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Ansichten der deutschen Sprache

2002
978-3-8233-3010-3
Gunter Narr Verlag 
Ulrike Haß-Zumkehr
Werner Kallmeyer
Gisela Zifonun

Der Band enthält ein Spektrum von Untersuchungen zur deutschen Sprache aus inlands- und auslandsgermanistischer Perspektive. Die Beiträge vermitteln ein aspektreiches Bild gegenwärtiger germanistischer Forschung zur Struktur und Verwendung des Deutschen. Sie konzentrieren sich auf drei Schwerpunkte: (1) Lexikalische und grammatische Strukturen, (2) Sprachvergleich, Sprachkontakt, Sprachpolitik, (3) Stile, Räume, Strategien. Die Beiträger(innen) sind Wissenschaftler(innen), die entweder dem IDS angehören oder dem IDS und dem Jubilar in langjähriger Zusammenarbeit verbunden sind.

Studien zur Deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Ulrike Haß-Zumkehr/ Werner Kallmeyer/ Gisela Zifonun (Hrsg.) Ansichten der deutschen Sprache Festschrift für Gerhard Stickel zum 65. Geburtstag gllW Gunter Narr Verlag Tübingen STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE 25 Studien zur Deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRÄCHE Herausgegeben von Ulrike Haß-Zumkehr, Werner Kallmeyer und Bruno Strecker Band 25 • 2002 Ulrike Haß-Zumkehr/ Werner Kallmeyer/ Gisela Zifonun (Hrsg.) Ansichten der deutschen Sprache Festschrift für Gerhard Stickel zum 65. Geburtstag gnw Gunter Narr Verlag Tübingen Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufmhme Ansichten der deutschen Sprache: Festschrift für Gerhard Stickel zum 65. Geburtstag / Ulrike Haß-Zumkehr... (Hrsg.) - Tübingen : Narr, 2002 (Studien zur Deutschen Sprache; Bd. 25) ISBN 3-8233-5155-9 © 2002 • Gunter Narr Verlag Tübingen Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Das Werk einschheßlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfälügungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-MaU: info@narr.de Satz: Volz, Mannheim Druck und Bindung: Huberts Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 3-8233-5155-9 Gerhard Stickel Inhalt Ulrike Haß-Zumkehr/ Werner Kallmeyer/ Gisela Zifonun Einleitung xi (1) Grammatische und lexikalische Strukturen Peter Bassola Adjektive mit passivischen Infinitivkonstruktionen und konjunktional eingeleitete passivische Infinitivkonstruktionen in einem historischen Korpus 1 Hans-Werner Emms Kontrollverben und Korrelate 21 Wolfgang Mötsch Wortbildungsregeln 39 Peter Eisenberg Es gibt Gerüchte über eine Rettung Österreichs. Zur Rekonstruktion der Grammatik von Karl Kraus 55 Tohru Kaneko Wo die Semantik anfängt 89 Carlo Serra Borneto Was im Deutschen steht und liegt. Überlegungen zur Raumsemantik 123 Hartmut Günther Stolz darauf, ein (z.B.) Germanist zu sein 149 Gerhard Strauß / Gisela Zifonun Auf der Suche nach Identität 165 Kathrin Steyer Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt. Zum linguistischen Erklärungspotenzial der korpusbasierten Kookkurrenzanalyse 215 Dieter Herberg Der lange Weg zur Stichwortliste. Aspekte der Stichwortselektion für ein allgemeinsprachliches Neologismenwörterbuch 237 Vlll Inhalt (2) Sprachvergleich, Sprachkontakt, Sprachpolitik Marja-Leena Piitulainen / Liisa Tiittula Absatzstruktur als Organisationsmittel in deutschen und finnischen Texten 251 Shigeru Yoshijima Erzählerperspektive. Eine pragmatisch-kontrastive Untersuchung mit einer Bildgeschichte 271 Gertrud Greciano Europaphraseologie. Zur Findung und Verbreitung der Begriffe über Bilder 305 Michael Clyne Die Rolle des Deutschen bei interkulturellen Erscheinungen unter Dreisprachigen 325 Csaba Földes Kontaktsprache Deutsch: Das Deutsche im Sprachen- und Kulturenkontakt 347 Siegfried Grosse Zur sprachlichen Situation in der Euroregion Neiße (D) / Nisa (CZ) / Nysa (PL) 371 Konrad Ehlich Was wird aus den Hochsprachen? 387 Vural Ülkii Sprachnationalismus und Sprachpolitik. Deutsche und türkische Modelle 419 Franciszek Grucza Theoretische Voraussetzungen einer holistischen Fremdsprachenpolitik 439 Michael Townson Kannst du Deutsch, was kannst du? 463 Inhalt IX (3) Räume, Stile, Strategien Heinrich Löffler Stadtsprachen-Projekte im Vergleich: Basel und Mannheim 411 Reinhard Fiehler / Reinhold Schmitt Das Potenzial der angewandten Gesprächsforschung für Unternehmenskommunikation: Das Beispiel „Kundenorientierung“ 501 Werner Kallmeyer / Thomas Spranz-Fogasy Führung im Gespräch am Beispiel von „Eingreifen zur grundsätzlichen Voraussetzungsklärung“ 529 Bruno Strecker Ja doch, eigentlich schon noch. Alltagsroutinen des Kommunikationsmanagements 555 Ludwig Eichinger Adjektive postmodern: wo die Lebensstile blühen 579 Marisa Siguan Über Sprache und ihre Grenzen: einige Beispiele zur Bewältigung von Sprachlosigkeit in der Literatur (Jean Amery, Primo Levi, Jorge Semprün) 605 Hartmut Schmidt Austrasien ein pfälzischer Landschreiber entwirft einen Staat, einen Friedensvertrag und eine deutsche Verfassung. Text und Wortgebrauch 623 Rainer Wimmer Noch mal zu „Leitkultur“ 653 Norbert Richard Wolf Wie spricht ein Populist? Anhand eines Beispiels 671 Gerhard Stickels Vita 687 Gerhard Stickel: Verzeichnis wissenschaftlicher Veröffentlichungen 691 Ulrike Haß-Zumkehr / Werner Kallmeyer / Gisela Zifonun Einleitung Der vorliegende Band enthält ein Spektrum von Untersuchungen zur deutschen Sprache aus inlands- und auslandsgermanistischer Sicht. Von unterschiedlichen Standpunkten aus, die nicht nur durch das Außen- oder Innenverhältnis zur deutschen Sprache bestimmt sind, sondern auch durch unterschiedliche Forschungsinteressen und Wirkungsabsichten, werden „Ansichten der deutschen Sprache“ präsentiert. Die Beiträge erschöpfen natürlich die Vielzahl möglicher und in der germanistischen Linguistik etablierten Hinsichten auf die deutsche Sprache bei weitem nicht, aber sie vermitteln ein aspektreiches Bild gegenwärtiger germanistischer Forschung zur Struktur und Verwendung des Deutschen. Dieser Band ist Gerhard Stickel gewidmet. Der konkrete Anlass dafür ist sein 65. Geburtstag am 9.5.2002. Die tiefere Motivation für die Zusammenstellung des Bandes liegt in der Absicht der in diesem Band vertretenen Kolleginnen und Kollegen, eine Rückmeldung auf die vielfältigen Anregungen zu geben, die in den langen Jahren von Gerhard Stickels Tätigkeit im IDS ausgegangen sind. Die Zusammenstellung der Beiträge belegt die Reaktion auf die wissenschaftlichen Arbeiten von Gerhard Stickel, z.B. zur Negation, zur kontrastiven Grammatik, zu Fragen der Textverständlichkeit im Bereich von Rechts- und Verwaltungstexten, Spracheinstellungen in der deutschen Gesellschaft, gegenüber Standardsprache und Dialekt sowie gegenüber Anglizismen. An vielen Stellen wird auch die Verarbeitung von Impulsen aus der konzeptionellen Planung von Jahrestagungen des IDS erkennbar, z.B. zur Stilistik (vgl. Stickel 1995; Schriftenverzeichnis im Anhang), zur Variation des heutigen Deutsch (vgl. Stickel 1997), zu Fremdwörtern und Neologismen (vgl. Stickel 2001) oder zur auslandsgermanistischen Perspektive auf Deutsch und seine Erforschung (vgl. die Jahrestagung 2002 zum Thema „Deutsch von außen“). Xll Ulrike Haß-Zumkehr/ Werner Kallmeyer/ Gisela Zifonun Manche dieser wissenschaftlichen Beschäftigungen haben auch ihre Fortsetzung in Gerhard Stickels Engagement als prominenter Beiträger zum öffentlichen Diskurs über Sprachfragen gefunden, von der Rechtschreibung über die Fremdwortfrage bis zur Frage des Deutschen im Kontext der Internationalisierung, die in den meisten Fällen gegenwärtig sprachlich als Anglisierung vieler, gerade der „modernen“ Lebens- und Arbeitsbereiche auftritt. Besonderes Gewicht in diesem Kontext hat in der letzten Zeit die europäische Sprachpolitik bekommen, vor allem der Einsatz für die Förderung der europäischen Mehrsprachigkeit. Die Weite des Spektrums von fachwissenschaftlichen Initiativen und sprachpolitischen Themen entspricht der Rolle des wissenschaftlichen Direktors des IDS. Diese Rolle erfordert, dass der Direktor bzw. die Direktorin sich anregend und initiierend in die Forschungsarbeit des gesamten Instituts einschaltet und in einer Art Supervision die laufenden Arbeiten verfolgt, darüber hinaus in Reaktion auf die öffentliche Debatte um Sprachfragen und auf die sich verändernde Bedürfnislage des Faches das etablierte Kemprogramm der Forschungsabteilungen „umkreist“ und ergänzt, Diskussionsforen für fachliche und fachpolitische Themen organisiert, neue Themen aufnimmt und zukünftige Schwerpunktsetzungen vorbereitet. Eine große Rolle hat dabei immer die Beziehung des IDS zur Auslandsgermanistik gespielt verbunden mit Vermittlung zwischen den Impulsen der wissenschaftlichen Entwicklung aus der Dynamik des Faches im Kontext der internationalen Linguistik und den spezifischen Interessen und Bedürfnissen der Auslandsgermanistik. Die Beiträge dieses Bandes sind drei Bereichen zugeordnet: (1) Grammatische und lexikalische Strukturen; (2) Sprachvergleich, Sprachkontakt, Sprachpolitik; und (3) Räume, Stile, Strategien. Wie man am Schriftenverzeichnis von Gerhard Stickel (im Anhang) feststellen kann, entsprechen diese drei Bereiche auch seinen Hauptarbeitsgebieten. (1) Grammatische und lexikalische Strukturen Die Beiträge dieser Gruppe beschäftigen sich aus in- und ausländischer Perspektive mit der Struktur der deutschen Sprache: Grammatik und Semantik Einleitung Xlll des Verbs, Wortbildung, kritische Reflexionen zum gegenwärtigen Sprachgebrauch (Identität und stolz sein auf), das Verhältnis von Syntax und Semantik bei der Kontrastierung und schließlich korpuslinguistische Aspekte der Lexikografie. Ein Kennzeichen, das viele Beiträge des Blocks „Lexikalische und grammatische Strukturen“ verbindet, ist ihre Orientierung an der tatsächlichen Sprachverwendung, in der Regel manifestiert im Bezug auf die Korpora des IDS. Der Beitrag von Peter Bassola untersucht mit dem Vorkommen passivischer Infinitivkonstruktionen einen bisher wenig beachteten Konstruktionstyp. Datenbasis sind Texte des 18. und 19. Jahrhunderts aus dem Historischen Korpus des IDS. Dabei werden einerseits vom Adjektiv bzw. der Adjektivgruppe regierte Vorkommen wie in ärgerlich, in seinem schönsten Traum gestört zu werden oder Sie war allzu jung, um noch begraben zu werden herangezogen, andererseits so genannte „Satzverkürzungen“ mit den Konjunktionen um, ohne, anstatt. In beiden Fällen liegen nach dieser Untersuchung dem Gegenwartsdeutschen weitgehend analoge grammatische Verwendungsbedingungen vor. Auch der Beitrag von Hans-Werner Eroms gilt den Infinitivkonstruktionen, und zwar hier dem viel diskutierten „Kontrollproblem“, also der Frage, welche Faktoren die Wahl zwischen dem Subjekt und dem Objekt des Obersatzes als Lieferanten des „logischen Subjekts“ der Infinitivkonstruktion steuern. Eroms plädiert hier dafür, Objektskontrolle wie in dass ich ihn zu gehen bitte gegenüber der Subjektskontrolle wie in dass ich ihm zu gehen verspreche als den unmarkierten Fall zu betrachten. Eine knappe Standortbestimmung der Wortbildung im System der Grammatik ist dem Beitrag von Wolfgang Mötsch zu entnehmen. Mötsch macht dabei deutlich, dass gerade in der Wortbildung Unschärfen, Irregularitäten und Analogien (etwa Zweisamkeit zu Einsamkeit gegenüber *Fünfsamkeit) auftreten, also Prozesse, die der Annahme, Sprache sei als strikt mathematisches Regelsystem zu fassen, zuwiderlaufen. Peter Eisenbergs „rationale Rekonstruktion“ der Grammatik von Karl Kraus bezieht sich auf eine Reihe von zunächst in der Zeitschrift „Die Fackel“ erschienenen Aufsätzen oder Glossen ‘Zur Sprachlehre’. Es geht dabei XIV Ulrike Haß-Zumkehr/ Werner Kallmeyer/ Gisela Zifonun u.a. um die sprachkritische Bewertung attributiver Fügungen aus von + Dat wie in die Rettung von Österreich und den irritierenden Verwendungsspielraum des Pronomens es. Eisenberg tritt dabei der weit verbreiteten Auffassung entgegen, Kraus sei zwar ein Genie in Sprachfragen gewesen, seine Entwürfe und Einwürfe seien jedoch sprachwissenschaftlicher Argumentation gegenüber inkommensurabel. Tohru Kaneko will in seinem Beitrag die Grenze zwischen kognitiven Universalien und einzelsprachlicher Semantik im Bereich der Zeitreferenz abstecken. Er bezieht auf der Basis einer übergreifenden Ereignislogik sowohl die im Tempus reflektierte „historische Zeitlichkeit“ als auch die in Aspektsystemen zu Tage tretende prozessuale Zeit ein. Empirischer Gegenstand ist in erster Linie das Japanische, das mit seinen differenzierten lexikalischen Aspektformen und seinem vergleichsweise simplen Tempussystem in deutlichem Kontrast zum Deutschen steht. Erkenntnisse der kognitiven Linguistik macht Carlo Serra Borneto fruchtbar für die Erfassung des semantischen Kontrasts zwischen stehen und liegen. Er unterscheidet drei Ansätze der kognitiven Raumsemantik, die „perzeptiv-induzierte Perspektive“, die „körperlich-anthropozentrische Perspektive“ und die „ethnografisch-kulturelle Perspektive“. Er zeigt, dass bei den beiden Verben, bezogen auf das zentrale Schema der Vertikalität, alle drei Perspektiven eine Rolle spielen und einander überlagern können. Hartmut Günther greift in seinem Beitrag einen aktuellen Anlass auf, die im Frühjahr 2001 durch die Aussage eines Politikers angestoßene Nationalstolzdebatte. Günthers korpusorientierte Zusammenstellung dessen, was aus sprachwissenschaftlicher Sicht über das Wort stolz und seine Verwendung zu sagen ist, mündet in dem Fazit, dass es sich bei dem Ausdruck Ich bin stolz {darauf), ein Deutscher zu sein um einen zwar markierten, aber durchaus gängigen Gebrauch handle, mit dem in erster Linie (Freude über) eine Gruppenzugehörigkeit zum Ausdruck gebracht werde. Fragen der politischen Opportunität einer solchen Äußerung seien außerhalb der Sprachwissenschaft zu behandeln. „Ist Identität zum Beispiel in seine weibliche Identitätfinden oder die nationale Identität der Deutschen nur eine neue Leerformel? In welchem (histori- Einleitung XV sehen) Zusammenhang steht diese Verwendung zu der Gebrauchsweise z.B. in die Identität des Mörders mit dem Gärtner! “ Mit solchen Fragen befasst sich der Beitrag von Gerhard Strauß und Gisela Zifonun. Er zeichnet die Wortgeschichte nach, stellt zwei argumentstrukturell verschiedene Verwendungsweisen heraus und dokumentiert insbesondere die Fassetten der modernen Verwendungsweise im Sinne von ‘(individuelles/ kollektives) Selbstverständnis’ anhand von Korpusbelegen. Kathrin Steyer stellt mit der korpusbasierten Kookkurrenzanalyse ein Werkzeug vor, das linguistische Intuition und Analyse nicht ersetzen, aber ihnen auf die Sprünge helfen kann. Der Beitrag demonstriert das komplexe in der Abteilung Lexik des IDS entwickelte statistische Instrument am Kookkurrenzfeld von Hund. Es zeigt sich, dass nicht nur die erwarteten Kandidaten wie Leine, bellen oder wedeln als signifikante Kollokationspartner nachgewiesen werden, sondern auch „neue“ Mehrwortverbindungen wie toter Hund oder harter Hund. Der Einblick in die Gebrauchsdomänen solcher Verbindungen kommt nicht nur der lexikalischen Semantik im engeren Sinne zugute, sondern auch einem umfassenderen pragmatischen „Wissen über Wörter“. Wie der von Kathrin Steyer bewegt sich auch der Beitrag von Dieter Herberg im Rahmen der Arbeit an dem lexikalischen Informationssystem „Wissen über Wörter“. Herberg präsentiert die Kriterien der Stichwortauswahl für das Teilprojekt „Neologismen der Neunzigerjahre“. Für die Selektion von 800 aufzunehmenden Stichwörtern aus einer zunächst ermittelten Gesamtwortliste von 6000 Einträgen sind in erster Linie die Kriterien ‘Integration in den deutschen Sprachgebrauch’, ‘Aufkommen in den Neunzigerjahren’ und ‘Zugehörigkeit zur Allgemeinsprache’ verantwortlich. Diese begünstigen z.B. Anchorman, abspacen und Allzeittief, lassen aber Account, Analyst oder Awareness nicht passieren. (2) Sprachvergleich, Sprachkontakt, Sprachpolitik Dieser Teil des Bandes enthält Beiträge zum Sprach- und Kulturkontakt unter Beteiligung des Deutschen und zur Entwicklung und politischen Gestaltung eines europäischen Sprachraums. Behandelt werden unterschiedli- XVI Ulrike Haß-Zumkehr / Werner Kallmeyer / Gisela Zifonun che Aspekte dieser komplexen Thematik wie sprach- und kulturvergleichende Untersuchungen der Textgestaltung, die Bildung einer internationalen, auf das politische Zusammenwachsen Europas bezogenen Phraseologie; die Rolle des Deutschen im Kontext der europäischen Sprachenpolitik; weiter Fremdsprachenlernen und Fremdsprachenpolitik. Nationale Sprachpolitik, die bei der Behandlung des europäischen Sprachraumes fortlaufend Thema ist, wird auch anhand eines Vergleichs von Deutschland und der Türkei aufgegriffen. Die meisten Beiträge dieses Teil zeigen eine Orientierung auf Europa als Bezugsrahmen für die Verständigungssicherung und das Lernen voneinander. Marja-Leena Piitulainen und Liisa Tiittula konzentrieren sich in ihrem Beitrag zum Textsortenvergleich auf die Textstrukturierung, insbesondere die Absatzstruktur. Sie plädieren für einen dezidiert vorsichtigen und reflektierten Umgang mit dem immer durch die eigene Perspektive beeinflussten interkulturellen Vergleich. Untersuchungsgegenstand sind die Untergliederung von Texten in Absätze und der Zusammenhang von Absatzstruktur und anderen Eigenschaften der Textstruktur wie Kohäsion (Konnektoren, Metadiskurs, Deixisformen), thematische Makrostruktur und Handlungsstruktur. In einer Paralleltextanalyse von Zeitungs- und Zeitschriftentexten wird die Ausgangsbeobachtung ausdifferenziert, dass finnische Texte in mehr und damit kürzere Absätze untergliedert werden als deutsche. Der zweite kontrastive Beitrag zur Textanalyse untersucht kontrastiv-pragmatisch Nacherzählungen einer Bildgeschichte im Vergleich von Japanisch, Deutsch und Englisch. Shigeru Yoshijima analysiert die Erzählperspektive, wie sie durch Themen- und Subjektwahl sowie durch die Wahl von Aktiv oder Passiv sowie Intransitiv bzw. Transitiv deutlich wird. Die Erzählungen wurden in Gruppen von Studenten erhoben (japanische Deutschstudenten und deutsche Japanischstudenten; analog dazu Deutsch-Englisch und Englisch-Deutsch; als Vergleich Italienisch-Deutsch und Japanisch-Englisch). Gertrud Greciano betrachtet Europa-Phraseologie im Sinne einer „Phraseologie für Europa“, die sich im Kontext der Europa-Terminologie und als Bestandteil des Europa-Diskurses entfaltet. Die Berühungszone zwischen Gemein- und Fachsprache erscheint als ein besonders wichtiges und geeignetes Feld für das europäische Sprachmanagement zur Verbesserung der Einleitung XVII gemeinsamen internationalen Kooperation. Deutsch-französisch vergleichend werden Beispiele aus der Fülle der Europa-Textsorten behandelt. Phraseme als Bildbegriffe haben eine Schlüsselrolle für die Bildung einer länderübergreifenden Europa-Phraseologie, etwa unter einem Dach in Europa unter einem Dach, dem im Französischen an sich keine idiomatische Wendung entspricht, das aber in der Wiedergabe mit sous un seul toit eine Tendenz zur Figurierung zeigt. Wie Michael Clyne betont, münden die Anforderungen der interkulturellen Kommunikation in Europa zwangsläufig in eine sprachpolitische Forderung nach Dreisprachigkeit. Voraussichtlich wird es sich in vielen Gegenden Europas um eine Dreisprachigkeit mit Englisch zusätzlich zu einer nationalen Sprache sowie einer regionalen lingua franca oder einer Minderheitensprache handeln. Die von Michael Clyne vorgestellten empirischen Untersuchungen von Sprachkontakterscheinungen bei Dreisprachigen konzentrieren sich auf drei Gruppen: niederländisch-deutsch-englische Dreisprachige in Australien, eine niederländisch-deutsch-englische Kontrollgruppe in den Niederlanden und ungarisch-deutsch-englische Dreisprachige in Australien. Die Sprachmaterialien aus den drei Gruppen werden im Hinblick darauf untersucht, wie die Sprecher die drei Sprachen verbinden und welche Rolle das Deutsche bei den Erscheinungen von Sprachveränderung, Sprachwechsel und Sprachkonvergenz spielt. Mit einer der Mehrsprachigkeitssituationen rund um den geschlossenen deutschen Sprachraum beschäftigt sich Csaba Földes in seiner Studie zum Deutschen als Minderheitensprache in Ungarn. Am Beispiel der donauschwäbischen Stadt Hajosch werden die Eigenschaften des Sprachgebrauchs in der ungarischen Minderheitensituation untersucht. Sichtbar werden vielfältige Sprachmischungserscheinungen (Transferenz, Kode-Umschaltungen, zwischensprachliche Doppelung), die belegen, wie eigenständig der Sprachgebrauch in der Minderheitensituation gegenüber dem im geschlossenen deutschen Sprachgebiet ist. Siegfried Grosse beschreibt die aktuellen sprachpolitischen und -kulturellen Aktivitäten im Dreiländereck Deutschlands, Tschechiens und Polens, das seit 1991 als Euroregion Neiße institutionalisiert ist. Über diese Region ist noch weit weniger bekannt als über vergleichbare Euroregionen an der xvm Ulrike Haß-Zumkehr / Werner Kallmeyer / Gisela Zifonun westlichen Grenze Deutschlands. In der Euroregion Neiße stehen ca. 1,7 Millionen Einwohnern fünf Sprachen - Deutsch, Sorbisch, Tschechisch, Polnisch und Englisch (als lingua franca) gegenüber. Konrad Ehlich formuliert ein nachdrückliches Plädoyer für den Erhalt der europäischen Mehrsprachigkeit, gestützt auf die Erfahrungen der sprachlichen und politischen Entwicklung in Europa. Die beiden wichtigsten Argumente für die Gegenwehr gegen eine oberflächlich ökonomisch erscheinende - Tendenz zur Dominanz des Englischen als übergreifender Verkehrssprache in Europa sind zum einen die europäischen Hochsprachen als Wissenschaftssprachen, welche Denktraditionen vermitteln, und zum anderen die Gefahr, dass große Bevölkerungskreise, die keinen selbstverständlichen Zugang zur Sprache der politisch-ökonomischen Entscheidungsebene mehr haben, von den politischen Entscheidungsprozessen und der unmittelbaren Teilhabe an politischer Arbeit abgekoppelt werden, mit allen daraus resultierenden Folgeproblemen. Die sprachpolitische Entwicklung in der Türkei orientiert sich, wie Vural Ülkü in seinem Beitrag zeigt, einerseits am Vorbild der deutschen Einrichtungen der Sprachpflege mit der Gründung der „Türkischen Sprachgesellschaft“ nach dem Vorbild des „Allgemeinen deutschen Sprachvereins“, und andererseits am französischen Zentralismus und der damit zusammenhängenden Rolle der Sprache als Symbol der staatlichen Einheit. Diese zentralistische und einheitssprachliche Sicht bestimmt auch das Verhältnis zu anderen, auf dem Gebiet der Türkei vertretenen Sprachen wie dem Kurdischen. Die „Türkische Sprachgesellschaft“ führte in den 30er Jahren eine große Sprachreinigungswelle mit dem Ziel einer rein türkischen Sprache durch. Um die bis dahin gebräuchlichen arabischen Anteile zu ersetzen, wurden Anleihen bei den Turksprachen und beim Alttürkischen gemacht und auf dieser Grundlage türkische Neologismen geschaffen. Heute sind Türkisierungsanstrengungen sozialstilistisch markiert: puristische Neologismen gelten als „progressiv“ und werden von Konservativen abgelehnt. In seinem programmatischen Entwurf einer Fremdsprachenpolitik im Kontext und als Teil einer allgemeinen Sprachenpolitik insistiert Franciszek Grucza darauf, wie wichtig eine wissenschaftliche Rekonstruktion praktischer Sprachenpolitik ist. Exemplifiziert wird diese Anforderung anhand des Einleitung XIX ethischen Gebots eines Rechts auf die eigene Sprache und anhand der Strategien der eher demokratischen oder autoritären Umsetzung. Die Anforderungen einer bewussten Wahrnehmung und Reflexion der Vorstellungen von Fremdsprache und Muttersprache werden am Beispiel von Deutsch in Polen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert verdeutlicht. Abschließend entwirft Franciszek Grucza einen Katalog von Fragen zu einer holistischen, alle intervenierenden ökonomischen, sozialen und politischen Faktoren berücksichtigenden Fremdsprachenpolitik. Michael Townson beschäftigt sich aus der Sicht des Auslandsgermanisten mit dem Arbeitsgebiet „Deutsch im europäischen bzw. internationalen Kontext“. Seine Aufmerksamkeit gilt den Voraussetzungen und Möglichkeiten für den Erhalt des Deutschen als Kommunikationsmedium im internationalen Austausch. Inwieweit diese Rolle des Deutschen noch anerkannt und akzeptiert wird, hängt vom Vorhandensein einer kritischen Masse von Deutschsprachigen außerhalb des deutschen Sprachraums ab. Michael Townson kritisiert die mangelnde Bereitschaft ausländischer Partner, deutsch zu lernen und insbesondere die bequeme, letztlich zu kultureller Blindheit führende Sicht der anglophonen Europäer. Der deutschen Seite wiederum wird ein Integrationsmodell empfohlen, das auch Fremdsprachlern als Neuankömmlingen einen kulturellen Platz einräumt. Die daraus erwachsenden Anforderungen an die Einheimischen lassen sich auf die Formel der „interkulturellen Kompetenz der Muttersprachler“ bringen. (3) Räume, Stile, Strategien Untersuchungen zum Sprachgebrauch sind meist mehr oder weniger exemplarisch, d.h., sie verbinden mit der Analyse einzelner Sprachausschnitte durchaus den Anspruch, etwas allgemein Gültigeres und über den jeweiligen Ausschnitt Hinausgehendes festzuhalten. Da in solchen Untersuchungen Reihenfolge und Status der sprachlichen Ebenen nicht von vornherein feststehen und die Fokussierungen wechseln, kommt es oft auch zu überraschenden Aspekten und fruchtbaren Überschreitungen. Die Stadt als territorial begrenzter, aber sozial umso komplexerer Sprachraum steht im Zentrum der relativ jungen Stadtsprachenforschung. Heinrich XX Ulrike Haß-Zumkehr / Werner Kallmeyer / Gisela Zifonun Löffler resümiert die Erforschung der Stadtsprachen Basels und Mannheims und verbindet damit die wissenschaftsgeschichtliche Einordnung eines für das IDS zentralen Forschungsfeldes in der Ära Stickel. Verlagerung und Ausweitung des linguistischen Gegenstands von einer Spielart der Mundartenforschung hin zur ethnografischen „Kommunikografie“ hängt auch von institutioneilen Gegebenheiten ab. Territoriale und soziale Räume konstituieren Kommunikationsformen und typische Kommunikationsmuster, die auch als Stile beschreibbar sind. Mit den Kommunikationsformen innerhalb eines Unternehmens beschäftigen sich Reinhard Fiehler und Reinhold Schmitt und zeigen dabei die Anwendungsmöglichkeiten der linguistischen Analyse eines Kommunikationstyps. Falsch verstandene Kommunikationstrainings reduzieren den Kunden leicht auf ein mit Kommunikationstechniken zu steuerndes Objekt. Eine der Komplexität der Kommunikation gerecht werdende Analyse kommt auch dem Untemehmenserfolg zugute. Kunden als Interaktionspartner zu behandeln ist mehr als eine ‘Stilfrage’. Werner Kallmeyer und Thomas Spranz-Fogasy beschäftigen sich aus gesprächsrhetorischer Perspektive mit einem der Verfahren, die für die Etablierung von Führung im Gespräch wichtig sind: in die laufende Interaktion bzw. in eine laufende Äußerung eingreifen und in grundsätzlicher und entsprechend aufwändiger Weise die aus der Sicht des Sprechers erforderlichen Voraussetzungen darstellen. Verfahren dieser Art erscheinen in vielen Varianten, mal stärker Dominanz beanspruchend, mal eher unterstützend. Im Regelfall geht es um die Vermittlung einer den aktuellen Anlass überschreitenden Perspektive. Dass Strategien des Redens über das Reden kein exklusives Thema der Sprachwissenschaft sind, nimmt Bruno Strecker zum Anlass, am Beispiel einer Talkshow zu zeigen, wie komplex das Kommunikationsmanagement ist, das Sprecher mit Wörtern wie schon, ja, immerhin usw. leisten. Die Bedeutungsparaphrasen für solche redesteuemden Partikeln gehören zu den schwierigsten Aufgaben der Linguistik. Aber wie der Beitrag zeigt, ist „die Sache soweit gelungen“. Einleitung XXI Stile konstituieren mitunter eigene Texträume. Ludwig M. Eichinger wendet sich der semantisch-literarischen Funktion komplexer Adjektivbildungen zu, die Michael Politycki in seinem 1997 erschienenen „Weiberroman“ als Stilmittel einsetzt. Hier enttäuscht literarische Kreativität Erwartungen, die alltags- und standardsprachlich gelten, indem mit Lexemen zunächst Schemata aufgerufen und dann durch Wortbildungstechniken wieder zerstört werden. Die literarische Funktion solcher Brechungen besteht darin, einen Stil zu schaffen und intertextuelle Verweise sowie Verweise auf den Wissenshintergrund der Leser herzustellen. Mit den Entgrenzungen des Raums, den Sprache und insbesondere Literatur dort schaffen, wo die Existenz selbst an ihre Grenzen stößt, befasst sich Marisa Siguan. An Texten von Jorge Semprün, Primo Levi, Jean Amery und anderen geht sie der Frage nach, wie die Konfrontation mit Lagerhaft, Verrohung und Tod durch Rückgriff auf die literarische Tradition zur Konstitution von Individualität, Originalität und Intimität führt, aber auch: wo die Grenzen einer solchen Instrumentalisierung von Literatur zu Überlebenszwecken liegen. Wenn Linguisten von Strategie reden, ist nicht zwingend der bewusste, zielgerichtete Einsatz sprachlicher Mittel gemeint; Strategie ist eine fachlexikalische Metapher, um Ziele sprachlichen Handelns explizit machen zu können. Anders verhält es sich beim Gegenstand politischen Sprachgebrauchs, wo politische Ziele sich mehr oder weniger direkt im Einsatz sprachlicher Mittel niederschlagen. Einen historischen Fall von politischem Handeln im Zusammenhang mit Sprachhandeln behandelt Hartmut Schmidt. Er zeigt anhand dreier unpublizierter Texte aus der Feder eines herzoglichen Landschreibers im Herzogtum Pfalz-Zweibrücken vom Ende des 18. Jahrhunderts, wie politische Sprache ihre Wirkung auf der Ebene der Bezeichnungswahl für Territorien, Organisationsformen und spezifischen Kollokationen hat und dass diese Strategien offenbar relativ zeitunabhängig sind. Mit jüngsten Wandlungen der Funktion von Schlagwörtem in der politischen Kommunikation befasst sich Rainer Wimmer. Die inzwischen gut überschaubare ‘Karriere’ des Ausdrucks Leitkultur eignet sich gut, um daran zu zeigen, wie sich die Strategie des Begriffe-Besetzens unter den Bedingungen der Mediendemokratie mehr und mehr den Regeln der kommerziellen Pro- XXII Ulrike Haß-Zumkehr / Werner Kallmeyer / Gisela Zifonun duktwerbung anpasst. In der Folge können Schlagwörter zu Fallen für Politiker werden, insofern als sie mangels inhaltlicher Fixierung bei potenziellen Wählerinnen und Wählern zu viele divergierende Assoziationen hervorrufen und somit als Fahnenwort unbrauchbar werden. Sprachkritik ist eine linguistische Subdisziplin, die Verfahren bereit stellt, manipulativen Gebrauch sprachlicher Mittel zu erkennen. Diesem Ziel ist auch der Beitrag von Norbert R. Wolf verpflichtet, der sich Äußerungen des österreichischen Politikers Jörg Haider zum Exempel für den Sprachgebrauch eines Populisten gewählt hat. Peter Bassola Adjektive mit passivischen Infinitivkonstruktionen und konjunktional eingeleitete passivische Infinitivkonstruktionen in einem historischen Korpus 0. Einleitende Bemerkungen Der vorliegende Beitrag untersucht ein Phänomen der deutschen Sprache, das eine Innenperspektive verlangt. Der Verfasser des Beitrags mit ungarischer Muttersprache, in der so gut wie gar kein Passiv vorhanden ist, betrachtet die deutsche Sprache von einer Außenperspektive her. Diese Doppelsicht der Betrachtung kann den Vorteil haben, dass sich die Fragestellung von der Außensicht herleitet, die Lösung jedoch durch die Innensicht ermöglicht wird. Der Verfasser des vorliegenden Beitrags hat dem Jubilar viel zu verdanken: als Gast des IDS konnte er zu seiner wissenschaftlichen Forschung alle Einrichtungen des Instituts - Bibliothek, Computer, Textkorpus, Räumlichkeiten u.a. in Anspruch nehmen. Sehr hilfsreich waren für ihn die fachlichen Gespräche mit dem Jubilar, die ihm weitere Anstöße für seine Forschung gegeben haben. 1. Einführung Passivischen Infinitivkonstruktionen (im Weiteren: IKPass) wurde in der linguistischen Forschung bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt. In meinem Aufsatz (Bassola 1998) habe ich die Beziehung zwischen dem Erweiterungsverb (im Weiteren: EV) und der von ihm abhängigen IKPass in der deutschen Gegenwartssprache untersucht und einen Vorschlag für eine Typologie der Kompatibilität unterbreitet. Diese Analyse wurde dann auf ein Ich danke dem DAAD und dem IDS Mannheim für die zweimonatige Forschungsmöglichkeit im IDS im Jahre 1998 herzlich. 2 Peter Bassola historisches Korpus ausgeweitet. Auf dieser Basis habe ich bisher die IKPass untersucht, die von EV (Bassola 2001b) und Substantiven (Bassola 2001a) abhängen. Im vorliegenden Aufsatz möchte ich zwei weitere IKPass-Typen analysieren, nämlich diejenigen, die von Adjektiven abhängen sowie solche, die konjunktional (um, ohne, [an]statt) eingeleitet sind. Das Korpus, das unterschiedliche Textsorten enthält, ist das sog. „Historische Korpus“ des IDS und enthält etwa 3,4 Mio laufende Wortformen. Im gesamten Korpus finden sich 244 IKPass, die nach ihren Regentien in vier Gruppen eingeteilt werden können: 1. Verben (insges.: 119), 2. Substantive (insges.: 51), 3. Adjektive (zusammen mit dem Komparativ insges.: 29) und 4. Gliedsatzkürzung mit um, ohne und statt (insges.: 44). 2. Adjektive mit IKPass (1) Es wird mir daher nicht fremd sein von andern in manchen Stükken eines bessern belehrt zu werden, auch wird man mich gelehrig finden, solchen Unterricht anzunehmen. (Kant, 1905) 1 Im Vergleich zu den Substantiven (51 Belege), besonders aber zu den Verben (119 Belege) kommen in unserem Korpus relativ wenig Adjektive vor, die eine IKPass regieren insgesamt 29 Belege. Sie können in zwei Gruppen gegliedert werden: das Adjektiv regiert streng genommen nur in 16 Fällen die IKPass wie in (1). Zur anderen Gruppe gehören durch Intensitätspartikeln 2 erweiterte Adjektive und Adjektive im Komparativ, bei denen aber nicht das Adjektiv selbst, sondern die Intensitätspartikel oder das Komparativmorphem als Regens betrachtet werden kann: 2 (2) Dieses können sie, in ihrem jetzigen Alter, noch sehr wohl vertragen, denn sie sind noch immer zu zart dazu, bey ältem Bäumen ausgewintert zu werden. (Dießkau, 1794) 1 In Klammern stehen Name des Autors und die Jahreszahl. Die Schriften Immanuel Kants mit dem Erscheinungsjahr 1905 stammen aus dem 18. Jh. 2 Zur Bezeichnung s. CDS S. 1426. 1 Vgl. Anhang 1 und 2. Passivische Infinitivkonstruktionen in einem historischen Korpus 3 2.1 Allein stehende Adjektive Es finden sich nur zwei Adjektive (möglich/ unmöglich, würdig), die je dreimal IKPass regieren, alle anderen (12 Adjektive) mit IKPass-Satelliten erscheinen je einmal. 4 Die Adjektive kommen in der überwiegenden Mehrheit der Fälle als Prädikativkomplemente - K prd (vgl. GDS S. 1378ff.) vor. Bei sieben Belegen handelt es sich um Kopulakonstruktionen mit Adjektiven, wobei die IKPass- Satelliten in Subjektfunktion stehen. Die GDS bezeichnet die Rolle des Adjektivs in solchen Konstruktionen als „indirekte Subjektselektion“ (a.a.O., S. 1378): (3) Manch schüchterne Frage an das Schicksal, das heißt in diesen Fällen an die Mutter und den Spiegel, wurde gethan, ob es denn wohl möglich sei, da ausgeschlossen zu werden, wo die Erwählten sich in schönen Stellungen und noch schöneren Kostümen vor der ganzen Gesellschaft zeigen werden. (Hackländer, 1885) ln vier Belegen findet sich kein Orientierungsterm (3), in drei Belegen wird das Subjekt der IK im Dativ angegeben (vgl. GDS, S. 1380): (4) Es wird mir daher nicht fremd sein von andern in manchen Stükken eines bessern belehrt zu werden, auch wird man mich gelehrig finden, solchen Unterricht anzunehmen. (Kant, 1905) Adjektive als Prädikativkomplemente von Kopulaverben drücken „(latente) Sachverhalte unter verschiedenen Gesichtspunkten, meist unter Rekurs auf Redehintergründe, etwa circumstantieller, normativer oder epistemischer Art“ aus (GDS, S. 1378). Adjektive (und auch Verben) mit Objekt als Orientierungsterm, die solche IK regieren, bezeichnen nach Eisenberg physischpsychische Zustände (1999, S. 346). Ein Adjektiv dieser semantischen Gruppe kommt mit dem kopulaverbähnlichen Verb erscheinen vor: (5) Dem Arzte erschien es natürlich sonderbar, hier von der glänzend gekleideten, aber weinenden Tänzerin angehalten zu wer- 4 Vgl. Häufigkeitsliste im Anhang 1. 4 Peter Bassola den, doch da er ihr ein paar liebevolle Worte sagte, so war Clara bald im Stande, ihm ihr Leid mitzutheilen. (Hackländer, 1885) Der andere Typ der Kopulaverb-Adjektiv-Konstruktion ist der, bei dem das Subjekt selbst der Orientierungsterm der IKPass ist: (6) Dieser Beweis ist nicht allein möglich, sondern auch auf alle Weise würdig durch vereinigte Bemühungen zur gehörigen Vollkommenheit gebracht zu werden. (Kant, 1905) Zweimal ist das Adjektiv als vorangestellte Apposition des Subjekts zu betrachten. Der Obersatz besteht aus zwei Teilen und der erste Teil mit dem Adjektiv als Regens ist elliptisch. Die IKPass steht hier in der Funktion eines K pr p aber bei (8) schwankt die Funktion zwischen Kp rp und Supplement, nämlich Kausalsatz. (7) Weit entfernt, durch diese Entdeckung beunruhiget zu werden, antwortete er, es komme ihm nun selbst so vor, und wünsche sich nur einen leichten Tod. (Althof, 1802) (8) Aergerlich, in seinem schönsten Traum gestört zu werden, ließ er einen unwilligen Ton hören, bewegte sich aber nicht, weil er, noch halb träumend, fürchtete, den süßen Traum ganz zu verscheuchen. (Ludwig, 1877) Die adjektivische Kopulakonstruktion alterniert auch in unserem Korpus mit Verben mit Akkusativkomplement (vgl. GDS, S. 1381), bei denen das Adjektiv ebenfalls ein K PRD ist: (9) Gegen das Ende des Jahres 1761 wurde Herr Schwedenberg zu einer Fürstin gerufen, deren großer Verstand und Einsicht es beinahe unmöglich machen sollte in dergleichen Fällen hintergangen zu werden. (Kant, 1905) In (9) liegt keine Subjektselektion vor, das Patiens der IK wird durch kontextuelle und wissensbezogene Fixierung erschlossen (vgl. GDS, S. 1431). (10) Dramatiker 13/ 12/ 04 - Referate über den gestrigen Abd., was ich las (Sternberg in der N„ Bahr im Tgbl., Salten Zeit etc.) übermäßig günstig; habe wieder einmal die Empfindung, ohne dass ichs Passivische Infinitivkonstruktionen in einem historischen Korpus 5 nöthig hätte, in Schulden gestürzt worden zu sein („bedeutendster Dramatiker Oesterreichs“ etc. was ja am Ende gar wahr ist, aber nicht viel bedeutet). (Wiener Daten, ohne Angabe des Datums) Der Belegtyp (9) und (10) wird in der GDS als „idiomatisierte Verbindung“ bezeichnet (S. 1381). In den obigen Beispielen ist „die Wertigkeit gegenüber der Kopulakonstruktion um eins erhöht.“ (a.a.O.) Beim Adjektiv überdrüssig, das in unserem Korpus ebenfalls in der Funktion eines Krrd erscheint, ist nicht zu entscheiden, ob sein Satellit nämlich das Korrelat es und somit auch die IK ein Kg e n oder ein K akk ist: s (11) Braunschweig und Nassau waren es überdrüssig, von der gegenwärtigen Politik Preußens benutzt zu werden, dieser neueren Politik, welche nur die Feinde belohnt und die Freunde bestraft. (Dresdner Conferenzen, 1851) Im Althochdeutschen ist der Genitiv des Personalpronomens im Neutrum es, is (vgl. Braune, 1911, §283 c), im Mittelhochdeutschen erscheint schon sin neben es (vgl. Paul/ Gierach, 1929, S. 147 Anm. 4), aber es lebt am Anfang der frühneuhochdeutschen Periode im md. Raum weiter (vgl. Ebert/ Reichmann/ Solms/ Wegera, 1993, § M63). Eine gesonderte Gruppe bilden die Adjektive als K PRD , zu denen die IKPass valenzbedingte Ergänzungen sind (vgl. GDS, S. 1380). In dieser Gruppe liegt Subjektorientierung vor: (12) Jeder Mensch ist vor dem Gesetze „gejagt zu werden“, gleich. (Bonner Wochenblatt, 1850) (12) ist der einzige Beleg in unserem historischen Korpus, wo die IKPass dem adjektivischen Regens vorangeht. Einmal kommt es vor, dass die IKPass von der durch Adverb erweiterten Adjektivphrase abhängt: 5 Für diesen Hinweis danke ich Herrn Vilmos Ägel. 6 Peter Bassola (13) Es ist absolut grotesk. (Sie sagte gestern zu K.: gleich bei ihrer Ankunft habe sie gemerkt es sei eine Veränderung mit mir vorgegangen ... „Oh ich frage nicht.