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Gesprächsrhetorik

1996
978-3-8233-3001-1
Gunter Narr Verlag 
Werner Kallmeyer

Gespräche sind ein zentrales Arbeitsmittel bei der Bearbeitung von Problemen und sozialen Konflikten in öffentlichen wie privaten, in formellen und Infor-mellen Situationen. Der vorliegende Band präsentiert einen von der linguistischen Gesprächsanalyse geprägten Ansatz ihr eine Rhetorik der Problem- und Konfliktbearbeitung. Die Beiträge des Bandes befassen sich mit einer Reihe von Thesen, die für die Kommunikation generell und für die belastete Kom-munikation insbesondere von Bedeutung sind und einen Schlüssel ihr das Verständnis sowohl des Gelingens als auch des Schein von sprachlicher Interaktion darstellen.

Werner Kallmeyer (Hrsg.) Gesprächsrhetorik Rhetorische Verfahren im Gesprächsprozeß gnw Gunter Narr Verlag Tübingen STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE 4 Studien zur deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Herausgegeben von Hartmut Günther, Reinhard Fiehler und Bruno Strecker Band 4 • 1996 Werner Kallmeyer (Hrsg.) Gesprächsrhetorik Rhetorische Verfahren im Gesprächsprozeß gnw Gunter Narr Verlag Tübingen Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Gesprächsrhetorik: Rhetorische Verfahren im Gesprächsprozess / Werner Kallmeyer (Hrsg.). - Tübingen: Narr, 1996 (Studien zur deutschen Sprache; Bd. 4) ISBN 3-8233-5134-6 NE: Kallmeyer, Werner [Hrsg.]; GT © 1996 • Gunter Narr Verlag Tübingen Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Druck: Müller + Bass, Tübingen Verarbeitung: Braun + Lamparter, Reutlingen Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 3-8233-5134-6 INHALT Werner Kallmeyer Einleitung 7 Was ist „Gesprächsrhetorik”? Werner Kallmeyer / Reinhold Schmitt Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 19 Zur Analyse von Kooperationsformen im Gespräch Wolfdietrich Hartung wir können darüber ruhig weitersprechen bis mittags 119 wenn wir wollen Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen durch das Ausdrücken von Gereiztheit Inken Keim Verfahren der Perspektivenabschottung und ihre 191 Auswirkung auf die Dynamik des Argumentierens Johannes Schwitalla Beziehungsdynamik 279 Kategorien für die Beschreibung der Beziehungsgestaltung sowie der Selbst- und Fremddarstellung in einem Streit- und Schlichtungsgespräch Werner Nothdurft Schlüsselwörter 351 Zur rhetorischen Herstellung von Wirklichkeit Anhang Erläuterungen zur Transkriptionsweise 419 WERNER KALLMEYER Einleitung 1. Was ist „Gesprächsrhetorik”? Gegenstand dieses Bandes ist nicht „Redekunst” im herkömmlichen Sinne, sondern das sprachliche Verhalten in der Interaktion. Im Zentrum stehen Eigenschaften der Gesprächsbeteiligung, die mit dem Versuch der Sprecher zu tun haben, sich durchzusetzen, sich in Auseinandersetzungen zu behaupten, recht zu behalten und plausibel und suggestiv Sachverhalte darzustellen. Formen der Beeinflussung anderer mit dem Ziel, sich durchzusetzen und recht zu behalten, sind klassische Gegenstände der Rhetorik und Dialektik. Gemessen am herkömmlichen Verständnis dieser Disziplinen erscheint allerdings die Bezeichnung „Gesprächsrhetorik” als eine befremdliche Zusammensetzung. 1 Das Etikett „Gesprächsrhetorik” als Ausdruck eines Programms das durch den Untertitel „rhetorische Verfahren im Gesprächsprozeß” etwas weiter angedeutet wird soll auf zwei Wegen plausibel gemacht werden, gleichsam defensiv und offensiv. Zum einen kann man auf die historische Entwicklung Bezug nehmen, die mit dem Wandel in der Rhetorikauffassung zu einer Verwischung der Grenzen zwischen Rhetorik und Dialektik geführt hat. Zum anderen, und das ist das stärkere und zentrale Argument, fußt die Vorstellung von „Gesprächsrhetorik” auf einer veränderten Sicht des sprachlichen Handelns, die insbesondere durch die verschiedenen Ansätze der Interaktionstheorie in der neueren Zeit geprägt ist; der Kernpunkt dabei ist, daß die Vorstellung vom Individuum, das seine Wirkungsabsicht versprachlicht, zu relativieren ist durch die Vorstellung vom Kommunikationsprozeß, in dem das Inviduum beteiligt ist, aber dessen Ereignisse und Resultate nicht die Summe der individuellen Wirkungsabsichten sind. Der geschärfte Blick für die grundlegende Bedeutung der Tatsache, daß die Individuen in sozial-kommunikativen Prozessen verstrickt sind, macht es notwendig, über die Eigenschaften des zielorientierten Sich- Außerns und seine Rhetorik neu nachzudenken. 2 Die unmittelbare sprachliche Interaktion ist dafür das Beobachtungsfeld schlechthin. Die Konzeptionen von Rhetorik und Dialektik haben sich bekanntlich in der historischen Entwicklung mehrfach verschoben. Bei der kurzen Skizze folge ich im wesentlichen Perelman 1980, der alte (Aristoteles), 1 Den Begriff „Gesprächsrhetorik” verwendet auch Geißner (1981), um die den modernen Gesellschaftsverhältnissen angemessene Art von demokratisch-dialogischer Rhetorik zu kennzeichnen. Unser konkretes Programm unterscheidet sich allerdings wesentlich von dem Geißners. 2 Zur historischen Entwicklung der Vorstellung vom sprachlichen Wirken des Individuums vgl. auch Nothdurft in diesem Band. 8 Warner Kallmeyer klassische (Quintilian, Ramus) und neue Rhetorik (Perelman/ Olbrechts- Tyteca 1958) unterscheidet (Perelman 1980, S. Iff.). Sehr grob zusammengefaßt kann man sagen, daß die alte Rhetorik die funktionale Bestimmung „Überzeugen/ Überreden” mit einer Unterscheidung nach dem Kriterium „monologisch/ dialogisch” und zudem teilweise nach dem Publikum verband: Die Rhetorik war auf die wirkungsvolle monologische - Rede in bestimmten Situationen wie der Gerichtsverhandlung und zu einem größeren Publikum festgelegt und die Dialektik auf die dialogische Auseinandersetzung mit einem einzelnen. Eine weitere Eigenschaft der alten Rhetorik war, daß sie die mit der wirkungsvollen Rede zusammenhängenden Teilaufgaben insgesamt und im Prinzip gleichgewichtig behandelte, also inventio, dispositio und elocutio. Mit der klassischen Rhetorik verselbständigte sich in der Weiterentwicklung des rhetorischen Programms die elocutio zu einer ausdifferenzierten Figurenlehre. In dieser Form prägt sie die literarische Rhetorik (vgl. u.a. Lausberg 1960). Die Dialektik hat ebenfalls ihre eigene Entwicklung genommen und ist zum einen fortgesetzt worden als Lehre der Schlußverfahren in Richtung auf die Entfaltung der Logik und in Richtung auf deren „Abarten” in der Eristik, Rabulistik, oder Sophistik. Zum anderen ist der Begriff Dialektik unter Bezug auf eine ihrer Grundfiguren - These-Antithese-Synthese in die Geschichtsphilosophie übertragen worden als verallgemeinertes Prozeßmuster historischer Entwicklungen; diese Verwendung hat den Sprachgebrauch so nachhaltig geprägt, daß heute der Begriff Dialektik in der Bedeutung „argumentative Auseinandersetzung” weitgehend verdrängt ist. Die „neue Rhetorik” des 20. Jahrhunderts, wie sie Perelman/ Olbrechts-Tyteca (1958) programmatisch geprägt haben, knüpft wieder an die ursprüngliche Konzeption an und korrigiert ausdrücklich die Verkürzung der Rhetorikvorstellung in der Tradition der elocutio. Vielmehr wird die Rhetorik wieder gesehen als zentrales Instrument der gesellschaftlichen Problem- und Konfliktbearbeitung. Die „neue Rhetorik” beinhaltet ihrerseits wiederum eine andere Verschiebung gegenüber der ursprünglichen Konzeption. Zum einen wird die kommunikationstypologische Orientierung der alten Rhetorik aufgegeben, z.B. die Trennung nach Publikumsformen. Perelman bestimmt als das „Reich der Rhetorik” alle Formen des Überzeugens/ Überredens unabhängig von der monologischen oder dialogischen Art der Kommunikation und unabhängig vom Offentlichkeitsgrad; auch das Selbstgespräch wird im Prinzip nicht ausgeschlossen. Zum andern wird als das grundlegende Verfahren des Überzeugens/ Überredens die Argumentation angesehen. 3 Argumentation in allen Spielarten wird bestimmend für die „neue Rhetorik”. Dabei wird ein weiter Argumentationsbegriff zugrundegelegt, der nicht mehr 3 Zur Konvergenz von Rhetorik und Dialektik in der modernen Argumentationstheorie vgl. auch Schreier/ Groeben (1990), S. 4ff. Was ist Gesprächsrhetorik 9 festgelegt ist auf den üblichen Ausgangspunkt, daß etwas strittig ist und der Adressat zur Aufgabe einer Auffassung oder zur Übernahme einer für ihn neuen Auffassung zu bewegen ist, sondern es genügt, daß eine Frage offen ist und verschiedene Lösungsmöglichkeiten geprüft werden das entspricht der ursprünglichen Bestimmung des rhetorischen Aufgabenbereichs als dem der „dialektischen Probleme”, bei denen die Zielfindung zur Aufgabe gehört und die Lösung nicht aus gegebenen Voraussetzungen logisch abgeleitet werden kann. 4 Folgerichtig ist nicht nur die Beeinflussung anderer im Sinne der Änderung ihrer Anschauungen Gegenstand der Rhetorik, sondern auch die Bestätigung und Festigung von Überzeugungen und Einstellungen, z.B. in der Festrede. Die Dialektik erscheint in der „neuen Rhetorik” als ein untergeordneter Spezialfall der strittigen Auseinandersetzung. Darin liegt nun wiederum eine Einseitigkeit. Dialektik wird damit auf die eristische Dialektik beschränkt. Es gibt jedoch keinen vernünftigen Grund, andere Modalitäten der gesprächsweisen wechselseitigen (oder auch einseitigen) Beeinflussung wie den maieutischen und den homiletischen Dialog oder auch die kooperative gesprächsweise Problemlösung auszuschließen. Der größte Unterschied des vorliegenden Ansatzes einer interaktionstheoretisch geprägten Rhetorik gegenüber den klassischen Vorbildern, sowohl der Rhetorik als auch der Dialektik, liegt in der Berücksichtigung der Einbettung des individuellen Handelns in den Interaktionsprozeß und die Auswirkung von dessen Eigenschaften wiederum auf die rhetorischen Verfahren der Interaktionsbeteiligten. Zentrale Gesichtspunkte für unsere Konzeption sind: - Das individuelle Handeln ist prinzipiell abhängig von der Kooperation anderer. - Interaktion hat Prozeßcharakter und beinhaltet grundsätzlich die Möglichkeit zu „situationsemergenten” Entwicklungen. 5 - Die Beteiligten verstehen das laufende Geschehen im Prinzip nur partiell. - Ihre Möglichkeiten, das Geschehen zu kontrollieren, sind prinzipiell begrenzt (wegen der Beteiligung anderer und der Prozeßdynamik). Der interaktionstheoretisch fundierte gesprächsanalytische Zugang unterscheidet die Gesprächsrhetorik von der klassischen Rhetorik-Konzeption. Mit dem neuen Zugang sind weitreichende Konsequenzen verbunden, so daß es nicht ausreicht, die bekannten rhetorischen Figuren im Gespräch 4 Wie viele der Komponenten der antiken Rhetorik erfährt auch dieser Aspekt in der Moderne eine spezialisierte Behandlung, und zwar in der kognitionspsychologischen Problemlösungstheorie. 5 Das Konzept der „situationsemergenten Entwicklung” wurde im Symbolischen Interaktionismus geprägt; vgl. u.a. Schütze (1987). 10 Werner Kallmeyer aufzusuchen und dadurch die Formulierungsleistung der Beteiligten zu beschreiben (vgl. u.a. Morel 1983), sondern es kommt darauf an, den gesprächsanalytischen Zugriff auf die klassisch-rhetorischen Gegenstände anzuwenden und neuartige Gegenstandsaspekte, die erst durch die Forschung zur verbalen Interaktion in den letzten Jahrzehnten sichtbar geworden sind, einzubeziehen. Die methodische Grundlage für die empirische Untersuchung ist Gesprächsanalyse. Die Zuwendung zu rhetorischen Fragestellungen bringt allerdings eine spezifische Akzentuierung des gesprächsanalytischen Programms mit sich. Die für die empirische Arbeit ungemein fruchtbare Leithypothese der ethnomethodologischen Gesprächsanalyse unterstellt der Interaktion Geordnetheit bis in kleinste Details, auch oder gerade in Zuständen scheinbarer Unordnung (vgl. u.a. Kallmeyer 1988). Diese Ausrichtung auf Ordnungsstrukturen der Interaktion bringt auch das Zusammenspiel von strukturellen Vorgaben („structural provision”) und dem Umgang der Sprecher mit ihnen („participants work ; vgl. Jefferson 1972, S. 315) in den Blick, d.h. die spezifische Beteiligungsleistung des Individuums. Dabei überwiegt jedoch tendenziell in der Perspektive der ethnomethodologischen Gesprächsanalyse die Ausrichtung auf die grundlegende Geordnetheit. Im Unterschied dazu konzentriert sich Gesprächsrhetorik auf die „Arbeit der Teilnehmer , und akzentuiert die Bedeutung ihrer Erfolgsorientiertheit: Die Beteiligten unterliegen dem interaktionsinhärenten Zwang zur Herstellung von Ordnung, aber ihre handlungspraktische Orientierung richtet sich auf das Verfolgen von Interessen; in der Beteiligtenperspektive hat Ordnung instrumenteilen Charakter, sie widmen ihr gerade soviel Aufmerksamkeit wie nötig und versuchen ansonsten, sie für ihre praktischen Zwecke zu instrumentalisieren. Der rhetorik-analytische Zugriff zeigt sich z.B. darin, daß nicht „turn-taking” oder vergleichbare Themen unter ordnungsstrukturellen Gesichtspunkten behandelt werden, sondern Formen der Beeinflussung und die Auswirkung spezifischer Bedingungen und Eigenschaften des Handelns auf die Durchsetzungsmöglichkeiten. In der Gesprächsanalyse taucht der Gesichtspunkt des rhetorischen Charakters von Äußerungen in der verbalen Interaktion bislang nur vereinzelt explizit auf (teilsweise mit dem Begriff „natürliche Rhetorik” bzw. „natural rhetorics”; vgl. u.a. d’Urso/ Leonardi 1984). Gesprächsrhetorik konzentriert sich also auf die praktisch-rhetorischen Probleme beim sprachlichen Handeln unter Interaktionsbedingungen. Auch wenn die Beteiligten in der Interaktion keine Gelegenheit haben, große Reden zu halten, gestalten sie ihre Beiträge rhetorisch. Diese Eigenschaft wird vor allem bei komplexeren Äußerungen sichtbar, ist aber im Kern unabhängig von der Länge des Redebeitrags. Auf eine Formel gebracht, geht es um „rhetorische Verfahren in interaktiven Prozessen”. Was ist Gesprächsrhetorik 11 Die einzelnen Züge des individuellen Handelns in der Interaktion bringen Chancen und Gefahren für die Durchsetzung der eigenen Interessen und die weitere Interaktionsentwicklung mit sich. Die rhetorische Analyse trägt dem durch die Darstellung von rhetorischen Potentialen sprachlicher Verfahren unter bestimmten Kontextbedingungen Rechnung, wobei die rhetorischen Potentiale durch Chancen und Risiken des Handelns verdeutlicht und Handlungsalternativen aufgezeigt werden. Mit der Darstellung von Chancen und Risiken ist kein normativer Anspruch verbunden. Die Gesprächsrhetorik ist deskriptiv. Die Beschreibung soll zwar Grundlagen für sprach- und kommunikationskritische Betrachtungen liefern, aber primär ist die Darstellung auf die faktische Kommunikationspraxis ausgerichtet, d.h. die tatsächlich verwendeten Verfahren der Beeinflussung in der Problem- und Konfliktbearbeitung und ihre Wirksamkeit. Man kann in dieser Hinsicht an die Eristische Dialektik Schopenhauers anknüpfen (1970). Interessant an Schopenhauers Eristischer Dialektik ist der Versuch, die tatsächliche Kommunikationspraxis ernst zu nehmen und Dialektik im Kern damit zu einer empirischen Wissenschaft zu machen, die sich mit dem Problemlösungspotential der „natürlichen” Verfahren der Auseinandersetzung beschäftigt (Schopenhauer spricht von der „ursprünglichen und natürlichen Dialektik”, 1970, S. 676). 6 Die zunächst wertfreie Zuwendung zur alltagsweltlichen Praxis der Auseinandersetzung ist in Rhetorik und Dialektik kaum zum Tragen gekommen. Darin wirkt sich die lange, im Grunde seit Platons Auseinandersetzung mit den Sophisten im „Gorgias” geführte Diskussion um das Verhältnis von Rhetorik und Dialektik zur Wahrheit bzw. Moral aus. In der neueren praktischen Rhetorik werden z.B. eristische Verfahren vielfach als unfaire bzw. unkooperative Züge unter Rubriken wie „Taktiken”, „manipulative Techniken” oder auch „schmutzige Tricks” beschrieben, die in den „Giftschrank der Rhetorik” gehören (vgl. z.B. Hartig 1988). Relativ selten werden derartige Verfahren als den meisten Handlungssituationen angemessen und 6 „Die Dialektik als solche muß bloß lehren, wie man sich gegen Angriffe aller Art, besonders gegen unredliche verteidigt, und ebenso wie man selbst angreifen kann, was der Andre behauptet, ohne sich selbst zu widersprechen und überhaupt ohne widerlegt zu werden” (Schopenhauer 1970, S. 675). „Da nun in diesem Sinne die Dialektik bloß eine auf System und Regel zurückgeführte Zusammenfassung und Darstellung jener von der Natur eingegebnen Künste sein soll, deren sich die meisten Menschen bedienen, wenn sie merken, daß im Streit die Wahrheit nicht auf ihrer Seite liegt, um dennoch Recht zu behalten; so würde es auch dieserhalb sehr zweckwidrig sein, wenn man in der wissensschaftlichen Dialektik auf die objektive Wahrheit und deren Zutageförderung Rücksicht nehmen wollte, da es in jener ursprünglichen und natürlichen Dialektik nicht geschieht, sondern das Ziel bloß das Rechthaben ist. Die wissenschaftliche Dialektik in unserm Sinne hat demnach zur Hauptaufgabe, jene Kunstgriffe der Unredlichkeit im Disputieren aufzustellen und zu analysieren: damit man bei wirklichen Debatten sie gleich erkenne und vernichte” (Schopenhauer 1970, S. 676). 12 Werner Kallmeyer wirkungsvoll propagiert (dann allerdings auch wieder auf eine sehr unreflektierte und teilweise reißerische Weise). 7 Ein Strang der modernen Argumentationstheorie hat sich darauf konzentriert, unter Bezug auf die Weberschen Kategorien von Wert- und Zweckrationalität die Gelingensbedingungen von idealtypischer Argumentation in Form von Maximen herauszuarbeiten. 8 Die entscheidenden Prinzipien für das Problemlösungspotential von Argumentation sind dabei Rationalität und Kooperation; beide Prinzipien zusammen garantieren die Zieloptimierung; aus ihnen sind Standards für die „gute” Argumentation abzuleiten. Es ist fraglich, ob situative Variabilität von Normen und Leitvorstellungen der Kommunikation sowie darauf bezogene Bewertungskriterien als Bestandteil der Kommunikationspraxis der Gesellschaftsmitglieder damit angemessen beschreibbar werden (vgl. auch Kallmeyer/ Schmitt in diesem Band). Einen guten Zugang bieten neuere Arbeiten zur Alltagsargumentation, welche die Verwendungsweise und die interne Logik von klassischen und neu entdeckten Topoi untersuchen (vgl. Kienpointner 1992; Kindt 1992a u. 1992b). Die Gesprächsrhetorik soll die Behandlung „dialektischer Probleme” mit den Verfahren expliziter und impliziter Argumentation im Zusammenhang mit den grundlegenden Aspekten der Kommunikation wie die Kooperationsformen, die Verfahren der Verständigungsherstellung und der Etablierung von dargestellten Sachverhalten als „Wirklichkeit” behandeln. In der „alten Rhetorik” blieb z.B. die Berücksichtigung der Kooperationsformen im wesentlichen implizit und verknüpft mit spezifischen Gesichtspunkten wie den kommunikationstypologischen Überlegungen; in der „neuen Rhetorik” wird die kommunikationstypologische Orientierung aufgegeben, ohne für die Behandlung von Fragen der Kooperativität „Ersatz” zu schaffen. In der Theorie verbaler Interaktion wird die dialogische Sicht in dem Sinne radikalisiert, daß alles in der Interaktion gemeinsame Hervorbringung ist. Die Kooperation des andern ermöglicht überhaupt erst die Produktion von Äußerungen, diese werden in bestimmten Aspekten vom Adressaten mitgestaltet (bis in kleine Details hinein). Damit wird eine Klärung des Verhältnisses derartiger grundlegender Eigenschaften der sprachlichen Interaktion zur Rhetorik zwingend. Dasselbe wie für den Ko- 7 Schopenhauers Dialektik ist einer der wenigen systematischen Versuche in Verbindung mit einer positiven Deutung (den Versuch hat Schopenhauer allerdings selber letztlich aufgegeben). Ohne systematischen Anspruch, im Stil moralischer Betrachtungen, aber viel unterhaltsamer ist die Darstellung von Hamilton (1978), der im 18. Jh. für die Parlamentsdebatte eristische Verfahren als notwendige Mittel der Selbstbehauptung beschreibt. Unter Bezug auf Schopenhauer, aber mit moralisierend negativer Bewertung stellt Hartig (1988) ein Inventar eristischer Züge dar. - Zur praktischen Rhetorik vgl. u.a. Kallmeyer (1985), Hess-Lüttich (1990), Weigand (1994). 8 Zu idealtypisch orientierten und normativen Ansätzen vgl. u.a. Alexy (1978), Völzing (1979), Groeben/ Schreier/ Christmann (1990), Blickle/ Groeben (1990) u. Schreier/ Groeben (1990). Was ist Gesprächsrhelonk 13 Operationsaspekt in seinem Verhältnis zur Rhetorikkonzeption gilt für die Verständigungssicherung. Auch sie ist einerseits Bestandteil von Rhetorik im alten Sinne, andererseits handelt es sich dabei um einen grundlegenden Aspekt von Kommunikation, der ebenso wie die Kooperation — als Voraussetzung für die rhetorische Beeinflussung im engeren Sinne fungiert. In der „Gesprächsrhetorik” geht es jeweils darum, wie Schwierigkeiten und Komplikationen im Zusammenhang mit den genannten grundsätzlichen Eigenschaften von Kommunikation für das zielorientierte, persuasive Handeln der Beteiligten relevant werden. Dabei gibt es durchgehend zumindest zwei Arten, in denen die konstitutiven Aspekte relevant werden: in ihrer Funktionalisierung für Persuasion, Durchsetzungs- und Problemlösungsanstrengungen und als problematische oder ungesicherte Voraussetzungen, die (vorübergehend) eigenständige Interaktionsgegenstände werden. 2. Die Zusammenstellung des Bandes Dieser Band enthält Arbeiten aus der Vorbereitung und der ersten Arbeitsphase des Projekts „Rhetorik der Problem- und Konfliktbearbeitung”. Die Problem- und Konfliktbearbeitung im Gespräch ist ein zentraler Gegenstand der Abteilung „Sprache und Gesellschaft” bzw. seit 1992 „Verbale Interaktion” des Instituts für deutsche Sprache. Zwei Projekte beschäftigten sich mit typischen Kommunikationsformen der institutionalisierten Problem- und Konfliktbearbeitung in unserer Gesellschaft - Beratungs- und Schlichtungsgesprächen. 9 Darüber hinaus hat auch das Projekt „Kommunikation in der Stadt” unter soziostilistischer Perspektive Einsichten in die Problem- und Konfliktbearbeitung unter nichtmstitutionellen, privat-lebensweltlichen Bedingungen geliefert. 10 In den Jahren 1988-1989 war „Konfliktbehandlung” auch der Gegenstand einer Zusammenarbeit mit W. Hartung und seiner Arbeitsgruppe im Zentralinstitut für Sprachwissenschaft der ehemaligen Akademie der Wissenschaften der DDR im Rahmen des Kulturabkommens zwischen BRD und DDR. In diesem Zusammhang sind weitere typische Kommunikationssituationen untersucht worden wie Arbeitsgespräche in Wissenschaftlergruppen, Sitzungen von Hausgemeinschaftsleitern (eine DDR-spezifische Einrichtung für die Behandlung von Fragen des Zusammen-Wohnens) oder in der Wendezeit - Diskussionsforen wie der Runde Tisch in Ost-Berlin. Das im Anschluß an die genannten Projekte angelaufene Rhetorikprojekt baut auf diesen Arbeiten auf und hat das Ziel einer Ausweitung und Systematisierung der Erkenntnisse aus der Gesprächsforschung. 9 Vgl. u.a. Nothdurft/ Reitemeier/ Schröder (1994); Nothdurft (Hg.)(1995) u Nothdurft (1996). Vgl. Keim/ Schwitalla (1989); Keim/ Kallmeyer (1995); Schwitalla (1995). 10 14 Werner Kallmeyer Der vorliegende Band markiert einen Einschnitt in der Entwicklung des Projekts, insofern als W. Hartung, W. Nothdurft und J. Schwitalla, die an der ersten Arbeitsphase beteiligt waren, das IdS inzwischen verlassen haben. Die Beiträge bilden nicht das Programm der geplanten „Rhetorik der Problem- und Konfliktbearbeitung” insgesamt ab, wohl aber werden Themenbereiche deutlich, die für die Gliederung der Rhetorik zentral sind. - Kooperationsformen - Perspektivik als ein zentraler Aspekt der Verständigungsherstellung - Wirklichkeitsdarstellung, d.h. die Etablierung der Geltung dargestellter Sachverhalte als Wirklichkeit - Konstitution sozialer Identitäten und Beziehungen Die vier Gesichtspunkte sind naturgemäß eng aufeinander bezogen. Sie stellen aber isolierbare und hinsichtlich ihres Charakters als Ressource und Anforderung an rhetorische Verfahren unterschiedliche Eigenschaften von Kommunikation dar. Die einzelnen Beiträge in diesem Band zeigen anhand von teils detaillierten, teils komprimierten Fallanalysen wesentliche Eigenschaften von „Gesprächsrhetorik”: - Sie identifizieren ein Spektrum unterschiedlicher rhetorischer Verfahren, zeigen deren Bezug zu grundlegenden Eigenschaften der sprachlichen Interaktion sowie den Zusammenhang zwischen den individuellen rhetorischen Bemühungen und den Prozeßstrukturen von Interaktion; sie nutzen diesen Zusammenhang zur Bestimmung von rhetorischen Potentialen einzelner Verfahren, d.h. ihren Chancen und Risiken, und sie versuchen ansatzweise eine Systematisierung der beobachteten rhetorischen Verfahren auf der Grundlage ihrer Bezüge zu den grundlegenden Eigenschaften der verbalen Interaktion. In den Beiträgen dieses Bandes werden vornehmlich Formen der strittigen und vielfach auch streitenden Auseinandersetzung behandelt. Insofern wird ein detaillierter Einblick in die Eristik in ihren teils sozial akzeptierten, teils alle Vorstellungen von geordneter Interaktion sprengenden Spielarten gegeben. In der Raucherdiskussion in Kallmeyer/ Schmitt tritt im Rahmen einer Talk-show ansatzweise offene Aggressivität zutage. Allerdings bleibt in diesem Gespräch die Streitdynamik noch relativ gebremst im Vergleich mit der Diskussion „Kümmeltürken im Beitrag von Keim und dem im Beitag von Schwitalla analysierten Schlichtungsgespräch „Alte Sau”. Die drei Gespräche bilden in dieser Reihenfolge („Raucher”, „Kümmeltürken” und „Alte Sau”) eine Abstufung steigender Was ist Gesprächsrhetorik 15 Aggressivität, Perspektivenabschottung und Verselbständigung des Streitens. In dieser starken Betonung der streithaften Auseinandersetzung in den ausgewahlten Materialien liegt gegenüber dem Gesamtplan der Rhetorik eine Einschränkung; dort werden neben strittigen Auseiandersetzungen auch Formen der helfenden Kooperation und der gemeinsamen Problemlösung detailliert behandelt. Immerhin zeigen die Beiträge in diesem Band jeweils auch die Verfahren der Bewältigung von Aggressionsausbrüchen, der Abschottung der Sehweise und der Verhärtung der Kooperationsformen. Die Interaktionsdynamik in Konflikt- und Streitgesprächen ist teilweise in der linguistischen Gesprächsanalyse behandelt worden. Die Eigenschaften von Interaktionszügen werden dabei vor allem im Hinblick auf ihr konfliktverschärfendes oder konfliktreduzierendes Funktionspotential hin betrachtet. 11 Neuerdings treten auch wieder „positive” Eigenschaften von konfliktorientiertem Kommunikationsverhalten in das Blickfeld bei Arbeiten, die auf den Unterhaltungswert des Streitens (Kotthoff 1993) oder auch die „Poetik des Streitens” (Nothdurft 1993) hinweisen. Allerdings liegen insgesamt zum Streiten und zu Kampfformen der Kommunikation nicht sehr viele sprachwissenschaftliche Arbeiten vor die linguistische Konfliktforschung ist eindeutig unterentwickelt. 3. Literatur Ale ™ l R °n ? u (1978) , : ™ eorie der juristischen Argumentation. Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung. Stuttgart. Aristoteles (1980): Rhetorik. Dt. Übersetzung von Franz G. Sieveke. München. Bal ! hre; Funtu elnZ/ ( ^ r0S A e ’ ) ( 1985 ) : Praktische Rhetorik. 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(Holly 1993; Gruber 1992, 1993), in Fernsehinterviews (Greatbatch 1992), in Schlichtungsgesprächen (Nothdurft 1993, Nothdurft f n g ' 1995 ; Nothdurft 1996), im Privatbereich (Kallmeyer 1979, Schiffrin 1984, Schank 1987, Keim/ Schwitalla 1989, Keim 1995, Schwitalla 1995, Spiegel 1995). Siehe auch die Sammelbande von Schank/ Schwitalla (1987) und Grimshaw (1990). 16 Werner Kallmeyer Greatbatch, David (1992): On the Management of Disagreement between News Interviewees. In: Drew, Paul/ Heritage, John (eds.): Talk at Work. Interaction in Institutional Settings. Cambridge. S. 268-301. Grice H.Paul (1975): Logic and conversation. In: Cole, P./ Morgan, J. (eds.): Speech Acts. (= Syntax and Semantics 3). New York. S. 41-56. Grimshaw, Allen D. (ed.) (1990): Conflict talk. Sociolinguistic investigations of arguments in conversations. Cambridge. 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Die Fallanalyse 38 5.1 Der Kontext: Die Interaktionsbeziehung von KR und TR 39 5.2 TRs zweites Fragespiel 43 5.2.1 Zur Organisation des Rederechts 45 5.2.2 Kontextualisierung: Die Äußerung des anderen zum Anlaß nehmen, um auf eigene Aktivitäten zurückzukommen 48 5.2.3 Die Handlungsfunktion: Doppelbödige Berichtigung von Vorurteilen mithilfe einer Fangfrage 48 5.2.4 Die Verschärfung der Handlungsverpflichtung für den Adressaten 50 5.2.5 Implikationen für die Beziehungskonstitution: die Ambivalenz von Aufklärung und Degradierung 53 5.2.6 Die Kooperativität „auf der Kippe” 54 5.2.7 Fazit: Formulierungsverfahren, Implikationen und forcierendes Potential 56 5.3. Die interaktionsdynamischen Folgen 57 5.3.1 KR: Zurückweisung, Ersatzhandlung und eigene Initiative 58 5.3.2 TR: Konsequenzen erzwingen durch Insistieren 67 5.3.3 TR und andere: Irritierende Einwürfe und subversive Nebenkommunikation 69 5.3.4 KR: Rederecht verteidigen und strapazieren 72 5.3.5 TR: Kompetenz des Gegners bestreiten 77 5.3.6 KR: Beharren mit Auswechseln des Arguments 79 5.3.7 TR: Erneuter Durchsetzungsversuch und Diskreditierung des Gegners 79 5.3.8 KR: Immunisierende Verhaltenserklärung 83 5.3.9 TR: Verhaltenserklärung und Diskreditierung des Gegners 85 5.3.10 Fazit: Die Interaktionsdynamik des Forcierens 86 20 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmiii 6. Zur Typologie forcierender Verfahren 88 6.1 Fremdbestimmung konversationeller Aktivitäten 90 6.2 Selbstbestimmung konversationeller Aktivitäten 92 7. Legitimierende Kontextualisierung von Forcieren 95 8. Forcieren und Interaktionsstile 97 8.1 KRs Beteiligungsweise: Den anderen bedrängen („Pressing”) 98 8.2 TRs Beteiligungsweise: „Vornehme Zurückhaltung” im Vertrauen auf den eigenen Beteiligtenstatus 100 8.3 Interaktionsstile als Legitimationsrahmen 102 9. Fazit: Forcierende Verfahren im Gesprächsprozeß 102 10. Literatur 104 11. Anhang 109 Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 21 Abstract Der Beitrag behandelt Gesprächsaktivitäten eingeschränkter Kooperativität, wie sie in vielen Kommunikationssituationen wie z.B. in strittigen Diskussionen geradezu die Normalform darstellen. Zur theoretischen Einordnung und als Grundlage der empirischen Beschreibung derartiger Äußerungen wird das Konzept „Forcieren” im Sinne von „eigene Möglichkeiten erweitern und fremde verringern” entwickelt. Anhand eines komplexeren Beispielfalles wird ein Spektrum von unterschiedlichen Formen des Forcierens untersucht, die anschließend typologisch eingeordnet werden. Abschließend werden die beschriebenen Beteiligungsweisen eingeschränkter Kooperativität als Merkmale von unterschiedlichen Interaktionsstilen beschrieben. 1. Der Gegenstand: Vergrößern eigener Rechte und fremder Pflichten Die kommunikative Behandlung von divergenten Sehweisen und Interessen kann in unterschiedlich kooperativer Weise geschehen. Im allgemeinen empfinden wir eine auch in der inhaltlichen Gegnerschaft kooperative Austragungsform als „konstruktiv”. Zu einer solchen Modalität der Auseinandersetzung gehören z.B. Anforderungen der folgenden Art: Ich muß meinem Gesprächspartner die Möglichkeit zur eigenen Darstellung einräumen, ihm thematische Initiativen zugestehen und auch akzeptieren, daß er mit Sachverhalten und Behauptungen, die ich formuliere, nicht einverstanden ist. Ein weiterer Aspekt der grundlegend kooperativen Orientierung ist die Bereitschaft zur Mitarbeit an den Äußerungen meines Partners: Hierzu gehören Rezeptionssignale und Verstehensbekundungen wie auch Nachfragen und das Anzeigen von Interesse und emotionaler Beteiligung. Auch die Bereitschaft zur interpretativen Mitarbeit ist Teil der notwendigen Kooperation: Kann ich nicht gleich erkennen, worauf mein Gesprächspartner hinaus will, warte ich ab, bis er seinen Punkt macht; hat er sich uneindeutig oder mißverständlich ausgedrückt, unterstelle ich ihm trotzdem Gutwilligkeit und suche eine sinnvolle Interpretation. Aus eigener Kommunikationserfahrung weiß man, daß es zuweilen sowohl mit der eigenen als auch mit der fremden Kooperativität nicht so weit her ist und die Kommunikation zuweilen stark unter der Art leidet, wie die Beteiligten ihre Interessen vertreten. Die Bereitschaft zur Kooperation tritt z.B. tendenziell immer dann in den Hintergrund, wenn es in Problem- und 22 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmitt Konfliktgesprächen um die Durchsetzung bzw. Behauptung eigener Interessen und Positionen gegen den Widerstand der Gesprächspartner geht. In solchen Situationen zeigt sich der kommunikative Austausch zuweilen eher in einem Gegeneinander verschiedener Durchsetzungsanstrengungen; die Beteiligten schlagen dann eine verschärfte Gangart ein, die mit dem kooperativen Miteinander auf den ersten Blick nicht mehr viel gemeinsam zu haben scheint. Die Beteiligungsweise einer erkennbar eingeschränkten Kooperativität mit dem Ziel, sich gegen den anderen im Gespräch durchzusetzen, bezeichnen wir als Forcieren. Wir wählen diesen Ausdruck, um die spezifische Modalität der Beteiligung an der Interaktion, die durch eine gewisse „Härte” bestimmt ist, zu charakterisieren, ohne damit zugleich eine wertende Perspektive zu übernehmen. 1 Typische forcierende Aktivitäten in der sprachlichen Interaktion sind z.B.: - Dazwischenreden, wenn der andere das Wort hat, z.B. mit provozierenden Kommentaren, und ihm das Rederecht streitig machen. - Der Äußerung des anderen eine von ihm nicht intendierte Bedeutung unterstellen und ihn auf das (angeblich) Gesagte festlegen. - Die Handlungsverpflichtungen des anderen (z.B. Auskunft zu geben, Stellung zu beziehen, einzuwilligen) verschärfen und ihn ggf. festnageln. - Handlungsanforderungen, die der andere an einen selbst richtet, übergehen. - Den anderen provozieren durch überspitzte oder unzutreffende Behauptungen. - Dem anderen eine Fangfrage stellen. - Den Gegner diskreditieren, d.h. seine Glaubwürdigkeit oder seine Kompetenz in Frage stellen. Forcieren ist egoistisch in dem Sinne, daß die Sprecher jeweils eigene Möglichkeiten auf Kosten des anderen ausnutzen und dessen Spielräume beschneiden. Die forcierenden Kooperationsformen dienen dazu, die Beteiligungsbedingungen für die eigene Seite günstiger und für die andere Seite ungünstiger zu gestalten. Mit Bezug auf die Verteilung von Beteiligungsanforderungen und -möglichkeiten im Gespräch kann man auch sagen, daß eigene Rechte und fremde Pflichten verstärkt werden. Im Kern bedeutet Forcieren die gesteigerte Selbstbestimmung eines Sprechers bei gleichzeitiger gesteigerter Fremdbestimmung des anderen. Besonders deutlich wird dieser Charakter in Fällen wie dem folgenden: 1 Zum Ausdruck „Forcieren” vgl. die Wörterbücher, z.B. Duden-Lexikon: „etwas erzwingen, vorantreiben, steigern”; Der große Duden, Synonymwörterbuch: „etwas, meist die Ausführung eines Planes, mit Nachdruck oder auch mit Gewalt beschleunigen, vorantreiben”; als Synonyme werden angegeben: „Druck dahintersetzen, Dampf dahintersetzen, Dampf machen”. Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 23 In einer Geschäftsverhandlung, in der Phase der harten und zähen Auseinandersetzung um die Konditionen, ergreift einer der beiden Verhandlungspartner (AN) die Initiative für einen raschen Abschluß. Er reformuliert sein bisheriges Angebot unter Berücksichtigung der vom Partner (DE) gesetzten Bedingungen und bewertet es positiv (ich meine war doch=n fairer Vorschlag; Antpöhler, Z. 3034ff.). Als DE noch einmal zu einer Prüfung der Bedingungen übergehen will (das heißt also die hütchen), insistiert AN: Er expandiert seine Vorschlagsbewertung (dann tragen wer doch beide etwas), greift das von DE formulierte Element der Bedingungsprüfung in einer Gratiszugabe auf (die hütchen stelle ich ihnen kostenlos zur Verfügung) und fordert ultimativ die Zustimmung (sof je”tzt müssen sie ja” sagenl). Der forcierende Charakter dieser Initiative, den Partner zur Entscheidung zu drängen, wird durch das körperliche Ausdrucksverhalten deutlich unterstrichen. Der „faire Vorschlag” wird von einer markanten Einladungsgeste begleitet: AN streckt dem Adressaten eine offene flache Hand entgegen. Als sich DE wieder der Bedingungsprüfung zuwendet und sich dabei nach vorne über seinen Notizblock beugt, läßt AN seine Hand unmittelbar vor dem Körper DEs, schließt die Finger ringförmig (u.a. eine Präzisierungsgeste), akzentuiert in dieser Form die Gratiszugabe und dreht die Hand schließlich zu einer Klopfgeste, mit der er seine ultimative Forderung (sof je”tzt müssen sie ja” sagenl) auf so und ja” akzentuiert. Den fordernden, verschärfenden Charakter bekommt das körperliche Ausdrucksverhalten ANs vor allem dadurch, daß er mit seiner ausgestreckten Hand in unmittelbarer Nähe zu DE agiert, und zwar in dem Bereich der Tischfläche, die DE normalerweise für seine eigenen körperlichen Aktivitäten (z.B. Schreiben) beansprucht: 24 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmitt 3034 AN: - ► ich meine war doch=n fairer Vorschlag^* 3035 DE: 'das heißt 3036 AN: dann tragen wer doch beide etwas die hütchen 3037 DE: also die hütchent gutl* das heißt~~älso 3038 AN: stelle ich ihnen kostenlos zur Verfügung so * 3039 DE: schoni Der Vorstoß zielt darauf, die weiteren Handlungsmöglichkeiten des Adressaten auf nur eine Möglichkeit einzuschränken und ihm zu suggerieren, daß es angesichts der Qualität des Angebots keinen Spielraum mehr gibt für weitere Überlegungen. Der Sprecher hat seine Möglichkeiten der Selbstbestimmung gesteigert, indem er den Zeitpunkt festsetzt, an dem der laufende Aushandlungsprozeß zu beenden ist, und indem er die Qualität seines Angebots einseitig so bewertet, daß alle berechtigten Partnerinteressen optimal bedient sind. Die damit verbundene Fremdbestimmung für den Adressaten liegt auf der Hand: Er soll auf Handlungsspielräume, d.h. auf Wahlmöglichkeiten für Anschlußhandlungen verzichten, vor allem auf eine Prüfung des Angebots aus seiner eigenen Perspektive und auf die Präsentation weiterer Forderungen. Kooperation ist zielbezogen zu definieren. In der Interaktion treffen Partner aufeinander, die jeweils ihre individuellen Ziele verfolgen, für deren Erreichbarkeit sie auf den anderen angewiesen sind (vgl. Keller 1987). Die individuellen Ziele können in unterschiedlichen Beziehungen zueinander stehen; sie können ganz oder partiell übereinstimmen, aber auch sich ausschließen (z.B. wenn einer nur auf Kosten des anderen gewinnen kann). Die Interaktion jedoch erfordert die Herstellung von Gemeinsamkeit; die Beteiligten müssen gemeinsame Zielsetzungen aushandeln und bestimmte Gemeinsamkeiten als selbstverständliche Voraussetzungen unterstellen, wenn die Interaktion nicht zusammenbrechen soll. Interaktion ist geprägt durch die wechselseitige Abhängigkeit der Beteiligten voneinander. Im Einzelfall Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 25 ergeben sich sehr komplexe Konstellationen von gemeinsamen und divergierenden individuellen Zielen. Dabei spielen unterschiedliche Reichweiten der Zielsetzungen eine Rolle. In Geschäftsverhandlungen besteht z.B. eine zentrale Aufgabe in der Abschätzung, wann die Gemeinsamkeit hinsichtlich des globalen Ziels, zusammen ein Geschäft zu machen, aufgegeben werden sollte was Auswirkungen auf die übergreifende Geschäftsbeziehung haben kann, aber nicht muß. Forcierende Kooperationsformen sind als partielle Verstöße gegen die Unterstellung von Gemeinsamkeit zu bestimmen. Züge wie das zitierte Drängen des Geschäftsmannes sind nicht grundsätzlich unkooperativ, sondern immer nur unkooperativ in bezug auf ein Ziel, einen Aspekt der Gemeinsamkeit. Die Verstöße können jeweils unterschiedliche Aspekte der Interaktionskonstitution betreffen. Allgemein bekannt ist z.B., daß es in strittigen Auseinandersetzungen nie nur um die Sache geht, sondern immer auch oder sogar in erster Linie um die Personen. Gewinne und Verluste einer Debatte betreffen im allgemeinen zugleich die Geltung von Positionen und die soziale Geltung der Akteure. In vielen Fällen ist „unsachlich” bzw. „persönlich werden” in der Auseinandersetzung ein forcierender Zug; das ist Gegenstand der Eristik seit ihrem Beginn (vgl. u.a. Schopenhauer 1970). Aber die Frage der Kooperationsweise liegt gleichsam quer zur Unterscheidung zwischen Sachargumentation und persönlicher Auseinandersetzung. Die Regelung des Beteiligtenstatus in der gegenwärtigen Situation, die Klärung der Rangordnung und ihrer gesprächsrelevanten Aspekte kann auch kooperativ durchgeführt werden. Die im Zusammenhang mit Rangordnungskämpfen vielfach verwendeten Topoi der Autorität oder der Konsequenz können sowohl aggressiv eingesetzt werden, indem jemand durch Degradierung faktisch von der weiteren Diskussion ausgeschlosssen wird, als auch ganz kooperativ, z.B. um jemandem, der sich verrannt hat, aus der Klemme zu helfen (z.B. mit einer Äußerung wie „Von dieser speziellen Frage verstehe ich mehr als Sie, Sie sollten sich da vielleicht nicht so festlegen.”). Gegenstand dieses Beitrags sind also rhetorische Verfahren, mit denen die Gesprächsbeteiligten spezifische Kooperationsformen realisieren. Es geht um Verschiebungen in der situativen Verteilung von Rechten und Pflichten in egoistischer, ich-zentrierter und aggressiver Weise. Damit wird nur ein Ausschnitt spezifischer Kooperationsformen erfaßt. So kann man den forcierenden Verfahren Verschiebungen in der Verteilung von Rechten und Pflichten in altruistischer, du-zentrierter und unterstützender Weise gegenüberstellen. Für beide gilt, daß sie in ihrer sozialen Funktion ambivalent sein können, insofern z.B. Forcieren „zum guten Zweck” erfolgen kann und Unterstützen einen Eingriff in das eigenständige Handeln des Adressaten bedeutet und Aspekte von Entmündigung mit sich bringen kann. 26 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmiit 2. Untersuchungsziele und Aufgabenstellung Mit der vorliegenden Untersuchung verfolgen wir mehrere Ziele: (a) Forcierende Eigenschaften von Aktivitäten der strittigen Auseinandersetzung sollen isoliert und ihr Verhältnis zu anderen konstitutiven Eigenschaften dieser Aktivitäten bestimmt werden. (b) Die Vielfalt der Ausprägungen des Forcierens soll verdeutlicht werden. (c) Die zentrale Bedeutung der forcierenden Kooperationsformen für die Interaktionsdynamik in strittigen Auseinandersetzungen soll gezeigt werden. (d) Die soziale Typisierung von forcierenden Kooperationsformen und der Kontexte, die Forcieren legitimieren können, sollen in ihrer Bedeutung für die Interaktionsdynamik und für die Soziostilistik des sprachlichen Handelns skizziert werden. (e) Unter praktisch-rhetorischen Gesichtspunkten soll das Funktionspotential von forcierenden Zügen hinsichtlich ihrer konstruktiven Möglichkeiten und ihrer Gefahren beschrieben werden. Forcierende Verfahren sind ein wichtiges Arbeitsinstrument in vielen Kommunikationssituationen, ebenso wie Verfahren der Konfliktaustragung notwendiger Bestandteil des gesellschaftlichen Kommunikationssystems und des „kommunikativen Haushalts” sind. 2 Zugleich haben forcierende Verfahren ihre Risiken, und deshalb ist es erforderlich, diese zu kennen, um nicht die im rhetorischen Potential liegenden konstruktiven Möglichkeiten zu verlieren. In vielen Situationen entsteht Forcieren als von den Beteiligten praktizierte „verschärfte Gangart” fast zwangsläufig. Situationen der Problem- und Konfliktbearbeitung sind schwierige Interaktionssituationen, in denen die Beteiligten oft aggressiv werden und teilweise die Kontrolle über sich und über die Interaktionsdynamik verlieren. Eine häufige Folge ist, daß sie Widerstand leisten nicht nur gegen Angriffe und für sie ungünstige Lösungsversuche, sondern auch gegen sinnvolle Lösungen. Angesichts des inhärenten Gefahrenpotentials von forcierenden Zügen ist das praktischrhetorische Ziel unserer Beschäftigung mit solchen Gesprächsverfahren, zu zeigen, wie Interaktionsbeteiligte Handlungsmöglichkeiten gewinnen und nutzen können. Es geht u.a. darum, als Beteiligter in schwierigen Situationen „mithalten” zu können, sich zur Wehr setzen zu können und eigene Ansätze der Problem- und Konfliktbearbeitung wirksam einzubringen. Dazu gehört die Fähigkeit, sich nicht durch die Interaktionsdynamik 2 Zum „kommunikativen Haushalt” im wissenssoziologischen Sinne vgl. Luckmann (1988); zur „speech economy” in der Tradition der Ethnographie vgl. auch Kallmeyer (1995a, S. 14-25). Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 27 fangen zu lassen und z.B. Opfer absichtlich oder unabsichtlich selbstinitiierter negativ verlaufender Interaktionsprozesse zu werden. Weiter umfaßt die spezifische Interaktionskompetenz für solche schwierigen Situationen auch die Fähigkeit, das Lösungspotential, das in irritierenden, aggressiven und ggf. „unzumutbaren” Aktivitäten des anderen steckt, zu nutzen. Mit der Zielsetzung sind eine Reihe von Aufgabenstellungen verbunden, welche die weitere Gliederung der Darstellung bestimmen: - Die Skizzierung des theoretischen Rahmens für die Einordnung der spezifischen Kooperationsweise des Forcierens (3.). - Die Entwicklung eines methodischen Zugriffs auf rhetorische Verfahren im Gesprächsprozeß (4.). - Die empirische Klärung der allgemeinen Eigenschaften des Forcierens (anhand einer Interaktionssequenz aus einem Beispielfall (5.). - Die Skizzierung einer typologischen Ordnung von forcierenden Zügen (6.). - Die Beschreibung charakteristischer Kontextualisierungsverfahren, mit denen Forcieren legitimiert und damit als „gesellschaftsfähig” ausgewiesen wird (7.). - Die Darstellung des Zusammenhanges von Forcieren und den spezifischen Prägungen des Interaktionsstils der Beteiligten, die unterschiedliche, jeweils sozial charakteristische Formen von Durchsetzungsverhalten realisieren (8.). 3. Zur theoretischen Einordnung: Kooperation, Interaktionsmodalität und Normalformerwartungen Aufbauend auf den bisherigen Bemerkungen läßt sich Forcieren als Gegenstand einer rhetorisch orientierten Gesprächsanalyse folgendermaßen verorten: (a) Forcieren ist eine spezifische Interaktionsmodalität, die, wie oben schon angedeutet, durch Verstöße gegen bestimmte Gemeinsamkeiten der Ziele geprägt ist. Überlegungen zur notwendigen Gemeinsamkeit der Herstellung von Ordnung und Sinn in der Interaktion sind insbesondere in der Theorie der symbolischen Interaktion angestellt worden. 3 Ein wichtiger 3 In den Ansätzen zu einer Theorie der sprachlichen Interaktion wird zwischen interaktionslogisch notwendigen, „formalen” Kooperationsstrukturen und den kontextspezifischen, „inhaltlichen” Kooperationsweisen unterschieden. Die formalen Kooperationsstrukturen werden als kontrafaktische Unterstellungen der hinreichenden Angleichung der Perspektiven und der Reziprozitätsidealisierung gefaßt; vgl. Schütz (1971) sowie Kallmeyer/ Schütze (1975), Kallmeyer (1979), Mandelbaum (1991). In etwas anderen Denktraditionen unterscheidet die allgemeine Strategie- und Handlungstheorie ebenfalls zwischen der grundlegenden, „formalen” Kooperation und der inhaltlichen, in bezug auf die Zielsetzungen ausgerichteten Kooperation. Dabei spielt das Verhältnis der Beteiligtenziele zueinander eine wesentliche Rolle; als paradigmatischer Fall für sprachliche Interaktion gilt 28 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmitt Gesichtspunkt ist, daß Interaktion formale Ordnungsstrukturen aufweist, die von den Beteiligten gemeinsam hergestellt werden müssen. Die gemeinsame Orientierung an grundlegenden Ordnungsstrukturen ist Ergebnis und Ausdruck einer elementaren Kooperation der Akteure. Sie schafft die notwendige Voraussetzung für das Zustandekommen bzw. das Gelingen von Kommunikation, unabhängig davon, wie stark die Sehweisen und Zielsetzungen der Beteiligten konvergieren oder divergieren. Auf dieser Grundlage der „formalen” Kooperation können dann ggf. Interessengegensätze verhandelt und Konflikte ausgetragen werden. Das Aufeinander-Angewiesen-Sein in der Interaktion, der Zwang zur Kooperation hat u.a. die Voraussetzung, daß die steuernde Kraft eines Interaktanten nur von ganz begrenzter Reichweite ist. Ein Beteiligter kann z.B. eine Initiative ergreifen und dem anderen eine Frage stellen; damit schafft er eine Vorstrukturierung in Form von Fortsetzungserwartungen bzw. konditioneilen Relevanzen im Sinne der Konversationsanalyse. Was aber tatsächlich daraus wird, ob z.B. der Angesprochene die Frage auch den Erwartungen des ersten Sprechers folgend interpretiert oder sie in einen anderen Kontext stellt und uminterpretiert, geht über die Möglichkeiten der unmittelbaren Steuerung für den ersten Sprecher hinaus. Im Normalfall hat der Angesprochene zwar die Verpflichtung, die Äußerung des Fragers zu berücksichtigen (in diesem Sinne unterliegt er der Fremdbestimmung), aber er hat auch das Recht zur weitergehenden Verarbeitung der Frage (und insofern sind seine Aktivitäten selbstbestimmt). Die formalpragmatische Grundstruktur von Interaktion impliziert eine Balance von Selbst- und Fremdbestimmung. Die Verteilung von Rechten und Pflichten muß nicht manifest symmetrisch bzw. egalitär realisiert sein, sie kann je nach Kommunikationstyp bzw. Interaktionsschema unterschiedlich ausgeprägt sein, aber in jedem Fall gründet sich die Durchführbarkeit der Interaktion auf die Balance von Selbst- und Fremdbestimmung. 4 (b) Die Kooperationsweise tangiert alle Aspekte der Interaktionskonstitution. Je nach Ansatz werden in der Literatur mehr oder weniger ausdifferenzierte Unterscheidungen getroffen. Wir rechnen zu den kategorial unterschiedlichen Interaktionsaspekten, die für unsere Beschreibung der Kodie sog. Zielinterdependenz, bei der die Ziele nicht identisch sind, aber jeweils nur unter Mitarbeit des anderen erreicht werden können (vgl. u.a. Keller 1987). Von besonderem Einfluß auf die Linguistik sind die Überlegungen von Grice (1975) zur Rolle der Kooperativität geworden. Sein „cooperative principle”, bestehend aus den Maximen Quantity, Quality, Relation und Manner, ist eine wesentliche Grundlage für das Verstehen von Außerungsbedeutungen; vgl. auch Levinson (1983, Kap. 5 und Sarangi/ Slembrouck (1992), welche die Rezeption dieser Vorstellung in verschiedenen linguistischen Ansätzen skizzieren. 4 Zur theoretischen Fundierung der „Balance von Selbst- und Fremdbestimmung” kann man an die Diskussion des Aushandlungskonzepts anknüpfen; vgl. u.a. Dieckmann/ Paul (1983), Juchem/ Schmitz (1984) und Dieckmann/ Paul (1985). Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 29 operationsform Forderen relevant sind: die Gesprächsorganisation (Verteilung der Redebeiträge und der Gelegenheiten zur Gesprächssteuerung), die Sachverhaltsdarstellung (die propositionalen Gehalte und die thematische Struktur sowie die Form der Sachverhaltsdarstellung im Zusammenhang wie Erzählen, Beschreiben, Argumentieren), soziales Handeln und soziale Identitäten und Beziehungen. 5 Gleichsam quer dazu verlaufen die Prozesse der Konstitution von Außerungsbedeutungen, die sich auf alle diese Interaktionsaspekte beziehen und die sich in unterschiedlichen Anstrengungen der Verständigungssicherung manifestieren. Die Beziehungen der Kooperationsform zu den verschiedenen Aspekten der Interaktionskonstitution sind Gegenstand der empirischen Analyse in diesem Beitrag. Deshalb soll hier vorab nur noch kurz auf das Verhältnis zu einzelnen Aspekten der Konstitution sozialer Identitäten und Beziehungen hingewiesen werden. Forcieren widerspricht bestimmten Höflichkeitsmaximen zum Schutz des „negativen Face” wie: dem anderen nicht zu nahe zu treten, ihn nicht zu zwingen (vgl. Brown/ Levinson 1987). Manifest unhöflich sind z.B. Züge, die ohne Entschuldigung oder Angebot einer Wiedergutmachung auf die Beschränkung des Handlungsspielraums des anderen zielen. Relativ typisch für forcierende Züge ist gerade eine ungeschminkte und ggf. verletzende Direktkeit bei der Durchsetzung eigener Interessen. Die Akteure lassen bestimmte, durch die Regeln der Höflichkeit gebotene Rücksichten fallen (vgl. dazu auch den Beitrag von Schwitalla in diesem Band). Forcieren hat insofern Eigenschaften aggressiven Verhaltens. Allerdings soll Forcieren nicht die „nackte” Aggression umfassen, bei der die Regeln der Gesellschaft eindeutig verletzt werden, auch nicht Kommunikationsformen an der Grenze zur Handgreiflichkeit wie Sich-Anschreien. Zum Kernbereich des Forcierens gehört vielmehr die „gesellschaftsfähige” Aggression im Umgang miteinander, d.h. eher das Signalisieren von Gereiztheit als der Wutausbruch (vgl. dazu auch den Beitrag von Hartung in diesem Band). Die Wirksamkeit des Forcierens liegt darin, daß der Adressat das Aggressionspotential zumindest ansatzweise erkennt. Die Anstrengungen des Sprechers, „gesellschaftsfähig” zu bleiben, bringen ihn dazu, seine Absichten u.U. auch raffiniert einzukleiden, aber der aggressive Charakter soll wahrnehmbar sein und als solcher verstanden werden. Dazu gehört nicht notwendig, daß der Adressat die forcierende Äußerung in vollem Sinne durchschaut, d.h. die Reichweite der Implikationen für die weitere Interaktion erkennt und dem Sprecher eine dazu passende Intention unterstellt (Zum Unterschied zwischen Verstehen und Durchschauen vgl. Holly 1987, 5 Vgl. Kallmeyer/ Schütze (1976) und Kallmeyer (1978); dort sind als Komponenten des Gesamtmodells auch die Interaktionsmodalitäten und Formen der Reziprozitätskonstitution aufgeführt. Unsere jetzige Untersuchung zielt gerade auf diese beiden Komponenten und ihr Verhältnis zueinander. 30 Werner KaUmeyer/ Reinhold Schmitt S. 147). Aber wenn der Adressat die Äußerung nicht als Realisierung eines Ausdrucksmusters für „Druck machen” oder Aggressivität versteht, bleibt Forcieren wirkungslos. Darin unterscheidet sich Forcieren von Formen des verdeckten strategischen Handelns 6 wie dem ernsthaften Vorspielen von Harmlosigkeit mit dem Ziel, den Adressaten so in eine Falle zu locken. Zum Erscheinungsbild derartiger verdeckter Strategien gehört typischerweise das Einhalten der Höflichkeitsregeln. Forcieren dagegen ist als aggressiver Eingriff in die Balance von Selbst- und Fremdbestimmung „sichtbar”. Ebensowenig wie der Adressat einer forcierenden Äußerung diese voll durchschauen muß, weiß der Sprecher notwendigerweise, was er tut. Neben dem Forcieren als gezieltem „Druck-Machen” gibt es auch unwillkürliches Forcieren. Derartige Verhaltensweisen kommen aufgrund einer Fehleinschätzung der Situation und der mit dem kommunikativen Handeln zusammenhängenden Konsequenzen zustande oder auch aufgrund von „Perspektivenabschottung”, d.h. einer Beschränkung von Wahrnehmung und Handeln, in der die Akteure selber gefangen sind (vgl. dazu den Beitrag von Keim in diesem Band). Offenes Durchsetzungsverhalten in der Interaktion wird in der Forschung teilweise auch als Ausdruck von „Dominanz” beschrieben. Mit „Dominanz” wird eine Eigenschaft der sozialen Beziehung bezeichnet, die auf etablierten Machtverhältnissen gründet oder solche herstellt und sich in bestimmten Eigenschaften von Interaktionssequenzen (nicht einzelnen Zügen) manifestiert. Ausschlaggebend dafür sind unterschiedliche Dimensionen des Interaktionsgeschehens wie das Ausmaß der Beanspruchung von Rederecht, die thematische Steuerung oder die Verteilung von Initiativen. 7 Die partielle Unkooperativität des Forcierens betrifft die Gestaltung einzelner Aktivitäten. Insofern kann die Analyse forcierender Verfahren ein wichtiger Bestandteil einer Untersuchung der situativen Herstellung von Dominanz sein. Das Auftreten von Forcieren ist jedoch nicht an Domi- 6 Die komplexe Diskussion des StrategiebegrifFs, in der die Einzelaktivitäten übergreifende Zielorientiertheit einerseits und die Brechung der Reziprozität durch das Verbergen der Zielorientierung andererseits unterschiedlich gewichtet werden, soll hier nicht nachgezeichnet werden. Wichtig ist hier nur der Gesichtspunkt, daß strategisches Handeln sowohl offen als auch verdeckt sein kann; vgl. auch Schütze (1978). 7 Linell (1990) z.B. behandelt unterschiedliche Dimensionen von Dominanz wie die Dominanz hinsichtlich der Außerungsmenge („amount of talk”), die „semantische Dominanz”, die sich in der thematischen Steuerung und der Festlegung von Perspektiven äußert, die „interaktive Dominanz” und eine kaum definierte und behandelte vierte Dimension der „strategic moves”. Interaktive Dominanz wird hergestellt durch direktive Züge, mit denen Sprecher ihre Partner zur Reaktion unter spezifischen Bedingungen zu bringen versuchen, kontrollierende Züge, mit denen Partnerbeiträge evaluiert und disqualifiziert werden, und verhindernde Züge, mit denen Sprecher versuchen, andere am Sprechen zu hindern. Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 31 nanzverhältnisse gebunden. Vielmehr sind häufig von Forcieren geprägte Interaktionen durch ein Gleichgewicht der Kräfte geprägt (auch wenn am Ende vielleicht ein Beteiligter als Verlierer dasteht). Die lokale, partielle Unkooperativität des Forcierens stellt jeweils eine gesteigerte Asymmetrie in den Rechten der Selbst- und Fremdbestimmung her. Linell/ Luckmann sprechen von der Dialektik zwischen „being controlled and being in control” als zwei von Asymmetrie geprägten Zuständen (1991, S. 7). Aus dem dialektischen Verhältnis der beiden Zustände resultiert die Balance von Selbst- und Fremdbestimmung. Forcieren ist ein Versuch der egozentrischen Verschiebung dieser Balance; der Adressat kann sie akzeptieren, auch unfreiwillig, oder er kann durch Kontern seine Bestimmungsrechte verteidigen, was ggf. zu einer veränderten Balance (einem Gleichgewicht des Forcierens) führt. 8 (c) Forcieren ist ein interaktionstheoretisches Konstrukt. Als solches ist es eine „second order construction” im Sinne von A. Schütz, die auf den „first order constructions” der Interaktionsbeteiligten aufsetzt. Es stellt eine Systematisierung und Generalisierung von Beteiligtenkonzepten der Unkooperativität, der mangelnden Fairness bzw. der ungerechtfertigten „Härte” der Handlungsweise dar. 9 Derartige Beteiligtenkonzepte erscheinen teilweise relativ explizit, teilweise nur in Andeutungen und implizit in den vorbereitenden oder retrospektiv legitimierenden praktischen Beschreibungen bzw. Erklärungen (den „accounts” im ethnomethodologischen Sinne). 10 Typische Fundstellen für solche Konzepte sind die Rahmungen von Interaktionsphasen mit „harter” Modalität, die Beanstandungen von unangemessenem Verhalten des anderen und die Legitimationen eigener Handlungen. Die dabei sichtbar werdenden Modalitätskonzepte der Beteiligten bilden den Kern ihrer rhetorischen Bewertung von Kommunikationsverhalten. Diese Beteiligungskonzepte geben Auskunft über die Leitvorstellungen von Interaktionsverhalten für bestimmte Gelegenheiten. Die legitimierende Verwendung solcher Konzepte ist charakteristisch für Forcieren als gesellschaftsfähige Handlungsweise. 11 8 Wenn man die Asymmetrie der Bestimmungsrechte im Tableau der unterschiedlichen Asymmetrie-Eigenschaften von Interaktion einordnen will, kann man sie als einen spezifischen Aspekt des Beteiligtenstatus ansehen (vgl. Linell/ Luckmann 1991, S. 5f.). 9 Zur Untersuchung der subjektiv-theoretischen Konzepte von Fairness bzw. „Integrität” im Zusammenhang mit argumentativen Auseinandersetzungen vgl. Groeben/ Schreier/ Christmann (1990), Blickle/ Groeben (1990) u. Schreier/ Groeben (1990). 10 Vgl. Lyman/ Scott (1968) sowie Heritage (1988), der Erklärungen als Accounts untersucht. 11 In diesem empirischen Interesse an der Formulierung von Legitimitationen berührt sich unsere Arbeit mit der Untersuchung von alltagsweltlichen kommunikativen Gattungen für Moral; vgl. Bergmann/ Luckmann (1993) und Günthner (1993). 32 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmitt Kern der Alltagskonzepte von „Härte” und „Unfairness” wie des theoretischen Konstrukts des Forcierens ist, daß Beteiligungsweisen an kontextuell etablierten Normalformvorstellungen gemessen werden. 12 Forcierend sind Aktivitäten, die gegen die zur jeweiligen Normalform der Interaktion gehörende Kooperationsweise verstoßen. Normalformerwartungen werden aufgrund der Kenntnis der allgemeinen Konstitutionsmechanismen von verbaler Interaktion, des spezifischen Situations- und Ereignistyps sowie der spezifischen Vorgeschichte gebildet. Die inhaltlich spezifische Ausformung der Kooperationsweise ist soziokulturell und historisch geprägt. Die jeweilige situative Normalform kann, gemessen an einer Interaktionsmodalität manifester Kooperativität und Höflichkeit, unterschiedliche Grade der Verschiebung zu „harten” Interaktionsformen beinhalten. Das ist z.B. bei bestimmten Arten der öffentlichen Diskussion oder zumindest phasenweise in Verhandlungen der Fall. Forcieren kann also auf verschiedenen Ebenen der etablierten Kooperativität einsetzen. So gilt in vielen Fällen für „harte” Verhandlungsphasen, daß bestimmte Anforderungen der Höflichkeit außer Kraft gesetzt sind zugunsten einer gesteigerten Direktheit der Formulierung eigener Interessen und der Abwehr fremder Anforderungen, daß ansonsten aber die Verhandlung als gemeinsames Problemlosen angelegt ist und nicht als antagonistische Auseinandersetzung. Ausgehend von einer solchen etablierten Interaktionsmodalität sind Einschüchterungsversuche, Überrumpelungsmanöver oder Fallenkonstruktionen forcierend. Derartige Verfahren können jedoch bei 12 Das Konzept der Normalform stammt von Cicourel (1975), der damit eine Orientierung erfaßt, die man beschreiben kann als das, „weis der alltägliche Sprecher-Hörer als das annimmt, was jedermann kennt. Die stillschweigende Kenntnis dessen, was jedermann kennt, ist also integraler Bestandteil des Normalform-Verhaltens der Mitglieder einer Gesellschaft”. Die Wirksamkeit von Normalformorientierungen zeigt sich gerade in Situationen, in denen Perspektivendivergenzen vorliegen. Die Beschreibung von Normalformen ist dann darauf gerichtet, „wie das sprachliche und parasprachliche Verhalten von Mitgliedern einer Gesellschaft offenbart, in welcher Form Interpretationsverfahren und Oberflächenregeln in Frage gestellt werden, und wie die soziale Szene aufrechterhalten oder in einem bestimmten Sinne von Normalität wiederhergestellt wird” (S. 34). Das Konzept hat sich in unterschiedlicher Weise als fruchtbar erwiesen; so z.B. für Überlegungen zur Organisation und Erwartbarkeit bestimmter handlungsschematischer Zusammenhänge (Kallmeyer/ Schütze 1976) oder für die Analyse von Interaktion in institutionellen Zusammenhängen (Giesecke/ Rappe 1981 und Giesecke 1982). Normalform wird dabei anders als bei Cicourel nun nicht mehr als Strukturelemente des Alltagswissens, sondern als institutionenspezifisches Sonderwissen konzipiert. Für unsere eigene Vorstellung ist das Konzept deswegen interessant, weil es eine Orientierung der interaktiven Teilnahme mit großer Flexibilität und kein enges Regelwerk beschreibt, das wir bezogen auf unseren Gegenstand als grundlegende Annahmen über situationsspezische Formen der Kooperation begreifen. Aufgrund dieser Betonung der Kontextabhängigkeit der Interpretation von Kooperationsformen unterscheidet sich unser Ansatz wesentlich von werttheoretischen Ansätzen (vgl. Anm. 9). Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 33 bestimmten Formen der öffentlichen Diskussion mit dem Charakter von turbulenten Streitgesprächen durchaus den Regeln entsprechen und insofern im Rahmen der etablierten Normalform liegen. Als Normalformverstoß ist Forcieren eine relative Größe. Bei der Betrachtung der Einschränkungen von Kooperativität sind individuelles Forcieren und die Festlegungen der jeweiligen situativen Normalform zu trennen. Daß Einschränkungen der Kooperativität im Rahmen einer spezifischen Interaktionsform nicht individueller Devianz zuzurechnen, sondern Bestandteil sozialer Normalität ist, wird in der Regel abgesichert durch die Einrahmung und Begrenzung des Ereignisses und durch Aktivitäten der Reziprozitätssicherung im Kontext. Modalitätswechsel werden z.B. in grundsätzlich kooperativen Interaktionen vielfach ausdrücklich angekündigt (z.B. wenn in einer Geschäftsverhandlung am Übergang zur Preisverhandlung an die erwartbare Konfrontation unterschiedlicher Interessen erinnert wird mit einer Formulierung wie „Es geht ja immer um die heiße Wursf). Die Anstrengungen der Rahmung und der Rückleitung in eine entspannte Interaktionsform nach der „harten” Phase machen auch in solchen Situationen die Brisanz einer derartigen Interaktionsmodalität erkennbar, in deren Rahmen forcierende Aktivitäten zur Normalform gehören. (d) Die rhetorische Bewertung der Interaktionsbeteiligung ist selbst Gegenstand der interaktiven Bedeutungskonstitution: Die Beteiligten handeln die rhetorische Bewertung der wechselseitigen Beteiligung aus, manifestieren divergierende Beurteilungen usw. 13 Forcierende Züge verfügen in vielen Fällen über mehr oder weniger deutliche formale Struktureigenschaften, z.B. Überlappungen bei Unterbrechungen eines etablierten Sprechers oder längere Simultanpassagen beim Kampf ums Wort, oft mit einer Steigerung des Ausdrucksverhaltens verbunden (größerer Nachdruck, Lauter-Werden usw.). Aber die Steigerung im Einsatz von Ausdrucksmitteln ist ebensowenig notwendig forcierend wie Überlappungen. Ob eine Aktivität als forcierend interpretiert wird oder nicht, ist von der Kontextualisierung abhängig. 14 Manchmal werden z.B. schon kleine Überlappungen 13 Die Bedeutung von Beteiligtenkonzepten für die Interaktion wird in zunehmendem Maße auch in der Konversationsanalyse gesehen. So spricht z.B. Hutchby (1992, S.368) von Unterbrechung als einem „member’s evaluative construct”, das er als „intrinsically moral feature of an interactional environment” begreift. Auch Goldberg (1990, S.883) argumentiert für die Beachtung der „relational significance interpretations have for the participants”. Ein allgemeines methodologisches Argument für die konstitutive Bedeutung von Beteiligtenkonzepten liefert Bergmann (1991). Die interaktionskonstitutive Sicht auf Beteiligtenkonzepte hat sich v.a. in der Auseinandersetzung um die strikt formal-strukturelle Perspektive der klassischen Konversationsanalyse entwickelt; vgl. z.B. Bennet (1981) und den Überblick bei Goldberg (1990, S. 886-887). 14 Das Konzept der Kontextualisierung geht auf ethnographische Forschungsarbeiten von Gumperz (1971) zurück, erste Überlegungen werden in Cook-Gumperz/ Gumperz 34 [Vertier Kallmeyer/ Reinhold Schmitt der Redebeiträge als forcierend und damit als behandlungsbedürftig wahrgenommen, und manchmal werden sogar harte Unterbrechungen akzeptiert und nicht als Forcieren behandelt. 15 Aufgrund des kontextrelativen Charakters des Forcierens ist in vielen Fällen die Kooperationsweise für die Teilnehmer nicht einfach zu bewerten und erscheint aus ihrer Sicht ambivalent. Diese Ambivalenz wird von den Beteiligten ggf. auch gezielt hergestellt: In ihrem Bestreben, die Spielräume der situativen Normalform auszunutzen, ohne als „Störenfried” zu erscheinen oder als jemand, der „aus dem Rahmen fällt”, vermeiden sie massive Aggressivität und bevorzugen Andeutungen ihres zurückgehaltenen Aggressionspotentials. (e) Die Bewertung der Kooperationsweise ist in der Interaktion und in den sie überspannenden sozialen Handlungs- und Ereigniszusammenhängen Gegenstand von Prozessen der sozialen Norm- und Stilbildung. 16 Diese Prozesse erscheinen u.a. im Rahmen der einzelnen Interaktion als mikropolitische Auseinandersetzungen um die Verhältnismäßigkeit der Mittel und die legitime und authentische Handlungsweise. (f) Die allgemeine Struktur der rhetorischen Verfahren des Forcierens kann man in Anlehnung an die Problemlösungstheorie als Lösungsprozedur für die Gestaltung einer sprachlichen Aktivität explizieren. Die rhetorischen Verfahren organisieren Mittel im Hinblick auf ein zu erreichendes Ziel: - Ziel ist eine egoistische Verschiebung in der Verteilung von Rechten und Pflichten in bezug auf einen Konstitutionsaspekt. - Mittel sind Ausdrucks- und Aktivitätsformen (z.B. auch die Plazierung im Interaktionskontext). - Verfahren bestehen in der Auswahl und Kombination von unterschiedlichen Mitteln in funktional-homologer Weise. Die funktionale Homologie besteht in einer Verschärfung relativ zur jeweiligen Normalform. (g) In einzelnen Aktivitäten (Zügen) und insbesondere in komplexen Äußerungen kombinieren sich verschiedene rhetorische Verfahren. Da- (1978) formuliert. Das Konzept ist in Gumperz (1982 und 1992a und b) weiterentwickelt und modifiziert worden. In Deutschland wurde es von Auer (1986) einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht; als neuere Darstellung, die stärker den Zusammenhang mit der Konversationsanalyse betont, siehe Schmitt (1993). 15 In vergleichbarer Weise argumentiert auch Murray (1985, S. 38): „Neither a purely acustic criterion, nor scrunity just of the immediate environs of a putative instance of „interruption” sufficies to determine whether an „interruption” took place. The severity of violation of a speaker’s right may depend on what happens afterwards as well as on what has occurred before, and severity of violation is what sets off „interruptions” from other turn-taking ’’mechanisms”.” 16 Zur Soziostilistik und zum Verhältnis von Stil, Norm und Normalform vgl. Kallmeyer/ Keim/ Nikitopoulos (1994, Kap. 2) und Kallmeyer (1995b). Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 35 bei bilden sich als Resultante aus den einzelnen Verschärfungsaspekten (sowie anderer, z.B. abschwächender Aspekte) Außerungseigenschaften, die einer übergreifenden Kooperationsform entsprechen. Lokale Verfahren werden auch sequentiell verbunden, z.B. durch Mehrfachanwendung und durch die Verknüpfung mit funktional-homologen anderen Verfahren. Die Verknüpfung von lokalen Verfahren zu übergeordneten Verfahrensweisen ergibt für die einzelnen Akteure insgesamt eine situationsüberspannende interaktive Beteiligungsweise. (Vgl. Kap. 8. zur Bedeutung der interaktiven Beteiligungsweise als einer interpretationsleitenden Orientierung der Akteure und als interaktionstheoretisches Konstrukt). 4. Zur Methodik: Die Analyse von rhetorischen Verfahren im Gesprächsprozeß Aufgrund der beschriebenen Eigenschaften der Nomalformabweichung, d.h. der relativen, kontextabhängigen Interpretation und der immer möglichen Ambivalenz der Beteiligungsweise sind teilweise sowohl Forcieren als auch die jeweilige Normalform als Bezugsfolie schwer zu fassen. Die Untersuchung kann sich im Prinzip auf folgende Zugangsweisen stützen: (a) Die spezifische Prägung von Selbst- und Fremdbestimmung, also das „Bestimmungsprofil” von Interaktionsbeiträgen, ist aufgrund einer Analyse der Äußerungs- und Interaktionsstruktur beschreibbar. Mit linguistischen bzw. allgemeiner semiotischen Instrumentarien werden Bauformen und Markierungen analysiert und daraus die spezifische Anwendung von Formulierungsverfahren eruiert. Gegenstand sind dabei die einzelnen Äußerungen einschließlich ihrer kontextuellen Bezüge. Insofern impliziert dieser Analyseschritt immer auch eine sequentielle Analyse des relevanten Kontextes. Die Analyse ist nicht rein formal, sondern rekonstruiert (partiell) die interpretativen Leistungen der Beteiligten. Dabei spielt eine Rolle, wie der Sprecher durch die spezifische Formulierung seiner Äußerung den Bezugskontext behandelt, und ebenso wie im Folgekontext die betreffende Äußerung behandelt wird. 17 Die Analyse der sequentiellen „... there do not seem to be criteria other than placement (i.e., sequential) ones that will sufficiently discriminate the status of an utterance as a statement, assertion, declarative, proposition, etc., from its status as an answer. Finding an utterance to be an answer, to be accomplishing answering, cannnot be achieved by reference to phonological, syntactic, semantic, or logical features of the utterance itself, but only by consulting its sequential placement, e.g. its placement after a question.” Schegloff/ Sacks (1973, S. 299). Das sequentielle Prinzip der Konstitution sozialer Organisation und Bedeutung, das hier formuliert wird, lautet: Das, was ist, definiert das, was folgen kann. Aber nicht nur Fragen definieren Antworten (bzw. machen diese konditionell relevant), sondern auch Antworten definieren Fragen. Die Vorstellung vom adjacency pair als dem Grundbaustein interaktiver Ordnung beinhaltet also sowohl eine projektive als auch eine retrospektive Ausrichtung; vgl. diesbezüglich auch die Kritik von Goflfman (1975) an der adjacency-Vorstellung. Einen kurzen 36 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmitt Bezüge fußt auf dem konversationsanalytischen Vorgehen, verbindet aber ausdrücklich die klassisch-konversationsanalytische Konzentration auf die formal-strukturellen Aspekte von Interaktion mit der Rekonstruktion der Beteiligtensicht, ihrer interpretativen Konzepte und ihrer Bedeutungskonstitution. 18 Aus der Sicht einer rhetorischen Gesprächsanalyse ist wichtig, die konkret realisierte Äußerung als Auswahl aus einem Spektrum potentieller Alternativen zu rekonstruieren. Ein Schlüssel für die rhetorische Betrachtung ist die Sehweise, daß die konkret hervorgebrachte Interaktionsstruktur immer nur ein (motiviertes und selektionsbedingtes) lokalspezifisches Ergebnis dessen ist, was möglich war. (b) Die Rekonstruktion der Beteiligtensicht gibt Einblick z.B. in die handlungsleitenden Konzepte der Beteiligten, ihre Normalformerwartungen und ihre expliziten Norm- und Leitvorstellungen von Kommunikation. Wie im konkreten Fall eine bestimmte Beteiligungsweise von den Akteuren interpretiert und bewertet wird, also ob sie als auffällig, problematisch in bezug auf den legitimierenden Kontext oder als Normalformabweichung angesehen wird, zeigt die Behandlungsweise in der Interaktion und ggf. in Folgehandlungen außerhalb der Interaktionssituation. Forcieren ist am leichtesten faßbar, wenn es in der aktualen Kommunikation als Vorfall behandelt wird. Teilweise liefern die Sprecher prophylaktische Selbstanzeigen („ich weiß, das klingt jetzt recht hart, aber ...”). Häufiger ist der Fall, daß sich die Adressaten eines forcierenden Zuges wehren, diesen mit Überblick über die unterschiedlichen Sequenzierungskonzepte der klassischen Konversationsanalyse bietet Coulter (1983). 18 An diesem Punkt greifen wir die alte konversationsanalytische Diskussion um das Verhältnis formaler Strukturen gegenüber der interpretativen Arbeit der Beteiligten wieder auf. Der Konversationsanalyse wurde wiederholt der Vorwurf der Autonomisierung formal-technischer Strukturen gegenüber interpretativen Beteiligtenkonzepten gemacht. Die Kritik des statischen Konzeps und der zentralen Bedeutung des „singular speakership code” (Goldberg 1990, S. 884) zielt auf die Relativierung der Mächtigkeit/ Ausschließlichkeit der formal-sequentiellen Strukturen und auf eine stärkere Berücksichtigung der Bedeutung interpretativer Beteiligtenkonzepte bei der Konstitution sozialer Ordnung. Goldberg (1990) bietet einen guten Überblick über die kritische Rezeption. Hutchby (1992, S. 368) weist daraufhin, daß „some types of utterances which appear to be interruptive in the sequential sense do not seem to be treated as an interruption in the moral sense at all by the recipients.” Bennet (1981, S. 173) macht grundsätzlich eine unausgesprochene Annahme der Konversationsanalyse aus, die darin besteht, „that in fact the determination of such discource entities as ’interruptions’, ’turn-constructural units’, and ’transition-relevance place’... are determined by structures which can be observed to actually occur as physical manifestations in the talk itself, particularly in prosidic and syntactic structures.” Er verweist darauf, daß Interaktionsbeteiligte selbst mit Unterbrechungen ganz anders umgehen, als es die formal-strukturelle Definition von Unterbrechung als overlap mit besonderer Startspezifik nahelegt. Die Frage kann also sinnvollerweise nicht sein, ob die interpretativen Leistungen der Beteiligten in der Analyse berücksichtigt werden, sondern allenfalls welche. Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 37 Vorwürfen zurückweisen und durch ihre Gegenwehr den Urheber zu einer späteren Rechtfertigung oder Erklärung veranlassen. Eine weitere Quelle für Einsichten in die Normalformvorstellung der Beteiligten sind programmatische Explizierungen („Auch wenn der Gegenstand vielleicht zur Polemik reizt, wollen wir doch versuchen, ein sachliches Gespräch zu führen; unser gemeinsames Interesse ist doch, eine Lösung für das Problem zu finden”.) Solche Explizierungen von LeitVorstellungen fungieren oft als prophylaktische Abwehr von Fehlentwicklungen oder als Reparaturversuch, um im Störungsfall die Ordnung wieder herzustellen. Die teils impliziten, teils expliziten Beanstandungen, Erklärungen und Rechtfertigungen von forcierenden Zügen sind ein Schlüssel für die Analyse der Beteiligtenkonzepte. Generell wird die Bezugsfolie der Normalform als Beteiligtenkonzept in der interaktiven Behandlung des Forcierens zum einen durch die kontrastive Kontextualisierung forcierender Züge deutlich. So charakterisiert ein Moderator mit der Bemerkung „jetzt muß ich eine Zensur machen” seinen Eingriff in die laufende Diskussion als abweichend und damit auffällig im Kontext seiner voraufgehenden Beteiligung. Diese zeichnete sich dadurch aus, daß er auch an relativ turbulenten Stellen auf die Selbstregulierung durch die Protagonisten der Auseinandersetzung vertraute; „eine Zensur machen” gehört offensichtlich nicht zur Normalform der Moderation, sondern ist eine Ausnahmeaktivität. Zum anderen wird über die Legitimation (vgl. „müssen” in der Moderatorformulierung) das Konzept einer Normalformabweichung und damit indirekt auch die Bezugsfolie der entsprechenden Normalform aufgerufen. (c) Welche Rolle die expliziten oder impliziten Leitvorstellungen und darauf bezogene Bewertungen spielen, wird durch eine „naturalistische” Verlaufsanalyse der Interaktion und anschließender Handlungen kontrolliert. Dabei werden Ablaufstrukturen und Ergebnisse beschrieben unabhängig davon, ob die Beteiligten das Ereignis auch so begreifen. Dies ist generell die Perspektive von ablaufbzw. sequenzanalytischen Ansätzen wie der Konversationsanalyse. Dieser kombinierte Zugang gestattet, auch die Wahrnehmungsbeschränkungen der Beteiligten und die Verzerrungen ihrer Interpretationen zu berücksichtigen. Es gibt Fälle von Forcieren, die von den Beteiligten nicht oder nicht deutlich wahrgenommen und interpretiert werden. Es gibt unwillkürliches Forcieren, systematisches Ausblenden des forcierenden Charakters von sozialem Handeln und Fehlinterpretationen. Daß auch in diesen Fällen forcierende Eigenschaften der Aktivitäten eine Rolle spielen, wird vor allem an den Folgen erkennbar, z.B. daran, daß eine Kontroverse plötzlich eskaliert oder daß andere Beteiligte zu einem Akteur auf Distanz gehen. Die „naturalistische” Betrachtung derartiger Interaktionsverläufe gibt Aufschluß über die Wirksamkeit von rhetorischen Eigenschaften auch 38 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmitt in Fällen, in denen derartige Aspekte von den Beteiligten nicht manifest interpretiert werden. Die naturalistische Betrachtung dessen, was faktisch passiert, liefert u.a. Einblick, inwieweit, an welchen Stellen und auf welche Weise sich die Normalformerwartungen in der kommunikativen Praxis abbilden als normalformgerechtes Verhaltensmuster. Im Verlauf von strittigen Auseinandersetzungen gibt es z.B. typische Verteilungen von unmarkiertem und markiertem, ggf. demonstrativem „Wohlverhalten” und Phasen erkennbarer Einschränkungen der Kooperativität. (d) Die voraufgehenden analytischen Schritte erlauben im Prinzip, das Potential an Handlungschancen und -risiken zu bestimmen, das mit einzelnen rhetorischen Verfahren und den aus ihrer Kombination resultierenden Kooperationsformen „höherer Ordnung” verbunden ist. Das jeweilige rhetorische Potential ist darstellbar als: - Implikationen für Folgeaktivitäten, d.h. für eigene und fremde Aktivitäten im unmittelbaren Anschluß oder bei späterer Gelegenheit; die damit zusammenhängenden Möglichkeiten und Erfordernisse der Kooperationssicherung sowie der Legitimation eigener und der Sanktion fremder Handlungen. Die rhetorische Gesprächsanalyse zielt darauf, die rhetorischen Potentiale von Verfahren bzw. Außerungsmustern zu explizieren und auf dieser Grundlage faktische Gesprächsverläufe in ihren typischen Eigenschaften transparent zu machen, d.h. als in ihrer Struktur durch das Wirksamwerden von rhetorischen Potentialen bedingt zu erklären. 5. Die Fallanalyse Im folgenden werden wir die bisherigen konzeptionellen Überlegungen durch eine exemplarische Fallanalyse empirisch fundieren. Das Beispiel stammt aus einer Talkshow, in der sich Befürworter und Gegner des Rauchens gegenübersitzen. 19 Die Diskussion ist durchgehend kontrovers, und mit zunehmender Dauer verdichten sich die aggressiven Züge; es gibt keine Annäherung der Standpunkte. 20 Fernseh-Diskussionen folgen bestimmten Spielregeln, welche die gemeinsamen Ziele und die zulässige oder 19 Wir haben die Gesprächsaufnahme aus dem Projekt CI „Argumentationsintegrität in Alltagskommunikation: Rezeption - Wirkung - Produktion” des Sonderforschungsbereichs 245 „Sprache und Situation” übernommen und nach gesprächsanalytischem Standard neu transkribiert. Zur Kodierung und Auswertung des Gesprächs im Projekt CI im Hinblick auf Verletzungen von Integritätsstandards beim Argumentieren vgl. Sachtleber/ Schreier (1990). 20 An einzelnen Stellen weisen wir auf die spezifischen Auswirkungen der medialen Öffentlichkeit auf das Gesprächsverhalten hin. Ähnliche Effekte beobachtet auch Keim in ihrem Beitrag (3.) an einer an sich privaten Diskussion, bei der aber ein Journalist anwesend ist (Kap. 3). Wir verfolgen solche medienbedingten Besonder- Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 39 präferierte Kooperationsweise in Abhängigkeit vom Typ des Fernsehgesprächs zumindest grob festlegen. Zu den gemeinsamen Globalzielen gehören oft wie auch im vorliegenden Fall die Herstellung einer interessanten Gesprächsdynamik (zu der auch die Heftigkeit der wechselseitigen Angriffe beiträgt), die Wahrung der persönlichen Integrität und die öffentliche Selbstdarstellung der Beteiligten als Vertreter bestimmter Positionen und einer entsprechenden sozialen Gruppe (in der Raucher-Runde hat fast jeder seine Klientel unter den Zuschauern, fast alle sind politische Vertreter einer Organisation oder Institution). Der gewählte Ausschnitt liegt relativ spät im Gesprächsverlauf, d.h., es gibt bereits eine gemeinsame Kommunikationsgeschichte mit etablierten Gegnerschaften und Koalitionen. Beteiligt sind an der ausgewählten Stelle vor allem TR, der vom Gesprächsleiter (FU) als „deutscher Professor” und Autor einer einschlägigen wissenschaftlichen Arbeit über das Rauchen vorgestellt wurde, und KR, ein Vertreter der Nichtraucher-Fraktion und Mitglied einer Bürgerinitiative. Die folgende Darstellung gliedert sich in drei Schritte: - In einer überblicksartigen Kontextanalyse skizzieren wir die Voraussetzungen der ausgewählten Sequenz (5.1). - Dann werden wir die Struktur und das rhetorische Potential einer Art Prüfungsfrage detailliert beschreiben, die den Startpunkt einer sich aufschaukelnden Sequenz aggressiver Auseinandersetzung bildet (5.2). - Anschließend werden wir die interaktionsdynamischen Folgen dieser Frage analysieren; jede Folgeaktivität in dieser Sequenz zeigt typische forcierende Verfahren, und zugleich wird der interaktionsdynamische Zusammenhang deutlich. Dieser Teil ist nicht mehr in allen Punkten so detailliert wie die Analyse des Fragespiels, sondern beschränkt sich auf die Darstellung dominanter forcierender Verfahren (5.3). 5.1 Der Kontext: Die Interaktionsbeziehung von KR und TR In der „Raucher”-Diskussion entwickelt sich frühzeitig eine bis zum Gesprächsende stabile Gegnerschaft zwischen KR und TR. Diese Interaktionsbeziehung hat offensichtlich mit divergierenden Interaktionsstilen der Auseinandersetzung zu tun. Mit dem interaktionsstilistischen Profil der heiten hier aber nicht systematisch, sondern werden dieses Thema gesondert aufgreifen. Zur Gattung „Talk-Show” oder Redeshow vgl. u.a. Holly/ Kühn/ Püschel (Hg.) (1989), Kalverkämper (1979), (1980), Barloewen/ Brandenberg (Hg.) (1975), Steinbrecher/ Weiske (1992); zu Spezifika der inszenierten direkten Kommunikation in den Medien vgl. u.a. Linke (1985), Mühlen (1985) und Burger (1991); zu einzelnen konstitutiven Aspekten von Fernsehgesprächen wie „Trialogizität” siehe Dieckmann (1983), „Mehrfachadressierung” siehe Dieckmann (1983), Burger (1991), Hess- Lüttich (1993), zur Repräsentation von Normen und Leitvorstellungen der Kommunikation in Fernsehgesprächen vgl. Kallmeyer/ Schütte (1994). 40 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmitt unterschiedlichen Beteiligungsweise von KR und TR beschäftigen wir uns später noch (vgl. 8.); hier soll nur die Entwicklung der Gegnerschaft soweit skizziert werden, daß der für die zu analysierende Äußerung von TR relevante Kontext deutlich wird. Vor allem KRs Beteiligungsweise weist eine ausgeprägte Bereitschaft zum Forcieren auf: Er stört andere Sprecher häufig durch irritierende Kommentare und unterbricht sie, wobei er sich in hartnäckiger Konkurrenz um das Rederecht als Sprecher durchsetzt. Dadurch kommt es häufig zu langen Simultanpassagen, die eindeutig von KR verursacht werden. Darüber hinaus tritt KR als „Sachwalter der Wahrheit” auf. Er bewertet bereits zum Gesprächsbeginn vorangegangene Darstellungen anderer explizit und ohne Abschwächung als falsch, ggf. auch als typisch auch falsch (wie andere Behauptungen desselben Sprechers). Damit negiert er implizit die Berechtigung anderer Perspektiven auf die strittige Frage. Darüber hinaus versucht KR, seine Gegenspieler als moralisch zweifelhaft zu diskreditieren: sind sie für me”nschenversu: che] [...] wollen sie eben hier den menschen zum versu”chskaninchen ma”chen]. TR hat sich im Vergleich zu KR lange Zeit völlig zurückgehalten und bekommt quasi als Ausgleich vom Moderator FU mit einer expliziten Würdigung umfangreiches Darstellungsrecht. Beide stützen sich dabei auf eine Interaktionsregularität, die man umschreiben kann als: „Erkennbarer vorläufiger Verzicht schafft Anrecht für die nächste Gelegenheit”. Die Art des Umgangs mit dieser Regularität hat Rollen- und Statusimplikationen: Vorläufiger Verzicht ist umso wirksamer, je größer das Beteiligungsrecht des betreffenden Teilnehmers aufgrund von Handlungsrolle und sozialem Status ist. FU indiziert diese Zusammenhänge in seinem gesprächssteuernden Eingriff relativ präzise. Seiner Redezuweisung an TR geht ein Ordnungsruf voraus, in dem FU als einzigen Teilnehmer KR namentlich anspricht und damit implizit als „Störenfried” definiert, und in dem er die Tatsache anmerkt, daß TR mehrfach verzichtet hat: —>gnä”dige fraumeine herrenl herr krau”se[ * wenn ein deutscher * profe”ssor so lange schwei: gt[ * >dann sollen wir ihm -+da”nn we: nigstens die gele: genheit geben * was geschei”tes zum thema[ zu sagen[^- * bitte[ * sie wollten> meh”rfach versuchen * sich einzu*schalten[ (Z. 602-610). TR nutzt seine erste Darstellungsgelegenheit dazu, die zurückliegende Diskussion negativ zu bewerten. Er charakterisiert sie indirekt als Stammtischgespräch und präsentiert sich selbst als „Klarsteller mit Überblick”: ich find *—den verlau’f der diskussion bisher—* * >wirklich sehr charakteristisch für die art und wei”se-< ** —*äh wie man sich mit diesem: * thema: <— beschä”fligtl und es werden [...] mi”t dem etikett wV’ssen chaft[* öh teidinformationen aus —»irgendwelchen Untersuchungen: -*-* ja gegeneinander geste”lltl * >und< * -^das mag für stammtischgesprä: che * auch ganz befriedigend seinl (Z. 612-620). Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 41 Zunächst ratifizieren alle Beteiligten diese Selbstpräsentation durch eigene Zurückhaltung. KR gibt als erster seine Zurückhaltung auf und beginnt, TRs Äußerung durch irritierende Kommentare zu stören; seine Interventionen sind wirkungsvoll aufgrund ihrer insistierend-sequentiellen Struktur: Zunächst Bestreiten einer zentralen Aussage, dann akzentuiertes, hartes Beharren auf der Richtigkeit der eigenen Korrektur, gefolgt von einer expliziten Legitimation (= Unterbrechung im Dienste der Wahrheit), wobei nochmals die Korrektur explizit (NICHT-SONDERN) formuliert wird und die Verantwortung für die Notwendigkeit des forcierenden Eingriffs dem Partner zugeschoben wird: 645 TR: 646 TR: 647 KR: 648 TR: 649 KR: 650 TR: 651 TR: 652 KR: 653 TR: 654 KR: 655 TR: 656 KR: 657 TR: 658 K 659 KR: 660 XM: 661 KR: 662 KR: 663 TR: 664 TR: 665 TR: 666 TR: stati"stisch * bewie"senen scha: denj. * SCHLUCKT s=ein — ♦ in"dividuelle<— verha"ltensentscheidungj. * —»wie wir >-+beso"nders sie in vielen andern bereichen au"ch >finden<<— von dreizehnjährigen schü: "lernl*-< ja und dageht die Ir/ der lra: ge isj * wie weit man: >eine so"lche entschei"dung< <nei"n>t des sind >zwölfT >eine"s erwachsenen me"nschent sofe: rn sie an das zehnt<— iä: hrige schü"ler die ran"chent—>< erwachsenen/ darf ichla"ssen sie mich vielleicht +<ja da: mit sie eben hier mal> * «—nicht mal #ausre: dent# «GEREIZT # einfach sagen erwa"chsen- >—«fangen an zu TROCKENES EIMMALIGES HUSTEH rau"chent<—< * —«sondern«— * a"nfangen zu rau"chent * tu: n die kinder und ju: "gendlichenf< +—«ich wei"ß: <— * äh * dazu kaum ich >—«auch noch was sa: gent<—< * s=ja auch=n bereich >—«mit de: m ich mich recht intensiv beschä"ftigej.<—< * HOLT LUFT <«—kurzu"m— ► TR reagiert mit einer expliziten und gereizten Störungsabwehr in Form eines Ordnungsrufes (la”ssen sie mich vielleicht mal ausreiden). Er behandelt also gleich KRs erste Intervention als forcierend, und für den ersten unmittelbaren verbalen Kontakt mit KR fällt seine Reaktion überraschend scharf aus. Dieser Schärfe nimmt er jedoch gleich darauf die Spitze. Er 42 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmitt kündigt an, KRs kritischen Punkt zu berücksichtigen und stellt in Aussicht, als Experte später noch angemessen auf den kritisierten Punkt zu reagieren. Die überraschende Schärfe in TRs erster Reaktion ist ein Hinweis darauf, daß er KRs bisheriges Verhalten als einen spezifischen Interaktionsstil interpretiert, gegen den er sich zur Wehr setzt. KR begleitet TRs Äußerungen fortlaufend mit irritierenden Kommentaren. Das Störungspotential seiner irritierenden Kommentare ist unterschiedlich, es führt in einem Falle dazu, daß er TR das Wort abnimmt und ihn als Sprecher für eine längere Zeit verdrängt. TR versucht in dieser Phase nicht, in Konkurrenz zu KR wieder ans Wort zu kommen. Er schaltet sich erst wieder ein, als KR eine eigene Befragung, die er in seiner Schule durchgeführt hat, einbringt. Er bezweifelt KRs Fähigkeit, als Lehrer eine solche Befragung unvoreingenommen und nach wissenschaftlichen Maßstäben durchführen zu können. Als Beispiel einer glaubwürdigen Studie führt er dann eine EG-Studie an (ich hab ne * ne * äh ganz äh interessante * neuere untersuchungl [...] eine- * repräsentativbefragung in allen zwölf- * mitgliedsländern der e: ge: durchgeführt]), die er zu einem Fragespiel nutzt: 90S TR: ** und äh * was schätzen sie * wieviel 909 TR: prozent * der rancher gesagt haben * äh daß sie * —>-gerne 910 SB: >ich weiß nich< 911 TR: mit dem rauchen auThören wollen«— *2* 912 SB: zwanzig würd ich sagen 913 KR: ich schätze fünfzig 914 WE: »achtzig prozent-< * 915 KR: prozent etwa * 916 TR: die a"chtzig prozent * die 917 SB: +mhm 918 TR: zitiere/ —»hab ich bisher auch immer zitiertf«— +das 919 TR: sind die die zusa/ zustande kommen * in derartigen 920 TR: befragungenf * in dieser e: ge: befragung * sagten neu"n 921 TR: prozent- * der rancher * daß sie mit dem rauchen 922 SB: >rahm< 923 TR: aufhören wollenj. TR hat mit dem Fragespiel einen eindrucksvollen Erfolg in der Diskussion. Dazu trägt wesentlich bei, daß die adressierten anderen Teilnehmer die Studie offensichtlich nicht kennen und die üblichen zu hohen Schätzungen liefern, so daß TR seine Korrektur im Sinne der wissenschaftlich fundierten Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 43 Aufklärung plazieren kann. Eine Auswirkung ist, daß KR (der ebenfalls falsch geschätzt hat: fünfzig prozent etwa) für eine Weile an den Rand gedrängt ist und sich relativ passiv verhält. Im weiteren Verlauf äußert sich TR wiederholt negativ über KRs Studie. TR stellt sein eigenes Engagement im Rahmen einer Kampagne gegen das Rauchen von Jugendlichen dar („Ohne Rauch geht es auch”) und plädiert für eine vernünftige, nicht mit Verboten oder Verteufelungen arbeitende Aufklärung; er „prangert KR an”, mit seiner Art, das Thema Rauchen zu behandeln, Jugendliche eher pubertär gegenabhängig zum Rauchen zu bringen als sie davon abzuhalten. Auf eine erneute konkurrierende Selbstwahlinitiative KRs reagiert TR mit einem expandierten Ordnungsruf (hier wiederholt sich die Eingangsstruktur) und zwingt den Gesprächsleiter EU dazu, KR zurechtzuweisen und TR ungehindert Rederecht zu gewähren. KR hält sich dann auch zurück, und TR kann seine Äußerung ungehindert abschließen. Er wiederholt dabei den Vorwurf, KR „treibe” seine Schüler letztlich zur Zigarette. KR wehrt sich gegen diesen Vorwurf und schlägt TR vor, ihn im Unterricht zu besuchen, um sich vom Gegenteil zu überzeugen. Er wirft seinerseits TR vor, er gehe am Thema der Sendung vorbei, und weist dann noch einmal explizit auf die Gefahren des Passiv-Rauchens hin, wobei er gegen das Rauchen der anwesenden Rauch-Befürworter protestiert. Er schließt seinen Beitrag mit der Forderung nach Nichtraucherschutz in Gaststätten und Restaurants: wir möchten also auch nicht in den ga”ststätten angeraucht werdeni ** wir möchten auch unsere- * unsere spei”sen- * unsere getränke- * oh”ne diesen gesta: nk verzehren[{Z. 1986-1991). TR und KR befinden sich zu diesem Zeitpunkt in einer eindeutig oppositiven Konstellation. Die letzten Züge bestehen in wechselseitigen Angriffen auf die Person, wobei einige der geläufigen Topoi im Zusammenhang mit Autoritätsangriffen verwendet werden wie „mangelnde Kompetenz” , „das Gegenteil vom Intendierten erreichen” oder „Thema verfehlt”. Zwischen TR und KR ist eindeutig eine Gegnerschaft etabliert. Allerdings „hält” einen Moment lang die vom Moderator wieder hergestellte gesprächsorganisatorische Ordnung. 5.2 TRs zweites Fragespiel TR schließt sein zweites Fragespiel unmittelbar an KRs programmatischen und rhetorisch überhöhten Beitrag an. 1986 KR: nicht mehr- * dulden müssenj * darum geht=sf * und wir 1987 KR: möchten also auch nicht in den ga"ststätten angeraucht 1988 TR: RÄUSPERT SICH 1989 KR: werden! ** »iv möchten auch unsere- * unsere spei"sen- * 1990 XM: (. . ■ ) 44 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmitt 1991 KR: unsere getränke- * oh"ne diesen gesta: nk verzehren! 1992 TR: ^da 1993 KR: >bitte< 1994 TR: hab ich=n schönes Untersuchungsergebnis«— aus dieser 1995 TR: e: ge: Studie * was meinen sie- * wieviel prozent- * der 1996 TR: bundesrepublikanischen bevölkerung * sich durch * 1997 KR: ATMET EIN herr troschke * 1998 TR: pa"ssivrauchen belästigt fühlen! * 1999 SB: wieviel! 2000 KR: wissen sie was! fol/ jetzt is folgendes sie haben vo"rher 2001 TR: >was meinen sie< 2002 WI: zehn Prozent 2003 SB: ja: ! 2004 KR: von von * von zah: len gesprochen die wir uns so Wir betrachten diesen Redebeitrag hier strukturanalytisch im oben (4.) beschriebenen Sinne. Die Analyse ist relativ detailliert. Sie orientiert sich an den forcierenden Aspekten der Äußerung und an den unmittelbar damit zusammenhängenden Eigenschaften, die zur Beschreibung des spezifischen rhetorischen Potentials notwendig sind. Wir behandeln: die Organisation des Rederechts (5.2.1) die Kontextualisierung in ihrer Rolle für die Bedeutungskonstitution (5.2.2) die Handlungsfunktion (5.2.3) die Verschärfung der Handlungsverpflichtung für den anderen (5.2.4) - Implikationen für die Beziehungskonstitution (5.2.5) die Konstitution einer spezifischen Kooperationsfigur der „zugespitzten Ambivalenz” (5.2.6) den Zusammenhang von Formulierungsverfahren, Implikationen und forcierendem Potential (5.2.7). Die Isolierbarkeit von forcierenden Eigenschaften im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Konstitutionsaspekten verbaler Interaktion bedeutet nicht, daß sie jeweils auch Gegenstand der mehr oder weniger bewußten Sprecherplanung sind. Sie entsprechen routinisierten Praktiken, die vielfach unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle des Sprechers (und auch des Rezipienten) liegen und sich gleichsam „im Gefolge” von dominanten, im Zentrum der Aufmerksamkeit bei der Äußerungsproduktion und -rezeption stehenden Eigenschaften der Äußerung einstellen. Wie die Gesprächsanalyse vielfältig gezeigt hat, sind solche Details jedoch interaktiv wirksam und werden in Reaktionen und Reaktionen auf Reaktionen unter präziser Bezugnahme auf den Anlaß behandelt. Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 45 5.2.1 Zur Organisation des Rederechts Im Vergleich zu voraufgehenden und nachfolgenden Turbulenzen in der Redeverteilung mit ausgedehnten Überlappungen geht es an dieser Stelle ruhig zu (d.h. die kurz zuvor ausdrücklich wieder hergestellte Ordnung im Gespräch „hält” noch; vgl. oben Kap. 5.1). Es gibt allerdings Anzeichen dafür, daß es sich um eine „gespannte Ruhe” handelt. An den beiden Übergängen von KR zu TR (Z. 1991-1994) und dann von TR zu KR (Z. 1997-2001) fällt eine Verzahnung von Redeübernahme und Redeabgabe auf. Die Übernahme erfolgt jeweils „korrekt” an einer Stelle der möglichen Außerungsbeendigung, mit vorlaufenden „Anmeldungen” der Turn-Beanspruchung, während der andere spricht (bei TR vermutlich über das Räuspern in Z. 1988 hinaus nonverbal signalisiert, bei KR durch das hörbare Einatmen in Z. 1997 sowie ebenfalls nonverbal). Die Folgesprecher respektieren jeweils die Strukturierung der laufenden Äußerung und vermeiden einen Frühstart mit Überlappung, sie signalisieren aber frühzeitig, daß sie startbereit sind. Die frühzeitige und ggf. sehr deutliche, auch ungeduldige Manifestation von Ubernahmebereitschaft ist charakteristisch für Gesprächszustände mit besonderem Engagement der Beteiligten. 21 Als solche „Anmeldungen” von Redebeanspruchung werden teilweise auch Rückmeldeaktivitäten benutzt, die dann ebenfalls prosodisch oder durch die Formulierung Redebeanspruchung manifestieren. 22 Charakteristisch für gesteigertes Engagement sind neben den „Anmeldungen” von Redebeanspruchung auch Frühstarts in die noch laufende Äußerung des anderen hinein. French/ Local (1983) weisen darauf hin, daß es u.a. spezifische prosodische Muster sind, die die Grundlage bilden für die Interpretation von simultanen Interventionen vor Abschluß der Äußerung eines aktuellen Sprechers als Konkurrenz um das Rederecht (= „turn-competitive incomings”). Zudem kann auch der überlappungsfreie Beginn prosodisch markiert werden als „überfällig”. Derartige Markierungen sind ansatzweise beim Äußerungsbeginn von TR zu beobachten, der relativ schnell startet und mit gesteigertem Tempo spricht. Ansonsten fehlen die „dramatischeren” Formen des besonderen Engagements hier bei der Übernahme. Die Redeabgabe wird von beiden Sprechern verzögert; sie erfolgt erst nach einer manifesten Strukturschließung. KR verwendet dazu eine 21 Zu Gesprächszuständen mit besonderem „involvement” der Beteiligten vgl. Tannen (1981) u. (1984, S. 30f.). 22 Jefferson (1993) hat Fälle untersucht, bei denen Rezipienten ihre Rückmeldeaktivitäten als Start zu einem eigenen Beitrag benutzen. In Gesprächszuständen gesteigerten Engagements kann daher die „Provokation” von Rückmeldeaktivitäten für den etablierten Sprecher riskant sein. 46 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmitt ausdrückliche „Freigabe” des Floors (>bitte< in Verbindung mit einer sich nach außen öffnenden Handbewegung): 1991 KR: unsere getränke- * oh"ne diesen gesta: nk verzehren! 1992 TR: -*da 1994 TR: hab ich=n schönes Untersuchungsergebnis *aus dieser TR verwendet zur späten Strukturschließung eine rahmenbildende Reformulierung (was meinen sie-, Z. 2001). Auf die manifeste Beendigung wird nicht verzichtet, obwohl der andere (als der designierte oder erwartbare nächste Sprecher) schon gestartet ist und z.B. eine ausdrückliche Freigabe des Floors in dieser Hinsicht funktionslos geworden ist. Die asymmetrische Behandlung von Übernahme und Abgabe ist eine spezifische Form, das Rederecht als „kostbares Gut” zu behandeln. Die Konversationsanalyse hat dem Modell der Redeverteilung die Vorstellung zugrundegelegt, daß Redegelegenheiten in der Interaktion prinzipiell ein knappes Gut sind, d.h. daß im Normalfall mehr als einer sprechen will. 23 Das muß nicht faktisch immer so sein. Manchmal ist es günstiger, nicht das Wort zu ergreifen, und es gibt Situationen, in denen bekanntlich Schweigen „Gold” ist. In den meisten Situationen sind jedoch die Redegelegenheiten der Schlüssel zum Handeln und zur sozialen Präsenz. Dementsprechend ist es sinnvoll davon auszugehen, daß die entscheidende Leistung des Systems der Redeverteilung darin liegt, unter solchen Bedingungen der Knappheit von Redegelegenheiten zu funktionieren. Bei der Verteilung der Redegelegenheiten geht es in der Kommunikationspraxis im Prinzip nicht um Rederecht als solches, sondern um „qualifizierte Gelegenheiten”, d.h. Gelegenheiten zu bestimmten Aktivitäten, z.B. sich zu einem bestimmten Thema äußern zu können, sich gegen Vorwürfe wehren zu können, bevor das Gespräch zu einem anderen Thema übergeht 23 Aus anthroplogisch-ethnographischer und soziostilistischer Sicht wird immer wieder darauf hingewiesen, wie unterschiedlich die Regeln des Sprechens und die soziostilistischen Normalformen auch in Bezug auf die Bedeutung des Sprechens für die Herstellung und Aufrechterhaltung sozialer Situationen sind (z.B. in sog. „Rede-” und „Schweigekulturen”; vgl. u.a. Basso (1972), Reisman (1974), Tiittula (1994); zu regionalen Unterschieden in der amerikanischen Kultur vgl. Tannen (1979), (1981), (1984). Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 47 usw. Die Bedeutung, die der eigenen Turn-Beanspruchung, dem Ausnutzen von Redegelegenheiten durch den anderen und seinen eventuellen konkurrierenden Interventionen zugemessen wird, ist dementsprechend kontextabhängig unterschiedlich. 24 Der entscheidende Punkt ist nicht, generell möglichst häufig und möglichst extensiv Rederecht zu erlangen, sondern an der richtigen Stelle und in ausreichendem Maße für ein gezieltes Engagement in der Interaktion. Voraussetzung dafür ist, die Kontrolle über die Organisation des Rederechts zu gewinnen bzw. zu behalten. So manifestiert der schnelle und angekündigte Start TRs das Bestreben, die Gelegenheit auf jeden Fall nutzen zu wollen (bevor der erste Sprecher fortfährt oder ein anderer Teilnehmer sich einschaltet). Weiter verwendet TR ein Verfahren, das ihm nach dem Folgebeitrag des adressierten Gegenüber wieder das Rederecht sichern soll. Dazu benutzt er einen spezifischen Typ von Frage in der Art einer Prüfungsfrage: Er gibt vorab bekannt, daß er die richtige Antwort aus der EG-Studie kennt, und reklamiert damit vorab das Recht, die Antwort zu bewerten. Schließlich manifestiert die „nachgeschobene” Außerungsbeendigung, die den Beginn des nächsten Sprechers ignoriert, in besonderer Weise den Anspruch auf die Selbstbestimmtheit der Redeorganisation. Generell gilt bei kleinen Turbulenzen im Übergabebereich, die durch Frühstarts des nächsten Sprechers oder Fortsetzungen des bisherigen Sprechers zustande kommen, eine Präferenz für Beendigung bzw. Gestaltschließung vor dem Beginn einer neuen Äußerung. Dies äußert sich u.a. darin, daß in diesen Fällen die Folgesprecher auf die Überlappung mit Abbruch reagieren und dem bisherigen Sprecher noch einmal das Rederecht lassen. 25 In Fällen wie dem Beispiel erscheinen solche Reparaturen der Überlappung typischerweise nicht. Vielmehr hält der Folgesprecher an der gerade gewonnenen Redegelegenheit fest, und der bisherige Sprecher verzichtet nicht auf eine demonstrative Schließung seines Beitrags auch zu einem relativ späten Zeitpunkt. Darin wird im Ansatz ein forcierender Umgang mit der Redeverteilung sichtbar. 24 Zur Diskussion des Grundmodells des Turn-taking vgl. z.B. Sacks/ Schegloff/ Jefferson (1974), Clark/ Carlson (1982), Power/ Mortello (1986), Wilson/ Wieman/ Zimmerman (1984) und zur Berücksichtigung spezifischer Kontextfaktoren vgl. u.a. Esau/ Bristol- Poth (1981), Greatbatch (1988), Larrue/ Tragnon (1993), Lenz (1988), McHoul (1978). Vgl. auch die Hinweise in Fußnote 6 und 11, die sich auf den Diskussionszusammenhang von Turn-taking-Organisation und Konzepten von Unterbrechung beziehen. 25 Murray (1987, S. 104) weist jedoch darauf hin, daß es kein garantiertes Recht zur Beitragsbeendigung gibt: „’’completion right” is not absolute, but is contingent on the number and relative status of interactants and the length of a speaking turn and is vitiated by how long s/ he has been speaking, how often s/ he has spoken, the number of points s/ he has made, and the specific rights of some speaker to speak about some topics”. 48 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmitt 5.2.2 Kontextualisierung: Die Äußerung des anderen zum Anlaß nehmen, um auf eigene Aktivitäten zurückzukommen Durch das äußerungseröffnende deiktische da wird ein Bezug auf die vorangegangene Partneräußerung hergestellt. Der Referenzbereich von da ist für sich genommen ganz unspezifisch; im Kontext von habe ich ein schönes ergebnis aus dieser e: ge: studie werden bestimmte, sich auf einzelne Sachverhaltselemente der Partneräußerung beziehende Interpretationen wie z.B. eine lokaldeiktische Interpretation mit Bezug zu in den ga”ststätten (Z. 1987) ausgeschlossen. Thematisch enthält TRs erster Äußerungsteil keine Fortführung der Äußerung KRs. In solchen Fällen bezieht sich da gesprächsdeiktisch auf die Äußerung (und die damit vollzogene Aktivität) insgesamt oder auf die letzte Teiläußerung. 26 TRs Fortführung mit der Frage nach der Belästigung von Nichtrauchern durch die Raucher bestätigt diese Interpretation und präzisiert sie: Bezugselement ist der gesamte letzte Äußerungsteil, der die Forderung des Nichtraucherschutzes behandelt. Diese Art von gesprächsdeiktischem Globalbezug ist charakteristisch dafür, daß der Sprecher die Vorgängeräußerung für eine eigene Aktivität zum Anlaß nimmt. Durch die anadeiktische Formulierung aus dieser e: ge: studie wird ein weit zurückreichender Bezug auf die Thematisierung der EG-Studie im Rahmen des ersten Fragespiels hergestellt, das ebenfalls aus Anlaß von Aktivitäten KRs gestartet wurde. Aufgrund der beschriebenen Kontextualisierung ist die folgende Frage (was meinen sie- [...]) als Parallele zur früheren Frageformulierung und die Frageaktivität als erneute Durchführung eines strukturell vergleichbaren Fragespiels zu interpretieren. 5.2.3 Die Handlungsfunktion: Doppelbödige Berichtigung von Vorurteilen mithilfe einer Fangfrage TR sagt explizit aus, daß er ein Wissen hat (da hab ich=n schönes Untersuchungsergebnis aus dieser e: ge: studie), wonach er dann KR fragt (was meinen sie- * wieviel prozent [...]). Darin entspricht TRs Frage einer Prüfungsfrage bzw. einem Ratespiel. 27 Sie hat die Funktion zu prüfen, ob der andere das Wissen hat bzw. wieviel er weiß. Die Kontextualisierung durch die deutliche Parallelität zwischen zweitem und erstem Fragespiel löst die Inferenz aus, daß mit dem zweiten eine vergleichbare Handlungsfunktion verbunden ist wie mit dem ersten. Das erste Fragespiel hatte die Funktion, Aufklärung zu leisten durch die Berichtigung von Vorurteilen bzw. Fehlinformationen aus wissenschaftlich fragwürdigen Untersu- 26 Zur Gesprächsdeixis und zu den Regeln des Bezuges von Verweisformen wie da vgl. u.a. Ehlich (1987) u. Hoffmann (1992). 27 Zu Rätselfagen vgl. auch Ehlich/ Rehbein (1986, Kap. 3. „Rätselraten als Spiel und in der Schule”, S. 30-58). Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 49 chungen. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von Berichtigungen und nicht von Korrekturen, um die kritische Bearbeitung von Annahmen bzw. Wissensbeständen nicht mit den auf die Formulierung bezogenen Korrekturen im Sinne von Schegloff/ Jefferson/ Sacks (1977) zu vermischen. Bei dem ersten Fragespiel ging es darum, daß aufgrund der EG-Studie die gängigen Schätzungen des Widerstandes gegen das Rauchen (konkret: Wieviele Raucher wollen aufhören? ) weit nach unten korrigiert werden müssen (von 80% auf 9%): 916 TR: die a"chtzig prozent * die 917 SB: +mhm 918 TR: zitiere/ —»hab ich bisher auch immer zitiertj.«— +das 919 TR: sind die die zusa/ zustande kommen * in derartigen 920 TR: beiragungenj * in dieser e: ge Befragung * sagten neu"n 921 TR: prozent- * der raucher * daß sie mit dem rauchen 922 SB: >mhm< 923 TR: aufhören wollen! Auf die Funktion der Vorurteilsberichtigung nimmt TR auch durch die Bewertung schön in schönes ergebnis Bezug. Der Ausdruck schön entspricht in dieser Verwendung interessant, das TR wiederholt verwendet (vgl. ne ganz interessante neuere Untersuchung in der Eröffnung des ersten Fragespiels sowie außerordentlich interessant in der Preisgabe der Lösung, Z. 2103). Die Ausdrücke interessant und schön haben im Kontext von TRs Aufklärungsspiel die Konnotation „geeignet, Vorurteile zu widerlegen”. Mit dieser Form der Relevanzsetzung und Bewertung verweist TR auf sich als Urteilenden und aufklärerischen Wissenschaftler. Die Wahl von schön anstelle von interessant hat an dieser Stelle eine spezifische Konnotation des heimtückischen Vergnügens oder auch der süffisanten Freude (wem wird die Bekanntgabe der Lösung Freude bereiten? Vermutlich am wenigsten KR). TR schließt das zweite Fragespiel „aus Anlaß” an, d.h. als motiviert durch die Äußerung KRs. Worin liegt die lokale Relevanz der Vorurteilsberichtigung? KR tritt als Sprecher einer kämpferischen Nicht-Raucher- Organisation auf und hat in der Bezugsäußerung mit Nachdruck und geradezu pathetisch die Zielsetzung der Nicht-Raucher-Gruppe formuliert und damit politische Geltung in der Gesellschaft gefordert. Die nächstliegende Bezugnahme von TR auf KRs Äußerung stellt sich über eine Inferenz TRs her, daß KR sich bei der Formulierung des politischen Geltungsanspruchs auf das Argument der großen Zahl stützt: „Wir” sind viele, in jedem Fall eine gesellschaftlich relevante Größe. Aufgrund der Parallelität der beiden Fragespiele ist naheliegend, daß TR annimmt, KR liege mit seiner Größenvorstellung (auch in diesem Punkt) viel zu hoch. Die Reaktion von 50 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmiit WI zeigt im übrigen die Suggestivität des Frageverfahrens: WI, der das erste Mal, als es um die Bereitschaft zum Verzicht auf das Rauchen ging, zwar als Vertreter der Zigarettenindustrie interessengeleitet im Vergleich zu den anderen relativ niedrig, aber immer noch viel zu hoch geschätzt hatte, liefert beim zweiten Aufklärungsspiel eine sehr niedrige Schätzung von 10%; er hat „seine Lektion gelernt” (der später preisgegebene Wert beträgt immerhin 22%). Die Berichtigung von Vorurteilen ist doppelbödig; sie zielt nicht nur auf KRs Vorstellungen von der Anzahl derjenigen, die sich durch Passivrauchen belästigt fühlen, sondern darüber vermittelt auf KRs Vorstellungen von seiner politischen Geltung. Als Mittel der doppelbödigen Berichtigung benutzt TR eine Fangfrage, die den Adressaten in eine Zwickmühle bringt. Läßt er sich auf eine Beantwortung ein, ergibt sowohl eine falsche als auch eine richtige Antwort die Notwendigkeit der Berichtigung von Vorurteilen: Liegt die Schätzung zu hoch, kann TR sie nach unten korrigieren und daraus die Schlußfolgerung ziehen, daß auch die politische Geltung KRs nach unten zu korrigieren ist; liegt die Schätzung richtig, ergibt sich daraus ebenfalls eine Minderung der politischen Geltung. Schließlich hat auch die dritte Möglichkeit, nämlich sich nicht auf die Fangfrage einzulassen, ihre Gefahr: Die Vermeidung einer Antwort kann als Mangel an Kooperation oder sogar als implizites Eingeständnis von Irrtümern gewertet werden. 5.2.4 Die Verschärfung der Handlungsverpflichtung für den Adressaten Das Funktionieren einer Zwickmühlenkonstruktion hängt davon ab, daß sich der Adressat ihr nicht so leicht entziehen kann. TR setzt zwei Mittel der Verschärfung der Handlungsverpflichtung ein: das spezifische Frageformat - Fragen gehören generell zu den stärksten Mitteln der unmittelbaren Steuerung der Aktivitäten des anderen sowie manifeste Formulierungsverfahren der Relevanzhochstufung. Zu den Verfahren, mit denen Sprecher zeigen, daß sie in besonderer Weise bestimmte Folgehandlungen des anderen relevant setzen und gesteigerte Anforderungen an die Erfüllung der Erwartung stellen, gehören: die Adressierung, wodurch eindeutig gemacht wird, wer etwas tun soll (so daß nicht so leicht jemand anderes an der Stelle des Adressaten aktiv wird); die Festlegung des Zeitpunkts, normalerweise unmittelbar im Anschluß an die derzeitige Äußerung (damit nicht die anvisierte Handlung durch vorgeschaltete Aktivitäten verzögert oder an den Rand gedrängt wird); die Eingrenzung des thematischen Objekts und des Aktivitätstyps (damit der Adressat nicht thematisch relativ frei anschließen und einen Aktivitätstyp vollziehen kann, der nicht genau mit der Vorgängeraktivität korrespondiert); Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 51 die Beschränkung der zugewiesenen Aktivitätsgelegenheit auf die Realisierung ausschließlich der relevant gesetzen Folgehandlung (damit der Adressat nicht die Gelegenheit benutzt, zusätzlich andere und von ihm als viel wichtiger behandelte Aktivitäten zu vollziehen); die Unterstellung der Lösbarkeit der Anforderung sowie ihrer Berechtigung (damit der Adressat die Handlungsanforderung nur schwer zurückweisen kann). Diese Verfahren schränken die Möglichkeiten des Adressaten und ggf. anderer Beteiligter ein, mitzubestimmen und im Zweifelsfall auszuhandeln, welche Anschlußhandlung (und ggf. von wem) unter den gegebenen Umständen als sinnvoll anzusehen ist. Das zweite Fragespiel TRs zeichnet sich gegenüber dem ersten durch eine solche Zuspitzung der konditionellen Relevanz aus. Bestimmend dafür sind: - Die exklusive Adressierung von KR (beim ersten Fragespiel TRs war noch die ganze Runde angesprochen, und KR hat sich nur am Rande beteiligt). - Die kontrastive Kürze der Formulierung als Verfahren er Relevanzsetzung. TRs Äußerung ist relativ zur voraufgehenden „großen Rede” KRs kurz. Kontrastive Kürze ist u.a. ein Relevanzsetzungsbzw. Fokussierungsverfahren: Der Verzicht auf inhaltliche Komplexität verleiht dem exklusiv ausgewählten thematischen Gegenstand hohes Gewicht. - Durch die Konzentration auf einen thematischen Punkt wird zugleich die zugewiesene Aktivitätsgelegenheit „eng” begrenzt. Diese Funktion wird auch durch die auf der letzten Akzentsilbe fallende Intonation gestützt (sich durch * pa”ssivrauchen belästigt fühlenl)-, nach Selting (1993, S. 127f.) kennzeichnet eine solche Intonationsbewegung Fragen zu einem schon etablierten Thema in der Art von Rückfragen und die Zuschreibung von thematisch begrenztem Rederecht im Unterschied zu Fragen mit steigender Intonation, die für die Etablierung eines neuen Themas benutzt werden und weitergehendes Rederecht zuweisen. - Die Verstärkung der konditioneilen Relevanz durch die strukturschließende Reformulierung des Matrixsatzes der Frage (was meinen sie); die Formulierung der Handlungsverpflichtung wird verdoppelt und erscheint an der interaktiv besonders wirksamen letzten Äußerungsposition. - Die aufgrund der Parallelität mit dem ersten Fragespiel eingeführte Implikation, daß auch beim zweiten Mal die Anforderung, eine Schätzung zu liefern, ohne weiteres einlösbar und aufgrund der Aufklärungsfunktion legitim ist. Das körperliche Ausdrucksverhalten TRs verstärkt die genannten Eigenschaften der Äußerung und soll deshalb noch genauer betrachtet werden. Es zeigt in expressiver Form unterschiedliche Aspekte eines gesteigerten 52 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmiii Engagements. Die Kamera zeigt TR erst ab was meinen sie. Hier ist noch das Ende einer offenbar relativ großen und ausholenden Bewegung des rechten Arms zu erkennen: Die rechte Hand wird in einem großen Bogen von rechts außen oben nach links unten geführt: 1992 TR: -*-da 1993 KR: >bitte< 1994 TR: hab ich-n schönes Untersuchungsergebnis aus dieser Zugleich ist noch das Absenken des Kopfes von einer gehobenen Haltung zur Normalhaltung bei festem Blick zu KR zu sehen. Am Beginn dieser Bewegung ist der Gesichtsausdruck „freudig” oder „begeistert” und wird am Ende von was meinen sie ernst. Dreimal wird Kopfsenken zur Akzentuierung eingesetzt (wieviel prozent- * der bundesrepublikanischen bevölkerung * sich durch * -pad'ssivrauchen belästigt fühlenl); ansonsten bleibt der Blick fest auf KR gerichtet. Dieses Fixieren mit dem Blick in Verbindung mit einer markant ernsten Mimik bleibt nach dem Außerungsende bis zum Kamerawechsel bei KRs wissen sie was unverändert bestehen. Im Ausdrucksverhalten TRs kann man zumindest vier Komponenten unterscheiden: - Gestik und Kopfbewegung markieren zunächst sehr deutlich das Eingreifen bzw. „Sich Einschalten”. - TRs „Fröhlichkeit” signalisiert eine „positive” Beteiligungsweise, die eine Bewertung der Situation als „gute Gelegenheit” oder das Zurückkommen auf einen eigenen, positiv besetzten Aktivitätszusammenhang ausdrückt. - Das Blickverhalten signalisiert, daß exklusiv KR adressiert wird. Während TR im ersten Fragespiel sich an die ganze Gruppe wendet, bleibt jetzt auch bei dem späteren Nachhaken (was meinen sie) KR der exklusive Adressat, obwohl sich andere Sprecher einschalten. - Fixieren mit dem Blick und markanter Ernst im Gesichtsausdruck, gesteigert durch das „Stehenlassen” der Blickfixierung nach dem Außerungsende, signalisieren Fokussierungsintensität. Dadurch werden die Äußerung und ihre Implikationen als gewichtig markiert. Die kondi- Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 53 tionelle Relevanz wird hochgestuft, und die Frage erfährt dadurch eine Zuspitzung. Die genannten verbalen und nonverbalen Ausdrucksmittel führen in ihrer Kombination zu einer Zuspitzung der Reaktionsverpflichtung für den Adressaten. 5.2.5 Implikationen für die Beziehungskonstitution: die Ambivalenz von Aufklärung und Degradierung TR bezieht sich in seiner Prüfungsfrage auf zwei Kenntnisformen mit unterschiedlichem epistemischem Status: Er unterscheidet zwischen „ein Ergebnis haben aus einer wissenschaftlichen Untersuchung” und „meinen” im Sinne von „annehmen”, „glauben”, „schätzen”. (Nach seinen Erfahrungen mit dem ersten Fragespiel kann TR im übrigen davon ausgehen, daß KR die Studie nicht kennt, ebensowenig wie die übrigen Teilnehmer.) Die Zuordnung der Kenntnisformen „wissen” und „meinen/ glauben” impliziert die Einführung einer Rollenasymmetrie zwischen Experten und Laien. Aus der herausgehobenen Rolle des Wissenschaftlers mit der Mission der Aufklärung lassen sich wiederum weitreichende Aktivitätsrechte gegenüber den Aufzuklärenden ableiten. Unter dem Gesichtspunkt der Konstitution sozialer Identitäten und Beziehungen hat eine Vorurteilsberichtigung generell für den Adressaten eine negative und eine positive Implikation. Die negative Implikation hängt mit dem Irrtumsnachweis zusammen und verletzt das negative Face; die positive besteht im Zugewinn an Einsicht und in dem Wechsel der sozialen Kategorie zu den „Aufgeklärten”, „Wissenden”. Im konkreten Fall kann sowohl die eine als auch die andere Implikation dominant werden. Im ersten Fall würde der Aspekt des Statusverlusts, ggf. der Bloßstellung und der Degradierung dominieren, im zweiten Fall der Statusgewinn und ggf. die weitere Beteiligung an der gemeinsamen Erkenntnisgewinnung. Im Unterschied zum ersten Fragespiel hat im vorliegenden Fall auch die positive Variante für KR einen erheblichen Preis: Er muß sich im Sinne der Rollenasymmetrie Experte/ Laie unterordnen und die Notwendigkeit einer Berichtigung seiner Vorurteile anerkennen. Damit gerät zugleich sein Status als politischer Vertreter einer relevanten Bevölkerungsgruppe in Gefahr; die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft der Aufgeklärten ist an Unterwerfung und Statusverlust gebunden. Darin liegt die Veschärfung gegenüber dem ersten Fragespiel. Das erste Fragespiel verbindet TR in besonders deutlicher Weise mit dem Aufklärungsbemühen, das von einem wissenschaftlich-rationalen Ethos getragen wird. Dieses wird u.a. dadurch dargestellt, daß TR sein eigenes Lernen im Sinne der Vorurteilskorrektur beispielhaft einbezieht: die a”chtzig prozent * die zitiere/ —>hab ich bisher auch immer zitiertl*das 54 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmiü sind die die zusa/ zustande kommen * in derartigen befragungen[. Dadurch bietet er den Adressaten als ein Element der Beziehungsdefinition die „Gemeinschaft der Lernenden und an Aufklärung Interessierten” an. Das Fragespiel hat aufgrund der zugespitzten Handlungsverpflichtung und des Bezugs auf den Anlaß (die Selbstüberschätzung KRs als politischer Interessenvertreter) ein weitreichendes Aggressionspotential, das auf eine Degradierung KRs hinausläuft. 5.2.6 Die Kooperativität „auf der Kippe” In der Interaktion allgemein und speziell in strittigen Auseinandersetzungen wird mit jedem Zug implizit auch die Kooperationsform mitverhandelt. Das vorliegende Gespräch ist seit Beginn und bis unmittelbar vor der analysierten Stelle so turbulent, daß sich die Kooperativität der Beteiligten nicht einfach von selbst versteht. Welche Art von Provokation und Verschärfung oder welches Kooperationsangebot ist mit der Äußerung TRs verbunden? Die Äußerung TRs ist hinsichtlich der Kooperationsform durch eine spezifische Ambivalenz charakterisiert. Einerseits läuft die Äußerung in jedem Fall auf eine Herabsetzung KRs hinaus. Andererseits beinhaltet sie auch noch ein „Angebot” für die weitere Interaktion. Durch die manifeste Kontextualisierung des zweiten Fragespiels im Rahmen der Beteiligung als um Aufklärung bemühter Wissenschaftler unterliegt TR bis zu einem gewissen Grade einem Konsistenzzwang. Es ist davon auszugehen, daß TR auch unter den erschwerten Bedingungen der verfestigten Gegnerschaft mit KR und dessen Hartnäckigkeit die vorher so deutlich erklärte und enaktierte Selbstverpflichtung zum rationalen Aufklärungsprogramm in Geltung hält. Die weitere Entwicklung der Diskussion zeigt im übrigen, wie einerseits bedingt durch die Reaktion KRs der Ausdruck von Aggressivität bei TR steigt und dabei die „negativen” Implikationen des Fragespiels manifest entfaltet werden. 