndrom von Geistbegabung, Sendung und Sündenvergebung aus Joh 20,22f begegnet allerdings auch in Lk 24,47-49, also im gleichen Kontext der Erscheinung Jesu vor den Jüngern in Jerusalem. Allerdings unterscheiden sich die lk Aussagen von Joh 20 darin, dass den Jüngern der Geist zunächst nur verheißen, nicht aber gegeben wird (ἀποστέλλω τὴν ἐπαγγελίαν τοῦ πατρός μου ἐϕ’ ὑμᾶς Lk 24,49 ≠ ἐνεϕύσησεν … λάβετε πνεῦμα ἅγιον Joh 20,22). Wie Lk 24,49b ὑμεῖς δὲ καθίσατε ἐν τῇ πόλει ἕως οὗ ἐνδύσησθε ἐξ ὕψους δύναμιν deutlich macht, hat Lk die Gabe des Geistes erst für den späteren Zeitpunkt an Pfingsten vorgesehen und kann an dieser Stelle nur proleptisch darauf verweisen. Aus dem gleichen Grund ist auch die Funktion der Jünger als Zeugen »beginnend von Jerusalem aus« ihr zukünftiger Auftrag: Er wird jetzt nur in Aussicht gestellt und erst später erteilt (Act 1,8; 9,15 usw.). Dass diese (zukünftige) Verkündigung an zentraler Stelle auch die Vergebung der Sünden enthalten soll, kündigt Jesus in Lk 24,48 zwar an, aber dieser Aspekt wird in der Erzählung von Act nicht prominent aufgegriffen. c. Auch, wenn es keine direkte Bezeugung für Lk 24,44-49 gibt, ist es aus inneren Gründen sehr wahrscheinlich, dass diese Belehrung in *Ev gefehlt hat und erst durch die lk Redaktion an dieser Stelle ergänzt wurde. Das aber heißt, dass Lk den Zusammenhang von Geistbegabung, Sendung und Verkündigung von Sündenvergebung aus Joh 20,22f übernommen und, gewissermaßen passgenau, in der Erzählung von der Erscheinung vor den Jüngern verortet hat. Die Überlegung, dass die genannten Elemente in Lk 24,44-49 von der lk Redaktion sekundär auf der Grundlage von Joh 20,22f ergänzt wurden, lässt sich zwar nicht beweisen, aber durch einige flankierende Überlegungen wenigstens plausibilisieren. 1. Die Formulierung, in der die Sündenvergebung in Lk 24,47 thematisiert wird, zeigt verschiedene typisch lk Eigenheiten: κηρυχθῆναι ἐπὶ τῷ ὀνόματι αὐτοῦ μετάνοιαν εἰς ἄϕεσιν ἁμαρτιῶν εἰς ______________________________ 49 Vgl. dazu M. K LINGHARDT , Bund und Sündenvergebung. Ritual und literarischer Kontext in Mt 26, in: ders., H. Taussig (Hg.), Mahl und religiöse Identität im frühen Christentum, Tübingen 2012, 159-190: 180-185. 330 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch πάντα τὰ ἔθνη. Hauptthema ist die die Umkehrverkündigung, die dann auch die Sündenvergebung mit einschließt. Das Abstraktnomen ἄ ϕ ε σ ι ς taucht bei *Ev nicht auf, dagegen hat die lk Redaktion es an markanten Stellen positioniert: Im Benedictus (Lk 1,77: τοῦ δοῦναι γνῶσιν σωτηρίας τῷ λαῷ αὐτοῦ ἐ ν ἀ ϕ έ σ ε ι ἁμαρτιῶν αὐτῶν) sowie gleich zwei Mal in den lk Ergänzungen der Nazarethperikope (Lk 4,18: κηρύξαι αἰχμαλώτοις ἄ ϕ ε σ ι ν … ἀποστεῖλαι τεθραυσμένους ἐν ἀ ϕ έ σ ε ι ). Besonders aufschlussreich ist die Kombination von μετάνοια und ἄϕεσις in Act 5,31 (τοῦ δοῦναι μετάνοιαν τῷ Ἰσραὴλ καὶ ἄϕεσιν ἁμαρτιῶν), die ja auch für Lk 24,47 charakteristisch ist. 2. Dass Jesus den Jüngern in Aussicht stellt, er werde die Verheißung des Vaters auf sie herabsenden (Lk 24,49: καὶ ἰδοὺ ἐγὼ ἀποστέλλω τὴν ἐπαγγελίαν τοῦ πατρός μου ἐϕ’ ὑμᾶς) zeigt das lk Konzept, dass erst der (auferstandene und) in den Himmel aufgenommene Jesus den Geist von dort aus senden kann (Act 2,33ff): Darin unterscheidet sich die lk von der joh Pneumatologie. Tatsächlich ist auffällig, dass die wichtigen lk Erwähnungen des Heiligen Geistes in *Ev gefehlt haben: *Ev erwähnt den Geist weder in christologischen Zusammenhängen noch in Bezug auf die Sendung der Apostel. 50 3. Allerdings enthielt *Ev ganz am Ende (also nach der Erscheinungsszene *24,36-43) eine Sendungsaussage. Deren Gestalt ist allerdings kaum genau zu eruieren. Tertullian referiert zu *24,50 lediglich, dass Jesus die Apostel zur Verkündigung vor allen Völkern ausgesandt habe. 51 Harnacks Überlegung zur Rekonstruktion von *24,50 entbehrt jeder Grundlage und reflektiert den charakteristisch lk Wortlaut. 52 Daher wird man nicht über Tertullians Referat hinaus näher an den Wortlaut von *Ev herankommen; er wird wohl einfach gelautet haben: καὶ αὐτὸς ἀπέστειλεν τοὺς ἀποστόλους εἰς τὸ κηρυχθῆναι πᾶσιν τοῖς ἔθνεσιν. Aber auch diese allgemeine Formulierung ist bemerkenswert, denn diese Sendung ganz am Ende von *Ev weist über den erzählten Zeithorizont hinaus in die Zukunft. Wenn man einen Referenzpunkt für diese Verheißung sucht, dann ist sie am ehesten im marcionitischen Apostolos zu sehen: Denn in den zehn Paulusbriefen der marcionitischen Apostolosausgabe war ja durchaus zu lesen, wie ein ἀπόστολος Jesu zu πᾶσιν τοῖς ἔθνεσιν geht und ihnen verkündet. Allerdings ist Paulus keiner der ἀπόστολοι, von denen *24,50 sprach. Gleichwohl wäre eine solche Verbindung, wenn sie sich nachweisen ließe, aufregend und wichtig: Sie könnte zeigen, dass *Ev durchaus im Blick auf die vorkanonische Paulusausgabe hin entworfen wurde. Aber über eine vage Vermutung kommt man vorerst nicht hinaus: Der mögliche Zusammenhang zwischen *Ev und der von Marcion verwendeten Paulusausgabe bleibt vorerst ein Desiderat. e. Das Verhältnis von Joh und Lk im Rahmen der *Ev-Priorität Diese Analysen sollten ausreichen, das literarische Verhältnis zwischen Joh und Lk zu klären. Die lk-joh Gemeinsamkeiten gegen Mk und Mt in der Passions- und Osterüberlieferung sowie die weitere Frage nach dem Verhältnis zwischen Joh und den Synoptikern lassen sich in diesem Modell ohne weiteres verstehen: Was im ______________________________ 50 Außer in der Geistbitte des Vater-Unser, die sich auf das zukünftige Kommen des Geistes richtet (*11,2), kommt der Heilige Geist nur noch im Zusammenhang der Aufforderung zum furchtlosen Bekenntnis vor: So, wie die Lästerung des Heiligen Geistes eine unvergebbare Sünde ist, so wird »τὸ ἅγιον πνεῦμα euch lehren, was ihr in dieser Stunde sagen sollt« (*12,12). 51 Tert. 4,43,9: apostolos mittens ad praedicandum universis nationibus. 52 H ARNACK 240*: »M.s Evangelium schloß wohl mit den Worten: κηρυχθῆναι … ἄ ϕ ε σ ι ν ἁ μ α ρ τ ι ῶ ν εἰς πάντα τὰ ἔθνη« (Hervorhebung M. K.). § 13: Die literarischen Beziehungen zwischen *Ev, Joh und Lk 331 methodischen Horizont der Zwei-Quellentheorie als überkomplexes Problem erscheint, für das eine Lösung noch nicht einmal theoretisch denkbar ist, 53 passt unter der Annahme der *Ev-Priorität nahtlos zusammen. Die Differenzierung zwischen *Ev und Lk erlaubt auf der einen Seite, vor allem die strukturellen lk-joh Übereinstimmungen gegen Mk und Mt als gemeinsame Abhängigkeit von *Ev zu verstehen, die sich eben auch auf die Bearbeitungsrelation ⑥ zwischen *Ev und Joh erstreckt. Da Mk nicht die älteste Überlieferungsschicht darstellt, von der die anderen dann abhängig sein müssen, erübrigen sich die hypothetischen Zwischenschritte, die für die Zusammenhänge zwischen der lk und der joh Passionsgeschichte verschiedentlich angenommen wurden. 54 Auf der anderen Seite haben diejenigen joh-lk Übereinstimmungen, die nicht auf *Ev zurückgeführt werden können, das Bearbeitungsgefälle ⑦ von Joh hin zu Lk wahrscheinlich gemacht. Sie bestätigen einen Teil der Beobachtungen, die zu der These der Joh-Priorität vor Lk geführt haben. 55 Dass die jüngsten Äußerungen in diese Richtung von Barbara Shellard und Mark Matson dabei auch auf textkritische Beobachtungen zurückgreifen, erweist sich in dem hier vorgeschlagenen Modell als völlig sachgerecht: Dass beispielsweise Petrus’ Gang zum leeren Grab Lk 24,12 auf Joh 20,3ff beruht, findet eine systemkonforme Erklärung in dem redaktionellen Schritt, der zwischen *Ev und Lk liegt. Die hier vorgeschlagene überlieferungsgeschichtliche »Mittelstellung« des Joh zwischen *Ev und Lk beschränkt sich nicht auf die Passions- und Osterüberlieferung, der die hier besprochenen Beispiele angehören: Sie gilt jeweils für die Gesamttexte. Dies lässt sich an wenigstens einem prominenten Beispiel auch leicht zeigen, dessen komplexe Überlieferungsgeschichte schon immer aufgefallen war, nämlich am Zusammenhang zwischen den Erzählungen von der Salbung Jesu und den »bethanischen Geschwistern« Maria, Martha und Lazarus: Auch für diese Erzählungen liegen die Ursprünge in *Ev (*7,36-50; *10,38-42; *16,19-31); auch hier gibt es eine von *Ev abweichende Rezeption in Mk und Mt (Mk 14,3-9; Mt 26,6-13), auch hier hat Joh die narrativen Grundlagen entscheidend weiterentwickelt und fortgesponnen (Joh 11,28-44; 12,1-8), und auch hier finden sich sekundäre Ergänzungen durch Lk. 56 ______________________________ 53 Vgl. das Urteil von W OLTER , Lk 691 (o. S. 306). 54 Vgl. V. T AYLOR , The Passion Narrative of St Luke, Cambridge 1972; F R . R EHKOPF , Die lukanische Sonderquelle, Tübingen 1959; H. K LEIN , Die lukanisch-johanneische Passionstradition, ZNW 67 (1976), 155-186; F R . S CHLERITT , Der vorjohanneische Passionsbericht, Berlin u. a. 2007 usw. 55 Vgl. F. L. C RIBBS , St Luke and the Johannine Tradition, JBL 90 (1971), 422-45; DERS ., The Agreements that Exist Between Luke and John, SBL.SP 1 (1979), 215-251; B. S HELLARD , The Relationship of Luke and John - A Fresh Look at an Old Problem, JThS 46 (1995), 71-98; DIES ., New Light on Luke, London u. a. 2004; M. A. M ATSON , In Dialogue with Another Gospel, Atlanta 2001. 56 Zu den überlieferungsgeschichtlichen Verhältnissen vgl. jeweils die Rekonstruktion zu *7,36-50; *10,38-42; *16,19-31. 332 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch 5. *Ev und die kanonischen Evangelien Mit diesen Überlegungen zum Verhältnis zwischen *Ev, Joh und Lk sind die literarischen Beziehungen zwischen *Ev und den kanonischen Evangelien beinahe komplett. Allerdings fehlen noch zwei weitere Bearbeitungsrelationen, die das Bild vervollständigen. Sie werden auch in anderen überlieferungsgeschichtlichen Modellen vorausgesetzt, ihr Nachweis ist insgesamt unkritisch. -- - - - - *Ev-------------- --- - - - - - ----------------------------------③--- --- - - - - ------------ ④- - - Mk- --- - - - ----------- ①---- - - - - - --- - - ---⑥- -- - ---- - - ----②- - - - - - - --- ------⑧- -- -- - - ------------⑩- - - - - -Mt- - - - - - - - - - - -- - Joh- ------------------⑨-- - - --------------⑤ - - - -- - ---------- --- - - - ⑦ - --Lk- - - - - - Abb. 10: Weitere Beziehungen zwischen den kanonischen Evangelien a. Das Verhältnis von Lk zu Mk Dass Lk von Mk literarisch abhängig ist, wird in allen überlieferungsgeschichtlichen Modellen angenommen, die eine Mk-Priorität vertreten. Die einzige Ausnahme, die in den letzten Jahrzehnten ernsthaft diskutiert wurde, ist die sog. »New-Griesbach- Hypothesis« von William Farmer und anderen in seiner Folge: Sie rechnet mit der Mk-Posteriorität (nach Mt und Lk). Dieser Annahme liegen jedoch nicht so sehr literarkritische Beobachtungen an Mk zugrunde (beispielsweise zur redaktionellen Bearbeitung von lk Texten durch Mk), als vielmehr grundlegende Erwägungen zur Erklärung der synoptischen Beziehungen überhaupt. Da für diese mit der *Ev- Priorität eine andere und plausiblere Lösung gefunden wurde, als sie im Rahmen der Zwei-Quellentheorie denkbar war, ist die lk Abhängigkeit von Mk wenig aufregend. Sie ist in der hier vorgeschlagenen Bearbeitungsrelation ⑧ leicht nachzuweisen: Es genügt, diejenigen Texte zu identifizieren, die Mk redaktionell gegenüber *Ev ergänzt hatte und die Eingang in Lk gefunden haben, ohne jedoch durch Mt entlang der Relationen ④ und ⑤ vermittelt zu sein. Zum Nachweis genügen wenige Beispiele. Den deutlichsten Aufschluss bietet das Gleichnis von den bösen Weingärtnern (Mk 12,1-12 || Mt 21,33-46 || Lk 20,9-19). Epiphanius bezeugt sehr klar, dass das gesamte Gleichnis in *Ev gefehlt hat. 57 Da es in allen drei synoptischen Evangelien enthalten ist, liegt sein Ursprung in der mk Redaktion: Unter der methodischen ______________________________ 57 Epiph., Schol. 55: Πάλιν ἀπέκοψε τὰ περὶ τοῦ ἀμπελῶνος τοῦ ἐκδεδομένου τοῖς γεωργοῖς καὶ τό· Τί οὖν ἐστι τὸ λίθον ὃν ἀπεδοκίμασαν οἱ οἰκοδομοῦντες; Vgl. auch H ARNACK 228*; T SUTSUI 119. § 13: Die literarischen Beziehungen zwischen *Ev, Joh und Lk 333 Annahme der Zwei-Quellentheorie gehört das Gleichnis zu der sog. »Dreifachüberlieferung«, die sich bei Mk findet und von Mt und Lk rezipiert wurde. In dieser Hinsicht stören allerdings die zahlreichen und teilweise gravierenden mt-lk »Minor Agreements«. 58 Vor allem die positive mt-lk Übereinstimmung gegen Mk (Mt 21,44 || Lk 20,18 ÷ Mk 12,11 fin.) stellt ein Problem dar, für dessen Lösung erwartungsgemäß die üblichen Hilfskonstruktionen zur Erweiterung der Zwei-Quellentheorie vorgeschlagen wurden. 59 Wie oben deutlich wurde (s. S. 258ff), gehen diese Übereinstimmungen unter der Annahme der *Ev-Priorität jedoch auf die lk Rezeption der mt Redaktion an Mk zurück. Neben diesen mt-lk »Agreements« gibt es aber auch eine Reihe mk-lk Übereinstimmungen. Sie sind von methodischer Bedeutung, weil sie die Komplexität der synoptischen Beziehungen deutlich machen und ein einfaches Benutzungsmodell ausschließen: Jeweils zwei der drei Evangelien weisen Übereinstimmungen gegen das dritte auf. Im methodischen Horizont der Zwei-Quellentheorie spielen diese mk-lk Übereinstimmungen keine besondere Rolle: Sie stellen die methodisch vorausgesetzte und jeweils unterschiedliche Rezeption von Mk durch Mt und Lk unter Beweis. Auch für die »Markan-Priority-without-Q«-Hypothese stellen diese Übereinstimmungen kein unüberwindliches Hindernis dar, denn sie rechnet ja damit, dass Lk sowohl Mk als auch Mt voraussetzt. Unter der Annahme der *Ev- Priorität belegen diese Übereinstimmungen, dass Lk neben *Ev nicht nur Mt, sondern auch Mk rezipiert hat. Zu diesen mk-lk »Agreements« gegen Mt gehören. Sendung jeweils eines Knechtes (Mk 12,2.4 || Lk 20,10.11 ≠ Mt 21,34.36). - Sendung eines dritten Knechts (Mk 12,5a || Lk 20,12 ÷ Mt 21,36). - λέγουσιν αὐτῷ Mt 21,41 ÷ Mk 12,9 || Lk 20,16). - ἐλεύσεται καὶ ἀπολέσει τοὺς γεωργοὺς [τούτους] καὶ δώσει τὸν ἀμπελῶνα ἄλλοις Mk 12,9 || Lk 20,16 ≠ κακοὺς κακῶς ἀπολέσει αὐτοὺς καὶ τὸν ἀμπελῶνα ἐκδώσεται ἄλλοις γεωργοῖς, οἵτινες ἀποδώσουσιν αὐτῷ τοὺς καρποὺς ἐν τοῖς καιροῖς αὐτῶν Mt 21,41). - ἔγνωσαν γὰρ ὅτι πρὸς αὐτοὺς τὴν παραβολὴν εἶπεν Mk 12,12b || Lk 20,19c ÷ Mt 21,46. Das Phänomen (mit positiven und negativen Übereinstimmungen) entspricht also den Erklärungen zu den mt-lk »Minor Agreements«, die in der Forschung sehr viel mehr Aufmerksamkeit gefunden haben: Dass nämlich Mt und Lk ihre Quellen nicht »sklavisch« genau rezipieren, sondern oft eigene Formulierungen einfließen lassen. Im Rahmen der *Ev-Priorität belegen diese mk-lk Übereinstimmungen gegen Mt im nicht-*Ev Material, dass Lk nicht nur *Ev und Mt, sondern auch Mk benutzt hat. Eine weitere Auffälligkeit sei hier wenigstens erwähnt: Sowohl die mt als auch die mk Fassung dieser Perikope weisen (kanonische) Überarbeitungsspuren ______________________________ 58 Vgl. die Liste der »Minor Agreements« in der Rekonstruktion z. St. 59 K. S NODGRASS , The Parable of the Wicked Tenants, Tübingen 1983, 56, hat an einen »Mk-Q-Overlap« gedacht, andere rechnen mit einem »Deuteromarkus«, z. B. A. E NNULAT , Die »minor agreements«, Tübingen 1994, 269 u. a. 334 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch auf, die sich aufgrund der Lesarten (vor allem) der »Westlichen« Handschriften wahrscheinlich machen lassen. 60 Andere Beispiele sind zwar in der Grundlage der Bezeugung nicht ganz so eindeutig, im Ergebnis aber nicht weniger klar. Im Zusammenhang der Erzählung vom Einzug Jesu in Jerusalem haben die Tempelreinigung (Lk 19,45f) sowie die Notiz über Jesu Lehre im Tempel mit dem Tötungsbeschluss der Hohenpriester und Schriftgelehrten sehr wahrscheinlich in *Ev gefehlt. 61 Die Tempelreinigung hat Mk 11,15-17 zum ersten Mal in die Überlieferung eingeführt: Sie ist Teil der von ihm geschaffenen Komposition mit der Verfluchung des Feigenbaums (Mk 11,12-14.15-19.20-25), deren Planmäßigkeit durch die Tageszählung (Mk 11,12.20) deutlich wird. Mt hat zwar wesentliche Elemente aus Mk übernommen, den Zusammenhang aber dekomponiert: Während Mk die Verfluchung des Feigenbaums und sein Verdorren zeitlich auf zwei Tage verteilt und dazwischen die Tempelreinigung erzählt, zieht Mt 21,18-22 beides zusammen: Jesus verflucht den Feigenbaum und er verdorrt sofort, und diese Plötzlichkeit ist dann auch der Grund für das Staunen der Jünger (Mt 21,19.20: παραχρῆμα). Wegen dieser Umstellungen hat Mt auch den Tötungsbeschluss der Hohenpriester und Schriftgelehrten aus Mk 11,18 nicht übernommen. In der Konsequenz findet sich die Abfolge von Tempelreinigung und Tötungsbeschluss nur bei Mk und Lk (Mk 11,15-17.18f || Lk 19,45f.47f ÷ Mt). Dieser Befund belegt, dass Lk bei der Redaktion von *Ev auch Mk benutzte und seinen Ausgangstext von hier aus ergänzte. Dieses Verfahren lässt sich auch an kleineren Ergänzungen zeigen. In der Belehrung über die Bedingungen der Nachfolge hat im Wort über die Verleugnung des Menschensohns die Terminierung in *9,26b gefehlt: ______________________________ 60 Zu diesem Phänomen vgl. u. § 14. 61 Vgl. im Einzelnen die Begründungen im Zusammenhang der Rekonstruktion (zu *19,29-48). § 13: Die literarischen Beziehungen zwischen *Ev, Joh und Lk 335 *9,26 Mk 8,38 Mt 16,27 Lk 9,26 ὃς ἂν ἐπαισχυνθῇ με ὃς γὰρ ἐὰν ἐπαισχυνθῇ με ὃς γὰρ ἂν ἐπαισχυνθῇ με καὶ τοὺς ἐμοὺς, καὶ τοὺς ἐμοὺς λόγους καὶ τοὺς ἐμοὺς λόγους, ἐν τῇ γενεᾷ ταύτῃ τῇ μοιχαλίδι καὶ ἁμαρτωλῷ, καὶ ἐγὼ καὶ ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου μέλλει γὰρ ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου τοῦτον ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου ἐπαισχυνθήσομαι αὐτόν ἐπαισχυνθήσεται αὐτόν, ἐπαισχυνθήσεται, ὅταν ἔλθῃ ἐν τῇ δόξῃ ἔρχεσθαι ἐν τῇ δόξῃ ὅταν ἔλθῃ ἐν τῇ δόξῃ τοῦ πατρὸς αὐτοῦ τοῦ πατρὸς αὐτοῦ αὐτοῦ καὶ τοῦ πατρὸς μετὰ τῶν ἀγγέλων τῶν ἁγίων. μετὰ τῶν ἀγγέλων αὐτοῦ, καὶ τῶν ἁγίων ἀγγέλων. καὶ τότε ἀποδώσει ἑκάστῳ κατὰ τὴν πρᾶξιν αὐτοῦ. Mt übergeht die erste Hälfte dieses Logions mit der charakteristischen Lexematik des wechselseitigen »sich Schämens« (ἐπαισχύνομαι) und spricht stattdessen nur allgemein davon, dass der Menschensohn einem jeden κατὰ τὴν πρᾶξιν αὐτοῦ vergelten werde (Mt 16,27). Dass Mt 16,27 den Wortlaut aus Mk 8,38 kannte, belegt die Vorstellung vom Kommen des Menschensohns in Herrlichkeit mit den Engeln; allerdings hat Mt nur von den Engeln, nicht aber von den heiligen Engeln gesprochen: Dieses Adjektiv hat Lk von Mk übernommen. Das heißt, dass die Reziprozität des Sich-Schämens von Mk zum ersten Mal in diesen Zusammenhang eingefügt wurde, von dem Lk es übernommen hat. Vor allem aber zeigt die Formulierung des Konditionalsatzes den Einfluss von Mk auf Lk: Während *Ev (mit großer Wahrscheinlichkeit) die Formulierung enthielt »Wer sich meiner und der Meinen schämt«, hat Mk daraus gemacht: »Wer sich meiner und meiner Worte schämt«. Lk ist ihm auch darin gefolgt. Diese kurzen Hinweise sollen als Beleg für die Abhängigkeit des Lk auch von Mk in der Bearbeitungsrelation ⑧ genügen. Das letzte Beispiel zeigt einmal mehr die Kleinteiligkeit des Quellenvergleichs im Redaktionsverfahren, die bereits in anderem Zusammenhang aufgefallen ist (o. S. 266): Im Unterschied zu den Annahmen der Zwei-Quellentheorie wird deutlich, dass Lk aufgrund seiner Abhängigkeit von Mt nicht zwei Quellen (Mk und »Q«) zusammenführte, sondern vier verschiedene Texte vor sich hatte, die er Schritt für Schritt miteinander verglichen hat: *Ev, Mk Mt und Joh. 336 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch b. Joh Abhängigkeit von Mt (und Mk) Auch die Bearbeitungsrelation ⑨ zwischen Mt und Joh ist unkritisch: Dass Joh auch Mt kannte, wird in allen Modellen vorausgesetzt, die eine literarische Abhängigkeit des Joh von den Synoptikern vertreten. Für den Nachweis des mt Einflusses auf Joh genügt es an dieser Stelle, auf Mt 26,52f zu verweisen: Die mt-joh Beziehung im Rahmen der Passions- und Osterüberlieferung ist aussagekräftig, weil Joh hier ansonsten ganz weitgehend gegen (Mk und) Mt der Akoluthie von *Ev folgt. In der Verhaftungsszene ließ Mt (über Mk hinaus) Jesus das Wort an den Jünger richten, der dem hohepriesterlichen Knecht das Ohr abgetrennt hatte. Die Aufforderung, das Schwert in die Scheide zu stecken, hat eine erkennbare Parallele in Joh: ἀπόστρεψον τὴν μάχαιράν σου εἰς τὸν τόπον αὐτῆς Mt 26,52 || βάλε τὴν μάχαιραν εἰς τὴν θήκην Joh 18,11. Mit dieser Aufforderung geht Mt erkennbar über den mk Bericht hinaus; die Entsprechung in Joh 18,11 stellt daher die joh Abhängigkeit von Mt sicher, wenn man nicht umgekehrt mit der Joh-Priorität rechnen will. Gleich im nächsten Vers fügt der mt Jesus noch hinzu, dass er der Hilfe gar nicht bedürfe, weil ihm sein Vater zwölf Legionen Engel schicken würde, wenn er darum bäte (Mt 26,53): Dies wäre eine unüberwindliche militärische Hilfe, auf die Jesus verzichtet, weil anders »die Schrift nicht erfüllt« würde (Mt 26,54). Der Verzicht auf himmlische Hilfe ist Ausdruck der tatsächlichen Überlegenheit Jesu und damit ein Beweis für die Freiwilligkeit seines Gehorsams (Mt 26,39.42). Joh hat dieses Element in einem anderen Zusammenhang aufgegriffen, nämlich im Verhör vor Pilatus (Joh 18,36). Hier besitzt es die gleiche Funktion, die Freiwilligkeit der Auslieferung Jesu deutlich zu machen, die in der joh Verhaftungsszene dadurch zum Ausdruck kommt, dass Jesus selbst sich dem Verhaftungstrupp stellt (s. o.). Die letzte Bearbeitungsrelation ⑩ zwischen Mk und Joh ist nur deshalb hier eingetragen, um das Missverständnis auszuschließen, dass Joh keine Kenntnis von Mk gehabt haben könne. An dieser Stelle bleibt ein offenes Problem, weil sich aufgrund des sicher nachweisbaren Rückgriffs von Joh auf *Ev und Mt eine Abhängigkeit auch von Mk kaum positiv zeigen lässt. Mit Blick auf die ansonsten sehr engen Beziehungen zwischen allen Überlieferungsstufen fällt die Vermutung schwer, dass Joh von Mk keine Kenntnis gehabt haben sollte. Nachweisen lässt sie sich allerdings nicht. c. *Ev und die kanonischen Evangelien Mit dem Nachweis der »Mittelstellung« des Joh zwischen *Ev und Lk sowie mit dem Hinweis auf die weiteren Bearbeitungsrelationen ist die Rekonstruktion der literarischen Beziehungen zwischen den vier kanonischen Evangelien unter der Annahme der *Ev-Priorität komplett: Die Einzelbeobachtungen haben das Bild der Arbeitshypothese bestätigt. In überlieferungsgeschichtlicher Hinsicht besitzt § 13: Die literarischen Beziehungen zwischen *Ev, Joh und Lk 337 die grundlegende Einsicht in die *Ev-Priorität vor Lk Konsequenzen, die es erlauben, eine ganze Reihe von schwierigen Fragestellungen zu klären, die in den bislang diskutierten Modellen zu kontroversen Lösungen geführt haben. 1. Mit Blick auf das Synoptische Problem ist das Modell der *Ev-Priorität dadurch ausgezeichnet, dass es zwei grundlegende Einsichten realisiert, die bislang in konkurrierenden Modellen vertreten wurden: Auf der einen Seite entsprechen die Einzeichnung von *Ev in das Gesamtbild und seine Funktion als Quelle für Mk, Mt und Lk der Grundeinsicht der Zwei-Quellentheorie: Die literarischen Beziehungen der drei Synoptiker sind zu komplex, um durch ein einfaches Benutzungsmodell erklärt zu werden. Die Beobachtung, dass jeweils zwei der drei synoptischen Evangelien Übereinstimmungen gegenüber dem dritten aufweisen, lässt sich nicht ohne die Annahme einer zusätzlichen Quelle verstehen. Diese Quelle ist *Ev. Im Unterschied zu »Q« ist die Existenz durch Testimonien eindeutig gesichert und braucht nicht hypothetisch erschlossen zu werden, auch wenn der Wortlaut in größeren Teilen nicht eindeutig gesichert ist. Auf der anderen Seite realisiert das Modell eine grundlegende Annahme der »Markan-Priority-without- Q«-Hypothese: Mt und Lk sind nicht unabhängig voneinander entstanden. Vielmehr ist Lk von Mt abhängig (§ 12). Das Verhältnis dieses Modells zu den gängigen Alternativen lässt sich jedoch auch negativ beschreiben: Im Unterschied zum methodischen Ausgangspunkt der Zwei-Quellentheorie, der prinzipiellen Unabhängigkeit von Mt und Lk, rechnet es mit einer literarischen Abhängigkeit. Im Unterschied zur »Markan-Priority-without-Q«-Hypothese geht der Großteil der mt-lk Übereinstimmungen jedoch nicht auf diese lk Abhängigkeit von Mt zurück, sondern auf *Ev, der gemeinsamen Quelle von Mt und Lk. 2. Die Überlegungen zur »Mittelstellung« des Joh zwischen *Ev und Lk sowie zur joh Rezeption von einzelnen Elementen aus Mt bestätigen die weithin vertretene Lösung zum Problemkreis der joh-synoptischen Beziehungen: Joh kannte und verwendete die synoptischen Evangelien - allerdings mit dem einen, wichtigen Unterschied, dass nicht Lk zu den joh Prätexten gehörte, sondern *Ev. Damit bestätigt sich auch die Annahme, dass die joh-synoptischen Beziehungen als literarische Rezeption zu denken sind. Wie schon für die synoptischen Beziehungen deutlich wurde, sind auch die Berührungen zwischen Joh auf der einen Seite sowie *Ev, Mk und Mt auf der anderen nicht als mündlicher Einfluss vorstellbar, sondern nur als Fortschreibung literarischer Quellen. Dies gilt auch für die lk Redaktion und ihre Rezeption der Prätexte *Ev, Mk, Mt und Joh. Das schon früher erkennbare Bild hat sich jetzt für alle Stufen der Überlieferungsgeschichte bestätigt: Die Redaktionsarbeit in den einzelnen Bearbeitungsrelationen ist nur als Bearbeitung von Texten vorstellbar. Dabei ist die Zahl der Texte, die je und je verglichen und rezipiert wurden, schrittweise gestiegen: Mk hatte nur *Ev vorliegen; Mt rezipierte *Ev und 338 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch Mk; Joh verarbeitete *Ev, Mk und Mt; Lk griff auf alle vier älteren Evangelien zurück: *Ev, Mk, Mt und Joh. 3. Die hier skizzierte Überlieferungsgeschichte ergibt daher das erstaunliche Bild eines schrittweisen Wachstums der Evangelienüberlieferung, das aus einer gemeinsamen Wurzel hervorgeht. Diese gemeinsame Wurzel bleibt von der ersten Rezeption durch Mk bis zum letzten Schritt der lk Redaktion die eine, maßgebliche Bezugsgröße, an der sich alle späteren Rezeptionsschritte mehr (Mk, Mt, Lk) oder weniger (Joh) orientiert haben. Die Entwicklung der Evangelienüberlieferung war daher sehr viel einheitlicher, als die im 20. Jh. diskutierten Modelle es nahelegen. Man kann sagen: *Ev ist nicht nur die gemeinsame Wurzel, aus der alle vier kanonischen Evangelien auf die eine oder andere Art entsprungen sind, sondern auch der Baum, um den herum sie sich ranken. § 14: Die Kanonische Redaktion der Evangelien 1. Methodische Voraussetzungen Die Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte vom ältesten Evangelium bis zum kanonischen Lk skizziert grob die Entstehungsgeschichte der kanonischen Evangelien entlang der wichtigsten Bearbeitungsrelationen. Nach den bisherigen Überlegungen lässt sich die Überlieferungsgeschichte folgendermaßen darstellen. - - - - - - *Ev------------- ③ - -- - - - - ----------- --- - - - - - - - ------------Mk- ----------------- - - - -----①--------------- ---------- ----⑥- ---------- - - ④- - --②- - - ------------ - -------- - - - - ----- - - - ------------Mt- -- - - - - - -- - Joh- - - -- - ------- -------⑤- ------------- - ------------⑦- -- - - - - --Lk- Abb. 11: Die Überlieferungsgeschichte der Evangelien von *Ev bis Lk Allerdings stellt dieses Bild eine Vereinfachung der tatsächlichen Verhältnisse dar. Denn abgesehen davon, dass nicht alle Bearbeitungsrelationen eingezeichnet sind, suggeriert es, dass die hier unter den kanonischen Bezeichnungen Mk, Mt und Joh identifizierten Stationen der Überlieferungsgeschichte mit den entsprechenden kanonischen Evangelien identisch sind. Dies ist jedoch nicht der Fall, wie schon verschiedentlich deutlich wurde: Es handelt sich um ältere, nämlich um vorkanonische Fassungen der Texte, die in ihrer überarbeiteten Form als Teile des kanonischen Vier-Evangelienbuches vorliegen. Die in diesem Diagramm erfassten Stationen der Überlieferungsgeschichte zwischen *Ev und Lk sind daher genauer als *Mk, *Mt und *Joh zu bezeichnen. Das Verhältnis zwischen den vorkanonischen und den kanonischen Fassungen von Mk, Mt, und Joh ist strukturell analog zum Verhältnis zwischen *Ev und Lk. In methodischer Hinsicht beruht die Unterscheidbarkeit zwischen den vorkanonischen und den kanonischen Fassungen der Evangelien auf den Beobachtungen zum Verhältnis zwischen dem für *Ev bezeugten Text und den Varianten der handschriftlichen Überlieferung des kanonischen Lk, die oben skizziert wurden. 1 Dort hatte sich gezeigt, dass die Entsprechungen zwischen *Ev und den Lk-Varianten ______________________________ 1 S. § 5, insbesondere S. 118ff. 340 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch am ehesten als Interferenz zwischen den handschriftlichen Überlieferungen zweier verschiedener Ausgaben des gleichen Textes zu verstehen sind: Die redaktionellen Varianten des kanonischen Mehrheitstextes stellen demzufolge Spuren des vorkanonischen Textes dar, die sich in verschiedenen kanonischen Lk-Handschriften niedergeschlagen und erhalten haben. Diese Überlegung hat sich für die Rekonstruktion von *Ev als ausgesprochen wichtig erwiesen. Denn in vielen Fällen, für die keine direkte Bezeugung durch die Häresiologen vorliegt, erlauben diese Varianten der kanonischen Überlieferung den Rückschluss auf die Existenz (und teilweise auch auf die Gestalt) einer vorkanonischen Ausgabe. Allerdings ist das Problem für die Rekonstruktion der anderen vorkanonischen Fassungen (also *Mk, *Mt und *Joh) deutlich größer als für die Rekonstruktion von *Ev. Für die Identifizierung einer vorkanonischen Lk-Ausgabe liegen ja nicht nur die Varianten der kanonischen (Lk-)Handschriften vor, sondern auch die häresiologischen *Ev-Bezeugungen, die eine positive Kontrollgröße darstellen: Unter der Voraussetzung der *Ev-Priorität belegen die Übereinstimmungen zwischen *Ev und den Lk-Varianten, die in Anhang III zusammengestellt sind, den vorkanonischen Charakter dieser Varianten. Für die anderen Evangelien fehlt eine solche positive Kontrollinstanz. Andererseits gibt es auch in der handschriftlichen Überlieferung von Mk, Mt und Joh (in unterschiedlicher Dichte und Deutlichkeit) Varianten, die als redaktionelle Eingriffe zu beurteilen sind und die nicht auf Schreibversehen oder eigenmächtige Textänderungen durch Kopisten zurückgehen werden. Ihre genaue Identifizierung und die Abgrenzung von sekundären (das heißt in diesem Fall: nachkanonischen) Änderungen sind allerdings weniger gewiss, als dies bei den Lk-Varianten der Fall ist. Für die Identifizierung dieser Varianten gelten grundsätzlich die gleichen Einsichten, die sich oben bereits für diejenigen Lk-Varianten gezeigt haben, für die keine direkte Bezeugung vorliegt. Ausgangspunkt sind die besonders »interferenzträchtigen« Handschriften des »Westlichen Textes«. Aber da sich ja auch schon gezeigt hatte, dass das Phänomen der vorkanonischen Lesarten nicht auf diese Handschriften begrenzt werden kann, sind auch die weiteren Zeugen mit einzubeziehen. Um ein auch nur näherungsweises Bild der vorkanonischen Textgestalt von *Mk, *Mt und *Joh zu erhalten, wäre demnach eine vollständige Analyse aller Varianten vonnöten - und zwar auch solcher, die nur vereinzelt oder in entfernten Zeugen (etwa in den sekundären Versionen) belegt sind. Diese Aufgabe kann hier auch nicht ansatzweise geleistet werden. Aus diesem Grund ist dieser letzte Schritt der überlieferungsgeschichtlichen Rekonstruktion in noch höherem Maße eine unvollständige Skizze als der Nachweis der einzelnen Stationen der vorkanonischen Überlieferungsgeschichte. Die folgenden Beobachtungen haben § 14: Die Kanonische Redaktion der Evangelien 341 daher lediglich die Funktion, die grundsätzliche Wahrscheinlichkeit einer solchen Kanonischen Redaktion aufzuzeigen. Die Überlieferungsgeschichte der Evangelien ist also, über die einzelnen Stadien der vorkanonischen Entwicklung hinaus, um eine letzte Bearbeitungsstufe zu ergänzen. Im Unterschied zu den vorangegangenen, sukzessive aufeinander aufbauenden Bearbeitungen ist für diese Redaktion anzunehmen, dass sie aus einer Hand stammt. Die schematische Darstellung der Überlieferungsgeschichte ist also folgendermaßen zu ergänzen. -- - - - - *Ev--- - - - - - --- - - - - - - --③--- - - - --- - - - - - - - *Mk- - - --- - - - --------------①-- ------④- - -----------②- - -- - - -----⑥- - - - - ----- - - - - - - - - - - - - -- - - - - - - - ---- - *Mt- - -- - - - - - - - - - - -- - *Joh---- - - - - - - - - -- - - ----⑦- - - -----------⑤- Ⓓ-- - ---------------Ⓐ- - -- Ⓑ---- --------Ⓒ- - -- - --Joh-- - --- --Lk- - - -Mk- --Mt------- Abb. 12: Die Kanonische Redaktion der Evangelien Zu erwarten ist daher, dass die hier zu untersuchenden redaktionellen Eingriffe der Bearbeitungsschritte Ⓑ , Ⓒ und Ⓓ zwischen den vorkanonischen Fassungen und den kanonischen Evangelien in erster Linie eine kohärenzstiftende Funktion besitzen. Diese Kanonische Redaktion ist nur knapp anzudeuten: Ein vollständiger Nachweis ist in diesem Rahmen nicht möglich. Die Auswahl der folgenden Beispiele ist daher willkürlich und richtet sich nach der Bedeutung des offenkundigen Materials. 2. Die Kanonische Redaktion von *Mk a. Der »Lange Markusschluss« Mk 16,9-20 Es bietet sich an, für diesen Nachweis bei der Bearbeitung des vorkanonischen *Mk zu beginnen. Denn für das kanonische Mk lässt sich der Bearbeitungsschritt Ⓑ der Kanonischen Redaktion besonders deutlich zeigen, nämlich im sog. »Langen Mk-Schluss«. Es ist bereits angedeutet worden (§ 11, S. 251), dass Mk 16,9-20 mit größter Wahrscheinlichkeit auf genau die jetzt zu zeigende Kanonische Redaktion von *Mk zurückzuführen ist. 342 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch Die textkritischen Besonderheiten am Ende des Mk-Evangeliums sind schon lange bekannt. 2 Für das Problem der Kanonischen Redaktion von *Mk sind hier allerdings nur die drei »Grundformen«, in denen das Ende des Mk in den Handschriften bezeugt ist, von Interesse, weil die Mischformen erkennbar sekundäre Konformationen darstellen. Als Kurzer Schluss wird hier das Ende von *Mk in 16,8 bezeichnet. Dieses Ende ist im Sinaiticus ( א 01) Vaticanus (B 02) sowie der Minuskel 304 (s. XII) bezeugt, außerdem in einigen Versionen (sy s armen mss sa ms ). Dieses Ende wird auch durch Euseb 3 und Hieronymus 4 bezeugt. Daneben gibt es etliche Handschriften, die zwischen Mk 16,8 und 9 durch Asterisken das ursprüngliche Ende andeuten oder aber direkt mitteilen, dass der Schluss Mk 16,9-20 in etlichen Handschriften fehlt (20 22 137 138 1209 mg 1582). Zu der Bezeugungslage für den Kurzen Schluss gehört auch die Debatte über das negative Zeugnis bei Clemens Alex. und Origenes. Für Origenes hätte ein Verweis auf Mk 16,9-20 in seiner Argumentation Cels. 2,56-70 sehr nahegelegen: Kelsos hatte sich darüber lustig gemacht, dass der Auferstandene nur einer einzigen Frau erschienen sei. In seiner Replik verweist Origenes jedoch nur auf Mt 28 (Cels. 2,70), nicht aber auf Mk 16,9-20. Allerdings ist das negative Zeugnis nicht belastbar. 5 ______________________________ 2 Bereits J. W. B URGON , The Last Twelve Verses of Mark, Oxford - London 1871, hatte die handschriftliche Situation umfassend dargestellt. Aus jüngerer Zeit vgl. W. R. F ARMER , The Last Twelve Verses of Mark, London 1974. Zur Diskussion vgl. außerdem K. A LAND , Der wiedergefundene Markusschluß? Eine methodologische Bemerkung zur textkritischen Arbeit, ZThK 67 (1970), 3-13; DERS ., Der Schluß des Markusevangeliums, in: M. Sabbe (ed.), L’Évangile selon Marc, Gembloux 2 1988, 435-470. 573-575; DERS ., Bemerkungen zum Schluss des Markusevangeliums, in: E. E. Ellis, M. Wilcox (Hg.), Neotestamentica et Semitica, Edinburgh 1969, 157-188; D. C. P ARKER , The Living Text of the Gospels, Cambridge 1997, 124-147. Zur Redaktion des kanonischen Schlusses vgl. J. A. K ELHOFFER , Miracle and Mission, Tübingen 2000. 3 Eusebius, Quaest. Marin. 1,1. Der Text findet sich in einer Handschrift (Cod. Vat. Palat. CCXX pulcherrimus, saec. ferme X), die Angelo Mai 1825 erstmals ediert und 1847 ein zweites Mal herausgegeben hatte (NPB IV, 219-309; darauf basiert PG 22, 937ff). Eusebius beantwortet die Frage nach dem Verhältnis von Mt 28,1 und Mk 16,9 und führt dazu aus, dass die exakten (Mk-)Handschriften (τὰ γοῦν ἀκριβῆ τῶν ἀντιγραϕῶν) mit der Botschaft des jungen Mannes an die Frauen und der Mitteilung ihrer Furcht endeten; das Folgende sei aber nur selten, in einigen, aber nicht in allen (Handschriften) berichtet (τὰ δὲ ἑξῆς σπανίως ἔν τισιν ἀλλ’ οὐκ ἐν πᾶσι ϕερόμενα): »Man könnte es für überflüssig halten, insbesondere wenn sich erweist, dass es dem Zeugnis der anderen Evangelisten widerspricht. Dies wäre eine Antwort, die eine unnötige Frage vermeidet und vollständig umgeht«. Zur Diskussion vgl. F ARMER , a. a. O. 3-13; P ARKER , a. a. O. 134. 4 Hieron., ep. 120. Hieronymus beantwortet der Gallierin Hedibia die gleiche Frage, die Marinus dem Euseb gestellt hatte. Seine Antwort ist erkennbar von Euseb abhängig (vgl. F ARMER , a. a. O. 23; P ARKER , a. a. O. 135) und besitzt daher als eigenständiger Zeuge keinen großen Wert für die angebotene Lösung (Bevorzugung des vorkanonischen Schlusses), zeigt jedoch, dass das Problem der uneinheitlichen Handschriftenlage noch zu Beginn des 5. Jh. auffällig war. 5 Vgl. F ARMER , a. a. O. 26f, der daraus folgert, dass Origenes den Langen Schluss gekannt haben könnte, und die Replik von P ARKER , a. a. O. 136: »neither can silence indicate that the Short Ending (sc. *16,8) was unknown.« Die beiden Ansichten liegen in methodischer Hinsicht nur scheinbar auf derselben Ebene, weil der positive Nachweis des Fehlens von Mk 16,9-20 in der patristischen Literatur eine ganz andere Qualität der Zeugnisse erfordern würde als der positive Nachweis der Existenz. § 14: Die Kanonische Redaktion der Evangelien 343 Als Mittlerer Schluss wird die Fassung bezeichnet, die direkt nur durch den altlateinischen Cod. Bobbiensis (k; s. V) bezeugt ist. Diese Handschrift, die außerdem zwischen 16,3 und 16,4 knapp die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu schildert, 6 lässt in 16,8 die Worte »sie sagten niemandem etwas« aus und enthält stattdessen den Schluss: »Sie berichteten alles Aufgetragene kurz dem Petrus und denen bei ihm. Danach sandte Jesus selbst durch sie von Osten bis Westen die heilige und unvergängliche Verkündigung des ewigen Heils aus. Amen.« Dieser Mittlere Schluss ist (im Einzelnen unterschiedlich) auch durch die Zeugen für die Mischformen belegt. Als Langer Schluss wird die Fassung von Mk 16,1-8.9-20 in der übergroßen Mehrheit der Handschriften (A C D Θ f 13 lat sy c.p.h bo Tat pers M ) bezeichnet. Zu den patristischen Zeugen für diesen Schluss gehören auch Irenaeus 7 und möglicherweise schon Justin. 8 Daneben gibt es noch eine Reihe von Mischformen, die Elemente aller drei Hauptformen enthalten, die also etwa zwischen Mk 16,8 und 9 bzw. zwischen Mittlerem und Langem Schluss textliche oder nichttextliche Signale auf das ursprüngliche Ende geben (Ψ L 099 0112 274 mg 579 sy h mg ℓ 1602), sowie natürlich die Fassung im Cod. Washingtonianus (W) mit dem berühmten »Freer-Logion« im Anschluss an 16,14. In methodischer Hinsicht sind diese Mischformen aufschlussreich, weil sie mit ihren unterschiedlichen Ergänzungen auch die Existenz des Kurzen Schlusses *16,8 belegen. Für das Zustandekommen der verschiedenen Fassungen hat sich längst ein stabiler Konsens herausgebildet: Sowohl der Kurze Schluss in *16,8 als auch der Lange Schluss 16,9-20 haben ausweislich der patristischen Zeugnisse bereits im 2. Jh. existiert. Der Mittlere Schluss (16,9 it k ), der auch in die Mischformen eingegangen ist, stammt ausweislich der Sprache, des Alters der Handschriften und der patristischen Bezeugung erst aus dem 4. Jh., ist also ein Sekundärphänomen. Dieses ist am leichtesten zu verstehen, wenn k (oder seine Vorlage) eine Handschrift mit dem Kurzen Schluss in *16,8 vorliegen hatte, der Kopist aber wusste, dass eigentlich noch ein längeres Ende mit dem Sendungsauftrag des Auferstandenen (also der Lange Schluss) folgen müsste und ein solches Ende selbst hinzufügte. Damit reduziert sich die Aufgabe: Zu erklären bleibt nur, wie es bereits im 2. Jh. zum Nebeneinander von Kurzem und Langem Schluss kommen konnte. Für dieses Problem ist die Forschungsgeschichte aus gut nachvollziehbaren Gründen deutlich unübersichtlicher als für die Datierung der einzelnen Varianten. Denn es liegt ohne weiteres auf der Hand, dass der Lange Schluss gegenüber dem Kurzen Schluss in *16,8 sekundär ist. Für die umgekehrte Vorstellung, dass Mk 16,9-20 ______________________________ 6 Mk 16,3 (k): subito autem ad horam tertiam tenebrae diei factae sunt per totum orbem terrae, et descenderunt ex caelis angeli et surgent (! ) in claritate vivi Dei (! ) simul ascenderunt cum eo, et continuo lux facta est. tunc illae accesserunt ad monimentum. 7 Iren., Haer. 3,10,6 zitiert Mk 16,19: In fine autem evangelii ait Marcus: Et quidem dominus Iesus, posteaquam locutus est eis, receptus est in caelos et sedit ad dexteram Dei. Zur Diskussion vgl. K ELHOFFER , a. a. O. 169f; P ARKER , a. a. O. 133 usw. 8 Justin, 1Apol. 45 (ὁ λόγος τοῦ ἰσχυροῦ) ὃν ἀπὸ Ἰερουσαλὴμ οἱ ἀπόστολοι αὐτοῦ ἐξελθόντες πανταχοῦ ἐκήρυξαν verweist auf Mk 16,20 ἐκεῖνοι δὲ ἐξελθόντες ἐκήρυξαν πανταχοῦ. Zur Diskussion vgl. K ELHOFFER , a. a. O. 170ff; P ARKER , a. a. O. 133 usw. 344 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch älter sei als das Ende in *16,8 und dass die letzten zwölf Verse sekundär gestrichen wurden, lässt sich bei bestem Willen kein denkbares redaktionelles Interesse ausmachen. Für die Annahme der Priorität des Langen Schlusses bleibt daher nur die Vermutung eines (versehentlichen) Verlustes der letzten zwölf Verse durch äußere Einfluss, also etwa durch den berüchtigten »Blattverlust«. Diese Lösung muss jedoch an der entscheidenden Stelle der Argumentation ein kontingentes Ereignis postulieren und ist darüber hinaus auch aus anderen Gründen wenig wahrscheinlich. 9 Wenn aber der Kurze Schluss in *16,8 älter ist als der Lange Schluss, stellt sich ein doppeltes Problem. Auf der einen Seite ist das textgeschichtliche Problem zu erklären, wie eine sekundäre Ergänzung in über 99 % der gesamten Überlieferung eindringen konnte. Daneben steht die theologische Frage nach dem als »verbindlich« verstandenen »Urtext«: Wenn die Kategorie »Urtext« durch das höhere Alter konstituiert ist, dann gibt es keine Möglichkeit, den sehr breit bezeugten Langen Schluss des Textus Receptus für theologisch verbindlich zu halten. Die kritischen Ausgaben lösen dieses Problem dadurch, dass sie den Mittleren und den Langen Schluss in Klammern setzen und so anzeigen, dass sie den Kurzen Schluss in Mk 16,8 für ursprünglich halten. Dass sie damit aber tatsächlich den Text des kanonischen Mk als Teil des Neuen Testaments wiedergeben, darf als mehr als fraglich gelten. Denn die Lösung dieses Dilemmas von Kurzem und Langem Schluss liegt auf der Hand und ist durch das analoge Verhältnis zwischen *Ev und Lk vorbereitet: Die beiden Schlüsse in *Mk 16,8 und in Mk 16,9-20 sind Elemente verschiedener Ausgaben. Der Kurze Schluss ist tatsächlich älter als der Lange Schluss: *16,8 ist der Schluss des vorkanonischen *Mk, der Lange Schluss 16,9-20 ist der Schluss des Mk als Teil der Kanonischen Ausgabe des Neuen Testaments. Die textkritische Einschätzung, dass der Schluss in *16,8 älter ist, wird auf diese Weise bestätigt, zugleich wird aber auch deutlich, dass das Mk-Evangelium als Teil des Neuen Testaments den Langen Schluss 16,9-20 enthielt, der daher zu Recht in die kritischen Ausgaben gehört - und zwar als originärer Bestandteil dieser Ausgabe, ohne dass seine Zugehörigkeit durch eckige Klammern oder andere Signale eingeschränkt werden darf. 10 Dieses Phänomen hat eine enge Analogie in all denjenigen Beispielen des kanonischen Lk-Textes, ______________________________ 9 Zu dieser Lösung vgl. A LAND , a. a. O. (Bemerkungen …) 158f. Gegen diese Lösung spricht, dass der Blattverlust eines in Lagen veröffentlichten Buches auch die andere Blatthälfte betroffen haben würde, abgesehen davon, dass die postulierte äußere Einwirkung den Archetypen so weit auseinanderliegender Zeugen wie Sinaiticus und Vetus Syra betroffen haben müsste. 10 Aus diesem Grund ist es aus sachlichen Gründen inakzeptabel, dass sich die Auslegung des (kanonischen) Mk »aufgrund der Textüberlieferung [...] auf 16,1-8 zu beschränken hat«, wie L ÜHR - MANN , Mk 268 ausführt: Gerade im Zusammenhang eines »Handbuchs zum Neuen Testament« wäre die Kommentierung bis Mk 16,20 sachlich angebracht. § 14: Die Kanonische Redaktion der Evangelien 345 deren sekundärer Charakter sich durch vereinzelte Spuren in der handschriftlichen Überlieferung bzw. durch die abweichende Bezeugung für das vorkanonische *Ev erwiesen hat, also etwa das Verhältnis von Kurz- und Langtext im lk Mahlbericht (Lk 22,19-21), die Abweichungen der Überlieferung des Vater-Unser (Lk 11,1-4) oder etwa das Fehlen der Himmelfahrtsnotiz in Lk 24,51 ( א * D a b d e ſſ 2 l sy s ): Der jeweils längere Text ist zwar jünger als der auch für *Ev bezeugte Text, ist aber im Kontext des kanonischen Lk-Texts als Teil der Kanonischen Ausgabe des Neuen Testaments ursprünglich. Mit dieser Einsicht lassen sich dann auch etliche Fragen zur Gattung, zur literarischen Einheit und zur narrativen Funktion von Mk 16,9-20 erklären. Denn der ganze Abschnitt lässt sich kaum als arrondierende Ergänzung der vorkanonischen *Mk-Erzählung verstehen: Dazu sind die Brüche zwischen *16,1-8 und 16,9ff zu deutlich. 11 Die vielfältigen Referenzen von Mk 16,9-20 auf die anderen kanonischen Evangelien, auf Act und möglicherweise auch auf Hebr konstituieren keine in sich kohärente Erzählung, sondern sind am besten als »cento or pastiche« 12 zu verstehen, also als Imitation, die sich überwiegend aus Teilen anderer Texte zusammensetzt. Dass diese Referenzen nicht nur auf die Evangelien, sondern auch auf Act und Hebr13 verweisen, hat die wichtige Konsequenz, dass Mk 16,9-20 auf einer Überlieferungsstufe ergänzt wurde, die wenigstens drei Teilsammlungen der Kanonischen Ausgabe voraussetzt (Evangelien; Praxapostolos; Paulusbriefe). Die primäre literarische Funktion dieses »cento« liegt jedoch nicht in der (ergänzenden oder korrigierenden) Mitteilung bestimmter Inhalte, sondern darin, dieses kanonische Mk-Evangelium als Teil einer kohärenten Ausgabe zu erweisen. Die Überlegung, dass Mk 16,9-20 als kompletter Text ein literarisches Eigenleben geführt haben könnte, bevor er redaktionell an das Ende des Mk gestellt wurde, 14 ist daher obsolet: Mk 16,9-20 ist überhaupt nur im Zusammenhang aller neutestamentlicher Texte verständlich. Der kundige Leser der gesamten Kanonischen Ausgabe ist in der Lage, diese Beziehungen ohne Probleme herzustellen und zu erkennen, dass das kanonische Mk-Evangelium durch die anderen Teile des Neuen Testaments gestützt wird und diese seinerseits stützt: Mk 16,9-20 wurde für diese Kanonische Ausgabe verfasst. ______________________________ 11 Mk 16,9-11 schließt nicht besonders gut an das vorkanonische Ende an: Dass die Frauen aus Furcht »niemandem etwas sagten« (*16,8), scheint für 16,10 keine Rolle zu spielen. Ganz entsprechend wird Maria Magdalena in 16,10 in einer Weise erwähnt, die nicht auf *16,1 rekurriert. 12 P ARKER , a. a. O. 138. 13 Vgl. die Entsprechungen zwischen Mk 16,17 und Act 2,4.11 bzw. Mk 16,19 und Act 7,55f (dazu K ELHOFFER , a. a. O. 146f), außerdem Mk 16,19f und Hebr 2,3f (vgl. ebd. 279f). 14 Vgl. S WETE , Mk 399-408. Diese These ist verschiedentlich aufgegriffen worden, etwa von P ESCH , Mk II 544-556 (vgl. I 40-47). Zusammenfassend s. K ELHOFFER , a. a. O. 158ff. 346 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch b. Weitere Beispiele für die Kanonische Redaktion von *Mk Hat man den Charakter der Kanonischen Redaktion innerhalb dieser großen Ergänzung am Ende des vorkanonischen *Mk verstanden, bereitet es keine Schwierigkeiten, weitere Instanzen dieser Bearbeitung zu identifizieren. Die Schwierigkeiten liegen vielmehr darin, sie vollständig zu erfassen. Aber Vollständigkeit ist in diesem Rahmen gar nicht anzustreben. Deshalb genügen wenige kurze Hinweise. In Mk 1,1 fehlen die letzten Worte υἱοῦ θεοῦ in einigen Handschriften. 15 Ein Versehen ist auszuschließen, obwohl wiederholt mit dieser Möglichkeit gerechnet wurde. Aber weder eine Parablepsis noch ein Homoioteleuton kommen in Frage 16 - diese Änderung ist sicherlich beabsichtigt und trägt alle Züge eines intentionalen, redaktionellen Eingriffs. 17 Da die Kette der von ἀρχή abhängigen Genitive (εὐαγγελίου Ἰησοῦ Χριστοῦ υἱοῦ θεοῦ) überladen und nicht besonders glücklich ist, hat man die kürzere Lesart als sekundäre Streichung aufgrund »der ungewöhnlichen Charakterisierung des Evangeliums« erklären wollen und damit die Ursprünglichkeit des Langtextes postuliert. 18 Dies ist nicht sehr wahrscheinlich. Bereits Konstantin von Tischendorf hatte erklärt, es sei »absurd und gegen die gesamte Geschichte des heiligen Textes, zu behaupten, dass solche Worte eher aufgrund der Bescheidenheit des Glaubens gestrichen als durch übereifrige Frömmigkeit hinzugefügt« würden. 19 Dass diese Sicht Tischendorfs hoher Wertschätzung des Cod. Sinaiticus entgegen kommt, spricht nicht gegen ihre Richtigkeit: Die Argumentation ist schlüssig. Es ist von einiger Bedeutung, dass die kurze Lesart durch etliche patristische Zeugnisse bereits für das 2. Jh. sichergestellt wird. 20 Damit ist klar, dass nicht erst Interessen im Umfeld der christologischen Streitigkeiten des (3. und) 4. Jh. für einen redaktionellen Eingriff (in der einen oder der anderen Richtung) verantwortlich waren. Andererseits ist es eine sinnvolle Überlegung, dass der betonte Hinweis auf die Gottessohnschaft Jesu gleich zu Beginn des Evangeliums ein antiadoptianisches Interesse verraten könnte. 21 Dies gilt jedenfalls dann, wenn der kurze Text älter ist und den vorkanonischen *Mk-Wortlaut repräsentiert: In diesem Fall würde der Langtext auf die Kanonische Ausgabe in der Mitte des 2. Jh. zurückgehen. Das bedeutet: Die redaktionelle ______________________________ 15 Mk 1,1 υιου θεου: om א * Θ 28 c 255 (1555*) sy j georg I armen mss . 16 Eine Parablepsis in der ersten, entscheidend wichtigen Zeile eines neuen Textes ist mehr als unwahrscheinlich. Auch ein Homoioteleuton ist wegen der anzunehmenden Schreibweise als Nomina Sacra auszuschließen. Vgl. P. M. H EAD , A Text-Critical Study of Mark 1.1 »The Beginning of the Gospel of Jesus Christ«, NTS 37 (1991), 621-629: 627ff (mit Vertretern dieser Sicht). 17 Vgl. J. S LOMP , Are the Words »Son of God« in Mark 1.1 Original? , BiTr 28 (1977), 143-150; H EAD , a. a. O.; B. D. E HRMAN , The Orthodox Corruption of Scripture, New York - Oxford 1994, 85-88. 18 Z. B. G NILKA , Mk I 43. 19 Tischendorf, NT VIII 215: »Ineptum certe totique textus sacri historiae repugnans foret, tale quid potius modica fide sublatum quam pietate male sedula illatum dicere.« 20 Der kürzere Text bei Iren gr/ lat Origen gr/ lat VictorinPatav TitusBostra Basil CyrHier Epiph Hieron (die genauen Belege bei T ISCHENDORF , NT VIII z. St.). Besonders aufschlussreich sind zwei Beobachtungen: Zum einen zitieren Origenes und Hieronymus Mk 1,1 zusammen mit dem folgenden Kontext (Mk 1,2), so dass man die Überlegung ausschließen kann, dass die fraglichen Worte in einem verkürzten Zitat weggefallen seien. Zum anderen zeigt der lateinische Irenaeustext Inkonsistenzen: Der kurze Text ist nur einmal bezeugt (3,11,8), während zweimal (3,1,6; 16,3) der längere Text auftaucht; dies ist als sekundäre Korrektur zu verstehen. 21 So B. D. E HRMAN , The Orthodox Corruption of Scripture, New York - Oxford 1994, 85-88. § 14: Die Kanonische Redaktion der Evangelien 347 Eintragung der Gottessohnschaft in Mk 1,1 trägt durchaus »orthodoxe« Züge, aber sie lässt sich nicht als »Corruption of Scripture« verstehen, wenn mit »scripture« ein quasi-kanonischer Text im Sinn einer »heiligen Schrift« gemeint ist. Vielmehr ist diese redaktionelle Veränderung an dem vorkanonischen *Mk vorgenommen worden - und zwar am ehesten im Zusammenhang der Kanonischen Redaktion, die aus diesen Einzeltexten zwar nicht die »Heilige Schrift« gemacht hat, wohl aber das »Neue Testament«. In der Pointe des Bildworts vom neuen Wein und den alten Schläuchen Mk 2,22 fehlt am Ende die Aufforderung ἀλλὰ οἶνον νέον εἰς ἀσκοὺς καινούς in einigen Handschriften (D 2427 it [aur d e f ſſ 2 i l q r 1 ] bo ms ). Auch hier liegt nahe, dass der längere Mehrheitstext nicht nachträglich gekürzt wurde, sondern auf eine sekundäre Ergänzung des Kurztextes zurückgeht, die sich im Übrigen sehr eng mit Lk 5,39 (red.; s. in der Rekonstruktion z. St.) berührt. Die Formulierung von Mk 6,50 ist uneinheitlich überliefert, weil die ersten Worte in einigen Handschriften fehlen. 22 Der Sinn verändert sich gegenüber dem Mehrheitstext kaum, denn auch dort ist ja berichtet (Mk 6,49), dass alle Jünger Jesus sahen. Dass diese Information in der Mehrheit der Überlieferung in V. 50 noch einmal wiederholt wird, könnte auf eine redaktionelle Einfügung zurückgehen, mit der sichergestellt werden soll, dass wirklich alle das gesehen hatten, was sie irrtümlich für ein ϕάντασμα hielten: Den über das Wasser gehenden Jesus. In der Rangstreitperikope finden sich in Mk 9,34f gleich zwei Beispiele für das hier zu besprechende Phänomen. Auf der einen Seite fehlen in Mk 9,34 die Worte ἐν τῇ ὁδῷ in einigen Zeugen. 23 Da diese Bemerkung ein wichtiges Signal der mk Redaktion dieses ganzen Abschnitts ist, ist es theoretisch denkbar, dass ein Teil der Zeugen dieses Element, das für das Verständnis der jeweiligen Einzeltexte nichts hergibt, ausgelassen haben. Aber eine solche Eigenmächtigkeit ist nicht sehr wahrscheinlich, noch dazu bei so weit auseinanderliegenden Handschriften. Aus diesem Grund liegt die Erklärung näher, dass die Redaktion, die *Mk einer Revision unterzog, das Unterwegs- Sein als Merkmal des theologischen Konzepts registriert hatte und es an dieser Stelle verstärkend eingefügt hat. Dies gilt umso mehr, als bereits aufgefallen war, dass die lk Redaktion von *Ev ganz offensichtlich von dem mk Konzept der »Reise« Jesu beeinflusst war und entsprechende »Reisenotizen« einarbeitete (Lk 13,22.33; 19,11b). 24 Sehr viel wichtiger ist, dass der größte Teil von Mk 9,35 mit dem Logion von den Ersten und Letzten in zwei Zeugen fehlte: καὶ λέγει αὐτοῖς· εἴ τις θέλει πρῶτος εἶναι, ἔσται πάντων ἔσχατος καὶ πάντων διάκονος: om D k. Für eine sekundäre Auslassung gibt es schlechterdings keinen nachvollziehbaren Grund. Da diese Aussage im mk Kontext der Rangstreitperikope keine synoptischen Parallelen besitzt, konstituiert sie ein mt-lk »Minor Agreement«. Allerdings ist das Logion von den Ersten und den Letzten in Mk 10,31 || Mt 19,30 ÷ Lk 18,30 enthalten und besitzt darüber hinaus eine Entsprechung im Abschluss des Gleichnisses von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,16) sowie im Abschluss der Belehrung von der engen und der verschlossenen Tür (Lk 13,30; red.). Das Wort ist ein typisches »Wanderlogion«: Es ist bereits in *Ev bezeugt (*22,26), wurde von den verschiedenen Stufen der Überlieferungsgeschichte von Mk 10,31 || Mt 19,30 über Mt 20,16 und Lk 13,30 rezipiert und ist schließlich auch noch von der Kanonischen Redaktion in Mk 9,35 eingefügt worden. ______________________________ 22 Mk 6,50 παντες γαρ αυτον ειδον: om D Θ 565 700 a b c d f ſſ 2 i q r 1 . 23 Mk 9,34 εν τη οδω: om A D Δ pc a aur b c d f ſſ 2 i k q r 1 sy s . 24 S. o. § 11.1. 348 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch Das Gleichnis von den bösen Weingärtnern Mk 12,1-12 bietet ein besonders instruktives Beispiel. Denn dieses Gleichnis hat in *Ev mit Sicherheit gefehlt (s. die Rekonstruktion zu Lk 20,9-19), sodass der Ursprung der synoptischen Überlieferung in Mk - oder genauer: im vorkanonischen *Mk - zu sehen ist, dessen Text zuerst (*)Mt 21,33-46 und dann Lk 20,9-19 aufgegriffen haben. Interessanterweise gibt es zu Mk 12,1-12 eine ganze Reihe von Lesarten. Die meisten von ihnen sind als geringfügige sprachliche Glättungen zu beurteilen, die keine nennenswerten Änderungen der Semantik bewirken. Allerdings sind diese Varianten mit Sicherheit keine Kopistenversehen, und sie lassen sich auch nicht als Einflüsse aus den synoptischen Parallelen verstehen: Die meisten dieser kleineren Änderungen sind als stilistische Glättungen zu beurteilen, für die auch die Bearbeitungsrichtung von der jeweils schmaler bezeugten Variante hin zum Mehrheitstext meistens einleuchtet. Diese »kleinen Änderungen« sind daher am besten als Spuren der Kanonischen Redaktion zu verstehen, die im Zuge der Integration des vorkanonischen *Mk in das kanonische Vier-Evangelienbuch vorgenommen wurden: *Mk 12,1: αμπελωνα εϕυτευσεν ανθρωπος A D f 1 lat sy h ¦ Mk 12,1: αμπελωνα ανθρωπος εϕυτευσεν א B C Δ Ψ 33 579 1424 2427 pc; ανθρωπος τις εϕυτευσεν αμπελωνα W Θ f 13 565 2542 pc aur c sy p . *Mk 12,6: υστερον δε W Θ (f 13 28 700 2542) 565 aur c sy p sa mss ¦ Mk 12,6: ετι ουν א B L Δ Ψ f 1 33 892* 2472 pc b i r 1 sa ms bo; ετι A C D l q vg sy h M . *Mk 12,6: εσχατον D it b ¦ Mk 12,6: εσχατον προς αυτους א B C L Δ Θ Ψ f 13 33 579 892 1424 2427 al; προς αυτους εσχατον A W f 1 vg sy p.h M ; προς αυτους 63 pc sy s . *Mk 12,7: προς εαυτους ειπαν οτι א B C L W (Δ) Ψ f 1 33 579 892 2427 pc ¦ Mk 12,7: ειπαν προς εαυτους οτι A (D) M ; θεασαμενοι αυτον ερχομενον ειπαν προς εαυτους [= p)] Θ (N f 13 28 2542) 565 700 al (c) sy h **. *Mk 12,8: απεκτειναν αυτον א B C L Δ Ψ 892 2427 pc ſſ 2 (i q) k ¦ Mk 12,8: αυτον απεκτειναν A D W Θ f 1.(13) 33 lat M . *Mk 12,9: ουν om B L 892* 2427 pc k sy s sa mss bo ¦ Mk 12,9: add א A C D W Θ Ψ f 1.13 lat sy p.h sy mss bo ms M . Diese Beispiele sind nicht vollständig, und in Einzelheiten ist auch die Beurteilung für die Bearbeitungsrichtung nicht mit letzter Sicherheit auszumachen. Aber das kumulative Gewicht ist nicht von der Hand zu weisen und deutet auf eine durchgehende Bearbeitung hin. Eine besondere Rolle spielt die uneinheitliche Bezeugung von Mk 12,12c: Die letzten Worte sind fast durchgängig bezeugt, fehlen aber in einer Majuskel. 25 Es ist theoretisch möglich, dass diese letzte Aussage im Cod. Washingtonianus tatsächlich aufgrund eines Versehens ausgefallen ist; aber wenn man nicht mit kontingenter Schlafmützigkeit rechnen will, sondern von typischen Fehlern ausgeht, kommt dafür eigentlich nur ein Homoioarkton in Frage (ΚΑΙΑϕεντες - ΚΑΙΑποστελλουσιν), aber das ist mehr als unwahrscheinlich: Ein Schreibversehen ist auszuschließen. Verständlich wird diese Variante allerdings, wenn man ihre narrative Funktion berücksichtigt. Denn die Notiz fungiert als Klammer zu der folgenden Szene, die dadurch ihre besondere Färbung erhält: Die Adressaten des Gleichnisses wagen nicht, Hand an Jesus zu legen (Mk 12,12a.b). Aber dadurch, dass sie ihn »lassen und davongehen« (Mk 12,12c), gewinnen sie die Distanz, aus der sie in 12,13 »einige der Pharisäer und Herodianer« zu ihm schicken. Ohne diese vermittelnde Notiz 12,12c ist der Einsatz von 12,13 weniger gut vorbereitet. Die Fassung des Mehrheitstextes ______________________________ 25 και αϕεντες αυτον απηλθον: om W ¦ add it M . § 14: Die Kanonische Redaktion der Evangelien 349 bietet einen deutlich glatteren Perikopenübergang als der kurze Text in W: Es handelt sich um eine intentionale Verbesserung des vorkanonischen *Mk durch die Kanonische Redaktion. Zuletzt sei Mk 14,65 erwähnt; dieses Beispiel ist von Gewicht und in mehrfacher Hinsicht methodisch aufschlussreich. Vom Mehrheitstext weichen D it sy usw. auf charakteristische Weise ab. *24,63f *Mk 14,65 D a d sy s bo ms (Θ 565 700) Mk 14,65 M Mt 26,67f ἐνέπαιζον δέροντες καὶ ἤρξαντὸ τινες ἐμπτύειν καὶ ἤρξαντὸ τινες ἐμπτύειν αὐτῷ τότε ἐνέπτυσαν καὶ περικαλύπτειν αὐτοῦ τῷ προσώπῷ αὐτοῦ τὸ πρόσωπον εἰς τὸ πρὸσωπον αὐτοῦ καὶ τύπτοντες καὶ κολαϕίζειν αὐτὸν καὶ κολαϕίζειν αὐτὸν καὶ ἐκολάϕισαν αὐτόν, οἱ δὲ ἐράπισαν καὶ λέγοντες, καὶ λέγειν αὐτῷ· καὶ λέγειν αὐτῷ· λέγοντες προϕήτευσον, προϕήτευσον (ἡμῖν), προϕήτευσον, προϕήτευσον ἡμῖν, τίς ἐστιν ὁ παίσας σε; Χριστέ, τίς ἐστιν ὁ παίσας σε; καὶ οἱ ὑπερέται ῥαπίσμασιν αὐτὸν ἐλάμβανον ῥαπίσμασιν αὐτὸν ἔλαβον Aufschlussreich ist die zweite Zeile im Mehrheitstext mit dem Hinweis auf das Verhüllen des Gesichts (κ α ὶ π ε ρ ι κ α λ ύ π τ ε ι ν αὐτοῦ τὸ πρόσωπον). Der Apparat von NA 27 erklärt dies durch das Sigel p) als einen sekundären Einfluss aus der mt Parallele. Aber eine negative Konformation ist mehr als unwahrscheinlich. Die Entstehung der einzelnen Fassungen lässt sich auf andere Weise besser verstehen: Der älteste Text von *Mk 14,65 liegt in D it usw. vor; er sprach davon, dass sie »in sein Gesicht spuckten und ihn schlugen«. Die Aufforderung zur Prophezeiung ist ohne Objekt: Jesus soll seine prophetische Gabe unter Beweis stellen - wodurch und wie, wird nicht gesagt. Wohl schon der vorkanonische *Mt-Text hat diese Aufforderung zum Prophezeien konkreter verstanden: Jesus soll sagen, wer ihn schlug. Dies setzt voraus, dass die Knechte Jesus in einer Weise hänselten (παίζειν), die ihm nicht zu sehen erlaubte, von wem er geschlagen wurde, also etwa von hinten. Der kanonische Mk-Text enthält zwar diese konkrete Aufforderung (προϕήτευσον … τίς ἐστιν ὁ παίσας σε; ) nicht. Aber der kanonische Bearbeiter hat den entsprechenden Sinn (der ja schon in *Ev enthalten war: s. die Rekonstruktion zu *22,64! ) auf andere Weise eingearbeitet: Er lässt die Peiniger das Gesicht Jesu verhüllen, sodass er nicht sehen konnte, wer ihn schlug. Auch, wenn die Aufforderung zum Prophezeien ohne direktes Objekt bleibt, ist der Sinn zu ahnen: Wenn Jesus mit verhülltem Kopf geschlagen wird, kann die Aufforderung zum Prophezeien im selben Sinn verstanden werden, den auch *Ev, Mt und Lk substituieren - Jesus soll sagen, wer ihn geschlagen hat. *Mk hat also die Wendung τίς ἐστιν ὁ παίσας σε (*22,64 || Mt 26,68 || Lk 22,64) gestrichen und die Aufforderung zum Prophezeien grundsätzlicher verstanden. Durch diese Streichung hat 350 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch das vorkanonische *Mk, wie schon gezeigt, ein für die Zwei-Quellentheorie fatales (mt-lk) »Minor Agreement« produziert. 26 Durch die Einfügung von καὶ περικαλύπτειν αὐτοῦ τὸ πρόσωπον Mk 14,65 ( M ) hat die Kanonische Redaktion einen Aspekt der ursprünglichen Semantik wenigstens teilweise wiederhergestellt, den der vorkanonische *Mk beseitigt hatte. Diese kleine und willkürliche Auswahl von Beispielen steht für eine (vorerst) nicht genau bestimmbare Zahl von Varianten des kanonischen Mk-Textes, deren Entstehung am ehesten verständlich wird, wenn man sie einer durchgehenden Redaktion zuschreibt. Dies trifft mit Sicherheit nicht für alle Lesarten des kanonischen Mk zu, aber wohl doch für einen ganz erheblichen Teil. Diese Erklärung besagt, dass es auch in der Überlieferung des Mk-Textes zu Interferenzen zwischen der vorkanonischen (*Mk) und der kanonischen Fassung (Mk) gekommen ist. Dass diese Varianten auch für Mk vor allem in D it sy auftauchen, macht das Phänomen unmittelbar mit dem Verhältnis zwischen *Ev und Lk vergleichbar: Nicht nur der Inhalt, sondern auch die charakteristische Verteilung der Varianten mit dem Schwerpunkt in der altlateinischen und altsyrischen Überlieferung legt daher nahe, dass *Mk in einer Weise redigiert wurde, die unmittelbar mit der lk Redaktion von *Ev vergleichbar ist. Man kann daher vermuten, dass auch *Mk bereits in Versionen existierte, bevor die Kanonische Ausgabe erstellt wurde. 3. Die Kanonische Redaktion von *Mt a. Die Datierung der Auferstehungsweissagungen Für den Nachweis, dass auch das kanonische Mt das Resultat der vereinheitlichenden Redaktion einer vorkanonischen Fassung (*Mt) ist, gibt es ein herausragendes Beispiel, nämlich die Datierung der Auferstehung in den drei synoptischen Leidens- und Auferstehungsankündigungen. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die vorkanonische Formulierung der ersten Ankündigung *9,22 in *Ev: Dort bezeugen Tertullian, Epiphanius und Adamantius übereinstimmend, dass Jesus nach drei Tagen bzw. nach dem dritten Tag auferstehen werde. Gegen den Mehrheitstext von Lk 9,22, der hier das vertraute τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ liest, bieten auch D a b c d e ſſ 2 l q r 1 die für *Ev bezeugte Lesart: Diese Koinzidenz zwischen der direkten Bezeugung und den Varianten der Handschriftenüberlieferung ist ja in methodischer Hinsicht das wesentliche Kriterium für die Annahme einer Interferenz zwischen der vorkanonischen und der kanonischen Überlieferung, durch welche die These zweier distinkter Ausgaben der jeweiligen Texte begründet und die vorkanonische Lesart jeweils identifizierbar wird. Die besondere Semantik der Formulierung in *Ev »nach drei Tagen« wird vor dem Hintergrund des auf Dan zurückgehenden »Wochenschemas« ______________________________ 26 S. o. S. 258 sowie die Rekonstr. zu *22,64. § 14: Die Kanonische Redaktion der Evangelien 351 verständlich (s. dazu die Rekonstruktion zu *9,22), steht allerdings in erheblicher Spannung mit der tatsächlich erzählten Ereignisfolge. Denn zwischen dem Tod Jesu am Freitagnachmittag (*23,44 || Mk 15,33 || Mt 27,45 || Lk 23,4) und der Auffindung des leeren Grabes am Ostersonntag in der Frühe (*24,1 || Mk 16,2 || Lk 24,1 || Joh 20,1) liegen gerade mal 39 Stunden: »Nach drei Tagen« ist das nicht. Entgegen verschiedenen Versuchen, diese Spannung auszugleichen oder für irrelevant zu erklären, 27 ist daran festzuhalten, dass erstens nach drei Tagen bzw. nach dem dritten Tag auf der einen Seite und am dritten Tag unterschiedliche Zeiträume bezeichnen und dass zweitens die in den Evangelien erzählte Geschehensfolge nur zu der Datierung am dritten Tag passt, nicht aber zu der Formulierung nach drei Tagen in *Ev und Mk. Die kanonische Formulierung τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ Lk 9,22 ist daher der Versuch, die erzählte und die besprochene Zeit aneinander anzugleichen: Diese gezielte Korrektur belegt, als wie beunruhigend die lk Redaktion diese Spannung empfand. Genau dieses Phänomen lässt sich auch für die mk und mt Leidens- und Auferstehungsankündigungen zeigen. Die Disparatheit der handschriftlichen Überlieferung ist in verschiedener Ausprägung erkennbar. Dieses Phänomen ist von großer methodischer Bedeutung: Es zeigt das Interesse an einer einheitlichen Formulierung, die nicht zu deutlich in Spannung zu der erzählten Zeit stehen soll. Für die einzelnen Belege der Leidens- und Auferstehungsankündigungen sieht die Bezeugung folgendermaßen aus: *Mk/ Mk: (*)Mk 8,31 καὶ μετὰ τρεῖς ἡμέρας ἀναστῆναι: M (keine Varianten bezeugt) *Mk 9,31 μετὰ τρεῖς ἡμέρας ἀναστήσεται: א B C* D L Δ Ψ 579 892 2427 pc b c d i k l r 1 (a ſſ 2 q) sy hmg co Mk 9,31 τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ ἀναστήσεται: A C 3 W Θ f 1.13 aur f l vg sy M *Mk 10,34 καὶ μετὰ τρεῖς ἡμέρας ἀναστήσεται: א B C D L Δ Ψ 579 892 pc b d ſſ 2 i k r 1 (a c q) sy hmg co Mk 10,34 τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ ἀναστήσεται: A* W Θ f 1.13 aur f l vg sy Orig M *Mt/ Mt: *Mt 16,21 μετὰ τρεῖς ἡμέρας ἀναστῆναι: D al d bo (post tertium diem: a b c e ſſ 2 r 1 ) Mt 16,21 καὶ τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ ἐγερθῆναι: f ſſ 1 g 1 l q M *Mt 17,23 μετὰ τρεῖς ἡμέρας ἐγερθήσεται: D a b c d e n q sy s bo Mt 17,23 τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ ἐγερθήσεται: M ; ~ ἀναστήσεται: B 047 f 13 892 1424 al aur f ſſ 1 ſſ 2 g 1 l Mt 20,19 τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ ἀναστήσεται: B C 2 D W Θ 085 f 1.13 33 M ; ~ ἐγερθήσεται: א C* L N Z 579 892 pc Orig (keine Varianten bezeugt) ______________________________ 27 Vgl. K. L EHMANN , Auferweckt am dritten Tag nach der Schrift, Freiburg/ Brsg. 3 2004, 113; H. K. M C A RTHUR , »On the Third Day«, NTS 18 (1971/ 72), 81-86: 85 (»the tension between these two formulations which modern scholars find puzzling would not have troubled first-century Jewish exegetes«). 352 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch *Ev/ Lk: *9,22 μετὰ τρεῖς ἡμέρας ἀναστῆναι: Adam (Tert) (Epiph); D a b c d e ſſ 2 l q r 1 Lk 9,22 τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ ἐγερθῆναι: it M ; ~ ἀναστῆναι: A C K f 13 565 pm u. a. Lk 18,33 τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ ἀναστήσεται: it M (Lk 24,7 τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ ἀναστῆναι: it M ) Die Deutung des nur auf den ersten Blick unübersichtlichen Befundes ist erstaunlich konsistent und überlieferungsgeschichtlich folgendermaßen aufzuschlüsseln: 1. Der Beginn der Überlieferung liegt in *Ev, das nur eine Leidensweissagung mit der Datierung der Auferstehung Jesu enthielt: In *9,22 erklärt Jesus den Jüngern, dass der Menschensohn nach drei Tagen auferstehen werde. Diese Formulierung der Datierung ist eine sprachliche Vereinfachung der dreieinhalb Tage aus dem auf Dan 7,25; 12,7 zurückgehenden Wochenschema, wie sie sich auch sonst in der Rezeptionsgeschichte findet - und zwar unabhängig von der Datierung der Auferstehung Jesu. 28 2. Die früheste Rezeption von *9,22 liegt im vorkanonischen *Mk vor: *Mk 8,31 hat aus *Ev μετὰ τρεῖς ἡμέρας unverändert übernommen. *Mk hat auch die zweite Leidensweissagung aus *9,44 rezipiert, die in *Ev zwar ebenfalls eine Ankündigung der Auferstehung enthielt, allerdings ohne eine Datierung. *Mk hat diese zweite Ankündigung der Auferstehung sprachlich an die erste angeglichen; auch hier wird die Auferstehung Jesu - analog zu *9,22 bzw. zu *Mk 8,31 - nach drei Tagen bzw. nach dem dritten Tag verheißen. Diese Formulierung des vorkanonischen *Mk hat sich noch in einigen Handschriften erhalten, zu denen nicht nur die für Interferenzen anfällige Gruppe D it (sy) gehört, sondern auch der Sinaiticus, der Vaticanus und andere. Über seine Hauptquelle *Ev hinaus hat *Mk die dritte Leidens- und Auferstehungsverheißung neu geschaffen (*Mk 10,34) und auch hier die vertraute Formulierung nach drei Tagen gesetzt, wie wiederum eine eindrucksvolle Liste von Zeugen belegt. 3. Das vorkanonische *Mt hat diese Formulierungen aus dem vorkanonischen *Mk rezipiert. Für zwei der aus Mk stammenden Leidensankündigungen, die eine Datierung der Auferstehung enthalten, ist dies noch ohne weiteres nachvollziehbar: In *Mt 16,21; 17,23 lesen D it sy u. a. die aus *Ev und aus *Mk vertraute Formulierung nach drei Tagen. Das textkritische Phänomen ist für diese Beispiele analog zu *Mk 9,31; 10,34. Auch hier gehören wieder D it sy zu den Zeugen für diese Lesart, auch wenn andere Handschriften hinzutreten. 4. Die Angleichung der besprochenen an die erzählte Zeit - und das heißt: die Vermeidung einer Ankündigung der Auferstehung nach drei Tagen, die durch die Erzählung nicht gedeckt ist - ist ein Kennzeichen der Kanonischen Redaktion. Sie ist zunächst für die lk Bearbeitung von *Ev aufgefallen und zeigt sich in der kanonischen Formulierung von Lk 9,22: Anstelle des μετὰ τρεῖς ἡμέρας in *Ev setzt Lk τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ. Es überrascht nicht, dass diese Formulierung auch in Lk 18,33 auftaucht: Lk 18,31-34 hat kein Gegenstück in *Ev, Lk hat diese Passage in Anlehnung an Mk 10,32-34 || Mt 20,29-34 redaktionell neu gebildet. Es ist daher wenig verwunderlich, dass es ______________________________ 28 Vgl. Lactantius, Div. inst. VII 14,3 (B RANDT 638: p o s t d i e m t e r t i u m reviviscet); Lat. Tiburtina (S ACKUR 186: p o s t t r e s d i e s a Domino suscitabuntur); Adso, Antichr. (PL 101, 1297a: p o s t t r e s d i e s a Domino suscitabuntur. Zum Ganzen vgl. K. B ERGER , Die Auferstehung des Propheten und die Erhöhung des Menschensohns, Göttingen 1976, 107ff; s. außerdem die Rekonstr. zu *9,22. § 14: Die Kanonische Redaktion der Evangelien 353 zu dieser Formulierung keine Varianten in der handschriftlichen Überlieferung gibt. Denn wenn diese charakteristischen Abweichungen als Interferenzen zwischen der vorkanonischen und der kanonischen Überlieferung verstanden werden, dann kann es eine solche Interferenz an dieser Stelle nicht geben, weil Lk 18,33 keine vorkanonische Entsprechung hat. 5. Dies ist jedoch bei den synoptischen Parallelen in Mk und Mt durchaus der Fall. Und es entspricht dem Gesamtbild, dass die Formulierung nach drei Tagen durch am dritten Tag ersetzt wurde (Mk 9,31; 10,34; Mt 16,21; 17,23). Die Einheitlichkeit dieser Korrekturen ist von methodischer Bedeutung. Denn das Ziel der Angleichung der besprochenen an die erzählte Zeit wäre ja beispielsweise auch durch andere Formulierungen zu erreichen gewesen, etwa nach zwei Tagen oder am ersten Tag der Woche. Die Einheitlichkeit, mit der die Korrekturen durchgeführt wurden, ist daher ein Hinweis auf ein und dieselbe Bearbeitung: Die Kanonische Redaktion. 6. Nur in drei Fällen fehlen handschriftliche Varianten, die als Kennzeichen der Interferenz von vorkanonischer und kanonischer Überlieferung zu verstehen sind. Diese Fälle sind unterschiedlich zu beurteilen. Unproblematisch ist die einheitliche Überlieferung von Mt 20,19 τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ. Das Fehlen von Lesarten liegt mit großer Wahrscheinlichkeit an der Kontingenz, die für das Zustandekommen der Interferenzen ohnehin methodisch zu postulieren ist: Denn die Spuren der vorkanonischen Texte haben sich ja nur zufällig in den Handschriften der kanonischen Evangelien erhalten. Dass es zu Mt 20,19 keine Spur der zu postulierenden vorkanonischen Formulierung gibt, passt also vollständig in das Gesamtbild: Alle erhaltenen Handschriften zeigen den Text der Kanonischen Ausgabe. Dies ist bei der einheitlichen Überlieferung von Mk 8,31 μετὰ τρεῖς ἡμέρας anders: Hätte die Kanonische Redaktion das vorkanonische *Mk auch an dieser Stelle korrigiert, müsste man erkennbare Spuren in den Handschriften postulieren. In diesem Fall ist das Fehlen solcher Spuren daher auf die Nachlässigkeit der kanonischen Bearbeitung zurückzuführen. Analoges gilt dann wohl auch für den Bericht über die Forderung nach Bewachung des Grabes bei Mt: Die Hohenpriester und Pharisäer erinnern sich, dass Jesus gesagt habe, er werde μετὰ τρεῖς ἡμέρας auferweckt werden (Mt 27,63). Unter der Voraussetzung, dass ein textinterner Verweis kohärent sein sollte, weil er von den Lesern überprüft werden kann, wäre hier τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ zu erwarten. Dieser Mangel an narrativer Kohärenz ist am ehesten als Nachlässigkeit der Kanonischen Redaktion zu verstehen: Sie hat diesen Beleg entweder für irrelevant gehalten, weil er nur im Mund der Hohenpriester begegnet, oder, wahrscheinlicher, ihn schlicht übersehen. Ein letzter Hinweis bezieht sich auf den Erinnerungsbefehl der Engel im leeren Grab mit dem Verweis auf die Ankündigung von Leiden und Auferstehung τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ (Lk 24,7). Angesichts der Einheitlichkeit, mit der sich diese Formulierung als redaktionelle Bearbeitung erwiesen hat, erscheint es ausgeschlossen, dass sie bereits im vorkanonischen *Ev enthalten war, obwohl Tertullian sie dort gelesen hat. 29 Tertullians *Ev-Exemplar zeigt hier die Spuren der Kontaminierung durch die kanonische Überlieferung: Wie Epiphanius’ Bezeugung zeigt, hat die gesamte Auferstehungsweissagung in *24,7 gefehlt. Das Beispiel der Datierung der Auferstehung in den sog. Leidensankündigungen zeigt zunächst auch für die Textüberlieferung von Mt die Disparitäten, die sich als ______________________________ 29 Tert. 4,43,5: Nam eadem et angeli ad mulieres: Rememoramini quae locutus sit vobis in Galilaea, dicens quod oportet tradi filium hominis et crucifigi et t e r t i a d i e resurgere. 354 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch charakteristische Kennzeichen der Interferenz von vorkanonischer und kanonischer Überlieferung erwiesen haben, die daher als Beleg für die Existenz von *Mt dienen und dessen Bearbeitung durch die Kanonische Redaktion wahrscheinlich machen. Dieser letzte Gesichtspunkt ergibt sich aus der Einheitlichkeit, mit der die entsprechenden Korrekturen an der Auferstehungsdatierung in den vorkanonischen Texten (*Ev; *Mk; *Mt) vorgenommen wurde. b. Weitere Beispiele für die Kanonische Redaktion von *Mt Die Kanonische Redaktion von *Mt hat mit Sicherheit noch weitere Korrekturen vorgenommen. Im Folgenden sind einige wenige Beispiele genannt, an denen eine solche Bearbeitung wahrscheinlich ist. *Mt 5,19f: In der Belehrung über Gesetz und Propheten wird die Mahnung, auch die geringsten Gebote zu halten, in Mt 5,19 einmal negativ und einmal positiv begründet: Wer eines der geringsten Gebote auflöst und die Menschen entsprechend lehrt, wird in der Basileia der Geringste genannt werden, wer sie aber hält und entsprechend lehrt, wird groß genannt werden. Die positive Begründung Mt 5,19b fehlt in א * D W d bo ms . Der Kontext Mt 5,17-20 zielt auf das Problem der Auflösung des Gesetzes, sodass die positive Begründung hier überflüssig erscheint. Sie wird daher eine sekundäre Ergänzung sein, die möglicherweise durch die Kanonische Redaktion eingetragen ist. Wichtiger ist, dass Mt 5,20 in D d komplett fehlt. Die Forderung, dass die Gerechtigkeit der Jünger größer sein müsse als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, liegt aufgrund des unmittelbaren Kontextes nicht eben nahe: Da geht es ja nur darum, die Unauflöslichkeit von Gesetz und Propheten festzustellen. Aber im Zusammenhang mit den folgenden Antithesen gewinnt 5,20 eine entscheidende Funktion. Denn der Hinweis auf die Schriftgelehrten und Pharisäer liefert eine Lesehilfe, die erklärt, wer mit »den Alten« (τοῖς ἀρχαίοις, 5,21) gemeint ist. Erst auf diese Weise wird das zentrale hermeneutische Problem dieser Passage lösbar: Einerseits hat das Gesetz (und zwar einschließlich der »geringsten Gebote«) ewigen Bestand, andererseits wird aber die Lehre Jesu dem »zu den Alten Gesagten« entgegen gesetzt. Die Kritik an der Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer Mt 5,20 macht deutlich, dass diese mit den »Alten« gemeint sind, nicht aber die Väter Israels. Erst durch 5,20 wird deutlich, dass die Antithesen als Kritik an den Pharisäern zu verstehen ist, deren religiöse Praxis hinter der Forderung des Gesetzes zurückbleibt. Es ist sehr viel leichter vorstellbar, dass dieser hermeneutisch wichtige Hinweis sekundär zu dem *mt Kontext hinzugefügt wurde, als dass er sekundär gestrichen wurde. 30 *Mt 5,30: Im Zusammenhang der Warnung vor Verführung gibt Mt 5,29f zwei Beispiele über den Umgang mit Gliedern, die zum Bösen verführen: Es ist besser, auf das rechte Auge (5,29) und auf die rechte Hand (5,30) zu verzichten, als dass der ganze Leib in die Hölle geworfen wird. 5,30 fehlt in D pc d vg ms sy s bo ms . Im Kontext 5,27-30 ist das Beispiel des Auges (5,29) sinnvoll, weil derjenige die Ehe »im Herzen« bricht, der eine Frau πρὸς τὸ ἐπιθυμῆσαι ansieht (5,28): Es geht gerade nicht um die Tatsünde mit der »Hand«, sondern um die Absicht, die sich im begehrlichen ______________________________ 30 Die zweite Erwähnung der »Alten« in den Antithesen (Mt 5,33) fehlt in k sy s Iren (lat) . Vor dem Hintergrund der Bezeugung von Mt 5,20 ist es gut denkbar, dass die ἀρχαῖοι in 5,21.33 von derselben Hand eingefügt wurden wie in 5,20; aber das ist völlig ungewiss. § 14: Die Kanonische Redaktion der Evangelien 355 »Hinterher-Schielen« erweist. Allerdings stehen beide Logien (in umgekehrter Reihenfolge) in der sog. »Gemeinderede« nebeneinander (Mt 18,8f). Sie haben außerdem eine Parallele in Mk 9,43 (Hand) und 9,47 (Auge). Man versteht Mt 5,30 daher am besten als sekundäre Ergänzung in Kenntnis der Aussagen in Mk 9 und Mt 18. Die dadurch erreichte Kohärenz der Lehre Jesu geht allerdings zu Lasten der Logik der zweiten Antithese. Die Schwierigkeiten für die Auslegung resultieren daraus, dass die »Hand« eben kein »Instrument« für den Ehebruch ἐν τῇ καρδίᾳ (5,28) ist. 31 *Mt 5,32 und 19,9: Die dritte Antithese von der Ehescheidung, die ja in Mt 19,9 eine Entsprechung besitzt, ist uneinheitlich überliefert. Die Formulierung der Protasis als partizipialer Relativsatz πᾶς ὁ ἀπολύων (5,32a) entspricht zwar Lk 16,18, nicht aber der mk Parallele (Mk 10,11), die hier einen konditionalen Relativsatz bietet, wie er auch in *Ev zu finden ist (ὃς ἂν ἀπολύσῃ Mk 10,11 || *16,18; s. dort). Überlieferungsgeschichtlich ist die konditionale Formulierung also älter als die partizipiale, und es verwundert kaum, dass sie sich auch noch Mt 5,32 in einigen Handschriften erhalten hat. Zu denen gehören einmal mehr die »üblichen Verdächtigen« (D it sy s.c ), daneben auch 0250 579 pm sa ms bo. Die Dublette in Mt 19,9 hat die Protasis, genau wie in *Ev, Mk und in *Mt 5,32a, als konditionalen Relativsatz formuliert (ὃς ἂν ἀπολύσῃ τὴν γυναῖκα αὐτοῦ). An dieser Stelle hat die vereinheitlichende Redaktion also nicht eingegriffen. Die sog. »Unzuchtsklausel«, die auch 5,32 enthalten ist, ist allerdings uneinheitlich überliefert: Während die Mehrheit der Handschriften μὴ ἐπὶ πορνείᾳ bietet, lesen D f 13 33 pc it sy s (B f 1 ſſ 1 bo) wie in 5,32: παρεκτὸς λόγου πορνείας. Es läge nahe, diese Formulierung als sekundäre Angleichung an Mt 5,32 im Verlauf der nachkanonischen Handschriftenüberlieferung zu verstehen, wäre diese Lesart nicht wieder durch D it sy (u. a.) bezeugt, die sonst so häufig Spuren des vorkanonischen Textes bewahrt haben: Der vorkanonische *Mt hat daher mit großer Wahrscheinlichkeit in 5,32 und 19,9 dieselbe Formulierung der »Unzuchtklausel« verwendet. Die Formulierung von 19,9 im Mehrheitstext geht daher wohl auf die kanonische Redaktion zurück. *Mt 6,13: Am Ende des Vater-Unser bietet die überwältigende Mehrheit der Handschriften in Mt 6,13 eine Doxologie. 32 Sie fehlt nur in wenigen Zeugen. 33 Selbst, wenn eine sekundäre Anpassung an liturgischen Brauch auch auf späterer Überlieferungsebene denkbar ist und sich in diesem Fall sogar vorstellen lässt, dass Kopisten die Doxologie eigenmächtig eingefügt haben könnten, sprechen zwei Beobachtungen dafür, dass die Doxologie (bereits) auf der Ebene der Kanonischen Redaktion an das Vater-Unser angehängt wurde: Zum einen deutet das Fehlen in D it auf die Ursprünglichkeit dieser Fassung hin, zum anderen passt der gezielte Rückgriff der Doxologie auf 1Chr 29,11-13 sehr gut zum literarischen Konzept der Kanonischen Ausgabe. *Mt 9,34: In der Erzählung von der Heilung des Stummen Mt 9,32-34 fehlt der abschließende V. 34 in einigen Zeugen. 34 Da es sich um eine Dublette aus der Beelzebulkontroverse handelt (*11,15 ______________________________ 31 Vgl. L UZ , Mt I 266f mit dem Hinweis auf Nid II 1; bNid 13b (Amputation der Hand als gerichtliche Strafe für Ehebruch) - aber um den vollendeten Ehebruch geht es ja gerade nicht. 32 Eine »trinitarische« Variante (»dein ist die Herrschaft des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes in alle Ewigkeit«: 1253 pc) setzt erkennbar spätere Entwicklungen voraus und ist gegenüber dem kanonischen Mt-Text sicher sekundär. 33 א B D Z 0170 f 1 ℓ 2211 pc a aur b c d ſſ 1 h l mae bo pt Orig. 34 Mt 9,34: vs. om D a d k sy s Hilar. 356 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch || Mt 12,24 || Mk 3,22), liegt eine sekundäre Ergänzung zur Erhöhung der Kohärenz nahe. Dass diese Ergänzung auf der Ebene der Kanonischen Redaktion erfolgte, ist mit Blick auf die charakteristischen Zeugen der kurzen Lesart wahrscheinlich (D it sy). *Mt 11,13: Im Urteil Jesu über den Täufer Mt 11,7-19 ist 11,13 πάντες γὰρ οἱ προϕῆται καὶ ὁ νόμος ἕως Ἰωάννου ἐπροϕήτευσαν in wenigen Zeugen nur verkürzt enthalten. 35 Diese Lesart ist aus überlieferungsgeschichtlichen Gründen aufschlussreich. Denn dieses Logion findet sich bereits in *Ev (*16,16a: ὁ νόμος καὶ οἱ προϕῆται ἕως ᾿Ιωάννου ἐπροϕήτευσαν), nicht aber in Mk. Der Kontext in *Ev handelt von der Geltung des Gesetzes und nennt die Propheten lediglich als Teil des traditionellen Syntagmas (s. die Rekonstr. z. St.). Mt hat dieses Logion aus *Ev in einen neuen Kontext eingefügt und an das Urteil Jesu über den Täufer angehängt (Mt 11,7-19 || *7,24-28). In diesem Kontext liegt der Ton vollständig auf der prophetischen Sendung des Johannes, wie der Vergleich mit anderen Propheten deutlich macht: λέγω ὑμῖν, καὶ περισσότερον π ρ ο ϕ ή τ ο υ (11,9b). Es ist daher gut vorstellbar, dass *Mt 11,13 das *Ev-Logion über die prophetische Verkündigung von Gesetz und Propheten bis zu Johannes bearbeitet und durch Auslassung des dafür verzichtbaren Stichwortes »Gesetz« auf den Täufer als Propheten hin zugespitzt hat. Erst die Kanonische Redaktion hat dann unter dem Einfluss von *16,16 (und in Entsprechung zu Lk 16,16) die Wendung καὶ ὁ νόμος ergänzt. *Mt 19,20: In der Perikope vom »reichen Jüngling«, die nur in der mt Fassung (Mt 19,16-22) zu Recht so bezeichnet wird, ist die Reaktion auf die Aufzählung der Dekaloggebote unterschiedlich bezeugt. Die übergroße Mehrheit der Handschriften lässt den Jüngling antworten: πάντα ταῦτα ἐϕύλαξα ἐ κ ν ε ό τ η τ ό ς μ ο υ . Die letzten drei Worte, die sich auch in der Parallele Mk 10,20 finden, fehlen allerdings in wenigen Handschriften. 36 Tatsächlich ist der Mehrheitstext von Mt 19,20 hier problematisch. Denn wie überzeugend ist es, wenn ein νεανίσκος behauptet, er habe alle Gebote ἐκ νεότητος gehalten? Für die mk Fassung passt dieser Zusatz, denn hier ist der Frager ein Mann (Mk 10,17: εἷς), 37 von dem lediglich gesagt wird, dass er reich war (Mk 10,22: ἦν γὰρ ἔχων κτήματα πολλά). Aber indem Mt 19,20 den Mann zum Jüngling macht, ist der Hinweis auf das Halten der Gebote von Jugend auf wenig sinnvoll und sehr wahrscheinlich erst ein sekundärer Nachtrag. Der Umstand, dass dieser Nachtrag in der übergroßen Mehrheit der Handschriften auftaucht, zeigt nicht nur das Interesse, zwischen den verschiedenen Fassungen einen kohärenten Ausgleich herzustellen, sondern legt auch nahe, dass dieser Ausgleich durch die Kanonische Redaktion vorgenommen wurde. Darüber hinaus könnte man auch überlegen, ob *Mt zur Qualifizierung des Reichen als νεανίσκος (*Mt 19,20) durch den Hinweis auf die νεότης (*Mk 10,20) angeregt war - ihn dann allerdings nicht sachgerecht umgesetzt hätte. Dies ist freilich reine Spekulation. *Mt 21,44: Am Ende des Gleichnisses von den bösen Weingärtnern (Mt 21,33-46) fehlt V. 44 in etlichen Zeugen. 38 Da das Gleichnis in *Ev mit Sicherheit gefehlt hat, helfen auch hier wieder überlieferungsgeschichtliche Einsichten weiter bei der Frage nach der Kanonischen Redaktion von *Mt. Denn die vor-mt Fassung des Gleichnisses in (*)Mk 12,1-12 enthält keine Entsprechung zu ______________________________ 35 Mt 11,13 και ο νομος: om sy s bo ms . 36 Mt 19,20 εκ νεοτητος μου: om א 2 C D W f 13 aur d ſſ 1 g 1 l vg cl sy co M Cyr. 37 Bzw. in der Lesart von A K W Θ f 13 28 565 700 2542 al: τις πλούσιος. Dies ist möglicherweise der vorkanonische *Mk-Text. 38 Mt 21,44: vs. om D 33 b d e ſſ 1 ſſ 2 r 1 sy s Orig Eus syr . § 14: Die Kanonische Redaktion der Evangelien 357 diesem Drohwort. Dagegen liegt bereits mit *Mt 21,43 eine Gerichtsdrohung als Abschluss vor. Lk, der i. W. der mk Fassung folgt, schließt an das Wort über den Eckstein, den die Bauleute verworfen haben (Ps 118,22 || Lk 20,17 || Mk 12,10) direkt die Gerichtsdrohung Lk 20,19 an, die Mt 21,44 sachlich (aber nicht in der genauen Formulierung) entspricht. Die überlieferungsgeschichtliche Situation ist ziemlich klar: Mk 12,1-12 enthielt keine direkte Drohung gegen die Adressaten. Mit dem Wort, dass die Herrschaft »von euch« genommen und einem Volk gegeben wird, das seine Frucht bringt, hat *Mt 21,43 zum ersten Mal eine direkte Drohung gegenüber den Adressaten des Gleichnisses in den aus *Mk stammenden Zusammenhang eingefügt. Lk 20,18 hat das Drohpotential dieses Logions als Gerichtsdrohung entfaltet: Wer auf diesen Stein fällt, wird zerschellen, auf wen er stürzt, der wird zermalmt werden. Mt 21,44 hat diese Drohung aufgenommen und damit eine erkennbare Spannung zu *21,43 geschaffen. Aufgrund der sehr breiten Bezeugung liegt nahe, dass diese Einfügung von derselben Hand stammt, die auch Lk 20,18 verfasst hat. *Mt 27,49: Geht man für die Identifizierung von Elementen der vorkanonischen Texte in der kanonischen Handschriftenüberlieferung von den klassischen »Western Non-Interpolations« aus, dann spielt die Überlieferung von Mt 27,49 für die Rekonstruktion der Gestalt des vorkanonischen *Mt eine besondere Rolle. Nach dem Psalmwort Jesu (27,46), das die Umstehenden als Ruf nach Elia verstehen, wird von diesen eine doppelte Reaktion berichtet: »Einer von ihnen« 39 holt einen mit Essig (oder billigem Wein) getränkten Schwamm und gibt Jesus zu trinken. Die anderen dagegen sagen, sie wollten sehen, ob Elia auch komme und ihm helfe (27,49). An dieser Stelle enthalten eine Reihe von Handschriften die Bemerkung: ἄλλος δὲ λαβὼν λόγχην ἔνυξεν αὐτοῦ τὴν πλευρὰν, καὶ ἐξῆλθεν ὕδωρ καὶ αἵμα. 40 Zu dieser Lanzenstich-Notiz sind zwei Besonderheiten zu notieren: Zum einen besitzt sie in Joh 19,34 eine enge Parallele, die allerdings geringfügig anders formuliert ist (Unterschiede in der Einleitung sowie in der Abfolge von Blut und Wasser). Zum anderen wird der Lanzenstich in Mt 27,49 vor dem Tod Jesu mitgeteilt, in Joh 19,34 dagegen danach (19,33): Bei Mt führt der Lanzenstich den (plötzlichen) Tod Jesu herbei, bei Joh dient er dazu, den bereits eingetretenen Tod festzustellen. Westcott/ Hort hatten diese Bemerkung ganz analog zu den anderen »Western Non-Interpolations« in eckige Klammern gesetzt und dadurch ihren Zweifel an der Ursprünglichkeit kenntlich gemacht. Im Unterschied zu den anderen »Western Non-Interpolations« sind ihnen die kritischen Ausgaben in diesem Urteil ausnahmsweise gefolgt. Ob zu Recht, ist die Frage. Denn auf der einen Seite ist es zwar denkbar, dass Mt 27,49 ( א B C usw.) eine sekundäre Einfügung mit Ziel der Kohärenzsteigerung zwischen Mt und Joh darstellt. In diesem Fall wäre die Einfügung von Mt 27,49 ( א B C usw.) allerdings ein nur mäßig geglückter Versuch, weil der Redaktor mit der genauen Position der Einfügung sehr großzügig (oder nachlässig) verfahren wäre: Als Kohärenzverweis steht er an der falschen Stelle. Umgekehrt ist es leichter denkbar, dass diese Notiz in *Mt 27,49 ursprünglich ist und dann die theologisch deutlich gewichtigere Bemerkung in Joh 19,34 mit ihren narrativen Erläuterungen (19,35.37) angeregt hätte. Für diesen Fall könnte man vermuten, dass die Kanonische Redaktion bei der Zusammenstellung der vier Evangelien die Inkonsistenz der beiden Bemerkungen (der Lanzenstich einmal als Ursache, das andere Mal als Folge des Todes) registriert hat und sie durch die Streichung von *Mt 27,49 ( א B C usw.) ______________________________ 39 Mt 26,48 εἷς ἐξ αὐτῶν; εξ αυτων: om א . 40 Mt 27,49 αλλος δε λαβων λογχην ενυξεν αυτου την πλευραν, και εξηλθεν υδωρ και αιμα: א B C L U Γ 1010 1293 vg mss sy p aeth mss ¦ om A D E F G H K M S W Δ Θ Σ 090 vg it sy c co armen georg M . 358 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch beseitigen wollte. Für beide Lösungen bleiben Reste, die nicht einfach zu klären sind. Aus diesem Grund wird man zögern, diesem einen Beispiel zu viel Gewicht als Beleg für die Kanonische Redaktion von *Mt aufzubürden. Aber dies ist auch nicht nötig: Auch unabhängig von Mt 27,49 sind die genannten Beispiele aussagekräftig. Auch, wenn sie bei weitem nicht vollständig sind und nicht alle in gleicher Weise zu überzeugen vermögen, genügt ihr kumulatives Gewicht, die Möglichkeit einer Kanonischen Redaktion von *Mt sichtbar werden zu lassen. 4. Joh als Kanonische Redaktion von *Joh Aus verschiedenen Gründen ist der Nachweis der kanonischen Bearbeitung des vorkanonischen *Joh schwieriger als bei *Mk und *Mt: Zum einen enthält die handschriftliche Überlieferung des Joh vergleichsweise mehr signifikante Varianten als die Überlieferung von Mk oder Mt, zum anderen verteilen sich diese Varianten anders auf die Handschriften(-gruppen). Für beides gibt es Gründe, über die später zu reden ist. Diese Gründe werden dann auch erklären, warum die Suche nach der vorkanonischen Gestalt des *Joh besonders spannend ist. Aber zunächst geht es nur wieder darum, die Möglichkeit einer solchen Kanonischen Redaktion des *Joh anhand von Beispielen darzulegen. a. Beispiele für die Kanonische Redaktion (*Joh) Gleich das erste Beispiel aus dem Joh-Prolog stellt ein exegetisches Schwergewicht dar, das die Exegeten seit Langem beschäftigt. Für Joh 1,13 οἳ οὐκ ἐξ αἱμάτων οὐδὲ ἐκ θελήματος σαρκὸς οὐδὲ ἐκ θελήματος ἀνδρὸς ἀλλ’ ἐκ θεοῦ ἐγεννήθησαν sind folgende Varianten zu notieren. Einige Zeugen ( P 75 A B* Δ Θ pc) lesen ἐγενήθησαν anstelle von ἐγεννήθησαν. Diese Lesart ist von geringem Gewicht, weil ihr ein offenkundiges Schreibversehen zugrunde liegt: Der Kontext macht eindeutig klar, dass es um die Zeugung (ἐκ θελήματος ἀνδρός) usw. geht. Auch das Fehlen der zweiten negativen Bestimmung (οὐδὲ ἐκ θελήματος σαρκός) in f 13(pt) bzw. der dritten (οὐδὲ ἐκ θελήματος ἀνδρός) in B* dürfte problemlos durch Homoioarkton (ΟΥΔΕΕΚΘΕΛΗΜΑΤΟΣ …) zu erklären sein. Schwierigkeiten wirft dagegen das Fehlen des einleitenden Relativpronomens (οἵ) in D* auf, weil dadurch der Bezug zum vorangehenden V. 12 unklar ist. Allerdings bietet D* das Verb (wie in den kritischen Ausgaben) in der 3. Pers. Plural (οὐκ ἐξ αἱμάτων … ἐγεννήθησαν). Diese Lesart (ohne Relativum, mit Verb im Plural) ist auch durch den Cod. Vercellensis (a; s. IV/ V) bezeugt: non ex sanguinibus … nati sunt. Das Fehlen des Relativpronomens wäre an sich nicht weiter problematisch. Aber der Cod. Veronensis (b; s. V) liest das Verb im Singular (qui non ex sanguinibus … natus e s t ) und versteht den Satz als christologische Aussage über den Logos, 41 die auf eius/ ______________________________ 41 Obwohl die semantisch auf den λόγος bezogenen pronominalen Aussagen des Joh-Prologs in den Altlateinern einen grammatischen Bezug auf das neutrische verbum erfordern würden, sind sie § 14: Die Kanonische Redaktion der Evangelien 359 αὐτοῦ (V. 12) bezogen ist. Aus diesem Grund sind auch die Varianten in der syrischen Überlieferung zu beachten: sy c.p(6 mss) lesen irritierenderweise das einleitende Relativum im Plural, das Verb aber im Singular (ο ἳ οὐκ ἐξ αἱμάτων … ἐ γ ε ν ν ή θ η ). Die durch den Cod. Veronensis gebotene (christologische) Singularlesart wird auch von Justin, 42 Irenaeus 43 und Tertullian 44 bezeugt, die Plurallesart ist durch Clemens Alex. und Origenes ebenfalls bereits für das ausgehende 2. Jh. belegt. Da die beiden Hauptlesarten (mit dem Verb im Singular und im Plural) gleichermaßen sinnvoll wie theologisch befrachtet sind, wird nicht nur verständlich, dass sich die Wissenschaft schon lange mit diesem Problem beschäftigt hat, 45 sondern auch, dass die textkritische Faustregel der lectio difficilior keine Anhaltspunkte für eine Bestimmung der Veränderungsrichtung zu erkennen gibt: Die Versuche, eine Entscheidung anhand innerer Kriterien herbeizuführen (vor allem aufgrund der literarischen Struktur des Prologs), sind nur bedingt überzeugend. Aufgrund der Bezeugung der Singularlesart durch (D) it a ist sowohl ihre Bevorzugung in den älteren Arbeiten ebenso verständlich wie ihre Bestreitung in den jüngeren: »Seit die Papyrusfunde dieses (sc. des 20.) Jahrhunderts und alle neueren Untersuchungen des Charakters des D-Textes zum endgültigen Zusammenbruch der Westcott/ Hort’schen Theorie der Western Non-Interpolations geführt haben, hat auch das Fehlen des V. 13 einleitenden Relativ-Pronomens in D alles Gewicht verloren.« 46 Genau dieses Argument kann jedoch nach den Beobachtungen zu D (it sy) usw. nicht mehr aufrechterhalten werden: Nicht nur zu *Ev, sondern auch zu *Mk und *Mt hatte sich gezeigt, dass D it (sy) häufig Spuren des vorkanonischen Textes ______________________________ durchgängig im Maskulinum gehalten. Vgl. etwa: 1,3 omnia per i p s u m / i l l u m / e u m facta sunt; 1,5 tenebrae e u m / e a m (lux! ) non comprehendunt; 1,10: mundus per i p s u m / e u m factus est; 1,11: et sui e u m non receperunt; 1,12: quotquot autem receperunt e u m / i l l u m . Das maskuline Relativpronomen (qui) zu Beginn von V. 13 kann daher nicht irritieren. 42 Justin, 1Apol. 32,7-11. Zu den weiteren Anspielungen auf Joh 1,13 vgl. J. W. P RYOR , Of the Virgin Birth or the Birth of Christians? The Text of John 1: 13 Once More, NT 27 (1985), 296-318: 308f. 43 Iren., Haer. 3,16,2: non enim ex voluntate carnis neque ex voluntate viri, sed ex voluntate Dei, verbum caro factum est. - 3,19,2 (man müsse begreifen) quoniam is »qui non ex voluntate carnis neque ex voluntate viri natus est« filius hominis, hic es Christus filius Dei vivi. Vgl. auch 3,21,5.8. 44 Tert., De carne Christi 15,3; 24,2. Besonders aufschlussreich ist 19,1-4: Hier zeigt Tertullian, dass er beide Lesarten kennt und die Plurallesart für eine absichtsvolle Veränderung der Valentinianer hält; er folgert daraus: adeo singulariter, ut de domino, scriptum est: Et ex deo natus est. 45 Zu den frühen Vertretern der Singularlesart gehören: Z AHN , Joh (Exk. II); A. VON H ARNACK , Zur Textkritik und Christologie der Schriften des Johannes, in: ders., Studien zur Geschichte des Neuen Testaments und der Alten Kirche 1, Berlin 1931, 115-127). Weiteres auch in den beiden neueren monographischen Behandlungen, die für die Singularlesart votieren: J. G ALOT , Être né de Dieu, Rom 1969; P. L. H OFRICHTER , Nicht aus Blut, sondern monogen aus Gott geboren, Würzburg 1978. 46 H. T HYEN , Das textkritische Problem von Joh 1,13, in: ders., Studien zum Corpus Iohanneum, Tübingen 2007, 418-424: 418. 360 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch enthalten, die jeweils älter sind als die entsprechenden Lesarten der kanonischen Texte. Auch, wenn dieser Befund und seine Erklärung im Rahmen der *Ev-Priorität keine Repristinierung von Westcott/ Horts Theorie über die »Western Non-Interpolations« darstellt, ist doch zweierlei deutlich: Erstens sind die sog. »Westlichen« Lesarten tatsächlich in der Regel älter als die Lesarten des Mehrheitstextes, und zweitens versagt die üblich gewordene »Textwertbestimmung« bei Zeugen wie P 66 oder P 75 : Das Erklärungsmodell, durch das etwa P 75 seine dominante Stellung für die neutestamentliche Textkritik erhalten hat, hat keinen Bestand. Damit ist die Frage nach der ursprünglichen Lesart von Joh 1,13 noch nicht entschieden. Der Befund der Altsyrer (Plural des einleitenden Relativums, Singular des Verbs) ist am besten zu verstehen als Konflation zweier älterer Lesarten, einmal im Singular, einmal im Plural. Die patristischen Zeugnisse belegen das Nebeneinander beider Lesarten bereits für das 2. Jh. Der Umstand, dass die gesamte griechische Überlieferung Plural liest, spricht allerdings für die Ursprünglichkeit der Singularlesart von D it (sy). Was das hier zugrunde gelegte Modell der Kanonischen Redaktion allerdings über die bisherigen Untersuchungen hinaus leistet, ist die Identifizierung des möglichen Bearbeitungsschrittes, das die varia lectio überhaupt erst produziert hat: Am nächsten liegt dafür die Annahme, dass die Kanonische Redaktion die Plurallesart geschaffen hat. Das gleiche Phänomen einer stark uneinheitlichen Textüberlieferung liegt noch sehr viel öfter vor. Die Kommentare fragen üblicherweise nur nach dem jeweils größeren Alter bestimmter Lesarten: Sie sind daran interessiert, die jeweils älteste Lesart zu identifizieren. Im Rahmen eines textgeschichtlichen Modells, das nicht mit der Existenz einer vorkanonischen Ausgabe rechnet, ist dies konsequent: In diesem Fall ist die älteste Lesart auch die »ursprüngliche«, jede Abweichung davon erscheint zwingend als eine sekundäre Veränderung. Wie das Verhältnis von *Ev zu Lk gezeigt hat, führt die methodische Vorgabe dieses Modells jedoch in die Irre. Denn im Vergleich dieser beiden Texte führt der ältere Text zu dem vorkanonischen *Ev, der jüngere in aller Regel zu Lk, also zu dem kanonisch gewordenen Text des Neuen Testaments. Um das gleiche Phänomen für Joh zu zeigen, genügt der Hinweis auf einige Beispiele. Joh 3,31: Ὁ ἄνωθεν ἐρχόμενος ἐπάνω πάντων ἐστίν· ὁ ὢν ἐκ τῆς γῆς ἐκ τῆς γῆς ἐστιν καὶ ἐκ τῆς γῆς λαλεῖ. ὁ ἐκ τοῦ οὐρανοῦ ἐρχόμενος ἐ π ά ν ω π ά ν τ ω ν ἐ σ τ ί ν . επανω παντων εστιν: om P 75 א * f 1 565 pc a b d e ſſ 2 j l r 1 sy c sa; Hipp Orig pt Euseb ¦ add aur c f q vg M . Die letzten drei Worte von Joh 3,31c, die in 3,31a wortwörtlich identisch begegnen, fehlen in einer Reihe von Handschriften. Hartwig Thyen bemerkt dazu: »Die Frage, ob die Wendung ἐπάνω πάντων ἐστίν von den Kopisten versehentlich oder absichtlich ausgelassen oder ob sie von anderen nach dem zweiten Vorkommen von ἐρχόμενος mechanisch hinzugefügt worden ist, ist § 14: Die Kanonische Redaktion der Evangelien 361 schwer zu entscheiden.« 47 Die Entscheidung ist in der Tat schwierig, zumal Joh solche Wiederholungen liebt, wie sie die zweimalige Wendung ἐπάνω πάντων ἐστίν jeweils nach ὁ ἄνωθεν ἐρχόμενος bzw. ὁ ἐκ τοῦ οὐρανοῦ ἐρχόμενος darstellt. 48 Wichtiger als die Entscheidung ist in diesem Fall die Frage, wie diese Lesart zustande gekommen ist. Denn wenn die joh Sprache derartige Wiederholungen bevorzugt, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: Falls die Wendung ursprünglich war, ist kaum damit zu rechnen, dass sie absichtlich ausgelassen wurde; es müsste sich dann um ein Versehen handeln. Falls die Wendung aber sekundär ist, handelt es sich kaum um eine mechanische, sondern um eine intentionale Ergänzung! Der Text, den die übergroße Mehrheit der Handschriften präsentiert, beruht also nicht auf einem kontingenten Irrtum, sondern auf absichtsvoller Redaktion - das ist sehr wahrscheinlich die Kanonische Redaktion von *Joh, die durch die Wiederholung von ἐπάνω πάντων ἐστίν ein weiteres Beispiel für die breite »joh« Sprache geschaffen hat. Joh 5,3b.4 ist ein klassisches Beispiel für eine sekundäre Ergänzung: Dass die Kranken »die Bewegung des Wassers erwarteten«, 49 erläutert, zusammen mit dem ebenfalls nur teilweise bezeugten V. 4, 50 die Antwort des Gelähmten in V. 7: Dass er niemanden hat, der ihn in den Teich trägt, wenn das Wasser bewegt wird, sondern jedes Mal zu spät kommt, weil schon ein anderer vorher hineingestiegen ist, bleibt ohne den längeren Text in V. 3b.4 völlig unverständlich. Eine sekundäre Streichung der fehlenden Passagen ist daher in höchstem Maß unwahrscheinlich und der sekundäre Charakter kaum fraglich. Es spricht alles dafür, dass die schwer verständliche Kurzfassung im vorkanonischen *Joh ursprünglich ist, die Langfassung dagegen auf die Kanonische Redaktion zurückgeht, die dadurch diese »hochpoetische Passage« 51 geschaffen hat. Joh 6,23: ἄλλα ἦλθεν πλοιάρια ἐκ Τιβεριάδος ἐγγὺς τοῦ τόπου ὅπου ἔϕαγον τὸν ἄρτον ε ὐ χ α ρ ι σ τ ή σ α ν τ ο ς τ ο ῦ κ υ ρ ί ο υ . ευχαριστησαντος του κυριου om D 091 pc a d e sy s.c armen georg I ¦ add aur b c f ſſ 2 j l q r 1 M . Das Fehlen der letzten drei Worte mit dem Gen. abs. εὐχαριστήσαντος τοῦ κυρίου in D it sy ist aufschlussreich. Denn fünf der über 15 joh κύριος- Belege tauchen in der Erzählstimme auf (neben 6,23 vgl. 11,2; 20,20; 21,7.12). 52 Es ist daher sehr gut denkbar, dass das auktoriale κύριος - ganz analog zu den lk Verwendungen - ein Kennzeichen der Kanonischen Redaktion ist. Für diese Überlegung ist die Annahme nicht notwendig, dass alle der fünf genannten Vorkommen bei Joh auf Korrekturen der Kanonischen Redaktion zurückgehen: Für die drei Belege in Joh 20f könnte das auktoriale κύριος aufgrund des Kontextes (Begegnung mit dem Erhöhten) möglicherweise auch ursprünglich sein. Dies ist in Joh 6,23 wegen der entsprechenden Situation in Lk und der charakteristischen Verteilung der Zeugen höchstwahrscheinlich nicht der Fall. In methodischer Hinsicht ist das Urteil der Herausgeber der kritischen Ausgaben für diese Wendung nicht wirklich begründbar, denn deren Interesse richtet sich ja ______________________________ 47 T HYEN , Joh 232 (Hervorhebungen im Original). 48 B ARRETT , Joh 244, sieht in der joh Vorliebe für solche Wiederholungen »das stärkste Argument für die längere Lesart.« 49 Joh 5,3b εκδεχομενων την του υδατος κινησιν: om P 66.75 א A* B C* L T pc q sy c co ¦ add A c C 3 D (W s ) Θ Ψ 078 f 1.13 33 a aur b c d e f ſſ 2 j l r 1 sy p.h bo pt M . 50 Joh 5,4 vs. om P 66.75 א B C* D T W s 33 pc d f l q vg (st) sy c co ¦ add a aur b c e ſſ 2 j r 1 M . 51 T HYEN , Joh 298. 52 Diese Stellen nach dem Text der kritischen Ausgaben. Tatsächlich ist die auktoriale Verwendung von κύριος in Joh breiter bezeugt, vgl. § 5.2, o. S. 100 zu Joh 4,1; 11,2; 20,20(21): Nach der hier vorgeschlagenen Erklärung ist die κύριος-Variante jeweils Teil des kanonischen Joh-Textes. 362 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch jeweils auf den älteren Text. Aber auch die von Metzger erwähnte Alternative, die fraglichen Worte seien »a gloss that crept into the other texts«, 53 ist angesichts der überwältigenden Bezeugung wenig wahrscheinlich. Was bleibt, ist wieder die gegenüber dem vorkanonischen *Joh sekundäre Ergänzung der ganzen Wendung durch die Kanonische Redaktion. Joh 8,53: μὴ σὺ μείζων εἶ τοῦ π α τ ρ ὸ ς ἡ μ ῶ ν Ἀβραάμ. πατρος ημων: om D W a b c d e ſſ 2 j l sy s pbo ¦ add aur f q r 1 M . Dass Abraham in der übergroßen Mehrheit der Überlieferung als »unser Vater« bezeichnet wird, nicht jedoch in D it sy usw., ist vielleicht kein lässliches Versehen, als das es die Kommentare offensichtlich verstehen, die diese Variante in aller Regel gar nicht erwähnen. Wenn die Annahme zutrifft, dass vor allem in D it sy immer wieder Spuren des vorkanonischen Textes (in diesem Fall also *Joh) begegnen, dann ist der gezielte Hinweis auf »unseren Vater« Abraham sehr wahrscheinlich ein Eintrag der Kanonischen Redaktion. Dies hat enge Entsprechungen in anderen Instanzen der Kanonischen Redaktion, die offensichtlich ein gesteigertes theologisches Interesse an Abraham - bzw. genauer: am Konzept der Abrahamskindschaft - besaß und dieses Element verschiedentlich redaktionell verstärkte. Neben den eindeutig redaktionellen Erwähnungen in Lk 1,54f.73f; 3,8 vgl. die Rekonstr. zu *13,16.28; *16,29.30; *19,9; *20,37. Auf den Umstand, dass der marcionitische Apostolos in Gal 3 und Rm 4 offensichtlich keine Erwähnung Abrahams enthielt, 54 sei nur pauschal verwiesen: Eine genauere Rekonstruktion des Paulus-Textes der marcionitischen Sammlung zeigt, dass auch an diesen Stellen die mentiones Abrahae erst durch die Kanonische Redaktion Teil des neutestamentlichen Textes wurden. 55 Joh 8,59: ἦραν οὖν λίθους ἵνα βάλωσιν ἐπ’ αὐτόν. Ἰησοῦς δὲ ἐκρύβη καὶ ἐξῆλθεν ἐκ τοῦ ἱεροῦ. κ α ὶ δ ι ε λ θ ὼ ν δ ι ὰ μ έ σ ο υ α ὐ τ ῶ ν ἐ π ο ρ ε ύ ε τ ο κ α ὶ π α ρ ῆ γ ε ν ο ὕ τ ω ς . και διελθων δια μεσου αυτων επορευετο και παρηγεν ουτως: om P 66.75 א * B D W Θ* pc a aur b c d e ſſ 2 [j] l r 1 sy s ac 2 pbo bo ms ¦ add א 1(2) (A) C L N (Θ c ) Ψ 070 (f 1.13 ) 33 (579) 892 1231 al f q sy p.h bo M . Der Zusatz, den die übergroße Mehrheit der Handschriften bezeugt, stammt, wie schon lange gesehen wurde, aus Lk 4,30: Die Eintragung ist ein so offenkundiger Versuch, die Kohärenz zwischen den einzelnen Evangelien zu erhöhen, dass ihr sekundärer Charakter zweifelsfrei feststeht. Zweifel sind allerdings angebracht, wenn es um die Instanz geht, die diese Ergänzung vorgenommen hat: Waren es wirklich »Abschreiber«, die den Text hier eigenmächtig ergänzt haben? 