“ - „Ich weiß wie unangenehm es ist gefragt zu werden -“) (Wiener Daten, o. Angabe des Datums) Die von dem Adjektiv bereit abhängige IKPass wird von der Konjunktion um eingeleitet: (14) Der Mensch war für alle Klimaten und für jede Beschaffenheit des Bodens bestimmt; folglich mußten in ihm mancherlei Keime und natürliche Anlagen bereit liegen, um gelegentlich entweder ausgewickelt oder zurückgehalten zu werden, damit er seinem Platze in der Welt angemessen würde und in dem Fortgange der Zeugungen demselben gleichsam angeboren und dafür gemacht zu sein schiene. (Kant, 1905) Zusammenfassend können wir die allein stehenden Adjektive mit einer IKPass in unserem Korpus folgendermaßen gruppieren: 1. Adjektive in einer Kopulaverbkonstruktion; 1.1 ohne Subjektselektion (es ist möglich/ wie unangenehm); 1.2 mit Subjektselektion im Dativ (es ist imdm möglich/ würdig/ fremd); 1.3 Altemativverb zum Kopulaverb wie 1.2) (es erscheint imdm sonderbar); 1.4 zweistellige Prädikatsausdrücke mit adjektivischem Kern (idm/ etw ist geeignet, gegenwärtig, gleich, bereit, ärgerlich, entfernt, würdig); 2. idiomatisierte Verbindung mit ähnlicher Bedeutung (wie 1.) (jmd hat es nöthig, jmd ist es überdrüssig, es tut | irgend] wie). In 1. d.h. auch in den ersten drei Subgruppen ist die IKPass das Subjekt, in 2. das K akk des Obersatzes und in 1.4 ist sie valenzbedingtes Attribut zum Adjektiv. Das Adjektiv kann auch in Form einer durch Adverb erweiterten Phrase erscheinen {wie unangenehm). In 1.2 und 1.3 ist der Orientierungsterm ein Passivische Infinitivkonstruktionen in einem historischen Korpus 1 Substantiv oder Pronomen im Dativ, in 1.4 und 2. das Subjekt. Topologisch findet sich die IKPass bis auf einen Fall nur in Nachstellung. 2.2 Adjektive mit Intensitätspartikeln und Adjektive im Komparativ Die andere Gruppe der adjektivischen Regentien mit IKPass machen Konstruktionen aus, bei denen das Adjektiv durch eine Intensitätspartikel erweitert ist; vgl. oben Beispiel (2). Dieser Typ kommt in unserem Korpus insgesamt neunmal vor. In diesen Fällen wird die IKPass, die meistens, aber nicht immer (z.B. in (2)), durch um eingeleitet wird, von der erweiterten Adjektiv- / Adverbphrase regiert (GDS, S. 1427): (15) Sie war allzu jung, um noch begraben zu werden, darum erwählt' sie sich aus diesen beiden Bösen das vor ihren Augen geringst scheinende und übergab sich des andern Tages in ihres Vaters Willen. (Indianerin, 1701) Neben zu findet sich noch genug als Intensitätspartikel zum Adjektiv: (16) Der drei und zwanzigste Artikel ist merkwürdig genug, um ganz hergesetzt zu werden: (Schlabrendorf, 1804) Zu dieser Gruppe gehört auch das allein stehende genug, dessen IKPass ebenfalls durch um eingeleitet wird (vgl. auch GDS, S. 1427): (17) Denn da es bei einer solchen Kritik doch nur um die Anständigkeit zu thun ist, so halte ich mich gnugsam vor dem Spott gesichert, dadurch daß ich mit dieser Thorheit, wenn man sie so nennen will, mich gleichwohl in recht guter und zahlreicher Gesellschaft befinde, welches schon gnug ist, wie Fontenelle glaubt, um wenigstens nicht für unklug gehalten zu werden. (Kant, 1905) Obiger Satz zeigt auch topologisch gesehen ein interessantes Bild: der Orientierungterm befindet sich in dem Satz vor dem Obersatz der IKPass, und 8 Peter Bassola der Satz mit dem Orientierungsterm sowie der Obersatz werden durch je einen Gliedsatz unterbrochen: 6 *Satz m. Or.term Gliedsatz *Satz m. Or.term Obersatz zu IKPass Gliedsatz IKPass J Die IKPass, die von Adjektiven im Komparativ abhängen, werden durch die Konjunktion als eingeleitet. Eigentlich kann in diesen Fällen das Komparativmorphem als Regens betrachtet werden: (18) Der arme Mensch! er that mir von Herzen leid; wie konfus es auch in seinem Kopfe aussah, sein Herz war gut und treu; ich hätte ihn gern gehalten und doch war ich froh, daß er ging; er verdiente ein besseres Schicksal, als von einer Kokette genasführt zu werden, und das würde doch wohl schließlich sein Los gewesen sein. (Spielhagen, 1868) (18) ist einer der wenigen Belege, in dem die IKPass von einem attributiven Adjektiv abhängt. Im nächsten Beleg mit Adjektiv im Komparativ ist das Adjektiv ein K akk : (19) Viele hofften nichts weniger, als in den Besitz ihrer Güter und alten Ämter wieder eingesetzt zu werden, ... (Schlabrendorf, 1804) In (18) und (19) können von den Verben des Obersatzes oft IKPass abhängen (vgl. Bassola 2001b); in (18) kann außerdem das Substantiv ein IKPass regieren (vgl. Bassola 2001a). Dass in den beiden obigen Sätzen die Komparativmorpheme primäres Regens sind, zeigt die einleitende Konjunktion als. Man kann wahrscheinlich auch sagen, dass die IKPass in (19) vom Prädikatsverband und in (18) von der Nominalphrase regiert wird. In (18) und (19) liegt Subjektorientierung vor. Adnominales Regens liegt auch in (20) vor; seine durch um eingeleitete IK- Pass ist als Kp r p einzustufen, dies gilt auch für (21), wo aber das Regens in 6 Der Pfeil geht vom übergeordneten zum untergeordneten Satz. Passivische Infinitivkonstruktionen in einem historischen Korpus 9 adverbialer Funktion steht. In beiden Fällen drücken die Regenden das Maß aus, das in der IKPass angegeben wird: (20) Die fünfzehnhundert Bände starke Bibliothek werden [sic! ] die geschichtlichen und mathematischen, höchst bänderreichen Werke der Jesuiten anfüllen, und so wird die Jugend des neuangehenden Jahrhunderts zu ihrem künftigen Unterricht und ihrer vollkommnen Aufklärung alle Mittel in Händen haben, um eben so aufgeklärt zu werden, als ihr Consul, dem es in seiner Jugend- Militärschule auch nicht besser geboten worden ist. (Schlabrendorf, 1804) (21) Dabei zeigte sich nun ein solcher unglaublicher Mangel an Menschen, die außer dem Gelehrtenstande und Kaufmannsstande auch nur hinlänglich rechnen und schreiben konnten, um einigermaßen zu jenen Geschäften angestellt zu werden; daß man sehr oft die anerkanntesten Spitzbuben und Gauner bei dem Commissariat und dem Rechnungswesen anstellen mußte, weil man bei ihnen doch die geringe Kenntniß und Übung fand, die den meisten rechtlichen Leuten aus den mittlern und niedern Ständen fehlte. (Schlabrendorf, 1804) In den Belegen (15) bis (21) liegt Subjektorientierung vor (vgl. zur Gegenwartssprache GDS S. 1426ff.). In (17) steht der Orientierungsterm das Subjekt in dem dem Obersatz übergeordneten Satz, der selbst noch durch einen Gliedsatz unterbrochen wird. 3. Satzverkürzungen mit Konjunktionen um, ohne, anstatt Diese IK sind Supplemente des Obersatzes (vgl. GDS S. 1430ff.). Dem Anhang 3 ist zu entnehmen, dass IKPass mit um am häufigsten (30-mal), mit ohne nur 12-mal Vorkommen. (22) Das Toleranzedikt war vor sechs Monaten fertig und wurde zurückgelegt, um für diese Zeit aufgespart zu werden. (Varnhagen, 1862) 10 Peter Bassola (23) Kaum ein hervorragender deutscher Literat konnte von einem Ausfluge nach Paris zurückkehren, ohne von allen Seiten gefragt zu werden, ob er Heine gesehen. (Karpeles, 1885) IKPass wird in unserem Korpus nur einmal durch statt eingeleitet; sie geht dabei dem Obersatz voran. Zwischen dieser vorangestellten IK und ihrem Obersatz steht noch ein Gliedsatz : (24) In England war sie nur provisorisch geduldet, wird aber schwerlich je wieder dort abkommen, und statt vermindert zu werden, wie es dann doch sein müßte, steigt sie von Jahr zu Jahr; (Arbeitgeber, 1870) Topologisch gesehen ist (24) die Ausnahme; eingeleitete IKPass kommen wie (22) und (23) meistens in Nachstellung vor. Vorstellung findet sich noch zweimal mit um. Dreimal wird die durch ohne eingeleitete IKPass vom Obersatz eingerahmt: (25) Stehen sie nun sechs^ achL zehn und mehreje Jahre, ohne einmal versetzt zu werden, in emem Topf, der für ihre Größe nicht selten viel zu klein ist, so ist es nicht möglich, daß sie auch nur die allergeringste Nahrung daraus genießen können, weil keine mehr darinnen ist. (Dießkau, 1794) Einmal schiebt sich noch ein Gliedsatz des Obersatzes vor die IKPass: (26) Einige_ führen _es_zum Herzen, woraus.es.in die Lunge gesprützt wird, um durch die im Athemholen geschöpfte Luft abgekühlt zu werden. (Basedow, 1764) Bei konjunktional eingeleiteten IKPass liegt überwiegend Subjektorientierung vor (vgl. (22), (23), (24) und (25)), dreimal ist aber diese Orientierung nur indirekt zu erkennen, da die IKPass von einer anderen IK abhängt. Zweimal ist der primäre Orientierungsterm im Obersatz ersten Ranges ein Substantiv/ Pronomen im Dativ und einmal im Akkusativ, der als sekundärer Orientierungsterm auch für die IKPass dient: (27) Keine Erfahrung lehrt mich einige Theile meiner Empfindung von mir für entfernt zu halten, mein untheilbares Ich in ein mikroskopisch kleines Plätzchen des Gehirnes zu j/ ersperren, um Passivische Infmitivkonstruktionen in einem historischen Korpus 11 von da aus den Hebezeug meiner Körpermaschine in Bewegung zu setzen, oder dadurch selbst getroffen zu werden. (Kant, 1905) Einmal gibt es keine Subjektselektion, sondern kontextuelle oder wissensbezogene Fixierung (vgl. CDS, S. 1431), und zwar durch doppelte Herleitung, erst vom Matrixsatz zur IK, dann von der IK zur wm-Konstruktion, wie in (27): (28) „Wir leben eingezogen und so halb und halb glücklich“, schreibt er an einen Freund im Oktober 1837, „diese Verbindung wird aber ein trübes Ende nehmen; es ist desshalb heilsam, dergleichen vorher zu_wi_ssen. um nicht vom dunklen Augenblick bezwungen zu werden.“ (Karpeles, 1885) Diese doppelte Herleitung der Orientierung kommt einmal auch bei der ohne-\K vor, wo im Matrixsatz eine Objektorientierung im Dativ erscheint und dieser Term das nicht genannte Subjekt in der IK das Subjekt der ohneAK selegiert: (29) Nachdem sich nun wieder Alles beruhigt hatte, war des Fragens kein Ende, wje es_de_n_n_ F_oujschen_ gelungen_s_ej, die Diebe zu entdecken, ohne von ihnen bemerkt zu werden, da sie doch, wie das mitgebrachte Buch bewies, den ganzen langen Weg durch die Spitzbuben zwei Mal gemacht haben mußte. (Aberglauben. In: Gartenlaube, 1861) Wenn bei umAK Subjektselektion vorliegt, ist Subjektorientierung am häufigsten. Auch in der Gegenwartssprache findet sich Objektorientierung seltener (vgl. GDS S. 1432ff.). Einmal ist die adverbiale umAK in unserem Korpus sogar subjektlos: (30) Ich war empört über ihre Gefühllosigkeit und überlegte zum ich weiß nicht wie vielten Male, ob ich nicht besser thäte, mich beizeiten von einem Geschöpfe loszusagen, dessen Wohlthäter nur die leidige Rolle des Mannes in der Fabel zu spielen schienen, der eine Schlange an seinem Busen hegte, um hinterher von der Undankbaren ins Herz gestochen zu werden. (Spielhagen, 1868) 12 Peter Bassola Würde in der IK "ins Herz fehlen, läge Subjektorientierung vor. So zeigt aber das Subjekt des Obersatzes dativus possessivus an: „Hinterher wird ihm ins Herz gestochen.“ Die Bedeutung der adverbialen IK ist bei ohne einheitlich: sie drücken das nicht Eintreten des passivischen Geschehnisses aus (vgl. Eisenberg 1999, S. 364). Die um-\K stehen überwiegend in finaler Bedeutung, (Eisenberg 1999, S. 364f.). Zweimal ist gerade das Gegenteil dessen gemeint, was in der wm-IK steht: (31) Ach, glauben Sie, lieber Freund: das Leben auf dem Lande wäre das Paradies auf Erden, wenn die fortwährende Berührung mit den Leuten nicht wäre, an die wir, wie ich es gethan habe, mit der größten liebe herantreten, um für unsere guten Absichten, für unsere Mühen und Sorgen schließlich verlacht, verspottet und verhöhnt, wenn nicht gar gehaßt zu werden. (Spielhagen, 1868) Eisenberg nennt über die finale Bedeutung der nw-IK hinaus drei weitere Bedeutungen, die teleologische, die faktisch-prospektive und die metakommunikative Bedeutung (1999, S. 365). In (30) handelt es sich um eine weitere Bedeutung, die vielleicht der faktisch-prospektiven Bedeutung nahe kommt, aber mit einem ironischen Inhalt, da in der nm-IK gerade das Gegenteil dessen angegeben ist, was zu wünschen ist. 4. Ergebnisse In unserem historischen Korpus kommt kein Adjektiv mit IKPass auffallend häufig vor. Sie erscheinen meistens nur ein einziges Mal, zwei finden sich je dreimal. Im Unterschied zu den Adjektiven gibt es je ein Erweiterungsverb, nämlich ‘verdienen’, und ein Substantiv, nämlich ‘Gefahr, die im selben Korpus mit einer besonders hohen Frequenz nämlich zu 30% aller Erweiterungsverben mit IKPass (Bassola 2001b) bzw. zu über 25% aller Substantive mit IKPass (Bassola 2001a) - Vorkommen. Unter den adverbialen IKPass sind die um-\K am häufigsten, relativ oft findet sich noch ohneAK und nur einmal stattAK. Passivische Infinitivkonstruktionen in einem historischen Korpus 13 In Anlehnung an die GDS (S. 2183) fasst die nachfolgende Tabelle die syntaktischen Verhältnisse der adjektivischen und der durch Konjunktion eingeleiteten IKPass zusammen: regierendes Element IK-einleit. Partikel Satzglied - IKPass Orientierungsterm im Obersatz Stellung der IKPass Adj. als Kprd mit Kopulaverb und Subjekt es keine K s , kein Or.term Objekt im Dat. Nachstellung Adj. als Kprd mit Kopulaverb + konkr. Subjekt davon 3-mal elliptisch (ohne Verb) als Apposition keine Kvrb Kn Subjekt ■ prp i Suppte? ) i (kausal) Nachstellung Voranstellung Adj. als Kprd mit kopulaverbähnlichem Verb + konkr. Subjekt keine um Ksub 'prp Subjekt Nach- 3 Stellung Adj. als Kprd + konkr. Subjekt mit Verb mit Kakk (=Korr.) keine Kakk kein Or.term Subjekt Nach- 2 Stellung Adj. als Kprd mit dem Verb tun und Subjekt es keine Kvrb kein Or.term Nach- 1 Stellung Intensitätspartikel zum Adjektiv mit Kopulaverb + Subjekt um keine Subjekt Nachstellung 14 Peter Bassola Adverb / Adjektiv mit Bed. des Maßes um VP Subjekt Nachstellung (davon 1-mal nicht unmittelbar) Komparativmorphem des Adjektivs (Adj. 1-mal Attribut, 1-mal Kakk) als 'vergl Subjekt Nachstellung Präd. des Obersatzes 30 um 30 Suppl. Subjekt Objekt (Dat) Objekt (Akk) kein Or.term 27 1 1 1 Nachstellung (davon 2-mal nicht unmittelbar) Voranstellung 28 Präd. des Obersatzes 13 ohne 13 Suppl. Subjekt Objekt (Dat) Präd. des Obersatzes zur Kontrolle: statt 75 75 Suppl. 1 75 Subjekt insges.: 12 1 75 Nach- 10 Stellung (davon 1-mal nicht unmittelbar) einge- 3 rahmt Voran- 1 Stellung (nicht unmittelbar) insges.: 75 Die Stellung der IKPass zeigt ein relativ einheitliches Bild: es findet sich überwiegend Nachstellung, Voranstellung kommt nur viermal vor und die IKPass ist dreimal in den Obersatz eingebettet. In vier Belegen folgt die IKPass nicht unmittelbar ihrem Obersatz, sondern erst nach einem dazwischen geschobenen Glied- oder Infinitivsatz. Passivische Infinitivkonstruktionen in einem historischen Korpus 15 In der Mehrzahl der Belege wird das Subjekt der IKPass selegiert, am häufigsten durch das Subjekt des Obersatzes, 6-mal durch ein Objekt (im Dativ oder im Akkusativ). In sechs Belegen gibt es keine Subjektselektion. Von Adjektiven aller Art und Intensitätspartikeln abhängige IKPass stehen bis auf einen Fall in der Funktion eines Komplements (Subjekt, Kp rp , K akk , Kvergi). Einmal kann die IKPass sowohl als Kp rp wie auch als Supplement (kausal) gedeutet werden. Die konjunktional eingeleiteten IKPass als Satzkürzungen stehen immer in der Funktion eines Supplements. Die Satzkürzungen werden durch um, ohne und statt eingeleitet, die adjektivischen IKPass durch um, und die vom Komparativmorphem abhängigen durch als. Was die Semantik des regierenden Adjektivs betrifft, kann man sagen, dass die Adjektive meistens einen Zustand charakterisieren, der von der SprecherVPatiensperspektive beurteilt wird (vgl. Bassola 2001b und 2001a). Dies trifft auch bei den IKPass zu, die von einer Intensitätspartikel oder einem Adjektiv mit Maßangabe regiert werden. Die zwei häufigsten Adjektive (un/ möglich und würdig) kommen auch in substantivierter Form als Regenden von IKPass vor (Bassola 2001b). 5. Symbole IK IKPass Kakk Kgen Krrd Kprp Kvergi KOMP Or.term Suppl. gestrichelte Unterstreichung gepunktete Unterstreichung doppelte Unterstreichung Infinitivkonstruktion passivische Infinitivkonstruktion Akkusativkomplement Genitivkomplement Prädikativkomplement Präpositivkomplement Vergleichskomplement Komparativ Orientierungsterm Supplement Obersatz Gliedsatz des Obersatzes Orientierungsterm 16 Peter Bassola 6. Literatur 6.1 Sekundärliteratur Bassola, Peter (1998): Erweiterungsverben mit passivischen Infmitivkonstruktionen im Deutschen. In: Sprachwissenschaft 23, 1, S. 33-84. Bassola, Peter (2001a): Substantive mit passivischen Infinitivkonstruktionen in einem historischen Korpus. In: Gaäl-Baröti, Märta/ Bassola, Peter (Hg.): Millionen Welten. Festschrift für Ärpäd Bernäth zum 60. Geburtstag. Budapest. S. 409-419. Bassola, Peter (2001b): Erweiterungsverben mit passivischen Infinitivkonstruktionen in einem historischen Korpus. Vorgetragen auf der IVG-Tagung in Wien im September 2000. Ersch. Braune, Wilhelm (1911): Althochdeutsche Grammatik. Halle a.d.S. (3. u. 4. Aufl.). Ebert, Robert Peter/ Reichmann, Oskar/ Solms, Hans-JoachimAVegera, Peter (1993): Frühneuhochdeutsche Grammatik. Tübingen. Eisenberg, Peter (1999): Grundriß der deutschen Grammatik. Bd. 2: Der Satz. StuttgartAVeimar. GDS: Zifonun, Gisela/ Hoffmann, Ludger/ Strecker, Bruno (1997): Grammatik der deutschen Sprache. (= Schriften des Instituts für deutsche Sprache 7.1, 7.2, 7.3). Berlin/ New York. Paul, Hermann/ Gierach, Erich (1929): Mittelhochdeutsche Grammatik. Halle a.d. S. (12. Aufl.) 6.2 Primärliteratur Aberglauben. In: Gartenlaube (1861). Althof, Lebensumstände Bürger's ((Dat. 1802), 1970). Arbeitgeber, 20.08.1870. Basedow, Method. Unterricht ((Orig. 1764), 1985). Bonner Wochenblatt, 07.04.1850. Dießkau, Gaertnerey (1794). Dresdner Conferencen (1851). Hackländer, Sklavenleben (1885). Passivische Infinitivkonstruktionen in einem historischen Korpus 17 Historisches Korpus 2: Wiener Daten (ohne Angabe des Jahres). Indianerin ((Reprint d. Ausg. v. 1701), 1991). Kant, Vorkritische Schriften II ((1. Aufl. 1905), 1969). Karpeles, Heine's Biographie (1885). Ludwig, Märchen ((o.J.), 1877). Schlabrendorf, Napoleon ((Erstv. (anonym) 1804), 1991). Spielhagen, Die Dorfkokotte (1868). Vamhagen, Tagebücher ((Erstv. 1862; geschr. 1847), 1972). 18 Peter Bassola 7. Anhangteil 7.1 Anhang 1: Adjektive mit passivischen Infinitivkonstruktionen 7 Häufigkeitsliste möglich, unmöglich insg.: 3-mal es ist möglich.... (allg. Subj: 1885*) es ist jmdm möglich,... (1878) etw macht es unmöglich, ... (1905) würdig insg.: 3-mal etw ist würdig, ... (1905) würdig (App) (1905) etw ist (nicht allein möglich, sondern auch ...) würdig, ... (1905) ärgerlich 1 -mal [es ist] [jmdm] ärgerlich, ... (1877) entfernt 1 -mal (jmd ist) entfernt, ... (1802) fremd 1 -mal es ist jmdm fremd, ... 2x (1905, 1905) geeignet 1 -mal etw/ jmd ist geeignet, ... (1873) gegenwärtig jmd ist gegenwärtig, ... (1885) 1-mal gleich 1-mal jmd ist (vor dem Gesetze) gleich, ... (1850) nötig 1 -mal jmd hat es nötig, ... (InfPassPerf) (o. Datum) überdrüssig 1-mal jmd ist es überdrüssig, ...(1851) sonderbar 1-mal es erscheint jmdm sonderbar, ... (1885) wie 1 -mal es tut (irgend)wie, IKPass (1846) wie Adj 1 -mal wie unangenehm es ist InfPass (o. Datum) bereit 1-mal etw liegt bereit, um IKPass (1905) 7 Korpus: Historisches Korpus im Großrechner des Instituts für Deutsche Sprache (IDS) Mannheim (Stand: 1998) 8 In Klammem stehen die Jahreszahlen der Entstehung bzw. der Veröffentlichung. Passivische Infinitivkonstruktionen in einem historischen Korpus 19 7.2 Anhang 2: Die IKPass hängt von der Intensitätspartikel oder vom Komparativmorphem ab. Häufigkeitsliste zu Adj, um insg.: 4-mal etw ist zu zart dazu, ... (1794) jmd ist zu jung, um ... (1701) etw ist zu hart, zu weich, um ... (1764) zu groß und zu tief .... um (1885) KOMP, als insg.: 2-mal (Viele hofften) nichts weniger, als ... (1804) ein besseres Schicksal verdienen als lnfPass( 1868) M\ genug, um insg.: 2-mal etw ist merkwürdig genug, um InfPass (1804) etw ist grob genug, um InfPass (1905) genug, um 1-mal etw ist genug, um InfPass (1905) alle + Subst, um 1 -mal alle Mittel in den Händen haben, um IKPass (1804) nur hinlänglich, um 1 -mal nur hinlänglich rechnen .. konnten, um IKPass (1804) 7.3 Anhang 3: Nebensatzkürzungen mit passivischen Infinitivkonstruktionen Häufigkeitsliste um ohne statt 30 13 1 Hans-Werner Eroms Kontrollverben und Korrelate 1. Syntaktische oder semantische Lösungen des Kontrollproblems 1.1 S ubj ekts- und Obj ektskontrolle Innerhalb der Infinitivkonstruktionen (IK) (vgl. grundsätzlich Hyvärinen 1989) bilden die Konstruktionen mit dreiwertigen Verben eine besondere Klasse, weil die IK auf den ersten Blick formal nicht erkennen lassen, ob die in ihr zum Ausdruck gebrachte zu realisierende Handlung vom Satzsubjekt oder von der zweiten Ergänzung gesteuert wird. Hier spricht man von „Orientierung“ (Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997, S. 1392) oder „Kontrolle“ (so in den zahlreichen älteren Arbeiten zu dieser Thematik, vgl. dazu Wegener 1989). Bei gleichen morphologischen Bedingungen lassen sich Minimalpaare der folgenden Art bilden: (1) Hartmut rät Erwin, Dr. Goebel mitzunehmen. (2) Hartmut verspricht Erwin, Dr. Goebel mitzunehmen. (la) Er rät es ihm. (2a) Er verspricht es ihm. (lb) Er rät ihm zur Mitnahme von Dr. Goebel. (2b) Er verspricht ihm die Mitnahme von Dr. Goebel. In (1), (la) und (lb) liegt die potenzielle Ausführung, die in der IK benannt wird, bei der E dat , in (2), (2a) und (2b) beim Satzsubjekt. Es ist vielfach versucht worden, die Unterschiedlichkeit syntaktisch zu erklären, in der Generativen Transformationsgrammatik (GTG) und in der Government and Binding-Theorie (GB) etwa durch konfigurationeile Andersartigkeiten. Die älteren Versionen der GTG bis zu GB haben versucht, mit dem „Prinzip der minimalen Distanz“ die Kontrollinstanzen syntaktisch festzumachen (vor allem Chomsky 1981 und Koster 1978, vgl. dazu kritisch: Siebert-Ott 1983, 22 Hans-Werner Eroms S. 258). Doch zeigen die obigen Sätze zunächst keine Unterschiede im strukturellen Bau. Neuere generative Arbeiten sind deswegen auch geneigt, syntaktische Lösungen des Kontrollproblems zu verwerfen, etwa Fanselow/ Felix (1987, S. 88). Auch die Rollenkonstellation ist identisch. Das Satzsubjekt in den obigen Beispielen ist AGENS, die E dat ist EXPERIENCER, allerdings bei Kontrolle (Satz 1) potenzieller AGENS. Rüzicka (1983) stellt für die Sätze des Typs (1) generell Rollenverschiedenheit, für Sätze des Typs (2) Rollengleichheit für die Kontrolle fest. Das Satzpaar (lb)/ (2b) könnte zu der Vermutung Anlass geben, dass bei Ersetzung der IK durch ein nominales Komplement im ersten Fall eine präpositionale, im zweiten eine reine Ergänzung vorliege. Es finden sich jedoch auch Verben, bei denen die zweite Ergänzung eine nominale Form kontrolliert: (3) Hartmut befiehlt Erwin die Mitnahme von Dr. Goebel. So ist bei der Beschreibung der Kontrollkonstellation zunächst von einer semantischen Regelung auszugehen. D.h. im Verbeintrag ist die Kontrollregelung vorzusehen. Wegener (1989) z.B. nimmt dafür ein die Kontrollrichtung angebendes Merkmal an, das für die Kontrolle der IK verantwortlich ist. Doch auch unter syntaktischem Aspekt sind durchaus einige Struktureigenschaften und Auffälligkeiten der Kontrollkonstruktionen interessant. Darauf wird in Abschnitt 2. noch genauer eingegangen. Zunächst ist auffällig, dass nur ein ganz geringer Teil der Kontrollverben überhaupt Subjektskontrolle aufweist. Dabei scheint es bei den zweiwertigen Verben, die als zweite Ergänzung eine IK fordern, eine gleichsam natürliche Annahme, dass das Satzsubjekt auch das für die IK zu ergänzende Subjekt darstellt, etwa planen, beabsichtigen, glauben, hoffen. (4) Ich plane, beabsichtige, glaube, hoffe mitzukommen/ mitkommen zu können. Bei den hier zu besprechenden dreiwertigen Verben lassen sich zwei Gruppen bilden: Gruppe A: Die Kontrollverben lassen Subjektskontrolle nur zu bei Kontrollverben und Korrelate 23 drohen, versprechen, geloben, Zusagen, garantieren, schwören, anbieten, Vorschlägen. Die beiden letzten Verben sind allerdings noch zu kommentieren, denn sie gehorchen Sonderbedingungen. Gruppe B: Von der zweiten Ergänzung werden u.a. kontrolliert: von der E dat : befehlen, raten, empfehlen, nahe legen ... von der E akk : bitten, ersuchen, beschwören, überreden, überzeugen ... von der Ep räp : verlangen, erwarten ... So wird man bei den Kontrollverben die Verben mit Objektskontrolle als die unmarkierten auffassen dürfen. Dies gilt allerdings nur für ihre ausdruckssyntaktischen Bedingungen. Denn die Kontrolle, die die E dat ausübt, lässt sich als Komprimierung einer Umpolungsrelation auffassen, bei der die E dat als potenzielle E sub fungiert. Als vergleichbares Strukturmodell kann man die Verhältnisse bei Acl-Konstruktionen heranziehen, bei denen im Akkusativterm ein Subjektsterm komprimiert ist. So lässt sich für die Sätze (1) und (2) ansetzen: 1 1 Der Ansatz der Stemmata hier nach Eroms (2000). 24 Hans-Werner Eroms (2') Hartmut verspricht Erwin, Dr. Goebel mitzunehmen. Die Kontrollverbkonstruktionen zeigen somit zunächst einmal, dass die allgemeine Eigenschaft von Infinitivkonstruktionen, das Subjekt zu ersparen, nicht automatisch bedeutet, dass das Subjekt des Matrixsatzes übertragen werden kann. Weiter lassen die bereits betrachteten Sätze erkennen, dass die Handlungsrolle, die für den kontrollierenden Term gilt, für die IK als potenzielle anzusetzen ist. Dies ist nun u.a. auch der Fall bei Modalverbkonstruktionen: Bei ihnen wie bei den Kontroll-IK steht die Handlungsrealisierung noch aus. Mit Modalverben lassen sich die Kontrollbeziehungen explizieren und, was unter syntaktischem Gesichtspunkt wichtiger ist, auch konvertieren. Kontroll-Konstanz liegt vor in folgenden Fällen: (5) Hartmut rät Erwin, dass er (= Erwin) Dr. Goebel mitnehmen möge. (6) Hartmut befiehlt Erwin, dass er (= Erwin) Dr. Goebel mitnehmen soll. (7) Hartmut legt Erwin nahe, dass er (= Erwin) Dr. Goebel mitnehmen muss/ müsse. (8) Hartmut verspricht Erwin, dass er (= Hartmut) Dr. Goebel mitnehmen will/ wolle. Kontrollverben und Korrelate 25 Die dass-Sätze weisen ein explizites Subjekt auf, das über die Verbsemantik des Matrixverbs referenziell festgelegt wird; das Modalverb des c/ a.v.s-Satzes ist eine willkommene redundante Unterstützung, weil die Konstruktion sonst nicht besonders übersichtlich ist. Wird ein Modalverb in die IK direkt eingeführt, lässt sich Folgendes erkennen: Bei der Gruppe A unterstützen die Modalverben wollen und können (in der Lesart ‘in der Lage sein’) die Kontrollbeziehung: (9) Er versprach ihm, mitkommen zu wollen. (10) Er schwor ihm, mitkommen zu wollen. (11) Er garantierte ihm, die Arbeit ausflihren zu können. Die Modalverben dürfen und müssen ändern dagegen die Kontrollbeziehung: (12) Er garantierte ihm, mitzukommen. (Kontrolle durch E sub ) (12a) Er garantierte ihm, mitkommen zu dürfen. (Kontrolle durch Edat) (13) Er drohte ihm, mitzugehen. (Kontrolle durch E sub ) (13a) Er drohte ihm, mitgehen zu müssen. (Kontrolle durch E dat ) Die Modalverben lassen sich nicht immer dazusetzen. Sind sie aber akzeptabel, machen sich ihre generellen Subklassifizierungseigenschaften - Binnensteuerung versus Außensteuerung bemerkbar. Wie zu erwarten, gilt für die Gruppe B der Kontrollverben eine analoge Verteilung, dies aber nur teilweise. Wollen verstärkt auch hier die Kontrollbeziehung, ist aber in der Gegenwartssprache nicht mehr voll akzeptabel: (14) Er legte ihm nahe, mitkommen zu wollen. (15) Er verlangte von ihm, die Sache erledigen zu wollen. Können ist nur in der Lesart ‘Erlaubnis’ verwendbar. Dann ändert es, wie dürfen, die Kontrollbeziehungen: 26 Hans-Werner Emms (16) Die Kinder baten ihn, die Geschenke auspacken zu können/ dürfen. (17) Er verlangte von ihm, die Sache erledigen zu dürfen. Hyvärinen (1989, S. 196f.) spricht davon, dass es sich in solchen Fällen primär um semantisch-pragmatische Kompatibilitätsregeln handele: „Der Adressat der Bitte wird als Agens eines (nicht explizit ausgedrückten) Erlaubnisgewährens interpretiert.“ Man könnte sogar die Schlussfolgerung ziehen, dass im Grunde die Kontrollbeziehungen sich gar nicht ändern, sondern die eigentliche Kontrollinstanz (hier: den Erlaubnisgeber) nur unausgedrückt lassen. So entsteht der Eindruck, als ob die Kontrollbeziehung sich ändere. Müssen dagegen verstärkt die Kontrollbeziehungen in seltenen Fällen: (18) Er überzeugte ihn, mitgehen zu müssen. In vielen Fällen ist die Akzeptabilität zweifelhaft. Meist lässt sich überhaupt keine Modalisierung vornehmen. Immerhin ist die Polarität von wollen als KontrollVerstärkung und dürfen als Kontrollumpolung bemerkenswert. Für Sätze wie (19) Der Politiker überzeugte den Wähler [PROj den Frieden durchzusetzen] (Sabel 1996, S. 150), die für Änderung der Objektskontrolle auf Subjektskontrolle angeführt werden, lassen sich keine empirischen Belege erbringen. Die Paraphrasen, die hier zur Verdeutlichung der Beziehungen (re)konstruiert werden, sind im Sprachgebrauch echte Vorkommensformen, die immer dann eingesetzt werden, wenn die Kontrollbeziehungen explizit verstärkt oder aber umgepolt werden sollen. Im letzten Fall sind sie obligatorisch. Dafür einige Beispiele der Verwendung des Verbs bitten'? Für den ersten Fall (Unterstützung der Objektskontrolle): 2 Die Beispiele sind der CD-ROM ‘Die digitale Bibliothek der deutschen Literatur und Philosophie’, Directmedia Publishing GmbH, Berlin 2000, entnommen. Kontrollverben und Korrelate 27 (20) Balafre ... bat sie, nicht allzu sehr überrascht sein zu wollen. (Fontane) (21) Effi nickte, gab aber weiter keine Antwort und bat nur, ihr ein Glas Wasser reichen zu wollen. (Fontane) (22) | Effi] bat diesen [= den Kutscher], sie bei der nächsten Haltestelle vom absteigen zu lassen. (Fontane) (23) Doch er stand und bat, sie möchten alle ... für ihn beten. (Goethe) (24) [...], als ihn derselbe etwas hastig bat, er möge ihm diesen Teil der Feierlichkeiten doch allein überlassen. (Goethe) (25) Ich bat Eustach, daß er erlaube, daß ich ihn während meiner Abwesenheit ein paar Mal besuche. (Stifter) Die IK wird direkt durch das Modalverb wollen und durch lassen-Konstruktionen unterstützt, die Kontrollbeziehungen werden durch möchten, durch mögen und durch den Konjunktiv I in abhängigen Nebensätzen zum Ausdruck gebracht. Kontrolländerungen in der IK erfolgen durch das Modalverb dürfen und das Modalitätsverb gestatten. (26) Und als er sie wieder bat, Licht anzünden zu dürfen, sang sie ihm wieder ein Liedchen. (Brentano) (27) Er bat, ihm für die grobe Hausarbeit die Annahme eines Gehilfen zu gestatten. (Storm) Die letzten Beispiele lassen wiederum gut erkennen, dass „Kontrolländerung“ nicht heißt, dass ausschließlich das Matrixsatz-Subjekt nun die Kontrolle ausübt; die Verhältnisse sind komplexer. Es wird eine „Erlaubnisinstanz“ berufen, die auch anders situiert sein kann. Konversenbeziehungen sind teilweise auch über Passivformen herstellbar. Passiv im Matrixsatz hat keine besonderen Auswirkungen; d.h. hier sind die normalen Perspektivierungsumpolungen zu beobachten. 28 Hans-Werner Eroms Gruppe B: (28) Der Inspektor wurde vom Kommissar gebeten, mitzugehen. (28a) Der Kommissar bat den Inspektor, mitzugehen. ‘Der Inspektor soll mitgehen’. Analog verhält sich: (29) Dem Inspektor wurde vom Kommissar empfohlen, mitzugehen. (29a) Der Kommissar befahl dem Inspektor, mitzugehen. Gruppe A: (30) Dem Inspektor wurde vom Kommissar versprochen, mitzugehen. (30a) Der Kommissar versprach dem Inspektor, mitzugehen. ‘Der Kommissar will mitgehen’ - Etwas anders sieht es aus, wenn die IK passiviert wird. Gruppe A: (31) Der Inspektor versprach dem Kommissar, den Fall (von ihm, dem Inspektor) geklärt zu bekommen. (31a) Der Inspektor versprach dem Kommissar, den Fall zu klären. (32) Der Inspektor garantierte dem Kommissar, (von ihm, dem Inspektor) nicht gestört zu werden. (32a) Der Inspektor garantierte dem Kommissar, ihn nicht zu stören. Es sind nicht die üblichen Umpolungen der Perspektive durch das Passiv, die hier zu beobachten sind. In (31) ist ohne die von-Phrase offen gelassen, wer den Fall klärt. In (32) gilt Analoges. Gruppe B: (33) Kontrollverben und Korrelate 29 Der Inspektor bat den Kommissar, (durch ihn) von der Aufgabe entbunden zu werden. (33a) Der Inspektor bat den Kommissar, ihn von der Aufgabe zu entbinden. (34) Der Kommissar erwartete von dem Inspektor, zu dem Fall (von ihm, dem Inspektor) gehört zu werden. (34a) Der Kommissar erwartete von dem Inspektor, ihn (den Inspektor) zu dem Fall zu hören. Im Grunde gilt hier Analoges wie bei der Gruppe A. Eine eigentliche Perspektivenumpolung mit Änderung der Kontrollbeziehungen liegt nicht vor. 1.2 Fälle von unklarer oder ambiger Kontrolle In der Literatur werden Fälle diskutiert, bei denen die Kontrollbeziehungen offen bleiben (vgl. insbesondere Wegener 1989, S. 216-218; und Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997, S. 1407-1410). (35) Er schlug vor, das Zimmer aufzuräumen. (36) Der Kommissar erklärt dem Inspektor, zu weit gegangen zu sein. In beiden Fällen ist ohne Einbeziehung des Kontextes nicht klar, wer das Zimmer aufräumen soll (35), bzw. wer zu weit gegangen ist (36). Die Verben gehören unterschiedlichen Klassen an. Vorschlägen ist, wie auch anbieten, ein Verb, das u.a. auch gemeinsames Ausführen einer Handlung ermöglichen kann. So scheint die Festlegung entweder auf das Subjekt oder auf die E dat eine je nach Kontext mögliche Auswahl aus der primären gemeinsamen Handlungsdurchführung zu sein. Bei erklären, wie bei mitteilen, berichten, behaupten, liegen Verben des Referierens vor, die in jedem Fall eine Festlegung benötigen. Zudem ist die IK nur hypothetisch. Sätze wie (36) werden eher vermieden, stattdessen werden dass-S'ätze gewählt, die eindeutig sind. 30 Hans-Werner Erorns (36a) Der Kommissar erklärt dem Inspektor, dass er zu weit gegangen ist/ sei. Der Satz hat Objektskontrolle. Bei Subjektskontrolle würde ein anderes Verb gewählt werden: (37) Der Kommissar gesteht dem Inspektor, dass er zu weit gegangen ist/ zu weit gegangen zu sein. Diese beiden Gruppen der ambigen Kontrolle könnten wiederum als ein Argument dafür, die Kontrollverben nicht über einen syntaktischen Mechanismus, sondern von ihrer verbalen Grundsemantik her zu klären aufgefasst werden. Aber bei näherem Zusehen tritt auch hier zu Tage, dass jeweils eine näher liegende Lesart vorliegt, von der ausgegangen werden kann. 1.3 Generelle Verfügungsrelationen Schließlich ist noch auf ein weiteres Argument, das für eine semantische Lösung angeführt worden ist, einzugehen. Es ist das insbesondere für die von Wegener angesetzte DISP-Relation von Bedeutung: Bei Verben wie geben versus nehmen finden sich in der Bestimmung, wie die Verfügungsgewalt über das in der E akk benannte Objekt beschaffen ist, Analogien zu den Kontrollbeziehungen (Wegener 1989, S. 209-213). Kontrolherben und Korrelate 31 (38) A gibt B den Schlüssel. (39) A nimmt B den Schlüssel. ln diesem Minimalpaar, das einen Besitzwechsel beschreibt, wird die Änderung der Verfügungsgewalt über ein Objekt zum Ausdruck gebracht. Geben und nehmen sind in dieser Hinsicht polare Verben. Bei geben ist die im Subjekt genannte Person zu Beginn der Verbalhandlung die über das Objekt verfügende Person, bei nehmen die am Ende über das Objekt verfügende Person. Aber die Analogie zu den Kontrollbeziehungen sollte auch nicht zu weit ausgedehnt werden. Ein wesentliches Kennzeichen der Kontrollverben ist, dass die Handlungskonstellationen zu ihrem Beginn, und zwar bei beiden Typen, den Subjekts- und den Objektskontrollverben, ins Auge gefasst werden. Von daher ergeben sich, wie oben gezeigt wurde, die Analogien zu den Modalverben. Überträgt man diese Grundvoraussetzungen auf die polaren Verben geben und nehmen, dann sieht man, dass in beiden Fällen A „kontrolliert“, nämlich das Subjekt. Welche ontologischen Akte es sind (ob z.B. der Besitzwechsel recht- oder unrechtmäßig ist), spielt syntaktisch gesehen keine Rolle. Die Vergleichbarkeit mit echten Kontrollverben ist jedenfalls nur bedingt möglich. Denn diese komprimieren in starkem Maße Strukturen, die ihre Ausgangseigenschaften, eben vor allem, ob das Subjekt oder das Objekt (E akk oder E dat ) komprimiertes Subjekt der IK ist, verdecken. Dies ist der Hauptanlass für die vor allem in der generativen Schule vorgenommenen Ansätze gewesen, nach einer syntaktischen Lösung zu suchen. 2. Die Suche nach syntaktischen Lösungen des Kontrollproblems 2.1 Offene und verdeckte syntaktische Relationen Eine „direkte“ syntaktische Lösung gibt es nicht. Darin sind sich fast alle neueren Arbeiten zum Kontrollproblem einig. Damit ist aber nicht ausgeschlossen, dass es syntaktische Phänomene gibt, die das Kontrollproblem zumindest über paradigmatisch zu beobachtende Gesetzmäßigkeiten syntaktisch zugänglich machen. So kommt Eisenberg nach einer Musterung wichtiger Ansätze zur Beschreibung von Kontrollphänomenen, die alle auf se- 32 Hans-Wemer Eroms mantische Lösungen hinauslaufen, zu dem Schluss: „M.E. wird die Syntax damit zu früh entlassen.“ (Eisenberg 1992, S. 211). Er verweist auf folgendes Beispielpaar: (40) Egon schwört Paula, sie anzurufen. (41) Renate bittet Paula, sie mitzunehmen. Sein Kommentar lautet: „Es fällt auf, daß die Infinitivgruppe in (40) direktes Objekt ist, in (41) präpositionales Objekt. Das ist ein einfacher syntaktischer Unterschied, der weitreichende Folgen für das syntaktische Verhalten des jeweiligen Komplements hat.“ (Eisenberg 1992, S. 211). Die E prä p bei bitten um wird in der IK neutralisiert. Auch die anderen an dieser Stelle von Eisenberg angeführten Verben weisen diese Eigenschaften auf. Wie gleich zu zeigen sein wird, ist dies allerdings keine gänzlich verallgemeinerbare Lösung. Die Unterschiedlichkeit „direktes Objekt“ versus „präpositionales Objekt“ muss zunächst an Distributionseigenschaften verdeutlicht werden. Subjektskontrolle: etwas schwören; etwas ankündigen, androhen, versprechen, verraten ... Objektskontrolle: bitten um; warnen vor, zwingen zu, überreden zu, raten zu, erlauben ... Am klarsten sieht man die Unterschiedlichkeit, wenn man Sätze mit Korrelaten bildet. Subjektskontrollverben lassen diese nicht zu, Objektskontrollverben lassen sie dagegen meist zu: (42) *Egon schwört/ verspricht/ verrät/ kündigt an/ droht an Paula dazu, sie anzurufen (43) bittet Paula darum warnt Paula davor Renate V zwingt Paula dazu V, sie anzurufen überredet Paula dazu rät Paula dazu J Kontrollverben und Korrelate 33 Weitere Verben: darum ersuchen, dazu beschwören, darum anflehen, dazu anweisen, dazu ermahnen, davon überzeugen. Korrelate werden nicht zugelassen bei a) verlangen, erwarten, fordern ... (E pr ap) b) befehlen, erlauben, gestatten, empfehlen ... (E dat ) Beide Gruppen umfassen dabei Verben, die in der IK eine E akk aufweisen. (44) Ich verlange/ erwarte/ fordere von dir, dich zu bessern/ deine Besserung. (45) Ich befehle/ erlaube/ gestatte/ empfehle dir, das Buch zu lesen. Eisenberg weist an der angeführten Stelle auf eine weitere Besonderheit objektskontrollierter Verben hin. Sie lassen, im Gegensatz zu subjektskontrollierten, Passivierungen der folgenden Art zu: (46) Paula wird von Renate gebeten, sie anzurufen. (47) Paula wird von Renate befohlen, sie anzurufen. (48) *Paula wird von Renate versprochen, sie anzurufen. Da nicht ausgeschlossen werden kann, ob (48) nicht doch grammatisch ist, soll diese Unterschiedlichkeit nur als grammatischer Indikator angesehen werden. Immerhin werden (46) und (47) spontan als grammatisch eingestuft. Noch etwas anderes lässt sich erkennen, und dies ist, wie oben schon angeführt wurde, für die Kontrollverhältnisse insgesamt wichtiger: Objektskontrolle ist offenbar die unmarkierte Kontrollbeziehung, Subjektskontrolle die markierte. Dies könnte damit Zusammenhängen, dass die in den frühen generativen Arbeiten erwogene, später aufgegebene (topologische) Nähe der Konstituenten in der Grundstruktur doch eine Rolle spielt. Offenbar werden bei komplexen Konstruktionen die benachbarten Konstituenten als sich kontrollierende Instanzen angesehen. So wird in (46) und (47) ‘Renate’ als Kontrollinstanz angesehen; dann muss sie zwangsläufig auf das Subjekt bezogen werden. Der gleiche Interpretationsversuch in (48) führt dagegen ins Leere. 34 Hans-Wemer Eroms Ähnliche Überlegungen müssen anscheinend auch Zifonun/ Hoffmann/ Strecker (1997, S. 1410f.) geleitet haben, wenn sie nach ihrer ganz auf eine semantische Lösung des Kontrollproblems hinauslaufende Darstellung zum Schluss folgende kategorialgrammatische Ableitung wählen (i)(ii)(al) dass ich [dich bitte \dir befehle [ heute noch abzureisen ich bitte heute noch abzureisen dich befehle 1 I dir ((V0/ T)/ T)/ IK IK T 1 t 1 (vo/ Tyr 1 I VO/ T vö (iii)(al) dass ich dir verspreche heute noch abzureisen ich verspreche dir heute noch abzureisen ((V0/ T)/ IK)/ T T '-T-' (V0/ T)/ IK^ ~r vo —r VO/ T I IK und dies so begründen: „Die IK orientiert sich an demjenigen Termkomplement, das unmittelbar nach ihr an die Verbgruppe angebunden wird.“ (Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997, S. 1410). Kontrollverben und Korrelate 35 Es wäre nun eine überzeugende Bestätigung für die Richtigkeit dieser Annahmen, wenn sich die angesetzten Anbindungshierarchien auch empirisch nachweisen ließen. Dies ist jedoch nicht so einfach möglich. Auch Zifonun/ Hoffmann/ Strecker (1997, S. 1411) weisen daraufhin, dass die normalen Regularitäten bei den Anbindungshierarchien hier teilweise außer Kraft gesetzt sind. Auszugehen ist von den folgenden Serialisierungen, bei denen zunächst die Ausklammerung rückgängig zu machen ist: (49) dass ich dich [heute noch abzureisen] / [darum] bitte dir [heute noch abzureisen] / [das] befehle (50) dass ich [heute noch abzureisen] / [das] dir verspreche Hier erkennt man zunächst wiederum deutlich, dass in dieser konstruierten Ausgangsserialisierung, die allerdings noch auf die ihr zu Grunde liegenden Regularitäten befragt werden muss, der Objektskontrollfall (49) normaler wirkt als die Subjektskontrolle (50). Weiterhin ist bereits zu sehen, dass bei Objektskontrolle die beiden morphologisch zu unterscheidenden Fälle „richtig“, d.h. in der erwarteten Grundserialisierung, nämlich E akk > E prä p bzw. E dir > E akk , stehen. Das heißt, erklärungsbedürftig ist in jedem Fall nur die Abfolge für die Subjektskontrolle, hier E akk > E dat , die sich damit wiederum als die markierte herausstellt. Die letztgültige Abfolgeregularität zeigt sich nun aber nur in solchen Fällen, in denen außer dem Subjekt kein weiterer Term thematisch ist (vgl. Eroms 2000, S. 327f.). In manchen Fällen ist eine solche Abfolge aber nur virtuell herstellbar, weil grammatische Prozesse eine Thematisierung obligatorisch abgebunden haben. Theoretisch wären folgende Grundserialisierungen herzustellen: (51) dass ich einem x eine Handlung befehle (52) dass ich einen x um eine Handlung bitte In diesen Fällen ergibt der in den pronominalen Formen sichtbare - Thematisierungsprozess keine Änderung der Abfolge: (53) dass ich ihm dies befehle (54) dass ich ihn darum bitte Wohl aber bei der Subjektskontrolle, wenn (50) richtig angesetzt ist: 36 Hans-Werner Eroms (55) dass ich einem x etwas verspreche (55a) dass ich das dir verspreche Wie kommt die Serialisierung von (50) zu Stande? Offenbar sind die Versprechensverben darauf angelegt, dass der Versprechensinhalt von stärkerer Thematizität aufgefasst wird als der ‘Empfänger’ dieser subjektskontrollierten Handlung. Wie gesagt, dies sind Plausibilitätserwägungen für den Ansatz unterschiedlicher Ausgangsstrukturen. An der Satzoberfläche erscheinen die kompakten Strukturen. 2.2 Ambige Kontrolle Während, wie etwa die Beispiele (12), (13), (26), (27) erkennen lassen, Kontrolländerung eindeutig syntaktisch geregelt ist und sich in der IK vollzieht, ist ambige Kontrolle („Variable Orientierung“, Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997, S. 1407-1410) in gewisser Hinsicht vager. Dies ist in der Literatur häufig beobachtet worden (vgl. Siebert-Ott 1983, Wegener 1989 und Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997). Es ist aber nicht so, dass die Kontrollrichtung bei Verben wie vorschlagen, anbieten, vereinbaren ... gleichsam hin- und herpendelte, bzw. dass einmal Subjekts-, ein andermal Objektskontrolle herrschte. Diese Fälle sind überhaupt etwas anders zu beurteilen. Die E dat ist als der primäre Nutznießer der Handlung zu verstehen. Vielfach begegnet unterwertiger Gebrauch, so etwa in: (56) Philine, als sie merkte, daß den beiden Damen in Erwartung ihrer Gäste die Zeit zu lang wurde, schlug vor, Wilhelmen kommen zu lassen. (Goethe, Wilhelm Meister). Dass ‘die beiden Damen’ von dem Vorschlag profitieren, ergibt sich aus lexikalisch gebundenem Weltwissen; es ist kein Kontrollproblem. In Fällen wie: (57) Ich schlage dir vor, nach Hause zu gehen. (58) Ich schlage dir vor, (mir) die Kosten zu erstatten. (59) Ich schlage dir vor, dir die Kosten zu erstatten. Kontrollverben und Korrelate 37 kann man von Objektskontrolle als dem Defaultfall sprechen, (57) ließe sich sonst nicht erklären. Bei (58) ist das Personalpronomen für das Verständnis fakultativ, bei (59) obligatorisch. Die vielfach in diesem Zusammenhang angeführten Verba dicendi (erklären, mitteilen, berichten ...) (Wegener 1989, S. 216-218, Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997, S. 1408-1410) sind m.E. nur subjektskontrolliert verwendbar: (60) Der Minister erklärt dem Kanzler, einen Fehler gemacht zu haben. So sind auch in diesem Bereich die Kontrollprobleme geringer, als es nach der Musterung der einschlägigen Literatur den Anschein hat. Die Suche nach syntaktischen Regularitäten ist jedenfalls nicht ganz erfolglos, wenn man in Rechnung stellt, dass vieles überhaupt offen gelassen und im Anwendungsfall durch „Weltwissen“ geregelt wird. 3. Literatur Chomsky, Noam (1981): Lectures on Government and Binding. Dordrecht. Eisenberg, Peter (1992): Adverbiale Infinitive: Abgrenzung, Grammatikalisierung, Bedeutung. In: Hoffmann, Ludger (Hg.): Deutsche Syntax. Ansichten und Aussichten. Berlin/ New York. (= Jahrbuch des Instituts für deutsche Sprache 1991). S. 206-224. Eroms, Hans-Wemer (2000): Syntax der deutschen Sprache. Berlin/ New York. Fanselow, Gisbert/ Felix, Sascha W. (1987): Sprachtheorie. Eine Einführung in die generative Grammatik. Bd 1. Tübingen (= UTB 1441). Hyvärinen, Irma (1989): Zu finnischen und deutschen verbabhängigen Infinitiven. Eine valenztheoretische kontrastive Analyse. Teil 1: Theoretische Fundierung und Abgrenzung des Prädikats. Frankfurt a.M./ Bem/ New York/ Paris. (= Werkstattreihe Deutsch als Fremdsprache 25). Koster, Jan (1978): Locality Principle in Syntax. Dordrecht. Rüzicka, Rudolf (1983): Remarks on Control. In: Linguistic Inquiry 14, S. 309-324. Sabel, Joachim (1996): Restrukturierung und Lokalität. Universelle Beschränkungen für Wortstellungsvarianten. Berlin. (= Studia Grammatica 42). Siebert-Ott, Gesa Maren (1983): Kontroll-Probleme in infiniten Komplementkonstruktionen. Tübingen. (= Studien zur deutschen Grammatik 22). 38 Hans-Werner Emms Wegener, Heide (1989): „Kontrolle“ semantisch gesehen. Zur Interpretation von Infinitivkomplementen im Deutschen. In: Deutsche Sprache 17, S. 206-228. Zifonun, Gisela/ Hoffmann, Ludger/ Strecker, Bruno (1997): Grammatik der deutschen Sprache. Berlin/ New York. Wolfgang Mötsch Wortbildungsregeln Ziel der Sprachforschung ist es, die nahezu unendliche Zahl von Äußerungen einer Sprache auf eine endliche Menge von Einheiten und Regeln zurückzuführen. So beschrieb schon Wilhelm von Humboldt die zentrale Aufgabe der Sprachwissenschaft. Diesem Ziel ist die Sprachwissenschaft unseres Jahrhunderts ein gutes Stück näher gekommen. Die Grammatik einer Sprache verstehen wir heute unabhängig von der theoretischen Richtung als ein System, das in mehrere Komponenten zerfällt: Syntax, Morphologie, Lexikon, Phonologie (Graphematik) und Semantik. Jede Komponente besteht aus Einheiten und Regeln. Insgesamt betrachtet beschreiben diese Komponenten die grammatischen Eigenschaften der korrekten Sätze einer Sprache. Die Komponenten der Grammatik sind so angeordnet, dass ihr gemeinsames Ergebnis eine Zuordnung von Lautstrukturen zu Bedeutungsstrukturen ist. Jeder Satz hat eine Lautstruktur und mindestens eine Satzbedeutung. Lautstruktur und Bedeutungsstruktur sind durch Logische Lorm, Syntax, Morphologie, Phonologie und Lexikon determiniert. Man kann die Grammatik natürlicher Sprachen auch als ein System ansehen, das es ermöglicht, komplexe Zeichen zu bilden. Diese recht allgemeine Lormulierung lässt viele Prägen offen und ebenso viele theoretische Standpunkte zu. Ich möchte etwas genauer auf die Präge eingehen, welche Bedingungen die Pakten der Wortbildung an eine Grammatik stellen. An den Anforderungen an die wissenschaftliche Beschreibung der Wortbildung soll zugleich verdeutlicht werden, dass die seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts in der theoretisch orientierten Linguistik vertretene Ansicht, die Regeln der Grammatiken natürlicher Sprachen seien als mathematisch-logische Kalküle darstellbar, mit Zurückhaltung zu betrachten ist. Mindestens was die Bildung neuer Wörter angeht, ist sie nicht ohne starke Einschränkungen aufrecht zu erhalten. Diese Präge hat auch Gert Stickel immer wieder beschäftigt, dem ich diesen Beitrag zum 65. Geburtstag widme. 40 Wolfgang Mötsch Wortbildungen sind komplexe sprachliche Gebilde. Ohne Zweifel weisen viele Derivationen (Suffigierungen oder Präfigierungen) und Komposita systematische Beziehungen zwischen den Elementen, aus denen sie bestehen, auf. Wir dürfen somit Regeln annehmen, die eben diese systematischen Beziehungen erfassen. Wo sind diese Regeln in einer Gesamtbeschreibung der Grammatik anzusiedeln? Auf diese Frage gibt es sehr verschiedene Antworten. Die wichtigsten sind: 1. Wortbildungsregeln sind Bestandteil einer eigenständigen morphologischen Komponente. Hier werden die Gemeinsamkeiten von Affixen in Flexion und Wortbildung generalisiert. 2. Wortbildungsregeln gehören zur Syntax. In den ersten Versionen der Generativen Grammatik wird z.B. angenommen, dass Derivationen und Komposita auf syntaktische Tiefenstrukturen zurückgehen, die durch Transformationsregeln und morphologisch-phonologische Regeln in Wörter umgewandelt werden. So führte man etwa die Derivation die Untersuchung des Verbrechens auf eine Struktur zurück, die dem Ausdruck der Vorgang, jemand untersucht das Verbrechen zu Grunde liegt, und das Kompositum Holzschuppen auf die syntaktische Struktur von Schuppen, der aus Holz hergestellt ist bzw. der für Holz bestimmt ist. Komplexe Wörter sind nach dieser Auffassung nur elliptische Oberflächenformen von syntaktischen Ausdrücken. Von dieser Analyse rückten die Vertreter generativer Grammatiktheorien bald ab, aus theoretischen und empirischen Gründen. In späteren Versionen der generativen Grammatik wurde eine besondere Wortsyntax angenommen, die die möglichen Verknüpfungen aus den syntaktischen Wortkategorien Verb, Nomen, Adjektiv und Präposition angibt. Die Verknüpfungsregeln werden als Spezialfall der Phrasenstrukturregeln der Syntax betrachtet. Als Beispiel möge die folgende Wortstruktur dienen: N / \ N N A N N Wortbildungsregeln 41 Diese Struktur liegt u.a. den Komposita Küchenhandtuch, Leinentischtuch, Goldarmband zu Grunde. Beispiele für wortsyntaktische Strukturen von Derivationen sind: A / \ N A flegelhaft, riesig, planmäßig N / \ A N Dummheit, Feigling, Frühchen N / \ V N Prüfung, Prüfling, Prüfer Dabei wird vorausgesetzt, dass Suffixe und Präfixe sich nur dadurch von selbstständigen Wörtern unterscheiden, dass sie gebundene Formen sind, d.h. nur in wortsyntaktischen Strukturen mit anderen Wörtern zusammen verkommen können. Auf die Mängel dieser Wortbildungstheorie habe ich in mehreren Arbeiten hingewiesen (Mötsch 1995). 3. Wortbildungsregeln gehören dem Lexikon an. In diesem Falle wird angenommen, dass alle Aussagen über die interne Struktur von Wortbildungen mit den Mitteln formuliert werden können, die auch zur Beschreibung einfacher Lexikoneinheiten notwendig sind. Insbesondere gilt, dass keine separaten syntaktischen Regeln benötigt werden, um die systematischen Eigenschaften von Derivationen und Komposita zu beschreiben. Ich schließe mich der zuletzt angeführten Auffassung grundsätzlich an und vertrete folgende Ansicht zu den Wortbildungsregeln (vgl. ausführlicher Mötsch 1999). Aus Gründen, auf die ich noch genauer eingehen werde, wähle ich den Terminus Wortbildungsmuster: 42 Wolfgang Mötsch Das Lexikon einer Sprache enthält zahlreiche Wortbildungen, die sowohl systematische als auch idiosynkratische Eigenschaften haben. Systematische Eigenschaften sind vorhersagbar, idiosynkratische sind von der individuellen Existenz eines Wortes abhängig. Die lexikalische Beschreibung von Wortbildungen muss beide Typen von Informationen enthalten. Beispiel: Hosenträger ist lexikalisiert als Bezeichnung für eine spezielle Vorrrichtung, mit der man die Hosen befestigt. Systematisch ist nur die Bedeutung ‘Gerät, dessen Zweck es ist, Hosen zu tragen’. Alle besonderen Eigenschaften von Dingen, die wir Hosenträger nennen, sind idiosynkratisch und gehen nicht in das Wortbildungsmuster ein. Das Beispiel steht für eine Fülle von lexikalisierten Derivationen. Vgl. Eisbrecher, Kartenhalter, Seifenspender. Die systematischen Eigenschaften ergeben sich aus den allgemeinen Eigenschaften von Lexikoneinheiten und aus den speziellen Informationen des Wortbildungsmusters, das der Bildung zu Grunde liegt. Das Lexikon enthält, z.T. in Abhängigkeit von der syntaktischen Kategorie eines Wortes, systematische Informationen folgenden Typs: (1) Phonologische Form {Hund besteht aus dem Spiranten h, dem Vokal u, dem Nasal n und dem stimmhaften Dental d) (2) Flexionsmorphologische Eigenschaften {Hund gehört einer best. Flexionsklasse an) (3) Syntaktische Wortkategorie {Hund ist ein Nomen) (4) Argumentstruktur {Hund hat keine Argumentstruktur, im Unterschied zu Vater, Fan, Freund) (5) Semantische Repräsentation (Tier, Vierbeiner, Haustier; Appellativ) (6) Weltwissen Wortbildungsregeln 43 (u.a. Haustier, das für bestimmte Zwecke gehalten wird. Fleisch wird in europäischen Kulturen nicht gegessen, usw.). Die lexikalische Beschreibung von Wortbildungen bezieht die Informationen von Wortbildungsmustern ein. So ist die semantische Repräsentation einer Wortbildung aus einem semantischen Muster für Wortbildungen und den semantischen Repräsentationen der Lexikoneinheiten, die in das Muster eingehen, zusammengesetzt. Die phonologische Form ist entsprechend den Angaben des phonologisch-morphologischen Teils eines Wortbildungsmusters erweitert. Zu den systematischen Eigenschaften können idiosynkratische kommen. Vgl. hündisch. Phonologische Form : / h u n d/ + / i s/ Syntaktische Wortkategorie: Adjektiv Semantische Repräsentation : (WIE(HUND))(x) Ein semantisches Muster zusammen mit einer speziellen phonologisch-morphologischen Realisierung nennen wir Wortbildungsmuster. Wortbildungsmuster für Derivationen haben die allgemeine Form: [SM; (Präfix-) PF X (-Suffix)] Y SM steht für ein semantisches Muster, PF X für die phonologische Form einer Lexikoneinheit der Kategorie X. Die phonologische Form des Basiswortes kann durch Präfixe, Suffixe oder Zirkumfixe ergänzt sein. Sie kann aber auch ohne Affix bleiben. Das Wortbildungsmuster beschreibt Derivationen, die der syntaktischen Wortkategorie Y angehören. Bei der Beschreibung der Muster verzichten wir auf diese Angabe. Wortbildungsmuster für Komposita haben die Form: [SM; PF X (Fuge) PF Y ] Die phonologische Form von Komposita setzt sich aus der phonologischen Form des Erstglieds PF X , einer möglichen Fuge und der phonologischen 44 Wolfgang Mötsch Form des Zweitglieds PFy zusammen. Fugen sind nicht notwendig. Im Deutschen übernimmt das Kompositum grundsätzlich die syntaktische Wortkategorie des Zweitglieds. Semantische Muster können als Prädikat-Argumentstrukturen beschrieben werden. Derivationen, d.h. Suffigierungen und Präfigierungen sind dadurch gekennzeichnet, dass das semantische Muster eine Variable enthält. Wir kennzeichnen diese Variable durch V(erbbedeutung), A(djektivbedeutung) oder N(omenbedeutung). Zur semantischen Repräsentation einer bestimmten Wortbildung gelangt man, wenn die Variable durch die semantische Repräsentation einer Lexikoneinheit, die der ausgewiesenen Kategorie angehört, ergänzt wird. V, A und N stehen also für die semantische Repräsentation von Wörtern der entsprechenden syntaktischen Wortkategorie. Beispiel für ein semantisches Muster: [WIE (N)] (x) ‘ein Bezugswort x hat prominente Eigenschaften von N’ Semantische Repräsentation von Wortbildungen nach diesem Muster: hündisch [WIE (HUND)] (x) ‘ein Bezugswort x hat prominente Eigenschaften von Hunden’ Semantisches Muster: [CAUS (TUN (Wagens), WERD (A, x 2 thema )] (x 1 agens? X thema) ‘ein Aktant verursacht durch eine Aktivität, dass ein Aktant A wird’ Semantische Repräsentation von Wortbildungen nach diesem Muster: versteifen [CAUS (TUN (x'agens), WERD (STEIF, x 2 thema )] (x 1 agens? thema) ‘ein Aktant verursacht durch eine Aktivität, dass ein Aktant steif wird’ Wortbildungsregeln 45 Semantische Muster für Komposita sind Prädikat-Argumentstrukturen mit mindestens zwei Variablen: [N & BESTANDTEIL VON (N, N’)] (r) ‘Referenten sind N, die Bestandteil von N’sind’ Hosen ^knöpf \| [N & CAUS (V (AGENS, N)](r) ‘Referenten sind N, die durch ein Geschehen V verursacht sind’ Kratzywunde-fi [WIE (N, A)] (x) ‘die Eigenschaft A, die typisch für N ist’ bärenystark f \ Es gibt jedoch auch semantische Muster für Komposita, die drei Variable enthalten: [N & (ZWISCHEN (N, N’ & N”)] (r) ‘Referenten sind N, die zwischen N’ und N” bestehen’ Vater^’sohn^’konflikt^f Die semantische Repräsentation von Wörtern kennzeichne ich der Einfachheit halber durch große Buchstaben (HUND, STEIF). Lexikoneinheiten werden als grafische Einheiten kursiv wiedergegeben (hündisch). Die Variable semantischer Muster von Derivationen wird auch Basis, ein die Variable ersetzendes Wort Basiswort genannt. Semantische Repräsentationen werden durch Paraphrasen beschrieben, die mit Anführungszeichen markiert sind. Der phonologisch-morphologische Teil von Derivationen gibt die phonologische Form des derivierten Wortes an, d.h. die mit einem Wortbildungsmuster verbundene Veränderung der phonologischen Form des Basiswortes. In der deutschen Gegenwartssprache werden die Basen entweder durch Phonemfolgen (Derivationsmorpheme) ergänzt oder sie bleiben ohne phonologisch-morphologische Ergänzung. Der Ablaut, d.h. eine Veränderung des Stammvokals der Basis, wird in aktiven Wortbildungsmustern der Gegenwartssprache nicht mehr verwendet. 46 Wolfgang Mötsch Es dürfte deutlich geworden sein, dass ein wichtiger Unterschied zwischen der lexikalischen und der syntaktischen Beschreibung von Wortbildungen darin besteht, dass im ersten Fall die komplexen Wörter durch Muster analysiert werden, während im zweiten Fall, also in syntaktischen Beschreibungen, nur die Einheiten, aus denen komplexe Wörter bestehen sowie die Regeln, nach denen sie kombiniert werden können, angegeben werden. Syntaktische Beschreibungen behandeln Wortbildungen ebenso wie syntaktische Ausdrücke, d.h. die Ausdrücke werden nur durch Regeln als mögliche, grammatisch korrekte Konstruktionen vorhergesagt, sie treten also nicht als Einheiten in der Grammatik auf. Die lexikalische Beschreibung geht dagegen von gleichartigen lexikalisierten Wörtern und solchen, die in Texten verkommen, aus und beschreibt deren systematische Eigenschaften. Vgl. Chomsky (1970) und Jackendoff (1975), die von Redundanzregeln sprechen. Dieser Unterschied mag bei einer rein formalen Betrachtung als irrelevant angesehen werden, denn man kann Regelsysteme, die Strukturen erzeugen, leicht in solche umwandeln, die vorgegebene Strukturen lizensieren. Er wird jedoch relevant, wenn man die charakteristischen Besonderheiten der Wortbildung in Betracht zieht. Und zu diesen gehört, dass Wortbildungen ins Lexikon aufgenommen werden können oder ad hoc in Texten gebildet werden und bei mündlichen Texten mit dem Redeakt untergehen. Die Syntax geht dagegen nur von Konstruktionen in Texten aus, die nicht, wie Lexikoneinheiten, im Gedächtnis gespeichert werden. Diesen Unterschied verdeutlicht man sich, wenn man die Aussagen vergleicht: Sein Text enthält neue Wörter. Sein Text enthält neue Sätze. Mit dem ersten Beispiel ist eine neutrale oder positive Bewertung verbunden. Neue Wörter zu bilden gilt zwar in bestimmten Textsorten als eine stilistische Leistung; die Qualität des Textes hängt aber nicht allein von neuen Wörtern ab. Dagegen ist die Bewertung der Aussage im zweiten Beispiel ironisch, denn Texte sind Wiederholungen oder phrasenhaft, wenn sie keine neuen Sätze enthalten. Eine Wortbildungstheorie muss sowohl Neubildungen als auch lexikalisierte Wortbildungen beschreiben können. Für syntaktische Wortbildungstheorien Wortbildungsregeln 47 sind eventuelle Besonderheiten lexikalisierter Wortbildungen gänzlich uninteressant, lediglich die generellen Regeln für mögliche Derivationen und Komposita einer Sprache sollen erfasst werden. Nur in dem Maße, in dem lexikalisierte Wortbildungen regelhaft gebildet sind, werden sie durch die Wortbildungsregeln als mögliche korrekte Wörter der beschriebenen Sprache analysiert. Hinter dieser Auffassung verbirgt sich ein Wissenschaftsideal, das zunächst in strukturalistischen Sprachtheorien entworfen und später in verschiedenen Versionen der generativen Grammatik ausgebaut wurde. Es gipfelt in der Annahme Chomskys (1970), die Grammatik einer Sprache sei im Kern auf eine spezielle Algebra zurückzuführen, d.h. auf ein spezielles mathematisches System, das nur natürlichen Sprachen zukomme. Dieses System nennt er Universalgrammatik. Er nimmt an, dass die Universalgrammatik auf angeborenen geistigen Fähigkeiten des Menschen beruhe. Ihre Ermittlung könne somit zur Erforschung der Kapazitäten des menschliches Geistes beitragen. Auch die im Rahmen dieses Wissenschaftsideals entstandenen Wortbildungstheorien sind diesem Geist verpflichtet. Ich möchte hier nicht über Erfolge oder Misserfolge dieser Theorien urteilen. Eines scheint mir jedoch gewiss zu sein: der hier vorausgesetzte Regelbegriff kann nicht ohne größere Einschränkungen auf Wortbildungsmuster angewendet werden. Mit der Einführung von Redundanzregeln hat Chomsky selbst auf unsystematische Eigenschaften von Wortbildungen hingewiesen. Wortbildungsmuster weisen eine Reihe von charakteristischen Besonderheiten auf: 1. Die Basis der semantischen Muster von Wortbildungsmustern lässt sich in zahlreichen Fällen nicht eindeutig semantisch kategorisieren: Nehmen wir das Verbbildungsmuster Etwas falsch tun als Beispiel. Basis der auf dieses Muster zurückgehenden Bildungen sind nicht beliebige Tätigkeitsverben, sondern besonders solche, die folgende Unterarten von Tätigkeiten bezeichnen: - Fortbewegung über eine längere Distanz sich verlaufen, verfahren, verfliegen'. 48 Wolfgang Mötsch - Mengen bestimmen sich verzählen, verkalkulieren, verrechnen, verschätzen', - Kommunizieren sich versprechen, verquatschen, verhören', - Potenzielle Bildungen zu Tätigkeiten bezeichnenden Verben wie die folgenden wirken z.T. stark auffällig: sich verarbeiten, versägen, verbohren, verbauen, verschießen. Das Beispiel soll verdeutlichen, dass die lexikalisierten Bildungen nach einem gegebenen semantischen Muster zwar einer gemeinsamen semantischen Klasse von Bedeutungen zugewiesen werden können (in unserem Beispiel handelt es sich um Tätigkeiten, die falsch ausgeführt werden können), tatsächlich bilden sie jedoch Gruppen von semantisch ähnlichen Wörtern, die kaum als generelle semantische Subklassen gelten können. Die Wahl genereller semantischer Klassen zur Beschreibung semantischer Muster, auf die man nicht verzichten kann, wenn man möglichst starke Verallgemeinerungen anstrebt, führt zunächst zu Übergeneralisierungen, die durch die Beschreibung der semantischen Gruppen beschränkt werden müssen. 2. Von Wortbildungsmustem vorhergesagte mögliche Wörter sind in vielen Fällen mehr oder weniger auffällig. Beispiele: ‘ein Aktant tut etwas in geringem Ausmaß oder Grad’ spötteln, hüsteln, lächeln, tröpfeln, tänzeln aber: zwar möglich aber sehr auffällig weinein, küssein, liebeln (jedoch Liebelei) ‘eine Tätigkeit mit einem Gerät ausüben’ Handwerksgerät: hämmern, sägen, feilen, bürsten', Musikinstrument: geigen, flöten, posaunen, pauken', aber: *zangen (kneifen), *besen (fegen), *axten (hacken)', *klavieren (Klavier spielen), *violinen, *mandolinen Wortbildungsregeln 49 Nomina actionis mit dem Suffix -ung: Sie gehören zu einem hoch produktiven Muster. Dennoch sind denkbare Nominalisierungen zahlreicher Verben kaum belegt und wirken, wenn man sie bildet, auffällig. Beschränkungen lassen sich kaum auf generelle semantische oder syntaktische Klassen zurückführen: Auffleuchtung des Sterns, Besitzung des Grundstücks, Bummelung durch die Stadt, Fühlung der Schmerzen, Gebung des Geldes, Glaubung der Behauptung, Habung eines Hauses, Harrung auf die Erlösung, Heizung zur Arbeit, Kochung der Suppe, Kommung in die Stadt, Küssung der Geliebten, Lauschung auf den Gesang, Nehmung der Spende, Schmeckung nach Seife, Trinkung des Weins, Wählung der Abgeordneten, Wartung auf Erfolg, Wissung, dass es nicht stimmt, Zerfallung der Gebäude Die Auffälligkeit einiger der angeführten Bildungen kann durch Blockierung erklärt werden. Für diese Bildungen existieren im Lexikon andere Wörter. Das Phänomen der Blockierung verdeutlicht die Abhängigkeit der Wortbildungsregularitäten vom Lexikon: Bummel, Fahrt, Glaube, Hetze, Ruf, Sprung, Wahl Wortbildungsfakten der angeführten Art führten zur Unterscheidung von aktiven und inaktiven Mustern, sowie von Graden der Aktivität. Aus der Warte strenger Grammatiktheorien sind das keine grammatischen Begriffe, da sie ja auf die Verwendung von Regeln Bezug nehmen. Ein solch rigoroser Standpunkt führt zwangsläufig zum Ausschluss wichtiger Wortbildungsfakten aus der grammatischen Beschreibung und damit zu unakzeptablen Verallgemeinerungen. 3. Wortbildungsmuster können statistische Angaben enthalten. So hat Simoska (1998) an vielen Beispielen gezeigt, dass A+N-Komposita Adjektive als Erstglied bevorzugen, die bestimmten semantischen Kategorien zugeordnet werden können, während sie solche, die anderen Katagorien angehören, meiden. Bildungen mit Adjektiven, die messbare Eigenschaften bezeichnen, sind sehr häufig, vgl.: Großmarkt, Hochhaus, Schwermetall, während solche, in denen das Adjektiv z.B. eine Charaktereigenschaft von Menschen bezeichnet, kaum Vorkommen und stark auffällig wirken. Vgl.: Klugstudent, Dreistverkäuferin, Dummprofessor. Solche Beobachtungen lassen sich nur 50 Wolfgang Mötsch als Tendenzaussagen formulieren, nicht als strikte Regeln. Auch die phonologisch-morphologische Komponente eines Musters kann Tendenzaussagen enthalten. Bleiben wir bei den A+N-Komposita: Stark bevorzugt sind Adjektive, die eine bestimmte prosodische Struktur aufweisen. Mehrsilbige Adjektive mit unbetonter Endsilbe werden gemieden: Vgl.: Künstlichhonig, Fälschlichaussage, Öjfentlichgebäude. Diese Besonderheiten können im Rahmen grammatischer Beschreibungen des Chomsky-Typs nur konstatiert werden. Jeder Versuch, sie zu erklären, geht über den für grammatische Aufgabenstellungen gesetzten Rahmen hinaus. Als Erklärungshintergrund kommen sowohl pragmatische Bedingungen für die Anwendung von Wortbildungsmustern als auch sprachpsychologische Perspektiven der Deutung des Regelcharakters in Frage. Zu den pragmatischen Bedingungen gehört eine Unterscheidung von kommunikativen Anlässen zur Bildung eines neuen Wortes: Erweiterung des Lexikons, syntaktische Umkategorisierung von Wörtern und stilistische Variation. Erweiterung des Lexikons: Viele Neubildungen dienen der Benennung von Gegenständen, Geschehen und Eigenschaften, für die ein häufiger Kommunikationsbedarf besteht. Solche Neubildungen erweitern das Lexikon. Syntaktische Umkategorisierung: Wortbildungsmuster können die Änderung der syntaktischen Wortkategorie einer Lexikoneinheit bewirken. Damit wird die Möglichkeit geschaffen, eine semantische Repräsentation in verschiedenen syntaktischen Strukturen zu verwenden. Die deutsche Sprache verfügt über einige sehr generelle Wortbildungsmuster, deren Funktion die Umkategorisierung ist. So können alle Verben mit dem Suffix -en zu Nomen umgeformt werden. Das Suffix -end ermöglicht es, alle Verben in attributive Adjektive umzuwandeln. Adjektive können, in Anhägigkeit von prosodischen Regularitäten, mit einer der Suffixvarianten -heit/ -keit/ -igkeit zu Nomen werden. Stilistische Variation: Wortbildungsmuster können verwendet werden, um stilistischen Prinzipien der Textgestaltung Genüge zu tun. Der stilistischen Variation dienen z.B sehr häufig die Adjektivbildungsmuster mit den semantischen Mustern: Wortbildungsregeln 51 Vergleich: Ein schmetterlinghaft nachgiebiges Flatterding (Broch) Sentenzhaft trippelnde Art (Spengler) Schnabelhaft vorspringende Schnauze (Th.Mann) Ferienhafl helle Straße (Johnson) Nomen mit einer verniedlichenden Einstellung (Diminutiva) : Pünschen, Zigarettchen, Schnäpschen, Mäntelchen, Möglichkeit, Thema eines Geschehens zu sein : ein vermeidbarer Fehler ein Fehler, der vermieden werden kann BMW-Gebrauchtwagen sind leicht wieder verkaufbar. BMW-Gebrauchtwagen können leicht wieder verkauft werden. Der Grad der Aktivität eines Wortbildungsmusters hängt offensichtlich von der Funktion der nach dem Muster gebildeten Wörter ab, d.h., die Funktion hat Einfluss auf die Häufigkeit der Verwendung eines Musters für Neubildungen. Umkategorisierungen werden sehr häufig vorgenommen. Die dafür verfügbaren Wortbildungsmuster sind stark aktiv. Auch stilistische Variation gehört in vielen Textsorten zum Gestaltungsgebot. Die entsprechenden Wortbildungsmuster sind deshalb ebenfalls mehr oder weniger stark aktiv. Der Bedarf an neuen Eexikoneinheiten eines bestimmten Typs ist dagegen eher durch spezielle Erfordernisse eingeschränkt. In diesem Fall sind die verfügbaren Muster häufig weniger aktiv Der psychologische Hintergrund für die Unschärfe der Wortbildungsmuster könnte der folgende sein: Wortbildungsmuster gehören nicht zum selbstständigen Sprachwissen, wie flexionsmorphologische, syntaktische und phonologische Regeln, sondern es handelt sich um potenzielle Verallgemeinerungen von Eigenschaften zum Lexikon gehörender Wörter. Zum Lexikon gehörende Wörter sind aus psychologischer Sicht voll spezifizierte Einheiten. Werden sie in aktuellen Redesituationen verwendet, müssen keine Wortbildungsmuster herangezogen werden. Von Wortbildungsmustern muss aber Gebrauch gemacht werden, wenn ein Sprecher ein neues Wort bildet oder wenn ein Hörer sich ein neues Wort verständlich machen will. In die- 52 Wolfgang Molsch sen Fällen werden mit dem neuen Wort vergleichbare Lexikoneinheiten herangezogen, und das ihnen zu Grunde liegende Wortbildungsmuster aktiviert. Der Bildungsprozess ist, wie schon H. Paul (1886, S. 88f.) festgestellt hat, analogischer Natur. Man kann nun weiter annehmen, dass die Möglichkeit, ein Wortbildungsmuster aus lexikalisierten Wortbildungen zu abstrahieren, durch folgende Faktoren erleichtert wird: Durch die Menge der zu einem Muster gehörenden lexikalisierten Wortbildungen. Je mehr Bildungen es gibt, die die mit einem Muster verbundenen Eigenschaften gemeinsam haben, umso leichter ist dieses Muster aktivierbar und umso wahrscheinlicher sind Neubildungen. - Durch die Häufigkeit der Anlässe, Neubildungen zu produzieren oder zu rezipieren. Je häufiger ein Wortbildungsmuster aktiviert wird, umso bewusstseinspräsenter ist es. Das gilt besonders für Muster, die der Umkategorisierung oder der stilistischen Variation dienen. Es gibt aber auch häufig zur Bildung neuer Lexikoneinheiten verwendete Wortbildungsmuster: (nomina agentis, nomina instrumenti, Beschränkung des Geltungsbereichs (dienstleistungsmäßige Versorgung)). Man kann annehmen, dass einige wenige Muster der Umkategorisierung den Status von Regeln erreichen, d.h., sie müssen nicht aus Lexikoneinheiten abstrahiert werden. In diesen Fällen sind die Wortbildungen nur dann Lexikoneinheiten, wenn sie mit idiosynkratischen Merkmalen versehen sind. Im Normalfall werden sie, wie syntaktische Fügungen und flexionsmorphologische Wortformen für den aktuellen Sprechakt nach Regeln gebildet. Das gilt jedoch nur für einige wenige Fälle, wie z.B. für nomina actionis mit -en und Adjektive (attributiv verwendete Präsenspartizipien) mit -end. Dagegen gehören nomina actionis mit dem Suffix -ung zum Lexikon. Dafür spricht die Auffälligkeit zahlreicher potenzieller Bildungen nach diesem Muster. Vgl. die oben angeführten Beispiele. Durch die Transparenz der Muster. Einige Muster sind relativ einfach zu durchschauen (Vergleich: amihaft, drohnenhaft'. Entstehen von Zuständen: erkranken, erstarken, erstarren', etwas falsch ausführen: sich verlaufen, verschreiben, versprechen', Diminutiva: Hündchen, Mäntelchen', movierte Feminina: Hündin, Sängerin), andere sind dagegen semantisch komplizierter (Agens einer Tätigkeit als Eigenschaft: polizeili- Wortbildungsregeln 53 che Verwarnung-, Thema einer Tätigkeit als Eigenschaft: kaufmännische Ausbildung-, Kollektiva: Hegelianertum, Altherrenschaft, Gebeine). Je transparenter ein Muster ist, umso leichter ist es zur Bildung und zum Verständnis von Neubildungen zu aktivieren. Maßstäbe für die Transparenz semantischer Muster zu finden, ist ein Desiderat der Forschung. Die Bildung neuer Wörter kann auch auf singuläre Analogien zurückgehen. Vgl. Zweisamkeit zu Einsamkeit. Oder auch auf gewagte Auslegungen von Mustern. Vgl. unkaputtbare Cola-Flaschen (= nicht kaputt machbare), auf marschmusikenen Bahnhöfen (= aus Marschmusik bestehend, hergestellt). Die beiden Annahmen, dass typische Wortbildungsmuster aus psychologischer Sicht nur potenzielle Regeln sind, die im Bedarfsfall aus Lexikoneinheiten mit gemeinsamen Eigenschaften abstrahiert werden müssen und dass der Prozess der Neubildung analogischer Natur ist, erklären auch die bereits erwähnte Heterogenität der semantischen Subklassifizierung von Basiswörtern. Neubildungen lehnen sich an einzelne Wörter eines Musters oder an Gruppen von Basiswörtern, die semantische Ähnlichkeiten ohne Klassencharakter aufweisen, an. Dieser Beitrag sollte deutlich machen, dass die ideale Vorstellung, natürliche Sprachen seien als strikte mathematische Systeme zu beschreiben, mindestens auf die Wortbildung nicht zutrifft. Stellt man Regularitäten der Wortbildung als strenge Regeln dar, so führt das zu Übergeneralisierungen, die die tatsächlich existierenden Beschränkungen für Neubildungen und den wichtigen Zusammenhang zwischen lexikalisierten Wortbildungen und aktuellen Neubildungen übergehen. Wie wir wissen, setzt auch die Flexionsmorphologie z.T. sehr eingeschränkte Klassifizierungen und Regeln voraus. In welchem Maße die Syntax dem Ideal strikter Regeln entspricht, lasse ich hier offen. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass sowohl die historische Entstehung der Grammatik einer Sprache als auch die kommunikativen Bedingungen für ihren Gebrauch deren aktuellen Zustand mit bestimmen. Die systematische Berücksichtigung der psychologischen Grundlagen von Regeln dürfte für die zukünftige Grammatikforschung unausweichlich sein. 54 Wolfgang Mötsch Literatur Chomsky, Noam (1970): Remarks on Nominalization. In: Jacobs, Roderick A./ Rosenbaum, Peter S. (Hg.): Readings in English Transformational Grammar. Waltham, Mass. S. 184-221. Jackendoff, Ray (1975): Morphological and Semantic Regularities in the Lexicon. In: Language 51, S. 639-671. Motsch, Wolfgang (1995): Semantische Grundlagen der Wortbildung. In: Harras, Gisela (Hg.): Die Ordnung der Wörter. Berlin/ New York. S. 193-226. Motsch, Wolfgang (1999): Deutsche Wortbildung in Grundzügen. Berlin/ New York. Paul, Herrmann (1886): Prinzipien der Sprachgeschichte. 2. Aufl. Halle. Simoska, Silvana (1998): Eine Untersuchung zu Nominalkomposita mit Adjektiv als erstem Glied in der deutschen Gegenwartssprache. Magisterarbeit, Philologische Fakultät der Universität Skopje. Peter Eisenberg Es gibt Gerüchte über eine Rettung Österreichs Zur Rekonstruktion der Grammatik von Karl Kraus 1. Über Kraus schreiben Wer als Germanist zur Sprache oder Sprachauffassung von Karl Kraus schreibt, muss aufpassen, dass er nicht in eine der von der Kraus-Rezeption aufgestehten Fallen tappt. Über sechzig Jahre nach seinem Tod und hundert nach dem ersten Erscheinen der Fackel sind die Claims durch hohe Zäune gesichert. Und im weit überwiegenden Teil der Literatur gehen Inanspruchnahme wie Kritik mit persönlicher Identifizierung oder Distanzierung einher, „es scheint nur Anhänger und Gegner zu geben“ (Strelka 1990, S. 7). Starke Worte werden gebraucht, wenn man sich gegenseitig, aber auch wenn man Kraus' Werk und Person beharkt. Caroline Kohn (1966, S. 199f.) beispielsweise schreibt, ‘Kraus und die Sprache’ sei „das am häufigsten behandelte Thema über Karl Kraus. Das Verhältnis, das Kraus zur Sprache hatte, ist einmalig ... Kraus war in Sprachangelegenheiten ein Fanatiker, ein Hellseher und ein wahrhaft Wissender ... Kraus war ein gut informierter Germanist, ohne daß er je auf wissenschaftliche Bedeutung Anspruch erhoben hätte.“ Ähnlich sehen es viele andere. Ohne zu fackeln bescheinigt man ihm sprachliche Genialität. Sie allein lohne eine Beschäftigung mit Kraus, dem es eben „bei seinen Sprachüberlegungen nicht wirklich um linguistische oder sprachphilosophische Klärungen ... ging“ (Michel 1995, S. 11). Germanist ja, Wissenschaftler a fortiori Sprachwissenschaftler nein, wobei wissenschaftlich über nichts mehr geschrieben wird als über Kraus und die Sprache. Als Kennwörter dafür haben sich in der Gemeinde Sprachmys- Für freundliche Hinweise danke ich Hanno Biber, Evelyn Breiteneder, Walther Dieckmann, Helmut Glück, Ingwer Paul, Gerhard Voigt und Jürgen Zeck. 56 Peter Eisenberg tik, Spracherotik, Sprachmagie durchgesetzt (Miiller 1995, S. 283). Vom Selbstverständnis her gilt Kraus als Sprachkünstler, Schriftsteller und allenfalls Kritiker, aber natürlich weder als Grammatiker noch als Lexikologe. Muss er der Linguistik fremd bleiben? Geradezu als Aufforderung zur Entschuldigung liest man Äußerungen wie die von Heinrich Fischer (1962, S. 441), der als rechtmäßiger Erbe des geistigen Eigentums von Kraus auftritt: „Einem Werk von Karl Kraus, und noch dazu einem, dessen Inhalt und Erlebnis das Mysterium der Sprache ist, könnte man nur mit der Kraft seiner eigenen Sprache gerecht werden.“ Und so "... wird jeder andere Betrachter es sei denn, er besäße die gleiche Genialität das Sprachphänomen immer nur ‘aus zweiter Hand’ erklären können“. Aber nicht einmal das Eingeständnis der zweiten Hand genügt, selbst wenn man wüsste, was damit gemeint ist. Wir steigen weiter ab und versichern, das, wovon im Folgenden die Rede ist, tatsächlich gelesen zu haben. Helmut Arntzen (1975, S. 70f.) zum Beispiel soll mir nicht kommen, wie er vielen gekommen ist, unter ihnen Hermann Kesten : „Dazwischen nimmt sich der Drauflosredner Kesten das Wort. Mindestens 41 mal behauptet er etwas, das falsch, unbewiesen oder unbeweisbar ist. ... Und natürlich muß bei dieser Schwadroniererei auch der Einleitungssatz aus der ‘Dritten Walpurgisnacht’ den Worten und der Sache nach falsch zitiert werden, wie das jemand tut, der ihn ausschließlich vom Hörensagen kennt ...“. Unter ihnen auch Marcel Reich-Ranicki (ebd., 1975, S. 73), „der offenbar nichts von Kraus kennt denn das, was er aus dritter Täuscherhand hat ...“. Die Täuscherhand gehört zu Fritz J. Raddatz, und dessen einzelne Behauptungen über Kraus „... sind entweder substanzlos oder erschwindelt oder verdrehend oder geradezu dummes Zeug ...“ (ebd., 1975, S. 83). Aus zweiter Hand ja, aus der dritten nein, wer traut sich da, überhaupt etwas zu sagen, und was könnte das sein? Vielleicht ist es nicht wesentlich, aber ein gewisser Klärungsbedarf scheint doch zu bestehen, etwa wenn behauptet wird, „Karl Kraus ... hielt die ‘Fremdwortfrage’ für zweitrangig ...“ (Sauter 2000, S. VIII) und daneben „Karl Kraus, ein exponierter Kritiker der Fremdwortjäger ...“ (Michel 1995, S. 11). Möglicherweise führt es trotz allem ein wenig weiter, den gehörigen Respekt vor Kraus vom angemaßten mancher Exegeten zu unterscheiden und wissenschaftliche Normalität zu proben. Reinhard Merkel schlägt so etwas vor (1986, S. 130): „Kraus' Den- Es gibt Gerüchte über eine Rettung Österreichs 57 ken über die Sprache nimmt fast nie die Gestalt dessen an, was man ‘Theorie’ nennen kann ... Sein Sprachdenken kann in die Sphäre der Theorie nur mittels eines Verfahrens transponiert werden, das sich ... als „rationale Rekonstruktion“ bezeichnen läßt.“ Genau so ist der folgende Versuch zu verstehen. Seine erste Fassung entstand im Anschluss an die Jahrestagung 1998 des Instituts für Deutsche Sprache, die das Generalthema ‘Sprache - Sprachwissenschaft - Öffentlichkeit’ hatte. Er wurde im Herbst desselben Jahres bei der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vorgetragen. Im Vorwort zum Mannheimer Tagungsband formuliert Gerhard Stickel ((Hg.) 1999) einige Leitfragen, darunter (1) „Wie sieht die Öffentlichkeit Sprache, und was erwartet sie von der Linguistik (falls sie etwas erwartet)? “ und (2) „Wie sieht die Linguistik ihre Forschungen im Hinblick auf die Öffentlichkeit? “ Stickel selbst hat das Verhältnis von Ansichten über die Sprache und dem Sprachwissen unserer Disziplin mehrfach zum Forschungsgegenstand gemacht, etwa was Fremdwörter, Dialekte oder die allgemeine Entwicklung des Deutschen betrifft (z.B. 1984, 1999, 2000). Beides sind für ihn die Seiten derselben Medaille. Die Sprachwissenschaft tut gut daran, ihren Sprachbegriff ernsthaft an das zurückzubinden, was über Sprache gedacht wird. Mein Beitrag sollte dies für das Verhältnis von Sprache und Grammatik zeigen. „Für wen schreiben wir Grammatiken? “ war als Frage nach möglichen Angeboten von Grammatiken wie als Frage nach den Erwartungen an sie gemeint. Beides lässt sich übertragen, wenn es um die Ansichten von Kraus über das Deutsche gehen soll. Den Anstoß gab der Wunsch im Einladungsschreiben von Werner Welzig, „mit einem Grammatiker in eine Auseinandersetzung über Texte eintreten zu können, die in der Rezeption an die Seite Wustmannscher Sprachreinigungstendenzen gestellt werden: Es sind dies die von 1921 an über ein Jahrzehnt in der ‘Fackel’ erschienenen Aufsätze ‘Zur Sprachlehre’, die nach dem Tod von Kraus auch in dem Band ‘Die Sprache’ publiziert wurden“ (Kraus 1937). Zum weiteren Kontext und Hintergrund gehört die Arbeit der Österreichischen Akademie an einem Textwörterbuch zur Fackel, dessen erster Teil, das Wörterbuch der Redensarten, zum hundertsten Geburtstag der Zeitschrift erschienen ist (Welzig (Hg.) 1999). Die beiden weiteren Teile, das Schimpf- 58 Peter Eisenberg und Schmähwörterbuch sowie ein Ideologisches Wörterbuch, folgen im Abstand von jeweils fünf Jahren (Projektbeschreibung in Welzig 1996). Mit der Realisierung des Projekts dürfte es zumindest schwieriger werden, Krausforschung auf jeweils eigene Rechnung zu betreiben. Welzig schlägt vor, die Glossen ‘Die Rettung’ (Die Fackel 857-863, S. 125f.; Aug. 1931), ‘Einer der besten Titel’ (Die Fackel 838-844, S. 99; Sept. 1930) sowie ‘Es’, ‘Es ist der Vater’ und ‘Was ist es? ’ (Die Fackel 876- 884, S. 147-165; Okt. 1932) zu behandeln. Wir werden sie in der angegebenen Reihenfolge besprechen, weil sie so am einfachsten aufeinander beziehbar sind. Bei der Analyse der Glossen geht es um die jeweils zentralen Aussagen, die Kraus zum Deutschen macht. Teilweise sind das normative Setzungen mit wertender oder funktionaler Begründung, teilweise sind es darauf bezogene oder davon unabhängige grammatische Beschreibungen. Für beide Arten von Aussagen soll der Versuch einer Rekonstruktion gemacht werden, so weit das mit einfachen grammatischen Mitteln möglich ist. 2. Die Rettung Die Glosse (Anhang A) beschäftigt sich mit dem Gebrauch der Fügung aus von + Dat (im Weiteren von-Phrase) in attributiver Funktion und insbesondere als Alternative zum Genitiv-Attribut, wie Kraus ihn offenbar wiederholt bei Ernst Benedikt, dem Sohn von Moritz Benedikt und auch dessen Nachfolger als Herausgeber und Kolumnist der ‘Neuen Freien Presse’, beobachtet hat: „Der junge Springinsfeld kennt keinen Genitiv ...“. Kraus nennt zunächst einige Fälle, in denen die von-Phrase durchaus das synthetische Attribut ersetzen kann. Das scheint seiner Auffassung nach dann der Fall zu sein, wenn der Präposition zumindest der Rest einer Richtungsbezeichnung geblieben ist. Gegeben ist bei der lokalen Bedeutung der Präposition ein Raumgebiet als Ursprung der Bewegung eines Objekts, das sich vom in Rede stehenden Raumgebiet entfernt {der Zug von Basel, das Buch vom linken Stapel). Es gibt Gerüchte über eine Rettung Österreichs 59 Die speziellen Restriktionen der lokalen Bedeutung des von und ihr Verhältnis zu anderen Präpositionen wie aus können an dieser Stelle außer Acht bleiben. Wichtig ist lediglich das Auftreten von semantischer Abstraktion unterschiedlichen Grades und unterschiedlicher Richtung. Zulässig ist von offenbar, solange von einer Herkunft gesprochen werden kann, also der Sohn von Moritz Benedikt, der Leitartikel von Ernst Benedikt und „von der Monarchie her“ wohl wie in Franz Ferdinand Erzherzog von Österreich. Nicht möglich sind folglich das Schicksal von Europa und die Zukunft von Österreich. Der eigentliche Aufhänger für Kraus' Kritik findet sich dann in Benedikts Satz Hoffen wir, das Ausland werde begreifen, daß die Rettung von Österreich wichtiger ist als alle Haftungen. Der Fall ist ganz nach Kraus' Geschmack, denn er zeigt, dass hier nicht nur schlechtes Deutsch geschrieben, sondern dass in Wahrheit und wenn man es genau nimmt das Gegenteil von dem gesagt wird, was beabsichtigt war. Die Rettung von Österreich meine nicht eine Rettung, in der Österreich den bedrohten, sondern in der es den bedrohenden Part spiele. Die Argumentation hat, wie wir das als unser tägliches Brot in linguistischen Argumentationen gewohnt sind, die Form eines Analogieschlusses. Es wird ein Datum präsentiert, das die intendierte Lesung hat und dem Leser wird nahe gelegt, den kritisierten Satz analog zu lesen. Das Verfahren wirft zwei Probleme auf. Zum Ersten: Kraus wie jeder andere Leser versteht sehr wohl, was Ernst Benedikt sagen will, während die ‘wahre’ Bedeutung des Ausdrucks erst durch eine Analogie ins Spiel gebracht werden muss. Das Zweite betrifft die Analogie selbst: Ist ihre Basis in Ordnung und ist der Schluss valide? Basis der Analogie sind die Fügungen jemanden von dem Leben retten und jemanden vom Tod erretten. Das Verhältnis der Ausdrücke, in denen die Fügungen innerhalb der zitierten Verse aus ‘Iphigenie’ verwendet werden, wäre genauer zu erörtern, schon weil retten und erretten natürlich bezüglich ihrer Komplementstruktur keineswegs übereinstimmen müssen. Übergehen wir diesen Punkt und halten wir uns an jemanden von etwas retten. Der Analogieschluss verläuft dann über den Mechanismus, der meist als Argumentvererbung bezeichnet wird. Danach lassen sich die Attribute des Nomen actionis Rettung nach Form und Bedeutung systematisch auf bestimmte 60 Peter Eisenberg Komplemente des Basisverbs hier seine Objekte beziehen: jemanden von etwas retten gibt formal und semantisch die Basis ab für jemandes Rettung von etwas. Ein solcher Schluss kann im Allgemeinen gezogen werden, wenn das Nomen actionis morphosemantisch transparent auf das Basisverb bezogen ist. Das dürfte bei Rettung im Verhältnis zu retten der Fall sein. Die Rettung von etwas hat also die von Kraus unterstellte Bedeutung wenn ja wenn die Basis des Schlusses in Ordnung ist. Die Frage ist also, ob transitives retten eine präpositionale Ergänzung mit von bindet, die die beschriebene Fesung hat. Die Frage ist nicht trivial, denn retten gehört zu den Verben, die mit einer großen Zahl von Präpositionen unterschiedlicher Bindefestigkeit auftreten. Am stärksten grammatikalisiert sind dabei nach übereinstimmender Auskunft der einschlägigen Wörterbücher wie der Grammatikalitätsurteile normaler Sprecher aus und vor. Der einfache und mit einer lokalistischen Interpretation, wie Kraus sie für von vorführt, verträgliche Unterschied besteht darin, dass das Unglück bei retten aus bereits eingetreten ist (aus der Not retten, aus den Fängen der Bürokratie retten), während es bei vor erst droht (vor dem Tod retten, vor der Hungersnot retten). Dabei stellt retten vor den unmarkierten Fall dar, d.h. es wird bei semantischer Neutralisation verwendet. Ein Satz wie Rette ihn vor Paul lässt offen, ob das Unglück eingetreten ist oder erst droht. Die Fügung retten von und umso mehr Rettung von gibt es in der bei Goethe vorliegenden und von Kraus reklamierten Bedeutung meines Wissens im gegenwärtigen Deutsch nicht, und es dürfte sie auch um 1930 nicht gegeben haben. Schon im Grimm (1893, S. 827) heißt es zu retten „in der neueren spräche ist der gebrauch der präposition von nicht so gewöhnlich wie der von aus und vor“. Die Mehrheit der Belege stammt eben von Goethe oder aus der Futherbibel, etwa Fukas 28,3 rette mich von meinem Widersacher. Die Analogiebasis ist wohl hinfällig. Die von Benedikt verwendete Fügung hat unter den gegebenen Bedingungen nicht die von Kraus unterstellte Bedeutung. Es bleibt die Frage, wie das Verhältnis der von-Phrase zum Genitiv zu bewerten ist (die Rettung von Österreich vs. die Rettung Österreichs). Schreibt Ernst Benedikt wenn nicht Unsinn, so doch schlechtes Deutsch? Kraus ironi- Es gibt Gerüchte über eine Rettung Österreichs 61 siert ihn als Stilist, der nur taurisch verstehe. Was lässt sich grammatisch dazu sagen? Für den allgemeinen Fall gilt das Verhältnis von Genitivattribut und präpositionalem Attribut mit von bis in die neuere Literatur hinein als registergebunden. Ein Teil seiner Schulden und die Platte dieses Tisches wären standardsprachlich, ein Teil von seinen Schulden und die Platte von diesem Tisch wären umgangssprachlich, auf das Gesprochene beschränkt o.Ä. Diese Sicht ist verträglich mit der Auffassung, dass im Deutschen generell der Weg zur Ersetzung synthetischer Kasus durch Präpositionalgruppen beschritten wird, wobei letztere zuerst im Gesprochenen oder allgemein informelleren Sprech- und Schreibstilen in Erscheinung treten. Das Thema hat zahlreiche Aspekte, es betrifft ein sehr weites Feld. Beispielsweise ist von Interesse, dass das Genitivattribut bestimmte Systemlücken aufweist, die ohne weiteres vom präpositionalen Attribut geschlossen werden. ■■ Der Bau Einfamilienhäuser ist ungrammatisch, der Bau von Einfamilienhäusern nicht. Smith (2001) zeigt, dass der analytische Genitiv in Zeitungstexten tatsächlich signifikant häufiger in NGr ohne Determiner als in solchen mit Determiner vorkommt. Es hat den Anschein, als sei die vo/ t-Phrase damit strukturell motiviert. Um etwas zum von Kraus aufgeworfenen Problem zu sagen, muss man diese Frage aber nicht entschieden haben. Kraus meint nämlich gar nicht das Genitivattribut generell, auch wenn es sich so anhören mag („Der junge Springsinsfeld kennt keinen Genitiv ...“). Seine Beispiele sind hier und an anderen Stellen, an denen er auf das in Rede stehende Problem zu sprechen kommt (s.u. unter 3.), vom speziellen Typ Eigenname. Damit lautet die Frage, ob es besondere Gründe dafür gibt, bei Eigennamen den Genitiv zu verwenden. Es gibt diese Gründe. Beschränkt man ‘Eigenname’ auf die Teilklasse von Substantiven, die sich als eine homogene morphosyntaktische Kategorie erweisen lassen, dann zeigen sich beim Genitiv charakteristische Eigenschaften. Sie sind so spezifisch, dass von einem Genitiv eigener Art gesprochen werden kann (Teuber 2000). Die Markierung des Genitivs erfolgt einheitlich und unabhängig vom Genus mit s (der Sohn Benedikts, Mask; die Tochter Alice Schwarzers, Fern; die 62 Peter Eisenberg Größe Londons-, Neut). Das Genitiv-.v taucht beim artikellosen Eigennamen nur auf, wenn er für sich steht, d.h., wenn er nicht Bestandteil einer ausgebauten NGr mit Determiner usw. ist: der Sohn des Benedikt (*des Benedikts)-, die Tochter der Alice Schwarzer (*der Alice Schwarzers). Deshalb wurde oben auf die Notwendigkeit der Beschränkung des Eigennamenbegriffs auf eine Klasse von Substantiven mit einheitlichem morphosyntaktischen Verhalten hingewiesen. Ein unterschiedliches Flexionsverhalten von Substantiven in Isolierung einerseits und als Bestandteil ausgebauter NGr andererseits gibt es auch sonst. (Zur Deutung dieses dem traditionellen Verständnis von Formbildung und Formgebrauch absolut zuwiderlaufenden Faktums vgl. Thieroff 2001, S. 470ff.) Beim Genitiv von Eigennamen liegt die Deutung nahe. Dem allgemeinen Zwang zur Markierung des synthetischen Attributs ist durch den einheitlichen Marker s Genüge getan. Einer von-Phrase als ‘Ersatz’ bedarf es nicht und in Zeitungstexten des gegenwärtigen Deutsch ist ihre Verwendung auch eher marginal. Bezüglich der ‘Rettung’ kann man deshalb sagen: Kraus reklamiert den Gebrauch einer Konstruktion, deren Auftreten an eine spezifische Klasse von Substantiven gebunden und für genau diese Klasse funktional ist. Selbst wenn man gegen die Ersetzung des Genitivattributs durch die von-Phase allgemein nichts einzuwenden hätte, bliebe ihre Übertragung auf Eigennamen ein besonderer Fall. Einer, in dem ich mich auf die Seite von Kraus schlage. Seine Verallgemeinerung auf den Genitiv ist allerdings nicht akzeptabel. Zu fragen bleibt schließlich, ob dem jungen Springinsfeld der sächsische Genitiv tatsächlich ganz fremd ist oder ob er nicht doch auch bei ihm auftritt. Denn schon der Blick auf das Englische lässt erwarten, dass Fügungen wie Benedikts Sohn und Alices Tochter auch im Deutschen stabil sind. Ihre Gebrauchshäufigkeit dürfte eher zuals abnehmen. Es gibt Gerüchte über eine Rettung Österreichs 63 3. Einer der besten Titel Die Glosse (Anhang B) gehört zu einer Gruppe von kurzen Texten, in denen Kraus an journalistische Glanzleistungen des längst verstorbenen Moritz Benedikt erinnert, weil diesem kurz vorher die Kränze der Nachwelt geflochten worden waren. Der Text hat trotz seiner Kürze eine schwierige, meiner Auffassung nach nicht eindeutig auflösbare interne Verweisstruktur. Man kann ihn auf mindestens zwei Weisen als kohärenten Text lesen. Für jede der Lesungen ergeben sich bestimmte Analyse- und Interpretationsprobleme. Zunächst wird die zitierte Schlagzeile Gerüchte über einen Tod Schmelings in Hinsicht auf das Vorkommen des unbestimmten Artikels interpretiert. Kraus unterstellt, dass bei Verwendung des bestimmten Artikels (über den Tod Schmelings) das Ableben des Boxers präsupponiert sei und die Gerüchte nur die Art und Weise des Ablebens betreffen. Diese Deutung ist vielleicht nicht zwingend, aber sie ist nachvollziehbar in dem Sinne, dass sie einen möglichen Bedeutungsunterschied zwischen den Konstruktionen trifft. Im allgemeinen Fall wird mit dem unbestimmten Artikel eine ‘kognitive Adresse’ für ein mögliches Referenzobjekt aus der vom Nominal bezeichneten Klasse etabliert (Sie kaufte ein grünes Auto). Auf das so adressierte Objekt kann dann weiter mit einem definiten Nominal Bezug genommen werden (Dieses/ Das grüne Auto war nicht ganz billig). Bei einem Nominal wie Tod Schmelings ist nun anders als bei grünes Auto von vornherein nur der Bezug auf genau ein Objekt möglich. Es gibt genau ein Ereignis, auf das referiert werden kann. Deshalb ist hier ohne vorherige Adressierung der bestimmte Artikel möglich. Wird dennoch der unbestimmte Artikel verwendet, so adressiert der Ausdruck wie üblich ein Ereignis. Das ist entscheidend und ausreichend zum Verständnis von Kraus' Deutung. Ganz grob gesprochen: mit dem bestimmten Artikel kann die Adressierung des Ereignisses präsupponiert und damit über das Ereignis prädiziert werden, mit dem unbestimmten Artikel kann nur adressiert werden. Die Bezugsprobleme beginnen am Ende der vierten Zeile. Kraus fragt: „Wie drückt man das also aus? “ und macht den Formulierungsvorschlag „Gerüchte von Schmelings Tod“. Worauf bezieht sich „das also“? Der Ausdruck 64 Peter Eisenberg Gerüchte von Schmelings Tod kann textgrammatisch als Paraphrase zu Gerüchte über einen Tod Schmelings wie zu Gerüchte über den Tod Schmelings gemeint sein. Die nachfolgende Passage „darauf verfällt doch ein Preßmensch nicht... Aber er fühlt ... ganz richtig, daß das Gerüchthafte im unbestimmten Artikel zum Ausdruck kommen könnte“ scheint klar zu machen, dass Kraus' Formulierung als paraphrastisch zu der mit dem unbestimmten Artikel gemeint ist, also zur Schlagzeile selbst. Das wäre auch sinnvoll, denn es geht ja letztlich um genau jenen Ausdruck. Andererseits ist diese Paraphrasierung ausgeschlossen. Kraus' Formulierung Gerüchte von Schmelings Tod enthält den sächsischen Genitiv. Zu den Eigenschaften dieser Konstruktion gehört, dass der dem Kern vorausgehende Eigenname nicht nur Attribut ist, sondern gleichzeitig die Determinerposition des Kemsubstantivs besetzt. Anders ausgedrückt: der sächsische Genitiv schließt aus, dass das Kernsubstantiv einen Artikel hat. *Schmelings der Tod ist genauso ungrammatisch wie *Schmelings ein Tod. Bei nachgestelltem Attribut ist beides selbstverständlich möglich, bei vorangestelltem aber nicht. Es ist deshalb in der neueren Literatur verschiedentlich vorgeschlagen worden, den sächsischen Genitiv nicht als Attribut, sondern als Element zu fassen, das funktional den Artikeln gleichzustellen ist. Diese Sicht hat auch deshalb eine gewisse Attraktivität, weil der sächsische Genitiv eine eindeutige Interpretation bezüglich Definitheit mit sich bringt. Schmelings Tod ist definit zu lesen. Es ist paraphrastisch zu der Tod Schmelings, nicht aber zu ein Tod Schmelings. Kraus' Formulierung kann also gerade nicht, wie oben auf Grund des Kontextes angenommen wurde, eine Paraphrase zum Titel sein. Entweder hat er sich bezüglich der Bedeutung seiner Formulierung geirrt oder wir stellen den Bezug zu über den Tod Schmelings her. Einen rechten Sinn scheint das allerdings nicht zu geben. Eher en passant bemerkt Kraus noch, es müsse heißen Gerüchte von etwas und nicht Gerüchte über etwas. Interessant daran ist, dass er zugleich eine Erklärung für die Herkunft des seiner Intuition nach falschen über gibt. Er bezieht es auf sprechen über etwas, nimmt also an, dass eine verbgebundene Präposition in nicht korrekter Weise auf ein Substantiv vererbt wurde. Der oben als Argumentvererbung erwähnte Mechanismus ist hier präsent. Es gibt Gerüchte über eine Rettung Österreichs 65 Warum Gerüchte von korrekt sein soll, kann wohl wieder mit der lokalistischen Deutung begründet werden, die Kraus auch für von fordert. Eine derartige Deutung ist nicht nur zulässig, sondern in vielen Fällen wirklich erhellend. Zu fragen bleibt allerdings, ob damit eine nicht lokalistisch deutbare Verwendung wie in Gerüchte über als falsch bezeichnet werden kann. Diese Frage stellt sich sogar dann, wenn man zu wissen glaubt, woher das über kommt. Formkriterien für die Unterscheidung von richtig und falsch bei abstrakten Präpositionalattributen zu nicht deverbalen Abstrakta gibt es im Allgemeinen kaum. Die Valenz solcher Substantive ist wenig fixiert, der Gebrauch einzelner Präpositionen vielfach kaum bewertbar. Ich glaube nicht, dass man beim Versuch einer Fundierung von Kraus' Urteil an dieser Stelle wesentlich weiterkommen kann. 4. es als Subjekt 4.1 Kontext, Voraussetzungen Die vorgegebenen Analysen zur Verwendung von es gehören zu den umfangreichsten der in ‘Die Sprache’ aufgenommenen Arbeiten und gleichzeitig zu den ganz späten (Oktober 1932; Auszug in Anhang C). Mit drei weiteren sind sie unter dem Titel ‘Subjekt und Prädikat’ zu einer Gruppe zusammengefasst. Kraus' Beschäftigung mit es in der ‘Fackel’ geht zurück auf die Anfrage eines Lesers vom März 1921, der sich am Gebrauch von in ... den Großstadtleuten den Abend, der es werden will, zu verkürzen stört. Bei der Transformation von es will Abend werden in den Relativsatz solle die Form es getilgt werden, weil es hier kein Subjekt sei. Es müsse heißen ... den Großstadtleuten den Abend, der werden will, zu verkürzen. Kraus reagiert heftig. Die Kritik des Lesers ist sachlich, ausführlich und kompetent, die sprachliche Intuition nicht eindeutig. Kraus schreibt umgehend (Die Fackel 572-576, S. 46-53; Juni 1921) einen ersten längeren Artikel über es, den er selbst explizit bewertet und damit einem Teil der Kraus- Rezeption ans Herz gelegt hat. Hans Weigel etwa (1972, S. 254) schiebt einfach Zitate aus der Fackel als Rechtfertigung für sein eigenes Urteil ein, wenn er von „grammatikalischen Untersuchungen“ spricht, „deren tiefste 66 Peter Eisenberg mir der Aufsatz über ‘es’ zu sein scheint, der als Antwort auf eine Zuschrift an ‘eines der merkwürdigsten Sprachgeheimnisse’ rührt, das die Grammatik ‘bis heute nicht zu erschließen vermocht hat’“. (Zitate im Zitat aus: Die Fackel 572-576, S. 47). Bedeutsam ist für uns, dass Kraus mit der grammatischen Analyse beginnt, um den eigenen Sprachgebrauch zu rechtfertigen. Der Einzelfall ist nur Bestandteil eines größeren Ganzen, deshalb muss er so aussehen. Kraus hält es in dem Bibelzitat (Lukas 24, 29) für „ein richtiges Subjekt“, das eben deshalb auch im Relativsatz erscheinen müsse. Gleichzeitig will er natürlich dem ‘nur’ grammatisch gebildeten Leser und der Grammatik überhaupt die begrenzte Perspektive verhalten. Allenfalls auf das Verhältnis von grammatischem Subjekt einerseits und psychologischem (oder auch semantischem) Subjekt andererseits komme es an. „Grammatisches Bescheidwissen“ und „Sprachfühlen“ spielt er gegeneinander aus. Ein Leser, der die Texte der Fackel richtig versteht, habe eigentlich wenig Anlass, den Autor zu befragen. Es könne vielmehr sein, dass sich solche Leser dann „eher an einen Grammatiker mit der Anfrage wenden wollten, wie er mit seinem plumpen Schema dem gar nicht mehr fraglichen Fall gerecht würde.“ (S. 47L). Kraus bekräftigt dann erneut, dass er „an der Bedeutung des ‘es’ zu allerletzt gezweifelt habe ...“, das heißt, er bindet den Subjektstatus von es an dessen Bedeutung. Das hört sich in den Arbeiten von 1932 etwas anders an. Die Auseinandersetzung über den Status von es wird ganz wesentlich mit Karl Vossler geführt, wobei Kraus sich von dessen radikalpsychologistischem Standpunkt absetzen möchte: „Aber die Erkenntnis eines ‘psychologischen Subjekts’ sollte hinreichen zu der Bestimmung, daß es eben auch das grammatische sei, und nicht den Grammatikern die Freiheit lassen, es zu verkennen und das Prädikat dafür zu halten.“ (Die Fackel 876-884, S. 153f.). Die Explikation von ‘Subjekt’ als grammatischer, semantischer, logischer und psychologischer Begriff ist bis heute in der Diskussion, einer Diskussion, deren Reichweite und Implikationen wir an dieser Stelle lieber nicht thematisieren wollen. Die im Folgenden verwendeten Begriffe wie Subjekt, Prädikat und Objekt können nur rein grammatische, d.h. formbezogene funktionale Begriffe sein. Wir werden zunächst eine notwendigerweise Es gibt Gerüchte über eine Rettung Österreichs 67 grobe, aber im Prinzip vollständige - Typologie der Verwendungen von es geben. Es wird gezeigt, welcher Art die grammatischen Differenzierungen sind, die Kraus sich als plumpes Schema vorstellt. Die etablierten Typen von es werden dann auf die von Kraus festgestellten Unterscheidungen bezogen. Gesucht wird nach Homomorphismen in einer Richtung, die in Verbindung mit dem von Kraus aufgestellten Postulat steht. Wir fragen nach der Funktionalität der einzelnen Typen von es und verstehen das als Voraussetzung zur Beantwortung der Frage, wie weit etwa der Begriff ‘psychologisches Subjekt’ grammatisch explizierbar ist. An dieser Stelle muss noch einmal eine Generalreservation eingeschoben werden. Die zu besprechenden Sachverhalte sind von einer Komplexität, die ihre Behandlung auf wenigen Manuskriptseiten eigentlich ausschließen. Vordringen kann man aber hoffentlich zu dem Aufweis, dass es sich lohnt, die Texte von Kraus aus der gegebenen Perspektive zu betrachten; dass man mit grammatischen Mitteln Dinge sieht, die von Bedeutung für die Analyse der Texte sind und mit anderen Mitteln so nicht sichtbar gemacht werden können. Ausgangspunkt der Typologie der Vorkommen von es ist das Personalpronomen im Neutrum der 3. Person Singular. Es wird versucht, die anderen Typen nach ihrer Nähe zur pronominal gebrauchten Form zu ordnen. Zur berücksichtigten Literatur gehören Pütz (1986), Buscha (1988), Stechow/ Sternefeld (1988), Askedal (1990), Zifonun (1995) und Eisenberg (1999a). 4.1.1 Pronominales es Die Pronominalisierungsregeln werden meist so formuliert, dass das Pronomen mit der Bezugs-NGr im Genus und Numerus kongruiert, wobei das Pronomen von einem eigenen Satzknoten dominiert ist. Diese Bedingungen sind in a) und b) erfüllt. Ist ein eigener Satzknoten nicht vorhanden, so wird reflexiviert (‘Anapher’ statt ‘Pronomen’). a) Sie fährt das Auto in die Garage, weil es sonst anfängt zu rosten b) Er schickt dem Finanzamt einen Brief, über den es sich nicht freuen wird 68 Peter Eisenberg c) Dass Karl vom Platz gestellt wird, interessiert niemanden und es wird auch keine Folgen haben Satz c) zeigt eine Besonderheit des Neutrums es gegenüber dem Maskulinum er und Femininum sie: Das Neutrum wird regelmäßig auch dann verwendet, wenn der Bezugsausdruck ein Satz ist, d.h., wenn er nicht Träger der sonst gegebenen Genus- und Numeruskongruenz sein kann. Das Neutrum ist in diesem Sinne dem Maskulinum und Femininum gegenüber unmarkiert. Es ist also schon beim pronominalen Gebrauch selbst strukturell weniger determiniert als das Maskulinum und das Femininum, die beide nur unter besonderen Bedingungen im Typ der Constructio ad sensum die Genus- und Numeruskongruenz aufgeben können (Eins der Mädchen stellte eine Frage. Sie war ein wenig aufgeregt oder Auf der Brücke stand ein Paar. Sie stritten sich heftig). Pronominales es in Subjektfunktion hat die Besonderheit, dass es im Vorfeld auftreten kann d). Für pronominales es in Objektfunktion ist diese Position versperrt e) vs. f). Für die Funktionsbestimmung bedeutet das: Nur wenn es im Vorfeld stehen kann, kann es auch Subjekt sein. d) Das Kind lernt laufen. Es ist ein Jahr alt. e) Das Kind lernt laufen. Der Opa hat es an der Eland. f) Das Kind lernt laufen. *Es hat der Opa an der Hand. 4.1.2 Expletives es Unter ‘expletivem es’ wird in der Literatur recht Unterschiedliches verstanden. Für das Folgende fassen wir den Begriff so: Das expletive es erfüllt eine normale Satzgliedfunktion wie Subjekt oder Objekt, wobei dieser aber keine semantische Rolle zugewiesen ist. Meist sagt man, das expletive es sei semantisch leer. Dies ist allerdings eine notwendige, keine hinreichende Bedingung für sein Auftreten. Das expletive es tritt in unterschiedlichen syntaktischen Kontexten mit unterschiedlichen strukturellen Eigenschaften auf. Die wichtigsten sind folgende: Es gibt Gerüchte über eine Rettung Österreichs 69 a) Es hagelt; Es brennt; Es ist warm b) Es bleibt bei der Abmachung; Es gibt keine Ermäßigung c) Es friert sie; Es graut ihm d) Es wird Tag; Es sind Ausländer e) Karl hat es auf einen Porsche abgesehen In a) ist es Subjekt, wobei es bei einer kleinen Zahl von Verben neben das einziges Subjekt sein kann (Es hagelt), bei anderen mit anderen Subjektformen kommutiert (Es brennt; Die Scheune brennt). Die Verben sind einstellig. Die Verhältnisse in b) sind ähnlich. Hier ist es Subjekt eines mehrstelligen Verbs, meist eines mit präpositionaler Ergänzung. Die Besonderheit in c) ist, dass es, obwohl formal Subjekt, fakultativ ist. Das Vorfeld ist dann natürlich anders besetzt (Sie (Akk! ) friert; Ihm graut). Bei den Verben mit Akkusativ kann an die Stelle von es und dem Akk ein Subjekt treten, das die semantische Rolle des Akk übernimmt: Es hungert ihn - Ihn hungert - Er hungert. In d) steht es in Kopulasätzen als Subjekt (Es wird Tag) oder als Prädikatsnomen (Es sind Ausländer). Der letzte Fall ist in der Literatur besonders umstritten, vielfach wird es auch hier als Subjekt angesehen. Für die Deutung als Prädikatsnomen spricht vor allem, dass anderenfalls die Numeruskongruenz mit dem finiten Verb nicht mehr gegeben wäre. Satz e) gibt ein Beispiel für das vergleichsweise seltene Auftreten des expletiven es in Objektposition. Das expletive es ist strukturell stabil. Es steht insbesondere auch in anderer als der Vorfeldposition des Verbzweitsatzes (z.B. weil es brennt; Bleibt es bei der Abmachung? ). Eben dies spricht dafür, ihm eine echte Satzgliedfunktion zuzuschreiben. 70 Peter Eisenberg 4.1.3 Korrelat es Die einfachste und für die weitaus meisten Fälle geeignete Explikation besagt, dass das Korrelat mit seinem Bezugsausdruck (wir betrachten an dieser Stelle nur Sätze) gemeinsam eine Satzgliedposition besetzt. a) Es ärgert sie, dass du angibst; Es interessiert ihn, ob sie telefoniert b) Wir bedauern es, dass du abreist; Sie liebt es, wenn du vorliest c) Es scheint, dass Steffi verliert In a) besetzen Korrelat und Bezugsausdruck die Subjektposition, in b) die des Objekts. Für letztere bestehen besondere Restriktionen. Beispielsweise kann es nicht in Spitzenstellung stehen (*Es bedauern wir, dass du abreist). Als Objekt ist das Korrelat vielfach obligatorisch (*Sie liebt, wenn du vorliest, dazu ausführlich Sandberg 1998). Funktional ist das Korrelat auf mindestens zweierlei Art motiviert. Einmal erlaubt es die Bewegung der Bezugsausdrücke (etwa zur Rhematisierung oder Topikalisierung), wobei zumindest in vielen Fällen die Satzgliedpositionen verbadjazent dennoch besetzt bleiben. Zum Zweiten garantiert ein Korrelat dies dann, wenn extraponiert werden muss. Komplement- und Adverbialsätze können ja nicht im Mittelfeld stehen {*Wir haben, dass du abreist, bedauert - Wir haben es bedauert, dass du abreist). Der Fall c) sieht aus wie a), enthält aber kein Korrelat im üblichen Sinn. Der dass-Saiz kann hier nicht allein die Subjektposition besetzen (*Dass Steffi verliert, scheint), wohl aber kann sein Subjekt zum Subjekt von scheinen ‘angehoben’ werden (Steffi scheint zu verlieren). 4.1.4 Vorfeld-es Dieser Fall ist der restringierteste überhaupt. Er tritt in zwei Flauptausprägungen auf. a) Es grüßt dich dein Paul; Es kamen viele Gäste b) Es wird viel gearbeitet; Es ist gelogen worden Es gibt Gerüchte Uber eine Rettung Österreichs 71 Das es besetzt die Vorfeldposition im Verbzweitsatz und sichert die Möglichkeit dieser Satzform unabhängig vom Subjekt. Dass es nicht Subjekt ist, erkennt man für a) an den Kongruenzverhältnissen (Plural in Es kamen viele Gäste). In b) wird das daran ersichtlich, dass kein Ausdruck vorhanden ist, der auf ein konvertiertes direktes Objekt des Aktivs beziehbar wäre. Solche Sätze sind generell subjektlos und nehmen im Finitum die 3. Pers. Sg. {Ihm wird geholfen; Hier wurde gelogen). Das Vorfeld-es verschwindet, wenn (1) die Position vor dem Finitum im Verbzweitsatz anders besetzt ist: {Dein Paul grüßt dich; Hier grüßt dich dein Paul) und (2) wenn kein Verbzweitsatz vorhegt: *Grüßt es dich dein Paul? *weil es dich dein Paul grüßt. Dagegen kann dieses es durchaus stehen, wenn der Verbzweitsatz nicht Hauptsatz ist, etwa in Sie behauptet, es grüße dich dein Paul. Das alles zeigt, dass es hier nicht um die Besetzung einer Satzgliedposition geht, sondern um die Sicherung der Verwendbarkeit eines für das Deutsche charakteristischen Satzschemas, eben des Verbzweitsatzes. Die verschiedenen Typen des es sind jeweils unterschiedlich aber eindeutig strukturell motiviert. Und selbst bei grober Analyse lassen sich meist handfeste Kriterien für und gegen den Satzgliedstatus von es nennen. 4.2 Es Kraus nimmt die Argumentation der Arbeit von 1921 auf, mit der gezeigt worden war, dass es in Es werde Licht ‘Subjektcharakter’ habe und nicht etwa nur dem Subjekt vorangestellt sei (nach 4.1: expletives es im Kopulasatz, das als Subjekt füngiert. Licht ist Prädikatsnomen). Eine andere Rolle spiele es dagegen in Es geht mir ein Licht auf. Als Kriterium gilt für Kraus die Weglassbarkeit - „also: ob es bloß auf ein Subjekt hinweist oder ein solches selbst schon ist wird daran ersichtlich werden, ob die Aussage auch ohne das ‘Es’ Subjekt und Prädikat enthielte.“ (S. 148). Es folgt eine größere Zahl von Beispielen desselben Typs. Nach 4.1 handelt es sich um das Vorfeld-es, d.h„ Weglassbarkeit ist eine notwendige, keine hinreichende Bedingung. Wir kommen darauf zurück. Aus dem Rahmen der Beispiele fällt möglicherweise Es war einmal ein König als Kopulasatz. We- 72 Peter Eisenberg gen ihrer starken Idiomatisierung und der zweifelsfrei vorhandenen Bedeutungskomponente „existierte“ kann der Fall auf sich beruhen. Die Reihe endet bei dem Satz Es gibt keinen Wein mehr, von dem Kraus feststellt, er habe überhaupt kein Subjekt, während es als Subjekt ganz offen hervortrete in Es gibt zuletzt doch noch 'nen Wein. Die Argumentation hat das Grammatische verlassen, es geht nur noch um das, was ist, sein wird usw. Nach 4.1 handelt es sich in beiden Sätzen um das expletive Subjekt eines zweistelligen Verbs. In beiden ist es ja obligatorisch. Die nächsten Gruppen von Sätzen (S. 149f.) enthalten für Kraus wieder ein Subjekt. Er grenzt sie nicht explizit vom Typ Es werde Licht ab, weil ihm als Formkriterium die Weglassbarkeit zur Verfügung steht. Bemerkenswerterweise sind die Gruppen aber in sich homogen. Zunächst werden Pronomina aufgeführt wie in a) c), danach Korrelate d) und e), wobei erstere bei entsprechender Kontextualisierung auch zu Korrelaten gemacht werden können. Kontextlos sind sie das aber nicht. a) Es ist die Nachtigall und nicht die Lerche b) Es ist ein Traum c) Behüt' dich Gott, es hat nicht sollen sein d) Es ist Arznei, nicht Gift, was ich dir reiche e) Es tut mir lang' schon weh, daß ich dich in der Gesellschaft seh' Als weitgehend homogen erweisen sich auch die weiteren Beispielgruppen (S 150f.). Eine Teilgruppe enthält expletives es in Kopulasätzen (Es waren schöne Stunden; Es ist spät; Es ist ein Unterschied; Es muß doch Frühling werden), wobei Kraus allerdings in Es waren schöne Stunden das Pluralnominal als Prädikat ansieht (nach 4.1 mögliches Prädikatsnomen). Eine zweite Teilgruppe enthält expletives es bei Vollverben (Es regnet; Es tagt). Damit endet der eigentlich am Klassifikatorischen orientierte Beispielteil und Kraus wendet sich der Auseinandersetzung mit Sanders (S. 151ff.) und Vossler (S. 153ff.) zu. Auf letztere wurde oben schon kurz verwiesen. Zu bemerken ist, dass Kraus hier mit einer glasklaren Formulierung das Korrelat-ex beschreibt (S. 155): „Denn in der Wendung: Es ist ein ernstes Spiel, Es gibt Gerüchte Uber eine Rettung Österreichs 73 was euch vorübergehen wird ist die Funktion des ‘Es’ nicht bloß als eines Vorläufers, sondern als Stellvertreters für das Subjekt... erkennbar.“ Gegen Sanders argumentiert Kraus erneut dafür, dass es in Sätzen mit es gibt + Akk nicht Subjekt sei, weil, anders als in Es läutet oder Es regnet, kein „tätiges Element“ vorhanden sei. Sobald das Formkriterium Weglassbarkeit, auf das sich Kraus oben entscheidend gestützt hatte, nicht mehr greift, werden semantische Gesichtspunkte für ihn alleinentscheidend. Dass und warum Weglassbarkeit in Es gibt solche Menschen nicht gegeben ist, bleibt außer Betracht. Insgesamt ist jedoch festzuhalten: Die in 4.1 skizzierten Typen von es kommen bei Kraus alle vor, und die von ihm explizit oder implizit vorgenommene Klassifikation lässt sich ohne Schwierigkeiten auf die in 4.1 projizieren. In der Regel stimmen beide Klassifikationen sogar in der Beurteilung des Subjektstatus von es überein. Obwohl sein operationalisierbares Kriterienrepertoire beschränkt ist, klassifiziert Kraus weitgehend grammatisch. Oder umgekehrt: was Kraus als unterscheidbar wahrnimmt, ist gleichgültig was seine Kriterien und Benennungen sind im Wesentlichen grammatisch rekonstruierbar. 4.3 Es ist der Vater ... Was ist Es? Anders als die Titel zu besagen scheinen, geht es in den beiden weiteren Texten, die aus Raumgründen nicht in den Anhang aufgenommen wurden, nicht eigentlich um es, sondern um den Versuch einer genaueren Explikation von ‘psychologisches Subjekt’ und ‘psychologisches Prädikat’, insbesondere in Auseinandersetzung mit der Position Vosslers. Angesetzt wird in ‘Es ist der Vater...’ beim vv-Fragesatz (S. 155ff.). Kraus und Vossler sind sich einig, dass in Wer hat den Krug zerbrochen? das Fragepronomen psychologisches Prädikat oder konstituierender Bestandteil desselben sei, etwas wie Der diesen Krug zerbrochen hat dem psychologischen Subjekt entspreche. Meinungsverschiedenheiten treten auf bei der Beurteilung von Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? , weil Vossler meint, Goethe frage hier nicht eigentlich und insofern komme die Analyse 74 Peter Eisenberg des zuerst behandelten Satzes nicht in Frage. Kraus argumentiert auf eine einheitliche Behandlung hin: „Die Frage im Gedicht stellt den ‘Wer’ als reines Prädikat heraus.“ Kraus' Analyse bemüht sich letztlich um die Ermittlung der jeweils gemeinten Proposition mit ihrer illokutiven und Textfunktion. Was wird eigentlich worüber ausgesagt, was ist das Neue, das Wichtige und das, worauf es wirklich ankommt? Die Antwort auf solche Fragen wird gegeben in der Form ist X, z.B. Der den Krug zerbrochen hat (psych. Subj.) ist X (psych. Prädikat), entsprechend Der so spät Reitende ist X. Man landet auf diesem Wege notwendigerweise wieder bei den Frage- und Aussagesätzen mit Kopulaverb, die ein es als grammatisches Subjekt oder Prädikatsnomen enthalten. Kraus führt sie in größerer Zahl an (Es ist der Vater; Ich bin es; Wer ist es? ; und eben als Titel der dritten Glosse Was ist Es? , S. 160ff.). Neue Gesichtspunkte für die grammatische Analyse ergeben sich aus all dem nicht. Aus Sicht der Grammatik, wie ich sie hier vertrete, sind Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen Kraus und Vossler im Wesentlichen Aspekte der Informationsstruktur. Wie weit und auf welche Weise Topik-Kommentar-, Thema-Rhema- oder Fokus-Hintergrundstrukturen grammatisch kodiert sind, ist von größtem Interesse. Bearbeiten lassen sich Fragen dieser Art unter der Voraussetzung, dass die Informationsstruktur selbst konsistent beschrieben ist. Bei den besprochenen Texten hätte eine weitergehende Rekonstruktionsarbeit die im engeren Sinne grammatische vorauszusetzen und einzuschließen. In jeder der drei Glossen führt Kraus Analysen durch, die als im engeren Sinn grammatisch zu bezeichnen sind. Für seine Wertungen sucht er Halt an der sprachlichen Form. Wo das nicht gelingt, greift er zu anderen Mitteln. Das unterscheidet ihn von fast allen Exegeten, die einfach nicht sehen oder nicht sehen wollen, wie wichtig der Zusammenhang von sprachlicher Form und sprachlicher Feistung für Kraus ist. Es gibt Gerüchte über eine Rettung Österreichs 75 5. Literatur Arntzen, Helmut (1975): Karl Kraus und die Presse. München. Askedal, John Oie (1990): Zur syntaktischen und referentiell-semantischen Typisierung der deutschen Pronominalform es. In: DaF 27, S. 213-225. Buscha, Joachim (1988): Die Funktionen der Pronominalform Es. In: DaF 25, S. 27- 33. Die Fackel (o.J.): Die Fackel. Hrsg. Karl Kraus. Bd. II. Nr. 834 bis 922. 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Es geht ihm »um das Schicksal von Deutschland, aber auch um das Schicksal von Hoffen wir, das Ausland werde begreifen, daß die Rettung von Österreich wichtiger ist als alle Haftungen Natürlich meint er als Patriot die Rettung Österreichs, aber als Stilist fühlt er nicht, daß er damit dem Ausland die Aufgabe zugewiesen hat, uns, die es hier auch nach erfolgter Sanierung schwierig finden, von Österreich zu retten. Denn wenn auch alles Finanzielle in Ordnung wäre, so bliebe der Zustand doch — und selbst wenn der Thoas in puncto Treuherzigkeit nicht mit Schober wetteifern könnte — taurishait genug und ließe nur noch den Wunsch übrig: Und rette mich, die du vom Tod errettet, Auch von dem Leben hier, dem zweiten Todei Es geht da also, wie man sieht, um die Rettung der Iphigenie von Tauris, nicht um die Rettung von der Iphigenie auf Tauris. Und dort um die Rettung Österreichs, nicht von Österreich. Aber man kann lang Leuten Zureden, die nur taurisch verstehn. (Die Fackel 857-863, S. 125f.; Aug. 1931) 78 Peter Eisenberg 7. Anhang B Einer der besten Titel die er je gesetzt hat: Gerüchte über einen Tod Schmelings. Hier hat die jüdische Zunge Instinktiv, mit halbem Bewußtsein um ein Problem der Sprachlehre, die Klippe gefühlt In den Gerüchten »über den Tod Schmelings*: da wäre er nämlich tot gewesen und an den Tod hätten sich überdies noch Gerüchte geknüpft. Wie drückt man das also aus? »Gerüchte von Schmelings Tod«: darauf verfällt doch ein Preßmensch nicht (dessen typische Wendung der Tod »von Schmeling« wäre.) Aber er fühlt, wenngleich das »über« falsch ist, ganz richtig, daß das Gerüchthafte im unbestimmten Artikel zum Ausdruck gelangen könnte: »Worüber wird geredt? « »Etwas über einen Tod von Schmeling*. Das wollte er zum Ausdruck bringen 1 (Die Fackel 838-844, S. 99; Sept. 1930) Es gibt Gerüchte über eine Rettung Österreichs 79 8. Anhang C - 147 Subjekt und Prädikat Wie alles, was zur »Sprachlehre« gehört, und mehr als alles andere, bietet diese Untersuchung die Aussicht einer Mühsal zu keinem gröBern, keinem geringeren Ergebnis als dem des Einblicks ln eine Unbegrenztheit von Beziehungen, die das Wort, und das kleinste unserer Sprache, durchzuleben vermag. Also einer Ahnung davon, daß es in jeder Form seines mechanischen Gebrauchs ein Organismus set, umgeben und gehalten vom Leben des Geistes. Die Berührung dieses Geheimnisses — und möchte es am Ende die Klärung einbezfehen und würde Bewiesenes erst problematisch —: sie eröffnet den Zugang ln ein Wirken der Sprache, das denen, die sie sprechen, bis nun verschlossen war; und hätte man vergebens nachgedacht, so wäre dies der Gewinn. Wie vor allem, was zur Sprachlehre gehört, muß sich der Leser entscheiden, einer zu sein, dem solches die Mühsal lohnt, oder es nicht zu sein. Es »Von diesem Wörtchen, welches im Deutschen von einem überaus großen Gebrauche ist« (wie Adelung sagt), wäre immer noch mehr zu sagen: zu dem, was dem Leser von jener Abhandlung zur »Sprachlehre« (1921) im Gedächtnis geblieben ist oder was er zu leichterer Erfassung des nun Folgenden nachholen müßte. »Es« hat sich dort um den Nachweis gehandelt (in solcher Fügung — wie in eben dieser — ist »es« wohl auch dem Grammatiker klar): daß die Schablone den Subjektcharakter des Wörtchens ln Fällen wie »Es werde Licht 1« verkenne, Indem sic Ihm mich hier bloß die Bedeutung oder Nlchlhcdcutuiig eines »dem Subjekt vorangcstellten Es« anweist. Wenn nun dieses führende und nicht bloß vorangehende »Es« in seine Rechte eingesetzt 1st, und wenn der Grammatiker zugäbe: Es geht mir ein Licht auf so wäre dies freilich nicht der Fall, sofern er glaubte, »Es« spiele hier dieselbe Rolle. Es wäre das Chaos, das wüste Gewirr, das Tohuwabohu, das dem Lichtwerden bekanntlich »vorangeht«. 80 Peter Eisenberg - 148 — (Während »es« wieder in solchem Satz — wie in eben diesem — als unverkennbares Subjekt einen Gedanken fortsetzt: eine Bestimmung, die auch die Grammatiker nicht leugnen.) Der gewissenhafte Sammler und oft feinfühlige Korrektor Sanders aber ist tatsächlich der Ahnungslosigkeit schuldig, das Licht-Beispiel mit dem Fall »Es zogen drei Burschen« in eine Kategorie zu rücken und das »Es« dort wie hier für einen »Hinweis auf das erst nachfolgende Subjekt« zu hallen. Untersuchen wir zur Erfassung des himmelweiten Unterschiedes einige geflügelte oder stehende Redensarten. (Das unverkennbare und anerkannte Subjekt fortsetzender Art bleibe aus dem Spiel.) Die Position des »Es« — also: ob es bloß auf ein Subjekt hinweist oder ein solches selbst schon ist — wird daran ersichtlich werden, ob die Aussage auch ohne das »Es« Subjekt und Prädikat enthielte: da tritt es wohl voran, aber nicht hervor; oder ob sie ohne das »Es« nicht möglich wäre, weil eben von ihm als dem Subjekt etwas ausgesagt, eben sein Inhalt prädikativ entwickelt wird: da tritt es nicht bloß voran, sondern auch hervor. Eine auch ohne das »Es« vollständige Aussage bieten die Beispiele: Es irrt der Mensch, solang' er strebt Es erben sich Gesetz und Rechte... Es ist ihr ewig Weh und Ach ....zu kurieren Es kann die Spur .... nicht in Äonen untergehn Es bildet ein Talent sich in der Stille Es wächst der Mensch mit seinen großem Zwecken Es liebt die Weit das Strahlende zu schwärzen Es führt kein andrer Weg nach Küßnacht Es lebt kein Schurk’ im ganzen Dänemark, der nicht .... Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen Es war einmal ein König Es lebe der König Es möchte kein Hund so länger leben Hier folgt tatsächlich das Subjekt nach. In vielen dieser Fälle hat freilich die Voransteliung des »Es« ihre gedankliche und dichterische Funktion einer Vorbereitung. In ihm kündigt sich das Subjekt an; es ist an diesem beteiligt. Besonders »Es war einmal ein König« wäre durch die Aussage »Ein König war einmal« nicht ersetzt: eist aus der Zeit hat er hervorzugehen. Am gewtchtlosesten in »Es lebe der König«, bedeutet es wieder ein förmliches Zeremoniell der Ranganweisung in: Es gibt Gerüchte über eine Rettung Österreichs 81 — 149 — Es soll der Sänger mit dem König gehen (wie anstatt »Drum soll« füglich zittert wird. »Der Sänger soll« wäre eine Zurechtweisung des Subjekts, das nicht will). Ganz dichterisch — wie es aber die Umgangssprache gleich dem Dichter der »Wacht am Rhein« trifft — ist es auch in: Es braust ein Ruf .... indem hier das Brausen zuerst gehört wird, das Prädikat vor dem Subjekt (das dann zum Donnerhall wächst). Auch in der österreichischen Nationalhymne: Es wird ein Wein sein und wir wer’n nimmer sein indem hier die Unvergänglichkeit vor dem Gegenstand selbst empfunden wird. Ähnlich betonterscheint die Vergänglichkeit ln: Es gibt keinen Wein mehr. In dieser Aussage oder Absage ist nun eigentlich überhaupt kein Subjekt enthalten, es versteckt sich (wohlweislich); ganz offen tritt es aber hervor in: Wenn sich der Most auch ganz absurd gebärdet, E s gibt zuletzt doch noch 'nen Wein. Reines Subjekt (fast eines der fortsetzenden Art), Zusammenfassung des Sichgebärdens, eigentlich »er« selbst, der Most. »Wein« ist das Objekt, das es geben, nämlich ergeben wird. Hieße es: »Es ist zuletzt doch noch ein Wein«, so wäre dieser das Prädikat. (Das Ding stellt sich als Wein heraus.) In: »Es 1st zuletzt ein Wein vorhanden« wäre er jedoch das Subjekt, wie in »Es wird ein Wein sein . . .«. Wenn es aber statt dessen hieße: »Es wird einen Wein geben« (nicht: ergeben), wäre er nur scheinbar Objekt (nicht verwandelbar in: gegeben werden), ln Wahrheit ein umschriebenes Subjekt (er wird vorhanden sein). Ohne das »Es« nun wäre die Aussage nicht möglich, well eben von Ihm als dem Subjekt etwas ausgesagt wird, in Fällen wie: Es war die Nachtigall und nicht die Lerche. Was da sang und was wir hörten. Es ist ein Traum. Oder Weil e s doch nur ein Traum ist. Was wir da erleben. 82 Peter Eisenberg — 150 — Behüt’ dich Gotti es wäi’ zu schön gewesen, Behüt’ dich Gott, es hat nicht sollen sein. Was nicht erlebt wurde. (Hier aber vielleicht einfach fortsetzender Art.) Es ist Arznei, nicht Gift, was ich dir reiche. Eben dieses. Der Relativsatz ist das Subjekt, vorweggenommen als das gereichte »Es« (Es, das Ich . . .). Arznei und Gift sind Prädikat. (Was ich dir reiche, ist . . .) So auch: E s tut mir lang’ schon weh. Daß ich dich in der Gesellschaft seh’. Eben das tut ihr weh. Der Bedeutungswechsel tritt klar hervor zwischen: Es sind viele Stunden her und Es waren schöne Stunden. Beidemal bewirkt das plurale Hauptwort den Plural des Zeitworts. Gleichwohl ist jenes nur Im ersten Fall Subjekt, im zweiten jedoch Prädikat. Das Subjekt-Es ist unverkennbar in: Es ist spät oder Wie spät ist es ? Keineswegs tritt »es« jedoch zurück in: Es regnet (Der Wiener Greuelscherz »Sie regnet« spürt das Subjekt der Tätigkeit: die Natur.) E s ist ein Unterschied zwischen »il pleut« und dem es-1osen »vive le roi«. Wer wollte aber das Subjekt in dieser Feststellung verkennen und meinen, der »Unterschied« sei es? Nein, er ist es nur in dem soeben Gesagten, oben jedoch ist es: Es. (Das eben ist der Unterschied, um den »es« sich handelt — und hier, im Relativsatz, 1st »es« das Subjekt.) Und nicht anders In: Es muß doch Frühling werden. Es gibt Gerüchte über eine Rettung Österreichs — 151 - 83 Nämlich, das, was nicht ausgedrückt, aber groß vorhanden ist: die Gottesschöpfung, (In dem Gedicht »Nächtliche Stunde« trägt es, eben »es«, dreimal das Erlebnis: Tag, Frühling, Tod.) In solchen Fällen nuh und ausdrücklich für: Es tagt wird es — für die Kategorie der »unpersönlichen Zeitwörter« — von den Grammatikern anerkannt. Wie könnte es dann aber in: Es wird Tag etwas anderes, geringeres sein? (Tagt Es ihnen da nicht? ) Nur das Prädikat ist verwandelt, doch ganz unzweifelhaft besteht das Subjekt »Es«. Wie in jenem »Es will Abend werden«, das einst der Anfangspunkt der Untersuchung war. Und wie in der Metapher: Es ist noch nicht aller Tage Abend (= Dieses scheinbare Ende ist noch nicht das Ende.) Und in dem ungeheuren kleinen Wort: Es ist vollbracht. Fällt »Es« einem nicht »wie Schuppen von den Augen«? Zu dem Problem könnte — nach späterer mosaischer Quelle — nur gesagt werden: Es ist eine alte Geschichte, Doch bleibt sie immer neu. Und hoffentlich sagen sie nun nicht mehr: Ich weiß nicht, was soll es bedeuten. Wenn trotzdem, so gilt freilich: Es muß auch solche Käuze geben. Das bestätigt Sanders, da er kurioser Weise gerade in dieser Einräumung dem »Es« den Subjektcharakter zuerkennt, indem er es für dasselbe wie in »Es regnet«, »Es donnert« u. dgi. hält. In einem Abschnitt, der mir bisher entgangen war und der eben die »unpersönlichen Zeitwörter« behandelt, setzt er tatsächlich, und mit richtigem Gefühl, eine unsichtbare Kraft als den mit »Es« bezeichneten Faktor, dessen Wirksamkeit er in »Es werde Licht« verkannt hat. Dort geht er nun in der Subjektlvierung so weit, die »unbekannte Macht, etwa: das Schicksal« mitwirken 84 Peter Eisenberg - 152 — zu lassen an einem Fall wie: »Es gibt im Menschenleben Augenblicke«, was natürlich bloß der Verführung durch den Vorstellungsinhalt zuzuschreiben ist. Denn in der Rückverwandlung der so äußerlichen Objcktbezlchung in die Aussage: »Es sind Im Menschenleben Augenblicke vorhanden« hätte er mit Recht nur das bekannte dem Subjekt vorangestellte »Es« gelten lassen. (Dieses hat etwa in »Es war einmal ein König« weit mehr Anteil an einem Schicksal.) Danach erhöht er es auch für den Fall: »Es gibt solche Menschen«; und, verleitet von der Vorstellung, daß die Menschen, die es gibt, »erschaffen« sind, führt er aus: »Das Unbekannte, die Menschen Schaffende läßt solche entstehen«. Wie offenbar doch hier das Sprachdenken durch die stoffliche Assoziation beeinflußt 1st! Begrifflich enthält der Satz nichts anderes als: »Es existieren solche Menschen«, welche eben auch in der Konstruktion »Es gibt« kein reines Objekt, sondern nur das umschriebene Subjekt sind, Die unmögliche Subjektivierung »Es sind solche Menschen gegeben« belehrt über den Inhalt des »gibt«, weiches kein Schaffen bedeutet. Der Trugschluß führt aber noch zu der Deutung des Zitats der Käuze: daß »das Allwaltendc auch solche haben will«. Also wäre es auch an der metaphysischen Auskunft der Köchin beteiligt, daß es Fleisch gibt, wie an dem Bescheid des Kellners, daß es keinen Wein mehr gibt. Wenn dieser »gegeben« wird, wird er »hergegeben«, woran kein Schöpferwille beteiligt ist. Daß es aber »zuletzt doch noch 'nen gibt«, nämlich: ergibt, müßte gewiß auch der Grammatiker auf eine sehr reale Kraft — eben diejenige, die den Most verwandelt zurückführen, obschon sie ja gleichfalls der allwaltenden Natur zugehört. Gewiß gibt es Dinge zwischen Himmel und Erde, aber cs gibt auch Zeitungen im Kaffeehaus, kein Papier auf der Eisenbahn und manchmal etwas zu lachen. »Es gibt Schläge«, in die Subjektbeziehung übersetzt, heißt keineswegs: »Es werden Schläge gegeben«, wiewohl auch diese Form der Bedeutung entsprechen mag, sondern etwa: »Es sind Schläge zu haben«. Dieses »Es gibt«, ob es nun etwas so Reales oder andere Augenblicke im Menschenleben betrifft, zielt auf kein Objekt, sondern gehört noch immer dem Subjekt zu, dessen »Existieren«, »Vorhandensein« u. dgl. nur umschrieben wird. Ganz anders als bei den eigentlichen »unpersönlichen Zeitwörtern«, für die der Grammatiker Es gibt Gerüchte über eine Rettung Österreichs 85 — 153 — mit Recht das »Es« als Subjekt anerkennt und bei denen es als tätiges Element gewiß vorstellbar ist. Es läutet. Wer denn sonst als »Es«, wo nichts anderes da 1st, bevor Ich weiß, daß es er oder sic Ist. In »Man läutet« wäre Ich schon eher auf die Person gefaßt, während ich dort nur das Läuten wahrnehme. Aber Erlebnis und Ursache sind vereinigt in: Es läuten die Glocken. Ein alltägliches, allstündllches Gedicht. Der akustische Eindruck geht voran. {Der Glockengießer oder der Volksschüler sagt aus: Die Glocken läuten). Es 1st, wie In vielen Zitaten, eine Mischform: das »Es« als die primäre Wahrnehmung dem Subjektcharakter angenähert, das Subjekt »Glocken« entrückt, erst durch das Bewußtsein vermittelt. {Dichterische Funktion wie in den Märchenfällen »Es war einmal . .. « oder etwa auch in der schönen Fassung: »Es bildet ein Talent sich in der Stille ... «, die eben mehr als die Aussage bedeutet, daß sich ein Talent in der Stille bildet.) Das nächste Stadium wäre: Es war ein Mann, nehmt alles nur in allem ... Hier ist schon nicht »Mann« das Subjekt, sondern »Es«: Dieser Mann war ein Mann; darum sinngemäß zitiert: »Er war ein Mann . . . .« (Nicht zu verwechseln mit: Es war einmal ein Mann.) Anders dagegen und schwieriger: Es ist nicht altes Gold,'was glänzt. Subjekt ist nicht »Es«, sondern: alles was glänzt, Prädikat: Gold. Leichter der Trost: Es muß ja nicht alles von Gold sein .... Subjekt: alles. Womit wir beim Sprachphilosophen Karl Vossler angelangt wären. Er unterscheidet »grammatische und psychologische Sprachformen« und hat damit, ob nun die Einteilung von ihm oder von Gabelcntz sein mag (der sie noch weniger erfaßt zu haben scheint), zweifellos recht. Aber die Erkenntnis eines »psychologischen Subjekts« sollte hinreichen zu der Bestimmung, daß 86 Peter Eisenberg — 154 es eben auch das grammatische sei, und nicht den Grammatikern die Freiheit lassen, es zu verkennen und das Prädikat dafür zu halten. Über das »Es«-Prob! em, das der eigentliche Ausgangspunkt wäre, um vom Psychischen her die Äußerlichkeit und Fehlerhaftigkeit der grammatikalischen Schablone nachzuweisen, hat sich Vossier (»Gesammelte Aufsätze zur Sprachphilosophie«, 1923) keine Gedanken gemacht. Er 1st in einer seiner Betrachtungen — die nach Angabe des Vorworts schon 1910 bis 1919 im »Logos« erschienen sind und die Ich vor meiner Betrachtung des »Es« (1921) nicht gekannt habe — dem Problem nahegekommen, ohne es zu berühren: Wenn Uhland seinen Prolog zum »Herzog Ernst von Schwaben« beginnt: »Ein ernstes Spiel wird euch vorübergehn . . .«, so kommt der Grammatiker und zeigt, wie hier »ein ernstes Spiel« das Subjekt und »wird . . . vorfibergehn« das Prädikat ist. Denn nach seinem hergebrachten Grammatiker-Leisten fragt er: Wer oder was wird euch vorßbergehn? — und antwortet: ein ernstes Spiel, welches demnach das Subjekt des Vorübergehens Ist. So hat es aber Uhland nicht gemeint. Uhland fragt und antwortet ja gar nicht, sondern kündigt uns an, daß das zu Erwartende, das an uns vorüberziehen wird, den Charakter eines ernsten Spiels trägt. »Wird euch vorfibergehn« gilt in seiner Meinung als Subjekt, wozu ein ernstes Spiel das psychologische Prädikat ist. Man kann sich davon am besten überzeugen, wenn man den Uhlandschen Vers in eine möglichst verstandesmäBige Sprachform, etwa in französische Prosa, übersetzt: Ce qui va passer devant vous est une tragödle. Das Fehlen des se hat wohl nicht der Romanist, sondern der Drucker verschuldet. Aber der Gedanke ist wichtig durch das, was im Wesentlichen fehlt. Zur Not wäre nämlich vorstellbar, daß auch in deutscher Prosa gesetzt sein könnte: Was an euch vorüberziehen wird, ist ein ernstes Spiel; aber zu sagen ist, daß der französische Prosasatz nicht bloß verstandesmäßig, sondern auch dichterisch den Uhlandschen Vers übertrifft, wenn der Dichter efn »ernstes Spiel« aus dem Moment der Ankündigung hervortreten lassen wollte. Denn ein Vers kulminiert im Pathos des Ausgangs und somit wird »ein ernstes Spiel« entwertet, betont jedoch, daß es »vorübergehn« wird: als etwas Flüchtiges, wie ein Zeitvertreib, mithin ganz widersprechend seinem Charakter. Gemeint ist: Was nun kommt, ist ein ernstes Spiel; die Verskraft aber fördert Es gibt Gerüchte über eine Rettung Österreichs — 155 — 87 das Gegenteil: Laßt euch durch die Bezeichnung »ernstes Spiel* (etwa auf dem Theaterzettel) nicht Irre machen, es wird vorübergehn wie eine Posse. »Vorübergehn« erhält im Vers den Hauptton, der eben dem Wortinhalt gemäß die Vorstellung von etwas anschlägt, was nicht und wobei man nicht verweilt. Das Ungewichtige, das eben nicht »gemeint« war, erlangt Gewicht. Aber ganz recht hat Vossier mit seiner Deutung dessen, was Uhland im Gegenteil gemeint hat: das, was jetzt kommen wird, 1st ein ernstes Spiel. Natürlich »fragt und antwortet« der Dichter nicht. Doch der Grammatiker tut es mit Recht, und er könnte, wenn er hier Subjekt und Prädikat so richtig wie Vossier nachwiese, füglich fragen und antworten: »Was 1st ein ernstes Spiel? Was euch vorübergehn wird«. Hier gelangt man zum »Es«, welchem ich auf logischpsychologischem Wege den Subjektcharakter zugesprochen habe. Denn ln der Wendung: Es ist ein ernstes Spiel, was euch vorübergehn wird ist die Funktion des »Es« nicht bloß als eines Vorläufers, sondern als Stellvertreters für das Subjekt (»was .. wird«), und somit die eigene Subjekthaftlgkeit erkennbar. Der es erkannt hat, war seiner richtigen Entscheidung, logisch und sprachfühlend, nicht gewachsen. (Die Fackel 876-884, S. 147-155; Okt. 1932) Tohm Kaneko Wo die Semantik anfängt 1. Kognitive Universalien Die spezifische Kognition des Menschen unterliegt den genetisch bedingten Gegebenheiten der Gattung des homo sapiens. Sie stellt sich einerseits als restriktive Voraussetzung für die lautsymbolische Artikulation der Umwelt und andererseits als mögliche formale Technik für die Zeichenoperationen dar. Beide bilden die so genannten linguistischen Universalien, die daher von vornherein genetisch bedingt sind. Ihre Beschreibung basiert folglich auf den konstitutiven Modellen der menschlichen Perzeption und Kognition. 1.1 Kognition der Zeitlichkeit und der Zeit Der Mensch kann die Zeit nicht direkt erfassen. Seine Zeitkognition geschieht lediglich indirekt, d.h. vermittelt durch die Kognition der Ereignisse (events)*, denn die Zeit erscheint ihm keineswegs als irgendein konkretes perzeptives Objekt, sondern er findet sie lediglich in einem Ereignis und verleiht diesem einen existenziellen Wert. Sprachliche Ausdrücke der Zeit sind also primär in verbalen Kategorien zu finden, die von vornherein zur Repräsentation der perzipierten Ereignisse bestimmt sind. Hier handelt es sich um den zeitlichen Verlauf der Dinge innerhalb eines Ereignisses, den wir zunächst mit prozessualer Zeitlichkeit bezeichnen. Der Mensch erfasst auch die Abfolge der Ereignisse. Die Fähigkeit, zu erkennen, dass ein Ereignis einem anderen folgt, ist offensichtlich nicht nur Bestandteil des Weltwissens des homo sapiens allein. Der Mensch besitzt auch die Fähigkeit, um seinen eigenen Sprechakt herum alle anderen Ereignisse in Reihenfolge zu ordnen. Er unterscheidet also die Ereignisse vor seinem gegenwärtigen Sprechakt von den anderen, die danach Vorkommen werden. Interessant ist es zu fragen, ob der Sprechakt selbst den vergangenen „Ereignis“ wird hier wie seine englische Entsprechung „event“ im übergreifenden Sinne gebraucht und umfasst also Zustände, Prozesse, Handlungen usw. 90 Kaneko Tohru oder aber den später vorkommenden Ereignissen zugeordnet wird. Mit dieser Frage beginnt die Sprachtypologie der Zeitausdrücke. Hier geht es jedenfalls um eine andere Art der Zeitkognition als die von dem Verlauf innerhalb eines Ereignisses. Wir bezeichnen diese Kognition der Zeitabfolge der Ereignisse mit dem Terminus Tempus. 1.2 Modelle der Zeitbeschreibung Um eine pauschale Übersicht über die Erforschung in diesem Gegenstandsbereich zu bekommen, müssten wir auf eine lange Liste von Veröffentlichungen eingehen, was hier aber vermieden werden soll. Da unsere Zeitbeschreibung lediglich als demonstratives Beschreibungsmodell für eine formalsemantische Darstellung der Zeitangaben des gegenwärtigen Japanisch fungiert, scheint es zunächst ausreichend zu sein, uns auf universaliennahe kognitive Fakten zu stützen, die für die einzelsprachliche Realisierung substanzielle Modelle liefern. Als solche präsprachliche kognitive Konstrukte sind hier das Tempusmodell von Reichenbach (1968) und bzgl. der event logic das Modell von Äqvist/ Guenthner (1978) zu nennen. Beide sind natürlich auch mit späteren logischen Untersuchungen wie denen von Hans Kamp abzugleichen. In der folgenden Beschreibung werden diese Untersuchungen in eine eindimensionale Prädikatenlogik uminterpretiert und einheitlich in die formale Logik von Ereignissen und deren sprachlichen Repräsentationen umgebaut. 1.3 Ereignis-Logik als kognitives Modell Für die Ereignistypologie soll für unsere Zwecke der Vorschlag von Äqvist/ Guenthner (1978) aufgenommen werden. Sie gingen von Ereignissen aus, die nach folgenden elementaren Momenten klassifiziert sind: (1) a. ComesAbout A -A I A t b. Remains A A : A t Wo die Semantik anfängt 91 c. Ceases A A I-A t d. RemainsFalse A -A : -A t Hierbei bedeutet die Markierung „1“ geschlossen und offen, und unter „t“ ist ein Zeitintervall zu verstehen. Die Ereignisse sind aber von vornherein komplexer. Ein Ereignis kann in einer bestimmten Zeit auftreten, eine Weile dauern und in einer anderen bestimmten Zeit aufhören. Ein anderes kann in einem kurzem Zeitintervall auftreten und danach gleich aufhören, wobei es ein bestimmtes Resultat hinterlassen kann. Äqvist/ Guenthner (1978) entwickelten aus den obigen Grundtypen der Ereignisse eine Typologie der möglichen Ereignis-Typen, die in vereinfachter Form wie folgt aussehen: (2) Ereignis-Typen Vereinfachung a. t^ugt’ [t t’] b. tgu<t’ [tt’[ c. t<uSt’ ]tt’] d. t < u < t’ ]tt’[ e. u <; t t] fu < t t[ gtgu [t h. t< u ]t i. u = t Erklämng links und rechts geschlossenes Ereignis links geschlossenes und rechts offenes Ereignis links offenes und rechts geschlossenes Ereignis links und rechts offenes Ereignis rechts geschlossenes, d.h. abschließendes Ereignis rechts offenes, d.h. sich änderndes Ereignis links geschlossenes, d.h. beginnendes Ereignis links offenes, d.h. bisher anderes Ereignis ständiges Ereignis Hierbei sind t und t’ nicht identische Zeitintervalle, u ist ein Ereignis. (2a) z.B. verweist auf ein Ereignis, das sowohl t und t’ einschließt, d.h. in sich geschlossen ist. 92 Kaneko Tohru Es kann der Fall sein, dass Sprachen nicht alle diese Ereignis-Typen ausdrücken können und einzelne Typen in Subklassen unterteilen. Wir nehmen jedoch generell an, dass sie im Grunde auf diesem Modell basieren. 1.4 Okkurrenz der Ereignisse Angenommen, dass es nach dem Vorschlag von Äqvist/ Guenthner (1978) die oben angeführten 9 Grundtypen von Ereignissen gibt, so ergibt sich die Gesamtmenge von Ereignissen E aus den obigen Typen wie folgt: (3) E ={a: [t t’], b: [t t’[, c: ]tt’], d: ]tt’[, e: t], f: t [, g: [t, h: ]t, i: T} Der Ereignistyp a (vgl. (4)) kommt dann zu Stande, wenn sich eine Situation -u in einem Zeitintervall t in eine Situation u verwandelt und diese Situation u sich in t’ wieder in -u verwandelt. Der Ereignistyp b liegt dann vor, wenn sich -u in t in u verwandelt, aber dieses u in t’ weiter gleich bleibt. Diese Erklärung gilt mit den notwendigen Änderungen auch für die anderen Ereignistypen. Das Zustandekommen eines Ereignisses hängt also von der Verwandlung von u/ -u in t/ t’ ab, wobei -u und t’ unter Umständen irrelevant sein können. Die Okkurrenz eines Ereignisses a wird also ermöglicht, wenn -u/ u in t und u/ -u in t’ gilt wie in (4a) Dies lässt sich schematisch wie in (4b) darstellen: (4) a. |e(a) = -u/ u in t und u/ -u in t’ b. |-e(a) = -u [ t u ,• ] -u (4a,b) besagt also, dass eine Situation u in t zu Stande kommt (comes-about) und in t’ abschließt (ceases). Beim Zustandekommen eines Ereignisses sind daher maximal die folgenden Momente zu berücksichtigen: (5) a. Situation: u, -u b. Zeitintervall: t, t’ c. Vorder- und Hinterrahmen: [, ] Dieses logische Modell benötigt mindestens die obigen Ereignis-konstruierenden Faktoren. Minimal sind sie aber auf u, t und einen Rahmen zu reduzieren. Unserer Annahme nach sind die von uns perzipierten Ereignisse Wo die Semantik anfängt 93 grundsätzlich gemäß der logischen Grundformen aufzufassen. Die sprachliche Repräsentation von Ereignissen basiert folglich auf diesem logischen Fundament, allerdings mit einzelsprachlichen Modulationen, die jedoch prinzipiell nicht darüber hinausgehen. Ein Verbalsatz drückt die Okkurrenz eines Ereignisses aus, auch wenn es ein reales oder fiktives sein mag. Mit anderem Worten: wenn es einen verbalen Ausdruck (Lv) gibt, ist notwendigerweise anzunehmen, dass ein Ereignis (E) in einem bestimmten Zeitintervall (t) zu Stande gekommen ist bzw. zu Stande kommt, nämlich (6) 3Lv => (t) (- E Diese Relation ist zweifelsohne einseitig; denn ein Ereignis kann nicht immer die entsprechende linguistische Repräsentation haben. Der rechte Term von (7) lässt sich, wenn wir den maximalen Typ (2a) als Beispiel nehmen, wie folgt umschreiben: (7) (t) |- E = (t,f) |- E(a) = -u [ t u r ] -u Dies besagt, dass sich ein verbaler Ausdruck der Sprache grundsätzlich auf einen der Ereignis-Typen (2a), d.h. auf die kognitive Konstruktion: -u [ t u t - ] -u stützt. Diese Relation zwischen verbalen Ausdrücken und den ihnen entsprechenden Ereignistypen ist also nicht einzelsprachlich festzumachen, sondern universal. Ein Beispiel verdeutlicht diesen Prozess: ein japanisches intransitives Verb {ugok-} (Kasusrahmen: _<objekt>ga, engl, move, dt. sich bewegen) setzt eine Situation „no move“ voraus. Diese Situation ändert sich in einem Zeitintervall t in eine andere Situation „move“. Diese zweite Situation „moving“ dauert eine Weile und ändert sich in t’ wieder in die erste Situation „no move“. Der Prozess entspricht genau dem Typ (2a). move i (8) {ugok-} bedeutet: -move [, moving t - ] -move Es fragt sich nun, ob und wie Zeit sich hier verhält. Mit Sicherheit findet hier ein Zeitbezug statt. Er ist jedoch anders geartet als beim Tempus. Tempus bezieht sich auf die ‘historische Zeit’, auf die Abfolge von Ereignissen. Da- 94 Kaneko Tohru gegen fungiert die Zeit in move als eine Mauer, die zwei nebeneinander stehende Situationen voneinander trennt. Sie markiert die Grenzen der Situationen. Sie ist die Zeit innerhalb eines Prozesses. Wir können sie daher als prozessuale Zeit bezeichnen, oder wenn das Wort „Zeit“ hier nicht als passend empfunden wird, mit „Zeitlichkeit“ benennen. 1.5 Sprechzeit und historische Zeit Das Sprechen ist selbst ein Ereignis, das zum Typ (2a) -u [ , u t - ] -u gehört. Der Sprecher betrachtet seinen Sprechakt als absoluten Bezugspunkt, um den herum er die anderen Ereignisse linear anordnet: (9) ... ei ... -speak [, speak t -] -speak ... e 2 ... Die Zeit (t,t’) in [ t speak,-] des Sprechens selbst bekommt einen Sonderstatus in der gesamten linearen Konkatenation der Ereignisse: sie steht stets im Zentrum der Ereigniskette und fungiert als absoluter Maßstab für die lineare Ordnung der Ereignisse. Diese Maßstab-Zeit hat zwei besondere Eigenschaften. Erstens besitzt sie keine reale Länge; ein Sprechakt kann praktisch nur eine Sekunde, oder aber in einer langen Rede sogar mehr als eine Stunde dauern. Die Sprechzeit (t,t’) in [ t speak , ] ist aber ein abstraktes Zeitintervall, das lediglich dazu dient, Ereignisse um sich selbst herum zu arrangieren. Zweitens ist die Sprechzeit (sprz) keine beliebige Zeit, sondern bezieht sich auf einen Sprechakt, der sich eben jetzt ereignet. Sie ist ein Unikum, das keinem anderen Ereignis angehört. (10) (t,t’) in [ t speak ,•] = ein abstraktes und unikales Zeitintervall t (mit „Sprechzeit“ bezeichnet) Die meisten Sprachen besitzen Bezeichnungen für die Sprechzeit. Das japanische ima (= jetzt) ist ein Nomen dafür. Dieses Wort wird oft etymologisch als Kompositum iw-ma (sprechende Zeit), oder ik-ma (lebende Zeit) bezeichnet, wobei mit ma eigentlich ein leeres Intervall angegeben wird, das zwischen zwei Ereignissen steht. Geht man von der ersten Etymologie aus, verweist ima logischerweise auf das Sprechintervall zwischen zwei anderen Ereignissen wie ei, e 2 in (9). Wo die Semantik anfängt 95 Das privilegierte Zeitintervall, die Sprechzeit, ordnet nun alle anderen Ereignisse linear um sich herum an, wenn sie im Sprechakt erwähnt werden. Der Sprecher hat dabei die Wahl zu treffen, wie er sie gruppieren will. Bei der linearen Kette von Ereignissen wie bei (11a) gibt es drei Möglichkeiten, die Kette zu gruppieren: (1 lb,c,d) (11) a. e, — [ t speake 2 b. 1 2 3 c. Ii J 2 (aoristisch) d. 1 1-2-1 (futurisch) Die Gruppierung (11b) unterteilt die Kette in drei unterschiedliche morphologische Klassen. Die Gruppierung (11c) fasst das links liegende Ereignis und den Sprechakt in eine gemeinsame Zeitkategorie zusammen und markiert das rechts liegende Ereignis als ein besonderes. Die Gruppierung (lld) macht das Gegenteil: diese Sprache markiert das links stehende Ereignis allein als ein besonderes und fasst die anderen beiden zusammen. Eine Sprache, in der die Gruppierung (11b) vorherrscht, ist z.B. das heutige Deutsch. Gruppierung (11c) ist häufig bei vielen alten Sprachen wie dem Nivkh zu finden. Gruppierung (lld) kommt im Japanischen vor, wobei nur die bis zum Sprechakt schon zu Stande gekommenen Ereignisse morphologisch markiert werden, dagegen die gegenwärtigen und folgenden Ereignisse ohne morphologische Markierung zusammengefasst werden. Es gibt aber auch Sprachen, die überhaupt keine Tempusmarkierungen dieser Art aufweisen. Nur in kontextuell zwingenden Fällen werden dabei Zeitangaben gebraucht, ohne die verbale Form zu beeinflussen, wie es bei Ainu und anderen Sprachen der Fall ist. Tempus ist also aus unserer Sicht eine einzelsprachlich bedingte morphologische Markierung, die auf der Basis der Gruppierung der linearen Kette in (1 la) arbeitet. Die Zeitangaben stehen mit der Sprechzeit in Beziehung. Unterscheidbar sind zunächst zwei Klassen: die definiten und die indefiniten Zeitangaben. Die definiten Zeitangaben sind grundsätzlich semantisch von ima (jetzt) ableitbar wie kyoo (heute), d.h. der Tag, der die Sprechzeit einschließt. Die indefiniten Zeitangaben lassen sich quantifikatorisch klassifizieren; sie sind mit All-, Existenz- oder anderen komplexen Quantoren verbunden, wie z.B. im Deutschen immer, dann. 96 Kaneko Tohru 1.6 Zeitkalkül Die Zeit innerhalb eines Ereignisses, die wir oben mit prozessualer Zeit bezeichnet haben, steht mit der historischen Zeit, die bei der linearen Konkatenation von mehreren Ereignissen auftritt, in deren Mitte sich der Sprechakt befindet, in ständigem Zusammenspiel. Wenn sich das Zeitintervall am Ende eines Ereignisses mit dem Sprechakt überlappt, dann besteht eine Zeitrelation wie etwa die folgende: (12) 3 (tl, t2, t3, t4 & (t2 < t4)) |- [ tl u t2 ] & |- [ t 3 speak t4 ] Dies gilt für den Fall, bei dem der Sprecher schon zu sprechen anfängt, bevor das davor stattfindende Ereignis gänzlich beendet ist. Es besteht eine Reihe von Zeitrelationen, in denen das prozessuale mit dem historischen Zeitsystem in Zusammenhang steht. Die Sache wird in der Realität noch komplizierter, weil in den meisten Sprachen noch ein drittes Zeitsystem vorhanden ist, das man mit „Aspekt“ zu bezeichnen pflegt. In manchen Sprachen geht dieses Zeitsystem genetisch dem Tempus voran. Unter Berücksichtigung von (1 Id) und der prozessualen Zeitlichkeit der Verben (13) haben wir die Zeitrelation des Dreier-Systems berechnet. Dabei spielt noch der formale Unterschied der Zeitangaben in der Simplexform, in der lexikalisierten Form oder in Form eines komplexen Satzes eine relevante Rolle, um die elementaren Zeiten ti, tj, ... in kalkulierbare Relationen zu bringen. Wir gehen aber davon aus, dass diese komplexen Zeitrelationen mit einem eindimensionalen zeitlogischen Kalkül berechenbar sind. 2. Lexikalischer Aspekt im Japanischen Die Ereignistypologie von Äqvist/ Guenthner (1978) ist mit den nötigen Einschränkungen grundsätzlich zur Beschreibung der natürlichsprachlichen Aspekttypen verwendbar. Im Fall des japanischen Verbs {ugok-} ist, wie oben erwähnt, einer dieser Ereignistypen ohne bemerkenswerte Revision anwendbar. Aber für {na-}(= non-existent, fehlen) ist schon fraglich, ob der Typ (2i) dafür gilt; denn erstens ist darauf der Typ (2d) ]u[ vielleicht besser Wo die Semantik anfängt 97 anzuwenden. Und zweitens ist es schwierig zu entscheiden, ob man für u den semantischen Wert „non-existent“ oder einen anderen neuen Typ ]-u[ annehmen soll. Eine andere grundsätzlichere Revisionsmöglichkeit bezieht sich auf die Frage, ob der einseitige Rahmen wie in (2e) u] auf (2c) ]u] reduzierbar ist. Wir klammern aber viele Probleme dieser Art zunächst aus und nehmen bloß an, dass das Modell auch der Beschreibung einer natürlichen Sprache wie des Japanischen zu Grunde zu legen ist. Dabei gehen wir von den folgenden Postulaten aus: Postulat I. Allen Typen von lexikalischem Aspekt sind die folgenden Situationsketten zuzuordnen: (13) pre-sitS! sit 2 $post-sit wobei sit = u, pre-sit das linke Ereignis von u, post-sit das rechte Ereignis von u, und $ = ein Decksymbol für [ oder ], das jeweils (2a) -u [ u ]-u entspricht, und $i - „Vorderrahmen“ 2$ = „Hinterrahmen“. Beim Verb {ugok-} z.B. erscheint dieses zu Grunde liegende Schema wie folgt: (14) —i ugok- [ ugok- ] —i ugok- Postulat II. Auf die Beschreibung der punktuellen Situation wird das Schema ebenfalls angewandt, allerdings mit den folgenden Bedingungen: (15) a. sit hat eine minimale Dauer, b. der Vorder- oder Hinterrahmen kann offen sein, c. die post-sit wird mit Parametern „res“ (resultativ) oder „eff“ (effektiv) markiert. Die Voraussetzung für das Zustandekommen der Bedeutung des Verbs {cuk-} ((Feuer, Licht) angemacht werden) ist z.B. die Situation, in der das Licht noch nicht angemacht ist. Diese Situation wird mit „—istate(cuk-)“ gekennzeichnet. Dann beginnt der eigentliche Prozess des „Licht-an“. Er ist punktuell, i.e. die Dauer des Prozesses ist praktisch gleich null. Er kann aber 98 Kaneko Tohru eventuell mikroskopisch ausgedehnt werden. Wir markieren daher diese Dauer mit „min(imal)“. Wenn nun der Prozess abgeschlossen ist, ist das Licht noch an. Das heißt, dass das Resultat des Prozesses übrig und weiterhin bestehen bleibt. In diesem Fall ist der Hinterrahmen nach rechts offen, zumal die statische Sitation wie etwa „state(cwk-)“ zumindest eine sehr kurze Weile dauert. Der ganze Prozess lässt sich wie folgt formulieren: (16) —i sVdtc(cuk-) [ cuk- (min) [ res Postulat III. Eine statische Situation, die verbal, d.h. mit Stativen Verben oder Adjektiven ausgedrückt wird, hat einen nach links sowie nach rechts offenen Vorder- und Hinterrahmen. Dies besagt, dass alle Momente in der Situationskette gleichwertig sind. Wenn also die pre-sit mit sit gleichwertig ist, wird der Vorderrahmen als nach links offen bewertet. Das Gleiche gilt auch für die post-sit. Das japanische Verb {na-} (nicht-existent,/ e/ z/ e«) ist demnach mit der folgenden Formel zu beschreiben: (17) na- ] na- [ na- Um die Beschreibung der Situationskette überhaupt technisch erarbeiten zu können, sind nun die folgenden Operationen nötig: (18) In der Konkatenation (13): pre-sit $i sit 2 $ post-sit wird a. in sit ein verbales Morphem eingegeben, b. der semantische Wert von pre-sit und post-sit bewertet, wobei der Wert grundsätzlich aus der Bedeutung von sit eindeutig abgeleitet wird, c. der Wert des Vorder- und Hinterrahmens bewertet, wobei die Bewertung in Bezug auf sit geschieht; hierbei führen wir die folgenden Konventionen ein: #: geschlossen in der Richtung auf sit *: offen in der Richtung auf sit vgl. die Beispiele: (14) —lUgok- # ugok- # -nugok-, (16) —istate(cwk-) # cuk- (min) * res, (17) na- * na- * na-. Wo die Semantik anfängt 99 2.1 Innersprachliche Parameter für den lexikalischen Aspekt Beim Einfügen eines lexikalischen Morphems für sit in (13) beginnt die Semantik der Einzelsprachen. Dies besagt, dass die entscheidenden Kriterien für die Wertbestimmung einer Situationskette durch die Spezifizierung der Rahmen $, der Dauer der Situation, sowie des spezifischen Wertes der presit und post-sit systemintern in Bezug auf strukturelle Verträglichkeit unter morphologischen Elementen determiniert werden. Das Japanische verfügt über die folgenden Parameter, die für die Spezifizierung von Situationsketten relevant sind: (19) Parameter I: für die Spezifizierung des Vorderrahmens und der Situationstypen mit dem Kontext {-Rw} - Parameter 1-1: V ima -R« => —i(state)sitV => j# sitV... - Parameter 1-2 : V — ► ima -Ru = sitV => *J,sitV(state)... Erklärungen hierzu: a) Parameter 1-1 bedeutet: wenn ein Verb V im Kontext ima (-Ru} die Situation, in der die von V ausgedrückte Situation noch nicht zu Stande kommt, d.h. die pre-sit von V —i (state)sitV angibt, steht die von ima angegebene Zeit, d.h. die Sprechzeit vor dem Vorderrahmen. In diesem Fall wird V als ein non-statives Verb mit einem geschlossenen (#) bewertet. b) Parameter 1-2 bedeutet: wenn V in dem gleichen Kontext die von V ausgedrückte Situation, d.h. sit selbst angibt, wird der Vorderrahmen von V als offen bewertet. In diesem Fall ist V ein statives Verb. c) Hierbei ist {-Ru} ein Decksymbol für die Morpheme {-ru} und {-«}, die jeweils unter den phonologischen Bedingungen verkommen: {-ru}/ Vokal , {-u} / Konsonant . (20) Parameter II für die Spezifizierung des Vorder- und Hinterrahmens und der Situationsqualität mit dem Kontext {-ta} - Parameter II-l: \-ta => #|sit... & ...sit #,),=># sit # - Parameter II-2: V-ta —> eindeutig sitj, => ...sit*res - Parameter II-3: Y-ta —> #],_* oder #_* jres => #V * - Parameter II-4: Y-ta —»sit=postsit => V= Stativ 100 Kaneko Tohru Erklärungen hierzu: Bei den Parametern II handelt es sich darum, welche Situation von (13) mit der präteritalen Form V-ta angegeben wird. Der Satz (i) ist zweideutig, ima zeigt entweder auf das Zeitintervall gleich nach dem Beginn der Bewegung oder auf das Ende der Bewegung. Die Situation, auf die der Pfeil verweist, ist der Prozess der Bewegung oder die Abgeschlossenheit des Prozesses der Bewegung. Diese Ambiguität determiniert die Form der sit dieses Verbs. (i) densya ga ima ugoi-ta (jetzt bewegte sich die Bahn) => # j ugok- oder # ugok- # i Das Verb {k-}(kommen) in (ii) hat eine punktuelle Bedeutung. Nachdem die Bewegung abgeschlossen ist, bleibt das Etwas zumindest eine Weile „hier“, im Bereich des Sprechers. Das Resultat von {k-} ist daher, dass das Etwas noch „hier“ bleibt. Wir nehmen zunächst an, dass dieses Verb die semantische Struktur (26a) hat, sodass dem Verb der Typ (26b) zuzuordnen ist. (ii) {£-} = —i be here # be here * be here => # &-(min)* res Die Ambiguität von (-ta) tritt auch bei den Verben # V(durativ) auf, z.B.: (iii) tobira ga hirai-ta (das Tor öffnete sich) => #[hirak- * res oder # hirak- *fres, d.h. {hirak-}: process (hirak-) # hirak-(dm) * res Bei Stativen Verben in -ta-Form wird angenommen, dass die gleiche Situation möglicherweise noch in post-sit andauert. (iv) kure tosyokan ni ima i-ta yo (er warjetzt in der Bibliothek) =>*/ -* (21) Parameter III: die Spezifizierung von sit und res mit dem Kontext V-te im - Parameter III-l: V in [ -te im] => eindeutig progressiv => # V(durativ)# - Parameter III-2: V in [ -te im] => progressiv/ resultativ => #V(durativ)* Wo die Semantik anfängt 101 - Parameter-III-3: V in [ -te iru] => eindeutig resultativ => #V(min/ 0)* - Parameter III-4: V in [ -te iru] => resultativ/ iterativ => #V(min0)* - Parameter III-5: V in [ -te iru] => eindeutig iterativ => #V(min0)# - Parameter III-6: V in [ -te iru] nicht möglich => *V* Der Verbalkomplex V-te iru hat eine statische Bedeutung, sodass der Kontext -te iru das eingegebene V stativiert, d.h., er stellt eine Stative Bedeutung her. Er nimmt aus einem Vorgang sowie auch aus einer resultativen Tätigkeit einen statischen Prozess, d.h. aus den Verben #V# eine progessive Phase und aus den resultativen Verben #V* einen resultativen Zustand heraus. Dieser Kontext ist aber nicht auf ein statives Verb anwendbar, da daraus kein weiterer stativer Zustand abgeleitet werden kann. (22) Parameter IV zur Spezifizierung von ±eff, Kontext -te oku und te aru - Parameter IV-1: V in V-te oku => #V(akt)$ - Parameter IV-2: V(akt) in V-te aru => V(effekt) = # V(akt) $ eff Der Kontext V-te oku macht aus V eine geplante Tätigkeit von V, wobei der Termin für die Tätigkeit normalerweise explizit ausgedrückt wird. Der Kontext V-te aru drückt dagegen die kausale Folge der geplanten Tätigkeit aus, wobei der Täter prinzipiell nicht zum Ausdruck kommt. Diese Suffixbildung wird als anti-passivische Zustandsbezeichnung betrachtet. V(akt) in (22) sind Verben, die Befehle ausdrücken können; allerdings gilt nicht der Umkehrfall, z.B. bei Verben wie [sin-] (sterben). Zumindest ist eine obere Kategorie V(act) annehmbar. Es gilt: (23) Parameter V: Befehlsverben => #V(act)$ ( =) #V((akt)$) Die Länge der sit wie (durativ)/ (min/ 0) kann auch mit Hilfe der Hinzufügung einiger Adverbien und Aspektformen wie V-te kuru/ iku weiter spezifiziert werden. Relevant sind u.a. die folgenden Parameter: 102 Kaneko Tohru (24) Parameter VI für die Spezifizierung der Situationsqualität von sit - Parameter VI-1: V in dandan V-nt (allmählich V) => # V(graduell)$ - Parameter VI-2: V in sibaraku W-ru (eine Weile V) => #V(homogen)$ - Parameter VI-3: V im Kontext dandan \-ru und V-te kuru/ iku => # sit(graduell) - Parameter VI-4: V im Kontext sibaraku \-ru aber nicht \-te kuru/ iku => #sit(homogen)$ - Parameter VI-5: V im Kontext V-te kuru/ iku aber nicht in dandan V-ru # V(graduell)$ Bei der konkreten Anwendung der obigen Parameter finden wir aber einige merkwürdige Fälle, in denen eigentlich gegensätzliche Kombinationen der Parameter zulässig sind, oder ein normaler Parameter wie V-ta nicht anwendbar ist. Lexikalische Varietäten scheinen also über ein sauberes System der Parameter hinauszugehen. Ein typisches Beispiel ist eben {ni-} (ähneln). Dieses Verb ist statisch und lässt die -ta-Form lediglich beim adnominalen Gebrauch zu. Es geht in den Kontext V-te iru ein und ist in der Form ni -te ita geläufig. Diese Klasse der Verben bezeichnen wir mit *# sit #* und betrachten sie als Unterklasse der Stativen Verben. 2.2 Typen des lexikalischen Aspekts der japanischen Verben Mit Hilfe dieser Parameter sind in der japanischen Gegenwartssprache die folgenden Typen des lexikalischen Aspekts festgestellt worden. Die in Klammern stehenden Nummern kennzeichnen die lexikalischen Aspektklassen. Zu einer ausführlichen Darstellung der einzelnen Verben und ihrer Zugehörigkeit zu Aspektklassen siehe Kaneko (1995) und (1999) (digitale Ausg. von Hituji/ Tokyo, http: / / www.hituji.co.jp/ index.html) und die deutschsprachige Darstellung in (2000) und (2002). Wo die Semantik anfängt 103 (25) r Stativ *V(dur)* (1.1) *#V(dur)#* (1.2) - Stativ & durativ *V(dur)# (2.1) *V(dur(act))# (2.2) — #V(dur)# #V(dur)# (3.1.1) #V(dur(act))# (3.1.2) #V(dur(act))#eff (3.1.3) -durativ — #V(dur)* r #V(dur) — #V(dur(graduell)* #V(dur)*res (3.2.1) #V(dur(act))*res (3.2.2) #V(dur(act))*eff (3.2.3) r - #V(dur(graduell))*res (3.3.1) #V(dur(graduell.act))*res (3.3.2) I— #V(dur(graduell.act))*eff (3.3.3) #V(min)#- punktuell — — ^(min}*- #V(min)# (4.1.1) #V(min(act))# (4.1.2) #V(min(act))#eff (4.1.3) #V(min)*res (4.2.1) #V(min(act))*res (4.2.2) #V(min(act))*eff (4.2.3) 3. Tempora des Japanischen Das Japanische verfügt über zwei Tempora, die mit den Suffixen {-ta} und {-Ru} gekennzeichnet werden, {-ta} ist präterital und markiert, {-Ru} ist dagegen nicht-präterital und unmarkiert. Beide sind eindeutig. (26) a. {-ta} => |-3 (t,t’) $, sit t -$ < sprz {Ru} => sonst, d.h. sprz ^ }-3 (t,t’) $ t sit , $ b. grafische Darstellung: presit $ t sit t $ postsit t0 t t’ t0 1 I ll —1— 1 sprz^t/ t’ t’< sprz {-Ru} {-ta} 104 Kaneko Tohru 3.1 Tempusformen 3.1.1 Markiertes Tempus {-ta} Mit dem markierten Tempus {-ta} wird eine Reihe interessanter Sätze gebildet, die bisher aus unterschiedlicher Sicht schon diskutiert wurden. Repräsentativ sind die folgenden: (27) a. kare ima tosyokan ni i-ta yo. {Er war eben in der Bibliothek.) b. hora, densya ga ki-ta yo. {Guck, die Bahn kommt.) c. ano yubiwa ga konna tokoro ni at-ta wa. {Der Ring ist doch hier.) d. kyoo wa anata no tanjobi desi-ta ne. {Heute war doch Ihr Geburtstag.) Der Sprecher in (27a) erweitert mit ima die Sprechzeit bis zur vorzeitigen Situation, in der kare (= er) in der Bibliothek war. Er zielt damit darauf ab, zu sagen, dass er noch da ist. Dieser sprachliche Trick deutet an, dass die sit noch jetzt gilt. Wenn man nun eine hypothetische Zeit R annimmt, auf die der Sprecher seine Sprechzeit virtuell verschiebt, so kann man die Zeitrelation etwa wie folgt umformulieren: (28) a. i- * i- * i-< sprz T t t ' ima b. i- * i- * i-G R(ima) = sprz Der Satz (27b) ist ein typisches Beispiel für „{-ta} des Findens“. Da sprachliche Zeitrelationen grundsätzlich auf visuellen Gegebenheiten basieren, scheinen ohne visuell-temporale Konversion generell sogar sprachliche Zeitrelationen kognitiv nicht etablierbar zu sein. Bei Satz (27b) spielt eben die Visualisierung eine entscheidende Rolle. Wenn wir das Sichtfeld des Sprechers mit R bezeichnen, ergibt sich die folgende Zeitrelation, die nichts anderes als die normale Funktion von {-ta} darstellt. Wo die Semantik anfängt 105 (29) a. # / c-(min)* res (= ki-te i-ru) T T {-ta} {-te i-} < sprz R b. #&-(min)* < R < sprz e res Der Satz (27c) enthält auch {-ta} des Findens. Wir erhalten hier also folgende Zeitenkonstellation: (30) a. ar- * ar-(dur)* art T {-ta} sprz R b. ar- * ar-(dur)* < R < sprz e postsit(or-) Bei Satz (27d) handelt es sich wieder um eine vor der Sprechzeit vorhandene virtuelle Zeit R, in der das Ereignis entsteht. In dieser R weiß also der Sprecher schon von der Sache. Auf Grund dieser vorhandenen Kenntnis sagt er, oder gibt er zumindest an, dass der Satz (27d) gegenwärtig noch gilt: (31) a. des-* des~(dm)* des- T T {-ta} sprz R b. *tanjobi desu* < R < sprz e tanjobi desu Wir haben jedoch gesehen, dass bei all diesen Sätzen die Grundbedeutung von {-ta} gleich bleibt. Die anscheinend besonderen Bedeutungen entstehen dabei wegen der Betrachtzeit R. Diese kann also eine erweiterte Sprechzeit (27a), ein virtuelles Sichtfeld (27b), ein Gedächtnis (27c) oder eine Vorkenntnis (27d) bezeichnen. Wir können nun schließen, dass die Bedeutung von {-ta}, vom jeweiligen lexikalischen Aspekt des Verbs abhängig, in 3 Typen mit je 2 Subklassen zu klassifizieren ist. 106 Kaneko Tohru (32) 1. i.i 2. Typen der Bedeutung von {-to} 2.1 3. sit gilt vorzeitig, sonst kontextabhängig sit gilt vorzeitig, teils sit gleichzeitig gleich nach dem Abschluss der sit(dur) lex.asp. Klasse gleich nach dem Beginn der sit(dur) zwischen dem Abschluss der sit und dem Beginn der post-sit (der res/ eff) 1.1 *V(dur) 1.2 *#V(dur)#* 2.1 *V(dur)# 2.2 *V(dur(act))# 4.1.1 #V(min)# 4.1.2 V(min(act))# 4.1.3 #V(min)#eff 3.1.1 #V(dur)# 3.1.2 #V(dur(act))# 3.1.3 #V(dur(act))#eff 3.2.2 #V(dur(act))*res 3.2.3. #V(dur(act))*eff 3.2.1 #V(dur)*res 3.3.1 #V(dur(gr))*res 3.3.2 #V(dur(gr.act))*res 3.3.3 #V(dur(gr-act))*eff 4.2.1 #V(min)*res 4.2.2 #V(min(act))*res 4.2.3 #V(min(act))*eff Die Bedeutung von 2 ist präterital; dagegen ähnelt die Bedeutung 3 dem Perfekt. Der Unterschied der Bedeutung 3 zum Perfekt, etwa des Deutschen, liegt darin, dass der Abschluss eines Ereignisses gekennzeichnet wird mit der Implikation, dass danach eine resultative/ effektive Situation folgt. Die Bedeutung der gegenwärtigen Situation hängt dabei sehr vom Kontext, besonders von der Zeitangabe, ab. In allen Fällen ist es wichtig zu erkennen, dass die anscheinend präteritale und perfektive Bedeutung von [-ta] vom lexikalischen Aspekt des betreffenden Verbs abhängig ist. 3.1.2 Unmarkiertes Tempus {-Ru} Das Tempus {-Ru} ist, mit {-ta} verglichen, nicht markiert. Betrachten wir zunächst die folgenden einfachen Sätze: (33) a. hana wa saki, tori wa utau {Blumen blühen und Vögel singen) b. hana ga saku {Blumen blühen) Wo die Semantik anfängt 107 c. mai-asa asagao ga saku (jeden Morgen blühen Trichterwinden) d. kono hana mo moo saku (diese Blüte wird bald blühen) Der Satz (33a) lässt zwei Lesarten zu: (i) Er ist eine generelle Aussage über Vögel und Blumen, die jeweils die Eigenschaften ‘Singen’ und ‘Blühen’ haben. Die zweite Bedeutung (ii) ist deskriptiv: über Vögel und Blumen als Themen wird gesagt, dass sie z.B. im Frühling jeweils singen oder blühen. Der Satz (33b) hat drei Lesarten: (i) als eine vom Zustand der Außenwelt unabhängige Äußerung wie ein Beispielsatz in einem Lexikon, (ii) als die aktuelle Schilderung einer gegenwärtigen Situation, wenn man eben den Zustand des Blühens wahrnimmt, (iii) als prognostische Aussage, die man im Anblick der blühenden Blumen macht. Der Satz (33c) ist wieder deskriptiv, aber hier geht es um eine Äußerung über ein iteratives Ereignis. Der Satz (33d) ist futurisch, wie in der Übersetzung zu sehen ist. Sofern liefert diese temporale Form die folgenden Typen der Bedeutung: Tempus {-/ ? «} hat die Funktionen: (34) a. Lexikonbeispiel b. generelle Definition c. Deskription folgender Art thematische Deskription aktuelle Deskription iterative Deskription prognostische Deskription futurische Deskription keine Zeitrelation mit Sprechzeit, d.h. atemporal für alle Zeiten (Vt) gilt der Satz für eine bestimmte Zeit (3t) gilt der Satz das Subjekt: ein bestimmtes x (3x)... das Subjekt: ein definites x (i x)... sprze(3T)... sprz^(3t) ... sprz<(3t)... (hierbei T = langes Zeitintervall) d. allgemeine Zeitrelationen von {-/ ? «} (i) bei *V... : sprz € sit=*V... (ii) bei #V...: sprz < sit=#V... 108 Kaneko Tohru 3.2 Adnominale Tempora In einer adnominalen Konstruktion (= "Relativsatz“-Konstruktion) wie (35) [ s V{-Ru}/ {-ta}]N kann die Tempuswahl einer Restriktion unterliegen, die von der Bedeutung von N abhängig ist, falls N eine temporale Bedeutung hat, wie in (36 ii) und (36 iii): (36) i. {-Rul-ta} möglich a. [\juu-nenkan issyo ni sigoto o si-ta\ nakama] ga 8gatu 23niti ni sinda/ sinu (der Kollege, mit dem ich 10 Jahre gearbeitet hatte, starb am 23. August) b. [\juu-nenkan issyo ni sigoto o su-ru] nakama] ga 8gatu 23niti ni kita/ kuru.(der Kollege, mit dem ich 10 Jahre arbeiten werde, kam/ kommt am 23. August) ii. {} ist obligatorisch c. kanojo ni aw-u yakusoku (Verabredung mit ihr zu sehen) d. ame ga huridas-u mae (bevor es zu regnen anfängt) e. Kanazawa o tazune-ru tabi (jedes Mal, wenn x Kanazawa besucht) iii. {-ta} ist obligatorisch f. sugata o kesi-ta ato (nachdem x verschwunden war) g. hukazake o si-ta yokujitu (am nächsten Tag, nachdem x sich betrunken hatte) h. kaimono ni de-ta kaeri (unterwegs beim Einkäufen) i. iki-iki-si-ta hyojo (lebendiges Gesicht) 3.3 Tempusfolge Sätze können in verschiedener Weise verbunden werden. Wir unterteilen die Satzverbindungen nach weitgehend morphologischen Kriterien in vier Klassen. (37) a. Folge der finiten Sätze z.B. kare wa kono rnati de umare-ta. sosite kono mati de sin-da. (Er wurde in dieser Stadt geboren. Und er starb in dieser Stadt.) Wo die Semantik anfängt 109 b. Folge der finiten Sätze mit Finalpartikeln {ga, kara, keredo (mo),node, noni, to] z.B. kare wa byoki dat-ta node, yasun-da {Da er krank war, fehlte er.) c. Kombination der infiniten Sätze (i) mit V-i (renyokei) z.B. kare wa tegami o kak-i, sanpo ni dekake-ta. {Er schrieb einen Brief und ging spazieren.) (ii) mit te-Form z.B. Kyoto e it-te, tera o mi-te, kinoo kaet-ta. {x ging nach Kyoto, sah die Tempel und kam gestern zurück.) (iii) mit V-tari,-reba z.B. kyojuu ni genkoo ga deki-reba, asu dekakeru. {Wenn ich heute das Manuskript fertig habe, gehe ich morgen hin.) (iv) mit V-tari z.B. karera wa utattari, odottari, nondari sita. {Sie sangen, tanzten und tranken.) (v) mit V-i-nagara z.B. kare wa mai-asa sinbun o yom-i-nagara asamesi o kuwu. {Erfrühstücktjeden Morgen mit der Zeitung.) (vi) mit \-tutu und einigen anderen Partikeln z.B. kare wa titi ni mi-mamo-rare-tutu, iki wo hikitotta. {Er starb unter den Augen seines Vaters.) d. Verbindung von adnominalen Sätzen mit formalen Nomina z.B. bukka ga konna ni takaku naru mae wa, kurasi yasukatta. {*Bevor der Preis so gestiegen wurde, lebten wir besser.) Auf Einzelheiten bzgl. der Probleme bei der Tempusfolge wird hier nicht eingegangen. Es ist jedoch zumindest anzumerken, dass die temporalen Spezifikationen in japanischen Sätzen im Einzelnen für sich allein bewertet werden und es daher in der japanischen Grammatik formal-grammatische Regeln im Sinne einer consecutio temporum nicht gibt. 110 Kaneko Tohru 4. Aspektformen des Japanischen Das Japanische verfügt ungefähr über 15 Aspektformen, die Verbalkomplexe bilden, was typologisch relevant ist. Die Verbalkomplexe bilden hierbei die Kette eines Kopf-Verbs und dazu affigierten auxiliären Verben, wobei die Argumente des Kopf-Verbs an den oberen Argument-Knoten adjungiert werden. Typologisch gesehen, liegt hierin der Unterschied gegenüber inkorporierenden Verbalketten, in denen die Argumente dem Kopf-Verb angehängt bleiben. 4.1 Klassen der Aspektformen und ihre Hauptfunktionen Aspektformen unterteilen sich in die folgenden Typen und ihre Funktionen sind die folgenden: (38) Haupttypen 1.1 V-tei- 2 \-te simaw- 3 V-teok- 4 \-tear- 5 W-te mi- 2.1 Y-tek- 2 V-teik- 3.1 Vi-hajime- 2 yi-owar- 4.1 yitutuar- 2 Vfin tokoro da Funktion Stativiemng (progressiv/ resultativ) Perfektivierung (atemporal) vorherige Bereitstellung Bereitgestellt sein (anti-pass.) Provierung Perspektivierung Prospektierung Initialphasen-Thematisierung Finalphasen-Thematisierung Progressivierung/ Mikroskopik Initialphasen-Thematisierung/ Progressivierung Die Einzelheiten über die Funktion der Aspektformen werden hier nicht erwähnt. Vgl. Kapitel 6 von Kaneko (2002). Wo die Semantik anfängt 111 4.2 Phasen-Thematisierung Hier soll lediglich die interessante Funktion der Formen 3 und 4 in der obigen Tabelle kurz angesprochen werden, die die Phasen der sit thematisiert. Sie unterscheiden sich formal durch die stammvokalische Alternation und unterteilen sich in die Formen zur Initial-, Medial- und Finalphasen-Thematisierung: (39) intransitiv transitiv initial V-i hajima V-/ hajimemedial V-i tuzukfinal V-i owar- V-/ tuzuke- V-i oe- Die semantische Funktion der Formen lässt sich wie folgt schematisieren: (40) initial medial final I 1 tabe-hajime, -tuzuke, -owar pre-sit $, sit *lex. Bedeutung (tabe-) t >$ post-sit 4.3 Präzedenzrelation für Aspektformen Die Aspektformen sind miteinander kombinierbar. Eine generelle Regel für die Reihenfolge sieht etwa wie folgt aus: (41) Phase I V-hajime- W-kake- W-kakar- W-owar- V-oe- V-tuzukeii m iv v vi ~-te k- ~ '--te ik- J -te simaw--] -te ok- - -te i- L -te ar - < tutu ar- < tokoro vn da 112 Kaneko Tohru Hierbei steht * für eine beliebige und < für eine bestimmte Reihenfolge und I. für Phasenthematisierung II. für Per-/ Prospektierung III. für Perfektivierung/ Bereitstellung/ ... IV. für Stativierung/ Bereitgestellt-sein V. für Progressivierung/ Mikroskopik VI. für im-Stande-sein VII. für Affirmation 5. Kombination der Zeitausdrücke Zeitausdrücke spielen miteinander zusammen. Das Folgende ist dafür ein interessantes Beispiel: Die Nomialphrase tame ni (fiir/ daher) wird durch die Alternation der vorhergehenden Tempora disambiguiert in Bezug auf die Bezeichnung des Ziels oder der Ursache. (42) a. sono hon o kau tame-ni Kanda made itta. (... um das Buch zu kaufen, fuhr ich nach Kanda.) b. sono hon o katta tame-ni sukkari kane ga naku natta. (... deswegen, weil ich das Buch kaufte, habe ich kein Geld mehr.) Als Grundbedeutung von tame-ni setzen wir [kausalität(—>•/ <—)] an, d.h. [Ziel/ Ursache]. Die Selektion „Ziel“ oder „Ursache“ geschieht hier durch die Kombination der Tempusformen wie folgt. (43) a. tame-ni = [kausalität](— ► / <—) b. {-Ru}+tame-ni => [kausalität](—>): futurisch (Ziel) {-ta }+tame-ni => |kausalität](<—): präterital (Ursache) Dies ist ein einleuchtendes Beispiel, das zeigt, dass eine anscheinend tempus-indifferente Nominalphrase tarne ni von dem Tempus des vorhergehenden adnominalen Satzes semantisch kontrolliert wird. Wo die Semantik anfängt 113 5.1 Verbalkomplex, Aspekt und Tempora Ein Verbalkomplex kann mehrere verbale Kategorien enthalten. Die Reihenfolge ihrer Verkettung unterliegt dabei einer bestimmten topologischen Regel. Die grundsätzliche Reihenfolge ist wie folgt: (44) a. kausal passiv aspektl aspekt2 tempusl modal tempus2 b. kiti wa sudeni kaitai-sare-te simat-te i -ta rasikatta. (Basis schon zerstörwerdfertig war schien) topic adv V kaus pass aspl asp2 tempi mod temp2 (Die Basis schien schon zerstört worden zu sein.) Zu bemerken ist hier, dass Tempora zweimal auftreten können. Das Erste bezieht sich auf das beschriebene Ereignis, und das Zweite auf die Zeit der Referenz. Als zweites Beispiel sehen wir den Fall, in dem einige Verbalkomplexe miteinander in einem kausalen Zusammenhang stehen. (45) a. Kato-san wa oku-san ni kagi o arakajime azuke-te oita. (Kato hatte vorhin seiner Frau den Schlüssel abgegeben.) b. Kato-san ga oku-san ni kagi o azuke-ta. (Kato gab seiner Frau den Schlüssel ab.) c. oku-san wa kagi o arakajime az.ukat-te i-ta (Seine Frau hatte schon den Schlüssel.) d. kagi wa Kato-san ga oku-san ni azuke-te ar-ta(>at-ta). (Der Schlüssel ist schon vorhin von Kato seiner Frau gegeben worden.) e. kagi wa oku-san ni azuke-te atta. (Der Schlüssel ist seiner Frau gegeben worden.) Der Satz (45a) setzt den Satz (45b) voraus, wobei der letztere auf das Ereignis referiert, das dieser Geschichte zugrunde liegt. Das Resultat von (45b) ist der Satz (45c). Daraus ergibt sich das Ereignis (45d), der Effekt-Zustand des Satzes (45b) und folglich auch des Satzes (45c). Der antipassivische Satz (45c) benötigt kein Agens ebenso wie (45d). Das Objekt kann typikalisiert werden wie beim Satz (45e). Schematisch: 114 Kaneko Tohru (46) (45b) < sprz I # azuke-{&c{(mm)) *res&eff (Ereignis selbst) T t (45a)<sprz (45d) = (45e) < sprz (45c) < sprz 5.2 Zeitangaben Zeitangaben im Japanischen verteilen sich prinzipiell auf drei Klassen, die jeweils einige Unterklassen haben: (47) l. deiktische Referenz 1.1 elementare Deixis {ima (jetzt)} 1.2 abgeleitete Deixes {kyoo (heute), raisyuu (nächste Woche), kyonen (letztes Jahr)} 2. kontextuelle Referenz 2.1 implizite Referenz {tabe-te simat-te i-ta (x hatte schon aufgegessen)} 2.2 explizite Referenz 2.2.1 chronologische Referenz [1953nen 5gatu 28niti (am 28. Mai 1953)} 2.2.2 quantifikatorische Referenz {itumo(immeij, mamonaku (bald), sono uti (in absehbarer Zeit)} 3. prädikative Referenz [itaria e itta toki (als x nach Italien fuhr)} Die Zeitangaben dieser Art weisen alle auf die Betrachtzeit R hin. Sie bestimmen den zeitlichen Wert R eines Satzes. Wie oben erwähnt, nimmt die elementare Referenz ima eine Sonderstellung ein. Die abgeleiteten Deixes beinhalten stets ,jetzt“ im Zentrum ihrer Bedeutung, „heute“ ist z.B. der Tag, der ,jetzt“ einschließt. Ihre kontextuelle Referenz verteilt sich auf verschiedene Subklassen. Hier ist lediglich als ein kompliziertes Beispiel die implizite Referenz zu erwähnen. Dem folgenden Satz (48) ist die Struktur (49a) zuzuordnen. Diese Struktur repräsentiert die Zeitrelation wie (49b), die wie (49c) zu verbalisieren ist: Wo die Semantik anfängt 115 (48) ima-goro wa mou sanroku o aruki-tuzuke-te it-te im tokoro daroo (jetzt mag er schon am Bergfuß wandern) (49) a. V / \ V tokoro+da M V iru M V itte / \ V tuzukete arukib. |-(tO) [[[[[*tokoro+da*_\*/ -*[#f'k-(dur)*res['' i: / «zMk<M+dur(act)) *[#aruk- (dur(act))#]] d.h. tO=sprz in _ c. Der Sprecher vermutet jetzt, dass sich die Betreffenden im Zustand des fortgehenden Prozesses des Wanderns am Bergfuß befinden. Am Schluss dieses Kapitels ist nur noch kurz ein aspekttemporales Kalkül zu erwähnen: (50) a. Der aspektuale Wert eines ganzen Verbalkomplexes ist die Multiplikation von Aspekten seiner Komponenten, formal: f(v')=f(v 1 )xf(v2)x... xf(vn) b. Die aspektuale sowie temporale Spezifikation eines Verbalkomplexes wird von der Spezifikation der letzten Komponente des Komplexes determiniert, formal: Asp(komplex)={ Asp(vn) I Asp(vl)...Asp(vn)} Bei einer prädikativen Referenz spielt die Zeit des adnominalen Satzes die Rolle von R des Matrixsatzes. Betrachten wir den Satz (51a), dem die Zeitrelation (51b) zuzuordnen ist. Die Zeitrelation sieht dabei grafisch wie (51c) aus: (51) a. [ NP [ s gakko ni tuita] toki ] ni wa, jugyoo ga moo hjimatte ita. (Als x die Schule erreichte, hatte der Unterricht schon angefangen.) b. (i) toki ni referiert R={RI |- (t2=R) #gakko ni tui-ta* & R<sprz} 116 Kaneko Tohru (ii) |- (tl) #jugyo ga hamimar-*res (iii) |- (t3) *[\Jugyo ga hamimar-]te ita]* t3<tO (iv) {sudeni} referiert: t2<t3 c. tl<R(=t2) t3<sprz(=tO) d. grafisch dargestellt: *[jugyo ga hajimat]te ita* tl t3 I 4 #jugyo ga hajimar-*res— R (=t2) sprz(=tO) t #[[gakko ni tuitai*]toki\ 6. Wo fängt die Semantik bei Zeitrepräsentationen an? 6.1 Charakteristika der japanischen Zeit- und Zeitlichkeitsausdrücke Die grundlegenden Charakteristika der verbalen Zeitausdrücke des Japanischen lassen sich wie folgt zusammenfassen: a) Verbale, d.h. Verben, Adjektive und so genannte Nominaladjektive verteilen sich grundsätzlich auf drei Hauptklassen des lexikalischen Aspekts wie folgt: (52) Haupttypen postsit ±act sit-phase 1.1 Stativ *V(dur)* nonV non-act homogen 1.2 *V(dur)# 2.1 durativ #V(dur)# 2.2 #V(dur)* 3.1 punktuell #V(min) : t 3.2 #V(min)# nonV nonV res eff act non-act homogen graduell prozessual b) Japanisch verfügt über verschiedene Aspektformen mit unterschiedlichen Funktionen, die durch Suffigierung an Verbalen die ursprünglichen lexikalischen Aspekte der Verbale revidieren wie (38). yjo die Semantik anfängt 117 c) Japanische Tempora unterscheiden lediglich zwei Formen wie (26), nämlich Präteritum (32) und Präsens (34). Es gibt kein Perfekt im Japanischen; Perfekt ist die Kombination der Verben mit offenem Hinterrahmen und dem Präteritum {-ta}. d) Zeitreferenz spielt bei der Kombination der Zeitausdrücke des Japanischen eine große Rolle. Explizite Referenz, d.h. verbal ausgedrückte Zeitreferenz ist wie (53) in inhärente und abgeleitete Formen aufzuteilen. Implizite Referenz wird aus dem Komplex der Zeitausdrücke durch ein angemessenes Zeitkalkül erreicht. (53) Referenztypen inhärent abgeleitet sprechzeitbezogene Referenz ima (jetzt) sakki (bald) chrononogische Referenz 1953nen (Jahr 1953) kyoo (heute) quantitative Referenz itumo (immer) sorekara (dann) e) Die Zeitrepräsentation des Japanischen drückt den folgenden Zeitkomplex aus: (54) Zeitkomplex prozessuales Zeitsystem historisches Zeitsystem Komplex von Elementen der Zeitausdrücke lexikalischer Aspekt: $sit$ und Aspektformen Tempora um die Sprechzeit Zeitreferenz & Betrachtzeit 6.2 Kognitive Modelle und sprachliche Repräsentationen 6.2.1 Repräsentation des lexikalischen Aspekts Angenommen, dass die Ereignis-Typen von Äqvist-Guenthner (2) ein kognitives Modell von der menschlichen Erfassung der Ereignisse darstellen, lässt sich das zu Grunde liegende Schema des lexikalischen Aspekts (13) als die generelle Basis der sprachlichen Repräsentation der Ereignisse betrachten. Die Ereignis-Typen (2) gehören also zu dem kognitiven und das As- 118 Kaneko Tohru pektsschema (13) zu den sprachlichen Universalien. Im Kapitel 2 sind einige wichtige innersprachlich determinierte Parameter gezeigt worden, die zur Spezifikation der lexikalischen Aspektkategorien des gegenwärtigen Japanischen zur Verfügung stehen. Mit ihnen ergeben sich die einzelnen lexikalischen Aspektkategorien (25). Die einzelsprachliche Semantik beginnt hier bei der Lexikalisierung des Aspektschemas (13 =>25) mittels der ebenso einzelsprachlichen Parameter I-VI im Kapitel 2, die grundsätzlich als einzelsprachliche Verarbeitung zu den einzelnen universalnahen kognitiv-sprachlichen Elementen gehören. Hier liegt eben die Grenze zwischen Kognition und Sprache. Die Frage, wie einzelne Sprachen das kognitive Modell (2 und 3) im einzelsprachlichen Aspektschema (25) lexikalisieren, kann wahrscheinlich so beantwortet werden: „das hängt vom Geschmack eines Volkes ab“. Die mentale Neigung einer Sprachgruppe selegiert und gruppiert eine bestimmte Kategorie von (2 und 3) und formt sie in einen lexikalischen Aspekttyp wie in (25). Die möglichen umweltbezogenen und historischen Motivationen hierzu lassen sich jedoch bei unserem gegenwärtigen Forschungsstand noch nicht detailliert erfassen. Erstaunlich ist jedoch, dass Sprachen über viele gemeinsame Aspekttypen verfügen. Diese Tatsache geht wahrscheinlich auf das Schema (13) und die Teiluniversalien der Parameter im Abschnitt 2 zurück. 6.2.2 Thematisierung der besonderen Phasen der Aspekte Die Situationskette des universalen Aspektschemas (13) besteht aus drei Situationen, pre-sit, sit und post-sit. Die sprachlich explizit ausgedrückte Situation sit ist entweder durativ oder punktuell; die post-sit kann den Gegenwert von sit haben, d.h. —isit. Sie kann aber auch resultativ oder effektiv sein. Sind die beiden Seiten von sit offen, so ist sit notwendigerweise durativ, sodass die Kette selbst Stativ (= statisch) ist. Eine durative Situation hat verschiedene Phasen, zumindest eine initiale, progressive und finale Phase. Diese Spezifikation der Kettenqualitäten gehört von vornherein zu den von Einzelsprachen unabhängigen Begriffen der kognitiven Universalien. Sie werden aber in Einzelsprachen semantisch repräsentiert, derart, dass eine besondere Phase entweder thematisch herausgenommen oder revidiert wird. Die sprachlichen Instrumentarien dafür sind einzelsprachlich unterschiedlich. 'No die Semantik anfängt 119 Das Japanische verfügt über Aspektsformen wie (39), die besondere Spezifikationen und Funktionen leisten. Sprachen wie das Japanische unterscheiden zwei unterschiedliche Arten der semantischen Operation des Aspekts. Die eine ist der lexikalische Aspekt, der von vornherein in die verbale Bedeutung involviert ist. Er entspricht etwa dem prätheoretischen Gedanken über so genannte ‘Aktionsarten’ der Verben. Die andere ist die selektive Thematisierung und Spezifizierung bestimmter Phasen einer lexikalischen Situationskette. Wir betrachten diese selektive Operation wesentlich als sekundäre Revision und Spezifikation der lexikalisch formulierten inhärenten Sitationsketten. Wir nehmen dabei auch an, dass das Vorhandensein dieser Operationen sowie ihre präsemantischen, d.h. über-einzelsprachlichen Elemente wie Progressivierung, Perfektivierung, Resultativisierung und einige andere zu den sprachlich realisierbaren kognitiven Universalien gehören. Die Semantik beginnt daher erst dann, wenn die Spezifikationen der lexikalischen Aspektklassen und deren Revisionen sprachlich repräsentiert, d.h. lexikalisiert werden, und hängt davon ab, wie dies geschieht. 6.2.3 Tempus und linearisierte Ereignisse Tempus entsteht dann, wenn ein bestehendes Ereignis mit einem anderen linear verglichen wird. Man nimmt dabei den Sprechakt selbst als ein Ereignis an, sodass die lineare Kette der Ereignisse von Seiten des Sprechaktes her als eine konsequente Abfolge interpretiert wird; formal dargestellt: (55) (Be) |-e={ $, sit ,$ } <! >/ = sprz {= (t t) |- Sprechakt} Die Semantik des Tempus beginnt dann, wenn die Relation (</ >/ =) lexikalisiert wird. Im Japanischen wird sie lexikalisch realisiert wie in (26). Das schwierige Problem der Zeitsemantik entsteht dadurch, dass eine fiktive Zeit, d.h. die Betrachtbzw. Referenzzeit, in eine Ereignis-Folge hineingebracht wird (siehe 31-33), sodass der Zeitkomplex in einer Abfolge von drei unterschiedlichen Ereignissen zu Stande kommt. Wir haben oben in den Kapiteln 3 und 5 dieses Probleme lediglich angetippt, ohne das kognitive 120 Kaneko Tohru Modell dafür anzugeben, u.a. deswegen, weil das Problem der Referenzzeit für sich allein als ein gesondertes Forschungsthema anzusehen ist. 6.2.4 Die sprachliche Verarbeitung weiterer kognitiver Elemente Wir haben oben an verschiedenen Stellen eine Reihe präsemantischer Elemente eingeführt, wie aspektuale Kategorien (41), Korrelation der Kausalität (43), Zeitreferenzen (47) und andere mehr. Sie gehören im großen Rahmen der Zeitsemantik wesentlich zu den abgeleiteten Elementen der Sprachuniversalien. Dies besagt jedoch nicht, dass sie von geringer Bedeutung sind. Sie sind eher besonders relevant, um kognitive und sprachliche Elemente in eine Interrelation einzubringen. Ein Beispiel bietet die Topologie der aspektualen Kategorien (41). Das Problem wird interessanter, wenn mit Einführung mehrerer Elemente verschiedener Sprachen versucht wird, eine Typologie aufzubauen. 6.3 Tabellarische Darstellung zum Verhältnis von Kognition und Sprache Am Schluss wird eine vereinfachte Tabelle „Zusammenfassung der theoretischen Implikationen“ (56) beigefügt, die andeuten soll, wo die Semantik anfängt. Allerdings ist eines noch nachträglich zu bemerken: dieser Aufsatz hat leider noch auf die ernsthafte Frage, wenn die Semantik arbeitet, nicht direkt eingehen können, obwohl mich meine alten Freunde Klaus Baumgärnter und Manfred Bierwisch (bes. vgl. Bierwisch 2000) dazu gedanklich sehr angeregt haben, mich mehr mit dieser Frage zu beschäftigen. Ich würde mich aber freuen, wenn ich auch mit meinem anderen alten Freund Gert Stickel über die linguistischen Probleme dieser Art noch mehr diskutieren könnte, wenn er künftig im Stande sein wird, mehr seiner Zeit in die Linguistik zu investieren. Wo die Semantik anfängt 121 (56) „Zusammenfassung der theoretischen Implikationen“ u r— 1 2 P S 2 «Ei c P ox; o ^ i lü ox ^ re oxi c 1 § s. Cß Oß c ä 3 —" o T3 3 c ^ «3 < a> X oß «oc E g> e i=: -p ü N ca -iS ^ ^ ° -o -g ! ^i “B > >w oo p E 'y S '5 = N 122 Kaneko Tohru 1. Literatur (eine Auswahl) Äqvist, Lennart/ Günthner, Franz (1978): Fundamentals of a Theory of Verb Aspect and Events within the Setting of an Improved Tense Logic. In: Günthner, Franz/ Rohrer, Christian (Fig.): Studies in formal semantics. Intensionality, temporality, negation. Amsterdam u.a. S. 167-199. Baumgärtner, KlausAVunderlich, Dieter (1969): Ansatz zu einer Semantik des deutschen Tempussystems. Beiheft zu „Wirkendes Wort“ 20. Düsseldorf. Bierwisch, Manfred: Die linguistische Relevanz sprachlicher Varietäten. Symposium über Völker und Sprachen in Ostasien ihre Diversität und Zukunft. Universität Leipzig, Mai 2000. Internet: http: / / www.uni-leipzig.de/ j apanologie. Comrie, Bernard (1976): Aspect. An introduction to the study of verbal aspect and related problems. Cambridge. Comrie, Bernard (1985): Tense. Cambridge. (= Cambridge textbooks in linguistics). Dowty, David R. (1979): Word meaning and Montague grammar: the semantics of verbs and times in generative semantics and in Montague's PTQ. Dordrecht u.a. (= Synthese Language Library 7). Galton, Antony (1984): The Logic of Aspect. An axiomatic approach. Oxford. Harras, Gisela/ Bierwisch, Manfred (Hg.) (1996): Wenn die Semantik arbeitet. Klaus Baumgärtner zum 65. Geburtstag. Tübingen. Kaneko, Tohru (1991): Tense-Aspect Calculus of Modern German. In: Proceedings of the 14 lh International Congress of Linguists Berlin 1987. Berlin. Kaneko, Tohru (1997): Gengo no Jikan-hyogen [Zeitrepräsentation der Sprachen], Hituji Shobo. Kaneko, Tohru (2002): Leipziger Vorträge über japanische Sprache. Leipzig. Reichenbach, Hans (1947): Elements of Symbolic Logic. New York. Rescher, Nicholas/ Urquhart, Alasdair (1971): Temporal Logic. Wien u.a. Steinitz, Renate (1979): Der Status der Kategorie „Aktionsart“ in der Grammatik (oder: gibt es Aktionsarten im Deutschen? ). Berlin. (= Linguistische Studien. Hrsg. v. d. Akademie d. Wissenschaften d. DDR. Reihe A. Arbeitsberichte 59). Wunderlich, Dieter (1972): Zeitreferenz des Deutschen. München. Carlo Serra Bometo Was im Deutschen steht und liegt Überlegungen zur Raumsemantik 1. Einführung Die Raumsemantik ist ein beliebtes Thema der kognitiv orientierten Linguistik, die u.a. die These vertritt, dass die mentale Erarbeitung konzeptueller Schemata für die Realisierung räumlicher Ausdrücke ausschlaggebend ist. Unterschiede gibt es in der Hervorhebung dessen, was als Grundlage der Schemabildung zu identifizieren ist, d.h. derjenigen Bereiche, die zur Konstitution des konzeptuellen Raumes und der entsprechenden raumsprachlichen Ausdrücke beitragen. Von diesem Standpunkt aus sind mindestens drei Hauptperspektiven erkennbar, denen nicht unbedingt unterschiedliche Richtungen innerhalb der kognitiven Linguistik entsprechen, die aber oftmals bei der Analyse raumsprachlicher Ausdrücke unabhängig auftreten: 1 1) Die „perzeptiv-induzierte“ Perspektive, wonach raumsemantische Ausdrücke bestimmte Schemata reflektieren, die ursprünglich aus der konstruktiven Bearbeitung des perzeptorischen Inputs kognitiv erarbeitet wurden. Anders (und etwas zugespitzt) ausgedrückt: die Wahrnehmung des (externen) physikalischen Raums trägt zur Bildung von internen Modellen und Schemata bei, die dann in den sprachlichen Raumausdrücken mindestens teilweise wiedererkannt werden können. Dies kann angeblich schon in der Phase der Schemabildung beim Kleinkind verfolgt (vgl. dazu Clark 1973, Slobin 1973, Mandler 1988 und 1992, Bowerman 1996a und 1996b u.a.m.) oder als Grundlage für mentale Repräsentationen räumlichen Wissens postuliert werden (Miller/ Johnson-Laird 1976, Levelt 1989, Bierwisch 1996 mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung). 2) Die „körperlich-anthropozentrische“ Perspektive, wonach raumsemantische Repräsentationen aus der menschlichen Körpererfahrung entstehen 1 Vgl. dazu Sinha/ Jensen de Lopez (2000). 124 Was im Deutschen steht und liegt und sich in „Vorstellungsschemata“ (image schemas) konstituieren. Solche Schemata bilden dann die Quelle für raumsprachliche, unter Umständen auch raummetaphorische Ausdrücke, die ihre semantisch-konzeptuelle Grundlage hauptsächlich in dem internen propriozeptiven Erlebnis haben. Dieser Ansatz wurde von Lakoff (1987), Johnson (1987), Lakoff/ Johnson (1999) philosophisch und linguistisch begründet, inspiriert aber auch manche psycholinguistischen Richtungen innerhalb der kognitiven Linguistik (z.B. Gibbs 1994, Herrmann/ Schweizer 1998, Grabowski 1998). 3) Die „ethnografisch-kulturelle“ Perspektive, wonach kulturelle Modelle die Entstehung von Vorstellungsschemata mitbestimmen und somit ihren Niederschlag in der lexikalischen (Raum-)Semantik finden. Konzeptuelle Metaphern (Lakoff/ Johnson 1980, Lakoff 1987) aber auch semantischethnografische Ansätze (z.B. D'Andrade 1995, Palmer 1996, Gibbs 1999) bauen auf dieser Konzeption auf. Diese drei Perspektiven deuten jeweils auf unterschiedliche grundlegende Modalitäten der räumlichen Konzeptualisierung. Die „perzeptiv-induzierte“ Perspektive beruft sich auf die so genannte intrinsische Raumrepräsentation, die den externen Raum nach ‘objektiven’ physikalischen Daten kategorisiert. In diesem Sinne basiert die räumliche Konzeptualisierung auf „äußeren“ Faktoren, d.h. auf dem Erlebnis und der Wahrnehmung der Außenwelt. Die „körperlich-anthropozentrische“ Perspektive weist dagegen auf eine deiktische Raumrepräsentation hin, die den eigenen Körper als Referenzrahmen oder Origo versteht. Sie erfasst den Körper auch als Quelle von physischen und psychologischen Erlebnissen, die als Grundlage von Raummetaphern dienen. Die damit verbundene Konzeptualisierung basiert also im weitesten Sinne auf „inneren“ Faktoren. Schließlich beruft sich die „ethnografischkulturelle“ Perspektive auf eine rein konzeptuelle, abstrakte und nicht dimensionale Raumvorstellung, die lediglich als Ordnungsprinzip für menschliche Handlungen oder kulturelle Konstrukte gilt. Hier ist also keine besondere Direktionalität (von außen oder von innen) in der Konzeptualisierung und Schemabildung erkennbar. Für jede Modalität können repräsentative Sprachformen angegeben werden. Raumattribute wie hoch, lang usw. sind z.B. für die intrinsische Repräsentation typisch (sie beschreiben „objektive“ Eigenschaften eines Gegenstandes), Carlo Serra Bometo 125 solche wie hier, vorne, hinten usw. für die deiktische (sie weisen auf Teilräume hin, die nur in Bezug auf eine Referenzperson identifizierbar sind), Raummetaphern wie seinen Weg gehen oder oberflächlich sein usw. sind schließlich für die kulturelle Perspektive stellvertretend. Seltener sind Sprachformen, die multimodal d.h. vom Standpunkt aller drei Perspektiven aus interpretierbar sind. Die deutschen Positionsverben stehen und liegen gehören m.E. in diese Klasse. In ihrer sehr umfangreichen Semantik sind mehrere Schemata vertreten, die in all ihren wechselseitigen Interaktionen kaum völlig zu beschreiben sind. Deshalb habe ich mir hier vorgenommen, die Auswirkung eines einzigen Schemas des Hauptschemas der Vertikalität auf die Semantik beider Verben zu beschreiben. In meiner Argumentation werde ich mich auf die Eigenschaften und Interaktion der oben diskutierten Perspektiven berufen, die m.E. in der semantischen Realisierung des Vertikalitätsschemas eine wesentliche Rolle spielen. 2. Stehen und liegen: Grundbegriffe Stehen und liegen werden abwechselnd Lokalisierungs- (auch Orts-) und Positionsverben 2 genannt. Beide Bezeichnungen sind insofern richtig, als diese Verben zwei benachbarte, aber doch unterschiedliche semantische Funktionen erfüllen. Als Lokalisierungsverben thematisieren sie eine SICH-BEFINDEN-Relation, die ein Themaobjekt (ein Trajekt oder trajector in der Terminologie der kognitiven Linguistik) 3 mit einem Relatum (oder landmark) in eine sonst unspezifizierte räumliche Beziehung setzt. Z.B.: In Wunderlich (1985, S. 72) zusammen mit hängen, hocken, wohnen. Ähnlich aber nicht gleich ist die von Vorwerg/ Rickheit (2000, S. 9) für die Lokaliserung von Objekten benutze Terminologie: „Die Lage eines Objekts im Raum betrifft einerseits seine Orientierung (Ausrichtung) im Raum (sofern es sich nicht um Punkt, Kreis bzw. Kugel handelt), andererseits seine Position (Ort, Lokation). Die Position eines Objekts wird in Relation zu anderen Objekten wahrgenommen wie auch sprachlich wiedergegeben.“ 3 Trajector und landmark sind heute gängige Begriffe in der kognitiven Linguistik. Vgl. dazu insbesondere Talmy (1983) und Langacker (1987). 126 Was im Deutschen steht und liegt In ihrer Funktion als Positionsverben kommt eine weitere semantische Dimension hinzu: die Orientierung des Trajektors (entlang der vertikalen bzw. horizontalen Achse). Möglicherweise ist diese Dimension ursprünglich mit der „körperlich-anthropozentrischen“ Sehweise verbunden {stehen korreliert mit der aufrechten Stellung des wachen Menschen, liegen mit seiner Ruhelage), 4 sie kann aber auch durch die „perzeptiv-induzierte“ Perspektive aktiviert werden und sich damit auf die Orientierung lokalisierter Objekte in der „Außenwelt“ beziehen. Beide Funktionen können in Anlehnung an Langacker 5 durch zwei Varianten einer trajector/ landmark-R&Xähon schematisch repräsentiert werden. Als Beispiel für die Lokalisierungsfunktion gehen wir vom folgenden Satz aus: (1) Frankfurt/ / cg? am Main. 6 In diesem Satz übernimmt Frankfurt die Funktion des Trajektors (TR), Main die des Landmarks (LM), d.h., Frankfurt erscheint gegenüber Main vorzugsweise fokussiert. 7 Beide Größen bilden zusammen eine Relation {relationship)? die lokalisierenden Wert hat und folgendermaßen schematisch dargestellt werden kann: 4 Wörterbucheinträge starten oft mit einer Bedeutungsbeschreibung der „anthropozentrischen“ Perspektive. Z.B. für stehen: "l.a) sich in aufrechter Körperhaltung befinden; aufgerichtet sein, mit seinem Körpergewicht auf den Füßen ruhen“ DUDEN (Bd. 6, S. 2486). Ähnlich für liegen: „l.a) eine waagerechte Lage einnehmen; in ruhender bzw. in [fast] waagerechter Lage, Stellung sein“ DUDEN (Bd. 4, S. 1679). Paul ( 7 1976, S. 400) behauptet noch eindeutiger (zu liegen): „Es wird im eigentlichsten Sinne von Menschen und Tieren gebraucht“. Es wäre natürlich in diesem Zusammenhang auch die Sitzposition (sitzen) zu erwähnen, die aber aus Platzgründen hier nicht behandelt werden kann. 5 Vgl. z.B. Langacker (1992). 6 Die meisten Beispiele dieses Aufsatzes sind entweder aus Wörterbüchern entnommen oder von mir durch Befragung von Muttersprachlern auf Akzeptabilität getestet. Eine Reihe kontextualisierter Beispiele stammt aus dem Korpus „COSMAS I“ des Instituts für Deutsche Sprache (http: / / www.ids-mannheim.de/ kt/ corpora.shtml; Mannheimer Morgen) und ist mit (IDS) versehen. 7 Langacker (1999, S. 31) definiert den ‘Trajektor’ als „singled out for primary focal preminence“, während ‘Landmark’ als „accorded secondary focal prominence“ beschrieben wird. 8 Eigentlich müsste man hier weiter differenzieren: die Relation besteht in der Tat zwischen dem TR und einem „Suchbereich“ (search domain) des LMs, d.h. dem Teilraum (oder der Carlo Serra Bometo 127 Abb. 1: Schema der Lokalisierungs-(SICH-BEFINDEN-)Relation Diese in Abb. 1 dargestellte Relation bezieht sich auf eine nicht weiter spezifizierte Lokalisierungsform. Im Falle einer Positionsbeziehung sind aber die Gewichtungen innerhalb der Relation teilweise verändert. Z.B.: (2) Die Flasche (= TR) steht auf dem Tisch (= LM). (3) Die Zeitung (= TR) liegt auf dem Tisch (= LM). Diese Beispiele zeigen, dass die Wahl des Verbs bei gleich bleibendem LM (auf dem Tisch) durch die unterschiedlichen Eigenschaften der Trajektoren (Flasche bzw. Zeitung) bestimmt wird. Gewisse Charakteristika des TRs (und nicht etwa die des LMs) bedingen also die Selektion der in Konkurrenz stehenden Positionsverben stehen und liegen. Die Positionsrelation ist daher als asymmetrisch zu bezeichnen. Diese Asymmetrie kann folgendermaßen schematisch repräsentiert werden: „Region“) um den LM herum, der/ die durch die Präposition an gekennzeichnet und genauer spezifiziert ist (Miller/ Johnson-Laird 1976, Langacker 1987). Die Berücksichtigung dieses Aspektes würde das Schema um eine weitere spezifizierende Relation bereichern, die hier der Einfachheit halber nicht miteinbezogen wurde, obwohl sie zugegebenermaßen nicht unbedeutsam ist. 128 Was im Deutschen steht und liegt Abb. 2: Schema der Positionsbeziehung für stehen und liegen Die besondere Relevanz des TRs in dieser Beziehung ist durch die graue Schattierung symbolisiert. Obwohl auf den ersten Blick komplexer ist die Positionsbeziehung gegenüber der bloßen Lokalisierungsbeziehung kognitiv primär, weil sie grundlegende perzeptorische Erfahrungen widerspiegelt und deshalb in weitestem Sinne unmarkierter ist. 9 Die eben besprochene Asymmetrie gilt zwar für stehen und liegen, nicht aber gleichermaßen für alle Positionsverben: Bei stecken wird z.B. die Selektion des Verbs eher von den Eigenschaften des Landmarks bestimmt. Z.B.: (4) Das Taschentuch steckt in der Tasche. (5) *Das Taschentuch steckt auf dem Tisch. Bei gleich bleibendem TR (Taschentuch) ist die Eigenschaft des LMs (Tasche = geschlossener Raum; Tisch = offener Raum) für die Selektion bzw. Akzeptabilität des Verbs ausschlaggebend. 10 9 Vgl. Serra Bometo (1989, S. 371-378) und auch Mayerthaler (1981). I() Wiederum sind nicht die Eigenschaften des LMs, sondern die seines ganzen Suchbereiches (vgl. Anm. 5) relevant: in einem Satz wie „Die Nadel steckte in dem Tisch“ ist die Akzeptabilität von stecken dadurch gerechtfertigt, dass der thematisierte Teilraum des LMs (Tisch) aus einem geschlossenen Raum besteht. Carlo Serra Bomelo 129 Auch die Begriffe VERTIKAL und HORIZONTAL, die oftmals mit den Verben stehen bzw. liegen in Beziehung gesetzt werden, bedürfen einer Spezifizierung. Obwohl ihre intuitive Bestimmung ziemlich eindeutig ist, ist ihre kognitive Definition im Zusammenhang mit den jeweiligen drei oben genannten „Perspektiven“ differenziert aufzufassen. So bezieht sich das Schema VERTIKAL in einem nach der „perzeptiv-induzierten“ Perspektive interpretierbaren Satz auf eine dimensionale Eigenschaft des lokalisierten Gegenstandes (d.h. auf seine maximal ausgedehnte Dimension, die mit der vertikalen Achse des primären Orientierungsraums 11 übereinstimmt). In einem nach der „körperlich-anthropozentrischen“ Perspektive interpretierbaren Satz bezieht es sich dagegen auf die aufrechte Stellung des gesunden Menschen, die gleichzeitig mit Schwerkraft, Stütze (durch die Füße) und Stabilität korreliert. Schließlich ist das Schema VERTIKAL in Bezug auf die „ethnografisch-kulturelle“ Perspektive gewöhnlich im Sinne eines Ordnungsprinzips (Anhäufung von unten nach oben) zu verstehen. Dieses wird mit positiver Wertung („je mehr und je höher, desto besser“) assoziiert, oder im Sinne einer Hierarchie (von oben nach unten strukturiert), die gleichzeitig mit der Ausübung von Kontrolle und Kraft (Macht) korreliert. 12 Parallel dazu evoziert das Schema HORIZONTAL in einem nach der „perzeptiv-induzierten“ Perspektive interpretierbaren Satz die Position eines Gegenstandes, der entlang der vertikalen Achse des primären Orientierungsraumes maximal erstreckt ist. In einem nach der „körperlich-anthropozentrischen“ Perspektive interpretierbaren Satz wird dagegen primär die mit Unbeweglichkeit, Krankheit, Tod und Negativität korrelierte Ruhelage des Menschen betont. In Bezug auf die „ethnografisch-kulturelle“ Perspektive wird das HORIZONTAL-Schema u.a. mit dem Ordnungsprinzip der (westlichen) kanonischen Links-Rechts-Aneinanderreihung von kulturell bestimmten Einheiten, wie Zahlen, Buchstaben, mathematischen Größen usw. assoziiert. 11 Für den Begriff ‘Primärer Orientierungsraum’ (POR) vgl. Lang (1990). 12 Vgl. Lakoff/ Johnson (1980) und auch Serra Bometo (1996). 130 Was im Deutschen steht und liegt 3. Stehen und liegen als „Positionsverben“ Der Gebrauch von stehen und liegen als „Positionsverben“ hängt von den Eigenschaften des als TR fungierenden lokalisierten Objektes ab. Ausschlaggebend ist in diesem Fall die „perzeptiv-induzierte“ Perspektive: Das relevante Objekt wird im konkreten Raum (oder in der Vorstellung des konkreten Raumes) identifiziert, seine Eigenschaften isoliert, repräsentiert und mit den Schemata verglichen. Das Resultat dieses Vergleiches spiegelt sich in den sprachlichen Realisierungen wider, d.h. in diesem Fall in der Wahl des Verbs stehen oder liegen n In verkürzter Form bedeutet dies, dass die Gestaltcharakteristika des TRs die Selektion des Verbs bestimmen, und zwar nach der folgenden „Regel“: 14 REGEL 1 (Position): Vertikale Objekte selegieren stehen, andere Objekte liegen. In diesem Zusammenhang gilt als „vertikales Objekt“ ein dreidimensional aufgefasstes Objekt, dessen maximale Ausdehnung mit der vertikalen Achse des perzeptiven Raumes übereinstimmt. Objekte sind auf Grund ihrer Beweglichkeit und folglich ihrer Orientierungsmöglichkeit in Subklassen klassifizierbar (Lang 1990). Darunter zählen: a) Objekte mit fixierter Position im Raum, die unbeweglich sind. Diese selegieren grundsätzlich das entsprechende dimensionale Verb: ein Berg (vertikal) steht, ein Weg (nicht-vertikal) liegt. b) Objekte mit kanonischer Orientierung („mit Festlegung einer Normalposition und danach eingeschränkter Beweglichkeit“, Lang 1990, S. 67). Diese selegieren in den meisten (= kanonischen) Fällen je nach Orientierung eines der beiden Verben, können aber auch das konkurrierende Verb hervorrufen, wenn sie sich in einer ungewöhnlichen Position befinden: Ein Turm (vertikal) steht normalerweise, kann aber auch in 13 Natürlich wird hier, wie auch im Folgenden, keine direkte Ableitung aus der Perzeption und den mentalen Repräsentationen auf die raumsprachlichen Ausdrücke postuliert. Das ist nur eine Metapher, um die „Spuren“ des Konzeptualisierungsprozesses in den Sprachformen ausfindig zu machen. 14 Diese „Regel“ beschränkt sich auf die Positionsfunktion der hier behandelten konkurrierenden Verben stehen und liegen, gilt also nicht für andere Positionsverben (etwa sitzen). Carlo Serra Bometo 131 Trümmern liegen, ein Teppich (nicht-vertikal) liegt normalerweise, kann aber auch zusammengerollt an der Wand stehen. c) Bewegliche Objekte, die keine Normalposition besitzen und infolgedessen im Raum unterschiedlich orientiert werden können: ein Buch kann je nach Lage im Regal stehen (vertikal) oder liegen (nicht-vertikal) und beide Positionen sind gleich wahrscheinlich und akzeptabel. Die Selektion des Verbs wird von a) nach c) zunehmend freier: im Fall a) ist sie blockiert, in c) sind beide Möglichkeiten gleichwertig vorhanden. Dies hängt mit den intrinsischen Eigenschaften des Objektes zusammen: je unbeweglicher ein Objekt, desto festgelegter seine Position und entsprechend die Wahl des dazu gehörenden Positionsverbs. Die Formulierung der „Regel“ („Vertikale“ Objekte selegieren stehen, andere Objekte liegen) mag überraschend erscheinen angesichts der Tatsache, dass normalerweise ein anderes Begriffspaar, d.h. „vertikal/ horizontal“, für die semantische Bestimmung von stehen/ liegen gewählt wird. Der Rekurs auf dieses Begriffspaar ist sicherlich im Sinne der „körperlich-anthropozentrischen“ Perspektive gerechtfertigt, doch für die „perzeptiv-induzierte“ Perspektive scheint mir die oben genannte Formulierung angebrachter. Es gibt nämlich eine Reihe von Objekten, die weder vertikal noch horizontal maximal ausgedehnt sind und liegen selegieren, wie z.B. Bälle, Würfel, Wollknäuel, Apfelsinen usw. 15 Darüber hinaus wird liegen auch bei Gegenständen gewählt, die vom Standpunkt ihrer maximalen Ausdehnung unbestimmt bleiben, wie folgende Beispiele zeigen: (6) Überall liegen Trümmer verstreut. (7) ... über dem Horizont liegen die gelblichen Abgaswolken der Hüttenwerke. (IDS) Im Prinzip können Trümmer und Wolken ebenso vertikal wie horizontal orientiert sein, ihre maximale Ausdehnung ist nicht von vornherein bestimmbar. Die Tatsache, dass liegen in diesen Fällen bevorzugt wird, spricht für die Charakterisierung von liegen als Vertreter einer Restkategorie, eines defaults gegenüber der Kategorisierung der Vertikalen. Diese Hypothese 15 Vgl. auch Anm. 2. 132 Was im Deutschen steht und liegt stimmt auch mit manchen Ergebnissen der Wahmehmungsforschung überein, wonach die Vertikale als Gravitationsachse die eigentliche saliente Dimension darstellt, während die anderen Dimensionen in diesem Kontext gegenüber der Vertikalen abgeleitet sind. 16 Eine Gruppe von Objekten bleibt bei der Formulierung der „Regel“ ausgeschlossen: es handelt sich um Gegenstände, die zwar nicht entlang der vertikalen Achse maximal ausgedehnt sind, dennoch stehen selegieren. Dies sind z.B. Teller, Schüssel, Dosen usw. Sie gehören zur Gruppe b), da sie nur in kanonischer Orientierung mit stehen Vorkommen: (8) Die Teller stehen auf dem Tisch. (9) Die Teller liegen auf dem Tisch. (8) beschreibt eine Situation, in der die Teller normal auf dem Tisch gedeckt sind, in (9) sind sie umgekippt oder gar kaputt, jedenfalls „unkanonisch“ auf dem Tisch verstreut. Es gibt in der Gestalt dieser Objekte eine Eigenschaft, die in (8) die Selektion von stehen trotz maximaler Ausdehnung bzgl. der nicht-vertikalen Achse entlang auslöst. Dieses Eigenschaft ist in seiner Stützfläche (support) identifizierbar, auf Grund derer der Gegenstand seine stabile Position behält. Eine einfache, an der Universität Rom durchgeführte Umfrage bekräftigt diese Hypothese: wir haben 25 muttersprachlichen Erasmus-Studenten aus allen Teilen Deutschlands folgende drei Bilder zur Bewertung vorgelegt: 17 16 So behauptet z.B. Lang (1990, S. 65): „Die Horizontale (...) hat eher abgeleiteten und suppletiven Charakter. Sie ist nicht eigenständig im Organismus verankert, sondern ergibt sich als orthogonale Ergänzung zu dem durch die Vertikale und Betrachterachse jeweils vorbestimmten Achsenverhältnis.“ 17 Da die Zeichnung nicht eindeutig genug war, wurde spezifiziert, dass es sich um Glaskugeln handelte. Carlo Serra Bometo 133 STEHEN? Die Kugeln auf demTisch. Abb. 3a: Einfache Kugeln STEHEN? Die Kugeln auf demTisch. Abb. 3b: „Gekippte“ Halbkugeln LIEGEN? STEHEN? Die Kugeln auf demTisch. Abb. 3c: „Gestützte“ Halbkugeln 134 Was im Deutschen steht und liegt In Bezug auf die Bilder 3a) und 3b) haben alle 25 Probanden liegen gewählt, zu Bild 3c) dagegen haben 21 Probanden stehen und 4 liegen angegeben. Halbkugeln behalten global gesehen ihre runde Gestalt, doch ist die Anwesenheit einer flachen Stützfläche in 3c) für die Wahl von stehen an Stelle von liegen offensichtlich ausschlaggebend. Man merke, dass auch die Kugeln in 3b) eine gerade Fläche aufweisen, sie besitzt aber keine Stützfunktion, genau wie es bei den (umgekippten) Tellern in (9) der Fall war. Die Frage ist nun, ob es zwischen dieser Funktion als Stützfläche und dem allgemeineren Begriff des „vertikalen Objekts“ einen konzeptuellen Zusammenhang gibt. Aus meiner Sicht spielen hier zwei Perspektiven gleichzeitig eine Rolle: einmal die „körperlich-anthropozentrische“ Perspektive, insofern als der stehende Mensch nicht nur maximal entlang der Vertikalen ausgestreckt ist, sondern auch die grundlegende Erfahrung besitzt, dass seine stehende Position auf zwei geraden Flächen mit stabilisierender Funktion (den Füßen) basiert. Darüber hinaus ist hier auch die „perzeptiv-induzierte“ Perspektive insofern angesprochen, als die vertikale Achse typischerweise mit der Gravitationsrichtung fallender Objekte übereinstimmt und deshalb „die Resultante unserer gattungsspezifisch ausgebildeten Erfahrung im Umgang mit den Auswirkungen der Gravitation“ (Lang 1990, S. 64) verkörpert. Diese Erfahrung zeigt, dass die vertikale Achse am Ende der Bahn fallender Körper eine Unterbrechung erfährt, die mit der Horizontalen der Basis übereinstimmt und in dieser Hinsicht „stützende“ Funktion besitzt. 18 Die Kompatibilität dieser beiden Schemata (VERTIKALITÄT und STÜTZFLÄCHE-.VMp/ wrf) besagt natürlich noch nicht, dass sie lexikalisch zusammen repräsentiert werden müssen (z.B. eben durch das Lexem stehen)-, sie motiviert lediglich die Tatsache, dass dies im Deutschen der Fall ist. 18 Diese natürliche Funktion von SUPPORT wurde schon von Clark (1973, S. 32) dargelegt und ist in mehreren weiteren Studien über die Bildung von kognitiven Schemata beim Kleinkind bestätigt worden (vgl. z.B. Mandler 1992). Carlo Serra Bometo 135 4. Stehen und liegen als „Lokalisierungsverben“ Die reine Lokalisierung eines Objektes ist von der „perzeptiv-induzierten“ Perspektive losgelöst. In der Tat sind die dimensionalen Eigenschaften des TRs für die reine Lokalisierung des Objektes nicht relevant. Zwei Beispiele: (10) Es ist ein mittlerer Berg, 614 Meter hoch, und er liegt bei Wiesbaden. (IDS) (11) In Osnabrück, dort, wo es am Stadtrand trist und öde wird, liegen an einem Bahndamm einige Mietskasernen. (IDS) In beiden Fällen sind die dimensionalen Eigenschaften der TR-Objekte eher mit stehen als mit liegen kompatibel: Berg gehört zu den fixierten vertikalen Objekten (s.o.) und auch die Mietskasernen sind hoch und stabil (sie besitzen eine Stützfläche). Die Selektion von liegen ist dadurch erklärbar, dass die „perzeptiv-induzierte“ Perspektive nicht aktiviert wird und das Verb nur die Lokalisierungsfunktion erfüllt. In diesem Fall kommt das Schema in Abb. 1 und nicht dasjenige in Abb. 2 zur Geltung (s.o.). Eine Gegenprobe ist hier möglich: Stellen wir uns eine vergleichbare Situation vor, in welcher das thematisierte Objekt notwendigerweise als konkret wahrgenommen wird, wo also die „perzeptiv-induzierte“ Perspektive aktiviert werden muss. Nehmen wir z.B. an, dass eine Person vor den Mietskasernen steht und sie einem Freund zeigt; dann würde sie sicherlich sagen: (12) Schau mal, da stehen fliegen) einige Mietskasernen am Damm. Hier ist also im Gegensatz zu (11) nur stehen möglich, da die deiktisch evozierte Situation es nicht erlaubt, von der „perzeptiv-induzierten“ Perspektive und der damit verbundenen „Selektionsregel“ abzusehen. Die rein lokalisierende Funktion wird meistens nur dem Verb liegen zugesprochen, 19 stehen käme in dieser Bedeutung nicht in Frage. Wenn wir aber 19 In den Wörterbüchern wird oftmals eine spezifisch „topografisch/ geografische“ Funktion erwähnt, z.B.: "4a) an einem Platz (in der Landschaft, in einem Gebäude o. ä.) zu finden sein, seine (feste) [geografische] Lage haben“ (DUDEN, Bd. 4, S. 1680). 136 Was im Deutschen steht und liegt davon ausgehen, dass die lokalisierende Funktion nicht eine unabhängige Funktion darstellt, sondern aus der Deaktivierung der „perzeptiv-induzierten“ Perspektive entsteht, so müsste es möglich sein, auch stehen für diese Funktion zu selegieren, und zwar unter entsprechenden Bedingungen wie für liegen. Also: a) die Eigenschaften des TRs dürfen nicht relevant sein; b) das Schema der Vertikalität soll aber in irgendeiner Form aktiv sein (da „vertikal“ das semantische Spezifikum von stehen ist). Folgendes Beispiel erfüllt beide Bedingungen: (13) Die Sonne steht (*liegt) am Flimmel. Die Sonne als TR ist dimensional gesehen „nicht vertikal“ (grob gesagt: rund) und müsste deshalb durch liegen repräsentiert werden. Die Tatsache, dass hier nur stehen gebraucht werden kann, besagt eben, dass die Eigenschaften des Objekts (TR) nicht berücksichtigt werden. Damit ist die erste Bedingung erfüllt. Die zweite Bedingung verlangt, dass das Schema „vertikal“ in irgendeiner Form in der evozierten Szene impliziert ist. Meine Hypothese ist, dass eine abstrakte vertikale Achse, die mit der Sonnenbahn übereinstimmt, auf die ganze (Himmels-)Szene projiziert wird. Indizien dafür sind benachbarte Ausdrücke wie Die Sonne geht auf und Die Sonne geht unter, die auf eine vertikale Traiektorie hindeuten. Auch folgende Variante von (13) (14) Die Sonne steht (*liegt) am Horizont. bestätigt diese Hypothese, da hier die horizontale (also „nicht-vertikale“) Achse direkt erwähnt wird und als konkrete Bezugsachse in Frage käme. Liegen ist trotzdem nicht akzeptabel. Wenn diese Hypothese richtig ist, dann sind bei der Positionsbzw. Lokalisierungsfunktion zwei unterschiedliche mentale Vorgehensweisen im Spiel: im Falle der Positionsfunktion wird ein bestimmtes Element der Szene (das Objekt, das mit dem TR übereinstimmt) mit dem Schema VERTIKAL verglichen und das entsprechende Verb (stehen bzw. liegen) gemäß der „Regel 1“ selegiert. Im Falle der Lokalisierungsfunktion werden zwei Größen in Beziehung gesetzt, ohne aber auf ihre konkreten Eigenschaften einzugehen. Das Schema VERTIKAL kann trotzdem als mentale Repräsentation auf die Carlo Serra Bometo 137 Szene projiziert bzw. nicht projiziert werden. Im ersten Fall wird dann stehen, im zweiten liegen selegiert. In beiden Fällen werden die thematisierten Objekte in ihren perzeptorischen Eigenschaften nicht berücksichtigt. Die einschlägige „Regel“ für die Lokalisierungsfunktion könnte also folgendermaßen formuliert werden: REGEL 2 (Lokalisierung): Wenn das abstrakte Schema VERTIKAL mental aktiviert ist, wird stehen selegiert, sonst liegen. Die Projektion eines konzeptuellen Schemas ist von größter Bedeutung für der Entstehung von Metaphern: Bei dem Metaphorisierungsprozess werden nämlich bestimmte Züge einer Ausgangsdomäne abstrahiert (schematisiert) und auf eine andere Domäne übertragen. Deshalb kann die projizierende Aktivierung eines Schemas (wie in 13 und 14) als der erste Schritt des Metaphorisierungsprozesses angesehen werden (vgl. auch unten). Schließlich soll noch erwähnt werden, dass ein gleicher Inhalt gemäß dem Langackerschen Prinzip der imagery 20 unterschiedlich konzeptualisiert werden kann. Daher wird es nicht verwundern, dass die gleiche Situation abwechselnd nach „Regel 1“ oder „Regel 2“ konstruiert werden kann, z.B.: (15) Die Kirche steht neben dem Bahnhof. (16) Die Kirche liegt am Bahnhof. In (15) ist die „Regel 1“ (die Kirche wird in ihrer räumlichen Orientierung konzeptualisiert) in (16) die „Regel 2“ (die Kirche wird lediglich lokalisiert) am Werke. 20 „Our capacity to construe the same content in alternate ways is referred to as imagery, expressions describing the same conceived situation may nonetheless be semantically quite distinct by virtue of the contrasting image they impose on it“ (Langacker 1991, S. 4) 138 Was im Deutschen steht und liegt 5. Stehen und liegen aus der „körperlich-anthropozentrischen“ Perspektive Die „körperlich-anthropozentrische“ Perspektive bezieht sich vorwiegend auf Positionen, die ein Mensch einnehmen kann (also auf Körperhaltungen). Diese Spezialisierung ist so ausgeprägt, dass die einfache Lokalisierungsfunktion in dieser Perspektive nicht Vorkommen kann, z.B.: (17) Viele Leute liegen im Wartezimmer. In (17) kann liegen nicht als einfache Lokalisierung interpretiert werden (wie z.B. in 16), also im Sinne von sich befinden, sondern ausschließlich als Positionsverb, 21 (d.h., die Leute sind waagerecht auf dem Boden ausgestreckt). Die „körperlich-anthropozentrische“ Perspektive bietet sich besonders als Erklärungsmodell für Metaphorisierungen 22 an. Aus der stehenden Körperhaltung werden bestimmte Gestaltmerkmale ausgesondert und auf nichtmenschliche Entitäten übertragen: (18) Die BW-Bank steht fest auf eigenen Beinen. (IDS) (19) ... allein stand das G+H AG-Ergebnis mit seinem Verlust von 0,2 Mio. DM auf etwas schwachen Füßen. (IDS) Die Metaphorik betrifft natürlich nicht nur die Charakteristika der aufrechten Körperhaltung als solche, sondern vor allem die damit implizierten (moralischen) Eigenschaften, also in diesem Fall die Stabilität und Unabhängigkeit (in 18) bzw. den Mangel an Stabilität (in 19). Demgegenüber ist die hegende Körperhaltung mit Schlaf, Krankheit und Tod und mit entsprechenden negativen Werten verbunden. Dies gilt für Menschen und Tiere: Die Lokalisierungsfunktion kann außer durch sein {Viele Leute sind im Wartezimmer) in bestimmten Kontexten eventuell noch durch sitzen ausgedrückt werden, z.B.: Paul sitzt neuerdings in Berlin. 2 “ Dass der menschliche Körper eine der Hauptquellen für Metaphorisierungsprozesse darstellt, ist heute weitgehend anerkannt. Zum kognitiv-linguistischen Paradigma vgl. insbesondere Johnson (1987). Carlo Serra Bometo 139 (20) Die Kollegin liegt schon längere Zeit im Krankenhaus. (IDS) (21) ... Pleitebankier Sindona liegt im Koma. (IDS) (22) Die Fliege liegt (tot) auf dem Boden. Da die Fliege keine liegende Körperhaltung stricto sensu einnimmt, ist (22) als Bedeutungsübertragung im Sinne von Tod zu interpretieren, zumal die Positionsfunktion für diese Art Tiere (Insekten, Vögel usw.) normalerweise durch sitzen realisiert wird: (23) Die Fliege sitzt an der Decke. Auf Gegenstände übertragen indiziert liegen Verlassenheit, Kaputtsein u.Ä.: (24) Der Wagen liegt (kaputt) am Straßenrand. Ein Gegenbeispiel ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich: (25) Die Uhr steht. Auch in diesem Fall besteht die Implikation, dass die Uhr entweder kaputt ist oder mindestens vorübergehend nicht funktioniert. Diese Situation wird aber in unmittelbarer Opposition zum kanonischen Zustand des Funktionierens gesehen, d.h. in Opposition zu einer Bewegung des Uhrwerkes. Ein ähnliches Beispiel ist: (26) Das Auto bremste und stand nach hundert Metern. Vergleicht man (24) mit (26), so vermittelt die Szene in (26) eine gewisse Dynamik (das Auto war in Bewegung und kann bald wieder in Bewegung geraten), die in (24) ganz fehlt (hier kann der Wagen aus seinem statischen Zustand nicht entkommen). Die Annahme, dass Dynamik und Bewegung in Positions- und Lokalisierungsverben impliziert sein können, mag auf den ersten Blick eigenartig erscheinen, 23 sie ist aber aus mehreren Gründen vertretbar. Die aufrechte Körperhaltung ist beim Menschen normalerweise vor- 23 In manchen strukturalistischen Analysen wird diesen Verben das Merkmal „statisch“ ausdrücklich zugeschrieben. Vgl. z.B. Kotschi (1974, S. 140). 140 Was im Deutschen steht und liegt übergehend und führt meistens zu einer Veränderung entweder im Sinne einer Bewegung {laufen) oder der längerfristigen Aufnahme einer statischen Position {sitzen, liegen). Sie entsteht außerdem meistens aus einer vorherigen Bewegung, wie aus der konzeptuellen Opposition zu gehen hervorgeht (z. B.: Er geht und steht und nicht: *Er geht und liegt). Außerdem ist der Zusammenhang von stehen mit einer Zustandsänderung auch sprachgeschichtlich belegt. 24 Diese „implizite Bewegung“ kann wie in den Beispielen (25) und (26) vor dem thematisierten Ereignis postuliert werden. Sie kann aber auch danach erfolgen, z.B.: (27) Der Löwe stand {*lag) zum Sprung bereit. In Bezug auf die aktuelle Position des Löwen ist das Positionsverb neutral (der Löwe könnte auch kauern); stehen weist eben auf die baldige Änderung der Position hin. In dieser Hinsicht ist auch folgendes Beispielpaar aufschlussreich: 25 (28) Die Griechen lagen vor Troja. (29) Die Russen standen vor Berlin. In (28) wird eine statische Belagerungssituation ausgedrückt, die auch Jahre dauern könnte (deshalb liegen), in (29) dagegen ist eine baldige Zustandsänderung in Form eines Angriffs auf die Stadt vorgesehen (deshalb stehen). Schließlich sei auch ein Beispiel impliziter Bewegung erwähnt, die nicht konkret sondern figurativ aufgefasst wird: (30) Nach langem Hin und Her stand endlich die Mannschaft. Die Interpretation der Positionsverben nach der „körperlich-anthropozentrischen“ Perspektive beschränkt sich also nicht nur auf die Individualisie- 24 „Stehen bezeichnete ursprünglich nicht nur einen Zustand, sondern auch dessen Eintritt (...) Jetzt bezeichnet stehen einen Zustand, in dem man sich befindet. Ursp. bezeichnete es auch das Eintreten dieses Zustandes“ (Paul 7 1976, S. 633). 2: 1 Für ähnliche Beispiele im Niederländischen vgl. van Oosten (1986, S. 148). Carlo Serra Bometo 141 rung menschlicher Körperhaltung; sie vermittelt eine Reihe von „Nebenwerten“ ethischer und physischer Art, die aus den Charakteristika der Körperhaltung entnehmbar sind und sich konventionell etabliert haben. Diese „Nebenwerte“ bilden oftmals die Grundlage für Metaphorisierungsprozesse, die aus der Basisbedeutung der betreffenden Verben in bestimmten Fällen systematisch ableitbar sind. 6. Stehen und liegen aus der „ethnografisch-kulturellen“ Perspektive Das Schema VERTIKAL bietet sich für die Konzeptualisierung verschiedener kulturell-bedingter Aspekte an. Die Anhäufung von Größen, die bildlich entlang der vertikalen Achse erfolgt, lässt sich auf den allgemeineren Begriff der Quantität übertragen (MORE IS UP, LESS IS DOWN). 26 Andererseits wird Quantität mit positiver Bewertung (THE MORE, THE BETTER), mit Höhe, Würde, Hierarchie, Macht, Kontrolle usw. in einer Kette von Übertragungen assoziiert, die sich immer mehr vom ursprünglichen Schema der konkreten Anhäufung von Gegenständen entfernen. In diesem Sinne ist also VERTI- KAL sehr abstrakt und wird als Ordnungskriterium für eine Reihe korrelierbarer Ereignisse oder Entitäten aufgefasst. Die Entstehung einer solchen abstrakten vertikalen Begrifflichkeit aus einem konkreten Bereich ist manchmal Schritt für Schritt nachvollziehbar. Diese Entwicklung kann z.B. für die schriftliche Organisation eines Textes (eine kulturell-bedingte Angelegenheit) ziemlich klar verfolgt werden. Am Anfang steht die konkrete Erfahrung der Schriftanordnung auf einer Seite; diese erfolgt von oben nach unten (oder mindestens wird sie so gelesen). Diese vertikale Dimension wird im folgenden Beispiel durch das Erwähnen prototypisch vertikaler Objekte (Säulen) besonders klar verdeutlicht: (31) ... schrieb die Schizophrene E. H. ein kleines Blatt mit Wörtern und Zahlen voll, die sich wiederholend untereinander stehen und auf diese Weise dunkle Säulen bilden. (IDS) In einem zweiten Schritt erscheint die Lokalisierung der thematisierten „Objekte“ (TR = Name und LM = Schriftstück) eindeutig vertikal auf einer 26 Bierwisch (1967); Nagy (1974); Lakoff/ Johnson (1980). 142 Was im Deutschen steht und liegt nicht explizit erwähnten Unterlage (möglicherweise wiederum einer Seite) angeordnet: (32) Unter dem Schriftstück steht sein Name. (IDS) Die nächste Stufe ist durch eine weitere „Verselbstständigung“ des Begriffs VERTIKAL gekennzeichnet: die Oben-Unten-Anordnung der Objekte erfolgt nun implizit auf der Unterlage {Adressbuch, Zeitung), wird aber nicht ausdrücklich erwähnt: (33) ... Namen von Patienten einer Marburger Klinik stehen im neuen Marburger Adressbuch. (IDS) (34) Es steht in der Zeitung. Einen noch weiteren Schritt in Richtung Abstrahierung bietet die Erwähnung einer bloß figurativen Unterlage {Tagesordnung) mit übertragenem Sinn: (35) Es ste/ n auf der Tagesordnung. Einige Vergleiche mit dem Gebrauch von liegen in benachbarten Kontexten sind hier aufschlussreich: (36) Der Punkt liegt {*steht) auf der Diagonale. (37) Hier muss ein Punkt stehen {^liegen). In (36) selegiert der TR {Punkt) als lokalisiertes „nicht-vertikales“ Objekt nach Regel 1 liegen, in (37) wird bei gleich bleibendem Objekt TR {Punkt) auf Grund der eben besprochenen Schematisierung das konkurrierende Verb stehen selegiert. Ähnliches geschieht in: (38) Das Geld steht auf dem Konto/ auf dem Sparbuch. (39) Das Geld liegt auf der Bank. (40) Die Klausel steht {*liegt) im Vertrag. (41) Die Klausel liegt {*steht) verborgen. Carlo Serra Bometo 143 Wenn die Schriftunterlage erwähnt wird {Konto und Sparbuch in 38, Vertrag in 40) ist das kulturell-bedingte vertikale „Schriftschema“ aktiv (also: stehen)-, sonst zählt das Lokalisierungsschema (liegen). Das Schema der Vertikalität wird in der „ethnografisch-kulturellen“ Perspektive holistisch abgebildet, d.h. es wird ohne Ansehen der dimensionalen Eigenschaften des TRs oder LMs auf die gesamte beschriebene Szene projiziert, ähnlich wie im schon besprochenen Beispiel (13): (Die Sonne steht am Himmel). Dies ist ein für die metaphorische Anwendung der Schemata typischer Prozess und kann, wie hier gezeigt wurde, in seiner graduellen Entwicklung vom Konkreten zum Abstrakten verfolgt werden. 7. Schlussbemerkungen Die Bedeutung lexikalischer Einheiten setzt sich aus mehreren Faktoren zusammen: diachronische Entwicklung, Eingrenzung im semantischen Feld, Schemata, Konventionen usw. Dies ist besonders auffällig bei hoch frequenten, produktiven und infolgedessen polysemischen Lexemen wie stehen und liegen. In diesem Aufsatz ist der Versuch gemacht worden, ein bestimmtes Schema unter verschiedenen Gesichtspunkten zu beschreiben. Andere Schemata sind jedoch im gleichen Lexempaar aktiv und können unter Umständen mit dem hier besprochenen konkurrieren. 27 Dies kann zu Konflikten führen und die Erklärungskraft bestimmter Hypothesen einschränken. So kann z.B. folgender Satz mit den bisherigen Argumenten schwer in Übereinstimmung gebracht werden: (42) Der Tisch liegt voller Bücher. Tisch müsste nach den besprochenen Charakteristika (stabilisierende Stütze) stehen selegieren; außerdem ist in diesem Fall nicht der Tisch das eigentlich lokalisierte Objekt, sondern eher die Bücher. Doch sind diese nicht mit dem TR identifizierbar. Also scheint die ganze bisherige Argumentation in Frage gestellt. Das Problem lässt sich lösen, wenn man annimmt, dass ein anderes Schema in diesem Falle wirksam ist und der Konzeptualisierung zu Grunde 27 Die Konkurrenz einiger Schemata bei stehen und liegen ist in Serra Bometo (1996) beschrieben worden. 144 Was im Deutschen steht und liegt liegt, d.h. das Schema des Behälters (container). Dies ist ein sehr produktives und viel diskutiertes Schema, 2S dessen Entwicklung in diesem Zusammenhang folgendermaßen kurz gezeigt werden kann: (43) Da ist Wasser auf dem Boden. (44) Das Wasser steht auf dem Tisch. In (43) wird eine Situation beschrieben, in der das Wasser auf dem Boden verschüttet ist. In (44) ist das Wasser in einer Flasche oder in einem Glas (Behälter) metonymisch lokalisiert. Da diese Behälter eine stützende Fläche besitzen, wird in diesem Fall stehen selegiert. Hier ist also erneut der TR für die Verbwahl determinierend und das Schema der Vertikalität zusammen mit dem Schema Behälter gleichwertig aktiv. Dieses letzte Schema scheint in den folgenden Beispielen wirksamer zu werden: (45) Das Wasser steht im Keller. (46) Dichter Rauch steht im Zimmer. In beiden Fällen sind nicht mehr die Charakteristika des TRs (Wasser, Rauch) für die Verbwahl ausschlaggebend (da sie „nicht-vertikale“ Objekte sind, würde man liegen erwarten), sondern diejenigen der landmarks (LM), die als container interpretiert werden. Es geht hier nämlich um Behälter (Keller, Zimmer), die eine relevante vertikale Dimension besitzen. Daher ist die Selektion von stehen wieder motiviert. Dagegen ist der Behälter Tisch in (42) nicht-vertikal (es ist eine horizontale Fläche) und selegiert entsprechend liegen. Das Schema VERTIKAL ist also in all diesen Fällen nicht ganz ausgeschaltet, es ist nur dem in solchen Kontexten relevanteren Schema BEHÄL- TER untergeordnet. Derartige Konkurrenzen zwischen Schemata können die semantische Motivierung von Lexemen und Ausdrücken u.U. undurchsichtig machen. Die allgemeine These, die in diesem Aufsatz vertreten wurde, lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: in Bezug auf die sprachliche Realisierung des grundlegenden Schemas der VERTIKALITÄT sind stehen und liegen komplementäre Verben, die in zwei Hauptfunktionen verwendet werden, der 28 Vgl. insbesondere Johnson (1987) und auch Serra Bometo (1997). Carlo Serra Bometo 145 Lokalisierungs- und der Positionsfunktion. Die letzte ist konkreter und primär anzusehen, weil sich anthropozentrische und Wahrnehmungsaspekte in ihr am besten widerspiegeln. In etwas abstrakterer Form kommt das Schema der Vertikalität auch in der Lokalisierungsfunktion vor und wird sonst prämetaphorisch und metaphorisch verwendet. Die drei eingangs dargestellten Perspektiven sind beim Gebrauch dieser Verben in beiden Funktionen feststellbar. Dabei scheinen sie sich in der Interpretation vieler Sätze vielfach gegenseitig zu beeinflussen und tragen deshalb zu einem eher holistischen Bild des Gebrauchs der Positionsverben bei. 8. Literatur Bierwisch, Manfred (1967): Some Semantic Universals of German Adjectivals. In: Foundations of language 3, S. 1-36. Bierwisch, Manfred (1996): How Much Space Gets into Language? In: Bloom, Paul/ Peterson, Mary A./ Nadel, Lynn/ Garret, Merril F. (Hg.): Language and Space. Cambridge, Mass. S. 31-76. Bowerman, Melissa (1996a): The Origins of Children's Spatial Semantic Categories: Cognitive versus Linguistic Determinants. In: Gumperz, John J./ Levinson, Stephen C. (Hg.): Rethinking Linguistic Relativity. Cambridge. S. 145-176. Bowerman, Melissa (1996b): Learning How to Structure Space for Language: A Crosslinguistic Perspective. In: Bloom, Paul/ Peterson, Mary A./ Nadel, Lynn/ Garret, Merril F. (Hg.): Language and Space. Cambridge, Mass. S. 385-436. Clark, Herbert H. 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Hartmut Günther Stolz darauf, ein (z.B.) Germanist zu sein 0. Anlass Im März 2001 wurden die Schlagzeilen der Zeitungen durch eine Äußerung des Bundesumweltministers beherrscht, der über den CDU-General Sekretär gesagt hatte, er habe „die Mentalität eines Skinheads und nicht nur das Aussehen“ und sich dabei auf den Satz „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“ bezog, den der CDU-Mann in einem Interview geäußert hatte. Der Minister hatte erläuternd hinzugefügt: „Wer vor dem Hintergrund einer Rekordzahl von Straftaten gegen ausländische Mitbürger mit einem solchen Satz kokettiert, muss mit scharfer Kritik rechnen“. Im Mittelpunkt der folgenden öffentlichen Auseinandersetzung, in der von Beteiligten jeglicher politischen Couleur dem Minister eine doch recht gravierende verbale Entgleisung bescheinigt worden ist, stand dabei interessanterweise alsbald keineswegs mehr der Skinheadsatz des Ministers, sondern man konzentrierte sich auf den Satz „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“, der in den Jahren davor u.a. im Zusammenhang mit der Debatte um den Begriff der „Leitkultur“ schon häufiger diskutiert worden war. Dabei handelt es sich nicht nur um eine politische, sondern auch und zuerst um eine linguistische Frage: Welche sprachlichen Ausdrücke sind in welchen Zusammenhängen angemessen? Zur Frage, ob man zu Beginn des 21. Jahrhunderts (öffentlich) äußern solle/ dürfe/ könne, man sei stolz darauf, ein Deutscher zu sein, haben sich im Zusammenhang mit der eingangs genannten Kontroverse eine große Anzahl von mehr oder auch weniger berufenen Personen und Institutionen geäußert. Es gab in den Feuilletons Artikel zum Begriff „Stolz“ seit Aristoteles; der Bundespräsident hat sich zu Wort gemeldet, es gab verschiedene Umfragen, ob man das denn sagen würde oder wolle, u.a.m. Nicht öffentlich geäußert hat sich damals eine Institution, die dazu m.E. quasi von Amts wegen prädestiniert gewesen wäre, und das ist das Institut für Deutsche Sprache in Mannheim. Gerade weil so viele Mei- 150 Hartmut Günther nungen über den rechten Sprachgebrauch (ich meine nicht den Sprachgebrauch der Rechten! ) geäußert wurden, wäre eine an die Presse gegebene Expertise der „Sprachprofis“ am IDS wünschenswert gewesen. Was ich im Folgenden tun will, ist, knapp zusammenzustellen, was man über das Wort stolz und seine Verwendungsweise aus sprachwissenschaftlicher Sicht sagen kann. Diese Daten könnten dann die Grundlagen einer Pressemitteilung bilden, die das IDS nach meinem Dafürhalten damals hätte herausgeben können und sollen nicht politische, sondern linguistische Fakten über das deutsche Wort stolz und seinen Gebrauch. 1 Dass ich dies in der Festschrift für Gerd Stickel tue, hat seinen guten Grund: Eines der Projekte, das er in seiner langjährigen Tätigkeit als Direktor der IDS nicht hat realisieren können, war die Einrichtung einer regulären Sprachkolumne des IDS in einer größeren Tageszeitung. Vielleicht wird mein Beitrag dazu beitragen, dass dies eines Tages doch noch Realität wird. 1. Wortgeschichte Wenn ein Germanist etwas auf sich hält, er vielleicht sogar stolz darauf ist, einer zu sein, und zudem einer, der bei Werner Betz promoviert hat, dann beginnt er seine Recherchen bei der Wortgeschichte. Das deutsche Adjektiv stolz ist erst seit dem Ende des 11. Jahrhunderts, also in spahd./ fmhd. Zeit, belegt. In den meisten Wörterbüchern wird angenommen, stolz stehe in Verbindung zu Stelze und bedeute ursprünglich so etwas wie „steif, hoch aufgerichtet“ (vgl. u.a. Paul/ Betz 1976, S. 643). In der 23. Auflage von Kluges Etymologischem Wörterbuch (1995, S. 798) ist man vorsichtiger, da heißt es: stolz < 12. Jhdt. mhd. stolz, mnd. stolt, afr. stult. Herkunft unklar vielleicht zu Stelze im Sinne von ‘hochtrabend’. Auch eine Ableitung aus lat. stultus ist denkbar, setzt aber einen ungewöhnlichen Bedeutungswandel voraus. Abstraktum Stolz, Verb stolzieren. Das Nebeneinander des mhd. Wortes stolz (mit Lautverschiebung) und des unverschobenen mnd. stolt ist Grund dafür anzunehmen, dass das Wort 1 Zu exakt dem Zeitpunkt, an dem dieser Beitrag ursprünglich fertiggestellt wurde, erschien im Sprachreport des IDS der Artikel „Die Grenzen des Stolzes im Deutschen“ von Ulrike Haß-Zumkehr (2001). Ich werde darauf in Abschnitt 5 noch eingehen. Stolz darauf, ein (z.B.) Germanist zu sein 151 deutlich älter sein dürfte als die Belege. Im Mittelhochdeutschen hat stolz die Bedeutung „stattlich, prächtig, hochgemut“, bisweilen auch „hochmütig“. Das Substantiv Stolz ist erst bei Luther belegt und vermutlich aus einem untergegangenen mhd. Verb stolzen abgeleitet (Paul/ Betz 1976, S. 643). 2. Wörterbuchangaben zum heutigen Gebrauch Der nächste Schritt des auf seine Methoden stolzen Germanisten ist der Griff zu den Lexika. Die von mir konsultierten deutschen Wörterbücher der letzten 30 Jahre weisen keine wesentlichen Unterschiede auf. Als Beispiel gebe ich den Eintrag des Duden-Universalwörterbuchs von 2001, das zwei Varianten mit Untergliederungen unterscheidet (auf die untergliedernden Ziffern wird im Folgenden mehrfach Bezug genommen werden): stolz <Adj.> [mhd. stolz = prächtig; hochgemut, spahd. stolz = hochmütig; ursprünglich wohl = steif aufgerichtet]: l.a) von Selbstbewusstsein u. Freude über einen Besitz, eine [eigene] Leistung erfüllt; ein entsprechendes Gefühl zum Ausdruck bringend oder hervorrufend; die -en Eltern; mit -er Freude; das war der -este Augenblick seines Lebens; auf einen Erfolg, auf seine Kinder s. sein; sie ist s„ dass sie ihr Ziel erreicht hat; s. wie ein Pfau/ wie ein Spanier (in sehr aufrechter Haltung, selbstsicher u. hochgestimmt) ging er an uns vorbei; b) in seinem Selbstbewusstsein überheblich u. abweisend: eine -e Frau; ein -er Gang, Blick; er war zu s„ um Hilfe anzunehmen; waram so s.? (Frage an jmdn., wenn er nicht grüßt od. einen Gruß nicht erwidert). 2.a) imposant, stattlich: ein -es Gebäude, Schiff, Schloss; b) (ugs.) (im Hinblick auf Anzahl, Menge, Ausmaß) erheblich, beträchtlich; als ziemlich hoch empfunden; beeindruckend: eine -e Summe, Zahl; ein -er Preis; -e 21 % Prozent Gewinn. Offenbar hat das Adjektiv stolz seine Bedeutung in den letzten 800 Jahren nicht wesentlich verändert, sondern lediglich erweitert, insbesondere um die Bedeutung (2b), die nach meinen Recherchen zuerst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bei Adelung verbucht ist. Syntaktisch scheint der Wörterbucheintrag zu zeigen, dass das Adjektiv stolz nicht grundsätzlich defizient ist; es kann in der Verwendung (1) attributiv oder prädikativ verwendet werden und ist voll steigerbar. In der Bedeutung (2) ist es jedoch nur attributiv verwendbar man kann nicht sagen die 1000 DM sind stolz, die Bilanz ist stolz- Was alle von mir konsultierten Wörterbü- 152 Hartmut Günther eher aber nicht explizit erwähnen, sondern nur durch Beispiele verdeutlichen, das sind die zwei Syntaxformen von stolz: Dieses Adjektiv kommt nämlich ein- oder zweiwertig vor. (1b) und (2) können keine Ergänzung haben, aber (la) ist im Sinne der Valenztheorie zweiwertig; stolz hat eine Ergänzung, im prädikativen Gebrauch quasi ein Präpositionalobjekt: Es heißt stolz sein auf + Nominal/ Nebensatz/ Infinitiv. In dieser Beziehung ist stolz ein durchaus spezielles Adjektiv. Im Wörterbuch zur Valenz deutscher Adjektive (Sommerfeldt/ Schreiber 1977) sind von den knapp 600 aufgeführten Adjektiven weniger als 10% mehrwertig, davon wiederum weniger als die Hälfte durch Präpositionalausdrücke gekennzeichnet. Im Ausdruck stolz darauf ein X zu sein, um den es hier geht, ist stolz zweiwertig. Zu unserem Thema steuert der Eintrag des Duden-Universalwörterbuchs noch nicht viel bei, denn (2) sowie (1b) können nicht herangezogen werden, weil sie einwertig sind, und (la) will sich unserem Untersuchungsgegenstand nicht so recht fügen, denn „Germanist sein“ oder „Deutscher sein“ ist kein Besitz und jedenfalls prima facie keine (eigene) Leistung darauf komme ich zurück. 3. Korpusanalyse stolz Stolz kann der Germanist auch darauf sein, dass in seiner Zunft in den letzten 30 Jahren Methoden entwickelt worden sind, die durch eine breite empirische Basis die Gebrauchsweisen von Wörtern mit Hilfe von Häufigkeitsuntersuchungen genauer zu untersuchen gestatten. Insbesondere das IDS stellt seit den 60er Jahren mit seinen Textkorpora und den ständig weiterentwickelten Rechercheinstrumenten wie COSMAS Möglichkeiten bereit, den Gebrauch von Wörtern auf quantitativer Basis zu analysieren. Die folgenden Recherchen wurden mit Hilfe von COSMAS an den öffentlich zugänglichen „Korpora geschriebener Sprache“ angestellt, die derzeit über eine halbe Milliarde Wörter laufenden Text enthalten. 2 Es wurden in diesem Korpus knapp 42.000 Belege für das Adjektiv stolz, das Substantiv Stolz und 2 In den Korpora Gesprochener Sprache (gut eine Million Wörter) gibt es für Stolz/ stolz insgesamt 41 Belege; dabei überwiegt das Substantiv (15 Belege = 31%). Die Beleglage ist aber zu dünn, um sichere Aussagen darüber machen zu können, ob es beim Gebrauch von stolz Unterschiede in geschriebener und gesprochener Sprache gibt. Stolz darauf, ein (z.B.) Germanist zu sein 153 ihre Flexionsformen gefunden; Zusammensetzungen wie Nationalstolz, Adelsstolz etc. wurden nicht berücksichtigt. Um eine Vorstellung von der Vorkommenshäufigkeit zu geben, kann man sagen, dass in einer Tageszeitung wie dem Mannheimer Morgen pro Ausgabe knapp zwei Mal das Adjektiv Stolz oder das Substantiv Stolz vorkommt, es handelt sich also um durchaus gebräuchliche Wörter des Deutschen. Im Folgenden möchte ich so vergehen, dass ich Vorkommen von stolz bzw. Stolz, die von der Fügung stolz darauf, ein X zu sein, deutlich unterscheidbar sind, schrittweise ausschließe. Vorab ist festzustellen, dass die Bedeutung (lb), d.h. in seinem Selbstbewusstsein überheblich, abweisend, im Material in so verschwindender Anzahl vorkommt, dass diese Fälle hier vernachlässigt werden können. 3 Von den knapp 42000 Gesamtbelegen wurden in einem ersten Arbeitsschritt als Stichprobe die ersten 1000 Belege 4 von stolz! Stolz in allen ihren Flexionsformen ausgewertet es handelt sich um Belege aus dem Mannheimer Morgen von 1989-1998. Die Stichprobe ist für diese Analyse hinreichend groß, denn die angegebenen Prozentwerte konvergieren schon nach weniger als 500 Belegen. Tabelle 1 zeigt die Verteilung der syntaktischen Umgebungen. 3 Dass aber die Bedeutung durchaus noch im Bewusstsein aktiv ist, zeigt die Häufigkeit von Ausdrücken wie mit Recht stolz auf, mit berechtigtem Stolz, in denen der Zusatz mit Recht, berechtigt zur Kennzeichnung dient, dass es sich nicht um jenen Hochmut-Stolz handelt, der früher wohl stärker zu spüren war. Jedenfalls ist dieser Gebrauch im Freiburger Klassikerkorpus, dessen Schwerpunkt Texte aus dem 18. und 19. Jahrhundert bilden, durchaus verbreiteter als heute, wobei das freilich auch an der Textsorte „schöne Literatur“ liegen könnte. Ich danke Ulrich Knoop, dem Leiter dieses Projekts, für die Durchführung der erbetenen Recherchen. 4 Es waren davon allerdings nur 912 Vorkommen auswertbar aufgrund von einigen in der Region bekannten Politikern bzw. Sportlern mit dem Namen Stolzie), die natürlich nicht berücksichtigt wurden (88 Belege). 154 Hartmut Günther Syntaktische Form Beispiel % Nomen Stolz des Hauses, mein ganzer S., mit S. erzählte sie 21% Adjektiv attributiv ein stolzer Mensch, Vogel, Preis 25% Adjektiv prädikativ sie ist stolz auf ihren Erfolg; sie ist s. (darauf), dass ... 34% Adjektiv adverbial „Wir haben gewonnen“, berichtete er stolz 20% Tabelle 1: Syntaktische Formen des Vorkommens von stolz bzw. Stolz Das Nomen Stolz ist mit nur 21% Belegen deutlich seltener als das Adjektiv, was man als Indiz dafür nehmen mag, dass auch synchron das Substantiv als Konversion aus dem Adjektiv anzusehen ist. Auf das Substantiv Stolz wird im Folgenden nicht mehr eingegangen; es lässt sich aber sagen, dass die unten vorgetragenen Beobachtungen zum unmarkierten Gebrauch des Adjektivs auch für das Substantiv gelten. 5 Beim Adjektiv ist prädikativer Gebrauch am häufigsten (34% der Belege), es folgt attributiver (25%) sowie adverbialer Gebrauch (20%). Bei prädikativem Gebrauch wird das Adjektiv praktisch nie ohne valenzgebundene Ergänzung (Präpositionalphrase mit auf bzw. Satz- oder Infinitivergänzung) oder kontextuelle Ergänzbarkeit des Gegenstands des Stolzseins gebraucht. Die Form stolz sein auf bezieht sich in gut 20% der Stichprobenbelege auf eine Person oder eine Gruppe von Menschen; knapp die Hälfte von Fügungen zeigen eine Präpositionalphrase wie in stolz auf den Pokal, das Ergebnis-, in einem Drittel der Belege handelt es sich um eine Satzergänzung oder einen Infinitiv sie ist stolz (darauf), dass sie ausgehalten hat bzw. ausgehalten zu haben. Bei adverbialem Gebrauch steht stolz in knapp zwei Dritteln der Belege bei einem performativen Verb: „Wir haben das in 14 Tagen geschafft“, berichtete er stolz- Auch in den übrigen Belegen wie in Sie nimmt die Baseballmütze vom Kopf und wirft sie stolz auf den Tisch - NY Marathon ist darauf zu lesen geht der Grund für den Stolz aus dem Kontext hervor. 5 Es dominieren Äußerungen wie ... verweist mit Stolz auf; voller Stolz auf...-, in denen eine Leistung thematisiert wird. Stolz darauf, ein (z-B.) Germanist zu sein 155 Bei attributivem Gebrauch sind die Hälfte der Belege Ausdrücke wie stolzer Preis, stolze 21% Zuwachs etc., in denen das Adjektiv stolz das beträchtliche Ausmaß bezeichnet. Ein knappes Viertel der Belege bezieht sich auf Personen {stolze Mutter, Gewinnerin, Reiterin, Mannschaft)', in einem guten Viertel der Belege bezieht sich das Adjektiv auf ein nicht menschliches Substantiv {stolzes Pferd, Schloss, Parade). In der Regel ist stolz bei attributiver Verwendung einwertig; der Bezug auf eine (eigene) Leistung ist hier meist nicht erkennbar. In gut 75% der zweiwertigen adjektivischen Belege der Stichprobe wird stolz in Bezug auf eine eigene Leistung gebraucht, die auch explizit erwähnt wird durch eine valenzgebundene Präpositionalphrase, Satz- oder Infinitivergänzung oder durch den Kontext. Dabei ist Selbstbewusstsein bzw. Lreude über den Besitz deutlich zweitrangig gegenüber der Lreude über die eigene Leistung (Verteilung ca. 1: 10). 6 Es lässt sich also festhalten, dass das zweiwertige Adjektiv stolz auf in der überwiegenden Zahl der Lälle so gebraucht wird, wie das der Bundespräsident in einem Lernsehinterview zum Ausdruck gebracht hatte, als er sagte: "... stolz ist man auf das, was man selber zu Wege gebracht hat. Man kann nicht stolz sein auf etwas, was man selber gar nicht zu Stande gebracht hat.“ Lreilich ich erinnere mich deutlich eines Lotos, auf dem er (das war, bevor er Bundespräsident wurde) als „stolzer Vater“ abgebildet worden war. Man muss wohl nicht Leminist sein, um zu erkennen, dass der eigene Leistungsanteil eines stolzen Vaters an seiner Tochter vergleichsweise gering ist. Ob der Bundespräsident selbst von sich als „stolzem Vater“ gesprochen hätte, weiß ich nicht sicherlich hat er aber mehr als einmal davon gesprochen, dass er stolz auf seine Kinder ist. Während also einerseits die Häufigkeitsanalyse sehr deutlich herausstellt, dass Selbstbewusstsein bezüglich einer eigenen Leistung die übliche, unmarkierte Verwendungsweise von stolz auf darstellt, so gibt es doch offenbar auch andere Verwendungsweisen, in denen die eigene Leistung jedenfalls nicht ohne weiteres erkennbar ist. Primär handelt es sich dabei um zweiwertige Verwendungen von stolz, in denen eine Personenbzw. Gruppenbezeichnung vorkommt {stolz auf die Kinder, 6 In den Belegen aus dem Freiburger Klassikerkorpus sieht die Verteilung ähnlich aus. 156 Hartmut Günther Mannschaft, Eltern). 1 Analysiert man solche Belege näher, so zeigt sich, dass es hier immer darum geht, die Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder Verbundenheit mit einer Person positiv wertend zum Ausdruck zu bringen. Dass man auf diese Gruppe oder Person(en) auf Grund ihrer Leistungen stolz ist, wird wohl oft einfach deshalb nicht explizit gesagt, weil das als selbstverständlich angesehen wird. Von eigener Leistung aber ist in diesen Fällen selten die Rede; man sonnt sich vielmehr im Glanz der Leistung der anderen (der Eltern, der Kinder, der Mannschaft, des Vereins) besonders deutlich ist das, wenn selbst nicht kickende Fans auf ihren Verein wie Schalke 04 oder 1860 München stolz sind. Für den Germanisten, der auf diese Beobachtung nun nicht sonderlich stolz sein muss das springt ja ins Auge liegt es nahe zu folgern, dass genau in diesen Zusammenhang auch die Wendung stolz darauf, ein Deutscher zu sein gehört. Es wurden daraufhin aus dem Korpus geschriebener Sprache sämtliche Belege der Fügung stolz {darauf) „Komma“ X aus dem Korpus gesammelt und analysiert. Die Fügung kommt in dieser Form 8 über 4400-mal im gesamten Korpus vor. Von diesen Belegen sind ganze 244 solche der Art stolz {darauf), ein X zu sein, d.h., es handelt sich um eine durchaus markierte, vergleichsweise seltene Verwendungsweise von stolz. Die Belege lassen sich weiter in Gruppen aufteilen: 7 Die Festigkeit dieser vom unmarkierten Fall „stolz auf eine Leistung“ zunächst abweichenden Fälle machen auch verschiedene Kollokationsanalysen deutlich, die ich mit Hilfe von COSMAS an allen 42.000 Belegen durchgeführt habe. Mit unterschiedlicher Deutlichkeit waren die stärksten nominalen Kollokatoren, zu Gruppen zusammengefasst (1) Mark, Summe, Preis-, (2) Leistung, Ergebnis, Bilanz', (3) Mannschaft, Verein sowie (4) Vater, Mutter, Sohn, Eltern. 8 Mit solchen Suchanfragen wurden Sätze wie ... weil wir stolz und glücklich sein können, natürlich nicht erfasst. Dies schien angesichts der klaren Größenverhältnisse vemachlässigbar. Stolz darauf, ein (z-B.) Germanist zu sein 157 Typ deutsch Beispiel stolz (darauf), ein Deutscher zu sein 40 16 andere Nation stolz (darauf), ein Albaner zu sein (26 Schweizer) 73 30 Ort/ Region stolz (darauf), ein Münchner zu sein 25 10 Position stolz (darauf), Abgeordneter/ Präsident (geworden) zu sein 23 Beruf stolz (darauf), Boxer/ Bauer zu sein 20 habituell stolz (darauf), ein(e) Ja-Sager/ Zeitungsleser/ Feministin zu sein 38 16 Negativa stolz (darauf), ein Nichts/ Arschloch/ Rassist zu sein 25 10 Tabelle 2: Verteilung der Belege der Fügung stolz (darauf), (ein) X zu sein Knapp die Hälfte der Belege gehört in die Rubrik „Nationalstolz“; rechnet man den Regionalstolz dazu, sind es gut die Hälfte (57%) dieser Belege. Dem Spitzenreiter „stolz, ein Deutscher zu sein“ mit 40 von 244 Belegen folgt „stolz, ein Schweizer zu sein“ mit 26, „stolz, ein Amerikaner zu sein“ mit 18 Belegen; dazu kommen 29 Belege für weitere 20 Nationen. Es handelt sich offenbar um einen fest etablierten Gebrauch des Adjektivs stolz, der eindeutig in die gleiche Richtung wie die Belege stolz auf eine Person/ Gruppe weist. 9 Freilich: Es gibt fast ebenso viele Belege zu stolz, ein X zu sein, die gerade nicht dieser Gruppe „Nationalstolz“ zuzuordnen sind. Stolz auf die erreichte Position (Typ 4) ist direkt anschließbar an die früher geschilderten Gebrauchsweisen stolz auf eine Leistung sein. Bei Typ 5 (Beruf) und 6 (habituelle Tätigkeit) mag dahingestellt sein, inwieweit sie wirklich unterschiedlich sind jedenfalls stehen hier die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und der Leistungsaspekt gleichberechtigt nebeneinander. Ich bin stolz, ein Germanist zu sein lässt sich, wenn man es denn äußert, hier einordnen, denn einerseits verlangt es einiges an eigener Leistung, ein Germanist zu werden, andererseits wird man den Satz wohl nur äußern in einem Zusammenhang, in dem es um die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe geht. Ein interessanter Fall ist schließlich der Typ 7: Hier sind Belege versammelt, in denen Stolz darauf zum Ausdruck gebracht wird, einer negativ bewerteten Gruppe anzugehören oder eine negative Eigenschaft zu haben. Es gibt auf 9 Es muss erwähnt werden, dass etwa 15% der Belege im Bereich „Nationalstolz“ (Typ 1 und 2) metasprachlich sind, d.h., es geht um die Frage, ob man stolz darauf sein dürfe, ein Deutscher/ Amerikaner zu sein. 158 Hartmut Günther dieser Welt sicherlich eine Reihe von Plätzen, auf denen der Probesatz Ich bin stolz, ein Germanist zu sein durchaus in diese Gruppe fallen würde. 10 Es geht hier um nichts anderes als die positive Bewertung der Gruppe oder der Tatsache, dieser Gruppe trotz ihrer negativen Bewertung anzugehören; und es wäre eine Verdrehung, hier von der eigenen Leistung zu sprechen, sich zu seinen negativen Eigenschaften zu bekennen. In diesem Zusammenhang bemerkenswert sind auch Negationen wie ich bin stolz darauf, kein Berliner zu sein oder ich bin nicht stolz darauf, ein Berliner zu sein diese Sätze beziehen sich (sprachlich) nur und ausschließlich auf die Gruppe, und der Leistungsaspekt spielt eben deshalb keine Rolle, weil nicht nur Leistung verneint, sondern Negatives impliziert wird. Mithin: Bei dem Ausdruck Ich bin stolz {darauf), ein Deutscher zu sein handelt es sich um einen zwar durchaus markierten, aber gleichwohl etablierten Gebrauch der Fügung stolz sein auf, in dem das Zum-Ausdruck-Bringen eines gewissen Selbstbewusstseins und einer Freude sich auf eine Gruppe bezieht. Mitverstanden, wenn auch selten expliziert, ist in einer solchen Äußerung die Auffassung, dass man Mitglied einer Gruppe ist, die leistungsfähig ist und auf die man deshalb mit berechtigtem Stolz blicken kann. Die Diskrepanz zwischen dem vorwiegenden, auf eigene Leistung bezogenen Gebrauch und dieser markierten Gebrauchsweise wird unterstrichen durch die Häufigkeit der Belege, in denen über die Berechtigung dieses Gebrauchs räsoniert wird (s. Fußnote 10), und den pointierten Gebrauch bei Zugehörigkeit zu negativ bewerteten Gruppen. Insofern ist die zitierte Äußerung des Bundespräsidenten zu differenzieren: Der vorwiegende Sprachgebrauch bezieht stolz auf auf eine eigene Leistung. Aber die Fügung stolz darauf ein X zu sein, wobei X eine Gruppe ausdrückt, ist ein gängiger und möglicher Sprachgebrauch man kann durchaus auf etwas stolz sein, was man nicht selbst zu Stande gebracht hat (die Leistungen der Kinder, der Eltern, der Mannschaft und eben auch der Deutschen). Freilich: Wer wann wo den Satz Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein benutzt oder nicht, insbesondere ob es 10 Eine entsprechende Suchanfrage im Freiburger Klassikerkorpus erbrachte 81 Belege für stolz ..., zu sein, darunter 3 Belege für stolz darauf, ein X. zu sein: Ein Beleg für Nationalstolz (Franzose), einer für Regionalstolz, und einer für Typ 6 („Proustien“). Alle drei stammen aus dem 19. Jahrhundert, und es sieht ganz so aus, als handelte es sich hier um eine Lehnfügung aus dem Französischen womit ich in dieser Fußnote auch angedeutet hätte, warum ich stolz darauf bin, ein Betz-Schüler zu sein. Stolz darauf, ein (z.B.) Germanist zu sein 159 politisch opportun ist, damit seinen Stolz auf Deutschland zum Ausdruck zu bringen, das ist eine Frage, die nicht mehr im Rahmen der Sprachwissenschaft zu behandeln ist. 4, Entwurf einer Pressemitteilung Unter der Annahme, dass die vorstehenden Analysen jedenfalls grosso modo korrekt sind, die eine kleine Arbeitsgruppe des IDS innerhalb kurzer Zeit hätte erstellen können, wäre eine Pressemitteilung der folgenden Form denkbar gewesen. Sie besteht aus vier Teilen: Zunächst steht da ein historischer Verweis sowie die Skizze eines Lexikoneintrags mit Hinweis auf die Zweiwertigkeit und den häufigsten Gebrauch (1. Absatz). Im zweiten Absatz wird auf Fügungen wie stolz auf die Kinder/ die Mannschaft hingewiesen, die mit der unmarkierten Wendung nicht ganz kompatibel sind. Der dritte Absatz kennzeichnet die Fügung stolz darauf ein X zu sein', im letzten Absatz schließlich geht es um den Ausdruck ich bin stolz, ein Deutscher zu sein. Zum Gebrauch des Wortes stolz im heutigen Deutsch Das Adjektiv stolz ist seit dem Mittelalter belegt und bedeutet damals zunächst „stattlich, prächtig, hochgemut“, zuweilen auch „hochmütig“. Der letzte Gebrauch kommt heute nur noch selten vor. Die Grundbedeutung hat sich im heutigen Deutsch erweitert; man kann zwei Varianten unterscheiden: (1) Von Selbstbewusstsein über eine eigene Leistung oder einen Besitz erfüllt sein und dieses zum Ausdruck bringend: der stolze Sieger, Besitzer; er ist stolz auf den Pokal, den Neubau etc. (2) stattlich, groß, von großem Ausmaß: ein stolzes Gebäude, Schiff; ein stolzer Preis; das Bild kostet stolze 3000 DM. Wie eine Analyse der 42.000 Belege des Wortes stolz in dem über 500 Millionen Wörter umfassenden Mannheimer Korpus der deutschen Gegenwartssprache des Instituts für Deutsche Sprache ergibt, überwiegt im heutigen Deutsch in der Fügung stolz sein darauf/ auf deutlich Bedeutung (1) die Leistung, auf die man stolz ist, wird entweder durch ein Substantiv, einen dass-Satz oder einen Infinitiv zum Ausdruck gebracht: Sie ist stolz auf ihr Ergebnis, ihre Diplomarbeit, ihren neuen Ferrari; Er ist stolz (darauf), dass er das Examen geschafft hat/ noch pünktlich da war/ fehlerfrei geblieben ist; Wir sind stolz darauf, gewonnen zu haben/ standhaft geblieben zu sein/ noch dabei zu sein. Eine spezielle Verwendungsweise von stolz bezieht sich auf andere Personen und Personengruppen, vgl. Die Eltern waren stolz auf ihre Kinder bzw. deren Leistungen', viele Mannheimer/ Frankfurter/ Berliner ... sind stolz auf ihre 160 Hartmut Günther Stadt, die Fans waren stolz auf ihre Mannschaft. Dabei kommt es ganz wesentlich darauf an, zum Ausdruck zu bringen, dass man mit der genannten Gruppe verbunden ist; deswegen wird der Grund für den Stolz häufig nicht mitgenannt, obgleich er meist mitzudenken ist: Sie war stolz auf ihre Tochter, weil sie ihr Examen bestanden hat; wir sind stolz auf unsere Mannschaft, weil sie gewonnen oder gut gekämpft hat; usw. In diesen Zusammenhang gehört auch die Fügung stolz darauf ein X zu sein; z.B. Ich bin stolz {darauf) ein Mannheimer/ Bayer/ Deutscher zu sein impliziert die Ansicht, in Mannheim, Bayern oder Deutschland werde etwas geleistet, worauf man zu Recht stolz sein kann, weil man selbst hier zu Hause ist. Dabei unterbleibt in der Regel ein direkter Bezug auf die unterstellte Leistung man ist einfach deshalb stolz darauf, ein Deutscher/ Bayer/ Mannheimer zu sein, weil man sich mit dieser Gruppe, diesen Menschen identifiziert. Deutlich wird das auch an negativen Gebrauchsweisen: Häufig wird diese Fügung benutzt, um eine in bestimmten Zusammenhängen (zu Unrecht) negativ bewertete Gruppe trotzig herauszustellen: Ich bin stolz darauf ein Schwuler/ eine Schlampe zu sein. Und sie wird oft negativ benutzt, um sich von einer Gruppe abzusetzen: Ich bin nicht stolz darauf, ein Berliner zu sein oder Ich bin stolz darauf, kein Berliner zu sein. Hier geht es nicht um Leistungen, sondern um Gruppenzugehörigkeit. Die momentan viel diskutierte Wendung stolz darauf, ein Deutscher zu sein ist also zwar eine besondere Verwendung des Wortes stolz im Deutschen, weil der Grund für den Stolz, die Leistung, in der Regel nicht speziell ausgedrückt wird, aber sie ist durchaus üblich und sprachlich korrekt, in den Zeitungen kann man den Stolz auf andere Nationen vielfach lesen (man ist stolz darauf, ein Schweizer/ Amerikaner/ Kmate/ Türke/ Kurde/ Inder ... zu sein). Wann und ob man die Wendung heute als Deutscher benutzen will, das ist allerdings eine Frage, die mit sprachwissenschaftlichen Mitteln nicht beantwortet werden kann. 5. „Die Grenzen des Stolzes im Deutschen“ Eine entsprechende Pressemitteilung des IDS hat es nicht gegeben. Allerdings gab es in der Stolz-Debatte doch eine Wortmeldung aus dem IDS. Unter der obigen Überschrift ist Ulrike Haß-Zumkehr in der IDS-Zeitschrift Sprachreport Mitte Juni 2001 auf das behandelte Thema eingegangen. Aber damals war das Thema schon wieder aus den Schlagzeilen verschwunden, und so ist ihr Beitrag m.W. in der Presse nicht zur Kenntnis genommen worden. Er beruht im Wesentlichen auf der gleichen Datengrundlage wie meine Analyse und die Beobachtungen decken sich weitgehend; dennoch ist Stolz darauf, ein (z-B.) Germanist zu sein 161 die Perspektive in charakteristischer Weise verschieden. Darauf sei abschließend noch kurz eingegangen." „Was ist Stolz und worauf kann man eigentlich stolz sein, wenn man sich in den gewohnten Bahnen der deutschen Sprache bewegt? “ der erste Satz ihres Aufsatzes kennzeichnet die Herangehensweise von Haß-Zumkehr (2001, S. 2). Es wird davon ausgegangen, dass man mehr oder weniger klar sagen kann, was das Wort Stolz bezeichnet, und es wird mit den Mitteln linguistischer Semantik versucht, diese Bedeutung zu umreißen. Durch Kontrastierung ergibt sich die sehr plausible Ansiedlung von Stolz zwischen Selbstbewusstsein und Arroganz. Das distinktive Merkmal ist der Grund: Arrogant ist man (jedenfalls nach Ansicht der anderen), weil man keinen Grund hat, für Selbstbewusstsein braucht man keinen. Der Grund besteht in der (eigenen) Leistung; Kollokationsanalysen anhand des Mannheimer Korpus bestätigen, dass Leistung am häufigsten zusammen mit stolz vorkommt. Freilich zeigen diese Analysen auch, dass soziale Gruppenzugehörigkeit ohne Benennung eigener Leistung {stolzer Vater, Preis, Vaterland), sprachüblich, wenn auch seltener ist (s.o. Fußnote 7). Bei den Komposita wie Sammler-, Bauern-, Adels- oder Nationalstolz verschwimmt, wie Haß-Zumkehr bemerkt, „die Grenze zwischen leistungs- und herkunftsbegründetem Stolz“; sie zieht daraus den Schluss: „Etwas kann allein dadurch als Leistung qualifiziert werden, dass jemand darauf stolz ist. Bei Besitzerstolz ist ja eigentlich völlig offen, ob hier jemand durch Lottogewinn oder ‘eigener Hände Arbeit’ zu Auto oder Haus gekommen ist! Doch ist in jedem Fall darin irgendeine Rechtfertigung durch Erfolg und Leistung mitgemeint. Und wenn es nicht eigener Hände Arbeit war, dann tut es die der Vorfahren gerade so gut; das stolze Gefühl unterscheidet da nicht immer so genau“ (S. 3). So erklären sich der Stolz der Fans auf ihren Verein, der Mütter auf ihre Söhne, der Volksgenossen auf ihre Nation: Es ist die Leistung der anderen. Ausdrücklich nicht mehr rein sprachlich begründet ist dann die Schlussanalyse: Stolz sein auf Deutschland könne man nur, wenn man „die historischen Leistungen positiv und selbstbewusst bilanziert und die weniger ruhmreichen Ereignisse, weil nicht ‘stolzfähig’, ausblendet; bei einem differenzierten Geschichtsbild kann man, stolz darauf zu sein, ein Deutscher zu sein, eigentlich nicht sagen“ (S. 4) übrigens dann auch nicht, wie ich ergänzen möchte, ein Ich danke den Herausgebern dafür, dass sie mir die Gelegenheit gegeben haben, meinen im Juni 2001 eigentlich schon fertiggestellten Beitrag noch um diesen Abschnitt zu ergänzen. 162 Hartmut Günther Franzose, Spanier oder Amerikaner zu sein, denken wir an die Gräuel der französischen Revolution oder die Ausrottung der indianischen Bevölkerungen beider Amerika. Haß-Zumkehrs Bedeutungsanalyse geht vom Substantiv aus. Sie übergeht dabei nicht unerhebliche Anwendungsbereiche des Adjektivs (ca. 20%, das sind genauso viel wie die Gesamtvorkommen des Substantivs), in denen stolz definitiv keine Leistung bezeichnet: ein stolzer Preis; ein stolzes Schloss; eine stolze Frau; zu stolz, um ..., etc. In dem Bemühen, einen einzigen, durchgehenden Bedeutungskern des Nomens zu ermitteln, muss sie nahezu zwangsläufig diejenigen Fälle zurecht definieren, in denen offensichtlich von eigener Leistung nicht die Rede sein kann. 12 Die von mir vorgetragene Analyse kommt ohne dies aus: stolz darauf, ein X zu sein bezeichnet zunächst einmal nur die Identifizierung mit einer Gruppe, wofür man dann mehr oder weniger gute (Leistungs-)Gründe angeben kann. Das hört sich etwas haarspalterisch an. Kommen wir deshalb zum Anlass zurück: Menschen, die äußern, dass sie stolz darauf sind, ein Deutscher zu sein, wurden als mentale Skinheads klassifiziert, denen ein differenziertes Gesellschafts- oder Geschichtsbild in der Regel nicht unterstellt wird. Auch Haß-Zumkehr, fern jeglicher unangebrachter Aggressivität nach Art des Bundesumweltministers, argumentiert im Kern so: Stolz impliziert Leistung, und auf eine Nation mit einer nicht makellosen Geschichte kann man deshalb nicht stolz sein; wer es dennoch zu sein behauptet, hat kein Geschichtsbild, „das auch die negativ zu bewertenden Aspekte der nationalen Geschichte zulässt“ (ebd.). Genau eine solche Folgerung aus der sprachlichen Formulierung „stolz darauf, ein Deutscher zu sein“ zu ziehen, scheint mir unangebracht. Wie kommt es zu diesen unterschiedlichen Positionen? Es liegt an dem Verhältnis von dominanter und nicht dominanter Verwendungsweise. Die leis- 12 Das könnte man sogar mit ein stolzer Preis versuchen: Stolze Preise werden verlangt, weil es die eigene Leistung ist, diesen Gegenstand veräußern zu können das ist kaum weniger abwegig als der Besitzerstolz des Lottogewinners. Aber ist denn denkbar, dass der normale Sprachbenutzer solche verwickelten Gedankengänge (oder mentale Ablegeprozeduren) aktiviert, nur wenn er ausdrücken will, dass ihm ein Gegenstand zu teuer ist oder dass er sich (geradezu diebisch) freut, so ein schönes Auto zu besitzen? Stolz darauf, ein (z.B.) Germanist zu sein 163 tungsbezogene Verwendungsweise stolz auf diesen Erfolg ist dominant; schon die Mutter kann eigentlich nicht „mit berechtigtem Stolz“ auf ihre Tochter blicken, die Fans nicht auf ihren Verein so hatte es auch der Bundespräsident gesehen. Aber sie sind stolz auf ihre Töchter, Vereine, Länder, und das heißt, dass in diesen Ausdrücken die selbstbewusste Identifikation wesentlich ist. Sehr hilfreich ist in diesem Zusammenhang deshalb Haß- Zumkehrs semantische Differenzierung von Selbstbewusstsein, Stolz und Arroganz. Im Sinne der Prototypentheorie (vgl. Überblick bei Aitchison 1998, Kapitel 5) lassen sich dann Gebrauchsweisen wie zu stolz um als nahe bei Arroganz, und stolz darauf ein X zu sein als nahe bei Selbstbewusstsein begreifen; die Kernbedeutung dagegen impliziert stets eigene Leistung. Aber wie Pinguine und Strauße auch Vögel sind, so sind diese Gebrauchsweisen von stolz auch adäquate Verwendungen. Ob man nach dieser Analyse, in der die Dinge vielleicht eher schwieriger als einfacher gemacht werden, noch stolz darauf sein kann, ein Germanist zu sein? Ich denke schon. 6. Literatur Aitchison, Jean (1998): Wörter im Kopf. Tübingen. COSMAS I (= Corpus Storage, Maintenance and Access System). Mannheim: Institut für Deutsche Sprache, http : / / www. ids-mannheim.de/ kt/ cosmas . shtml. Duden - Deutsches Universalwörterbuch (2001). Hrsg. v. d. Dudenredaktion. Mannheim. Freiburger Klassikerkorpus. Freiburger Anthologie. Freiburg: Deutsches Seminar der Universität, http: / / freiburger-anthologie .ub .uni-f reiburg. de/ fa.pl. Haß-Zumkehr, Ulrike (2001): Die Grenzen des Stolzes im Deutschen. In: Sprachreport 2001,H. 2, S. 2-4. Kluge, Friedrich (1995): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 23. Aufl., bearb. v. Elmar Seebold. Berlin u.a.. Paul, Hermann (1976): Deutsches Wörterbuch. 8. Aufl., bearb. v. Werner Betz. Tübingen. Sommerfeldt, Ernst/ Schreiber, Hermann (1977): Wörterbuch zur Valenz und Distribution deutscher Adjektive. Leipzig. Gerhard Strauß / Gisela Zifonun Auf der Suche nach Identität* 1. Vorbemerkung Eckhard Henscheid beginnt den Artikel „Identität ja oder contra“ in dem Band „Kulturgeschichte der Mißverständnisse“ mit dem selbstverständlich ironisierend zu verstehenden - Zitat: „Fragen, welche die kollektive Identität berühren, verlangen Antworten aus der Wir-Perspektive der ersten Person Plural.“ (Henscheid/ Henschel/ Kronauer 2000, S. 134) „Wir-Perspektive“ und „1. Person Plural“ sind zweifellos Sachverhalte, bei denen der Linguist, nicht nur der Spötter, sich auszukennen hat. Wie steht es um Identität, die individuelle und die kollektive, aus linguistischer Sicht? Was schon zu vermuten ist, wird durch einen Blick in die Medien bestätigt: Identität ist ein Modewort, das in bestimmten Texten und Kontexten inflationär vorkommt. Es geht allerlei gut gemeinte Verbindungen ein wie in Identitätsentwurf, Identitätskrise, Identitätsbildung, Identitätsfindung, denen die Spötter und Nörgler mit weniger gut gemeinten Zusammensetzungen und Kollokationen begegnen, als da sind: Identitätspalaver, Identität und Wahn, die neue Leerformel von der Identität. Ist das Wort also ein „Plastikwort“, 1 ein begriffliches Chamäleon oder gar ein Phantom, ebenso wie die (mentale) Befindlichkeit, die es zu beschreiben versucht? Der Gebrauch des Identitätsbegriffs ist aus der Sicht vieler Autoren, um es mit den Worten von Henrich (1979, S.133) zu formulieren, durch * Für Literaturhinweise und Belegrecherchen danken wir Heidrun Kämper, Isolde Nortmeyer, Herbert Schmidt und Oda Vietze (alle IDS). 1 Vgl. Pörksen (1988, S. 17 und bes. S. 41). wo Identität mit ca. 40 weiteren Ausdrücken (u.a. Entwicklung, Beziehung, Rolle, Prozess, Struktur) als Plastikwort eingeordnet wird. Vgl. auch Niethammer (1995, S. 27). 166 Gerhard Strauß / Gisela Zifonun einen „sehr hohen Grad an Dunkelheit und Problemverwirrung“ gekennzeichnet, „ganz besonders in den Sozialwissenschaften“. Linguistische Klärung, Klärung des syntaktischen und semantischen Gebrauchs vornehmlich in der nicht-fachsprachlichen Kommunikation, kann selbstverständlich nur bedingt zur Aufhellung dieser Dunkelheit beitragen. Eher wird sie zeigen können, ob, in wieweit und in welchen Nuancierungen der Ausdruck auch über die Grenzen der Fachwissenschaften hinaus Verbreitung findet trotz oder vielleicht gerade wegen seiner tatsächlichen oder vermeintlichen Vagheit oder Dunkelheit. Neben diesem eher empirischen Interesse verfolgt die sprachwissenschaftliche Analyse hier auch das Ziel, die semantische Struktur von Identität herauszupräparieren. Diese zeigt sich eher in der Analyse und Verallgemeinerung der Verwendung im Kontext als in den Nominaldefinitionen, die im fachwissenschaftlichen Kontext gegeben werden. Wir skizzieren die historische Entwicklung von Identität und gehen auch kurz auf die mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Transformationen ein, die sich in der Wortgeschichte spiegeln. Der Schwerpunkt liegt jedoch auf dem gegenwärtigen Gebrauch. Wir unterscheiden zwei grundlegende Verwendungsweisen, die in ihren prototypischen Ausprägungen auch argumentstrukturell verschieden sind: das zweistellige Identität 1 und das einstellige Identität 2. Wir gehen etwas detaillierter ein auf die im modernen Sprachgebrauch zentrale Variante der zweiten Verwendungsweise, nämlich ‘Identität als Selbstverständnis’. In diesem Rahmen wiederum ist zwischen individueller und kollektiver Identität zu unterscheiden. 2. Übersicht zur Etymologie und Karriere des Wortes Das Fremdwort Identität wird gegen Ende des 17. Jahrhunderts, eventuell unter Einwirkung von älterem frz. identite (vgl. auch engl, identity), über mittellat. identitas (auch idemptitasl) entlehnt aus der flektierten Form von spätlat. identitas F. ‘Wesenseinheit’, einer Abstraktableitung von klassisch lat. idem ‘dasselbe’, das aus dem Neutrum des Demonstrativpronomens id mit verstärkendem -em gebildet ist. Es hat im Laufe seiner Entwicklung und Verbreitung durch die Bildung von adjektivischen, verbalen und substantivi- Aufder Suche nach Identität 167 sehen Ableitungen im Deutschen eine stattliche Wortfamilie konstituiert: Identität (als Simplex sowie als Grund- und Bestimmungswort in zahlreichen Komposita), identisch (18. Jh.), identifizieren (im 18. Jh. im Deutschen gebildet nach Mustern wie klassifizieren, exemplifizieren, denen lat. denominale Verben mit -ficare, der Kompositionsform von facere, zu Grunde liegen; vgl. frz. identifier, ital. identificare) mit identifizierbar und Identifizierbarkeit, Identifizierung und Identifikation (19. Jh., beide ebenfalls in vielen Zusammensetzungen). Seine anfängliche und bis weit ins 20. Jahrhundert andauernde lexikalisch-semantische „Fremdheit“ verdankt Identität jedoch nicht allein seiner fremdsprachlichen Herkunft, sondern vor allem seiner Gebundenheit an verschiedene Fachbereiche bzw. Wissenschaftsdisziplinen und den damit einhergehenden terminologischen Festlegungen. Identität war von Beginn an ein interdisziplinärer Terminus der europäischen Gelehrtensprache, ein (lateinischer) Europäismus (vgl. das Schlagwort Eurolateinl). Neben seine bis heute relativ konstante Verwendung als theoretische Kategorie der Fachbereiche Logik, Mathematik und Philosophie bzw. Metaphysik treten im 20. Jh. mit dem Aufkommen verschiedener moderner Wissenschaften ganz neuartige, mentalitäts- und kulturgeschichtlich bedingte Wortgebräuche einerseits in der Psychoanalyse bzw. Psychopathologie (in der Lesart ‘Identität des Einzelnen, Ich-Identität’) und andererseits in der Sozialpsychologie (mit der Lesart ‘gesellschaftlich vermittelte Identität, Identität von Gruppen oder Kollektiven’). Heute hat Identität, nicht zuletzt durch den starken angloamerikanischen Einfluss seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, längst den Status eines Internationalismus erworben, der auf Grund seiner Rolle in „lebensnahen“ psychologischen und soziologischen Fragestellungen auch in das Alltagsbewusstsein der Menschen und vor allem in die öffentliche Kommunikation und Diskussion eingedrungen ist. Wenn man bedenkt, dass das Fremdwort Identität in den Wörterbüchern des 17./ 18./ 19. Jahrhunderts nur in der Lesart ‘Gleichheit, Übereinstimmung’ gebucht ist, und am Anfang des 20. Jahrhunderts deutsche Lexika „Identität noch mit ‘Einerleiheit’ verdeutschen wollten und nur auf fachsprachliche Fundstellen in der Philosophie des deutschen Idealismus und in der formalen Logik verweisen konnten, [dann] ist die seitherige Karriere dieses Worts gerade in Deutschland bemerkenswert“ (Niethammer 1995, S. 39f.). Diese (international verbreitete) Popularität des Begriffs zeigt sich möglicherweise die eingeforderte „vernünftige Identität“ postkonventioneller Gesellschaften bzw. der kommenden Weltgesellschaft (Habermas 1990) reflektierend auch 168 Gerhard Strauß / Gisela Zifonun numerisch: Das Korpus des Instituts für Deutsche Sprache umfasst für Identität (auch -Identität und Identitäts-) insgesamt ca. 70.000 Belege vorwiegend aus den Ressorts Politik, Bildung, Wissenschaft, Kultur verschiedener Zeitungstexte, von denen allein ca. 65.000 auf die beiden letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts verteilt sind. Der arrivierte Begriff Identität und insbesondere das Schlagwort von der nationalen Identität scheint inzwischen im Denken und Reden von Sprechern aller Couleurs schon unentbehrlich, ja unverzichtbar geworden zu sein. 2 3. Identität bezogen auf zwei Größen (Identität 1) 3.1 Wortgeschichtliche Perspektive Die am frühesten bezeugte (Bedeutungs-)Variante von Identität lässt sich ganz allgemein so umschreiben: Identität heißt, wenn es auf (das Verhältnis zwischen) zwei Größen bezogen wird, so viel wie ‘völlige Gleichheit, vollkommene Übereinstimmung der beiden Größen in allen Merkmalen’. Identität ist somit diejenige zweistellige Relation zwischen Gegenständen beliebiger Bereiche, die dadurch ausgezeichnet ist, dass jeder Gegenstand allein zu sich selber in dieser Beziehung steht. Diese Variante von Identität als objektbezogener Terminus ist zunächst auf den Bereich von Logik und Philosophie beschränkt (z.B. bei Leibniz oder Kant) und ist damit abgegrenzt von der Kategorie der Gleichheit: ‘Übereinstimmung einer Anzahl von Gegenständen, Personen oder Sachverhalten in einem bestimmten Merkmal, bei Verschiedenheit in anderen Merkmalen’ sowie von Ähnlichkeit als dem Begriff für nur annähernde Übereinstimmung. 2 Davon zeugt auch die Flut von Publikationen zum Identitätsbegriff in den verschiedenen Disziplinen seit etwa den 70er Jahren. Man vgl. z.B. folgende Sammelbände und Überblicksdarstellungen: Levita (1971). Krappmann (1978), Marquard/ Stierle (Hg.) (1979); Platt/ Dabag (Hg.) (1995), Wodak/ Cillia et al. (1998), Giesen (1999), Niethammer (2000). Zu einer auf ein Zeitungskorpus der 70er-Jahre bezogenen linguistischen Untersuchung vgl. Schmidt (1976). Aufder Suche nach Identität 169 Syntaktisch wird diese Lesart von Identität meist realisiert in der Form Identität zwischen a und b/ von a und b/ von a mit b (= Kernmuster) (vgl. die Muster 1 bis 3 in Abschnitt 3.3). In diesem Sinne meint Identität das Resultat eines Vergleichs, bei dem ein Betrachter bestimmte Gegenstände auf Grund ihrer Eigenschaften zueinander in Beziehung setzt und auf Übereinstimmung überprüft. Die Kategorie der Identität wurde im deutschsprachigen Raum zunächst seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert in formallogischen und philosophischen Kontexten thematisiert: So spricht als erster Leibniz in seinen meist lateinisch oder französisch verfassten philosophischen Schriften vom „principium identitatis“, dem Identitätsprinzip oder auch der Regel, dem Gesetz der Identität, das in der modernen mathematischen Logik als ‘Reflexivität der Identität’ wiederkehrt (vgl. Abschnitt 3.3). Der neue Terminus wird 1695 von Stieler registriert: ‘Identität, Gleichheit/ Ebenmäßigkeit’ (Stieler, 3 Zeitungs Lust und Nutz 1695, S. 204), ebenso 1735 rezipiert in Zedlers Universallexikon (Bd. 14, S. 335L): (1) Identitas, wird in der Metaphysic (...) im weitern Verstände vor eine jede Gleichheit einer Sache mit der andern, sie betreffe nun das Wesen oder nur die Accidentia, genommen. Auch die folgenden Belege von Kant, Fichte und Herder sprechen das Identitätsprinzip an: (2) Analytische Urteile {die bejahende) sind also diejenige, in welchen die Verknüpfung des Prädikats mit dem Subjekt durch Identität, diejenige aber, in denen diese Verknüpfung ohne Identität gedacht wird, sollen synthetische Urteile heißen. (I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1781, in: Werke. