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1968 in der westeuropäischen Literatur

2021
978-3-7720-5749-6
A. Francke Verlag 
Ines Gamelas

Diese komparatistische Studie untersucht und vergleicht literarische Darstellungen der 1968er-Studentenbewegung und des Generationenkonfliktes anhand von sechs exemplarischen Prosawerken, die zwischen 1968 und 1979 in der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Portugal publiziert wurden: Lenz von Peter Schneider, Heißer Sommer von Uwe Timm, Derrière la vitre von Robert Merle, I giorni del dissenso von Giorgio Cesarano, Condenados a vivir von José María Gironella und Sem Tecto, entre Ruínas von Augusto Abelaira. Nach der zeithistorischen und literaturgeschichtlichen Kontextualisierung dieser Werke wird danach gefragt, wie der Generationenkonflikt, der politische Aktivismus und die sexuelle Revolution thematisch und formensprachlich bearbeitet sind. Das Buch weitet damit die Forschung zur »literarisierten Revolte« (R. Schnell) auf Westeuropa aus.

1968 in der westeuropäischen Literatur Inês Gamelas Der Generationenkonflikt und die akademischen Unruhen in Prosawerken zwischen 1968 und 1979 werken zwischen 1968 und 1979 1968 in der westeuropäischen Literatur Inês Gamelas 1968 in der westeuropäischen Literatur Der Generationenkonflikt und die akademischen Unruhen in Prosawerken zwischen 1968 und 1979 Die vorliegende Studie wurde 2020 am Fachbereich 05 Sprache, Literatur, Kultur der Justus-Liebig-Universität Gießen und von der Universität Aveiro im Rahmen eines internationalen Cotutelle-Vertrages als Dissertation angenommen. Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT. © 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-7720-8749-3 (Print) ISBN 978-3-7720-5749-6 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0136-9 (ePub) Umschlagabbildung: Celso Assunç-o © 2021 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Meinen Eltern 13 1 29 1.1 30 1.2 43 1.3 49 1.4 55 1.5 60 1.6 66 1.7 73 2 75 2.1 76 2.1.1 76 2.1.2 85 2.1.3 87 2.1.4 96 2.2 102 2.2.1 102 2.2.2 108 2.2.3 111 2.2.4 118 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historischer und kultureller Rahmen der akademischen Unruhen und des Generationenkonfliktes der 1960er-Jahre in Westeuropa . . . . . . . . . . . . Das soziokulturelle Brodeln im Westeuropa der späten 1960er-Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bundesrepublik: die Herausbildung einer Alternativkultur »Sois jeune et tais toi«: der Ausbruch des Mai 68 in Frankreich Die italienische 1968er-Bewegung: ein langer und heftiger Frühling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Öffnung vs. Beharren: die Dissidenz der jungen Spanier in den 1960er-Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Portugal in den 1960er-Jahren: eine Bühne für Utopie . . . . . . Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Darstellung der Prosawerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lenz von Peter Schneider und Heißer Sommer von Uwe Timm Peter Schneider und Uwe Timm: die literarisierte Revolte in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ereignisse der Studentenrevolte in Lenz und in Heißer Sommer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liebe und Sexualität: die Revolution der Sitten . . . . . . Derrière la vitre von Robert Merle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Derrière la vitre und die literarische Darstellung der französischen Studentenbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Vorabend des akademischen Aufruhrs in Nanterre: der Fokus von Derrière la vitre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »S’il y a quelqu’un qui vit dans la terreur de ressembler à ses parents, c’est moi«: einige Aspekte der sexuellen Revolution und des Sittenwandels . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 121 2.3.1 121 2.3.2 128 2.3.3 132 2.3.4 139 2.4 142 2.4.1 142 2.4.2 148 2.4.3 152 2.4.4 159 2.5 163 2.5.1 163 2.5.2 170 2.5.3 172 2.5.4 180 3 183 3.1 183 3.2 202 3.2.1 203 3.2.2 210 3.2.3 212 3.2.4 222 3.2.5 227 3.3 229 3.3.1 230 3.3.2 244 I giorni del dissenso von Giorgio Cesarano . . . . . . . . . . . . . . . . . I giorni del dissenso im Kontext der 1968er-Literatur in Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »questa patata che scotta«: die Mailänder Studentenbewegung in I giorni del dissenso . . . . . . . . . . »voler essere tra vestiti capelli e barbe una razza diversa«: Anmerkungen zur sexuellen Befreiung und zum Sittenwandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Condenados a vivir von José María Gironella . . . . . . . . . . . . . . Die Darstellung des Generationenkonfliktes der 1960er-Jahre im Spanien Francos in Condenados a vivir Erzählstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Darstellungen des Widerstands der jungen Generation Von verwöhnten Kindern zu jungen Rebellen: die sexuelle Revolution und der Sittenwandel . . . . . . . . . . Sem Tecto, entre Ruínas von Augusto Abelaira . . . . . . . . . . . . . Das Portugal von 1968 in Sem Tecto, entre Ruínas . . . . Erzählstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sichtweise der jungen und der nicht mehr jungen Figuren auf die politischen Unruhen von 1968 . . . . . . . »E o que era tabo, desejo angustiado, consciência pecaminosa, já hoje o n-o é«: Zeichen der sexuellen Revolution und des Sittenwandels . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Generationenkonflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politischer Aktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegen die Ordinarienuniversität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Für die Meinungs- und Pressefreiheit . . . . . . . . . . . . . . Für den Arbeiterkampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Für die Veränderung der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mal engagierter, mal weniger engagiert . . . . . . . . . . . . . Sexuelle Revolution und Sittenwandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reflexionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt 3.3.3 253 3.3.4 255 3.4 257 271 279 Kinder vs. Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktion und Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Inhalt Danksagung Verschiedene Werke, zahlreiche Sprachen, ein Netzwerk von interessierten und engagierten Menschen - und eine Dissertation wird geboren. Ihnen allen gegenüber, Forschern und Freunden, die zur Verwirklichung dieser Arbeit beigetragen haben, möchte ich meine wahrhafte Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Disserta‐ tion, die im Rahmen eines internationalen Cotutelle-Vertrages zwischen der Universität Aveiro und der Justus-Liebig-Universität Gießen entstanden ist und die ich im Februar 2020 in Aveiro verteidigt habe. Beiden Universitäten danke ich für ihre dafür erstmals eingegangene Partnerschaft. Eine Übersetzung der Abgabefassung dieser Dissertation ins Portugiesische steht auf Anfrage im Repositorium der Universität Aveiro zur Verfügung. Ich danke aufrichtig Frau Prof. Dr. Maria Teresa Cortez von der Universität Aveiro: Dank ihrer vorbildlichen wissenschaftlichen Betreuung sowie ihrer permanenten Hingabe konnte diese Studie entstehen. Ich bedanke mich für ihre Unterstützung und Ermutigung zu dieser Idee seit der Masterarbeit und für die Tatsache, dass sie diese durch internationales Wasser führen konnte, immer überzeugt, diese Arbeit in einen sicheren Hafen bringen zu können. Besonders dankbar bin ich auch Herrn Prof. Dr. Joachim Jacob von der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seit dem Moment, in dem wir uns in Gießen zum ersten Mal trafen, zeigte er großes Interesse an diesem Projekt und schlug vor, es im Rahmen einer Cotutelle durchzuführen. Im Laufe dieses internatio‐ nalen gemeinsamen Weges hat er immer sein Wissen, seine Kommentare und Vorschläge mit mir geteilt, die zweifelsohne meine Arbeit sehr bereicherten. Mein herzlicher Dank geht auch an Dr. Sabine Großkopf, die Hochschuldo‐ zentin, die ich 2008 in Hamburg kennenlernte und die entscheidend sowohl für die Inspiration als auch für das kontinuierliche und sorgfältige Begleiten dieser Studie über 1968 war - ohne diese unermüdliche Biene wäre diese Arbeit nicht aus dem Bienenstock gekommen. Ein sehr herzliches Wort des Dankes geht nicht zuletzt an Christian, Jennifer und Jo-o für die Unterstützung, die über die aufmerksame und geduldige Lektüre meiner Arbeit weit hinausging, an Márcia Neves und Silvia Brunetta für die Hilfe bei der Überprüfung der französischen und italienischen Überset‐ zungen, an Herrn Prof. Dr. Paulo Pereira von der Universität Aveiro für den Vorschlag, Sem Tecto, entre Ruínas zu untersuchen, und für seine Betreuung während der Masterarbeit sowie an die vielen Professoren und Forscher des International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) für den ständigen Ideenaustausch an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) danke ich für zwei Kurzstipendien in den Jahren 2015 und 2017 sowie der Fundaç-o Portuguesa para a Ciência e a Tecnologia (FCT) [Portugiesische Stiftung für Wissenschaft und Technologie] für die finanzielle Unterstützung durch ein Doktorandensti‐ pendium. Sehr dankbar bin ich dem Narr Francke Attempto Verlag für die Aufnahme meines Buches in sein Programm und der VG Wort für die Übernahme der Druckkosten. Schließlich danke ich meinem Partner und meiner Familie für die Liebe und die Anteilnahme, die sie immer im Laufe dieser Zeit zeigten. Sie sind der Leuchtturm, dessen Licht mein Leben orientiert. 12 Danksagung 1 Die geschichtswissenschaftlichen und soziologischen Studien über die Jugendproteste und die Studentenrevolte der 1960er-Jahre nehmen 1968 als Symbol eines ausgedehnten Zeitraums anhaltender Unruhen an, der sich nicht auf die Ereignisse des einen Jahres beschränkt (vgl. Waters, 2010: 2). 2 In Il Sessantotto (2003) kommentieren Marcello Flores und Alberto De Bernardi das, was die jungen Menschen am Ende der 1960er-Jahre in Westeuropa nah zusammenbrachte: »Le differenze dei sistemi politici e delle realtà sociali si misuravano anche nella diversità profonda degli obiettivi [della generazione del ’68; IG], ma le forme di lotta e la cultura che le sorreggeva indicavano una contiguità che era segno di una appartenenza comune« (Flores/ De Bernardi, 2003: 108). [Die Unterschiede der politischen Systeme und der sozialen Wirklichkeiten zeigten sich auch in der Vielfalt der Ziele [der 1968er-Generation; IG], aber die Formen des Kampfes und die Kultur, die ihre Grundlage war, zeigten eine Nähe, die eine gemeinsame Zugehörigkeit bewies.] Einleitung Die Atmosphäre der Unruhen und der Jugendrevolte, die sich in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre verstärkte und ausbreitete, war ein beispielloses welt‐ weites Phänomen. Junge Menschen aus zahlreichen Ländern rebellierten gegen das Establishment und führten eine Protestkultur an, die die ältere Generation auf den verschiedensten Ebenen in Frage stellte: Familie, tradierte Lebens‐ weisen, gesellschaftliche Vorgaben, sexuelle Normen, Universität, nationale und internationale Politik, Konservatismus, Autoritarismus, alles wurde kritisiert. Der Diskurs des Widerstands internationalisierte sich dank der weltweit durch die Medien verfügbaren Informationen. Er fand in der provokativen Haltung der Jungen den Antrieb, der dazu beitrug, aus dem Jahr 1968 ein mythisches Jahr zu machen. 1968 war in der Tat ein Jahr, in dem die herrschenden Werte auf eine explosive Weise herausgefordert waren und ein Jahr eines einzigartigen Generationenkonfliktes, der historisch zum Symbol der Befreiung der Jugend wurde. 1 Zuerst in den Universitäten und danach auf den Straßen der großen Städte bekundeten die jungen Menschen ihren Willen, die Gesellschaft auf der politischen Ebene zu verändern und mit dem Establishment zu brechen. Diese Spaltung wurde auch im Privatleben deutlich, wo die junge Generation sei es durch die Musik, durch die Kleidung oder sei es durch die sexuelle Befreiung alternative Verhaltensweisen auslebte. Trotz der Unterschiede zwi‐ schen den politischen Systemen und Lebenswirklichkeiten der verschiedenen Länder sowie zwischen den Protestzielen, die in jedem Land von den jungen Menschen ausgewählt wurden, um ihre Empörung zu äußern, sticht doch eine gemeinsame Widerstandshaltung der jungen Generation Westeuropas hervor. 2 Diese Neigung zum Widerstand und zum Protest kennzeichnet den Generatio‐ nenkonflikt jener Epoche. Aus der Sicht der jungen Menschen verkörpern die Eltern die herrschende soziale Ordnung, während die neue Generation vorgibt, der Motor des gesellschaftlichen Wandels zu sein, indem sie sich am Aufbau einer erneuerten und von dem Wertekanon der älteren Generation befreiten Welt beteiligt. Die Literatur blieb nicht unberührt von dieser Welle der Rebellion. Es gibt eine beachtliche Anzahl von Prosawerken in verschiedenen nationalen Literaturen in Westeuropa, die den Generationenkonflikt und die Studentenrevolte in den Vordergrund rücken. In diesen Werken, die ab 1968 und im Laufe der 1970er-Jahre erscheinen, werden die individuellen und die kollektiven Erfah‐ rungen von Jungen und nicht mehr Jungen verarbeitet, die das soziopolitische Umfeld von Krise und Aufruhr am Ende der 1960er-Jahre in allen seinen zahlreichen Facetten erleben. Der diegetische Fokus jedes einzelnen dieser Texte betont den nationalen Raum, in dem sich die mit der Revolte verbundenen Ereignisse abspielen, was aber eine Öffnung zur anderen Seite der Grenzen nicht ausschließt. Gerade weil die 1968er-Bewegung und die Protestkultur am Ende der 1960er-Jahre einen transnationalen Charakter haben, gibt es Berührungs‐ punkte, die sich auf verschiedenen Ebenen durch diese Werke ziehen. In der vorliegenden Arbeit unternehme ich es, die Darstellung der Jugend und die literarische Verarbeitung des Generationenkonfliktes am Ende der 1960er-Jahre in Westeuropa durch eine exemplarische Auswahl von Prosa‐ werken, die zwischen 1968 und 1979 geschrieben und/ oder publiziert wurden, zu untersuchen und zu vergleichen. In der Reihe der ausgewählten Prosatexte sind dies Werke aus der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Portugal. Es sind fünf Räume mit einem unterschiedlichen soziopolitischen Kontext, in denen aber durchgehend die junge Generation, der die Protagonisten der verschiedenen Texte angehören, die Führungsrolle des Widerstands und des Protestes gegen den Status quo einnimmt. Das Ziel ist die Durchführung einer interdisziplinären und transnationalen Studie, die sich mit der »literarisierte[n; IG] Revolte« (Schnell, 2003: 388) in den ausgewählten Texten beschäftigt, d. h. eine Untersuchung der literarischen Darstellungen der Studentenunruhen und des Generationenbruchs sowie der soziokulturellen und politischen Spaltungen jener Epoche. Der Begriff literarisierte Revolte, der von Ralf Schnell geprägt wurde, erscheint zum ersten Mal im Band Literatur der Bundesrepublik: Autoren, Geschichte, Literaturbetrieb (1986). Schnell identifiziert eine Reihe von Texten (vor allem Romane und Erzählungen), die die politischen und soziokulturellen Ereignisse der Studentenbewegung von 1968 in der Bundesrepublik zum Thema der Literatur machen (vgl. Schnell, 2003: 388 f.). In meiner Arbeit wird dieser Begriff im weiteren Sinne verwendet, da er über die Grenzen der deutschen 14 Einleitung Literatur hinausgeht und für Prosawerke aus Westeuropa gilt, die ebenfalls die Protestkultur, die Studentenrevolte und den Generationenkonflikt am Ende der 1960er-Jahre fiktionalisieren. Indem das Konzept der literarisierten Revolte erweitert wird, werden die Gemeinsamkeiten und Einzelheiten, wie auch die Unterschiede und Ähnlichkeiten der Darstellung des Generationenkonfliktes und der akademischen Unruhen in den Texten der deutschen, französischen, italienischen, spanischen und portugiesischen Literatur erforscht. Der komparatistische Ansatz fokussiert die literarische Behandlung verschie‐ dener Fragen, die alle Texte durchziehen. Unter diesen Fragen sind besonders relevant: die Zeichen von Bruch und Spaltung, die die Beziehung zwischen den Generationen in den 1960er-Jahren prägen; der politische Aktivismus der jungen Menschen und ihr Wille, die Gesellschaft zu verändern; das Ausleben der sexuellen Revolution; und schließlich die narrativen Optionen bei dem Aufbau der Erzählung, die eher die Fiktionalisierung der turbulenten Zeiten vor und nach 1968 oder eher die Reflexion über diese Zeiten in den Vordergrund stellen. In dieser komparatistischen Gegenüberstellung werden ebenfalls die Erzählstrategien im Hinblick auf die Erzählsituationen, den narrativen Aufbau und den Diskurs betrachtet. Bevor ich die Auswahlkriterien des literarischen Korpus dieser Arbeit erkläre, werde ich kurz die Gründe nennen, die zum Ausschluss der in den Staaten des Warschauer Paktes veröffentlichten Texte aus dieser Zeit geführt haben. Der erste Grund liegt in meinen Kenntnissen von Fremdsprachen: Da ich die Sprachen dieser Länder nicht beherrsche, wäre es unmöglich gewesen, jene Texte - und die entsprechende Sekundärliteratur - im Original zu lesen. Der zweite Grund liegt in der politischen Lage. Unbestreitbar erlebten auch einige der Staaten des kommunistischen Lagers wie Ungarn, Polen und die Tschechoslowakei im Jahre 1968 einen sogenannten Frühling der Jugendrevolte, mit Zusammenstößen zwischen Studenten und den Ordnungskräften. Dennoch war die Lebenswirklichkeit in diesen Ländern eine andere als in der Mehrzahl der westeuropäischen Länder. Die deutlichen Unterschiede in der Geschichte, Politik und Kultur der Länder des Warschauer Paktes und Westeuropas in den Zeiten des Kalten Krieges würden eine eigene Untersuchung erfordern. Selbst im westeuropäischen Raum gibt es große Variationen in der literari‐ schen Verarbeitung der Studentenrevolte. Als deutlichstes Beispiel dafür sei Großbritannien genannt. Auch in die englische Literatur fanden die Studenten‐ unruhen von 1968 Eingang, vor allem in campus novels wie Changing Places 15 Einleitung 3 In dieser Reihe von campus novels der 1970er-Jahre, in denen die Studentenproteste am Ende der 1960er-Jahre satirisch behandelt werden, gehört auch Places Where They Sing (1970) von Simon Raven. In anderen Romanen wie The Malcontents (1972) von C.P. Snow, Hearing Secret Harmonies (1975) von Anthony Powell und The Clique. A Novel of the Sixties (1978) von Ferdinand Mount, die sich mit diversen Aspekten des his‐ torischen Zusammenhangs jener Epoche beschäftigen, werden die Studentenunruhen nur gelegentlich bearbeitet und es wird ihnen keine wichtige Rolle in der Handlung zugeschrieben. 4 Die Veröffentlichung von Sem Tecto, entre Ruínas erfolgte erst 1979, fünf Jahre nach dem Ende der portugiesischen Diktatur und der Abschaffung der Zensur. Der Roman war jedoch schon zwischen Mai 1968 und Februar 1974 geschrieben worden, gemäß einer Information des Autors selbst im Nachwort von Sem Tecto, entre Ruínas. 5 Die bibliographischen Referenzen der einzelnen Werke, immer wenn sie im Haupttext oder in den Fußnoten auftauchen, werden durch die folgenden Abkürzungen ange‐ geben: Lenz [L], Heißer Sommer [HS], Derrière la vitre [DV], I giorni del dissenso [GD], Condenados a vivir [CV] und Sem Tecto, entre Ruínas [STER]. (1975) von David Lodge und The History Man (1975) von Malcom Bradbury. 3 Aber der satirische Blick dieser und anderer englischer Romane auf die akade‐ mische Welt und auf die Studentenbewegung (vgl. Moseley, 2007: 110) ist weit entfernt von der vorherrschenden engagierten Orientierung der Erzählprosa Kontinentaleuropas. Aus diesem Grund wird die englische Literatur in dieser Studie nicht berücksichtigt. Für die Auswahl jedes Werkes in das Textkorpus dieser Arbeit gab es diverse Kriterien. Das Hauptkriterium liegt in der Zentralität des Generationenkonf‐ liktes und des von der jungen Generation angeführten akademischen und politischen Aufruhrs in der Diegese jedes Werkes. Außer diesem Kriterium sei bemerkt, dass nur zwischen 1968 und Anfang der 1970er-Jahre verfasste Werke ausgewählt wurden. Daher sind alle behandelten Werke gleich 1968, also noch im Jahr der Studentenrevolte, oder einige Jahre später geschrieben. 4 Diese zeitliche Eingrenzung zielt darauf ab, einen Vergleich der Verarbeitung des Ge‐ nerationenkonfliktes und der Studentenrevolte zu ermöglichen, der die zeitliche Nähe des Verfassens der Texte zu den Ereignissen von 1968 mitberücksichtigt. So fiel die Wahl auf die folgenden Werke: Lenz (1973) von Peter Schneider, Heißer Sommer (1974) von Uwe Timm, Derrière la vitre (1970) [Hinter Glas] von Robert Merle, I giorni del dissenso (1968) [Die Tage des Dissenses] von Giorgio Cesarano, Condenados a vivir (1971) [Zum Leben verurteilt] von José María Gironella und Sem Tecto, entre Ruínas (1979) [Ohne Dach, zwischen Ruinen] von Augusto Abelaira. 5 Gemeinsamkeiten in den Biographien oder in der literarischen Laufbahn der Autoren und ihrer Werke boten sich auch für die Analyse als interessant an, waren aber kein ausschlaggebendes Auswahlkriterium. Nachdem sie Ende der 16 Einleitung 1960er-Jahre als Studenten aktiv an der Studentenbewegung in Westdeutsch‐ land beteiligt waren, veröffentlichten Peter Schneider und Uwe Timm mit Lenz und Heißer Sommer zwei Werke, die die Studentenrevolte literarisch verarbeiten und in denen sich einige autobiographische Spuren ihrer Erlebnisse im Widerstand finden. Giorgio Cesarano und Augusto Abelaira waren am Ende der 1960er-Jahre schon ältere Autoren, beide in ihren Vierzigern und mit meh‐ reren Veröffentlichungen. Sie verfolgten aufmerksam die Proteste der jungen Menschen in Italien, in Portugal und auch in ganz Westeuropa. Das war auch der Fall von José María Gironella, zu der Zeit schon über fünfzig, und Robert Merle mit über sechzig, zwei Schriftsteller mit einer etablierten literarischen Karriere. Trotz der Altersunterschiede ist ihnen jedoch allen gemeinsam eine mehr oder weniger sichtbare Sympathie mit den Idealen der politischen Linken (die einzige Ausnahme ist der spanische Autor) und das Interesse, die zeitgeschichtlichen Ereignisse in die Literatur zu tragen. Darüber hinaus teilen sie eine literarische Grundeinstellung, die von einem auffallenden historischen Bewusstsein und von der Verbindung der Literatur mit der Gesellschaft gekennzeichnet ist. Wie zu bemerken ist, umfasst das Textkorpus dieser Arbeit wenigstens jeweils ein Werk der analysierten literarisch-kulturellen Räume. Der Grund für die stärkere Präsenz deutscher Werke liegt im besonders häufigen Vorkommen der literarisierten Revolte in der deutschsprachigen Literatur. Obwohl die Jugend‐ revolte in Europa am Ende der 1960er-Jahre (und Anfang der 1970er-Jahre) sich quer durch viele Länder zieht, hat ihre literarische Verarbeitung mehr Bedeutung im deutschen Raum, wo die Anzahl von Werken, die sich diesem Thema widmen, ungleich größer ist als in den anderen Literaturen Westeuropas. Mit Lenz und Heißer Sommer wurden zwei Werke ausgewählt, die von der Kritik als die repräsentativsten Texte der literarisierten Revolte in der Bundes‐ republik angesehen werden (vgl. Cornils, 2000: 116). Außerdem ergänzen sich beide Texte auf gewisse Weise im Hinblick auf die fiktionale Darstellung der 1968er-Zeit (vgl. Götze, 1981: 379; Rinner, 2013: 36). Von den französischen Romanen, die gleich nach 1968 die diversen Facetten der Studentenbewegung und die Erfahrungen der jungen Aktivisten während des Mai 68 in Frankreich verarbeitet haben, ist Derrière la vitre der einzige, der bei der Fiktionalisierung der Revolte das universitäre Milieu betont (vgl. Combes, 1984: 148; Combes, 2008: 161; Eichelberg, 1987: 23). Für Italien fiel die Wahl auf I giorni del dissenso von Giorgio Cesarano, eines der wenigen Beispiele der italienischen Literatur, das die Universitätsrevolte von 1968 in Mailand herausstellt. In Spanien und in Portugal sind Condenados a vivir und Sem Tecto, entre Ruínas Einzelfälle von Werken, die noch in den 1970er-Jahren die Atmosphäre des Widerstands der jungen Generation in die Literatur einfließen lassen. Sie stellen nicht 17 Einleitung 6 Diese Feststellung wird von Mara Cambiaghi in »‹Moving Times - New Words›: The Sixties on Both Sides of the Channel« (2005) geteilt (vgl. Cambiaghi, 2005: 297), in der sie kurz drei Romane aus der italienischen, englischen und deutschen Literatur auf eine komparatistische Weise vergleicht. Die Romane sind: Le pietre verbali (2001) von Maria Corti, A Whistling Woman (2002) von A.S. Byatt und der vierbändige Roman Jahrestage von Uwe Johnson, publiziert zwischen 1970 und 1983. Alle thematisieren direkt oder indirekt die 1960er-Jahre und die Studentenbewegung. Der kurze Aufsatz von Mara Cambiaghi ist eine seltene Veröffentlichung, denn hier werden die nationalen Grenzen überschritten, um Berührungspunkte und Unterschiede zwischen den Erfahrungen der jungen Generation der 1960er-Jahre, wie sie in der Literatur bearbeitet werden, darzustellen und einander gegenüber zu stellen. 7 Hermann Peter Piwitt, Michael Buselmeier sowie Rolf Hosfeld und Helmut Peitsch gehören jeweils mit ihren Aufsätzen »Rückblick auf heiße Tage. Romane der Studen‐ tenbewegung« (1976), »Nach der Revolte. Die literarische Verarbeitung der Studenten‐ bewegung« (1977) und »Weil uns diese Aktionen innerlich verändern, sind sie politisch. Bemerkungen zu vier Romanen über die Studentenbewegung« (1978) zu den ersten, die sich mit der literarischen Bearbeitung der Studentenrevolte in der Bundesrepublik aus‐ einandersetzen, wenn auch nur auf eine undetaillierte Weise. Noch in den 1970er-Jahren hat der Literaturkritiker und -wissenschaftler Martin Lüdke zwei Veröffentlichungen zur Forschung über die Literatur der Studentenbewegung herausgegeben, in denen die ersten Romane von Autoren der 1968er-Generation betrachtet wurden: Literatur und Studentenbewegung. Eine Zwischenbilanz von 1977 und Nach dem Protest: Literatur und Umbruch aus dem Jahr 1979. Die in diesen Aufsätzen und Studien analysierten Werke sind: Von einem der auszog, GELD zu verdienen (1970) von Peter-Paul Zahl, Klassenliebe die Proteste und die Stimmung des Aufruhrs in den Universitäten in den Mittelpunkt, sondern eher den Generationenkonflikt und die unterschiedlichen Weltsichten von Eltern und Kindern in der spanischen und portugiesischen Gesellschaft der 1960er-Jahre. Bis heute wurde noch keine vergleichende Studie zur literarischen Bearbeitung der Studentenunruhen und der Generationenkonflikte in den 1960er-Jahren in Westeuropa durchgeführt, die mehrere Werke aus verschiedenen nationalen Literaturen betrachtet. Auch sonst gibt es nur wenige literaturwissenschaft‐ liche Studien zu diesem Thema. 6 Darüber hinaus beziehen sich die wenigen diesbezüglichen Veröffentlichungen auf einen einzelnen literarischen Raum und beschränken sich in der Regel auf die Analyse eines einzigen Werkes. Im Folgenden wird die wichtigste Sekundärliteratur vorgestellt, die sich mit den in dieser Arbeit untersuchten Prosawerken befasst. Die meisten Studien über Werke und Autoren der 1968er-Jugendrevolte sind bislang in Deutschland erschienen. Die Aufmerksamkeit der Germanistik begann in den 1970er-Jahren, kurz nach dem Erscheinen von Klassenliebe (1973) von Karin Struck, Lenz (1973) und Heißer Sommer (1974), Werken, die im Laufe der Jahren emblematisch werden (vgl. Schnell, 1986: 284 f.). 7 In den zwei 18 Einleitung (1973), Lenz (1973), Das Brot mit der Feile (1973) von Christian Geissler, Heißer Sommer (1974) und Ein Hai in der Suppe oder das Glück des Philipp Ronge (1975) von Roland Lang. 8 Schnells Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945 wurde erstmals 1993 veröf‐ fentlicht und kannte 2003 eine überarbeitete und erweiterte Auflage. Das Unterkapitel, das sich mit der literarisierten Revolte beschäftigt, blieb aber unverändert (vgl. Schnell, 2003: 388-393). 9 In den 1990er-Jahren gibt es ebenfalls einige Aufsätze, die sich mit Texten der literari‐ sierten Revolte beschäftigen. Darunter sind besonders hervorzuheben: »‹1968›: Literary Perspectives in Political Novels from East and West« (1992) von Julian Preece und »1968: Literarische Konstruktionen einer Generation« (1999) von Susanne Komfort-Hein. 10 Folgende Werke wurden in dieser Studie berücksichtigt: Lenz (1973), Beringer und die lange Wut (1973) von Gerd Fuchs, Heißer Sommer (1974) sowie Ein Hai in der Suppe oder das Glück des Philipp Ronge (1975); die Texte Von einem der auszog, GELD zu verdienen (1970) und Die Glücklichen (1979) von Peter-Paul Zahl und schließlich die Romane Der dreißigjährige Friede (1977) und Die Herren des Morgengrauens (1978) von Peter O. Chotjewitz. darauffolgenden Jahrzehnten gibt es mit der Ausnahme von Ralf Schnell - der in einem kurzen Unterkapitel in seinen Literaturgeschichten nach 1945 über die literarisierte Revolte schrieb; vgl. Die Literatur der Bundesrepublik: Autoren, Geschichte, Literaturbetrieb (1986): 284-288 und Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945 (1993): 420-424 8 - nur wenige Untersuchungen über den Widerhall der Studentenrevolte in der bundesdeutschen Literatur. Dennoch gibt es fünf umfassende Studien, die Werke verschiedener deutscher Autoren vergleichend analysieren. 9 Die erste, von Keith Bullivant verfasst und betitelt Realism Today. Aspects of the Contemporary West German Novel (1987), befasst sich mit Texten, die die Erfahrungen der jungen Menschen während der Unruhen am Ende der 1960er-Jahre im Rahmen der »Neuen Subjektivität« oder »Neuen Innerlichkeit« in den Vordergrund rücken. Die zweite ist die Dissertation des polnischen Germanisten Andrezej Talarczyk, der 1988 an der Universität Stettin mit der Arbeit Die Studentenbewegung als Thema der Literatur der BRD promovierte. 10 Eine weitere Studie, Der poetische Mensch im Schatten der Utopie: Zur politisch-weltanschaulichen Idee der 68’er Studentenbewegung und deren Auswirkung auf die Literatur (1990) von Alois Prinz, beschäftigt sich mit der Frage der Utopie, die sich durch die Prosawerke über die Studentenbe‐ wegung von Peter Schneider und Uwe Timm sowie durch Nicolas Borns Die erdabgewandte Seite der Geschichte (1976) zieht. In Politisierung der Literatur - Ästhetisierung der Politik (1992) konzentriert sich Martin Hubert auf Heißer Sommer, Lenz und Die Reise (1977) von Bernward Vesper. Zwei Jahre später wird das Buch Abschied von der Revolte: Studien zur deutschsprachigen Literatur der siebziger Jahre (1994) veröffentlicht. Ingeborg Gerlach analysiert darin Texte 19 Einleitung 11 Aus Anlass des 30. Jahrestages der 1968er-Revolte, schrieb Ingo Cornils über die Studien im Rahmen der Literaturwissenschaft, die sich mit der literarisierten Revolte beschäftigten: »In the 1970s, a number of German writers attempted to […] represent, in literary form, the ‹heady› experience of the German Student Movement. These texts not only allow the rebels to re-live their youth, but also - and this is my thesis - modern readers to step ‹inside› the movement and gain an understanding of its essence. Given that most of these texts are still readily available, it is surprising to note that on the occasion of the 30 th anniversary of the ‹magic year›, there were few new studies looking at the literary reflections of the movement itself. […] The reason for this may be a feeling that everything has been said about this literature […]« (Cornils, 2000: 109). 12 Außer diesen Studien sollen auch die Aufsätze »Romantic Relapse? The literary repre‐ sentation of the German Student Movement« (2000), »Successful failure? The impact of the German Student Movement on the Federal Republic of Germany« (2002), »Writing the Revolution: The Literary Representation of the German Student Movement as Counter-Culture« (2003), »Literary Reflections on ’68« (2007) und »Utopian Moments: Memory Culture and Cultural Memory of the German Student Movement« (2010) hervorgehoben werden. Cornils ist auch Mitherausgeber des Sammelbandes Memories of 1968: International Perspectives (2010). 13 In diesem Zusammenhang von der Verbindung der geschichtswissenschaftlichen Per‐ spektive auf die Studentenrevolte von 1968 in der Bundesrepublik mit der literatur- und kulturwissenschaftlichen soll die Studie West Germany and the Global Sixties. The Antiauthoritarian Revolt, 1962-1978 (2013) von Timothy Scott Brown erwähnt werden. von Autoren wie Karin Struck, Peter Schneider, Uwe Timm und Peter-Paul Zahl (unter anderen) und ordnet sie der »Neuen Subjektivität« zu. Abgesehen von diesen Studien ist das Interesse der Germanisten an der literarisierten Revolte bis zum Ende der 1990er-Jahre gering ausgeprägt. Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts nimmt es wieder zu. 11 Ingo Cornils ist einer der Forscher, die sich dieser Thematik am intensivsten gewidmet haben. Von besonderer Bedeutung sind ›(Un-)erfüllte Wirklichkeit‹. Neue Studien zu Uwe Timms Werk (2006) - eine zusammen mit Frank Finlay herausgegebene Samm‐ lung, die sich ausschließlich mit dem Werk von Uwe Timm befasst - und Writing the Revolution: The Construction of ‹1968› in Germany (2016). 12 Susanne Rinner ist eine weitere wichtige Forscherin. In ihrem Aufsatz »From Student Movement to the Generation of 1968: Generational Conflicts in German Novels from the 1970s and the 1990s« (2010) analysiert sie die deutsche Studentenre‐ volte der 1960er-Jahre in Lenz und Heißer Sommer und untersucht sie diese vergleichend mit späteren Werken der beiden Autoren. Diese komparatistische Gegenüberstellung wird in der Studie The German Student Movement and the Literary Imagination: Transnational Memories of Protest and Dissent (2013) wieder aufgenommen und erstreckt sich mithilfe eines literatur- und kulturwis‐ senschaftlichen Ansatzes auf Texte von Peter Schneider, Uwe Timm, Bernhard Schlink, Ulrike Kolb, Irmtraud Morgner und Emine Sevgi Özdamar. 13 20 Einleitung Hier geht der Autor auf die Auswirkungen der Studentenbewegung in der Organisation des Verlagswesens sowie in den literarischen Tendenzen der Zeit nach 1968 ein. 14 In dem kurzen Vergleich der vorhandenen Studien der 1980er-Jahre, die sowohl auf die deutsche als auch auf die französische Studentenbewegung eingehen, hebt Ingo Cornils diese Arbeit von Ingrid Eichelberg hervor und stellt sie auf eine ähnliche Stufe mit den Veröffentlichungen über die literarisierte Revolte von Ralf Schnell (vgl. Cornils, 2000: 111). Dazu gibt es umfassende Veröffentlichungen über einzelne deutsche Autoren der 1968er-Generation (vgl. Rinner, 2010: 139). Besonders Peter Schneider und Uwe Timm, die wichtigsten Vertreter dieser Autorengeneration (vgl. ebd.: 141), haben die Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaftler auf sich gezogen. Hervorzuheben sind Peter Schneiders Erzählung ›Lenz‹: Zur Entstehung eines Kultbuches. Eine Fallstudie (1997) - eine umfassende Analyse der Erzählung Lenz von Markus Meik -, Zwischen Dableiben und Verschwinden: Zur Kontinuität im Werk von Peter Schneider (2006) von Petra Platen und drei Studien über das Gesamtwerk von Uwe Timm zur Studentenbewegung: Die 68er-Revolte im Werk von Uwe Timm (2009) von Sabine Weisz, (Ent-)Mythologisierung deutscher Geschichte: Uwe Timms narrative Ästhetik (2012) von Kerstin Germer und ›Erinnern führt ins Innere‹: Erinnerung und Identität bei Uwe Timm (2015) von Simone Christina Nicklas. Obwohl keine dieser Studien sich ausschließlich auf die Darstellung des Generationenkonfliktes und des akademischen Aufruhrs konzentriert, wie es in dieser Arbeit geschehen soll, dienen sie als Analysehilfe bei meiner Untersuchung von Lenz und Heißer Sommer. Was den literarischen und kulturellen Raum Frankreichs betrifft, ist die Zahl der Publikationen deutlich geringer und konzentriert sich fast ausschließlich auf die literarische Verarbeitung der Ereignisse vom Mai 68. Patrick Combes war der erste, der eine umfassendere Studie über die Fiktionalisierung der 1968er-Revolte in der französischen Literatur veröffentlichte: Littérature & le mouvement de Mai 68. Écriture, mythes, critique, écrivains 1968-1981 (1984), in der er ungefähr fünfzig Werke (vor allem Romane) über den Mai 68 und die Erfahrungen bei den Jugendprotesten am Ende der 1960er-Jahre identifiziert. Sowohl in dieser als auch in einer weiteren Studie, 2008 veröffentlicht und be‐ titelt Mai 68, les écrivains, la littérature, hebt Combes den Roman Derrière la vitre von Robert Merle hervor. Auch Ingrid Eichelberg, eine deutsche Romanistin, beschäftigte sich in den 1980er-Jahren mit der französischen Studentenrevolte und den Ereignissen vom Mai 68 in der Literatur und veröffentlichte drei Studien dazu: Mai ’68 in der Literatur. Die Suche nach menschlichem Glück in einer besseren Gesellschaft (1987), 14 Mai 1968: une crise de la civilisation française; anthologie critique de documents politiques et littéraires (1986) und L’écriture de Mai 68 21 Einleitung 15 Unter den jüngsten Veröffentlichungen, die sich mit Derrière la vitre (wenn auch nur auf eine kurze Weise) beschäftigen, sind vor allem zu nennen: »Une journée a Nanterre. Le 22 mars 1968 dans Derrière la vitre de Robert Merle« (2008) von Timo Obergöker, »A juventude de 1968 em debate no romance francês« von Luís Gonçalves (2019) sowie der Aufsatz »Déliance et reliance derrière la vitre de Robert Merle« (2015) und die Monographie Robert Merle: Écrivain singulier du propre de l’homme (2018) von Anne Wattel. Ende 2020 veröffentlichte dieselbe Autorin den Aufsatz »Du Rêve est vrai à Derrière la vitre : Robert Merle et l’impossible roman de 68«, der in dieser Arbeit nicht mehr berücksichtigt werden konnte. (1987), die zwei letzten auf Französisch geschrieben zusammen mit Wolfgang Drost. Margaret Attack beschäftigte sich in May 68 in French Fiction and Film: Rethinking Society, Rethinking Representation (1999) auch mit dem Roman von Robert Merle, den sie damals für den berühmtesten über den Mai 68 hielt (vgl. Attack, 1999: 33). Die Lektüre dieser Studien bestärkte meine Entscheidung für Derrière la vitre, einen Roman, der erst in den letzten Jahren eine größere Aufmerksamkeit der Forschung erlangte. 15 In Italien gibt es wenige Publikationen über italienische Autoren, die den Aufruhr von 1968 und die Protestkultur der jungen Menschen in Literatur verwandelten, und noch weniger sind die, die das Werk Giorgio Cesaranos erwähnen, eines wenig bekannten Schriftstellers. Unter denen, die sich dem literarischen Schaffen zu 1968 in Italien widmen und die I giorni del dissenso unter den Werken der 1960er- und 1970er-Jahre hervorheben, die sich mit der Studentenbewegung und dem akademischen Aufruhr beschäftigen, gehören besonders: Linea rossa: Intellettuali, letteratura e lotta di classe, 1965-1975 (1982) und der Sammelband Cercando il ’68. Documenti, cronache, analisi, memorie (2012), beide von Giampaolo Borghello, Letteratura italiana d’oggi, 1965-1985 (1987) von Giuliano Manacorda und der Aufsatz »Il percorso letterario di Giorgio Cesarano« (2011) von Giorgio Luzzi. Ähnlich ist es mit der Forschung zum Werk von José María Gironella in Spanien, besonders zum Roman Condenados a vivir. Die einzige Ausnahme scheint die Doktorarbeit von Pedro Fernandez-Blanco mit dem Titel José María Gironella, romancier témoin de son époque (1985) zu sein, in der er die Figuren und die Themen in jedem einzelnen Roman des umfangreichen Gesamtwerkes von Gironella analysiert. In der vorliegenden Arbeit werde ich diese Studien gelegentlich erwähnen und heranziehen und zugleich versuchen, nicht nur neue Wege der Forschung zu den Werken Cesaranos und Gironellas zu eröffnen, sondern auch die Relevanz dieser zwei Autoren für die literarische Behandlung der Studentenunruhen und des Generationenkonfliktes in Italien und Spanien hervorzuheben. 22 Einleitung 16 Diese Sichtweise wurde ursprünglich vom Kultursoziologen Pierre Bourdieu, insbe‐ sondere mit den Konzepten habitus und champ [Feld], gefördert. Habitus ist nach Bourdieu eine Matrix von Ideen, von Handlungs- und Wahrnehmungsschemata, die vom Individuum in seinen Sozialisationsprozess integriert werden und die durch die sie umgebende soziale Gruppe strukturiert werden. Was champ [Feld] betrifft, meint Bourdieu, dass die Gesellschaft ein Geflecht von Feldern (Wissenschaft, Kunst, Politik, Religion, Sport, usw.) und jedes Feld ein sozialer Raum ist, in dem Mitglieder mit ähnlichen Interessen integriert sind, auch wenn jeder einzelne je nach Position im Raum eigene Interessen hat. Die sozialen Räume haben spezifische Regeln, aber auch Regeln, die andere Räume durchziehen, wie zum Beispiel der Kampf zwischen Alten und Jungen (vgl. Dörner/ Vogt, 2013: 51-59). Was die Analyse des Romans von Abelaira betrifft, ist die Aufgabe, die ich mir vorgenommen habe, identisch. Von den wenigen vorhandenen Studien über Sem Tecto, entre Ruínas wird deutlich, dass sie den Roman nur aus der Sicht der Elterngeneration untersuchen und die junge Generation und ihren Willen nach Veränderung nicht beachten. Publikationen wie »Augusto Abelaira: a Palha e o Resto« (1986), Um Romance de Impoder. A Paragem da História na Ficç-o Portuguesa Contemporânea (1994) - beide von Luís Mour-o -, Entre a Utopia e o Apocalipse: Augusto Abelaira e o Fim da História (2003) von Carlos Machado sowie Imagens Líquidas na Obra de Augusto Abelaira: Sujeito e História na Pós-Modernidade (2007) und »De Brand-o a Abelaira: um tempo de desesperança« (2008) von Edimara Luciana Sartori untersuchen vor allem die Darstellungen von Machtlosigkeit, Trägheit und Verzweiflung, die sich in Sem Tecto, entre Ruínas im Zusammenhang mit der älteren Generation finden lassen. Nach diesem ersten Forschungsüberblick sollen die in dieser Arbeit ange‐ wandten theoretischen und methodologischen Prämissen vorgestellt werden. Da der Fokus der Analyse sich auf die Fiktionalisierung des Generationenkonf‐ liktes und der soziopolitischen Unruhen von 1968 konzentriert, stützt sich meine Studie der ausgewählten Prosawerke auf einen vergleichenden kulturwissen‐ schaftlichen Ansatz. Die gegenwärtige Methodologie zur Untersuchung literarischer Werke mit‐ hilfe eines kulturwissenschaftlichen Ansatzes beruht auf dem Konzept der Interdisziplinarität. Die kulturwissenschaftliche Neuorientierung der Literatur‐ wissenschaft wird von immer mehr Forschern der Anglistik, Germanistik und Romanistik umgesetzt - besonders im Bereich der Untersuchungen, die einen vergleichenden Zweck haben (vgl. Nünning/ Sommer, 2004: 9) - mit dem Ziel, den sprachenübergreifenden und interdisziplinären Dialog zu verstärken. 16 Im Sammelband Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft (2004) stellen Ansgar Nünning und Roy Sommer fest, dass eine kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft nicht nur ihre Berechtigung hat, sondern auch von großer 23 Einleitung 17 Zur Erklärung dieser Idee bedienen sich Nünning und Sommer der semiotischen Ex‐ plikation kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe von Roland Posner, der drei Dimen‐ sionen des Kulturbegriffs unterscheidet: die soziale Dimension (Zeichenbenutzer), die materiale Dimension (Texte und sonstige Werke) sowie schließlich die mentale Dimen‐ sion (Codes bzw. Normen und Werte) (vgl. Nünning/ Sommer, 2004: 18). Die literarischen Texte sind in der materiellen Dimension der Kultur integriert und repräsentieren einen zentralen Aspekt der Ausdrucksformen, die - in einen bestimmten sozialen Kontext eingebettet - es ermöglichen, gewisse kulturelle Mentalitäten darzustellen (vgl. ebd.: 19). 18 Dieses Konzept der Hybridisierung in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Hermeneutik ist an Homi K. Bhabhas Ansatz angelehnt, der besonders in The Location of Culture (1994) dargelegt wird. Dieser Ansatz setzt einen größeren Fokus auf die kulturellen Kontakte - die nicht auf nationale Realitäten und geschlossene kulturelle Räume beschränkt sind - voraus, und dies durch eine breitere Sicht auf die Interaktion von kulturellen Praktiken, Formen und Traditionen (vgl. Kretzschmar, 2012: 150). Bedeutung in der Gegenwart ist, indem sie erlaubt, das Wertesystem, die Normen und Perspektiven sowie die Kollektivvorstellungen zu untersuchen, die sich in literarischen Texten zeigen (vgl. ebd.: 19). 17 Die kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft bedeutet keineswegs, die in der Literatur- und in der Kulturwissenschaft vorhandenen Analyseparadigmen außer Acht zu lassen. Im Gegenteil: Was Ansgar Nünning und Roy Sommer als »einen neuen Diskurs« (ebd.: 10) der Annäherung von Literatur- und Kulturwissenschaft bezeichnen, das berücksichtigt die Besonderheiten beider Disziplinen. Auf diese Weise werden die in dieser Arbeit analysierten Werke in ihrer Qualität als kulturelle Dokumente und als literarische Texte verstanden. Es wird angestrebt, auf ihre Singularität zu achten, die unbestreitbar durch die Fiktionalität und durch einen einzigartigen semiotischen Charakter geprägt ist. Im Rahmen dieser theoretischen und methodologischen Ausrichtung muss der Beitrag von Doris Bachmann-Medick erwähnt werden, die die »Hybridisie‐ rung« bei der Analyse literarischer Texte verteidigt (vgl. Bachmann-Medick, 2004: 156) und die sich dabei Analyseinstrumente anderer Disziplinen der Sozial- und Geisteswissenschaften bedient. 18 Dennoch soll diese »Hybridisie‐ rung« die Vorgehensweise jeder einzelnen Disziplin nicht in Frage stellen. Für den konkreten Fall der Literaturwissenschaft bemerkt die Autorin, dass nur eine kulturwissenschaftliche Sichtweise, die die Eigenart des jeweiligen literarischen Textes berücksichtigt, dazu beitragen könne, die Verbindungen zwischen kultureller Bedeutung und Textualität zu erkennen, nämlich das, was 24 Einleitung 19 In Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften (2014) erwähnt Doris Bachmann-Medick erneut, indem sie die Vorschläge von Paul Ricœur und Clifford Geertz aufnimmt, dass jeder Text gegenüber der Intention des Autors semantisch autonom sei (vgl. Bachmann-Medick, 2014: 71). Bachmann-Medick meint daher, dass eine erweiterte Hermeneutik, die sich auf das Kulturverstehen konzentriert, zu einem größeren Verstehen der jedem Text zugrunde liegenden kulturellen Kontexte führen (vgl. ebd.) und somit eine umfassendere Analyse ermöglichen kann. die Fiktionalisierung, die wirkungsästhetischen Strategien und die stilistischen und formalen Innovationen betrifft (vgl. ebd.). 19 Mein Interesse für die kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft wird durch die in den Prosawerken dieser Arbeit vorliegende Verbindung zwi‐ schen literarischem und politisch-soziokulturellem Diskurs gerechtfertigt: Die Zeitgeschichte ist mit der Fiktion verwoben und die Ereignisse der Epoche spielen eine herausragende Rolle in der Entwicklung, dem Verhalten und der Mentalität der unterschiedlichen Figuren der einzelnen Werke. In ihrer Interpretation von »Kultur als Text« verteidigt Doris Bachmann-Medick, dass die literatur- und kulturwissenschaftliche Hermeneutik der Gegenwart nicht von den sozialen Ereignissen und von den Handlungszusammenhängen, die zu einer gewissen wahrgenommenen Realität gehören, getrennt werden darf (vgl. Bachmann-Medick, 2014: 77). Auch im Sammelband Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse (2010), herausgegeben von Vera und Ansgar Nünning, wird erwähnt, dass die kulturelle Dimension eines literari‐ schen Textes (beziehungsweise der kulturelle Kontext, der soziale Hintergrund und die soziokulturelle Umgebung) bei der literarischen Analyse durch ein Verfahren des wide reading berücksichtigt werden muss (vgl. Hallet, 2010: 293 f.). Dieses Verfahren, das eine ausgedehnte komplementäre Lektüre ermöglicht, auch durch den Zugang zu nicht-literarischen Texten, ist besonders wichtig bei der Analyse literarischer Texte mit einer starken zeitgeschichtlichen und soziokulturellen Komponente, wie es bei den Prosawerken dieser Arbeit der Fall ist. Indem ich den Schwerpunkt meiner Studie auf die Darstellungen der Jugend und auf die literarische Bearbeitung des soziopolitischen Aufruhrs der Jugendrevolte lege, beabsichtige ich, zu untersuchen, auf welche Weise jedes der ausgewählten Werke nicht nur dazu beiträgt, das kulturelle Gedächtnis der zeitgeschichtlichen, politischen und sozialen Ereignisse von 1968 herauszukris‐ tallisieren, sondern auch ein originelles Bild des Generationenkonfliktes und der Studentenunruhen am Ende der 1960er-Jahre zu schaffen: originell, denn es ist nicht in den Zwängen der geschichtswissenschaftlichen und soziologischen Perspektive gefangen, sondern geht vom kritischen und persönlichen Blick eines jeden Autors aus, der die der Literatur eigene kreative Freiheit dazu 25 Einleitung 20 Hierzu der Kommentar von Marion Gymnich und Ansgar Nünning in »Funktionsge‐ schichtliche Ansätze. Terminologische Grundlagen und Funktionsbestimmungen von Literatur« (2005): »Zu den theoretischen Grundlagen der funktionsgeschichtlichen Konzeption des wechselseitigen Verhältnisses von Text und Kontext zählt zum einen die […] neohistorische Einsicht in den poietischen Charakter der Literatur, die sich nicht darauf beschränkt, die außerliterarische Wirklichkeit nachzuahmen. Zum anderen haben neuere, konstruktivistisch und mentalitätsgeschichtlich geprägte Ansätze der Literaturgeschichtsschreibung den Blick verstärkt auf den Zusammenhang zwischen fiktionalen Wirklichkeitsentwürfen und kollektiv geteilten Wirklichkeitserfahrungen gerichtet« (Gymnich/ Nünning, 2005: 14; Hervorhebung im Original). 21 Dieses neue Paradigma wurde von den Vorschlägen von Thomas S. Kuhn und Douwe W. Fokkema vorangetrieben; die Vorschläge der zuletzt erwähnten Forscher stellt er in »Comparative Literature and the New Paradigm« (1982) dar (vgl. Domínguez/ Saussy/ Villanueva, 2015: 13). benutzt, Wirklichkeiten zu konstruieren, die sich nicht darauf beschränken, die reale Welt, von der sie erzählen, widerzuspiegeln. 20 Ausgehend von dem Bild, das jedes einzelne Werk vom Generationenkon‐ flikt und der Studentenrevolte bietet, liegt das Ziel meiner Studie auf der Darstellung eines heterogenen und vielfältigen Porträts der Berührungspunkte und Divergenzen, die bei der Fiktionalisierung der Erlebnisse der Jungen und nicht mehr Jungen im Laufe der 1960er-Jahre vorkommen. Auf diese Weise, und dem komparativen Charakter der vorliegenden Studie entsprechend, wird den jüngsten Tendenzen und methodologischen Ansätzen im Rahmen der Ver‐ gleichenden Literaturwissenschaft spezielle Aufmerksamkeit gewidmet. Diese Disziplin, so Steven Tötösy de Zepetnek, steht in der Tradition der Förderung interdisziplinärer und interkultureller Studien von Literatur und Kultur (vgl. Tötösy de Zepetnek, 2003: 235). Die Forscher César Domínguez, Haun Saussy und Darío Villanueva unter‐ streichen in Introducing Comparative Literature. New Trends and Applications (2015), dass die Vergleichende Literaturwissenschaft am Ende des 20. Jahrhun‐ derts in ein »neues Paradigma« eintrat, das eine eher kulturwissenschaftliche Interpretation der Literatur voraussetzt (vgl. Domínguez/ Saussy/ Villanueva, 2015: 13). 21 Diese Interpretation soll nicht nur auf den literarischen Text als solchen, sondern auch auf den Kontext seiner Entstehung, seine Rezeption und auch auf soziale Faktoren achten, deren Analyse auch über nationale Grenzen hinausgehen sollte (vgl. ebd.). Darüber hinaus heben diese Forscher hervor, dass es noch eine andere Dimension gibt, die im Rahmen des »neuen Paradigmas« berücksichtigt werden muss: »It consists, basically, in the imperative of aban‐ doning of any supposed genetic relation to justify comparative analysis, and attending to the empirical evidence that is available to us« (ebd.: 15). Wie sie verdeutlichen, bezieht sich diese »empirische Evidenz« auf ein gemeinsames 26 Einleitung 22 Der Vorschlag von Peter Zima folgt dem Vorschlag des slowakischen Forschers Dionýz Ďurišin. Am Ende der 1960er-Jahre schrieb Ďurišin in »Die wichtigsten Typen litera‐ rischer Beziehungen und Zusammenhänge« (1968) über die Probleme der interliterari‐ schen Komparatistik und schuf ein transversales Analysemodell von intertextuellen Zusammenhängen. Dieses Modell definiert die methodologischen Koordinaten, die auf den vorhandenen Zusammenhängen zwischen anscheinend unterschiedlichen Werken beruhen. Diese tragen dazu bei, literarische Texte einander anzunähern und sie somit vergleichend zu analysieren - und das auch aus einer historischen und soziokulturellen Sichtweise. In diesem methodologischen Ansatz bezeichnet Ďurišin die Zusammen‐ hänge zwischen verschiedenen Werken entweder als »genetische Beziehungen« oder als »typologische Zusammenhänge« (Ďurišin, 1968: 47-58). Element zwischen zwei literarischen Systemen oder zwischen einem literari‐ schen Werk und einem Werk aus einem anderen künstlerischen Bereich, ohne dass eine Abhängigkeit zwischen zwei oder mehr Werken unterstellt wird (vgl. ebd.). Diese Perspektive der Vergleichenden Literaturwissenschaft ist besonders hilfreich in der vergleichenden Gegenüberstellung von Darstellungen, Themen oder Stoffen, die diversen literarischen Texten gemeinsam sind, unabhängig von ihrer Gattung (vgl. Nebrig, 2012: 91-96). In diesem Rahmen hat diese Arbeit das Ziel, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Texten verschiedener Literaturen zu untersuchen, die sich mit dem Generationenkonflikt, den akademischen Unruhen und der Studentenrevolte der 1960er-Jahre befassen und diese bearbeiten. Konkret wird dabei dem methodologischen Vorschlag von Peter Zima gefolgt, der ein Analysemodell der intertextuellen Beziehungen vorstellt, welches auf eine Differenzierung zwischen »typologischem Vergleich« und »genetischem Vergleich« beruht. 22 So wie Zima erklärt (der Ausführung von Gerhard R. Kaiser folgend): »Während der genetische Vergleich als Kontaktstudie […] Ähnlichkeiten zum Gegenstand hat, die durch Kontakt, d. h. durch direkte oder indirekte Beeinflussung entstehen, werden im Rahmen eines typologischen Vergleichs Ähnlichkeiten untersucht, die ohne Kontakt aufgrund von analogen Produktions- oder Rezeptionsbedingungen zustande kommen« (Zima, 2011: 105; Hervorhebung im Original). In der vorlie‐ genden Arbeit sind die Beziehungen zwischen den Texten typologischer Natur und der Vergleich wird in diesem Rahmen stattfinden. Nach der Vorstellung der methodologischen Koordinaten sollen nun die Struktur und die Gliederung dieser Arbeit verdeutlicht werden. Im ersten Kapitel werden die Studentenrevolte und der Aufruhr der jungen Generation von 1968 sowie die Vorgeschichte und die Nachwirkungen der Folgejahre dargestellt. Damit werden die wichtigsten Momente und Ereignisse in Westeuropa zunächst im Allgemeinen und dann spezifisch in jenen Ländern identifiziert, in denen die untersuchten literarischen Werke entstanden sind. Diese 27 Einleitung geschichtliche und soziokulturelle Kontextualisierung der außerliterarischen Wirklichkeit folgt den Prinzipien des wide reading. Da die zeitgeschichtlichen Ereignisse dieser Epoche mit der Diegese eines jeden Werkes verwoben sind und eine hervorgehobene Rolle in der Entwicklung, dem Verhalten und dem Charakter der unterschiedlichen Figuren spielen, ist diese Kontextualisierung essentiell. Danach folgt die Einführung in jedes einzelne Werk. Nach der kurzen geschichtlichen und literarischen Einordnung der ausgewählten Texte liegt der Fokus auf den Erzählstrategien sowie auf Aspekten wie der Verknüpfung der Fiktion mit der Zeitgeschichte und den Wahrnehmungen der akademischen Unruhen und der Revolte gegen das Establishment auf öffentlicher und privater Ebene. Diese Einführung der unterschiedlichen Texte dient dazu, das Hauptka‐ pitel dieser Arbeit vorzubereiten, d. h. das dritte Kapitel, das dem Vergleich der Darstellungen des Generationenkonfliktes und des akademischen, politischen und soziokulturellen Aufstands gewidmet ist. Im dritten Kapitel erfolgt eine systematische Gegenüberstellung der ausge‐ wählten Werke, wobei relevante Fragen, die alle Texte durchziehen, hervor‐ gehoben werden (siehe S. 15). Zunächst werden die Profile der Generation der Eltern und der Kinder verglichen und dabei die Differenzierungen des Generationenkonfliktes analysiert. Die beiden folgenden Unterkapitel leiten über zum Vergleich der Darstellungen der Jugend, indem zwei grundlegende Fragen untersucht werden: die Frage des politischen Aktivismus der jungen Generation und die der sexuellen Befreiung und der Revolution der Sitten in den 1960er-Jahren. Im vierten und letzten Unterkapitel wird versucht, die Strategien bei dem Aufbau der Erzählung einander vergleichend gegenüber‐ zustellen, besonders was die Aktion - meistens mit den Studentenunruhen und dem Bruch der jungen Menschen mit dem Establishment verbunden - oder was die Reflexion über die Zeit des Wandels betrifft. Die Erforschung all dieser Fragen mittels einer vergleichenden kulturwissenschaftlichen Lektüre dient der Untersuchung der Berührungspunkte und der Divergenzen in den verschiedenen literarischen Bearbeitungen der Atmosphäre von Bruch und Spaltung am Ende der 1960er-Jahre. Dadurch dass die vorliegende Arbeit fünf literarische Räume untersucht, wird die Erforschung der interliterarischen und interkulturellen Beziehungen der literarisierten Revolte in einem größeren internationalen Maßstab weiter voran‐ getrieben. Ich hoffe, dass diese transnationale Perspektivierung neue Sichtweisen für eine vergleichende Lektüre von Schlüsseltexten der deutschen, französischen, italienischen, spanischen und portugiesischen Literatur eröffnet, die durch den Generationenkonflikt und die akademischen, politischen und soziokulturellen Unruhen in Westeuropa am Ende der 1960er-Jahre verbunden sind. 28 Einleitung 1 Im ersten Teil dieser Ausführungen, die den Darstellungen der jungen Generation und ihrer Widerstandsaktionen gegen das Establishment gewidmet sind, wird ein inter- und transnationaler Ansatz der Forschung über die historische und soziokulturelle Zeit der Studentenunruhen der 1960er-Jahre verwendet, der den globalen Charakter des Jugendprotestes unterstreicht. Diese Perspektive wird in den jüngsten Studien aufgrund der inter- und supranationalen Ereignisse von 1968 eingenommen (vgl. Waters, 2010: 11 f.). 1 Historischer und kultureller Rahmen der akademischen Unruhen und des Generationenkonfliktes der 1960er-Jahre in Westeuropa Die Zeit der akademischen Unruhen und des Generationenkonfliktes am Ende der 1960er-Jahre ist ein zentraler Aspekt der Diegese jedes der in dieser Arbeit analysierten Prosawerke. Die geschichtlichen Ereignisse des Jugendprotestes gegen das Establishment sind nicht nur miteinander im Erzählfaden verwoben, sondern sie spielen auch eine Hauptrolle für das Verhalten, die Mentalität und den Lebenslauf der verschiedenen Figuren in jedem Text. Seien sie durch akti‐ vistische Überzeugungen bedingt oder lediglich durch Neugier, die Ereignisse der sogenannten »Neuen Zeiten« zu begleiten, bleiben viele der jungen und nicht mehr jungen Figuren nicht unbetroffen von den Vorkommnissen jener Epoche und fühlen das Bedürfnis, die nationale und internationale Wirklichkeit auf eine kritische Weise zu lesen. Da die Darstellung des Generationenkonfliktes und der ideologischen Brüche in der Handlung jedes Prosatextes über die nationalen Grenzen hinausgeht und sich nicht allein auf die Unruhen des Jahres 1968 beschränkt, ist es notwendig, die verschiedenen ökonomischen, soziopolitischen und kulturellen Faktoren der 1960er-Jahre zu berücksichtigen. Durch den su‐ pranationalen Charakter dieser Faktoren können die Gemeinsamkeit der Erfahrungen, die die junge Generation der roaring sixties überall in den unter‐ schiedlichen Ländern in Westeuropa erlebte, besser hervorgehoben werden. In diesem Kapitel wird somit eine historische, politische und soziokulturelle Darstellung vorgenommen, die sich sowohl auf einen transnationalen als auch auf einen zeitlich breiter angelegten Rahmen bezieht. Ihr Ziel ist es, die Vorläufer dieses Jahres des Aufruhrs sowie einige der Konsequenzen der Zeit danach zu erörtern. 1 Angesichts der Besonderheiten der Herkunftsländer der 2 Wolfgang Kraushaar bestätigt in 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur (2000), dass sich dank der historischen Ereignisse der 1968er-Revolte die Welt in ein »globales Dorf« verwandelte: »Der Pariser Mai […], der Prager Frühling […], der Aufstand der Schwarzen in den USA […], die Proteste der mexikanischen Studenten gegen die korrupte Staatspartei […], aber auch der Internationale Vietnam-Kongreß in West-Berlin, die zahlreichen Demonstrationen in Amsterdam, Ankara, Athen, Bel‐ grad, Berkeley, Brüssel, Chicago, Dakar, Istanbul, Kopenhagen, Lissabon, London, Madrid, Mailand, Manila, New York, Rio, Rom, Sydney, Tokio, Venedig, Warschau, Washington, Zürich - das alles hat aus der Welt [ein; IG] ›global village‹ gemacht […]« (Kraushaar, 2000: 23). einzelnen Prosawerke wird auch eine ausführliche Schilderung der landes‐ spezifischen historischen Ereignisse gegeben. Diese soll die Entstehung und die Entwicklung der Studentenbewegung und des Generationenkonfliktes der 1960er-Jahre in der Bundesrepublik Deutschland, in Frankreich, Italien, Spanien und Portugal verdeutlichen. 1.1 Das soziokulturelle Brodeln im Westeuropa der späten 1960er-Jahre Die 1968er-Studentenbewegung und die Protestkultur der jungen Generation am Ende der 1960er-Jahre nahmen weltweit eine einzigartige Gestalt an und wurden somit zur »ersten globalen Revolte« (Kraushaar, 2000: 19) nach dem Zweiten Weltkrieg. 2 Die Vielzahl der Protestorte, die Originalität der Protestaktionen und die Intensität der Unruhen sind prägende Zeichen der 1968er-Studentenbewegung. Sie erreichte ihren symbolischen Höhepunkt 1968, das als Schlüsseljahr des Aufruhrs bekannt wurde (vgl. Marwick, 1998: 585). 1968 war nicht nur für den Protest gegen die etablierten Werte entschei‐ dend, sondern gab auch ein Zeichen für eine einzigartige soziokulturelle Wende der westlichen Welt. Provokation, Konfrontation und Widerstand internationalisierten sich und verwandelten sich in Parolen der jungen Men‐ schen. Sie gaben der erneuernden Geisteshaltung Ausdruck, die eine ganze Generation zusammengebracht hat. Wie Mark Kurlansky in 1968: The year that rocked the world (2004) schreibt: What was unique about 1968 was that people were rebelling over disparate issues and had in common only that desire to rebel, ideas about how to do it, a sense of alienation from the established order, and a profound distaste for authoritarianism in any form. […] The rebels rejected most institutions, political leaders, and political parties. (Kurlansky, 2004: xvii) 30 1 Historischer und kultureller Rahmen 3 Der Geist einer transnationalen Vereinigung der jungen Menschen der 1960er-Jahre wird auch in den Worten des Geschichtswissenschaftlers Martin Klimke im Aufsatz »Revisiting the Revolution: 1968 in Transnational Cultural Memory« (2010) deutlich: »Despite […] national differences, activists during the late 1960s struggled against what they perceived to be a fundamentally unjust political and economical order, both on a domestic and international level« (Klimke, 2010: 30). Diese »Rebellen« waren vorwiegend junge Menschen in ihren Zwanzigern, hauptsächlich Studenten, deren Familien meist der Mittel- und Oberschicht angehörten und die sich als Kraft politischer und soziokultureller Veränderung behaupten wollten, indem sie sich von den etablierten Weltanschauungen, Lebensstilen wie auch von den verschiedenen Formen, in Gemeinschaft zu sein, zu unterscheiden beabsichtigten. Diese jungen Protestler der 1960er-Jahre gehörten zwar verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen soziokulturellen Wirklichkeiten an und hatten daher auch landesspezifische Protestziele. Aber der Wille, die Gesellschaft zu verändern und mit dem Status quo zu brechen, ver‐ einte die junge Generation auf der Suche nach einer Utopie von transnationalem Wandel. Die Grenzen jedes Landes überschreitend hat sich diese Utopie teils la‐ tenter, teils offenkundiger in vielen westeuropäischen Ländern verbreitet. 3 Trotz der bestehenden Divergenzen in den politischen Systemen wurde der Kampf der Aktivisten überall spürbar, sowohl in den demokratischen Gesellschaften als auch in Ländern, die sich in Westeuropa noch unter dem diktatorischen Joch befanden - was der Fall in Spanien und Portugal war. In der Sichtweise der europäischen Protestler basierte das Hauptproblem auf der Diskrepanz zwischen der Realpolitik, die von ihnen als dysphorisch wahrgenommen wurde, und dem Bild von Ruhe und Wohlstand, welches durch die Regierung verbreitet wurde. Ende der 1960er-Jahre waren die Bundesrepublik, Frankreich und Italien - zusammen mit dem Vereinigten Königreich - die am höchsten entwickelten Ökonomien in Westeuropa. Sie alle wurden von Verfechtern des Kapitalismus und konservativen Regierungen, parlamentarischen Mehrheiten oder großen Koalitionen geführt, so dass die rebellierenden Studenten sie als autoritär, ma‐ nipulierend und desinteressiert an der Schaffung von Alternativen kritisierten. Selbst im totalitären Spanien und Portugal hatte sich dieses Bild von friedlichen und wohlhabenden Ländern verbreitet. Hier jedoch war der Begriff, den die jungen Menschen von Propaganda und Manipulation hatten, ein ganz anderer 31 1.1 Das soziokulturelle Brodeln im Westeuropa der späten 1960er-Jahre 4 Im folgenden Ausschnitt, mit dem der Band Europe’s 1968: Voices of Revolt (2013) beginnt, werden die Protestziele der Demonstranten in den verschiedenen Gegenden Westeuropas deutlich: »The late 1960s and early 1970s marked a moment of political and cultural radicalism during which the authority of governments, institutions and ways of thought were challenged across Europe. […] In the West, activists criticized the shallowness of their liberal democracies and were far more likely to attack the norms of the nuclear family, traditional gender roles and moral conformism, and to engage with communal living, sexual liberation, feminism and gay rights. In the southern European right-wing authoritarian systems, the struggles of communists, worker-priests, Maoists or anarchists were often directed as much at the immediate goal of toppling their regimes as they were at changing their societies« (Gildea/ Mark, 2013: 1). und trotz der Repression demonstrierten sie und organisierten verschiedene Protestaktionen gegen die herrschenden Regime. 4 Diese gemeinsame Widerstandsbereitschaft kennzeichnet wiederum die ideologische und soziokulturelle Generationenspaltung jener Zeit. Für die jungen Menschen repräsentierte die ältere Generation real und symbolisch die herrschende Ordnung, die von bürgerlichen, traditionellen und konservativen Vorstellungen geleitet wurde. Sie sahen in dieser Ordnung eine Kultur der Oberflächlichkeit und des Scheins, die sie beenden wollten, und profilierten sich als Verteidiger einer Erneuerung. Ihr Ziel war es, eine neue Welt zu erbauen, eine Welt, die auf Kreativität, Freiheit und auch auf politischem und gesellschaftlichem Engagement beruht. Diese neue Ordnung predigte das Ende des West-Ost-Konfliktes des Kalten Krieges und somit eine gerechtere und humanere globale Gesellschaft. Wie Rudi Dutschke, einer der Anführer der westdeutschen Studentenbewegung am Ende der 1960er-Jahre, behaup‐ tete: Jede radikale Opposition gegen das bestehende System, das uns mit allen Mitteln daran hindern will, Verhältnisse einzuführen, unter denen die Menschen ein schöpferisches Leben ohne Krieg, Hunger und repressiver [sic! ] Arbeit führen können, muß heute notwendigerweise global sein. Die Globalisierung der revolutionären Kräfte ist die wichtigste Aufgabe der ganzen historischen Periode, in der wir heute leben und an der menschlichen Emanzipation arbeiten. (Dutschke, 1968: 85) Zur Entstehung der Widerstandsbereitschaft der jungen Generation und ihrer Kritik an der Gesellschaft trugen historische, soziopolitische und kulturelle Faktoren bei, die sich überall in Westeuropa manifestierten und die jungen Leute vereinigten. In seiner Analyse der Vorläufer von 1968 charakterisiert Laurent Joffrin den ökomischen Kontext der Nachkriegszeit und hebt ähnliche Merkmale dieser jungen Generation vor: 32 1 Historischer und kultureller Rahmen 5 Der wirtschaftliche Boom der 1950er-Jahre ist eine Erfolgsgeschichte der wirtschaft‐ lichen Erholung der europäischen Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg (vgl. Judt, 2010: 324 f.). Dieser Boom ist ein Phänomen, das zuerst in der Bundesrepublik und in Großbritannien auftrat, aber auch in den anderen Ländern des Westens erlebt wurde. Dans l’après-guerre occidental, les « baby-boomers » reçoivent d’emblée, par le hasard de l’histoire, des traits marquants, communs à des millions d’enfants sur trois continents. Ils ne connaîtront plus la guerre sur leur sol […]. Ils grandiront dans une atmosphère de croissance rapide et régulière. Ils vivront tous les effets, culturels, bienfaisants ou pervers, de la « société d’abondance ». […] Nés dans la pénurie, les « baby-boomers » sont nubiles dans un début d’abondance et adultes dans la prospérité. ( Joffrin, 2008: 36 f.) [In der Nachkriegszeit im Westen haben die »Babyboomer« sofort, durch histo‐ rischen Zufall, markante Züge bekommen, die Millionen von Kindern auf drei Kontinenten gemeinsam sind. Sie werden keinen Krieg im eigenen Land kennen lernen […]. Sie werden in einem Umfeld schnellen und beständigen Wachstums groß werden. Sie werden alle Effekte, kulturell, wohltuend oder pervers, der »Überfluss‐ gesellschaft« erleben […]. In Mangelzeiten geboren, wurden die »Babyboomer« in einem anfänglichen Kontext von Überfluss zu Jugendlichen und im Wohlstand Erwachsene.] Der Zerstörung durch den Zweiten Weltkrieg folgte in Europa eine Zeit des physischen und psychischen Wiederaufbaus. Sie war angetrieben durch Bevölkerungswachstum in städtischen Bereichen und durch eine beispiellose Industrialisierung. 5 Das Klima von allgemeinem Wachstum, Wohlstand und Sicherheit (vgl. Flores/ De Bernardi, 2003: 92) verbunden mit der Wahrneh‐ mung von soziopolitischer Stabilität der 1950er-Jahre bereitete den Boden für die Entstehung der Überflussgesellschaft. Die Babyboomer, die in der Kon‐ sumgesellschaft erzogen wurden, in der der Kapitalismus und standardisierte Verhaltensregeln dominierten, hatten die Gelegenheit, nicht nur den techno‐ logischen Fortschritt zu verfolgen, sondern auch die Vorteile des modernen Luxus zu genießen. Viele von diesen Vorteilen wurden durch die Industriali‐ sierung für einen Großteil der Bevölkerung zugänglich. Der Fernseher, zum Beispiel, wurde damals zum allmächtigen Massenkommunikationsmittel und Unterhaltungsmedium (vgl. Marwick, 1998: 80 f.). Außerdem wurden Vorteile wie schicke Modekleidung, Urlaubsreisen ins Ausland, der Kauf eines eigenen Autos und andere äußere Statusmerkmale zu Symbolen einer Scheinwelt, die die Mentalität der bürgerlichen Schichten im Europa der 1950er- und 1960er-Jahre prägten. Gemäß der anerkannten Standards des American way of life wurde das materielle Besitztum conditio sine qua non sowohl für einen au‐ 33 1.1 Das soziokulturelle Brodeln im Westeuropa der späten 1960er-Jahre 6 Im Buch Postwar: A History of Europe since 1945 erklärt Tony Judt, wie die Konsum‐ gesellschaft der USA den Lebensstil der Europäer Ende der 1950er- und in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre beeinflusst hat: »[In the late 1950s and early 1960s; IG] Europeans were now gaining access to the unprecedented range of products with which American consumers were familiar: phones, white goods, televisions, cameras, cleaning products, packaged foods, cheap colorful clothing, cars and their accessories etc. This was prosperity and consumption as a way of life - the ‹American way of life›. For young people the appeal of ‹America› was its aggressive contemporaneity. As an abstraction, it stood for the opposite of the past; it was large, open, prosperous - and youthful« (Judt, 2010: 351). 7 Spanien und Portugal befanden sich nach dem Zweiten Weltkrieg in einem geschlos‐ senen diktatorischen System. Nichtsdestotrotz haben die Regime von Franco und Salazar auch die von der anderen Seite des Atlantiks und jenseits der Pyrenäen kommenden Wirkungen der Industrialisierung gespürt. Infolgedessen bildete sich auch bei ihnen eine bürgerliche Mittelschicht heraus, die Ähnlichkeiten mit ihren deutschen, französischen, englischen und italienischen Counterparts teilte. Die Suche nach sozialem Status und nach einem auf die Prinzipien der Überflussgesell‐ schaft ausgerichteten Lebensstil, sowie das konservative und traditionsverhaftete Verhalten sind einige Beispiele dieser Ähnlichkeiten. 8 Laut den Geschichtswissenschaftlern James Robert Wegs und Robert Ladrech er‐ klärt sich das Nichtvorhandensein von radikalen politischen Veränderungen in den 1960er-Jahren im Wesentlichen durch die fortschreitende Entwicklung der Konsum‐ gesellschaft, die erweiterten Sozialhilfe-Angebote und die Vormachtstellung konserva‐ tiver Parteien des Mitte-Rechts-Lagers in den westeuropäischen Demokratien. Darüber hinaus betonen sie, dass sowohl rechte wie linke Regierungen angesichts der geltenden Ausrichtung am Kapitalismus unfähig waren, grundlegende politische Alternativen zu entwickeln (vgl. Wegs/ Ladrech, 1996: 229). ßergewöhnlich hohen Sozialstatus als auch für einen vom Komfort geprägten Lebensstil. 6 Dieser Lebensstil sollte durch ein konservatives Verhalten, durch Moralvorstellungen und gutes Benehmen eingehalten werden. 7 Auf der einen Seite ermöglichte der wirtschaftliche Aufschwung eine all‐ gemeine Verbesserung der Lebensbedingungen in Westeuropa, aber auf der anderen Seite endete er in einem ideologischen Zwiespalt, der ein erstes Zeichen war für den Antagonismus zwischen Eltern und Kindern. Die Herausbildung einer Kultur des Konsums und der bürgerlichen Werte in den 1950er-Jahren und bis zur Mitte der 1960er-Jahre (vgl. Judt, 2010: 485), das verbreitete Szenario politischer Stagnation sowie ein Paradigmenwechsel im Wirtschaftsbereich waren in den Augen der jungen Menschen zentrale Aspekte, die Ende der 1960er-Jahre den Weg für Aufruhr bereiteten. 8 1966, 1967 und 1968 erlebten die Bundesrepublik, Frankreich, das Vereinigte Königreich und Italien - alle damaligen Antriebskräfte der westeuropäischen Ökonomie - eine Rezession, die der erste systemische Krisenmoment des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg war. Nach dem Klima des wirtschaft‐ 34 1 Historischer und kultureller Rahmen 9 In ihrer Analyse der 1968er-Studentenbewegung in Westeuropa erwähnen James Robert Wegs und Robert Ladrech, dass Alarmzeichen schon Anfang der 1960er-Jahre in italienischen Universitäten zu spüren waren. Dort zeigte sich zum ersten Mal die Unzufriedenheit der Studenten über die überfüllten Seminarräume, den Autori‐ tarismus der Professoren und auch die veralteten Lehrmethoden (vgl. Wegs/ Ladrech, 1996: 229). 10 Trotz der fehlenden Protest- und Meinungsfreiheit kämpften auch die spanischen und portugiesischen Studenten für die Verbesserung des akademischen Systems. Die studentischen Demonstrationen besonders in Madrid und Barcelona sowie die Hochschulkrisen (sogenannte »akademische Krisen«) in Portugal sind im Verlauf der 1960er-Jahre ein Beleg für die Jugendbewegungen, die eine grundlegende akade‐ mische Reform verlangten. Diese Demonstrationen werden in den Unterkapiteln, lichen Optimismus der 1950erbis zur Mitte der 1960er-Jahre, die für viele der goldene Zeitraum des Kapitalismus war (vgl. Flores/ De Bernardi, 2003: 22), folgte eine Verlangsamung der Industrialisierung in ganz Europa, die direkte Auswirkungen im Finanzsektor dieser Länder hatte. Da die Regierungen sich gezwungen sahen, das Haushaltsdefizit zu kontrollieren, investierten sie weniger in den Sozialstaat und in den öffentlichen Sektor und optierten sie für Lohnsenkungen und für Steuererhöhungen bei den Arbeiterklassen. Diese waren es, die am meisten unter der Krise litten. Die negativen Folgen dieser Politik manifestierten sich im Anstieg der Arbeitslosenzahlen, in einer starken Inflationsrate und in der Verschlechterung der Lebensbedingungen der Ärmsten. All diese Maßnahmen und ihre sozialen Konsequenzen brachten eine Un‐ zufriedenheit in die Gesellschaft, die ein wichtiges Fundament der 1968er-Stu‐ dentenbewegung wurde. Angesichts der Unfähigkeit der Regierungen, auf die ökonomische Krise zu reagieren und grundlegende Änderungen in der partei‐ politischen Ideologie vorzunehmen, wurde die Unzufriedenheit der jungen Generation zuerst im akademischen Milieu und danach auf den Straßen großer Städte lauter. Diese Generation drückte ihre Empörung über den zunehmenden sozialen Abstieg und ihren Willen zu einer radikalen Transformation der vorherrschenden Institutionen aus. Der Protest der jungen Leute Ende der 1960er-Jahre in Westeuropa wurde in den Universitäten entzündet, wo die Studenten nach einer grundlegenden Reform der akademischen und administrativen Strukturen des Hochschulsys‐ tems verlangten. 9 Unter den Fahnen des Studentenkampfes verbreiteten sich besonders die Forderungen nach einer größeren Anpassung des Curriculums an die außeruniversitäre Wirklichkeit, nach Öffnung des Lehrkörpers zu dringenden Themen der Aktualität und nach mehr Investitionen im Bildungs‐ bereich. 10 Auf der anderen Seite wurden die hohe Zahl von Studenten pro 35 1.1 Das soziokulturelle Brodeln im Westeuropa der späten 1960er-Jahre die sich entsprechend mit der spanischen und portugiesischen Wirklichkeit beschäf‐ tigen, vorgestellt werden (siehe Kapitel 1.5 und 1.6). 11 Im Kapitel »Relations with authority«, welches die Entwicklung der europäischen Universitäten vom Kriegsende bis heute analysiert, beleuchten Walter Rüegg und Jan Sadlak, was die »Demokratisierung der Universitäten« für die 1968er-Studenten bedeutete: »For the students’ revolution, the concept of the ‹democratization of the university› signified transferring democratic forms of rule and decision-making to the university« (Rüegg/ Sadlak, 2011: 109). Professor, das Fehlen von Stipendien und die geringe Rate von Neueinstel‐ lungen aufgrund von Kürzungen im Bildungsetat als Zeichen des Niedergangs der europäischen Hochschulen identifiziert. Die Universitäten beruhten auf veralteten Modellen, die nicht zu den neuen Zeiten passten, die der zuneh‐ menden Zahl von Studenten kaum eine Ausbildung mit Qualität boten und ihnen die Teilhabe an Hochschulpolitik verwehrten. In einem Manifest, das 1968 veröffentlicht wurde, beschrieb der italienische Studentenführer Guido Viale die Wirklichkeit der damaligen Universitäten (in Italien und nicht nur dort), wie sie die Studenten erlebten: […] per la maggioranza degli studenti […] l’Università funziona come strumento di manipolazione ideologica e politica teso ad instillare in essi uno spirito di subordina‐ zione rispetto al potere (qualsiasi esso sia) ed a cancellare, nella struttura psichica e mentale di ciascuno di essi, la dimensione collettiva delle esigenze personali e la capacità di avere dei rapporti con il prossimo che non siano puramente di carattere competitivo. (Viale, 2008: 77) [[…] für die Mehrheit der Studenten […] funktioniert die Universität als Instrument für ideologische und politische Manipulation und dies mit dem Ziel, ihnen einen Geist von Unterordnung unter die Macht (egal welcher Art) einzutrichtern sowie die kollektive Dimension der persönlichen Forderungen und die Fähigkeit, mit dem Nächsten Beziehungen zu führen, die nicht nur rein kompetitiv sind, aus der psychischen und mentalen Struktur jedes Studenten zu löschen.] Geleitet durch einen reformistischen Geist setzten sich die Studenten für eine demokratische Erneuerung der Universitäten ein und forderten öffentlich eine höhere Autonomie der Hochschulen bei den Verwaltungsentscheidungen, die frei von staatlichen Einflüssen bleiben sollten. 11 Durch originelle Protestformen, wie Barrikaden, Sit-ins, Fakultätsbesetzungen, Parolen und Massendemonstra‐ tionen auf den Campus der Universitäten, versuchten sie, die Aufmerksam‐ keit der Bevölkerung auf die ihrer Auffassung nach fehlende Freiheit der Meinungsäußerung - sowohl innerhalb der akademischen Welt als auch in der 36 1 Historischer und kultureller Rahmen 12 Vergleiche auch den folgenden Kommentar der Geschichtswissenschaftler Martin Klimke und Joachim Scharloth über die Bedeutung und Originalität der Studentenpro‐ teste in den europäischen Universitäten: »Students held teach-ins to generate a critical public in egalitarian discussions, go-in activists put forward their claims to ensure their participation in the debates and decision-making processes of the authorities, and anti-ritualism aimed at disturbing the order of everyday life and suspending the social cohesion constructed in conventional ritual performances. Whereas the roots of direct action strategies lay in the African American civil rights movement and the Free Speech Movement at Berkeley, other features such as détournement, happening, and subversive anti-ritualism were inspired by aesthetic avantgardist and neoavantgardist movements from Europe such as surrealism, Situationism, and Provo« (Klimke/ Scharloth, 2008: 5). 13 In seiner Analyse über die Rolle der Medien bei der Übertragung der Studentenpro‐ teste in der Bundesrepublik, in Frankreich und in Italien bemerkt Rolf Werenksjold, dass der Springerverlag, das nationale französische Fernsehen und die italienische Verlagsgruppe La Stampa von den Studenten als Symbole des Establishments betrachtet wurden (vgl. Werenksjold, 2011: 178). In Spanien und in Portugal wurden die Medien durch Zensur streng kontrolliert. Öffentlichkeit - zu erregen und rebellierten sie gegen die pseudodemokratische Farce, in der sie zu leben glaubten. 12 Sowohl im Kampf gegen den Autoritarismus des Establishments als auch durch die Zurückweisung des standardisierten bürgerlichen Lebens - welches sie als konservativ, kleinlich, beklemmend und repressiv betrachteten (vgl. Morin et al., 2008: 14) - verlangten die jungen Leute mehr Transparenz und Befreiung der sozialen Kommunikationsmedien. 13 Sie forderten auch die Her‐ absetzung des Wahlalters - damals durfte man erst mit 21 Jahren wählen -, so dass sie aktiv am nationalen Entscheidungsprozess teilnehmen konnten. Außerdem solidarisierten sie sich mit den Arbeitern und Angestellten bei Streiks und Demonstrationen für mehr soziale Gerechtigkeit. Dies erwähnen Martin Klimke und Joachim Scharloth in ihrer Einführung zum Sammelband 1968 in Europe: A History of Protest and Activism (2008): Decrying the alienation and the lack of democratic participation in their societies, students from Western Europe largely blamed capitalism for the rise of technocratic and authoritarian structures. […] In this process, the universities could serve as «cen‐ ters of revolutionary protest» to prevent domestic repression, connect to the working class, and transform the underlying roots of society […]. (Klimke/ Scharloth, 2008: 1) Entscheidend für die Vereinigung der europäischen jungen Leute und für die Verbreitung ihrer Proteststimmung war auch die Rolle der Studentenführer. Einer linken Ausrichtung treu, sei diese marxistisch, kommunistisch oder anarchistisch, engagierten sie sich auch in den Medien für eine Verstärkung des Aufruhrs. Rudi Dutschke, Daniel Cohn-Bendit, Mario Capanna oder Tariq 37 1.1 Das soziokulturelle Brodeln im Westeuropa der späten 1960er-Jahre 14 Laut Martin Klimke und Joachim Scharloth waren sowohl die Netzwerke zwischen Ak‐ tivisten verschiedener Länder als auch die unterschiedlichen Debatten über Lösungen für globale Probleme wie Kapitalismus, Imperialismus oder das Blockdenken des Kalten Krieges entscheidend für die supranationale europäische Dimension der Proteste der 1960er- und 1970er-Jahre (vgl. Klimke/ Scharloth, 2008: 4). 15 Jakob Tanner kommentiert auf diese Weise die Rolle der Medien - insbesondere des Fernsehens - in der Vereinigung der 1968er-Studenten weltweit: »That the ‹chiffre 68› was in a position to unite the emotional dispositions, motives, hopes, and disappo‐ intments of all those who considered themselves part of the social awakening in the 1960s, however, can only be understood when taking into account the effect of mass media. Newspapers, magazines, radio, film, and above all, television boosted the belief that people shared events with each other on a global scale […]« (Tanner, 2008: 77). 16 In »Weltwende 1968? Ein Jahr aus globalgeschichtlicher Perspektive. Zur Einführung« (2008) heben Jens Kastner und David Mayer die Bedeutung des antikolonialen Kampfes für die weltweite Studentenbewegung hervor: »Der Antikolonialismus stellte eine Ver‐ knüpfung zwischen verschiedensten Akteurinnen und Akteuren auf der ganzen Welt her: […] kolonialistische und später imperialistische internationale Verflechtungen und Konflikte [waren; IG] immer wieder Angriffspunkte der Bewegungen und Anlass für Solidarisierungen« (Kastner/ Mayer, 2008: 16). Ali gaben Ende der 1960er-Jahre der Proteststimmung ein Gesicht. Und dank ihrer Stimmen und ihrer Initiativen wurden Mobilisierungsformen entwickelt und die Koordination der gemeinsamen Ideen und ihrer Verbreitung in den verschiedenen nationalen Bewegungen geleistet. 14 Es sei daran erinnert, dass der allerorts vorhandene Zugang zu den verschie‐ densten Informationen in den Medien ̶ vor allem im Fernsehen 15 - zum Interesse der Studenten für die Probleme der unterdrückten Völker und sozial Margina‐ lisierten beitrug. So vereinten sie sich bei internationalen Protestaktionen. Der Kampf gegen Rassendiskriminierung und die Forderungen nach dem Ende der diktatorischen Regime, die selbst in europäischen Ländern wie Spanien und Portugal fortbestanden, sind Beispiele des Aufstands der jungen Menschen für eine gerechtere, freiere und egalitärere Gesellschaft. Außerdem fügten sich die Unterstützung von Befreiungsbewegungen der sogenannten Dritten Welt und die Verehrung von revolutionären Führern wie Che Guevara und Fidel Castro in den antiautoritären Kampf der jungen Generation damals ein. Dessen Ziel war es, koloniale und imperialistische Unterdrückung und Tyrannei, besonders in Afrika und Lateinamerika, zu beenden. 16 Im Kontext des antiimperialistischen Engagements der jungen Generation stand kein historisches Ereignis der 1960er-Jahre so sehr im Fokus der Kritik wie der Vietnamkrieg. Beim Hinterfragen der Legitimität der amerikanischen Bombenangriffe auf Vietnam, die sowohl durch das Fernsehen seit 1965 als auch durch Fotos weltweit übertragen wurden, betrachteten die Studenten diesen 38 1 Historischer und kultureller Rahmen 17 Während der 1960er-Jahre bildeten die Soziologen und Philosophen der Frankfurter Schule, unter ihnen Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas und Max Horkheimer, die Avantgarde des ideologischen Überdenkens der marxistischen Theorien und der Infragestellung der Fundamente des Kapitalismus in der damaligen Gesellschaft. Herbert Marcuse war derjenige, der sich am stärksten den jungen Ame‐ rikanern und Europäern annäherte und er engagierte sich bei der Verbreitung von Befreiungsidealen und in der Abkehr vom Establishment (vgl. Frei, 2008: 61). In seinen Vorlesungen in den USA und Europa sprach Marcuse den jungen Menschen der 1960er-Jahre die Schubkraft der revolutionären Bewegung zu und erklärte radikale Studenten zu wahrhaften Akteuren der Revolution (vgl. Marwick, 1998: 14). Krieg als den Katalysator des Protestes gegen die weltweite US-Hegemonie (vgl. Kraushaar, 2000: 24). Arthur Marwick beschreibt es folgendermaßen: The Vietnam War - the attempt of the Americans to bolster the corrupt regime in South Vietnam against Communist North Vietnam and the Communist Vietcong in South Vietnam - waging a brutal campaign against ordinary villagers, killing hostages, using napalm, defoliants and other poisons, and then carrying the bombing raids to North Vietnam was the biggest single cause of protests and demonstrations [in the USA and Western Europe; IG]. (Marwick, 1998: 15) Sprechchöre und der dabei wiederholte Ausruf des Namens des vietnamesischen Widerstandsführers Ho-Chi-Minh in den Hörsälen verschiedener westeuropäi‐ scher Hochschulen (vgl. Frei, 2008: 213) sowie die Verbreitung des Mottos »Make love, not war« waren sowohl für die US-amerikanischen jungen Protestler als auch für die europäischen ein Ventil für ihre Empörung gegen den Vietnamkrieg. Tatsächlich, und gemäß der Prophezeiungen Herbert Marcuses, 17 der damals als der geistige Vater der internationalen Studentenbewegung betrachtet wurde (vgl. Joffrin, 2008: 95), sollte die rebellierende europäische junge Generation in die Fußstapfen der US-amerikanischen treten und in die Haut junger Revo‐ lutionäre schlüpfen: Diese Jungen und Mädchen teilen nicht mehr die repressiven Bedürfnisse nach den Wohltaten und nach der Sicherheit der Herrschaft - in ihnen erscheint vielleicht ein neues Bewußtsein, ein neuer Typus mit einem anderen Instinkt für die Wirklichkeit, fürs Leben und fürs Glück; sie haben die Sensibilität für eine Freiheit, die mit den in der vergreisten Gesellschaft praktizierten Freiheiten nichts zu tun hat und nichts zu tun haben will. (Marcuse, 1967: 6) Der politische Aktivismus der 1968er-Studentenrevolte wurde von einer kultu‐ rellen Revolution begleitet, in der verschiedene Experimente im Rahmen eines interkontinentalen Phänomens gemacht wurden. Dieses wurde als »Gegen‐ kultur« bekannt und umfasst laut Arthur Marwick die verschiedenen Formen, 39 1.1 Das soziokulturelle Brodeln im Westeuropa der späten 1960er-Jahre 18 Laut Marwick entstand der Begriff »Gegenkultur« in jener Zeit - ungefähr zwischen 1958 und 1974 - und wurde er vom US-amerikanischen Akademiker Theodore Roszak bekannt gemacht, als dieser 1968 einen Aufsatz mit dem Titel »Young and the Great Refusal« veröffentlichte, in dem zu lesen ist: »The counter culture is the embryonic cultural base of the New Left politics, the effort to discover new types of community, new family patterns, new sexual mores, new kinds of livelihood, new aesthetic forms, new personal identities on the far side of power politics, the bourgeois home, and the Protestant work ethic« (zit. nach Marwick, 1998: 11). 19 In Il Sessantotto (2003) [Die 1968er-Bewegung], einer sozial- und geschichtswissen‐ schaftlichen Studie über die Studentenbewegung und Jugendkultur Europas und der westlichen Welt am Ende der 1960er-Jahre, schreiben Marcello Flores und Alberto De Bernardi, dass die Drogen ein entscheidender Aspekt der Gegenkultur waren: Für die Jungen jener Epoche war das Experimentieren mit Drogen eine Unterstützung für eine Flucht aus der Tradition und ein Mittel, die Autoritäten zu missachten und das Bewusstsein zu erweitern. Außerdem wurde es von ihnen auch als ein Kulturritual betrachtet, um sich der Zugehörigkeit zur Jugendbewegung zu vergewissern (vgl. Flores/ De Bernardi, 2003: 48). Aktivitäten und Verhältnisse, die von den Lebensweisen und Werten der sogenannten mainstream culture abweichen oder diese in Frage stellen (vgl. Marwick, 1998: 12). 18 Die Vorliebe der jungen Menschen für Provokation und für die Zurückweisung der etablierten Sitten und Gebräuche - die sowohl in den USA als auch in Westeuropa als Quintessenz der 1968er-Gegenkultur betrachtet wurde (vgl. Tanner, 2008: 75) - war charakteristisch für die Suche nach kreativen und avantgardistischen Alternativen zu der Doktrin des traditionellen und kon‐ servativen Ethos ihrer Eltern. Indem sie der Vorstellungskraft Raum gab, fand die junge Generation durch bunte und gewagte Kleidung, durch den Schock der visuellen Künste und den subversiven Klang des Beats und des Rock’n’Rolls die Ausdrucksformen einer internationalen Protest- und Widerstandssprache. Jeans und lange Haare, die Ausstrahlung der pazifistischen Strömung flower power ebenso wie die frenetischen Rhythmen der Beatles und Rolling Stones, neben den Protestliedern von Bob Dylan und Joan Baez, sind nicht nur einige Zeichen des Verschmelzens der Popkultur mit politischen Motivationen, sondern sie trugen auch zur Kennzeichnung der jungen, rebellischen 1968er-Generation bei. Darüber hinaus kannte das Westeuropa der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre eine wachsende Hippiebewegung, in der Musikgruppen mit psychedelischer Musik und Erfahrungen mit Drogen - unter anderem mit LSD - bei den jungen Leuten beliebt waren. Damit strebten die jungen Männer und Frauen nach einer Horizonterweiterung jenseits der Welt ihrer Eltern. 19 Es war in diesem Kontext intensiver Provokation und Proteste gegen konservative Sitten und Gebräuche, dass die sexuelle Revolution stattfand - eine Revolution, die im Streben der jungen Menschen nach Freiheit und 40 1 Historischer und kultureller Rahmen 20 Die Erfindung der Anti-Baby-Pille und ihre zunehmende Verfügbarkeit in Westeuropa seit dem Anfang der 1960er-Jahre sowie die Fortschritte bei der Behandlung von Geschlechtskrankheiten werden von Marcello Flores und Alberto De Bernardi als bedeutende Faktoren erwähnt, die zum Ausleben einer freien und unverbindlichen Sexualität unter der 1968er-Generation beitrugen (vgl. Flores/ De Bernardi, 2003: 98). Emanzipation verankert war. Was vorher ausschließlich in die Privatsphäre gehört hatte, wurde öffentlich gemacht. Teile der jungen Generation machten spontanes Ausleben von Sexualität öffentlich und machten aus Permissivität ein Schlüsselelement der Gegenkultur der 1960er-Jahre im Westen: »‹Permis‐ siveness› […] [refers to; IG] a general sexual liberation, entailing striking changes in public and private morals and […] a new frankness, openness, and indeed honesty in personal relations and modes of expression« (Marwick, 1998: 18). Mit einer Verknüpfung von Öffentlichem und Privatem, von Persönlichem und Politischem kam es Ende der 1960er-Jahre in Westeuropa zu einer Ver‐ breitung des hedonistischen peace & love - einer Weltanschauung, die vom Genießen der Empfindungen und von der Hervorhebung der Emotionen und Instinkte geprägt war. Das Erleben des gegenwärtigen Augenblicks, des Hier und Jetzt, wurde zu einem Imperativ, der die freie Liebe verteidigte, d. h. das Erleben von Beziehungen ohne Beschränkungen, Verbote oder Verbindlich‐ keiten. 20 Dem zementierten rigiden Lebensentwurf der Älteren, so sahen es die Jungen, stellten sie ihr alternatives Modell entgegen: eine tolerantere und offenere Gesellschaft angesichts der sexuellen Freiheiten des Einzelnen, frei von moralischen Vorurteilen. Unter der Schirmherrschaft von Transparenz und Öffnung der Mentalitäten wurden nicht nur Tabuthemen wie die Pille, Kondome und Abtreibung, die zum Alltagsleben vieler Menschen der jungen Generation gehörten, sondern auch Fragen bezüglich Rollenstereotypen und Familienmodellen öffentlich diskutiert. Dank der Infragestellung soziokultureller Konventionen und einer Zurschau‐ stellung des Intimlebens der 1968er-Generation hat der Feminismus am Ende der 1960er-Jahre an Bedeutung gewonnen. Noch mehr Widerhall bekam er in den 1970er-Jahren (vgl. Schulz, 2008: 281 f.). Aktivistinnen wie die Französin Simone de Beauvoir, die Deutschen Alice Schwarzer und Helke Sander, die Italienerin Carla Lonzi und die Britin Sheila Rowbotham brachten die nationalen Feministinnengruppen zu einem gemeinsamen Anliegen zusammen. Sie orien‐ tierten sich an einem Kampf für das Engagement der Frau in der Gesellschaft, für die Gleichheit der Rechte zwischen Männern und Frauen, für gleichen 41 1.1 Das soziokulturelle Brodeln im Westeuropa der späten 1960er-Jahre 21 Der Impuls der Frauenbewegung im Kontext der Studentenrebellion am Ende der 1960er-Jahre wird hier hervorgehoben: »Amid the tension, the exultation, the heigh‐ tened sensitivities engendered in the turmoil of 1968-69, women participating in the great causes of the time became sharply conscious of their own subordinate position, of their own rights, and of the blatant withholding of them. Some women, in isolation, had harboured rebellious thoughts; now they were brought together in stimulating interaction, in a period when all authority systems, all power relationships, open or concealed, real or imagined, were subject to the most intensive scrutiny […]« (Marwick, 1998: 679). Darüber hinaus ist auch zu erwähnen, dass die Protestaktionen der Frauenbewegung gleichzeitig mit den Kämpfen anderer Aktivisten für die Rechte diskriminierter Gruppen wie die Homosexuellen stattfanden. 22 Selbst in den iberischen Diktaturen spürte man die Ideen und Trends der neuen Zeiten. Trotz des konservativen Charakters der Gesellschaft und des bedeutenden Einflusses des Katholizismus auf beide Regime ließen sich die jungen Spanier und Portugiesen auch von der Gegenkultur anstecken. Dies wird in den folgenden Unterkapiteln beschrieben (siehe Kapitel 1.5 und 1.6). Lohn in den Fabriken und im Dienstleistungssektor und für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch. 21 Durch mehr oder weniger durchdachte politische Überzeugungen motiviert oder lediglich um einen Gegensatz zu einer ihrer Meinung nach ökonomisch entfremdeten Gesellschaft zu setzen, wurde die Kultur des sex, drugs & rock’n’roll zu einem verbreiteten, identifizierenden Merkmal der jungen Generation Ende der 1960er-Jahre. 22 Kühn und vielfältig verstärkte die Gegenkultur den Aufruf zum Widerstand der 1968er-Generation und präsentierte sich damit als moderne Alternative zum reaktionären und traditionsverhafteten Establishment im Eu‐ ropa der Nachkriegszeit: Sovversione e protesta hanno coinvolto la sfera pubblica e quella privata, la dimen‐ sione collettiva e lo spazio individuale. Politica e musica, droga e religione, arte e sesso hanno formato per il mondo giovanile un intreccio che ha cambiato in profondo la propria vita: era inevitabile che la baby boom generation riversasse quel mutamento sull’intera società, e cercasse di farlo rapidamente e dovunque. (Flores/ De Bernardi, 2003: 115; Hervorhebung im Original) [Subversion und Protest erreichten die öffentliche und private Sphäre, die kollektive Dimension und den persönlichen Raum. Politik und Musik, Drogen und Religion, Kunst und Sexualität verknüpften sich so auf eine Weise in der Welt der jungen Menschen, die das Leben selbst so tief veränderte: Es war unvermeidlich, dass die Baby-Boomer-Generation diese Veränderungen in die ganze Gesellschaft trug und dies schnell und überall.] Wie die Historiker Marcello Flores und Alberto De Bernardi im letzten Zitat aufzeigen, kannte der revolutionäre Charakter der jungen Europäer keine 42 1 Historischer und kultureller Rahmen 23 Ein anderer Effekt des ökonomischen Erfolgs in den 1950er- und 1960er-Jahren war das Anwachsen von Migrationsbewegungen und der Zahl der Gastarbeiter (vgl. Schildt, 2001: 8). Sie kamen aus ärmeren und wirtschaftlich schwächeren Ländern wie Italien (hauptsächlich aus dem Süden), Spanien und Portugal, wo Diktatur und Armut be‐ sonders auf dem Land zur Auswanderung führten, und auch aus der Türkei. Die Gastarbeiter wollten ein neues Leben, das ihnen die Vorteile des Wirtschaftswunders ermöglichte. Grenzen. So sehr die Art Protest auszudrücken auch variierte, sie beruhte doch immer auf derselben Utopie von Veränderung. Es war diese Utopie, die die Identität der jungen Deutschen, Franzosen, Italiener, Spanier und Portugiesen am Ende der 1960er-Jahre definierte. Nach der Präsentation der allgemeinen historischen, politischen und sozio‐ kulturellen Umstände und Bedingungen des generation gap Westeuropas soll jetzt eine detaillierte Darbietung des »extratextuellen Kontext[es; IG]« (Dan‐ neberg, 2007: 334) folgen. Dieser Kontext liegt den Darstellungen des studenti‐ schen Aufruhrs und des Generationenkonfliktes in den einzelnen Prosawerken zugrunde und stellt den Hintergrund ihrer Narrative dar. 1.2 Die Bundesrepublik: die Herausbildung einer Alternativkultur Am Anfang der 1960er-Jahre war die Bundesrepublik eine junge Republik, die erst wenig älter als eine Dekade war. Sie erlebte eine Realität, die durch eine solide Regierung und durch eine ungehemmte Kraft der Industrie ge‐ regelt wurde, angetrieben vom Wirtschaftswunder der 1950er-Jahre. Dieses Phänomen großen wirtschaftlichen Wachstums, das in den Grundsätzen der Sozialen Marktwirtschaft fundiert war (vgl. Ambrosius, 1989: 56 f.), hatte di‐ rekte soziale Auswirkungen. Sie bestanden nicht nur in einem allgemeinen finanziellen Wohlstand, sondern auch im Wandel der Sitten und des Lebensstils vieler deutscher Familien, die die Gelegenheit hatten, die Annehmlichkeiten der Konsumgesellschaft zu erleben und die bürgerlichen Konzepte der »Kultur des Scheins« anzunehmen. 23 Mitte der 1960er-Jahre begann jedoch der wirtschaftliche Optimismus erste Zeichen eines Abflauens zu zeigen. Die Prognosen eines Einbruchs des ökono‐ mischen und finanziellen Booms - und dessen unheilvollen Konsequenzen im sozialen Bereich - führten zu einer Infragestellung sowohl der kapitalistischen Grundfesten der Überflussgesellschaft als auch der politischen Realität des Landes. Rolf Uesseler beschreibt diesen historischen Wendepunkt: 43 1.2 Die Bundesrepublik: die Herausbildung einer Alternativkultur 24 Die Außerparlamentarische Opposition (APO) war eine Protestbewegung, die von Studenten und Bürgern gegründet wurde und die in der Bundesrepublik in den späten 1960er-Jahren politisch aktiv war. Die APO wollte die Opposition gegen die offizielle Politik sein, besonders in ihrer Haltung gegen den Vietnamkrieg und für eine Reform des Hochschulsystems (vgl. Borowsky, 1998: 14). Die Mitglieder der APO waren hauptsächlich junge Leute, die von der politischen Richtung des Landes sich enttäuscht fühlten und die mit ihren Protestaktionen das Bewusstsein der Bevölkerung beeinflussen und Veränderungen initiieren wollten. Die Bundesrepublik und die meisten westlichen Länder befanden sich Mitte der 60er Jahre in einer Situation, in der auf einmal - aus scheinbar unerfindlichen Gründen - all das nicht mehr funktionieren wollte, was bis dahin so reibungslos geklappt hatte: steigender Wohlstand, Vollbeschäftigung, Abwesenheit von Wirtschaftskrisen, allseits vorhandener moralischer Grundkonsens und somit allgemeine Zufriedenheit und ein verbindendes Wir-Gefühl. (Uesseler, 1998: 15) Seit dem Anfang der Ära Adenauer im Jahre 1949 war die Christlich Demokra‐ tische Union (CDU) - entweder allein oder in Koalitionen - an der Macht und seitdem bestimmte sie die Politik der Bundesrepublik der 1950er- und 1960er-Jahre. Mit dem Verfall des wirtschaftlichen Aufschwungs und dem Be‐ ginn der »ersten wirklichen Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit« (Ambrosius, 1989: 63) im Jahre 1966 wurde diese Mitterechtspartei zur Zielscheibe der Kritik. Diese Kritik kam hauptsächlich von Studenten, die entschlossen waren, einen Protest, den Knut Hickethier als »Protest gegen den CDU-Staat« bezeichnete, in Angriff zu nehmen: »[ein Staat; IG], den man nicht nur als vermufft und angestaubt, sondern auch als zu wenig offen, zu wenig weltläufig und zu wenig modern fand« (Hickethier, 2003: 19). Die Proteststimmung wuchs Ende 1966 mit der Entstehung einer neuen Koalitionsregierung aus den beiden größten Parteien der Bundesrepublik: die Christlich Demokratische Union (CDU) und die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD). Diese »Große Koalition«, als die sie damals bekannt wurde, wurde zu einem Symbol der Verständigung zwischen zwei politischen Parteien, die ursprünglich unterschiedliche Ideolo‐ gien und Perspektiven für die Regierungsarbeit hatten. Mit ihrer Bildung wurde jedoch zugleich auch ein Problem geschaffen, denn dadurch fehlte im Parlament gegenüber der absoluten Mehrheit eine tatsächliche Opposition. Dieses einheitliche politische Bild rief auch außerhalb des Parlaments Oppo‐ sitionsbewegungen hervor. Die bedeutendste war die Außerparlamentarische Opposition (APO), eine Bürger- und Studenteninitiative, die zusammen mit dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) in den Universitäten die Avantgarde der soziopolitischen Alternative bildete. 24 44 1 Historischer und kultureller Rahmen 25 Mohammad Reza Pahlavi wurde von den Studenten und Intellektuellen als Symbol von Tyrannei und Unterdrückung angesehen (vgl. Uesseler, 1998: 244 f.). 26 Bezeichnet als »Der lange Marsch durch die Institutionen«, wurde die Idee der Abschaf‐ fung des Autoritarismus und der Repression in der Gesellschaft der Bundesrepublik am Ende der 1960er-Jahre selbst von Rudi Dutschke entwickelt. Sie fand ihre Inspirations‐ quelle in den Befreiungskämpfen von Che Guevara und anderen Guerillakämpfern aus Lateinamerika (vgl. Kraushaar, 2000: 84 f.). 27 Der Aufstand der jungen Menschen gegen die Autoritätsfiguren, wie die Eltern, die Professoren oder den Staat selbst, und der Wunsch nach Demokratisierung der Bundesrepublik führten dazu, dass der Kampf gegen das Schweigen über und das Verdrängen der älteren Generationen von allem, was mit der NS-Vergangenheit zu tun hatte, eine Hauptrolle im Rahmen der 1968er-Studentenbewegung spielte (vgl. Dahmer, 1998: 30). In den Häusern und Universitäten wurden Eltern und Dozenten von den Studenten nach ihren ideologischen Überzeugungen während des Drittens Reichs befragt. Und auch zentrale politische Persönlichkeiten, wie der amtierende Kanzler der »Großen Koalition«, Kurt Georg Kiesinger, wurden mit ihren Verstrickungen in die NSDAP konfrontiert. Es war in diesem aufgeladenen Kontext, dass im Sommer 1967 anlässlich des Schahbesuchs ein Ereignis stattfand, das den Auslöser für die deutsche Studentenbewegung bildete: der Tod des Studenten Benno Ohnesorg. Ohne Vorwarnung wurde Ohnesorg am 2. Juni von der Polizei erschossen, als er an einer vom SDS organisierten Demonstration persischer und deutscher Studenten teilnahm. 25 Seine Tötung führte zu einer beispiellosen Protestwelle (vgl. Klimke, 2008: 97): Studenten, Intellektuelle und Kritiker des Establishments drückten ihre Missbilligung der Brutalität des Polizeiansatzes aus und nahmen an großen Demonstrationen teil, die 1967 und 1968 in vielen Universitätsstädten der Bundesrepublik stattfanden. Im Prozess der Mobilisierung der jungen Generation für mehr Teilhabe am politischen Leben muss die Rolle des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) hervorgehoben werden. Unter der Führung von Rudi Dutschke, der Hauptfigur der westdeutschen Studentenrevolte bis zu dem Moment eines At‐ tentatsversuchs auf ihn im April 1968, orientierte sich der SDS an sozialistischen und marxistischen Leitlinien. Sie sollten zu einer radikalen Umgestaltung der Gesellschaft führen, und zwar durch Sichtbarmachung der repressiven Züge im Bildungswesen, im soziopolitischen Bereich und auch in den Familien. 26 Aus der Perspektive der jungen Protestler, die das sogenannte Dritte Reich entweder überhaupt nicht oder nur in der Kindheit erlebt hatten, fehlte der Bundesrepublik sowohl eine Demokratisierung als auch ein Auseinandersetzen mit der NS-Vergangenheit, die sie vom »Muff der 1000 Jahre« (zit. nach Kraus‐ haar, 2000: 196) des Nationalsozialismus befreien konnte. 27 Aus diesem Grund beharrte der SDS darauf, dass die unantastbare Autorität der Hochschullehr‐ 45 1.2 Die Bundesrepublik: die Herausbildung einer Alternativkultur 28 Die zu einer Notstandsverfassung gehörenden Notstandsgesetze waren ein wichtiger Streitpunkt im Rahmen der 1968er-Studentenbewegung. Diese sollten im Ernstfall alles andere außer Kraft setzen. Der Widerstand gegen den Erlass dieser Gesetze erreichte seinen Höhepunkt am 11. Mai 1968, als tausend junge Protestler des SDS und der APO an einer Massendemonstration in Bonn - die damalige Hauptstadt der Bundesrepublik - teilnahmen: Ihr Ziel war es, gegen eine Verletzung der Grundsätze der Demokratie zu protestieren (vgl. Uesseler, 1998: 301). Außerdem schienen die Notstandsgesetze einen bevorstehenden Krieg heraufzubeschwören. Trotz allen Protesten und Demons‐ trationen wurden sie am 30. Mai 1968 verabschiedet. 29 Der Kommentar von Hermann Glaser über die Bedeutung der 1968er-Kampagne gegen den Springerverlag und seinen Besitzer lautet: »Vor allem Axel Cäsar Springer wurde mit seiner Pressekonzentration zum großen Negativsymbol der Protestbewegung. Den unaufhaltsamen Aufstieg der Bildzeitung empfand man als Katastrophe der Pressefreiheit« (Glaser, 1986: 218). 30 Ein Leitmotiv der deutschen Studentenrevolte war der Widerstand gegen die Untätig‐ keit und Gefolgschaft der Bundesregierung angesichts der US-Einmischung in Vietnam. Laut Dieter Rucht sind ab 1965 die Proteste gegen den Vietnamkrieg das Bindeglied der Friedens- und der Studentenbewegung (vgl. Rucht, 1989: 317 f.). Am 17. und 18. Februar 1968 fand in Westberlin der Internationale Vietnamkongress statt. Vom SDS organisiert nahmen an dieser Veranstaltung Aktivisten aus Deutschland, Frankreich, England, Italien, USA und sogar aus Lateinamerika teil, um über die Lage in Vietnam zu diskutieren und Solidarität mit dem vietnamesischen Volk zu zeigen (vgl. Klimke, 2008: 103 f.). enden abgeschafft wurde. Dagegen und wegen drängender politischer Themen wie der Besuch des Schahs und die umstrittenen Notstandsgesetze organisierte er Demonstrationen. 28 Im Rahmen des Kampfes für die freie Meinungsäußerung protestierten die Studenten dabei vor allem gegen die Springer-Presse, den übermächtigen Zeitungskonzern, der ihrer Meinung nach die Wahrhaftigkeit und die Unabhän‐ gigkeit eines Informationsmediums verstieß (vgl. Frei, 2008: 124). Am Ende der 1960er-Jahre war die Berichterstattung traditionell konservativer Zeitungen dieses Verlags durch den Stil der sensationslüsternen Klatschpresse geprägt. Unter ihnen stach besonders die auflagenstarke Bild-Zeitung hervor, die die Proteste der jungen Generation öffentlich diskreditierte und das Vorgehen der Autoritäten gegen die sogenannten »Rebellen«, d. h. gegen die Studenten und die Kritiker der gegenwärtigen Politik, unterstützte. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Kampagne des SDS gegen den Springerkonzern Erfolg bei den jungen Menschen hatte, die in den großen Städten wie Berlin, Hamburg oder München vor den Redaktionen und Verlagstoren demonstrierten, um die Auslieferung und den Verkauf der Bild-Zeitung zu verhindern. 29 Neben der Kritik an der Innenpolitik war der Vernichtungskrieg der USA gegen die Guerillakämpfer der Vietcong der Hauptgrund für das internationale Engagement der deutschen Studentenbewegung (vgl. Dahmer, 1998: 25). 30 In den 46 1 Historischer und kultureller Rahmen 31 Der Bau der Mauer - durch die DDR - begann am 13. August 1961 und blieb in der Geschichte als Symbol für den Eisernen Vorhang und den Kalten Krieg. Sie teilte nicht nur Deutschland, sondern insgesamt die westliche und die östliche Welt. Was die Bundesrepublik betrifft, stand die Mauer als Zeichen einer klaren ideologischen Zäsur zwischen zwei Generationen: Während die Älteren sich im Antikommunismus verfestigten, diskutierten die Jüngeren die Systemunterschiede und die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ideologien. 32 Anfang 1968 machte Alexander Dubček, der neu gewählte Staatschef der ČSSR, eine Reihe von umfänglichen politischen und soziokulturellen Vorschlägen, die die Wirt‐ schaft dezentralisieren und die Verwaltung von den Leitlinien aus Moskau liberalisieren sollten. Vorschläge wie die Liberalisierung der Pressegesetze (bis dahin der Zensur unterworfen) sowie die Zusicherung der Meinungsfreiheit und der Bewegungsfrei‐ heit wurden vom Westen begrüßt, weil sie Vorboten einer neuen Zeit waren. Der Reformwille Dubčeks, der in der Geschichte als »Prager Frühling« bekannt blieb, wurde von Moskau zurückgewiesen und im August 1968 durch den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten gewaltsam beendet. Siehe zu: »Ein langer Frühling der Reformen und ein kurzer Sommer der Utopie waren [somit in Prag; IG] zu Ende« (Frei, 2008: 195). 1960er-Jahren diskutierten und kritisierten die jungen Leute zentrale Ereignisse wie den Bau der Berliner Mauer und die Kubakrise zwar schon fernab eines einfachen, polarisierenden Ost-West-Gegensatzes, der ausschließlich zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion existierte. 31 Jedoch wurde mit dem Vietnamkrieg der Ton der Kritik gegen die Legitimation der Großmächte, sich in innere Angelegenheiten der sogenannten Entwicklungs‐ staaten einzumischen, viel schärfer und die USA und die Bundesrepublik wurden dabei von den Protestierenden zunehmend als Symbol einer Politik an‐ gesehen, die ökonomische Interessen über die Menschenrechte stellte. Im Jahre 1968 - das als das symbolische Jahr des Aufruhrs in der Bundesrepublik und im Westen gilt (vgl. Uesseler, 1998: 282) - wurde die transnationale Dimension der Protestbewegung offenkundig, indem die jungen Deutschen sich auch für viele internationalen Ereignisse interessierten. Sie befürworteten die revolutionären Ideen des Pariser Mai und solidarisierten sich mit der Bürgerrechtsbewegung in den USA (diese wurde von Martin Luther King angeführt, der 1968 ermordet wurde). Dazu kämpften sie ebenfalls für die Befreiungsbewegungen in den sogenannten Dritte-Welt-Ländern und demonstrierten für die von Alexander Dubčeks vorgeschlagenen Reformen im Rahmen des »Prager Frühlings«. 32 Wie in anderen Ländern Westeuropas beschränkte sich die Utopie des Wandels der jungen Deutschen nicht auf politischen Aktivismus: Durch die kosmopolitischen und städtischen Studenten erlebte die Bundesrepublik die Herausbildung einer »Alternativkultur« (Hickethier, 2003: 26) - eine Kultur, die im Rock’n’Roll und in der Popmusik Inspiration für die von Unbefangenheit und 47 1.2 Die Bundesrepublik: die Herausbildung einer Alternativkultur 33 Die Bedeutung dieser neuen Wohnformen für die deutschen Studenten in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre wird von Knut Hickethier so beschrieben: »Sie [Die Studenten; IG] entschlossen sich zu anderen Lebensformen: Sie verzichteten auf die üblichen Zwei‐ erbeziehungen und schlossen sich zu Kommunen zusammen, Wohngemeinschaften mit acht bis zehn Mitgliedern, die eine neue Form des Zusammenlebens praktizierten. Zwar gab es Wohngemeinschaften schon sehr viel länger, das Neue an ihnen war nun, daß beim Zusammenleben jetzt die ›sexuelle Unterdrückung‹, wie es hieß, aufgehoben werden sollte. Man wollte alle Dinge miteinander teilen und alles gemeinsam betreiben, nicht nur die Küchenarbeit und den Einkauf, sondern auch die politische Arbeit und das Liebesleben mit den Freundinnen« (Hickethier, 2003: 24 f.). Kampfgeist geprägte Geisteshaltung der jungen Leute fand. Wie Volker Brand ausführt: Die neu entstandene musikalische Popkultur der Jugendlichen äußerte sich immer mehr als Affront gegen die materielle, spießig-versteinerte Erwachsenenwelt. Dafür spricht jedenfalls der Erfolg von Rockgruppen wie »The Who« oder »The Rolling Stones«, die bewußt provozierend gegen die »guten Sitten« der Gesellschaft ver‐ stießen. (Brand, 1993: 134) Begierig auf ein modernes Leben, das ihnen gleichermaßen neue Erfahrungen und einen von moralischen Vorhaltungen freien Lebensstil ermöglichte, ent‐ schieden sich viele deutsche Studenten am Ende der 1960er-Jahre auch für andere Wohnformen. Sie verließen die engen Zimmer in Studentenheimen und zogen in sogenannte gemischte Wohngemeinschaften, wo junge unverheiratete Männer und Frauen ohne Verpflichtungen zusammenlebten. 33 Wegen des ein‐ deutigen Verstoßes gegen die herrschende soziale Norm überrascht es nicht, dass die konservativeren gesellschaftlichen Kreise und die öffentliche Meinung von skandalösen Zuständen sprachen, insbesondere aufgrund der sogenannten »sexuellen Revolution« und des ihrer Meinung nach promiskuitiven und un‐ moralischen Verhaltens der jungen Generation. Der Versuch, Ende der 1960er-Jahre in der deutschen Gesellschaft eine »Alternativkultur« zu implantieren, hatte laut Helmut Dahmer andauernde politische und soziokulturelle Folgen: Die Jugendrevolte der sechziger Jahre hat in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft neue »Werte« kreiert und eine Änderung der Mentalität und Lebensweise durchgesetzt. Sie bereitete damit den (Bildungs- und Rechts-)Reformen und den neuen »sozialen Bewegungen« der siebziger und achtziger Jahre (der feministischen, der pazifistischen und der »grünen«) den Weg. In der Nach-68er-Bundesrepublik ließ es sich freier atmen, der Horizont der Gesellschaft schien bedeutend erweitert, und es gab einen neuen Toleranz-Spielraum für »alternative« Denk- und Lebensweisen. (Dahmer, 1998: 33) 48 1 Historischer und kultureller Rahmen 34 Dieses Motto, das auf einem Plakat verewigt und durch junge Künstler im Atelier der Kunstschule der Sorbonne vervielfältigt wurde, war ein Sinnbild des Mai 68 (vgl. Dreyfus-Armand/ Gervereau, 1988: 167). 35 Die Geschichtswissenschaftler Marcello Flores und Alberto De Bernardi heben den Symbolcharakter des Mai 68 im Kontext der Studentenbewegung in Westeuropa und in der Welt hervor. Sie behaupten, dass es in Paris war, wo die Bewegung eine wahrhaftige Staatskrise bewirkte und unterstreichen die Rolle der jungen Leute als Auslöser der Gesellschaftsveränderung (vgl. Flores/ De Bernardi, 2003: 71). Die 1968er-Generation trat für einen Bruch mit der Vergangenheit und für das Entwerfen neuer Horizonte ein und versuchte, sich als alternative Kraft für die Gestaltung der jungen Bundesrepublik zu profilieren. Dabei betonte sie ein von Grund auf neues Ethos, das sich sowohl von den geerbten auto‐ ritären Tendenzen des Nationalsozialismus als auch von den konservativen gesellschaftlichen Zügen der Ära Adenauer radikal unterscheidet. Das junge Engagement hinsichtlich der antiautoritären Bewegung zusammen mit dem Willen, die Gesellschaft für die neuen Zeiten zu öffnen, waren Leitmotive der deutschen Studentenbewegung und trugen bei zur Bekräftigung von 1968 als dem Jahr der Jugendrevolte, das nach der Meinung von Wolfgang Kraushaar große Veränderungen in der Bundesrepublik nach sich zog (vgl. Kraushaar, 1998: 323). 1.3 »Sois jeune et tais toi«: 34 der Ausbruch des Mai 68 in Frankreich Während in der Bundesrepublik die Hauptphase der 1968er-Studentenbewe‐ gung die Jahre 1967 und 1968 umfasste und von unterschiedlichen Ereignissen geprägt wurde, die den Revolutionsenthusiasmus der Studenten ständig erneu‐ erten, kristallisierte sich in Frankreich der Höhepunkt des Aufruhrs in den Vorkommnissen des Mai 68. Die Intensität der Proteste, die hohe Zahl der Beteiligten, die auf beiden Seiten der Barrikaden standen - Studenten und Arbeiter vs. Staatsmacht und Polizisten -, das beispiellose Medieninteresse für die Widerstandsaktionen und die Verbreitung aufgeheizter Reaktionen in der öffentlichen Meinung trugen zum Stilisieren des Mai 68 als Mythos bei und machten sie zur Standarte der Studentenbewegungen in Europa. 35 Der Mai 68 war jedoch kein isoliertes Ereignis im Kampf der jungen Franzosen für eine Veränderung des Establishments: So wie in anderen westeuropäischen Ländern fanden die jungen Franzosen die Triebkraft für ihre révolution in einer Wirklichkeit mit zahlreichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Problemen. 49 1.3 »Sois jeune et tais toi«: der Ausbruch des Mai 68 in Frankreich 36 Die hohe Anzahl von Babyboomern im französischen Bildungssystem nach dem Zweiten Weltkrieg, die fehlenden Chancen für die Jungen auf dem Arbeitsmarkt und die Dominanz einer von den älteren Generationen kontrollierten Gesellschaft sind einige der Gründe, die nach Ingrid Eichelberg die Entwicklung der Proteststimmung der jungen Generation Anfang 1968 erklären können (vgl. Eichelberg, 1987: 14). 37 In La pensée 68: Essai sur l’anti-humanisme contemporain (1988) bestätigen Luc Ferry und Alain Renaut - im Anschluss an Pierre Bourdieu -, dass die Marginalisierung der jungen Menschen - von einem akademischen Blickwinkel aus betrachtet - wahrscheinlich die Hauptursache der 1968er-Krise in Frankreich darstellte (vgl. Ferry/ Renaut, 1988: 83). 38 Gerard DeGroots Beschreibung über den Zustand des französischen Hochschulsystems am Ende der 1960er-Jahre ist aufschlussreich: »Baby boomers who entered university in the mid-Sixties found conditions worse in France than in any other Western country. […] Students accustomed to a more permissive society than that of their parents wanted a university responsive to their needs, but encountered instead a very traditional authoritarian culture which demanded reverence for teachers. France had twice as many university students as Britain, but granted only half as many degrees, a statistic that convinced De Gaulle that students were lazy and therefore incapable of sustained political action« (DeGroot, 2009: 346). 1967 erlebte Frankreich eine Verlangsamung des seit dem Zweiten Weltkrieg andauernden wirtschaftlichen Wachstums, was zur Implementierung eines Sparmaßnahmenkatalogs im öffentlichen und im privaten Wirtschaftssektor führte. Die Befürchtung, dass eine Krise und eine Rezession, wie sie auch andere große Mächte wie die Bundesrepublik, das Vereinigte Königreich und die USA erlebten, sich auf das unternehmerische und industrielle französische Netz ausbreiten würden, führte zu einer Zügelung in der von General de Gaulle betriebenen politique de grandeur - eine Politik, die neben der Betonung der Autonomie Frankreichs in Bezug auf die Außenpolitik auf ständigen ökono‐ mischen Fortschritt basierte. Die Implementierung dieser Maßnahmen führte zu allgemeiner Unzufriedenheit der Arbeiterklasse, die unter Kaufkraftverlust und geringen Möglichkeiten in der Karriereentwicklung litt. Die junge Genera‐ tion, besonders die Studenten und Studienabsolventen, spürte ebenfalls diese Unzufriedenheit und sah sich in einer prekären Lage wegen der fehlenden beruflichen Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt und den steigenden Arbeitslo‐ senbeiträgen. 36 Entscheidend für die Zuspitzung der Jugendproteste im Verlauf des Jahres 1968 waren die von der jungen Generation gefühlte Ausgrenzung von der Gesellschaft und die Krise im Hochschulwesen. 37 Trotz der seit einer halben Dekade vorgenommenen Änderungen infolge der Bildungsreform der Minister Christian Fouchet und Alain Peyrefitte, die eine Umgestaltung des Hochschul‐ wesens anhand einer hauptsächlich ökonomischen Perspektive beabsichtigten, sahen sich die französischen Studenten am nde der 1960er-Jahre in einem defizitären Bildungswesen. 38 Die Überfüllung der Hörsäle, ein zu kleiner Lehr‐ 50 1 Historischer und kultureller Rahmen 39 In Mai 68. Une histoire du mouvement schreibt Laurent Joffrin, dass das Fehlen einer Demokratisierung der veralteten Strukturen des französischen akademischen Systems und die defizitäre Organisation der Universitäten Gründe waren für die »Entpersona‐ lisierung« der Hochschulbildung. Diese »Entpersonalisierung« trug zur Entstehung einer stillen, aber stetigen Frustration im Alltag der Studenten bei (vgl. Joffrin, 2008: 49). 40 Im zweiten Kapitel, das der Darstellung jedes Prosawerkes gewidmet ist, werden mehr Details der von den Studenten gelebten Realität auf dem Campus von Nanterre gegeben. Das betrifft auch die Entstehung und Entwicklung der Bewegung 22. März - die Bewegung, die den Rahmen für die Studentenproteste in Frankreich bildet (vgl. Fauré, 1998: 38) und die im Roman Derrière la vitre eine wichtige Rolle spielt (siehe Kapitel 2.2.1 und 2.2.3). körper gegenüber der hohen Studentenzahl, die Wertlosigkeit der akademischen Abschlüsse und Diplome, sowie der autoritäre und elitäre, obsolet gewordene Lehrstil, waren allgemeine Probleme der Universitäten. Diese Probleme be‐ standen seit Langem sowohl innerhalb der Universitäten als auch auf den neuen Campus, die im Verlauf der 1960er-Jahre in der Peripherie der großen Städte entstanden waren, um der wachsenden Zahl der Studenten zu begegnen. 39 Trotz der modernen Bauweise waren diese Universitätsgelände nicht geeignet, die Erwartungen an eine Erneuerung der Ausbildungsstrukturen zu erfüllen und wurden durch den Gegensatz von moderner Architektur und akademischer Stagnation selbst zu Gründen weiterer studentischen Proteste. Es war auf dem Campus von Nanterre, einer Dependance der geisteswissen‐ schaftlichen Fakultät der Sorbonne in der Umgebung von Paris, wo die Studen‐ tenrevolte begann, bevor diese sich in die Hauptstadt verlagerte. Am 22. März 1968, im Anschluss an die Festnahme von Aktivisten durch die Polizei bei einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg in Paris, entschieden sich Cohn-Bendit und unterschiedliche kommunistische Gruppen, Trotzkisten, Marxisten und Anarchisten aus Nanterre, dazu, in den Verwaltungsturm der geisteswissen‐ schaftlichen Fakultät einzudringen und den Raum des akademischen Rats zu besetzen. Dabei forderten sie die Einrichtung einer sogenannten kritischen Universität (vgl. Gilcher-Holtey, 2008: 112), d. h. eines neuen Universitätsmo‐ dells, das auf kritischem Denken und auf freier Meinungsäußerung basierte. 40 Im Verlauf der Monate März und April erlebte Nanterre eine Eskalation des Aufstands. Die Studenten organisierten Demonstrationen, Examensstreiks und Boykotts der Lehrveranstaltungen im Protest gegen die Universität, gegen die Polizei und auch gegen einen stark bürokratisierten und zentralisierten Staat, der traditionell aus geschlossenen Institutionen bestand, welche staatlichen Anordnungen unterstanden (vgl. Judt, 2010: 411). Jedoch war es erst Anfang Mai, als sich die Bewegung aus der Umgebung zur Sorbonne und in die Straßen der 51 1.3 »Sois jeune et tais toi«: der Ausbruch des Mai 68 in Frankreich 41 Nach der Besetzung der Sorbonne war dies das kritischste Ereignis des Mai 68 - ein Moment, der in hunderten Bildern festgehalten wurde, der um die Welt ging und Paris am Rande des Ausnahmezustands zeigte. Christine Fauré beschreibt in ihrer Studie über die Ereignisse im Mai 68 »die lange Nacht der Barrikaden« - vom 10. bis zum 11. Mai - als ein ausschließlich Pariser Phänomen und erklärt, dass die Haltung der Studenten ein Akt der Notwehr war, der Wiedergewinnung ihres Terrains (vgl. Fauré, 1998: 54). 42 Die deutsche Historikerin Ingrid Gilcher-Holtey, Spezialistin für die französische Studentenbewegung der 1960er-Jahre, schreibt, dass die Verwendung repressiver Maßnahmen seitens der herrschenden Kräfte im Mai 68 ausschlaggebend war für die Massenmobilisierung der Studenten und für die Solidaritätsbekundungen der Arbeiterklasse mit ihnen (vgl. Gilcher-Holtey, 2008: 112). Außerdem führte das brutale Vorgehen der Polizei gegenüber den Jungen, welches von den Medien gezeigt wurde, zu Kritik seitens der öffentlichen Meinung an der Regierung und Präsident de Gaulle (vgl. ebd.: 116). 43 Der algerische Unabhängigkeitskrieg, der 1954 begann, war der Kampf zwischen der Front de Libération Nationale [Nationale Befreiungsfront] (FNL) und den französischen Truppen. Erst 1962, da war de Gaulle schon vier Jahre an der Macht, gab Frankreich dem Land, das eines der letzten Gebiete des Kolonialreichs war, seine Autonomie zurück. Während des sieben Jahre andauernden Kriegs wurde de Gaulle von den Aktivisten der Union Nationale des Étudiants de France [Nationaler Studentenverband Frankreichs] (UNEF) ebenso wie von Intellektuellen wie Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir sowohl wegen seiner Unentschlossenheit im Prozess der Dekolonisierung als auch Hauptstadt verlagerte, dass die Jugendproteste größere Ausmaße annahmen: Die Verwandlung von Paris in ein »Schlachtfeld« - ein Ereignis, das seinen Höhepunkt in der »langen Nacht der Barrikaden« fand 41 - sowie die Solidarität zwischen Studenten und Arbeitern während der Generalstreiks, die das Land wochenlang lahmlegten, sind Ausdruck der Radikalisierung des Protestes gegen die Polizeigewalt und den Autoritarismus eines von de Gaulles dominierten Staats. 42 Während der Maiaufstand die Abgrenzung der jungen Menschen von den konservativen Werten der Fünften Französischen Republik - mit ihrem schon 77-jährigen General de Gaulle an der Spitze - deutlich machte, trug er auch dazu bei, die Unzulänglichkeiten der nationalen und internationalen Politik der damaligen Regierung offenzulegen. Dafür war der Protest der Studenten gegen den Vietnamkrieg ein Beleg. Trotz seiner offiziellen Stellungnahme, in der de Gaulle den Krieg verurteilt, zeigte er sich unfähig, diese Position gegenüber den US-Amerikanern mit Nachdruck zu vertreten, und lehnte es sogar ab, das Vietnam-Kriegsverbrechen-Tribunal auf französischem Boden stattfinden zu lassen (vgl. Fauré, 1998: 19). Da die junge Generation den Algerienkrieg um die Unabhängigkeit von Frankreich nicht vergessen hatte, entschied sie, ihre Empö‐ rung in Bezug auf den US-Imperialismus und auf die unterwürfige Haltung an‐ derer Großmächte nicht zu verschweigen. 43 Dem Schweigen des gaullistischen 52 1 Historischer und kultureller Rahmen wegen der damit einhergehenden Verlängerung der Gewalt und Massenübersiedlung von Flüchtlingen heftig kritisiert. 44 Folgende Themen werden genauer bei der Analyse des Romans Derrière la vitre untersucht werden: die Aufmerksamkeit der jungen Franzosen des Romans auf den Vietnamkrieg, ebenso wie das Zusammenleben mit ausländischen, unter anderen aus Algerien stammenden Arbeitern, die in den Barackensiedlungen (bidonvilles) neben den modernen Gebäuden des Campus von Nanterre lebten (siehe Kapitel 2.2.3 und 3.2.4). 45 Auch im Jean-Luc-Godard-Film La Chinoise - der 1967 herauskam und der zum Kult unter den jungen Menschen wurde - sind die avantgardistischen Stimmungen und ebenfalls der subversive und aufbegehrende Geist der jungen 1968er in Frankreich allgegenwärtig. Wichtiger als seine Rolle beim Erwecken des politischen Bewusstseins bezüglich der Diskussionen über Marxismus-Leninismus oder die chinesische Kultur‐ revolution war es der soziokulturelle Einfluss dieses Films auf die junge Generation, die den Protagonisten in ihrer Art und Weise des Sich-Kleidens und des Sprechens ähnlich sah. Laut Jean-François Sirinelli prophezeite La Chinoise die Erschütterung, die im folgenden Jahr tatsächlich geschehen sollte (vgl. Sirinelli, 1998: 273). Frankreichs auf der internationalen Bühne entgegneten die jungen Protestler mit der Unterstützung der Befreiungsbewegungen der sogenannten Dritten Welt. Darüber hinaus solidarisierten sie sich mit den Bürgern aus ehemaligen Kolonien oder diktatorischer Regime, die in beklagenswerten Umständen in den Vororten großer französischer Städte lebten. 44 Noch bevor die Streitfälle in den Universitäten und die Tumulte in Paris zu Sinnbildern der Utopie des Wandels der jungen Franzosen wurden, hatten diese schon andere Barrikaden gegen die vorherrschenden Gebräuche der konservativen gaullistischen Gesellschaft errichtet. Beeinflusst von der Kultur des Rock’n’Rolls ahmten die jungen Menschen im Verlauf der 1960er-Jahre den Stil der Stars des yéyé wie Johnny Hallyday, Sylvie Vartan und Claude François nach - eine von den anglosächsischen Rhythmen inspirierte Musikrichtung, die das Bewusstsein der Teenager und Twens jener Zeit revolutionieren sollte (vgl. Joffrin, 2008: 39) - und ließen sich von den Drogen und der Hippiebewegung an‐ stecken. Ende der 1960er-Jahre wurde auch in den großen Metropolen die Her‐ ausbildung unterschiedlicher Jugendkulturen, die sich der Massenkultur und -ideologie widersetzten, deutlich (vgl. Capdevielle/ Rey, 2008: 140). Die Unange‐ passtheit der jungen Generation in Bezug auf die von der Konsumgesellschaft aufgezwungenen Moderichtungen fand auf unterschiedlichste Art und Weise Ausdruck, zum Beispiel durch die Zugehörigkeit zu künstlerisch-literarischen Gruppierungen wie den Beatniks, den Surrealisten oder den Existentialisten oder selbst durch die Zuschaustellung von Bärten und langen Haaren, den Stil Che Guevaras und Fidel Castros nachahmend. 45 53 1.3 »Sois jeune et tais toi«: der Ausbruch des Mai 68 in Frankreich 46 Christine Fauré kommentiert die Bedeutung der Verabschiedung des Neuwirth-Ge‐ setzes im Rahmen der Studentenbewegung: »La réflexion sur la sexualité traverse l’époque avec une intensité particulière. Elle coïncide en France avec la première loi (loi Neuwirth du 28 décembre 1967) qui sort la contraception de la clandestinité où elle est confinée depuis 1920 et qui inaugure pour les femmes la possibilité d’une vie sexuelle libérée du souci d’une grossesse non désirée et une véritable libéralisation des mœurs« (Fauré, 1998 : 35). [Die Reflexion über die Sexualität durchzieht die Epoche mit besonderer Intensität. Sie fällt in Frankreich mit dem ersten Gesetz (Gesetz-Neuwirth vom 28. Dezember 1967) zusammen, das die Verhütung aus der Illegalität holt, in der sie seit 1920 war, und eröffnet den Frauen die Möglichkeit, ein sexuelles Leben frei von den Sorgen einer unerwünschter Schwangerschaft zu führen sowie eine wahrhafte Liberalisierung der Sitten auszuleben.] 47 Während der Maiunruhen waren auf den Straßen von Paris und an den Wänden der Sorbonne Parolen wie »L’imagination au pouvoir« [Phantasie an die Macht] oder »Prenez vos désirs pour des réalités« [Seht Eure Träume als Wirklichkeit an] zu lesen. Diese waren einige der Leitsätze der Studentenbewegung für das von den jungen Franzosen verbreitete Ideal vom Wandel der Gesellschaft. 48 In den folgenden vier Jahrzenten nach dem Mai 68 gab es viele Interpretationen der Studentenbewegung. Der Soziologe Morin spricht von einem »Generationenkonflikt« (zit. nach Gilcher-Holtey, 2008: 121), Pierre Bourdieu von einem »kritischen Moment« (zit. nach ebd.) und Michel Crozier von einer »Krise der Institutionen« (zit. nach ebd.). Auch wenn es keine einheitliche Sichtweise der Ereignisse gibt, so sind sich alle über die große Bedeutung des Mai 68 für das 20. Jahrhundert in Frankreich einig. Zu diesem soziokulturellen Umsturz kamen auch andere Themen im Rahmen der sexuellen Revolution: Die Kämpfe für die Legalisierung von Verhütungsmit‐ teln (durch das Neuwirth-Gesetz von 1967 umgesetzt) und für die Aufhebung der Geschlechtertrennung in Studentenheimen waren als eine offene Konfrontation dessen gedacht, was aus Sicht der jungen Menschen eine oberflächliche und obsolete Koketterie der Elterngeneration war. 46 Mit dem Appell an die Phantasie, die Kreativität und Veränderung der Wirklichkeit versuchten die jungen Franzosen, sowohl das Schweigen, zu dem sie sich in politischer und medialer Hinsicht gezwungen fühlten, zu brechen als auch das Recht auf Andersartigkeit und Teilhabe an der Gesellschaft einzufordern. 47 Die Ereignisse vom Mai 1968 waren im Laufe der Jahre Gegen‐ stand verschiedenster soziologischer Interpretationen und noch heute ist man sich nicht ganz einig in Bezug auf die sozialen, politischen und kulturellen Auswirkungen des Geschehens dieser Zeit. 48 Eins ist dabei jedoch unbestritten: Die »expérience utopique« (Morin et al., 2008: 41) [utopische Erfahrung] der jungen Menschen stellt sich sowohl als ein Meilenstein der soziopolitischen und kulturellen Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert als auch als eine Referenz im Rahmen der Studentenbewegung der 1960er-Jahre in Europa dar. So wie die Geschichtswissenschaftler Marcello Flores und Alberto De Bernardi behaupten: 54 1 Historischer und kultureller Rahmen 49 Auch wenn die italienische Industrialisierung spät einsetzte, so verlief sie doch verglichen mit den anderen durch den Zweiten Weltkrieg zerstörten europäischen Ökonomien schnell und intensiv. Der Schwerpunkt auf Fabriken, die Massenprodukte herstellten und Fließbänder benutzten, angeführt von Spitzenunternehmen für die Autoindustrie (z. B. Pirelli oder FIAT) und die Nahrungsmittelindustrie (Motta), trug zur Entstehung der Wohlstandsgesellschaft in Italien bei. Andererseits führte das schnelle wirtschaftliche Wachstum zu großen Änderungen im Sozialgefüge. Migrationen aus dem ländlichen Süden in den industriellen Norden, der Zuwachs der Arbeiterklasse - die hauptsächlich in der Umgebung großer Städte oft unter prekären Lebensbedingungen lebte -, die Auflösung traditioneller Familienstrukturen und eine zunehmende kulturelle Säkularisierung sind nach Jan Kurz und Marica Tolomelli Konsequenzen des schnellen »Wirtschaftswunders«, die auch die ideologischen Unterschiede zwischen der jungen und alten Generation verstärkten (vgl. Kurz/ Tolomelli, 2008: 84). »È a maggio che il 1968 diventa il ‹Sessantotto›« (Flores/ De Bernardi, 2003: 71) [Im Mai wurde 1968 zur 1968er-Jugendrevolte]. 1.4 Die italienische 1968er-Bewegung: ein langer und heftiger Frühling Am Ende der 1960er-Jahre war Italien ein weiteres demokratisches Land in Europa, in dem die junge Generation gegen die herrschenden Sitten rebellierte und heftig bis kämpferisch versuchte, das Signal zu einem politischen, sozialen und kulturellen Aufbruch zu geben. Die Studentenunruhen begannen 1967 in den Universitäten, verlagerten sich aber schon 1968 schnell auf die Straßen der Städte landesweit (vgl. Casilio, 2013: 130 f.), wo sie bis Ende 1969 andauerten. Die italienische Protestbewegung fand in der Allianz von Studenten und Arbei‐ tern die höchste Ausdrucksform eines gemeinsamen Willens, die autoritäre, stark hierarchische, wenig offene und konservative Realität zu reformieren - eine Realität, die nicht dem Partisanentraum von Freiheit, Fortschritt und Demokratie entsprach, der die junge Republik Südeuropas nach dem Zweiten Weltkrieg bei ihrer Gründung angetrieben hatte. Auf seinem langen Weg zur Demokratie kannte Italien große Fortschritte: Dank dem sogenannten »Wirtschaftswunder« am Ende der 1950er-Jahre und in der ersten Hälfte der 1960er und dem Wiedererstarken der Industrie beobachtete man eine Erhöhung der Kaufkraft und eine allgemeine Verbesserung der Lebensbedingungen sowie die Herausbildung einer modernen und urbanen Mittelschicht, die hauptsächlich freie Berufe ausübte und nicht so einem tradi‐ tionellen Lebensstil folgte. 49 Diese wirtschaftliche und industrielle Entwicklung führte jedoch keineswegs zu einer allgemeinen Liberalisierung der Gesellschaft 55 1.4 Die italienische 1968er-Bewegung: ein langer und heftiger Frühling 50 Es soll betont werden, dass Italien in den fünfzehn Jahren der Demokratie von 1948 bis 1965 achtzehn verschiedene Regierungen hatte. Democrazia Cristiana (DC) [Christ‐ liche Demokratie], eine Zentrumspartei, war bei den Wahlen jeweils siegreich, aber hatte immer Schwierigkeiten, die Legislaturperioden zu beenden und die Regierungspro‐ gramme umzusetzen. Die Italienische Kommunistische Partei (PCI) und die Sozialistische Partei (PSI) brachten ihrerseits ihre Wahlstimmen auch nicht so zusammen, dass sie eine glaubwürdige Opposition hatten abgeben können. 51 Zur großen Koalition, die Aldo Moro leitete, gehörten die Christliche Demokratie (DC), die Sozialistische Partei (PSI), die Sozialistisch-Demokratische Partei (PSD) und die Republikanische Partei (PRI). Wegen ständiger Auflösungserscheinungen und ununterbrochener Krisen mussten in vier Jahren drei Neuwahlen stattfinden, bis Moro als Präsident des Ministerrats 1968 abgesetzt wurde. Zwischen Juni 1968 und August 1970, dem Zeitraum der Studentenrevolte und der Arbeiterbewegung, blieb Italien weiter politisch instabil und kannte damals vier neue Regierungen, die von den DC-Mitgliedern Giovanni Leone und Mariano Rumor geführt wurden. (vgl. Azzellini, 2008: 173), die die Kritiker der traditionellen parlamentarischen Politik und die jungen Menschen für dringend erforderlich hielten, besonders wegen des Widerstrebens der politischen und akademischen Institutionen gegen jegliche Veränderung. Neben den gewöhnlichen Krisen in den Regierungen war die Politik gekenn‐ zeichnet durch das Fehlen einer starken parlamentarischen Opposition im Parlament und durch Stagnation, Mangel an neuen Ideen und Vorschlägen. 50 Als 1964 Aldo Moro an die Macht kam, wurde Italien von einer großen Koalition aus vier Mittelinksparteien regiert. Sie waren dennoch unfähig, sich über die Umsetzung struktureller Reformen zu einigen. 51 Der Unmut der Studenten über die akademische Lage wuchs parallel mit der politischen Ziellosigkeit, dem Ansteigen der Arbeitslosenzahlen, den Streiks. In den Universitäten von Mailand, Rom, Pisa und Trient gab es erste Anzeichen einer Studentenbewegung, die sich ab 1965 verstärkten. Das war das Jahr, in dem im Parlament eine Reform des Hochschulsystems beraten wurde, deren Ziel es war, die Anzahl der Studienjahre zu reduzieren und die Bildung auf den Bedarf der Wirtschaft auszurichten (vgl. Frei, 2008: 166). Diesem Ansinnen widersetzten sich die Studenten und ergänzten die Liste der Kritikpunkte um die Starrheit des Curriculums und die zu geringe Anzahl an Dozenten, den Mangel an Kommunikation zwischen Professoren und Studierenden (vgl. ebd.) und das Fehlen einer demokratischen Entwicklung der akademischen Strukturen, die von der unhinterfragten Autorität der Professoren geprägt wurde. Über die akademische Realität in Italien am Ende der 1960er-Jahre schreibt Fred Halliday: 56 1 Historischer und kultureller Rahmen 52 Es soll betont werden, dass die Initiative zur Veränderung der Universitäten und der Gesellschaft in Italien nicht von Aktionen der traditionellen Studentenvereinigungen ausging, sondern von der zunehmenden Politisierung der jungen Menschen außer‐ halb von politischen Parteien. Die bis dahin bestehenden Studentenorganisationen waren von den Parteien, zu denen sie gehörten, abhängig und damit auch von deren Auseinandersetzungen. Ein Beleg dafür ist der Tod von Paolo Rossi, der bis heute nicht aufgeklärt ist. Rossi war ein sozialistischer Student an der Universität Rom, 1966 vermutlich von neofaschistischen Studenten der Fronte Universitario D’Azione Nazionale (FUAN) [Universitäre Front Nationaler Aktion] getötet - eine Bewegung, die mit der neofaschistischen Partei Movimento Sociale Italiano (MSI) [Italienische Soziale Bewegung] verbunden war. Dieser Fall zeigte einerseits die ständigen Kämpfe unter den traditionellen akademischen Verbänden und andererseits die Mobilisierung der jungen Menschen nach links, welche die Widerstandsaktionen in Italien die folgenden Jahre bestimmen sollten (vgl. Horn, 2007: 77). 53 Nanni Balestrini und Primo Moroni erklären in L’orda d’oro 1968-1977 (2011) [Die goldene Horde 1968-1977], dass die Debatte um radikale Themen und Inhalte und die einfallsreichen Protestformen an der Universität Trient - sie war die einzige im Land mit einem Institut für Sozialwissenschaften - dazu beitrugen, diese zu einer führenden Universität im Rahmen der italienischen Studentenbewegung zu machen (vgl. Balestrini/ Moroni, 2011: 208). Ausdruck dafür war auch das Manifest von Trient »Università Negativa« [Negative Universität] von 1967, eines der Hauptwerke des studentischen Kampfes, das die Gründung einer Universität mit Meinungs- und Gewaltfreiheit forderte (vgl. ebd.: 211). Diese Information ist von besonderer Wichtigkeit für die Analyse von Peter Schneiders Lenz (1973): In Trient nimmt der Protagonist der Erzählung, zusammen mit den Studenten und Arbeitern aus dieser Stadt, den Kontakt mit dem revolutionären Geist von 1968 wieder auf (siehe Kapitel 2.1.3). The Italian universities have a most authoritarian pedagogical tradition: professors teach courses from manuals they have themselves written, and both set and mark examinations themselves on these courses; this is clearly not a situation in which a critical approach to what the student is offered is advisable if he wishes to get good marks. (Halliday, 1969: 304) 1967 wurde zum ersten Jahr einer langen Periode von studentischer Mobilisie‐ rung (vgl. Flores/ De Bernardi, 2003: 194). Die Studentenbewegung erlangte grö‐ ßere Ausdruckskraft, verstärkt durch die Protestinitiativen unterschiedlicher Spontangruppen, die an den Universitäten eine Vielzahl von Aktionen organi‐ sierten, welche lokalen wie internationalen Strömungen entsprachen. 52 Nur um zwei Beispiele zu nennen: An der Universität von Trient war es die Debatte über den Vietnamkrieg, welche die Gemüter der Menschen befeuerte und die Revolte auslöste (vgl. Horn, 2007: 81). Dies führte zu den ersten Fakultätsbesetzungen und Streiks und verhinderte auch die fristgerechte und reguläre Eröffnung des akademischen Jahres 1967/ 1968. 53 Und in Mailand fand das erste Sit-in im November 1967 in der Katholischen Universität statt. Dabei handelte es sich um 57 1.4 Die italienische 1968er-Bewegung: ein langer und heftiger Frühling 54 Die Studentenorganisation Movimento Studentesco (MS) war eine der wichtigsten außerparlamentarischen Organisationen, die um die Jahrzehntwende die Studenten in den großen Städten antrieb (vgl. Balestrini/ Moroni, 2011: 379). 55 Die Heftigkeit der Studentenrevolte zu Beginn des Jahres 1968 an italienischen Uni‐ versitäten wird vom Historiker Gerd-Rainer Horn - durch die Worte von Jan Kurz - betont: »By late February 1968, ‹tens of thousands of students were on strike […]. The universities were blocked up, besieged or occupied; professors faced locked or empty lecture halls; regular instruction only took place on an irregular basis; exams were postponed or cancelled altogether; for all practical purposes there was no more contact between students and teaching staff. Countercourses, general assemblies and commissions, discussions, occupations and demonstrations had replaced the daily study routine of activists. And in the various protest actions ideological divisions made way for common action which targeted a common enemy in authoritarianism›« (zit. nach Horn, 2007: 84). 56 Jan Kurz und Marica Tolomelli umreißen die Bedeutung der Ereignisse von Valle Giulia für den Aufstand in Italien folgendermaßen: »For the first time, students did not retreat from the approaching police but, instead, directly attacked them. Violence thus became an option for students […]. From March 1968 onward, formerly peaceful protests often ended in open street battles with police« (Kurz/ Tolomelli, 2008: 89). 57 Das Ereignis, das am deutlichsten für den Kampf gegen die Voreingenommenheit der Presse steht, geschah am 8. Juni in Mailand mit der Blockade der Auslieferung der Zeitung Corriere della Sera. Für die jungen Aktivisten war diese Zeitung verantwortlich für eine Hetzkampagne gegen die Studentenbewegung (vgl. Balestrini/ Moroni, 2011: 249). In Cercando il ’68 [Auf der Suche nach 1968] schreibt auch Giampaolo Borghello über die Initiative der Studenten, ein »Netzwerk der Gegeninformation« zu schaffen: Dabei sollten sie durch das eigene Schreiben und Verteilen von Flugblättern die von der eine Protestaktion, die gegen die Erhöhung der Studentengebühren organisiert wurde. Als die Anführer des Protestes exmatrikuliert wurden - unter ihnen der charismatische Führer der Studentenorganisation Movimento Studentesco (MS) [Studentenbewegung], Mario Capanna - brachte dies eine Welle der Solidarität unter den Studenten hervor. 54 Ende 1967 und Anfang 1968 verbreiteten sich die Unruhen aus Trient und Mailand auf andere italienische Universitäten, wo unzählige Universitätsgebäude besetzt und Flugblätter verteilt wurden wie auch große Diskussionsveranstaltungen und Vorlesungs- und Prüfungsstreiks stattfanden. 55 Am 1. März 1968 erfolgte jedoch eine Wendung der Studentenrevolte (vgl. Kurz/ Tolomelli, 2008: 89): Die gewalttätigen Zusammenstöße von Studenten und Polizei vor den Toren der Architekturfakultät in Valle Giulia, in Rom, bedeuteten den Übergang zu den Straßenunruhen. 56 Von diesem Tag an wurden Massendemonstrationen alltäglich und gewalttätig, die Städte wurden im Ver‐ lauf von 1968 zu großen Auditorien, in denen die Rufe nach einer radikalen Reform des Staates, nach Beendigung der Polizeirepression und gegen die konservative Presse lauter wurden. 57 Die Annäherung von Studenten und 58 1 Historischer und kultureller Rahmen Presse verdrehten, manipulierten und verfälschten Fakten enthüllen (vgl. Borghello, 2012: 35). 58 Ab Ende 1969 kannte die Studenten- und Arbeiterbewegung eine neue Dimension: Die Radikalisierung der ideologischen Positionen und der Anfang der Gewaltanwendung als Kampfmethode trug zur Entstehung der Phase der »Strategie der Spannung« bei (vgl. Azzellini, 2008: 180). Diese Periode bezeichnete sowohl das Ende des 1968er-Früh‐ lings der Studentenbewegung als auch den Beginn des bewaffneten Kampfes, der von Gruppen wie den Brigate Rosse [Roten Brigaden] in der sogenannten »Bleiernen Zeit« während der 1970er-Jahre geführt wurde. Arbeitern wuchs ebenfalls ständig. Die Studenten solidarisierten sich mit der Arbeiterbewegung und verstärkten die Kampfesreihen des Proletariats bis 1970. Zum einen, dank der politischen und sozialen Bewusstwerdung, entschieden sich viele, »studenti-proletari« [Werkstudenten] zu werden, d. h. Studenten, die ihre Studien vor allem durch Fabrikarbeit finanzierten (vgl. Azzellini, 2008: 179). Zum anderen nahmen die jungen Menschen aktiv an den politischen Aktionen verschiedener Gruppen teil, die am Rande des Parlaments entstanden, und auch an den Streiks, die die Produktion in Unternehmen wie Pirelli oder Fiat während des Frühlings und des »autunno caldo« [heißen Herbsts] 1969 lahmlegten. So wird in Italien die Phase bezeichnet, in der die Arbeiterbewegung und der Kampf gegen den Autoritarismus auf allen Ebenen der Gesellschaft ihren Höhepunkt erreichten (vgl. Giachetti, 2012: 867). 58 Schon vor der Phase des antiautoritären politischen Aktivismus des Jahres 1968 hatten die jungen Italiener in kultureller Hinsicht ihre Ablehnung gezeigt. Durch Rock’n’Roll und Anderssein - lange Haare, nachlässige Kleidung und Auszug von Zuhause (vgl. Casilio, 2013: 104 f.) - markierte man in Italien die Ent‐ stehung einer Beatgeneration, mit Gruppen wie den »provos« [Provokateuren] und den »capelloni« [Langmähnigen], die die soziokulturelle Avantgarde am Ende der 1960er-Jahre bildete. Mithilfe eines Ausschnittes eines Flugblattes der Gruppe Provos stellen Marcello Flores und Alberto De Bernardi das neue Ethos der jungen Menschen in der Zeit der Gegenkultur dar: Non siamo figli, né padri di nessuno […] siamo uomini che non vogliono credere in niente e a nessuno: senza dio, senza famiglia, senza patria, senza religione, senza legge, senza governo, senza stato, senza polizia […]. Ecco siamo dei bastardi. (zit. nach Flores/ De Bernardi, 2003: 167) [Wir sind weder die Kinder noch die Eltern von irgendjemandem […] wir sind Menschen, die an nichts und niemanden glauben wollen: ohne Gott, ohne Familie, ohne Heimat, ohne Religion, ohne Gesetz, ohne Regierung, ohne Staat, ohne Polizei […]. Das ist es, wir sind Bastarde.] 59 1.4 Die italienische 1968er-Bewegung: ein langer und heftiger Frühling 59 Interessanterweise war es 1968, dass Papst Paul VI. die Enzyklika »Humanae Vitae« er‐ ließ, die Verhütungsmittel verdammte und die unnachgiebige Haltung der katholischen Kirche zu Scheidung und Abtreibung bestärkte. Dennoch wurde das Scheidungsgesetz 1970 im Parlament revidiert und in diesem Jahrzehnt wurde die Pille in Italien auch legalisiert. 1978 wurde nach einem Referendum die Abtreibung entkriminalisiert. Es war diese junge Generation, die es in den Studentenversammlungen wagte, Themen wie Scheidung, voreheliche sexuelle Beziehungen, Pille und Abtrei‐ bung anzusprechen. Dies waren Themen, die die Gesellschaft provozierten und herausforderten - eine Gesellschaft, die zwischen Katholizismus und einem un‐ umkehrbaren Modernisierungsprozess in einer stetig stärker industrialisierten und globaleren Welt stand. 59 Der »Frühling« der italienischen Jugendrevolte war zweifelsohne einer der längsten und intensivsten im Rahmen der westeuropäischen Aufbruchs‐ bewegungen. Der Kampf der jungen Generation gegen die Repression fing mit der antiautoritären Bewegung in den Universitäten an und setzte sich allmählich für den Wandel eines politischen Systems ein, das viele als ineffi‐ zient und wenig transparent betrachteten (vgl. Borgna, 2012: 113). Die Revolte war gleichzeitig durch die Solidarität mit der Arbeiterbewegung, durch ein Bewusstsein für die Probleme der sogenannten Dritten Welt und durch die öffentliche Debatte über die Gültigkeit der katholischen Werte gekenn‐ zeichnet, die die italienische Gesellschaft prägten. Zu diesem Widerspruch eines Italiens im wirtschaftlichen Aufschwung und dennoch im Stillstand, was die Demokratisierung ihrer Strukturen betrifft, schrieben Marcello Flores und Alberto De Bernardi: Die 1968er-Bewegung war »un esito imprevisto e traumatico di una frattura sempre più profonda tra giovani e società […]« (Flores/ De Bernardi, 2003: 191) [ein unvorhergesehenes und traumatisches Ereignis eines ständig zunehmenden Bruches zwischen den jungen Menschen und der Gesellschaft […]]. 1.5 Öffnung vs. Beharren: die Dissidenz der jungen Spanier in den 1960er-Jahren Wie bisher ausgeführt setzten sich Ende der 1960er-Jahre die deutschen, franzö‐ sischen und italienischen jungen Frauen und Männer im Kampf gegen die Re‐ pression ein, um die akademischen und politischen Institutionen transparenter und demokratischer zu machen. Die junge spanische Generation ihrerseits befand sich schon seit Langem in einem dauerhaften Kampf gegen ein autori‐ täres und unterdrückerisches System. Geboren nach dem Ende eines blutigen 60 1 Historischer und kultureller Rahmen 60 Die spanische Einheitspartei FET y de las JONS, Falange genannt, wurde während des Bürgerkriegs gegründet und trug mit Angst und Terror von 1939 bis 1942 zur Konsolidierung des Regimes bei. Auch durch die politische Polizei erlangte sie die Kontrolle über die Institutionen und das wirtschaftliche und soziale Leben der Bürger (vgl. Gracia/ Ruiz Carnicer, 2004: 39 f.). Nach dem Zweiten Weltkrieg sah sich die Franco-Diktatur zu rein äußerlichen Maßnahmen gezwungen (vgl. Tusell, 2005: 67). Leichte Veränderungen, mehr in den Bezeichnungen als in der ideologischen Ausrich‐ tung, wurden vorgenommen. Viel später begann die Falange langsam an politischem Einfluss zu verlieren, aber ihre Führer und Unterstützer waren weiterhin im Regime aktiv und trugen so zum Zentralismus und zur Diktatur bei. Was die enge Verbindung vom Franquismus und der katholischen Kirche betrifft, meint Jordi Gracia: »La España nacional-católica - nacida de la fusión teórica de nación y fe, España y el catolicismo - es un modelo altamente rentable para los intereses terrenales y políticos de la institución eclesiástica, pero lo es también para el proprio régimen de Franco […]. En ella encuentra el más alto valor simbólico y legitimador del nuevo régimen y es un aval internacional extraordinario« (Gracia/ Ruiz Carnicer, 2004: 117). [Das nationalkatholische Spanien, hervorgegangen aus der Vereinigungstheorie von Nation und Glauben, Spanien und Katholizismus, war ein höchst rentables Modell für die irdischen und politischen Interessen der kirchlichen Institution, aber auch für das Franco-Regime […]. In ihr findet sich der höchste symbolische und legitimierende Wert des neuen Regimes und sie dient als eine außerordentliche internationale Bürgschaft.] 61 Trotz der offiziellen Position des Regimes, keinen Krieg zu führen, litt Spanien während des Zweiten Weltkriegs: Die Verschlechterung der Ökonomie und der Lebensverhält‐ Bürgerkriegs (1936-1939), der Republikaner traditionalistischen Nationalisten gegenüberstellte, kannten diese jungen Spanier der 1960er-Jahre nichts anderes als eine militaristische, despotische und repressive Diktatur, die gewaltsam gegen alle vorging, die sich zu widersetzen wagten. Das antiparlamentarische, antiliberale und antikommunistische Regime des General Franco stützte sich seit 1939 einerseits auf eine Allianz mit der katholischen Kirche und andererseits auf ein Einparteiensystem, um das Leben der Menschen zu kontrollieren. 60 Selbst nach dem Zusammenbruch des Faschismus in Deutschland und Italien am Ende des Zweiten Weltkriegs und nach dem Demokratisierungsprozess in vielen Ländern Westeuropas gab das repressive System nicht nach und blieb bis 1975, dem Todesjahr Francos, an der Macht. Neben der politischen und ideologischen Kontrolle machte sich die autoritäre Führung des Franquismus auch im sozioökonomischen Bereich bemerkbar. Francos Beharrung auf einer Politik wirtschaftlicher Autarkie (vgl. Tosstorff, 2008: 189) brachte die spanischen Familien in den 1940er- und 1950er-Jahren in große Existenznöte. Nach der Periode von Armut, Rationierung und wirtschaft‐ licher Depression in der Zeit des Bürgerkriegs und des Zweiten Weltkriegs dauerten die Entbehrungen fort, verschärft durch eine Situation internationaler Isolierung. 61 Während der 1950er-Jahre gab es punktuelle Anzeichen von Fort‐ 61 1.5 Öffnung vs. Beharren: die Dissidenz der jungen Spanier in den 1960er-Jahren nisse führte zu allgemeiner Hungersnot und Rationierung von Gütern sowie zu Armut. Selbst nach 1945 bis Ende der 1950er-Jahre blieb Spanien eine Agrarnation und die Industrie war wenig entwickelt und wettbewerbsfähig. Sie war von den Prinzipen der Falange, d. h. von Autarkie und staatlichem Interventionismus, bestimmt, die die Un‐ terordnung der Wirtschaft unter die Regierungspolitik voraussetzten (vgl. Bernecker, 1997: 90). 62 In der Nachkriegszeit war das Spanien Francos aus der Gemeinschaft der Staaten ausgeschlossen, die zu den Mitteln des Marshallplans Zugang hatten (vgl. Bernecker, 1997: 89). Dennoch gingen die USA Anfang der 1950er-Jahre dazu über, die Bedingungen der spanischen Politik als »unabänderliches Übel« (Tusell, 2005: 156) zu akzeptieren, und begannen, das Regime zu unterstützen. Nach Tusell spielte die ökonomische Hilfe, die die USA im Gegenzug zur Einrichtung von Militärbasen gewährte, eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung Spaniens (vgl. ebd.). schritt dank der Kredite, die die USA dem Franco-Regime gewährten (vgl. Tusell, 2005: 156), und dank der beschränkten Grenzöffnung für Industrielle und die Bourgeoisie. 62 Nutznießer dieser Fortschrittsanzeichen blieben dennoch lediglich die Geldeliten der großen Städte wie Madrid und Barcelona, die entwickelter waren als der Rest des Landes. Der Wendepunkt von der Stagnation zum wirtschaftlichen Boom erfolgte am Ende dieser Dekade. Er wurde in erster Linie ausgelöst vom wachsenden Einfluss der mit dem Opus Dei verbundenen Technokraten in der Regie‐ rung, die Vertreter einer größeren Liberalisierung der Wirtschaft waren (vgl. Gracia/ Ruiz Carnicer, 2004: 237), und nach 1959 dank des in Kraft gesetzten Stabilisierungsplanes. Dieser Plan, der Neuerungen brachte, war den (unproduktiven) Maßnahmen der Selbstversorgung entgegengesetzt, die das Regime vertreten hatte. Er begünstigte die Privatwirtschaft, belebte die Industrie und zog ausländisches Kapital an. Auf diese Weise bekam die nachfolgende Generation mehr Kaufkraft und Zugang zu den Neuerungen der Massenkultur. Außerdem gab es andere wichtige Faktoren, die den Weg für eine Veränderung der rückständigen und isolierten Agrargesellschaft in den 1960er-Jahren öffneten: das Aufkommen des Massentourismus (besonders in den Küstenregionen), die Migrationsbewegungen aus den ländlichen Ge‐ bieten in die großen Städte und die Emigration vieler Erwerbstätiger nach Frankreich, Belgien und in die Bundesrepublik. Letztere war entscheidend sowohl für Geldüberweisungen nach Spanien als auch für die Verbreitung internationaler Nachrichten aus demokratischen Ländern, die das Franco-Re‐ gime nicht mitteilte. Es war die Erkenntnis des Widerspruchs zwischen dem Modernisierungssze‐ nario und dem Beharren einer repressiven Politik, die den Aufruhr der jungen 62 1 Historischer und kultureller Rahmen 63 Zur Entfremdung der jungen Generation vom Regime während der 1960er-Jahre bemerkt Elena Hernández Sandoica in der Studie Estudiantes contra Franco. Oposición política y movilización juvenil (1939-1975) (2007) [Studenten gegen Franco. Politische Opposition und Mobilisierung der Jugend (1939-1975)]: »Los jóvenes, en su inmensa mayoría, estaban pues muy lejos del ideario del régimen, de la retórica falangista, de las hipocresías del nacionalcatolicismo, incluso del ‹moderno› estilo opusdeísta también. Motivos generacionales y antifranquismo se fundían indisolublemente, produciendo […] un colectivo social antiautoritario, partidario de la democracia participativa, solidario hasta con las causas más lejanas, renovador de los usos y costumbres en toda su extensión« (Hernández Sandoica et al., 2007: 182). [Die jungen Frauen und Männer waren in ihrer großen Mehrheit weit entfernt von den Idealen des Regimes, der falangistischen Rhetorik, der Heuchelei des Nationalkatholizismus auch einschließlich des ›modernen‹ Stils des Opus Dei. Generationstypische Motive und Antifranquismus verschmolzen und produzierten […] ein soziales, antiautoritäres Kollektiv, Anhänger der partizipativen Demokratie, solidarisch sogar mit fernen Kämpfen, Erneuerer der Sitten und Gebräuche in all ihren Facetten.] 64 Wie Miguel Gómez Oliver ausführt, lässt sich die führende Stellung der Universität Barcelona im Rahmen der 1960er-Studentenbewegung durch folgende Faktoren er‐ klären: den industriellen Reichtum Kataloniens und das Schwergewicht der mächtigen und gebildeten Oberschicht, die zum überwiegenden Teil eine große Distanz zum Regime wahrte. Außerdem trug die Nähe Kataloniens zu Europa zur Entstehung eines ökonomischen und kulturellen Kosmopolitismus bei (vgl. Gómez Oliver, 2008: 98). Dies wird im Roman Condenados a vivir (1971) von José María Gironella dargestellt, wo die Handlung in Barcelona spielt und die Protagonisten aus zwei Familien der Oberschicht stammen - wie im folgenden Kapitel dieser Arbeit zu lesen ist (siehe Kapitel 2.4). Generation jener Zeit ganz besonders im akademischen Milieu auslöste. 63 Am Beginn der Dekade begann der Protest für die Autonomie der akademischen Strukturen hinsichtlich der Staatsorientierungen in Barcelona und sprang auf Madrid und andere Universitäten über (vgl. Gómez Oliver, 2008: 97). 64 Für diese Generation war der wirtschaftliche und soziale Boom mehr als ein Vorwand, das Bildungssystem der Zeit nach dem Bürgerkrieg zu verändern. Dieses System war dem Nationalkatholizismus unterworfen und insistierte auf autoritären Konzepten wie der strikten Auswahl der Dozenten nach dem ideologischen Programm Francos (unabhängig von ihrem wissenschaftlichen Verdienst) und auf der Zwangsmitgliedschaft der Studenten in dem Sindicato Español Univer‐ sitario (SEU), der einzigen vom Regime zugelassenen Studentengewerkschaft. Zwischen 1962 und 1966 gründeten die Studenten illegale Organisationen wie Federación Universitaria Democrática Española (FUDE) [Spanischer Demokra‐ tischer Studentenverband] und streikten, um so die Zulassung einer neuen 63 1.5 Öffnung vs. Beharren: die Dissidenz der jungen Spanier in den 1960er-Jahren 65 Im März 1966 geschah in Barcelona eines der markantesten Ereignisse der Studenten‐ bewegung. Eine Gruppe von Studenten und einigen Professoren verbarrikadierte sich in einem Kapuziner-Kloster und forderte die Bildung einer Studentengewerkschaft: Sin‐ dicato Democrático de Estudiantes Universitarios (SDEU) [Demokratische Gewerkschaft der Studenten]. Diese Rebellion wurde im Katalanischen La Caputxinada genannt und gewaltsam von der Polizei unterdrückt (vgl. Tosstorff, 2008: 199). 66 Zu den Maßnahmen des neuen Pressegesetzes von 1966 gehörten »die Abschaffung der Vorzensur sowie die Einführung des Prinzips der Eigenverantwortlichkeit oder Selbst‐ kontrolle« (Bernecker, 1997: 144). Dieses Gesetz brachte jedoch keine Pressefreiheit, da das Regime nach 1966 die Meinungsfreiheit weiter kontrollierte (vgl. ebd.). 67 In der Studie La España de Franco (1939-1975). Cultura y vida cotidiana (2004) [Das Spanien Francos (1939-1975). Kultur und Alltagsleben] erwähnt Miguel Ángel Ruiz Carnicer, dass die internationalen Figuren und Symbole der Musik, der Kultur oder der Mode zum deutlichen Wandel der Sitten in Spanien beitrugen, ebenso wie zur Abkehr der jungen Menschen von der politischen und soziokulturellen Welt des Franco-Regimes (vgl. Gracia/ Ruiz Carnicer, 2004: 276). Gewerkschaft zu erreichen. Diese sollte sie auf eine freie und demokratische Weise vertreten. 65 Neben den Protesten im Rahmen der Arbeiterbewegung war es die Studen‐ tenbewegung, die wichtige Öffnungen in der Regierung erzwang. Diese wurden vom Informations- und Tourismusminister Manuel Fraga Iribarne vorange‐ bracht, der im Laufe der 1960er-Jahre eine Reihe antiautoritärer Maßnahmen und die Überarbeitung des Pressegesetzes in Gang setzte (vgl. Kornetis, 2008: 256). 66 Ab 1967 radikalisierten sich die Studentenproteste an den Universitäten und bis zu Francos Tod nahm die Repression gegen die jungen Oppositionellen durch Verhaftungen, Polizeieinsätze an den Hochschulen und Exmatrikulati‐ onen zu. Die Franco-Diktatur unternahm alle Anstrengungen, um die Hochschulen unter Kontrolle zu halten - schwieriger war es aber, die Gegenkultur zu kontrol‐ lieren. Die Ablehnung der ultra-konservativen soziokulturellen Normen begann am Ende der 1950er-Jahre. Durch die jungen Menschen der oberen Mittelschicht verbreitete sich der Pop zunächst durch das Radio und den Musikimport aus Italien und den USA, danach durch Fernsehprogramme wie Escala en Hi-Fi. Einerseits führte die Begeisterung für Gruppen wie El Dúo Dinámico, Los Brincos und Los Bravos zu einem Wechsel in der Musikszene: Anstelle von früher geliebten traditionellen Stilen wie Copla, Bolero und Ranchera hörten die jungen Männer und Frauen Rock und Beat (vgl. Tusell, 2005: 188 f.). Andererseits trug die Popmusik zur Aufsässigkeit der jungen Menschen bei, zur allmählichen Frauenemanzipation, zum Austesten von Drogen, zur sexuellen Befreiung und zur Hippiebewegung, die aus dem Ausland kam. 67 64 1 Historischer und kultureller Rahmen Die Unterschiede zum Werterahmen der Elterngeneration wurden überdeut‐ lich: Die jungen Spanier trennten sich sowohl vom traditionellen Nationalka‐ tholizismus als auch von der durch die schnelle Industrialisierung geschaffenen Scheinwelt und schmiedeten aus Musik, Mode und freien und unverbindlichen Liebesbeziehungen ihre Protestwaffen gegen die alte Gesellschaft. Es ist damit eher den kulturellen als den politischen Veränderungen zu verdanken, dass diese junge Generation am Geist der Liberalisierung von jenseits der Pyrenäen teilhaben konnte: Las experiencias que les aportaba el vivir su época, o si se quiere, el pertenecer a la generación de los Beatles emblemáticamente, los distanciaba por fuerza de sus mayores, a quienes les extrañaban sus actitudes y su talante en cambio, sus costumbres y maneras más libres y espontáneas […], sus gustos musicales, sus lecturas, sus aficiones y afecciones… Las inquietudes, expectativas y actitudes ante la vida se manifestaron en una especie clara de ruptura generacional. (Hernández Sandoica et al., 2007: 180; Hervorhebung im Original) [Die Erfahrungen, die sie auf der Höhe ihrer Zeit machten, oder anders gesagt, die symbolische Zugehörigkeit zur Beatles-Generation, entfernten sie zwangsläufig von den Älteren. Diese wiederum empfanden die Verhaltensweisen und den Willen zum Wandel, die freien Sitten und spontanen Aktionen […], den Musikgeschmack, die Lesetexte, die Vorlieben und Tendenzen der jungen Menschen als fremd. Die Unruhe, die Erwartungen und Lebenseinstellungen zeigten sich in einem deutlichen Generationenbruch.] Trotz der Einschränkungen bei äußeren Protesten versuchten die jungen Spanier der Mittel- und Oberschicht, ihren Veränderungswillen kundzutun. Dabei wandten sie sich gegen die Komplizenschaft ihrer Eltern mit einem Regime, mit dem sie nicht übereinstimmten. Außerdem hielten sich diese jungen Menschen an ihre politischen und kulturellen Idole, um es derem revolutionären Impetus gleich zu tun und sich auf diese Weise von einer ihrer Meinung nach vielfach in Isolation und sterilem Traditionalismus ver‐ harrenden Gesellschaft abzugrenzen. So wurde die junge Generation in den 1960er-Jahren zu einer bedeutsamen Antriebskraft für eine Vision von einem veränderten Spanien. 65 1.5 Öffnung vs. Beharren: die Dissidenz der jungen Spanier in den 1960er-Jahren 68 Trotz des bemerkenswerten ökonomischen Fortschritts und der nachweisbaren allmählichen soziokulturellen Veränderungen Portugals muss angemerkt werden, dass die Effekte dieser Evolution nicht allen sozialen Schichten zugutekamen. Von ihnen profitierten vor allem die Mittel- und Oberschicht der großen Küstenstädte Lissabon und Porto. Die Unterschicht dagegen lebte weiterhin in würdelosen Umständen, sei es am Rande der großen Städte neben den Industriegebieten - in denen sie trotz der Steigerung der Produktivität mit geringen 1.6 Portugal in den 1960er-Jahren: eine Bühne für Utopie Ähnlich wie Spanien erlebte Portugal während vier Dekaden eine lange Nacht der Diktatur und Unterdrückung. Der sogenannte Estado Novo [Neuer Staat] - die offizielle Bezeichnung des diktatorischen Regimes - wurde 1933 unter der Führung von António de Oliveira Salazar gegründet und orientierte sich an einer faschistischen, autoritären und repressiven Ideologie. Er durchdrang die portugiesische Gesellschaft der 1930er- und 1940er-Jahre, überlebte sowohl den Sturz der totalitären Regime von Hitler und Mussolini als auch die Auflö‐ sung der Kolonialreiche nach dem Zweiten Weltkrieg und hielt sich bis zur Nelkenrevolution am 25. April 1974. Während seiner langen Existenz gab es oft Opposition gegen die rückwärtsgewandte, unterdrückende und reaktionäre Politik des Regimes. Dabei waren es vor allem die PIDE (Geheimpolizei) und die Zensur, die unnachgiebig die Bevölkerung kontrollierten und die dunkle Seite des Salazarismus verewigten. Dennoch wurde die Diktatur niemals so sehr erschüttert durch Unruhen, Widerstand und den Willen zur Veränderung wie während der 1960er-Jahre: Dank einer Reihe nationaler und internationaler historischer Ereignisse erlebte Portugal in dieser Zeit wichtige soziokulturelle Erneuerungen. Am Vorabend der 1960er-Jahre begannen verschiedene Maßnahmen Früchte zu tragen: die Eingliederung Portugals in die Europäische Freihandelszone (EFTA), die Wanderung vom Land in die Städte und die Industrialisierung. Darüber hinaus trugen ein bemerkenswerter wirtschaftlicher Entwicklungsschub, das Anwachsen der Mittelschicht und die Erhöhung des Wohlstandes zu einer zunehmenden Moder‐ nisierung der Lebensumstände der Portugiesen bei. Besonders bei den bürgerlichen Eliten in den Großstädten, die gebildeter und mit mehr Kaufkraft ausgestattet waren, zeigte sich diese Modernisierung sowohl in der Möglichkeit, touristische Reisen ins Ausland machen zu können, als auch in der Vergesellschaftung in Cafés und Restaurants. Beide zeigten das Verlangen der Portugiesen, sich dem entwickelteren Europa anzunähern, und die Verbürgerlichung der portugiesischen Gesellschaft, in der sich Nachahmungen von importierten Moden, der Wunsch nach als unsittlich betrachteten Lesetexten und Lust auf abweichende Konsumgüter fanden (vgl. Mónica, 1996: 221). 68 66 1 Historischer und kultureller Rahmen Löhnen lebten - oder sei es in ländlichen Gebieten im Inneren des Landes, wo es Landflucht, Rückständigkeit, Emigration und Analphabetismus gab (vgl. Mónica, 1996: 224). 69 Joaquim Vieira schreibt über die Euphorie wegen des Zugangs zur kulturellen Vielfalt und der Unterhaltungskultur für die Massen in Portugal während der 1960er-Jahre: »S-o os tempos do twist, das fotonovelas, dos festivais da canç-o, dos discos de 45 rotações, do sucesso dos Beatles, de Roberto Carlos ou dos cantores franceses, da rábula de Raul Solnado sobre a guerra, da rivalidade entre Simone de Oliveira e Madalena Iglésias, dos primeiros biquínis nas praias, das flausinas dos concursos de minissaias e outras provas de beleza feminina, das colecções de cromos, dos livros humorísticos de Vilhena e dos grandes comunicadores televisivos. Há muito por onde deleitar a vista, o ouvido e se possível ainda o resto dos sentidos, que a oferta para os tempos livres é mais variada do que nunca« (Vieira, 2000: 125). [Es sind die Zeiten des Twists, der Fotoromane, der RTP-Musikfestivals, der Schallplatten 45’, der Erfolge der Beatles, Roberto Carlos’ oder der französischen Chansoniers, des Sketchs von Raul Solnado über den Krieg, der Rivalität zwischen Simone de Oliveira und Magdalena Iglésias, der ersten Strandbikinis, der jungen eitlen Frauen bei den Minirock- und Schönheitswettbewerben, der Aufklebersammlungen, der humoristischen Bücher Vilhenas und der großen Fernsehmoderatoren. Es gibt viel Augen- und Ohrenschmaus, wenn möglich noch für alle anderen Sinne, da das Freizeitangebot vielfältiger denn je ist.] 70 Aufgrund der andauernden soziokulturellen Einschränkungen durch das konserva‐ tive Ethos des Salazar-Regimes wurden einerseits die Anstrengungen der jungen Portugiesen, sich der Gegenkultur anzunähern, erschwert und andererseits der Unterschied dieser zwei Welten betont. Maria Filomena Mónica schreibt: »Quando, em King’s Road, as saias subiam, no Estoril as adolescentes eram obrigadas a usar fatos de banho com largo e longo saiote. Quando, nas caves de Paris, a escurid-o era tal que o reconhecimento do parceiro era difícil, as m-es portuguesas vigiavam a proximidade entre os corpos dos jovens com atenç-o maníaca. Quando, nas capelas anglicanas, os pastores abriam os templos a hippies de rabo de cavalo, nas igrejas portuguesas as meninas n-o podiam entrar sem meias de vidro. Quando, em Liverpool, os Beatles faziam andar à roda a cabeça dos adolescentes, em Lisboa Neben dieser allmählichen soziokulturellen Öffnung muss die wichtige Rolle der Medien für das Durchbrechen der Isolierung gegenüber der Wirklichkeit auf der anderen Seite der Pyrenäen hervorgehoben werden: Trotz der Ein‐ schränkungen durch die Zensur leisteten die britischen, amerikanischen und französischen Musiksendungen im Radio und die täglichen Sendungen der Rundfunkanstalt Portugals (RTP), die die modernen Tendenzen der Musik, der Mode, des Sports und sogar der Werbung übertrugen, einen entscheidenden Beitrag zu einer Liberalisierung der Verhaltensweisen. 69 Die Avantgarde dieser Liberalisierung waren die jungen Menschen, die sich, indem sie eine alternative Sicht auf das Alltagsleben annahmen, der europäischen jungen Generation durch die Kultur des Rock, Twist und yéyé so weit wie möglich annäherten. Außerdem schlossen sie sich den Trends des langen Haarschnitts, der Jeans und der Miniröcke an. 70 Bei den einkommens‐ 67 1.6 Portugal in den 1960er-Jahren: eine Bühne für Utopie vibrava-se com António Calvário. Só muitos anos depois, morto Salazar, os adoles‐ centes conseguiriam organizar um festival de música pop« (Mónica, 1996: 215; Hervorhebung im Original). [Als in der King’s Road die Röcke kürzer wurden, wurden die jugendlichen Frauen in Estoril gezwungen, Badesachen mit langem Rock zu tragen. Als in den Clubs in Paris die Dunkelheit so groß war, dass der Partner nur schwer zu erkennen war, wachten die portugiesischen Mütter mit übertriebener Aufmerksamkeit über die Körperdistanz der Jungen. Als in anglikanischen Kapellen die Priester die Türen für Hippies mit Pferdeschwanz öffneten, durften die Mädchen in portugiesischen Kirchen nur mit Nylonstrümpfen eintreten. Als in Liverpool die Beatles den Jugendlichen den Kopf verdrehten, fieberte man in Lissabon mit António Calvário. Erst viele Jahre später, nach dem Salazar tot war, konnten die jungen Menschen ein Popmusikfestival organisieren.] stärksten und intellektuelleren Familien war der Generationsbruch deutli‐ cher, da viele junge Portugiesen die Einflüsse der Unterhaltungsindustrie überwiegend mit ihrer Universitätserziehung verbanden, um die Autorität der Eltern in Frage zu stellen. Dort begann auch das (in)direkte Bekämpfen des geschlossenen Regimes, das seinem offiziellen Motto »Deus, Pátria e Família« [Gott, Vaterland und Familie] und den entsprechenden Werten des Katholizismus, eines totalitären Staates und traditioneller, konservativer Erziehung treu blieb. Die provozierende Haltung vieler junger Menschen zu den etablierten Fa‐ milienwerten und die Weltoffenheit der oberen Mittelschicht führten auch zu einer vorsichtigen, eher symbolischen Emanzipationsbewegung. Diese wurde besonders von gebildeten Frauen befürwortet, die sich in der patriarchalischen Gesellschaft des Estado Novo eingesperrt fühlten. Trotz des tief verwurzelten Konservativismus wuchs in den 1960er-Jahren die Zahl der Arbeitsmöglich‐ keiten für Frauen (vgl. Vieira, 2000: 26). Ebenso wuchs die Zahl der aus der Oberschicht stammenden jungen Frauen, die die Universität besuchten. Diese jungen Frauen hatten zum ersten Mal die Chance, sich intellektuell zu bilden, freie Berufe in der Anwaltschaft oder in der Medizin auszuüben und sich so von der traditionell einschränkenden Rolle der Ehefrau, Mutter und Hausfrau, die von den Vertretern des Regimes bevorzugt wurde, zu befreien (vgl. Mónica, 1978: 275 f.). Neben diesen Aspekten muss auch die Verfügbarkeit der Anti-Baby-Pille ab 1962 als ein Meilenstein der Portugiesinnen auf dem Weg der Emanzipation erwähnt werden. Dadurch konnten sie ihr Verhalten 68 1 Historischer und kultureller Rahmen 71 Trotz der soziokulturellen Fortschritte durch das wirtschaftliche Wachstum und die allmähliche Entfernung von dem traditionellen Bild der Frau - eine Entfernung, die hauptsächlich in den Städten und innerhalb der wohlhabenderen Bevölkerungs‐ schichten sichtbar war - ging die Emanzipation der Frau in den 1960er-Jahren nur langsam voran. Sie war geprägt von einer Gesellschaft, die die Unterwerfung der Frau propagierte. Maria Filomena Mónica schreibt: »Até ao fim da década de 60, as mulheres só podiam votar quando eram chefes de família e possuíam cursos médios ou superiores. No caso das mulheres casadas, a obtenç-o de um passaporte dependia da autorizaç-o do marido, como deste dependia a possibilidade de montar um negócio, de sair do país, de abrir uma conta bancária. Apesar de variações regionais, com o Norte tradicionalmente a conferir mais poder às mulheres, estas sempre tinham sido vistas como seres subalternos, um traço que o Estado Novo reforçou« (Mónica, 1996: 218 f.). [Bis Ende der 1960er-Jahre konnten nur die Frauen wählen, die Familienoberhaupt waren und eine mittlere oder hohe Bildung hatten. Im Fall von verheirateten Frauen hing die Gewähr eines Passes vom Einverständnis des Ehemannes ab. Dies war auch der Fall, wenn sie ein Geschäft anfangen, das Land verlassen oder ein Bankkonto eröffnen wollten. Trotz regionaler Unterschiede - der Norden gewährte Frauen traditionell mehr Rechte - wurden sie immer noch als subalterne Wesen angesehen - etwas, was der Estado Novo bestärkte.] in Richtung sexueller Revolution und größerer Unabhängigkeit vom Ehemann weiter profilieren. 71 Parallel zu diesen Veränderungen im soziokulturellen Bereich konnten auch in der Politik Neuerungsversuche beobachtet werden. Angetrieben von der zunehmenden Modernisierung des Landes und dem Willen, Portugal aus der Diktatur zu befreien, war es einmal mehr die junge Generation von Intellektu‐ ellen, angeführt von den Studenten der Universitäten in Lissabon, Porto und Coimbra, die den Widerstand vorantrieb. Sie deckte während der 1960er-Jahre auf, dass das akademische System auf eine rückständige Weise funktionierte (vgl. Caiado, 1990: 74), und stand gegen die Repression des Estado Novo auf. 1962 führte das staatliche Verbot, den Tag der Studenten zu begehen, zu unerwarteten Reaktionen und entfesselte eine Reihe von Protesten wie u. a. Vorlesungsstreiks und Demonstrationen, die die erste sogenannte »akademische Krise« auslösten. Sie war ein Meilenstein für den Ausbruch dieser Generation, indem sie den Rahmen für die politische Bewusstwerdung dieser jungen Menschen bildete, die in den folgenden Jahren zu einem der kämpferischsten Teile des Widerstands wurden (vgl. Rosas, 1994: 539). Drei Jahre später, als innerhalb der Studenten‐ organisationen eine Phase der zunehmenden Politisierung der Jungen begann, wiederholten sich die Proteste mit starker Intensität. Marta Benamor Duarte charakterisiert die Studentenproteste ab 1965 und den Studentenkampf für eine Erneuerung der portugiesischen Hochschulinstitutionen folgendermaßen: 69 1.6 Portugal in den 1960er-Jahren: eine Bühne für Utopie 72 Laut Nuno Caiado hatte der studentische Aufruhr an der Universität Coimbra zwei Hauptgründe: Erstens gab es eine sehr große Studentenschaft im Verhältnis zur Ein‐ wohnerzahl, die überwiegend zur oberen Mittelschicht gehörte und die sehr politisiert und sich der Wirklichkeit der westlichen Demokratien sehr bewusst war. Zweitens genoss die Universität Coimbra politisches und ideologisches Ansehen im Salazarismus, das von den Studenten jedoch als elitär und überholt angesehen wurde (vgl. Caiado, 1990: 222). 73 Der Kolonialkrieg begann 1961 als Salazars Antwort auf verschiedene Befreiungsbewe‐ gungen in den portugiesischen Überseekolonien und dauerte dreizehn Jahre bis zum As possibilidades de agitaç-o visível para fora da faculdade estavam seriamente limi‐ tadas pela violência policial; lá dentro vivia-se numa instituiç-o caduca e incompatível com o processo desenvolvimentista do país. Assim, havia que continuar a contestar, mas a contestar a própria universidade e o que ela representava na realidade - a per‐ petuaç-o do fabrico de ideólogos de um regime autoritário, insensível às necessidades da populaç-o em geral. E contestar a universidade era indagar da validade do que se ensinava nas salas de aula e da legitimidade de quem ensinava. Nascia a contestaç-o pedagógica e robustecia-se a crítica de fundo ao regime. (Benamor Duarte, 1996: 644) [Die Möglichkeiten eines in der Öffentlichkeit sichtbaren Protestes waren durch die Polizeigewalt stark eingeschränkt; innerhalb der Fakultät lebte man in einer überalterten und insofern mit dem Entwicklungsprozess des Landes nicht mehr übereinstimmenden Institution. So musste weiterhin protestiert werden, und zwar protestiert gegen die Universität selbst und gegen das, was sie repräsentierte: die ewige Produktion von Ideologen eines autoritären Systems, unsensibel gegenüber den allgemeinen Bedürfnissen der Bevölkerung. Der Protest gegen die Universität umfasste das Überprüfen des Wahrheitsgehalts der Dinge, die in den Seminarräumen gelehrt wurden, und auch die Legitimation derjenigen, die lehrten, stand auf dem Prüfstand. Es kam zu pädagogischem Widerstand und die Kritik am Regime wurde stärker.] 1969 lernte jedoch das Regime, von Coimbra ausgehend, die größte »akademi‐ sche Krise« kennen: Examensboykotte, Aussperrungen aus den Fakultäten und Massendemonstrationen richteten sich nicht nur gegen die elitären Strukturen der Hochschulen, sondern auch gegen die autoritäre Politik des Staats und den Kolonialkrieg (vgl. Caiado, 1990: 194). 72 Der Kampf gegen den Kolonialkrieg spaltete die portugiesische Gesellschaft während der Diktatur und war immer ein drängendes Anliegen der Studen‐ tenbewegung und der »akademischen Krisen« der 1960er-Jahre (vgl. ebd.: 132). Viele Mitglieder der intellektuellen und gebildeten jungen Generation empörten sich über die militärischen Anstrengungen, die in ihren Augen typisch für die Imperialisten und Kolonialvertreter waren. 73 Sie sollten sich für eine 70 1 Historischer und kultureller Rahmen Ende des Estado Novo. Die Ablehnung dieses Kriegs war ein Hauptgrund für den Sturz des Regimes durch die Militärs am 25. April 1974. 74 Kardinal Gonçalves Cerejeira, einer der Vertreter des Estado Novo und Symbolfigur der engen Verbindung zwischen Staat und katholischer Kirche, beschrieb 1967 den wach‐ senden Abstand zwischen der jungen Generation und dem Salazarismus: »Perdemos a juventude, n-o podemos contar com a juventude. Se n-o remediamos isto, tudo se pode perder« (zit. nach Mónica, 1996: 217). [Wir verloren die junge Generation, wir können nicht mit ihr rechnen. Wenn wir das nicht ändern, ist alles verloren.] 75 Unabhängig von den einzelnen politischen Dispositionen war die Entfremdung zwi‐ schen Bevölkerung und Regierung im Verlauf der 1960er-Jahre immer deutlicher und die Widersprüche, mit denen das Land in jener Zeit zu kämpfen hatte, spitzten sich zu. Joaquim Vieira schreibt: »Portugal vive na verdade uma série de paradoxos durante os anos 60: o desenvolvimento económico convive com persistentes sinais de subdesenvolvimento […]; a industrializaç-o, criando mais e melhores empregos, n-o estanca a emigraç-o; o proteccionismo económico coexiste com a invas-o de empresas estrangeiras; […] o Governo opta pelo isolamento diplomático ao mesmo tempo que os Portugueses, mercê da emigraç-o, da guerra, da TV, do turismo e das novas tendências juvenis, nunca estiveram t-o abertos às influências exteriores« (Vieira, 2000: 24). [Portugal erlebt in den 1960er-Jahren eine Reihe von Widersprüchen: Ökonomisches Wachstum wird von Anzeichen für Unterentwicklung begleitet […]; die Industrialisierung schafft mehr und bessere Arbeitsplätze, aber stoppt nicht die Emigration; ökonomischer Protektionismus koexistiert mit vielen ausländischen Un‐ ternehmen; […] die Regierung wählt die diplomatische Abschottung, während die Portugiesen durch die Emigration, den Krieg, das Fernsehen, den Tourismus und die neuen Jugendbewegungen nie offener waren gegenüber Einflüssen von außen.] hoffnungslose Ideologie verpflichtend einsetzen. Aus diesem Grund setzten sich viele junge Menschen für ein Ende dieses Krieges ein, der tausende Opfer kostete, und kritisierten die Unnachgiebigkeit des Diktators, der das koloniale Imperium unbedingt beibehalten wollte (vgl. Vieira, 2000: 24). Trotz der Straf‐ maßnahmen des Regimes wie Gefängnis, Folter, Exil oder Zwangsverpflichtung bei den überseeischen Kampfeinheiten waren diese Jungen entschlossen, die Gesellschaft zu liberalisieren. So schufen sie einen unüberwindlichen Abgrund zwischen sich und dem Salazarismus. 74 Obwohl das Regime gegenüber Veränderungen feindselig und hartnäckig war, konnte es die zunehmende Neigung zur Öffnung, Freiheit und Emanzipa‐ tion keineswegs aufhalten. 75 Ermutigt durch den ökonomischen Fortschritt, die demographische Mobilität, die signifikanten Änderungen der Familienverhält‐ nisse und die politischen Aktionen der jungen Generation gewinnt Portugal neue Hoffnung auf einen ersehnten Wandel. Ende der 1960er-Jahre nahm sie noch zu durch besondere politische Ereignisse. Im Jahre 1968 bekam Portugal die Nachricht, dass - aufgrund einer schweren Erkrankung des Diktators - Salazar durch Marcelo Caetano als Oberster Führer der Nation ersetzt wurde. Caetano war vom ultrakonservativen Flügel weiter 71 1.6 Portugal in den 1960er-Jahren: eine Bühne für Utopie 76 Anfang 1968 wurde im Land und international bekannt gegeben, dass sich der Gesund‐ heitszustand des Präsidenten des Ministerrats nach einem Schlaganfall verschlechtert hatte. Erst am 23. September wurde als Nachfolger der Universitätsprofessor Marcelo Caetano bestimmt, der bis zum 25. April 1974 an der Macht bleiben sollte. Dies war der Tag der Revolution, die das Ende des Estado Novo und den Beginn der Demokratie in Portugal bezeichnete. An diesem Tag wurde Caetano durch das Militär von seinem Amt enthoben und ging später ins Exil nach Brasilien. 77 Diese Phase der Ungewissheit, die aus dem Übergang von Salazar zu Caetano entstand, sowie die darauffolgende Möglichkeit einer Veränderung des Regimes bilden die historische Zeit des portugiesischen Romans Sem Tecto, entre Ruínas, deren literarische Bearbeitung im nächsten Kapitel ausführlicher untersucht wird (siehe Kapitel 2.5). entfernt und gab Anlass zur Hoffnung auf eine gewisse Entspannung des Estado Novo, auf weitere Öffnung und Liberalisierung (vgl. Reis, 1996: 546). 76 Mit einem neuen Mann an der Macht glaubten viele an einen bevorstehenden Sturz der portugiesischen Diktatur. Sie erwarteten das Ende der Isolierung und der Rückständigkeit Portugals: No início da década de 60, só se falava em desenvolvimento, desenvolvimento e desenvolvimento. Os economistas defendiam que o país tinha de se abrir à Europa. […] Portugal iria modificar-se profundamente [ao longo da década; IG]. Alimentado pelas notícias que os emigrantes traziam lá de fora, estimulado pelas séries que a RTP começara a importar, invadido por turistas com hábitos estranhos, o país saía, por fim, da letargia. Quando, em 1968, Salazar caiu da cadeira, os valores que tentara inculcar aos Portugueses estavam moribundos. (Mónica, 1996: 224) [Am Anfang der 1960er-Jahre wurde nur von Entwicklung gesprochen, Entwicklung und nochmals Entwicklung. Die Wirtschaftler traten für eine europäische Öffnung des Landes ein. […] Portugal sollte sich [während der gesamten Dekade; IG] grundlegend verändern. Durch die Nachrichten, die die Emigranten vom Ausland mitbrachten, angeregt von den von der RTP importierten Serien, geflutet von Touristen mit fremden Sitten, befreite sich das Land endlich aus seiner Lethargie. Als Salazar 1968 stürzte, waren die Werte, die er den Portugiesen einschärfen wollte, dabei abzusterben.] Während einiger Monate im Jahr 1968 hofften viele in Portugal auf eine Transformation des Regimes. 77 Jedoch dauerte es nicht lange, bis der Glaube der Portugiesen an Caetanos Reformwillen verblasste und sie einsahen, dass die Liberalisierungsversprechen sich in seinem Motto »evoluç-o na continuidade« (zit. nach Rosas, 1994: 548) [Evolution in der Kontinuität] verflüchtigen würden. Von 1969 bis 1974 verhärtete sich das Regime gegenüber den Gegnern der Diktatur: Caetano antwortete mit mehr Gefängnis, Exilierungen und Zensur auf den Widerstand der Studenten und auf die Umsturzversuche der oppositionellen Gruppen oder der Militärs. Erst die Nelkenrevolution am 25. April 1974 ließ 72 1 Historischer und kultureller Rahmen Portugal aus der langen Nacht der Diktatur aufwachen, in der es bis dahin gefangen war. 1.7 Schlussbemerkungen Wie deutlich wird, ist die historische Wirklichkeit jedes hier untersuchten Landes ziemlich unterschiedlich. Sie wird durch die zahlreichen Ereignisse gekennzeichnet, die sowohl auf der nationalen als auch auf der internationalen Ebene die Art und Weise prägten, wie die junge Generation die Aufbruchsstim‐ mung in Westeuropa im Laufe der 1960er-Jahre (und danach) erfuhr. Diese kaleidoskopische Wirklichkeit wird nicht nur durch die Vielfalt der Protestziele sichtbar (eher mit einem nationalen oder internationalen politischen Charakter oder eher auf die Sitten und Lebensweisen ausgerichtet), sondern auch durch die verschiedenen Protestformen, die von den jungen Deutschen, Franzosen, Italienern, Spaniern oder Portugiesen ausgewählt wurden, um ihren Widerstand auszudrücken. Im Fall der Bundesrepublik und von Frankreich und Italien manifestiert sich die Neigung der jungen Menschen zur Veränderung der Gesellschaft sowohl auf der politischen als auch auf der soziokulturellen Ebene und es gibt eindeutige Gemeinsamkeiten. Die Jungen - vor allem die Studenten - fordern an den Universitäten zunächst mehr Reformen für eine Modernisierung (besonders der Lehrmethoden und der -inhalte) wie auch mehr Gelder für Bildung und mehr Demokratisierung, indem sie sich gegen die herrschende Atmosphäre von Hier‐ archie und Autoritarismus (verkörpert in der Figur des Professors) auflehnen. Aber ihr Wille nach Veränderung erstreckt sich auch auf die Politik, weshalb sie auf die Straße gehen und radikale Reformen innerhalb des ihrer Meinung nach zu lahmen, konservativen politischen Apparates verlangen, der es ihnen lange unmöglich machte, am Prozess der Willensbildung und Entscheidungsfindung teilzuhaben. Darüber hinaus - und trotz der Unterschiede zwischen den Ländern - zeigen die jungen Menschen auch einen gemeinsamen Willen, den etablierten Wertekodex herauszufordern, der durch die moralisierende Wertschätzung der sogenannten guten Sitten geprägt wird. Diese Ähnlichkeiten manifestieren sich in der sexuellen Befreiung (freie Liebe, Partnertausch, Beziehungen ohne Verpflichtungen), in der Kultur des Beat und Rock, in der Mode mit Jeans und langen Haaren oder im offenen Umgang mit Drogen und in dem Hippiemotto peace & love. In Spanien und in Portugal, wo das politische Leben durch das diktatorische Regime bestimmt wurde, war die Wirklichkeit anders, da die Freiheit der 73 1.7 Schlussbemerkungen jungen Spanier und Portugiesen zum Protestieren und zum Demonstrieren eingeschränkt und dadurch die Aufbruchsstimmung nicht so ausgeprägt war. Trotz allem fehlen auch hier nicht die Zeichen jenes Willens, die Gesellschaft zu verändern, sichtbar nicht nur in den Universitäten (in Form von Demons‐ trationen gegen das Hochschulsystem und gegen das Regime Francos und Salazars), sondern auch in der Art und Weise, wie die junge spanische und portugiesische Generation sich gegen den Status quo auflehnte und dabei versuchte, die Vorteile einer zunehmend globalisierten Welt zu nutzen, um die alternativen Tendenzen der Gegenkultur jenseits der nationalen Grenzen zu verfolgen und zu erfahren. Trotz der landesspezifischen soziopolitischen Besonderheiten teilt die junge Generation in der Bundesrepublik und in Frankreich, Italien, Spanien und Portugal den gemeinsamen Willen, ihren Dissens gegen das Establishment durch Provokation, Irreverenz und Aufsässigkeit auszudrücken. Das tut sie sowohl mit der Teilnahme an Protestaktionen und Demonstrationen, die die Widerstandshaltung der jungen Generation in den Vordergrund rücken, als auch mit dem Versuch, die jüngsten nationalen und internationalen Ereignisse zu begleiten und dazu ihre Meinung zu äußern. Viele von diesen soziopolitischen und kulturellen Ereignissen werden in den verschiedenen literarischen Werken, die zum Textkorpus der vorliegenden Arbeit gehören, bearbeitet. Sie sind ent‐ scheidend für die Räume und Milieus (u. a. Plätze, Straßen, Familie, Studenten-, Arbeiter- und Protestmilieu), die in den Texten geschaffen bzw. dargestellt werden, wie auch für den Aufbau der Diegese und sie haben einen direkten oder indirekten Einfluss auf den Weg der unterschiedlichen Protagonisten der jungen wie auch der älteren Generation von Heißer Sommer, Lenz, Derrière la vitre, I giorni del dissenso, Condenados a vivir und Sem Tecto, entre Ruínas. 74 1 Historischer und kultureller Rahmen 2 Darstellung der Prosawerke Als Nachwirkung der intensiven Jahre des akademischen Aufruhrs und der Unzufriedenheit der jungen Generation mit dem soziopolitischen Status quo am Ende der 1960er-Jahre kam die historische, politische und soziokulturelle Bewegung der roaring sixties in der literarischen Szene wieder zum Leben. Sie fand in verschiedenen Prosawerken in der Bundesrepublik, in Frankreich, Ita‐ lien, Spanien und Portugal Ausdruck. Thematiken wie die Studentenrevolte, der Generationenkonflikt und der transnationale und transkulturelle Prozess der Kampferfahrungen gegen das Establishment hallen in jedem dieser Werke in vielfältigen individuellen und kollektiven Erlebnissen der jungen und nicht mehr jungen Figuren wider, die die historische Epoche der Protestkultur in den 1960er-Jahren erleben. In diesem Kapitel werden die untersuchten Prosawerke einzeln analysiert. Dabei werden die Aspekte hervorgehoben, an denen sich die Ideologie- und Generationsspaltungen beobachten lassen. Nach einer kurzen Einordnung der Texte in das Werk des jeweiligen Autors und ihren literarischen Kontext werden die Erzählstrategien und der ästhetisch-literarische Ansatz der jewei‐ ligen Prosawerke kommentiert. Danach wird in erster Linie fokussiert, in welcher Beziehung die Protagonisten und die Figuren der beiden im Streit befindlichen Generationen zur jeweils erzählten allgemeinen Geschichte jener Epoche stehen. Dabei wird ihre Rolle, sei es als Akteure oder Mitläufer, im Kontext der von ihnen erlebten Veränderungen reflektiert. Obwohl sie keine historischen Dokumente sind, stellt jedes der Werke ein fiktionales Bild jenes zeitgeschichtlichen Kontextes dar und rückt verschiedene Ereignisse in den Vordergrund, die die Diegese durchziehen und die mit der individuellen Wirk‐ lichkeit der Hauptfiguren verbunden sind. Hier werden die in den Texten erzählten Ereignisse behandelt, die mit dem antiautoritären Kampf verbunden sind, wie die akademischen Unruhen, der Generationenkonflikt und das na‐ tionale und internationale politische Tagesgeschehen. Diese Gegenstände der Erzählung zeigen die Verbindung zwischen der historischen Zeit und der individuellen Realität der Hauptfiguren jedes Textes. Anschließend, und wie in der historischen Zeit die Widerstandshaltung der jungen Generation sich nicht nur auf politischen Aktivismus beschränkte, werden andere öffentliche sowie private Momente in Augenschein genommen, die den Bruch der jungen Menschen mit den vorherrschenden Lebensentwürfen bedeuten: Das Ausleben der freien Liebe und der sexuellen Emanzipation ebenso wie das Auftauchen 1 Der Begriff literarisierte Revolte wurde von Ralf Schnell in den 1980er-Jahren geprägt (siehe Einleitung). In Literatur der Bundesrepublik: Autoren, Geschichte, Literaturbetrieb (1986) hob er zum ersten Mal die literarische Verarbeitung der Studentenbewegung durch junge Autoren in den 1970er-Jahren in der Bundesre‐ publik hervor und identifizierte Texte, die die 1968er-Revolte und die politischen, sozialen und kulturellen Ereignisse am Ende der 1960er-Jahre thematisieren (vgl. Schnell, 1986: 284-288; 2003: 388-393). Im Laufe der Jahre wuchs das Interesse der Literaturwissenschaftler an diesen Werken der 1970er-Jahre und daher gibt es mehrere Studien und Aufsätze, die sich mit der Analyse einiger dieser Text und der Zeit der 1968er-Studentenbewegung befassten (siehe Einleitung). 2 Manfred Durzak erklärt folgendermaßen die literarische Verarbeitung der akademi‐ schen und soziokulturellen Unruhen in der Bundesrepublik: »Und auch die Studenten‐ bewegung selbst hat sich mit ihren sozialutopischen Phantasien, Programmentwürfen und der historischen Erfahrung ihres Scheiterns, zeitlich verzögert, in einer Reihe von Erzähltexten so kristallisiert, daß sich […] von einem wichtigen Segment der Literatur Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre sprechen läßt« (Durzak, 2006: 602 f.). einer subversiven Gegenkultur sind einige der Zeichen der Aufsässigkeit der jungen Figuren, deren Darstellung in den Werken der Analyse bedarf. 2.1 Lenz von Peter Schneider und Heißer Sommer von Uwe Timm 2.1.1 Peter Schneider und Uwe Timm: die literarisierte Revolte in der Bundesrepublik Nach dem Klima der Agitation, das an den Universitäten und auf den Straßen der Bundesrepublik 1967 und 1968 herrschte, erhielten die liberale Haltung der jungen Generation und ihre Erfahrung bei den Ereignissen des akademi‐ schen, politischen und soziokulturellen Aufruhrs Platz in der literarischen Szene. Sie zeigten sich in der literarisierten Revolte, d. h. in einer Reihe von Texten, die sich der fiktiven Darstellung der Studentenbewegung Ende der 1960er-Jahre widmeten. 1 Herausgefordert durch die allmähliche Auflösung der Außerparlamentarischen Opposition (APO), durch das Auftauchen tiefer ideologischer Unterschiede, die zur Auflösung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) führten (vgl. Scott Brown, 2013: 106), sowie durch das Abflauen der Mobilisierung der jungen Generation für die Erneuerung der politischen und soziokulturellen Strukturen Westdeutschlands, wurde die antiautoritäre Protestkultur als literarisierte Revolte fortan in den Bereich der Li‐ teratur verlagert. 2 Die literarische Produktion, die im Kontext der literarisierten Revolte erschien, entstand vor allem in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre durch 76 2 Darstellung der Prosawerke 3 Kerstin Germer bekräftigt die These einer »Tendenzwende« in der Literatur der Bun‐ desrepublik der 1970er-Jahre und einer Intensivierung des Persönlichen, nicht nur des Politischen, in den Werken der literarisierten Revolte : »Dieser ersten literarischen Aufarbeitungsphase zu Beginn bis Mitte der 70er-Jahre schien es vornehmlich darum zu gehen, die Beweggründe der Rebellion aus individualisierter Perspektive nahezubringen. Das Gebiet der Politik wird in den meisten Werken mit dem anderen existenziellen Bereich korreliert, nämlich dem der Liebe und der Erotik sowie der Kunst und des Ästhetischen ganz allgemein« (Germer, 2012: 101 f.). 4 Timothy Scott Brown kommentiert in West Germany and the Global Sixties. The Antiau‐ thoritarian Revolt, 1962 - 1978 (2013) die Haltung der neuen Autorengeneration angesichts der von der Gruppe 47 verteidigten Orientierung für eine politisierte Literatur: »An informal writing circle whose membership included a veritable who’s who of postwar German letters associated with the radical turn, the Gruppe 47 played host to Hans Magnus Enzensberger, Uwe Johnson, Peter Handke, and Reinhard Lettau. Yet the group itself, and, in particular, the iconoclastic author Günter Grass, increasingly came under attack from those who advocated a more thoroughgoing politicization of literature. Ulrike Meinhof’s well-known piece in konkret that accused the group of having been left behind in its eine neue Autorengeneration. Diese literarische Produktion fand in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre ihren inhaltlichen Schwerpunkt und sie konzentrierte sich sowohl auf die politischen als auch auf die soziokulturellen Erfahrungen, die die junge Generation während und nach der Revolte machte: Es ist eine Zeit-Literatur im genauen Sinn des Wortes: Reflex persönlicher Geschichten und gesellschaftlicher Entwicklung, Verarbeitung von Erlebnissen und Wandlungs‐ prozessen, auch Kritik und Distanzierung festgefügter Standorte und Positionsbestim‐ mungen. (Schnell, 2003: 388) Im literarischen Milieu debütierend und vereint durch die Erfahrungen im Rahmen der intensiven Jahre der Studentenbewegung von 1968 (vgl. Talarczyk, 1988: 143), bemühte sich die neue Autorengeneration darum, Zeugnis des Erlebten abzulegen. Gleichzeitig reflektierte jeder Autor individuell über die ersehnten Utopien vom Wandel, über die sowohl im öffentlichen wie im privaten Be‐ reich erreichten Veränderungen und auch über die persönliche und kollektive Erfolglosigkeit im Rahmen der Studentenbewegung. 3 Weit über eine bloße Doku‐ mentation der Jugendrevolte hinaus nahm sich diese junge Autorengeneration vor, der westdeutschen Literatur eine neue Richtung zu geben. Sie zielte auf eine politische Ausrichtung, die der linken Ideologie nahestand, und auf eine ausgeprägte soziale Verantwortung. Dieser Vorschlag der jungen Autoren der 1970er-Jahre distanzierte sich gleichermaßen von der »bourgeoisen« Sichtweise der »etablierten« Literatur - die sie lediglich als Unterhaltungsliteratur ohne eine politisch oder sozial engagierte Dimension ansahen (vgl. Bullivant, 1989: 37) -, wie von der Richtung einer politisierten Literatur der Gruppe 47. 4 Sie schrieben 77 2.1 Lenz von Peter Schneider und Heißer Sommer von Uwe Timm politics to the extent that it had become a tool of the ruling class helped lend weight to the critical tone« (Scott Brown, 2013: 144). 5 Zu dieser neuen Funktion der Literatur und der engen Verbindung mit der historischen Zeit, in der sie aufkam, schreibt Keith Bullivant: »Certainly, by 1971-2, when the new government’s course and the lack of basic social change had become fairly clear, the ‹lange Marsch durch die Institutionen› was seen on many sides as the only realistic possibility of continuing to agitate for the ideals of the Student Movement. In this situation, literature was allotted a new function: […] the crude didacticism of agit-prop was rejected in favour of an operative aesthetic code that would call established patterns of consciousness into question and thus play its part in changing human sensibility and, with it, existing society« (Bullivant, 1987: 108). 6 Im Aufsatz »‹1968›: Literary Perspectives in Political Novels from East and West» (1992) erwähnt Julian Preece eine geringe Anzahl von Werken aus der Bundesrepublik - hauptsächlich Romane -, die sich mit der Studentenbewegung beschäftigen und die insofern zu einem von ihm so genannten »minor genre« gehören. Dieses »minor genre« ist eine Art von Untergattung, die Texte von Autoren wie Peter Schneider, Uwe Timm, Bernward Vesper und Peter-Paul Zahl enthält - alle Schriftsteller, die sich in der literarischen Szene der 1970er-Jahre profilierten, weil sie persönliche Erfahrungen aus den Zeiten der Jugendrevolte von 1968 literarisch thematisiert haben. Anders als Ralf Schnell listet Preece die Werke nicht auf, sondern er identifiziert nur die wichtigsten Autoren (hier schon erwähnt), die im Rahmen des Verfassens über diese Thematik eine Hauptrolle spielten (vgl. Preece, 1992: 301). 7 Die subjektive und reflexive Fokussierung der Geschichte und die Verarbeitung der Ereignisse am Ende der 1960er-Jahre durch eine nach innen gewandte und emotionale der literarischen Produktion der neuen Dekade eine aktivere und zeitgemäßere Funktion von gesellschaftlicher Intervention zu, in der sie gleichermaßen zur Reflexion über die Fragen der Studentenbewegung anregen wie sich als Motor politischer und soziokultureller Veränderung präsentieren sollte. 5 Trotz der starken dokumentarischen Komponente, die mit den historischen Ereignissen der 1960er-Jahre verbunden ist, beschränkt sich das literarische Ethos der literarisierten Revolte nicht auf ein realistisches Abbild der akademi‐ schen Unruhen und auch nicht auf einen mobilisierten Appell, um die Massen zum politischen Aktivismus und zur Umgestaltung der Gesellschaft zu bewegen. Es wird deutlich, dass dieses »minor genre« (Preece, 1992: 301) 6 der 1970er-Jahre weder einem politischen noch einem vereinheitlichten literarischen Programm folgte, sondern sich durch individuelle Tendenzen und Stile leiten hieß (vgl. Hubert, 1992: 17): Dabei wurde die persönliche, subjektive Sichtweise eines jeden Autors auf die Unruhen am Ende der 1960er-Jahre bevorzugt. Diese persönliche Ansicht der politischen und soziokulturellen Ereignisse jener Zeit, die von einem starken autobiographischen Register bestimmt wurde, entspricht der individuellen und introspektiven Fokussierung der »Neuen Subjektivität« oder »Neuen Innerlichkeit«, einer literarischen Strömung der 1970er-Jahre, die als Reaktion auf die politisierte Literatur der Studentenbewegung entstand. 7 78 2 Darstellung der Prosawerke Haltung des autodiegetischen Erzählers sind die Hauptmerkmale des Romans Die erdabgewandte Seite der Geschichte (1976) von Nicolas Born, die ihn laut der Literatur‐ wissenschaft zum paradigmatischen Text der »Neuen Innerlichkeit« machten (vgl. Bullivant, 1987: 180). In ihr befanden sich viele der Autoren der 1968er-Generation, die über ihre Erfahrungen mit der Studentenbewegung und über ihre jeweilige Suche nach Identität in dieser zugleich öffentlich wie privat bewegten Zeit schrieben: »Neue Subjektivität« […] weist auf eine Distanzierung hin: Man will sich dezidiert absetzen von der Literatur der vorausgegangenen Phase, und zwar durch prononcierte Ichhaftigkeit und Emotionalität. Akzentuiert wird der Gegensatz zur »Literatur der Politisierung«, die im Kontext oder Gefolge der studentischen Revolte der sechziger Jahre entstanden war. Mit der neuen Schreibweise soll nun der Erwartungshorizont des Lesers, der auf politische Literatur fixiert war, überschritten werden, und zwar in Richtung auf ein bisher tabuiertes Thema, nämlich das der persönlichen Empfindungen, das in den Jahren der Revolte als besonders obsolet gegolten hatte. (Gerlach, 1994: 9f.) Es ist daher nicht verwunderlich, dass die literarisierte Revolte eine in Form und Inhalt vielfältige Produktion hervorbringt, die offen für verschiedene Weltanschauungen jener Epoche ist: Denn diese Autoren schreiben Romane, Erzählungen, Prosatexte, Autobiographien, die Entwicklungsprozesse vorführen, nicht selten ihre eigenen: Politisierungen, Ein‐ stellungsveränderungen, den Zusammenhang und Widerspruch von Privatheit und Öffentlichkeit, von theoretischer Reflexion und politischem Handeln. Es findet sich in dieser Literatur auch ein Moment der Selbstkritik, der Abrechnung mit eigenen Fehlern und Versäumnissen. (Schnell, 2003: 389) Es gibt in der Tat zahlreiche Gemeinsamkeiten in der narrativen Fiktion der Au‐ toren der 1968er-Generation. Die während der literarisierten Revolte geschriebenen und veröffentlichten Werke haben als diegetisches Zentrum die aufrührerische Zeit der Revolte an den Universitäten und die Zeitspanne der individuellen und intellektuellen Introspektion nach 1968. Darüber hinaus beschäftigen sie sich mit den Themen dieser Epoche, wie zum Beispiel dem Konflikt zwischen Eltern und Kindern, oder zwischen Professoren und Studenten, dem Versuch eines Bruches mit dem Establishment, der Infragestellung des Engagements für den politischen Aktivismus, dem Erlebnis der sexuellen Befreiung und nicht zuletzt der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Mal direkter, mal indirekter zeigen sich diese zentralen Fragen in der Erzählung Lenz (1973) von Peter Schneider und im Roman Heißer Sommer (1974) von Uwe Timm, beide von der Kritik als Schlüsseltexte der literarisierten Revolte bezeichnet (vgl. Cornils, 2000: 79 2.1 Lenz von Peter Schneider und Heißer Sommer von Uwe Timm 8 Für den Erfolg von Lenz und Heißer Sommer war auch entscheidend, dass sie in Verlagen publiziert wurden, die im Gefolge der 1968er-Studentenbewegung gegründet worden waren. Den Idealen der Linken nahestehend, verstanden sie sich als Alternative zu den bis dahin etablierten Verlagen (vgl. Scott Brown, 2013: 148). Lenz von Peter Schneider wurde vom Rotbuch Verlag veröffentlicht, der Roman Heißer Sommer von der AutorenEdition, einem Projekt, an dem Uwe Timm selbst beteiligt war und das vom Motto »Autoren edieren Autoren« (Hielscher, 2007: 73) geleitet wurde. In den 1970er-Jahren war die AutorenEdition für die Publikation anderer Romane der literarisierten Revolte verantwortlich, wie Das Brot mit der Feile (1973) von Christian Geissler, Beringer und die lange Wut (1973) von Gerd Fuchs und Ein Hai in der Suppe oder Das Glück des Philipp Ronge (1975) von Roland Lang. In allen diesen Romanen werden die politischen und soziokulturellen Erfahrungen der verschiedenen Akteure der Revolte am Ende der 1960er-Jahre hervorgehoben. 9 Die literarisierte Revolte beschränkt sich weder auf diese zwei Werke noch auf diese Autoren. Auch in anderen Texten, die die 1968er-Revolte fiktionalisieren, spielen Fragen wie der Generationenkonflikt, die Utopie der jungen Generation für die Veränderung der Gesell‐ schaft wie auch die Reflexion über die Erfolge und Enttäuschungen der Studentenbewegung eine zentrale Rolle in der Diegese. Unter ihnen ragen hervor: Klassenliebe (1973) von Karin Struck, ein autobiographischer Roman mit starken Zügen der »Neuen Subjektivität« (vgl. Bullivant, 1987: 193), in dem die Studentenbewegung und die Phase der Unsicherheiten danach aus der Perspektive einer jungen Frau geschildert wird. Weiter gibt es Von einem, der auszog, GELD zu verdienen (1970) und Die Glücklichen (1979) vom Schriftsteller und Aktivisten Peter-Paul Zahl. Beide sind zwei avantgardistische und wenig konventionelle Werke, und zwar vor allem in Bezug auf den Schreibstil und auf die Darstellung der Diegese (vgl. Talarczyk, 1988: 180; 186). Auch Die Reise (1977) von Bernward Vesper gehört zu den relevantesten dieser Werke. 1969-1971 geschrieben, aber postum veröffentlicht, ist es ein autobiographischer Text, der aus verschiedenen Fragmenten besteht. Es geht um die »Reise« eines jungen Mannes ohne Identität und wenig Hoffnung (vgl. Hubert, 1992: 344), der sich dazu entscheidet, nach dem Verlust des Enthusiasmus in der Studentenrevolte der Bundesrepublik einen neuen Weg für den politischen Kampf der Linken zu finden. Außerdem kommt noch Keiner weiß mehr (1968) dazu (obwohl Ralf Schnell ihn nicht zu den Texten der literarisierten Revolte zählt): der einzige Roman von Rolf Dieter Brinkmann, der Galionsfigur der Underground-Literatur in der Bundesrepublik jener Zeit. Mithilfe einer provokativen Sprache legt dieser Roman die Beunruhigungen, die Euphorie und die Enttäuschungen der 1968er offen und präsentiert ein kritisches Bild der Generation des sex, drugs & rock’n’roll. 116). Betrachtet als Kultbücher jener Zeit - nicht nur wegen der Verkaufszahlen, sondern auch im Urteil der Leserschaft und der Kritik (vgl. Götze, 1981: 369) -, markieren Lenz und Heißer Sommer den Aufstieg der jungen Autoren Schneider und Timm in der literarischen Szene der Bundesrepublik der 1970er-Jahre. 8 Sie verschafften ihnen einen hervorstechenden Platz unter der Autorenschaft der Zeit, die versuchte, das soziopolitische Umfeld von Krise und Agitation innerhalb der jungen Generation am Ende der 1960er-Jahre literarisch zu verarbeiten (vgl. Rinner, 2013: 35). 9 1940 geboren, hatten Schneider und Timm einen Start ins Leben, der dem vieler Angehöriger der 1968er-Generation ähnelte. Während ihrer Kindheit 80 2 Darstellung der Prosawerke 10 Diese Kriegserinnerungen, besonders die Zerstörung der Städte und die Flucht, um das Überleben während des Kriegs zu garantieren, und später die Entnazifizierung der Elterngeneration begleiten sie ihr Leben lang und erscheinen nicht nur in Lenz und Heißer Sommer, sondern auch im Laufe der gesamten literarischen Produktion dieser zwei Autoren. 11 Die kurze Darstellung einiger Schlüsselmomente des Lebens von Peter Schneider und Uwe Timm während ihrer Studentenzeit rechtfertigt sich durch die Bedeutung, die diese persönlichen Erfahrungen beider Autoren in Lenz und in Heißer Sommer haben (vgl. Rinner, 2013: 18). Viele dieser autobiographischen Elemente führten nicht nur zur Charakterisierung der Protagonisten und anderen Figuren in jedem dieser Texte, sondern sind auch Merkmale der jungen Generation Ende der 1960er-Jahre (was in den nächsten Unterkapiteln gezeigt werden wird). 12 Während der Wahlkampagne des Kanzlerkandidaten Willy Brandt 1965 wurde Peter Schneider sogar eingeladen, an einigen politischen Reden und Texten der SPD mitzu‐ wirken. Schneider hatte dadurch die Gelegenheit, aufsteigende Persönlichkeiten der Linken wie Bernward Vesper, Gudrun Ensslin und Friedrich Christian Delius sowie erlitten viele tagtäglich nicht nur die Entbehrungen und Zerstörungen durch den Zweiten Weltkrieg, sondern teilten auch die Abwesenheit des Vaters im Haushalt, der im Dienst der Wehrmacht stand. Als Angehöriger der Generation der Trümmerkinder erlebten Schneider und Timm die Vertreibung aus ihren Ge‐ burtsorten, um vor den Bombardierungen während des Zweiten Weltkrieges zu fliehen: Die Familie Schneider sah sich gezwungen, nach Grainau umzuziehen (vgl. Riordan, 1995: 13); die Familie Timm, nachdem sie ihr Haus in den Ham‐ burger Bombenangriffen 1943 verloren hatte, musste nach Coburg übersiedeln (vgl. Hielscher, 2007: 10). Außer diesen traumatischen Erfahrungen gab es in beiden Familien ein weiteres Kriegsmerkmal: Die Väter beider Autoren waren beide Soldaten - Timms Vater ging freiwillig zur Luftwaffe (vgl. Hielscher, 2007: 14) und Schneiders war Signalgeber (vgl. Riordan, 1995: 13) - und beide waren nach der Kapitulation Deutschlands Kriegsgefangene. 10 Nach dem Ende des Nationalsozialismus und während der ersten Schritte einer demokratischen Regierung erlebten sie in den 1950er- und 1960er- Jahren das ökonomische Wachstum sowie soziokulturelle Veränderungen durch das Wirtschaftswunder und die Konsumgesellschaft in der Bundesrepublik. Noch größere Ähnlich‐ keiten bestehen jedoch in den biographischen Laufbahnen dieser zwei damals jungen Autoren in der Zeit ihres Studiums und der 1968er-Studentenrevolte. 11 Nach kurzen Aufenthalten in Freiburg und in München schrieb sich Peter Schneider 1962 an der Freien Universität Berlin für Germanistik, Geschichte und Philosophie ein. Während dieses Jahrzehntes kombinierte er das Studium mit Tätigkeiten beim Rundfunk und nachher bei Zeitungen und Zeitschriften, wo er Essays und Literaturkritiken veröffentlichte, was ihn in den Intellektuel‐ lenkreisen Westberlins zunehmend bekannt machte. 12 Später, im Jahre 1967, 81 2.1 Lenz von Peter Schneider und Heißer Sommer von Uwe Timm andere schon etablierte, wie Günter Grass von der Gruppe 47, kennenzulernen und mit ihnen zusammen zu arbeiten (vgl. Riordan 1995: 15). Mit der Wahlkampagne 1965 näherte sich Schneider Grass, der ihn zu Beginn seiner Karriere zu einigen Schriften und Publikationen ermunterte. Dies ist ebenfalls ein biographisches Element, das in Lenz auftaucht, als der junge Linksintellektuelle zu einem älteren Schriftsteller eine Beziehung aufbaut, der ihn während der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre orientiert und unterstützt (vgl. Williams, 1995: 59). 13 Hans Magnus Enzensberger war nicht nur eine herausragende Persönlichkeit in der Außerparlamentarischen Opposition (APO), sondern auch zwischen 1965 und 1975 Herausgeber des Kursbuch, dem Publikationsorgan für die Hauptessays, Interviews und Gedichte der Intellektuellen, die die ideologischen Leitlinien der bundesdeutschen und der internationalen Studentenbewegung definierten. Im Kursbuch wurden auch die großen Themen des weltweiten Widerstands gegen den Vietnamkrieg und des antiimperialistischen Kampfs problematisiert (vgl. Frei, 2008: 107). 14 1970 publizierte Schneider »Wir haben Fehler gemacht«, eine Rede, die im April 1967 in Berlin gehalten worden war. Sie zielte auf die passive Haltung der Studenten und forderte ihre aktive Teilnahme am antiautoritären Kampf sowie an dem Wandel des akademischen und politischen Systems. Sowohl »Wir haben Fehler gemacht« als auch der 1969 im Kursbuch veröffentlichte Essay »Die Phantasie im Spätkapitalismus und die Kulturrevolution« zählen zu den bedeutendsten Texten des jungen Schneider während der Studentenrevolte (vgl. Riordan, 1995: 15 f.). 15 Die Überzeugung, die Ideale der Studenten der Wirklichkeit der Arbeiterklasse anzunä‐ hern, führt Schneider dazu, als Arbeiter bei Bosch anzufangen. Der 1970 veröffentlichte Essay «Die Frauen bei Bosch» ist Ergebnis dieser persönlichen Erfahrung und reflek‐ tiert vor allem über die Arbeitsbedingungen der Frauen. entwickelten sich Beziehungen zu Rudi Dutschke und dem Schriftsteller und Vordenker der Studentenbewegung Hans Magnus Enzensberger. 13 Im weiteren Verlauf nahm Schneider eine immer herausragendere Stellung innerhalb des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) sowie als Redner und Koor‐ dinator des »Springer Tribunals« ein. Das »Springer-Tribunal« war eine stu‐ dentische Protestaktion, um die Voreingenommenheit und die Manipulation von Information durch den Springerkonzern in der medialen Öffentlichkeit anzu‐ prangern (vgl. Scott Brown, 2013: 193). Schneider war auch Autor unterschied‐ licher Reden, Flugblätter und Essays, die die Ideen der jungen Protestler inner- und außerhalb der Universitäten verbreiteten. 14 Trotz seiner Zweifel bezüglich der Leitprinzipien und der antiautoritären Kampfformen der Studenten, die er Anfang 1968 zu spüren begann (vgl. Riordan, 1995: 16), blieb Peter Schneider der Studentenbewegung bis zum Ende der 1960er-Jahre verbunden. Aufgrund seines herausragendes Rufes in der deutschen Szene wurde er aufgefordert, auch an der italienischen Studentenrevolte in Trient teilzunehmen (vgl. Schneider, 2008: 309), und, nachdem er 1969 nach Berlin zurückgekehrt war, beteiligte er sich an Arbeitsgruppen, die die Arbeiterklasse mithilfe der Veränderungsideale der Studentenbewegung zu mobilisieren versuchten. 15 82 2 Darstellung der Prosawerke 16 1967 war Uwe Timm in Paris, um seine Doktorarbeit Das Problem der Absurdität bei Albert Camus zu schreiben. Während dieses Aufenthalts erfährt er vom Tod Benno Ohnesorgs, den er persönlich kannte und mit dem er im Gymnasium eine gemeinsame Leidenschaft für die Literatur teilte. An die Tötung Benno Ohnesorgs wird verschiedentlich im Werk Timms erinnert (vgl. Nicklas, 2015: 131 f.). 17 Nach der Auflösung des SDS und dem Ende der Studentenbewegung publizierte Uwe Timm den Gedichtband Widersprüche (1971). Dieses Werk befindet sich im Einverständnis mit der soziokulturellen Wendezeit, auf die es sich bezieht. Zu Beginn der 1970er-Jahre nähert sich Timm auch den revolutionären Ideen der neu gegründeten Deutschen Kommunistischen Partei an. Die DKP verteidigte nicht nur die Interessen der Arbeiterklasse und die Schaffung einer sozial gerechten Gesellschaft, sondern verkündete auch das Literaturprogramm des »politischen Realismus«, das der Literatur eine politische Funktion - verbunden mit sozialem Engagement - zuschrieb (vgl. Talarczyk, 1988: 157). Seine Erfahrung der Studentenbewegung machte Uwe Timm nicht in Berlin, sondern hauptsächlich in München, wo er sich 1963 für Germanistik und Phi‐ losophie einschrieb. Wie viele andere jener Zeit kam er Ende der 1960er-Jahre in Kontakt mit den akademischen Unruhen in den Universitäten. Seine Erfahrung als Promotionsstudent an der Sorbonne noch vor dem Ausbruch des Mai 68 in Frankreich, wo er seine Doktorarbeit voranbrachte, machte ihn vertraut mit Themen wie dem Vietnamkrieg, der Lage in der sogenannten Dritten Welt und den Protesten gegen das kapitalistische System, die die internationale Studen‐ tenbewegung kennzeichneten (vgl. Timm, 2007: 109). Aber es war vor allem nach dem Tod Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 und der daraus resultierenden Protestwelle, die die Bundesrepublik erfasste, dass Uwe Timm für die Ideale des antiautoritären Kampfes entbrannte. 16 Nach diesem einschneidenden Ereignis in seinem Leben beschließt er, in den SDS einzutreten, und schon in München entscheidet er sich dazu, Flugblätter zu verfassen, Teach-ins zu organisieren und an Fakultätsbesetzungen und Demonstrationen teilzunehmen (vgl. Hielscher, 2007: 64). Das Ziel, den Status quo zu verändern und die Menschen zu mobi‐ lisieren, das Uwe Timm im Protestimpetus seiner Generation fand, brachte ihn auch dazu, Straßentheaterstücke zu organisieren und Protestgedichte zu schreiben (vgl. Kraft, 1993: 1086). Auf diese Weise vertiefte er seinen Glauben an die gesellschaftsverändernde Rolle der Literatur und an die Wichtigkeit des politisch engagierten Schriftstellers (vgl. Bullivant, 1989: 35). 17 Die Bedeutung des Erlebnisses des Aufruhrs von 1968 für Peter Schneider und Uwe Timm zeigte sich nicht nur in den Erstlingswerken, sondern blieb auch lebenslang in ihren anderen Romanen und Texten sichtbar. Nach dem Erfolg von Lenz (1973) erregte Schneider Aufsehen mit …schon bist du ein Verfassungsfeind (1975), einer Erzählung, die ein akutes und für viele der 1968er-Generation bekanntes Thema behandelte: die Frustration derjenigen, denen aufgrund ihrer 83 2.1 Lenz von Peter Schneider und Heißer Sommer von Uwe Timm 18 Peter Schneider konzentriert sich in diesem von einer dokumentarischen und autobio‐ graphischen Vorlage inspirierten Roman (vgl. Platen, 2006: 47) auf einen jungen Lehrer, der in den Schuldienst möchte. An seinem Beispiel zeigt er die politischen und sozialen Auswirkungen, die durch den Radikalenerlass entstanden - ein Gesetz, das 1972 in Kraft trat und dem Staat die Macht gab, Bewerber nicht einzustellen und nicht zu verbeamten, die in der Studentenbewegung politisch aktiv waren oder linksextreme Ansichten vertraten (vgl. Scott Brown, 2013: 350 f.). 19 Jenseits der Fiktion veröffentlichte Peter Schneider 2008 Rebellion und Wahn - ein Text, in dem seine persönlichen Erinnerungen an den antiautoritären Kampf in der Bundes‐ republik der 1960er-Jahre vorkommen. 2020 erschien die Essaysammlung Denken mit dem eigenen Kopf, in der nicht die 1968er-Bewegung direkt, aber andere Probleme der Gegenwart (seit dem Fall der Berliner Mauer) thematisiert werden. 20 Die Frage nach einer besseren Gesellschaft beschäftigt den Autor noch heute. 2020 veröffentlichte Timm noch eine Sammlung von Betrachtungen und Erzählungen, die dem utopischen Gedanken verpflichtet sind: Der Verrückte in den Dünen. Über Utopie und Literatur. 21 Für Petra Platen, Autorin von Zwischen Dableiben und Verschwinden: Zur Kontinuität im Werk von Peter Schneider (2006), sind die »Aktualitätssucht«, »das Verhältnis zwischen Vergangenheit als Aktivisten die Aufnahme ins Beamtenverhältnis per Gesetz verboten wurde. 18 Später in Paarungen (1992) thematisiert er die Beziehungs‐ probleme der inzwischen 50-Jährigen der Studentenbewegung und in Eduards Heimkehr (1999) beschäftigt er sich mit den Leitlinien der Studentenrevolte anhand eines ehemaligen 1968er-Aktivisten, der seine alten Überzeugungen der letzten Phase der 1960er-Jahre überprüft, als er sich in einem wiedervereinten Berlin mit dem Erbe des Nationalsozialismus auseinandersetzt (vgl. Rinner, 2013: 45). 19 Bei Uwe Timm tauchen die historischen Ereignisse der 1968er-Generation regelmäßig auf: In Kerbels Flucht (1980), wo das Scheitern der Utopien von 1968 problematisiert wird, danach in Rot (2001) und in Freitisch (2011), zwei Werken, die den Hoffnungsvollen und Desillusionierten der Studentenbewe‐ gung Ausdruck geben - dies geschieht in einer Retrospektive ehemaliger Protestler, die in die Jahre gekommen sind. Ein weiteres wichtiges Zeugnis ist die autobiographische Erzählung Der Freund und der Fremde (2005), in der, ausgehend von den Erinnerungen Uwe Timms und seines Freundes Benno Ohnesorg aus der Jugend- und Studentenzeit, ein Bild der 1968er-Bewegung in der Bundesrepublik und in Frankreich gezeichnet wird (vgl. Nicklas, 2015: 81). 20 Lenz und Heißer Sommer konzentrieren sich auf die utopischen Hoffnungen und auf die Erfahrungen der Enttäuschung oder Desillusionierung, die eine ganze Generation kennzeichnen. Beide Texte prägen die literarische Laufbahn beider Autoren, die sich durch ein akzentuiertes geschichtliches Bewusstsein, eine intensive Sozialkritik und die Neubetrachtung der Vergangenheit als Infra‐ gestellung des Verhaltens der jungen Generation am Ende der 1960er-Jahre cha‐ rakterisieren lässt. 21 Dieses Interesse für die verschiedenen Wertvorstellungen 84 2 Darstellung der Prosawerke Individuum und Gesellschaft« und die Neubetrachtung der geschichtlichen Ereignisse mit kritischem und zeitgenössischem Blick Leitlinien, die sich durch das gesamte Werk Schneiders ziehen (vgl. Platen, 2006: 21). In fast identischer Art und Weise erläutert Kerstin Germer in (Ent-)Mythologisierung deutscher Geschichte: Uwe Timms narrative Ästhetik (2012), dass das komplette Werk Timms von seinem historischen Bewusstsein bestimmt wird. Dieses Bewusstsein ist die Grundlage eines Werkes, in dem unterschiedliche Mythen und zentrale Fragen der deutschen Geschichte auftauchen und immer kritisch und reflektierend behandelt werden (vgl. Germer, 2012: 12 f.). 22 Rolf Hosfeld und Helmut Peitsch kommentieren: »Kunstvoll wird die Historizität des Stoffes aufgelöst. Der personale Erzählwinkel, dem das ›er‹ mit seinem Sehen, Fühlen der Protestkultur zusammen mit einer ständigen Reflexion machen Schneider und Timm zu Autoren der 1968er-Generation par excellence. Beide machten aus der Studentenbewegung eine Art Leitmotiv ihrer literarischen Produktion (vgl. Durzak, 2006: 603) und erreichten schon in ihren Erstlingswerken eine problematisierende und in Frage stellende Darstellung der Studentenbewegung auf ihrem Höhepunkt. 2.1.2 Erzählstrategien Eingerahmt von der »Neuen Subjektivität« der 1970er-Jahre sind Lenz und Heiβer Sommer zwei Werke, die ähnliche narratologische Optionen wählen. Sie tragen gemeinsame Züge einer literarischen Strömung, die sich durch die Vor‐ herrschaft des Ich-Gefühls, durch die subjektive Verarbeitung der alltäglichen Erfahrungen und durch die Selbstbestimmung auszeichnet (vgl. Meid, 2004: 486). Es ist besonders der individuelle, nach innen gerichtete Blick auf die histori‐ sche Aktualität jener bewegten Zeit, die Lenz zu einem der Schlüsselwerke der »Neuen Subjektivität« macht (vgl. Platen, 2006: 28): Man feierte den »Lenz« als literarischen Fürsprecher einer Neuorientierung, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den verhärteten Kurs der linken Kadergruppen zu korrigieren und die Bewegung wieder an ihre ursprüngliche Idee, die Verbindung von Politik und Sensibilität, zu erinnern. Für die Literaturkritik ist denn der »Lenz« auch der literarische Markstein eines Umdenkens innerhalb der Bewegung, nicht nur was das inhaltliche Bekenntnis, sondern auch, was die literarische Darstellung betrifft. (Prinz, 1990: 213) Als Eine Erzählung betitelt, ähnelt Lenz einer Chronik ohne konkrete Datumsan‐ gaben. Die Eintragungen scheinen nicht nur die Erlebnisse des Protagonisten in der unmittelbaren Zeit nach der Hauptphase der 1968er-Revolte, sondern auch auf eine intime und persönliche Weise seine Überlegungen und Beunruhigungen darzustellen. 22 Interessanterweise ist Lenz dennoch keine autobiographische 85 2.1 Lenz von Peter Schneider und Heißer Sommer von Uwe Timm und Denken zum Zentrum der Wirklichkeitserfassung wird, die kapitellose Aufeinan‐ derfolge von Absätzen mit jeweils allgemeinsten, stereotypen zeitlichen Fixierungen wie ›An einem anderen Tage‹ […] sowie das Ritual der Parataxe lassen aus dem Blick des Lesers verschwinden, daß die Entwicklung einer Figur im Übergang von der antiautoritären zur organisierten Phase der Studentenbewegung erzählt wird […]« (Hosfeld/ Peitsch, 1978: 108 f.). 23 Paradigmatische Texte der »Neuen Subjektivität« wie Klassenliebe (1973) von Karin Struck, Die erdabgewandte Seite der Geschichte (1976) von Nicolas Born und Die Reise (1977) von Bernward Vesper haben alle einen autodiegetischen Erzähler. 24 Laut der Definition von Stanzel ist eine »Reflektorfigur«: »Eine Romanfigur, die denkt, fühlt, wahrnimmt, aber nicht wie ein Erzähler zum Leser spricht. Hier blickt der Leser mit den Augen dieser Reflektorfigur auf die anderen Charaktere der Erzählung. Weil nicht ›erzählt‹ wird, entsteht in diesem Fall der Eindruck der Unmittelbarkeit der Darstellung« (Stanzel, 2008: 16). 25 Martin Hielscher schreibt in der Biographie Uwe Timms, dass der Autor den Roman in der ersten Person begann. Erst später, als er schon 130 Seiten geschrieben hatte (vgl. Hielscher, 2007: 75), und nach einem Vorschlag von seinem Freund und Kollegen in der AutorenEdition Gerd Fuchs wechselte Timm zur Erzählung in der dritten Person. Erzählung - so wie viele andere Werke der »Neuen Subjektivität«, in denen in der ersten Person erzählt wird. 23 Entsprechend der Terminologie von Franz Stanzel gibt es in Lenz eine Er-Erzählsituation, in der der Protagonist nah an der Rolle einer »Reflektorfigur« ist (Stanzel, 2008: 16). 24 Alle Ereignisse der Erzählung werden durch die Wahrnehmung von Lenz gefiltert und nur das, was der Protagonist weiß, erlebt und denkt, wird bekannt gegeben. Zu dieser Nähe zwischen dem Erzähler und dem Protagonisten trägt die erlebte Rede bei: »Die Erzählung ist in erlebter Rede von einem Erzähler erzählt, der sehr selten den Blickwinkel des Protagonisten überschreitet« (Platen, 2006: 42). Auch in Heißer Sommer verknüpfen sich die Zeichen der zeithistorischen Wirklichkeit der 1968er-Revolte mit den für die »Neue Subjektivität« kenn‐ zeichnenden Zügen: Trotz der Nähe des Romans zum […] Konzept des politischen Realismus, gibt es auch in Heißer Sommer eben jene poetischen Durchschüsse, die auf eine subjektive Erfahrungsebene jenseits des ideologischen Überbaus verweisen. (Fuchs, 2003: 229) So wie in Lenz entsteht diese subjektive Darstellung der Erlebnisse der Studen‐ tenbewegung in Heißer Sommer durch die Er-Erzählsituation, in der der Erzähler zurücktritt. Nach einem ersten Versuch, den Roman in der Ich-Erzählsituation zu verfassen, wählte Uwe Timm eine andere narrative Perspektive, die sich nah am autodiegetischen Fokus befindet. Darin übernimmt der Protagonist die Funktion des »Reflektors« (Stanzel, 2008: 16) und der Leser sieht die Welt durch Ullrichs Augen. 25 In Heißer Sommer dominiert die Darstellung (nach Stanzel) und der Erzähler beschränkt sich darauf, die Narrative zu organisieren, und verzichtet 86 2 Darstellung der Prosawerke auf wertende oder reflektierende Interventionen. Diese Unmittelbarkeit des Erzählten trägt dazu bei, die Zeichen von einer Vermittlung seitens des Erzählers zu mindern. Im Verlauf des Romans folgt der Erzähler nicht nur anderthalb Jahren von Ullrichs Lebenslauf, sondern er begleitet auch die Überlegungen des Protago‐ nisten über das, was passierte, und das, was er erlebte. Die Erinnerungen Ullrichs an seine Erlebnisse während der Studentenbewegung ebenso wie jene der Kindheit und Jugendzeit werden mithilfe von Analepsen vorgestellt, die direkt vom Protagonisten abhängen. Diese Analepsen ermöglichen die Darstellung einer individualisierten Perspektive der Zeit des Umbruchs 1968, da sie Ullrichs Anstrengungen bei seiner Identitätsfindung zeigen. Diese Identitätsfindung und die Suche nach emotionaler Reife beider Prot‐ agonisten in bewegten Zeiten - einer Reife, die ihnen zu mehr Gelassenheit im Rahmen der von ihnen gemachten Erfahrungen während der Studentenrevolte (und danach) verhilft - sind ein Zeichen der Interdependenz zwischen dem Psychologischen und dem Politischen, die Peter Schneiders und Uwe Timms Werke charakterisiert. Sowohl Ullrichs als auch Lenzʼ Handeln wird nicht nur durch die historischen Ereignisse geprägt, sondern beide Protagonisten werden auch durch ihre introspektive Haltung und ihre Reflexionen, durch ihre emotionale Unzufriedenheit gestaltet, die sie antreibt und wachsen lässt. Wie im Folgenden dargestellt wird, versuchen beide, in Zeiten von Tumult und Agitation sowohl im Rahmen des politischen Aktivismus als auch der sexuellen Revolution und des Sittenwandels ihr Gleichgewicht und innere Ruhe zu finden. 2.1.3 Ereignisse der Studentenrevolte in Lenz und in Heißer Sommer Nach der Regierungsübernahme durch Kurt Georg Kiesinger und dem Beginn der »Großen Koalition« aus CDU/ CSU und SPD erlebte die Bundesrepublik die Entstehung eines ausdrücklichen soziopolitischen Widerstands. Während 1967 und 1968 traten viele Studenten in den Sozialistischen Deutschen Studenten‐ bund (SDS) ein und engagierten sich in der Außerparlamentarischen Opposition (APO). Viele nahmen an Demonstrationen und Protestaktionen teil, um eine Veränderung der Universitäten und der Gesellschaft zu erreichen. Ereignisse wie die Tötung Benno Ohnesorgs oder das Attentat auf Rudi Dutschke waren nicht nur entscheidend für die Verstärkung der Proteste, sondern wurden auch als Symbole jener Zeit der Mobilisierung der jungen Generation betrachtet (vgl. Rinner, 2013: 2). Ende 1968 und Anfang 1969 verließ dennoch die Studentenbe‐ wegung die universitären Bühnen und die Straßen der großen Städte und erlebte 87 2.1 Lenz von Peter Schneider und Heißer Sommer von Uwe Timm 26 Karl-Heinz Götze hebt im Aufsatz »Gedächtnis. Romane über die Studentenbewe‐ gung« (1981) die Komplementarität der beiden Werke hervor und erwähnt, dass der Roman von Uwe Timm sich mit der »aktionistischen« Phase der Revolte beschäftigt, d. h. mit den euphorischen Momenten der großen Erfolge der Studenten und dem darauffolgenden Versuch, sich zusammen mit der Arbeiterbewegung weiter zu ent‐ wickeln. Lenz hingegen geht über die utopischen Illusionen der Studentenbewegung hinaus: Die Erzählung hinterfragt nicht nur die ideologischen Annahmen, die der Revolte zugrunde liegen, sondern stellt auch Reflexionen über die Ergebnisse der 1968er-Bewegung, in individueller und kollektiver Hinsicht, in den Vordergrund (vgl. Götze, 1981: 379). zunehmend Gegenwind gegen den antiautoritären Kampf und eine kollektive Enttäuschung jener politischen Ideale, die sie vorher inspiriert hatten. Diese Zeit der Entstehung, des Aufstiegs und des Abflauens der Unruhen der 1960er-Jahre bildet den geschichtlichen Hintergrund dieser zwei Werke der literarisierten Revolte in der Bundesrepublik. In Heißer Sommer tauchen die historischen Momente der Studentenbewegung in ihrer Blütezeit von 1967 und 1968 auf. Lenz zeigt die Nachwirkungen der Euphorie in einem Kontext von individuellen und kollektiven Unsicherheiten und Zweifeln am Erfolg der Revolte und an den von den radikalen Studenten postulierten Alternativen, um den Kampf für die Ideale der jungen Generation fortzuführen. 26 Während beide Werke Geschichte und Fiktion verknüpfen, ergänzen sie also einander in der chronologischen Darstellung der historischen Episoden der akademi‐ schen und soziokulturellen Unruhen. So beschreiben sie die Entwicklung der jeweiligen Protagonisten während dieser Zeitphase und wie diese den unter‐ schiedlichen Herausforderungen der Studentenbewegung begegnen. Obwohl Lenz ein Jahr vor Heißer Sommer erschien, soll hier zunächst der Roman von Uwe Timm dargestellt werden - auf diese Weise wird die chronologische Abfolge der historischen Zeit der zwei Werke respektiert. Dabei wird die Laufbahn jedes Protagonisten im Laufe der Ereignisse der 1968er-Bewegung hervorgehoben. Die Handlung von Heißer Sommer beginnt im Sommer 1967 und verläuft bis Anfang 1969 parallel zu dem Weg des Aufruhrs und der Tumulte der bundes‐ deutschen Studentenbewegung, gesehen durch die Augen des Protagonisten. Entlang der drei Teile, in welche der Roman aufgeteilt ist, werden etwa andert‐ halb Jahre des Lebens von Ullrich Krause begleitet: ein Germanistikstudent fast am Ende seines Studiums, der sich in persönlicher wie akademischer Hinsicht in einer schwierigen Phase befindet. Während dieser Zeit lässt er sich von der Faszination für die Studentenrevolte, vom Gefühl universitärer Solidarität und von der kollektiven politischen Mobilisierung Ende der 1960er-Jahre zunächst in München und dann in Hamburg anstecken. 88 2 Darstellung der Prosawerke 27 Im ersten Teil des Romans zweifelt der Protagonist ständig an seinem Studium und seiner beruflichen Zukunft. Die zögernde Antwort, die Ullrich auf die Frage des Druckers Wolfgang »Und wozu ist so ein Referat gut […]« (HS: 30) gibt oder das plötzliche Desinteresse an der Lehrerlaufbahn (vgl. HS: 55), die er angestrebt hatte, sind zwei der Beispiele, die diese Unruhe deutlich belegen. 28 Über die Bedeutung dieser Episode der Studentenrevolte für die politische Lehrzeit Ullrichs schreibt Martin Hubert: »Die lang unterdrückte, unterschwellige Wut auf die Autoritäten, die repressiven Institutionen und sein nutzloses, sinnloses Dasein kommt dann plötzlich bei der Nachricht von der Erschießung Ohnesorgs zum Durchbruch und führt zu einer spontanen, emotional motivierten Politisierung Ullrichs« (Hubert, 1992: 332). 29 Von dem zunehmenden Interesse Ullrichs für die Gründe des Sommers 1967, die zur Studentenbewegung führten, zeugen die begeisterte Lektüre von Persien, Modell eines Entwicklungslandes (vgl. HS: 59 f.) und die Kommentare hinsichtlich der fehlenden Meinungsfreiheit und der diktatorischen Repression in Persien. Dazu kommen die internationalen Nachrichten besonders über die US-amerikanische Intervention in Vietnam. 30 Laut Sabine Weisz, mit deren Meinung ich einverstanden bin, enthält der Titel des Romans zeitgeschichtliche Resonanz, die die entscheidende Bedeutung des Todes von Benno Ohnesorg für die Studentenbewegung zeigt: »Der Titel Heißer Sommer bezieht sich in erster Linie auf die Geschehnisse, die im Sommer 1967 mit dem Tod von Benno Diese Umbruchsphase des Protagonisten zeigt sich deutlich gleich im Sommer 1967 und wird durch zwei Gründe verursacht. Einerseits macht die Beziehung mit seiner Freundin Ingeborg eine Zeit der Unsicherheit und Krise durch. Andererseits spürt er keine Motivation, seine Abschlussarbeit an der Universität in München zu schreiben und sein Studium abzuschließen. 27 In dem Maße, wie die Zeit vergeht - und Ullrich Entscheidungen verschiebt, die diese Situationen lösen würden -, merkt er, dass seine individuellen Beun‐ ruhigungen die einzelne Person überschreiten und sich mit der politischen Realität verbinden. Insbesondere ist es die Nachricht vom Tod Benno Ohnesorgs anlässlich des Schahbesuches in Berlin, die das politische Bewusstsein des Protagonisten weckt. Die Gewalt und die Brutalität, mit der die Polizei gegen Demonstranten vorging, bewegt ihn dazu, an einer Demonstration gegen die angebliche Tötung des jungen Mannes teilzunehmen, die einige Tage später in München stattfindet. 28 Obwohl er sich empört und wütend fühlt, erlebt Ullrich auf dieser Demonstration Freude und Begeisterung für das Gefühl der Gemeinschaft unter den Teilnehmern (vgl. HS: 61). Diese Zugehörigkeit zu einer Gruppe fasziniert ihn und so wächst sein Interesse für die Studentenbewegung und er lässt sich allmählich von der Protestwelle mitreißen. 29 Tatsächlich ist es der Tod Ohnesorgs, mit dem der »heiße Sommer« beginnt: Die Stimmung an den Hochschulen heizt sich auf und der Protest der Studenten bekommt eine nationale Dimension. 30 Ullrich spürt, dass es notwendig ist, 89 2.1 Lenz von Peter Schneider und Heißer Sommer von Uwe Timm Ohnesorg einen Höhepunkt gefunden hatten. Es ging ›heiß her‹ an den Universitäten und unter den Studenten. Ein gesellschaftliches ›Brodeln‹ war deutlich spürbar, bevor dieses auf verschiedene Weise zum Ausbruch kam« (Weisz, 2009: 41). 31 In dieser Widerstandsphase sollen der Wunsch des Protagonisten, die nationalso‐ zialistische Vergangenheit aufzuarbeiten, sowie sein Wille hervorgehoben werden, die Elterngeneration und die Professoren zu ihrer Haltung im Dritten Reich zu befragen. Diese Aspekte, die in Heißer Sommer auftauchen und ein wichtiger Teil des politischen Aktivismus von Ullrich und einiger Mitglieder seiner Generation sind, werden im dritten Kapitel ausführlich analysiert (siehe Kapitel 3.2.1). gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit anzugehen. Dabei öffnet er sich den Vorschlägen des alternativen Widerstands der jungen Aktivisten, die die Wertvorstellungen und Prinzipien des Establishments in Frage stellen und die von ihnen als apathisch wahrgenommene Gesellschaft, in der sie aufwuchsen, aufrütteln wollen: »Man muß etwas tun. Man muß etwas machen. Dieser Kurras, sagte Ullrich, dieses Schwein, nicht, der schießt einen Demonstranten nieder, und was passiert? Nichts, absolut nichts« (ebd.: 97). In diesem Kontext zunehmender kollektiver Empörung innerhalb der jungen Generation geht die politische Bewusstwerdung des Protagonisten weiter: Nach München setzt er sein Studium an der Universität Hamburg fort und engagiert sich in der 1968er-Studentenbewegung. Ullrich nimmt regelmäßig an Diskussionen und Debatten teil (vgl. ebd.: 138-145) und lässt sich von der euphorischen Rhetorik von Conny, Petersen und anderen Stu‐ dentenführern des SDS überzeugen. Sie rufen die Studenten dazu auf, nicht nur an der Veränderung des akademischen Systems mitzuwirken, sondern auch an dem radikalen Wandel der konservativen Gesellschaft. Von dieser Utopie inspiriert, beteiligt sich der Protagonist an den Protestaktionen des SDS gegen Kapitalismus, gegen autoritäre Regime in Ländern der sogenannten Dritten Welt und gegen den Krieg in Vietnam. Außerdem setzt er sich zusammen mit seinen Freunden für den Kampf gegen die Autoritätspersonen ein. Dabei rebelliert er gegen die unantastbare Macht der Professoren, streitet mit dem unnachgiebigen Vater zu Hause und versucht selbst, die Polizei herauszufordern. 31 Diese Phase von Ullrichs Engagement in der Studentenbe‐ wegung erreicht ihren Höhepunkt, als im April 1968 ein Attentat auf Rudi Dutschke verübt wird. Daran schließt sich eine große Demonstration vor dem Springerverlag in Hamburg an, der im Roman die Diffamierung der Studenten in der Öffentlichkeit symbolisiert. Während dieser Ereignisse fühlt Ullrich, dass er und seine Freunde Geschichte schreiben und auf diese Weise die ersehnte Revolution starten können: 90 2 Darstellung der Prosawerke 32 Die Demonstrationen gegen die Notstandsgesetze, die internationalen Ereignissen um den Mai 68 und der mögliche politische Aufbruch im Ostblock (der sogenannte »Prager Frühling«) sind einige der historischen Ereignisse, die während April und Mai 1968 stattfanden und für die Studentenbewegung in der Bundesrepublik von großer Bedeutung waren (vgl. Kraushaar, 1998: 319). Er hatte [die Menschen] untergehakt, er konnte lachen und reden mit ihnen, als kennten sie sich schon lange. Was er fühlt, ist eine Freude, die über ihn hinausgeht, die ihm ein Gefühl der Weite und Stärke gibt. Eine Freude, die vom Haß getragen wird, ein Haß, der verändert. […] Menschen, die am Straßenrand stehen, reihen sich ein. Solidarisieren, mitmarschieren. Sie sind eine Kraft geworden. Sichtbar. Hörbar. […] Etwas ist anders geworden, denkt Ullrich, etwas ist neu. Etwas, das alle betrifft. (HS: 217; Hervorhebung im Original) So wie die Studentenbewegung historisch ihren geschichtlichen und politischen Höhepunkt im April und Mai 1968 erreichte 32 und dann allmählich nachließ, so erreicht auch Ullrichs Teilhabe an den studentischen Protestaktionen in der Erzählwelt eine neue Phase, in der er sich mehr auf die Arbeiterbewegung konzentriert. Entschlossen für eine über das akademische Milieu hinausgehende proletarische Revolution zu kämpfen, nimmt er nicht mehr nur an Demonstra‐ tionen teil, sondern organisiert auch Straßentheater. Auf diese Weise versucht er, die Arbeiterschaft für die notwendigen Veränderungen zu sensibilisieren und so eine gerechtere und würdigere Gesellschaft zu schaffen. Aufgrund seiner Un‐ zufriedenheit mit der leeren Rhetorik der Diskussionen über die Anwendbarkeit der linken Theorien auf das Alltagsleben entscheidet er sich auch, in einer Fabrik zu arbeiten, wo er Kontakt mit Arbeitern, Gewerkschaftern und Mitgliedern der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) hat. Dadurch glaubt er, eine praktische Umsetzung seines Wunsches nach einem soziopolitischen Wandel realisieren zu können. In dieser Phase entdeckt der Protagonist von Heißer Sommer seine Berufung zum Lehrer. Sie wird durch die Vorstellung bestärkt, den Kindern der Fabrikarbeiter bei der Gestaltung eines besseren Lebens zu helfen (vgl. HS: 327). Die Suche nach einem Lebensweg nach der Euphorie von 1968 ist ein Identitätszeichen der jungen Generation, die die hitzige Phase der Jugendrevolte in der Bundesrepublik intensiv lebt (vgl. Hubert, 1992: 128). Sie fragt sich in der Nachwirkung dieser Erfahrung nicht nur, welche Rolle die jungen Menschen in der Gesellschaft spielen sollen, sondern überdenkt auch die individuellen und kollektiven Verfahrensweisen, die zur Gesellschaftsveränderung beitragen 91 2.1 Lenz von Peter Schneider und Heißer Sommer von Uwe Timm 33 Alois Prinz schreibt: »Lenzʼ Krise fängt dort an, wo Ullrichs Krise endet« (Prinz, 1990: 222). Martin Hubert bestätigt ebenfalls die Analyse von Karl-Heinz Götze über die ver‐ schiedenen Phasen der Jugendrevolte am Ende der 1960er-Jahre (siehe Fn. 26 im Kapitel 2.1.3) und erwähnt, dass Lenz in der späteren Phase der Studentenbewegung anzusie‐ deln sei. Diese Phase heißt »Organisationsphase« und wird von »Übertheoretisierung, Organisationsfetischismus und einer eindimensional-funktionalen Orientierung an der Arbeiterklasse geprägt […]« (Hubert, 1992: 310; Hervorhebung im Original). 34 Obwohl es keinen expliziten Hinweis auf die Erzählzeit gibt, weist vieles darauf hin, dass die Handlung noch im Jahre 1968 spielt: Sie beginnt etwa Mitte dieses Jahres und reicht bis zum Oktober (vgl. Platen, 2006: 23). Zusammen mit den anfänglichen Anspielungen auf eine mögliche Frühlingszeit (vgl. L: 8) kann auch die Desillusion des Protagonisten ein Indiz für eine neue Phase der Studentenbewegung sein: Diese neue Phase beginnt nach dem Attentatsversuch auf Rudi Dutschke, der der letzte Meilenstein der heißen Zeit der 1968er-Revolte ist (vgl. Rinner, 2013: 2). Auch der Hinweis auf die Bomben in Mailand (vgl. L: 83 f.) und die Teilnahme des Protagonisten an der Hochphase der akademischen Revolte in Trient bekräftigen die These, dass die Handlung 1968 spielt. 35 Ein Beleg für Lenz’ Entfremdung von den kollektiven Protestaktionen findet sich am Beginn der Erzählung: Der Protagonist weigert sich, an einer Demonstration teilzunehmen, zu deren Organisation er beigetragen hatte und für die er Flugblätter geschrieben und verteilt hatte. Einer von seinen Freunden kommentiert: »Dieter […] erkenne Lenz nicht mehr wieder, schon seit einiger Zeit sei ihm aufgefallen, daß Lenz sich absondere« (L: 11). können. Gekennzeichnet von Zweifeln an dem Erfolg der 1968er-Revolte und von der Unsicherheit über den politischen, sozialen und kulturellen Einfluss der studentischen Protestaktionen, ist es diese weniger enthusiastische und nachdenklichere Phase der Studentenbewegung, die den Hintergrund von Lenz darstellt. 33 In der Erzählung werden die Erlebnisse des Protagonisten geschildert, eines jungen Intellektuellen, der dem studentischen Milieu nahesteht und der sich nach dem politischen Aufruhr in Westberlin von der Revolte enttäuscht fühlt, weil er die Leidenschaft und die Begeisterung, die ihn früher bewegten, nicht mehr spüren kann. 34 Während der Blüte der 1968er-Bewegung war Lenz ein begeisterter Anhänger der Ideale, die von den revolutionären Studenten ver‐ treten wurden. Dabei hatte er an vorderster Front gekämpft, an Demonstra‐ tionen teilgenommen und die Polizei herausgefordert (vgl. L: 30). Dennoch, als die Studentenbewegung für ihn an Reiz verliert, versteckt der Protagonist weder seine Enttäuschung über die kollektiven Aktionen der Revolte noch seinen Willen, die sozialen Verbindungen zu kappen, die ihn an das radikale Engagement banden. Er sucht im Gegenteil einen Weg, der seinem Leben besonders im persönlichen Bereich Sinn gibt. 35 So nimmt Lenz im ersten Teil der Erzählung eine Vollzeitarbeit in einer Elektrofirma an. Dort insistiert er darauf, am Fließband mit denen, die diese monotone und schlecht bezahlte 92 2 Darstellung der Prosawerke 36 Die Verwirrung des Protagonisten - sowohl politisch als auch emotional - und seine ständige Unsicherheit bei der Wahrnehmung der Realität sind die Hauptberührungs‐ punkte, die den Protagonisten bei Peter Schneider und den Lenz in der Erzählung von Georg Büchner verbinden (vgl. Riordan/ Williams, 1995: 26). Büchners Erzählung befasst sich mit einem kritischen Moment im Leben des Sturm-und-Drang-Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz. Trotz der Ähnlichkeiten der zwei Protagonisten und der intertextuellen Verbindungen - auch hinsichtlich einiger narratologischer Ansätze - wird in dieser Arbeit keine vergleichende Analyse der zwei Texte erfolgen, zumal es schon einige Forschungsbeiträge dazu gibt. Vgl. »Zerrissenheit als Geschichtserfah‐ rung. Überlegungen zu Georg Büchners ›Lenz‹, einer Erzählung von Peter Schneider und einem Roman von Nicolas Born« (1984) von Irmela Schneider, »Systematische Innerlichkeit: Überlegungen zu Georg Büchners und Peter Schneiders ›Lenz‹« (1984) von Maximilian Aue und »›Auf dem Kopf gehen‹: Peter Schneiders Lektüre von Büchners Lenz vor dem Horizont der Literatur der deutschen Studentenbewegung« (2017) von Jennifer Clare. 37 Über die Gründe der Distanzierung von Lenz und seine Enttäuschung gegenüber seinem Umfeld schreibt Markus Meik: »Der erste Teil des Buches lebt von dieser Parallelität eines mißtrauisch wahrgenommenen (und gelebten) ›linken‹ Alltages und den vergeblichen Versuchen, im politisch-gesellschaftlichen Bereich etwas zu bewirken. […] Das Auseinandertreten von Wörtern, theoretischen Begriffen und lebendigen, alltäglichen Erfahrungen zeigt sich ihm gerade bei den Versuchen, Politik in der 1. Person umzusetzen: sowohl Betriebsgruppenarbeit als auch Demonstrationen belegen diese Diskrepanz zwischen sinnlicher Erfahrung und theoretischer Arbeit« (Meik, 1997: 19). Arbeit machen, zu arbeiten: »Er sei Student […], er arbeite hier, um die Lage der Arbeiter kennenzulernen« (L: 27). Als er jedoch feststellt, dass diese Form der Annäherung an die Arbeiterklasse nicht gelingt, weder um den erwünschten soziopolitischen Wandel in die Realität umzusetzen, noch um seine eigene Rolle in der Gesellschaft zu finden, versinkt Lenz in einer Spirale aus Zweifeln und Unsicherheiten. 36 Die fehlende Überzeugung bei einer Demonstration gegen die griechische Diktatur (vgl. L: 30 f.), die kritische und distanzierte Haltung in den Betriebsgruppen, in denen er sowohl am Sinn der Lektüre von Mao Tse-tungs Schriften als auch an dem von den theoretischen Erörterungen zweifelt (vgl. ebd.: 36-38), und auch die Verachtung der Kultur des Scheins bei den sozialen Treffen, die von Linksintel‐ lektuellen organisiert wurden, sind Episoden, die die Krise des Protagonisten enthüllen. Außerdem unterstreichen sie auch seinen Wunsch, sich von dieser überpolitisierten Szene, die ihn umgibt, zu distanzieren. 37 Aufgrund dieses existentiellen Unbehagens und wegen einer Verwirrung in seinem Liebesleben trifft Lenz eine radikale Entscheidung: Kurz vor dem Sommer gibt er seinen Arbeitsplatz in der Fabrik auf und reist ohne Rückfahrkarte nach Rom. In der ersten Zeit in der italienischen Hauptstadt erlebt Lenz eine Phase des Hin und Her, die von seinem Wunsch, an nichts zu denken, sich ganz 93 2.1 Lenz von Peter Schneider und Heißer Sommer von Uwe Timm 38 In dieser Phase seiner Selbstfindung in Rom beginnt Lenz einen Prozess der Erinnerung an die kollektive Vergangenheit - ein Prozess, der ihn sehr überrascht, aber der ihn sicherer in seiner Anpassung an die Gegenwart macht (vgl. L: 86). Lenz unternimmt diese Anstrengung mit dem Ziel, seine Kindheitserinnerungen zu interpretieren. Diese sind mit den Bombenabwürfen im Zweiten Weltkrieg auf Deutschland verbunden. Auch die Erkenntnis über den bestehenden Kontrast zwischen der problemlosen Vergangenheitsverarbeitung der Italiener und der fehlenden der Deutschen gehört zu diesem Prozess, der zugleich den Wunsch der jungen Generation ausdrückt, die verschwiegene traumatische Vergangenheit zu bewältigen. Dieser Aspekt wird im dritten Kapitel behandelt (siehe Kapitel 3.2.1). dem Erleben der Gefühle des Augenblicks hinzugeben, geprägt wird. Zugleich macht er sich Gedanken über die Unfähigkeit, eine Antwort auf die Frage zu finden: »Was wollte er hier, wie war er hierhergeraten? « (L: 69). Danach nimmt er wieder Kontakt zu Pierra auf, einer jungen Schauspielerin, die er vor einiger Zeit in Berlin kennengelernt hatte. Während dieser Reflexionsphase des Protagonisten bezüglich seines Lebensweges zeigt sich Pierra bereit, ihm bei der Lösung seiner inneren Konflikte und seiner Unsicherheiten hinsichtlich der soziohistorischen Realität zu helfen. 38 Durch sie hat Lenz die Gelegenheit, wahrzunehmen, wie die Italiener die Zeit der Studentenrevolte erleben. Sowohl auf einer Feier, auf der verschiedene Persönlichkeiten aus Kunst und Theater anwesend sind - alle revolutionär oder Sympathisanten der Revolte (vgl. Prinz, 1992: 231) -, wie auch im Zusammenleben in Pierras Freundeskreis erkennt der Protagonist, dass selbst unter jungen Menschen das Desinteresse über die politischen und sozialen Fragen vorherrscht (vgl. L: 87) und die Gespräche von persönlichen Problemen (und dem Privaten) dominiert werden: Teils aus Trotz, teils aus Interesse begann er, systematisch die Zeitungen zu lesen und Pierras Freunde durch Fragen nach den Anlässen der zahlreichen Demonstrationen zu provozieren. Er erklärte Pierra, was er empfand. Ihre Freunde, behauptete er, bewegten sich in einer ähnlich geschlossenen Welt wie die politischen Gruppen, in denen er es nicht mehr ausgehalten habe. Führten jene jeden Konflikt, auch noch den privatesten, auf den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit zurück, so versteiften sich diese darauf, jeden Konflikt, auch noch den gesellschaftlichsten, aus der Familiensituation abzuleiten. Er wüßte nicht, welche von beiden Gruppen verrückter sei, nur, welche ihm lieber sei. (L: 88) Lenz’ endgültige Entscheidung für eine von diesen Gruppen bleibt zu erläutern, aber ihn beunruhigen gleichermaßen die Widersprüche zwischen revolutionär »sein« und revolutionär »aussehen« wie diese von ihm kritisch gesehene Besessenheit der jungen Italiener, ihre private Seite in der Öffentlichkeit zu zeigen. Aus diesem Grund spürt er weiterhin den Drang, sich von dieser Realität, 94 2 Darstellung der Prosawerke 39 Obwohl die Erzählung nicht mit einer eindeutigen Schlussfolgerung endet, was die Zukunft des Protagonisten betrifft, kann Lenzʼ Antwort auf B.s Frage nach seinen nächsten Plänen als optimistisch gelten: »Dableiben« (L: 112). Da es eine entscheidende Frage für die politische Entwicklung von Lenz ist, wird sie im dritten Kapitel dieser Arbeit genauer behandelt werden (siehe Kapitel 3.2.3). in der er sich nicht gut integriert fühlt, zu entfernen. Dies macht deutlich, warum Lenz eine Einladung von Rom in den Norden Italiens zu fahren, annimmt. Der italienische Studentenführer Paolo und B., ein deutscher Intellektueller, Genosse von Lenz aus den Zeiten der Revolte in der Bundesrepublik, der aus Berlin gekommen ist, um an der Universität Trient einen Vortrag zu halten, wollen ihn an diese Universität mitnehmen - eine Universität, die seit Monaten durch die Studentenproteste erschüttert wird. In Trient erweitert sich die Erzählung auf die Jugendrevolte und auf einige Ereignisse (u. a. Streiks, Fakultätsbesetzungen, Demonstrationen), die den in Lenz dargestellten italienischen Aufruhr von 1968 bestimmen. Begeistert von dem warmen Empfang der jungen Aktivisten, die ihm die Stadt und verschie‐ dene Orte des Protestes zeigen, lässt sich Lenz erneut von dem Geist der Studentenbewegung faszinieren (vgl. L: 100). Darüber hinaus versteckt er nicht seine Bewunderung für die große Nähe zwischen Studenten und Arbeitern, die gleichzeitg eine Rebellion gegen die autoritäre Macht der Professoren in der Universität und gegen die Besitzer der Fabriken führen. Um den lang ersehnten Sinn in der politischen Arbeit zu finden (vgl. ebd.: 101), entscheidet er sich, seinen Aufenthalt in Trient zu verlängern. Während einiger Wochen nimmt er an den Universitätsversammlungen teil, lebt mit Arbeitern und Gewerkschaftern zusammen und bemüht sich, die Ideen der Studenten aus der akademischen Welt heraus zu tragen und sie mit den Bedürfnissen der Gesellschaft zu verbinden (vgl. ebd.: 103 f.). Dieses Gleichgewicht zwischen politischer Theorie und individueller Praxis führt zu einem neuen Engagement des Protagonisten. Die Erfahrung der italie‐ nischen Studentenbewegung gibt Lenz die Begeisterung und die Gewissheit über die Beweggründe seiner Generation wieder, die er gleich nach der Studen‐ tenrevolte in der Bundesrepublik und während der Phase der Überpolitisierung der Aktionen und Diskurse nicht mehr erkennen konnte. Tatsächlich, als er aus Trient aufgrund seiner Protestaktionen ausgewiesen wird und gezwunge‐ nermaßen nach Westberlin zurückkehren muss, scheint er optimistischer zu sein, was die Zukunft betrifft: Nach dieser Erfahrung scheint er dazu aufgelegt, die Schwierigkeiten bezüglich einer Wiedereingliederung in eine nach 1968 kaum veränderte bundesdeutsche Gesellschaft zu überwinden. 39 95 2.1 Lenz von Peter Schneider und Heißer Sommer von Uwe Timm Wie zu erkennen ist, werden die Protagonisten von Heißer Sommer und von Lenz von den soziopolitischen nationalen und internationalen Ereignissen, die mit dem antiautoritären Kampf der jungen Generation Ende der 1960er-Jahre verbunden sind, nacheinander herausgefordert. Als junge Studenten und junge Intellektuelle während der Zeit des Tumults in der Bundesrepublik sehen Ullrich Krause und Lenz ihre Überzeugungen permanent auf die Probe gestellt, sehen sich mit ihren Zweifeln und Ängsten konfrontiert und dazu aufgerufen, über ihre Rolle in der Gesellschaft zu reflektieren. Das intensive Erleben verschiedener Momente der Studentenbewegung bringt sie nicht nur dazu, ihren Standort in der Welt zu überdenken, sondern es führt auch zu einer ausdauernden kritischen Haltung gegen das Establishment. Dieser Bruch zeigt sich in den Fragen, die die damalige politische Aktualität bestimmten, aber auch in denen des soziokulturellen Kontextes. Damit beschäftigt sich das folgende Unterkapitel. 2.1.4 Liebe und Sexualität: die Revolution der Sitten Die kollektive Mobilisierung aus politischen Gründen ist entscheidend für das Bild der jungen Generation in Heißer Sommer und in Lenz, aber genauso relevant dafür ist die Rolle der sexuellen Revolution. Geleitet durch das Schlagwort »Das Private ist politisch! «, ließen sich die jungen Menschen aus dieser Zeit von der Liberalisierung der etablierten Sitten inspirieren (vgl. Kraushaar, 2000: 271). Und auch die jungen Figuren dieser zwei Werke der literarisierten Revolte sind bereit, das, was vorher privat war, öffentlich zu machen. Dabei lassen sie sich von dem Wunsch nach Bewusstseinsveränderung, nach einem bedingungslosen Ausleben von Liebesbeziehungen sowie nach dem kompromisslosen Ausdruck von Gefühlen leiten: Die Bewegung von 1968 lässt sich […] als eine umfassende Kulturrevolte begreifen: Als Intellektuellenbewegung richtete sie sich allgemein gegen tradierte Formen des kulturellen Zusammenlebens und fokussierte sich [sic! ] dabei sowohl politisch-öko‐ nomische Ziele gegen Technisierung, Anonymisierung und Bürokratisierung als auch soziale hinsichtlich der Geschlechterrollenbeziehung und des Umgangs mit Sexualität und Sinnlichkeit. (Germer, 2012: 98 f.) Die bundesdeutsche Generation, die die 1968er-Bewegung erlebte, fand in hemmungslosem und provokativem sozialen Verhalten ihre Protestform und drückte im soziokulturellen Schock und in der Verbreitung der Alternativkultur ihre Unzufriedenheit mit dem konservativen und traditionellen Ethos ihrer Eltern aus. Als junge Menschen ihrer Zeit sind Ullrich und Lenz keine Ausnahme 96 2 Darstellung der Prosawerke 40 Der Wunsch Ullrichs, in München spontane und unverbindliche Liebesbeziehungen zu beginnen, wird von Daniela Görke in Sexualität im westdeutschen Roman der späten 60er und frühen 70er Jahre (2005) so kommentiert: »Sexualität bleibt un›persön‹lich […] in dem Sinne, daß für Ullrich nicht wichtig zu sein scheint, wer seine Partnerin ist. An Beziehungen fühlt er sich nicht gebunden, er flirtet sowohl in Ingeborgs Beisein mit anderen Frauen wie auch mit Frauen, die in männlicher Begleitung unterwegs sind« (Görke, 2005: 72). von der Regel. Die Veränderungen, die sich im soziokulturellen Bereich am Ende der 1960er-Jahre zeigen, sind auch für die individuellen Veränderungen der beiden bestimmend, und zwar sowohl auf der emotionalen wie auf der sexuellen Ebene. Im Falle von Heißer Sommer werden die Liebesbeziehungen, die Ullrich im Verlauf des Romans hat, dargestellt. Von den längeren Beziehungen bis zu den kurzen Abenteuern tragen sie zur persönlichen Entwicklung des Protagonisten bei und verfolgen auch die allmähliche Entfernung der Studentengeneration vom soziokulturellen Status quo während der aufrührerischen Jahre der Revolte. Zu Beginn der Handlung durchläuft Ullrich eine Krise, in der er sowohl über sein Studium als auch über sein Privatleben reflektiert. Dabei wird er von Zweifeln geplagt, die ihn über seine Beziehung zu Ingeborg nachdenken lassen. Mit dieser Studentin hatte er bis zum Sommer 1967 eine feste Beziehung. Im Laufe der Zeit ist der Protagonist mit der auf Treue und Verbindlichkeit gründenden Beziehung unzufrieden und verliert das Interesse - zwei Anzei‐ chen, die als Symptome des Endes seiner Leidenschaft vorkommen. Der Drang, sich zu befreien, lässt Ullrich nach sexuellen Abenteuern suchen: Sowohl mit Gaby, einer Frau, die er eines Nachts in einer Bar kennenlernt, als auch mit anderen Frauen, zeigt er sich kühner und lässt sich von den momentanen Gefühlen mitreißen. 40 Bewegt von dem Wunsch, sich zu amüsieren und neue unverbindliche Erfahrungen zu machen, scheint der Protagonist von Flirt zu Flirt mehr Vertrauen in den gewählten Weg zu bekommen - einen Weg, der von der Flucht vor der Routine der Traditionen und vor den guten Sitten, die ihn abstoßen und unterdrücken, geprägt ist. Von den zufälligen Begegnungen, die im ersten Teil des Romans vorkommen, scheint Christa die einzige Ausnahme zu sein - eine Studentin aus der höheren Mittelschicht, die Ullrich am Ende des Sommers 1967 kennenlernt und mit der er die Entschiedenheit teilt, nach Hamburg umzuziehen: Dort will er sein Studium fortsetzen und sie die Ungewissheiten ihres Liebeslebens auflösen (vgl. HS: 98 f.). Nach einem kurzen und angespannten Aufenthalt in Braunschweig, wo Ullrich mit seinem wenig verständnisvollen Vater über die Gründe seines Studienortswechsels diskutiert, versteckt Ullrich seinen Wunsch nicht, Christa 97 2.1 Lenz von Peter Schneider und Heißer Sommer von Uwe Timm 41 Daniela Görke schreibt über die Haltung des Protagonisten in Hamburg, was die unverbindlichen Beziehungen zu Frauen betraf: »Der Geschlechtsverkehr mit mög‐ lichst so vielen Frauen ist kaum mehr als eine Selbstbestätigung für Ullrich, der sich offensichtlich beweisen möchte, daß er jede Frau bekommen kann« (Görke, 2005: 73). in Hamburg weiter zu sehen und mit ihr zusammen zu sein, allerdings ohne Verpflichtung für beide Seiten. In Hamburg wird Ullrich deutlich, dass das Lebensmodell der dortigen jungen Generation die Abwesenheit von Konventionen in den Liebesbeziehungen und der Wunsch, öffentlich die etablierten Sitten herauszufordern, zu sein scheint. Fasziniert von der offenen und kosmopolitischen Studentenatmosphäre dieser Stadt, lässt er sich von der Mode und von der alternativen Musik der Gegenkultur begeistern und kleidet sich wie ein junger Rebell der 1968er: Zum Klang der Rhythmen des Rock’n’Rolls trägt er Jeans, Parka und lange Haare, experimentiert mit den Drogen der Zeit und lebt die freie Liebe. Mehr noch: Je politisch aktiver Ullrich wird und je mehr sich sein Interesse für die vom SDS organisierten Protestaktionen verstärkt, desto ungehemmter wird er in Bezug auf Liebesbeziehungen, da Hemmungs- und Bindungslosigkeit der Schlüssel zum Erfolg bei den jungen Frauen zu sein scheinen. Zunächst in spontanen Begegnungen mit jungen Frauen in der Studentenkneipe Cosinus (vgl. HS: 142) und später nach dem Einzug in die Kommune mit Conny, Petersen und Erika gibt sich Ullrich dem sex, drugs & rock’n’roll hin und lernt die sexuelle Befreiung kennen. 41 Im Zusammenleben von Männern und Frauen in gemischten WGs, in der freien Liebe ohne Tabus und in »Emanzipationsver‐ such[en; IG]« (ebd.: 155) wie Gruppensex, wollen Ullrich und sein Freundeskreis den herrschenden Sozialkodex von Liebesbeziehungen umstoßen. Sie machen aus ihren Erlebnissen Protestformen gegen das bürgerliche, traditionalistische und konservative Establishment ihrer Eltern. Im dritten Teil des Romans markiert die Abkühlung des revolutionären Impetus des SDS bei Ullrich eine Phase wachsender Unzufriedenheit mit der Studentenbewegung. Diese zeigt sich nicht nur im politischen Bereich, sondern auch im Persönlichen, wo sein Einverständnis mit dem alternativen Lebensstil der roaring sixties allmählich abnimmt. Seine Erfahrung als Fabrikarbeiter und seine Entfernung vom Studentenmilieu geben ihm die Reife, über die flüchtigen und von ihm rein sexuell erlebten Beziehungen zu reflektieren sowie über die daraus entstehende Leere, die er empfindet (vgl. ebd.: 244). Außerdem schafft er es nicht, für das Leben ohne Verpflichtungen und Verantwortungen begeistert zu bleiben: Weder die Beziehung zu Renate - die Verfechterin der freien Liebe und der offenen Beziehungen (vgl. Weisz, 2009: 49) - noch das Zusammenleben mit Nottker und Christian in der neuen Wohngemeinschaft bringen ihm den 98 2 Darstellung der Prosawerke 42 Markus Meik schreibt über das existentielle Unwohlsein von Lenz und über seine fast depressive Stimmung: »Seine Beziehungen zu anderen Menschen sind bizarr, die Außenwelt gewinnt in kafkaesker Verzerrung ein bedrohliches Eigengewicht. In einer betriebsamen Großstadt lebt Lenz isoliert. Der Weg zur Arbeit, Spaziergänge oder Besuche von Einkäufen - all dies kommt ihm fremd vor, er fühlt sich getrieben. Lenz versucht nachts sogar, vor sich selbst wegzulaufen […]« (Meik, 1997: 18). früheren Enthusiasmus für den Lebensstil des peace & love. Ganz im Gegenteil: So wie er eine ausgewogene Haltung im Hinblick auf seine politischen Über‐ zeugungen gefunden hat, scheint er auch emotional reifer geworden zu sein. Als am Ende des Romans sein Wunsch, nach München zurückzukehren und Lehrer zu werden, klarer wird, wird auch Ullrichs Entscheidung deutlich, sich von Renate und von seinen Freunden zu trennen (vgl. HS: 325). Dies bedeutet auch, sich von dem Hippieleben und dem Dogma der permissiven und emotionslosen Beziehungen zu entfernen. Wie in Heißer Sommer kommen auch in Lenz durch die Liebesbeziehungen des Protagonisten unterschiedliche Züge der sexuellen Revolution vor. Dennoch, da die Handlung von Lenz in der Phase des Abflauens der 1968er-Unruhen spielt, gibt es weniger Zeichen der Begeisterung der jungen Generation beim Kampf gegen den Status quo. Anders als in Heißer Sommer tauchen kontroverse Themen wie die Abtreibung ebenso wie die Drogenerfahrungen in Lenz nicht auf. Und auch die Erlebnisse der freien Liebe scheinen einen geringeren Raum in dieser Erzählung einzunehmen (der Protagonist hat auch viel weniger Liebesbeziehungen als Ullrich Krause). Mehr als von den Zügen des sex, drugs & rock’n’roll wird Lenz von den Reflexionen des Protagonisten über seine Identitätskrise und den fehlenden Lebenssinn sowohl im Politischen als auch im Privaten geleitet. 42 Seine Unsicherheit in politischer Hinsicht entsteht aus der Enttäuschung über die kollektiven Aktionen der Studentenbewegung. Der Grund für die Verunsicherung in emotionaler Hinsicht liegt aber vor allem im Scheitern der Beziehung mit L., einer jungen Frau mit der er zwei Jahre zusammen gelebt und von der er sich gerade getrennt hatte. Er ist unfähig, sich von der Obsession, die er noch für sie empfindet, zu befreien. Aufgrund dieser Obsession - die mehr von dem Zweifel erzeugt wird, ob er je wieder geliebt werden wird, als von der Trennung von L. (vgl. L: 25) - gerät Lenz immer mehr in eine depres‐ sive Verstimmung. Zum Teil sind der Freiheitswille und sein Wunsch, neue Erfahrungen zu machen, unvereinbar mit der von seiner ehemaligen Freundin eingeforderten Erfüllung ihrer Bedürfnisse nach Nähe und Liebe (vgl. ebd.: 56 f.). Dieser Forderung kann Lenz nicht nachkommen, denn seine Erfahrung als intellektueller Aktivist und seine konsequente Politisierung im Verlauf der 99 2.1 Lenz von Peter Schneider und Heißer Sommer von Uwe Timm 43 Bei einem Treffen in Berlin beschuldigt L. Lenz, dass er während ihrer Beziehung immer mehr mit seiner eigenen Emanzipation und mit dem politischen Theoretisieren über Liebe beschäftigt war, als ihr seine Gefühle zu zeigen (vgl. L: 55 f.). Wie Petra Platen erwähnt: »Ähnlich wie in seinem Versuch, die Welt des Arbeiters zu erfahren, ist er auch in seiner Beziehung zu L. begrifflich abstrahierend vorgegangen, jedoch mit dem Unterschied, daß er nun einseitig das Private auf Kosten des Öffentlichen betont hat« (Platen, 2006: 28). 44 Petra Platen schreibt, dass Lenz in Rom »eine ›Privatisierung‹ aller gesellschaftlichen Zusammenhänge« (Platen, 2006: 30) ausprobiert - etwas, was im Kontrast zu dem überpolitisierten und emotionslosen Umfeld des Protagonisten in Berlin steht. Studentenbewegung haben ihn seine emotionale Seite vernachlässigen lassen. 43 Und nicht einmal die gelegentlichen und flüchtigen Beziehungen zu anderen Frauen befriedigen ihn in dieser ausweglosen Situation, die von dem Wunsch sowohl nach Unverbindlichkeit als auch nach liebevollen Beziehungen gekenn‐ zeichnet wird. Ein Beleg dafür ist Marina, mit der er sich sexuell einlässt. Sie ist an politischen Diskussionen und der Teilnahme an Aktionsgruppen interessiert und mit einer Beziehung ohne Zwänge und Ansprüche einverstanden. Wenige Tage später, nachdem Lenz Marina auf einem Fest gesehen hat, besucht er sie in ihrem Haus. Als sie anfängliche Zweifel überwunden hat, sich jemandem, den sie kaum kennt, hinzugeben, schlafen sie miteinander. Wie Lenz argumentiert: »Es gibt nur ein paar Arten, sich kennenzulernen, wenn man miteinander arbeitet, wenn man zusammen spinnt, wenn man sich anfaßt« (L: 12). Beim ersten Zusammentreffen wie bei den folgenden wird dennoch deutlich, wie unwohl sich Lenz in gefühlsarmen Beziehungen fühlt. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass die einzigen Momente, in denen er sich Marina nähert, diejenigen sind, in denen er sie zu seiner Vertrauten macht: Er öffnet sich ihr gegenüber, spricht von seinen Problemen mit L. und hört ihr zu, als sie von ihren Empfindungen und Wünschen erzählt. Angetrieben von dem Willen, sein Liebesleben weiter zu entpolitisieren und eine Lösung für die Abwesenheit emotionaler Nähe zu denen, die um ihn sind, zu finden, beginnt Lenz, schon in Rom angekommen, ein Verhältnis mit Pierra. Die Spontaneität der Italienerin, ihre Fähigkeit, leicht mit allen in sozialen Kontakt zu treten und ohne Einschränkungen ihre Gefühle auszudrücken, faszinieren ihn. Dieses Verhalten und dieser Lebensstil waren ihm unbekannt. 44 Trotz der Unvereinbarkeit zwischen dem nachdenklichen und introvertierten Lenz und dem impulsiven Charakter von Pierra kann er sich ihr gegenüber öffnen: Er spricht über seine vergangenen Erlebnisse, lernt, sich von der Angst, Gefühle zu äußern, zu befreien und findet in ihr eine »geschwisterliche Beziehung« (L: 86). Sie hilft ihm, seine Obsession zu L. zu überwinden und ein Gleichgewicht 100 2 Darstellung der Prosawerke zwischen Denken und Fühlen, zwischen Rationalität und Emotionalität zu finden. Die Zeit in Rom, in der er wichtige Fragen seiner Existenz verarbeiten konnte, ist entscheidend für den Fortgang im Leben des Protagonisten, der sich in emotionaler Hinsicht selbstsicherer fühlt. Dies wird besonders klar, als Lenz die Gelegenheit hat, sich in die Trientiner Studentenbewegung wieder zu integrieren. Dort lebt er täglich mit anderen Studenten zusammen, mit denen er nicht nur über Politik diskutiert, sondern auch Persönliches teilt in jener ersehnten Nähe, die er in den Betriebs- oder Freundesgruppen in Berlin nie erreicht hatte. Während dieser Monate versteckt er nicht seine Bewunderung für die Offenheit der italienischen Studenten, über verschiedene Angelegenheiten zu sprechen, seien sie politischer oder persönlicher Art. Nach der Zeit der Orientierungslosigkeit während der studentischen Unruhen in der Bundesrepublik scheint Lenz im Zusammenleben mit den jungen Italienern und deren Fähigkeit, den politischen Aktivismus mit dem Privatleben zu vereinen, den Schlüssel für sein emotionales Gleichgewicht gefunden zu haben. Diese Ausgeglichenheit gibt ihm bei seiner Rückkehr nach Berlin Vertrauen in sich selbst und lässt ihn mit gewissem Optimismus auf einen neuen Lebensabschnitt in der Bundesrepublik blicken. Obwohl Heißer Sommer und Lenz in verschiedenen Phasen der Jugendpro‐ teste Ende der 1960er-Jahre ihren Schwerpunkt haben, zeigen beide in erster Linie die Probleme und Zweifel einer Generation, die sich zum Ziel setzte, mit den etablierten Werten und Sitten zu brechen. In Hamburg zeigen Ullrich und seine Freunde auf dem Gipfel der Studentenrevolte das intensive Erleben des sex, drugs & rock’n’roll und bringen dabei Themen wie die Abtreibung und das Experimentieren mit Drogen und mit der freien Liebe ins Spiel. Lenz ist introspektiver: Während er sich mit den Nachwirkungen dieser durch Exzesse geprägten Phase konfrontiert, versucht er, mit den persönlichen Auswirkungen der revolutionären Ideale umzugehen. Trotz dieser Unterschiede ist es wichtig festzuhalten, wie die Erfahrungen der sexuellen Revolution und des Wandels der Lebensweisen eine entscheidende Rolle spielen bei der individuellen Ent‐ wicklung und (Wieder-)Entdeckung der Identität jedes Protagonisten. Keiner von beiden lässt sich unkritisch von den Tendenzen der Gegenkultur oder vom sexuellen Befreiungsfieber als Phänomen der Emanzipation anstecken: Sowohl Ullrich als auch Lenz hinterfragen die Effekte der freien Liebe, besonders als sie das Flüchtige und die Gefühllosigkeit rein sexueller Beziehungen erkennen. Im Grunde ist es genau dieser Zugang zum Inneren der Protagonisten, zu ihren Wünschen, Beunruhigungen, Ängsten und Widersprüchen, der zu einem indi‐ 101 2.1 Lenz von Peter Schneider und Heißer Sommer von Uwe Timm vidualisierten Bild der von vielen Mitgliedern der jungen Generation erlebten Alternativkultur am Ende der 1960er-Jahre beiträgt. 2.2 Derrière la vitre von Robert Merle 2.2.1 Derrière la vitre und die literarische Darstellung der französischen Studentenbewegung Im Mai 1968 durchbrach die Jugendrevolte gegen die konservative Politik von de Gaulle die Mauern der Universität und ergoss sich ins öffentliche Leben bis zu dem Punkt, an dem sie die politische und soziokulturelle Aktualität Frankreichs dominierte. Studenten und Intellektuelle, Journalisten und Soziologen, Politiker und normale Bürger - jünger oder älter, links oder rechts -, niemand konnte angesichts der Besetzungen von Universitätsgebäuden, des gewaltigen Zusam‐ menstoßes zwischen jungen Menschen und Polizei, der Generalstreiks und auch der Massendemonstrationen in den Straßen von Paris und anderen großen Städten des Landes gleichgültig bleiben. Motiviert durch politische Fragen und zahlreiche kulturelle Impulse (oft gewagt und avantgardistisch, aufrufend zu Phantasie und Kreativität) wurden diese Szenen einer täglichen Rebellion wäh‐ rend der kritischen Monate Mai und Juni 1968 schnell nicht nur zu einem Symbol für die Utopie einer Jugendbewegung, sondern auch zum Spaltungsthema in der Gesellschaft (siehe Kapitel 1.3). In dieser Zeit lebte Frankreich an der Grenze zum Ausnahmezustand, in einer Atmosphäre andauernder Unruhen, die sich erst mit den Parlamentswahlen Ende Juni 1968 und dem darauffolgenden Sieg der Gaullisten beruhigte. Dieses Ereignis beendete die Hoffnung der jungen Generation und der Mehrheit der Aktivisten und Sympathisanten der Linken auf einen politischen und wirtschaftlichen Wechsel. Dennoch vermochte es es nicht, die (fast zu einem Mythos erhobene) Symbolkraft der Jugendrevolte in jener Zeit des Aufruhrs auszulöschen. Das Interesse an den Ereignissen der Studentenrebellion von Mai 68 und an den Protesten der Arbeiter auf den Straßen verblasste nicht, selbst nachdem die Barrikaden abgebaut und die Demonstrationen aufgelöst waren. Es fand auch in der Literatur Widerhall. Die 1968er-Revolte wurde von vielen Schriftstellern der Zeit als attraktives Thema voller Symbolkraft angesehen (vgl. Combes, 2008: 154 f.) und vom ersten Moment an als literarisches Sujet angenommen. Besonders am Ende der 1960er-Jahre und bis in die Mitte der 1970er war sie Thema in zahlreichen Romanen, die die unterschiedlichen Facetten der Studentenbewegung und die Erfahrungen der Dissidenten im Kampf gegen 102 2 Darstellung der Prosawerke 45 Patrick Combes schreibt in Littérature & le mouvement de Mai 68. Écriture, mythes, critique, écrivains 1968-1981 (1984), seiner ersten Studie, die der literarischen Verarbei‐ tung der 1968er-Revolte gewidmet ist, dass etwa fünfzig literarische Werke über den Mai 68 existieren (vgl. Combes, 1984: 143). In Mai 68, les écrivains, la littérature (2008) nennt dennoch derselbe Autor keine Zahl der Romane und präzisiert auch nicht die Kriterien, die zur Korpusauswahl verwendet wurden. In der vorliegenden Arbeit wird meine Forschung auf die jüngste Studie von 2008 Bezug nehmen. 46 In der bemerkenswerten Arbeit von Ingrid Eichelberg wird durch die vorgestellten Synopsen belegt, dass die aufgelisteten Romane den Fokus nicht direkt auf die 1968er-Studentenbewegung legen, sondern die Autoren andere Facetten des Mai 68 bevorzugen (vgl. Eichelberg, 1987: 168-176). Die Betrachtung des Mai 68 als soziale und kulturelle Erneuerungsbewegung steht in den folgenden Romanen im Mittelpunkt: Les Gendres (1970) von François Sonkin, La Perte et le fracas ou Les Murailles du monde (1971) von Maurice Clavel und L’Étoile rose (1978) von Dominique Fernandez. Das Scheitern des revolutionären Traums eines jungen Lehrers, der seinen Schülern die Philosophie und die Prinzipien der Revolte des Mai 1968 in der Zeit gleich danach beibringen wollte, findet Ausdruck in L’Irrévolution (1971) von Pascal Lainé, während das Leben der Arbeiter und Werkstudenten im Rahmen der Arbeiterbewegung Ende der 1960er-Jahre von Claire Etcherelli in Un Arbre voyageur (1978) und von Robert Linhart in L’Établi (1978) behandelt wird. Für die Identitätskrise der jungen Intellektuellen im Nach-Mai stechen besonders hervor die Romane La Rage au coeur (1974) und Les Irréguliers (1975) von Gérard Guégan sowie La Vie finira bien par commencer (1973) von Claude Courchay. Was die akademischen Unruhen im universitären Milieu angeht, nimmt Robert Merles Derrière la vitre (1970) einen sehr wichtigen Platz ein, da er der einzige Roman in dieser Studie ist, der direkt die französische Studentenbewegung thematisiert. das Establishment in jenen bewegten Zeiten aufzeigten. Nach Patrick Combes bilden die literarischen Werke, die die 1968er-Revolte zum Thema hatten, einen umfangreichen Korpus (vgl. ebd.: 154). Ohne jemals genau zu benennen, welche und wie viele Romane zu diesem Korpus gehören, spricht Combes von einer umfangreichen literarischen Produktion (vgl. ebd.) nach 1968, wobei 1971 das Jahr mit den meisten Publikationen gewesen sei (vgl. ebd.: 156). 45 Ingrid Eichelberg ihrerseits präsentiert in der Studie Mai ’68 in der Literatur. Die Suche nach menschlichem Glück in einer besseren Gesellschaft eine Sammlung von Kurzporträts von sechzig Romanen, die zwischen 1966 und 1984 veröffentlicht wurden (vgl. Eichelberg, 1987: 168-176). Sie alle werden von der Autorin als »Mai-Romane« bezeichnet, weil es sich um Romane handelt, die sich auf die Ereignisse der 1968er-Revolte und der Zeit danach beziehen (vgl. Eichelberg, 1987: 23). 46 In diesen Romanen werden die Ereignisse vom Mai 68 von den Autoren auf unterschiedliche Weisen wiederbelebt. Dabei werden die politischen Über‐ zeugungen der Jungen und der Alten, die verschiedenen Erfahrungen des Phänomens der Gegenkultur und die Überlegungen darüber, was mit der Studentenrevolte und der Arbeiterbewegung gewonnen oder verloren wurde, 103 2.2 Derrière la vitre von Robert Merle einander gegenübergestellt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich diese li‐ terarische Produktion stark durch Heterogenität und eine Vielzahl von Inhalten auszeichnet, wie Patrick Combes ausführt: Mai est tantôt l’objet d’une fresque réaliste, tantôt un prétexte à variations sur le thème de la politique-fiction ; tandis que certains romans s’emploient à en refléter passivement le seul aspect factuel, spectaculaire, c’est à la genèse ou aux conséquences profondes de la crise que d’autres s’attachent […]. De la présence explicite de la crise à sa transposition dans l’imaginaire, en passant par l’allusion fugitive, les choix, les mobiles, les effets, sont multiples, qu’il est malaisé par nature de saisir. (Combes, 2008: 156) [Der Mai ist jeweils Objekt eines realistischen Rahmens und jeweils ein Vorwand für die Variationen über das Thema der Polit-Fiktion; während einige Romane ausschließ‐ lich den faktischen, spektakulären Aspekt passiv widerspiegeln, befassen sich andere mit der Entstehung oder mit den tiefen Ursachen der Mai-Krise […]. Von der expliziten Präsenz der Krise bis zu ihrer Umsetzung in das Imaginäre mitsamt flüchtigen Anspielungen, gibt es zahlreiche Wahlmöglichkeiten, Motivationen, Effekte, die von Natur aus schwierig zu fassen sind.] Trotz dieser Heterogenität ist es bemerkenswert, dass es Züge gibt, die diese Romane miteinander teilen. Einer dieser gemeinsamen Züge ist die Frage nach der Veränderung der Gesellschaft und der Suche nach einem besseren Leben. Diese Frage ist ein Leitmotiv der meisten dem Mai 68 gewidmeten Romane (vgl. Eichelberg, 1987: 17). Darüber hinaus kann diese gewisse Nähe der Romane auch durch die Verarbeitung ähnlicher Aspekte belegt werden, wie zum Beispiel die soziale Herkunft der Rebellen und ihre Motivation für die Revolte, die Widersprüche der Studentenbewegung und/ oder die von den unterschiedlichen Aktivisten erlebte Identitätskrise (vgl. Combes, 2008: 165-167). Neben diesen Aspekten darf nicht vergessen werden, wie jeder Roman bestrebt ist, die Ereig‐ nisse in Bezug auf die Studentenbewegung, die soziopolitische Krise und die Zeit nach dem Mai 68 zu dokumentieren. Ingrid Eichelberg bemerkt dazu: »[…] [diese Romane; IG] veranschaulichen Folgen und Problematik dieser Bewegung, Reformbemühungen und utopische Gesellschaftsideale am Leben der Personen und Gruppen in einem fiktiven, der Realität nachgebildeten Wirklichkeitsaus‐ schnitt« (Eichelberg, 1987: 12). Diese Tendenz zur getreuen Darstellung der Ereignisse und ihre Nähe zur historischen Realität kann tatsächlich eine der kritischsten Beurteilungen erklären, die man in Bezug auf die Mehrzahl dieser Romane macht: Da sie wenig bis gar nicht innovativ in literarisch-ästhetischer Perspektive sind (vgl. Combes, 2008: 204), waren sie unfähig, mit der etablierten 104 2 Darstellung der Prosawerke 47 Nach Dominique Viart, dem Autor des Aufsatzes »Les héritages de Mai 68« (2008), erklären die niedrige ästhetische Qualität der Romane des Nach-Mai 1968 und ihr geringer bzw. nicht vorhandener Beitrag bezüglich literarischer Innovation, warum sie keine Rolle in der Literaturgeschichte spielen und heute nicht mehr erinnert werden. Viart geht noch weiter und behauptet, dass trotz dieser Romanschwemme Mai 68 niemals zu einem literarischen Sujet wurde, weder ästhetisch noch ideologisch inhaltlich (Viart, 2008: 10). 48 Pascal Lainé, Autor des Romans L’Irrévolution (1971), der dafür im selben Jahr mit dem Médicis-Preis ausgezeichnet wurde, ist einer der wenigen jungen Schriftsteller, die einen Roman über die Mai-Studentenbewegung (und die Zeit danach) am Anfang der 1970er-Jahre veröffentlicht hat. Nach Patrick Combes haben die jungen Autoren, oft Aktivisten der 1968er-Bewegung, erst nach 1975 Romane verfasst, in denen die Mairevolte als Thema auftaucht. Zu jenem Zeitpunkt waren die Autoren um die 30 Jahre alt (vgl. Combes, 2008: 205). 49 In der Studie Le moment 68. Une histoire contestée (2008) schreibt Michelle Zanca‐ rini-Fournel, dass der Ausdruck »Mai 68« mit den Ereignissen verbunden ist, die den Gipfel der Studentenbewegung ausmachen, und somit eine eigene Chronologie hat. Sie beginnt am 3. Mai mit einer Studentendemonstration nach dem Eindringen der Polizei in die Sorbonne und endet am 30. Mai, dem Tag, an dem de Gaulle die Auflösung der Nationalversammlung und Neuwahlen ankündigt (vgl. Zancarini-Fournel, 2008: 11). Literatur zu brechen oder dem Appell der 1968er zu Innovation und Erneuerung zu folgen. 47 Ein weiterer erwähnenswerter Aspekt hängt mit den Verfassern dieser Ro‐ mane zusammen. Im Gegensatz zur literarisierten Revolte in der Bundesrepublik war es nicht die Generation der jungen Autoren, die die ersten Romane der 1968er-Revolte verfasste: In Frankreich waren es tatsächlich schon etablierte Schriftsteller, die sich damit beschäftigten. Die meisten hatten Werke vor 1968 veröffentlicht, von denen viele literarisch ausgezeichnet worden waren, und schrieben diese Mai-Romane im Rahmen einer fortwährenden literarischen Karriere (vgl. Combes, 2008: 205). 48 Ob sie die Revolte bejahten oder ablehnten, legten diese Autoren ein persönliches Zeugnis jener Epoche ab und erschufen mit mehr oder weniger autobiographischen Spuren die 1968er-Ereignisse in ihren Romanen neu - vor, während und nach der Mai-Krise. 49 Zu dieser Schriftstellergruppe gehört Robert Merle, der Autor von Derrière la vitre. Während die Bewegung vom Mai 68 in die Universitäten einzog, arbeitete Merle als Professor für englische Sprache und Literatur in der neuen geisteswissenschaftlichen Fakultät der Sorbonne in Nanterre. So konnte er vor Ort die Studentenbewegung mitverfolgen. Trotz seines Alters von 59 Jahren und der langen akademischen Karriere interessierte er sich für die Protestaktionen der Studenten auf jenem Campus, auf dem die Pariser Revolte begann, und solidarisierte er sich mit ihren Bemühungen, das akademische 105 2.2 Derrière la vitre von Robert Merle 50 Was die Teilnahme von Robert Merle an der Studentenbewegung 1968 in Frankreich anbelangt, schreibt Pierre Merle in der Biographie seines Vaters: »L’écrivain, depuis toujours engagé à gauche et passionné par l’histoire contemporaine, ne veut pas être le spectateur passif de l’agitation étudiante. Il va désormais [dès le mois d’avril 1968 ; IG] à Nanterre presque tous les jours, prend part aux diverses commissions, se réjouit des nouvelles relations qui s’établissent entre les professeurs et les assistants, entre les étudiants et les enseignants. Il voit poindre avec passion un désir inassouvi de changement, souhaite activement son éclosion« (Merle, 2008: 274). [Merle selbst, seit jeher in der Linken engagiert und leidenschaftlich am aktuellen Geschehen interessiert, wollte kein passiver Zuschauer des Studentenprotestes sein. Er ging nun [seit April 1968; IG] fast täglich nach Nanterre, wirkte in verschiedenen Kommis‐ sionen mit, begrüßte die neuen Beziehungen zwischen Professoren und Assistenten, zwischen Studenten und Dozenten. Mit Freude sah er ein riesiges Verlangen nach Veränderung wachsen und förderte aktiv dessen Aufblühen (Merle, 2009: 251).] Die Übersetzung dieses Textauszuges stammt aus der ins Deutsche übersetzten Biographie Robert Merle: Ein verführerisches Leben, die 2009 vom Aufbau-Verlag veröffentlicht wurde. 51 Die persönliche Erfahrung von Merle als Soldat und Kriegsgefangener nach der Niederlage der Franzosen in der Schlacht von Dunquerque im Zweiten Weltkrieg war die Hauptinspirationsquelle für seinen ersten Roman: Week-end à Zuydcoote (1949). In seinem zweiten Roman La mort est mon métier (1952) sind erneut der Nationalsozialismus und der Holocaust präsent. System zu verändern. 50 Dieser in Algerien geborene französische Schriftsteller hat im Verlauf seiner Universitätslaufbahn seine Sympathie für die Ideale der Linken nie verheimlicht. In der Tat brachten ihm die Nähe zu den Idealen der Kommunistischen Partei Frankreichs während einer Phase seines Lebens (später distanzierte er sich davon) und der Umstand, dass er Artikel für die Zeitung Libération schrieb, einige Probleme im akademischen Milieu (vgl. Merle, 2008: 248). Als Autor verschiedener Romane, besonders historischer Romane, beschäftigte er sich oft mit zeitgenössischen Problemen und klagte sie an: Die Kritik am Nationalsozialismus, 51 an autoritären und kolonialen Systemen und an der Rassendiskriminierung kehrte häufig in seinen Werken wieder und führte dazu, dass er als engagierter Autor galt (vgl. Eichelberg, 1987: 25 f.; Wattel, 2018: 28). Diese Ausrichtung der Literatur als Medium sozialer Intervention lässt sich besonders in seinem Roman Un animal doué de raison [Ein vernunftbegabtes Tier] bemerken. Dieser politisch-fiktionale Roman aus dem Jahre 1967 ist stark vom Geist der antiamerikanischen Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg und der Kritik am Materialismus und an den autoritären Strukturen des Establishments geprägt (vgl. ebd.: 26). Später, im Jahre 1970, wird Merles Derrière la vitre veröffentlicht - ein Roman, der von Beginn seiner Publikation an Kontroversen hervorrief (vgl. Merle, 2008: 281) und der vorrangig die Studentenbewegung in Nanterre 106 2 Darstellung der Prosawerke 52 Der Roman Derrière la vitre (1970) wurde 1972 von Christel Gersch ins Deutsche unter dem Titel Hinter Glas übersetzt und erschien im ostdeutschen Aufbau-Verlag. Die Übersetzungen der Textauszüge und Zitate aus Robert Merles Roman, die ich in meiner Arbeit benutze, stammen aus der ins Deutsche übersetzten Ausgabe (2. Auflage 1974). einige Wochen vor dem Ausbruch vom Mai 68 in den Straßen von Paris behandelt. Der Autor selbst schreibt im Vorwort, dieser Roman habe als Ausgangspunkt ein vorheriges Projekt von 1967, in dem er über den Alltag der jungen Generation auf dem Campus von Nanterre schreiben wollte. Mit den Ereignissen vom Mai 68 und dem antiautoritären Kampf der jungen Generation gewann aber dieses Projekt eine neue Dimension: Les événements de Mai donnèrent un caractère nouveau à mon entreprise, sans la changer radicalement. Mon projet était de décrire la vie quotidienne des étudiants à Nanterre, et cette vie resta, bien entendu, quotidienne pour la majorité d’entre eux, même quand la contestation des éléments actifs prit tout d’un coup un tour dramatique. C’est pourquoi, à la réflexion, je choisis comme objet de mon récit la journée du 22 mars 1968. Pour les douze mille étudiants de Nanterre, ces vingt-quatre heures n’eurent rien d’exceptionnel. Ils vécurent cette journée comme tant de jours semblables d’un deuxième trimestre éprouvant qui tirait à sa fin. Par contre, pour cent quarante d’entre eux, le 22 mars s’acheva par l’occupation de la tour administrative et de la salle du Conseil des professeurs. (DV: 10) [Die Mai-Ereignisse gaben meinem Unternehmen einen neuen Charakter, änderten es aber nicht von Grund auf. Mein Plan sah vor, das alltägliche Leben der Studenten in Nanterre zu beschreiben, und dieses Leben blieb für die meisten von ihnen auch dann alltäglich, als das Aufbegehren der auf Veränderung drängenden Kräfte plötzlich eine dramatische Wende nahm. Darum habe ich den Tagesablauf des 22. März 1968 zum Gegenstand meines Romans gewählt. Für die zwölftausend Studenten von Nanterre hatten diese vierundzwanzig Stunden nichts Außergewöhnliches. Für sie glich dieser Tag all den anderen Tagen eines schwierigen zweiten Trimesters, das bald vorüber war. Für hundertvierzig von ihnen endete der 22. März hingegen mit der Besetzung des Verwaltungsturms und des Konferenzsaales der Professoren. (Hinter Glas, 1974: 6) 52 ] Derrière la vitre wird als eine der besten literarischen Reinszenierungen der Mai-Revolte (vgl. Combes, 1984: 148, Combes, 2008: 161; Eichelberg, 1987: 23) angesehen. Es ist ein herausragender Fall unter den Romanen des unmittelbaren Nach-Mai. Er ist in der Tat der einzige Roman im Rahmen der französischen Literatur über die Ereignisse im Mai 1968, der das absolute Primat des Erlebens der Studentenbewegung in den damaligen universitären Kontext setzt. In ihrer Studie über die Mai-Romane hebt Ingrid Eichelberg Derrière la vitre als Referenzroman hervor (vgl. Eichelberg, 1987: 25) und widmet ihm ein ganzes 107 2.2 Derrière la vitre von Robert Merle Kapitel. In den anderen von der Autorin untersuchten Romanen werden die Ereignisse, die mit der 1968er akademischen Bewegung und dem antiautoritären Kampf in den Universitäten zusammenhängen, entweder ignoriert oder spielen nur eine untergeordnete Rolle. Sie konzentrieren sich auf die Auswirkungen der 1968er-Revolte, wie die Arbeiterbewegung oder die Identitätsprobleme der jungen Intellektuellen nach Mai 68 (siehe Fn. 46 im Kapitel 2.2.1). Indem Derrière la vitre den Anfang des Aufruhrs in Nanterre fokussiert, der noch weit entfernt ist von den Szenen an den Barrikaden und den Lagerkämpfen zwischen den jungen Menschen und der Polizei, stellt er eine originelle Perspektive auf den Ausbruch der akademischen Revolte dar sowie ein vielseitiges Bild der Studenten und Professoren, der Befürworter und Gegner der Revolte. In den Worten von Combes: C’est peut-être chez lui [le roman de Merle ; IG], hors de toute la considération esthétique, qu’on pourrait chercher, si nécessaire, de quoi expliquer et revivre les mentalités, les dialogues, les mouvements complexes qui président à l’événement [de la révolte ; IG]. (Combes, 2008: 161) [Es ist vielleicht bei ihm [im Roman von Merle; IG], unabhängig von ästhetischen Maßstäben, wo man, wenn nötig, etwas suchen könnte, um die Mentalitäten, die Dialoge, die komplexen Bewegungen, die das Ereignis [der Revolte; IG] leiten, zu erklären und wieder erlebbar machen.] Im Folgenden soll gezeigt werden, wie in Derrière la vitre die 1968er-Revolte in Frankreich gleichermaßen deskriptiv und kritisch reflektiert erneut belebt wird. In diesem Roman vermischen sich Episoden des antiautoritären Kampfes der Studenten mit der persönlichen Geschichte verschiedener Figuren. So entsteht ein Porträt mit zahlreichen politischen und soziokulturellen Abtönungen, die dem politischen und soziokulturellen Bruch mit dem akademischen Leben am Ende der 1960er-Jahre nahekommen. 2.2.2 Erzählstrategien Für die literarische Bearbeitung der vielen Facetten der 1968er-Jugendrevolte spielen die Erzählstrategien eine entscheidende Rolle, um aus Derrière la vitre ein Romanmosaik zu machen: Ein Mosaik, das aus verstreuten Stücken besteht, die der Leser zusammenfügen soll. Merles Roman stellt ein fiktio‐ nalisiertes Bild jener Zeit dar, indem reale zeitgeschichtliche Geschehnisse in die Erzählwelt gebracht werden, die die Diegese prägen und sich mit der individuellen Wirklichkeit der verschiedenen Figuren verweben. Dabei besteht jedoch ein gewisser Mangel von Ereignissen im Text, die mit der 108 2 Darstellung der Prosawerke 53 Nach Anne Wattel ist die Simultantechnik Bestandteil einer Ästhetik der Aufteilung, die die individuellen Augenblicke, die Einzelheiten jeder Figur bevorzugt und die politischen Ereignisse des Tages eher in den Hintergrund rückt (vgl. Wattel, 2015: 77). Studentenrevolte zu tun haben. Zusammen mit der Beschränkung dieser Ereignisse auf einen einzigen Ort (der Campus von Nanterre) und auf einen einzigen Tag (der 22. März 1968) trägt dies dazu bei, dass die Erlebnisse der unterschiedlichen Figuren mehr Bedeutung im Romangeschehen erhalten (vgl. Hocke, 1973: 166). Die ideologische Spaltung der jungen und der älteren Generation wird auf diese Weise durch die individuellen Geschichten der zahlreichen Figuren rekonstruiert (vgl. Combes, 2008: 161), ebenso wie durch die einzelnen Ausrichtungen der Studentenrevolte selbst: Through its multiple stories, fictional and non-fictional, the major themes of politics, class, and sexuality are treated. Gauchiste themes are well represented too: the political nature of knowledge, knowledge serving the interests of the bourgeoisie; workerism; Vietnam; police-state; repressive sexualities; the need for provocation and contestation. (Attack, 1999: 39) Diese Behandlung zahlreicher politischer, sozialer und kultureller Fragen wird hauptsächlich durch die ausgewählte Technik der simultanen Erzäh‐ lung ermöglicht. Wie Robert Merle im Vorwort klarstellt, schien ihm diese Erzählstrategie als die richtige, um der Vielzahl von Figuren - Studenten und Professoren von Nanterre, mit ihren eigenen Lebensgeschichten - eine Stimme zu geben (vgl. DV: 11 f.). Indem er sich auf die Sorgen, Überzeugungen und Überlegungen der Studenten und Professoren konzentriert, rückt Merle die kleinen, individuellen und persönlichen Welten in den Vordergrund, die im akademischen Umfeld Ende der 1960er-Jahre nebeneinander existierten. Er macht es nach eigenen Aussagen, um die Einsamkeit an der Universität freizu‐ legen (vgl. ebd.: 11 f.). Dies ist im Roman ein zentrales Thema im studentischen Alltag von 1968, ein Ergebnis des Fehlens von Kommunikation und Kontakt zwischen den Mitgliedern der zwei sich in jener Zeit gegenüberstehenden Generationen. 53 Der Zugang zum Inneren der Figuren findet auch durch die ständig wech‐ selnde Erzählperspektive statt. Die subtilen Gestaltungen der Erzählsituationen in Derrière la vitre, mit großem Nachdruck auf die personale Erzählsituation (der Terminologie von Stanzel entsprechend) und auf die der ersten Person, tragen zu der besonderen Lebendigkeit des Romans bei und ermöglichen eine gewisse Nähe zu den Figuren (vgl. Hocke, 1973: 170). Diese Variationen in der Erzählstimme lassen sich in folgendem Ausschnitt lesen, in dem der 109 2.2 Derrière la vitre von Robert Merle Literaturstudent Lucien Ménestrel über die jüngsten Momente des Aufruhrs auf dem Campus von Nanterre nachdenkt: Ménestrel rit tout seul en mâchonnant le pain un peu mou. Les bancs, les fameux bancs, que les types des groupuscules, le mois dernier, ont mis en pièces pour s’en faire des armes contre la police. Les groupuscules, moi, je me les mets où je pense. D’ailleurs, la politique. Mais insulter le doyen, pas d’accord. Cependant, quand les agents se sont rappliqués, je me suis mis dans le coup, à mon avis on ne peut quand même pas tolérer la flicaille ici, ce serait la fin de tout. Et le doyen, là, il a loupé le virage, on l’appelle « flic » et il appelle les flics ! Ménestrel regarda avec déplaisir la dernière bouchée de son hot-dog. On se disait, il faut économiser, mais non, ce n’est pas possible, c’est la dernière chose qu’on peut faire. Il ralentit à nouveau l’allure. (DV: 134 f.) [Ménestrel lachte in sich hinein, während er sein nicht gerade knuspriges Brötchen verzehrte. Die Bänke, die berühmten Bänke, die die Grüppchen im vorigen Monat zertrümmert hatten, um sich Waffen gegen die Polizei draus zu machen. Die Grüpp‐ chen, die können mir gestohlen bleiben. Überhaupt, die ganze Politik. Den Dekan beschimpfen, nein, da hört der Spaß auf. Aber als die Polizei ankam, habe ich mitgemacht, denn was hatte die Polente hier zu suchen, das war ja wohl das letzte. Da hat sich der Dekan ganz schön vergaloppiert, sie schimpfen ihn »Flic«, und er ruft die Flics! Ménestrel blickte bekümmert auf den letzten Bissen seines Würstchens. Man sagt sich: du mußt sparen, aber es geht nicht, man kann’s einfach nicht. Er verlangsamte seine Schritte von neuem. (Hinter Glas, 1974: 97)] Die Begleitung der Figuren aus einer nahen Perspektive wird auch in der linguistischen Stilebene deutlich, die sowohl Jugendsprache als auch den ge‐ hobenen akademischen Diskurs der Professoren beinhaltet. Diese sprachliche Unterscheidung akzentuiert die Spaltung zwischen der jungen und der älteren Generation auf dem Campus und verstärkt gleichermaßen die Realitätsnähe des Romans. Birgit Hocke schreibt dazu: Obgleich ihre Grundsituation die gleiche ist (Manipuliertheit, Vereinzelung, Lebens‐ überdruß, Tatunfähigkeit, Liebesunfähigkeit), treten sie in ihrem - jeweils als Varia‐ tion auf dasselbe Thema verstandenen - Verhältnis zur Wirklichkeit plastisch hervor. Der Leser wird tatsächlich vertraut mit ihren Denkweisen, Lebensgewohnheiten und Moralauffassungen. Als Meister der Sprache gibt Merle ihnen vor allem durch ihre eigenständige Sprechweise und durch die sorgsame Beschreibung ihres Habitus, ihrer Gesten und ihrer Stimme ein besonderes Profil (Hocke, 1973: 166). 110 2 Darstellung der Prosawerke 54 Das Zusammenkommen von historischen Persönlichkeiten und fiktiven Figuren in Derrière la vitre verstärkt die Nähe des Romans zu der Wirklichkeit. Nach Meinung von Pierre Merle sind es die Ereignisse der 1968er-Revolte, die die Anwesenheit von historischen Gestalten wie Pierre Grappin, Jean Beaujeu oder Daniel Cohn-Bendit in der Handlung des Romans rechtfertigen (vgl. Merle, 2008: 273). 55 In der Studie May 68 in French Fiction and Film (1999) stellt Margaret Attack fest, dass Robert Merle der Historiographie von Nanterre treu bleibt. Sowohl die historischen Momente vor dem 22. März 1968 als auch diejenigen, die mit den Aktionen an diesem Tag verbunden sind, werden entweder oft als Erinnerung erwähnt oder zusammen mit den persönlichen Geschichten der Romanfiguren in die Handlung integriert (vgl. Attack, 1999: 36). Neben der Sprache sind Elemente wie das Auftreten historischer Persönlich‐ keiten, 54 die genaue Beschreibung des Campus in Nanterre und die Sorgfalt bei der Darstellung verschiedener politischer Ausrichtungen und soziokutureller Verhaltensweisen (auch wenn sie widersprüchlich sind) Zeichen der fast doku‐ mentarischen Sicht von Derrière la vitre auf den akademischen Mikrokosmos, wo die 1968er-Jugendrevolte beginnt. 2.2.3 Der Vorabend des akademischen Aufruhrs in Nanterre: der Fokus von Derrière la vitre In Derrière la vitre werden die Momente des akademischen Aufruhrs vor dem Ausbruch des Mai 68 in Paris nicht anhand eines einzigen Protagonisten, son‐ dern anhand einer breit gefächerten Gruppe junger und älterer Hauptfiguren nachgezeichnet. Die erzählte Zeit erstreckt sich im Wesentlichen auf den 22. März 1968, den Tag, an dem sich die revoltierenden Studenten der Fakultät für Geisteswissenschaften in Nanterre zu einer Protestaktion versammeln. Dies ist der Beginn der Studentenrevolte im Frühjahr 1968. Die Diegese umfasst die Ereignisse dieses Tages vom Morgengrauen bis in die Nacht. In jedem der elf Teile, aus denen der Roman zusammengesetzt ist, werden in Form von kurzen Kapiteln die individuellen Erlebnisse der Studenten, der Professoren oder sogar von Figuren des außeruniversitären Milieus wie die algerischen Bauarbeiter, die auf der Baustelle des Campus von Nanterre arbeiten, ins Licht gerückt. Alle diese Figuren sehen sich während dieser knapp vierundzwanzig Stunden direkt oder indirekt in die studentischen Kämpfe involviert. Durch eine nahe und individualisierte Beschreibung des Alltags, der Seminare und Vorlesungen und der Gespräche mit anderen Kollegen hat man Zugang zu dem Inneren der Akteure der Revolte - sowohl zu ihren politischen Motiven als auch zu ihren privaten Problemen. 55 In diesem Roman sind die Figuren der jungen rebellischen Generation etwa zwanzig Jahre alt und studieren Sprachen und Kultur, Soziologie und/ oder Psychologie in Nanterre. Jeder dieser Männer und Frauen durchlebt eine zugleich 111 2.2 Derrière la vitre von Robert Merle 56 Im Aufsatz »Une journée à Nanterre. Le 22 mars 1968 dans Derrière la vitre de Robert Merle« (2008) merkt Timo Obergöker an, dass sowohl die Figuren, die sich in der Revolte hervortun, als auch diejenigen, die eine Nebenrolle spielen, oder die, die daran gar nicht teilnehmen, dazu beitragen, ein Abbild der akademischen Szene vom Frühjahr 1968 zu geben (vgl. Obergöker, 2008: 166). öffentlich wie privat bewegte Zeit: Persönliche Unsicherheiten in Bezug auf den erfolgreichen Abschluss ihrer Studiengänge, auf ihre berufliche Perspektive (oder den Mangel an Perspektiven) und auf Ängste im Liebesleben sind mit Gedanken politischer Art aus jenem historischen Moment verbunden. Aktivisten und Mit‐ läufer, eher engagiert in der Revolte oder eher mit Persönlichem und Familiärem beschäftigt, bilden die jungen Figuren in Derrière la vitre ein heterogenes und vielfältiges menschliches Mosaik. 56 Die einzelnen Teile dieses Mosaiks lassen sich durch ein gemeinsames Empfinden der jungen Menschen verbinden, und zwar eine Unzufriedenheit mit der Universitätsrealität, die sie tagtäglich auf dem Campus von Nanterre verspüren. Jener neuer Campus, der Mitte der 1960er-Jahre im Rahmen einer Welle des Fortschritts und der Erweiterung der Universitäten errichtet wurde, war nicht nur in der realen Welt das Zentrum für den Durchbruch der studentischen Unruhen der 1968er-Generation, sondern er ist es auch in der erzählten Welt. Anne Wattel erklärt wie folgt die Bedeutung von Nanterre als Bühne für die Revolte im Roman: Merle se fait alors observateur ironique et distancié des ingrédients du cocktail explosif de 68, dans une France étouffoir, sclérosée. Car mai 68 - ses ingrédients, ses aspirations, ses contradictions, et ses limites - émerge en mars, à Nanterre. Par le seul prisme de Nanterre, un Nanterre carcéral, un Nanterre de la déliance à l’image de société gaullienne, Merle met en scène une « civilisation du verrou » […], une civilisation vitrifiée, pour reprendre le motif éponyme de la vitre qui dit à la fois la transparence et l’obstacle, la déliance et l’aspiration à une reliance à l’autre, au monde, une reliance qui suppose de briser la glace. (Wattel, 2015: 70) [Merle ist ein ironischer und distanzierter Beobachter der einzelnen Bestandteile des explosiven 1968er-Cocktails in einem erstickten und verödeten Frankreich. Der Mai 68 mit seinen Bestandteilen, seinen Vorstellungen, seinen Widersprüchen und seinen Begrenzungen beginnt im März in Nanterre. Durch das einzigartige Prisma von Nanterre, eines geschlossenen Orts, eines Orts der Trennung wie die gaullistische Gesellschaft, stellt Merle eine »geschlossene Gesellschaft« dar […], eine Gesellschaft hinter Glas, um das Leitmotiv des Glases wieder aufzunehmen, das gleichzeitig Transparenz und Hindernis, Trennung und Streben nach einer Verbindung zum Anderen, zur Welt, andeutet, eine Verbindung, die den Glasbruch voraussetzt.] 112 2 Darstellung der Prosawerke 57 Timo Obergöker erklärt auf folgende Weise die Ursachen und Konsequenzen des Baus des neuen Universitätskomplexes am Stadtrand von Paris, der in Derrière la vitre am Anfang ausführlich dargestellt wird: »Et c’est là, devant les portes de Paris, dans la boue loin de tout, que le gouvernement français décide de construire une nouvelle Université qui puisse décharger une Sorbonne trop pleine. Nanterre va donc connaître une carrière étonnante, le petit village sera ville universitaire et préfecture en peu de temps. Nanterre va constituer le nucléus d’un phénomène qui marquera tant la France que l’Allemagne, à savoir la ‹ periphérisation › de l’enseignement supérieur. […] dorénavant le savoir se situera en marge de nos villes, dans des zones périphériques, un fait qui coupera durablement le monde de l’université de la ville« (Obergöker, 2008: 163). [Dort, vor den Toren von Paris, beschließt die französische Regierung, mitten in einer Schlammwüste eine neue Universität bauen zu lassen, um die überfüllte Sorbonne zu entlasten. Nanterre erfährt so eine erschreckende Veränderung, eine kleine Stadt, die sich in kurzer Zeit in eine Universitätsstadt und Kreisstadt verwandelt. Nanterre wird zum Zentrum eines Phänomens, das Frankreich wie Deutschland prägt, nämlich der Verlagerung der Hochschulbildung in die Randgebiete der Städte. […] Fortan verlagert sich das Wissen an die Grenzen unserer Städte, an die Peripherie, was zur Trennung von der Universitätswelt von der der Stadt führt.] 58 E. B. Boyd kommentiert die Probleme der im Roman dargestellten fehlenden Infra‐ struktur und die Unzufriedenheit der jungen Figuren mit diesen unpersönlichen Gebäuden so: »In Derrière la vitre, the impression of sterility is reinforced by references Derrière la vitre kontextualisiert die Genese der Revolte und beginnt mit einer de‐ taillierten Darstellung der Entwicklung von Nanterre in eine Universitätsstadt. Er zeigt ein Nanterre, das vor 1960 wenig mehr als eine Wüste vor den Toren von Paris gewesen ist (vgl. DV: 21), wo nur Bidonvilles auftauchen, d. h. Viertel mit Wellblechhütten, in denen die Gastarbeiter oft illegal und ohne finanzielle Mittel wohnen und ihren Lebensunterhalt in den Fabriken des Pariser Umlandes zu verdienen versuchen. Mit dem Anwachsen der Studentenzahlen an der Sorbonne in Paris zog die geisteswissenschaftliche Fakultät 1964 nach Nanterre auf einen im Bau befindlichen Universitätsstandort. Wie es im Roman zu lesen ist, führte dies in kurzer Zeit zu einer Veränderung der Stadt in eine »ville-usine, ville-dortoir et ville-universitaire« (ebd.: 25) [Fabrikstadt, eine Schlafstadt und Universitätsstadt]. Die Campusuniversität besteht aus geräumigen Glasbauten aus modernen und neuartigen architektonischen Entwürfen. Dieses neue Pro‐ jekt sollte den Studenten eine bessere Infrastruktur bieten, um so dem Problem der überfüllten Hörsäle der alten Universität zu begegnen (vgl. ebd.: 23). Trotz dieses Vorhabens wurde auch Nanterre in kurzer Zeit zu einem überfüllten universitären Standort, in dem die mehr als 12 000 Studenten Tür an Tür mit den mehrheitlich algerischen Arbeitern der Wellblechsiedlung leben. 57 Weit davon entfernt, sich auf diesem modernen Campus privilegiert zu fühlen und zufrieden zu sein, erleben diese Studenten im Roman die Einschränkungen eines Campus, der mehr einer Baustelle als einer Hochschule gleicht (vgl. DV: 38). 58 113 2.2 Derrière la vitre von Robert Merle to the yellowing, unhealthy grass, and the vast expanses of concrete, some of it still being laid outside the hall of residence. Inside, the walls are uniformly grey and the rooms cramped and depressing. The novel communicates the impression that the buildings stifle their occupants. The reader is surprised to learn that, not only is the library to be built half a kilometre away from the Faculty of Arts, but no library at all had been envisaged by the designer« (Boyd, 1975: 28). Darüber hinaus spüren sie ein Gefühl der Isolierung, da sie von der lebendigen Hauptstadt entfernt und entfremdet neben den Bidonvilles, die die Fakultät umringen, leben sollen. Die Studentin Danièle Toronto meint: Et qu’est-ce que ça veut dire, d’abord, Nanterre, pour un étudiant? Strictement rien. Qui de nous connaît la mairie, l’église, un seul des 40 000 ouvriers nanterrois, un seul des 10 000 Algériens des bidonvilles? Tous ces mondes existent côte à côte, sans fenêtre l’un sur l’autre. […] Elle pensa avec désespoir, trois mondes fermés, sans aucun contact. Nanterre, les bidonvilles, la Fac. Une juxtaposition de ghettos, et le pire de tous, la Fac. Dans les bidonvilles, au moins, ils se connaissent, ils s’entraident, ils sont malheureux ensemble. Ici, c’est l’isolement total, l’anonymat désolant. Personne n’existe pour personne. […] La solitude la plus irrémédiable, chacun enfermé dans son moi et sa pauvre histoire personnelle, oh, c’est affreux, c’est intolérable, je hais Nanterre! Ces buildings industriels, ce grouillement d’insectes, le gigantisme des amphis, et ce couloir surtout, ce couloir kafkaïen, inhumain, interminable. (DV: 135 f.) [Und was bedeutet Nanterre für uns Studenten? Genaugenommen nichts. Wer von uns kennt das Rathaus, die Kirche, einen einzigen der vierzigtausend Arbeiter der Stadt, einen einzigen der zehntausend Algerier in den Bidonvilles? Jede dieser Welten exis‐ tiert für sich allein. […] Drei abgeschlossene Welten, dachte sie verzweifelt, ohne jeden Kontakt. Nanterre, die Bidonvilles, die Uni. Lauter Ghettos, und das schlimmste davon die Uni. In den Bidonvilles kennen sie sich wenigstens, sie helfen sich untereinander, sie sind gemeinsam unglücklich. Aber hier, totale Isolation, trostlose Anonymität. Keiner ist für den anderen da. […] Unabänderliche Einsamkeit, jeder in sein Ich und seine eigene klägliche Geschichte vergraben, oh, es ist schrecklich, unerträglich, ich hasse Nanterre! Diese Betonklötze, dieses Insektengewimmel, der Gigantismus der Hörsäle, und dieser Flur vor allem, dieser kafkaeske, unmenschliche, endlose Flur. (Hinter Glas, 1974: 98 f.)] Zusammen mit dem Missfallen an der industriellen Architektur und der feh‐ lenden Öffnung des Campus von Nanterre zu den umgebenden Welten ist auch die innerhalb der Mauern der Fakultät erlebte Wirklichkeit unbefriedigend für die Studenten in Derrière la vitre. Sie beklagen sich über eine Massenab‐ fertigung in der Lehre, die die Interessen und Motivationen jedes einzelnen jungen Menschen vernachlässigt, sowie über die unpersönlichen Beziehungen 114 2 Darstellung der Prosawerke 59 Die Bezeichnung »enragés« [die Wütenden] für die Studenten ist nicht unbeabsichtigt gewählt und hat historische Referenzen. Die Studenten, die in der Tat zur Bewegung des 22. März gehörten, wurden als »Wütende« bekannt. Im Wörterbuch des Mai 68 steht dazu: »[…] les enragés désignent en 1968 les militants nanterrois, gauchistes et anarchistes qui n’hésitent pas à perturber les cours, à recouvrir d’inscriptions parfois injurieuses les murs, à affronter la police, à interpeller les professeurs, bref des étudiants pas raisonnables du tout et d’ailleurs pas toujours de vrais étudiants. […] Par extension, avec l’élargissement du mouvement de contestation, les enragés zwischen Studenten und Professoren. Die fehlende Nähe zwischen Studenten und Dozenten und das autoritäre Verhalten vieler Professoren gehören zu den hauptsächlichen Kritikpunkten der jungen Figuren in diesem Roman. Ein Beleg dafür ist ihr Aufbegehren gegen das Verhalten des Dekans der Fakultät, Pierre Grappin, den sie als »flic« und »nazi« ansehen (DV: 49). Ein anderes Beispiel ist die fehlende Meinungsfreiheit in den Seminaren von Rancé, der der Meinung ist, die Universität sei für die Professoren da und nicht für die Studenten (vgl. ebd.: 80). Weiterhin erleben die Studenten die Konsequenzen eines standardisierten Universitätssystems, das sie zum Erfolg in einer akademisch und beruflich durch Konkurrenz geprägten Welt zwingt. All diese Gedanken finden sich in den Äußerungen des Literaturstudenten Lucien Ménestrel: […] il regarda à l’horizon le chantier de la Fac de Droit, et sur sa droite, les cubes de béton de la Fac des Lettres. Verre, béton et aluminium, les cubes bien carrés et les fenêtres rectangulaires. L’immense usine à fabriquer des licenciés, rendement faible, très faible, 70 % d’échecs, et qu’est-ce qu’on faisait des déchets, et moi je peux pas me permettre d’être un déchet, ni de perdre ma bourse, ni de piétiner des années comme pion. (DV: 38 f.) [[…] er sah die Baustelle der Juristischen Fakultät am Horizont und seitlich die Betonblöcke der Phil-Fak. Glas, Beton, Aluminium, die Gebäude schön quadratisch, die Fenster rechteckig. Eine riesige Fabrik zur Herstellung von Lizentiaten, die Ausbeute war kläglich, sehr kläglich, siebzig Prozent fielen durch, und was wurde aus denen, die »abgeschossen« wurden, ich kann es mir nicht leisten, abgeschossen zu werden oder mein Stipendium zu verlieren oder Jahre als Einpauker zu verplempern. (Hinter Glas, 1974: 26)] Diese Enttäuschung über das Bildungswesen und das Gefühl der Nichtteilhabe an den akademischen und administrativen Entscheidungen in der Universität werden zum Antrieb der Rebellen für die Revolte in Derrière la vitre. Die »enragés«, oder wildgewordene Studenten, wie sie Professor Rancé nennt (DV: 279), setzen sich dafür ein, sich auf einem Campus Gehör zu verschaffen, auf dem sich Studenten und Professoren seit März 1967 im Konflikt miteinander befinden (vgl. ebd.: 53). 59 Zeichen für die zunehmende Verschärfung der Revolte 115 2.2 Derrière la vitre von Robert Merle sont successivement […] les sympathisants du Mouvement 22 mars, puis les étudiants qui, rejoints par de jeunes ouvriers, s’affrontent à la police dans les grands villes« (Capdevielle/ Rey, 2008: 167). [[…] die Wütenden bezeichnen 1968 die militanten Linken und Anarchisten in Nanterre, die nicht zögern, die Seminare zu stören, die Wände mit teilweise beleidigenden Parolen zu beschmieren, der Polizei entgegen zu treten, Professoren anzureden, kurzum, nicht einsichtige Studenten und nicht immer wahre Studenten […] Mit der Verbreitung der Protestbewegung werden die Wütenden die Unterstützer der Bewegung des 22. März und auch die Gruppe der Studenten, die zusammen mit den jungen Arbeitern der Polizei in den großen Städten entgegentreten.] 60 Über die Symbolkraft des Glases im Roman sagt Anne Wattel: »Ce qui domine à Nanterre, c’est la vitre : glace securit, verre dépoli, portes de verre, baies vitrées, etc. La vitre est à la fois ouverture et clôture : elle offre un semblant d’accès à l’autre par le regard, mais c’est un accès amputé, car la vitre est écran. Elle sépare l’intérieur de l’extérieur, elle dit à la fois la présence et l’absence, elle fait obstacle et signe l’impossibilité d’une rencontre« (Wattel, 2015: 72). [Was in Nanterre vorherrscht, ist das Glas: Gehärtetes Glas, Milchglas, Glastüren, Glasfassaden, usw. Das Glas sym‐ bolisiert gleichzeitig Offenheit und Verschlossenheit: Es ermöglicht augenscheinlich Zugang zum anderen, aber es ist ein eingeschränkter Zugang, denn das Glas ist eine Abschirmung. Es trennt das Innere vom Außen, symbolisiert An- und Abwesenheit, ist Hindernis und bedeutet die Unmöglichkeit einer Begegnung.] sind die Vielzahl von linken Gruppen, seien sie kommunistisch, anarchistisch, marxistisch-leninistisch, trotzkistisch oder maoistisch, und die Organisation verschiedener Protestaktionen. Nach Monaten des Streiks, nach dem Eindringen in das Studentenwohnheim, dem Angriff auf den Dekan und dem Widerstand gegen die Präsenz der Polizei auf dem Campus entsteht jetzt eine neue Idee: den Verwaltungsturm und den Sitzungssaal des Professorenrates zu besetzen. In den Augen der Studenten symbolisieren diese zwei Orte die tyrannische, repressive, akademische Macht, der begegnet werden muss und die sich hinter den modernen Glasbauten von Nanterre befindet - jene Glasbauten, die mit einem Aquarium, einem Käfig aus Glas vom Professor für englische Sprache und Literatur Frémincourt verglichen werden in einer deutlichen Anspielung zum Titel des Romans (vgl. ebd.: 406). 60 Diese Lust der jungen Figuren, eine solche Macht zu bekämpfen, kommt zum Ausdruck in den Worten vom politisch engagierten Studenten David Schultz: David regarda avec colère, de l’autre côté de la terrasse, la tour administrative. Ce monument de prétention, ce chef-d’œuvre de hiérarchie verticale, ce symbole phallique de l’autorité répressive, et tout en haut de la tour, au huitième étage, l’immense baie vitrée du conseil des professeurs, chacun bien assis sur sa « chaire » et surveillant, comme du haut d’un mirador, les douze mille étudiants dociles, douze mille bêtes à parquer, à gaver de science « objective », à sélectionner en fin de parcours, et à restituer enfin à la société, transformées en parfaits petits cadres « apolitiques » et châtrés de la société capitaliste. 116 2 Darstellung der Prosawerke 61 Außer Cohn-Bendit und Xavier Langlade werden im Roman Jean-Pierre Duteil und Camille Scalabrino als historische Figuren jener Protestaktion erwähnt - zwei Persönlichkeiten, die tatsächlich an dem historischen Moment in Nanterre beteiligt waren und sich der Bewegung des 22. März anschlossen. 62 1967 forderte Daniel Cohn-Bendit bei der Einweihung des Schwimmbades den zuständigen Minister für Jugend und Sport heraus und kritisierte ihn wegen der fehlenden Aufmerksam‐ keit der Regierung für die sexuellen Probleme der jungen Menschen - dies war sowohl ein tatsächliches Geschehnis in der realen Welt als auch in der erzählten Welt. In der Geschichte […] Leur sélection, leur fameuse sélection de fin d’année et son rituel sadomasochiste sacré d’examen magique, c’est là qu’il fallait frapper. (DV: 121) [David blickte zornig zum Verwaltungsturm auf der anderen Seite der Terrasse hinüber. Dieses Monument der Anmaßung, dieses Meisterwerk vertikaler Hierar‐ chie, phallisches Symbol der repressiven Autorität, und oben auf dem Turm, im achten Stock, die riesige Glasfront vom Konferenzsaal der Professoren, jeder fest auf seinem »Stuhl«, jeder ein Wächter von der Höhe herab über zwölftausend gelehrige Studenten, zwölftausend Tiere, die man einpfercht, mit »objektiver« Wissenschaft mästet, am Ende des Durchlaufs einer Auslese unterzieht und schließlich auf die Ge‐ sellschaft losläßt, verwandelt in perfekte, für den kapitalistischen Apparat kastrierte »apolitische« Kader. […] Ihre Auslese, ihre berühmte Auslese am Ende des Studien‐ jahrs mit dem geheiligten sadistisch-masochistischen Ritual der Wunderprüfung, da müßte man hineinschlagen. (Hinter Glas, 1974: 87 f.)] An dieser Protestaktion, die am Ende des Nachmittags stattfindet, nehmen circa einhundertfünfzig Studenten teil (vgl. DV: 383). Unter ihnen sind sowohl historische Persönlichkeiten wie Daniel Cohn-Bendit oder Xavier Langlade als auch fiktive Figuren wie der Anarchist David Schultz oder die Vertreter der Studentenvereinigung Union des Étudiants Communistes (UEC) [Kommunistischer Studentenverbund], Jaumet und Denise Fargeot. 61 Trotz der unterschiedlichen Visionen und Strategien in Bezug auf die Ausrichtung der Revolte verbindet diese Figuren und ihre verschiedenen Gruppierungen, zu denen sie gehören, an diesem Tag ein gemeinsames Ziel: Sie wollen gegen die politisch motivierte Verhaftung von Xavier Langlade und anderer Aktivisten am 20. März 1968 protestieren, die verdächtigt wurden, den Sitz der US-amerikanischen Bank American Express in Paris während einer Demonstration gegen die US-Bombardements in Vietnam verwüstet zu haben (vgl. DV: 179). In der Tat gilt das Engagement nicht nur der Reform des Erziehungswesens und dem Machtkampf gegen die Universitätspro‐ fessoren, sondern diese jungen Figuren mobilisieren sich auch aus politischen Gründen. Im Roman zeigt sich der Aufstand gegen das konservative Regime von de Gaulle beispielsweise deutlich, als 1967 der Minister für Jugend und Sport, François Missoffe, auf den Campus von Nanterre zu Besuch kommt. 62 So ist es auch Anfang 117 2.2 Derrière la vitre von Robert Merle wurde dieser Zwischenfall zu einem Meilenstein für die Studenten von Nanterre im Kampf gegen die gaullistische Gesellschaft, indem er den Willen der jungen Menschen zeigte, den herrschenden Konservatismus in Frage zu stellen. Im Roman wird dieses Ereignis nur in einem Gespräch unter Professoren kommentiert (vgl. DV: 276): Einige bewundern Cohn-Bendits Mut, den Minister direkt konfrontiert zu haben, während andere skeptisch gegenüber dieser Aktion bleiben. 63 »(DV: 94) [Wenn jemand in der Furcht lebt, seinen Eltern ähnlich zu werden, dann bin ich es (Hinter Glas, 1974: 68)]« 1968 beim Protest gegen das Schweigen der französischen Gesellschaft angesichts der US-Greuel in Vietnam und bei den Solidaritätsbekundungen einiger Studenten hinsichtlich der Lage der illegalen Einwanderer und Bewohner der Bidonvilles, besonders im Falle des jungen Algeriers Abdelaziz. Alle diese Beweggründe einigen die Rebellen von Derrière la vitre und werden in einem von den Studenten verfassten Manifest am Ende der Versammlung im Raum des Professorenrats deutlich, in dem sie ihr Kampfziel äußern: »A chaque étape de la répression […] nous riposterons d’une manière de plus en plus radicale« (ebd.: 532; Hervorhebung im Original) [Auf jede Steigerung der Repression […] werden wir von Mal zu Mal radikaler zurückschlagen (Hinter Glas, 1974: 397)]. An jenem Tag ist die Revolte das einigende Thema, das alle Gespräche zwi‐ schen Studenten, Aktivisten, Nicht-Aktivisten, Professoren und auch sogar der Universitätsleitung bestimmt (vgl. Eichelberg, 1987: 29). Keiner bleibt unbeein‐ druckt von dem Willen der Studenten, inner- und außerhalb des Campus sich zu behaupten und gegen ihren Status als unbekannte junge Menschen zu kämpfen, den sie in den Augen der älteren Generation hatten (vgl. DV: 384). Mehr als durch eine gemeinsame Ideologie ist der 22. März geprägt durch die Infragestellung des Handelns der Autoritäten und durch die Entschlossenheit der »Wütenden« des Romans, das Establishment zu verändern. Diese Widerstandshaltung umfasst jedoch nicht nur den politischen Aktivismus, sondern genauso den sozialen und kulturellen Bruch mit dem Status quo. 2.2.4 »S’il y a quelqu’un qui vit dans la terreur de ressembler à ses parents, c’est moi«: 63 einige Aspekte der sexuellen Revolution und des Sittenwandels In Derrière la vitre setzen sich die Studenten an die Spitze des Kampfes gegen die bürgerlichen und traditionalistischen Werte, die in der Gesellschaft vorherrschen. Einige davon entscheiden sich in diesem Jahr, aus dem Lebensstil der Eltern aus‐ zusteigen und mit den geerbten Prinzipien von ihren eigenen Familien zu brechen: hauptsächlich wohlhabende Familien, die aus der oberen Mittelschicht oder sogar Oberschicht stammen und die sich um ihren gesellschaftlichen Status kümmern. 118 2 Darstellung der Prosawerke Verwöhnte Kinder reicher Herkunft wie David Schultz, Brigitte oder Jaqueline Cavaillon öffnen sich in Nanterre neuen Erfahrungen und ihr abweichendes Verhalten zeigt den Bruch mit der Welt ihrer Eltern an. In einer Zeit, in der Waschen, Rasieren und Saubermachen als bürgerliche und konterrevolutionäre Gewohnheiten angesehen werden (vgl. DV: 35), zeigen viele ein revolutionäres Aussehen. So wie der Anarchist David Schultz, der auf dem Campus wegen seines revolutionären Stils mit Jeans, langen Haaren und lockerem Aussehen bewundert wird (vgl. ebd.: 118), ist auch der Kommunist Jaumet ein Frauenschwarm. Zu dieser Popularität trägt auch das ungezwungene sexuelle Verhalten bei. Das Ausleben der freien Liebe sowohl von Männern als auch von Frauen wird von beiden propagiert. Obwohl David in seinen sexuellen Erfahrungen mit verschiedenen Partnerinnen etwas zurückhaltender ist als Jaumet, will er, dass die freie Liebe auf dem Campus allgemein gelebt wird. Ein Beispiel dafür ist, wie enthusiastisch er Brigitte den Einbruch in das Studentinnenwohnheim beschreibt: Das Ziel dieser Protestaktion des Jahres 1967 - die auch ein tatsächliches Geschehnis in der realen Welt war - war es, die sexuelle Trennung in der Universität aufzuheben. Für den selbst daran beteiligten David bedeutet das den Anfang vom Ende der sogenannten guten Sitten in Nanterre. Ab jenem Moment sollten die Studenten ihre Empörung gegen die konservative Gesellschaft zeigen - eine Gesellschaft, die sich über die sexuelle Freiheit moralisch entrüstet. Die Öffnung Nanterres hin zur freien Liebe ist auch bei den Studentinnen zu finden. Einige beginnen weniger Hemmungen davor zu haben, ihre Partner zu tauschen, und versuchen, Beziehungen ohne Verpflichtungen spontan zu führen, nach dem Motto: »[…] moi je fais l’amour comme je bois une tasse de café« (DV: 155) [[mit jemandem schlafen; IG] das ist für mich so, als wenn ich eine Tasse Kaffee trinke (Hinter Glas, 1974: 112)]. Im Gegensatz zu den jungen Männern sind es aber die Studentinnen, die in Derrière la vitre mehr Schwierigkeiten haben, ihre Sexualität frei und ungezwungen auszuleben. Für diese jungen Frauen ist die freie Liebe noch mit vielen Vorurteilen behaftet, weshalb es wenige sind, die es wagen, mit den soziokulturellen Tabus zu brechen und ein von Emanzipation geprägtes Sexualleben für sich anzunehmen (vgl. DV: 44). Selbst nach dem erreichten Ziel, sich frei zwischen den Frauen- und Männerstudentenwohnheimen bewegen zu können, bestehen auf dem Campus weiterhin Anzeichen der Diskriminierung von Frauen. So betont die junge Ida Laurent in einer Diskussion mit Jaumet über sexuelle Freiheit: — Prenons un exemple […]. Un garçon tombe amoureux d’une minette qui vit à Neuilly avec ses parents. Si elle est consentante, il peut la recevoir dans sa chambre à la 119 2.2 Derrière la vitre von Robert Merle 64 Die Beziehungen von Jacqueline, Brigitte und anderen jungen Figuren sowie ihre Reflexionen über ihre persönlichen Erfahrungen im Rahmen der sexuellen Befreiung und der Liberalisierung der Sitten werden im dritten Kapitel im Detail analysiert (siehe Kapitel 3.3.1 und 3.3.2). Résidence. Bien. Supposons que ce soit moi qui tombe amoureuse d’un garçon qui vit à Neuilly : est-ce que je peux le recevoir? Non. Et tu trouves ça juste? (DV: 192) [»Nehmen wir ein Beispiel« […] »Ein Junge verliebt sich in ein Mädchen, das in Neuilly bei ihren Eltern wohnt. Wenn sie willig ist, kann er sie mit ins Wohnheim auf sein Zimmer nehmen. So. Nehmen wir an, ich verliebe mich in einen Jungen aus Neuilly: kann ich ihn mit auf mein Zimmer nehmen? Nein. Und das findest du richtig? « (Hinter Glas, 1974: 143)] In Nanterre erfahren junge Frauen wie Brigitte und Jacqueline täglich einerseits diese Einschränkungen und andererseits einen gewissen Druck, die sexuelle Befreiung im Rahmen der Studentenbewegung zu erleben. Die bürgerliche und konservative Erziehung, die sie bekamen, hindert sie nicht daran, sich sexuell auszuprobieren und neue Partner zu finden. Eher im Gegenteil: Auch angetrieben vom Wunsch, gegen die Welt ihrer Eltern zu rebellieren, zeigen sie sich begierig, Sex ohne Verpflichtungen zu erfahren. In der Beziehung von Brigitte und David ist ihr Wille erkennbar, nicht den denselben Regeln zu gehorchen wie ihre Eltern, in deren Ehe Betrug und Misstrauen herrschen (vgl. DV: 222). Im Fall von Jacqueline ist die Entschlossenheit, mit der Tradition und mit der Sinnlosigkeit der Welt ihrer Eltern zu brechen, noch stärker. Wie sie betont: Et moi, finir vieille fille, entre Papa et Maman, ou me marier, comme Maman à trente ans! « J’ai bien été récompensée, ma fille, d’avoir tant attendu. Tu comprends, un polytech‐ nicien, il n’y avait rien au-dessus. » Mon Dieu, pauvre mère, qu’est-ce que tu es conne! Tant d’histoires pour un petit bout de peau. Les vieux, c’est effarant. A mon avis, on devrait faire l’amour comme on boit un verre d’eau. (DV: 94; Hervorhebung im Original) [Und soll ich vielleicht als alte Jungfer enden, zu Hause bei Papa und Mama, oder wie Mama mit dreißig Jahren heiraten? Ich bin reich dafür belohnt worden, mein Kind, daß ich so lange gewartet habe. Ein Ingenieur vom Polytechnikum, siehst du, etwas Besseres konnte ich gar nicht finden. Mein Gott, arme Mama, was bist du blöd! Soviel Wind um ein kleines Häutchen. Fürchterlich, diese Alten. Ich finde, man müßte mit Jungs schlafen, wie man ein Glas Wasser trinkt. (Hinter Glas, 1974: 68; Hervorhebung im Original)] Die Verteidigung der freien Liebe als Ausdruck des Generationenkonfliktes bedeutet nicht, dass Jacqueline über die emotionalen und soziokulturellen Konsequenzen einer offenen Sexualität nicht reflektiert. 64 Darüber hinaus soll bemerkt werden, dass nicht alle jungen Menschen in Nanterre diese Auffassung 120 2 Darstellung der Prosawerke 65 Zu der Frage, wie die sexuelle Revolution und die Liberalisierung der Sitten in Derrière la vitre behandelt werden, führt Margaret Attack aus: »First, the writing of sexuality in the novel is immensely complex, involving history, geography, politics as well as psychology, and is not just subordinated to a discourse of trivialization; secondly, it is articulated with other related elements: sexual liberation, women, and femininity, which in themselves are not sociologically important, but also suggest that, in relation to the representation of 1968, Derrière la vitre is a political text in the sense that politics will come to be defined, that is, not just confined to political activism but embracing culture and society« (Attack, 1999: 40 f.). von ausschließlich sexuell motivierten Beziehungen teilen. In der heterogenen Gruppe in Derrière la vitre gibt es zum Beispiel Lucien Ménestrel oder Denise Fargeot, für die die Sexualität nicht einem radikalen Wandel der Sitten unter‐ worfen ist. Die Fragen rund um die Jungfräulichkeit, eine größere Zahl an Sexualpartnern oder die Anti-Baby-Pille sind für sie selbstverständlich und bedeuten keine soziopolitische Auseinandersetzung mit dem Status quo. In einer Zeit, in der das Politische und das Persönliche voneinander abhängen, wird die sexuelle Revolution in Nanterre auch von dieser ständigen Konfronta‐ tion von radikaleren und konventionelleren Lebensentwürfen charakterisiert. 65 So wie im Politischen ist auch im Privaten keine Uniformität der Lebensstile festzustellen: In Derrière la vitre hat jeder Student trotz verschiedener Schwie‐ rigkeiten die Wahl, seine eigene Sexualität in einem Prozess des Ausprobierens und der Selbstreflexion zu bestimmen (vgl. Eichelberg, 1987: 41). 2.3 I giorni del dissenso von Giorgio Cesarano 2.3.1 I giorni del dissenso im Kontext der 1968er-Literatur in Italien Ende der 1960er-Jahre nahmen die Jugendproteste in Italien ein bis dahin nicht gekanntes Ausmaß an und das Land befand sich deswegen unter einer deutlich spür‐ baren Anspannung. Dies führte dazu, dass verschiedenste Bereiche der Gesellschaft auf die Probe gestellt wurden. Der Aufruhr prägte den Alltag an den Universitäten und das zunehmend offenkundige Anwachsen der Studentenbewegung gehörte zur Tagesordnung. Insbesondere in den Jahren 1968 und 1969 nahmen auch Streiks und Lahmlegungen von Fabriken zu und das Aufkommen erster politisch motivierter Terroranschläge und des bewaffneten Kampfes gegen das Establishment wurde registriert. Auf der politischen Verwaltungsebene herrschte Unbeständigkeit, gekennzeichnet durch Machtkrisen, Regierungsstürze und mehrere Wahlen in Folge, sodass die verschiedenen Regierungen nicht in der Lage waren, in einer 121 2.3 I giorni del dissenso von Giorgio Cesarano 66 In einem 1989 von Silvano Tartarini durchgeführten Interview reflektiert der bekannte Autor, Essayist und Literaturkritiker Franco Fortini über die Rolle der verschiedenen soziokulturellen Bewegungen von 1968 in der italienischen Literatur. Seiner Meinung nach stieß der studentische Aufstand von 1977 - der als Movimento ’77 [Bewegung 1977] bekannt wurde und in verschiedenen italienischen Universitäten stattfand - aufgrund seines anarchistischen Charakters auf weit mehr Interesse als die 1968er-Studenten- und Arbeiterbewegung (vgl. Fortini, 1989: 527f.). 67 Laut Franco Fortini versuchten die gegen Ende der 1960er- oder in den 1970er-Jahren erschienenen literarischen Werke mithilfe von Metaphern und Allegorien die Atmosphäre der 1968er-Proteste neu zu interpretieren, ohne sich jedoch dabei direkt mit Ereignissen des studentischen Aufruhrs und dem der Arbeiter zu befassen (vgl. Fortini, 1989: 527f.). Unter diesen Werken ist die Lyrik-Anthologie Il mondo salvato dai ragazzini von Elsa Morante eines derjenigen, die hervorzuheben sind. In dieser Anthologie, die 1968 veröffentlicht wurde und in welcher verschiedene Gedichte der 1960er-Jahre erschienen, werden die von den jungen Menschen angetriebenen soziokulturellen Veränderungen und ihr Wille zum gesellschaftlichen Wandel deutlich. Gesellschaft in Ausnahmesituation Stabilität zu bewahren. In kultureller Hinsicht wimmelte es vor lauter neuen Entwicklungen der jungen Menschen: Sowohl der Umschwung in der Sprache und der Ausdrucksweise, im Bekleidungsstil und in der Musik der Beat-Generation als auch die sexuelle Befreiung trugen dazu bei, den Drang der jungen Leute zur Erneuerung der Gesellschaft auszubreiten - etwas, was den Bruch mit einem noch sehr an konservativen Lebensentwürfen festhaltenden Italien deutlich machte (siehe Kapitel 1.4). Ab dem Jahr 1967 schlugen sich diese spannungsgeladene Atmosphäre der Studentenrevolte und die damit zusammenhängenden Ereignisse in der öffentlichen Diskussion nieder und wurden allmählich von verschiedenen Medien verbreitet (vgl. Casilio, 2013: 142). Trotz dieser medialen Aufmerksamkeit stießen jedoch die studentischen Proteste von 1968 nicht auf dasselbe Interesse in der Literatur. Weder gegen Ende der 1960er-Jahre noch im folgenden Jahrzehnt wurden die Erfahrungen der Studentenrevolte und des Kampfs gegen das Establishment in der italienischen Literatur umfassender verarbeitet. 66 Im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland, wo eine junge Autorengeneration am Ende der 1960er-Jahre und während der 1970er-Jahre sich mit der literarischen Darstellung der 1968er-Studentenbewegung beschäftigt (siehe Kapitel 2.1.1), oder im Gegensatz zu Frankreich, wo sich eine Reihe von Romanen über den Mai 68 findet (siehe Kapitel 2.2.1), ist das literarische Schaffen zu diesem Thema in Italien eher verstreut und eklektisch. Bei den Werken, die Ende der 1960er-Jahre und in der ersten Hälfte der 1970er erschienen sind, lässt sich eine große Vielfältigkeit bei der Behandlung der verschiedenen Facetten der Proteste verzeichnen. Dies spiegelt sich in der literarischen Ausdrucksvielfalt wider: In lyrischen 67 sowie in Prosatexten - insbesondere in Romanen und Chro‐ niken - nahmen die wenigen Autoren, die sich mit dieser Zeit befassten, eine 122 2 Darstellung der Prosawerke 68 Neben dem Buch Scritti corsari mit Aufsätzen und Chroniken von Pier Paolo Pasolini - 1975 postum herausgegeben - erschienen in den 1960ern und 1970ern diverse Romane, deren Fokus die Nachwirkung und die Folgen der politischen und soziokulturellen Unruhen der 1960er-Jahren waren. In Vogliamo tutto (1971) von Nanni Balestrini steht die Arbeiterbewe‐ gung im Vordergrund, indem die Atmosphäre der soziopolitischen Spannungen von 1968 anhand der Arbeiterproteste in den großen Fabriken in Norditalien nachgezeichnet wird. Cani sciolti (1973) von Renzo Paris ist durch die Entzauberung der Jugendutopien von 1968 geprägt. Darin durchleuchten zwei Lehrer die anarchischen Protesterfahrungen aus ihren jungen Jahren und tauschen sich über Briefe aus, in denen ein Frustgefühl zum Ausdruck kommt, weil der ersehnte Wandel der Gesellschaft nicht erreicht wurde. Der Terrorismus, der bewaffnete Kampf und die Gewalt der »anni di piombo« [Bleierne Jahre] werden in Romanen wie La Paloma (1972) von Carlo Castellaneta, Nessuna pietà per Giuseppe (1978) von Giovanni Pascutto, Il custode della legge (1979) von Mario Miccinesi und Memorie del crudele inverno (1979) von Domenico Campana untersucht (vgl. Manacorda, 1987: 293f.). Die Studentenbewegung und die akademischen Proteste von 1968 kommen in diesen Romanen nicht in der Handlung vor oder es wird ihnen keine wichtige Rolle zugeschrieben. von Reflexion geprägte Haltung ein. Die Reflexion bezog sich nicht nur auf die Studentenbewegung, sondern gleichermaßen auf die unterschiedlichen politischen und soziokulturellen Ereignisse dieser Epoche (vgl. Rondini, 2009: 11). Darüber hinaus wird ein vielgestaltiges thematisches Spektrum ersichtlich. Dies ist auf den kritischen Blick eines jeden Autors (vgl. ebd.: 4) zurückzuführen, der unabhängig von seinem Engagement in politischen Interventionsprojekten immer versuchte, die aktuellen Geschehnisse zu hinterfragen. Zu der breiten Palette der untersuchten Motive gehören die studentischen Proteste, die Arbeiterbewegung und der Kampf der Arbeiter für bessere Lebensbedingungen, die Utopien von 1968, die damit verknüpften Hoffnungen und Enttäuschungen sowie die mit dem Terrorismus und dem bewaffneten Kampf zusammenhängenden Geschehnisse. 68 Andrea Rondini erklärt in seinem Aufsatz über die 1968er-Literatur in Italien: Sul versante della letteratura istituzionale i temi sono quelli che legano, spesso in modo problematico, l’impegno pubblico con le dinamiche del privato, una concezione libertario-anarchica e una più politicizzata, la posizione delle forze politiche di sinistra, il ruolo dei media […]. (Rondini, 2009: 11) [Was die etablierte Literatur betrifft, sind es Themen, die häufig auf problematische Weise das öffentliche Engagement mit der Dynamik des Privaten, ein libertär-anar‐ chistisches und ein eher politisiertes Weltbild, die Stellung der politischen Kräfte der Linken und die Rolle der Medien miteinander verknüpfen […].] Das Infragestellen des öffentlichen Raums und der Privatsphäre, die Erkun‐ dung der Verpflichtung des Einzelnen im gesellschaftlichen Wandel sowie die Problematisierung der Rolle der Bewegung der Linken im Kontext der Studentenproteste sind einige markante Merkmale von Giorgio Cesaranos 123 2.3 I giorni del dissenso von Giorgio Cesarano 69 In La letteratura del rifiuto (1981) [Die Literatur der Ablehnung] analysiert Gian Carlo Ferretti die poetischen Werke von Giorgio Cesarano aus den 1960er-Jahren und beschreibt er, dass die Unzufriedenheit, die Revolte, die Reue wegen der verlorenen Chancen, das ständige selbstkritische Verurteilen der Vergangenheit, die Verzweiflung und der Protest sowie das Hinterfragen der Probleme verbunden mit dem Neokapita‐ lismus, dem Kolonialismus oder der Revolution, wesentliche Merkmale der Lyrik dieses Autors sind. Diese kommen insbesondere in La tartaruga di Jastov zum Vorschein, einem in Versen geschriebenen Roman (vgl. Ferretti, 1981: 257 f.). 70 Bezüglich der Vorschläge für eine Literaturwende und der verschiedenen Denkströ‐ mungen der Gruppo ’63 während der 1960er-Jahre empfiehlt sich die Lektüre des Kapitels »Il Gruppo ’63 e l’area dello sperimentalismo« von Gian Carlo Ferretti (vgl. Ferretti, 1981: 284-309). Für eine Kontextualisierung der Entstehung und Entwicklung der Gruppo ’63 und der ihr angehörenden Autoren siehe das Kapitel »Il Gruppo ’63 e il romanzo spontaneo dal ’68 al ’77« von Stefano Tani (vgl. Tani, 1990: 33-65). I giorni del dissenso (1968). Dieses Werk, das aus der Neugier des Autors, die Beweggründe und Auswirkungen der Studentenbewegung zu verstehen, entsteht, legt Cesaranos Begeisterung für die junge Generation und ihre Rolle in den soziopolitischen Unruhen von 1968 in Italien offen (vgl. Luzzi, 2011: 31). Es ist jedoch bemerkenswert, dass I giorni del dissenso nicht einfach ein Produkt seiner Zeit ist. Vielmehr passt es sich in die Karriere eines Autors ein, dessen Werk (insbesondere das poetische) in ausgeprägter Form gekennzeichnet ist von der Reflexion über die Wirklichkeit und über zeitgenössische historische Ereignisse, die die politische und soziokulturelle Gegenwart in Italien und der Welt prägten. Nicht nur im Rahmen von Literaturkritik und seinem poetischen Werk, son‐ dern auch in seiner Tätigkeit als Übersetzer und Journalist hat Giorgio Cesarano in seiner literarischen und beruflichen Laufbahn die Gesellschaft stets mit einem kritischen Auge betrachtet. Ende der 1950er-Jahre und im Laufe der 1960er-Jahre hat sein engagierter, revolutionärer, die Realität hinterfragender Ton seiner Poesie (vgl. Ferretti, 1981: 257 f.) - erkennbar in Werken wie L’erba bianca (1959), La pura verità (1963) und La tartaruga di Jastov (1966) 69 - dafür gesorgt, dass er im Einklang mit der Ideenwelt der Gruppo ’63 war. Das war eine Gruppe von Dichtern, Schriftstellern und Literaturkritikern, die für eine avantgardistische Richtung in der italienischen Literatur eintrat. Über die Erneuerung der Form, des Stils und der thematischen Linien hinaus versuchten viele Mitglieder der Gruppe - darunter Nanni Balestrini, Alfredo Giuliani, Antonio Porta oder Umberto Eco - Politik und Literatur einander anzunähern. Dabei reflektierten sie über die soziohistorischen und kulturpolitischen Funktionen der neuen avantgardistischen Strömungen und ihre Fähigkeit, das Establishment heraus‐ zufordern. 70 124 2 Darstellung der Prosawerke 71 Nachdem Giorgio Cesarano in seiner Jugend dem Nationalrepublikanischen Heer - das faschistische Heer der sogenannten Italienischen Sozialrepublik, ein Staat in Norditalien unter der Führung von Mussolini zwischen 1943 und 1945 - während des Zweiten Weltkriegs angehört hatte (vgl. Luzzi, 2011: 135), orientierte er sich politisch um und näherte sich den marxistischen Idealen an (vgl. Borselli et al., 2002: o. S.). Nach Ende des Krieges trat er der Italienischen Kommunistischen Partei bei und arbeitete für die Gremien der Amtskommunikation, aus denen er 1946 ausgeschlossen wurde (vgl. ebd.). Selbst nach seiner Entlassung aus dem Parteileben hat Cesarano weiterhin die Aktivitäten der Kommunistischen Partei und der politischen Kräfte der italienischen Linken kritisch verfolgt und hat mehrmals mit Initiativen revolutionärer Art zusammengearbeitet. Ende der 1960er-Jahre gehörte er dem Einheitsbund des Unternehmens Pirelli an - eine gewerkschaftliche Gruppe, die sich für die Verteidigung der Rechte der Arbeiter in den Fabriken einsetzte -, beteiligte sich an zahlreichen Protestaktionen und wurde dabei im Jahr 1969 selbst einmal festgenommen (vgl. Luzzi, 2011: 136). In der ersten Hälfte der 1970er-Jahre - und bis zu seinem Selbstmord 1975 - brachte er verschiedene Essays und Bücher zur politischen Philosophie hervor, in denen er den kleinbürgerlichen und kapitalistischen Unterbau des Establishments in Frage stellte und sich für die Idee von einer radikalen Utopie für die Gesellschaft einsetzte (vgl. ebd.). Im Rahmen dieser offenen Literaturszene, die eine engagierte Haltung der Intellektuellen in der Gesellschaft und einen wachsamen Blick auf die gegen‐ wärtige Realität bevorzugt (vgl. Ferretti, 1999: 144 f.), erscheint 1968 zunächst das Polit-Drama Il soggetto von Giorgio Cesarano, einem Autor, der besonders in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre anhand der Prämissen der Gruppo ’63 seine Texte schreibt. Il soggetto ist ein Werk, das von dem Tod des charismati‐ schen Anführers der kubanischen Revolution Che Guevara inspiriert wurde. Cesaranos Vorliebe für die subversiven Ideale hat ihn fast sein ganzes Leben lang begleitet und hat sowohl zu seiner (kurzzeitigen) Parteizugehörigkeit bei der Italienischen Kommunistischen Partei in der Nachkriegszeit als auch zu seiner Beteiligung an Projekten mit einer radikaleren Ausrichtung geführt. 71 Im Laufe der 1960er-Jahre schreibt er ebenfalls für renommierte Literatur- und Kultur-Zeitschriften wie z. B. aut aut, Paragone, Quaderni Piacentini, Nuovi Argomenti oder Rendiconti (vgl. Luzzi, 2011: 135) - viele von ihnen mit einem klaren ideologischen Leitbild der politischen Linken. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass er noch 1968 I giorni del dissenso in Druck gab: ein Werk, das nicht nur Cesaranos Durchbruch als Autor längerer Prosa kennzeichnet, sondern auch den soziopolitischen und kulturellen Aufruhr während der 1968er-Studentenbewegung in Italien zum Thema macht. I giorni del dissenso gilt als einzigartiges Werk innerhalb der Literatur Italiens. Literaturwissenschaftler, die sich mit den Resonanzen des Aufruhrs von 1968 in der italienischen Literatur beschäftigten, verweisen darauf als Haupttext (vgl. Manacorda, 1987: 294 f.; Fortini, 1989: 528; Rondini, 2009: 10; Luzzi, 2011: 15 f.; 125 2.3 I giorni del dissenso von Giorgio Cesarano 72 Die zehn ausgewählten Werke (Romane, Chroniken und Erzählungen), die laut Giam‐ paolo Borghello Teil einer »politischen Literatur« sein könnten (vgl. Borghello, 1982: 187), sind: I giorni del dissenso (1968) von Giorgio Cesarano, Il fossile ignoto (1973) von Della Mea, Vogliamo tutto (1971) von Nanni Balestrini, Nord e Sud uniti nella lotta (1974) von Vincenzo Guerrazzi, Pagine di diario (1971) von Franco Petroni, Cani sciolti (1973) von Renzo Paris, Irati e sereni (1974) von Francesco Leonetti, La vecchia sinistra (1970) von Luca Canali, La Paloma (1972) von Carlo Castellaneta und Occidente (1975) von Ferdinando Camon. 73 I giorni del dissenso wurde im Juli 1968 vom Verlag Mondadori herausgegeben. Noch vor der Buchausgabe wurde der erste Teil des Werks in der Literaturzeitschrift Paragone veröffentlicht. Dieser trägt den Titel Vengo anch’io [Ich komme mit] und darin liegt der Fokus auf den Protestaktionen, die die Studenten im März und April 1968 in Mailand organisierten (vgl. Luzzi, 2011: 16). In I giorni del dissenso gibt es einen Hinweis darauf, als einer der Freunde des Protagonisten diesen dazu anregt, den Text in der Zeitschrift Paragone zu publizieren (vgl. GD: 83). Borghello, 2012: 27 f.). Bei anderen Werken, die Ende der 1960er- und in den 1970er-Jahren veröffentlicht wurden, liegt der thematische Schwerpunkt auf Ereignissen in Verbindung mit der Arbeiterbewegung, mit der Enttäuschung von ehemaligen Aktivisten nach 1968 oder mit der angespannten Atmosphäre und den Ausschreitungen während der sogenannten »Bleiernen Zeit« (siehe Fn. 68 im Kapitel 2.3.1). I giorni del dissenso hingegen befasst sich ausschließlich mit den studentischen Protesten und seinen Auswirkungen an den Universitäten und in der Gesellschaft. In der Studie Linea rossa: Intellettuali, letteratura e lotta di classe, 1965-1975 (1982) [Rote Linie: Intellektuelle, Literatur und Klassenkampf, 1965-1975] untersuchte Giampaolo Borghello verschiedene Werke, die sich sowohl auf die Zeit der studentischen Proteste von 1968 konzentrieren als auch auf die Periode vom heißen Herbst und von der »strategia della tensione« [Strategie der Spannung] Ende der 1960er-Jahre, die vom Terrorismus und bewaffnetem Kampf geprägt ist (vgl. Borghello, 1982: 188). Aus diesen ist I giorni del dissenso das einzige Werk, das sich ausführlich mit dem studentischen Aufruhr befasst. 72 Darüber hinaus ist darauf zu verweisen, dass dieser Text in der intensiven Phase der Studentenbewegung veröffentlicht wurde. 73 Die fast unmittelbare zeitliche Nähe zu dem Geschehen des antiautoritären Kampfes der jungen Menschen trägt dazu bei, die Erzählung lebendig zu machen und dem dargestellten soziopolitischen und kulturellen Aufruhr in Mailand - damals eine der Großstädte Italiens, wo die Studentenbewegung besonders intensiv war - eine größere Realitätsnähe zu verleihen. Ein weiterer hervorzuhebender Aspekt ist die Tatsache, dass I giorni del dissenso sich der von beiden Generationen erlebten Erfahrung der politischen und soziokulturellen Utopie von 1968 öffnet: Indem die Erlebnisse eines älteren Protagonisten, der sich von den studentischen Protesten mitreißen lässt, in den Vordergrund gestellt werden, werden die 126 2 Darstellung der Prosawerke 74 In Giampaolo Borghellos kurzem Verweis auf I giorni del dissenso in der Studie Cercando il ’68 (2012) [Auf der Suche nach 1968] bezeichnet auch er Cesaranos Werk als Roman (vgl. Borghello, 2012: 27 f.). Motivationen und Wünsche sowohl der jungen als auch der nicht mehr jungen Menschen in diesem Jahr auf der öffentlichen und privaten Ebene verarbeitet (vgl. Borghello, 1982: 125). Giuliano Manacorda betont den Sonderstatus von Cesaranos Werk: La registrazione più fedele, e insieme più di parte, dei fatti del ’68 la si deve a Giorgio Cesarano (morto nel 1975); I giorni del dissenso (Mondadori, 1968) descrivono in forma di diario due episodi delle manifestazioni studentesche e degli attacchi della polizia per le vie di Milano. Cesarano è un testimone-partecipe sui generis; «né studente né docente», quarantenne in mezzo ai ventenni, e perciò spiazzato eppure del tutto concorde con quanto gli accade intorno, di cui dà una cronaca minuziosa e scanzonata probabilmente tra le più credibili scritte su quelle giornate. (Manacorda, 1987: 294 f.) [Die getreueste und gleichzeitig die parteiischste Aufzeichnung von den Umständen von 1968 gehört Giorgio Cesarano (verstorben im Jahr 1975); I giorni del dissenso (Mondadori, 1968) beschreibt in Form eines Tagebuchs zwei Episoden der studenti‐ schen Proteste und der Angriffe durch die Polizei in den Straßen Mailands. Cesarano ist ein Zeuge und ein Teilnehmer sui generis; »weder Student noch Dozent«, jemand in den Vierzigern mitten unter jungen Menschen um die Zwanzig und deswegen deplatziert. Trotzdem stimmt er doch mit dem überein, was um ihn herum geschieht, wovon er dann eine detaillierte und lockere Chronik anfertigt, die vielleicht zu den glaubwürdigsten Texten zählt, die über diese Tage verfasst wurden.] Trotz dieser dokumentarischen Tendenz, die Protestaktionen der Mailänder Studenten- und Arbeiterbewegung aufzuarbeiten, sollte auch der fiktionale Charakter von I giorni del dissenso betont werden. Giorgio Luzzi bezeichnet in seinem langen Aufsatz über die literarische Laufbahn Giorgio Cesaranos - dem Aufsatz, der die mit Abstand ausführlichste Analyse von I giorni del dissenso enthält - das Werk als »romanzo-cronaca cesaraniano« (Luzzi, 2011: 23) [cesaranischen Chronik-Roman]. Dabei lobt er die erzählerische, dokumentari‐ sche und tagebuchförmige Darstellung (vgl. ebd.: 20), die durch die Verbindung von Realität und Fiktion gekennzeichnet ist. 74 Jedoch ist es schwierig, eine klare Trennung zwischen dem Realen und dem Fiktionalen auszumachen in einem Werk, in dem der Protagonist sowohl die Rolle des Ich-Erzählers inne hat als auch Autor des Textes ist - ein Autor, der angeblich an vielen der im Buch geschilderten Ereignisse beteiligt war (vgl. Petroni, 1968: 155). Über die Verbindung von Wirklichkeit und Fiktion sowie über die Vermengung 127 2.3 I giorni del dissenso von Giorgio Cesarano der Erzählermit der Protagonistenrolle ist im Kommentar von Giampaolo Borghello zu lesen: Cesarano vive in prima persona e con partecipazione la crisi dell’intellettuale alla ricerca di una sua funzione, soffre l’inquieta ricerca di un rapporto tra la riflessione rivoluzionaria fatta nel chiuso di uno studio e l’incalzare spontaneo della prassi. Così le pagine stesse di I giorni del dissenso nascono quasi spontaneamente, lievemente segnate anche dal dubbio. (Borghello, 1982: 126) [Cesarano erlebt aus erster Hand und nimmt teil an der Krise des Intellektuellen auf der Suche nach seiner Rolle, er leidet unter der ruhelosen Suche nach einer Verbindung zwischen einer in der Abgeschlossenheit eines Büros gemachten Reflexion über die Revolution und dem Versuch, die Praxis spontan aus der Nähe zu verfolgen. Die Seiten von I giorni del dissenso entstehen auf diese Weise fast spontan, und dabei leicht vom Zweifel geprägt.] Wie im Folgenden dargestellt, werden die sozialen, politischen und kulturellen Unruhen der 1968er-Studentenbewegung in I giorni del dissenso mit einem kritischen und prüfenden Blick, geprägt durch den ständigen Dialog zwischen Individuum und Gesellschaft, betrachtet. Die Erzählung zeichnet sich durch diese Verflechtung von Realem und fiktionaler Handlung aus. So besteht das Bild, das Giorgio Cesarano von der Studentenrevolte und dem Generationen‐ konflikt zeichnet, aus verschiedenen Aspekten, und zwar aus den Ursachen und Folgen der Mailänder Studentenbewegung, aus den Beweggründen der jungen Menschen, die zur treibenden Kraft im Kampf um die Veränderung der Gesellschaft wurden, aus den Aktionen der Arbeiter innerhalb dieser kollektiven Bemühung um einen Wandel und schließlich aus dem Zögern der älteren, nachdenklicheren Generation, die gleichzeitig Interesse daran zeigt, die miterlebten Veränderungen zu verstehen. 2.3.2 Erzählstrategien Das facettenreiche Bild der akademischen Revolte und des Generationenkonf‐ liktes von 1968 wird in I giorni del dissenso von seinem Autor-Protagonisten-Er‐ zähler gezeichnet. Es handelt sich um einen Text mit Merkmalen von Autofik‐ tion, da der Autor sich selbst und seine gemachten Erfahrungen fiktionalisiert (vgl. Gasparini, 2004: 12). Der Autor-Protagonist-Erzähler - ein Vierzigjähriger - nimmt die Zügel der Erzählung in seine Hand und schildert als Ich-Erzähler verschiedene Momente seines eineinhalb Monate dauernden Teilnehmens an der Studentenbewegung. Dabei bietet er einen persönlichen Blickwinkel auf die Mailänder Proteste. Diese individualisierte Perspektive wird unter Rückgriff 128 2 Darstellung der Prosawerke 75 Franz Stanzel behauptet, dass die erlebte Rede selbst beim Erzählen in der Ich-Form auch die Rede anderer Figuren wiedergeben kann (vgl. Stanzel, 2008: 281). In den meisten Fällen ermöglicht diese Darstellungsform eine größere Empathie des Lesers mit dem Ich, das die Handlung erlebt und sie erzählt (vgl. ebd.: 285). auf eine tagebuchförmige und chronistische Erzählweise ermöglicht (vgl. Luzzi, 2011: 20). Zum einen erscheint I giorni del dissenso in Form eines Tagebuchs, in welchem der Erzähler seine persönlichen Erlebnisse und seine Reaktionen auf die Jugendproteste festhält; zum anderen zeigt dieser Erzähler großes Interesse an den Ereignissen, denen er beiwohnt, und an den daran Beteiligten und er verhält sich sowohl wie ein Beobachter als auch wie ein Chronist des Gesche‐ hens. Auf diese Weise nimmt der Erzähler in diesem Werk mal eine persönliche, intime Perspektive ein und mal profiliert er sich als Zeuge des Geschehens. Darüber hinaus ist anzumerken, dass auch die Stimmen der anderen Akteure in der Revolte über den einen Erzähler wiedergegeben werden. Der Erzähler lässt in seine Rede Fragmente der Rede anderer Figuren einfließen und wechselt zwischen direkter und indirekter Rede oder greift auf die erlebte Rede zurück. 75 Der folgende Auszug, der sich auf eine Demonstration auf der Straße nahe des Hauptgebäudes der Università Cattolica in Mailand bezieht, an der nicht nur viele Studenten, sondern auch einige (obwohl wenige) Mitglieder der älteren Generation teilnehmen, veranschaulicht einen dieser Momente: Durch den Erzähler werden die Stimmen von jungen und nicht mehr jungen Figuren gehört und die detaillierten und gründlichen Beobachtungen des Protagonisten mischen sich mit seinen Reflexionen: Gli dicevo [al mio amico insegnante; IG] io mi sento a disagio, arbitrario, non sono studente né docente, perché realmente tutte quelle facce giovani, ma lui no, sei un uomo di cultura, dunque intanto che megafoni a pila gridavano di sedersi a terra, si sedevano tutti, mettevano giù giornali e libri, io non avevo niente, così mi sono seduto per terra che anche se sporcavo i pantaloni, va be’, intanto parlavo con l’amico e la moglie, che insegna logica, mi pare, e arrivò un berlinese giovane che cominciò a scambiare tutto un discorso fitto col mio amico che sa il tedesco, tagliandomi fuori, mi guardavo attorno, sentivo con piacere il tocco leggero delle mani d’una ragazza seduta accanto a me e appoggiata alla mia spalla un po’ come se fossi un suo compagno, un po’ come se fossi un pezzo di muro, intanto s’erano seduti tutti e da una 500 attrezzata parlavano ai radiomegafoni ragazzi e ragazze trafelati e spettinati, uno con le mani grandi e rosse come un contadino ma sottili e un vocione allenato cominciò a gridare che il rettore doveva uscire e venire lì a discutere, tempo un quarto d’ora, sennò saremmo andati noi, cioè loro, dentro. (GD: 13 f.) 129 2.3 I giorni del dissenso von Giorgio Cesarano [Ich sagte [zu meinem Freund, dem Lehrer; IG] ich fühle mich nicht ganz wohl, ungerechtfertigt, ich bin weder Student noch Dozent, eigentlich all diese jungen Gesichter, er aber nein, du bist ein gebildeter Mann, also während viele Megaphone schrien und aufforderten, dass man sich auf den Boden setzt, setzten sich alle, legten sich Zeitungen und Bücher drunter, ich hatte nichts, ich setzte mich so auf den Boden auch wenn ich mir die Hose schmutzig machen konnte, na gut, in der Zwischenzeit sprach ich mit dem Freund und der Frau, die Logik lehrt, glaube ich, und es kam ein junger Berliner, der eine ununterbrochene Diskussion mit meinem Freund begann, welcher Deutsch spricht, womit ich ausgeschlossen wurde, ich schaute mich um und fühlte ganz angenehm die leichte Berührung einer jungen Frau, die neben mir saß und an meiner Schulter lehnte, ein bisschen so als ob ich ein Kumpel wäre, ein bisschen als ob ich ein Stück Wand wäre, in der Zwischenzeit hatten sich alle gesetzt und aus einem dafür ausgestatteten [FIAT; IG] 500 sprachen junge Männer und Frauen schnaufend und ungekämmt durch Megaphone, einer mit großen, geröteten Händen wie die eines Landwirts, jedoch feiner, und mit einem lauten Organ begann zu brüllen, dass der Rektor innerhalb einer Viertelstunde herauskommen solle, um mit ihnen zu diskutieren, und falls nicht, dass wir, also sie, sonst hereinkommen würden.] Auch zieht sich der »stream of counsciousness« quer durch die Tagebuchein‐ träge in I giorni del dissenso, geprägt vom Bruch mit der Syntax und den Regeln der Interpunktion. Dies äußert sich überwiegend in den vielen langen Sätzen, in denen keine der üblichen Markierungen der direkten Rede zwischen Gesprächspartnern - wie der Gedankenstrich und die Anführungszeichen - vorkommen, sondern die durch Kommas ersetzt werden, welche die Pausen im Gespräch anzeigen. Der Bruch mit den üblichen Normen der Zeichensetzung in Verbindung mit dem fast vollständigen Weglassen von Absätzen in diversen Tagebucheinträgen sind zwei Aspekte, die zu dem lebendigen Tonfall beitragen, der, ohne Pausen und Unterbrechungen, I giorni del dissenso charakterisiert. Diese Aspekte passen nicht nur zu der Handlung, geprägt vom lebendigen Treiben des Protagonisten von Demonstration zu Demonstration, sondern er‐ möglichen auch die Darstellung des fortwährenden Verlaufs der Protestaktionen der Mailänder Studentenbewegung. Darüber hinaus ist anzumerken, dass die gesamte Erzählung von spontaner, umgangssprachlicher Rede geprägt ist, die die Nähe zur Mündlichkeit verdeutlicht. Als »racconto-verità« [Erzählung-Wahrheit] bezeichnet - wie es auch auf dem Umschlag der im Jahre 1968 erschienenen Ausgabe zu lesen ist - ist I giorni del dissenso in der Tat ein Werk, das auf einem ständigen Wechsel zwischen Fiktion und Wirklichkeit beruht. Das Prinzip einhaltend, ein Tagebuch mit täglichen Berichten über die heikle Phase jener Zeit zu verfassen (vgl. GD: 34), zeichnet Cesarano fast dokumentarisch Schlüsselmomente der soziohisto‐ 130 2 Darstellung der Prosawerke 76 In Autofiction: une aventure du langage (2008) betont Philippe Gasparini, dass die Auto‐ fiktion sich von der traditionellen Autobiographie unterscheidet. Trotz des bestehenden Identifikationprinzips zwischen Autor, Erzähler und Figur arbeitet der Autor in der fiktionalen Welt und lehnt es ab, die Geschichte seiner Persönlichkeit linear zu erzählen (vgl. Gasparini, 2008: 307-309). 77 Dazu ist in Giampaolo Borghellos Kommentar zu lesen: »È sempre il dato dell’immagi‐ nazione rivoluzionaria a costituire la spina dorsale della congenita e qualificante ‹am‐ bivalenza› de I giorni del dissenso: racconto-diario. Accanto a quella sottile e inesausta volontà di seguire (sempre e ovunque) gli avvenimenti, di essere un nuovo modello di cronista (rivoluzionario), c’è anche la determinazione dello scrittore che vuol conser‐ varsi tale, vuol riservarsi il diritto di immaginare, di costruire, di scartare, di scegliere« (Borghello, 1982: 127 f.). [Es ist immer das Element der revolutionären Vorstellungskraft, die den Kern der natürlichen und bezeichnenden ›Ambivalenz‹ von I giorni del dissenso darstellt: Tagebuch-Erzählung. Neben dieser subtilen und unerschöpflichen Lust, die Ereignisse (immer und überall) mitzuerleben, ein neues (revolutionäres) Vorbild von einem Chronisten zu sein, besteht auch die Entschlossenheit des Schriftstellers, sich das Recht als solcher vorzubehalten, dabei sich etwas auszumalen, etwas zu konstruieren, auszuschließen oder zu wählen.] rischen Wirklichkeit von 1968 auf, nämlich die Besetzung der Fakultät für Architektur der Università Cattolica, die Proteste auf der Piazza Duomo und vor den Türen des Theaters La Scala oder die Demonstration vom 1. Mai. Außerdem sind die autobiographischen Zeichen ersichtlich. Das Alter und die Identität des Protagonisten, seine Krise als Intellektueller, die Gelegenheit, einen Teil des Tagebuchs in der Literaturzeitschrift Paragone zu veröffentlichen und selbst seine begeisterte Beteiligung an der Studentenbewegung sind Aspekte, die im Text erwähnt werden und die zum Lebenslauf des Autors gehören (vgl. Luzzi, 2011: 16 f.; 135 f.). 76 Jedoch darf I giorni del dissenso bloß aufgrund des großen Wirklichkeitsgehalts nicht als dokumentarische Chronik dieser Zeit missverstanden werden. 77 Darauf weist der Autor selbst explizit hin in dem Motto am Anfang des Buches: Indem er die Macht der Vorstellungskraft betont, versucht Cesarano den Leser davon abzubringen, seine Erzählung als dokumentarischen Bericht zu lesen: Naturalmente le persone fisiche e giuridiche i fatti i luoghi gli enti le aziende le istituzioni pubbliche e private e i loro simboli i partiti e le associazioni politiche sono da considerarsi in questo racconto perfettamente immaginari. «L’immaginazione ha preso il potere.» (GD: 6) [Selbstverständlich sollen die natürlichen und juristischen Personen die Tatsachen die Orte die Behörden die Unternehmen die staatlichen und privaten Institutionen und ihre Symbole die Parteien und die politischen Organisationen in dieser Erzählung als gänzlich erfunden angesehen werden. »Die Vorstellungskraft hat die Macht übernommen.«] 131 2.3 I giorni del dissenso von Giorgio Cesarano 78 »[[…] dieses heiße Eisen, das brennt […]]« (GD: 81). Es ist in der Tat dieses Spiel zwischen dem Realen und dem Imaginären, zwi‐ schen Geschichte und Fiktion, das eine der hervorstechendsten Eigenschaften von I giorni del dissenso ist - ein hybrides Werk, was das Genre betrifft, das dem Leser einen kritischen und persönlichen Blick auf die politischen und soziokulturellen Seiten der 1968er-Revolte in Italien ermöglicht. 2.3.3 »questa patata che scotta«: 78 die Mailänder Studentenbewegung in I giorni del dissenso In I giorni del dissenso lassen sich die historischen Fakten bezüglich der 1968er-Protestkultur der jungen Menschen mit den Erfahrungen und Refle‐ xionen des Protagonisten verflechten. In einer Tagebuchform geschrieben, rückt dieses Werk die revolutionären Ereignisse, die den Alltag in Mailand während der kritischen Phase der Studentenbewegung geprägt haben, in den Vordergrund. Zwischen dem 25. März und dem 9. Mai, den Daten, die die Erzählung einrahmen, erlebt der Leser eine Abfolge von Demonstrationen (begleitet vom Klang der Gesänge und Sprüche), Zusammenstößen zwischen Studenten und Polizei, diversen Sit-ins und Versammlungen im Audimax wie auch Besetzungen von Universitätsgebäuden. Die Ereignisse dieser spannungsreichen Zeit werden fast hautnah von dem Protagonisten mittleren Alters erzählt. Dieser nimmt zusammen mit anderen Beteiligten seiner Generation - in ihrer Jugend meist Revolutionäre, jetzt in ihren Vierzigern - direkt an den Mailänder Aufständen teil. In der Tat sind es in diesem Werk nicht die Mitglieder der jungen Generation, die jungen Aktivisten von 1968, die zu Wort kommen, um von ihren Erfahrungen im Kampf gegen das Establishment zu berichten, sondern alle Ereignisse der Studentenbewegung werden ausschließlich durch die Perspektive des Protagonisten gefiltert. Tatsächlich gibt sich der Ich-Erzähler als Cesarano selbst aus, ein Schrift‐ steller im Alter von vierzig, verheiratet und Familienvater (vgl. GD: 50) mit einem makellosen bürgerlichen Lebensstil: Tagsüber teilt er sich seine Zeit ein in seine einsame intellektuelle Arbeit in einem modernen Büro im Zentrum Mailands und in Momente der Geselligkeit mit befreundeten Schriftstellern, Anwälten, Lehrern und Dozenten. Abends kehrt er heim nach Bergamo, dem reichen Umland der Hauptstadt der Lombardei. Ergriffen von der Routine der Gesellschaft des Scheins und vom Mangel an innovativen Ideen in seinem intel‐ lektuellen und künstlerischen Vorhaben, spürt der Autor-Protagonist-Erzähler die Notwendigkeit, seinen Zustand als distanziertes und neutrales Individuum 132 2 Darstellung der Prosawerke (ebd.: 12) zu überwinden, neue Erfahrungen zusammen mit der jüngeren Generation zu sammeln und in den Protestaktionen der Studentenbewegung aktiv zu werden. In seinen eigenen Worten: Non mi piace sapere le cose dai giornali, qui seduto in giardino al sole di questa primavera sempre più tiepida, nell’aria molle di questa città perennemente assopita; mi sento come inghiottito all’indietro nella mia realtà piuttosto odiosa d’intellettuale isolato che vive a mezza collina sotto le torri tetre del seminario e ha studio a Milano nel palazzone di vetrocemento pieno d’uffici d’agenti di borsa e società immobiliari. (GD: 57) [Es gefällt mir nicht, von den Dingen über die Zeitung zu erfahren, hier im Garten sitzend in der Sonne dieses immer aufgeheizteren Frühlings, in der milden Luft dieser ewig schlafenden Stadt; ich fühle mich eingemauert in meiner eigenen verhassten Wirklichkeit eines isolierten Intellektuellen, der auf dem Land im Schatten der rechteckigen Türme des Priesterseminars lebt und ein Büro in Mailand in einem großen Gebäude aus Beton und Glaswänden hat, gefüllt mit Büros von Börsen- und Immobilienmaklern.] Das Tagebuch beginnt mit dem Bericht über die Beteiligung des Protagonisten an einer Studentendemonstration, die am Vortag stattfand. Diese Demonstration hatte die Forderungen der Studenten auf Mailands Straßen getragen. So wie der Protagonist ihre Ausrufe über Megafon verstehen konnte, forderten sie das Erscheinen des Rektors an der Tür der Università Cattolica zu einem Gespräch über die ersehnte Reform der Universität. Diese Forderung nach einem Dialog, nach dem Recht, gehört zu werden, wird in einer angespannten Atmosphäre ausgedrückt, die von der Konfrontation zwischen den beiden Parteien geprägt ist: Auf der einen Seite die Studenten, die auf das Schweigen des Rektors mit dem Werfen von Eiern und Orangen reagieren und mit dem Androhen, weitere Demonstrationen zu organisieren und Universitätsgebäude zu besetzen; auf der anderen nicht die akademischen Behörden, sondern die Polizei, die die Mobilisierung der jungen Menschen anhält. Im Rahmen dieser Unruhe findet der Protagonist sich als Beteiligter wieder: Als er von der Demonstration überrumpelt wird und beim Überqueren der Straße Rufe und Pfiffe wahrnimmt, entscheidet er sich dafür, der Masse zu folgen und sich den neugierigen Passanten anzuschließen. Neben seiner Begeisterung, etwas Neues mit noch unbekanntem Ausgang zu erleben, zeigt der Protagonist gleich von Anfang an Zweifel bezüglich seines Teilnehmens und stellt seine Berechtigung, an den Protestaktionen der Studenten teilzuhaben, in Frage: Als Nicht-Student und Nicht-Dozent (vgl. ebd.: 13) ist er unsicher, ob er die Rolle eines einfachen Beobachters annehmen oder sich aktiv an dem Protest mit den Studenten 133 2.3 I giorni del dissenso von Giorgio Cesarano 79 Giampaolo Borghello kommentiert so die existenzielle Untentschlossenheit des Prot‐ agonisten, die vom Pendeln zwischen einer reflexiveren Haltung und einem abenteu‐ erlustigen Verhalten gekennzeichnet ist: »Fin dalle prime pagine de I giorni del dissenso il tema emergente è quello del disagio del protagonista, dell’inquieta ricerca di un rapporto preciso con gli avvenimenti. I cortei, i sit-in, gli scontri, le occupazioni attraggono il protagonista, ma c’è sempre questo demone del dubbio. […] L’incertezza nel sedersi a terra nel primo sit-in davanti all’Università Cattolica è sì legato a contin‐ genti preoccupazioni, ma soprattutto al problema di scegliersi un ruolo« (Borghello, 1982: 123). [Das Thema, das bereits auf den ersten Seiten von I giorni del dissenso auftaucht, handelt von dem Unbehagen des Protagonisten, der ruhelosen Suche nach einer klaren Beziehung zu den Geschehnissen. Die Demonstrationen, die Sit-ins, die Zusammenstöße, die Besetzungen ziehen den Protagonisten an, obgleich der teuflische Zweifel fortbesteht. […] Die Unentschiedenheit, die sich beim Hinsetzen auf den Boden beteiligen soll. Tatsächlich ist es dieses Zögern, dieses Dilemma zwischen Beobachten und Handeln, das das Verhalten des Protagonisten charakterisiert. Auch wenn er bei dem Versuch, die Beweggründe der Studenten zu verstehen, sehr engagiert ist - und dabei auch selbst von der Polizei angegriffen wird -, fühlt er sich oft verloren und sieht sich inmitten der Studentenbewegung immer noch als Außenseiter: Sono anche agitato, devo dire, perché insomma la situazione è ambigua e questo fatto di rotolare per terra in piazza in mezzo a ragazzi che hanno vent’anni meno di me e poi di passare metà notte con loro nella facoltà occupata e tornare in piazza stamattina e prepararmi a ritornare questa sera, che sarà dura, col Padova [una forza speciale della polizia; IG] così pronto a pestare, insomma c’è anche il disagio di queste facce giovani che ti squadrano non certo con simpatia, d’accordo hanno ragione, e i poliziotti ti individuano con qualche perplessità, la pelata, la barba grigia […]. (GD: 11 f.) [Wenn ich es mir eingestehe, bin ich auch beunruhigt, weil die Situation zweideutig ist und diese Tatsache, dass ich mich mitten auf der Straße auf dem Boden wälze, zwischen all den jungen Menschen, die mindestens zwanzig Jahre jünger sind, und nachdem ich die Nacht mit ihnen in der besetzten Fakultät verbracht habe und diesen Morgen auf die Straßen zurückgekehrt bin, mich nun darauf vorbereitend, heute Nachmittag wieder dahin zu gehen, was mir schwer fallen wird mit der Padova [eine Spezialeinheit der Polizei; IG], die bereit ist, alle anzugreifen und am Ende ist da irgendwie immer dieses Unbehagen in diesen jungen Gesichtern, die dich natürlich nicht mit besonderer Sympathie mit ihren prüfenden Blicken von oben bis unten mustern, natürlich haben sie Recht, und die Polizisten, die perplex sind, sobald sie dich mit der Glatze und dem grauen Bart wahrnehmen […].] Auch wenn die misstrauischen Blicke sowohl von den Studenten als auch von der Polizei Unbehagen in ihm auslösen, scheut sich der Protagonist nicht, weiterhin neue Erfahrungen wie diese zu machen. 79 Er ist getrieben von der 134 2 Darstellung der Prosawerke beim ersten Sit-in vor der Università Cattolica zeigt, hängt mit seinen Sorgen und Unsicherheiten zusammen, vor allem jedoch mit dem Problem, Stellung zu beziehen.] 80 Der Titel des ersten Teils ist von dem Lied Vengo anch’io. No, tu no [Ich komme mit. Nein, du nicht] von Enzo Jannaci inspiriert, ein italienischer Rock-Hit von 1968. Gemeinsam mit dem frenetischen Rhythmus, dem schreienden Gesang und dem rebellischen Aussehen des Sängers ist auch der Liedtext von einer gewagten Sprache geprägt, was den damaligen Generationenkonflikt auf der soziokulturellen Ebene spiegelt. Wie Giorgio Luzzi erwähnt - und ich bin mit dessen Meinung einverstanden - ist die Wahl dieses Hits von großem symbolischen Wert und betont nicht nur den Konflikt zwischen den jungen und den nicht mehr jungen Menschen und die Kampfansage der Lust, herauszufinden, ob die Ideale der jungen Menschen denen gleich sind, die ihn selbst als jungen Mann angetrieben haben und die mit dem Fortschreiten der Zeit und der Übernahme eines bürgerlichen Lebensstils in den Hintergrund gerückt sind. Diese Neugier am Wiederentdecken der Ähnlichkeiten und Un‐ terschiede der Vorstellungen und Sichtweisen der zwei Generationen wird zu Beginn von I giorni del dissenso deutlich, wenn der Protagonist die Reden der Studenten bei einer Versammlung in der besetzten Fakultät für Architektur miterlebt: Io ascolto allocchito questo corto circuito fulmineo di idee che credevo ancora relegate al ruminio lento e quasi sacrificale delle fazioni politiche minoritarie della nuova sinistra […]. Adesso questi ragazzini organizzatissimi secchi sbrigativi […] parlano di rifiuto globale del sistema e di lotta di classe a oltranza contro il riformismo e il revisionismo dei partiti dando per morto e seppellito liquidato tutto quello che pesa nel cervelletto di quelli come me che hanno sperato nella rivoluzione operaia e sperato nella funzione rivoluzionaria del partito comunista […]. (GD: 25) [Ich lausche fassungslos diesem rasanten Rausch an Ideen, von denen ich annahm, sie seien auf das langsame und fast aufopferungsvolle Grübeln der minderheitlichen politischen Faktionen der neuen Linken beschränkt […]. Nun sprechen diese sehr organisierten, dürren und hurtigen jungen Menschen […] von einer globalen Ableh‐ nung des Systems und vom Klassenkampf um jeden Preis gegen den Reformismus und den Revisionismus der Parteien und betrachten als tot und begraben vernichtet all das, was im Kleinhirn von Leuten wie mir ein Gewicht hat, Leuten, die auf die Arbeiterrevolution und auf die revolutionäre Funktion der Kommunistischen Partei gewartet und gehofft haben […].] Gewissermaßen ist diese existentielle Konfrontation zwischen der verschwun‐ denen revolutionären Vergangenheit und der gegenwärtigen Suche nach einer politischen und identitären (Neu-)Ausrichtung das Leitmotiv der zwei Teile, die dieses »racconto-diario« (Borghello, 1982: 127) [Erzählung-Tagebuch] inte‐ grieren. Der erste Teil hat den Titel Vengo anch’io [Ich komme mit] 80 und besteht 135 2.3 I giorni del dissenso von Giorgio Cesarano jungen Generation an das Establishment, sondern auch das Außenseiter-Dasein des Protagonisten im Kontext von 1968 (vgl. Luzzi, 2011: 18 f.). 81 Im dritten Kapitel werden einige dieser von den Studenten organisierten Protestak‐ tionen näher betrachtet (siehe Kapitel 3.2.4). aus sieben Tagebucheinträgen - einige davon mit dem gleichen Datum - vereint durch eine Gemeinsamkeit: die Teilnahme des Protagonisten an unzähligen Protestaktionen der Studenten, die sich über verschiedene Fakultäten sowie über diverse öffentliche Schauplätze in Mailand erstrecken. Diese Aktionen geschehen im Anschluss an die Verhaftung von Studentenanführern und an die Schließung verschiedener Hauptgebäude der wichtigsten universitären Institutionen der Stadt, der Statale, der Cattolica und des Politecnico. Im Verlauf von etwa einer Woche bringen die jungen Aktivisten ihren Unmut über die soziopolitische Wirklichkeit Italiens zum Ausdruck. Dies tun sie durch Proteste gegen die Zeitung Corriere della Sera - die eine kritische Haltung gegenüber den Studenten und den Studentenprotesten zeigte -, gegen das Theater - ein Symbol der Elite und der bürgerlichen Kultur (vgl. GD: 55) -, oder auch gegen die Behörden und das Establishment, die durch die Polizei, die Gerichte und das Rathaus von Mailand repräsentiert werden. Dabei behalten sie auch das internationale Geschehen im Blick und protestieren ebenso gegen den Vietnamkrieg (vgl. ebd.: 44), gegen die griechische und spanische Diktatur und die Hegemonialpolitik der entwickelten Länder (vgl. ebd.: 82). 81 Das Dabeisein inmitten der studentischen Menge wird nicht nur den Alltag des Protagonisten, sondern auch den der engsten Freunde seiner Generation - darunter Florenzio, Giovanni und Bianca - radikal verändern. Dasselbe gilt für die meisten Bürger, die Seite an Seite mit den Sondereinheiten der Polizei, auf den gesperrten Straßen und den zu Bühnen für Kundgebungen umgewandelten Plätzen versu‐ chen, ihren alltäglichen Rhythmus wiederzufinden. Angesichts der Unfähigkeit der akademischen Leitung und der staatlichen Behörden, Antworten in Bezug auf die studentischen Anliegen zu liefern, wird die Studentenbewegung mit einem heißen Eisen (vgl. ebd.: 81) verglichen, einem schwierigen Problem für das öffentliche Recht, für dessen Lösung sich niemand zuständig fühlt. Im ersten Teil wird das Verlangen des Protagonisten deutlich, bei allen Demonstrationen dabei zu sein. In dieser Phase des Aufruhrs drückt er seinen Wunsch aus, Berater zu sein, weil er den Traum und das Scheitern der Utopie in seiner Jugend bereits einmal erlebt hat (vgl. ebd.: 27), und möchte nun den Initiativen der Studenten einen Anstoß geben wie auch sicherstellen, dass diese Bewegung sich nicht auf einen flüchtigen Drang nach Veränderung beschränkt. Außerdem spürt er, wissbegierig wie er ist, dass er den Kontakt zu den jungen Menschen braucht, um nicht nur die revolutionäre Vorstellungskraft seiner 136 2 Darstellung der Prosawerke 82 Diese Bezeichnung ist eine Anspielung auf die Fabrikarbeiter, die traditionsgemäß im Zentrum der großen Städte mit roten Fahnen und Papierhüten demonstrierten. Laut Giorgio Luzzi erklärt sich die Entscheidung für diesen Titel durch die zunehmende Bedeutung der Arbeiterbewegung im Rahmen der soziopolitischen Unruhen von 1968 in Italien - eine Bewegung, deren Protestaktionen im zweiten Teil von I giorni del dissenso ausführlicher dargestellt werden (vgl. Luzzi, 2011: 19). Vergangengeit wieder aufleben zu lassen (vgl. ebd.: 86), sondern auch, um die Leere zu füllen, die er in seinem heutigen Leben fühlt (vgl. ebd.: 87). Giampaolo Borghello merkt dazu an: C’è in lui [nel protagonista; IG], fortissima, anche la volontà di imparare, di essere allievo, nella soddisfazione e nella gioia di scoprire una pagina nuova e inaspettata della storia. La rivolta giovanile sarà allora tutta da scoprire, un nuovo tipo di esperi‐ enza politica che deve essere presa per quello che è, senza preconcetti o dogmatismi, nei suoi connotati generazionali ma anche nel suo aspetto di esplosione mondiale. Così l’importante è partecipare, essere in prima fila, seguire puntigliosamente il flusso degli avvenimenti (assemblee, cortei, sit-in e anche scontri e pestaggi). (Borghello, 1982: 125) [Es besteht für ihn [für den Protagonisten; IG] auch ein starkes Bedürfnis zu lernen, Schüler zu sein, beruhend auf der Befriedigung und der Freude daran, eine neue und unerwartete Seite in der Geschichte zu entdecken. Die Jugendrevolte stellt sich ihm als ein Ereignis dar, das es zu erforschen gilt, eine neue Art politischer Erfahrung, die so angenommen werden sollte, wie sie ist, ohne Vorurteile und Dogmen, mit den Merkmalen der verschiedenen Generationen und auch als Facette einer weltweiten Explosion. Deshalb ist es wichtig, daran teilzunehmen, ganz vorn dabei zu sein, den Verlauf der Geschehnisse (Versammlungen, Demonstrationen, Sit-ins sowie die Zusammenstöße und Schlägereien) sorgfältig mitzuverfolgen.] Diese Gier, ganz vorn dabei zu sein und die historischen Ereignisse der Studen‐ tenbewegung mitzuerleben, erstreckt sich auch bis in den zweiten Teil von I giorni del dissenso. Er trägt den Titel I cappelli di carta [Die Papierhüte], 82 und ist mit seinen vier Tagebucheinträgen, die die Ereignisse zwischen dem 30. April und dem 9. Mai 1968 behandeln, eindeutig kürzer als der erste Teil. In I cappelli di carta liegt der Schwerpunkt der Erzählung auf der bewegtesten Phase der studentischen Krise auf Mailands Straßen, in denen die Demonstrationen und Aktionen eindeutig eine soziopolitische Dimension annehmen. Während im ersten Teil die Forderungen nach einem Wandel der Universitätsrealität den Leitsatz der Proteste darstellten, werden die Diskurse der Aktivisten hier vor allem durch die Gesänge, Slogans und Spruchbänder bestimmt. Diese prangern den Regierungskurs, die fehlende Offenheit zum Dialog und das 137 2.3 I giorni del dissenso von Giorgio Cesarano 83 »Valle Giulia« und »Valdagno« sind zwei Parolen mit einer geschichtlichen, außerli‐ terarischen Konnotation: Sie stehen als Symbole jeweils für die 1968er-Studentenbe‐ wegung und für den Arbeiterkampf und sind realhistorische Momente, die während des Jahres 1968 in Italien geschahen. Am 1. März 1968 lieferten sich tatsächlich Studenten und Polizeikräfte einen gewaltsamen Kampf in Valle Giulia, in der Fakultät für Architektur in Rom. Schlussendlich wird dieser Tag als Anfang der gewalttätigsten Phase der italienischen Studentenbewegung gewertet (siehe Kapitel 1.4). Valdagno ist ein Ort in Norditalien, wo 1968 die Fabrikarbeiter des Textilfabrikanten Marzotto-Group rebellierten und mit dem Protest für bessere Arbeitsbedingungen zum ersten Mal den Betrieb lahmlegten. Handeln der Polizei an. (Letzterer wird sogar von den Studenten vorgeworfen, gewalttätig während der Proteste gewesen zu sein (vgl. GD: 105) und auch faschistische Züge gezeigt zu haben (vgl. ebd.: 123).) Ein weiterer wichtiger Aspekt aus diesem Teil ist die sichtbare Verbindung zwischen der Studenten- und der Arbeiterbewegung. Ein Beleg dafür ist die Bedeutsamkeit, die der Demonstration vom 1. Mai beigemessen wird. An dieser Demonstration nehmen in diesem Jahr nicht nur ältere Arbeiter teil, die wie früher rote Nelken und bereits etwas ausgeblichene rote Fahnen tragen (vgl. ebd.: 114), sondern auch viele junge Menschen. Diese, so stellen es der Protagonist und sein Freund Florenzio fest, beleben die Demonstration: Mit ihren kühnen Gesängen, ihrer Improvisationsgabe bezüglich der Festlegung des Marschweges oder selbst mit ihren besonders roten Fahnen (vgl. ebd.: 119) durchbrechen sie die monotonen und vorhersehbaren Reden der traditionellen Linken, die überwiegend durch die Italienische Kommunistische Partei repräsentiert werden. Die Studenten sorgen für einen Aufwind, der all jene wie den Protagonisten erfreut, die auf eine Alternative im soziopolitischen Programm gehofft hatten. Diese Vereinigung von jungen und nicht mehr jungen Menschen berührt ihn. Als er beide Gruppen zusammen beim Brüllen der Parolen »Valle Giulia« und »Valdagno« 83 sieht, fragt sich der Protagonist, welche seine Rolle und welche die der jüngeren Generation in dieser Zeit ist: […] bisogna anche dire che tutto il gridare dei ragazzi Valle Giulia e Valdagno e anche tutto questo mio stercorario pitturare e ripitturare poliziotti carabinieri elmetti bastoni candelotti jeep e furgoni non è soltanto pura masochistica animabella voglia di prender legnate e scontar peccati portar cicatrici o dire io c’ero, è semplicemente il riflesso d’una se grossolana non meno vero verità e cioè che hai voglia di moralizzare e sottilizzare addottrinare e discettare infine […] ma la collera la rabbia è un virus di fuoco […] che può in ogni momento rovesciare l’asse del mondo. (GD: 124 f.; Hervorhebung im Original) 138 2 Darstellung der Prosawerke 84 «[[…] inmitten Kleidung Haaren und Bärten einer ganz anderen Rasse angehören wollen […]]» (GD: 74). [[…] es ist auch nötig zu sagen, dass dieses Gebrüll der jungen Menschen Valle Giulia und Valdagno und all mein schäbiges Malen und Neumalen von Polizisten Gendarmen Helmen Knüppeln Jeeps und Wagen ist nicht einfach naive masochistische Lust auf Prügel und sich von Sünden zu befreien, Narben davonzutragen und sagen zu können, dass ich dabei war, es ist einfach der Reflex einer ungeschliffenen und dennoch nicht weniger wahren Wahrheit und diese lautet du hast den Drang zu moralisieren nachzudenken zu belehren und zuletzt zu zerlegen […] aber der Zorn die Wut ist ein Lauffeuer […] das jederzeit die Achsen der Welt kippen kann.] Diese Reflexion über die Gründe, die den Protagonisten antreiben, sich ohne Pause, eine Demonstration nach der anderen, der Studentenbewegung anzu‐ schließen, lässt ihn erkennen: Es sind die jungen Menschen - nicht er oder die Angehörigen seiner Generation -, die mit dieser Wut und diesem leidenschaft‐ lichen Drang die Macht haben, eine Veränderung der Gesellschaft zu bewirken. Die Gedanken des Protagonisten zu dem Potential eines jeden, Wandel zu ermöglichen, verdeutlichen den Generationenkonflikt, der diese Zeit prägt und sich über das gesamte Werk erstreckt. Während die Einstellung der Generation der Vierziger in Cesaranos Text durch Vernunft und genaues Durchdenken gekennzeichnet ist, ist die Haltung der jungen Menschen dort durch ihren Einsatz und ihre Entschlossenheit, das Establishment anzugreifen, geprägt. Im Grunde ist es diese Entschlossenheit, mit der Vergangenheit zu brechen und die Gegenwart radikal zu verändern, die sich als Hauptgrund für die Spaltung zwischen den Generationen in I giorni del dissenso erweist. Eine Spaltung, die sich nicht nur im politischen Aktivismus, sondern auch im Anfechten der soziokulturellen Normen widerspiegelt. 2.3.4 »voler essere tra vestiti capelli e barbe una razza diversa«: 84 Anmerkungen zur sexuellen Befreiung und zum Sittenwandel Der Generationenkonflikt, der aus der Perspektive der politischen Utopie dargestellt wird, ist der Kern von I giorni del dissenso. Daher werden die sexuelle Befreiung und der Wandel der Sitten in diesem Werk nicht ausführlich behandelt. Das Interesse des Protagonisten an der Prüfung der Fähigkeit der jungen Menschen, die politischen Aussichten Italiens umzuwälzen (vgl. GD: 28), sowie seine persönliche Suche nach einer (Neu-)Ausrichtung seiner politischen Einstellungen sind zwei Aspekte, die den Fokus auf den Erfahrungen im Rahmen des politischen Aktivismus erklären. Wie bereits erwähnt, spielt auch der 139 2.3 I giorni del dissenso von Giorgio Cesarano Altersunterschied dabei eine Rolle: das ständige Misstrauen des Vierzigjährigen, das er in den Blicken der Jüngeren bei den Protestaktionen der Studentenbe‐ wegung spürt (vgl. ebd.: 70 f.), hindert ihn daran, mit ihnen zu interagieren, direkt zu kommunizieren und in die soziokulturellen Ausschreitungen von 1968 einzutauchen. So ist es nicht verwunderlich, dass das Erleben der Jugendkultur des sex, drugs & rock’n’roll in I giorni del dissenso kaum angesprochen wird. Die Andeutungen auf die Zugehörigkeit der Mailänder jungen Generation zu der alternativen Kultur Ende der 1960er-Jahre werden mithilfe von Gesprächs‐ ausschnitten zwischen Studenten umgesetzt, die der Protagonist mitbekommt, oder von seinen Beobachtungen des Verhaltens rebellischerer junger Menschen. Bezüglich des Wandels der Gewohnheiten werden einige Bezüge zum unge‐ zwungenen Aussehen der jungen Generation hergestellt. Dieses lässt sich in erster Linie durch das Tragen eines Barts oder langer Haare, durch Jeans und bunte Kleidung ausdrücken. Dieser jugendliche Look erscheint schon fast als ein Markenzeichen der Studenten, als ein Unterscheidungsmerkmal, das sie nicht nur in der Menge jeder Demonstration auffallen lässt (vgl. ebd.: 116), sondern das auch ihre Ähnlichkeiten mit der Protestkultur in anderen großen Städten der westlichen Welt verdeutlicht. Dieser neue Stil fällt dem Protagonisten auf, besonders als er eine Gruppe »capelloni« (ebd.: 64) [Langmähnige] sich im Zentrum Mailands einer Rock-Bar namens Boom-Boom nähern sieht und in ihrem Look den Antrieb der Studentenbewegung erkennt. In einem Gespräch mit seinem Freund Florenzio reflektieren beide über den maßgeblichen Einfluss der Musik, der Kleidung, des Hippiestils und der neuen Lebensformen auf das Aufblühen der politischen Orientierungen, die den studentischen Aufruhr von 1968 prägen, und beide sehen in diesen Symbolen der kulturellen Revolution - die ihrer Meinung nach mit Pazifismus und Gewaltfreiheit verbunden sind - Formen eines globalen Dissenses (vgl. ebd.: 64 f.). In diesem kosmopolitischen und wohlhabenden Mailand mit Einwohnern, die nicht viel Interesse an den Protesten der jungen Menschen zeigen (vgl. ebd.: 63), bietet ein alternatives Aussehen die Möglichkeit, sich vom Establishment abzugrenzen. Ein Beleg dafür ist die folgende Beobachtung des Protagonisten, als er sich auf die Teilnahme an einer Demonstration vorbereitet: […] mi viene in mente di nuovo l’idea fissa mia che questo no dei giovani a tutta la baracca è cominciato proprio in quel loro tingersi per così dire da negri, voler essere tra vestiti capelli e barbe una razza diversa e difatti suscitando l’antipatia e il sospetto dei potenziali razzisti […]. (GD: 73 f.) 140 2 Darstellung der Prosawerke 85 Diese platonischen Empfindungen des Protagonisten für diese junge Frau und die Art, wie die jungen Italiener in I giorni del dissenso mit der freien Liebe umgehen, werden näher im dritten Kapitel dieser Arbeit betrachtet (siehe Kapitel 3.3.1 und 3.3.2). [[…] wieder erinnere ich mich an meine feste Ansicht, dass dieses Nein der jungen Menschen zu diesem Chaos mit ihrem sozusagen sich das Schwarze Anmalen begann, inmitten Kleidung Haaren und Bärten einer ganz anderen Rasse angehören zu wollen und die Abneigung und den Verdacht von potenziellen Rassisten tatsächlich hervorzurufen.] Aufgewachsen in einer vom Schein und konservativen Werten geprägten Kultur, sehen diese »figli dei borghesi« (GD: 28) [Kinder der Bourgeois] im Wandel der Gewohnheiten die Möglichkeit, das soziokulturelle Ethos der Eltern zu hinterfragen und eine Gelegenheit für Emanzipation in der italienischen Gesellschaft zu schaffen. In diesem Zusammenhang sind auch einige Anspielungen auf die sexuelle Befreiung zu finden. Es stimmt, dass Erfahrungen aus jener Zeit wie die Nutzung von Verhütungsmitteln, die Abtreibung oder das Erleben einer freien Sexualität ohne Tabus in I giorni del dissenso nicht behandelt werden. Dennoch gibt es in ei‐ nigen Gesprächen zwischen jungen Männern und Frauen, denen der Protagonist während der Demonstrationen lauscht, Andeutungen auf einen entspannten Umgang mit der freien Liebe. Die Freiheit, einen Partner/ eine Partnerin frei zu wählen, oder die Möglichkeit für ihn und sie, mehr als einen Sexualpartner zu haben, sind Zeichen der sexuellen Befreiung, die den Protagonisten zunächst verwundern. Gleichzeitig lassen diese Zeichen ihn jedoch Bewunderung für die Lockerheit und das Selbstbewusstsein der jungen Generation im Umgang mit ihrer freien Sexualität, auch mit mehreren Partnern, verspüren. Darüber hinaus soll erwähnt werden, dass er sich in diesem entspannten und offenen Umfeld von einer jungen Frau verzaubert fühlt: eine junge Frau, die unverklemmt mit der Lust umgeht, die es in vielen Studenten erregt. 85 Mit einem gemischten Gefühl aus Verblüffung und Bewunderung nimmt der Protagonist die Entschlossenheit der jungen Generation für die Veränderung von Denkweisen wahr. Dies führt dazu, dass er sowohl aufgrund seiner Beob‐ achtungen als auch aufgrund der seltenen Male, bei denen er es gewagt hat, mit den Studenten zu sprechen, diese Eigenheit der 1968er-Studentenbewegung bemerkt: Anstatt sich auf die einfache Dimension des politischen Aktivismus zu beschränken, schöpft die Studentenbewegung auch in der Gegenkultur Kraft für den Widerstand. 141 2.3 I giorni del dissenso von Giorgio Cesarano 2.4 Condenados a vivir von José María Gironella 2.4.1 Die Darstellung des Generationenkonfliktes der 1960er-Jahre im Spanien Francos in Condenados a vivir Von 1939 bis 1975 lebte Spanien unter dem Joch von Francisco Franco, dem General, der mit eiserner Hand ein totalitäres Regime anführte. Während dieser Zeit war der Staat durch eine nationalistische und traditionalistische Ideologie charakterisiert. Er übte eine repressive Kontrolle über die Bevölkerung aus und verhinderte jegliche Manifestationen von Opposition. Während der 1960er-Jahre erfuhr die spanische Gesellschaft jedoch große Veränderungen, die ausgelöst vom Stabilisierungsplan (1959) und dem darauffolgenden wirtschaft‐ lichen Aufschwung zu einer allmählichen soziokulturellen Öffnung beitrugen. Viele Spanier, besonders die des (oberen) Bürgertums und der wohlhabenden Eliten der großen Städte, konnten dank des Fernsehens, des Radios, der neuen Musikrichtungen und der Mode von jenseits der Pyrenäen sowie dank des zunehmenden Tourismus und der Möglichkeit, ins Ausland zu reisen, die Massenkultur und die Liberalisierung der Sitten ausprobieren. Diese Moder‐ nisierung zeigte sich besonders in der jungen Generation, die am offensten gegenüber einem möglichen Wandel der Einstellungen war. Die jungen Spanier der 1960er-Jahre, die nach dem Bürgerkrieg, der die Gesellschaft am Ende der 1930er geteilt hatte, geboren waren, entfernten sich immer mehr von den vom Regime propagierten Werten. Sie sahen sich weder in einer Politik, die Unterdrückung und willkürliche politische Verhaftungen fortführte, noch in den ultrakonservativen Ideen des sogenannten »Nationalkatholizismus«, den sie als veraltet und nicht mehr zeitgemäß empfanden. Diese junge Generation konnte die abweichenden Meinungen zwar weder öffentlich noch in den Universitäten frei äußern, wie es den deutschen, französischen und italienischen Studenten erlaubt war. Dennoch verfolgte sie die Veränderungen in den demokratischen Ländern Westeuropas und zeigte ihre Unzufriedenheit immer deutlicher (siehe Kapitel 1.5). Parallel zum Wandel in der Gesellschaft gab es seit dem Anfang der 1960er-Jahre Veränderungen in der Literaturszene, die einen Weg zunehmender Modernisierung wiesen. Zwei Ereignisse markierten die Schaffung einer At‐ mosphäre weiterer Öffnung: einerseits die Liberalisierung des Verlagsmarkts als Folge des Endes der Isolierung und der wachsenden Wirtschaft (vgl. Gon‐ zález-Ariza, 2004: 104) und andererseits »die Abschaffung der Vorzensur und die Einführung des Prinzips der Eigenverantwortlichkeit« (Bernecker, 1997: 144), die das neue Pressegesetz von 1966 mit sich brachte. Trotz der weiter 142 2 Darstellung der Prosawerke 86 Romane wie Volverás a Región (1967) von Juan Benet, Señas de identidad (1966) von Juan Goytisolo oder Últimas tardes con Teresa (1966) von Juan Marsé sollen im Rahmen dieser literarischen Produktion hervorgehoben werden, da sie Werke junger Autoren sind, die mit den Formen des traditionellen Romans brechen und einen kritischen Blick auf die politische und soziokulturelle Wirklichkeit der 1940er-, 1950er- und 1960er-Jahre werfen (vgl. Gracia/ Ródenas, 2011: 5). bestehenden Hindernisse der Zensur und der Einschränkungen der Meinungs‐ freiheit ist auch darauf zu verweisen, dass die spanische Literatur im Laufe der 1960er-Jahre eine Bewegung für die Wiedereinsetzung der Modernität kannte (vgl. Gracia/ Ródenas, 2011: 4). Am Ende jenes Jahrzehnts erschienen neue Werke von jüngeren Autoren, die den Bürgerkrieg nicht mehr persönlich erlebt hatten - bzw. sich nicht mehr an ihn erinnerten - und die sich daran machten, die Gesellschaft und die Zeitgeschichte von Spanien kritisch zu verfolgen (vgl. ebd.: 5). So entstand aufgrund der soziokulturellen Veränderungen eine literarische Produktion, die sich durch den kritischen Blick auf die traditionalistischen und konservativen Werte des Regimes auszeichnete. 86 Jordi Gracia und Domingo Ródenas beschreiben auf diese Weise die Effekte des Modernisierungsprozesses der Literaturszene während der 1960er-Jahre: Los cambios son de fondo porque son de forma, y el franquismo como hábitat cultural recibe la puntilla que acaba con lo que era ya un moribundo desde casi cualquier punto de vista, excepto el político y el del aparato represivo. Faltan muchos años para que el marco jurídico sea democrático, pero la vida intelectual y literaria respira con otros pulmones, menos comprimidos y más oxigenados, y es capaz de ganar el papel de vanguardia democrática y liberal sin adjetivos políticos o militantes, convirtiéndose ya en una paradójica literatura democrática sin democracia. (Gracia/ Ródenas, 2011: 5 f.) [Die Veränderungen sind grundsätzlich, denn sie betreffen die Form, und der Fran‐ quismus als Habitat der Kultur erleidet den Gnadenstoß, der den in jeder Hinsicht Dahinsiechenden tötet - mit Ausnahme von der Politik und dem Repressionsapparat. Es fehlen noch viele Jahre, bis das Land eine Demokratie und ein Rechtsstaat wird, aber das intellektuelle und literarische Leben atmet mit anderen Lungen, weniger gespannt, voller Sauerstoff. Es ist in der Lage, die Rolle einer demokratischen und liberalen Avantgarde ohne politische oder militante Eigenschaften anzunehmen. Dabei verwandelt es sich paradoxerweise in eine demokratische Literatur ohne Demokratie.] In diesem Kontext weiterer Öffnung und Liberalisierung erscheint am Anfang der 1970er-Jahre Condenados a vivir (1971), der siebte Roman des damals fünfzigjährigen Autors José María Gironella. Obwohl er nicht zu den in 143 2.4 Condenados a vivir von José María Gironella 87 Die Jugenderlebnisse des Autors als Legionär in der Armee Francos, eine für sein wei‐ teres Leben prägende Erfahrung, inspirierten ihn zur Veröffentlichung verschiedener Bücher, die so getreu wie möglich die von den Republikanern und Nationalisten erlebte Bürgerkriegsrealität erzählen (vgl. Salso, 1981: 34). Des Weiteren weist Carole Fillière darauf hin, dass Gironella der erste spanische Autor war, der in seinen Werken der Darstellung der Besiegten Raum gegeben hat (vgl. Fillière, 2006: 288). Damit brach er mit der Reihe der dem Regime verbundenen Romanen, die eine patriotische Lobpreisung der Taten der Sieger im Bürgerkrieg vorzogen (vgl. ebd.: 304). 88 Der erste Band der Trilogie Los cipreses creen en Dios (1953) zählt zu den ersten Bestsellern der spanischen Literatur (vgl. Martínez Cachero, 1997: 209; Gracia/ Ródenas, 2011: 361). der Nachkriegszeit geborenen Autoren gehört, verstand sich der katalanische Schriftsteller immer als Zeuge und als Chronist des zeitgenössischen Spaniens (vgl. Fernandez-Blanco, 1985: 9), der sich mehrfach mit für das Franco-Regime unbequemen Themen beschäftigte. Das beweist die Romantrilogie über die Zeit des spanischen Bürgerkriegs, durch die er national und international bekannt wurde. Diese zwischen 1953 und 1966 veröffentlichte Trilogie begleitet chronologisch die Saga der Familie Alvear seit der Mitte der 1930er-Jahre, die zur Spaltung Spaniens führten und es in einen bis dahin in Europa nicht gekannten Bürgerkrieg stürzten, über die Nachkriegszeit bis zur Konsolidierung der Herrschaft Francos. Die Bände der Trilogie sind Los cipreses creen en Dios (1953), Un millón de muertos (1961) und Ha estallado la paz (1966). 87 Trotz der Schwierigkeiten, die Gironella mit der Zensur hatte (vgl. Fillière, 2006: 307), konnte er die Trilogie in Spanien ohne Kürzungen veröffentlichen und sie wurde auch in mehrere Sprachen übersetzt. Mehr als von der Kritik wurde sie von einer breiten Leserschaft geschätzt, die Interesse dafür zeigte, weil sie sich in der dargestellten Handlung wiederfand (vgl. Fernandez-Blanco, 1985: 6). 88 Die Hauptgründe, die den großen Erfolg dieser Trilogie bei dem Mas‐ senpublikum erklären können, sind die Fiktionalisierung des Bürgerkriegs aus einem persönlichen und intimen Blick - und eben nicht aus einer ausschließlich historisch-politischen Perspektive - sowie die Fokussierung auf die Familie und auf die individuellen Motive im Gegensatz zur kollektiven Geschichte: La trilogía es a la vez un lugar donde se mantiene viva la memoria y una narración eficaz, sencilla y amena. […] Narrador nato, Gironella seduce, atrae y retiene a su lector. Se puede establecer un paralelo entre la «absorción» del acontecimiento por el discurso afectivo y la «absorción» del lector, sea cual sea su ideología, en unas novelas que dan vida a un pasado hecho sensible. (Fillière, 2006: 309) [Die Trilogie ist gleichermaßen ein Ort, an dem die Erinnerung lebt, und eine effiziente, einfache und angenehme Erzählung. […] Der geborene Erzähler Gironella verführt seinen Leser, zieht ihn an und fesselt ihn. Es kann eine Parallele gezogen 144 2 Darstellung der Prosawerke 89 Vor dem Tod des Caudillo 1975 wurde Gironella von vielen als ein dem Franco-Regime nahestehender Mensch angesehen (vgl. Fernandez-Blanco, 1985: 27), eher aufgrund seiner tiefen katholischen Überzeugungen als wegen seiner politischen Ansichten. In der von José António Salso in den 1980er-Jahren geschriebenen Biographie über Gironella ist jedoch zu lesen, dass der katalanische Autor während der Franco-Ära oft von Seiten des Establishments kritisiert wurde, dessen Mitglieder ihn nie als einen der ihren betrachteten (vgl. Salso, 1985: 7). 90 Der deutlichste Fall ereignete sich Ende der 1960er-Jahre, als Gironella es in dem Artikel »El engaño de las palabras« (1968) [Die Täuschung der Worte] wagte, der Diktatur Francos entgegenzutreten, indem er die Manipulation der spanischen Öffentlichkeit sowie die mangelnde Pressefreiheit anklagte (vgl. Fernandez-Blanco, 1985: 28). werden zwischen dem »Absorbieren« des Ereignisses durch den affektiven Diskurs und dem »Absorbieren« des Lesers, unabhängig von seiner Ideologie, von Romanen, die eine sensible Vergangenheit beleben.] Sowohl in seinen literarischen Werken als auch in seinen zahlreichen Artikeln und Essays (veröffentlicht vor und nach dem Sturz der Diktatur) versuchte Gironella, bei den von ihm behandelten nationalen und internationalen histori‐ schen Ereignissen eine objektive und unparteiische Haltung einzunehmen (vgl. Salso, 1981: 7). 89 Dies bedeutet allerdings weder, dass er von seinem kritischen Bewusstsein abwich, noch dass er sich zurückhielt, Ungerechtigkeiten und Probleme der zeitgenössischen Gesellschaft anzuprangern. Aus diesem Grund hat er auch mehrmals die Richtung und die Führung des repressiven Regimes verurteilt. 90 Laut Pedro Fernandez-Blanco, dem Verfasser der Studie José María Gironella, romancier témoin de son époque (1985), ist diese sowohl kritische als auch reflektierende Haltung Gironellas gegenüber der Wirklichkeit einer der Züge, der sich in seinem Werk besonders zeigen lässt: L’écrivain se montre toujours dans ses écrits comme un homme mesuré et modéré. Quant [sic! ] il s’agit de traiter un problème délicat, que ce soit la Guerre Civile espagnole, la guerre du Vietnam, la confrontation entre les générations etc. il cherche toujours à garder la tête froide et à éviter de lancer des anathèmes contre les uns ou contre les autres. Cette position intellectuelle et humaine est souvent inconfortable, difficile à tenir, mais il la tient au nom de sa sincérité et de sa conscience. (Fernandez-Blanco, 1985: 27) [Der Schriftsteller zeigt sich durchgehend in seinen Schriften als maßvoller und gemäßigter Mann. Wenn es darum geht, ein heikles Thema zu behandeln, sei es der spanische Bürgerkrieg, der Krieg in Vietnam, der Generationenkonflikt usw., bemüht er sich stets, einen kühlen Kopf zu bewahren, damit er nicht diese oder jene Seite verdammt. Diese intellektuelle und menschliche Position ist ziemlich unbequem, 145 2.4 Condenados a vivir von José María Gironella 91 Laut Santos Sanz Villanueva, dem Verfasser der Studie La novela española durante el franquismo (2010) [Der spanische Roman während des Franco-Regimes], sind folgende Aspekte in allen Romanen von José María Gironella zu finden: die Neugier für das Individuum und für die Gesellschaft seiner Zeit, sein Bemühen, das historische Umfeld getreu wiederzugeben und die gründliche Dokumentation der Epoche, in der sich die Handlung abspielt (vgl. Sanz Villanueva, 2010: 68 f.). 92 In Literatura y sociedad: el premio Planeta (2004) erwähnt Fernando González-Ariza, dass die Verleihung dieses Literaturpreises an Condenados a vivir ein Anerkennungszeichen gegenüber Gironella war: ein renommierter Autor in den 1950er- und 1960er-Jahren, der dank seiner im Verlag Planeta veröffentlichten Romantrilogie über den Bürgerkrieg zum Wachstum des Verlagshauses beitrug (vgl. González-Ariza, 2004: 154). Vor dem Pla‐ neta-Preis wurden Gironella im Verlauf seiner Karriere schon andere Auszeichnungen verliehen, wie der Nadal-Preis (1946) oder der Nationalpreis für Literatur (1955). schwierig einzuhalten, aber er schafft es im Namen seiner Aufrichtigkeit und gemäß seinem Gewissen.] Ein weiteres hervorstechendes Merkmal, das die soziopolitischen Romane und das nichtfiktionale Werk Gironellas durchzieht, ist seine Fähigkeit, eine Frucht seines Interesses an der Welt jenseits der Pyrenäen, offen für die soziokultu‐ rellen Phänomene seiner Zeit zu sein. 91 Während der 1960er-Jahre unternimmt dieser als Weltbürger beschriebene Schriftsteller (vgl. Salso, 1985: 8) mehrere Reisen durch Europa, die USA, nach Cuba und in einige asiatische Länder und verarbeitet sie in Artikeln und Reiseberichten. Diese Reisen wecken in ihm das Interesse an den neuen jungen Menschen, besonders an der jungen Generation der 1960er-Jahre, die ihn trotz ihrer unbekannten Werte und Ideale beeindru‐ cken. Wie Gironella im Vorwort des Romans bemerkt, war es die Motivation, das Problem der Jugend und des Generationenabstands verstehen zu wollen (vgl. CV, Band I: 7), das ihn dazu brachte, Condenados a vivir zu veröffentlichen. Seiner Meinung nach war dies damals ein Problem von größter Bedeutung nicht nur im internationalen Kontext, sondern auch in der spanischen Gesellschaft (vgl. ebd.). Außerdem ist es wichtig festzuhalten, dass dieses Problem der soziokulturellen Veränderungen durch die junge Generation gleichermaßen auf das Interesse der spanischen Leser stieß (vgl. Fernandez-Blanco, 1985: 79). Die Tatsache, dass Condenados a vivir in den 1970er-Jahren ein Verkaufsschlager war - nachdem es im gleichen Jahr seines Erscheinens den Preis des Verlagshauses Planeta gewonnen hatte -, zeigt, dass dieser Roman eher von den Lesern als von den Kritikern geschätzt wurde. Diese Auszeichnung von beachtlichem finanziellen Wert, deren Ziel es war, unveröffentlichte Romane bekannt zu machen, bedeutete damals den zugkräftigsten Preis der spanischsprachigen kulturellen Welt (vgl. González-Ariza, 2004: 153). 92 Was die literarische Qualität betrifft, hielten jedoch viele Kritiker jener Zeit Condenados a vivir für einen zu 146 2 Darstellung der Prosawerke 93 Literaturhistoriker wie José María Martínez Cachero, Santos Sanz Villanueva oder Jordi Gracia und Domingos Ródenas stellen in ihren Studien dar, dass im Rahmen des fiktionalen Werkes Gironellas Condenados a vivir Bestandteil eines umfassenden Romanzyklus ist, der die historischen und soziokulturellen Ereignisse der spanischen Geschichte während der Herrschaft Francos festhielt (vgl. Martínez Cachero, 1997: 213; Sanz Villanueva, 2010: 71; Gracia/ Ródenas, 2011: 362). Los cipreses creen en Dios (1953), Un millón de muertos (1961), Ha estallado la paz (1966) und Los hombres lloran solos (1986) sind die anderen Titel aus diesem Romanzyklus. Nur in den ersten drei Romanen davon - es sind die Bände der Trilogie - lässt sich jedoch eine eindeutige Kontinuität zeigen, denn sie konzentrieren sich auf die Erlebnisse einer einzelnen Familie über mehrere Generationen vor, während und nach der Zeit des Bürgerkriegs. 94 Nach meiner Kenntnis gibt es in der spanischen Literatur der 1960er- oder der 1970er-Jahre keine große Anzahl von Romanen, die während der Diktatur geschrieben und/ oder publiziert wurden, und in denen die Studentenrevolte und der antiautoritäre umfangreichen Roman, der einem Erzählstil des 19. Jahrhunderts sehr verhaftet war, zu weitschweifig und wenig innovativ (vgl. Martínez Cachero, 1997: 218 f.; Sanz Villanueva, 2010: 71). Mit Condenados a vivir gibt Gironella eine getreue Darstellung der sozialen Struktur von Spanien seit dem Ende des Bürgerkriegs bis zum Ende der 1960er-Jahre (vgl. Suarez-Torres, 1975: 16) 93 durch die literarische Bearbeitung der soziokulturellen Veränderungen und der Familienkonflikte, die die Spanier gut kannten. Dies bestätigt Pedro Fernandez-Blanco: [Dans Condenados a vivir; IG] J. Mª Gironella […] exprime ses point [sic! ] de vue sur la bourgeoisie espagnole de l’après-guerre, sur la jeunesse, sur la révolte et la contestation de cette jeunesse et cela à un moment où les conséquences de la crise sociale de 1968 qui secoua toute l’Europe Occidentale sont présentes à l’esprit des lecteurs. Dans ce sens, nous considérons ce roman comme une fresque sociale espagnole de l’après-guerre. (Fernandez-Blanco, 1985: 98) [[In Condenados a vivir; IG] stellt J. Mª Gironella […] seine Standpunkte über das spanische Bürgertum, über die Jugend, über die Revolte und den Protest dieser Jugend dar, und all das zu dem Zeitpunkt, als die Konsequenzen der sozialen Krise von 1968, die ganz Westeuropa erschüttert hat, im Bewusstsein der Leser präsent sind. In dieser Hinsicht wird dieser Roman als ein soziales Fresko der spanischen Nachkriegszeit betrachtet.] Im Rahmen der spanischen Literatur am Ende der 1960er-Jahre und während der 1970er-Jahre ist dieser Roman derjenige, der die unterschiedlichen Verhaltens‐ weisen und die ideologische Spaltung zwischen Eltern und Kindern am besten illustriert. Er zeigt deutlich kontroverse Themen wie die Faszination der jungen Menschen für linke Tendenzen, den Studentenkampf in den Universitäten und sogar das Experimentieren mit Drogen und die Frage der Abtreibung. 94 Tatsäch‐ 147 2.4 Condenados a vivir von José María Gironella Kampf der jungen Generation der 1960er-Jahre im Hauptfokus stehen. Während der Herrschaft Francos waren diese sozusagen Tabuthemen, wodurch nur wenige Autoren es wagten, sie zu behandeln. In Señas de identidad (1966) von Juan Goytisolo, ein in Spanien erst nach dem Tod Francos veröffentlichter Roman, werden soziale Ungerechtigkeiten angeklagt sowie die staatliche Unterdrückung und der intellektuelle und religiöse Konservatismus der Gesellschaft von 1939 bis in die 1960er-Jahre, aber es finden sich nur kurze Anspielungen hinsichtlich der Studentenopposition gegen das Regime. Dasselbe gilt für Últimas tardes con Teresa von Juan Marsé, der 1966 in Barcelona erschien. In diesem Roman, der sich auf die Kritik an der Heuchelei der Bourgeoisie durch die Darstellung einer verbotenen Liebe zwischen einem jungen Mann aus der Unterschicht und einer bürgerlichen Studentin konzentriert, gehen die Episoden der Studentenrevolte auf das Ende der 1950er-Jahre zurück. Deshalb ist Condenados a vivir nach meiner Recherche der einzige Roman, in dem der Generationenkonflikt zwischen Eltern und Kindern und die Jugendrevolte im Laufe der 1960er-Jahre im Vordergrund steht. lich ist es überraschend, dass es in einem Spanien, welches noch sehr vom konservativen Katholizismus beherrscht wurde und unter strenger Kontrolle des Regimes stand, möglich war, einen Roman mit diesem herausfordernden Impetus zu veröffentlichen. Im Vorwort von Condenados a vivir, wahrscheinlich um eventuellen Einwänden der Zensur zuvorzukommen, bestreitet Gironella - nicht ohne Ironie - jede Verbindung zwischen Geschichte und Fiktion und behauptet: »Se trata de una novela-novela, de una estricta fabulación, por lo que me he permitido más que nunca una libertad absoluta« (CV, Band I: 8) [Es handelt sich um einen Roman-Roman, eine eindeutige Fiktion, was mir mehr als je zuvor absolute Freiheit gab]. Diese »absolute Freiheit« basiert genau auf der narrativen Verknüpfung von historischer und fiktionaler Realität, so wie es auch in seinen vorhergehenden soziopolitischen Romanen über die Bürgerkriegszeit geschah. Und dank dieser Verknüpfung vermag es Gironella, ein umfassendes Bild des Wandels der Einstellungen und des Modernisierungsprozesses während der Franco-Zeit in Spanien zu zeichnen - eines Prozesses, wie der Roman ver‐ deutlicht, der den Widerstandsgeist der spanischen jungen Generation während der 1960er-Jahre ausformt und einen Graben zwischen Eltern und Kindern schafft. 2.4.2 Erzählstrategien Der Autor gibt seiner Geschichte die Form eines Generationenromans, einer verbreiteten Untergattung der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts und des Fin de Siècle. Fernando González-Ariza definiert Condenados a vivir sogar als eine novela-río (vgl. González-Ariza, 2004: 155), im Französischen roman-fleuve. Dieser Begriff bezeichnet ein Romanwerk in mehreren Bänden, in dem ein 148 2 Darstellung der Prosawerke soziokulturelles Bild aufeinander folgender Generationen über einen längeren historischen Zeitraum und das Auftreten der Hauptfiguren im Laufe jener Bände geschildert wird. Wie Gironella im Vorwort von Condenados a vivir andeutet, gibt er beiden dargestellten Generationen gleichermaßen Raum (vgl. CV, Band I: 7). Der Roman rückt die Erfahrungen von Eltern und Kindern während dreißig Jahren des Franco-Regimes in den Vordergrund. Diese werden mittels einer Annäherung zur Realität literarisch verarbeitet. So fiktionalisiert Condenados a vivir diese Zeit und deren soziopolitische Atmosphäre durch eine getreue Darstellung - eine Zeit, die, wie auch im Roman zu lesen ist, nicht nur durch die wirtschaftlichen Fortschritte der 1950er- und 1960er-Jahre, durch die Verbesserung der Lebensstandards der oberen Mittelschicht und der soziokulturellen Offenheit gegenüber den Mode- und Musiktendenzen jenseits der Pyrenäen geprägt wird, sondern auch durch die Atmosphäre der Repression, die die verschiedenen Figuren - aber besonders die aus der jungen Generation - im Ausdruck ihres Widerstands einschränkt. In den Worten Gironellas: […] terminé por pintar un retablo, mejor o peor, de un gran sector de la sociedad que nos rodea; operando conforme a mi característica manera de hacer, es decir, a base de ensanchar la acción por medio de círculos concéntricos en busca de una visión panorámica, general. (CV, Band I: 8) [[…] ich malte ein mehr oder weniger gelungenes Bild von einem großen Teil der uns umgebenden Gesellschaft. Dabei ging ich in der mir eigenen Art vor, d. h. ich erweiterte die Handlung durch konzentrische Kreise auf der Suche nach einer allgemeinen Panoramasicht.] Wie die vorherigen Titel Gironellas ist auch Condenados a vivir erzähltechnisch von einem traditionellen Ansatz bestimmt. Dieser lässt sich noch sehr von der realistischen Strömung, die die Romanproduktion des 19. Jahrhunderts beherrschte, orientieren (vgl. Sanz Villanueva, 2010: 69). Die Erzählsituation ist auktorial, der heterodiegetische Erzähler ist allwissend und überschaut die Lebensgeschichte der Figuren beider Generationen, ihre Gedanken und Gefühle, ebenso wie alle Details der historischen, sozialen und kulturellen Zeit, die die Personen einrahmt. Charakteristisch für die auktoriale Erzählsituation ist die Wahl der Nullfokalisierung, eine allwissende, olympische Erzählperspektive, die sich auf die verschiedenen Figuren erstreckt. Dennoch wechselt diese Erzählperspektive manchmal mit einer restriktiven Informationsregulierung (der Terminologie von Mair entsprechend) ab, indem der Erzähler einen ein‐ geschränkteren Blickwinkel oder Wissenshorizont in Bezug auf das, was die Figuren denken oder unternehmen, hat. Einerseits erklärt weitgehend die im Vorwort erwähnte Suche nach einer allgemeinen Panoramasicht (vgl. CV, Band 149 2.4 Condenados a vivir von José María Gironella I: 8) die Wahl der dominierenden allwissenden Erzählperspektive. Andererseits erklärt auch das Interesse des Erzählers, ein tableau vivant - sehr nah zur Realität - des Generationenkonfliktes im Spanien Francos zu malen, die starke Präsenz der dramatisierten Szenen (nach Stanzel) im Roman - einem Roman, in dem die Darstellung von Szenen einen größeren Raum als der Erzählerbericht einnimmt. Die dramatisierten Szenen - die eine andere Darstellungsweise als der allwissende Erzählbericht sind - bieten einen direkten Zugang nicht nur zu der Stimme der Figuren, sondern auch zu den verschiedenen Sprechweisen und dem Gestus beider in Condenados a vivir dargestellten Generationen. Als Beispiel soll der folgende Auszug dienen, der die Reaktionen der Eltern Julián und Margot illustriert, als sie erfahren, dass ihre Tochter Medizin studieren möchte: Grande fue la sorpresa de sus padres al enterarse de que la cosa iba en serio, aunque no veían razón alguna para que no fuera así, y tampoco para oponerse. Únicamente, Margot le preguntó repetidas veces: — Pero ¿estás segura, Susana? ¿Lo has pensado bien? — Lo he pensado y lo he sentido, mamá. Julián, desde luego, estaba perplejo. ¡Una mujer-médico! ¿Por dónde coger aquello? […] — Susana, por favor, escúchame un momento… Ser enfermera me parece natural. ¡Pero ser médico es algo muy distinto! — Papá, compréndelo. No me veo haciendo cirugía. Ni siquiera dirigiendo un balneario de reumáticos. Pero la pediatría me parece muy apropiada para una mujer. Julián admitió que eso era cierto. — Sin embargo —objetó—, ¿cuándo he visto yo que los niños te interesaran a ti de un modo especial? — Eso no tiene nada que ver, papá. ¿Es que tú acariciabas las paredes antes de hacerte arquitecto? — Pues, no, la verdad… —confesó Julián—. Más bien pensaba en hacerme ingeniero agrónomo. — Ahí tienes. ¿Cuento, pues, con tu bendición? — ¡Qué remedio! (CV, Band II: 89 f.) [Als es den Eltern klar war, dass es Ernst wurde, war ihre Überraschung groß, obwohl sie keinen Grund hatten, um zu zweifeln, geschweige denn dagegen zu sein. Nur Margot fragte sie verschiedentlich: — Bist du dir sicher, Susana? Hast du es dir gut überlegt? — Ich habe es bedacht und empfunden, Mama. Julián war natürlich erstaunt. Eine Frau als Ärztin! Hatte man das schon gesehen? […] 150 2 Darstellung der Prosawerke — Susana, hör mir mal bitte einen Moment zu… Krankenschwester erscheint mir normal, aber Ärztin zu sein ist etwas ganz anderes! — Papa, versteh doch. Ich will ja gar nicht Chirurgie machen. Und will auch keine Kurklinik für Rheumakranke leiten. Aber Pädiatrie scheint mir sehr geeignet für eine Frau zu sein. Julián gab zu, dass das stimmte. — Trotzdem — wandte er ein —, wann habe ich je gesehen, dass dich Kinder besonders interessieren? — Das hat nichts miteinander zu tun, Papa. Oder hast du die Wände gestreichelt, bevor du Architekt wurdest? — Also, nein, das ist wahr…— gestand Julián —. Aber ich habe daran gedacht, Diplomlandwirt zu werden. — Siehst du. Bekomm ich nun deinen Segen? — Was bleibt mir übrig! ] Interessanterweise mischt der Erzähler auch seine eigene Stimme mit denen der fokussierten Figuren in den verschiedenen Erzählsequenzen, was auch dazu führt, dass sich im Leseprozess ein Gefühl der Nähe einstellt. Dies wird schon am Beginn des Romans deutlich: Julián Vega entró en Barcelona con las tropas «nacionales». Era la viva estampa del vencedor. Alto, fuerte, seguro de sí. El uniforme le sentaba bien. Diríase que a los vencedores el uniforme les sienta bien. Estaba eufórico y, al llegar a la plaza de Cataluña, donde se arremolinaba una inmensa multitud dispuesta a cantar el tedéum, tiró el gorro al aire y gritó algo, no se sabía qué. […] El espectáculo era en verdad hermoso. «¡Viva España! », «¡Arriba España! » Las ban‐ deras se volvían locas. Julián Vega se sintió orgulloso de su estatura y de las dos estrellas de la bocamanga. ¡Había deseado tanto vivir aquel momento! Sabía que significaba el principio del fin. (CV, Band I: 11) [ Julián Vega zog mit den »nationalen« Truppen in Barcelona ein. Er war das lebendige Bild von einem Sieger. Groß, stark, selbstbewusst. Die Uniform stand ihm gut. Man könnte sagen, dass die Uniform den Siegern gut steht. Er war euphorisch, und als er zur Plaza Cataluña kam, wo sich eine Menschenmenge drängte, bereit das Te Deum zu singen, warf er die Mütze in die Luft und schrie wer weiß was. […] Das Spektakel war sehr beeindruckend. »Es lebe Spanien! «, »Ein Hoch auf Spanien! « Die Fahnen bewegten sich wie verrückt. Julián Vega war auf sein Erscheinungsbild und auf die zwei Sterne an den Ärmeln stolz. Er hatte so lange von diesem Augenblick geträumt! Er wusste, das bedeutete den Anfang vom Ende.] Diese Vermischung der Stimmen (hier durch erlebte Rede: »Er hatte so lange von diesem Augenblick geträumt! «) zusammen mit der Lebendigkeit des Erzählers 151 2.4 Condenados a vivir von José María Gironella 95 Die wenigen Studien über das Werk José María Gironellas beschäftigen sich fast ausschließlich mit den Romanen der Trilogie des Bürgerkriegs (vgl. Fillière, 2006: 286). Nur am Rande lassen sich Anspielungen auf Condenados a vivir finden (vgl. Suarez-Torres, 1975: 16; Martínez Cachero, 1997: 218). Nach meiner Untersuchung ist Pedro Fernandez-Blanco der einzige, der in seiner Doktorarbeit eine ausführliche Analyse von Condenados a vivir vorlegt, indem er die Hauptfiguren, die historische Verankerung der Handlung und die Gründe für den Generationenkonflikt analysiert. beim Ausmalen des diegetischen Universums - selbst in den auf Figuren und auf Geschehnisse bezogenen Momenten größerer Reflexion - trägt zu einer leichten und angenehmen Lektüre bei. Es ist sicher richtig, dass Condenados a vivir kein innovatives Werk ist, weder in Bezug auf den Erzählbau noch auf der Ebene des Stils und der Form (vgl. Sanz Villanueva, 2010: 71). Aber die Wahl einer traditionelleren Erzählweise ermöglichte Gironella, das von ihm angestrebte umfangreiche Panoramabild des Generationenkonfliktes zu schaffen, und erlaubte ihm auch, die Präsenz und die Stimme der Generation der Eltern und die der Kinder im Roman ins Gleichgewicht zu bringen. 2.4.3 Darstellungen des Widerstands der jungen Generation Die Handlung von Condenados a vivir findet in Barcelona statt und durchläuft von 1939 bis 1967 fast drei Jahrzehnte des Nachkriegsspaniens. Von der Kritik als ein Roman des Generationenkonfliktes bezeichnet (vgl. Suarez-Torres, 1975: 16), werden in Condenados a vivir ausgehend von den persönlichen Geschichten der Figuren zweier bürgerlicher katalanischer Familien, der Vegas und der Venturas, die Umrisse des Gegeneinanders von Eltern und Kindern deutlich, das in der spanischen Gesellschaft der 1960er-Jahre stattfand. 95 Der Roman besteht aus zwei Bänden und ist in vier Teile gegliedert, die jeweils in umfang‐ reiche Kapitel unterteilt sind und deren Titel schon im Voraus auf den Streit beider Generationen hindeuten: Los padres [Die Eltern], Los hijos [Die Kinder], Enfrentamiento [Konfrontation] und Ruptura [Bruch]. In jedem diese Teile ist es möglich, detailliert die Entwicklung der Hauptfiguren zu verfolgen und dies seit der Entstehung der Franco-Diktatur bis zu dem Moment, in dem die Zeichen einer allmählichen Erosion der fundamentalen Werte des Regimes besonders im soziokulturellen und familiären Bereich sichtbar werden. Im ersten Teil liegt der Fokus auf der Elterngeneration, vertreten durch die Ehepaare Vega und Ventura und ihren engen Freundeskreis. Diese Generation erlebte die bewegten Jahre des Bürgerkriegs und musste am Ende der Kämpfe lernen, in einem Spanien zu leben, was sich sehr von dem vor 1936 unterschied. 152 2 Darstellung der Prosawerke 96 Über die im Roman dargestellte offene Mentalität des Bürgertums, zu dem die Eltern‐ generation gehört, kann man bei Pedro Fernandez-Blanco lesen: »La bourgeoisie que J. Mª Gironella nous présente dans Condenados a vivir est la bourgeoisie typiquement catalane, qui est tout de même, un peu différente de celle du reste de l’Espagne, ne serait-ce qu’à cause de son ouverture vers l’Europe et vers la France en particulier« (Fernandez-Blanco, 1985: 95). [Das Bürgertum, das J. Mª Gironella uns in Condenados a vivir präsentiert, ist das typisch katalanische Bürgertum, das ein wenig anders ist als das im restlichen Spanien, nicht zuletzt aufgrund seiner Offenheit gegenüber Europa und besonders gegenüber Frankreich.] Es ist kein Zufall, dass die Handlung in dem Moment beginnt, als die Truppen der Falange im Januar 1939 in Barcelona einziehen - dem Moment, der das Ende des Kriegs und den Anfang einer neuen Zeit bedeutet. Die katalanische Hauptstadt, geprägt von den Bombenangriffen, von Hunger und Elend, die eine Spur von Verwüstung wie nach einem Sturm hinterließen (vgl. CV, Band I: 13), sollte sich aus den Ruinen erheben. Für dieses Wiedererstarken konnte sie mit dem Unternehmergeist der Sieger rechnen, die begierig waren, mit der republikanischen Vergangenheit zu brechen und ein neues Spanien auf nationalistischen und militärischen Prinzipien zu gründen. Julián Vega teilt diesen Enthusiasmus. Er kämpfte als Andalusier in den Truppen der Falange und etablierte sich am Ende des Kriegs als Architekt in Barcelona, da er fasziniert war, sowohl vom Versprechen, die Stadt wiederaufzubauen, als auch vom Kontakt zu einer offeneren Gesellschaft. Dort lernt er auch seine spätere Frau kennen, die Musiklehrerin Margot, und teilt den Alltag mit Freunden der oberen katalanischen Schicht, die gebildet, wohlhabend und an der neuen Zeit interes‐ siert ist. 96 Aus dieser Gruppe von Architekten, Unternehmern und Bankiers sticht die Familie des Ehepaares Ventura hervor: die vornehme Dame des Hauses Rosy und Rogelio, ein Unternehmer im Bauwesen mit starkem Pioniergeist, der sich in der Geschäftswelt dank seiner Kontakte in den oberen Kreisen des Regimes bewegt. Die Nähe, die zwischen den beiden Paaren sichtbar ist, entsteht anfänglich aus den beruflichen Verbindungen und politischen Vorlieben von Julián und Rogelio, die beide mit dem Nationalismus Francos sympathisieren. Aber auch die Ähnlichkeiten der Ehefrauen, beide jünger als ihre Männer und aus guten Familien mit liberaler Tradition stammend, spielt dabei eine Rolle. Im Laufe der Zeit werden die Kinder fast gleichzeitig geboren: Pedro Ventura und Laureano Vega 1942 und die Schwestern, Susana Vega und Carol Ventura, etwa zwei Jahre später. So werden die Bande zwischen den Familien enger und es entwickeln sich mit der Zeit Einigkeit und Komplizenschaft. Das zeigt sich nach der Geburt der Töchter folgendermaßen: 153 2.4 Condenados a vivir von José María Gironella ¡La parejita! La parejita fue un hecho. Ya podía hablarse de «las familias Ventura y Vega». Una familia no era un amor compartido […]; una familia era lo que aquéllas estaban siendo: un agrupamiento, una gran cabriola colectiva, una reunión de cabezas y cabecitas y un coro de voces que en un momento determinado podían discutir y disputar, pero que en otro momento - el más importante - podían enfrentarse al mundo entero con estas o parecidas palabras: «Aquí estamos solidificados los de una misma sangre, dispuestos a defender nuestra manera de ver las cosas, nuestro acotado territorio. ¡No faltaría más! » (CV, Band I: 161) [Das Geschwisterpärchen! Das Geschwisterpärchen war da! Man konnte schon von »den Familien Vega und Ventura« sprechen. Eine Familie war nicht eine gemeinsame Liebe […]; eine Familie war dies, was beide waren: eine Gruppe, eine große kollektive Kapriole, eine Versammlung von Köpfen und Köpfchen und ein Chor von Stimmen, die in einem Moment diskutieren und streiten könnten, sich aber in einem anderen - der wichtigste - Moment mit diesen oder anderen Worten gegen die Welt stellen könnten: »Hier sind wir aus dem gleichen Blut erstarrt, entschlossen, unsere Weltsicht, unser Territorium zu verteidigen. So muss es sein! «] Die kämpferische Haltung bestimmt das Verhalten der Vega und der Ventura nach dem Zweiten Weltkrieg, als Zweifel an der weiteren Herrschaft Francos in der spanischen Gesellschaft aufkommen. Einerseits sehnt sich die Elternge‐ neration in jener Phase nach dem Ende der Einschränkungen von Nahrungs- und Heizmitteln wie auch des Elends und der Rationierung, die den Alltag der Spanier bis 1945 bestimmt haben (vgl. CV, Band I: 121). Auf der anderen Seite verheimlicht sie nicht die starke Angst vor einem erneuten Ausbruch des Bürgerkriegs, der wieder Tod, Leid und Familientrennungen mit sich bringen würde. Das Wichtigste in dieser unsicheren politischen Lage ist es in den Augen der Eltern, den Kindern die Schrecken eines neuen Kriegs zu ersparen (vgl. ebd.: 191). Vielleicht deswegen lehnen sich nur wenige der älteren Figuren gegen das Regime auf. Die Mehrheit von ihnen findet sich mit dem Leben im repressiven Autoritarismus ab und entscheidet sich, die im Roman dargestellte internationale Isolierung, die Knappheit an Gütern und Arbeitsplätzen sowie die wirtschaftliche Rezession zu ertragen. Diese Resilienz auf Seiten der Eltern, mo‐ tiviert von der Sorge um die Zukunft der Kinder, wird im folgenden Ausschnitt deutlich: […] El país entero daba muestras de estar dispuesto a cruzar todos los inviernos; […] el país aguantaría el chaparrón. Y ciñéndose a Barcelona, la versión podía ser incluso más optimista. Tal vez pudiera atribuirse a la existencia de aquella «sólida clase media» de que Margot le habló tan a menudo a Julián. La ciudad empezó lentamente a despertar de la anestesia. Sacó 154 2 Darstellung der Prosawerke fuerzas de flaqueza […]. Una especie de consigna se adueñó de los ciudadanos: trabajar. Trabajar como fuere, en lo que fuere, con tal de seguir adelante […]. Barcelona se convirtió en una colmena. (CV, Band I: 194) [[…] Das ganze Land zeigte sich bereit, jede Winterzeit durchzustehen; […] das Land würde den Regenguss ertragen. Und was Barcelona betraf, war die Lage sogar noch optimistischer. Das lag vielleicht an der »starken Mittelschicht«, von der Margot Julián oft sprach. Die Stadt wachte langsam aus der Betäubung auf. Sie zog Stärke aus der Dürre […]. Ein Motto herrschte unter den Bewohnern vor: arbeiten. Arbeiten um jeden Preis, in was auch immer, einfach mit dem Ziel, vorwärts zu kommen […] Barcelona verwandelte sich in einen Bienenstock.] Die Kinder der Vega und der Ventura wachsen in diesem katalanischen Bür‐ gertum auf, intelligent und mit dem Willen, die Widrigkeiten zu überwinden. Im zweiten Teil des Romans liegt der Schwerpunkt auf der Erziehung der Kinder in den 1940er- und 1950er-Jahren und auf der Art und Weise, wie jede Familie versucht, sie auf ihre berufliche Zukunft und auf ihr soziales Leben vorzubereiten. Im Hause Vega ist es Margot, die sich mit Hingabe und intensiver Aufmerksamkeit der Erziehung von Laureano und Susana widmet. Dabei folgt sie der traditionellen Linie, die auf dem Respektieren von moralischen Werten, der Ethik und der Disziplin, aber auch der Freiheit und einem kritischen Bewusstsein basiert. Außerdem bringt sie ihnen die Begeisterung für Musik und Kunst bei. Im Hause Ventura wird die Aufgabe, Pedro und Carol zu erziehen, der Erzieherin Montserrat anvertraut. Grund dafür ist der frivole Charakter Rosys und ihr Engagement im sozialen Leben (vgl. CV, Band I: 167). Die junge Mont‐ serrat, Tochter von Republikanern, wird versuchen, die elterliche Lockerheit zu kompensieren, und erzieht sie liberaler, indem sie das Bewusstsein der Kinder für soziale Ungerechtigkeiten weckt (vgl. ebd.: 232 f.). Tatsächlich wachsen diese verwöhnten Jungen und Mädchen (vgl. ebd.: 338) in einem bürgerlichen Nest - konservativ, elitär, tiefreligiös und von der Realität entfernt - auf, und genießen gegenüber der Mehrheit der Spanier einen privilegierten Status. Ein Beleg dafür ist, dass die Eltern Vega und Ventura alles machen, damit ihre Kinder in die besten Schulen der katalanischen Hauptstadt eintreten: Pedro und Laureano gehen auf ein Jesuitenkolleg, das dem Regime verbunden ist und den Ruf hat, strenge Disziplin durchzusetzen und den Ideen des »Nationalkatholizismus« zu folgen; Susana und Carol besuchen das Französische Lyzeum, welches eine pragmatischere, offenere und wirklichkeitsnähere Ausbildung vermittelt (vgl. ebd.: 223). Sowohl für die Jungen als auch für die Mädchen ergeben sich daraus erste Veränderungen. Zum ersten Mal konfrontieren sie einige der konservativen Werte ihrer Eltern mit dem in der Schule Gelernten. Darüber 155 2.4 Condenados a vivir von José María Gironella 97 Wie auch in Condenados a vivir zu lesen ist, begann der Massentourismus nach dem Internationalen Eucharistischen Kongress, einem großangelegten religiösen Ereignis, das 1952 in Barcelona stattfand (vgl. CV, Band I: 252 f.). 98 Diese Reise nach Paris rüttelt die Vega und die Ventura auf. Bei diesem ersten Kontakt mit einer demokratischen Gesellschaft beginnen die zwei Ehepaare, die ungezwun‐ genen Verhaltensweisen der jungen Generation zu beobachten, nämlich ihre langen Haare, die Drogenerfahrungen und auch das enthemmte Ausleben von Sexualität. Sie bekommen eine Vorahnung davon, welche Auseinandersetzungen sie mit ihren Kindern in den 1960er-Jahren haben werden, und befürchten, dass sie auch diesem Sittenverfall nachgeben und junge Rebellen werden (vgl. CV, Band I: 304). hinaus erleben sie zusammen mit Freunden wie Sergio Amades, Cuchy, Andrés Puig oder Marcos Subirachs - alle Kinder aus dem Freundeskreis der Eltern - den allmählichen Wiederaufbau Barcelonas und der kleinen katalanischen Küstenorte im Laufe der 1950er-Jahre. Letztere entwickeln sich von einsamen Orten zu modernen Städten mit großem Kulturangebot und vielen Touristen. Es soll festgestellt werden, dass die Veränderungen nicht nur die junge Generation betreffen. Wie der Roman verdeutlicht, genießen auch die Eltern die Vorteile der Industrialisierung und der blühenden Wirtschaft. Rogelio Ventura an der Spitze eines Baugewerbes und Julián Vega in seinem Architekturbüro sehen die Ankunft ausländischer Touristen als eine außerodentliche Gelegen‐ heit, um Geschäfte zu machen, indem sie an den katalanischen Stränden Hotels errichten und im Zentrum Barcelonas nicht nur moderne Gebäude bauen, sondern auch ein Reisebüro eröffnen. 97 Obwohl der große Erfolg dieser Projekte nicht immer auf die ehrenhafteste Art erzielt wird, ist er dennoch ein Synonym für den Aufstieg und die Anerkennung in der katalanischen Oberschicht. Aus diesem Grund verändert sich das Leben der Familien, da sie einen Alltag voller gesellschaftlicher Ereignisse erleben (Bälle, opulente Dinner), typisch für eine Statuswelt, in der die Kultur des Scheins und der Gefälligkeiten herrscht. Dieser Wohlstand ermöglicht es ihnen, ins Ausland zu reisen, was zu einer Erweiterung des Horizontes in beiden Familien und im Kreis der engsten Freunde, die oft politisch und kulturell noch konservativer sind, führt. Ein Beispiel dafür ist eine Reise der Vega und der Ventura 1952 nach Paris, auf der sie sich des soziopolitischen Rückstandes und der fehlenden Freiheit in Spanien bewusst werden. 98 Bezüglich dieser Ambivalenz der Elterngeneration, die sich einerseits als ein unternehmenslustiges und weltreisendes Bürgertum zeigt und sich andererseits am oberflächlichen Lebensstil der Oberschicht orientiert, deutet Pedro Fernandez-Blanco: […] d’un côté nous voyons les aspects positifs de ces hommes qui se montrent entrepreneurs, travailleurs acharnés, qui ont le sens du risque, de l’innovation, qui 156 2 Darstellung der Prosawerke parient sur l’avenir, puisque capables de le prévoir ; dans ce sens ils reconstruisent et refont le pays. Mais d’autre part, nous voyons aussi leur manque de scrupules, leur opportunisme, leur hypocrisie dans leur vie privée, leur égoïsme de caste privilégiée […] qui nous permettent, en bonne partie, de comprendre et d’expliquer les conflits qui se produiront avec les générations à venir, et en particulier, avec celle qu’ils ont enfantée. (Fernandez-Blanco, 1985: 96) [[…] einerseits sehen wir die positiven Kennzeichen dieser Menschen: unternehme‐ risch, hart arbeitend, mit Gespür für das Risiko, innovativ, die in die Zukunft blicken und fähig sind, sie vorherzusehen; in diesem Sinne bauen sie das Land wieder auf und gestalten es neu. Andererseits sehen wir ihre Skrupellosigkeit, ihren Opportunismus, ihre Heuchelei im Privatleben, ihren Egoismus einer privilegierten Kaste […], was uns zum großen Teil hilft, die Konflikte mit den zukünftigen Generationen zu verstehen und zu erklären, und besonders die mit derjenigen Generation, die sie erzeugt haben.] Der Grund der jungen Generation für die Distanzierung und für den Wider‐ stand gegenüber der Elternwelt liegt in ihrem Wunsch, anders zu sein. Dieser Widerstandsgeist zeigt sich deutlich im dritten und im vierten Teil des Romans. In den 1960er-Jahren studieren Pedro, Laureano und ihre Freunde an der Universität in Barcelona. Pedro wählt gegen den Willen seines Vaters die Geisteswissenschaften, beziehungsweise den Journalismus, und Laureano folgt Juliáns beruflicher Entscheidung für die Architektur. In diesem lockeren und vielfältigen Umfeld der akademischen Welt werden politische und religiöse Themen ungezwungen und ohne Einschränkungen diskutiert (vgl. CV, Band II: 50). Hier nehmen diese jungen Menschen mit Weitsicht die widersprüchliche Entwicklung des Franco-Regimes wahr: ein Regime, wie der Roman verdeut‐ licht, das bemüht ist, für die ausländischen Touristen ein Bild von Öffnung, Innovation und Freizügigkeit abzugeben, das jedoch gegenüber den Spaniern weiterhin mit eiserner Hand mittels der Zensur, der Unterdrückung und der Polizeigewalt auftritt (vgl. ebd.: 125). Für die jungen Männer und Frauen des Romans, die Zeitzeugen der Massenkultur sind, die Zugang zu den ersten Fern‐ sehern und zudem die Gewohnheit haben, Schallplatten der ausländischen Pop- und Rockbands zu hören (vgl. ebd.: 79), ist diese eine rückständige Gesellschaft, die verändert werden muss. Aus diesem Grund sehen sich einige dieser jungen Figuren inner- und außerhalb der akademischen Welt als junge Revolutionäre (vgl. ebd.: 151) und versuchen, gegen die manipulierende Propaganda und das Fehlen von Meinungsfreiheit zu protestieren. Beispiele für diesen Aufstand sind die Teilnahme an Streiks und Universitätsbesetzungen (das alles unter der Gefahr, aus der Universität exmatrikuliert zu sein und/ oder verhaftet zu werden). Außerdem interessieren sie sich für die sozialen Ungerechtigkeiten und für die Probleme der Armen in den Elendsvierteln von Barcelona (vgl. ebd.: 157 2.4 Condenados a vivir von José María Gironella 99 Die Protestaktionen einiger junge Figuren von Condenados a vivir und ihr Engagement im Rahmen des politischen Aktivismus werden im dritten Kapitel ausführlicher analy‐ siert (siehe Kapitel 3.2.1, 3.2.2, 3.2.3 und 3.2.4). 67). Und zu ihrer Art und Weise, Widerstand zu zeigen, gehört noch der Wunsch, eher über den Vietnamkrieg, den Kampf gegen Rassendiskriminierung in den USA oder die Ausbeutung der sogenannten Dritten Welt zu diskutieren als über den Bürgerkrieg, der der Vergangenheit angehört und diese junge Generation anwidert (vgl. ebd.: 73). 99 Die Wege zum politischen Aktivismus und zum Protest, die einige junge Romanfiguren auswählen, sind vielfältig: für die jungen Männer enthalten sie Aktionen wie das Verfassen von kritischen Artikeln über das Regime, wie es Pedro macht, die Gründung einer Rockband mit Protestliedern im Repertoire, wie im Fall von Laureano, oder auch die Initiative von Sergio Amades, der einen Dokumentarfilm über die Gräueltaten der Diktatur dreht. Aber auch die jungen Frauen versuchen, anders zu sein: Susana möchte gegen den Willen des Vaters Kinderärztin werden und Cuchy, Tochter eines Bankiers, sorgt sich um Frauenrechte und schreibt Texte für die Lieder von Laureanos Band. In der »Bande«, wie diese Gruppe von jungen Freunden genannt wird, ist allen der Wunsch gemeinsam, sowohl der Allianz zwischen Kirche und Staat, die das Land beherrscht, in der einen oder anderen Form engagiert zu begegnen (vgl. ebd.: 63), als auch gegen die Widersprüche, die sie in der Welt der Eltern beobachten, zu protestieren. Das bestätigt Pater Saumells gegenüber Margot, einer Mutter, die sich um das Verhalten ihrer zunehmend auflehnenden Kinder sorgt: — […] Vuestros hijos han empezado a protestar… De momento, puesto que son tan jóvenes y no saben de qué se trata, engullen unos cuantos slogans primarios, pero la intención es profunda, porque intuyen que hay algo injusto en el engranaje que hasta ahora ha estado funcionando y que nosotros hemos considerado como de «sanos principios». (CV, Band II: 72 f.) [— […] Eure Kinder haben begonnen zu protestieren… Im Moment, weil sie so jung sind und nicht verstehen, worum es geht, schlucken sie einige einfache Slogans, aber die Absicht ist tiefergehend, denn sie spüren, dass es etwas Ungerechtes im bisher funktionierenden System gibt, und das wir als »gesunde Prinzipien« angesehen haben.] Sowohl in der Universität als auch in der Familie rebellieren die meisten Kinder von Condenados a vivir gegen die reaktionäre Weltsicht der Eltern, die aus ideologischer Überzeugung, aus Eigeninteresse oder sogar aus Resignation wei‐ terhin mit dem Totalitarismus paktieren. Für die im Roman dargestellte junge Generation ergeben die Machtfülle Francos und seine »gesunden Prinzipien« 158 2 Darstellung der Prosawerke keinen Sinn mehr, genauso wenig wie die Propaganda über sozialen Frieden ohne Konflikte oder über die Erfolge des Wirtschaftsbooms, wenn all das nur durch Zensur und Unterdrückung erhalten werden kann. Aus diesem Grund verwundert es nicht, dass die jungen Figuren sich bei den Protesten nicht nur gegen das politische Establishment des Regimes auflehnen, sondern auch gegen die darunter liegenden konservativen und veralteten Werte. 2.4.4 Von verwöhnten Kindern zu jungen Rebellen: die sexuelle Revolution und der Sittenwandel Wie es auch im Roman zu lesen ist, durchlebte Spanien von 1939 bis 1952 eine schwere wirtschaftliche Rezession, die den Wiederaufbau des Landes aufgrund der unheilvollen Konsequenzen des Bürgerkriegs und des Zweiten Weltkriegs - insbesondere der internationalen Isolierung - behinderte. Während jener in Condenados a vivir dargestellten Zeit des Mangels wohnten die Vega und die Ventura der wachsenden Konsolidierung der Franco-Regierung bei - einer Regierung, die über den politischen Totalitarismus hinaus auch den privaten Bereich aller Bürger zu kontrollieren versuchte, indem sie ihnen einen Werte‐ kanon auferlegte, der die Familie zum Garant der Moral, der Tradition und der Prinzipien der katholischen Kirche machte (vgl. CV, Band I: 193). Mit dem in der Erzählwelt detailliert geschilderten Internationalen Eucharistischen Kongress von 1952 und der allmählichen Öffnung der Grenzen für Touristen aus freien und demokratischen Ländern beginnt jedoch die soziokulturelle Wirklichkeit Spaniens sich zu ändern. Die im Roman beschriebenen Veränderungen betreffen die ganze Breite der traditionellsten Werte des Regimes, die sich allmählich mit den Jahren verschleißen. Pedro Fernandez-Blanco erklärt nachfolgend den Beitrag der Ankunft von Touristen für den in Condenados a vivir dargestellten Sittenwandel im Laufe der 1950er-Jahre: Une des conséquences de l’arrivée massive de ces touristes en Espagne est le bouleversement profond des moeurs [sic! ] et des mentalités des Espagnols, car ces hommes et ces femmes, venus de pays plus libres, imposent petit à petit leurs modes de vie, sans que personne ne puisse l’empêcher, puisque le régime franquiste lui-même, pour obtenir de précieuses devises, ferme plus ou moins les yeux et laisse faire. (Fernandez-Blanco, 1985: 84) [Eine der Auswirkungen der massenhaften Ankunft der Touristen in Spanien ist die grundsätzliche Umwälzung der Sitten und der Mentalität der Spanier, denn diese Männer und Frauen, die aus liberaleren Ländern kamen, brachten nach und nach ihre Lebensweise mit, ohne dass jemand es verhindern konnte, denn selbst das Franco-Regime verschloss mehr oder weniger die Augen davor und ließ es zu, um die wertvollen Devisen zu erhalten.] 159 2.4 Condenados a vivir von José María Gironella 100 Pedro Fernandez-Blanco betont die Bedeutung, die der Kontakt mit ausländischen, meist jungen Touristen für die Generation der Kinder im Roman hat: »Ils se rendent compte avec étonnement que les jeunes étrangers qui visitent l’Espagne sont plus libres qu’eux, qu’ils ont moins d’interdits, qu’ils sont plus mûrs. Ils éprouvent, donc, une véritable envie de les imiter en se libérant, dès qu’ils le peuvent, de la tutelle des parents, qu’ils trouvent pesante« (Fernandez-Blanco, 1985: 84). [Sie erkennen staunend, dass die jungen Ausländer, die nach Spanien kommen, viel freier als sie selbst sind, weniger Verboten unterliegen und reifer sind. Sie bekommen große Lust, sie nachzuahmen, sich, sobald es geht, von der Bevormundung der Eltern zu befreien, die sie als langweilig betrachten.] Dieser soziokulturelle Modernisierungsprozess der 1950er-Jahre lässt sich quer durch die Generationen der Eltern und der Kinder von Condenados a vivir beob‐ achten. Dank des finanziellen Aufschwungs versuchen die Älteren, die etablierte Stimmung von Gleichmacherei zu durchbrechen (vgl. CV, Band I: 221): eine Stim‐ mung, die durch soziale Stagnation definiert ist sowie durch die Unmöglichkeit, Geschäftsideen und Projekte umzusetzen, die nicht den rigiden Vorgaben des Regimes folgen. Mit dem Aufscheinen eines Fortschrittes durch den Tourismus orientiert sich ihr Leben am Reichtum und Wohlstand, die sie für ihre Familien erreichen wollen. Dieses Umfeld einer wirtschaftlichen Lockerung und Neigung zur soziokulturellen Öffnung macht die Kinder zu den Hauptbegünstigten einer mit dieser Öffnung einhergehenden Revolution der Sitten. Als Angehörige einer neureichen, bürgerlichen Elite haben sie Zugang zu den Neuheiten der Mode, der Musik und der Unterhaltungsbranche, die aus dem Ausland kommen. In Passagen über ihre Schulzeit findet man tatsächlich viele Erwähnungen von Ki‐ nobesuchen dieser jungen Menschen, von ihrer Begeisterung für die Entdeckung des Plattenspielers und der Rhythmen von Rock’n’Roll und bossa nova (vgl. ebd.: 335) sowie von der Leidenschaft (besonders der Jungen) für Autozeitschriften und Comics (vgl. ebd.: 336). Darüber hinaus werden sowohl ihr Aufwachsen als auch ihre Sicht der Dinge beeinflusst durch die Öffnung der Grenze und die Ankunft von Ausländern in Barcelona und in den Küstenorten, in denen sie als Jugendliche ihre Ferien verbringen. Im Gegensatz zu ihren Eltern, die den Tourismusboom vor allem wegen des Potentials für wirtschaftlichen Wohlstand und des damit verbundenen sozialen Aufstiegs schätzen, zeigen die Kinder wirkliches Interesse für die Touristen. Sie bewundern die farbenfrohe Kleidung, die neusten Automodelle, die Bikinis der Ausländerinnen an den katalanischen Stränden und auch die ungezwungene Art der Urlauber, miteinander zu sprechen (vgl. ebd.: 329 f.). Tatsächlich haben die jungen Figuren des Romans von Anfang an Kontakt mit neuen Sitten und Gebräuchen, sehr verschieden von der Keuschheit und Anständigkeit, die ihnen von der katholischen Kirche beigebracht und durch die Gesellschaft auferlegt wurden. 100 160 2 Darstellung der Prosawerke Es muss auch erwähnt werden, dass nicht nur der Massentourismus zur offenen und aufsässigen Haltung der Generation der Kinder beitrug. In den 1960er-Jahren, in denen die jungen Figuren schon die Universität besuchen, öffnet ihnen auch das Fernsehen die Türen zu einer Welt, in der die junge Generation der Protagonist einer kulturellen Revolution ist. Dadurch lernen die Kinder das internationale Beatles-Fieber und die yéyé-Musik kennen. So steht es in Condenados a vivir: [En la primera mitad de los años sesenta; IG] se produjo la explosión de los Beatles, cuya onda expansiva no tardaría mucho en llegar a todos los rincones, sin exceptuar a Barcelona, sin exceptuar General Mitre [casa de la familia Vega; IG]. […] Aparte de su sonoridad, que efectivamente parecía aportar algo nuevo, en dicha explosión influyeron la indiscutible personalidad de los componentes del conjunto, su picante sentido del humor, ¡una vez más la indumentaria que adoptaron! y detalles de apariencia anecdótica, pero que se revelaron decisivos, entre los que cabe citar el peinado […]. De nuevo el desafío a las formas establecidas. […] Por otra parte, en torno a los «muchachos de Liverpool» se expandió todavía más la moda o el estilo ye-yé. Eran ye-yés los chicos y las chicas, los jerseis, las viseras, las camisas, las corbatas, los zapatos, los abalorios, los nuevos maquillajes… La influencia ye-yé se extendió a muchos órdenes de la vida […]. La ética ye-yé era la ética de la «desvinculación de las trabas de costumbre». (CV, Band II: 165 f.) [[In der ersten Hälfte der 1960er-Jahre; IG] ereignete sich der Durchbruch der Beatles und dauerte nicht lange, bis die darauffolgende Begeisterungswelle in alle Winkel der Gesellschaft drang, auch in Barcelona und auch im General Mitre [Haus der Familie Vega; IG]. […] Abgesehen vom Klang, der wirklich etwas Neues brachte, gab es auch andere Aspekte, die diesen Durchbruch bewirkten, wie die Persönlichkeit der Bandmitglieder, ihr besonderer Humor, ihre Art und Weise sich zu kleiden! , und Details hinsichtlich des anekdotischen Erscheinungsbilds, die entscheidend waren, u. a. die Frisur […]. Eine weitere Herausforderung für die bereits etablierten Formen. […] Mit den »Boys aus Liverpool« verbreiteten sich Moden und der yéyé-Stil noch mehr. Die Jungen und Mädchen waren yéyé sowie die Pullover, die Mützenschirme, die Hemden, die Krawatten, die Schuhe, die Schmuckgegenstände, die neuen Arten, sich zu schminken… Der Einfluss des yéyé erstreckte sich auf viele Bereiche des Lebens […]. Die Ethik des yéyé war die Ethik der »Befreiung von den Einschränkungen durch die Sitten«.] Der Wunsch, anders zu sein als der Status quo, bringt die Gruppe junger Menschen von Condenados a vivir dahin, in einem alten verlassenen Haus einen Freiraum zu schaffen. Sie nennen ihn Kremlin: ein Ort, an dem Pedro, 161 2.4 Condenados a vivir von José María Gironella 101 Die unterschiedlichen Erfahrungen der jungen Figuren von Condenados a vivir im Rahmen des Auslebens der sexuellen Revolution und des Sittenwandels werden im dritten Kapitel untersucht (siehe Kapitel 3.3.1 und 3.3.2). Laureano und die anderen sich wöchentlich treffen, um politische Ideen zu diskutieren, sich mit dem Rock’n’Roll und Twist zu vergnügen und auch fern von der Kontrolle durch die Eltern zusammenzuleben. Ihre Absicht ist es, dort einen ähnlichen Raum von Freiheit und Öffnung zu gründen wie die junge Generation anderer Länder. Wie Marcos Subirachs und Andrés Puig behaupten, möchten sie: «[…] un lugar sin ataduras de ninguna classe […] y donde podamos hacernos el amor» (vgl. CV, Band II: 55) [einen Raum ohne Beschränkungen jeder Art […] und einen Ort, wo wir Liebe machen könnten]. So fungiert der Kremlin als eine Wiege der sexuellen Revolution und des Wandels der Sitten. Wie bei dem politischen Aktivismus wählen die Figuren der Generation der Kinder unterschiedliche Widerstandswege. Dabei erleben sie verschiedene Erfahrungen im Rahmen der Alternativkultur, wie zum Beispiel das Ausprobieren von Drogen wie LSD, den Kontakt mit der Hippiebewegung oder das enttabuisierte Ausleben der freien Liebe. Dazu soll bemerkt werden, dass der Roman den Überlegungen dieser jungen Männer und Frauen auch Raum gibt, indem sowohl ihre Wünsche als auch ihre Gedanken über die negativen Folgen dieser Erfahrungen - darunter Schwangerschaftsabbruch, Depression oder Drogenabhängigkeit - behandelt werden. 101 Die Beweggründe, warum sich diese jungen Figuren dem Leben der Gegen‐ kultur und der sexuellen Befreiung hingeben, sind verschieden. Einige sind hemmungslos, haben die Absicht, der Welt ihr Aufbegehren zu zeigen, und wollen mit dem Establishment brechen. Andere vollziehen den Bruch nicht gänzlich und lehnen manche Moden und Verhaltensweisen der Zeit ab. Den meisten von ihnen ist jedoch der Versuch gemein, sich aus der Rolle der verwöhnten Kinder zu befreien, sich von den bürgerlichen Werten und der Lebensart der Eltern abzugrenzen. Die Pedanterie der Älteren, ihr Wille, sich mit den wichtigsten Persönlichkeiten der High Society zu zeigen (vgl. CV, Band I: 221), oder die Organisation von Wohltätigkeitsveranstaltungen, um danach in den Zeitungen zu erscheinen, sind Aspekte der von den Eltern befolgten Kultur des Scheins, die viele Kinder von Condenados a vivir nicht hinnehmen und gegen die sich rebellieren. Darüber hinaus kritisieren sie das Privatleben der Eltern. Es gibt viele in der Elterngeneration, die sich schon lange nicht entsprechend dem Konzept der ehelichen Treue, wie es vom »Nationalkatholizismus« vertreten wird, verhalten. Sie missachten die traditionellen Werte der Familie durch au‐ 162 2 Darstellung der Prosawerke 102 Zu den Gewohnheiten und Verhaltensweisen der Elterngeneration in Condenados a vivir und wie sie die Zeit der sexuellen Revolution erlebt, siehe Kapitel 3.3.3. ßereheliche Affären, führen jedoch aus Sorge um ihr gesellschaftliches Ansehen ihre Liebesbeziehungen im Geheimen. 102 Wie in Condenados a vivir dargestellt, lassen sich Eltern wie Kinder in einer Zeit großen soziokulturellen Wandels von Lebensweisen beeinflussen, die der spanischen Gesellschaft eine beispiellose Öffnung bringen und direkt oder indirekt ihren Alltag verändern. Die Reaktion jeder Generation des Ro‐ mans darauf ist jedoch verschieden. Die Eltern bleiben im Allgemeinen an die Vergangenheit gebunden, die von der Revolte der 1960er-Jahre bedroht wird, und fühlen, dass die Werte, die sie geleitet haben, allmählich verschwinden. Dagegen heißen ihre Kinder die Anzeichen von Freiheit willkommen und begegnen den vielfältigen Herausforderungen der sexuellen Emanzipation oder der internationalen Protestkultur auf ihre eigene Art, je nach ihren Wünschen und Beunruhigungen. Sei es durch ihre Vorliebe für Beat und Rock’n’Roll, sei es durch die Entdeckung von Drogen oder die Teilnahme an der Hippiebewegung - durch all diese Erfahrungen wird ein heterogenes Bild der sexuellen Revolution und des Sittenwandels der 1960er-Jahre in Condenados a vivir gezeichnet und so lässt sich in der Erzählwelt der zunehmend tiefere Graben zwischen Eltern und Kindern erkennen. 2.5 Sem Tecto, entre Ruínas von Augusto Abelaira 2.5.1 Das Portugal von 1968 in Sem Tecto, entre Ruínas So wie auch Spanien befand sich Portugal zwischen 1933 und 1974 im Griff einer langwährenden Diktatur. Autoritär und repressiv blieb das bis 1968 von António de Oliveira Salazar geführte Regime einer harten Linie treu, das sich der Zensur und der PIDE (Geheimpolizei) bediente, um den politischen und ideologischen Oppositionsbewegungen begegnen zu können. Besonders in den 1960er-Jahren wurde diese Opposition durch die Handlung der neuen gesellschaftlichen Akteure des Widerstands deutlicher spürbar (vgl. Vieira, 2000: 201). Auf politischer Ebene fanden die Aufstandsversuche vor allem an den Universitäten statt, wo die akademischen Krisen von 1962, 1965 und 1969 den Protest der jungen Menschen gegen ein Regime hervorriefen, mit dem sie sich nicht identifizierten (siehe Kapitel 1.6). Diese Widerstandshaltung gegenüber dem herrschenden konservativen und traditionalistischen Ethos 163 2.5 Sem Tecto, entre Ruínas von Augusto Abelaira zeigte sich auch im soziokulturellen Bereich, besonders durch die Hoffnung der jungen Generation auf eine Öffnung des sogenannten Estado Novo - die Bezeichnung für das portugiesische diktatorische Regime - in Richtung einer Modernisierung wie im demokratischen Westeuropa. Diese Hoffnung erfuhr 1968 mit dem Abtreten von Salazar und dem Aufstieg von Marcelo Caetano zur Macht kurzfristig einen neuen Schwung, da sowohl Jüngere als auch Ältere glaubten, dass der Führungswechsel eine Kursänderung auf der politischen und soziokulturellen Ebene für Portugal bedeuten könnte. Jedoch merkten sie rasch, dass der angekündigte »Primavera Marcelista« [Marcelo Caetanos Frühling] und seine damit verbundenen Versprechungen politischer Reformen und einer neuen Zeit für das Land sich nicht verwirklichen würden. Was dagegen Bestand hatte, war die Fortsetzung des repressiven Autoritarismus, der bis zum 25. April 1974 fortbestehen sollte. Dies war das Datum der Nelkenrevolution, die die 41 Jahre des Estado Novo beendete und den Demokratisierungsprozess der portugiesischen Gesellschaft initiierte (siehe Kapitel 1.6). In diesem Zusammenhang von Unterdrückung der individuellen und der kollektiven Freiheit konnten tatsächlich geschehene Ereignisse, die sich gegen die Diktatur richteten und die von ihr verteidigten Werte in Frage stellten, kaum einen Widerhall in der Literatur finden. Da sie dem Gedankengut des Regimes widersprachen, waren der Aufruhr der Studenten in den Universitäten, die Verbreitung linker Ideale in der jungen Generation oder sogar die sexuelle Revolution und der Sittenwandel innerhalb und außerhalb der portugiesischen Grenzen in den 1960er- und 1970er-Jahren Gegenstände, deren Thematisierung von einer strikten Zensur überwacht wurde. Erst nach dem 25. April 1974 wurde die freie Meinungsäußerung und die darauffolgende Publikationsfreiheit gestattet. Die Bedeutung dieses Datums für die portugiesische Literaturszene wird von Carlos Reis wie folgt beschrieben: […] o ano da chamada Revoluç-o de Abril sempre teria que ser um marco […] a n-o ignorar. Com efeito, se pensarmos apenas no facto de nesse ano terem sido anulados mecanismos censórios e de restriç-o da liberdade de express-o do pensamento que durante décadas e com variada impositividade tinham vigorado em Portugal, entender-se-á por que raz-o esse foi um ano decisivo. O que significa que o que até ent-o se escrevia e publicava estava necessariamente afectado por interdições que impediam, limitavam ou constrangiam a circulaç-o dos discursos literários. (Reis, 2005: 235) [[…] das Jahr der sogenannten Aprilrevolution musste immer ein Meilenstein sein […], den man nicht vernachlässigen kann. Wenn wir nur daran denken, dass in jenem Jahr der Zensurapparat und die Einschränkungen bezüglich der freien Äußerung des Denkens, die für mehrere Jahrzehnte und in verschiedenen aufdringlichen Formen 164 2 Darstellung der Prosawerke 103 Eine von den Medien viel kommentierte Verhaftung ereignete sich 1965, als Augusto Abelaira Präsident der Jury der Sociedade Portuguesa de Escritores [Portugiesischer Schriftstellerverband] war, die im gleichen Jahr Luandino Vieira den Literaturpreis »Grande Prémio da Novelística« verliehen hatte - einem Schriftsteller aus Angola, in Portugal geherrscht hatten, aufgehoben wurden, versteht sich, warum dieses ein entscheidendes Jahr war. Das bedeutet, dass alles bis dahin Geschriebene und Publizierte konsequenterweise von Untersagungen, die die Verbreitung literarischer Diskurse verhinderten, begrenzten oder einengten, beeinflusst war.] Die Aprilrevolution und die darauffolgende Freiheit ermöglichten es insofern, die schweren Zeiten der Diktatur in der Literatur aus einer neuen Perspektive zu beleuchten. Wie Eduardo Lourenço im Aufsatz »Dez anos de literatura portuguesa (1974-1984): literatura e revoluç-o« (1984) [Zehn Jahre portugie‐ sischer Literatur (1974-1984): Literatur und Revolution] erwähnt, ist die bis Ende der 1970er-Jahre veröffentlichte Romanliteratur sehr geprägt vom Nach‐ denken über historische Ereignisse und persönliche Erlebnisse während der zwei letzten Jahrzehnte im Portugal des Estado Novo (vgl. Lourenço, 1984: 10). Die Teilnahme am Kolonialkrieg, das politische Exil oder die Emigration - neben anderen traumatischen Erfahrungen - werden sowohl von schon etablierten als auch von aufstrebenden Autoren (António Lobo Antunes, Lídia Jorge, Fernando Assis Pacheco, Olga Gonçalves, Álvaro Manuel Machado und andere) neubelebt. Die freie Meinungsäußerung wird von den Autoren als eine Gelegenheit angesehen, um die vergangenen Erlebnisse literarisch zu bearbeiten, indem sie die Probleme der Gesellschaft von damals anklagen und über sie nachdenken (vgl. ebd.: 15). Im Rahmen dieser Wiederaufnahme der jüngsten portugiesischen Geschichte erscheint 1979 Sem Tecto, entre Ruínas, der neunte Roman des anerkannten Schriftstellers Augusto Abelaira. In seiner beruflichen und literarischen Laufbahn widmete sich Abelaira nicht nur der Literatur, sondern auch dem Übersetzen und dem Journalismus und zeigte sich immer als ein engagierter Autor (vgl. Coelho, 1973: 109). In den 1960er-Jahren war er in vielfacher Hinsicht Gegner der Politik Salazars, sei es als Unterstützer (im Untergrund) des Kommunismus, sei es als Teilnehmer an den studentischen Widerstandsbewegungen gegen die Diktatur. Außerdem schrieb er für und leitete von 1968 bis 1969 Seara Nova, eine Zeitschrift von großem Gewicht im damaligen intellektuellen, kulturellen und literarischen Panorama in Portugal, die sich deutlich vom Ideengut des Estado Novo entfernte. Abelairas Haltung als politisch engagierter Bürger sowie sein Einsatz für den Oppositionskampf führten in der Tat dazu, dass das Regime ihn zur persona non grata erklärte und er mehrmals von der PIDE festgenommen wurde. 103 Dies hielt ihn jedoch 165 2.5 Sem Tecto, entre Ruínas von Augusto Abelaira der für seine Unterstützung der Unabhängigkeitsbewegungen in den portugiesischen Kolonien bekannt war. 104 Wie Carlos Reis kommentiert: »[…] os romances e contos de Augusto Abelaira, escritos e publicados antes de 1974 traduzem bem um certo testemunho geracional: perpassa nesse testemunho, típico dos anos 60, o sentido de uma certa frustraç-o e exaust-o, num cenário político e social tendente ao desencanto« (Reis, 2005: 248). [[…] die Romane und Erzählungen von Augusto Abelaira, die vor 1974 geschrieben und veröffentlicht wurden, legen ein gewisses generationsspezifisches Zeugnis ab: In diesem Zeugnis zeigt sich ein während der 1960er-Jahre kennzeichnendes Gefühl einer gewissen Frustration und Erschöpfung in einem politischen und sozialen Szenario, das zur Desillusionierung tendiert.] nicht davon ab, die Gesellschaft des Estado Novo mit einem kritischen Blick zu beobachten und sie ständig anzuklagen. Im Verlauf seiner literarischen Karriere bemühte sich Abelaira, seinen Werken einen kritischen politischen und soziokulturellen Stempel aufzudrü‐ cken, indem sie durch ein Hinterfragen verschiedener Probleme der Gesellschaft gekennzeichnet sind (vgl. Machado, 2003: 85). Besonders in den Werken, die während des Estado Novo geschrieben und/ oder veröffentlicht wurden, zeigte sich dieses Hinterfragen vor allem bezüglich der Einschränkungen der Frei‐ heit und der ideologischen Stagnation, die in Portugal in den 1960er-Jahren herrschte. Trotz der Anzeichen von wirtschaftlichem Fortschritt, von der kos‐ mopolitischen Tendenz der Mittelschichten und von einer gewissen Moderni‐ sierung der Sitten in der Gesellschaft in jenem Jahrzehnt zeugen die Texte von Abelaira, deren Figuren hauptsächlich zu einem gebildeten, reiseerfahrenen und am Zeitgeschehen interessierten Bürgertum gehören, von einem Gefühl der Enttäuschung über das Fehlen einer demokratischen Richtung für das Land. 104 Dieses permanente Reflektieren über das Soziopolitische bringt mit sich, dass Abelaira sich der Ästhetik und der Grundeinstellungen des portugiesischen Neorealismus der 1960er-Jahre annähert. Wie Agripina Carriço Vieira schreibt: Na esteira dos neo-realistas, a obra de Abelaira constitui-se espaço de questionamento da sociedade e das opções de vida […], mas já longe de problemas como as condições de subsistência da classe operária e dos camponeses, a exploraç-o do povo ou as desigualdades entre os homens. A problemática social reveste-se de contornos bem diversos, o olhar atento e crítico com que as personagens observam o mundo transmite-nos uma vis-o irónica, por vezes sarcástica e disfórica de uma camada particular da sociedade portuguesa: urbana, lisboeta, burguesa e cultivada, cujos interesses giram em volta dos próprios sentimentos, gostos artísticos e sobretudo convicções políticas, assim se esboçando um retrato parcial e fortemente subjectivo da vida tal como uma determinada classe a vivia. (Vieira, 2002: 111) 166 2 Darstellung der Prosawerke 105 Über die Kritik am Regime Salazars in A Cidade das Flores (1959) bemerkt Carlos Ma‐ chado: »Augusto Abelaira, logo no seu primeiro romance […], procede à desmistificaç-o da conjuntura política portuguesa, criando um romance cuja acç-o decorre na cidade de Florença sob o regime fascista de Mussolini. Como o próprio autor diz, a obra visava um alvo bem definido: ‹quando eu escrevia Florença pensava em Lisboa, quando escrevia Mussolini (que já estava morto e enterrado) pensava em Salazar› (Abelaira, 1959: 307; Hervorhebung im Original)« (Machado, 2003: 61). [Bereits in seinem ersten Roman […] betreibt Augusto Abelaira die Entmystifizierung der portugiesischen politischen Lage, indem er einen Roman schreibt, dessen Handlung im Florenz des faschistischen Regimes Mussolinis spielt. Wie der Autor selbst sagt, verfolgte der Roman ein klares Ziel: ›Als ich Florenz schrieb, dachte ich an Lissabon, als ich Mussolini (der damals schon tot und begraben war) schrieb, dachte ich an Salazar‹ (Abelaira, 1959: 307; Hervorhebung im Original).] [Im Gefolge der neorealistischen Autoren nimmt das Werk Abelairas den Platz des Infragestellens der Gesellschaft und der Lebensformen ein […], jedoch schon entfernt von der Untersuchung der Überlebensbedingungen der Arbeiter- und der Landarbeiterklasse, der Ausbeutung des Volkes oder der Ungleichheiten der Men‐ schen. Die soziale Problematik nimmt ganz andere Züge an, der aufmerksame und kritische Blick, mit denen die Figuren die Welt beobachten, vermittelt uns eine ironische Sicht, manchmal sarkastisch und dysphorisch, auf eine besondere Schicht der portugiesischen Gesellschaft: städtisch, aus Lissabon, bürgerlich und gebildet, deren Interessen um die eigenen Gefühle, künstlerischen Geschmäcke und vor allem politischen Überzeugungen kreisen. So wird ein partielles und sehr subjektives Bild des Lebens, wie es eine bestimmte Klasse lebte, skizziert.] Diese kritische Sichtweise auf das Land und auf die Welt wird in seinem ersten Roman A Cidade das Flores (1959) deutlich: ein Roman, der das Interesse des Autors zeigt, die Notwendigkeit eines politischen Wandels in den Vordergrund zu rücken. Mittels eines ironischen Stils - eine Eigenart, die Abelairas Werke während der Zeit der Diktatur durchzieht (vgl. Reis, 2005: 248) - stellt dieser Roman das politische Handeln der portugiesischen jungen Generation in Frage, indem er die Geschichte einer Studentengruppe erzählt, die im faschistischen Italien über ihre mögliche Rolle beim Sturz von Mussolinis Regime nachdenkt. 105 In Sem Tecto, entre Ruínas, der Roman, der 1979 mit dem Literaturpreis der Stadt Lissabon ausgezeichnet wurde, wird die Frage des politischen Aktivismus und des Beitrags der jungen Menschen im Kampf gegen das Estado Novo gestellt im Rahmen der historischen Ereignisse, die die nationale und internationale Gegenwart des Jahres 1968 bestimmten. Das war das Jahr, in dem Salazar von Marcelo Caetano ersetzt wurde. Mit dem Schwerpunkt auf dem Generationen‐ konflikt am Ende der 1960er-Jahre ist Sem Tecto, entre Ruínas der einzige Roman des portugiesischen literarischen und kulturellen Raums der 1970er-Jahre, der 167 2.5 Sem Tecto, entre Ruínas von Augusto Abelaira 106 Die Studentenbewegung der 1960er-Jahre in den Universitäten in Portugal ist ein Thema, das die Aufmerksamkeit der portugiesischen Schriftsteller nicht besonders erregte. Bis heute wurde die Studentenbewegung kaum literarisch verarbeitet und in den wenigen Werken, wo sie auftaucht, spielt sie hauptsächlich eine Randrolle. So ist es in Lavagante von José Cardoso Pires, eine 2008 postum veröffentlichte Erzählung, die aber zwischen 1963 und 1968 geschrieben wurde. Diese kurze Erzählung fokussiert die akademische Krise von 1962, um ein Bild von einer kämpferischen, aber vom Regime beobachteten jungen Generation darzustellen. Auch im Fall vom Roman Directa (1977) von Nuno Bragança sind die studentischen Unruhen am Ende der 1960er-Jahre einfache Fragmente der Erinnerungen des Protagonisten, eines Widerstandskämpfers der Diktatur. In jüngsten Romanen wie A Loba e o Rouxinol (2004) von A. M. Pires Cabral oder Rio de Sombras (2008) von António Arnaut finden sich Andeutungen auf die akademische Revolte von Coimbra im Jahre 1969, jedoch ohne große Bedeutung. So weit ich sehe, ist Sem Tecto, entre Ruínas das einzige portugiesische Werk, das den nationalen und internationalen Unruhen von 1968 Raum gibt, ebenso wie dem Generationenkonflikt und dem Widerstandswillen der jungen Generation am Ende der 1960er-Jahre. die Widerstandsversuche der jungen Generation gegen die Diktatur und ihre Haltung gegen das konservative Ethos des Regimes dargestellt. 106 Durch die Erlebnisse unterschiedlicher Figuren, zu denen sowohl junge als auch vierzig‐ jährige Menschen mit verschiedenen Ansichten zur damaligen Zeitgeschichte gehören, werden die Zweifel und die Ängste, genauso wie die Motivation und die ideologischen Überzeugungen der Eltern- und der Kindergeneration jener Zeit deutlich. So wie Abelaira im auf den August 1978 datierten Nachwort des Romans erklärt, wurde Sem Tecto, entre Ruínas zwischen Mai 1968 und Februar 1974 verfasst. Nach seinen Worten hegte er Zweifel an der Sinnhaftigkeit, einen solchen Text, der aus seiner Perspektive in einer abgeschlossenen Vergangenheit angesiedelt war, im politischen und kulturellen Zusammenhang des postrevo‐ lutionären Portugal an die Öffentlichkeit zu bringen (vgl. STER: 249). Dennoch gab er ihn in Druck. Nicht jedoch - wie im Nachwort zu lesen ist -, ohne nach einer ästhetisch-formalen Überprüfung des ganzen Manuskripts eine einzige bedeutsame Änderung durchgeführt zu haben, und zwar am Titel, wie Abelaira schreibt: Em resumo: até há pouquíssimos dias (até Junho), este livro chamava-se Pré-História, título com que o baptizei, dois anos depois de o começar, em 1970. Pré-História sugere uma história a vir - é um título com o qual eu quis, salvo erro, desfazer certo tom que ele adquirira, impondo assim uma certa leitura. Título de esperança (de supersticiosa esperança, título-esconjuro), necessária à época em que se vivia, a do fascismo. A forma talvez de dizer: depois da tempestade, a bonança. Valeria a pena mantê-lo depois do 25 de Abril? Pareceu-me que n-o. (STER: 250 f.) 168 2 Darstellung der Prosawerke 107 Wie Edimara Luciana Sartori ausführt: »Sem Tecto, entre Ruínas reflete o desalento do homem diante de um mundo em escombros. Frente à incerteza do presente e do futuro, transparece o passado como um lugar de quietaç-o. Neste sentido, a epígrafe funciona como uma síntese para a situaç-o retratada no romance […]« (Sartori, 2008: 3). [Sem Tecto, entre Ruínas reflektiert die Entmutigung des Menschen angesichts einer Welt in Trümmern. Vor der Unsicherheit der Gegenwart und der Zukunft erscheint die Vergangenheit als ein Ort der Ruhe. In diesem Sinne funktioniert das Motto als eine Synthese für die im Roman wiedergegebene Situation.] [Kurzum: bis vor wenigen Tagen (bis Juni) hieß dieses Buch Vorgeschichte, der Titel, mit dem ich es 1970, zwei Jahre nach seinem Anfang, getauft hatte. Vorgeschichte deutet eine kommende Geschichte an - wenn ich mich nicht irre, ist es ein Titel, der eine gewisse Bedeutung bekommen hatte, die ich auflösen wollte, und der somit eine bestimmte Leserichtung vorschrieb. Ein Titel der Hoffnung (abergläubischer Hoffnung, ein Austreibungstitel), die zu ihrer Zeit, einer Zeit des Faschismus, not‐ wendig schien. Eine Art zu sagen: auf Regen kommt Sonnenschein. Sollte solch ein Titel nach dem 25. April beibehalten werden? Nein, schien es mir.] Der neue Titel Sem Tecto, entre Ruínas stammt aus dem Motto am Anfang des Romans: ein Abschnitt aus dem Vorwort der Memórias [Memoiren] von Raul Brand-o (vgl. Brand-o, 1998: 36), einem Autor, dessen Werk durch die Dekadenz des Fin de Siècle, durch die Enttäuschung gegenüber einer von Werten entleerten Welt und durch eine diffuse Hoffnung auf Erlösung geprägt ist: «A vida antiga tinha raízes, talvez a futura as venha a ter. A nossa época é horrível porque já n-o cremos - e n-o cremos ainda. O passado desapareceu, do futuro nem alicerces existem. E aqui estamos nós, sem tecto, entre ruínas, à espera…« (STER: 7) [»Das alte Leben hatte Wurzeln, vielleicht wird das zukünftige sie auch haben. Unsere Epoche ist furchtbar, weil wir nicht mehr glauben - und noch nicht glauben. Die Vergangenheit ist verschwunden, von der Zukunft gibt es nicht einmal Fundamente. Und hier sind wir, ohne Dach, zwischen Ruinen, wartend…«] In der Krisenzeit am Ende der 1960er-Jahre gibt dieses Motto der Entmutigung und der Leere der späten Ära Salazars sowie der Unsicherheit über die Zukunft Ausdruck. 107 Besonders im Jahr 1968, als die westliche Welt unter Beschuss der Jugendrevolte war und sich Portugal im historischen Wartezustand befand, den Tod Salazars und damit eine eventuelle politische Neuorientierung der Politik erwartend, erleben die Figuren von Sem Tecto, entre Ruínas eine zusam‐ menbrechende Gegenwart und eine noch unbestimmte Zukunft. Der Generatio‐ nenkonflikt des Portugals von 1968 entwickelt sich in diesem Zusammenhang. Dabei wird die Spaltung zwischen Eltern und Kindern ans Licht gebracht - eine 169 2.5 Sem Tecto, entre Ruínas von Augusto Abelaira Spaltung, die sich durch die Differenzen sowohl hinsichtlich der politischen Ordnung als auch bezüglich des Sittenwandels zeigen lässt. 2.5.2 Erzählstrategien In Sem Tecto, entre Ruínas wird die Verarbeitung des Generationenkonfliktes, der nationalen und internationalen Unruhen von 1968 und des Widerstandswillens der jungen Generation am Ende der 1960er-Jahre aus der Perspektive des Protagonisten - eines vierzigjährigen Lissaboners der oberen Mittelschicht - dargestellt. Durch die Erlebnisse von Jo-o Gilberto, durch seine Reflexionen und durch die Gespräche mit seinen Freunden und den Kindern seiner Freunde ver‐ arbeitet der Roman sowohl für die ältere Generation als auch für die Generation der Kinder eine Zeit voller Fragen zu einem möglichen politischen Wechsel, zum Ende des Salazar-Regimes (und der entsprechenden Abschaffung der alltäglichen Einschränkungen der Freiheit) und zur Zukunft. Der personalisierte Blick auf diese historische Zeit wird durch einen autodiegetischen Erzähler sui generis vermittelt. Der reflexive Charakter von Jo-o Gilberto und sein Interesse, sowohl die anderen als auch sich selbst zu beobachten, führen dazu, dass er sich wiederholt aufspaltet: Zuweilen nimmt er die Rolle eines Ich-Erzählers ein, der in der ersten Person von seinen eigenen Erfahrungen erzählt, sowie die Rolle eines Er-Beobachters, indem er Zeuge der Ereignisse ist und dabei von sich in der dritten Person spricht. In seinen Worten: O Jo-o Gilberto, eu (porquê esta tendência para me ver de fora, para me ver como se fosse outro, terceira pessoa do singular? ). (STER: 47) [Der Jo-o Gilberto, ich (warum diese Neigung, mich selbst von außen zu betrachten, als wäre ich ein anderer, dritte Person Singular? ).] Indem Jo-o Gilberto nicht nur Ich-Erzähler ist, überlässt er auch den anderen Figuren Hauptrollen, was dem Leser erlaubt, auch die Motive, die Zweifel und die Überlegungen der jungen und nicht mehr jungen Menschen in jener zugleich öffentlich wie privat bewegten Zeit wahrzunehmen und zu untersuchen. Luís Mour-o schreibt über die Bedeutung dieser Fähigkeit des alternierenden Erzäh‐ lens für das Erzählverfahren: A dualidade da voz narrativa, esse «ele» que é o «eu-Jo-o Gilberto», n-o faz deste texto um romance de primeira pessoa recalcada que de vez em quando assoma ao lugar de enunciaç-o. Com certeza que Jo-o Gilberto tem funções de personagem principal, sobretudo enquanto elo de ligaç-o entre as pequenas estórias que povoam o romance e aglutinador interno do processo semântico […]. Mas a estratégia de se colocar a si próprio como um outro entre outros, levada a cabo sem auto-concessões de maior, 170 2 Darstellung der Prosawerke n-o só abre espaço para a voz dos outros como provoca a tendencial igualitarizaç-o de todas elas. (Mour-o, 1996: 234) [Die Dualität der Erzählstimme, dieses »er«, das das »Ich-Jo-o Gilberto« ist, macht aus diesem Text keinen Roman mit einer verdrängten ersten Person, die ab und zu die Rolle des Sprechers ergreift. Jo-o Gilberto hat sicherlich die Funktionen einer Hauptfigur, vor allem als bindendes Element zwischen den kleinen Geschichten, die den Roman ausmachen, und als eine interne Entität, die den semantischen Prozess zusammenschließt […]. Aber die Strategie, sich selbst als einen unter anderen hinzustellen, was ohne weitere eigene Zugeständnisse ausgeführt wird, gibt nicht nur der Stimme der anderen Raum, sondern bringt auch eine tendenzielle Gleichheit aller Stimmen hervor.] Zu Beginn des Romans, bei der Soiree im Hause der Familie Bastos, entsteht der Eindruck eines heterodiegetischen Erzählers, der sich besonders auf Jo-o Gilberto, seine Beweggründe und Überlegungen konzentriert. Hier wird auf den Protagonisten in der dritten Person Bezug genommen, ebenso wie auf die anderen Figuren. Jedoch im Verlauf der Szene wird eine individualisierte Perspektive Jo-o Gilbertos deutlich, die durch die Abwechslung von Erzähl‐ merkmalen in der ersten und in der dritten Person bestimmt ist. Der folgende Ausschnitt, der ein Telefongespräch des Protagonisten mit Maria Eugénia wäh‐ rend der anfänglichen Soiree wiedergibt, veranschaulicht diese Abwechslung zwischen dem Ich und dem Er in der Erzählstimme: — Mentes, gostei de ti, gosto de ti [diz Jo-o Gilberto a Maria Eugénia]. — Uma ideia horrível atravessa-lhe o espírito: depois disto tenho de passar por tua casa, que chatice, apetecia-me muito mais dormir. (STER: 14) [— Du lügst, ich mochte dich, ich mag dich [sagt Jo-o Gilberto zu Maria Eugénia]. — Eine schreckliche Idee ging ihm durch den Kopf: Danach muss ich bei dir vorbei‐ kommen, wie langweilig, ich möchte viel lieber schlafen gehen.] Dramatisierte Szenen, die durch die Dualität der Erzählstimme (vgl. Mour-o, 1996: 234), durch erlebte Rede und durch die Anwesenheit von Informationen im Stile von Regieanweisungen gekennzeichnet sind, durchziehen den ganzen Roman. Indem die Stimmen der Figuren in den Vordergrund treten, tragen die dramatisierten Szenen (nach Stanzel) zu einer plastischen und lebendigen Darstellung des vielfältigen Bilds der Verhaltensweisen von Eltern und Kindern im Portugal von 1968 bei. Es ist auch interessant festzuhalten, dass viele dieser dramatisierten Szenen von dem Protagonisten-Erzähler in Form von Analepsen dargestellt werden. Diese Analepsen geben von dem Protagonisten erinnerte Treffen und Begeg‐ nungen wieder, die sich in die aufeinanderfolgenden Dialoge und in seine 171 2.5 Sem Tecto, entre Ruínas von Augusto Abelaira 108 Im Werk von Augusto Abelaira lässt sich eine spezielle Aneignung der Merkmale des Nouveau Roman finden, der in den 1960er- und 1970er-Jahren international bekannt war. Agripina Carriço Vieira erklärt, dass diese Aneignung besonders in der Form deutlich wird, vor allem durch die Fragmentierung des Textes, durch die Aufhebung der zeitlichen Linearität und schließlich durch die geringe Beachtung, die der Handlung zuteil wird (vgl. Vieira, 2002: 111). permanenten Überlegungen verweben. Merkmale wie die Zerstückelung der Er‐ zählzeit (gekennzeichnet durch die Analepsen), die Abwechslung des narrativen Fokus sowie die Verwendung einer komplexen und verschlungenen Sprache (voll von Ironie und Wortspielen) tragen dazu bei, die von dem Protagonisten gefühlte Stimmung von Unsicherheit jenes Jahres hervorzuheben. Außerdem fordern sie auch den Leser - im Gefolge der französischen Strömung des Nouveau Roman - auf, einen Sinn für das dargestellte Erzählpuzzle zu finden (vgl. Vieira, 2002: 110). 108 Die narrativen Optionen in Sem Tecto, entre Ruínas verstärken im Grunde die Idee, dass das Jahr 1968 - so wie es im Roman dargestellt wird - ein Jahr des Infragestellens und der Richtungssuche auf der politischen und auf der privaten Ebene ist. Obwohl es kein historischer Roman ist, wird er von fortwährender Verknüpfung von Geschichte und Fiktion bestimmt ebenso wie durch den Blick eines Protagonisten-Erzählers, der gleichermaßen Akteur und Beobachter in einem Kontext bevorstehender nationaler und internationaler Veränderungen ist. 2.5.3 Die Sichtweise der jungen und der nicht mehr jungen Figuren auf die politischen Unruhen von 1968 Die Handlung von Sem Tecto, entre Ruínas spielt im Jahre 1968 in Lissabon und umfasst die sechs brisanten Monate seit den ersten Nachrichten der Studentenproteste in Paris während des Mai 68 (ungefähr Ende April) bis zur Machtübernahme von Marcelo Caetano als Präsident des Ministerrats am Ende September desselben Jahres. Jo-o Gilberto, der Protagonist, ist ein Lissabonner in seinen Vierzigern, der gerade eine Midlife-Crisis erlebt. Er ist ein gebildeter Mann mit einer akademischen Ausbildung und ist sowohl in der Politik als auch in der Liebe ungebunden. Sein Blick führt den Leser durch seinen Alltag, der von seiner Arbeit in einem Büro, von den Momenten mit seinen Freunden und von seinen Beziehungen mit unterschiedlichen Frauen im städtischen Milieu der bürgerlichen Elite der Hauptstadt geprägt ist. Sowohl alle persönlichen Erlebnisse als auch die Ereignisse des nationalen und internationalen politischen Tagesgeschehens werden ausschließlich durch die Perspektive des Protago‐ 172 2 Darstellung der Prosawerke 109 Luís Mour-o weist darauf hin, dass in dieser im Roman dargestellten Soiree die soziale Trennung zwischen Männern und Frauen im portugiesischen bürgerlichen Milieu von 1968 deutlich wird: Während die Männer über Politik diskutieren, beschäftigen sich die Frauen mit persönlichen und intimen Themen, wie zum Beispiel Angelegenheiten bezüglich des Haushalts, Ferienreisen und dem Zustand ihrer Liebesbeziehungen. Darüber hinaus erwähnt er auch noch, dass Jo-o Gilberto von den Anwesenden der einzige ist, der sich zwischen den männlichen und weiblichen Gruppen hin und her bewegt und so sowohl die politische Debatte als auch die privaten Gespräche der Frauen aufmerksam verfolgt (vgl. Mour-o, 1996: 240). nisten-Erzählers gefiltert. Indem Jo-o Gilberto sich in einem kosmopolitischen Kreis bewegt, lebt er häufig mit seinen alten Studienfreunden zusammen, alle Männer und Frauen mit freien Berufen (zum großen Teil Anwälte, Ärzte und In‐ genieure), die intellektuell aufgeklärt sind und die ihren Urlaub in einem offenen und modernen Europa verbringen. Tatsächlich ist es diese soziale Position von bürgerlichen und beruflich erfolgreichen Menschen, die es ihnen erlaubt, einen etwas anderen Lebensstil als das vom Estado Novo propagierte konservative Modell zu pflegen. In den verschiedenen Gesprächen, die Jo-o Gilberto und die Angehörigen seines Bekanntenkreises im Verlauf der Handlung führen, diskutieren sie über die nationale und internationale Politikszene, gedenken sie ihres ehemaligen Aktivismus der Studienzeit und versuchen, in jenem Jahr eines bevorstehenden Übergangs, die Zukunft des Landes zu enthüllen. Es ist kein Zufall, dass die Handlung mit einer Soiree im Haus der Familie Bastos beginnt, eine ungezwungene Zusammenkunft, bei der die Freunde und Freundinnen von Jo-o Gilberto über so verschiedene Themen wie ihre jüngsten Auslandsreisen, das mondäne Leben der Hauptstadt und die letzten Entwicklungen angesichts der bevorstehenden Ersetzung von Salazar an der Macht sprechen. 109 Dabei ist auch Bertrand Dellorme anwesend, ein französi‐ scher Journalist, der nach Lissabon kam, um einen Artikel über die aktuellen Ereignisse für die Zeitung Le Temps zu schreiben. Ihm versuchen die Freunde des Protagonisten, ein soziopolitisches Bild vom Portugal des Jahres 1968 zu geben: einem Land, das sich trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs infolge des Modernisierung- und Industrialisierungsprozesses der 1960er-Jahre in einem Zustand von Stagnation befindet. Dafür finden sie zahlreiche Gründe und darüber haben sie keine einheitliche Meinung: Einige halten den Kolonialkrieg, der schon seit sieben Jahren dauert und bei dem kein Ende in Sicht ist, für das eigentliche Hindernis für eine Öffnung Portugals in Richtung Europa (vgl. STER: 11); andere aber sind überzeugt, dass der Grund für die Stagnation in dem unterdrückenden und totalitären Charakter des Regimes liegt -ein Regime, das durch die Zensur, die Geheimpolizei und die Kontrolle der Medien, die Entwicklung des Landes in der Geschichte lähmt. Allen Äußerungen gemeinsam 173 2.5 Sem Tecto, entre Ruínas von Augusto Abelaira ist die Unzufriedenheit mit der Politik Salazars und der Glaube, dass die Diktatur nicht mehr lange bestehen wird. Luís Mour-o kommentiert: Bastos e os amigos […] pensam que se pode esperar a breve trecho a queda do regime, desgastado pela guerra de África, pelo descontentamento do exército e dos sectores capitalistas mais dinâmicos, e pela oposiç-o interna e o isolamento externo. É o discurso normal da intelligentsia democrática portuguesa. (Mour-o, 1996: 243) [Bastos und die Freunde […] denken, dass man auf das baldige Ende des Regimes hoffen kann, denn dieses Regime ist durch den Krieg in Afrika erschöpft, ebenso durch die Unzufriedenheit des Militärs und der dynamischsten kapitalistischen Wirtschaftszweige sowie durch die interne Opposition und die externe Isolierung. Das ist die gängige Rede der portugiesischen demokratischen Intelligenz.] Mit der Ausnahme von Ernesto, der öffentlich skeptisch bezüglich eines Wan‐ dels des Regimes ist, und Jo-o Gilberto selbst, der sich anscheinend mehr für die gleichzeitigen Unterhaltungen der Freundinnen als für die politische Debatte seiner männlichen Weggefährten interessiert, zeigt sich diese Gruppe von intellektuellen Vierzigjährigen offenbar verpflichtet, mit Ideen und Plänen zum erwünschten Demokratisierungsprozess beizutragen. Neben der Diskussion über einen möglichen Politikwechsel auf der nationalen Bühne sind auch internationale Nachrichten Gesprächsthemen der Figuren dieses Kreises. Diese Figuren verfolgen mit Interesse die Wahlen in den USA, den Anfang der Frie‐ densverhandlungen im Vietnamkrieg, die politische Krise in der Tschechoslo‐ wakei oder auch die Unruhen in Frankreich, ausgelöst von den Protestaktionen sowohl von der jungen Generation in den Universitäten als auch von den Arbeitern in den Fabriken. Von diesen sind Dubčeks Reformen in Prag und die französische Studentenbewegung die Ereignisse des soziopolitischen Aufruhrs von 1968 außerhalb der portugiesischen Grenzen, die bei den Anwesenden die höchste Aufmerksamkeit erregen. Ein Beispiel dafür ist die Unterhaltung zwischen Jo-o Gilberto und Guilhermina, seiner Ex-Frau, in der sie die letzten Demonstrationen kommentieren und die Motive, die die Akteure der Proteste bewegen, analysieren: — […] os acontecimentos de Praga, o que se passa neste momento em Paris. Aquilo está sério, hem? Foram ao ponto de fazer chichi na chama da pátria… Simples irreverência? Mais…? — O desejo de destruir todos os símbolos de uma sociedade falsa. Destruir os símbolos para melhor destruir a própria sociedade. (STER: 20 f.) [— […] die Ereignisse in Prag, das, was zur Zeit in Paris geschieht. Das ist sehr ernst, nicht wahr? Sie gingen so weit, Pipi auf die ewige Flamme [am Grabmal des unbekannten Soldaten; IG] zu machen… Einfache Aufsässigkeit? Noch mehr…? 174 2 Darstellung der Prosawerke 110 Movimento de Unidade Democrática (MUD) [Bewegung der Demokratischen Einheit] war eine politische Oppositionsbewegung gegen Salazars Regime, die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet worden war. Motiviert vom Ende der Diktaturen Musso‐ linis und Hitlers in Europa versuchten die Aktivisten dieser Bewegung, Versammlungen in Portugal gegen den Estado Novo abzuhalten, und während der drei Jahre ihres legalen, vom Regime erlaubten Bestehens kritisierten sie die repressive Politik von Salazar sowohl in der Presse als auch im Rundfunk (vgl. Costa, 1996: 634). Selbst in der Gefahr, verhaftet zu werden oder an anderen Repressalien seitens der Behörden zu leiden, kämpften die Mitglieder der MUD - viele von ihnen junge Menschen, die zum Jugendverband der MUD gehörten - für freie und demokratische Wahlen. Bei ihrem Versuch, die Gesellschaft zu verändern, erhielten sie viel Unterstützung von der Bevölkerung. Am Ende der 1940er-Jahre wurde die MUD in die Illegalität gezwungen und verlor so allmählich ihre Macht, die Gesellschaft für den Widerstand zu mobilisieren. — Der Wunsch, alle Symbole einer falschen Gesellschaft zu zerstören. Die Symbole zerstören, um die Gesellschaft besser zu zerstören.] Sowohl Jo-o Gilberto als auch seine engsten Freunde verstehen, dass diese »falsche Gesellschaft«, die 1968 ins Blickfeld der jungen Demonstranten im Ausland geraten ist, diejenige ist, in der sie ihr ganzes Erwachsenenleben in Portugal verbracht haben: eine Gesellschaft, die trotz der Unterschiede im Regierungssystem nicht nur von einer Kultur des Scheins und vom soziopoliti‐ schen Konservatismus gestützt wird, sondern auch einer möglichen Revolution gegenüber abgeneigt ist. Trotz ihrer Angst vor einer eventuellen Auflösung der Lebensweisen, an die sie gewöhnt sind, versuchen die an der Politik und an dem Tagesgeschehen interessierten Mitglieder der Generation von Jo-o Gilberto, die Ursachen für die nationalen und internationalen Umstände von Aufruhr und Unsicherheit durch die Jugendproteste zu finden und zu verstehen. Sie selbst hatten auch während ihrer eigenen Jugendzeit am Movimento de Unidade Democrática (MUD) [Bewegung der Demokratischen Einheit] 110 teilgenommen und versucht, für die Demokratisierung des Staates und gegen die PIDE zu kämpfen. Aber jetzt, im Jahre 1968, schon auf einen bürgerlichen Lebensstil eingestellt, fragen sie sich, welche ihre Rolle an diesem möglichen historischen Wendepunkt sowie in der darauffolgenden (noch so ungewissen) neuen Wirk‐ lichkeit sein wird. Diese Überlegungen zu der Bedeutung der Unruhen von 1968 und zu dem individuellen und kollektiven Handeln im Verlauf der historischen Ereignisse beschränken sich nicht nur auf die Soiree, mit der der Roman beginnt, sondern ziehen sich durch ihn hindurch. Im Gegensatz zu Bastos und seinen Freunden, die sich anscheinend als engagierte Vertreter des Wandels - vielleicht sogar als mögliche zukünftige Staatsmänner - zeigen, sieht sich Jo-o Gilberto lediglich als 175 2.5 Sem Tecto, entre Ruínas von Augusto Abelaira 111 Im Aufsatz »De Brand-o a Abelaira: um Tempo de Desesperança« (2008) [Von Brand-o bis Abelaira: Eine Zeit von Hoffnungslosigkeit] zeigt Edimara Luciana Sartori, dass die Zensur, der Freiheitsentzug, die Zweifel bezüglich einer Gesellschaft sozialistischer Prägung nach der Revolution oder der Verlust grundlegender kultureller Werte Gründe für die Identitätskrise Jo-o Gilbertos und seine Unfähigkeit, sich zu verwirklichen, sind (vgl. Sartori, 2008: 3). ein normales Wesen, das gerade den Moment eines bevorstehenden historischen Wandels erlebt. Dieser Wandel verunsichert ihn bezüglich des Weges, dem er folgen soll, bzw. ob er nur dabei sein oder daran aktiv teilnehmen soll. 111 Mit der Absicht, Antworten auf diese quälenden Zweifel zu finden, unterhält sich der Protagonist mit anderen Figuren aus seinem Freundeskreis. Im Gespräch mit Ernesto, der bei der anfänglichen Soiree die skeptischste Stellung gegenüber einer Veränderung Portugals unter Salazar eingenommen hatte, stellt Jo-o Gilberto fest, dass Ernesto sich definitiv vom Widerstandsgeist, der sie alle in der Jugend bewegte, entfernt hat. Bruno, ein alter Studienfreund, der in die USA ausgewandert ist und erst nach zwölf Jahren zu Besuch nach Lissabon kommt, glaubt auch nicht an den Fall der Diktatur. Als er jung war, wurde er auch von der PIDE festgenommen und erlitt die Konsequenzen des Kampfes um die Freiheit. Bei seiner Rückkehr in sein Geburtsland stellt Bruno fest, dass die soziopolitische Realität Portugals noch immer dieselbe wie vor einem Jahrzehnt ist, als er sie verließ. Jedoch findet er dabei keine Beweggründe, sich für die notwendige Veränderung der Gesellschaft einzusetzen. Schon an den American lifestyle gewöhnt, versucht Bruno Jo-o Gilberto klar zu machen, dass er keine Illusionen mehr hat, was eine eventuelle linke Revolution - weder in Portugal noch im Ausland - anbelangt. Durch die Beispiele der jüngsten Ereignisse in Prag und in Frankreich provoziert Bruno den Protagonisten, indem er Jo-o Gilberto auffordert, Stellung zu den historischen Geschehnissen von 1968 zu beziehen. Dabei möchte er verstehen, ob der Protagonist fähig ist, sich von der politisch ungebundenen Handlungsweise zu befreien, die für dessen Generation kennzeichnend ist: — N-o… Em França eras tu a decidir e n-o decidiste. Agora em Praga… Que decides? — Desafia-me, irónico. — N-o tenho todos os dados na m-o — respondo, aceitando o jogo. […] — Alguma vez em política se têm todos os dados na m-o? — […] O Bruno continuava: — N-o te atreveste a derrubar o De Gaulle, n-o te atreveste também a defendê-lo, agora hesitas, n-o te queres comprometer […] … (STER: 118 f.) [— Nein… In Frankreich war es an dir, zu entscheiden, und du entschiedst nicht. Jetzt in Prag… Was entscheidest du? — Er fordert mich heraus, ironisch. 176 2 Darstellung der Prosawerke 112 Die Unfähigkeit der Figuren in den vor dem 25. April von Abelaira geschriebenen Romanen, sich am Prozess der Umgestaltung der Gesellschaft zu beteiligen, wird von Carlos Machado so erklärt: »[…] as personagens abelairianas apresentam uma natureza insoluvelmente contraditória. A sua condiç-o sociológica de elementos burgueses re‐ volucionários transformá-los-á em desertores antes do início da revoluç-o. A descrença e o cepticismo relativamente à mudança do estado de coisas s-o marcas características destas personagens […]« (Machado, 2003: 159; Hervorhebung im Original). [[…] die Figuren Abelairas zeigen einen unauflösbar widersprüchlichen Charakter. Ihr Sozial‐ status als revolutionäre Bürgerliche macht sie noch vor dem Anfang der Revolution zu Deserteuren. Der Unglaube und die Skepsis hinsichtlich der Veränderung des Status quo sind kennzeichnende Merkmale dieser Figuren […].] — Ich habe nicht alle Informationen in der Hand — antworte ich, das Spiel annehmend. […] — Gibt es das in der Politik, dass man alle Informationen in der Hand hat? — […] Bruno fuhr fort: — Du hast dich nicht getraut, De Gaulle zu stürzen, aber auch nicht, ihn zu verteidigen, jetzt zögerst du, du willst dich nicht verpflichten […] …] Diese und andere ähnliche Diskussionen zwischen Bruno und Jo-o Gilberto machen dem Protagonisten klar, dass es in seiner Generation keinen Willen oder keine Motivation für die Gesellschaftsveränderung gibt. Trotz des Interesses an der Diskussion über die Geschichte und an dem Reden über die Vorstellungen für die Zukunft finden die Mitglieder dieser Generation keine Beweggründe, die sie dazu bringen, ihre bürgerliche Existenz aufzugeben und die sie zum Eingreifen motivieren. 112 Die einzige Ausnahme scheint Guilhermina zu sein, auch sie in ihren Studienjahren eine engagierte Aktivistin, die aufgrund der Verbreitung von Flugblättern sogar von der PIDE festgenommen wurde (vgl. STER: 165). Im Laufe der Handlung zeigt sich Guilhermina in den Gesprächen mit Jo-o Gilberto informiert über das nationale und internationale Politikgeschehen und äußert verschiedene Meinungen, die eine gewisse Hoffnung auf eine - wenn auch langsame und nicht radikale - Demokratisierung Portugals andeuten. Im Gegensatz zu ihrem Ex-Mann und der Mehrheit der Angehörigen ihrer Generation hat sie nicht den Wunsch verloren, am Prozess der allmählichen Öffnung und Modernisierung des Landes teilzunehmen. Von den Unterhaltungen des Protagonisten im Freundeskreis soll noch der Dialog mit Herculano dos Santos hervorgehoben werden, indem dieser auch eine etwas skeptische Haltung hinsichtlich der Zukunft zeigt. Schon alt und todkrank, ist der ehemalige Gymnasiallehrer von Jo-o Gilberto ein alter Mann ohne Illusionen. Nachdem er sein ganzes Leben in der Diktatur verbrachte, kann er die Angst vor der Gegenwart und dem bevorstehenden Zusammenbrechen der Welt, wie er sie immer kannte, kaum verstecken. Ungläubig sowohl gegen‐ über dem revolutionären Impetus der jungen Protestler als auch gegenüber der 177 2.5 Sem Tecto, entre Ruínas von Augusto Abelaira 113 Zum politischen Aktivismus dieser jungen Figuren siehe Kapitel 3.2.3 und 3.2.4. reformistischen Fähigkeit der Generation Jo-o Gilbertos hat Herculano Zweifel an einer politischen Veränderung sowie an einer Verbesserung der Gesellschaft, selbst nach dem Ende des Regimes. Dieser Stimmung von Skepsis und Passivität hinsichtlich der Zukunft, die die Mitglieder der älteren Generationen von Sem Tecto, entre Ruínas kennzeichnet, wird nur von der jungen Generation widersprochen. Seine Identitätskrise und der Wunsch zu wissen, wer er ist und wie sein Leben nach dem Ende der Ära Salazars weitergehen wird, führen Jo-o Gilberto näher zu den Kindern seiner Freunde. Mit Miguel und seiner Freundin Maria da Graça wie auch mit Eurico und Isabel bei Gesprächen in Cafés oder bei Spaziergängen in den Straßen von Lissabon erlebt der Protagonist aus nächster Nähe eine junge Generation, die begierig ist, die Gesellschaft Salazars vom sozialen, moralischen und politischen Mief zu befreien, sei es durch politisches Engagement, sei es durch einen unge‐ bundenen und zügellosen Lebensstil. Jo-o Gilberto ist neugierig zu erfahren, ob diese jungen Menschen tatsächlich fähig sind, die Utopie der Veränderung, die seine Generation aufgegeben hat, zu verwirklichen. Aus diesem Grund nähert er sich Miguel und Maria da Graça an, den beiden Figuren, die der politisch und sozial engagierten jungen Generation eine Stimme geben. Mit Miguel, dem linken Aktivisten und Fürsprecher eines Regimesturzes durch eine Revolution (vgl. STER: 88), diskutiert Jo-o Gilberto die nationale Politik auf eine hitzige Weise und erkennt den Widerstandsgeist der jungen Portugiesen. Obwohl Maria da Graça weniger als Miguel vom Widerstand überzeugt ist, verteidigt auch sie den rückhaltlosen Einsatz der 1968er-Generation und die Notwendigkeit eines politischen Wandels in Portugal, der der langen Herrschaft von Autoritarismus und Unterdrückung ein Ende bereitet. 113 Zu dieser Gruppe von Romanfiguren gehören auch noch Brigitte und Hans, zwei junge Deutsche, die der Protagonist in jenem Sommer auf einer Ferien‐ reise in Italien kennenlernt. Wie Jo-o Gilberto in seinen Gesprächen mit ihnen erfährt, hatte Brigitte an der Studentenbewegung in der Bundesrepublik teilgenommen. Außerhalb Portugals spricht der Protagonist offen mit diesen zwei jungen Figuren über das Zeitgeschehen und die aktuellen Ereignisse, die Zeugnis von einer Welt in ständigem Aufruhr geben, in der die Jugendproteste gegen das Establishment immer mehr zu einem globalen Phänomen werden. Sowohl im Ausland als auch in Portugal nimmt Jo-o Gilberto eine junge Generation wahr, die in der Hoffnung auf Wandel die Motivation für die Veränderung findet, und dass ihm (wie auch vielen seiner Generation) Kühnheit und Initiative fehlen, um in die Gesellschaft einzugreifen. 178 2 Darstellung der Prosawerke 114 Luís Mour-o spricht über einen zirkulären Charakter der Diegese. Dieser Charakter zeigt deutlicher die Tendenz der Generation des Protagonisten, sich eher der Diskussion über die historischen Ereignisse als dem politischen Engagement zu widmen: »O romance termina com a repetiç-o […] da cena com que começa: o ser-o em casa dos Bastos. Os mesmos gestos, as mesmas palavras, as mesmas movimentações cénicas se desenrolam […]« (Mour-o, 1986: 37). [Der Roman endet mit der Wiederholung […] der Szene, mit der er beginnt: der gesellige Abend im Hause der Bastos. Dieselben Gesten, dieselben Wörter, dieselben szenischen Bewegungen laufen ab […].] Das Fehlen politischer Mobilisierung der Elterngeneration kristallisiert sich besonders bei einer weiteren Soiree im Hause der Familie Bastos, mit der der Roman endet, heraus. Wieder wie am Anfang sind alle aus dem Freundeskreis von Jo-o Gilberto anwesend und abgesehen von Isabel ist keiner von der Kindergeneration da. So wie beim ersten Gesprächsabend beschränken sich die Figuren der älteren Generation auf das Theoretisieren über die hypothetischen politischen Änderungen, ohne dass sie jemals deutlich machen, aktiv am Wandel mitwirken zu wollen. 114 Der Beleg dafür ist die abwartende Haltung, die die meisten einnehmen, als sie die Nachricht bekommen, dass Marcelo Caetano Salazar ersetzen wird: «Nomeado o Prof. Marcelo Caetano para substituir o Prof. Salazar, a quem s-o mantidas todas as honras inerentes ao cargo de presidente do Conselho.» E provavel‐ mente dentro de quarenta anos estaremos todos, cheios de nervosismo, à espera dos comunicados sobre a doença de Marcelo. (STER: 135) [»Professor Marcelo Caetano wurde zum Ersetzen des Professors Salazar berufen, dem alle Ehren des Amts als Präsident des Ministerrates zuteil wurden.« Und wahr‐ scheinlich in vierzig Jahren sind wir alle hier, völlig nervös, auf die Bekanntmachung der Krankheit von Marcelo wartend.] Diese Figuren der Generation von Jo-o Gilberto haben keine Illusionen hinsicht‐ lich einer von den Studenten angeführten Rebellion oder eines Militärputschs, die kurzfristig zu einer Revolution führen könnten (vgl. STER: 230). Sie scheinen sich mit der einfachen historischen Diskussion zu begnügen und warten ab, um zu sehen, in welche Richtung die Ereignisse sich entwickeln. Der Generationenkonflikt in Sem Tecto, entre Ruínas gründet sich auf die deutliche Differenz zwischen der Haltung beider Generationen: auf der einer Seite ist die Generation des Protagonisten, eher reflektierend als politisch inter‐ venierend; auf der anderen Seite sind die jungen Menschen, die sich proaktiv und engagiert zeigen. Wie Jo-o Gilberto feststellt, ist es die Kindergeneration, die radikal mit der Politik Salazars brechen und eine neue Gesellschaft aufbauen will. Diese Generation sieht sich offenbar als Motor der Veränderung im Jahre 1968: eine Veränderung, die nicht nur den Einsatz für eine freie politische 179 2.5 Sem Tecto, entre Ruínas von Augusto Abelaira 115 »[[…] Und das, was Tabu war, verhärmtes Begehren, sündiges Gewissen, ist es heute nicht mehr […]]« (STER: 140). Szene, sondern auch den Kampf für die Befreiung vom sozialen und moralischen Wertekanon des Estado Novo bedeutet. 2.5.4 »E o que era tabo, desejo angustiado, consciência pecaminosa, já hoje o n-o é«: 115 Zeichen der sexuellen Revolution und des Sittenwandels Die Handlung von Sem Tecto, entre Ruínas konzentriert sich vor allem auf die Diskussion des nationalen und internationalen politischen Aufruhrs von 1968 und auf das Prüfen des Willens der jüngeren und älteren Figuren, die Gesellschaft zu verändern. In den Dialogen, die Jo-o Gilberto im Verlauf des Romans mit den unterschiedlichen Gesprächspartnern führt, dominiert die politische Aktualität. Sie fragen sich, welcher Richtung das Land in jenem Moment des Übergangs (Rücktritt von Salazar und Machtübernahme von Marcelo Caetano) folgen wird. Das verhindert jedoch nicht, dass auch die Zeichen eines Sittenwandels Ende der 1960er-Jahre in Portugal sich im Laufe des Romans aufzeigen lassen. Diese Anzeichen, die sich sowohl beim Lebensstil als auch bei der sexuellen Revolution beobachten lassen, bezeugen einen neuen modus vivendi, entfernt vom Wertekodex des Estado Novo, der quer durch das Verhalten der Eltern und der Kinder verläuft. Die Momente des Zusammenlebens zwischen dem Protagonisten und seinen engsten Freunden belegen, dass sie in der portugiesischen Gesellschaft einen privilegierten Status haben: ein Status, der, wie in der erzählten Welt angedeutet wird, nur der bürgerlichen, städtischen und kosmopolitischen Elite zuteilwurde. In ihrem Alltag führen diese vierzigjährigen Lissabonner einen Lebensstil, der von den Vorteilen und Annehmlichkeiten des allmählichen wirtschaftlichen und soziokulturellen Modernisierungsprozesses gekennzeichnet ist. Wie im Roman deutlich wird, brachte es dieser im Verlauf der 1960er-Jahre entstandene Prozess mit sich, dass die Romanfiguren in gut eingerichteten Wohnungen im Zentrum der Hauptstadt wohnen können und die Möglichkeit haben, sowohl kultivierten Beschäftigungen nachzugehen - wie zum Beispiel die Leidenschaft für Schallplatten klassischer Musik, für die Literatur oder für die Philosophie - als auch den Zugang zu Konsumgütern und zu den neuesten importierten Moden zu genießen. Trotz der Atmosphäre politischen Stillstands und der Isolierung des Landes finden Jo-o Gilberto und seine Freunde keine Hindernisse, Vergnügungsreisen ins Ausland zu unternehmen, indem sie von speziellen 180 2 Darstellung der Prosawerke Erlaubnissen profitieren (vgl. STER: 154), um ihren Urlaub in kulturell freieren Ländern wie Italien, Österreich und der Schweiz verbringen zu können. Auch in ihren Liebesbeziehungen ist diese Horizonterweiterung spürbar. Sie verfolgen die Zeitenwende im Ausland, lassen sich von den Wellen der sexuellen Befreiung mitreißen und versuchen, sich mehr oder weniger von den alten Gebräuchen unabhängig zu machen. Jo-o Gilberto selbst stellt diese Mentalitätsänderung fest: Exemplo da influência da cultura na cama, faz-se amor consoante a civilizaç-o em que se vive, os livros que se lêem, as histórias que se ouvem, os filmes mais recentes. E o que era tabo, desejo angustiado, consciência pecaminosa, já hoje o n-o é […]. (STER: 140) [Beispiel für den Einfluss der Kultur im Bett heißt: Man macht Liebe je nach der Zivilisation, in der man lebt, gemäß den Büchern, die man liest, den Geschichten, die man hört, den letzten Filmen. Und das, was Tabu war, verhärmtes Begehren, sündiges Gewissen, ist es heute nicht mehr […].] Auch wenn es nicht immer offenkundig ist, entfernen sich die Figuren der Generation des Protagonisten aus der Strenge des katholischen Katechismus und aus den traditionalistischen Prinzipien, die der Estado Novo propagiert. Sie identifizieren sich nicht vollständig weder mit der Vorstellung der Familie als Institution, die verbreitet wird, noch mit dem Korsett der ehelichen Treue, deswegen suchen sie neue Erfahrungen. Dies geschieht aber auch aufgrund der Leere und der Enttäuschung, die auf die eine oder auf die andere Weise ihr privates Leben beunruhigt und in Frage stellt. Keine dieser Figuren hat eine sta‐ bile und lang andauernde Ehe: Ernesto und Manuela haben eine Ehekrise; Jo-o Gilberto ist von Guilhermina getrennt, die ihrerseits ein neues Liebesleben mit Daniel aufbaute; Maria Eugénia, die gegenwärtige Partnerin des Protagonisten, mit der er seit drei Jahre eine unverbindliche Beziehung hat, lebt auch von ihrem Mann getrennt; und Bruno, wie es scheint, ist ein ungebundener Junggeselle. Unter den Mitgliedern der älteren Generation ist es Jo-o Gilberto, der am ehesten versucht, die Liebe ohne Verpflichtungen und ohne Verbindlichkeiten zu erleben (vgl. STER: 137). Er sieht sich selbst als einen Don Juan, einen unreifen Mann (vgl. ebd.: 136), der sich eher vom Spiel der Verführung als vom Zusammenleben zu zweit faszinieren lässt, was von ihm Anstrengung und Hingabe verlangen würde. Der Protagonist hält es mit der Liebe wie mit der Politik: Er will sich nicht einlassen und meidet Entscheidungen, die ihn einengen. Dennoch ist es die junge Generation, die leichter und offener mit den Modellen institutionalisierter Beziehungen in Ehe und Familie bricht. Die 181 2.5 Sem Tecto, entre Ruínas von Augusto Abelaira 116 Im nächsten Kapitel dieser Arbeit werden die Erfahrungen der 1968er-Generation in Sem Tecto, entre Ruínas sowie die Reaktionen des Protagonisten auf die verschiedenen Erlebnisse der portugiesischen und deutschen jungen Figuren im Rahmen der sexuellen Revolution ausführlicher untersucht (siehe Kapitel 3.3.1 und 3.3.2). Unterhaltungen Jo-o Gilbertos mit den jungen Menschen enthüllen die sexuelle Befreiung am Ende der 1960er-Jahre auch in Portugal. Wenn auch weniger gewagt als die jungen Ausländer des Romans öffnen sich auch die jungen Por‐ tugiesen der sexuellen Emanzipation und zeugen von dem Mentalitätswandel, der 1968 in Portugal im Rahmen der Gegenkultur und des Protestes gegen die vorherrschenden Werte stattfindet. 116 182 2 Darstellung der Prosawerke 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken Nach der Darstellung der einzelnen Werke dieser Untersuchung wird in diesem Kapitel eine systematische Gegenüberstellung der Hauptaspekte vorge‐ nommen, die die literarischen Repräsentationen des studentischen Aufruhrs und der politischen und soziokulturellen Generationsspaltungen in Westeuropa am Ende der 1960er-Jahre ausmachen. In diesem Quervergleich werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei der Verarbeitung dieser Hauptaspekte kommentiert und es wird untersucht, wie die Darstellungen der 1968er-Gene‐ ration gestaltet werden, und zwar sowohl was die Handlung als auch was die Diskursebene in den unterschiedlichen Texten betrifft. Der erste Untersu‐ chungsfokus richtet sich auf den Generationenkonflikt. Dabei erfolgt eine vergleichende Analyse nicht nur in Bezug auf das Profil der Generation der Eltern und der der Kinder, sondern auch bezüglich der Gründe für die mehr oder weniger ausgeprägten Divergenzen, die den generation gap jener Zeit aufzeigen. Diese Vorstellung der Prinzipien und Überzeugungen, die die Mentalität jeder Generation modellieren, zielt darauf ab, ein besseres Verständnis für eine in allen Werken durchgezogene Frage zu ermöglichen: die Frage des politischen Aktivismus der jungen Menschen gegen das Establishment, der an der Utopie einer Veränderung der Gesellschaft orientiert ist. Der Widerstandsgeist der jungen Generation zeigt sich nicht nur in den Protestaktionen politischer Art, sondern ist auch im Privatleben bemerkbar, besonders durch den Kampf gegen den etablierten Wertekodex. Aus diesem Grund erfolgt auch in diesem Kapitel eine Gegenüberstellung der Darstellungen der Jugend im Rahmen der sexuellen Revolution und des Sittenwandels der roaring sixties. Der letzte berücksichtigte Aspekt konzentriert sich auf die narrativen Optionen bei dem Aufbau der Erzählung, die entweder die bewegten Zeiten am Ende der 1960er-Jahre oder die Reflexion über diese Zeiten in das Zentrum der Fiktionalisierung stellen. 3.1 Generationenkonflikt Die von der jungen Generation angeführten Unruhen wurden am Ende der 1960er-Jahre ein Thema von internationaler Dimension in Westeuropa. In den Medien wurden die Ereignisse der Studentenbewegung, der akademischen Umwälzungen und des antiautoritären Kampfes gegen das Establishment mit mehr oder weniger Nachdruck aufgenommen und erlangten so die Aufmerk‐ samkeit der Öffentlichkeit. Dennoch gab es bei diesem Thema keine Einigkeit. Die Studentenproteste riefen innerhalb und außerhalb der Universitäten unter‐ schiedliche Reaktionen in verschiedenen Teilen der Bevölkerung und in vielen Familien hervor, so dass die Divergenzen zwischen den Jungen und den Alten besonders deutlich wurden. Vergrößert durch eine Zeit öffentlicher und privater Krisen, die für die Infragestellung des herrschenden Gedankengutes geeignet war, führten diese Divergenzen zur Abgrenzung der Generationen voneinander: eine Abgrenzung, zu der freilich nicht alle, wohl aber viele Mitglieder der jeweiligen Generationen - auf verschiedene Arten und Weisen - beigetragen haben und die durch eine Vielzahl von Situationen (beispielsweise verkrampfte Dialoge, offene Konflikte oder eine deutliche Distanzierung zwischen jungen und nicht mehr jungen Menschen) geprägt wurde. Diese Generationenabgren‐ zung liegt in unterschiedlichen Sichtweisen auf eine mögliche Veränderung der politischen Realität und der vorherrschenden soziokulturellen Codes begründet und tritt vor allem im politisch-ideologischen Denken, in den Verhaltens- und Lebensweisen, wie in den Sitten der Generation der Eltern und der der Kinder in Erscheinung. Zum großen Teil ist die Art und Weise, wie sich jede Generation in jenem Kontext politischer und soziokultureller Bewegung positioniert, anders. Angesichts einer tendenziell zurückhaltenden Haltung der Eltern gegenüber radikalen Gesellschaftswandlungen sind es innerhalb und außerhalb der fiktio‐ nalen Darstellung hauptsächlich die Mitglieder der jungen Generation, die sich dem Wandel gegenüber offener zeigen. Dabei versucht sie, mit der von den Älteren etablierten und akzeptierten Ordnung zu brechen. Tatsächlich ist es diese Neigung zur Veränderung, die die Grundlage des generation gap jener Zeit bildet (vgl. Flores/ De Bernardi, 2003: 115). Sie durchzieht mal latent, mal explizit alle untersuchten Werke und ist damit die Achse ihrer Diegese. Es stimmt, dass die in den Prosawerken dargestellten Divergenzen zwischen Eltern und Kindern unterschiedliche Ausformungen in jedem Text haben - abhängig vom politischen und soziokulturellen Kontext der Protagonisten sowie von ihrem Alter. Trotzdem sind die Ähnlichkeiten klar in den Zeichen der Distanzierung, des Streits und/ oder des Bruchs zwischen den Generationen. Wie im Folgenden dargestellt wird, werden dadurch die Mentalitätsunterschiede und die Kontraste im Gestus zwischen jungen und nicht mehr jungen Figuren auf verschiedenen Ebenen deutlich. Im öffentlichen Bereich ist der generation gap vor allem durch den Willen der jungen Menschen in den Prosawerken gekennzeichnet, sich in der Gesellschaft zu behaupten und sich vom Status quo zu unterscheiden. Besonders in den Universitäten gibt es viele Zeichen nicht nur von dem Konflikt zwischen 184 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken Studenten und Professoren, sondern auch von einem klaren Generationsbruch. Der Hauptgrund für diesen Bruch ist der Kampf der jungen Generation gegen die Macht und gegen die Autorität der Institutionen, die die jungen Figuren mit der älteren Generation assoziieren. Wichtig festzustellen ist, dass die Nuancen dieses Konfliktes besonders in den deutschen, französischen und italienischen Werken Raum einnehmen. Das entsteht aus der von den Studenten dieser Erzählwelten erfahrenen größeren Meinungs- und Demonstrationsfreiheit in‐ nerhalb und außerhalb der akademischen Institutionen. In Heißer Sommer sind Ullrich und seine Kommilitonen die Protagonisten dieses Konfliktes. In ihrem Kampf für eine Demokratisierung der akademischen und administrativen Strukturen der Universität richten sie ihre Proteste gegen ein Bildungssystem, das von der unberührbaren Autorität der Professoren aufrechterhalten wird. Die Professoren werden von den jungen Menschen des Romans mit einem Gürteltier verglichen (vgl. HS: 19), d. h. einem verschlossenen und unerreichbaren Wesen, das keinen Kontakt erlaubt. Im ersten Teil des Werks erinnert sich Ullrich an verschiedene Erfahrungen in der Universität in München, die Zeugnis ablegen von einer einschüchternden Atmosphäre im akademischen Umfeld, das von ehrfürchtigem Schrecken der Studenten vor den Professoren dominiert wird. Besonders ist der Fall von Professor Bētz, ein primus inter pares, aber von den Studenten gefürchtet, die es nicht wagen, sich frei in seinen Lehrveranstaltungen zu äußern (vgl. ebd.: 36). Diese autoritäre Haltung der Professoren ist im Roman einer der Hauptkritikpunkte der von dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) organisierten Protestak‐ tionen in der Universität Hamburg. Ullrich und seine Genossen fordern eine größere Offenheit im Kontakt zwischen Studenten und Professoren, um eine Reform der akademischen Institutionen zu erreichen, die die gemeinsame und gleichberechtigte Teilnahme von jungen und nicht mehr jungen Menschen im Hochschulkontext ermöglicht. Als Beleg dafür kann ein Moment am Anfang des zweiten Teils von Heißer Sommer angeführt werden, als die Studenten Professor Renke im Audimax der Universität Hamburg herausfordern: Gegen den Willen des Professors, der behauptet, die höchste Autorität im Raum zu haben, werden die Studenten laut und ergreifen das Wort am Mikrophon, um gleichberechtigt mit ihm und mit anderen Lehrenden der Universität zu diskutieren (vgl. ebd.: 126). Für diese Studenten, die jeden Tag an der Universität mit einer rigiden Hierarchie umgehen sollen, die sie auf den letzten Platz verbannt, ist es notwendig, sich gegenüber den Professoren zu behaupten. Das verbreitete Gefühl von Rücksichtslosigkeit der älteren Generation ge‐ genüber den jungen Menschen ist auch in der Erzählung Lenz spürbar. In einem Gespräch mit einem Schriftsteller, seinem ehemaligen Gönner im Bereich der 185 3.1 Generationenkonflikt 1 Aufgrund seines Willens, im Kontakt mit den Studenten zu sein, sowie aufgrund der von ihm gezeigten außergewöhnlichen Offenheit im akademischen Milieu bildet Frémincourt eine Ausnahme in der Gruppe der im Roman dargestellten Professoren. Ingrid Eichelberg ist der Auffassung, dass diese Offenheit wie auch die Tatsache, dass Frémincourt Anglist ist und eine gleichermaßen interessierte und kritische Haltung gegenüber den Gründen und Folgen der Studentenbewegung zeigt, Zeichen sind, die Literatur- und Geisteswissenschaften, nimmt Lenz wahr, wie dieser Herr - und mit ihm die Gesellschaft im Allgemeinen - die Studenten und ihren Kampf für eine akademische und soziopolitische Reform der Institutionen in der Nachfolge von 1968 verachtet. Obwohl er die Bedeutung der Studentenbewegung und die von ihr ausgehenden wichtigen Impulse anerkennt, kritisiert der Schriftstel‐ lerfreund des Protagonisten die egozentrische Perspektive der Jüngeren, die glauben, dass der Wandel der Gesellschaft ausschließlich von ihren Aktionen abhängt (vgl. L: 31). Darüber hinaus entwertet er die Rolle der jungen Menschen, indem er sie für »Propheten in der Wüste« (ebd.: 31) hält, die nicht in der Lage sind, ihre Ideen für eine Veränderung der soziopolitischen Wirklichkeit in die Tat umzusetzen (vgl. ebd.: 31 f.). Nach dem Höhepunkt der Jugendrevolte und der Proteste an den Universitäten bleibt in der Erzählwelt von Lenz die negative Wahrnehmung der Jungen durch die Alten bestehen, die skeptisch gegenüber den Aktionen der Studenten und ihrer Kompetenz bezüglich einer Erneuerung der Gesellschaft sind. Das fehlende Vertrauen in die junge Generation und in deren mangelhafte Fähigkeit, sich als Motor der Transformation zu behaupten, sind auch zwei Hauptgedanken in Derrière la vitre, die den Divergenzen zwischen Jungen und Alten zugrunde liegen. In diesem Roman, der in der erzählten Geschichte bis zum 22. März 1968 und zu den Protestaktionen Anfang der Studentenrevolte in Frankreich zurückgeht, werden die Versuche der Studenten deutlich, ihre Veränderungsvorschläge tatsächlich durchzusetzen. Dabei versuchen sie, dem Bild von Ohnmacht und Inkompetenz, das innerhalb und außerhalb des univer‐ sitären Raumes von ihnen vorherrscht, zu widersprechen. Die verschiedenen Erzählungen derjenigen, die auf dem Campus von Nanterre studieren, zeigen eine Unzufriedenheit mit dem Status quo, die einen allgemeinen Zustand beschreibt: Unabhängig von ihrer sozioökonomischen Lage (oder von ihrer Teilhabe an den Jugendprotesten) fühlen sich die Studenten in diesem Roman vernachlässigt (vgl. Boyd, 1975: 206), bedingt durch die Professoren, die die jungen Menschen ständig ignorieren. Auch nach Meinung Frémincourts, eines Professors für englische Literatur und im Roman einer der wenigen aus der Dozentenschaft, der versucht, die Beweggründe des Aufstands der Studenten zu verstehen, 1 ist dieses Gefühl der Missachtung eine der Ursachen für das 186 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken diese Figur dem Autor annähern und Frémincourt zu einer Art alter ego von Robert Merle im Roman machen (vgl. Eichelberg, 1987: 33). Entstehen der Studentenrevolte und des gegenwärtigen Konfliktes zwischen Studenten und Professoren in den französischen und anderen europäischen Universitäten: — A mon avis, […] voilà ce qui s’est passé. On a tout d’un coup découvert que les jeunes représentaient un énorme marché pour le disque, les transistors, les électrophones, les accessoires de sport, le tourisme […], il y a eu en France et en Europe une idolâtrie des jeunes à la manière américaine et pour les mêmes raisons commerciales. C’est de cette idolâtrie que tout est venu. On a constitué les jeunes en idoles, en pseudo-idoles, bien sûr, car le pouvoir réel restait dans la main des vieux. Et les étudiants, parce qu’ils bénéficient des moyens techniques de réflexion, ont été les premiers à comprendre qu’il y avait là une duperie. Un enseignement de masse, une compétition très sévère, très peu de débouchés, et à l’université, aucune influence sur les études, les programmes et les méthodes. Apparemment des idoles, en fait, des enfants tenus en lisière. (DV: 271 f.) [»Meines Erachtens […] ist folgendes geschehen: man hat urplötzlich entdeckt, daß die Jugend einen riesigen Markt darstellt für Schallplatten, Transistorradios, Plattenspieler, Sportartikel, Tourismus, […], in Frankreich und in Europa setzte eine Vergötterung der Jugend ein nach amerikanischem Vorbild und aus denselben kommerziellen Gründen. Diese Idolatrie war der Ausgangspunkt für alles übrige [sic! ]. Man hat die Jugend zu einem Idol gemacht, zu einem Pseudo-Idol selbstverständlich, denn die reale Macht blieb in den Händen der Alten. Und die Studenten haben, da sie über die technischen Mittel der Reflexion verfügen, als erste begriffen, daß hier Schwindel vorliegt. Ein Massenlehrbetrieb, sehr strenge Auswahlprinzipien, sehr wenig Zulassungen und keinerlei Einfluß auf Studium, Lehrprogramme und Methoden. Scheinbar Idole, in Wahrheit Kinder, die man am Gängelband führt. [«; IG] (Hinter Glas, 1974: 201 f.)] Interessanterweise gibt es unter den Professoren eine deutliche Meinungsspal‐ tung in Bezug auf die Beurteilung der Atmosphäre der Unruhen im akade‐ mischen Milieu: auf der einen Seite stehen die liberaleren Professoren, wie Frémincourt (vgl. DV: 271), die offen für die Vorschläge der Studenten sind und sehen möchten, wie sie sich im Wandel des Bildungssystems verwirklichen; auf der anderen Seite steht die von Professor Rancé angeführte alte Garde, die jede Veränderung ablehnt und unnachgiebig ist, ihre uneingeschränkte Macht aufzugeben (vgl. ebd.: 275). Gegen diese konservative Position lehnen sich die Studenten im Roman auf. Sie weigern sich, die Aufrechterhaltung einer 187 3.1 Generationenkonflikt hierarchischen Pyramide und einer Distanz zwischen Professor und Student auf dem französischen Campus weiterhin zu akzeptieren. Zu dieser Distanz, die im Raum von Derrière la vitre in Erscheinung tritt, bemerkt Anne Wattel: Et lorsqu’ils partagent les mêmes lieux, professeurs et étudiants sont tout aussi séparés : les regards se croisent parfois mais le liant se perd. (Wattel, 2015: 73) [Und obwohl Professoren und Studenten die gleichen Räume teilen, sind sie doch getrennt: Die Blicke treffen sich manchmal, aber die Verbindung fehlt.] Diese Kontaktlosigkeit zwischen Jungen und Alten im französischen Roman nimmt im italienischen Text andere Formen an, indem der generation gap nicht nur in der akademischen Welt, sondern auch im Alltagsleben von Mailand während der 1968er-Studentenbewegung sichtbar ist. In I giorni del dissenso gibt es zahlreiche von dem vierzigjährigen Protagonisten wahrgenommene Momente, die auf ein distanziertes Verhältnis zwischen Eltern und Kindern hindeuten. Beide Generationen gehören zum gleichen bürgerlichen Milieu (vgl. Luzzi, 2011: 25) und sind daran gewöhnt, in einer wirtschaftlich dynamischen Stadt zu leben, die ein kosmopolitisches und freies Zusammenleben begünstigt. Dennoch wird in den Erzählungen des Protagonisten deutlich, dass die jüngeren und die älteren Mailänder in zwei verschiedenen Welten zu leben scheinen. Die Studenten verbringen den Großteil ihrer Zeit in der Nähe ihrer Fakultäten und Hochschulen und besuchen die Bars und Cafés mit alternativer Musik. Die Älteren befinden sich vor allem an ihren Arbeitsplätzen, in Büros in den großen und modernen Gebäuden des Stadtzentrums oder in edlen und angesagten Cafés der Nobelviertel. Zeichen dieser Trennung zeigen sich besonders während der studentischen Demonstrationen, bei denen beide Generationen einander auf den Straßen entgegentreten und hemmungslos beschimpfen, wie der folgende Textausschnitt illustriert: Il corteo porta cartelli e striscioni, grida slogans come scuola di classe no lotta di classe sì, tasse tasse lotta di classe, polizia fascista e, non appena si vedono alle finestre gruppi d’impiegati e di managers sale il grido scandito di bor-ghe-si-pecoroni bor-ghe-si-pecoroni […]. Marciamo a fianco del corteo, scansando i passanti che guardano allocchiti arrossiscono di collera scuotono le capocchie pettinate dicono ma la polizia che fa. Automobilisti chiusi nelle loro gabbiette di cuoio-vetro fanno occhi di fuoco, se hanno la donna a fianco tirano giù il vetro del finestrino e quanto basta per la mossa buttano là teppisti andate a lavorare. Ma noto che proprio qui dove siamo adesso, rasente i tavolini del Sant’Ambroeus dove signore imbalsamate perdono la favella e sgranano gli occhi guardando i loro figli che passano nel grido di Oooh-cimin, di teppisti non è il caso di parlare proprio […]. (GD: 35 f.) 188 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken 2 Die ständige Anwesenheit des Protagonisten in den Universitäten, an den Plätzen und bei den Demonstrationen in den Straßen von Mailand erklärt sich laut Giorgio Luzzi dadurch, dass diese Orte zentrale Räume des Auseinandertretens zwischen Jungen und Alten sind. Dort zeigt sich am deutlichsten die Dynamik des Generationenkonfliktes, der die 1968er-Studentenbewegung prägt (vgl. Luzzi, 2011: 21). [Die Demonstranten halten Plakate und Spruchbänder hoch, rufen Slogans wie Elite‐ schule nein Klassenkampf ja, Steuern Steuern Klassenkampf, Polizisten Faschisten, und wenn an den Fenstern Gruppen von Angestellten und Managern auftauchen, wird ihr skandierter Ruf lauter Bour-ge-ois-Herdenvieh Bour-ge-ois-Herdenvieh […]. Wir gehen neben dem Demonstrationszug her, die Passanten vermeidend die fassungslos hinschauen sie werden rot vor Wut schütteln sie die frisierten Köpfe sagen aber was macht die Polizei. Autofahrer in ihren Glas-Leder-Käfigen eingeschlossen funkeln wütend mit den Augen, falls die Frau neben ihnen steht lassen sie die Scheibe herunter und nach der kurzen Bewegung werfen sie hinaus Randalierer geht doch arbeiten. Aber ich merke, dass genau wo wir uns gerade befinden, in der Nähe der Tische von SantʼAmbroeus wo einbalsamierte Damen verstummen und die Augen weit aufreißen Richtung ihre Kinder die mit Schreien Ho-Chi-Minh vorbeigehen, der Begriff Randalierer überhaupt nicht passend ist […].] Szenen wie diese, die auf die Raumtrennung (einerseits Studenten auf den Straßen, anderseits »an den Fenstern Gruppen von Angestellten und Mana‐ gern« oder »Autofahrer in ihren Glas-Leder-Käfigen eingeschlossen«) und die fehlende Kommunikation (verstummte einbalsamierte Damen; schreiende junge Menschen) zwischen beiden Generationen hindeuten, durchziehen die gesamte Handlung von I giorni del dissenso. Mit der Intensivierung der Stu‐ dentenproteste nehmen die Provokationen und die Vorwürfe (oft auf eine beleidigende Weise) zwischen beiden Seiten zu, was zu einer Verschärfung der gegensätzlichen Standpunkte führt. Dies wird auch vom Protagonisten gesehen. In seinem Umhergehen durch die Universitäten, auf den Plätzen und auf den Straßen Mailands nimmt er Spannungen zwischen den Jungen und den Alten wahr, die durch gegenseitige Intoleranz und eine gewisse Feindseligkeit gekennzeichnet werden. 2 Der Protagonist und sein Freundeskreis bilden in diesem Spannungszustand zwischen beiden Generationen eine Ausnahme. Anders als die Passanten, die mit Beschimpfungen auf die Provokationen der Studenten reagieren, und auch anders als die älteren demonstrierenden Arbeiter, die nur zögerlich an der Seite der jungen Menschen an den Protestaktionen teilnehmen (vgl. ebd.: 142), drücken der Protagonist und seine Freunde eine große Begeisterung für den Wagemut und für die Widerstandshaltung der Studenten aus. Laut Giorgio Luzzi geschieht das, weil sie zu einer »generazione 189 3.1 Generationenkonflikt 3 Lenz und I giorni del dissenso sind unter den analysierten Werken in dieser Studie die einzigen Texte, die den Konflikt zwischen Eltern und Kindern nicht thematisieren. In der deutschen Erzählung, dessen Protagonist ein junger deutscher Student in der unmittelbaren Nach-1968er-Zeit in der Bundesrepublik ist (siehe Kapitel 2.1.3), findet man kaum Hinweise auf seinen Familienkontext. Abgesehen von einigen Kindheitser‐ innerungen bzw. einigen Momenten mit der Mutter während des Zweiten Weltkriegs (vgl. L: 105 f.) und von wenigen Anspielungen auf seinen Vater, mit dem er anscheinend eine schwierige Beziehung hatte (vgl. ebd.: 79), wird das Verhältnis des Protagonisten mit seinen Eltern nicht thematisiert. Im Fall des italienischen Werks erklärt sich die Abwesenheit von Zeichen einer brüchigen Beziehung zwischen Eltern und Kindern durch das Profil und das Verhalten des Autor-Protagonisten-Erzählers, eines Mannes in seinen Vierzigern, der zur Generation der Eltern gehört und ein ständiges Unbehagen im Beisein der jungen Aktivisten zeigt (siehe Kapitel 2.3.3). Die wenigen Male, die er das Wort nimmt, um mit den Studenten zu sprechen, wird das Thema des Konfliktes zwischen Eltern und Kindern nicht erwähnt. limbale« (Luzzi, 2011: 24) [Generation in einem Schwebezustand] gehören: einer Generation, die sich weder mit den Studenten noch mit den Älteren identifiziert, und die die Gründe für den Clash der Generationen und der Weltanschauungen, der die Öffentlichkeit jener Zeit bestimmt (vgl. ebd.: 25), aufdecken will. Die Abgrenzung zwischen Jungen und Alten in der Handlung der unter‐ schiedlichen Werke zeigt sich nicht nur durch den Konflikt zwischen Studenten und Professoren und beschränkt sich auch nicht nur auf die Universitäten und auf die Straßen. Sie lässt sich auch im Familienrahmen beobachten, in dem die Divergenzen in den Beziehungen zwischen Eltern und Kindern der verschiedenen Texte widerhallen. 3 In Heißer Sommer bricht die Widerstandswelle der jungen Generation gegen das Establishment und gegen die Werte ihrer Erziehung in den verschiedenen Familien hervor und zeigt sich in einem offenen Konflikt zwischen Eltern und Kindern. Da der Erzähler sehr nah an Ullrich ist, wird dieser Generationen‐ konflikt fast ausschließlich durch die Perspektive eines Mitglieds der jungen Generation dargestellt. Nur durch Ullrich hat der Leser Zugang zu den Ideen und Gedanken der Generation der Eltern. Darüber hinaus kann festgestellt werden, dass Anzeichen für Brüche in den Familien nur gelegentlich sichtbar werden. Das kommt daher, dass die jungen Deutschen in Heißer Sommer nicht am Herkunftsort studieren und nur selten Kontakt zu den Eltern haben. Deshalb wird die Spannung zwischen Eltern und Kindern besonders bei den Kurzbesuchen des Protagonisten und seiner Kommilitonen bei den Familien deutlich. Ullrich und die engagierten Mitglieder der 1968er-Generation des Romans fordern gleichermaßen in den Universitäten und in den Familien größere Offen‐ heit und Gleichheit (vgl. Nicklas, 2015: 176) und sie entziehen sich der Debatte 190 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken 4 Wie Ingo Cornils bin ich auch der Meinung, dass die Konfliktzeichen zwischen Ullrich und seinem Vater, die bei diesem Treffen in Braunschweig sofort spürbar sind, die emotionale und ideologische Distanz, die die Beziehung zwischen Eltern und Kindern im Roman kennzeichnet, veranschaulichen (vgl. Cornils, 2016: 110). mit ihren Eltern nicht. Im Dialog zwischen Eltern und Kindern, der durch eine Stimmung von Herausforderung gekennzeichnet ist, kommen verschiedene Fragen auf, die den Abstand der zwei Generationen kennzeichnen. Diese Fragen werden von den Kindern gestellt und beziehen sich vor allem auf die Vergangenheit der Eltern - im Roman hauptsächlich mit dem Zweiten Weltkrieg und dem nationalsozialistischen Regime verbunden -, den Autoritarismus der älteren Generation, die Bindung an den Kapitalismus, die Anpassung an den herrschenden Wertekodex, die Einordnung in eine Welt des Scheins und das Widersetzen gegen jeglichen Wandel. Einer dieser Momente, in denen die Spannung zwischen den Generationen spürbar wird, ist ein Besuch Ullrichs bei seinen Eltern in Braunschweig, bei dem er Christa mitnimmt, eine Studentin der oberen Mittelschicht, die er in München nach der Trennung von seiner langjährigen Freundin Ingeborg kennengelernt hat. Bei diesem Besuch, der am Ende des ersten Teils des Romans stattfindet, kurz bevor Ullrich sich für einen Universitätswechsel nach Hamburg entscheidet, merkt er, wie groß der Graben ist zur Welt seiner Eltern, sowohl, was den Lebensstil, als auch, was die politischen Ansichten betrifft: Seine Mutter ist eine bescheidene Hausfrau und der Vater ein kleiner Möbelhändler. 4 Die Schlichtheit und der Traditionalismus in seiner Familie irritieren und beschämen den Protagonisten. Die kitschige Dekoration der kleinbürgerlichen Wohnung, die oberflächlichen Gespräche, die Sorge der Mutter, Christa (als Gast) zu gefallen, und selbst die wenigen Bücher im Regal - wo schön de‐ korierte Auflagen von Goethe und Schiller neben Werken von Simmel und dem nationalsozialistischen Autor Erwin Erich Dwinger stehen - empfindet Ullrich als Zeichen eines engen, ungebildeten, unästhetischen und unkritischen Elternhauses. Der junge Mann versteckt nicht die Zärtlichkeit (und ein gewisses Mitgefühl) für seine Mutter und zeigt andererseits auch deutlich die Intoleranz gegenüber seinem Vater - jemandem, der versucht, von sich selbst das Bild eines unabhängigen und strebsamen Selfmademan aufzubauen, aber in Wirk‐ lichkeit ein seit langem bankrottes Möbelgeschäft führt und so die bürgerlichen Ambitionen der Mutter auf ein bequemeres Leben in einem Haus mit Garten enttäuscht (vgl. HS: 283). Für Ullrich stellt sein Vater die Verkörperung eines kleinbürgerlichen Despoten dar. Als ehemaliger Soldat im Zweiten Weltkrieg, der schon vor der NS-Zeit Mitglied in der Sturmabteilung (SA) war (vgl. ebd.: 101), ist Ullrichs Vater ein echter Patriarch, zutiefst nationalistisch und 191 3.1 Generationenkonflikt 5 Ein Beleg für diese Unnachgiebigkeit von Ullrichs Vater ist der Moment, in dem Vater und Sohn über die Studentenproteste sprechen. Der Vater weist die Version von Ullrich und seine Kritik an der Polizeigewalt zurück und bleibt fest bei seiner Überzeugung, dass die jungen Menschen verantwortlich für den Aufruhr sind (vgl. HS: 109 f.). 6 Simone Christina Nicklas bestätigt diese Idee und sagt über den Konflikt zwischen Ullrich und seinen Eltern in Heißer Sommer: »Der vorherrschende Konflikt mit den Eltern führt im Falle von Ullrich zu einer Distanz innerhalb der Familie, in der keine Kommunikation mehr stattfindet. Die Generationen gehen nicht aufeinander zu, beide Seiten sehen ihre Lebensvorstellungen und Ideale als die einzig richtigen an« (Nicklas, 2015: 176). 7 Die autoritäre Haltung von Ullrichs Vater und dessen intolerantes Verhalten, die ihn charakterisieren, werden im Roman mit seiner Vergangenheit als Soldat im Zweiten Weltkrieg in Verbindung gebracht. Er scheint diese Zeit nicht vergessen zu haben, denn er erwähnt nicht nur mit gewisser Sehnsucht die damals gemachten Erfahrungen, sondern zeigt Sympathie für die während des Nationalsozialismus etablierten Ideale. Diese Sicht der Nazivergangenheit trennt die zwei Generationen und ist ein Schlüssel‐ punkt des Generationenkonfliktes in Heißer Sommer. Aufgrund seiner Bedeutung für die politischen Aktivitäten der jungen Menschen und für die Protestziele des SDS in den Universitäten, wie sie im Roman dargestellt werden, wird dieser Punkt sowie die konservativ, und daran gewöhnt, im Haus als einziger zu entscheiden und das letzte Wort zu haben. 5 Diese autoritäre Haltung des Vaters sowie der Kleingeist seiner Familie bringen Ullrich zur Verzweiflung. Simone Christina Nicklas führt aus, wie die Lebenswelt der Eltern von Ullrich betrachtet wird: Das Kleinbürgerliche der Eltern wird als spießig charakterisiert bzw. von Ullrich als solches beschrieben. Für diesen steht die Lebensweise und -haltung der Familie, respektive deren gesamte Generation im Kontrast zum Freiheitsstreben und zu der Offenheit der 68er. Aus der Perspektive der jüngeren Generation zeigen die Eltern ein starres, unreflektiertes Verhalten. (Nicklas, 2015: 175 f.) Im Laufe der Zeit - und der zunehmenden Politisierung von Ullrich in Hamburg - vergrößert sich die Entfernung zwischen Vater und Sohn, jeder verbarrika‐ diert sich immer mehr hinter seinen Ideen und den Vorstellungen, die sie sich voneinander machen. Es wird bei verschiedenen Treffen der beiden im Verlauf des Romans deutlich, wie Ullrich aus der Sicht des Vaters nur noch ein verschwenderischer Sohn ist, der auf seine Kosten lebt und, statt zu studieren, an den Studentenprotesten teilnimmt; für den Protagonisten wiederum ist der Vater rückständig und despotisch, ein Hindernis für den Aufbau einer freien und demokratischen Bundesrepublik, wie sie die Studenten in Heißer Sommer im Jahre 1968 ersehnen. 6 Diese autoritäre Haltung von Ullrichs Vater, einer der roten Fäden des in Heißer Sommer dargestellten Generationenkonfliktes, 7 zeigt sich nicht bei 192 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken autoritäre Haltung von Ullrichs Vater im nächsten Unterkapitel ausführlich analysiert (siehe Kapitel 3.2.1). 8 In Übereinstimmung mit der Interpretation von Alois Prinz und Simone Christina Nicklas sehe ich auch den Besuch Ullrichs bei Christas Eltern in Ratzeburg als Kontrast zum Familienumfeld des Protagonisten an (vgl. Prinz, 1990: 191 f.; Nicklas, 2015: 176). 9 Christas Eltern leben in Ratzeburg, einer kleinen Stadt in der Nähe von Hamburg, und Renates leben wahrscheinlich - auch wenn der Ort nicht explizit genannt wird - außerhalb Hamburgs, ebenfalls in einer zurückgezogenen, bürgerlichen Kleinstadt. 10 Anne Wattel erklärt, wie die jungen Figuren in Derrière la vitre die ältere Generation wahrnehmen: »Le vieux, c’est le ‹réac›, le passéiste, l’oppresseur. Parents, profs, flics, le ministre Missoffe, de Gaulle sont, pour les jeunes, les pièces maîtresses de la civilisation du verrou. Ils sont qualifiés de visseurs, inquisitoriaux et sont étroitement liés au pouvoir. Ils oppressent, sclérosent, inhibent la jeunesse« (Wattel, 2015: 73 f.). [Der Alte, allen Mitgliedern der Generation der Eltern. Durch die Besuche von Ullrich in den Elternhäusern von Christa und Renate, zwei seiner etwas längeren Beziehungen in Zeiten der freien Liebe in Hamburg, öffnet sich der Roman dem soziokulturellen Milieu der Oberschicht, in dem der Protagonist eine andere Lebensart als die in seiner eigenen Familie kennenlernt. 8 Christa und Renate gehören beide wohlhabenden Familien an, Christas Vater ist Arzt und der von Renate Unternehmer in der Möbelindustrie. Sie leben in kostspielig eingerichteten Häusern mit Garten, die sich außerhalb der großen Städte befinden. 9 Der Kontakt mit diesem kultivierten, reichen und unternehmerischen Bürgertum öffnet Ullrich die Türen zu einer bis dahin unbekannten Welt: eine Welt, die nicht nur anders als seine ist, sondern ihn auch überrascht. Trotz ihres konservativen und raffinierten Lebensstils, gezeichnet durch zahlreiche Luxussymbole - Cabrio, Pelzmantel, eine kostbare »Ausgabe letzter Hand« (HS: 183) von Goethes Werken, ein Rennpferd, u. a. (vgl. ebd.: 182 f.) -, entdeckt Ullrich in diesen Familien keine Anzeichen von Tyrannei und Hochmut in den Beziehungen zwischen Eltern und Kindern. Im Gegenteil: Die Freundlichkeit und Umgänglichkeit bei den Eltern von Christa und Renate - beide viel offener und liberaler als seine eigenen - widersprechen den Vorstellungen der 1968er-Aktivisten im Roman, dass es unmöglich wäre, den Älteren zu vertrauen (vgl. ebd.: 134). Das Bild der Eltern und der älteren Generation als Repräsentanten von allem, was bekämpft werden sollte, überwiegt allerdings im Roman. Dieses Bild wird im Roman Derrière la vitre noch entschiedener vermittelt. Die Mehrheit der jungen Figuren im französischen Roman, alle aus Familien des mittleren und oberen Bürgertums (oder sogar aus dem Adel), identifizieren die Eltern als einen Teil der etablierten Ordnung, eine Ordnung, die von den Studenten sowohl im politischen Bereich als auch in den Universitäten oder in der Familie mit der repressiven Macht verbunden ist (vgl. DV: 469). 10 Dieser 193 3.1 Generationenkonflikt er ist der Reaktionär, der Nostalgische, der Unterdrücker. Eltern, Professoren, Bullen, Minister Missoffe, de Gaulle sind für die jungen Menschen die Schlüsselfiguren der verriegelten Gesellschaft. Sie werden als Verhinderer, Inquisitoren bezeichnet und sind direkt mit der Macht verbunden. Sie unterdrücken, lähmen und hemmen die junge Generation.] Generationenkonflikt, der den Alltag des akademischen und familiären Lebens am Ende der 1960er-Jahre prägt und der Junge und Alte einander entgegensetzt (seien es Studenten gegen Professoren oder Kinder gegen Eltern), wird im Roman von einem der Professoren mit liberalen Gedanken folgendermaßen beschrieben: — […] Le fils, incarné par l’étudiant, insulte le père, incarné par le ministre, et symboliquement, le châtre. […] A mon avis, le drame qui se joue ici tous les jours depuis la rentrée, c’est le drame symbolique de la perte du pouvoir du père, que le père soit ministre, doyen ou professeur. (DV: 277) [»[…] Der Sohn, verkörpert von dem Studenten, beleidigt den Vater, verkörpert von dem Minister, und entmannt ihn symbolisch. […] Meines Erachtens ist das Drama, das sich hier seit Semesterbeginn Tag für Tag abspielt, das symbolische Drama vom Machtverlust des Vaters, ob der Vater nun Minister, Dekan oder Professor ist.« (Hinter Glas, 1974: 206)] Anders als in Heißer Sommer wird der Konflikt zwischen Eltern und Kindern in Derrière la vitre nicht auf der Handlungsebene inszeniert. Dies geschieht aufgrund der Verdichtung der Erzählzeit (weniger als vierundzwanzig Stunden) und der Diegese auf den Universitätscampus von Nanterre. Die Ausnahme ist ein Brief, den der Literaturstudent Ménestrel von seiner Mutter bekommt. In diesem lehnt sie seinen Wunsch nach einem Darlehen ab, ein Darlehen, um das er sie bat, um die Verzögerung bei der Auszahlung seines Stipendiums auszugleichen. Diese trockene, rein sachliche Ablehnung, die mit den Wartungskosten für ihre eigene Villa begründet wird, zeigt, dass die Mutter - eine relativ vermögende, adelige Witwe - es für wichtiger hält, in die Aufrechterhaltung ihres Lebensstils zu investieren (vgl. DV: 109) als in die Hochschulbildung ihres Sohnes. In diesem Brief - der einzige Moment, in dem der Leser Zugang zu der Stimme der Eltern im französischen Roman hat - werden die Zeichen der Trennung der zwei Generationen spürbar. Zwei Generationen, die nur gelegentlich kommunizieren und die eine große Unfähigkeit erkennen lassen, sich gegenseitig zu verstehen und zu respektieren. Tatsächlich, obwohl der Konflikt zwischen Eltern und Kindern nicht direkt im Roman geschildert wird, taucht er auch im Laufe des Romans Derrière la vitre auf. Ähnlich wie in Heißer Sommer erfährt der Leser ihn ausschließlich aus 194 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken 11 Zu den Erfahrungen dieser und anderer junger Figuren von Derrière la vitre und wie sie im Rahmen der sexuellen Revolution und des Sittenwandels versuchen, Aufstand gegen die Prinzipien des bürgerlichen Milieus, in dem sie aufgewachsen sind, zu üben, siehe Kapitel 3.3.1 und 3.3.2. der Perspektive der Studenten, die sich, sowohl während sie auf dem Campus miteinander reden als auch in ihren Momenten von Introspektion, an Szenen ihres Familienlebens erinnern. Diese verraten nicht nur die Art und Weise, in der die Eltern und die Kinder des Romans miteinander umgehen (ohne deutliche Anzeichen von Spannung, aber mit einer gewissen Distanzierung), sondern sie zeigen auch die Unterschiede zwischen ihnen auf - Unterschiede, die nicht nur im politischen Feld, sondern auch im Privatleben durch einen Clash auftreten, der die konservative Haltung der Eltern dem liberalen Auftreten der Kinder gegenüberstellt. Auf eine mehr oder weniger radikalisierte Weise - je nach dem Grad der Politisierung bei den Aktionen der Studentenbewegung oder lediglich je nach dem Willen, sich von der Elterngeneration zu unterscheiden - kritisieren die Kinder von Ärzten, Ingenieuren und auch von Adeligen wie David Schultz, Jacqueline Cavaillon oder Lucien Ménestrel ihre Eltern wegen ihres Lebens des Scheins mit dem ständigen Gedanken über den sozialen Status, die Bequemlichkeiten der Konsumgesellschaft und den eigenen Wohlstand. 11 Was die Sitten betrifft, ist es für sie schwer zu verstehen, wie wenig offen die Eltern sind. Sie erzogen die Kinder auf eine traditionelle Weise (in einigen Fällen, wie zum Beispiel bei Jacqueline, war die Erziehungsart durch traditionalistische religiöse Vorschriften angeleitet - vgl. DV: 94 f.), besonders was die Sexualität und die Ehe betraf, und sie bleiben selbst noch diesen Prinzipen treu - um den Preis des eigenen Glücks. Unabhängig von der einzelnen familiären Realität jedes Studenten bezeugen die verschiedenen Erzählungen der jungen Figuren in Derrière la vitre eine gemeinsame Unzufriedenheit mit der Lebensweise ihrer Eltern. Sei es, weil die Elterngeneration aus der Perspektive der Kinder noch der Vergangenheit und der versteiften Wirklichkeit der gaullistischen Gesellschaft verhaftet ist, sei es, weil die junge Generation mit den sogenannten guten Sitten, mit denen sie erzogen wurde, nicht übereinstimmt, versteckt die Mehrheit der jungen Figuren des französischen Romans den Willen nicht, vom Ethos der Eltern abzuweichen. Die jungen Spanier in Condenados a vivir haben Schwierigkeiten, sich öf‐ fentlich vom Status quo und von der Lebensweise der älteren Generationen abzugrenzen. Nichtsdestotrotz, und wie es auch in den deutschen und franzö‐ sischen Romanen zu sehen ist, gibt es eindeutige Zeichen der Auflehnung der Kinder gegen die Eltern. In diesem Roman, in dem der Generationenkonflikt der 1960er-Jahre innerhalb der spanischen bürgerlichen Familie eine zentrale Rolle 195 3.1 Generationenkonflikt spielt, treten die Kinder und die Eltern gleichermaßen in den Vordergrund und tragen ihre Unterschiede offen aus (siehe Kapitel 2.4.3). Diese tauchen deutlich in dem Moment auf, in dem die jungen Vega und Ventura (und ihr Freundes‐ kreis) an die Universität kommen. Der Kontakt mit älteren Studenten, von denen einige sogar an den Studentenprotesten in Barcelona beteiligt sind, die Diskussion von Themen wie die fehlende Freiheit im akademischen Milieu und die Unterdrückung durch das Regime Francos sowie auch die Faszination für die musikalischen und gestalterischen Moden der Alternativkultur tragen zur Erweiterung des Horizonts der Mehrheit der jungen Figuren bei, junger Figuren, die sich für Werte und Sitten entscheiden, die denen ihrer Eltern entgegengesetzt sind. Wie die Worte von Cuchy in einem Gespräch mit Laureano und Pedro im Kremlin, dem Treffpunkt der jungen Generation im Roman, veranschaulichen: »A los padres no había que hacerles el menor caso. Vivían encorsetados por una serie de normas que habían pasado a la historia« (CV, Band II: 93) [Man sollte auf die Eltern keinen Wert legen. Sie lebten im Korsett einer Vielzahl von Normen, die schon zur Vergangenheit gehörten.]. Diese von Cuchy erwähnten veralteten Normen, die nicht nur die politischen Optionen der Eltern, sondern auch ihre Verhaltensweisen im Privatleben be‐ stimmen, stehen im Fokus der Kritik der jungen Figuren und kommen als Leitmotive des Clashs zwischen Eltern und Kindern von Condenados a vivir vor. Auf der soziopolitischen Ebene kritisieren die Kinder (besonders Pedro) scharf die fehlende Fähigkeit der Eltern, die Gesellschaft zu erneuern und der Diktatur Alternativen entgegenzusetzen. Trotz ihrer wirtschaftlichen Macht und des sozialen Einflusses, den sie als Mitglieder der katalanischen, kosmopolitischen und unternehmenslustigen bürgerlichen Elite haben, werden die Eltern von den Kindern angeklagt, immer noch an die Vergangenheit gebunden zu sein. Dieses Verhaftetsein wird besonders bei der Einschätzung des Bürgerkrieges deutlich, ein geschichtliches Ereignis, das für die Elterngeneration den Aufbau eines friedlichen und stabilen Spaniens bedeutet, aber in der Sichtweise der Kinder nur zur Spaltung der Gesellschaft in Sieger und Besiegte führte (vgl. ebd.: 87). Zudem verstecken die jungen Figuren nicht ihre Kritik am mangelnden Widerstand der Eltern gegen den Franco-Staat. Die Beschränkungen der Meinungsfreiheit, die Zensur und die Repression von Dissidenten sind Aspekte, die die Generation der Eltern kaum verurteilt und dabei das Regime stillschweigend unterstützt. Neben den soziopolitischen Divergenzen werden die Antagonismen zwi‐ schen Jungen und Alten des Romans auch auf der Ebene der Sitten und Gewohn‐ heiten deutlich. Der bürgerliche Lebensstil der Eltern, die fehlende Authentizität in ihrem Leben - einem Leben des Luxus und der Prahlerei (besonders im Hause Ventura) -, wie auch die ständigen Gedanken über Äußerlichkeiten sind 196 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken Gründe, die die Kinder dazu bringen, ihre Eltern als »personas-vientre« (ebd.: 88) zu bezeichnen, d. h. als Menschen, die nur das eigene Wohlbefinden und die Aufrechterhaltung des privilegierten sozialen Status anstreben, ohne sich um die sozialen Ungerechtigkeiten um sie herum zu kümmern. Trotz der unterschiedlichen Meinungen zwischen Jungen und Alten bleibt aber festzustellen, dass die Eltern und die Kinder in Condenados a vivir häufig kommunizieren. Im Gegensatz zu Ullrich in Heißer Sommer oder zu den franzö‐ sischen Studenten in Derrière la vitre, die nur sporadischen Kontakt mit ihren Eltern haben, wohnen die verschiedenen Mitglieder der Kindergeneration im spanischen Roman noch in ihrem Elternhaus und beide Generationen haben miteinander regelmäßigen Umgang. Besonders in den Momenten der Gespräche und/ oder der offenen und oft hitzigen Diskussionen zwischen den Eltern und den Kindern der Familien Vega und Ventura (und ihres Freundeskreises) wird es deutlich, wie heterogen die Gruppe der jungen Figuren des Romans tatsächlich ist, indem sie unterschiedliche Formen der Beziehung zu den Älteren vorzeigen. Diese Formen lassen sich sowohl durch eine Zustimmung zum etablierten Status quo als auch durch die Auseinandersetzungen mit den Eltern sowie noch durch den kompletten Bruch innerhalb des Familienkreises charakterisieren. Einige, wie Carol Ventura, Pedros Schwester, kritisieren nicht den Lebensstil der Eltern. Stattdessen folgen sie ihren Schritten, indem sie für sich selbst den gleichen Kult der Kultur des Scheins, in dem sie erzogen wurden, annehmen. Viele von ihnen nehmen allerdings eine kritische Haltung ein. Im Hause Vega sind Laureanos Entscheidung, eine Rockband zu gründen, und Susanas Beschluss, in die Universität zu gehen und Medizin auszuwählen - in den Augen des Vaters kein geeignetes Studienfach für eine junge Frau (vgl. ebd.: 90) -, Gründe für den Konflikt mit den Eltern, die in diesen Verhaltensweisen ein Zeichen der Auflehnung der Kinder gegen die von ihnen verteidigten Werte sehen. Pedro Ventura, der junge Student, der im Roman die Stellung extremer Opposition gegenüber den Eltern einnimmt, entscheidet sich, von zu Hause auszuziehen und die Abhängigkeit von der Familie zu kappen. Entweder auf eine gemäßigte oder auf eine deutlich gespannte Weise wollen die aufbegehrenden und engagierten jungen Figuren von Condenados a vivir sich aus ihrem Zustand als verwöhnte Kinder befreien (die Mehrheit lebt auf Vaters Kosten und hat keinen eigenen Lebensunterhalt). Darüber hinaus wollen sie sich von der Welt der Privilegien, in der sie aufgewachsen sind, distanzieren, eine Welt, die für sie wenig altruistisch und fern von soziopolitischer Erneuerung bleibt. Die folgende Äußerung, die Pedro in einer von den vielen Auseinandersetzungen mit seinem Vater macht, drückt den Wunsch dieser jungen Figuren aus, sich für eine Alternative zur Gesellschaft der Eltern einzusetzen. Gleichzeitig zeigt sie 197 3.1 Generationenkonflikt auch die Abgrenzung der Kinder von ihren Eltern, die sich durch den Roman zieht: — Nosotros no pretendemos haber encontrado nada […]. Lo único que sabemos es que vosotros fallasteis y que continuaríais cerrando el paso a todo lo que atentara contra vuestros privilegios. Si me lo permites, confío en que la juventud, en cuanto consiga dejar el biberón, sabrá hallar otras soluciones. (CV, Band II: 138 f.) [— Wir behaupten nicht, etwas gefunden zu haben […]. Das Einzige, was wir wissen, ist, dass ihr gescheitert seid und den Weg noch weiter verbaut gegen alles, was eure Privilegien bedroht. Wenn ich noch etwas sagen dürfte, ich habe Vertrauen, dass die junge Generation, sobald sie sich abnabelt, andere Lösungen finden wird.] Mehr oder weniger radikalisierte Verhaltensweisen zeigend, sehen sich die meisten jungen Figuren von Condenados a vivir als die Generation des Wandels, die Generation, die das Potenzial enthält, die Gesellschaft von den politischen Richtlinien und von den soziokulturellen Zwängen der Älteren zu befreien und für Spanien eine neue Richtung zu schaffen. Dabei fürchten sie nicht, die Eltern vor den Kopf zu stoßen und fordern sie direkt heraus. In jenen Momenten des Konfliktes versuchen sowohl die Kinder als auch die Eltern, die Überzeugungen und Sichtweisen, die sie trennen, auszutesten, etwas, was den Graben zwischen beiden Generationen in jener Zeit tiefgreifender soziokultu‐ reller Veränderungen deutlich offenbart (vgl. ebd.: 386). Die fiktionale Darstellung des Generationenkonfliktes am Ende der 1960er-Jahre tritt auch im Roman von Augusto Abelaira zutage. Dennoch ist es wichtig festzuhalten, dass in Sem Tecto, entre Ruínas die Zeichen des Clashs zwischen Eltern und Kindern nicht explizit erscheinen. Das liegt daran, dass die Rolle des Protagonisten nicht von der jungen Generation, sondern von einem Mitglied aus der Elterngeneration des Lissabonner Bürgertums eingenommen wird. Tatsächlich, anders als in den bisher dargestellten Werken, in denen der Generationenkonflikt hauptsächlich aus der Perspektive der jungen Generation gezeigt wird (mit Ausnahme des italienischen Werks, dessen Protagonist auch ein Mensch mittleren Alters, der älteren Generation zugehörend, ist), wird in Sem Tecto, entre Ruínas die Abgrenzung zwischen Eltern und Kindern durch den Blickwinkel des vierzigjährigen Protagonisten Jo-o Gilberto dargestellt. Indem er eine Midlife-Crisis erlebt und auf der Suche nach einer sowohl politischen als auch privaten (Neu-)Orientierung im historischen Kontext des Portugals von 1968 ist, fühlt sich Jo-o Gilberto gespalten zwischen beiden Generationen. Mit verschiedenen Auffassungen über die im Roman dargestellte politische Lage des Landes im Jahre 1968 sowie über die Lebensweisen im Privaten divergieren die zwei Generationen hauptsächlich aufgrund des Willens der jungen Figuren, 198 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken sich als Alternative zum Establishment zu bewähren: Während die Eltern als vorsichtiger und weniger mitwirkend an einem eventuellen Wandel des Regimes hervortreten, setzen sich die Kinder für eine radikale Veränderung des Salazar-Regimes ein. In den verschiedenen Gesprächen und Treffen, an denen er teilnimmt, beobachtet Jo-o Gilberto, wie er und seine Freunde - alle gebildete Männer und Frauen mit einer überdurchschnittlich kritischen Haltung -, sich an die un‐ terschiedlichen sozioökonomischen Vorteile der Konsum- und Unterhaltungs‐ gesellschaft im Portugal am Ende der 1960er-Jahre gewöhnt haben, wie zum Beispiel an die gut eingerichteten Häuser, an die Auslandsreisen und an den Zugang zu teuren und raffinierten Produkten. Im Laufe der Jahre verloren die Romanfiguren der älteren Generation den revolutionären Drang, der sie während der Studienzeit bewegte, das Regime Salazars zu bekämpfen (siehe Kapitel 2.5.3). Im Jahre 1968, der Gegenwart der Romanhandlung, etwas älter und weniger radikaler in ihrer Oppositionshaltung, üben sie lediglich einen zurückhaltenden und unauffälligen Widerstand gegen die Diktatur, einen Wi‐ derstand, der sich vor allem in Diskussionen und informellen Debatten über das politische Tagesgeschehen bezüglich einer eventuellen Veränderung in Portugal äußert. Die Hingabe dieser Figuren an eine fruchtlose Widerstandsrhetorik wird gleich am Anfang in der ersten Soiree des Romans vom Protagonisten und von Guilhermina, seiner Ex-Frau und ehemaligen Aktivistin in ihrer Jugendzeit als Studentin, festgestellt. Während sie dem Ideenaustausch zwischen Bastos und seinen Freunden über die soziopolitischen Unruhen der Zeit beiwohnen, erkennen beide die Unfähigkeit ihrer eigenen Generation, zu einer wirklichen Umgestaltung der Gesellschaft beizutragen. Wie Guilhermina kommentiert: — Impressiona-me o ar sério com que todos representam o seu papel. Como todos, por um momento, supõem que esta casa é o país inteiro, talvez a Europa, n-o sei se o universo, e que aqui se decifram os grandes acontecimentos, se decidem as grandes linhas da evoluç-o futura. E como se sentiriam terrivelmente desprotegidos se suspeitassem […] que se limitam a passar tempo, a substituir por palavras as horas, os minutos, os segundos! (STER: 29) [— Mich beeindruckt, wie ernst alle ihre Rolle spielen. Wie alle für einen Augenblick vermuten, dass dieses Haus das ganze Land ist, vielleicht Europa, wenn nicht das Universum, und dass hier die großen Ereignisse entziffert werden, dass hier die großen Richtlinien der zukünftigen Entwicklung entschieden werden. Und wie furchtbar hilflos würden sie sich fühlen, hätten sie den Verdacht […], dass sie lediglich die Zeit vergehen lassen, indem sie die Stunden, die Minuten, die Sekunden durch Worte ersetzen.] 199 3.1 Generationenkonflikt In dem Bewusstsein, dass die Elterngeneration die Fähigkeit zu Engagement und Einsatz verloren hat, sind es die Kinder des Freundeskreises von Jo-o Gilberto, die im Roman von Abelaira eindeutig ihre Abkehr vom Regime zeigen und aktiv an der Veränderung des Status quo teilnehmen wollen. Eine ähnliche Haltung nahmen die älteren Figuren des Romans in ihrer Jugend ein, die aber im Laufe der Zeit abkühlte. Die Generation der Kinder - alle etwa zwanzigjährige, reiseerfahrene Lissaboner mit einer offenen und kosmopolitischen Mentalität - taucht im Roman nur in Szenen mit Jo-o Gilberto auf. In den Gesprächen in den Cafés und bei den Treffen in der portugiesischen Hauptstadt stellt der Protagonist-Erzähler die jungen portugiesischen Figuren von Sem Tecto, entre Ruínas vor, die Romanfiguren, die den Geist der Freiheit verkörpern, und zwar sowohl auf der Ebene der Sitten und Gebräuche als auch im Rahmen des politischen Aktivismus. Obwohl Isabel noch bei den Eltern wohnt und von ihnen finanziell unterstützt wird, ist sie die junge Figur des Romans, die die Verhaltensmuster, in denen sie erzogen wurde, am meisten bekämpft. Die Tochter von Ernesto, einem Inge‐ nieur, und Manuela, einer Ärztin, findet Protestformen in der Vernachlässigung ihres Studiums und in der Ablehnung der Lebensentwürfe, die ihre Eltern für sie planten. Dabei versucht die junge Frau, ihrer Mutter klarzumachen, dass sie sie abweist und ihre Unfähigkeit verachtet, eine Scheinehe zu beenden. Tatsächlich ist es diese Aufsässigkeit gegenüber ihrer Mutter und den Werten ehelicher Treue, die die ältere Frau symbolisiert, die Isabel antreibt, radikal mit der Welt der Eltern zu brechen, indem sie ein rebellisches, von Gefühlen freies sexuelles Leben wählt (siehe Kapitel 3.3.1 und 3.3.2). Miguel, seinerseits, entscheidet sich für den Weg der politischen Opposition, um seinen Widerstand zu verwirklichen. Der Sohn von Maria Eugénia, Jo-o Gilbertos Partnerin, ist die einzige der im Roman dargestellten jungen Figuren, die den Bruch mit der Elterngeneration auf eine kohärente Weise vollzieht. Um mit seinen Idealen von Sozialismus und Antikapitalismus im Einklang zu leben, verlässt er sein Elternhaus und verdient sich seinen eigenen Lebensunterhalt durch Übersetzungen (vgl. STER: 90). Weniger radikal bei der Auflehnung gegen die ältere Generation ist das Verhalten von Miguels Freundin, Maria da Graça. Ähnlich wie Christa in Heißer Sommer oder wie Susana in Condenados a vivir bricht die junge Portugiesin nicht definitiv mit ihren Eltern: Maria da Graça weicht von den Ideen der Elterngeneration ab und konfrontiert ihren Vater, indem sie versucht, ihren eigenen Standpunkt geltend zu machen (vgl. ebd.: 99), ohne jedoch die Kommunikation abzubrechen und die Familienbande zu zerreißen. 200 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken Ob mit oder ohne Abbruch der Beziehungen zu den Eltern behaupten sich die jungen Figuren des Romans von Abelaira als eine Kraft des Gegensatzes im Rahmen des Generationenkonfliktes, der im Portugal von 1968 Kinder und Eltern, Junge und Alte einander entgegensetzt. Trotz der im Roman verarbei‐ teten Beschränkungen der Freiheit und des engen soziokulturellen Korsetts der Salazar-Gesellschaft versuchen die Kinder von Sem Tecto, entre Ruínas, sich zu emanzipieren und sich für den Wandel einzusetzen. Tatsächlich ist es diese von den jungen Romanfiguren eingenommene engagierte Haltung, die die Eltern in ihrer eigenen Jugendzeit vertraten und mit der Zeit ablegten (obwohl sie weiterhin das Regime von Salazar und Caetano ideologisch zurückweisen), die sich als der Hauptgrund für die Abgrenzung zwischen Jungen und Alten in Sem Tecto, entre Ruínas darstellt. Wie zu lesen ist, treten die Zeichen des Dissenses zwischen Eltern und Kindern in jedem Werk anders in Erscheinung - abhängig vom soziopolitischen und kulturellen Umfeld in der Handlung jedes Textes, und auch abhängig von der Perspektive, über die jeder Erzähler Zugang zu den dargestellten Ereignissen ermöglicht. Nichtsdestotrotz ist die Spaltung zwischen den Weltanschauungen und Haltungen der zwei Generationen eindeutig. Diese Spaltung zeigt sich sei es im öffentlichen Raum durch eine Entfernung zwischen Studenten und Professoren in den Universitäten, sei es im Familienkontext durch den Abstand zwischen Eltern und Kindern, der oft sogar in einem offenen und von gegen‐ seitiger Feindseligkeit und Misstrauen geprägten Konflikt deutlich wird. Es ist jedoch zu bemerken, dass dieser Clash nicht (immer) einen endgültigen Bruch bedeutet. Es gibt Familien, in denen die Angehörigen beider Generationen ein großes Interesse zeigen, sich wechselseitig zu fragen und zu versuchen, die Beweggründe, die Überzeugungen und die Orientierungen herauszufinden, die die Jungen wie auch die Alten in jener Zeit von Aufruhr bewegen. Diese Bereitschaft zum Dialog ist besonders ausgeprägt im spanischen und portugie‐ sischen Roman. Aber in allen Werken fällt der Wille der jungen Generation auf, mit der Vergangenheit zu brechen und ein neues Wertesystem sowohl auf der politischen als auch auf der sozialen und kulturellen Ebene zu etablieren. Dieser Wille offenbart sich in den unterschiedlichen Modulationen des generation gap. In den folgenden Unterkapiteln werden weitere Ebenen des Umbruchs und der Veränderungsversuche der Gesellschaft durch die Figuren der jungen Generation in den verschiedenen Prosawerken ausführlicher untersucht, und zwar sowohl im Rahmen des politischen Aktivismus als auch im Kontext der sexuellen Revolution und des Sittenwandels. 201 3.1 Generationenkonflikt 12 Condenados a vivir wurde am Ende der 1960er-Jahre und am Anfang der 1970er-Jahre geschrieben und 1971 veröffentlich, während Franco noch lebte und es in Spanien die Zensur a posteriori und das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit gab (vgl. Bernecker, 1997: 144): siehe Kapitel 2.4.1. Sem Tecto, entre Ruínas, verfasst zwischen Mai 1968 und Februar 1974 (vgl. STER: 249), aber 1979 veröffentlicht, konnte erst nach dem Umsturz der Diktatur in Portugal und der Abschaffung der Zensur publiziert werden (siehe Kapitel 2.5.1). 3.2 Politischer Aktivismus Der Wunsch, mit dem Establishment zu brechen und sich als Motor für die Ände‐ rung der Gesellschaft zu betätigen, zeigt sich als ein bestimmendes Element der jungen Generation, die die Studentenrevolte und die antiautoritären politischen Aktionen der roaring sixties in Westeuropa anführt. Ob eher von der bloßen Mode des Politischseins oder von ideologischen Überzeugungen angetrieben, ob auf gemäßigtere oder auf radikalere Weise, gab es viele junge Menschen, die sich am Ende der 1960er-Jahre dafür einsetzten, die vorherrschende soziopolitische Realität zu verändern (siehe Kapitel 1.1). Dieser Geist des Widerstands und des politischen Aktivismus, orientiert durch die Utopie von der Veränderung der Gesellschaft, prägt auch die fiktionale Darstellung der Jugend in den in dieser Arbeit untersuchten literarischen Werken. Sei es im akademischen Umfeld, sei es an den öffentlichen Plätzen der großen Städte, wo sie leben und studieren, setzen sich viele der jungen deutschen, französischen, italienischen und selbst die spanischen und portugiesischen Figuren jener Texte (meist Studenten) an die Spitze der Protestbewegung der 1960er-Jahre. Teils offen, teils verhalten - je nach den im Roman dargestellten Einschränkungen ihres politischen und soziokulturellen Umfeldes - übernehmen die meisten der jungen Figuren die Initiative, in die Gesellschaftsordnung einzugreifen. Es sei daran erinnert, dass Heißer Sommer, Lenz, Derrière la vitre, I giorni del dissenso, Condenados a vivir und Sem Tecto, entre Ruínas eine Fiktion darstellen, die sehr plausibel und nah an der Realität ist. So sind die verschiedenen Eigenarten des nationalen politischen Kontextes jedes Textes präsent in der Handlung und sie spielen eine Rolle für das Verhalten vieler Figuren. Dies führt zu der Tatsache, dass der politische Aktivismus von Text zu Text zahlreiche Differenzierungen annimmt: In den deutschen, französischen und italienischen Werken demonstrieren die jungen Figuren, die Aktivisten sind, auf eine freie und offene Weise, während in den spanischen und portugiesischen Romanen - zwei Texte, die noch im Regime von Franco und Salazar und in der Zeit der Zensur verfasst wurden 12 - die Sachzwänge des politischen Kontextes deutlicher dargestellt sind. Sowohl durch die Gespräche zwischen den Figuren 202 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken 13 Mit der Ausnahme von Sem Tecto, entre Ruínas, in dem der Widerstandsgeist der jungen Generation nicht im akademischen Umfeld auftritt, gibt es in allen anderen Prosawerken zahlreiche Hinweise auf die Protestinitiativen der jungen Menschen in den Universitäten. Dazu werden auch die Gründe für die Unzufriedenheit und die Forderungen nach Veränderung dargestellt. als auch durch die (wenn auch kurzen) Beschreibungen des Erzählers über Momente wie beispielsweise Verhaftungen oder Zensur in den Zeitungen (unter anderen) nimmt der Leser den Mangel an Freiheit und die Atmosphäre der Repression wahr, die als Hintergrund für die Diegese in Condenados a vivir und Sem Tecto, entre Ruínas dient, sowie die Schwierigkeiten der jungen Spanier und Portugiesen beider Romane, um für die Veränderung der Gesellschaft zu handeln. Die Proteste der jungen Generation in den Prosawerken konzentrieren sich auf den Umsturz des Establishments sowohl in den Universitäten als auch in der Gesellschaft sowie auf die nationale und die internationale Politik, da die jungen Figuren gemeinsame Ziele eines transnationalen Widerstands haben. Von diesen Zielen, die quer durch die verschiedenen Werke zu finden sind und die in diesem Unterkapitel Gegenstand der Analyse werden, stechen folgende heraus: der Kampf der Studenten gegen verschiedene Ausformungen des Autoritarismus an den Universitäten, das Anprangern der fehlenden Meinungs- und Presse‐ freiheit sowie der Manipulation der öffentlichen Meinung durch die Medien, das Engagement für den Kampf der Arbeiter und ferner, auf einer globalen Ebene, das Interesse der jungen Figuren für die internationalen Angelegenheiten (Vietnamkrieg, Befreiungsbewegungen der sogenannten Dritten Welt) und für die Veränderung der Welt. Schließlich sollen die Nuancen, die der politische Aktivismus in jedem einzelnen Text annimmt, im Hinblick auf die eher enga‐ gierte oder eher gemäßigte Haltung der jungen Figuren der unterschiedlichen Werke untersucht werden. 3.2.1 Gegen die Ordinarienuniversität Der Kampf der Studenten für die Veränderung des akademischen Systems und die Unruhen an den Universitäten nehmen in den unterschiedlichen Texten großen Raum ein. 13 In den Fakultäten und auf den Campus, den Orten, an denen die Ideen der Veränderung und der Revolte sprossen, ist das Klima von Tumult und Agitation nicht nur vom Konflikt zwischen Studenten und Professoren geprägt, wie im vorigen Kapitel ausgeführt (siehe Kapitel 3.1), sondern auch von der Unzufriedenheit mit den Studienbedingungen und mit der despotischen Haltung, die viele Dozenten annehmen. Alle diese Aspekte treten 203 3.2 Politischer Aktivismus in der Mehrheit der untersuchten Werke auf. Direkt oder indirekt sind sie ein Anlass für das Anprangern der Studenten und für ihre Proteste im Rahmen des Kampfs gegen den Autoritarismus und den Konservatismus, die innerhalb und außerhalb der akademischen Strukturen vorherrschen. In Heißer Sommer ist der antiautoritäre Kampf der jungen Figuren eng verbunden mit den Ansprüchen an »verändern und befreien« (HS: 142), die im Roman vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) erhoben werden. Die Reformvorstellungen der Protestler haben als Ziel eine Revolution sowohl auf der ideologischen Ebene als auch auf der der Mentalität und des Verhaltens. Das Epizentrum dieser Revolution sollen die Universitäten sein, als herausgehobene Orte für die kulturelle und politische Diskussion. In diesem Zusammenhang fordern Ullrich und seine Kommilitonen an der Universität Hamburg eine Reform der akademischen Verwaltung und Hochschulstruktur, die sie für archaisch, autoritär und repressiv halten (siehe Kapitel 3.1), sowie eine Reform der Studienpläne. Diese sind ihrer Ansicht nach zu realitätsfremd und verschlossen gegenüber aktuellen Themen, wie zum Beispiel die verschiedenen Ausbeutungsformen in der Bundesrepublik und auch Probleme wie der Hunger und die Kriege in den Ländern der sogenannten Dritten Welt (vgl. HS: 121 f.). Aber die Proteste bleiben nicht auf den Campus begrenzt. Nach Meinung der politisch engagierten Studenten ist das akademische System nur eine der Insti‐ tutionen, die demokratisiert werden müssen. Conny, einer der Studentenführer des SDS, unterstreicht die Notwendigkeit einer von der Universität ausgehenden soziopolitischen Transformation in einer Rede, die er vor den Studenten im Audimax der Universität Hamburg hält: Entlarven wir die Ventilfunktion der demokratischen Formen, die er [der Staat; IG] uns anbietet. Zeigen wir vor allem, wie die demokratische Kontrolle gerade dort aufhört, wo sie in die Interessen der herrschenden Schichten eingreifen könnte. Zwingen wir die Professoren, die bisher unwidersprochen ihre Lehrmeinungen ablassen konnten, über diese Meinungen mit uns zu diskutieren. […] Stellen wir ihre bisher unbefragte Autorität in Frage. […] Stellen wir die repressiven Institutionen in Frage. Stellen wir die repressiven Räume der Institutionen in Frage, wie diesen Hörsaal. […] Wir müssen die Aufklärung aber nicht nur mit Diskussionen und Analysen vorantreiben, sondern vor allem auch durch gezielte Aktionen, die die undemokratische Organisation und das scheinheilige Gerede von der freiheitlich-demokratischen Ordnung als das Make-up der Machtinteressen einer kleinen Minderheit entlarvt. Das herrschende System ist allgegenwärtig. […] Rütteln wir also an einer dieser Stützen [jenes Systems; IG]. Rütteln wir hier und heute an der autoritären Ordinarienuniversität. (HS: 122 f.) 204 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken 14 Auf Schraders Kommentar »Es gibt schon wieder sechzigtausend Juden in Deutsch‐ land« (HS: 188) antwortet Ullrich »Was heißt denn das […] schon wieder? « (ebd.). 15 Alois Prinz weist darauf hin, dass im Kampf gegen den Autoritarismus und gegen faschistische Züge in der Gesellschaft der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik, den die Jugend in Heißer Sommer aufgenommen hat, das Konzept des Faschismus eine neue Bedeutung hat. Es geht über den bloßen historischen Sinn, verbunden Im Kampf für eine Modernisierung der Hochschulbildung denken die Mitglieder des SDS im Roman über das Erbe des Nationalsozialismus nach, das noch an den Universitäten spürbar ist, besonders im Verhalten und in den Bildungsvor‐ stellungen der Professoren - einige von ihnen, u. a. Professor Bētz, waren, wie der Erzähler betont, im Militärdienst für das NS-Regime während des Zweiten Weltkriegs (vgl. HS: 69). Die Kritik eines nationalsozialistischen Erbes in der Gesellschaft am Ende der 1960er-Jahre erstreckt sich in Heißer Sommer gleichermaßen auf die Welt der Eltern (vgl. Nicklas, 2015: 176). Ullrich empfindet gegenüber dem Vater, der schon vor Hitlers Machtergreifung in der Sturmab‐ teilung (SA) war (vgl. HS: 101), Verachtung und Abscheu. Ebenso geht Ullrich auch zu Schrader, einem NPD-Wähler und Freund des Vaters, auf Distanz. Beide Mitglieder der Elterngeneration haben an der Ostfront gekämpft und erzählen bei Treffen der beiden Familien davon (vgl. ebd.: 187 f.). Als Schrader sich dort einmal antisemitisch äußert, ist es Ullrich, der in scharfem Ton kritisch nachfragt, während der Vater darauf nicht eingeht. 14 Dennoch ist das Profil der Elterngeneration in Heißer Sommer vielfältig, da nicht alle Angehörigen dieser Generation reaktionär und autoritär sind. Dies stellt Ullrich fest, als er bei den Eltern von Christa zu Besuch ist. Der Vater, ein renommierter Arzt, und die Mutter, Hausfrau, leben umgeben von den Vorteilen und Annehmlichkeiten des Milieus der Oberschicht (siehe Kapitel 3.1). Beim Abendessen mit den Carrieres erinnert sich der Protagonist an die Worte von Petersen im Keller des SDS in Hamburg. In seinen Reden über die autoritären Züge, die die bundesdeutsche Gesellschaft noch nach dem Ende der NS-Zeit kennzeichneten, bezeichnet Ullrichs Freund allgemein alle Bürger der Bundesrepublik - sowohl die kleinals auch die großbürgerlichen Menschen - und alle staatlichen Institutionen als »latent oder offen faschistisch« (HS: 187). Obwohl es Ullrich nicht gelingt, sich eine sichere Meinung über den Vater von Christa zu bilden, erkennt er doch, dass die Sympathie, die Toleranz und das Verständnis von Dr. Carriere nicht nur im Gegensatz zu seinem Vater, sondern vor allem auch zum Stereotyp stehen, das von den Aktivisten in Heißer Sommer über die Elterngeneration propagiert wird. Dies lässt ihn daraus schließen: »[…] das [ist] doch kein Faschist […], das ist doch ein freundlicher Liberaler« (ebd.). 15 Ein anderer Fall ist der von Albert, einem Deutschen, der während 205 3.2 Politischer Aktivismus mit dem Dritten Reich und dem Zweiten Weltkrieg, hinaus und charakterisiert eine intolerante und reaktionäre Mentalität, die der Utopie der jungen Generation von einem soziopolitischen Wandel gegenübersteht (vgl. Prinz, 1990: 190). 16 In Übereinstimmung mit Petra Platen muss erwähnt werden, dass die kurzen Andeu‐ tungen in der Erzählung über die Beziehung zwischen Lenz und seinem Vater auf Kommunikations- und Verständigungsschwierigkeiten hindeuten (vgl. Platen, 2006: 39). der NS-Zeit wegen seiner heimlichen Aktivitäten (Verteilen von Flugblättern, Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei) in ein Konzentrationslager deportiert worden war. Der Fall von Albert tritt in Erscheinung als ein Leitmotiv in Heißer Sommer, da Ullrich sich immer, wenn er an die nationalsozialistische Vergangenheit denkt, an die Geschichte des Widerstandskämpfers erinnert (vgl. Weisz, 2009: 52). Außerdem repräsentiert Albert für den jungen Protagonisten ein Symbol des Widerstands und Kampfs für die Veränderung, ein Gegenpol zum antidemokratischen, intoleranten und faschistischen Verhalten seines Vaters. Dieses Engagement der Studenten in Heißer Sommer, über die Nazivergan‐ genheit in den Universitäten und in ihren Familien zu reflektieren und die Verbindung der Älteren zu der Zeit des Dritten Reichs und des Zweiten Weltkriegs zu hinterfragen, wird in Peter Schneiders Lenz nicht ganz so sichtbar. Das mag zum einen daran liegen, dass die Handlung dieser Erzählung schon in der Zeit nach dem Abflauen der Studentenbewegung und der Distanzierung des Protagonisten von den Protestaktionen in den bundesdeutschen Universitäten spielt. Zum anderen mangelt es an Kontakt zwischen Lenz und den Mitgliedern der älteren Generation, mit der er solche Themen diskutieren könnte. Es ist dennoch hervorzuheben, dass der Protagonist versucht, sich von einer Vergan‐ genheit von Verlust, Flucht und fehlenden Familienbindungen zu befreien, einer Vergangenheit, die ihn und seine Generation geprägt hat. Sowohl in den Gesprächen mit Petra in Rom als auch im Kontext des antiautoritären Kampfes gegen die Figuren der Macht der Universitäten und des Staates in Trient teilt Lenz diese Erinnerungen mit. Er erinnert sich nicht nur an Momente der Kindheit mit der Mutter während des Krieges (vgl. L: 105), sondern auch an die Beziehung zum Vater, einem in seiner Kindheit abwesenden Vater (wahrscheinlich aufgrund des Militärdiensts), zu dem er auch nach dem Krieg niemals eine nahe Beziehung aufbauen konnte. 16 Lenz sieht den Vater als eine Autoritätsfigur, die er beschimpft (vgl. ebd.: 79), so wie es viele in seiner Generation während der Zeit der Studentenrevolte in der Bundesrepublik taten. Trotz der historischen Unterschiede zwischen der Bundesrepublik und Frank‐ reich hinsichtlich der Zeit des Zweiten Weltkriegs (es sei daran erinnert, dass Frankreich von Hitlers Armeen erobert worden war und während der 206 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken Besatzungszeit unter dem Naziregime litt) finden sich im Roman von Robert Merle auch Rückbezüge auf die NS-Vergangenheit. Wie bei den Studenten in Heißer Sommer treten diese Rückbezüge im französischen Roman im Rahmen des Aktivismus der jungen Generation für eine umfassende Demokratisierung der akademischen Strukturen zutage. Die jungen Figuren von Derrière la vitre kämpfen engagiert gegen die repressive Macht in den Universitäten (vgl. DV: 467) und benutzen dabei Symbole der NS-Vergangenheit, um damit die Züge der Tyrannei und des Autoritarismus hervorzuheben, die sie auf dem Campus von Nanterre identifizieren. Ein Beweis dafür ist der Vergleich, den die Studenten zwischen dem Dekan der Fakultät für Geisteswissenschaften, Pierre Grappin, und einem Nazi machen (vgl. ebd.: 419) - einem Dekan, der ironischerweise von den anderen Professoren als ein Vertreter der Linken, ein Mann mit liberalen Positionen angesehen wird (vgl. ebd.). Ein anderer Vergleich wird zwischen den Compagnies Républicaines de Sécurité (CRS) [Republikanische Sicherheits‐ kompanien] der Polizei, die die Tumulte an der Fakultät beenden sollen, und der Schutzstaffel (SS) gezogen (vgl. ebd.). Und ein dritter Vergleich wird noch zwischen dem Verwaltungsturm sowie dem Sitzungssaal des Professorenrates und einem Wachturm eines Konzentrationslagers angestellt (vgl. ebd.: 387). Mit diesem Vergleich sehen sich die Studenten selbst als die Unterdrückten an und als die, die permanent überwacht werden. Alle Vergleiche veranschaulichen direkt oder indirekt das allgemeine Gefühl der Studenten des Romans, dass sie in der Universität eine untergeordnete Position haben. Auch verdeutlichen sie den Wunsch der jungen Figuren, eine grundsätzliche Veränderung der Hochschulbildung durchzuführen. Aus diesem Grund versuchen sie, verschiedene Probleme ihres Alltags anzuprangern. Diese beziehen sich nicht nur auf die Überfüllung der Hörsäle und auf die standardi‐ sierte Hochschulbildung - welche der Anglistikprofessor Frémincourt mit einer Citroën-Fabrik vergleicht, die auf die Serienproduktion der 2 CVs spezialisiert ist (vgl. ebd.: 313) -, sondern auch auf die fehlende Meinungsfreiheit in den Seminarräumen, in denen Anonymität und von den Studenten als archaisch und reaktionär angesehene pädagogische Praktiken herrschen. Die jungen Figuren von Derrière la vitre folgen keinem bestimmten ideologischen Programm, wie es in Heißer Sommer durch die Verbindung der Studenten mit dem SDS gezeigt wird. Sie finden eher ihre Antriebskraft für die Proteste in der Ablehnung der Professorenmacht und der Forderung nach mehr Mitbestimmung. Ein Beispiel dafür ist, wie David Schultz, einer der engagiertesten Studenten im antiautoritären Kampf in Nanterre, dem jungen Algerier Abdelaziz die Vorsätze der französischen Studenten in der 1968er-Revolte erklärt: 207 3.2 Politischer Aktivismus C’est nous qui faisons la loi, maintenant, à la Résidence. Et si ça continue comme ça […], c’est nous qui la ferons bientôt dans la Fac. Je ne crains pas de le dire […], il arrivera un moment dans cette Fac où, quand nous dirons : ce cours n’aura pas lieu, il n’aura pas lieu. Nous en arriverons au point de barrer les profs réacs et de les réduire au silence. (DV: 365 f.; Hervorhebung im Original) [Hier im Wohnheim machen wir [sic! ] jetzt die Gesetze. Und wenn es so weiterläuft […], werden wir auch bald in der Fakultät zu bestimmen haben. Ich scheue mich nicht, zu sagen, daß an dieser Fakultät die Zeit kommen wird, wo wir sagen: diese Vorlesung findet nicht statt, und dann findet sie nicht statt [sic! ]. Wir werden dahin gelangen, daß die reaktionären Professoren gesperrt und zum Schweigen gebracht werden (Hinter Glas, 1974: 270; Hervorhebung im Original).] Wie im französischen Roman ist auch in I giorni del dissenso nicht klar, ob die Studenten in Mailand Mitglieder einer Studentenorganisation sind oder ob sie Direktiven bestimmter revolutionärer Bewegungen befolgen. In den ersten Ta‐ gebucheinträgen versteckt der Protagonist-Erzähler nicht seine Bewunderung für die Organisationsfähigkeit derjenigen jungen Aktivisten, die sich Tag für Tag für neue Protestaktionen einsetzen, wie zum Beispiel die Besetzung von Fakul‐ täten oder die Gestaltung von Versammlungen und Demonstrationen vor den Universitätsgebäuden - alles gegen die herrschenden Strukturen, die von den jungen Figuren als autoritär angesehen werden und die dem akademischen und politischen System zugrunde liegen (vgl. GD: 28). Bei seinen Streifzügen durch die Protestorte (Vollversammlungen, Fakultätsflure, Demonstrationen auf den Straßen) beobachtet der Protagonist jene Protestaktionen und versucht, das Warum und das Wie des von den Studenten geführten antiautoritären Kampfes zu verstehen. Dieser Kampf beschränkt sich nicht auf den Widerstand gegen die Autoritätsfiguren im akademischen Milieu, besonders gegen die Professoren, sondern orientiert sich an der Idee, dass die Veränderung der Universität nur innerhalb einer allgemeinen Erneuerung der Gesellschaft geschehen kann (vgl. ebd.: 24 f.). Diese Idee wird im folgenden Auszug einer Rede deutlich, die ein Student auf einem Platz in Mailand hält und die der Protagonist wiedergibt: […] abbiamo chiesto riforme all’università e ci hanno risposto con l’autoritarismo accademico e con le denunce all’autoritarismo giudiziario, abbiamo occupato le nostre università e l’autoritarismo dello stato ci ha risposto con la polizia, abbiamo frattanto chi più chi meno cercato nella nostra vita privata la comprensione della famiglia e ci siamo trovati di fronte all’autoritarismo della famiglia che paga gli studi che l’autoritarismo del governo rifiuta di pagare, e vuole vederci ciascuno laureato inserito nel tirocinio alla carriera di sfruttatore o nel peggior dei casi se non siamo squaletti coi 208 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken denti buoni, alla routine degli sfruttati mansueti e contenti della civiltà dei consumi […]. (GD: 50) [[…] wir forderten Reformen für die Universität und sie antworteten mit dem akademischen Autoritarismus und mit den Anzeigen des juristischen Autoritarismus, wir besetzten unsere Universitäten und der Autoritarismus des Staates antwortete mit der Polizei, wir suchten mittlerweile einige mehr als andere im Privatleben das Verständnis der Familie und wir standen dem Autoritarismus der Familie gegenüber, die die Studien bezahlt, die die Regierung sich weigert, zu finanzieren, und die es will, dass wir alle Absolventen werden, integriert in einem Vorbereitungsdienst für die Karriere als Ausbeuter oder im schlimmsten Fall, falls wir nicht Haie mit schönen Zähnen sind, für die Routine der zahmen und frohen Ausgebeuteten der Konsumgesellschaft.] Ähnlich wie es in den deutschen, französischen und italienischen Werken zu sehen ist, öffnet sich auch der spanische Roman Condenados a vivir - wenn auch nur gelegentlich und mit kurzen Erwähnungen - dem Umfeld der Tumulte in den Universitäten in Spanien im Laufe der 1960er-Jahre. In jenen kurzen Passagen wird die Unzufriedenheit der Studenten mit der von ihnen an der Universität Barcelona erlebten Realität deutlich. Pedro Ventura ist derjenige, der sich mehr für die Studentenbewegung auf der theoretischen und intellektuellen Ebene interessiert und sogar einen Aufsatz über die Jugendrevolte an den spanischen und ausländischen Universitäten schreibt (vgl. CV, Band II: 341). Er erwähnt, dass die große Anzahl von Studenten, der Abstand der Studieninhalte zu den Themen und dem Tagesgeschehen des zeitgenössischen Spaniens, die veralteten Prüfungsformen, die Anstellung auf Lebenszeit von Professoren (besonders regimetreuen), die elitäre Ausbildung vor allem für Kinder der oberen Mittel- und Oberschicht, die Hauptfehler eines Hochschulsystems sind, das einer dringenden Veränderung bedarf (vgl. ebd.: 209). Wie zu merken ist, sind viele von diesen Problemen ähnlich denjenigen, mit denen die Studenten von Heißer Sommer und Derrière la vitre täglich in der Bundesrepublik und in Nanterre umgehen müssen. Es sind Probleme, die die jungen Figuren dieser Romane anprangern, um die Realität zu verändern (siehe Kapitel 3.2.1). Trotz des Risikos, seitens der akademischen und politischen Macht Repressalien wie den zeitweiligen Verlust des Studentenstatus oder Verhaftungen zu erleiden, nehmen hauptsächlich die jungen Männer des Romans, u. a. Pedro, Sergio Amades, Andrés Puig und Marcos Subirachs mehr oder weniger engagiert an den Streiks und an den verbotenen Versammlungen oder Fakultätsbesetzungen teil. Dabei versuchen sie, die Kontrolle des Franco-Regimes in den Universitäten in Frage zu stellen. Viele Studenten des Romans sehen die Universitäten als privilegierte Bühnen für die Diskussion von umstrittenen Themen (wie den 209 3.2 Politischer Aktivismus 17 Lenz und der portugiesische Roman Sem Tecto, entre Ruínas sind die einzigen Werke ohne Hinweise in der Handlung auf die Proteste der Studenten gegen die Medien oder ihren Kampf für Meinungs- und Pressefreiheit. Vietnamkrieg oder die kubanische Revolution) an, für den Protest gegen die von der Diktatur verlangten Einschränkungen der Freiheit und für den Austausch von Ideen über die Autoritäten, mit denen sie aufgewachsen sind, nämlich den Staat, die Professoren, die Eltern oder die Kirche (vgl. CV, Band II: 50). Obwohl sie nicht frei demonstrieren dürfen, empfinden die jungen Protestler von Con‐ denados a vivir ihre Universitätserfahrung als eine Erfahrung des Widerstands, durch die der Traum vom Ende des faschistischen Spaniens verstärkt wird. Ein Beleg dafür sind folgenden Worte Pedros - als er in die Universität eintritt, nimmt er wahr, wie Freiheit nicht nur in der akademischen Welt, sondern auch in der Gesellschaft allgemein fehlt und äußert sich: Había que tener libertad para leer cualquier libro, y en España muchos estaban prohibidos. […] Libertad para garrapatear protestas en las paredes, para el amor, para marcharse adonde uno creyera que podía desarrollar su personalidad. (CV, Band II: 53) [Es sollte Freiheit geben, jedes Buch zu lesen, und in Spanien waren viele verboten. […] Freiheit, um Protestparolen an die Wände zu schreiben, für die Liebe, dahin zu gehen, wo man glaubte, seine Persönlichkeit entwickeln zu können.] Aus der Sichtweise von Pedro und vielen anderen politisch engagierten jungen Figuren aus dem spanischen Roman sollte man diesen soziopolitischen Zustand ändern und jede einzelne der Figuren versucht, auf ihre eigene Art und Weise dazu beizutragen. 3.2.2 Für die Meinungs- und Pressefreiheit Wie schon erwähnt wurde, gewinnt der Protest der jungen Generation in den unterschiedlichen Texten eine soziopolitische Dimension, da diese Generation sich auch der nationalen und internationalen außeruniversitären Realität öffnet. In diesem Zusammenhang zeigt sich die Kritik der Studenten an der Presse, und besonders an der parteiischen Form, in der sie über die studentischen Unruhen berichtet - nämlich in der Perspektive des Establishments und üblicherweise die Aktivisten verurteilend - als ein gemeinsames Merkmal der verschiedenen Werke. 17 Im Fall von Heißer Sommer verstecken Ullrich und seine Kommilitonen ihre Empörung über die Springerpresse nicht. Sie sind davon überzeugt, dass die Art und Weise, wie dieses große Verlagshaus die studentischen Proteste 210 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken 18 »Enteignet Springer« oder »Haut dem Springer auf die Finger« waren tatsächlich zwei Parolen, die von den Studenten des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) und anderen Studentenorganisationen im Rahmen der Kampagne gegen die Publikationsorgane des Springer-Verlags während der 1968er-Studentenbewegung ver‐ wendet wurden. Aus der Sicht der Studenten der Zeit repräsentierte der Springer-Verlag und ihre Publikationen - insbesondere die Bild-Zeitung - eine Bedrohung für die Demokratie der Bundesrepublik (vgl. Sung Jung, 2016: 162) und viele jungen Menschen demonstrierten in Städten wie Hamburg, Berlin oder München vor den Niederlas‐ sungen dieses Zeitungskonzerns. Zu mehr Informationen über die Gründe der Proteste und über die Aktionen der Studenten gegen die Springer-Presse siehe Kapitel 1.2. in den Medien bearbeitet und dabei eine Diffamierungskampagne gegen die Studenten führt, direkt mit dem Mordversuch an dem Studentenführer des SDS, Rudi Dutschke, im April 1968 verbunden ist (vgl. HS: 210). Aus diesem Grund entscheiden sie sich, eine Demonstration in Hamburg vor dem Haus der Sprin‐ gerpresse zu organisieren, um deren Sensationsjournalismus und Voreingenom‐ menheit besonders in der meist gelesenen Zeitung dieses Verlagshauses, der Bild-Zeitung, anzuprangern (vgl. ebd.: 210). Unter der Parole »Haut dem Springer auf die Finger« (ebd.: 216; Hervorhebung im Original) 18 marschieren Ullrich, Conny, Petersen und die anderen Aktivisten des SDS der Universität Hamburg zusammen durch die Straßen, errichten Barrikaden, die den Lastwagen mit der Bild-Zeitung den Weg versperren, und singen revolutionäre Hymnen wie die Internationale, beseelt vom Glauben an die Macht der Straßendemonstration, Veränderungen zu erzielen. Das findet Widerhall in Ullrichs Worten: »Etwas ist anders geworden, denkt Ullrich, etwas ist neu. Etwas, das alle betrifft« (HS: 217). Die Freude des Protagonisten angesichts des Kameradschaftsgeistes, den er in dieser Protestaktion beobachtet, ist deutlich. Diese Demonstration ist eine der größten im Verlauf der Handlung von Heißer Sommer und die eindrücklichste in Bezug auf die Einigkeit der Studenten bei zwei Zielen: dem Appell für die Meinungsfreiheit in der Presse und dem Kampf gegen die Manipulation der Information durch die Medien. Die studentische Empörung über die Presse ist wie im deutschen Roman auch in I giorni del dissenso spürbar, besonders bei den Protesten der Studenten gegen Corriere della Sera, eine Zeitung, die von ihnen als Propagandaorgan eines starren, bürgerlich konservativen Systems betrachtet wurde, das umgestürzt werden sollte. Wie auch in Heißer Sommer - und anhand der Berichte des Protagonisten-Erzählers - versammeln sich und protestieren die Mailänder Studenten vor dem Sitz der Corriere della Sera, pfeifen laut, stimmen Gesänge an und werfen sogar Steine, die die Schaufenster des Gebäudes zerbrechen (vgl. GD: 36 f.). Diese Protestaktion der jungen Menschen wird von dem Protagonisten selbst, einem vierzigjährigen Schriftsteller, unterstützt. Auch er zeigt sich 211 3.2 Politischer Aktivismus kritisch gegenüber dieser Zeitung und ihren verzerrenden Nachrichten über die Studentenbewegung. Das Verhalten der Presse ist auch Ziel der Kritik in Derrière la vitre. Ein besonders deutliches Beispiel für die Verurteilung einer Presse, die den Stu‐ denten parteiisch und dem gaullistischen Regime verpflichtet zu sein scheint, zeigt sich am Ende des Romans während der Besetzung des Sitzungssaals des Professorenrates. Dort meldet sich jeder Student, um Vorschläge für neue Protestaktionen zu machen oder um die Zeichen des vorherrschenden Autoritarismus und der Unterdrückung innerhalb und außerhalb des Campus anzuprangern. Der junge Anarchist David Schultz beschreibt in seiner Rede die Presse als versumpft (vgl. DV: 477). Er erinnert daran, dass, als die männlichen Studenten von Nanterre 1967 in das Studentinnenwohnheim eingebrochen sind, um gegen die Geschlechtertrennung in der Universität zu protestieren, die Presse die Beweggründe der Studenten verfälschte und behauptete, sie hätten die Studentinnen entjungfern wollen (vgl. ebd.). Auch wenn nur vereinzelt, gibt es ebenso in Condenados a vivir Hinweise auf den Protest der Studenten gegen die Presse. Die Gruppe »incendiários de periódicos« (CV, Band II: 208) [Brandstifter von Zeitungen], zu der der Student Marcos Subirachs gehört, organisiert eine Zeitungsverbrennung, die über die akademischen Mauern hinausgeht und sich durch die Straßen von Barcelona verbreitet. Die Mitglieder dieser revolutionären Gruppe wollen mit dieser Aktion die Art und Weise anklagen, in der über die Studentenproteste berichtet wird, nämlich tendenziös und pro-Franco (vgl. ebd.: 209). Ähnlich wie die jungen Figuren des französischen Romans lehnen die spanischen Studenten das Bild des Vandalismus ab, das die Presse von ihnen verbreitet, und versuchen, die katalanische Öffentlichkeit auf ihren Kampf für Freiheit und Veränderung des Regimes aufmerksam zu machen. 3.2.3 Für den Arbeiterkampf Im Kontext des Kampfes gegen das Establishment und des Aktivismus, mit dem die junge Generation die Gesellschaft verändern will, gibt es noch einen weiteren gemeinsamen Berührungspunkt, der das engagierte Verhalten vieler junger Figuren der verschiedenen Werke kennzeichnet. Mal gemäßigter, mal radikaler glauben diejenigen von ihnen, die den linken Idealen folgen, an die Revolution. Und es ist dieser Glaube, der sie motiviert, sich für den Kampf gegen soziale Ungerechtigkeiten einzusetzen und besonders sich auch den Protestaktionen der Arbeiter anzuschließen, was im Folgenden gezeigt wird. 212 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken 19 Das Kursbuch Vermutungen über die Revolution war tatsächlich ein Band der bekannten Kulturzeitschrift, der 1967 als Band 9 mit dem Titel Vermutungen über die Revolu‐ tion. Kontroversen über den Protest veröffentlicht wurde. Dieser Band, der von Hans Magnus Enzensberger herausgegeben wurde, enthält Beiträge von unterschiedlichen Intellektuellen und Schriftstellern, die über die zeitgenössischen Probleme der Welt und besonders über die Gründe und Wirkungen der Studentenbewegung (in der Bundesrepublik und auf der internationalen Ebene) sowie über die Rolle der jungen Generation in den Protestaktionen nachdenken. Herbert Marcuse, Joachim Schickel, Noam Chomsky, Martin Walser und Uwe Johnson sind einige der Autoren, die zu diesem Band mit Aufsätzen, Artikeln oder Interviews beigetragen haben. Für mehr Informationen über die Kulturzeitschrift Kursbuch und seinen Herausgeber siehe Fn. 13 im Kapitel 2.1.1. 20 Diese Idee von einer Utopie vom Wandel scheint eine Paraphrasierung eines Mar‐ cuse-Zitates zu sein, der im Text »Bemerkungen zu einer Neubestimmung der Kultur« (1965) über die Möglichkeit des Schaffens einer »Welt des Friedens, […] ohne Ausbeu‐ tung, Elend und Angst« (Marcuse, 1984: 123) schrieb. In Heißer Sommer kommen auch In Heißer Sommer wollen Ullrich und seine Genossen zur Errichtung einer neuen soziopolitischen und ökonomischen Ordnung beitragen. Ihr Leitfaden ist das SDS-Programm, das sich dem »Befreiungskampf« (HS: 142) verpflichtet fühlt. Dieses Programm verlangt nicht nur die Demokratisierung der Hoch‐ schulen (siehe Kapitel 3.2.1), sondern auch eine freiere, gerechtere und gleich‐ berechtigtere Bundesrepublik für alle. In den ersten Monaten an der Universität Hamburg, in denen Ullrich regelmäßig die Treffen des SDS besucht, lässt sich der Protagonist von den Reden Connys und Petersens faszinieren. Diese zwei Studentenführer des Studentenbundes sind die, die die wichtigste Rolle bei seiner zunehmenden Politisierung spielen. Die Perspektiven und Strategien der beiden sind verschieden. Conny ist der Pragmatiker, Anhänger von Ak‐ tionen, die Eindruck in der Öffentlichkeit machen, und schreckt auch nicht vor Gewaltanwendung zurück (vgl. HS: 196). Petersen ist dagegen idealistischer, theorieorientiert und für die allmähliche Horizonterweiterung der Studenten im Hinblick auf die linken Ideale. Aber beide beeinflussen Ullrich und stärken seinen Glauben an die Revolution mit einer sozialistischen Ausrichtung, indem sie den Protagonisten überzeugen, an den Protestaktionen der Studentenbewe‐ gung teilzunehmen. Durch Petersen motiviert, beginnt Ullrich auch mit der Lektüre des Kursbuchs Vermutungen über die Revolution (vgl. ebd.: 152). 19 Diese Lektüre und der Vorschlag Herbert Marcuses für einen soziopolitischen Wandel (vgl. ebd.: 141) bringen Ullrich dazu, über die Notwendigkeit jener Revolution nachzudenken, wie auch über die Wege des studentischen Kampfes. Am Ende des Buches erinnert sich der Protagonist an die Rede von Petersen: »Es gibt ein realisierbares Glück für alle: Eine befriedete Welt, eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung« (HS: 339; Hervorhebung im Original). 20 213 3.2 Politischer Aktivismus andere Marcuse-Zitate vor, die überwiegend aus diesem Text stammen (vgl. z. B. HS: 141-144). 21 Nach Martin Hubert haben diese Worte Walters einen entscheidenden Einfluss auf Ullrich, indem sie nicht nur zu der Neuausrichtung seines politischen Denkens (in Richtung Kommunismus und konzentriert auf die Lage der Arbeiterschaft), sondern auch zu seiner persönlichen Veränderung beitragen: Der Protagonist gewinnt den Enthusiasmus hinsichtlich der Utopie vom Wandel zurück (vgl. Hubert, 1992: 337). 22 Die Tatsache, dass die meisten Arbeiter nur die Bild-Zeitung oder Morgenpost (vgl. HS: 292) lesen und im Dialekt miteinander sprechen (vgl. ebd.: 300), ist ein Beleg für das niedrige Bildungsniveau großer Teile der Belegschaft in dieser Fabrik. Im dritten Teil des Romans, als Ullrichs Begeisterung sowohl für die Proteste an den Universitäten als auch für die zu theoretische und wenig praxisbezogene Arbeit in den Diskussionsgruppen der Studenten abnimmt (vgl. ebd.: 244), macht Ullrich neue Erfahrungen, die seinem politischen Aktivismus eine neue Richtung geben, nämlich die des Wandels der Gesellschaft durch Aktionen, die auf die Arbeiterschaft fokussiert sind. In dieser Phase inspirieren ihn die Worte Walters, eines Fabrikarbeiters ohne Bildung, den er auf einer Demonstration kennenlernt und der ihn auf die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit von Studenten und Arbeitern aufmerksam macht: »Wir müssen zusammenarbeiten, Arbeiter und Studenten, sonst ward dat nix« (ebd.: 263). 21 Nach dem geschei‐ terten Versuch, ein Stück gegen das kapitalistische System für ein Straßen‐ theater zu schreiben und zu inszenieren (bei dem die Mehrheit der Zuschauer aus der Arbeiterschaft mit Gleichgültigkeit reagiert hat), beschließt Ullrich, einen ähnlichen Weg zu gehen wie sein Freund und ehemaliger Anführer des SDS Petersen, der jetzt in einer Fabrik arbeitet, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und versucht auch, das Zusammenwirken von Arbeitern und Studenten zu verstärken. So beginnt Ullrich in einer metallverarbeitenden Fabrik zu arbeiten, wo er in der Realität der Arbeiterschaft ankommt. Diese Welt ist geprägt von Schwierigkeiten und widrigen Umständen, mit denen er zurechtkommen muss, und zwar die anstrengenden Arbeitsstunden, die niedrigen Löhne oder die mangelnde Schulbildung der Arbeiter. 22 Dazu kommen Missverständnisse in der Interaktion mit den Arbeitern, die Ullrich nicht in ihren Kreis aufnehmen und dadurch seine Hoffnung auf Dialog über den gemein‐ samen Kampf zwischen Arbeitern und Studenten gegen den Kapitalismus bitter enttäuschen. Die einzige Ausnahme in dieser harten Arbeitsatmosphäre ist Roland, ein Metallarbeiter und Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) und der Betriebsgruppe, in der die Texte von Marx gelesen und Themen wie die Studenten- und Arbeiterbewegung diskutiert werden. Durch Roland lernt Ullrich die alltäglichen Schwierigkeiten der Arbeiter kennen. Er ist es, der sowohl seinem privaten Leben als auch seiner politischen Tätigkeit eine neue 214 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken Zielsetzung gibt (vgl. ebd.: 317), und zwar Lehrer zu werden und Arbeiterkindern zu helfen, Zugang zu besserer Erziehung und zu besseren Lebensbedingungen zu erhalten. Mit dieser Entscheidung ist Ullrich sich sicher, dass er im Einklang mit seiner utopischen Vision des Wandels der Gesellschaft handeln kann, indem er sich für die Konkretisierung der Reformideen der Studentenbewegung einsetzt und damit seinen Beitrag für eine bessere Welt für alle im Sinne Marcuses leisten kann (vgl. ebd.: 339). Diese Wahrnehmung der sozialen Ungerechtigkeiten, besonders jener, die die Arbeiterschaft in der Bundesrepublik am Ende der 1960er-Jahre erlebt, und das Nachdenken über die linken Ideale und deren reale Auswirkung auf die Veränderung der Gesellschaftsordnung sind zwei Aspekte, die nicht nur für Ullrich in Heißer Sommer, sondern auch für den Protagonisten in Lenz von Peter Schneider und dessen widerständigen Charakter kennzeichnend sind. Im Unterschied zu Ullrich taucht Lenz jedoch als eine Figur auf, die vom politischen Aktivismus der jungen Generation weniger begeistert, sondern eher nachdenk‐ licher ist. Das ist ein Ergebnis seiner ständigen Unsicherheiten über seine Rolle in der Gesellschaft und über den Weg für soziopolitische Änderungen, nach denen er sich auf der Höhe der 1968er-Studentenrevolte als studentischer Aktivist gesehnt hatte. Nach dem Scheitern seines Annäherungsversuches an die Arbeiterschaft in einer Fabrik in Westberlin, wo er als Angestellter die Arbeits- und Lebensumstände der Arbeiter besser kennenlernen wollte, und der Enttäuschung in den Sitzungen der Betriebsgruppen, wo die Diskussion der Studenten und der Arbeiter über die marxistischen Texte von Marx und Mao Tse-tung keine praktische Auswirkung fand (siehe Kapitel 2.1.3), findet Lenz erst in Trient wieder zu den linken Idealen des Gesellschaftswandels. Anders als in der Bundesrepublik, wo sich die Demonstrationen selten auf die Fragen der Ar‐ beiter konzentrierten, organisieren die italienischen Studenten Protestaktionen an der Seite von Arbeitern und solidarisieren sich mit deren Kampf gegen den Autoritarismus der Fabrikbesitzer, was den Protagonisten fasziniert und was ihm den Glauben an die politische Aktion zurückbringt. Außerdem hat Lenz in Trient die Gelegenheit, mit Roberto zusammenzuleben, einem kommunisti‐ schen Arbeiter und Gewerkschaftsführer, der vom italienischen Staat wegen Rebellion angeklagt ist und gegen den mehrere Gerichtsverfahren anhängig sind (vgl. L: 108). Der Italiener zeigt den Protagonisten die Widerstandskraft der Arbeiter und ihre Entschiedenheit, ein besseres Leben zu erreichen. Trotz des Misstrauens von Roberto gegenüber den Studenten und ihren Vorschlägen für einen gemeinsamen Kampf mit den Arbeitern, scheint die Erfahrung in Trient Lenz wieder zum Aktivismus zu ermuntern. Darauf deutet zumindest die Antwort hin, die er seinem Freund B. am Ende des Romans gibt, als dieser 215 3.2 Politischer Aktivismus 23 Wie auch Anne Wattel feststellt, dient die Vorstellung der an verschiedenen linken Tendenzen orientierten Studentengruppen Merle dazu, die ideologische Heterogenität im akademischen Umfeld von Nanterre im Jahr 1968 darzustellen (vgl. Wattel, 2015: 74 f.). 24 In einer dieser Unterhaltungen mit Denise gesteht Jaumet: »Nous [les étudiants communistes; IG] […] on ne peut pas permettre de se conduire à Nanterre comme des potaches qui montent un canular au Proto« (DV: 181). [»Weißt du, Denise, da können wir [die kommunistischen Studenten; IG] uns nicht erlauben, uns in Nanterre aufzuführen wie Pennäler, die ihrem Pauker einen Streich spielen« (Hinter Glas, 1974: 134).] ihn fragt, was er in der Bundesrepublik fortan machen wird: »Dableiben« (ebd.: 112). Ohne es zu konkretisieren, gibt der Protagonist zu verstehen, dass die gemachten Erfahrungen und der von ihm erlebte Reflexionsprozess ihn persönlich und politisch glauben lassen, dass es möglich ist, eine praktische Umsetzung für die Utopie vom Wandel, die auch ihn bewegt, zu finden. In Derrière la vitre gibt es mehrere junge Figuren, die in ihrem Eifer, die Welt zu verändern, soziale Ungerechtigkeit bekämpfen wollen, und dies anhand der Ideen der Linken. Es ist aber festzustellen, dass unter den engagiertesten Studenten der Revolte - denjenigen, die bei der Besetzung des Verwaltungs‐ turms und des Sitzungssaals des Professorenrates dabei sind - die linken Ausrichtungen und die Strategien der politischen Aktion nicht einheitlich sind. Romanfiguren wie Jaumet und Denise Fargeot, Daniel Cohn-Bendit oder David Schultz gehören marxistischen, anarchistischen, marxistisch-leninistischen, trotzkistischen oder maoistischen Gruppierungen an, was die Darstellung einer ideologischen Heterogenität auf dem Campus von Nanterre im Jahre 1968 belegt. Diese Studenten haben verschiedene Vorstellungen darüber, wie sie ihre gemeinsamen Ziele umsetzen können, und zwar wie sie die gaullistische Repression bekämpfen (vgl. DV: 471) und zu einer demokratischeren und gleichberechtigteren Gesellschaft beitragen können. 23 Indem sie der traditionellen Linie der Kommunistischen Partei Frankreichs folgen, sind die Studenten Jaumet und Denise Fargeot, Mitglieder der Union des Étudiants Communistes (UEC) [Vereinigung der kommunistischen Studenten], skeptisch, was die Protestformen der radikalen Studenten anbelangt. Sie kriti‐ sieren diejenigen als amateurhaft, unreif und demagogisch, die in der Besetzung universitärer Gebäude wirksame Aktionen im Kampf gegen das System sehen (vgl. ebd.: 391). 24 Die Position des Studentenführers Cohn-Bendit wird ebenfalls als behutsam im Roman dargestellt. Berühmt und bewundert wegen seiner Spontaneität, seines Wagemuts und seiner Beredsamkeit, zeigt sich Dany, wie er von den engsten Kommilitonen in Nanterre in Derrière la vitre genannt wird, zurückhaltend, als die Mehrheit der radikalen Studenten den Verwaltungsturm 216 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken 25 Auch nach Ingrid Eichelberg wird Daniel Cohn-Bendit als weniger dogmatisch als seine revolutionären Kommilitonen in Derrière la vitre dargestellt (vgl. Eichelberg, 1987: 34). Ich folge ihrer Auffassung, dass dieses Porträt des Studentenführers nicht nur der Art und Weise entspricht, wie Daniel Cohn-Bendit von der damaligen Presse beschrieben wurde, sondern auch Merles Ziel erfüllt, eine heterogene und kontrastreiche Inszenie‐ rung der 1968er-Studenbewegung in Nanterre zu schaffen (vgl. ebd.: 35). stürmen will. Er lehnt das Abenteuertum im Aktivismus der Studenten ab (vgl. ebd.: 388 f.) und bevorzugt ein eher durchdachtes und koordiniertes politisches Vorgehen. 25 Der junge Anarchist David Schultz verteidigt seinerseits die Ansicht, dass man im Kampf gegen soziale Ungerechtigkeiten pragmatisch sein und konkret handeln müsse - auch auf eine radikale Weise, wenn es sein soll. Er selbst ist Sohn eines Chirurgen und finanziert durch seine Eltern, aber David hat durch die Erzählungen von Abdelaziz, einem jungen Algerier, Bauarbeiter und Bewohner einer Bidonville in der Nähe des Campus, Zugang zu einer sozialen Wirklichkeit, die seiner eigenen entgegengesetzt ist. Das ist die tägliche Ausbeutung der illegalen Arbeitsmigranten, die ohne Rechte, ohne Bildung oder soziale Absicherung in Frankreich um ihr Überleben kämpfen (siehe Kapitel 2.2.3). David verpflichtet sich gemäß den revolutionären Prinzipien, die er aus den Schriften von Marx, Marcuse oder Althusser kennt, genauso wie auch seine Freundin Brigitte, Abdelaziz zu helfen, seine Prüfung für einen Berufsabschluss zu bestehen (vgl. DV: 373). Dies steht im Einklang mit ihrem Glauben an die Fähigkeit der Studenten, sich mit der Arbeiterschaft zusammenzuschließen und zur soziopolitischen Revolte beizutragen (vgl. ebd.: 226 f.). Auch in I giorni del dissenso findet sich der Wille der Studenten, sich mit den Arbeitern zu verbünden und sich mit ihren Beweggründen zu solidarisieren, besonders ab dem Moment, in dem die Studentenbewegung die Universitäts‐ räume verlässt und Tag für Tag in den Straßen Mailands anwächst. Auf den ersten Demonstrationen, die der Protagonist beobachtet, sind die Ziele der Studentenproteste noch sehr auf die Veränderung des Universitätssystems be‐ schränkt (siehe Kapitel 2.3.3). Das enttäuscht gewissermaßen den Protagonisten, der hoffte, dass die studentischen Aktivisten der neuen linken Gruppen der Arbeiterbewegung neuen Schwung bringen würden (vgl. GD: 25). In einer seiner Überlegungen, indem er hypothetische Vorschläge an die Studenten macht, liest man: […] il contatto con la classe operaia […] è sacrosanto lo devono cercare tramite le scuole serali che sono frequentate da giovani che di giorno sono in fabbrica e in fabbrica possono riferire e svegliare e che andrebbero preparati volantini che 217 3.2 Politischer Aktivismus spieghino succintamente l’identità di certi obiettivi studenteschi e operai contro le strutture autoritarie e asserventi al sistema […]. (GD: 27 f.) [[…] Der Kontakt mit der Arbeiterklasse ist sakrosankt sie müssen ihn durch Abend‐ schulen suchen, die von den jungen Menschen besucht werden, die tagsüber in der Fabrik sind, und in den Fabriken können sie sie informieren und sie aufwecken und es sollten Flugblätter vorbereitet werden, die knapp die Eigenart bestimmter Ziele der Studenten und der Arbeiter gegen die autoritären und unterwerfenden Strukturen des Systems verdeutlichen […].] Seit seiner Jugend, als er Mitglied der Kommunistischen Partei war, wünscht sich der Protagonist, dass sich die Studenten mit den Arbeitern verbünden. Er möchte, dass sie ihre Kenntnisse und Fähigkeiten zum Engagement in den Dienst der Arbeiter stellen, die oft weniger gebildet und mehr den traditionellen Formen des Kampfes (wie den Gewerkschaftsaktionen oder Demonstrationen mit sich immer wiederholenden Reden) verhaftet sind. Aus diesem Grund freuen sich der Protagonist und seine Altersgenossen, die Studenten und die Arbeiter in den Universitäten und in den Fabriken, gemeinsam zu sehen, wie sie zusammen wirksame Veränderungen fordern. Dies wird im zweiten Teil des »racconto-diario« (Borghello, 1982: 127) deutlich, der sich besonders auf die eher soziopolitischen Protestaktionen der Studenten konzentriert (siehe Kapitel 2.3.3). Besonders bei der Demonstration des 1. Mai, die Junge und Alte versammelt, singen Studenten und Arbeiter (gemeinsam mit dem Protagonisten, Florenzio und den anderen Genossen) zusammen und skandieren Mottos wie »Contro il governo studenti e operai« (GD: 120) [Studenten und Arbeiter vereint gegen die Regierung]. Für den Protagonisten bedeutet die Vereinigung der zwei Protestgruppen in dieser Demonstration ein Signal von Hoffnung für die Erneuerung der italienischen Gesellschaft. Diese Erneuerung wird von der kreativen Kraft der jungen Generation angetrieben, die dynamischer und anscheinend fähiger ist, die linke Revolution zu verwirklichen, worauf er seit Jahren wartet. In den Romanen der iberischen Halbinsel macht sich die Utopie einer grundle‐ genden gesellschaftlichen Erneuerung auch und besonders durch die Opposition gegen die Diktatur bemerkbar. So wie in den deutschen, französischen und italienischen Werken sind es auch hier die jungen Figuren, die eine Neigung zeigen, um durch die linken politisch-ideologischen Richtlinien die Revolution zu vollenden und zum Einsturz der Regime Francos und Salazars beizutragen. Aber Condenados a vivir und Sem Tecto, entre Ruínas stellen eine Atmosphäre der Repression dar, in der es für die jungen Spanier und Portugiesen beider Romane schwieriger ist, politische Aktionen gegen die Diktatur zu organisieren oder an ihnen öffentlich teilzunehmen. So sind die Aktionen, die in diesen Romanen 218 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken 26 Durch das Verfassen von reportageartigen Artikeln für eine Zeitschrift, in denen Pedro Probleme wie Jugendkriminalität, fehlende Schulen, Prostitution, die Schwierigkeit der armen Menschen, sich in die Gesellschaft zu integrieren, oder die Arbeitslosigkeit der Arbeiterschaft thematisiert, versucht er, die sozialen Ungerechtigkeiten und die Probleme des Regimes anzuprangern. Laureano hingegen offenbart seine Rebellion vor allem durch Rock’n’Roll und durch die subversiven Texte seiner Lieder, ohne dass er jedoch mit dem Modischen bricht. Sergio seinerseits vertritt eine pragmatischere Linie vom Aktivismus, um seine utopischen Ideen vom Wandel zu verwirklichen. Dies führt ihn dazu, während seiner Studienzeit, unzählige Protestaktionen gegen das Regime zu organisieren und an vielen anderen teilzunehmen. auftauchen, verdeckter als jene, die in Heißer Sommer, Lenz, Derrière la vitre und I giorni del dissenso passieren. Der Widerstand dieser jungen Figuren zeigt sich eher durch die geheimen Lektüren und Diskussionen von revolutionären Texten der kommunistischen, sozialistischen oder marxistisch-leninistischen Ideologen, durch die heimliche Mitgliedschaft in linken Organisationen oder durch das anonyme Verfassen von Flugblättern und das Verteilen von opposi‐ tionellem Material. Sergio Amades aus der Kindergeneration in Condenados a vivir ist der politischste Student der Gruppe, der diesen engagierten politischen Aktivismus mit dem klaren Ziel der Veränderung der Gesellschaft betreibt. Anders als Pedro Ventura oder Laureano Vega (und die anderen Mitglieder der jungen Generation im Roman), 26 die er bloß als Papageien der im studentischen Milieu verbreiteten Ideen der Revolte ansieht (vgl. CV, Band II: 95), verteidigt Sergio konkrete Aktionen. Das sind Aktionen orientiert an marxistischen Prinzipien, die in seiner Sicht der Ausgangspunkt für die Schaffung einer brüderlicheren und gerechteren Gesellschaft sind. Nach dem Abschluss des Jurastudiums und nach einer mehrmonatigen Reise durch Europa entscheidet er sich, durch Filmarbeit seine politischen Aktionen in Vollzeit auszuführen. Er wird Regisseur und dreht Dokumentarfilme, in denen er sich bemüht, die Wirklichkeit ungefiltert abzubilden, um das Gewissen der Menschen zu erschüttern (vgl. ebd.: 94). Deshalb widmet er sich einem Dokumentarfilm über das »schwarze« Spanien (vgl. ebd.: 268), einem Film, der die Gräueltaten der Nationalisten während des Bürgerkrieges zeigt, was im Roman als ein Tabuthema im Spanien Francos auftaucht. Er will die Aufmerksamkeit der Menschen auf verschiedene Fragen lenken, nämlich auf das Fehlen jeglicher Auseinandersetzung mit der Vergan‐ genheit, auf die Treue der Mehrheit der Spanier zu den nationalkatholischen Werten, die seiner Meinung nach konservativ sind und den Fortschritt hemmen, und auf das ökonomische und intellektuelle Elend, das weiterhin allgemein im Lande herrscht. Während der Dreharbeiten zu diesem Film kontaktiert er Untergrundkämpfer der Kommunistischen Partei und andere Personen, die vom 219 3.2 Politischer Aktivismus 27 Jo-o Gilberto genauso wie Guilhermina, Bruno oder Ernesto, der Freundeskreis des Protagonisten aus den Studienzeiten, waren alle in der Jugend aktiv im Widerstand und verfolgten die Utopie der Freiheit. Manche wurden sogar für subversive Aktivitäten wie das Verteilen von Flugblättern oder die Teilnahme am Movimento de Unidade Democ‐ rática (MUD) [Bewegung der Demokratischen Einheit] verhaftet. Diese revolutionäre Jugendbewegung hatte als Hauptziel den Sturz des Salazar-Regimes und die Entstehung der Demokratie (siehe Kapitel 2.5.3). Franco-Regime ausgegrenzt werden, und seine Überzeugung verstärkt sich, dass ein Aufstand gegen die Diktatur nur durch das Zusammengehen von Studenten und Arbeitern möglich werden kann. Kurz nach der Premiere des Filmes in Paris wird Sergio festgenommen und nach Spanien ausgeliefert, aber er hält trotzdem an der Utopie vom Wandel fest. Im Gefängnis führt er die politische Bewusstseinsbildung fort, die seiner Meinung nach dazu beitragen wird, gegen die politische Ignoranz zu kämpfen und das Ende des Franco-Regimes zu erreichen. In Sem Tecto, entre Ruínas tritt die engagierteste Form von Aktivismus in Erscheinung durch den jungen Miguel, dessen Aktivismus auf den Idealen des revolutionären linken Gedankengutes basiert. Das stellt auch Jo-o Gilberto, der vierzigjährige Protagonist des Romans, fest, der sich von dem Nonkonfor‐ mismus und der Entschlossenheit von Miguel bei dem Ausdrücken seiner ideologischen Überzeugungen beeindruckt zeigt. 27 Der Protagonist bewundert den jungen Idealisten für seinen Kampfeswillen, die Utopie zu realisieren, die ihn selbst in seiner Jugend bewegte und die er aber im Verlauf der Jahre verlor. Beim ersten Treffen der beiden in einem Café in Lissabon sieht sich Miguel mit den Zweifeln Jo-o Gilbertos in Bezug auf den revolutionären Weg der Jüngeren konfrontiert. Er weist die Argumente des Älteren direkt zurück und kritisiert mit Verachtung den Pseudosozialismus der Elterngeneration und ihre lasche und eigennützige Opposition: […] «Estou a pensar em Portugal. A queda imediata do Salazar só teria uma vantagem, mostrar que a maior parte dos que se dizem de esquerda n-o o s-o. […] Porque no fundo todos esses oposicionistas n-o s-o contra a opress-o, contra toda ela. S-o partidários de uma opress-o mais inteligente que dê aos homens a ilus-o de que s-o livres, de que escolhem os governantes, de que escolhem o tipo de sociedade em que querem viver. E esses oposicionistas que pretendem? O assalto à máquina do estado, servir-se da máquina do estado…» […]. (STER: 88 f.) [[…] »Ich denke an Portugal. Der sofortige Sturz von Salazar hätte nur einen Vorteil, zu zeigen, dass die Mehrheit der Menschen, die sagen, sie seien Linke, keine sind. […] Denn im Grunde sind alle diese Oppositionellen nicht gegen die Unterdrückung, nicht völlig gegen sie. Sie hängen einer intelligenteren Unterdrückung an, die den 220 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken Menschen die Illusion lässt, sie seien frei, dass sie die Herrschenden wählen würden, dass sie die Art der Gesellschaft wählen, in der sie leben wollen. Was haben diese Oppositionellen vor? Auf die Staatsmaschine aufzuspringen, sich der Staatsmaschine zu bedienen …« […].] Miguel verteidigt die radikale Revolution durch den Kommunismus, er glaubt nicht an politische Parteien, sondern an eine Gesellschaft, in der die Menschen wirklich frei sind, anstatt der Illusion anzuhängen, frei zu sein (vgl. ebd.: 88). Aus diesem Grund befürwortet er die Abschaffung des Kapitalismus. Für ihn ist ein vorhersehbarer Übergang von dem sterbenden Regime Salazars zu einer bürgerlichen Demokratie keine Lösung für Portugal. Maria da Graça, die Freundin Miguels, ist in ihrer Argumentation und ihrem revolutionären Weg zurückhaltender, aber lässt sich ebenso wenig von Jo-o Gilbertos Skeptizismus entmutigen. Sie glaubt an die Rolle der 1968er-Jugend bei der Veränderung der Welt (vgl. ebd.: 90) und kritisiert in ihrer Analyse die Studentenkämpfe der Generation ihrer Eltern ( Jo-o Gilberto inbegriffen), als diese als Mitglieder des Movimento de Unidade Democrática (MUD) [Bewegung der Demokratischen Einheit] in ihrer Jugendzeit gegen das Regime kämpften (siehe Kapitel 2.5.3). Obwohl Maria da Graça an den Strategien und Formen des Kampfes der jungen Generation Zweifel hat, ist sie sich sicher in ihrem Willen, zur Verwirklichung der Utopie beizutragen (vgl. STER: 192). Aus diesem Grund widerlegt sie Jo-o Gilberto bei ihrem letzten Treffen dessen pessimistische Vision und bekräftigt ihren Glauben an die Fähigkeit der 1968er-Generation, die Gesellschaft zu verändern: — Há uma coisa […] que lhe queria dizer. Aprecio a crítica, o cepticismo activo, até como forma de sujeitar tudo a dúvida para ver se resiste, se as nossas crenças n-o esconder-o mitos inconsistentes. Mas penso também que o cepticismo tende a transformar-se num fim em si mesmo, a apaixonar-se por si mesmo, a traduzir-se em dogma de pura negaç-o. Porque acredito na possibilidade de transformar este mundo… (STER: 195) [— Es gibt noch etwas […], was ich Ihnen sagen wollte. Ich schätze die Kritik, den lebendigen Skeptizismus, auch alles in Frage zu stellen, um zu prüfen, ob es standhält, ob in unseren Glaubenssätzen nicht inkonsistente Mythen stecken. Aber ich denke auch, dass Skeptizismus am Ende zum Selbstzweck wird, sich an sich selbst berauscht, zum Dogma der totalen Negation wird. Weil ich an die Möglichkeit glaube, diese Welt zu verändern…] 221 3.2 Politischer Aktivismus 28 Das Wissmann-Denkmal war 1922 in der Nähe der Universität Hamburg zu Ehren des Kolonialhelden Hermann von Wissmann errichtet worden. Er galt als einer der bedeutendsten deutschen Kolonialherren in Afrika und war ein Symbol der deutschen Kolonialpolitik am Ende des 19. Jahrhunderts und am Anfang des 20. Jahrhunderts. Der Sturz dieses Denkmals durch die Studenten der Universität Hamburg, wie er in Heißer Sommer geschildert wird, gilt im Roman als deutliches Signal der Jugendrevolte gegen den Imperialismus der Bundesrepublik und anderer Westmächte (vgl. Cornils, 2010: 201). 29 Diese Protestaktion, an der Ullrich teilnimmt, ist Teil einer Sensibilisierungskampagne der SDS-Aktivisten, die durch zwei Strategien an das Gewissen der Hamburger appel‐ lieren soll: eine, die den Namen Konsumterror (HS: 163) trägt, zielt darauf ab, die Exzesse des Konsumismus zu Weihnachten anzuklagen; die andere richtet sich gegen den Bombenterror der US-Amerikaner in Vietnam. 3.2.4 Für die Veränderung der Welt Der Wunsch der jungen Generation nach Erneuerung der Gesellschaften, in denen sie leben, zieht sich durch alle Werke. Dasselbe geschieht mit dem weitverbreiteten Glauben an die Möglichkeit, eine bessere Welt zu gestalten. In den verschiedenen Texten zeigen die jungen Figuren, dass sie sich der globalen Probleme bewusst sind. Bei ihren Protestaktionen vergessen sie auch nicht andere von Autoritarismus und Ausbeutung beherrschte Lebenswirklichkeiten und engagieren sich im Kampf für die großen internationalen Angelegenheiten, wie die Beendigung des Vietnamkrieges, den Sturz von diktatorischen Regie‐ rungen, die Ausrottung von Kolonialismus und Rassendiskriminierung und die Befreiungsbewegungen der Länder der sogenannten Dritten Welt. In Heißer Sommer gibt es zahlreiche Protestinitiativen von Ullrich und den Aktivisten des SDS, die die Offenheit der Studentenbewegung für die internationalen Angelegenheiten zeigen. Beispiele sind die Organisation von Demonstrationen gegen Neokolonialismus und die Probleme der Gesellschaften der sogenannten Dritten Welt, die Verteilung von Flugblättern gegen die Kolonialpolitik Portugals (vgl. HS: 145 f.) oder der Sturz des Denkmals von Hermann von Wissmann, einem Kolonialhelden, als symbolischer Protest gegen die repressive und imperialistische Macht der entwickelten Länder (vgl. Cornils, 2010: 204). 28 Die Studenten in Heißer Sommer sparen beim antiimperialistischen Kampf auch nicht mit Kritik am Agieren der USA in Vietnam und entschließen sich, Weihnachten in der Mönckebergstraße, der Haupteinkaufsstraße Ham‐ burgs, zu demonstrieren, um die Bevölkerung auf die Gräueltaten der US-Ame‐ rikaner gegen das vietnamesische Volk aufmerksam zu machen. Sie tragen Papierbahnen und Schilder mit der Forderung »Schluß mit dem Bombenterror auf Vietnam! « (HS: 162; Hervorhebung im Original). 29 222 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken 30 Im Aufsatz »Déliance et reliance derrière la vitre de Robert Merle« (2015) vertritt Anne Wattel die Auffassung, dass in Derrière la vitre die Besetzung des Verwaltungsturmes und des Sitzungssaals des Professorenrates als bloß belanglose Provokation der Stu‐ denten beschrieben werde und dass das Solidaritätsprinzip, das außerhalb der Fiktion die Studenten in Nanterre zu jener Protestaktion bewegte, im Roman verschwiegen werde (vgl. Wattel, 2015: 80). Dagegen spricht, dass im Laufe des Romans, als die Gründe für die Besetzung angesprochen werden, Figuren wie Jaumet, Ménestrel oder Bouchute (unter anderen) im Gespräch die Verhaftung ihrer Kommilitonen erwähnen (vgl. DV: 160; 211 f.), und es wird ebenfalls von einem Studenten kurz vor der Besetzung des Verwaltungsturmes deutlich gemacht, dass diese Protestaktion als ein Symbol der Solidarität für den verhafteten Kollegen angesehen werden sollte (vgl. ebd: 467) - zwei Aspekte, die meines Erachtens die Relevanz der Solidarität und der Kameradschaft für die Studenten von Derrière la vitre belegen. Außerdem erwähnt Wattel, dass der Vietnamkrieg nicht in Merles Werk thematisiert werde, obwohl er ein entscheidender Beweggrund der 1968er-Bewegung war (vgl. Wattel, 2015: 80). Der Vietnamkrieg ist allerdings fortwährend ein Thema in den Diskussionen der Studenten in Derrière la vitre (vgl. DV: 469 f.), was sie dazu bringt, verschiedene Sichtweisen herauszuarbeiten und in einigen Fällen Vorschläge zur Integration dieses Themas in den Widerstandsaktionen zu machen. Der Vietnamkrieg ist in Derrière la vitre nicht nur das Thema, worauf die Aufmerksamkeit der Studenten gerichtet ist, sondern auch dasjenige, das im Roman mit dem Ursprung der Studentenrevolte verbunden ist. Aus Solidarität mit Xavier Langlade und seinen Genossen vom Vietnam-Komitee, die am 20. März 1968 wegen des Verdachts auf Vandalismus gegen die Bank American Express in Paris während einer Demonstration gegen den Krieg der USA in Vietnam verhaftet wurden, beschließen die Studenten in Derrière la vitre, den Verwaltungsturm und den Saal des Professorenrates auf dem Campus von Nanterre zu besetzen. Sie protestieren damit gegen die Repression des gaullis‐ tischen Systems (vgl. DV: 471). 30 Im Kontext des antiautoritären und antiimpe‐ rialistischen Kampfs haben die Studenten verschiedene Meinungen über dieses brennende Thema von internationaler Aktualität. Einige verfolgen die Aktionen des Führers des vietnamesischen Widerstands Ho-Chi-Minh und ohne dass sie konkrete Vorschläge für die Lösung des Konfliktes machen, diskutieren sie das Thema aus der politischen Perspektive je nach der ideologischen Ausrichtung der Gruppierung, der sie angehören. Andere sehen im Vietnamkrieg einen Beleg für das globale Hegemoniestreben der USA, indem sie weder mit Kritik am allgemeinen Schweigen der französischen Gesellschaft sparen noch an der unausgesprochenen Unterstützung der Kriegspolitik der USA durch de Gaulle. Wieder andere nehmen eine radikale Stellung ein und machen eine lokale Analyse aus diesem globalen Ereignis, sie nehmen den Vietnamkrieg nicht nur als Symbol für Tyrannei und Unterdrückung in der Welt, sondern auch für die 223 3.2 Politischer Aktivismus 31 Laut E. B. Boyd ist das Engagement der Studenten in Derrière la vitre in Bezug auf den Vietnamkrieg rein theoretisch und nicht praktisch, weil niemand an konkrete Lö‐ sungen denkt oder spezifische Aktionen vorschlägt, um diese Angelegenheit öffentlich anzuklagen (vgl. Boyd, 1975: 164 f.). Wie in der vorigen Fußnote analysiert, deuten die von den jungen Aktivisten zu diesem Thema gemachten Vorschläge jedoch auf einen Widerstand mit einer praktischen und nicht rein theoretischen Dimension hin. Wirklichkeit, die sie in Nanterre erleben. 31 Ein Beleg dafür ist die Erklärung einer jungen Aktivistin während einer Studentenversammlung: »[…] Nanterre est notre Vietnam. Comme les guérilleros du F.N.L. [Front National de Libération ; IG], luttons jusqu’à la victoire finale […]« (DV: 393; Hervorhebung im Original) [[…] Nanterre ist unser Vietnam. Kämpfen wir wie die Guerilleros der FNL bis zum endgültigen Sieg [sic! ] […] (Hinter Glas, 1974: 292)]. Dieser radikale Anspruch findet kein großes Echo unter den meisten Teilnehmern (viele halten ihn für übertrieben und realitätsfern), aber er zeigt den Willen einiger Studenten von Derrière la vitre in Nanterre, anhand vom Bild der Guerilla-Freiheitskämpfer der 1960er-Jahre sich als Befreier der Gegenwart zu profilieren und eine neue Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung aufzubauen. Ähnlich wie im französischen Roman zeigen auch die jungen Spanier in Condenados a vivir, dass sie die internationale Realität im Blick haben. Auch wenn sie weniger radikal als die Figuren der jungen Generation von Derrière la vitre sind - meines Erachtens manchmal sogar oberflächlich, nur den Moden der Zeit nachlaufend -, haben Laureano Vega und seine Rock’n’Roll-Band Los Fanáticos doch ein Protestlied in ihrem Repertoire, das speziell dem Vietnam‐ krieg gewidmet ist. Dieses wurde von Cuchy geschrieben, einer jungen Frau, die es sich zum Ziel macht, in ihren Texten und Liedern die Probleme der jungen Generation zu betrachten (vgl. CV, Band II: 93). Der genaue Liedtext bleibt unbekannt, aber der Leser erfährt, dass der Song einer der größten Hits der Band ist, immer auf den Konzerten in Spanien gewünscht. Das ist ein Indiz dafür, dass das junge Publikum des Romans, sei es, weil es in ist oder aus genuinem Interesse, auch den Kampf der jungen Generation auf der anderen Seite der Pyrenäen verfolgt. Das italienische Werk unterscheidet sich von den beiden zuletzt analysierten Romanen, in denen der in der Handlung behandelte globale Widerstand sich ausschließlich auf den Vietnamkrieg fokussiert. So wie die Aktivisten des SDS in Heißer Sommer scheinen diejenigen in I giorni del dissenso ein breiteres Spektrum von internationalen Protestzielen zu haben. Aber anders als im deutschen Roman wird nicht deutlich, ob die Studenten in Mailand zu bestimmten Gruppen oder Studentenvereinigungen gehören oder ob sie an organisierten Protesten teilnehmen. Und dies, weil die Informationen, die der Protagonist mitteilt, 224 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken nur aus Sprüchen und aus kurzen Ausschnitten aus auf Demonstrationen gehaltenen Reden bestehen. Der Protagonist-Erzähler weist auf die ausgeru‐ fenen Namen von Revolutionären und Befreiungskämpfern wie Ho-Chi-Minh, Che Guevara, Mao und Fidel Castro hin und gibt die Sprechgesänge und Slogans wieder, in denen der Protest beispielsweise gegen die griechische und spanische Diktatur und gegen den Imperialismus der entwickeltesten Ländern hörbar wird. Außerdem berichtet er über die Teilnahme der Studenten an den friedlichen Protestaktionen gegen den Vietnamkrieg und über ihre Solidarität mit dem Kampf gegen den Rassismus in den USA (vgl. GD: 82). Dazu kommt eine Reihe von Protesten, die sich nicht nur auf die Ereignisse des Valle Giulia und des Zusammenpralls von Studenten und Polizei in den Straßen beziehen, sondern auch auf internationale Ereignisse wie die gewalttätigen Demonstrationen in Berlin und Paris oder auch das Attentat auf Rudi Dutschke (vgl. ebd.: 111). In diesem letzten Fall ist die Kritik der jungen Mailänder am Vorgehen der Springer-Presse besonders deutlich. Die Studenten des italienischen Werks machen sie dafür verantwortlich, was dem SDS-Führer zustieß, und stellen sich eindeutig auf die Seite der deutschen Studenten: «Siamo qui a protestare per le violenze anticostituzionali e barbariche di Roma per gli arbitrari arresti e processi per direttissima per l’attentato a Dutschke del sicario di Springer per le violenze di Berlino e Parigi come Roma come Milano». (GD: 111) [»Wir sind hier, um gegen die verfassungswidrige und barbarische Gewalt aus Rom zu protestieren gegen die willkürlichen Verhaftungen und Prozesse in der Folge des Attentats auf Dutschke durch den Meuchelmörder Springer gegen die Gewalt von Berlin und Paris wie gegen die in Rom oder Mailand.«] Die Verknüpfung zwischen den nationalen Ereignissen in Italien und denen auf internationaler Ebene ist nicht zufällig. Indem sie die gemeinsamen Probleme und die Gewalttaten, die die 1968er-Generation in Westeuropa erlebt, mitein‐ ander in Verbindung bringen, scheinen die jungen Italiener in I giorni del dissenso sich aktiv für eine globale Mobilisierung der Jugend einzusetzen. Die Offenheit der italienischen jungen Generation wird auch in Lenz gezeigt. Meines Erachtens dient diese Darstellung als ein Kontrast im Vergleich zu der geschlosseneren Atmosphäre, die Lenz besonders in den Versammlungen der Betriebsgruppe in Westberlin wahrnimmt - eine in den Augen des Prota‐ gonisten überpolitisierte Atmosphäre, in der die Teilnehmer zwar freundlich zueinander sind, aber im Grunde fremd bleiben, da es Mangel an persönlichem Kontakt und fast keinen Raum für Gespräche über die eigenen Probleme, Wün‐ sche und Lebensgeschichten gibt (vgl. L: 33-38). Während seines Aufenthaltes in Norditalien ist einer der Aspekte, die den Protagonisten am meisten faszinieren, 225 3.2 Politischer Aktivismus die Atmosphäre der Kameradschaft, die unter den studentischen Aktivisten in Trient herrscht. Ohne zu zögern oder Hürden aufzubauen, nehmen die jungen Italiener Lenz als einen der ihren auf, laden ihn in ihre Häuser ein, leihen ihm Kleidung und verhehlen ihre Neugier nicht, von seinen Erfahrungen in der bundesdeutschen Studentenbewegung zu hören (vgl. ebd.: 100 f.). In diesem Aus‐ tausch der verschiedenen Erfahrungen wird Lenz ermutigt, über andere Themen zu sprechen, die von den theoretischen Positionen der Studentenrevolte in der Bundesrepublik, der sexuellen Revolution, der Ausbeutung der Arbeiterklasse bis hin zu den Befreiungsbewegungen der sogenannten Dritten Welt reichen. Dies zeigt nicht nur den Willen der jungen Italiener auf, ihre revolutionäre Aktion anderen Themen zu öffnen, bei denen sie sich der Unterstützung der Aktivisten anderer Länder sicher sein können, sondern auch den Geist des internationalen Widerstands, der sie bewegt. Was den Kampf der jungen Generation für die großen internationalen Ange‐ legenheiten betrifft, weicht der portugiesische Roman von den anderen bisher untersuchten Werken in gewisser Weise ab. In Sem Tecto, entre Ruínas werden die internationalen Ereignisse wie die Jugendrevolte gegen den Vietnamkrieg, der Mai 68 in Paris oder der Prager Frühling nicht von den Jungen diskutiert, sondern von den Mitgliedern der Generation des Protagonisten (siehe Kapitel 2.5.3). Indem sie die Mobilisierung der jungen Menschen jenseits von Portu‐ gals Grenzen wahrnehmen, denken die vierzigjährigen Eltern im Roman von Abelaira über die mögliche Wirkung dieser Demonstrationen der rebellischen Jugend auf die portugiesische Wirklichkeit nach und versuchen zu ergründen, ob die Generation der Kinder in der Lage sein wird, den Status quo zu ändern. Das bedeutet nicht, dass die internationalen Probleme von den Jungen nicht thematisiert werden. In den kurzen Bemerkungen von Miguel oder Maria da Graça in den Unterhaltungen mit Jo-o Gilberto wird deutlich, wie sie die tyran‐ nischen und imperialistischen Regimes zurückweisen. Dennoch, wie mehrmals im Roman angedeutet wird, können sie aufgrund des repressiven Regimes, in dem sie leben, in ihren Protestformen nicht so offen sein. Wegen der Isolierung Portugals am Ende der 1960er-Jahre erkennt Maria da Graça an, wie schwer es für die jungen Portugiesen ist, Teil der internationalen Jugendbewegung zu sein, die für die Errichtung einer neuen Gesellschaftsordnung kämpft (vgl. STER: 192). Dennoch glaubt sie weiterhin, dass die junge Generation in Portugal mit anderen jungen Menschen jenseits der Grenzen dieselbe Utopie des Wandels teilt und dieselbe Ausgangsposition hat, um eine gerechtere Welt zu schaffen. 226 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken 3.2.5 Mal engagierter, mal weniger engagiert Es wurde in diesem Unterkapitel dargelegt, dass die literarische Darstellung des politischen Aktivismus der 1968er-Generation nicht gleichförmig ist. Das politische Engagement variiert von Text zu Text und auch innerhalb jedes Textes. Die Sachzwänge des nationalen Politikkontextes haben Einfluss auf den Prozess der Fiktionalisierung des politischen Aktivismus, der dementsprechend mal als offener oder mal als heimlicher geschildert wird. Mit den Regimen Francos und Salazars im Hintergrund sind die Aktionen und Protestformen der spanischen und portugiesischen Aktivisten in Condenados a vivir und in Sem Tecto, entre Ruínas nicht so auffällig wie diejenigen der Studenten in Heißer Sommer, Derrière la vitre und I giorni del dissenso. In diesen drei Werken und auch in Lenz, obwohl auf eine verschiedene Weise, ist der politische Aktivismus von großer Bedeutung für die Diegese. In Heißer Sommer ist der Kampf der Jugend für die Veränderung der Situation innerhalb und außerhalb der Universitäten zentral für die Handlung, essentiell für den Verlauf des Politisierungsprozesses von Ullrich in den heißen Jahren der Studentenrevolte in der Bundesrepublik. Dasselbe gilt für Derrière la vitre. Unabhängig vom Grad des Engagements der zahlreichen jungen Hauptfiguren in der Studentenrevolte am Ende der 1960er-Jahre dreht sich die Handlung des Romans um die Proteste der Studenten am 22. März 1968 in Nanterre. Auch in I giorni del dissenso nimmt der Aktivismus der jungen Menschen die zentrale Position in der Diegese ein, hier aus der Perspektive eines älteren Beobachters und Zeugens, der sich von der Mobilisierung der jungen Generation mitreißen lässt, sich in die Demonstrationen von 1968 einmischt und dabei versucht, die Beweggründe der Jungen zu durchleuchten. In Lenz nimmt die Frage des politischen Aktivismus andere Dimensionen an. Lenz, der vom Verlauf der Studentenbewegung enttäuscht ist, entfernt sich von den Protesten, die von seinen ehemaligen Genossen organisiert werden, und taucht in einen Reflexionsprozess auf der Suche nach dem richtigen Weg für sein zukünftiges Sich-Einsetzen ein. Am Ende der Erzählung nimmt Lenz in Trient an der Seite der italienischen Studenten wieder am Aufruhr teil. Es scheint so, dass er sich wieder für das Eingreifen begeistert und deshalb die Motivation findet, sein politisches Engagement fortzuführen. In den portugiesischen und spanischen Romanen, wie schon erwähnt wurde, ist der fiktionalisierte Aktivismus weniger expressiv, was dem repressiven Hintergrund der Diktaturen Francos und Salazars geschuldet ist. Obwohl in Sem Tecto, entre Ruínas die Frage des politischen Engagements die Erzählung durchzieht - sowohl in den Dialogen des Protagonisten und seines Freundes‐ kreises von Mitvierzigern als auch in den Gesprächen zwischen ihm und den 227 3.2 Politischer Aktivismus Kindern der Freunde -, mündet es nicht in Aktionen. Condenados a vivir ist seinerseits ein Roman, der stark zentriert auf den Generationenkonflikt und auf die familiären Streitigkeiten zwischen Eltern und Kindern ist (siehe Kapitel 3.1). Somit ist der politische Aktivismus gegen das Franco-Regime nicht der Dreh- und Angelpunkt des Werkes, er ist nur ein Thema unter anderen im Generationenkonflikt: ein Thema, das vor allem im individuellen Verhalten einiger junger Romanfiguren Ausdruck findet sowie in den Protestzielen, die jede einzelne Figur auswählt, um ihren Widerstand zu äußern. Die Unterschiede in der Darstellung des Aktivismus der jungen Generation beschränken sich nicht auf die geringere oder größere Bedeutung des politi‐ schen Handelns in der Diegese jedes Textes. Sie werden auch in jedem einzelnen Text durch die unterschiedlichen Verhaltensweisen der verschiedenen jungen Figuren deutlich, wie auch durch ihr jeweiliges Interesse für die Utopie der Ver‐ änderung. In der Regel sind die jungen Figuren, die die Hauptrolle in der Revolte übernehmen, angetrieben entweder vom Gruppengeist oder von starken ideo‐ logischen Überzeugungen der diversen linken Ideologien und Ausrichtungen. Nicht nur in den Universitäten, sondern auch in der Gesellschaft, versuchen sie, für die Beendigung des Autoritarismus und gegen die Parteilichkeit der Presse zu kämpfen. Zugleich solidarisieren sie sich mit der Arbeiterbewegung und öffnen sich den brennenden Themen des internationalen Tagesgeschehens. Dennoch ist es wichtig hervorzuheben, dass sich nicht alle gleichermaßen engagieren und dass der verbindliche, eingreifende und radikale politische Aktivismus keine lex universalis für alle jungen Figuren ist. Christa in Heißer Sommer, Ménestrel, Brigitte und Jacqueline in Derrière la vitre, Pedro Ventura, Laureano und Susana Vega in Condenados a vivir oder Maria da Graça in Sem Tecto, entre Ruínas tauchen nicht als junge Revolutionäre auf. Im Gegensatz zu den Deutschen Petersen und Conny, dem Spanier Sergio Amades, dem französischen Anarchisten David Schultz (oder sogar zu Miguel im portugiesischen Roman) - denjenigen, die in den entsprechenden Werken die radikale 1968er-Jugend versinnbildlichen - radikalisieren sie sich weder im Denken noch im politischen Handeln. Im Gegenteil: Sie interessieren sich für ihre Umgebung und hören den flammenden Reden ihrer Kommilitonen oder Freunde zu, aber sie nehmen nicht aktiv und engagiert an den Protestaktionen teil. Für sie gilt Mäßigung sowie eine gewisse Offenheit für die Studentenrevolte. Nicht selten werden ihre Verhaltensweisen durch den Wunsch, einer Gruppe zugehören zu wollen, motiviert, da es für sie wichtig ist, sich als Teil einer dem Wandel gegenüber offenen Generation zu fühlen. Diese Mischung von mal radikaler, mal moderater politisch engagierten jungen Figuren und anderen, die lieber am Rande der Protestaktionen sein 228 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken wollen, in der Diegese jedes Textes ist nah an der Realität des politischen Aktivismus, die die Studentenbewegungen am Ende der 1960er-Jahre in der Bundesrepublik, in Frankreich, Italien, Spanien und Portugal kennzeichnete und die durch die Anwesenheit verschiedener Beweggründe und Ideologien (besonders aus dem linken Lager) sowie durch unterschiedliche Stufen von Engagement geprägt war. Wie in der zeitgenössischen historischen Wirklichkeit Aktivisten und Nicht-Aktivisten den Aufruhr der Studentenbewegung erlebten und sich dafür oder dagegen entschlossen haben, unterschiedliche politische Weltanschauungen zu äußern, so öffnen sich auch die Werke dieser Arbeit jener kaleidoskopischen außerliterarischen Wirklichkeit, indem sie die mal engagierter, mal moderater oder mal nicht engagierte (gelegentlich sogar ver‐ weigerte) Teilnahme von jungen und nicht mehr jungen Figuren verarbeiten. So entsteht in allen Werken ein heterogenes und kontrastreiches Bild des politischen Aktivismus, das sowohl Verallgemeinerungen als auch Stereotype weitgehend vermeidet. Diese Differenzierungen zeigen die vielfältige Art und Weise, in der der po‐ litische Aktivismus, mal engagierter oder mal gemäßigter, in den verschiedenen Werken in Erscheinung tritt und erweisen so die spezifische Heterogenität in der literarischen Darstellung der aktivistischen jungen Generation Ende der 1960er-Jahre in Westeuropa. Trotz dieser Heterogenität der Einstellungen zum politischen Aktivismus gibt es eine gemeinsame Idee, die sich durch alle Werke zieht. Es ist die Idee, dass der Veränderungswille fest mit dem jugendlichen Ethos verbunden ist. Die jungen Figuren sind bereit, sich als die Kraft für die Veränderung der Welt zu behaupten, einer Welt, mit der sie sich nicht identifi‐ zieren können, sowohl auf der politischen Ebene als auch auf der der kulturellen Gewohnheiten und sozialen Verhaltensweisen. Im nächsten Unterkapitel wird untersucht, wie die Erfahrungen der jungen Figuren im Rahmen der sexuellen Revolution und des Sittenwandels auf ihren gemeinsamen Willen, mit dem Status quo zu brechen, hindeuten. 3.3 Sexuelle Revolution und Sittenwandel Der Widerstandsgeist der jungen Generation am Ende der 1960er-Jahre drückte sich nicht nur in der allgemeinen Mobilisierung für politische Ziele, sondern auch in ihrem Wunsch nach sozialem und kulturellem Wandel aus. Für die jungen Menschen jener Zeit bedeutete das Ende des Status quo die Veränderung der Mentalität, eine Befreiung im Lebensstil und von dem bürgerlichen Werte‐ kanon, mit dem sie aufgewachsen und erzogen worden waren. Die sexuelle 229 3.3 Sexuelle Revolution und Sittenwandel Revolution und der Sittenwandel der jungen 1968er bestand aus dem Willen, mit der Lebensweise der Elterngeneration zu brechen und den Unterschied durch alternative soziale Verhaltensweisen zu verstärken. Sei es in der Musik, in der Mode, in der verwegenen Einrichtung der Wohnung oder in den Erfahrungen mit Drogen oder Sex - die jungen Menschen versuchten, unterschiedliche Ausdrucksformen zu finden, die die Konventionen herausfordern (siehe Kapitel 1.1). Diese Befreiungswelle der roaring sixties bewegt auch die jungen deutschen, französischen, italienischen und selbst die spanischen und portugiesischen Figuren jedes Werkes. Wie unten ausgeführt wird, gibt es zahlreiche Zeichen der sexuellen Emanzipation der 1960er-Jahre und der Erlebnisse dieser Figuren im Rahmen der Gegenkultur, die die Diegese aller Texte prägen. Im ersten Teil dieses Unterkapitels fokussiert sich die Analyse auf die in den Werken dargestellten Erfahrungen, die das Ausleben einer befreiten Sexualität und alternativer Verhaltensweisen der jungen Figuren in den Vordergrund rücken. Sowohl diese befreite Sexualität als auch die alternativen Verhaltensweisen kennzeichnen die Erlebnisse der Rebellion in der erzählten Welt dieser Gene‐ ration des sex, drugs & rock’n’roll. Im zweiten Teil werden die Reflexionen der jungen Figuren über die Konsequenzen der sexuellen Revolution auf der persönlichen Ebene analysiert. Nach der Gegenüberstellung von Eltern- und Kindergeneration in Bezug auf den Sittenwandel folgen einige Schlussbemer‐ kungen zur Darstellung der Revolution der Sexualität und der Sitten in den Werken dieser Arbeit. 3.3.1 Erfahrungen Im Rahmen der sexuellen Revolution zeigt sich der Wille der jungen Generation, sich zu emanzipieren, im Bruch von Regeln und Tabus. Mal mehr, mal weniger explizit gibt es in allen Werken zahlreiche Zeichen des Auslebens der freien Liebe, d. h. des ungehemmten Partnertausches oder des Führens von ungebun‐ denen Beziehungen. In Heißer Sommer ist dieser Wagemut besonders im Studentenmilieu Ham‐ burgs anzutreffen. In den Kneipen und an anderen Treffpunkten nahe der Universität, wo sich die Studenten aufhalten, herrscht eine Stimmung der Offenheit und des Kosmopolitismus, die das ungezwungene Zusammenleben von Studenten und Studentinnen antreibt. Nach dem Ende der Beziehung mit Ingeborg - einer auf Treue und Verpflichtung aufgebauten Partnerschaft -, nach den flüchtigen Flirts im noch konservativen Milieu in München (siehe Kapitel 2.1.4) und nach der allmählichen Entfernung von Christa fühlt Ullrich sich dazu bereit, sich der Welle der Befreiung, die auch seine Kommilitonen in Hamburg 230 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken 32 Die Beziehung zwischen Ullrich und Christa, der jungen Frau aus der oberen Mittel‐ schicht, die er noch in München kennengelernt hatte und die auch mit ihm nach Hamburg umzieht, bedeutet für den Protagonisten eine Art Brücke zwischen Konser‐ vatismus und Befreiung. Obwohl Ullrich anscheinend in sie verliebt ist, gelingt es ihm nicht, ihr seine wahren Gefühle zu gestehen, und er führt mit ihr eine Beziehung ohne gegenseitige Verpflichtungen. Sie dagegen fühlt sich vom Protagonisten angezogen, will sich aber nicht von ihrem Freund Bungert lösen, mit dem sie seit sechs Jahren zusammen ist. Er ist ein junger erfolgreicher Rechtsanwalt, der demselben sozialen Milieu wie Christa angehört und der Ullrich und den Radikalismus der studentischen Aktivisten von 1968 kritisiert. Bungert versteckt seine Bedenken in Bezug auf die soziokulturellen Auswirkungen der Studentenbewegung nicht (vgl. HS: 159 f.). Im Laufe der Zeit in Hamburg wird der politische Aktivismus Ullrichs stärker und beide ent‐ scheiden sich, getrennte Wege zu gehen. Während sich Christa entscheidet, weiterhin mit Bungert zu leben, beginnt für Ullrich eine Phase der emotionalen und sexuellen Befreiung. 33 Im Roman werden ausführliche Marcuse-Zitate aus dem Text »Bemerkungen zu einer Neubestimmung der Kultur« (1965) dargestellt, mit denen Ullrich konfrontiert wird (siehe Fn. 20 im Kapitel 3.2.3). Einige formulieren die Forderung nach einem Wandel der Gesellschaft, der Verhaltensweisen bevorzugt, die sich gegen den etablierten Kodex richten (vgl. z. B. HS: 141). Dies ist eine Forderung, die nicht nur Ullrich, sondern auch einige andere Studenten in Heißer Sommer teilen. erleben, anzuschließen. 32 In dem Maße, in dem er sich politisch radikalisiert und bei den Protestaktionen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) mitmacht, nimmt er den Willen seiner Generation wahr, nicht nur die akademische und politische Realität der Bundesrepublik zu verändern, sondern sich auch von den sogenannten guten Sitten der bürgerlichen Gesellschaft zu befreien. 33 Es ist in der Kneipe Cosinus, einem der Treffpunkte der Aktivisten vom SDS im Roman, wo Ullrich sich für die neuen Umgangsformen zwischen den jungen Männern und Frauen begeistern lässt. Ein Beleg dafür ist der folgende Auszug, in dem der Protagonist sich an das erste Mal im Cosinus erinnert, als er dort gekleidet wie ein junger Rebell der 1960er-Jahre, in Jeans, Parka und mit langen Haaren war: Wie leicht das alles war, dachte Ullrich. Sie hatten über alles geredet. Sie hatten sich berührt. Die Mädchen streichelten ganz ungeniert die Jungen. Ullrich war aufgefallen, daß er plötzlich aussprechen konnte, was er dachte. Sie hörten zu, fragten nach Einzelheiten, interessiert und aufmerksam. […] Er bestellte sich noch ein Bier. Er fühle sich hier pudelwohl, hätte er das gewußt, er wäre gleich gekommen, sagte er. Sie [die Mädchen; IG] lachten und schlugen ihm auf die Schulter. Es war ein freundliches Lachen, so, als wäre er beim Blindekuhspielen lange herumgetappt, ohne 231 3.3 Sexuelle Revolution und Sittenwandel 34 In diesem Prozess der allmählichen Enthemmung des Protagonisten muss die Rolle der Frauen hervorgehoben werden. Wie Kerstin Germer betont, sind es die Frauen, die im Roman sexuell »selbstbewusster« als die Männer sind, »indem sie die Initiative zum Geschlechtsakt ergreifen und ebenso wie die Männer wechselnde Sexualpartner haben« (Germer, 2012: 105). jemanden zu erwischen, und jetzt, plötzlich, sei ihm die Binde abgenommen worden und alle stehen um ihn herum. (HS: 141 f.) Der ungezwungene Gesprächston, die Leichtigkeit, ungehemmt sowohl über politische als auch über private Themen zu sprechen und der natürliche Körperkontakt zwischen Frauen und Männern beeindrucken Ullrich und tragen nicht nur zu seiner schnellen Integration ins Studentenmilieu bei, sondern auch zu einer vorher nie erfahrenen Erweiterung seines Horizontes. 34 Auch wenn er anfangs aus Scham und fehlendem Selbstvertrauen zögert, die Angebote der jungen Frauen, die Nacht bei ihnen zu verbringen, anzunehmen, versteht er schnell, was er tun muss, und zwar dem Beispiel von Conny und Erika zu folgen und sich von Lust und Instinkt leiten zu lassen (vgl. ebd.: 145). Zusammen mit Erika und im Freundeskreis des Studentenführers des SDS beginnt Ullrich, das soziale Korsett der Liebesbeziehungen in Frage zu stellen und sich in die Verhaltensweise der freien Liebe einzuleben. Er hört ihre Erzählungen von befreienden sexuellen Erlebnissen und ist neugierig zu erfahren, wie das Leben dieser Protestler außerhalb der Organisation von Demonstrationen und Protestaktionen ist, ob sie sich wahrhaftig ohne Tabus der Sexualität hingeben, wie sie es behaupten. Im vierten Kapitel des zweitens Teils des Romans erscheint eine dieser Erzählungen. Sie scheint Ullrich so außergewöhnlich, dass er, als er sie in einer analeptischen Form erinnert, sich sogar fragt, ob sie wahr ist oder nicht. Während eines Spaziergangs im Totengrund, einem einsamen Talkessel in der Nähe von Hamburg, sollen Erika, Conny und Bussmann einen »Emanzipationsversuch« (HS: 155) gemacht haben, d. h. eine Sexerfahrung zu dritt auf einem Findling: Angeblich soll Erika den in Höhe und Fläche schließlich für geeignet befundenen Findling mit einer Decke abgepolstert haben, auf diesen habe sich dann Bussmann mit heruntergelassener Hose rücklings gelegt, auf Bussmann wiederum habe sich Erika, die Beine spreizend und ihm den Rücken zukehrend, gesetzt, wobei sie, sich nach hinten mit den Händen abstützend, gesagt haben soll, daß vom Hang eine Schafsherde herunterkomme. Conny, der sich gerade vor Bussmann und Erika niedergekniet hatte, ebenfalls mit heruntergelassener Hose, habe sich nur kurz umgedreht und gesagt, das seien Heidschnucken. 232 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken Oder ob man wegen einiger durch die Heide ziehender Heidschnucken den Emanzi‐ pationsversuch abbrechen solle. (HS: 154 f.) Anscheinend hat keiner der drei diesen Versuch abgebrochen, denn es folgt eine Schilderung des Gruppensexes und mehrerer Orgasmen. Zu guter Letzt stellt sich heraus, dass jemand diese Szene, die später in einer Lokalzeitung unter dem Titel »Ritualhandlung im Totengrund« (HS: 156) erschien, beobachtet hat. Die Erfahrungen von sexueller Emanzipation, die Ullrich beobachtet oder von denen er hört, ermutigen ihn, sich selbst auf dieser Ebene lockerer und entspannter zu fühlen. Er hat weniger Hemmungen im Kontakt mit Frauen und unterhält mit Erika, Alice und anderen freie Beziehungen, nur an der Lust des Augenblicks orientiert und unbekümmert von jeglichen moralischen Bedenken. Viele dieser abweichenden sexuellen Erfahrungen werden in der Kommune gemacht, einer bürgerlichen Villa, in die Ullrich zu Conny, Erika, Renate und Petersen zieht. Diese Villa gehört Connys Vater, einem Oberlandes‐ gerichtsdirektor, und steht in einem wohlhabenden Stadtteil Hamburgs. Innen ist aber dieses Haus so antibürgerlich wie möglich. Indem die jungen Figuren das Private mit dem Politischen verknüpfen, richten sie es mit Matratzen auf dem Boden, Sitzkissen und einer Büste von Mao ein (vgl. ebd.: 167); außerdem beschließen sie, alle Türen auszuhängen als Zeichen von Offenheit und Teilhabe. In dieser Kommune erleben die meisten Kommilitonen und Genossen von Ullrichs Kreis eine freie Sexualität und führen ungezwungene Beziehungen. Mit Ausnahme von Petersen, der anscheinend nur auf die Aktionen der Studenten‐ revolte und den politischen Kampf gegen das Establishment konzentriert ist, scheinen sich alle anderen völlig der freien Liebe, dem Ausleben der sexuellen Beziehungen ohne Verpflichtungen hinzugeben. Es ist auch in diesem Umfeld, wo sich die Begeisterung der jungen Menschen aus Heißer Sommer für die Moden der Popkultur der 1960er-Jahre zeigt. Durch die Beat- und Rockmusik, durch die andersartige, unbürgerliche Inneneinrichtung der Villa oder auch durch die Drogenerfahrungen machen Ullrich und seine Freunde Schluss mit den herrschenden soziokulturellen Regeln und leben in diesem Haus gemäß eines innovativen Lifestyles, der provokativ und gewagt ist und ihre Rebellion ausdrückt. Im dritten Teil des Romans werden, wenn auch in einer weniger radikalen Form, einige von diesen Verhaltensweisen weiterhin sichtbar, nämlich in der Wohngemeinschaft, in die Ullrich mit seiner neuen Freundin Renate einzieht. Sie leben dort mit Nottker und dessen Freundin Ursula, einer Stewardess, und später auch mit Christian, einem jungen Mann, den sie bei einer Protestaktion kennengelernt haben, zusammen. Auch wenn sie bestimmte Partner vorziehen, gibt es, was den Sex betrifft, keine Exklusivität. Wie auch in der Kommune 233 3.3 Sexuelle Revolution und Sittenwandel 35 Die absolute Unverbindlichkeit zwischen Ullrich und Renate (trotz des gemeinsamen Lebens in der Wohngemeinschaft) sowie die Neigung von Renate zu der Hippietendenz von peace & love machen aus ihr eine Vertreterin der freien Liebe im Rahmen der Beziehungen des Protagonisten (vgl. Weisz, 2009: 49). sind es die jungen Frauen, die bei der Partnerwahl die Initiative ergreifen: So wie Erika nicht an Conny gebunden ist, ist auch für Renate ihre Beziehung mit Ullrich eine, in der die Freiheit und der Genuss des Augenblicks herrschen. 35 Einige der jungen Figuren, die am meisten in der Studentenbewegung engagiert sind, verstehen die Forderung nach sexueller Freiheit und Emanzipation als Aktionen für die soziokulturelle Erneuerung der Gesellschaft, so wie sie von Marcuse im Roman vertreten wird (siehe Fn. 33 im Kapitel 3.3.1). Abgesehen von den Veränderungen im politischen Leben verfolgen Erika, Conny, Renate, Nottker und Christian auch die Veränderungen der Einstellung im privaten Leben, sei es durch das Ausleben einer Sexualität ohne Vorurteile, sei es durch subversives Verhalten. Sie wollen Schluss machen mit dem Konzept der bürgerlichen Liebe, das in der Gesellschaft herrscht. So wie Nottker erwähnt, sei diese Gesellschaft krank, ohne Raum für Sensibilität, Zärtlichkeit, Phantasie und Spontaneität (vgl. HS: 267). So wie in Heißer Sommer gehören sowohl der Wunsch nach sexueller Eman‐ zipation als auch die Widerstandshaltung gegen die bürgerliche Liebe zu dem Ethos vieler Figuren der jungen Generation in Derrière la vitre. Anders als im deutschen ist im französischen Roman die Darstellung des Auslebens der freien Liebe bei den Studenten differenzierter und hat nicht so einen ausgeprägten Ton von Protest und Widerstand gegen das Establishment. Dies lässt sich aus dem heterogenen Kreis der jungen Romanfiguren herauslesen. In ihrem Alltag auf dem Campus von Nanterre zeigen sie unterschiedliche Einstellungen in Bezug auf ihr Sexualleben. Während einige unbeeindruckt von den Zeichen von Offenheit im Rahmen der sexuellen Revolution in Nanterre bleiben, nehmen andere an der Befreiung der Sitten und an der Emanzipation der jungen Gene‐ ration teil. Aufgrund der großen Heterogenität der Umstände und der Figuren - die nicht nur auf der politischen, sondern auch auf der Ebene der sexuellen Revolution den Roman kennzeichnet (vgl. Attack, 1999: 39) -, kann festgestellt werden, dass die Beweggründe derjenigen in der Gruppe, die die freie Liebe wählen, sehr unterschiedlich sind. Einige, die radikaler in ihrem politischen Denken sind, sehen das Ausleben der freien Liebe als Symbol gegen den Status quo der konservativen gaullistischen Gesellschaft. Andere, die sich mehr um persönliche Fragen und um ihren Familienhintergrund kümmern, versuchen auch im Privatleben, mit den Werten und mit der Lebensart ihrer Eltern zu brechen. Dazu gibt es noch diejenigen, die, die Anerkennung der Kommilitonen 234 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken 36 Wie Ingrid Eichelberg erwähnt, ist die sexuelle Befreiung in Derrière la vitre keine ausschließlich politische Angelegenheit, sondern Teil eines kontinuierlichen Prozesses der Selbsterkenntnis, den einzelne Studenten in Nanterre durchleben (vgl. Eichelberg, 1987: 41). suchend, die sexuelle Emanzipation als eine Art von Selbstbehauptung auf dem Campus von Nanterre verstehen. 36 Der Anarchist David Schultz und der Kommunist Jaumet sind die zwei jungen Männer, die in Derrière la vitre dem Bild des jungen Revolutionärs von 1968 am meisten entsprechen. Sie setzen sich sowohl im politischen als auch im sexuellen Bereich dafür ein, die herrschenden Sitten zu hinterfragen und in die Öffentlichkeit zu bringen, was vorher nur zum Privaten gehörte. Als Verteidiger der freien Liebe versuchen David und Jaumet, ihre Kommilitonen und Kommilitoninnen zu überzeugen, das Universum der Keuschheit von Nanterre zu beenden: ein Universum, das nicht nur von der Unmöglichkeit vom freien Zusammenleben zwischen Studenten und Studentinnen geprägt wird, sondern auch von sexueller Frustration (vgl. DV: 43 f.). Mit der Absicht, die Mentalität ihrer Generation zu verändern, führen sie eine sexuelle Befreiung vom moralischen Korsett vor. Wie David es Brigitte, der Studentin, mit der er eine unverbindliche Beziehung führt, erklärt, ist der Weg das Sprechen mit den jungen Frauen: Man soll ihnen helfen, sich zu befreien und sie ermutigen, ihr Recht, über ihren Körper zu bestimmen, auszuüben (vgl. ebd.: 48). Und dies, wie David meint, deshalb, weil auch nach dem Kampf für die Freizügigkeit und auch nach dem Ende der Geschlechtertrennung in den Studentenheimen in Nanterre (siehe Kapitel 2.2.4), dennoch auf dem Campus vor allem unter den Studentinnen Spuren der alten Sitten bleiben: Nous avons mis fin à la ségrégation sexuelle, mais les tabous sont toujours là, invisibles, intériorisés, omnipuissants. Et même les filles qui couchent avec des garçons ne sont pas vraiment affranchies. David soupira et pensa avec tristesse, les étudiantes, finalement, deux catégories : celles qui sont trop inhibées pour coucher, et celles qui couchent, mais qui sont trop inhibées pour jouir. Exemple, Brigitte. (DV: 44) [Wir haben die Geschlechtertrennung abgeschafft, aber die Tabus bleiben, unsichtbar, eingefleischt, allmächtig. Und nicht mal die Mädchen, die mit Jungs schlafen, sind wirklich befreit. David seufzte, Studentinnen, dachte er deprimiert, gibt es letzten Endes zwei Sorten: die einen zu verklemmt, um mit einem Jungen zu schlafen, die anderen, die’s tun, zu verklemmt, um Spaß dran zu finden. Beispiel: Brigitte (Hinter Glas, 1974: 30).] 235 3.3 Sexuelle Revolution und Sittenwandel Von den jungen Männern scheint Jaumet der entspannteste zu sein. Dank seiner Popularität unter den Studentinnen von Nanterre (vgl. DV: 162) lebt er eine freie Sexualität aus und ist unverbindlich mit mehreren Kommilitoninnen zusammen. Wegen seines Rufes als Ungebundener wählt ihn Jacqueline Cavaillon, eine junge Frau, die ihm an jenem Tag vorgestellt wird, für ihre erste Erfahrung von Sex um seiner selbst willen aus. Als Einzelkind und aus einem bürgerlichen und konservativen Familienmilieu stammend, in dem die Eltern alle ihre Schritte und Beziehungen kontrollieren, möchte Jacqueline sich von ihrer Familie und von den Werten, die sie vertritt, absetzen, und zwar von den Werten der Ehe, der Treue und der Kultur des Scheins (siehe Kapitel 2.2.4). Darüber hinaus ist sie verlegen, dass sie mit 21 noch Jungfrau ist, während Brigitte und andere Kom‐ militoninnen sich sexuell schon befreit haben (vgl. DV: 84). Sie möchte ihnen nacheifern und sucht Jaumet, um von der Jungfräulichkeit befreit zu werden, etwas, das sie als Bindung an ihre Familie versteht. In einem Geschlechtsakt, in dem keiner von beiden Gefühle empfindet, zeigt Jacqueline, dass sie nur ihr Ziel vor Augen hat: Il était lourd et chaud sur elle, et elle pensa, eh bien voilà, je ne suis plus vierge, elle avait un peu mal, beaucoup moins qu’elle aurait cru, mais c’est surtout l’absence d’émotion qui l’étonnait. Elle ne ressentait rien, ni joie, ni tristesse. Elle s’était prescrit un devoir et elle l’avait accompli. C’était un contentement abstrait, presque moral. (DV: 293) [Er lag schwer und warm auf ihr, und sie dachte: jetzt bin ich entjungfert, es tat ein bißchen weh, viel weniger, als sie geglaubt hatte, aber am meisten verwunderte sie, daß sie nichts empfand. Sie verspürte nichts, weder Freude noch Traurigkeit. Sie hatte sich eine Pflicht gesetzt und hatte sie erfüllt. Es war eine abstrakte, nahezu moralische Befriedigung. (Hinter Glas, 1974: 217 f.)] Der Wunsch nach sexueller Befreiung bewegt jedoch nicht alle Studenten von Nanterre. Lucien Ménestrel zum Beispiel scheint das Gegenteil von Jaumet und David Schultz zu sein. Er verteidigt nicht Sex ohne Gefühle, sondern wirklich liebevolle Beziehungen. Ihn bekümmert nicht, dass er noch auf der sexuellen Ebene unerfahren ist, er möchte nur eine Freundin suchen, die ihn versteht und mit der er seine Gefühle teilen kann. Auch Denise Fargeot, die kommunistische Studentin, die insgeheim etwas für Jaumet empfindet, findet Gefühle wichtig und lehnt Sex um seiner selbst willen ab, den viele (wie Jacqueline) praktizieren. Sie glaubt, sie tun es nur, weil man es tut, aus Mode oder aus Gruppenzwang und nicht, weil sie wirklich davon überzeugt sind. In ihren Worten: […] Nanterre, en comparaison [avec l’école; IG], c’est le paradis, on vous fout une paix royale, on lit ce qu’on veut, on fait ce qu’on veut, même un peu trop. Avant de 236 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken 37 Auf den Fluren von Nanterre hört man zum Beispiel Äußerungen von einigen Studen‐ tinnen, die vertreten, dass die auf freier Liebe basierenden Beziehungen nirgendwohin führen würden und dass der Geschlechtsakt nur der Fortpflanzung dienen sollte (vgl. DV: 173). venir ici, j’aurais pas cru ça possible, moi, la fille qui rencontre un garçon à midi et qui couche avec lui le soir, et qui s’en vante et qui vous dit, moi je fais l’amour comme je bois une tasse de café, et qui, en plus, essaye de vous coller un complexe en vous traitant de demeurée parce que vous préférez rester vierge. (DV: 155) [[…] Nanterre ist dagegen [im Vergleich zur Schule; IG] ein Paradies, man hat seine himmlische Ruhe, man liest, was man will, man macht, was man will, es geht beinahe ein bißchen zu weit. Bevor ich hierherkam, hätte ich nicht für möglich gehalten, daß es Mädchen gibt, die mittags einen Jungen kennenlernen, abends schon mit ihm schlafen und sich dessen noch rühmen und dir sagen: das ist für mich so, als wenn ich eine Tasse Kaffee trinke, die obendrein versuchen, dir Komplexe anzuhängen, und dich zurückgeblieben nennen, weil du lieber Jungfrau bleibst. (Hinter Glas, 1974: 112)] Weder Denise noch einige andere aus Derrière la vitre springen auf den Zug der freien Liebe auf. 37 Dennoch, wie es im letzten Auszug deutlich wird, scheinen die Ungezwungenheit und der Wunsch nach sexueller Befreiung schon zum Alltag der Studenten in Nanterre zu gehören und das provozierende Verhalten einiger Figuren zu bestimmen. Auch die jungen Figuren von Condenados a vivir, meist Studenten, fühlen sich zum Ausleben der sexuellen Befreiung hingezogen. Es gibt aber einen Unterschied zwischen beiden Werken: Während Derrière la vitre sich auf die Erfahrungen der jungen Frauen im Rahmen der sexuellen Revolution fokussiert ( Jacquelines Fall ist paradigmatisch), sind es im spanischen Roman hauptsäch‐ lich die jungen Männer aus dem Freundeskreis der Vega und Ventura, die im Ausleben unverbindlicher Liebesbeziehungen die Hauptrolle spielen. Außerdem übernehmen sie viele der abweichenden Verhaltensweisen der Gegenkultur der 1960er-Jahre (unter anderen die Erfahrungen mit Drogen oder das Anschließen an die Hippiebewegung) und sehen sie als Protestformen gegen die sogenannten guten Sitten der Gesellschaft in Zeiten des Franco-Regimes an. Die Zeichen des Widerstands und der Abweichung dieser Generation des sex, drugs & rock’n’roll bezüglich des etablierten Status quo werden in Gironellas Roman besonders in dem Moment deutlich, in dem Pedro Ventura während seiner Studienzeit den Kremlin gründet. Dies ist ein Ort der Zusammenkunft, der an dem Prinzip der vollständigen Freiheit und an dem Motto »Somos amigos« (CV, Band II: 56) [wir sind Freunde] orientiert ist. Dieses Motto geht über Freundschaft hinaus. Es bezieht sich auch auf das Teilen von gleichen Freuden 237 3.3 Sexuelle Revolution und Sittenwandel 38 Im großen Kreis der Figuren im Roman Condenados a vivir gibt es auch junge Menschen, die die zeitgenössische Befreiung nicht mitmachen, sondern es vorziehen, den bürgerlichen Sitten und Liebesbeziehungen in der gebührenden Reihenfolge von Verlobung und Heirat treu zu folgen. Das deutlichste Beispiel, das im Roman dargestellt wird, ist Carol. Die Schwester von Pedro Ventura ist eine der wenigen jungen Figuren, die nicht zum Kremlin gehen, sie hat sich nicht an der Universität eingeschrieben und scheint einem ähnlichen Lebensstil wie dem ihrer Mutter folgen zu wollen, bei dem eine Frau nicht unabhängig sein, sondern nur einen reichen Mann finden muss, um ein sorgenfreies Leben mit sozialem Ansehen zu führen. Deshalb muss ihr Verlobter und spätere Ehemann bei den Eltern formell um ihre Hand anhalten. Diese akzeptieren es und machen aus der Hochzeit ein gesellschaftliches Ereignis der katalanischen oberen Mittelschicht (vgl. CV, Band II: 240). und Vorsätzen in Bezug auf Musik, Kleidung, Mode sowie auf die Art und Weise, die Welt zu sehen, nämlich ohne Hierarchien und ohne Verbindlichkeiten. Dazu wollen Pedro und seine Freunde die Unterschiede zur Welt ihrer Eltern betonen. Obwohl Kremlin kein Wohnort ist, verbringen sie dort viel Zeit, weil sie ihn als offener Raum ohne Einschränkungen idealisieren. Darin ähnelt er der Kommune in Heißer Sommer, insbesondere in der antibourgeoisen Innenausstattung, gekennzeichnet durch politische Objekte wie zum Beispiel ein Kunstdruck von Guernica an den Wänden als Protest gegen den Vietnamkrieg und gegen Gewalt oder die Büste eines Schwarzen gegen die Rassendiskriminierung. Außerdem diskutieren die jungen Figuren von Condenados a vivir im Kremlin nicht nur politisch über aktuelle nationale und internationale Themen, sondern leben auch die freie Liebe aus. 38 Sergio Amades ist der, der dabei die ersten Schritte macht. Von seiner ersten Auslandsreise bringt er die Belgierin Giselle mit, mit der er eine offene Beziehung hat. Ohne Umschweife oder Sorge wegen der sozialen Etikette stellt er sie der Gruppe von Kremlin als Freundin vor (vgl. CV, Band II: 94), eine Frau, mit der er nur den Augenblick ohne Verpflichtungen leben möchte. Viele der jungen Figuren in Condenados a vivir bewundern, wie selbstver‐ ständlich Sergio und Giselle diese Art von Beziehung genießen. Der offenkun‐ digste Fall ist Laureano, der älteste Sohn des Ehepaares Vega und der Sänger der Rockband Los Fanáticos, einer fiktiven Band, die im Roman für Aufsehen in Barcelona und ganz Spanien sorgt. Während der Anfangsphase der Band proben Laureano und seine Freunde im Kremlin und hören die Beatles, Joan Baez und andere Neuerscheinungen der Musikwelt. In dieser Zeit kommen Laureano und Cuchy einander näher. Er ist unzufrieden mit seinem Architekturstudium und mit den Ansprüchen seines Vaters und sieht im Rock seine Chance für die Befreiung. Sie ist Tochter eines Bankiers und Journalismusstudentin und nimmt sich vor, Protestlieder über nationale und internationale Themen des 238 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken 39 Es soll erwähnt werden, dass dieses Image des engagierten revolutionären Sängers der 1960er-Jahre, sowohl interessiert an aktuellen Themen (z. B. dem Vietnamkrieg - siehe Kapitel 3.2.4) als auch beeinflusst von den Moden der Zeit, Teil einer Marketingstrategie der Agenten ist, die die Band Laureanos managen. Sie überreden ihn, dass die Kühnheit und der Kontakt zum Publikum der jungen Generation Schlüssel zum Erfolg sind. Auf der Suche nach Ruhm, verzichtet Laureano auf sein Ich und gibt dem Druck des Musikgeschäftes nach. Tagesgeschehens zu schreiben, um zum Wechsel der Mentalität der jungen Spanier beizutragen. Für einige Zeit sind Laureano und Cuchy zusammen, aber ohne Verpflichtungen, ohne sich um die Zukunft ihrer Beziehung oder die Meinung darüber, was andere über sie denken könnten, zu kümmern. Und selbst als Cuchy schwanger wird und beide zusammen beschließen, abzutreiben (weil sie wissen, dass sie sonst heiraten müssten, was aus der Sicht der Eltern einem Skandal gleichkäme), möchten sie ihr Leben ohne Einschränkungen im Hier und Jetzt weiterführen, ohne Gewissensbisse und ohne Reue. Diese Unverbindlichkeit macht die Beziehungen von Laureano zu Zeiten des größten Erfolges seiner Band aus. Als Star der nationalen Rockszene wird der Alltag des jungen Vega nicht nur von kontinuierlichen Tourneen, Konzerten und Interviews geprägt, sondern auch von flüchtigen Abenteuern mit weiblichen Fans sowie Gelegenheitsflirts (über die Zeitschriften berichten), die zu seinem Image als einem verwegenen, sinnlichen, eitlen und risikobereiten jungen Sänger beitragen. 39 Es ist kein Zufall, dass im Roman die Hauptszene des Aus‐ lebens der freien Liebe mit Laureano stattfindet. Während eines Sommerurlaubs auf Ibiza stoßen Laureano und Marcos Subirachs, der inzwischen mit Cuchy liiert ist, zu einer Gruppe von ausländischen Hippies und werden Teil einer Strandorgie. Sie sind offensichtlich begeistert von der Selbstverständlichkeit und der offenen Art der jungen Menschen, die sie zum Ausprobieren von LSD verleiten. Dieses würde ihr Bewusstsein erweitern und sie aus einer verachtungswürdigen Welt entführen, einer Welt voller Konflikte und Kriege, in der sich jeder nur um sich selbst kümmert und die Natur missachtet. Besonders Laureano ist von diesen jungen Hippies und ihrer Ungezwungenheit fasziniert. Sie scheinen alle frei von den Grundsätzen, mit denen sie erzogen wurden, aber auch frei von den Konflikten mit der Generation der Eltern zu sein, während im Fall Laureanos die Beziehung mit seinen Eltern voll von Ärger und Streit ist: En principio él creyó que todos los que estaban allí se habrían peleado con sus padres, y no era así. Cierto que en la mayoría de los casos se habían producido fricciones, por estar en desacuerdo con el tipo de vida que las familias llevaban; pero abundaban los que respetaban a sus progenitores y los excusaban diciendo que «habían heredado aquel tipo de educación y que era lógico que fueran como eran». Sus convicciones 239 3.3 Sexuelle Revolution und Sittenwandel 40 Am Ende des Romans gesteht Isabel in einem Gespräch mit dem Protagonisten Jo-o Gilberto, abgetrieben zu haben, nachdem sie herausfand, dass sie von dem damaligen Partner schwanger war. In diesem Gespräch sagt Isabel auch, dass die einzige, die ihr in dieser schwierigen Lage geholfen hat, ihre Putzfrau war. Als der Vater des Ungeborenen davon erfuhr, ließ er Isabel durch eine Freundin mitteilen, dass sie ja mit jedem ins Bett ginge, und wies so jede Verantwortung von sich (vgl. STER: 231). eran, por lo general, profundas, pero sin rencor: novedad […] para Laureano. (CV, Band II: 353) [Anfangs glaubte er, dass alle, die da waren, sich mit ihren Eltern gestritten hätten, was nicht der Fall war. In der Mehrheit der Fälle hatte es wohl Auseinandersetzungen gegeben, weil sie mit der Lebensweise ihrer Familien nicht einverstanden waren; aber es gab viele, die ihre Eltern respektierten und sie entschuldigten, indem sie sagten »sie hätten jenen Erziehungsstil geerbt und dass es daher folgerichtig sei, dass sie seien, wie sie seien«. Ihre Gesinnungen waren im Allgemeinen gefestigt, aber ohne Verärgerung: eine Neuheit […] für Laureano.] Laureano fühlt sich gefangen in einer von konservativen Prinzipien und altmo‐ dischen Sitten bestimmten Wirklichkeit. Für ihn ist es schwer, die verständnis‐ volle Haltung der ausländischen Hippies gegenüber der Welt ihrer Eltern zu verstehen. Anders als Pedro Ventura, der Artikel gegen die Diktatur schreibt, oder anders als Sergio Amades, der Dokumentarfilme über die Gräueltaten der Nationalisten während des Bürgerkrieges dreht (siehe Kapitel 3.2.3), ist der Weg Laureanos nicht der des politischen Aktivismus. Laureanos Protest gegen das herrschende Ethos zeigt sich im Rebellieren, sei es durch ein unverbindliches Sexualleben, durch die Musik, durch Kleidung oder das Bild des wilden Rocksän‐ gers. Sein provozierendes Benehmen sowohl in der Band als auch im Privatleben machen aus Laureano diejenige junge Figur in Condenados a vivir, deren Willen, sich in der Sexualität und von den alten Sitten zu emanzipieren, am stärksten ist. Mehr aus Mode als aus Überzeugung und ohne die Konsequenzen seiner Taten abzuwägen, lässt sich Laureano vom Wunsch nach neuen Erlebnissen leiten, die ihm den radikalen Bruch mit der Welt der Eltern und die Freiheit, selbst über seine Zukunft zu entscheiden, ermöglichen. Im Roman Sem Tecto, entre Ruínas findet sich ebenfalls der Widerstand gegen die von der Elterngeneration geerbten soziokulturellen Konventionen sowie der Wunsch der jungen Figuren, sich der sexuellen Freiheit und dem Wandel der Sitten im Portugal Salazars zu öffnen. In der Gruppe der jungen Portugiesen des Romans ist es Isabel, eine aus der oberen Mittelschicht in Lissabon stammende junge Frau, die das kühnste Verhalten im Rahmen der sexuellen Revolution zeigt. Ohne jede Scham gibt sie zu, dass sie schon eine traumatische Abtreibung erlebt hat, dass sie die Pille nimmt und Sex um seiner selbst willen hat. 40 Isabel 240 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken erklärt ihren Eltern, Ernesto und Manuela, offen den Krieg und entscheidet sich, Beziehungen sowie einen Lebensstil zu führen, die diametral den geerbten Werten entgegengesetzt sind. Sie ist sich des Scheiterns der Beziehung ihrer Eltern bewusst, die treu, aber unglücklich, nur noch durch eine Scheinehe verbunden sind. Deshalb wählt Isabel den gegenteiligen Weg, den des Sexes ohne Verpflichtungen. In einem Gespräch mit dem Protagonisten Jo-o Gilberto erzählt sie offen ihre Beweggründe: die Freude an der Übertretung von Grenzen und der Zurückweisung des herrschenden Wertekodex, der das Glück durch Treue ersetzt. In ihren Worten: »Divirto-me. Estive ontem a fazer as contas. Já fui para a cama com dezanove homens. Às vezes acabados de conhecer e sem me despertarem nenhum interesse (STER: 233)« [Ich habe Spaß. Ich habe gestern Bilanz gezogen. Ich war schon mit neunzehn Männern im Bett. Manchmal nahezu Unbekannte und ohne dass sie wirklich mein Interesse erregt haben]. Anders als Isabel hat Maria da Graça ein weniger angespanntes Verhältnis zu ihren Eltern und ist nicht so radikal bei der Behauptung des Widerstands auf der Ebene der sexuellen Revolution. Ein Beleg dafür ist ihre Beziehung mit Miguel, eine liebevolle Beziehung ohne das Prinzip des Partneraustausches. Für Maria da Graça ist die Liebe zu dem jungen politischen Aktivisten weder Einengung noch Gefängnis, was sie jedoch nicht davon abhält, sich auch anderen Erfahrungen zu öffnen. In ihren Treffen mit Jo-o Gilberto hält sie sich nicht zurück und versucht, den vierzigjährigen Protagonisten zu verführen, bietet sich ihm sogar für einen one night stand an. Obwohl es nie dazu kommt (die Gründe bleiben im Unklaren), zeigt Maria da Graça das Bild einer jungen Emanzipierten, die sich mit sich selbst wohlfühlt und die nicht nur aus Protest mit den alten Sitten brechen will. In Sem Tecto, entre Ruínas geschieht die radikalste Form der sexuellen Befreiung, gemäß dem Motto peace & love und dem Genuss der momentanen Lüste, im Ausland. Diese erlebt Jo-o Gilberto zusammen mit Hans und Brigitte, zwei jungen Deutschen, während einer Urlaubsreise nach Italien. Nach dem Studium in Berlin, wo sie an der Studentenrevolte teilnahm (vgl. STER: 162), reist Brigitte nach Italien zu ihrem Freund Ludwig in Rom. Ludwig ist Archäologe, untersucht alte Gegenstände und führt einen Lebensstil frei von den Prinzipien des Kapitalismus. Brigittes Beziehung zu Ludwig hindert sie jedoch nicht daran, offen zu bleiben im Hinblick auf freien Partnertausch. Wie sie behauptet: »O amor por alguém n-o pode ser limite« (STER: 142) [Die Liebe für jemanden kann nicht eine Beschränkung sein]. Bewegt vom Wunsch, alles zu erleben, alles zu erfahren (vgl. ebd.: 148), zeigt Brigitte Jo-o Gilberto die freie Liebe, indem sie ihn ermutigt, eine sexuelle Erfahrung zu dritt zu machen, getreu dem Hippiemotto des hedonistischen carpe diem, das unter den jungen Menschen so in Mode ist. 241 3.3 Sexuelle Revolution und Sittenwandel Dieses Erlebnis, das sehr dem »Emanzipationsversuch« (HS: 155) von Erika, Conny und Bussmann in Heißer Sommer ähnelt (siehe Kapitel 3.3.1), erzählt Jo-o Gilberto Manuela nach seiner Rückkehr nach Lissabon: — Quer que lhe conte? Dois jovens pediram-me boleia. […] Bom, parei o automóvel junto do lago. E ela disse: «Porque n-o tomamos banho? » Aproximámo-nos da água. E começou a despir-se: a blusa sem soutien por baixo, as calças, a nudez completa, t-o brilhante como a Lua, apenas um colar como esse. Ele também se despiu e fiquei a vê-los correr para o banho. Percebo que se abraçam, um cheiro n-o sei a que ervas familiares. E quando ela regressa, diz: «Porque n-o toma banho? » Nua à minha frente. Respondi que a água devia estar muito fria. «Tem vergonha de se despir? » Dispo-me, descubro pela primeira vez que a Lua também faz sombra, que tenho sombra à luz da Lua. E avanço lentamente para o lago precedido pela sombra e é a sombra que entra primeiro. […] Quando regresso, deitaram-se, fico a vê-los a amarem-se, sinto-me violentado por aquela vis-o. Minto: tranquilo, observando o corpo da Brigitte, a maneira como Hans a afaga, lhe beija o peito, acaricia o sexo, o doce movimento que a Brigitte faz ao abrir as pernas. Como entra nela e o rosto transfigurado da Brigitte, um rosto diferente do rosto que lhe conhecera, um rosto inquietante. E de súbito, t-o cedo! , ele estremece, curva-se: Ficam os dois assim em silêncio n-o sei já quanto tempo. E ent-o ela abre os olhos, olha para mim, estende-me a m-o. O Hans compreendeu, afastou-se, a Brigitte aperta-me contra ela. (STER: 174 f.) [— Möchten Sie es hören? Zwei junge Menschen fragten mich nach einer Mitfahrge‐ legenheit […] Ich hielt mit dem Auto am See. Sie sagte: »Warum baden wir nicht? « Wir gingen nahe zum Wasser. Sie begann sich auszuziehen: die Bluse ohne BH darunter, die Hose, die komplette Nacktheit, so glänzend wie der Mond, nur eine Halskette wie diese. Er zog sich auch aus und ich sah sie ins Wasser laufen. Ich sehe, dass sie sich umarmen, um mich der Geruch von irgendwelchen bekannten Kräutern. Und als sie zurückkommt, sagt sie: »Warum baden Sie nicht? « Nackt vor mir. Ich antwortete, das Wasser sei zu kalt. »Schämen Sie sich, sich auszuziehen? « Ich ziehe mich aus, entdecke zum ersten Mal, dass der Mond auch Schatten wirft, dass ich einen Schatten im Mondlicht habe. Ich gehe langsam zum See, geführt vom Schatten und es ist der Schatten, der zuerst hineingeht. […] Als ich zurückkomme, legten sie sich hin, und ich sehe ihnen zu, wie sie Liebe machen, ich fühle mich von diesem Anblick angegriffen. Ich lüge: ruhig, Brigittes Körper beobachtend, die Art und Weise, wie Hans sie streichelt, ihre Brust küsst, ihr Geschlecht berührt, die süße Bewegung, als Brigitte die Beine öffnet. Wie er in sie eindringt und Brigittes Gesichtsausdruck sich ändert, anders als der Gesichtsausdruck, den ich von ihr kannte, beunruhigend. Und plötzlich, so früh! , erzittert er, verkrümmt sich: Die beiden bleiben so, schweigend, ich weiß nicht, wie lange. Und dann öffnet sie die Augen, schaut mich an, reicht mir ihre Hand. Hans verstand, entfernte sich, Brigitte drückt mich an sich.] 242 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken 41 In einer der kurzen Passagen, in denen er sich auf die junge Frau bezieht, gesteht der Protagonist, dass er sie begehrt, aber sich selbst zensierend gibt er zu, dass ihm solche Gedanken nicht gefallen, dieses Schwanken zwischen der Lust eines Vierzigjährigen, der sich von einer viel jüngeren Frau angezogen fühlt, und dem Neid auf die Studenten, die viel entspannter und weniger gehemmt sind als er (vgl. GD: 49). Brigitte und Hans zeigen Jo-o Gilberto, was ein freies Leben ist, ein Leben ohne jegliche Verpflichtung. Da er in einem Portugal der katholischen und konservativen Werte gefangen ist, das ein Sexualleben ohne Tabus verbietet, ist der Protagonist von Sem Tecto, entre Ruínas fasziniert von dieser jungen Generation, die sich dafür einsetzt, Regeln und Sitten zu ignorieren. Der Protagonist von I giorni del dissenso lässt sich noch offener als Jo-o Gilberto von der Gleichgültigkeit der jungen Italiener gegenüber den Regeln des Anstands beeindrucken und zeigt seine Bewunderung deutlicher. In seiner Sicht sind die jungen Menschen die Akteure der Rebellion (vgl. GD: 41) nicht nur auf der politischen Ebene, sondern auch bei der Veränderung der Sexualität und der Sitten. Anders als Jo-o Gilberto hat der Protagonist des italienischen Werkes (ein verheirateter Vierzigjähriger mit Kindern im Schulalter) kaum direkten Kontakt mit den jungen Männern und Frauen (siehe Kapitel 2.3.4). Aus diesem Grund erfolgt die Wahrnehmung, die er von der freizügigen und nach Emanzipation verlangenden jungen Generation hat, vor allem aus seiner Beobachtung der Studenten in den Demonstrationen. Durch Gespräche, die er auf der Straße und in der Universität hört, wird der Protagonist Zeuge der Ungezwungenheit, mit der sich die Studenten unterhalten, der Spontaneität, mit der sie sich umarmen, sowie des mühelosen Kontakts zwischen jungen Männern und Frauen, die auf ein offenes und entspanntes Umfeld hinweisen, geeignet für unverbindliche Liebesbeziehungen. Der Fall, der im Werk die Offenheit der jungen Generation und ihre Leichtigkeit, ungebundene Beziehungen zu führen, am besten illustriert, ist der einer jungen Studentin, Freundin eines gerade graduierten Architekten und Malers. Ihr rebellisches, mutiges Verhalten, voller Selbstbewusstsein (besonders im Kontakt mit Männern) macht den Protagonisten neugierig und wird im Verlauf der Erzählung wiederholt erwähnt. Ohne mit ihr mehr als flüchtige Bemerkungen zu wechseln (aus Scham und Schüchternheit traut er sich sogar nicht, sie nach ihrem Namen zu fragen), nennt sie der Protagonist im Laufe der Erzählung »delizia-che-mangia-tanto« [Augenschmaus-der-viel-isst] - und dies, nicht nur wegen der Schönheit, Sinnlichkeit und Hemmungslosigkeit der jungen Frau, sondern auch wegen der sexuellen Anziehungskraft, die sie für den Beobachter hat. 41 In den Momenten, in denen sie sich zufällig bei den Protestaktionen treffen, hegt der Protagonist den Wunsch, sich so wie die anderen Studenten auf eine ungezwungene Weise 243 3.3 Sexuelle Revolution und Sittenwandel 42 Wie schon im zweiten Kapitel erwähnt, gibt es zwei Aspekte, die in I giorni del dissenso den fast ausschließlichen Fokus auf die Erlebnisse des politischen Aktivismus der jungen Mailänder legen. Der erste hat mit dem Interesse des Protagonisten zu tun, die wirkliche Fähigkeit der jungen Generation für die Veränderung des politi‐ schen Panoramas Italiens zu bewerten. Der zweite bezieht sich auf seine Suche nach (Neu-)Orientierung, die ihn dazu bringt, sich besonders auf politische Fragen zu konzentrieren (siehe Kapitel 2.3.4). auf die junge Frau einzulassen. Aus Verlegenheit zieht er sich jedoch wieder zurück, ohne ihr je zu sagen, was er fühlt. Sie dagegen hat wie die anderen jungen Menschen kein Problem damit, die Sexualität frei auszuleben und selbst in der Öffentlichkeit die Partner nach Belieben zu wechseln. Das belegt der folgende Auszug, als der Protagonist an einer Straßendemonstration teilnimmt: »[…] vedo per un attimo naturalmente la delizia-che-mangia-tanto insieme con uno che l’abbraccia per le spalle e che non è l’amico mio bello, non insomma il ragazzo suo […]« (GD: 80) [[…] ich sehe den Augenschmaus-der-viel-isst zusammen mit einem, der seinen Arm um ihre Schulter gelegt hat und der nicht mein schöner Freund ist, also nicht ihr Geliebter ist […].] I giorni del dissenso enthält keine Szenen, die die Erfahrungen der sexuellen Befreiung der jungen Generation konkret darstellen. Auszüge wie oben sind bloße Andeutungen in einem Werk, das mehr auf den politischen Widerstand der Studenten fokussiert ist. 42 Aber auch die italienischen jungen Menschen im Werk geben zu verstehen, dass sie neue Verhaltensweisen bezüglich des Auslebens der Sexualität wollen. Sei es durch die Freiheit zum Partnerwechsel, sei es durch die Spontaneität in den Beziehungen, die keine Verpflichtungen vorsehen, versuchen die Studenten von I giorni del dissenso, sich von den geerbten Werten zu unterscheiden. 3.3.2 Reflexionen Es wurde deutlich, dass die Mehrheit der Werke das rebellische Verhalten der jungen Generation darstellt, indem sie unterschiedliche Episoden erzählen, die die Erfahrungen der jungen Figuren im Rahmen der sexuellen Befreiung in den Vordergrund rücken. Diese Erfahrungen werden, in einigen Fällen, zum Gegenstand von Reflexionen von denen, die sie erleben. Früher oder später denken einige der Figuren über die Konsequenzen dieser Erfahrungen nach und fragen nach den Auswirkungen der sexuellen Revolution auf ihr Leben. In Heißer Sommer prägen die sexuelle Revolution und der Sittenwandel den Protagonisten sehr stark. Ullrichs rebellische Phase wird durch Erlebnisse von freier Liebe, vom Probieren von Drogen und vom Sichfallenlassen in die 244 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken 43 Diese Überlegung stellt Ullrich bei einem Treffen mit Petersen an, als er erwartet, dass der Freund ihn nach seinen Gründen fragt, warum er seit einiger Zeit sich nicht mehr mit den anderen Studenten des SDS trifft. Obwohl die Frage nie gestellt wird, hat der Leser so Einblick in Ullrichs Gedankenwelt und das, was er Petersen wohl geantwortet hätte. Rockmusik der Rolling Stones und der Beatles und in die Musik Bob Dylans charakterisiert. Als die Geschehnisse der Studentenbewegung an Intensität verlieren - ungefähr ab Ende Mai nach der Revolte der Studenten in Paris (vgl. HS: 241) -, wird auch die Begeisterung des Protagonisten für die Protestkultur der jungen Generation schwächer und die Unsicherheiten bezüglich des Weges, den er in politischer Hinsicht sowie auf der privaten und sexuellen Ebene einschlagen soll, werden stärker. Ein Beispiel dafür ist der Moment, in dem er in der Rückschau auf die Zeiten, in denen er täglich im Cosinus und anderen Treffpunkten der Studenten war, bemerkt, welche sexuelle Anarchie herrschte und wie er ein Teil von dieser Atmosphäre war. Dies war eine Atmosphäre, die durch die Maxime des Sex um seiner selbst willen gekennzeichnet war, wo alles in den Beziehungen zu Frauen erlaubt war, einfach um in zu sein oder das zu tun, was alle taten. 43 Wie Ullrich bekennt: Ich hab Frauen aufgerissen. Kannst du das verstehen? Ich hab allen Ernstes gesagt: aufgerissen. Frauen aufreißen. Ich fand das toll. Ich fand mich überhaupt toll, so toll, daß ich nicht darüber redete, wenn ich mal nicht toll war. Ich hab nicht darüber geredet, wenn ich unglücklich war. Unglück, das war ein Versagen. Ich hab mal einem Bekannten eine Frau ausgespannt. Ausgespannt, was für ein fürchterliches Wort. Was hat mich damals dazu getrieben? Ich fand die nämlich gar nicht gut. Aber ich hab mich ungeheuer reingehängt, bis sie mit mir ins Bett gegangen ist. Das war dann eigentlich gar nichts mehr. (HS: 244) Im dritten Teil des Romans, in der Phase, als Ullrich in der Wohngemeinschaft mit Renate, Nottker und Christian wohnt, in einem Umfeld völliger Freiheit der Beziehungen, verstärkt sich das Gefühl, dass ihn diese Lebensweise nicht glücklich macht. Dabei fängt er an, über die negativen Auswirkungen dieser gefühllosen Beziehungen (namentlich das Unglück und die emotionale Leere) zu reflektieren und diese Verhaltensweise im Rahmen der sexuellen Revolution in Frage zu stellen. Während Renate, Nottker und Christian getreu der freien Liebe den Impulsen und Trieben des Moments nachgebend und mit Drogen experimentierend darüber nachdenken, sich sogar der Hippiebewegung anzu‐ schließen, distanziert sich Ullrich allmählich nicht nur von den Projekten seiner 245 3.3 Sexuelle Revolution und Sittenwandel 44 In der Wohngemeinschaft sind sich Renate, Nottker und Christian sehr einig, sie teilen nicht nur dieselbe Sicht auf die freie Liebe, sondern haben auch den Wunsch, gemeinsame Projekte zu realisieren. Im Unterschied zu Ullrich zeigen die beiden an‐ deren Männer ihre Begeisterung für Renates Pläne, sich orientiert an den Grundsätzen der Hippiebewegung in ein ökologisches Gartenbauprojekt zu stürzen, gegen die Konsumgesellschaft, mit Regelverstößen, Freiheit und Kontakt zur Natur. Ullrich folgt nicht dem Traum Renates und der zwei Mitbewohner und entscheidet sich dagegen, er konzentriert sich in erster Linie auf die Arbeit in der Fabrik und wird später von der Idee ergriffen, Lehrer zu werden, um so zum Wandel der Gesellschaft beizutragen. 45 Daniela Görke kommentiert die Haltung Ullrichs zur Abtreibung folgendermaßen: »Als sie später tatsächlich schwanger wird und abtreiben möchte, nimmt er das auf die leichte Schulter - obwohl Abtreibung nur illegal möglich ist und so die schwangeren Frauen durchaus in Lebensgefahr bringen kann, denn die medizinisch notwendigen Standards können nicht gewährleistet werden […]« (Görke, 2005: 75). 46 Als er die Eltern Christas besucht, erinnert sich Ullrich plötzlich an dieses Ereignis und erwähnt beiläufig die Blässe Ingeborgs, als sie aus der Praxis kam, ohne jedoch Bedauern zu zeigen. Eine andere Erinnerung kommt kurz vor dem Moment, in dem Ullrich, Conny und Bully in Hamburg als Protestaktion ein Auto in Brand setzen wollen. Da liest man: »[…] [Ullrich] dachte plötzlich auch an Ingeborg, wie sie nach der Abtreibung aus dem Haus des Arztes kam, blaß, und wie feige er sich verhalten hatte […]« (HS: 196). Mitbewohner, sondern auch von deren Art, mit der Sexualität umzugehen. 44 Der deutlichste Beweis dafür ist seine Reaktion auf die Mitteilung von Renate, sie habe mit Christian geschlafen. Obwohl sie Ullrich zusichert, das ändere nichts an der Beziehung, fühlt er sich sichtlich unwohl. In dieser Phase seines Lebens, in der er sich nicht mehr nur mit Sex zufriedengibt und auch in der Fabrik ein neues Leben sucht, wirft er ihr an den Kopf: »Ich schufte und ihr bumst hier rum« (HS: 321). Renate regt sich auf: »Du redest wie ein Spießer« (vgl. ebd.). Im Grunde spiegelt diese Reaktion den Wunsch Ullrichs wieder, einen anderen Weg einzuschlagen, nicht die Verhaltensweisen der Vergangenheit fortzuführen, besonders nicht, was den Sex ohne Liebe betrifft, der ihm keine Freude macht. Ein anderer wichtiger Aspekt der Reflexion im Rahmen der sexuellen Re‐ volution, der im Roman behandelt wird, ist die Abtreibung. Dieses wird in gewisser Weise hervorgehoben und taucht in Heißer Sommer nicht als Folge des Sexes ohne Verpflichtungen auf, sondern zunächst als die einfache und schnelle Lösung für Ullrich, um nicht gefangen in einer Beziehung zu sein (vgl. ebd.: 64). 45 Als die Abtreibung vorgenommen wird, zeigt der Protagonist weder Mitgefühl für den Kummer und den Schmerz Ingeborgs, noch scheint er besorgt wegen eventueller Risiken und Folgen für die junge Frau zu sein. Im Verlauf des Romans erinnert er sich wieder an diese Szene 46 und in einem dieser Momente des Gedenkens scheint Ullrich seine Einstellung geändert zu haben. Er zeigt ein gewisses Schuldgefühl, als er seine feige Haltung in dieser Angelegenheit zugibt 246 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken 47 Ich bin nicht mit Alois Prinz einverstanden, der behauptet, Ullrich vermeide diese Angelegenheit während des gesamten Romans und als er doch an sie denkt, würde er seine persönliche Schuld nicht anerkennen (vgl. Prinz, 1990: 204). Es stimmt, dass Ullrich diese Angelegenheit nicht ausführlich verarbeitet, aber die Anerkennung seiner Feigheit ist meines Erachtens ein Zeichen eines gewissen Schuldgefühls. 48 Es ist sehr überraschend, dass ein Roman, der die Abtreibung Cuchys (ein eindeutiger Affront gegen katholische Werte) in allen Einzelheiten beschreibt, im Spanien Francos veröffentlicht wurde und diese Szene nicht der Zensur - auch a posteriori - zum Opfer fiel. (siehe Zitat in Fn. 46 im Kapitel 3.3.2). 47 Ein weiteres Zeichen seines Wandels ist wohl der Versuch, durch einen langen Brief an seine Ex-Freundin wieder Kontakt zu ihr aufzunehmen. Diesen Brief schreibt er nach seinem Bruch mit Renate und seinem Nachdenken über die negativen Auswirkungen der sexuellen Revolution. Es wird nicht viel über den Inhalt des Briefes bekannt, jedenfalls antwortet Ingeborg ihm sofort. Sie versucht, ihn zur Rückkehr nach München zu bewegen und lädt ihn ein, die von ihr und ihrem Freund entwickelte Arbeit in der Gewerkschaft und in einer Schule kennenzulernen. Ullrich lehnt diese Einladung nicht ab, er will anscheinend seinen Frieden mit der Vergangenheit machen und wieder zu sich selbst zurückfinden nach den bewegten Zeiten der freien Sexualität in Hamburg. So wie in Heißer Sommer taucht auch in Condenados a vivir das Thema Abtreibung auf im Rahmen der sexuellen Revolution und des Verlangens der Kindergeneration, mit den etablierten Sitten zu brechen. Spontan und verliebt, lassen sich Laureano und Cuchy miteinander ein, ohne an die Konsequenzen zu denken, und sobald sie herausfinden, dass sie schwanger ist, ist die Lösung einvernehmlich: Sie entscheiden sich für eine Abtreibung, um eine Zwangsehe zu vermeiden. Sie handeln so, weil sie ihr Leben nicht gefährden wollen, indem sie eine Verpflichtung annehmen müssten, die beide nicht möchten. Anders als in Heißer Sommer, in dem Ullrich die Möglichkeit einer Abtreibung erwähnt, ist es Cuchy, als Befürworterin der Emanzipation der Frau (und nachdem sie sieht, dass beiden keine andere Lösung bleibt), die Laureano den Schwangerschaftsabbruch vorschlägt. Er stimmt ihrem Vorschlag zu, obwohl er anfänglich starke Bedenken bezüglich dieses illegalen Eingriffs hat, einerseits wegen seiner religiösen Erziehung, andererseits auch, weil er Angst um seine Freundin hat. 48 Nach diesem Geschehen geht jeder seines Weges und es gibt keine Anzeichen von Reue oder Kummer wegen der getroffenen Entscheidung. Auch nicht am Ende des Romans, als Laureano über sein Leben und dessen Widersprüche nachdenkt. Einerseits genießt er seinen Ruhm als Rocksänger, ein junger Rebell, dessen Leben hauptsächlich durch von den in den Zeitschriften thematisierten 247 3.3 Sexuelle Revolution und Sittenwandel Flirts und ökonomischen Wohlstand gekennzeichnet ist. Andererseits erkennt er, dass er nicht mit seinem Verdruss, mit der ständigen Spannung mit seinen Eltern und mit dem Mangel an Gefühlen und Vertraulichkeit in den Beziehungen zu Frauen zurechtkommt. Dazu findet er es sehr schwer, mit den Geschlechts‐ krankheiten, die ein Resultat seiner Erfahrungen im Rahmen der freien Liebe sind, mit der Drogenabhängigkeit von einigen seiner Freunde oder mit seiner eigenen Alkoholabhängigkeit umzugehen. Dies ist die Lösung, die er findet, um nach dem Scheitern der Band der Enttäuschung und der Depression zu begegnen, die ihn in die Nähe des Selbstmordes führen. In diesen Reflexionen über seine Lage und über die junge Generation seiner Zeit zieht Laureano eine negative Bilanz. Er ist enttäuscht von der Welt, in der er lebt, in der man feige und nicht rebellisch sein muss, um den Regeln anderer zu gehorchen, und so das eigene Überleben zu gewährleisten. Es ist diese enttäuschte Vision der Welt, die den Erzähler dazu bringt, den Titel des Romans zu erklären: »En resumen, todo el mundo estaba condenado a morir, pero todo el mundo - y los jóvenes más que nadie - estaba condenado a vivir… Y a veces era más difícil lo segundo que lo primero […]« (CV, Band II: 392) [Auf den Punkt gebracht, war jeder zum Sterben verurteilt, aber jeder, und besonders die jungen Menschen, war zum Leben verurteilt… Und manchmal war das zweite schwerer als das erste […].]. Wie Laureano dennoch selbst zugibt, gilt diese Stimmung von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit nicht für die ganze junge Generation. Nicht alle Kinder von Condenados a vivir wählen Laureanos Weg der extremen Rebellion mit diesen negativen Folgen. Dies wird im Fall von Pedro und Susana besonders deutlich. Sie gehen von einer Freundschaft in eine offene Beziehung voller Austausch und Verständnis und teilen sie erst den Eltern und Freunden mit, als sie sich ihrer Entscheidung sicher sind, dass sie zusammenleben wollen. Gefühle der Unzufriedenheit und der Verzweiflung, die aus den Erfahrungen der freien Liebe entstehen, lassen sich auch in der Erzählung von Peter Schneider beobachten. In dieser Erzählung versucht der Protagonist, Lösungen für seine Existenzkrise sowie ein Gleichgewicht zwischen Vernunft und Emotion im Lie‐ besleben zu finden. In der Zeit, in der die freie Liebe schon sehr verbreitet ist (vgl. L: 12), quält sich Lenz mit der Tatsache, dass einige von seinen Freunden sich nicht an der Abwesenheit von Gefühlen in den Beziehungen stören. Er selbst scheint am Anfang der Handlung an die Praktiken der freien Liebe gewöhnt zu sein. Als er Marina, eine junge Frau, die er ein paar Tage zuvor auf einer Party kennengelernt hatte und die auch an den Treffen der Betriebsgruppen teilnimmt, bei ihr zu Hause besucht, lassen sie sich miteinander ein, ohne sich viel Zeit zum Sprechen oder Kennenlernen zu nehmen (siehe Kapitel 2.1.4). Im Unterschied zu den jungen Menschen, mit denen er zusammenlebt, möchte 248 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken sich der Protagonist jedoch anscheinend von diesen Praktiken distanzieren und denkt ständig über die Gefühllosigkeit und über die Unzufriedenheit nach, die aus dieser Art von Beziehungen ohne Verpflichtungen oder gegenseitige Erwartungen entstehen. Dies spiegelt sich in der Art, wie Lenz sich auf die jungen Frauen einlässt, wider, indem er einen emotionaleren und nicht nur sexuellen Kontakt sucht. Nach seinem ersten Besuch bei Marina trifft er sich erneut mit ihr, aber dieses Mal, um sich ihr zu öffnen. Er macht sie zu seiner Vertrauten, erzählt ihr, dass er seit seiner Trennung von L. unglücklich und desorientiert ist. L. war die Frau, die er geliebt hatte, und der er sich noch stark verbunden fühlt, obwohl er ihr nie seine Gefühle mitteilen konnte. Die Unfähigkeit, Gefühle auszudrücken, zu den ihn umgebenden Menschen eine emotionale Nähe aufzubauen, kommt seiner Meinung nach durch den Prozess der Politisierung, den er im Verlauf der Studentenbewegung erlebte und der ihn davon abgehalten hat, sich auf sich selbst und seine emotionalen Bedürfnisse zu fokussieren. Als Lenz sich mit den Genossen der Betriebsgruppen unterhält, stellt er nicht nur fest, dass sich die Gespräche ausschließlich um Politik drehen, sondern auch, dass ihre und seine eigene Redeweise trocken und emotionslos ist, was schließlich auch Spuren in den intimen Beziehungen hinterlässt. Das unterstreicht er bei B., einem Freund aus den Zeiten der Studentenbewegung, und bei den anderen jungen Westberliner Aktivisten, bevor er nach Rom abreist: »Und du mit deinen Ratschlägen«, rief Lenz erregt, »sage mir endlich, was dir gefällt, was du liebst. Ich meine nicht eine Idee, eine Vorstellung von der Zukunft, sondern etwas, das du jetzt hast, irgendwas. Kannst du deiner Frau sagen, daß sie schön ist, wenn du sie schön findest? Kannst du das, wenn du es sagst, auch empfinden? […] Kannst du deiner Frau sagen, was dich an ihr abstößt, und kannst du es dann noch empfinden, während du es beschreibst? Kannst du ihr sagen, daß du ihren Geruch nicht mehr ausstehen kannst, ohne dem Kapitalismus dafür die Schuld zu geben? Ich weiß, daß ihr es nicht könnt. Ihr könnt nur allgemein, in Begriffen sagen, was ihr haßt oder liebt, ihr habt Angst davor, daß euch irgend etwas gefällt, weil ihr Angst habt, daß ihr dann nicht mehr kämpfen könnt. Ihr könnt dann nicht mehr kämpfen. […] Weil ihr nicht für euer eignes Glück kämpft, verteidigt ihr auch nicht das Glück anderer Leute […]«. (L: 61 f.) Diese Wut des Protagonisten entsteht aus seiner gegenwärtigen Unfähigkeit (einer Unfähigkeit, die er auch bei den anderen Mitgliedern der Betriebsgruppen beobachtet), am Kampf gegen die herrschenden Sitten teilzunehmen, ohne dabei das persönliche Glück zu opfern. Dies bringt ihn dazu, sich vom studentischen Milieu in der Bundesrepublik zu distanzieren und in Italien das Gleichgewicht zwischen politischem Aktivismus und Stabilität im Privatleben zu suchen. So 249 3.3 Sexuelle Revolution und Sittenwandel 49 Ingrid Eichelberg schreibt in ihrer Analyse über das ständige Minderwertigkeitsgefühl Jacquelines im Hinblick auf ihre Kommilitoninnen. Dieses könne ihres Erachtens ein Grund für die junge Frau gewesen sein, warum sie sich sexuell mit Jaumet eingelassen hat (vgl. Eichelberg, 1987: 32). Da sich Jacqueline ständig an Szenen aus dem Leben der Eltern erinnert und sich Gedanken macht, wie geschockt sie sein würden, falls sie erführen, wie ihr Leben in Nanterre ist (ein Gedanke, der ihr sowieso gefällt), ist vielmehr davon auszugehen, dass Jacquelines Entscheidung für Sex um seiner selbst willen sich auch auf den Wunsch, sich von den Werten der Eltern zu entfernen, gründet. Wie Jacqueline behauptet: »Bon dieu, il faudrait quand même que j’arrive à la gratter tout à fait, cette croûte de conneries et de préjugés légués par mes pères« (DV: 296). [Herrgott, ich müßte diese Kruste von ererbten Blödsinnigkeiten und Vorurteilen in mir endgültig auskratzen können. (Hinter Glas, 1974: 220)] wie Lenz es in der Bundesrepublik mit Marina machte, sucht er in Pierra nicht eine gelegentliche Sexpartnerin, sondern eine freundliche Gesellschaft (vgl. ebd.: 86), die ihm hilft, sich zu befreien von seinen Ängsten und Befürchtungen, vom Liebeskummer nach der Trennung von L. und von den Unsicherheiten in Bezug auf den Weg, dem er auf der emotionalen Ebene folgen soll. Mit Pierra und später in Trient in der Gesellschaft junger Italiener denkt der Protagonist über die negativen Seiten der sexuellen Revolution nach, besonders über den Sex ohne Liebe und Bedeutung. Anhand von diesen Überlegungen bleibt die Idee, dass Lenz, ähnlich wie Ullrich in Heißer Sommer, die Richtung ändern wird: Statt der extremen Rebellion des Sexes um seiner selbst willen, die fast ein Muss unter den Studenten geworden ist, will er auf der Suche nach Beziehungen sich von seinen Emotionen und Zuneigungen leiten lassen (vgl. ebd.: 104). In Derrière la vitre scheint Jacqueline denselben Weg wie Ullrich und Lenz einzuschlagen. Nachdem sie sich an jenem 22. März 1968 mit Jaumet eingelassen und so, wie gewünscht, ihre Jungfräulichkeit verloren hat (siehe Kapitel 3.3.1), zeigt sich die junge Frau unsicher angesichts der getroffenen Entscheidung. Das gesteht sie Lucien Ménestrel, mit dem sie aufs Zimmer geht, um ihr Herz zu erleichtern. Dabei erzählt sie ihm, dass sie trotz eines gewissen Gefühls der Befreiung auch große Trauer, Niedergeschlagenheit, Beklemmung und Einsamkeit empfindet (vgl. DV: 330). Es sei daran erinnert: Für Jacqueline bedeutete die Einführung ins Sexualleben durch die freie Liebe - die Praxis der »nouvelle vague« (ebd.: 335) - mehr als den Wunsch, nicht mehr Jungfrau zu sein. Es war auch ein Symbol der Emanzipation, das ihr ermöglichen würde, in der Gruppe der modernen Studentinnen von Nanterre akzeptiert zu werden und den Bruch mit dem Wertekanon der Eltern zu vollziehen. 49 Als sie sich bewusst wird, dass das Erlebnis ihre Erwartungen nicht erfüllt hatte, scheint sie entschlossen, es nicht zu wiederholen. Statt der Hartherzigkeit des Sexes ohne Gefühle, die nur ihre Unsicherheiten und ihre persönlichen Probleme 250 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken 50 Der folgende Auszug illustriert den Moment von Jacquelines Existenzkrise nach der Erfahrung mit Jaumet: »Elle était seule dans cette cellule à Nanterre, entourée de bûcheuses connes et sans cœur et elle allait mourir. Études, zéro. Valeur personnelle, zéro. Avenir, zéro. Jacqueline Cavaillon = petit être nul, sans dignité et sans intérêt. N’existe pas. Ne sert à rien. Même pas une pute, parce qu’une pute, au moins ça fait vivre un maquereau. […] personne ne m’aime. Si. Mes parents. Mais justement, eux, ils ne comptent pas. Ils m’aiment trop. Chez eux, c’est de l’égoïsme. Je suis leur chose, leur petit joujou […]. C’est pas comme ça que je veux être aimée« (DV: 490). [Sie war allein in ihrer Zelle in Nanterre, umgeben von blöden, herzlosen Paukerinnen, und würde sterben. Studium gleich Null. Persönlichkeitswert gleich Null. Zukunft gleich Null. Jacqueline Cavaillon = ein nichtiges kleines Wesen, wertlos und uninteressant. Nichtexistent. Zu nichts nütze. Nicht mal eine Nutte, denn von einer Nutte lebt wenigstens ein Zuhälter. […] keiner liebt mich. Doch. Meine Eltern. Aber gerade sie zählen nicht. Sie lieben mich zu sehr. Bei ihnen ist es Egoismus. Ich bin ihr kleines Spielzeug, ihr Eigentum. Aber so will ich nicht geliebt werden. (Hinter Glas, 1974: 364 f.)] sowie ihre Selbstmordgedanken verstärkte, wählt sie in der Folge Beziehungen, die auf Zuneigung gründen. 50 Deshalb sucht sie Ménestrel auf, den sie zwar erst seit kurzer Zeit kennt, aber der ihr wegen seiner Empfindsamkeit und seines Feinsinns (vgl. ebd.: 334) gefällt und dem sie als copain, als Freund und nicht als Sexualpartner vertraut (vgl. ebd.: 345). Trotz des unsteten und ungestümen Charakters von Jacqueline und der Zweifel von Ménestrel, ob sie die Frau ist, die er für das Leben sucht, beginnen beide an jenem Tag eine Beziehung ohne Verpflichtungen oder Ansprüche aneinander, ausgenommen die des gegenseitigen Verständnisses, um der Einsamkeit und dem Alleinsein in Nanterre begegnen zu können. So, anders als Isabel in Sem Tecto, entre Ruínas, die trotz der traumatischen Abtreibungserfahrung entschlossen ist, mit dem Sex um seiner selbst willen weiterzumachen (siehe Kapitel 3.3.1), ähnelt Jacqueline mehr den beiden Protagonisten der deutschen Werke und erlebt wie sie Enttäuschung mit einer Art von freier Liebe, die nur physisch und mechanisch, ohne Gefühle ist. Es bleibt festzustellen, dass außer Jacqueline auch andere junge Figuren in Derrière la vitre, die die sexuelle Befreiung schon längere Zeit ausleben, Anzeichen eines gewissen Überdrusses erkennen lassen. Jaumet gibt gleich nach dem Zusammensein mit Jacqueline zu, dass er es satt hat, jeden Tag so viele Frauen auf seinem Zimmer zu haben (vgl. DV: 309). Er ist dabei zu überlegen, diesen Lebensstil aufzugeben, und gesteht Denise, die er wegen ihrer Ablehnung der Emanzipationsmoden bewundert, dass sein geheimer Wunsch ist, mit ihr eine Beziehung zu führen, worin aber nicht die freie Liebe die Grundlage ist. Auch David Schultz teilt diese Ernüchterung bezüglich der sexuellen Revolution. Trotz seiner Überzeugung, dass es notwendig ist, sich aufzulehnen und gegen die konservativen Modelle zu handeln, beklagt er, nicht offen ausdrücken zu 251 3.3 Sexuelle Revolution und Sittenwandel können, was er für Brigitte empfindet. Sie ist die junge Frau, mit der er eine Beziehung ohne Verpflichtungen hat, aber mit der er gerne mehr hätte. Sowohl Jaumet als auch David Schultz teilen die Schwierigkeit, ihre Gefühle zu zeigen, auszusprechen, was sie wirklich fühlen, ohne auf ihr Engagement für die revolutionären Ideale zu verzichten. Auch in I giorni del dissenso bemerkt der Protagonist diese Schwierig‐ keit der jungen Mailänder, ihre Gefühle auszudrücken. In einem Gespräch während einer Demonstration erzählt der junge Architekt und Maler dem Protagonisten, dass seine Freundin, die »delizia-che-mangia-tanto« [Augen‐ schmaus-der-viel-isst], mit anderen Männern schläft. Der Protagonist vermutet, dass dieses Verhalten ein typisches Merkmal der jungen Generation jener Zeit ist, ein Verhalten, das die jungen Menschen als natürlich und entspannt ansehen (vgl. GD: 97). Dennoch gesteht der malende Architekt, dass es Spannungen mit der Freundin gebe, nicht weil ihre Beziehung nicht exklusiv ist, sondern weil er keine Geduld habe, ihr bei der Lösung ihrer Probleme mit der Familie und ihrer emotionalen Unsicherheiten zu helfen. Der ältere und erfahrenere Vierzigjäh‐ rige stellt fest, dass denjenigen jungen Menschen, die der freien Liebe anhängen, die Fähigkeit fehlt, miteinander zu kommunizieren und sich kennenzulernen, um tiefere, authentischere Bindungen einzugehen. Seine Sichtweise ist, dass sie (wie alle anderen) nur auf diese Weise ein Gleichgewicht finden werden können zwischen dem Wunsch, sich durch den Unterschied zu bewähren, und der Notwendigkeit, ehrlich mit sich selbst und ihren Gefühlen zu sein. In Sem Tecto, entre Ruínas findet sich eine identische Feststellung von dem ebenfalls Vierzigjährigen Jo-o Gilberto, der die Beweggründe von Isabel, sich in die freie Liebe zu stürzen, hinterfragt. In einer Unterhaltung mit ihr, in der er vorsichtig die Rolle eines Ratgebers einnimmt, schlägt Jo-o Gilberto ihr vor, sich zu fragen, ob die freie Liebe das ist, was sie wirklich will und was sie glücklich macht: […] Faze o que quiseres, mas receio que tenhas escolhido essa vida apenas para protestar contra n-o sei quê. E há outras maneiras de protestar. Até ir para a cama com dezanove homens, mas se isso for uma alegria, n-o uma imolaç-o. E ent-o é legítimo. (STER: 235) [Mach, was du willst, aber ich befürchte, dass du dieses Leben nur ausgewählt hast, um gegen irgendetwas zu protestieren, ich weiß nicht was. Und es gibt andere Arten zu protestieren. Auch sogar mit neunzehn Männern zu schlafen, aber nur, wenn es Freude macht und kein Opfer ist. Dann ist es legitim.] Diese Reflexionen der verschiedenen jungen und nicht mehr jungen Figuren sind persönlicher Art, aber sie gehen über die persönlichen Erfahrungen hinaus. 252 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken 51 Heißer Sommer und Lenz fokussieren sich ausschließlich auf die sexuellen Erfahrungen der jungen Figuren und auf ihre Versuche, die Sitten zu wandeln. Dasselbe gilt für den französischen Roman. Mit der Ausnahme von einigen Bemerkungen der Studenten des Romans über die bürgerlichen und konservativen Verhaltensweisen ihrer Eltern im Rahmen der Sexualität beschäftigt sich Derrière la vitre nicht mit der älteren Generation. Und auch im italienischen Werk wird das Sexualleben der Generation der Eltern nicht erwähnt, obwohl der Protagonist ein Vierzigjähriger ist. In einer Zeit, in der das Ausleben der sexuellen Revolution von der jungen Generation als Protest gegen eine repressive, moralische Ordnung sowie als Bedingung für die Zugehörigkeit zum Kreis der Jungen angesehen wurde, stellt sich ihnen allen die Frage nach der Freiheit, nicht zu wollen und Nein sagen zu dürfen, ohne zurückgewiesen zu werden. In der Mehrzahl der Fälle kommen diese Überlegungen nicht sofort, sondern zeigen sich später. Aber sie drücken den Wunsch der Figuren aus, sich selbst zu befragen, die Gewinne und Verluste des Auslebens der sexuellen Emanzipation abzuwägen und herauszufinden, welcher Weg zu ihrem Glück führt. 3.3.3 Kinder vs. Eltern In den meisten Werken wird die Sexualität der Eltern nicht direkt behandelt, aber vor allem durch die Kommentare der jungen Figuren wird der Traditionalismus der Liebesbeziehungen der älteren Generation indirekt deutlich. Abweichend davon werden im spanischen und portugiesischen Roman die Gewohnheiten und Verhaltensweisen der Eltern beschrieben und zeigen die Art und Weise auf, mit der auch sie die Zeit der sexuellen Revolution und des Sittenwandels erleben. 51 Im Roman von Gironella gibt die Darstellung der Eltern einen Eindruck von einer Generation, die nicht bereit ist, die Luft der Modernität und der Befreiung zu atmen, um im Privatleben die alten Gebräuche zu revolutionieren. Trotz einer gewissen Verfeinerung der Lebensstile, die in Teilen dem wirtschaftlichen Aufschwung und dem Tourismusboom zu verdanken ist, der es ihnen ermög‐ licht, andere Kulturen kennenzulernen und mit den freieren Sitten der jungen Generation in Berührung zu kommen, zeigen die Ehepaare in Condenados a vivir nicht das geringste Anzeichen der sexuellen Befreiung. Ihr Intimleben bildet den Gegenpol zu den Freiheitserfahrungen ihrer Kinder. Ohne Ausnahme bleiben die Eltern im spanischen Roman einer Lebensein‐ stellung treu, die statt des persönlichen Glücks die soziale Anständigkeit sowie die Erfüllung katholischer Werte der Ehe und der Treue (zumindest dem Anschein nach) bevorzugt. In den Momenten, in denen ihr Liebesleben im 253 3.3 Sexuelle Revolution und Sittenwandel Roman behandelt wird, wird bis in die Art und Weise, wie sie ihre Affären leben (immer heimlich, um Skandale zu vermeiden), ihre konservative Haltung deutlich. Ein Beispiel dafür ist das Eheleben der Venturas: Rogelio hat seit Jahren eine Affäre mit seiner Sekretärin; Rosy, seine Frau, weiß davon und entscheidet, sich selbst auf den Bankier Ricardo Marín einzulassen, der der Vater von Cuchy ist. Aber keiner steht offen zu den außerehelichen Verbindungen. Neben diesem Fall gibt es im Roman auch noch Details über die Affäre zwischen Julián Vega und der jungen Montserrat, der früheren Erzieherin der Kinder: einem Versuch des Architekten, aus der ehelichen Routine auszubrechen. Das Unglück in der Ehe, das im Allgemeinen aufgrund von arrangierten Ehen, wie im Falle von Rogelio und Rosy, entsteht, wird nie zugegeben, denn das würde den katholischen Werten, die tief im Ethos dieser Generation wurzeln, widersprechen. Deshalb denken diese älteren Figuren niemals an eine Trennung oder Scheidung. Sie ziehen es vor, wie die junge Cuchy im Hinblick auf ihre Eltern erwähnt, die Geliebten zu wechseln (vgl. CV, Band II: 93), um das Fehlen von Gefühlen und Zuneigung zu Hause auszugleichen. Im portugiesischen Roman sieht das Bild der Elterngeneration grundsätzlich anders aus. Mit Ausnahme von Ernesto und Manuela, die eine Ehe ohne Zuneigung aufrecht erhalten, zeigen sich die anderen älteren Figuren von Sem Tecto, entre Ruínas befreiter als die Spanier und scheinen offener für eine Änderung der Sitten zu sein. Gebildet, städtisch, reiseerfahren und mit einer Vergangenheit im Widerstand gegen die Diktatur, zeigt die Generation des Prot‐ agonisten, dass sie sich in gewisser Weise vom Modernisierungsschwung auf der anderen Seite der Pyrenäen mitreißen lässt. Sie stellt zumindest diejenigen konservativ-bürgerlichen Werte und katholischen Prinzipien der Gesellschaft zu Zeiten Salazars in Frage, die mit der Bedeutung der ehelichen Treue und der Institution Familie zu tun haben. Die Änderungen im Verhalten dieser Generation entstehen aus der Suche nach einer Lösung für die emotionale Enttäuschung in ihrem Privatleben. Deshalb wollen viele der Freunde Jo-o Gilbertos nach Trennungserfahrungen, meist als Resultat gescheiterter Ehen aus ihren Jugendtagen, ihr Leben neu gestalten. Das ist der Fall von Guilhermina und dem Protagonisten, von Maria Eugénia und ihrem Ex-Mann (siehe Kapitel 2.5.4). Aus der Gruppe der älteren Figuren ist es Jo-o Gilberto, der am ehesten bereit ist, freieres Verhalten auszuprobieren. Die Tatsache, dass er mit Maria Eugénia eine Beziehung ohne endgültige Verpflichtung auslebt, die keiner der beiden offen zugibt, gibt ihm die Freiheit, bereit für andere Erfahrungen (wie den Flirt mit Maria da Graça oder die Sexerfahrung zu dritt mit Hans und Brigitte - siehe Kapitel 3.3.1) zu sein. Dennoch löst er sich nicht völlig von den Sitten seiner Zeit, indem er sich durchaus betroffen fühlt, als Bruno ihm sein Interesse für Maria 254 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken Eugénia gesteht. Im Grunde erkennt der Protagonist die innere Leere, die ihm die traditionell geführten Beziehungen eingebracht haben, und er sucht nach von der sexuellen Revolution der jungen Generation inspirierten Alternativen, die ihm mehr Freiheit und größere Befriedigung bringen sollen. 3.3.4 Schlussbemerkungen In jedem Text sind es die jungen Figuren, die eine Revolution in der Sexualität und in den Sitten einfordern, und sie führen eine Veränderung der Einstellungen und den Bruch mit den Konventionen an. Was den Lebensstil betrifft, zögern sie nicht, ihre Widerstandshaltung durch eine Gegenkultur zu äußern, sei es durch die Beat- und Rockmusik, durch das Experimentieren mit Drogen, durch das Leben in Wohngemeinschaften oder auch durch das Anschließen an die Hippiebewegung. Auf der Ebene der Sexualität ist es vor allem das Ausleben der sogenannten freien Liebe, was den allgemeinen Wunsch nach Befreiung ausdrückt. Die Beweggründe dafür sind unterschiedlich. Während einige junge Figuren ihre Neugier auf originelle und provozierende Erfahrungen nicht unterdrücken, lassen sich andere von der Welle der Emanzipation und des Sittenwandels, nur um in zu sein, oder aus Gruppendruck mitreißen von anderen Kommilitonen, für die die freie Liebe schon eine alltägliche Praxis ist. Und wieder andere verfolgen eine noch radikalere Veränderung und sehen in diesen Verhaltensweisen einen direkten Angriff auf den Status quo und auf die Welt der Eltern. Dieses Bild von der jungen Generation ist nicht einheitlich, was schon in den dem Generationenkonflikt und dem politischen Aktivismus gewidmeten Unterkapiteln belegt wurde, und so ist es auch auf der Ebene der sexuellen Revolution und des Wandels der Sitten. Die Befreiungsversuche der jungen Generation werden in den verschiedenen Texten auf eine nicht homogene Weise dargestellt, und auch innerhalb jedes Werkes gibt es Differenzierungen. Dies geschieht vor allem, weil nicht alle jungen Menschen Lust haben, an der Welle der Befreiung teilzunehmen, sondern es vorziehen, am Rande der neuen Verhaltensweisen zu bleiben. Das wird besonders im französischen Roman durch Figuren wie Ménestrel und Denise deutlich. Außerdem gibt es viele andere junge Figuren, die sich der Welle der Befreiung anschließen, aber auf eine moderate Weise. Christa in Heißer Sommer, Pedro und Susana in Condenados a vivir und Maria da Graça in Sem Tecto, entre Ruínas genießen ihre Flirts, aber machen bei radikaleren Emanzipationsversuchen wie Gruppensex oder Sex um seiner selbst willen nicht mit. Für diese jungen Figuren ist die sexuelle Revolution keine Form des Protestes gegen den Status quo, sondern eher eine 255 3.3 Sexuelle Revolution und Sittenwandel Gelegenheit, neue Erfahrungen zu machen, die aber nicht den Verzicht auf ihre Gefühle bedeuten sollen. Bemerkenswert ist, dass es selbst unter denjenigen Figuren, die sich auf eine intensive Weise und sogar manchmal als eine Form des Protestes und der Rebellion in die freie Liebe stürzen, einige gibt, die über ihre abweichenden Verhaltensweisen nachdenken. Das machen Ullrich und Lenz in den deutschen Werken, Jacqueline (und auch Jaumet und David Schultz) in Derrière la vitre sowie Laureano im spanischen Roman. Die emotionale Leere als Resultat des Sexes um seiner selbst willen ernüchtert sie (mit der Ausnahme von Laureano), und ab einem gewissen Punkt scheinen sie Beziehungen, die auf Gefühlen und Empfindungen beruhen, wertzuschätzen. Mal auf eine moderate, mal auf eine extreme Weise sind die Erfahrungen der jungen Generation im Rahmen der sexuellen Befreiung der 1960er-Jahren in allen Texten zu finden. Und auch wenn sie keine zentrale Rolle in der Diegese der verschiedenen Werke spielen, denn die Erfahrungen mit dem politischen Aktivismus und auch der Generationenkonflikt sind zentraler, geben sie doch dem Geist der Veränderungen der jungen Generation Ausdruck, der auch die Eltern nicht unberührt lässt. Mit Bewunderung oder Skepsis reagieren die älteren Figuren auf das freizügige Verhalten der jüngeren. Entweder sie wählen für sich selbst, ihrer Lebensweise treu zu bleiben (wie im Falle der Eltern in Condenados a vivir), oder sie zeigen selbst Zeichen der Emanzipation und suchen Alternativen zu konventionellen Beziehungen (wie Jo-o Gilberto und die Mehrzahl seiner Freunde in Sem Tecto, entre Ruínas). Trotz der Differenzierungen sowohl im Kontext jedes Werkes als auch in der Art und Weise, wie die verschiedenen jungen Figuren ihren Widerstand auf der sexuellen Ebene ausdrücken, gibt es zwei mit den Emanzipationserfahrungen verbundene Merkmale, die die Figuren der jungen Generation aller Texte verbinden. Sie alle zeichnen sich durch die Irreverenz aus, sich selbst in Abgren‐ zung von den Älteren zu behaupten, sowie durch die Kühnheit im Umwälzen der Gewohnheiten und Verhaltensweisen. Es sind diese Merkmale, neben der aufgezeigten Neigung der jungen Menschen zum Wandel der Gesellschaft, die einige der Figuren zum Nachdenken über die Zeiten der Veränderung am Ende der 1960er-Jahre und über die Rolle von Jungen und Alten bei jener Veränderung bewegen. Die verschiedenen Optionen, die man im Aufbau der Erzählung in den unterschiedlichen Texten beobachten kann, nämlich entweder die individuelle Reflexion über diese Zeiten der Veränderung in den Vordergrund zu rücken oder eher die Erfahrungen vom studentischen Widerstand und vom Kampf gegen das Establishment hervorzuheben, werden im nächsten Unterkapitel Gegenstand der Analyse sein. 256 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken 3.4 Aktion und Reflexion Wie in den vorangegangenen Unterkapiteln zu sehen ist, weisen der Tumult und die Agitation, die in den untersuchten Werken mit den akademischen Unruhen am Ende der 1960er-Jahre verbunden sind, auf eine deutliche Ge‐ nerationenabgrenzung hin. Im Zentrum dieser Abgrenzung stehen die von den jungen Menschen der verschiedenen Texte gezeigte Neigung, sich als Antriebskraft des Wandels zu behaupten, und ihr Wille, die Veränderung der von der älteren Generation gestalteten Gesellschaft zu verwirklichen. Auf der Ebene des politischen Aktivismus sticht der Wille der jungen Generation hervor, gegen das Establishment zu kämpfen und die akademischen Institutionen wie die politischen Strukturen zu erneuern. Was die sexuelle Revolution und den Sittenwandel betrifft, zeigen die Erfahrungen der jungen Figuren im Rahmen der Gegenkultur in jedem Text den Wunsch, mit den bürgerlichen und konser‐ vativen Werten zu brechen, die sie mit der Generation der Eltern verbinden. Es ist wichtig zu bemerken, dass in einigen der untersuchten Texte, nament‐ lich in Heißer Sommer, Lenz, Derrière la vitre, I giorni del dissenso und Sem Tecto, entre Ruínas, junge und nicht mehr junge Figuren gleichermaßen Akteure und Beobachter in einer öffentlich wie privat bewegten Zeit sind. Diese Zeit bringt sie dahin, nicht nur über die politischen und soziokulturellen Ereignisse nachzudenken, sondern sich auch zu fragen, was die beiden Generationen eint, was sie trennt, und welche Rolle jede Generation im Prozess der Veränderung der Gesellschaft spielt. Die Protagonisten der zu analysierenden Werke sind Figuren mit unterschied‐ lichen Lebenserfahrungen, unterschiedlichem Engagement bei den politischen und soziokulturellen Veränderungen und auch verschiedene Alter, indem sie entweder der Generation der Kinder oder der der Eltern angehören. In I giorni del dissenso und in Sem Tecto, entre Ruínas sind es die Älteren, die Protagonisten in den Vierzigern, und nicht die Jüngeren, die eine deutlichere Neigung zur Reflexion zeigen. Sie konzentrieren sich auf die Ursachen und Folgen der Ereignisse, die sie beobachten und an denen sie teilnehmen, sowie darauf, was es bedeutet, in jener Zeit des permanenten Aufruhrs und eventueller (Neu-)Bestimmung der Identität, jung zu sein. Obwohl sie aus verschiedenen soziokulturellen Umgebungen stammen, zeigen die beiden vierzigjährigen Prot‐ agonisten dieselbe Neugier, nicht nur über die Studentenunruhen (in Italien, in Portugal und in anderen Ländern) am Ende der 1960er-Jahre mehr zu erfahren, sondern auch die Ergebnisse der Erfahrungen der jungen 1968er im Rahmen des politischen Aktivismus und der sexuellen Revolution und des Sittenwandels zu kennen. Außerdem lassen sich auch Ähnlichkeiten in ihrer 257 3.4 Aktion und Reflexion jeweiligen Jugendzeit erkennen. Sie haben gemeinsam eine Vergangenheit, die mit dem politischen Kampf und dem Willen zur Veränderung der Gesellschaft verbunden ist und von der sie sich im Laufe der Jahre abwandten oder die sie in den Hintergrund treten ließen (siehe Kapitel 2.3.3 und 2.5.3). Jetzt, im Jahre 1968, älter (aber nicht so sehr), beobachten sie die junge Generation mit einer Mischung aus Faszination, Verlustgefühl und, im Falle von Jo-o Gilberto, Misstrauen, indem beide versuchen, den Idealismus der Jüngeren und zugleich die Gründe für ihre eigene Anpassung an die herrschenden Sitten und Gewohnheiten zu verstehen. Die Wahl des gleichen Blickwinkels auf die jungen 1968er im portugiesischen und im italienischen Text erklärt zu einem guten Teil die Berührungspunkte auf der Ebene der narratologischen Optionen. Sowohl im italienischen Werk als auch im portugiesischen Roman werden aus der Perspektive ihrer Protagonisten die persönlichen Erlebnisse und die Ereignisse im Zusammenhang mit der Studentenbewegung und der politischen und sozialen Gegenwart aufgezeigt. Jo-o Gilberto und der italienische Protagonist erzählen ihre persönlichen Er‐ fahrungen jener Zeit. Sie versuchen, sie zu interpretieren, zu kommentieren, verkünden Bewertungen und individuelle Betrachtungen dessen, was sie um sich herum beobachten. Darüber hinaus tragen sowohl die Erzählung in der ersten Person im Fall von I giorni del dissenso als auch die auf Jo-o Gilberto fokussierte Erzählperspektive im Fall von Abelairas Roman (siehe Kapitel 2.3.2 und 2.5.2) dazu bei, einen intimen Zugang zu den Einschätzungen des jeweiligen Protagonisten über den Generationenkonflikt und über ihre eigene Stellung gegenüber der jungen Generation zu bieten. Dies ermöglicht dem Leser wahrzunehmen, wie sich jeder Protagonist in jener Zeit fühlt - einer Zeit, die jeder einerseits als faszinierend (aufgrund der Aussicht auf Wandel), aber andererseits auch als unsicher betrachtet - und wie jeder Protagonist versucht, auf die Impulse und Anregungen der jungen Generation zu reagieren, die im Jahre 1968 ihre eigenen Überzeugungen in Frage stellen. Im Fall von I giorni del dissenso wird das Ziel des Protagonisten deutlich, die Unruhen der jungen Menschen aus der Nähe zu begleiten, indem er die Bewegungen der mailändischen Studenten sowohl in den Universitäten als auch auf den Straßen verfolgt. Gleich im ersten Eintrag des »racconto-diario« (Borghello, 1982: 127), der über die erste Demonstration, an der der Protagonist teilnimmt, berichtet, verhehlt er nicht, dass er sich von der neuen und einzig‐ artigen Atmosphäre von Mailand angezogen fühlt. Aus diesem Grund will er die Bedeutung des Frühlingsgefühls entdecken, das ihm im Alltag der jungen und älteren Menschen präsent und seiner eigenen Jugendzeit ähnlich zu sein scheint (vgl. GD: 23). Zu dieser Neugier des Schriftstellers und Intellektuellen 258 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken für die studentischen Unruhen tritt allmählich der Wunsch hinzu, an diesen Ereignissen selbst teilzunehmen. Aus seiner Sicht stellen sich diese Ereignisse nicht nur als lebhaft und mitreißend dar, sondern sie erinnern ihn auch an seine eigene Vergangenheit vom Widerstand, eine Vergangenheit, die von den Reformideen der Italienischen Kommunistischen Partei und anderer linker Kräfte geprägt war (vgl. ebd.: 25). In der Tat ist es auch der Wunsch, mit seinem Leben zu brechen, das ihm existentiell, intellektuell und künstlerisch zu steril ist, der ihn dazu bringt, sich den jungen Aktivisten zu nähern und die Reaktionen seiner eigenen Generation auf die Studentenunruhen zu hinterfragen sowie auch seine Haltung gegenüber den jungen 1968ern. Wie der Protagonist beob‐ achtet, betrachtet die Mehrheit der älteren Generation die jungen Menschen und ihre Protestaktionen mit Verachtung. Aber es gibt andere aus dieser älteren Generation, vielleicht aus Gründen der politischen Kämpfe der Vergangenheit, die eine gewisse Bereitschaft zeigen, mit den jungen Menschen zu sprechen, um wenigstens ihre Beweggründe für die Revolte kennenzulernen. Das Problem ist, dass diese »veterani democratici« (ebd.: 20) [Veteranen der Demokratie] nicht bereit zu sein scheinen, im Jahre 1968 noch einmal zu kämpfen und an der Seite der Studenten aktiv an den Unruhen teilzunehmen. In einem Moment der Reflexion über die Rolle der ehemaligen Aktivisten seiner Generation fragt sich der Protagonist, ob der damalige revolutionäre Geist ihm ganz verloren gegangen ist oder ob vielleicht noch die Möglichkeit besteht, zu den Zeiten der Utopie zurückzukehren und sich mit den jungen Menschen der Gegenwart zusammenzuschließen: A un capannello misto di giovani e d’uomini più simili a me, che dietro alla protezione di catenelle sosta accosto a un bar guardando, mi unisco, cerco idee. Mi sento-sono passante, mi sento-sono, come questi «vecchi», amabili facce di veterani democratici, che conversano coi giovani come chi intenda fate la vostra che ho fatto la mia. Mi sento così? Sono così? Se mi sento così è per viltà, se sono così è uno sbaglio. (GD: 20 f.) [Mit einer gemischten Gruppe aus jungen Menschen und Männern wie mir, die sich hinter den Absperrgittern an eine Bar beobachtend lehnt, verbünde ich mich, ich suche nach Ideen. Ich fühle mich-ich bin Passant, ich fühle mich-ich bin wie diese »Alten«, liebenswerte Gesichter von Veteranen der Demokratie, die mit den jungen Menschen so sprechen, wie jemand, der zu verstehen gibt, ihr solltet das Eure tun, denn ich habe das Meine schon getan. Fühle ich mich so? Bin ich so? Wenn ich mich so fühle, ist es aus Feigheit, wenn ich so bin, ist es ein Fehler.] Diese Reflexionen des Erzählers über sich selbst, über seine Positionierung gegenüber der jungen Generation der Gegenwart und über seinen Willen, sich 259 3.4 Aktion und Reflexion 52 Giorgio Luzzi bemerkt, dass ein im ganzen Werk vorhandenes Merkmal des Protago‐ nisten das Gefühl von »inappartenenza« (Luzzi, 2011: 24) [Nichtdazugehören] ist. Dies ist kennzeichnend für jemanden, dem es nicht gelingt, sich in einer bestimmten sozialen Gruppe zu integrieren. Meiner Meinung nach erklärt dieses Gefühl die fehlende Identifikation des Protagonisten mit den verschiedenen Akteuren der Revolte (seien sie die Studenten, die Älteren, die Arbeiter oder selbst die etablierten bürgerlichen Menschen seiner eigenen Generation) und es trägt dazu bei, den reflexiven Charakter des Protagonisten und sein Bedürfnis nach der (Neu-)Bestimmung seiner Identität in jener Zeit des Wandels besser zu verstehen. von der Mehrheit der Mitglieder seiner Generation zu entfernen, bestärken seine Entscheidung, zusammen mit Florenzio, Giovanni und Bianca (seine engsten Freunde, auch ehemalige Aktivisten, die auf der Suche nach der Utopie der Vergangenheit sind) weiterhin den jungen Mailändern zu folgen. Im Laufe des Werkes gesteht er mehrmals sein Unbehagen an den Protestaktionen, bei denen er sich wie ein entwurzelter Fremdkörper im jugendlichen Aufruhr fühlt. 52 Aber das hält ihn nicht davon ab, seine Bewunderung für die jungen Menschen zu zeigen, für ihre Fähigkeit, bei dem Brechen mit dem Establishment die Initia‐ tive zu ergreifen. Während einer Studentenversammlung in der Fakultät der Architektur denkt der Protagonist daran, was beide Generationen unterscheidet, er denkt über die Weltanschauungen der Jungen und der Alten und über den Widerstandsgeist, der sie trennt, nach, und erkennt: […] almanacco tra me gli argomenti che mi piacerebbe dire all’assemblea e cioè che sono uno come si vede della generazione fallita e che sono d’accordo nel definirla così e che non ho altro da dire, oltre all’ammirazione e alla solidarietà, che qualche consiglio nato dall’esperienza della sconfitta e del fallimento […]. (GD: 27) [[…] ich phantasiere mit den Argumenten, die ich in der Versammlung gern äußern würde, nämlich, dass ich, wie man sieht, jemand der gescheiterten Generation bin und dass ich einverstanden bin, sie als solche zu definieren, und dass ich nichts mehr hinzufügen habe, nur die Bewunderung und die Solidarität, und den einen oder anderen Rat, geboren aus der Erfahrung der Niederlage und des Scheiterns.] Nach der Meinung des Protagonisten ist die Entschlossenheit der jungen Gene‐ ration, mit dem Status quo zu brechen, das, was sie von den Alten unterscheidet. Während die jungen Menschen bereit sind, die Ärmel hoch zu krempeln und den etablierten Mächten entgegen zu treten, gehen die linken Intellektuellen aus seiner Generation nicht weiter als zu passivem Widerstand, indem die Mehrheit von ihnen bevorzugt, über die Ereignisse zu schreiben (vgl. ebd.: 61 f.). Das ist ihre Art und Weise, sich in die Geschichte einzubringen. Der Protagonist zieht es vor, außer zu schreiben, nah an den Studenten zu sein und sich von ihrer Begeisterung anstecken zu lassen. Er ist nicht immer mit ihrer Kampfstrategie 260 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken einverstanden und versucht oft (obwohl erfolglos, aufgrund seiner Schüchtern‐ heit), mit den jungen Menschen zu reden, um sie auf das hin zu orientieren, was er am Wichtigsten findet, und zwar die Arbeiterbewegung (vgl. ebd.: 28). Aber weder in einigen Kommentaren noch in seinen Überlegungen lassen sich Vorwürfe oder Skeptizismus gegenüber dem Handeln der Jungen finden. Im Gegenteil: Nach jeder Demonstration, nach jeder Protestaktion wächst sein Lob über den Organisationsgrad der Studenten, über ihre intellektuelle Vorbereitung ebenso wie über ihre Fähigkeit, zu mobilisieren. All das trägt seiner Meinung nach dazu bei, dass die Studenten permanent im Zentrum der Aufmerksamkeit der Medien und der Bürger stehen, und führt dazu, dass die akademischen und politischen Autoritäten sie als eine bedeutsame Protestkraft ansehen. In der Sicht des Protagonisten ist diese Fähigkeit der Mobilisierung und des Kampfes der Schlüssel für den Erfolg der Studentenbewegung von 1968. Während er an fast allen Aktionen der Revoltierenden teilnimmt, stellt der Protagonist fest, dass die Proteste ihren Impetus nicht verlieren. Selbst als die Zeit vergeht, nimmt er kein Zeichen von Erschöpfung in den Gesichtern der jungen Menschen wahr, die weiterhin ihre Originalität in jeder neuen Protestaktion zeigen. Diese Beharrlichkeit, diese Irreverenz und die Fähigkeit, sich in jedem Moment neu zu erfinden, lassen den Protagonisten an diese junge Generation glauben, nicht nur an die in Mailand, sondern auch an jene in Rom, in Berlin, in Paris, in den USA, die auf die Straße geht, um sich Gehör zu verschaffen. Dieser zuversichtliche und hoffnungsvolle Ton des Glaubens an die junge Generation wird von Jo-o Gilberto, dem Protagonisten von Sem Tecto, entre Ruínas, nicht geteilt. In seinen Reflexionen stechen vor allem Skeptizismus und Misstrauen gegenüber der Fähigkeit der Jungen heraus, Motor des Wandels zu sein. Jo-o Gilberto, der zur bürgerlichen, kosmopolitischen und reiseerfahrenen Elite der portugiesischen Hauptstadt gehört, verfolgt aufmerksam die Nach‐ richten, die sowohl in Portugal als auch im Ausland von einem von Unsicherheit und Ungewissheit geprägten Zeitgeschehen berichten. Dieses ist eine Folge von einer Reihe von Ereignissen wie den Protesten der jungen Menschen in Paris während des Mai 1968, der politischen Krise in der Tschechoslowakei oder noch dem unmittelbar bevorstehenden Abtreten Salazars von der politischen Bühne und seiner Ersetzung durch Marcelo Caetano. Was die portugiesische Realität betrifft, fühlt sich Jo-o Gilberto verloren. Er fragt sich nicht nur, welche Richtung das Land 1968 einschlagen wird, sondern auch, wie seine eigene Zukunft nach diesem wahrscheinlichen historischen Wendepunkt aussehen wird: »Que vou fazer à minha vida, eu que ainda tenho à minha frente vinte ou trinta anos para 261 3.4 Aktion und Reflexion 53 Edimara Luciana Sartori kommentiert auf folgende Weise den Zweifel von Jo-o Gilberto an der Interventionsfähigkeit der jungen Figuren und an der Veränderungsmöglichkeit in Portugal: »Talvez seja essa crença na transformaç-o deste mundo que falta a Jo-o Gilberto quando sabe da grave doença de Salazar, que traria, enfim, a esperança na construç-o de um mundo novo. […] Esse sentimento de Jo-o Gilberto reflete um desencantamento prévio em relaç-o ao seu futuro e ao do país, talvez a consciência de que n-o há mais lugar para as ilusões« (Sartori, 2007: 124 f.). [Dieser Glaube an die Veränderung der Welt fehlt vielleicht Jo-o Gilberto, als er von der schweren Erkrankung Salazars erfährt, die endlich die Hoffnung auf die Errichtung einer neuen Welt mit sich bringen würde. […] Dieses Gefühl von Jo-o Gilberto spiegelt eine vorherige Ernüchterung im Hinblick auf die eigene Zukunft und die des Landes wieder, vielleicht die Gewissheit, dass es keinen Raum mehr für Illusionen gibt.] encher? « (STER: 240) [Was werde ich mit meinem Leben anfangen, ich, der ich noch zwanzig oder dreißig Jahre vor mir habe, womit werde ich es füllen? ]. Die Suche nach einer Antwort auf diese Frage führt Jo-o Gilberto dazu, sich den Kindern seiner Freunde zu nähern, um zu erfahren, was sie über den gegenwärtigen historischen Moment denken, ob (und auf welche Weise) sie beim Sturz des Regimes mitmachen wollen, und welche kurz- und langfristigen Pläne sie haben. In seinen Gesprächen mit Miguel und Maria da Graça, den zwei jungen Portugiesen, die sich im Roman am meisten für den politischen Kampf interessieren, sieht sich der Protagonist mit den revolutionären Vorschlägen von Miguel über den Weg des Kommunismus in der Zeit nach Salazar konfron‐ tiert, sowie mit dem unerschütterlichen Glauben von Maria da Graça an die Möglichkeit der Veränderung der Welt durch die jungen Menschen von 1968 (siehe Kapitel 3.2.3). Und obwohl er mit ihren Ideen einverstanden ist und in den beiden jungen Figuren die Begeisterung erkennt, die ihn früher in seiner eigenen Jugendzeit bewegte (vgl. STER: 186), zeigt sich Jo-o Gilberto unwillig, sie zu ermutigen oder ihre Initiative für die Veränderung zu loben. Ganz im Gegenteil: Er verbarrikadiert sich hinter seinem Skeptizismus, nimmt eine Haltung von Verachtung und Pessimismus an und fragt ständig die beiden jungen Figuren nach ihrer Interventionsfähigkeit. Dabei versucht er zu ergründen, ob das Engagement dieser Jungen anhalten wird oder ob es, wie es ihm passierte, sie mit der Zeit verlassen wird. 53 In den Gesprächen mit seinen Freunden benennt der Protagonist auch Themen wie den Generationenkonflikt, die Weltanschauungen von Jungen und Alten und die Frage, was es bedeutet, jung zu sein. Hauptsächlich will er wissen, ob andere nicht mehr junge Figuren des Romans auch denselben Drang verspüren, auf die Illusionen der vergangenen Zeit des Widerstands zurückzuschauen. In einem weniger skeptischen und verachtungsvollen Ton als dem, den der Protagonist im Gespräch mit Miguel und Maria da Graça 262 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken benutzt, spricht Jo-o Gilberto mit seinen engsten Freunden über diese Themen. Dies tut er sowohl mit Guilhermina - eine ehemalige Aktivistin im Movimento de Unidade Democrática (MUD) [Bewegung der Demokratischen Einheit], die in der Jugend aufgrund des Verteilens von Flugblättern gegen das Regime von Salazar verhaftet wurde (vgl. ebd.: 165) - als auch mit Herculano dos Santos, dem alten Gymnasiallehrer. Indem sie die 1968er-Proteste in Paris kommentieren, loben der Protagonist und seine Ex-Frau den Mut und die Intelligenz der Studenten und verhehlen nicht ihr Interesse, zu erfahren, welches Ergebnis die Widerstandsaktionen haben werden. Guilhermina, begeisterter als der Protagonist, scheint keine Zweifel bezüglich der Interventionskraft der jungen Menschen zu haben. Aber auch Jo-o Gilberto äußert seinen Wunsch, dass die Jungen erfolgreich sein mögen, und widerspricht der vorsichtigeren Einschätzung von Herculano. Die Frage nach der Rolle von jedem Einzelnen bei den Veränderungen bewegt Jo-o Gilberto derart, dass er sich in einem anderen Gespräch, diesmal mit seiner Partnerin Maria Eugénia, fragt, ob er selbst jung genug sei und bei den Demonstrationen in Paris den nötigen Enthusiasmus und Widerstandsgeist habe, um dabei nicht nur bloßer Zuschauer, sondern aktiver Teilnehmer zu sein (vgl. ebd.: 67 f.). Seine Schlussfolgerung ist aber, dass ihm wie den meisten seiner Generation die Kraft und die Kühnheit zu kämpfen fehlen. Ein Beispiel dafür ist der Moment am Ende des Romans, in dem er sich an seine Ferien in Italien und an ein kurzes Treffen mit zwei jungen mailändischen Aktivisten erinnert und in dem er Guilhermina gesteht: Em Mil-o: dois jovens, um rapaz e uma rapariga, ela de cravo vermelho na m-o, ele a tocar flauta. Descalços. Cabelos compridos. E quando os vejo, vêem-me também, sinto-me minúsculo perante o que leio nos olhos deles: o desprezo por esse burguês que era eu, o desafio (ingénuo ou n-o, pouco importa) lançado ao mundo com o cravo vermelho e a flauta. A incómoda inveja de n-o me atrever também a pegar numa flauta, ou, n-o sei tocar flauta, de pegar num cravo vermelho e atravessar assim o centro de Mil-o. (STER, 163) [In Mailand: zwei junge Menschen, ein junger Mann und eine junge Frau, sie mit einer roten Nelke in der Hand, er eine Flöte spielend. Lange Haare. Und wenn ich sie sehe, sehen sie mich auch, ich fühle mich winzig vor dem, was ich in ihren Augen lese: die Verachtung für diesen Bourgeois, der ich war, die Herausforderung (naiv oder nicht, es ist unwichtig) der Welt entgegengeschleudert mit der roten Nelke und der Flöte. Der unangenehme Neid, mich nicht zu getrauen, auch eine Flöte zu ergreifen, oder, ich kann nicht Flöte spielen, eine rote Nelke in die Hand zu nehmen und so durch das Zentrum von Mailand zu ziehen.] 263 3.4 Aktion und Reflexion 54 Der Begriff »linke Melancholie« wurde 1931 von Walter Benjamin verwendet. Im Text Linke Melancholie. Zu Erich Kästners neuem Gedichtbuch kritisiert der Philosoph die linke Intelligenz in der Zeit der Weimarer Republik, insbesondere verschiedene Autoren der Neuen Sachlichkeit (u. a. Erich Kästner, Walter Mehring oder Kurt Tucholsky) für ihre politische Tatenlosigkeit (vgl. Benjamin, 1972: 281). Aus seiner Sicht herrschte unter mehreren Akteuren aus der linken Szene - darunter zum Beispiel Schriftsteller, Publizisten oder Journalisten - eine Unfähigkeit, revolutionäre Impulse und wirkungs‐ volle Aktionen in die Tat umzusetzen. Eine solche kritische Bewertung lässt sich sowohl in I giorni del dissenso als auch in Sem Tecto, entre Ruínas besonders in den Selbstvorwürfen der Protagonisten und ihrer Entäuschung über ihre eigene Generation wiederfinden. 55 Noch heute spielen Fragen wie diese eine wichtige Rolle im Rahmen der Interpretation des Begriffes der »linken Melancholie». So erwähnt zum Beispiel der Historiker Enzo Traverso im Buch Left-Wing Melancholia. Marxism, History, and Memory (2016), dass die Meinung vertreten werde, »linke Melancholie« sei ein Hindernis für die Entwicklung eines kritischen Geistes, der neue revolutionäre Impulse ermöglicht. Er selbst entgegnet Diese Feststellung von Jo-o Gilberto ähnelt derjenigen des italienischen Prot‐ agonisten, als er erkennt, dass trotz seiner Bemühungen, sich mit den jungen Menschen zu verbünden, seine Müdigkeit stärker ist und ihn daran hindert, mit Begeisterung und Überzeugung an der Veränderung der Gesellschaft teil‐ zunehmen (vgl. GD: 141 f.). Beide beschließen, dass es die neuen Generationen - und nicht sie - sein werden, die den Unterschied machen werden, und beide fühlen auch eine gewisse Enttäuschung über diesen Rückzug. Der Verzicht beider Protagonisten auf den politischen Aktivismus erinnert an den Begriff der »linken Melancholie«, der nach Walter Benjamin eine politische Tatenlosigkeit linker Intellektueller bezeichnet. 54 Beide Protagonisten tendieren mehr zur Reflexion als zur Aktion und fühlen sich dabei unfähig, für ihre politischen Ideale der Vergangenheit zu kämpfen und sie dadurch in der Gegenwart zu verwirklichen. Diese resignative Haltung sowie der etwas nostalgische Blick auf ihre Jugenderfahrungen als Linke scheinen die Vierzigjährigen beider Werke zusammen zu bringen. Es gibt dennoch eine grundsätzliche Differenz zwischen ihnen: Während der Protagonist von I giorni del dissenso Vertrauen in die Zukunft hat und große Hoffnung in die jungen Menschen legt, zeigt Jo-o Gilberto in Sem Tecto, entre Ruínas eine defätistische Sicht. Jo-o Gilberto ist überzeugt, dass der revolutionäre Idealismus ein Kennzeichen der Jugend ist. Aus diesem Grund glaubt er, dass auch die jungen Menschen ihre Illusionen über die Utopie der Veränderung der Gesellschaft verlieren werden und dass sie sie früher oder später ganz aufgeben werden. Es bleibt offen, ob dieser Mangel an Glauben an die Aktionen der jungen Generation ihm helfen wird, entweder einen neuen kritischen Impuls für den politischen Aktivismus zu finden oder weiter in der bloßen Reflexion gefangen zu sein. 55 264 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken jedoch, dass eine Entfernung von den Idealen der Vergangenheit neue Perspektiven eröffnen könne (vgl. Traverso, 2016: 45). 56 Diese ironische Haltung kommt nicht in expliziten Kommentaren des Erzählers zum Ausdruck, sondern zeigt sich in der Auswahl und dem Arrangement des Erzählten, beispielsweise bei der Besetzung des Konferenzsaals. Neben überlegten Reden von Aktivisten wie Daniel Cohn-Bendit stehen dort Reden von radikaleren Aktivisten, die in der erzählten Welt selbst als gänzlich unvernünftig betrachtet werden (vgl. DV: 393). In Derrière la vitre, Heißer Sommer und Lenz haben die Reflexionen andere Gründe, da diese Texte junge Figuren - Studenten in ihren Zwanzigern - als Protagonisten haben, die mit mehr oder weniger Überzeugung am revolutio‐ nären Geist der Veränderung beteiligt sind. In Derrière la vitre beschränkt sich die erzählte Zeit auf einen einzigen Tag, den Tag des Eindringens in den Verwaltungsturm und der Besetzung des Sit‐ zungssaales des Professorenrates auf dem Campus von Nanterre. Das bedeutet aber nicht, dass die Teilnehmer an der Revolte als eine einheitliche Masse im Roman auftauchen. Sie werden vielmehr als eine Gruppe von sehr unterschied‐ lichen jungen Menschen geschildert, jeder mit seiner eigenen Geschichte. Wer sie sind, was sie beschäftigt, was sie bewegt, was sie wünschen, woran die Studentenführer denken, wie peer pressure funktioniert, das sind Fragen, die die Selbstreflexion der verschiedenen Figuren durchziehen und die erlauben, das Universum von Nanterre durch die individuellen Erlebnisse kennenzulernen. Der Schwerpunkt liegt nicht im berichtenden Erzählen (telling), sondern in der szenischen Darstellung (showing), indem die Zusammenstellung eines umfassenden und heterogenen Bildes bevorzugt wird, das die vielen jungen Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit zeigt. Dazu tragen die narratologischen Optionen bei, speziell die Technik der simultanen Erzählung (siehe Kapitel 2.2.2) und die multiple Fokalisierung (der Terminologie von Gérard Genette entsprechend), die es in hohem Maß erlauben, dass der Roman sich den Sorgen und Überzeugungen sowie den Reflexionen der Studenten und Professoren im Einzelnen öffnet. Dabei soll bemerkt werden, dass auch der Erzähler eine Stimme hat und dass er gelegentlich sogar eine ironische Haltung gegenüber den Aktivisten zum Ausdruck bringt. 56 Dies entspricht jenen »sentiments mêlés« (DV: 13) [gemischten Gefühlen], die Merle selbst gegenüber der dargestellten Studentenbewegung in Nanterre empfand, wie in seinem Vorwort des Romans zu lesen ist (vgl. ebd.: 14 f.). Die Mehrzahl der jungen Figuren ist auf die Gegenwart in Nanterre kon‐ zentriert, auf die Art und Weise, wie sie ihr Leben in einem durch Isolation, Anonymität und Mangel an Kommunikation zwischen Jungen und Alten ge‐ prägten studentischen Milieu führen, das sie direkt oder indirekt berührt (siehe 265 3.4 Aktion und Reflexion 57 Das paradigmatische Beispiel ist dafür Ménestrel. Reflektierender und zurückhaltender als seine Kollegen, sorgt er sich ständig nicht nur um die Schwierigkeiten in seinen Beziehungen zu anderen, sondern auch um Probleme wie die hohen Ansprüche seines Studiums, das fehlende Verständnis der Professoren, die finanziellen Herausfor‐ derungen eines Studenten ohne Zugang zum Geld seines Stipendiums und das Fehlen beruflicher Perspektiven nach dem Studienabschluss. Kapitel 2.2.3). 57 Darüber hinaus interessiert es viele Studenten, die Wirkungen herauszufinden, die sowohl der Einsatz im politischen Kampf als auch das Ausleben der freien Liebe für sie persönlich haben, um danach ihren weiteren Lebensweg zu entscheiden. Die deutlichsten Beispiele sind die des Anarchisten David Schultz, des Kommunisten Jaumet und auch Jacquelines, wobei die Reflexionen der jungen Frau sich ausschließlich auf die Gewinne und Verluste der sexuellen Emanzipation fokussieren, die sie in Nanterre erlebt (siehe Kapitel 3.3.2). In diesem heterogenen Bild von Derrière la vitre tauchen auch, obwohl nur ge‐ legentlich, die Reflexionen einiger Professoren auf. Frémincourt, der Professor für englische Literatur, ist derjenige in Nanterre, der sich am meisten für das Phänomen der Studentenbewegung interessiert. Er reflektiert darüber, wie sich die akademische Bildung verändert hat und wie dies auf ihn selbst zurückwirkt. In dem Moment, in dem Frémincourt allein in einem Vorlesungssaal ist, wird seine Enttäuschung angesichts des fehlenden Enthusiasmus, den er jeden Tag in den Räumen von Nanterre verspürt, deutlich. Seiner Meinung nach ist dieser fehlende Enthusiasmus eine Folge der standardisierten und unpersönlichen Massenbildung (vgl. DV: 404 f.), die sowohl die Studenten als auch ihn - den Professor, der seine Arbeit früher so liebte - ausleert. Unzufrieden mit seinem Berufsleben, sieht er sich als einen Menschen, der nicht nur seine linken revolutionären Ideen der Vergangenheit verraten hat, sondern auch seine Gefühle und den Willen, eine Lösung für die Veränderung der Realität in Nanterre zu finden (vgl. ebd.: 409). Im Grunde genommen, und in einem pessimistischen Ton, der an Jo-o Gilberto in Sem Tecto, entre Ruínas denken lässt, zeigt sich Frémincourt als ein Mensch, der sich wegen der gegenwärtigen Leere enttäuscht fühlt, ohne Hoffnungen auf die Zukunft. Anders als in Derrière la vitre, wo immer eine große Vielzahl von jungen und alten Figuren in den Vordergrund treten, ist es im Roman Heißer Sommer und in der Erzählung Lenz nur der jeweilige Protagonist, der im Vordergrund steht. Es ist kein Zufall, dass es in beiden Texten eine Er-Erzählsituation, in der der Erzähler zurücktritt, gibt, und in der Ullrich und Lenz oft die Funktion eines »Reflektors« (Stanzel, 2001: 16) annehmen (siehe Kapitel 2.1.2). Dies erlaubt dem Leser, die Welt der jeweiligen Protagonisten im Detail mitzuverfolgen, und 266 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken zwar nicht nur, was sie im Verlauf der Zeit der Unruhen erfahren, sondern auch ihre Reflexionen über diese Zeit und über ihre eigenen Erfahrungen. Dazu soll angemerkt werden, dass Aktion und Reflexion in der Diegese beider Werke unterschiedlich gewichtet sind. In Heißer Sommer ist es, der Tradition des Bildungsromans folgend, möglich, das Leben von Ullrich von dem ersten Anzeichen seines Interesses für die Studentenbewegung bis zu seiner reflexi‐ veren Phase, in welcher er den Sinn seiner Erlebnisse im Rahmen des politischen Aktivismus und der sexuellen Revolution in Frage stellt, zu begleiten. Dabei kommt auch eine gewisse Sympathie für die Entwicklung des Protagonisten zum Ausdruck, indem dieser in seinem eigenen Handeln Fehler erkennt und sich zu verbessern versucht. So gibt der Erzähler auch den Schattenseiten der Revolte Raum, ohne die Schwächen seines Protagonisten zu verurteilen. Er solidarisiert sich vielmehr mit dessen Versuch, aus den gemachten Erfahrungen zu lernen und nach dem Höhepunkt der Revolte einen konkreten Weg für die Verwirklichung der Ideale der Studentenbewegung zu finden. Im Bezug auf die Sympathie mit den jungen Aktivisten kontrastiert Heißer Sommer am stärksten mit Derrière la vitre. Denn Merles Roman zeichnet durch die multiperspektivische Darstellung vieler verschiedener Figuren sowie durch die gelegentliche Ironie des Erzählers ein ambivalenteres, nicht so euphorisches Bild von den Aktivisten. Bei Lenz liegt der Fokus der Erzählung noch stärker auf der Reflexion des Protagonisten. Dieses Werk widmet sich der unmittelbaren Zeit nach dem Abflauen der Studentenbewegung, also der Zeit, in der der Protagonist schon viele Zweifel und Fragen zu seiner Teilnahme an der Studentenrevolte in der Bundesrepublik hat. Lenz wie auch Ullrich ist gemeinsam, dass sie sich nach dem Höhepunkt der 1968er-Studentenbewegung an einem Scheideweg befinden, was sie zwingt, über ihren weiteren gewünschten Lebensweg nachzudenken. Ihre Reflexionen sind hauptsächlich prospektiv: Was von nun an machen? Indem sie noch an die Möglichkeit zu handeln und mitzubestimmen glauben, reflektieren Ullrich und Lenz über die unmittelbare Vergangenheit und versu‐ chen, mit dem Blick auf die Zukunft ihren Lebensweg anzupassen. Es bleibt die Analyse des spanischen Romans Condenados a vivir. Anders als das, was in den anderen Texten wahrnehmbar ist, in denen eine Generation in den Vordergrund rückt, bietet der spanische Roman beiden Generationen eine Bühne. Er setzt sie durch direkte Rede buchstäblich in Szene und widmet beiden, da sie gleich viele Gesprächsanteile haben, auch gleich viel Erzählzeit (siehe Kapitel 2.4.2). Der heterodiegetische und allwissende Erzähler tritt in den Hintergrund, um Türen für die Figuren der Kinder- und der Elterngene‐ ration zu öffnen und darzustellen, was sie machen, denken und fühlen. Die 267 3.4 Aktion und Reflexion Option für die Nullfokalisierung (nach Genette) genauso wie der Raum für die dramatisierten Szenen entsprechen dieser Erzählweise. In den Dialogen untereinander offenbaren die Jungen und die Alten nicht nur ihre Erlebnisse in den bewegten 1960er-Jahren, sondern auch ihre Sorgen und Zweifel über diese auf soziopolitischer und persönlicher Ebene turbulenten Zeiten. Aber als Gegenpol zu der Fülle von dramatisierten Szenen bleiben die Momente der Introspektion aus. Mit der Ausnahme von Margot im Dialog mit Pater Saumells gibt es wenige Figuren in der älteren Generation, die über die Zeiten des Wandels nachdenken. Die Sorgen der Eltern konzentrieren sich auf das Privatleben und auf die Alltagsprobleme. Und selbst im Fall der jungen Generation treten nur Pedro und Laureano als nachdenklicher hervor. Vor allem der letztgenannte junge Mann befragt sich selbst im Hinblick auf die Wirkungen der Erfahrungen von sex, drugs & rock’n’roll, die er während der Phase des größten Erfolgs seiner Rockband erlebte (siehe Kapitel 3.3.2). In Condenados a vivir scheint die Strategie zu sein, die Figuren in Aktion und nicht in Reflexion darzustellen. Die in dieser Arbeit untersuchten Texte widmen sich auf unterschiedliche Weise der Reflexion von jungen und nicht mehr jungen Figuren über die Erfahrungen eines jeden Einzelnen in den Zeiten der akademischen Unruhen und der Studentenbewegung. So wie es auch in der Verarbeitung des politischen Aktivismus und der freien Liebe im Rahmen der sexuellen Revolution und des Sittenwandels festzustellen ist, liegt auch der Fokus beim Schaffen von Momenten der Introspektion darin, nicht zu verallgemeinern, sondern zu vereinzeln, was die Jungen und die Alten über diese Epoche, und wie sie sie beeinflusst, denken. In diesem Prozess der Individualisierung der Erlebnisse und der Reflexionen gibt es Berührungspunkte zwischen den Generationen der Eltern und der der Kinder. Den Älteren, wie Jo-o Gilberto oder dem Protagonisten von I giorni del dissenso (und selbst Frémincourt in Derrière la vitre), ist das Unsicherheitsgefühl gemeinsam, entstanden aus den Ereignissen am Ende der 1960er-Jahre, die jeder von ihnen mit Neugier, aber auch mit einer gewissen Besorgnis beobachtet. Das ist so, weil diese Ereignisse Veränderungen ankündigen, die die älteren Figuren zwingen, sich selbst in Frage zu stellen sowie ihre Überzeugungen der Gegenwart und der Vergangenheit zu hinterfragen, um ihre Rolle in der Gesellschaft zu finden. Mit eher auf die Gegenwart gerichteten Sorgen, wie im Fall von Derrière la vitre, oder eher prospektiver, wie es bei Ullrich und Lenz in den deutschen Werken zu lesen ist (oder selbst gelegentlich bei Pedro und Laureano in Condenados a vivir), fragen sich auch die jungen Figuren, wer sie sind, was sie antreibt und wie ihr Beitrag zur Veränderung der Gesellschaft aussehen kann. Junge und Alte sind zugleich Akteure und Beobachter in einer Zeit heftiger soziokultureller und persönlicher Unruhen, 268 3 Gegenüberstellung der literarischen Darstellungen von 1968 in den Prosawerken indem sie sich mal (mit mehr oder weniger Engagement) für das Sich-Einsetzen und die Teilnahme an den Protesten der Studentenbewegung entscheiden und mal über die individuellen und kollektiven Wirkungen davon reflektieren. 269 3.4 Aktion und Reflexion Fazit Am Ende dieser Studie sollen nun die wichtigsten Aspekte des Vergleichs der Darstellungen der Jugend und des Generationenkonfliktes am Ende der 1960er-Jahre in Westeuropa zusammengefasst werden. Dabei werde ich die verschiedenen Teile meiner Arbeit nacheinander durchgehen, mit dem Ziel, ein differenziertes Bild der Ähnlichkeiten und Unterschiede zu zeichnen, die bei der Fiktionalisierung des Generationenkonfliktes und der Studentenunruhen in den sechs untersuchten Prosawerken der deutschen, französischen, italienischen, spanischen und portugiesischen Literatur auftauchen. Lenz (1973) von Peter Schneider, Heißer Sommer (1974) von Uwe Timm, Derrière la vitre (1970) von Robert Merle, I giorni del dissenso (1968) von Giorgio Cesarano, Condenados a vivir (1971) von José María Gironella und Sem Tecto, entre Ruínas (1979) von Augusto Abelaira rücken die Erfahrungen verschiedener junger und nicht mehr junger Figuren in den Vordergrund, die an den soziopolitischen Unruhen, die in zahlreichen Ländern in Westeuropa in den 1960er-Jahren sichtbar wurden, beteiligt sind. Es sei daran erinnert, dass alle Autoren direkt oder indirekt die unruhigen Zeiten von 1968 erlebten und dass die sechs Werke in jenem Jahr oder in den Jahren (kurz) danach geschrieben wurden, auch der Roman von Abelaira, der aus politischen Gründen erst nach der Revolution vom April 1974 veröffentlicht werden konnte. Die in den Werken erzählte Zeit ist die der Studentenunruhen, des Aufruhrs in den Universitäten, der Forderungen nach Veränderungen der akademischen Strukturen und der Versuche, die Gesellschaft politisch zu verändern, wie auch die Zeit der Ge‐ genkultur. Im Grunde genommen, und wie es in der zeitgeschichtlichen und soziokulturellen außerliterarischen Kontextualisierung der Studentenunruhen von 1968 gewidmeten Kapitel deutlich wurde, war dies die Zeit, in der die jungen Menschen versuchten, in der Bundesrepublik, in Frankreich, in Italien und sogar in Spanien und Portugal gegen das Establishment zu rebellieren und alternative Weisen, auf die Realität zu schauen, zu behaupten. Es ist unbestreitbar, dass der soziopolitische Kontext der ausgewählten Werke jeweils unterschiedlich ist und dass diese Zeit des Aufruhrs verschiedene Gründe und Auswirkungen in jedem der untersuchten literarischen und kultu‐ rellen Räume hat. Während man in Spanien und in Portugal in den 1960er-Jahren noch unter einer Diktatur lebte, waren die Bundesrepublik, Frankreich und Italien Demokratien. Diese ganz andere Wirklichkeit nimmt großen Einfluss auf das Verhalten der Figuren in den Werken, indem sie ihre Weltsicht, ihren Einsatz bei den politischen Aktionen sowie ihre Art und Weise, ihren Dissens zu äußern, bedingt. Die junge deutsche, französische und italienische Generation der 1960er-Jahre, die in den Texten von Timm, Schneider, Merle und Cesarano dargestellt wird, neigt dennoch dazu, die Regierungen und die Universitäten, an denen sie die meiste Zeit verbringt, als autoritäre und repressive Institutionen anzusehen, weit entfernt von dem, was sie als Vorbilder für Demokratie und Gleichheit betrachtet. Und es ist diese junge Generation, die die Zügel des Protestes an sich reißt und den politischen Widerstand anführt. Sie fordert mehr Freiheit, Gleichheit und Modernität in den Universitäten und in der Gesellschaft. Trotz der Einschränkungen des Franco- und Salazar-Regimes, die auch in den Romanen Gironellas und Abelairas spürbar sind, versuchen auch die jungen Spanier und Portugiesen beider Werke, sich dem Aufruhr und den Protesten an‐ zuschließen: Sie grenzen sich von der Elterngeneration ab, rebellieren gegen das Establishment und lassen sich von den Idealen des Wandels und der Befreiung anregen. Diese Ideale sind dieselben wie die der jungen Menschen in Heißer Sommer, Lenz, Derrière la vitre und I giorni del dissenso. Darüber hinaus muss auch betont werden, dass es Ähnlichkeiten zwischen den jungen Figuren aller Werke gibt, was ihren sozialen Hintergrund anbelangt. Die Mehrzahl gehört zu der Mittel- und Oberschicht und teilt nicht nur die konservative bürgerliche Erziehung, sondern auch den Willen, das konservative soziale Umfeld heraus‐ zufordern, in dem sie aufwuchs. Auch die Angehörigen der älteren Generation, im Allgemeinen gebildete und wohlhabende Menschen aus dem bürgerlichen Milieu, bleiben angesichts der Haltung und des Verhaltens der Kinder nicht gleichgültig und fragen sich, welche Konsequenzen und Auswirkungen der Generationenkonflikt und die dadurch entfesselte Protestwelle auch für sie selbst haben. Jeder einzelne Text der vorliegenden Arbeit zeigt auf seine eigene Art und Weise die Widerstandserfahrungen der jungen Generation auf, indem verschie‐ dene Blickwinkel eingenommen werden, um die kaleidoskopische außerlitera‐ rische Wirklichkeit und die sehr heterogene Zeit der Unruhen zu bearbeiten. Diese Heterogenität zeigt sich in den Zielen der Revolte (eher soziopolitisch oder eher kulturell) wie auch in der Vielzahl der Protestformen (eher gewagter oder zurückhaltender, organisierter oder spontaner), die die jüngeren Figuren wählen, um ihre Empörung über den Status quo auszudrücken. Die Fiktionali‐ sierung der mit der Studentenbewegung in der Bundesrepublik, in Frankreich, Italien, Spanien und Portugal verbundenen Ereignisse eröffnet durch diese He‐ terogenität zahlreiche Möglichkeiten für das Handeln und Erleben der Figuren. Obwohl sie keine historischen Dokumente sind, stellt jedes der Werke ein fiktionales Bild jenes zeitgeschichtlichen Kontextes dar, dessen Ereignisse mit 272 Fazit der Diegese verwoben und mit der individuellen Wirklichkeit der Hauptfiguren verbunden sind. In allen Werken sind diese Ereignisse bestimmend für die Entwicklung der jüngeren wie der älteren Figuren, dafür, dass sie wahrnehmen, was um sie herum passiert, und indem sie sich fragen, ob es wert ist, an der Veränderung der Gesellschaft mitzuwirken und teilzunehmen. In der Tat bleibt keine der Figuren unbetroffen von der in den Werken dargestellten Atmosphäre der Befreiung und des Widerstands, mit der sie direkt oder indirekt in Berührung kommen. Diese Atmosphäre ist - wie im zweiten Kapitel anhand einer ersten Darstellung der Werke dargelegt wurde - ausschlaggebend für die Entscheidung der diversen Protagonisten, sich für den politischen Aktivismus einzusetzen und für die Neigung der Jüngeren, sich den verschiedenen Tendenzen der sexuellen Revolution und dem Sittenwandel hinzugeben. Wichtig ist festzuhalten, dass es in den Texten keine allgemeine, stereotype Darstellung der Generation der Kinder und der Eltern gibt. Jede Figur reagiert und handelt individuell und gemäß der eigenen Persönlichkeit, den geerbten Werten, dem spezifischen Lebenslauf, den jeweiligen Beweggründen, den In‐ teressen und den politischen und sozialen Verpflichtungen. Auf diese Weise stellen Heißer Sommer, Lenz, Derrière la vitre, I giorni del dissenso, Condenados a vivir und Sem Tecto, entre Ruínas ein facettenreiches und heterogenes Bild des Generationenkonfliktes und der akademischen Unruhen dar, indem sie anschaulich von den Erlebnissen und Reflexionen der Jüngeren wie der Älteren in jenen unruhigen Zeiten erzählen. Trotz dieser Heterogenität und der individuellen und nationalen Unter‐ schiede ist hervorzuheben, dass es Berührungspunkte gibt, die alle Werke durch‐ ziehen. Sie tragen dazu bei, die literarischen Darstellungen der Studentenrevolte und der politischen und soziokulturellen Spaltungen sowie die Generationsab‐ grenzung am Ende der 1960er-Jahre zu gestalten. Wie im dritten Kapitel deutlich wurde, ist der Generationenkonflikt einer dieser Berührungspunkte zwischen den untersuchten Texten. Wenn auch mit unterschiedlichen Abtönungen wird der Generationenkonflikt durch eine klare Abgrenzung zwischen den Jungen und Alten gekennzeichnet. Der Grund dieser Abgrenzung - auch generation gap genannt - liegt in einem Graben zwischen Weltanschauungen, Lebensstilen und -weisen sowie zwischen verschiedenen Formen, in Gemeinschaft zu sein. Die manchmal diametral entgegengesetzten Denkweisen über Gegenwart und Zu‐ kunft, sei es individuell oder kollektiv, verdeutlichen die Divergenzen zwischen jungen und nicht mehr jungen Figuren in den Zeiten der Studentenproteste und des Widerstands gegen das Establishment, die sowohl im akademischen Milieu als auch im familiären Umfeld auftauchen. Besonders in Heißer Sommer und Derrière la vitre werden die Zeichen des Dissenses in der universitären 273 Fazit Welt zwischen Studenten und Professoren deutlich. Beide Romane betonen in erster Linie die Versuche der studentischen Figuren, die Universitäten zu demokratisieren, indem sie Veränderungen in einem Hochschulsystem fordern, das weder Offenheit noch Dialog zwischen Studenten und Dozenten aufweist. Für viele dieser jungen deutschen und französischen Frauen und Männer beider Werke sind die Professoren, mit denen sie täglich auf dem Campus zu tun haben, autoritäre und anmaßende Menschen, Symbole einer unflexiblen insti‐ tutionellen Macht. Diese Beschreibungen von Autoritarismus und anmaßendem Verhalten, die die jungen Figuren mit der älteren Generation verbinden, lassen sich auch in Lenz und in I giorni del dissenso finden. Sowohl im deutschen als auch im italienischen Werk nehmen die Studenten Verachtung der Älteren in Bezug auf ihre Veränderungsversuche in den Universitäten wahr, und trotz der Spannungen nehmen sie sich nicht zurück, sondern versuchen sie, sich gegen die Angehörigen der älteren Generation durchzusetzen und ihre Ideen auszudrücken. In Condenados a vivir und Sem Tecto, entre Ruínas ihrerseits wird der Generationenkonflikt vor allem im Familienkontext deutlich. Ähnlich wie Ullrich in Heißer Sommer oder wie die studentischen Protagonisten in Derrière la vitre zeigen die Kinder in den iberischen Romanen ihre Unzufriedenheit mit der Lebensweise der Eltern und kritisieren deren Welt der Äußerlichkeiten und die Priorität, die sie dem sozialen, ökonomischen und finanziellen Wohlstand einräumen. Unabhängig von der einzelnen Familiensituation jeder der jungen Figuren in diesen Texten ist die Entfremdung zwischen Eltern und Kindern offenkundig. Sei es durch ruhige Gespräche oder heftige Diskussionen konfron‐ tieren sie einander offen und bringen dadurch das zum Ausdruck, was sie trennt: die verschiedenen Weltanschauungen, die ideologischen Überzeugungen und die unterschiedlichen Auffassungen von der Gesellschaft. Ein anderer in allen Texten vorkommender Aspekt ist der politische Akti‐ vismus. Er ist ein Hauptmerkmal des Ethos der Mehrheit der jungen Menschen - in der Mehrzahl Studenten - in allen Werken und charakterisiert sich haupt‐ sächlich durch den Wunsch der jungen Generation, mit dem Establishment zu brechen, die Gesellschaft zu verändern und die herrschenden Strukturen der Universitäten und des Regierungsapparates zu revolutionieren. Die Momente des antiautoritären Kampfes und die Beweggründe der jungen Menschen, an der Studentenrevolte teilzunehmen, prägen die Diegese eines jeden Textes und manifestieren sich unterschiedlich, abhängig sowohl von den individuellen Dispositionen der verschiedenen Figuren als auch von den Einschränkungen des politischen und soziokulturellen Raumes, in dem sie sich bewegen. Nichts‐ destotrotz ist den meisten der Wille gemeinsam, eine gerechtere, freiere und gleichere Gesellschaft aufzubauen, die an den Reformideen der Linken und dem 274 Fazit offenen Widerstandsgeist orientiert ist. Der Widerstand zeigt sich auf vielfältige Weise (Bau von Barrikaden, Demonstrationen auf den Straßen und Versamm‐ lungen in den Fabriken, Besetzungen von Fakultäten, Skandieren von Slogans, Singen von Liedern, Verfassen von Flugblättern u. a.) und folgt einer breiten Palette von Protestzielen. Am Anfang in den Universitäten und dann auf den Straßen setzen sich die jungen Menschen der untersuchten Prosawerke für die Hochschulreform und für das Ende des Autoritarismus im akademischen Milieu ein. Zugleich kämpfen sie für die Meinungsfreiheit in der Presse und klagen die parteiische Weise an, in der die Medien die Studentenproteste berichten - in der Regel verbreiten sie ein negatives Bild der Studenten in der Öffentlichkeit. Darüber hinaus gibt es viele junge Figuren, die sich auch der Sache der Arbeiter annehmen und sich mit dem Arbeiterkampf solidarisieren. Mal mehr, mal weniger erfolgreich versuchen sie, mit den Arbeitern in den Fabriken in Kontakt zu kommen, um zunächst einmal die sozialen Ungerechtigkeiten ihres Alltags abzuschaffen. Mit diesem Willen, die Gesellschaft zu verändern, widmen sie sich darüber hinaus auch den brennenden Fragen der internationalen Ereignisse. Sie solidarisieren sich mit den Befreiungsbewegungen der sogenannten Dritten Welt, demonstrieren für die Beendigung des Vietnamkrieges und der europäi‐ schen und außereuropäischen Diktaturen und wiederholen ihre Forderungen nach dem Ende von Kolonialismus und Rassendiskriminierung. Die große Vielfalt sowohl der Ziele als auch der Protestformen trägt dazu bei, dass das in den verschiedenen Texten dargestellte Bild des politischen Aktivismus nicht gleichförmig, sondern sehr heterogen ist. Außerdem soll hervorgehoben werden, dass es viele Differenzierungen gibt, nicht nur, was die Beweggründe der jungen Figuren betrifft, an Protestaktionen teilzunehmen, sondern auch, was den Grad des Engagements anbelangt. Mal zurückhaltender, mal engagierter, angetrieben entweder aus Neugier, aus Gruppengeist oder aus radikalen ideologischen Überzeugungen, bleiben die Studenten in Heißer Sommer, Lenz, Derrière la vitre, I giorni del dissenso, Condenados a vivir und Sem Tecto, entre Ruínas in jenen bewegten Zeiten nicht gleichgültig gegenüber den Unruhen. Und selbst diejenigen, die sich am Rande des Geschehens halten, verfolgen den Verlauf des Aufruhrs mit einem gewissen Interesse. Im Grunde genommen bearbeiten alle Texte die vielfältigen Facetten des politischen Ak‐ tivismus. Sie fiktionalisieren zahlreiche ideologische Richtungen im Rahmen des linken Lagers und verschiedene Formen, wie die in den dargestellten Prosawerken jungen Sympathisanten der Linken sich an der Veränderung der Gesellschaft beteiligen. Somit bilden sie die engagierte junge Generation nicht als einen einheitlichen Block, sondern als eine vielseitige Gruppe von Figuren 275 Fazit ab, die auf ihre eigene Weise auf die soziopolitischen Reize am Ende der 1960er-Jahre reagieren und entsprechend handeln. Diese heterogene, abgestufte Darstellung beschränkt sich nicht nur auf den politischen Aktivismus, sondern erstreckt sich auch auf die Erlebnisse der jungen Generation im Rahmen der sexuellen Revolution und des Sittenwandels. Für die jungen Figuren aus den verschiedenen Texten beschränkt sich der Kampf gegen das Establishment nicht auf das Politische, sondern er bedeutet für sie auch eine Veränderung der Einstellungen und den Bruch mit dem traditionell bürgerlichen Ethos der Generation ihrer Eltern. So gibt es viele junge Menschen in Heißer Sommer, Lenz, Derrière la vitre, I giorni del dissenso, Condenados a vivir und Sem Tecto, entre Ruínas, die in der Zeit der roaring sixties das Motto sex, drugs & rock’n’roll zu dem ihren machen und sich der sexuellen Befreiung und den alternativen Verhaltensweisen der Gegenkultur anschließen. In einigen Fällen zeigt sich der Wunsch, Regeln und Tabus durch die freie Liebe zu brechen, indem einige Texten von ungehemmtem Partnertausch und Beziehungen ohne Verpflichtungen erzählen. In anderen Fällen kommt die Unzufriedenheit mit den etablierten Sitten zum Ausdruck durch die Erfahrungen mit Drogen, durch das gemeinsame Leben in Wohngemeinschaften und Kommunen bis zur Neigung, das Hippieleben zu entdecken, das so en vogue am Ende der 1960er-Jahre war. Meistens werden diese jungen Menschen von Neugier, Mode oder Gruppen‐ druck angetrieben, aber es gibt auch eher politisierte Figuren, die sich dem Rebell-Sein aus ideologischer Überzeugung hingeben. Diese glauben daran, dass sie zu Recht auf Kollisionskurs mit dem Status quo und dem moralischen Wertekodex sind, der ihrer Erziehung zugrunde liegt. Auch die von den jungen Figuren empfundene Notwendigkeit, über ihre Erlebnisse zu reflektieren, zieht sich durch alle Werke. Sie begnügen sich nicht damit zu experimentieren und sich auszuleben, sondern wägen individuell ab, was für sie das Ausprobieren der sexuellen Befreiung und der freien Liebe als Form des Protestes bedeutet, indem sie die kurz- und längerfristigen Konse‐ quenzen bedenken. Sei es durch eine direkte Darstellung dieser Reflexionen, sei es durch Gespräche, die von ihren Gedanken Zeugnis ablegen, öffnen sich Heißer Sommer, Lenz, Derrière la vitre, I giorni del dissenso, Condenados a vivir und Sem Tecto, entre Ruínas der intimen Welt einzelner Protagonisten der Revolte. So wird der Prozess der Selbstreflexion eines jeden Einzelnen in Zeiten der Veränderung der Gewohnheiten und Verhaltensweisen im sexuellen und soziokulturellen Bereich dargestellt. Es soll unterstrichen werden, dass diese Reflexionen sich nicht nur auf die Ursachen und Folgen der sexuellen Revolution und des Sittenwandels konzen‐ trieren. Sie weiten sich auf die politischen und soziokulturellen Ereignisse aus, 276 Fazit auf das, was die Alten und die Jungen verbindet oder trennt, sowie auf die Rolle eines jeden Einzelnen bei der Veränderung der Gesellschaft. Der Raum für Reflexion ist etwas größer in Heißer Sommer, Lenz, Derrière la vitre, I giorni del dissenso und Sem Tecto, entre Ruínas. In diesen Werken gibt es Figuren, die gleichzeitig Akteure und Beobachter jener Zeit des Aufruhrs sind. Sie beschränken sich nicht darauf zu handeln und an den Ereignissen mitzuwirken, sondern denken auch über sie nach. In diesem Reflexionsprozess befinden sich vor allem die Vierzigjährigen von I giorni del dissenso und Sem Tecto, entre Ruínas - zwei Texte mit mehr Reflexion als Aktion -, die darüber nachdenken, was um sie herum geschieht. Sie beobachten interessiert die jungen Aktivisten aus dem Jahre 1968 in Italien und in Portugal, versuchen die Interventionsfähigkeit der jungen Generation, mit der sie täglich Kontakt haben, einzuschätzen und sich gleichzeitig über ihre eigene revolutionäre Vergangenheit und über die Gründe ihrer Verbürgerlichung klar zu werden. Aber auch die jungen Protagonisten in den deutschen und französischen Werken entwickeln Einschätzungen jener Epoche, indem sie sich fragen, wer sie sind, was sie antreibt und, vor allem in Heißer Sommer und in Lenz, was sie zur Veränderung der Gesellschaft beitragen können. Eigentlich ist jeder in einem Prozess der Identitätsfindung und versucht sich an die Umwälzungen in einer öffentlich und privat kritischen Zeit anzupassen. Neben diesen Fragen, die alle Werke durchziehen und die Achse der Diegese bilden, gibt es noch ein weiteres bestimmendes Merkmal, welches Heißer Sommer, Lenz, Derrière la vitre, I giorni del dissenso, Condenados a vivir und Sem Tecto, entre Ruínas zusammenbringt. In allen diesen Werken zeigt sich ohne Aus‐ nahme eine gemeinsame Anstrengung, die junge Generation und die der Eltern zu differenzieren oder genau genommen zu individualisieren, d. h. in vielfältigen Nuancen zu zeigen, wie beide Generationen den Generationenkonflikt, den politischen Aktivismus, die sexuelle Revolution und den Sittenwandel erfahren. So werden in diesen Werken durch die Individualisierung der Figuren und der Ereignisse Gemeinplätze, Stereotype und Verallgemeinerungen vermieden. Nicht alle jungen Menschen sind radikale politische Aktivisten, nicht alle öffnen sich der freien Liebe, den Drogenerfahrungen oder der Hippiebewegung auf eine extreme Weise und nicht alle befinden sich im Krieg mit ihren Eltern. Und auch auf die Älteren trifft das typisierte Bild vom konservativen Bürgertum nicht immer zu. Auf diese Weise wird durch das facettenreiche Porträt in den unter‐ suchten Texten die »Versuchung« einer Glorifizierung der Studentenbewegung und der jungen Generation verhindert. Was in den meisten Werken deutlich ist, ist eine ausgewogene Perspektivierung, nah an der von den gebildeten sozialen Kreisen (der Studenten oder der Mittel- und Oberschicht) erlebten 277 Fazit Realität und angebunden an eine Gruppe von mal gemäßigteren, mal politisch engagierteren Figuren, die sich im Rahmen des linken Lagers bewegen. Diese Perspektivierung beschränkt sich jedoch nicht nur auf diese Realität, sondern öffnet sich zu denen, die in ihrem Verhalten konservativer sind, wie auch zu denen, die sowohl gegen die Revolte der jungen Generation als auch gegen ein linksorientiertes Programm opponieren. Es sei daran erinnert, dass es selbst in Heißer Sommer, dem Text, der das positivste Bild von der Periode der Revolte und der unmittelbaren Zeit nach 1968 entwirft, und in Il giorni del dissenso, der sehr von der Begeisterung des älteren Erzählers für die revolutionäre Kraft der jungen Menschen geprägt ist, Raum für die Schattenseiten der Revolution gibt. Tatsächlich beschäftigt sich jedes der Prosawerke mit der Komplexität und der Vielfalt der Ereignisse und Erfahrungen, die den politischen, sozialen und kulturellen Alltag am Ende der 1960er-Jahre in Westeuropa prägten. Die Erforschung der akademischen Unruhen und des Generationenkonfliktes in der Literatur aus einer transnationalen Perspektive ist ein weites Untersu‐ chungsfeld und bietet einen Fundus breiter Möglichkeiten. In dieser Arbeit wurde die Analyse der erwähnten Fragen auf einige Werke beschränkt, aber andere Texte (besonders aus der deutschen Literatur, wie zum Beispiel Von einem, der auszog, GELD zu verdienen von Peter-Paul Zahl oder Ein Hai in der Suppe oder das Glück des Philipp Ronge von Roland Lang) und andere literarische und kulturelle Räume (namentlich aus den Niederlanden und aus Belgien innerhalb von Westeuropa oder aus den USA im Rahmen einer breiteren westlichen Sichtweise) könnten herangezogen werden. Die vorliegende Studie soll ein erster Beitrag zu einer dem Thema 1968 gewidmeten transnationalen komparatistischen Analyse sein. Im Verlauf der folgenden Jahrzehnte ist das In‐ teresse an 1968 nicht verblasst und es gibt nicht nur Autoren wie Peter Schneider und Uwe Timm, die das Thema noch einmal aufgenommen haben (siehe Kapitel 2.1.1), sondern auch weitere Autoren (Michel Houellebecq, Leonello Zaquini oder noch Romano Luperini, um nur einige zu erwähnen), die sich in jüngsten Werken in Europa - und nicht nur da -, mit dieser Zeit des soziopolitischen Aufruhrs in der Geschichte des 20. Jahrhunderts beschäftigen. Es wäre auch in der Zukunft interessant, auf dieses Untersuchungsfeld zu setzen und die Untersuchung der Darstellungen der Jugend und der Studentenbewegung am Ende der 1960er-Jahre mit jüngeren literarischen Texten fortzusetzen. 278 Fazit Literaturverzeichnis Primärliteratur ABELAIRA, Augusto (1979) - Sem Tecto, entre Ruínas, Lisboa, Livraria Bertrand. BORN, Nicolas (1976) - Die erdabgewandte Seite der Geschichte, Reinbek, Rowohlt. 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Das Buch weitet damit die Forschung zur »literarisierten Revolte« (R. Schnell) auf Westeuropa aus.