56 Es ist wahrscheinlicher, dass diese Ergänzung auf das Konto der Kanonischen Redaktion zu verbuchen ist. In diesem Fall wäre dann auch klar, dass der Kurztext ( P 66.75 א * B D usw.) der Text des vorkanonischen *Joh ist, während der Langtext in der Kanonischen Ausgabe ursprünglich ist und in die kritischen Ausgaben des Neuen Testaments gehört. Joh 9,35.38f: In dem abschließenden Gespräch Jesu mit dem Blindgeborenen gibt es zwei textkritische Auffälligkeiten, die wahrscheinlich auf die gleiche Weise zustande gekommen sind. In 9,35 lesen P 66.75 א B D W pc d sy s co: σὺ πιστεύεις εἰς τὸν υἱὸν τοῦ ἀ ν θ ρ ώ π ο υ , die große Mehrheit der Handschriften (it M ) bietet dagegen εἰς τὸν υἱὸν τοῦ θ ε ο ῦ . Vor allem aus ______________________________ 53 M ETZGER , Textual Commentary z. St. 54 Vgl. U. B. S CHMID , Marcion und sein Apostolos, Berlin - New York 1995. 55 Cf. M. K LINGHARDT , Abraham als Element der Kanonischen Redaktion, in: J. Heilmann, M. Klinghardt (Hg.), Das Neue Testament und sein Text im 2. Jh., Tübingen 2017, 223-258; A. G OLDMANN , Über die Textgeschichte des Römerbriefs, Tübingen 2020, 72-92. 56 T HYEN , Joh 454; M ETZGER , a. a. O., z. St.: »copyists«. § 14: Die Kanonische Redaktion der Evangelien 363 formalen Gründen votieren die meisten für die Ursprünglichkeit von ἀνθρώπου: Auf der einen Seite zählt das »Gewicht der Zeugen« für diese Lesart, 57 zum anderen traut man einem Kopisten auch keine eigenmächtige Ersetzung von θεοῦ durch ἀνθρώπου zu. In diesem Fall ist der von den kritischen Ausgaben übernommene Text (ἀνθρώπου) vermutlich tatsächlich der ältere: Es ist jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit der Text des vorkanonischen *Joh. In diesem Fall liegt es nahe, dass die umfangreiche Ergänzung in 9,38.39a denselben Ursprung hat: Die Wortfolge ὁ δὲ ἔϕη· πιστεύω, κύριε· καὶ προσεκύνησεν αὐτῷ. Καὶ εἶπεν ὁ Ἰησοῦς fehlt in einigen Zeugen, ist aber in der ganz überwiegenden Mehrheit der Überlieferung enthalten. 58 In dieser Mehrheitslesart reagiert der Blindgeborene auf die Frage Jesu in V. 35 mit einem Glaubensbekenntnis und der Proskynese. προσκυνέω mit Bezug auf Jesus kommt sonst in Joh nicht vor, wohl aber in der redaktionellen Passage Lk 24,52. 59 Akzeptable Gründe für eine (ohnehin weniger wahrscheinliche) sekundäre Streichung gibt es nicht: Dass die Phrase »in the interest of unifying Jesus’ teaching in verses 37 and 39« ausgelassen wurde, wie Metzger vermutet, ist ganz unwahrscheinlich. 60 Denn tatsächlich gewinnt das Zwiegespräch mit der exakten Antwort des Blindgeborenen auf die Frage in V. 37 an Geschlossenheit. Aber wenn es sich bei dieser Antwort um eine sekundäre Einfügung handelt, dann wird der Hinweis auf die Proskynese mit Blick auf die Änderung von 9,35 durch dieselbe Hand verständlich: Wenn es um den Glauben an den Sohn Gottes (und nicht an den Menschensohn) geht, ist die Proskynese in der Tat die angemessene Reaktion. Um diese sekundäre Einfügung erklären zu können, braucht man also nicht auf den gänzlich unwahrscheinlichen Einfluss der Taufliturgie aus der joh Gemeinde zurückzugreifen, 61 die Annahme der Kanonischen Redaktion eines vorkanonischen *Joh würde völlig ausreichen. In diesem Fall wäre das redaktionelle Verfahren als »Dialogisierung« zu bezeichnen: Die Antwort Jesu (9,37.39) auf die Frage καὶ τίς ἐστιν, κύριε 9,36 gewinnt durch die weiterführende Nachfrage in 9,38.39a narrative Plastizität. Ein ganz ähnliches Verfahren ist beispielsweise bei der lk Redaktion des Gespräches Jesu mit dem Gesetzeslehrer zu beobachten (*10,26b.27; s. die Rekonstr.). Joh 12,8: τοὺς πτωχοὺς γὰρ πάντοτε ἔχετε μεθ’ ἑαυτῶν, ἐμὲ δὲ οὐ πάντοτε ἔχετε liefert ein weiteres instruktives Beispiel: Der Vers fehlt in wenigen Zeugen ganz, in weiteren zum Teil. 62 Der Hintergrund der längeren Lesart ist deutlich: Es handelt sich um eine Ergänzung aus Mt 26,11 || Mk 14,7. Was diese Erklärung so schwierig zu machen scheint, ist der Umstand, dass die kurze Lesart (D sy) fast gegen die gesamte Überlieferung steht: Ein so überwältigendes Zeugnis mag man nicht auf eine zufällige Ergänzung eines Kopisten zurückführen. Das ist auch nicht nötig, wenn für diese Ergänzung die Kanonische Redaktion verantwortlich war. In diesem Fall - wenn nämlich die einzelnen Evangelien als Teile eines gemeinsamen Buches zusammengestellt werden - ist das Interesse einer Angleichung von Joh 12 an Mk 14 und Mt 26 auch ohne weiteres nachvollziehbar. Diese Erklärung besagt, dass Joh 12,8 dem vorkanonischen *Joh hinzugefügt wurde und im kanonischen Joh ursprünglich ist. Allerdings hebt diese Ergänzung das Gewicht der Entgegnung Jesu in *Joh 12,7 in gewisser Weise auf: Die Erklärung, dass diese exzessive ______________________________ 57 Vgl. T HYEN , Joh 471; M ETZGER , a. a. O., z. St.: »The external support … is so weighty …« 58 Joh 9,38.39a: om P 75 א * W b [l] sy ms ac 2 mf ¦ add M . 59 Lk 24,52 προσκυνησαντες αυτον: om D it sy s ¦ add M (vgl. die Rekonstr. z. St.). 60 Vgl. M ETZGER , a. a. O., z. St. 61 Beispielsweise erwogen von B ROWN , Joh I 375 (»an addition stemming from the association of Joh ix with the baptismal liturgy and catechesis«). 62 Joh 12,8: vs. om D d sy s . μεθ εαυτων, εμε δε ου παντοτε εχετε: om P 75 892 s * pc; diese Lesart geht möglicherweise auf ein Versehen (Parablepsis: zweimal παντοτε εχετε) zurück. 364 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch Salbung ein Vorgriff auf die Begräbnissalbung sei, trägt hier das ganze Gewicht der Begründung und stellt daher - im Vergleich zu der Abfolge von Mk 14,7.8 || Mt 26,11.12) - eine christologische Konzentration dar, die durch die Angleichung an Mk und Mt wieder rückgängig gemacht wird. Wenn man einmal erkannt hat, auf welche Hinweise zu achten ist, bereitet die Identifizierung weiterer Spuren einer möglichen Kanonischen Redaktion keine Schwierigkeiten. In den hier genannten (sicher nicht vollständigen! ) Beispielen war der Ausgangspunkt jeweils eine Auffälligkeit in D it sy. Aber das Phänomen ist nicht auf diese Zeugen zu beschränken: Vielmehr ist, wie schon in den kanonischen Lk-Handschriften, aufgefallen, dass solche möglicherweise älteren Lesarten auch in solchen Handschriften auftauchen, denen die Textkritik in den letzten Jahrzehnten großes Vertrauen entgegenbrachte, also vor allem in P 66.75 א B usw. Die Einsicht, dass die Lesarten dieser Handschriften häufig älter sind als die der Mehrheit der Überlieferung, hat sich auch in unserem Modell bestätigt. Allerdings legt dieses Modell die Möglichkeit nahe, dass dieser »älteste Text« nicht der Text der Kanonischen Ausgabe des Neuen Testaments ist, sondern eine vorkanonische Fassung. b. Erzählerkommentare und »narrative asides« Die Möglichkeit einer Kanonischen Redaktion der vorkanonischen Evangelientexte gewinnt größtes Gewicht für die genaue Bestimmung des literarischen Profils von Joh. Bekanntlich finden sich in Joh zahlreiche Erzählerkommentare und sog. »narrative asides«. Indem der Erzähler seine Erzählung unterbricht und sich klärenderklärend direkt an den Leser wendet, gewinnt der Text eine zusätzliche kommunikative Ebene und narrative Tiefe. Interessanterweise stehen auch einige der für die literarische Anatomie des Joh so entscheidenden Erzählerkommentare unter dem Verdacht, (erst) durch die Bearbeitung einer Kanonischen Redaktion entstanden zu sein. Joh 4,9b: οὐ γὰρ συγχρῶνται Ἰουδαῖοι Σαμαρίταις om א * D a b d e j. Diese Aussage erläutert die vorausgehende Frage der Samariterin: »Wie kannst du, obwohl du ein Jude bist, von mir, die ich eine samaritische Frau bin, zu trinken erbitten? « Der kausale Anschluss (γάρ! ) stellt sicher, dass hier der Erzähler redet, nicht aber die Frau: 4,9b ist eine Glosse. 63 Wenn diese Glosse zum ältesten Text gehörte, wäre ihr Fehlen in den genannten Zeugen schwer zu begründen. 64 Sehr viel leichter ______________________________ 63 So beispielsweise schon B ULTMANN , Joh 130 Anm. 5, der hinzusetzt: »Ist sie usrpünglich im Text, stammt sie natürlich vom Ev(an)g(e)listen«. T HYEN , Joh 240, übergeht 4,9b in seiner Übersetzung, aber kommentiert: »Hier unterbricht der Erzähler seine Schilderung und klärt seine Zuhörer auf« (a. a. O. 247). 64 M ETZGER , Textual Commentary z. St., bemüht sich mit zweifelhaftem Erfolg um eine Erklärung: »The omission, if not accidental, may reflect scribal opinion that the statement is not literally exact and therefore should be deleted.« Zufall ist immer möglich, aber nie erweisbar. Dass jedoch ein Kopist diese Erklärung ausgelassen haben sollte, weil er sie für »not literally exact« hielt, wird man ausschließen müssen: Hätten Kopisten jemals dieses Kriterium an die von ihnen produzierten Texte angelegt, besäßen wir kaum zwei auch nur annähernd ähnliche Handschriften. § 14: Die Kanonische Redaktion der Evangelien 365 ist die umgekehrte Annahme, dass diese Begründung sekundär eingefügt wurde. Mit Blick auf die äußerst breite Bezeugung bietet sich für diese Ergänzung die Kanonische Redaktion an. Joh 6,4 datiert das folgende Geschehen: ἦν δὲ ἐγγὺς τὸ πάσχα, ἡ ἑορτὴ τῶν Ἰουδαίων. Diese Aussage fehlt in wenigen Zeugen (vs. om 1634 pc). Ihre Bedeutung wird klar, wenn man ihre wörtlich identischen Parallelen in Joh 2,13; 11,55 in Rechnung stellt und deren das Gesamtwerk strukturierende Funktion berücksichtigt. Diese »Passa-Gliederungsformel« 65 ist weit mehr als eine bloße Zeitangabe: Sie stellt den folgenden Bericht unter die inhaltliche Perspektive des Passa und will mit 19,14.31ff zusammen gelesen werden. Wegen der strukturierenden Funktion der Passa-Gliederungsformel und ihrer hohen theologischen Bedeutung ist das Fehlen von Joh 6,4 in sehr wenigen Handschriften kaum registriert worden: Die meisten Kommentare nehmen die Lesart nicht einmal zur Kenntnis. Vor dem Hintergrund der bisher aufgeführten Beispiele wird man jedoch zumindest die Überlegung zulassen müssen, ob an dieser Stelle nicht eben auch die Kanonische Redaktion eingegriffen und einen zusätzlichen strukturierenden Hinweis in die Erzählung eingefügt hat. Dass in diesem Fall der kürzere (und mutmaßlich: vorkanonische) Text nicht in D it sy, sondern in anderen Zeugen begegnet, spricht nicht gegen diese Erklärung: Die Spuren des vorkanonischen Textes haben sich immer nur kontingent erhalten. Joh 13,11b: διὰ τοῦτο εἶπεν ὅτι οὐχὶ πάντες καθαροί ἐστε fehlt in D d, ist aber ansonsten in allen Handschriften bezeugt. Die Bemerkung erklärt die Ausnahme, die 13,10b von der grundsätzlichen Aussage macht: καὶ ὑμεῖς καθαροί ἐστε, ἀλλ’ οὐχὶ πάντες. Die sehr schmale Bezeugung des Fehlens nur in D d scheint das textkritische Problem so geringfügig zu machen, dass es kaum je zur Kenntnis genommen wird. Allerdings steht die Erklärung 13,11b in Spannung zu 13,11a: ᾔδει γὰρ τὸν παραδιδόντα αὐτόν. Dieser typische Erzählerkommentar ist trotz seines sachgerechten kausalen Anschlusses offensichtlich weniger eindeutig als erwartet. Wenn Jesus in 13,10b sagt, dass alle Jünger rein seien (καὶ ὑμεῖς καθαροί ἐστε), aber davon den Verräter ausnimmt (ἀλλ’ οὐχὶ πάντες), dann hat 13,11a die Funktion, schon hier deutlich zu machen, dass Jesus den Verräter kannte: Das Problem der Sünde des Verräters hat Joh in erheblichem Maße umgetrieben. 66 Diese für Joh theologisch wichtige Einschränkung wird durch 13,11a offensichtlich nur unzureichend erläutert, weil der Zusammenhang zwischen dem Vorwissen Jesu über den Verräter und der Einschränkung der Aussage »Ihr alle seid rein« nicht explizit gemacht wird. Dies geschieht dann erst in 13,11b: Man versteht diese Erklärung am besten als »Kommentar zweiter Ordnung«, der nicht auf den Erzähler, sondern auf den Redaktor zurückgeht, nämlich den Bearbeiter der Kanonischen Redaktion. Diese drei Beispiele sind von unterschiedlichem Gewicht. Die verschiedenen Lesarten in Joh 4,9b und 13,11b würden gut zu der angenommenen Kanonischen Redaktion passen, berühren aber die literarisch-theologische Architektur des Joh bestenfalls am Rande. Dies ist bei der Passa-Gliederungsformel Joh 6,4 anders. Denn die hier für die Entstehung dieser Variante vorgeschlagene Erklärung würde in der Konsequenz dazu führen, dass ein zentraler Aspekt der literarischen Anlage des Joh (erst) auf eine sekundäre Bearbeitung durch die Kanonische Redaktion ______________________________ 65 W. W ILKENS , Die Entstehungsgeschichte des vierten Evangeliums, Zollikon 1958, 9ff. 66 Vgl. dazu § 13.4, o. S. 314ff. 366 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch zurückgeht. Hinreichend genau belegen lässt sich diese Konsequenz freilich nicht. Da die Spuren des vorkanonischen Textes in der kanonischen Überlieferung grundsätzlich ein kontingentes Phänomen sind, lässt sich nicht aus jeder Variante auf einen vorkanonischen Text schließen: Der Zufall folgt nun einmal keiner bestimmten Regel. Aus diesem Grund ist es wichtig, zumindest die Möglichkeit zu etablieren, dass auch zentrale Elemente des literarischen Konzepts die Folge einer sekundären Bearbeitung sein können. Dies ist der Fall in Joh 19,35 καὶ ὁ ἑωρακὼς μεμαρτύρηκεν, καὶ ἀληθινὴ αὐτοῦ ἐστιν ἡ μαρτυρία, καὶ ἐκεῖνος οἶδεν ὅτι ἀληθῆ λέγει, ἵνα καὶ ὑμεῖς πιστεύσητε. Die Aussage über das wahre Zeugnis des Todes Jesu fehlt im Evangelium Palatinum (e) und in einer Vulgatahandschrift. Joh 19,35 ist aus mehreren Gründen von zentraler Bedeutung: Erstens werden die Leser direkt (ὑμεῖς) angesprochen: Dies ist eigentlich nur denkbar, wenn sie wissen, wer hier redet. Dafür ist zweitens entscheidend, dass der Sehende (ὁ ἑωρακώς) und der Wissende (ἐκεῖνος οἶδεν) nicht identisch, sondern zwei verschiedene Personen sind. Der eine ist der 19,34 genannte εἷς τῶν στρατιωτῶν: Er hat gesehen und bezeugt, dass Blut und Wasser aus der Seite Jesu hervorströmten. Wenn der andere »weiß, dass er die Wahrheit sagt«, muss auch er ein Zeuge der Kreuzigung gewesen sein. Wie die Aufnahme dieser Aussage in 21,24 zeigt, ist dieser Zeuge des Zeugen niemand anders als der »geliebte Jünger«, der fiktionale Autor des Joh: Οὗτός ἐστιν ὁ μαθητὴς ὁ μαρτυρῶν περὶ τούτων καὶ ὁ γράψας ταῦτα. Das Konzept der doppelten Zeugenschaft (nach Dtn 19,15 usw.), das ja schon für Jesu eigenes Zeugnis über sich selbst erforderlich ist, 67 verlangt, dass die Bezeugung des Todes Jesu ihrerseits von zwei Zeugen bestätigt wird. 68 Mit der Bezeugung des Todes Jesu durch den geliebten Jünger ist daher drittens das zentrale literarische Konzept des Joh tangiert: Die enge Vernetzung der Aussagen über den geliebten Jünger bildet gewissermaßen das Skelett der literarischen Anatomie des Joh. Es ist nicht sinnvoll, die Schwierigkeiten, die durch diese Bezeugungslage entstehen, als irrelevant abzutun. Natürlich ist es möglich, dass auch dieser zentrale Satz in zwei Handschriften »zufällig« ausgelassen wurde. Wahrscheinlich ist dies jedoch nicht. Da aber eine beabsichtigte Streichung noch unwahrscheinlicher ist, spricht doch viel dafür, dass diese Aussage erst sekundär eingefügt wurde: Am ehesten durch die Kanonische Redaktion. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass das gesamte literarische Konzept mit der fiktionalen Verfasserschaft des geliebten Jüngers erst auf die Kanonische Redaktion zurückgeht. Aber diese einseitige Konsequenz ist auch nicht notwendig. Es ist auch denkbar, dass die Kanonische ______________________________ 67 Vgl. Joh 5,31; 8,16f usw. 68 Zu dieser Deutung vgl. T HYEN , Joh 748ff. § 14: Die Kanonische Redaktion der Evangelien 367 Redaktion dieses Konzept an der entscheidenden Stelle des Todes Jesu verstärkt und dabei die Zeugenschaft des geliebten Jüngers hervorgehoben hat. Ein letztes Beispiel für die Möglichkeit eines Eingriffes durch die Kanonische Redaktion des vorkanonischen *Joh von größtem Gewicht bietet der letzte Satz des Evangeliums: Joh 21,25 Ἔστιν δὲ καὶ ἄλλα πολλὰ ἃ ἐποίησεν ὁ Ἰησοῦς, ἅτινα ἐὰν γράϕηται καθ’ ἕν, οὐδ’ αὐτὸν οἶμαι τὸν κόσμον χωρῆσαι τὰ γραϕόμενα βιβλία fehlt in zwei Handschriften: In der ersten Hand des Sinaiticus ( א *) und in der Minuskel 63 (f. 474v). Solange das Fehlen des Verses nur für den Sinaiticus bekannt war, boten sich verschiedene Deutungen für das Phänomen an. Die Analyse unter UV-Licht hat gezeigt, 69 dass die Schlussmarkierung mit der subscriptio ursprünglich nach 21,24 eingetragen war, dann aber abgewaschen wurde. In den freien Raum wurde 21,25 nachgetragen und die Schlussmarkierung sowie die subscriptio erneut daruntergesetzt. Da der nachträglich ergänzte V. 25 allem Anschein nach von derselben Schreiberhand stammt, die auch den ursprünglichen Schluss notiert hatte, hat man gefolgert, dass hier ein sofort korrigiertes Versehen vorliege. 70 Da es jedoch zwei Minuskeln gibt, 71 die den Text des Joh nach 21,24 beenden und 21,25 erst auf der folgenden Seite für sich bieten, hat man auch erwogen, dass diese Kopisten Joh 21,25 als Schluss nicht des Joh, sondern des Kanonischen Vier- Evangelienbuches verstanden und den Vers aus diesem Grund auf eine neue Seite gesetzt haben. 72 Aber mit dem Auftauchen einer zweiten Handschrift ohne Joh 21,25 verändert sich das Bild: Das Fehlen des letzten Verses in Min. 63 ist eindeutig. 73 Und daher muss man damit rechnen, dass auch die Vorlage des Sinaiticus nach 21,24 endete. Da es sträflich wäre, an einer derart exponierten Stelle den Zufall als Erklärung zu bemühen, und da es auch für eine sekundäre Streichung nicht den geringsten Hinweis gibt, bleibt nur die Möglichkeit, dass das Joh auch in einer Fassung existierte, die mit 21,24 endete: Das ist das vorkanonische *Joh. Wie schon zuvor, präsentiert auch hier die Annahme der Kanonischen Redaktion eine Möglichkeit für die Ergänzung von Joh 21,25. In diesem Fall lässt sich das redaktionelle Interesse aufgrund der Zusammengehörigkeit mit dem Lk-Prolog auch noch recht genau bestimmen. 74 Denn Joh 21,25 hat erkennbar die Funktion, die Zahl der Evangelienschriften zu begrenzen. Zwar wird die Überfülle der möglichen Jesus-Überlieferungen ______________________________ 69 H. J. M. M ILNE , T. C. S KEAT , Scribes and Correctors of the Codex Sinaiticus, Oxford 1938, Abb. 3. Eine Rekonstruktion der ersten Hand bei D. T ROBISCH , Die Endredaktion des Neuen Testaments, Fribourg - Göttingen 1996, 152, Abb. 7. 70 Darauf hatte Kirsopp Lake in seiner Rez. der Arbeit von Milne/ Skeat bereits hingewiesen: »the omission of the verse has now no critical importance. It was merely a scribal error, corrected immediately« (K. L AKE , in: Classical Philology 37 [1942], 91-96: 91). 71 Dublin Trin. Coll. A.1.8.; Min. 700. Vgl. M ILNE / S KEAT , a. a. O. 12f. 72 T ROBISCH , a. a. O. 151. 73 Den Hinweis auf diese Handschrift verdanke ich David Trobisch (brieflich). 74 Vgl. dazu o. § 7, S. 164ff. 368 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch eingeräumt, dies aber gerade nicht in der Form, dass noch viele weitere Seiten oder Kapitel folgen könnten, sondern mit dem Hinweis auf weitere Bücher, die dafür notwendig wären (τὰ γραϕόμενα βιβλία). Die Schlussnotiz Joh 21,25 bezieht sich also nicht auf das Joh (und seine möglichen Weiterungen), sondern begrenzt die kanonische Sammlung der vier Evangelien. In dieser Begrenzungsfunktion entspricht 21,25 dem Lk-Prolog, der begründet, dass es mehr als ein Evangelium gibt: ἔδοξε κἀμοὶ … καθεξῆς σοι γράψαι (Lk 1,3). Die Entsprechung zwischen dem Singular, mit dem sich der Verfasser des Lk-Prologs an den »verehrten Gottesfreund« wendet (ἔδοξε κἀμοὶ … κράτιστε Θεόϕιλε) und dem Singular von Joh 21,25 (οἶμαι) ist daher kein Zufall, sondern verrät dasselbe redaktionelle Konzept und dieselbe Hand: Hier meldet sich der Bearbeiter der Kanonischen Redaktion. c. Der protokanonische Charakter des *Joh Konzediert man die Möglichkeit, dass die Kanonische Redaktion an den vorkanonischen Evangelien nicht nur kleinere Korrekturen vorgenommen, sondern auch tief in deren literarisches Konzept eingegriffen hat (wie es sich ja beispielsweise auch für den Langen Mk-Schluss nahegelegt hat), dann kommen noch weitere joh Beispiele in den Blick. Die folgenden Überlegungen unterscheiden sich allerdings darin von den zuvor erwähnten Beispielen, dass in diesem Fall der Verdacht einer sekundären Bearbeitung des vorkanonischen *Joh durch die Kanonische Redaktion keinerlei Anhaltspunkte in der handschriftlichen Überlieferung besitzt. Da man die methodische Grenze zwischen Indizien der handschriftlichen Überlieferung und der puren Spekulation aus »inneren Gründen« nicht straflos überschreiten kann, sind die folgenden Hinweise in erster Linie als Anzeige für ein offenes Problem zu verstehen, für das ein literarkritischer Lösungsvorschlag zumindest vorstellbar ist. Dieses Problem wird durch die genaue Bestimmung des diachronen Verhältnisses zwischen Lk 24 und Joh 20f konstituiert. Die überlieferungsgeschichtliche Rekonstruktion hat zunächst ergeben, dass *Joh den Erscheinungsbericht *24,36-43 entlang der Bearbeitungsrelation ⑥ rezipiert und ihn in drei Einzelszenen aufgeteilt hat. 75 Auf diesen Erzählzusammenhang Joh 20f rekurriert dann allerdings Lk 24,44-49 in der Bearbeitungsrelation ⑦ . Dass Lk 24 auf Joh 20f zurückgreift, lässt sich durch eine ganze Reihe von Beobachtungen erhärten (vgl. dazu durchweg die Rekonstr. zu *24,36-44): In Lk 24,36 stammen wahrscheinlich die Einleitung (ἔστη ἐν μέσῳ αὐτῶν), sicher aber der wortwörtlich identische Friedensgruß aus Joh (Lk 24,36 || Joh 20,19). Die Doppelung, die Joh durch Abfolge von zwei Erscheinungen vor den Jüngern geschaffen hatte (Joh 20,19-23.26-29), ______________________________ 75 Joh 20,19-23.24-29; 21,1-14; zur Begründung vgl. im Einzelnen die Rekonstruktion zu *24,36-43 sowie o. § 13.4. § 14: Die Kanonische Redaktion der Evangelien 369 ist in Lk 24,39 noch sichtbar in der Verdoppelung der Aufforderung Jesu an die Jünger (24,39: ἴδετε τὰς χεῖράς μου καὶ τοὺς πόδας μου, ὅτι …; ψηλαϕήσατέ με καὶ ἴδετε, ὅτι …). Auch die Funktion der Erscheinung als Erweis der Identität zwischen dem Gekreuzigten und dem Erscheinenden (Lk 24,39: ἐγὼ αὐτός εἰμι) fehlte in *Ev und geht erst auf den Einfluss der Thomasperikope zurück (Joh 20,24-29). Schließlich hat Lk 24,41 das Element der Freude als Reaktion auf die Erscheinung aus Joh 20,20b übernommen und es geschickt mit der Feststellung des (zunächst noch) andauernden Unglaubens verbunden: Die Jünger konnten vor lauter Freude noch nicht glauben. Dass sich der Glaube trotz der Freude noch nicht einstellt, ist für die lk Komposition entscheidend: Denn weder das Sehen des Auferstandenen (Lk 24,40), noch seine zweifelsfreie Identität (Lk 24,39), ja noch nicht einmal seine durch das Sehen von Fleisch und Knochen bzw. durch den Verzehr von Speisen sichergestellte Körperlichkeit (Lk 24,43) können den Glauben an die Auferstehung wecken. Erst die Belehrung Jesu aus dem Gesetz des Mose, den Propheten und den Psalmen (Lk 24,44) öffnet den Jüngern die Augen (Lk 24,45). Diese Öffnung des Verstandes zielt auf das Verstehen der Schriften (24,47: διήνοιξεν αὐτῶν τὸν νοῦν τοῦ συνιέναι τὰς γραϕάς). Dieses Verstehen umfasst erkennbar mehr als nur die Schriftgemäßheit der Auferstehung, nämlich die Aussendung der Jünger, die Gabe des Geistes und die Bevollmächtigung zur Sündenvergebung. Diese drei Elemente aus Lk 24,47.49 fassen in der Rede Jesu zusammen, was in Joh 20,21-23 narrativ entfaltet ist, setzen also wiederum den joh Kontext voraus. Bis dahin lassen sich die sukzessiven Weiterungen von *Ev zu Joh und von Joh zu Lk auch problemlos in das überlieferungsgeschichtliche Modell einzeichnen. Vor allem gehören die redaktionellen Elemente, die in Lk 24,44-49 auf das Verstehen der Schriften zielen, zu dem literarischen Konzept der Kanonischen Ausgabe: Sie begründen auf der letzten Stufe der Überlieferungsgeschichte die kohärente Einheit der christlichen Bibel aus Altem und Neuem Testament. Das offene Problem für die Verhältnisbestimmung zwischen Joh und Lk ergibt sich aus Joh 20,9. Im Anschluss an die Notiz, dass der geliebte Jünger das leere Grab »sah und glaubte« (Joh 20,8), kommentiert der Erzähler: »Denn sie hatten die Schrift noch nicht verstanden, dass er von den Toten auferstehen müsse« (20,9). Dieser »verwunderliche Satz« liefert eine »höchst merkwürdige Begründung«, 76 denn er steht zu 20,8 in einer doppelten Spannung: Auf der einen Seite ist in 20,8 vom Glauben (nur) des geliebten Jüngers die Rede (20,8: εἶδεν καὶ ἐπίστευσεν), während 20,9 sagt, dass »sie« - also der geliebte Jünger und Petrus - noch nicht verstanden hatten. Was hat den geliebten Jünger im Unterschied zu Petrus in die Lage versetzt, dass er zum Glauben kommt? 77 Setzt man voraus, dass der geliebte Jünger als fingierter Autor des Joh auch als Zeuge zugegen war, als Lazarus, die Füße und Hände mit Binden umwickelt und sein Gesicht mit einem σουδάριον verhüllt, aus dem Grab kam (Joh 11,44), dann könnte die Autopsie des zusammengelegten σουδάριον im Grab seinen Glauben ______________________________ 76 T HYEN , Joh 760. 77 P. S. M INEAR , »We Don’t Know Where …« John 20,2, Interpr. 30 (1976), 125-139: 127f, umgeht diese Schwierigkeit dadurch, dass er das Zum-Glauben-Kommen (20,8: ἐπίστευσεν) erstens auch für Petrus annimmt und es zweitens auf den Bericht der Maria Magdalena bezieht (20,2: οὐκ οἴδαμεν ποῦ ἔθηκαν αὐτόν): Petrus und der geliebte Jünger »now ›believed‹ in Mary’s report and thus joined in her confession of ignorance, ›we don’t know where‹.« 370 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch wecken. 78 In diesem Fall muss man allerdings annehmen, dass Petrus bei der Auferweckung des Lazarus entweder nicht zugegen war oder aber nicht die entsprechenden Schlussfolgerungen aus dem zusammengelegten Schweißtuch gezogen hatte. Entscheidend ist jedoch das »noch nicht« (20,9: οὐδέπω), das ein »später dann eben doch« impliziert. Dieses »später doch« wird in Joh allerdings nicht erzählt, und es ergibt sich auch nicht aus Joh 21, denn da spielt das »Verstehen der Schrift, dass er von den Toten auferstehen muss«, überhaupt keine Rolle. Der Erzählerkommentar 20,9 ist mithin eine (unglücklich platzierte oder formulierte) textexterne Referenz. Die Schriftkonformität der Auferstehung Jesu ist für Lk 24 und das darin ausgedrückte hermeneutische Konzept der Kanonischen Ausgabe von Bedeutung, nicht aber für das literarische Konzept (nur) des Joh. Wäre Joh 20,9 das einzige Beispiel für diese textexterne Referenz, könnte man angesichts der nicht unproblematischen Kontextverbindung geneigt sein, diesen Erzählerkommentar auf das Konto der Kanonischen Redaktion des vorkanonischen *Joh zu verbuchen. Diese Lösung scheitert jedoch daran, dass Joh 20,9 in 2,22 und 12,16 wichtige Entsprechungen besitzt. Nach dem Wort Jesu, er werde den Tempel in drei Tagen wieder errichten (2,19), heißt es, dass die Jünger sich nach der Auferstehung an dieses Wort erinnerten und ihm und der Schrift glaubten (2,22: ἐμνήσθησαν οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ ὅτι τοῦτο ἔλεγεν, καὶ ἐπίστευσαν τῇ γραϕῇ). In Joh 12,16 heißt es als Erklärung zu dem Prophetenzitat (Joh 12,15), dass die Jünger dieses Wort nicht verstanden, sich aber, nachdem er verherrlicht worden war, »daran erinnerten, dass dies über ihn geschrieben war.« 79 Diese drei Erzählerkommentare sind durch das Syndrom von drei charakteristischen Aspekten mit dem Konzept von Lk 24 verbunden. 1. Das Verstehen ist erst nach Ostern möglich: Joh 2,22 ὅτε οὖν ἠγέρθη ἐκ νεκρῶν; 12,16 ὅτε ἐδοξάσθη ᾿Ιησοῦς τότε …; 20,9 οὐδέπω. - Lk 24,25-27.45. 2. Das Verstehen setzt die Erinnerung an die Worte Jesu voraus: Joh 2,22 ἐμνήσθησαν οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ ὅτι τοῦτο ἔλεγεν (…) ἐπίστευσαν … τῷ λόγῳ ὃν εἶπεν ὁ ᾿Ιησοῦς; 12,16 ἐμνήσθησαν ὅτι … ταῦτα ἐποίησαν αὐτῷ. - Lk 24,6.8: μνήσθητε ὡς ἐλάλησεν ὑμῖν … καὶ ἐμνήσθησαν τῶν ῥημάτων αὐτοῦ; Lk 24,44: οὗτοι οἱ λόγοι μου οὓς ἐλάλησα πρὸς ὑμᾶς ἔτι ὢν σὺν ὑμῖν. 3. Das glaubende Verstehen richtet sich nicht nur auf die Worte Jesu, sondern auch auf die Schrift, welche die wesentlichen Informationen über Jesus enthält: Joh 2,22 καὶ ἐπίστευσαν τ ῇ γ ρ α ϕ ῇ ; 12,16: ἐμνήσθησαν ὅτι ταῦτα ἦν ἐπ’ αὐτῷ γ ε γ ρ α μ μ έ ν α ; 20,9: οὐδέπω γὰρ ᾔδεισαν τ ὴ ν γ ρ α ϕ ή ν. - Lk 24,45f: τότε διήνοιξεν αὐτῶν τὸν νοῦν τοῦ συνιέναι τ ὰ ς γ ρ α ϕ ά ς . καὶ εἶπεν αὐτοῖς ὅτι Οὕτως γ έ γ ρ α π τ α ι … ______________________________ 78 Dies ist die Lösung von T HYEN , Joh 761f. 79 Joh 12,16: ἀλλ’ ὅτε ἐδοξάσθη ᾿Ιησοῦς τότε ἐμνήσθησαν ὅτι ταῦτα ἦν ἐπ’ αὐτῷ γεγραμμένα … Zu diesen sog. »Parenthesen« bzw. Erzählerkommentaren in Joh vgl. G. V AN B ELLE , Les parenthèses dans l’évangile de Jean, Leuven 1985; C H . W. H EDRICK , Authorial Presence and Narrator in John, in: J. E. G OEHRING et al. (eds.), Gospel Origins and Christian Beginnings, Sonoma 1990, 74-93. § 14: Die Kanonische Redaktion der Evangelien 371 Irritierend an diesen joh Kommentaren sind dabei zwei Phänomene. Zunächst fällt auf, dass es zwar in allen drei Fällen narrative Haftpunkte für die Erinnerung an die Worte Jesu gibt: Die joh Kommentare sind ja an solche zunächst unverstanden gebliebene Jesuslogien angehängt, deren Verständnis sich dann aus der Perspektive der Auferstehung erschließen soll. Aber nur Joh 12,16 bezieht sich auf ein Schriftzitat (Jes 40,9 und Sach 9,9 in Joh 12,15), dessen Sinn die Jünger jetzt noch nicht erschließen können: In keiner der beiden anderen Stellen ist ein Schriftwort genannt, dem die Jünger hätten glauben (2,22) oder das sie später hätten verstehen (20,9) können. Sodann impliziert das »Noch nicht« ein späteres »Jetzt eben doch« des Verstehens. Im Unterschied zu Lk erzählt Joh allerdings an keiner Stelle, wie das Verstehen der Jünger einsetzt - und zwar weder mit Blick auf die Jesusworte noch mit Blick auf die Schrift. Anders als in Lk »öffnet« der joh Jesus den Jüngern weder die Augen noch den Verstand noch die Schrift. Die Hinweise auf das Nochnicht des Verstehens und ihr Bezug auf die Schrift konstituieren zwei ineinander verwobene textexterne Referenzen: Ein narrativer Haftpunkt für diese Erzählerkommentare liegt nur in Lk 24 vor. Sofern das Zusammentreffen der drei charakteristischen Elemente in Lk 24; Joh 2; 12; 20 kein Zufall ist, bieten sich zunächst zwei alternative Erklärungen an. Entweder liegt der Ursprung dieses Syndroms im redaktionellen Konzept der Kanonischen Ausgabe: In diesem Fall würden alle genannten Beispiele auf dieselbe Hand der Kanonischen Redaktion zurückgehen. Die Schwierigkeit dieser Erklärung ist bereits deutlich geworden: Für den sekundären Charakter von Joh 2,22; 12,16; 20,9 gibt es keinen äußeren Anhaltspunkt in der handschriftlichen Überlieferung. Diese Art der Literarkritik unterliegt einem methodischen non liquet, obwohl sie theoretisch denkbar ist. Deswegen ist als Alternative auch denkbar, dass die drei genannten joh Erzählerkommentare genuine Bestandteile bereits des vorkanonischen *Joh sind. In diesem Fall müsste man folgern, dass die Kanonische Redaktion sich durch die drei joh Erzählerkommentare zu einem umfassenden hermeneutischen Konzept hat anregen lassen, das die kohärenzstiftende Kongruenz zwischen der Schrift und den Worten Jesu mit dem nachösterlichen Verstehen der Jünger verbindet. Die Schwierigkeit dieser Lösung liegt in dem wiederholten und pointierten textexternen Verweis auf die Schrift als dem hermeneutischen Referenzrahmen für das Verständnis (der Worte) Jesu: Für ein isoliertes *Joh, das nicht Teil einer solcherart herausgehobenen Schrift ist, ist dieses Konzept schwer verständlich. Diese beiden Möglichkeiten markieren lediglich die extremen Positionen. Dazwischen sind weitere, eher vermittelnde Lösungen denkbar. So wäre es auf der einen Seite möglich, dass das vorkanonische *Joh die eine oder andere Referenz auf das nachösterliche Verstehen enthielt, etwa angeregt durch Mk 9,9.32 usw., 372 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch andere dagegen durch die Kanonische Redaktion ergänzt wurden. Für Joh 2,22; 20,9 wäre eine solche sekundäre Ergänzung leichter denkbar als für Joh 12,16. Für Joh 20,9 ist schon deutlich geworden, dass der Übergang von 20,8 nicht unproblematisch ist. Für Joh 2,22 könnte man ähnliche Überlegungen anstellen. Denn der nächste Kontext ab 2,13 zeigt Jesus im pointierten Gegenüber zu den Juden (2,18.20). Die Juden sind es auch, die das Tempelwort (2,19) missverstehen, wie der erste Erzählerkommentar 2,21 deutlich macht. Der zweite Kommentar (2,22) steht dazu in Spannung. Denn er thematisiert die nachösterliche Erinnerung der Jünger; von denen war jedoch gar nicht die Rede. Von daher ist es denkbar, dass 2,22 auf eine andere Hand zurückgeht. Dies ist jedoch alles andere als zwingend: Die Abfolge von 2,21.22 ist zwar nicht besonders elegant, aber selbstverständlich möglich. Im Unterschied zu Joh 2,22 und 20,9 spricht 12,16 nicht von der Auferstehung Jesu, sondern (so wie sonst auch und vor allem im Folgenden: 12,23.28) in typisch joh Diktion von seiner Verherrlichung. Vor allem ist hier die Perspektive auf das nachösterliche Verstehen der Schrift durch das vorangehende Sach-Zitat begründet. Joh 12,16 ist inhaltlich so eng mit dem Kontext verklammert, dass sich von hier aus kein Anhaltspunkt für eine mögliche redaktionelle Einfügung ergibt. Auf der anderen Seite ist die besondere Art der literarischen Bezugnahme des Joh auf seine Prätexte in Rechnung zu stellen. Im Unterschied zum Verhältnis etwa des Mk zu *Ev oder des Mt zu Mk, die ihre Prätexte als Quelle benutzen, ohne auf sie als Texte zu verweisen, wird Joh am besten verständlich, wenn man die Entsprechungen zu den Synoptikern als Anspielungen versteht, die seine Leser auch als solche durchschauen müssen, wenn sie dieses intertextuelle Spiel mit Gewinn mitspielen können sollen. Die joh Intertextualität erfordert, dass Joh neben diesen Texten gelesen wird. Im Unterschied zu *Ev, Mk und wohl auch Mt eignet dem Joh daher eine protokanonische Perspektive: Als Text (auch) über andere Texte verlangt Joh danach, als Teil einer Sammlung dieser Texte gelesen zu werden. Die Frage nach dem überlieferungsgeschichtlichen Verhältnis zwischen Lk und Joh in ihrer kanonischen Gestalt bleibt angesichts dieser Unsicherheiten offen. Die voranstehenden Überlegungen sollen lediglich andeuten, welche weitergehenden § 14: Die Kanonische Redaktion der Evangelien 373 Analysen 80 denkbar sind und welche methodischen Implikationen dafür zu bedenken wären. 81 5. Die Entstehung des kanonischen Vier-Evangelienbuches Die Unsicherheiten, mit denen alle der hier genannten Beispiele für mögliche Eingriffe der Kanonischen Redaktion behaftet sind, werfen Zweifel auf, ob sich der Umfang dieser Bearbeitung jemals hinreichend genau feststellen lassen wird. Aber dass dieser letzte Schritt der Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien stattgefunden hat, steht außer Frage. a. Die Evangelientitel Eine solche vereinheitlichende Redaktion hatte David Trobisch schon vor einigen Jahren für das Neue Testament insgesamt nachgewiesen. 82 Die hier vorgestellten Überlegungen zur Entstehung des kanonischen Vier-Evangelienbuches sind daher als grundsätzliche Bestätigung, aber auch als präzisierende Weiterführung dieser Ansicht zu verstehen. Trobischs These basiert zu einem guten Teil auf Beobachtungen, die er an den neutestamentlichen Handschriften gewonnen hat. Seine Erklärung nimmt - zum ersten Mal in dieser Gründlichkeit und Konsequenz - die Materialität der Überlieferung des Neuen Testaments ernst und versteht die Handschriften nicht nur als Träger eines davon abstrahierbaren Textes, sondern in erster Linie als Quelle für das Zustandekommen eines gleichermaßen materiellen Buches: Das ist die Kanonische Ausgabe mit dem Titel »Das Neue Testament«. Der Innovationsgehalt dieser These wird schlagartig deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass das Ganze dieser Kanonischen Ausgabe mehr ist als die Summe ihrer einzelnen Teile. Zur Bestimmung dieses textsemantischen Mehrwerts der Gesamtausgabe hatte Trobisch seine Analyse der materiellen Zeugen durch rezeptionsästhetische Beobachtungen zum literarischen Konzept dieser Ausgabe ______________________________ 80 Für die joh Erzählerkommentare gibt es dazu gute Ansätze, die allerdings methodisch noch weit auseinanderliegen. Wie weit die Forschung von einer befriedigenden Erklärung entfernt ist, zeigt sich bereits daran, dass das literarische Phänomen keineswegs klar abgrenzbar ist und schon die Zahl der entsprechenden Passagen bei den einzelnen Forschern stark differiert. Vgl. M. C. T ENNEY , The Footnotes of John’s Gospel, BS 117 (1960), 350-364 (59 Beispiele); G. V AN B ELLE , Les parenthèses dans l’évangile de Jean, Leuven 1985 (165 Beispiele); J. O’R OURKE , Asides in the Gospel of John, NT 21 (1979), 210-219 (109 Beispiele); T. T HATCHER , A New Look at Asides in the Fourth Gospel, BSac 151 (1994), 428-439 (191 Beispiele); H EDRICK , a. a. O. (121 Beispiele, ohne Joh 1,1-18). 81 Fragen der Textüberlieferung spielen in den gen. Untersuchungen keine Rolle, wären aber zu berücksichtigen, wie neben Joh 19,35 (s. o.) etwa die Bemerkung 19,28 ἵνα τελειωθῇ ἡ γραϕή zeigt (om P 66 * ac 2 bo ms ). Vgl. dazu W. K RAUS , Die Vollendung der Schrift nach Joh 19,28, in: Chr. M. Tuckett (ed.), The Scriptures in the Gospels, Leuven 1997, 629-636. 82 D. T ROBISCH , Die Endredaktion des Neuen Testaments, Fribourg - Göttingen 1996. 374 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch ergänzt und gefragt: Welche Informationen liefert die Kanonische Ausgabe als ganze, die sich aus der Lektüre aller 27 Einzelschriften so nicht erschließen? Eine wesentliche Antwort auf diese Frage liefern die Titel der Schriften, die nicht auf ihre (ursprünglichen und realen) Verfasser zurückgehen können, sondern vom Herausgeber der Gesamtausgabe stammen müssen. 83 Die fingierten Verfasserangaben der Titel verbinden die Einzelschriften zu einem Ganzen und legen ein kohärentes Beziehungsgeflecht über sie. 84 Die Bedeutung der fingierten Verfasserangaben wird (neben den Katholischen Briefen) vor allem an den Evangelien deutlich. Denn »Markus« und »Lukas«, die Gewährsleute des zweiten und des dritten Evangeliums, kommen im Text der Evangelien ja überhaupt nicht vor: Als »Apostelschüler« gehören sie der zweiten »apostolischen Generation« an, also genau derjenigen Zeit, die der Lk-Prolog ins Auge fasst (Lk 1,1: τὰ πεπληροϕορημένα ἐν ἡμῖν πράγμάτα); dabei ist klar, dass die Informationen über die Identität von »Markus« und »Lukas« nur den Lesern der gesamten Kanonischen Ausgabe zur Verfügung stehen. Andererseits: Obwohl »Matthäus« und »Johannes« im Text ihrer Evangelien vorkommen, wären sie aus den jeweiligen Texten allein nicht (oder doch nur mit größter Mühe) zu identifizieren. Keiner der vier fingierten »Autoren« würde sich vom Inhalt des auf ihn zurückgeführten Textes her nahelegen. Dass es unter den vier »Autoren« zwar einen Johannes, aber keinen Jakobus und schon gar keinen Petrus gibt, ist sicher kein Zufall, sondern Ausdruck des redaktionellen Konzepts des Herausgebers der Kanonischen Ausgabe. Die Evangelientitel sind ein zentraler Teil der Kanonischen Redaktion der Evangelien: Unabhängig von den zuvor genannten Beispielen, die von unterschiedlicher Überzeugungskraft sind, belegen sie die Kanonische Redaktion der Evangelien: Schon allein die Titel der Kanonischen Evangelien erweisen diese als sekundäre Bearbeitungen und belegen auf diese Weise die Existenz der vorkanonischen Fassungen. Diese Einsicht bedeutet unter anderem, dass man die Kenntnis der Kanonischen Ausgabe bei denjenigen patristischen Autoren zwingend voraussetzen muss, die auf die kanonischen Titel der Evangelien verweisen. 85 Über die redaktionelle Funktion der einzelnen Gewährsleute hinaus ist die Titelgebung wichtig. Denn das älteste, vorkanonische Evangelium trug bereits den Titel »εὐαγγέλιον« (s. die Rekonstr.), nannte aber keinen Verfasser: Der Ursprung ______________________________ 83 T ROBISCH , a. a. O. 73-91. 84 Zur literarischen Funktionsweise dieses intratextuellen Verweissystems vgl. M. K LINGHARDT , Inspiration und Fälschung. Die Transzendenzkonstruktion der Bibel, in: H. Vorländer (Hg.), Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen, Berlin 2013, 331-355. 85 Dies ist beispielsweise der Fall bei den berühmten Papias-Notizen (Euseb, H.E. 2,39) oder dem Canon Muratori. Angesichts der Datierungsprobleme für beide Zeugnisse ist es hilfreich zu wissen, dass sie trotz ihres fragmentarischen Charakters die Kanonische Ausgabe (und das heißt: die Sammlung aller 27 Schriften) kannten oder kennen konnten. § 14: Die Kanonische Redaktion der Evangelien 375 dieser Titeltradition war anonym. Die Kanonische Redaktion hat diese Anonymität als gestaltendes Prinzip bewahrt, obwohl sie es selbst durch die Angabe von Gewährsleuten unterläuft. Die äußerst ungewöhnliche Titelgestaltung (εὐαγγέλιον κατά + n. pr.) reguliert das entscheidende Problem, das überhaupt erst durch die Sammlung mehrerer Evangelien entstanden war, nämlich das Verhältnis von Vielheit und Einheit: Das Evangelium der Kanonischen Ausgabe ist in Wahrheit nur ein einziges Evangelium, dessen Urheber Jesus Christus ist: Das εὐαγγέλιον Ἰησοῦ Χριστοῦ (Mk 1,1). Aus diesem Grund bezeichnen die Verfasserangaben auch nicht die Autoren im Sinn der Urheberschaft ihrer jeweiligen Evangelien, sondern (nur) deren Gewährsleute. Auf der anderen Seite gibt es eben nicht nur eine Evangelienschrift, sondern vier. Aus diesem Grund gibt es vier verschiedene Gewährsleute dieses einen Evangeliums, die dieselbe Geschichte in unterschiedlichen Fassungen übermitteln: Sie können durchaus voneinander abweichen, sich gegenseitig ergänzen und verschiedene Perspektiven einnehmen, sich aber nicht grundsätzlich widersprechen. Diese Vierfalt bedarf einerseits der namentlichen Zuschreibung, um nicht beliebig zu sein, andererseits muss diese namentliche Zuschreibung zeitlich begrenzt sein, um nicht ad infinitum fortgesetzt werden zu können. Beides leisten die Gewährsleute aus der apostolischen und der nachapostolischen Generation: Dass die fingierten Augenzeugen der Geschichte Jesu (Matthäus und Johannes) die selbst erlebten Ereignisse verlässlich berichten können, liegt auf der Hand, auch wenn der Bericht über die Ereignisse vor der ersten Jüngerberufung auf unsicherem Boden steht. Aber für dieses Problem gibt es ja die einander ergänzenden Berichte der mt und der lk »Kindheitsgeschichten«, die die gleichen Ereignisse aus verschiedener Perspektive erzählen. 86 Dass »Lukas« für sich reklamiert, »allem von Anfang an sorgfältig nachgegangen« zu sein (Lk 1,3), unterstreicht seinen Anspruch auf Historizität. Für die auf die Apostelschüler (Markus und Lukas) zurückgeführten Evangelien sieht die Kanonische Ausgabe ein anderes Autorisierungskonzept vor: Sie werden mit literarischen Referenzen aus anderen Teilsammlungen der Kanonischen Ausgabe versehen. Wer »Lukas« ist, ergibt sich nicht nur aus Kol 4,14; Phlm 23f; 2Tim 4,11, sondern auch durch die sog. »Wir- Passagen« in Act: Lukas ist ein Paulusbegleiter und war bei dessen Ende in Rom bei ihm. 87 Für »Markus« ist die neutestamentliche Belegkette breiter und interessanter: Einerseits wird er in großer Nähe zu Petrus und zugleich in Distanz zu Paulus geschildert (Act 12,12.15; 15,37ff; 1Pe 5,13), andererseits gehört auch »Markus« am Ende zu den von Paulus geschätzten Mitarbeitern ______________________________ 86 Vgl. § 12.4, o. S. 280ff. 87 C. J. T HORNTON , Der Zeuge des Zeugen, Tübingen 1991, hat alle Belege und Beobachtungen innerhalb und außerhalb des NT sorgfältig zusammengetragen, aus denen sich ergibt, dass »Lukas« der Verfasser von Lk und Act ist. Der Umstand, dass das literarische Konzept der Kanonischen Ausgabe die patristischen Quellen über die Fiktionalität dieser Angaben getäuscht hat, so dass diese und jenes ganz weitgehend übereinstimmen, verleiht den neutestamentlichen Angaben noch im Urteil der historischen Kritik die Würde der Zuverlässigkeit. 376 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch (Kol 4,10; 2Tim 4,11). Diese Informationen konstituieren das biographische Profil von »Markus« und erklären sogar, dass und warum sich das Urteil des Paulus über ihn geändert hat: Seine »Apostasie« (Act 15,38: τὸν ἀποστάντα ἀπ’ αὐτῶν) war nur vorübergehend, am Ende hält Paulus ihn für εὔχρηστος εἰς διακονίαν (2Tim 4,11). Auf diese Weise wird der Leser in die Lage versetzt, ein Metanarrativ der apostolischen Zeit aus den und hinter den wenigen, aber aussagekräftigen Informationen zu konstituieren. 88 Die berühmte Papiasnotiz ist von diesem Markusporträt genährt und hat ihm in der Folge zu historiographischer Dignität verholfen. Die namentliche Zuschreibung der Evangelien an verlässliche Gewährsleute stellt sicher, dass nicht andere »Evangelien« auftauchen. Die Kritik, die etwa Tertullian an der Anonymität des marcionitischen Evangeliums übt, zeigt die Wirksamkeit dieses Konzeptes noch zu Beginn des 3. Jh. und erweist zugleich die dezente Tradentenangabe als self-fulfilling prophecy: Indem die Kanonische Redaktion in den Evangelientiteln angibt, auf welche verlässlichen Gewährsleute diese Schriften zurückgeführt werden, diskreditiert sie das älteste, aber anonym verbreitete Evangelium, auf das sich Marcion und andere berufen haben, als defizient und unzuverlässig. Zugleich lässt der Umstand, dass die fingierten Gewährsleute des einen Evangeliums der apostolischen und der nachapostolischen Generation angehören, mit Sicherheit darauf schließen, dass dieses Konzept frühestens der dritten Generation angehört: Die Reihe dieser vertrauenswürdigen Zeugen muss zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Konzeptes definitiv beendet sein, weil sich anders nicht gewährleisten ließe, dass nicht weitere »Evangelien« auftauchen. b. Vom ältesten Evangelium zur Kanonischen Ausgabe Vor diesem Hintergrund erhält die überlieferungsgeschichtliche Skizze zur Entstehung des kanonischen Vier-Evangelienbuches gemäß dem Diagramm (Abb. 12, o. S. 341) ihr Profil. Daran werden zwei wesentliche Erkenntnisse unmittelbar deutlich: Zunächst ist klar, dass diese letzte Bearbeitungsstufe in den Relationen Ⓐ , Ⓑ , Ⓒ und Ⓓ tatsächlich nur einen Bearbeitungsschritt zeigt. Vor allem am Beispiel der Bearbeitung der Datierung der Auferstehung Jesu in den synoptischen Leidens- und Auferstehungsweissagungen wurde deutlich, dass hier nicht mehrere sukzessive Bearbeitungsschritte vorliegen, sondern die Bearbeitung einer Hand: Die Kanonische Redaktion der Evangelien. Sodann erweist sich die lukanische Redaktion des ältesten Evangeliums als Teil eben dieser Kanonischen Redaktion: Die Bearbeitungen ① und Ⓐ sind identisch. Und da die lk Redaktion auch für die literarische Anlage von Act in der kanonischen Gestalt verantwortlich ist, ist evident, dass das Vier-Evangelienbuch und seine Redaktion letzter Hand ein integraler Teil der Kanonischen Ausgabe des Neuen Testaments sind, da Act die narrative Verbindung zu den paulinischen und den Katholischen Briefen herstellt. Dieselbe ______________________________ 88 Vgl. K LINGHARDT , a. a. O. 342ff. § 14: Die Kanonische Redaktion der Evangelien 377 kanonische Dimension dieses letzten Bearbeitungsschrittes ist ja auch für den Langen Markusschluss deutlich geworden. Der Bearbeiter, der *Ev, das älteste, vorkanonische Evangelium redigiert und daraus das kanonische Lk-Evangelium gemacht sowie dieses mit Act zu einem fingierten »Doppelwerk« verbunden hat, ist demnach der Herausgeber des Neuen Testaments bzw. hat an dieser Edition mitgewirkt. Das auf diese Weise entstandene »lk Doppelwerk« ist dabei in mehrfacher Hinsicht das literarische Zentrum dieser Kanonischen Ausgabe. Denn so, wie Lk als überlieferungsgeschichtlicher Zielpunkt die gesamte kanonische Evangelienüberlieferung voraussetzt und vereinheitlicht, so leistet die Act-Erzählung die literarische Integration der Jerusalemer Apostel (Petrus, Jakobus und Johannes) und ihrer Schriften (Joh; Kath. Briefe; Apc) mit Paulus und seinen Briefen. Dass diese literarisch einheitliche Bearbeitung zugleich eine theologische Integrationsleistung darstellt, liegt auf der Hand, auch wenn die einzelnen Elemente dieses Vorgangs noch im Einzelnen zu erweisen sind. Diese Überlegungen zur Kanonischen Ausgabe und ihrer Redaktion sind nicht neu. Das gleiche gilt auch für die rezeptionsästhetische Dimension einer kanonischen Lektüre des Neuen Testaments. Neu ist in diesem Rahmen die überlieferungsgeschichtliche Rekonstruktion der Entstehung des Vier-Evangelienbuches. Ihre Bedeutung liegt darin, dass sie die schon immer aufgefallenen literarischen Beziehungen zwischen den Evangelien in einem Modell der historischen Genese ihrer Texte transparent macht. Man mag dieses Ergebnis für theologisch irrelevant halten, weil es am Ende nur wieder »das Rätsel der Urkunde« zu lösen verheißt, ohne des »Rätsels der Sache« je ansichtig zu werden. Mit diesem Rückgriff auf Karl Barths polemische Klarstellung im Vorwort zum »Römerbrief« hatte Hartwig Thyen alle Versuche abgewiesen, die Vorgeschichte des zu interpretierenden Textes (in seinem Fall: des Joh) - mithin also: die Geschichte der Textgenese - für die Erhebung des Textsinnes fruchtbar zu machen, 89 und er folgert konsequent, dass »keinerlei hypothetische Vorgeschichte von Teiltexten und das Maß von deren vermeintlich redaktioneller Bearbeitung über Bedeutung und Sinn von Passagen des Evangeliums zu entscheiden vermögen.« 90 Man kann diesem Urteil selbst dann zustimmen, wenn man die (in diesem Zusammenhang offensichtlich unvermeidliche) Bemerkung Gadamers, der historisch verstandene Text werde »aus seinem Anspruch, Wahres zu sagen, ______________________________ 89 Vgl. H. T HYEN , Das Johannesevangelium als literarisches Werk, in: ders., Studien zum Corpus Iohanneum, Tübingen 2007, 351-369: 352ff u. ö.; vgl. K. B ARTH , Der Römerbrief, München 2 1924, XIII. 90 A. a. O. 357. 378 IV. Vom ältesten Evangelium zum Vier-Evangelienbuch förmlich herausgedrängt«, 91 aus guten Gründen für unzutreffend hält. Dieses hermeneutische Urteil wird jedoch in dem Moment falsch, in dem sich der zu verstehende Text selbst als Teil eines umfassenderen Textes erweist: Die diachrone Analyse der historischen Genese der Evangelien hat diese als integrale Teile des Textes »Neues Testament« erwiesen. Die adäquate Wahrnehmung der literarischen Beziehungen zwischen den Evangelien ist gar nicht zu leisten ohne ein historisches Verständnis für die redaktionellen Prozesse, die zu diesem Gesamttext geführt haben. Wenn das Joh, wie Thyen sehr überzeugend darlegt, sein Sinnpotential nur im intertextuellen Spiel (jetzt wäre im Blick auf die Kanonische Ausgabe zu präzisieren: im intratextuellen Spiel) mit seinen Prätexten zu erkennen gibt; wenn das gleiche auch von den anderen, kanonisch redigierten Evangelien gilt, dann gehören die Fragen der Genese des kanonischen Vier-Evangelienbuches zwingend zu den Bedingungen für das Verständnis des Gesamtsinns hinzu. Vermutlich ist die theologische Aversion gegen das »historische Verstehen« von Barth bis Thyen und darüber hinaus nur ein spätes Kind der seit dem späten 18. Jh. exzessiv betriebenen Quellenkritik. Sie hat - bereits in ihren Anfängen bei Johann Salomo Semler und seiner »Abhandlung von freier Untersuchung des Canon« (1771-75) - die literarische Einheit des Neuen Testaments aufgelöst und damit erstaunlicherweise den historischen Prozess aus den Augen verloren, der diese Einheit allererst hat entstehen lassen. Die Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte vom ältesten Evangelium bis zum Vier-Evangelienbuch als Teil des Neuen Testaments hat die Funktion, das theologische Recht der kanonischen Einheit des Vier-Evangelienbuches historisch zu erweisen und literarisch nachzuzeichnen. ______________________________ 91 H. G. G ADAMER , Wahrheit und Methode, Tübingen 4 1975, 287 (bei T HYEN , a. a. O. 354). V. Ausblick § 15: Antworten und Fragen Am Ende sind die wichtigsten Ergebnisse knapp zusammenzufassen und zu bewerten. Sie betreffen nicht nur die materialen Fragen, sondern auch die damit aufs engste verbundene Methodologie: Gerade hinsichtlich der Differenz zwischen dem hier vorgestellten Modell zur Entstehung der Evangelien und den gängigen Lösungen, ist es angezeigt, diese methodischen Fragen im Auge zu behalten. Wie immer in der Wissenschaft ruft die Lösung eines Problems neue Fragen hervor. Zu den (sachlichen und methodischen) Antworten treten daher auch neue Fragestellungen: Die wichtigste Aufgabe dieses Ausblicks besteht darin, diese anzudeuten. 1. Die *Ev-Priorität vor Lk Am Anfang der Untersuchung stand der Hinweis auf die beiden Forschungsdiskurse zur Genese der kanonischen Evangelienüberlieferung und ihrem Verhältnis zueinander: Die Untersuchung des Synoptischen Problems und die Frage nach dem Verhältnis von *Ev und Lk. Der Verlauf der Untersuchung hat gezeigt, dass und wie diese beiden Diskurse aufs engste miteinander verbunden sind. Denn wenn *Ev älter als Lk und dessen wichtigste Quelle ist, dann gehört dieser Text zwingend in die Vorgeschichte der synoptischen Evangelien hinein - mit der Folge, dass die literarischen Beziehungen zwischen den Evangelien auf eine andere Weise zu erklären sind, als dies bislang der Fall war. Die erste und grundlegende Erkenntnis dieser Untersuchung ist daher die Einsicht in die literarische Priorität von *Ev vor dem kanonischen Lk-Evangelium. Da diese Frage in den letzten 150 Jahren nicht mehr auf der allgemeinen, wissenschaftlichen Tagesordnung stand und nur vereinzelt aufgegriffen wurde, liefert diese Erkenntnis Antworten auf eine Frage, die so gut wie gar nicht gestellt wurde. Aus diesem Grund lässt sich der Ertrag für die gängigen Fragestellungen nur schwer bestimmen; er liegt vor allem im methodischen Bereich. Die Auseinandersetzungen in den 1840er Jahren um das Verhältnis zwischen *Ev und Lk zeigen ein zunehmendes Bewusstsein für die damit verbundenen methodischen Fragestellungen der Literarkritik: Die Divergenz der Vorschläge, die damals diskutiert wurden, aber auch die direkte Auseinandersetzung über die Kriterien für die Identifizierung literarischer Abhängigkeit belegen sowohl dieses Bewusstsein als auch die Unsicherheiten im Ergebnis, die dabei zunächst geblieben sind. Während die literarkritische Methodik in der zweiten Hälfte des 19. Jh. in anderen Forschungsbereichen - vor allem zum Synoptischen Problem und, im Bereich des Alten Testaments, zur Pentateuchkritik - weiterentwickelt wurde, hat 382 V. Ausblick eine solche methodische Revision für die Verhältnisbestimmung zwischen *Ev und Lk nicht stattgefunden: Die Ergebnisse des Diskurses aus der Mitte des 19. Jh. wurden einfach übernommen und, am wirkungsvollsten von Theodor Zahn, ins 20. Jh. vermittelt. Dessen grundlegend konservative Ansichten in allen Einleitungsfragen (und eben auch in der Beurteilung der häresiologischen Zeugnisse über das Verhältnis zwischen dem marcionitischen Evangelium und Lk) haben eine erneute Reflexion auf die methodischen Grundlagen faktisch verhindert: Dass gerade er die traditionelle Sicht der Lk-Priorität vor *Ev bestätigte, ist kaum verwunderlich. Dass Harnack in den 1920er Jahren dieses Ergebnis aufgriff, ohne sich um eine Begründung im Einzelnen zu bemühen, hat sich als verhängnisvoll erwiesen: Sein Votum hat die weitere Forschung so stark dominiert, dass andere Ansichten 1 sich dagegen nicht durchsetzen konnten. Mit Blick auf die literarischen Phänomene, die für diese Verhältnisbestimmung zu erklären sind, ist die Einseitigkeit, mit der sich die These der Lk-Priorität im kollektiven Bewusstsein der Forschung festgesetzt hat, einigermaßen erstaunlich. Denn schon der grobe Vergleich des jeweiligen Textbestandes - also vor allem das eindeutige Fehlen großer Textkomplexe wie Lk 1,1-4,13; 15,11-32 usw. - lässt, nicht nur auf den ersten Blick, kaum eine andere Erklärung zu als die Annahme einer sekundären Einfügung. Dies ist im Rückblick natürlich leichter zu erkennen als mitten in den Debatten, die durch die zeitliche Abfolge der beiden Diskurse im 19. Jh. bestimmt waren: Dass sich im letzten Drittel des 19. Jh. die Zwei-Quellentheorie durchsetzen konnte, weil die Lk-Priorität vor *Ev gar nicht mehr zur Debatte stand, ist schon deutlich geworden. Aber auch umgekehrt hat die Geltung der Zwei-Quellentheorie eine Revision des literarischen Verhältnisses von *Ev und Lk im 20. Jh. verhindert. Auch dies ist verständlich, wenn man in Rechnung stellt, welche wichtigen methodischen Fragestellungen und sachlichen Ergebnisse auf der Basis der Zwei-Quellentheorie entwickelt wurden: Zu nennen sind nicht nur die ältere Formgeschichte seit den 1920er Jahren oder die Redaktionskritik seit den 1950er Jahren, sondern auch etwa die Fortschreibung der Zwei-Quellentheorie durch die »Q«-Forschung mit den Überlegungen zu den Trägerkreisen oder zur literarischen Schichtung von »Q«, die mittlerweile auch schon wieder zwei Generationen zurückliegt. Die sachliche Interdependenz zwischen den beiden Fragestellungen hat aufgrund der Geltung der jeweils einen das Weiterdenken der jeweils anderen blockiert: Zu den ersten Reaktionen auf die These der *Ev-Priorität 2 gehörte ______________________________ 1 Am wichtigsten: J. K NOX , Marcion and the New Testament, Chicago 1942; R. J. H OFFMANN , Marcion: On the Restitution of Christianity, Chico 1984. 2 M. K LINGHARDT , Markion vs. Lukas: Plädoyer für die Wiederaufnahme eines alten Falles, NTS 52 (2006), 484-513. § 15: Antworten und Fragen 383 daher, nicht untypisch, der Einwand, dass sie nicht mit der Zwei-Quellentheorie vereinbar sei. 3 a. Methodische Fragen zur Rekonstruktion von *Ev Anhand der Rekonstruktion von *Ev in den letzten 200 Jahren werden grundlegende methodische Probleme der Quellenkritik sichtbar. Dass die meisten Argumentationsfiguren, die in diesem Zusammenhang verwendet werden, zirkulär sind, ist eine Mahnung zur Vorsicht, aber kein grundsätzliches non liquet. Allerdings sind die Voraussetzungen ebenso im Auge zu behalten wie die Stimmigkeit des Gesamtbildes, das sich am Ende zeigt. Beides gilt auch für die hier vorgelegte Rekonstruktion. Die methodischen Voraussetzungen sind wiederholt angesprochen worden und müssen hier nicht noch einmal wiederholt werden. Es handelt sich vor allem um drei Beobachtungen, die gegen die traditionelle Annahme der Lk-Priorität vor *Ev sprechen: (1.) Die großen Unterschiede im Gesamtbestand, also das eindeutig bezeugte Fehlen von größeren Passagen wie Lk 1,1-2,52; 3,1b-4,16; 15,11-32 usw. in *Ev; (2.) die häufig beobachtete Inkohärenz der angeblichen Bearbeitung Marcions, die sich nicht zu einem erkennbaren redaktionellen Konzept fügt; und schließlich (3.) die zahlreichen Berührungen zwischen dem für *Ev durch die Häresiologen direkt bezeugten Text und den Varianten in den kanonischen Lk-Handschriften. Keine dieser Beobachtungen ist neu, sie alle haben in der Forschungsgeschichte der letzten 150 Jahre (mit unterschiedlicher Genauigkeit und Gewichtung) eine Rolle gespielt, und für alle sind auch unter den methodischen Grundannahmen der Zwei-Quellentheorie und der Lk-Priorität vor *Ev Lösungen angeboten worden, auch wenn diese insgesamt wenig überzeugend sind. 1. Die Unterschiede im Gesamtbestand bilden einen sinnvollen Ausgangspunkt 4 für die Bestimmungen der Bearbeitungsrichtung zwischen *Ev und Lk: In den meisten Fällen ist das Urteil über das literarkritische Gefälle unzweifelhaft. Diese Einschätzung setzt jedoch voraus, dass der literarkritische Vergleich zwischen *Ev und Lk nicht unter den methodischen Bedingungen der gängigen Lösungen des Synoptischen Problems, vor allem der Zwei-Quellentheorie, durchgeführt wird. Sofern deren Geltung (explizit oder implizit) vorausgesetzt wird, lässt sich die *Ev- ______________________________ 3 Die faktische Interdependenz der beiden Hauptfragen war der entscheidende Grund, diese beiden Fragestellungen in dieser Untersuchung - entgegen manchem gut gemeinten Rat! - gemeinsam zu behandeln. Der Preis für diese Entscheidung ist das Anwachsen der Untersuchung auf einen ungebührlichen Umfang. 4 Daran ist gegen den Einwand von J. M. L IEU , Marcion and the Synoptic Problem, in: P. Foster et al. (eds.), New Studies in the Synoptic Problem, Leuven u. a. 2011, 731-751: 747, festzuhalten. Dass sich die Bearbeitungsrichtung und die Rekonstruktion des Textbestandes von *Ev keineswegs auf die Feststellung dieser Bestandsunterschiede beschränkt, ist hier nicht mehr zu begründen. 384 V. Ausblick Priorität im literarkritischen Vergleich des Gesamtbestandes weniger überzeugend erweisen. Dass der methodische Verzicht auf die Geltung der Zwei-Quellentheorie sich forschungsgeschichtlich plausibilisieren lässt, hat die Untersuchung zum Verhältnis der beiden Diskurse im zweiten Drittel des 19. Jh. (o. § 1) gezeigt. Da die Zwei-Quellentheorie von der traditionellen Lk-Priorität vor *Ev abhängig ist, kann sie keine methodische Voraussetzung für die literarkritische Bestimmung des Bearbeitungsverhältnisses zwischen *Ev und Lk sein: Die Überlieferungsgeschichte der Evangelien (einschließlich der synoptischen Beziehungen) setzt die Bestimmung des Verhältnisses zwischen *Ev und Lk voraus, nicht umgekehrt. 2. In methodischer Hinsicht ist die Beobachtung der fehlenden Kohärenz der angeblichen marcionitischen Bearbeitung von Lk von größerem Gewicht, denn sie liefert die maßgebliche Begründungsfigur, um die (größeren, aber auch geringfügige) Bestandsunterschiede zwischen *Ev und Lk in ein eindeutiges diachrones Verhältnis zu bringen. Das Argument ist mit den wichtigsten Beispielen oben (§ 6) genauer beschrieben: Wenn Marcion, wie ihm von Irenaeus bis Harnack und darüber hinaus unterstellt wird, das kanonische Lk-Evangelium aus inhaltlichen Gründen bearbeitet hätte, müsste diese Bearbeitung in ein erkennbares redaktionelles Konzept münden. Dies ist jedoch nicht der Fall. Im umgekehrten Fall fügen sich zahlreiche Unterschiede (vor allem: Ergänzungen) in das lk redaktionelle Konzept. Diese Beobachtung wiegt deshalb schwer, weil sich diese Ergänzungen zu umfassenden redaktionellen Linien fügen, die über Lk hinaus auch die Struktur von Act bestimmen. So erhält beispielsweise die Ergänzung der beiden Gleichnisse vom Verlorenen in *Ev (*15,3-5.7; *15,8.10) durch die Exposition (Lk 15,1f) und das allegorisierende Gleichnis von den beiden Söhnen (Lk 15,11-32) einen gerichteten Sinn: Die Einfügung des narrativen Rahmens erlaubt es, die drei Gleichnisse unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zu verstehen, nämlich dem Konflikt mit den Pharisäern über die Annahme von Sündern. Diese Exposition fungiert daher als narrativer »Kommentar des dritten Evangelisten zu den drei Gleichnissen vom Verlorenen,« 5 und zwar unabhängig von der Herkunft der drei Gleichnisse oder von ihrem Sinn in den möglichen Prätexten. Das hier thematisierte Problem der Reaktion der Pharisäer auf die Zuwendung Jesu zu »Sündern« findet eine Fortsetzung in den »Exodusszenen« Act 13,42ff; 17,4ff; 18,12f und beherrscht die Anlage von Act bis hin zu Act 28,16-28: Die Diskussion des Verhältnisses von Juden und Christen ist für das redaktionelle Konzept von Lk-Act in hohem Maße bestimmend. Genauerhin interessieren daran zwei Fragen: Inwiefern lassen sich die Juden »ausgehend von dem Gesetz des Mose und den Propheten für Jesus gewinnen« (Act 28,23)? Und: Was bedeutet die Ablehnung der christlichen Botschaft durch die Juden für die (Mission unter) Heiden? Diese Fragestellung bestimmt den großen Rahmen der apostolischen Geschichte in Act in gleicher Weise, wie sie die redaktionellen Ergänzungen in Lk 15 motiviert. ______________________________ 5 M. W OLTER , Lk 15 als Streitgespräch, ETL 78 (2002), 25-56: 34. § 15: Antworten und Fragen 385 Da dieses inhaltliche Konzept nicht nur in redaktionellen Passagen, sondern (mit etwas anderer Schwerpunktsetzung) bereits in *Ev begegnet (*11,52b; *13,24), lässt sich an diesem Beispiel noch eine weitere Einsicht demonstrieren: Das literarkritische Kriterium der redaktionellen Kohärenz ist für die Bestimmung der Bearbeitungsrichtung zwischen *Ev und Lk nicht beliebig anwendbar. Die Differenzen zwischen *Ev und Lk bestehen im Wesecntlichen in »Überschüssen« in Lk gegenüber *Ev; je nach Bearbeitungsrichtung handelt es sich also entweder um Streichungen an Lk durch Marcion oder um redaktionelle Ergänzungen an *Ev. Allerdings ist das Ergebnis kein Vexierbild, das je nach Perspektive jeweils ein in sich stimmiges Gesamtbild ergeben muss. Denn wenn Marcion all das, »was seiner Lehre entgegensteht, gestrichen hat, [...] aber zurückbehielt, was mit seiner Lehre übereinstimmt«, 6 dann wäre eine vollständige Tilgung missliebiger Aussagen zu postulieren - genau diese Vollständigkeit ist jedoch nicht erweisbar. Im umgekehrten Fall der *Ev- Priorität gilt dieses Postulat der Vollständigkeit der Kohärenz jedoch nicht: Es wäre ein erkennbar unsinniges Postulat, dass das redaktionelle Konzept der lk Bearbeitung von *Ev nur dann kohärent wäre, wenn bestimmte Vorstellungen ausschließlich in Lk und nicht in *Ev begegnen. Vielmehr zeigt sich in vielen Fällen, dass die lk Redaktion Elemente aufgegriffen hat, die in *Ev bereits vorhanden waren und dort teilweise nur eine marginale Rolle gespielt haben, sie aber intensiviert, ergänzt und ausgebaut hat. Dieses Phänomen, das gerade anhand von *11,52b; *13,24 sowie den redaktionellen Texten (Lk 15,1f.11-32; Act) deutlich wurde, lässt sich noch an anderen inhaltlichen Zusammenhängen zeigen, für die hier nur drei Beispiele genannt seien. 1. Ein erstes Beispiel ist die Pneumatologie: Zwar kommt das Stichwort πνεῦμα/ πνεύματα in *Ev gelegentlich vor, aber der umfassende und theologisch reflektierte Gebrauch ist erst eine Folge der lk Redaktion. *Ev verwendet πνεῦμα in erster Linie dämonologisch: Es gibt beispielsweise unreine (*4,36; *6,18; *11,24), dämonische (*4,33; *9,37), schwache oder böse (*11,26) πνεύματα. Absolutes πνεῦμα kann auch den Lebensgeist bezeichnen, der in die Tochter des Jairus zurückkehrt (*8,55). Nicht ganz klar ist die Bedeutung von ἠγαλλιάσατο ἐν τῷ πνεύματι in *10,21: Am ehesten bezeichnet die Präposition den Gegenstand des Jubels (Jesus jubelt über den Geist), aber denkbar ist auch, dass er im Geist jubelt, der dann eine innere Haltung bezeichnen würde. Analog dazu versteht *Ev Ps 110 als Prophetie Davids ἐν τῷ πνεύματι - sofern die Rekonstruktion dieser Stelle zutrifft. 7 Nur zwei Mal spricht *Ev sicher vom Heiligen Geist, und zwar wohl nicht nur zufällig als einer zukünftigen Größe, von der eine Tätigkeit erwartet wird: Das Vater-Unser bittet um das ______________________________ 6 Tert. 4,6,2: … certe propterea contraria quaeque sententiae suae erasit … competentia autem sententiae suae reservavit. Vgl. auch Iren., Haer. 3,12,12 usw. 7 Die Rekonstruktion basiert hier nur auf inneren Gründen und ist abhängig von den synoptischen Parallelen: ἐν τῷ πνεύματι τῷ ἁγίῳ Mt 22,43 || Mk 12,36. Dass diese innere »Geisteshaltung« auch negativ verstanden werden kann, zeigt *9,55 οὐκ οἴδατε οἵου πνεύματός ἐστε ὑμεῖς. 386 V. Ausblick Kommen des Heiligen Geistes (*11,2) und erwartet von ihm eine »Reinigung« (καθαρισάτω ἡμᾶς). Und in der Aufforderung zum furchtlosen Bekenntnis verheißt Jesus den Jüngern, dass τὸ ἅγιον πνεῦμα sie in Verfolgungssituationen lehren werde, was sie zu sagen haben (*12,11). Über diese schmalen Belege hinaus hat die lk Redaktion die Rede vom (heiligen) Geist erheblich verbreitert und auch andere Bedeutungen implementiert. Charakteristisch ist der christologische Akzent: Weil Jesus durch den Geist gezeugt wird (Lk 1,35) kann Lk auch vom »Geist Jesu« sprechen (Act 16,7). Aber in aller Regel ist πνεῦμα bzw. πνεῦμα ἅγιον der Geist Gottes, von dem man »erfüllt« werden kann (Lk 1,15.41.67; Act 2,1-4.17-21.33) und der dann etwa das gesamte Wirken Jesu prägt (Lk 4,16-30). Auffällig ist, in wie hohem Maß die Gabe des Geistes an rituelle Vollzüge gebunden ist, also an die Taufe (Lk 3,16; Act 1,5; 2,38; 8,14-25; 9,17f; 10,44-48; 19,5f), an die Handauflegung (Act 8,17-19; 19,6) oder an das Gebet (Lk 11,13). Der Geist wird zu dem specificum Christianum, das die religiöse Identität verbürgt (Act 19,1-7) und sich vor allem in der Verkündigung und Mission auswirkt (Act 1,8; 4,8.31; 7,55; 8,29.39; 10,19; 13,9). Sehr eng damit verbunden ist die hermeneutische Funktion des Geistes: Er ermöglicht die Prophetie (Lk 1,67; 2,25-27; Act 2,17ff; 11,28) und gewährleistet die Inspiriertheit der Schriften (Act 1,16; 4,25; 28,25). Aus diesem Grund ist die Gabe des Geistes die Voraussetzung für das vollständige Verstehen der Schriften, das sich in der Wahrnehmung ihres prophetischen Zeugnischarakters auf Christus erweist: Was zuvor Jesus allein vorbehalten war (Lk 24,25-27.44-49), vermögen nach der Gabe des Geistes auch die Jünger: Die selbständige christologische Auslegung der Schrift (Act 2). Aus diesem Grund leistet die Pneumatologie eine wichtige heilsgeschichtliche Verbindung zwischen dem Alten und dem Neuen Bund - und den Schriften, die durch ihre Zusammengehörigkeit die Einheit dieser Heilsgeschichte bezeugen: Das Alte und das Neue Testament. 2. Mit der Täufertradition verhält es sich ähnlich. *Ev erwähnt den Täufer mehrfach, aber seine biographischen und theologischen Kenntnisse sind vergleichsweise schmal: *Ev kennt den Namen Johannes, er weiß, dass er ein »Täufer« war (*7,17), dass er Jünger hatte (*11,1) und dass er vom »König« Herodes geköpft wurde (*9,7-9). Darüber hinaus kennt *Ev den Täufer als prophetischen Verkünder des Gesetzes und der Propheten (*16,16) und weiß um die Anfrage des Täufers (*7,17-23) sowie das nachfolgende Urteil Jesu über ihn (*7,24-28). Allerdings lässt *Ev eine deutliche Distanz des Täufers gegenüber Jesus erkennen (*7,18.23): In *Ev hat der Täufer an Jesus Anstoß genommen (*7,18; Formulierung unsicher), weswegen Jesus ihn selig preist unter der Bedingung, dass »du an mir nicht Anstoß nimmst« (*7,23, nach Epiph.). Diese Distanz ist für die späteren Überlieferungsstadien von *Mk bis Lk kaum denkbar, denn diese lassen Jesus und Johannes zuvor im Zusammenhang ihrer Tauferzählungen aufeinander treffen (Mk 1,2-11; Mt 3,1-17; Joh 1,19-34; Lk 3,1-22) und verorten dort das positive Zeugnis des Täufers über Jesus, das Joh sogar in den Prolog integriert hat (Joh 1,6-8.15). Der Ursprung dieses positiven Zeugnisses liegt im Urteil Jesu (*7,24-28), das dem Täufer bescheinigt, »mehr als ein Prophet zu sein« (*7,26), ihn aber zugleich von dem »Kleinsten in der Basileia« absetzt, der größer ist als er (*7,28). Dieses ambivalente Zeugnis hat sich in der Fortschreibung der Überlieferung erhalten. Das bedeutet: *Ev kennt Johannes und weiß auch, dass er getauft hat. 8 Aber alle weitergehenden Informationen fehlen bei ihm und sind erst durch die weiteren Stadien der Überlieferungsgeschichte eingetragen worden. Aus der sehr knappen Notiz über die Hinrichtung durch Herodes hat schon das vorkanonische *Mk seine Inhaftierung (Mk 6,17 || Mt 4,12 || Lk 3,19f) sowie den ______________________________ 8 Diese Information auch bei Jos., Ant. XVIII 116-119. § 15: Antworten und Fragen 387 Bericht über seine Hinrichtung auf Drängen der Herodias herausgesponnen (Mk 6,18-29). Zu der Fortschreibung der Überlieferung seit *Mk gehören dann vor allem die Taufe Jesu durch Johannes; die Umkehrpredigt des Täufers; seine Verkündigung des »Stärkeren«, der nach ihm kommen werde und mit Feuer und Geist taufen werde; die Identifizierung des Täufers mit Elia; die Existenz von Johannesjüngern in der apostolischen Zeit. In dieser Fortschreibung hat sich die Ambivalenz des Urteils Jesu über den Täufer noch erhalten: Mk hat die Ankündigung des »Stärkeren« in den Bericht über die Tauftätigkeit aufgenommen (Mk 1,7f || Mt 3,11), Mt hat darüber hinaus die Überlegenheit Jesu durch die Weigerung des Täufers, ihn zu taufen, in den Taufbericht integriert (Mt 3,14f), Joh hat das differenzierte Urteil über den Täufer dadurch pointiert zum Ausdruck gebracht, dass er ihn als Zeugen charakterisiert, der »Zeugnis ablegt für das Licht«, aber »nicht selbst das Licht« ist (Joh 1,7f). Lk hat dieser differenzierten Charakterisierung den breitesten Raum gegeben durch die Synkrisis der Geburtsgeschichten (Lk 1f) und durch die Begegnung zwischen Elisabeth und Maria (Lk 1,36-45). Der Bericht von der Taufe der Johannesjünger in Ephesus (Act 19,2-7) macht deutlich, dass die Überlegenheit Jesu über Johannes bzw. der Christen über die Johannesjünger in den unterschiedlichen Wirkungen der Taufe besteht. 3. Ein letztes Beispiel für die Fortschreibung von *Ev durch die späteren Überlieferungsstadien ist das Problem der Davidssohnschaft Jesu. In diesem Fall besitzt die Fortschreibung noch deutlicher als in den anderen Beispielen eine korrigierende Funktion. Denn in *20,41-44 weist Jesus die Ansicht der Schriftgelehrten zurück, der Messias müsse ein Davidide sein: Dieses Urteil setzt möglicherweise einen entsprechenden (impliziten) Einwand der Gesprächspartner voraus, der sich auf die (schon für *Ev bezeugte) Herkunft Jesu aus Nazareth/ Nazara stützen könnte. Die kanonische Fassung der Frage (Lk 20,41: πῶς λέγουσιν τὸν χριστὸν εἶναι Δαυὶδ υἱόν; ) lässt sich entweder als echte oder als rhetorische Frage verstehen, die eine Abweisung der zitierten Ansicht impliziert. *20,41 (und wohl noch Mk 12,35) 9 haben den propositionalen Gehalt dieser Frage genau in diesem zweiten Sinn verstanden: Jesus weist mit dem Zitat aus Ps 110 die Ansicht zurück, der Messias müsse aus dem Geschlecht Davids sein. Unabhängig davon wird Jesus sowohl in *Ev (*18,38) als auch in Mk (10,47f) als »Sohn Davids« adressiert. Die Korrektur setzt in diesem Fall mit dem vorkanonischen *Mt ein: Schon in der Überschrift über den Stammbaum wird Jesus als »Sohn Davids« bezeichnet (Mt 1,1), und diese Davidssohnschaft wird dann ausführlich durch den Stammbaum (Mt 1,6.17), durch die Prodigien der Geburt Jesu (Mt 1,20) und durch den Geburtsort Bethlehem (Mt 2,1-12) mit dem (geänderten! ) Erfüllungszitat aus Mi 5,1 in Mt 2,6 entfaltet (vgl. § 12.4, o. S. 280ff). Lk hat diese Vorstellung zusammen mit dem Rahmen der Geburtsgeschichte aus Mt übernommen: Auch er lässt Jesus als Davididen in Bethlehem geboren sein, auch er führt den Stammbaum Jesu über David (Lk 3,31). Darüber hinaus verstärkt er den Aspekt der Davidssohnschaft Jesu durch die Engelsbotschaft an Maria (Lk 1,32) sowie das geisterfüllte Zeugnis des Zacharias im Benedictus (Lk 1,69). Auf diese Weise ist Jesus im Verlauf der Evangelienüberlieferung vom ältesten Evangelium bis zur Kanonischen Ausgabe von einem Nicht-Davididen zu einem Davididen geworden. Diese Tendenz der (vor-)kanonischen Evangelienüberlieferung, Ansätze aus *Ev aufzugreifen, sie weiterzuführen und dabei auch sehr deutlich zu korrigieren, ließe sich noch an vielen weiteren Einzelheiten zeigen; zu vergleichen wären etwa die ______________________________ 9 Vgl. C HR . B URGER , Jesus als Davidssohn, Göttingen 1970, 56ff; L ÜHRMANN , Mk 208, usw. 388 V. Ausblick Antithesen (vgl. *6,27 mit Mt 5,21-48), das kritische Verhältnis Jesu gegenüber seinen Jüngern, vor allem gegenüber Petrus (vgl. etwa *7,39f) oder die Erscheinung(en) des Auferstandenen vor seinen Jüngern (vgl. insbesondere *24,36-43 mit Joh 20,19-21,24). Vor diesem Hintergrund ist deutlich, dass sich das Exklusivitätspostulat für die Kohärenz der Redaktion nicht umkehren lässt. Aus diesem Grund ist auch der Einwand zurückzuweisen, die These der *Ev-Priorität scheitere schon »daran, dass sie den Textbestand ignoriert und nicht beachtet, dass Markions Evangelium an vielen Stellen Formulierungen enthält, die eindeutig der lukanischen Redaktion zuzuweisen sind.« 10 Für die Verhältnisbestimmung zwischen *Ev und Lk hat sich eine Annahme bestätigt, die an dieser Stelle wegen ihrer methodischen Bedeutung noch einmal hervorzuheben ist: Lk ist literarisch direkt von *Ev abhängig. Die Forschung hat zwar immer wieder einmal eine vermittelnde Position angenommen, sei es, dass *Ev und Lk von einer gemeinsamen Quelle abhängig sind, sei es, dass zwischen beiden eine vermittelnde Instanz anzunehmen ist. 11 Aber eine solche Vermittlung ist nur dann eine sinnvolle Annahme, wenn man das Verhältnis zwischen *Ev und Lk unter der Voraussetzung der Lk-Priorität bestimmen will: In diesem Fall lässt sich die direkte Abhängigkeit des marcionitischen Evangeliums vom kanonischen Lk tatsächlich nicht wahrscheinlich machen (und schon gar nicht sicher nachweisen). 12 Dies gilt jedoch nicht unter der Voraussetzung der *Ev-Priorität. Denn in diesem Fall gibt es keinen Hinweis darauf, dass Lk nicht direkt von *Ev abhängig ist. Eine solche gemeinsame Vorstufe lässt sich zwar nicht grundsätzlich ausschließen; aber da es weder positive Hinweise noch eine überlieferungsgeschichtliche Plausibilität oder gar eine Notwendigkeit für diese Annahme gibt, ist sie aus methodischen Gründen obsolet. Unter der Voraussetzung der *Ev-Priorität lässt sich das kanonische Lk als direkte Bearbeitung von *Ev verstehen. 3. Die dritte - und in methodischer Hinsicht gewichtigste - Beobachtung zur Begründung der *Ev-Priorität bezieht sich auf die engen Berührungen zwischen dem für *Ev direkt bezeugten Text und den handschriftlichen Varianten der ______________________________ 10 W OLTER , Lk 3, der als Beispiel das »typisch lukanische Syntagma βασιλείαν τοῦ θεοῦ κηρύσσειν/ εὐαγγελίζεσθαι« anführt. Dieses Syntagma ist eben nicht in dem Sinn »typisch lukanisch«, dass es ausschließlich im kanonischen Lk vorkäme. 11 Das war die Annahme, die am prominentesten von G. V OLCKMAR , Über das Lukas-Evangelium nach seinem Verhältniss zum Evangelium Marcion’s, ThJb 9 (1850), 110-138.185-235, vertreten wurde. Von dieser Annahme ist J. K NOX , Marcion and the New Testament, Chicago 1942, abhängig, von diesem wiederum J. B. T YSON , Marcion and Luke-Acts, Columbia 2006. Zu den forschungsgeschichtlichen Fragen vgl. D. T. R OTH , Marcion’s Gospel and Luke. The History of Research in Current Debate, JBL 127 (2008), 513-527. 12 Dies war die Fragestellung von A. G REGORY , The Reception of Luke and Acts in the Period Before Irenaeus, Tübingen 2003, 173ff; vgl. o. S. 146. § 15: Antworten und Fragen 389 kanonischen Lk-Überlieferung. Auf die grundsätzliche Bedeutung der Kombination von Text- und Überlieferungsgeschichte ist gleich noch zurückzukommen (§ 15.3, u. S. 403ff). Für die Verhältnisbestimmung zwischen *Ev und Lk genügt es daher, noch einmal auf die völlig unwahrscheinlichen Hilfskonstruktionen zu verweisen, die zur Erklärung dieser Berührungen unter der Annahme der Lk-Priorität notwendig werden. Diese Berührungen sind zwar immer wieder einmal registriert worden, aber Adolf von Harnack war der einzige, der ihre methodische Bedeutung für die Rekonstruktion des marcionitischen Evangeliums erkannt und sich um eine Erklärung bemüht hatte. 13 Harnack war als Textkritiker erfahren genug, um zu erkennen, dass die große Zahl der Berührungen auf einer gemeinsamen Grundlage beruhen musste und folgerte daher, dass Marcions Text des Lk »ein reiner W Text« gewesen sei. 14 Um die Lk-Priorität festhalten zu können, musste er allerdings annehmen, dass das von den Häresiologen so heftig verketzerte Evangelium Marcions gerade in den »tendenziösen« Änderungen den kanonischen Lk-Text beeinflusst habe. Dass und warum diese geradezu widersinnige Erklärung völlig unwahrscheinlich ist und selbst dann nur unter der methodisch nicht nachvollziehbaren Differenzierung zwischen den unauffälligen »kleinen« und den »tendenziösen« Berührungen funktioniert, muss hier nicht noch einmal gezeigt werden. Sehr viel wichtiger ist die grundsätzliche Beobachtung, dass die Überlieferungsgeschichte der Evangelien ihre Spuren in der Geschichte des (kanonischen) Evangelientextes hinterlassen hat. Dies nötigt zu der methodischen Einsicht einer wechselseitigen Interdependenz von Text- und Literarkritik: Das überlieferungsgeschichtliche Verhältnis zwischen *Ev und Lk lässt sich ohne die Berücksichtigung der handschriftlichen Varianten ebenso wenig erklären, wie das Zustandekommen der (besonders auffälligen) Varianten des kanonischen Lk-Textes ohne ein entsprechendes überlieferungsgeschichtliches Modell unverständlich bleibt. Es ist vor allem das methodische Gewicht dieses letzten Kriteriums, das eine Verhältnisbestimmung zwischen *Ev und Lk erlaubt, die über weitgehend unspezifische Beobachtungen zur theologischen Unverträglichkeit bestimmter lk Aussagen für Marcion 15 oder über die allgemeine überlieferungsgeschichtliche Einschätzung in den »sekundären Charakter« von lk Texten (etwa der Geburtsgeschichten) 16 weit hinausgeht. Jede Verhältnisbestimmung zwischen *Ev und Lk muss sich daran ______________________________ 13 H ARNACK 242*ff; vgl. dazu o. § 5.1. 14 A. a. O. 242*. 15 Das ist das Kriterium, mit dem vor allem H ARNACK und T SUTSUI die Differenz zwischen *Ev und Lk erklärt und die Lk-Priorität begründet haben. 16 Dies ist eines der wichtigsten Kriterien, das K NOX , a. a. O. 87, für die *Ev-Priorität in Anschlag brachte. 390 V. Ausblick messen lassen, ob und wie sie die Berührungen zwischen dem für *Ev bezeugten Text und den handschriftlichen Varianten des kanonischen Lk-Textes zu erklären in der Lage ist. b. Das literarische und theologische Profil von *Ev Mit der Einsicht in die *Ev-Priorität ist über die literarische Anlage dieses ältesten Evangeliums, seine Komposition und seine Theologie allerdings noch nichts gesagt. Da diese Untersuchung das Hauptaugenmerk auf die überlieferungsgeschichtlichen Fragen legt und sich in erster Linie um die Feststellung des Textbestandes bemüht, bleibt die literarische und theologische Analyse dieses ältesten Evangeliums eine Aufgabe für die Zukunft. Weil sich der Textbestand des ältesten Evangeliums aus der Differenz zum kanonischen Lk ergibt, ist es diesem in der Gesamtanlage ganz weitgehend vergleichbar. Darüber hinaus ist hier nur sehr knapp und summarisch auf einige wenige Beobachtungen zu verweisen. 1. Das älteste Evangelium hieß auch so: So weit erkennbar trug es von Anfang an den Titel »Evangelium«. Dieser Titel sagt noch nichts über die Gattung von *Ev, ist aber wohl in der Lage, etwas zur christlichen Begriffsgeschichte von εὐαγγέλιον beizutragen: Wenn bereits *Ev den Titel »Evangelium« trug, dann ist dies auch schon für Mk 17 und Mt 18 anzunehmen. »Evangelium« ist bereits in *Ev nicht nur der Inhalt der Verkündigung Jesu (dies auch, wie verschiedentlich deutlich wird), 19 sondern, wie der Titel zeigt, eben auch die Erzählung über ihn. 2. Ein neues Forschungsfeld liegt allerdings in der Frage nach der Gattung von *Ev. Denn während sich in den letzten drei Jahrzehnten die Einsicht durchgesetzt hat, dass die kanonischen Evangelien - entgegen der vehement vorgetragenen Einsprüche der älteren Formgeschichte - als Biographien anzusehen sind, 20 fehlen in *Ev wichtige Gattungsmerkmale, die diesen Text als Biographie konstituieren würden. Sofern die antike Biographie i. W. eine enkomiastische Gattung ist und eine dreiteilige Grundstruktur besitzt, 21 fehlt *Ev nicht nur ein Proömium (das wäre zur Not verzichtbar), sondern vor allem der durchweg zu beobachtende erste und ausgesprochen wichtige Teil, der die Wesensart des Protagonisten beschreibt. Dieser Abschnitt ist insofern gattungskonstitutiv, als er die unverzichtbare Grundlage für die Wertung liefert, die das Enkomion auszeichnet. Diese Beschreibung der Wesensart des Protagonisten kann auf vielfältige Weise bestimmt werden: Durch seine Herkunft, Familie oder den Namen; durch die besonderen Umstände seiner Geburt oder seine Ausbildung; durch frühe Gefährdungen oder Begabungen; durch das äußere Erscheinungsbild, das Auftreten oder durch eine qualifizierte Nähe zur ______________________________ 17 Vgl. R. G UELICH , The Gospel Genre, in: P. Stuhlmacher (Hg.), Das Evangelium und die Evangelien, Tübingen 1983, 183-219: 204-208. 18 Vgl. G. S TANTON , A Gospel for a New People, Edinburgh 1992, 16ff. 19 Vgl. *4,43; *16,16 (jeweils ἀπαγγελίζεσθαι τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ); *7,22; *9,6 (jeweils εὐαγγελίζεσθαι, ohne direktes Objekt). 20 Vgl. dazu K. B ERGER , Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984, 345ff; D. F RICKEN - SCHMIDT , Evangelium als Biographie, Tübingen - Basel 1997; R. A. B URRIDGE , What Are the Gospels? , Grand Rapids u. a. 2 2004. 21 Vgl. F RICKENSCHMIDT , a. a. O. 192-350. § 15: Antworten und Fragen 391 Gottheit. Mit Blick auf die erhaltenen Beispiele von Biographien ist hier vieles möglich und bezeugt. Nur eines geht nicht: Dass dieser Abschnitt völlig fehlt. Wenn der »Schritt in die breite Öffentlichkeit und erste Höhepunkte im öffentlichen Auftreten als Neubeginn und Überleitung zum Mittelteil« der Biographie bestimmt werden, 22 dann ist unmittelbar einsichtig, dass *Ev dies gleich mit dem ersten Satz leistet (*3,1a; 4,16ff) und der Anfang fehlt. So, wie *Ev Jesus zu Beginn ohne irgendeine narrative Einführung in der Erzählung auftreten lässt, so lässt es ihn am Ende auch wieder aus der Erzählung verschwinden: Am Anfang kommt Jesus »nach Kapharnaum herab« und ist dann einfach da, am Ende verlässt der Auferstandene die Jünger und ist dann einfach fort. Wie er gleichsam aus dem Nichts auftaucht, so verschwindet er in eine narrative Unbestimmtheit. *Ev setzt voraus, dass Jesus auferstanden ist, und erzählt auch von zwei Erscheinungen vor den Jüngern (*24,13-35.36-43), verbindet damit aber keine weitergehenden theologischen Überlegungen über seine himmlische Existenz. Sieht man davon ab, dass *Ev Wert darauf legt, dass Jesus leiblich auferstanden und seine Erscheinung nicht die eines körperlosen ϕάντασμα ist, muss man wohl sagen, dass *Ev auf den Tod und die Passion Jesu ein größeres Gewicht legt als auf seine Auferstehung. Dieses Fehlen der charakteristischen Merkmale für die Gattung »Biographie« stellt aber nicht nur vor die Aufgabe einer Gattungsbestimmung, sie macht auch deutlich, dass die literaturgeschichtliche Entwicklung der Evangelienüberlieferung eine deutliche Tendenz zur »Biographisierung« erkennen lässt: Die späteren Evangelien, denen *Ev als Quelle zugrunde lag, haben dem Stoff sehr viel deutlicher eine literarische Form gegeben, die für durchschnittlich gebildete Leser als »Biographie« erkennbar war. 3. Die Bestimmung des Textbestandes ergibt sich durch die Differenz zu Lk. Die im Vergleich zu Lk fehlenden Passagen sind keine Streichungen in *Ev, sondern Ergänzungen durch Lk. Neben ungezählten kleineren Veränderungen in Kontexten, die bereits in *Ev enthalten waren, gehören dazu eine ganze Reihe von thematisch in sich relativ geschlossenen Passagen, die das kanonische Lk ergänzt hatte. Zu nennen sind hier nicht nur die von den Häresiologen sicher als in *Ev fehlend bezeugten Texte, sondern auch diejenigen, für die sich die sekundäre Ergänzung durch die lk Redaktion aufgrund verschiedener anderer Beobachtungen nahegelegt hat; für alle Einzelheiten ist die Rekonstruktion zu vergleichen. Folgende längere Passagen gehen sicher oder sehr wahrscheinlich erst auf die kanonische Redaktion zurück: Die sog. »Kindheitsgeschichten« und die gesamte Täufer- und Taufüberlieferung (Lk 1,1-2,52; 3,1b-4,15). - Die Heilung der Schwiegermutter des Petrus (Lk 4,38f). - Die »Kinder der Weisheit« (Lk 7,29-35). - Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,29-37). - Das »Zeichen des Jona« (Lk 11,30-32) und die Abhandlung über den Prophetenmord (Lk 11,49-51). - Die Umkehrforderung mit dem Gleichnis vom Feigenbaum (Lk 13,1-9). - Die Warnung vor Herodes und die Klage über Jerusalem (Lk 13,31-35). - Das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32). - Die dritte Leidensweissagung (Lk 18,31-34). - Die Erzählung von der Auffindung des Reittiers beim Einzug in Jerusalem (Lk 19,29-35). - Die Dominus-flevit-Szene und die Tempelreinigung (Lk 19,41-47). - Das Gleichnis von den bösen Weingärtnern (Lk 20,9-18). - Die Belehrung über die Stunde der Entscheidung und die zwei Schwerter (Lk 22,35-38). - Die Belehrung der Jünger durch den Auferstandenen (Lk 24,44-49). Dieser negative Bestand ist in erster Linie für das Profil der lk Redaktion von Interesse, weil sie diese Texte ergänzt hat, aber er sagt wenig über das literarische Profil des ältesten Evangeliums. ______________________________ 22 Vgl. F RICKENSCHMIDT , a. a. O. 273 (Hervorhebung M. K.). 392 V. Ausblick 4. Einigermaßen auffällig ist der Umstand, dass *Ev eine Reihe von Dubletten enthielt. Auch hier ist ein generelles Urteil wenig aussagekräftig, weil nicht alle Beispiele in gleicher Weise als Dubletten erkennbar sind. Aber die Belege könnten doch einen ersten Zugang liefern: *6,6-10  *14,1-6. - *8,16  *11,33. - *8,21  *11,27. - *9,3  *10,4. - *9,24  *17,33. - *9,26  *12,28f. - *9,56  *19,10. - *12,11f  *21,12ff. - *16,16  *21,33. Welchen Aufschluss diese Dubletten zu geben vermögen, ist unklar. Auf der einen Seite könnten sie als Hinweise darauf verstanden werden, dass bereits *Ev auf eine literarische Wachstumsgeschichte zurückblickt: Das war die These von Gustav Volckmar in der Auseinandersetzung mit Albrecht Ritschl, auch wenn die Dubletten dabei nicht im Vordergrund seiner Argumentation standen. Allerdings müsste sich ein solches Urteil auf sehr viel konkretere Hinweise stützen können als auf die bloße Existenz von Dubletten. Denn andererseits ist es ohne weiteres möglich, dass diese Dubletten Ausdruck des literarischen Gestaltungswillens von *Ev sind. Denn dass *Ev wenigstens rudimentäre Spuren von literarischer Gestaltung aufweist, lässt sich kaum bestreiten, auch wenn dieser Gestaltungswille sich eher auf den Aufbau einzelner Perikopen bezieht als auf die Gesamtanlage. 5. Für den literarischen Charakter von *Ev ist es wichtig, dass die Folgerichtigkeit der Akoluthie kein vorstechendes Merkmal seiner Komposition ist. Dieses Merkmal ist noch am kanonischen Lk gut zu beobachten: Die Lk-Forschung hat sich trotz intensiver Bemühungen schon immer schwer damit getan, die innere Logik der Abfolge einzelner Szenen und Perikopen beispielsweise im sog. »Reisebericht« aufzuzeigen. Die wenig entwickelte literarische Struktur von *Ev fällt vor allem im Vergleich zu seinen wichtigsten Bearbeitungen auf: Auf der einen Seite hat *Mk trotz seiner aus *Ev beibehaltenen, stark episodischen Erzählweise durch massive Eingriffe (Auslassungen; Änderungen; Ergänzungen) einen hochgradig kohärenten Text geschaffen, der ein ganz außergewöhnliches Maß an überlegter Struktur aufweist (vgl. dazu o. § 11). Auf der anderen Seite zeigen gerade die Ergänzungen der lk Redaktion ein sehr viel höheres Maß an narrativer Stringenz, als es in *Ev zu finden ist: Die Sorgfalt der literarischen Anlage von Lk 1-4 (red.! ) setzt sich in dem nachfolgenden, bereits in *Ev vorhandenen Textbestand eben nur noch ansatzweise fort: Diese Beobachtung erklärt zwar die Unausgeglichenheit der narrativen Folgerichtigkeit des kanonischen Lk, aber für die Anlage von *Ev ist damit noch nicht viel gewonnen. Das Phänomen der gering entwickelten literarischen Struktur zeigt sich auch an etlichen Perikopenübergängen bzw. -expositionen, die von der lk Redaktion bearbeitet wurden. Leider ist das Urteil über diese Passagen unsicher, weil die Häresiologen in ihren Referaten darauf aus verständlichen Gründen keinen besonderen Wert gelegt haben: Diese Einleitungen und Übergänge sind kaum direkt bezeugt, das Urteil muss sich zumeist auf textkritische Auffälligkeiten und die daraus resultierenden Schlussfolgerungen stützen. Für die folgenden Beispiele ist daher immer die Rekonstr. zu vergleichen: 5,27. - 5,33. - 6,27 (s. auch den Abschluss 6,47-49! ). - 8,1. - 8,19. - 9,28. - 9,51f. - 11,14. - 13,22. - (14,1? ). - 15,1f. - 19,11f. - 20,19. - 23,50-52. 6. Was am positiven Textbestand auffällt, ist der Umstand, dass für das älteste Evangelium verschiedentlich Namenstraditionen anzunehmen sind, die in der späteren Überlieferung nicht mehr auftauchen. Dieses Element ist wegen des Fehlens einer direkten Bezeugung nicht ganz sicher, insgesamt aber kaum zu bestreiten: In *16,19 ist es wahrscheinlich, dass der Reiche den Namen Neves/ Naves trug. Die beiden Mitgekreuzigten in *23,32 trugen ursprünglich wahrscheinlich ebenfalls Namen, obwohl sich an dieser Stelle nicht ganz einfach herausfinden lässt, welche: Die Entscheidung für Ioathas und Maggatras (s. die Rekonstr. z. St.) lässt sich weniger gut begründen, § 15: Antworten und Fragen 393 als es wünschenswert wäre. Und schließlich war Emmaus/ Amaus (*24,13) in *Ev kein Orts-, sondern ein Personenname, nämlich der des Begleiters des Kleopas. Diese Namen sind jeweils nicht durch die direkte Bezeugung der Häresiologen gesichert, aber aufgrund der textkritischen Merkmale doch wahrscheinlich. Entgegen dem älteren Urteil, dass die Namen, die später in der Überlieferung gelegentlich auftauchen, immer als sekundäre, legendarische Eintragungen zu erklären seien, ist festzuhalten, dass sich in der Evangelientradition nicht nur die Streichung, sondern auch die Ergänzung von Namen findet: Gegenüber dem ältesten Evangelium sind Personennamen wie Bartimäus (Mk 10,46), Rufus und Alexander (Mk 15,21) oder Nikodemus (Joh 3,1 usw.) hinzugekommen. Andererseits sind die genannten Namen aus Mk 10 und 15 auch wieder aus der Überlieferung verschwunden und wurden durch die späteren Überlieferungsstadien nicht weiter rezipiert: Darin entsprechen Bartimäus, Rufus und Alexander den Personennamen, die wir nur aus *Ev kennen. Das Phänomen der Ergänzung und der Tilgung von Eigennamen bedarf aufgrund der Rekonstruktion von *Ev einer umfassenderen Untersuchung, weil sich gerade für die mk Namen eine neue Ausgangslage ergibt, wenn Mk nicht das älteste Überlieferungsstadium darstellt. Aber die hier genannten Beobachtungen sind weder vollständig noch systematisch ausgewertet. Die genauere Klärung dieser und vieler weiterer Fragen ist eine Aufgabe für zukünftige Untersuchungen. 2. Zur Überlieferungsgeschichte der Evangelien Die wichtigste Konsequenz aus der *Ev-Priorität vor Lk ergibt sich für die Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte der Evangelien, in erster Linie für das Synoptische Problem. Der Vorschlag für den Weg der Überlieferung (o. §§ 10-14) braucht hier nicht noch einmal wiederholt zu werden. Die folgenden Überlegungen sollen vielmehr den Blick auf einige allgemeinere Beobachtungen lenken und mögliche Schlussfolgerungen aus dem Befund andeuten. a. Die Evangelienüberlieferung als literarischer Redaktionsprozess Der Überlieferungsprozess, durch den nicht nur die Synoptiker, sondern alle vier Evangelien miteinander verbunden sind, ist ein durch und durch literarisches Phänomen. Für die Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte ist immer wieder aufgefallen, in wie hohem Maß ihre einzelnen Stadien sich als Ergebnis eines (je und je immer komplexer werdenden) Vergleichens von Texten verstehen lassen, das ein erhebliches Maß an redaktioneller Sorgfalt erkennen lässt: Die Produktionsbedingungen der Evangelien setzen durchweg eine gediegene und sehr gründliche »Schreibtischarbeit« voraus und lassen sich mit den Vorstellungen der älteren Formgeschichte nicht angemessen erfassen, die sich beispielsweise in den sozialgeschichtlich eher amorphen Kategorien der »Predigt« (Martin Dibelius) oder der »Gemeindebildung« (Rudolf Bultmann) spiegelt. 23 Natürlich wird man ______________________________ 23 Vgl. dazu K. B ERGER , Einführung in die Formgeschichte, Tübingen 1987, bes. 103ff. 394 V. Ausblick konzedieren, dass Ergebnisse immer in hohem Maß von den Fragen abhängen, auf die sie antworten: Wer nach literarischen Beziehungen zwischen den Evangelien sucht, wird auch literarische Beziehungen finden. Würde man von vornherein nach Spuren mündlicher Überlieferung fahnden, würde man wohl auch diese finden. Aber der Befund spricht dagegen: Die Überlieferungsgeschichte der Evangelien lässt sich in dem hier vorgestellten Modell vollständig und ohne »unerklärbare Reste« als rein literarischer Prozess erfassen. Die Suffizienz eines ausschließlich literarischen Erklärungsmodells für die Überlieferungsgeschichte der Evangelien ist methodisch von großer Bedeutung. Denn sie zeigt, dass die literarkritischen Erklärungsversuche seit dem Ende des 18. Jh. gegenüber denjenigen Modellen prinzipiell im Recht waren, die mit mündlichen Vor- oder Zwischenstufen rechneten. Dass es eine mündliche Überlieferung gab, ist zwar gut möglich. Aber zur Erklärung der Berührungen und Divergenzen zwischen den Evangelien ist die Annahme einer mündlichen Überlieferung im Sinn einer Traditionsstiftung oder -prägung nicht notwendig. Im Umkehrschluss bedeutet dies jedoch, dass die Überlieferungsgeschichte auch keinerlei Anhaltspunkte zu erkennen gibt, durch welche sich die Annahme einer mündlichen Überlieferung rechtfertigen ließe: Mündlichkeit ist keine Kategorie, die legitimerweise zur Erklärung der Überlieferungsgeschichte der Evangelien postuliert werden kann. b. Die Einheitlichkeit des Überlieferungsprozesses Mit der Feststellung, dass der Entstehungsprozess der Evangelien ein durchweg literarischer Vorgang war, hängen zwei weitere wichtige Einsichten zusammen. Die erste bezieht sich auf das Grundmodell: *Ev bildet als ältestes Evangelium den einen Ausgangspunkt, aus dem zunächst *Mk, dann *Mt und auch *Joh hervorgingen. Da die lk Redaktion von *Ev am Ende dieses Überlieferungsprozesses ein Teil der Kanonischen Redaktion der Evangelien ist, die auch für die kanonischen Endfassungen Mk, Mt und Joh verantwortlich ist, ergibt sich das Bild einer relativ geschlossenen und stark einheitlichen Überlieferung: *Ev ist die Grundlage dieser Überlieferung, auf welche alle weiteren vorkanonischen Fassungen unserer Evangelien in unterschiedlichem Ausmaß bezogen bleiben, und bildet schließlich die wesentliche Quelle für das kanonische Lk. Das Bild von *Ev als der einen Wurzel, aus der die kanonischen Evangelien hervorgehen und auf die alle weiteren Überlieferungsstufen bezogen bleiben, unterscheidet sich ganz wesentlich von den gängigsten Überlieferungsmodellen, der Zwei-Quellentheorie und der Two-Gospel-Hypothesis: Beide rechnen auf unterschiedliche Weise mit einem doppelten Ursprung der literarischen Evangelienüberlieferung, nämlich mit Mk und »Q« bzw. mit Mt und Lk. Vor allem die im Rahmen der Zwei-Quellentheorie ursprünglich angenommene Unabhängigkeit § 15: Antworten und Fragen 395 von Mk und »Q« besaß in der älteren Forschung eine wesentliche Funktion für die Identifizierung historischer Jesusüberlieferungen: Auf dieser Beobachtung beruhte das Bild des historischen Jesus, das sich in der Folge von Holtzmanns Arbeit zu den synoptischen Evangelien ergeben hatte. 24 Wenn eine bestimmte Überlieferung sowohl in Mk als auch in »Q« enthalten ist, dann gilt ihre Historizität aufgrund der angenommenen Unabhängigkeit dieser Bezeugung als wahrscheinlich. Dass diese ursprünglich einmal angenommene Unabhängigkeit von Mk und »Q« durch die »Mk-Q Overlaps« in Frage gestellt ist, hatte bereits Harry Fleddermann gesehen, der eine Abhängigkeit des Mk von »Q« postulierte. 25 Demgegenüber stellt das hier vertretene Modell nicht nur die Existenz von »Q« in Frage, sondern geht von einem einheitlichen Ursprung der Evangelienüberlieferung in *Ev aus: Es gibt kein Korrektiv für eine kritische Identifizierung von historischen Jesusüberlieferungen, das nicht dem Verdacht der Zirkularität unterliegt. Der Versuch einer Scheidung zwischen »historischen« und »unhistorischen« Jesusüberlieferungen, wie er für die sog. »Zweite Frage« nach dem historischen Jesus charakteristisch war, führt zu keinem Ergebnis. Es ist daher kein Zufall, dass die neueren methodologischen Überlegungen quellenbezogene Kriterien wie das Alter und/ oder die Unabhängigkeit von Überlieferungen nur noch am Rande gelten lassen; gleichwohl spielen diesbezügliche Überzeugungen für die historische Rekonstruktion eine implizite Rolle, wie die materialen Durchführungen dann ohne weiteres belegen. 26 Noch wichtiger als die Einheitlichkeit der literarischen Überlieferung ist für die Frage der Rekonstruierbarkeit des historischen Jesus die schon genannte Einsicht, dass sich aus der literarischen Überlieferung der Evangelien kein Anhaltspunkt für ______________________________ 24 H. J. H OLTZMANN , Die synoptischen Evangelien, Leipzig 1863. Vgl. dazu die Einschätzung von Holtzmanns These durch A. S CHWEITZER , Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 9 1984, 229 (o. S. 8 Anm. 17). 25 Vgl. H. T. F LEDDERMANN , Mark and Q, Leuven 1995; s. auch das Diagramm Abb. 4 (o. S. 243). 26 Vgl. etwa G. T HEISSEN , D. W INTER , Die Kriterienfrage in der Jesusforschung, Göttingen u. a. 1997 (passim), die gegen das Differenzkriterium das »Plausibilitätskriterium« anführen. Aber die Plausibilität wird letztlich nicht nur durch die Breite der Überlieferung gestützt, sondern auch durch die Unabhängigkeit ihrer einzelnen Stränge, wie G. T HEISSEN , A. M ERZ , Der historische Jesus, Göttingen 3 2001, 41ff zeigen: Die Ähnlichkeit bei gleichzeitiger literarischer Unabhängigkeit der vier (! ) Überlieferungsbereiche (neben »Q« und Mk auch das mt und lk »Sondergut«) sei ein wichtiges quellenkritisches Argument für die Historizität: »Wegen des hohen Alters und der Streubreite der synoptischen Traditionen […] besteht ein breiter wissenschaftlicher Konsens darüber, daß wir am ehesen über die synoptische Tradition Zugang zum historischen Jesus finden« (ebd. 42). Auch A. S CRIBA , Echtheitskriterien der Jesus-Forschung, Hamburg 2007, 89ff, geht davon aus, dass die »breite Bezeugung« kein hinreichendes Kriterium ist, entwirft dann aber sein eigenes Jesusbild ausgehend von einer genauen Rekonstruktion von »Q« (bes. 129ff). 396 V. Ausblick eine traditionsprägende mündliche Überlieferung gewinnen lässt. Die Oralitätsforschung zur Jesusüberlieferung hat sowohl Mk als auch »Q« als typische Beispiele für Texte verstanden, in denen die mündlichen Vorstufen noch durchscheinen. 27 Nach der hier vorgestellten Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte ist dies nicht haltbar: Den einen Text, »Q«, hat es gar nicht gegeben; der andere, Mk, war nicht die erste Verschriftlichung der Evangelienüberlieferung, sondern eine kunstvolle literarische Redaktion von *Ev. Diese Ergebnisse sind keine Empfehlung für die Zuversicht und die Resultate der Oralitätsforschung und stellen ihre methodische Tragfähigkeit in Frage. Mit der Einsicht in die große Einheitlichkeit der Evangelienüberlieferung hängt zweitens zusammen, dass sich die Evangelienliteratur nicht an bestimmte »Gemeinden« richtete: Diese an der neutestamentlichen Briefliteratur gewonnene Vorstellung versteht die Evangelien als Texte, die für bestimmte »Gemeinden«, also für prinzipiell definierbare Lesergruppen, verfasst wurden. Dieses Bild hat zwar weite Teile der Forschung im 20. Jh. bestimmt, aber es besitzt keinen Anhalt an den Texten und ihrer Überlieferung. Die Evangelien sind Literatur, und das impliziert, dass ihre Rezeption nicht kontrolliert werden kann: Sie stehen prinzipiell allen (möglichen) Lesern offen, auch wenn ihre Autoren bestimmte Leser implizieren oder gar intendieren. 28 Die Vorstellung, dass die Evangelien für bestimmte Gemeinden abgefasst und dann auch primär in und von diesen rezipiert wurden, besitzt eine wesentliche theologische Implikation. Denn in der Regel ist damit die Vorstellung von regional spezifischen Überlieferungen und ihrem Zusammenwachsen zu einer kanonischen Vier-Evangeliensammlung mit überregionalem Geltungsanspruch verbunden: Mk stammt aus Rom oder aus Ägypten, Mt aus Syrien, Lk aus Rom oder anderswo, Joh aus Kleinasien usw. 29 Das Vier-Evangelienbuch repräsentiert daher eine überregionale Einheit und manifestiert auf diese Weise einen umfassenden - eben: katholischen - Geltungsanspruch. ______________________________ 27 Vgl. für Mk z.B. J. D EWEY , Oral Methods of Structuring Narrative in Mark, Interpr. 53 (1989), 32-44; P. J. J. B OTHA , Mark’s Story as Oral Traditional Literature: Rethinking the Transmission of Some Traditions about Jesus, HTS 47 (1991), 304-331. S. auch mit Lit.: A. J. M. W EDDERBURN , Jesus and the Historians, Tübingen 2010, 225-273 (mit Lit. und der Diskussion neuerer Entwürfe). 28 Vgl. etwa R. B AUCKHAM , For Whom Were Gospels Written? , in: ders. (ed.), The Gospels for All Christians, Edinburgh 1998, 9-48; S T . C. B ARTON , Can We Identify Gospel Audiences? , in: ebd., 173-194; G. S TANTON , A Gospel for a New People, Edinburgh 1992, 50f. 29 Vgl. dazu B. H. S TREETER , The Four Gospels, London 1924, 12; M. B. T HOMPSON , The Holy Internet: Communication Between Churches in the First Christian Generation, in: R. Bauckham (ed.), The Gospels for All Christians, Edinburgh 1998, 49-70. Da sich für diese regionale Verteilung allerdings keine Zeugnisse finden lassen, ist die Theorie schon länger preisgegeben. Nicht ganz sachgerecht ist der Hinweis in diesem Zusammenhang, dass die regionale Zuschreibung von Handschriftenfamilien nicht mehr haltbar sei. Vgl. G. S TANTON , The Fourfold Gospel, NTS 43 (1997), 317-346: 336; D EWEY , a. a. O. 397. § 15: Antworten und Fragen 397 Ein solcher Geltungsanspruch ist zwar kaum zu leugnen: Die Rezeptionsgeschichte des kanonischen Vier-Evangelienbuches belegt auf eindrückliche Weise die Durchsetzung dieser Sammlung gegenüber den Einzeltexten und ihre »ökumenische Überlegenheit«. Dass allerdings die einzelnen Evangelienschriften regionale Ausprägungen der Jesusüberlieferung in »Kirchenprovinzen« repräsentieren, darf angesichts der Einheitlichkeit ihres Entstehungsprozesses bezweifelt werden: Die Art, in der jedes einzelne Überlieferungsstadium alle jeweils verfügbaren älteren Texte verarbeitete, ist unter den Kommunikationsbedingungen des weiten Raumes zwischen Syrien, Ägypten, Kleinasien und Rom kaum denkbar. Sehr viel wahrscheinlicher ist eine geographisch überschaubare Region, am ehesten ein großes städtisches Zentrum mit einer entsprechenden Konzentration verschiedener christlicher Gruppen. Neben dem westlichen Kleinasien mit der Metropole Ephesus kommt dafür vor allem Rom in Frage. c. Eine protokanonische Sammlung der Evangelien? Die Einheitlichkeit der Evangelienüberlieferung von *Ev bis Lk eröffnet schließlich die Perspektive auf die Vorgeschichte der kanonischen Evangeliensammlung. Im Hintergrund dieser Überlegung stehen zwei miteinander zusammenhängende Fragen: Warum gibt es im Neuen Testament nicht ein Evangelium, sondern vier? Und: Wie kann man sich vorstellen, dass die älteren Evangelien nicht von den jeweils jüngeren Fassungen verdrängt wurden, sondern »überlebt« haben? Die erste Frage ist wegen der damit zusammenhängenden und unübersehbaren theologischen Problematik vielfältig erörtert worden, 30 die zweite wird nur selten gestellt. Im methodischen Horizont der Zwei-Quellentheorie besitzen diese Fragen verständlicherweise ein spezifisches Profil. Denn unter den methodischen Prämissen der Zwei-Quellentheorie durfte es zwischen Mt und Lk ja überhaupt keine Beziehung geben: Sie konnten sich folglich gar nicht gegenseitig verdrängt haben. Dieses Problem besteht daher nur für Mt und Lk gegenüber ihren angenommenen Quellen, Mk und »Q«. Die Nichtexistenz von »Q« konnte daher als Beleg dafür gelten, dass die umfangreicheren und »verbesserten« Evangelien der »Seitenreferenten« diesen älteren, aber kürzeren und im Vergleich defizitär erscheinenden Text verdrängt hatten - und zwar so vollständig, dass sich von ihm nicht einmal mehr ein Testimonium erhalten hat. Die Frage, warum eine überarbeitete Quelle nicht ______________________________ 30 Vgl. als Beispiele für viele: P. S TUHLMACHER (Hg.), Das Evangelium und die Evangelien, Tübingen 1983; T H . K. H ECKEL , Vom Evangelium des Markus zum viergestaltigen Evangelium, Tübingen 1999; M. H ENGEL , Die vier Evangelien und das eine Evangelium von Jesus Christus, Tübingen 2008 usw. 398 V. Ausblick verdrängt wurde, stellt sich daher nur mit Blick auf Mk: »Why did it not go the way of Q? « 31 Im Rahmen der hier vorgestellten Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte vom ältesten Evangelium hin zur kanonischen Vier-Evangeliensammlung stellen sich beide Fragen auf andere Weise. Denn die starke Einheitlichkeit der Überlieferung - also die Beobachtung, dass die einzelnen Überlieferungsstufen nach *Ev jeweils alle früheren Texte benutzt haben - stellt die Frage nach der möglichen Verdrängung noch einmal in besonderer Deutlichkeit. Eine belastbare Antwort würde umfangreiche Untersuchungen erfordern. Aus diesem Grund soll wenigstens eine Vermutung skizziert werden, die zumindest erkennen lässt, welche Aspekte für die Lösung zu berücksichtigen wären. 1. Die Berechtigung der Fragestellung erweist sich zunächst am Schicksal von *Ev: Der älteste Evangelientext ist durch die nachfolgenden Bearbeitungen tatsächlich verdrängt worden. *Ev hat nicht im Überlieferungsraum der entstehenden Kirche überlebt, sondern wurde nur von Gruppen rezipiert und tradiert, die aus Sicht der katholischen Christen als häretisch ausgegrenzt waren. Das Schicksal von *Ev belegt daher sehr deutlich, dass die »Verdrängung« von Texten mit sozialen Abgrenzungsprozessen einhergehen kann, also mit der »Verdrängung« der Trägerkreise und Rezipienten. Falls es eine protokanonische Evangeliensammlung gab, war *Ev mit größter Wahrscheinlichkeit Teil dieser Sammlung. Der Verdrängungsprozess von *Ev setzte also erst mit der Erstellung des kanonischen Vier-Evangelienbuches ein. Dessen Erfolg im Rahmen der Kanonischen Ausgabe des Neuen Testaments war langfristig dafür verantwortlich, dass sich Spuren von *Ev nur in den häresiologischen Zeugnissen erhalten haben. Das Phänomen der Interferenz zwischen der Überlieferung des vorkanonischen *Ev und des kanonischen Lk hat immerhin gezeigt, dass *Ev nicht schlagartig verschwunden ist, sondern einen noch länger andauernden Einfluss auf die Überlieferung der kanonischen Evangelien ausgeübt hat. Das gleiche gilt ja im Übrigen auch für die anderen vorkanonischen Texte (also: *Mk, *Mt und *Joh), deren Existenz sich aufgrund der Uneinheitlichkeit der handschriftlichen Überlieferung nahelegt: Auch diese Texte sind durch die kanonische Evangeliensammlung verdrängt worden, aber auch diese vorkanonischen Evangelien ______________________________ 31 Z. B. J. D EWEY , The Survival of Mark’s Gospel: A Good Story? , JBL 123 (2004), 495-507: 495. Nach dem hier Ausgeführten ist die Lösung, die Joana Dewey anbietet, wenig wahrscheinlich: Mk sei wegen seiner besonderen Qualitäten als mündlicher Text weitgehend unabhängig von einer handschriftlichen Überlieferung tradiert worden und habe auf diese Weise überlebt. Dies ist möglich, aber wenig wahrscheinlich: Denn die Überlieferungsgeschichte der Evangelien hat sich insgesamt als stark literarischer Prozess herausgestellt, und gerade für Mk ist deutlich, dass sein ausgefeiltes redaktionelles Konzept Rezipienten mit einer stark entwickelten Lesekompetenz erfordert. § 15: Antworten und Fragen 399 haben die kanonische Handschriftenüberlieferung noch länger beeinflusst: Die Verdrängung ist als Prozess zu denken, dessen zeitliche Erstreckung sich kaum noch bestimmen lassen wird. 2. Gerade mit Blick auf die Verdrängung von *Ev und den anderen vorkanonischen Evangelien durch die kanonischen Evangelien im Raum der entstehenden Kirche stellt sich die Frage in aller Schärfe, wieso die vier kanonischen Fassungen dieser Evangelien »überlebt« haben: Aus welchem Grund hat die entstehende Kirche eine Sammlung von vier verschiedenen Evangelien geschaffen und tradiert und sich auf diese Weise dem theologischen Problem der Vielstimmigkeit ihres entscheidenden Gründungsdokuments ausgesetzt? Diese Formulierung der Frage impliziert, dass der (oder die) Herausgeber der Kanonischen Ausgabe der Mehrstimmigkeit der Vier-Evangeliensammlung tatsächlich ein einziges, verbindliches Evangelium vorgezogen hätte(n). In diesem Fall könnte man überlegen, dass es in der Situation der Entstehung der Kanonischen Ausgabe keine wirkliche Alternative zu der Rezeption aller vier Evangelien gab: Das setzt voraus, dass diese jeweils für sich bereits eine solche Geltung erlangt hatten, dass sie faktisch nicht mehr durch ein einziges Evangelium ersetzt werden konnten. Es könnte natürlich auch sein, dass die Herausgeber die Vielstimmigkeit der Evangelienüberlieferung gar nicht als unvermeidliches Übel akzeptiert haben, sondern sie gerade wegen der darin zum Ausdruck gebrachten Pluralität willkommen geheißen haben. Das kanonische Vier-Evangelienbuch hat dieses Problem ja durchaus wahrgenommen und durch die Entsprechung von Lk-Prolog und Joh-Epilog theologisch eingehegt: Die Bemerkung über die nicht fassbare Fülle der Taten Jesu (Joh 21,25) erweckt nicht den Eindruck, als hätte der Redaktor die Pluralität des Vier-Evangelienbuches unter dem Zwang der zufälligen Überlieferungslage nur einfach zähneknirschend akzeptiert. Gerade, wenn die kanonische Evangeliensammlung einen umfassenden, ökumenischen Geltungsanspruch vertritt, bietet die Unschärfe der pluralen Überlieferung eine Offenheit, die durchaus erstrebenswert gewesen sein kann. 3. Nun könnte diese (möglicherweise willkommene) Pluralität der Evangelienüberlieferung nicht erst ein Kennzeichen der kanonischen Evangeliensammlung gewesen sein: Es ist zumindest denkbar, dass es bereits eine vorkanonische Sammlung gab, auf welche die Kanonische Redaktion zurückgegriffen und sie um das kanonische Lk-Evangelium ergänzt hat. Die Frage lautet also: Wurden die vorkanonischen Fassungen der Evangelien (*Ev; *Mk, *Mt; *Joh) jeweils einzeln überliefert oder waren sie bereits aufeinander bezogen und zu einer Sammlung verbunden? Zur Beantwortung dieser Frage wäre es natürlich erforderlich, den genauen Textbestand dieser vorkanonischen Evangelien zu kennen: Dies ist bislang nicht der Fall. Die tentativen Überlegungen zur Rekonstruktion der vorkanonischen 400 V. Ausblick Fassungen der Evangelien (o. § 14.2-4) haben deutlich gemacht, dass für diese Frage zunächst eine vollständige und genaue Analyse der jeweiligen handschriftlichen Überlieferung notwendig wäre, und auch diese würde mit großer Wahrscheinlichkeit weniger verlässliche Ergebnisse zutage fördern, als dies bei der Rekonstruktion von *Ev, also der vorkanonischen Fassung des Lk, der Fall ist. 4. Gleichwohl lassen sich zu den möglichen intertextuellen Bezügen zwischen diesen Evangelien Überlegungen anstellen, die naturgemäß hochgradig spekulativ bleiben. Das Ziel solcher Überlegungen müsste im Nachweis bestehen, dass die jeweils jüngeren Fassungen die älteren nicht ersetzen, sondern ergänzen wollen. Für die einzelnen Stadien von *Mk bis *Joh fällt das Ergebnis wahrscheinlich sehr unterschiedlich aus. a. Versteht man *Mk als die älteste Bearbeitung von *Ev, dann lassen sich keine Elemente identifizieren, die als Verweis auf diesen ältesten Text fungieren: *Ev ist für *Mk zwar die entscheidende Quelle, nicht aber ein literarischer Bezugspunkt. Im Vergleich zwischen den beiden ältesten Evangelienschriften ist nicht erkennbar, dass *Mk mit *Ev zusammen gelesen werden will. Mit anderen Worten: *Mk will *Ev ersetzen. b. Für *Mt ist ein denkbarer literarischer Verweis auf seine beiden Prätexte (*Ev und *Mk) am schwierigsten zu fassen und eben deshalb besonders interessant. Da *Mt die *mk Erzählung als Rahmen rezipiert und das aus *Ev stammende Material (zusammen mit anderen Erweiterungen) in diesen Rahmen integriert, lässt sich die Frage auf das Verhältnis zwischen *Mt und *Mk reduzieren. Im Rahmen der Zwei-Quellentheorie ist das Verhältnis zwischen Mk und Mt nie als Ergänzung, sondern immer als Ersetzung aufgefasst worden: Das hat die Frage, warum Mk »überlebte«, ja überhaupt erst entstehen lassen. 32 Aber diese Einschätzung ist zu einem guten Teil vom Theoriedesign der Zwei-Quellentheorie abhängig: Denn wenn Mt und Lk unabhängig voneinander auf Mk zugegriffen haben (und wenn Mt älter als Lk ist, wie häufig angenommen wird), dann ist Mt als ergänzende Erläuterung neben Mk in der Tat schwer vorstellbar. Da sich diese Voraussetzung als unzutreffend erwiesen hat, ist auch die Frage nach den möglichen intertextuellen Bezügen zwischen *Mt und *Mk neu zu stellen. Anhaltspunkte für eine Beantwortung könnten diejenigen Elemente liefern, an denen *Mt narrative Leerstellen aus *Mk füllt, seine Ambivalenzen vereindeutigt und Andeutungen expliziert, ______________________________ 32 Vgl. U. L UZ , Das Matthäusevangelium: Ein neues Evangelium oder ein neu redigiertes Evangelium? , in: S. Chapman u. a. (Hg.), Biblischer Text und theologische Theoriebildung, Neukirchen-Vluyn 2001, 53-76; DERS ., Matthäus und Q, in: R. Hoppe, U. Busse (Hg.), Von Jesus zum Christus, Berlin 1998, 201-216. § 15: Antworten und Fragen 401 deren eigenständige Entschlüsselung durch den Leser einen wesentlichen Aspekt der implizierten Lesestrategie von *Mk ausmacht. 33 Diese Tendenz zur Vereindeutigung von Leerstellen zeigt sich vielfältig: So entschlüsselt *Mt 16,12 die *mk Metapher des »Sauerteigs der Pharisäer« aus *Mk 8,14-21 und beantwortet damit die Frage, die *Mk 8,21 eigentlich den Lesern aufgegeben hatte: »Versteht ihr immer noch nicht? « Ganz ähnlich ist die Erklärung *Mt 17,12 zu verstehen, dass der Täufer der wiedergekommene Elia sei (*Mk 9,13): Auch das müssen sich die Leser des *Mk selbst erschließen. Weitere Beispiele für diese Vereindeutigungen sind etwa *Mt 14,33 (in Bezug auf *Mk 6,52); *Mt 22,46 (zu *Mk 12,35-37a); die Umstellung von *Mt 13,12 || *Mk 4,25 zwischen *Mt 13.11.13 || *Mk 4,11a.b usw. Für *Mk ist die Einbeziehung der Leser in die Sinnkonstitution charakteristisch und Teil seines Lektürekonzepts: Die Leser müssen Andeutungen, Ambivalenzen und offene Fragen durch ihre eigene Lektüre klären und verstehen. Dieses elitäre Lektürekonzept erfordert nicht nur kompetente, sondern auch Mehrfachleser: Die einmalige Lektüre erlaubt die Entschlüsselung der narrativen Leerstellen nicht. Die Vereindeutigung und Explikation dieser Leerstellen durch *Mt könnte ein Hinweis darauf sein, dass diese beiden Texte zusammen gelesen werden sollen. Das ist allerdings unsicher, weil *Mt die Leerstellen ja aus *Mk übernommen hat: Ihre Explikation würde eine literarische Funktion auch dann erfüllen, wenn *Mt alleine für sich gelesen wird. c. Am deutlichsten wird die literarische Bezugnahme auf die Prätexte für *Joh: Dessen intertextuelle Bezüge, die häufig unter der Fragestellung »Joh und die Synoptiker« untersucht wurden, reichen bis in die Tiefenstruktur der gesamten literarischen Anlage hinein und beschränken sich nicht nur auf einzelne Bemerkungen, die ja möglicherweise (erst) auf den kanonischen Bearbeiter zurückgehen könnten. 34 Für diese strukturbildende Intertextualität des Joh ist es sehr gut denkbar, dass sie bereits ein Kennzeichen des vorkanonischen *Joh darstellt, das dann als Teil einer protokanonischen Sammlung konzipiert war. Auch, wenn der Umfang einer solchen hypothetischen Sammlung offenbleiben muss, ist es vorstellbar, dass *Ev ein Teil davon war. Man könnte sich also eine Sammlung aller vier vorkanonischen Evangelien vorstellen: *Ev, *Mk, *Mt und *Joh, wobei dem *Joh die Funktion eines kompositionellen Abschlusses mit den entsprechenden Kohärenzaufgaben zufiele. ______________________________ 33 Vgl. M. K LINGHARDT , Erlesenes Verstehen. Leserlenkung und implizites Lesen in den Evangelien, ZNT 21 (2008), 27-37. 34 Vgl. o. § 13. Neben Hartwig Thyens Interpretation (T HYEN , Joh; DERS ., Studien zum Corpus Iohanneum, Tübingen 2007) vgl. beispielsweise R. B AUCKHAM , John for Readers of Mark, in: ders. (ed.), The Gospels for All Christians, Edinburgh 1998, 147-171. Die konträre Position, dass Joh die Synoptiker kannte, aber ersetzen wollte, hatte H. W INDISCH , Johannes und die Synoptiker, Leipzig 1926, vertreten. 402 V. Ausblick Dieser hypothetische Gedanke lässt sich weiterspinnen. Denn eine solche vorkanonische Evangeliensammlung könnte erklären, warum gerade in den »Westlichen« Evangelienhanschriften so zahlreiche Sonderlesarten auftauchen, die sich ja immer wieder als Hinweise auf einen vorkanonischen Text erwiesen hatten: Ist es vorstellbar, dass die vorkanonischen Evangelien bereits als Sammlung zirkulierten? Und dass diese vorkanonische Sammlung bereits vor der Erstellung der Kanonischen Ausgabe in Übersetzungen (Vetus Latina; Vetus Syra) vorlag? Wenn man diese Fragen bejaht, besäße der letzte Schritt des oben entworfenen Überlieferungsmodells, also die Kanonische Redaktion, einen anderen Charakter: Die entscheidende Veränderung würde dann nicht in der Zusammenführung von vier Einzeltexten zu einer kohärenten Sammlung bestehen, sondern in der Integration einer bereits vorliegenden Sammlung in die gesamte Kanonische Ausgabe des Alten und Neuen Testaments - und in der intensiven Bearbeitung von *Ev durch die »lk Redaktion«. Geringfügig modifiziert, würde sich das überlieferungsgeschichtliche Diagramm folgendermaßen darstellen. -- - - - - ------*Ev- --- - - -------------*Mk- - -- - ---------*Mt- - - --- - ------- --*Mt- *Mk- -------*Ev-------------*Joh- - Protokanonische-- - - - - - - - - Sammlung? - - - - - - - - - - Kanonische-Redaktion- Altes- Testament- +- Mt- ----------Mk- -----Lk- Joh- +-Act-und-Kath.-Briefe; - Paulusbriefe; -ApcJoh- Abb. 13: Protokanonische Sammlung (? ) und Kanonische Ausgabe der Evangelien Diese Überlegungen zu einer protokanonischen Sammlung der Evangelien sind zugegebenermaßen rein spekulativ. Bevor nicht eine vollständige (und möglicherweise ja auch erfolglose) Analyse der handschriftlichen Überlieferung von Mk, Mt und Joh vorliegt, durch die sich die Existenz der vorkanonischen Fassungen erhärten würde, sind diese Überlegungen im besten Fall ein Gedankenexperiment: Es liefert keine belastbare Erklärung. Die Funktion dieses Experiments ist daher nicht explikativ, sondern ausschließlich heuristisch: Es soll andeuten, welche Fragestellungen sich eröffnen, wenn man die Überlieferungsgeschichte der Evangelien nicht im Modell der Zwei-Quellentheorie versteht, sondern als einen einheitlichen Prozess von *Ev zu Lk. § 15: Antworten und Fragen 403 3. Text- und Überlieferungsgeschichte: Die Kanonische Ausgabe Neben den Einsichten zum redaktionellen Verhältnis von *Ev und Lk sowie zur Überlieferungsgeschichte der Evangelien liegt ein wesentlicher Ertrag dieser Untersuchung in der Erkenntnis der Korrelation zwischen dem durch die Häresiologen für *Ev bezeugten Text und den Varianten der kanonischen Handschriftenüberlieferung. Diese Korrelation konstituiert das Phänomen, das oben (§ 5) als Interferenz zwischen der Überlieferung des vorkanonischen *Ev und des kanonischen Lk hinreichend, wenn auch nur anhand von ausgewählten Beispielen, beschrieben ist. Diese Ergebnisse müssen hier nicht noch einmal wiederholt werden. Allerdings ist es angezeigt, noch einmal auf die methodischen Konsequenzen hinzuweisen, die sich auf verschiedene Bereiche der neutestamentlichen Forschung beziehen. a. Der Text des Neuen Testaments Zunächst ist auf das methodische Vorgehen bei der Rekonstruktion des ältesten Evangeliums zu verweisen. Denn die These einer Interferenz zwischen der Überlieferung des ältesten Evangeliums und des kanonischen Lk erlaubt eine Einordnung der Widersprüche zwischen den häresiologischen Bezeugungen für *Ev: Die widersprüchlichen Bezeugungen sind weder ein Auweis der Unzuverlässigkeit der jeweiligen Referate, noch stellen sie deren Zeugniswert insgesamt in Frage. Die voneinander abweichenden Referate passen vollständig in das Bild der wechselseitigen Interferenz der beiden Überlieferungen: Das hier vorgeschlagene Erklärungsmodell erlaubt es, die Zuverlässigkeit der häresiologischen Zeugnisse auch dann zu begründen, wenn sie einander widersprechen. Die textkritische Analyse der kanonischen Lk-Varianten liefert daher eine kritische Bestätigung der häresiologischen Referate und sichert auf diese Weise die Rekonstruktion des ältesten Evangeliums methodisch ab: Es gibt neben der direkten Bezeugung durch die Häresiologen auch die indirekte durch die Varianten. Die hier vorgeschlagene Deutung der Interferenzbeispiele ist aber nicht nur in der Lage, die Rekonstruktion des ältesten Evangeliums auch für diejenigen Passagen mit einiger Zuversicht zu wagen, für die keine direkte Bezeugung vorliegt, sie liefert auch ein Kriterium für die Einschätzung der Entstehung der handschriftlichen Varianten. Die Verbindung zwischen den überlieferungsgeschichtlichen Beobachtungen zum Textbestand von *Ev und den handschriftlichen Varianten erlaubt daher erstmalig eine methodisch kontrollierbare Erklärung für das Zustandekommen der disparaten Handschriftenüberlieferung, wenn auch (zunächst) nur der Evangelien. Dieser Erklärung zufolge sind zahlreiche Varianten gegenüber dem Text der kritischen Ausgaben (NA 27/ 28 / GNT 4 ) keine sekundären Änderungen eines bereits feststehenden Textes, sondern Spuren seiner Vorgeschichte, die sich zufällig noch erhalten haben. Die Annahme, dass die Kanonische Redaktion - im Fall von *Ev ist 404 V. Ausblick dies die lk Redaktion - zwischen der vorkanonischen und der kanonischen Ausgabe steht, hat eine Reihe von Konsequenzen, die bereits angesprochen wurden und deshalb nur knapp zu erwähnen sind. Am wichtigsten ist die Einsicht, dass die Suche nach dem ältesten Text unter dieser Voraussetzung keineswegs zum Text der Kanonischen Ausgabe führt, sondern zu einer vorkanonischen Fassung. Hier wird die (eklektisch verfahrende) Textkritik sehr deutlich entscheiden müssen, ob sie die jeweils älteste erreichbare Textgestalt zu eruieren sucht, oder ob sie tatsächlich den Text des Neuen Testaments herstellen will. Das hier sichtbar gewordene Phänomen ist nicht singulär: Auch in anderen Bereichen der klassischen Literatur, etwa bei der Aristoteles- oder der Ciceroüberlieferung, lässt sich beobachten, dass verschiedene Ausgaben desselben Werkes ihre Spuren in der handschriftlichen Überlieferung hinterlassen haben und daher zu der Entscheidung nötigen, welche Textgestalt eigentlich das Ziel der textkritischen Arbeit ist. Das wissenschaftstheoretische Problem, das sich hier für die neutestamentliche Textkritik ergibt, ist in mancher Hinsicht den methodischen Grundentscheidungen der alttestamentlichen Wissenschaft vergleichbar. Deren Hauptgegenstand war in der Folge von Humanismus und Reformation die hebräische Bibel. Auch hier war die Suche nach dem »Ursprünglichen« intendiert, auch hier führte sie zur mutmaßlich ältesten Textgestalt, aber auch hier repräsentiert die »älteste Textgestalt« nicht den eigentlich intendierten Forschungsgegenstand, nämlich das christliche Alte Testament, sondern eben die hebräische Bibel (und zwar wesentlich in ihrer mittelalterlichen Textgestalt). Für diese Option der alttestamentlichen Wissenschaft gibt es Gründe: Abgesehen davon, dass die historisch-kritische Wissenschaft des Alten Testaments seit der Aufklärung schon immer auf den Text der hebräischen Bibel gesetzt hat und eine dementsprechend lange Forschungstradition besitzt, lässt sich das christliche Alte Testament, das ja nicht mit der Septuaginta identisch ist, (bislang) nicht genau rekonstruieren. Unter diesen Bedingungen ist es verständlich, dass sich die alttestamentliche Wissenschaft (als theologische Disziplin) schwer damit tut, den eigentlichen Gegenstand ihrer Disziplin durch die Erkenntnisse der eigenen Forschung bestimmt sein zu lassen. Eine neue Definition des Forschungsgegenstandes »Altes Testament« ist eine komplexe und schwerfällige Unternehmung. Für die neutestamentliche Wissenschaft stellt sich dieses Problem anders dar. Denn im Unterschied zur Erforschung des Alten Testaments, deren Option für die hebräische Bibel als Textgrundlage nie wirklich strittig war (und daher die Forschung nur am Rande bewegt hat), gehörte die Textherstellung seit den Anfängen der kritischen Erforschung des Neuen Testaments zu den grundlegenden Aufgaben. Die Ergebnisse der neutestamentlichen Textkritik haben dementsprechend - vom Textus Receptus über Lachmann, Tischendorf oder Westcott/ Hort bis hin zu den gängigen Ausgaben von Nestle oder Aland - immer wieder zu gravierenden Textänderungen geführt, die dann auch ihren Niederschlag in den modernen Übersetzungen gefunden haben. Die teilweise intensiven theologischen Debatten, die alle diese kritischen § 15: Antworten und Fragen 405 Editionen begleitet haben, sind ein Indiz für die grundlegende Bedeutung der neutestamentlichen Textkritik als einer theologischen Disziplin. Die im Verlauf dieser Untersuchung sehr deutlich sichtbar gewordene Scheidelinie zwischen der vorkanonischen und der kanonischen Gestalt der Evangelien eröffnet also zunächst eine Aufgabe für die Textkritik: Sofern diese darauf zielt, den Text des Neuen Testaments zu etablieren, reicht es nicht mehr aus, nach der jeweils ältesten erreichbaren Textgestalt zu suchen. Als historische Aufgabe ist die Suche nach der ältesten Textgestalt legitim, unverzichtbar und fruchtbar, weil sie wesentliche historische Einsichten für die Entstehung und Geschichte der Texte liefert. Das theologische Ziel der neutestamentlichen Textkritik und die Aufgabe einer kritischen Ausgabe des Neuen Testaments muss allerdings auch wirklich auf dessen Text zielen - und das ist der Text der Kanonischen Ausgabe. b. Die Kanonische Ausgabe des Neuen Testaments Dies bedeutet zunächst: Der Text der Kanonischen Ausgabe des Neuen Testaments ist ein Text des 2. Jh. Die zahlreichen Varianten in den Handschriften der kanonischen Evangelien belegen, dass alle vorkanonischen Fassungen einer teilweise sehr weitreichenden Redaktion unterzogen wurden. Dieser letzte Schritt der überlieferungsgeschichtlichen Rekonstruktion (s. o. § 14.5) zeigt, dass die Kanonische Redaktion in den Bearbeitungsschritten Ⓐ bis Ⓓ ein einheitliches Konzept umgesetzt hat. Dieses redaktionelle Konzept der Kanonischen Ausgabe bringt für den Bereich der Evangelien am besten zum Ausdruck, was man mit theologischem und historischem Recht als »Theologie des Neuen Testaments« bezeichnen kann. Denn die Grundfrage der Teildisziplin »Theologie des Neuen Testaments« nach der Einheit in der Vielfalt der neutestamentlichen Schriften ist ja nicht erst eine reformatorische oder moderne Frage: Die reflektierte Implementierung dieses redaktionellen Konzeptes, das sich etwa in der Kohärenz der Bearbeitung oder in den dezenten Leseanweisungen durch die Verfasserangaben der Titel zeigt, belegt ein Bewusstsein der Kanonischen Ausgabe selbst für genau dieses Problem. Bevor dieses Konzept insgesamt entschlüsselt werden kann, ist es jedoch erforderlich, die hier nur für das Verhältnis von *Ev und Lk vorgestellte Arbeit auch für den Rest des Neuen Testaments in Angriff zu nehmen. Die Voraussetzungen für diese Arbeit sind vielversprechend. Denn man kann annehmen, dass für die Kanonische Redaktion des marcionitischen Apostolos das gleiche gilt wie für die des marcionitischen Evangeliums: Es gibt Anzeichen dafür, dass die 10-Briefe-Sammlung Marcions, die von den Häresiologen in gleicher Weise kritisiert wurde wie sein Evangelium, ebenfalls keine sekundäre Verstümmelung der kanonischen Paulusbriefe darstellt, sondern eines ihrer vorkanonischen Überlieferungsstadien repräsentiert. So, wie die Analyse des marcionitischen Evangeliums, die Rekonstruktion seiner direkten 406 V. Ausblick Bezeugung durch die Häresiologen sowie die Untersuchung der indirekten Hinweise durch die handschriftlichen Varianten die Vorgeschichte der kanonischen Evangeliensammlung sichtbar gemacht hat, so könnte die entsprechende Analyse der marcionitischen Paulusbriefe auch die Vorgeschichte und die älteste Gestalt dieser Texte zu erkennen geben - mit allen Konsequenzen, die sich dann möglicherweise für die kanonische Textgestalt ziehen lassen. Neben dieser Einsicht in grundlegende Fragen der Textkritik zeigt die Korrelation zwischen dem für *Ev bezeugten Text und den kanonischen Varianten in erster Linie, dass es tatsächlich zwei verschiedene (konkurrierende) Fassungen des gleichen Textes gab: Die Rekonstruktion von *Ev hat nicht nur die Gestalt des ältesten Evangeliums sichtbar werden lassen, sondern umgekehrt auch deutlich gemacht, dass das kanonische Lk-Evangelium ein integraler Teil der Kanonischen Ausgabe des Neuen Testaments ist. Die Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte vom ältesten Evangelium bis zum kanonischen Vier-Evangelienbuch hat die heuristische Annahme der Existenz dieser Kanonischen Ausgabe in vollem Umfang bestätigt. 4. Datierungen Am Ende sind noch die historischen Fragen im Umfeld der Entstehung der kanonischen Evangeliensammlung kurz anzusprechen: Zwar zielten die Analyse des Verhältnisses zwischen *Ev und Lk sowie die Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte vom ältesten Evangelium zum kanonischen Vier-Evangelienbuch jeweils auf die literarische Gestalt, nicht auf die historischen Bedingungen, unter denen sie entstanden sind. Aber wenn der Anspruch, Literarkritik als Literaturgeschichte durchzuführen, nicht aufgegeben werden soll, dürfen diese Bedingungen natürlich nicht außer Acht bleiben. Sie sind abschließend sehr knapp zu skizzieren. Die Hinweise auf die historischen Fragestellungen sind mit Bedacht ganz an das Ende gesetzt. Denn will man nicht zirkulären Argumentationen zum Opfer fallen, ist die Bestimmung des Alters der Evangelien (und ihrer jeweiligen Überlieferungsstadien) vollständig abhängig von der Rekonstruktion der literarischen Geschichte und dem jeweiligen Platz, den die Einzeltexte darin einnehmen: Die absolute Datierung setzt die relativen Beziehungen voraus, nicht umgekehrt. a. Die Kanonische Ausgabe: Der terminus ante quem Der Ausgangspunkt aller Datierungsfragen ist die Edition der Kanonischen Ausgabe, weil die lk Redaktion von *Ev mit der letzten Bearbeitung der anderen vorkanonischen Evangelien in der Kanonischen Redaktion zusammenfällt. Die wichtigsten Kriterien für die Datierung dieser Kanonischen Ausgabe sind längst bekannt und mehrfach genannt: Der terminus ante quem des kanonischen Vier-Evangelienbuches ergibt § 15: Antworten und Fragen 407 sich aus der patristischen Bezeugung der Evangelien in ihrer kanonischen Gestalt. Zu dieser Gestalt gehören nicht nur ihr Textbestand, der ja, wie sich gezeigt hat, durchaus schwierig zu bestimmen ist, sondern vor allem die Titel mit den Verfasserangaben. Dies ist zweifellos spätestens bei Irenaeus im letzten Drittel des 2. Jh. der Fall, der die Evangelien unter ihren kanonischen Titeln kennt. Mit Ausnahme Justins (s. gleich) sind alle anderen patristischen Zeugnisse des 2. Jh. für die Rezeption der kanonischen Fassungen von neutestamentlichen Texten entweder nicht genau datierbar (z. B. EvThom; Did; 2Clem usw.), oder ihre Datierung ist so stark umstritten, dass sie für die Bestimmung des terminus ante quem entfallen. Dies gilt vor allem für die Papias-Fragmente 35 und die Ignatiusbriefe. 36 Für eine genauere Datierung der Kanonischen Ausgabe vor Irenaeus bleibt damit das Zeugnis Justins aus den 150er Jahren. Seit langem werden rund zwei Dutzend mögliche Referenzen auf die Evangelien diskutiert, und zwar durchaus kontrovers. 37 Aus diesem Grund sind wichtigsten Belege hier kurz anzusprechen. Denn die ______________________________ 35 Die Datierung der Papias-Fragmente ist völlig offen. Die von der Forschung (häufig mit mehr Zuversicht als Argumenten) angebotenen Datierungen variieren stark. Eine Frühdatierung auf die Zeit Trajans um 110 n. Chr. vertreten U. H. J. K ÖRTNER , Papias von Hierapolis, Göttingen 1983, 225f; ähnlich W. R. S CHOEDEL , Papias, in: ANRW II, 27/ 1, Berlin/ New York 1993, 235-270. Etwas später, zwischen 120 und 135, datiert M. H ENGEL , Die johanneische Frage, Tübingen 1993, 77 mit Anm. 234. Diese Versuche grenzen sich von der älteren Forschung ab. Vgl. etwa A. VON H ARNACK , Geschichte der altchristlichen Litteratur bis Eusebius II/ 1, Leipzig 2 1958, 357, der Papias in die Zeit zwischen 145 und 160 datiert. Unter den antiken Zeugnissen ist Euseb wichtig, der Papias mit dem kleinasiatischen Umfeld von Polykarp und Ignatius (in dieser Reihenfolge! ) verbindet (H.E. 3,36,1f). Die byzantinische Osterchronik datiert das Martyrium des Papias 133 Jahre nach der Himmelfahrt Jesu und verbindet sein Martyrium mit dem des Polykarp (Chron. Pasch. I 481,17ff), eine Information, die seit J. B. L IGHTFOOT , Essays on the Work Entitled Supernatural Religion, London 1889, 147-149, in aller Regel als »Fehler« interpretiert wird. Tatsächlich gibt es für Papias (abgesehen von den Angaben bei Euseb und im Chron. Pasch.) überhaupt keine konkreten Ansatzpunkte für die Datierung. Allerdings setzt Papias, wie die von ihm verwendeten kanonischen Evangelientitel zeigen, die gesamte Kanonische Ausgabe voraus. Es ist daher nicht nur leichter, sondern vor allem zuverlässiger, Papias nach der Kanonischen Ausgabe zu datieren als die Kanonische Ausgabe nach Papias. 36 Die Debatte zur Datierung der Ignatianen, die im 20. Jh. ganz überwiegend in die Zeit Trajans (110-117) datiert wurden, hat in den letzten 15 Jahren eine neue Wendung genommen; zu der neuen Ansetzung in der zweiten Hälfte des 2. Jh. vgl. R. M. H ÜBNER , Thesen zur Echtheit und Datierung der sieben Briefe des Ignatius von Antiochien, ZAC 1 (1997), 44-72; DERS ., Die Ignatianen und Noët von Smyrna, in: ders., Der paradox Eine, Leiden u. a. 1999, 131-206; T H . L ECHNER , Ignatius adversus Valentinianos? , Leiden u. a. 1999; C H . E. H ILL , Ignatius and the Apostolate, Studia Patristica 36, Leuven 2001, 226-248; T. D. B ARNES , The Date of Ignatius, ExpT 120 (2008), 119-130 usw. Die Frage der Datierung der Ignatianen spielt für die *Ev-Rekonstruktion eine Rolle. Vgl. die Rekonstr. zu *24,39. 37 Vgl. zuletzt A. G REGORY , The Reception of Luke and Acts in the Period Before Irenaeus, Tübingen 2003, 211ff (mit Diskussion der älteren Literatur). 408 V. Ausblick Ergebnisse zur Rekonstruktion von *Ev, zur Überlieferungsgeschichte der vorkanonischen Fassungen der Evangelien sowie dem letzten Bearbeitungsschritt der Kanonischen Redaktion erlauben ein genaueres und zuversichtlicheres Urteil, als dies im methodischen Horizont der Zwei-Quellentheorie möglich war. 1. Im Zusammenhang der Logiensammlung über Ehe- und Sexualaskese führt Justin aus, dass viele Christen sich erst spät in ihrem Leben der Askese zuwenden. Er rechtfertigt diese Praxis mit dem Logion Lk 5,32. Justin, 1Apol. 15,8 Lk 5,32 Mk 2,17 Mt 9,13 οὐκ ἦλθον οὐκ ἐλήλυθα οὐκ ἦλθον οὐ γὰρ ἦλθον καλέσαι δικαίους καλέσαι δικαίους καλέσαι δικαίους καλέσαι δικαίους ἀλλὰ ἁμαρτωλούς ἀλλὰ a ἁμαρτωλοὺς ἀλλὰ ἁμαρτωλούς ἀλλὰ ἁμαρτωλούς εἰς μετάνοιαν εἰς μετάνοιαν b a ασεβεις: א * b εις μετανοιαν: add C L Θ 0281 f 13 c g 1 sy s.hmg sa mae bo pt M ¦ txt: א B D N W Γ* Δ 0233 f 1 33 565 ℓ 844 ℓ 211 al lat sy p.h bo pt Die Diskussion 38 dieses Logions kreist um die Frage, ob das letzte Glied εἰς μετάνοιαν ein Kriterium für Justins Kenntnis von Lk darstellt. Da *Ev mit großer Wahrscheinlichkeit nur die positive Aussage *5,32a οὐκ ἐλήλυθα καλέσαι δικαίους enthielt (s. die Rekonstr. z. St.), ist (ἀλλὰ ἁμαρτωλούς) εἰς μετάνοιαν eine Ergänzung der lk Redaktion. Dies zeigt sich dann auch am Mehrheitstext von Mt 9,13 C L Θ usw., in dem dieselbe Ergänzung vorgenommen wurde: Die Identität der lk und der kanonischen Redaktion stellt sicher, dass Justin die Kanonische Ausgabe kannte. Die kritischen Ausgaben geben Mt 9,13 nicht in der kanonischen, sondern in der vorkanonischen Form. 2. Im Zusammenhang seiner Ausführungen über die Verpflichtung, »gegen alle geduldig, dienstfertig und sanftmütig zu sein« (1Apol. 16), zitiert Justin aus der lk Feldrede. Justin, 1Apol. 16,1 Lk 6,29 Mt 5,39f τῷ τύπτοντί σου τῷ τύπτοντί σε ἀλλ ʼ ὅστις σε ῥαπίζει τὴν σιαγόνα ἐπὶ τὴν σιαγόνα εἰς τὴν δεξιὰν σιαγόνα [σου], πάρεχε πάρεχε στρέψον αὐτῷ καὶ τὴν ἄλλην, καὶ τὴν ἄλλην, καὶ τὴν ἄλλην· καὶ τὸν αἵροντά σου καὶ ἀπὸ τοῦ αἴροντός σου καὶ τῷ θέλοντί σοι κριθῆναι τὸν χιτῶνα ἢ τὸ ἱμάτιον τὸ ἱμάτιον καὶ τὸν χιτῶνα καὶ τὸν χιτῶνά σου λαβεῖν, μὴ κωλύσῃς μὴ κωλύσῃς ἄϕες αὐτῷ καὶ τὸ ἱμάτιον Auch in diesem Fall liefert die Rekonstruktion von *Ev die Begründung dafür, dass Justin den kanonischen Lk-Text zitiert. Denn in *Ev lautet die zweite Forderung *6,29b καὶ ἐὰν τίς σου ἂρῃ τὸ ἱμάτιον καὶ ἄϕες αὐτῷ καὶ τὸν χιτῶνα. Die partizipiale Formulierung mit dem Vetativ μὴ κωλύσῃς geht erst auf die lk Redaktion zurück. Justin nutzt also auch hier den Text der Kanonischen Ausgabe. ______________________________ 38 A. J. B ELLINZONI , The Sayings of Jesus in the Writings of Justin Martyr, Leiden 1967, 76f; G REGORY , a. a. O. 254f. § 15: Antworten und Fragen 409 3. Im Zusammenhang seiner christologischen Interpretation von Ps 22 (Dial. 99ff) zitiert Justin auch das letzte Wort Jesu am Kreuz. Justin, Dial. 105,5 Lk 23,46 πάτερ, εἰς χεῖράς σου πάτερ, εἰς χεῖράς σου παρατίθεμαι τὸ πνεῦμά μου παρατίθεμαι τὸ πνεῦμά μου Dieses Wort ist im lk Passionsbericht redaktionell (s. die Rekonstr. z. St.): Sofern Justin in diesem Zusammenhang nicht direkt auf Ps 30,6 LXX zurückgreift, setzt er den kanonischen Lk-Text voraus. Die sehr zurückhaltenden Überlegungen von Andrew Gregory, Justin könne hier auch entweder auf eine Testimoniensammlung oder auf einen nicht-mk, vor-lk Passionsbericht zurückgegriffen haben, 39 sind nicht gerechtfertigt und überhaupt nur verständlich angesichts der unübersichtlichen Forschungslage: Die Existenz eines solchen zusätzlichen Passionsberichtes hat sich oben (s. S. 301ff) als überflüssig erwiesen, das letzte Wort Jesu am Kreuz ist tatsächlich lk Redaktion 40 und damit Teil der Kanonischen Ausgabe. 4. Das wichtigste Zeugnis findet sich in dem einen Hinweis, der üblicherweise für Justins Kenntnis von Act in Anspruch genommen wird: 1Apol. 50,12. 41 Justin berichtet über den Anfang der apostolischen Verkündigung: »Später aber, nach seiner Auferstehung von den Toten, als er ihnen erschienen war und sie gelehrt hatte, sich in die Weissagungen, in denen all diese Ereignisse vorhergesagt waren, zu versenken, und als sie ihn zum Himmel emporsteigen gesehen hatten (καὶ εἰς οὐρανὸν ἀνερχόμενον ἰδόντες), zum Glauben gekommen waren, die von ihm herabgesandte Kraft empfangen hatten (δύναμιν ἐκεῖθεν αὐτοῖς πεμϕθεῖσαν παρ’ αὐτοῦ λαβόντες) und zu allen Völkern der Menschheit ausgezogen waren, da haben sie uns dies alles gelehrt und wurden Apostel genannt.« Es ist ohne weiteres einsichtig, dass und warum diese Stelle als Zeugnis für Justins Kenntnis von Act so strittig ist: Sein Zeugnis könnte sich auf Act 1 beziehen, genauso gut aber auch auf Lk 24. Allerdings ist diese strittige Frage für unser Problem völlig irrelevant. Denn die Erwähnung der Himmelfahrt (noch dazu in Verbindung mit der »herabgesandten Kraft«) ist in Lk 24,51 sicher redaktionell (s. die Rekonstr. z. St.) und gehört überlieferungsgeschichtlich auf dieselbe Ebene wie Act 1. Es spielt daher keine Rolle, ob Justin hier auf Act 1 oder auf den redaktionellen Text von Lk 24 verweist: Er setzt in jedem Fall den Text der Kanonischen Ausgabe voraus. Die Möglichkeit der Differenzierung zwischen *Ev und Lk sowie die Identifizierung der lk mit der kanonischen Redaktion erlauben die Schlussfolgerung, dass Justin mit Sicherheit den Text der Kanonischen Ausgabe vor sich hatte, die demzufolge in die Zeit vor der Abfassung von 1Apol. (zwischen 155 und 157 n. Chr.) zu datieren ist. Es liegt daher nahe, das einzige Datum, das wir für die Geschichte Marcions überhaupt besitzen, mit dieser Ausgabe in Verbindung zu bringen: Die Trennung ______________________________ 39 G REGORY , a. a. O. 229. Gregory verweist auf Überlegungen von V. T AYLOR , The Passion Narrative of St Luke, Cambridge 1972, 95f und anderen zu einer möglichen Quelle für den lk Passionsbericht. 40 So auch F ITZMYER , Lk II 1512f. 41 G REGORY , a. a. O. 317ff; vgl. außerdem J. C. O’N EILL , The Theology of Acts in its Historical Setting, London 2 1970, 10ff; O. S KARSAUNE , The Proof from Prophecy, Leiden 1987, 256ff. 410 V. Ausblick Marcions von der römischen Gemeinde im Jahr 144 n. Chr. 42 Dieses Ereignis ist schon von Zahn, Harnack, Campenhausen und vielen anderen (auf durchaus unterschiedliche Weise) mit der Entstehung des Neuen Testaments in Verbindung gebracht worden. Die Frage ist, wie genau eine solche Beziehung zwischen der Erstellung der Kanonischen Ausgabe und der Trennung der römischen Gemeinde von Marcion ausgesehen haben kann: Dafür sind verschiedene Szenarien denkbar, die gleich zur Sprache kommen (u. S. 413ff). b. Die Entstehung von *Ev: Der terminus post quem Bevor diese Möglichkeiten eruiert werden, ist jedoch der Beginn dieser Entwicklung, die mit der Erstellung der Kanonischen Ausgabe endete, zu bestimmen, also der terminus post quem für die Abfassung von *Ev. Dieser terminus post quem ist schwierig zu fassen. Auch für die Datierung der davorliegenden Überlieferungsschritte, also der Entstehung der vorkanonischen Evangelien (*Mk; *Mt; *Joh), gibt es kaum Anhaltspunkte. Das älteste Evangelium blickt mit Sicherheit auf die Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. zurück. Auch, wenn die lk Redaktion dieses Ereignis noch stärker in den Fokus gerückt und theologisch gedeutet hat, lassen sich Aussagen wie beispielsweise *21,5f.20 wohl nur so verstehen, dass die Zerstörung Jerusalems bereits zurückliegt. Die Zerstörung Jerusalems ist zwar das markanteste historische Ereignis in der Geschichte Judäas in der zweiten Hälfte des 1. Jh. und wurde daher immer wieder für die Datierung der Evangelien herangezogen, sie liefert aber nicht den einzigen Anhaltspunkt. Für die Erzählung vom besessenen Gerasener in Mk 5 habe ich an anderer Stelle gezeigt, 43 dass die Kombination der Dekapolisstadt Gerasa mit dem vielzahligen Dämon namens »Legion« sowie dem Ertrinken der Schweine im See Genezareth Verhältnisse voraussetzt, die vor Ende der 80er Jahre des 1. Jh. gar nicht denkbar sind: Erst nach dem Jüdischen Krieg ist in Palästina und seinem weiteren Umland eine römische Militärpräsenz von Kerntruppen denkbar, also von Legionären (auf die der Name des Dämons verweist) und nicht von berittenen Hilfstruppen, die von den Bundesgenossen gestellt wurden. Für Gerasa ist eine ______________________________ 42 Dieses Datum ergibt sich aus Tert., Marc. 1,19,2 (die Marcioniten setzen zwischen Christus und Marcion anni fere cxv et dimidium anni cum dimidio mensis an und datieren das Auftreten Christi mit *3,1a auf das 15. Jahr der Herrschaft des Tiberius). Vgl. H ARNACK *19-*21; J. R EGUL , Die antimarcionitischen Evangelienprologe, Freiburg/ Brsg. 1969, 192-195 usw. Dieses einzige konkrete Datum zum historischen Marcion wird man nicht ohne Not preisgeben, so zu Recht B. A LAND , Art. Marcion, TRE 22 (1991), 89-101: 90, gegen R. J. H OFFMANN , Marcion: On the Restitution of Christianity, Chico 1984, 70. Vgl. außerdem G. M AY , Markions Bruch mit der römischen Gemeinde, in: ders., Markion, Mainz 2005, 75-83. 43 M. K LINGHARDT , Legionsschweine in Gerasa. Lokalkolorit und historischer Hintergrund von Mk 5,1-20, ZNW 98 (2007), 28-48. § 15: Antworten und Fragen 411 römische Präsenz in größerem Stil erst im Zusammenhang des Stadtausbaues ab Ende der 80er Jahre epigraphisch gesichert. Da *8,26-37 mit der eigenwilligen Lokalisierung des Geschehens in Gerasa und der Präsenz von »Legions-Dämonen« die gleichen Elemente enthält wie Mk 5, sind für die Datierung von *Ev auch die gleichen Folgerungen zu ziehen: Vor dem Ende der 80er Jahre ist die Abfassung von *Ev mehr als unwahrscheinlich. Damit ist der zeitliche Rahmen für die Entstehung der vorkanonischen Evangelien abgesteckt: Er liegt (mit geringfügigen Unsicherheiten) in den Jahrzehnten zwischen 90 und 150 n. Chr. c. Die Datierung der vorkanonischen Evangelien Die Datierung der innerhalb dieses zeitlichen Rahmens liegenden Überlieferungsschritte, also die Entstehung von *Mk, *Mt und *Joh, ist kaum möglich. Wer die traditionellen Datierungen der Evangelien (mit den dazugehörigen Begründungen! ) kennt, wird auch kaum etwas anderes erwarten. Eine verbreitete Datierung vermutet Mk »um« 70, Mt zwischen 80 und 90, Lk »um« oder nach 90. Allerdings bleiben diese Datierungen nicht nur ungenau, sie sind auch abhängig von problematischen Vorentscheidungen. So ist die Datierung des Mk »um 70 n. Chr.« am ehesten als Kompromiss zwischen einer Datierung (kurz) vor oder (kurz) nach der Eroberung Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. zu verstehen. 44 Die Datierung der »Seitenreferenten« ist nicht weniger schwierig: In der Regel wird die Zerstörung Jerusalems sowie die Datierung des Mk als terminus post quem genannt, sodass etwa als Entstehungsdatum für Mt »frühestens Mitte der 70er Jahre« gelten kann, wogegen der terminus ante quem durch die Zitierung durch Ignatius und die Did gegeben ist, die jedoch auch unsicher sind, sodass gilt: »nicht viel später als 80 n. Chr.« 45 Die Datierung des Lk schwankt noch am meisten, weil hier die wenigsten Anhaltspunkte zu finden sind. Aus inneren Gründen gelangt man dann beispielsweise auf die Regierungszeit Domitians (81-96) und datiert »zwischen 80 und 90«, 46 oder man verweist auf die Perspektive der dritten apostolischen Generation, die bereits an der christlichen Heilsgeschichte interessiert sei, und datiert wiederum »in die Zeit um 90 n. Chr.« 47 ______________________________ 44 Kurz vor 70 n. Chr. datieren u. a.: G UELICH , Mk xxxii; M. H ENGEL , Entstehungszeit und Situation des Markusevangeliums, in: H. Cancik (Hg.), Probleme des Markusevangeliums, Tübingen 1984, 1-45: 43; E. L OHSE , Die Entstehung des Neuen Testaments, Stuttgart 6 2001, 86; W. M ARXSEN , Einleitung in das Neue Testament, Gütersloh 4 1978, 189; VAN I ERSEL , Mark 51 usw. - Eine Datierung (kurz) nach 70 vertreten etwa: P H . V IELHAUER , Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin 1975, 347; G NILKA , Mk I, 34; P ESCH , Mk I, 14; U. S CHNELLE , Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 4 2002, 245 (»Anfang 70 n. Chr.«). - Die Kompromissdatierung »um 70 n. Chr.« beispielsweise bei W. G. K ÜMMEL , Einleitung in das Neue Testament, Heidelberg, 21 1983, 70; L ÜHRMANN , Mk 6; I. B ROER , Einleitung in das Neue Testament I, Würzburg 1989, 86 usw. 45 So (als Beispiel für viele andere) die Datierung von M. E BNER , Das Matthäusevangelium, in: ders., S. Schreiber (Hg.), Einleitung in das Neue Testament, Stuttgart 2008, 146. 46 Beispielsweise D. R USAM , Das Lukasevangelium, in: M. Ebner, S. Schreiber (Hg.), a. a. O. 199. 47 Z. B. S CHNELLE , a. a. O. 288; W IEFEL , Lk 5; B OVON , Lk I, 23; F ITZMYER , Lk I, 57, usw. 412 V. Ausblick Diese Datierungsvorschläge stellen allerdings lediglich eine Mehrheitsmeinung dar: Die tatsächliche Reichweite der ernsthaft diskutierten Datierungen ist sehr viel weiter und umfasst rund 100 Jahre von den 40er Jahren des 1. Jh. bis zur Mitte der 140er Jahre. 48 Die verbreitete Mehrheitsmeinung mit den Datierungen zwischen 70 und 90 n. Chr. ist nicht nur wenig tragfähig (was die meisten Autoren durchaus anerkennen), sondern auch wenig konsequent, wie sich vor allem an der Bestimmung des terminus ante quem zeigt: Hier ist in der Regel nicht wirklich ersichtlich, wie sich eine Datierung noch vor der Wende zum 2. Jh. begründen lässt. Denn die inneren Kriterien, die dafür in der Regel angegeben werden, erlauben diese Einschränkungen nicht wirklich. 49 Angesichts dieser Unsicherheiten ist es nicht geraten, diesen groben Schätzungen weitere hinzuzufügen: Dafür fehlen einfach die Informationen. Allerdings sind zwei methodische Hinweise angezeigt. Zunächst hat sich ergeben, dass das kanonische Lk erst im Zusammenhang der Kanonischen Ausgabe entstanden ist. Sofern diese Edition im Zusammenhang mit Marcions Trennung von der römischen Gemeinde zu sehen ist und zugleich Justin als frühester Zeuge dieser Ausgabe gelten kann, kommt man für die Entstehung von Lk etwa auf das Jahrzehnt zwischen 144 und 155 n. Chr. 50 Die Diskrepanz zwischen dieser und den traditionellen Datierungen sollte vor dem Versuch warnen, die vorkanonischen Evangelien allein aufgrund innerer Kriterien allzu präzise zu datieren. Ein zweiter Gesichtspunkt ergibt sich aus der großen Einheitlichkeit der Evangelienüberlieferung: Der enge literarische Rückgriff der einzelnen Überlieferungsstufen auf alle jeweiligen Prätexte deutet darauf hin, dass der Prozess der Entstehung der vorkanonischen Überlieferung zwischen *Ev und *Joh sich keineswegs über die ganze Zeitspanne zwischen 90 und etwa 144 n. Chr. erstreckt haben muss: Zwischen den einzelnen vorkanonischen Überlieferungsstadien liegen möglicherweise eher Monate oder wenige Jahre als Jahrzehnte. Nimmt man beide Überlegungen zusammen, dann legt sich für die Abfassung der vorkanonischen Evangelien ein Zeitraum nahe, der nicht länger als wenige ______________________________ 48 Vgl. dazu die hilfreichen Übersichten bei M. V INZENT , Marcion and the Dating of the Synoptic Gospels, Leuven u. a. 2014, 161-163 (Mk); 174f (Mt); 181-183 (Lk). 49 In diesem Sinn sind die eigenwilligen Datierungen bei K. B ERGER , C HR . N ORD , Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, Frankfurt./ M. - Leipzig 1999 (z. B. Mt: 71 n. Chr.; Lk: 65-71 n. Chr.), ebenso unwahrscheinlich wie erhellend: Die Datierungen sind schlicht geraten. Allerdings befinden sich B ERGER / N ORD damit in großer Gesellschaft, auch wenn sie sehr viel mehr Mut beweisen als andere. 50 Diese Datierung entspricht der Tendenz jüngerer Forschungen zur Spätdatierung von Lk-Act, die teilweise auf inneren Gründen beruhen (vgl. R. I. P ERVO , Dating Acts, Santa Rosa 2006) oder aber Lk in Beziehung zu Marcion setzen. Vgl. J. B. T YSON , Marcion and Luke-Acts, Columbia 2006, 80-83: »citations and allusions to the Gospel of Luke do not require us to date the canonical version before ca. 120-125 C. E.« § 15: Antworten und Fragen 413 Jahre gedauert haben muss. Hier sind verschiedene Szenarien denkbar. Möglich ist ein kontinuierlicher Prozess, der - etwa in Analogie zu den verbreiteten Annahmen für die Entstehung der kanonischen Evangelien - jeweils mit längeren Abständen zwischen den einzelnen Überlieferungsstadien rechnet und den gesamten möglichen Zeitraum ausfüllt. Bei einer gleichmäßigen Verteilung käme man für *Ev auf die Zeit ab 90, für *Mk auf das erste Jahrzehnt des 2. Jh., für *Mt auf die Mitte der 120er Jahre und für *Joh auf die Zeit kurz vor 144. Denkbar wäre auch, dass die gesamte schriftliche Evangelienüberlieferung in nur wenigen Jahren ganz am Anfang des Zeitraumes (zwischen 90 und 100) oder aber auch erst ganz an seinem Ende (130 bis 144) entstanden wäre. Und schließlich ist es auch möglich, dass *Ev etwa seit den 90-er Jahren eine längere Zeit als einziges Evangelium existierte, dass aber die vorkanonische Fortschreibung von *Mk bis *Joh nur wenige Jahre in Anspruch nahm; eine solche Fortschreibung ließe sich bis zur Jahrhundertwende vorstellen, aber sie könnte genauso gut auch erst in den 130er Jahren stattgefunden haben. Diese Überlegungen zeigen einerseits, wie groß die große Gefahr willkürlicher Festlegungen ist, machen aber andererseits auch den Spielraum für weitere Forschungen deutlich. 5. Marcion, *Ev und die Kanonische Ausgabe Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist am Ende noch einmal auf das Problem zurückzukommen, wie man sich die Trennung zwischen Marcion und der römischen Gemeinde vorstellen kann. Im Hintergrund dieser historischen Frage steht das theologisch zentrale Problem zur Debatte: Wie ist Marcions Rolle bei der Entstehung der Kanonischen Ausgabe zu bestimmen? Jeder Antwortversuch ist durch zahlreiche Unsicherheiten belastet. Sie betreffen zum einen die spärlichen und teilweise widersprüchlichen Zeugnisse über Marcion. Ihre Interpretation ist durch die Bedeutung erschwert, die Marcion für den Prozess der Selbstdefinition der Alten Kirche besaß und die sich in den mitunter perhorreszierenden Urteilen der altkirchlichen Ketzerpolemik spiegelt. Nicht erst seit Harnacks Marcion-Buch ist es darüber hinaus unstrittig, dass Marcions theologische Bedeutung auch sein Bild in der kritischen Forschung bestimmt: Hier ist also größte Vorsicht geboten. Neben den Schwierigkeiten bei der Interpretation der Zeugnisse über Marcion stehen die überlieferungsgeschichtlichen Unsicherheiten, die am Ende dieser Untersuchung offen geblieben sind (z. B. zur Datierung der vorkanonischen Evangelien) oder die durch sie erst aufgeworfen wurden (z. B. zur Möglichkeit einer protokanonischen Evangeliensammlung). Um angesichts dieser Unsicherheiten nicht völlig beliebig zu urteilen, ist es sinnvoll, die möglichen Erklärungen für Marcions Trennung von der römischen Gemeinde und seiner 414 V. Ausblick Rolle für die Entstehung der Kanonischen Ausgabe an der Leitfrage seiner möglichen literarischen Aktivitäten zu orientieren. a. Marcion als Bearbeiter des kanonischen Lk und als kirchlicher Reformer Die traditionelle Ansicht geht davon aus, dass Marcion das kanonische Lk aus theologischen Gründen redigierte. Diese Sicht impliziert, dass Marcion die kanonischen Evangelien (zumindest aber Lk) bereits vorfand, die dann in der römischen Gemeinde in Gebrauch gewesen sein müssten. Den klassischen Ausdruck hat diese Sicht in Harnacks Rekonstruktion gefunden, 51 der sich für die vorrömische Zeit Marcions stark auf Epiphanius verlässt und damit rechnet, dass Marcion schon in dieser Zeit Christ gewesen sei und von daher auch das Alte Testament gekannt habe: Seine »Vertrautheit mit dem AT und der, sei es auch zum Abscheu gewordene, Respekt vor seinem Buchstaben, erklären sich leichter, wenn er mit dem heiligen Buch selbst aufgewachsen« sei. 52 Sofern Marcion bereits als Christ nach Rom gekommen war, böte die Reise die Möglichkeit für die von Irenaeus berichtete Begegnung mit Polykarp, bei der dieser ihn als den »Erstgeborenen Satans« bezeichnet haben soll (Haer. 3,3,4). In diesem Verständnis hatte Marcion, als er um 140 n. Chr. 53 nach Rom kam, bereits die intensive Erfahrung seiner Ablehnung durch kirchliche Autoritäten mitgebracht. Diese Information dient Harnack zur Erklärung für den Zeitraum von vier oder fünf Jahren, in denen Marcion offensichtlich ohne größere Probleme Teil der römischen Gemeinde war. 54 Diese Phase stellt in der Tat eine Schwierigkeit für eine biographisch plausible Erklärung dar, wenn die Trennung auf theologischen Differenzen beruhte. Harnack hat diese Schwierigkeit gesehen und lässt Marcion daher in Rom zunächst behutsam auftreten: Die Gemeinde musste seine deviante Theologie nicht gekannt haben, und wenn doch, musste sie nicht sofort tätig werden; sein Geldgeschenk könnte dabei eine Rolle gespielt haben; auch gebe es »eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß M. sich zuerst in Rom noch ganz zurückgehalten hat, um in ernster Arbeit die Grundlagen seiner Lehre aufs sicherste auszubilden«, die in der Herstellung des »echten Textes« des Evangeliums und der Paulusbriefe sowie der »Abfassung des großen kritischen Werkes, ›Antithesen‹« bestand. 55 ______________________________ 51 Vgl. H ARNACK 21-30. 52 H ARNACK 23f hält die Überlieferung von Marcions bischöflichem Vater (Epiph. 42,1,4) für akzeptabel (eine »auch sonst unverdächtige Nachricht«), auch den Hinweis auf die Exkommunikation durch seinen Vater, nicht aber die dieser zugrundeliegende Nachricht von der Verführung einer christlichen Jungfrau (»polemische Topik«). 53 Das Datum ergibt sich aus Epiph. 42,1,7: Marcion sei nach dem Tod des Hyginus nach Rom gekommen (vgl. PsTert., Haer. 6). Aus dieser Nachricht ist viel herausgesponnen worden: Weil Epiphanius in diesem Abschnitt keinen Bischof erwähnt und Marcion später, bei seiner Konfrontation mit der römischen Gemeinde, nicht mit dem Bischof, sondern nur mit den Presbytern zusammentreffen lässt, hat man auf eine Sedisvakanz geschlossen. Vgl. M AY , a. a. O. (Markions Bruch …) 76 mit Anm. 12. 54 Diese anfängliche Übereinstimmung wird auch durch den von Tertullian erwähnten Brief bestätigt (Marc. 1,1,6; 4,4,3; Carn., 2,4): Marcion habe »anfänglich unseren Glauben geteilt« (1,1,6: primam illius fidem nobiscum fuisse; vgl. 4,4,3: Quid nunc, si negaverint Marcionitae primam apud nos fidem eius, adversus epistulam quoque ipsius? Quid si nec epistulam agnoverint? ). 55 H ARNACK 25f. § 15: Antworten und Fragen 415 Dies wären in der Tat »umfangreiche und gewaltige Aufgaben«; erst nachdem Marcion sie erledigt hatte, habe er die Presbyter aufgefordert, »zu dieser seiner Arbeit und damit zu seiner Lehre Stellung zu nehmen.« 56 Harnack versteht diese Auseinandersetzung als »förmliche Verhandlung« und einen »eindrucksvollen Vorgang«: »Es wird für immer denkwürdig bleiben, daß auf der ersten römischen Synode, von der wir wissen, ein Mann vor den Presbytern gestanden hat, der ihnen den Unterschied von Gesetz und Evangelium darlegte und ihr Christentum für ein judaistisches erklärte. Wer denkt hier nicht an Luther! « 57 Abgesehen von dieser »kühnen Modernisierung« 58 und den anachronistischen Eintragungen 59 fallen an Harnacks Marcion-Portät zwei Aspekte auf: Zum einen geht Harnack davon aus, dass Marcion schon als Christ nach Rom kam, und zwar mit einer »devianten« Theologie, die er allerdings zunächst verschleierte oder doch wenigstens nicht prominent vertrat. Die neuere Marcionforschung ist an dieser Stelle aufgrund der Quellenlage weniger zuversichtlich. Im Hintergrund steht die Frage, wie die beiden wichtigen Traditionen mit biographischen Informationen über Marcion sich zueinander verhalten: Neben der am ausführlichsten durch Epiphanius vertretenen (vielleicht auf Hippolyts Syntagma zurückgehenden) Überlieferung stehen die Angaben Tertullians, der davon auszugehen scheint, dass Marcion erst in Rom Christ wurde. 60 In diesem Fall könnte man annehmen, dass Marcion sich (möglicherweise unter dem Einfluss Kerdons) 61 sukzessive von der Gemeinde, ihrer Theologie und ihrer Schriftgrundlage entfernt hat. Dieses Problem beruht also auf einer kritischen Abwägung der unterschiedlichen Quellen. Daneben ______________________________ 56 A. a. O. 26. 57 A. a. O. 26f. 58 M AY , a. a. O. 79. 59 Zu diesen gehört neben der Marcion-Luther-Analogie vor allem die Auseinandersetzung mit Karl Barth in dem berühmten Briefwechsel in der »Christlichen Welt« von 1923 sowie Barths Reaktion auf Harnacks »Marcion«, der nicht ohne Eitelkeit »gewisse frappante Parallelen« einräumte (K. B ARTH , Der Römerbrief, München 2 1924, XVII). Vgl. auch B. A LAND , Marcion. Versuch einer neuen Interpretation, ZThK 70 (1973), 420-447: 421f. 60 Das scheint Tertullian zu implizieren. Vgl. Marc. 1,1,6; 4,4,3 (in primo calore fidei); Carn. 2,4; Praescr. 30,2 (in catholicae primo doctrinam credidisse apud ecclesiam Romanensem); zu dieser Deutung s. M AY , a. a. O. 76 mit Anm. 8. Die neuere Marcionforschung geht in der Folge von J. R EGUL , Die antimarcionitischen Evangelienprologe, Freiburg/ Brsg. 1969, 177-195, gegen Harnack davon aus, dass die teilweise stark legendarischen Nachrichten über die vorrömischen Differenzen zwischen Marcion und der Kirche (in Pontus und Kleinasien) allesamt aus einer Tradition hervorgehen und nur zum Teil aus Hippolyts Syntagma stammen können. 61 Die altkirchlichen Kerdonnotizen (am wichtigsten sind Iren., Haer. 1,271; 3,4,3; Tert., Marc. 1,2,3; 4,17,11; PsTert., Haer. 6; Hipp., Ref. 7,10.37; Epiph. Pan. 42,1,1-7; 3,1f) sind bei H ARNACK 31*-39* übersichtlich zusammengestellt. Sie stammen durchweg aus dem Zusammenhang der häresiologischen Marcionreferate und gehen möglicherweise auf dieselbe Quelle zurück. Dass diese Quelle Justins verlorenes »Syntagma gegen alle Häresien« sei, wurde schon lange vermutet, lässt sich aber nicht erhärten. Vgl. G. M AY , Markion und der Gnostiker Kerdon, in: ders., Markion, Mainz 2005, 63-73: 64 mit Anm. 4 und 5. 416 V. Ausblick fällt auf, dass Harnack Marcion in erster Linie als theologischen Reformer versteht, der seine theologischen Überzeugungen mitbrachte, sie reflektierte und durch seine Textherstellung absicherte. Aber nach allem, was wir wissen, haben diese im engeren Sinn dogmatischen Fragen in der Auseinandersetzung keine Rolle gespielt. Vielmehr stand (nach Epiph. 42,2) anhand der Interpretation von Lk 5,36f die Frage nach der Vereinbarkeit von Alt und Neu im Vordergrund. Harnack erklärt dazu lapidar: »M. hat den Römern nicht vom Gott des Lichts und der Finsternis[,] nicht vom Gegensatz des Geistes und der Materie o. ä. gesprochen, sondern von dem Gegensatz des AT.s und des Evangeliums, der die Annahme zweier Götter forderte.« 62 Für die Frage nach der Bedeutung Marcions für die Entstehung der Kanonischen Ausgabe sind diese beiden Aspekte im Auge zu behalten: Was war der primäre Streitpunkt zwischen Marcion und den Römern? Und: Wie kann man den sukzessiven Entfremdungsprozess zwischen beiden verstehen? Wie immer diese Fragen zu beantworten sind: Die eine entscheidende Annahme dieses Modells hat sich als obsolet erwiesen, dass nämlich Marcion zur Untersetzung seiner theologischen Ansicht das kanonische Lk bearbeitet hat. Die literarkritische Analyse (§§ 6-8) hat gezeigt, dass diese Verhältnisbestimmung zwischen *Ev und Lk nicht zutrifft und umgekehrt werden muss: Das kanonische Lk benutzt (redigiert, verändert und ergänzt) *Ev. Die Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte der Evangelien (§§ 10-13) hat darüber hinaus ergeben, dass alle kanonischen Evangelien von *Ev abhängig sind, und zwar bereits in ihrer vorkanonischen Textgestalt (*Mk, *Mt, *Joh), deren Existenz aufgrund der textgeschichtlichen Analysen durch den Nachweis der Kanonischen Redaktion (§ 14) wahrscheinlich gemacht wurde. Da Marcion das kanonische Lk-Evangelium nicht redigiert hat, fehlt Harnacks Marcionbild die entscheidende Grundlage: Marcion hat nicht versucht, die Kirche durch die Wiederherstellung der ursprünglichen Schriftgrundlage zu ihren wahren Anfängen zurückzuführen und ist folglich auch nicht der (letztlich gescheiterte) Reformer oder gar Reformator der entstehenden Kirche, als den Harnack ihn gesehen hat. b. Marcion als Autor von *Ev und Begründer der Jesusüberlieferung Auf diese Weise lässt sich Marcions historische Rolle und theologische Bedeutung also nicht bestimmen. Aber die Frage nach seinem Anteil an der Entstehung der Kanonischen Ausgabe lässt sich noch anders beantworten. Markus Vinzent hat kürzlich eine aufregende und wirklich staunenswerte These vertreten: Marcion sei der Verfasser von *Ev. 63 Vinzent geht davon aus, dass Marcion der Urheber des ältesten Evangeliums ist und dass die kanonischen Evangelien erst in Reaktion auf ______________________________ 62 H ARNACK 27 Anm. 1. 63 M. V INZENT , Marcion and the Dating of the Synoptic Gospels, Leuven u. a. 2014. § 15: Antworten und Fragen 417 dieses Evangelium Marcions entstanden sind. Während Marcion bei Harnack und vielen anderen als Redaktor des Lk ein Reformer des entstehenden Christentums ist, wird er bei Vinzent zum Autor des ältesten Evangeliums und zum eigentlichen Begründer des Christentums, der erstmalig die Jesustradition geschaffen und sie neben die Paulusüberlieferung gestellt hat. Eine kritische Auseinandersetzung mit dieser These, die ihrer Tragweite und ihrer Begründung auch nur halbwegs gerecht zu werden versucht, kann an dieser Stelle nicht geleistet werden: Das muss der zukünftigen Diskussion vorbehalten bleiben. Aber ein erster Hinweis auf die Begründung und eine erste Einschätzung sind angebracht, weil die These von Marcions Urheberschaft von *Ev den thematischen Kern dieser Untersuchung aufs Engste berührt. In dieser Hinsicht sind zunächst zwei Beobachtungen zum Verhältnis zwischen *Ev und den kanonischen Evangelien zu nennen, die sich mit den Ergebnissen dieser Untersuchung decken. Vinzent weist zu Recht darauf hin, dass es für die Existenz der Evangelien aus der Zeit vor Marcion (also vor 144 n. Chr.) tatsächlich kein einziges belastbares Zeugnis gibt. Diese Beobachtung hat oben bereits im Zusammenhang der Datierung der vorkanonischen Evangelien eine Rolle bei der Bestimmung des terminus ante quem gespielt (o. S. 411ff): Das erste datierbare Testimonium für die Existenz der Evangelien überhaupt ist das Zeugnis Justins. Die Zuversicht, mit der die Entstehung der Evangelien ganz weitgehend in das letzte Drittel des 1. Jh. datiert wird, hat nicht nur keinen konkreten Anhalt, sondern hängt von einer bestimmten Vorstellung der Evangelienüberlieferung ab, die sich nicht stützen lässt. Daneben vertritt Vinzent die Annahme, dass alle kanonischen Evangelien das marcionitische Evangelium voraussetzen und am besten als Reaktion auf dieses Evangelium zu verstehen sind. Diese Überlegung deckt sich im Kern mit dem Ergebnis der überlieferungsgeschichtlichen Rekonstruktion, die ja die literarische Abhängigkeit aller Evangelien von *Ev begründet. Wichtig und weiterführend sind dann jedoch einige anschließende Beobachtungen zu patristischen Texten. Dies ist zunächst der sog. Antimarcionitische Prolog zu Joh, der einen wichtigen Hinweis auf Papias von Hierapolis enthält. 64 In Vinzents Textherstellung (und Interpunktion) lautet der Text folgendermaßen: »Das Evangelium des Johannes wurde veröffentlicht und den Kirchen von Johannes gegeben, als er noch am Leben war, wie der Hieropolitaner mit Namen Papias, der liebe Schüler des Johannes, in den Erläuterungen, das heißt in den letzten fünf Büchern berichtet. Marcion, der Häretiker, aber schrieb ein Evangelium/ beschrieb ein Evangelium [als ein falsches], wogegen Johannes das wahre korrekt diktierte. Da er [Marcion] von ihm [Johannes] widerlegt worden war, weil er ______________________________ 64 Vgl. V INZENT , a. a. O. 14ff, der eine neue kritische Ausgabe des Textes mit einer Analyse der komplizierten Überlieferungslage liefert. Zu diesem Prolog vgl. auch J. R EGUL , Die antimarcionitischen Evangelienprologe, Freiburg/ Brsg. 1969, 34 (Text) und die Diskussion, bes. 171ff. 418 V. Ausblick [Johannes] die Antithesen gegen sich zur Kenntnis genommen hatte, hat Johannes ihn zurückgewiesen. Er [Marcion] hatte tatsächlich Schriften oder Briefe zu ihm gebracht von den Brüdern, die in Pontus waren.« 65 Dieser Text wirft etliche Schwierigkeiten auf, insbesondere die unklaren grammatikalischen Beziehungen, die hier durch die eckigen Klammern vereindeutigt werden. Die ältere Forschung hatte diese Beziehungen ganz überwiegend anders bestimmt und dies durch eine andere Interpunktion deutlich gemacht. Nach dieser gängigen Deutung wäre Papias Subjekt der Aussage descripsit vero … recte verum, wogegen mit Marcion hereticus … ab Iohanne ein eigener, neuer Satz beginnt: »Er [Papias] schrieb aber das wahre Evangelium nach dem Diktat des Johannes korrekt nieder. Der Härektiker Marcion wurde aber, nachdem er von ihm wegen seiner gegensätzlichen Meinungen gerügt worden war, von Johannes abgesetzt.« Für Vinzents Deutung, die hier nicht im Einzelnen darzulegen ist, spricht vor allem, dass sie die weiteren Schwierigkeiten der Textüberlieferung mit berücksichtigt und die zahlreichen, z. T. durchaus willkürlichen Entscheidungen bei der Textherstellung anderer Ausgaben zurückweist. Nach seiner Interpretation gibt dieser Prolog zu Joh folgende Informationen: (1) Johannes hat dem Papias sein Evangelium zur gleichen Zeit diktiert, zu der Marcion sein eigenes geschrieben hat (descripsit). (2) Das wahre Evangelium ist nicht das Evangelium Marcions, sondern das Johannesevangelium. (3) Marcion und Johannes sind sich begegnet. (4) Johannes hat Marcions contraria gegen sich zur Kenntnis genommen und ihn widerlegt: Am ehesten durch sein eigenes Evangelium, das dann eine Reaktion auf Marcions Evangelium ist. An dieser Deutung ist in erster Linie wichtig, dass der Antimarcionitische Prolog behauptet, dass Marcion der Verfasser eines Evangeliums sei (descripsit), nicht der Interpolator oder Verfälscher des kanonischen Lk, als den ihn die Häresiologen ansonsten sehen. Daneben wird das Problem sichtbar, wie der Prolog sich das Verhältnis zwischen Marcion und Johannes genau vorstellt: Auf der einen Seite habe Marcion contraria gegen Johannes geäußert, also am ehesten seine »Antithesen«, die mit dem Evangelium verbunden waren; deshalb habe Johannes ihn zurückgewiesen. Auf der anderen Seite scheint Marcions Evangelium auf ______________________________ 65 Evangelium Iohannis manifestatum et datum est ecclesiis ab Iohanne adhuc in corpore constituto, sicut Papias nomine, Hierapolitanus, discipulus Iohannis carus, in exotericis, id est in extremis, quinque libris retulit. Descripsit vero Evangelium, dictante Iohanne recte verum, Marcion hereticus. Cum ab eo fuisset improbatus, eo quod contraria sentiebat, abiectus es ab Iohanne. Is vero scripta vel epistolas ad eum pertulerat a fratribus, qui in Ponto fuerant. Textgrundlage ist die Evangelienhandschrift Vat. Reg. lat. 14 (s. X). Vgl. A. W ILMART , Codices Reginenses Latini 1, Rom 1937, 37-39 (bei Vinzent »R«, bei Regul »V2«). § 15: Antworten und Fragen 419 das Johannesevangelium zu reagieren. 66 Vinzents Lösung dieser Schwierigkeit 67 setzt voraus, dass Marcion sein Evangelium in zwei Stufen publizierte. Dafür ist eine zweite Beobachtung zu Tertullians Argumentation über das Alter des kanonischen Lk im Verhältnis zu *Ev, die bereits oben (S. 42f mit Anm. 36) zur Sprache kam, von größter Bedeutung. Im Zusammenhang seines Nachweises, dass sein Lk-Evangelium älter sei als *Ev, führt Tertullian aus, dass immer das Richtige dem Falschen, das Wahre der Lüge usw. vorausgehen müsse (4,4,1) und fährt dann fort: »Denn im gleichen Ausmaß, in dem das Falsche eine Korruption des Wahren ist, muss die Wahrheit notwendigerweise dem Falschen vorangehen: Eine Sache muss früher sein als das, was mit ihr geschieht, und der Grundstoff früher als seine Nachäffung. Wie absurd wäre es anders: Dass nämlich - wenn wir unser Evangelium als älter bewiesen haben, Marcions aber später ist - unseres als gefälscht gilt, bevor es seine Grundlage von der Wahrheit hatte; oder dass Marcions Evangelium eine Nachahmung durch unseres erfahren haben sollte, noch bevor jenes (sc. Marcions) veröffentlicht war; und wie absurd wäre es schließlich, wenn das für wahrer gehalten würde, das später ist, nachdem doch schon so viele Werke und so große Dokumente im Zeitalter der christlichen Religion veröffentlicht wurden, welche schlechterdings nicht hätten veröffentlicht werden können ohne die Wahrheit des Evangeliums, und das heißt: vor der Wahrheit des Evangeliums.« 68 In Frage steht das Verständnis der hervorgehobenen Passage, »dass Marcions [Evangelium] eine Nachahmung durch unseres erfahren haben sollte, noch bevor es veröffentlicht war«. Nach dem oben dargelegten Verständnis argumentiert Tertullian zirkulär: Weil das Echte dem Verfälschten notwendigerweise vorangehen muss, ist das kanonische Evangelium das »wahre«, weil Marcions Evangelium es verfälscht. Dabei wird Marcionis [evangelium] ante quam et editum auf den (von Tertullian ganz selbstverständlich angenommenen) späteren Zeitpunkt der Bearbeitung durch Marcion bezogen. Vinzent versteht die fragliche Formulierung anders; er bezieht editum auf die Veröffentlichung von Marcions Evangelium und versteht: »Marcion’s (gospel) be ______________________________ 66 Das ist die übliche Verhältnisbestimmung, die Vinzent hier mit Verweis auf Tert. 4,3,2f usw. teilt (a. a. O. 19f). 67 A. VON H ARNACK , Die ältesten Evangelien-Prologe und die Bildung des Neuen Testaments, in: ders., Kleine Schriften zur Alten Kirche II, Leipzig 1980, 803-822: 808 [327] erklärte lapidar: »›ab Iohanne‹ nach ›abiectus est‹ ist unerträglich, da der Satz chronologisch und sachlich unsinnig ist.« 68 Tert. 4,4,1f: In quantum enim falsum corruptio est veri, in tantum praecedat necesse est veritas falsum. Prior erit res passione, et materia aemulatione. (2) Alioquin quam absurdum, ut, si nostrum antiquius probaverimus, Marcionis vero posterius, et nostrum ante videatur falsum quam habuerit de veritate materiam, et Marcionis ante credatur aemulationem a nostro expertum quam et editum, et postremo id verius existimetur quod est serius, post tot ac tanta iam opera atque documenta Christianae religionis saeculo edita, quae edi utique non potuissent sine evangelii veritate, id est ante evangelii veritatem. 420 V. Ausblick believed to have suffered plagiarism through ours, before it [= Marcion’s] was even published.« 69 Vinzent nimmt also für die Herstellung von *Ev einen Vorgang an, der dem der Publikation der zweiten Auflage von Tertullians Adversus Marcionem entsprochen hätte: Diese Auflage sei vor ihrer Fertigstellung (vor allem: ohne Tertullians Imprimatur) gestohlen und in einer unfertigen Fassung verbreitet worden, wodurch sich Tertullian zur Anfertigung der dritten (uns vorliegenden) Auflage veranlasst sah. 70 Analog dazu sei Marcions Evangelium (durch die »katholische« Rezeption) benutzt worden, »before Marcion had ›even published‹ (editum) his Gospel. It follows from this information that Marcion’s own Gospel was taken by several people, excerpted, copied, reworked, interpolated and made public, even before Marcion himself as author had published his original version.« 71 Die Bedeutung dieser Hinweise liegt darin, dass sie als Eckpunkte für die Interpretation dienen könnten, von denen aus die vielen anderen, ambivalenten Hinweise eine spezifische Richtung erhielten; also etwa, wenn Tertullian immer wieder einfach von »Marcions Evangelium« (Marcionis) spricht oder wenn er Marcion zwar mit Blick auf die paulinischen Briefe »Verfälschung« vorwirft, ihn aber im Blick auf das Evangelium als »Evangelisten« (evangelizator) bezeichnet 72 und so weiter. Dass das hier angedeutete Verständnis wesentlich auf Belegen beruht, die entweder hinsichtlich ihrer Textüberlieferung problematisch oder in ihrer Deutung mehrdeutig sind, kann nicht als Argument gegen sie angeführt werden: Es ist ratsam, die notwendige und vermutlich in vielerlei Hinsicht aufschlussreiche Diskussion nicht vorab durch den Verweis auf einen langanhaltenden Forschungskonsens zu unterdrücken. Im Licht der Ergebnisse dieser Untersuchung bleibt Vinzents These von Marcions Urheberschaft des ältesten Evangeliums ambivalent. Auf der einen Seite gibt es eine weitreichende Übereinstimmung: (1) Das marcionitische Evangelium ist das älteste Evangelium überhaupt; (2) die kanonischen Evangelien sind von diesem Evangelium literarisch abhängig; (3) in einer ganzen Reihe von inhaltlichen Aspekten lässt sich in den kanonischen Evangelien (vor allem in Lk) eine antimarcionitische Tendenz erkennen; (4) die kanonischen Evangelien lassen sich nicht begründet schon ins 1. Jh. datieren. Von daher ist die Annahme der marcionitischen Verfasserschaft von *Ev durchaus denkbar: So, wie Vinzent sich Marcions Rolle bei der Entstehung der Evangelien vorstellt, könnte es gewesen sein. ______________________________ 69 A. a. O. 95ff. 70 Tert. 1,1,1f; vgl. o. S. 47 mit Anm. 47; s. V INZENT , a. a. O. 104f, mit weiteren Belegen für die Differenz zwischen (unautorisierter) Verbreitung und regelrechter Publikation. 71 A. a. O. 98. 72 Tert. 4,4,5; vgl. 4,2,5. § 15: Antworten und Fragen 421 Auf der anderen Seite bleiben Unterschiede. Am wichtigsten ist die Existenz der vorkanonischen Fassungen der Evangelien, die sich durch die Beobachtungen zur Kanonischen Redaktion nahegelegt hat, in Verbindung mit der Interpretation von Justins Zeugnis. Vinzent geht davon aus, dass Justin ein vorkanonisches Stadium der (Evangelien-) Überlieferung bezeugt. 73 In diesem Fall lassen sich die von ihm erwähnten »Erinnerungen der Apostel« 74 auf die vorkanonischen Evangelien beziehen; die Kanonische Ausgabe wäre dann eine spätere Reaktion auf Marcion und zwischen Justin und Irenaeus zu datieren, also etwa in die Zeit zwischen (ca.) 155 und 175. Allerdings hat sich gezeigt, dass Justin bereits die Kanonische Ausgabe voraussetzt (o. S. 406ff). Daher bleibt für den von Vinzent angenommenen Prozess dann doch sehr wenig Raum. Denn in diesem Fall muss eine ganze Reihe von Entwicklungsschritten in dem einem Jahrzehnt vor der Entstehung der Ersten Apologie stattgefunden haben: Die erste (unveröffentlichte) Entstehung von Marcions Evangelium, die zum Bruch mit der römischen Gemeinde führte; die »unautorisierte« Fortschreibung diese Evangeliums durch die vorkanonischen Evangelien; Marcions Reaktion darauf mit der regelrechten Publikation »seines« Evangeliums; und schließlich auch noch die Replik darauf mit der Herstellung (und Publikation) der Kanonischen Ausgabe. Dieses Szenario ist kaum denkbar. Und es würde noch unwahrscheinlicher, falls die vorkanonischen Evangelien tatsächlich bereits zu einer protokanonischen Sammlung verbunden waren und diese möglicherweise sogar schon in Versionen weite Verbreitung gefunden hatte. Gerade angesichts der weitgehenden Übereinstimmungen zwischen Vinzents These und den Ergebnissen dieser Untersuchung ist das Gewicht der Differenzen (und der jeweils vorgetragenen Argumente) erst noch genauer auszuloten: Das ist eine Aufgabe für die Zukunft. c. Marcion als Rezipient von *Ev: Katalysator für die Kanonische Ausgabe Wenn Marcion aber weder als Redaktor eines älteren Textes noch als originärer Verfasser von *Ev in Frage kommt: Als was dann? Und wie ist die Trennung von der römischen Gemeinde dann vorzustellen? Am nächsten liegt die Vermutung, dass Marcion von den Häresiologen nur deshalb mit *Ev in Verbindung gebracht wurde, ______________________________ 73 Vgl. a. a. O. 26-45. 74 Vgl. Justin, 1Apol. 66,3; 67,3, sowie rund ein Dutzend Belege im Dialog mit Tryphon (Dial. 100,4; 105,1 usw.). Mit dem Terminus ἀπομνημονεύματα verweist Justin auf die verbreitete Gattung der memorabilia, stellt aber klar, dass diese »Erinnerungen« den Titel »Evangelien« tragen, wie 1Apol. 66,3 deutlich macht: »Die Apostel haben nämlich in den von ihnen hergestellten Erinnerungen, die Evangelien genannt werden (ἐν τοῖς γενομένοις ὑπ’ αὐτῶν ἀπομνημονεύμασιν, ἃ καλεῖται εὐαγγέλια), folgendermaßen überliefert …«. Vgl. dazu L. A BRAMOWSKI , Die »Erinnerungen der Apostel« bei Justin, in: P. Stuhlmacher (Hg.), Das Evangelium und die Evangelien, Tübingen 1983, 341-353. 422 V. Ausblick weil er dieses Evangelium rezipiert hat: Marcion wäre in dieser Sicht überhaupt nicht schriftstellerisch oder redigierend tätig geworden, sondern hätte *Ev nur einfach benutzt. Unter dieser Voraussetzung, die als heuristische Annahme der gesamten Untersuchung zugrunde liegt, lässt sich der Prozess der Trennung Marcions von der römischen Gemeinde und die »Sezession« der Marcioniten auf unterschiedliche Weise bestimmen, je nachdem, ob Marcion bereits als Christ nach Rom kam (wie es die vor allem von Epiphanius vertretene Tradition voraussetzt) oder ob er erst dort Christ wurde, wie Tertullian annimmt. 1. Im ersten Fall könnte man sich vorstellen, dass Marcion die für ihn bezeugte Schriftensammlung aus Pontus mit nach Rom brachte. Neben der Sammlung von zehn Paulusbriefen (ohne Past und Hebr), deren genaue Wachstumsgeschichte im Dunkeln liegt und hier auch nicht weiter eruiert zu werden braucht, gehörte zu dieser Schriftensammlung auch das alte, anonyme Evangelium: *Ev. Marcion hätte diese Sammlung weder erstellt noch bearbeitet, sondern sie einfach als die Grundlage akzeptiert, die ihm überkommen und die im Pontus in Gebrauch war. Man kann sich für Marcion gut ein theologisches Profil vorstellen, das schon in dieser vorrömischen Zeit Elemente seiner später als häretisch bezeichneten Theologie enthielt: Ein Desinteresse an den jüdischen Wurzeln des Christentums, vielleicht sogar deren explizite Ablehnung, sofern diese heilsgeschichtliche Verbindung zwischen Israel und der christlichen Kirche schon dort ein Gegenstand der theologischen Diskussion war. In Verbindung damit kann man auch ohne weiteres Unklarheiten im Gottesbild annehmen, die zur Annahme zweier göttlicher Prinzipien führte, die jeweils für ein »Werk«, die Schöpfung und die Erlösung, verantwortlich waren. Die Bedeutung Christi läge dann darin, diesen bonus deus als seinen Vater offenbart und diejenigen, die an ihn glauben, durch seine Selbsthingabe von der vergänglichen Welt (und der Herrschaft des creator) losgekauft zu haben. Wenn man diese Hauptpunkte der häresiologischen Kritik des 2. und 3. Jh. zusammennimmt, kommt man kaum um das Urteil herum: »Marcions Lehre ist schlicht«, 75 sie enthält nichts, was nicht auch sonst im 2. Jh. vorstellbar ist. Wenn Marcion mit der von ihm rezipierten Schriftensammlung und einer solchen Theologie nach Rom kam, muss man nicht damit rechnen, dass er sofort auf Widerspruch traf. Seine theologischen Vorstellungen müssen nicht grundsätzlich auf Ablehnung getroffen sein, und seine Schriftensammlung bot noch weniger Anstoß: Sowohl die Paulusbriefe als auch das Evangelium werden auch in Rom bekannt gewesen sein - mit dem Unterschied, dass man vielleicht in Rom daneben auch (die? ) andere(n) vorkanonische(n) Evangelien kannte. Die römische Gemeinde hätte vielleicht Marcions Theologie als etwas einseitig und seine Schriftgrundlage ______________________________ 75 B. A LAND , Art. Marcion, TRE 22 (1991), 89-101: 93. § 15: Antworten und Fragen 423 als unvollständig betrachtet, aber beides wäre kein Grund gewesen, ihm die Aufnahme zu verweigern; schon gar nicht, wenn er sie mit einer üppigen Morgengabe garnierte. Auf diese Weise lässt sich gut verstehen, dass Marcion zunächst die fides nostra geteilt hat, auf die der von Tertullian bezeugte Brief hindeutet. Sofern die Notizen über Marcions Verbindung zu Kerdon zutreffen (was hier offenbleiben kann), könnte man sich gut vorstellen, dass Marcion sich unter dessen Einfluss theologisch weiterentwickelte und dabei auf die Korrelation zwischen verschiedenen theologischen Optionen (Gotteslehre und Kosmologie) und der unterschiedlichen Schriftgrundlage aufmerksam wurde. So könnte aus dem Nebeneinander unterschiedlich umfangreicher Schriftensammlungen ein exklusiver Gegensatz geworden und Marcion in einen immer größeren Gegensatz zu der Gemeinde geraten sein, bis hin zu der Trennung im Jahr 144. In diesem Fall wäre die Kanonische Ausgabe der Versuch, in einer sich verschärfenden Debatte gegenüber der von Marcion vertretenen Theologie die jüdischen Wurzeln des Christentums und seine heilsgeschichtliche Dimension nicht nur theologisch zu behaupten, sondern sie auch durch eine erweiterte Schriftgrundlage zu begründen. Marcions Bedeutung für die Entstehung der Kanonischen Ausgabe bestünde dann darin, dass er eine Schriftensammlung mit regionaler Geltung in ein Umfeld gebracht hätte, in dem auch andere Evangelien bekannt waren: Erst die (sukzessive? ) Offenlegung der jeweiligen theologischen Implikationen hätte dann zu der Kontroverse geführt, in der materiale theologische Differenzen mit einem Streit über die richtige Schriftgrundlage verbunden waren. In dieser Perspektive erscheint die Kanonische Ausgabe des Neuen Testaments als die explizite Reaktion auf diese doppelte Kontroverse. 2. Geringfügig anders stellt sich das Problem dar, wenn man Tertullians Hinweis auf Marcions »erstes Glaubensfeuer« so versteht, dass Marcion erst in Rom Christ wurde. 76 Die Auseinandersetzung über die richtige Schriftgrundlage kann dann nicht auf das Zusammentreffen regional unterschiedlicher Schriftensammlungen zurückgeführt werden, sondern müsste als ein Phänomen innerhalb der römischen Gemeinde(n) verstanden werden. Dies ist ohne weiteres denkbar, wenn auch in einem anderen Szenario. Berücksichtigt man dafür die Vermutungen über die Existenz einer protokanonischen Evangeliensammlung (o. S. 397ff), verändert sich das Gesamtbild in einigen Zügen. ______________________________ 76 Zu Marcions primus calor fidei vgl. o. S. 415 Anm. 60. Für diese Annahme spricht, dass die i. W. durch Epiphanius bezeugten Differenzen zwischen Marcion und der Kirche in Pontus (und in Kleinasien? ) alle Elemente der Ketzerpolemik aufweisen. Sie sind verständlich als Versuch, die Abgrenzung von Marcion als ein ökumeneweites Phänomen darzustellen und ihm ein wesenhaftes Defizit an kirchlichem Gemeinsinn zu bescheinigen. 424 V. Ausblick In diesem Fall muss man davon ausgehen, dass *Ev in Rom bekannt war (und wohl auch mit und neben den zehn vorkanonischen Paulusbriefen gelesen wurde), dass aber daneben bereits eine Fortschreibung der Evangelienüberlieferung eingesetzt hatte. Marcions christliche Entwicklung in der Metropole mit einer Vielfalt (auch divergierender) theologischer Vorstellungen und der Existenz verschiedener Schriften ist leicht vorstellbar, ebenso, dass aus einer pluralen Evangelienüberlieferung zunehmend eine Konkurrenz zwischen dem einen Evangelium und einer protokanonischen Sammlung wurde. Unter diesen Voraussetzungen wäre Marcion in erster Linie als (besonders prominenter) Repräsentant in einer kontroversen Entwicklung zu verstehen, die bereits vor oder neben ihm eingesetzt haben konnte und die dann zu der öffentlichen Auseinandersetzung führte, in der Marcion die Unvereinbarkeit des einen wahren Evangeliums gegenüber anderen (vielleicht schon zu einer Sammlung verbundenen) vertrat, die mehr oder weniger deutlich eine unauflösliche Beziehung der Geschichte Jesu zur Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel behaupteten. Sofern Marcion seine theologischen Überzeugungen nicht als Einzelperson, sondern als Repräsentant einer breiteren Strömung vertrat und sein Insistieren auf dem einen wahren (und alten) Evangelium keine individuelle Option war, sondern als Parteinahme in einer weiter gefassten Auseinandersetzung zu verstehen ist, werden die Nachrichten über die große Zahl derer, die ihm folgten, 77 ohne weiteres verständlich: Was als »Exkommunikation« Marcions erscheint, war eine Spaltung der römischen Gemeinde, die letztlich alle Gemeindeglieder betraf. Dass alle Beteiligten in erster Linie an den theologisch umstrittenen Fragen interessiert waren (und sie auch in ihrer Tragweite verstanden), muss man nicht annehmen: Die Auseinandersetzung über das Profil der jeweiligen Schriften (-Sammlungen) war sehr viel konkreter erfahrbar und wird die meisten Beteiligten unmittelbarer betroffen haben. 3. In diesem Verständnis erscheint Marcion als Katalysator einer Entwicklung, die schon vor und unabhängig von ihm eingesetzt hatte: Die Erweiterung und Fortschreibung des ältesten Evangeliums durch die anderen vorkanonischen Evangelien, die vielleicht auch schon als Sammlung existierten und die (mehr oder weniger deutlich) auf die jüdischen Schriften als theologischen Orientierungspunkt bezogen waren. Nach dieser (selbstverständlich hypothetischen) Rekonstruktion der Entwicklung war Marcion weder der Reformator, der das entstehende Christentum zu seinen Ursprüngen zurückführen wollte, noch der Innovator, der die Kirche vor ganz neue Fragen stellte, sondern ein konservativer Bewahrer, der die Geltung des ______________________________ 77 Justin, der in großer zeitlicher Nähe zu Marcions Trennung von der römischen Gemeinde schreibt, erwähnt mehrfach die große Anhängerschaft: Marcion habe κατὰ πᾶν γένος ἀνθρώπων … πόλλους dazu gebracht, Lästerungen auszusprechen und Gott als Schöpfer des Alls zu leugnen« (1Apol. 26,5); vgl. 58,2: ᾧ (sc. Marcion) πολλοὶ πεισθέντες … § 15: Antworten und Fragen 425 althergebrachten Evangeliums einforderte und dies - offensichtlich als einziger oder wenigstens als besonders prominenter Vertreter - auch theologisch begründete. Diese Korrelation zwischen bestimmten theologischen Optionen und einer entsprechenden Schriftgrundlage scheint für Marcion charakteristisch gewesen zu sein. Sie erklärt auf der einen Seite, dass die Häresiologen die von Marcion verwendete Schriftensammlung so exklusiv mit ihm in Verbindung bringen, dass sie immer wieder von »seinem« Evangelium sprechen können, obwohl wir verstreute Zeugnisse besitzen, dass die Marcioniten mitnichten die einzigen waren, die dieses Evangelium benutzt haben, 78 und obwohl die Häresiologen Marcion immer wieder aus dem Text »seines« eigenen Evangeliums widerlegen können. Auf der anderen Seite scheint diese Korrelation zwischen Theologie und Schrift für die Erstellung einer Konkurrenzausgabe verantwortlich gewesen zu sein, die sich jetzt explizit von der marcionitischen Ausgabe abgrenzte, dazu auf die protokanonische Sammlung zurückgriff und die Notwendigkeit von mehreren »apostolischen« Evangelien begründete (Lk 1,1-4; Joh 21,25). In der Auseinandersetzung mit Marcion hat die entstehende Kirche vor allem die Korrelation von Schrift und Theologie gelernt: Dass legitime Theologie nur als Schriftauslegung möglich ist, ist Marcions bleibendes Erbe. * Auch, wenn anderes denkbar ist: So könnte es gewesen sein. Die Fragen, die sich in diesem Zusammenhang ergeben, liegen auf der Hand. Sie betreffen zum einen die Datierung der Evangelienüberlieferung. Denn es ist - auch ohne Vinzents These von Marcions Autorschaft des ältesten Evangeliums - gut denkbar, dass die vorkanonischen Evangelien erst seit der zweiten Hälfte der 130er Jahre (auch) als Reaktion auf den (zweiten) Jüdischen Aufstand entstanden sind: Dies ist eine Frageperspektive, die so bislang nur ganz gelegentlich (und wegen der Geltung der Zwei-Quellentheorie: ohne Aussicht auf breitere Rezeption) aufgeworfen wurde, die aber im methodischen Horizont des hier Entfalteten möglich ist. Sie würde für die Interpretation der Evangelien ungeahnte Perspektiven eröffnen. Daneben erscheint eine neue Bewertung von Marcions historischer und theologischer Bedeutung ______________________________ 78 Kelsos hatte (um 180, also etwa zu der Zeit, in der Irenaeus ganz eindeutig das kanonische Vier- Evangelienbuch bezeugt) davon gesprochen, dass Marcioniten, Valentinianer und die Anhänger des Lukanus den Text des Evangeliums verändern würden (Orig., Cels. 2,27); auch Irenaeus wirft den Valentinianern vor, nur Lk, aber nicht Act zu rezipieren (Haer. 3,15,1f; gemeint ist wohl: das ältere Evangelium ohne den Rahmen der Kanonischen Ausgabe). Vor allem Origenes führt diesen Vorwurf gegen innumerabiles haereses (Orig., Hom. in Lc 16,5) bzw. gegen omnes haeretici (Hom. in Lc 20,2) ins Feld. 426 V. Ausblick angezeigt. Die zwei Möglichkeiten, die hier knapp angedeutet wurden, sind keineswegs abschließend bewertet. Welche anderen Optionen darüber hinaus denkbar sind, muss die zukünftige Diskussion ergeben. Am wichtigsten sind die Fragestellungen im Umfeld der Kanonischen Ausgabe und ihrer Vorstufen: Lässt sich neben den vorkanonischen Evangelien auch eine protokanonische Evangeliensammlung wahrscheinlich machen? Ist auch für die in der marcionitischen Ausgabe enthaltenen Paulusbriefe eine kanonische Redaktion zu identifizieren? Und das hieße umgekehrt: Kann man mit dem hier an Marcions Evangelium erprobten methodischen Instrumentarium auch den vorkanonischen Textbestand der Paulusbriefe analysieren? 79 Lässt sich aus der Perspektive des antiken Buchwesens Genaueres über die Publikation der Kanonischen Ausgabe erfahren? 80 Die hier angedeuteten Fragestellungen lassen sich nicht (mehr) in den Grenzen der seit über 100 Jahren getrennten Disziplinen der Neutestamentlichen Wissenschaft und der Patristik beantworten: Sie erfordern eine disziplinäre Neuorientierung, weil sich aufgrund der überlieferungsgeschichtlichen Analyse der Forschungsgegenstand verändert hat. Zusammen mit der analogen Einsicht, dass auch Überlieferungs- und Textgeschichte methodisch integriert werden müssen (o. S. 403ff), markiert diese Erkenntnis den wesentlichen Ertrag der Untersuchung: Sie stellt nicht nur viele Einzelergebnisse in Frage, sondern auch die Fragestellungen, auf die sie antworteten. Diese Nötigung zu einer Weiterentwicklung der methodischen und disziplinären Gewohnheiten zeigt, wie weit der Weg von den Leistungen der exegetischen Pioniere des 19. und frühen 20. Jh. wegführt: Es gibt tatsächlich plura et remotiora zu erkunden, als diese gesehen hatten. 81 ______________________________ 79 Mehr dazu vgl. u. im Nachwort, S. 463f. 80 Diese Frage hat jetzt eine umfassende Bearbeitung erfahren: J. H EILMANN , Lesen in Antike und frühem Christentum, Tübingen 2020. 81 S. o. S. V, Anm. 1. Da s marcionitis che Evang elium in der Diskus sion: Ein Na chwort zur Methodologie Marcion und sein Evangelium haben Hochkonjunktur. Schon lange hat sich die Forschung nicht mehr so intensiv mit Marcion beschäftigt wie in den letzten Jahren, in denen in kurzer Folge mehrere große Monographien 1 und eine lange Reihe von Aufsätzen erschienen sind. Wie ein Blick in das Literaturverzeichnis zeigt, war das Interesse an Marcion nie ganz erloschen. Gleichwohl ist die dichte Folge von Untersuchungen zu Marcion, zu seiner Theologie, zum Text seiner Bibel und zu seiner Bedeutung für die Entstehung der christlichen Bibel in den letzten Jahren auffällig. So schätzt Dieter Roth, dass in den letzten zehn Jahren mehr einschlägige Arbeiten erschienen sind als in jedem beliebigen Jahrzehnt seit Harnacks Marcionbuch von 1924 oder gar »since the period of prolific Marcion scholarship in the 1840s and 1850s.« 2 Über die plötzliche Intensivierung der Forschung 3 hinaus gibt es enge Parallelen zwischen diesen beiden Forschungsphasen. Denn damals wie heute tangiert der Diskurs, in dessen Zentrum das marcionitische Evangelium steht, Grundsatzfragen wie die Entstehung der Evangelien, des Neuen Testaments, des frühen Christentums überhaupt. Und ebenfalls damals wie heute sind für die stark divergierenden Lösungsvorschläge nicht so sehr unterschiedliche Einschätzungen materialer Probleme verantwortlich als vielmehr fundamentale Differenzen im methodischen Ansatz. Der Vergleich mit dieser frühen Phase der Marcionforschung ist also durchaus angebracht. Beruhigend ist er nicht. Denn Verlauf, Rezeption und Wirkung des Diskurses im 19. Jh. sind kein Ruhmesblatt für die neutestamentliche Forschung: Viele kluge und weiterführende Beobachtungen und Überlegungen haben nicht die Würdigung erfahren, die sie verdient hätten, sondern wurden in der schnell unübersichtlich gewordenen Diskussion übersehen und sind untergegangen. ______________________________ 1 Ich denke dabei (in chronologischer Folge) an: J. B. T YSON , Marcion and Luke-Acts, Columbia 2006; V. L UKAS , Rhetorik und literarischer ›Kampf‹, Frankfurt/ M. u. a. 2008; D. T. R OTH , Towards a New Reconstruction of the Text of Marcion’s Gospel (Ph. D. thesis), Edinburgh 2009; S. M OLL , The Arch-Heretic Marcion (WUNT 250), Tübingen 2010; J. B E D UHN , The First New Testament, Salem (OR), 2013; M. V INZENT , Marcion and the Dating of the Synoptic Gospels, Leuven u. a. 2014; U. M. S. R ÖHL , Der Paulusschüler Markion, Marburg 2014; D. T. R OTH , The Text of Marcion’s Gospel, Leiden - Boston 2015; J. M. L IEU , Marcion and the Making of a Heretic, New York 2015; O. Z WIERLEIN , Die antihäretischen Evangelienprologe und die Entstehung des Neuen Testaments, Stuttgart 2015; M. V INZENT , Tertullian’s Preface to Marcion’s Gospel, Leuven 2016; P. A. G RAMAGLIA , Marcione e il Vangelo (di Luca), Turin 2017; C. G IANOTTO , A. N ICOLETTI (eds.), Il Vangelo di Marcione, Turin 2019. 2 D. T. R OTH , The Link between Luke and Marcion’s Gospel: Prolegomena and Initial Considerations, in: J. S. Kloppenborg, J. Verheyden (eds.), Luke on Jesus, Paul, and Early Christianity, Leuven 2017, 59-80: 59. 3 Allein die in Anm. 1 genannten Monographien umfassen rund 4.400 Druckseiten; dazu kommen noch einmal weit mehr als ein Dutzend Beiträge nur der hier Genannten in Zeitschriften und Sammelbänden. 430 Das marcionitische Evangelium in der Diskussion Allerdings - und das könnte ein Hoffnungsschimmer sein - hat es den Anschein, dass die aktuelle Debatte über den Kreis der Hauptakteure hinaus wahrgenommen wird. So gibt es einige verdienstvolle Versuche, die Fragen zu bündeln und die Beteiligten miteinander ins Gespräch zu bringen. 4 Dies ist umso wichtiger, als die neueren Untersuchungen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. Diese Divergenz betrifft nicht nur die aktuellen Rekonstruktionen des marcionitischen Evangeliums (schon ein oberflächlicher Vergleich zeigt die deutlichen Unterschiede), sondern auch fast alle weiteren Fragen im Umfeld. Angesichts der Komplexität der Fragen und der Diversität der Lösungen ist es allerdings »obvious that neither short reviews nor statements in panel discussions can really deepen the discussion and develop it further.« 5 Für die beginnende Diskussion wäre schon viel gewonnen, wenn mehr Klarheit darüber herrschte, über welche Fragen eine Auseinandersetzung lohnt und über welche nicht. Aus diesem Grund verzichte ich in Replik und Kritik auf die Erörterung von Einzelfragen, sondern beschränke mich auf diejenigen Probleme, die nach meiner Überzeugung von grundlegender, methodischer Bedeutung sind. 1. Das zentrale Problem: Die Bearbeitungsrichtung und ihre Implikationen Ich beginne mit dem Problem der Bearbeitungsrichtung zwischen *Ev und Lk. Es ist für meine gesamte Untersuchung grundlegend und stellt ihr eigentliches Ziel dar: Am Anfang stand das Interesse, das redaktionelle Verhältnis zwischen *Ev und Lk zu bestimmen. Die Rekonstruktion des marcionitischen Evangeliums ist daher nicht die Hauptsache, sondern eher ein (unvermeidliches) Nebenprodukt. Deswegen besitzt die Bestimmung des redaktionellen Gefälles für mich Priorität vor allen weiteren Überlegungen. Die grundlegende Erkenntnis der *Ev-Priorität hat dann alle weiteren Folgefragen überhaupt erst hervorgebracht; also vor allem: Wie präsentiert sich die Überlieferungsgeschichte der Evangelien, wenn man von der *Ev-Priorität ausgeht? Und: Welchen Aufschluss kann die handschriftliche Überlieferung des NT unter der Voraussetzung der *Ev-Priorität geben? Weil die Ergebnisse auch dieser Folgefragen in meine Rekonstruktion von *Ev mit einfließen, ist die Bestimmung der Bearbeitungsrichtung für mich von grundlegender Bedeutung. Ich bin überzeugt: ______________________________ 4 Im November 2015 fand während des Annual Meeting der Society of Biblical Literature in Atlanta eine Podiumsdiskussion mit Dieter Roth, Jason BeDuhn, Ronald van den Bergh, Judith Lieu und Markus Vinzent statt. Im August 2016 wurde beim General Meeting der Society of New Testament Studies in Montreal die Quaestio Disputata »Marcion’s Gospel and the New Testament: Catalyst or Consequence? « mit drei kurzen Beiträgen von Matthias Klinghardt, Jason BeDuhn und Judith Lieu verhandelt; die Beiträge sind in NTS 63 (2017), 318-334 erschienen. Im Jahr 2017 hat die ZAC ein Themenheft unter dem Titel »Marcion and His Gospel« herausgebracht mit Artikeln von Jason BeDuhn, Dieter Roth, Daniel A. Smith, T. J. Lang, Thomas J. Bauer, Ulrich Schmid, Matthias Klinghardt, Judith Lieu und Claudio Moreschini: ZAC 21 (2017), 1-199. 5 So die realistische Einschätzung der Herausgeberin Uta Heil im Editorial, ZAC 21 (2017), 6. Ein Nachwort zur Methodologie 431 Eine Rekonstruktion von *Ev kann ohne Berücksichtigung dieses Grundproblems nicht gelingen. Der methodische Ansatz, den Dieter T. Roth für seine Rekonstruktion gewählt hat, unterscheidet sich von diesem Vorgehen diametral. Da unsere Positionen die äußersten Grenzen eines weiteren Diskussionsfelds markieren, das noch andere, vermittelnde Positionen enthält, werde ich die kritische Auseinandersetzung auf Roth konzentrieren. Dieser Fokus bietet sich schon deswegen an, da Roth die methodischen Grundlagen seiner Argumentation sehr klar begründet: Hier sollte das Gespräch anfangen. Zu dem genannten Ausgangspunkt, dem Verhältnis von Rekonstruktion und Bestimmung der Bearbeitungsrichtung, führt Roth aus: »Though I readily admit that I too was initially attracted to the study of Marcion’s Gospel due to interest in the questions surrounding the relationship between Marcion’s Gospel and canonical Luke, along with questions concerning the formation of the Fourfold Gospel and the textual history of Luke, I quickly became convinced that before any of these issues can be discussed, significant attention must once again be given to the actual text of Marcion’s Gospel.« 6 Die Konsequenz dieser Festlegung ist Roths methodische Selbstbeschränkung bei seiner Rekonstruktion: Er will sich ausschließlich auf die häresiologischen Zeugnisse stützen; alle darüber hinausgehenden Überlegungen sollen als methodisch unzulässige argumenta e silentio ausgeschlossen sein. 7 In diesem selbst auferlegten Verzicht auf alles, was nicht unmittelbar aus den Quellen evident ist, suggeriert der Positivismus seines Zugangs wissenschaftliche Objektivität und historische Angemessenheit. Damit ist das Grundproblem deutlich. Wenn ich recht sehe, bin ich in der aktuellen Debatte der einzige, der behauptet, dass (1) für die Rekonstruktion des marcionitischen Evangeliums auch Erkenntnisse aus der Text- und Überlieferungsgeschichte entscheidend sind und dass (2) die Bestimmung der Bearbeitungsrichtung zwischen *Ev und Lk die Grundlage für alle weiteren Fragen bildet. Ich fühle mich daher berechtigt und verpflichtet, Roths genau entgegengesetzten Einwand auf mich zu beziehen und darauf zu replizieren: Unsere gegensätzlichen Lösungen der ______________________________ 6 R OTH , a. a. O. (The Link …, Anm. 2), 60 (Hervorhebung M. K.). Vgl. R OTH 1: »the … debate concerning the relationship between and relative priority of Marcion’s Gospel and Luke can only take place based on some conception of the Gospel that Marcion utilized.« 7 Dies gilt vor allem für Überlegungen zu den unbezeugten Passagen: »A necessary consequence of this approach is that there is also next to no discussion of passages which are passed over in silence. Concretely stated, an initial reconstruction of Marcion’s Gospel must resist the temptation to draw firm conclusions concerning the unattested passages (…)« (R OTH 81, Anm. 88). 432 Das marcionitische Evangelium in der Diskussion methodischen Grundfragen schlagen sich in ungezählten Unterschieden der Rekonstruktion nieder. 8 Und das verlangt eine Klärung. Der Unterschied zwischen Roths und meinem Zugang kann anhand weniger Fragen leicht profiliert werden. So lässt sich das Grundproblem, ob und wie das Bearbeitungsgefälle zwischen *Ev und Lk zu berücksichtigen ist, in zwei Richtungen entfalten. Denn einerseits kann man fragen: Ist eine Rekonstruktion nicht zirkulär, wenn sie auch Einsichten aus der Bearbeitungsrichtung in Rechnung stellt, die sich jedoch ihrerseits erst aus einem solcherart rekonstruierten Text ergeben? Und andererseits: Ist es der komplexen Sachlage angemessen, das marcionitische Evangelium ohne Berücksichtigung der Bearbeitungsrichtung zu rekonstruieren? Und: Ist eine solche Rekonstruktion überhaupt möglich? Die Implikationen dieses Grundproblems werden deutlicher, wenn man die konkreten Schwierigkeiten der Rekonstruktion genauer in den Blick nimmt, die sich aus der Bezeugungslage ergeben. Zum Beispiel: Welchen Text soll man rekonstruieren, wenn sich die häresiologischen Zeugen widersprechen? Gibt es Kriterien, die eine Entscheidung für die eine, gegen die andere Bezeugung ermöglichen? Welche Voraussetzungen haben solche Kriterien? Oder: Lässt sich die handschriftliche Überlieferung des kanonischen Lk für die Rekonstruktion des marcionitischen Evangeliums nutzen? Und wenn ja: Unter welchen Bedingungen kann dies geschehen? Und schließlich: Wie lässt sich eigentlich die Zuverlässigkeit der häresiologischen Quellen bewerten? Anhand dieser Fragen will ich im Folgenden das Grundproblem der Bearbeitungsrichtung und seine Bedeutung für die Rekonstruktion schärfer ins Auge fassen. a. Ist eine Rekonstruktion ohne Berücksichtigung der Bearbeitungsrichtung sinnvoll? Es ist unbestritten, dass das marcionitische Evangelium und das kanonische Lk in einem literarischen Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen und durch einen redaktionellen Prozess miteinander verbunden sind - sei es, dass *Ev eine Bearbeitung von Lk ist (wie es Harnack und viele andere vertreten), sei es, dass beide von einer gemeinsamen Quelle abhängig sind (so etwa Gregory oder BeDuhn), sei es, dass Lk eine Bearbeitung von *Ev ist (Vinzent und Klinghardt). Die häresiologischen Zeugnisse, die allen Rekonstruktionen als wichtigste Quelle zugrunde gelegt sind, bezeugen durchweg diesen redaktionellen Prozess: Sie präsentieren sich selbst als Teil der Auseinandersetzung um die Richtung, in der er verlaufen ist. Es sind daher ______________________________ 8 Roths Position ist in der beginnenden Diskussion wiederholt als Alternative zu meinem Ansatz aufgegriffen worden, ohne dass wesentliche Gesichtspunkte zur Sache beigetragen wurden. Ich erspare mir die genauen Hinweise auf die entsprechenden Rezensionen und Artikel und konzentriere mich auf die wesentlichen Fragestellungen. Ein Nachwort zur Methodologie 433 die Quellen selbst, die den Historiker vor die Aufgabe stellen, den Ort des marcionitischen Evangeliums in diesem Prozess zu bestimmen. Dies ist nicht nur eine implizite Aufgabe, wie sie immer vorliegt, wenn Historiker Texte behandeln, die in einem literarischen Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen. In diesem Fall ist die Aufgabe der Bestimmung der Bearbeitungsrichtung von den Quellen explizit gemacht worden. Insbesondere Tertullian hat klargestellt, dass er seine Behandlung des marcionitischen Evangeliums nicht nur zur Widerlegung der marcionitischen Theologie nutzt, sondern sie auch als Argument in dem Streit um das höhere Alter des jeweiligen Evangeliums versteht. 9 Seine Bezeugung des marcionitischen Evangeliums ist also auch ein Plädoyer in eigener Sache. Der Historiker kann in seinem kritischen Urteil den Anspruch dieses Plädoyers entweder akzeptieren oder widerlegen. Aber er sollte nicht auf seine kritische Überprüfung verzichten und die Frage nach der Bearbeitungsrichtung offen lassen. Denn in diesem Fall würde er den dynamischen Prozess, dem wir die Kenntnis des marcionitischen Evangeliums überhaupt erst verdanken, auf ein konturenloses Standbild reduzieren. Dies ist der erste Einwand gegen Roths Vorgehen: Eine Rekonstruktion ohne Berücksichtigung der Bearbeitungsrichtung ist nicht sinnvoll, weil sie die komplexen Bedingungen der häresiologischen Bezeugung unangemessen vereinfacht. b. Ist eine Rekonstruktion nicht zirkulär, wenn sie Erkenntnisse berücksichtigt, die sich aus der Bearbeitungsrichtung ergeben? Bevor ich dieser Frage weiter nachgehe, ist es sinnvoll, die Perspektive wechseln und einen Stolperstein zu beseitigen, der sich aus der umgekehrten Position zu ergeben scheint: Ist die Berücksichtigung der Bearbeitungsrichtung bei der Rekonstruktion nicht zirkulär? Es ist notwendig, dieses Problem hier zu adressieren, weil die Struktur meiner Argumentation den Eindruck der Zirkularität nahezulegen scheint. Denn ich nutze für die Rekonstruktion von *Ev tatsächlich Einsichten (aus der Überlieferungs- und Textgeschichte), die sich allererst aus der Erkenntnis der Priorität dieses Evangeliums vor Lk ergeben. Mir ist sehr deutlich bewusst, dass der Anschein der Zirkularität dadurch noch gesteigert wird, dass ich auch hinsichtlich der Überlieferungsgeschichte der Evangelien und der Geschichte des neutestamentlichen Textes eigene Wege gehe, die sich jeweils von den großen, weithin geteilten Modellen unterscheiden. Ich kann mich zur Stützung der *Ev-Priorität daher weder auf ein anerkanntes Modell zur Überlieferungsgeschichte der Evangelien berufen (etwa auf die Zwei-Quellentheorie) noch auf die verbreiteten Ansichten zur Entstehung der Varianten in der neutestamentlichen Handschriftenüberlieferung. Dass sich meine Ansichten zur Überlieferungs- und Textgeschicht überhaupt erst aus der Untersuchung des mariconitischen Evangeliums ergeben, ist dabei keine Hilfe, sondern ______________________________ 9 Vgl. Tert. 4,4,1; 4,6,2 u. ö. S. dazu o. S. 39ff. 434 Das marcionitische Evangelium in der Diskussion verschärft das Problem. Das Vorgehen mag daher manchem auf den ersten Blick als zirkulär erscheinen. 10 Ich habe mich deshalb bemüht, die sachlichen Argumente für die *Ev-Priorität nicht nur aufzuführen, sondern bereits durch die Anlage der Argumentation und die Abfolge der einzelnen Kapitel auch den Weg sichtbar zu machen, auf dem ich zu dieser Einsicht gelangt bin. Denn die fundamentale Begründung der *Ev- Priorität ergibt sich nicht aus einer detaillierten Rekonstruktion von *Ev, auch nicht aus einer Kritik an der Zwei-Quellentheorie 11 oder anderen überlieferungsgeschichtlichen Thesen, auch nicht aus textgeschichtlichen Einsichten und schon gar nicht aus allgemeinen Modellen zur Entstehung des NT. Vielmehr resultiert die *Ev-Priorität ausschließlich aus dem Vergleich zwischen Lk und *Ev. Und da dieser Vergleich sein Ergebnis (also die Rekonstruktion von *Ev) nicht voraussetzen darf, beruht er ausschließlich auf unbestreitbaren und gänzlich unstrittigen Beobachtungen, nämlich auf dem Profil von *Ev, das sich aus den großen Bestandsunterschieden ergibt. 12 Entgegen dem Anschein der Zirkularität des Verfahrens besitzt die grundlegende Einsicht in die *Ev-Priorität also einen sehr festen Ausgangspunkt. Vor allen weiteren Überlegungen zur Rekonstruktion hat die Wahrnehmung dieser einhellig bezeugten Bestandsunterschiede zunächst nur die Funktion, die grundsätzliche Perspektive zu plausibilisieren, unter der dieser Text in den Blick zu nehmen ist. Dass diese heuristische Annahme dann durch zahlreiche weitere Beobachtungen gestützt werden muss (und auch gestützt wird: dies ist die wichtigste Funktion der Rekonstruktion in Anhang I), liegt auf der Hand. Die Beobachtungen, die innerhalb dieses Rahmens möglich werden, dienen als kumulatives Argument zur Bestätigung der heuristischen Annahme. Da sich der heuristische Rahmen unabhängig von einer detaillierten Rekonstruktion erheben lässt, ist dieses Verfahren nicht zirkulär: es ist sachlich begründet und methodisch gerechtfertigt. Vor allem aber ist es unvermeidbar: ______________________________ 10 Vgl. bereits C HR . M. H AYS , Marcion vs. Luke: A Response to the Plädoyer of Matthias Klinghardt, ZNW 99 (2008), 228, der gegen die These der *Ev-Priorität den Vorwurf der »internal unfalsifiability« erhob. 11 Dieser Ansicht scheint J. B E D UHN , New Studies of Marcion’s Evangelion, ZAC 21 (2017), 16, zu sein: »this model is needed due primarily to a fatal problem for the Two-Source Hypothesis: the so-called Minor Agreements of Matthew and Luke against Mark.« Richtig ist: Die »Minor Agreements« stellen einen methodischen Selbstwiderspruch der Zwei-Quellentheorie dar und sind deswegen fatal für sie. Richtig ist auch, dass unter der Prämisse der *Ev-Priorität sowohl die Zwei- Quellentheorie als auch die »Minor Agreements« obsolet werden. Falsch wäre allerdings der Eindruck, dass das Versagen der Zwei-Quellentheorie ursächlich wäre für die Theorie der *Ev-Priorität. 12 Ich denke an die größeren Bestandsunterschiede, die für den Anfang (Lk 1-4), die Mitte (Lk 13,1-9; 15,11-32; 18,31-33; 19,29-35.42-46) und das Ende (Lk 22,49-51; *23,2.5) des Evangeliums eindeutig bezeugt sind: Sie erlauben Aufschlüsse nicht nur über den Umfang von *Ev, sondern auch über die Bearbeitungsrichtung. Ein Nachwort zur Methodologie 435 historisches Verstehen ist ohne einen solchen heuristischen Rahmen grundsätzlich unmöglich. Die heuristische Annahme, die sich aus dem Vergleich der großen Bestandsunterschiede ergibt, lässt sehr deutlich ein redaktionelles Gefälle zwischen den beiden Texten erkennen, das von *Ev zu Lk verläuft. Dies sollte für die Rekonstruktion auch berücksichtigt werden. c. Ist eine Rekonstruktion ohne Berücksichtigung der Bearbeitungsrichtung überhaupt möglich? Zurück zur Kritik an Roths Verfahren und zu seiner Rekonstruktion. Denn er liefert eine sehr detaillierte Rekonstruktion bis auf die Ebene einzelner Sätze und Wörter, die weit über die Beschreibung der großen Bestandsunterschiede hinausgeht. Allerdings ist seine Rekonstruktion, anders als behauptet, keineswegs indifferent gegenüber unterschiedlichen Bestimmungen der Bearbeitungsrichtung. Mit anderen Worten: Im Vollzug seiner Rekonstruktion präjudiziert Roth bereits die Bearbeitungsrichtung, die doch angeblich erst anschließend geklärt werden soll. Denn im Hintergrund seiner Rekonstruktion steht schon immer eine bestimmte Annahme zur Bearbeitungsrichtung (es handelt sich um die traditionelle Sicht der Lk-Priorität), die seine Rekonstruktionsentscheidungen auf Schritt und Tritt beeinflusst. Dies ist die Hauptkritik: Eine Rekonstruktion des marcionitischen Evangeliums ohne Berücksichtigung der Bearbeitungsrichtung ist aufgrund der Eigenart des Quellenbefundes gar nicht möglich. Da auch Roth diesem Problem nicht entgeht, setzt seine Rekonstruktion durchgehend eine bestimmte Bearbeitungsrichtung voraus. Roths implizites Präjudiz lässt sich an mehreren Phänomenen zeigen. Besonders deutlich wird es jeweils an den Stellen, an denen das häresiologische Zeugnis nicht eindeutig ist. Dies sind in erster Linie die widersprüchlichen Bezeugungen. Sie stellen die Rekonstruktion des marcionitischen Evangeliums vor erhebliche methodische Herausforderungen. Denn sie machen deutlich, dass die Quellen nicht einfach das marcionitische Evangelium zu erkennen geben, sondern nur unterschiedliche, mehr oder weniger deutlich voneinander abweichende Exemplare eines Grundtextes. 13 Bereits die Einschätzung, ob diese Abweichung »mehr oder weniger« ______________________________ 13 Roth zieht aus diesem Phänomen zu Recht die Konsequenz: »it is obvious that the only text that can be reconstructed is the text attested in the sources, which can heuristically be called ‘Marcion’s Gospel’ even if there is no absolute certainty that all the readings can be traced back to the version of the Gospel that Marcion held in his hand« (R OTH 78f, Anm. 78; Hervorhebung M. K.). Dass Unsicherheiten bleiben, ist unproblematisch, weil selbstverständlich und unvermeidbar. Aber der Hinweis, dass nur der von den häresiologischen Quellen bezeugte Text rekonstruiert werden kann, kaschiert das Problem, dass diese Quellen eben einen durchaus unterschiedlichen Text bezeugen - und dass Roths Verfahren bei der Rekonstruktion sich auf Erkenntnisse stützt, die aus ganz anderen »Quellen« gespeist sind. 436 Das marcionitische Evangelium in der Diskussion deutlich ist, markiert das sachliche Problem. In seiner Übersicht über den rekonstruierten Text erwähnt Roth dieses Phänomen nur ein halbes Dutzend Mal. 14 Aber dies sind nur die Belege, in denen er die abweichenden Bezeugungen nebeneinander stehen lässt, ohne zwischen ihnen zu entscheiden. In seiner Analyse der Quellen kommt das Problem sehr viel häufiger vor. Aber da er diese Widersprüche jeweils in die eine oder die andere Richtung auflöst, bleiben sie ohne Zahl. Ich verstehe: sie können ohne Zahl bleiben, weil das Phänomen für Roths methodisches Vorgehen keine grundlegende Bedeutung besitzt. In meiner eigenen Liste habe ich 85 Vorkommen notiert. Auch, wenn nicht alle Belege dieselbe Aussagekraft haben, gewinnt der kumulative Befund erhebliches Gewicht: Da fast zwei Drittel der Mehrfachzeugnisse für *Ev (nämlich 85 von 135 oder 63 %) widersprüchlich sind, erfordert dieses Problem eine systematische Lösung. Wenn die Widersprüche der Bezeugungen nicht auf Irrtümer der häresiologischen Quellen zurückgehen (dazu gleich), sondern ein Charakteristikum des bezeugten Textes sind, ist das Problem noch viel gravierender. Denn dann muss man solche Widersprüche auch für diejenigen Fälle annehmen, für die wir nur Einzelzeugnisse besitzen - oder auch gar keine. 15 In diesem Fall ist die systematische Erklärung umso wichtiger. d. Welche Methoden nutzt Roth für seine Rekonstruktion? Welche Voraussetzungen haben sie? Roth bietet für das Problem der widersprüchlichen Bezeugungen zwei methodisch begründete Lösungen an. 16 Die erste ist die vergleichende Analyse des Zitierverhaltens eines Autors. Roth folgt dabei dem Verfahren, das bereits Ulrich Schmid bei der Analyse des marcionitischen Apostolos angewandt hatte, 17 und bemerkt dazu: »In order to be able to evaluate the testimony that the church fathers offer for readings found in Marcion’s Gospel, their general handling of texts throughout their ______________________________ 14 R OTH 422-466, s. zu: 5,36-38; 6,43; 7,27; 18,19.20; 23,34; 24,25 (dazu möglicherweise noch 12,8 und 16,23). 15 Gegen die Hochrechnung dieses Phänomens auch auf die Einzelzeugnisse hat U. B. S CHMID , Das marcionitische Evangelium und die (Text-)Überlieferung der Evangelien, ZAC 21 (2017), 102ff, Einwände erhoben, auf die ich bereits repliziert habe, M. K LINGHARDT , Das marcionitische Evangelium und die Textgeschichte des Neuen Testaments, ZAC 21 (2017), 116f. Die Hochrechnung ist dann nicht nur legitim, sondern zwingend erforderlich, wenn die Varianz, die sich in den widersprüchlichen Zeugnissen spiegelt, auf den marcionitischen Text zurückgeht und nicht auf ungenaue Zitate der Häresiologen; dazu gleich mehr. 16 R OTH 78-82. 17 U. B. S CHMID , Marcion und sein Apostolos, Berlin - New York 1995, 26ff. Den methodischen Ansatz hatte zuerst B. A LAND , Die Rezeption des neutestamentlichen Texts im 2. Jh., in: J.-M. Sevrin (ed.), The New Testament in Early Christianity, Leuven 1989, 1-38, dargelegt - als Instrument, um identifizieren zu können, ob Varianten in patristischen Zitaten tatsächlich einen anderen Text oder (nur) individuelle Zitiergewohnheiten bezeugen. Ein Nachwort zur Methodologie 437 corpus, based on multiple citations, must be understood as precisely as possible.« 18 Im Grunde sollen die Zitate aus dem marcionitischen Evangelium mit den entsprechenden (Lk-)Zitaten im gesamten Schriftencorpus desselben Autors verglichen werden. Dieser Vergleich soll dann zeigen, ob sich ein Autor beim Zitieren Freiheiten nimmt (und wenn ja: welche) oder ob er bestimmte Vorlieben für eine bestimmte Formulierung zeigt. Eine solche Analyse der Zitiergewohnheiten ist verständlicherweise nur bei Autoren möglich, die ein ausreichend umfangreiches Textcorpus hinterlassen haben; von den drei Hauptzeugen für *Ev ist das in erster Linie Tertullian. Neben dieser Analyse des Zitierverhaltens führt Roth unter der Überschrift »Textual Criticism« auch die Berücksichtigung von Varianten aus der handschriftlichen Überlieferung des kanonischen Lk an. 19 »In this way, as a particular source’s testimony is evaluated, evidence in the manuscript tradition, which may at times increase or decrease the likelihood of a reading in Marcion’s text, will be kept in view.« 20 Allerdings bleibt offen, in welcher Weise die handschriftliche Überlieferung des Lk Aufschluss geben kann für die Rekonstruktion des marcionitischen Evangeliums. Zwar erläutert Roth die methodischen Implikationen dieser Verbindung nicht, aber sie werden in der Durchführung erkennbar. Ein Beispiel zeigt sein Verfahren. Für *6,23 bezeugt Tertullian: secundum haec, inquit, faciebant prophetis patres e o r u m (4,15,1; vgl. R OTH 102f), Epiphanius hat dagegen: κατὰ τὰ αὐτὰ ἐποίουν τοῖς προφήταις οἱ πατέρες ὑ μ ῶ ν (Schol. 6; vgl. R OTH 293). Folglich ist unklar, ob *Ev den possessiven Genitiv ὑμῶν (so Epiphanius) oder das Personalpronomen αὐτῶν (so Tertullian) hatte. R OTH 293 entscheidet sich für Tertullians Lesart und erklärt zu Epiphanius’ ὑμῶν: »It is noteworthy that according to IGNTP only four other witnesses for this reading exist and that Epiphanius again uses the second person pronoun in 66.42.9. Therefore, it seems more likely that this reading is due to Epiphanius than that it was found in Marcion’s text.« Die Begründung für diese Entscheidung ist kumulativ und verbindet die beiden methodischen Ansätze. Das erste Argument zieht die handschriftliche Überlieferung des kanonischen Lk für sein Urteil heran: Da das von Epiphanius gebotene ὑμῶν nur in vier Zeugen auftaucht (es handelt sich um die Minuskeln 713 1424 2643 sowie die äthiopische Handschrift Bodl. 41), sei das von Tertullian gebotene αὐτῶν, das auch in der übergroßen Mehrheit der Lk-Handschriften zu finden ist, die wahrscheinlichere Lesart in *Ev. Das zweite Argument ist die Analyse der Zitierpraxis: Da Epiphanius denselben Vers an anderer Stelle ebenfalls mit ὑμῶν zitiert, handele es sich um eine ______________________________ 18 A. a. O. 79. 19 R OTH 81f. In der Berücksichtigung der Lk-Handschriften sieht Roth eine wesentliche Verbesserung gegenüber der Rekonstruktion von Harnack, der sich nicht alle verfügbaren Daten der handschriftlichen Überlieferung für seine Rekonstruktion zu nutze gemacht hatte; demgegenüber verspricht er, dass in seiner Untersuchung »every attempt will be made to overcome this weakness« (81). Dabei geht es ihm nicht nur darum, welche Lesart bezeugt ist und wie oft sie auftaucht, sondern vor allem, in welchen Handschriften sie vorliegt. 20 R OTH 82. 438 Das marcionitische Evangelium in der Diskussion Eigenheit, die für Epiphanius typisch sei. Roth schließt daraus, dass Epiphanius (genau wie Tertullian) in *Ev αὐτῶν las, dies aber, seiner Zitiergewohnheit folgend, in seinem Referat in ὑμῶν änderte, weswegen dieses Zeugnis für den Text von *Ev nicht aussagekräftig sei. Die Analyse der Zitiergewohnheit kann ausgesprochen hilfreich für die Rekonstruktion des marcionitischen Textes sein. Roth bemerkt zu Recht, dass ich selbst darauf hingewiesen hatte. 21 Was mir vor Augen schwebte, war beispielsweise die Rekonstruktion der Versuchungsbitte (*11,4). Dazu hatte Schmids Untersuchung von Tertullians Zitiergewohnheiten einen wichtigen Beitrag geleistet und Harnacks anderslautenden Vorschlag überzeugend widerlegt. Zu *11,4 hatte H ARNACK 207f* aus Tert. 4,26,4 quis non sinet nos deduci in temptationem? für *Ev rekonstruiert: (καὶ) μ ὴ ἄ φ ε ς ἡ μ ᾶ ς ε ἰ σ ε ν ε χ θ ῆ ν α ι εἰς πειρασμόν und diese Abweichung gegenüber Lk 11,4 καὶ μ ὴ ε ἰ σ ε ν έ γ κ ῃ ς ἡ μ ᾶ ς εἰς πειρασμόν als »singulär und tendenziös« gewertet. 22 Schmid hat dagegen anhand von Tertullians Auslegung des Vaterunser (Orat. 8,1-3) gezeigt, dass der Wortlaut von 4,26,4 Tertullians eigenes theologisches Interesse spiegele. 23 R OTH 141f hat Schmids Argumentation zu Recht übernommen und sogar noch einen weiteren Beleg beigesteuert (Fug. 2,5): Nicht Marcion, sondern Tertullian hatte ein Interesse daran, Gott nicht aktiv mit der Versuchung in Verbindung zu bringen. Die Analyse des Zitierverhaltens hat hier in der Tat einen wichtigen Einfluss auf die Rekonstruktion von *Ev. Dieses Beispiel zeigt, wie das theologische Interesse die Rezeption des Neuen Testaments beeinflusst. Allerdings will Tertullian gar nicht den Wortlaut der Versuchungsbitte ändern, er will diese - nur - angemessen interpretieren (Orat. 8,1-3). Anders gesagt: Tertullians »Zitiergewohnheit« wird an dieser Stelle gerade daran erkennbar, dass er die Differenz zwischen dem Text und seiner Interpretation explizit macht. 24 Hätte Tertullian in seiner Auslegung des Vaterunser diese Differenz nicht erläutert, ließe sich nicht mit Sicherheit sagen, ob er nicht doch einen Text vor sich hatte, der die Versuchungsbitte in einer von allen Handschriften abweichenden Form enthielt. In diesem (hypothetischen) Fall wäre die Situation ganz analog zu ______________________________ 21 Vgl. M. K LINGHARDT , Markion vs. Lukas: Plädoyer für die Wiederaufnahme eines alten Falles, NTS 52 (2006), 484-513: 492, Anm. 30; vgl. R OTH 79, Anm. 80. 22 Harnack hat dem Häretiker offensichtlich dieselben theologischen Erwägungen unterstellt, die Papst Franziskus im Dezember 2017 in einem Interview äußerte und mit denen eine französischsprachige Bischofskonferenz ihre Übersetzungsänderung der Versuchungsbitte begründete; sie ist seit 2017 in allen französischsprachigen Katholischen Gemeinden in Geltung: Die Formulierung ›Et ne nous soumets pas à la tentation‹ wird ersetzt durch ›Et ne nous laisse pas entrer en tentation‹. 23 U. B. S CHMID , How Can We Access Second Century Texts? , in: C.-B. Amphoux, J. K. Elliott (eds.), The New Testament Text in Early Christianity, Lausanne 2003, 139-150: 143f. 24 Tert., Orat. 8,1: »Ne nos inducas in temptationem, i d e s t , ne nos patiaris induci, ab eo utique qui temptat.« Dass Tertullian den Text interpretiert, anstatt ihn zu schlicht an die eigenen theologischen Bedürfnisse anzupassen, unterscheidet sein Vorgehen von dem des Papstes und der franzöischen Bischöfe. Ein Nachwort zur Methodologie 439 Epiphanius’ Bezeugung von ὑμῶν in *6,23: Dieselbe Abweichung vom kanonischen Text taucht einmal in einem Zitat aus *Ev auf (Epiph., Schol. 6 zu *6,23; Tert. 4,26,4 zu *11,4) und ein weiteres Mal in einer anderen Verwendung (Epiph. 66,42,9; Tert., Fug. 2,5). Ein sicheres Urteil, das auf eigenmächtigen Zitiergewohnheiten beruht, ist also immer abhängig von zusätzlichen Informationen. In dem hier genannten Beispiel (*6,23) findet Roth diese zusätzliche Information in der handschriftlichen Überlieferung des kanonischen Lk. Er folgert aus der schmalen Bezeugung für die Lesart ὑμῶν in den Lk-Handschriften, dass Epiphanius sie wahrscheinlich nicht im Text von Marcions Evangelium gefunden habe. Dieses Beispiel macht zunächst die methodischen Grenzen der Analyse der Zitiergewohnheit deutlich. Denn auch, wenn es solche persönlichen Eigenheiten bei der Rezeption des Bibeltextes gegeben hat, versagt dieses Verfahren als Instrument für die Rekonstruktion von *Ev immer dann, wenn eine Bezeugung entweder mit dem Mehrheitstext übereinstimmt oder wenn sie (wie in dem genannten Beispiel) zwar vom Mehrheitstext abweicht, aber doch immerhin durch einen Teil der Handschriftenüberlieferung gestützt wird. Denn im ersten Fall fehlt jeder Anhaltspunkt dafür, dass ein patristischer Autor überhaupt seinen individuellen Neigungen folgt und ungenau zitiert. Im zweiten Fall wirft die Übereinstimmung mit einem Teil der handschriftlichen Überlieferung grundsätzliche Zweifel an der Methode auf. Denn in diesem Fall lässt sich nicht entscheiden, auf welcher Ebene die Abweichung anzunehmen ist: Hat der patristische Autor, seinem idiosynkratischen »Zitierverhalten« entsprechend, den Text ungenau wiedergegeben? Oder liegt die Abweichung im Text, den der Autor dann korrekt wiedergegeben hätte? Dieses Problem lässt sich durch die Analyse des Zitierverhaltens allein nicht lösen. e. Welchen Aufschluss ermöglichen die Lk-Handschriften für die Rekonstruktion? Wichtiger und problematischer ist Roths Rekurs auf die handschriftliche Überlieferung des Lk. Denn wäre diese Übereinstimmung zwischen Epiphanius’ *Ev- Referat und einem kleinen Teil der Lk-Handschriften reiner Zufall, hätte sie keinen Nutzen für die Entscheidung zwischen den beiden unterschiedlichen Bezeugungen. Aber da solche Übereinstimmungen ja auf Schritt und Tritt zu verzeichnen sind, kann dieses breit bezeugte Phänomen kein Zufall sein. Wenn Roth diese Übereinstimmungen für seine Textrekonstruktion nutzt, dann setzt er nicht nur die enge und unbestreitbare Beziehung zwischen *Ev und (der handschriftlichen Überlieferung des kanonischen) Lk voraus, sondern bringt beide auch in eine genealogische Beziehung - denn anders ließe sich diese Beziehung für die Rekonstruktion von *Ev gar nicht fruchtbar machen. Roth impliziert folglich eine Bearbeitungsrichtung, und das ist ganz offensichtlich die traditionelle Lk-Priorität vor *Ev. 440 Das marcionitische Evangelium in der Diskussion Zwar legt Roth seine Begründung für dieses Verfahren nicht offen, aber sein implizites Argument scheint zu sein: Weil Marcion das kanonische Lk redigierte, sei es wahrscheinlich, dass der lk Wortlaut dann auch in dem darauf basierenden (redigierten) marcionitischen Evangelium durchscheint. Und falls diese Textgestalt nicht eindeutig ist (wie in diesem Fall, zu dem vier Handschriften eine varia lectio bezeugen), dann sei es wahrscheinlicher, dass das von Marcion benutzte Lk- Exemplar einen Text enthielt, der von der übergroßen Masse der Handschriften bezeugt wird, als einen, der nur in sehr wenigen, entlegenen Zeugen vorkommt. Dies bedeutet jedoch: Für Roth ist die Bestimmung der Bearbeitungsrichtung keineswegs ein zweiter Arbeitsschritt, der erst nach einer Rekonstruktion des marcionitischen Evangeliums erfolgen kann. Seine Entscheidung in dieser grundlegenden Frage geht seiner Rekonstruktion voraus und beeinflusst ungezählte Entscheidungen. Diese Voreingenommenheit für die Lk-Priorität lässt sich nicht nur bei Roths Behandlung der widersprüchlichen Bezeugungen zeigen, sondern auch bei seinem Umfang mit den Einzelbezeugungen, die ja das Gros der häresiologischen Quellen ausmachen: Auch bei diesen Bezeugungen räumt Roth dem Text der Mehrheit der Lk-Handschriften erhebliches Gewicht für seine Rekonstruktion ein. Gleich das erste Beispiel in Roths Liste zeigt das Phänomen. Tertullian bezeugt für *4,32 stupebant a u t e m o m n e s ad doctrinam eius (Tert. 4,7,7), also wohl, wie schon H ARNACK 184* richtig gesehen hatte: ἐξεπλήσσοντο δ ὲ π ά ν τ ε ς ἐπὶ τῇ διδαχῆ αὐτοῦ. Da es keine anderslautenden Bezeugungen gibt, könnte der Fall klar sein. Allerdings steht diese Bezeugung in Widerspruch zu Lk 4,32 κ α ὶ ἐξεπλήσσοντο ἐπὶ τῇ διδαχῇ in der übergroßen der Mehrheit der Handschriften. 25 Diese Differenz veranlasst Roth dazu, die Eindeutigkeit von Tertullians Zeugnis einzuschränken. Er folgert: »Since there is no compelling reason in Tertullian’s argument for him to have added the term (sc. πάντες), however, it may have been present in Marcion’s text.« 26 Dieser Zweifel drückt sich dann auch in der Druckgestaltung von Roths zusammenfassender Rekonstruktion aus: ἐξεπλήσσοντο δὲ πάντες ἐπὶ τῇ διδαχῆ αὐτοῦ … (R OTH 412). Die Druckgestaltung besagt: »Text that is set in bold reveals secure readings confirmed both by the methodological consideration of citation habit and attestation in the extant manuscript tradition«, wogegen »text set in italics reveals possible readings that are attested by a source, though ultimately no confidence can be placed in these readings being found in Marcion’s text« (R OTH 410f). Semantisch hat diese Entscheidung eine nur geringe Auswirkung. Was jedoch aufhorchen lässt, ist das Misstrauen, das Roth dieser eindeutigen Bezeugung entgegenbringt, obwohl er selbst der Ansicht ist, dass Tertullian hier nicht frei fabuliert, ______________________________ 25 Die von Tertullian für *Ev bezeugten Unterschiede zu Lk 4,32 tauchen auch als Varianten in wenigen Lk-Handschriften auf: ἐξεπλήσσοντο δέ anstelle von καὶ ἐξεπλήσσοντο findet sich in ſſ 2 , das zusätzliche πάντες ist durch r 1 sy h sa bezeugt. 26 R OTH 92 (Hervorhebung M. K.). Ein Nachwort zur Methodologie 441 sondern dicht am Text des marcionitischen Evangeliums ist. 27 Aber wieso soll eine Abweichung des für *Ev bezeugten Textes vom kanonischen Lk ein Grund dafür sein, dass »ultimately no confidence can be placed in these readings«? Das durchgängig bezeugte Hauptcharakteristikum von *Ev ist doch die von den Häresiologen angeprangerte »Verfälschung«, also die Differenz zu Lk. In dieser Argumentationsfigur, die Roths Rekonstruktion an zahlreichen weiteren Stellen zugrunde liegt, gewinnen das kanonische Lk und seine handschriftliche Überlieferung eine zentrale Funktion für die Rekonstruktion von *Ev: Sie bilden, neben den häresiologischen Quellen, eine entscheidende Stütze seiner Rekonstruktion. Diese Bedeutung können die Lk-Handschriften jedoch nur unter der Voraussetzung gewinnen, dass die handschriftliche Überlieferung des kanonischen Lk auf *Ev eingewirkt hat, d. h. wenn die Bearbeitungsrichtung eindeutig von Lk zu *Ev verläuft. f. Wie lässt sich die Zuverlässigkeit der häresiologischen Quellen bewerten? Die Auswirkung dieser Höherschätzung des kanonischen Lk-Wortlauts über die Bezeugung für das marcionitische Evangelium zeigt sich besonders dann, wenn die häresiologischen Zeugen einen Text präsentieren, der näher an der matthäischen als an der lukanischen Fassung ist. Drei kurze Beispiele sollen nur das Phänomen erläutern. *6,31: Tert. 4,16,13 referiert das Ende der Goldenen Regel in der Form … et sicut vobis fieri vultis ab hominibus, i t a e t v o s f a c i t e i l l i s . Dies entspricht ziemlich genau Mt 7,12 … οὕτως καὶ ὑμεῖς ποιεῖτε αὐτοῖς, und zwar im Unterschied zu Lk 6,31: … ποιεῖτε αὐτοῖς ὁμοίως. - *12,24: In der Belehrung über das Sorgen lautet der Vergleich mit den Raben nach Tert. 4,29,1 corvi non serunt nec metunt n e c i n a p o t h e c a s c o n d u n t . Gegen Lk 12,24 οἷς οὐκ ἔστιν ταμεῖον οὐδὲ ἀποθήκη stimmt diese Formulierung mit Mt 6,26 … οὐδὲ συνάγουσιν εἰς ἀποθήκας überein. - *12,59: In der Belehrung über die Zeichen der Zeit lautet das Ende des letzten Satzes bei Tert. 4,29,16: … nisi soluto etiam novissimo q u a d r a n t e . Wiederum entspricht dies hinreichend genau der Formulierung aus Mt 5,26 … ἕως ἂν ἀποδῷς τὸν ἔσχατον κ ο δ ρ ά ν τ η ν , und zwar ebenfalls wieder gegen Lk 12,59 … ἕως καὶ τὸ ἔσχατον λεπτὸν ἀποδῷς. Für alle drei Beispiele ist Tertullian der einzige häresiologische Zeuge; in allen drei Fällen hat Roth die fraglichen Elemente in seiner Rekonstruktion kursiv gesetzt und dadurch angezeigt, dass er »ultimately no confidence« zu Tertullians Zeugnis hat. Roth behandelt dieses Phänomen der »mt Zitate« zunächst im Zusammenhang seiner Tertullianbelege. 28 Das scheint auf den ersten Blick nachvollziehbar, weil Tertullian auch in der Rezeption seiner eigenen Bibel immer wieder erkennen lässt, dass ihm der Mt-Text näher war als der aus den anderen synoptischen Evangelien. Es ist daher nicht verwunderlich, dass diese »matthäischen Zitate« in den häresiologischen ______________________________ 27 R OTH 92: »it seems that Tertullian’s interaction with Marcion’s Gospel in 4.7.7 may well be governed by the reading in Marcion’s text.« 28 R OTH 90f. 442 Das marcionitische Evangelium in der Diskussion Zeugnissen schon seit langem als Hinweise auf die Unzuverlässigkeit der Referenten verstanden wurden. Allerdings würde diese Erklärung in der Konsequenz jeder methodisch verantwortlichen Rekonstruktion den Boden entziehen. Denn sie macht Tertullians Zeugnis insgesamt so zweifelhaft, dass man fragen müsste: Was genau erlaubt eigentlich die Annahme, dass Tertullian an anderer Stelle zuverlässiger referiert als hier? Roths Behandlung dieses Problems verweist wieder auf die Übereinstimmung mit dem kanonischen Lk: »The custom of citing from Matthew affects the analysis of Tertullian’s testimony to Marcion’s text in two ways. First, when Tertullian incontrovertibly attests a Lukan reading, there is a greater likelihood, though far from certainty, that the phrasing is arising from Marcion’s text. Conversely, when Tertullian attests a Matthean reading for Marcion’s text, though a harmonization to Matthew’s Gospel may have been present in Marcion’s text, the possibility of the phrasing being due to Tertullian’s greater familiarity with Matthew must always be kept in mind.« 29 Roth zieht hier aus den »matthäischen Zitaten« zwei Konsequenzen, die beide dieselbe problematische Voraussetzung haben. Auf der einen Seite wertet er Übereinstimmungen zwischen *Ev und Lk als Argument für die Zuverlässigkeit des Zeugnisses. Das ist insofern unbefriedigend, als ja doch die Differenz zwischen *Ev und Lk die durchweg bezeugte und völlig unbestrittene Konstitutionsbedingung für *Ev ist: Ohne diese Differenz wüssten wir nicht von diesem Text und könnten ihn nicht identifizieren. Hier macht sich, einmal mehr, die stillschweigende Voraussetzung der Lk-Priorität bemerkbar: Denn unter der Prämisse der traditionellen Lk- Priorität stünde zu erwarten, dass das marcionitische Evangelium an all den Stellen, an denen Marcion keinen Anlass zu redaktionellen Eingriffen sah, den Text des kanonischen Lk spiegeln müsse. Wenn also die Häresiologen semantisch unauffällige Unterschiede bezeugen, die sich nicht als tendenziöse Änderungen verständlich machen lassen, entstehen Zweifel an der Zuverlässigkeit der Zeugnisse. Aus diesem Grund, so muss man vermuten, erkennt Roth den Übereinstimmungen mit Lk »a greater likelihood« zu: Diese Argumentation ist Harnack pur und setzt die Lk- Priorität voraus. Die Kehrseite dieser These ist die Einschätzung, dass die »matthäischen« Formulierungen Tertullian als einen grundsätzlich unzuverlässigen Zeugen erweisen. Roth bietet zwei Erklärungen, wie diese »matthäischen« Formulierungen entstanden sein könnten. Zum einen ist das Argument der individuellen Zitierpraxis ohne weiteres erkennbar: Weil Tertullian eine »greater familiarity with Matthew« besaß, habe er dessen Formulierungen irrtümlich auch dort substituiert, wo er sie gar nicht gefunden hatte: in *Ev. Tertullian referiere folglich ungenau, sein Zeugnis sei unzuverlässig. Eine alternative Erklärung ist in einem Halbsatz angedeutet: Tertullian könnte ______________________________ 29 R OTH 91. Ein Nachwort zur Methodologie 443 korrekt referiert haben, wenn die »matthäischen Zitate« bereits als »harmonization to Matthew’s Gospel« ein Element des marcionitischen Texts waren. Aber wer könnte sie dort produziert haben? Auch, wenn Roth sich dazu nicht äußert, wird man kaum fehlgehen in der Annahme, dass hier Harnacks entsprechende Überlegungen durchscheinen: Der war der Ansicht, dass Marcion bei seiner Redaktion des kanonischen Lk sich gelegentlich (und ganz im Sinn des Modells der individuellen Zitierpraxis) von dem mt Wortlaut hat leiten lassen, so dass er am Ende einen »Mischtext« produzierte. Das heißt: Marcion hat nicht aufgepasst, als er das kanonische Lk redigierte. Auch diese Überlegung setzt die traditionelle Lk-Priorität voraus. Roths Nähe zu Harnacks Argumentation zeigt sich auch daran, dass beide von Roth genannten Erklärungen für die »matthäischen« Zitate - entweder haben sich die Häresiologen aufgrund ihrer individuellen Zitierpraxis geirrt oder Marcion hat, aus welchen Gründen auch immer, einen Mischtext produziert - sich bereits bei Harnack finden. 30 Allerdings scheint Roth die These eines von Marcion produzierten Mischtexts für eine eher theoretische Lösung zu halten; er zieht sie nur in wenigen Fällen in Betracht und hält es für wahrscheinlicher, dass nicht Marcion, sondern die häresiologischen Referenten für diese »matthäischen Zitate« verantwortlich sind, indem sie irrtümlich auf den Mt-Wortlaut rekurrierten. 31 Aber das ist wenig glaubhaft. Denn diese »matthäischen Zitate« treten ja nicht nur bei Tertullian auf, sondern auch bei den anderen Häresiologen. Insbesondere die Adamantius-Dialoge enthalten »matthäische« Formulierungen in so großer Zahl, dass Roth ihnen insgesamt die Zuverlässigkeit abspricht. Dabei ist es gleichgültig, ob diese »matthäischen Zitate« schon im Text von *Ev begegnen (also wie in Harnacks Annahme eines »Mischtexts«) oder ob sie auf einen späteren Einfluss ______________________________ 30 Beispielsweise im Kommentar zu *12,24 (H ARNACK 214*): »Tert. ist in seinem gedächtnismäßigen Referat mit den Worten ›nec in apothecam condunt‹ vom Luk-Text zum Mt.-Text abgeirrt, oder lag auch hier schon, wie so oft, dem M[arcion]-Text ein aus Matth. gemischter Text zugrunde? « Anders als Harnack will R OTH 156 diese Frage nicht offen lassen und argumentiert wieder mit der Mehrheit der Handschriften: »The fact that, according to IGNTP, only 903 attests this harmonization may make the former view more likely.« - Die Annahme eines lk-mt »Mischtexts« hat im Übrigen weitreichende Konsequenzen. Denn in diesem Fall ist eindeutig vorausgesetzt, dass das marcionitische Evangerlium nicht nur von Lk abhängig ist (wie alle antiken Quellen belegen), sondern auch von Mt. Hier häufen sich dann die Aporien (s. o. § 6). 31 Zu den wenigen Stellen, für die Roth Harmonisierungen in *Ev in Erwägung zieht, gehören *5,34f; *6,37; *12,10. Abschließend bewertet er: »Though the sources for Marcion’s Gospel do indeed attest Matthean readings in multiple places, it has been seen that a significant challenge in evaluating such readings is the possibility that the author of a source himself is responsible for the harmonization« (R OTH 439, Hervorhebung M. K.). 444 Das marcionitische Evangelium in der Diskussion auf die *Ev-Überlieferung zurückgehen 32 oder aber auf einen Irrtum des Autors (also: idiosynkratische Zitierpraxis): »the end result is that the citations in the Adamantius Dialogue are often some distance removed from the wording of Marcion’s Gospel.« 33 Diese Schlussfolgerung ist zirkulär. Denn woher kennt Roth »the wording of Marcion’s Gospel«, wenn nicht aus der Bezeugung des Adamantius? Die für Adamantius diagnostizierte »distance« scheint sich daher gar nicht auf »the wording of Marcion’s Gospel« zu beziehen, sondern auf den Wortlaut des kanonischen Lk. Dies hätte, noch einmal, die Lk-Priorität zur Voraussetzung. Sehr viel gravierender ist jedoch, dass Roth bereit ist, gleich auf mehreren Ebenen der Überlieferung Irrtümer (also: Kontingenzen) anzunehmen. Denn selbst, wenn man konzediert, dass Roths Kenntnis von *Ev tatsächlich auf einer kumulativen Sammlung aller häresiologischen Quellen beruht, ist das Problem der »matthäischen Zitate« nicht aus der Welt. Denn sie begegnen ja nicht nur bei Tertullian, sondern in allen häresiologischen Quellen für *Ev. Sollten sie sich alle in der Bezeugung von *Ev geirrt haben? Das ist mehr als unwahrscheinlich. Insbesondere die Mehrfachbezeugungen zeigen, wie gravierend Roths methodisches Defizit im Umgang mit den »matthäischen Zitaten« ist. Die Bezeugung von *6,43 liefert das deutlichste Beispiel: Das Logion vom guten und vom schlechten Baum gehörte zu den Ankertexten, die eine besondere Rolle in der Auseinandersetzung zwischen Marcioniten und ihren orthodoxen Gegnern spielten. Es ist von sechs verschiedenen häresiologischen Quellen bezeugt, von denen drei (Adamantius, Origenes und Hippolyt) sich explizit auf marcionitische Zitate dieses Logions beziehen: Deutlicher, als es hier geschieht, lässt sich der Anspruch auf Zuverlässigkeit der häresiologischen Referate kaum begründen. 34 An diesen Bezeugungen sind zwei Abweichungen gegenüber Lk 6,43 auffällig, weil sie der Formulierung der Parallele in Mt 7,18 entsprechen: Während Filastrius die Eingangswendung in der aus Lk 6,43 bekannten Formulierung referiert (»Es gibt keinen Baum, der …«), 35 bieten Adamantius, Origenes und Hippolyt die aus Mt 7,18 bekannte Formulierung »Ein Baum kann ______________________________ 32 Das hatte Tsutsui erwogen (Hinweis bei R OTH 357 Anm. 49), der »eine ›Matthäisierung‹ der Grund- Quellenschrift … im Laufe der Überlieferungs- und Überarbeitungsgeschichte« annimmt (K. T SUTSUI , Die Auseinandersetzung mit den Markioniten im Adamantios-Dialog, Berlin - New York 2004, 92). 33 R OTH 357. 34 Die Bezeugung für *6,43 findet sich in: Tertullian 1,2,1; 2,4,2; 2,24,3; 4,17,12; Adamantius 1,28 (821a.e); Origenes, Princ. 2,5,4 (GCS 22, 137); Hippolyt, Refut. 10,19,3 (GCS 26, 280); PsTertullian, Haer. 6 (CSEL 47, 223,5-7); Filastrius, Haer. 45,2 (CCL 9, 236). Als Zitate sind ausgewiesen: Adam. 1,28 (821a): Καθὼς λ έ γ ε ι τὸ εὐαγγέλιον … (bzw. [821e] ebenfalls im Munde des Marcioniten Megethius: ὀ Χριστὸς ε ῖ π ε ν ὅ τ ι …). - Origenes, Princ. 2,5,4: (Die Marcioniten) aiunt namque: s c r i p t u m est quia … - Hippolyt, Refut. 10,19,3: διὸ καὶ ταῖς παραβολαῖς ταῖς εὐαγγελικαῖς χρῶνται ο ὕ τ ω ς λ έ γ ο ν τ ε ς … (Subjekt sind die Marcioniten). 35 Lk 6,43 οὐ γάρ ἐστιν δένδρον (+ Relativsatz); vgl. Filastr., Haer. 45,2: non est arbor (+ Relativsatz). Ein Nachwort zur Methodologie 445 nicht …«. 36 Auch in der Frage, ob der Baum »Frucht« im Singular trägt oder »Früchte« im Plural, ist die Überlieferung gespalten. Tertullian und Filastrius bezeugen wie Lk 6,43 den generalisierenden Singular (καρπὸν σαπρόν/ malum fructum), die anderen Zeugen bieten stattdessen den konkreteren Plural, der sich auch in Mt 7,18 findet. 37 In seiner zusammenfassenden Rekonstruktion lässt Roth den Wortlaut dieses Logions offen und weist nur darauf hin, dass die unterschiedliche Bezeugung »den genauen Wortlaut unklar« mache (R OTH 415). Dementsprechend ist nicht erkennbar, wie er das Problem der »matthäischen Zitate« an dieser Stelle löst. Immerhin verweist er darauf, dass der matthäische Einfluss »leicht erkennbar« sei (R OTH 402). 38 Die Konsequenz dieser Bezeugung für das Problem der »matthäischen Zitate« ist offenkundig. Denn man kann nicht annehmen, dass verschiedene Autoren an derselben Stelle denselben Irrtum begehen und dieselben matthäischen Formulierungen in einen ganz anderen Text eintragen, den sie nicht frei wiedergeben, sondern aus dem sie zu zitieren behaupten. An dieser Stelle ist die Konsequenz zwingend, dass die »matthäischen Zitate« nicht auf irrtümliche Eintragungen der patristischen Zeugen zurückgehen. Sie standen bereits in *Ev. 39 Diese Schlussfolgerung hat weitreichende methodische Auswirkungen. Denn sie ist auch in allen anderen Fällen in Anschlag zu bringen, in denen »matthäische Zitate« nicht mehrfach, sondern nur von einer einzigen häresiologischen Quelle bezeugt sind: Auch in diesen (überaus zahlreichen) Fällen ist es nicht ratsam, irrtümliche Eintragungen anzunehmen. Da das Beispiel der Mehrfachbezeugungen in *6,43 belegt, dass *Ev solche »matthäischen« Formulierungen enthalten haben muss, ist es methodisch angezeigt, auch die anderen Vorkommen auf diese Weise zu erklären, anstatt eine lange Kette zufälliger Irrtümer zu postulieren: Das wäre die erkennbar voraussetzungsreichere Annahme, die Occams Rasiermesser zum Opfer fällt: Die angeblich »matthäischen Zitate« sind ein (ursprüngliches) Element des marcionitischen Evangeliums. Und dieses Phänomen erfordert eine Erklärung. Die wichtigste Konsequenz aus Roths (und Harnacks) Einschätzung der »matthäischen Zitate« ist jedoch das grundlegende Misstrauen gegen jede Bezeugung. Denn ______________________________ 36 Mt 7,18: οὐ δύναται δένδρον … (+ Inf.). Vgl. dazu: Adam. 1,28 (821a.e): οὐ δύναται δένδρον … (+ Inf.); Orig., Princ. 2,5,4: non potest arbor … (+ Inf.); Hippolyt, Refut. 10,19,3: οὐ δύναται δένδρον … (+ Inf.). 37 Die Formulierung … καρποὺς πονηρούς in Mt 7,18; Adam. 1,28 (821 a.e); Hippolyt, Refut. 10,19,3; Origenes, Princ. 2,5,4 (malos fructus). 38 Da Roth seine Untersuchung nicht nach der Textfolge in *Ev, sondern nach den häresiologischen Quellen gliedert, behandelt er dieses Logion an drei unterschiedlichen Stellen, und zwar im Tertulliankapitel (R OTH 111f), im Zusammenhang der Adamantiusbelege (S. 363) und unter den »Additional Sources« (S. 401f). Dieser Aufbau kommt einer zusammenfassenden Bewertung der Mehrfachbezeugungen nicht gerade entgegen, so dass man ihr Gewicht leicht übersehen kann. 39 Vgl. H ARNACK 195*: »Als sicher darf angenommen werden, daß M. oder seine Vorlage sich auch hier vom Matth. Text hat beeinflussen lassen.« 446 Das marcionitische Evangelium in der Diskussion wenn man den Häresiologen zutraut, dass sie in so vielen Fällen nicht nur nicht genau zitiert haben (obwohl Genauigkeit eigentlich eine Grundlage ihres Beweisverfahrens sein müsste), 40 sondern stattdessen immer wieder irrtümlich und beliebig den Text aus den synoptischen Parallelen eingetragen haben, dann weckt dies erhebliche Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit: Inwiefern taugen ihre Zeugnisse dann überhaupt als Basis für eine Rekonstruktion? Zur Einschätzung der Zuverlässigkeit der Häresiologen hilft es auch nicht, auf die Übereinstimmungen mit dem kanonischen Lk zu verweisen. Denn abgesehen davon, dass dieses Argument die Lk-Priorität voraussetzt (s. o.), bleibt der Zweifel auch gegenüber diesen Bezeugungen bestehen: Denn was spricht dafür, dass gerade diese Zeugnisse keine irrtümlichen Eintragungen sind? Roth scheint dieses Problem geahnt zu haben. Denn obwohl er den Übereinstimmungen zwischen *Ev und Lk grundsätzlich zu trauen bereit ist, äußert er auch gegenüber diesen Zeugnissen einen so deutlichen Vorbehalt, 41 dass man sich fragen muss, ob und wie eine Rekonstruktion denn überhaupt möglich ist. Auf dieses Problem ist gleich noch einmal zurückzukommen (s. u. S. 451). Das grundsätzliche Misstrauen gegenüber der Zuverlässigkeit der häresiologischen Quellen hat noch eine weitere Konsequenz. Denn je stärker sie in Zweifel gezogen werden, desto größeres Gewicht gewinnen alle Begründungselemente, die außerhalb dieser Quellen liegen. Harnack hat das gewusst. Er konnte sich großzügig über die Defizite der häresiologischen Bezeugung hinwegsetzen, weil er von Marcions theologischer Redaktion des Lk so fest überzeugt war: Harnack nutzte die Konsistenz seines theologischen Marcionbildes zur Stützung seiner Textrekonstruktion. Indem Roth aus Prinzip auf diese Art von Begründungen verzichtet, verliert seine Rekonstruktion im Vergleich zu Harnack an Plausibilität. g. Zusammenfassung: Methodische Erfordernisse der Rekonstruktion Die Hauptfrage dieses Abschnitts lautete: Ist eine Rekonstruktion des marcionitischen Evangeliums ohne die Bestimmung der Bearbeitungsrichtung sinnvoll und möglich? Ich habe versucht zu zeigen, dass beides nicht der Fall ist. 1. Eine solche Rekonstruktion ist nicht sinnvoll, weil die häresiologischen Quellen selbst dieses Problem als prominenten Gegenstand ihrer strittigen Auseinandersetzungen benennen. Die Frage der Bearbeitungsrichtung auszuklammern wäre eine unzulässige Reduktion der antagonistischen Überlieferungssituation, der wir die Kenntnis von *Ev überhaupt erst verdanken. ______________________________ 40 S. o. S. 62ff. 41 R OTH 91: »when Tertullian incontrovertibly attests a Lukan reading, there is a greater likelihood, though far from certainty, that the phrasing is arising from Marcion’s text« (Hervorhebung M. K.). Ein Nachwort zur Methodologie 447 Eine Rekonstruktion des marcionitischen Evangeliums ohne Berücksichtigung der Bearbeitungsrichtung ist aber nicht nur nicht sinnvoll, sie ist auch gar nicht möglich. Denn die Komplexität der häresiologischen Zeugnisse macht es unmöglich, ihre Texte einfach additiv auszuschreiben: Zumindest die widersprüchlichen Bezeugungen nötigen zu einer Entscheidung für das eine oder das andere Zeugnis. Vor allem erfordern sie eine Erklärung, auf welche Weise diese Widersprüche überhaupt zustande gekommen sind. Die Annahme individueller Irrtümer scheidet genauso aus wie die versehentliche Eintragung der »matthäischen« Textgestalt in die Bezeugung von *Ev. Beides würde den mehrfachen Zufall voraussetzen, dass mehrere Autoren demselben Irrtum erlegen sein müssten. Wenn sich die widersprüchlichen Bezeugungen nicht auf Irrtümer der häresiologischen Autoren zurückführen lassen, müssen sie ein Element des bezeugten Textes selbst sein. Dies ist aber nur möglich, wenn sich der Text von *Ev im Laufe seiner Überlieferung verändert hat. Da die Quellen genau dieses Phänomen auch bezeugen, hat diese Erklärung alle Wahrscheinlichkeit für sich. So stellt die spezifische Quellenlage die Anforderung an das historische Verstehen, dass eine Rekonstruktion von *Ev nur dann verlässlich gelingen kann, wenn sie als Teil des Prozesses wahrgenommen wird, dem wir überhaupt alle Kenntnisse von *Ev verdanken. Es ist daher nicht möglich, das marcionitische Evangelium ohne Rekurs auf diesen Prozess - und das heißt: ohne Berücksichtigung der Bearbeitungsrichtung - zu rekonstruieren. 2. Auch Roth gelingt dies nicht. Denn er hält seine eigene methodische Prämisse nicht durch, zuerst den Text des marcionitischen Evangeliums zu rekonstruieren und dann die Fragen im Zusammenhang der Bearbeitungsrichtung zu beantworten. Stattdessen bestimmen seine Ansichten über die Bearbeitungsrichtung zwischen Lk und *Ev durchweg seine Rekonstruktion des Textes. Das zeigen sein Umgang mit den widersprüchlichen Bezeugungen, sein Verständnis der »matthäischen« Zitate und seine Berücksichtigung der handschriftlichen Überlieferung. Mein Einspruch richtet sich nicht dagegen, dass Roth bei seiner Rekonstruktion überhaupt eine Bearbeitungsrichtung berücksichtigt, sondern dagegen, dass er dies nur implizit tut. Denn da er diese Annahme nicht offenlegt oder sie gar begründet, gewinnt die stillschweigende Voraussetzung einen methodisch unkontrollierten Einfluss. Und darin ist sie wirksamer, als es ein begründetes Urteil sein könnte. 3. Roths implizites Urteil ist der Sache nach die traditionelle Annahme der Lk- Priorität, also Harnacks Grundposition. Allerdings verzichtet Roth programmatisch auf alle Elemente, die Harnack allein mit dem Argument der »marcionitischen Tendenz« begründet hatte. Da die Forschung seit Jahrzehnten die Tendenz hat, kritisch von Harnacks theologisch angereicherter Rekonstruktion abzurücken, kommt Roths Verfahren dieser Tendenz entgegen. Man versteht dann leicht, dass und warum Rezensenten schnell bereit waren, in Roths Rekonstruktion einen gültigen 448 Das marcionitische Evangelium in der Diskussion Ersatz für Harnacks Text zu sehen: In seinen zurückhaltenden Begründungen liefert er einen »bereinigten Harnack«, der den Eindruck größerer Wissenschaftlichkeit erweckt, ohne aber Harnacks Grundposition in Frage zu stellen. 42 Allerdings bleibt Roth mit seiner Kritik an Harnack auf halbem Weg stehen. Denn da er die Lk-Priorität nur impliziert, sie aber nicht begründet, teilt er nicht nur Harnacks grundlegende Annahme, sondern auch sein fundamentales Versäumnis. Denn Harnack hatte die Lk-Priorität bekanntlich nie begründet, obwohl sie für seine gesamte Marcioninterpretation schlechterdings zentral ist: Er hielt sie einfach für selbstverständlich. 43 Anstatt seine Ausgangsthese wenigstens ansatzweise zu validieren, verließ er sich kurzerhand auf die ältere Forschung aus der Zeit um 1850, die er als 19-jähriger für seine berühmte »Preisschrift« von 1870 zur Kenntnis genommen hatte. Selbst überprüft hatte Harnack die »Ergebnisse« dieser Forschungsperiode allerdings nicht: Wie er selbst einräumt, hat er sie sich nur oberflächlich und überwiegend aus zweiter Hand angelesen. 44 Selten war eine forschungsgeschichtlich so wirkungsvolle Theorie derartig ungenügend begründet: Harnacks Bild von Marcions redaktioneller Tätigkeit hält einer kritischen Überprüfung nicht stand. Es sollte auf keinen Fall prolongiert werden; und schon gar nicht stillschweigend. 4. Am Ende steht daher die Einschätzung, dass die wesentliche Differenz zwischen Roths und meiner Rekonstruktion nicht in den ungezählten unterschiedlichen Einzel- ______________________________ 42 A. S TANDHARTINGER , in: ThRev 112 (2016), 388: Mit Roths Rekonstruktion »liegt nun endlich eine Edition von Markions Evangelium vor, die Harnacks Rekonstruktion ersetzen kann und den Standards von Schmids Rekonstruktion von Markions Apostolos folgt.« P. F OSTER , in: ExpT 127 (2015), 99: »This is a major piece of scholarship, which will be consulted widely for many decades to come.« J. B E D UHN , New Studies of Marcion’s Evangelion, ZAC 21 (2017), 9: Roths »results … will remain a standard and necessary reference on the text of Evangelion for generations to come.« 43 H ARNACK 240*: »Daß das Evangelium Marcions nichts anderes ist[,] als was das altkirchliche Urteil von ihm behauptet hat, nämlich ein verfälschter Lukas, darüber braucht kein Wort mehr verloren zu werden.« Tatsächlich kommt Harnack auf den restlichen mehr als 700 Seiten auf dieses Problem nicht mehr zu sprechen. 44 Vgl. A. VON H ARNACK , Marcion. Der moderne Gläubige des 2. Jahrhunderts, der erste Reformator; die Dorpater Preisschrift (1870), Berlin 2003, 122 Fußnote: »Ich habe die Geschichte der Untersuchungen nicht selbst so genau studirt, kann deshalb nur eine Skizze geben.« Harnack handelte die wichtige Forschungsperiode zwischen 1843 und 1852 flott auf einer halben Seite ab, lobte Volckmars monographische Untersuchung in den höchsten Tönen (»… hat das Verdienst durch peinliche Akribie und Sorgfalt die Frage auf Grund des vorhandenen Materials abgeschlossen zu haben«) und fand in dessen Schlussfolgerung den krönenden Abschluss der Debatte: »Baur u. Ritschl retractiren und der Streit endet mit dem Resultat: ›Unser Lucasevangelium ist v. M. tendentiös verkürzt und interpolirt worden‹« (ebd. 125). Diese reichlich oberflächliche Bewertung beruht, wenn überhaupt, nur zu geringen Teilen auf Autopsie: »Das durch den neusten Streit gewonnene Resultat findet man in allen HandBB. und Einleitungen in’s N.T.« (ibid.). Ein Nachwort zur Methodologie 449 urteilen liegt, sondern im unterschiedlichen Umgang mit dem einen, grundlegenden Problem der Bearbeitungsrichtung. Der Teufel steckt mitnichten »in den Details« der Rekonstruktion, wie Roth nahelegt, 45 sondern in der fundamentalen Perspektive, unter der wir das marcionitische Evangelium in den Blick nehmen und in der Rolle, die wir *Ev in der Überlieferungsgeschichte der Evangelien zuschreiben. Dieser eine, grundlegende methodische Unterschied hat dann zwangsläufig eine Vielzahl abweichender Rekonstruktionsentscheidungen zur Folge: In fast jedem einzelnen Fall, der eine Entscheidung erfordert, gelangen Roth und ich zu entgegengesetzten Lösungen. Dies gilt vor allem für die angesprochenen Fälle der unterschiedlichen Bezeugungen, für die »matthäischen« Zitate oder für die Auswertung der Varianten in den Lk-Handschriften zur Rekonstruktion auch der unbezeugten Passagen, aber auch für die Einschätzung der Einzelbezeugungen: In all diesen Fällen sind die »Details« der Rekonstruktionsentscheidungen eine unmittelbare Folge der jeweils angenommenen (oder auch nur unterstellten) Bearbeitungsrichtung. Da dieses grundlegende Problem, wie gezeigt, de facto unvermeidbar ist, halte ich es für erforderlich, alle damit zusammenhängenden Implikationen und Konsequenzen offenzulegen und sie methodisch kontrolliert zu reflektieren. Ich brauche hier die Argumente nicht zu wiederholen, die gegen die Lk-Priorität sprechen. Gleicherweise erübrigt sich der Nachweis, dass ich für die hier genannten Fragestellungen, an denen die methodischen Differenzen zwischen Roth und mir aufbrechen, mit der Prämisse der *Ev-Priorität eine systematisch kontrollierte und methodisch begründete Lösung anbiete. Das Ergebnis mag theoretisch so komplex (vielleicht auch nur: so ungewohnt) sein, dass es als »phantasievoll« erscheint. 46 Aber die Komplexität liegt nicht in der Erklärung, sondern in den zu erklärenden Sachverhalten; eine weniger komplexe oder »phantasievolle« Erklärung wäre daher eine unzulässige Vereinfachung. 2. Einige Folgeprobleme Angesichts der fundamentalen Bedeutung, die der Bestimmung der Bearbeitungsrichtung zukommt, erscheinen alle weiteren strittigen Fragen vergleichsweise irrelevant. Wenn ich recht sehe, sind alle kritischen Einwände gegen meine Lösung (ebenso wie meine Einwände gegen die Vorschläge anderer) die Folge davon, dass dieses Problem entweder anders gelöst oder nicht hinreichend berücksichtigt wird. Wenn ich doch einige wenige dieser Folgeprobleme anspreche, dann vor ______________________________ 45 Vgl. D. T. R OTH , Marcion’s Gospel and the History of Early Christianity: The Devil is in the (Reconstructed) Details, ZAC 21 (2017), 25-40. 46 Vgl. S. G ATHERCOLE , in: JEH 68 (2017), 132: Roths »method and textual commentary will be widely read, especially in the current climate of so many fanciful theories about the arch-heretic from Sinope.« 450 Das marcionitische Evangelium in der Diskussion allem, um meinen Respekt und Dank gegenüber den Kritikern zu dokumentieren: Respekt vor der Mühe der nicht ganz einfachen Lektüre; Dank für die kritischen Hinweise, die ich gerne aufgegriffen habe, Dank aber auch für das, was ich selbst an den Punkten gelernt habe, an denen ich meine, anderer Ansicht sein zu müssen. a. Die häresiologischen Quellen und die Zuverlässigkeit ihres Zeugnisses Zu meinen Versäumnissen gehört in erster Linie, dass ich nicht alle häresiologischen Quellen berücksichtigt hatte, die schon Harnack zusammengetragen hatte. Auch, wenn ich neben Tertullian, Epiphanius und den Adamantiusdialogen andere Quellen gelegentlich mit angeführt und für die Rekonstruktion genutzt hatte, habe ich sie nie systematisch bewertet - in der irrigen Annahme, dass sich die Zuverlässigkeit von Einzelaussagen nicht bestimmen ließe. Wie Jason BeDuhn zu Recht einwendet, beeinträchtigt diese Vernachlässigung den Wert meiner Rekonstruktion. 47 Sie ist überdies inkonsequent und methodisch unhaltbar. Ich habe mich bemüht, diesen Mangel zu beseitigen und an etlichen Stellen weitere häresiologische Quellen herangezogen. 48 Über die (geringfügigen) Veränderungen hinaus, die sich auf diese Weise für die Rekonstruktion ergeben, besitzt die Berücksichtigung auch von einzelnen Bezeugungen methodische Konsequenzen, die ich anhand eines Beispiels verdeutliche. Für *9,60 bezeugt Clemens von Alexandrien, dass sich das zweite Nachfolgelogion an Philippus gerichtet habe. Clemens’ Hinweis ist aus mehreren Gründen aufschlussreich. Zunächst macht er deutlich, dass die Marcioniten dieses Logion selbst in ihrer Auseinandersetzung mit den katholischen Gegnern angeführt haben; er verweist also (ganz ähnlich wie die häresiologischen Hauptzeugen) auf einen Widerspruch zwischen der Theologie der Marcioniten und ihrer Schriftgrundlage. Vor allem aber ist der Hinweis auf Philippus völlig singulär: Er taucht in diesem Zusammenhang weder in der handschriftlichen Überlieferung noch sonst irgendwo in der patristischen Literatur auf. Da weder das theologische Anliegen der Marcioniten (es geht um Askese) noch Clemens’ Entgegnung auch nur das geringste Interesse an Philippus zeigen, ist die einfachste Lösung, dass dieser Hinweis tatsächlich im marcionitischen Evangelium stand (vgl. die Begründung in der Rekonstruktion zu *9,60). An diesem Beispiel lassen sich zwei methodische Überlegungen zeigen, die auch sonst bei der Rekonstruktion zur Anwendung kommen. Zunächst entspricht diese Erklärung der »Faustregel«, dass der am weitesten von der kanonischen Fassung entfernte Text am ehesten Anspruch auf Ursprünglichkeit besitzt. Zugrunde liegt die Einsicht, dass die Differenz zum kanonischen Lk für *Ev konstitutiv ist. Diese Faustregel setzt notwendigerweise das Bearbeitungsgefälle von *Ev zu Lk voraus: Die Veränderung - in diesem Fall die Tilgung der Philippus-Erwähnung - geht ______________________________ 47 J. B E D UHN , New Studies of Marcion’s Evangelion, ZAC 21 (2017), 8-24: 12f. 48 Vgl. vor allem die Rekonstruktion zu *5,36f; *6,39-46; *7,17.23; *8,20; *9,60. Ein Nachwort zur Methodologie 451 auf die lk Redaktion zurück. Roths Entscheidung gegen Clemens’ Zeugnis passt daher zu den (impliziten) Prinzipien seiner Rekonstruktion. 49 Daneben bestätigt dieses Beispiel auch das Kriterium der größeren redaktionellen Kohärenz. Es besagt: Wenn zwischen zwei Texten ein redaktioneller Eingriff angenommen werden muss, dann ist er am ehesten für die Seite zu vermuten, für die sich ein redaktionelles Interesse an einer Änderung zeigen oder gar als Teil eines umfassenderen Konzepts wahrscheinlich machen lässt. Beides ist hier der Fall. Auf der einen Seite ist es charakteristisch für *Ev, dass Jesus in größerer Distanz zu dem Täufer und zu den Jüngern geschildert wird, als dies in den kanonischen Evangelien der Fall ist; dieses Element lässt sich ja mehrfach sehr deutlich zeigen. Auf der anderen Seite ist das Interesse der lk Redaktion erkennbar, diese Distanz und die teilweise harsche Kritik Jesu an den Jüngern zu tilgen oder abzuschwächen. Da sich dieses Interesse auch an anderen Stellen zeigen lässt, muss man es als Element des Konzepts der lk Redaktion verstehen. Die Logik dieses Kriteriums besagt, dass es nicht umkehrbar ist: Zwar lässt sich wahrscheinlich machen, dass Lk diese Art von Kritik abgemildert hat, nicht aber, dass *Ev sie gezielt eingeführt hat. Da BeDuhn das »Kriterium der redaktionellen Kohärenz« ausdrücklich gutheißt, halte ich seine Entscheidung gegen Clemens’ Zeugnis an dieser Stelle für inkonsequent. 50 Diese Überlegungen haben Konsequenzen für die Einschätzung des Quellenwertes der häresiologischen Zeugnisse überhaupt. An dieser Stelle habe ich dazugelernt und ergänze die Überlegungen, die oben (§ 3.3, S. 62ff) angestellt wurden. Denn streng genommen bemisst sich die Zuverlässigkeit der häresiologischen Quellen ausschließlich am Grad der Übereinstimmung zwischen der Bezeugung und dem tatsächlichen Text von *Ev. Aber da wir den Text von *Ev nicht haben, ist eine Bewertung der »Zuverlässigkeit« methodisch komplex und schwierig - jedenfalls unter der Prämisse der *Ev-Priorität. Dagegen legt die traditionelle Voraussetzung der Lk-Priorität die Einschätzung nahe, dass die Unterschiede zwischen *Ev und Lk weniger zuverlässig sind als die Übereinstimmungen. Wie gerade gezeigt, hat Roth diese Überlegung im Zusammenhang der »matthäischen Zitate« oder bei den ______________________________ 49 R OTH 405: »Clement’s reference to these words being spoken to Philip is curious as neither Luke, nor the Matthean parallel, mention Philip. It is not likely that this was drawn from Marcion’s Gospel.« Dieser Hinweis impliziert die traditionelle Sicht, dass *Ev von den kanonischen Evangelien abhängig ist. Die schwierige Frage, woher in diesem Fall die Philippusnotiz stammen könnte, bleibt ohne Antwort. 50 Die Einschätzung zum Kriterium der redaktionellen Kohärenz bei J. B E D UHN , New Studies of Marcion’s Evangelion, ZAC 21 (2017), 8-24: 13; zur konkreten Entscheidung vgl. B E D UHN 153: »Clement identifies Jesus’ interlocutor in this exchange as Philip, but it is unclear if this identification was made in the Evangelion or is part of the legendary material that Clement sometimes draws on to fill out gospel episodes and characters.« 452 Das marcionitische Evangelium in der Diskussion widersprüchlichen Bezeugungen angestellt und in der Folge die Zuverlässigkeit der Adamantiusbelege insgesamt stark eingeschränkt. Wenn aber die Bearbeitungsrichtung unbestimmt bleibt (dies ist de facto nirgends der Fall) oder wenn sie von *Ev zu Lk verläuft, entfällt dieses Kriterium: Die Zuverlässigkeit der Zeugnisse für *Ev lässt sich nicht durch die geringere oder größere Nähe zu Lk einschätzen. Aus diesem Grund ist es auch unmöglich, dem Wunsch von Ulrich Schmid nachzukommen. Er hatte von mir gefordert, »die behauptete Vertrauenswürdigkeit der einzelnen Quellen an jeder einzelnen Stelle neu zu überprüfen und gegebenenfalls auch in Zweifel zu ziehen.« 51 Bekanntlich hatte Schmid selbst eine solche Einzelbewertung der Quellen für den marcionitischen Apostolos durchgeführt; das Pendant für das Evangelium liegt in Roths Rekonstruktion vor, der den methodischen Ansatz von Schmid übernimmt. Dieses Verfahren setzt allerdings - zwingend! - die Priorität der kanonischen vor den marcionitischen Fassungen voraus, also im Fall des Evangeliums die Lk-Priorität. Denn nur unter dieser Voraussetzung lässt sich der für *Ev bezeugte Text jeweils mit dem kanonischen Text vergleichen und fragen, wie wahrscheinlich eine Abweichung des für *Ev bezeugten Textes vom kanonischen Lukas in jedem Einzelfall ist. Diese Art der Überprüfung weist dann - wie gezeigt - den Übereinstimmungen zwischen Lk und *Ev einen höheren Grad an Zuverlässigkeit zu als den Abweichungen. Unter der Prämisse der *Ev-Priorität gibt es dagegen schlicht keine Kriterien, die eine solche Einzelprüfung erlauben würden. Der Grund dafür ist ebenso einfach wie zwingend: Nur so lässt sich eine zirkuläre Argumentation vermeiden. Denn der *Ev-Text, der eine solche kritische Prüfung der Einzelfälle ermöglichen würde, existiert nicht, sondern ist erst das Ergebnis der Rekonstruktion. Die von Schmid geforderte kritische Evaluierung der Quellen durch Analyse jeder einzelnen Bezeugung ist folglich unmöglich, weil sie nur im Rahmen der Lk-Priorität funktionieren könnte. Aber bedeutet dies, dass meine Rekonstruktion weniger kritisch ist, weil sie die häresiologischen Quellen nicht an jeder einzelnen Stelle evaluiert? Ich glaube nicht. Denn ich setze an die Stelle von Schmids (und Roths) Beurteilung der einzelnen Bezeugungen die Kritik des Gesamtmodells. Die Umkehrung der Bearbeitungsrichtung von *Ev zu Lk ist radikaler, kritischer und plausibler, als es die Überprüfung von Einzelfällen im Modell von Schmid, Roth und anderen sein kann. Diese Umkehrung führt bei der Einschätzung der Zuverlässigkeit der Quellen zu einer wesentlichen Veränderung: Wenn eine Bezeugung für *Ev vom kanonischen Lk abweicht, spricht dies nicht gegen, sondern für die Richtigkeit des Zeugnisses. Diese Verschiebung wirkt sich insbesondere bei der Beurteilung der zahlreichen ______________________________ 51 U. B. S CHMID , Das marcionitische Evangelium und die (Text-)Überlieferung der Evangelien, ZAC 21 (2017), 98 (Hervorhebung M. K.). Ein Nachwort zur Methodologie 453 widersprüchlichen Bezeugungen aus. Gerade hier zeigt sich der methodische Vorzug dieser Lösung: Weil diese widersprüchlichen Bezeugungen ein einheitliches Phänomen konstituieren, lassen sie sich konzeptuell in einem einheitlichen Modell erklären, nämlich durch die Annahme der (historisch bezeugten) progressiven Angleichung des *Ev-Texts an Lk. Die von Schmid geforderte Einzelfallprüfung impliziert dagegen eine potentiell unbegrenzte Zahl von kontingenten Ursachen. Dies ist wenig wahrscheinlich. Diese methodischen Grundlagen gelten für alle häresiologischen Zeugen in gleicher Weise, für die drei Hauptquellen ebenso wie für die verstreuten Einzelzeugnisse. Was die Hauptzeugen vor den anderen Quellen auszeichnet, ist ihr expliziter Anspruch, die marcionitische Theologie aus dem Text der marcionitischen Bibel zu widerlegen; dies ist, wie angedeutet, auch bei dem hier angesprochenen Clemens- Zeugnis der Fall. Ich schließe aus diesem Anspruch die prinzipielle Zuverlässigkeit der Quellen. Wenn die Autoren der Einzelzeugnisse - also Irenaeus, Origenes, Hippolyt, Filastrius, Ephraem, Eznik und andere - diesen expliziten Hinweis nicht geben, bedeutet dies nicht, dass sie weniger zuverlässig wären als die Hauptquellen. Es bedeutet nur, dass sie den Widerspruch zwischen der Theologie der Marcioniten und ihrem Bibeltext nicht als explizites Argument verstanden haben. b. Die Berücksichtigung der handschriftlichen Überlieferung für die Rekonstruktion und die Konsequenzen für die Textkritik Thomas J. Bauer und Ulrich Schmid haben vor allem die textkritischen Elemente meiner Rekonstruktion kritisiert. 52 Allerdings reicht ihre Kritik nicht an die grundlegenden Beobachtungen heran. Da ich darauf schon an anderer Stelle repliziert habe, 53 kann ich mich hier kurz fassen; nur zwei Hinweise sind mir wichtig. Erstens ist, seiner großen Bedeutung wegen, das Hauptproblem noch einmal zu nennen: Die Einsicht in die *Ev-Priorität hat nach meiner Überzeugung tatsächlich eine prinzipielle Umkehr der textkritischen Fragestellungen zur Folge. Denn wenn das kanonische Lk eine Bearbeitung des älteren, marcionitischen Evangeliums ist, und wenn zugleich zahlreiche seiner distinkten Lesarten in der handschriftlichen Überlieferung des Lk begegnen, dann ist es offensichtlich nicht ausreichend, mit den üblichen textkritischen Instrumenten nach dem jeweils ältesten ______________________________ 52 T H . J. B AUER , Das ›Evangelium des Markion‹ und die Vetus Latina, ZAC 21 (2017) 73-89; U. B. S CHMID , Das marcionitische Evangelium und die (Text-)Überlieferung der Evangelien - Eine Auseinandersetzung mit dem Entwurf von Matthias Klinghardt, ZAC 21 (2017), 90-109. 53 M. K LINGHARDT , Das marcionitische Evangelium und die Textgeschichte des Neuen Testaments, ZAC 21(2017), 110-120; M. K LINGHARDT , Marcion’s Gospel and the New Testament: Catalyst or Consequence? , NTS 63 (2017), 322f. Vgl. ausführlicher M. K LINGHARDT , Die Schrift und die hellen Gründe der textkritischen Vernunft, ZNT 39/ 40 (2017), 85-104. 454 Das marcionitische Evangelium in der Diskussion Text zu suchen: Die ältesten Lesarten der Lk-Handschriften entpuppen sich als Elemente des vorkanonischen Evangeliums. Man kann sich dieses Problem an einem besonders prägnanten Beispiel leicht vor Augen führen, dem sog. »Kurztext« des lk Mahlberichts: Der Kurztext, in dem die Vv. Lk 22,19b.20 fehlen, ist auch für *Ev bezeugt (vgl. die Rekonstruktion z. St.). Wie Westcott/ Hort vollkommen zu Recht geurteilt hatten, ist der Kurztext älter als der Langtext, der sich in der übergroßen Mehrheit der Überlieferung findet: Vom Langtext führt kein denkbarer Weg zum Kurztext. Dagegen ist die umgekehrte Entwicklung völlig naheliegend. Sofern die textkritische Beurteilung dieser Lesart tatsächlich den ältesten Text rekonstruieren will, gehört der Kurztext in die kritischen Ausgaben: Genau dies war ja auch seit Westcott/ Horts »New Testament in the Original Greek« von 1881 bis weit ins 20. Jh. der Fall. Erst in den 1970er Jahren hat sich diese Einschätzung plötzlich geändert, als GNT 3 (1975) bzw. NA 26 (1979) erstmals die Langfassung der Mehrheit der Handschriften in den Text übernommen haben. 54 Insofern die modernen Ausgaben an den jeweils ältesten Lesarten interessiert sind, die nicht auf den Text des Neuen Testaments, sondern auf seine Vorstufe(n) führen, sind sie tatsächlich einer »kategorialen Verwirrung erlegen«. 55 Zu deren Korrektur bedarf die Textkritik weniger einer Verbesserung ihrer Methoden als einer Reformulierung ihrer Ziele - und der Entwicklung einer Methodik, um sie zu erreichen. Daraus resultiert - zweitens - ein vorerst offenes Problem: Wie lässt sich in den Lk-Handschriften die kanonische Textfassung identifizieren? Der erste und offensichtliche Vorschlag lautet: Sofern in der Textüberlieferung des kanonischen Lk redaktionelle Varianten vorliegen und diese der Bezeugung für *Ev entsprechen, dann zeigt die jüngere Fassung vermutlich den Text des kanonischen Lk; das ist das Verfahren, das sich aus dem angesprochenen Beispiel zu Lk 22,19b.20 ergibt. Ich gehe allerdings darüber hinaus und übernehme dieses Verfahren auch für diejenigen redaktionellen Varianten, für die keine Bezeugung des marcionitischen Evangeliums existiert: Die ältere Lesart zeigt wahrscheinlich den Text von *Ev, die jüngere den des kanonischen Lk. Dieses Verfahren liegt an allen Stellen vor, an denen eine textkritische Beurteilung mit dem Hinweis »*Ev non test.« versehen ist. Gegen dieses Verfahren ist eingewendet worden, dass nicht alle redaktionellen ______________________________ 54 Erst kurz vor dieser Änderung hatten sich 1968 die nationalen Bibelgesellschaften darauf verständigt, ihren Übersetzungen den jeweils aktuellen Text der kritischen Ausgabe des Greek New Testament zugrunde zu legen: Guiding Principles for Interconfessional Cooperation in Translating the Bible, Bible Translator 19 (1968), 101-110. Ein Zusammenhang zwischen dieser Vereinbarung und der unvermittelten Änderung der textkritischen Beurteilung von Lk 22 ist nicht bekannt: Honi soit qui mal y pense! Zu den Hintergründen vgl. M. K LINGHARDT , Die Schrift und die hellen Gründe der textkritischen Vernunft, ZNT 39/ 40 (2017), 92-95. Zum textkritischen Problem vgl. J. H EILMANN , K. K ÜNZL , Das Problem von Kurz - und Langtext in Lk 22,17-20 und das für Marcion bezeugte Evangelium, NT 62 (2020), 117-138. 55 S CHMID , a. a. O. 93. Ein Nachwort zur Methodologie 455 Varianten, die sich in den Lk-Handschriften finden, auf die Bearbeitung eines vorkanonischen Texts zurückgeführt werden können: Es gibt Varianten auch in Passagen, die erst durch die lk Bearbeitung entstanden sind (z. B. in Lk 1-3), und zwar auch in solchen Handschriften, die ansonsten besonders deutlich die Spuren des vorkanonischen Texts tragen, teilweise sogar in der besonders verdächtigen Kombination der »Westlichen« Zeugen (D it sy). 56 Der Einwand ist berechtigt und zeigt, wie schwierig es ist, hinreichend genau zwischen dem vorkanonischen und dem kanonischen Text zu unterscheiden. Aber welche Folgerungen sind aus diesem Einwand zu ziehen? Dass es (noch) nicht möglich ist, mit der gewünschten Sicherheit zwischen Elementen des vorkanonischen Textes und sekundären Veränderungen zu unterscheiden, kann kein Argument gegen die *Ev-Priorität sein. Auch wird man kaum einwenden wollen, dass die Annahme der *Ev-Priorität nicht in der Lage ist, alle textkritischen Auffälligkeiten zu erklären. Die einzige sinnvolle Konsequenz aus diesem Einwand ist die Frage: Ist es legitim, auch solche textkritischen Auffälligkeiten für die Rekonstruktion von *Ev heranzuziehen, für die keine direkte Bezeugung durch unsere häresiologischen Quellen vorliegt? Es gibt einen legitimen Ermessensspielraum für die Beantwortung dieser Frage, der im Wesentlichen davon abhängt, welche Ziele mit der Rekonstruktion von *Ev verbunden sind. Ich bejahe diese Frage. Die Begründung muss zwei Aspekte berücksichtigen, die sich auf die beiden Texte beziehen, die von diesen »unbezeugten Varianten« betroffen sind. Das ist zunächst das marcionitische Evangelium. Für dessen Rekonstruktion ist die Differenz zu Lk konstitutiv. Sie ist seine Grundsignatur und verantwortlich dafür, dass wir überhaupt Kenntnis über diesen Text haben. Denn der Verstümmelungsvorwurf von Irenaeus, Tertullian, Epiphanius und anderen bezeugt zunächst die Differenzen zwischen *Ev und Lk: Sie sind umfangreicher und weitergehend als diejenigen Abweichungen, die sich in den Varianten der Lk- Handschriften erhalten haben. Es ist daher eine sinnvolle Annahme, mit solchen Differenzen auch da zu rechnen, wo sie weniger gut begründbar sind als an den Stellen, an denen sie durch die lückenhaften häresiologischen Quellen gestützt werden. Aus diesem Grund sind diese Rekonstruktionsentscheidungen als »unbezeugt« markiert. Sie sind zwar weniger sicher als andere Rekonstruktionsentscheidungen; die Wahrscheinlichkeit, dass diese »unbezeugten Varianten« Elemente des vor- ______________________________ 56 H. S CHERER , Königsvolk und Gotteskinder, Göttingen 2016, 51, Anm. 175. Vgl. auch S CHMID , a. a. O.101 (»mit welchem Recht können wir fein säuberlich zwischen verschiedenen Typen der Harmonisierung unterscheiden, die an der Oberfläche genau gleich erscheinen? «) sowie die Replik: M. K LINGHARDT , Das marcionitische Evangelium und die Textgeschichte des Neuen Testaments, ZAC 21 (2017), 113f; die kurze Antwortet lautet: Vorerst können wir das nicht. 456 Das marcionitische Evangelium in der Diskussion kanonischen Texts sind, ist um nichts geringer als die Annahme, dass sie irgendwann später entstanden sind. Aus dieser unentscheidbaren Ambivalenz ergibt sich die Aufgabe, Kriterien zu entwickeln, die eine Entscheidung in die eine oder die andere Richtung ermöglichen. Aber die Frage nach der Berücksichtigung der »unbezeugten Varianten« ist nicht allein für die Rekonstruktion von *Ev zu entscheiden. Denn das textkritische Urteil für das marcionitische Evangelium ist ja nur die eine Seite und impliziert ein entsprechendes Urteil für den kanonischen Lk. Das Festhalten an den »unbezeugten« Varianten hat daher auch die Funktion, die »kategoriale Verwirrung« der Textkritik und die Notwendigkeit einer Neuorientierung im exegetischen Bewusstsein festzuhalten. Hier verbirgt sich ein Problem von großer methodischer Tragweite, nämlich die Frage, wie überhaupt intentionale, redaktionelle Varianten in der neutestamentlichen Handschriftenüberlieferung entstanden sind. 57 Das Interesse an der Identifizierung der jeweils ältesten Varianten, von dem die Textkritik bis heute ganz überwiegend geprägt ist, hat diese Frage in den Hintergrund gedrängt und, abgesehen von wenigen Ausnahmen, keine systematische Antwort entwickelt: Wann, wo und unter welchen Bedingungen (redaktionelle) Varianten in den Handschriften entstanden sind, bleibt fast durchweg unklar. Das textgeschichtliche Modell, das sich aus der *Ev-Priorität ergibt, rechnet dagegen mit einer einheitlichen Instanz, die für den Ursprung eines großen Teils der Varianten verantwortlich ist: Die lk Redaktion erlaubt es zum ersten Mal, die Entstehung eines großen Teils der handschriftlichen Varianten als historisches Phänomen wirklich verständlich zu machen. 58 Dass dies (noch) nicht für alle Varianten möglich ist, ist kein Einwand gegen dieses Modell, sondern ein Ansporn, die Entstehung auch der anderen Varianten historisch verständlich zu machen. 59 ______________________________ 57 Zum Folgenden vgl. ausführlicher M. K LINGHARDT , Die Schrift und die hellen Gründe der textkritischen Vernunft, ZNT 39/ 40 (2017), 85-104. 58 Vgl. dazu ausführlicher M. K LINGHARDT , a. a. O. Nur am Rand weise ich darauf hin, dass dies nicht nur für die Lk-Varianten gilt, sondern auch für die Überlieferung der anderen Evangelien und der meisten Paulusbriefe: Ein großer Teil der Varianten in den neutestamentlichen Handschriften wird als Folge dieser kanonischen Redaktion verständlich. 59 Scherer hat richtig gesehen, dass die These der kanonischen Redaktion „zu einem fundamentalen Dissens um die Regeln der Textkritik und die Leistungsfähigkeit von NA überhaupt“ führt (a. a. O. 52, Anm. 176). Verständlicherweise kann sie diesen Dissens im Rahmen ihrer Untersuchung nicht lösen und hält es „deshalb mit dem lange bewährten und weitgehend konsensfähigen NA als Textbasis“. Da »lange bewährt« und »weitgehend konsensfähig« keine sachlichen Argumente sind, bleibt die Diskussion dieses methodischen Dissenses auf der Tagesordnung. Ein Nachwort zur Methodologie 457 c. Die Überlieferungsgeschichte der Evangelien Ein weiterer Einwand gegen meine Rekonstruktion von *Ev betrifft das Modell der Überlieferungsgeschichte der Evangelien, in erster Linie das sog. Synoptische Problem, aber auch andere Fragen im weiteren Umfeld. Auch für diesen Problemkomplex steht am Anfang die zentrale Einsicht, dass die *Ev-Priorität für das Synoptische Problem gravierende Konsequenzen hat: Wenn *Ev dem kanonischen Lk vorausliegt, verändert sich die Ausgangslage für die Überlieferungsgeschichte der Evangelien in einer so grundlegenden Weise, dass alle bisher vorgetragenen Lösungsvorschläge zum Synoptischen Problem erkennbar obsolet werden. Die fundamentale Bedeutung der Bearbeitungsrichtung zwischen *Ev und Lk wird an dieser Stelle unmittelbar greifbar - mit Konsequenzen für die aktuelle Debatte in Kritik und Replik. Da ich die *Ev-Priorität für eine grundlegende Voraussetzung in dieser Frage halte, ist zweierlei deutlich: Ich kann auf der einen Seite nichts sagen zu den Versuchen, das marcionitische Evangelium für das Synoptische Problem fruchtbar zu machen, die nicht von der *Ev-Priorität ausgehen. Dabei ist es irrelevant, welche Alternativen für das Bearbeitungsverhältnis zwischen Lk und *Ev erwogen werden. Dieter Roth hatte diese Frage, wie gezeigt, zwar explizit offen gelassen, aber implizit durchgängig die Lk-Priorität substituiert. Unter dieser Prämisse ist es dann nur folgerichtig, dass er die Bedeutung von *Ev für das Synoptische Problem mehr als zurückhaltend einschätzt. 60 Allerdings sieht Roth auch in seinen Ausführungen zum Synoptischen Problem keinen Anlass, das zentrale Problem der Bearbeitungsrichtung zu diskutieren. 61 Aber auch, wenn man eine vermittelnde Position einnimmt (*Ev und Lk sind von einer gemeinsamen Quelle abhängig), 62 wenn also *Ev weder ein vornoch ein nach-lk Text ist, sondern neben Lk steht, ergibt sich ein völlig anderes Bild der synoptischen Beziehungen. 63 Dieses Bild ist allerdings notwendigerweise äußerst ______________________________ 60 D. T. R OTH , Marcion’s Gospel and the Synoptic Problem in Recent Scholarship, in: M. Müller, H. Omerzu (eds.), Gospel Interpretation and the Q-Hypothesis, London 2018, 281: »it is patently obvious that great care needs to be exercised in the use of this text and in appeals made to it.« 61 Roths Kritik an meinen Ausführungen zum Synoptischen Problem und zur Überlieferungsgeschichte (a. a. O. 273-278) ist so unterbestimmt, dass sich eine Auseinandersetzung bedauerlicherweise nicht lohnt. 62 Das scheint die Position zu sein von J. M. L IEU , Marcion and the Synoptic Problem, in: P. Foster et al. (eds.), New Studies in the Synoptic Problem, Leuven u. a. 2011, 731-751. 63 BeDuhns Einschätzung bezüglich der Bedeutung des marcionitischen Evangeliums für das Synoptische Problem hat sich unter dem Eindruck der Debatte geändert. Während er 2013 noch der Ansicht war, dass *Ev und Lk von einer gemeinsamen Quelle abhängig seien (B E D UHN 79-92, bes. 90ff) und mit der Zwei-Quellentheorie rechnete (ebd. 93), gibt er jetzt zu erkennen, dass *Ev »must necessarily be included … in investigation of the Synoptic gospel relationships, and in fresh assessments of prevailing theories about those relationships, such as the Two-Source Hypothesis« (J. B E D UHN , New Studies of Marcion’s Evangelion, ZAC 21 [2017], 8-24: 13). 458 Das marcionitische Evangelium in der Diskussion unscharf. Denn man muss innerhalb der synoptischen Beziehungen (aber an welcher Stelle genau? ) ein prä-lk Evangelium annehmen, über dessen genaue Gestalt sich fast nichts sagen lässt, weil es weder mit Lk noch mit *Ev identisch ist. Unter dieser Prämisse gibt das marcionitische Evangelium in der Tat so gut wie nichts für das Synoptische Problem her: »Even with more critical analyses of the relevant sources there will continue to be passages whose presence in or absence from (Marcion’s) Gospel will remain disputed. Where arguments rely on the choice of particular words this uncertainty is increased.« 64 Zum Glück sind die überlieferungsgeschichtlichen Fragen der Bearbeitungsverhältnisse - zwischen *Ev und Lk, zwischen den Synoptikern, zwischen allen fünf Evangelien - weder von derart vagen Überlegungen noch von der Zuverlässigkeit bestimmter Einzelformulierungen allein abhängig; sie ergeben sich vielmehr aus einem umfangreicheren Bild, das noch durch ganz andere Elemente konstituiert wird. Daneben hat Hildegard Scherer im Zusammenhang ihrer Auseinandersetzung mit neueren Einwänden gegen die Zwei-Quellentheorie auch mein Modell der Überlieferungsgeschichte der Evangelien einer detaillierten Kritik unterzogen. 65 Sie hat dafür »die rekonstruierten Textdaten dieses ›ältesten Evangeliums‹ im synoptischen Vergleich ausgewertet«, 66 also eine Überprüfung der Theorie anhand ihres materialen Erklärungswerts angestrebt. Für entscheidend hält sie dabei das Bearbeitungsverhältnis zwischen *Ev und Mk: Könnte man (wie ich es tue) »das Mk als Bearbeitung des *Ev ausweisen«, dann wäre, so ihre Folgerung, »die Traditio duplex nichts weiter als eine Restkategorie, ihr inhaltliches Profil würde bestenfalls darüber Auskunft geben, was Mk missfallen hätte.« 67 Diese Schlussfolgerung sitzt einem schwerwiegenden Missverständnis auf. Denn ob der mt-lk Doppelüberlieferung eine eigenständige überlieferungsgeschichtliche Rolle zukommt oder nicht, hängt nicht von der Bearbeitungsrichtung zwischen *Ev und Mk ab, sondern von der zwischen *Ev und Lk: Das ist das Grundproblem der *Ev-Priorität. Scherer tut es mit einem Halbsatz ab. 68 In der Einschätzung zum Verhältnis von Rekonstruktion und Bestimmung der Bearbeitungsrichtung stimmt sie mit Roth überein, dessen weitere Positionen (zur Methode; zur Verlässlichkeit der Quellen; zu den ______________________________ 64 L IEU , a. a. O. 746. 65 H. S CHERER , Königsvolk und Gotteskinder, Göttingen 2016, 50-69. 66 A. a. O. 52. 67 A. O. 60. 68 A. a. O. 55, mit dem Argument, dass eine Rekonstruktion von *Ev der Klärung der Bearbeitungsrichtung vorausgehen müsse. Dagegen »hat sich Klinghardt bereits dafür entschieden, dass dieser Text dem kanonischen Lk vorausgeht.« Wie gezeigt (s. o., S. 433), gibt es für diese Entscheidung eine gute Begründung, auf die Scherer jedoch nicht eingeht. Ein Nachwort zur Methodologie 459 »matthäischen Formulierungen« in *Ev usw.) sie ebenfalls teilt. 69 Ihre Einwände beruhen auf unhaltbaren Voraussetzungen und sind deswegen im Ergebnis ebenfalls nicht haltbar. Dies muss nicht noch einmal erläutert werden. Scherers Fehleinschätzung bezüglich der *Ev-Priorität wirkt sich dann verständlicherweise in der Durchführung ihres Vergleichs auf Schritt und Tritt aus. Diese Konsequenzen betreffen nicht nur die Einschätzungen in der Sache, sondern auch den methodischen Status ihrer Argumente. 1. Der negative Beweis ist in historischen Fragestellungen immer problematisch: Warum ein Ereignis nicht eingetreten ist, warum bei der Rezeption eines Textes bestimmte Elemente nicht übernommen wurden, lässt sich prinzipiell nicht mit derselben Sicherheit erklären, wie im positiven Fall. Dieses Phänomen betrifft z. B. das Fehlen des Stoffs *9,51-19,28 in Mk: Warum Mk bestimmte Passagen aus *Ev übergeht, lässt sich bestenfalls mutmaßen. Warum er andere rezipiert, lässt sich dagegen (in Grenzen) plausibilisieren. 70 In diesem Zusammenhang ist eine Überlegung von Bedeutung, die Benjamin Ziemer im Zusammenhang der Rezeption und Bearbeitung von biblischen und außerbiblischen Texten im Umfeld des Alten Testaments angestellt hat. 71 Von den vier Möglichkeiten der redaktionellen Bearbeitung eines Textes (Hinzufügung, Auslassung, Austausch und Umstellung) ist die Auslassung am konservativsten (denn sie bewahrt wenigstens einen Teil des Textes unverändert), die Hinzufügung dagegen am radikalsten (denn sie fügt ihm Eigenes hinzu, ohne dies kenntlich zu machen und erweist sich darin als Interpolation: als literarische Fälschung). Für unsere Frage deutet dies auf den Gestaltungswillen der lk Redaktion hin. Zugleich bestätigt diese Einschätzung die Bewertung der Aussagekraft von Auslassungen und Ergänzungen durch Mk. 2. Daneben gibt es mehrdeutige Beobachtungen, u. a. das Phänomen der Alternating Primitivity im Material der mt-lk Doppelüberlieferung. Es gehört zu den (gar nicht so wenigen) Beobachtungen, die unabhängig von dem theoretischen Rahmen, in dem sie als Begründung verwendet werden, ______________________________ 69 Scherers Forderung nach »einer unabhängigen Rekonstruktion bzw. einem kritisch gesicherten *Ev- Text« (a. a. O. 59) ist verständlich. Der erste Wunsch bezieht sich auf die Unabhängigkeit von der Bestimmung der Bearbeitungsrichtung. Wie oben gezeigt, ist er unerfüllbar. Wie ein »kritisch gesicherter *Ev-Text« aussieht, ist ja gerade strittig und von den methodischen Prämissen abhängig. Indem ich diese Prämissen diskutiere, versuche ich diesem Wunsch gerecht zu werden. 70 S CHERER , a. a. O. 61, ähnlich auch B E D UHN , a. a. O. 15; vgl. dazu o. § 11.1. Deswegen lässt sich ja auch das Vorhandensein von Mk 6,45-8,26 sehr gut erklären: das ist das Material, das im Horizont der Zwei-Quellentheorie als »Große Auslassung« bekannt ist. Man kann die redaktionellen Ziele gut nachzeichnen, die Mk mit dieser Ergänzung verfolgt hat. Das Argument, das Scherer mir in diesem Zusammenhang unterstellt (a. a. O. 61), ist allerdings unzutreffend und stellt die Argumentation auf den Kopf: Ich schließe nicht aus »ästhetischen Gründen« darauf, dass *Ev diese Passage nicht gekannt haben könnte; vielmehr folge ich dem eindeutigen Urteil der Häresiologen, dass sie in *Ev gefehlt hat - und folgere daraus, dass Mk diese Passage redaktionell ergänzt hat. Dafür gibt es, wie gesagt, gute theologische Gründe, die sich dann aufgrund der redaktionellen Kohärenz in Mk positiv zeigen lassen (im Übrigen finde ich, dass »ästhetische Gründe« eine unzureichende Begründung für so tiefreichende redaktionelle Eingriffe wären). 71 B. Z IEMER , Die Kritik des Wachstumsmodells, Leiden - Boston 2020, 537ff. 460 Das marcionitische Evangelium in der Diskussion richtig sind. 72 Dieses Phänomen lässt sich unter den Voraussetzungen der Zwei-Quellentheorie gut erklären, aber es begründet sie nicht. Das heißt umgekehrt: das Phänomen der Alternating Primitivity ist als Begründung für die Zwei-Quellentheorie dann unzulässig, wenn es eine Alternative mit demselben Erklärungswert gibt, die aber weniger Voraussetzungen macht. Die ist mit *Ev und der *Ev-Priorität gegeben. Aber auch in diesem Fall gilt: Die Alternating Primitivity ist im Rahmen der *Ev-Priorität bequem zu erklären, aber sie begründet den Rahmen nicht und kann ihn nicht begründen. 73 Analoges gilt auch für die »Minor Agreements«: Sie sind bei der Theoriebildung zu berücksichtigen und können in verschiedenen Modellen erklärt werden (z. B. Markan- Priority-Without-Q; Neo-Griesbach; *Ev-Priorität), aber sie begründen keines dieser Modelle; auch nicht die *Ev-Priorität. Umgekehrt werfen die »Minor Agreements« erhebliche Schwierigkeiten für die Zwei-Quellentheorie auf und erfordern Zusatzannahmen, die methodisch unzulässig sind, wenn es eine voraussetzungsärmere Erklärung gibt. 3. Schließlich führt Scherer noch den jeweils höheren Erklärungswert als Kriterium an. Sie nennt weitere Beobachtungen, von denen sie annimmt, dass sie im Rahmen der Zwei-Quellentheorie eine bessere Erklärung finden als im Zusammenhang der *Ev-Priorität. Ob das wirklich zutrifft, bleibt zu prüfen. 74 Aber wie sich die Einzelphänomene zu der sie erklärenden umfassenden Theorie verhalten, erfordert dann doch eine genauere Klärung. Im Horizont historischen Verstehens lassen sich Theorien nicht (positiv) beweisen, sondern nur entweder widerlegen (das leisten beispielsweise die »Minor Agreements« für die Zwei-Quellentheorie) oder durch eine mehr oder weniger große Wahrscheinlichkeit plausibilisieren. Sofern alternative Erklärungsmodelle denselben methodischen Status besitzen, also von denselben Vorannahmen ausgehen, entscheidet zwischen ihnen das Ausmaß dieser Plausibilität, also das Gewicht der erklärten Phänomene. Aber wenn konkurrierende Erklärungsmodelle einen unterschiedlichen methodischen Status besitzen und von verschiedenen Voraussetzungen ausgehen, dann entscheidet zwischen ihnen in erster Linie, welches mit weniger Zusatzannahmen auskommt. Das heißt: Eine Kritik an meinem Vorschlag zur Überlieferungsgeschichte der Evangelien, die sich nur auf einen Vergleich mit der Zwei-Quellentheorie hinsichtlich des jeweiligen Erklärungswertes stützt, ist methodisch unzureichend, weil sie die ______________________________ 72 S CHERER , a. a. O. 64. 73 N. b.: Damit entfällt auch die Beweispflicht, die Scherer mir in diesem Zusammenhang (a. a. O. 64, bei Anm. 228) aufbürden will. 74 Ein Beispiel, das Scherer zur Begründung dieses Arguments anführt, ist das Verhältnis von *5,31 ὑγιαίνοντες zu Mk 2,17 ἰσχύοντες: die mk Formulierung sei als lectio difficilior zu werten und daher im Verhältnis zu *Ev/ Lk ursprünglich (a. a. O. 62f). Mich überzeugen weder die Begründung noch das Ergebnis. Denn die (für die Textkritik entwickelte) lectio difficilior-Regel taugt (in Grenzen) zur Erklärung, wenn Unverständliches verständlich gemacht wird; für das Verständnis umfangreicherer, redaktioneller (! ) Änderungen ist die Regel allerdings wenig hilfreich. Denn sie unterstellt, dass Schwieriges bei der Redaktion immer vereinfacht werden müsste. Das trifft in vielen Fällen zu, aber keineswegs immer. Denn etwas Einfaches kann auch durch eine beabsichtigte Sinnanreicherung komplexer (und schwieriger verständlich) werden. Die redaktionellen Veränderungen in der synoptischen Überlieferung liefern dafür zahlreiche Beispiele; ich halte das mk ἰσχύοντες wegen des intendierten semantischen Überschusses (es geht eben nicht nur um Geheilte, sondern auch um Gerechtgemachte) für eines davon. Ein Nachwort zur Methodologie 461 weitergehende Frage nach der Bearbeitungsrichtung zwischen *Ev und Lk ausklammert. Die *Ev-Priorität bleibt auch für die Überlieferungsgeschichte der Evangelien die eine, entscheidende Grundlage, denn sie erweist die methodische Überlegenheit des hier entworfenen Modells der Überlieferungsgeschichte über die Zwei-Quellentheorie, die ja mit »Q« eine zusätzliche, unbezeugte Quelle postulieren muss. Eine ganz andere Frage wäre es dagegen, ob unter der Prämisse der *Ev- Priorität (! ) neben meinem Vorschlag zur Erklärung der Entstehung der Evangelienüberlieferung (§§ 10-14) auch andere Erklärungen denkbar oder plausibel wären. Aber da diese Prämisse nicht geteilt wurde, gibt es auch keine alternativen Interpretationen; ich habe keinen Anlass zu einer Revision des Modells. d. Kanonische Redaktion und Kanonische Ausgabe: plura et remotiora videre Ein allerletzter Punkt betrifft die Annahme einer Kanonischen Redaktion, also einer einheitlichen und vereinheitlichenden Bearbeitung, die über alle Evangelien gegangen ist. Ich nehme eine solche Redaktion an und identifiziere sie einerseits mit der »lk Redaktion« von *Ev, andererseits mit der editio princeps des Neuen Testaments, die (zumindest: auch) als Reaktion auf die marcionitische »Bibel« als Sammlung von 27 Einzelschriften veröffentlicht wurde. Jason BeDuhn moniert, dass dieses Szenario viel zu weit gehe, so dass ich mich derart in speziellen Annahmen, Spekulation und Widersprüchen verheddere, dass es eines eigenen Artikels bedürfe, »um all diese Probleme durchzugehen. Es genügt zu sagen, dass es nicht den Hauch eines Belegs für einen kompletten neutestamentlichen Kanon bei den christlichen Autoren des 2. Jh. gibt - abgesehen von Marcions deutlich kleinerem.« 75 Obwohl diese Frage die Diskussion um das marcionitische Evangelium ein gutes Stück verlässt und obwohl BeDuhn seine Einwände hier nur andeutet, will ich diese Kritik nicht ohne Antwort lassen. Denn zum einen kann man vermuten, dass auch andere seine Bedenken teilen, zum anderen vermute ich im Hintergrund dieser Kritik genau diejenigen methodischen Grundlagenprobleme, die in diesem Nachwort ja zur Sprache kommen sollen. 1. Was BeDuhn als Spekulation brandmarkt, ist für mich die Folge der elementarsten aller methodologischen Prämissen, nämlich »Occam’s Razor«. Denn wenn man einmal akzeptiert, dass das kanonische Lk eine redaktionelle Bearbeitung des marcionitischen Evangeliums ist (was BeDuhn ja tut), und wenn man außerdem die Spuren einer vereinheitlichenden Bearbeitung über die Einzeltexte hinweg zur Kenntnis nimmt (beispielsweise die Vereinheitlichung der Datierung der Auferstehung am dritten Tag in den Ankündigungen der Passion), 76 dann ist es tatsächlich ______________________________ 75 J. B E D UHN , New Studies of Marcion’s Evangelion, ZAC 21 (2017), 8-24: 17. 76 Vgl. dazu o. 350ff; wenn ich recht sehe, stellt BeDuhn diese Beobachtungen nicht in Frage. 462 Das marcionitische Evangelium in der Diskussion die einfachste - und deshalb die methodisch gebotene - Annahme, diese Bearbeitungen miteinander zu identifizieren: Man muss davon auszugehen, dass es nur eine solche Bearbeitung gab. Denn die Alternative zu dieser Überlegung, die im Zusammenhang der textkritischen Überlegungen bereits angeklungen ist, ist nicht gangbar: Wenn es die eine (identifzierbare) Bearbeitung nicht gäbe, müsste man für die Entstehung der Varianten in den Handschriften - also beispielsweise das Nebeneinander der unterschiedlichen Datierungen der Auferstehung - individuelle Entscheidungen beliebiger Kopisten verantwortlich machen und zahlreiche, kontingente Eingriffe postulieren. Mit anderen Worten: Ich kann die Zusammengehörigkeit der unterschiedlichen redaktionellen Maßnahmen tatsächlich nicht positiv durch ein Testimonium oder ähnliches belegen. Stattdessen begründe ich sie mit dem Gesetz der methodologischen Sparsamkeit. Dies impliziert allerdings die Umkehrung der Kritik. Der Vorwurf der Spekulation trifft folglich diejenigen, die anstelle einer einzigen (und historisch plausiblen) Bearbeitung mehrere (historisch undefinierbare) Bearbeitungsinstanzen postulieren, ohne dass sie durch die Daten wahrscheinlich oder gar notwendig gemacht würden. 2. Dasselbe Argument betrifft noch deutlicher die andere von BeDuhn monierte These: Dass es im 2. Jh. eine Kanonische Ausgabe von 27 Schriften gegeben habe. BeDuhn sieht richtig, dass die Annahme einer vereinheitlichenden Bearbeitung der Evangelien sehr gut konvergiert mit der These einer Kanonischen Ausgabe des Neuen Testaments, wie sie David Trobisch vorgetragen hat. 77 Konvergenz bedeutet: Beide Thesen sind in ihrer Begründung voneinander unabhängig, so dass eine Falsifikation der einen These nicht auch die Widerlegung der anderen nach sich ziehen würde. Gerade aufgrund dieser methodischen Unabhängigkeit bewirkt die Konvergenz für beide Thesen eine zusätzliche Plausibilisierung, die über die Summe der Begründungen beider Thesen im Einzelnen hinausgeht. BeDuhn weiß das. Seine Kritik an der Konvergenz bezieht sich daher nicht auf die Bearbeitung des marcionitischen Evangeliums durch Lk, sondern nur auf die These der Kanonischen Ausgabe, für die er »not a shred of evidence in second century Christian writers« findet. Diese Einschätzung ist weit verbreitet, aber sie ist methodisch problematisch. Denn unabhängig von allen historischen Befunden (die man so oder auch anders interpretieren kann) hält diese Einschätzung die sekundären Zeugen für wichtiger als die Sache selbst. Welcher Richter würde sein Urteil allein auf (durchaus widersprüchliche) Zeugenaussagen gründen und darauf ______________________________ 77 Vgl. D. T ROBISCH , The First Edition of the New Testament, Oxford/ New York 2 2012; zur Rezeption dieser These s. jetzt J. H EILMANN , Die These einer editio princeps des Neuen Testaments im Spiegel der Forschungsdiskussion der letzten zwei Jahrzehnte, in: J. Heilmann, M. Klinghardt (Hg.), Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert, Tübingen 2018, 21-56. Ein Nachwort zur Methodologie 463 verzichten, das Corpus Delicti selbst in Augenschein zu nehmen? Denn wir haben ja doch Handschriften, die die fest überlieferten Teilsammlungen der kanonischen Ausgabe und damit die Existenz des Neuen Testaments bezeugen und die bis an (oder sogar bis in) das 2. Jh. zurückreichen. 78 Wenn also Justin aus dem kanonischen Lk oder aus Act zitiert; wenn Papias die Evangelien unter ihren kanonischen Bezeichnungen kennt; oder wenn Irenaeus das kanonische Vierevangelienbuch legitimiert, dann setzen sie jeweils das ganze Neue Testament voraus. Zwar belegt keiner dieser Zeugen das Neue Testament in seinem vollen Umfang. Aber dies ist auch nicht notwendig. Denn tatsächlich kennen wir in der fraglichen Zeit nur zwei christliche Schriftensammlungen: Die »marcionitische« Sammlung von elf Schriften und das Neue Testament in seiner kanonisch gewordenen Form mit 27 Schriften. Diese beiden Sammlungen sind tatsächlich bezeugt. Genauer muss man sagen: Nur diese beiden Sammlungen sind bezeugt, so dass jede Theorie beweispflichtig ist, die über diese beiden bezeugten Sammlungen hinaus zusätzliche Sammlungs- oder Entwicklungsschritte postuliert. Das lange Zeit verbreitete Modell eines schrittweisen Wachstums der Sammlung (das eine unbestimmbare Zahl einzelner Teilsmmlungen impliziert) fällt daher der Schärfe von Occams Rasiermesser zum Opfer: Die postulierten Zwischenstufen sind eine nicht notwendige Vermehrung der Voraussetzungen. Für die gibt es dann in der Tat »not a shred of evidence«. Das Postulat solcher Zwischenstufen ist nicht nur historisch überflüssig, sondern methodisch unzulässig. 3. Man kann allerdings noch ein ganzes Stück weitergehen. Denn wenn man sich einmal darauf einlässt, dass die hier begründete lk Redaktion von *Ev und die kanonische Redaktion des NT in eins fallen, wenn also die Annahme der einheitlichen Redaktion des Vier-Evangelienbuchs mit Trobischs These der Kanonischen Redaktion konvergiert, dann erhält man den heuristischen Rahmen, der weitere Fragestellungen zulässt. Die Überlieferungsgeschichte hat den Weg von *Ev, den ersten Teil der älteren Marcionitischen Sammlung, bis zur jüngeren Kanonischen Ausgabe nachgezeichnet. Dies eröffnet den Blick auf den anderen Teil der Marcionitischen Ausgabe, das sog. »Apostolikon« mit zehn Paulusbriefen. Will man die von BeDuhn in Zweifel gezogene Konvergenz zwischen der Überlieferungsgeschichte der Evangelien mit der These der Kanonischen Redaktion überprüfen, dann bieten sich dafür die häresiologischen Nachrichten über die Paulusbriefe der Marcionitischen Sammlung an: Lassen sich die Differenzen im Textbestand beider Sammlungen als redaktionelle Eingriffe verständlich machen? Ist für sie dieselbe Bearbeitungsrichtung ______________________________ 78 Vgl. zuletzt W. C LARYSSE , P. O RSINI , Christian Manuscripts from Egypt to the Times of Constantine, in: J. Heilmann, M. Klinghardt (Hg.), Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert, Tübingen 2018, 107-114. 464 Das marcionitische Evangelium in der Diskussion von der Marcionitischen zur Kanonischen Ausgabe erkennbar? Und: Lassen sich vielleicht Kohärenzsignale finden, die eine Verbindung zwischen der Redaktion des marcionitischen Apostolos und der Redaktion von *Ev nahelegen? Die positive Antwort auf diese Fragen würde eine weitere (methodisch und sachlich unabhängige) Konvergenz etablieren. Der Hinweis auf die kanonische Bearbeitung der marcionitischen Paulusbriefe ist schon mehrfach gegeben worden. 79 Jetzt liegen die ersten und sehr überzeugenden Ergebnisse vor. 80 Trotz unterschiedlicher Lösungsansätze und Begündungen kommen sie zum selben Resultat: Die kanonischen Paulusbriefe sind eine redaktionelle Bearbeitung ihrer marcionitischen Entsprechungen. Die beiden Beispiele (Rm und Eph) haben für die Interpretation der kanonischen Briefe Konsequenzen von unterschiedlichem Gewicht. Wichtiger sind die Einsichten für die hier zur Debatte stehende Frage nach der Entstehung der Kanonischen Ausgabe: Denn die Priorität des marcionitischen Apostolos vor den kanonischen Paulusbriefen belegt dieselbe Bearbeitungsrichtung, die auch *Ev und Lk verbindet. Darüber hinaus bestätigt sich auch der sehr viel wichtigere Verdacht, dass die redaktionelle Bearbeitung von *Ev mit der des marcionitischen Apostolos zusammenhängt. So weit erkennbar, sind die redaktionellen Eingriffe in beiden Bereichen (Evangelium und Apostolos) kohärent: Es handelt sich um die eine, einheitliche Kanonische Redaktion. Die Annahme der einen Kanonischen Ausgabe liegt also nicht nur aus grundsätzlichen, methodischen Erwägungen nahe, sie lässt sich auch sehr konkret inhaltlich bekräftigen. Die heuristische Verheißung hält, was sie verspricht: Die veränderte Perspektive lässt plura et remotiora erkennen. * Methoden sind nicht um ihrer selbst willen wichtig, und es gibt auch keine absoluten Methoden. Die methodischen Instrumente sind immer abhängig von den Fragen, auf die eine plausible Antwort gesucht wird. Da sich Fragestellungen verändern (meistens in einem allmählichen Prozess), ändern sich mit ihnen auch die Instrumente, mit denen sie bearbeitet werden. Aus diesem Grund ist von Zeit zu Zeit eine methodologische Reflexion so wichtig: Sie zeigt an, ob beide Prozesse immer kongruent verlaufen, wie sich Fragestellungen verändert und Voraussetzungen verschoben haben. ______________________________ 79 Z. B. M. K LINGHARDT , Abraham als Element der Kanonischen Redaktion, in: J. Heilmann, M. Klinghardt (Hg.), Das Neue Testament und sein Text im 2. Jh., Tübingen 2017, 223-258, 225ff; s. auch o. S. 123 Anm. 93; S. 362 Anm. 55. 80 A. G OLDMANN , Über die Textgeschichte des Römerbriefs, Tübingen 2020; T. F LEMMING , Die Textgeschichte des Epheserbriefes. Eine neue Perspektive auf den Laodicenerbrief der 10-Briefe-Sammlung (Diss. phil. TU Dresden 2019; demnächst in der TANZ-Reihe). Ein Nachwort zur Methodologie 465 Im Umfeld der Diskussion um das marcionitische Evangeliums haben sich die Fragen und Voraussetzungen gegenüber der Forschungslandschaft, in der Harnack vor 100 Jahren arbeitete, ganz erheblich verändert. Diese Veränderung fällt noch gravierender aus, wenn man in Rechnung stellt, dass die letzte Begründung von Harnacks methodischer Grundlage ihrerseits schon 70 Jahre zurücklag: Volckmars Votum für die Lk-Priorität aus dem Jahr 1852 beanspruchte Plausibilität vor dem Hintergrund eines Wissensstandes, den schon Harnack längst hinter sich gelassen hatte und den wir heute noch viel weniger teilen. Die einleitende Skizze zur Forschungsgeschichte (§ 1) hat auch die Funktion, diesen zeitlichen und sachlichen Abstand deutlich werden zu lassen. Das Bewusstsein dieser Veränderungen nötigt dazu, die eigenen (häufig stillschweigend rezipierten) Voraussetzungen zu überprüfen und sie gegebenenfalls anzupassen. Über die Erklärung von (literarischen, historischen oder theologischen) Einzeldaten hinaus ist die methodologische Reflexion in der Lage, unterschiedliche Fragestellungen offenzulegen. Dadurch könnte sie Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden, die wichtigen Streitfragen identifizieren und auf diese Weise den wissenschaftlichen Diskurs befördern. Das ist jedenfalls die Hoffnung. Literatur 1. Bibliographische Abkürzungen ACO Acta Conciliorum Oecumenicorum ed. E. Schwartz et al., Berlin u. a. 1914ff BAC Biblioteca de autores cristianos, Madrid Bauer, Wb W. Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriſten des Neuen Testaments BDR Blass, Fr., A. Debrunner, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch bearb. von Fr. Rehkopf BKV Bibliothek der Kirchenväter, Kempten 1869ff CBL Collectanea Biblica Latina, Città del Vaticano 1912ff CCL Corpus Christianorum. Series Latina, Turnhout 1953ff CEQ The Critical Edition of Q ed. J. M. 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Mainz 2015/ 5), Mainz/ Stuttgart 2015 Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter (TANZ) begründet von Klaus Berger, François Vouga, Michael Wolter und Dieter Zeller herausgegeben von Matthias Klinghardt, Günter Röhser, Stefan Schreiber und Manuel Vogel Bisher sind erschienen: Frühere Bände finden Sie unter: https: / / www.narr.de/ theologie-kat/ theologiereihen-kat/ tanz/ ? ___store=narr_starter_de Band 31 Dieter Massa Verstehensbedingungen von Gleichnissen Prozesse und Voraussetzungen der Rezeption aus kognitiver Sicht 1999, 389 Seiten, €[D] 54,- ISBN 978-3-7720-2823-6 Band 32 Hanna Roose Das Zeugnis Jesu Seine Bedeutung für die Christologie, Eschatologie und Prophetie in der Offenbarung des Johannes 1999, 252 Seiten, €[D] 48,- ISBN 978-3-7720-2824-3 Band 33 Gabriele Faßbeck Der Tempel der Christen Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur Aufnahme des Tempelkonzepts im frühen Christentum 2000, XII, 317 Seiten, €[D] 48,- ISBN 978-3-7720-2825-0 Band 34 Holger Sonntag NOMOΣ ΣΩTHP Zur politischen Theologie des Gesetzes bei Paulus und im antiken Kontext 2000, XII, 376 Seiten, €[D] 48,- ISBN 978-3-7720-2826-7 Band 35 Markus Sasse Der Menschensohn im Evangelium nach Johannes 2001, XIV, 337 Seiten, €[D] 43,- ISBN 978-3-7720-2827-4 Band 36 Michael Labahn/ Jürgen Zangenberg (Hrsg.) Zwischen den Reichen: Neues Testament und Römische Herrschaft Vorträge auf der ersten Konferenz der European Association for Biblestudies 2002, VIII, 286 Seiten, €[D] 48,- ISBN 978-3-7720-2828-1 Band 37 Johannes Krug Die Kraft des Schwachen Ein Beitrag zur paulinischen Apostolatstheorie 2001, 350 Seiten, €[D] 64,- ISBN 978-3-7720-2829-8 Band 38 Byung-Mo Kim Die paulinische Kollekte 2002, 220 Seiten, €[D] 44,- ISBN 978-3-7720-2830-4 Band 39 Vincenzo Petracca Gott oder das Geld Die Besitzethik des Lukas 2003, XIV, 410 Seiten, €[D] 64,- ISBN 978-3-7720-2831-1 Band 40 Jürg Buchegger Erneuerung des Menschen Exegetische Studien zu Paulus 2003, XIV, 409 Seiten, €[D] 64,- ISBN 978-3-7720-2832-8 Band 41 Claudia Losekam Die Sünde der Engel Die Engelfalltradition in frühjüdischen und gnostischen Texten 2010, VI, 407 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8001-2 Band 42 Stefan Alkier/ Jürgen Zangenberg (Hrsg.) Unter Mitarbeit von C. Dronsch und M. Schneider Zeichen aus Text und Stein Studien auf dem Weg zu einer Archäologie des Neuen Testaments 2003, 540 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8007-4 Band 43 Alexander Mittelstaedt Lukas als Historiker Zur Datierung des lukanischen Doppelwerks 2005, 271 Seiten, €[D] 59,- ISBN 978-3-7720-8140-8 Band 44 Anja Cornils Vom Geist Gottes erzählen Analysen zur Apostelgeschichte 2006, VIII, 283 Seiten, €[D] 68,- ISBN 978-3-7720-8156-9 Band 45 Joel White Die Erstlingsgabe im Neuen Testament 2007, 374 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8210-8 Band 46 Jörg Michael Bohnet Die Berichte über die Himmelfahrt Jesu 2015, ca. 430 Seiten, ca. €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8216-0 Band 47 Renate Banschbach Eggen Gleichnis, Allegorie, Metapher Zur Theorie und Praxis der Gleichnisauslegung 2007, XII, 312 Seiten, €[D] 64,- ISBN 978-3-7720-8238-2 Band 48 Frank Holzbrecher Paulus und der historische Jesus Darstellung und Analyse der bisherigen Forschungsgeschichte 2007, X, 200 Seiten, €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8242-9 Band 49 Armin D. Baum Der mündliche Faktor Analogien zur synoptischen Frage aus der antiken Literatur, der Experimentalpsychologie, der Oral poetry-Forschung und dem rabbinischen Traditionswesen 2008, XVIII, 526 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8266-5 Band 50 Christian Kurzewitz Weisheit und Tod Die Ätiologie des Todes in der Sapientia Salomonis 2010, 194 Seiten, €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8349-5 Band 51 Sascha Flüchter Die Anrechnung des Glaubens zur Gerechtigkeit Auf dem Weg zu einer sozialhistorisch orientierten Rezeptionsgeschichte von Gen 15,6 in der neutestamentlichen Literatur 2010, XIV, 385 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8373-0 Band 52 Philipp Kurowski Der menschliche Gott aus Levi und Juda Die Testamente der zwölf Patriarchen als Quelle judenchristlicher Theologie 2010, VI, 195 Seiten, €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8384-6 Band 53 Jochen Wagner Die Anfänge des Amtes in der Kirche Presbyter und Episkopen in der frühchristlichen Literatur 2011, 358 Seiten, €[D] 68,- ISBN 978-3-7720-8411-9 Band 54 Stephan Hagenow Heilige Gemeinde - Sündige Christen Zum Umgang mit postkonversionaler Sünde bei Paulus und in weiteren Texten des Urchristentums 2011, 370 Seiten, €[D] 68,- ISBN 978-3-7720-8419-5 Band 55 Soham Al-Suadi Essen als Christusgläubige Ritualtheoretische Exegese paulinischer Texte 2011, 347 Seiten, €[D] 68,- ISBN 978-3-7720-8421-8 Band 56 Matthias Klinghardt/ Hal Taussig (Hrsg.) Mahl und religiöse Identität im frühen Christentum Meals and Religious Identity in Early Christianity 2012, 372 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8446-1 Band 57 Philipp F. Bartholomä The Johannine Discourses and the Teaching of Jesus in the Synoptics A Contribution to the Discussion Concerning the Authenticity of Jesus’ Words in the Fourth Gospel 2012, XIV, 491 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8457-7 Band 58 Wichard von Heyden Doketismus und Inkarnation Die Entstehung zweier gegensätzlicher Modelle von Christologie 2014, XIV, 567 Seiten, €[D] 88,- ISBN 978-3-7720-8524-6 Band 59 Julian Petkov Altslavische Eschatologie Texte und Studien zur apokalyptischen Literatur in kirchenslavischer Überlieferung 2015, 495 Seiten, ca. €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8531-4 Band 60 Matthias Klinghardt Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien Band I: Untersuchung | Band II: Rekonstruktion, Übersetzung, Varianten 2020, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, 2 Bände, XXVIII, 1480 Seiten, €[D] 218,- ISBN 978-3-7720-8742-4 Band 61 Jan Heilmann/ Matthias Klinghardt (Hrsg.) Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert 2018, 322 Seiten, €[D] 118,- ISBN 978-3-7720-8640-3 Band 62 Nathanael Lüke Über die narrative Kohärenz zwischen Apostelgeschichte und Paulusbriefen 2019, 302 Seiten, €[D] 98,- ISBN 978-3-7720-8677-9 Band 63 Alexander Goldmann Über die Textgeschichte des Römerbriefs Neue Perspektiven aus dem paratextuellen Befund 2020, 254 Seiten, €[D] 98,- ISBN 978-3-7720-8709-7 Band 64 Viktor Löwen Die zwölf Jünger Jesu Exegetische Untersuchungen zum Kreis der zwölf Jünger im Matthäusevangelium 2021, ca. 700 Seiten, €[D] 128,- ISBN 978-3-7720-8724-0 Band 65 Jan-A. Bühner Jesus und die himmlische Welt Das Motiv der kultischen Mittlung zwischen Himmel und Erde im frühen Judentum und in der von Jesus ausgehenden Christologie 2020, 490 Seiten, €[D] 98,- ISBN 978-3-7720-8725-7 ISBN 978-3-7720-8737-0 www.narr.de T A N Z Die Studie beschreibt den Ursprung und den Weg der Evangelientradition vom Anfang bis zum kanonischen Vier-Evangelienbuch. Sie legt dar, dass das marcionitische Evangelium das älteste Evangelium ist, das von allen kanonischen Evangelien benutzt und bearbeitet wurde. Die Folge dieser These ist ein neues Bild von der Entstehung der Evangelien. Es unterscheidet sich grundlegend von allen anderen Modellen (z.B. der Zwei-Quellentheorie) - mit weitreichenden Konsequenzen für viele wichtige Bereiche der neutestamentlichen Wissenscha‹. Band 1 enthält die methodische Grundlage: Den Nachweis, dass das kanonische Lk eine überarbeitete Fassung dieses ältesten Evangeliums ist. Auf dieser Grundlage wird dann ein Modell der Überlieferung der kanonischen Evangelien skizziert. Ein ausführliches Nachwort diskutiert die jüngsten Untersuchungen zu Marcions Evangelium. Es setzt sich mit kritischen Einwänden auseinander und analysiert die methodischen Grundlagen, auf denen die neueren Rekonstruktionen basieren.