28 Andererseits wird aber auch das „positive” Programm immer wieder sichtbar, u.a. in einem späteren Versuch, KR „in den Griff zu bekommen” (vgl. 5.3.7), und dann erneut bei der Preisgabe des Untersuchungsergebnisses, das er wieder an alle adressiert als sehr interessant bewertet und damit in seinen gesamten Handlungsstrang der „Aufklärung durch Wissenschaft” einordnet (Z. 2103). Daß in der Folge des Fragespiels die negative Implikation dominant wird, heißt 28 Das zunehmend aggressivere Potential von TRs Beteiligung zeigt sich in der Abfolge seiner Beiträge: beantworten sie doch mal meine frage sie haben etwas gelernt sie mögen von ihrer berufsschultätigkeit etwas verstehen sie haben etwas ganz anderes wieder mal erzählt ich versuche ihre soziale kompetenz zu testen und die scheint sehr gering zu sein Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 55 also nicht, daß diese in der Fangfrage exklusiv angelegt war. 29 Für die Aktivität TRs ist vielmehr eine „Modalität auf der Kippe” charakteristisch; der Umschlagpunkt zum offenen Streit ist nahe, aber noch nicht erreicht (vgl. auch die Analysen zur Gereiztheit im folgenden Beitrag von Hartung). In diesem Zusammenhang spielt vermutlich auch die Verwendung des Frageformats eine Rolle. Zum einen trägt es zur Hochstufung der konditionellen Relevanz bei. Zum anderen ist es Bestandteil einer „Einladung zur Selbstberichtigung”: TR führt die Berichtigung des Vorurteils nicht unmittelbar aus, sein Fragespiel fungiert vielmehr zunächst als Initiierung einer Selbstberichtigung. Wir nehmen an, daß in Bezug auf Berichtigungen von Annahmen bzw. Behauptungen eine analoge Präferenzregel gilt wie für Korrekturen (vgl. Schegloff/ Jefferson/ Sacks 1977), d.h. daß Selbstberichtigungen präferiert sind gegenüber Fremdberichtigungen. 30 Daß TR diese Präferenz für Selbstberichtigung beachtet, signalisiert eine zumindest formale Kooperativität. Die Ambivalenz der Kooperationsweise läuft darauf hinaus, daß der Adressat implizit vor die Wahl gestellt wird zwischen einer Fortsetzung „im Guten” oder „im Bösen”. Entweder der Adressat kooperiert im Aufklärungsspiel und kann dann (mehr oder weniger wohlmeinende oder herabsetzende) Belehrung erwarten; oder er verweigert die Einsicht und muß mit einer Form der „Bestrafung” rechnen („wer nicht hören will, muß fühlen”). Damit wird die Verantwortung für den möglichen negativen Verlauf dem Adressaten zugeschrieben. Der Sprecher „läßt es darauf ankommen”. Zum rhetorischen Potential derartiger Züge gehört, daß der Akteur als nicht „konfliktscheu” erscheint (er würde den drohenden Konflikt nicht auf eigene Kosten vermeiden), daß ihm aber die Konfliktbereitschaft nicht unmittelbar anzulasten ist. Äußerungen, die in vergleichbarer Weise signalisieren, daß die Kooperationsweise „auf der Kippe” steht, sind charakteristisch für bestimmte Ent- 29 Ein derartiger Rückschluß würde bedeuten, die konversationsanalytische methodologische Annahme „Was folgt, zeigt, was vorher war” zu vordergründig zu verstehen. 30 In der Konversationsanalyse besitzen zwei aufeinander bezogene Konzepte einen zentralen Stellenwert für die Erklärung der sequentiellen Konstitution sozialer Ordnung und der damit verbundenen Fragen der Handlungsverpflichtung von Folgeaktivitäten: das Konzept der konditionellen Relevanz (z.B. Schegloff (1972)) und das Konzept der Präferenzorganisation, (siehe z.B. den Überblick bei Bilmes (1988)). Das Konzept der konditioneilen Relevanzen beschreibt in grundlegender Weise die universelle, d.h. kontextfreie Bedingung für die sequentielle Organisation. Es regelt, daß auf bestimmte initiative Äußerungen bestimmte reaktive Äußerungen erwartbar folgen. Das Konzept der Präferenzordnung gewährleistet über die kontextspezifische Selektion die Einlösung des grundlegenden Ordnungszusammenhanges, der als konditionelle Relevanz gefaßt ist; vgl. auch Kotthoff (1993) zur Frage der Präferenzorganisation in Streitsequenzen. 56 IVerner KaUmeyer/ Reinhold Schmitt Wicklungsstadien von Auseinandersetzungen. Derartige Züge erscheinen typischerweise nicht in turbulenten Phasen, sondern in Phasen relativ geordneter und nicht offen aggressiver Interaktion, in denen die manifestierte Erwartung grundsätzlich möglicher Kooperation nicht von vornherein unplausibel ist. Ein derartiger Kontext ist auch im vorliegenden Fall ja kurz vorher durch den von TR angeforderten ordnenden Eingriff des Moderators wieder hergestellt worden. 5.2.7 Fazit: Formulierungsverfahren, Implikationen und forcierendes Potential Als Ergebnis der Analyse soll festgehalten werden: - Am rhetorischen Gesamtcharakter der Äußerung sind eine Reihe unterschiedlicher Aspekte beteiligt. Forcierende Eigenschaften haben auf jeden Fall die Handlungskonstitution und die Konstitution sozialer Identitäten und Beziehungen, während die Redeverteilung, die durch einen Zustand der „gespannten Ruhe” gekennzeichnet ist, und die thematische Kontextualisierung der Äußerung als „aus Anlaß der Vorgängeräußerung auf einen eigenen Punkt zurückkommen” für sich genommen weitgehend unauffällig sind. - Bei der Analyse der rhetorischen Eigenschaften ist zu unterscheiden zwischen den manifesten Formulierungsverfahren wie der Frageformulierung als Prüfungsfrage, der Kontextualisierung (aus gegebenem Anlaß frühere eigene Aktivitäten fortsetzen) und der Relevanzsetzung (Hochstufung der Handlungsverpflichtung für den Adressaten) einerseits und den über die Kontextualisierung zustandekommenden Implikationen wie der Fangfragencharakter (Zwickmühle) und die Diskreditierung und Degradierung des Gegners andererseits. - Der forcierende Charakter ist im vorliegenden Fall vor allem mit diesen Implikationen verbunden. Zwar hat die Frageformulierung als Prüfungsfrage generell ein forcierendes Potential, das durch die Einführung der Experten-Laien-Hierarchie entgegen dem Anspruch der anderen auf Gleichrangigkeit gesteigert wird. Ebenso hat die Hochstufung der Handlungsverpflichtung für den Adressaten generell ein forcierendes Potential, das zusätzlich den forcierenden Charakter der Prüfungsfrage verstärkt. Aber die Aggressivität und Gefährlichkeit des Handlungszuges (als Fangfrage und Diskreditierungsversuch) kommt entscheidend durch die Kontextualisierung und die darüber eingeführten Implikationen zustande. -TR definiert seine Äußerung durch einen legitimierenden Normalformbezug als zulässig und angemessen. Ausschlaggebend dafür ist die Kontextualisierung als Nachfolgeaktivität im Rahmen einer mit dem ersten Fragespiel etablierten Handlungsweise, die ja ratifiziert wurde und interaktiv erfolgreich war. Damit nimmt TR Bezug auf eine Interaktionsform, in der eine (ggf. vorübergehende) Asymmetrie der Beteiligungs- Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 57 rollen funktional und legitim ist: die Aufklärung durch Berichtigung von Vorurteilen. Die Äußerung TRs ist so formuliert, daß als übergeordneter Rahmen der Diskreditierung des Gegners die Durchsetzung der Vernunft erscheint. - Die Äußerung zeigt eine charakteristische Ambivalenz der Kooperationsform. In Reaktion auf die „Renitenz des Aufklärungsunwilligen” zeigt das zweite Fragespiel eine erhebliche Verschärfung gegenüber dem ersten; damit ist das Gefahrenpotential verdeutlicht. Bei aller Aggressivität verletzt TR jedoch nicht die Gesprächsregeln und fällt nicht aus der Rolle. Zugleich hat die Äußerung noch die Form einer „Einladung zur Selbstberichtigung”. Diese Verknüpfung von aggressiven und kooperativen Eigenschaften ist charakteristisch für eine Kooperationsweise „auf der Kippe”, mit der dem Adressaten signalisiert wird, daß er die Wahl hat zwischen der Fortsetzung „im Guten” oder „im Bösen”. 5.3 Die interaktionsdynamischen Folgen Ausgelöst durch die Äußerung TRs entwickelt sich eine Folge forcierender Aktivitäten. Die Sequenz hat, ausgehend von TRs Fangfragen-Initiative, eine Verlaufstruktur, die einem typischen Aufschaukelungsprozeß entspricht, in dem die Auseinandersetzung über die Sache überlagert wird durch die metakommunikative Typisierung des Gesprächsverhaltens und Angriffe auf die Person des Gegners: - KR vermeidet die Falle und macht einen eigenen Vorstoß, - TR insistiert, - KR läßt sich nicht beirren, - TR geht zur offenen Diskreditierung des Gegners über, - KR hält seine Argumentation aufrecht, - TR kritisiert KRs Gesprächsverhalten, - KR verteidigt sein Gesprächsverhalten als angemessen, - TR erklärt sein Gesprächsverhalten in einer KR diskreditierenden Weise. Verkompliziert wird der Verlauf durch die Beteiligung anderer und die Überlappungen der Äußerungen und der wechselseitigen Unterbrechungsversuche. Die voraufgehend durch den Moderator wieder hergestellte Gesprächsordnung ist erneut tiefgreifend gestört; das erneuerte Arbeitsbündnis der Beteiligten für die Diskussionsführung hat nur kurz funktioniert. Der Moderator unternimmt einen Versuch der Streitauflösung, indem er TR auffordert, das Ergebnis der EG-Studie preiszugeben {ich würde jetzt gerne die noch die antwort auf diese * auf diese von ihnen selbst gestellte frage noch anfordern * wieviel prozent der bevölkerung ** fühlen sich durch * als nichtraucher belästigt, Z. 2092-2104). Die Darstellung des Ergebnisses ist Anlaß zur Fortsetzung der aggressiven Auseinandersetzung zwischen TR und KR. Der Streit wird erst durch ein dezidiertes 58 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmitt Eingreifen des Moderators und einen von ihm initiierten Themenwechsel abgebrochen (ich werde jetzt/ ich werde jetzt eine kleine Zensur machen[ * <meine herren lassen sie bitte nei”n> ich mu”ß jetzt eine Zensur machen, Z. 2138-2145). 5.3.1 KR: Zurückweisung, Ersatzhandlung und eigene Initiative KR reagiert auf TRs Fragespiel mit einem langen Redebeitrag, in dessen Verlauf sich TR mit einer insistierenden Nachfrage und TR gemeinsam mit anderen mit subversiver Nebenkommunikation einschalten. KR verteidigt und strapaziert sein Rederecht. Wir behandeln zunächst die inhaltliche Struktur der Gesamtäußerung und anschließend die Rezipienteneingriffe (5.3.2 u. 5.3.3) und die Wahrnehmung des Rederechts (5.3.4). KRs Äußerung hat folgende Grobstruktur: -KR eröffnet die Äußerung mit einer aufwendigen Einleitung (herr troschke * wissen sie was] fol/ jetz is folgendes), (i) - KR erinnert an TRs frühere Kritik am Verhalten der anderen Teilnehmer (sie haben vo”rher von von * von zahden gesprochen die wir uns so um die obren * werfen * ham gesagt des is alles nichts), (ii) - KR gibt eine modal markierte Antwort (ich kann ihnen zum beispiel sagen), (iii) - KR gibt eine negative Beschreibung der durch TRs Initiative entstandenen Situation (und wenn sie” jetzt mit einer Untersuchung kommen] * dann weiß ich zum beispiel nicht * [...]). (iv) - KR stützt seine Bewertung durch ein Zitat TRs (sie ham ja vorher schon darauf hingewiesen * es kommt ganz drauf an [...]). (v) - KR führt als positives Beispiel eine Untersuchung an, die er mit seinen Schülern durchgeführt hat (hier wollen wir gleich zu dem kommen was ich was ich was ich in der schule gemacht habe), (vi) 1997 KR: 1998 TR: 1999 SB: 2000 KR: 2001 TR: 2002 WI: 2003 SB: 2004 KR: 2005 KR: 2006 KR: 2007 TR: 2008 KR: ATMET EIN herr troschke * pa"ssivrauchen belästigt fühlen! * wievielt wissen sie was! fol/ letzt is folgendes sie haben vo"rher >was meinen sie< zehn Prozent ja: | von von * von zah: len gesprochen die wir uns so um die ohren * werfen * ham gesagt des is alles nichts ** ich kann ihnen zum beispiel sagen * daß das zed=de: ef cbeantworten sie doch mal das moment * — ► ich kann ihnen zum beispiel sagen Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 59 2009 TR: 2010 XH: 2011 KR: 2012 KR: 2013 KR: 2014 KR: 2015 KR: 2016 KR: 2017 KR: 2018 KR: 2019 KR: 2020 KR: 2021 KR: 2022 SB: 2023 KR: 2024 TR: 2025 KR: 2026 BR: 2027 K 2028 TR: 2029 SB: 2030 KR: 2031 BR: 2032 K 2033 TR: 2034 KR: 2035 BR: 2036 K 2037 KR: 2038 KR: 2039 KR: 2040 KR: 2041 KR: meine fra"ge> jaja daß das zed=de=el|<— * gesundheitsraagazin praxisj. * eine Umfrage gemacht hat * de"r ** noch andere Umfragen gefolgt sind * wonach sich a"chtundsiebzig Komma fünf prozent der ni"chtraucher * e"twas * stark * oder seh"r stark * durch Zigaretten pfeifen oder tabakqualm * belästigt gefühlt habenj * und wenn sie" jetzt mit einer Untersuchung ko"mmenJ. * dann weiß i"ch zum beispiel ni"cht * we"r sie finanziert hat * dann weiß ich zum beispiel ni"cht * wie sie durchgeführt w/ * wird * denn sie harn ja vorher schon darauf hingewiesen * es kommt ganz drauf an * wie man die einleitenden fragen LACHT stellt * hier wollen wer gleich zu dem kommen was ich was mhm sie haben etwas gelernt freut mich ich was ich was ich in der schu"le gemacht habe herr #genau": genau: # des is herrlich a"ch ja das ist »LACHEND # >er hat was LACHT KURZ troschke ich habe ganz einfach ** ein blatt schö: n »weiter herr krause »LACHEND gelernt< ein fragebogen ausgearbeitet * auf dem * wird überhaupt weiter weiter» # nicht Stellung genommen * zu der frage * wie kommen sie zum rauchen * oder soundsoviele leute rauchen * warum tun sie=s auch * sondern da wird einfach bloß gefragt * rau"chen sie * ja oder nein * wenn ja * warum * harn sie schon mal das rauchen aufgeben wollen * das 60 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmiü 2042 KR: heißt hie"r is einfach ne abfrage * ohne daß ich äh * 2043 KR: vorher irgendwie ein Statement habe * um die leute 2044 KR: zu beeinflussen! Die Äußerung wird durch drei dominante rhetorische Verfahren bestimmt: - Blockieren der fremdbestimmten Handlungsvorgabe und Übergang zum selbstbestimmten Handeln (a). - Entwerten eines gegnerischen Belegs durch einen Gegenbeleg (b). - Diskreditierung des Gegners (Autoritätsangriff) und Aufwertung des eigenen Status (c). Diese Verfahren überspannen teilweise die gesamte Äußerungsstruktur, teilweise werden sie durch Teile der Äußerung realisiert. Sie sind jeweils komplex, d.h. sie inkorporieren Einzelverfahren, die in der Gesamtorganisation einen Teilschritt darstellen und/ oder stützende Funktion haben. Auch die dominanten Verfahren stützen sich gegenseitig in der Weise, daß sie insgesamt oder in Teilen jeweils als Komponente eines anderen Verfahrens fungieren. Alle drei Verfahren haben forcierenden Charakter. (a) Blockieren der fremdbestimmten Handlungsvorgabe und Übergang zum selbstbestimmten Handeln Die Wirksamkeit der von TR etablierten konditionellen Relevanz wird in mehreren Schritten abgeschwächt und aufgehoben: - Die komplexe Einleitung (Äußerungsteil i), die durch die Anrede (herr troschke), die doppelte Fokussierung aus Aufmerksamkeitsappell und Ankündigung (wissen sie was] fol/ jetzt is folgendes) und den dabei vollzogenen Wechsel zur Meta-Ebene Diskontinuität im Verhältnis zur voraufgehenden Äußerung markiert. - Eine Vorschaltaktivität, d.h. eine Aktivität, die erkennbar noch nicht die Behandlung der konditionellen Relevanz darstellt (Teil ii). KR plaziert als Vorschaltaktivität eine Neu-Kontextualisierung, d.h. eine Kontextualisierung, welche die gegenwärtigen Äußerungen (in der Regel: die Vorgängeräußerung und/ oder die aktuale eigene Äußerung) in einen anderen als den von der Vorgängeräußerung etablierten Rahmen stellt (sie haben vo”rher von von * von zah: len gesprochen die wir uns so um die obren * werfen * ham gesagt des is alles nichts). Damit bezieht sich KR auf den letzten Angriff TRs gegen ihn, bei dem TR sich allgemein kritisch über die inkompetente und leichtfertige Verwendung von zweifelhaften Untersuchungsergebnissen durch die Anwesenden äußert. - Die Fortsetzung mit einer Ersatzhandlung (Teil iii). Dieser Äußerungsteil steht zum voraufgehenden in einer nur angedeuteten oppositiven Relation (vgl. weiter unten). Mit ich kann ihnen zum beispiel sagen markiert KR seine Kernaktivität als Angebot einer Ersatzant- Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 61 wort („was Sie verlangen, ist unangemessen; stattdessen kann ich sagen Der Sprecher bezieht sich auf die etablierte konditionelle Relevanz, führt aber eine thematische Verschiebung durch. KR verallgemeinert den von TR vergebenen thematischen Gegenstand „EG-Studie” zu „wissenschaftliche Untersuchung” und macht über ein anderes Element dieser Klasse exemplarisch (zum beispiel) eine Aussage. Das ermöglicht es ihm, präzises Wissen anstelle einer subjektiven Einschätzung zu äußern. Beide Eigenschaften sind typisch für Ersatzantworten, d.h. Antworten, welche die Fragevorgabe nicht oder nur teilweise erfüllen. - Die Begründung der Blockade (Teil iv) durch den Hinweis auf das Fehlen notwendiger Voraussetzungen für die Beantwortung der Frage (dann weiß i”ch zum beispiel ni”cht * wer sie finanziert hat * dann weiß ich zum beispiel ni”cht * wie sie durchgeführt w/ * wird). KR verwendet erneut eine konkurrierende Neu-Kontextualisierung: Die Formulierung und wenn sie” jetzt mit einer Untersuchung kommen läßt TRs Ratespiel als punktuelles Ereignis, d.h. als das erstmalige Einführen der EG- Studie erscheinen, zumindest enthält sie keinen Hinweis auf die für TR erfolgreiche Einführung und Benutzung der EG-Studie im Zusammenhang mit seinem ersten Fragespiel. Diese Kontextausblendung stützt die Abwertung des Fragespiels von TR als unangemessen. - Die Absicherung der Begründung unter Berufung auf den Partner (Teil v). Der Außerungsteil ist einerseits durch denn an die voraufgehende Formuherung angebunden, schafft jedoch zugleich den thematischen Übergang zum nächsten Handlungsschritt, der Darstellung einer eigenen Untersuchung (Teil vi). Auch gemessen am erwartbar enthymemischen Charakter von Alltagsargumentationen zeichnet sich der Übergang vom zweiten zum dritten Außerungsteil durch einen hohen Grad von Implizitheit aus, welche die oppositive Relation zwischen den beiden Teiläußerungen zunächst schwer interpretierbar bleiben läßt. An dieser frühen Stelle kann sich die Rezeption nur auf folgende Elemente stüzten: - Die Einleitung (jetzt is folgendes) projiziert eine Darstellung zur gegenwärtigen Gesprächssituation. - Die folgende Darstellung einer früheren Handlung TRs (sie haben vo”rher von von * von zah.jen gesprochen die wir uns so um die obren * werfen * ham gesagt des is alles nichts) löst diese Projektion noch nicht ein, sondern setzt eine inhaltliche Relevanz (das Verhältnis zu TRs früherer Äußerung) für die Fortsetzung zur gegenwärtigen Situation. - Die Gemeinsamkeit zwischen früherer und jetziger Situation liegt darin, daß es um den Umgang mit zahlen geht, d.h. die Verwendung von Untersuchungsergebnissen als argumentative Belege. Relevant gesetzt ist der Aspekt der Kompetenz und Seriosität im Umgang mit Untersuchungsergebnissen. - Zwischen Teil ii und der Fortsetzung (ich kann ihnen zum beispiel [...]) gibt es keine Zäsur oder Korrekturmarkierung, vielmehr werden die 62 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmitt beiden Teile prosodisch als zu einer Struktur gehörig markiert. Teil iii enthält eine Darstellung zur gegenwärtigen Situation, aber keinen akzentuierten Temporalausdruck als zweites Kontrastelement. Das spricht für eine Einlösung der Jetzt-Projektion mit thematischer Verschiebung. - In der Formulierung ich kann ihnen zum beispiel (Z. 2008) trägt kann den Hauptakzent und ist zusätzlich gestisch akzentuiert: Auf ich kann öffnet KR seine rechte Hand zu einer senkrechten, auf TR gerichteten „Angebotsgeste”, die mit dem Ende von kann schnell beendet wird. 2008 KR: ihnen zum beispiel Diese prosodische und gestische Akzentuierung des finiten Verbs ist kontrastiv zu interpretieren, wobei als Kontrast entweder ein anderes Modalverb oder die Negation der Aussage zu suchen ist. Im voraufgehenden Kontext gibt es kein explizites Kontrastelement. Die unter diesen Umständen nächstliegende Möglichkeit zur Auffüllung der Kontrastrelation ist die Auslösung einer Inferenz: Das imphzite Kontrastelement bildet eine Proposition über etwas, was der Sprecher „nicht sagen/ tun kann”. - Eine zumindest mögliche Inferenz ist, daß KR das nicht tun kann, was TR von ihm verlangt, und sich dabei darauf stützt, daß TR von ihm einen Umgang mit zahlen verlangt, den TR selber vorher als inkompetent und leichtfertig kritisiert hat. Mit dieser Art der Rekonstruktion soll nicht gesagt werden, daß der Sprecher die komplexe Inhaltsstruktur bereits präsent habe oder der Rezipient sie inferieren müßte. Gerade wenn die Zusammenhänge schwer erschließbar sind, wird der Rezipient tendenziell auf weitere Informationen in der Außerungsfortführung warten oder solche anfordern. Der Sprecher wiederum kann auch von seiner Seite zunächst eine inhaltlich noch relativ vage Opposition manifestieren und sie im weiteren Verlauf weiter bestimmen; allerdings sind die Spielräume durch die Konsistenzanforderungen begrenzt. Im vorliegenden Fall sind KRs spätere Aussagen voll kompatibel mit den am Beginn angelegten Inferenzen und können als nachgeschobene Explizierungen einer zunächst weitgehend impliziten Inhaltsstruktur gelten. Auf die Intervention TRs hin (beantworten sie doch mal meine Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 63 frage] vgl. 5.3.2) füllt KR die in der Fokussierung [jetzt is folgendes) angekündigte Situationsbeschreibung weiter auf. Dabei wird einerseits die Opposition zwischen „sie vorhin” und „sie jetzt” um den Jetzt-Teil ergänzt (und wenn sie” jetzt mit einer Untersuchung ko”mmen) und andererseits die Opposition zwischen „sie” und „ich” als Handlungsträger hervorgehoben (u.a durch Akzentuierung). Die durch den Parallelismus rhetorisch gesteigerte Darstellung des Fehlens notwendiger Voraussetzungen macht inferierbar, daß an dieser Stelle ein wesentliches Prinzip KRs tangiert ist: die Verhaltensmaxime, nur über Untersuchungen zu sprechen, die man selber kennt. Später nimmt KR noch einmal auf seine Verhaltensmaxime Bezug bei der Rechtfertigung seiner Ersatzantwort (vgl. 5.3.8): sie können mich nicht fragen was sie/ sie fragen mi”ch wer welches ergebnis ne bestimmte studie ergeben gegeben hat [...] dann habe ich nichts anderes gesagt als das ergbebnis einer studie zu zitieren die i”ch kenne (Z. 2066-2078). Die nur andeutende Setzung von Sachverhalten gibt KR die Möglichkeit, schnell zu selbstbestimmten Aktivitäten überzugehen (Ersatzantwort). Sie erschwert für den Adressaten nicht nur das Verstehen, sondern damit zusammenhängend auch den argumentativen Zugriff auf möglicherweise problematische Punkte in den Voraussetzungen. 31 Das Risiko von KRs Verfahren des abkürzenden Uberspringens von Verbindungsgliedern besteht darin, daß die Blockierung der konditionellen Relevanz aufgrund der geringen Explizierung der Gründe leicht als unwirksam behandelt wird (was TR dann auch tut; vgl. 5.3.2). Der Übergang zum selbstbestimmten Handeln ist ebenfalls komplex und wird in zwei Schritten vollzogen: - Die Ersatzantwort (Teil iii) ist ambivalent in dem Sinne, als sie einerseits noch Bezug nimmt auf die vom anderen gesetzten Handlungsvorgaben, andererseits aber zeigt, daß der Sprecher anders fortsetzt, als vom Vorgänger vorgesehen, und insofern auch schon Teil des selbstbestimmten Handelns ist. - Nach der Absicherung der Blockade durch die Begründung folgt mit der Darstellung der eigenen Untersuchung in der Schule (Teil vi; hier wollen wir gleich zu dem kommen was ich [...] in der schule gemacht habe) eine Aktivität, die unabhängig von den lokalen Vorgaben durch die Partneräußerung ist. Die Selbstbestimmtheit wird in der Einleitung dieses Außerungsteils durch wollen wir ausgedrückt, die Fokussierungsformel zu etwas kommen kündigt eine thematische Veränderung an, und wie sich in der Folge zeigt, gibt es nur einen thematischen Zusammenhang mit dem letzten voraufgehenden Äußerungsteil (wie man die 31 Die andeutende Setzung von Sachverhalten ist keine „Begründungsverweigerung” im Sinne der Integritätsuntersuchung von Groeben et al. (vgl. Anm. 10 u. 24), sondern eine „Beteiligungseinschränkung” bzw. „Beteiligungsbehinderung” (Schreier/ Groeben 1990, S. 59ff.). 64 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmitt einleitenden fragen stellt), der aber thematisch nichts mit der Frage TRs zu tun hat, sondern mit deren Zurückweisung. Die mit TRs Kontextualisierung konkurrierende Neu-Kontextualisierung setzt KR auch in diesem Außerungsteil fort. Mit was ich in der schule gemacht habe bezieht er sich auf seinen früher (unmittelbar vor dem ersten Fragespiel TRs) unternommenen Versuch, eine von ihm in der Schule durchgeführte Untersuchung darzustellen. Die Darstellungsinitiative scheitert weitgehend; die Untersuchung wird von TR als methodisch unzulänglich und die Schüler beeinflussend zurückgewiesen und im Verlauf der Sequenz als typisches negatives Beispiel eingestuft. KR benutzt also den jetzigen Kontext (hier) als günstige Gelegenheit (gleich) zur Nachbearbeitung des früheren Ereignisses, bei dem sich TR eindeutig auf seine Kosten als Experte profiliert hatte. Mit der Kontextualisierung betont KR den Zusammenhang seiner eigenen Handlungen und setzt seine Perspektive für die Interpretation des Ereignisablaufes relevant. (b) Den Beleg des anderen durch einen Gegenbeleg entkräften Auf der Ebene der inhaltlichen Auseinandersetzung geht es in der Frage TRs, deren voraufgehenden Bezugskontext und der Reaktion KRs um die KR unterstellte Auffassung, daß der Bevölkerungsanteil der durch Passivrauchen sich belästigt Fühlenden relativ groß sei. Aus der Frage TRs ist zu erschließen, daß er eine widersprechende Auffassung vertritt und daß die EG-Studie als Beleg dafür angeführt wird. Bevor dieser Beleg offen präsentiert wurde, setzt KR einen Beleg für die eigene Auffassung und als Gegenbeleg zu TRs Position an. Dieses Verfahren wird realisiert durch: - Die Ersatzantwort (Teil iii). KR führt aus seiner Sicht valide Belege für seine Auffassung an (daß das ze=de=ef gesundheitsmagazin praxis eine Umfrage gemacht hat der noch andere Umfragen gefolgt sind). - Die Begründung der Blockade (Teil iv). Hier wird der Beleg von TR abgewertet als „undurchsichtig” bzw. nicht evaluierbar. - Die Stützung (Teil v). KR verwendet hier das bekannte Verfahren, ein Argument des anderen zur eigenen Stützung und gegen den anderen zu verwenden (denn sie ham=ja vorher schon darauf hingewiesen * es kommt ganz darauf an * wie man die einleitenden fragen stellt). - Die Darstellung der eigenen Untersuchung, die ebenfalls dem Beleg TRs widersprechende Ergebnisse ergeben hat, als valide; damit wird sie als Beleg rehabilitiert (Teil vi). Die Wirksamkeit des Verfahrens, das Argument des anderen gegen ihn zu verwenden, beruht darauf, daß es zum einen den anderen „beim Wort nimmt” und damit Unstrittigkeit unterstellt, und daß es zum anderen die Bedeutung seiner Äußerung neu festlegt mit forcierenden Verfahren der Fremddefinition wie der selektiven, nur aspektuellen Verarbeitung von Partneräußerungen, ihrer Herauslösung aus dem ursprünglichen Kon- Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 65 text und der Verwendung in einem neuen Kontext und damit zusammenhängend dem Einfuhren von Inferenzen, die der urprünglichen Intention eindeutig zuwiderlaufen. 32 Den anderen gegen seine Intention beim Wort zu nehmen, ist generell ein brisanter Zug, der mit hoher Wahrscheinlichkeit Gegenwehr provoziert. Im vorliegenden Fall löst das Verfahren die störenden Interventionen von TR und anderen aus. (c) Diskreditierung des anderen und Aufwertung des eigenen Status Dieses Verfahren überspannt ebenfalls fast die gesamte Äußerung. Involviert sind: die Typisierung des Partnerverhaltens als inkonsistent, weil es gegen den Grundsatz „bei sich selbst anfangen” verstößt (Teil ii u. iv); die kontrastive Typisierung des eigenen Verhaltens als konsistent mit den eigenen Grundsätzen (Teil iii u. iv); die Typisierung der eigenen Untersuchung als den auch von TR geforderten wissenschaftlichen Standards genügend (Teil vi). KR interpretiert die Äußerung seines Gegenspielers in typisierender Weise als Dokument für eine Verhaltensweise. 33 KR zeigt an, daß er TR dabei „ertappt” hat, daß er den unkorrekten und unproduktiven Umgang mit wissenschaftlichen Untersuchungen („Zahlen um die Ohren werfen”), den TR den anderen Diskussionsteilnehmern vorwirft, selbst anwendet bzw. die anderen dazu anleitet. KR formuliert seine Ersatzantwort ebenfalls als typischen Fall einer Verhaltensweise. Er stellt seine Äußerung in den Rahmen seines eigenen Diskussionsprogramms. Auch er hat voraufgehend Regeln für den Umgang mit wissenschaftlichen Untersuchungen formuliert (u.a. Hintergründe und Anlage der Untersuchung aufzudecken; vgl. auch die folgende Kriterienliste dann weiß ich zum beispiel nicht [...]) und seine Bereitschaft demonstriert, die von ihm eingeführte Regel einzuhalten. Auch an dieser Stelle bezieht er sich mit kann in seiner Eröffnung des zweiten Außerungsteils {ich kann ihnen zum beispiel sagen) auf diese Regeln. Damit wird auch inhaltlich die 32 Im Integritätsansatz von Groeben et al. entspräche dieser Aspekt der forcierenden Fremddefinition der Außerungsbedeutung der „Sinnentstellung”; vgl. Schreier/ Groeben (1990, S. 59ff.). 33 Zur dokumentarischen Methode der Interpretation und ihrer Bedeutung für Typisierungen vgl. Mannheim (1952) und Garfinkei (1967). Nach Mannheim (1952, S. 57) besteht die dokumentarische Methode der Interpretation primär in der Suche nach einem „... identical homologous pattem underderlying a vast variety of totally different realizations of meaning”. „The method consists of treating an actual appearance as ’the document of’, as ’pointing to’, as ’standing on behalf of’ a presupposed underlying pattern. Not only is the underlying pattern derived from its individual documentary evidences, but the individual documentary evidences, in their turn, are interpreted on the basis of ’what is known’ about the underlying pattern. Each is used to elaborate the other.” (Garfinkel 1967, S. 78). 66 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmitt Art der oppositiven Relation zwischen den beiden Äußerungsteilen deutlich: Kontrastiert werden zwei inkompatible Verhaltensweisen, die sich in zwei Typen von projizierten bzw. realisierten Antworten konkretisieren. Die Opposition der Verhaltensweisen liefert KR die Möglichkeit, die von TR eingeführte asymmetrische Rollenverteilung abzuwehren und auf Rollensymmetrie zu bestehen. Das entscheidende Mittel dazu ist seine Maxime der Gewissenhaftigkeit, aus der sich eine Transparenzforderung an die Wissenschaft bzw. die politische Verwendung von wissenschaftlichen Ergebnissen ableitet. Er demonstriert die Bereitschaft, das notwendige Wissen zu erwerben (vgl. die Zitate aus verschiedenen wissenschaftlichen Untersuchungen), und reklamiert das Recht, die Qualität wissenschaftlicher Untersuchungen sowie der politischen Argumentation mit ihren Ergebnissen zu kontrollieren. Das führt ihn dazu, für seine eigenen Untersuchungen im Prinzip dieselbe Geltung zu verlangen wie für andere wissenschaftliche Arbeiten [da wollen wir gleich zu dem kommen was ich in der schule gemacht habe). Damit kontert KR die Degradierungsinitiative TRs. Fazit: Die Kooperationsweise der unerschütterlichen Zielorientierung KRs Äußerung zeigt, daß er das forcierende Potential von TRs Fangfrage genau erfaßt hat; er vermeidet die Falle. KR benutzt ein ganz allgemeines Grundmuster „Berücksichtigung fremder Relevanzen vor Etablieren eigener Relevanzen”, das gleichsam der „natürlichen Ordnung” bei der Gestaltung von Interaktionsbeiträgen entspricht. Dieses Grundmuster realisiert KR unter Einsatz einer Reihe von Verfahren, die seinen Spielraum erweitern und sich in dieser Eigenschaft kombinieren. Der forcierende Charakter ist aber nicht sehr ausgeprägt. KR vollzieht zwar andeutungsweise den Übergang zur metakommunikativen Charakterisierung des GesprächsVerhaltens, was tendenziell eine Verschärfung mit sich bringen kann, steigert aber nicht die Aggressivität. Er läßt sich nicht provozieren, sondern „bewahrt die Ruhe” und benutzt die Gelegenheit zu einem eigenen Vorstoß. Die wichtigsten Eigenschaften seiner Äußerung im Hinblick auf diese Kooperationsweise sind: - Stufenweises Ausblenden der fremdbestimmten Anforderung durch Diskontinuitätsmarkierung, Verzögern durch Vorschaltaktivität, Bearbeitung in Form einer Ersatzanwort, Begründung der Nichtbearbeitung und selbstbestimmte Aktivität. Die Blockade wird mit einem kooperativen Zug (Ersatzantwort) verbunden. - Der durch Distanzierung und Aktivitätsvorschaltung geschaffene Freiraum wird für die Einführung eigener Voraussetzungen genutzt. Dies geschieht durch eine mit dem von TR etablierten Kontext konkurrierende Neu-Kontextualisierung. - Die konkurrierende Neu-Kontextualisierung in der Vorschaltaktivität wird ebenso wie die Ersatzantwort, die Begründung der Blockade und Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 67 die selbstbestimmte Handlung zur kontrastiven Typisierung des beiderseitigen Gesprächsverhaltens benutzt. - Die Kritik am Partnerverhalten betrifft eine situative Inkonsequenz; eine solche Kritik ist weniger aggressiv als z.B. TRs späterer Vorwurf grundsätzlicher Inkompetenz in der Sache. - Die kontrastive Darstellung eigener und fremder Autorität ist mit einem argumentativen Zug verbunden (Beleg des Gegners durch einen Gegenbeleg entkräften), d.h. KR hält die Sachorientierung durch. - KR deutet die Diskreditierung des Gegners an, konzentriert sich aber nicht auf die Partnerkritik, sondern auf seine eigene „Rehabilitierung”, d.h. die Durchsetzung der Gültigkeit seiner argumentativen Belege sowie seiner Gleichrangigkeit. KR betreibt damit primär seine Aufwertung und nicht unmittelbar die Degradierung TRs (auch wenn längerfristig das der wichtigste Schritt zur „Entthronung” TRs sein kann). - Die Abwehr der Falle geschieht nicht gereizt oder empfindlich; KR demonstriert eine unerschütterliche Zielorientierung. Die unerschütterliche Zielorientierung macht die Stärke von KRs Zug aus. Diese Kooperationsweise hat das Potential, gegen Fallen und Provokationen zu schützen. Zugleich werden aber auch die Risiken bzw. Schwachstellen sichtbar: Das Abblocken der fremdbestimmten Handlungsvorgabe löst sofort das Insistieren des Gegers aus, und die Stützung auf ein gegnerisches Argument wirkt als Provokation. 5.3.2 TR: Konsequenzen erzwingen durch Insistieren Als nach der Vorschaltaktivität von KR mit ich kann ihnen zum beispiel sagen erkennbar wird, daß auch jetzt keine einfache und direkte Antwort zu erwarten ist, klagt TR in die laufende Äußerung KRs hinein in gereizter Form die Erfüllung der aus seiner Sicht noch offenen Handlungsverpflichtung ein: beantworten sie doch mal meine frage. 2006 KR: ich kann ihnen zum beispiel sagen * daß das zed=de: ef 2007 TR: beantworten sie doch mal 2008 KR: das moment * —>ich kann ihnen zum beispiel sagen 2009 TR: meine fra"ge> 2010 XM: ja ja 2011 KR: daß das zed=de=ei! <- * gesundheitsmagazin praxisf * 2012 KR: eine Umfrage gemacht hat * de"r ** noch andere Umfragen 2013 KR: gefolgt sind * wonach sich a"chtundsiebzig komma fünf Insistieren ist generell ein Zug, der Partneraktivitäten die Nichtberücksichtigung oder Untererfüllung gemessen an vorhandenen Vorgaben zu- 68 Wtmer Kallmeyer/ Reinhold Schmitt schreibt. Dieser Bedeutungsgehalt wird von TR nicht nur durch die Aufforderung zu antworten ausgedrückt, sondern zudem durch die Partikel doch, die auf eine konträre Voraussetzung verweist (hier: der Adressat ist nicht bereit, eine Antwort zu geben). Mit der expliziten Thematisierung des Sprechhandlungstyps beantworten (sogar des „adjacency pairs” Frage-Antwort) legt TR den Adressaten definitiv fest auf die intendierte Anschlußhandlung. Die pragmatischen Implikationen von TRs Äußerung sind nicht mehr aushandlungsfähig. Der Eingriff wird noch verschärft durch die Art, wie TR mit einem Unterbrechungsversuch in die laufende Äußerung des anderen hinein reagiert. TR behindert die weitere Äußerungsentwicklung von KR, obwohl er zu dem Zeitpunkt noch nicht sicher sein kann, welchen Bezug KR zwischen den beiden Untersuchungen hersteilen wird. 34 Klar ist zum Zeitpunkt des Eingreifens nur, daß KR auch nach der Vorschaltaktivität keine einfache und direkte Antwort geben wird, sondern irgendeine Form von „uneigentlicher” Antwort. Für TR steht nicht das inhaltliche Interesse an der sich entfaltenden Partneräußerung im Vordergrund, sondern die Einhaltung seiner handlungstrukturellen Vorgabe. Mit dieser Art von Eingriff wird die Aktivitätsbindung des Rederechts eingeklagt: Der aktuelle Sprecher benutzt die ihm gewährte Redegelegenheit nicht für die vorgesehene Reaktion, sondern mißbraucht sie. Den legitimierenden Kontext für TRs Forcieren bildet das in seinem Fragespiel praktizierte Verfahren des vorläufigen Verzichts. Das forcierende Potential des Insistierens wird noch prosodisch unterstrichen. Die Äußerung wird laut und in gereiztem Ton gesprochen. Diese Sprechweise kontrastiert mit der ruhigen, überlegten und rhythmischen Sprechweise von TRs voraufgehender Frageformulierung. Die Außerungsmodalität hat sich deutlich wahrnehmbar verschoben. TRs Intervention ist ein Beispiel für hartes Insistieren. Hartes, unflexibles Insistieren konzentriert sich auf das eigene Aktivitätsziel ohne Berücksichtigung bzw. Anerkennung der Partneraktivitäten zwischen der ersten Initiative und deren insistierender Wiederholung. Charakteristisch sind Wiederholungen mit Steigerung (im vorliegenden Fall liegt die Steigerung in der Explizitheit und der zugespitzten Direktivität). Im Gegensatz dazu charakterisiert flexibles Insistieren das Festhalten an der eigenen 34 Diese Art von Unterbrechungsversuch im Anfangsstadium einer Äußerung kontrastiert mit der „berechtigten Unterbrechung”, wenn der Sprecher seine Chancen zur Formulierung eines Redebeitrags bereits hinreichend genutzt hat: „Although the length of a turn at speaking cannot be specified in advance, it is finite. When interlocutors feel that a turn has been used up, a rough turn-distributive justice legitimates the sanction of interruption. Such interruption upholds the moral economy of speech in response to one kind of conversational deviance, talking too long. Thus, in some instances interruption may be egalitarian rather than the conversational equivalent of rape.” Murray (1987, S. 107). Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 69 Handlungslinie unter Berücksichtigung der Partneraktivitäten. Charakteristisch ist der Einsatz von Verfahren des vorläufigen Verzichts. Hartes Insistieren hat stets forcierenden Charakter. 5.3.3 TR und andere: Irritierende Einwürfe und subversive Nebenkommunikation Als KR versucht, sich die Partnerposition für die eigene Argumentation zu Nutze zu machen, löst dies zunächst einen irritierenden Einwurf aus (ironisches Lob: mh * sie haben etwas gelernt * freut mich) und dann subversive Nebenkommunikation 35 unter Beteiligung von BR und eingeschränkt - SB als Koalitionären von TR. Die Beteiligten sprechen nicht mehr mit KR, sondern über ihn, bis schließlich BR wieder KR adressiert, um ihn ironisch anzufeuern (weiter herr krause weiter weiter). 2020 KR: sie ham ja vorher schon darauf hingewiesen * es kommt 2021 KR: ganz drauf ein * wie mein die einleitenden fragen 2022 SB: LACHT 2023 KR: stellt * hier wollen wer gleich zu dem kommen was ich was 2024 TR: mhm sie haben etwas gelernt freut mich 2025 KR: 2026 BR: 2027 K 2028 TR: ich was ich was ich in der schu"le gemacht habe herr #genau": genau: # des is herrlich a"ch ja das ist «LACHEND # >er hat was 2029 SB: 2030 KR: 2031 BR: 2032 K 2033 TR: LACHT KURZ troschke ich habe ganz einfach ** ein blatt schö: n «weiter herr krause «LACHEND gelernt< 2034 KR: ein fragebogen ausgearbeitet * auf dem * wird überhaupt 2035 BR: weiter weiter« 2036 K # 2037 KR: nicht Stellung genommen * zu der frage * wie kommen 2038 KR: sie zum rauchen * oder soundsoviele leute rauchen * 35 Zu Nebenkommunikation vgl. u.a. Rehbock (1981). Zu den grundsätzlichen Fragen der Beteiligung vgl. vor allem Goffman (1975, 1981). Die Differenzierungen von Goffman werden kritisch diskutiert und weiterentwickelt bei Levinson (1988); einen Reparaturversuch des zu statischen Sprecher-Hörer-Konzepts im Denkmodell der Sprechakttheorie liefern Clark/ Carlson (1982), während Aronsson (1991) den Zusammenhang von Beteiligtenstatus und Redemöglichkeit im Kontext der asymmetrischen Situation der Arztkonsultationen von Eltern mit ihren kranken Kindern zeigt. Auch Goodwin (1986) unternimmt den Versuch, die Rezipientenseite („audience”) in ihrer strukturellen - Inhomogenität zu skizzieren. 70 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmiü Als Einwurf bezeichnen wir bestimmte Formen von gesteigerten Rezipientenaktivitäten. Sie zeigen einerseits, daß sich der intervenierende Rezipient (noch) an der bestehenden Verteilung des Rederechts orientiert und kein eigenständiges Rederecht beansprucht. Einwürfe enthalten andererseits aber neue, ggf. divergierende inhaltliche Impulse. Dadurch führen sie für den etablierten Sprecher verstärkte Verarbeitungs- und Reaktionsanforderungen ein. Einwürfe werden typischerweise in Orientierung an internen Zäsuren oder Planungspausen plaziert, die nicht Stellen der intendierten Redeübergabe sind. So ist auch die Äußerung von TR sie haben etwas gelernt in Reaktion auf eine Zäsur in KRs Äußerung plaziert, die durch progrediente Intonation als Binnensegmentierung markiert ist [wie man die ei”nleitenden fragen stellt * [Einsatz TR] hier wollen wir, Z. 2023-24). Vermutlich reagiert auch das folgende freut mich von TR wiederum auf eine syntaktische und prosodische Binnensegmentierung (KR: hier wollen wir gleich zu dem kommen [Einsatz TR] was ich; Z. 2023-24). Einwürfe unterliegen Restriktionen hinsichtlich des Formates: Sie sind kurz, vielfach elliptisch, sie haben keine mehrteilige Äußerungsstruktur mit deutlicher Binnensegmentierung und sind direkt an die Bezugsäußerung angebunden (mit Verknüpfungsformen, Anapher bzw. Anadeixis, Konstruktionsübernahme, Anrede). Prosodisch unterscheiden sie sich von Unterbrechungsversuchen auch dadurch, daß sie keinen vergleichbaren markant höheren und in der Lautstärke gesteigerten Einsatz und keine Steigerung der Lautstärke im Verlauf haben. In dem Maße, wie die fraglichen Äußerungen von diesen Restriktionen hinsichtlich des Formates abweichen, verlieren sie den untergeordneten Redestatus; es entsteht Konkurrenz um die Sprecherrolle. Irritierend werden Einwürfe, wenn sie für den etablierten Sprecher gesteigerte Verarbeitungsanforderungen mit sich bringen, welche die Realisierung der ursprünglich geplanten Äußerung stören. Das kann schon der Fall sein, wenn ein inhaltlich neuer Gesichtspunkt formuliert wird; auch bei an sich unterstützenden Einwürfen kann dies zur Irritation des Sprechers führen. Irritierend sind in jedem Fall Einwürfe, die Widerspruch und Kritik anmelden, ggf. auch in der Form von ironischer Bestätigung wie bei TRs ironischem Lob. Solche Einwürfe geben dem etablierten Sprecher Anlaß, sich während der Durchführung seiner laufenden Äußerung mit der zu erwartenden negativen Reaktion auseinanderzusetzen. Verstärkt wird das Irritationspotential noch, wenn der intervenierende Sprecher mit Verfahren der Fremdbestimmung der Außerungsbedeutung operiert wie „Äußerungsimplikationen unterstellen”, „auf Gesagtes festlegen” und „Voraussetzungen kritisieren” (u.a. durch die Entlarvung des Partnerverhaltens als strategisch, inkompetent usw.). Solche Eigenschaften hat auch TRs Einwurf: Er zeigt an, daß KR gerade ein „Eigentor geschossen” hat. Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 71 Irritierend wirkt außerdem, wenn ein Einwurf expandiert, wiederholt oder durch weitere Einwürfe fortgesetzt wird. Das ist im Ansatz bei TRs Einwurf der Fall, der expandiert wird durch freut mich. Irritierende Einwürfe können eine wirksame Waffe gegen Sprecher sein, die das Rederecht strapazieren oder sich in anderer Weise forcierend verhalten. Das Risikopotential für den intervenierenden Beteiligten liegt darin, daß der Sprecher durch den subversiven Charakter der Intervention gerade zur Verteidigung herausgefordert wird aus Sorge, er könne die Situationskontrolle verlieren. In polarisierten Situationen mit gegnerischen Lagern und ggf. mit Publikum kann auch die wiederholte Intervention mit irritierenden Einwürfen bei den eigenen Parteigängern Beifall finden. Allerdings läuft der intervenierende Sprecher auch Gefahr, von den Gegnern oder Dritten als Querulant oder unseriöser Störenfried behandelt zu werden. Ausgelöst durch den irritierenden Einwurf TRs entsteht eine subversive Nebenkommunikation. Ihre Entwicklung verläuft in charakteristischen Schritten: - Der erste Einwurf TRs ist noch ein individueller, an den etablierten Sprecher adressierter Kommentar, der von den anderen Rezipienten als Gelegenheit für eigene Folgeaktivitäten „entdeckt” wird. Generell ist es möglich, einen solchen Einwurf bereits als ein Angebot zur Fortsetzung an die Mit-Rezipienten zu markieren, indem die Formulierung durch Witz, Schärfe oder spezifische kontextualisierende Elemente (Bezug auf Äußerungen potentieller Mitspieler) auffällig gemacht wird oder nonverbal andere Anwesende mit adressiert werden (Blickwanderung als Suche von potentiellen Mitspielern). - In Reaktion auf die erste abschlossene Formulierung von TR und simultan zu ihrer Fortsetzung durch TR setzt SB mit einem Lachen ein, das den ironischen Kommentar TRs honoriert und damit im Ansatz bereits eine Nebenkommunikation etabliert. - BR reagiert mit einer durch Häufung gesteigerten Form von „Nebenkommunikation”. Mit dem lachend gesprochenen genau”: genau: bezieht sich BR bestätigend auf das ironische Lob TRs und realisiert nachfolgend mit des is herrlich und a”ch ja das ist schö: n eine vergleichbare Bewertung wie zuvor TR zum Abschluß seiner Äußerung. Insgesamt greift er mit seiner Äußerungsmodalisierung {LACHEND) auch die Reaktion von SB auf. - Die Etablierung einer konkurrierenden kommunikativen Öffentlichkeit wird noch expliziter in TRs Reformulierung seines einleitenden ironischen Kommentars mit einer Adressatenänderung von sie zu er. KR ist nicht mehr wie noch zuvor in TRs direkter Adressierung unmittelbar Beteiligter. TR ist aus dem direkten Diskurs mit KR ausgetreten. Er befindet sich nunmehr in dem konkurrierenden Diskurs der Koalitionspartner über KR. Mit dem Verfahren, über den offizi- 72 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmitt eil etablierten Sprecher zu reden, qualifiziert TR dessen gegenwärtiges Gesprächsverhalten als deviante Form. - SB reagiert wieder als nächste Sprecherin mit einem (diesmal kurzen) Lachen, und BR übernimmt die Weiterführung der subversiven Nebenkommunikation: Er fordert KR gleich zwei mal in deutlich ironischer Weise zum „Weitermachen” auf (weiter herr krause weiter weiter). Die direkte namentliche Adressierung des Partners macht nun jedoch den Wiedereinstieg in den Diskurs mit KR deutlich. BRs Äußerung ist also Bestandteil der Abschlußorganisation der Nebenkommunikation und der „Übergabe” des alleinigen legitimen Sprecherstatus an KR. Sie ist aber gleichzeitig auch forcierend in der Hinsicht, daß in spielerischer Form KRs Status als legitimer Sprecher von der Bewilligung BRs abhängig gemacht wird. Subversive Nebenkommunikation umfaßt generell Phänomene, die von gesteigerten kollektiven Rezipientenaktivitäten bis zur tumultartigen Auflösung der Ordnung der Situation reichen. Die involvierten Verfahren lassen sich nach ihrem Störpotential bzw. nach ihrem Angriff auf die mit der Redeverteilung etablierte Ordnung aufsteigend ordnen: - Sprechen der Rezipienten untereinander. Die (bisherigen) Rezipienten stellen eine öffentliche, ggf. lautstarke, jedenfalls nicht verborgene Nebenkommunikation her. - Sprechen der Rezipienten untereinander über den etablierten Sprecher. Die Rezipienten klinken sich damit aus der unmittelbaren wechselseitigen Zuordnung und Steuerung zwischen etabliertem Sprecher und Rezipienten aus, und der etablierte Sprecher verliert damit die Kontrolle über seine Rezipienten. Diese reden öffentlich über ihn statt mit ihm. Sie werden als Sprecher aktiv, ohne dem etablierten Sprecher das Rederecht unmittelbar zu bestreiten. Sie konfrontieren ihn damit, daß er die Definition der Bedeutung seiner Äußerung nicht mehr kontrollieren kann. - Aufhebung der Situationsordnung durch lautes Durcheinanderreden, Aufstehen (Durchbrechen des konkreten Situationsarrangements), Getümmel. 5.3.4 KR: Rederecht verteidigen und strapazieren KR läßt sich durch TRs Insistieren ebenso wenig beirren wie durch den irritierenden Einwurf und die subversive Nebenkommunikation in der Folge. Die Entwicklung seines Redebeitrags ist durch folgende Verfahren der Störungsabwehr und der Ausnutzung des Rederechts geprägt: (a) Er setzt zur Störungsabwehr einen Ordnungsruf ein, der auf die sequentielle Ordnung Bezug nimmt (moment), und ein Verfahren maximaler Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 73 Retraktion 36 : Er geht an den Beginn der gestörten Formulierung zurück und wiederholt sie wortidentisch (ich kann ihnen zum beispiel sagen * daß das zed=de=ef[...] ich kann ihnen zum beispiel sagen daß das zed—de—ef). Dadurch wird die Partneraktivität als Störung abgewehrt, und mögliche Einflüsse auf die gerade laufende Formulierung werden manifest ausgeklammert. 2006 KR: ich kann ihnen zum beispiel sagen * daß das zed=de=ef 2007 TR: <beantWorten sie doch mal 2008 KR: das moment * —»ich kann ihnen zum beispiel sagen 2009 TR: meine fra"ge> 2010 XM: ja ja 2011 KR: daß das zed=de=ef|<— * gesundheitsmagazin praxisj, * Mit dem Aufschieben signalisierenden Ordnungsruf moment stellt er zunächst dem intervenierenden TR die Bearbeitung seiner Mahnung in Aussicht. Dieses Verfahren hat das Potential, den Intervenierenden vorübergehend einzubinden: Jede weitere Intervention von seiner Seite würde gerade verhindern, daß der gegenwärtige Sprecher dazu kommt, die offene Handlungsverpflichtung zu bearbeiten. (b) Gegen die sich entwickelnde subversive Nebenkommunikation verteidigt sich KR mit einem Verfahren der kleinschrittigen mehrfachen Reformulierung (was ich was ich was ich was ich in der schule gemacht habe). Verbunden wird diese Expansion durch Reformulierung mit einem Verfahren, die Aufmerksamkeit des primären Adressaten (TR) zu binden: Die rechte Hand bewegt sich als „Zeigehand” mit ausgestrecktem Zeigefinger vom zweiten was ich ab akzentuierend immer weiter in Richtung auf TR. Dieses gestische Fixieren des Adressaten wird verbal mit einer namentlichen Anrede verstärkt (was ich in der schule gemacht habe herr troschke). 36 Den Begriff „Retraktion” für das Zurückgehen in der schon produzierten Formulierung bei der Korrektur übernehmen wir von Hoffmann (1991). 74 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmitt 2020 KR: sie ham ja vorher schon darauf hingewiesen * es kommt 2021 KR: ganz drauf an * wie man die einleitenden fragen 2022 SB: 2023 KR: stellt * hier wollen wer gleich zu dem kommen 2024 TR: mhm sie haben etwas gelernt LACHT was ich freut mich wasj ich ich in der schu"le gemacht habe herr 2025 KR: was ich 2026 BR: fgenau": genau: # des is herrlich a''ch ja das ist 2027 K #LACHEND # 2028 TR: >er hat was Das hier praktizierte Verfahren zielt auf die Durchsetzung des Rederechts durch das konkurrierende „Okkupieren des Floors”: Der Sprecher versucht, seine laufende Äußerung mithilfe von Reformulierungen so lange zu expandieren, bis er als einziger Sprecher übrigbleibt und damit weiterhin das Wort hat. Dieses zweite Verfahren hat insbesondere bei längeren Uberlappungsstrecken forcierenden Charakter. Zu seinem Potential gehört, daß der Sprecher sich damit auch gegen mehrere Konkurrenten durchsetzen kann. Diese Funktion hat das Verfahren auch im vorliegenden Fall. Die Umstände sind für KR schwierig: Gegen die subversiven Interventionen der anderen hilft eigentlich nur Übergehen und Durchhalten. Eine Alternative in der Talk-show-Situation wäre allenfalls, sich beim Gesprächsleiter zu beschweren und ihn zu veranlassen, die Ordnung wieder herzustellen. (c) In der Folge führt KR seine Äußerung mit einigen Dehnungen des Formulierungsflusses, aber ohne aufwendigere Störungsabwehr und ohne erkennbare inhaltliche Verarbeitung der Fremdinterventionen durch. Im Unterschied zu der früheren aufgeschobenen Reaktion übergeht KR jetzt die störenden Interventionen. Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 75 2025 KR: 2026 BR: 2027 K 2028 TR: 2029 SB: 2030 KR: 2031 BR: 2032 K 2033 TR: 2034 KR: 2035 BR: 2036 K 2037 KR: 2038 KR: 2039 KR: 2040 KR: 2041 KR: 2042 KR: 2043 KR: 2044 KR: 2045 BR: 2046 TR: ich was ich was ich in der schii"le gemacht habe herr #genau": genau: # des is herrlich a"ch ja das ist «LACHEND # >er hat was LACHT KURZ troschhe ich habe ganz einfach ** ein blatt schö: n «weiter herr krause «LACHEND gelernt< ein fragebogen ausgearbeitet * auf dem * wird überhaupt weiter weiter« # ni"cht Stellung genommen * zu der frage * wie kommen sie zum rauchen * oder soundsoviele leute rauchen * warum tun sie=s auch * sondern da wird einfach bloß gefragt * rau"chen sie * ja oder nein * wenn ja * warum * ham sie schon mal das rauchen aufgeben wollen * das heißt hie"r is einfach ne abfrage * ohne daß ich äh * vorher irgendwie ein statement habe * um die leute zu beeinflussen! <wissen sie wo der HOLT LUFT herr krause * sie mögen vielleicht von (d) Ein weiterer forcierender Aspekt von KRs Äußerung liegt im Strapazieren des Rederechts. KR expandiert seinen Beitrag in mehreren Schüben; dabei benutzt er jeweils ein Verfahren der retrospektiv integrierenden Format-Erweiterung ohne voraufgehende explizite Ankündigung: - Die Diskontinuität herstellende Einleitung und die folgende Darstellung einer konträren Voraussetzung wird durch die Fortsetzung mit dem Angebot einer Ersatzhandlung (ich kann ihnen zum beispiel sagen) zu einem Format „Vorschaltaktivität + Kern” verbunden. Das ist eines der am häufigsten benutzten Strukturmuster für komplexere Äußerungen. - Dieses Format wird erweitert um eine begründende Bezugnahme auf TRs Frage und die Antwortverpflichtung (und wenn sie” jetzt mit einer Untersuchung kommen). - Der Nachschaltteil wird noch einmal expandiert durch eine begründende Absicherung in Form eines Partnerzitats (denn sie ham=ja vorher schon darauf hingewiesen * es kommt ganz darauf an * wie man die eV’nleitenden fragen stellt). 76 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmitt - KR erweitert das Format seiner Äußerung noch einmal durch die Fortsetzung mit einer selbstbestimmten Aktivität. Damit wird rückwirkend die bisher produzierte Äußerung mit der Bearbeitung der fremdbestimmten Relevanz als erster Teil einer zweiteiligen Struktur „Fremdbestimmte Aktivität + Selbstbestimmte Aktivität” behandelt. Diese Struktur entspricht einer sehr häufigen Aktivitätsverknüpfung innerhalb einer Äußerung; mit ihr ist in der Regel eine Höherstufung des zweiten Fokus im Verhältnis zum ersten verbunden: Die selbstbestimmte Aktivität bildet letztlich den Hauptteil der Äußerung. Diese relative Gewichtung der Foki wird auch in der Fortsetzung sichtbar. Die Einleitung des zweiten Strukturteils (hier wollen wir gleich zu dem kommen was ich [...] in der schule gemacht habe) enthält eine weitreichende Projektion, d.h. macht eine komplexe Fortführung erwartbar. Das von KR praktizierte Expansionsverfahren ist eine Grundmöglichkeit der schrittweisen und nicht manifest vorstrukturierten Konstitution komplexer Äußerungen. Die dabei verwendeten Formative entsprechen elementaren Typen der „natürlichen” Sequenzierung von Aktivitäten in einem Redebeitrag. Die Übergänge erscheinen daher jeweils plausibel und „naheliegend”. Das Verfahren hat den Vorteil, daß der Adressat nicht vorzeitig die Gesamtstruktur erkennen kann und daher seine Aufmerksamkeit stärker gebunden bleibt. Andererseits birgt die mehrfache Anwendung die Gefahr, daß der Eindruck einer nicht mehr antizipierbaren und kontrollierbaren Entwicklung der Äußerung und damit des Strapazierens von Rederecht entsteht. Die erste begründende Expansion der Ersatzhandlung ist noch auf das Insistieren TRs bezogen und als ausstehende Reaktion darauf interpretierbar. TR zeigt mit seinem markierten Zuhörverhalten (ernstes Anblicken, wiederholtes Nicken), daß er bereit ist, diesen Teil als relevant für die Beantwortung seiner Frage anzusehen. Das Strapazieren des Rederechts zeichnet sich erstmalig ab bei der zusätzlichen Expansion dieses Begründungsteils und wird offenkundig, als KR zur selbstbestimmten Aktivität mit einer klaren Fokusverschiebung übergeht. Das Strapazieren des Rederechts bringt die Gefahr mit sich, daß der Sprecher die Rezeptionsbereitschaft der anderen verliert. Die subversive Nebenkommunikation zeigt dies deutlich. Eine andere Variante reduzierter Rezeptionsbereitschaft wird in TRs Zuhörverhalten erkennbar, nachdem KR sein Rederecht gegen die Nebenkommunikation erfolgreich verteidigt hat und seine Äußerung fortsetzt. TR hört demonstrativ resigniert zu mit gesenktem Blick, aufgestützem Kopf und unter leichtem Kopfnicken: Forcieren oder: Die verschärße Gangart 77 2034 KR: ein fraqeboqen ausgearbeitet * auf dem * wird überhaupt 2035 BR: weiter weiter# 2036 K # 2037 KR: ni"cht Stellung genommen * zu der frage * wie kommen Körperhaltung und Mimik TRs: 2038 KR: sie zum rauchen * oder soundsoviele leute rauchen * TR symbolisiert mit dieser Art des körperlichen Ausdrucks, daß er die Gegenwehr aufgegeben hat und auf eine weitere Intervention verzichtet. Darin hegt eine degradierende Bewertung von KRs Beteiligung als irrelevant, nicht zu steuern usw. Hier wird in der „interaktiven Vereinsamung” des strapazierenden Sprechers ein wesentliches Risikomerkmal dieses Verfahrens deutlich: Der Sprecher kann zwar sein Rederecht behalten, es wird jedoch interaktiv wertlos, da er seine Zuhörer verliert. 5.3.5 TR: Kompetenz des Gegners bestreiten TR versucht daraufhin, durch die Einführung einer Rollenasymmetrie den Handlungsspielraum von KR einzuschränken. Gleichsam von hoher akademischer Warte wird KRs Äußerung als unqualifiziert entwertet. 2042 KR: heißt hie"r is einfach ne abfrage * ohne daß ich äh * 2043 KR: vorher irgendwie ein Statement habe * um die leute 2044 KR: zu beeinflussen! 2045 BR: <wissen sie wo der 2046 TR: HOLT LUFT herr krause * sie mögen vielleicht von 2047 BR: fragebogen he"r istt können sie mir da irgendwie mal 2048 TR: ihrer berufsschultätigkeit was verstehen 2049 BR: herrherrherr krause —»darf ich das-<—> 2050 TR: aber von empirischer Sozialforschung 2051 KR: ja 2052 TR: verstehe i"ch was —»das is nämlich wiederum mal mei"n job TR formuliert seine Abwertung in einer ZWAR-ABER-Äußerung. Im Einräumungsteil gesteht er KR zwar in rückgestuft-modalisierter Weise (sie mögen vielleicht [...] etwas verstehen) Kompetenz für seine Berufsrolle zu, im ABER-Teil spricht er sie ihm jedoch in Fragen der empiri- 78 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmitt sehen Sozialforschung ab. Damit bestreitet er auch die Angemessenheit von KRs Ausführungen im übergeordneten Rahmen „wissenschaftlicher Untersuchungen” insgesamt nach dem Motto: „Schuster bleib bei deinem Leisten”. TR versucht damit also KRs Beteiligtenstatus themenspezifisch einzuschränken. Das Verfahren, mangelnde Voraussetzungen anderer zu kritisieren, beinhaltet explizite oder implizite negative Bewertungen einzelner Äußerungen des Partners oder seiner Verhaltensweise insgesamt. Die Bewertungen zielen auf die Unzulässigkeit bzw. Unangemessenheit seines Verhaltens. Das Verfahren wird in der Regel erst bei fortgeschrittenem Stand der Auseinandersetzung angewendet. Darin liegt zugleich das Legitimationspotential für derartige Züge, die normalerweise die Interaktion verschärfen, in jedem Fall aber den Interaktionsgang durchbrechen: Das Verfahren erscheint umso legitimer, je deutlicher der Sprecher machen kann, daß die bisherige Interaktion ihm hinreichenden oder sogar zwingenden Anlaß für die Partnerkritik gibt. Das Abwerten der Partneräußerung eröffnet Möglichkeiten eines „freien” interpretativen Umgangs damit, bei dem die Relevanzsetzungen und pragmatischen Implikationen der Äußerung ausgeblendet und durch eigene ersetzt werden können. So können Abwertungen plausibel und legitim machen, die Bezugsäußerung nicht weiter zu verarbeiten (Ignorieren) bzw. sehr selektiv unter Mißachtung der Relevanzstruktur zu behandeln (nur Nebenaspekte der Bedeutung aufgreifen); die pragmatischen Konsequenzen der Bezugsäußerung zu blockieren; dokumentarisch-typisierend die durch die Äußerung repräsentierte Verhaltensweise herauszuarbeiten und den Sprecher zu diskreditieren. Werden nicht die Voraussetzungen einzelner Äußerungen, sondern z.B. mit einem Verweis auf fehlende Kompetenzen die Voraussetzungen des Sprechers insgesamt kritisiert, dann hat das Verfahren das Potential, in einem umfassenden Sinne den Beteiligungsstatus des kritisierten Sprechers in Frage zu stellen. Damit kann schlaglichtartig der Verzicht auf eine weitere Berücksichtigung von Äußerungen des anderen plausibel gemacht werden insbesondere einem „Publikum” gegenüber. Die starke Abwertung hat hochgradig problematische Implikationen für die Beziehungskonstitution, die in vielen Fällen nur schwer zu kontrollieren sind. Dieses Verfahren beruht auf der typisierenden Interpretation von einzelnen Aktivitäten als Dokumente einer Verhaltensweise. Das Verfahren ist mit einem Wechsel auf die Metaebene verbunden. Es wird u.a. angewendet, um explizit Strategien zu entlarven oder dem anderen mangelnde Kooperativität oder Kompetenz vorzuwerfen. Forcieren oder: Die verschärfle Gangart 79 5.3.6 KR: Beharren mit Auswechseln des Arguments KR gibt nicht auf, sondern pariert den Angriff mit einer Form des Beharrens mit Argumentaustausch: Das vom Partner angegriffene Argument (eigene Untersuchungsergebnisse) wird ausgetauscht gegen ein anderes (fremde Untersuchungsergebnisse). KR plaziert seine Aktivität in eine Zäsur von TRs Äußerung (mit einem charakteristischen Frühstart, der dazu dient, die nächste sich bietende Lücke auf jeden Fall zu nutzen). KR ignoriert in der Folge TRs Versuch, seine Äußerung fortzusetzen. 2050 TR: aber von empirischer Sozialforschung 2051 KR: ja 2052 TR: verstehe i"ch was —»das is nämlich »iederum mal mei"n lob 2053 KR: nur * dann darf ich ihnen auch vielleicht eben hier den 2054 TR: aber ei"ne aussage ich hatte sie 2056 KR: junge vom bundesgesundheitsamt * zitieren 2056 TR: was gefra: gt also herr krause * 2057 FU: keine stat/ keine Seminare über 2058 KR: das sieht ganz anders aus 2059 TR: ich hatte sie was gefragt- Für die von KR praktizierte Form des Beharrens ist charakteristisch, daß sich der Sprecher nicht mit der Verteidigung seines bisherigen Arguments aufhält, sondern besseren Ersatz schafft durch ein Argument, das vom voraufgegangenen Angriff des Kontrahenten nicht zwangsläufig ebenfalls entwertet wird und hinsichtlich der Stützung der eigenen Position äquivalent mit dem voraufgehenden Argument ist. Charakteristisch dafür ist eine Verwendung des JA-ABER-Formativs mit einer rein formalen Einräumung (ja; so auch im vorliegenden Fall) und einer Anknüpfung mit (ABER) DANN, wobei die Realisierung des ABER ausfallen kann (KR realisiert es als nur). 5.3.7 TR: Erneuter Durchsetzungsversuch und Diskreditierung des Gegners Parallel zu der voraufgehend analysierten Äußerung von KR unternimmt TR noch einmal einen Versuch, sich mit dem Insistieren auf KRs Antwortverpflichtung diesem gegenüber durchzusetzen. 2053 KR: nur * dann darf ich ihnen auch vielleicht eben hier den 2054 TR: aber ei"ne aussage ich hatte sie 2055 KR: junge vom bundesgesundheitsamt * zitieren 2056 TR: was gefra: gt also herr krause * 80 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmitt 2057 FU: keine stat/ keine Seminare über 2058 KR: das sieht ganz anders aus 2059 TR: ich hatte sie was gefragt- 2060 FU: statistische methodenlehre heute abend jat< 2061 TR: ich hatte sie etwas gefragt und 2062 FU: ich würde Vorschlägen sie geben uns einfach 2063 TR: sie haben etwas ga"nz anderes wieder mal erzähltl 2064 FU: die antwort * denn- 2065 SB: LACHT VERHALTEN 2066 KR: ia sie können mich nicht 2067 BR: LACHT 2068 TR: ja Für die Interaktionsdynamik und die Rolle des Forcierens dabei sind drei Eigenschaften des Beitrags von TR von Bedeutung ; die mit dem Kampf um das Rederecht (a), der Handlungsstruktur der Äußerung (b) und der Typisierung der Beteiligungsweise (c) Zusammenhängen. (a) TR startet seine Äußerung als thematisch diskontinuierliche Fortsetzung (aber) seiner voraufgehenden Äußerung nach dem Muster „Kern nach Vorschaltaktivität”. Der Status der Kernaktivität ist u.a. durch die prosodische und nonverbale Hervorhebung markiert (starke Akzentuierung von ei”ne und „zugreifende” rechte Hand parallel dazu): 2053 KR: 2054 TR: nur * dann darf ich ihnen auch vielleicht eben hier den ich hatte sie 2055 KR: junge vom bundesgesundheitsamt * zitieren 2056 TR: was gefra: gt also herr krause * Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 81 Diese Erweiterung der Äußerung konkurriert mit der schnell gestarteten Äußerung von KR. Den Kampf um das Rederecht bestreitet TR zunächst mit einem Umstieg, d.h. einer Substitution des Äußerungsplans, einem expressiv mahnenden Aufmerksamkeitsappell (also herr krause), der auch nonverbal markiert ist durch eine „fordernde” rechte Hand, und wortidentische Reformulierungen: 2055 KR: junge vom bundesgesundheitsamt * zitieren 2056 TR: was gefra: gt 2057 FU: keine stat/ 2058 KR: das sieht ganz anders aus 2059 TR: ich hatte sie was gefraqtkeine Seminare über + Dieses Vorgehen entspricht dem Verfahren, durch Expansion (vor allem durch Reformulierungen) das Rederecht so lange zu beanspruchen, bis der Konkurrent den Floor frei macht, um dann sofort zu Wort zu kommen. In diesem Fall wird dies zunächst verhindert durch das Eingreifen des Moderators FU. Dessen Beitrag, der auf ein Ende der Auseinandersetzung zwischen TR und KR zielt, wartet TR jedoch nicht vollständig ab, um nicht die Chance verstreichen zu lassen, die durch das Verstummen von KR gegeben ist; TR adressiert noch einmal KR mit einer Reformulierung seines letzten Formulierungssegments. Die invariante Formulierung TRs zeigt, daß er die parallel laufende Äußerung KRs inhaltlich vollständig übergeht. Zugleich registriert TR aber die Moderatorenintervention und bestätigt sie mit ja (Z. 2068). TR benutzt hier ein Verfahren der Spaltung der Interaktion in einen Haupt- und einen Nebenstrang, um lokal seinen Aktivitätsstrang zu Ende zu bringen und zugleich dem Moderator zu zeigen, daß er dessen Forderung in der weiteren Planung berücksichtigt. (b) Die besondere Markierung in der Anfangsphase der Äußerung TRs zeigt, daß dieser hier noch einmal einen Durchsetzungsversuch unternimmt. Das erste Formulierungssegment aber ei”ne aussage hat den Charakter einer Mahnung und zeigt das Insistieren auf den pragmatischen Konsequenzen des Fragespiels. Charakteristisch für das (späte) Insistieren gegen Widerstand ist das von TR angewendete Verfahren der minimalisie- 82 ferner Kallmeyer/ Remhold Schmitt renden Zuspitzung der Anforderung: ei”ne aussage. Auch das zweite Segment ich hatte sie was gefragt hat prosodisch noch drängenden Charakter ebenso wie der dritte Ansatz mit dem expressiven Ordnungsruf, aber die Änderung des Außerungsplans spricht dafür, daß ein Wechsel vom unmittelbaren Insistieren zur metakommunikativen Beschreibung des Vorgangs als Partnerkritik schon an der frühen Stelle vollzogen wird. Diese Planung bleibt auch bis zum Ende bestehen, denn sonst hätte TR z.B. die sich ergebende Chance zur Rückkehr zu seinem ersten Äußerungsplan benutzen können; spätestens an dieser Stelle wird sichtbar, daß er ihn endgültig aufgegeben hat. Die Handlungsstruktur von TRs Äußerung ist also durch den Wechsel von einem Durchsetzungsversuch zu einer Kritik bzw. einer Beschwerde gekennzeichnet. Möglich ist dabei, daß die Kritik zunächst als Vorschaltaktivität zu einer erneuten Durchsetzungsinitiative fungieren könnte, dann aber den Status der definitiven Kernaktivität bekommt. (c) Die Formulierung ich hatte sie was gefragt und sie haben etwas ga”nz anderes wieder mal erzählt enthält zwei gegenläufige Typisierungen des eigenen und des fremden Verhaltens. Die selbstbezogene Darstellung ich hatte sie etwas gefragt ist eine betont neutrale und „harmlose” Typisierung der Fangfrage. Damit kontrastiert die Fremddarstellung sie haben etwas ganz anderes wieder mal erzählt, welche die negative Typisierung steigert durch etwas ga”nz anderes und wieder mal. Das Fehlverhalten KRs wird damit zu einem übergreifenden Verhaltensmerkmal. Mit der negativen Bewertung von KRs Gesprächsverhalten wird die Verarbeitung auch des letzten Arguments von KR blockiert. Auch in der Folge findet keine Interpretation der Äußerungen KRs auf der Ebene sachbezogener Aussagen statt, sondern eine typisierende Interpretation der Art, wie sich KR verhält. Dieser wird als inkompetenter und gegen wesentliche Gesprächsregeln verstoßender Beteiligter degradiert. Damit ist ein Zustand erreicht, in dem sich die beiden Gegner wechselseitig blockieren und die ursprünglich in der Initiative TRs auch als mögliche Handlungsfolge angelegte Aufklärung durch rationalen Diskurs ausgeblendet ist. Auf diese deutliche Verschärfung der Auseinandersetzung reagiert nun auch der Moderator, dessen Gesprächsleiterverhalten bis dahin durch deutliche Zurückhaltung und den Verzicht auf Interventionen bestimmt war. Sein Eingreifen (keine Seminare über statistische methodenlehre heute abend ** ich würd Vorschlägen sie geben uns einfach die antwort, d.h. lösen die Prüfungsfrage auf), mit dem er die hartnäckige Auseinandersetzung beenden möchte, bleibt jedoch erfolglos. Die Kontrahenten sind bereits zu stark in der negativen, durch die unterschiedlichen forcierenden Angriffe und Verteidigungen entstandenen Interaktionsdynamik verstrickt. Sie sind darin „gefangen” und lassen sich so leicht nicht stören. Forcieren oder: Die verschärfle Gangari 83 5.3.8 KR: Immunisierende Verhaltenserklärung KR begegnet dem Vorwurf von TR mit einer forcierenden Variante des Verfahrens „Richtigstellen”. Er vollzieht in seiner Reaktion ebenfalls den Wechsel auf die metakommunikative Ebene. Seine Reaktion hat zwei Teile: Er weist TRs Frage explizit zurück (ja sie können mich nicht fragen was sie/ ) und gibt eine strukturell parallele und inhaltlich kontrastierende Ereignisdarstellung der Frage-Antwort-Sequenz (sie fragen mich [...] dann habe ich nichts anderes getan als [...]). 2064 FU: die antwort * denn- 2065 SB: LACHT VERHALTEN 2066 KR: ja sie können mich nicht 2067 BR: LACHT 2068 TR: ja 2069 KR: fragen was sie/ sie fragen mi"ch * wer * — ► welches 2070 KR: ergebnis ne bestimmte Studie ergeben gegeben hat*— <dann 2071 TR: ja ich meine: ich v/ versuche 2072 KR: habe dann habe i"ch dann habe ich 2073 TR: ihre so"ziale kompetenz zu testen ** und die scheint sehr 2074 KR: damn habe ich> * dann habe ich nichts 2075 TR: gering zu sein 2076 KR: anders gesagt/ als das ergebnis einer Studie zu zitieren 2077 VE: aber sie herr ( ■■ ) sie sind auch nicht anders als der 2078 KR: die i"ch Renne 2079 VE: herr krause herr von trosch/ sie machen nur den * den * 2080 KR: >mehr nicht< Im Hinblick auf den forcierenden Charakter der Äußerung sind folgende Eigenschaften interessant: (a) Explizite Zurückweisungen von Aktivitäten anderer sind generell brisant und erklärungsbedürftig. Sie erscheinen in strittigen Auseinandersetzungen deshalb in der Regel auch erst relativ spät und vielfach in Reaktion auf einen speziellen Anlaß. Ein solcher Anlaß ist im vorliegenden Fall durch die aggressive Verhaltenstypisierung von TR gegeben. Als Antwort darauf expliziert KR die in seiner ersten Reaktion auf TRs Fragespiel implizit bleibende pragmatische Funktion der Zurückweisung. (b) Die Darstellung KRs enthält zwei forcierende Verfahren der Bedeutungskonstitution: - Die Wiedergabe des Fragespiels verschiebt seine Bedeutung: Aus der Frage nach einer „Meinung” im Sinne einer subjektiven Einschätzung 84 Werner KaUmeyer/ Reinhold Schmitt eines Sachverhalts wird eine Frage nach der Kenntnis von wissenschaftlichen Ergebnissen (sie fragen mi”ch * wer * ^welches ergebnis ne bestimmte Studie ergeben gegeben hat*-). Damit gibt KR an, welchen Typ von Frage er in seiner Ersatzantwort bearbeitet hat. Im Verhältnis zur Fangfrage ist das aber eine Bedeutungsunterstellung. Es ist möglich, daß KR in seiner eigenen Perspektive so weit gefangen ist, daß er schon bei der Rezeption der Fangfrage den Bedeutungsunterschied gar nicht bemerkt. Das wäre eine Form von unwillkürlichem Forcieren. In jedem Fall ist die Bedeutungsveränderung Grundlage der gesamten Gegenwehr. - In der Selbsttypisierung stellt er seine Beteiligung als kooperativ und unter den gegebenen Bedingungen angemessen dar (dann habe ich nichts anderes getan als das ergebnis einer studie zu zitieren die ich kenne ** mehr nicht). Diese Darstellung des Vorgangs impliziert erneut eine symmetrische Rollenstruktur. KR wendet ein Verfahren der verharmlosenden Minimalisierung an, das typischerweise durch die Formel „nichts anderes getan haben als” realisiert wird. Dieses Verfahren zielt auf die immunisierende Verhaltenserklärung, bei der die eigene Beteiligung an der Streitgenese und der Aufschaukelung der Interaktionsdynamik ausgeblendet wird. Immunisierende Verhaltenserklärungen beinhalten die dokumentarische Interpretation eines eigenen Verhaltens zumeist in bezug auf eine durch Kooperativität und Offenheit bestimmte, grundlegend positive Beteiligungsweise. Die häufigsten Verwendungen sind zum einen Intentionsexplizierungen und zum anderen die retrospektive, in den meisten Fällen legitimierende oder richtigstellende Interpretation des eigenen Verhaltens. Beides wird auch von KR herangezogen. Immunisierende Verhaltenserklärungen lasten die gesamte Verantwortung für den erreichten zumeist negativen - Interaktionsstand dem Gegner an. Dieser hat aufgrund einseitiger Wahrnehmung die Anstrengungen seines Gegenüber übersehen, die an ihn gestellten Anforderungen nach bestem Wissen und Gewissen zu bearbeiten. KRs Richtigstellung forciert das Recht auf Selbstbestimmung der Äußerungsbedeutung. KR beschreibt retrospektiv seine unterschiedlichen Initiativen und Reaktionen unter dem einheitlichen Gesichtspunkt einer kooperativen Beteiligungsweise. Konstitutiv für diese Variante des Richtigstellens ist, daß gerade die forcierenden Potentiale des eigenen Verhaltens ausgeklammert werden. Diese forcierenden Potentiale werden bei der Konsistenzkonstruktion für das eigene Verhalten (hier: den Harmlosen spielen) offensichtlich — und das heißt letztlich auch für den Partner wahrnehmbar ignoriert. Der forcierende Punkt dieser Variante des Richtigstellens liegt darin begründet, daß die Konsistenzprojektion mit einem offensichtlich unzu- Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 85 treffenden Aspekt der Harmlosigkeit verbunden wird. Faktisch liegt genau in dieser Verquickung das strategische Potential seines Verhaltens, im positiven wie im negativen. Im positiven ist dies die Grundlage seiner Durchsetzungsfähigkeit, und im negativen ist es der Grund dafür, daß er als gesprächsunfähig und unbelehrbar erscheint. 5.3.9 TR: Verhaltenserklärung und Diskreditierung des Gegners In Reaktion auf den Versuch KRs, ihm den schwarzen Peter zuzuschieben, reagiert TR mit einer in der Deutlichkeit bemerkenswerten, abermaligen Kritik an den mangelnden Voraussetzungen seines Gesprächspartners. Hatte er zuvor KR nur als Berufsschullehrer, der sich auf das Gebiet der empirischen Sozialforschung verirrt hat, kritisiert, so greift er nunmehr KR noch grundsätzlicher, in einer ihn als Person insgesamt negativ bewertenden Weise an. 2064 FU: die antwort * denn- 2065 SB: LACHT VERHALTEN 2066 KR: ja sie können mich nicht 2067 BR: LACHT 2068 TR: ja 2069 KR: fragen was sie/ sie fragen mi"ch * wer * —»welches 2070 KR: ergebnis ne bestimmte Studie ergeben gegeben hat<— <dann 2071 TR: ja ich meine: ich v/ versuche 2072 KR: habe dann habe i"ch dann habe ich 2073 TR: ihre so"ziale kompetenz zu testen ** und die scheint sehr 2074 KR: damn habe ich> * dann habe ich nichts 2075 TR: gering zu sein 2076 KR: anders gesagt/ als das ergebnis einer Studie zu zitieren 2077 WE: aber sie herr ( ■■ ) sie sind auch nicht anders als der 2078 KR: die i"ch kenne 2079 WE: herr krause herr von trosch/ sie machen nur den * den * 2080 KR: >mehr nicht< 2081 WE: er macht nur den * den * äh * den/ des * schaf * im * 2082 KR: wissen sie * herr * herr tro"schke 2083 WE: #im Wolfspelz# ** ähm 2084 K «LACHEND # TR gibt mit dieser Abschlußäußerung seiner Initiative, das zuvor bereits einmal erfolgreich praktizierte „Prüfungsspiel” nochmals durchzuführen, eine retrospektive Deutung. Er definiert dabei seine Frage explizit als eine 86 Werner Kaümeyer/ Reinhold Schmitt Art Prüfungsfrage und teilt das negative Ergebnis mit (ich versuche ihre so”ziale kompetenz zu testen ** und die scheint mir sehr gering zu sein). Mit dieser retrospektiven Deutung seiner „zugespitzt ambivalenten” Initiative schreibt TR exklusiv die negative Lesart fest: Er möchte seine Äußerung als eine auf die Degradierung des anderen zielende verdeckt strategische Handlung verstanden wissen. Mit dieser offenen Diskreditierung wirft TR seinem Kontrahenten vor, ideologisch verblendet zu sein und seine Umwelt nur noch verzerrt wahrzunehmen. Die Definition als Teststrategie impliziert eine deutliche Überlegenheit in einer Steigerung der oben dargestellten Implikation einer Rollenasymmetrie. Mit der Strategiezuschreibung und der darin implizierten Überlegenheitsdarstellung bearbeitet TR das Schicksal seiner Initiative. Im Unterschied zum ersten Fragespiel zu Aufklärungszwecken, das interaktiv sehr erfolgreich war, verhindert KR beim zweiten Mal die erfolgreiche Durchführung, er „spielt nicht mit”. TR gelingt keine deutliche Gestaltschließung, und auch eine vergleichbare Profilierung als Wissenschaftsexperte wie in der ersten Stelle kann er sich nicht organisieren. Der Widerstand des Kontrahenten entzieht die Entwicklung des Ereignisses TRs Kontrolle. Dieser Kontrollverlust zeigt sich bei TR als Gereiztheit: in einem lauten und eindringlichen Sprechen und dem manifesten, mehrmaligen Insistieren auf die von ihm gesetzten Relevanzen für KR. Es ist symptomatisch für das Scheitern der gesamten Initiative, daß es TR nicht gelingt, für seine kombinierte Überlegenheitsdarstellung und Partnerdegradierung eine gesicherte Redegelegenheit zu bekommen. KR zeigt durch seine wiederholten Formulierungsansätze zwar, daß er gestört ist, aber er wehrt die Störung erfolgreich ab und übergeht die disqualifizierende Äußerung TRs. TR gibt sich hier also damit zufrieden, daß er KR nicht als Rezipienten gewinnt und er seine Äußerung wie einen parallel laufenden Kommentar, d.h. als eine Art irritierenden Einwurf formulieren muß. In Anlehnung an eine im Fußball typische Form des Foul-Spiels kann man hier durchaus von „verbalem Nachtreten” sprechen. Mit der Art, wie TR seine Überlegenheit formuliert, macht er gleichsam das Gegenteil sichtbar: Es wird deutlich, daß er der Dynamik des lokalen Geschehens ausgeliefert ist, sich verstrickt hat. Damit läuft er Gefahr, sich als ein Gesprächsteilnehmer zu präsentieren, der nicht mehr sachlich zu argumentieren versucht. Mit der retrospektiven Strategiedefinition legitimiert TR ungewollt den Widerstand KRs. 5.3.10 Fazit: Die Interaktionsdynamik des Forcierens Forcieren als wechselseitig praktizierte Kooperationsform kann aufgrund situativer Voraussetzungen vom Interaktionsbeginn an wirksam sein oder erst im Verlauf etabliert werden. Im vorliegenden Fall ist in der gesamten Talk-Show ein Konfliktpotential angelegt durch die Auswahl der Posi- Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 87 tionen und der Positionenvertreter; es ist kaum erwartbar, daß diese im Verlauf der Diskussion umdenken. Damit ist von vornherein ein antagonistischer Argumentationsstil angelegt. Im Interaktionsverlauf tritt der Übergang zu Kooperationsverletzungen meistens nicht abrupt, sondern stufenweise auf. Der Übergang zum Forcieren zeigt sich in der Regel als Verdichtung von latent immer schon vorhandenen Eigenschaften des interaktiven Handelns. In der Regel führen individuelle, ad hoc eingebrachte Initiativen zunächst zu lokalen Modalitätswechseln, die von den anderen ratifiziert und in der Folge mitgetragen werden. Auf diese Weise entwickeln sich phasenweise Verschärfungen der Interaktion (oder auch eine Verteidigung der bislang etablierten Interaktionsmodalität, z.B. mit Worten wie „wir sollten uns hier nicht streiten”)- An bestimmten Stellen der Interaktion, die sich als Schlüsselstellen der Interaktionsdynamik erweisen, finden teils offene, teils verdeckte Aushandlungen der Interaktionsmodalität statt. Im vorliegenden Fall gibt es eine dramatische Steigerung: Ausgehend von „gespannter Ruhe” entwickelt sich eine Kette von aufeinander reagierenden forcierenden Zügen, beginnend mit der tückischen Prüfungsfrage über die „freie” Antwort, die Formen des Insistierens und Sich-nicht-beirren- Lassens bis hin zur offenen Diskreditierung. 37 Einen Abschluß findet die lokale Aufschaukelung forcierender Züge durch eine von den Beteiligten formulierte retrospektive Bündelung in Form einer übergreifenden und konsistenzstiftenden Deutung. Beide Teilnehmer setzen dabei sowohl ihre eigenen als auch die fremden Züge zu einer übergeordneten strategischen Orientierung in Beziehung. Die einzelnen forcierenden Züge weisen also in gewisser Weise eine doppelte Legitimationsstruktur auf: Zum einen gibt es eine lokale Kontextualisierung für die einzelnen Züge, zum anderen gibt es globale und retrospektive Strategieprojektionen, die die einzelnen Züge nochmals abschließend in allgemeiner Weise legitimieren. Interessant wird dieses Abschlußverfahren dadurch, daß diese retrospektiven und legitimativen Deutungen selbst wieder forcierende Qualität besitzen. Die Sequenzierung der Äußerungen zeigt eine hohe Genauigkeit der Reaktion auf forcierende Eigenschaften von Aktivitäten anderer. Deutlich wird dies u.a. dadurch, daß die Kontrahenten mit konterndem Forcieren auf gleicher Ebene reagieren, d.h. unter Ausnutzung derselben Konstitutionsaspekte (Gesprächsorganisation, Bedeutungskonstitution, Handeln). Es entsteht eine Symmetrie des Forcierens. Die Aktivitätssequenz ist weiter geprägt durch eine Steigerung hinsichtlich der Ausprägung des forcierenden Charakters sowie der Explizierung der wechselseitigen Beanstandungen und eigenen Rechtfertigungen. 37 Zu Verlaufsformen von Streitgesprächen siehe u.a. Apeltauer (1977), Kallmeyer (1979), Sillars (1980) und Nothdurft (1995). 88 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmitt Die Sequenz zeigt im Ansatz, daß und wie sich die Beteiligten in der Forcierensdynamik verfangen und sich auch zu selbstschädigenden Äußerungen verleiten lassen. Relativ offene Aggressivität wie in den letzten, explizit diskreditierenden Äußerungen TRs gehört nicht zum „guten Ton” in diesem Typ von Talk-Show; TR riskiert, sein Gesicht zu verlieren. Die Bewertung von offener Aggressivität als Regelverstoß mit der Konsequenz des eigenen Gesichtsverlusts stützt sich auf Konzepte bzw. Topoi wie: - „Ein schlechter/ guter Verlierer sein”, d.h. bei der eigenen Niederlage die vorher geltenden Regeln und übergreifenden gemeinsamen Ziele nicht mehr anerkennen. - „Schonung des Unterlegenen”, vielleicht auch generell „keine unnötige Härte”. - „Wer persönlich wird, lenkt von der Sache ab” und damit ggf. von der Schäche der eigenen Position. Schon die Eristik empfiehlt, die Person des Gegners anzugreifen, wenn einem die Sachargumente ausgehen. Angriffe auf die Person mit dem Ziel, durch Diskreditierung den Gegner als Diskussionspartner zu disqualifizieren, führen zwangsläufig zur Eskalation und behindern die Sachargumentation. In bezug auf das übergeordnete Ziel der Sachklärung ist der Angreifer unkooperativ und ein Störenfried. 6. Zur Typologie forcierender Verfahren Die Analyse des Interaktionsverlaufs soll jetzt als Grundlage für die Zusammenstellung eines Repertoires von forcierenden Verfahren benutzt werden. Die analysierten Verfahren nutzen unterschiedliche Konstitutionseigenschaften der sprachlichen Interaktion als Ressource. Wir haben uns in der Analyse einerseits orientiert an den Konstitutionsaspekten der verbalen Interaktion wie der Gesprächsorganisation, dem sozialen Handeln oder der Konstitution sozialer Identitäten und Beziehungen; dementsprechend haben wir die Aktivitäten der Beteiligten beschrieben als Versuche, die Bestimmung der Redegelegenheiten zu dominieren, die Handlungsverpflichtungen zu steuern sowie die interaktionsrelevanten sozialen Identitäten und Beziehungen einseitig zu bestimmen. Andererseits haben wir die Vorgänge der Bedeutungskonstitution verfolgt als eines über alle genannten Konstitutionsaspekte von Interaktion laufenden Definitionsprozeß. In der Regel spielen diese Aspekte kombiniert eine Rolle. Bei der Beschreibung der forcierenden Verfahren kann jedoch getrennt bestimmt werden, welche Konstitutionsaspekte primär betroffen sind. Die einseitigen Festlegungen können sich auf eigene und auf fremde Äußerungen beziehen und insofern als Selbstbestimmung oder als Fremdbestimmung erscheinen. Fremdbestimmung liegt vor, wenn der Sprecher ein weitgehendes Recht auf die Kontrolle über die gültige Interpretation von Partneräußerungen beansprucht, und Selbstbestimmung, wenn der Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 89 Sprecher die eigene Interpretation eigener Äußerungen gegen Partnerinterventionen durchzusetzen versucht. Analog können die Verfahren, mit denen das Recht auf die Kontrolle über die Handlungsstrukturierung forciert wird, die Bestimmung fremder Handlungsverpflichtungen und die Bestimmung eigener Handlungsrechte betreffen. Die vorliegende Darstellung benutzt für die allgemeine typologische Ordnung Merkmale auf zwei Dimensionen: - Konstitutionsaspekt (Redeverteilung, Sachverhaltsdarstellung, soziales Handeln, soziale Identitäten und Beziehungen) und Bedeutungskonstitution. - Bestimmungsrichtung (Selbst-/ Fremdbestimmtheit). Die Kombination der beiden Dimensionen ergibt eine einfache Kreuzklassifikation. 38 Da die Verfahren der Bedeutungskonstitution in unserer Analyse vor allem im Zusammenhang mit den inhaltlich komplexeren Interaktionsaspekten relevant werden, ordnen wir sie der Einfachheit halber nach der Gesprächsorganisation ein: Konstitutionsaspekt Bestimmungsrichtung Fremdbestimmt Selbstbestimmt Redegelegenheit Bedeutung Sachverhalt Handlung soz. Identitäten/ Bez. Diese Anordnung gestattet eine leichte Orientierung bei der Suche nach verwandten Verfahren. Ein Nachteil ist, daß die auf einer Dimension liegenden Eigenschaften nie unabhängig voneinander Vorkommen. So impliziert schon der Begriff des Forcierens ein besonderes Maß an Selbstbestimmtheit der Gesprächsaktivität, unabhängig davon, ob z.B. diese dominant darauf zielt, den Partner unter Druck zu setzen oder sich selbst gegen derartige Vorstöße des anderen zu immunisieren. Weiter kann ggf. die forcierende Bestimmung des Rederechts einen relativ selbständigen Status erlangen 38 Schopenhauer (1970) listet 37 eristische Kunstgriffe auf und stellt einen Systematisierungsansatz dar, der im Wesentlichen auf Grundverfahren der Argumentation aufbaut; im Kern werden bei den Kunstgriffen auch pragmatisch-interaktive Merkmale erfaßt, für die aber keine Systematisierung erkennbar wird. Schreier/ Groeben (1990) strukturieren das Konstrukt der Argumentationsintegrität nach formaler Richtigkeit, inhaltlicher Richtigkeit, inhaltlicher Gerechtigkeit und prozeduraler (interaktiver) Gerechtigkeit; unter den Aspekten der inhaltlichen und der prozeduralen Gerechtigkeit werden Kooperationseigenschaften erfaßt. Zu anderen, noch stärker an Interaktionseigenschaften orientierten Versuchen vgl. u.a. Anm. 9 zu Linell (1990). 90 Werner Kaümeyer/ Reinhold Schmitt beim Kampf um das Wort, d.h. bei dem systematischen Unterbrechen, Nicht-zu-Wort-kommen-lassen oder auch dem dezidierten Zuendereden in Verbindung mit der Verteidigung gegen Unterbrechungsversuche. Damit hängen aber in der Regel Eigenschaften der Bedeutungs- und Handlungskonstitution zusammen. Redegelegenheiten sind relevant als Gelegenheiten zu sprachlichen Handlungen, zur Beeinflussung der weiteren Interaktion, zur Durchsetzung eigener Bedeutungsdefinitionen usw. Und es liegt ebenso auf der Hand, daß Bedeutungen und Handlungsstrukturen in der Interaktion nur zusammen konstituiert werden können. Trotzdem ist in vielen Fällen die Entscheidung möglich, welchen Konstitutionsaspekt die Beteiligten für die Formulierung ihres Gesprächszuges dominant setzen. Gerade unter rhetorischen Gesichtspunkten ist es ein Unterschied, ob der Sprecher mit Verfahren der Fremdbestimmung der Äußerungsbedeutung die Äußerung des anderen verzerrend reformuliert und die daraus sich im Handlungskontext ergebenden pragmatischen Konsequenzen implizit läßt (auch wenn es wahrscheinlich im Endeffekt auf diese ankommt), oder ob der Sprecher explizit eine Verpflichtung für den anderen formuliert und nur implizit dabei eine verzerrende Interpretation von dessen Äußerung unterstellt, wonach dem anderen die ihm auferlegte Verpflichtung geradezu hochwillkommen ist. Im folgenden skizzieren wir, wie sich auf der Grundlage dieses Klassifikationsrasters eine Reihe relativ häufiger forcierende Verfahren, die größtenteils auch in der Fallanalyse erscheinen, einordnen lassen. 6.1 Fremdbestimmung konversationeller Aktivitäten Fremdbestimmung von Redegelegenheiten a) Rederecht verweigern und entziehen: Das Verfahren spielt im analysierten Gesprächsausschnitt keine Rolle, wird aber z.B. bei der Beendigung der konfliktären Sequenz vom Moderator FU praktiziert, als dieser ordnend eingreift {ich muß jetzt eine zensur machen; Z. 2145). b) Rezeptionsbereitschaft und Unterstützung der Äußerungsproduktion des Sprechers reduzieren: Dieses Verfahren kommt im Beispielfall bei TR vor, als er das Strapazieren des Rederechts von KR resigniert duldet (5.3.4). c) Irritierende Einwürfe machen: Ein entsprechendes Ereignis im Beispiel ist analysiert worden (5.3.3). d) Sich in subversiver Nebenkommunikation engagieren: Diese Verhaltensweise ist ebenfalls anhand des Beispiels demonstriert worden (5.3.3). e) Redeübernahme provozieren und Redeabgabe verhindern: Hiermit sind sehr direktive Formen der Redezuweisung gegen die Bereitschaft des Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 91 Adressaten gemeint. Im Kontext der Fernsehdiskussion kommt das erwartungsgemäß nicht vor, weil alle reden wollen. Fremdbestimmung von Äußerungsbedeutungen a) Selektiv verarbeiten und sich dumm stellen: Alle analysierten Äußerungen enthalten Aspekte der selektiven Verarbeitung von Partneräußerungen; deutlich sichtbar wird dieses Verfahren z.B. bei KRs expliziter Uminterpretation der Fangfrage im Zusammenhang mit seiner immunisierenden Verhaltenserklärung (5.3.8). b) Äußerungsimplikationen unterstellen: Häufige Fälle der Unterstellung von Außerungsimplikationen sind, daß Äußerungsintentionen („sie wollen offensichtlich auf den Punkt hinaus, daß ...”), stillschweigende Voraussetzungen oder auf den ersten Blick nicht offenkundige Konsequenzen expliziert werden. Nach unserer Analyse spielt eine solche Implikationsunterstellung beim Fragespiel TRs (5.2.c) eine Rolle. c) Auf Gesagtes festlegen/ beim Wort nehmen: Dieses Verfahren steckt z.B. in KRs Zug, eine Äußerung TRs als Argument gegen ihn zu wenden (sie ham ja vorhin schon darauf hingewiesen es kommt ganz darauf an * wie man die einleitenden fragen stellt; 5.3.1). Fremdbestimmung von Sachverhaltsdarstellungen Hierzu gehören Verfahren, mit denen dem anderen als Folgesprecher für die von ihm erwartete Sachverhaltsdarstellung unzureichende oder widersprüchliche Vorgaben gemacht werden. Solche Verfahren sind z.B. bei der Analyse von Gerichtskommunikation beobachtet worden: So setzen häufig Richter Zeugenaussagen in Gang mit der Aufforderung, den Hergang im Zusammenhang zu erzählen, und unterbrechen sofort mit der Mahnung, die relevanten Details ganz detailliert zu schildern; damit wird der zunächst in Gang gesetzte Erzählvorgang tiefgreifend gestört (vgl. Schütze 1978). Im Beispielfall kommen derartige Verfahren nicht vor. Fremdbestimmung von Handlungen a) Selbstbestimmung in Fremdbestimmung verwandeln: Im Kern handelt es sich hier um Versuche, Handlungsbereitschaft oder -angebote des anderen zu verwandeln in eine an ihn gestellte Anforderung, so als würde er von sich aus die Handlung nicht ausführen. Dieses Verfahren kommt im Beispielfall nicht vor. b) Selbstbestimmtheit von Handlungen suggerieren: Eine erzwungene Handlung des anderen wird behandelt, als ob er sie aus freien Stücken ausführen würde. Auch dieses Verfahren ist im Beispielfall nicht erkennbar. 92 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmitt c) Konsequenzen erzwingen: Diesen Charakter hat die Zuspitzung von Handlungsanforderungen an den anderen sowohl im Fragespiel (5.2) TRs als auch in seinem anschließenden Insistieren (5.3.2). d) Anforderungen und Konsequenzen verharmlosen: Mit diesem Verfahren können Adressaten gleichsam „in die Falle gelockt” werden, sich auf Dinge einzulassen, die im Kern nicht in ihrem Interesse liegen können. Im Beispielfall ist das Verfahren nicht zu beobachten. e) Demonstrativ aufgeben: Dieses Verfahren praktiziert TR, als KR in seiner selbstbestimmten Darstellung seiner Befragung in der Schule nicht zu bremsen ist (5.3.4). Fremdbestimmung sozialer Identitäten und Beziehungen Die Konstitution sozialer Identitäten und Beziehungen als Gegenstand und als Ressource in Streitgesprächen wird im Beitrag von Schwitalla in diesem Band im Detail analysiert. Deshalb sollen hier nur die in der Beispielanalyse erscheinenden Verfahren aufgelistet werden; auf eine weitergehende Systematisierung soll verzichtet werden. a) Eine Rollenasymmetrie mit inferiorem Status für den anderen einführen: Dieses Verfahren wird von TR in seiner Prüfungsfrage verwendet (5.2). b) Diskreditieren durch die Kritik an den Voraussetzungen des anderen: Diesen Charakter haben die analysierten wechselseitigen Verhaltenstypisierungen mit den Ziel der Diskreditierung des anderen (5.3.1, 5.3.5, 5.3.7 u. 5.3.9). Schon in seinem Fragespiel legt TR eine Demontage der politischen Rolle KRs an, die angesichts des von KR vertretenen Anspruchs einer Degradierung gleichkäme (5.2). c) Den anderen sozial ausschließen: Dieses Verfahren führt zum Kommunikationsabbruch bzw. -verzieht („mit ihnen rede ich nicht mehr”). Es kommt nur im Ansatz als Element der subversiven Nebenkommunikation vor, als mehrere Beteiligte nicht mehr mit, sondern über KR sprechen (5.3.3). 6.2 Selbstbestimmung konversationeller Aktivitäten Selbstbestimmung von Redegelegenheiten a) Rezeptionsbereitschaft provozieren: Dieses Verfahren setzen Interakteure ein, um die Aufmerksamkeit von anvisierten Rezipienten zu gewinnen. Das Verfahren ist Bestandteil von KRs Anstrengungen, sein Rederecht gegen die Störungen zu verteidigen, indem er versucht, TR als Adressaten „festzunageln” (5.3.4). b) Konkurrierende Selbstwahl durchführen: Das praktizieren nicht nur die beiden Gegner KR und TR, sondern teilweise in relativ harmloser Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 93 Form auch die übrigen, z.B. als sie in einer Nebenkommunikation für sich die Prüfungsfrage TRs beantworten (5.2). c) Rederecht aggressiv verteidigen: Die eindrucksvollste Demonstration im Beispielfall liefert KR (5.3.3). d) Redegelegenheit strapazieren: Auch hier ist KR zu nennen (5.3.3). e) Redegelegenheit nicht nutzen: Das kommt unter den Bedingungen des Fernsehgesprächs nicht vor; allerdings gibt es Stellen, die hier nicht analysiert wurden, an denen z.B. KR sich auffällig zurückhält, z.B. als TR mit seinem ersten Fragespiel erfolgreich ist. Selbstbestimmung von Außerungsbedeutungen a) Einseitig Interpretationsbedingungen setzen: Das analysierte Verfahren der konkurrierenden Kontextualisierung, das KR einsetzt, um die Prüfungsfrage TRs auf legitime Weise zurückweisen zu können, ist eine Ausprägung dieses Verfahrens (5.3.1). b) Eine immunisierende Verhaltenserklärung abgeben: Diesen Charakter haben die beidseitigen Typisierungen des eigenen Verhaltens als sinnvoll und legitim bei KR und TR (5.3.8 u. 5.3.9). c) Demonstrativ auf Klärung verzichten: Das Verfahren würde z.B. angewendet, wenn ein Sprecher auf die Forderung nach weiterer Explikation seiner Außerungsbedeutung erklärt, darauf müsse der andere schon selber kommen. Im Beispielfall kommt das Verfahren nicht vor. Selbstbestimmung der Sachverhaltsdarstellung a) Den thematischen Sachverhalt verschieben: Dieses Verfahren praktiziert KR in seiner Reaktion auf die Fangfrage (5.3.1). b) Sachverhalte andeutend etablieren: Dabei wird für unzureichend explizierte Sachverhalte Geltung beansprucht. Ein Beispiel liefert KR in seiner Reaktion auf TRs Fragespiel (5.3.1.d). c) Das Argument des anderen aus seinem Kontext lösen und „umdrehen”: Auch dieses Verfahren findet sich in KRs abwehrender Reaktion (5.3.1.e). d) Argumente austauschen: Damit ist das Verfahren gemeint, ein vom anderen angegriffenes Argument sofort durch ein anderes zu ersetzen, ohne das erste Argument zu verteidigen. Ein Beispiel findet sich bei KRs Beharren (5.3.6). Selbstbestimmung von Handlungen a) Fremdbestimmung in Selbstbestimmung verwandeln: Eine Erscheinungsform ist z.B. die Uminterpretation einer Handlungsanforderung 94 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmilt in eine eigene Handlungsinitiative („das wollte ich sowieso gerade tun”). In einem anderen Sinne findet eine Verwandlung von Fremdin Selbstbestimmung statt, wenn die Zuweisung einer Aktivitätsaufgabe vom Adressaten als Gelegenheit genommen wird, ersatzweise oder in Kombination mit der konditionell relevanten Aktivität eine eigene Initiative zu starten. Auf zwei Aktivitätsschritte verteilt kommt dieses Verfahren bei KR vor, der nach der abwehrenden Bearbeitung der fremdbestimmten Handlungsanforderung mit einer selbstbestimmten Aktivität fortfährt (5.3.1.a). b) Aufgaben distanziert bearbeiten: Damit ist die interesselose, ohne Engagement durchgeführte Bearbeitung einer Handlungsaufgabe ebenso wie die explizite Distanzierung gemeint („ich finde das zwar nicht besonders sinnvoll, aber bitte, wenn du willst”; vgl. auch die Äußerung Fritz Teufels im Apo-Prozess „Wenn es denn der Wahrheitsfindung dient” in Reaktion auf die richterliche Aufforderung aufzustehen). Der Charakter der distanzierten Bearbeitung einer vom anderen etablierten Handlungsanforderung ist auch noch beim Anbieten einer Ersatzhandlung von KR zu sehen (5.3.1). Explizite Distanzierungen finden sich in der Beispielanalyse nicht. c) Ausweichen und übergehen: Das Verfahren, die Aktivitäten anderer und die damit zusammenhängenden konditionellen Relevanzen für die eigenen Aktivitäten nicht zu berücksichtigen, kann unterschiedlich hart und provozierend angewendet werden. Zu den üblichen, legitim erscheinenden Anwendungen gehört das Übergehen von Störungsversuchen, wie dies z.B. KR im Reaktion auf den irritierenden Einwurf TRs und die folgende subversive Nebenkommunikation praktiziert (4.3.4). Übergehen kann auch vorübergehend praktiziert werden in der Art einer vorläufigen Verweigerung. Diesen Charakter haben im Prinzip die ersten Reaktionen TRs auf die Zurückweisung seines Fragespiels durch KR; TR konzentriert sich auf KRs Ersatzhandlung und die anschließende selbstbestimmte Handlung und berücksichtigt nicht die kritische Typisierung seines eigenen Verhaltens als inkonsistent (5.3.3, 5.3.5 u. 5.3.7). Erst spät, als endgültig feststeht, daß TRs Fragespiel- Initiative gescheitert ist, äußert er sich in der Erklärung seines eigenen Verhaltens als „Test” noch einmal zu seinen eigenen Voraussetzungen (5.3.9). d) Eigene Handlungsbedingungen einseitig festlegen und Position immunisieren: Ein nicht sehr spektakulärer, aber charakteristischer Fall von Immunisierung ist das Beharren mit Argumentaustausch von KR (5.3.8). e) Demonstrativ auf Gegenwehr verzichten: Dieses Verfahren ist häufig in Verbindung mit einer Opferstilisierung („Gegenwehr hat sowieso keinen 95 Forcieren oder: Die verschärfte Gangart Sinn”) sehr wirkungsvoll. Im Beispielfall kommt das Verfahren nicht vor. Selbstbestimmung sozialer Identitäten und Beziehungen Im Beispiel kommt vor allem Selbstdarstellung von Kompetenz, moralischer Integrität und Status vor, und zwar bei beiden Protagonisten. Markant ist dieses Verfahren z.B. im Fragespiel TRs und der damit zusammenhängenden Selbststilisierung als kompetenter und aufklärungsorientierter Wissenschaftler (5.2) sowie in seiner abschließenden Verhaltenserklärung, er habe KRs soziale Kompetenz testen wollen (5.3.9); diese Erklärung impliziert ebenfalls eine Rollenasymmetrie zwischen ihm und KR. Andere charakteristische Selbststilisierungen wie z.B. „sich als Opfer stilisieren kommen im analysierten Gesprächsausschnitt nicht vor (vgl. aber Schwitalla in diesem Band). Diese Typologie ist keinesfalls erschöpfend. Auch sind die einzelnen Typen noch weiter in gegenseitiger Abgrenzung explizit zu bestimmen. Die Zusammenstellung hat zunächst einmal heuristische Zwecke. Sie soll einen groben Überblick über die Vielfalt der Verfahren geben. In einem weiteren Schritt kann man dann aufgrund der erkennbaren „Verwandtschaftsbeziehungen” und Oppositionen von Eigenschaften eine Kombinatorik entwickeln und gezielt nach „weißen Flecken” suchen. 7. Legitimierende Kontextualisierung von Forcieren In der untersuchten Sequenz wird vor allem in der expliziten Auseinandersetzung gegen Ende, aber auch schon vorher, z.B. beim ironischen Lob deutlich, daß die forcierenden Verfahren als nicht völlig normal, sondern erklärungs- und ggf. auch als renormalisierungsbedürftig angesehen werden. So liefern die Beteiligten in ihren Erklärungen und Rechtfertigungen vielfältige Interpretationen, in bezug auf welche Sinnkategorien ihr von der Normalform abweichendes Verhalten als bedeutungsvoll verstehbar wird. Sie zeigen außerdem durch ihren Umgang mit den Organisationsmechanismen der Interaktion, daß sie sich bei allen partiellen Abweichungen von der Normalform durchaus im Rahmen der Ordnung bewegen. Sie verdeutlichen dies z.B. durch die wechselseitige Bezugnahme aufeinander, auf die etablierte Strukturierung der Situation, die Beteiligtenrollen oder den Stand der Abarbeitung eingeführter Interaktionsschemata. Es gibt eine Reihe generell verwendeter legitimierender Kontextualisierungen, welche die Beteiligten im vorliegenden Fall ebenfalls in Anspruch nehmen, um ihre Beteiligungsweise als im Rahmen der Ordnung stehend zu deklarieren: - Als Reaktion auf Forcieren; diese Legitimation charakterisiert die betreffende forcierende Aktivität als reaktiven Zug und ist wirkungsvoll insbesondere in Verbindung mit der Demonstration eigenen Wohlver- 96 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmitt haltens. Die häufigste Legitimation von Forcieren ist zweifellos, daß das Verhalten des anderen ein solches Vorgehen erforderlich macht („Wenn Sie mir so kommen, kann ich auch anders”). Als Reaktion auf vorausgehendes Forcieren des anderen, d.h. als Verteidigung z.B. gegen Aktivitäten, die den Adressaten unter Handlungsdruck setzen, brauchen forcierende Verfahren oftmals nicht mehr explizit legitimiert zu werden, so lange gilt, daß prinzipiell jeder Sprecher das Recht hat, sich zu wehren. Charakteristisch für diese Legitimationsart ist die deutliche Korrespondenz der forcierenden Verfahren. Die untersuchte Sequenz zeigt, wie genau und mit welchem Gefühl für die Äquivalenz der Mittel die Beteiligten Forcieren beantworten. - Als Erfüllung einer situativ etablierten, rollengebundenen Aufgabe (z.B. beim Eingreifen des Gesprächsleiters FU ich muß jetzt eine zensur machen). So wird häufig als Legitimation in Anspruch genommen, daß eine „schärfere Gangart” der Sache angemessen ist (wie in bestimmten Verhandlungsphasen); die legitimierende Kontextualisierung bezieht sich auf Rechte und Verpflichtungen im Zusammenhang mit dem Kommunikationstyp und den Beteiligungsrollen („Wir sind schließlich nicht zum Spaß hier; meine Verantwortung für die ordnungsgemäße Durchführung zwingt mich zur Härte, auch wenn es mir selbst nicht paßt”). - Als Bestandteil von Aushandlungsprozessen in dem Sinne, daß mit Angriffen bzw. Provokationen manifest die Chance zur angemessenen Reaktion verbunden wird. Diese Einordnung von forcierenden Zügen in den Rahmen der noch möglichen gemeinsamen Aushandlung führt in systematischer Weise zu der beschriebenen „zugespitzten Ambivalenz” mit der Wahlmöglichkeit für den Partner. - Als Spiel, d.h. durch Rollendistanz und Modalisierung. So erscheinen im Verlauf der „Raucher”-Diskussion bei einigen Beteiligten, vor allem in Momenten, in denen sie nicht als Protagonisten aktiv sind, deutliche Zeichen, daß sie Spaß an der heftigen Auseinandersetzung haben. Von der Kamera meistens nur zufällig und am Rande aufgezeichnet werden hier spielerische Rollendistanz und eine Modalisierung als Spaß am Spiel sichtbar. - Als Bestandteil einer übergreifenden Handlungsfigur, die auf die Etablierung des betreffenden Beteiligten als relevanter Akteur in der gegenwärtigen Situation und darüber hinaus in einer bestimmten sozialen Welt zielt. Bei dem Rangordnungskampf von KR und TR geht es um die Rolle auf der Bühne des öffentlichen politischen Diskurses. Zwischen den beiden besteht in dieser Hinsicht der Unterschied zwischen dem auf dieser Bühne Etablierten und dem Eindringling. TR hat den Status eines Experten qua Profession (als deutscher professor), d.h. sein Expertenstatus ist abgesichert durch eine Berufsrolle, mit der eine hohe soziale Wertigkeit verbunden ist. Außerdem ist er als Beteiligter des institutionalisierten öffentlichen Diskurses fest etabliert (vgl. u. a. seine vielfältigen Hinweise auf seine Beteiligung an Ta- Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 97 gungen sowie an der EG-Studie). 39 KR ist demgegenüber ein Neuling mit einer Berufsrolle geringerer sozialer Wertigkeit (Berufsschullehrer) und mit einer politischen Rolle auf außerinsitutioneller, basisdemokratischer Grundlage; er muß seinen Status als relevanter Beteiligter des institutionalisierten öffentlichen Diskurses erst noch durchsetzen. Mit den übergreifenden Handlungsfiguren der Selbstetablierung als relevanter Akteur sind jeweils spezifische Beteiligungsweisen verbunden, die als Lösung für die Anforderung, sich durchzusetzen und in angemessener Weise sozial präsent zu sein, anzusehen sind. 40 Diesen letzten Gesichtspunkt wollen wir noch etwas weiter verfolgen. 8. Forcieren und Interaktionsstile Die zwischen KR und TR bestehende Gegnerschaft ist weniger auf maximale Unterschiede hinsichtlich der vertretenen Positionen zurückzuführen (hierfür gäbe es für KR eindeutigere Gegner), sondern hat seine hauptsächliche Ursache in unterschiedlichen Formen interaktiver Beteiligung. Der Erfolg des Etablierten hängt davon ab, ob er seine Interaktionsregeln durchsetzen kann, die mit einer Monopolisierung des Expertenstatus verbunden sind, und der Erfolg des Eindringlings ist davon abhängig, ob er seine Interaktionsregeln durchsetzen kann, die ihm gestatten, genau diese Asymmetrie zu durchbrechen. Dabei muß der Neuling notwendigerweise als Störenfried der etablierten Ordnung auftreten und läuft deshalb auch Gefahr, durch die Etablierten als Störenfried marginalisiert zu werden. 41 Unter Bezug auf diese Voraussetzungen praktizieren die beiden Kontrahenten TR und KR unterschiedliche Beteiligungsweisen. Diese Beteili- 39 Vgl. dazu die folgenden Stellen: - 674 Konferenz des österreichischen Gesundheitsministers - 882 EG-Studie eigene Untersuchung - 1293 ich habe ein/ (vgl. Einführung der EG-Studie (882)) - 1357 Untersuchung zum Rauchverhalten von Ärzten - 1992 EG-Untersuchung - 2517 Konferenz in Holland. 40 In diesem Sinne hat die interaktive Beteiligungsweise Ähnlichkeiten mit dem Konzept der Präsenzfigur (Schmitt 1992a und b), bei dem rekurrente Verhaltensaspekte und die ihnen zugrundeliegende Selektionslogik als Grundlage für eine weitergehende Analyse von Verhaltensmotivierungen der interaktiven Präsenz dienen. Vgl. auch Kallmeyer/ Keim/ Nikitopoulos 1994, Kap. 2. 41 Strukturell vergleichbare Befunde ergibt u.a. die Analyse von Politikerdiskussionen mit Vertretern neuer Parteien wie den „Grünen”; vgl. z.B. die Sendung „Drei Tage vor der Wahl” von 1987 mit Jutta Ditfurth (Klein 1990). 98 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmitt gungsweisen sind als sozialstilistisch bedeutsam interpretierbar: - Sie haben besondere Relevanz für die Organisation des Durchsetzungsverhaltens der Akteure, sie verbinden unterschiedliche Aktivitätstypen und Ausdrucksmittel zu einer komplexen Figur, sie werden im Interaktionsverlauf immer wieder erkennbar auf die zugrundeliegenden Handlungsfiguren der Selbstetablierung bezogen und so in ihrer sozialen Bedeutung definiert, - und sie werden mit Normen und Leitvorstellungen der Kommunikation verbunden, d.h. Konzepten von Kommunikationskultur. 42 Insofern kann man sagen, daß es zwischen TR und KR zur Konfrontation zweier unterschiedlicher Stile der Auseinandersetzung kommt, für die jeweils eigene Durchsetzungsstrategien und Legitimationsweisen charakteristisch sind. Zumindest eine dominante Eigenschaft des Durchsetzungsverhaltens soll jeweils für KR und TR noch dargestellt werden. 8.1 KRs Beteiligungsweise: Den anderen bedrängen („Pressing”) KRs Durchsetzungsverhalten im Verlauf der Diskussion ist durch eine Reihe von Verfahren geprägt, die in mehr oder weniger deutlicher Form in der analysierten Sequenz Vorkommen, aber eben auch sonst die Beteiligung KRs prägen (vgl. den „Überblick über KRs Interaktionsbeteiligung” im Anhang). Seine Gesprächsbeteiligung wird durch eine von nur wenigen „Ruhepausen” unterbrochene permanente verbal-aktive Präsenz gekennzeichnet. Sein verbales Engagement ist was die Häufigkeit anbetrifft etwa doppelt so groß wie das von TR. Diese kontinuierliche verbale Präsenz erreicht KR dadurch, daß er in der Regel auf ihm wichtig erscheinende Anlässe sofort, während der laufenden Äußerung anderer Sprecher reagiert und häufig fortlaufend und insistierend interveniert. So ist mehrfach zu beobachten, daß KR das legitime Rederecht TRs so lange durch irritierende Kommentare stört, bis er ihm schließlich das Wort abnimmt und ihn als Sprecher verdrängt. Dieses Verhalten zeigt KR auch anderen Sprechern gegenüber. So realisiert KR eine Vielzahl irritierender und korrigierender Kommentare (insgesamt 21), die etwa 30% seiner Gesamtaktivität ausmachen. Auffällig sind auch seine häufigen turn-Beanspruchungen (8) und seine häufige Selbstetablierung als Sprecher in unmittelbarer Konkurrenz mit bereits etablierten Sprechern (insgesamt 18). Diese konkurrierenden Selbstetablierungen sind häufig mit starrem Beharren seiner erkämpften Sprecherrolle auch gegen den Widerstand der sich wehrenden 42 Zum Stilkonzept vgl. u.a. Kallmeyer (1995b) und zur Analyse von Normen und Leitbildern der Kommunikation Kallmeyer/ Schütte (1994). Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 99 Gesprächspartner verbunden. KR bringt in fast allen Fällen seine einmal begonnene Äußerung auch gegen anhaltenden, massiven Widerstand seiner Kontrahenten zu Ende. Verglichen mit den anderen Akteuren dieses Gesprächs ist diese Häufung von markant forcierenden Formen der Rederechtserlangung und des Kommentierens in relativ kurzen Zeitspannen auffällig. KRs Modell der Diskussionsbeteiligung kontrastiert deutlich mit dem von TR. TR orientiert sich an einem Modell des Erwerbs besonderer Darstellungsrechte durch manifesten vorläufigen Verzicht (so wie es FU in seiner aufwendigen Adressierung formuliert hat). KR orientiert sich dagegen an einem Modell der Diskussionsbeteiligung, das die begrenzten Darstellungsressourcen der Teilnehmer zum Gegenstand permanenter lokaler Konkurrenz macht (Motto: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst). Dieses Modell erlaubt grundsätzlich ungeachtet interaktiv erworbener Rechte und ungeachtet des Status seines Partners zu jedem Zeitpunkt eine „Intervention im Dienste der Sache”. Die von KR realisierte Form interaktiver Präsenz kann man in Analogie zu taktischen Überlegungen im Fußball als „Pressing” bezeichnen. „Pressing” charakterisiert dort eine Spielweise, bei der die gegnerische Manschaft schon bei der Ballannahme in der eigenen Spielhälfte gestört und so beim Aufbau des eigenen Spieles behindert wird. Dieser Aspekt der systematischen, frühest möglichen Behinderung bzw. Unterbrechung findet sich auch als wesentliches Merkmal beim Pressing als verbales Interaktionsverhalten. Hier wie im Sport läßt Pressing dem Partner nicht nur kaum Raum für eine ungehinderte Entwicklung seiner Position, sondern ist darauf angelegt, dem Gegner die eigene Spielbzw. Verhaltensweise aufzudrängen. Bezeichnend für KRs Beteiligungsweise ist, daß er als einziger Teilnehmer mehrfach und von verschiedenen Kontrahenten durch Ordnungsrufe auf die Anerkennung einer geregelten Gesprächsorganisation festgelegt wird. Auch TR fällt es schwer, nicht aggressiv auf KR zu reagieren. So zeigt z.B. schon TRs erste manifeste Reaktion auf KRs Pressing, daß er bereits durch die Wahrnehmung von KRs Beteiligungsweise anderen Teilnehmern gegenüber beeinflußt ist. Die Interaktionsdynamik wird erst voll verständlich, wenn man in Betracht zieht, daß die Auswirkungen einer interaktiven Beteiligungsweise sich nicht nur auf die an dem unmittelbaren aktuellen verbalen Austausch Beteiligten beziehen. Auch Sprecher, die zu einem späten Zeitpunkt erstmalig zu Wort kommen, sind vorher der Interaktionsdynamik ausgesetzt und reagieren auf diese. Sie sind auch als nicht verbal-aktiv Intervenierende „Interaktionsbetroffene”. Das ständig und frühzeitig intervenierende Beteiligungsverhalten KRs verbindet sich mit einer strikten und unflexiblen Zielorientierung. Diese zeigt sich u.a. darin, daß KR häufig Interventionen und thematische Vorgaben 100 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmitt anderer übergeht und auf seinem thematischen Punkt beharrt. Auf argumentativer Ebene entspricht dem, daß er die Argumente der Gegenseite schnell mit eigenen kontert, so daß eine komplexere Entfaltung der Argumentation behindert wird. 8.2 TRs Beteiligungsweise: „Vornehme Zurückhaltung” im Vertrauen auf den eigenen Beteiligtenstatus Ein charakteristischer gesprächsorganisatorischer Bestandteil von TRs Beteiligungsweise ist seine Etablierungsweise als Sprecher mit dem Gestus der Höflichkeit und des „strategischen Verzichts”. Beim Kampf um die knappen Redegelegenheiten pflegt er einen permissiven Stil, der in vielen Punkten das genaue Gegenstück nicht des als Pressing beschriebenen Verhaltens von KR ist. Ein Überblick über TRs gesamtes Verhalten während der Diskussion zeigt folgende Charakteristika (vgl. den „Überblick über TRs Interaktionsbeteiligung” im Anhang): a) Er beteiligt sich nicht am lokalen Kampf ums Wort. Er startet insgesamt drei Versuche, sich als Sprecher zu etablieren, verzichtet jedoch immer zugunsten von Mitkonkurrenten. Anstelle von direkten Durchsetzungsversuchen durch Konkurrenz um das Rederecht fragt er explizit um Redeerlaubnis nach. 43 Es gibt nur einen Fall, in dem sich TR gegen den Widerstand anderer durchsetzt. Dabei zeigt eine markierte legitimierende Kontextualisierung den Zwang zur Intervention, dem er gefolgt ist. TRs Strategie gegenüber KRs Verhalten stützt sich auf die Maxime „Der Klügere gibt nach”. TR orientiert sich in Konkurrenzfällen deutlich an einer Präferenz der Fremdzuweisung der Redegelegenheit bzw. der expliziten Ratifikation der eigenen Redeabsicht. 44 Er macht durch seinen Verzicht 43 Beispiele hierfür sind TRs erste Beteiligungsinitiative überhaupt: darf ich grad mal was sa: gen1 (Z. 455) und TRs erstmalige Nennung der EG-Studie: es gibt ne ganz interessante neue Untersuchung * -rdarf ich sie sagen]*— (Z. 882-884). 44 Dieser Zug, durch eigenen manifesten Verzicht den offiziellen Gesprächsleiter zu seinem Anwalt zu machen, funktioniert mehrfach: Zum einen in der bereits zitierten Stelle, als FU TR erstmalig Rederecht zuweist und dabei explizit die bisherige Zurückhaltung TRs als „interaktive Investition” thematisiert, die sich nun gewinnbringend auswirken kann/ soll. Zum anderen in Situationen, in denen TR mit einer offenen, von den anderen verhinderten Initiative steckengeblieben ist. Hier wirft sich FU stellvertretend für TR in die lokale Aushandlung und weist auf eine noch offene Initiative TRs hin und verhilft damit TRs Initiative doch noch zum Durchbruch (Z. 895 lassen se doch mal das gegenargument von herrn troschke). Drittens manifestiert sich die Funktionsweise dieses Zuges als TR auf KRs permanentes Pressing mit einem expliziten und expandierten Ordnungsruf reagiert und diesen auf ein angemessenes Verhalten festzulegen versucht. Diese Thematisierung greift FU explizit als Rüge an den Moderator auf und redet als TRs Sprachrohr - KR ins Gewissen. Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 101 zur Durchsetzung eigener Initiativen den Gesprächsleiter zum Sachwalter seiner Darstellungsrechte. Indem sich TR in der Regel aus dem kleinschrittigen lokalen Kampf um die Redegelegenheiten heraushält und FU dazu bringt, für ihn Darstellungsmöglichkeiten zu sichern, ist mit der dann erfolgenden Redezuweisung immer eine besondere Relevanzsetzung verbunden. TR ist z.B. dann nicht gezwungen, sich in einer Überlappung sowohl auf die Etablierung als Sprecher als auch auf die verstehbare Produktion seines Beitrages zu konzentrieren. Er kann zumeist ungestört formulieren und weiß sich darüber hinaus der Aufmerksamkeit seiner Zuhörer sicher. b) TR realisiert eine Reihe korrigierender, kritischer und widersprechender Kommentare. Diese sind zum überwiegenden Teil auf Äußerungen von KR bezogen (ca. 75%) und sind nicht darauf ausgelegt, den aktuellen Sprecher, auf den der Kommentar bezogen ist, aus seiner Rolle zu verdrängen. TR reagiert mit seinen Kommentaren in der Regel analytisch plaziert auf relevante Aspekte der Partneräußerung. Es gibt nur eine Stelle im Kontext der Schlußrunde, in der TR mittels eines Kommentars in Listenkonstruktion KR ernsthaft in seiner Äußerungsentwicklung stört und diesen zu einem Ordnungsruf veranlaßt: jetzt lassen sie mich bitte auch mal ausreden nachdem sie ja * vorher eben hier auch gelegenheit hatten la”nge ohne meine einwände zu sprechen. Von dieser Kommentartätigkeit abgesehen hat TR eine deutliche Präferenz für weniger, dafür aber längere und unangefochtene Darstellungsgelegenheiten (Z. 2964-2967 im Gesamttranskript). c) Ein wesentlicher Aspekt seines thematischen Repertoires sind dabei Verweise auf glaubhafte, methodisch abgesicherte Untersuchungen (an denen er teilweise selbst beteiligt war) und der Bezug auf Konferenzen, an denen er ebenfalls teilgenommen hat. 45 Dieser thematische Aspekt spielt zusammen mit den bereits angedeuteten impliziten und expliziten Formen der Selbstpräsentation als kompetenter Wissenschaftler eine wesentliche Rolle für das Signalisieren von TRs Beteiligtenstatus. Auch für die Beziehungskonstitution insgesamt und seine Relation zu den anderen Beteiligten spielt dieser Professionshintergrund neben den interaktiven Verhaltensaspekten für eine negative oder positive Grundtypisierung eine wesentliche Rolle. Es ist nicht zufällig, daß TR gerade mit KR, dessen Beteiligtenstatus nicht über eine vergleichbare sozialwertige Berufs- oder 45 Vgl. die folgenden Stellen: - 455 - 457: ja herr krause sie ham die ganze zeit doch schon gere: det[ - 655 - 658: darf ich/ la”ssen sie mich vielleicht mal ausre: den1 - 679: darf ich ausreden^ - 1899-1912: -^warum reden sie eigentlich immer weiter wenn jemand anders redetj*— ich hat noch nie” in meinem ganzen leben eine solche fernsehsendung mitgemacht wo u”nunterbrochen * bestimmte leute * wenn jemand anders * auch nur mal a”nfängt was zu sagen * immer weiter redet ** ich * kann mir überhaupt nich vorstellen daß man: * das am fernseher * überhaupt verste”hen kann was das so”lft** lassen sie doch mal * irgendjemand mal au”sreden{** 102 Werner Kaümeyer/ Reinhold Schmitt Expertenrolle definiert ist, die klarste Gegnerschaft eingeht. Insgesamt realisiert TR drei an KR adressierte Ordnungsrufe bzw. direkte Verhaltensthematisierungen, die sich auf die Weise der interaktiven Präsenz beziehen. 8.3 Interaktionsstile als Legitimationsrahmen Die beschriebenen interaktiven Beteiligungsweisen sind längerfristig stabile und insofern die Einzelsituation übergreifende Verhaltensaspekte. Ihre Aneignung und ggf. auch spezifische Ausprägung sind das Ergebnis eines Prozesses der Erfahrungssedimentierung. Individuen bilden im Laufe ihrer Interaktionsbiographie ihnen gemäße Formen interaktiver Präsenz aus, wobei sich die Sedimentierung und Organisation hauptsächlich nach Erfolgs- und Mißerfolgskriterien strukturiert. In ihrer Grundstruktur sind sie soziale Aktivitätsmuster. Durch die eingangs angedeutete Einordnung dieser Beteiligungsweisen in den Rahmen von sozial bedeutsamen Interaktionsstilen gewinnen die Akteure ein wesentliches Legitimationspotential für ihre lokalen forcierenden Aktivitäten, das umso wichtiger ist, als es, einmal eingeführt, nicht immer wieder neu im Verlauf kleinschrittigen Reagierens aufeinander (Forcieren und Kontern) etabliert werden muß und relativ große Spielräume schafft. Das mit dem Bezug auf Interaktionsstile verbundene Legitimationspotential hat unterschiedliche Aspekte: - Zum einen schafft der Interaktionsstil mit der wahrnehmbaren Konsistenz des Verhaltens, ggf. situationsübergreifend, eine Interpretationsgrundlage für die Rezipienten. Das Verhalten des anderen wird erwartbar, handhabbar, und seine lokalen Aktivitäten sind in übergreifende Zusammenhänge einzuordnen („So ist er eben, aber man kann damit umgehen, ansonsten ist er kein schlechter Kerl”). - Zum anderen werden Interaktionsstile von den Betroffenen immer auch an Eigenschaften der sozialen Identität gebunden, u.a. an Rolle und Status. In diesem Sinne sind die unterschiedlichen Stile der Kontrahenten verknüpft mit dem Selbstverständnis des rationalen und auf Aufklärung orientierten Wissenschaftlers einerseits und andererseits mit dem Selbstverständnis desjenigen, der als Außenseiter in den engeren Kreis der relevanten Öffentlichkeit und der politischen Macht eindringen will. 9. Fazit: Forcierende Verfahren im Gesprächsprozeß Die Analyse hat deutlich gemacht, wie die Kooperationsweise des Forcierens als Mittel der Problem- und Konfliktbearbeitung eingesetzt wird, welches Potential für Durchsetzungsanstrengungen forcierende Verfahren haben und welche Gefahren für die Interaktionsdynamik daraus erwachsen können. Die Analyse hat auch gezeigt, daß legitimierende Kontextua- Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 103 lisierungen konstitutiver Bestandteil der Anwendung forcierender Verfahren sind und daß sie die Inderaktionsdynamik mit prägen. Nicht nur für öffentliche Diskussionen ist charakteristisch, daß die Kontrahenten einerseits jeweils die Aktivitäten eines Kontrahenten zum Anlaß nehmen für reaktives Forcieren und andererseits sich auf einen übergreifenden Rahmen ihrer sozialen Rolle und ihrer Handlungsmaximen in einer Weise beziehen, die sie gegen die Angriffe des anderen weitgehend immunisieren. In dieser doppelten Kontextualisierung der forcierenden Züge wird zum einen ein allgemeines Merkmal von strittigen Auseinandersetzungen um Meinungen und Interessen sichtbar: Durchsetzungswillen und Reaktionszwang führen sehr schnell zu einer Symmetrie der wechselseitigen Übergriffe, wobei die Akteure offensichtlich ein sehr genaues Gefühl für die Balance von Angriff und Gegenangriff haben; und die Interaktionsdynamik bringt aufgrund des Legitimationsbedarfs Definitionen situationsübergreifender, sozialstilistisch bedeutsamer Handlungsweisen hervor (die Auseinandersetzung wird „grundsätzlich”)- Zum anderen hat die Komponente der Legitimation durch situationsübergreifende, gesellschaftlich etablierte Handlungsweisen in der öffentlichen Situation spezifisches Gewicht und wird von den Beteiligten von Anfang an und mit großem Aufwand in Szene gesetzt: Die Situation zwingt sie zur Selbstdarstellung. Hier liegt offensichtlich auch ein wichtiges Regulativ. Keiner der Beteiligten fällt einfach aus der Rolle, wenn auch sowohl TR als auch KR den Spielraum, den das Interaktionsschema der öffentlichen Diskussion in der vom Moderator vertretenen und kontrollierten Variante bietet, bis an den Rand ausschöpfen. Daß aus der Sicht des Moderators die Grenze des Tolerierbaren punktuell überschritten wird und er sich veranlaßt sieht einzugreifen, hat offensichtlich damit zu tun, daß die Kontrahenten in der sich aus der Situation heraus entwickelnden Dynamik des Forcierens gefangen sind. Schließlich zeigt die Analyse, daß und wie die Auseinandersetzung um unterschiedliche Normalformvorstellungen Bestandteil der Kontroverse ist. In diesem Sinne kann an der Fernsehdiskussion ein Stück Mikropolitik verfolgt werden, bei der es um die soziale Geltung nicht nur von inhaltlichen Positionen, sondern auch von Interaktionsstilen geht, die mit den Positionen verbunden sind. Die spezifischen Eigenschaften des Durchsetzungsverhaltens von TR und KR spiegeln die unterschiedlichen Bedingungen des auf der Bühne des öffentlichen Diskurses Etablierten und des Eindringlings für die Selbstetablierung als relevanter Akteur. Stilfragen sind hier politische Fragen. 104 fVerner Kallmeyer/ Reinhold Schmitt 10. Literatur Apeltauer, Ernst (1977): Elemente und Verlaufsformen von Streitgesprächen. Münster. Aronsson, Karin (1991): Facework and control in multi-party talk: A paediatric case study. In: Markova, Ivana/ Foppa, Klaus (eds.): Asymmetries in Dialogue. Hempstead. S. 49-74. Auer, Peter (1986): Kontextualisierung. In: Studium Linguistik 19. S. 22-47. Barloewen von, Constantin/ Brandenberg, Hans (1975) (Hg.): Talk Show. Unterhaltung im Fernsehen = Fernsehunterhaltung? München/ Wien. Basso, Keith H. (1972): ’To give up on words’: Silence in western apache culture. In: Giglioli, P.P. (ed.): Language and social context. Harmondsworth. S. 67-86. 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Anhang Transkript: Raucher 1941-2146 (TRs Fragespiel und die Folgen) 1941 KR: 1942 TR: 1943 KR: 1944 TR: 1945 TR: 1946 TR: 1947 TR: 1948 TR: 1949 TR: 1950 TR: 1951 TR: 1952 TR: 1953 TR: 1954 TR: 1955 TR: 1956 TR: 1957 TR: 1958 TR: 1959 TR: 1960 KR: 1961 TR: 1962 KR: 1963 KR: 1964 KR: 1965 KR: 1966 KR: »auch auch< industriej. * sondern da auch bei sich se'Tber anzulangen RÄUSPERT SICH ** a"ber * auf der anderen seite glaube ich ** ahnt * wenn mein andere * zu einem gesu"ndheitsbewußteren verhalten bringen will ** »da muß man vor allem überzeugend sein ** und zwar durch sein ei"genes verhalten|< ** und * überzeu"gend sein * in der berei"tschaft * den andern * i"n seinem verhalten ** ernst zu nehmen * zu akzeptieren[ * — ► sich auf ihn ei”nzulassen<— * und dem andern seine argumente * ernst zu nehmen * anso"nsten * ist es ni"chts weiter * als pu"re polemik * die man als sel"bstzweck machen kann * aber die nü"scht bewirkt * oder —mnd das find ich das problemi— *2* genau das ge"genteil bewirkt * und ich kann mir vo"rstellen * daß durch die" art und weise * wie sie" dieses thema behandeln * wenn sie das als leh"rer in der schule behandeln * daß sie die jugendlichen eher dazu bringen * ge"genabhängig * pubertä: r * mit dem rauchen * a"nzufangen ** als * sie davon überzeugen * äh herr troschke »— ► mit dem rauchen gar nicht erst anzufangen«—< wenn sie eben hier * an meinen schu"lleiter en antrag stellen * dann gibt er ihnen vielleicht auch gelegenheit meinen Unterrichtsstunden beizuwohnenj. * vielleicht dann auch zu sehen * wie ich das thema rauchen behandle]. * wir sind hier nicht hier zu da * wie in einer schule * 1967 KR: in der ich als lehrer hier * Schüler unterrichten muß] * 110 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmitt 1968 KR: 1969 TR: 1970 XM: 1971 KR: 1972 XM: 1973 KR: 1974 KR: 1975 KR: 1976 KR: 1977 KR: 1978 KR: 1979 KR: 1980 KR: 1981 KR: 1982 KR: 1983 KR: 1984 KR: 1985 KR: 1986 KR: 1987 KR: 1988 TR: 1989 KR: 1990 XM: 1991 KR: 1992 TR: 1993 KR: 1994 TR: 1995 TR: 1996 TR: 1997 KR: 1998 TR: zum thema rauchen! zum andern * glaub ich >( ■■■ ) ihrer meinung< RÄUSPERT gehen sie" am thema der Sendung hier vorbei: * SICH die Sendung heißt ja * äh * jedem seine Zigarette * oder * raucher raus * es heißt * —»es geht also<— kon/ äh wirklich bloß um den * ni"chtraucherschutz * es geht jetzt nicht mal darum * junge leute vom rauchen abzuhaltenj * es geht um ni"chtraucherschutz * und ich muß halt sagen * wer raucht * verbrei: tet * gesundheits: schädlichen gesta: nk * es gibt sowohl eine schä/ Schädigungskomponente * als auch * eine beiästigungskomponente * wenn * sie" * acht stunden am tag * auf toilette arbeiten müßten » — ► denn da stinkt=s auch<— * dann würden sie sich auch dagegen zur wehr setzenj wenn ein ni"chtraucher in einem verqualmten raumj * —>in einem raum in dem geraucht wird*— a"cht stunden arbeitszeit verbringen mußj * dann möchte er eben hier auch * das: nicht mehr- * dulden müssenj * darum geht=sj. * und wir möchten also auch nicht in den ga"ststätten angeraucht RÄUSPERT SICH werdenj ** wi r möchten auch unsere- * unsere spei"sen- * unsere getränke- * oh"ne diesen gesta: nk verzehren! — ► da >bitte< hab ich=n schönes Untersuchungsergebnis«— aus dieser e: ge: Studie * was meinen sie- * wieviel prozent- * der bundesrepublikanischen bevölkerung * sich durch * ATMET EIH herr troschke * pa"ssivrauchen belästigt fühlen! * Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 111 1999 SB: 2000 KR: 2001 TR: 2002 WI: 2003 SB: 2004 KR: 2005 KR: 2006 KR: 2007 TR: 2008 KR: 2009 TR: 2010 XM: 2011 KR: 2012 KR: 2013 KR: 2014 KR: 2015 KR: 2016 KR: 2017 KR: 2018 KR: 2019 KR: 2020 KR: 2021 KR: 2022 SB: 2023 KR: 2024 TR: 2025 KR: 2026 BR: 2027 K 2028 TR: 2029 SB: 2030 KR: 2031 BR: 2032 K 2033 TR: wieviel! wissen sie was! fol/ jetzt is folgendes sie haben vo"rher >was meinen sie< zehn Prozent ia: ! von von * von zah: len gesprochen die wir nns so um die obren * werfen * heim gesagt des is alles nichts ** ich kann ihnen zum Beispiel sagen * daß das zed=de=ef beantworten sie doch mal das moment * —»ich kann ihnen zum beispiel sagen meine fra"ge> ja ja daß das zed=de=ef ].<— * gesundheitsmagazin praxisj * eine Umfrage gemacht hat * de"r ** noch andere Umfragen gefolgt sind * wonach sich a"chtundsiebzig komma fünf Prozent der ni"chtraucher * e"twas * stark * oder seh"r stark * durch Zigaretten pfeifen oder tabakqualm * belästigt gefühlt habenj * und wenn sie" jetzt mit einer Untersuchung ko"mmenj * dann weiß i"ch zum beispiel ni"cht * we"r sie finanziert hat * dann weiß ich zum beispiel ni"cht * wie sie durchgeführt w/ * wird * denn sie harn ja vorher schon darauf hingewiesen * es kommt ganz drauf an * wie mein die einleitenden fragen LACHT stellt * hier wollen wer gleich zu dem kommen was ich was mhm sie haben etwas gelernt freut mich ich was ich was ich in der schu"le gemacht habe herr #genau": genau: # des is herrlich a"ch ja das ist «LACHEND # >er hat was LACHT KURZ troschke ich habe ganz einfach ** ein blatt schö: n «weiter herr krause «LACHEND gelernte 112 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmitt 2034 KR: ein fragebogen ausgearbeitet * auf dem * wird überhaupt 2035 BR: weiter weiter# 2037 KR: ni”cht Stellung genommen * zu der frage * wie kommen 2038 KR: sie zum rauchen * oder soundsoviele leute rauchen * 2039 KR: warum tun sie=s auch * sondern da wird einfach bloß 2040 KR: gefragt * rau"chen sie * ja oder nein * wenn ja * warum * 2041 KR: ham sie schon mal das rauchen aufgeben wollen * das 2042 KR: heißt hie"r is einfach ne abfrage * ohne daß ich äh * 2043 KR: vorher irgendwie ein Statement habe * um die leute 2044 KR: zu beeinflussen! 2045 BR: <wissen sie wo der 2046 TR: HOLT LUFT herr krause * sie mögen vielleicht von 2047 BR: fragebogen he"r ist! können sie mir da irgendwie mal 2048 TR: ihrer berufsschultätigkeit was verstehen 2049 BR: herrherrherr krause —»darf ich das-«—> 2050 TR: aber von empirischer Sozialforschung 2051 KR: ja 2052 TR: verstehe i"ch was —>das is nämlich wiederum mal mei"n lob 2053 KR: nur * dann darf ich ihnen auch vielleicht eben hier den 2054 TR: aber ei"ne aussage ich hatte sie 2055 KR: junge vom bundesgesundheitsamt * zitieren 2056 TR: was gefra: gt also herr krause * 2057 FU: keine stat/ keine Seminare über 2058 KR: das sieht ganz cinders aus 2059 TR: ich hatte sie was gefragt- 2060 FU: statistische methodenlehre heute abend iaT< 2061 TR: ich hatte sie etwas gefragt und 2062 FU: ich würde Vorschlägen sie geben uns einfach 2063 TR: sie haben etwas ga"nz anderes wieder mal erzählt| 2064 FU: die antwort * denn- 2036 K # 2065 SB: 2066 KR: 2067 BR: 2068 TR: LACHT is LACHT VERHALTEN ja sie können mich nicht Forcieren oder: Die verschärfte Gangart 113 2069 KR: 2070 KR: 2071 TR: 2072 KR: 2073 TR: 2074 KR: 2075 TR: 2076 KR: 2077 WE: 2078 KR: 2079 WE: 2080 KR: 2081 WE: 2082 KR: 2083 WE: 2084 K 2085 KR: 2086 TR: 2087 KR: 2088 TR: 2089 KR: 2090 TR: 2091 KR: 2092 FU: 2093 KR: 2094 BR: 2095 TR: 2096 FU: 2097 BR: 2098 TR: 2099 FU: 2100 SB: 2101 TR: 2102 FU: 2103 TR: fragen was sie/ sie fragen mi"ch * wer * — ► welches ergebnis ne bestimmte Studie ergeben gegeben hat«— <dann ja ich meine: ich v/ versuche habe dann habe i"ch dann habe ich ihre so"ziale kompetenz zu testen ** und die scheint sehr dann habe ich> * dann habe ich nichts gering zu sein anders gesagt/ als das ergebnis einer Studie zu zitieren aber sie herr ( ■■ ) sie sind auch nicht anders als der die i"ch kenne herr krause herr von trosch/ sie machen nur den * den * >mehr nicht< er macht nur den * den * äh * den/ des * schaf * im * wissen sie * herr * herr tro"schke #im Wolfspelz# ** ahm «LACHEND # wenn (sehr? ) * wenn sie" sie haben vorher gesagt >schaf im wolfsfellt< ich hab zwar ne <sie sind sie sind ge"rn * pa"ssivraucher> <le"derjacke anj> * aber das is äh: rehleder wenn sie ge"rn pa"ssivraucher sind * kann ich auch ih"re LACHT LEICHT einstellung * zum ni"chtraucherschutz verstehen! * s i® halten nämlich ni"chts davon! eich würde jetzt gerne >herr krause herr krause< ne ne das hat hat wiederum noch die antwort> auf diese * auf diese von ihnen (•• ■ ? (•• ■ ) ja überhaupt nichts damit zu tun selbst gestellte frage noch anfordern * wieviel prozent ja ja der bevölkerung- — ► ( ■■■ ) auCerordentlich interessantes is/ ich möchte 114 Werner Kallmeyer/ Retnhold Schmitt 2104 FU: 2105 TR: 2106 TR: 2107 TR: 2108 TR: 2109 TR: 2110 TR: 2111 TR: 2112 TR: 2113 KR: 2114 TR: 2115 KR: 2116 TR: 2117 KR: 2118 KR: 2119 KR: 2120 KR: 2121 KR: 2122 KR: 2123 KR: 2124 KR: 2125 KR: 2126 KR: 2127 TR: .2128 KR: 2129 KR: 2130 TR: 2131 FU: 2132 KR: 2133 TR: 2134 XK: fühlen sich durch * als nichtraucher belästigt! ei"ns noch dazu sagen was das für eine Studie ist| * es ist eine studiej * die im programm der europäischen gemeinschaftj * europa gegen den krebs ** in allen zwölf mitgliedsländern gemacht wurdej * mit dem glei"chen fragebogen * und danach * —»und das fand ich sehr interessant»— ist die bu"ndesrepublik * das land * in dem die * wenigstens * menschenj * sich durch passivrauchen belä"stigt fühlenj * nämlich HOLT LUFT herr troschke dieses zweiundzwanzig prozent * und die dritte bayerische programm * fernsehprogramm * hat vor * frage ist im letzten jahr * eine Sendung gemacht der direkte draht * mein konnte anrufeni * wer nun für das eine für (menge) * ni"chtraucherschutz ist * oder w/ wer nicht dafür istj ** zwei drittel * der anrufer haben sich dafür entschieden * mehr nichtraucherschutz * ein drittel raucher * —»entspricht dem etwa dem Verhältnis der raucher«— * zweitens * wir haben eben hier meh"rere telefonische Umfragen gemacht * äh das heißt nicht wir * sondern eben hier * äh sowohl als bayern drei * als auch eben hier * der süddeutsche rundfunkj, ergebnis war * daß etwa a"chtzig HOLT LUFT prozent der anrufe * gesagt haben * sie möchten * meh"r nichtraucherschutz * sie sind dafür daß * die nichtraucher aber das sind das >ja< nicht mi"trauchen müssen ja * dann sehen sie sind doch Leserbriefermeinungen >genau< Forcieren oder: Die verschärfle Gangart 115 2135 KR: 2136 WE: 2137 XM: 2138 FU: 2139 KR: 2140 WE: 2141 K 2142 FU: 2143 BR: 2144 XM: 2145 FU: 2146 WE: auch schon wie sie mit ihrer/ mit ihren zweiundzwanzig Prozent können wir auch schon wieder was (geben) <ja> (•••) +erstens ich werde jetzt/ ich werde jetzt eine liegen! LACHT #>glaub ich auch<# #LACHEND # kleine Zensur machen[ * <meine herren lassen sie bitte herr krause ich möchte eine frage ( ) nei"n> ich mu"ß jetzt eine Zensur machen * ich glaube gut 116 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmitt Die nachfolgende Auflistung zeigt im Überblick die Gesamtaktivitäten der beiden Kontrahenten. Die einzelnen chronologisch geordneten Züge und die erkennbaren Rekurrenzmuster zeigen im Vergleich deutlich die unterschiedlichen Interaktionsstile der beiden Diskussionsgegner. Überblick über den Interaktionsstil von KR: 01) 02) 03) 04) 05) 06) 07) 08) 09) 10) 11) 12) 13) 14) 15) 16) 17) 18) 19) 20) 21) 22) 23) 24) 25) 26) 27) 28) 0125 - 0147 Erstbeitrag mit expliziter Bewertung des Beitrags von WI als „falsch” 0158 - 0186 Korrektur von BR „typisch auch falsch” 0193 - 0213 turn-Beanspruchung mit Adressierung BR 0220 - 0229 direkte Reaktion auf SB, Beharren gegen Widerstand 0235 - 0247 direkte Reaktion auf SB 0300 - 0303 irritierender Kommentar (WI) 0343 - 0353 Korrektur von WI 0386 - 0431 irritierender Kommentar (WI etab. Sp.) hartnäckiges Beharren gegen Widerstand 0451 - 0472 ironischer Kommetar, verhindert TRs Etablierung 0490 irritierender Kommentar (WI) 0522 - 0528 konkurrierende Selbstetablierung, Ordnungsruf von BR 0560 - 0605 konkurrierende Selbstetablierung, Beharren gegen Widerstand von WI und BR 0647 - 0662 irritierender Kommentar, explizite Korrektur von TR; Ordnungsruf von TR 0676 - 0696 irritierende Kommentare (TR) 0702 - 0704 irritierender Kommentar (TR) 0707 - 0709 störende Mitarbeit (TR) 0718 - 0746 konkurrierende Selbstetablierung, verdrängt TR als etablierten Sprecher 0751 - 0764 konkurrierende Selbstetablierung (WI) 0776 - 0778 turn-Beanspruchung, schneller Anschluß (WI) 0793 - 0817 Selbstetablierung aus exp. Rückmeldung an SB 0825 - 0870 konkurrierende Selbstetablierung (BR), Beharren gegen Widerstand 0877 - 0893 konkurrierende Selbstetablierung (TR), Beharren gegen Widerstand 0913 - 0915 Schätzung bei 1. Ratespiel 1138 - 1141 turn-Beanspruchung 1311 - 1315 irritierender Kommentar zu EU 1443 - 1470 schneller Start, Unterbrechung von WE, Beharren im Durcheinander 1494 - 1510 nimmt WI das Wort ab, Beharren 1522 - 1527 konkurrierende Selbstetablierung, harter Widerspruch (WI) Forcieren oder: Die verschärße Gangart 117 29) 1542 - 1544 irritierender Kommentar (WI) 30) 1552 - 1555 irritierender Kommentar (WI) 31) 1571 turn-Beanspruchung (WI) 32) 1578 - 1580 irritierender Kommentar (WI) 33) 1595 - 1600 irritierender Kommentar (WI) 34) 1657 markierter harter Widerspruch (WI) 35) 1677 - 1683 turn-Beanspruchung (WI) 36) 1689 Kommentar zu FU 37) 1711 - 1775 konkurrierende Selbstetablierung (WI), Beharren gegen Widerstand 38) 1809 turn-Beanspruchung (WI) 39) 1842 - 1849 negative Verhaltenskritik an WI 40) 1877 korrigierender Kommentar (TR) 41) 1887 - 1889 turn-Beanspruchung 42) 1892 - 1906 konkurrierende Selbstetablierung 43) 1940 - 1941 irritierender Kommentar (TR) 44) 1960 - 1991 schneller Anschluß an TR 45) 1993 explizite turn-Ratifikation 46) 1997 - 2094 Selbstetablierung, Behauptung gegen massiven Widerstand bis Außerungsabschluß 47) 2114 - 2140 konkurrierende Selbstetablierung; nimmt TR das Wort ab; Beharren bis Außerungsabschluß 48) 2242 - 2248 Kommentar zu WI 49) 2360 ironischer Kommenntar zu SB 50) 2378 unterstützender Kommentar für WE 51) 2437 Ordnungsruf an SB zugunsten WEs 52) 2475 - 2485 schneller Anschluß an FU 53) 2495 - 2504 turn-Beanspruchung in Außerungsprojektion von BR 54) 2571 irritierender Kommentar zu TR 55) 2604 irritierender Kommentar zu TR 56) 2618 - 2625 irritierender Kommentar zu TR 57) 2633 - 2635 zustimmender Kommentar zu TR 58) 2801 - 2812 konkurrierende Selbstetablierung, Korrektur von WI 59) 2914 - 2986 konkurrierende Selbstetablierung (Schlußrunde) 60) 3008 - 3010 korrigierender Kommentar zu WI 61) 3022 - 3024 korrigierender Kommentar zu WI 62) 3036 - 3038 irritierender Kommentar zu WI 63) 3050 - 3058 irritierender Kommentar zu WI 64) 3067 - 3084 konkurrierende Selbstetablierung; explizite Negativbewertung WIs 118 Werner Kallmeyer/ Reinhold Schmitt Überblick über den Interaktionsstil von TR: 01) 0445 - 0447 erster Beteiligungsversuch 02) 0612 - 0721 KR nimmt ihm das Wort ab 03) 0872 - 0880 Kritik an KR als Lehrer und Gesprächspartner 04) 0882 - 0884 EG-Studie erster Versuch 05) 0897 - 0994 EG-Studie zweiter Versuch 06) 1293 turn-Beanspruchung; Verzicht 07) 1341 - 1381 Frage an WE 08) 1397 - 1401 irritierender Kommentar zu WE 09) 1451 - 1453 kritischer Kommentar zu KR 10) 1464 - 1468 Kommentar zu KR 11) 1557 - 1561 unterstützender Kommentar zu WI 12) 1734 - 1738 negativer Kommentar zu KR 13) 1757 - 1759 irritierender Kommentar zu KR 14) 1868 - 1961 Frage nach KRs Motivation; expandierter Ordnungsruf 15) 1992 - 2001 EG-Studie, Fangfrage an KR 16) 2007 Insistieren gegenüber KR 17) 2025 - 2034 irritierender Kommentar zu KR 18) 2047 - 2076 Insistieren, Kritik an KR 19) 2087 - 2091 Schaf im Wolfsfell, Reaktion auf WE 20) 2102 - 2117 EG-Studie Ergebnis 21) 2118 - 2134 irritierender Kommentar zu KR 22) 2517 - 2523 turn-Beanspruchung; Verzicht 23) 2543 - 2675 langer und harter Kampf ums Rederecht 24) 2699 - 2712 Reaktion auf WE 25) 2729 zustimmender Kommentar zu WE 26) 2755 - 2759 Kommentar zu WE 27) 2772 - 2775 Kommentar zu WE 28) 2844 - 2848 turn-Beanspruchung 29) 2857 - 2906 schneller Anschluß an WE 30) 2921 Kurzkommentar zu KR 31) 2925 - 2931 zustimmender Kommentar zu KR 32) 2937 - 2944 klarstellender Kommentar zu KR 33) 2948 - 2962 irritierende Kommentare 34) 3065 - 3069 Intentionsunterstellung (KR) 35) 3081 - 3083 irritierender Kommentar zu KR WOLFDIETRICH HARTUNG wir könn=n darüber ruhig weitersprechen bis mittags wenn wir wollen Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen durch das Ausdrücken von Gereiztheit 1 1. Das Problem 120 2. Begrifflichkeit und Einordnung 124 2.1 Perspektivität 124 2.2 Emotionalität 133 2.3 Erkenntnisziele 140 3. Ausdrucksphänomene 142 3.1 Prosodischer und nonverbaler Ausdruck von Gereiztheit 143 3.2 Im engen Sinne verbaler Ausdruck von Gereiztheit 151 4. Gereiztheit in der verbalen Interaktion 161 4.1 Die Konstitution von Gereiztheit 162 4.2 Das Umgehen mit Gereiztheit 169 4.2.1 Perspektiven-Divergenzen, Diskrepanzen, Konflikt 169 4.2.2 Das Beispiel „Diskussion zur Tagesordnung” 175 4.2.3 Das Beispiel „mach doch mal n=paar Vorschläge” 179 5. Schlußbemerkung 187 6. Literatur 189 1 Eine frühere Fassung dieses Beitrags entstand bereits 1991. Seine heutige Form hat er in Diskussionen mit den Mitarbeitern der Abteilung „Verbale Interaktion” des IdS Mannheim angenommen. Für Hinweise danke ich insbesondere Werner Nothdurft und Reinhold Schmitt. 120 Wolfdietrich Hartung Abstract Kommunikatives Handeln ist notwendigerweise perspektivisch. Es wird durch die Stand-Orte der Kommunizierenden in ihren jeweiligen „Welten” geprägt. Die dadurch bedingten Perspektiven-Divergenzen können entsprechend den spezifischen Bedingungen und Zielen einer Kommunikation bearbeitet und reduziert oder relativiert werden. Bestimmte Fälle der Nicht-Beachtung (Vergeblichkeit) solcher Bearbeitungen können dazu führen, daß sich bei einzelnen Teilnehmern emotionale Zustände (z.B. Gereiztheit) aufbauen. Perspektiven-Divergenzen können auf diese Weise (besser) erkennbar und auch bearbeitet werden. — Im Beitrag wird neben allgemeineren Ausführungen zu Perspektivität, Perspektiven-Divergenzen und Emotionalität untersucht, welches die Ausdrucksphänomene sind, die auf Gereiztheit schließen lassen, wie Gereiztheit zu einem Faktum in einer interaktiven Situation wird und wie sich die Teilnehmer dazu verhalten. 1. Das Problem Die in der Überschrift zitierte Äußerung fiel Anfang 1990 auf einer über die Medien direkt übertragenen Sitzung des Zentralen Runden Tisches in Berlin, jenes offiziellen Gremiums, das in den Monaten nach der Wende in der DDR verschiedene gesellschaftliche Interessengruppen und insbesondere auch Vertreter der Bürgerbewegung vereinte und damit eine wichtige Aufgabe bei der Begleitung und Kontrolle der Übergangsregierung unter Modrow sowie bei der Vorbereitung auf die freie Wahl einer neuen Regierung übernommen hatte. Wenn wir eine solche Äußerung hören, haben wir mehrere Möglichkeiten, sie zu deuten. Wir können sie ganz naiv als Hinweis darauf verstehen, daß uns viel Zeit für eine ruhige Debatte bleibt. In den meisten Situationen dürfte diese Deutung freilich nicht sehr wahrscheinlich sein. Wir wissen aus unserer allgemeinen Erfahrung, daß Debatten häufig unter Zeitdruck stattfinden - oder daß Zeitdruck als billiger Yorwand herhalten muß - und daß eher auf diesen Umstand als auf einen Überfluß an Zeit hingewiesen wird. Tatsächlich können wir die Äußerung auch von vornherein genau entgegengesetzt deuten: daß uns nämlich nicht mehr viel Zeit bleibt. Sie wäre dann ironisch gemeint und natürlich eine Übertreibung, ein ärgerlicher Hinweis auf die Verschwendung von Zeit. Im oben zitierten Beispiel hat sich einer der drei Moderatoren des Runden Tisches so geäußert, also jemand, der spezifischen Verpflichtungen in bezug auf sein gesprächslenkendes Verhalten nachkommen muß. Auch für diesen Fall wären im Prinzip noch beide Deutungen zulässig. Spätestens an der besonderen Intonation erkennen wir aber, daß der Moderator den Hinweis auf die zur Verfügung stehende Zeit von seiner übrigen Rede irgendwie abhebt, ihn in einen Kontrast zu ihr setzt. Wir schließen daraus, daß er ihn kaum „wörtlich” gemeint haben kann oder verstanden wissen will. Eine solche „nicht-wörtliche” Deutung läuft möglicherweise unseren Erwartungen darüber, was ein Moderator sollte und nicht sollte, ein wenig zuwider. Auch wenn sich die aktuelle Bedeutung von der etymologischen mehr oder weniger entfernt haben mag, schwingt in unserem alltagsweltlichen Moderatoren-Konzept doch noch etwas von lenkendem Maß-Setzen, Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen 121 Mäßigung und Selbstbeherrschung mit. Aber vielleicht hat es im Vorfeld der Äußerung etwas gegeben, das uns das Abweichen von der Erwartung erklärbar macht. In der vorangegangenen Debatte hatte ein von der damaligen Bundesregierung vage in Aussicht gestellter Kredit von 15 Milliarden Mark für die noch bestehende DDR eine Rolle zu spielen begonnen. Die Vorbereitung auf die Behandlung dieses Punktes sollte aber zunächst in der Redaktionsgruppe des Runden Tisches erfolgen und nicht schon auf die Tagesordnung des Plenums gesetzt werden. Eine Diskussion in der Redaktionsgruppe hätte natürlich einen sehr viel geringeren Grad an Öffentlichkeit bedeutet und fand deshalb nicht die Zustimmung aller Anwesenden: 2 Tl: ja ich kann das nicht akzeptieren wenn über 3 "derart gravierende dinger äh dinge wie äh die * äh 4 Verteilung oder aufteilung von erwünschten fünfzehn 5 milliarden mark hier so mit "einem nebensatz 6 hinweggegangen wird und dann also "ein einziger Vorschlag 7 dazu gemacht wird ich denke "das bedarf doch wirklich 8 eines diskussionsprozesses und da hätten wir ja auch eine 9 ganze reihe Vorschläge noch wofür die verwendet werden 10 könnten ich nenne mal die Versorgung der bevölkerung mit 11 den dringendsten * konsumgütern äh * und zum beispiel die 12 Stabilisierung der Produktion * das sind äh dinge * 13 weswegen hier * leute das land verlassen es geht auch um 14 die Verbesserung der infrastruktur tun die verbesse/ um die 15 Verbesserung des dienstleistungsgewerbes es geht um 16 ökologische und energetische problems * und ick bin doch 17 der meinung da*rüber müßte main damn noch en detail reden 18 wofür solche gelder verwendet werden sollen! (Aufteilung fünfzehn Milliarden Mark) (Tl = Teilnehmer 1) Der amtierende Moderator (M) verweist daraufhin noch einmal auf seinen Standpunkt, daß dies erst von der Redaktionsgruppe vorbereitet werden müsse, und malt zugleich die seiner Ansicht nach unausweislichen Folgen eines anderen Herangehens aus: 19 M: herr: poppe * 20 ich habe gesagt das wird in die redaktionsgruppe verwiesen * 21 und * kommt damn wieder auf den "tisch * natürlich können wir 22 "jetzt gleich sagen * wir nehmen/ verhandeln dies dieses 23 ganze * paiket * dann wird jeder seine Vorstellungen bringen 24 können und dann ist die frage ob wir überhaupt noch * uns 25 einigen können * ich dachte es ist leichter * wenn das 122 Wolfdietrich Hartung 26 erst einmal in der redaktionsgruppe vorbedacht wird "aber 27 wir hören jetzt die gesichtspunkte ... (Aufteilung fünfzehn Milliarden Mark) Ein anderer Teilnehmer (T3) hält die Redaktionsgruppe mit dieser Aufgabe für überfordert: 36 T3: ... also "dieser Vorschlag den halt ich nicht tür 37 gangbar ich glaube auch nicht daß die redaktionsgruppe * 38 diese klippe nimmt um die sache hier hin"einzubringen ... (Aufteilung fünfzehn Millarden Mark) Damit hat sich folgende Situation herausgebildet: M will die aktuelle Debatte entlasten, TI will über den angekündigten Kredit en detail reden, und zwar im Plenum, T3 hält die Überweisung an die Redaktionsgruppe für ungeeignet. Alle drei Teilnehmer haben unterschiedliche, ja sogar konträre Perspektiven auf die in der laufenden Debatte zu lösenden kommunikativen Aufgaben. Entsprechend werten sie das, was gesagt wird, entsprechend organisieren sie ihre eigenen Redebeiträge. In genau dieser Situation reagiert M mit der eingangs zitierten Äußerung: 51 M: ... allerdings * möchte ich darauf hinweisen * 52 daß ja unter umständen die redadctionsgruppe durchaus zu der 53 erkenntnis kommen kann * worauf "wir uns wohl einlassen 54 wenn wir fünfzehn milliarden die noch nich mal bewilligt 55 sind vorneweg schon ver"teilen * könnte ja sein nicht * 56 aber wenn/ wir könn=n darüber ruhig weitersprechen bis 57 mittags wenn wir wollen ... (Aufteilung fünfzehn Milliarden Mark) Alltagskonzepte für die Charakterisierung dieser Art des verbalen Verhaltens (insbesondere in den Zeilen 56 und 57) sind etwa: M ärgert sich, M reagiert gereizt. Allgemeiner können wir das Verhalten auch so deuten, daß M in einen bestimmten negativen (eben ärgerlichen, gereizten) emotionalen Zustand hineingeraten ist, der ihn auf diese Weise verbal reagieren, d.h. eine Äußerung produzieren läßt, die genau das Gegenteil des „Gesagten” beinhaltet oder die die tatsächlich vorhandenen Zeitreserven maßlos übertreibt. Solche emotionalen Zustände können sehr unterschiedliche Ursachen haben. Sie können u.a. durch bestimmte vorausgegangene Punkte oder Phasen in der laufenden Interaktion ausgelöst sein; sie können ebensogut aber auch auf Vermutungen in bezug auf den Partner zurückgehen, also auf ein allgemeineres, nicht notwendig aktuell bestätigtes Hintergrundwissen zur Situation oder zu Personen, natürlich auch auf entsprechende Vorurteile. In solchen Fällen können Interessenbeeinträchtigungen sowie, wie im vorliegenden Fall, manifest werdende oder auch vermutete Perspektiven-Divergenzen zu wirken beginnen. Insofern überschneiden sich die beiden im vorliegenden Papier behandelten Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen 123 Teilthemen „Bearbeiten von Perspektiven-Divergenzen” und „Ausdrücken von Gereiztheit”. Sie können auch gesondert und unter anderen Gesichtspunkten betrachtet werden. Beziehen wir beide Themen aber aufeinander, können wir einerseits Fälle des Ausdrückens von Gereiztheit als ein Deutlichmachen von Perspektiven-Divergenzen behandeln und andererseits die grundsätzlich perspektivische Organisation verbaler Interaktion auch am Beispiel emotional gefärbter Rede zeigen. Bei der bisherigen Charakterisierung des Problems habe ich vorwiegend die Rolle des aufmerksamen und vom Situationsdruck entlasteten Beobachters unterstellt, der zudem das gesamte Gespräch und sein situatives wie soziales Umfeld kennt, der also immer auch schon weiß, was folgt. Abgesehen davon, daß uns dies in einen Erklärungszwang bringt, dem wir gar nicht so ohne weiteres gerecht werden können wir können ja nicht sagen, was die Interagierenden „wirklich” wollen und empfinden, wir können bestenfalls sagen (aber darum geht es nur teilweise), was wir wollen und empfinden, wenn wir gereizt sind, und was wir empfinden, wenn wir andere Teilnehmer auf eine bestimmte Art reagieren sehen - , befinden sich Teilnehmer in einer zumindest partiell anderen Lage. Ausgangspunkt ist für sie nicht einfach das Divergieren oder Konvergieren von Bildern, die sie wechselseitig von sich haben, oder von Unterstellungen, die wechselseitig gemacht werden. Zunächst haben sie vor allem ein Bild von sich selbst und von ihrer Aufgabe in der laufenden Kommunikation, dann aber auch von jenem Bild, das die interagierende Gruppe, als Gesamtheit oder gebunden an einzelne Mitglieder, von ihnen hat. Auf ein solches Bild, oder auf die Menge von Bildern, beziehen sie alles, was sie wahrnehmen; dies ist der Punkt, von dem aus sie entscheiden, was sie tun. D.h., Perspektivität reduziert sich für die Teilnehmer nicht auf eine Eigenschaft von Äußerungen, sie ist vielmehr der Zustand, in dem sie kommunizieren. Emotionalität reduziert sich nicht auf ein analytisch gefaßtes Reagieren auf ein vorangegangenes Ereignis, sie ist vor allem ein Ausdruck oder ein Kundtun jenes Zustandes der Perspektivität in bezug auf die Bedingungen der laufenden Kommunikation. Sie ist ein Bewerten der aktuellen Befindlichkeit in diesem Zustand. Emotionalität kann zum Ausdruck bringen, wie sich Perspektivität gerade entwickelt. Im Fokus unserer wissenschaftlich-rekonstruierenden Aufmerksamkeit stehen natürlich auch die Mittel, mit denen ein besonderer Inhalt von Emotionalität, beispielsweise Gereiztheit, ausgedrückt werden kann, sowie die Punkte, an denen wir sie wahrnehmen oder vorsichtiger auf sie schließen können. Bezogen ist dies aber immer auf einen performativen, auch inszenierenden Zusammenhang sowie auf einen Zusammenhang des Deutens von Vorgefundenem auf der Basis von vorhandenen Konzepten und aktuellen Wahrnehmungen ablaufender emotionaler Prozesse. Unser Erkenntnisziel sind insofern weniger Relationen und Korrelationen, 124 Wolfdietrich Hartung als vielmehr Verfahren, also das „Umgehen” mit Befindlichkeiten, das „methodische” Verhalten der Teilnehmer. Das Problem besteht also, um es noch einmal zusammenzufassen, in folgendem: Als Teilnehmer stellen wir (auf Grund von „Daten” erschlossene oder „nur” vermutete) Perspektiven-Divergenzen fest. Wenn weitere Bedingungen gegeben sind (z.B. die Wiederholtheit unseres Hinweisens auf ungünstige Folgen einer solchen Divergenz, die Vergeblichkeit des Hinweisens), dann kann uns dies ungeduldig machen, also in einen bestimmten emotionalen Zustand versetzen und uns veranlassen, dem einen entsprechenden spontanen oder auch willkürlichen (überlegten, inszenierten), prosodisch und auch verbal im engeren Sinn wahrnehmbaren Ausdruck zu geben. Und wenn wir eine andere Person sich so (oder ähnlich) verhalten sehen, dann können wir dies so deuten, daß jene andere Person sich in einem ähnlichen (uns bekannten) Zustand befindet. Eine solche Deutung kann einschließen - und dies sind dann die rhetorisch vor allem interessanten Fälle daß wir zu der Auffassung gelangen, daß die andere Person eine andere Perspektive auf die laufende Debatte, auf ein verhandeltes Thema usw. hat als wir, daß dies möglicherweise unsere eigene Stellung in der Interaktion beeinträchtigt oder daß es bei einer zu erwartenden Perspektiven-Divergenz angebrachter ist, die eigene Perspektive zu begründen, zu relativieren, zurückzuhalten usw. Als Wissenschaftler sind wir daran interessiert, solches Verhalten in Begriffen von Verfahren zu beschreiben. Für die Analyse „gereizter” Abschnitte in Gesprächen stellen sich somit zwei Fragen: 1. Welches sind die Phänomene, die Teilnehmer auf Gereiztheit schließen lassen und worauf können sich die Deutungen solcher Ausdrucksphänomene stützen? 2. Wie ordnet sich das Auftreten von in diesem Sinne „gereizten” Abschnitten in den Interaktionsverlauf ein und wie werden auf diese Weise insbesondere Perspektiven-Divergenzen deutlich gemacht? Zuvor aber sind einige begriffliche Erörterungen erforderlich: Was sind Perspektiven und Perspektiven-Divergenzen? Was ist Gereiztheit als ein spezifischer emotionaler Zustand? Welches sind unsere Erkenntnisziele? Eine Grenze für die Ausführlichkeit dieser Erörterungen ist durch das aktuelle Ziel gesetzt: Hier soll vor allem Umrissen werden, welcher Gebrauch von diesen Begriffen in der beschriebenen Untersuchung gemacht wird. 2. Begrifflichkeit und Einordnung 2.1 Perspektivität Die perspektivische Organisation des Kommunizierens - und das heißt auch: seine subjektive Organisation in einem Sinn, der die Individuen nicht nur als Vollstrecker irgendwelcher ihnen vorgegebener Routinen und Normen begreift, sondern als nach eigenem Ermessen Handelnde, als Schöpfer Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen 125 eines Stückes sozialer Wirklichkeit stand bisher weniger im Zentrum des Erkenntnisinteresses. Linguistisches Erkenntnisinteresse jedenfalls orientierte und orientiert sich, auf der Suche nach Allgemeinem und Invariantem, eher auf das, was den Anschein erweckt, über die einzelnen Individuen hinauszugehen, was also nicht nur individuelle Aktivität ist, sondern für alle oder wenigstens für viele gilt; wobei die so vorgehenden Linguisten oft in dem Vorurteil befangen sind, allein auf diesem Weg den Bereich einer „objektiven Wirklichkeit” erreichen oder im eigentlichen Sinne soziale Tatbestände herausfinden zu können. Auch im Umkreis einer Forschungsrichtung wie der Konversationsanalyse, die in solchen Vorurteilen viel weniger befangen ist, wurde Perspektivität nur bedingt und ansatzweise zum Thema gemacht und jedenfalls nicht in dieser besonderen, in der Art und Weise unseres Wahrnehmens begründeten und entsprechend metaphorisch ausgebauten Begrifflichkeit. Das heißt nicht, daß die Perspektivität übersehen worden wäre. Aber ihr Vorhandensein, die Arten ihres Ausdrucks und ihr Einfluß auf Rede- und Textorganisation wurden vorwiegend mit dem Blick auf die Möglichkeiten des Sprachsystems, auf Wirkungen und auf hörerseitige Sinnzuschreibungen konzeptualisiert, weniger mit dem Blick auf individuelle Leistungen der Äußerungsproduktion. So ist etwa in der funktionalen Stilistik oder in der Metaphernforschung viel sprachliches Material zusammengetragen worden, das letztlich die Unterschiedlichkeit von Standpunkten, also von Perspektiven, reflektiert. Goffmans Rahmen-Analyse zeigt, wie Handlungen je nach den an sie angelegten Rahmen unterschiedlich interpretierbar sind. In der Soziolinguistik erweist sich der funktionale Aspekt des code-switching zu großen Teilen als eine Betrachtung von Perspektiven-Wechseln. Zu einem eigenständigen und wichtigen Untersuchungsgegenstand wurde die Perspektivität in der stärker literaturwissenschaftlich orientierten Erzählforschung gemacht (vgl. etwa Canisius 1987), die allerdings gerade in diesem Punkt wenig Einfluß auf die Linguistik hatte. Auch Bachtins Begriff der Vielstimmigkeit nähert sich dem Problem der Perspektivität. Eine frühe und unserem Interesse sehr verwandte Bearbeitung des Problems ist das Konzept der status orationis in der antiken Rhetorik, das verschiedene „Standpunkte” in bezug auf den Entwurf von Gerichtsreden unterschied. In jüngerer Zeit wächst ein gesprächsanalytisches Interesse an der perspektivischen Organisation des Kommunizierens. Länger schon beschäftigen sich Psychologen mit ihr (vgl. die Arbeiten von Graumann, z.B. 1990). Es ist zu erwarten, daß eine systematische Fokussierung des Problems der Perspektivität unser Bild von den Organisationsprinzipien des Kommunizierens weiterentwickeln wird. (Zum Forschungsstand vgl. auch den Beitrag von Inken Keim in diesem Band.) Menschliches Erleben und menschliches Handeln sind immer und notwendigerweise - und gewissermaßen auf mehreren Ebenen perspektivisch. Was die Individuen wahrnehmen, hängt davon ab, wo sie sich in einer „Welt” befinden, genauer wohl davon, wie sie sich zu dieser „Welt” 126 Wolfdietrich Hartung verhalten, indem sie sich in ihr bewegen und ihr damit Eigenschaften und eine „räumliche Tiefe” geben. Auf dieser Grundlage organisieren sie ihr Handeln. Es sind demzufolge stets subjektive Erlebniswelten, in denen die Individuen existieren und in bezug auf die sie ihre Existenz als Wahrnehmende, Denkende und Handelnde einrichten. Üblicherweise macht man sich von dieser Subjektivität dadurch ein Bild, daß man sich die Individuen mit visueller Wahrnehmungsfähigkeit ausgestattet vorstellt und sie einen entsprechenden (visuellen) Raum konstruieren läßt: Diese Individuen „er-blicken” etwas; in dem entstehenden Raum nehmen sie „Orte”, „Standpunkte” ein, haben entsprechende „Blick-Richtungen” und „Seh-Weisen” oder „Sichten” und allgemeiner auch „Orientierungen”. In Abhängigkeit von eingenommenen Orten und durchgeführten Bewegungen baut sich für die Individuen ein ganz spezifischer Raum auf, der sich (für sie) mit bestimmten wahrgenommenen Gegenständen füllt, während anderes in ihm nicht wahrgenommen wird, nicht wahrgenommen werden kann. Oder anders: Von dem, was wahrnehmbar ist, nimmt jedes Individuum nur „seinen” Teil wahr, der mit den von anderen Individuen wahrgenommenen Teilen nur bedingt oder partiell übereinstimmt. So hat jedes Individuum seine Sicht, seine Perspektive und seinen Raum. Dabei müssen wir allerdings bedenken, daß die visuelle Metapher nur ein Stück weit trägt. Die konstruierten „Räume”, mit denen es die Individuen zu tun haben, bleiben nicht visueller Natur; ihre Dimensionen sind dann auch nur noch bedingt sinnlich wahrnehmbar; vielmehr „bewegen” sich die Individuen zunehmend in „Räumen”, die kognitiv und konzeptuell konstruiert sind. Die visuelle Metapher wird also um so brüchiger, je wörtlicher (d.h. visueller) sie genommen wird. Dennoch können wir gar nicht anders, als uns einer sinnlichen Metaphorik zu bedienen, wenn wir uns über Bereiche verständigen wollen, die über das sinnlich Wahrnehmbare hinausgehen. Perspektivität ist nicht nur an die einzelne Handlung gebunden. Indem Menschen immer wieder handeln, sich an ihre Handlungen erinnern, über sie reflektieren und miteinander darüber kommunizieren, wird Perspektivität zu etwas Komplexem oder Aufgeschichtetem. Die Mehr-Ebenen- Struktur der Perspektivität entsteht durch zunächst zeitliche Aufschichtungen der Erlebniswelten: einmaliges individuelles Erleben wiederholtes individuelles Erleben (Sammeln von Erfahrung) - Inbeziehungsetzen des individuellen Erlebens mit dem Erleben (den Erfahrungen) anderer Individuen - Vermittlung und Aneignung kollektiver Erfahrung, Sozialisation. In dieser Mehr-Ebenen-Struktur der (dennoch stets individuellen) Perspektivität manifestieren sich also auch sozial-typische und gruppentypische Momente von Perspektiven. Letztlich wird auf diese Weise garantiert, daß Perspektiven interaktiv in Beziehung zueinander gesetzt werden können. (Man kann dies von zwei Seiten aus sehen: Einerseits wird auch die Erfahrung der anderen immer individuell und perspektivisch angeeignet; andererseits ist die individuelle Aneignung von Erfah- Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen 127 rung stets schon in einem gewissen Umfang durch Perspektiven anderer vorgeprägt.) Verbale Interaktion schließt eine spezifische Art von (kommunikativen) Handlungen in sich ein, die zu anderen Arten von Handlungen in Beziehung treten. In der verbalen Interaktion gewinnen kognitive Aspekte und ihre Perspektivierung eine besondere Bedeutung. Auch die an der verbalen Interaktion beteiligten Aktivitäten werden von subjektiven Befindlichkeiten der Kommunizierenden gesteuert, davon, was diese im Augenblick des Kommunizierens bewegt und was sie in vorangegangenen Kommunikationen bewegt hat, was sie also persönlich an kommunikativen Erfahrungen verinnerlicht haben; metaphorisch gesprochen: Kommunizierende lassen sich davon leiten, wo im „kommunikativen Raum” sie sich befinden bzw. wie sie sich diesen Raum einrichten. In diesem metaphorischen Sinne ist auch verbale Interaktion grundsätzlich perspektivisch. Die Beteiligten müssen sich dessen allerdings nicht in jedem Fall bewußt sein, und schon gar nicht müssen sie in der Lage sein, ihre Perspektive detailliert zu explizieren. In gewisser Weise ist Perspektivität also mit der Intentionalität menschlichen Handelns vergleichbar. Wenn jemand mitteilt, daß er etwas mit Absicht, aus einem bestimmten Grund, mit einem bestimmten Ziel getan/ gesagt hat oder gerade tut/ sagt, oder wenn er dies von einem anderen behauptet, dann meint dies immer, daß es einen besonderen Grund gibt, das Absichtsvolle, Willkürliche einer Handlung oder eines Verhaltens mitzuteilen. Etwa deshalb, weil man sich von anderen, weniger bewußten Verhaltensweisen abgrenzen will, weil man sich für etwas entschuldigen möchte, weil man mögliche unerwünschte Interpretationen von Handlungen/ Außerungen ausschließen möchte usw., oder allgemeiner, weil man Handlungen begründen oder ihr Scheitern kommentieren möchte. Solche Kennzeichnungen schließen natürlich keineswegs aus, daß auch anderen, nicht gekennzeichneten Handlungen, möglicherweise allen, Intentionalität zugrunde liegt. Die stets vorhandene Intentionalität muß aber nicht mitgeteilt werden, sie kann im verborgenen bleiben es sei denn, es gibt einen besonderen Anlaß, sie mitzuteilen. Genauso verhält es sich mit der Perspektivität. Ganz allgemein entsteht Perspektivität, wenn wir uns noch einmal der besonderen Metaphorik bedienen, durch die Spezifik von besetzten „Orten” bzw. durch „Bewegungen” in einem gedachten „Raum”. Dabei wird etwas, das sich in diesem Raum befindet, auf eine spezifische Weise verarbeitet. Die Verarbeitungen bestimmen dann das weitere Handeln oder die weiteren Bewegungen im Raum. Das, was Kommunizierende perspektivisch verarbeiten, berührt zwei spezifische Bereiche des Kommunizierens: einmal die Komplexe von besprochenen/ thematisierten Sachverhalten (die auf unterschiedliche Teile der Erlebniswelten bezogen sein können) und zum an- 128 Wolfdieirich Hartung dem die beteiligten Personen (die immer in ein bestimmtes Verhältnis zur eigenen Person und zu kollektiv gültigen Personen-Typisierungen gesetzt werden). Kommunizierende „sehen” also das Besprochene und die Sprechenden. In gewisser Weise ist dies die Unterscheidung von Inhalts- und Beziehungsaspekt. Für die verbale Interaktion ist nun aber konstitutiv, daß in ihr und ganz besonders in Situationen gegenseitiger Abhängigkeit eine notwendige oder wünschenswerte Verbindung zwischen den je subjektiven Erlebniswelten der Individuen geschaffen werden soll. Man kommuniziert nicht, um dem anderen lediglich etwas mitgeteilt zu haben, sondern man möchte vor allem, daß der andere die Mitteilung versteht, sie also zu einem Bestandteil seiner Erlebniswelt macht; genauso, wie man umgekehrt den anderen in diesem tieferen Sinn verstehen möchte. Über Zeichen-Operationen müssen Erlebniswelten wenigstens in Stücken und ansatzweise wechselseitig zugänglich werden. Verbale Interaktion schließt somit ein, daß die an ihr beteiligten Individuen auf Perspektiven- Divergenzen Bezug nehmen und daß sie Perspektiven-Divergenzen bearbeiten. Der Umstand, daß sich Kommunizierende in einem allgemeinen Sinn grundsätzlich perspektivisch verhalten, ist an sich rhetorisch noch nicht weiter interessant. Das spezifisch rhetorische Interesse setzt gerade dann ein, wenn auf Perspektiven-Direrpenzen Bezug genommen wird und diese bearbeitet werden, wenn die Teilnehmer also ganz bestimmte Anstrengungen vollbringen müssen, um eine eigene Perspektive durchsetzen oder bewahren zu können. Für eine Heuristik der Perspektivität heißt dies: Die Divergenz von Perspektiven kann von den Kommunizierenden wahrgenommen werden, oder sie sind zumindest in der Lage, bestimmte Hinweise auf Perspektivität und auf Perspektiven-Divergenzen zu verarbeiten. Selbstverständlich geschieht auch dies perspektivisch. Die Perspektive, die anderen Teilnehmern mit Bezug auf die eigene Perspektive zugeschrieben oder unterstellt wird, wird interpretierend konstruiert. Ebenso können eigene Perspektiven als von fremden divergierend wahrgenommen werden. Perspektiven-Divergenzen können aber auch, etwa auf Grund von Erfahrungen, prospektiv bei anderen vermutet werden, was dann den Wunsch auslöst, ihnen von vornherein oder umgehend etwas entgegenzusetzen oder sie jedenfalls kleinzuhalten. Schließlich kann, um Perspektiven- Divergenzen möglichst zu vermeiden, versucht werden, die eigene Perspektive in Übereinstimmung mit einer explizierten oder einer vermuteten Erwartung zu entfalten. (Den Fall der „Perspektiven-Abschottung”, also das Nicht-Eingehen-Wollen oder Nicht-Eingehen-Können auf eine divergierende Fremdperspektive, untersucht Inken Keim in diesem Band; zum Problem der Perspektiven-Divergenz vgl. auch Schröder 1994.) Im Prinzip lassen sich Kommunizierende immer von Perspektiven leiten, sie sind ständig damit beschäftigt, sie zu „entfalten”. Sie schenken dem aber zunächst oft noch keine besondere Aufmerksamkeit, sie nehmen es nicht einmal wahr. Erst in ganz bestimmten Situationen (wenn etwa die eigene Perspektive als beeinträchtigt empfunden wird), beginnen sie, das Die Bearbeitung von Perspekiiven-Divergenzen 129 Entfalten ihrer Perspektive unter Kontrolle zu nehmen oder das Entfalten fremder Perspektiven zu beobachten und zu berücksichtigen. Dies kann bereits in der Phase der Außerungsplanung beginnen, also ohne wahrnehmbare Vorgänger im Außerungsgeschehen. In diesem Fall macht der betreffende Teilnehmer seine Perspektive von Anfang an den anderen deutlich aber eben weil er einen bestimmten Grund dazu hat, ohne den er sich zwar gleichfalls von seiner Perspektive leiten ließe, jedoch ohne dies den anderen mitzuteilen. Oder die Berücksichtigung einer Fremdperspektive erfolgt in der laufenden Kommunikation, weil man die eigene Situation inzwischen anders oder schärfer sieht oder weil man das Partner-Verhalten in einer bestimmten Weise zu interpretieren beginnt. Eine besondere Form des Anzeigens und Entfaltens der eigenen Perspektive wie des (bewertenden) Zuschreibens einer Fremdperspektive besteht darin, sich selbst oder den/ die anderen in einer bestimmten Weise sozial zu typisieren. Hier berührt sich das Bearbeiten von Perspektivität mit der Selbst- und Fremddarstellung (vgl. dazu Johannes Schwitalla, in diesem Band). Von den Operationen in bezug auf Perspektiven ist den Teilnehmern und auch uns zunächst nur das zugänglich, was sich verbal manifestiert, oder anders: was ein Sprecher uns auf die eine oder andere Art „mitteilen” möchte. Das heißt u.a., daß nicht die „wirkliche” Perspektive angezeigt werden muß außerdem ist es möglich, daß sich ein Teilnehmer erst im Laufe des Gesprächs über die von ihm einzunehmende Perspektive klar wird - und daß auch das Eingehen auf die Perspektive eines anderen nicht unbedingt ein Spiegelbild dessen sein muß, was ein Sprecher über einen anderen denkt. Ebensowenig muß das Anzeigen einer Perspektive darin bestehen, daß diese den anderen auf eine direkte, einfach nur benennende Weise bekannt gemacht wird. Oft scheint es eher so zu sein, daß Sprecher den Interpretationsraum der anderen Teilnehmer einengen, also verhindern möchten, daß diese „auf dumme Gedanken kommen”. Eine Perspektive kann also auch dadurch „angezeigt” werden, daß gesagt wird, worin sie nicht besteht. Und schließlich kann auf Eigenwie auf Fremdperspektiven auch Bezug genommen werden, indem Emotionalität ausgedrückt wird. So kann Freude, Zorn oder im Falle unserer Untersuchung - Gereiztheit anzeigen, daß ein Sprecher eine Perspektiven-Konvergenz positiv oder eine Divergenz negativ bewertet. Perspektiven können als konzeptuelle Schemata oder individuelle Entscheidungshilfen begriffen werden. Das ist gewissermaßen ihre Intension. Was aber ist ihre Extension? In welchen Größenordnungen können solche Schemata sinnvoll auf Äußerungen bezogen werden? Offenbar organisieren Perspektiven kommunikatives Verhalten eher großals kleinräumig. Eine Perspektive nimmt man in der Regel für einen längeren Gesprächsabschnitt ein, für ein ganzes Gespräch, auch für ein wiederholtes (typisches) Auftreten in bestimmten Arten oder auch Situationen von Kommunikation. Es macht dagegen weniger Sinn, Perspektiven einzel- 130 Wolfdietrich Hartung nen Äußerungen innerhalb eines größeren Äußerungskomplexes zuzuordnen. (Wenngleich ich nicht ausschließen will, daß Situationen vorstellbar sind, in denen entsprechende Zuordnungen denkbar werden. Aber das sind dann Situationen mit abweichenden Bedingungen und extremen Außerungsformaten. Relativ zu ihnen wäre die organisierende Wirkung einer Perspektive auch hier eher großräumig.) Auch Perspektiven-Wechsel und erst recht Perspektiven-Brüche treten zwar lokal auf, erfassen dann aber doch in der Regel größere Abschnitte. Perspektiven sind Grundhaltungen von Individuen. Wenn Individuen in einer sozialen Welt handeln, dann tun sie dies jedoch kaum „für sich”, sondern als Angehörige dieser in einer spezifischen Weise organisierten Welt, also mit bestimmten Eigenschaften der sozialen Organisationsformen und mit entsprechenden Zielen, die den anderen einbeziehen, sei es auch nur als Mittel zum Befriedigen eines eigenen Bedürfnisses. Perspektiven in der Interaktion können deshalb konzeptualisiert und geordnet werden nach der jeweils besetzten Rolle, nach einer Gruppenzugehörigkeit, nach dem für die Interaktion relevanten sozialen Status oder nach der Position in einem Netzwerk. Eine solche Ordnung der Perspektiven ist begründet, sie ist suggestiv und bis zu einem bestimmten Punkt auch brauchbar. Allerdings werden Perspektiven unter diesem Ordnungsgesichtspunkt als etwas Vorgegebenes und Vorgefundenes gefaßt. Dadurch wird einmal der Zugang zu der Tatsache erschwert, daß sie eine kulturbestimmte Schicht haben. Zum andern ist mit dieser Ordnung kaum faßbar, was sich an spezifischer Perspektivität in der laufenden Interaktion entwickelt. Wir brauchen also zusätzliche Begriffe, die zwei Forderungen erfüllen. Erstens müssen sie es gestatten, Perspektiven, die über das soziale System definiert sind, z.B. kulturspezifisch zu differenzieren. Das kann etwa dadurch geschehen, daß Perspektiven propositional beschrieben werden. Zum bloßen Verweis auf nicht näher bestimmte Rollen- oder Gruppenerwartungen (er ist Moderator, er ist Linguist usw.) können dann Angaben über aktuell wirksame Grundhaltungen (Maximen) hinzutreten. Zweitens müssen zusätzliche Begriffe uns in die Lage versetzen, lokale Entwicklungen des kommunikativen Geschehens beschreibbar zu machen, etwa indem solche Entwicklungen als Folgen von Ereignissen dargestellt werden, beispielsweise als Argumentationsketten, als Verlassen der Argumentationsebene, als Zuspitzungen, Relativierungen von Perspektiven-Divergenzen, Lösungen, Aufbauen von Konvergenzen usw. Der propositionale Gehalt von Perspektiven ist generell explizierbar. Oft finden sich im Text implizite Bezugnahmen. Bleibt der propositionale Gehalt implizit, kann er aus dem Text erschlossen werden. Die jeweils gefundene Formulierung ist mehr oder weniger zufällig. Sie kann im weiteren Verlauf der verbalen Interaktion auch verändert werden. Solche propositionalen Gehalte von Perspektiven können hierarchisch organisiert sein. Ein speziellerer Fall kann in einen allgemeineren eingehen, ein allgemeine- Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen 131 rer den spezielleren enthalten. Je spezieller die Gehalte werden, desto eher ist auch ein Übergehen in Positionen möglich. Grundsätzlich kann eine Position natürlich auch einen sehr allgemeinen Charakter haben. Positionen und Perspektiven unterscheiden sich also nicht in erster Linie darin. Vielmehr sind Perspektiven etwas Zugrundeliegendes. Deshalb sind sie häufig, aber nicht notwendig, allgemeiner als Positionen, oder es können mehrere Positionen mit einer Perspektive verbunden sein. Im Einzelfall kann aber ein thematischer Punkt sowohl als Position wie als Perspektive begriffen werden. Den Unterschied macht dann allein die Sicht oder die Einordnung in einen bestimmten erklärenden Zusammenhang aus. Wir gelangen so zu einem relativ weiten Perspektiven-Begriff. Seine wichtigsten Bestimmungsstücke sind zunächst einmal diese: Teilnehmer beziehen sich nicht nur auf die Oberflächenstruktur von Äußerungen, sondern sie nehmen systematisch auf etwas dahinter oder davor Bezug, bei sich selbst und bei den anderen. Dabei fällt es ihnen in der Regel relativ schwer, dieses Dahinter- oder Davorliegende verbal zu fassen. Sie begnügen sich mit Andeutungen, allgemeinen Verweisen, Hypothesen und Unterstellungen. Das Besondere des Perspektivenbegriffs kann jedoch nicht einfach darin liegen, daß er ein brauchbarer Oberbegriff ist. Das würde eher gegen ihn sprechen, denn je größer die Extension eines Begriffs ist, je weiter und allgemeiner er ist, desto schlechter läßt er sich auch handhaben. Man brauchte immer wieder neue begriffliche Differenzierungen. Der Perspektivenbegriff muß also spezifischer begründet werden. Diese Begründung kann man sich so verdeutlichen: Eine verbreitete Auffassung von dem, was in einem Gespräch geschieht, ist die, daß eine bestimmte Menge von Informationen, über die eines der Individuen verfügt, durch verbale Repräsentation wahrnehmbar gemacht wird, so daß ein anderes Individuum die wahrnehmbar gemachte Information erkennen, sich aneignen und sich zu ihr verhalten kann (z.B. durch Akzeptieren als „wahr” oder angemessen oder durch Zurückweisen usw.). Im Ergebnis kommt ein Informationsaiisfausc/ i zustande. Mit anderen Worten: Ein kommunizierendes Individuum hat nach dieser Auffassung eine Information und gibt ihr eine bestimmte verbale Form. Diese Form kann dann neutral oder universell angepaßt sein, also direkt zum Kern der Information hinführen und (fast) überall zulässig sein. Sie kann aber auch an besondere situative Gegebenheiten angepaßt sein und/ oder den Informationskern auf verschiedene Weise verpacken, verhüllen, verzerren. Die entsprechenden Aktivitäten des kommunizierenden Individuums können beschrieben werden in Begriffen von Zielen und Strategien, in Begriffen von Partnerorientiertheit und situativer Angemessenheit usw. Für die linguistische Beschreibung relevant sind dann Korrelationen von sprachlichen Merkmalen auf der einen Seite und von Operationalisierun- 132 Wolfdietrich Hartung gen des intentionalen Geschehens, der Partnerpersönlichkeit und der weiteren, darüber hinausgehenden Situation auf der anderen Seite. Als Gegenstand der Beschreibung etabliert sich etwas, das außerhalb der kommunizierenden Individuen liegt. Die in der Linguistik weithin üblichen Begriffe sind mehr oder weniger diesem methodologischen Modell verpflichtet. Möglich ist aber auch eine andere Auffassung von dem, was in einem Gespräch geschieht: Das kommunizierende Individuum hat nicht bereits eine fertige Information, die es in verschiedene Formen bringt, sondern es produziert (oder: konstruiert), indem es spricht, Information. Die entstehende Information ist notwendigerweise und von Anfang an ein Stück des Individuums. Auf diese spezifische Individualität der entstehenden Information hebt der Begriff der Perspektive ab. Was nicht ausschließt, daß auch Perspektiven einer sozialen Normierung unterliegen können (s.o.). Die verbale Form, in der sich die entstehende Information verwirklicht, trägt immer Züge der aktuellen Befindlichkeit des sprechenden Individuums sowie Spuren seiner Geschichte. Die Quellen dafür sind: das Bild, das der Sprecher von der aktuellen Situation hat; sein Selbstbild, also die Einordnung der eigenen Person in das laufende kommunikative Geschehen, die Identifizierung mit einer Aufgabe/ Rolle, mit einer aktuell relevanten sozialen Gruppe usw.; natürlich auch die Intentionalität, die in Begriffen von Zielen und Strategien beschreibbar sein kann; und schließlich der biographische Hintergrund, was also jemand erfahren und gelernt hat, wozu er sich auf Grund dessen für fähig hält usw. Diese Individualität zeichnet ganz normal und selbstverständlich jegliche Aktivität der kommunizierenden Individuen aus. In der Regel braucht sie nicht die Stufe der Bewußtheit zu erreichen. Unter bestimmten Bedingungen (Wahrnehmen von Perspektiven- Divergenzen) kann sie diese Stufe aber erreichen. Dann kann Perspektivität angezeigt, begründet, verborgen, aber auch inszeniert werden, oder sie kann beim Partner vermutet, wahrgenommen, typisiert, abgelehnt usw. werden. Der Perspektivenbegriff ist also weder ein alternativer noch ein differenzierender Begriff in bezug auf „benachbarte” Begriffe. Er muß deshalb auch nicht von diesen abgegrenzt werden. Er ist vielmehr einer anderen Sicht verpflichtet und grenzt sich durch diese ab. Man könnte diese Sicht konstruktivistisch nennen. Der Perspektivenbegriff ist geeignet, die konstruktiven Momente kommunikativen Verhaltens zu fassen ohne daß man deshalb auf das bisherige begriffliche Instrumentarium, das anderen Sichten verpflichtet ist, verzichten müßte. Die erforderliche Differenzierung des Perspektivenbegriffs folgt konsequenterweise spezifischen Linien: dem Bezug auf die eigene Perspektive oder auf fremde Perspektiven sowie dem Bezug auf Inhalte und Konzepte. Wenn Perspektiven angezeigt werden oder auf sie Bezug genommen wird, können dabei gleichzeitig gewisse inhaltliche Momente expliziert werden. Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen 133 Man teilt dem/ den anderen nicht nur mit, daß man eine Perspektive hat, sondern, wenigstens in Ansätzen, auch, welche. Ebenso hält man dem Partner nicht nur vor, daß auch er eine Perspektive hat, in der Regel nicht einmal nur, daß er eine andere Perspektive hat, sondern meist wird auch etwas über die Qualität der Andersartigkeit mitgeteilt. Aus solchen Mitteilungen lassen sich dann Gesichtspunkte für entsprechende Typisierungsleistungen der Teilnehmer gewinnen. Beispielsweise wird die Andersartigkeit als („objektive”) Unverträglichkeit gekennzeichnet; oder man erklärt sich als subjektiv außerstande, die Perspektive des anderen zu verstehen, geschweige denn zu akzeptieren. Es kann die Bindung einer Perspektive an eine Rolle, eine (kommunikative) Aufgabe, an die Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder zu einem sozialen Typ hervorgehoben werden. Oder es wird die Bindung dessen, was man sagt oder sagen will, an ein thematisch zentrales Konzept mitgeteilt. Man ordnet seine Rede diesem Konzept unter. Die anderen Teilnehmer haben dann einen Hinweis darauf, wie sie das Gesagte einordnen sollten. Da an einem zentralen Konzept mehr oder weniger viele Teil-Konzepte hängen, kann man vorausgesetzt, die anderen Teilnehmer sind damit einverstanden das Herstellen von Zusammenhängen zu solchen Teil-Konzepten und entsprechenden Argumentationen erheblich abkürzen oder ganz auf sie verzichten. Solche zentralen Konzepte können dann wieder unterschiedlichen Bereichen zugeordnet werden, etwa einer Sachwelt und einer inneren Welt. Entsprechend können unterschiedliche Schichten der Erlebniswelten der Teilnehmer, Erfahrungshintergründe, angesprochen werden. Auch der Ausdruck von Emotionalität kann solche inhaltlichen Bezüge hersteilen: Wenn eine Äußerung emotional, d.h. auf eine spezifische Weise und mit spezifischen Mitteln, hergestellt wird, dann wird damit ja immer auch eine (sachbezogene) Information angeboten. Wer sich gereizt äußert, äußert sich über etwas gereizt. Mit dem Ausdruck von Gereiztheit kann Perspektivität insbesondere das Vorhandensein von Perspektiven-Divergenzen also angezeigt und in einem bestimmten Umfang auch inhaltlich expliziert werden. 2.2 Emotionalität „Gereiztheit” ist die Bezeichnung für einen emotionalen Zustand oder ein Gefühl, das sich aus bestimmten (elementareren) emotionalen Zuständen zusammensetzt. Stärker als Perspektivität ist Emotionalität ein durchaus traditioneller Forschungsgegenstand der Linguistik. Dennoch ist insbesondere jener Bereich, der die Emotionalität in der Sprache und in der Kommunikation umfaßt, alles andere als gut erforscht. In jüngerer Zeit gibt es nur eine größere Publikation dazu: Fiehler 1990. Die Zahl der Arbeiten, die die Emotionalität eher beiläufig behandeln, ist größer, aber doch relativ klein. In der Behandlung zeigen sie Lücken und Einseitigkeiten (vgl. Fiehler 1990, S. 14ff.). Emotionen gelten vielen als subjektiv, als nur- 134 Wolfdietrich Hartung individuell und deshalb schwer faßbar. Viele Linguisten sehen in ihnen bestenfalls zu vernachlässigende, unter Umständen aber sogar störende Randbedingungen, die nicht oder eben nur sehr eingeschränkt zum Gegenstand der Linguistik gehörten. Angesichts dieser Situation verwundert es nicht, ist aber doch auffallend, daß die verwendete Begrifflichkeit recht unentwickelt ist. Das scheint mir allerdings nicht nur auf die linguistischen Adaptationen von Emotionskonzepten beschränkt zu sein. Im gegebenen Zusammenhang kann es nicht darum gehen, den Forschungsstand zu charakterisieren und zu bewerten. In gewisser Weise findet sich eine solche Charakterisierung bei Fiehler (1990, S. 12ff.; vgl. auch den Überblick aus einer anderen Perspektive bei Danes 1987), eingeschränkt allerdings auf ganz bestimmte Problemgebiete und die Entwicklungen in den Nachbardisziplinen, vor allem in der Psychologie, weitgehend ausklammernd. Ich will versuchen, deutlich zu machen, was gemeint sein kann, wenn Gereiztheit als ein emotionaler Zustand charakterisiert wird, und wie sich ein entsprechendes Konzept mit angrenzenden Problemen berührt. Dazu will ich einige der für unser Verständnis wichtigen Punkte gängiger Emotionskonzepte kurz nennen. Ein naheliegender und ursprünglicher Schritt in der Konzeptualisierung besteht darin, den Bereich der Emotionen, Gefühle oder Affekte soweit ich sehe, werden die Bezeichnungen häufig synonym verwendet, bisweilen auch geringfügig differenziert als einen eigenständigen, von anderen Bereichen des (bewußten) Erlebens abgegrenzten Bereich zu fassen. Das Emotionale wird dem Rationalen gegenübergestellt, oder es wird zwischen Kognitivem, Volitivem und Affektivem unterschieden. Seit Aristoteles wird versucht, mit solchen Gliederungen Ordnung in die psychischen Phänomene zu bringen. Das Problem besteht nun wie so oft nicht in der Annahme eines gesonderten emotionalen Bereichs, sondern in der Charakterisierung seiner Grenzen bzw. in dem Suchen nach einer vermeintlich „scharfen” Grenze. Rationales und Emotionales sind im interaktiven Geschehen weniger scharf voneinander getrennt, als mit der eine binäre Gliederung implizierenden Gegenüberstellung gewöhnlich vorausgesetzt wird. Für verbale Interaktion ist gerade charakteristisch, daß Emotionales immer wieder verbalisiert und damit auf eine besondere rationale Ebene geholt werden kann, ohne daß die emotionale Ebene völlig verlassen werden muß. Auch wenn man ausspricht, daß man sich ärgert, kann der Arger noch ein bestimmendes Gefühl bleiben; die begriffssprachliche - Verbalisierung bedeutet an sich noch keine Entemotionalisierung, sie ist nur ein möglicher, vor allem auch die Aushandlung einschließender Weg zur Entemotionalisierung. Auf der anderen Seite wirken emotionale Prozesse offenbar auf alle Schichten von Verbalisierungsleistungen ein, nicht nur auf prosodische und nonverbale Begleitungen der Außerungsproduktion, sondern beispielsweise auch auf Konstruktions- und Wortwahlen. Insofern können zahlreiche Entscheidungen bei der Außerungsproduktion letztlich Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen 135 emotional bedingt oder jedenfalls beeinflußt sein. „Ausdruck von Emotionalität” ist deshalb an sehr unterschiedlichen Phänomenen festzumachen, die auch in verschiedenen Bereichen linguistischer Gegenstände angesiedelt sind. Von dem Moment an, in dem Gefühle benannt werden, werden sie immer auch von der Benennungsinstanz, also der Sprach- oder Kommunikationsgemeinschaft, geformt. Wenn Individuen über Gefühle reden, dann beziehen sie sie auf ein sozial akzeptiertes Benennungssystem mit seinen verschiedenen Skalierungen. Gefühle werden uns in diesen Zuordnungen bewußt, wir erleben sie in ihnen. Sie werden identifizierbar und kommunizierbar; sie werden veränderbar, relativierbar und aufhebbar. Insofern bleibt der emotionale Bereich in der verbalen Interaktion kein getrennter Bereich, er kann sich sehr eng mit dem rationalen verbinden, so daß es für die Beteiligten nicht immer offensichtlich ist, wo das Ausdrücken von Gefühlen in ein Sprechen über Gefühle übergeht und umgekehrt. Die Annahme getrennter Bereiche ist schon früh mit der Annahme unterschiedlicher Erkenntnisweisen verbunden worden: Die rationale Verarbeitung von Eindrücken der Außen- und der Innenwelt laufe über Begriffe (und andere rationale, sprachlich fixierte Gebilde), die emotionale Verarbeitung dagegen sei subjektiv und stärker ganzheitlich, differenziere also weniger. Auf die Sprache bezogen, also auf die Akte des Benennens und des Verstehens, führte diese Sicht zur Unterscheidung von denotativer und konnotativer, d.h. deutlich bezeichnender und nur mitbezeichnender Bedeutung. Für eine systematisierend und klassifizierend orientierte Linguistik wurde dies zum wichtigsten Punkt ihres Zusammentreffens mit Emotionalität. Auf das passiv begriffene Individuum bezogen, sind Emotionen Zustände, in denen es sich befindet, wenn es etwas äußert, in die es hineingerät oder in die es von anderen hineingebracht oder hineingezogen wurde. Es gehört mit zum ältesten Verständnis der Rhetorik, daß es solche Zustände gibt und daß man lernen kann, andere Menschen mit Hilfe bestimmter sprachlicher Mittel in sie zu versetzen. Auf das aktiv begriffene Individuum bezogen, sind Emotionen weniger Zustände als vielmehr Potentiale, über die es, als Gattungseigenschaft, zu seinem Nutzen verfügen kann. Emrich (1992, S. 76f.) spricht von einer dritten Komponente, „nämlich ’zensurierende’ Adaptationsbzw. Korrektursysteme, die bei Vorliegen von Ambiguitäten und Mehrdeutigkeiten ... den bisherigen Erfahrungen entsprechende wirklichkeitsüberarbeitende ’Urteile’ fällen”, die also das auf Brauchbarkeit bewerten, was Datenanalyse und Konzeptualisierungssysteme dem Individuum liefern. Ein anderer Grund für die Vernachlässigung der Emotionalität in der Linguistik besteht darin, daß sie für evolutionsgeschichtlich wie auch funktional ursprünglicher gehalten wird als der rationale Bereich. Emotionen 136 Wolfdietrich Hartung würden einen vor- oder ursprachlichen Zustand charakterisieren. In der „entwickelten” Sprache kämen sie nur noch als Relikte vor. Traditionelle Gebiete einer linguistischen Beschäftigung mit Emotionalität sind deshalb charakteristischerweise die Sprachentstehung und die Kindersprache. (Vgl. zu diesem Komplex auch Wygotski 1964, 98ff. und Kainz 1954, S. 425ff.) Die in der „entwickelten” Sprache erhaltenen Relikte bilden denn auch einen besonderen Punkt partikulären linguistischen Interesses: Interjektionen und sog. „Lautgebärden”. Das auch für uns wichtige Problem ist, daß Emotionen nicht nur auf einer begriffssprachlich entfalteten Ebene erkennbar werden, sondern auch und in ganz besonderem Maße in jenen Bereichen, die sonst am Rande des linguistischen Interesses stehen oder die gern als „paralinguistisch” oder „nonverbal” an den Rand gestellt werden. In der Regel sind Emotionen mehr oder weniger stark mit wahrnehmbaren (Ausdrucks-)Phänomenen verbunden, oder sie ziehen solche Phänomene nach sich. So haben Erregungszustände Auswirkungen sowohl auf den Artikulationsprozeß wie auch auf den aktuellen Zugriff auf Wörter und sprachliche Muster, ebenso aber auch auf die allgemeine Körpermotorik (Gestik, Mimik, Körperbewegungen). Von diesen Auswirkungen, also von Eigentümlichkeiten u.a. der Artikulation, Intonation, Wortwahl, Musterrealisierung, Gestik, Mimik usw., können die Teilnehmer Schlußfolgerungen auf das Vorhandensein eines emotionalen Zustandes ziehen. Emotionale Prozesse sind zunächst ein innerindividuelles Geschehen, das weitgehend auch unwillkürlich abläuft. Sobald es aber in eine Interaktion eingebettet ist, kann es auch auf sie bezogen werden und dadurch eine Bedeutung für den weiteren Verlauf dieser Interaktion bekommen. So betrachtet, sind emotionale Prozesse dann nicht mehr etwas Nur-Individuelles. Für eine Interaktionsanalyse sind sie anders als für das herkömmliche klassifizierende Herangehen in der Linguistik keine Randbedingungen mehr, die als „individuell” vernachlässigt werden könnten. Es ist Fiehlers (1990) Verdienst, die interaktive Bedeutsamkeit von Emotionen besonders herausgearbeitet zu haben. Emotionen haben für viele einen ganzheitlichen oder globaleren Charakter. In A.N. Leontjews Konzeption heißt dies, „daß Emotionen tätigkeitsrelevant und nicht handlungs- oder operationsrelevant sind.” (1979, S. 189) Das bedeutet z.B., daß eine erfolgreiche Handlung nicht unbedingt zu einer positiven Emotion führen muß; wenn sie, bezogen auf das Leitmotiv des Handelnden, eine Enttäuschung darstellt, kann sie auch eine negative Emotion zur Folge haben. Auch im Bereich des sprachlichen Ausdrucks scheinen Emotionen eher großräumig zu wirken. Sie liegen häufiger Außerungsabschnitten zugrunde als nur einzelnen Elementen in ihnen. Dies kann dann auch zu einer relativen Unabhängigkeit von emotionalem Geschehen und Außerungsproduktion führen: Ein emotionaler Zustand kann eingetreten sein, bevor ein Sprecher verbal auf ihn „eingeht”; ebenso kann er noch nachwirken. Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen 137 Wenn wir Teile des bisher Gesagten in einer Definition verdichten wollen, können wir uns etwa an die von Scherer oder von Holzkamp-Osterkamp halten (zitiert nach Fiehler 1990, S. 63): „Die meisten neueren Emotionstheoretiker gehen davon aus, daß das Konstrukt Emotion aus mehreren Aspekten oder Komponenten besteht: einer Komponente der kognitiven Bewertung von Reizen oder Situationen, einer physiologischen Aktivierungskomponente, einer Komponente motorischen Ausdrucks, einer Handlungsentwurfs- und Verhaltensbereitschaftskomponente und einer Komponente des subjektiven Gefühlszustandes. Außerdem scheint Konsens darüber zu bestehen, daß Emotionen dynamische Sequenzen von veränderlichen Zuständen, also Prozesse, darstellen.” (Scherer) „Emotionen sind ... Bewertungen der kognitiv erfaßten Umweltgegebenheiten am Maßstab der subjektiven Bedeutung der kognizierten Umweltgegebenheiten und der individuellen Handlungsmöglichkeiten ihnen gegenüber. Emotionen sind damit wesentliches Bestimmungsmoment der auf die kognizierten Umstände und Ereignisse bezogenen Handlungen.” (Holzkamp-Osterkamp) Schließlich können Emotionen nach verschiedenen Gesichtspunkten differenziert werden, die teilweise auch für unsere Überlegungen von Interesse sind. So kann man Gefühle nach ihrer Intensität gliedern und von einer mittleren Lage die schwächeren Stimmungen und die stärkeren Affekte abheben. Oder man kann inhaltlich unterscheiden zwischen Primärgefühlen, die auf Tätigkeiten bezogen sind, und Vitalgefühlen, die auf Körperwahrnehmungen bezogen sind; ihnen treten dann noch leistungsbezogene Gefühle des Selbstkonzepts (Freude, Ärger, Scham, Schuld usw.) und partner- oder gemeinschaftsbezogene Gefühle (Liebe, Haß u.a.) an die Seite. (Vgl. dazu Wörterbuch der Psychologie, 1976, S. 131.) In Handlungszusammenhängen verbinden sich emotionale Prozesse offenbar in besonderem Maße mit dem Erreichen oder Verfehlen von Zielen und damit mit der Befriedigung oder Nicht-Befriedigung von Bedürfnissen, Ansprüchen und Erwartungen der Handelnden. Werden Handlungsziele erreicht oder verfehlt, berührt dies das Selbstkonzept der Handelnden in einem sozialen Umfeld: Sie empfinden Freude über einen Erfolg, Arger über einen Mißerfolg, Stolz, Zufriedenheit, Scham, Verlegenheit, Irritiertheit, Empörung usw. In konfliktären Situationen, in denen Diskrepanzen zwischen Beteiligten deutlich geworden sind, also der Umstand etwa, daß ein Teilnehmer etwas anderes will oder für wichtig hält als ein anderer Teilnehmer, ist das Selbstkonzept offenbar in besonderem Maße sensibilisiert. Das anhaltende Verfolgen von in diesem Sinne divergierenden Perspektiven ist in der Regel nicht möglich, ohne daß der Handlungsspielraum des Partners eingeschränkt wird. Solche Einschränkungen werden oft als Beeinträchtigungen des Selbstkonzepts erlebt. Obwohl rationale und emotionale Prozesse eng miteinander verbunden und in der verbalen Interaktion auch aufeinander bezogen sind, bedeutet das nicht, daß beide Arten von Prozessen streng parallel verlaufen müssen. 138 Wolfdietrich Hartung Nicht jedem rationalen Geschehen muß auf der Ausdrucksebene, also der Ebene der Äußerungsproduktion, ein genau zuzuordnendes emotionales Geschehen entsprechen und umgekehrt. Das enge Verbundensein bedeutet nicht einmal, daß emotionale Prozesse überhaupt ein rationales Bezugsgeschehen auf einer entwickelteren Stufe und mit einer gewissen Explizitheit und Bewußtheit notwendig voraussetzen. Emotionale Prozesse können vielmehr beginnen, bevor etwa eine für das subjektive Befinden abträgliche und damit konfliktfördernde Diskrepanz begriffssprachlich und propositional manifest geworden ist. Emotionale Prozesse können sogar beginnen, bevor sich Teilnehmer des spezifischen auslösenden Sachverhalts in vollem Umfang bewußt sind. Darauf beruht die wichtige anzeigende und vorbereitende Funktion emotionaler Ausdrucksphänomene in der Interaktion: Hinweise auf ein emotionales Geschehen können auf eine beginnende oder bevorstehende - und das Selbstkonzept tangierende - Verschärfung von Diskrepanzen schließen lassen. Auf diese Weise können latente und anwachsende Konfliktpotentiale (das Wissen oder die Befürchtung, daß eine Interaktion in eine kritische Phase gerät) den Teilnehmern deutlich werden, bzw. Teilnehmer können auf das Vorhandensein von Konfliktpotentialen schließen. Das Erkennen von Emotionen beginnt mit der Interpretation entsprechender Ausdrucksphänomene. Das klingt einfacher, als es in Wirklichkeit ist. Denn offenbar sind die Arten der Ausdrucksphänomene wie auch ihre Intensität teils durch anthropologische Konstanten bestimmt, teils bilden sie kulturspezifische Muster und werden als solche erlernt; bis zu einem bestimmten Grad hängt es natürlich auch von individuellen Veranlagungen und Neigungen ab, ob und wie jemand seine Gefühle ausdrückt. Schließlich ist zu vermuten, daß die Kulturspezifik größer wird, je mehr wir den Bereich der komplexeren, partner- und gemeinschaftbezogenen Gefühle betreten. Für die Analyse der interaktiven Funktion der Ausdrucksphänomene spielt die genauere Berücksichtigung dieser Differenzierungen aber offenbar nur in dem Maße eine Rolle, in dem Kulturvergleiche oder die Beschreibung von Individuen ins Blickfeld rücken. Für die Frage, wie innerhalb einer gegebenen Kultur Emotionalität wahrnehmbar wird, wie der Umgang mit ihr den Interaktionsablauf strukturiert und wie sie bearbeitet wird, ist es von geringerem Gewicht, welchem der drei Bereiche sie zugeordnet werden kann. Wenn wir die Gereiztheit in einer gegebenen Kultur analysieren, können wir also die Frage vernachlässigen, in welchem Umfang der beobachtete Ausdruck von Gereiztheit kulturspezifisch ist. Die Frage wird allerdings dann interessant, wenn wir die gegebene Kultur verlassen oder wenn wir innerhalb einer Kultur nach Differenzierungen suchen. (Problematisch bleibt unter diesen Bedingungen natürlich immer, was „eine Kultur” ist und wie weit wir als Analysatoren in der Lage sind, sie zu verstehen. Wir sollten uns dieser Schwierigkeit stets bewußt sein und entweder „vertraute” Kulturen untersuchen oder uns auf methodischen Wegen Zugänge zu einer weniger vertrauten Kultur verschaffen.) Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen 139 In dem Maße, in dem im wesentlichen kulturbzw. sprachspezifische - Benennungen existieren, die die emotionalen Ausdrucksphänomene und die Abläufe des emotionalen Geschehens in einer bestimmten Weise ordnen, ist der Bereich des Ausdrucks von Emotionalität auch konzeptuell bearbeitet. Damit gibt es eine gemeinschaftstypische Formung des gesamten Bereichs. Es gibt Konventionen darüber, welche Auffälligkeiten als ein bestimmtes Gefühl bezeichnet werden können und welche Gefühle dann, auf der kommunikativen Ebene, unter welchen Bedingungen kommunizierbar sind. Konzeptualisierungskriterien sind die positive oder negative Grundrichtung eines Gefühls, unterschiedliche Intensitäten sowie Ereignisqualitäten (die also den Namen für ein Ereignis liefern, für das ein bestimmtes emotionales Geschehen charakteristisch ist). Die uns als Mitgliedern einer Kommunikationsgemeinschaft zur Verfügung stehenden und auch in die wissenschaftliche Rekonstruktion eingehenden alltagsweltlichen Konzeptualisierungen besitzen eine beträchtliche Vagheit. Dennoch sind sie sehr wohl geeignet, Emotionalität zum Gegenstand begrifflich basierter Kommunikation zu machen. Sie reichen aus, um emotionales Geschehen so zu beschreiben, daß es distinktiv benannt werden kann und entsprechend kommunizierbar wird. Selbstverständlich sind solche alltagsweltlichen Differenzierungen auch geeignet, die Wahrnehmung emotionaler Ausdrucksphänomene zu lenken. Wir nehmen ein emotionales Geschehen genauer und differenzierter wahr, wenn wir es benennen können. Und die Art und Weise der Benennung beeinflußt Genauigkeit und Differenzierung unserer Wahrnehmung. Ein spezieller Fall von Konzeptualisierung ist die „Gereiztheit”. Dieses Konzept referiert auf ein relativ komplexes Geschehen, das, wie Emotionalität wohl generell, eine innere Dynamik aufweist: Das Geschehen steigert sich, erreicht einen Höhepunkt (oder auch mehrere) und klingt wieder ab. Zu den Merkmalen des Konzepts „Gereiztheit” gehören: eine negative Erregtheit, Unwillen, Verärgerung, Empörung, gelegentlich eine gewisse Aggressivität. Auf der Skala verwandter Emotionen nimmt Gereiztheit eine mittlere Position ein. D.h., sie wird unterschieden und abgegrenzt von Zuständen, die als Zorn, Wut, Unbeherrschtheit u.ä. auf der einen Seite und Irritiertheit, Mißgestimmtheit, Übellaunigkeit u.ä. auf der anderen bezeichnet werden (wobei die schwächeren Emotionen verbal möglicherweise weniger differenziert sind). Entsprechend gilt der Ausdruck von Gereiztheit teils als verhaltener, teils als deutlicher gegenüber dem Ausdruck anderer Gefühle auf dieser Skala. Die Übergänge sind jedenfalls vom weniger intensiven zum intensiveren Geschehen hin fließend: Irritiertheit kann in Gereiztheit übergehen und Gereiztheit in Unbeherrschtheit. Wer „nur” gereizt ist, ist (noch) nicht wütend. Gegenüber weniger intensiven Emotionen referiert „Gereiztheit” immer auf ein Moment des Unwillens: Wer gereizt reagiert, drückt damit auch aus, daß diese Reaktion unter „normalen” Bedingungen überflüssig wäre, weil man darüber entweder gar nicht zu reden brauchte oder weil der nun gereizten Reak- 140 Wolfdietrich Hartung tion bereits neutrale intervenierende Reaktionen vorausgegangen sind, die der andere zur Kenntnis hätte nehmen müssen. Beides kann bewirken, daß eine deutlichere Unwillensbekundung zulässig wird, daß also beispielsweise nicht nur eine irritierte Frage gestellt, sondern ein Intonationsbogen mit deutlich nach oben verschobenen Gipfeln produziert wird, also eben eine Äußerung mit Merkmalen, die von anderen Teilnehmern als gereiztes Reagieren gedeutet werden kann (mehr dazu weiter unten). 2.3 Erkenntnisziele In den Äußerungen gibt es kaum Hinweise, aus denen mit einer gewissen Sicherheit ablesbar ist, daß der Sprecher gereizt ist. Allerdings scheint uns der Schluß auf Gereiztheit in manchen Fällen begründeter zu sein, und das mag auch an der Unterschiedlichkeit der Phänomene liegen, die vielleicht eine unterschiedliche „Nähe” zur Gereiztheit aufweisen. Vorsichtig formuliert, stoßen wir nur auf verschiedene Phänomene, die von den Sprechern offenbar auch im Zustand der Gereiztheit hervorgebracht werden können und deren Hervorbringung die anderen Teilnehmer veranlassen kann, auf einen gereizten Zustand des Sprechers zu schließen. Ich spreche dann von Ausdrucksphänomenen, die ich von Zeichen im engeren Sinn abgrenzen will. Das spezifische Ausdrucksgeschehen ist in der Regel, jedenfalls in den hier untersuchten Fällen, an sprachliche Zeichen gebunden, indem es diese entweder prosodisch oder intonatorisch begleitet oder indem es die Wahl der Zeichen selbst, in diesem Sinn dann die verbale Ebene direkt erreichend, beeinflußt. Insofern sind die Ausdrucksphänomene im Bühlerschen Verständnis auch Aspekte oder Leistungen von sprachlichen Zeichen. Da sie dies aber auf unterschiedliche Art sind, will ich sie hier als eine Gruppe von Ausdrucksphänomenen zusammenfassen, ohne auf die darin enthaltenen begrifflichen Probleme weiter einzugehen. (Die Bindung der die verbale Interaktion bestimmenden Ausdrucksphänomene an sprachliche Zeichen lockert sich beispielsweise schon beträchtlich, wenn wir den mimisch-gestischen Bereich einbeziehen, was in der vorliegenden Untersuchung allerdings nur sehr partiell geschehen ist.) In bezug auf ihre systematisch redundante Organisationsform und die damit verbundenen Besonderheiten ihrer Interpretation haben die Ausdrucksphänomene von Gereiztheit Ähnlichkeit mit den Kontextualisierungshinweisen. Relativ leicht und sicher erschließbar ist an den Ausdrucksphänomenen zunächst nur, daß der sie hervorbringende Teilnehmer emotional erregt ist. Schon nicht mehr mit hinreichender Sicherheit kann aus der Art der Phänomene entnommen werden, ob es sich um eine „negative” Erregung handelt, im uns interessierenden Zusammenhang also vor allem um eine, die durch das Wahrnehmen oder Vermuten von Perspektiven- Divergenzen, also das Erleben von Mißerfolgen und von Beeinträchtigungen des Selbstkonzepts ausgelöst ist, oder um eine „positive”. Für sich genommen, können die Phänomene zum größeren Teil auch Ausdruck Die Bearbeitung von Perspehtiven-Divergenzen 141 von Freude, Begeisterung, Erstaunen u.ä. sein. Die „negative” oder „positive” Gerichtetheit der Erregung ist offensichtlich erst nach der Deutung weiterer Hinweise sowie nach dem Rückgriff auf ein entsprechendes Hintergrundwissen erschließbar. Relativ leicht zugänglich ist den Teilnehmern auch die Intensität der Erregung. Entsprechende Wahrnehmungen werden auf Erwartungen bezogen, die situative Bedingungen und individuelle Normallagen berücksichtigen. Man „mißt” also nicht die Intensität von (emotionalen) Ausdrucksphänomenen, sondern empfindet sie als normal oder als vom Normalen abweichend, bezogen jeweils auf Situationen und Personen. Immerhin ergeben sich aus der Intensität die auch für das Alltagsbewußtsein in eine untere, eine mittlere und eine obere Ebene gegliedert ist - Hinweise, die es ermöglichen, ein ablaufendes emotionales Geschehen gegenüber einem intensiveren (etwa Wut) oder einem weniger intensiven (etwa Irritiertheit) als „Gereiztheit” abzugrenzen. Für die alltagsweltliche Einordnung eines emotional erregten Zustandes als „gereizt” wird die Intensität offenbar als Kriterium herangezogen. - Auch aus dem gleichzeitigen Auftreten mehrerer Ausdrucksphänomene ergeben sich noch keine eindeutigen Hinweise auf das zugrunde liegende emotionale Geschehen. Die Teilnehmer können durch solche Häufungen allerdings in ihrer Wahrnehmung und in ihren Interpretationen bestärkt werden. Wer erregt ist, ist es oft auf eine Weise, die mehrere Ausdrucksebenen umfaßt, die also in verschiedenen, nebeneinander vorkommenden Ausdrucksphänomenen deutlich wird. Dadurch kann ein entstandener Eindruck verstärkt werden. In den untersuchten Texten gibt es keinen Fall von Gereiztheit, in dem nur ein einziges der Phänomene vorkommt; es gibt aber auch kein Phänomen, das in jedem Fall vorkommt. Aufschluß über die Veranlassung der wahrgenommenen Ausdrucksphänomene, über den Gegenstand der Gereiztheit also und über ihre Einbindung in die laufende Interaktion, bekommen die Teilnehmer nur auf dem Wege einer Interpretation. Dabei können sie wie auch sonst auf zwei Quellen zurückgreifen: erstens auf Hinweise im Text oder allgemeiner: in der laufenden Interaktion, zweitens auf das, was sie schon wissen (Hintergrundwissen, Erfahrungen mit Situationen und Personen). Die Teilnehmer bedienen sich stets beider Quellen, wenn auch in wechselndem Umfang. Fehlen Interpretationshinweise oder sind sie spärlich, gewinnt der Rückgriff auf Hintergrundwissen an Bedeutung; aber auch sonst spielt dieser Rückgriff eine Rolle. Es gibt deshalb einen relativ breiten Raum, in dem jemand, dem gereiztes Reagieren zugeschrieben wird, den Vorwurf der Gereiztheit zurückweisen oder jedenfalls bagatellisieren kann, während die anderen Teilnehmer mit ähnlich gutem Recht glauben können, den Vorwurf aufrechterhalten zu müssen. Gereiztheit wird also als ein Moment der verbalen Interaktion konstituiert, indem Teilnehmer bestimmte Phänomene hervorbringen (die im 3. Kapitel näher beschrieben werden) und andere Teilnehmer (und gegebenenfalls 142 Wolfdietrich Hartung natürlich auch die Sprechenden selbst) diese als Gereiztheit deuten bzw. sich dessen bewußt werden, daß sie sich in einer Weise verhalten, die andere als gereizt deuten können. Diese Konstitution von Gereiztheit (Kapitel 4.1) bringt ein neues Moment in die verbale Interaktion. Ist Gereiztheit erst einmal zu einem Faktum in der verbalen Interaktion geworden, müssen sich Gereizte wie auch deren Partner in irgendeiner Weise dazu verhalten. So kann Gereiztheit reduziert, zurückgenommen, relativiert oder begründet werden; nach einer Begründung kann selbst gesucht werden, bei sich oder beim Partner, oder sie kann eingefordert werden; Gereiztheit kann bestritten werden oder Gegenstand von Beschwichtigungsversuchen sein usw. Ebenso kann Gereiztheit aber auch aufrechterhalten oder (beim anderen) ignoriert werden. Alle diese Aktivitäten sind teils auf eine der interagierenden Seiten beschränkt, teils können sie auch von beiden Seiten wechselseitig ausgeführt werden. Dieses Umgehen mit Gereiztheit (Kapitel 4.2) läßt bestimmte Strukturierungen entstehen, Phasen der Gefährdung und der (erneuten, verstärkten) Absicherung oder Beruhigung der verbalen Interaktion. Unser Erkenntnisinteresse richtet sich einmal auf jene Ausdrucksphänomene, an denen Interpretationen der Teilnehmer ansetzen. Zum anderen richtet es sich auf Arten des Umgehens mit oder des Bearbeitens von Gereiztheit. Im ersten Fall sind die verschiedenen Phänomene zu zeigen und zu diskutieren. Im zweiten Fall haben wir es mit Verfahren zu tun, derer sich die Teilnehmer bedienen. Allerdings wäre die Vorstellung zu einfach, Verfahren könnten gewissermaßen als Liste existieren, aus der nur ausgewählt zu werden braucht. Eher handelt es sich um Verhaltensansätze, die relativ frei ausgestaltet werden können; es gibt Minimalkomponenten, um die herum sich weitere Stücke anlagern. 3. Ausdrucksphänomene Ein emotionales Geschehen läuft zumindest in den Anfangsphasen weitgehend unwillkürlich ab; die Fälle, in denen es inszeniert sein könnte, sind zunächst einmal zu vernachlässigen. Es äußert sich in verschiedenen Ausdrucksphänomenen, die offensichtlich darauf zurückzuführen sind, daß die Selbstkontrolle in bezug auf bestimmte Parameter des kommunikativen Verhaltens allgemein und der Formulierungsleistungen im besonderen nachläßt oder jedenfalls anders gesteuert wird. An den Ausdrucksphänomenen wird also ein inneres, zunächst verborgenes emotionales Geschehen wahrnehmbar. Es wird für andere Teilnehmer wahrnehmbar, aber auch für denjenigen, der solche Phänomene hervorbringt. Dieser nimmt wahr und wird sich dessen bewußt, was in ihm vorgeht; schließlich kann er die Wirkung dieser Phänomene auf die anderen Teilnehmer sowie deren Schlußfolgerungen auf seinen eigenen inneren Zustand reflektieren. Damit, und mit den Wahrnehmungen der anderen, Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen 143 wird emotionales Geschehen zu einem Faktum in einer gemeinsamen Interaktionssituation. Der Ausdruck von Gereiztheit kann auf der prosodischen, nonverbalen und/ oder im engeren Sinne verbalen Ebene erfolgen. Der Ausdruck ist entweder auditiv vermittelt (Prosodie bzw. Intonation) und/ oder visuell (Mimik, Gestik, Körperbewegungen). Mit im engeren Sinne verbalem Ausdruck von Gereiztheit ist (noch) nicht ihre Thematisierung gemeint, sondern vor allem ihr Einfluß auf Wort- und Konstruktionswählen. Neben dem verbalen Ausdruck habe ich vornehmlich auditiv vermittelte Ausdrucksphänomene untersucht. Die nachfolgend aufgeführten Phänomene erschöpfen nicht notwendig alle Möglichkeiten, sie sind aber jedenfalls charakteristisch. 3.1 Prosodischer und nonverbaler Ausdruck von Gereiztheit (1) In „gereizten” Abschnitten stoßen wir oft auf auffällige vertikal markierte und horizontal besonders ausgedehnte Intonationsbögen, die wie folgt beschrieben werden können (vgl. dazu auch Hartung/ Skorubski 1993): Die Tonhöhenbewegung ist um zwei bis drei Töne nach oben verschoben und fällt nach emphatisch geäußerten, hauptbetonten Silben schnell wieder ab. Konform mit den Tonhöhenbewegungen steigt die Lautstärke an; die Umgebungssilben werden deutlich leiser gesprochen. Das Sprechtempo ist insgesamt relativ hoch, wird aber gerade in den hauptbetonten Silben oft auffällig verlangsamt. Aus der Summe der Merkmale ergibt sich eine bestimmte Kontur von emotionaler Sprechweise: eine prosodisch markante und relativ ausgedehnte Vorbereitung eines hauptbetonten Abschnitts. Diese Kontur charakterisiert am ehesten das, was als „gereizter Ton” empfunden wird. Ein typisches Beispiel findet sich im Transkript „Diskussion zur Tagesordnung”. Von einem der Teilnehmer des Runden Tisches (T2) waren die Moderatoren (Ml und M2) um Aufklärung darüber gebeten worden, an welcher Stelle der Diskussion man sich befinde, ob es noch um die Modalitäten der Arbeitsweise des Runden Tisches gehe, ob man bereits bei der Festlegung der Tagesordnung oder gar schon bei der Diskussion von Einzelpunkten sei. Ein erster ausgedehnter Intonationsbogen findet sich in Z.53. T2 möchte offensichtlich die Modalitäten weiter geklärt sehen und gibt deshalb seiner Gereiztheit darüber Ausdruck, daß bereits Punkte für die Tagesordnung zusammengetragen werden, zu der er selbst ja auch noch Vorschläge hätte. Der Moderator M2 versucht der Bitte von T2 um Klärung nachzukommen, wird dabei aber wiederholt unterbrochen, zuletzt auch von T2, so daß er mit seinem Plan, den Punkt im Ablauf der Debatte zu erklären, in Schwierigkeiten gerät. Darauf reagiert er mit Z. 54ff.: 144 Wolfdietrich Hartung 53 T2: 54 M2: 55 56 57 58 T2: 59 M2: 60 - - - / \ dit is doch "tagesOrdnung * (mach doch) (. ..) ja * herr * bitte vielleicht lassen sie mich doch mal / \ - - - - / \ - - "ausreden bitte ich habe gesagt das wäre "der punkt * an dem wir über die <—tagesOrdnung beschließen ich wollt=s nur noch mal ja zusammenfassen damit sie sehen welche punkte denn schon "da sind—> (Diskussion zur Tagesordnung) (Die Striche über den Zeilen 53 - 55 geben gleichbleibende, steigende und fallende Tonhöhenbewegungen wieder.) Das hauptbetonte und in der Tonhöhe deutlich nach oben verschobene Wort ist "ausreden. Die Anlaufphase zu diesem Höhepunkt erstreckt sich über eine ganze Zeile im Transkript (Z. 54), so daß das hauptbetonte Wort durch diese Umgebung (überdurchschnittlich ausgedehnter Intonationsbogen) eine besondere Auffälligkeit erlangt. Das herausgehobene Wort kann damit seine Semantik hier: Einhalten einer Grundbedingung der Gesprächsführung gewissermaßen in besonderer Weise entfalten. Lautstärke und wahrnehmbare Erregung halten bis Z. 55 (” der punkt) an. Hier beginnt eine deutliche Verlangsamung des Sprechtempos bis unter die Normallage von M2, was darauf schließen läßt, daß er sich seiner aufkommenden Gereiztheit bewußt wird; die Verlangsamung des Sprechtempos hat eine „beruhigende” Wirkung. M2 beginnt seine Erregung abzubauen. Inhaltlich ist diese Wendung dadurch gekennzeichnet, daß eine Zurechtweisung durch eine erneute Erklärung abgelöst wird. Wie mit Hilfe einer heraushebenden Intonation Sprechereinstellungen mitübertragen werden können, zeigt auch die besondere Gestaltung der Anrede. Normalerweise sind Anreden weder unnötig ausgedehnt noch betont. Wenn sie zweigliedrig sind - und z.B. aus „Herr + Name” bestehen - , liegt der Hauptton auf dem Namen (das gilt auch für andere zwei- oder mehrgliedrige Anredeformen). Liegt der Ton dagegen auf dem ersten Glied oder sind beide Glieder betont, erhält die Anrede eine besondere, z. B. „ermahnende” Markierung. Das ist gut erkennbar in einem Abschnitt aus einem anderen Transkript des Runden Tisches, in dem die gleiche Anrede zweimal vorkommt: 1 M: herr poppe) 2 TI: ja ich kann das nicht akzeptieren wenn über 3 "derart gravierende dinger äh dinge wie äh die * äh 4 Verteilung oder aufteilung von erwünschten fünfzehn Die Bearbeitung von Perspektiven- Divergenzen 145 5 milliarden mark hier so mit "einem nebensatz 6 hinweggegangen wird und damn also "ein einziger Vorschlag 7 dazu gemacht wird ich denke "das bedarf doch wirklich 8 eines diskussionsprozesses und da hätten wir ja auch eine 9 ganze reihe Vorschläge noch wofür die verwendet werden 10 könnten ich nenne mal die Versorgung der bevölkerung mit 11 den dringendsten * konsumgütern äh * und zum beispiel die 12 Stabilisierung der Produktion * das sind äh dinge * 13 weswegen hier * leute das land verlassen es geht auch um 14 die Verbesserung der infrastruktur um die verbesse/ um die 15 Verbesserung des dienstleistungsgewerbes es geht um 16 ökologische und energetische probleme * und ick bin doch 17 der meinung da*rüber müßte man dann noch en detail reden 18 wofür solche gelder verwendet werden sollen]. 19 M: herr: poppe- * 20 ich habe gesagt das wird in die redaktionsgruppe verwiesen * 21 und * kommt dann wieder auf den "tisch * natürlich können wir 22 "jetzt gleich sagen * wir nehmen/ verhandeln dies dieses 23 ganze * paket * dann wird jeder seine Vorstellungen bringen 24 können und dann ist die frage ob wir überhaupt noch * uns 25 einigen können * ... (Aufteilung fünfzehn Milliarden Mark) Die Anreden in Z.l und Z. 19 unterscheiden sich intonatorisch markant. In Z.l erteilt M Herrn Poppe (TI) das Wort. Betont ist hier der Name; der Aufruf-Charakter kommt auch in der Stimmhebung zum Ausdruck. Der erneuten Anrede in Z.l9 geht eine recht lange Aufzählung von Gründen voraus, weshalb man über die Kreditankündigung ausführlicher sprechen sollte. M ist dagegen offensichtlich der Meinung, daß eine ausführlichere Diskussion nicht an diese Stelle gehört. Deshalb soll der Punkt an die Redaktionsgruppe verwiesen werden und dann erst wieder auf den Tisch kommen Und er droht: Wenn wir jetzt gleich darüber reden, dann könnte es sein, daß wir uns nie einigen. Mit der zweiten Anrede, herr: poppe-, in der der Ton auf dem ersten Glied etwas länger verharrt und der Name nicht durch Stimmhebung hervorgehoben ist, kündigt M2 die nachfolgende Erinnerung und drohende Ermahnung bereits an. (2) Dem Prozeß des Außerns fehlt an Stellen, die wir als gereizt empfinden, häufig die sonst übliche Lautbindung. Stattdessen finden wir eine abgehackte Sprechweise (auch staccato-Sprechen oder emphatischskandierendes Sprechen). Die Wörter werden in einer Weise durch Akzente hervorgehoben und/ oder durch Pausen voneinander getrennt, die in emotional neutraler Sprechweise nicht üblich ist. Vgl. etwa den Anfang von Zeile 54 in „Diskussion zur Tagesordnung” (ja * herr * hüte) oder zwei Stellen aus einem weiteren Transkript des Runden Tisches: 146 Wolfdietrich Hartung 10 TI: 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 bzw.: ... ich meine man muß er"warten wenn mein mitsprechen will * daß man die unterlagen stu"diert * und "wie * hier was zu funktionieren "hat * in diesem "Sachverhalt * ist vor "wo"chen * auf diesem tisch gewesen ist * im/ in der wirtschaftsgruppe des runden tisches verhandelt worden * n="ganzen tach lang * ist beschlossen worden * und "dann kommt "jemand "heute hier "her und tut so als wüßte er von nichts "so * "geht * "das * "nicht wir müssen wenn wir uns hier nicht zum debattierklub zum/ am abschluß noch entwickeln wollen doch mindestens damn uns so weit qualifizieren äh daß wir die dinge einsehen die auf dem tische liegen * dankej, (unterschiedlicher Bildungsstand) 50 TI: 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 K 62 ja also ich muß unbedingt noch mal betonen daiß ich ei/ etwas vorausgesetzt hab was so wie ich feststelle gar nicht Vorhemden "ist ich habe vor"ausgesetzt daß äh jede der hier amwesenden pairteien die ja die marktwirtschaft sich auf * die fahne geschrieben hatten sich über die gesetze der mairktwirtschaft informiert haben auf daß sie auch äh fach und sachgerecht hier "mitdiskutieren können ich stelle fest * "daß * "dem * nicht * so * "ist und darum kann ich gairnich weiter äh sagen wir äh mitten/ äh mittenander reden "weil schlicht und einfach der äh * sagen wir bildungsstamd unterschiedlich ist # ich kaum doch äh na ja "das ist einfach der "fall * # LACHEN, UNRUHE # das muß man doch mal "sagen # (unterschiedlicher Bildungsstand) Im ersten Ausschnitt sind es drei thematische Punkte, die durch die abgehackte Sprechweise herausgehoben werden: die eigentlich vorauszusetzende Bekanntheit des Vorgangs vor ”wo”chen (Z. 13), die Ignorierung dieses Umstandes durch zumindest einige Teilnehmer und ’’dann kommt ’’jemand ’’heute hier ’’her und tut so ... (Z. 16f.) und die Bewertung dieses Verhaltens ”so * ’’geht * ’’das ’’nicht (Z. 17f.). Diese drei Punkte strukturieren die Gereiztheit von TI inhaltlich. Im zweiten Ausschnitt, der Teil eines Schlußwortes ist, hebt die abgehackte Sprechweise noch einmal die abschließende Feststellung * ’’daß * ’’dem * nicht * so * ’’ist (Z. 57f.) heraus. Daß die emotionale Erregung hier noch nicht abgeklungen ist, sondern einen erneuten markanten Ausdruck findet, zeigt der weitere Gesprächsverlauf (vgl. dazu weiter unten). Sowohl ausgedehnte Intonationsbögen wie abgehackte Sprechweise können zusätzlich durch größere Lautstärke realisiert werden, teilweise auch durch Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen 147 größeres Sprechtempo. Diese beiden Merkmale deuten allein natürlich noch nicht auf Gereiztheit hin, sie können aber auf emotionale Erregung schließen lassen und damit den Eindruck einer bestehenden Gereiztheit bestätigen oder verstärken. Deutlich wird das etwa im folgenden Beispiel aus einer Diskussion zwischen Linguisten. Hier stellen die schneller gesprochenen Passagen (Z. 91f., Z. 99f.) nicht etwa Zurückstufungen dar, sondern übertreibende Zuspitzungen, die die (unterstellte) Fremdperspektive als zu trivial oder unrealistisch hinstellen sollen: 85 S2: 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 äh ich will nicht materi"al suchen um irgend/ an einem punkt nun möglichst gemeinsam am selben/ an derselben Sache mit euch zusammenzukommen * da ver"stehst du mich nicht recht ich lehne grundsätzlich "ab material für "vorgefaßtes zu suchen aber ich muß doch irgendwo gewisse "anhaltspunkte haben * auf/ oder "ein=n anhaltspunkt * auf den ich zusteure —»ich kann doch nicht sagen nun "wir untersuchen und "ihr sucht und nun<— äh * irgendwann wird/ werden wir schon mal * n=moment finden wo wir uns fruchtbar ergänzen wir müssen ja wissen auf welche "Wirkung auf welche "leistung der linguistik "hin "wolln wir uns überhaupt ergänzen oder was wäre an Varianten "möglich und so * muß dann was "da sein * also das fehlt mir immer * offen gesagt fehlt=s mir schon lange * * äh ich meine s=is nich unsere "schuld — ► vielleicht is unser entwicklungsstand nich so weit<— "sicherlich nich * ... (mach doch mal n=paar Vorschläge) Generell kann man sagen, daß Ausdrucksphänomene dieser Art auf ein Nachlassen der Selbstkontrolle zurückzuführen sind, bedingt durch Zustände emotionaler Erregung: Die sonst mehr oder weniger eingehaltene, erwartete bzw. von den Teilnehmern akzeptierte Normallage wird verlassen, die Intonationshöhe verschiebt sich nach oben, die Lautbindung bricht ab, Lautstärke und Sprechtempo erhöhen sich. Sofern sich der Sprecher dieses Verlassens der Normallage bewußt wird, kann er sich wieder „unter Kontrolle” nehmen und dabei unter Umständen die Normallage in der entgegengesetzten Richtung verlassen (vgl. „Diskussion zur Tagesordnung” Z. 55-60, also, wie hier, auffällig langsam - und damit „ruhig” werden). Ich glaube nicht, daß dieses Zurücknehmen von Gereiztheit an eine vorausgegangene Inszenierung gebunden ist. Das Bewußtwerden in der Selbstkontrolle und die damit aufkommende Einsicht, möglicherweise zu weit gegangen zu sein, dürften wohl ausreichen. Aus den genannten Ausdrucksphänomenen läßt sich nicht nur auf Emotionalität schließen. Ihre gesprächsorganisatorische Funktion kann durchaus unterschiedlich sein. Lauteres Sprechen kann bekanntlich die Verständlichkeit erhöhen, schnelleres Sprechen drückt auch eine Zurück- 148 Wolfdietrich Hartung stufung aus usw. Abgehacktes Sprechen kann in diesem Sinne bewirken, daß die Aufmerksamkeit stärker auf einzelne Wörter gelenkt wird. Dadurch kann aber eine Sprecher-Absicht, die sonst möglicherweise erst zu erschließen wäre, in einer unüberhörbaren Weise verdeutlicht werden. Es entsteht ein „dozierender Ton”, eine Sprechweise also, die deutlich machen will, wie sich die Gegenseite eigentlich zu verhalten hätte, charakteristisch ausgeprägt etwa in den Beispielen aus „unterschiedlicher Bildungsstand”. Abgehackte Sprechweise kann auch einen erhobenen Anspruch deutlich machen, insbesondere wenn dieser gegen andere Ansprüche verteidigt oder durchgesetzt werden soll. Auch die Inszenierung fremder Rede (vgl. weiter unten) kann sich der abgehackten Sprechweise bedienen, um z.B. eine fremde Position in einer bestimmten, meist verzerrenden Weise bewertend wiederzugeben. - Zumindest ein Teil dieser Fälle läßt sich ebenfalls als ein Nachlassen von Selbstkontrolle erklären: Es gibt eine Normallage auch in bezug auf das, was dem Partner an Deutlichkeit und Direktheit zugemutet werden kann. Wer gereizt ist, neigt dazu, diese Normallage zu verlassen und unverhüllter und rücksichtsloser das auszusprechen, was er denkt. (3) Der Ausdruck von Gereiztheit erfolgt, wie der von Emotionalität überhaupt, meist unwillkürlich. Es ist jedoch auch möglich, Gereiztheit zu inszenieren, um ein mit ihr verbundenes kommunikatives Potential zu nutzen. Schließlich löst der Ausdruck von Gereiztheit eine bestimmte Aufmerksamkeit unter den Teilnehmern aus; Teilnehmer, die mit einem Gereiztheits-Ausdruck konfrontiert werden, fühlen sich möglicherweise Verpflichtungen gegenüber dem (gereizten) Partner ausgesetzt und sind deshalb eher zum Einlenken bereit; Gereiztheit kann eine Situation schaffen, in der eine aktuelle Verhaltenskritik möglich wird usw. Um dieses Potential nutzbar zu machen, können die entsprechenden Ausdrucksphänomene auch bewußt erzeugt werden, oder, nachdem sie unwillkürlich entstanden sind, kann ihr Entstandensein „ausgekostet” werden und damit natürlich auch ein bestimmtes Maß an Bewußtheit erlangen. Im einzelnen sind solche Unterschiede schwer festzumachen. Generell kann man sagen, daß anhaltende Gereiztheit oder ihre systematische Verbindung mit konflikterzeugenden thematischen Punkten auf zunehmende Bewußtheit und möglicherweise auf Inszeniertheit schließen läßt. Freilich ist es für viele Untersuchungsfragen nicht erforderlich, zwischen willkürlicher und bewußter oder inszenierter Gereiztheit zu differenzieren. Ein besonderer und nicht seltener Fall von Inszenierung liegt dann vor, wenn fremde Rede szenisch gestaltet und die szenische Gestaltung intonatorisch (bzw. auch verbal) so organisiert wird, daß die fremde Rede deutlich bewertet wird oder jedenfalls als bewertet interpretiert werden kann. Fremde Rede kann in einer karikierenden, übertreibenden, beleidigenden usw. Weise wiedergegeben oder fiktiv erzeugt werden, so daß sie den zitierten (oder fiktiven) Sprecher in ein Licht bringt, das die abwertende Position des zitierenden (oder realen) Sprechers stützt. Natürlich Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen 149 geht es hier nicht darum, einen anderen so wiederzugeben, wie er wirklich gesprochen hat oder wie er wirklich sprechen könnte. Produziert wird vielmehr ein Muster, das Bewertungen transportieren kann. Die entstehende Zitierung wertet ab, sie rekonstruiert jedenfalls nicht die Normallage der Gegenpartei. Im Transkript „mach doch mal n=paar Vorschläge” hatte sich S2 schon während eines längeren Redeabschnitts, und auch bei früheren Gelegenheiten, mit dem Verhalten anderer Teilnehmer auseinandergesetzt. Die Wiederholtheit der Auseinandersetzung und die Vergeblichkeit seiner Bemühungen haben ihn in eine gereizte Stimmung versetzt. Im Laufe der Argumentation greift er zu dem Mittel, das Verhalten der Gegenpartei szenisch zu gestalten, indem er wiedergibt, wie sie, nach seiner Meinung, reden würde oder reden könnte: 101 S2: 102 103 104 Sl: 105 S4: 106 107 Sl: 108 S2: 109 110 111 S4: 112 113 S2: 114 115 116 117 118 K 119 120 K 121 122 123 124 Sl: 125 S2: 126 ... aber äh ich halt es äh diese sache des zusanunengehens eben doch für fruchtbar wenn mein denkt daß die entwicklung doch äh * "neues bringen soll und das "wäre für mich * was neues dazu kann ich nur sagen (...) mach doch mal n=paar Vorschläge und dann (...) ne: äh * ich weiß nich das is äh hab ich doch ge"macht * hab ich doch gestern gemacht * ne ganze stunde Ising * leider viel zu lange und viel zu viel mir soll es nie wieder passieren * aber * nein das hab ich doch nicht richtig verstsmden ja ja das glaub ich * aber äh * das hab ich nicht (...) also es is ja auch so wenn ihr also dis ist kein Eingriff also wenn ihr sprecht genauso wie wir * (HEHRERE LACHER) nur auf unserer basis wir kennen unsere Sachen primär ihr kennt eure Sachen primär # das hab ich nich gelesen # kommt dsmn so als # GERINGSCHÄTZIG # antwort aus eurem bereich # das kenn ich nich ja na is für uns nicht wichtig und so # ge"nauso machen wir=s das is # GERINGSCHÄTZIG # "ungünstig solche haltung ja] * führt es nicht zusammen und sich nur hier hinzusetzen und zu sagen johannes mach mal n=paar Vorschläge kann ich ja sagen peter nein äh hat es angeregt "peter mach mal n=paar Vorschläge ja "so einfach geht das nich (mach doch mal n=paar Vorschläge) Die beiden fiktiven Zitierungen {das hab ich nich gelesen und das kenn ich nich ja na is für uns nicht wichtig und so) werden so gestaltet, daß sie 150 Wolfdietrich Hartung trotz der Abschwächung in Z. 115f. eine der Gegenpartei zugeschriebene geringschätzige Haltung gegenüber dem eigenen Anliegen ausdrücken sollen. Die reale Zitierung in Z. 122f. wird dagegen nicht geringschätzig intoniert. Mit ihr kann offensichtlich nicht die gleiche Bewertung transportiert werden. Wortwahl (sich nur hier hinzusetzen) und die Weitergabe der Aufforderung, ein paar Vorschläge zu machen, an peter, lassen aber das Fortbestehen der emotionalen Erregung auf andere Art deutlich werden. Es ist hier schwer zu sagen aber eben auch irrelevant - , wo eine bewußte Gestaltung anfängt. Natürlich ist das Zitieren fremder Rede eine bedachte Formulierungsleistung. Sie wird aber offensichtlich auch noch durch die emotionale Erregung des zitierenden oder realen Sprechers mitgeprägt. (4) Gestik, Mimik und Körperbewegungen: Dieser Ausdrucksbereich wurde nur sehr verkürzt untersucht. Auf eine Analyse mit entsprechender Notation soll hier deshalb verzichtet werden. Beobachtet wurde insbesondere das Beispiel „unterschiedlicher Bildungsstand”. Selbstverständlich drückt sich zunehmende Erregung auch in Gestik, Mimik und Körperbewegungen aus. Eine wachsende emotionale Spannung bewirkt beispielsweise, daß Bewegungen der Hände und des Körpers unkontrollierter und/ oder markanter werden. In bezug auf das untersuchte Material sind zwei Beobachtungen bemerkenswert: 1. Zu Beginn des ersten Ausschnitts aus „unterschiedlicher Bildungsstand” (vgl. die Wiedergabe oben) sitzt TI mit fest gefalteten Händen. Von Anfang an aber, also noch vor den Zeilen 13ff., in denen die Intonation auf Gereiztheit schließen läßt, teilt sich eine innere Erregung durch intensive Bewegungen der Daumen mit. Der körperliche Ausdrucksbereich von Emotionalität bringt also so etwas wie eine Vorankündigung: Diejenigen Teilnehmer, die zu beobachten in der Lage und bereit sind, können erfahren, daß (innere) Bedingungen für eine Zuspitzung entstehen. 2. Gestik und Körperbewegungen dienen bekanntlich in hohem Maße dazu, intonatorische Abläufe zu begleiten und sie gegebenenfalls zu verstärken. Im Falle abgehackter Sprechweise wird dieses Zusammenspiel besonders deutlich. Die Hände von TI bleiben bis Z. 16 gefaltet. In Übereinstimmung mit dem großräumigen Sprechrhythmus werden sie leicht gehoben und gesenkt. Die Hervorhebungen in Z. 13 (”wo”chen) und Z. 15 (n=”ganzen tach lang) werden durch leichtes Schütteln des Kopfes begleitet. In Z. 16, also am Anfang eines ersten „gereizten” Höhepunktes, nimmt TI die gefalteten Hände auseinander und formt sie zu gestreckten Handflächen, die er nun im schnelleren Rhythmus der hauptbetonten oder durch Pausen aus dem gebundenen Redestrom herausgelösten Silben auf und ab bewegt. In Zeile 18 faltet er die Hände wieder, damit zu einer noch gespannten, aber bereits das Abklingen einleitenden Haltung zurückkehrend. Die gleiche Öffnung und Bewegung der Hände wiederholt sich noch einmal im zweiten Ausschnitt in Z. 57ff. (siehe ebenfalls oben). Eine intensivere Version dieses Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen 151 Zusammenspiels von intonatorischer Heraushebung und Gestik bestünde wahrscheinlich darin, mit der Handkante auf den Tisch zu schlagen oder zu klopfen. Ähnlich wie im Falle des abgehackten Sprechens bekommen die zunächst wohl unwillkürlichen und dem Erregungszustand geschuldeten Bewegungen eine verdeutlichende Wirkung: Die Teilnehmer nehmen nun auch optisch wahr, was der Sprecher mit Nachdruck versieht. Das optisch wahrnehmbare Geschehen kann allerdings ein Niveau erreichen, auf dem es als unangenehm oder aufdringlich empfunden wird. Zum „dozierenden Ton” kommt auch eine entsprechende Gestik („erhobener Zeigefinger”). Im Zustand der Gereiztheit kann ein sonst übliches Maß an Zurückhaltung verlassen werden. 3.2 Im engeren Sinne verbaler Ausdruck von Gereiztheit Es könnte vermutet werden, daß sich Emotionalität, und insbesondere Gereiztheit, vornehmlich oder ausschließlich über prosodische Phänomene ausdrückt. Das träfe so jedoch nicht zu. Emotionale Zustände beeinflussen offensichtlich alle Ebenen des kommunikativen Verhaltens, also auch die Wortwahl und das Finden wie das Ausfüllen grammatischer Strukturen. Ein Nachlassen der Selbstkontrolle bedeutet im verbalen Bereich: das Auftreten von Wortfindungsschwierigkeiten allgemein, die Wahl unzutreffender oder in der gegebenen Situation unerwarteter (weil z.B. einem anderen Stilbereich zugehöriger) Wörter, Schwierigkeiten in der Wahl einer geeigneten grammatischen Konstruktion, das Verlassen einer gewählten Konstruktion durch Abbruch, Neuansätze usw. (1) Wortfindungsschwierigkeiten sind natürlich kein Spezifikum „gereizter” Abschnitte in Gesprächen. Sie können bekanntlich durch mehrere, ganz unterschiedlich einzuordnende Ursachen ausgelöst werden, aber sie treten eben auch zusammen mit solchen Phänomenen auf, die auf Gereiztheit schließen lassen. Charakteristische Beispiele sind etwa: 57 Tl: ich stelle fest * "daß * "dem * 58 nicht * so * "ist und darum kann ich garnich weiter 59 sagen wir äh mitten/ äh mittenander reden "weil schlicht 60 und einfach der äh * sagen wir bildungsstand unterschiedlich 61 ist # ich kann doch äh na ja "das ist einfach der "fall * K # LACHEN, UNRUHE # 62 das muß man doch mal "sagen # (unterschiedlicher Bildungsstand) Der Hinweis auf den „unterschiedlichen Bildungsstand” in Z. 60 ist offensichtlich nicht das Ergebnis einer zufällig deplazierten Wortwahl, vielmehr geht ihr eine anwachsende emotionale Erregung voraus, die an der Häufung 152 Wolfdietrich Hartung von Neuansätzen in Z. 58f. deutlich wird. Oder ein anderes Beispiel aus einer Linguisten-Diskussion: 62 B: 63 64 P: 65 66 C: K 67 P: 68 69 70 71 72 73 B: 74 P: 75 76 ... was würde uns denn hindern daß wir so=n weg ( ) pass auf äh ich hab nischt äh nischt dagegen # jeder macht einen kleinen Vorschlag # # LACHEND # nein * also gegen diesen/ LACHT, ANDERE LACHEN "ne: also ich bin nur da/ also ich bin einverstanden damit * äh ich bin auch der meinung daß wir das versuchen wir haben=s ja schon mehrmals versucht und vielleicht geht=s diesmal n=stück weiter zumindest verständigen wir uns mal wieder äh ich bin nur "grundsätzlich der meinung daß unser "hauptaugenmerk und unsre "hauptkrait nach "außen gerichtet sein sollte (wir haben so etwas wie einen Gesamtrahmen) Der Einwurf von C (Z. 66: jeder macht einen kleinen verschlag) löst bei P eine emotionale Ablehnung aus: Es handelt sich um dieselbe Diskussion, aus der der Text „mach doch mal n=paar Vorschläge” stammt; das „Machen von Vorschlägen” ist von daher für P negativ bewertet; zudem läßt jeder und kleinen verschlag darauf schließen, daß der Einwurf ironisch gemeint ist, denn es wäre natürlich unrealistisch, jeden der Anwesenden etwas vorschlagen zu lassen, und zu einem kleinen Vorschlag kann man nicht ernsthaft auffordern. P reagiert auf diese Gesamtsituation mit einer abgebrochenen Ablehnung, die durch eine partielle Zustimmung ersetzt wird, bis er in Z. 74-76 den Hintergrund seiner Ablehnung ausformulieren kann. An Stellen, die für den Interaktionsablauf kritisch werden, kann es offensichtlich eine Häufung von Wortfindungsschwierigkeiten geben, die über die jeweilige Normallage hinausgeht. Auch gehäuftes Auftreten von gefüllten Pausen {äh u.a.), die ja auch Ausdruck von Wortfindungsschwierigkeiten sein können, ist für kritische Stellen typisch. Auch wenn Satz- oder Wortwiederholungen, die ebenfalls zu den Wortfindungsschwierigkeiten zu rechnen sind, an bestimmten Stellen gehäuft auftreten, kann dies ein Zeichen wachsender Erregung sein und unter Umständen auch schon auf Gereiztheit schließen lassen. Deutlicher ist dies für Satzwiederholungen: Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen 153 105 S4: 106 107 Sl: 108 S2: Vorschläge und dann (. ..) mach doch mal n=paar ne: äh * ich weiß nich das is äh hab ich doch ge”macht * hab ich doch gestern gemacht * (mach doch mal n=paar Vorschläge) Die Häufung von Wortwiederholungen (im folgenden Beispiel werden die Wiederholungen der Übersichtlichkeit halber kursiv markiert) kann andere und mehr Ursachen haben als die von Satzwiederholungen. Sie tendiert deshalb weniger stark zum Gereiztheits-Ausdruck, ist aber doch charakteristisch für das weitere Umfeld einer erhöhten emotionalen Erregung: 239 240 241 242 243 244 245 246 247 248 249 250 251 252 253 P: ich würde sagen das war eher eher entgegengesetzt es gab eine positivistische und zwar eine sehr starke positivistische tradition die davon ausging es kommt "überhaupt nicht darauf an theorien zu entwickeln sondern es reicht aus Spiegel aus Spiegel der spräche zu sein oder Spiegel des Sprachgebrauchs zu sein und genau das äh zu listifizieren oder wie auch immer zu fixieren was die Sprecher machen und mehr nicht * und deshalb haben viele dissertationen viele dissertationen bis in die sechziger jahre hinein nur darin bestanden ein bestimmtes beispielmaterial nach irgendwelchen gesichtspunkten zu ordnen * ich könnte namen nennen * äh * bloß äh na gut wenn ihr meint daß der punkt uns weiterführt ja ich meine er führt uns "nicht weiter aber ich bin nicht fertig mit meinem beitrag äh (Bemerkungen zu verschiedenen Fragen) P reagiert an dieser Stelle auf mehrere Diskussionsbeiträge, die seiner Position widersprechen und die ihn teilweise etwas in die Enge getrieben hatten. (2) Gespräche sind nur dann möglich, wenn die an ihnen Beteiligten eine gewisse Aufmerksamkeit aufbringen, wenn sie zuhören können, wenn sie sich verständlich ausdrücken können usw. Solche grundsätzlichen Bereitschaften und Fähigkeiten werden normalerweise gegenseitig und stillschweigend vorausgesetzt. In konfliktären Situationen wird jedoch der Gegenseite häufig unterstellt, sie würde diese Voraussetzungen nicht mehr erfüllen oder sich beleidigenderweise so verhalten, als würde sie der eigenen Seite nicht mehr Zutrauen, daß diese in der Lage ist, solche Gesprächsvoraussetzungen zu erfüllen. Dementsprechend fordert man den Partner auf, sich an grundsätzliche Übereinkünfte zu halten, oder man weist darauf hin, daß man selbst doch genügend kompetent sei und solche Übereinkünfte einhalte. Normalerweise sind solche Nennungen selbstverständlicher Gesprächsvoraussetzungen überflüssig. Deshalb werden sie auch als mögliche Beleidigungen vermieden. In „gereizten” Situa- 154 Wolfdietrich Hartung tionen kann diese Zurückhaltung jedoch aufgegeben und eigentlich Selbstverständliches angemahnt oder für die Rechtfertigung von Handlungen oder das Unterlassen von Handlungen herangezogen werden: 30 T2: also ich möchte doch da"für sein daß wir das 31 nicht "vorgelesen bekommen haben was wir schon andauernd 32 "vorliegen haben wir sind alle alt genug und können selber 33 lesen * (Vorlage neun vier) Eine in diesem Sinn „verdächtige” Thematisierung von Selbstverständlichkeiten kann auch die Aufforderung paß (mal) auf sein: 167 P: ••• ich weiß es is 168 auch äh "anders äh in der linguistik äh gewesen und ich 169 selber habe zeitweilig anders diskutiert * äh ich bin 170 groß geworden eigentlich hier in X mit der der 171 these äh wir machen keine theorie wir hm bearbeiten erst 172 mal material erst werden mal belege gesucht das war/ so 173 hab ich meine dissertation angefangen und wenn die belege 174 da sind dann werden wir sehen wie wir die belege ordnen 175 können und was wir damit machen * das war das postulat 176 von Y und von Z anders war das nicht üblich hier 177 C: das is ja dieses Vorgehen ( ) 178 B: (. ■■■ ) und dann kam ja 179 die riesengroße generative revolution * ja) 180 P: "dagegen/ * 181 UNRUHE * paß mal auf * ähm wir brauchen jetzt nicht über 182 grammatiktheorie zu reden . . . (Bemerkungen zu verschiedenen Fragen) Die Unterbrechung hatte P offensichtlich persönlich getroffen. Ähnlich auch: 59 B: 60 61 P: 62 B: 63 64 P: 65 ... wir können=s doch mal versuchen peter äh was würde uns denn hindern daß wir so=n weg ( ) paß auf äh ich hab nischt äh nischt dagegen (wir haben so etwas wie einen Gesamtrahmen) Oder es wird eingeklagt, daß man nicht am Ausreden gehindert werden möchte: Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen 155 54 M2: ja * herr * bitte vielleicht lassen sie mich doch mal 55 "ausreden bitte ... (Diskussion zur Tagesordnung) Mehrere Beispiele für diese Art, den Partner an seine kommunikativen Pflichten zu erinnern, finden sich im Transkript „Knautschzone”: 2 38 H: mein lieber andreasf 39 H: nu hör ma zu 49 H: andreas hörst du bitte zu damit=e det nächste mal 50 H: mitreden kannst) * ... 77 H: andreas) kann ick jetz ma bitte reden du muß och jetz 78 H: ma=n andern irgendwat einräum paß ma uff- * ... 113 H: jetz läßte/ jetz läßte mich ma ausreden 189 H: ...andreas kann ich bitte 190 H: erst ma ausreden ick habe dich ausreden lassen un nu 191 H: erwarte ick det jetz o: ch von dir) ... Eine Häufung mehrerer dieser Phänomene findet sich im Text „dis is ke: ne Diskussionsgrundlage” : 3 1 H: 2 3 4 K: 5 6 H: 7 8 K: 9 H: 10 K: 11 H: 12 K: 13 14 W: 15 K: 16 17 18 H: 19 20 K: 21 H: 22 K: bevor wir eingezogen sind wurde gesagt wenn=s gartena/ bauamt das nich schafft wird=s material zur Verfügung gestellt * ja wo) UHRÜHE — ► darüber brauchen wir nich zu diskutiem das is doch vollkommen müßig jetzt«— * na wieso (...) paß mal auf * —»entscheidend ist doch daß wir Ordnung ja schaffen wolln gut ordnung schaffen und wenn die ka: we: vau es nich macht dann wolln wir det machen«— genauso is es und denn —»machen wir unsre beete vor dis fenster und wenn du dagegen bist denn mußt du sagen "ne: * ick beteilige mich nich«— <laß mich doch erst mal "ausrednwir graben jetzt hier hinten um> ja für was) für uns 2 Die Aufnahme wurde von Margita Pätzold hergestellt. 3 Aufnahme und Transkript sind von Sabine Kadow übernommen. 156 Wolfdietrich Hartung K vertritt hier die Position, daß man auf jeden Fall im Innenhof auf eigene Initiative Ordnung schaffen müßte (Z. 8-10), während H dafür zunächst einmal das Gartenbauamt verantwortlich machen möchte. K bestreitet die Diskussionswürdigkeit dieses eingebrachten Arguments auf eine recht zugespitzte, beinahe aggressive Weise (darüber brauchen wir nich zu diskutiern das is doch vollkommen müßig jetzt); übrigens erfolgt dies genau wie im Transkript „Bemerkungen zu verschiedenen Fragen” (Z. 181f.) nach einer einsetzenden UNRUHE, die den Sprecher aus dem Konzept zu bringen droht. Dies ist ein Versuch, Handlungsspielraum zu kontrollieren, und zugleich ist es ein Kampf um die Anerkennung von Kompetenz. H reagiert daraufhin mit der in diesem Fall offenbar nicht seltenen Mahnung zur Ordnung: paß mal auf. Nach dem erneuten Ausgrenzungsversuch durch K (Z. 15-17) reagiert H charakteristisch gereizt (ausgedehnter Intonationsbogen, Nennen von Grundvoraussetzungen des Gesprächs), um dann noch einmal den Versuch eines Arguments zu starten. Vorausgegangen waren wiederholte Versuche, sich auf ein Herangehen an das Schaffen von Ordnung zu einigen. Daß dies nicht gelang, schuf die Grundlage für eine gereizte Stimmung. Wenn Teilnehmer gereizt sind, fällt es ihnen in der Tat nicht immer leicht, selbstverständliche Gesprächsvoraussetzungen auch einzuhalten. Das Einklagen eines entsprechenden Verhaltens kann also durchaus berechtigt sein. Emotionale Erregung wirkt sich nicht nur auf Verbalisierungsleistungen und deren prosodische und nonverbale Begleitung aus, sondern auch auf den Umgang mit kommunikativen Normen. Wie solche Normen beachtet werden und auf welche Weise ihre Beachtung im Falle der Verletzung eingeklagt wird, sagt etwas über den emotionalen Zustand der Kommunizierenden aus. Ein Nachlassen der Selbstkontrolle hat zur Folge, daß insbesondere solche Übereinkünfte eine geringere Beachtung finden, die der Gegenseite gleiche Rechte oder jedenfalls einen definierten Handlungsraum zusichern, und daß gleichzeitig die Bereitschaft zunimmt, der Gegenseite eine solche verringerte Bereitschaft vorzuhalten. Unter einem allgemeineren Gesichtspunkt werden hier Verfahren des Forcierens wirksam (vgl. dazu den Beitrag von Kallmeyer/ Schmitt in diesem Band). Gereizte Kommunikation besteht oft in einer Abfolge von (durch emotionale Eskalation bedingtem) Nichteinhalten eines erwarteten Verhaltens und einem (gereizten) Einklagen des Einhaltens. Nicht eingehalten wird insbesondere die Gewährung des Rederechts und das Bekunden von Interesse für den Partner. D.h., man läßt den Partner nicht zum Reden kommen oder unterbricht ihn, und man fixiert sich immer mehr auf die eigene Position und deren Durchsetzung, anstatt die Gegenposition in der sonst üblichen Weise zu beachten. Reaktionen auf solche tatsächlichen oder vermuteten bzw. befürchteten - Nichteinhaltungen sind die oben bereits in anderem Zusammenhang erwähnten Forderungen, doch mal ausreden oder überhaupt reden zu dürfen usw. 157 Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen (3) Emotionale Erregung über wiederholte vergebliche Versuche, einen bestimmten Punkt im Gespräch durchzusetzen, kann ein Nachlassen der Selbstkontrolle bewirken. Es kann offenbar aber auch dazu führen, daß Übertreibungen (gelegentlich auch Untertreibungen) und Stilbrüche d.h. hier: Abweichungen von einer neutralen Stilebene „nach unten” an die Stelle neutraler Darstellungen treten. Dem Sprecher gelingt es nicht mehr, „Maß zu halten”. Er greift unter emotionalem Druck zu Wörtern, die sachlich oder von der Stilebene her nicht ganz angemessen sind. Das Vorkommen bestimmter Übertreibungen und Stilbrüche läßt die Teilnehmer auf Gereiztheit schließen. Andererseits wird durch die Maßüberschreitung auch die Aufmerksamkeit auf ganz bestimmte Punkte gelenkt, was letztlich eine Verdeutlichung des Gemeinten bewirken kann. Aus diesem Grund können (tatsächlich gereizte oder als gereizt empfundene) Übertreibungen und Stilbrüche dann auch bewußt eingesetzt bzw. inszeniert werden, so daß das in ihnen steckende kommunikative Potential genutzt werden kann. Übertreibungen und Stilbrüche sind auf etwas gerichtet, man übertreibt etwas inhaltlich Bestimmtes, man weicht an einem ganz bestimmten Punkt von der angemessenen und erwarteten Stillage ab. Solche Zielpunkte von Übertreibungen und Stilbrüchen sind: die Gegenseite; die Folgen, die aus einem Handeln oder dem Unterlassen eines Handelns erwachsen; die eigene Person, vor allem als Gegenstand von Schuldübernahmen und von Selbstbezichtigungen. Ein charakteristisches Beispiel ist das bereits mehrfach herangezogene Transkript „unterschiedlicher Bildungsstand”: Auf Wissenslücken der Gegenseite und selbst auf deren mangelhafte Vorbereitung kann man nicht mit einem unterschiedlichen Bildungsstand referieren. Angemessener wäre hier Wissensstand oder Informiertheitsgrad-, Bildung ist kein momentaner, sondern ein permanenter und damit stärker persönlichkeitsbezogener Besitz. Deshalb reagieren die Teilnehmer, je nach Betroffenheit und Funktion, belustigt, empört oder im Falle des Moderators beschwichtigend: 57 58 59 60 61 K 62 63 64 TI: Ml: ... ich stelle fest * "daß * "dem * nicht * so * "ist und darum kann ich garnich weiter äh sagen wir äh mitten/ äh mittenander reden "weil schlicht und einfach der äh * sagen wir bildungsstand unterschiedlich ist # ich kann doch äh na ja "das ist einfach der "fall * # LACHE», UNRUHE # das muß mein doch mal "sagen # das ist eine feststellung kein vorwurf nicht] Auf die Folgen eines Tuns bezogen und deshalb möglicherweise weniger konsequenzenreich als eine die Person treffende Charakterisierung der Gegenseite ist eine andere Stelle in „unterschiedlicher Bildungsstand”: 158 Wolfdietrich Hartung 18 TI: •• ■ müssen nenn wir uns hier nicht zum 19 debattierklub zum/ am abschluß noch entwickeln wollen 20 doch mindestens dann uns so weit qualifizieren äh daß wir 21 die dinge einsehen die auf dem tische liegen ... Schärfer - und auch überzogener werden die Folgen einer Argumentationsweise der Gegenpartei in einer Talk-Show charakterisiert. Auf die Frage, ob sich die USA und die westlichen Staaten allgemein nicht durch ihr zögerndes Verhalten am Schicksal der kurdischen Flüchtlinge mitschuldig gemacht hätten, reagiert Norbert Blüm so: 4 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 B: also wenn wir noch n="bißchen Ml: B . "machen habe ich den eindruck die ameri"kaner hätten den krieg in kuweit äh die grenzen da hm verrückt hm (SCHLUCKT) oder die ameri"kaner wären an der stelle von Saddam hussein und würden die kurden ermordenich weiß nicht ganz ** ob uns die diskussion/ — ► in "der situation in der wir "jetzt sind*—* find ich die >fast etwas scholastisch muß ich sagenj< . . . (Kurden) Auch hier waren wiederholte Versuche vorausgegangen, Diskussionspunkte festzulegen; deren Vergeblichkeit hat eine gereizte Erregung erzeugt. - Einen typischen Fall von übertreibender Selbstbezichtigung finden wir in folgendem Beispiel: Auf die Aufforderung, doch mal ein paar Vorschläge zu machen, reagiert S2, der am Vortag tatsächlich einen Vorschlag sehr ausführlich vorgetragen hatte, wie folgt: mach doch mal n=paar Vorschläge und dann (...) ne: äh * ich weiß nich das is äh hab ich doch ge"macht * hab ich doch gestern gemacht * ne ganze stunde lang * leider viel zu langt und viel zu viel mir soll es nie wieder passieren . . . (mach doch mal n=paar Vorschläge) Eine Selbstbezichtigung in „Knautschzone” ist von der gleichen Struktur: 110 A: ick "faß es nich ick bin blöd ick hab keen beruf Im folgenden Beispiel wird durch schnelle Selbstkorrektur (in Zeile 3) eine Unangemessenheit in der Stilebene beseitigt. Infolgedessen kommt es noch nicht zu einem eigentlichen Ausdruck von Gereiztheit, der Stilbruch könnte aber so gedeutet werden, bliebe er unkorrigiert: 105 S4: 106 107 Sl: 108 S2: 109 110 4 Aufnahme und Transkript stammen aus einer Seminararbeit von Veronika Latz. Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen 159 2 TI: ja ich kann das nicht akzeptieren nenn über 3 "derart gravierende dinger äh dinge wie äh die * äh 4 Verteilung oder aufteilung von erwünschten fünfzehn 5 milliarden mark hier so mit "einem nebensatz 6 hinweggegangen wird und dann also "ein einziger Vorschlag 7 dazu gemacht wird ich denke "das bedarf doch wirklich 3 eines diskussionsprozesses . . . (Aufteilung fünfzehn Milliarden Mark) Das in Übertreibungen enthaltene kommunikative Potential kann z.B. in Feststellungen genutzt werden, die gegen einen eigentlich zu erwartenden Konsens getroffen werden und die deshalb wohl vor allem dadurch motiviert sind, daß man wünscht, ihnen möge widersprochen werden: 58 S2: ... oder ist theoretisch nicht 59 "wesentlich daß die zusammengeführt werden "gut dann 60 lassen wir—sj * das müssen wir aber feststellenj. * (mach doch mal n=paar Vorschläge) Der Sprecher will hier natürlich nicht, daß die Diskussion über die Möglichkeit, soziolinguistische und gesprächsanalytische Ansätze zusammenzuführen, abgebrochen wird. - Oder das Potential von Übertreibungen wird wie in dem im Titel dieses Beitrags angeführten Beispiel zur Ironie genutzt: ... allerdings * möchte ich darauf hinweisen * daß ja unter umständen die redaktionsgruppe durchaus zu der erkenntnis kommen kann * worauf "wir uns wohl einlassen wenn wir fünfzehn milliarden die noch nich mal bewilligt sind vorneweg schon ver"teilen * könnte ja sein nicht * aber wenn/ wir könn=n darüber ruhig weitersprechen bis mittags wenn wir wollen ♦ ... (Aufteilung fünfzehn Milliarden Mark) emotional bedingtes Nachlassen der Selbstkontrolle kann zu Wortfindungsschwierigkeiten, zu unangemessenen Wort- und Stilebenen- Wahlen oder zum Nennen von selbstverständlichen und sonst stillschweigend erwarteten und meist auch eingehaltenen Gesprächsvoraussetzungen führen. Das Nachlassen der Selbstkontrolle kann aber auch bewirken, daß ungeeignete grammatische Konstruktionen gewählt werden oder daß die im Erregungszustand noch zur Verfügung stehende Kontrollfähigkeit nicht mehr ausreicht, die einmal gewählte Konstruktion durchzuhalten. Die Folge ist dann eine Zunahme von ungrammatischen Äußerungen und von Abbrüchen die natürlich allein noch nicht auf Gereiztheit schließen lassen, sondern allenfalls auf eine bestehende emotionale Erregung. Dabei können wir zwischen Wort- und Konstruktions-Abbrüchen unterscheiden. In ersteren können auch 51 52 53 54 55 56 57 M: (4) Ein 160 Wolfdietrich Hartung Wortfindungsschwierigkeiten manifest werden. Da aber Konstruktionsabbrüche auch mitten in einem Wort erfolgen können, sind beide Arten von Abbruchen nicht immer scharf voneinander abzugrenzen. Die Häufigkeit von Abbruchen variiert individuell, bezogen sowohl auf ein individuelles Gesamtverhalten wie auf individuelles Verhalten in gegebenen Situationen. Aussagen über die Häufigkeit von Abbruchen sind deshalb immer auf Normallagen bezogen, d.h. auf erwartete Werte. Die an einer Interaktion Beteiligten nehmen aber durchaus wahr, wann von solchen Normallagen abgewichen wird. Im folgenden Beispiel soll ein Antrag verlesen werden, der den Teilnehmern schriftlich vorliegt. In der Begründung zu einem daraufhin eingebrachten zusätzlichen Antrag zur Geschäftsordnung, der das Verlesen verhindern soll, gelingt es T2 nicht, die zunächst gewählte grammatische Konstruktion durchzuhalten: 30 T2: also ich möchte doch da"für sein daß wir das 31 nicht "vorgelesen bekommen haben was wir schon andauernd 32 "vorliegen haben wir sind alle alt genug und können selber 33 lesen * (Vorlage neun vier) Möglich wäre hier etwa ich möchte doch dafür sein daß wir das nicht vorgelesen bekommen was wir schon vorzuliegen haben oder ich möchte doch dafür sein daß uns nicht andauernd etwas vorgelesen wird was wir schon vorzuliegen haben. Diese Häufung von Konstruktionsbrüchen kann natürlich individuell sein. Das ließe sich durch Vergleiche leicht feststellen. Sie kann aus einer Unsicherheit bei öffentlichen Auftritten herrühren, was sich schwerer nachprüfen ließe. Sie kann aber auch - und das reicht uns als Befund aus einer aufkommenden emotionalen Erregung geschuldet sein, die Unwillen über eine bereits wiederholte (! ) Verlängerung der Tagesordnung zum Inhalt hat. Es spricht manches dafür, daß dies im vorliegenden Fall so ist. Häufungen von Abbruchen treten oft auch dann auf, wenn Einwände und Gegenpositionen formuliert werden oder wenn sich jemand gegen Einwände und Vorwürfe verteidigt: 115 B: äh das/ du hast recht 116 konfliktkommunikation is=n interessanter gegenständ 117 bloß ich würde mich/ aus prinzipiellen gründen war ich 118 nicht einverstanden damit daß du als gestörte kommunikation 119 P: na ja gut * dann 120 B: das is=n normaliall der kommunikation 121 P: ich hab=s ja auch nicht so genannt LACHEN (Bemerkungen zu verschiedenen Fragen) Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen 161 In der vorangegangenen Diskussion hatte P, nicht zum erstenmal, davon gesprochen, daß Kommunikation in konfliktären Situationen ein interessantes und notwendiges Forschungsthema sei. Und B hatte bereits vor der aktuellen Diskussion Bedenken gegen zumindest bestimmte Aspekte eines solchen Themas angemeldet. Auch hier finden wir, an der Schwelle von Gereiztheit, die Wiederholtheit vergeblich bleibender Versuche. - Oder: 178 B: (...) und dann kam ja 179 die riesengroße generative revolution * jaj 180 P: "dagegen/ * 181 UHRUHE * paß mal auf * ähm wir brauchen jetzt nicht über 182 grammatiktheorie zu reden ich meine nur daß in verschiedenen 183 Situationen der der Wissenschaftsentwicklung und bezogen 184 auf unterschiedliche gegenstände die Situationen 185 unterschiedlich sind * äh * "damals war die gefahr glaube 186 ich anders äh ein/ also "ich hab sie zumindest anders 187 eingeschätzt als ich sie heute für uns einschätzen würde 188 äh so wie die/ fritz damals an die linguistik rangegangen 189 ist war es "meines erachtens falsch aber wir brauchen jetzt 190 nicht über Wissenschaftsgeschichte zu diskutiem (Bemerkungen zu verschiedenen Fragen) Der auch persönlichen Spitze gegen P in Z. 178f. waren längere Auslassungen von P über die jüngere Wissenschaftsgeschichte vorausgegangen, in denen er Vergleiche anstellte und Zusammenhänge zeigte, die jedoch nicht die Zustimmung aller Teilnehmer fanden. Die Spitze von B hat ihn dann offenbar aus dem Konzept gebracht bzw. die sich anstauende Erregung zu einem Höhepunkt geführt. Auch hier ist als Hintergrund wichtig, daß zwischen B und P eine längere Spannung bestand, so daß eine völlig unbelastete und emotionslose Diskussion bisweilen kaum möglich war und ein Abdriften in Gereiztheit erwartet werden konnte. In solchen Situationen kann natürlich ein besonderer Formulierungsbedarf auftreten, der zu einem Formulierungsfluß führt, in dem sich dann auch ungrammatische Außerungsstücke häufen. 4. Gereiztheit in der verbalen Interaktion Wenn sich Gereiztheit in einer interaktiven Situation äußert, wird sie zu einem Faktum in dieser Situation. Sie verändert die Situation. Die Beteiligten können nicht mehr so weiterreden wie bisher. Sie müssen davon ausgehen, daß einer der Teilnehmer mit der aktuellen Entwicklung der verbalen Interaktion unzufrieden ist. Sie sehen sich veranlaßt je nach dem Charakter der Situation und nach der Stellung in ihr zu klären, ob ihre Vermutung richtig ist, und der Quelle der Unzufriedenheit nachzuspüren, um den Ausdruck von Gereiztheit entweder als unberechtigt 162 Wolfdietrich Hartung zurückzuweisen oder ihn, im andern Fall, nach Möglichkeit wieder aufhebbar zu machen. Tun sie dies nicht, könnte sich eine ernsthafte Gefährdung der Interaktion ergeben. Natürlich kann die Gereiztheit eines Teilnehmers von den anderen auch ignoriert werden, etwa in der Erwartung, daß er sich schon wieder beruhigen werde. Aber auch in diesem Fall hat sich an der Situation etwas verändert. Das Ignorieren der Gereiztheit geschieht mit rhetorischer Absicht, es schließt auch ein einkalkuliertes Risiko ein. 4.1 Die Konstitution von Gereiztheit Die Teilnehmer stoßen also auf bestimmte Ausdrucksphänomene: besonders ausgedehnte Intonationsbögen, abgehackte Sprechweise, größere Lautstärke, größeres Sprechtempo, bewertende Inszenierung fremder Rede, begleitende Gestik, Mimik und Körperbewegungen, Wortfindungsschwierigkeiten, Wortwiederholungen, Nennungen selbstverständlicher Gesprächsvoraussetzungen, Übertreibungen und Stilbrüche, Zunahme von ungrammatischen Äußerungen und Abbrüchen. Solche Phänomene können sich häufen und auch kombiniert miteinander verkommen. Die Hinweise auf eine beginnende Gefährdung der Kommunikation werden dann nachdrücklicher. Ein Beispiel dafür ist folgende Stelle aus einem Streitgespräch zwischen Mietern einer Neubausiedlung: 2 3 4 5 6 K 7 8 9 K: 10 P: 11 K: 12 13 14 P: 15 16 K: 17 18 19 20 21 22 23 <fünf mark die stunde soll=s dadrauf gebenda muß irgend=n vertrag abgeschlossen werdenich bin dafür an dem hintren innenhof was zu machen wenn ein vertrag auf dem tisch liegt wo wir "geld kriegen und wo materielle mittel rankommenalles alles selbständig rumgebuddel bin ich da"gegen # bin ich da"gegen # und wenn=s so # MIT HOHER STIMME # aussieht w=was soll denn werden w/ du warst doch bei der einwohnerversammlung weil mich das anfcotzt wenn ich mich kotzt ja mich auch aus dem fenster kieke und die (...) sehe ... und muß dir ... sagen wenn du dagegen bist denn mach ich det alleine <—"mensch * bleib doch mal ruhig—» es gibt doch für den innenhof (...) ne: dis is (. . .) laß mich mal aussprechen es gibt für das innen/ —»wie der innenhof gestaltet werden muß irgend=n plan da is irgendwas bilanziert da wird=d gold rausgeschmissen * wenn das jetzt nich gemacht is jetzt sollen wir=s die einwohner machen * demnächst geb=n se=n fünfstöckiges haus nach vier etagen und sagen hier * den restlichen stock Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen 163 24 hier wißt ihr wie=s gebaut wird GEMURMEL HEITERKEIT 25 hier habt ihr=s material fünf mark die stunde und dann 26 baut euch das<— so kann=s doch auch nich gehn (dis is ke: ne Diskussionsgrundlage; Transkript von Sabine Kadow) Der erste Redebeitrag von P ist durch zunehmende Erregung gekennzeichnet; P spricht lauter, gleichzeitig damit werden in Z.6 die Tonhöhen nach oben verschoben; hinzu kommen abfällige Wortwahl (rumgebuddel), mehrere Abbrüche, Übertreibungen, in Z. 17f. die Anmahnung, aussprechen zu dürfen. K hält mit der Wortwahl (ankotzen) dagegen, die P aufgreift; an dieser Stelle kann er aber nicht mehr tun als seine frühere Ankündigung zu wiederholen: denn mach ich det alle: ne. - Der gereizte Ton ist hier für P und K, der im wiedergegebenen Ausschnitt allerdings nur kürzer zu Wort kommt, in ähnlicher Weise kennzeichnend. Er hat zunächst eine Quelle, die außerhalb des aktuellen Kommunikationsereignisses liegt: Beide sind ungehalten darüber, daß es im Innenhof ihres Hauses in einem Neubauviertel noch keine Grünanlage gibt. Sie unterscheiden sich aber in ihrer Reaktion auf diesen Zustand. P ist dafür, die Grünanlage auf vertraglicher Basis und nach einem Plan zu gestalten, nicht durch unabgesicherte Eigeninitiativen der Mieter. Genau dies reizt K, der nicht so lange warten will, zusätzlich. In Z. 9ff. gibt er zunächst mit der starken Wortwahl seiner allgemeinen Verärgerung Ausdruck: weil mich das ankotzt wenn ich aus dem fenster kieke und stellt sich dann ausdrücklich gegen den Vorschlag von P: denn mach ich det allc.ne. P sieht sich daraufhin veranlaßt, der manifest gewordenen Gereiztheit durch die langsamer gesprochene Ermahnung ” mensch * bleib doch mal ruhig-* entgegenzutreten. Teilnehmer an einer Interaktion, die Ausdrucksphänomene der genannten Art wahrnehmen, erfahren auf einer ersten Stufe der Interpretation solcher Phänomene, daß ein bestimmter (anderer) Teilnehmer emotional erregt ist. Sie können sich natürlich auch selbst als Erregte wahrnehmen, was z.B. Voraussetzung dafür ist, den eigenen inneren Zustand zu kontrollieren. Sie erfahren etwas über die Intensität der Erregung, und sie können in einigen Fällen eine negative Gerichtetheit, also etwa Unwillen, vermuten. Dies reicht oft schon aus, um unter Rückgriff auf Erfahrungen, Hintergrundwissen, Befürchtungen usw. das Verhalten eines anderen als „gereizt” einzuordnen und es gegebenenfalls auch so zu bezeichnen. Solange Kommunizierende spontan und strategisch unreflektiert reagieren, bewegen sie sich auf dieser ersten Stufe, auf der die Einordnung der Wahrnehmungen noch relativ leicht bestritten werden kann (ich bin ja gar nicht gereizt). Deshalb entsteht ein je nach Bedeutsamkeit der Situation mehr oder weniger dringlicher Interpretationsbedarf. Es wird notwendig zu klären und zu bearbeiten, was da im Hintergrund an Gefährdungen entsteht. 164 Wolfdietrich Hartung Wenn Ausdrucksphänomene wiederholt oder mehrfach aufgetreten sind, wird es immer schwieriger, sie zu ignorieren. Und wenn sie ignoriert werden, dann durch eine mehr oder weniger bewußte Entscheidung mit einer rhetorischen Absicht. In der Regel sind die Teilnehmer daran interessiert zu erfahren, wodurch die Gereiztheitsphänomene verursacht wurden und ob die auslösenden Momente den Gang der Interaktion tatsächlich beeinträchtigen oder gefährden können. Ebenso ist aber auch der Teilnehmer, der die Phänomene hervorgebracht hat, gehalten, ein gewisses Maß an Interpretationshilfen zu liefern: Niemand darf über längere Zeit gereizt sein, ohne zu erkennen zu geben, warum er es ist. Wer Gereiztheits-Phänomene hervorbringt, will, daß sie wahrgenommen werden, oder er läßt es jedenfalls zu. Damit schafft er neue Interaktionsbedingungen. Er muß aber die Interpretierbarkeit der von ihm hervorgebrachten Phänomene garantieren, wenn er sich nicht der Gefahr aussetzen will, daß andere Teilnehmer sie in einer Weise interpretieren, die er nicht mehr kontrollieren kann. Ist es nicht möglich, den entsprechenden Interpretationsbedarf zu befriedigen weil z.B. nicht genügend deutbare Hilfen zur Verfügung stehen und weil keine weiteren geliefert werden -, kann die Interaktion in eine Sackgasse geraten. Unbefriedigter Interpretationsbedarf verunsichert die Teilnehmer und stellt Sinnzuschreibungen in Frage. Auch der Nicht-Gereizte muß befürchten, daß ihm etwas (noch) nicht Ausgesprochenes angelastet werden soll. An einer solchen Zuspitzung ist jedoch zunächst keiner der Teilnehmer interessiert. Der gereizt Reagierende will ja letzten Endes eine bestimmte Unzufriedenheit, etwa über eine von ihm aktuell wahrgenommene Perspektiven-Divergenz, den anderen deutlich machen, also wird er bewußt oder auch unbewußt - Interpretationshilfen liefern. Die andere Partei wird ihrerseits alle verfügbaren Hilfen zu deuten suchen. Geschieht dies nicht, kann der in der „Sackgasse” drohende Abbruch der Kommunikation nur noch dann hinausgezögert werden, wenn der Anspruch auf Interpretierbarkeit einseitig aufgegeben wird; was im Extremfall immer möglich ist und auch einen beliebigen Neuanfang erlauben kann. Es setzt aber immer auch ein Nachgeben der einen Seite voraus. Einer ist dann bereit, die Gefährdung der Kommunikation durch den anderen zu übersehen und noch einmal von vorn zu beginnen. Er beseitigt die Perspektiven- Divergenz dadurch, daß er die eigene Perspektive aufgibt oder sie zumindest zeitweilig zurückstellt. Emotionale Ausdrucksphänomene interpretieren, heißt jedenfalls in den hier analysierten Fällen verbal-sprachlicher Kommunikation -, einen Bezug zur rationalen oder propositionalen Ebene des kommunikativen Geschehens herzustellen. Ihr Zusammenhang mit dem, was gesagt wird (oder gesagt worden ist), muß deutlich werden. Der Zusammenhang kann entweder lokal herstellbar sein oder versetzt. Letzteres ist der Fall, wenn eine emotionale Erregung im Vorgriff auf eine mögliche künftige Äußerung (oder ein künftiges Verhalten) eines Teilnehmers entsteht oder wenn sie Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen 165 eine späte Reaktion auf etwas bereits Gesagtes ist. Ein Zusammenhang kann lokal hergestellt werden, indem ermittelt wird, welche propositionalen Bereiche durch prosodische oder nonverbale Phänomene markiert werden oder welches der propositionale Inhalt bestimmter Formulierungsmuster (Übertreiben, Nennen selbstverständlicher Gesprächsvoraussetzungen usw.) ist. Es wird beispielsweise nicht einfach nur übertrieben, sondern es wird stets ein ganz bestimmter Umstand, die Folge einer Handlung usw. übertrieben. Kennen die Teilnehmer diesen Inhalt, wissen sie auf jeden Fall mehr darüber, warum das Muster der Übertreibung gewählt wurde oder was einen Sprecher so erregt hat, daß er sich nicht mehr so weit unter Kontrolle hat, das in bezug auf die gegebene Situation abweichende Muster zu vermeiden. Interessanterweise sind in den untersuchten Texten die Fälle sehr zahlreich, in denen prosodische Ausdrucksphänomene mit solchen Formulierungsmustern („verbalen Ausdrucksmitteln”) zusammen auftreten. Dies macht es letzten Endes möglich, Quellen der Gereiztheit zu identifizieren. Wie prosodische Ausdrucksmittel das Gesagte markieren, wurde oben bereits am Beispiel „unterschiedlicher Bildungsstand” gezeigt: Mit der abgehackten Sprechweise werden drei thematische Punkte hervorgehoben; dies sind inhaltlich genau die Punkte, über die sich TI erregt. An der Stelle, an der der zentrale Vorwurf formuliert ist (Z. 16ff.), findet sich zudem noch ein ausgedehnter Intonationsbogen, der die Zuordnung zusätzlich stützen kann: 16 T: ••• vmd "dann kommt "jemand "heute 17 hier "her und tut so als wüßte er von nichts "so * "geht * 18 "das * "nicht ... (unterschiedlicher Bildungsstand) Ein anderes Beispiel ist: 53 12: dit is doch "tagesordnung * (mach doch) (...) 54 M2: ja * herr * bitte vielleicht lassen sie mich doch mal 55 "ausreden bitte ... (Diskussion zur Tagesordnung) Auch hier macht das gereizt Gesagte deutlich, worauf die Erregung zurückzuführen ist: T2 wartet darauf, zu inhaltlichen Fragen etwas sagen zu dürfen, also entsprechend der Tagesordnung zu einer eigentlichen Debatte zu kommen. Deshalb ist jede ausführlichere Begründung, warum ein Punkt in die noch festzulegende Tagesordnung aufgenommen werden soll, für ihn bereits eine Vorwegnahme der Debatte; M2 bemüht sich, gerade dies - Festlegung der Tagesordnung und Sachdiskussion auseinanderzuhalten, sieht sich darin aber immer wieder unterbrochen. In den beiden folgenden Ausschnitten aus dem Transkript „mach doch mal n=paar Vorschläge” werden vor allem resignierende Vorhaltungen, die in 166 Wolfdietrich Hartung dieser Diskussion einen hohen Stellenwert haben (S2 will hier deutlich machen, daß er schon immer das Richtige wollte, während die anderen ihn nicht verstünden), in einem erhöhten Sprechtempo geäußert. Die relativ häufigen Tempo-Wechsel heben diese Abschnitte besonders hervor: 54 S2: ... ja — ► warum machen wir denn das nichtf * 55 warum verfeinern wir denn immer nur noch die schritte und 56 welche möglichkeiten und welche aspekte * "ihr macht das 57 bei "euch "wir machen das bei "uns ja "so kommt kein 58 zusammenfuhren zustande»— . . . (mach doch mal n=paar Vorschläge) 90 S2: ... auf/ oder "ein=n 91 anhaltspunkt * auf den ich zusteure —>ich kann doch nicht 92 sagen nun "wir untersuchen und "ihr sucht und nun«— äh * 93 irgendwann wird/ werden wir schon mal * n=moment 94 wo wir uns fruchtbar ergänzen wir müssen ja wissen auf 95 welche "Wirkung auf welche "leistung der linguistik "hin 96 “wolln wir uns überhaupt ergänzen oder was wäre an 97 Varianten "möglich und so * muß dann was "da sein * also 98 das fehlt mir immer * offen gesagt fehlt=s mir schon lange * 99 * äh ich meine s=is nich unsere "schuld — ► vielleicht is 100 unser entwicklungsstand nich so weit«— "sicherlich nich * (mach doch mal n=paar Vorschläge) Aber auch Wortfindungsschwierigkeiten, gehäufte Wortwiederholungen, Abbruche und Verletzungen der Grammatikalität verteilen sich nicht beliebig über Textabschnitte, sie sind vielmehr Bestandteile jener Formulierungsleistungen, die für die Verbalisierung besonders kritischer Punkte aufgebracht werden. Charakteristische Beispiele waren „unterschiedlicher Bildungsstand” und „Vorlage neun vier”. Auch auf die markierende Wirkung einer gestischen Begleitung wurde dort bereits hingewiesen. Aber auch wenn selbstverständliche Gesprächsvoraussetzungen genannt werden, wird nicht an beliebige Voraussetzungen erinnert. Es wird immer genau das genannt, was im Augenblick einen besonderen informativen Wert hat, entweder, weil man glaubt oder unterstellt, daß die Gegenseite einem selbst etwas nicht zubilligt, oder weil man es bei der Gegenseite vermißt. Mit 32 T2: ... wir sind alle alt genug und können selber 33 lesen * (Vorlage neun vier) wird dagegen protestiert, daß ein allen schriftlich vorliegender Antrag verlesen werden soll. - Die häufigen Fälle, in denen das Rederecht eingeklagt wird, haben Verletzungen dieses Rechtes zum Anlaß: Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen 167 54 M2: ja * herr * bitte vielleicht lassen sie mich doch mal 55 "ausreden bitte ... (Diskussion zur Tagesordnung) Oder Fälle wie: 77 H: andreasj kann ick jetz ma bitte reden du muß och jetz 78 H: ma=n andern irgendwat einräum paß ma ufi- * ... (Knautschzone; Material von Margita Pätzold) Solche Ermahnungen sind eine Art von Ordnungsrufen. Es soll eine Ordnung wiederhergestellt werden, in der der (gereizte) Sprecher sein Anliegen weiterverfolgen kann, was ihm z.B. durch thematisch ablenkende Interventionen oder durch kommunikationsunfreundliches Verhalten des Partners gefährdet erscheint. Gegenstand von Übertreibungen sind stets solche Umstände, die den besonderen Unwillen des gereizt Reagierenden hervorgerufen haben. Mit 108 S2: hab ich doch ge"macht * hab ich doch gestern gemacht * 109 ne ganze stunde lang * leider viel zu lange und viel zu 110 viel mir soll es nie wieder passieren * ... (mach doch mal n=paar Vorschläge) nimmt S2 auf sein Situations-Verständnis Bezug: Er habe hinreichend viele Vorschläge unterbreitet, die die andern aber nicht zur Kenntnis nehmen. - Im folgenden Beispiel 13 T2: 14 15 16 Ml: 17 12: 18 Ml: 19 T2: 20 21 Ml: 22 T2: 23 ja könnten sie als gesprächsleitung noch mal "feststelln worüber wir jetzt eigentlich "redn) ja ich hab es grade über die modalitätent * ja unserer weiteren arbeit * über die "tagesordnung oder sind wa schon in der diskussion über einzelpunkte mir genau is det nich mehr janz klar wat sich hier abspielt- (Diskussion zur Tagesordnung) referieren zwei Zuspitzungen und vielleicht auch Stilbrüche (worüber wir jetzt eigentlich ”redn und wat sich hier abspielt) auf ein so empfundenes - Chaos in der Diskussionsführung, verstärkt durch die Befürchtung, beim Einbringen eigener Gesichts- und Tagesordnungspunkte benachteiligt zu werden. - In dem Transkript einer Talk-Show versucht Norbert Blüm, jede Diskussion darüber, daß die internationale Öffentlichkeit das Kurden-Problem nicht zur Kenntnis genommen und daß auch die Bun- 168 Wolfdietrich Hartung desregierung versagt habe, mit einer massiven Abwertung (Übertreibung) solcher Diskussionen zu verhindern: 9 B: ... ich weiß nicht 10 ganz ** ob uns die diskussion/ —»in "der situation in 11 der wir "jetzt sind<— find ich die >fast etwas 12 scholastisch muß ich sagen|<ich stell mir vor * 13 ich würde die mir anhören (SCHLUCKT) * <—in den 14 Lagerstätten * bei minusgrad zehn an den "hängen und 15 würde da unsere rechthaberische diskussion begleiten! —» 16 —»ich=mein=ich kann mich dann "auch noch beteiligen und 17 damn können=wir das ganze jahr"hundert vorführen da 18 sin<— die guten kurden "häufiger betrogen worden ** für 19 mich ist die hauptfrage "jetzt (SCHLUCKT) nicht sosehr 20 die ganze "kriegsgeschichte «—wie verhindern wir * und 21 zwar "jetzt daß tausende von menschen sterben—» 22 Z: find ich unheimlich interessant also wenn hm 23 B: ja lassen sie mich gleich noch zuen/ * 24 Z: hm 25 B: und jetzt können=wir ne stunde die 26 geschichte dieses Jahrhunderts vorführen auch die 27 "kriegsgeschichte * aus meiner sicht ist es viel 28 "wichtiger ... (Kurden) Mit der ironischen Übertreibung 56 M: ...aber wenn/ wir könn=n darüber ruhig weitersprechen bis 57 mittags wenn wir wollen ... (Aufteilung fünfzehn Milliarden Mark) wird darauf Bezug genommen, daß für eine weitere Diskussion eigentlich die sachlichen Grundlagen fehlen (deshalb die Überweisung an die Redaktionsgruppe) und daß der Sprecher (M) im Falle einer weiteren Diskussion die von ihm aus seiner Moderatoren-Perspektive zu sichernde Ordnung gefährdet sehen würde; deshalb auch sein nachfolgendes demonstratives Eintreten für einen Geschäftsordnungsantrag auf Abbruch der Debatte: 63 64 65 66 67 68 69 70 M: TS: M: T5: M: zur geschäftsordnung herr wolfich möchte den gedanken mit zu bedenken geben daß diese fünfzehn milliarden möglicherweise von der neuen regierung * >ja< äh * verfügt werden im auftrag des Wählers der sie gewählt hatf äh das wen: nu allerdings mehr zur Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen 169 71 Sache * denn ich hatte erwartet daß sie abbruch der debatte 72 über diesen punkt erwart/ 73 TS: mein ich doch 74 M: ach so: das 75 meinten sie damit * ja erhebt sich gegen diesen wider/ äh 76 geschäitsordnungsantrag abbruch der debatte über diesen 77 verteilungspunkt jetzt widerspruchj ** es erhebt sich 78 "kein Widerspruch wir übergeben dies * der Weisheit der 79 redaktionsgruppe| (Aufteilung fünfzehn Milliarden Mark) Mit der Inszenierung fremder Rede schließlich wird die Gegenseite als ignorant und unkooperativ charakterisiert: 117 S2: ... wir kennen unsere Sachen primär ihr kennt eure Sachen 118 primär # das hab ich nich gelesen # kommt dann so als K # GERINGSCHÄTZIG # 119 antwort aus eurem bereich # das kenn ich nich ja na is für 120 uns nicht wichtig und so # ge"nauso machen wir=s das is K # GERINGSCHÄTZIG # (mach doch mal n=paar Vorschläge) In allen angeführten Fällen erhalten die Teilnehmer hinreichende Hinweise darauf, worin die auslösenden Momente für das gereizte Verhalten bestehen. 4.2 Das Umgehen mit Gereiztheit 4.2.1 Perspektiven-Divergenzen, Diskrepanzen, Konflikt Das Auftreten von Gereiztheit - oder das Vorkommen von Phänomenen, die entsprechend gedeutet werden können hat für die Beteiligten den interaktiven Wert einer kritischen Äußerung. Allerdings mit zwei Unterschieden: 1. Solange solche Phänomene spontan hervorgebracht werden, besitzen sie natürlich noch nicht die für kritische Äußerungen übliche Reflektiertheit. Das kann sich in dem Moment ändern, in dem Gereiztheit interaktiv bearbeitet wird. Der Gereizte kann dann genötigt sein, einen Beitrag zur Wiederherstellung von Ordnung zu leisten, also die Ursache seiner Gereiztheit und der dadurch heraufbeschworenen Störung im Interaktionsablauf einzubringen. Vgl. etwa: 57 Tl: ... ich stelle fest * "daß * "dem * 58 nicht * so * "ist und darum kann ich garnich weiter äh 59 sagen wir äh mitten/ äh mittenander reden "weil schlicht 60 und einfach der äh * sagen wir bildungsstand unterschiedlich 170 Wolfdietrich Hartung 62 61 K ist # ich kann doch äh na ja "das ist einfach der "fall * # LACHEN, UNRUHE # das muß main doch mal "sagen # 63 Ml: das ist eine feststellung kein 65 TI 66 Ml 67 TI 68 64 vorwurf nichtj das ist kein vorwurf na eben das ist eben einfach so * danke]. (unterschiedlicher Bildungsstand) Hier wird das Fehlen der für ein Gespräch selbstverständlichen Voraussetzung beklagt, daß ein gemeinsamer Wissenshintergrund existieren muß. Mit der Formulierung, daß der bildungsstand (Wortwahl! ) der Beteiligten unterschiedlich sei, wird außerdem noch unterstellt, daß es sich nicht um eine nur momentane Störung einer Gemeinsamkeit handelt, die, wie es sonst üblich wäre, durch unmittelbares Informieren und Lernen, also durch lokal orientierte Kommunikation, wiederherzustellen wäre, sondern um einen andauernden Wissensunterschied. Damit ist die für gegenseitige Verständigung gültige Ordnung an einem fundamentalen Punkt in Frage gestellt: Wenn das so ist und man diesen Zustand augenblicklich nicht ändern kann, verliert jede weitere Kommunikation zum Thema ihren Sinn. Man kann zu keiner hinreichenden Verständigung gelangen. Im angeführten Beispiel stellt TI die Ordnung zwar nicht wieder her er könnte dies von der Sache her auch gar nicht - , aber er zieht sich nach der Korrektur durch Ml (kein vorwurf, sondern eine feststellung) auf eine angebliche Sachebene zurück und schließt damit eine moralische Bewertung aus: das ist eben einfach so (was in diesem Fall natürlich keinen großen Unterschied macht, aber doch einer Zuspitzung entgegenwirken soll, die bei fortdauernder moralischer Bewertung kaum vermeidbar wäre). 2. Wenn die Teilnehmer wahrgenommene Phänomene auf das Vorliegen von Gereiztheit hin interpretieren, können sie sich nicht auf den situationsübergreifenden und meist relativ breit akzeptierten Konsens verlassen, der ihnen als Angehörigen einer Sprachgemeinschaft für das Verstehen von im engeren Sinne verbalen Äußerungen zur Verfügung steht. Gereiztheits- Phänomene sind keine systematisch organisierten sprachlichen Zeichen, es sind Hinweise auf Sprecher-Zustände. Die Teilnehmer müssen deshalb recht spezielle Interpretationsleistungen erbringen, die ein differenziertes Situations- und Hintergrundwissen voraussetzen. Auch interaktiv manifest gewordene Gereiztheit bleibt in einem beträchtlichen Umfang noch aushandelbar, wenn es darum geht, ihre Ursachen und ihre Konsequenzen festzumachen. Die beiden Unterschiede zwischen Äußerungen und Gereiztheits-Phänomenen haben zur Folge, daß das Erreichen oder das Gewähren der Inter- Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen 171 pretierbarkeit einen wichtigen Inhalt der gemeinsamen Bearbeitung von Gereiztheit ausmachen. Gereiztheit greift insofern in die laufende Interaktion ein, als sie ein bestehendesKonflikt-Potential anzeigt und eine konfliktäre Situation etablieren kann. Inhaltlich sind konfliktäre Situationen als das Manifestwerden von Perspektiven-Divergenzen bei gleichzeitigem Beharren auf der jeweihgen Perspektive oder, auf einer unteren, d.h. äußerungsnäheren Ebene, als perspektivenbedingte Diskrepanzen charakterisierbar (zum Begriff der Diskrepanz vgl. auch Keim/ Schwitalla 1989). Die Beteiligten gehen in irgendeinem Punkt auseinander. Sie denken über irgendetwas unterschiedlich, oder sie verhalten sich unterschiedlich. Die Systematisierung solcher Bezugspunkte von Diskrepanzen ermöglicht eine bestimmte Art von Konflikt-Typologie. So kann man etwa Beziehungs-, Interessen- und Meinungskonflikte unterscheiden. In einem allgemeinen Sinn meint „Diskrepanz” eine Nicht-Ubereinstimmung, die mindestens zwei Teilnehmer betrifft. Die Nicht-Übereinstimmung kann in einem Handeln oder im Unterlassen eines Handelns manifest werden. Die durch Äußerungen manifest werdenden Diskrepanzen können sich auf das beziehen, was gesagt wird (zwei Teilnehmer äußern etwas Unterschiedliches in bezug auf einen gegebenen thematischen Punkt) oder auch darauf, warum oder wozu etwas gesagt wird, also auf die mit den Äußerungen verbundenen Situationseinschätzungen oder Absichten. Wir können im ersten Fall von propositionalen, im zweiten von interaktionalen Diskrepanzen sprechen. Natürlich sind nicht nur geäußerte, sondern auch vermutete Diskrepanzen wirksam. Konflikterzeugend sind solche verborgenen Diskrepanzen jedoch erst dann, wenn sie nach ihrer Offenlegung aufrechterhalten werden oder wenn der Umstand, daß eine Diskrepanz nicht bemerkt wird, weitere Diskrepanzen hervorbringt, deren Kontrolle und Aushandlung dann immer schwieriger wird. Den Konflikt bringt also nicht bereits die Diskrepanz hervor, auch nicht die nur vermutete. Konflikterzeugend ist erst der zusätzliche Umstand, daß eine Diskrepanz wenigstens von einem Teil der Beteiligten nicht akzeptiert wird und daß dieser Teil nicht von seiner Position oder seiner Perspektive abgehen will. Dabei scheint es unerheblich zu sein, ob eine Diskrepanz unerwartet auftritt oder ob sie für die Beteiligten voraussehbar war oder überhaupt nur die Stufe einer Vermutung erreicht. Entscheidend ist das Gewicht, das sie für die laufende Interaktion bekommt. Auf dieses Gewicht kann mit dem Begriff des Geltungsanspruchs (vgl. Habermas 1976) Bezug genommen werden: Mit jedem Äußern wird gleichzeitig beansprucht, daß das Geäußerte für die laufende Interaktion und für die an ihr Beteiligten eine spezifische Geltung hat; für das Geäußerte wird damit ein interaktiver Wert beansprucht. Dies geschieht im allgemeinen implizit, kann aber natürlich auch thematisiert werden. Die Beteiligten 172 Wolfdietrich Hartung nehmen die erhobenen Geltungsansprüche meist unreflektiert oder stillschweigend hin. Ein für die Konfliktentstehung notwendiges Moment ist das Reflektieren der jeweils erhobenen Geltungsansprüche, ihr Infragestellen und schließlich das Aufgeben der stillschweigenden Hinnahme. Dies geschieht, indem entweder explizit angezweifelt wird, daß für eine gegebene Äußerung ein bestimmter Geltungsanspruch erhoben werden kann, oder indem einer geäußerten Position eine divergierende Äußerung entgegengesetzt wird, für die der gleiche Geltungsanspruch erhoben wird. Diskrepanzen in bezug auf Geltungsansprüche manifestieren sich deshalb sowohl in Hinterfragungen wie in Entgegensetzungen. Vermuteten Diskrepanzen kann durch Absicherungen vorgebaut werden, etwa indem der erhobene Geltungsanspruch unaufgefordert begründet oder ein zu erhebender im vorhinein hochgestuft oder zurückgestuft wird. Die Teilnahme an einer Kommunikation schließt stets ein, daß man sich vorstellt, wie sich ein anderer Teilnehmer reaktiv oder auch initiativ verhalten könnte. Genauso wie Äußerungen anderer hypothetisch antizipiert werden, werden natürlich auch Geltungsansprüche antizipiert. Der Kommunizierende muß nicht unbedingt warten, bis ein von ihm nicht geteilter Geltungsanspruch von der Gegenseite erhoben oder ein von ihm erhobener Geltungsanspruch nicht akzeptiert wird. Er kann seine Äußerungen bereits auf solche Fälle hin aufbauen. Da der Partner dies auch kann, kann sich bereits im Vorfeld eine konfliktäre Aufladung entwickeln, die sich dann relativ schnell zum Konflikt ausweitet. Eine konfliktäre Situation entsteht dann, wenn es unter der Voraussetzung, daß beide Seiten ein unverändertes Interesse behalten, ihre Perspektive oder durch sie bestimmte Positionen gegen andere durchzusetzen keinen Weg gibt, das Bestreiten der Rechtmäßigkeit eines Geltungsanspruchs auf eine argumentative Ebene zu bringen, oder wenn auf der argumentativen Ebene keine Einigung auf eine für beide Seiten akzeptable Interpretation des strittigen Sachverhalts (der Diskrepanz) möglich ist. Die argumentative Ebene wird z.B. verfehlt, wenn nur die Rechtmäßigkeit an sich bestritten, aber im Gegenzug gleich wieder behauptet wird; wenn also B lediglich bestreitet, daß A Recht hat (ohne dies z.B. zu begründen), und A im Gegenzug seine in Frage gestellte Behauptung (auch ohne zusätzliche Begründung) nur wiederholt. Daraus kann sich keine kommunikative Progression entwickeln. Das gleiche ist der Fall, wenn zwar Argumente angeführt werden, diese aber keine Positions- oder Perspektivenmodifikation auf der Gegenseite bewirken. Die (faktische) Weigerung, Argumente zu verarbeiten und im Ergebnis dessen möglicherweise auch die ursprünglich eingenommene Position zu modifizieren, kommt häufig einem erneuten Bestreiten von Geltungsansprüchen in bezug auf diese Argumente gleich, jedenfalls hat ein Teilnehmer stets die Möglichkeit, ein entsprechendes Verhalten der Gegenseite so zu interpretieren. Das Beharren auf der eigenen Position oder Perspektive verbindet sich, implizit oder explizit, mit Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen 173 einer Abwertung der Gegenposition bzw. der Fremdperspektive und mit einer entsprechenden Abwertung von Kompetenzen, was die Furcht vor einem Image-Verlust heraufbeschwören kann und gerade für das Auslösen emotionaler Prozesse oft verantwortlich ist. Auf längere Sicht entsteht so eine „argumentative Sackgasse”, die die Weiterführung der Kommunikation unmöglich macht, sofern kein Ausweg gesucht wird. Eine weitere konstitutive Bedingung für den Konflikt ist eine bestimmte Beziehungskonstellation (vgl. Schank 1987). Der Umstand, daß zwischen Kommunizierenden eine Diskrepanz deutlich wird, muß durch die zwischen ihnen bestehende soziale Beziehung erst in einer besonderen Weise aufgewertet werden. Ein (verbal auszutragender) Konflikt zwischen ihnen muß zulässig und „sinnvoll” sein. Ein Konflikt kommt nicht zustande, wenn kein Interesse an ihm besteht oder wenn soziale Normen ihn verhindern. Für Gereiztheit heißt dies, daß die Zulässigkeit ihres Ausdrucks einer bestimmten Normierung unterliegt. Nicht jeder darf in jeder beliebigen sozialen Beziehungssituation gereizt sein und schon gar nicht seine Gereiztheit zeigen. In einem Ubergangsbereich können allerdings auch Ersatz-Manifestationen zugelassen sein, zu denen insbesondere verschiedene Arten von Ironie gehören (Ironie gibt bekanntlich die Möglichkeit, sich aus bestimmten Verpflichtungen, die auch der Ausdruck von Gereiztheit nach sich ziehen würde, herauszuhalten; selbstverständlich ist aber auch der Einsatz von Ironie sozial normiert). In Konflikten als Interessenkollisionen bauen sich notwendigerweise Barrieren auf, die der Verwirklichung von Kommunikationszielen entgegenstehen. Allein dies impliziert häufig Image-Beeinträchtigungen (vgl. dazu Schwitalla 1987). Die faktische Nicht-Erreichbarkeit eines Ziels bedeutet in der Regel ein Zurückstecken. Oft werden die Image-Beeinträchtigungen auch noch verbal manifest gemacht, indem Kompetenz in Frage gestellt wird oder Positionen und Handlungen direkt oder indirekt negativ bewertet werden. Solche impliziten und expliziten, tatsächlichen oder auch nur befürchteten Image-Beeinträchtigungen sind häufig die Auslöser für (gereizte) emotionale Prozesse. Konflikte sind dadurch Konflikte, daß Kommunizierende sie als solche identifiziert haben. Oder anders: Konflikte entstehen nur dann, wenn Kommunizierende bestimmte Momente des kommunikativen Geschehens als konfliktauslösend betrachten. In Übereinstimmung damit gibt es eine variable - Konfliktschwelle. Ein und dieselbe Diskrepanz muß, bezogen auf unterschiedliche Beziehungs-Konstellationen, durchaus nicht immer zum Konflikt führen. Manche Beziehungen können ein sehr hohes Maß an sonst „beleidigenden” Äußerungen zulassen, andere dagegen nur ein geringes. Oft neigen Menschen auch dazu, Konflikte, solange es möglich ist, nicht als Konflikte wahrzunehmen. Sie suchen; wo sie können, nach einer beziehungsentlastenden Interpretation für Äußerungen, die eigentlich belei- 174 Wolfdietrich Hartung digend und damit konfliktauslösend sein könnten. Dieses Entlastungsstreben bringt Verfahren der Konfliktverdrängung oder -reduzierung hervor, die insbesondere dann funktionieren, wenn die Seite, der widersprochen wird, hinsichtlich ihrer Durchsetzungsfähigkeit unsicher ist oder in der gegebenen Situation etwas „einstecken” kann, ohne einen Image-Verlust befürchten zu müssen. Die Belastung kann auch dadurch eingeschränkt werden, daß die Eskalation einen spielerischen oder einen rituellen Charakter annimmt (vgl. Goffmans (1977) Idee von der Transformation primärer Rahmen). Ein konfliktäres Geschehen ist in bestimmter Weise strukturiert. Wir können von einer Grundstruktur ausgehen, die aus Setzung und Gegen- Setzung besteht. An diese Eröffnung schließt sich eine Phase an, in der beide Seiten auf ihren Setzungen beharren. Dies kann durch Wiederholungen, Modifikationen (z.B. Hochstufungen) und Begründungen der eigenen Position/ Perspektive oder durch Negieren, Relativieren und Infragestellen der fremden Position/ Perspektive geschehen. Diese Phase der eigentlichen Konfliktaustragung kann unterschiedlich lang sein und unterschiedliche Formen der Entwicklung haben. Wenn ein Konflikt überhaupt ausgetragen werden soll, darf sie nicht fehlen. Sie kann in der Regel aber auch nicht beliebig ausgedehnt werden, weil das Interesse an der Konfliktaustragung mit dem Schwinden von Durchsetzungs-Chancen nachläßt. Dem Ausdruck von Emotionalität geht ein auslösendes Moment voraus. Dieses Moment befindet sich entweder im unmittelbar vorausgegangenen Text, oder es verbindet sich mit den beteiligten Personen oder der Situation im weiteren Sinne. Liegt es im vorausgegangenen Text, ist es an geäußerte Positionen oder an lokale oder übergreifende Modalitäten des Außerns gebunden. Im Falle von Gereiztheit wird das auslösende Moment etwas sein, das für den gereizt Reagierenden einen hohen Grad von Unannehmbarkeit oder Abwegigkeit besitzt, auf dessen Gültigkeit ein anderer Teilnehmer aber Anspruch erhebt, unter Umständen wiederholt und hartnäckig. Die Wirksamkeit auslösender Momente kann durch zurückliegende Erfahrungen mit einem Thema, einem Kommunikationspartner oder einer Kommunikationssituation verstärkt werden, die durch ein aktuelles Geschehen aktiviert werden, oder auch durch einen momentanen oder andauernden inneren Zustand des gereizt Reagierenden. Ob etwas zum auslösenden Moment werden kann, hängt also auch von Vorgeschichten und subjektiven Befindlichkeiten ab. Für den Ausdruck von Gereiztheit entwickelt sich ein Schwellenwert, der individuell und situativ variabel ist. Liegt der Schwellenwert hoch (z.B. dann, wenn es keine Vorgeschichte und kein latentes Konfliktpotential gibt), entsteht unter Umständen gar keine Gereiztheit, oder sie wird jedenfalls nicht ausgedrückt. Liegt der Schwellenwert dagegen niedrig, kann Gereiztheit scheinbar sehr plötzlich entstehen und ein relativ breites Spektrum von auslösenden Momenten haben. Dies hat zur Folge, daß es für andere und Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen 175 insbesondere für Unbeteiligte nicht immer durchsichtig sein muß, warum es zum Ausdruck von Gereiztheit kommt. Auch Beteiligte können von Gereiztheit überrascht sein. Gerade deshalb ist es für die Analyse wichtig, auslösende Momente zu suchen und Vorgeschichten, soweit möglich, zu rekonstruieren. Häufiger tritt Gereiztheit nicht völlig unvermittelt auf. Man kann bei der Analyse verfolgen, wie sie allmählich entsteht. Beispielsweise läßt sich beobachten, wie bestimmte Vorwürfe, Behauptungen, Forderungen o.ä. über einen längeren Gesprächsabschnitt immer wieder vorgetragen werden und auch leicht unwillige Reaktionen (z.B. Hörersignale, Unruhe) auslösen, bis sie „das Faß zum Überlaufen bringen”, also jemanden gereizt reagieren lassen. So wird im Beispiel „Diskussion zur Tagesordnung” durch die mehrfach geäußerte Frage, worüber denn nun eigentlich diskutiert werde, eine solche Spannung aufgebaut. Eine ähnliche Wirkung hat die im Beispiel „mach doch mal n=paar Vorschläge” teils behauptete, teils bestrittene Gefahr, nur Material für vorgefaßte Konzepte zu suchen. 4.2.2 Das Beispiel „Diskussion zur Tagesordnung” Der Text stammt von einer Sitzung des Zentralen Runden Tisches in der Anfangsphase dieser Institution. Routine war zu der Zeit noch nicht entwickelt. Im vorliegenden Ausschnitt aus der Diskussion vom Anfang einer der Sitzungen geht es noch um die Festlegung von Modalitäten der Arbeit, zunehmend aber auch schon um das Nennen von Tagesordnungspunkten, jedoch noch nicht um die Diskussion von einzelnen Sachfragen. Diese drei Stufen der Diskussion überlappen sich natürlich in einzelnen Aspekten, vor allem aber sind die Teilnehmer daran interessiert, möglichst früh „ihre” Tagesordnungspunkte einzubringen und ihr Interesse an ihnen auch zu begründen. Bei solchen Begründungen werden unvermeidlich Sachprobleme angeschnitten. Die beiden hier einander gegenüberstehenden Seiten sind T2 und die beiden Moderatoren Ml und M2, die sich in der aktiven Gesprächsleitung gegenseitig abwechseln. Im vorliegenden Ausschnitt amtiert Ml, wird aber von M2 wiederholt unterstützt. M2 identifiziert sich in seinen unterstützenden Beiträgen voll mit der Moderatoren-Rolle und ist insofern auch hier auf jeden Fall Mit-Moderator. Eine gereizte Entwicklung gibt es sowohl bei T2 wie bei M2. Ablaufanalyse: T2 äußert in Z. 13 ff. eine Bitte, die zumindest in ihrer Formulierung und in der nachfolgenden Begründung (Z. 20-23) an die Kompetenz der Moderatoren rührt, die ja die Diskussion zu lenken haben und dazu normalerweise einen Überblick über ihren augenblicklichen Stand haben sollten: 176 Wolfdietrich Hartung 13 T2: ja könnten sie als 14 gesprächsleitung noch mal "leststelln worüber wir jetzt 15 eigentlich "rednj 16 Ml: ja ich hab es grade 17 T2: über die modalitätenT * 18 Ml: ja 19 T2: unserer weiteren arbeit * über die "tagesordnung oder sind 20 wa schon in der diskussion über einzelpunkte mir 21 Ml: genau 22 T2: ä® 23 nich mehr janz klar wat sich hier abspielt- Subjektiv mögen die Formulierungen von T2 fehlender Routine geschuldet sein oder auch einen bestimmten Redestil repräsentieren. In der gegebenen Situation machen sie Momente des Unwillens deutlich: der Intonationsbogen in worüber wir jetzt eigentlich ”redn, die Verstärkung durch eigentlich, die Wortwahl bei der abschließenden Begründung wat sich hier abspielt. Damit wird eine gewisse Zuspitzung der Situation konstituiert. Die eigentlich vorauszusetzende Ordnung erscheint nicht mehr ganz durchsichtig. Die Durchsichtigkeit soll wiederhergestellt werden. T2 befürchtet wegen ihres Fehlens und seiner daraus resultierenden Unsicherheit eine Einengung seines Handlungsspielraums. Seine Perspektive ist die des durch den Verlauf der Diskussion möglicherweise Benachteiligten. Nach dem bisherigen Verlauf ist diese Befürchtung durchaus berechtigt. Ml reagiert unmittelbar durch bestätigende (Z. 18, Z. 21) und rechtfertigende (Z. 16) Einwürfe. Seine Betroffenheit wird deutlich, aber auch der Wunsch, die Kontrolle über den Spielraum, der dem Moderator zusteht, keinesfalls aufzugeben. M2 übernimmt die von Ml nur angedeutete Charakterisierung des augenblicklichen Diskussionsstandes, was er als Unterstützung von T2 ausgibt, damit jedenfalls Bereitschaft zur Kooperation bekundend: 25 M2: zur Unterstützung dessen was herr schult gesagt hat möcht 26 ich doch mal ins gedächtnis rufen ... In einer öffentlichen Situation wie dieser (die Sitzungen des Zentralen Runden Tisches wurden zudem noch im Fernsehen live übertragen) ist es natürlich nur in sehr eingeschränkter Weise möglich, auf Gereiztheit mit einer unmittelbaren Zurückweisung oder gar mit Gegen-Gereiztheit zu reagieren. Andererseits kann sie aber auch nicht ignoriert werden. Folglich muß versucht werden, die Etablierung eines Konflikts, der durch einander unversöhnlich gegenüberstehende Positionen charakterisiert wäre, möglichst zu vermeiden und einen Kooperationsversuch zu starten. Allerdings unterläßt es M2, die von T2 erbetene Unterscheidung von Moda- Die Bearbeitung von Perspekiiven-Divergenzen 177 litäten und Tagesordnungspunkten deutlich anzugeben. Stattdessen führt er eine längere Liste verschiedenartiger Punkte an und gerät schon beim zweiten Punkt in eine offenbar durch eine Wissenslücke bedingte Schwierigkeit, die ihn das Rederecht kostet: 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 M2: VT: M2: VT: M2: VT: M2 VT M2 * erstens wöchentliche tagung * zweitens die "bitte zu richten an * die es: e: de: müßte es wohl sein die ist eigentümer dieses hauses (...) mitte (...) ne: kreisleitung mitte kreisleitung mitte dit jeht um den andern tagungsraum (...) genau also den auftrag zu erteilen is dafür nich geeignet . . . an jemand der an die regierung (...) regierung einen andern tagungsraum besorgt . . . (VT = verschiedene, hier nicht identifizierbare Teilnehmer) Da M2 (wie auch Ml) die Modalitätenfragen für hinreichend geklärt hält, geht er spätestens ab Punkt vier dazu über, Punkte einer Tagesordnung aufzuzählen. Diese Aufzählung veranlaßt T2 zu dem deutlich unwilligen (vgl. den Intonationsbogen) Einwurf 53 T2: dit is doch "tagesordnung * (mach doch) (...) Die erneute Unterbrechung und das (berechtigte) Infragestellen seines Klärungsversuchs durch T2 lassen dann auch M2 gereizt reagieren: abgehackte Sprechweise, Intonationsbogen 54 M2: ja * herr * bitte vielleicht lassen sie mich doch mal 55 "ausreden bitte ... Bei M2 klingt dieser Ausdruck von Gereiztheit schnell ab. Er ist offensichtlich bemüht, durch betont langsamer werdendes Sprechtempo die Kontrolle zurückzuerlangen. Gleichzeitig bemüht er sich um eine erneute Klärung: 55 M2: ... ich habe gesagt das wäre "der punkt an dem 56 wir über die # tagesordnung beschließen ... # K «LANGSAMER WERDEND # T2 dagegen beharrt auf seinem unwilligen Einwurf (Z. 61f., Z. 65), erst nach dem erneuten Einstieg von Ml (Z. 66-71) lenkt T2 ein (Z. 67), und auf die für die gegebene Situation ungewöhnlich scharfe Zurechtweisung bitte * unterlassen sie * doch hat er schließlich nichts mehr zu sagen: 178 Wolfdietrich Hartung 61 62 64 65 66 67 68 69 70 71 T2: na wir haben doch "o: ch noch n=haufen punkte H2: die könn=n T2: dit machen wa bei de tagesordnung dann Ml: herr schult darf ich sie bitten T2: ja Ml: daß wir uns dran einigen daß wir jetzt bei dem punkt sind zusammenzutragen in welcher form wir uns eine weitere tagesordnung vorstellen können bitte * unterlassen sie * doch (...) Ml und M2 setzen sich durch, obwohl sie inhaltlich dem Anliegen von T2 nicht gerecht geworden sind: 82 Ml: so * ich glaube das war=n 83 doch jetzt ziemlich klare Worte die uns verdeutlichten 84 wie wir in der tagesordnung weiter * "fest uns schreiben 85 müssen * ich schlage deswegen vor wir gehen zur 86 abstimmung ... Das Beispiel zeigt deutlich das Sequenzierungsmuster eines gereizten Gesprächsabschnitts. Auslösende Momente sind auf der einen Seite das als Einengung des Handlungsspielraumes empfundene Schwinden der Durchschaubarkeit des Diskussionsstandes, auf der anderen Seite das Gefühl, Moderatoren-Kompetenz in Frage gestellt zu sehen, verbunden mit einer lokalen Hinderung (Nicht-Ausreden-Lassen), die Moderatoren-Perspektive wahrzunehmen. Der Ausdruck von Gereiztheit bei T2 wird durch M2 und teilweise durch Ml bearbeitet, indem sie Erklärungen anführen, die das auslösende Moment beseitigen sollen. Sie erläutern, was diskutiert werden soll, und weisen auf die Möglichkeit hin, auch später noch Punkte nachzutragen, z.B.: 72 M2: sie können doch dann alle punkte noch nachtragen bloß 73 wenn das/ weil das jetzt schon so viel punkte waren * 74 muß main sie doch einmal zusammenbinden und dann werden wir 75 als ersten schritt nachdem alle aufgelistet werden 76 vornehmen was wir "heute noch machen können und da sind 77 "auch schon dinge genannt worden ... M2 bearbeitet seine Gereiztheit selbst, indem er die Gereiztheits- Phänomene schnell abbaut; seine Funktion als Moderator verpflichtet ihn dazu natürlich auch. - Für beide Ausgangspunkte der Überwindung von Gereiztheit stehen Verfahren zur Verfügung: a) das Bekunden einer längst bestehenden Bereitschaft, alles aufzuklären: 13 T2: 14 ja könnten sie als gesprächsleitung noch mal "feststelln worüber wir jetzt Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen 179 15 16 Ml: 25 M2: 26 27 28 56 M2: 57 K 58 T2: 59 M2: 60 eigentlich "redn| ja ich hab es grade zur Unterstützung dessen was herr schult gesagt hat möcht ich doch mal ins gedächtnis rufen wir sollten "jetzt über raodalitäten "abstimmen denn es gibt da "klare Vorstellungen ... # ... ich wollt=s nur noch mal «LANGSAMER WERDEND# ja zusammenfassen damit sie sehen welche punkte denn schon "da sind# b) Übergang zu einer Redeweise, die die eskalierenden Gereiztheits- Phänomene wieder zurücknimmt: langsamere Sprechweise; Herstellen einer Wir-Perspektive: 55 M2: 56 K 66 Ml: 67 T2: 68 Ml: 69 70 71 4.2.3 ... ich habe gesagt das wäre "der punkt * an dem wir über die # tagesordnung beschließen ... 1t «LANGSAMER WERDEND # herr schult darf ich sie bitten ja daß wir uns dran einigen daß wir jetzt bei dem punkt sind zusammenzutragen in welcher form wir uns eine weitere tagesordnung vorstellen können ... Das Beispiel „mach doch mal n=paar Vorschläge” Der Beispieltext ist einer längeren Aufnahme (sechs Stunden) einer sich über zwei Tage erstreckenden Fachdiskussion unter Linguisten zu verschiedenen, insbesondere methodologischen Fragen der Soziolinguistik und der Gesprächsanalyse sowie der Berührungspunkte beider entnommen. Im vorliegenden Ausschnitt sind vier Sprecher an der Diskussion beteiligt, wobei S1 und S2 aber den größeren Teil bestreiten. S1 hat die Rolle des Diskussionsleiters, die in diesem Abschnitt relativ locker wahrgenommen wird, insbesondere ist die turn-Übernahme nicht notwendig von einer Zuweisung durch ihn abhängig. Er hat aber natürlich größere Möglichkeiten des Eingreifens, von denen er auch Gebrauch macht. Die Diskussion im ausgewählten Abschnitt zeichnet sich dadurch aus, daß in ihr ein latentes Konfliktpotential existiert, das mit der Geschichte der von S1 und S2 vertretenen Forschungsgruppen bzw. Forschungsrichtungen zusammenhängt und das wiederholt den Gang der Diskussion zu beeinflussen beginnt. Da alle Teilnehmer in einem engeren Arbeitskontakt stehen, in dem Konkurrenz zumindest keine vordergründige Rolle spielt, sind 180 Wolfdietrich Hartung sie an einer vorsichtigen Behandlung des Konfliktpotentials interessiert, möglicherweise sogar an einer Reduzierung. Deshalb ist die betont vorsichtige Entwicklung der divergierenden Positionen nicht unerwartet. Dennoch nehmen beide Seiten eine ziemlich feste Haltung in bezug auf die grundlegende, wenn auch nur partielle Diskrepanz ein: auf der einen Seite die Überzeugung von der drohenden Gefahr, daß nur Material zu vorgefaßten Konzepten gesucht werden könnte, auf der anderen Seite das Zurückweisen dieser Gefahr für die eigene Gruppe vor dem Hintergrund eines spürbaren Betroffenseins. Die eigentliche Diskrepanz geht hier über das verbal Ausgedrückte und am verbalen Ausdruck unmittelbar Ablesbare hinaus. Sie besteht darin, daß S1 nicht ausschließt, daß die von ihm gesehene Gefahr auch auf die Soziolinguistik und sogar die anwesenden Soziolinguisten zutrifft, während S2 eben eine solche Zuweisung befürchtet und deshalb seinerseits betont, daß es sie nicht geben könne. Das angewandte Verfahren ist das Manifest-Machen einer vermuteten oder befürchteten Diskrepanz. Es wird nicht abgewartet, bis eine divergierende Position in voller Explizitheit vorgetragen wird. Da auf Grund der Vorgeschichte Erwartungen bestehen, wird dem Explizieren vielmehr vorgegriffen und zum Ausdruck gebracht, daß eine solche Position, würde sie denn expliziert werden, auf keinen Fall zuträfe. Natürlich kann auch S1 daran interessiert sein — daß er es tatsächlich ist, zeigt der weitere Verlauf - , eine völlige Explizierung seiner Position zu vermeiden und sich stattdessen auf Andeutungen und partielle Dementis zu beschränken. Dennoch beharren beide Seiten im ganzen Ausschnitt auf ihrer teilweise konträren Haltung. Insofern zeichnet sich das konfliktäre Grundmuster ab, in seinem Ablauf allerdings durch die Zurückhaltung verzögert, mit der die divergierenden Positionen entwickelt werden. Diese Überlagerung möchte ich nicht (resultatbezogen) als Differenzierung eines Grundmusters in Varianten begreifen, sondern (prozeßbezogen) als Ineinandergreifen mehrerer, z.T. gegenläufiger gesprächsorganisierender Prinzipien. Zu unterscheiden sind mindestens diese: Zweckbezogenheit (das Vorliegen einer Diskrepanz betonen), Selbstbezogenheit (den Selbstwert herausstreichen und seiner drohenden Minderung entgegentreten, was sowohl die Betonung der Diskrepanz wie auch ihre Verschleierung zur Folge haben kann) und Fremd- oder Partnerbezogenheit (die Gewogenheit des Partners nicht aufs Spiel setzen, sie gegebenenfalls vermehren, was eher die Verschleierung oder jedenfalls Relativierung einer Diskrepanz zur Folge hat). Für die Erklärung der offensichtlichen Mannigfaltigkeit der Abläufe ist also weniger das Konzept der Abwandlung eines zugrunde liegenden Musters heranzuziehen als vielmehr das des Miteinanders (auch Gegeneinanders) ganz unterschiedlicher zugrunde liegender Prinzipien. Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen 181 Analyse der einzelnen Schritte: Die Setzung (es bestehe die Gefahr, daß Material zu vorgefaßten Konzepten gesucht wird, um diese zu bestätigen, anstatt relativ unbeeinflußt und vor allem vorurteilsfrei aus dem Material Anregungen für die Theoriebildung zu gewinnen) erfolgte durch S1 im Vorfeld des ausgewählten Abschnitts. S2 identifiziert sich mit S1 insoweit, als er ebenfalls die Materialsuche zu vorgefaßten Konzepten grundsätzlich für gefährlich hält (Z. 5-11). Der in der konkreten Adressierung unbestimmt gebliebenen Position von S1 wird allerdings entgegengesetzt, daß diese Gefahr für die Soziolinguistik keineswegs bestehe: 5 S2: eigentlich nur eine anma/ merkung oder * äh * na ein 6 gewisses zurücknehmen * du sagtest peter * es bestehe die 7 ge"fahr * daß main darauf aus sei vorgefaßte konzepte zu 8 bestätigen und * meintest mit bestätigen * diese konzepte 9 mit material zu füllen ** ja wenn main "dairin natürlich die 10 stairrheit sieht * damn meine ich solche Starrheit sollt=es 11 überhaupt nicht geben ** ... Aber auch dann, wenn eine Theorie das Umgehen mit Material bestimme, habe das nichts mit vorgefaßten Konzepten zu tun: 11 S2: 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Sl: 21 32: ... aber * "das was wir am theo"rien haben und die uns damn zum materi"al führen * und von dem "neuen blick neuen materialerkenntnissen auf neue theoretische ausrichtungen ausgehen äh "das hat doch also "überhaupt nichts damit zu tun daß wir vorgefaßte konzepte mit materi"al füllen- * das sind ja dinge die wir ja eben schon in den sechziger jaihren in unsern diskussionen und erkenntnissen "abgelehnt haben weil es falsch ist * ... "sehe also —mm noch mal auf<— deine ammerkimg qhin ähm zu kommen Daß es sich hier um eine feste Gegenposition handelt, daß S2 sich betroffen fühlt, wird vor allem daran deutlich, daß der Vorwurf, Material zu vorgefaßten Konzepten zu suchen, von ihm mehrfach aufgegriffen wird. Daß es ihm mit seinem Diskussionsbeitrag um Grundsätzlicheres geht, wird auch daran deutlich, daß die angefangene Relativierung eigentlich nur eine anma/ merkung sofort wieder aufgegeben wird oder * äh * na * ein gewisses zurücknehmen, während die Position von Sl im gleichen Augenblick als anmerkung zurückgestuft wird (Z. 19). Auf die Zurückweisung, daß jedenfalls für die Soziolinguistik keine Gefahr bestehe, reagiert Sl mit einer allgemeinen Akzeptierung: 182 Wolfdietrich Hartung 22 Sl: das war keine kritik 23 S2: "nein "nein 24 Sl: an der Soziolinguistik 26 generell läßt aber damit den konkreten Bezug, um den es S2 ja geht, immer noch offen. Das Entstehen einer konfliktären Situation ist in diesem Punkt zunächst einmal hinausgeschoben. Auch S2 akzeptiert in Z. 23 unmittelbar, daß Sl nicht die Soziolinguistik kritisieren will. Allerdings bleiben beide Seiten bei ihrer Position, nur tritt die Diskrepanz dank partieller Zustimmung und Ausklammerung des möglicherweise strittigen Punktes (noch) nicht in den Vordergrund. Oder anders gesehen die fehlende Bereitschaft von Sl, zum Kern der Gegenposition Stellung zu nehmen, verhindert es (noch), daß das latente Konfliktpotential verbal bearbeitet wird. Es bleibt im Hintergrund. Der (vermutete) Hauptvorwurf, ein vorgefaßtes Konzept zu haben, führt S2 zu der Aussage, selbst noch gar kein Konzept zu haben: 29 S2: ... da sind doch 30 Sl: "ja * hm 31 S2: in unsern Überlegungen so 32 viel offene stellen ich suche doch ob sich vari"anten 33 an knotenpunkten bestätigen oder "was da überhaupt 34 funktioniert oder wie das geht dafür für die "wirkliche 35 lösung hab ich ja noch gar kein kon"zept * in dem sinne * ... Gar kein Konzept zu haben, könnte aber den Vorwurf der Konzeptlosigkeit einbringen, deshalb die nachgestellte Einschränkung * in dem sinne, die auf das Vorhandensein eines Konzepts wenigstens in „irgendeinem” Sinne hinweist. Der andere Ausweg aus dieser möglichen Konzeptlosigkeit besteht darin, nach dem Konzept der Gegenseite zu fragen. In genau diese Richtung startet S2 in Z. 36ff. (andererseits) eine im Ansatz sehr prinzipielle Gegen- Setzung, die auch emotional begleitet wird (schnelleres Sprechen in Z. 37f., ironisch wirkende Verbindung von Unklarheit und Interessantheit in Z. 39- 42): 36 S2: ...und "andererseits wenn ich mir manche dinge der 37 gesprächsanalyse "ansehe naja "gut also * —»wie die 38 einzelnen schritte funktionieren wie die Strukturen sind«— 39 ja was ist denn eigentlich das "grundlegende konzept der 40 ge"sprächsanalysej * äh was soll damit nun wirklich 41 ge"leistet werden- * "frag ich mich immer is "sehr 42 interessant alles- * ... Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen 183 Ab Z. 43ff. wird diese Gegen-Setzung jedoch wieder abgebaut, um den Wunsch nach dem zusammenführpunkt einbringen zu können: 43 52: 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 ... die gesprächsanalyse ist auch in ihrer wich/ entwicklung "weitergekommen und es gibt ja auch und "wesentlich weitergekommen und es gibt ja auch "einlagerungen in soziale haltungen und soziale hintergründe von Sprechern * die gesprächsanalytisch analysiert werden * und —»wenn wir uns nun darauf aus sind und du bist ja darauf aus mit gutem grund ich glaube es wäre eine Weiterentwicklung»— wir sollten gesprächsanalyse und soziolinguistisches anliegen ein wenig zu"sammenführen * ja äh ** zum beispiel wäre ein theoretischer punkt * der "leistung der gesprächsanalyse * diesen zusammenführpunkt anzusteuern * ... Inhaltlich ist dies eine Fokus-Verschiebung: Von der vergleichenden Gegenüberstellung von Soziolinguistik und Gesprächsanalyse erfolgt relativ schnell und unvermittelt der Übergang zu ihrer wünschenswerten Verbindung. Nachdem der Zusammenführpunkt eingebracht ist, werden Hindernisse auf beiden Seiten angeführt, deren angebliches Andauern (beide Seiten tun zu wenig um zusammenzukommen) zu einer gereizten Zuspitzung in Z. 58-60 führt: 54 S2: ... ja —»warum machen wir denn das nichtf * 55 warum verfeinern wir denn immer nur noch die schritte und 56 welche möglichkeiten und welche aspekte * "ihr macht das 57 bei "euch "wir machen das bei "uns ja "so kommt kein 58 zusammenführen zustande*— oder ist theoretisch nicht 59 "wesentlich daß die zusammengeführt werden "gut dann 60 lassen wir=s| * das müssen wir aber feststellenf * ... S2 beeilt sich aber zu betonen, daß er es nicht lassen möchte. Damit ist die Möglichkeit eines Rückzugs offen. Die aufgebaute Position, die den Sinn einer weiteren Diskussion in Frage stellen könnte, wird auf eine Weise entschärft, die die Wiederherstellung der gestörten Ordnung möglich macht. Dabei wird - und darin könnte ein neuer Konfliktstoff liegen die eigene Bereitschaft zur Wiederherstellung der Ordnung hervorgehoben, so daß nun die Gegenseite am Zuge ist, ihrerseits einen Schritt zu tun, wenn sie nicht die Verantwortung für den toten Punkt in der Diskussion übernehmen will. In der nun folgenden Kontroverse über das Zusammengehen entwickelt sich ein strukturell sehr ähnlicher Ablauf: ... weil ich das für "fruchtbar halte dieses Zusammengehen ** 64 52: 65 66 Sl: na ja aber 184 Wolfdietrich Hartung 67 68 S2: 69 Sl: 70 71 S2: 72 Sl: 73 74 S2: 75 Sl: 76 77 S2: 78 Sl: 79 80 81 S2: 82 Sl: 83 S2: 84 Sl: 85 S2: 86 87 88 89 Zusammengehen muß doch na ja oder nich heißen die weiß ich am am selben gegenständ * nein machen * nein * also (LACHT) dieselbe Untersuchung zu äh Zusammengehen glaube ich heißt daß daß bestimmte Perspektiven ja oder hori"zonte sich äh * so erweitern daß daß sie sich gegenseitig wahrnehmen also die Vertreter ja der Soziolinguistik die der gesprächsanalyse natürlich äh ich will nicht materi"al suchen um irgend am einem punkt nun möglichst gemeinsam selben/ an derselben Sache mit euch zusammenzukommen * da ver"stehst du mich nicht recht ich lehne grundsätzlich "ab material für "vorgefaßtes zu suchen ... Nachdem S2 das Zusammengehen als fruchtbar bezeichnet hat (Z. 65), macht Sl geltend, was Zusammengehen nicht bedeuten sollte. Es wird auch hier wieder versucht, eine jedenfalls partiell bestehende Übereinstimmung auf mögliche Diskrepanzen abzufragen, wobei Sl die von S2 angesprochene gegenseitige Nicht-Wahrnehmung (Z. 55-58) aufgreift, um seine Vorstellung vom Zusammengehen zu entwickeln (Z. 75ff.), auch auf diese Weise einen Konfliktausbruch möglichst weit hinausschiebend. S2 weist das Suchen nach Diskrepanzen zurück (nein, Z. 71 und 74; da ver”stehst du mich nicht recht), akzeptiert die positiven Auslassungen von Sl (ja, Z. 77 und 81; natürlich, Z. 83), um dann die Fokus-Verschiebung („Zusammenkommen”) auf sein ursprüngliches Betroffensein („Material für Vorgefaßtes zu suchen”) zu projizieren (Z. 88f.). Diese Verbindung macht es möglich, die Argumentation noch einmal zu durchlaufen (Anhaltspunkte, die nichts Vorgefaßtes sind, sind notwendig; man könne doch nicht zufällig Zusammenkommen): 89 S2: 90 91 92 93 94 ... aber ich muß doch irgendwo gewisse "anhaltspunkte haben * auf/ oder "ein=n anhaltspunkt * auf den ich zusteure — ► ich kann doch nicht sagen nun "wir imtersuchen und "ihr sucht und nun«— äh * irgendwann wird/ werden wir schon mal * n=moment finden wo wir uns fruchtbar ergänzen wir müssen ja wissen auf Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen 185 96 welche "Wirkung auf welche "leistung der linguistik "hin 96 "wolln wir uns überhaupt ergänzen oder was wäre ein 97 Varianten "möglich und so * muß dann was "da sein * also 98 das fehlt mir immer * offen gesagt fehlt=s mir schon lange * 99 * äh ich meine s=is nich unsere "schuld — ► vielleicht is 100 unser entwicklungsstand nich so weit*— "sicherlich nich * 101 aber äh ich halt es äh diese Sache des Zusammengehens eben 102 doch für fruchtbar wenn man denkt daß die entwicklung doch 103 äh * "neues bringen soll und das "wäre für mich * was neues/ Dabei wiederholt sich auch die emotionale Beteiligung, so daß die Abschnitte Z. 55-60 und Z. 89-103 in mehrfacher Hinsicht Parallelen aufweisen: Ihr-Wir-Gegenüberstellung, resignierender Schluß (dann lassen wir—s; offen gesagt fehlt=s mir schon lange). Die Parallelen betreffen auch die Einschränkungen und die Erklärung fortbestehender eigener Bereitschaft oder die Zustimmung zum Grundanliegen. Daß S4 in diesem Zusammenhang S2 dazu auffordert, doch mal ein paar Vorschläge zu machen (Z. 105ff.), erscheint aus dem Gang der Argumentation bis zu diesem Punkt nicht unverständlich. Durch die Erweiterung könnte die argumentative Sackgasse, in die sich S1 und S2 begeben haben, aufgebrochen werden. Die Argumentation muß jedenfalls den bisherigen Weg verlassen, sie muß konkreter werden. Insofern scheint S4, auf den ersten Blick, zur Progression beizutragen. Vor dem Hintergrund aber, daß S2 bereits am Vortag Vorschläge gemacht hat, muß die Aufforderung provozierend wirken, so daß die gereizte Reaktion von S2 (Z. 108ff.) erklärbar wird: 105 S4: mach doch mal n=paar 106 Vorschläge und dann (...) 107 Sl: ne: äh * ich weiß nich das is äh 108 S2: hab ich doch ge"macht * hab ich doch gestern gemacht * 109 ne ganze stunde lang * leider viel zu lange und viel zu 110 viel mir soll es nie wieder passieren * aber * Die Gereiztheit drückt sich hier vor allem in Übertreibungen und auch in übertriebener Schuldübernahme aus. Sie hält bis Z. 121 an und findet in der karikierenden Inszenierung von Außerungen/ Meinungen der Ihr-Seite einen weiteren Höhepunkt, der trotz der vorausgehenden Einordnung (dis ist kein angriff) und dem Zugeständnis, daß für die Wir-Seite das gleiche gilt, nicht an Gewicht verliert: 111 S4: nein das 112 hab ich doch nicht richtig verstanden 113 S2: ja ja das glaub ich * 114 aber äh * das hab ich nicht (...) also es is ja auch so 116 wenn ihr also dis ist kein angriff also wenn ihr sprecht 186 Wolfdietrich Hartung 116 genauso wie wir * (MEHRERE LACHEN) nur auf unserer basis 117 wir kennen unsere Sachen primär ihr kennt eure Sachen 118 primär #das hab ich nich gelesen# kommt dann so als K # GERINGSCHÄTZIG # 119 antwort aus eurem bereich #das kenn ich nich ja na is für 120 uns nicht wichtig und so# ge"nauso machen wir=s das is K # GERINGSCHÄTZIG # 121 "ungünstig solche haltung ja| * führt es nicht zusammen ... Die Gereiztheit beginnt ab Z. 121 abzuklingen, zunächst noch nicht stetig, fortgesetzt dann aber in den ausschließlich zustimmenden Reaktionen von S2 auf die Beschwichtigungsversuche von Sl. Die Analyse läßt drei Punkte deutlich werden: 1. Gereiztheit tritt in diesem Beispiel in einer weniger deutlichen Form auf als in „Diskussion zur Tagesordnung”. Eine emotionale Aufladung, die in eine gereizte Richtung geht, ist jedoch an drei Stellen wahrnehmbar: Z. 39ff., Z. 58ff. und Z. 108ff. Im ersten Fall entwickelt sich die Aufladung im Zusammenhang mit der Frage, was denn nun eigentlich das grundlegende Konzept der Gesprächsanalyse sei. Diese Frage war die Entgegnung auf jenen Vorwurf, den S2 andeutungsweise der Soziolinguistik gemacht hatte. Insofern ist der Vorwurf (die Setzung) das auslösende Moment. Zu der zweiten emotionalen Aufladung kommt es im Gefolge der resignierenden Feststellungen, daß niemand etwas tue, um Soziolinguistik und Gesprächsanalyse zusammenzuführen. Der dritte Ausdruck von Gereiztheit ist die unmittelbare Reaktion auf eine Aufforderung, die S2 als sein Selbstkonzept tangierend empfinden muß. Deshalb reagiert er auch sehr persönlich: 108 S2: hab ich doch ge"macht * hab ich doch gestern gemacht * 109 ne ganze stunde lang * leider viel zu lange und viel zu 110 viel mir soll es nie wieder passieren * aber * Deshalb ist wohl auch Sl sehr schnell bemüht, die Frage von S4 zurückzuweisen: 105 S4: mach doch mal n=paar 106 Vorschläge und dann (...) 107 Sl: ne: äh * ich weiß nich das is äh In den ersten beiden Fällen gibt es eine gewisse Zeitspanne, in der die Gereiztheit wächst. Im dritten Fall ist diese Zeitspanne recht kurz. Der Bezug auf ein auslösendes Moment ist direkter. 2. Der Ausdruck von Gereiztheit signalisiert hier nicht einfach einen kritischen Punkt im Geschehen, sondern eine Akkumulation kritischer Punkte. Die Beteiligten wissen um das latente Konfliktpotential. Ihr Anliegen ist es, bestimmte Gegenstände trotzdem kommunikativ zu behandeln, d.h., Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen 187 auch und im vorliegenden Fall in einem besonderen Maße, Diskrepanzen ausfindig zu machen, die sie sich dann gegenseitig verdeutlichen können, allerdings immer nur so weit, daß auf der Beziehungsebene keine Ordnung in Frage gestellt wird. Es ist dies eine recht subtile Form der Kontrolle eines Konfliktpotentials. Beides der Wunsch, Diskrepanzen auch verbal manifest zu machen, und das Bestreben, jede Beziehungsgefährdung durch Vagheit oder sogar Vermeidung von Explizitheit zu umgehen bewirkt, daß die thematische Progression nicht geradlinig, sondern abgestuft erfolgt (oder: in einem Wechsel von Vorwärts- und Rückwärts-Bewegungen). Natürlich ist diese Art des Umgehens mit Konfliktpotential auch zeitaufwendiger. Sie ist deshalb vor allem dort realisierbar, wo eine entsprechende Zeitreserve vorhanden ist. Insofern ist die hier festgestellte Zurückhaltung sicher nicht typisch für jede Art von Diskussion. 3. Bei der Realisierung ihres Anliegens bedienen sich die Beteiligten bestimmter (Formulierungs-)Verfahren: a) Eine vermutete Diskrepanz wird durch Fokussierung des möglicherweise divergierenden Punktes manifest gemacht; damit kann das Bestehen einer Diskrepanz gegebenenfalls ausgeschlossen werden. Durch die Anwendung dieses Verfahrens wird Spielraum gesichert. b) Divergierende Positionen werden nur bis zu einem Punkt expliziert, der noch einen Rückzug erlaubt; dies geschieht durch Herabstufen (Individualisieren) der Verantwortlichkeit für die selbst vertretene Position (Betonung der eigenen Perspektive, der Ich-Sicht), durch Hochstufen bestimmter Momente der Gegenposition oder der Fremdperspektive, durch partielle Gleichbewertung der eigenen Perspektive mit der Fremdperspektive [ge”nau so machen wir=s) oder durch prospektive bzw. retrospektive Qualifizierung des Geäußerten (dis ist kein angriff). In allen Fällen wird Spielraum gesichert. 5. Schlußbemerkung Die Teilnehmer an verbaler Interaktion verhalten sich stets perspektivisch. Da es sich um Teilnehmer mit je spezifischen Biographien, aktuellen Interessenlagen und Stellungen innerhalb der Interaktion handelt, zeigen die den einzelnen Aktivitäten zugrunde liegenden Perspektiven mehr oder weniger deutliche Divergenzen. Sehr häufig können die Divergenzen vernachlässigt werden. Die zusammentreffenden Perspektiven erweisen sich nämlich als miteinander verträglich. Im Idealfall können divergierende Perspektiven sich sogar gegenseitig ergänzen, wenn jeder im Interesse eines gemeinsamen Anliegens das anders orientierte Handeln des anderen akzeptiert. Das ist etwa dann der Fall, wenn Rat erbeten und gegeben wird, oder wenn Moderator und Teilnehmer einer Gesprächsrunde einvernehmlich „Meinungen austauschen”. Solche Idealfälle werden allerdings 188 Wolfdietrich Hartung oft durch die verschiedensten unterschwelligen und dann eben nicht mehr verträglichen Interessen getrübt. Wenn sich Perspektiven nicht gegenseitig ergänzen und auch nicht verträglich miteinander sind, oder wenn mindestens einer der Teilnehmer dies glaubt, dann besteht immer noch die Möglichkeit, die eigene Perspektive - und nicht nur das jeweils Mitgeteilte, die Position zunächst einmal als entgegenstehend anzuzeigen und gegebenenfalls zu begründen und/ oder die fremde Perspektive als unangemessen oder „falsch” zu charakterisieren. Eine solche tatsächliche oder vermeintliche - Perspektiven- Divergenz kann dann argumentativ bearbeitet werden. Im Ergebnis kann die Divergenz (partiell) aufgehoben oder jedenfalls verträglich gemacht werden. Geschieht dies nicht, kann es zu einer konfliktären Situation kommen. Perspektiven-Divergenzen können verbal kenntlich gemacht werden, indem sie als solche bezeichnet und ihnen bestimmte Prädikate zugeordnet werden. Wenn sich mit dem Wunsch - oder der Furcht des Kenntlichmachens Emotionen verbinden, kann die (sich entwickelnde) Perspektiven- Divergenz auch an verschiedenen emotionalen Phänomenen deutlich werden. Das kann beispielsweise dann der Fall sein, wenn eine Perspektive trotz wiederholter Hinweise nicht zur Kenntnis genommen oder eine fremde Perspektive als besonders bedrohlich empfunden wird. Je nach der Gewichtigkeit des Problems und nach der Stellung des betreffenden Teilnehmers in der Interaktion werden sich Gereiztheit, Wut, Unsicherheit, Ängstlichkeit usw. äußern. Selbstverständlich ist es auch möglich, über die besondere Unterstützung einer Perspektive oder über eine unerwartete Perspektiven-Konvergenz freudig erregt zu sein. Der zugrundeliegende Mechanismus dürfte ähnlich sein. Da solche emotionalen Prozesse den verbal (begriffssprachlich) ausgedrückten Mitteilungsinhalten vorausgehen oder unter Umständen auch nachfolgen, also jedenfalls in einer gewissen Weise sich von ihnen lösen können, können die entsprechenden emotionalen Phänomene zu wichtigen zusätzlichen Hinweisen für heraufziehende und sich oft im Hintergrund entwickelnde Perspektiven-Probleme werden. Der Ausdruck von Gereiztheit sagt etwas über die Beteiligung von Emotionen an der Rede aus. Darüber ist bisher nicht allzuviel gearbeitet worden. Der Ausdruck von Gereiztheit sagt uns aber auch etwas über die Ausbildung konfliktärer Situationen und in diesem Zusammenhang über das wechselseitige Umgehen mit Perspektiven-Divergenzen. Damit wird Gereiztheit zu einem interessanten Gegenstand gesprächsrhetorischer Untersuchung. Die Bearbeitung von Perspektiven-Divergenzen 189 6. Literatur Canisius, Peter (1987) (Hg.): Perspektivität in Sprache und Text. Bochum. Danes, F. 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INKEN KEIM Verfahren der Perspektivenabschottung und ihre Auswirkung auf die Dynamik des Argumentierens 1. Der Begriff ’Perspektive’ 192 2. Perspektivenabschottung 197 2.1 Verfahren perspektivischer Abschottung 200 2.2 Ausschließlich tendenziöse und stereotype Deutung von Handlungs- und Sachverhaltsdarstellungen 202 2.3 Besonderheit des Nachweises für stereotype Behauptungen 206 2.3.1 Gemeinsames Herstellen eines empirischen Belegs 207 2.3.2 Fremdinitiierter Nachweis für stereotype Behauptungen 219 2.4 Stereotype Selbst- und Fremddarstellung 224 3. Dynamik geschlossen perspektivischen Argumentierens Beispielanalyse „Kümmeltürken” 230 3.1 Hinterfragen der Plausibilität einer perspektivisch abgeschotteten Deutung 232 3.2 Kontroverse Argumentation und Eskalation 236 3.2.1 Erste Runde und erste Spirale: Etablieren zweier konträrer Perspektiven auf das thematische Objekt „Ausländer in Deutschland” 237 3.2.2 Zweite Spirale und Negativkategorisierung der Ausländer 240 3.3 Aufbrechen der perspektivischen Abschottung 248 3.3.1 Zuschreibung negativer Eigenschaften auch an die Deutschen 249 3.3.2 Zuschreibung des Haßmotivs an SU 251 3.3.3 Deeskalation und perspektivische Annäherung 255 4. Fazit: Die rhetorische Effektivität eines perspektivisch abgeschotteten Darstellens und Argumentierens 260 5. Literatur 263 6. Anhang: Transkript „Kümmeltürken” 265 192 Inken Keim Abstract: Perspektivenabschottung Im folgenden Beitrag wird eine besondere perspektivische Operation, die Perspektivenabschottung, behandelt, die in Gesprächen der Problem- und Konfliktbearbeitung eine zentrale Rolle spielt und zu erheblichen Interaktionsproblemen bis hin zum Abbruch der Interaktion führen kann. Nach einer begrifflichen und methodischen Klärung folgt die Beschreibung wesentlicher Verfahren perspektivischer Abschottung. Die Negativdynamik, die Verfahren perspektivischer Abschottung auslösen können, und die Anstrengung, die notwenig ist, um perspektivische Abschottung wieder aufzubrechen, wird in der Analyse einer kontroversen Diskussion aufgezeigt. 1. Der Begriff ’Perspektive’ ’Perspektive’ und ’Perspektivität’ sind Termini, die in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen verwendet werden, in der Literaturwissenschaft, der Soziologie, in der Sprachwissenschaft, der Kunstwissenschaft und in der Psychologie. In allen Disziplizen steht der Begriff Perspektive im Zusammenhang mit der Einsicht in die Abhängigkeit der Wahrnehmung vom raum-/ zeitlich bestimmten und im übertragenen Sinne vom kognitiven Standort des Wahrnehmenden und Beurteilenden. Im folgenden werde ich kurz auf einige Ansätze verweisen, die für die Entwicklung unseres Perspektivenkonzepts fruchtbar waren. In der Literaturwissenschaft geht es vor allem um den Begriff der Erzählperspektive, d.h. der Standortbedingtheit einer erzählerischen Darstellung. Sie zu erkennen heißt, sich andere, alternative Standortdarstellungen vorzustellen; das Erkennen von Perspektivität basiert also auf Vergleich. Unter perspektivischer Darstellung versteht man, daß das fiktionale Geschehen aus der Sicht einer oder mehrerer Personen dargestellt wird; unterschiedliche Standpunkte führen zur Darstellung unterschiedlicher Aspekte eines Ereignisses und zu unterschiedlichen Wertungen dieses Ereignisses. In der Literaturwissenschaft gängige Begriffe für perspektivische Darstellung sind vor allem „point of view” (vgl. Lubbock 1966), „Erzählperspektive” und „Erzählwinkel” (vgl. Stanzel 1979), „Erzählerstandpunkt” (vgl. Weimann 1962) u.a. 1 In der Sozialpsychologie hat vor allem Graumann (1960), (1990) den Perspektive-Begriff eingeführt und eine Reihe empirischer Untersuchungen zu Perspektivität durchgeführt (vgl. u.a. Kiefer/ Sommer/ Graumann 1994). Nach Graumanns Theorie der Perspektivität vollziehen sich Denken, Wahrnehmen und Verhalten perspektivisch strukturiert. Abhängig von dem jeweiligen kognitiven Standpunkt eines Betrachters erscheint ein Objekt in denjenigen Aspekten, die mit der Perspektive des Betracht- 1 Vgl. den Sammelband von Canisius (1987), der als erster „Perspektive” und „Perspektivität” zu einem interdisziplinären Thema macht; zu einem Forschungsüberblick zu „Perspektive” in der literaturwissenschaftlichen Forschung vgl. den Aufsatz von Lindemann (1987). Verfahren der Perspektivenabschottung 193 ers korrespondieren. Eine Perspektive zu haben bedeutet, das Objekt in bestimmter Weise zu strukturieren, sich auf bestimmte, der Perspektive entsprechende Kontexte zu beziehen und bestimmte Bezugsrahmen zu berücksichtigen. Dementsprechend unterscheidet sich bei unterschiedlichen Perspektiven auf einen Sachverhalt auch die sprachliche Wiedergabe dieses Sachverhalts, ebenso wie die Rezeption einer Sachverhaltsdarstellung perspektivisch bestimmt ist. Durch die Wahl spezifischer semantischer und syntaktischer Merkmale „setzt der Sprecher eine Perspektive” (Sommer/ Graumann 1989, S. 5), die er dem Hörer anbietet. Die Autoren weisen anhand von Experimenten den Einfluß unterschiedlicher Perspektiven auf Textproduktion und Textrezeption nach. Perspektivisches Darstellen zeigt sich vor allem in der Besetzung des grammatischen Subjekts, in der Verwendung von Verben und Adjektiven, in der räumlichen und kognitiven Orientierung und in der Spezifik des Normenbezugs bei Bewertungen (Sommer/ Graumann 1989, S. 42). Auf einer sehr allgemeinen abstrakten Ebene stimmen wir mit Graumanns theoretischen Annahmen überein. Doch unser gesprächsanalytischer Zugang zu Perspektivitätsphänomenen und unser besonderes Interesse an den Operationen, die Gesprächsbeteiligte mit Perspektiven ausführen, unterscheidet sich wesentlich von diesem psychologischen Ansatz. In der Linguistik findet sich der Begriff ’Perspektive’ in verschiedenen Teildisziplinen, so in der Semantik und in der Pragmatik als „funktionale Satzperspektive” (vgl. Beaugrande/ Dressler 1981, S. 87), zur Unterscheidung von Hintergrund und Vordergrund in Erzählungen durch unterschiedliche Tempusmarkierung (Dressier 1972, S. 47ff.) und als „deiktische Perspektive” zur Herstellung räumlich/ zeitlicher Bezüge zwischen Sprecher und Objekt (u.a. Fillmore 1972, Miller/ Johnson-Laird 1976, S. 394ff., Ehlich 1979). Bei der Einschränkung des Perspektivenbegriffs auf Raumwahrnehmungen in Stadtbeschreibungen spricht Hartmann von struktureller Perspektive; das ist die unterschiedliche Gewichtung von Informationen in Texten (Verhältnis von präsupponierter zu assortierter Information, Thema-Rhema-Relation, vgl. Hartmann (1984), (1987). Linguistische Beschreibungskategorien für ’Perspektive’ in literarischen Texten hat Sandig (1991) entwickelt; dazu hat sie einen Großteil der linguistischen Forschung auf Kategorien hin untersucht, die geeignet sind, perspektivische Ausdrucksphänomene in literarischen Texten zu erfassen. Die linguistischen ebenso wie die literaturwissenschaftlichen Arbeiten zu Perspektivität sind besonders geeignet, für die Wahrnehmung perspektivenrelevanter Phänomene zu sensibilisieren; für die Beschreibung solcher Phänomne stellen sie ein umfassendes Kategorieninventar zur Verfügung. Der Schwerpunkt in den kurz vorgestellten Forschungsrichtungen liegt im wesentlichen auf dem Erkennen und Beschreiben der Phänomene, die die Perspektivität einer Darstellung ausmachen. Unser Erkenntnisinter- 194 Inken Keim esse besteht neben dem Erkennen und Beschreiben perspektivenrelevanter Außerungsphänomene vor allem auch darin, zu zeigen, welche Operationen Beteiligte in Gesprächen der Problem- und Konfliktbearbeitung mit der Eigen- und Fremdperspektive ausführen: Operationen wie die wechselseitige Verdeutlichung von Perspektiven oder das Verbergen von Perspektiven, das abwägende Gewichten unterschiedlicher Perspektiven auf einen Sachverhalt, die Bearbeitung von Perspektivendivergenz u.ä. Unser Konzept von Perspektivik ist ein theoretisches Konstrukt, das die Perspektivenkonzepte der Beteiligten systematisiert. Perspektivik in unserem Sinne 2 bezieht sich auf die Gesamtheit aller Operationen und Konstellationen, in denen Perspektiven von Beteiligten eine Rolle spielen. Von Perspektivik als übergeordnetem Begriff unterscheiden wir Perspektive als die Realisierung einer konkreten, an eine bestimmte soziale Zuständigkeit eines Akteurs gebundene Sichtweise auf einen Sachverhalt. Eine Perspektive bezieht sich auf eine nicht lokal an eine Außerungseinheit gebundene Eigenschaft des sprachlichen Handelns; in diesem Sinne ist sie eine Einzelaktivitäten überspannende Handlungsorientierung und Handlungsstrukturierung. 3 Wir nehmen an, daß eine spezifische Perspektive längerfristig stabil ist und das gesamte kommunikative Handeln in einem Interaktionsereignis, oder auch darüber hinaus, betreffen kann. Das schließt nicht aus, daß in einer Interaktionssituation verschiedene Perspektiven verwendet werden können, zwischen denen ein Akteur wechselt. Eine Perspektive kann sich in unterschiedlichen Handlungszusammenhängen zeigen und wird manifest in einzelnen Handlungszügen. Eine Perspektive in unserem Sinne ist nicht über ein rein punktuelles Vorkommen einer bestimmten linguistischen oder interaktiven Kategorie erfaßbar, sondern nur über eine längerfristige Konsistenz im interaktiven Verhalten, die hergestellt wird durch eine Systematik der Selektion aus alternativen äußerungs- und interaktionsstrukturellen Möglichkeiten. Diese Systematik der Selektion ist für die Analyse von Perspektiven zu rekonstruieren. Dabei spielen auch Kontextualisierungsmittel eine Rolle; über sie wird in einzelnen Handlungszügen auf die übergreifende Perspektive verwiesen. Methodischer Ausgangspunkt für die Analyse von Perspektiven ist, zentrale Stellen zu finden, an denen die Beteiligten das Interaktionsgeschehen als perspektivisch definieren, und die dabei verwendeten Mittel und Verfahren zu beschreiben. Solche Stellen sind vor allem folgende: 2 Vgl. Kallmeyer/ Keim (1993); der Text enthält eine Erläuterung unseres Perspektivenkonzepts und einen Entwurf für die Untersuchung und Beschreibung von Perspektiven-Phänomenen, die im Rahmen einer Rhetorik der Problem-und Konfliktbearbeitung interessant und relevant sind. 3 Vgl. auch den Ansatz der „subjektiven Konfliktorganisation”, mit dem Nothdurft (1996) die äußerungsübergreifende Sichtweise von Streitparteien auf „den” Konflikt zu erfassen sucht. Verfahren der Perspektivenabschottung 195 a) Perspektivik wird für uns da interessant, wo perspektivische Differenzen zu Auseinandersetzungen führen. Von daher sind Hinweise auf Beteiligtenkonzepte wie „Ich sehe das aber so ...” Schlüsselstellen für die Analyse. Von solchen expliziten Formulierungen ausgehend, können andere implizite Stellen über Kontextualisierungshinweise erschlossen werden. Von solchen Schlüsselstellen aus erfolgt also die Rekonstruktion des Prozesses, der bis zur expliziten Manifestation von Perspektivik geführt hat, und die Herauslösung und Beschreibung der dazu verwendeten Verfahren und Mittel. b) Wir gehen davon aus, daß die Beteiligten sich in ihren Alltagskonzepten von Perspektiven auf alltagstheoretische Modelle von sozialen Einheiten beziehen, mit denen bestimmte Perspektiven verbunden sind. So gehört es beispielsweise zum Wissensbestand der Beteiligten, wer als Angehöriger welcher sozialen Einheit welche Perspektive auf einen bestimmten Sachverhalt hat. Relevante soziale Einheiten sind dabei ’soziale Kategorie’, ’sozialer Status’, ’soziale Rolle’ u.a. Solche sozialen Einheiten können in Alltagsgesprächen sehr differenziert sein (z.B. „Ich als christlich erziehende Mutter” oder „Ich als Mutter, deren Erziehungsstil wegführen will von einer starren Rollenfestlegung” u.ä.). Wenn Beteiligte in der Selbst- und Fremddarstellung auf eine bestimmte soziale Einheit verweisen, wird in ihrem Alltagsmodell auch ein dazugehöriges Perspektivenkonzept aufgerufen. Für die Analyse von Perspektivik sind also auch solche Stellen der Bezugnahme auf soziale Einheiten Schlüsselstellen. Wir unterscheiden den Begriff Perspektive von dem der Position. Position verstehen wir in der alltagsweltlichen Bedeutung als inhaltlich festgelegten Standpunkt zu einem Sachverhalt oder Handlungszusammenhang. Ausdrucksseitig kann eine Position durch verschiedene Äußerungstypen z.B. Behauptung, Meinungsbekundung, Ereignisdarstellung u.a. - und deren Verknüpfung realisiert sein. Der Zusammenhang zwischen Perspektive und Position ist folgender: Die Perspektive wird erfaßbar über die Position bzw. über Positionen, die das Ergebnis einer systematischen und konsistenten Auswahl aus alternativen Möglichkeiten, einen Sachverhalt zu sehen, darstellen. Position und Perspektive können unterschiedlich dicht beieinander liegen. 4 Der Bezug zwischen übergreifender Perspektive und lokal realisierter Position wird über eine perspektivische Rahmung hergestellt, d.h. 4 Die Unterscheidung von Perspektive und Position als lokaler Realisierung perspektivenrelevanter Aspekte ist nicht immer durchzuhalten. Es gibt auch Fälle, in denen Beteiligte mit dem Begriff ’Position’ globale und langfristige Vorstellungen verbinden; das ist z.B. der Fall, wenn ein Politiker sagt: „Das ist schon immer meine politische Position gewesen”. Damit ist eine Grundsätzlichkeit verbunden, die einen Teil des politischen Lebens des Sprechers überspannen kann. Doch für die bisher analysierten Fälle hat sich die Unterscheidung in Perspektive als das übergreifende Phänomen und Position als die lokale Realisierung perspektivischer Aspekte bewährt. 196 Inken Keim über bestimmte Verknüpfungen zwischen Perspektive und Position. Die Verknüpfung kann explizit vorgenommen werden oder implizit bleiben; sie muß dann vom Partner interpretativ hergestellt werden. Explizite Perspektivenrahmung kann die Form haben: „Ich als Direktor vertrete in diesem Fall die Position X”. Durch explizite Rahmung kann der Geltungsanspruch der eigenen Perspektive auf einen Sachverhalt erhärtet oder relativiert werden. In vielen Fällen jedoch werden Perspektiven nicht explizit angezeigt und vertretene Positionen nicht explizit in Relation zu übergeordneten Perspektiven gebracht. Das führt uns zur Frage, wie Perspektiven in Sprecheräußerungen auffindbar sind und mit welchen rhetorischen Verfahren sie verdeutlicht werden. Da wir davon ausgehen, daß Beteiligte den Bezug zwischen relevanter sozialer Einheit, auf die sie sich beziehen, und der damit verbundenen Perspektive auf einen Sachverhalt markieren, sind für das Auffinden perspektivenrelevanter Eigenschaften vor allem solche Verfahren interessant, mit denen der Bezug auf soziale Einheiten hergestellt werden kann, wie explizite und implizite deiktische Prozeduren, personale Referenz und Adressierung sowie soziale Kategorisierungen und Bewertungen. Außerdem können ein spezifisches thematisches Potential, die Relevantsetzung und die Bearbeitungsweise von Themen, das verwendete Sprachrepertoire ebenso wie die Wahl bestimmter Argumente, Hinweise sein, die den Rückschluß auf eine bestimmte soziale Einheit erlauben, deren Perspektive damit verdeutlicht werden soll (z.B. kann die Wahl eines Themas X in der Bearbeitungsweise Y typisch sein für einen „Pfarrer”, einen „Lehrer” u.ä.). Von analytischem Interesse sind für uns die rhetorischen Verfahren, mit denen Perspektiven angezeigt werden. Im Zentrum unseres Interesses jedoch stehen komplexere Aushandlungsprozesse, die die Beteiligten durchführen, um Perspektiven zu entwickeln (Selbst- und Fremdsteuerung von Perspektiven) und Perspektivendifferenzen zu bearbeiten; außerdem interessieren uns eine Reihe von Operationen, die mit Perspektiven vorgenommen werden können, wie Entfalten und Verbergen von Perspektiven, Gewichten und Verknüpfen von Perspektiven, Verengen und Erweitern, Offenhalten oder Abschotten von Perspektiven u.a. Die Auswahl der zu behandelnden Phänomene perspektivischer Operationen geht von praktischrhetorischen Aufgaben aus, die typisch sind für unterschiedliche Situationen der Problem-und Konfliktbearbeitung. Eine der Perspektivenoperationen, die zu erheblichen Problemen in der Interaktion führen kann (z.B. Abbruch der Interaktion oder Ausstieg eines der Partner), ist die Perspektivenabschottung. Sie ist Gegenstand der folgenden Analysen. Verfahren der Perspektivenabschottung 197 2. Perspektivenabschottung Unter ’Perspektivenabschottung’ verstehen wir das Beharren auf der eigenen Sicht auf einen Sachverhalt/ Handlungszusammenhang entgegen allen Einwänden, auch dann noch, wenn es zum eigenen (interaktiven) Nachteil führt. Charakteristisch für perspektivische Abschottung ist eine verhärtete, in sich abgeschlossene Sehweise, meist in Verbindung mit Stereotypen und mit Vorurteilsstrukturen; es ist die Unfähigkeit oder Unwilligkeit, andere Standpunkte auch nur probeweise in Betracht zu ziehen oder gar einzunehmen. Gegenbelege, die den Geltungsbereich der eigenen Sehweise in Frage stellen oder zumindest relativieren können, werden nicht (mehr) wahrgenommen, die eigene Sicht wird gegen alle Widerstände verteidigt und aufrechterhalten. In gesteigerter Form kommt perspektivische Abschottung aus der Außensicht einem „Sich-Verrennen” gleich bzw. einer „Verblendung”. Partnerangebote mit positiven Implikationen für eigene Interessen werden nicht wahrgenommen, und selbst Angebote, die aus der Außenperspektive als Hilfsangebote aus der Ausweglosigkeit intendiert sind, werden abgeschlagen. Obwohl auch Minimalformen von Äußerungen auf perspektivische Abschottung hinweisen können (vgl. erstes Beispiel unten, Kap. 2.2), ist in vielen Gesprächsdokumenten der empirische Zugang nur über die Beobachtung und Analyse längerer Interaktionsabschnitte möglich; die Abschottung manifestiert sich oft erst in der (mehrfachen) Reaktion auf verschiedene Partneraktivitäten, und Abschottung indizierende Eigenschaften können auf sehr unterschiedlichen interaktions- und äußerungsstrukturellen Ebenen liegen; Abschottung zeigt sich u.a. auch in der Resistenz gegen anhaltende Widerstände. Ein besonderes Charakteristikum abgeschotteter Perspektiven ist, daß ein kleiner interaktiver Anlaß ausreicht, um ein ganzes Repertoire fester Denkmuster hervorzulocken. Diese Eigenschaft wurde vor allem in der Forschung zu ethnischen/ kulturellen Vorurteilen und Stereotypen mehrfach beschrieben. 5 Unter Bezug auf v. Dijks sozio-kognitives Modell (1984) kann man sich den Wahrnehmungsprozeß aus einer abgeschotteten Perspektive folgendermaßen vorstellen: Das aktuelle Interaktionsereignis wird ausschließlich wahrgenommen und beurteilt im Rahmen von mitgebrachten, im Bewußtsein fest verankerten Denk-und Urteilsschemata und Situationsmodellen mit festen Bewertungen, die elizitiert werden durch aktuelle situative Parameter (Personen, die beteiligt sind, bestimmte Themen, die angesprochen werden u.ä.). Die Schema und Modell auslösenden Faktoren bestimmen dann das „heading”, unter dem das gesamte Ereignis interpretiert wird und an dem die Interagierenden ihre Handlungen orientieren. Diese aus allgemein verbreiteten Annahmen und Meinungen über 5 Vgl. u.a. Bar-Tal/ Graumann et al. (1989), Tajfel (1981), Snyder et al. (1977), Wodak et al. (1990), van Dijk (1984). 198 Inken Keim Angehörige anderer Ethnien oder Kulturen bestehenden Schemata und typischen Situationsmodelle 6 können so prägend sein, daß geringe Hinweise in der aktuellen Situation genügen, das vollständige Modell zu aktivieren, und Informationen, die in der aktuellen Situation nicht vorhanden sind, aus dem Modell übernommen werden bzw. die aktuelle Situation mit solchen Informationen aufgefüllt wird. 7 Der beschriebene Wahrnehmungsvorgang, in dem in selbstverständlicher Weise aktuelle Information mit bereits gewußter Information verbunden wird, ist ganz allgemein auch charakteristisch für den Prozeß des „schnellen Verstehens” zwischen Beteiligten, die über einen ähnlichen Wissens- und Erfahrungshintergrund verfügen, auf den sie nur mit Andeutungen ggf. unter Verwendung von Formeln u.ä. rekurrieren, und die sich über „schnelles Verstehen” gerade ihre Gemeinsamkeit signalisieren. Die Spezifik bei der perspektivischen Abschottung ist jedoch, daß beim „schnellen Verstehen” vor allem auf stereotype und vorurteilsbeladene Strukturen rekurriert wird; d.h., wir sprechen von perspektivischer Abschottung nur dann, wenn die selbstverständlich vorgenommene Bedeutungsherstellung unter Rückgriff auf stereotype Denkmuster geschieht. Stereotype Wahrnehmung unterscheidet sich von Typisierungen (vgl. A. Schütz 1971, S. 326ff.), die ganz allgemein bei der Verarbeitung der Komplexität realer Sachverhalte immer vorgenommen werden, durch ihre Festigkeit und Starrheit. Jede neue Information, die nicht zum Schema paßt, wird entweder ignoriert oder in Schema-relevante Kategorien umgedeutet (vgl. u.a. auch Quasthoff 1987, S. 789ff.). 6 Als „group schema” bezeichnet van Dijk „a set of beliefs and opinions about minority groups” (1984, S. 23), das die kognitive Basis liefert für unsere Informationsverarbeitung über Mitglieder anderer Gruppen. Gruppenschemata werden in der Sozialisation erworben; sie werden durch Abstraktionsprozesse, durch Dekontextualisierung und Generalisierung herausgebildet. Im Kontakt mit Mitgliedern von Minoritätengruppen werden Erlebnisse auf dem Hintergrund der bereits erworbenen Gruppenschemata interpretiert und diese dabei stabilisiert oder ggf. verändert. Gruppenschemata sind im Langzeitgedächtnis gespeichert. Neben den sehr allgemeinen und abstrakten Gruppenschemata gibt es subjektive Erfahrungen von typischen Situationen mit Mitgliedern von Minoritäten und deren Handeln in diesen Situationen. Repräsentationen dieser Erfahrungen nennt van Dijk „Situationsmodelle”; sie sind im „episodic memory” gespeichert (1984, S. 25). Solche Situationsmodelle sind „reicher” als das aktuell erlebte Ereignis. Das Modell repräsentiert ein umfassendes Bild von typischen Situationen mit Minoritätenmitgliedern und deren darin offenbar gewordenen Eigenschaften. Das aktuell Erlebte wird subjektiv verstehbar gemacht über das „SituationsmodelP des Wahrnehmenden. Erweisen sich Situationsmodelle aufgrund mehrfacher Erfahrung als relevante Interpretationsrahmen, können Elemente dieser Modelle in die Gruppenschemata transportiert werden. 7 Wenn z.B. keine Information über den Akteur einer negativ bewerteten Handlung vorhanden ist, kann ein Mitglied ethnischer Minderheiten als Agent eingesetzt werden, wenn es eine allgemeine Schema- oder Situationsmodellinformation gibt, nach der solche Handlungen für diese Minderheit typisch sind. Verfahren der Perspektivenabschoitung 199 Perspektivische Abschottung wird für den empirisch arbeitenden Linguisten und Gesprächsanalytiker nicht über ein einzelnes Phänomen erfaßbar, sondern nur über die Kookkurrenz verschiedener interaktions- und äußerungsstruktureller Indikatoren, deren Spezifik durch Vergleich und Kontrastierung mit denkbaren Alternativen beschrieben werden kann. Perspektivische Abschottung kann sich auf nur ein Interaktionsereignis oder einen bestimmten thematischen Gegenstand beziehen; sie kann auch nur einem bestimmten Interaktionspartner gegenüber relevant werden. Ebenso können Beteiligte, die sich in Bezug auf einen bestimmten thematischen Gegenstand perspektivisch ’verrannt 7 haben, in Bezug auf andere Gegenstände sich flexibel zeigen und fähig zur Anerkennung oder gar Annäherung an die Perspektive anderer. Wir verstehen perspektivische Abschottung zunächst als situativ auf einen bestimmten Aktivitätszusammenhang beschränkte Realisierungsform von Interaktions-und Außerungsstrukturen. Daneben gibt es perspektivische Abschottung als längerfristiges Phänomen, wenn bei verschiedenen Interaktionsanlässen dieselben Beteiligten ein bestimmtes thematisches Objekt immer nur stereotyp und vorurteilsbeladen bearbeiten. Hierbei können tiefgreifende biographische Erfahrungen eine Rolle spielen, die z.B. dem Betroffenen nur einen „leidvollen”, „negativen” Blick auf ein Objekt möglich machen. Biographische Erfahrung dient dabei oft als Legitimation für das Verharren in der abgeschotteten Sehweise. In anderen Situationen kann Abschottung in Zusammenhang stehen mit der Übernahme einer bestimmten beruflichen oder politischen Rolle und den damit verbundenen Aufgaben und Pflichten. In solchen Situationen kann perspektivische Abschottung hochgradig effektiv sein, da man sich auf nichts einläßt und ausschließlich die eigene Sicht „durchboxt”. Perspektivische Abschottung ist dann mit einem hohen Durchsetzungspotential verbunden, allerdings oft auch zu dem Preis, daß man sich als Interaktionspartner „unmöglich” macht. Vertretern sozialer Randgruppen-oder sozial Benachteiligter z.B gelingt es oft nur durch die manifeste Abschottung der eigenen Sicht gegen Einwände von außen, durch das kompromißlose Propagieren der eigenen Sicht, sich auf der politischen Bühne Gehör zu verschaffen und in Betracht gezogen zu werden (z.B. der radikale Feminismus). In solchen Fällen kann das ausschließliche Argumentieren und Darstellen aus einer abgeschotteten Perspektive strategisch notwendig und die Fähigkeit und Bereitschaft dazu Voraussetzung sein für die politische Wirksamkeit des eigenen Handelns (auch wenn ggf. die private Sicht wesentlich offener und flexibler ist). 200 Inken Keim 2.1 Verfahren perspektivischer Abschottung Bei der bisherigen Materialanalyse 8 sind einige immer wiederkehrende Verfahren aufgefallen, die auf perspektivische Abschottung hinweisen. Die im folgenden vorgestellten Verfahren sind charakteristisch für den manifesten Ausdruck, das „laute und offene” Äußern, einer abgeschotteten Perspektive auf ein thematisches Objekt. Daneben gibt es auch „leisere” Manifestationsweisen, die in Gesprächen der Problem- und Konfliktbearbeitung deutlich werden können im Ausweichen vor einer offenen Auseinandersetzung und im Sich-nicht-Einlassen auf eine gemeinsame Problemlösung. Solche „leiseren” Manifestationen perspektivischer Abschottung werden hier nicht beschrieben. Als eine Art Basisoperationen für Darstellungen und Argumentationen aus einer abgeschotteten Perspektive, die in der Regel gebündelt auftreten, kommen in allen bisher analysierten Materialien vor: das Umdeuten, Unterstellen und Ausblenden von Komponenten oder Aspekten aus Sachverhalts- und Handlungszusammenhängen. Dies sind zunächst ganz allgemeine Operationen, die in gewisser Weise bei jedem wechselseitigen Verstehensprozeß eine Rolle spielen. In einer „harmlosen Variante” gehören sie zu den Basisregeln der Kommunikation; sie sind Bestandteil der „Idealisierungen” (vgl. Schütz/ Luckmann, 1979, S. 88), die notwendig vorgenommen werden, wenn Gesprächsbeteiligte wechselseitig Verständigung erzielen wollen. 9 In Bezug auf perspektivische Abschottung erhalten diese Operationen jedoch eine „tendenziöse” Qualität; ihre 8 Die bisher analysierten Gesprächsmaterialien stammen aus zwei unterschiedlichen Gruppen: a) der Filsbachgruppe, das ist eine stabile Freizeitgruppe von ca. 25 meist älteren Frauen und einigen Männern aus einem Stadtteil der Mannheimer Innenstadt. Die Mitglieder kommen vor allem aus dem Arbeiter- und Handwerkermilieu; zur genauen Beschreibung der Gruppe vgl. Keim (1995a, Kap.l); die Gesprächsaufnahmen stammen aus der Zeit von 1982-1985. b) einer stabilen Ubersiedlergruppe in Mannheim, d.h. von ehemaligen DDR-Bürgern, die noch zur „Mauer-Zeit” in die Bundesrepublik kamen. Es sind Frauen und Männer von ca. SO- TO Jahren, aus allen Berufsgruppen, die sich regelmäßig wöchentlich im wesentlichen zur Geselligkeit und zur gemeinsamen Bewältigung vergangener und gegenwärtiger Erfahrungen treffen. Zu DDR-Zeiten leistete die Gruppe Eingliederungshilfe für DDR-Übersiedler. Die Gesprächsaufnahmen stammen aus der Zeit von 1991-1993. 9 Um gegenseitige Verständigung zu erzielen, nehmen wir nach Schütz/ Luckmann gewisse Idealisierungen vor (1979, S. 88ff.), die auf Ausblenden, Umdeuten und Unterstellen basieren. Zu diesen Idealisierungen gehört „die Austauschbarkeit der Standpunkte”, wobei ggf. störende Aspekte, wenn sie für den aktuellen Kommunikationszweck als unerheblich betrachtet werden, ausgeblendet werden. Außerdem gehört dazu „die Kongruenz der Relevanzsysteme”; dabei unterstellen die Partner bis zum Beweis des Gegenteils, daß für den Zweck der anstehenden Kommunikation die Unterschiede ihrer Perspektiven, die auf der unterschiedlichen biographischen Erfahrung beruhen, bedeutungslos sind, und ihre Relevanzsysteme insoweit übereinstimmen, daß sie die zu behandelnden Objekte in derselben Weise erfahren und interpretieren. Ausblenden, Umdeuten und Unterstellen gehören danach zu den Voraussetzungen des wechselseitigen Verstehens und werden in selbstverständlicher Verfahren der Perspektivenabschotiung 201 Anwendung geht dann immer auf Kosten des Interaktionspartners oder führt zu Verzerrungen des thematisierten Objekts. In Bezug auf Partneraktivitäten werden sie offenkundig, wenn dem Partner Interpretationen von Äußerungen, Handlungsmotiven und Geltungsansprüchen unterstellt werden, die er dann bestreitet. 10 Seine Äußerungen werden für ihn festgelegt und dann gegen ihn verwendet; es wird ihm ein nicht intendierter Sinn „in den Mund gelegt”, und eine Korrektur von seiner Seite wird nicht zugelassen. Umdeuten und Unterstellen werden also dann zu Operationen perspektivischer Abschottung, wenn auftretende Perspektivendifferenzen nicht wahrgenommen bzw. nicht zugelassen werden, und die eigene Perspektive in selbstverständlicher Weise als die allein gültige behandelt wird; oder wenn dezidiert die Bedeutung einer Partneräußerung nur in Bezug auf die eigene Perspektive und Handlungsabsicht festgelegt und gegen den Partner gewendet wird. Wenn die genannten Operationen sich auf das thematisierte Objekt beziehen, werden relevante Aspekte des Objekts, die bereits genannt wurden oder auf der Basis allgemeinen Wissens als bekannt vorausgesetzt werden können, umgedeutet oder ausgeblendet; bei Gesprächen über Dritte können Handlungsmotive unterstellt oder abgesprochen werden. Umdeuten, Ausblenden und Unterstellen produzieren Verzerrungen von Sachverhalts- und Handlungszusammenhängen, die zu Übertreibungen bis hin zur Dämonisierung von thematisierten Personen einerseits oder zu Verharmlosung und Verniedlichung andererseits führen können. Umdeuten, Unterstellen und Ausblenden spielen in all den im folgenden dargestellten Verfahren perspektivischer Abschottung eine Rolle. Diese Verfahren, die anhand von Beispielen in Kap. 2.2 bis 2.4 dargestellt werden, sind im einzelnen die ausschließlich tendenziöse und stereotype Deutung von Handlungs- und Sachverhaltsdarstellungen, das Nicht-Zulassen einer „harmlosen” Deutung; das stereotype Behaupten ohne empirischen Beleg; die gemeinsame Herstellung eines empirischen Belegs für stereotype Behauptungen in konsensuellen Argumentationen; das Sich-Sträuben gegen den empirischen Nachweis für stereotype Behauptungen in kontroversen Argumentationen; Weise solange vorgenommen bis die wechselseitige Geteiltheit der Interpretation und Bewertung in Frage gestellt wird. 10 Was mich hier unter dem Aspekt der Perspektivik interessiert, wird unter dem Aspekt der Durchsetzungsfähigkeit als Verfahren des Forcierens bei Kallmeyer/ Schmitt in diesem Band beschrieben. 202 Inken Keim die stereotype Selbst- und Fremddarstellung und die prinzipielle Nichtvergleichbarkeit von eigener Kategorie und Fremdkategorie. Treten die angeführten Verfahren in einem Interaktionsereignis auf, legt das die Annahme nahe, daß es sich um perspektivische Abschottung handelt. In einer weiteren Analyse des Interaktionszusammenhanges ist dann zu prüfen, ob wirklich eine solche Abschottung vorliegt, und in Relation zu welcher sozialen Einheit die angeführten Verfahren stehen. In Diskussionen, in denen zumindest einer der Interaktionsteilnehmer perspektivisch abgeschottet argumentiert oder sich in eine perspektivische Abschottung bringen läßt, fallen darüber hinaus noch folgende argumentativen Besonderheiten auf: - Das „Recht-Behalten-Wollen um jeden Preis”, das sich ausdrückt im wiederholten antagonistischen Entgegensetzen, noch bevor der Partner seinen Beitrag zu Ende formuliert hat; d.h., der Partner wird unterbrochen, sobald der Sinn seiner Äußerung erkennbar ist. Zu der Partnerproposition wird dann sofort die Gegenbehauptung formuliert. - Thematische Inkohärenz, d.h. nicht angekündigter und nicht antizipierbarer Themenwechsel und Ausweichen auf einen anderen thematischen Fokus vor allem dann, wenn der Widerstand des Partners deutlich erkennbar ist und/ oder die Gefahr des Festgenagelt-Werdens besteht. Diese argumentativen Besonderheiten werden unten in Kap. 3 behandelt; sie sind konstitutiver Teil der Dynamik einer Argumentation, in der sich perspektivische Abschottung herstellt und manifest wird. 2.2 Ausschließlich tendenziöse und stereotype Deutung von Handlungs- und Sachverhaltsdarstellungen Das Phänomen, das ich im folgenden beschreibe, läßt sich besonders gut bei der interaktiven Bearbeitung von Ereignisdarstellungen beobachten. Wenn bei der Ereignisdarstellung keine Informationen zu wesentlichen Akteuren bzw. „Tätern” gegeben werden, die an dem Ereignis beteiligt sind weil es entweder dazu keine Informationen gibt oder man sie nicht nennen will können sich Täterthematisierungen anschließen als Mutmaßungen über potentielle Täter, oder Wissen über potentielle Täter kann ausgebreitet werden. Charakteristisch für ein Verhalten, das auf perspektivische Abschottung deutet, ist das Behaupten einer Täterschaft, das auf einem stereotypen Denkmuster basiert und im Modus der absoluten Sicherheit vorgenommen wird. Dabei ist es unerheblich, ob es um eine negativ oder positiv bewertete Handlung geht. Wesentlich ist die fraglose Zuordnung der Täterschaft an eine soziale Einheit, eine soziale oder ethnische Kategorie, ohne dafür einen faktischen Beleg zu haben. Die Täterzuordnung ist Ausdruck eines Vorurteils; sie geschieht über Assoziationen, die die Handlungsdarstellung auslöst in dem Sinne, daß die dargestellte Hand- Verfahren der Perspeküvenabschotiung 203 lung genau zu der Vorstellung paßt, die man mit der Kategorie des Täters verbindet. Die dargestellte Handlung wird dabei als Fall für eine kategoriendefinierende Handlungsweise interpretiert. Im folgenden Beispiel diskutieren Frauen aus der „Filsbachgruppe” 11 ein Flugblatt, das in ihrem Stadtteil verteilt worden ist. Die Filsbachgruppe, eine Freizeitgruppe in Mannheim, besteht vor allem aus Arbeiterfrauen aus einem traditionellen Arbeiterstadtteil mit hohem Ausländeranteil; dabei sind Türken die stärkste Gruppe. Das Flugblatt enthält Vorhaltungen und Drohungen der deutschen Bevölkerung gegenüber, ist in einer Art Ausländerdeutsch verfaßt und unterschrieben mit „Türkenheim 63190 wir danken”. 12 Sonst enthält das Flugblatt keinen Hinweis auf den Verfasser und/ oder Absender und auch keinen Hinweis auf den damit erwarteten Effekt. Die fiktive Absenderbezeichnung „Türkenheim 63190” wird für zwei der Beteiligten zum Anlaß, eine reale ethnische Zuschreibung in zweifelsfreier, selbstverständlicher Weise und mit stark negativer Bewertung vorzunehmen. Der mit der Bezeichnung eröffnete Rahmen von Fiktionalität wird als möglicher Deutungsrahmen gar nicht erst in Betracht gezogen; die erste und einzige Wahl für potentielle Akteure besteht in der fraglosen Übernahme der mit dem fiktiven Namen angebotenen ethnischen Kategorie. Die ersten Reaktionen auf das Verlesen des Flugblatts befassen sich mit der Autorenbzw. Täterschaft. Dabei finden sich Hinweise dafür, daß die Beteiligten das mit dem Flugblatt initierte thematische Potential aus verschiedenen Perspektiven bearbeiten: 1 Kit KU LIEST FLUGBLATT VOR, DAS IH WOHNUNGEK I» F S VERTEILT 2 K* WURDE 3 KU: #uns gehört auch deutschland * wir werden bald 4 K #LIEST LANGSAM UND DEUTLICH 5 KU: die überzahl haben und dann geht=s ru"nd# 6 K # 7 HN: #—»un dann 8 K «BELUSTIGT 9 K& «LACHEN 11 Zur ausführlichen Beschreibung der Gruppe und des Stadtteils der Mannheimer Innenstadt, für dessen deutsche Bevölkerung die Gruppe im ethnographischen Sinne typisch ist, vgl. Keim (1995b). 12 Das Flugblatt hat folgenden Wortlaut und folgende Orthographie: „Hier Wohnen noch viel Alte Leute, möchten sie ihre Wohnung für einen Ausländer räumen, und ins Altenheim gehen, haben Sie Verständnis mit uns Ausländern, jedes Stück Brot was die Deutschen essen haben sie die Ausländer zu verdanken, und denken sie an ihre Rente, wo für wir Ausländer Arbeiten müssen, uns gehört auch Deutschland, wir werden bald die Überzahl haben und dann gehts rund. Türkenheim 63190 wir danken”. 204 Inken Keim 10 KU: 11 HM: geht=s rund|<—# 12 K # 13 KL: 14 Kt # türkenheim (...) wir danken ma weiß awga net 16 KU: ha ja tü"rkenheimt 16 KL: woher des ( ■■ .) 17 MA: —>wa"s türkent*— 18 MÜ: kimmeltürke 19 KU: dreiesechzisch tmnerschrifde 20 MA: #hawwe die" des gschriwwe|# Ü «haben die das geschrieben # 21 K «SCHARF # 22 MÜ: hajo: j Die ersten nonverbalen Reaktionen, Lachen und Interjektionen zum Ausdruck von Belustigung, manifestieren das Nicht-Ernstnehmen der im Flugblatt ausgedrückten Drohung. Bei der anschließenden Thematisierung der Autorenschaft werden zwei unterschiedliche Bearbeitungsmodalitäten offenkundig: In der ersten Äußerung: ma weiß awwa net woher des (...) (Z. 13/ 16) drückt KL direkt und explizit ihre Deutungsunsicherheit bezüglich der Autorenschaft des Flugblatts aus und setzt sie durch die Partikel awwa in Kontrast zu einer noch nicht ausgedrückten, aber von ihr antizipierten anders lautenden Deutung. Mit ihrer Formulierung hält sie die Deutung der Autorenschaft offen im Sinne von „Jeder kann das geschrieben haben”. Im Gegensatz dazu drücken die Beiträge von MA und MÜ absolute Deutungssicherheit aus. Sie stellen in ungebrochener, selbstverständlicher Weise und in ernster Modalität gemeinsam eine stereotype Deutung her. In der KLs Äußerung unterbrechenden Frage ->was türken] reagiert MA auf die fiktive Absenderbezeichnung „Türkenheim”; sie deutet die fiktive Bezeichnung um in die Bezeichnung für die reale ethnische Kategorie. Die Frageformulierung ist sehr implikationsreich. Die Minimalform, bestehend aus Fragepronomen was und der Bezeichnung für die ethnische Kategorie, verleiht der Frage die Qualität einer Nachfrage. Doch die Fokussierung der ethnischen Kategorie als zentrales Element durch starke Akzentuierung und die scharfe Sprechweise weisen darüber hinaus auf bestimmte Erwartungen hin, die mit dem erfragten Element verbunden sind: MA erwartet eine Bestätigung ihrer Deutung der Täterschaft, die auf einer negativen Erwartungshaltung gegenüber Angehörigen der ethnischen Kategorie „Türken” basiert. Damit liefert sie gleichzeitig Evidenz für eine stereotype Täterfestlegung, die KL in der vorangehenden Äußerung antizipiert und in Gegensatz zu der sie ihre eigene offene Deutung gesetzt hatte. Verfahren der Perspektivenabschottung 205 MAs Frage ist verbal nicht adressiert; durch Reaktion auf die Frage etabliert sich KU, die Vorleserin, als Adressatin. Mit ha ja tü”rkenheim] (Z. 15) wiederholt sie die Absenderbezeichnung zusammen mit der Bestätigungsformel ha ja (im Sinne von „so steht es da”). KU behandelt damit MAs Frage als Nachfrage, deren Anforderungen sie nachkommt: Sie wiederholt die Absenderbezeichnung. Auf die mit der Frage verbundene Erwartung jedoch reagiert sie nicht; sie läßt sich nicht auf eine ethnische Festlegung des Absenders ein, sondern bleibt in dem durch die fiktive Absenderbezeichnung eröffneten fiktiven Rahmen. Mit schnellem Anschluß reagiert MÜ (Z. 18); sie steigert MAs erste Wahl für die Zuschreibung der Autorenschaft „Türken” durch ein Schimpfwort für die ethnische Kategorie: kimmeitürke. 13 Damit erfüllt MÜ die konditioneile Relevanz, die MA mit ihrer schnellen Nachfrage etabliert hatte, bestätigt MAs ethnische Kategorienfestlegung und bewertet die Kategorie negativ. MAs Folgefrage hawwe die” des geschriwwe] (Z. 20) bezieht sich über das Demonstrativpronomen die auf die ethnische Kategorie. Damit verfestigt MA den von ihr eröffneten und von MÜ ratifizierten stereotypen Deutungsrahmen. Wieder erfüllt MÜ in selbstverständlicher Weise die mit der Frage etablierten Erwartungen und bestätigt sie nachdrücklich: hajo: [ (Z. 22). Die Beiträge von MA und MÜ zeigen folgende Charakteristika: - Ubergehen bzw. Ignorieren von Vorgängeraktivitäten, die gegenläufig zur eigenen Deutungssicherheit sind (das nicht-ernste Bearbeiten der fiktiven Drohung und das Offenlassen der Autorenschaft); - Ignorieren der fiktiven Rahmung der Drohung; - Initiierung der Interaktionsmodalität der fraglosen Sicherheit; - Umdeuten des fiktiven Absenders über Assoziationen in einen realen; damit wird eine neue Interpretation der Flugblattdrohung als reale Bedrohung hergestellt; die Umdeutung in der Modalität der fraglosen Sicherheit bedeutet den Ausschluß alternativer Deutungsmöglichkeiten für die Autorenschaft. - Zuschreibung der Autorenschaft an die ethnische Kategorie „Türken”; die Zuschreibung erfolgt ohne faktische Evidenz (beide Beteiligten 13 Im Sprachgebrauch der Beteiligten ist „Kümmeltürke” ein Schimpfwort für Türken. In seiner ursprünglichen Bedeutung wurde „Kümmeltürke” in der Studentensprache verwendet zur Bezeichnung von Personen, die aus Halle/ Sachsen kamen; in dieser Gegend wurde Kümmel angebaut und die Gegend scherzhaft als „Kümmeltürkei” bezeichnet. Später wurde die Bezeichnung abwertend für Türken und vor allem für türkische Gastarbeiter verwendet; vgl. Duden „Deutsches UniversalWörterbuch” (1989, S. 909). 206 Inken Keim können nicht wissen, wer das Flugblatt verfaßt hat). Die fraglose Zuschreibung auf der Basis eines nur minimalen Hinweises auf ein Stereotyp zeigt die hohe Bereitschaft, an den Realitätsgehalt stereotyper Zuschreibungen zu glauben. Die von MA und MU sehr schnell und äußerst implikationsreich vorgenommene Bedeutungskonstitution, die mit semantischen Verkürzungen verbunden ist, zu einer Verzerrung des Sachverhalts führt und die ethnische Kategorie unter einem negativen Stereotyp faßt (Türken bedrohen Deutsche), legt die Vermutung nahe, daß sich hier eine perspektivische Abschottung in Bezug auf das thematische Objekt ankündigt. Wenn die Beteiligten in der folgenden Interaktion, in der Auseinandersetzung mit den eingangs manifest gewordenen gegenläufigen Deutungstendenzen, ihre stereotype Deutung verstärken und festigen und auch entgegen plausiblen Einwänden bei ihrer „ersten” Deutung bleiben, ist das ein Indiz für perspektivische Abschottung. Direkt im Anschluß an den Transkriptausschnitt erfolgt der erste „Test” für die stereotype Deutung: Zwei der Beteiligten hinterfragen die Sicherheit der Täterzuschreibung (vgl. dazu die Analyse, Kap. 3.1). MA geht auf die Zweifelsfragen nicht ein, wechselt das Thema und präsentiert eine Variante der Anti-Ausländerparole „Ausländer raus”. Ihr Verharren in der stereotypen Deutung und der Rekurs auf ein Sprachrepertoire, das auf offene Ausländerfeindlichkeit hinweist, macht an dieser Stelle die Perspektivengebundenheit ihres Verhaltens und ihre perspektivische Abschottung manifest: MA spricht aus der Perspektive von Deutschen, die Türken als reale Bedrohung für die deutsche Bevölkerung betrachten und ein „ausländerfreies Deutschland” propagieren. Das Konstatieren einer perspektivischen Abschottung stützt sich im vorliegenden Beispiel zum einen auf das schnelle und fraglose Ausschließen möglicher alternativer Deutungen und zum anderen auf das Wechselspiel von einerseits dem Etablieren einer konditioneilen Relevanz in einem über Kontextualisierungshinweise indizierten Deutungsrahmen und andererseits dem Erfüllen der konditionellen Relevanz in genau diesem Rahmen. Als Kontextualisierungshinweise fungieren hier das Ignorieren von Relevanzen, die durch Vorgängeraktivitäten etabliert wurden, die besondere Formulierung der Frage (Minimalform und spezifische Prosodie) und das Umdeuten einer fiktiven Kategorie in eine reale ethnische Kategorie. 2.3 Besonderheit des Nachweises für stereotype Behauptungen In Darstellungen oder Argumentationen, die aus einer abgeschotteten Perspektive erfolgen, fällt auf, daß der empirische Nachweis für negativ wertende stereotype Behauptungen und Feststellungen über Angehörige anderer sozialer Gruppen/ Kategorien entweder ganz fehlt, auch dann, wenn die Behauptung in Widerspruch steht zu anderen Behauptungen und auf- Verfahren der Perspektivenabschottung 207 grund allgemeinen Wissens leicht widerlegbar ist; das wird unten in Kap. 3 dargestellt. Oder sie werden gegeben, haben dann jedoch spezifische Charakteristika. Die interaktions- und äußerungsstrukturelle Spezifik des empirischen Nachweises hängt zusammen mit der Eigenbzw. Fremdinitiierung und der konsensuellen oder der kontroversen Bearbeitungsmodalität des thematischen Objekts. Eigeninitiierte Ereignisdarstellungen oder Szenarien als Belege für stereotype Behauptungen kommen vor allem in konsensuell geführten Gesprächen vor, fremdinitiierte Darstellungen vor allem in Gesprächen, in denen zumindest einer der Beteiligten kritische Nachfragen stellt bzw. mit kritischen Nachfragen gerechnet werden muß und der Sprecher, Nachfragen oder gar Widerspruch antizipierend, den Nachweis gibt. Die Art und Weise, wie Beteiligte Sachverhalte Zusammentragen und sie formulieren, um daraus einen empirischen Beleg zu machen, unterscheidet sich in konsensuellen und kontroversen Bearbeitungsmodalitäten. 2.3.1 Gemeinsames Herstellen eines empirischen Belegs Wenn unter den Beteiligten Konsens darüber hergestellt worden ist, daß die stereotype Sicht auf ein thematisches Objekt die angemessene ist, werden empirische Belege zu stereotypen Behauptungen in der Regel nicht angefordert. Werden von einem Sprecher eigene Erfahrungen oder Vermutungen bezüglich des thematischen Objekts angedeutet oder ausgeführt, arbeiten die Beteiligten dann gemeinsam daran, die präsentierte Erfahrung oder Vermutung zum Beleg für eine stereotype Feststellung zu machen; d.h., die Beteiligten nutzen jeden neuen Anlaß, um gemeinsam an der Stabilisierung und Ausweitung einer perspektivisch abgeschotteten Sicht auf das thematische Objekt zu arbeiten. Dabei spielen vor allem folgende Verfahren eine Rolle: - Eine Ereignisdarstellung wird in einer solchen Weise angereichert, daß ihre Struktur der Struktur der stereotypen Inhaltsrelation der Behauptung entspricht (vgl. Abs. a)). - Eine mit einer stereotypen Behauptung relativ unverbundene Ereignis- / Sachverhaltsdarstellung wird über ein Schlußverfahren zum Beleg für die stereotype Behauptung gemacht (vgl. Abs. b)). - Ein irreales Bedrohungsszenario wird entworfen, um die Notwendigkeit einer extremen Lösung auf Kosten der „anderen” einsichtig zu machen (Abs. c)). Die einzelnen Verfahren werden im folgenden an Beispielen dargestellt. 208 Inken Keim a) Fraglose Zuschreibung einer Handlungsdarstellung zu einer ethnischen Kategorie Die Zuschreibung einer Handlung zu einer ethnischen Kategorie basiert auf einer bereits fest etablierten Inhaltsrelation; die Handlung wird dann als kategoriendefinierende Handlungsweise gedeutet, d.h. als eine für Angehörige einer bestimmten Kategorie typische und erwartbare Handlung. Wird jedoch jede Handlung, die auch nur eine geringe Ähnlichkeit hat mit einer kategoriendefinierenden Handlungsweise in selbstverständlicher Weise als Beleg für die Kategorie gedeutet, und handelt es sich bei der zugeschriebenen Handlung um ein ethnisches Stereotyp, legt dies die Vermutung nahe, daß die Beteiligten das thematische Objekt aus einer abgeschotteten Perspektive betrachten und beurteilen. Im folgenden Beispiel ist das thematische Objekt die ethnische Kategorie „die Polen”. Sie ist bereits fest etablierter Gesprächsgegenstand, und ein Charakteristikum, „Polen stehlen Autos von Deutschen”, wurde an einer vorangehenden Erzählung ausführlich dargestellt. Eine nachfolgende Ereignisdarstellung machen die Gesprächsbeteiligten eine Gruppe von Übersiedlern aus der ehemaligen DDR dann gemeinsam zu einem weiteren Beleg für die Validität der vorherigen Zuschreibung an die Polen. Die Sachverhaltsdarstellung der Erzählerin füllen die Rezipienten in selbstverständlicher Weise (zur Bedeutung der Vertrautheit vgl. den Beitrag von Nothdurft in diesem Band) so auf, daß sie zu der etablierten Erzählkonstellation „Polen stehlen Autos von Deutschen” paßt und zum kategoriendefinierenden Merkmal für Polen wird: wenn deutsche Autos gestohlen werden, dann kommen Polen dafür als Täter in Frage. Der Transkriptausschnitt beginnt mit einer Evaluation der Handlung der voraufgehenden Geschichte: die Heldin dieser Geschichte vereitelte einen Autodiebstahl, den Polen gerade ausführen wollten. Direkt nach der Evaluation des Ereignisses folgt die nächste Erzählung: 282 AN: also: jaj 283 HL: also hat se noch schwein gehabt! nein! 284 GE: a"ber 285 GE: * bekannte die ham in Viernheim * Silvester gefeiert! 286 GE: ** >die ham ihr auto auf dem parkplatz gehabtf< ** 287 GE: #und wie sie früh heimfahren wollen sind alle vier 288 K «LACHEND Verfahren der Perspektivenabschottung 209 289 AN: +ja"ja| 290 HL: —»des geht bei denen schnell«— * die sind 291 GE: räder ab# alle vier räderl 292 K # 293 IN: is des 294 HL: da * gewieft wie sonst was * 295 HD: schlimm bei denen 296 IN: sicher daß des polen warnf 297 GE: ja" ja: * die kamen damals Durch die Einleitung mit a”ber wird ein kontrastiver Bezug zur direkt vorangehenden Evaluation hergestellt im Sinne von: die Frau dort hat Glück gehabt, aber was ihr jetzt hört, verlief nicht so glimpflich. Die Erzählerin berichtet ein Erlebnis ihrer Bekannten: sie feierten Sylvester bei Freunden, stellten ihr Auto auf einem Parkplatz ab, und als sie frühmorgens heimfahren wollten, waren die Räder abmontiert. Interessant sind Inhalt und Ausdrucksform der direkt im Anschluß an die Nennung des Skandalons einsetzenden Reaktionen der Beteiligten. 14 Die Rezipienten reagieren nicht mit Uberraschungs- und Empathiebekundungen, wie es der Fall wäre, wenn sie sich in die Situation der Personen der Geschichte versetzten und aus deren Perspektive das Ereignis bewerteten oder mit ihnen mitfühlen würden; sondern die Rezipenten thematisieren ausschließlich die potentiellen Täter, zu denen die Erzählerin (noch) keine Information geliefert hatte. AN reagiert mit schnellem Anschluß und in selbstverständlicher Weise mit Bestätigungspartikel ja”ja[ (Z. 289) (Akzent auf der ersten Silbe und fallende Schlußkadenz); sie zeigt damit, daß das Dargestellte ihren Erwartungen entspricht. Diese Erwartungen können sich nicht auf das Erleben der Personen in der Geschichte beziehen, denn aufgrund der bis dahin gelieferten Information konnten Erwartungen noch nicht soweit entwickelt werden, daß sie dann nur noch zu bestätigen wären. ANs Erwartungen müssen also im Zusammenhang mit der Sachverhaltsdarstellung stehen „Jemand hat Autoräder von einem deutschen Auto gestohlen”, die sie in einen bestimmten Interpretationsrahmen eingeordnet hat, in dem die dargestellte Handlung typisch ist für eine bestimmte soziale/ ethnische Kategorie. Mit ihrer Reaktion macht AN die Erzählung zur Bestätigung eines bereits vorhandenen „Modellwissens”, das durch die vorangegangene Erzählung aktiviert wurde. 14 In Alltagserzählungen sind direkte (Empörungs-/ Entriistungsu.ä.)Reaktionen der Rezipienten auf die Nennung des Skandalons erwartbar bzw. diese Reaktionen machen den erzählten Sachverhalt/ das erzählte Ereignis erst zum interaktiv hergestellten Skandalen; vgl. z.B. die Tratscherzählungen der Filsbachgruppe (Keim 1995a, Kap. 3.2). 210 Inken Keim Mit -^des geht bei denen schnell * die sind da * gewieft wie sonst was (Z. 290/ 294) thematisiert HL die Täter und nimmt eine explizite und eindeutige Täterzuordnung vor. Das Demonstrativpronomen denen verweist anadeiktisch es gibt im Kontext keine andere Referenzgröße auf die vorangehende Geschichte, in der Polen die Täter waren. D.h., HL hat die Erzählung dem (durch die voraufgehende Geschichte) bereits etablierten Interpretationsrahmen zugeordnet und „Polen” als Täter daraus inferiert. Die Äußerung im Kommentarformat enthält neben der Täterzuschreibung auch eine explizite Tätercharakterisierung. Die Formulierungs- und Außerungsweise von die sind da * gewieft wie sonst was verleihen der Charakterisierung die Qualität eines Stereotyps: Die Charakterisierung ist apodiktisch generalisierend, sie betrifft die Gruppe der Polen insgesamt; außerdem ist sie formelhaft formuliert. Die Segmentierungspause direkt vor dem qualifizierenden Adjektiv, die die Zusammengehörigkeit des folgenden, schneller und in einem Schub gesprochenen Außerungssegments besonders hervorhebt, markiert zusätzlich den Formelcharakter der Redewendung „gewieft wie sonst was”. Auch der nächste Sprecher bewegt sich in demselben Deutungsrahmen wie sein Vorredner. Mit dem negativ wertenden Kommentar schlimm bei denen ratifiziert er die Zuschreibung der Täterschaft an die Polen und treibt die Negativcharakterisierung der Polen weiter. Die gemeinsame Herstellung des empirischen Belegs für ein ethnisches Stereotyp hat also folgende äußerungs- und interaktionsstrukturelle Merkmale: - Die Erzählerin stellt die Rahmung ihrer Ereignisdarstellung her, indem sie mit Konjunktor an die vorangegangene Erzählung zu dem Stereotyp „Polen stehlen Autos von Deutschen” anschließt. - Die Ereignisdarstellung enthält zwei Komponenten aus der Inhaltsrelation des Stereotyps, die deutschen Opfer und die Tat; die Frage nach den Tätern bleibt offen. - Die Rezipienten füllen in dem durch die vorangegangene Interaktion etablierten Interpretationsrahmen, an den die Erzählerin angeknüpft hat, die von der Erzählerin (noch) nicht gegebenen Informationen über die Täter ein. Die „schnelle” und selbstverständliche Täterzuschreibung, die wie im vorhergehenden Beispiel (vgl. 2.2) mit semantischen Verkürzungen verbunden ist, erfaßt die ethnische Kategorie „Polen” ausschließlich unter einem negativen Stereotyp. Der „Test” der stereotypen Deutung erfolgt direkt im Anschluß an die letzte Beteiligtenäußerung durch: is des sicher daß des polen warn] (Z. 293/ 296). Die Beteiligten lassen sich durch das Hinterfragen ihrer Deutungssicherheit nicht aus dem Konzept bringen. Sie verstärken ihre stereotype Deutung und weiten sie aus (vgl. dazu die Analyse unten Verfahren der Perspektivenabschottung 211 Kap. 2.3.2, Abs. a)). Sie machen damit ihre perspektivische Abschottung manifest: Sie sprechen aus der Sicht von Deutschen, die Polen in Deutschland vor allem als kriminell und auf Autodiebstahl spezialisiert betrachten. b) Starke Behauptung und schwacher empirischer Nachweis In Gesprächen, in denen Konsens besteht über die ausschließlich stereotype Sicht auf ein thematisches Objekt, genügen auch schwache Indizien, um Ereignisdarstellungen zu empirischen Belegen für eine vorangehende stereotype Behauptung zu machen. Durch das Herstellen eines empirischen Belegs auch „unter erschwerten Bedingungen” zeigen sich die Beteiligten wechselseitig ihre absolute Beurteilungssicherheit. Im folgenden Beispiel, das wieder aus der Filsbachgruppe stammt, dient ein gemeinsam hergestelltes Schlußverfahren dazu, eine „schwache” Ereignisdarstellung zum Beleg für eine vorangegangene stereotype Behauptung zu machen. Die Behauptung „Ausländer vertreiben deutsche Kinder mit Gewalt vom Spielplatz” wird in mehreren Beiträgen erhärtet: 656 XW: ah die beherrsche jo alles 657 MÜ: do drauße 658 MÜ: is kä deutsches kind ufi=m Spielplatz 659 KL: da draußen 660 KL: ist ja kein deutsches kind aul=m Spielplatz 661 MÜ: # # #die schlage jo die kinner wenn sisch U* #die schlagen ja die kinder wenn sie sich 662 Kft »DURCHEINANDER# 663 MÜ: ufl ä bonk druffhocke|# Ü auf eine bank setzen # 664 XW: des awwer tatsach 665 MÜ: wisse se wo mei Nana kleiner war 666 XW: so isses ned 667 MÜ: nedf #die war schun so long dogstonne is ned Ü #die war schon so lange dagestanden ist nicht 668 MÜ: uff die Schaukel kummej.# Ü auf die Schaukel gekommen# 669 KL: mit ei"nem wortf in unserem 670 MÜ: ja 671 KL: viertel sin zu viele sie solln=s verteilen * U=Ubersetzung der Dialektäußerung in Standard. 212 Inken Keim Die Behauptungen „die beherrschen ja alles” (Z. 656) und „die schlagen ja die Kinder wenn sie sich auf eine Bank setzen” (Z. 661/ 663) sind apodiktisch generalisierend und im Modus der absoluten Sicherheit formuliert (Formulierung in einem Schub, abfallende Intonationskontur am Äußerungsende, keine Hervorhebungen durch Akzentuierung, planes Sprechen). In den Behauptungen werden die beiden Gruppen „deutsche Kinder” und „Ausländer” in maximalen Kontrast zueinander gesetzt. Dabei werden Ausländer ausschließlich als die brutalen Aggressoren dargestellt: Aktivformulierungen für Ausländerhandlungen, Lexik mit aggressivem Potential beherrschen und schlagen, Generalisierung der ausländischen Aggressoren ohne Spezifizierung, ob es sich um Kinder oder Erwachsene handelt (Pronomen „die”), während die deutsche Seite ausschließlich als die unschuldig leidende dargestellt wird durch die Bezeichnung kind und die eher passivischen Zustandsformulierungen is auf=m Spielplatz und uff ä bank druffhocke. 1 * MUs Behauptungen finden nachdrückliche Bestätigung (Wiederholung und Hervorhebung der Charakterisierung der deutschen Seite durch Standardverschiebung; Bekräftigungsformel für die „Wahrheit” des Dargestellten). Darauf präsentiert MU eine Ereignisdarstellung, die sie kondensiert und mit einem hohen Grad an Implizitheit formuliert (Z. 665/ 668). Die Darstellung der Erfahrung ihrer Tochter Nana folgt dem Inhaltsmuster der vorangehenden Behauptungen das deutsche Kind erscheint passiv und die Situation erleidend. Vor allem die Charakterisierung des deutschen Kindes schafft den Bezug zwischen Behauptungen und Ereignisdarstellung, denn der zentrale Punkt der Behauptungen, der gegen das deutsche Kind aggressive Ausländer, kommt in der Ereignisdarstellung nicht vor; es gibt keine Hinweise auf potentielle Täter oder eine Tat, die das „Leid” des Mädchens verursacht haben könnten. 16 Auch die Semantik der Verben, die Nanas „Leiden” beschreiben („lange warten” und „nicht schaukeln können”), steht in keiner Belegrelation zum Aggressionspotential, das durch „schlagen” angezeigt wird, eine behauptete Prädikation über Ausländer. Doch diese relative Unverbundenheit zwischen Behauptung und Ereignisdarstellung hat im Kontext gleichsinniger, stereotyper Argumentation keine nachteilige interaktive Konsequenz. Es folgen keine Nachfragen zu Hintergründen des dargestellten Sachverhalts oder zum Zusammenhang von Behauptung und Ereignisdarstellung u.ä. Im Gegenteil: Eine der Re- 15 Diese Art der Kontrastierung ist gleichzeitig auch ein Beleg für die von Wodak et al. (1990, S. 353) angeführte „Strategie der Schwarz-Weiß-Malerei”, die sie als typisch für den vorurteilsbeladenen Diskurs bezeichnen. 16 Man kann jedoch davon ausgehen, daß die Erzählerin aufgrund eigener Beobachtungen oder Schilderungen ihrer Tochter wußte, warum das Kind nicht auf die Schaukel kam, und ob es überhaupt eine aktive Behinderung durch Ausländer gab. Verfahren der Perspektivenabschotiung 213 zipientinnen macht retrospektiv die Ereignisdarstellung zum Beleg für die vorangegangenen Behauptungen dadurch, daß sie aus beiden den Schluß zieht: mit ei”nem wortl in unserem viertel sin zu viele * sie solln=s verteilen (Z. 669/ 671). Der Schluß folgt dem Argumentationsmuster der gegenseitigen Aufrechnung: 17 Wenn die Ausländer unsere Kinder vertreiben, müssen wir sie vertreiben. Die Ereignisdarstellung enthält im Vergleich zu der Inhaltsrelation, die in der Behauptung ausgedrückt ist, nur eine Komponente, die des „leidenden” deutschen Kindes. Zwei weitere Inhaltskomponenten, die „Tat”, die das Leiden verursacht hat, und der/ die „Täter” sind darstellungsstrukturell ausgespart. Trotzdem macht KL Behauptung und Ereignisdarstellung zu argumentativen Voraussetzungen, aus denen sie einen Schluß zieht (mit ei”nem wort, Z. 669), der für die in der Behauptung eingeführte Kategorie „Ausländer” negative Konsequenzen hat (Vertreiben eines Teils der Ausländer aus dem Stadtteil). D.h., KL hat die Ereignisdarstellung um die beiden Strukturkomponenten „Tat” und „Täter” erweitert im Sinne von „Ausländer waren es, die verhindert haben, daß Nana auf die Schaukel kam”. Im vorliegenden Beispiel sprechen die Beteiligten aus der Perspektive von Deutschen, die Ausländer ausschließlich negativ und als bedrohlich für Deutsche betrachten. In dem gemeinsam produzierten Schlußverfahren demonstrieren sie die Exklusivität ihrer Sicht und ihren Konsens über die Modalität, in der das thematische Objekt zu bearbeiten ist. In einem solchen perspektivisch abgeschotteten Diskurs genügen auch schwache Indizien, damit eine Ereignisdarstellung zu einem Beleg für ein stereotypes Urteil gemacht werden kann. Dabei sind folgende Bedingungen Voraussetzung: - Die stereotype Rahmung und die dem Stereotyp zugrundeliegende Inhaltsrelation sind explizit markiert. - Das Stereotyp wird interaktiv bestätigt. - In der folgenden Ereignisdarstellung genügt eine der Inhaltskomponenten aus der dem Stereotyp zugrundeliegenden Relation, vorzugsweise die, mit der sich die Rezipienten identifizieren können: in unserem Fall das leidende deutsche Kind. 17 Die „Aufrechnung” ist nach Wodak et al. ein typisches Darstellungsmuster des vorurteilsbeladenen und stereotypen Diskurses (1990, S. 354). Wodak bezeichnet die Aufrechnung als Substrategie einer „Verharmlosungsstrategie”, wobei in ihrem Material „Verbrechen gegen die Juden mit dem eigenen Leiden” im Krieg aufgerechnet werden. 214 Inken Keim c) Motivunterstellung und absurdes Szenario Beide Verfahren sind charakteristisch für die bisher analysierten Gesprächsmaterialien, in denen das Darstellen und Argumentieren aus einer abgeschotteten Perspektive in manifester Weise, „laut und offen”, vorgenommen wird. 18 Motivunterstellungen 19 schaffen eine Verbindung zwischen den Handlungen anderer und dem, was man ihnen als persönliche Eigenschaften, Handlungs- und Wertorientierungen, als ideologische Einstellung u.ä. zuschreibt. Aus diesen Zuschreibungen werden dann Motive für die Handlungen anderer entworfen, die diese Handlungen plausibilisieren. In stereotypen und vorurteilsbeladenen Diskursen werden den Handlungen anderer vor allem bösartige und gewalttätige Motive unterstellt, die die Sprecher gegen ihre eigenen Interessen und ggf. gegen die eigene Person gerichtet sehen. Motivunterstellungen können auch in direkten Konfrontationen auftreten; dabei wird dem Partner ein bisher sorgsam verborgenes, negatives Handlungsmotiv unterstellt, und damit werden seine bisher präsentierte Sicht auf ein thematisches Objekt, sein bisher präsentiertes Selbstbild oder sein bisheriges Verhalten diskreditiert. In solchen Fällen kann eine Motivunterstellung einer Entlarvung des Partners gleichkommen (vgl. dazu unten Kap. 3). Die Art des Motivs, das anderen unterstellt wird, ist gleichzeitig auch ein Indiz für die Perspektive des Sprechers, aus der er andere betrachtet und beurteilt. Je generalisierender und typisierender die Motivunterstellung formuliert ist und je eindeutiger sie das Handeln anderer als typisch erscheinen läßt, desto deutlicher wird auch die Perspektive des Sprechers, aus der heraus er die Motivunterstellung vornimmt. Der Entwurf absurder Szenarien gehört oft eng zusammen mit Motivunterstellungen. Absurde Szenarien stellen Situationen dar, in denen die 18 Auch van Dijk (1984, S. llOff.) zeigt an mehreren Beispielen, daß die interviewten holländischen Informanten, wenn sie in stereotyper Weise über Ausländer sprechen, ihnen Handlungsmotive zuschreiben bzw. Ausländerhandlungen aus einer, den Ausländern unterstellten Intention erklären. Nach Wodak et al. (1990, S. 358) gehören irreale Szenarien zu den typischen Darstellungsmustern des vorurteilsbeladenen Diskurses. Der Sprecher „entwirft ein nicht-existentes Szenario, in dem dann seine/ ihre Argumente unwiderlegbar erscheinen”. 19 Zur Zuschreibung von Handlungsmotiven vgl. auch Laucken (1974, S. 128ff.); bei dem Entwurf einer naiven Verhaltenstheorie unterscheidet Laucken zwei Arten von Motiven in Alltagsgesprächen, die von „Alltagspsychologen”, d.h. den alltäglichen Interaktionsteilnehmern, den Handlungen anderer zugeschrieben werden: Es gibt eigenständige Motive, d.h. solche, die in der „dispositionalen Ausstattung eines Menschen” (ebd., S. 134) liegen, Neigungen und NormVorstellungen wie Machtstreben, Nächstenliebe, Eifersucht, Pflichtgefühl, Moral u.ä.; und es gibt abgeleitete Motive, die den Eigenmotiven zugeordnet sind. Motive dieser Art werden aus naiver motivationspsychologischer Sicht in Alltagsgesprächen als Ursache angegeben dafür, daß ein Mensch aktiv geworden ist; sie stellen den „Wert” dar, den ein bestimmtes Handlungsziel für eine Person hat (ebd., S. 129). Verfahren der Perspektivenabschottung 215 Gefährlichkeit der „anderen” vorgeführt und eindringlich demonstriert wird. Ihre suggestive Wirkung wird gesteigert durch die Verbindung mit Motivunterstellungen, d.h., wenn die gefährlichen und gegen einen selbst oder die eigene Gruppe gerichteten Handlungen der anderen auch noch von innen heraus begründet erscheinen. Motivunterstellung und absurdes Szenario sind qualitativ andere Verfahren als die bisher behandelten Verfahren des empirischen Belegens. Dabei geht es nicht um den empirischen Nachweis für ein Stereotyp, sondern es werden neue und in der Tendenz dramatischere Realitäten entworfen und geschaffen. Das folgende Beispiel stammt wieder aus der Filsbachgruppe. Dem Transkriptausschnitt voraus geht die ausführliche Nachbereitung eines offiziellen Gesprächs zwischen Mitgliedern der Gruppe und Vertretern verschiedener Ausländergruppen. Das offizielle Gespräch sollte dem wechselseitigen Austausch von Erfahrungen aus dem Zusammenleben zwischen Angehörigen unterschiedlicher ethnischer Gruppen dienen. In der Nachbereitung des Gesprächs wird offenkundig, daß die Mitglieder der Filsbachgruppe im wesentlichen ihre Vorurteile über Ausländer bestätigt fanden. Nach einer Serie von Erzählungen über negative Erlebnisse aus dem interkulturellen Gespräch ziehen die Beteiligten gemeinsam eine Art Fazit, in dem sie ihre Sicht auf Ausländer, speziell auf Türken formulieren. Zentrale Strukturelemente des Fazits sind Motivunterstellung und absurdes Szenario. Das Fazit besteht aus einem ersten Vorschlag zur Lösung des Türkenproblems (Z. 605/ 608); der Unterstellung eines Handlungsmotivs für Türken (Z. 610/ einer durch Zitat angedeuteten absurden Szene (Z. 617/ 621); einem zweiten, extremen Lösungsvorschlag für das Türkenproblem 618); (Z. 623/ 627). 605 ZI: #<nau"s mit da türke ni"x wie naus 605 K «HEFTIG 607 MÜ: jawoll naus naus un 608 ZI: noch emol nau M s# 609 K 610 HZ: 611 K& # #nää" die/ die/ die wolle des/ des in/ «DURCHEINANDER 612 HZ: in/ des induschtrielle deutschland wolle die 613 K4 DURCHEINANDER 216 Inken Keim 614 HZ: hawwe die hawwe/ ja deswege wolle se sisch in de 615 NA: diese masse vnn iugoslawe un türke 616 K& DURCHEINANDER 617 HE: # # die feeggel ah 618 HZ: bundeswehr etabliere # # 619 Kft »STIMMENGEWIRR# 620 HE: die krigge jo/ die sache jo ihr habt jo do nix mehr 621 HE: zu melde mir sin do 622 XW: ja 623 MA: siegsch beim Hitler hot=s 624 MA: des ned gewwe do sin kä auslänner kumme #ein reines 625 K »BETONT 626 HZ: ja aach d/ do 627 MA: deutschland der fehlt der fehlt# (...) 628 K # Die auffallendsten interaktions- und äußerungsstrukturellen Merkmale des Fazits sind das „kollektive Sprechen” und die Verwendung vorgefertigter Redeteile, die aus anderen Kontexten übernommen oder herausgetrennt und der anstehenden Interaktionsaufgabe entsprechend eingepaßt werden. Der erste Lösungsvorschlag zur Bewältigung des Türkenproblems (Z. 605/ 608) ist die Reformulierung und Expansion der allgemein bekannten Anti-Ausländer-Parole „Ausländer raus” mit Zuspitzung auf die ethnische Kategorie „Türken”. Damit macht die Sprecherin ihre Perspektive auf Ausländer manifest: Sie spricht hier aus der Sicht von Deutschen, zu deren politischem Programm Ausländerfeindlichkeit und die Herstellung eines „ausländerfreien” Deutschland gehört, und sie benutzt deren Sprachrepertoire. Sie eröffnet damit gleichzeitig einen perspektivisch klar markierten Rahmen für die Bearbeitung des Themas „Lösung des Ausländerproblems”, den die Folgesprecherinnen mit ihren Beiträgen dann weiter ausfüllen und ausweiten. Die Außerungsmodalität, das erregte Sprechen (laut, starke Akzenturierung auf dem Prädikat nau”s, mehrfache, reihende Wiederholung mit Steigerungsmerkmalen), zeigt die bis dahin erreichte Emotionalisierung und den Grad der durch die vorangegangene Interaktion hergestellten Ablehnung der Ausländer. HZ weist den Vorschlag „Türken raus” durch nää” zurück und formuliert dann eine Motivunterstellung (Z. 610/ 618): Die Türken wollen die deutschen Machtzentren besetzen, Industrie und Militär. Durch die sequentielle Positionierung erhält die Motivunterstellung gleichzeitig begründenden und erklärenden Charakter für die Zurückweisung des ersten Lösungsvorschlags im Sinne von: „Türken lassen sich nicht vertreiben, denn sie wollen die Macht in Deutschland”. Diese Motivunterstellung entspricht den festen Inhaltsfiguren des antisemitischen Diskurses Verfahren der Perspekiivenabschottung 217 in der NS-Zeit: die Zuschreibung von Macht- und Dominanzstreben an Juden. 20 Machtstreben wird hier den bedrohlich erscheinenden Türken zugeschrieben, und es wird damit eine Art türkischer Machtverschwörung in Deutschland entworfen. Im nächsten Beitrag präsentiert HE eine Szene in verkürztem Format; sie zitiert einen generalisierten Sprecher, der einem nur deiktisch verdeutlichten Adressaten gegenüber seine Dominanz feststellt: die keggel ah die krigge jo/ die Sache jo ihr habt jo do nix mehr zu melde mir sin do (Z. 617/ 621). Als Folgeäußerung auf die Motivunterstellung erhält das nur aus einer Redeeinleitung und einem Zitat bestehende Szenenkondensat die Funktion eines Belegs für die Richtigkeit der Motivunterstellung. Auffallend in der Redeeinleitung ist die Bezeichnung keggel für die ethnische Kategorie des Sprechers, der einzige nominale Referenzausdruck; er wird von HE ersetzt durch das Pronomen die. 21 keggel ist die dialektale Bezeichnung für freche, unverschämte Kinder. An dieser Stelle wird der ethnographische Kontext relevant: Die Bezeichnung keggel verweist auf einen konkreten, lokal sehr eng begrenzten Handlungszusammenhang für das Zitat. Einige Tage vor dem hier angeführten Gespräch erzählte HE eine Geschichte, in der zwei ausländische Jungen sich auf dem zentralen Spielplatz des Stadtteils mit deutschen Kindern um ein Spielgerät stritten, und die Ausländerkinder die Deutschen zu vertreiben suchten mit dem angeführten Zitat. In dieser Erzählung bezeichnete HE die Ausländerkinder durchgängig als keggel. Das Zitat der Ausländerkinder wird also aus seinem Entstehungs- und Verwendungskontext herausgelöst und in den neuen thematischen Rahmen der „Machtergreifung durch die Türken” gebracht; es wird zunächst dekontextualisiert und dann in dem neuen thematischen Rahmen rekontextualisiert. In dem neuen Rahmen erhält es die Qualität einer Feststellung, daß die den Türken unterstellte Absicht der Machtergreifung bereits Realität geworden ist: Das Pronomen die kann als anadeiktischer Verweis auf die vorangegangene Referenzgröße „die Türken” verstanden werden, die Deiktika des Zitats ihr und wir als Verweis auf die bereits als Kontrastkategorien etablierten (ihr) „Deutschen” und (wir) „Türken”; das Adverb do (da) erhält die Qualität eines anadeiktischen 20 Vgl. dazu Wodak et al. (1990, S. 351), wonach solche Vorstellungen auch zum Gedankengut des heutigen Antisemitismus in Österreich gehören; vgl. auch die Vorstellungen aus der NS-Zeit von der „Weltverschwörung der Juden” oder dem jüdischen Streben nach Weltherrschaft”. 21 Es ist nicht klar entscheidbar, ob es sich bei der Abfolge „Nomen - Pause - Pronomen” um eine linksangebundene Thematisierung handelt oder um eine Korrektur. Würde es sich um ein Thematisierungsverfahren handeln, bedeutete das eine Fokussierung des thematischen Objekts „die Keggel”. Die Interpretation als Korrektur bedeutete, daß HE sofort Hinweise auf die lokale Herkunft des Zitats korrigieren will, um so das Zitat in einen generalisierenden Kontext einpassen zu können. Die Korrekturinterpretation hätte Implikationen in bezug auf die Verfahren, die zur Herstellung des Fazits als faschistischem Diskurs angewandt werden. 218 Inken Keim Verweises auf die vorangegangene Lokalbezeichnung „Deutschland”. Die mehrfache Wiederholung der Vergegenwärtigungspartikel jo (ja) verleiht dem Zitat den Charakter, daß es sich um bereits allgemein Gewußtes handelt. Das verstärkt die Faktizität der Feststellung, daß die Machtergreifung bereits stattgefunden hat und die Türken ihre Dominanz den Deutschen gegenüber massiv behaupten. Auf die durch Motivunterstellung und absurde Szene neu geschaffene „Realität” präsentiert MA einen zweiten Lösungsvorschlag für das Türkenproblem: siegsch beim Hitler hot—s des ned gewwe do sin kä auslänner kumme (Z. 623/ 624). Mit dem Rekurs auf den Namen „Hitler” und mit der Feststellung, daß damals „keine Ausländer gekommen sind”, ist implizit ein Vergleich zwischen Nazi-Deutschland und der heutigen Bundesrepublik verbunden, der unter dem Aspekt, unter dem der Vergleich ausschließlich vorgenommen wird, zugunsten von Nazi-Deutschland ausfällt. Dann folgt das Zitat einer Nazi-Parole: ^ein reines deutschland (Z. 624/ 627). Das Zitat, durch Wechsel in Standard und fast getragene Sprechweise besonders hervorgehoben, enthält in kondensierter Form einen wesentlichen Teil der Nazi-Ideologie; es zielte auf die totale Vertreibung und Vernichtung nicht-deutscher Bevölkerungsteile. Der Schluß, den MA aus dem impliziten Vergleich beider Systeme zieht, wird nicht explizit verbalisiert, sondern er besteht nur in einer Mangelfeststellung bezogen auf die Bundesrepublik: der fehlt der fehlt (Z. 627). Hitler, der aus der Sicht der Sprecherin über seine Ideologie „ein reines Deutschland” genau das erreicht hat, was sie selbst angesichts der vorher entworfenen Bedrohung durch die Türken für notwendig hält, erhält hier die Funktion einer Autorität für die Angemessenheit der eigenen Auffassung. Ausblenden und Umdeuten sind die Basisoperationen, die zur Reduktion der Ideologie des NS-Regimes auf nur einen Aspekt und zu seiner totalen Verharmlosung führen. Das vorliegende Beispiel ist ein (wenn auch weitverbreiteter) Extremfall für die Manifestation einer abgeschotteten Perspektive, das Sprechen aus einer rechtsideologischen/ extremistischen Sicht. Das Beispiel belegt auch deutlich die sich verselbständigende Dynamik, wenn ein thematisches Objekt ausschließlich stereotyp und vorurteilsbeladen bearbeitet wird: Die Unterstellung bösartiger, aggressiver Motive und ein absurdes Szenario, das die Faktizität des vorher nur Unterstellten behauptet, bereiten den Boden für den Rückgriff auf extreme Lösungsmodelle. Das aus der Dynamik sich entwickelnde Aggressionspotential, das auch in der Formulierungswahl zum Ausdruck kommt (es werden vor allem vorgefertigte, aus dem faschistischen Diskurs bekannte Inhalts- und Ausdrucksfiguren gewählt und keine „eigene Sprache”), muß dabei keine Entsprechung in der Realität haben; die Sprecher, die hier zu Wort kamen, können in anderen kontextuellen Zusammenhängen auch ganz anders über Ausländer sprechen (zwei der Beteiligten unterhalten freundliche Beziehungen zu ihren Verfahren der Perspekttvenabschoitung 219 türkischen und italienischen Nachbarn). In der Situation hier jedoch stellen die Beteiligten in einer Atmosphäre sich steigernder Emotionalität und Aggressivität einen faschistischen Diskurs her. 2.3.2 Fremdinitiierter Nachweis für stereotype Behauptungen Fremdinitiierung kommt vor allem in Interaktionssituationen vor, in denen eine Perspektivendifferenz auf das thematische Objekt bereits manifest wurde oder gerade manifest wird. Mit welcher Qualität und in welcher Form der eingeforderte Nachweis geliefert wird, hängt von der Hartnäckigkeit des Nachfragenden ab. Auffallend ist jedoch, daß auf die Nachfrage zunächst nur stereotype und formelhafte Formen des Nachweises geliefert werden, die die bereits etablierte Sicht auf das thematische Objekt verstärken und bestätigen. a) Reaktion auf kritische Nachfragen durch weitere Stereotype Im oben angeführten Polenbeispiel (vgl. Kap. 2.3.1, Abs. a)) hinterfragt IN direkt im Anschluß an die selbstverständlich vorgenommene Täterzuschreibung an die Polen die Zuschreibungssicherheit der Beteiligten. Als Reaktion wird kein empirischer Nachweis geliefert, sondern nur eine Bestätigung der stereotypen Zuschreibung: 293 IN: is des 294 HL: da * gewieit wie sonst was * 295 HD: schlimm bei denen 296 IN: sicher daß des polen warenf 297 GE: ja" ja: * die kamen damals 298 HL: ja" ja (...) bei tageslicht ganz 299 GE: des waren die polen] INs Vergewisserungsfrage bestätigt GE mit Nachdruck (ja” ja: ). Als Erklärung/ Begründung für die Zuschreibungssicherheit folgt die Feststellung die kamen damals. Vergangenheitstempus und Temporaladverb weisen auf einen bestimmten historischen Zeitpunkt hin: „zur Zeit des vorher geschilderten Geschehens kamen die Polen”. Das Verb kommen ohne Richtungsergänzung hat in dem (durch die Ortsnennung „Viernheim” vs. „Polen” gesetzen) geographischen Rahmen hier die Bedeutung „kamen nach Deutschland”. Auf dem Hintergrund der politischen Verhältnisse in Polen und der Beziehung zwischen Polen und Deutschland in den letzten Jahren (das Gespräch fand 1991 statt) ist eine weitere Spezifizierung möglich: „es war damals als das Ereignis stattfand genau der Zeitpunkt, als es für die Polen die Möglichkeit gab, als Saisonarbeiter u.ä. nach Deutschland zu kommen”. Dann folgt die apodiktische Zuschreibung des waren die polen (Z. 299), der der folgende implizite Schluß zugrundeliegt: 1) historisch war es möglich, daß Polen als Täter in Deutschland 220 Inken Keim infrage kommen; 2) wir wissen, daß Polen Autos stehlen (die vorherige Geschichte lieferte einen Beleg); 3) also kommen sie als Täter auch im konkreten Fall in Frage. Die Zuschreibung bleibt unwidersprochen, und auch die kritische Nachfrage INs löst keine Verunsicherung der Sprecherin aus; im Gegenteil, sie nutzt die durch die Nachfrage etablierte Redegelegenheit zur Bestärkung ihrer ausschließlich stereotypen Deutung. b) „Widerwillige” Präsentation des empirischen Belegs Insistiert einer der Gesprächspartner auf Explizierung und Detaillierung des empirischen Belegs für eine stereotype Behauptung, kann darauf eine expandierte Belegdarstellung erfolgen. Wie das folgende Beispiel zeigt, löst das Insistieren auf der Ausbreitung der empirischen Erfahrung zunächst Irritation aus. Der expandierte Beleg erfolgt erst „im zweiten Anlauf’ in Reaktion auf das Nachhaken von Gesprächsbeteiligten, die aus einer anderen Perspektive auf das thematische Objekt argumentieren. Die expandierte Belegdarstellung hat dann ebenfalls stereotype Züge. Das folgende Beispiel stammt aus der Filsbachgruppe, aus einer Kontroverse über das Thema „Ausländer in Deutschland” (vgl. dazu ausführlich unten Kap. 3). Eine der Gruppenbeteiligten, SU, übernimmt stellvertretend für andere die ausländerfeindliche, andere Beteiligte die ausländerfreundliche Perspektive. Nachdem SU sehr hartnäckig und durchgehend ohne empirische Belege generalisierende und negativ wertende Behauptungen über Ausländer vorgetragen und bei der Gegenseite heftige Gegenreaktionen ausgelöst hat, präsentiert sie an dieser Stelle nicht dazu aufgefordert, aber die Notwendigkeit eines empirischen Nachweises für die Menge nicht belegter Behauptungen antizipierend einen Beleg als Begründung für ihre ablehnende Haltung Ausländern gegenüber: 172 SU: 173 IN: 174 SU: 17$ SU: 176 KR: 177 IN: 178 SU: 179 KR: 180 IN: 181 SU: 182 IN: 183 SU: ich hab acht jahr nebe so=m dreckschwerl/ Hof dreckschwein gewohnt! >ich kann ihnen verzähln|< in se"ckenheim warn a"cht jahr neben uns welche! wa"s war — ► Ctürken! türkenj — ► eich hab genu"g mitgemacht! da neben ihnent — ► was ham se da mitgemacht! * nur ma ► —türken! so/ daß ich/ ich hab noch nie/ denn <die ham/ eh die ham/ — ► e"rst Verfahren der Perspekiivenabschotiung 221 184 IH: ja 185 SU: ma ham se=n ölolen üwwerhaupt net saubergemacht Die Darstellung der Erfahrung (Z.172/ 174) hat formelhafte und themenabschließende Qualität. Weder die Formulierungsweise noch die prosodische Kontur projizieren eine erzählerische Expansion; sie enthalten keine spannungsaufbauenden Elemente, wie sie z.B. für Erzählankündigungen von Skandalgeschichten o.ä. charakteristisch sind. 22 Auch das Schimpfwort für die ethnische Kategorie ist nicht-expressiv formuliert: -oofoolooo o o o o of ich hab acht jahr nebe so=m dreckskerl/ schwein gewohnt * T° o o o o o o >ich kann ihnen verzähln Das plane Sprechen, der relativ gleichmäßige Rhythmus, die leisere, tiefe Stimme und die abfallende Intonation am Äußerungsende sind Charakteristika eines Formulierungsabschlusses. Die drastische Bezeichnung für die ethnische Kategorie, die durch die Selbstkorrektur von kerl zu schwein auf der verbalen Ebene zwar hervorgehoben ist, ist prosodisch nicht markiert. Die Formulierung von >ich kann ihnen verzähln\ ist formelhaft und hat die Bedeutung, daß man in einem bestimmten Realitätsausschnitt ausreichende negative Erfahrungen besitzt, um urteilen zu können. Auf den formelhaft formulierten Beleg reagieren IN und KR durch Nachfragen, die auf eine faktenorientierte Expansion des Belegs zielen. SU beantwortet die Ortsnachfrage von IN (iuoT, Z. 173) erst nach der Formel ich kann ihnen verzähln und verbunden mit Signalen der Relevanzhochstufung (fokussierender Akzent auf dem Ortsnamen und der Zeitangabe): in se”ckenheim warn a”cht jahr neben uns welchel (Z. 175). Die drängend formulierte, lauter und mit schnellem Einsatz gesprochene Nachfrage nach 22 Vgl. die Analyse von Tratschgeschichten in Bergmann (1987, S. 127ff.); die Ankündigung von Klatschgeschichten werden so formuliert, daß sie die Neugierde der Rezipienten wecken; der Gesprächspartner soll dazu veranlaßt werden, „von sich aus nach dem Wissen (des Sprechers) zu fragen”. 222 Inken Keim der ethnischen Kategorie (Z. 177) beantwortet sie leicht verzögert. Sie reagiert mit einer weiteren Formel -^<ich hab genu”g mitgemacht[ (Z. 178) und zeigt auf der prosodischen Ebene, daß dies ihr abschließender Beleg ist für die empirische Fundiertheit ihres Urteils (schnelleres und lauteres Sprechen, starker Akzent auf dem Adverb genu”g und abfallende Intonation am Außerungsende). Erst nachdem IN und KR mit einer Fragewiederholung und der Frage nach dem Hintergrund von SUs Erfahrung (Z. 176/ 179) nachhaken und auf einer Ausbreitung der Erfahrung insistieren, erfüllt SU die Frageanforderung und nennt als ethnische Kategorie: <-türkenl (Z. 181). Auf die Nachfragen der anderen, die auf eine Detaillierung der behaupteten Erfahrung zielen, reformuliert SU ihre Erfahrung wiederum nur formelhaft und kommt erst mit Verzögerung der mit den Fragen etablierten interaktiven Verpflichtung nach. Darauf fordert IN SU zur Konkretisierung des unspezifischen Erfahrungsnachweises auf —>was ham st da mitgemacht} (Z. 180) und bringt SU das zeigt die weitere Bearbeitung mit dieser Frage kurzzeitig aus dem Konzept; sie reagiert auf die Frage nicht. INs Formulierungsfortführung nach der kurzen Pause (Z. 180/ 182) hat die Qualität einer Reparatur: Sie enthält eine aufwendige Begründung für die insistierende Nachfrage und zeigt manifest Formulierungsschwierigkeiten (mehrfacher Planungsabbruch, Stottern). SU hat INs Nachhaken nicht erwartet und (nonverbal) in einer Weise reagiert, die es für IN erforderlich macht, ihr Insistieren auf dem empirischen Beleg zu begründen und zu rechtfertigen. SUs Formulierung des empirischen Belegs und seine Bearbeitung durch KR und IN machen unterschiedliche Bearbeitungsweisen für das thematische Objekt deutlich: - Für SU hat die z.T. formelhafte Formulierung des empirischen Nachweises abschließend-belegende Funktion für den Geltungsanspruch ihrer bisher entwickelten abgeschotteten Perspektive auf das thematische Objekt und ihre ausländerablehnende Haltung. Die apodiktisch generalisierende Feststellung ausschließlich negativer Erfahrung ist in derselben Aussagemodalität absoluter Selbstverständlichkeit formuliert wie die voraufgehenden Argumente. - Für IN und KR ist die stereotype und formelhafte Belegdarstellung nicht überzeugend; sie halten nach SUs Beharren auf ausländerfeindlichen Positionen eine Expansion für die angedeutete Erfahrung für erforderlich zur Plausibilisierung der ausschließlich ablehnenden Haltung. Das Insistieren auf Expansion der empirischen Erfahrung hat Erfolg; noch mit INs Äußerung überlappend startet SU mit einer ausführlichen Darstellung ihrer Erfahrung. Die Darstellung basiert auf einer stereotypen Inhaltsfigur: Die Türken sind dreckig, frech und laut, und wir Deutschen sind die Leidtragenden. Es ist keine expandierte Erzählung (ohne Redewie- Verfahren der Perspektivenabscholiung 223 dergaben), und die geringe szenische Ausbreitung und der geringe Detailliertheitsgrad bei der Darstellung der skandalösen Handlungen der Türken machen die Darstellung eher zur Illustration eines Standardvorwurfs: 182 IM: so/ daß ich/ ich hab noch nie/ denn ( ■■■ )<— 183 SU: <die ham/ eh die ham/ —>e"rst 184 IM: ja 185 SU: ma ham se=n Ölofen üwwerhaupt net saubergemacht 186 SU: —>na ham mir gsacht der gehört ab un zu saubergemacht 187 SU: heim se=n gezeigt»— <da sin so"lche flocken rumgeflogen 188 SU: * bei uns konnte kei"ner mehr wasche aufhängen die 189 IM: hm 190 SU: ham uns fresche antworten gegebn bis einer en 191 SU: innungsmeister hingeschickt hat von Schornsteinfeger! 192 IN: hm un dann ham se=s 193 SU: hat=n ne stra"fe angedroht 194 IM: gemacht! 195 SU: <—no"ch nicht—» dann is der no"chemal gekomm 196 SU: un hat gleich=n Strafzettel do"rtgelassen * ham 197 SU: se=n au"sgelacht! * <<—un je”: de nacht bis um vier 198 SU: im sommer—»> * fensder un tür auf un da warn 199 SU: vielleicht achtzehn zwanzich leute da drin * a"cht 200 KU: <nä" die/ 201 HA: —»mir hawwe aa so e Sippschaft«— 202 SU: jahre lang 203 KU: die türke bei uns owwe die ge"he * die sin/ die 204 KU: sin=s (gewohnt)» 205 HM: ah jo: 206 G0: #<«—es gibt solsche un solsche— ► 207 K #MIT NACHDRUCK Die Belegdarstellung beginnt mit manifesten Formulierungsproblemen (zweifacher Abbruch und Verzögerungssignal), die als Hinweis darauf verstanden werden können, daß die Sprecherin nicht vorbereitet ist auf eine erzählerische Expansion. Dann folgt, schneller gesprochen, der erste Beleg, der durch das Adverb — e’Vstma mit fokussierendem Initialakzent eine Reihung mehrerer Belege projiziert. Der erste Beleg ist prosodisch in einem Bogen gesprochen und im wesentlichen reduziert auf die chronologische Darstellung eines Ereignisverlaufs. Die Formulierungen sind übertreibend und generalisierend (überhaupt net saubergemacht, keiner konnte wüsche 224 Inken Keim aufhängen). Der zweite Beleg (Z. 197-202) inhaltlich gewichtiger als der erste ist sehr kondensiert und übertreibend (jede nacht, vier (Uhr)) formuliert und nur prosodisch ist das Wesentliche markiert durch lauteres, langsameres und intensiveres Sprechen: <*—un je: ”de nacht bis um vier im sommer->> (Z. 197/ 198). Beide Belege sind generalisierende Darstellungen zur Erfüllung der durch das hartnäckige Insistieren auf Faktizität etablierten konditionellen Relevanz; es sind Detaillierungen zu stereotypen Vorwürfen über das Verhalten von Türken Deutschen gegenüber. Das Insistieren auf Ausbreitung der eigenen Erfahrung führt bei der Sprecherin SU, deren perspektivische Abschottung im vorangegangenen Interaktionsverlauf bereits offenkundig geworden war, nicht zur Überprüfung oder Relativierung der eigenen Sicht. Die Art und Weise der Detaillierung legt eher die Vermutung nahe, daß die Sprecherin damit ihre ausschließlich stereotype Sicht auf das thematische Objekt „Türken” verstärkt und vertieft. Wie der weitere Interaktionsverlauf jedoch zeigt (vgl. dazu Analyse unten Kap. 3.3), kann der durch Insistieren erzwungene Blick auf die eigene Erfahrung im vorliegenden Beispiel als erster Schritt verstanden werden in einem insgesamt langen Prozeß, der zum Aufbrechen der perspektivischen Abschottung führt. 2.4 Stereotype Selbst- und Fremddarstellung Selbst- und Fremddarstellung sind grundlegende Verfahren beim Sprechen über andere, vor allem dann, wenn andere als Angehörige anderer sozialer Kategorien oder Gruppen wahrgenommen und beurteilt werden. Dabei erfolgt die Fremddarstellung tendenziell expliziter als die Selbstdarstellung, auf die oft nur implizit über eine Kontrastrelation verwiesen wird. Über den Vergleich von Merkmalen, die als Unterscheidungsmerkmale für beide sozialen Einheiten festgelegt werden, erfolgt die Selbst- und Fremdzuordnung zu sozialen/ ethnischen Kategorien. Die Selbst- und Fremddarstellung kann differenziert und abwägend vorgenommen werden, wobei beiden sozialen Einheiten sowohl positiv als auch negativ bewertete Eigenschaften zugeordnet werden können. Bei einer undifferenzierten Selbst-und Fremdsicht ist die Bewertung eigener und fremder Eigenschaften dichotom organisiert; die eigene Gruppe/ Kategorie wird in der Regel ausschließlich positiv bewertet und im Kontrast dazu die andere Gruppe/ Kategorie mit den jeweils korrespondierenden negativen Werten belegt. Dabei werden bevorzugt soziale und ethnische Stereotype verwendet. 23 Kommt in Gesprächen durchgängig eine dichotom organisierte Selbst- und Fremdsicht vor unter Verwendung stereotyper Zuschrei- 23 Vgl. dazu die Stereotypenforschung in Sozialpsychologie und Linguistik; einen Überblick und umfangreiche Literaturhinweise dazu gibt Quasthoff (1987); zu neueren Arbeiten vgl. u.a. Bar-Tal/ Graumann et al. (1989), Wodak et al. (1990); vgl. auch Czyzewski et. al. (1995). Verfahren der Perspektivenabschottung 225 bungen, ist das ein deutliches Indiz dafür, daß die Gesprächsbeteiligten sich selbst und andere aus einer abgeschotteten Perspektive betrachten und beurteilen. Für Selbst- und Fremddarstellungen, die dichotom organisierten Bewertungen folgen, gibt es zwei unterschiedliche Darstellungsmuster: Entweder die eigene Gruppe/ Kategorie hat den absoluten Vorrang und die anderen sind die Benachteiligten bzw. haben den Benachteiligten-Status zu akzeptieren; oder die eigene Gruppe/ Kategorie gehört zu den immer Benachteiligten und die anderen sind immer die Bevorteilten. Beide Darstellungsvarianten kommen typischerweise in vorurteilsbeladenen Diskursen vor (vgl. auch die Beispiele oben), sie folgen dem Muster der Schwarz- Weiß-Malerei. 24 Im folgenden werde ich beide Darstellungsvarianten behandeln, die erste zusammenfassend beschreibend, die zweite anhand eines längeren Transkriptausschnitts. a) Vorrangstellung der eigenen Gruppe/ Kategorie und Benachteiligung der anderen Die Vorstellung von der Vorrangstellung der eigenen Gruppe/ Kategorie gegenüber anderen Gruppen/ Kategorien basiert auf der Prämisse der prinzipiellen Nichtvergleichbarkeit beider sozialer Einheiten bezüglich sozialer, rechtlicher und politischer Ansprüche in einer gesellschaftlichen Organisation. Anlaß zur Thematisierung des Vorrangs der eigenen Gruppe/ Kategorie bieten in Alltagsgesprächen u.a. Argumente der anderen, die auf Gleichstellung und Gleichbehandlung zielen. Interessant ist dabei, daß der eigene Vorrang tendenziell nicht explizit und direkt ausgedrückt wird, sondern eher implizit zum Ausdruck kommt in der Zurückweisung des Anspruchs der anderen. So weist beispielsweise eine deutsche Sprecherin die Klage einer Ausländerin über die Benachteiligung von Ausländern am Arbeitsplatz („Ausländer müssen immer nur Dreckarbeiten machen”) zurück durch: dann soll se heimgehe wenn=s ihr nicht paßt hier[. Mit der Aufforderung „nach hause zu gehen” ist die Auffassung impliziert, daß die Ausländer die schlechteren Arbeitsbedingungen zu akzeptieren haben, wenn sie hierbleiben wollen. Die Sprecherin billigt der Ausländerin nicht das Recht auf Gleichstellung/ Gleichbehandlung mit Deutschen zu. Die prinzipielle Nichtvergleichbarkeit kann auch ’bewiesen werden’. Die Sprecher führen dann an einem entsprechend konstruierten Fall vor, daß wenn die eigene und die fremde Gruppe gleichgestellt würden dies 24 Wodak et al. beschreiben das Muster der Schwarz-Weiß-Malerei als typisch für den vorurteilsbeladenen Diskurs. Dabei werden zwischen Gruppen einfache Bewertungsdichotomien, die „Guten” und die „Bösen” aufgebaut. „Die sprachliche Realisierung erfolgt in Form des ’Kontrastes’, in dem sprachliche Gegensatzpaare formuliert werden (z.B. wir ihr)”, (1990, S. 353/ 354). 226 Inken Keim zur Benachteiligung der eigenen Gruppe führt. Die Notwendigkeit einer Ungleichbehandlung wird dann als im Gruppeninteresse liegend gerechtfertigt. Im folgenden Beispiel argumentiert eine deutsche Sprecherin dagegen, daß Ausländer sich wie Deutsche die eingezahlten Rentenbeiträge beim Ausscheiden aus dem Berufsleben auszahlen lassen könnten: aber des is trotzdem * wenn se auch hier geschafft ham is des trotzdem alles unser geld * also was uns wieder fehlt wenn die=s ausbezahlt kriegen * alles unser geld. Die Sprecherin spricht hier den Ausländern die Gleichstellung ab und begründet das damit, daß dies zu Lasten der deutschen Rentenzahler ginge. Die von den ausländischen Arbeitnehmern geleisteten Zahlungen (die genauso hoch liegen wie die der deutschen Arbeitnehmer) unterschlägt sie bei dem Vergleich. Hier werden also die Fakten ausgeblendet, die bei einem Vergleich zugunsten der Ausländer sprechen würden und die Fakten hochgestuft, die bei dem konstruierten Vergleich zu Lasten der Deutschen gehen. Das Ergebnis des Vergleichs wollen sich Deutsche nicht selbst schaden ist die Notwendigkeit einer Ungleichbehandlung, im konkreten Fall: Ausländer sollten keinen Anspruch auf Auszahlung ihrer Rentenbeiträge erhalten. Die Prämisse der prinzipiellen Nichtvergleichbarkeit kann allerdings auch suspendiert werden in den Fällen, in denen eine Gleichbehandlung der Ausländer zu einer Verschlechterung ihrer Situation führen würde. Im nächsten Beispiel beklagt eine deutsche Sprecherin, daß eine ausländische Familie eine Wohnung in dem Wohnhaus bekommt, in dem sie wohnt. Sie mißgönnt den Ausländern die Wohnung mit dem Argument: die gehöre ja gar net in so e gute wohnung rein * wir ham nach—m krieg auch miserabel gewohnt. Das Argument basiert auf der Inhaltsfigur: Erst wenn man Schlimmes durchlebt/ durchlitten hat, hat man Besseres verdient. Über diese Figur stellt die Sprecherin den Vergleich zwischen Ausländern und Deutschen in bezug auf die Wohnsituation her im Sinne von: Erst wenn die Ausländer ähnlich schlimme Erfahrungen gemacht haben wie wir Deutsche (im Krieg), haben sie die Voraussetzungen dafür erbracht, auch eine ähnlich schöne Wohnung zu beziehen wie wir. Es kann also auch eine Gleichbehandlung von Deutschen und Ausländern dann konstruiert werden, wenn sie zum Nachteil der Ausländer führt. b) Übermäßige Bevorteilung der Fremdkategorie Voraussetzung eines Vergleichs zwischen Selbst- und Fremdkategorie, der im Ergebnis zur Feststellung einer übermäßigen Bevorteilung der anderen führt, ist ebenfalls eine ausschließlich positive Selbstsicht und eine negative Fremdsicht. Der Vergleich zwischen beiden Kategorien folgt dem „Ungerechtigkeitsschema” im Sinne von: Es ist ungerecht, wenn wir, die wir besser sind, schlechter behandelt werden/ es uns schlechter geht, als Verfahren der Perspektivenabschottung 227 denen, die schlechter sind als wir. 25 Dabei wird die Negativcharakterisierung der anderen explizit vorgeführt anhand einer Reihe typischer Eigenschaften und Handlungsweisen. Das eigene Bessersein dagegen bleibt implizit und ist inferierbar aus der Kontrastrelation zwischen „uns” und den „anderen”. Die Selektion der Charakteristika für die Fremddarstellung, die Bewertung dieser Charakteristika und die Art der Relation zwischen Selbst- und Fremdkategorie sind Indizien für die Perspektive, aus der der Sprecher sich und die anderen darstellt. Eine ausschließlich stereotype Gegenüberstellung nach dem Muster der Schwarz-Weiß-Zeichnung legt die Vermutung nahe, daß der Sprecher die Relation zwischen sich und den anderen aus einer abgeschotteten Perspektive betrachtet und beurteilt. Das folgende Beispiel stammt aus einem Gespräch, das Ubersiedler aus der ehemaligen DDR (d.h. Personen, die noch zur „Mauer-Zeit” in den Westen kamen) 1991 führten. Im Gespräch über die desolate wirtschaftliche Situation in Deutschland nach der Wiedervereinigung entwerfen die Beteiligten gemeinsam eine Lösung, wie die enormen Kosten für den Wiederaufbau „Ost” zumindest teilweise abgefangen werden könnten: durch Enteignung ehemaliger Partei-Bonzen und die Beschlagnahmung der SED-Gelder. Die Enteigung wird mit dem Verursacherprinzip gerechtfertigt (Wer den Schaden verursacht hat, muß zahlen; Z. 138/ 144). Die aktuelle politische Lage jedoch sieht aus der Sicht der Beteiligten ganz anders aus: Das Geld bleibt „in der DDR” (Z. 148), und die für den wirtschaftlichen Zusammenbruch Verantwortlichen sind immer noch „dran alle” (Z. 146). Das löst Verbitterung aus, die Ausdruck findet in Empörungsäußerungen und einer gemeinsam hergestellten stereotypen Negativcharakterisierung der „Ostbürger” in Relation zur eigenen Kategorie als „Ubersiedler”: 137 SH: seh ich ein seh ich ein garum 138 MA: meine der den 139 ID: * meine regiemng o"ch nicht nef garum 140 SH: nehm se 141 MA: schaden der den schaden ver/ verursacht hat der muß 142 ID: so"ll ich denn! ja 25 Ein Vergleich nach dem Gerechtigkeitsschema gehört zu den Topoi der Antike; Aristoteles (1980, S. 112fF.) beschreibt eine Argumentation aus „gerechtem Unwillen”, in dem das Empfinden von Schmerz über das unverdiente Glück (der anderen) ausgedrückt wird; vgl. auch Kienpointner (1992, S. 294ff.), der eine Argumentation nach dem Gerechtigkeitstopos zu den häufig verwendeten Mustern in Alltagsgesprächen rechnet. Danach haben zwei soziale Einheiten, wenn sie gleiche Voraussetzungen haben, auch dasselbe verdient; bzw. wenn sie nicht dieselben Voraussetzungen haben, haben sie auch nicht dasselbe verdient. Daraus läßt sich für unsere Zwecke auch das komplexere Ungerechtigkeitsschema ableiten: Es ist ungerecht, wenn einer, der schlechtere Voraussetzungen hat als der andere, mehr bekommt/ verdient, als der, der bessere Voraussetzungen hat. Nach diesem Schema wird hier argumentiert. 228 Inken Keim 143 SH: 144 HA: 145 ID: 146 SH: 147 HA: 148 ID: 149 ID: 150 SH: 151 ID: 152 SH: 153 ID: 154 SH: 155 ID: 156 SH: 157 ID: 158 SH: 159 ID: 160 SH: 161 HA: 162 ID: <genau" und warum lassen zur kasse: de"r muß zur kasse jebeten werden (.. ■ ) se die dran alle und> das is unglaublich das bleibt in der ddr «—und das sind auch die ga"nzen bürger die drüben die ganzen jahre den Schnabel <genau" natürlich um weiterzu/ jehalten ham—« und alles mitiemacht haben und alle +natü"rlich und vorteile in kauf jenommen ham <da"s sind se die uns verpfiffen ham> und für die zahlen wir jetzt die können se ruhich drannehm alle und da"s is die hö"he und heute müssen wir doch für die zah"len und de"swegen wird=s noch * >alsofind ich auch >des=s widerlich! « das is noch la"nge nej< wann warn sie denn in potsdamt nich ausjestanden —»und na gut wenn=a auch immer Noch überlappend mit MAs Empörungsäußerung (Z. 147) initiert ID mit und das sind auch die ga”nzen bürger die drü”ben die ganzen jahre den schnabel jehalten ham (Z. 148/ 151) eine stereotype Fremddarstellung. Der reihende Anschluß durch den Konjunktor und und die Proform das, die anadeiktisch auf die vorherige Referenzgröße (ehemalige Verantwortliche in der DDR) verweist, verleihen der Äußerung zunächst den Charakter einer direkten Formulierungsfortführung. Durch die Partikel auch wird der Fokus verschoben, und die bisherige Referenzgröße unter eine neue Einheit subsumiert, die im Anschluß beschrieben wird. Es findet ein unmarkierter Wechsel der Referenzgröße statt von „DDR-Bonzen” (vor dem Transkriptausschnitt) zu „die ganzen Bürger drüben”. Mit diesem Wechsel schafft die Sprecherin eine soziale Gleichrangigkeit zwischen der hier dargestellten Fremdkategorie und der später eingeführten Selbstkategorie, die eine maximale Kontrastierung beider Kategorien erleichtert und wirkungsvoller macht dadurch, daß die Kontrastierung auf derselben sozialhierarchischen Ebene stattfinden kann und die gesellschaftlich bedingten Handlungsvoraussetzungen für beide Kategorien dieselben sind. Indikatoren für die stereotype Qualität der Fremdarstellung sind die Zuschreibung der Merkmale an die Gesamtheit der DDR-Bürger, die apodiktische Generalisierung der dargestellten Handlungen, die damit zu typischen werden, und ihre negative Bewertung, die in der Wahl der Lexik Verfahren der Perspektivenabschoitung 229 zum Ausdruck kommt. Die Fremd- und die Selbstkategorisierung und die Herstellung einer besonderen oppositiven Relation zwischen beiden Kategorien geschieht dann in drei Schritten: - Negativcharakterisierung der Fremdkategorie: Es folgt ein dreigliedriger Katalog von Negativcharakteristika der ehemaligen DDR-Bürger als feige und angepaßt (die die ganzen jahre den schnabel jehalten ham, Z. 149/ 151), als ausschließlich auf den eigenen Karrierevorteil bedacht (und alles mitjemacht haben um weiterzukommn, Z. 150/ 151), und als diejenigen, die für Vorteile vieles auf sich nahmen (Z. 153). Diesen Merkmalkatalog stellen ID und SH gemeinsam her: ID formuliert die Behauptung, den Matrixsatz, und SH den Finalsatz, der die Begründung für die Behauptung liefert. - Herstellung einer antagonistischen Täter-Opfer-Relation zwischen Fremd-und Selbstkategorie: Die vorher beschriebene Kategorie der Ostbürger wird in maximalen Kontrast gesetzt zu „uns”: ^-da”s sind se die uns verpfiffen ham (Z. 153/ 154). Auch hier arbeiten SH und ID zusammen und stellen die Formulierung für die Kategorienrelation gemeinsam her. Die Fremdkategorie wird besonders fokussiert durch Initialakzent auf der Proform für die Kategorie und syntaktisch hervorgehoben durch syntaktische Auslagerung des kategoriendefinierenden Merkmals in eine nach rechts angeschlossene Relativsatzkonstruktion. Die Beschreibung „die uns verpfiffen ham” charakterisiert die Fremdkategorie aus der Sicht der Sprecher als moralisch verwerflich, als Täter, die verantwortlich sind für „unser” Leid, und „wir” sind die Opfer. Die Formulierung „die uns verpfiffen ham” verweist gleichzeitig auch implizit auf Eigenschaften/ Handlungsweisen, die für „uns” charakteristisch sind: „wir” waren gesellschaftlich (bezogen auf die Gesellschaft der DDR) auffällig, haben gegen gültige Normen verstoßen und besitzen insgesamt Eigenschaften, die in maximalem Kontrast stehen zu denen, die uns anzeigen konnten in der Gewißheit, daß sie nach den gesellschaftlich gültigen Normen lebten. Auf der Basis dieser oppositiven Kategorienrelation können retrospektiv jetzt auch die Merkmale für die eigene Kategorie erschlossen werden als maximale Kontrastmerkmale zur vorher dargestellten Fremdkategorie „DDR-Bürger”: „wir” haben nicht den Schnabel gehalten und nicht alles mitgemacht, um weiterzukommen; wir haben keine Vorteile angenommen und wir haben keinen verpfiffen. Damit ist die Eigenkategorie definiert durch die Eigenschaften „widerstandsbereit und mutig”, „nicht-angepaßt und kritisch” und „moralisch ehrenwert”. Das sind genau die Eigenschaften, über die DDR-Ubersiedler sich selbst charakterisieren, wenn sie sich in Opposition setzen zu den Bürgern der ehemaligen DDR. 26 26 Vgl. meine Analyse zu einem Interview mit einer Betreuerin ehemaliger DDR- Übersiedler, die selbst Übersiedlerin ist (Keim 1993, Kap. 3.2). 230 Inken Keim - Herstellung einer Relation zwischen Täter- und Opferkategorie nach dem Ungerechtigkeitsschema: „wir”, die Opferkategorie, sieht sich nach der Wiedervereinigung zur Unterstützung der Täterkatgorie verpflichtet: und für die zahlen wir jetzt alle (Z. 154/ 156). Diese voraussetzungsreiche Formulierung wird von den Beteiligten als Formel dafür verwendet, daß sie als jetzige Westbürger über erhöhte Steuern und Abgaben zwangsweise beteiligt werden an den Zahlungen für die neuen Bundesländer, die sie als ehemalige DDR verließen und mit denen sie schlimme und lebenslang prägende Negativerfahrungen verbinden (wie Verfolgung, Isolation, Stasiverhöre und Stasihaft). Diese zweimalige Benachteiligung erleben die Beteiligten als Gipfel der Ungerechtigkeit und verleihen ihrer Empörung Ausdruck durch da”s is die hö”he (Z. 156) und des=s is widerlich (Z. 159). Das hier dargestellte Kategorisierungsverfahren für die Selbst- und Fremddarstellung ist charakteristisch für stereotype Zuordnungen. Die Fremdkategorisierung erfolgt explizit und über stereotype Charakteristika. Über die antagonistische Relation zwischen „uns” und den „anderen” können die definierenden Merkmale der Kategorie, der sich die Sprecher zuordnen und aus deren Perspektive sie hier darstellen und beurteilen, erschlossen werden: Es sind Antonyme zu den Merkmalen der Fremdkategorie. Über die Art und Qualität dieser Merkmale ist dann der Schluß auf den Typ der Selbstkategorie möglich. 3. Dynamik geschlossen perspektivischen Argumentierens: Beispielanalyse „Kümmeltürken” Die meisten der in Kap. 2 dargestellten Phänomene, die auf perspektivische Abschottung hinweisen, spielen auch in dem im folgenden analysierten Gespräch, einer längeren Kontroverse zum Thema „Ausländer”, eine Rolle. Bei der Analyse jedoch kommt es mir vor allem darauf an, die interaktive Herausbildung abgeschotteter Perspektiven darzustellen und die Dynamik zu beschreiben, in der sie entstehen und die sie in Gang setzen. In dem Beispiel geht es um perspektivische Abschottung aufgrund von „Ausländerhaß”. Ausländerhaß ist nicht bereits zu Beginn des Gesprächs manifest, sondern er wird erst auf dem Höhepunkt einer stark kontrovers geführten Auseinandersetzung explizit zugeschrieben. Ziel der Analyse ist also, folgende Aspekte aufzuzeigen: die Entwicklung einer abgeschotteten Perspektive in der Interaktion, das rhetorische Potential perspektivisch abgeschotteter Verfahren, ihre Verarbeitung durch die Gesprächspartner und die Gesprächsdynamik, die sie in Gang setzen. Das Beispiel stammt wieder aus dem Treffen der Filsbachgruppe, bei dem ein Regisseur des regionalen Fernsehsenders anwesend ist (vgl. auch die Beispiele oben), der sich über aktuelle Probleme im Zusammenleben zwi- Verfahren der Perspektivenabschottung 231 sehen Deutschen und Ausländern informieren will. Er war vorangemeldet und betritt den Raum gerade, als eine der Beteiligten, das in Kap. 2.2 schon erwähnte Flugblatt „Türkenheim 63190” vorliest. Der Inhalt des Flugblatts und die darin ausgedrückte Drohung den Deutschen gegenüber, vor allem der älteren deutschen Stadtteilbevölkerung, löst zunächst die Thematisierung potentieller Urheber aus (vgl. Kap. 2.2) und danach eine Diskussion zu Problemen mit Ausländem, an der sich der Regisseuer außer in einer Nebensequenz mit IN nicht beteiligt. Seine Anwesenheit und sein Interesse an dem mit dem Flugblatt verbundenen thematischen Potential (die Beteiligten kennen das Interesse des Regisseurs) verleihen der Situation Offentlichkeitscharakter. Der Regisseur ist immer mitadressiert bei den vorgetragenen Positionen zum „Ausländerproblem”. Seiner Anwesenheit scheinen vor allem folgende Charakteristika der Diskussion geschuldet zu sein (das ergibt ein Vergleich mit anderen Ausländergesprächen in der Gruppe, bei denen kein Externer anwesend ist): Es ist das einzige Gespräch zum Thema Ausländer, das über lange Strecken kontrovers geführt wird (die Gespräche sonst zeichnen sich gerade dadurch aus, daß die Beteiligten bei auftretenden Differenzen sich sofort um eine Beurteilungsgemeinsamkeit bemühen), wobei konsistent und explizit „ausländerfreundliche” und „ausländerfeindliche” Perspektivierungen vorgenommen werden. Die kontroverse Ausrichtung des Gesprächs wird noch unterstützt durch eine Frau GO, die sonst nur sehr selten die Treffen besucht. Sie ist mit einem Ausländer verheiratet und unterstützt hier die ausländerfreundliche Seite. Diese wird vor allem von HN vertreten, einer Frau, die sich sonst bei Diskussionen sehr zurückhält; die Anwesenheit des Regisseurs hat sie vermutlich zum „Partei ergreifen” motiviert. Die ausländerfeindliche Sicht vertritt manifest SU, obwohl sie sonst eher moderat über Ausländer spricht. Die Mehrheit der Beteiligten, die sich bei anderen Gelegenheiten „offen und laut” negativ über Ausländer äußern, hält sich im Diskussionsverlauf zurück oder schweigt; von daher kann angenommen werden, daß SU stellvertretend für die anwesende schweigende Mehrheit spricht. Die in den kontroversen Positionen angeführte Thematik hat keine lokale Spezifik, d.h., die Beteiligten belegen ihre Standpunkte nicht aus eigener Erfahrung aus ihrem Wohnumfeld (das tun sie in den anderen Gesprächen), sondern sie rekurrieren auf ein öffentliches Themenpotential, auf „Anwerbung der Gastarbeiter, illegale Einreise, Ausländerstop, Ausländerproblematik in anderen Ländern, polizeiliche Überwachung der Einreise” u.ä. Unter dem Aspekt der besonderen Adressiertheit an den Fernsehregisseur erweckt die Diskussion zumindest zu Beginn den Eindruck, als demonstrierten die Beteiligten ihre allgemeine Kenntnis zur Ausländerproblematik und ihre Fähigkeit, sich in Argumentationen gut zu schlagen. 232 Inken Keim Aus dem thematischen Potential und dem von Beginn an angelegten antagonistischen Kategorienschema entwickelt sich sehr schnell eine Eigendynamik der Argumentation, in die sich die Diskutantinnen verstricken; sie stellen auch argumentative Züge her, die sie entgegen ihren Interessen in Zugzwänge bringen. Die thematische Bearbeitung bewegt sich im Rahmen der oppositiven Kategorienrelation „Deutsche vs. Ausländer” ein Versuch, die Dichotomisierung aufzubrechen, hat keinen Erfolg - und führt zu einer immer stärkeren Polarisierung der Beteiligten, die für die eine oder andere „Seite” argumentieren, bis hin zur wechselseitigen Verhärtung. Die mit der Bipolarisierung in Gang gebrachte Dynamik bildet hier die Vorbereitung für perspektivische Abschottung. Unter perspektivischem Aspekt sind vor allem folgende Phasen des Gesprächs interessant: a) Die Reaktionen der Beteiligten auf das erste Hinterfragen der stereotypen Zuschreibung der Autorenschaft an die Türken und eine erste Manifestation perspektivischer Abschottung in der Gruppe (Kap. 3.1); b) die Kontroverse zwischen HN und SU, die ausgelöst wird durch Behauptungen über das Verhalten von Ausländern in Deutschland mit wechselseitigen perspektivischen Festlegungen, perspektivischer Verhärtung und Anzeichen perspektivischer Abschottung (Kap. 3.2); c) die Kontroverse, die auf Behauptungen über das Verhalten von Deutschen im Ausland folgt und den Charakter einer ’ethnischen Gegenrechnung’ hat; in diesem Teil gelingt es, die perspektivische Abschottung aufzubrechen und eine (erste) perspektivische Annäherung zwischen den Kontrahentinnen zu erreichen (Kap. 3.3). 3.1 Hinterfragen der Plausibilität einer perspektivisch abgeschotteten Deutung Nach dem Verlesen des Flugblatts folgt die Frage nach der Autorenschaft. Dabei zeigt die stereotype Zuschreibung der Autorenschaft an die Türken Anzeichen perspektivischer Abschottung (vgl. Analyse oben, Kap. 2.2). Als erste Reaktion darauf hinterfragt KR, die (freizeitpädagogische) Betreuerin der Gruppe, die Zuschreibungssicherheit: 19 KU: 20 HA: Ü 21 K 22 HÜ: 23 KR: dreiesechzisch unnerschrifde fthawwe die" des gschriwwe]# #haben die das geschrieben # #SCHARF # haj o: J. <ja glauben sie das|> ja wer 24 KR 25 IH we"r hat des gschriwvej Verfahren der Perspektivenabschottung 233 26 KU: 27 KR: 28 K 29 KU: Ü 30 K 31 KU: Ü 32 KR: 33 K 34 KU: 35 MA: 36 K 37 HE: 38 KU: 39 HA: 40 K 41 Kft — ► all isch weeß glaubt denn daß des geschriebn hat] HINTERGRUNDnet ja| * #<her de nar do vmne «as im brielkaschde #hör mal da war da unten «as im briefkasten GESPRÄCH as gottessprisch mer solln rausziehe><—# das sollte heißen wir sollen ausziehen # #ja ja: # «NACHDENKLICH# ah jo: «— ► is zeit daß die «BISSIG derf isch=s behaldej <bei «uns wohn/ bei uns wohne: jugoslawe# nauskomme her<—# # «DURCHEINANDER, ZUSTIMMUNG Mit der Frage <ja glauben sie das] (Z. 23/ 24) macht KR die Glaubwürdigkeit der stereotypen Deutung zum Thema; dann richtet sie die offene Frage an alle, wen sie für den Autor des Flugblattes halten: ja wer glaubt denn, daß des geschriebn hatj (Z. 24-27). Mit der Frage ist präsupponiert, daß für KR die Deutung der Urheberschaft offen ist. Die Frage hat „pädagogische” Qualität; KR widerspricht nicht der stereotypen Deutung, sondern zeigt durch die Formulierung wer glaubt, daß jede Deutung nicht mehr als eine Vermutung sein kann, denn allen Beteiligten fehlt das faktische Hintergrundwissen zu dem Vorfall. Die Frage legt als Reaktion die Thematisierung eigener Annahmen und Vermutungen nahe oder das Eingeständnis des Nicht-Wissens. Mit —>ah isch weeß net jaf (Z. 26-29) gesteht KU ihr Nichtwissen ein und rekurriert dann auf faktisch Gesichertes, auf den Ort, an dem das Flugblatt gefunden wurde, und auf seinen Inhalt. KU, die sich vorher auf keine weiterführende ethnische Deutung eingelassen hat (vgl. oben), läßt sich auch hier nicht auf Vermutungen ein. Bei MA, die vorher gemeinsam mit MÜ die stereotype Zuschreibung hergestellt hatte, hat das Hinterfragen der Deutungssicherheit keinen Erfolg. Sie rekurriert in scharfer und bissiger Sprechweise auf ein Schlagwort aus dem öffentlichen Anti-Ausländer-Repertoire „Ausländer raus” (Z. 35/ 39) und verstärkt damit auf der inhaltlichen und prosodischen Ebene die vorher etablierte stereotype Darstellungsmodalität. Ihre Sicht auf das thematische Objekt Ausländer erweist sich als resistent gegen gerechtfertigte Einwände und Zweifelsäußerungen und macht ihre perspektivische Abschottung, die sich in der vorangegangenen Zuschreibung angekündigt 234 Inken Keim hatte, offenkundig. Charakteristisch für einen Bearbeitungsprozeß, in dem perspektivische Abschottung auf ein thematisches Objekt deutlich wird, ist also: - Nonresponsivität 27 : Auf Zweifelsfragen wird nicht reagiert, und es folgt Themenwechsel. - Das Hinterfragen der ersten, stereotypen Deutung wird nicht zugelassen. - Nach dem Versuch des Aufbrechens wird die stereotype Deutung verstärkt unter Rekurs auf „Autoritäten”, hier auf ein sprachliches Repertoire, das einem relevanten öffentlichen Diskurs zugeordnet werden kann, in dem vergleichbare politische Positionen vertreten werden. Damit wird sowohl die perspektivische Abschottung evident als auch die Qualität der Perspektive, aus der die Sprecherin Ausländer betrachtet: Sie spricht aus der Sicht von Deutschen, die Ausländer ausschließlich als Bedrohung sehen und rechtsextremes Gedankengut zur Lösung des Ausländerproblems heranziehen. MA und MÜ, die bereits zu Beginn der Diskussion ihre abgeschottete Sicht auf Ausländer zeigten, beteiligen sich bei der nachfolgenden Kontroverse nur am Rande (MA einige Male mit Unterstützungsäußerungen für die ausländerfeindliche Seite). SUs schrittweise Festlegung auf die ausländerfeindliche Sicht geschieht aber auf dem Hintergrund der bereits manifest gewordenen Ausländerfeindlichkeit in der Gruppe; SU kann sich der Geteiltheit ihrer Sicht auf Ausländer sicher sein. Kurze Zeit später leitet KR durch eine neuerliche Frage zum Thema der Autorenschaft zurück; sie eröffnet damit die Möglichkeit einer neuen Deutung der Autorenschaft und ein Aufbrechen der bisher etablierten Opposition zwischen den Kategorien „Ausländer” und „Deutsche”: 86 KU: krägde hef die bagasch# 87 K # 88 KR: ja/ ja glauben sie im ernst 89 KR: daß des ausländer gschriebn hamt 90 HE: glaubsch du=s nid t 27 Zum Begriff „non-responsiv” vgl. Schwitalla (1979); darunter versteht und beschreibt Schwitalla „zwei Weisen des Ausweichens” (S. 200) in einem reaktiven Zug auf einen initiierenden Sprecherzug, Ausweichen unter thematischem Aspekt und unter intentionalem Aspekt, d.h. ob und inwieweit der Folgesprecher den mit der Vorgängeräußerung verbundenen Erwartungen (Illokution/ Perlokution) entspricht. Eine Folgeäußerung ist „teil-responsiv”, wenn sie entweder nur auf den Inhalt oder nur auf die Intention eingeht; sie ist „non-responsiv”, wenn sie auf beiden „Ebenen ausweicht” (S. 200). Übernimmt man diese Unterscheidung, reagiert in unserem Fall MA non-responsiv: sie wechselt das Thema und sie reagiert nicht auf die Frage von KR. Verfahren der Perspektivenabschotiung 235 91 HN: 92 KR: 93 HE: * ob du=s ned/ 94 SH: entweder kriggsch (.. ■ ) 95 HH: des daß se so behandelt wern jetz 96 KR: ich bild 97 HN: die losse sisch aa ned alles gfalle 98 KR: mir ein daß des nur=n 99 HN: >— ► s=stimnit doch die losse sich ned grad 100 KR: hetzbrief is| KR bezweifelt mit ihrer Frage die Seriosität und die Qualität der stereotypen Zuschreibung: ja/ ja glauben sie im ernst daß des ausländer gschriebn ham] (Z. 88/ 89). Mit dem Ausdruck des Zweifels etabliert sie für die anderen einen erheblichen Erklärungs- und Rechtfertigungsdruck. HE reagiert mit einer Vergewisserungsaktivität; sie fragt eine andere Beteiligte (nicht KR, die HE nicht mit „du” adressieren würde), ob sie die als sicher vorgetragene Autorenschaft ebenfalls bezweifle (Z. 90). D.h., KRs Zweifel am Urteil der anderen evoziert bei ihr eine Selbstvergewisserung. HN reagiert auf den von KR etablierten Erklärungsdruck durch die in Frageintonation geäußerte Interjektion hm] noch verstärkt mit einer Motivzuschreibung, die eine Erklärung dafür liefert, daß Ausländer die Autoren des Flugblatts sein könnten: die wolln sisch rä”sche fer des daß se so behandelt wern jetz (Z. 91/ 95). Mit der der Motivzuschreibung zugrundeliegenden Präsupposition - Ausländer sind die Autoren bestätigt HN (probeweise) die Zuschreibung an die Kategorie „Ausländer”, doch sie deutet die Handlung positiv. Ihrer Motivzuschreibung liegt das Handlungskonzept der „gerechtfertigten Gegenwehr” zugrunde; sie zeigt Verständnis für das den Ausländern zugeschriebene aggressive Verhalten und liefert eine Rechtfertigung für das Flugblatt. Mit der Motivzuschreibung stabilisiert sie gleichzeitig die der bisherigen Argumentation zugrundeliegende oppositive Kategorienrelation „Deutsche vs. Ausländer”. Zum Teil überlappend mit HNs Erklärungsversuch präsentiert KR jetzt explizit ihre eigene Annahme über die Autorenschaft des Flugblattes: ich bild mir ein, daß des nur=n hetzbrief is (Z. 96/ 100). Im Gegensatz zu ihren Vorrednerinnen, MA und MU, die eine perspektivisch abgeschottete Deutung präsentierten, argumentiert KR hier vorsichtig und thematisiert explizit, daß es sich bei ihrer Äußerung nur um eine Vermutung (ich bild mir ein) handelt. Mit der Bezeichnung „Hetzbrief’ etabliert sie einen neuen thematischen Fokus und eröffnet eine neue politische Dimension für die Diskussion über die Autorenschaft. Doch auf den neuen Fokus reagieren die anderen nicht: Noch überlappend mit KRs Äußerung expandiert HN ihre Motivzuschreibung an Ausländer, und die Folgesprecherin SU reagiert die wolln sisch rä"sche ier hmt 236 Inken Keim ausschließlich auf HNs Beitrag. Damit haben sich beide Sprecherinnen auf den Rahmen der oppositiven Kategorienrelation festgelegt, sie ordnen ihre Argumente von da an dem einen bzw. dem anderen Pol zu und vergrößern von Runde zu Runde die Distanz zwischen ihren Positionen. 3.2 Kontroverse Argumentation und Eskalation Die folgende Kontroverse ist charakterisiert durch eine Reihe von Verfahren, die im Beitrag von Kallmeyer/ Schmitt in diesem Band als forcierende Verfahren beschrieben werden: - Beide Diskutantinnen unterbrechen sich wechselseitig durch schnell einsetzenden Widerspruch, meist noch bevor die Partnerin den Punkt, die Konklusion, ihres Argumentationsschrittes formulieren konnte. - Mit der Unterbrechung verbunden ist die Formulierung der Gegenposition zur Partneräußerung aus der oppositiven Perspektive. - Keine der Diskutantinnen nimmt in ihrer Formulierung bezug auf die Partneräußerung (Argumente abwägend, gegeneinander aufrechnend o.ä.), sondern formuliert nur ein oppositives Argument; die Opposition ist entweder über den Inhalt erschließbar, oder es ist eine antagonistische Entgegensetzung, die Negation der Vorgängerproposition. - Das Nichtberücksichtigen des Partnerarguments und das Herstellen einer maximalen Opposition zur Partnerin führt sehr schnell zu argumentativen Verhärtungen und zur Eskalation der Auseinandersetzung bis zum verbissenen Streit. Die Zurückweisung von Behauptungen durch Gegenbehauptungen kann zur Bildung von ’Spiralen’ führen. Darunter verstehe ich die mehrfache Reformulierung einer Proposition mit zunehmender Intensität. 28 Es kommt zur Eskalation der Kontroverse, charakterisiert durch ein inhaltliches Auf-der-Stelle-Treten (vgl. dazu auch Nothdurft 1996) und durch ein Ansteigen von Emotionalität und Aggressivität. 29 Auf den Druck, der durch die Eskalation entsteht, reagiert SU mit Ausweichen auf einen neuen thematischen Fokus, verbunden mit einer Steigerung der Negativkategorie für das thematische Objekt „Ausländer”. Dieses Sequenzmuster erscheint 28 Ähnliche Phänomene beschreibt auch Fiehler (1993); nach seiner Beobachtung wird der Eindruck von emotionalem Argumentieren vor allem dadurch hervorgerufen, daß mehrfache Positionskonfrontationen direkt aufeinander folgen; das mehrfache Reformulieren einer Position und die „wiederholte Positionskonfrontation führ(en) fast zwangsläufig zur Eskalation und berg(en) so die Gefahr des Abbruchs der Interaktion in sich” (S. 159). 29 Ähnliche Verläufe der Kontroverse beschreibt auch J. Schwitalla in diesem Band unter dem Aspekt der Beziehungskonstitution. Verfahren der Perspekiivenabschottung 237 mehrfach; Bearbeitungsintensität und Emotionalität ebenso wie die Distanzierung zwischen den Diskutantinnen steigern sich mit jeder Spirale von Runde zu Runde. 3.2.1 Erste Runde und erste Spirale: Etablieren zweier konträrer Perspektiven auf das thematische Objekt „Ausländer in Deutschland” Mit der Zuschreibung des Rachemotivs an Ausländer erfüllte HN zunächst nur die mit KRs Frage etablierte konditionelle Relevanz und lieferte eine mögliche Erklärung für die Annahme, daß Ausländer das Flugblatt verfaßt haben könnten. Sie versetzt sich dann in die Lage der Ausländer: — ► die lasse sisch aa ned alles gfalle (Z. 97). Mit der unadressierten, leise und zurückgenommen gesprochenen Reformulierung der Äußerung >—^s—stimmt doch die lasse sisch ned grad so gfalle wie die <dei”tsche/ vergewissert sie sich selbst oder sucht Unterstützung bei anderen, daß ihre Motivdeutung Sinn macht, und es plausibel ist anzunehmen, daß Ausländer sich gegen die schlechte Behandlung durch die Deutschen zur Wehr setzen. Darauf reagiert SU mit einer impliziten Erklärung für das ablehnende Verhalten von Deutschen Ausländern gegenüber; d.h., sie vertritt die ethnische Gegenseite, macht die Gegenrechnung auf und liefert auf derselben semantischen und pragmatischen Ebene (Erklärung für Handlungen) das Gegenargument. Mit ihrer Reaktion macht sie HNs Motivzuschreibung zur ersten Manifestation einer zu ihr konträren Perspektive auf das thematische Objekt: 99 HH: 100 KR: 101 HH: 102 SU: 103 SU: 104 HN: Ü 105 SU: 106 HH: Ü 107 SU: 108 HH: 109 SU: 110 HN: 111 SU: >— ► s=stimmt doch die losse sich ned grad hetzbriei isf so glalle wie die <dei ll tsche/ <gehn se mal als deu"tsche in die türkei" un beantragn am Sozialamt * un nehmen von #<ah wann die” sie ogiordert ham#— ► mir lordern #wenn die sie angelordert haben # Wohnungen weg #die io o: # #die ja an# <wir ham die net angelordert * die ham alle nachkommen ja die/ die die deitsche hen die türke lassen» oglordert roi/ do"ch —dien se doch ogiordert net an/ <wissen se wieviel» 238 Inken Keim 112 HN: als gastarbeiter 113 SU: wieviel wissen se wieviel reingschleust SU richtet an HN eine hypothetische Handlungsaufforderung, entwirft eine irreale Szene und kehrt die Situation um, die sie für Türken in Deutschland annimmt, mit dem Ziel, Gründe für die ablehnende Haltung der Deutschen aufzuzeigen: gehn se mal als deu”tsche in die türkei” un beantragn am Sozialamt * un nehmen von Wohnungen weg (Z. 102/ 105). Die entworfene Szene basiert auf einem Vergleich: Wenn Deutsche in der Türkei den Türken Sozialleistungen und -Wohnungen wegnehmen würden (wie das Türken in Deutschland tun), müßten sie das ist die Konklusion, die nicht formuliert wird mit ähnlich ablehnender Haltung rechnen. SU formuliert ihren Beitrag als Gegenzug zu HNs Beitrag und legt damit deren Beitrag als ersten einer Kontroverse fest, die auf einer Perspektivenopposition zum Thema „Türken” basiert. Die wechselseitige Festlegung als Opponentin kommt auf mehreren Ebenen zum Ausdruck: SU unterbricht, noch bevor HN zu Ende formuliert hat; gleichzeitig mit dem Einsatz von SU wird HN lauter und spricht intensiver, d.h., sie behandelt SUs Formulierungsbeginn als konkurrierende Aktivität. SU formuliert aus einer zu HN oppositiven Perspektive heraus aus der Perspektive einer bestimmten Gruppe von Deutschen eine Erklärung für deren ablehnendes Verhalten Türken gegenüber. Die perspektivische Markierung „aus der Sicht bestimmter Deutscher” wird erkennbar an lexikalisch-semantischen Indizien bzw. an „Schlüsselwörtern” (vgl. Beitrag von Nothdurft in diesem Band) wie „Sozialamt” und „Wohnungen wegnehmen”: SU spricht hier aus der Perspektive der Deutschen, die Türken vor allem als Ausbeuter des deutschen Sozialsystems sehen. HN unterbricht SU, noch bevor diese die Konklusion aus dem szenischen Entwurf ziehen kann: <ah wann die” sie ogefordert ham -+mir ham die jo o: (Z. 104/ 106). Die Formulierung ist sehr voraussetzungsreich, und der Zusammenhang zwischen SUs Szene und HNs Reaktion wird erst über die Explizierung von Präsuppositionen deutlich: HN weist die Unterstellung der Analogie der Fälle zurück (daß es Deutschen in der Türkei so erginge, wie Türken in Deutschland, wenn sie Sozialleistungen in Anspruch nähmen) durch die implizite Thematisierung der Kategorie „Gastarbeiter”, mit der eine besondere, rechtlich-sozial definierte Relation zwischen Deutschen und Türken festgelegt ist (d.h., es gelten für Türken in Deutschland andere Bedingungen als im umgekehrten Fall für Deutsche in der Türkei). Die Gastarbeiterkategorie war auch bei HNs vorangegangener Motivzuschreibung impliziert, denn nur so macht das Konzept der gerechtfertigten Gegenwehr Sinn: Deutsche holten Ausländer als Arbeitskräfte, behandelten sie schlecht, und jetzt wehren sich die Ausländer gegen die schlechte Behandlung. HN bleibt mit ihrem Argument also bei ihrer vorherigen Sicht auf das thematische Objekt „Ausländer” und stützt Verfahren der Perspektivenabschottung 239 ihren Erklärungsversuch für die gerechtfertigte Gegenwehr der Ausländer, indem sie ihren Status als Gastarbeiter thematisiert. Mit der Erhärtung ihrer Sicht auf das thematische Objekt bestätigt HN die ihr von SU zugeschriebene Rolle der Gegenpartei; sie stellt SUs Argument ein aus ihrer eigenen Perspektive angemessenes Gegenargument gegenüber. Interessant ist HNs Reformulierung mir ham die jo o: / (Z. 106). Hier ersetzt sie das vorherige Demonstrativpronomen die” zur Referenz auf Deutsche durch das Personalpronomen wir („wir holten Türken als Gastarbeiter”); sie eröffnet damit einen wir-Diskurs auf nationaler Ebene (der auch die Kontrahentin SU einschließt) mit dem Potential, eine gemeinsame Sicht auf das thematische Objekt herzustellen. SU unterbricht direkt nach dem „wir-Appell”, weist die Feststellung, daß Türken als Gastarbeiter geholt wurden, zurück, und geht damit auch nicht auf HNs Angebot zur gemeinsamen Sehweise ein: <wir ham die net angefordert (Z. 105/ 107). Betrachtet man die Gegenbehauptung isoliert, spricht SU den Türken in Deutschland wider besseres Wissen den Gastarbeiterstatus ab. In der Folgeäußerung jedoch, die durch prosodische Hervorhebung (langsamer, starke Akzentuierung) als der eigentliche argumentative Fokus markiert ist, thematisiert SU den Familiennachzug der Gastarbeiter (ham alle nachkommen lassen) und stellt dar, daß viele Türken in Deutschland durch Familiennachzug gekommen sind. Damit eröffnet sie als Vergleichsrahmen, in den sie ihre Gegenposition zu HN einordnet, nicht die Gastarbeiterkategorie überhaupt, sondern ihre (zahlenmäßige) Relevanz für die anwesenden Türken. Ihr Widerspruch ist damit ein eng begrenzter und richtet sich nur gegen die Generalisierung der Gastarbeiterkategorie im Sinne von: die meisten der anwesenden Türken kamen nicht als Gastarbeiter, sondern im Rahmen des Familiennachzugs; ihr Widerspruch richtet sich nicht gegen die Zuordnung von Türken zur Gastarbeiterkategorie überhaupt. SUs Widerspruch löst eine Emotionalisierung HNs aus. Indizien dafür sind: lauteres und emotionales Sprechen und die mehrfache Wiederholung desselben Arguments. Diese Reaktion legt die Vermutung nahe, daß HN SUs Widerspruch im globalen Sinn verstanden hat und daß sie annimmt, daß SU die Kategorie „Gastarbeiter” für die in Deutschland lebenden Türken negiert. Sie selbst stuft die „Gastarbeiterkategorie” manifest hoch durch Reformulierungen, in denen die vorherigen Deiktika die und wir durch Bezeichnungen für die ethnischen Kategorien ersetzt werden: ja die/ die die deitsche hen die türke ogfordert (Z. 108/ 110), und dann durch die Widerspruchspartikel do”ch mit starker Akzentuierung und der Kategorienbezeichnung „Gastarbeiter”. D.h., HN macht mit Nachdruck deutlich, daß sie Türken in Deutschland nur als Gastarbeiter definiert und sie als solche zum Thema macht. 240 Inken Keim Interessant ist, daß HN den Fokus von SUs Widerspruch nicht erkennt und die Formulierung als globalen Angriff auf ihre Sicht auf Türken versteht. Sie reagiert mit Versteifen auf das eigene Argument durch Reformulierungen. D.h., sie hat SUs schnell einsetzende und unterbrechende Äußerung als maximalen Kontrast zu ihrem eigenen Argument und als Angriff auf dessen Richtigkeit gedeutet. An dieser Stelle zeigt sich, daß das Verfahren des schnellen Widerspruchs zu einer schärferen oppositiven Verortung der Partnerposition führt, und dies wiederum eine Versteifung auf die eigene Position nach sich zieht. Eine Dynamik der wechselseitigen interaktiven Verhärtung setzt ein, in der wie im vorliegenden Fall in selbstverständlicher Weise dem Partner auch offenkundig unsinnige Behauptungen, d.h. Behauptungen wider besseres Wissen zugetraut werden. In unserem Fall schafft die sukzessive Verhärtung, das sich wechselseitig in immer größeren Kontrast-Zueinander-Setzen, bei dem Partneräußerungen nur noch als globaler Angriff auf die Berechtigung der eigenen Sicht aufgefaßt werden, die Voraussetzung für die Herausbildung perspektivischer Abschottung. 3.2.2 Zweite Spirale und Negativkategorisierung der Ausländer Die Kontroverse setzt sich auf dem bisher erreichten Intensitätsniveau fort. Noch überlappend mit HNs dritter Reformulierung startet SU mit Adressierung an HN, bricht ab und wiederholt ihren Formulierungsbeginn nach dem Ende von HNs Äußerung. Ihr Beitrag hat keine distanzreduzierende Qualität (wie zum Beispiel eine nachträgliche Verdeutlichung der vorherigen uneindeutigen Formulierung), sondern sie verschärft ihrerseits die Opposition zu HN auf der Inhaltsebene durch die Thematisierung einer neuen, negativen Ausländerkategorie, der „illegal Eingereisten”: 110 HN: ogiordert roi/ do"ch —dien se doch ogiordert 111 SU: net an/ <wissen se wieviel> 112 HN: als gastarbeiter 113 SU: wieviel wissen se wieviel reingschleust 114 HN: #a": ch selbstverständlisch# #is do=iwwera: ll in 115 K «GENERVT # Ü «ist doch überall in 116 SU: werden! heimlischt 117 HN: annere länder aa: « Ü anderen ländern auch# 118 SU: <nei"n * die ham rechtzeitisch=n 119 SU: stop gemacht» deutschland is einzige die so dumm 120 LE: das is ja eindeutig aus welcher ecke das kommt 121 IN: kla"r 122 HN: 123 IN: 124 SU: Verfahren der Perspektivenabschottung 241 de Holländer passierd * npd * <ganz klar> sin< 125 HN: doch sowas aa <wie/ wie wie 126 IN: is ganz klar 127 SU: <nei"n * die ham=n sch/ sch/ schto"p> 128 HN: sie gibts=n in amerika die Mexikaner und de: / 129 MA: —»agger ru": h LACHT 130 HN: ja u": n| 131 MA: #sin zgei die sin gie giggl schiacht U #die zgei die sind gie göckel schlagt 132 SU: >amerika is ia: n kessel 133 HN: #do gehe sie aa illegal noi: die mexikaner no ameriga# U #da gehen sie auch illegal rein die mexikaner nach amerika# 134 MA: eisch ( ■■■ )# Ü euch # 135 SU: 136 Kft 137 HN: 138 K 139 HN: 140 IN: 141 SU: 142 SU: 143 GO: 144 GO: 145 HN: 146 GO: #die andern harn se ja (...) «DURCHEINANDER # laufend #—+die mexikaner gehn doch aa immer illegal noi*—# #ZU IN # die grenz noch amerika noi gof nach amerikat jaj des is ja dene ihr la"ndt * sin ja da gebo"m —»ja genn sie illegal roi sin do gissn jo die" net daß se roi sin do do gehn vie": le noi kenne se se jo aa net stoppe«— Der Wechsel der Ausländerkategorie von „Gastarbeiter” zu „illegal Eingereisten” kann als Reaktion auf HNs hartnäckiges Reformulieren des Gastarbeiterarguments verstanden werden. Den Stillstand in der Argumentation versucht sie aufzulösen und treibt die Diskussion voran durch eine Verschärfung der Ausländerkategorie von „Gastarbeiter” zu „illegal Eingereisten”. Mit dieser Neufokussierung als Reaktion auf HNs Versteifen gibt sie der Auseinandersetzung eine Wendung, die die Distanz zu HN vergrößert. Noch überlappend und mit schnellem Einsatz reagiert HN; sie weist die kategorielle Verschiebung zum „kriminellen Ausländer” jedoch nicht zurück, sondern läßt sich darauf ein; sie stuft die Kategorie mit Anzeichen von 242 Inktn Keim Gereiztheit allerdings sofort in ihrer Relevanz zurück durch Generalisierung: a: ”ch selbstverständlich is do=iwwera: ll in annere länder aa: (Z. 114/ 117; d.h., die illegale Einreise ist nicht nur ein deutsches Problem, sondern weltweit verbreitet). M.E. erliegt HN an dieser Stelle der Dynamik der Auseinandersetzung und reagiert auf den Druck, den SU mit der unerwarteten Verschärfung der Ausländerkategorie für sie herstellte, durch ein Zugeständnis an eine Position, die ihrem bisherigen argumentativen Interesse entgegenläuft. Die Thematik der illegal eingereisten Ausländer ist kontraproduktiv zur ihrer bisherigen Absicht, Ausländer als die durch die Deutschen schlecht Behandelten darzustellen. Gleichzeitig mit dem Sich-Verfangen in der Dynamik der Auseinandersetzung steigt HNs Emotionalität. Von da an verstricken sich beide Diskutantinnen in einen verbissen geführten Streit 30 , auf dessen Höhepunkt HN aus der direkten Konfrontation mit SU aussteigt und bei anderen um Unterstützung ihrer Sicht auf Ausländer nachsucht. Indikatoren für die weitere Eskalation sind: eine Zunahme an Lautstärke und Sprechintensität, der mehrfach „stotternde” Formulierungsbeginn bei beiden Sprecherinnen und die zunehmende Unruhe bei den Zuhörern, die mit Ordnungsrufen (z.T. lachend) auf den Streit reagieren und mit situationsreflexiven Kommentaren wie die sin wie giggl (Z. 131). Inhaltlich-argumentativ treten beide Diskutantinnen erneut auf der Stelle. SU weist HNs Argument, die Generalisierung des Problems der illegalen Einreise, zurück durch ein Argument, dessen Sinn schwer zu erkennen ist, und dessen offensichtliche Widersprüchlichkeit im späteren Verlauf von einer weiteren Sprecherin deutlich hervorgehoben wird: <nei”n * die ham rechtzeitisch=: n stop gemacht> deutschland is einzige die so dumm sin< (Z. 118/ 124). Sie verknüpft hier zwei semantisch inkompatible Konzepte: Ausländerstop beinhaltet (zum Zeitpunkt des Gesprächs 1982) das gesetzlich angeordnete Einstellen von Anwerbung und die Einschränkung des Familiennachzugs. Die zahlenmäßige Begrenzung von Gastarbeitern steht in keinem kausalen Zusammenhang zu dem Nichtvorhandensein des Problems der illegalen Einreise. Auf SUs Argument geht HN nicht ein; sie thematisiert auch nicht dessen Sinn, sondern zeigt durch ihre Reaktion, daß sie SUs Äußerung wieder nur als globalen Angriff auf ihr Argument versteht, dessen Richtigkeit sie durch Beispiele belegt: die „illegale Einreise in Holland” und „die illegale Einreise der Mexikaner in Amerika” (Z. 122/ 128). HNs zweiten Beispielbeleg, die illegale Einreise der Mexikaner, entkräftet SU durch Umdeuten: Sie übernimmt aus HNs Beitrag das Lexem 30 Zu Formen der Verselbständigung von Streit vgl. den Beitrag von J. Schwitalla in diesem Band; vgl. auch Nothdurft (1996). Verfahren der Perspekiivenabschotlung 243 „Amerika” und rahmt es thematisch neu: Die Formulierung >amerika is ja: n kessel (Z. 132) kontextualisiert als thematischen Rahmen das Zusammenleben verschiedener Kulturen in Amerika durch Anspielung auf die Metapher „Schmelztiegel”. Diese neue Rahmung ist weit entfernt von HNs Fokus „illegale Einreise”. Damit ignoriert SU die Belegfunktion von HNs Formulierung, deutet durch neue thematische Rahmung das entscheidende Lexem der Vorgängeräußerung um und gibt der Argumentation wieder eine neue, für HN nicht antizipierbare Wendung. 31 Auf SUs Umdeutung reagiert HN nochmals mit Versteifen; sie reformuliert ihren Amerikabeleg (Z. 133/ 137), und ohne Pause folgt eine zweite Reformulierung (Z. 137), doch diesmal mit Adressierung an IN. Hier steigt HN aus der Kontroverse mit SU aus und sucht bei anderen Unterstützung und Bestätigung für die Richtigkeit ihres Belegs, die sie auch erhält (durch IN, Z. 137/ 140). Damit hat die Kontroverse den Höhepunkt erreicht. Auf HNs Ausstieg und ihre Unterstützung durch andere reagiert SU jetzt in einer Art Steigerung der bisher verwendeten reaktiven Verfahren - Verknüpfen zweier inkompatibler Konzepte und Umdeuten mit einem Verfahren des Verdrehens: des is ja dene ihr la”nd] * sin ja da gebo”rn (Z. 141/ 142). Sie rekurriert auf die homonyme Qualität des Lexems „Amerika” mit den Bedeutungen a) Kontinent und b) Kurzform für die Bezeichnung der „Vereinigten Staaten von Amerika”. SU verwendet die Bedeutungsdimension a) gegen die von HN und von ihr selbst im vorangehenden Abtausch kontextuell eindeutig festgelegte Bedeutungsdimension b); 32 damit weist sie die Präsupposition, die HNs Belegformulierung zugrundeliegt (wenn „Mexikaner illegal nach Amerika reingehen”, ist damit präsupponiert, daß Amerika nicht ihr Land ist) als falsch zurück. SU ignoriert, daß „Amerika” bisher in der Bedeutung b) verwendet wurde (auch von ihr selbst); sie legt der Partnerin offensichtlich Nicht-Gesagtes in den Mund und widerlegt es. In dieser Phase der Auseinandersetzung werden SUs reaktive Züge zunehmend „unberechenbarer” (für den Beobachter lassen sie sich keiner nachvollziehbaren Argumentationslogik zuordnen; sie wirken sprunghaft); mit den Verfahren des Umdeutens und Verdrehens beide führen zu Bedeutungsfestlegungen auf Kosten der Partnerin zeigen sie manifeste Züge perspektivischer Abschottung. Auch für die Beteiligten ist SUs Verhalten auffällig; HN macht durch ihren Ausstieg deutlich, daß sie die plötzlichen argumentativen Wendungen durch Umfokussieren und Umdeuten nicht mehr mitmachen will. Damit überläßt sie zwar der Kontrahentin das Feld, 31 Das hier mit „Umdeuten” bezeichnete Verfahren wird bei Kallmeyer/ Schmitt beschrieben als Verfahren der „Fremdbestimmtung der Bedeutung”; vgl. den Beitrag in diesem Band, Kap. 4.3.1 b) und d). 32 Das ist ein Beispiel für die von Eemeren/ Grootendorst/ Kruiger (1987, S. 87) angeführte „fallacy of lexical ambiguity”. 244 Inken Keim sie zeigt aber gleichzeitig durch die Hinwendung zu anderen und das Nachsuchen um Unterstützung, daß sie sich inhaltlich nicht für geschlagen hält; ihr Ausstieg bedeutet also nur, daß sie sich mit SU nicht mehr auseinandersetzen will oder kann. Dadurch, daß sie sich SU entzieht, macht sie deren Verhalten aulfällig. Auch GO, eine bisher nicht beteiligte Sprecherin, die an dieser Stelle in die Kontroverse eingreift, markiert und bewertet SUs Verhalten abwertend: In schneller und energischer Sprechweise verknüpft sie SUs vorherige Konzepte, die „illegale Einreise” und den „Ausländerstop”, zu einer absurden Relation: —>ja wenn sie illegal roi sin do wissn jo die” net daß se roi sin do kenne se se jo aa net Stoppel (Z. 143/ 146). GO übernimmt hier die Rolle der Opponentin, die HN aufgegeben hat, und zeigt, zu welch unsinnigen Schlußfolgerungen SUs Argumente verbunden werden können. Die Äußerung hat zurechtweisende Qualität; GO führt SUs Argumentation als „schwach” vor und zeigt durch die Zurechtweisung, daß ein solches Verhalten unter „vernünftigen Gesprächspartnern” nicht akzeptiert werden kann. 33 Den weiteren Verlauf des Gesprächs mit einer dritten Streit-Runde fasse ich zusammen: Das Vorführen der eigenen argumentativen Schwäche ist für SU in hohem Maße gesichtsbedrohend und etabliert für sie einen starken Handlungsdruck. Sie reagiert nicht mit Rückzug, Relevanzherabstufung o.ä., sondern bleibt bei ihrem bisher praktizierten Verfahren als Reaktion auf einen interaktiv hergestellten Handlungsdruck; sie treibt die Negativkategorisierung der Ausländer weiter: <tü”rkische landsleute verdienen an ihren armen la.ndsleuten * schleusen se ab (Z. 148/ 151, vgl. Transkript im Anhang). D.h., Türken begehen nicht nur Deutschen gegenüber ein Delikt, das der illegalen Einreise, sondern sie handeln darüber hinaus auch Angehörigen der eigenen ethnischen Gruppe gegenüber gesetzeswidrig und amoralisch. Damit löst SU eine kurze und heftige Turbulenz aus, bei der GO und HN gemeinsam die Gegenposition vertreten. Das Ergebnis ist ein wechselseitiges Mißverstehen, in dessen Folge sich die Vertreter der „ausländerfreundlichen” Seite sukzessive zurückziehen, bis die Kontroverse in einer Phase der Ermüdung ausläuft. Die Struktur und den Verlauf der bisher analysierten Kontroverse stellt das folgende Schema dar (die Argumente werden durchgezählt von Al- A10): 33 Die explizite Zurückweisung von Aktivitäten anderer oder Zurechtweisungen anderer sind riskante Verfahren; in Auseinandersetzungen folgen sie relativ spät; vgl. dazu auch Kallmeyer/ Schmitt in diesem Band, Kap. 5.3.8 a). Daß in unserem Beispiel für die Sprecherin GO die Zurechtweisung ohne Risiko möglich ist, zeigt, daß die Beteiligten SUs Verhalten als auffällig und zurechtweisenswert beurteilen. M t-> > fö — hS tß Verfahren der Perspektivenabschotlung 245 Struktur der Kontroverse HN SU Erste Runde Motivdeutung für Aggression der Ausländer: „wehren sich gegen schlechte Behandlung durch Deutsche” Gegenrechnung: „wenn Deutsche sich im Ausland verhielten wie Ausländer in Deutschland” (Al), [müßten sie auch mit schlechter Behandlung rechnen]; Unterstellung der Analogie der Fälle; die Gegenrechnung liefert implizit eine Erklärung für das ablehnende Verhalten der Deutschen Ausländern gegenüber. Unterbricht SU, bevor sie die Konklusion formulieren kann. Zurückweisung der Analogie der Fälle: „Deutsche holten Ausländer” (A2); Reformulierung von (A2) Unterbrechung, noch bevor die Konklusion formuliert werden kann; Negation von (A2) „Deutsche holten Ausländer nicht” und „Familiennachzug” als Argument für die Ausländeranwesenheit (A3) Ignorieren von (A3) und zweite Reformulierung von (A2) Negation von (A2) und Abbruch Dritte Reformulierung von (A2) und Bezeichnung für die Ausländerkategorie „Gastarbeiter”, die die Nicht-Analogie der Fälle belegt 246 Inken Kenn Zweite Runde: Neuer thematischer Fokus: „illegale Einreise der Ausländer” (A4); Steigerung der Negativkategorie für Ausländer Ratifizierung der neuen Kategorie und Relevanzrückstufung durch Generalisierung: „gibt es in anderen Ländern auch” (A5) Negation von (A5) und Begründung durch „andere haben Ausländerstop” (A6) Ignorieren von (A6) und erster Beispielbeleg für (A5): „Rolland hat auch das Problem der illegal Eingereisten” Negation des Beispiels und Reformulierung von (A6) Zweiter Beispielbeleg für (A5): „Mexikaner in Amerika” Neue thematische Rahmung des zweiten Beispiels: „Amerika ist Kessel” (A7) H r 1 U* JS Verfahren der Perspektivenabschottung 247 Erste Reformulierung des zweiten Beispiels S P I Reaktion nicht verständlich Zweite Reformulierung des zweiten Beispiels; Ausstieg aus der Kontroverse mit SU und Ersuchen um Unterstützung der eigenen Position bei anderen. IN bestätigt die Richtigkeit von HNs Beispielbeleg Umdeuten des zweiten Beispiels und verdrehen: „Amerika ist das Land der Mexikaner” (A8) GO wendet gegen SU deren eigene Argumente aus (A4) und (A6): „illegal Eingereiste können nicht durch Ausländerstop getroffen werden” (A9) Dritte Reformulierung des zweiten Beispiels Dritte Runde: Neuer thematischen Fokus: „Türken handeln auch ihren Landsleuten gegenüber kriminell” (AIO). Verschärfung der Negativkategorisierung der Ausländer Turbulenz, gegenseitiges Mißverstehen; Deeskalation; Wechsel der Interaktionsmodalität ins Nicht- Ernsthafte Das Schema macht in groben Zügen den dynamischen Mechanismus deutlich, der sich aus der bipolaren Kategorienrelation entwickelt, in der die Kontroverse abläuft. Es zeigt die Auslöser für HNs Spiralenbildung, sie erfolgen auf Äußerungen SUs, die HN als globalen Angriff auf ihre Sicht auf Ausländer deutet. Als Reaktion auf HNs Konzentration auf die eigene Sicht und ihre Abwendung von der Partnerin fällt bei SU thematische Inkohärenz und Fokuswechsel auf, verbunden mit einer zunehmenden Negativkategorisierung des thematischen Objekts. Die interaktive Verhärtung und die zunehmende Abwendung voneinander führen zur sukzessiven 248 Inken Keim Herausbildung einer Abschottung auf der thematischen/ propositionalen Ebene. Charakteristisch für eine Abwendung von der Partnerin sind: auf Partnerargumente nicht eingehen bzw. sie ignorieren; dem Partner auch offensichtlich widersinnige Behauptungen Zutrauen und nicht um Klärung nachsuchen; das Gegenargument des Partners als globalen Angriff auf die Richtigkeit der eigenen Sicht auf ein thematisches Objekt auffassen; als Reaktion darauf sich auf die eigene Position konzentrieren (Spiralenbildung, d.h. mehrfache Reformulierung des eigenen Arguments mit zunehmender Emotionalisierung); aus der Kontroverse aussteigen und bei anderen um Unterstützung nachsuchen. In Reaktion darauf entwickelt sich eine sukzessive Abschottung auf der propositionalen Ebene, die ihrerseits wieder die Voraussetzung liefert für eine weitere Verhärtung der Beziehungen. Charakteristisch für eine Abschottung auf der propositionalen Ebene ist: ausschließlich antagonistisches Entgegensetzen (Negation der Partnerproposition); nicht antizipierbarer thematischer Wechsel; zunehmende Verschärfung der Negativkategorisierung des thematischen Objekts; - Zutreiben auf eine Generalisierung und Verabsolutierung der stereotypen und negativen Sicht auf das thematische Objekt durch Umdeuten, Unterstellen und Verdrehen. 3.3 Aufbrechen der perspektivischen Abschottung Nach der kurzen Ermüdungsphase im Anschluß an die dritte Runde der Kontroverse beginnt SU mit der Formulierung eines empirischen Belegs, mit dem sie die bisher gezeigte ablehnende Haltung Ausländern gegenüber plausibilisiert. Das Verhalten der Kontrahentinnen HN und GO, die SUs argumentative Auffälligkeit vorführten und sich von ihr zurückzogen, schaffen für sie also die Notwendigkeit, ihr bisher gezeigtes Verhalten zu erklären; sie liefert den Nachweis eigener schmerzlicher Erfahrung, die zur Ablehnung von Türken führte. Der Beleg ist generalisierend und formelhaft formuliert (vgl. Beispiel und Analyse oben, Kap. 2.3.2 b), und erst die insistierenden und auf Detaillierung hin orientierten Nachfragen von IN und KR bewirken, daß er wenn auch zunächst ’widerwillig’ an der chronologischen Struktur des Ereignisses orientiert ausgebreitet wird (die Verfahren der Perspektivenabschottung 249 türkischen Nachbarn putzten ihren Ölofen auch auf mehrfache Aufforderung der Deutschen hin nicht, die Deutschen konnten ihre Wäsche nicht aufhängen. Außerdem feierten die Türken regelmäßig bis in die Nacht und störten die Ruhe ihrer deutschen Nachbarn). Auch in den Belegdarstellungen gibt es Hinweise auf perspektivische Abschottung: Übertreibungen durch Generalisierungen bei der Darstellung der inkriminierten Handlung der Türken: üwwerhaupt net sauberoemacht (Z. 185) und deren negative Folgen für die Deutschen: bei uns konnte kei”ner mehr wäscht außiängen die ham uns fresche antworten gegebn (vgl. Transkript im Anhang, Z. 188/ 190). Der Blick auf das dargestellte Ereignis erfolgt im Rahmen der Schwarz-Weiß-Zeichnung; die Deutschen sind die ausschließlich Leidenden, die Türken rücksichtslos und unverschämt. Beide Beispielbelege basieren auf stereotypen Zuschreibungen an die ethnische Kategorie: „Türken sind dreckig” und „Türken sind laut”. 34 Doch das Ablenken des Blicks von sehr allgemeinen, abstrakten negativen Aussagen über Ausländer, wie sie SU in der Kontroverse mit HN formulierte, hin zur eigenen Erfahrung und das Fokussieren dieser Erfahrung in den Belegdarstellungen scheinen bei SU ein erstes Lösen aus der perspektivischen Abschottung erzeugt zu haben: In der nun folgenden Gesprächsphase formuliert sie zum erstenmal nicht die maximale Gegenposition zu ihren Kontrahentinnen, sondern räumt deren Position eine gewisse Berechtigung ein; d.h., SU bewegt sich das zeigt das folgende Kapitel ein kleines Stück weit auf ihre Partnerinnen zu. 3.3.1 Zuschreibung negativer Eigenschaften auch an die Deutschen Die durch die Belegdarstellung über „dreckige Türken” ausgelöste Gesprächsphase enthält eine ethnische Gegenrechnung, in der HN und GO gemeinsam das Charakteristikum dreckig als ethnisches Stereotyp aufbrechen und es auch Deutschen zuschreiben: 205 HH: 206 GO: 207 K 208 HH: 209 G0: 210 K ah jo: #<<—es gibt solsche un solsche—» wie #MIT NACHDRUCK es gibt iwwera: ll—> bei uns gibt=s iwwerall es gibt auch bei u"ns dreckschweine 34 In der sozialen Welt der Beteiligten sind beides stabile Zuschreibungen an Ausländer und besonders an Türken; vgl. ausführlich dazu Keim (1995b, Kap. 5.1.1). 250 Inken Keim 211 HM: Ü 212 GO: 213 K 214 HM: 215 GO: 216 K 217 HM: Ü 218 SU: 219 HM: 220 SU: 221 GO: 222 HM: 223 HM: 224 GO: 225 K 226 HM: 227 GO: 228 K 229 KU: 230 GO: 231 K 232 HM: 233 K& #aa drecksei in de it schizoid jot# #auch drecksäue in deutschland ja# Bem=ma bei unsre viele deutsche des sach isch aa: * neiguggt wie=s do" noch aussieht bei denne# # #do gibt=s aa eh so verddel do so baraggler vo# #da gibts auch so viertel da so barackler wo# des sachn wir auch die baraggler hausn wie asoziale die aber so: " selten! neT durchgongs/ gibts bei uns aa"- >ach gott ihr leitj< jo: #<un des isch jetz ewe net zu ännern sie hawwe «HEFTIG ja: se roi gholt jetz misse se ewe/ jetz misse se aa hajo kla: r gugge wie se fertischwerre# # jo: (. ..) PAUSE; Die Gemeinsamkeit der beiden Sprecherinnen GO und HN manifestiert sich in weit überlappendem Sprechen, in inhaltlicher Gleichsinnigkeit der Äußerungen, syntaktischer Parallelität mit zum Teil denselben Formulierungen und durch aufeinander bezogene, sich steigernde Lexik bei der Negativkategorisierung der Deutschen: Auf GOs dreckschweine folgt HN mit drecksei (Z. 209/ 211). Die generalisierte Aussage von GO: bei unsre viele deutsche (Z. 212) wird spezifiziert durch einen Beleg von HN: wo die baraggler hausn wie asoziale (Z. 217/ 219). Die gemeinsam produzierte Charakterisierung eines spezifischen Typs der Deutschen als „dreckig” ist überzeugend für SU; eigeninitiativ stimmt sie der Charakterisierung zu: des sachn wir auch (Z. 218). Doch sie stuft die Relevanz der Zuschreibung sofort dadurch zurück, daß sie das Charakteristikum dreckig, bezogen auf Deutsche, nur als Ausnahmeerscheinung betrachtet. Unabhängig davon übernimmt SU jedoch die Neufestlegung des Charakteristikums dreckig als soziales Merkmal, das quer zur ethnischen Definition liegt, und auch auf eine Subgruppe der eigenen eth- Verfahren der Perspekiivenabschottung 251 nischen Gruppe angewandt werden kann. Sie läßt sich hier zum ersten Mal auf das Aufbrechen der bipolaren Kategorienrelation mit stabilen negativ-positiv Zuschreibungen ein, wenn auch nicht in Bezug auf das bisherige Objekt „Ausländer”, so doch im Hinblick auf die bisher von ihr ausschließlich positiv bestimmte Kontrastkategorie „Deutsche”. Sie räumt ein, daß auch Deutsche nicht nur „weiß” gezeichnet werden können. Damit ist für sie ein Rückgriff auf das bisher verwendete Darstellungsmuster der Schwarz-Weiß-Zeichnung schwieriger geworden. Auf der argumentativen Ebene wechselt SU vom Rechtbehalten-Wollen um jeden Preis zu einer, wenn auch stark eingeschränkten Einräumung, daß auch die Partnerposition ihre Berechtigung hat. Kontrastreduzierend ist auch ihr anschließendes Verhalten: Auf das nachdrücklich formulierte Fazit von GO „Ausländer wurden geholt, und der Staat muß damit umzugehen lernen” (unterstützt von HN) erfolgt von ihr keine Reaktion; sie unterläßt an dieser Stelle ihr vorher durchgängig praktiziertes Verfahren des schnellen Widerspruchs. Das allmähliche Lockern der perspektivischen Abschottung gestaltet sich jedoch nicht linear progressiv, sondern verläuft eher „wellenförmig” und in Schüben mit dazwischen liegenden neuerlichen Verhärtungen. Wie der weitere Gesprächsverlauf deutlich macht, bildet die erste Annäherung SUs an ihre Kontrahentinnen nur eine Art Intermezzo; in der nun folgenden Kontroverse fällt SU wieder auf die bisher praktizierte maximale Kontrastmarkierung zurück. 3.3.2 Zuschreibung des Haßmotivs an SU Die folgende Kontroverse wird ausgelöst durch GO, die das „schlechte und arrogante” Verhalten der deutschen Urlauber im Ausland zum Thema macht. Nachdem diese Feststellung angezweifelt wird, fordert GO die anderen auf, sich das Verhalten der Deutschen im Ausland selbst anzusehen: do mißte se mo gugge wie sisch die deutsche bene”mme im Urlaub (Z. 282/ 289). Darauf reagiert SU mit einem globalen Gegenschlag und fordert die Adressatinnen auf, nicht ins Ausland zu fahren. Die Forderung begründet sie politisch-ökonomisch: die solle ihr geld in deutschland la”sse in solche Zeiten anstatt in=s ausland zu zahlen (Z. 291/ 296). Mit dem ökonomischen Argument rekurriert SU auf eine in der Medienöffentlichkeit häufig vertretene Meinung (in wirtschaftlichen Krisenzeiten ist es besonders sinnvoll, die einheimische Wirtschaft durch Konsum in Deutschland zu unterstützen und nicht ins Ausland zu fahren). Inhaltlich wechselt sie mit dem ökonomischen Argument von der vorher thematisierten konkreten, eigenen Erfahrung wieder auf eine allgemein-abstrakte Ebene. 35 SUs 35 Nach Beobachtungen van Dijks (1984, S. 113) ist der Rekurs auf allgemeine abstrakte Argumente im Gespräch über Ausländer, denen eine eher negative Einstellung ent- 252 Inken Keim Forderung wird massiv zurückgewiesen durch HN, KU und GO, die entweder persönlich argumentieren und sich nicht in ihre Auslandsurlaubspläne reinreden lassen wollen, oder sachlich-ökonomisch (viele Länder der Dritten Welt leben vor allem vom Tourismus). Den massiven Widerstand pariert SU durch extensives Reformulieren des ökonomischen Arguments. Sie verwendet hier das bisher von HN präferierte Verfahren, das im ersten Teil der Kontroverse zu mehrfacher Spiralenbildung geführt hat. Mit Reformulierungen nur dieses einen Arguments bestreitet SU im wesentlichen ihre Opponentenbeiträge im zweiten Teil der Kontroverse. Dabei wird immer deutlicher, daß das extensive Reformulieren Ausdruck einer Verhärtung ist als Konsequenz des Sich in die Enge getrieben Fühlens. Die Diskussion wird immer heftiger (hohe Expressivität und Spiralenbildung) bis zur Motivzuschreibung des Ausländerhasses an SU: 309 SU: 310 GO: 311 SU: 312 BA: 313 K 314 HN: 315 SU: 316 HN: 317 HN: 318 GO: 319 HN: 320 GO: 321 HN: 322 GO: 323 K4 324 HN: 325 SU: 326 K* 327 HN: 328 K 329 SU: 330 Kft <—in de"r schlechten zeit läßt he: \ ma dem land was zukommen in de"r zeit läßt ma #herei"n# «REAKTION AUF KLINGELN# es gibt soviel deutschland was zukommen un net=em ausland arme länder die lewe nur von de touristen hauptsä"schlichj. * warum soll ma die verhungern/ —»ja do es gibt so=n paar wu nur von soll ma jetz/ do soll ma ietz/ im ausland kei auslännische tourismus #ja: <— ► bloß wege denne Urlaub mache ja warum net| «DURCHEINANDER verhaßte auslänner wege ausländerhaß<— <nee: nei"n * in der schlechtn #<—>es gibt «HEFTIG, zeit soll=n# se erst ma widda unser land/ gesund/ # gegengebracht wird, ein Hinweis darauf, daß der Sprecher persönliche Abneigung hinter sozialen oder ökonomischen Sachverhalten verstecken will. Verfahren der Perspektivenabschottung 253 331 HN: do=soviel a": rme länder die lewe doch hauptsächlich 332 K HOCH Der Transkriptausschnitt beginnt mit SUs dritter, nachdrücklicher Reformulierung des ökonomischen Arguments. Noch überlappend mit HNs Gegenargument stellt GO den Sinn von SUs Maxime in Frage: do soll ma jetz/ im ausland kei Urlaub mache] ja warum net] (Z. 320/ 322). Hier schiebt sich HN dazwischen; sie läßt SU keine Gelegenheit zur Beantwortung der Sinnfrage, sondern sie formuliert für SU ein Motiv, das deren hartnäckiges Beharren auf dem ökonomischen Argument erklären könnte: Die eigentliche Triebkraft ihrer Auffassung (keinen Urlaub im Ausland zu machen) sei emotionale Verblendung, „Ausländerhaß”: ja: <^bloß wege denne verhaßte auslänner wege ausländerhaß (Z. 321/ 324). Damit hat sich die Qualität der Kontroverse entscheidend verändert. HN bewegte sich bisher durchweg auf der Ebene von Sachverhaltsdarstellungen und sie blieb dabei an Fakten orientiert. Hier verläßt sie die Sachverhaltsebene und greift SU im Kern ihrer Persönlichkeit an: - Durch das Dazwischenschieben - HN antwortet für SU, an die die Frage gerichtet war nimmt sie SU die Möglichkeit, die Sinnfrage selbst zu beantworten; sie nimmt ihr das Rede- und das Erklärungsrecht für die eigene Position, spricht an ihrer Stelle und startet dabei gleichzeitig einen harten Imageangriff auf sie. Durch die indirekte Formulierung man muß schließen, daß Ausländerhaß sich auf SU bezieht mildert sie den harten Angriff allerdings etwas ab. - Dadurch daß HN ein sehr persönliches Motiv für SU formuliert, zeigt sie, daß ihr die hartnäckig vertretene ökonomische These nicht plausibel erscheint, daß sie sie als vordergründig einschätzt in dem Sinne, daß SU sie nur immer wieder reformuliert, um dahinter die starke emotionale Ablehnung zu verbergen. - Mit der Unterstellung eines stark negativen Gefühls als eigentlicher Triebkraft für eine vordergründig ökonomisch begründete Handlungsanforderung ist auch der Vorwurf verbunden, ein falsches Spiel mit den anderen zu treiben, den eigentlichen Punkt nicht zu offenbaren. - Die Zuschreibung von Ausländerhaß bedeutet eine starke Negativkategorisierung SUs, die explizit, unabgeschwächt und stark expressiv formuliert wird (schnelles, lautes und nachdrückliches Sprechen, Reformulierung des Kategorienmerkmals); sie kommt einer Bloßstellung gleich. Mit der Zuschreibung ist auch der implizite Verweis auf Haß als Ursache für die perspektivische Abschottung verbunden. Interessant ist SUs Reaktion auf die Haßzuschreibung: Im Vergleich zur Wucht des Angriffs ist die zurückweisende Reaktion schwach. SU wehrt sich zwar mit Nachdruck gegen die Zuschreibung durch Negieren: lau- 254 Inken Keim teres und stark akzentuierendes Sprechen, Wiederholung der Negationspartikel und Fokussierung der Negation durch Wechsel vom Dialekt zum Standard nee” nei”n. 3S Sie zeigt sich aber nicht persönlich getroffen; sie wehrt sich gegen die Zuschreibung weder durch den offenen Ausdruck von Erschrecken, Verwunderung oder Empörung oder durch Schweigen, noch macht sie die Zuschreibung zum Thema, hinterfragt sie nicht, reagiert nicht mit Vorwurf o.ä., alles Reaktionen, die bei einem Angriff, der einen plötzlich und persönlich stark trifft, erwartbar wären. SU läßt den Angriff gleichsam abprallen und verhärtet sich in ihrer Position. Das zeigt sie durch nochmaliges Reformulieren ihres ökonomischen Arguments (das auf der Inhaltsebene als Zurückweisung fungieren kann). Nur der appellative Charakter der Reformulierung weist auf eine Hinwendung an die Adressatinnen: Die Aufforderung unser land erst ma gesund machen (Z. 329) richtet sich an ein nationales Wir-Gefühl; SU appelliert auf einer sehr abstrakten Ebene an eine Gemeinsamkeit zwischen sich und ihren Kontrahentinnen. Daß SU durch die Haßzuschreibung und den gemeinsamen, massiven Widerstand ihrer Kontrahentinnen äußerst angespannt und in die Enge getrieben ist, zeigt ihre folgende Reaktion auf GOs Argument: SU reagiert unüberlegt und macht zum erstenmal in dieser Auseinandersetzung einen Fehler zu eigenen Lasten: 331 HN: 332 K 333 KU: 334 HN: 335 K 336 GO: 337 K 338 GO: 339 K 340 SU: 341 GO: 342 K 343 KU: 344 GO: 345 K do=soviel a": rme länder die leoe doch hauptsächlich HOCH <ah wenn isch in Urlaub geh do/ vum tourismus«—># # #ah do «HEFTIG hedde/ do hedde sie doch vorher geguggd daß es ja e": be e": be e: ben gesund gebliebe war a"lla: was kann=n do jo: des volk jetz dafier warum soll=n des volk jetz 36 Dialektsprecher können den Wechsel von Dialekt zu Standard auch zu Fokussierungszwecken einsetzen. Das ist besonders wirkungsvoll bei Wiederholungen; vgl. Keim (1995a, Kap. 4.1.3ff.). Verfahren der PerspekUvenabschottung 255 346 HN: jo: klar 347 GO: net wo annerschd hiefahre in Urlaubj# 348 K # GOs Formulierung ist zweigliedrig. In dem ersten Formulierungsteil ah do hedde/ do hedde sie doch vorher geguggd daß es gesund gebliebe war (Z. 336/ 341) wendet sich GO gegen SUs Appell an alle Deutschen, „unser Land gesund zu machen” (indem sie den Urlaub in Deutschland verbringen). Dieser erste Teil baut einen temporalen Kontrast auf: vorher (im Sinne von: „vor der wirtschaftlichen Misere hätte man ökonomische Weichen stellen sollen”) kontrastiert zu einem „jetzt”, das im zweiten Formulierungsteil realisiert wird (Jetzt kann man das Volk nicht bestrafen, das dafür nicht verantwortlich ist”). SU unterbricht direkt nach dem Adjektiv gesund, das GO von ihr übernommen hat, und stimmt emphatisch zu. Damit hakt sie forcierend ein 37 , nützt das Potential des forcierenden Gegenzugs aber nicht, und gibt GO Gelegenheit, den zweiten Formulierungsteil zu Ende zu bringen, der im ersten Segment bereits projiziert war. Wie die Formulierungsfortführung zeigt, ist die gesamte Äußerung gegen SU gerichtet: GO plädiert auch in wirtschaftlichen Krisenzeiten für einen Auslandsurlaub, da der „Normalbürger” die Krise nicht zu verantworten habe. SU hat hier wieder die Partnerproposition unterbrochen, noch bevor diese zu Ende formuliert ist. Doch dieses Mal hat die Unterbrechung keinen Störeffekt auf die Partnerin, sondern SU legt sich selbst herein. Sie stimmt einer als Gegenposition intendierten Partneräußerung vorschnell zu. Mit der Unterbrechung der Partneräußerung war SU bisher insoweit erfolgreich, als sie die Partnerin irritierte, ihre Argumentationslinie störte und sie immer wieder mit Gegenbehauptungen konfrontierte. An dieser Stelle aber zeigt sich das Gefahrenpotential einer solchen Vorgehensweise: Das vorschnelle Zustimmen birgt das Risiko des Selbst-Hereinlegens. Das Selbsthereinlegen wird von der Kontrahentin nicht bearbeitet; SU selbst übergeht es. Auffallend ist jedoch, daß SU mit ihrem nächsten Zug die Deeskalation der Kontroverse einleitet. Der selbstverursachte Reinfall scheint für sie eine Art Wendepunkt herbeigeführt zu haben; ihre nachfolgenden Beiträge sind nicht mehr auf Konfrontation hin angelegt. 3.3.3 Deeskalation und perspektivische Annäherung Die perspektivische Annäherung zwischen SU und ihren Kontrahentinnen findet in der Nachbereitungsphase zur Kontroverse statt. Sie vollzieht sich in zwei Schritten: 37 Zu unterbrechenden, forcierenden Gegenzügen vgl. Kallmeyer/ Schmitt in diesem Band, Kap. 4.3.1. 256 Inken Keim - KR bereitet den Ausgleich zwischen den Kontrahentinnen SU und GO vor; - HNs Absage an Ausländerhaß und ihr Bekenntnis zu Toleranz Ausländern gegenüber etabliert für SU einen starken Handlungsdruck, sich ebenfalls zu offenbaren. a) Vorbereitung eines Ausgleichs: KR unterstützt zunächst SUs Deeskalationsinitiative, indem sie GO, die weiter auf Konfrontationskurs bleibt, „zurückpfeift”. SU leitet die Deeskalation ein mit der fünften Reformulierung des ökonomischen Arguments und schränkt dabei den Geltungsbereich ihres Arguments erheblich ein: 349 SU: ich bin der meinung ich behalt erstma die dmark 350 SU: im eigenem land 351 GO: <ah nä" isch trag meini fort weil 352 HM: jo: isch ded=s aa mache wenn/ 353 GO: mir=s dort gefa"llt| weil des=n ganz 354 KR: 355 GO: annerer menschenschlag isch> 356 BA: ja: ja ja bei ihne is ja Das vorher als Handlungsmaxime für alle Deutschen formulierte Argument reduziert SU hier auf eine persönliche Meinungsäußerung. Auch die Prosodie hat deeskalierende Merkmale; SU spricht wesentlich weniger intensiv und weniger erregt. GO geht auf SUs Initiative zur Deeskalation der Kontroverse nicht ein. Sie präsentiert zwar ebenfalls ein persönliches Statement, jedoch mit Nachdruck als Gegenposition markiert: ah nä” isch trag meini fort weil mir=s dort gefä”Ut\ weil des=n ganz annerer menscheschlag isch (Z. 351/ 355). Die Vorgängerposition wird explizit negiert, dann das eigene Argument dazu in Kontrast gesetzt und zweifach begründet durch ihre Vorliebe für Fremde. War SUs Sprech- und Formulierungsweise bereits zurückgenommen, bleibt GO in der Modalität des heftigen und intensiven Entgegensetzens (lautes Sprechen, starke Akzentuierung auf den Kontrastmarkern). GO behält den ’konfrontativen Stil’ bei. Darauf greift KR ein und unterstützt SUs Initiative; sie liefert ein sehr persönliches Motiv für GOs Präferenz für Auslandsurlaube: 354 KR: 355 GO: annerer menschenschlag isch> 356 BA: ja: ja ja bei ihne is ja Verfahren der Perspektivenabschotiung 257 357 KR: auch noch begründet durch ihm mann und alles 358 SU: 359 GO: 360 KR: 361 SU: 362 GO: >bei ihnen is ja was ganz a"nderes ja ja sie sin ja mit=m Spanier verhei"ratet awwa tro"tzdem 363 KU: <wenn=sch in Urlaub geh do will=sch hie wu=sch ba"de 364 KU: konn hu sunn is wei=s in deitschlond regent netj 365 KU: pm dienschdag is es ietz emo gligg 366 GO: ah jo: kla"r bei uns/ bei uns hod ma 367 KU: des=s jetz emo gligg daß jetzat 368 GO: ja bloß mehr re"ge Mit dieser Motivzuschreibung geht KR weit über das von GO selbst angeführte Motiv (Vorliebe für Fremde) hinaus. GOs positive Haltung Ausländern und allgemein dem Fremden gegenüber deutet KR als durch eine sehr persönliche emotionale Erfahrung begründet: „Liebe” als Triebkraft einer ausschließlich ausländerfreundlichen Sicht bildet den Gegenpol zu „Haß”, mit dem vorher die abgeschottete Perspektive auf Ausländer bzw. das Ausland begründet worden war. Mit dieser Motivzuschreibung verbunden ist eine drastische Einschränkung des Geltungsbereichs für die ausländerfreundliche Haltung; d.h., KR stuft die Relevanz und Allgemeingültigkeit von GOs auschließlich positiver Haltung erheblich zurück dadurch, daß sie sie nur in einem sehr speziellen Erfahrungsbereich begründet sieht, zu dem nur wenige Zugang haben. KR, die bisher HN und GO unterstützte, wechselt an dieser Stelle die Seiten und unterstützt SUs Initiative zur Deeskalation. Sie macht den erforderlichen Ausgleichsschritt, der zur Aufrechterhaltung des rituellen Gleichgewichts (vgl. Goffman 1975, S. 45) notwendig geworden ist: GO reagierte vorher auf SUs Initiative zur Deeskalation nicht und ließ sie „auflaufen”. KR „pfeift” GO jetzt von ihrem Konfrontationskurs zurück und schafft den Ausgleich durch Herabstufung von GOs Geltungsanspruch. Die Parteinahme KRs erfaßt SU sehr schnell; weit überlappend und gleichsinnig mit ihr formuliert sie dieselbe Motivzuschreibung und stuft GOs Geltungsanspruch noch weiter zurück: bei ihnen is ja was ganz a”nderes (...) sie sin ja mit=m Spanier verhei”ratet (Z. 358/ 361). Durch die Gradpartikel ganz und eine starke Akzentuierung auf a”nderes hebt sie GOs Sonderstatus besonders hervor und schränkt dadurch die Bedeutung der ausländerfreundlichen Haltung noch weiter ein. Mit der Bedeutungseinschränkung hat die ausschließlich ausländerfreundliche Haltung auch an Gewicht verloren als Kontrastposition zu SU. Sie ist nicht mehr die einzig mögliche Kontrastposition, sondern eine, die nur 258 Inken Keim unter ganz bestimmten Bedingungen erreichbar ist (Ehe und Liebe). Die „normale” (und für viele erreichbare) ausländerfreundliche Haltung ist damit differenzierter geworden und mit ihr muß nicht nur die extreme positive Sicht verbunden sein. Damit hat KR die normale ausländerfreundliche Haltung etwas näher an SUs Position herangerückt. Diese Distanzreduzierung, die KR für die ausländerfreundliche Seite vornahm, ist eine Art Vorleistung, die für SU eine interaktive Verpflichtung schafft, ebenfalls von der extremen Gegenposition abzurücken, ihrerseits distanzreduzierende Schritte zu unternehmen und sich auf die Gegenseite zuzubewegen. Konfliktreduzierend wirkt auch eine thematische Verschiebung, die die Vertreter der ausländerfreundlichen Seite im Anschluß vornehmen; sie fokussieren in den folgenden Beiträgen (Z. 363/ 369) den Wetter- und Klimaaspekt eines Auslandsaufenthalts und kontrastieren das schlechte Wetter in Deutschland mit dem schönen Badewetter in den traditionellen Urlaubsländern. Damit wird die vorherige politisch-ökonomische Brisanz des Themas „Auslandsaufenthalt” weitgehend entschärft. b) HNs Handlungsdruck auf SU GO leitet die Nachbereitung ein mit der expliziten Rethematisierung des „Ausländerhasses”. Darauf folgt HNs explizite Absage an Ausländerhaß. Ihr anschließendes Bekenntnis zu Toleranz allem Fremden gegenüber wird dann für SU zum Anlaß, sich ebenfalls zu dem Thema zu äußern: 383 IM: 384 GO: 385 Kft 386 KR: 387 IM: 388 GO: 389 HM: 390 K Ü 391 GO: 392 HM: Ü 393 Sü: 394 HM: 395 SU: 396 HM: [ ...] heißes thema ja: des is ewe de: de de ha"ß netz do: eh un/ ja (^_J un des sin/ des is jetz- * des is schli"nun zur zeit jaf #*—i"sch haß niemand# #—»der konn grien soi #H0CH # ja" * do: * #der kann grün sein un blau un geel un rot un schwarz# mir ega: l<— und blau und gelb und rot und schwarz# wenn=a wie=a aussieht do haß isch keener a"nständig is >isch aa net — ► do kenne meinetwege griene un blaue rumlaafe<— is Verfahren der Perspektivenabschottung 259 397 HK: mir egal was do fer rumlaafe konn rumlaafe 398 SU: die laufe ja rum 399 HK: was will * kenne hautfarb hawwe egal geel odda GO rethematisiert das Haß-Motiv in Form einer generalisierenden Feststellung. Die Formulierung ist charakterisiert durch Formulierungsschwierigkeiten, Abbrüche, Verzögerungen und Neuansätze, die sofort wieder abgebrochen werden. Die Sprechweise ist verhaltener als in der vorangehenden Deeskalationsphase. Die Äußerung hat fast den Charakter eines Selbstgesprächs, in dem sich GO zu erklären versucht, was gerade passiert ist, dafür aber noch nicht die passende Ausdrucksform gefunden hat. Die Äußerung läuft auch vage und offen aus (Formulierungsabbruch, schwebende Kadenz und Pause). Im Anschluß legt HN ein persönliches Bekenntnis ab: <—haß niemand (Z. 389). Mit dieser Absage reagiert sie auf eine Anforderung, die für sie aus der Generalisierung des Haß-Motivs entstanden ist: sich deutlich abzugrenzen gegen negative Haltungen und für sich die positive Haltung zu beanspruchen. Das Bekenntnis ist prosodisch stark markiert: langsameres Sprechen, hohe und weiche Stimme, durchgehende Akzentuierung mit starkem Akzent auf dem Personalpronomen und eine ’singende’ Intonation: -ooo o o o o - o o o o o - <—isch haß niemond * — ► der konn grien soi un blau un geel Durch die Akzentuierung des Personalpronomens i”sch wird ein starker Kontrast aufgebaut zu allen anderen, auf die die generalisierte Haßzuschreibung zutrifft bzw. die sie auf sich beziehen können. Dann folgt ein metaphorisch formuliertes Bekenntnis zu Toleranz allem Fremden gegenüber: der konn grien soi un blau un geel un rot un schwarz mir ega: l (Z. 398/ 392). Die Farbauflistung ist nicht nur eine Metapher für ethnische Zugehörigkeit nur drei Farben: rot, schwarz und gelb gehören zu ethnischen bzw. rassischen Farbmetaphern sondern „grün” und „blau” als Charakterisierung des Aussehens verweisen auf alles Ungewöhnliche, Auffallende und Fremde. Die Länge der Liste deutet das ungewöhnliche Ausmaß der Toleranz an, das durch den gleichbleibenden, ’hämmernden’ Rhythmus (Akzent auf jeder Farbbezeichnung) verstärkt wird. Das Selbstbekenntnis hat eine stark suggestive Kraft. Die Äußerung ist nicht abgeschlossen, sie verlangt von der prosodischen Kontur her eine Fortsetzung. Auf der explizit verbalen Ebene hat die Äußerung keine auffordernden oder adressierenden Elemente. Doch sie stellt für die Gegen- 260 Inken Keim partei einen starken Handlungsdruck her: die tiefe Selbstoffenbarung einer Interaktionspartnerin macht eine ähnlich selbstoffenbarende Handlung der anderen erforderlich. Außerdem schafft das explizite Bekenntnis zur positiven moralischen Haltung einen moralischen Druck auf die andere, sich ebenfalls zur positiven Haltung zu bekennen bzw. das Ausweichen vor einem Bekenntnis wäre auffallend. SU kommt der Anforderung nach; noch überlappend mit dem letzten Außerungsteil erbringt sie die Gegenleistung. Sie paßt ihre Formulierung in die syntaktische Struktur ihrer Vorrednerin ein, d.h., sie baut auf deren Formulierung auf und fügt dann die Bedingung an, unter der sie das Bekenntnis der Vorrednerin auch als ihr eigenes übernimmt: wenn=a a”nständig is >isch aa net (Z. 393/ 395). Durch das Einpassen in HNs Konstruktion muß SU das Toleranzbekenntnis nicht selbst explizit formulieren, sie kann sich der Vorrednerin syntaktisch anschließen, ohne explizit deren inhaltlicher Position zuzustimmen. Das syntaktische Einpassen ist ein für SU imageschonendes Verfahren: Sie kann eine explizite Formulierung, die im Gegensatz zu ihrer vorangegangenen Argumentation steht, vermeiden und legt durch den syntaktischen Anschluß auch gleichzeitig einen inhaltlichen Anschluß an die Position der Vorrednerin nahe. Explizit und durch Akzent fokussiert, formuliert sie dann eine Bedingung, die der Fremde erfüllen muß, wenn sie tolerant sein soll: der Fremde muß ihre moralische Maxime der „Anständigkeit” erfüllen. Mit dieser moralisch basierten und nicht-ethnisch definierten Bedingung hat SU ihre vorherige ethnisch bestimmte perspektivische Abschottung aufgebrochen; das Objekt der Ablehnung ist jetzt nicht mehr ethnisch, sondern sozial und moralisch definiert. Positiv formuliert heißt dies: Solange Ausländer die in SUs sozialer Welt geltenden Anforderungen für „Anständigkeit” erfüllen, können sie auf ihre Toleranz rechnen. Damit hat SU ihre perspektivische Abschottung aufgegeben und sich auf ein allgemein akzeptiertes Orientierungsmodell zubewegt. 4. Die rhetorische Effektivität eines perspektivisch abgeschotteten Darstellens und Argumentierens Zu den in Kap. 2 dargestellten Verfahren, die auf perspektivische Abschottung hinweisen und die auch in dem in Kap. 3 analysierten Gespräch eine Rolle spielen, gehören die Basisoperationen Umdeuten, Unterstellen und Ausblenden, ebenso wie der besondere Umgang mit dem empirischen Nachweis, die Schwarz-Weiß-Zeichnung bei der Selbst- und Fremddarstellung und die Präferenz für stereotype Deutungen. Der zentrale Punkt in Kap. 3 war es jedoch zu zeigen, daß perspektivische Abschottung auch das Ergebnis einer bestimmten Interaktionssituation sein kann. Zur Spezifik der Interaktionssituation im vorliegenden Fall gehören der Offentlichkeitscharakter durch die Anwesenheit eines Exter- Verfahren der Perspektivenabschottung 261 nen, SUs Sprechen für die anwesende schweigende Mehrheit und die aufgrund des thematischen Potentials sich entwickelnde Gesprächsdynamik. Die Beteiligten legen sich von Anfang an auf einen bipolaren thematischen Rahmen fest; zwei der Beteiligten schreiben sich wechselseitig die Kontrahentenrolle zu. SU, die den Zuschreibungsprozeß initiert, gibt auch das Muster für die Argumentationsmodalität vor: das schnelle Unterbrechen der Partneräußerung und das harte, antagonistische Entgegensetzen. Diese scharfe Bearbeitungsmodalität macht HN „blind” für die jeweilige Spezifik von SUs Äußerung; sie stellt keine Klärungsfragen, hinterfragt nicht den Sinn der Äußerungen, weist nicht deren besonderen Charakter zurück (z.B. Umdeutungen, Unterstellungen u.ä.), sondern begreift sie durchgängig als globale Angriffe auf die Richtigkeit ihrer Argumente. Sie reagiert mit Versteifen auf die eigene Postion und überläßt damit SU die Initiative zum Vorantreiben der Kontroverse. HN schottet sich interaktiv ab und dreht sich nur noch um sich selbst. HNs Abwendung beantwortet SU mit einer Abschottung im thematischen Bereich: sie zeichnet das thematische Objekt „Ausländer” zunehmend negativer mit stereotypen Zuschreibungen; dazu deutet sie um, blendet aus, macht Unterstellungen und dreht der Partnerin das Wort im Munde um u.ä. Das rhetorische Potential perspektivisch abgeschotteter Verfahren liegt vor allem darin, daß die Partnerin von ihrer Argumentationslinie abgebracht wird, bis sie „entnervt” aus der Interaktion aussteigt. Mit solchen Verfahren kann man andere also aus der Interaktion verdrängen und damit verhindern, daß die eigene Position in Frage gestellt wird. Unter kompetitivem Aspekt hat der, der perspektivisch abgeschottet argumentiert, unter bestimmten Bedingungen die Chance, lokal zu „gewinnen”. Doch die Verwendung solcher Verfahren hat einen hohen Preis: SU wird für die Beteiligten auffällig, und die anderen „rächen” sich, indem sie sich solidarisieren und gegen sie geschlossen Partei ergreifen. 38 Gegen den massiven Widerstand der anderen verteidigt sich SU jetzt ihrerseits durch Versteifen und Abwendung von ihren Kontrahentinnen; sie übernimmt HNs Verfahren der mehrfachen Reformulierung und weitet es exzessiv aus. Diese ausschließliche Konzentration auf die eigene Sicht treibt die anderen zur Verschärfung des Angriffs, der in der Haß-Zuschreibung gipfelt. Interessant ist, daß der Angriff auf SUs Person, ihre Entblößung, erst dann erfolgt, nachdem sie sich durch extensives Reformulieren zur Wehr gesetzt hat. SUs interaktive Verhärtung und ihre Unzugänglichkeit setzen also bei den Kontrahentinnen ein stärkeres Aggressionspotential frei; die Angriffe zielen jetzt auf ihre Person, während sie vorher nur gegen ihr Verhalten ge- 38 In anderen Fällen kann das Argumentieren aus einer abgeschotteten Perspektive dazu führen, daß der Sprecher disqualifiziert wird und ihm die „soziale Kompetenz” abgesprochen wird; vgl. Kallmeyer/ Schmitt in diesem Band, Kap. 5.3.7 und 5.3.9. 262 Inken Keim richtet sind. Das „gebetsmühlenartige” Wiederholen desselben Arguments stellt für SU, nachdem sie sich vorher bereits in eine perspektivische Abschottung gebracht hat, das größte Risiko dar. Im vorliegenden Beispiel gelingt das Aufbrechen der perspektivischen Abschottung und die vorsichtige Annäherung SUs an eine „vernünftige” und allgemein akzeptierte Sicht. Dieser Prozeß vollzieht sich nicht linearprogressiv, sondern in Schüben. Wichtige Schritte sind dabei: - Die Beteiligten insistieren auf der Ausbreitung eigener Erfahrung; damit wird der Blick SUs weggelenkt von allgemein stereotypen Behauptungen hin zur Faktizität. - Den Beteiligten gelingt es, SU zu einem Zugeständnis an die Gegenpartei zu bringen inbezug auf das thematische Objekt „Deutsche”, das bisher nicht im Fokus stand, aber in enger Relation steht zu dem Objekt, das in die perspektivisch abgeschottete Sicht geraten ist. - Der Angriff auf die eigene Person führt zu SUs Verunsicherung; sie macht Fehler und leitet selbst die Deeskalation der Kontroverse ein. - Die Vermittlung KRs und ihre Initiative zur Distanzminderung zwischen den Parteien bereitet den Boden vor für SUs perspektivische Annäherung an die Gegenseite. - Die offene Absage der Kontrahentin HN an Ausländerhaß und ihr Bekenntnis zu Toleranz wird für SU zum Anlaß, ebenfalls dem Haß abzusagen. Ihre Absage gelingt imageschonend für sie selbst durch Einpassung in die Formulierung der Kontrahentin. Die Besonderheit des hier vorgestellten Gesprächs ist das „laute” Manifestwerden perspektivischer Abschottung; außerdem ist sie nur eine temporäre Erscheinung, sie kann in dem Gespräch selbst aufgebrochen werden. Zu einer vollständigen Erfassung des Phänomens perspektivischer Abschottung müßten noch Fälle beschrieben werden, in denen perspektivische Abschottung wesentlich resistenter gegen Aufbrechungsversuche ist; voraussichtlich ist das der Fall, wenn sie auf tiefgreifender biographischer Erfahrung basiert, oder wenn sie politisch in besonderer Weise funktional ist; in denen sich perspektivische Abschottung ’leiser’ äußert, z.B. in der systematischen Umgehung von gemeinsamen Anstrengungen zur Konfliktlösung u.ä. Verfahren der Perspektivenabschottung 263 5. Literatur Aristoteles (1980): Rhetorik. Übersetzt, mit einer Bibliographie, Erläuterungen und einem Nachwort von Franz G. 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Anhang: Transkript „Kümmeltürken” 1 Kft KU LIEST FLUGBLATT VOR, DAS IN WOHNUNGEN IN F S VERTEILT 2 Kft WURDE 3 KU: #uns gehört auch deutschland * wir werden bald 4 K «LIEST LANGSAM UND DEUTLICH 5 KU: die überzahl haben und dann geht=s ru"nd# 6 K # 7 HN: 8 K 9 Kft #—>un dann «BELUSTIGT «LACHEN 10 KU: 11 HN: geht=s rundf<—# 12 K # 13 KL: 14 Kft # türkenheim (...) wir danken ma weiß awwa net 15 KU: ha ja tü"rkenheim| 16 KL: woher des (...) 17 MA: —>wa"s türkenf«— 18 MÜ: kimmeltürke 19 KU: dreiesechzisch unnerschrifde 20 MA: «hawwe die" des gschriwwej# Ü «haben die das geschrieben # 21 K «SCHARF # 22 MÜ: 23 KR: haj o: J. <ja 24 KR: glauben sie dasf> ja wer 25 IN: we"r hat des gschriwwej. 26 KU: —>ah isch weeß 27 KR: glaubt denn daß des geschriebn hat| 28 K HINTERGRUND- 29 KU: net jaj * #<her de war do unne was im briefkaschde Ü «hör mal da war da unten was im briefkasten 30 K GESPRÄCH 31 KU: as gottessprisch mer solln rausziehe><—# Ü das sollte heißen wir sollen ausziehen # 32 KR: «ja ja: # 33 K «NACHDENKLICH# 266 Inken Keim 34 KU: 36 MA: 36 K 37 HE: 38 KU: 39 HA: 40 K 41 Kfc 42 KU: 43 HÜ: 44 K& 46 KU: 46 K& 47 KU: 48 Kt 49 KU: 50 Kt 61 KU: 62 Kt 63 KU: 54 HN: 66 Kt 66 KU: 57 Kt 58 KU: 69 Kt 60 KU: 61 K 62 KU: 63 Kt 64 KU: 65 KU: 66 KR: 67 KU: 68 Kt 69 KU: 70 Kt ah jo: #—»is zeit daß die «BISSIG derf isch=s behaldej <bei «uns vohn/ bei uns wohne: Jugoslawe nauskomme her*—« # «DURCHEINANDER, ZUSTIMMUNG net un do hod emol a die ää fraa gschennt weil ja| se/ wei=die kinner so laut sin un * sie wolld sundach middachs ihr ruh hawwe * sesch der kerl zu=ere * wenn se ihr/ wenn se schlofe will soll se do niwwer gehe uff de friedhof do kennt se schlofe> ha"ww=sch gsacht * o"h: frau (NAME) —>do LACHT HELL ware se awwer net schlau genug! *— * wenn der des zu mi"r gsacht hedd * hedd=sch=gsa ho"rsch emol« * # #«—du" * kaputt im köpf * isch ne kaputt im kopp— ► «HOCH erschder du" «friedhof dann i"sch friedhof# «LEISES LACHEN # LACHEN he=sch=gsa «—mid doi"ne knoche schmeiß isch no äppel runner—* * der hod nämmisch der=s hirnverletz »—aber—* ne| * he=sch gsa <—moi"n kobb ned «kabbud awwer «LACHEN doiner kabbud—*# du eher friedhof wie isch * i"sch # Verfahren der Perspekiivenabscholtung 267 71 KU: mid doine knoche äppel runner * 72 HM: #wa"s isch mit 73 K «LACHEND 74 KU: 75 HN: doine runnert# 76 K # mid doine knoche äppel runner 77 KU: schmeiße 78 HN: LACHT HELL 79 K* DURCHEINANDER; LACHE» ÜBER 80 Kft SPRUCH; I» FRAGT, OB SIE SICH VOM FLUGBLATT KOPIE 81 K& MACHEN KANN; DIE ANDEREN WOLLEN AUCH KOPIEN; 82 KU: 83 K 84 IN: «sie krigge=s# 85 K «KOPIE # 86 KU: krägde hef die bagasch« 87 K # 88 KR: «als sonn mir vun denne die rende «EMPÖRT ja/ ja glauben sie im ernst 89 KR: daß des ausländer gschriebn hamt 90 HE: glaubsch du=s nid t die wolln sisch rä"sche 1er 91 HN: 92 KR: hmt 93 HE: * ob du=s ned/ 94 SH: entweder kriggsch (. ■■ ) 95 HN: des daß se so behandelt wem jetz 96 KR: ich bild 97 HN: die losse sisch aa ned alles glalle 98 KR: mir ein daß des nur=n 99 HN: >—s=stimmt doch die losse sich ned grad 100 KR: hetzbrief isj 101 HN: so glalle wie die <dei"tsche/ 102 SU: <gehn se mal als deu"tsche in die 103 SU: türkei" un beantragn am Sozialamt * un nehmen von 104 HN: #<ah wann die" sie ogiordert ham#—unir lordern Ü «wenn die sie angelordert haben # 105 SU: Wohnungen weg 268 Inken Keim 106 HN: #die io o: # Ü #die ja an# 107 SU: <wir haun die net angelordert * die ham alle nachkommen 108 HH: ja die/ die die deitsche hen die türke 109 SU: lassen> 110 HH: 111 SU: 112 HH: 113 SU: 114 HH: US K Ü 116 SU: 117 HH: Ü 118 SU: ogiordert roi/ do"ch -+hen se doch ogiordert net an/ <wissen se wieviel> als gastarbeit er gieviel gissen se gieviel reingschleust #a": ch selbstverständlisch# #is do=iggera: ll in #GEHERVT # #ist doch überall in werden f heimlischt annere länder aa: # anderen ländern auch# <nei"n * die ham rechtzeitisch=n 119 SU: 120 LE: 121 IH: 122 HH: 123 IH: 124 SU: 126 HH: 126 IH: 127 SU: 128 HH: 129 HA: 130 HH: 131 HA: Ü 132 SU: 133 HH: Ü 134 HA: Ü stop gemacht» deutschland is einzige die so dumm das is ja eindeutig aus gelcher ecke das kommt kla"r de holländer passierd * npd * <ganz klar> sin< doch sogas aa <gie/ gie gie is ganz klar <nei"n * die ham=n sch/ sch/ schto"p> gie gibts=n in amerika die mexikaner und de: / —»agger ru"; h LACHT ja u": nf #sin zgei die sin gie giggl schiacht #die zgei die sind gie göckel schlagt >amerika is ia: n kessel #do gehe sie aa illegal noi: die mexikaner no ameriga# #da gehen sie auch illegal rein die mexikaner nach amerika# eisch (...)# euch # 135 SU: #die andern ham se ja (.. ■ ) 136 Kft #DURCHEIHAHDER # 137 HH: laufend #—»die mexikeuier gehn doch aa immer illegal noi<—# 138 K #ZU IH # Verfahren der Perspektivenabschoitung 269 139 HH: 140 IN: 141 SU: 142 SU: 143 GO: die grenz noch amerika noi wo| nach amerikat ja| ihr la"nd| * sin ja da gebo"m des is ja dene — ► ja wenn sie illegal 144 GO: roi sin do wissn jo die" net daß se roi sin do do gehn vie": le noi 145 HN: 146 GO: 147 HN: 148 SU: kenne se se jo aa net stoppe*— * Mexikaner noch ameriga noi un wenn se C ■ ■ ■ ) ( ■ ■ ■ ) * <tü"rkische landsleute 149 SU: verdienen sin ihren armen landsleuten * schleusen 150 HN: —>s gibt doch gangschder do aa<— 151 SU: se ab> 152 GO: —»ah des weeß doch awwer unser 153 SU: ah die weiß das schon 154 GO: regierung net wann do«— un wo die/ 155 HN: haio: 156 HN: es gibt sie die roischleuse awwa/ 157 GO: riwwer (kumme) daß se die abfsinge kennde 158 SU: solln se doch erschd ma ma"chen * «—mehr eh/ mehr 159 GO: hej 160 IN: wie"! 161 SU: durschgreiien überall—» auf de/ auf den flugplätzen 162 SU: wenn die ko"mmen * solln se besser kontrolliern >die kumme wu annerschd roi a: ch gott- 163 HN: 164 IN: 165 GO: 166 KU: 167 MA: 168 GO: 169 KU: 170 HN: 171 BA: hm ** wah"rschpins/ <—»mer werre mo ofange türkisch lerne ne| daß mer se ja" ja" ( ■■■ ) verste"he- <—ja" lerne mo seil tü"rkischja" jaj * 172 SU: ich hab acht jsdir nebe so=m dreckschwerl/ 173 IN: 174 SU: 175 SU: sof dreckschwein gesohntj. >ich kann ihnen verzählnj.< in se"ckenheim wsurn a"cht jsdir neben uns welche]. 270 Inken Keim 176 KR: 177 IN: 178 SU: 179 KR: 180 IN: 181 SU: 182 IN: 183 SU: 184 IN: 185 SU: 186 SU: 187 SU: 188 SU: 189 IN: 190 SU: 191 SU: 192 IN: 193 SU: 194 IN: 195 SU: 196 SU: 197 SU: 198 SU: 199 SU: 200 KU: 201 MA: 202 SU: wa"s war +<türkent türkent — ♦ eich hab genu"g mitgemacht| da neben ihnent -türkenJ. ■ +was harn se da mitgemacht| * nur ma so/ daß ich/ ich hab noch nie/ denn ( ■■■ )<— <die ham/ eh die ham/ —^"rst ja ma ham se=n ölofen üwwerhaupt net saubergemacht — ► na heim mir gsacht der gehört ab un zu saubergemacht ham se=n gezeigt*— <da sin so"lche flocken rumgeflogen * bei uns konnte kei"ner mehr wasche aufhängen die hm ham uns fresche antworten gegebn bis einer en innungsmeister hingeschickt hat von Schornsteinfeger], hm un dann ham se=s hat=n ne stra"fe angedroht gemacht] <—no"ch nicht—» dann is der no"chemal gekomm un hat gleich=n Strafzettel do''rtgelassen * heim se=n au"sgelacht] * <<—un je": de nacht bis um vier im sommer— ► > * fensder un tür auf un da warn vielleicht achtzehn zwanzich leute da drin * a"cht <nä" die/ — ► mir hawwe aa so e Sippschaft«— jahre lang 203 KU: die türke bei uns owwe die ge"he * die sin/ die 204 KU: sin=s (gewohnt)> 205 HN: ah jo: 206 G0: #<<—es gibt solsche un solsche— ► wie 207 K #MIT NACHDRUCK 208 HN: es gibt iwwera: ll— ► bei uns gibt=s 209 G0: iwwerall es gibt auch bei u"ns 210 K dreckschweine Verfahren der Perspektivenabschottung 271 211 HK: Ü 212 GO: 213 K 214 HN: 215 GO: 216 K 217 HK: Ü 218 SU: 219 HN: 220 SU: 221 GO: 222 HK: 223 HB: 224 GO: 225 K 226 HK: 227 GO: 228 K #aa drecksei in deitschland iot# #auch drecksäue in deutschland ja# wem=ma bei unsre viele deutsche des sach isch aa: * neiguggt wie=s do" noch aussieht bei denne# # #do gibt=s aa eh so verddel do so baraggler wo# #da gibts auch so viertel da so barackler wo# des sachn wir auch die baraggler hausn wie asoziale die aber so: " selten], net durchgongs/ gibts bei uns aa"- >ach gott ihr leitj < jo: #<un des isch jetz ewe net zu ännern sie hawwe »HEFTIG ja: se roi gholt jetz misse se ewe/ jetz misse se aa 229 KU: 230 GO: 231 K 232 HN: 233 K* hajo kla: r gugge wie se fertischwerre# # jo: (...) PAUSE; 234 KU: 235 GO: 236 K 237 K* HINTERGRUNDGESPRÄCH moi" sorg] * #ah guggd emo »HOCH; 238 KU: 239 HN: 240 GO: wieviele deitsche wo im ausland sin-# isch/ —>sin ja viele 241 K INTENSIV # 242 SU: abba jedenfalls 243 KU: isch/ »isch wer mid meiner (...) mid meiner 244 HN: deitsche aa #ausgewannert haio: <— 245 K* «HEFTIGES DURCHEINANDER; KURZ 272 Inken Keim 246 KU: baggasch äänisch 247 HE: die sin net so ire"sch 248 GO: 249 KL: 250 SU: (.. ■ ) >sin awwa he| wer unsref 251 KR: wissn sie desf 252 HE: nit so iresch wie die"< 253 GO: oh bei uns 254 BA: Cwisse sie desT 255 HH: <ioo: t 256 SU: <des wissn sie" net iraa G/ Iraa 257 GO: gibt=s aa fresche 258 HN: do: "ch 259 SU: eh fraa —»die deutsche kriegn/ 260 GO: <awwa/ —»des wisse sie" net Ira HE 261 MA: wisse sie=sT 262 SU: die deutsche kriege awwa im ausland keine sozia"lhilfe 263 GO: wie sisch/ wie sisch die deitsche benenaae 264 KU: —ou/ ou jetz werd=s laut hier MECKERT 265 KA DURCHEIHAHDER; 266 GO: #wem=ma/ wem=ma jetz johrelong fahrt# * 267 KA »MEHRERE GESPRÄCHSGRUPPEH # 268 GO: <weni=nia j obrelang in=s ausleind fahrt #im Urlaub * 269 K «LANGSAM 270 GO: do sieh/ * do sieht man daß/ wie=s/ wie viele was 271 K RUHIGER 272 HN 273 KR 274 IN 275 GO 276 MA 277 XW 278 K j° : T was meinn sie —»noch ema/ noch se raushänge># * wenj # wenf 279 HN: die deitsche sin io aa verhaßt im ausland 280 IN: ema das hab ich net verstanne laß ema laß ema 281 GO: <<—isch hab gsacht wenn wenn ma jahrelang so in Urlaub fährt 282 GO: in=s ausland neT —»weil se mäne die deitsche 283 IN: ja ja ja 284 HN: 285 KR: 286 GO: 287 K 288 KR: 289 GO: 290 KR: 291 SU: 292 GO: 293 SU: 294 GO: 295 Hü: 296 SU: 297 GO: 298 Kt 299 HN: 300 SU: 301 KU: 302 HN: 303 SU: 304 KU: 305 MA: 306 SU: 307 KU: 308 MA: 309 SU: 310 GO: 311 SU: 312 BA: 313 K 314 HN: 316 SU: 316 HN: 317 HN: 318 GO: 319 HN: 320 GO: Verfahren der PerspekUvenabschottung benemme sisch net so<— DURCHEINANDER ah jo: gugge ach so gut ietz/ <«—do mißte se mo gugge >ia kann ich wie sisch die dei"tsche bene"mme im urlaub> mir vorstellen <die solle ihr geld in des mißte sie mo sehedeutschland la"sse in solche Zeiten anstatt ah was heeßt=n Urlaub des is io ega: l (•••) (•••) in=s ausland zu zahlen (•• ■ ) (•••) DURCHEINANDER: HEFTIG do kom=ma sisch/ do brau=ma sisch nix oizubilde wei=ma <die solln daheim bleibn solln die dmark hierlassen o"h: fer was donn isch geh hie deitsch is in der schlechten zeit» wu=s schä is wonn isch=n Urlaub geh bleib im lo"nd un nö: nöö: | (• ■ ■ ) ( ■ ■ ■ ) nähr dich redlich <—in de"r schlechten zeit läßt he: f ma dem land was zukommen in de"r zeit läßt ma #herei"n# #REAKTION AUF KLINGELN# es gibt soviel deutschland zukommen un net=em ausland arme länder die lewe nur von de touristen hauptsä"schlichj. * warum soll ma die verhungern/ —>ia do es gibt so=n paar wu nur von soll ma jetz/ do soll ma ietz/ im ausland kei 273 274 Inken Keim 321 HN: 322 GO: 323 Kft 324 HN: 325 SU: 326 K4 327 HN: 328 K 329 SU: 330 Kt 331 HN: 332 K 333 KU: 334 HN: 335 K 336 GO: 337 K 338 GO: 339 K 340 SU: 341 GO: 342 K 343 KU: 344 GO: 345 K 346 HN: 347 GO: 348 K 349 SU: 350 SU: 351 GO: 352 HN: 353 GO: 354 KR: 355 GO: 356 BA: 357 KR: 358 SU: 359 GO: auslännische tourxsmus #ja: <—>bloß »ege denne Urlaub mache ja Harum net| »DURCHEINANDER verhaßte auslänner Hege ausländerhaß<— <nee: nei"n * in der schlechtn #<—»es gibt »HEFTIG, zeit soll=n# se erst ma nidda unser land/ gesund/ # do=soviel a": rme länder die lene doch hauptsächlich HOCH <ah Heim isch in Urlaub geh do/ vum tourismus*—># # »ah do »HEFTIG hedde/ do hedde sie doch vorher geguggd daß es ja e": be e": be e: ben gesund gebliebe Bär a"lla: Has kann=n do jo: des volk jetz dafier Harum soll=n des Volk jetz jo: klar net ho annerschd hiefahre in urlaubf# # ich bin der meinung ich behalt erstma die dmark im eigenem land <ah nä" isch trag meini fort weil jo: isch ded=s aa mache Herrn/ mir=s dort gefä"lltt Heil des=n ganz ja bei ihne is ja annerer menschenschlag isch> ja: ja auch noch begründet durch ihm mann und alles >bei ihnen is ja Has ganz a"nderes ja 360 KR: 361 SU: 362 GO: Verfahren der Perspekiivenabschoiiung 275 363 KU: 364 KU: 365 KU: 366 GO: 367 KU: 368 GO: 369 KU: 370 GO: 371 KU: 372 GO: 373 KU: 374 HN: 375 KU: 376 HN: 377 SU: 378 KU: 379 K 380 SU: 381 HN: 382 HN: 383 IN: 384 GO: 385 Kft 386 KR: 387 IN: 388 GO: 389 HN: 390 K Ü 391 GO: 392 HN: Ü 393 SU: 394 HN: 395 SU: ja sie sin ja mit=m Spanier verhei"ratet awwa tro"tzdem <weim=sch in Urlaub geh do will=sch hie «u=sch ba"de konn hu sunn is wei=s in deitschlond regent net| om dienschdag is es ietz emo gligg ah jo: Xla"r bei uns/ bei uns hod ma des=s jetz emo gligg daß jetzat ja bloß mehr re"ge sunn is un so: die leit fahre do hie hu schö isch kla"r derre määnung hu se bade kenne ho se sonn haBHebin isch aa: Bonn isch=s herz hedd zu fliege isch <nö: ded aa in=s auslond <do drauße könne se bade fra Kunz> * >do des=s ma zu kalt *2* #do hab isch jetzj # *3* «BEZIEHT SICH AUF ARBEIT# drauße könne se bade >isch hab net=s herz zu fliege sunsch ging isch aa fort J,< heißes thema ja: des is eHe de: de de ha"ß ietz do: eh un/ [ ...] ja un des sin/ des is jetz- * des is schli”mm zur zeit jaj #<—i"sch haß niemand# #—>der kenn grien soi «HOCH # «der kann grün sein ja" * do: * un blau un geel un rot un schnarz# mir ega: l<— und blau und gelb und rot und schHarz# Henn=a uie=a aussieht do haß isch keener a"nständig is >isch aa net 276 Inken Keim 396 HN: 397 HN: 398 SU: 399 HN: 400 IN: 401 HN: 402 MA: 403 K 404 IN: 405 KU: 406 KR: 407 IN: 408 KU: 409 HN: 410 MA: 411 KR: 412 IN: 413 HN: 414 MA: 415 KR: 416 KU: 417 MA: 418 IN: 419 KU: 420 IN: 421 KU: 422 IN: 423 KU: 424 Kft 425 KU: 426 HN: 427 Kft 428 HN: 429 Kft 430 KU: 431 GO: 432 Kft — ► do kenne meinetnege griene un blaue rumlaafe«— is mir egal was do fer rumlaafe konn rumlaafe die laufe ja rum was will * kenne hautfarb hawwe egal geel odda was meinen sie denn rot odda grien #—>ma kann net redde wie ma will—*—# «SCHARF # fra MA >—>do lofi misch heu"te oder wannf —>da reddn sie doch<— ah reddn se doch wie in ruh«—< wann die wie >isch glaab=s gehd los< wann ka=ma ned redde se wo"lln indianer rumlaafe ( ■■■ ) ah so sin die do/ do was wie=ma will] hie"r oddat a: ch jessesj * jeder soll soin die do babbeld ach sage se do Urlaub mache wo=a will sage se doch aa ihr meinung isch geh in Urlaub wo: * * jeder kann=s doch sage wenn=sch «sunn will geh=sch in=s ausland ne| * «DURCHEINANDER wenn isch bade gehe will >— ♦ wer mir persönlich nix tut * stört misch niemand*—# *2* egal wer=s is # #(...) (...) >s=isch doch aa wohr dreggische gibt=s «DURCHEINANDER; Verfahren der Perspektivenabschotiung 277 433 HH: gibt=s aa 434 GO: iwwerall * bei uns gibt=s aa dreggische 435 Kft 436 HN: asoziale 437 K* BEISPIELE FÜR "ASOZIALE BEI UNS" JOHANNES SCHWITALLA Beziehungsdynamik. Kategorien für die Beschreibung der Beziehungsgestaltung sowie der Selbst- und Fremddarstellung in einem Streit- und Schlichtungsgespräch 1. Das Ziel dieses Aufsatzes 281 2. Theoretische Konzepte 282 2.1 Der ’Face’-BegrifF 282 2.2 „Joint production” 286 2.3 Die Sprechakttheorie 286 2.4 Die Art der interaktiven Präsenz 289 2.5 Die Sprachanpassungstheorie 290 2.6 Kategorien der Gesprächsanalyse 291 2.7 Soziale Ausgrenzung 292 2.8 Linguistik der Gefühlskommunikation 292 3. Das Analysebeispiel 292 4. Streiten 293 4.1 Angreifen 293 4.1.1 Die interaktive Plazierung des Angriffs 294 4.1.2 Sprachliche Formen für Angriffe 298 4.2 Sich verteidigen 306 4.2.1 Die Plazierung einer Entgegnung 306 4.2.2 Sprachliche und interaktive Formen der Verteidigung 308 4.2.3 Die Demonstration von Empörung 314 4.3 Die Lust am Streiten 315 5. Interaktionskonstellationen 324 5.1 Interaktiver Ausschluß 324 5.2 Herstellen einer Koalition 328 6. Strategien der Selbstdarstellung 330 6.1 Die Komplementarität von Selbst- und Fremddarstellung 332 6.2 Selbstdarstellung als Opfer 337 6.3 Der strategische Wechsel der Selbstdarstellung 339 Johannes Schwitalla Zum Schluß: Die Komplexität der Sache 344 Literatur 346 Beziehungsdynamik 281 Abstract: Beziehungsdynamik Im ersten Teil werden einige theoretische Ansätze durchgegangen, mit denen man Prozesse der Beziehungskonstitution und der Selbst- und Fremddarstellung beschreiben kann: die Theorie der Palo-Alto-Gruppe, die Sprechakttheorie, die Anpassungs- und Face-Theorie, die Beziehungsimplikationen gesprächsanalytischer Begriffe mehrerer Schulen. Im zweiten Teil wird anhand eines Streitgesprächs herausgearbeitet, welche kommunikativen Gegenstandsbereiche im einzelnen relevant sind und wie die Prozesse der Beziehungsdefinition und der Selbst-/ Fremddarstellung miteinander verbunden sind. Das betrifft: 1) initiativ-respondierend aufeinander bezogene Aktivitäten (Formen des Angriffs und der Verteidigung), 2) die Herstellung von Beziehungskonstellationen, von denen andere ausgeschlossen sind, 3) die Aspektauswahl der Präsentation des eigenen Ich in Abstimmung mit der Darstellung von anderen. Auch weitgehend unbewußt ablaufende Angleichungen von Eigenschaften des Sprechens an den Adressaten werden untersucht („die Lust am Streiten”). Zum Schluß werden einige theoretische Folgerungen gezogen, z.B. hinsichtlich der Begrenztheit des Illokutionsbegriffs oder hinsichtlich einer dialogtheoretischen Weiterentwicklung des Face-Begriffs. 1. Das Ziel dieses Aufsatzes Wer es gegen Ende dieses Jahrhunderts unternimmt, die rhetorischen Potentiale bestimmter Strategien der Beziehungskonstitution sowie der Selbst- und Fremddarstellung zu untersuchen, steht vor einer doppelten Gefahr: Erstens vor der fast unüberschaubaren Fülle an wissenschaftlichen Forschungen zu diesen Themen zu „kapitulieren”, da diese Theorien, von ihren Voraussetzungen und Methoden, ihren Relevanzsetzungen und nicht zuletzt von ihren (meist unausgesprochenen) Menschen- und Gesellschaftsbildern her sehr heterogen sind. Zweitens droht die Gefahr, sich einer dieser Theorien sozusagen blind anzuvertrauen auch auf die Gefahr hin, andere wichtige Aspekte der Beziehungskonstitution auszublenden. In dieser Situation betrachte ich es als eine Chance, wesentliche, in alltäglichen und institutioneilen Situationen wiederkehrende Verfahren der Beziehungsgestaltung aufzuspüren, indem noch einmal der Blick auf recht viele und unterschiedliche Gespräche geworfen wird. Als eine Frucht dieser Wendung zu den Materialien will ich hier den Versuch unternehmen, sich an einem freilich wie ich meine sehr ergiebigen - Gesprächstext klarzumachen, welches die Verfahren sind, mit denen die Interaktionsbeteiligten ihre Chancen und Risiken dadurch beeinflussen, daß sie in einer gewissen Weise ein Bild (oder mehrere) von sich und von den anderen Beteiligten entwerfen und daß sie explizit oder implizit beziehungsrelevante Akte ausführen. Dies soll unter der Gesamtabsicht unternommen werden, interaktive Prozesse mehrerer Beteiligter also nicht verengt auf die Perspektive eines einzelnen Beteiligten so zu beschreiben. Ziel dieses Aufsatzes ist es also, anhand eines natürlichen aufgezeichneten Gesprächs zu zeigen, welche Verfahren der Beziehungsgestaltung und insbesondere der Selbst- und Fremddarstellung Kommunizierende verwenden, wenn sie auf andere Einfluß nehmen möchten, die Dinge, um die es 282 Johannes Schwitalla geht, zu sehen, daß sie daraus Entscheidungen treffen, die im Interesse des Sprechers sind. 2. Theoretische Konzepte 2.1 Der Begriff ‘Face’ Eine für die Beschreibung interpersonaler Prozesse beim Miteinandersprechen wichtige Theorie ist die Face-Theorie von Erving Goffman, wie er sie seit seinem Aufsatz „On Face-work” (1955) und danach in vielen Büchern und Artikeln entwickelt hat. Goffman beschreibt soziale Begegnungen unter dem Aspekt, daß die Beteiligten bemüht sind, ein „image of self’ zu gewährleisten, dem gesellschaftlich positive Werte inhärent sind (Goffman 1955/ 75, S. 64ff. (ich zitiere nach der deutschen Ausgabe; d.A.)). Eine wichtige Unterscheidung in diesem Zusammenhang ist die zwischen ‘positivem Face’ (positiv eingeschätzte Eigenschaften, die jemand für sich beansprucht) und ‘negativem Face’ (der Wunsch nach Selbstbestimmung des Handelns, der Wunsch, über ein eigenes Territorium im konkreten wie im übertragenen Sinne zu verfügen) und die damit verbundenen Gesichtswahrungsverfahren des positiven und des negativen ‘Face-work’. Die Regeln des aufeinander abgestimmten Verhaltens der gegenseitigen Gesichtswahrung ergeben so etwas wie eine Stabilisierung gesellschaftlicher Verhältnisse im Kleinen, mitsamt einem Satz von (jeweils gesellschaftlich zu spezifizierenden) Regeln des „anständigen” und des „anstößigen” Verhaltens. Zu den weit verbreiteten Ansichten über normales Verhalten in unserer Gesellschaft gehört auch die Vorstellung, daß der Prozeß von Selbst- und Fremdachtung ausgewogen ist und daß es Techniken gibtj mit deren Hilfe man Störungen dieser Balance wieder ausgleichen kann. (Uber Goffman: Holly (1979, S. 35-73) und die Sammelbände von Riggins 1990 und Hettlage/ Lenz 1991). Goffmans Face-Begriff wurde in der Unterscheidung des positiven und negativen Face von Brown/ Levinson (1987) aufgegriffen und zu einem System des höflichen sprachlichen Verhaltens ausgebaut. Das Grundmodell geht davon aus, daß Sprecher die implizite gesichtsbedrohende Kraft einer intendierten eigenen Äußerung einschätzen und die tatsächliche Realisierung nach einem Kalkül der sich gegenseitig beeinflussenden Beziehungsdimensionen ‘Macht’, ‘Distanz’ und ‘sozialer Rang’ kalibrieren, d.h. zwischen den Polen ungeschminkten Aussprechens des Sprechakts („bald on record”) und einer größtmöglichen Schonung der Gesichtsbedrohung plazieren. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Studien zu Face-Strategien, deren Ziel es meistens ist, die globalen Aussagen bei Brown/ Levinson nach gewissen Gesichtspunkten zu relativieren, so z.B., daß Face-Konzepte kul- Beziehungsdynamik 283 turell unterschiedlich definiert sind 1 oder daß bestimmte Kommunikationssituationen in einer Kultur generell gültige Höflichkeitsanforderungen außer Kraft setzen (z.B. die Interaktion zwischen Patienten und dem Personal in Krankenhäusern, vgl. Coupland et al. 1988). Wie viele fruchtbare Theorien in der Anfangszeit eines wissenschaftlichen Paradigmas hat sich auch das Face-Konzept im Lauf der Zeit differenziert: situative, soziale und ethnische Bedingungen lassen die kulturelle Vielfalt von Face hervortreten. Aber auch bezogen auf ein Individuum erscheint ‘Face’ als komplexe Verhaltensanforderung: eine Person muß mit mehreren und möglicherweise widerstreitenden Aspekten ihres Selbstbildes fertig werden und je nach Partnerkonstellation, Interesse, Situation und Stand der Interaktion bestimmte Seiten ihrer sozialen Präsenz hervorkehren, diese mit anderen „versöhnen” und andere verdecken. 2 Die Gesichtsmetapher verleitet aber wie jede Metapher zur Vereinfachung der Verhältnisse. Folgende Ansichten über das menschliche ‘Gesicht’ sind nicht übertragbar auf das soziale Konzept ‘Face’: 1) Ein Gesicht ist in seiner Grundgestalt nicht veränderbar, jeder hat nur ein Gesicht Die Unzulänglichkeit liegt hier in der Räumlichkeit des Bildes, während die Art und Weise, wie jemand vor sich selbst und anderen erscheinen will, sich nicht nur im Lauf der Zeit, sondern schon im Lauf einer Interaktion ändert oder ändern kann. (Die Analogisierung mit Gesichtsänderungen durch die Mimik hilft nicht weiter, da nach jedem Mienenspiel das Gesicht in seine Ausgangslage zurückgehen kann wofür es keine Entsprechung auf der nichtmetaphorischen Seite des Vergleichs gibt.) Die Anforderungen an die soziale Präsenz einer Person sind komplex. Nicht nur verschiedenen Adressaten gegenüber, sondern auch bezüglich der in einer Interaktion zu leistenden Aufgaben muß eine Person in jeweils anderer Weise präsent sein. In längeren Gesprächen, in denen die Beteiligten um etwas kämpfen, zeigen sie sich nicht nur von einer Seite. Zwar laufen manche Selbstpräsentationen darauf hinaus, ein einheitliches, „rundes” Bild von der eigenen Person aufzubauen, dessen einzelne Facetten zueinander stimmen, aber Beteiligte haben oft mehr Nutzen davon, wenn sie konträre Eigenschaften von sich selbst zeigen. Die Gründe dafür können vielfältig sein: wenn man merkt, daß man seine Ziele mit der zuerst in Szene gesetzten Art seiner Präsenz nicht erreicht, oder weil die Anforderungen der Situation vielfältig sind (z.B. wegen der 1 Zum Beispiel Katriel (1986) über den offensiven und direkten Stil der Dughri-Rede in Israel, Matsumoto (1988) über den viel stärkeren Einfluß sozialer Rangunterschiede in Japan. 2 Uberblicksartikel zu Face-Konzepten: Tracy (1990). 284 Johannes Schwitalla Notwendigkeit eines Rollenwechsels), oder auch wieder im modernen Sinne einer autonomen Persönlichkeit, die es sich leisten kann, überraschend anders zu sein. 2) Das Gesicht eines Menschen ist das Werk seines Trägers In unserer Gesellschaft gibt es den Spruch: „Ab einem gewissen Alter ist jeder für sein Gesicht verantwortlich”. Aber wie jemand im Verlauf einer Interaktion erscheint, ist nie nur in das Belieben der sich selbst in einer bestimmten Weise zeigenden Person gestellt, sondern immer ein Prozeß des Angebots einer personalen Erscheinungsweise und der Reaktion der anderen, die diese Erscheinungsweise interpretieren. In vielen Konfliktgesprächen kann man sehen, daß übermäßiges Forcieren der eigenen Ansprüche von den anderen allmählich als verbissen, starrköpfig, kompromißlos und den Anforderungen der Situation nicht gerecht werdend empfunden wird, ohne daß dies der/ die Forcierende merkt. 3) Ein Gesicht gehört immer nur einem Menschen Das Gesicht als „Identitätsaufhänger” (E. Goffman) für das Wiedererkennen eines Menschen, welches uns höchstens bei eineiigen Zwilligen und zufälligen Gesichtsähnlichkeiten im Stich läßt, verleitet bei der Übertragung auf die personale Identität eines Menschen zu der Annahme, sie sei höchst individuell und enthalte nichts sozial Geteiltes. Gerade die Diskussion um Face- und Höflichkeitsauffassungen in unterschiedlichen Kulturen hat darauf aufmerksam gemacht, wie sehr geschichtlich und kulturell bedingt unsere Auffassungen darüber sind, welche Eigenschaften eine Person haben soll, wie Nähe und Distanz geregelt sind, was höfliches und unhöfliches Verhalten ist, was Aufdringlichkeit, Herablassung und Arroganz sind und sogar welche essentiellen Merkmale jemanden zu einer gesellschaftlich vollgültig anerkannten Person machen. 3 Trotz der angeführten Unzulänglichkeiten scheint mir der Begriff ‘Face’ geeignet zu sein für Analysen nicht nur der Beziehungs- und Selbstdarstellungsaspekte eines Gesprächs, sondern auch für ganz grundlegende Mechanismen der Dialogorganisation wie Beginn- und Beendigungsphasen, Sprecherwechsel, Präferenzregeln (Selbstvor Fremdkorrektur, Zustimmen vor Ablehnen). 3 Entscheidende Beiträge zu dieser Debatte aus meiner Sicht: Matsumoto (1988), Blum-Kulka (1987), Strecker (1993). Im Projekt „Kommunikation in der Stadt” (vgl. Debus/ Kallmeyer/ Stickel 1994, insbesondere Band 4.3. und 4.4.) wurde an mehreren Aspekten des sprachlichen Umgangs miteinander gezeigt, daß es auch in einer komplexen städtischen Gesellschaft je nach sozialer Welt unterschiedliche Auffassungen über das „normale” Verhalten gibt. Beziehungsdynamik 285 Wir können davon ausgehen, daß der Wunsch eines Menschen, über ein eigenes Territorium zu verfügen, universal ist (Altman 1979, S. Der nicht metaphorisch verstandene Frei- und Aktionsraum um eine Person herum, ist das Zentrum des Begriffs ‘negatives Face’. Die territorialen Verfügungsrechte, bezogen auf den eigenen Körper, von da aus auf eigene Kleidung, Werkzeuge, Aufenthaltsräume usw. sind aber jeweils kulturell definiert 4 , noch mehr das eigene Territorium im übertragenen Sinn als eigene Handlungsfreiheit 5 und der Anspruch auf das Wissen, das nur für die betroffene Person selbst und diejenigen, denen es diese zugänglich machen will, reserviert ist. 6 Trifft der Begriff ‘Territorium’ den Kern des negativen Face, so die Begriffe ‘Lob’ und ‘Tadel’ den des positiven Face. Der Wunsch, in seinen individuellen Eigenschaften und Leistungen grundsätzlich anerkannt zu werden, zeigt sich in vielen Kulturen. 7 Überall ist es nämlich etwas Heikles, jemanden offen zu kritisieren und zurechtzuweisen. Aber wie eine Zurechtweisung versprachlicht wird, ist wieder kulturell unterschiedlich. Das gilt auch für das Gegenteil, das Loben und Komplimente-Machen: In jeder Kultur gibt es Regeln dafür, wie man lobt, welche Eigenschaften einer Person lobenswert sein können, damit das Lob nicht als ungeschickt oder gar als anzüglich erscheint. In diesen sehr abstrakten Definitionen von positivem und negativem Face halte ich diese Begriffe für fruchtbare Konzepte, mit deren Hilfe man erkennen kann, welche Prozesse sozialer Anerkennung und Mißachtung hinter beziehungsregulierenden Handlungen eigentlich stecken. Wenn es Kommunikationsbeteiligten darum geht, eigene Ansichten und situationsübergreifende Handlungsziele durchzusetzen, dann trägt entscheidend dazu bei, wenn es einem gelingt, vor dem für die Durchsetzung dieser Ziele relevanten Publikum in einem glaubhaften Licht der Anständigkeit, Beherrschtheit, Selbstlosigkeit, und was der Tugenden einer Gesellschaft mehr sind, zu erscheinen, Personen aber, die diesen Zielen entgegenwirken, mit jeweils negativen Eigenschaften zu belasten. Das ist keine neue Einsicht; aber wie diese Prozesse der Selbst- und Fremddarstellung im einzelnen tatsächlich erfolgreich realisiert werden, das bedarf noch eingehender Untersuchungen. Was die neueren gesprächsanalytisch fundierten Analysen zeigen können, ist die zeitliche Prozeßhaftigkeit und die inter- 4 Für nordamerikanische Verhältnisse vgl. Goffman (1982, S. 54-69). 5 Brown/ Levinson (1987, S. 61): „the want to be unimpeded”. 6 Simmel (1987, S. 151-158). 7 Vielleicht kann man auch hier von einem Universale sprechen, denn selbst in masochistischen (Sub-)Kulturen gilt eben der am meisten, der Aggression und Selbstverachtung ertragen kann. 286 Johannes Schwitalla aktive Verwobenheit von präsentierten Selbst- und Fremdbildern der Interagierenden. Hier zeigt sich nämlich, daß in Konflikt-, Aushandlungs- und Problemlösungssituationen Selbstbilder in konkurrierender (in Bezug auf positive Werte) oder in gegenteiliger Ausrichtung konturiert werden, nämlich dann, wenn sich Person A positiv von Person B abheben will. Die Analysen in Kap. 6 sollen solche Prozesse an einem Fall darstellen. 2.2 „Joint production” Ein wichtiges Ergebnis der Konversationsanalyse ist es, daß viele dialogische Aktivitäten nicht als eine Tätigkeit eines Individuums alleine, ähnlich wie der Vollzug eines illokutiven Sprechakts, verstanden werden können, sondern daß es der Mitarbeit der anderen an der Kommunikation Beteiligten bedarf, damit die an der jeweiligen Stelle erforderliche Aufgabe geleistet werden kann. Die Konversationsanalytiker nennen dieses Prinzip ,joint production”. Dialogische Handlungskomplexe, die diesem Prinzip folgen, sind z.B. das Beginnen und Auflösen einer Interaktion, der Sprecherwechsel, die Verteilung von Partizipationsrechten und -pflichten, die Etablierung einer gegenseitigen Sprecher-Adressaten-Orientierung, die Initiierung, Durchführung und Beendigung komplexer Handlungsschemata wie Erzählen, Argumentieren, Befragen, miteinander Streiten und anderes mehr. Bezogen auf Versuche der Selbstpräsentation und der Charakterisierung anderer Beteiligter hat sich gezeigt, daß dieses Prinzip der Kooperation nicht nur bei gleichgerichteten und von Sympathie getragenen Interaktionen gilt, sondern auch, wenn sich die Beteiligten mit unterschiedlichen Interessen und negativen Einstellungen gegenüberstehen. Also selbst in konfliktären Situationen sind die Anstrengungen eines Beteiligten, seinen Gegner in einem schlechten, sich selbst dagegen in einem guten Licht erscheinen zu lassen, nichts anderes als Versuche oder sozusagen Angebote, deren weiteres Schicksal von den darauf reagierenden Aktivitäten der anderen Beteiligten abhängt. 2.3 Sprechakttheorie In John Searles Klassifikation von Sprechakten (Searle 1979) fallen sprachliche Beziehungshandlungen in die Sprechaktklasse der Expressiva (neben den Konstativa, Kommissiva und Deklarativa). Die illokutionäre Rolle dieser Sprechakte sei es, einen inneren psychischen Zustand auszudrücken, genauer: die innere psychische Einstellung des Sprechers zum propositionalen Gehalt seiner Äußerung. Beispiele für Expressiva sind Loben, Begrüßen, Danken, Verurteilen, Gratulieren. Die Reduktion dieser Klasse auf den Ausdruck innerer Gefühle schafft gewisse Probleme, da für diese ja erst ein Beschreibungsinventar gefunden werden müßte. Werden Gefühle in der sprachlichen Interaktion geäußert, so ist zu fragen, mit welchen typi- Beziehungsdynamik 287 sehen Formen dies getan wird, in welcher Relation sie zu den sprachlichen Außerungsformen stehen und wie gezeigte Gefühle von den rezipierenden Beteiligten aufgegriffen und interaktiv verarbeitet werden (vgl. Fiehler 1990). Nach meiner Meinung bedürfen bestimmte illokutive Sprechakte, deren wesentlicher kommunikativer Sinn es ist, die Beziehung zwischen Sprecher und Adressat in irgendeiner Weise zu definieren, nicht einer Gefühlstheorie. Sie sind gesellschaftlich eingespielte Weisen der Etablierung und Qualifizierung sozialer Beziehungen, die wir durch Sprechakte wie Begrüßen und Verabschieden, Loben und Tadeln vollziehen, wobei weder bestimmte Gefühle dem Adressaten gegenüber gezeigt werden müssen noch für deren Geltung vorausgesetzt werden können. Die Sprechakttheorie in der Tradition von Austin und Searle wurde von Linguisten rezipiert und gerade bezüglich des Beziehungsaspekts menschlicher Kommunikation fortentwickelt. 8 Sprechaktpaare wie Vorwurf - Rechtfertigung bzw. Vorwurf - Entschuldigung (Rehbein 1972; Fritz/ Hundsnurscher 1975) spielten dabei sowohl für die Theorie der dialogischen Verknüpfung wie für die sprechakttheoretische Klärung von Beziehungsakten eine besondere Rolle. Auf eine ausführliche Diskussion der Sprechakttheorie kann ich hier nicht eingehen, möchte aber dennoch auf einige Schwierigkeiten hinweisen, die sich ergeben, wenn man mithilfe der Sprechakttheorie (oder von ihr abgeleiteter Theorien) versucht, Beziehungs- und Selbstdarstellungsaspekte in Dialogen zu untersuchen. Ich nenne nur einige Punkte und verweise auf weiterführende Literatur: 1) Der Illokutionsbegriff ist monologisch konzipiert, ausgehend von einem Sprecher. Die Untersuchung sprachlicher Interaktion zeigt aber, daß viele Aktivitäten gemeinsam durchgeführt werden. 9 Die Vorstellung, daß dialogische Interaktion in wohlabgegrenzten Zügen von Stimulus und Response (Initiieren und Respondieren) abläuft, muß differenziert werden. Analysen des Bewertens zum Ausdruck von Gemeinsamkeit und gleicher Einstellung dem Bewerteten gegenüber zeigen 10 , daß es manchmal ein wesentlich kleinschrittigeres, z.T. simultanes, z.T. alternierendes, aufeinander abgestimmtes Hin und Her von andeutenden, explizitmachenden und bestätigenden Bewertungsaktivitäten gibt, als es die einfache Abfolge von Bewertung und Zustimmung nahelegt. Selbst in Streitphasen können ähnliche, nun auf Auseinandersetzung bezogene Verschränkungen, Wiederholungen, Kontrastierungen und Verstärkungen festgestellt werden; die 8 In Deutschland vor allem Sager (1981) und Adamzik (1984). 9 Vgl. McDermott/ Tylbor (1983, S. 289f.); Streeck (1992). 10 Z.B. Goodwin/ Goodwin (1992, S. 159). 288 Johannes Schwitalla Interaktanten halten sich nicht an eine fein säuberliche Trennung ihrer Beteiligungen turn by turn. 2) Als was eine Äußerung in ihrer Bedeutung für die Beziehung zum Adressaten und für die Selbstdarstellung des Sprechers zählt, wird nicht wie bei Illokutionen sozusagen selbstmächtig vom Sprecher festgelegt, sondern in einem größeren Maße von der interpretierenden Aufnahme, die diese Äußerung von den nachfolgenden Sprechern erfährt. 11 Oft kommt es vor, daß ein Adressat eine Äußerung als Vorwurf, Mißachtung, Distanzmarkierung o.ä. auffaßt, was vom Produzenten nicht so gemeint war. 12 Das heißt, es stellt sich die Frage, ob die Kohärenz von Sprechakten in Dialogen durchgängig durch einen gemeinsam geteilten Schatz an Interpretationsregeln für Sprechakttypen erklärt werden kann (so Mötsch 1992, S. 249f.), oder ob nicht die Befangenheit in typisierten Selbst- und Fremdbildern alternative Deutungsmöglichkeiten von Sprechakten verhindert (vgl. Keim in diesem Band, Kap. 2.2). 3) Das Illokutionskonzept ist ursprünglich eine Bedeutungstheorie für den Handlungscharakter von isolierten, satzwertigen Äußerungen. Äußerungen in Dialogen bekommen ihre Bedeutungen aber nur im Kontext vorhergehender, gleichzeitiger und sogar in die Zukunft projizierter Äußerungen. Das gilt ganz besonders für sprachliches Handeln mit Beziehungsimplikationen, z.B. sind Vorlaufaktivitäten („pres”) von Angeboten oder Einladungen nur prospektiv zu verstehen (Levinson 1981, S. 476), nonresponsive Reaktionen nur retrospektiv. 4) Für viele beziehungsqualifizierende Sprechakte gibt es keine einfachen Interpretationsregeln analog den Bedingungsregeln für Illokutionen nach Searle. Auch das gilt in besonderem Maße für Beziehungshandlungen (Frotzeleien, Beleidigungen; zu Komplimenten vgl. Levinson 1981, S. 48 lf.). 5) Äußerungen, die Beziehungs- und Selbstdarstellungsfunktionen tragen, haben nicht immer die Einheitengröße eines Satzes, sie sind kleiner (z.B. empörte Interjektionen) oder größer. 13 6) Formen der Selbstdarstellung, die nicht auf expliziten Selbstaussagen beruhen, zielen auf perlokutive Effekte bei Äußerungsrezipienten und sind durch viele Sprechakte zu realisieren (Holly 1990, S. 149ff.). Die intendierten, aber aufgrund kultureller Normen möglicherweise verfehlten Effekte kommen durch einen komplizierten Induktionsprozeß zustande, der 11 Beispiele diskutieren Lindstrom (1992, S. 113f.) und Davies/ Harre (1990, S. 45). 12 Adamzik (1984, S. 329); Davies/ Harre (1990, S. 57). 13 Z.B. narrative Darstellungen; ein Beispiel für eine Folge von Äußerungen, die insgesamt erst die Interpretation von ‘complaint’ = vorwurfsvolle Vorhaltung bekommt, analysieren Clyne et al. (1991, S. 258, S. 266). Beziehungsdynamik 289 von einzelnen sprachlichen Verhaltensweisen einer Person ausgeht, diese miteinander verknüpft, mit dem Verhalten anderer Personen vergleicht und sich in Etappen zu einem Gesamtbild einer Person verdichtet. Dabei werden auch unterschiedliche Bewertungsdimensionen (Moral, persönliche Charaktereigenschaften, Ästhetik) miteinander verbunden. Selbstdarstellung ist nichts, was man mit einer Illokution vergleichen kann, welche gilt, sobald sie ausgesprochen ist und die sprechaktspezifischen Bedingungen eingehalten sind. Selbstdarstellung ist ein Konzept, das auf bewußte oder unbewußte Effekte bei Rezipienten angelegt ist. Beteiligte entwerfen Selbstbilder in Erwartungen möglicher eigener Wirkungsmöglichkeiten. 7) Entscheidend für die interaktive Wirkung eines Sprechakts ist oft nicht der Sprechakt selbst, sondern die Art, wie er realisiert wird. Ob eine Behauptung durch Modalpartikel abgeschwächt (Sandig 1979) oder verstärkt wird (Sandig 1983, S. 166); in welcher Intonation und mit welchen (und wie dichten) Akzenten eine Äußerung gesprochen wird (für Berwertungen: Selting 1994, S. 388f.); ob ein Kompliment auf propositionalen Inhalten beruht, die für den/ die Adressaten/ in(nen) irrelevant, zudringlich oder im Normsystem von Sprecher und zuhörenden Dritten sogar zweideutig wird (Spiegel 1995, S. 106) oder andeutend verhalten (Schütte 1991, S. 176ff.); ob man knapp und unverbindlich widerspricht (Adamzik 1984, S. 335; Fiehler 1993, S. 157f.) oder zögernd, abgeschwächt und mit positiven Äußerungen „verpackt” (Pomerantz 1984, S. 78ff.) all das hat viel mit der unmittelbaren Bedeutung des vollzogenen sprachlichen Aktes zu tun, kann aber nur schwer mit den Begriffen der von Austin und Searle konzipierten Sprechakttheorie beschrieben werden (Schwitalla 1987, S. 166f.). 2.4 Die Art der interaktiven Präsenz Erving Goffman hat in „Forms of Talk” (1981, S. 131-137) mehrere Hörerkategorien unterschieden, darunter den Status als „ratified participant in the encounter” gegenüber nicht ratifizierten, aber wahrgenommenen „bystanders” und nicht-bemerkten Hörern (Lauschern an der Wand, „eavesdroppers”). Aus dem zu analysierenden Schlichtungsgespräch kann man lernen, daß selbst in der offiziellen Situation, in der die Anwesenheit der (z.T. geladenen) Beteiligten in offizieller Weise durch namentliche Identifizierung festgestellt und zugelassen wird, der Status als anerkannter interaktiver Beteiligter nicht für die Dauer des ganzen Gesprächs in gleicher Weise gilt, sondern sozusagen abnehmen und wieder zunehmen kann. Der Beteiligtenstatus ist etwas Fluktuierendes, je nach der Intensität der verbalen Beteiligung einer Person und der Aufmerksamkeit, mit der die anderen Beteiligten sie (mit-)verfolgen. Mehrere Male richten zwei der drei Beteiligten ihre kommunikative Ausrichtung (die „Interaktionsachse”, Kendon 290 Johannes Schwiialla 1973, S. 55) so ausschließlich aufeinander aus, daß der/ die Dritte keine Chance mehr hat, mitzuagieren. Die Nicht-Anerkennung einer Person als ratifizierter (was nicht heißen muß: gleichberechtigter) Beteiligter kann verschiedene Formen haben: als Übergehen der projektierten Anschlußhandlungen eines Sprechers 14 z.B. dadurch, daß ein Adressat die an ihn gerichtete Äußerung nachäfft; als ostentatives Nicht-Zuhören, z.B. indem man sich mit etwas anderem beschäftigt; als impliziter interaktiver Ausschluß, indem man Formulierungen und Wörter verwendet, die nur ein Teil der Anwesenden versteht oder für angemessen hält; 15 als Sprechen über einen Beteiligten in der 3. Person und möglicherweise noch mit abfälligen Bemerkungen; 16 in institutioneilen Situationen das explizite Infragestellen der Rechtmäßigkeit der Anwesenheit einer bestimmten Person. Nicht nur die Zulassung zum gemeinsamen Mitwirken am Gespräch, auch die inhaltlichen Seiten, wie jemand dabei wirkt und wahrgenommen wird, ist ein durch und durch koordinierter und in Hinblick auf Reaktionen projizierter Prozeß. Teilnehmer in Interaktionen präsentieren sich immer in einer Weise, die ihren Interpretationen der Situation, ihren eigenen Zielen und den antizipierten Wirkungen ihres Selbst bei den anderen Beteiligten entspricht. Der Aspekt des Selbst, der jeweils in den Vordergrund gerückt wird, ändert sich von Situation zu Situation und damit von Publikum zu Publikum. Holly (1990) hat beschrieben, wie derselbe Politiker seine Reden vor unterschiedlichen Adressatenkreisen einschätzt und darauf abstimmt. Schmitt (1992) hat die ersten Äußerungen eines nicht oder nur halbwegs zur Szene von Kioskstammgästen gehörenden Mannes daraufhin untersucht, wie dieser soziale Distanz markiert und dennoch als interaktiv präsent wahrgenommen sein will. Die fokussierten Eigenschaften der Präsenz von Interaktionsteilnehmern sind also immer entworfen auf die antizipierten Reaktionen und Spiegelungen ihres verbalen Auftretens. 2.5 Die Sprachanpassungstheorie Das Konzept der Anpassungstheorie (accomodation theory) von Howard Giles und anderen Sozialpsychologen erklärt Veränderungen des Redestils von Interaktionsbeteiligten dadurch, daß sich diese, wenn große soziale, 14 Nonresponsivität, „Entwertung” im Sinne Watzlawicks et al. (1969, S. 85fF.). 15 Ein Beispiel, wie ein Mann in typisch männlicher Redeweise die anwesenden Frauen als primäre Rezipientinnen ausschließt, diskutiert Goodwin (1986, S. 293-296); vgl. auch Adamzik (1984, S. 230). 16 Am Beispiel von Fernsehdebatten: Petter-Zimmer (1990, S. 182-190). Vgl. auch Kallmeyer/ Schmitt in diesem Band. Beziehungsdynamik 291 ethnische, altersmäßige oder sonstige Unterschiede zwischen den Beteiligten bestehen, an den Redegewohnheiten und Redestilen der jeweiligen Interaktionspartner orientieren, um eine weitere Interaktion aufrechtzuerhalten. Sprachliche Phänomene betreffen dabei Artikulation, Sprachvariante, Sprechgeschwindigkeit, Pausen, die Länge der Außerungseinheiten, Lautstärke, Selbstoffenbarungen (self-disclosure) u.a. Neben der Erklärung bestimmter Anpassungsstile für bestimmte Adressatentypen (baby talk, foreigner talk) wird darauf hingewiesen, daß sprachliche Differenzen betont werden können, um die soziale Andersheit zu demonstrieren, daß sie aber auch reduziert werden können. Sprachliche Anpassung birgt besondere Gefahren für den Sprecher. 17 Nähe und Distanz markierendes Sprechen hat unterschiedliche Implikationen für Bemühungen, den Adressaten für die eigenen Ziele zu gewinnen. 2.6 Kategorien der Gesprächsanalyse In einer gewissen Nähe zur Akkomodationstheorie steht das Prinzip des ‘recipient design’ der Konversationsanalyse, d.h. das Bestreben der Interaktanten, ihre Rede an die Verstehensmöglichkeiten der jeweiligen Adressaten und an die jeweiligen Beziehungen zu ihnen anzupasssen (Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974, S. 727). Viele Mechanismen der Präferenzregeln setzen eine Orientierung am Selbstbestimmungsrecht und an der Gefahr einer Gesichtsverletzung (negatives Face) voraus: so die Dispräferenz für Unterbrechen, die Präferenz für Selbstkorrektur vor Fremdkorrektur, für Konsens vor Dissens, für Bestätigung vor kritischen Äußerungen. 18 Einige Untersuchungen betrafen direkt beziehungskonstituierende Gesprächssequenzen: Konflikt- und Streitsequenzen, Begrüßungen und Verabschiedungen, Komplimente und Kritik, Frotzeleien und andere Formen spielerischer Kritik. Dabei wird oft auf den Face-Begriff zurückgegriffen, außerdem auf den Begriff der Interaktionsmodalität (z.B. Streitlösung durch scherzhaftes Sprechen; Imagewahrung durch ironisches Sprechen; vgl. auch den Beitrag von Kallmeyer/ Schmitt in diesem Band). Kategorien der Distanz und Nähe, des problemlosen Flusses der Interaktion gegenüber Turbulenzen und Störungen werden in vielen ethnographischen Untersuchungen thematisiert und auf kulturspezifische Gesprächsstile zurückgeführt. Oft sind es gerade die (unbemerkten) Routineformen für wiederkehrende Aufgaben beim dialogischen Sprechen (z.B. die Abgrenzung von Außerungseinheiten, Relevanzhoch- und -herabstufung, Topic-Comment-Gliederung), die für 17 Anbiederung, „patronizing”, „talking down”; vgl. Giles/ Smith (1979); Giles/ Coupland/ Coupland (1991). 18 Schegloff/ Jefferson/ Sacks (1978); Atkinson/ Heritage (1984); Pomerantz (1984); Couper-Kuhlen (1989/ 90). 292 Johannes Schwitalla Störungen der Kommunikation über gesellschaftliche Grenzen hinweg verantwortlich sind. 2.7 Soziale Ausgrenzung Neben der interaktiven Ausgrenzung wurden in mehreren soziolinguistischen Forschungsrichtungen (Ethnographie des Sprechens, Untersuchungen zur Kommunikation in Institutionen und zum geschlechtstypischen Sprachverhalten) Prozesse der sozialen Ausgrenzung untersucht. Das sind Interaktionsformen, die darauf beruhen, soziale Mitgliedschaft anzuzeigen, soziale Unterschiede hervorzuheben und die eigene Position einer gesellschaftlich hoch bewerteten Gruppe, die Position des anderen einer gesellschaftlich niedrig bewerteten Gruppe zuzuordnen. Auf der Seite sozialer Integration gibt es eine ganze Reihe von Analysen, wie es Interagierenden gelingt, ein besonderes Maß an Vertrautheit, Sympathie und Gemeinsamkeit herzustellen. 2.8 Linguistik der Gefühlskommunikation Die linguistische Forschung zur Gefühlskommunikation steht noch ganz am Anfang, weil es nur wenig systematische Darstellungen und exemplarische Analysen an Gesprächsmaterialien gibt (z.B. Fiehler 1990, 1993; Marten-Cleef 1991; Spiegel 1995, S. 205-233; Gruber 1996, S. 90-95; Hartung, in diesem Band). Als wichtig erweisen sich theoretische Konzepte wie ‘Muster für die interaktive Verarbeitung von Gefühlsdemonstration’ (z.B. Anteilnahmevs. Divergenzmuster), die Unterscheidung zwischen Gefühlsausdruck und Gefühlsthematisierung, Korrespondenzregeln zwischen bestimmten thematischen Inhalten der Rede und dafür angemessenen Gefühlsreaktionen. Wichtig für die Beschreibung von Prozessen der Beziehungskonstitution in rhetorischen Kommunikationen ist außerdem, daß wir es mit einem sehr komplexen Geflecht von kommunikativen Phänomenen zu tun haben. Um dies an einem Beispiel zu demonstrieren, habe ich ein Konfliktgespräch ausgesucht, das zwar vom Interaktionstyp her, als gesetzlich vorgeschriebenes Schlichtungsgespräch, nicht für alle Fälle rhetorischer Kommunikation stehen kann, das jedoch aspektreich genug ist, die aufgezählten Kategorien beziehungsgestaltender Prozesse in den Blick zu bekommen. 3. Das Analysebeispiel Es handelt sich um das Schlichtungsgespräch „Alte Sau”, in dem zwei Kontrahentinnen, Frau Kraft (Beschuldigte) und Frau Beck (Antragstellerin einer Beleidigungsklage) in weiten Teilen, über die Vermittlungsbemühungen des Schlichters hinweg, sich in ein sehr heftiges Streitge- Beziehungsdynamik 293 sprach verwickeln. 19 Frau Beck beschuldigt Frau Kraft, sie derart beleidigt zu haben, daß sie seitdem Herzbeschwerden habe. Frau Kraft gibt von vornherein zu, den Beleidigungsausdruck drecksau gesagt zu haben, streitet aber andere Beleidigungsausdrücke ab. Im Lauf des Gesprächs erwähnt Frau Beck, daß sie zu Frau Kraft bledi kuh gesagt habe, so daß sich für den Schlichter eine andere Rechtslage ergibt. Er plädiert dafür, daß sich Frau Kraft entschuldigt, die vorgestreckten Kosten (50 DM) ersetzt und daß Frau Beck die Beleidigungsklage zurücknimmt. Frau Kraft stimmt nach zwei Initiativen des Schlichters zu; Frau Beck erst nach langem Zögern, nach Wiederholungen von Vorwürfen und nach dem Vorwurf an den Schlichter, er nehme Partei für Frau Kraft, weil diese jünger sei und weil se läschle dud (Z. 1127). Daraus droht ein Konflikt zwischen Schlichter und Frau Beck zu entstehen (näfrau Beck=sch bin liewer ruhisch schunsch krige mer aa noch krach). Das ganze Gespräch ist gekennzeichnet durch gegenseitige Vorwürfe zwischen den Kontrahentinnen, durch Unterstellungen, konträre Sachverhaltsdarstellungen, Unnachgiebigkeit von seiten Frau Becks und eine große Schärfe der Auseinandersetzung. 4. Streiten Die beiden Gegnerinnen versuchen, dadurch Einfluß auf einen für sie günstigen Ausgang des Gesprächs zu nehmen, daß sie sich selbst positiv und die Gegnerin negativ darstellen. Diese von beiden Gegnerinnen verfolgte Grundstrategie ist ‘rational’ in dem Sinne, daß der Erfolg der eigenen Position wesentlich damit zusammenhängt, wie wenig schuldhaft man im Vergleich zur anderen Partei erscheint. Dadurch, daß persönliche Eigenschaften das Ziel der Äußerungen beim Streiten sind, ergibt sich auch eine Parallele zu den Strategien des Forcierens (vgl. Kallmeyer/ Schmitt in diesem Band), welche im wesentlichen darauf ausgerichtet sind, eigene Handlungsspielräume zu erweitern, die des Gegners aber einzuschränken. Im folgenden sollen einige Aspekte von Angriffen gegen die jeweilige Gegnerin herausgelöst und in ihren interaktiven Zusammenhängen mit den Äußerungen der anderen Beteiligten beschrieben werden, bevor dies mit den Möglichkeiten des Reagierens auf solche Angriffe getan wird. 4.1 Angreifen Das generelle Ziel von verbalen Angriffen in einer (halb-)öffentlichen Situation ist es, eine Person in ihrem Ansehen vor den Augen anderer herabzusetzen. Wenn es gelingt, den/ die andere mit allgemein negativ bewerteten Eigenschaften zu belasten, kann daraus der Gewinn gezogen werden, daß 19 Dieses Gespräch wurde im Projekt „Schlichtungsgespräch” aufgenommen und wird in Schröder (1996) publiziert. Die Aufnahme stammt aus einer Großstadt in Baden- Württemberg. Alle hier Beteiligten sprechen Dialekt; die beiden Kontrahentinnen mehr als der Schlichter. 294 Johannes SchwiiaUa die Handlungen, die zum Konflikt geführt haben, als verachtens- und verdammenswert angesehen werden. Bei Schlichtungsgesprächen befinden sich die Streitparteien von vornherein in einem Ausnahmezustand, weil die soziale Beziehung schon als so zerrüttet angesehen wird, daß sie einer Hilfe oder Regelung von außen bedarf. Damit fallen auch sehr viele Regeln der Rücksichtnahme, des höflichen Verschweigens und des Verbots der massiven Kritik einerseits, des offenen Selbstlobs andererseits weg. 4.1.1 Die interaktive Plazierung des Angriffs Im folgenden gehe ich der Frage nach, wie die Beteiligten Vorwürfe, Beleidigungen und andere Sprechakte gegen das positive Face der jeweiligen Adressatinnen im Laufe der Interaktion Vorbringen, so daß sowohl ein thematischer wie ein handlungslogischer Zusammenhang zu den vorhergehenden (eigenen oder fremden) Äußerungen hergestellt wird. Die grundsätzlichen Möglichkeiten sind: Thematisierung, Rethematisierung, Anbindung an vorhergehende Äußerungen des Gegners oder des Sprechers selbst. Diese Plazierungsmöglichkeiten haben unterschiedliche rhetorische Wirkunspotentiale. Man kann z.B. durch unterbrechendes Angreifen dem Gegner die Möglichkeit nehmen, seine Angriffsposition ausführlich auszubauen, man kann sich aber auch Zeit lassen und erst thematische Punkte sammeln, die man in einen Angriff überführt. Ausgangspunkt des Streits ist eine explizite Form von Anklagen, die der Schlichter als schriftliche Anschuldigungen der Antragstellerin vorliest (C = Schlichter; A = Antragstellerin, Frau Beck; B = Beschuldigte, Frau Kraft): 48 C: daß ihnen frau beck vorvirit sie hätten sie 49 C: am zehnten dritten! beleidigd un zwa: r- * mit den worddn 50 C: du aide dre"cksaut du aide wi"ldsauf du gehörst verga"st du 51 C: alder schru"bbert nenn du keine kinder leiden kennst geh 53 C: doch in=s aldersheimj C ...] 58 C: geh runder oder isch 69 C: zieh disch an den haaren herbeif * äh du dre"ckeber mit 60 C: deinem ba"ppalten| du gehörst verga: st| ** Das ist der institutionell gesetzte Vorwurfsrahmen der offiziellen Schlichtungsinteraktion; danach übernehmen es die Kontrahentinnen selbst, Vorwürfe und Beleidigungen zu äußern. Dabei benützen sie sehr oft das Beziehungsdynamik 295 Verfahren, imageverletzende Sprechakte nach dem Eingehen auf eine zuvor geäußerte Vorhaltung in einer sekundären Position zu plazieren, aber mit dem entscheidenden Gewicht im Gesamtbeitrag. So wahren sie im ersten Teil den Schein der interaktiven Verbindung zum vorhergehenden Beitrag, nützen ihn auch für eine positive Selbstdarstellung aus, greifen aber gleich danach die Gegnerin in ihrem Ansehen an. Dies ist ein weit verbreitetes Verfahren in Streitgesprächen und ein Hauptgrund für ihre zirkuläre Interaktionsform, welche man schematisch so dargestellen kann: A: Imageangriff gegen B B: Reaktion darauf und Angriff gegen A A: Reaktion darauf und Angriff gegen B usw. Erstes Beispiel dafür ist gleich die erste Redemöglichkeit der Beschuldigten, die zu den vorgelesenen Äußerungen Stellung nimmt: 76 C: <— ► so" frau kraft sie 77 B: ja- 78 C: hawwe jetzt also ghert was: anliegt was hawwe sie dezu zu 79 B: äh viele wordde hab=isch ni"scht gsachtf 80 C: sagenj. was hawwe se=n 81 B: debeil. dre"cksau 82 C: gsachtj fong mer mol mit dem 5 was se gsacht hawweI. 83 B: haww=isch gesacht gut! isch hab auch gesucht äh * 84 C: mhm * jaj 85 B: wenn se se/ #soll isch=s wortwörtlisch Sache was isch gsacht K: #H0HE INTONATION 86 C: i/ bitte bitte 87 B: habt# * des is nämlisch ni"scht angegebej un des is der 88 C: bitte sie brauche sisch do net- 89 B: haubtgrund was/ warum sisch die frau beck geärgert hatj. 90 C: mhml 91 B: des hat se a de leude auf die Straße vazähltf * da" isch 92 B: gsacht hab daß sie nur *—sei"ni zum pi"ssen hatf * un net fer 93 B: die kind=emol uff die/ * uff die weit zu bringet * des ä at 94 A: nee des haww=isch net gehertl 95 B: sie überhaupt/ un des hat sie garantiert nischt angegewweI Nach dem Eingeständnis, drecksau gesagt zu haben, geht Frau Kraft sofort zu einem Angriff über, etwas gesagt zu haben, was nicht auf der Beschuldigungsliste steht, was aber der wahre Anlaß für den Konflikt sei. Die erst gegen Ende der Äußerung produzierte Redeerwähnung ist ein sehr 296 Johannes Schwitalla schwerer (aber wahrscheinlich nicht justiziabler) Beleidigungsangriff, weil er eine Anspielung (das Possessivpronomen seini statt ihri, ohne benennendes Nomen) auf eine Tabuzone des menschlichen Körpers, nämlich das Geschlechtsorgan der Gegnerin, enthält und sie in ihrem sozialen Status als vollwertige Frau (Mutter) herabmindert. Frau Kraft zögert die kategorisierende Formel hinaus, sie holt sich zuvor eine Erlaubnis für die „wortwörtliche” Redeerwähnung, deklariert sie für den Hauptgrund des Konfliktes und stützt dies auf die Behauptung, daß die Antragstellerin diesen Ausspruch nicht angegeben habe, weil er ihr wie wir ergänzen müssen zu peinlich war. Danach setzt sich bei Frau Beck die Zirkelstruktur von Vorwurf - Entgegnung + Gegenvorwurf fort: 94 A: nee des haww=isch net gehertl aawer 95 B: überhaupt/ un des hat sie garantiert nischt angegeggel 96 A: alles annere sti"nund dofür hat isch jo zeu"gel 97 B: und <e"ber und so 98 A: <—bappalde- * do määnt se 99 B: zeig un mit deim aide isch weeß netoder- 100 A: bestimmt den aide monn mit dem wo isch somstags uff de 101 B: isch weeß net isch kenn/ 102 A: frie: dhof fahrj do wollt se mir was Shäneel 103 B: des dut mer leid isch kenn- * isch ke"nn der 104 C: nee frau frau frau beck- 105 A: des hot sie a"lles gsa"cht a"lles die na"chbarschaft 106 B: monn netf (. . .) nei"n des is 107 C: frau beck frau beck un frau kraft frau beck 108 A: hot a"lles ghe"rt i"sch hab zeu"gel 109 B: nischt wahr- Die Kommentare der Angegriffenen haben folgende Sequenzierung: - Behauptung, die Beleidigung nicht gehört zu haben (= reaktive Abwehr), - Bekräftigung der Wahrheit der anderen Beleidigungen durch Zeugen (— Wiederinkraftsetzung ihres Angriffs), - Referenzherstellung für den Beleidigungsausdruck bappalde (reaktiv), neuer Vorwurf an Frau Kraft, sie verleumde sie: do wollt se mir was öhänge (initiativ), - Paraphrase der Vorwurfsbekräftigung durch Zeugen, die die Beleidigungen gehört haben (initiativ). Die Beiträge von Frau Kraft beschränken sich in diesem Ausschnitt auf bloße abwehrende Kommentare; der erste (isch kenn der monn net) zeigt Beziehungsdynamik 297 auch eine gewisse Analogie zur ersten Behandlung der Beleidigung von Frau Beck (haww—isch net ghert). Häufiger noch als das Vorbringen eines Gegenangriffs im Anschluß einer Behandlung eines zuvor geäußerten Angriffs plazieren die beiden Frauen Angriffe als Kommentare zur Rede der Kontrahentin. Dabei benützen sie die üblichen Mittel für Außerungskohärenz: konjunktionaler Anschluß, Anadeixis, Satzergänzung (vgl. auch Kallmeyer/ Schmitt in diesem Band, Kap. 5.3.3). Im folgenden Beispiel, Z. 642, bindet Frau Kraft ihre Rede mit der Konjunktion weil an die Rede von Frau Beck an: 636 A: isch aohn ietz vie"rnfünfzisch 638 A: jahr in der siedlungj. * mir kann nie"mand 640 A: »as schleschtes nochsache oder daß isch streit ghabt hab mit 641 A: jemondj * awver <sie" wohnt- 642 B: ja neil sie nie/ niemand mit sisch abgibt 643 A: <oh: : bei mir sitze iomit wä: mt 644 B: weil sie- * weil sie mit je"dem krach Sfange des sacht 646 B: doch die ganz Siedlung! Frau Kraft unterbricht Frau Beck und beginnt ihre eigene Rede mit der Konjunktion weil, was normalerweise eine Begründung für die vorausgehende Behauptung einleitet, hier aber zunächst eine Begründung liefert, warum sich die Nachbarn von Frau Beck fernhalten. Dies wird noch einmal mit Frau Becks Streitsucht begründet (weil sie mit je”dem krach öfange), was genau das Gegenteil dessen ist, was Frau Beck gesagt hatte (mir kann nie”mand [...] nochsache [...] daß isch streit ghabt hab mit jemand). Auch in der Position des unterbrechenden Redens können die Kontrahentinnen ihren Beitrag so organisieren, daß sie zuerst auf einen Vorwurf bzw. ein Argument eingehen und danach einen eigenen Vorwurf Vorbringen. Im nächsten Beispiel geht es um die Kinder der Beschuldigten, denen die Antragsstellerin vorwirft, mit Steinen auf Wäsche geworfen zu haben: 462 A: nä des kom=mer nit awwer 463 C: naja kinner kam=ma net immer obinne mer kann net immer <mer 464 A: ma konn se erzieh"el wenn se 465 C: kann net immer=n Schutzmann dahinner herstelle"! 466 A: derre jetz was Sache macht se=s in fünf minud/ se"lbsch 467 A: der herr kellergeischt schennt immer mit errel. 468 B: <ia wei"l se stu: r werrel wei"l se stu: r werre die kinnerJ, 469 A: nä wei"l se nit erzöge sin des is=esj 298 Johannes Schwitalla Der erste Kommentar von Frau Beck unterbricht die Rede des Schlichters, so daß dieser lauter sprechend auf seinem Rederecht beharrt. Frau Beck benutzt eine Ja-Aber-Strategie: zuerst Zustimmung (nä des kom—mer nit), dann eine Maxime des Verhaltens Kindern gegenüber (awwer ma konn se erzieh”e), was impliziert, Frau Kraft habe ihre Kinder nicht richtig erzogen. 20 Frau Kraft knüpft diesmal in korrekter Weise eine weil-Konstruktion an die Äußerung von Frau Beck an, die deren Aussage nicht aufhebt (weil se stu: r werre), und in diese Äußerung hinein spricht Frau Beck eine gegenteilige, den Vorwurf des Nichterziehen-Könnens wiederholende Äußerung (nä wei”l se nit erzöge sin des is=es), die aber dennoch der syntaktischen Struktur ihrer Bezugsäußerung nachgebildet ist. Ein anderes Verfahren der Positionierung ist die Abfolge von Widersprechen und Richtigstellen. Im Widersprechensteil wird eine zuvor geäußerte Meinung explizit bestritten; ihr folgt die Richtigstellung, die den Imageangriff enthält. Dazu zwei Beispiele: 318 C: * also ans steht fescht daß #der# K #= IHR# 319 B: jaf 320 C: streit ghabt habtj. * net do herrscht kän zoeifel dra 321 A: isch hab kä"n streit mit der fra ghabt 322 C: nef äh: - 323 A: sie hot misch beleidischt so" is=esl So auch: 660 A: kei"n mensch schennt ügwer misch isch 661 B: schennej * sitze do an de garasch vorne! 662 A: kann an de Siedlung vorbeigehe] awwer sie" habbe in ihre 663 A: acht joahr- * schunn mit zwee" familie krach ghabt mit=s 664 A: ke"llergeischtsl do hot ihm mann- * m=alde kellergeischt 665 A: sogar hibb SgedrohdJ. 4.1.2 Sprachliche Formen für Angriffe Die sprachlichen Formen für imageverletzende Handlungen sind sehr vielfältig. Ein sehr häufig produzierter Typ ist die Prädikation, d.h. die Verbalisierung der kritischen Komponente in der Verbalphrase eines Aussagesatzes, dessen Subjekt auf den/ die Angesprochene/ n referiert: 20 Zum Formativ „Ja-Aber” vgl. Kallmeyer/ Schmitt (1993, S. 27ff.). Beziehungsdynamik 299 a: ch gott lüge sie [...] sie” sind vielleisch verlogel (Z. 706ff.) sie greife alles aus der luft (Z. 232) sie sin raffiniert (Z. 284) des do habhe sie sisch zusammegeroimt (Z. 197f.) sie lüge so wie se vorges johr geloge habbe (Z. 198/ 201) des hawwe sie sisch alles <H<7e[bildet] (Z. 193). Durch die unabgeschwächte Verbindung von Prädikationsausdruck und Referenzobjekt (= Adressatin) wird diese in moralischer Hinsicht abgewertet. Die Anschuldigungspotentiale sind je nach den Wortinhalten schwach (sich einbilden) oder stark (lügen), enthalten aber immer eine kritische Komponente aufgrund allgemeiner kultureller Normen des richtigen Verhaltens, in diesem Fall des bis auf die Zehn Gebote zurückgehenden Verbots, nichts Schlechtes über andere zu sagen, wenn es nicht stimmt (vgl. Fiehler 1993, S. 159). Verwendet die Sprecherin das syntaktische Muster der Prädikativergänzung mit nominaler Variante, dann kommt eine solche Aussage nahe an eine moralische Kategorisierung: sie” ist die lügnerin (Z. 144). Der nominale Ausdruck lügnerin steigert die nur auf bestimmte Lüge-Handlungen verweisende Behauptung des Lügens mittels eines Verbs zu einer generellen Verhaltenseigenschaft der Adressatin (anders als nominale Ausdrücke wie verbrecherin, diebin, die Personen aufgrund eines einzelnen Deliktes als einen moralisch devianten Typ kategorisieren). Eine zweite Gruppe von Formen des Imageangriffs sind narrative Darstellungsformen. In Erzählungen und Berichten kann man natürlich in vielfältiger Weise Wertungen und Anschuldigungen einflechten, die die Personen, deren Handlungen darstellt werden, in einem schlechten Licht erscheinen lassen. In dieser Schlichtungsverhandlung gibt es wenig ausführliche narrative Darstellungen. Eine der am stärksten narrativ durchstrukturierten Einheiten ist eine Erzählung von Frau Beck, wie der Mann von Frau Kraft eine Nachbarin beleidigt und bedroht hat. Der Vorwurf des Beleidigens gegen Frau Kraft läuft hier implizit über den Topos der sozialen Zugehörigkeit: Wenn Frau Kraft in einem Milieu lebt, in dem es üblich ist, fremde Leute zu beleidigen und zu bedrohen, dann sind die vorgebrachten Vorwürfe gegen sie glaubhaft: 243 A: sie" hot/ vorgs johr hot se war e ürau im hau: s unne bei leut 244 A: gstonnej. zum erzähle! * >ja gernj. * zum 245 C: wolle se ihm mantel auszieh- 246 A: erzählet un äh- ** donn später 247 B: RÄUSPERT SICH 248 C: is io platz genug! LACHT 249 A: is ihm mann komme- * un do hot se gsach zu ihrm mann die 300 Johannes SchwitaUa 250 A: frau hett übber sie gschenntj un der mann- * is donn- * 251 A: wu"t voller su"t zu der irau gonge un hot gegli"ngelt un die 252 A: frau war zu der zeid im ba"d| un hot se gerufe <ja wer is 253 A: draußt isch bin im ba"dj n=hot derre ihm mannj * gerule du 254 A: <a"rschgsischtt du dre"cksaut isch weeß genau" daß du nid 255 A: do bischdes is gsacht worre un die 256 B: habe sie=s gehö: rt| ja: was die leu"t 257 A: bollizei" hot- * die bollizei hot=s io schriitlisch 258 B: sa: ge was die leut sage die leut sage viell 259 C: ja: ja was gsacht werd gsacht werd vie: ll 260 A: uifgenummej dann hot sich die frau" des habbe die leit 261 C: gsacht werd viell 262 A: im haus a" ghert unne| dann hat die 263 C: äh frau beck jetz du mer mol 264 A: bollizei des u"ffgenummet 265 C: langsam frau beck ietz losse se mischjaj 266 A: un äh: is komme die frau hat sisch dann bedrohd gefühlt- * 267 A: un so" war de"sj Dieser Ausschnitt hat die Struktur einer konversationeüen Alltagserzählung mit Orientierung (Zeit, Ort, Beteiligte), einer Reihe „narrativer Sätze”, welche die zeitliche Entwicklung der Ereignisse darstellen, einem Höhepunkt mit wörtlicher Rede {du a”rschgsicht ...), zweifacher Coda {un die bollizei hot ..., die frau hat sisch ...) und einer Rahmenschließung {so” war de”s). In die Erzählung sind durch Gefühlszuschreibungen {voller wu”t), durch die Opposition zwischen realem Sachverhalt (sich Versammeln vor dem Haus zum erzähle) und falscher Verdächtigung {hett übber sie gschennt) und durch die Zitate der auf den Sprecher zurückfallenden groben Beleidigungen auch die mitwirkenden Beteiligten, die Beschuldigte und ihr Mann, in negativer Weise charakterisiert. Anklage durch die Schilderung der Ereignisse aus der Perspektive des Opfers ist ein klassisches Verfahren der traditionellen Gerichtsrhetorik. Nur ein Ansatz zu einer etwas längeren Schilderung ist die Darstellung einer Szene durch die Antragsstellerin, wie die Tochter der Beschuldigten Steine auf zum Trocknen aufgehängte Wäsche warf, und die Beschuldigte mit schandwörtern Partei für ihre zur Ordnung gerufene Tochter ergriff: 844 A: sie hette zu mir 845 B: isch sag nur was die leit sache frau beckl 846 C: <naia ihr habt eisch alle zwee nix gschenktj Beziehungsdynamik 301 847 A: kunune könne un hette Sache könne here se molf was wa"r=n doj. 848 B: (, , ■ ) 849 A: denn hett isch zu ihne gsach isch hab zu de petra gsacht 850 A: die- * derf die wesch nit mit stöner schmeißej, * aa wenn se nit 851 A: trifft^ grad so gut hett se treffe könne des war so=n stö wie 852 A: moi hönd un war ganz kandischj. * nef * un nit #em=ö# 853 K «STOTTERT LEICHT# 854 A: als mutter sisch unne hie"stelle un in ö"ner dour ohne 865 A: unnerbreschung- * so alle schandwörter raussage! isch 856 C: —naja- <fra beck ietz 857 A: hab misch gschömt vor de leitt * un weil isch 858 C: mache mer mol folgendes fra beck ietz here se mol uff I 859 A: runnergange bin! des war nu"r- * um die leit zu froche was se- * 860 A: was sie alles ghert habbe| ni"t weil isch gschennt hab isch weasel A: gear nit isch- * so" uffgeregt isch war gar nit in de lag übber 862 A: sie zu schenne! * un des wör a geir net Sgebrocht I Die Sachverhaltsdarstellung ist hier eingebunden in einen Vorwurf von Frau Beck an Frau Kraft; sie sagt ihr, was sie in der damaligen Konfliktsituation hätte tun sollen, um den Konflikt in zivilisierter Weise beizulegen. Die Detailangaben zur Größe [wie moi tend) und Beschaffenheit [ganz kandisch) des Steines belegt über Implikaturen seine Zerstörungskraft. Der Vorwurf an die Mutter wird wieder in Form einer Prädikation (als Infinitiv) vollzogen (alle schandwörter raussage) mit besonderer Hervorhebung der Dauer (in ä”ner dour ohne unnerbreschung) des Schimpfens und Beleidigens der Beschuldigten. Erst danach greift das narrative Darstellungsmuster stärker, nun aber mit dem Zweck, das eigene Verhalten zu erklären und es vor dem Vorwurf des Schimpfens zu verteidigen (ni”t weil isch gschennt hab). Narrative Formen des Beschuldigens sind sehr geeignete Verfahren der Imageabwertung, weil sie mit einer Wertungsperspektive des Sprechenden realisiert werden, die auch subtile, versteckte Formen der Abwertung erlauben. Ansonsten werden in diesem Gespräch Hinweise auf konkrete Ereignisse nur ganz verkürzt, oft auch andeutend, auf gemeinsames Wissen anspielend verbalisiert. Dazu folgende Beispiele: 302 Johannes Schwilalla - Als Beleg für den Kategorisierungsausdruck lügnerin: 146 A: vorgs johr hot se geloge daß die bollizei 148 A: kumme isj - Als bloße Behauptung eines schändlichen Tuns (in der typischen pronominalen Anbindung an eine Äußerung der Gegnerin, Z. 166): 165 B: isch hab zu niemand z/ im grund kontakt nur zu unser 166 A: ja mit denne hagwe sei selwer schun=n 167 B: unnedra zu denne leitj 169 A: haushoher krach gehabt! - Als szenische Andeutung eines Fehlverhaltens in Opposition zum eigenen Verhalten (Z. 331/ 333/ 335): 331 A: isch ha"b se net beleidischt isch 332 C: beleidischt hawwe un sie hawwe io ewe selwa- 333 A: kumm io gar net dazu vor lauter die hot jo so 334 C: sie hawwe io ewene- 335 A: ruiigeschrien mit erhobenem linger als wenn isch e Schulkind 337 A: wärl Besonders wirkungsvoll ist hier die Detailschilderung der Warn- und Drohgebärde des erhobenen Fingers; auch dies ist ein Element klassischer rhetorischer Anklage. 21 Die Hervorhebung des erhobenen Fingers wird zusätzlich noch durch eine Standardanhebung betont. 22 - Als narrative Kurzform: 210 B: gehert genau wie am- * obend um vie"r uhr war der 211 A: ja: - 212 B: krachf ne um vier uhr war der krachf * um lü"nf 213 C: mhm| 214 B: uhr sin leut- ** komme wo se gesehe hot do war se h/ unne 215 A: isch war- 216 B: gestanne un hat <lau"tstark über misch geschenntf 21 Aristoteles: „Wähle weiterhin aus dem Komplex der effektvollen Ausdrücke und stelle in der Erzählung die Folgen dar [...]: ‘Er aber ging weg, nach dem er mich trotzig angeblickt hatte’. Und wie Aischines über Kratylos sagte: ‘auszischend und die Hände heftig schüttelnd’. Dies verleiht nämlich Glaubwürdigkeit” (Aristoteles 1980, S. 215). 22 Zur Detaillierung als Intensivierung des Hörereindrucks vgl. Tannen (1989, S. 134- 166). Beziehungsdynamik 303 Diese narrative Kurzform hat eine Rahmung durch eine Zusammenfassung (abstract) und eine Beteuerungsformel (des weeß isch genau)-, sie ist im ganzen außer bei den Zeitangaben sehr vage gehalten und setzt Beteiligtenwissen voraus (die leut unne). Das inkriminierte Verhalten wird nicht zitiert, sondern in dem Wort schennen (— schimpfen) zusammengefaßt. Imitierend spricht Frau Kraft das Wort lautstark auch laut aus. Ein viertes, wiederholt verwendetes Verfahren ist es, den Gegner zu zitieren und ihn dabei durch die Wahl der Worte und die prosodische Art der Rede ins Unrecht zu setzen, ihn als einen Typ vorzuführen, der zumindest unangenehm ist (Prosopopoiie, mimetische Satire). Im folgenden Beispiel verwendet Frau Beck dieses Verfahren innerhalb einer szenischen Rahmung: 225 A: gott isch habt yj/ 226 B: un am negschte morgen um zeh"n uhr war isch am go"ngfenschter 227 B: geschdanne- HOLT LUFT do hot se vazehlt wenn des moi- * 228 B: äh- * äh verwandte wüßte die dede se <do"dschlacheI * 229 A: des=alles net wo"hr 230 B: des hat se unne rumvazehltJ. Neben dem Wort totschlagen, das als solches schon die Bereitschaft zur Aggression der Adressatin ausdrückt, machen auch der starke Akzent auf do”d und die Lautstärke des ganzen Wortes das Sprechen der Gegnerin in ihrer Schärfe und Wut deutlich. Mit dieser Art zu sprechen wird für einen Moment die damalige dramatische Situation re-inszeniert. Selbst in indirekten Zitaten des Gegners geben Intonations- und Lautstärkenveränderungen den zitierten Worten einen Klang, der sie von der eigenen Rede abhebt: 189 B: daß isch se am a"rsch lecke sollf 190 C: ja was hot se=n gesuchtj Mit dem Wort lecke geht die Sprecherin auffallend weit mit der Stimme in die Höhe und führt diese Tonhöhe am Ende des Satzes noch weiter nach oben: o o To o o o daß isch se am asch lecke soll 304 Johannes Schwitalla Die Stimmanhebung scheint hier aber kein Nachahmen der Expressivität der ursprünglichen Sprecherin zu sein, sondern eher eine Intensivierung des Beleidigungsausdrucks gegenüber dem Adressaten, dem Schlichter (eine Form der klimaktischen Intonationssteigerung nach Bolinger 1978, S. 485). Zitate können auch in Form von Reihungen erwähnt werden, wobei die Anordnung in einer Liste nicht nur die Menge der verbalen Entgleisungen abbildet, sondern durch die syntaktisch verkürzte Form auch intensivierend wirkt: 301 A: selbsch da"s is kein grund misch wi"ldsau dre"cksau un 302 A: verga"sung- Die Antragsstellerin spricht dabei sehr laut und rhythmisch, sie spricht ab das is ... standardsprachlich und sie stellt mit dem Wort Vergasung eine Klimax der Beleidigung zu einem Drohangriff her. Wirkungsvoll sind auch Redeerwähnungen Dritter, die den Gegner belasten; man kann damit nämlich zwei kommunikative Aufgaben zugleich lösen: einmal den Imageangriff ausführen (Vorwurf der Beleidigung) und zweitens auch gleich eine Quelle nennen, die für die Wahrheit der behaupteten Beleidigung bürgt: 408 A: wie isch=s Sgewwe habf * un daß se Sache sie hätte manches 409 C: na ja aber frau beck frau beck 410 A: net gsacht des wort schru"bber des hawwe se owwe an de eck 411 C: mol langsam] 412 A: ghertf des hawwe mir die lent gsacht du alder 413 C: >frau beck * frau beck mol 414 A: Schrubber.! . Hier ragt das Beleidigungswort Schrubber durch Linksherausstellung, durch hohe Intonation und starken Akzent aus der Rede hervor (es bildet den Intonationsgipfel des ganzen Satzes) und wird zum Schluß noch einmal wiederholt. Die Zeugen dieses Schimpfwortes sind zwar sehr vage gehalten (zuerst pronominal, dann nominal: se — ► die leut), aber die Tatsache, daß die Leute dieses Wort wiedergeben konnten, dient als Beweis, daß es von der Beschuldigten gesagt worden war. Soll nur der Aspekt betont werden, daß andere die Beleidigungen gehört haben, so genügt eine in ein Verb des Sagens mit negativer Bewertung (Konnotation) zusammengefaßte Behauptung; im folgenden Beispiel ist es das Verb über jemanden herziehen: Beziehungsdynamik 305 220 B: dafür könnt isch auch an zeuge bringej 222 B: der is noch zu mir ho"chkumme im hot gesucht guck mol wie 224 B: d/ die/ die fra beck üwer disch do unne herziehtJ. Weitere sprachliche Formen (ausdrucksseitige Topoi) für Imageverletzungen sollen nur noch jeweils mit einem Beispiel erwähnt werden. Sie decken einen Großteil des Spektrums von Kritik- und Beleidigungsformen ab. a) Vergleich Vergleiche mit (gesellschaftlich) negativ gewerteten Tieren oder sozialen Gruppen ist ein Standardverfahren für schwere Angriffe. In unserem Schlichtungsgespräch wird ein Vergleich mit einem Gegenstand aus dem Bereich der Technik gezogen: 275 A: <nachde"m sie hawwe io gar nix here 276 B: nachde"m isch mit ihne angefange habl 277 A: keimet si 0 hawwe ja wie e maschinegewehrle- * 278 A: üwwerhaupt nit unnerbroche bei ihre schimpfereiej Das tertium comparationis für Maschinengewehr und ununterbrochenes Sprechen sind die gemeinsamen Eigenschaften der Schnelligkeit, der Dauer und vielleicht auch der Gefährlichkeit der herausgestoßenen Wörter als „Geschosse”. b) Andeutung Sie folgt der rhetorischen Devise des absichtlichen Übergehens eines Redegegenstandes (praeteritio). Durch die Erwähnung allein, ohne das Thema zu expandieren, deutet der Sprecher einen Kritikpunkt an und überläßt es dem Publikum, sich das Angedeutete auszumalen: 711 A: denke se an die gebu"rt vun ihrm ki"nd wie se do geloge 712 A: habbef i"sch bring vor geri"scht alles vorj 713 C: <frau beck- Was es mit dem Lügen bei der Geburt des Kindes von Frau Kraft auf sich hat, wird nicht gesagt. Es bleibt den nicht-informierten Dritten überlassen herauszufinden, welche Lüge Frau Kraft in die Welt gesetzt haben könnte. c) Metakommunikation Metakommunikationen eignen sich für Vorwürfe an die Beteiligten in der aktuellen Situation, so z.B. der Vorwurf der Antragsstellerin an ihre Gegnerin und an den Schlichter: 671 A: blo"ß weil se sisch ietz wie e * schäfele hiestellt un mi"r 672 C: beck des hot ietz awwer mit dem- * ja: f nä des 306 Johannes Schwitalla 673 A: ebbes in die schuh schiawe Hill] 674 C: hot io mit dem fall/ * des hot io des hot jo des macht 675 A: isch find sie ste/ sie s/ stehe mehr derre 676 C: se/ —»<ietz muß isch ihne gas sage-* >fra fra 677 A: fraa bei als wie mi: "rt 678 C: frau beck isch will- * isch 679 A: bloß weil se bissei läschle du: dj 680 C: isch steh gar niemand bei isch will- Frau Beck und der Schlichter sprechen hier in unterschiedlicher Weise metakommunikativ: Während der Schlichter ein Thema ausklammern will, spricht Frau Beck direkt die kommunikativen Verhaltensweisen der Mitanwesenden an. Aus ihrer Sicht verdreht ihre Gegnerin nicht nur die Tatsachen (mi”r ebbes in die schuh schiebe), sondern sie verstellt sich. Dazu gebraucht sie einen Tiervergleich mit einem Schaf, welcher auf dessen Aggressionslosigkeit anspielt (die Verkleinerungsform schäfele hebt die Schuldlosigkeit noch hervor). Sie wirft dem auf Unparteilichkeit verpflichteten Schlichter vor, daß er auf diese Verstellung (und vielleicht auch Bezirzung) von Frau Kraft hereinfällt. Der Vorwurf der Parteilichkeit trifft den Schlichter an einem empfindlichen Punkt seines beruflichen Selbstverständnisses, so daß er ihn energisch abstreitet. In diesem Streitgespräch sind natürlich die starken Formen und interaktiven Realisierungen von Imageangriffen in der Überzahl, aber die Kategorie des positiven Face, welches in Streitgesprächen nach der Regel ‘je schlechter das Bild des Gegners, desto besser meine Position’ behandelt wird, steht auch in nicht-aggressiv ausgerichteten Verhandlungssituationen, in denen Beteiligte eigene Ziele durchsetzen wollen, hinter ihren sprachlichen Aktivitäten. Komplimente auf der einen, die Andeutung von Kritik auf der anderen Seite können dazu verhelfen, den Adressaten für die eigenen Ziele zu gewinnen. Ist das Verhältnis zwischen den Beteiligten nicht schon grundsätzlich gestört, empfehlen sich eher die Formen der Gesichtsaufwertung; und nur wenn man weiß, daß keine erträgliche Beziehung mit dem Gegner mehr möglich ist, empfiehlt es sich, diesen in angemessenen, d.h. aber auch: für das eigene Face angemessenen Formen herabzusetzen. 4.2 Sich verteidigen 4.2.1 Die Plazierung einer Entgegnung Auch hier soll zunächst beobachtet werden, wie eine Angegriffene eine Entgegnung oder sonst eine Art von Reaktion auf einen Angriff im Streitgespräch plaziert. Ob jemand den Angreifenden unterbricht, ob er/ sie wartet, bis dieser zu Ende gesprochen hat, oder ob er/ sie einige Zeit verstreichen läßt, auf den Vorwurf einzugehen, hat jeweils bestimmte kommunikative Beziehungsdynamik 307 Bedeutungsimplikationen (vgl. dazu auch Kallmeyer/ Schmitt in diesem Band, Kap. 5.2 und 5.3). Die erste Möglichkeit ist das Unterbrechen. Mit Unterbrechen signalisiert man, daß der Vorwurf so schwer wiegt, daß das Rederecht des anderen im Vergleich dazu weniger bedeutungsvoll ist. Unterbrechen demonstriert zweitens eine gewisse Selbstüberzeugtheit und Spontaneität des Angegriffenen, welche impliziert, daß der Vorwerfende/ Kritisierende derart an der Realität vorbeigeht, daß seine Vorhaltungen sofort korrigiert werden müssen (vgl. Fiehler 1993, S. 162). Beispiel: 253 A: n=hot derre ihm maiinj * geriete du 254 A: <a"rschgsischtl du dre"cksauj isch weeß genau" daß du nid 255 A: do bisch- 256 B: hawwe sie=s gehöirtj Bis zu der Stelle, wo Frau Kraft zu sprechen anfängt, gibt es in der Rede von Frau Beck noch kein Signal der Redebeendigung. Unterbrechungen können mit generellen Zurückweisungen (nä ganz un gar net, Z. 287), in Form einer Zweifelfrage (mit wem], Z. 643), mit der Kombination von Konsens und Dissens und auf andere Weise durchgeführt werden. Die Stärke und Dringlichkeit eines vorgebrachten Angriffs kann ein Angegriffener auch dadurch hervorheben, daß er den thematischen Strang seiner eigenen Rede abbricht, um einem Angreifer, der in seine Rede hineingesprochen hatte, entgegenzutreten. Im vorletzten Beispiel sprechen der Schlichter und die Antragstellerin vor dem Ausschnitt längere Zeit parallel. Diese hatte auf einen Jahre zurückliegenden Streit der Familie Kraft mit einer anderen Familie hingewiesen. Der Schlichter will diesen Kritikpunkt für die aktuelle Schlichtungssituation als nicht relevant zurückweisen: 670 C: ja: trau frau beck- * ja frau 671 A: blo"ß geil se sisch ietz wie e * schäfele hiestellt un mi"r 672 C: beck des hot ietz awwer mit dem- * ja: ! nä des 673 A: ebbes in die schuh schiewe will! 674 C: hot io mit dem fall- * des hot io des hot jo des macht 675 A: isch lind sie ste/ sie s/ stehe mehr derre 676 C: se —»ietz muß isch ihne was sage- * >tra 677 A: traa bei als wie mi"rI 678 C: Ira frau beck isch will- * isch 679 A: bloß weil se bissei läschle du: df 680 C: isch steh gar niemand bei isch will- 308 Johannes Schwitalla Die kurze „Erledigung” des Vorwurfs, Frau Kraft wolle Frau Beck etwas in die schuhe schieben, hat zur Folge, daß diese nun den Schlichter anklagt: sie [...] stehe mehr derre fraa bei als wie mi”rl (Z. 675/ 677). Der Schlichter will fortfahren (frau beck isch will-), gibt aber dieses Thema auf, weil der Vorwurf, der die Unparteilichkeit des Schlichters in Frage stellt, so gravierend ist, daß er zunächst diesen Vorwurf zurückweisen muß. Deshalb bricht er seinen thematischen Strang ab, macht eine kurze Pause und setzt zu einem generellen Abstreiten an: isch steh gar niemand bei. Die zweite Form der Plazierung ist der direkte Anschluß an eine Beitragsbeendigung, ohne jegliche Pause, in auffallend schneller Redeanbindung. Ein Beispiel für einen Vorwurf mit direkt angebundenem Widersprechen (Z. 725): 720 A: nä geil 721 B: weil isch geb misch net mit de leit ab isch=ab=n haushalt 722 A: mit ihne niemond- * vmi ihne nie"mond was wisse willf 723 B: zu versorge un zwee Xinnerl 724 A: so" is esl. 725 B: o zu mir kumme a"rg vielf Im Wort wisse geht Frau Beck schon mit der Stimme nach unten und hebt sie in will wieder ganz leicht an; zusammen mit dem Ende der syntaktischen Struktur ist das ein Zeichen für ein mögliches Ende des Beitrags. Frau Kraft beginnt sofort nach dem Wort will zu sprechen, noch bevor Frau Beck eine Bekräftigungsformel (so is es) anhängen kann. Auch diese auffallend dichten Redeanschlüsse drücken Entschlossenheit aus und die Überzeugung, daß das, was der Gegner sagt, nicht wahr ist. Verzögerte Reaktionen können dagegen ein Zeichen von Selbstkontrolle sein, z.B. in dem Sinn, daß der Angegriffene sich überlegt, was er zum Vorwurf sagen will, daß der Vorwurf ihm neu ist, daß er dem Vorwerfenden Raum geben will zur nachträglichen Korrektur oder Abschwächung. In jedem Fall trägt die Art der Plazierung mit zur Bedeutung des auf den Angriff reagierenden Gegenzugs bei. Unterbrechungen und direkte Anschlüsse zeugen von hoher innerer Beteiligung und sollen das Gefühl ausdrücken, zu unrecht angegriffen worden zu sein; je nach der Kombination mit bestimmten Interjektionen, der prosodischen Einkleidung demonstrieren sie auch bestimmte Gefühlstypen wie Empörung, Fassungslosigkeit, Unschuld etc. 4.2.2 Sprachliche und interaktive Formen der Verteidigung a) Überhören, Übergehen Einem Angriff gegen das eigene Face zu begegnen ist notwendig, wenn nicht der Eindruck aufkommen soll, der/ die Angegriffene fühle sich schul- Beziehungsdynamik 309 dig. Allerdings gehört auch das Nichtbeachten eines Angriffs zu den kommunikativen Techniken, ihn aus der Welt zu schaffen. Einen Angriff nicht zu behandeln, bringt manchmal den Vorteil, daß die Handlung, die einem vorgeworfen wird, nicht als gemeinsam behandeltes Objekt kommunikativ existiert. Frau Kraft geht z.B. auf die rätselhafte Andeutung von Frau Beck nicht ein, so daß sich das Thema in der Andeutung erschöpft und die Anklagende auch selbst das Thema fallen läßt: 711 A: denke sie an die gebu"rt vun ihm ki"nd wie se do geloge 712 A: habbej> isch bring vor geri"scht alles vorf des 713 C: <frau beck- 714 A: kenn/ de"s sach isch ihne isch loß misch <—ni"scht- * von 715 C: ehä- 716 A: i"hne- * profozierel 717 B: nädes nä des is awwer wohr| Erst die nach dem Transkriptausschnitt erfolgende Behauptung von Frau Kraft, in einer stadtteilbekannten Organisation wolle niemand etwas mit Frau Beck zu tun haben, ist wieder ein spezifiziertes Thema für einen Vorwurf. In gewisser Weise kann man auch die Reaktion auf die Beleidigungsäußerung sie hat die seini nur zum pissen als eine Nicht-Behandlung verstehen (s.o., das zweite Beispiel in Kap. 4.1.1): Frau Beck schließt die Beleidigung mit der Information, sie nicht gehört zu haben, als Streitpunkt der Schlichtungsverhandlung aus. Nach ihrer Intention soll nur verhandelt werden, was sie selbst gehört hat. Deshalb geht sie zu diesen Anklagen über (awwer alles annere stimmt ...) und läßt dadurch den für ihr Image möglicherweise beeinträchtigenden Aspekt der Kinderlosigkeit untergehen. b) Zustimmen Formen der Zustimmung bzw. Einräumung zu Vorwürfen eröffnen einige Chancen der Selbstdarstellung. Abgesehen von der Möglichkeit, in der Sache weiterzukommen und möglicherweise einen Ausgleich für die Störung der Beziehung zu schaffen, gibt man mit einer Zustimmung zu einer Anklage zu erkennen, daß man für das einsteht, was man getan hat, daß man einsichtig und wahrheitsliebend ist alles personale Eigenschaften, die geeignet sind, das eigene Ansehen trotz der Verfehlung doch noch positiv zu beeinflussen. Frau Kraft gibt mehrmals Verfehlungen zu, beim ersten Mal sehr expandiert und gerade den Aspekt des Nicht-Lügens hervorhebend: 310 Johannes SchwilaUa 176 C: 177 B: 178 C: 179 B: 180 C: 181 B: 182 C: 183 B: 184 B: sie/ sie räume oi daß sie drecksau ja: und daß sie ins aldersheim gehe soll gesacht hawwe des räume se oil warum net| des hab isch gesachtj des geb isch alles zu warum nett des hawwe se gesacht] warum soll isch lüge jetz awwer zeig ja ja ja ewel. >mhmwo isch net gesacht hab brauch isch net/ net noch mir- * äh zugestehj Frau Kraft nimmt mit dem Pronomen isch explizit auf sich selbst Bezug, zuerst in darstellender Weise über ihre damaligen Handlungen, dann in metakommunikativer Weise über ihr jetziges Handeln. In konfliktären Situationen, in denen man noch zu keiner Einigung in den wesentlichen umstrittenen Punkten gekommen ist, ist es wahrscheinlicher, daß die Beteiligten eine Kombinationsstrategie verfolgen, indem sie der Zustimmung zu einem Vorwurf eine Handlung folgen lassen, welche entweder einem Gegenangriff entspricht oder den Schuldcharakter des eingestandenen FehlVerhaltens mindert. Frau Kraft handelt mehrmals nach dieser Kombinationsstrategie; ein Beispiel für die Sequenz Eingeständnis + Gegenvorwurf ist die Fortsetzung des letzten Ausschnitts: 185 C: >des verlongt niemand vun ihne ne awwer die drecksau 186 B: ja un- * ha/ hat 187 C: allä: des reischd jo schun des is io schun e beleidischung 188 B: sie gsacht was fer beleidischunge sie zu mi"r gsacht hod] 189 B: daß isch se am a"rsch lecke sollt 190 C: ja was hot se=n gsachdj Ein Beispiel für die Relativierung des Vorwurfs mittels formelhafter Sentenzen ist die Antwort auf den Vorwurf an die Tochter, sie sei fresch: 292 A: sie hawwe e fresches mädl des wisse sie genauj 294 A: ja also- 295 B: a"lle kinner sin Iresch liewer hab isch e iresches 296 A: <selbscht dann is=es kän grund 297 B: kind wie e krankes kind! und ähnlich die Antwort auf den Vorwurf, ihre Tochter reiße Blumen heraus: kinner stelle a”lles an mer kann se net feschtbinne (Z. 449/ 451). Beziehungsdynamik 311 Völlig entwertet wird eine Zustimmung zu einem Vorwurf, wenn sie ironisch gemeint und auch so verstanden wird, weil dann nämlich schon der Rahmen einer Auseinandersetzung über das Zutreffen von Behauptungen verlassen wird. Ironische Zustimmung impliziert, daß man den Gegner gar nicht mehr ernst nimmt. Einige Konsenssignale (ja) von Frau Beck und Frau Kraft sind ironisch zu verstehen; Verdoppelungen und prosodische Eigenschaften (Dehnungen, mittlere bis hohe Tonhöhe und progrediente Intonation) lassen die ironische Qualität erkennen, z.B.: 288 A: ia: ja"- 289 B: vor mir hot immer der ä/ äh aide Vorrang [ ...] 303 B: des hawwe sie üwwerhaupt net gesacht 304 A: naja isch hab jo zeuge 306 A: wo=s heref 307 B: ja: - [ ...] 722 A: weil mit ihne niemond- * vun ihne nie"mond was wisse willf 724 A: so" is es] ja"ja| zu ihnej 725 B: o zu mir kumme a"rg vielf awer je: des- Eine andere kommunikative Bedeutung bekommt ironisches Zustimmen, wenn es als hypothetisches Antezedens eines Ad-absurdum-Schlusses verwendet wird wie in den Zeilen 281f., als Antwort auf den Vorwurf, Frau Kraft habe wie e maschinegewehrle und ohne Unterbrechung ihre Beschimpfungen herausgestoßen: 281 B: oh do wisse sie des awwer ganz genau daß sie so 283 B: herzfladdere kriegt hawwef c) Gegenvorwurf Die gewöhnlichste Art, einem Vorwurf zu begegnen und den Konflikt aufrechtzuerhalten, ist es, einen Gegenvorwurf vorzubringen, so daß eine zirkuläre Rundenabfolge von Vorwurf und Gegenvorwurf entsteht, die ja für viele Streitgespräche typisch ist (Gruber 1996, S. 205). Von den Interaktionsformen her gesehen gibt es in der Schlichtung „Alte Sau” „Retourkutschen” (= denselben Typ von Vorwurf zurückgeben) und Vergleiche des eigenen Tuns mit dem (viel schlimmeren) der Gegnerin. Ein Beispiel für das Zurückgeben desselben Vorwurfs hatten wir schon im Ausschnitt Z. 187ff., wo auf die Vorhaltung, der Ausdruck drecksau sei eine Beleidigung, die Beschuldigte eine Liste von Beleidigungsausdrücken ihrer Gegnerin präsentiert. Die unterschiedlichen Formen von Retourkutschen 312 Johannes SchwitaUa haben eine thematisch und handlungstypisch enge Verflechtung, stellen also einen hohen Grad interaktiver Verwobenheit der Beiträge dar; sie haben allerdings auch die Tendenz zur Perpetuierung der gegenseitigen Anklagen. 23 Dieser Tendenz zur Verselbständigung entspricht, daß die Kontrahentinnen schon Äußerungen, die gar nicht als Angriff gemeint sind, von vornherein als einen solchen verstehen und auf sich beziehen, um sich dann dagegen zur Wehr zu setzen (vgl. Keim in diesem Band Kap. 3.2). Im folgenden Ausschnitt wirft Frau Beck Frau Kraft vor, diese habe sie als lügnerin hingestellt. Frau Kraft bezieht den Vorwurf der Lüge aber auf sich und verteidigt sich (isch hab kein grund zur lüge); genau diesen Vorwurf bringt dann aber Frau Beck vor und erklärt ihn explizit als einen GegenvoTV/ mf des Lügens (die Äußerungen des Schlichters werden weggelassen): 126 A: awer nit abstreitej un mi"sch als lügnerin denn isch bi"n 129 A: kä lügnerin des werre sie genau wisseI 130 B: isch lüg 132 A: nä sie 133 B: nett isch hab kein grund zur lüge 135 A: hawwe bloß vorgs johr die frau meier- * ihr mann 136 B: nä 138 A: (...) erzählt- * moment jetzt raöscht isch gra: d Sache 139 B: (, , ,) 142 A: viin vorneroi weil se mi"sch als lügnerin hiestellt Die eigene Schuld abschwächen kann man auch dadurch, daß man eigene Verfehlungen gegen die viel schwerer wiegenden des Kontrahenten hält. Auf diese Weise verteidigt sich Frau Beck gegen den Vorwurf von Frau Kraft, sie habe blödi kuh zu ihr gesagt, und gegen den juristischen Schluß, den der Schlichter daraus zieht, daß sich die Beleidigungen gegenseitig aufhöben. Die Aktivität des Vergleichens wird mit einer syntaktischen und rhythmischen Konturierung der Formulierung noch intensiviert: e blödi kuh is kä wi”ldsau\ un kä dre”cksau] un kä Vergasung] un kä aldersheim] des is=n unnerschied] wa”s isch zu jemand sag] (Z. 595-599). Die Liste wiegt schon quantitativ schwerer als der eine Beleidigungsausdruck, sie ist bis zur Beleidigung/ Drohung Vergasung in Form einer Klimax 23 Vgl. Watzlawick et al. (1969, S. 106fF.). Beziehungsdynamik 313 angeordnet, und der qualitative Unterschied der Schwere der Beleidigung wird mit einer ausleitenden Formulierung explizit festgestellt. d) Abstreiten Zustimmung und Vergleich lassen dem Vorwurf einen gewissen Spielraum der Gültigkeit, sie schränken die Schwere der Schuld ein bzw. enthalten auch positive Aspekte der Verteidigerin. Dagegen weist das Abstreiten den Vorwurf als nicht berechtigt zurück (Gruber 1996, S. 208). Er hat zumindest aus der Sicht der Betroffenen keinen Grund in der Realität des vergangenen Geschehens. Auch hier haben Positionierungen und stimmliche Formungen der Zurückweisung eminente Bedeutung für die Glaubwürdigkeit der Sprechenden. e) Beleg fordern Um die Unhaltbarkeit eines Vorwurfs bloßzulegen, gehen Angegriffene dazu über, Belege für den Vorwurf zu fordern im sicheren Wissen, daß es keine selbstzuverantwortende Handlung gibt, die den Vorwurf rechtfertigt. Dies setzt die handlungslogische Bedingung für den Sprechakt ‘Vorwurf’ voraus, nach welcher man nur dann einen Vorwurf äußern darf, wenn man berechtigten Anlaß dafür hat, daß der Angegriffene tatsächlich das getan hat, was man ihm vorwirft. Einen Beleg zu fordern wird in Form von Frage- oder Imperativsätzen realisiert und kann sich auf die Zeugenschaft des Vorfalls beziehen. So fragt die beschuldigte Frau Kraft nach dem Bericht von Frau Beck über das beleidigende Verhalten ihres Mannes: habe sie=s gehö: rt] (Z. 256), um den Vorwurf nur auf Hören-Sagen begründet erscheinen zu lassen (die leut sage viel, Z. 258); sie hat beim Schlichter damit Erfolg, der ihr zustimmt (gsacht werd vied, Z. 259). Bei positiven All-Aussagen (z.B. du hast schon immer ...; alles was du machst ...) bietet es sich an, einen genauen Beleg für einen Einzelfall zu fordern in der Hoffnung, daß sich ein solcher nicht finden läßt. Auf den Versuch von Frau Kraft, Frau Beck als eine Person darzustellen, mit der niemand Kontakt haben will (impliziter sozialer Ausschluß), fordert diese als Beleg nur einen Namen (dann sache sie mir ei”n name), und sie nimmt vorsichtshalber eine Person aus (des sacht hekschdens die frau kellergeischt, Z. 645). Auf das Eingeständnis von Frau Kraft, sie kenne die Namen der Personen nicht, zieht Frau Beck für sich die Konklusion: dann is es gelogel, Z. 654. 24 24 Ähnlich Z. 643f.: A: weil sie mit jedem krach ofonge B: mit wem]. 314 Johannes Schwitalla 4.2.3 Die Demonstration von Empörung Mit prosodischen Mitteln können Sprecher die Empörung über einen nach ihrer Meinung ungerechtfertigten Angriff zum Ausdruck bringen, was wesentlich mit zur Selbstdarstellung des unschuldig Verfolgten gehört. Charakteristisch ist dafür, daß das Intonationsspektrum größer wird, die Lautstärke zunimmt und Vokale sehr lang gedehnt werden (Günthner 1993, S. 7; 1995, S. 159). Ein Beispiel ist die Fortführung des Gegenvorwurfs von Z. 189: 189 B: daß isch se am a"rsch lecke sollf 191 A: wa: "st da"s is gelog/ das is überhau"pt nisch/ oh: 192 B: ja: un daß isch un daß isch blö"d Das stark akzentuierte und gedehnte Pronomen wa: ”s drückt die Überraschung und Empörung über die (von der Sprecherin aus gesehene) offene Unwahrheit ihrer Anklage aus; erst danach wird sie in Form eines Satzes festgestellt (wieder mit sprechsprachlichen Kennzeichen der „Fassungslosigkeit” über den Vorwurf: Wortabbruch, Satzabbruch, Interjektion). Frau Kraft reagiert kurz nach dieser Stelle ebenfalls nur mit einer direkt angehefteten Interjektion und erst danach mit einem generellen Vorwurf der Unwahrheit: 216 B: gestaime un hat <lau"tstark über misch geschenntf 217 A: a: chdas is ga"r nischt gahrl des is 218 B: um iü"nf uhrf un des weeß isch genaul un 219 A: net Bohrf Auch hier signalisiert wieder der sofortige Einsatz mit einer sehr expressiv gestalteten Interjektion, daß sich die Angeklagte zu Unrecht angegriffen fühlt. Der Einsatz im Standard, mit einer Wiederholung im Dialekt, verstärkt den Ausdruck fester Überzeugung. Weitet man die Beobachtungen über das Beispiel hinaus aus, so wird man feststellen können, daß man nur in wenigen Situationen so tun kann, als sei ein Vorwurf, allgemein gesprochen: ein gegen das positive Face gerichteter Sprechakt, nicht passiert bzw. als sei er ein Scherz oder ein sonst nicht weiter zu behandelndes Vorkommnis. In allen anderen Fällen verlangt ein Angriff eine Behandlung. Auch hier können wie bei Angriffen lautlich-stimmliche Mittel und die Positionierung der eigenen Rede gegenüber der/ des anderen dem eigenen Gefühl der Unschuld Ausdruck verleihen bzw. andere, ebenfalls positive Eigenschaften zur Schau stellen (z.B. ruhige Überlegenheit, Bedächtigkeit). Die Kombination von (partiellem) Eingeständnis mit anschließenden Aktivitäten, die die eigene schuldhafte Handlung relativieren oder erklären oder in einem nicht so schlimmen Licht erscheinen lassen, ist dann an- Beziehungsdynamik 315 gebracht, wenn man die Verfehlung nicht ableugnen will oder kann. Ein danach aber vorgebrachter Angriff auf den Gegner hat den Vorteil, die Aufmerksamkeit des Publikums bzw. des Adressaten von einem selbst abzulenken und den Gegner wieder in Zugzwang zu bringen. In nichtkonfrontativen Gesprächen werden Eingeständnisse, Abschwächungen und Erklärungen ohne einen solchen Gegenvorwurf eine viel bessere Chance haben, unter Wahrung der gegenseitigen Achtung einer mißlichen Lage des eigenen Face zu entkommen. 4.3 Die Lust am Streiten In mehreren Streitphasen (vier von neun) „verbeißen” sich die Kontrahentinnen derart ineinander, daß ihr Streitgespräch eine kommunikative Dyade wird, die den Schlichter als Mitagierenden ausschließt. Die imageverletzenden Sprechakte folgen schnell aufeinander, es gibt viel überlappende Rede, ohne daß man sagen könnte, die Kontrahentinnen hörten einander nicht mehr zu; Lautstärke und andere Anzeichen von emotionaler Erregung und interaktiver Zielgerichtetheit werden gesteigert. Auf weite Strecken hat man als Außenstehender den Eindruck, Frau Beck und Frau Kraft seien sich selbst genug und fühlten sich trotz aller Empörung und Wut eigentlich ganz wohl in ihrem Streit. Die Art und Weise der interaktiven Verdichtung soll zunächst an der dritten Streitrunde, von der wir schon einige Teile kennen, gezeigt werden, danach noch einmal an der achten. Nachdem Frau Beck eine längere Darstellungseinheit, nämlich die Schilderung, wie der Mann von Frau Kraft Beleidigungen gegen eine Nachbarin ausgestoßen hat, deutlich erkennbar zu Ende gebracht hat (und so war de”sl s.o. 4.1.1) und der Schlichter meinte, er könne nun die Verhandlung wieder übernehmen (m/ frau beck), setzt sie ihre Anklagen in metakommunikativer Weise fort mit dem Vorwurf, Frau Kraft wolle ihr den ganzen Konflikt in die Schuhe schieben: 267 A: un so war de"sf un sie" wolle jetz mir alles 268 C: m/ frau beck- 269 A: uff/ u"mdrehe un u"ffhänge isch hab/ 270 B: ga"nz un ga"r nischtj 271 A: isch hab üwerhau"pt nix gesagt wie sie sin e 272 B: >ga"nz un ga"r nischtl 273 A: bledi kuh: Sofort nach Frau Becks intonatorisch leicht fallendem Abschluß des doppelt besetzten infinitiven Prädikatsteils (u”mdrehe un u”ffhänge), setzt Frau Kraft mit ihrer Rede ein, indem sie den Vorwurf global abstreitet. Dabei haben die beiden Widersprechensformeln ga”nz und ga”r nischt 316 Johannes Schwitalla einige intonatorische Ähnlichkeiten mit den beiden von Frau Beck gesprochenen Infinitiven u”mdrehe un u”ffhänge. Beide Außerungseinheiten haben einen hohen Gipfel auf der ersten Silbe, fallen dann ab, steigen mit einem Akzent wieder an und fallen wieder ab: A: umdrehe un uffhänge B: ganz un gar nischt Vor allem die Doppelung der Intonationskonturen stellt diese intonatorische Ähnlichkeit her, obwohl es sonst auch einige prosodische Unterschiede gibt (geringere Tonhöhenspanne bei Frau Beck, schnelleres und lauteres Sprechen im Vergleich zu Frau Kraft). Genauso unmittelbar anschließend an die letzte Äußerung von Frau Beck sie sin e bledi kuh: , mit fallender Intonation gesprochen, beginnt Frau Kraft erneut einen Widerspruch: 273 A: bledi kuh: nachde"m sie- 274 B: doch des hawwe sie zu mir gesucht 275 A: <nachde"m sie hawwe io gar nix here 276 B: nachde"m isch mit ihne angefange habt 277 A: kenuej sie hawwe ja wie e maschinegewehrle- * Der Widerspruch von Frau Kraft zeigt, daß sie die Äußerung von Frau Beck nicht richtig verstanden hat. Diese gab ja zu, bledi kuh gesagt zu haben; der Widerspruch mit dem Affirmationswort doch setzt aber ein Leugnen voraus, als ob Frau Beck gesagt hätte: isch hab überhaupt nit gesagt sie sin e bledi kuh. 25 Auffallend für die Verdichtung der Interaktionszüge ist die sofortige Replik der Angegriffenen. So kommt es häufig zu überlappender Rede, ähnlich wie in dem high-involvement-style, wie ihn Tannen (1984, S. 30f.) beim Sprachverhalten New Yorker Juden dargestellt hat. Das zufällig gleichzeitige Aus- 25 Zu Komplikationen im Zusammenhang mit Perspektivenabschottung vgl. auch Keim in diesem Band (Kap. 3.2). Beziehungsdynamik 317 sprechen des Wortes nachdem zeugt zwar nicht von Konsens, aber davon, daß Frau Kraft trotz überlappender Rede Frau Beck zugehört hat und ihren Außerungsbeginn mit nachdem für den eigenen Außerungsbeginn ausnützt. Es läßt sich mehrmals das Muster feststellen, daß die unterbrochene Sprecherin, nachdem ihr die andere ins Wort gefallen war, ihre Rede unterbricht, dann aber wieder aufnimmt; sei es, um den begonnenen Satz zu Ende zu führen wie im ersten Fall des Unterbrechens (isch hab/ ** isch hab üwerhau”pt nix gesagt), sei es, um auf den Widerspruch einzugehen: nachde”m sie/ ** <nachde”m> sie hawwe jo gar nix here kenne{. Das heißt also: Auch Frau Beck hört Frau Kraft aufmerksam zu und geht sowohl inhaltlich wie sprachhandelnd auf den Widerspruch von Frau Kraft ein. Sie nützt sofort wieder die Redemöglichkeit zu einem Gegenangriff. Die Kontrahentinnen scheinen nicht zu bemerken, daß sie sich von ihren kontroversen Darstellungen der Ereignisse in der Vergangenheit entfernt haben. Während Frau Kraft etwas als Widersprechensakt behauptet, was Frau Beck gar nicht abgestritten hat, spricht Frau Beck Frau Kraft die Möglichkeit ab, den Ausdruck bledi kuh gehört haben zu können, da sie ja wie e maschinegewehrle gesprochen habe. Diesmal läßt Frau Kraft Frau Beck drei Äußerungseinheiten sprechen, bis sie wieder eingreift: 275 A: <nachde"m sie hawwe io gar nix here 276 B: nachde"m isch mit ihne angefange habt 277 A: kennej, sie hawwe ja wie e maschinegewehrle- * 278 A: üwwerhaupt nit unnerbroche bei ihre schimpfereiej, 279 B: ia=ial 280 A: ha isch hab=s 281 B: oh do wisse sie des awwer ganz genauj dafi sie so 282 A: io gehertt un die annere hawwe=s aa" gehertj. 283 B: herzfladdere kriggt hawwel Trotz des scheinbaren Chaos wird doch ein Rhythmus der Außerungseinheiten eingehalten. Frau Krafts erste Intervention, das ironische, vom Ton her auch genervte ja ja beginnt exakt mit der dritten Außerungseinheit von Frau Beck. Zwei Mal hatte sie vorher die kurzen Pausen nach den Außerungseinheiten abgewartet; beim dritten Mal setzt sie wieder im direkten Anschluß ein: oh do wisse sie des .... 26 Inhaltlich entfernt sich der Streit noch mehr vom offiziellen Streitanlaß. Jede Äußerung der Gegnerin wird dafür ausgenützt, ihr „eins draufzu- 26 Ähnliche Formen des verbissenen Streitens in Schlichtungsgesprächen beschreibt Nothdurft (1993, S. 76f.). Vgl. auch Fiehler (1993, S. 157f.): „unmittelbare Positionskonfrontation” . 318 Johannes Schwitalla geben”. Ging vorher schon Frau Krafts insistierende Behauptung, Frau Beck habe bledi kuh gesagt, insofern am Stand der Interaktion vorbei, als diese das ausdrücklich zugegeben hatte, so macht Frau Beck jetzt Frau Kraft nicht auf das Mißverständnis aufmerksam, sondern sie unterbricht ihre Verteidigung (nachde”m sie- ** <nachde”m [zu ergänzen: „Sie mich noch viel schlimmer beleidigt hatte”] ) und versucht, Frau Kraft zu widerlegen, indem sie ihr vorhält, sie habe ununterbrochen (wie e maschinegewehrle) gesprochen, so daß sie den Beleidigungsausdruck bledi kuh gar nicht habe hören können. Dieses Gegenargument paßt aber eher zu einer Verteidigung, die darauf hinausläuft, die Beleidigung abzustreiten, als zu der vorher angezielten Verteidigung nach dem Topos, die eigene Verfehlung wiege weniger schwer als die der Gegnerin. Die kognitiven und strategischen Orientierungen der Auseinandersetzung geraten also durcheinander. Und auch von den Vorwurfsthemen her entfernt sich der Streit von der Schlichtungsinteraktion, weil Frau Beck an Frau Kraft etwas kritisiert, was nicht mehr justiziabel im Sinne einer Bearbeitung durch eine institutionelle Schlichtung ist, sondern einfach ein schlechter Charakterzug von Frau Kraft. Vollends von der Realität der vorgefallenen Ereignisse entfernt sich dann Frau Kraft, die, nur um nicht um eine Antwort verlegen zu erscheinen, dasselbe Bedingungs- und Folgerungsverhältnis zwischen Schnellreden und Nicht-Hören-Können übernimmt, nun aber ironisch ins Gegenteil verkehrt. Die implizite Gedankenfigur soll wohl heißen: „Wenn ich so ununterbrochen geschimpft haben soll, daß ich nicht mehr gehört haben kann, was Sie sagten, dann können Sie auch nicht einzelne Beleidigungen verstanden haben, auf die hin Sie Herzbeklemmungen bekommen haben wollen.” All das bleibt aber implizit und vage; es läßt sich nur so oder ähnlich aus ihrer Äußerung schließen. Dadurch, daß es nicht notwendig ist, die Argumente propositional auszuformulieren, zeigt sich, daß der Sinn der Äußerung wie bei Frau Beck auch in einem Imageangriff liegt, dessen lexikalischer Ausdruck jedesmal an das Ende der Außerungseinheit, also an eine besonders hervorgehobene Stelle geschoben wird: BE: ... wie e maschinegewehrle BE: ... bei ihre schimpfereie KR: ... daß sie so herzfladdere kriggt hawwe Auch in anderen Teilen dieser Streitrunde gleichen sich einzelne Intonationskonturen am Schluß von Äußerungseinheiten: BE: (leicht steigend) bledi kuh: (Z. 273) KR: (leicht steigend) zu mir gsacht (Z. 274) Danach sprechen Frau Beck und Frau Kraft in oppositiven Intonationen (Z. 275f.): Beziehungsdynamik 319 KR: (fallend) angefange hab BE: (steigend) nix here kenne Anschließend sprechen sie wieder mit parallelen Intonationsverläufen den ersten bzw. die ersten beiden Sätze einer zusammengehörenden Äußerungsfolge steigend, die letzte fallend: BE: (leicht steigend) wie e maschinegewehrle (fallend) bei ihre schimpfereie KR: (steigend) awwer ganz genau (fallend) so herzfladdere kriggt hawwe BE: (steigend) isch hab=s jo ghert (fallend) hawwe—s aa ghert Dadurch ergibt sich ein akustisches Bild von Einheitlichkeit und Wiederholung, das sich im Mittelteil des hier untersuchten Ausschnitts durch Hauptakzente auf den akzenttragenden Silben der letzten Wörter einer Außerungseinheit verstärkt: BE: maschinegewehrle [...] schimpfereie KR: ganz genau BE: jo gehert [...] aa gehert Obwohl Frau Beck in diesem Ausschnitt die Wortführerin (primäre Sprecherin) ist und Frau Kraft nur immer wieder bissige Kommentare zu dem, was Frau Beck sagt, gibt, „harmonieren” beide doch hinsichtlich der Prosodie (Intonationsführung), des Abwartens von möglichen Schlüssen von Äußerungseinheiten, des Aufgreifens von Redegegenständen, mit jeweiligen oppositiven Weiterführungen (also große thematische Kohärenz), der „Formulierungskunst” im Sinne von metaphorisch sprechenden und möglichst verletzenden Angriffen {maschinegewehrle-, herzfladdere). Frau Beck und Frau Kraft bilden dadurch eine interaktive Einheit, welche aufzubrechen der Schlichter große Mühe hat. Wie vor dem Abschnitt, wo eine solche Initiative scheiterte, weil Frau Beck zu einem weiteren Angriff ansetzte, so scheitert auch jetzt sein Versuch, die Verhandlung an sich zu reißen. Frau Beck fährt, wie zuvor, mit einer allgemeinen Interpretation des Verhaltens von Frau Kraft fort, und das Spiel von Vorwurf und sofortiger Entgegnung beginnt von neuem: 320 Johannes Schwitalla 284 A: nä" sie sin raffiniert sie mäne weil isch 285 C: so- LACHT so- 286 A: aider bin bin isch ihne unnerlege awwer so" is=es nit 287 B: nä ganz un gar net vor 288 A: ja: ia"- 289 B: mir hot immer der ä/ äh aide Vorrang 290 A: >des/ ja: ja ia- 291 B: awwer gege meine kinner laß isch mer net nimhetzej * 292 A: sie hawwe e fresches mädl des wisse sie genauf 293 B: ganz un gar net I Wie im vorhergehenden Abschnitt begleitet Frau Kraft die Behauptungen mit der allgemeinen Widersprechensformel ganz und gar net, und umgekehrt Frau Beck die Verteidigung von Frau Kraft (gege meine kinner laß isch mer net rumhetze) mit (ironischen? ) Zustimmungen. Auch intonatorisch ergibt sich hinsichtlich der sehr häufig fallenden Intonationen eine Gleichartigkeit. (In den nachfolgenden Außerungseinheiten wird dieses Wiederholen von Tonhöhen und Lautstärken noch ausgeprägter). Und wieder hat es der Schlichter schwer, den Fluß der hervorströmenden Anklagen von Frau Beck zu unterbrechen (vgl. Kap. 5.1). Das Aufeinander-Eingespielt-Sein in der Rhythmik der Beteiligung, der Prosodie und hinsichtlich der aufeinander bezugnehmenden Sprechakte soll am Beginn der achten Streitrunde noch einmal kurz illustriert werden. Eine Frage-Antwort-Sequenz zwischen dem Schlichter und Frau Beck beendet diese mit einer generellen, positiven Selbstaussage: 637 A: 638 A: 640 A: 641 A: 642 B: 643 A: 644 B: 645 A: 646 B: 647 A: 648 B: 649 A: 650 K 651 B: isch wohn jetz vie"rnfünfzisch jahr in der Siedlung! * “ir kann nie"mand was schleschtes nochsache oder daß isch streit ghabt hab mit jemondj * awwer <sie" wohntja weil sie nie/ niemand mit sisch abgibt <oh: : bei mir sitze iomit wä: mt weil sie- * weil sie mit je"dem krach öfange des sacht des sacht hekschdens die fra doch die ganz Siedlung! —»driwwe die kellergeischt1 we: r! kei"n menschl lent wo se vorher gewohnt habbef die Sache #a: : # SEHTRÜSTET# mir sin froh daß mer die fra beck los habbej Beziehungsdynamik 321 652 A: dann Sache sie- * Sache sie mir ei"n namej. 653 B: sa: che die lent drügge ia: t isch kenn se net 654 A: dann is es gelogej, 655 B: mit namef * die frauej awwer die wohne 656 A: zn mir- * sie sehe io selwer daß bei mir im gardde die leit 667 B: in dem haus wo sie vorher wäret 658 A: vun drübbe- * ie"den dagdo"chj 659 B: ja awwer a"lle nitl nur die wo gern 660 A: kei"n mensch schennt üwwer misch 661 B: sche"nne| * sitze do an de garasch vorne I Diesmal ist Frau Kraft die durchgehende Sprecherin, zu deren Äußerungen Frau Beck ihre Kommentare gibt. Der Interaktionsrhythmus ist im Vergleich zum letzten Ausschnitt dichter: Entweder beginnt eine der Kontrahentinnen sofort nach einem möglichen Beitragsende (Frau Beck Z. 643 zweimal, Z. 645, 647, 649, 659; Frau Kraft Z. 648, 653, 655, 659 zweimal), oder eine spricht simultan zur Rede der anderen, noch bevor ein mögliches Ende der Äußerungseinheit abzusehen ist (Frau Beck Z. 647: Frage und selbstgegebene Antwort; Frau Kraft Z. 642, 646, 655 als Nachtrag, Z. 661 ebenfalls als Nachtrag), oder beide beginnen gleichzeitig nach einer möglichen Sprecherwechselstelle (Z. 652f., 658f.). Die Sprecherinnen übernehmen voneinander syntaktische Strukturen (Z. 644 KR: des sacht ..., Z. 645 BE: des sacht ...), bestimmte Wörter (sache sie mir ein name] isch kenn se net mit name) oder führen die eigene Rede mit einer Konjunktion an die Vorgängeräußerung anknüpfend fort (Z. 644: weil sie [...] mit jedem krach öfange). Eine zeitliche Strukturierung der Interaktion ergibt sich auch dadurch, daß die kurzen, laut gesprochenen und direkt anschließenden Kommentare von Frau Beck in Form von Interjektionen (oh: , a: ch) und verkürzten Nachfragen (mit wen']) in einem ziemlich genauen Abstand von jeweils vier Sekunden erfolgen. Zum Schluß dieses Abschnitts wird der Rhythmus der Beitragsabfolge schneller: 658 A: vun drübbe- * ie"den dagdo"chJ. 659 B: ja awwer a"lle nitl nur die wo gern 660 A: kei"n mensch schennt üwwer misch isch 661 B: sche"nnej * sitze do ein de garasch vorneI Trotz der vielen überlappenden Redeteile geht keine Initiative verloren, jede Beteiligte achtet sehr wohl auf die kommunikative Zielrichtung des Beitrags der anderen und geht anschließend darauf ein, z.T. auch indem sie Wörter aufgreift, welche die andere gesagt hat (sache, name). 27 27 Ein ähnliches überlappendes, aber nicht nonreponsives Sprechen miteinander hat 322 Johannes Schwitalla Schematisch dargestellt, sehen die ineinandergreifenden Beiträge ab Zeile 641 ungefähr folgendermaßen aus (/ = Abbruch, |= mögliches Beitragsende, ||= tatsächliches Beitragsende, Par = Paraphrase): BE: (Vorwurf'l / Gegenarg./ Belegford. II KR: soz. Ausschluß/ iPar / Par | Beleg || BE: einzige Ausnahme || Belegford.|| Gegenbeh.l| Interi. II KR: Par 1 IPar 2 [| BE: Belegford. / II Kommentar II Gegenarg. / KR: Par 3 h Antwort [| Nachtr, Par 4 BE: Nachtrag || Widerspr. |[ Widerspr. [ KR: Widerspruch II Anklage Nachtr. Nachtr. II Beide sprechen in dieser Phase laut und stellenweise auch hoch. Und wie im zuletzt analysierten Ausschnitt gibt es einige auffallende Intonationswiederholungen bzw. eine Intonationsumkehrung: - Die typisch mannheimerische steigend-fallend-steigende Schlußsilbe einer Äußerung in mit we: m (Z. 643) wiederholt Frau Kraft in der Schlußsilbe von Siedlung. - Der gedehnten, sehr tiefen und noch weiter fallenden Interjektion a: : von Frau Beck (Z. 649), entspricht, den Tonhöhensprung nach oben umkehrend, der sehr hohe Einsatz von Frau Kraft ebenfalls mit einem gedehnten Vokal: sa: che die lent (Z. 653). - Die beiden Sätze Sache sie mir ei”n name (Z. 652) und isch kenn se net mit name (Z. 653/ 655) haben eine ähnliche Intonationskontur: o o <—Sache sie mir ein na: me o O O O |o fo o — ► isch kenn se net mit na: me Schegloff (1988, S. 228ff.) in einer hitzigen Diskussion zwischen Bush und Rather festgestellt. Wie ein zu früher Redeeinsatz mit falscher Projektion der Rede des Adressaten zu einem Aneinander-Vorbei-Reden führt, zeigen Holly/ Schwitalla (1995, S. 74). Beziehungsdynamik 323 Ähnlich sind auch Intonationsführung und syntaktischer Parallelismus in den Äußerungen KRs: des sacht doch die gonz Siedlung und BE: des sacht hekschdens die fra kellergeischt (mit jeweils leichter Steigung am Schluß des Satzes). In solchen Phasen fühlen sich die Kontrahentinnen in ihrem Element: Beide zeigen einen sehr hohen Einsatz. Frau Kraft als Wortführerin spricht auf sehr hoher Tonhöhe und ziemlich schnell, zur Eindringlichkeitssteigerung läßt sie die Stimme am Ende von Äußerungseinheiten nicht fallen, sondern führt sie leicht nach oben und akzentuiert sie (jedem, Z. 644, Siedlung, Z. 646, froh, los, Z. 651, sa: che, Z. 653). Frau Beck, die mit einem sehr hohen Kontrastakzent awwer sie” wohnt (Z. 641) diese Streitrunde eröffnet hatte, begleitet die Rede von Frau Kraft mit lang gedehnten und laut gesprochenen Interjektionen und Nachfragen und wechselt dabei die Tonhöhen ab: hoch hoch tief hoch (anklagend): (entrüstet): (einräumend): (fordernd): (bestimmt): sehr tief (entrüstet): hoch (fordernd): tief (widerlegend): awwer sie” wohnt oh: : bei mir sitze jo/ mit wä: m\ des sacht hekschdens die fra k. we: rj kei”n mensch a: : dann suche sie/ Sache sie mir ei”n name[ dann is es geloge[ Auch in den anderen drei Phasen der Streitverdichtung lassen sich ähnliche Phänomene des gleichartigen sprachlichen Verhaltens beobachten. Sie betreffen: das Aufgreifen von syntaktischen Strukturen und Wörtern, lauteres Sprechen als ein Zeichen emotionaler Involviertheit, phasenweise Intonationsübernahmen, überlappendes Sprechen bei gleichzeitiger Aufmerksamkeit auf das Gesagte der Gegnerin. Die Entfesselung eines interaktiv dichten und emotional gesteigerten Streits vor einem Publikum kann rhetorisch nutzbringend sein, wenn es gelingt, die eigene Person als schlagfertig, witzig, gekonnt argumentierend erscheinen zu lassen, ein Ziel, das in Fernseh-Talk-Shows z.B. seinen überall zugänglichen institutionellen Ort gefunden hat (Mühlen 1985, S. 191ff.). Das gilt auch für das Streiten vor einem offiziell bestellten Schlichter (Nothdurft 1993, S. 77f.). 324 Johannes Schwilalla Die Gefahr dabei ist aber, daß der Mechanismus des schnellen Entgegnen- Müssens und der Verlust rationaler Selbstkontrolle den Betroffenen in den Augen Dritter als unbeherrscht, rechthaberisch und verbissen erscheinen lassen können. Rhetorisch geschickt ist es, mit immer weiteren Provokationen den Gegner sozusagen um seinen Verstand zu bringen, so daß er aus Wut und Empörung etwas sagt, was von allen Beteiligten als grobe Verletzung einer allgemein anerkannten Gesprächsregel empfunden wird. 5. Interaktionskonstellationen In diesem Kapitel soll der Schlichtungstext daraufhin untersucht werden, wie einzelne Beteiligte in einer aufeinander bezogenen Weise miteinander sprechen, die andere ausschließt. Der Blick auf die Konsequenzen von kommunikativen Einheitsbildungen soll einen weiteren Aspekt von Beziehungsregelung beleuchten: die Art und Weise, wie grundsätzlich an der Interaktion Zugelassene auch tatsächlich an ihr teilnehmen, ob sie z.B. immer wieder mit Aufmerksamkeit verfolgte Sprecher und Adressaten sind, oder ob sie dadurch von der Interaktion ausgeschlossen werden, daß niemand mehr seine Rede an sie richtet, daß ihre Beteiligungsinitiativen nicht mehr beachtet und daß sie im schlimmsten Fall Objekt der Rede anderer werden. Eine Nebenkommunikation zu beginnen, die bestimmte andere ausschließt, hat dann für die bis dahin stattgefundene Interaktion eine subversive Funktion. Jemanden als gleichberechtigten Teilnehmer an der Interaktion wahrzunehmen, bedeutet eine viel grundsätzlichere Anerkennung einer Person als es sprachliche Beziehungsakte wie Lob und Tadel sind. 28 5.1 Interaktiver Ausschluß Wie im vorhergehenden Kapitel zu sehen war, hatte der Schlichter in beiden Ausschnitten große Mühe, wieder als aktiv Beteiligter in das Gespräch zu kommen, so daß ihm die beiden Frauen ihre Aufmerksamkeit schenken. Am Ende der ersten Streiteinheit (vgl. Z. 284-293 in Kap. 4.3) versucht der Schlichter durch Namensanrede an Frau Beck, die zuletzt alleine gesprochen hatte, wieder zu Wort zu kommen: 306 A: wo=s heref ne/ sie" redde sisch 307 B: ja: | 308 C: äh trau beck so- 309 A: nadierlisch jetzt rausf mäne sie 310 C: ja ja- Iran beck jetzt losse se 28 Vgl. Watzlawick et al. (1969, S. 75-77) zu „Entwertungen”; zu interaktiven Ausschlüssen in Gesprächen: Goodwin (1986); vgl. auch Kallmeyer/ Schmitt in diesem Band (Kap. 5). Beziehungsdynamik 325 311 A: isch hab 312 C: misch- 313 K zwee naschte #<frau beck# Ira beck jetz loss=e misch #BRÜLLT UND KLOPFT AUF DEN TISCH# 314 A: nff em bett gelege isch hab gemänt isch hab=n 315 C: mol misch redde.l 316 A: herzinlaktj 317 C: jetz jetz jetz bin isch emol am dranschdel * damit 318 C: raer mol znm=e- * ergebnis kommeJ. * Der Schlichter muß mit großer Intensität gegen Frau Beck ansprechen, um das Wort zu bekommen. Außer Namensanreden des Adressaten, die von sich aus schon ein appellatives Moment enthalten, die Aufmerksamkeit auf den Sprecher zu lenken (Schwitalla 1993a, S. 362), muß der Schlichter explizit und metakommunikativ eine Aufforderung an Frau Beck richten (lasse se misch/ loss=e misch mol misch rcdde), und erst, als Frau Beck tatsächlich aufhört zu reden, kann er ungehindert sein Rederecht fordern, was durch das lange Weiterreden von Frau Beck in seiner Intensität sozusagen übers Ziel hinausschießt: jetz bin isch mol am dranschde{. Durch Lautsteigerung bis zum Brüllen und nonverbale Begleithandlungen (Klopfen mit einem Gegenstand auf den Tisch) unterstützt der Schlichter zusätzlich den Redeanspruch. Innerhalb des ganzen Gesprächs muß der Schlichter acht Mal solche Versuche unternehmen, die ihm aus den Händen gelaufene Schlichtungssituation auch tatsächlich zu kontrollieren, weil die beiden Gegnerinnen ihn als einen Nichtbeteiligten in ihrem Privatzwist ansehen. Es zeigt sich, daß mit den Verstrickungen in einen Streit jeweils Rahmenwechsel einhergehen. In den Streitphasen interpretieren Frau Beck und Frau Kraft die Situation als eine Fortsetzung ihres Konfliktes, bei welchem dem Schlichter eine Zuschauerrolle, vielleicht auch eine Sympathisantenrolle zugeschrieben wird, in den er aber auf keinen Fall eingreifen soll, bis nicht die Frauen von selbst Zeichen der Beendigung gegeben haben. Damit heben sie die offiziell als „Schlichtung” bezeichnete Situation zugunsten ihres privaten Konflikts auf. Der Schlichter hat es schwer, die intensive Kommunikation zwischen Frau Beck und Frau Kraft aufzubrechen. Er muß schon sehr starke Mittel der Redebeanspruchung anwenden, bis die Kontrahentinnen von ihrem verselbständigten Konflikt ablassen. Diese Mittel sind: - Namensanrede, metakommunikativer Hinweis auf Rederechte und rollengebundene Aufgaben, lautes Sprechen bis zum Schreien. 326 Johannes Schwitaüa Gleich in der ersten Streitrunde zwischen Frau Beck und Frau Kraft gelingt es dem Schlichter nur mit großer Anstrengung, die Verhandlungsführung wieder an sich zu reißen: 102 A: Iriedhor fahrt do wollt se mir was Shämgel 103 B: des dut wer leid isch fcenn- * isch ke"nn der 104 C: nee frau frau frau beck- 105 A: des hot sie a"lles gsa"cht a"lles die na"chbarSchaft 106 B: monn netj. (. ■ ■ ) nei"n des is 107 C: frau beck frau beck un frau kraft frau heck 108 A: hot a"lles ghe"rt i"sch hab zeu"gel 109 B: nischt wahr- 110 C: frau beck un frau kraft moment mir halde=s hier so: [ 111 A: die frau müller war vor ihrm 112 C: mir halde=s hier soj, mir- #<frau beck 113 K #BRÜLLT 114 A: fenschterf ja die hot alles gehert 115 B: die frau müller hot erseht zum Schluß- * 116 C: frau beck># 117 K # 118 A: ja die hot=s awer innedrin gehertl 119 B: des fenschter uffgemachtj (. ■■ ) 120 C: —>jafra/ frau 121 A: sie ware io devo"r geschdannel 122 C: beck un frau kraftj mir halde=s hier so ans nach 123 A: jaja * 124 B: LACHT 125 C: em anneremir känne zusamme si"ngeawwer mir känne 126 A: awer nit abstreitel un mi"sch als lügnerin denn isch bi"n 127 C: net zusammen #re: de"nl# * sie/ sie krigge sie kenne- * 128 K #SPRECHGESANG# 129 A: kä lügnerin des werre sie genau wisset 130 B: isch lüg 131 C: sie kenne rede- * un die frau- <frau beck 132 A: nä sie 133 B: netj, isch hab kein grund zur lüge 134 C: sie kenne rede Beziehungsdynamik 327 Neunmal versucht der Schlichter, durch Adressierungen von Frau Beck, z.T. auch von Frau Kraft, sich ein Rederecht zu verschaffen. 29 Aber die Kontrahentinnen lassen sich durch diese Unterbrechensversuche kaum beeindrucken; sie adressieren ihre Reden weiter an die jeweilige Gegnerin und wehren die Redeverteilungsversuche des Schlichters wie etwas Lästiges und Nebensächliches ab. Erst nach diesem langen Ausschnitt adressiert Frau Beck ihre Rede an den Schlichter und spricht über Frau Kraft in der 3. Person: 135 A: 136 B: 137 C: 138 A: 139 B: 140 C: 141 K 142 A: 143 C: 144 A: 145 C: 146 A: 147 C: hawwe bloß vorgs johr die Iran meier- * ihr mann nä LACHT (...) erzählt- * moment jetzt moscht isch gra: d Sache (^J #ehe ehe# frau beck frau beck frau becfr irau beck- * »LACHT # vun vorneroi weil se mi"sch als lügnerin hiestellt mome: ntI denn sie" is die lügnerin! <—»frau beck im moment is die frau kraft beim vorgs johr hot se geloge daß die bollizei reden un wenn die frau kraft ferdisch is derfe sie rede! Aber der Schlichter muß auch nach diesem Ausschnitt noch lange darüber reden, daß immer nur eine Beteiligte das Rederecht hat und erst danach die andere darauf antworten darf. Stellt sich der interaktive Ausschluß des Schlichters als eine nicht beabsichtigte Folge einer inkompatiblen Rahmeninterpretation dar, nach welcher der unbeteiligte Dritte im Streit nur stört, so hat ein „Arbeitsbündnis” zwischen dem Schlichter und Frau Kraft die Konsequenz für Frau Beck, daß sie als die weniger flexible. Mitwirkende in die Gefahr gerät, als Starrköpfige, Kompromißlose aus der Interaktion ausgeschlossen zu werden. Dies geschieht tatsächlich einmal in der Phase einer Befragung zwischen dem Schlichter und Frau Kraft, während Frau Beck weiterspricht, die beiden anderen ihr aber nicht mehr zuhören: 452 A: kinner net I agger ihrnl 453 C: —»ja wieviel kinner gleviel kinner wieviel 29 Das ist die längste Sequenz von Namensanreden zum Zwecke der Durchsetzung eines eigenen Rederechts, die ich kenne; vgl. Fiehler (1990, S. 279) mit fünfmaliger namentlicher Anrede. 328 Johannes SchwitaUa 454 B: zwei! 455 C: kinner hawwe=n siej zweej * nie alt sin se=nf 456 A: un wenn se aas macht un sacht jemand dann schenne sie sie 457 B: acht un drei! 458 C: un gelles war=n des die klä 459 A: noch heefle sie die lent alles zanunel 460 B: nä die größer! jaj. 461 C: oder die groß- * die größer! HOLT LUFT Der Schlichter achtet nun nicht mehr auf die Äußerungen von Frau Beck; er läßt sie weitersprechen und wendet sich mit seiner Frage nur an Frau Kraft (pronominale Anrede), die ihm auch antwortet. Das ist ein, wenn auch kurzfristiger Ausschluß von Frau Beck aus der offiziellen Interaktion. Das, was sie sagt, wird nicht beachtet. Dieser Ausschluß bekommt noch größere Bedeutung durch die sich anbahnende Koalition zwischen dem Schlichter und Frau Kraft. 30 5.2 Herstellen einer Koalition Im Lauf des Gesprächs bahnt sich zwischen der Beklagten und dem Schlichter eine Kooperation an, welche die Klägerin sehr wohl spürt und zu Beginn ungefähr des zweiten Drittels auch thematisiert (isch find [...] sie stehe mehr derre fra bei als wie mir, Z. 675/ 677). Der Grund liegt darin, daß die Klägerin, Frau Beck, ihre Position zu sehr in den Vordergrund schiebt, auf Rederechte anderer wenig Rücksicht nimmt und zu Aktivitäten des Schlichters, die an einer institutioneilen Lösung des Falles orientiert sind (Definition des Schlichtungsgegenstandes, Anknüpfungspunkt für eine Schlichtung, Schlichtungsvorschlag) im Gegensatz zu Frau Kraft sofort und heftig widerspricht (vgl. Spranz-Fogasy 1986, S. 180f., S. 186b). Die Beklagte verhält sich, verglichen mit Frau Beck, sehr viel zurückhaltender und geht schneller auf das Schlichtungsangebot des Schlichters ein. Die erste Stelle einer auffälligen Zustimmung des Schlichters zu einer Meinung von Frau Kraft ist die Formel gesagt wird viel, mit der er eine Formulierung von Frau Kraft variiert, welche damit die anklagende Schilderung Frau Becks, wie ihr Mann eine Nachbarin bedroht und beleidigt haben soll, zurückweist: 255 A: do bischdes is gsacht gorre un die 256 B: habe sie=s gehö: rt| ja: was die leu"t 30 Ein ähnlicher kommunikativer Ausschluß durch eine im Gespräch zustandekommende Koalition gegenüber einem als rechthaberisch empfundenen Diskussionsteilnehmer beschreiben Kallmeyer/ Schmitt in diesem Band (Kap. 5.3.3). Beziehungsdynamik 329 257 A: bollizei" hot- * die bollizei hot=s io schriftlisch 258 B: sa: ge gas die leut sage die leut sage viel! 259 C: ja: ja gas gsacht «erd gsacht nerd vie: 1.1. 260 A: uifgenununej. damn hot sich die frau" des habbe die leit 261 C: gsacht aerd viel] Für den Schlichter besteht kein Interesse, diesen Fall in der aktuellen Situation zu behandeln; er betrifft nicht den offiziellen Streit der Parteien untereinander. Wenn man nur auf die Äußerungen von Frau Kraft und des Schlichters achtet, erkennt man, daß beide Sprecher Formen des abwechselnden (fugalen) kollektiven Sprechens produzieren: zwar nicht wortwörtlich gleiche Formeln, aber doch ziemlich ähnliche und inhaltsgleiche. Beide wiederholen auch ihre Formeln und beide stimmen in der stark fallenden, wie verächtlich klingenden Intonation überein. Die zweite Stelle einer Koalitionsanbahnung zwischen Frau Kraft und dem Schlichter folgt direkt auf die Befragungssequenz, die in Kap. 5.1 als Beispiel des interaktiv ausschließenden Sprechens zitiert wurde. Nach dieser Sequenz wiederholt der Schlichter die Formel kinner kam=ma net immer abinne (Z. 463), welche Frau Kraft unmittelbar vor der Befragung als Verteidigung ihrer Tochter gebracht hatte: kinner stelle a”lles an mer kann se net feschtbinne (Z. 451). Der Schlichter expandiert diese Sichtweise sogar mit einer weiteren Formel: 462 A: nä des kann mer nit anwer 463 C: naja kinner kam=ma net immer abinne mer kann net immer <mer 464 A: ma konn se erzie"hel wenn se 465 C: kann net immer=n Schutzmann dahinner herstelle"! Auch hier wieder muß der Schlichter gegen die Klägerin ansprechen. Beide Formeln drücken grundsätzliche Erziehungsprinzipien aus, die Frau Kraft und der Schlichter teilen. In der Folge bekommt der Schlichter mit Frau Beck immer mehr Probleme, hauptsächlich deswegen, weil sie seinen Schlichtungsvorschlag schroff ablehnt (s=werre sie nie” erlebe, Z. 757), während Frau Kraft nach dem dritten Anlauf seinen Vorschlag akzeptiert (ja warum nett, Z. 754). Die Koalition zwischen der Beschuldigten und dem Schlichter äußert sich darin, daß der Schlichter Behauptungen der Klägerin anzweifelt, Frau Kraft müsse lebenslänglisch Tabletten nehmen (Z. 623/ 625); dadurch daß er sie mahnen muß, Dinge, die nicht zum Streitfall gehören, wegzulassen (Z. 670ff.); dadurch daß er bei Frau Beck sehr viel mehr Überzeugungsarbeit leisten muß als bei Frau Kraft und schließlich dadurch, daß er sich in einen Streit mit Frau Beck verwickeln läßt, in welchem er alle Anzeichen von Gereiztheit und auch Wut zeigt (Z. 1113-1136). 330 Johannes SchwUalla Die Beobachtungen an diesen Ausschnitten wie auch an der „Raucher”- Diskussion (vgl. Kallmeyer/ Schmitt in diesem Band) zeigen, welch große Relevanz der Status eines/ einer Beteiligten am interaktiven Geschehen hat. Wird jemand interaktiv aus dem laufenden Gespräch ausgeschlossen, einfach dadurch, daß niemand mehr auf seine/ ihre verbalen Aktivitäten eingeht, so vermindert das in drastischer Weise die Möglichkeiten, auf den Gang des Gesprächs und seine Ergebnisse einzuwirken. Goffmans Kategorie des ‘ratified participant’ (Goffman 1981, S. 132) ist also nicht etwas, was ein für alle Mal zu Beginn einer Interaktion festgelegt wird, sondern unterliegt einer ständigen Neu-Aushandlung und Gewichtung. Zwischen den Polen des interaktiven Ausgeschlossen-Seins einerseits und der vollgültigen und sogar mit Aufmerksamkeit verfolgten Beteiligung einer Person andererseits gibt es viele mögliche Formen interaktiver Beteiligung (Schwitalla 1993). Ein Zuviel in jede Richtung der beiden Pole hat ihre Gefahren: nämlich entweder als unbeteiligt zu erscheinen und nicht ernst genommen zu werden oder aber, bei zu starker Durchsetzung eigener Rederechte, sich zu sehr in den Vordergrund zu spielen und dadurch Gegenaktivitäten der anderen, die sich in den Hintergrund gedrängt fühlen, zu provozieren. 6. Strategien der Selbstdarstellung Einige der Weisen der personalen Präsenz der Beteiligten sind von ihren Rollen vorgegeben: Der Schlichter hat das Interesse, daß die Schlichtung ordnungsgemäß abläuft und möglichst mit einer Einigung endet; die Klägerin und die Beschuldigte haben das Interesse, daß möglichst viel Verantwortung für das Geschehene ihren jeweiligen Gegenspielerinnen angelastet wird, sie selbst dagegen in einem relativ harmlosen Licht erscheinen. Diese von der Interaktionssituation vorgegebenen Rollen können natürlich von den Personen, die sie spielen, individuell interpretiert werden. 31 Es fällt ja auf, daß die Klägerin, Frau Beck, ihre Anklagepunkte im Übermaß forciert, während die Beschuldigte relativ konziliant erscheint, jedenfalls was die gesprächsorganisatorische Plazierung ihrer Beiträge und das Eingehen auf den Schlichtungsvorschlag betrifft. Bei den Selbstdarstellungsformen müssen drei Arten unterschieden werden: a) explizite Selbstaussagen (isch bi”n kä lügnerin, mir kann nie”mand was schleschdes nochsache); b) Eigenschaften, die aus sprachlichen Aktivitäten erschlossen werden können, vor allem aus solchen, in denen Handlungen anderer gelobt oder getadelt werden (vgl. Kallmeyer/ Keim/ Nikitopoulos 1994, S. 56ff.); 31 Das Thema „Rollendistanz” und „Rollenperformace” ist eins der wichtigsten in Goffmans Arbeiten, z.B. in Goffman (1961). Beziehungsdynamik 331 c) Eigenschaften, die aus dem aktuellen Verhalten in der Interaktion geschlossen werden können, z.B. Rollenkompetenz aus der routinisierten Durchführung einer Verhandlungseröffnung, Dominanz aus dem Ergreifen und Festhalten von Rederechten auch ohne Beachtung der Redeansprüche anderer. Mit ihrem aktuellen Verhalten zeigen Beteiligte, ob sie an der Interaktion interessiert sind oder nicht; ob sie sich kooperativ verhalten oder nicht; ob sie dickköpfig nur ihr Thema vor Augen haben oder sich auf andere Themen einlassen und trotzdem ihren Verlauf in ihrem Interesse beeinflussen können (Sandig 1983); ob sie andere aus der Interaktion ausschließen oder auf sie Rücksicht nehmen usw. Zum Gespräch hier sind alle diese Selbstdarstellungsformen festgehalten worden. Inhaltliche Aspekte der Selbstdarstellung betrafen: a) die institutionelle Rolle des Schlichters und die komplementären Rollen der Antragstellerin und der Beklagten; sie werden meist in Form der Beteiligungsaktivität realisiert. In der Eröffnungsphase nennt der Schlichter einige der institutionell vorgegebenen Handlungsziele und deren entsprechende Handlungsnormen für die anstehende Verhandlung. An dieser Stelle sagt der Schlichter auch metakommunikativ, daß er zum ersten Mal in seinem Beruf als Schlichter eine Partei zurechtgewiesen habe. Der Wechsel von insistierend drängender Ausübung der Rolle als Schlichter zu einem desinteressierten Abschieben der Verantwortung auf die Antragsstellerin verhalf ihm zum Erfolg. b) soziale Rollen, die thematisch für die Interaktion relevant sind, z.B. Mitbewohnerin einer Siedlung, Mutter; diese Rollen werden in Ereignisdarstellungsformen, Maximen, Formeln, Selbstaussagen usw. relevant. c) Eigenschaften, die aus der Kommunikationsgeschichte der Interaktanten herrühren, hier: Frau Beck als Opfer; Darstellungsweisen sind: Selbstaussagen und Ereignisdarstellungen. d) allgemeine Charaktereigenschaften wie: aufdringlich, abwartend, helfend, sich durchsetzend, freundlich, aggressiv usw., die in Selbstaussagen und dem Verhalten in der Interaktion erfahrbar und aus ihnen zu erschließen sind. e) moralische Eigenschaften wie ‘nicht lügen’, ‘das Alter ehren’ usw. Angriffe gegen diese Aspekte des Selbst müssen glaubhaft abgewehrt werden (z.B. durch Demonstration von Empörung). Bei moralischen Kategorien des eigenen Bildes können Lücken und Mängel des Fremdbildes ausgenützt werden (sich auf dem Hintergrund des Fremdbildes charakterisieren als jemanden, der/ die diese negativen Eigenschaften nicht hat, Beispiel: wenn Frau Beck sagt, Frau Kraft sei „raffiniert”, impliziert das: sie selbst ist offen und ehrlich). 332 Johannes Schwitalla 6.1 Die Komplementarität von Selbst- und Fremddarstellung Wie dialogische Akte überhaupt bedürfen auch Beteiligungsweisen, deren primäres Ziel es ist, sich selbst mit einem gewissen Profil darzustellen, der lokalen Situierung in einem dazu passenden Kontext. Nur in der Anfangsphase des Gesprächs konnten sich die Kontrahentinnen und auch der Schlichter relativ unabhängig vom Verhalten anderer Beteiligter als eine bestimmte Art von Person darstellen. Das taten auch alle drei Beteiligten. Aber schon da brachten die beiden Kontrahentinnen ein festgefügtes Bild ihrer jeweiligen Gegnerin mit. Nach den ersten Beiträgen eines/ r jeden von ihnen konnten sich die anderen Beteiligten ein Bild auch von dem bzw. den noch nicht bekannten Beteiligten machen. Im folgenden soll die Art und Weise der Selbstdarstellung am Verhalten der beiden Kontrahentinnen untersucht werden (im nächsten Unterkapitel steht der Schlichter im Zentrum). Im Verlauf des Gesprächs modellieren nämlich Frau Beck und Frau Kraft jeweils ihr Selbstbild im Kontrast zu dem der Kontrahentin. Frau Beck stellt sich dar: als keine Lügnerin: denn isch bin kä lügnerin (Z. 126/ 129); mäne sie isch däd so e rumlaferei mache wenn isch net meiner Sache sischer wär\ (Z. 201/ 204); un des beruht alles uff Wahrheit (Z. 518); des was isch gschriwwe hab [...] des stimmt uff Wahrheit (Z. 547L); als ehrlich, indem sie eigene Verfehlungen zugibt: isch hab üwerhau”pt nix gesagt wie sie sin e bledi kuh: (Z. 271); isch muß misch jo schließlisch a” wehre wenn isch so viel schandtate in=s gsischt geworfe grigg (Z. 608 und Z. 761ff.); als nicht beleidigend: isch hab se net beleidischt (Z. 331); isch hab sie ni”scht beleidischt (Z. 553); als nicht aggressiv: isch=ab [...] derre ihre kinder noch nie was zu weh gedan (Z. 536/ 538); als nicht nachtragend, indem sie eine Möglichkeit der unkomplizierten Beilegung des Konflikts entwirft: die hält jo zu mir kumme könne un suche könne * fra beck was war=n do los] (Z. 383f.); wenn sie” am annere dach kumme war [...] wer die sach unner=m disch gewese (Z. 479ff.). - Sie weist andere Kinder mit gutem Grund zurecht: wenn isch zu derre klöne sach des derfscht net mache isch sag=s deim baba und wenn=d noch emol unner de wäsch durschschlubst geh isch uff die hausverwaldung (Z. 298ff.). - Sie ist überzeugt von ihrem Recht: denn daß isch im rescht bin do zweifei isch kön mome”nt (Z. 516). - Sie kommt mit allen gut aus: isch wohn jetzt vie”rnfünfzisch joahr in der Siedlung]* mir kann niemand was schleschtes nochsache oder daß isch streit ghabt hab mit jemand] (Z. 636ff.). Beziehungsdynamik 333 - Sie ist ein ‘Opfer’ von Frau Kraft, weil der Streit sie gesundheitlich angegriffen hat: isch hah ** zwee naschte uff em hett gelegt isch hab gemänt isch hab=n herzinfarkt (Z. 31 Iff.); lebenslänglisch muß isch uff des hie tablette nemme[ (Z. 622; vgl. Kap. 6.2). In vielen dieser Eigenschaften modelliert Frau Beck ihr Bild geradezu im Kontrast gegensätzlicher Eigenschaften von Frau Kraft. Die Formulierungsweisen, die sie dabei gebraucht, sind ganz unterschiedlich: Prädikationen, Formen des Vergleichs, Kontrastierungen mit der Konjunktion after, Infinitivsätze mit Aufforderungscharakter, Kontrastakzente auf den jeweiligen Personalpronomina. Diese Eigenschaften betreffen - Ehrlichkeit: awwer nit abstreite un mi”sch als lügnerin denn isch bi”n kä lügnerin des werre sie genau wisse] (Z. 126/ 129); weil se mi”sch als lügnerin hiestellt denn sie” is die lügnerinl (Z. 142/ 144); als Kontrast der Verhaltensweisen: eigene Ehrlichkeit - Verdrehungen und Verstellungen von seiten Frau Krafts: sie” wolle jetz mir alles uff/ u”mdrehe un u”ffhänge i”sch hab/ isch hab üwerhaupt nix gesagt wie sie sin e bledi kühl (Z. 267-273); weil se sisch jetz wie e schäfele hiestellt un mi”r ebbes in die schuh schiewe willl (Z.671/ 673); bloß weil se bißl läschle du: dl awwer fer misch is die sach ernschder[ (Z. 679/ 681). In den meisten dieser Charakterisierungen spricht Frau Beck in der ersten Außerungseinheit (im ersten Satz) von Frau Kraft und schreibt ihr eine Handlung oder ein Verhalten zu, das aus dem Kontext oder aus den Wortinhalten negativ bewertet wird. Zumeist ist die Zielrichtung dieses Handelns auch sie selbst, so daß sie als Opfer dieser Handlungen erscheint; die zentrale Opferkategorie ist unter dem Aspekt der Ehrlichkeit die Selbstzuschreibung als Verleumdete. Zum Teil beläßt es Frau Beck bei dieser auf die Gegnerin gezielten Aussage. Häufiger jedoch spricht sie im nachfolgenden Satz von sich selbst, entweder, indem sie die mit der Handlung der Gegnerin angezielte Eigenschaft explizit abstreitet (denn isch bin kä lügnerin) oder eine gegensätzliche Grundeinstellung dokumentiert (awwer fer misch is die sach ernschder), oder indem sie die auf eine Negativcharakterisierung hinauslaufende Absicht der Gegnerin relativiert (isch hab üwwerhaupt nix gsacht wie ...). In allen Fällen erscheint das Selbstbild im Kontrast zu einem Fremdbild. Das ist auch so bei den folgenden Kategorien sozialen Verhaltens mit starker Wertung. - Aggressivität: isch hab kän streit mit der fra ghabt sie hot misch beleidischt so is es] (Z. 321/ 323); der Vergleich der Beleidigungswörter: e Modi kuh is kä wi”ldsau un kä dre”cksau un kä Vergasung un kä aldersheim[ (Z. 595/ 597); des änzische was isch nunnergerufe hab sie sin jo e bledi kuh [...] sunsch hab isch nix gsat was anneres z/ is des hawwe sie in die welt gsetztl (Z. 555-566); wenn ihne dau”ernd jemand was in 334 Johannes SchwiiaUa ä: ner dour zusammeheeßt- ** drecksau wildsau isch bin mei ganzes lebe ehrlisch- (Z. 587-591); - Gutes Auskommen mit den Nachbarn; dieses wird dargestellt durch ein Aufrechnen der Dauer des Wohnens und der darauf bezogenen „Rate” der Krache mit Nachbarn: isch wohn jetzt vie”rnfünfzisch jahr in der siedlungl * mir kann nie”mand was schleschdes nochsache awwer sie” wohnt/ [...] kei”n mensch schennt üwwer misch isch kann an de ganze siedlung vorbeigehel awwer sie” habbe in ihre acht joahr- * schunn mit zwee familie krach ghabt (Z. 636-640; Z. 660-663). Hier, wie auch in Z. 555f. ist das Verfahren umgekehrt: Zuerst spricht Frau Beck von sich, dann von Frau Kraft. In vielen weiteren Fremddarstellungen ist ein expliziter Kontrast zur eigenen Person enthalten, auch wenn dabei die eigene Person nicht mit generellen Eigenschaften, sondern in einer aktuellen Situation gezeichnet wird wie z.B. in der Darstellung der Schimpfereien von Frau Kraft mit ihrer anmaßenden nonverbalen Gestik (mit erhobenem finger als wenn isch e Schulkind wer, Z. 335), oder wenn Frau Kraft wie e maschinegewehrle redet, sie selbst aber kaum zu Wort kommt (nachdem sie misch a”lles zusammegeheeße hot misch nischt zu wort kumme lasse hot[, Z. 570/ 573), oder wenn sich Frau Beck als Opfer der verbalen Aggressionen von Frau Kraft darstellt, unter der sie immer noch körperlich zu leiden hat. Auch in der Rekonstruktion der Motive von Frau Kraft stellt sie einen Bezug zu sich her, der zu Lasten der Gegnerin und zu ihren eigenen Gunsten geht (der Gegnerin wird mangelnder Respekt vor dem Alter vorgeworfen: nä” sie sin raffiniert sie mäne weil isch aider bin als sie bin isch ihne unnerlege, L. 284/ 286). Fast immer ist also der Bezug zur eigenen Person mitgedacht (eine Ausnahme ist die „Anklage”: Frau Kraft kann keine Kinder erziehen, Z. 464). Weniger häufig, aber doch ähnlich ausgerichtet auf ihre Gegnerin, stellt sich Frau Kraft dar: als ehrlich (sie gibt Verfehlungen, d.h. Beleidigungen zu: dre”cksau haww=isch gsacht gut{ (Z. 83; vgl. Z. 177; Z. 354); sie ist keine Lügnerin: warum soll isch lüge jetz (Z. 181); sie hat Verständnis für Kinder. Gerade in diesem Punkt setzt sie einen Unterschied der Verhaltensweisen voraus, da sie ja die Tatsache, daß Frau Beck keine Kinder hat, zu Beginn der Interaktion sehr betont hat. Sie läßt dadurch den Schlichter folgern, daß der ganze Konflikt auf einer Neidhaltung Frau Becks ihr gegenüber und auf Unverständnis ihrem Kind gegenüber beruht. Deshalb konturiert sie ihr Bild immer wieder als fürsorgliche und verständnisvolle Mutter: Beziehungsdynamik 335 in der Formel Hewer hab isch e fresches kind wie e krankes kindl (Z. 295/ 297) gleichzeitig eine Entgegnung auf den Vorwurf von Frau Beck, ihre Tochter sei e fresches mädl; in der Formel kinder stelle alles an mer kann se net feschtbinne (Z. 449/ 451), wobei gerade die Formelhaftigkeit Erfolg beim Schlichter hat; in der Handlungsmaxime gege meine kinner laß isch mer net rumhetze (Z. 291), wobei das Verb rumhetzen auf Frau Beck zielt; in der Erklärung dafür, daß sie im Gegensatz zu Frau Beck wenig mit anderen Leuten zusammenkommt: isch geh misch net mit de leut ab isch hab=n haushalt zu versorge un zwee kinner (Z. 721/ 723). Stellenweise wird das eigene Verhalten den eigenen Kindern gegenüber mit dem kinderfeindlichen Verhalten von Frau Beck in eine direkte Verbindung gebracht, z.B. bei der Verteidigung ihrer Kinder gegen das Schimpfwort „Bankert”: un zu moine kinner bo”ngert zu sache isch bin verheirat moi kinner sin keine bongert (Z. 194/ 196, mit Standardanhebung bei keine zum größeren Nachdruck); der Gegensatz zum Nicht-Verheiratetsein von Frau Beck bleibt dagegen wieder implizit. Den Vorwurf von Frau Beck, sie respektiere nicht das Alter, nützt sie geschickt aus, um die Eigenschaft „höheres Alter” in der Weise gegen Frau Beck zu kehren, daß diese kein Verständnis für Kinder habe und sie deshalb beschimpfe: vor mir hot immer der ä/ äh aide Vorrang awwer gege meine kinner laß isch mer net rumhetzel (Z. 289/ 291). Wie Frau Beck Fremddarstellungen in einer Beziehung zum positiven Selbstbild vornimmt, so versucht Frau Kraft, die als Beschuldigte in einer schwächeren Position ist, zumindest dasselbe Fehlverhalten von Frau Beck zu behaupten, und zwar in allen Punkten der Anklage gegen sie: - Beleidigungen: [sie hat gesagt] daß isch se am arsch lecke soll (Z. 189). - Beschimpfungen: do war se h/ unne gestanne un hat <lau”tstark über misch geschenntl (Z. 214/ 216). - Allgemeine soziale Unverträglichkeit: weil sie mit jedem krach öfange des sacht doch die ganz Siedlung] (Z. 644/ 646). Man sieht, daß die beiden Kontrahentinnen in mehreren Eigenschaften miteinander konkurrieren (Ehrlichkeit, geringer Grad der Aggressivität, soziale Anerkennung in der Nachbarschaft) und daß Frau Beck auf ihre soziale Anerkennung, die ihr Frau Kraft streitig macht, sowie auf ihre soziale Verträglichkeit (im Gegensatz zu Frau Kraft) aus ist, während diese mehr den Aspekt einer verständnisvollen und fürsorglichen Mutter hervorkehrt und diese Eigenschaften implizit ihrer Gegnerin abstreitet. Fast alle Eigenschaften, die sich die Kontrahentinnen selbst zusprechen, stehen in einer Opposition zu Eigenschaften der Gegnerin. 336 Johannes Schwitalla Fazit: Frau Beck und Frau Kraft werfen sich gegenseitig dieselben Arten von Fehlverhalten vor (Unehrlichkeit; Streitsucht; beleidigend sein) und stellen sich als das Gegenteil der Fremddarstellung der jeweils anderen dar: als ehrlich und friedlich. Insofern herrscht eine schöne Symmetrie der Selbst- und Fremddarstellung. Bezogen auf den streitauslösenden Fall stellen sie sich und die Kontrahentin komplementär dar (Unverständnis für Kinder vs. Unfähigkeit, Kinder zu erziehen). Durchweg geht die Erhöhung des eigenen positiven Gesichts auf Kosten des Gesichts der Kontrahentin, was typisch ist für viele Konfliktsituationen (vgl. Martens 1974, S. 268; Holly 1979, S. 82; Morris 1985; Spiegel 1995, S. 96-99). Die Streitgegnerinnen demonstrieren in der Interaktion Eigenschaften, die sie von sich selbst behaupten, z.B. Ehrlichkeit dadurch, daß sie bestimmte Beleidigungsausdrücke bereitwillig zugeben. Für den Schlichter wie für Außenstehende ist aber auch klar, daß beide hervorragende Streitfähigkeiten haben; sie führen sie vor. Frau Beck merkt allerdings nicht, wie störend für den Schlichter ihre Unnachgiebigkeit ist; insofern paßt der Vorwurf an Frau Kraft, sie habe sie nicht zu Wort kommen lassen, eher für sie als für jene. Andererseits kann man im Verhalten von Frau Kraft tatsächlich Anhaltspunkte dafür finden, daß sie „raffiniert” ist: ihre Beziehungsarbeit ist variabler als die von Frau Beck; sie paßt ihre vernichtende Fremddarstellung geschickt in Kontexte von vorhergehenden Sprecheraktivitäten ein; sie wechselt zuerst zum ironischen Sprechen, verhält sich kooperativ zu den Initiativen des Schlichters und wirkt im ganzen nicht so starr wie ihre Gegnerin. Bei Frau Beck merkt man, daß ihr Verhalten wenig kalkuliert ist und sehr direkt aus ihr herausbricht. Insofern agiert sie in der Situation tatsächlich als Opfer, das sich verzweifelt wehrt. Sie demonstriert Empörung auf Anschuldigungen, die sie für unwahr hält (Interjektionen wa: ”s, Z. 191, mit starkem Akzent) und die einen wichtigen Aspekt ihres Selbst betreffen. Wie in anderen Konfliktsituationen auch (Thimm 1990, S. 228f.) verliert gerade diebzw. derjenige der Interaktanten an Gewinnchancen, der/ die sich emotional unkontrolliert verhält und seine/ ihre Ansprüche besonders stark macht. Wenn auch die Bedingungen eines Streitgesprächs verschärfte Anforderungen dafür stellen, sich im Gegensatz zum Gegner zu profilieren, so liegt es doch im Wesen selbstdarstellerischer Tätigkeiten, sich als jemand Besonderes, als Individuum mit einer gewissen biographischen und charakterlichen Einzigartigkeit zu zeigen, und das geht oft nur durch die Herausarbeitung individueller Eigenschaften im Kontrast oder zumindest im Hinblick auf Eigenschaften anderer Beteiligter. Selbst wenn in einem Ge- Beziehungsdynamik 337 sprach die Dimensionen personaler Eigenschaften dieselben sind (z.B. sich als schlagfertig, witzig, unterhaltsam etc. zu erweisen), so müssen individuelle Eigenschaften in dieser Hinsicht doch auf der Folie anderer Selbstdarstellungen vollzogen werden. Das soll nun an der Selbstdarstellung von Frau Beck als Opfer noch einmal gezeigt werden. 6.2 Selbstdarstellung als Opfer Mit dem Verfahren, sich als Opfer von jemandem, insbesondere von jemandem an der Interaktion Beteiligten darzustellen, kann man den rhetorischen Effekt erzielen, dem Gegner moralisch schlechtes Handeln vorzuwerfen, für sich selbst aber implizit um Mitleid zu werben. Frau Beck verfolgt die Strategie, sich als leidendes Opfer von Frau Kraft darzustellen, über das ganze Gespräch hinweg. Gleich zu Beginn fügt sie aus eigenem Antrieb der Liste der Beleidigungsausdrücke, die Frau Kraft gegen sie ausgestoßen haben soll, eine im wörtlichen Sinne krankmachende Wirkung hinzu. Der Schlichter liest sie, wie auch die Liste der Beleidigungen, mit einem Einleitungssatz der Urheberschaftzuweisung und mit Sprecherdistanz markierender Konjunktivverwendung vor: die frau heck gibt also hier an sie hätte also zwei naschte lang furschbare herzkrämpfe gehabt un sie hätte also angst gehabt daß sie also- * äh des vielleicht nischt üwersteht. Mit dem Hinweis, daß die herzgeschischte für sie sehr wischtisch sei, erhebt Frau Beck den Anspruch, dieses Thema auch zu behandeln. Wenn man ihrer schriftlichen Fassung der Darstellung folgen wollte, hätte sie allen Grund dazu: bei den Beleidigungen ging es nicht nur um eine Ehrenkränkung, sondern es ging um Leben und Tod. Aber das Thema „Herzerkrankung” hat es schwer, von den anderen Beteiligten in derselben Weise ernst genommen zu werden, wie Frau Beck es meint. Als erste greift Frau Kraft das Thema auf, indem sie die Komposita herzgeschischte und herzinfarkt verächtlich abwandelt: 32 oh do wisse sie des awwer ganz genau daß sie so herzfladdere kriggt hawwe (Z. 281/ 283). Aus der Wortwahl herzfladdere (= „Herzflattern”) spricht der Unglaube, daß es sich bei den Herzbeschwerden um eine ernste Krankheit gehandelt haben kann. Aber Frau Beck geht auf diese Abwertung an dieser Stelle nicht ein. Sie bekräftigt ihren Status als Leidensopfer erst wieder, als sie mit erregter Stimme ihrer Kontrahentin vorhält, ihre Äußerungen der Tochter gegenüber seien kein Grund, sie wildsau und drecksau zu nennen. Das Ausmaß dieser Beleidigungen wird wieder durch die körperlichen Folgen dargestellt: mäne sie isch hab zwee näschte uff em bett gelege isch hab gemänt isch hab=n herzinfarkt (Z. 309-316). Wie in der vorgelesenen schriftlichen Fassung fokussiert Frau Beck hier die Dauer des unmittelbaren Leidens (zwee näschte) und die Todesangst 32 Zur Strategie der lexikalischen Abwertung: Schank (1987, S. 75). 338 Johannes Schwitalla (isch hab gemänt isch hab=n herzinfakt) infolge der ihr zugefügten Leiden. Implizit wird damit die Diskrepanz der Folgen einer Beleidigung wie bledi kuh (Frau Beck) und drecksau und wildsau (Frau Kraft) noch einmal hervorgehoben. Trotz der Kürze der Beschreibung zwingt die Sprecherin ihren Zuhörern das Vorstellungbild auf, wie sie nächtelang auf ihrem Bett lag und sozusagen mit dem Tode rang. Bei der nächsten Stelle, an der Frau Beck wieder ihr Herzleiden thematisiert, muß sie sich gegen die Zweifel wehren, die der Schlichter hinsichtlich der Darstellung als Folge der Auseinandersetzung mit Frau Kraft hat: isch weeß daß isch vorm gerischt kä ongschd zu hawwe brauch! * de"nn moi krankheit- * ho isch mitgemacht hab isch muß leb/ lebenslänglisch muß isch uff des hie tablette nemmej ah uff <do"ch do"ch isch hab=s ans herz kriggt here de"s hie net frau beck ach io (komml set se mol des muß jo moin arzt besser wissej * isch hab des mu"ß er wisse=s äamgls n=herzgnaggs griggtj * in derre nachtrischtisch nett derf ischisch bin derf isch mol froge frau beck wie alt sie sinf siwweneseschzisch joahr isch wer de negschde monat siwweneseschzisch joahrj awwer des hot mi=m al/ isch=ab vorher e gesu"ndes herz ghabd awwer des hot misch so" geschlauchd wera=ma in de"m alder- * so" was an de köpf gschmisse griggt- Wieder maximalisiert Frau Beck die Krankheitsfolgen {lebenslänglisch [...] tablette nemme), aber der Schlichter zwingt sie, argumentativ die Tatsache ihres Herzleidens (rhetorisch wirkungsvoll als „Herzknacks” bezeichnet) als Folge der Beleidigungen zu beweisen, was sie durch die Berufung auf ihren Arzt auch tut. Aber dies lenkt das Thema mehr in die Richtung der Glaubhaftmachung der behaupteten Kausalität als zur Möglichkeit, sich bildlich vorstellbar als Leidende zu präsentieren. Dennoch verbindet Frau Beck mit der Tatsache der unmittelbaren Folge {isch=ab vorher e gesu”ndes herz gehabd) wieder eine bildhafte Redeweise, welche die Anklage gegen ihre Opponentin, wenn sie sie auch nicht nennt, verstärkt: wem=ma in de”m alder * so” was an de köpf gschmisse griggt. Die metaphorische Formulierung an de köpf gschmisse hatte Frau Beck schon kurz zuvor in der Wendung „ins Gesicht geworfen kriegen” verwendet: isch muß 620 A: 621 A: 622 A: 623 C: 624 A: 625 C: 626 A: 627 C: 628 A: 629 C: 630 A: 631 C: 632 A: 633 A: 634 A: 635 A: 636 A: Beziehungsdynamik 339 misch jo schließlisch aa” wehre wenn isch so viel schandtate in=s gsischt geworfe kriggi (Z. 608/ 610). Die Beleidigungen werden damit in ein Bild gebracht, dessen Ziel darin liegt, die Aggressivität der agierenden Frau Kraft und die Passivität der Opferrolle ihrer selbst hervorzuheben. Die strategische Funktion, sich als unschuldiges, bemitleidenswertes Opfer darzustellen, stärkt die Position einer anklagenden Partei, obwohl natürlich jede Seite in einem Streit die Unrechtstaten der Gegenseite so stark machen kann, daß sie selbst als eher passives Ziel der Aggressionen anderer erscheint. In unserem Beispiel verzichtet die Beschuldigte darauf. Der Versuch, sich durch eine Herzkrankheit als Opfer zu präsentieren, hat übrigens wenig Erfolg. Anders als sichtbare und deshalb „vorzeigbare” Wunden haben verbal verursachte körperliche Schäden den Nachteil, daß ihre kausale Herkunft im Alltag nicht eindeutig erwiesen ist. 6.3 Der strategische Wechsel der Selbstdarstellung In Gesprächen mit Verhandlungscharakter stehen die Interagierenden vor dem Problem, daß zwei für die Verhandlung notwendige Eigenschaften, nämlich Durchsetzungsvermögen und Entgegenkommen, sich widersprechen. Das Zeigen eines entgegenkommenden Verhaltens wird möglicherweise als Schwäche ausgelegt und umgekehrt, das Zeigen von Stärke als Sturheit (Pruitt/ Smith 1981). Eine der Möglichkeiten, mit diesem Problem umzugehen, ist es, nacheinander zwei unterschiedliche Aspekte des Selbst zu präsentieren. In mehreren Gesprächen konnte festgestellt werden, daß ein deutlicher Wechsel der Selbstdarstellung von einer Hauptkennzeichnung menschlicher Eigenschaften zu einer anderen sich für die Ziele der betreffenden Person und unter den gegebenen Bedingungen der Kommunikationssituation als sehr wirkungsvoll erwies. Das war z.B. der Wechsel von einer lustigen, ironischen, spielerischen Selbstpräsentation zu einer ganz ernsten und verantwortungsvollen des Straßburger Europaabgeordneten der Grünen, Benno Härlin, in einer Talk-Show zum Thema „Abtreibung” („3 nach 9”, 12.5.89). Im Beispiel der Schlichtungsverhandlung wechselt der Schlichter gegen Ende des Gesprächs von seiner werbenden, zuredenden, väterlichfürsorglichen Haltung zu einer harten, unnachgiebigen und fordernden Einstellung, welche ihn schließlich auch zu dem gewünschten Erfolg führt, nämlich daß Frau Beck seinem Einigungsvorschlag zustimmt. Zu Beginn der Verhandlung hatte sich der Schlichter als „Herr des Verfahrens” präsentiert, indem er die Regeln und Ziele seiner Institution erläuterte und die Verhandlung mit dem Vorlesen der „Anklagepunkte” von Frau Beck in Gang setzte. Dabei zeigte er sich vor allem in seiner institutionellen Rolle als Schlichter: Er verwendete die dazu gehörige Fachlexik (der gesetzgeher, privatklageverfahren), institutionsgebundene Formeln (in der sache 340 Johannes Schwitalla der frau Hannelore Beck gegen frau Sabine Kraft) und die Stilistik des offiziell klingenden Nominalstils (die einbestellung zum heutigen termin) einschließlich Funktionsverbgefügen (zu einer Verurteilung kommen). Auch im Prosodischen zeigte er einen distanzierten, kühlen, sachlichen Ton. Im Verlauf des Gesprächs verliert der Schlichter viel von seiner institutionellen Überlegenheit, hauptsächlich dadurch, daß die Kontrahentinnen, wie beschrieben, die Situation als eine Fortsetzung ihrer Streitgeschichte interpretieren und er Mühe hat, die Verhandlung wieder in einer geordneten Weise zu leiten. Nach zwei Streitrunden zwischen Frau Beck und Frau Kraft unternimmt der Schlichter einen ersten Einigungsversuch (Z. 317ff.). Er sucht dabei die interaktive Nähe zu beiden Frauen, redet beide zusammen mit ihr an und spricht mit einer werbenden, versöhnlichen Stimme. Seine werbende Einstellung zeigt sich in Appellen an die Vernunft, in der Form rhetorischer Fragen mit anschließender eigener Antwort (glauben sie daß wann sie mit dem fall- * zum gerischt kommen [...] mit sischerheit * nischt (Z. 347-349) und im expliziten Lob an Frau Kraft, daß sie sich doch im wesentlichen zur Wahrheit * bekennne[n] . Während Frau Kraft bald zur Zustimmung überredet ist, verhält sich Frau Beck abweisend bis hinhaltend. Ihre Forderung ist, daß Frau Kraft irgendwie gestraft werden müsse (Z. 781). In dieser Phase des Werbens um die Zustimmung von Frau Beck verwendet der Schlichter folgende sprachlichkommunikative Verfahren: - Sprechton: begütigend, langsames Tempo, tiefe Absenkungen der Stimmhöhe; - „tendenziöse Frage” (mit einer Negationspartikel, welche eine Antwortpräferenz nahelegt): könne mir uns net so einigen daß ... (Z. 473f.).; wär des net=n weg gewese den isch ihne vorgschlage hab (Z. 616); - Zustimmungen: ja des is klar (Z. 485), rischdisch, rischdisch, rischdisch (Z. 500); vgl. das sofortige Umschwenken auf die Meinung von Frau Beck, die anführt, ihr Arzt müsse ihren Herzschaden besser beurteilen können als er: des mu”ß er wisse-s rischdisch net] (Z. 629); soziale Solidarisierung: uns äldere leut (Z. 487); er läßt Frau Beck ausreden; er weist sie auf ihre Vorteile seiner Lösung hin; mit eindringlichem Ton sagt er: sie muß ja die koschde vum verfahre üwwernemme (Z. 511); sunsch zieht er [= ihr] a do drüwwe vor=m gerischt rum e ewischkeit (Z. 619). Besonders beim zweiten Versuch, Frau Kraft vom Einigungsvorschlag zu überzeugen (Z. 789ff.), arbeitet der Schlichter mit einer expandierten Darstellung des Umstandes, daß Frau Kraft und nicht sie die Kosten des Verfahrens bezahlen müsse. Dabei spricht er mit typisch dialektalen Halb- Beziehungsdynamik 341 hochschlüssen an den Satzenden, was eine größere Eindringlichkeit hervorruft: die koschde bei uns vor=m gerischt üwtrnennne] [...] hier die fuffzisch mark] die muß sie üwwernemme] [...] die fuffzisch mark die krigge sie] die muß sie ihne ersetze] Dann aber spricht er mit Tiefschlüssen: die muß sie ihne ersetze] des is nadierlisch Voraussetzung] (Z. 793-799). Danach wiederholt er den Vorschlag, nun wieder mehr in der offiziellen Rolle des Schlichters (Annäherung an die Standardsprache), aber weiterhin mit den Ausdrucksfiguren des appellierenden, werbenden Sprechens: Fragesatz im Konjunktiv (dede sie do mitmache wann ... Z. 809); Appelle an die Vernunft (isch würd=s uff alle fäll fer vernünfdischer halde; dede se a” seh daß es vernünfdischer war, Z. 813-819), vertrauliche, sympathieheischende Sprechweise. Nach dem Diktieren des Einigungstextes und der offiziellen Zustimmung von Frau Kraft verwickeln sich der Schlichter und Frau Beck in einen Streit, was einen Umschlag seiner Einstellung zu ihr zur Folge hat: 945 A: 946 C: 947 A: 948 C: 949 K 950 A: 951 C: 952 K 953 A: 954 A: 955 C: 956 A: 957 C: 958 K 959 A: 960 C: steht steht a" nix drinl vun dem was sie beck moment momentl des gibt- * bittef bezahle muß steht a" nix drinf #*# ATMET LAUT AUS «KLOPFT MIT AKTE» AUF DEM TISCH mir awwer nitf * isch man sie sin #jetz rei"scht=s awser]# «GEHAUCHT, VERZWEIFELT, VERHALTENE WUT# nit gerescht wenn se wenn se bloß mi"r des vorlesej * isch bin jo schließlisch die an/ <isch hab- * moment Iran beck ja: des isch hab hier den #<— verglei"schsentwu"rf diktie"rtj— ► # «WÜTEND # rischtisch so" wird es geschrieben so wird es von eusch bei"den 961 A: ja: aber sie hot noch nix gesacht vun 962 C: unnerschriebenj * des is also die vergleischs/ des 342 Johannes Schwitalla 963 A: entschuldisch misch oder soj 964 C: is- #sie unnerschreibt hier diese 965 K #WIRD IMMER LAUTER 966 A: un des is allesf 967 C: erklärungl# un die vird #if/ schril/ # 968 K # «STOTTERT LEICHT# 969 C: wird schriftlisch au"sgefertischt die kriegen sie bei"de 970 A: ja un vom 971 C: zugstelltj ** <was wolle se=n dann #no: cht# 972 K «KLOPFT MIT METALL AUF K DEH TISCH# Der Schlichter zeigt jetzt mehrere Symptome von Gereiztheit (vgl. auch Hartung in diesem Band): lautes Ausatmen, gleichzeitig mit einem Schlagen auf den Tisch (Z. 947-949); die Stimmqualität der verhaltenen Wut in Z. 951; Sprechen mit wütender und immer lauter werdender Stimme (Z. 957fF.); er spricht mit erhöhten Ausdrucksformen für Unnachgiebigkeit bei der Formulierung seiner Aufforderung: syntaktisch mit einem Passivsatz (so” wird es geschrie: ben und so wird es von eusch bei”den unnerschrie: benl, Z. 960/ 962), intonatorisch mit starkem Tonanstieg am Schluß einer Außerungseinheit: sie unnerschreibt hier diese erklärungl [...] die kriggen sie bei”de zugstellt]** <was wolle se—n dann no: ch] (mit Klopfen auf den Tisch bei no: ch) (Z. 964-971). Diese Erhöhung der Unnachgiebigkeit hat zum ersten Mal Erfolg und kann als Vorspiel zum schließlichen Nachgeben von Frau Beck verstanden werden. Nach der letzen Frage des Schlichters antwortet sie mit einer „kleinlauten” Stimme; sie spricht leise und schüchtern: ja un vom geld hawwe se no nix erwähnt (Z. 970/ 973). Den entscheidenden Durchbruch, die Zustimmung von Frau Beck zum Schlichtungskompromiß zu bekommen, gelingt dem Schlichter, als er es ihr zum ersten Mal freistellt, die Einigung abzulehnen und die Folgen eines Privatklageverfahrens auf sich zu nehmen: frau beck sie können hie”r noch erklären sie sin net mit oiverstanne] * des steht ihne frei] [...] des könne se suche dann krigge se vun mir die bescheinischung] dann gehe se zum amtsgerischt] (Z. 997-1002). Mit der Vorwegnahme eines Scheiterns muß Frau Beck erkennen, daß der Schlichter jetzt nicht mehr bereit ist, weitere Zugeständnisse zu ihren Gunsten zu machen. Frau Beck stellt nun sehr ausführlich (Z. 1003-1035) die Vorgeschichte ihrer Anzeige dar, die im Kern darauf hinausläuft, daß sie nur umständehalber eine Strafanzeige gemacht hatte. Implizit stimmt sie Beziehungsdynamik 343 also der Position des Schlichters zu, auch ohne Gerichtsverfahren zu ihrem Recht zu kommen. Als sie aber zum Schluß ihrer Rede wieder auftrumpft, indem sie auf ihr von der Staatsanwaltschaft vermeintlich verbrieftes Recht verweist, daß im notfall die fra gestro’Jt werd (Z. 1055) und sie dem Schlichter explizit widerspricht (so is es nit wie sie des jetz so harmlos do hielegel, Z. 1056f.), weist sie der Schlichter „gnadenlos” auf seine berufliche Wissensüberlegenheit hin und macht den Unterschied zwischen ihr und ihm überdeutlich: 1060 C: isch weeß was do rauskumnt aber sie" netf #hehehe# 1061 K #LACHT # 1062 A: isch «eeß awwer wasisch weeß 1063 C: de=s der unnerschied zwische u"ns zweej. * daß sie=s net 1064 A: es! 1066 C: gisset daß es awwer i"sch weeßf nef * äh trau beck es hot 1066 C: kän große sinn mehr- * do länger zu drüwwer zu diskudiere- * 1067 C: sind sie mit dem Vorschlag oiverstanne- * <—oder- * nischtj * 1068 A: isch bin oiverstanne awwer z/ RÄUSPERT SICH zur irau kraft 1069 A: moscht isch Sache wenn se misch noch ei"nmal so beleidischt Den Wissensunterschied zwischen dem Schlichter und Frau Beck hält dieser jetzt in drei Außerungseinheiten ganz ungeschminkt fest und stellt dabei jedesmal beide Personen gegenüber (durch die Kontrastakzente auf den Personalpronomen); dieses Kompetenzzu- und -absprechen fungiert als Machtdemonstration vor der nun als endültig angekündigten Frage. Das Lachen hat die Qualität eines Auslachens. Daß die Geduld des Schlichters nun vorbei ist, markiert er mit mehreren Mitteln: metakommunikative Feststellung des zeitlichen Endes der Diskussion und der Infragestellung ihres Sinnes, Entweder-Oder-Frage, Standardanhebung bei der Frage bis zum Wort Vorschlag und sehr langsames Sprechen bei *—oder * nischtl. Der Nutzen wechselnder Selbstpräsentationen kann wie in diesem Fall sehr groß sein. Wenn sich jemand in einer bestimmten Art und Weise präsentiert, setzt dies ja bei den anderen die Erwartung bzw. auch die Hoffnung frei, diese Person werde sich auch in Zukunft so verhalten wie am Anfang. Mit einem Wechsel der Selbstpräsentation ins Gegenteil untergräbt man diese Berechenbarkeit ein Umstand, der in antagonistischen Situationen wie Diskussionen, Verhandlungen etc. dazu ausgenützt werden kann, mit Überraschungseffekten den Gegner zu beeindrucken. 344 Johannes Schwitaüa 7. Zum Schluß: Die Komplexität der Sache Das Analysebeispiel war in seinem extremen Streitcharakter sogar untypisch für Schlichtungsverhandlungen und natürlich für die Vielfalt beziehungszentrierter Interaktionen im Alltag und in den Institutionen. Es hat vielleicht auch zu sehr den Blick auf die problematischen und zerstörerischen Seiten von Beziehungsprozessen gelenkt, aber es ist wegen der langen Dauer und der Vehemenz der Beteiligung ausgesprochen aspektreich, so daß verschiedene Dimensionen der Beziehungsqualifikation und der Selbstdarstellung in den Blick kommen konnten. Bei der Analyse hat sich gezeigt, daß die Themen „Beziehungsgestaltung” und „Selbstdarstellung” keine relativ umgrenzten und einheitlich strukturierten Gegenstände der sprachwissenschaftlichen Forschung sind, wie es bestimmte äußerungskonstituierte (Beispiel: Code-Switching) oder schärfer konturierte Aktivitäten (Beispiel: Sprecherwechsel) sind. Schon der Alltagsbegriff von ‘Beziehung’ und ‘Selbstdarstellung’ umfaßt heterogene inhaltliche Komplexe, denen in den unterschiedlichen Wissenschaftszweigen jeweils eigene Gegenstandsbereiche entsprechen: - Makrosoziologie: - Mikrosoziologie: - Psychologie: - Linguistische Semantik: - Linguistische Pragmatik: - Phonetik: - Gesprächsanalyse: Rolle und Status; Face-Theorie; Gefühlstheorien, Einstellungstheorien, Persönlichkeitstheorien; Konnotationen von Wörtern; Sprechhandlungen, die einen engen Bezug zur Beziehungsregelung haben (Beispiel: Anreden); Gefühls- und Einstellungsqualitäten bestimmter prosodischer Phänomene; zum Beispiel die Präferenzregeln, die allesamt etwas mit dem Face des Adressaten zu tun haben. Beziehungsqualifizierungen und Selbstdarstellungen sind Inhaltskonzepte, deren Ausdrucksmöglichkeiten alle linguistischen Ebenen von der Phonetik bis zur Formulierung längerer Äußerungseinheiten betrifft, vielleicht mit einer besonderen Dichte bei der Prosodie, der Wortsemantik und einigen Sprechakttypen. Beziehungsgestaltung und Selbstdarstellung stehen andererseits in engen Bezügen zu anderen als sprachlichen Symbolsystemen, zum nonverbalen Verhalten (z.B. Proxemik), zur Semantik von Kleidung, Raumgestaltung, Statussymbolen, möglicherweise auch zu phylogenetisch tradierten Interpretationsweisen visueller und akustischer Erfahrung. Beziehungsdynamik 345 Nach mehr als 25 Jahren Forschung auf verschiedenen Gebieten der menschlichen Kommunikation erweist sich die von Watzlawick et al. vorgeschlagene Trennung von Inhalts- und Beziehungsaspekt als zu einfach. Nicht nur können Interagierende Fragen ihrer Beziehung und der Selbstdarstellung thematisieren; auch die Annahme, daß die Beziehung eine Metainformation darüber sei, wie propositionale Inhalte (das, was gesagt wird) verstanden werden sollen, hat in der Theorie der Kontextualisierung eine Differenzierung erfahren. Kontextualisierungshinweise wie prosodische Phänomene, Bestandteile von Sprachvarianten etc. geben nicht nur Beziehungsqualitäten einen Interpretationsrahmen, sondern auch für Geltungsweisen der Modalität (scherzhaft, ironisch, pathetisch), der unterschiedlichen Weisen der Verantwortung und Rolle beim Sprechen (vorläufige vs. endgültige Meinung, das Imitieren anderer Stimmen usw.). Im wesentlichen haben sich bei der Analyse des Streitgesprächs die anfangs skizzierten Fragestellungen und theoretischen Konzepte als hilf- und aufschlußreich erwiesen. Der Face-Begriff in seiner Differenzierung von positivem und negativem Face ist für die Analyse aller Beziehungshandlungen von grundlegender Bedeutung. Das heißt nicht, daß alle sozialen Welten positives und negatives Face in derselben Weise inhaltlich füllen gerade das Projekt „Kommunikation in der Stadt” hat gezeigt, wie unterschiedlich diese Füllungen auf kleinem geographischem Raum sein können. (Deshalb kann es sogar sein, daß Frau Kraft im obigen Analysebeispiel die Art ihrer Beleidigung für nicht so schlimm hielt wie Frau Beck und daß sie diese Beleidigungen vielleicht als legitimes Mittel in der Auseinandersetzung ansah; daß also dem Konflikt zwischen Frau Kraft und Frau Beck ein kulturell unterschiedliches Verständnis von angemessenen Auseinandersetzungsformen zugrundelag.) Für ein dialoganalytisches Vorgehen, das auf das Prinzip der „joint production” achtet, spricht auch, daß selbst in höchst feindseligen Auseinandersetzungen vielfältige Aspekte des Miteinander-Sprechens aufeinander abgestimmt und gleichartig vollzogen werden (vgl. Kap. 4.3). Dialogisches Sprechen setzt immer voraus, daß es gute und weniger gute Möglichkeiten für die Einpassung der eigenen Rede in die der anderen gibt. Auch die Frage der Akkomodationstheorie: wie sehr passe ich meine Art zu reden an die der anderen an bzw. wie sehr setze ich mich von der Redeweise anderer ab, hat einige rhetorisch relevante Konsequenzen ans Licht gebracht; dies vor allem bei Strategien des Werbens um die Zustimmung bei den Adressaten in Form einer lautlich (Dialekt! ), lexikalisch und syntaktisch angepaßten Redeweise, zu der noch die Gefühlsqualitäten des freundlichen, werbenden Sprechens mit seinen charakteristischen prosodischen Ausdrucksformen kommen. Dem steht die Markierung von Distanz, Unnachgiebigkeit und Autorität gegenüber, ebenfalls mit den dafür geeigneten sozialsymbolischen Ausrucksformen (Lautung, Lexik, Syntax). 346 Johannes Schwiialla Angesichts der Komplexität der Dimensionen halte ich es grundsätzlich für erforderlich, bei der Untersuchung von Beziehungsgestaltung und Selbstdarstellung folgende Themen bzw. Fragen zu behandeln: - Soziale Ausgrenzung (Vereinnahmung, Demonstration sozialer Gemeinsamkeit); interaktive Ausgrenzung und Hereinnahme; - Nähe und Distanz; - Feindseligkeit vs. Freundlichkeit (Sympathie vs. Antipathie); - Macht/ Dominanz vs. Unterwürfigkeit; - Aufwertung (Loben-Kompliment) vs. Abwertung (Kritik/ Beleidigung); soziale Rolle (Anmaßung einer Rolle, Rollenperformanz); - Gesprächsrollen und Gesprächsbeteiligung (Sprecherwechsel, interaktionstypbedingte Gesprächsrollen). 8. Literatur Adamzik, Kirsten (1984): Sprachliches Handeln und sozialer Kontakt. 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Das rhetorische Problem 2. 3. 4. 4.1 4.2 4.3 4.4 5. 6. 6.1 6.2 6.3 7. 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7 Entwicklung der Problemstellung Reformulierung der rhetorischen Problemstellung Die besondere Akzentuierung der Problemstellung im Hinblick auf Verbale Interaktion Prozessualität des interaktiven Geschehens Interaktive Bezogenheit des sprachlichen Handelns Materialität des Sprechens Kontextuelle Gebundenheit des Sprechens Generalthese zur sprachlichen Herstellung von Wirklichkeit beim Sprechen Weisen der Wirklichkeitskonstitution Wirklichkeitskonstitution durch Koppelung von Sachverhaltsdarstellung an Sprechercharakteristika: Glaubwürdigkeit hersteilen Wirklichkeitskonstitution als Resultat des Herstellens wechselseitiger Vertrautheit: Einverständnis bilden Wirklichkeitskonstitution durch Operieren mit besonderen Ausdrucksmitteln in Sachverhaltsdarstellungen: Ausdrucksbedeutung schaffen/ verwirklichen Schlüsselwörter etablieren Ein fiktives Beispiel Schlüsselwörter als Forschungsgegenstand Merkmale von Schlüsselwörtern Der rhetorische Effekt von Schlüsselwörtern Ziel der Analyse Schlüsselwörter in interaktionstheoretischer Perspektive Interaktionsbedingungen für die Etablierung von Schlüsselwörtern 353 356 359 361 362 364 366 367 370 373 373 375 377 378 378 379 380 382 383 383 386 352 Werner Nothdurfl 7.7.1 Hervorhebungen 7.7.2 Bezugspunkte 387 7.7.3 Kontext-Unterstützung 389 7.7.4 Weltwissen/ Anschließbarkeit 389 7.7.5 Metapragmatische Einstellung 390 7.8 Fallanalysen 390 7.8.1 1. Fall: Die Gefahr 391 7.8.2 2. Fall: Der Racheakt 393 7.8.3 3. Fall: Dioxin 402 8. Ausblick 4 ^ 9. Literatur 4 ^8 Schlüsselwörter 353 Abstract Die Überlegungen dieses Beitrags kreisen um die Frage, wie man der Gedankenfigur des Zusammenhangs von Sprache und Wirklichkeit in Hinblick auf Phänomene verbaler Interaktion einen spezifischen Sinn abgewinnen kann bzw. was die Phrase „Sprachliche Herstellung von Wirklichkeit” sinnvoll bedeuten kann. Dazu werden zunächst mit Rückgriff auf bestimmte Entwicklungslinien in der Rhetoriktradition und unter Berücksichtigung interaktionstheoretischer Grundsatzüberlegungen die konzeptionellen Rahmenüberlegungen festgestellt, die eine Deutung dieser Gedankenfigur in Rechnung stellen muß. Unter Berücksichtigung dieser Rahmenbedingungen wird dann eine Interpretation der Gedankenfigur vorgeschlagen, derzufolge Herstellung von Wirklichkeit verkürzt gesagt auf der Schaffung von Vertrautheit beruht. Diese Interpretation führt zu einer Revision alltäglicher Kommunikationserfahrung und zu einer veränderten Sichtweise auf die Relevanz kommunikativer Phänomene für die sprachliche Herstellung von Wirklichkeit. Ein entsprechendes Forschungsprogramm wird skizzenhaft entworfen. Anhand eines einzelnen kommunikativen Phänomens, sogenannter Schlüsselwörter, wird abschließend paradigmatisch vorgeführt, wie dieses Forschungsprogramm ausgeführt werden soll bzw. zu welcher Betrachtung verbaler Interaktion es anleiten soll. 1. Das rhetorische Problem Die klassische antike Rhetorik hatte ihren Ausgangspunkt in der Problemstellung, die subjektive Überzeugung einer Sache allgemein zu machen, d.h. zur Tatsache zu machen (vgl. Ueding/ Steinbrink 1986, S. 1). Diese Problemstellung ergab sich im alten Griechenland im Zuge einer gewissen Demokratisierung des Politischen: um in Amt und Würden gewählt zu werden, mußte man die anderen durch die eigene Rede überzeugen, und im Zuge einer gewissen Gerichtsreform, die von Kläger und Beklagtem verlangte, das Gericht in mündlicher Rede von der Wahrheit des Dargestellten und der Richtigkeit der eigenen Handlung zu überzeugen. Damit sind die wesentlichen sozialen Rahmenbedingungen, unter denen die Problemstellung, den Tatsachencharakter sprachlich dargestellter Sachverhalte deutlich zu machen, überhaupt relevant wird, bereits skizziert: erhebliche relevante Auffassungsunterschiede oder Interessendivergenzen zwischen den Beteiligten, die Notwendigkeit, diese Divergenzen in irgendeiner Weise zu regulieren, und gesellschaftliche Rahmenverhältnisse, in denen diese Regulierung auf diskursivem Wege, also über sprachliches Handeln, zu erfolgen hatte. Im antiken Griechenland entstanden gleichsam als Standardlösungen dieser Problemstellung die politische Rede und die Gerichtsrede und die umfangreichen Anstrengungen zu ihrer rhetorischen Ausgestaltung. „Die Beredsamkeit und ihr Instrumentarium, die Rhetorik, war somit ursprünglich an scharf fixierte Voraussetzungen gebunden: an bestimmte staatliche Institutionen, die sich bemühten, durch Debatten, durch Rede und Gegenrede, zu einer möglichst 354 Werner Nothdurft sachgerechten Lösung der je anstehenden Probleme zu gelangen. Nur so wird begreiflich, daß die Wahrheit bei der einzelnen Rede nicht immer gut aufgehoben zu sein brauchte, daß eine Tendenz, ein gewisses Maß von Subjektivität sogar zu den Obliegenheiten einer guten Rede gehörte. Es ging ja fast stets um Dinge, bei denen sich gar nicht mit absoluter Sicherheit feststellen ließ, was wahr und richtig sei: bei Prozessen mußte man sich auf die jeweilige mehr oder minder problematische Beweislage stützen, und politische Beratungen waren, da sie sich auf Künftiges zu beziehen pflegten, erst recht mit Unsicherheitsfaktoren belastet. Da empfahl es sich geradezu, ein jedes Problem aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und durch Rede und Gegenrede den Spielraum der Deutungs- und Gestaltungsmöglichkeiten ausloten zu lassen, den eine jede Situation anzubieten schien. Der einzelne Redner sollte das je Gegebene in sich stimmig, jedoch in seinem Sinne interpretieren: seine Perspektive wurde ja durch die der anderen Redner korrigiert, und so ergab sich jedenfalls der Idee nach aus dem Ensemble der vorgetragenen Meinungen ein Bild, das eine möglichst objektive Entscheidung verbürgte.” (Fuhrmann 1983, S. llf.). Die Problemstellung, überzeugend darzustellen, wie etwas gewesen ist bzw. wie etwas wirklich ist, ist seit dieser Zeit ein zentrales Thema rhetorischer Überlegungen. Im Rahmen des komplexen rhetorischen Programms geht es stets auch darum, wie es Kommunikationsteilnehmern gelingt, durch sprachliche Sachverhaltsdarstellungen den Eindruck zu erwecken, daß die Dinge, über die sie reden, so sind, wie sie sie darstellen, und darum, wie diese Darstellungen den Status von Tatsachen erhalten. Diese Problemstellung ist auch für unser heutiges alltägliches Gesprächserleben von wesentlicher Relevanz und vermag kritische Fragen anzuleiten: - Jemand äußert sich zu einem Sachverhalt in einem Sprachduktus, der keinen Zweifel an der Sache aufkommen läßt. An welchem sprachlichen Phänomen liegt es im Einzelnen, daß so ein Eindruck fragloser Sicherheit entsteht? - In einer unübersichtlichen Diskussion präsentiert ein Teilnehmer eine griffige Formel für einen komplizierten Sachverhalt, die die anderen aufgreifen, auf die sie sich in weiteren Diskussionen beziehen und die die weitere Diskussion prägt. Welches sind die sprachlichen Charakteristika solcher Formeln und wie müssen die Formeln angebahnt und plaziert werden, um wirksam zu sein? - Zur Untermauerung seiner Position zitiert ein Gesprächsteilnehmer einen Dritten. Worin liegt die rhetorische Wirksamkeit solchen Zitierens und wie muß es sprachlich erfolgen, um wirksam zu sein? Die Problemstellung, darzustellen, wie es ist, gewinnt in Konfliktgesprächen an besonderer Schärfe, genauer: in ihnen wird die Problemstellung überhaupt erst akut. Die Frage, ob es wirklich so gewesen ist, erfolgt nämlich erst auf dem Hintergrund krisenhafter Entwicklung, angesichts derer man nicht mehr vertraut und sich genötigt sieht, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Die Identifikation der Bedeutung sprachli- Schlüsselwörter 355 eher Zeichen ist nicht die Basis von Kommunikation, sondern der Sonderfall angesichts des Infrage-Stehens alltagsweltlich vollzogener Kommunikationsvoraussetzungen, in Fällen, in denen man den Ohren nicht mehr trauen kann (vgl. Simon 1989). Sie ist gekoppelt an einen Zustand des Leidens an Unverstehen und Unverständnis, der seinerseits zusammenhängt mit der sozialen Beziehung der handelnden Subjekte, dem Infrage-Stehen ihrer Vorverständigung, ihrer „gemeinsamen Sprache”. Erst wenn Vorverständigung nicht mehr funktioniert und der Prozeß der Bedeutungsklärung unendlich zu werden droht, beginnt die Suche nach den Tatsachen selbst. Kurz: Erst wo Verständigung in Frage steht, sieht man sich genötigt, auf „die Tatsachen” zurückzugreifen, um dort die Basis zu finden, auf der man weiter kommunizieren kann. Die praktisch-kommunikative Anforderung einer überzeugenden Darstellung der Wirklichkeit ist in solchen Fällen von ungebrochener Aktualität. Was sich freilich in entscheidendem Maße verändert hat, sind die der Problemstellung gleichsam korrespondierenden Vorstellungen darüber, wie etwas wirklich ist. Alle rhetorischen Überlegungen zu der Anforderung einer überzeugenden Darstellung von Wirklichkeit bedürfen ja einer Konzeption darüber, unter welchen Bedingungen die Wirklichkeit überzeugend, korrekt und wahr dargestellt ist. „Die traditionelle Definition des Zeichens, nach der es „für eine „Bedeutung” stehe, impliziert eine bestimmte Ontologie der Bedeutung, die im Laufe der Philosophiegeschichte zunehmend problematisch geworden ist.” (Simon 1989, S. 4). Die Rolle der Sprache für die Wirklichkeitserkenntnis verändert sich. Wesentliche Anstöße innerhalb dieser Entwicklung sind interessanterweise aus der Rhetorik selbst gekommen, so daß die hier verfolgte Problemstellung schon in diesem Sinne eine rhetorisch geprägte ist. Die Geschichte der Erkenntnistheorie ist in knappester Formulierung skizziert dadurch geprägt, daß in ihr „die Frage, was etwas ist ... abgelöst (wird) von der Frage, wie Meinungen darüber, was etwas möglicherweise sein könnte, formuliert werden.” (Borsche 1992, S. 16). Diese Vorstellungen haben sich mithin seit der Antike, in der die Problemstellung zum ersten Mal als rhetorische formuliert worden ist, bis zum heutigen Tage erheblich gewandelt. Diesem Wandel wird man nachgehen müssen, um zu einer der heutigen Lage unseres Denkens angemessenen Reformulierung der antikrhetorischen Problemstellung, die subjektive Überzeugung von einer Sache zur anerkannten Tatsache zu machen, gelangen zu können. Eine solche Art „narrativer Archäologie” (Borsche 1992, S. 30) vermag nicht nur gleichsam didaktisch günstig das Zustandekommen des gegenwärtigen erkenntnistheoretischen Wissensstandes zu erhellen, sondern erweist sich methodologisch als unumgänglicher Garant der Fundierung erkenntnistheoretischen Wissens überhaupt: wenn kein außerdiskursiver Bezugspunkt epistemologischer Aussagen mehr angenommen werden kann, bildet die Historie des epistemologischen Diskurses selbst den letzten Bezugspunkt er- 356 Werner Noth dürft kenntnistheoretischer Aussagen. Dies ergibt sich als Konsequenz aus den für die neuere Erkenntnistheorie (Nietzsche) grundlegenden Übergang von „Erklären” zu „Auslegen” (s. Borsche 1992, S. 306), demzufolge als zentrale Tätigkeit (sprach-)philosophischer Anstrengung nicht mehr das Explizieren von Begriffen durch Merkmale der außersprachlichen Wirklichkeit begriffen werden kann, sondern das Erkennen des diskursiven Zusammenhangs und der Tradition, in der ein Begriff entsteht und verwendet wird. „An die Stelle einer vernünftigen Erklärung tritt eine vernünftige Geschichte von Erklärungen: der im Anspruch zwar bescheidene, in der Ausführung aber höchst komplexe Versuch, sich wenigstens historisch noch dessen zu vergewissern, was als reiner „Begriff der Sache” in der Geschichte seiner Definitionsversuche verloren gegangen ist.” (Borsche 1992, S. 17). Gegenstand der folgenden Darstellung sind also die historisch gegebenen Weisen des Erfassens von Realität. 2. Entwicklung der Problemstellung Schon in der Antike selbst begann das Verhältnis von Rhetorik zu Wahrheit problematisiert zu werden. Die Durchsetzung eines platonischen Erkenntnis- und Wahrheitsmodells führte zu einer Diskreditierung der ursprünglichen, auf Dialogizität ausgerichteten Rhetorikkonzeption als Wahrheitsverdrehung (die bis heute anhält). Damit einher ging die Entwicklung eines erkenntnistheoretischen Konzeptes, das sich als enorm stabil erwies und an dem sich die Anstrengungen, darzustellen, wie es ist, über viele Jahrhunderte hinweg orientierte. Blumenberg (1964) hat dieses Konzept als das der „garantierten Realität” gekennzeichnet; es findet im Mittelalter seine deutlichste Ausprägung in der aquinischen Formel adaequatio rei et intellectus. Der erkennende Verstand wird als rezeptiv gedacht; als ein „Hinausgehen des erkennenden Subjekts zum Objekt und in der Gegenbewegung als eine Rückkehr des erkennenden Prinzips zu sich selbst.” (Heinzmann, zitiert nach Rathmann 1991, S. 45). Sprache spielt in dieser Erkenntnistheorie noch keine konstitutive Rolle, „ihr wird allenfalls eine subsidiäre Funktion zugestanden” (Rathmann 1991, S. 49). „Wird der Erkenntisvorgang so gedacht, daß, was man als Wirklichkeit erfaßt, überhaupt nur begriffen werden kann, wenn der Intellekt zuvor dem Ding, das er begreift bzw. auf den Begriff bringt, gleichgeworden ist, wenn also die Realität als wahr verläßlich nur dann angesehen wird, wenn man sich ihrer in einer von Gott verbürgten, komplizierten metaphysischen Prozedur versichert hat, dann wird dem sprachlichen Vorgang wenig Bedeutung und Freiraum schon gar nicht zugebilligt. Voces significant res heißt es in der Summa." (Rathmann 1991, S. 52). Die Wirklichkeit ist in ihrer Charakteristik bestimmt. Der Sprache kommt es zu, sie in dieser Charakteristik wiederzugeben. Schlüsselwörter 357 Dais humanistische Denken leitet eine Neukonzeption der Wirklichkeit ein, die in den Arbeiten von Humanisten wie Valla und Agricola einen Höhepunkt finden wird, der von erstaunlicher Aktualität ist und an den in der Tat gegenwärtig angeknüpft werden kann: „Daß (...) alles Gegebene tatsächlich erst durch Sprache für den Menschen bestimmbar und somit ’wirklich’ wird: diese fundamentale Einsicht formulierten ausgerechnet die Humanisten, denen bis in die jüngste Zeit hinein jeglicher originär philosophische Gedanke abgesprochen worden ist. Wahrscheinlich aber hat gerade jenes Faktum, das die Humanisten aus dem Gesichtskreis der Historiographen der Philosophie gerückt hat, ihre zumeist sprachphilosophischen Erträge überhaupt erst ermöglicht: die Tatsache nämlich, daß sie ihre Überlegungen nicht länger ausschließlich auf die Schulphilosophie gründeten, die um die Wende zum 15. Jahrhundert in fast allen Belangen in aporetische Sackgassen geraten war”. (Rathmann 1991, S. 63) Humanisten betrachten Welt nicht als Welt des Seienden, sondern der zu Wort gekommenen Dinge. Nach ihrer Auffassung begegnet der Mensch nicht einer objektiv seienden Dingwelt, die er nachträglich mit Hilfe von Sprachzeichen benennt, sondern er bemächtigt sich der Dinge im Medium der Sprache selber. Für den italienischen Humanisten Lorenzo Valla bedarf das Objekt der Erkenntnis zu seiner Erklärung, ja seiner „Verwirklichung” überhaupt erst des Wortes. „Erst im Augenblick der Benennung wird das Objekt für den Menschen verfügbar und somit wirklich.” (Rathmann 1991, S. 67) Und Rathmann merkt an: „Valla entdeckt hier bereits ein Phänomen, das später als die poetische Kraft der Sprache beschrieben werden wird”. (1991, S. 67, Anm. 16). Diese von Valla entwickelte Konzeption einer durch Sprache erst verfügbaren Wirklichkeit wird von Rudolf Agricola um einen wesentlichen Schritt radikalisiert, „indem er glaubt, eine Reflexion über das vorsprachliche Gegebensein der Dinge gar nicht mehr anstellen zu müssen, weil er sie allein als sprachlich erfaßte thematisiert. Damit ist ein hoch aufragendes Hindernis innerhalb eines Prozesses abgetragen, der die Sprache befreit hat von den Fesseln ihrer Erklärung als Nachbildlichkeit und als eines bloß subsidiären Ausdrucksmittels der Vernunft, die sich der vermeintlich a priori vorhandenen Wirklichkeit anzugleichen versucht ... Agricola hat den Gedanken, wenn nicht ausgesprochen, so doch im Prinzip erfaßt, daß die „kohärente” Sprache zur Bedingung der Wahrheit von Welt wird der Welt im Sinne aller „kohärenten” Dinge. Insofern wird Sprache zugleich zur Bedingung von Wirklichkeit.” (Rathmann 1991, S. 74). ’Wirklichkeit’ konstituiert sich in der Konzeption Agricolas im Rahmen eines kohärenten, systematischen Sprachspiels in dialogischen Situationen. Als wesentlichen Impuls für die Gedankenfigur, daß die Menschen sich mittels ihres Sprachvermögens der Wirklichkeit versichern, wird man die im Humanismus propagierte Auffassung vom Menschen annehmen dürfen: eine „...Charakterisierung des Menschen, der sich selbst aus dem heraus 358 Werner Nothdurft versteht und seine Geltung rechtfertigt, was er tut und kann.” (Blumenberg 1981, S. 269) 1 Daß diese überraschend aktuell anmutende Konzeption der Rolle der Sprache für den Erkenntnisprozeß sich innerhalb der Wissenschaft nicht hatte durchsetzen können und für die damalig herrschende Konzeption von Wirklichkeit so folgenlos geblieben ist, ist aus der Position der humanistischen Überlegungen im Diskurs der damaligen Zeit (eigentlich: außerhalb dieses Diskurses) zu erklären: aufgrund des Selbstverständnisses der Humanisten als in der Rhetoriktradition stehend und der damaligen abwehrenden Haltung des aufkommenden rationalistischen Wissenschaftsverständnisses gegenüber der Rhetorik kam es zu einer Marginalisierung, die durch die eigene Präferenz für poetische Kontexte gegenüber akademischen noch verstärkt wurde. Hinzu kommt die Entwicklung des rationalistischen, neuzeitlichen Wissenschaftsverständnisses, demzufolge Wissenschaft Wahrheit zutage fördert, und das mit dem Gedanken einer sprachlich gefaßten Kontingenz von Erkenntnis nicht kompatibel war. la So entwickelt sich der Gedanke, daß unsere Wirklichkeit uns stets nur in sprachlich gefaßter Form präsent ist und „daß unsere Erkenntnis stärker durch die Formen von Denken und Sprechen als durch die zu erkennenden Sachen bestimmt” ist (Borsche 1992, S. 16) 2 , gleichsam am universitär- 1 Letzten Endes sind Konzepte des Zusammenhangs von Sprache und Welt immer beziehbar auf Konzepte der Selbstbeschreibung des Menschen, auf Vorstellungen darüber also, wie der Mensch bzw. man selbst im Kosmos steht, was man kann, etc. (vgl. Rorty 1989). la So ist es eben auch nicht verwunderlich, daß von entscheidenden gesellschaftlichen Institutionen eine gleichsam scholastische Erkenntnis- und Sprachkonzeption praktiziert und damit gesellschaftlich real gemacht wird; dies gilt insbesondere für die Sprachkonzeption innerhalb der Rechtsprechung (vgl. Gumperz 1982). Auch das alltagsweltliche Kommunikationsbewußtsein ist von einer solchen Sprachauffassung als Bestandteil metapragmatischen Wissens mitgeprägt (vgl. unten, Kap. 7.7). 2 So auch Goodman (1990, S. 14f.): „Betrachten wir zunächst die Aussagen „Die Sonne bewegt sich immer” und „Die Sonne bewegt sich nie”, die zwar beide gleich wahr sind, sich aber dennoch widerstreiten. Sollen wir also sagen, daß sie verschiedene Welten beschreiben und daß es in der Tat so viele verschiedene Welten gibt, wie es solche wechselseitig sich ausschließende Wahrheiten gibt? Wir neigen eher dazu, die beiden Wortreihen nicht als vollständige Aussagen mit eigenen Wahrheitswerten, sondern als Ellipsen für Aussagen etwa der folgenden Art zu betrachten: „Im Bezugsrahmen A bewegt die Sonne sich immer” und „Im Bezugsrahmen B bewegt die Sonne sich nie” - Aussagen, die beide von derselben Welt wahr sein können. Bezugsrahmen freilich scheinen weniger zum Beschriebenen als zum Beschreibungssystem zu gehören: jede der beiden Aussagen bezieht das Beschriebene auf ein solches System. Wenn ich nach der Welt frage, kann man mir als Antwort anbieten, wie sie innerhalb eines oder mehrerer Bezugsrahmen beschaffen ist; wenn ich aber darauf beharre, daß mir gesagt werde, wie sie außerhalb aller Bezugsrahmen sei, weis kann man mir dann sagen? Wir sind bei allem, was beschrieben wird, auf Beschreibungs- Schlüsselwörter 359 wissenschaftlichen Diskurs „vorbei” und prägt statt dessen bereits sehr früh das ästhetisch-poetische Schaffen. In der Sprachtheorie Wilhelm von Humboldts kommt es dann wieder zum Ausdruck, um aber im Zuge der Entwicklung einer am positivistisch-naturwissenschaftlichen Denken orientierten Junggrammatik wiederum marginalisiert zu werden. Erst seit dem Durchbruch der sprachanalytischen Wende (vgl. Dummett 1988) und den Impulsen Nietzsches (vgl. Borsche 1992) sind affine Vorstellungen aus dem sprachphilosophischen Diskurs nicht mehr wegzudenken. 3. Reformulierung der rhetorischen Problemstellung Der Ertrag dieses tour d’horizon durch eine (bislang eher verdrängte) Traditionslinie des rhetorischen Diskurses ist somit ein Verständnis des Ausdrucks „Wirklichkeit”, das wesentlich auf die sprachliche Gefaßtheit von Wirklichkeit, die Eingebundenheit in systemische Zusammenhänge und die Dialogizität abhebt. Die Ausgangsfrage nach den rhetorischen Leistungen bei der Darstellung, wie es gewesen war oder wie es ist, ist heute nicht mehr zeitgemäß, wenn man unter Darstellung Abbildung verstehen will; die Ausgangsfrage erscheint in neuzeitlicher Fassung viel mehr als Frage nach den rhetorischen Leistungen bei der Erzeugung einer Version, wie es gewesen war oder wie es ist. 3 Mit dieser Umformulierung verändert sich auch das Bezugsobjekt der rhetorischen Problemstellung, d.h. der Status von „Wirklichkeit”. Die „Wirklichkeit”, von der ausgesagt wird, sie könne „dargestellt” werden, unterscheidet sich entscheidend von einer Wirklichkeit, von der ausgesagt wird, sie werde durch sprachliches Handeln „erzeugt”. Zweifellos käme man zu unsinnigen Aussagen, wenn man in der Problemstellung nur das Verb ersetzen würde und die Semantik des Objekts unangetastet ließe. 4 weisen beschränkt. Unser Universum besteht sozusagen aus diesen Weisen und nicht aus einer Welt oder aus Welten.” 3 Gegen eine solche, heutzutage als „konstruktivistisch” geltende Problemformulierung wird häufig der Vorwurf des Solipsismus erhoben. Unabhängig davon, wie haltbar dieser Vorwurf im Prinzip ist, greift er für die hier entwickelte rhetorische Problemstellung nicht, weil die Erzeugung von Wirklichkeit gerade nicht als individuelle begriffen wird, sondern als eine, die in sprachlicher Interaktion stattfindet und damit durch das aufeinander bezogene Handeln aller Beteiligten zustande kommt. Gleichwohl handelt es sich um Konstruktionen. 4 Insofern ist es eben auch eine unsinnige Alternativfrage, ob man sich die Wirklichkeit abgebildet oder konstruiert/ erzeugt vorstellen solle, weil in dieser Frage fälschlicherweise von einer Identität des Bezugsobjekts ausgegangen wird. Die beiden erkenntnistheoretischen Konzeptionen sind inkommensurabel, eine Entscheidung zwischen ihnen kann im Zuge einer narrativen Archäologie (s.o.) erfolgen. 360 Werner Nothdurft Einige Indizien sprechen dafür, daß selbst jene Bereiche von Wirklichkeit, die durch „handfeste Praxis” gekennzeichnet sind, zunehmend durch zeichenvermittelte Symbole bzw. Aktivitäten geprägt werden: - Segmental: Immer mehr gesellschaftlich produktive wirklichkeitsschaffende Tätigkeiten vollziehen sich wesentlich als zeichenvermittelte Handlungen bzw. Handlungen, für die Zeichengebrauch konstitutiv ist. Der Anteil solcher Handlungen am Gesamt gesellschaftlicher Handlungsformen wird immer größer. - Qualitativ: Gesellschaftlich praktische, wirklichkeitsschaffende Tätigkeiten können in immer größeren Anteilen als zeichenvermittelte Tätigkeiten ausgeführt werden; der Anteil „praktischer Intelligenz” nimmt immer mehr ab; der praktische Anteil wird nur noch „Restvollzug” am Ende der Handlungskette. Spektakuläres Beispiel zur Zeit sind Versuche, medizinische Operationen im wesentlichen über Bildschirm und Rechner durchzuführen und den praktischen Anteil der Operationshandlungen einem Roboter zu überlassen (responsive workbench). „Wirklichkeit” erscheint jetzt als Resultat dialogischen, kohärenten sprachlichen Handelns statt als Ausgangspunkt eines solchen Handelns. Gleichwohl muß die „Treue des Verstehens” (vgl. Nothdurft, i.V.) bewahrt und gerettet werden, gerade innerhalb konstruktivistischer Rahmenüberlegungen, wie sie hier angestellt werden: als Kommunikationsteilnehmer machen wir ja tagtäglich die Erfahrung, daß uns berichtet wird, wie etwas ist, bzw. was etwas ist, und darüber hinaus, daß wir selber ebenfalls dies tun, daß wir im Brustton der Überzeugung, mit fragloser Sicherheit sagen, wie es ist. Genau diese Treue des Verstehens läßt sich im Rahmen der reformulierten rhetorischen Fragestellung verständlich und begreiflich machen: die skizzierten Gefühle können als Resultat des Zusammenwirkens rhetorischer Leistungen und Effekte verstanden werden. Diese Leistungen und Effekte sind nicht als das Ergebnis außersprachlicher „Bedingungen zu begreifen, sondern umgekehrt als das, was die Erscheinungsweise unserer alltäglichen Welten, was den Anschein ihrer Gegebenheit hervorbringt.” (Anderegg 1985, S. 45). Ein entscheidendes Moment des sprachlichen Erzeugens von Wirklichkeit liegt gerade in der Herstellung eines Moments von Selbstverständlichkeit, „das Nachdenken unnötig zu machen erscheint ... (Dadurch) versichern wir uns auf Schritt und Tritt, daß wir das Wirkliche haben.” (Anderegg 1985, S. 46). 5 5 Als prägnante Situationen können die sogenannten Konformitätsexperimente betrachtet werden, die in der Sozialpsychologie in den 50er Jahren durchgeführt wurden (vgl. Asch 1956). Ebenso die (pädagogisch bedenklichen) Feldexperimente der Schlüsselwörter 361 4. Die besondere Akzentuierung der Problemstellung in Hinblick auf Verbale Interaktion Diese Überlegungen erfahren eine besondere Akzentuierung, wenn man sie auf das kommunikative Handeln in interaktiven Zusammenhängen bezieht. In der Linguistik und der sprachanalytischen Philosophie ist der Zusammenhang von Sprache und Wirklichkeit stets auf der Grundlage schriftsprachlicher Phänomene oder schriftsprachlich gedachter Konstrukte diskutiert worden, etwa als Zusammenhang von Wort und Sache, Satz und Aussage bzw. Gedanke. Sogar der sogenannte Sprechakt ist auf der Basis schriftsprachlich geprägter Konstrukte bestimmt. 6 Wenn aber gilt, daß mündliche Rede ganz anderen Handlungsbedingungen unterworfen ist als ein schriftlicher Text^ ist es unzulässig, mit schriftsprachlich geprägten Konzepten des Zusammenhangs von Sprache und Wirklichkeit an die hier anstehende Problemstellung heranzugehen. Zumthor (1989, S. 31) hat darauf hingewiesen, daß durch den Gebrauch von Schrift überhaupt erst die Idee entstehen kann, zwischen dem Gedanken und der Handlung einer sprachlichen Äußerung trennen zu können und damit die Grundlegung der Idee eigenständiger Bedeutung sprachlicher Ausdrücke. 8 Für Fälle von Mündlichkeit macht diese Trennung, so Zumthor, keinen Sinn. Story-Dealer-AG (vgl. Geißlinger 1992). 6 So läßt sich aus der sprachanalytischen Diskussion wohl eine Bewegung zu mehr Komplexität herauslesen; gleichwohl bleibt der Diskurs dem Denken in Kategorien von Schriftlichkeit verhaftet (s.a. Anm. 8) genauer müßte man in Anschluß an Derrida sagen: Kategorien einer bestimmten, nämlich alphabetischen, Form von Schriftlichkeit. 7 Fuhrmann macht auf nur einen Unterschied zwischen Schreiben und Sprechen aufmerksam: „Die Rede wendet sich ja ... in erster Instanz, an das Ohr; sie rechnet mit Hörern, nicht mit Lesern. Der Hörer ist aber viel stärker vom Redner abhängig als der Leser vom Buch: Der Redner, nicht der Hörer, bestimmt das Tempo, und kein Hörer kann wie der Leser von sich aus den Fluß der Sprache unterbrechen, kann von sich aus noch einmal Revue passieren lassen, was er als besonders eindrucksvoll empfunden oder er schlichtweg nicht verstanden hat.” (Fuhrmann 1983, S. 7f.). 8 „Aristoteles setzt (...) bezeichnenderweise nicht bei der Stimme an, wenn er den willkürlichen Charakter der Zeichen begründet, sondern bei der Schrift'. „Und so wie nicht alle dieselbe Schrift (...) haben, so sind auch die Laute (...) nicht bei allen dieselben”. Wer schreibt, nimmt sich dazu irgend etwas Haltbares, nicht um die Stimme, sondern um das, „was” in der Stimme ist (...), als Form wiederzugeben.” (Simon 1989, S. 10). 362 Werner Nothdurft Für Fälle des Sprechens gelten nämlich besondere Handlungsbedingungen, die sich von denen des schriftsprachlichen Formulierens fundamental unterscheiden. 9 Diese Bedingungen sind: - Prozessualität des interaktiven Geschehens interaktive Bezogenheit des sprachlichen Handelns - Materialität des Sprechens kontextuelle Gebundenheit des Sprechens. Diese Handlungsbedingungen in Rechnung zu stellen, ist darüber hinaus auch deswegen wichtig, um das Phänomen des „Redens über die Welt” in seinem Stellenwert für das interaktive Geschehen genauer bestimmen zu können. Es ist nämlich von vornherein gar nicht klar, welche Relevanz „die Wirklichkeit” für verbale Interaktion hat. Im Einzelnen: 4.1 Prozessualität des interaktiven Geschehens Sprechen über die Welt vollzieht sich in mündlicher Rede und diese ist flüchtig. Der Ton vergeht im Entstehen. Dieser Grundtatbestand hat wesentliche Implikationen für die Art und Weise der Wirklichkeitskonstitution durch Sprechen: Aufgrund dieser zeitlichen Vergänglichkeit wird die Unmittelbarkeit der Redeäußerung relevant. „Für den Vortragenden besteht die „poetische” Kunst gerade darin, jene Unmittelbarkeit zu verkörpern, sie in der Form seines Wortes zum Ausdruck zu bringen. Daher bedarf es auch bei der bloßen lauten Lektüre eines geschriebenen Textes einer besonderen Beredsamkeit, einer Mühelosigkeit der sprachlichen Gestaltung, einer eindringlichen Suggestivkraft und einer durchweg herrschenden Rhvthmisierung. Dem folgt der Hörer; Zurückbleiben kann er nicht. Die Botschaft muß unmittelbar wirken, was immer ihr angestrebter Effekt ist.” (Zumthor 1988, S. 708). 9 Den Einfluß von Vorstellungen über Schriftlichkeit und Mündlichkeit auf die Entwicklung von Rhetorik-Konzeptionen zu klären, wäre Aufgabe einer eigenen Untersuchung. An dieser Stelle soll nur die Frage aufgeworfen werden, inwieweit rhetorische Vorstellungen, ungeachtet ihres Anspruches, mündliche Rede zu ihrem Gegenstand zu haben, in ihrem Diskurs von einem von Schriftlichkeit geprägten Bild von Kommunikation geprägt waren (und sind). Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, daß selbst der „Paradefall” rhetorischer Erörterung, die Kommunikation vor Gericht, in Deutschland bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts schriftlich erfolgte und der tatsächlich mündlich erfolgenden Auseinandersetzung nur eine kurze Blütezeit bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts beschieden war, während sich von da an die Praxis des bloßen Verlesens schriftlich formulierter Texte durchsetzte (vgl. Sellert 1992). Unter dem Gesichtspunkt der Unterscheidung dialogischen Sprechens von dem des Schreibens ist die Rhetorik vielleicht stärker eine „Scienza auroale” (Croce), eine Wissenschaft im Zustand der Morgendämmerung, als dies ihre Kontinuität über die Jahrhunderte erwarten läßt. Schlüsselwörter 363 Gesichtspunkte wie „eindringliche Suggestivkraft”, „Rhythmisierung” und „Beredsamkeit” werden sich denn auch als wesentliche Momente der Weise der Wirklichkeitskonstitution erweisen. Eine Konservierung des Sprechens, eine Bewahrung gegen die Vergänglichkeit des Flüchtigen kann nur wiederum durch Gestaltung der Interaktionszeit selbst erfolgen, d.h. durch Ausgestaltung der Prozessualität des interaktiven Geschehens. Ja, man kann sich Anstrengungen der Fixierung der Wirklichkeit als stabile Bedeutung gerade als Versuch zur Überwindung von Zeitlichkeit und Flüchtigkeit motiviert vorstellen. 10 Es gibt zwei „Verfahren” i.S. Humboldts, die Flüchtigkeit des Sprechens praktisch aufzuheben: (1) Interaktivität: Die Objektivierung der Äußerung durch die Erwiderung des anderen (darauf hebt Humboldt ab); (2) Prozessualität, d.h. die Ausgestaltung und Akzentuierung des Prozesses selbst, die in der Flüchtigkeit des Gesagten eine Spur hinterläßt, die in der Erinnerung als „Momentum” (im Sinne Zumthors 1989) bestehen bleibt. Entgegen der Flüchtigkeit konstituiert sich eine stabile Bedeutung der Äußerungen im Prozeß und durch den Prozeß, also im Vollzug des Prozesses. Das Erleben und Mitempfinden von Prozeßhaftigkeit sichert in mündlicher Kommunikation gegen das Vergessen - Prozessualität wirkt objektivierend, (vgl. Zumthor 1989) Beide Verfahren erweisen sich für die Frage nach der Wirklichkeitskonstitution als relevant: - „Momenta” im Interaktionsverlauf können gerade wegen der Vergänglichkeit ihrer Rede-„Umgebung” als stabile Referenzpunkte des weiteren Interaktionsgeschehens dienen und damit in besonderer Weise Faktizität und Gewißheit suggerieren. - Die Beteiligung der Gesprächspartner führt qua „involvement” (vgl. Tannen 1989) zu einer rekursiv verstärkten Verstrickung, die dazu führen kann, daß Versionen der Wirklichkeit trotz des Widerstandes einzelner Teilnehmer durch ihre Mitbeteiligung zunehmend stabilisiert werden (vgl. Nothdurft 1995, Kap. 5; Geißlinger 1992). Aufgrund der Erstreckung des Interaktionsgeschehens in der Zeit bilden sich häufig Verlaufsstrukturen aus („um den heißen Brei herum”, „im Kreis 10 Für Peirce läßt sich die Idee der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke nur so denken, „daß in der Zeitstruktur und durch den zeitlichen Bezug des Sprechens die allgemeine Bedeutung sprachlicher Formen auf eine praktisch unbezweifelbare Weise einen konkreten Gehalt bekommt, den es nur in diesem Denk- oder Sprechakt gewinnt”. (Pape, i.V.,S. 2). 364 Werner Nothdurfl drehen”), die zu Kontextualisierungseffekten (vgl. Nothdurft, i.D.) führen können, die auf hochrangige Deutungsmuster in der Interpretationshierarchie von Gesprächsteilnehmern wirken („Er will mich nicht verstehen”, „Er versucht, mich zu täuschen”) und damit Wirklichkeitskonstruktionen nachhaltig bestätigen oder unterminieren können (vgl. Keim, in diesem Band). Solche Bestätigungen oder Unterminierungen haben selbst wiederum einen erheblichen Effekt auf den weiteren Interaktionsverlauf. „Daß uns etwas als Wahrheit gilt, hängt von dem ganzen Komplex der in diesem Augenblick von uns anerkannten Prinzipien, Methoden und Erfahrungsinhalte ab, deren Zusammenhang mit der neuen Erkenntnis diese legitimiert. Ist dies aber geschehen, so verändert das hinzugekommene Element jene in irgend einer Weise, die selten rein quantitativ bleiben wird; (...) d.h. also in prinzipieller Formulierung: jede anerkannte Wahrheit verändert die Bedingungen, auf die hin sie selbst als Wahrheit anerkannt wurde.” (Simmel 1923, S. 87) Herstellung von Wirklichkeit beim Reden muß man sich entsprechend vorstellen als im Interaktionsprozeß sich vollziehende Konstruktion von Wirklichkeit. Dieser Prozeß selbst ist bestimmt durch Phänomene wie Rhythmisierung, Synchronizität und Muster der Gesprächsdynamik. Damit werden solche Phänomene für die Konstitution von Wirklichkeit beim Reden wesentlich werden. 4.2 Interaktive Bezogenheit des sprachlichen Handelns Darstellungen, wie es gewesen war oder wie es ist, erfolgen in verbaler Interaktion im Zuge von Äußerungen. Diese sind grundsätzlich durch ihre soziale Handlungscharakteristik geprägt, d.h. dadurch, daß sie entscheidend auf die anderen Interaktionsteilnehmer hin bezogen sind (vgl. grundsätzlich Schütz 1932). Diese interaktive Bezogenheit prägt die Sachverhaltsdarstellung in mehrfacher Hinsicht: - Die interne Sachverhaltsdarstellung hängt wesentlich von der Handlungscharakteristik der Vollzugsäußerung ab. - Die Bedeutung der Sachverhaltsdarstellung in der Interaktion hängt wesentlich von den Reaktionen der anderen Beteiligten auf die Darstellung ab. Ein prägnantes Beispiel interaktiver Bezogenheit sind Phänomene sprachlicher Inszenierung, in denen der andere als Zuschauer eigener Vorführungen in Rechnung gestellt wird oder z.B. Fälle „lauten Denkens”, in denen anderen die Bildung eigener Gedanken vorgeführt wird. Gerade solche Fälle der lauten Suche nach dem richtigen Wort, an der die anderen mitbeteiligt werden, sind aufgrund ihrer suggestiven Wirkung für Prozesse der Wirklichkeitskonstitution von besonderer Relevanz. Schlüsselwörter 365 Als fruchtbare Leitidee zur Charakterisierung von Interaktivität kann das Konzept der „Verflechtungsordung” (Elias 1976) gelten, mit dessen Hilfe einzelne Aktivitäten als zu einer (nicht geplanten, gleichwohl nicht irrationalen) Ordnung beitragend beschrieben werden. Mit diesem Konzept kann man insbesondere Phänomenen der Verdinglichung auf die Spur kommen. Im Rahmen der antiken Rhetorik spielt der Gedanke der interaktiven Bezogenheit eine entscheidende Rolle für die Legitimation/ Fundierung des gesamten Programms, weil sie die Kontrolle gleichsam „monologischer Exaltiertheit” verbürgt. „Nur die zu dialogischer Beredsamkeit anleitende Rhetorik ist gegen den Vorwurf gefeit, daß sie moralisch bedenklich sei, da sie lehre, wie man die Wahrheit entstelle oder an Emotionen appelliere: der einzelne Redner eines freien Staates darf subjektiv sein, weil das Prinzip von Rede und Gegenrede die beste Gewähr dafür bietet, daß sich seine Perspektive nicht schädlich auswirkt, und er darf an Emotionen appellieren, weil auch hier das jeweils zuträgliche Maß der Kontrolle des Gegners und darüber hinaus der gesamten Zuhörerschaft unterliegt.” (Fuhrmann 1983, S. 24) Interaktive Bezogenheit als zentrales Charakteristikum mündlicher Kommunikation ist bereits von Wilhelm von Humboldt gesehen worden. Bühler betont, daß eine sprachliche Äußerung stets gleichsam in kybernetischer Betrachtungsweise als Moment innerhalb eines Sprecher-Hörer- Systems betrachtet werden muß. Peirce betont im Zusammenhang seiner Überlegungen zur Objektkonstitution, daß Redegegenstände sinnvollerweise nur als Bestandteile einer dreistelligen Relation des „Ich - Es - Dir” begriffen werden können und der besondere Witz interaktiver Bedeutungskonstitution bei einer Auflösung in ein zweistelliges „Ich - Es” gerade verloren geht (vgl. unten Kap. 5; Pape 1989). Eine Betrachtungsweise, in der Äußerungen gleichsam „ihren” Sprecher haben, muß von daher ebenso in Frage gestellt werden (vgl. Nothdurft, i.V.) wie eine Auffassung, die vom Handlungscharakter sprachlicher Äußerungen abstrahiert und meint, deren propositionalen Gehalt gleichsam pur herauskristallisieren zu können (vgl. z.B. Klein 1981), dazu kritisch Nothdurft, i.D.). 11 11 Es wäre lohnend, der Wissenschaftskarriere des Konzeptes „Proposition” in Sprachwissenschaft und - Philosophie nachzugehen. Von Cassirer (1990) z.B. wird die symbolisch-propositionale Darstellung von Welt als Charakteristikum spezifisch menschlicher Kommunikation gefeiert. Cassirer bezieht sich dabei (S. 352, Anm. 7) interessanterweise auf einen Begriff von Proposition, der von dem Sprachpathologen und Neurologen Jackson im Rahmen seiner Untersuchungen gestörter Sprache entwickelt worden ist. Sollte sich heraussteilen, daß unser gängiger Propositionsbegriff in Auseinandersetzung mit sprachpathologischem Material entwickelt worden ist und zu diesem komplementär ist, könnte dies Anlaß zu einer grundsätzlichen Begriffsrevision sein. 366 Werner Nothdurft Daß man sich „Referenz”, also den Bezug sprachlicher Ausdrücke auf Wirklichkeit, im Rahmen interaktionsbezogener Überlegungen wesentlich anders vorstellen muß als dies gängige referenztheoretische Konzepte nahelegen, ist insbesondere von Clark herausgearbeitet worden. Clark/ Wilkes- Gibbs machen deutlich, daß herkömmliche Konzepte von Referenz implizit stets auf der Vorstellung von Sprache als schriftlichem Text basieren („literal model of reference”). Referieren im interaktiven Kontext weist aber Eigenschaften auf, die sich im Rahmen dieses Modells nicht erfassen lassen, z.B. Korrekturen von Bezeichnungen, versuchsweise Bezeichnungen, Bezeichnungen „auf Raten” („installment noun phrases”, S. 5), Leerstellen („dummy noun phrases”, ebd. S. 6) u.a. Clark/ Wilkes-Gibbs plädieren entsprechend für ein „collaborative model of reference”, demzufolge Interaktionsteilnehmer bei der Identifizierung von Objekten in einen kooperativen, iterativen Prozeß eintreten, in dem sie „... repair, expand on, or replace the noun phrase ... until they reach a version they mutually accept.” (1986, S. 1) Der Bezug auf Wirklichkeit in Interaktion ist also ein Phänomen, das wesentlich an den Vollzug gemeinsamer, aufeinander bezogener Tätigkeit verschiedener Teilnehmer gebunden ist. 4.3 Materialität des Sprechens Unter dem Stichwort „Materialität des Sprechens” soll der Umstand behandelt werden, daß die Bedeutung einer Äußerung in verbaler Interaktion in entscheidendem Maße von der konkreten lautlichen Ausgestaltung der Äußerung abhängt. Sprechen erfolgt mit der Stimme eine triviale Aussage vielleicht, aber eine, die in linguistischen Konzepten von Kommunikation keine angemessene Bedeutung gefunden hat. Solange es nur um die Botschaft, den propositionalen Gehalt, geht, kann das Medium, über das die Botschaft erfolgt, vernachlässigt werden. In mündlicher Kommunikation jedoch hat das Medium, die Stimme, ein eigenes Gewicht. Die Materialität des Sprechens, die Stimmqualität, die Tönung, ihre Lautstärke, ihre Dramatik, ihr Tempo und Timbre bilden eine eigene Dimension des Sprechens, sie machen den Ereignischarakter der Äußerung aus, an dem die Sachverhaltsdarstellung in verbaler Interaktion existentiell gebunden ist. 12 12 Eine Auffassung, die sprachliche Äußerungen in verbaler Interaktion nur als Realisierungen vorab in ihrer Bedeutung bestimmter „types” begreift, verkennt die interaktive Relevanz der konkreten Äußerungsausgestaltung. Pape zeigt, daß sich die Frage der Gültigkeit von Aussagen oder der Bedeutung von Äußerungen sinnvoll überhaupt nur formulieren läßt, wenn man sie auf sprachliche Zeichen bzw. Zeichenverbindung als konkrete Ereignisse bezieht und nicht auf abstrakte, von ihrer jeweiligen Realisierung gleichsam „abgelöste” Zeichen. Wenn kommunikative Phänomene als Realisierung sprachlicher Phänomene behandelt werden, läßt sich dies nur aus einer übermäßigen Fixierung der Betrachtung auf systemlinguistisches Denken erklären. Zu den fatalen Folgen einer solchen Auffassung von Sprechen als Realisierung einer „virtuellen” Sprache (vgl. Agud 1993). Maßstab und Kriterium linguistischer Be- Schlüsselwörter 367 Die Relevanz der konkreten stimmlichen Ausgestaltung für die Frage der Herstellung von Wirklichkeit durch Sprechen zeigt sich deutlich an Fällen sogenannter Inszenierungen von Sprechen und für den gesamten Phänomenbereich der Ethnopoetik des Sprechens. In der Ethnopoetik betrachtet man Genres mündlichen Redens einer Gemeinschaft wie Märchen, Sagen, Lieder, Unterweisungen etc. unter dem Gesichtpunkt ihrer poetischen Qualität (und darüber hinaus ihrer sozi©kulturellen Einbettung). Das Augenmerk liegt auf der poetischen Wirksamkeit formal-grammatischer Strukturen, vor allem aber auf der lautlichen, klanglichen Qualität des Vortragens, der ’Dramatisierung der Stimme’ (s.o.). Sherzer (1990) charakterisiert die Poetik mündlicher Vorführungen als: „... the interplay of sound and silence, of words and pauses, of loudness and softness, of fast speech and low speech, the stylized imitations of voices and noises, the tightenings, loosenings, and vibrations of the vocal apparatus, and the patterned repetitions and variations of grammatical elements, words, and phrases.” (S. 29). Der zweite Forschungszusammenhang zeichnet sich durch seine Sensibilität für den Akt des Vorführens und für Prozeß-Phänomene sprachlicher Vorführungen oder Handlungen aus, für Phänomene des Hervorbringens und Zustandekommens. Das Hauptinteresse des Performance-Ansatzes gilt demgegenüber dem Vorführen, dem In-Szene-Setzen von Sprache und der Inszenierung des Sprechens, dem Auftritt des Sprechers und seiner Unterstützung durch das Publikum und dem gemeinsamen interaktiven Hervorbringen der Vorführung. Empirischer Ausgangspunkt und Bezugspunkt dieses Forschungszusammenhangs sind naturgemäß öffentliche Vorführungen von Sprechereignissen, Ritualen, Beschwörungen etc. in ihrer kontextuellen Eingebundenheit. Die Herstellung von Wirklichkeit erfolgt also im Vollzug des Sprechens selbst in dem Sinne, daß sprachliche Äußerungen und Ausdrücke im interaktiven Kontext ein Eigenleben gewinnen, sich gleichsam selbst verwirklichen. 4.4 Kontextuelle Gebundenheit des Sprechens Die Bedeutung sprachlicher Äußerung in verbaler Interaktion ist grundsätzlich von dem interaktiven Kontext, innerhalb dessen die Äußerung erfolgt, abhängig. Sachverhaltsdarstellungen in verbaler Interaktion erfolgen stets unter den konkreten Handlungsbedingungen, denen die Handelnden unterworfen sind, in spezifischen Rahmenverhältnissen, die die konkrete Interaktion erst möglich machen und in interaktiven Kontexten, auf die sich die Beteiligten in ihrem Handeln verlassen können und die sie durch ihr Hangriffsbildung müßte mit Humboldt die Faktizität des Jedesmaligen Sprechens” sein (vgl. ebd., S. 30). 368 Werner Nothdurft dein definieren, ausarbeiten und stabilisieren. Sachverhaltsdarstellungen erscheinen aus kontextueller Perspektive als Bestandteile dieses komplexen sozialen Geschehens und erfahren ihre Bedeutung und Signifikanz aus ihrem reflexiven Zusammenspiel mit individuellen Handlungsorientierungen, institutionellen Rahmenverhältnissen und interaktiv zustandegekommenen Kontexten heraus. Wirklichkeitskonstitution erfolgt entscheidend über die „Kontextualisierung” sprachlicher Zeichen (Gumperz 1982). Pape (i.V., S. 13) macht in Rekurs auf Peirce die Relevanz dieses Gedankens der Kontextualität für die Verdeutlichung des Wirklichkeitsbezugs von Äußerungen deutlich: „Es gibt keine sprachliche Darstellung, welche die Wirklichkeit nur aufgrund von Beschreibungen so charakterisiert, daß sie vom Unwirklichen und Fiktiven deskriptiv geschieden ist. Der indexikalische Bezug auf die Wirklichkeit basiert auf vorsprachlich und korrelativ zur Äußerung wirksamen Zeichenfunktionen, die einen Kontext für das Sprechen festlegen, aber selbst keine sprachlich explizit ausdrückbare Form haben. Diese These formuliert Peirce, wenn er schreibt: „... die reale Welt kann von einer fiktiven Welt nicht durch irgendeine Beschreibung unterschieden werden. ... Dies zeigt die Notwendigkeit des Indizierens. daß die reale Welt gemeint ist, wenn sie gemeint sein sollte. ... Es stimmt, daß keine Sprache ... über eine besondere Sprachform verfügt, um anzuzeigen, daß von der realen Welt die Rede ist. Doch dies ist nicht nötig, da Betonungen und Blicke ausreichen ... Diese Betonungen und Blicke ... sind deshalb die Indizes der realen Welt,” (Peirce 1986, S. 246).” Diese interaktionstheoretischen Rahmenüberlegungen haben Implikationen für die Wahl der in rhetorischer Perspektive interessierenden Untersuchungsobjekte. Wenn diese Phänomene als interaktiv bezogen, prozessual, material und kontextuell gebunden bestimmt sind, unterscheiden sie sich in zweifacher Weise von linguistisch bestimmten sprachlichen Phänomenen: Im Rahmen eines interaktionstheoretischen Konzeptes macht es keinen Sinn mehr, vom „Gebrauch” sprachlicher Ausdrücke oder ihrer „Verwendung” zu sprechen, weil sonst alle Phänomene interaktiver Bedeutungskonstitution in der Vorstellung von „Verwendung” aufgehoben würden. Damit würden aber alle interaktionstheoretischen Momente aufgegeben bzw. irreführenderweise zu Akten eines Handelnden reduziert („seine Verwendung”), denn „Gebrauch” ist immer „Gebrauch durch jemanden” den Sprecher. Eine solche instrumentelle Betrachtungsweise erweist sich zwar als besonders affin zu einer linguistischen Betrachtungsweise von Sprechen, die meint, zwischen dem sprachlichen Ausdruck und seinem „Gebrauch”, seiner „Verwendung” oder seinem „Einsatz” unterscheiden zu können. In diesem Sprachspiel wird eine Analogie zwischen Sprechen und dem Einsatz von Werkzeugen hergestellt, die zweckgerichtet eingesetzt werden. Für Schlüsselwörter 369 sprachliche Ausdrücke ist aber gerade charakteristisch, daß die Zwecke sich aus dem Einsatz der Ausdrücke in der Interaktion erst ergeben. „Das neue Vokabular macht die Formulierung seines Zwecks erst möglich.” (Rorty 1989, S. 36). Das Vokabular schafft Verhältnisse, die man sich vor dem Vollzug des Werkzeugs nicht hätte vorstellen können. 13 Hinzu kommt, daß angesichts der Rahmenbedingungen für interaktives Handeln die Voraussetzungen für eine „Rationalität der Wahl” (Schütz 1932) nicht oder nur unter besonderen Bedingungen gegeben sind und daß Verstehen nicht den Charakter rational gesteuerter determinierbarer Verarbeitung sprachlicher Imputs besitzt, sondern wesentlich auf Phantasie beruht (Davidson 1986) bzw. auf dem, was Cassirer (1985, S. 94) „ausdrucksmäßiges Verstehen” genannt hat. Auch an dieser Stelle erweist sich eine Betrachtung der Rhetoriktradition als erhellend und orientierend: Innerhalb des rhetorischen Diskurses wird bereits im 18. Jahrhundert, wie Luhmann (1980) zeigt, die Idee, Rhetorik als Gesamt an Anweisungen für einen gelingenden Sprachgebrauch zu verstehen, aufgegeben und zwar bemerkenswerterweise im Zuge der Durchsetzung eines reflexiven Verständnisses von Interaktion, d.h. einem solchen, in dem das eigene Handeln in seinem Effekt als wesentlich abhängig vom Handeln des anderen betrachtet wird. Es ist ganz offenbar dem Abbruch der Rhetorik-Tradition durch die Durchsetzung der Aufklärung und ihrer antirhetorischen Haltung zuzuschreiben, daß heutzutage in anachronistischer Weise Rhetorik im Sinne von Handlungsanweisungen für effektives Sprechen revitalisiert wird. Entsprechend diesen Überlegungen müssen die Untersuchungsphänomene gefaßt werden als: 13 Daher verbietet sich auch ein instrumentalistisches Erkenntnisinteresse für die Untersuchung von Kommunikation, wie es sich in der Formulierung findet „etwas wissenschaftlich zu tun, was die anderen aus bloßer Gewohnheit tun”. Während ein solches Interesse für die Beschäftigung mit (weitgehend) zweckbestimmten und zweckfunktionalen Tätigkeiten angemessen sein mag, liegt ihm in bezug auf Kommunikation eine „übereilige Analogie zwischen der sprachlichen und der gegenständlichen Erfahrung” zugrunde (Agud 1993, S. 23) eine Analogie, die ihren Impuls aus der Abgrenzung rationalistischen Wissenschaftsverständnisses gegenüber dem Dogmatismus der herrschenden Zeit erfuhr und die bis heute alle historischen Weiterentwicklungen überlebt hat. Die obengenannte Formel der Propagierung von Wissenschaftlichkeit findet sich in der Grammatik von Port Royal von 1660 (zitiert nach Agud 1993, S. 23). 370 Werner Nothdurft interaktive Phänomene, d.h. als Phänomene, die im Interaktionsverlauf durch das Zutun aller Beteiligten Zustandekommen - und nicht als individuelle (kognitive) Fähigkeiten. 14 faktische Phänomene, d.h. als Phänomene, deren Besonderheit sich durch das Zusammenwirken der jeweiligen Redeumstände im konkreten Fall ergibt - und nicht als virtuell, potentiell verfügbare Handlungsressourcen bzw. die Realisierung derselben. In diesem Sinne spreche ich von Weisen der Wirklichkeitskonstitution. 1 * Weisen der Wirklichkeitskonstitution sind jene interaktiven Außerungsformen und Interaktionsbeteiligungen, durch die die Erscheinungsweise unserer alltäglichen Welt, der Anschein ihrer Gegebenheit hervorgebracht wird. Es versteht sich, daß diese Formen und Beteiligungen signifikant unterschieden sind von jenen sprachlichen Handlungen, auf denen aus sprachtheoretischer Sicht die Welt zu lasten scheint: Referenz und Prädikation. Welches die Phänomene sind, die aus interaktionstheoretischer Sicht statt dessen im Vordergrund einer Betrachtung der sprachlichen Herstellung von Wirklichkeit stehen, soll in der folgenden Generalthese überblickartig erläutert werden. 5. Generalthese zur sprachlichen Herstellung von Wirklichkeit beim Sprechen Angesichts dieser problemtheoretischen Reflexionen und Erörterungen muß die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug sprachlicher Äußerungen in verbaler Interaktion in anderer Weise beantwortet werden als dies im Rahmen gängiger sprachtheoretischer Überlegungen gedacht werden würde: Wirklichkeitsbezug wird nicht gestiftet durch den Bezug einzelner sprachlicher Ausdrücke oder Äußerungen zur (außersprachlichen) Wirklichkeit, sondern durch die interaktive Herstellung von Vergewisserung, Vertrautheit, Verläßlichkeit und Verwirklichung. „Wirklichkeit, die wir erfassen, ist in ihrer ursprünglichen Form die Gewißheit einer lebendigen Wirksamkeit, die wir erfahren.” (Cassirer 1985, S. 86) In dieser Formulierung ist die Wirklichkeitskonzeption rückgebunden an die sophistische Rhetoriktradition, nach der Wirklichkeit als „rhetorisch vermitteltes Fürwahrhalten für die Dauer dieser Wirkung” verstanden wurde (Simon 1989, S. 23). 14 S.o. ’Verflechtungsordnung’. 15 Mit dem Ausdruck „Weise” lehne ich mich an eine Formulierung an, die Nelson Goodman benutzt; Goodman (1990) spricht bekanntlich von „Weisen der Weiter- Schlüsselwörter 371 Die kognitive Instanz der Wirklichkeitserschließung ist der Glaube als der Modus des Fürwahrhaltens, in dem zu einer bestimmten Zeit, ohne die Möglichkeit eines Kriteriums der Wahrheit, wegen des Handelnmüssens etwas „wirklich” für wahr gehalten wird” (Simon 1989, S. 15). Diese Vorstellung der Wirksamkeit von Rhetorik als essentiell auf den Prozeß selbst bezogen findet sich auch bei Quintilian: „Das Ziel, überzeugend zu reden, erschöpft sich bereits in der Tätigkeit des Redens selber, der nachträglich eintretende Erfolg ist als Nebenzweck ein zusätzliches Ergebnis: „nam est ars ea (..) in actu posita, non in effectu.” Allein die Betätigung zählt, nicht der Erfolg. Der Sinn des Redens liegt im Vollzug, und wie der Redner produziert auch der im Gespräch Redende nichts, denn er verwirklicht Praxis in einem ganz ursprünglichen Sinn, im Tun.” (Fauser 1991, S. 18) Die Gewißheit einer lebendigen Wirksamkeit ist im „ausdrucksmäßigen Verstehen” gegeben (Cassirer 1985, S. 94), sie beruht auf vertrauten Weisen des Kommunizierens, auf der Suggestivität von Darstellungsweisen und Klangmustern, auf der zeitlichen Kontinuität von Weisen, sich zu äußern und zu geben. Unser Empfinden, über die Wirklichkeit zu reden, beruht insbesondere zu einem außerordentlich erheblichen Teil auf Charakteristika des Zusammen-Redens, der Ausbildung eines gemeinsamen Rhythmus des Sprechens, der Etablierung von Klangmustern etc., also auf Phänomenen, die aus einer referenztheoretischen Perspektive als marginal gelten würden. 16 Wirklichkeit wird genaugenommen nicht hergestellt, sondern vergewissert. Das hier relvante Verstehensmodell ist eben nicht das der Decodierung von Informationen, sondern die Vorstellung eines „fruchtbaren Bodens”, auf den Äußerungen fallen (Korrespondenz von Bezugswelten, geläufigen Schemata und Mustern). 17 ’Konstruktion von Wirklichkeit’ kann interaktionstheoretisch gar nicht als autonomer Prozeß einzelner Individuen gedacht werden, sondern nur als Resultat des Handelns von Sprecher und Hörer. Die Frage nach der Referenz oder dem Wirklichkeitsbezug sprachlicher Zeichen stellt sich überhaupt erst, wenn dieses Gefühl der Vertrautheit nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. 18 16 Luhmann (1984) sieht diese musikalische Eindringlichkeit: Sprechen, Hören, Annehmen werden rhythmisch-rhapsodisch synchronisiert, „buchstäblich keine Zeit lassend für Zweifel” (S. 223). 17 Ähnliche Überlegungen finden sich auf systemtheoretischer Grundlage bei Luhmann (1984), für den das Verstehensproblem nicht in der „richtigen” Umsetzung von Intentionen liegt, sondern im hinreichend häufigen Zustandekommen von Verhaltens- Koordinationen. 18 Die Idee, alles in Kommunikation sei auf Wirklichkeit bezogen, erweist sich somit als irreführende Konsequenz eines nachrichtentechnischen Kommunikationsmodells, 372 Werner Nothdurft Die Gewißheit einer lebendigen Wirksamkeit beruht wesentlich auf Momenten von Prozessualität, Interaktivität, Kontextualität und Materialität von Äußerungen in verbaler Interaktion. Sie kommt zustande durch komplexe, theorieähnliche Zusammenhänge, in die einzelne Ausdrücke eingebettet werden (vgl. Nothdurft i.D.), sowie insbesondere durch Grundstrukturen solcher Zusammenhänge, die durch Haltungen wie Haß, Wut, Ohnmacht, Kränkung, Rivalität etc. gebildet werden (vgl. Nothdurft i.D.), sowie durch Weisen der Performanz, also der sprechsprachlichen Darstellung, und Inszenierung der Zusammenhänge, sowie durch das, was Sacks „Tiefe” genannt hat (Sacks 1990, S. 156). Sacks versteht darunter ein „Gefühl der Realität” (ebd.), das wesentlich auf Erinnerung an die eigene Biographie beruht. „Jeder von uns hat eine Lebensgeschichte, eine Art innerer Erzählung, deren Gehalt und Kontinuität unser Leben ist. Man könnte sagen, daß jeder von uns eine „Geschichte” konstruiert und lebt. Diese Geschichte sind wir selbst, sie ist unsere Identität.” (S. 154) 19 die für Kommunikation von einem Normalzustand ausgeht, der tatsächlich nur der ernster Krisen ist: die Normalität von Kommunikation ist gerade aufgebrochen, wenn Fragen der Bedeutung überhaupt relevant werden. Die sprachphilosophischen Überlegungen Simons erfahren von daher eine interaktionstheoretische Stützung. (Dies ist auch die Pointe der Garfinkelschen Krisenexperimente). 19 Sacks (1990) zeigt anhand des Falles eines neurologisch gestörten Patienten, der von einer Sekunde auf die nächste vergißt, was gerade geschehen ist, was passiert, wenn einem Menschen diese „Tiefe” fehlt: Die Verortung wird unablässig kommunikativ in der Wirklichkeit hergestellt: „Mit seinen Worten erschuf er unablässig sich selbst und die Welt um sich herum, um zu ersetzen, was er ständig vergaß und verlor. Ein solcher Wahnsinn kann eine atemberaubende Erfindungsgabe freisetzen, ein regelrechtes erzählerisches Genie, denn ein solcher Patient muß in jedem Augenblick sich selbst (und seine Welt) buchstäblich erfinden” (S. 154). „Nachdem alle, die ihn kennenlernen, ihn zuerst als „Stimmungskanone”, als „urkomisch” und „irre witzig” bezeichnen, sind sie über irgend etwas an ihm beunruhigt, ja bestürzt. „Er hört einfach nicht auf’, sagen sie. „Er ist wie ein Mann in einem Wettlauf, wie einer, der immer etwas nachjagt, das sich ihm ständig entzieht.” Und damit haben sie recht: Er kann nicht stehenbleiben, denn der Bruch in seinem Gedächtnis, in seinem Dasein, im Sinn seines Lebens ist nie verheilt und muß jede Sekunde aufs neue überbrückt und „geflickt” werden. Aber die Brücken, die Flicken sind trotz aller Brillanz zu nichts nütze, denn sie sind Erfindungen, Konfabulationen, die nicht als Realität dienen können, wenn sie nicht mit der Realität übereinstimmen. Spürt Thompson das? Noch einmal: Was für ein „Gefühl der Realität” hat er? Leidet er ständige Qualen die Qualen eines Menschen, der sich in der Unwirklichkeit verirrt hat und versucht, sich zu retten, der aber durch seine unablässigen und ihrerseits völlig unwirklichen Erfindungen und Illusionen zu seinem eigenen Untergang beiträgt? Soviel läßt sich mit Gewißheit sagen: Ihm ist nicht wohl Schlüsselwörter 373 Für die Herstellung von Vertrautheit sind Phänomene zeitlicher Kontinuität wesentlich, insbesondere die Annahme der Konstanz von Ausdrucksbedeutungen. Der interaktive Sinn einer solchen Konstanz liegt aber eben nicht etwa darin, auf ein außersprachlich existierendes Objekt zu verweisen, sondern (umgekehrt) durch konstante Verwendung zeitliche Kontinuität herzustellen, die „Dauer” bedeutet, und damit Verläßlichkeit anzudeuten. Daß bei Schütz die Basis-Idealisierung des „ich kann immer wieder” eine so große Rolle spielt, scheint mir genau an dieser kontinuitätsschaffenden Leistung der Idealisierung zu liegen. Vertrautheit und das Gefühl von Wirklichkeit beruhen ferner auf dem Vollzug von Verstehensprozessen, die die sprachliche Handlung als gemeinsam geteilt und akzeptiert erscheinen lassen sowie auf der Verwirklichung, der Poetisierung, sprachlicher Ausdrücke, die ein Eigenleben gewinnen. 6. Weisen der Wirklichkeitskonstitution Unser Empfinden, daß wir über die Wirklichkeit sprechen, beruht mehr auf Weisen des Sprechens, auf Atmosphärischem in der Interaktion, auf Stimmungen, auf diffusen Gefühlen und Haltungen wie Jemandem vertrauen können”, „etwas wiedererkennen”, „beeindruckt sein”, als auf den einzelnen „Aussagen” selbst. Unser Empfinden beruht auf in der Interaktion hergestellten Qualitäten: - Verläßlichkeit, d.h. zeitliche Kontinuität, - Vertrautheit, - Verwirklichung. Dies sind die Weisen interaktiver Konstitution von Wirklichkeit. Sie sollen im folgenden kurz skizziert werden, bevor ein spezielles Phänomen, Schlüsselwörter, detailliert diskutiert wird (Kap. 7). 6.1 Wirklichkeitkonstitution durch Koppelung von Sachverhaltsdarstellung an Sprechercharakteristika: Glaubwürdigkeit hersteilen Bei dieser Weise vollzieht sich die Konstitution von Wirklichkeit beim und durch Reden über die Herausbildung besonderer teilnehmerbezogener Eigenschaften, und damit gleichsam in globaler, nicht auf die einin seiner Haut. Sein Gesicht hat immer einen angespannten Ausdruck. Es ist das Gesicht eines Mannes, der dauernd unter einem inneren Druck steht. Gelegentlich, und wenn, dann nur verstohlen, nimmt es den Ausdruck offener, nackter, ergreifender Bestürzung an. Thompsons Rettung und zugleich sein Untergang ist die ihm aufgezwungene oder zum Selbstschutz angenommene Seichtheit seines Lebens. Ich meine damit die Art und Weise, wie es praktisch zu einer Oberfläche, einer brillanten, schimmernden, glitzernden, sich ständig verändernden, aber doch eben nur zu einer Oberfläche, einer Anhäufung von Illusionen, einem Delirium ohne Tiefe reduziert wird.” (S. 156). 374 Werner Nothdurfi zelne Äußerung bezogener Weise. Eine besondere Rolle spielt für diese Weise der Wirklichkeitskonstitution der Mechanismus des Vertrauens in die Glaubwürdigkeit der Äußerungen bzw. Aussagen eines Sprechers. Vertrauen stellt einen „Vorschuß” (Luhmann 1968) dar, auf dessen Grundlage sich Interaktionsverhältnisse in besonders günstiger Weise entwickeln können, die diesen Vorschuß rechtfertigen bzw. wettmachen es entsteht ein sich selbst stabilisierendes System der Geltungsherstellung ohne „Einzelprüfung”. Uber Vertrauen wird die Glaubwürdigkeit „medialisiert” im Sinne Luhmanns, d.h. von der Äußerung einzelner Aussagen abgelöst und als global geltend über ganze Interaktionsverläufe konstant gehalten. Ein anderes Phänomen, das für die Herstellung von Glaubwürdigkeit, besonders in der Situation der Konflikt- und Problembearbeitung, eine wesentliche Rolle spielt, ist die Demonstration von Kompetenz. Gelingt es, sich selbst als kompetent in der Sache darzustellen und eine entsprechende Zuschreibung als situational relevant herzustellen, ist damit die Geltung dessen, was man im einzelnen zur Sache sagt, global sichergestellt. Kompetenz suspendiert weiträumig Zweifel an einzelnen Aussagen. Überzeugende Demonstration von Kompetenz kann in der besonderen Weise der Durchführung der Äußerungsgestaltung liegen, so wie dies Quintilian für die Erzeugung der Glaubwürdigkeit empfohlen hatte: „Großen Eindruck macht es, wenn man zu den wirklichen Vorgängen noch ein glaubhaftes Bild hinzufiigt, das den Zuhörer gleichsam gegenwärtig in den Vorgang zu versetzen scheint, wie es die bekannte Beschreibung des M. Caelius darstellt, die sich gegen Antonius richtet: ’Denn sie trafen ihn an, wie er seinen Rausch auszuschlafen daliegt, aus voller Brust schnarchend, rülpsend aus- und einatmete, und seine glorreichen Kameradinnen lagen quer auf allen Feldbetten, und der Rest der Amazonen lag allenthalben ringsrum: Doch diese, halbtot vor Schrecken, als die Ankunft der Feinde bekanntgeworden war, suchten Antonius aufzuwecken, schrien seinen Namen, suchten ihn vergeblich am Nacken hochzuheben, eine rief ihm etwas Zärtliches ins Ohr, die eine oder andere gab ihm auch heftigere Stöße. Als ihm Rufe und Handgreiflichkeiten aller dieser Helferinnen dämmernd ins Bewußtsein drangen, suchte er der nächsten besten die Arme um den Hals zu legen. Weder schlafen konnte er, weil er aufgeweckt, noch wach sein, weil er betrunken war, doch schwankte er im Halbschlaf unter den Händen seiner Centurionen und Konkubinen.’ Nichts läßt sich glaubhafter erfinden, heftiger entgegenschleudern und handgreiflicher darstellen als diese Szene.” (Quintilian 1972, S. 485) Demonstration von Kompetenz kann aber auch selbst wieder in globaler Weise abgegolten werden über Symbolisierungen von Kompetenz, d.h. Demonstrationen und Inszenierungen, mit denen und durch die man deutlich machen kann, „von der Sache etwas zu verstehen”. Schlüsselwörter 375 6.2 Wirklichkeitskonstitution als Resultat des Herstellens wechselseitiger Vertrautheit: Einverständnis bilden „Realität in einer Welt ist ... größtenteils eine Sache der Gewohnheit.” (Goodman 1990, S. 35) Die Gestaltung einer Interaktionsituation als geläufig, als mit vertrauten Momenten und bekannten Elementen durchzogen, als eine, in der man „zuhause” ist, ist eine andere Weise der Wirklichkeitskonstitution beim Reden. Hier hängt es ganz entscheidend an der materialen Ausgestaltung des Sprechens selbst, daß der Eindruck, über die Wirklichkeit zu reden, bei den Beteiligten zustandekommt. In dem Maße, in dem man durch den Vollzug des Sprechens Gemeinsamkeit mit dem anderen herstellt, in dem Maße ist dieser selbst in die Darstellung miteinbezogen - und gefangen 20 ; in dem Maße, in dem das gemeinsame Sprechen durch Gestik, Blicke, Intonation, lexikalische Abstimmung synchronisiert erfolgt, als Verschmelzung verschiedener Stimmen in einem Rhythmus, in dem Maße in dem man das Gefühl hat, „die gleiche Sprache zu sprechen”, in dem Maße erscheint den Beteiligten der Gegenstand ihres Sprechens als von ihnen selbst unabhängig, objektiv präsent. 21 „Mit Hilfe dieser Zeichen, über die der Autor und ich uns einig sind, weil wir dieselbe Sprache sprechen, hat er mich glauben lassen, wir befanden uns auf dem schon gemeinsamen Boden erworbener und verfügbarer Bedeutungen. Er hat sich eingenistet in meiner Welt.” (Merleau-Ponty 1993, S. 35) Eine wesentliche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die besondere Weise der intonatorischen Ausgestaltung der eigenen Rede eine, die gemeinhin als „Brustton der Überzeugung” bezeichnet wird eine Weise des Vortragens, die Zweifel am Gesagten erst gar nicht aufkommen läßt oder angesichts des eigentümlichen Klangzaubers dieser Intonationsweise nur schwer entwickeln läßt. Püschel bemerkt anläßlich einer Untersuchung, wie Nachrichtensprecher die Faktizität ihrer Ansagen herstellen: 20 „Das größte Hindernis liegt in der Unmöglichkeit, den Geschichtenerzählern selbst zu lauschen. Wie akurat die aufgezeichneten Versionen der Märchen auch immer sein mögen, sie können nicht jene Wirkungselemente vermitteln, durch die im 18. Jahrhundert die Geschichte zum Leben erwacht sein dürfte: die dramatischen Pausen, die verstohlenen Blicke, den Gebrauch von Gesten, um Schauplätze zu umreißen ein Schneewittchen am Spinnrad, ein Aschenputtel, das seine Stiefschwester laust - und den Einsatz von Geräuschen, um Geschehnisse zu unterstreichen ein Pochen an der Tür (das oftmals ausgeführt wurde, indem man einem Zuhörer an die Stirn klopfte) oder eine Prügelei oder ein Furz. All diese Mittel geben der Bedeutung der Erzählung Gestalt.” (Darnton 1989, S. 27). 21 In der Herstellung von Vertrautheit liegt auch die Relevanz dessen, was Malinowski (1923) „phatic communion” genannt hatte. 376 Werner Nothdurft „Der Charakter des Faktischen wird schließlich noch durch ein weiteres Mittel bewirkt, nämlich die stakkatohafte Aneinanderreihung von Hauptsätzen, die allenfalls Erweiterungen aufweisen und parataktisch miteinander verbunden sind ... Jeder Satz enthält eine Information, an deren Gewißheit nicht zu zweifeln ist.” (1993, S. 279) Eine andere relevante Intonationskontur ist jene, in der Sachverhalte en passant formuliert werden, so daß man die Brisanz, die sie möglicherweise enthalten, angesichts der Modalität der Beiläufigkeit, des „nebenbei”daherkommens, leicht übersieht. Vertrautheit kann aber auch auf andere Weise hergestellt werden, z.B. durch Rückgriff bei der Sachverhaltsdarstellung auf geläufige Handlungsmuster, die es den anderen nahelegen, Ausführungen des Sprechers ergänzen zu können, „weiter zu wissen” oder Ereignisse gemeinsam zu erzählen (Confabulation). Dieser Moment der Gemeinsamkeit ist entscheidend für den Eindruck, etwas Wirkliches darzustellen. 22 Intersubjektivität beruht ganz offenbar in einem hohen Maße auf dem Erlebnis, daß ein Teilnehmer in der Stimme eines anderen hört, was er meint, selbst sagen zu können, oder selbst zu sagen hätte. Schon Quintilian wußte: 53: „Es gibt aber auch eine bestimmte Form des Ablaufs eines Vorgangs, die glaubhaft ist, wie sie in Komödien verwendet wird und in Mimen. Denn manches folgt naturgemäß aufeinander und bildet einen Zusammenhang, so daß der Richter selbst, wenn man nur gut erzählt, wie es angefangen hat, schon auf das wartet, was man danach erzählen will.” Ungeheuer hat die entscheidende Rolle von Vertrautheit für Anstrengungen der Herstellung und Überprüfung von Verstehen hervorgehoben; mit Hilfe solcher Anstrengungen gelangt man nie, so argumentiert er, zu einer sicheren Basis wechselseitigen Verstehens, sondern überraschend genug stets an die Frage, ob einem die Redeweise des anderen vertraut ist oder fremd. Das Moment der Vertrautheit birgt in sich den Mechanismus, mittels dessen die Rolle von Vertrautheit für die Wirklichkeitskonstitution selbst zurückgenommen ist: „Im Alltag werden wir der konstitutiven Dimension von Sprache nicht gewahr, weil wir die Sprache nicht eigentlich konstituierend gebrauchen, sondern auf bereits vollzogene Konstituierungen bestätigend Bezug nehmen, weil die Welten, auf die wir uns beziehen, uns als Konventionen schon vertraut sind.” (Anderegg 1985, S. 43) 22 Vgl. Pollner/ Wynne (1979). Schlüsselwörter 377 6.3 Wirklichkeitskonstitution durch Operieren mit besonderen Ausdrucksmitteln in Sachverhaltsdarstellungen: Ausdrucksbedeutung schaffen/ verwirklichen Diese Weise der Wirklichkeitsherstellung durch Sprechen und im Sprechen zeichnet sich dadurch aus, daß einzelne sprachliche Ausdrücke im Vollzug der verbalen Interaktion ein besonderes Eigengewicht oder Eigenleben erhalten, daß sich Bedeutungen solcher Ausdrücke im Zuge des Redens substantiieren, gleichsam verwirklichen. Eine wesentliche Rolle spielen dabei bemerkenswerterweise Momente, die man üblicherweise eher mit Fiktionalität in Zusammenhang bringt als ausgerechnet mit der Herstellung von Tatsachen: Momente poetischen Sprechens wie Rhythmisierung, Wiederholung, Klangähnlichkeiten etc. Es handelt sich um Momente der Ikonisierung des Sprechens (vgl. Kloepfer 1975, S. 112f.), der Klangwerdung von Redegegenständen. Ferner spielt hier der Phänomenbereich sogenannten bildhaften Sprechens, vor allem Metaphorisierungen, eine Rolle, Weisen des Sprechens also, die durch eine hohe Anschaulichkeit und damit Suggestivität (Tannen 1989) gekennzeichnet sind sowie der Bereich der Inszenierung von Ausdrücken (s.u. das Beispiel in 7.8.2). Eine weitere Weise der Verwirklichung von Bedeutung beruht auf Evolutionen von Deutungen, d.h. auch Verstehensanstrengungen von Interaktionsteilnehmern, in deren Verlauf vorläufige Handlungs- oder Ausdrucksinterpretationen zunehmendes Gewicht und zunehmende Stabilität erhalten, so daß sie am Ende den Teilnehmern als „Tatsachen”, die sie selbst geschaffen haben, gegenüb erstehen vgl. Nothdurft (i.D.). Im folgenden Teil der Darstellung wird die hier entwickelte Sichtweise auf die Herstellung von Wirklichkeit durch Sprechen in verbaler Interaktion an Hand einer Weise der Wirklichkeitskonstitution exemplifiziert, nämlich der Herausbildung von Schlüsselwörtern im Prozeß verbaler Interaktion. Schlüsselwörter, markante sprachliche Ausdrücke also, wurden deshalb ausgewählt, weil die geläufige Auffassung, Wirklichkeit würde durch Sprache bezeichnet, im Fall markanter Wörter am greifbarsten ist und man entsprechend an diesem Fall zeigen kann, in welchem Ausmaß kontextuelle und interaktive Prozesse an der Bedeutungskonstitution solcher Schlüsselwörter beteiligt sind. Die bisher entwickelten Überlegungen zur Rhetorik der Wirklichkeitskonstitution haben Implikationen für den Umgang mit den einzelnen, als relevant erachteten kommunikativen Phänomenen. Zum einen ist klar, daß diese Phänomene nicht im Sinne eines möglichst effektiven Einsatzes durchdacht und dargestellt werden können, weil eine solche Instrumentalisierung mit einem zeitgemäßen Konzept von verbaler Interaktion nicht mehr kompatibel ist. Zum zweiten soll der methodische Grundsatz der Treue des Verstehens aufrechterhalten bleiben, d.h., die einzelnen empirischen Phänomene sollen in ihrer Wirksamkeit, wie sie nach aller alltagsweltlichen kommunikativen Erfahrung gegeben ist, ernstgenommen und erfaßt werden. Leitgedanke der analy- 378 Werner Nothdurft tischen Beschäftigung mit den Phänomenen ist genau diese Erfahrung. Phänomene werden also nicht als Gesprächsphänomene betrachtet, sondern als Bestandteile des auf Kommunikation bezogenen gesellschaftlichen Erfahrungsdiskurses eingeführt und betrachtet, dem wir als Kommunikationsteilnehmer unterworfen sind. Gegenstand der empirischen Analyse sind dann Fälle, die zu diesem Erfahrungsdiskurs passen. An ihnen erfolgt dann mit dem Instrumentarium der Gesprächsanalyse der Aufweis des Zusammenspiels solcher Erfahrungen mit Ereignissen im Gesprächsgeschehen selbst. Die empirisch-gesprächsanalytischen Anteile des folgenden Darstellungszusammenhangs haben also nicht den Status einer empirischen Umsetzung vorab formulierter theoretischer Prämissen, sondern den der empirischen Veranschaulichung im Rahmen einer veränderten Sichtweise auf alltägliche kommunikative Erfahrungen. Die Analysen streben eine Revision alltäglicher Kommunikationserfahrungen und -Vorstellungen auf der Grundlage spezifisch gesprächsanalytischer Empirie an, sie leisten einen „Anschluß des unmittelbaren Verständnisses sprachlicher Zeichen an die diskursiven Bräuche der Menschenvernunft” (Agud 1991, S. 331). Diese Zielsetzung ist kompatibel mit einem zeitgemäßen Verständnis des Handelns in verbaler Interaktion. Angesichts dieses Verständnisses des Handelns als wesentlich interaktiv konstituiert, kontextuell gebunden, prozessual erfolgend und material ausgestaltet ist die antike Interpretation von Rhetorik als Ausbildung selbstbewußter Teilnahme des Menschen an seiner Kommunikationsgemeinschaft von hoher Aktualität. Mit dieser Interpretation läßt sich als Ziel der Analyse formulieren, Einsicht in die Bedingungen des eigenen und fremden kommunikativen Handelns in interaktiven Zusammenhängen zu gewinnen. 7. Schlüsselwörter etablieren „Schau auf das Blau des Himmels, und sag zu dir selbst ’Wie blau der Himmel ist! ’” So schreibt Ludwig Wittgenstein (1971) unter der Nummer 275 in seinen „Philosophischen Untersuchungen” - und fährt im nächsten Abschnitt fort: „’Aber meinen wir denn nicht wenigstens etwas ganz Bestimmtes, wenn wir auf eine Farbe hinschauen und den Farbeindruck benennen? ’ Es ist doch förmlich, als lösten wir den Farbeindruck, wie ein Häutchen, von dem gesehenen Gegenstand ab. (Dies sollte unsern Verdacht erregen.)” 7.1 Ein fiktives Beispiel In einer kontroversen Debatte gehen die Meinungen hin und her. Gleichzeitig haben alle Beteiligten das Gefühl, im Nebel zu stochern. Plötzlich fällt ein Wort, das aufhorchen läßt, vieles wird auf einen Schlag klarer, die Unübersichtlichkeit weicht der Durchsicht. Das Wort trifft die Sache. Das Wort wird im weiteren Verlauf von den anderen aufgegriffen, bestätigt, pa- Schlüsselwörter 379 raphrasiert, kommentiert. Es gewinnt ein Eigenleben. Die Sache, für die es steht, steht fest, wird zum Eckpfeiler oder Schlußstein der weitergehenden Meinungsbildung. Das Treffende des Wortes verbürgt die Stabilität der Sache. Davon kann man ausgehen, das gibt einen stabilen Grund. 7.2 Schlüsselwörter als Forschungsgegenstand Wörter, die einen herausragenden Status für einen Redebeitrag, eine Gesprächspassage oder gar den ganzen Interaktionsverlauf erhalten, bezeichne ich als Schlüsselwörter. In der wissenschaftlichen Literatur ist der Gedanke, daß sich in sprachlichen Ausdrücken die Bedeutung oder Botschaft eines umfangreicheren Textes kristallisiert, seit langem geläufig zumindest im deutschsprachigen Bereich, und zwar dort v.a. in der sog. Schlagwortforschung. Die Geschichte dieser Forschungsrichtung 23 ist gekennzeichnet durch eine enge Verwobenheit sprachwissenschaftlicher, sprachkritischer und politischer Ambitionen es scheint, daß die Idee des Schlagwortes von Anbeginn an politisch funktionalisiert worden ist. Durchgängig wird vor seiner demagogischen Kraft gewarnt, seine suggestive Wirkung hervorgehoben, seine affektive Wirkung beschworen. 1862 erschien „Phrasen und Schlagwörter. Ein Noth- und Hülfsbüchlein für Zeitungsleser” des Zentrumspolitikers Reichelsperger, dem im Gegenzug „Phrasen und Schlagworte der sogenannten „Ordnungspartei”. Ein Rat- und Hülfsbüchlein für den „Beschränkten Unterthanenverstand”. Von einem sogenannten Umstürzler”, folgte. Meyers Sammlung „400 Schlagworte” (1900) und vor allem die systematischere Darstellung Ladendorfs „Historisches Schlagwörterbuch” (1968; Erstaufl. 1906) etablierten das Schlagwort als wissenschaftlichen Gegenstand für kurze Zeit, bis das Phänomen während der Weimarer Republik und des Faschismus in der germanistischen Linguistik fast völlig unbeachtet blieb. Erst zu Beginn der 60er Jahre erfährt die Schlagwort-Forschung im Zuge der „Wiederentdeckung der Sprache als eines ideologisch wirkungsvollen Herrschaftsinstrumentes” (Dietmannshenke 1994, S. 11) einen neuen Aufschwung, der an Intensität seitdem nicht nachgelassen hat und zu einer zunehmenden Differenzierung des Untersuchungsbereichs geführt hat. Leitend ist die Vorstellung, daß es sprachliche Ausdrücke gibt, die eine prägnante sprachliche Form haben, programmatischen Gehalt aufweisen, auf Parteinahme abzielen und einen gesteigerten Gefühlswert besitzen. Die Vorstellung prägnanter sprachlicher Ausdrücke ist Topos unseres Sprachdenkens; wir schreiben solchen Wörtern eine eigentümliche Kraft zu: 23 Ich stütze mich hier v.a. auf die Darstellung in Dietmannshenke (1994). 380 Werner Nothdurft „Ein einzelnes Wort kann ein weit gespanntes Netz von Erinnerungen und Empfindungen reaktivieren; ein anderes verändert schlagartig unser aktuelles Wahrnehmen oder Begreifen, läßt uns, wie wir zu sagen pflegen, die Dinge in einem anderen Licht sehen.” (Anderegg 1985, S. 43). Cassirer bemerkt bei der Lektüre von Nikolaus von Cues, daß dieser oft mit einem einzigen Wort, „mit einem einzigen glücklichen geprägten Terminus die ganze spekulative Tiefe der großen Grundprobleme, die ihn bewegen, blitzartig erhellt” (1977, S. 20). Betrachtet man die Forschungslage, so fällt auf, daß fast alle Untersuchungen, die sich diesem Programm verpflichtet haben, sich auf schriftliche Texte als ihr Datenmaterial stützen. Eine Ausnahme bildet Kallmeyer, der bei der Analyse gesprochener Sprache beobachtet: „Es handelt sich ... um besonders griffige, farbige, treffende Ausdrücke, die sich von ihrer Umgebung abheben, insofern als besondere Formulierung zu Leistungen erkennbar werden und z.T. regelrecht wie „Funde” behandelt werden” (Kallmeyer 1981, S. 418). Auch in der schöngeistigen Literatur tritt das Phänomen des Schlüsselworts auf: Man denke nur an die Stelle in Goethes Werther, an der die bloße Nennung eines Namens einen Ohnmachtsanfall auslöst: „’Klopstock’ hauchte sie” (Goethe, Werther, I. Buch, 16. Juni). 7.3. Merkmale von Schlüsselwörtern In verbaler Interaktion spielen Schlüsselwörter eine ganz besondere Rolle aufgrund der Flüchtigkeit und Prozessualität des Geschehens (s.o.). Die kommunikative Signifikanz und Spezifizität von Schlüsselwörtern für verbale Interaktion beruht u.a. auf folgenden Charakteristika: - Verbale Interaktion ist flüchtiges Geschehen und bedarf in ihrer Fixierung der Erinnerung. Schlüssselwörter organisieren die Erinnerung an das Geschehen in Interaktionsprozessen, in deren Verlauf sie sich herausbilden. Aufgrund der (zustandegekommenen) Prägnanz vermögen sie dem Gedächtnis als Stichwörter zur Verfügung zu stehen, an denen sich ganze Ereignissequenzen „aufhängen” lassen. Sie bilden die Antwort auf die Frage, „worum es denn gegangen ist” und durch ihren Aufruf können ganze Interaktionssequenzen in der Erinnerung reaktiviert werden. - Schlüsselwörter kondensieren komplexe Argumentationsfiguren, Erklärungsmodelle, Evaluationsprozesse oder Themen in griffigen Formeln. Diese Formeln fungieren als Etiketten, die stellvertretend für den semantischen und pragmatischen Gehalt von Diskursprozessen stehen, ihn gewissermaßen absorbieren und ihn semantisch und pragmatisch zuspitzen. Schlüsselwörter 381 - In der Regel verdanken Schlüsselwörter ihre besondere handlungs- und themenorganisierende Valenz der Tatsache, daß sie Diskussionszusammenhänge, die für die Beteiligten häufig undurchschaubar, unübersehbar verzweigt sind, in ein routinenmäßig handhabbares alltagsweltliches Format bringen. Diese Funktion zeigt sich besonders deutlich, wenn Laien sich mit Fragen auseinandersetzen, die sie existenziell tangieren, zu deren Verständnis und Beurteilung aber Expertenwissen erforderlich ist. - Es handelt sich um Ausdrücke, deren Bedeutung an den Diskursprozeß einer lokal gebundenen Kommunikationsgemeinschaft gebunden ist. Da sich die Ausdrücke gleichzeitig durch formelhafte Prägnanz auszeichnen, können Schlüsselwörter als in einer lokalen Sprachgemeinschaft geläufige Sprachformen bestimmt werden, die sich diskursiv ausbilden und im weiteren Verlauf kommunikativer Prozesse zu verdinglichten Konstrukten werden. Der reifizierende Charakter der Schlüsselwörter entsteht dadurch, daß sie prozessuale kommunikative Konstruktionen von Wirklichkeit fixieren und ihnen durch die wiederholte Verwendung die Geltung unverrückbarer Tatsachen, Werte oder Erklärungen verleihen. - Schlüsselwörter dienen zur Signalisierung kommunikativer Positionen ihrer Benutzer. Häufig fungieren sie als Signale, die anzeigen, „auf welcher Seite ein Diskutant steht. Sie zeigen also soziale Identität des Sprechers in Hinblick auf den gegenwärtigen kommunikativen Zusammenhang an, indem sie in prägnanter Form auf interessenbzw. gruppenspezifische Deutungsschemata und Relevanzen verweisen. - In manchen Fällen können Schlüsselwörter Reizwörter sein, die in einem Kommunikationsprozeß eine zentrale Stellung einnehmen, da sie wesentliche Punkte eines strittigen Themas bezeichnen, deren Interpretation zwischen den Beteiligten besonders umstritten ist. Dementsprechend wird die Bedeutung der Schlüsselwörter bzw. ihre situative Auslegung umkämpft, und motiviert weiträumige, häufig wiederkehrende Auseinandersetzungen und Konflikte. - Aufgrund ihrer pointierenden Funktion kommt Schlüsselwörtern besondere rhetorische Wirksamkeit zu. Sie dienen zur Positionsmarkierun §; z nr zielsicheren und begründungsentlastenden Relevanzfestlegung und zur Evokation emotionaler Empfindungen. - Um Schlüsselwörter organisieren sich „Kraftlinien” der Interaktion, sie absorbieren wesentliche Relevanzstrukturen, Deutungs- und Handlungsmuster in komprimierter Form und sind an die positionalen Fronten des lokalen Diskurses angebunden. Die rhetorische Wirksamkeit von Schlüsselwörtern ist stark kontextgebunden dies mindestens in folgender Hinsicht: Es gibt Interaktionskon- 382 Werner Nothdurft texte, in denen vom Normalfall abweichende Interpretationsbedingungen herrschen derart, daß „jedes Wort zählt” (kritische Momente). Es gibt aber auch Kontexte, in denen man durchaus „mal etwas sagen kann”, in denen eine Atmosphäre herrscht, in der das, was gesagt wird, unter gelockerten Interpretationsbedingungen verstanden wird und wie natürlich aus dem Kontext heraus erwächst (small-talk). Es gibt Kontexte, in denen ein sprachlicher Audruck alle Chancen hat, zum Schlüsselwort zu werden und dennoch nicht reüssiert, weil er nicht an den lokal oder gesellschaftlich relevanten Diskurs angebunden ist. 24 7.4 Der rhetorische Effekt von Schlüsselwörtern Der rhetorische Effekt von Schlüsselwörtern beruht darauf, daß (aufgrund eines speziellen Passungsverhältnisses der Schlüsselwörter in bestimmte interaktive Kontexte) der Eindruck entsteht, das Wort wäre ein die Sache besonders treffender Ausdruck, ein die Sache angemessen bezeichnendes Wort. Durch diesen Eindruck erhält „die Sache” selbst ebenfalls die Qualität eines feststehenden, existierenden Dinges. Gerade bei der Empfindung eines treffenden Ausdrucks tritt das Wort gleichsam zurück und gibt die Sache selbst frei. „Eine Rose; es regnet; das Wetter ist schön; der Mensch ist sterblich. Dieses sind für uns die reinen Fälle des Ausdrucks. Uns scheint es, seine Höchstleistung sei erreicht, wenn er ohne Zweideutigkeiten Ereignisse, Sachverhalte, Ideen oder Bezüge darstellt; denn hier läßt er nichts zu wünschen übrig, er enthält nichts anderes als das, was er darstellt, und läßt uns zum bezeichneten Objekt hinübergleiten.” (Merleau-Ponty 1993, S. 27) Merleau-Ponty macht deutlich, daß dies indes keine Qualität der Sprache selbst ist, sondern eine alltagsweltliche Auffassung, wie Sprache funktioniert: „Wir verehren alle heimlich dieses Ideal einer Sprache, die uns in letzter Konsequenz von ihr selbst befreit, indem sie uns den Dingen überläßt.” (Merleau-Ponty 1993, S. 27) In dieser Auffassung begreifen wir die Sprache als eine „Verdoppelung des Seins” (S. 29). Wir stellen uns vor, daß „die Wörter an den Dingen selbst hängen” (S. 30). „Mag er nun mythisch oder intelligibel sein, es gibt einen Ort, wo alles, was ist oder sein wird, sich gleichzeitig darauf vorbereitet, gesagt zu werden. Dieses ist beim Schriftsteller ein Berufsglaube. Immer wieder muß man jene erstaunlichen Sätze von LaBruyere lesen, die John Paulhan zitiert: „Unter allen verschiedenen Ausdrücken, die einen unserer Gedanken wiedergeben können, gibt es nur einen einzigen, der paßt. Man begegnet ihm nicht immer beim Sprechen oder Schreiben: Wahr ist aber nicht desto weniger, daß es ihn gibt”.” (S. 29) 24 Vgl. zu „Erfolgsbedingungen” für die globale gesellschaftliche Etablierung von Schlüsselwörtern Cremer-Schäfer/ Stehr (1990). Schlüsselwörter 383 Und in der Tat werden wir durch das Sprechen, durch die interaktiven Prozesse selbst immer wieder in dieser Auffassung bestätigt. „Es ist ein Ergebnis der Sprache, selbst unbemerkt zu bleiben in dem Maße, wie es ihr gelingt, etwas auszudrücken.” (S. 33) „... die Vollkommenheit der Sprache besteht offensichtlich darin, unbemerkt zu bleiben. Aber gerade darin liegt die Stärke der Sprache: sie ist es, die uns zu dem hinführt, was sie bedeutet; sie verbirgt sich vor unseren Augen durch ihre eigene Tätigkeit; ihr Triumph ist es, sich selbst auszulöschen und uns über die Worte hinaus Zugang zu den Gedanken des Autors selbst zu verschaffen, so daß wir nachträglich glauben, wir hätten uns ohne Worte mit ihm unterhalten, von Geist zu Geist . (S. 34) Das Resultat des Sprechens selbst ist die Verdinglichung der Sachen, über die gesprochen wird. 7.5 Ziel der Analyse Ziel der rhetorischen Analyse muß es daher sein, das Zustandekommen der Verdinglichung analytisch aufzulösen, die Interaktionsgeschichte, in deren Verlauf ein sprachlicher Ausdruck den Status eines Schlüsselwortes erhält, zu rekonstruieren und nachzuerzählen (Tannen 1989). 7.6 Schlüsselwörter in interaktionstheoretischer Perspektive Der Normalfall verbaler Interaktion ist gerade der Fall fehlender semantischer Explikation von Ausdrücken. Normalfall, nicht nur, was die geringe Auftretenshäufigkeit entsprechender Fälle von Explikation betrifft, sondern auch, was die Erwartungshaltung und Gesprächseinstellung von Gesprächsbeteiligten angeht (das ist die Pointe der Garfinkelschen Krisenexperimente). Aufgrund von Kontextgebundenheit von Äußerungen, Sequenzialität des Handelns und Flüchtigkeit des Sprechens (s.o. 4.) bleibt Interaktionsbeteiligten gar nichts anderes übrig, als von zumindest partieller Identität der Resultate eigener Verstehensanstrengungen mit den den Sprechern unterstellten Vorstellungen auszugehen bzw. wenn einzelne sprachliche Ausdrücke überhaupt zum Problem werden — von einer Bedeutungsidentität und -konsistenz einzelner sprachlicher Ausdrücke. In diesem Sinne ist die Frage nach der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke kein praktisches Problem für Gesprächsteilnehmer. Für die Mehrzahl sprachlicher Ausdrücke in Interaktion gilt, daß sie im Fluß des interaktiven Geschehens untergehen, so daß es zwar Sinn machen mag, ihnen eine interaktive Funktion zuzuschreiben, daß aber davon, daß sie ’eine Bedeutung haben’, nicht die Rede sein kann. „Wort” sollte insofern als Zugeständnis an eine geläufige, von Schriftlichkeit geprägte Denkgewohnheit verstanden werden (Olson 1993), als gerade deutlich gemacht werden soll, daß aus interaktionstheoretischer Perspektive sowohl die Vorstellung, Sprechen bestünde aus dem Äußern von Wörtern, vor allem aber die, ein 384 Werner Nothdurft (oder jedes) in Interaktion vorkommende Wort „habe” „seine” Bedeutung, fragwürdig ist. Sprachliche Ausdrücke werden stets als Bestandteile komplexer kommunikativer Einheiten bzw. Gestalten, seien es Sätze, Äußerungen oder Handlungen, wahrgenommen und es sind diese komplexen Gestalten, die durch interpretative Aktivitäten der Beteiligten ’Bedeutung’ erhalten. Aus linguistischer Perspektive hat dies z.B. Fillmore deutlich gemacht. Aber auch in sprachpsychologischen Untersuchungen zum Sprachverstehen ist dies erkannt worden. Hörmann hat betont, daß selbst in solchen experimentellen Situationen, in denen die Versuchspersonen zur Charakterisierung einzelner sprachlicher Ausdrücke aufgefordert wurden, „... die sprachliche Äußerung in ihrer Wirkung von der Handlung nicht zu isolieren (ist), in welcher sie erfolgt und als deren Teil sie fungiert, auch wenn die Versuchsperson ... ausdrücklich zur Einstufung nur ... der verbalen Äußerung aufgefordert wird.” (1978, S. 405f.). Charakterisierungen einzelner sprachlicher Ausdrücke seien als nachträgliche Zuschreibungen von Erlebnissen zu werten, die selbst jedoch in ihrem Zustandekommen der komplexen Redesituation insgesamt geschuldet seien (Hörmann/ Terbuyken 1974). Dies gilt also bereits für geschriebene Texte und für experimentell reduzierte Situationen mündlicher Kommunikation. Es gilt verstärkt für Situationen verbaler Interaktion mit ihrer noch stärkeren Verflechtung einzelner sprachlicher Ausdrücke in den Prozeß des Redens und dessen situative Umstände (vgl. schon die Gedanken Bühlers zum Handlungscharakter von Sprechen). Gleichwohl gibt es sprachliche Ausdrücke, die in der Interaktion durch die Aktivitäten der Beteiligten zunehmend einen herausgehobenen Status besonders markanter Ausdrücke erhalten. Solche sprachlichen Ausdrücke erhalten den Status von Schlüsselwörtern für die Interaktion. Im Zuge ihrer Autonomisierung (Dekontextualisierung) in interaktiven Prozessen erhalten sprachliche Ausdrücke den Status zunehmend kontextunabhängiger sprachlicher Ausdrücke und damit faktisch „Ahnlichkeitmit-Wörtern”. In dem Maße, in dem ein sprachlicher Ausdruck den Status eines Schlüsselwortes erlangt hat, gilt er in der Interaktion auch als zunehmend autonome, kontextunabhängige Bezeichnung für einen Sachverhalt. (Dieser Status von Schlüsselwörtern als Bezeichnung für außersprachlich gegebene Wirklichkeitsausschnitte wird besonders deutlich in Aktivitäten der Bedeutungs-Explikation, d.h. in Aktivitäten, in denen ein Interaktionsteilnehmer sich daran macht, zu erklären, ’was etwas ist’.) Schlüsselwörter bilden sich als autonome, kommunikative Einheiten in interaktiven Prozessen heraus, in denen und durch die sie ihre Bedeutung erfahren. Im Verlauf dieses Herausbildens konstituiert sich zugleich der Schlüsselwörter 385 Gegenstand, auf den die Wörter verweisen. Überspitzt könnte man formulieren: Das, was Gesprächsteilnehmer über einen Gegenstand der Wirklichkeit aussagen, hängt nicht von Merkmalen des Gegenstandes ab, sondern von der Kommunikationssituation, in der sie sich äußern. Es hängt mit anderen Worten an prozessualen Aspekten der Interaktion, daß der Eindruck entsteht, ein Wort wäre ein treffender Ausdruck für eine Sache. Wenn sprachliche Ausdrücke in so essentieller Weise in den Handlungs- und Interaktionskontext verwoben sind und ihre Bedeutung stets nur im Rahmen des jeweiligen Kontextes erhalten, stellt sich die Frage, wie der Verweis (die Referenz) eines sprachlichen Ausdrucks auf ein raumzeitlich gegebenes Objekt überhaupt gedacht werden kann bzw. wie eine Relation von einzelnem sprachlichem Ausdruck zu einem Gegenstand konzeptualisiert werden kann. Die entscheidenden Gedanken dazu finden sich in den Überlegungen von Peirce zu einer „kontextuellen Theorie der Objektbeziehung” (Pape 1989, S. 300). (Die folgende Darstellung orientiert sich an Pape 1989.) Das Faszinierende an Peirce’s Überlegungen für den hier formulierten Zusammenhang ist, daß Peirce es strikt vermeidet, den Bezug zwischen Zeichen und Objekt bzw. Gegenstand unmittelbar über „Referenz”, „Bezug” etc. herzustellen, sondern kontextualistisch vorgeht. „... the immediate object of a symbol can only be a symbol” (zitiert nach Pape 1989, S. 313). Ein Zeichen verweist (zunächst) also stets nur auf ein jeweiliges Objektim-Kontext, das selbst zeichenhafter Natur ist (unmittelbares Objekt). In dieser Erkenntnis sind die oben referierten verstehenspsychologischen Befunde zum Sprechen bereits vorweggenommen. „Der Begriff des „unmittelbaren Objekts” dient dazu, theoretisch zu beschreiben, was wir unmittelbar verstehen (oder auch mißverstehen), wenn wir ein Zeichen in seinem gegenständlichen Gehalt in einer bestimmten Verwendungssituation erfassen.” (Pape 1989, S. 315) Die Identität bzw. Konstanz eines Objektes bildet sich, wenn überhaupt, nur unter besonderen Bedingungen im Verlauf einer Zeichenverwendung heraus. Wenn in Interaktionen keine Kontinuität der Zeichenverwendung vorhanden ist, kann auch keine Objektkonstitution stattfinden. Es bedarf besonderer Kontextualisierungen, in denen erklärt oder vorgeführt wird, in welcher Weise ein sprachlicher Ausdruck einen Gegenstand darstellt („If a Sign is other than its object, there must exist, either in thought or in expression, some explanation or argument or other context showing how upon what system or for what reason the Sign represents the Object, that it does.” (Peirce, zit. in: Pape 1989, S. 300)) oder in denen dem Zeichengebrauch begleitende Beobachtungen mit dem Gegenstand angestellt werden können. Dies ist allerdings selbst noch keine hinreichende Bedingung für Gegenstandskonstitution denn, 386 Werner Nothdurfl „Ein Objekt darzustellen bedeutet nicht, diesem Objekt das Prädikat „existiert individuell” zuzuschreiben, sondern es in den Erklärungs- und Gebrauchskontext der Zeichenverwendung als invariantes Element einzubeziehen.” (Pape 1989, S. 302). Entscheidend ist vielmehr die Herstellung einer Kontinuität im Umgang mit dem Zeichen im Verlauf eines Interaktionsprozesses bzw. die Kontinuität einander interpretierender Propositionen. Im Zuge einer solchen Kontinuität bestimmter Kontextualisierungen eines sprachlichen Ausdrucks bildet sich heraus, was Peirce „dynamisches Objekt” nennt. Das ist es, was Peirce „Semiosis” nennt. Pape macht deutlich, daß dieser Prozeß der Herausbildung eines Objektes aus einem Kontinuum von Zeichenbenutzung von zwei einander komplementären Akzentuierungen durchdrungen ist (wie zwei Rhythmen, die ein Musikstück strukturieren): Eine objektorientierte Bildung von Zeichen und eine verstehensorientierte Interpretation (1989, S. 330). Der wesentliche Anteil der objektorientierten Bildung von Zeichen für die Gegenstandskonstitution liegt darin, daß mit einem sprachlichen Zeichen die „augenblicklich wahrnehmbare Gestalt eines Objektes als ein Teil der Existenz des realen Objektes hypostasiert” wird (1989, S. 331). Die verstehenstheoretische Interpretation geht vom Faktum des bereits geäußerten Zeichens aus und unternimmt anhand und mit Hilfe des spezifischen Erklärungs- oder Beobachtungskontextes den Versuch, eine Identität des Objektes zu konstruieren und damit das dynamische Objekt des Zeichens zu identifizieren bzw. herzustellen. „Wie Peirce immer wieder betont, kann ein Zeichenexemplar, für sich genommen, weder das Objekt ausdrücken noch eine unabhängige (und deshalb das Zeichen ergänzende) Erfahrung des Objekts ersetzen. Auch ein Zeichen, das so reich strukturiert ist, daß wir sein Objekt aufgrund des Zeichens herstellen oder auffinden können, bildet da keine Ausnahme, da das dynamische Objekt erst unabhängig vom Zeichen unter Bedingungen, die nicht vom Zeichen abhängen, wirklich sein muß, bis es zu dem dynamischen Objekt eines Zeichenexemplars werden kann. Bis es soweit ist, hat das Zeichen höchstens ein unmittelbares Objekt, mit dem ein mögliches, zukünftig reales Objekt intendiert ist.” (1989, S. 335) Um diese „Bedingungen, die nicht vom Zeichen abhängen”, soll es im folgenden gehen. 7.7 Interaktionsbedingungen für die Etablierung von Schlüsselwörtern Damit ein Wort zu einem Schlüsselwort werden kann, müssen eine ganze Reihe von Bedingungen erfüllt sein. Zu ihnen gehören: - Hervorhebung: Das Wort muß durch besondere sprachliche Hervorhebungen markiert und durch bestimmte Aktivitäten als „besonderes Wort” inszeniert werden. (1) Schlüsselwörter 387 - Bezugspunkte: Das Wort muß durch besondere Aktivitäten kontextualisiert werden. (2) - Kontext-Unterstützung: Das Wort muß in besondere interaktive Prozesse inkorporiert sein, in denen es eine zentrale Position einnimmt. (3) - Weltwissen/ Anschließbarkeit: Die Bedeutung bzw. Referenz des Wortes muß zum Weltwissen der Beteiligten passen (auf fruchtbaren Boden fallen; s.o.) (4) - Metapragmatische Einstellung: Die Beteiligten müssen sich an einer metapragmatischen Einstellung über Wörter orientieren, derzufolge Wörter Sachverhalte bezeichnen. (5) Im Einzelnen: 7.7.1 Hervorhebungen Hervorhebungen können durch eine ganze Reihe kommunikativer Phänomene erzielt werden. Zu nennen sind: a) Zitatweise Einführung (kanonische Form: [Subjekt -f verbum dicendi/ cogitandi : Schlüsselwort] hier wird immer lavidar gesagt die arbeitsplätze wir hören immer nur müllentsorauna müllverbrennuna aber kein mensch redet ia von müllvermeiduna das hab ich doch eben gesagt mit arbeitskräften dann kam zuerst diese Veranstaltung die ja ganze aufmachung jeder der da war hat es gewußt aeaner da heißt es ia gleich müllverbrennuna gegen müllverbrennuna in rauhstadt weil du gerade sagst alles kritisch b) Standpunktmarkierungen für mich is das alles nur ne reine aeldanaeleaenheit es geht um die alaubwürdiakeit der informanten thema Politiker c) Hedges sozusagen ihr toxikologisches Grundwissen 7.7.2 Bezugspunkte Bezugspunkte sind Resultate spezifischer Kontextualisierungen, durch die ein sprachlicher Ausdruck im Zuge seiner Einführung bzw. Erwähnung 388 Werner Nothdurft im Gespräch mit semantisch stabilen Konzepten bzw. Figuren assoziiert wird. Das Konzept des Bezugspunktes knüpft an die rhetorische Tradition der „Loci” an, jener Uberzeugungsbestände also, denen seit jeher die Eigenschaft zugeschrieben wird, eine Aussage zu substantiieren bzw. wahrzumachen. Die spezifische Wendung dieser alten rhetorischen Idee im Konzept des Bezugspunktes liegt darin, daß Bezugspunkte als Resultate in Interaktion eingebundener Formulierungsaktivitäten begriffen werden und die Zuschreibung von Eigenschaften zu sprachlichen Ausdrücken damit als Resultat interaktiven Handelns bestimmt wird (und nicht etwa aus einem merkmalsemantischen Konzept von Bedeutung). Durch die Verknüpfung mit Bezugspunkten wird ein sprachlicher Ausdruck gleichsam „aufgeladen”; er wird z.B. durch Einordnung in eine Relevanzskala höher bewertet, im Hinblick auf die Redesituation hervorgehoben und im Hinblick auf Bekanntheit markiert. „Die Art und Weise, in der ein sprachlicher Ausdruck in seinen Bezugspunkten erscheint, die spezifische „Ladung” der Bezugspunkte, gibt Aufschluß darüber, welche Bedeutung der sprachliche Ausdruck erhält und wie sie zustandekommt.” (Spranz- Fogasy 1992, S. 25) Spranz-Fogasy, der das Konzept der Bezugspunkte entwickelt hat, hat am Beispiel des sprachlichen Ausdrucks „Dioxin” in einer umweltpolitischen Diskussion gezeigt, wie dieser Ausdruck durch das Operieren der Sprecher mit Bezugspunkten seinen Status als Schlüsselwort in dieser Diskussion erhält. Dioxin kommt in der hier untersuchten Bürgerversammlung häufig vor und wird in vielen Bezugspunkten kontextualisiert. Dabei wird Dioxin noch in besonderer Weise qualifiziert, „geladen”: es wird horizontal und vertikal geordnet (im Vergleich zu anderen gleichwertigen Ausdrücken und als Element von (chemischen) Klassen); es wird als wichtig und gefährlich charakterisiert; es wird von den Beteiligten zeitlich hochaktualisiert und räumlich in nächster Nähe angesiedelt; es wird als gesellschaftlich weitverbreitetes und -diskutiertes Phänomen dargestellt; als in der laufenden Interaktion in hohem Maße relevant, thematisch übergreifend und höchst problematisch präsentiert, mit dessen Entstehungs-, Verbreitungs- und Wirkungszusammenhängen eine hohe kognitive und emotionale Unsicherheit verbunden ist usw. In mehreren Schritten wird Dioxin im Verlauf der Bürgerversammlung in einer Schlüsselfunktion etabliert. Bezugspunkte werden genannt, diskutiert, fallengelassen, wieder aufgegriffen, sie werden (z.B. zwischen Betreibervertretern und dem Toxikologen) umkämpft, betont und bestritten ... . Es erhält somit eine zunehmend verdichtete Bedeutung, die die Beteiligten im Laufe der Interaktion immer wieder aufrufen können, es verursacht eine interaktionsbezogene und lebensweltliche Präsenz für die Interaktionsteilnehmer und es ermöglicht ihnen die kognitive Organisation Schlüsselwörter 389 für viele andere Aspekte des Rahmenthemas „Pläne zur Errichtung einer Müllverbrennungsanlage.” (Spranz-Fogasy 1992, S. 25f.) 7.7.3 Kontext-Unterstützung Interpretationen des Geschehens in verbaler Interaktion beruhen wesentlich auf Eindrücken, die die Teilnehmer über länger andauernde Rede- und Interaktionssequenzen bilden, sog. ’Kontextualisierungseffekte’ (s. Nothdurft i.D.). Aufgrund der Schnelligkeit interaktiven Geschehens und seiner Flüchtigkeit sind es gerade Resultate der Prozessualität, über die Interpretationen erzeugt werden. Schon allein, daß man längere Zeit über etwas redet, suggeriert bisweilen Substanz des Redegegenstandes. Insbesondere sind es die Makrostrukturen von Redesequenzen, die sich unter Bedingungen verbaler Interaktion interpretations- und verarbeitungsfähig erweisen. Es gibt nun Fälle, in denen der Eindruck, den eine Interaktionssequenz hinterläßt, zu der konventionalisierten Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks paßt, der der Interaktionssequenz vorgeschaltet oder angehängt wird. In solchen Fällen stützen und erläutern sich Ausdrucks- und Kontextbedeutung gegenseitig. Durch den Kontext werden z.B. typische Eigenschaften, die konventionellerweise mit dem sprachlichen Ausdruck verbunden werden, illustriert und der sprachliche Ausdruck seinerseits bestimmt (vor- oder rückgreifend) die funktionale Signifikanz einzelner Kontextpassagen. Kontext-Unterstützung kann in Form der ’Elaboration’ erfolgen, bei der sich Kontext- und Ausdrucksbedeutung gegenseitig erläutern, oder als ’bipolare Organisation’, bei der sich ein Schlüsselwort aus der Konstruktion einer dichotomischen Explikation eines Redethemas ergibt, als ’diffuse Bündelung’, bei der ein Schlüsselwort in unklarer Weise auf einen Rede- Zusammenhang verweist, und mit der der Anspruch erhoben wird, diesen Zusammenhang zu komprimieren, oder als ’Verdichtung der Quaestio’, bei der die Makrostruktur des Redekontextes bzw. des „slots” im Handlungsschema eine thematische bzw. handlungsmäßige Vorgabe bildet, auf die das Schlüsselwort gleichsam die Antwort darstellt. 7.7.4 Weltwissen/ Anschließbarkeit Durch das Schlüsselwort bzw. durch die referierenden Aktivitäten, die mit ihm verbunden sind, müssen geläufige Wissensbestände der Interaktionsteilnehmer aufgerufen werden können; das Wort muß gleichsam „auf fruchtbaren Boden fallen” bzw. „anschließbar sein” an den Wissensbestand der Beteiligten. Wenn man davon ausgeht, daß der jeweils aktuell relevante Wissensbestand selbst sich verändert in Abhängigkeit von dem, was sich interaktiv ereignet, wird einmal mehr deutlich, in welch hohem Maße die Herausbildung eines sprachlichen Ausdrucks in einem Schlüsselwort ein situativ kontingentes Phänomen ist. 390 Werner Nothdurft 7.7.5 Metapragmatische Einstellung Die Auffassung, daß Wörter Sachverhalte bezeichnen, ist zweifelsohne eine der stabilsten Vorstellungen des Sprachdenkens. Sie ist geprägt durch die Dimensionen der Sprachverstehenssozialisation (Wygotski 1986), steht im Zentrum eines durch Literalität geprägten gesellschaftlichen Umgangs mit Sprache (vgl. Olson 1993, Ong 1987, Giesecke 1979) und ist fundiert durch die alltagsweltlich kommunikative Erfahrung der Prominenz der Kategorie „Wort” in massenmedial vermittelter Kommunikation (z.B. Schlagzeilen, Stichwort-Aufruf in Fernsehnachrichten). Sind diese Bedingungen in einer Interaktionssituation gegeben, kann sich ein Schlüsselwort herausbilden. Das Zusammenspiel der oben angegebenen Faktoren in mündlicher Interaktion erzeugt jenen suggestiven Eindruck, ein Wort wäre der (passende) Ausdruck für ’etwas’, dem man sich in mündlicher Interaktion nur schwer entziehen kann. Entgegen dieser Suggestivität des Eindrucks soll in diesem Kapitel gezeigt werden, daß die Bedeutung eines Schlüsselwortes gestiftet wird durch die Kontextualisierungen des Ausdrucks und die Aktivitäten mit ihm in der Interaktionssituation selbst. In dieser Spannung zwischen Suggestivität einer stabilen Bedeutung und kontextueller Varianz der Bedeutung ist die Ursache für eine Vielzahl von Kommunikationskonflikten zu sehen. Es ist gerade die Haltung, „daß doch klar ist, was das Wort X bedeutet”, durch die die im Verlauf der Interaktion entstehende Bedeutungsvarianz ausgeblendet wird und dadurch auftretende Mißverständnisse anderen Ursachen zugeschrieben werden. „Alle linguistisch-semantischen theorien sind begrifflich nicht hinreichend ausgerüstet, um diese klasse kommunikativer phänomene adäquat analysieren zu können: sie sind im prinzip keine interaktionistischen, sondern sprachsystemorientierte theorien, die Individuen höchstens als sprachproduzenten oder sprachrezipienten in jeweiliger isoliertheit, nicht aber als kommunikatives mehr-personen-system in rechnung stellen.” (Ungeheuer 1974, S. 4f.) 7.8 Fallanalysen Bestimmend für das rhetorische Potential von Schlüsselwörtern ist stets das Verhältnis von sprachlichem Ausdruck zu Kontext, bzw. die Frage danach, wie ein sprachlicher Ausdruck durch Kontextverhältnisse und Kontextualisierung so aufbereitet, gestützt, propagiert etc. wird, daß er seinen Charakter als Schlüsselwort (sukzessive) erhält. Anhand einiger Beispielfälle soll im folgenden gezeigt werden, wie durch das Wechselspiel von Kontextualisierungsaktivitäten und Einsatz des sprachlichen Ausdrucks selbst der Eindruck, es ginge um ein unzweifelhaft existierendes Stück Wirklichkeit, zustandekommt. Beispielfälle für Schlüsselwörter sind im Rahmen des hier entwickelten Konzeptes stets Fälle des Wechselspiels besonderer Kontextualisierungen und besonderer sprachlicher Ausdrücke. Wer als Schlüsselwörter 391 Beispiele für Schlüsselwörter nur die Wörter selbst angeben würde, würde gerade dem in Interaktion zustandekommenden rhetorischen Effekt aufsitzen und würde zu dessen Klärung nichts beitragen. Schlüsselwörter erhalten ihren Status als Schlüsselwörter stets aufgrund des Zusammenwirkens einer Vielzahl von Ereignissen, Prozessen und Bedingungen im interaktiven Geschehen. Nicht etwa sind es primär Eigenschaften der Wörter selber, durch die diese den Status eines Schlüsselwortes erhalten wie uns lexikologische und linguistischsemantische Ansätze glauben machen wollen sondern vielmehr ist die Interaktionsgeschichte entscheidend, in deren Verlauf der Schlüsselwortcharakter eines Wortes in variierender Prägnanz zustandekommt. Diese Interpretationsgeschichte einzelner sprachlicher Ausdrücke steht entsprechend im Mittelpunkt der folgenden rhetorischen Beschreibung. Die folgenden Beispielfälle sind in ansteigender Komplexität angeordnet; im ersten Fall wird gezeigt, wie die unmittelbare Redeumgebung zur Konstitution des Schlüsselwortes beiträgt; im zweiten Fall geht es um die Konstitution eines Schlüsselwortes als Quintessenz einer längeren Darstellung, und im dritten Fall wird die Karriere eines Schlüsselwortes über eine längere Interaktionssequenz hinweg verfolgt. Bei allen Schlüsselwörtern in den Beispielen handelt es sich um Bezeichnungen für komplexe Sachverhalte, die gerade nicht durch andere Weisen der Existenzherstellung (visuell: zeigen) in ihrem Realitätsstatus nachgewiesen werden können, die gleichwohl aber Teile und Verständnis dessen, woraus die Wirklichkeit besteht, sind - „Gefahr”, „Racheakt”, „Dioxin”. Alle diese Phänomene sind (um es in einer anthropomorphen Beschreibung zu sagen) darauf angewiesen, über symbolische Konstitutionsleistungen in ihrer Existenz nachgewiesen zu werden. 7.8.1 1. Fall: Die Gefahr Am folgenden Transkript läßt sich zeigen, wie ein sprachlicher Ausdruck zur Charakterisierung einer bestimmten Haltung zu einem Sachverhalt eingesetzt wird und dieser Ausdruck, obwohl er völlig unerklärt bleibt, durch seine Kontextualisierung gleichwohl so „durch Rede angereichert” wird, daß am Ende des Beitrags der Eindruck hervorgerufen wird, es wäre „etwas dazu gesagt” worden. Es handelt sich bei dem Transkript um den Ausschnitt einer Gruppendiskussion zum Thema Müllverbrennung zwischen Bewohnern einer Gemeinde, in der der Bau einer solchen Anlage geplant ist. Die Diskussion wurde arrangiert von einer Forschergruppe, die die Planung begleitet hat. Ein Mitglied dieser Forschungsgruppe stellte auch die Ausgangsfrage dieser Diskussion. Das Transkript gibt die Reaktion einer der Beteiligten auf die Ausgangsfrage wieder. 392 Werner Nothdurfi „ja: beim ihema müllverbrennungsanlage wenn sie mich so spontan fragen denke ich jetzt * also heute * muß ich sagen zunächst einmal an die gefahr * wenn ich da zu den anfängen mal übergehe sah es ja so aus * es hat ein artikel in der Zeitung gestanden rauhstadt müllverbrennungsanlage und kei”ner wußte was das war * die Politiker mit denen ich gesprochen habe ich muß hier betonen es waren alles cdu-politiker die sagten * also nach den uns vorliegenden gutachten passiert da überhaupt nichts * vollkommen harmlos dieses ding * dann gründete sich ja diese bürgerinitiative und die kamen mit einem gegengutachten und das war ja de”rmaßen erschütternd * daß man überhaupt nicht mehr sagen konnte also dat thema müllverbrennung dat interessiert mich nicht * dat sollen die Politiker machen da ging also kei”n weg mehr dran vorbei daß man da einsteigen mußte als bürger und sich da informieren mußte * die Sache ist ja nun so gelaufen wie ja jeder in der Zeitung gelesen hat * auf einmal sind die Politiker der cdu auch der meinung * weg mit dem ding * man muß also sich wirklich fragen ob die sich vorher nicht auch ein bißchen besser informieren hätten lassen sollten über diese Sache da meine meinung dazu ist also ganz klar jetzt * nachdem man sich damit beschäftigt hat die gefahr * wie” man sie anpacken kann * o”b es wirklich ne gefahr ist * wa”s da überhaupt gemacht wird * weiß natürlich ü”berhaupt kei”ner * wa”s wird verbrannt * wa”s wird gelagert wo” kommt das Zeugs überhaupt her * weiß natürlich keiner * also is seh da nur die gefahr im moment.” [FG-l/ A-018] Das Schlüsselwort dieses Redebeitrags ist das Wort gefahr. Die Zentralität dieses Ausdrucks wird durch eine Vielzahl formulatorischer Aktivitäten hergestellt. In der ersten Reaktion der Sprecherin auf die Frage steht der Ausdruck gefahr bereits im Fokus. Die Sprecherin markiert diese Reaktion als unvorbereitet, unverblümt, direkt und markiert sie als erste (gleichsam assoziative) Reaktion auf das Thema. In beiden Formulierungsweisen wird mit dem Wort-Charakter von gefahr operiert. Die Sprecherin definiert die Kommunikationssituation als die eines Stichwort- Aufrufs und reagiert durch Angabe eines Wortes, das dadurch Stichwort- Charakter erhält. Die Sprecherin spezifiziert diese Reaktion auf den jetzigen Zeitpunkt. Sie zieht damit in ihrem Redebeitrag die Dimension zeitlicher Veränderung als thematische Kohärenzstruktur ein, die sie in der Folge ausbaut (wenn ich da ...). Die Anfangssituation formuliert sie durch Wiedergabe eines Zeitungsartikels (oder dessen Überschrift): rauhstadt müllverbrennungsanlage. Der lapidare, höchst eliptische Charakter dieser Zweiwortaussage hat eine Funktion in ihrem Redebeitrag: Er vermittelt jenen Eindruck, den die Sprecherin unmittelbar darauf selbst formuliert: und keiner wußte was das war. Die in der Folge berichteten Erkundigungsaktivitäten (die als ausgelöst durch die unvollständige und ungenaue Information verstanden werden können) erzeugen Beruhigungen. In Fortführung des historisch strukturierten Erzählstranges und zugleich in inhaltlichem Kontrast zu dieser Position der Beruhigung berichtet die Sprecherin dann von der Gründung der Bürgerinitiative und deren Gegengutachten und dessen Wirkung auf sie selbst (oder darüber hinaus auf die allgemeine Auffassung). Schlüsselwörter 393 Diese Wirkung läßt sich als Einsicht in die Notwendigkeit eigener Informierung und Meinungsbildung paraphrasieren. Darauf berichtet die Sprecherin vom Meinungswandel in der CDU. Das Ereignis dieses Meinungswandels wird (nur) als nächstes Ereignis in der Chronologie des Geschehens eingeleitet (ehe sacke ist ja nun so gelaufen) und als überraschend und verwunderlich dargestellt (auf einmal). Im Anschluß daran formuliert die Sprecherin ihre eigene Meinung zum Thema. Ihre Meinung lautet: die gefahr. Sie übernimmt damit diejenige Phrase, die sie zu Beginn als Stichwort ihrer ersten, als spontan dargestellten Reaktion eingesetzt hatte. Nun aber kommt es als ihre klare Meinung, nachdem man sich damit beschäftigt hat, daher. Damit ist ihre kleine Chronologie der Ereignisse zum Abschluß gebracht. Sie benutzt die Chronologie, um ihre Auffassung zum Thema zu erklären/ erläutern. Die Vertrautheit der dargestellten Ereignisse ersetzt die semantische Explikation des Konzepts gefahr, die Logik der Chronologie zusammen mit der Wiederaufnahme des sprachlichen Ausdrucks führt gleichsam aus sich selbst heraus zu dem Schluß, gefahr sei das Resultat einer fundierten Meinungsbildung und besäße als Auffassung erhebliche Fundiertheit. Im Darstellungformat einer meinung hat die gefahr ungleich höheres Gewicht als im Format einer ersten spontanen Antwort. Bis zum Ende ihres Beitrags ergeht sich die Sprecherin in semantischen Variationen zum Thema Gefahr. Für ihr Thema kann sie sogar die Tatsache ausnutzen, daß nichts Genaues bekannt ist, denn die vielen Unwägbarkeiten, offenen Fragen und Unklarheiten vergrößern gerade noch die Unsicherheit - und damit die gefahr. Gerade daß niemand etwas weiß, benutzt sie als deutlichsten Beleg dafür, daß die Gefahr da ist, d.h. gegenwärtig und damit präsent. So kann sie in einer Zusammenfassung ihres Beitrags die gefahr als unmittelbar vorgeführtes zentrales Merkmal des Sachverhaltszusammenhangs nochmals formulieren und damit die zentrale Position des Ausdrucks für ihre Darstellung bekräftigen. 7.8.2 2. Fall: Der Racheakt Es handelt sich bei dem Beispiel um das Auftreten des Ausdrucks racheakt in einer Güteverhandlung vor dem Schiedsmann „Der Asoziale” (3002/ 31): wenn das ein racheakt sein soll- * bitte- (72/ lf.). Herr Pech wird beschuldigt, seinen Nachbarn, Herrn Gehlenberg, als Asozialen beschimpft zu haben. Die Zeugin Frau Boldte bestätigt dies. Herr Pech jedoch bestreitet die Anschuldigung vehement. Im Anschluß an einem neuerlichen Streitausbruch in der Verhandlung stellt er seine Auffassung dar, wieso es überhaupt zu der haltlosen - Anschuldigung gekommen sei: Es handele sich um einen Racheakt der Nachbarn Gehlenberg und Boldte, weil Herr Pech diese bei anderer Gelegenheit bloßgestellt hatte. Mit die- 394 Werner Nothdurfl sem Ausdruck rachtakt vermag Herr Pech das gesamte Konfliktgeschehen einheitlich zu interpretieren und die Divergenz zwischen den widerstreitenden Behauptungen zu seinen Gunsten aufzulösen. Der Ausdruck gewinnt den Status eines Schlüsselwortes für seine Konflikt-Darstellung. Um das Zustandekommen der Bedeutung und des Status dieses Ausdrucks soll es im folgenden gehen. Ich gehe in drei Schritten vor. Im ersten Schritt analysiere ich den Redekontext, an dessen Ende der Ausdruck eingebracht wird und die Bedeutung, die dieser Kontext hervorbringt. Im zweiten Schritt untersuche ich, wie der Ausdruck racheakt im Interaktionsverlauf eingebracht und in Szene gesetzt wird. Im dritten Schritt ziehe ich das konventionelle Wissen von Sprachbenutzern über den sprachlichen Ausdruck mit heran. B : möcht ich nicht- # * das # —* ■ diese ganze gerüchteküche die K GERÄUSCH B : interessiert uns nicht vir ham uns aus < a"llem> rausgehalten B : uns intre*ssie"ren diese leute gar nicht-«— * und vas A3: ja wir haben aber B : ist daraus geworden! * so eine sachej Al: ja können sie mit kei"nem auskoiranent A3: keinen krach- B : twissen sie wie B : das warf ** drei tage vorher bevor bevor ich angeblich das B : zu ihnen gesagt haben so"llt * drei tage vorher war die B : frau bo"ldte bei uns- * wir möchten uns doch mal bei den B : nachbarn die jetzt Irisch eingezogen sind- * beschwe"ren- * B : da die angeblich ja fußba"ll und federba"ll im garten gespielt B : haben- * da hab ich zu der trau boldte gesagt wir warn doch B : gar nicht dabei" —«uns hat das doch gar nicht gestörtf«— * B : en tag später werfen diese nachbarn bei uns en ha"lben B : Zentner stei"ne in garten- * ich geh zu den nachbarn hin B : und frag- ** wie kommen sie dazuf * des si"nd doch nicht unsere- B : * ja man hatte ihnen das gesagt das wären unsere! ** ich mußte Al; ja das is=es (auch) A3: ( ■ ••) B : diese steine se"lber entfernen- B : +aber und da hab ich zu der frau boldte gesagt augenblick Schlüsselwörter 395 A3: NUSCHELT B : (mal) I. * —> wenn sie sich das nächste mal über irgendwelche B : nachbarn-*— * beschwern sollten- * brauchen sie uns da nicht A3: nei"n- * B : hinschicken — ► das möchte sie bitte selbst machen|<— A3: sie ham uns hingeschi: ckt- B : und denn- ** lafi mich bitte augenblick lassen sie mich B : bitte jetzt auch-<— * und darau"fhin ist dieser brief A3: nein- ** siet B : gekommen! * wenn das ein racheakt sein soll- * bitte- A3: ichj warum sollte ich nen racheakt gegen sie B : +ja ach kommen se doch- A3: ausführenj * sie haben sich beschwert auch über harmanns- * 1. Kontextanalyse Die Deutung der Anschuldigung als racheakt erfolgt nicht „aus dem Stand”, sondern wird von Herrn Pech durch eine komplexe Darstellungsfigur vorbereitet. In dieser Darstellungsfigur taucht der Ausdruck racheakt selbst nicht auf, aber einige seiner Bedeutungseigenschaften werden durch die Darstellung bereits nahegelegt; es wird quasi der Boden vorbereitet, auf dem die Deutung selbst dann fruchtbar werden kann. Die Deutung ihrerseits nutzt die Textbedeutung (Kontexteffekt) der Darstellungsfigur rückwirkend noch einmal besonders aus. Zwischen Darstellungsfigur und Deutungskategorie besteht ein Wechselverhältnis der gegenseitigen Bedeutungsexplikation. Solch ein Verhältnis bestimme ich als Bedeutungs-’Elaboration’. Der Darstellungsfigur vorausgegangen war eine Sequenz gegenseitiger Vorwürfe und Schuldzuweisungen. Herr Pech beginnt die Darstellungsfigur mit einer sprachlichen Formel, mit der charakteristischerweise „Enthüllungen” eingeleitet werden: wissen sie wie das war *. Zunächst macht Herr Pech den Bezug seiner Enthüllung zum Gesprächsgegenstand deutlich: Er war beschuldigt worden, Herrn Gehlenberg als Asozialen bezeichnet zu haben, bestreitet dies aber. Zugleich stellt Herr Pech in seinem Beitrag einen zeitlichen bzw. ereignismäßigen Zusammenhang her zwischen dem angeschuldigten Delikt und Ereignissen, die sich drei tage bevor zugetragen hatten; diese bilden den Gegenstand der Enthüllung: B : möcht ich nicht- # * das # — ► diese ganze gerüchteküche die K GERÄUSCH B : interessiert uns nicht wir ham uns aus < a"llem> rausgehalten 396 Werner Nothdurft B : uns intre*ssie"ren diese leute gar nicht-«— * und was A3: ja wir haben aber B : ist daraus geworden! * so eine sachej Al: ja können sie mit kei"nem auskomment A3: keinen krach- B : twissen sie wie B : das wart ** drei tage vorher bevor bevor ich angeblich das B : zu ihnen gesagt haben so"llt * drei tage vorher war die B : frau bo"ldte bei uns- * wir möchten uns doch mal bei den B : nachbarn die jetzt irisch eingezogen sind- * beschwe"ren- * B : da die angeblich ja iußba"ll und iederba”ll im garten gespielt B : haben- * da hab ich zu der frau boldte gesagt wir warn doch B : gar nicht dabei" -mns hat das doch gar nicht gestört! «— * B : en tag später werfen diese nachbarn bei uns en ha"lben B : Zentner stei"ne in garten- * ich geh zu den nachbarn hin B : und frag- ** wie kommen sie dazu! * des si"nd doch nicht unsere- B : * ja man hatte ihnen das gesagt das wären unsere! ** ich mußte Al: ja das is=es (auch) B : diese steine se"lber entfernen- B : +aber und da hab ich zu der frau boldte gesagt augenblick A3: KUSCHELT B : (mal) 1 * —* ■ wenn sie sich das nächste mal über irgendwelche B : nachbarn-«— * beschwern sollten- * brauchen sie uns da nicht A3: nei"n- * B : hinschicken —+ das möchte sie bitte selbst machen! «— A3: sie harn uns hingeschi: ckt- B : und denn- ** laß mich bitte augenblick lassen sie mich B : bitte jetzt auch-«— * und darau"fhin ist dieser brief A3: nein- ** sie! B : gekommen! * wenn das ein racheakt sein soll- * bitte- A3: ich! warum sollte ich nen racheakt gegen sie B : +ja ach kommen se doch- A3: ausführen! * sie haben sich beschwert auch über harmanns- * A3: Schlüsselwörter 397 Diese Darstellung beinhaltet drei Konflikt-Episoden, die von Herrn Pech als solche durch die Zeitmarkierungen voneinander abgegrenzt werden; diese Episoden sind: 1. Bloßstellung von Frau Boldte 2. Arger mit dem neuen Nachbarn 3. Das Auftreten des Briefs Im einzelnen: Episode 1: Die Bloßstellung von Frau Boldte B: wissen sie wie das war * drei tage bevor * bevor ich angeblich das zu ihnen gesagt haben soll- * drei tage vorher war die frau boldte” bei uns- * wir möchten uns doch mal bei den nachbarn die jetzt frisch eingezogen sind- * beschwe”ren- * da die angeblich ja fußba”ll und federba”ll im garten gespielt haben- * da hab ich zu der frau boldte gesagt wir warn doch gar nicht dabei” uns hat das doch gar nicht gestört In der Darstellung der Initiative schildert Herr Pech, wie Frau Boldte versucht hatte, ihn zum Streit mit den neuen Nachbarn anzustiften. Das Moment der Anstiftung liegt darin, daß Frau Boldte ihn aufgefordert hatte, sich zu beschweren. In der Darstellung seiner Reaktion auf Frau Boldtes Versuch macht Herr Pech deutlich, wie unaufrichtig eine solche Beschwerde gewesen wäre, denn Herr Pech hatte die inkriminierten Aktivitäten weder persönlich erlebt noch war er von ihnen betroffen. Dadurch, daß es Frau Boldte war, die Herrn Pech zu dieser Beschwerde anstiften wollte, fällt die Eigenschaft der Unaufrichtigkeit auf sie zurück. Dadurch, daß Herr Pech ihre Initiative durch Aufdecken der Unaufrichtigkeit zurückgewiesen hatte, hatte er Frau Boldte bloßgestellt. Schematisch: Episode 1: Initiative: Anstiftung zum Streit Reaktion : Aufdeckung der Unaufrichtigkeit Bloßstellung Episode 2: Ärger mit den Nachbarn B: en tag später werfen diese nachbarn bei uns en halbe”n Zentner steine” in garten- * ich geh zu den nachbarn hin und frag- ** wie kommen sie dazu * des si”nd doch nicht unsere- * ja man hatte ihnen das gesagt das wären unsere ** ich mußte diese steine selbe”r entfernen In dieser Episode geht es um den Ärger, den Herr Pech mit den neuen Nachbarn hatte. Herr Pech macht deutlich, daß er in dieser Episode „der Dumme ist”, an dem die Steine „hängenbleiben”, während er den Nachbarn zugesteht, aus gutem Glauben gehandelt zu haben. Die Verantwortlichkeit für ihr Handeln schreibt er eher jenem anonymen man zu, der 398 Werner Nothdurft (oder die) die Nachbarn angestiftet hatte, ihm die Steine in den Garten zu werfen. Der inhaltliche Bezug dieser Episode zur Bloßstellung von Frau Boldte wird nicht explizit gemacht, der zeitliche Bezug en tag später suggeriert jedoch Kausalität und der personelle Bezug diese nachbarn legt nahe, daß es einen Zusammenhang zwischen den beiden Episoden gibt. Bestandteil der Darstellungsrhetorik ist gerade, den Zusammenhang dieser Episoden nur anzudeuten und damit die Spannung auf die Auflösung der Enthüllungsfigur aufrechtzuerhalten und zu steigern. Episode 3: Das Auftreten des Briefs B: und da hab ich zu der frau boldte gesagt augenblick mal * Z: ... B: wenn sie sich das nächste mal über irgendwelche nachbarn- * beschweren sollte- * brauchte sie uns garn nicht hinschicken das möchte sie bitte selbst machen Z: nei"n- * sie ham uns hingeschi: ckt- B: und denn- ** ia bitte augenblick lassen sie mich B: jetzt auch- * und daraufhin ist dieser brief gekommen * wenn das ein racheakt sein soll- * bittein dieser Episode stellt Herr Pech dar, daß er nach diesem Ärger Frau Boldte wegen ihrer Anstiftung angesprochen hatte. Der Bezug zwischen dieser, seiner Initiative und der Episode 2 wird wieder nicht explizit gemacht was hat Frau Boldte mit den Steinen zu tun? Aufgrund der textuellen Nähe zusammen mit der Konjunktion und dann und dem Inhalt seiner Äußerung wird der inhaltliche Zusammenhang zwischen den beiden Episoden aber deutlich signalisiert: Herr Pech betrachtet Frau Boldte als Anstifterin des Steine-Werfens. Mit der dargestellten Initiative machte Herr Pech Frau Boldte gegenüber nicht nur nochmals deutlich, daß er ihre Anstiftung zurückweist, sondern signalisiert auch, daß er ihre Intrige mit den Nachbarn durchschaut hat. Auch diese Episode folgt wie die erste dem Darstellungsmuster von Initiative und Reaktion. Hier endlich taucht die Anschuldigung in der Darstellungsfigur auf: Sie wird von Herrn Pech als Reaktion auf seine Bloßstellung und Entlarvung eingeführt: und darau”fliin ist dieser brief gekommen. Schematisch: Episode 3: Initiative: Bloßstellung und Entlarvung Reaktion: Anschuldigung Schlüsselwörter 399 Die Struktur dieser gesamten Darstellungsfigur läßt sich als Entfaltung der Semantik des Ausdrucks racheakt verstehen: 1. Die Darstellung folgt der „Logik” von racheakt: Es gibt eine erste Episode, in der der Handlungsinitiant - Frau Boldte vom anderen bloßgestellt wird und es gibt eine weitere Episode (Nr. 3), in der der andere - Herr Pech als Initiant auftritt und das „Opfer” der ersten Episode ihm in der Reaktion diese Schädigung „heimzahlt”. Episode 2 hat Hilfsfunktion, sie dient dazu, zu erläutern, warum Herr Pech als Initiant von Episode 3 überhaupt auftritt. 2. Herr Pech baut für die von ihm bestrittene Anschuldigung einen Entstehungskontext auf, der eine Erklärung dafür liefert, wieso die Anschuldigung auftreten kann, ohne daß sich die in der Anschuldigung aufgeführten Ereignisse zugetragen haben: sie tauchen auf, weil Frau Boldte eine Intrigantin ist und Herr Pech sie bloßgestellt hatte. Damit sind typische Voraussetzungen für den Vollzug eines Racheaktes erfüllt. 3. Aus diesen Voraussetzungen heraus ist auch erklärlich, warum Frau Boldte Dinge behauptet, die aus der Sicht von Herrn Pech nicht stimmen. Suggeriert wird ein Zusammenhang, der sich paraphrasieren läßt als „Wer intrigiert und Nachbarn anstiftet, behauptet auch Dinge, die nicht der Wahrheit entsprechen”. Dieser Episoden-Zusammenhang ist keineswegs selbstexplikativ, im Gegenteil, wichtige Zusammenhänge bleiben gerade implizit. Der Einsatz der Deutungskategorie racheakt ist daher nicht etwa nur eine zusätzliche Verdeutlichung einer „klaren Sache”, sondern verleiht dem Episodenzusammenhang erst einen expliziten Sinn und legt die Lesart für die Darstellungsfigur fest. Aber diese Lesart ist in der Darstellungsfigur durchaus angelegt, die Figur zielt in ihrer textuellen Organisation bereits auf diese Lesart ab. Deutungskategorie und Textstruktur explizieren sich in ihrer Bedeutung wechselseitig: Die Figur illustriert typische konzeptuelle Merkmale der Deutungskategorie und die Deutungskategorie bestimmt die funktionale Bedeutung der einzelnen Ereignisse in der Darstellungsfigur. 400 Werner Nothdurfl Schematisch: wissen sie wie das war drei tage bevor ich angeblich das zu ihnen gesagt haben soll Ankündigung einer Enthüllung x) EPISODE 1 If drei tage vorher war die trau bo"ldte bei — uns wir möchten uns doch mal da hab ich zu der frau boldte gesagt wir waren doch gar nicht dabei" uns hat das doch gar nicht gestört EPISODE 2 = ZWISCHENSPIEL -en tag später werfen diese nachbarn bei uns en ha"lben Zentner steine" ich mußte diese steine se"lber entfernen Aufrichtigkeit implizite Botschaft: Frau Boldte ist Anstifterin EPISODE 3 I: und dann hab ich zu der frau boldte gesagt wenn sie sich das nächste mal... brauchte sie uns gar nicht hinschicken | KAUSALZUSAMMENHANG R: und darau"fhin ist dieser brief gekommen wenn das ein racheakt sein soll * bitte x) zeitliche Kontiguität 2. Die Inszenierung des Ausdrucks Unter diesem Analysegesichtspunkt untersuche ich die Art und Weise, wie der sprachliche Ausdruck racheakt in der Rede von Herrn Pech realisiert ist. Wenn man von der Annahme ausgeht, daß Gesprächsteilnehmer in Gesprächen absichtsvoll handeln und sprachliche Einheiten zur Realisierung ihrer Absichten verwenden, wird man auch die Art und Weise analytisch berücksichtigen müssen, in der die Teilnehmer diese Einheiten ins Gespräch einbringen. Dieses Einbringen wäre unangemessen begriffen, würde man es nur als „Umsetzung” lexikalischer Einheiten betrachten, bei der über den jeweiligen Lexikoneintrag hinaus nur noch phonetische oder allenfalls emotionale Gesichtspunkte zu berücksichtigen wären. Das Schlüsselwörter 401 Einbringen von lexikalischen Einheiten in die Rede ist selbst Bestandteil des intentionalen Handelns der Beteiligten, es wird von ihnen gezielt und bewußt vollzogen und oft genug in kunstvoller, dramatisierender oder auch spielerischer Weise zustandegebracht. Ich spreche, um diesen Aspekt zu betonen, davon, daß Gesprächsteilnehmer lexikalische Ausdrücke im Gespräch ’inszenieren’, in Szene setzen. Dazu gehört natürlich, wie der Ausdruck artikuliert ist; darüber hinaus aber auch die intonatorische Figur, in deren Vollzug der Ausdruck ausgesprochen wird; dazu gehört ferner die syntaktische Konstruktion, innerhalb derer der Ausdruck ausgesprochen wird sowie eine besondere Modalisierung. Im zu analysierenden Fall scheinen mir folgende Inszenierungsgesichtspunkte wichtig: Intonation Die Äußerung weist eine schwebende Intonation ohne Akzent auf, man gewinnt beim Hören den Eindruck, daß die Äußerung „gleichgültig” und „distanziert” ausgesprochen wird. Dieser Eindruck steht in auffallendem Kontrast zur Position der Äußerung im Textzusammenhang, nämlich der Auflösung einer spannungsreich aufgebauten Konstruktion (s.u.) und v.a. zur Bedeutung des Nomens, die ja eine wichtige Deutung der gegen den Sprecher gerichteten Anschuldigung darstellt. Jedenfalls läßt sich die intonatorische Bedeutung charakterisieren als „dieses, worüber ich rede, ist nichts, womit ich etwas zu tun habe”. Syntaktische Konstruktion Herrn Pechs Äußerung unterliegt ein geläufiges syntaktisches Muster, das sich formal beschreiben läßt als Kombination eines Konditionalsatzes mit angehängtem ’bitte’: ’wenn < >,bitte’ z.B. ” - Sie es unbedingt wollen ” es Ihnen nichts ausmacht ” - Sie es so sehen ” Die Bedeutung, die dieses Muster signalisiert, läßt sich nicht genau beschreiben; auf jeden Fall scheint aber der Aspekt ’Zuschreibung von Verantwortlichkeit an den Adressaten’ sowie ’eigene Distanz und Unbeteiligtheit’ eine zentrale Rolle zu spielen. Modalisierung Die Modalisierung sein soll markiert den Charakter des Äußerungsfokus racheakt als gezielt angestrebte, intendierte Handlung. 402 Werner Nothdurft Als gemeinsame Wirkung dieser drei Inszenierungsaspekte deutet sich somit eine Botschaft an, die sich paraphrasieren läßt als: „Meine Nachbarn haben einen Racheakt gegen mich ausgeheckt; aber das ist ihre Sache, ich habe damit nichts zu tun.” Die so beschriebene, inszenierte Bedeutung ergänzt und bestätigt die Semantik des Ausdrucks racheakt: indem in ihr betont wird, nichts damit zu tun zu haben, wird die Bedeutungskomponente „das Objekt der Rache ist aus der Luft gegriffen” wieder aufgenommen. Außerdem unterstützt diese inszenierte Bedeutung die generelle Haltung des Bestreitens gegenüber dem Anschuldigungssachverhalt: Mit einem Sachverhalt nichts zu tun zu haben ist eine gute Grundlage für die Reaktionsstrategie des Bestreitens. 7.8.3 3. Fall: Dioxin Gezeigt werden soll, wie ein sprachlicher Ausdruck im Verlauf eines interaktiven Prozesses zu einem Schlüsselwort wird, d.h. zu einem Wort, das für die Beteiligten zum zentralen Moment des Verständnisses eines Sachverhaltszusammenhangs wird und ihnen (Interaktionskontext und) Wirklichkeit erschließt/ Zugang eröffnet (organizer für Wirklichkeitsausschnitt). Der Wirklichkeitsausschnitt in diesem Beispiel läßt sich charakterisieren als „Problematik von Müllverbrennungsanlagen”, das Schlüsselwort ist „Dioxin” und der Fall, an dem dies gezeigt werden soll, ist eine Bürgerversammlung zum Thema „Müllverbrennungsanlage”. In der von einer Bürgerinitiative organisierten Informationsveranstaltung geht es um Pläne zur Errichtung einer Müllverbrennungsanlage (MVA) auf dem Gelände einer Kohlengrube, deren weiterer Abbau in den nächsten Jahren eingestellt werden soll. Die Bürgerinitiative hat dazu mehrere Redner eingeladen, die jeweils aus ihrer Sicht die Müllproblematik darstellen und dann mit den anwesenden Bürgern in eine Diskussion eintreten. Die Karriere des Ausdrucks „Dioxin” soll im folgenden verfolgt werden. Sie läßt sich in mehrere Phasen gliedern: 1. Erste Erwähnung 2. Thematische Fokussierung 3. Karriereknick 4. Comeback im neuen Kontext 5. Zentrierung, retrospektive Bündelung und Bedeutungsexplikation 6. Ausbau der Dioxinwelt. Im Verlauf des Interaktionsprozesses erhält „Dioxin” in den Phasen 1, 2 und 5 einen zunehmend zentralen Status für die gesamte Diskussion bis hin zu einem Punkt, an dem der Ausdruck zum Zentrum der Diskussion wird und sich der Diskussionszusammenhang um „Dioxin” (neu) organisiert. Um die Bedeutung des Schlüsselwortes „Dioxin” wird der gesamte Dis- Schlüsselwörter 403 kussionszusammenhang gleichsam als „Dioxin-Welt” aufgebaut. Die folgende Analyse konzentriert sich auf die Phasen 1, 2 und 5 des gesamten Prozesses. 1. Phase 1: Erste Erwähnung Daß der Ausdruck Dioxin in dieser Bürgerversammlung zu einem Schlüsselwort werden wird, ist ihm nicht in die Wiege gelegt. Zunächst ist der Ausdruck „unauffällig” wie viele andere auch. Seine Signifikanz ergibt sich erst aufgrund einer Vielzahl sehr unterschiedlicher Aktivitäten vieler Beteiligter am Geschehen. Gleichwohl ist es, um die Geschichte des Ausdrucks rekonstruieren zu können, erforderlich, bei der ersten Erwähnung des Ausdrucks in der Interaktion anzufangen. Der Ausdruck taucht zum ersten Mal auf zu Beginn der Veranstaltung, als der Organisator des Abends dem ersten Eingeladenen das Wort erteilt, statt diesem aber sich der Moderator einschaltet: OR: ich denke aus gründen der zeit sollten wir an”fangen * und wir möchten beginnen mit herrn van der meulen vom w d * >ich übergebe das tüortj> MO: jaf * und deswegen wollen wir uns einen ihm: einen: gang/ —^gesagt haben wir fangen mal ganz allgemein an * nicht alle leute sind schon so: weit wie einige von uns die genau wissen * was dioxin^ * und was oben und unten und müllverbrennung] is<—* wir wollen ganz/ die erste halbe oder dreiviertel stunde ein bißchen allgemein nochmal ein bißchen lernen * und da haben wir gesagt der herr van der meulen ist der richtige ga: st ** weil die ganzen filme die wir im fernsehen gesehen haben * die der wdr über mü”llverbrennung produziert hat * von i”hm erstellt worden sind * und ich denke daß er so publipublizistisch einer der wichtigsten leute die wir in dieser gegend haben die am mei”sten wissen über müll”Verbrennung * deswegen herr van der meulenf * hier ist das mikrophon] Mit der Unterbrechung durch den Moderator ist auch der Gang der Ereignisse gestoppt: statt daß wie vorgesehen Herr Ohnesorge das Wort ergreift und seinen Film vorstellt, schiebt der Moderator einen Gedankengang nach, in dem er die Absicht der Veranstalter erläutert, alle Beteiligten auf den gleichen Informationsstand zu bringen. In diesem Zusammenhang fällt zum ersten Mal das Wort dioxin. Der Moderator verwendet es, um den unterschiedlichen Wissensstand der Beteiligten zu charakterisieren einige von uns die genau wissen * was dioxin] * und was oben und unten und müllverbrennung] is. Diese Charakterisierung erfolgt in Form einer Aufzählung, in der dioxin das erste von drei Items der Liste ist. „Aufzählungen” bzw. „Listen” bilden Minimalkontexte in interaktiven Prozessen, über die eine Eindrucksbildung erfolgen kann, wobei natürlich jedes Item der Liste zu dieser Eindrucksbildung beiträgt, selbst aber gerade nicht als autonome Einheit, sondern ’Teil-einer-Liste’ wahrgenommen wird (vgl. Tannen 1989). So auch in diesem Fall: dioxin taucht eher unauffällig, en passant als Bestandteil dieser Aufzählung auf, die durchaus auch noch weitere Elemente aufweisen könnte. Die Liste selbst ist 404 Werner Noihdurft allerdings, dies macht der Moderator deutlich, bedeutsam, denn sie unterscheidet zwei Gruppen von Beteiligten und gibt die Zielgröße an, die durch den Beitrag des Journalisten erreicht werden soll: einen verbesserten Wissensstand. Danach beginnt der Journalist mit der Präsentation seines Films. 2. Phase 2: Thematische Fokussierung Das nächste Mal taucht der Ausdruck dioxin auf, als der Moderator die Filmvorführung beendet: ich schlage vor wir denn * daß wir den film hier abbrechen weil wir ei’ ein bißchen *8* <eins zwei> ** ich möchte die technik doch bitten *6* <danke sehr * weil wir nun bißchen in die thematik eingeführt worden sind> ** und * wir haben hier vor ort ** die (...) uns nichts ** wir haben hier vor ort da ein ähnliches problem je”tzt schon wenn wir gleich über dioxin reden mü”ssen oder wollen dann ist das ja nich so als wenn das eine geschickte wäre * die uns vielleicht erst in zu”kunft bedroht- ** sondern wir haben ja jetzt schon ein kraftwerk in rauhstadt * in dem längst schon schlämme verbrannt werden und vielleicht können sie uns nochmal herr ohnesorge nochmal ein bißchen erklären * wie kommt es denn * daß beispielsweise herr großkopf * ähm: * sagt wenn ich das richtig verstanden habe dann sonst korrigiern sie mich * bis jetzt war das so * daß wir * pcb haltige schlämme die wir ja auch in diesem bergwerk henriette: * wegen der öle die nach unten transportiert worden sind * daß die: eigentlich nur so verbrannt äh worden sind wie normalerweise in einem Wirtshaus su”ppe ausgeschenkt wird mit ganz viel wasser oder andern dingen verdünnt das war erlaubt aber konzentriert nicht +hab ich das richtig verstanden oder hab ich das was falsch verstanden ** Es handelt sich um eine charakteristische verlaufsstrukturierende Aktivität des Moderators: Er beendet die Filmvorführung, bestimmt ihre Funktion im interaktiven Zusammenhang, orientiert die Aufmerksamkeit der Anwesenden von der Leinwand weg zum Podium hin und strukturiert das weitere Geschehen. Wesentliche Aufgabe des Moderators ist es, das Thema für die nachfolgende Diskussion vorzugeben bzw. zu formulieren, „worum es geht”. Der Moderator tut dies in seinem Beitrag auf sehr bemerkenswerte Weise indirekt und sukzessive. Es fällt auf, daß der Redegegenstand nicht explizit formuliert wird, sondern indirekt im Verlauf des Redebeitrags durch eine Vielzahl semantischer und syntaktischer Operationen zustandekommt. Im Verlauf dieses Prozesses taucht der Ausdruck dioxin wieder auf. Zunächst spricht der Moderator davon, durch den Film in die thematik eingeführt worden zu sein, wobei offen bleibt, welche die thematik genau ist. thematik fungiert in dieser Aussage als Platzhalter ein typischer Eröffnungsschritt in einer Themen-Einführung. Auffällig ist allerdings, daß der Moderator den Ausdruck thematik in die Funktionszuweisung an den Film einbettet: der Film führt in die thematik ein. Durch diese Einbettung kann die thematik als bekannt bzw. etabliert vorausgesetzt behandelt wer- Schlüsselwörter 405 den, und zwar etabliert durch den film. Da die Thematik des Films selbst aber sehr vielschichtig ist, bleibt diese Gegenstandsbestimmung sehr vage. Als nächstes formuliert der Moderator und wir haben hier vor ort da ein ähnliches problem je”tzt schon. Damit leistet er zweierlei: Zum einen bezieht er die thematik auf die augenblickliche Situation vor Ort; zum anderen formuliert er sie als ähnliches problem. Dabei benutzt er wiederum den Film als Bezugsobjekt, ohne jedoch die Hinsicht, in der das problem dem Filmgegenstand bzw. -thema ähnlich ist, zu spezifizieren, ähnlich suggeriert einen Bezug, ohne daß durch den Ausdruck selbst dieser Bezug konkretisiert würde. Die fehlende Konkretisierung der Ähnlichkeit wird durch den Situationsbezug ersetzt. Die Formulierung suggeriert Dringlichkeit. Die Sachverhalts-Typisierung als problem charakterisiert den Referenten nur relativ unspezifisch, problem fungiert weitgehend wiederum als „Platzhalter” einer konkreteren Gegenstandsbestimmung, die im nächsten Beitragsteil dann auch erfolgt. Hier taucht der Ausdruck dioxin auf: wenn wir gleich über dioxin reden mü”ssen oder wollen Durch diese Formulierung wird dioxin in den thematischen Mittelpunkt der Veranstaltung gestellt, und zwar zunächst als redeorganisierender Vorgriff, wie er zu den typischen Tätigkeiten eines Moderators gehört. Dioxin erhält dadurch den Status eines Themas der Veranstaltung: „über Dioxin”. Aufgrund der besonderen Formulierungsweise wird dioxin als Redegegenstand präsent gehalten, indem die nachfolgenden Aussagen zwar miteinander verklammert (kohärent gemacht) werden, inhaltlich aber weiterhin mit „Platzhaltern” operiert wird. Der Moderator wandelt nämlich retrospektiv das im Vorgriff temporal verwandte wenn in ein konditionales wenn um und schließt mit einem konditionalen dann an eine Operation, die den Eindruck thematischer Stringenz erzeugt und darüber hinwegtäuscht, daß die Gegenstands-Angabe selbst wiederum nur durch einen Platzhalter (dann ist das ja nich so als wenn das eine geschickte wär) erfolgt. Diese Formulierung erweist sich noch in anderer Weise als inhaltsreich. Die Formulierung die uns vielleicht erst in Zukunft bedroht steht nämlich in kontrastierender Beziehung zur Situationsreferenz jetzt schon vor ort. In dieser Kontraststruktur werden zwei Bezugspunkte eingeführt, die auf dioxin bezogen werden können, Dringlichkeit und Bedrohung (s. auch Spranz- Fogasy 1992). Wie indirekt dieses Merkmal plaziert ist, wird daran deutlich, daß es in Verbendstellung auftaucht und die Agentenstelle durch ein Pronomen besetzt ist, das seinerseits nicht auf einen Referenten verweist, sondern nur auf den Platzhalter für einen solchen. Nachdem soweit durch eine Reihe von Merkmalen und Verweisen ein Sachverhaltszusammenhang konstituiert worden ist, folgt nun die Angabe eines konkreteren Bezugsobjekts kraftwerk in rauhstadt in dem längst schon 406 Werner Nothdurft schlämme verbrannt werden, auf das sich Merkmale und Verweise beziehen lassen und die die situationsspezifische Bedeutung dieser Phrase konstituieren. Die Bedeutung dieser Phrase wird m.a.W. konstituiert durch all das, was im Vorfeld der Phrase vollzogen worden ist. Syntaktische Parallelität sowie paraphrastische Relation stellen sicher, daß das kraßwerk in rauhstadt in der Tat auf den vorab konstituierten Verweisungszusammenhang bezogen wird. Aufgrund des syntaktisch parallelen Aufbaus und der Kohärenz wird insbesondere sichergestellt, daß krafiwerk ... in dem längst schon schlämme verbrannt werden auf den Platzhalter eine geschichte bezogen wird und dadurch rückwirkend auf den vorhergehenden Kontext. dioxin als Thema ist wieder in den Hintergrund getreten. 3. Phase 5: Zentrierung, retrospektive Bündelung und Bedeutungsexplikation Der Ausdruck dioxin wird von dem eingeladenen Toxikologen Habermann als Bestandteil eines Kompositums (dioxinfrage) an einer argumentativ zentralen Stelle seines Referats eingeführt. Habermann hatte der (kritisierten) Praxis der Müllbeseitigung gerade eine Alternative gegenübergestellt: an daher die alternative * die alternative ist eben ko”rrekter Umgang mit mill * den wir alle le”rnen missen *. Dieser Forderung des Lernen-Müssens stellt er seine Erfahrung gegenüber, daß MVAs immer in Gegenden geplant werden, von denen man weiß daß die bevölkerung ni”chts und überhaupt gar nichts über die gesundheitsgefahren dieser anlagen weiß * und daß sie auch in folge ihrer apathie * wahrscheinlich ni”cht * soweit kommt daß sich * einige köpfe wenigstens mit diesen gefahren befassen. Habermanns Charakterisierung der Bevölkerung ist die eines unaufgeklärten politischen Handlungssubjekts, das apathisch ist, nichts weiß und sich von einer unreflektierten Fortschrittsideologie leiten läßt, deren Darstellung Habermann auch intonatorisch als unbeschwert-blauäugig inszeniert: sondern immer nach dem * motto ham ma früher scho ä anlage khabt die sehr giftig war * so giftig wie die alte anlage * wird des neue doch sicher nicht sein *. Dieser Haltung stellt Habermann die Alternative gegenüber: „äh mh da gibt=s andere argumente{ * die argumente * liegen in der dioxinfrage begründet”. Diese Rahmung als ’bessere Argumente’ gegen ’praktizierte Verdummungen’ suggeriert für die folgenden Ausführungen als globale Deutungskategorie die Idee rationaler, aufklärender Rede, dioxin taucht an die- Schlüsselwörter 407 ser Schlüsselstelle der Rede auf: die argumente liegen in der dioxinfrage begründet. Das Auftreten des Kompositums dioxinfrage an dieser Stelle ist signifikant: In dioxinfrage tritt Dioxin in einem Ausdrucksformat auf, durch das konventionellerweise ein besonders wichtiger, umstrittener Sachverhalt markiert wird, zu dem es kontroverse Positionen gibt. Vergleichbare Fälle sind: Abrüstungs-, Agrar-, Arbeiter-, Atom-, Deutschland-, Disziplin-, Einzel-, Entlohnungs-, Ermessens-, Ernährungs-, Erziehungs-, Existenz-, Fach-, Form-, Frauen-, Gegenwarts-, Gehalts-, Haupt-, Jugend-, Kardinal-, Kern-, Kompetenz-, Kosten-, Kunst-, Lebens-, Lohn-, Macht-, Material-, Neben-, Neger-, Personal-, Prestige-, Prinzipien-, Qualitäts-, Rand-, Rassen-, Raum-, Schicksals-, Schlüssel-, Schuld-, Seiten- , Stil-, Streit-, Tages-, Verfahrens-, Wohnungs-, Zeit-, Zweifelsfrage. (Wörterbuch der Gegenwartssprache 1968, 1, S. 1361) Das Wörterbuch der Gegenwartssprache charakterisiert solche Fälle als „Angelegenheit, die eine Erörterung, Klärung, Entscheidung verlangt” (S. 1361). Dieses Ausdrucksformat einer ’Zuspitzung’ kann damit geradezu als Markierung eines Wortes als Schlüsselwort (s.o. „Hervorhebungen”) betrachtet werden. Nach dieser Zuspitzung erfolgt der Aufbau der Dioxinwelt in Habermanns Rede. Die Bedeutungskonstitution von dioxin in dieser Rede stellt einen Anreicherungsprozeß dar: es wird immer mehr expliziert. Aber dieser Anreicherungsprozeß erfolgt nicht kontinuierlich, sondern diskret, in Explizierungsschüben. Vergleicht man diese drei Explizierungsschübe, wird man feststellen, daß ihre Explikationsstruktur unterschiedlich ist. Im ersten Schub geht es darum, die Bedingungen des Redens über Dioxin klarzulegen, im zweiten Schub werden Dioxin Eigenschaften prädiziert, während im dritten Schub Aussagen über die Wirkungsweise von Dioxin erfolgen und Dioxin den Status eines Agens erhält. In einer Übersicht: Idee aufklärender Rede Was muß man tun, um über Müll vernünftig reden zu können. Suggestion „vernünftigen Redens” als Rahmen-Orientierung. 408 „dioxinfrage” 1. Explizierungsschub 2. Explizierungsschub „Dioxin ist ...” Werner Nothdurfl Zuspitzung redevoraussetzun gsbezogen existenzbezogen 3. Explizierungsschub wirkungsbezogen „Dioxin macht ...” Es scheint, daß die Explizierungsschübe mit ihren unterschiedlichen Strukturen systematisch aufeinander bezogen sind, insbesondere aufeinander aufbauen in dem Sinne, daß die Wirklichkeitskonstitution und die Referenz in einem Schub die Referenzleistung des vorhergegangenen Schubs ausnutzen kann und darauf in der eigenen Explikation aufbauen kann. Zugleich werden dadurch die Explikationsleistungen der vorhergegangenen Stufe bestätigt und für gegeben erklärt. Um dieses Verhältnis zu charakterisieren, werden die Schübe als „Stufen der Bedeutungskonstitution” begriffen. Die Aussagen der ersten Stufe geben Antwort auf die Frage, was man bei der aktuellen Explikation von Dioxin beachten muß. Die Aussagen der zweiten Stufe lassen sich kohärent als Antwort auf die Frage „Was sind Dioxine? ” interpretieren. In ihnen wird in gewisser Weise der Nachweis der Existenz von Dioxin erbracht, sie ist „existenzbezogen”. In den Aussagen der dritten Stufe wird auf der Grundlage dieser als beantwortet präsupponierten Frage eine Antwort darauf gegeben, was Dioxine machen. Diese Stufe ist wirkungsbezogen. Im folgenden soll dargestellt werden, durch welche Redeweisen und - Wendungen, Inhaltsoperationen und Ausdrucksformate, Rhythmisierungen und Klangähnlichkeiten diese Charakterisierungen der Bedeutungsschübe als Stufen der Bedeutungskonstitution Zustandekommen. 1. Stufe wir könnten jetzt genauso iber=s quecksilber reden oder über=s kadmium oder über=s hexachlorbenzol awwer ich möcht sie in der ga”nz gedrängten zeit * und mh ich nehm einfach an daß ihre grundkenntnisse auch miserabel sind so daß ich also jetzt net so breit gefächert in die kemie gehen möchte und wahrscheinlich auch gar net darf * deswegen muß ich da mich einfach beschränkenl * na”chlesen * können sie diese dinge ganz ausführlich * ich hab im band dreizehn meines handbuches * äh fünfunddreißig seiten über die gesundheitsgefahr der müllverbrennungsanlagen auf=em neu”esten stand mit sieben seiten literatur da ist alles sowohl von der befü”rworterseite als auch aus der medizinerseite * ma glaubt nicht wie umfangreich die erfahrungen sind * bloß fangt natürlich jeder ort wieder bei adam und eva an und meint er soll/ er muß sich die literatur mühsam zusammenglauben so is=es nicht es gibt leute * die da sehr viel erfahrung damit haben insbesondere der bund naturschutz der da ganz an * e”rster stelle zu nennen ist * denn von politischen Parteien ich möcht jetzt die grünen mal ausneh- Schlüsselwörter 409 men äh: m muß ich sagen äh: m daß sie * meistens sich äh mh: die bera”ter suchen * die auf der finanziellen Seite stehen und von der seite erfährt ma halt nicht * äh: die gefahrn äh: denen der mensch ausgesetzt * Die erste Stufe kann man als Antwort auf die Frage interpretieren „Welche Bedingungen müssen bei Reden über Dioxin berücksichtigt werden? ”. Es handelt sich in diesem Schub um die Festlegungen pragmatischer Voraussetzungen des Redens über Dioxin bzw. um pragmatische Bedingungen der Sachverhaltskonstitution. Mit der Benennung dieser Bedingungen unterstreicht Habermann die Seriosität und Reflektiertheit der eigenen Rede und stilisiert sich selbst als seriösen Wissenschaftler (s. Spranz-Fogasy 1993). Habermann führt drei solcher Bedingungen an: 1. genauso über ... 2. ganz gedrängte zeit ... 3. miserables Wissen ... Für Zwecke dieser Untersuchung entscheidend ist, daß im Vollzug der Darstellung dieser Bedingungen bereits Aussagen über Dioxin gemacht werden. Im Vollzug der ersten Bedingung wird um Dioxin ein semantisches Feld aufgebaut, in das Dioxin gleichzeitig mit einbezogen wird: wir könnten jetzt genauso über=s quecksilber reden oder über=s kadmium oder über=s Hexachlorbenzol.... Dieses Feld weist als semantische Struktur ’Gefahr’, ’Bedrohung’ auf. Die Ausdrücke quecksilber und kadmium sind in der umweltpolitischen Debatte der letzten Jahre als ’gefährliche Giftstoffe’ eingeführt und etabliert. Dadurch, daß Habermann formuliert, genauso über diese Stoffe sprechen zu können, suggeriert er thematische Identität oder Sachverhaltsgleichheit dieser diskursiv eingeführten Stoffe mit dem von ihm thematisierten, dem Dioxin. Der dritte verwendete Ausdruck Hexachlorbenzol unterscheidet sich von den ersten beiden er ist sicher nicht so bekannt. Seine rhetorische Funktion liegt eher darin, das semantische Feld gefährlicher Stoffe mit dem der Fachwissenschaft Chemie zu verknüpfen. Mit dem Ausdruck Hexachlorbenzol steigt Habermann einen Schritt weit in das Fachgebiet ein. Habermann selbst bedient sich dieser Metapher des Einstiegs, wenn er unmittelbar danach formuliert ...so daß ich also jetzt net so breit gefächert in die kemie gehen möchte ... . Im Vollzug der zwei anderen Bedingungen deutet Habermann die Komplexität des Themas an, dessen angemessene Explizierung wesentlich mehr Zeit und erheblich mehr Vorwissen voraussetzen würde. In gewisser Weise (sic! ) fungiert dies wie ein Heckenausdruck, durch den das Treffende bzw. Angemessene einer Wortwahl markiert wird. Habermann setzt die durch diese Bedingung charakterisierte Explizierung in Kontrast zu einem anderen Aneignungsverfahren, dem nachlesen. Dies erlaubt es ihm zum einen, seine eigene Sachkompetenz deutlich zu machen, und zum anderen, weitere Charakteristika ins Spiel zu bringen, die zur Dioxinwelt dazugehören: Dio- 410 Werner Nothdurft xin ist zum einen ein gesundheitsgefährlicher staff, und zum anderen Spielball politischer Interessen. Mit beiden Formulierungen sind Stichwörter aufgerufen, durch die Dioxin schon vor seiner eigentlichen Explizierung von den Zuhörern interpretiert und in deren Deutungskategorien und deren Weltwissen eingeordnet werden kann. 2. Stufe <dioxine * dioxine entstehen ausschließlich bei der verbrennung[> * sie sin neuj. * dioxine weiß man aus: : alten arbeiten ich macht sie net langweilen es gibt Untersuchungen an alten exkimos äh: die in ihren iglus: eingefroren äh vereist warn die man dann nach dreihundert vierhundert jahrn untersucht hat <da warn kei”ne dioxine> nachweisbar^ * es gibt Untersuchungen an Sedimenten alter amerikanischer seen * äh wo man feststellen konnte vor fünfzig jahm ga”b=s in diesen tiefen sedimentschichten keine dioxine * die ma"ssive dioxin * ko”nzentration kommt erst * seit etwa zwanzig jahm * ko”mmt erst seitdem wir in der chlorkemie * äh * <kra”sse> Umsatz äh Steigerungen erleben kommt erst seitdem die pvcverbrennung äh en großen umfang erreicht hat * hier zitier ich die eine arbeit von christmann aus=em bundesgesundheitsamt * der ausführlich und sauber ich nehm an daß bundesgesundesamt saubere artikel liefert * bewie”sen hat daß die dioxinentstehung insbesondere bei der pvcverbrennung eine gewaltige rolle spielil ** dioxine sind also von menschenhand gemacht sind die stä”rksten gifte die wir heute kennen * sind die stä”rksten krebserzeugenden Stoffe die wir heute kennen +sind keine akutgifte *. Die zweite Stufe beginnt mit einem Wiederaufruf ... dioxine ... Durch das Äußerungsformat des Aufrufs wird Dioxin als Thema reaktiviert, rückerinnert, wieder wachgerufen. Anders herum: Der Aufruf benötigt, um sinnvoll als solcher verstanden werden zu können, ein präsent gehaltenes Thema, das mit dem Aufruf reaktiviert wird. Prospektiv ruft der Aufruf an dieser Stelle die Erwartung nach Erläuterungsaktivitäten wach, eine Erwartung, die dann auch insofern erfüllt wird, als mehrere Aussagen über Dioxin folgen. In ihnen vollzieht sich der weitere Aufbau der Dioxinwelt. Im einzelnen handelt es sich um folgende Aussagen: dioxine entstehen ausschließlich bei der Verbrennung. Dieser Explizierungsschub beginnt mit einer Aussage über die Entstehung von Dioxinen. Am Anfang der Explikation steht somit eine Aussage über die Wirklichkeitswerdung (Entstehung) von Dioxinen das sprachliche Arrangement vollzieht ein gängiges Muster der Wirklichkeitskonstitution nach. In der Aussage erfolgt durch das betonte ausschließlich eine strikte Koppelung des Redegegenstandes ’Dioxin’ an die Verbrennung. Mit Verbrennung knüpft Habermann an einen durch die vorhergegangenen Redebeiträge und das Rahmenthema der Bürgerversammlung etablierten Topos an (vgl. Nothdurft 1992). ’Dioxin’ wird also zum einen durch eine alltagsweltliche geläufige Existenzfigur (’Entstehung’) eingeführt und zum Schlüsselwörter 411 anderen in einem in der Interaktion hinreichend etablierten Themenkomplex verankert. sie sin neu Das Prädikat neu ist in seiner Bedeutung vage. Diese Aussage ist also erläuterungsbedürftig und in der Tat sind die nächsten Ausführungen als Erläuterungen dieses Prädikats angelegt. Gleichwohl werden in den Aussagen über eine Erläuterung des Prädikats hinaus (gleichsam en passant) weitere Verweisungslinien der Dioxinwelt skizziert. dioxine weiß man aus: : alten arbeiten ich möcht sie net langweilen es gibt Untersuchungen an ... In diesen Aussagen wird das Prädikat neu also erläutert durch Angabe von Zeitepochen, in denen Dioxin nicht vorhanden war. Habermann markiert die epistemische Modalität dieser Aussagen als wissenschaftlich gesichertes Wissen es gibt Untersuchungen ... . Daraufhin erfolgt eine positive Erläuterung des Prädikats neu: die ma”ssive dioxin*ko”nzentration ... Die Formulierung ma”ssive dioxin*ko”nzentration akzentuiert die kommenden Ausführungen gegenüber dem vorerwähnten keine dioxine. Zugleich aber erfolgt durch diese lokal gestiftete Akzentuierung für diese gesamte Explizierungsstufe eine beträchtliche Veränderung des Redegegenstandes: es geht im folgenden nicht mehr um Dioxin, sondern um massive dioxin*ko”nzentrationen. Uber diese werden im folgenden Aussagen gemacht, die in paralleler Weise aufgebaut sind: ... kommt erst seit etwa zwanzig jahrn ko”mmt erst seitdem ... kommt erst seitdem die ... Die Parallelität im Aufbau, insbesondere die Wiederholung des kommt, gibt der Rede einen kohärenz-ähnlichen Zusammenhang, der durch intonatorische Ähnlichkeit zwischen dem ma”ssive und dem kra”sse verstärkt wird. Gleichwohl findet trotz der ausdrucksseitigen Ähnlichkeit der Verbformen eine erhebliche Bedeutungsverschiebung in den Prädikationen statt: Während das erste kommt nämlich im Sinne zeitlicher Kookkurenz verstanden werden muß, kann schon das zweite kommt so nicht mehr verstanden werden, denn kra”sse Umsatz äh Steigerungen in der chlorkemie ist kein zeitlich markantes Ereignis bzw. kein allgemein geteilter zeitlich relevanter Bezugspunkt. Dieses kommt muß schon als ein Ausdruck für eine Kausalrelation verstanden werden. In gleicher Weise gilt dies für die dritte Aussage. 412 Werner Nothdurft Auf diese Weise bringt Habermann einen Referenzpunkt „Umsatzsteigerungen in der Chemie” ins Spiel, der auf den Vorstellungszusammenhang bzw. Topos ’profitorientierte Industrie’ anspielt und diesen mit einem Teilbereich der chemischen Industrie verbindet. Nach diesen Ausführungen, die makrostrukturell als Erläuterungen des Prädikats neu eingeführt worden sind, kommt Habermann wieder auf sein Darstellungsschema der Eigenschaftsprädikationen von Dioxin zurück, und zwar ausdrücklich mit einem resümierenden also: dioxine sind also von menschenhand gemacht Mit diesem resümierenden also von menschenhand schließt Habermann eine Explizierungsphase ab, die anfänglich auf Erläuterung des vagen Ausdrucks neu hin angelegt war, in ihrem Verlauf aber eine Reihe anderer Verweisungslinien andeutete, die jetzt am Ende in einer Quintessenz im Ausdruck von menschenhand zusammengefaßt werden. Das Darstellungsformat der Eigenschaftsprädikation hält Habermann bis zum Ende dieser Explizierungsstufe in ostinater Weise durch: ... sind also von menschenhand gemacht sind die ... sind die ... sind kei”ne akutgifte ... Sie geben der Stufe ihre Prägung. Die Eigenschaften, die Habermann Dioxin in diesen Aussagen prädiziert, nehmen bezug auf folgende Sachverhalte: von menschenhand gemacht Die Phrase von menschenhand ist ein poetisches Versatzstück. Sie hat ihren Bezug in zwei Gedichten, von denen das eine deutlich technik-kritisch angelegt ist („Die Brücke am Tyne”; Fontane) und von denen das andere durch den Gedanken des Menetekels, des drohenden Unheils für frevlerische Taten, geprägt ist („Belsazar”, Heine). sind die stärksten gifte die wir heute kennen Durch diese Prädikation wird Dioxin in den Weltausschnitt „Gifte” eingeordnet und zwar an exponierter Stelle. die stä”rksten krebserzeugenden stoffe die wir heute kennen Durch diese Prädikation wird durch Dioxin das Wissen der Beteiligten über Krebs aktiviert. Schlüsselwörter 413 Aus Habermanns Erläuterung des Ausdrucks akutgifte entwickelt sich eine thematische Digression, durch die dieser zweite Explizierungsschub abgebrochen wird. Nach dieser zweiten Stufe ist etabliert, „was Dioxin ist”. Dies erfolgt dadurch, daß Dioxin Eigenschaftsmerkmale prädiziert werden, deren Referenten erstens im Weltwissen der Beteiligten verankert sind und die ihnen daher geläufig sind, so daß sie dann mit dem Ausdruck Dioxin „etwas anfangen können” und die zweitens in ausgezeichneter Relation zum Status des Sprechers stehen (Toxikologe), so daß die Explikation den Charakter verläßlicher Aussagen erhält. Durch beide Effekte gewinnt Dioxin Wirklichkeitsstatus. Dioxin wird als Gegenstand der Wirklichkeit etabliert; zum einen durch das Redeformat der Prädikation, zum zweiten durch Einordnung in geläufige Topoi, zum dritten durch Zusammenhang stiftende Ausdrucksmittel der Rede wie Parallelitäten, Klangähnlichkeiten, intonatorische Akzentuierungen. Von besonderer Relevanz für die Bedeutungskonstitution von Dioxin ist in dieser Stufe das Darstellungsformat der Prädikation. Unter den Bedingungen der Expertenrede, der vorausgegangenen Rahmungen und des Wissens der Hörer und ihrer kommunikativen Erfahrungen mit diesem Darstellungsformat entfaltet dieses seine suggestive Kraft, die bewirkt, daß Dioxin im Erfahrungsschatz der Hörer verankert wird und damit zugleich Wirklichkeitscharakter bekommt. Schema: dioxine o Verbrennung o ist neu alt massive dioxinkonzention erst seit etwa zwanzig Jahren ko”mmt erst seitdem wir in der chlorkemie kommt erst seitdem die pvc Verbrennung o sind von menschenhand gemacht o sind die stä”rksten gifte die wir heute kennen o sind die stä”rksten krebserzeugenden Stoffe o sind kei”ne akut gifte Prädikation als hergestelltes Redeformat (Operieren mit der suggestiven Kraft des Redeformats) 414 Werner Nothdurfl 3. Stufe In der dritten Stufe taucht Dioxin grammatisch als Objekt in Fragesätzen auf. Dioxin wird damit sprachlich eingeführt als Gegebenheit, die nicht selbst in Frage steht, sondern zu der als präsupponiertem Objekt - Fragen gestellt werden können. War die Quaestio (vgl. Klein/ v. Stutterheim 1992) in der 2. Stufe „Was sind Dioxine? ”, so ließe sich die Quaestio in der 3. Stufe formulieren als „Was kann man über Dioxine aussagen? ”. Im einzelnen sind es folgende Fragen, die Habermann zu Dioxinen formuliert: was machen die dioxine wie werden wir überhaupt je einmal mit dioxinen konfrontiert wo find ma die dioxine Im folgenden soll nur die Passage, in der Habermann die erste dieser selbst gestellten Fragen beantwortet, mikroanalytisch untersucht werden. „* was machen die dioxine] ** sie ham schon ghört sie machen psychisch * Veränderungen der dioxin*vergiflete ist psychisch auffällig * äh * sie können sagen spinnert oder irgendwie äh je nach äh vorschädigung oder je nach mileu oder je nach seelischer belastung * des ist ei”ne komponente die andere komponente sind die leberschäden äh die nächste komponente sind die Stoffwechselstörungen eine Unterfunktion der Schilddrüse der patient wird langweilig wird aphatisch u”nd natürlich * als Spätfolgen krebs * aber wie der raucher ganz gelassen seine Zigarette in der hand halt obwohl er weiß daß er in dreißig jahrn das bein amputiert kriegt oder d=lunge lunge rausgschniiten kriegt” Durch die Frage was machen die dioxine wird Dioxin das Potential von Wirkungsveränderungen zugeschrieben, wenn nicht gar der Status eines handlungsfähigen Subjekts, „das etwas machen kann”. In der Antwort auf die selbstgestellte Frage hält Habermann die Verbkonstruktion mit machen aufrecht, sie haben schon gehört sie machen psychisch * Veränderungen. Danach wechselt das Agens - Habermann geht zu einer Typisierung über und beschreibt „den Dioxinvergifteten”. Auch in dieser Stufe erfolgt also eine Verschiebung des Redegegenstandes, wie in der zweiten Stufe auch (von „Wirkungen von Dioxin” zu „Charakterisierung des Dioxinvergifteten”). In dieser Typisierung sind Fragen der Bedingungen von Vergiftung, des Ausmaßes etc. aufgehoben, d.h., der Wirkungsprozeß selbst wird nicht charakterisiert, sondern nur das zustandekommende Resultat in Form einer Personalisierung. Aber die Redestrukturierung erfährt nochmals eine Neuorientierung, als Habermann die erste Charakterisierung des Dioxinvergifteten nachträglich kategorisiert als des ist ei”ne komponente. Mit dieser Neustrukturierung der Darstellung in Form einer (Komponenten-) Auflistung macht Habermann deutlich, daß die Auswirkungen von Dioxin weit über das Geschilderte hinausgehen. Das Darstellungsformat der Komponenten-Aufzählung liefert gleichsam die Struktur für eine potentiell endlose Aufzählung von Gesundheitsschädigungen und erweckt in weit stärkerem Maße den Eindruck endloser Weiterführung, als dies bei einer Schlüsselwörter 415 (strukturlosen) Beschreibung der klinischen Symptomatologie der Fall gewesen wäre. (Dabei bleibt sogar unklar, um Komponenten wovon es sich handelt.) Schließlich wechselt Habermann nochmals die Darstellungssystematik zu der einer historiographischen, wenn er fortführt u”nd natürlich * als Spätfolgen krebs. Auch diese Explizierungsstufe löst sich, wie die zweite, in einer thematischen Digression auf, wird aber später durch die selbstgestellte Frage wo fi”nd ma die dioxine wieder aktiviert. Die Betonung auf fi”nd suggeriert die Position dieser Frage als Bestandteil einer Liste von Fragen zu Dioxin, die systematisch abgearbeitet wird. Dadurch wird der Umgang mit Dioxin in gewisser Weise routiniert: Dioxin wird als Gegenstand behandelt, zu dem man eine Vielzahl sinnvoller Fragen stellen und diese auch beantworten kann. Mit Dioxin wird als mit einem handhabbaren Gegenstand umgegangen. In den hier analysierten Explizierungsschüben gewinnt Dioxin wesentlich Wirklichkeitscharakter. Die abgestufte Weise der Bedeutungskonstitution ist ein alltagsweltlich vertrautes Muster der Erklärung eines Sachverhalts. Der systematische Aufbau der Stufen, in denen der Ausdruck Dioxin expliziert wird, trägt besonders dazu bei, daß Dioxin von den Beteiligten als fragloser Bestandteil der Wirklichkeit betrachtet werden kann. 8. Ausblick Unser Empfinden, daß wir mit sprachlichen Ausdrücken auf Ausschnitte der Wirklichkeit verweisen, löst sich in interaktionstheoretischer Betrachtung auf in das komplizierte Zusammenspiel von a) interaktiven Prozessen, in deren Verlauf diese Ausdrücke aufgrund sprachlicher Markierungen und Inszenierungen einen herausgehobenen Status im Interaktionsverlauf erhalten, mit b) sprachlichen Aktivitäten des Verweisens und Präsupponierens, durch die diese Ausdrücke jene charakteristische Selbstverständlichkeit erhalten, die „das Nachdenken unnötig zu machen erscheint” (Anderegg, 1985, S. 46), c) den geläufigen, wissenskonformen Zusammenhängen, die im Verlauf des Redens mit dem sprachlichen Ausdruck aufgebaut werden und schließlich d) den kommunikativen Vorurteilen über den Status und die Eigenschaften einzelner sprachlicher Ausdrücke inklusive der interpretativen Haltung, daß mit sprachlichen Ausdrücken auf Wirklichkeit verwiesen wird. Im Verlauf der Herausbildung dieses Zusammenspiels wird eine Bezugswelt gebildet, die dann mit dem Schlüsselwort umstandslos aufgerufen werden kann. Was so in kommunikativer Erfahrung als Bezug einzelner sprachlicher Ausdrücke erscheint, oder als Tatsache, auf die der Ausdruck (nur) ver- 416 Werner Nothdurft weist, stellt sich so als Resultat eines mehrschichtigen, nur teilweise von den Beteiligten selbst gesteuerten interaktiven Zusammenhangs dar. Auf der Grundlage dieser und weiterer Darstellungen von Weisen der Wirklichkeitskonstitution, wie sie in Kapitel 6 skizziert sind, wird eine Revision alltäglicher Kommunikationserfahrungen angestrebt mit dem Ziel eines genaueren Verstehens solcher Erfahrungen und der Ermöglichung von Reflexion und Einsicht in das eigene Handeln in Zusammenhängen verbaler Interaktion. 9. Literatur Agud, Ana (1991): Der unwahrscheinliche Satz. Ein Beitrag zur Theorie des Beispiels. In: Kodikas/ Code 14, S. 325-338. 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Allgemeine Transkriptionszeichen * kurze Pause ** längere Pause *3,5* längere Pause mit Angabe der Dauer in Sekunden = Verschleifung zwischen Wörtern bei Tilgung eines oder mehrerer Laute, z.B. sa=mer für sag mir / Wort- und Konstruktionsabbruch (...) unverständliche Sequenz (ja) vermuteter Wortlaut (gelebt? gelegt) alternative vermutete Lautungen simultan gesprochene Sequenzen sind unterstrichen Intonation steigend Intonation schwebend Intonation fallend auffällige Betonung auffällige Dehnung lauter im Vergleich zur direkt vorhergehenden desselben Sprechers leiser im Vergleich zur direkt vorhergehenden desselben Sprechers langsamer im Vergleich zur direkt vorhergehenden Äußerung desselben Sprechers schneller im Vergleich zur direkt vorhergehenden Äußerung desselben Sprechers Kommentar in Großbuchstaben in der Kommentarzeile; Kommentarzeile ist dem Sprecher zugeordnet Extention des Kommentars in Text- und Kommentarzeile Auslassung bei Zitaten aus Transkripten Äußerung Äußerung aber ja nein nie ja! jajaf ja” ja: <ja >ja «-manchmal — ♦ manchmal LACHT # # 420 Anhang 2. Transliteration des Mannheimer Dialekts Lautung, die weitgehend der Standardlautung entspricht, wird nach den geltenden Orthographieregeln wiedergegeben. Dialektale Lautung wird graphematisch transliteriert. Im besonderen gilt: (1) Die für den Mannheimer Dialekt allgemein geltende Nasalierung von Vokalen vor Nasalen wird nur in starker Ausprägung markiert. Starke Nasalierung, in der Regel verbunden mit Nasaltilgung, Verdunkelung und Längung des Vokals, wird durch eine Tilde über dem Vokal angezeigt; z.B. std. / anziehen/ erscheint dial, realisiert als äziehe bzw. öziehe. (2) Dialektale Vokaldehnung, ob als Ergebnis des Monophthongierungs- oder des Konsonantentilgungsprozesses (Anmerkung: In Konsonantengruppen vor allem Tilgung von / r/ in der Verbindung / rt/ ), wird durch Vokaldoppelung transliteriert. So kann std. / gesagt/ dial, als [gsa: d] realisiert sein, das dann als gsaad transliteriert wird; ebenso wird std. / laufen/ , dial, als [la: fa] realisiert, durch laafe transliteriert. Unter dem Einfluß von Schnellsprechregeln bzw. besonderen Akzentuierungsregeln kann auch ein Kurzvokal auftreten, so daß z.B. std. / auch/ neben dial, aach bzw. aa auch als a, std. / gesagt/ neben dial. gsaad auch als gsad transliteriert erscheint. Std. / garten/ wird bei dial. Vokaldehnung und / r/ -Tilgung als gaade transliteriert. (3) Dialektale Entrundung des std. [y: ] zu [i: ] wird durch / ie/ transliteriert, z.B. std. / spülen/ als dial, schbiele. (4) Dialektale Vokalkürzung wird durch Doppelung der Folgekonsonanten markiert; z.B. std. / geredet/ , dial, [gsaed] wird als geredd transliteriert. Wird zusammen mit Vokalkürzung vor Konsonantengruppen der dem Vokal direkt folgende Konsonant nur sehr schwach realisiert (vor allem / r/ in der Kombination / rt/ ), wird der nächste Konsonant gedoppelt. So erscheint std. / garten/ dial, als gardde bzw. gadde transliteriert, ebenso wie std. / warten/ als wardde bzw. wadde. (Neben gadde und wadde gibt es auch die oben unter 2. dargestellte Variante gaade und waade). (5) Die allgemeine sprechsprachliche Tendenz zur Lenisierung von Fortes wird bei starker Lenisierung als Merkmal des Mannheimer Dialekts auch graphemisch wiedergegeben. So erscheint std. / steht/ bei standardnaher Artikulation transliteriert als steht und bei dialektaler Artikulation als schdehd/ t, ebenso std. / spielt/ als schbielt/ d, std. / leute/ als leid. Erläuterungen zur Transkriptionsweise 421 (6) Wenn palatale Reibelaute [9] als präpalatale Reibelaute [5], [/ ] ausgesprochen werden, werden sie als sch transliteriert, also std. / ich/ als isch, ebenso wie std. / höflich/ als höflisch. (7) Für die Wiedergabe von dialektalen Verschleifungen gelten folgende Regeln: - Das Personalpronomen 3. Pers. Sg. mask, / er/ wird nach dentalen Lauten meist als a transliteriert und durch Verschleifungszeichen an den Dental angebunden, z.B. seschd—a, hod=a. - Der definite Artikel in der Funktion des Demonstrativpronomens / der/ , / die/ und / das/ wird vor dentalen Lauten an das vorherige Lexem angebunden bei Verschleifung des vorangehenden Dentals, z.B. ho=der, ho=die. Wird der Vokal in hot/ d kurz ausgesprochen, wird hod der, hod die transliteriert. 3. Transkription prosodischer Phänomene (Feinanalyse) (1) Der Tonhöhenverlauf wird auf vier Tonhöhenniveaus oberhalb der Textzeile durch einzelne Punkte pro Silbe markiert. Extreme Höhenwerte können über die vier Niveaus hinaus angehoben werden. Große Tonhöhenwechsel innerhalb einer Silbe, wie sie vor allem bei Übertreibungen auftreten, werden mit 2-3 Punkten auf derselben Silbe enger geschrieben markiert und durch Strich verbunden. Kleinere steigende bzw. fallende Tonbewegungen vor dem akzentuierten Ton werden durch aufwärts bzw. abwärts weisende Pfeile fj. links vor dem akzentuierten Ton markiert; steigende bzw. fallende Tonbewegungen nach dem akzentuierten Ton durch entsprechende Pfeile ff rechts nach dem akzentuierten Ton. Die Tonhöhensprünge sind jeweils festgelegt in Relation zur Tonhöhenbewegung der gesamten Außerungseinheit. (2) Akzente über die in der normalen Transkription enthaltenen expressiven Akzente hinaus werden unter den Silben der Textzeile notiert. Wir unterscheiden drei Typen: . unbetont - Nebenakzent = Hauptakzent Studien zur deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Die nächsten Bände: Bernd Ulrich Biere / Rudolf Hoberg (Hrsg.) Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Fernsehen Andreas Paul Müller ‘Reden ist Chefsache’ Linguistische Studien zu sprachlichen Formen sozialer ‘Kontrolle’ in innerbetrieblichen Arbeitsbesprechungen Kathrin Steyer Reformulierungen Sprachliche Relationen zwischen Äußerungen und Texten im öffentlichen Diskurs Reinhold Schmitt / Gerhard Stickel (Hrsg.) Polen und Deutsche im Gespräch Franz-Josef Berens / Rainer Wimmer (Hrsg.) Wortbildung und Phraseologie Gabriele Hoppe Das Lehnpräfix ex- Mit einer Einleitung zu grundsätzlichen Fragen der Lehnwortbildung. Beiträge zur Lehnwortbildung I Isolde Nortmeyer Die Lehnpräfixe inter- und trans- Beiträge zur Lehnwortbildung II Michael Kinne Die Lehnpräfixe prä- und post- Beiträge zur Lehnwortbildung III Daniel Bresson / Jacqueline Kubczak (Hrsg.) Abstrakte Nomina Untersuchungen zu ihrer syntagmatischen Erfassung in Wörterbüchern Gespräche sind ein zentrales Arbeitsmittel bei der Bearbeitung von Problemen und sozialen Konflikten in öffentlichen wie privaten, in formellen und informellen Situationen. Der vorliegende Band präsentiert einen von der linguistischen Gesprächsanalyse geprägten Ansatz für eine Rhetorik der Problem- und Konfliktbearbeitung. Die Beiträge des Bandes befassen sich mit einer Reihe von Thesen, die für die Kommunikation generell und für die belastete Kommunikation insbesondere von Bedeutung sind und einen Schlüssel für das Verständnis sowohl des Gelingens als auch des Scheitems von sprachlicher Interaktion darstellen. ISBN 3-8233-5134-6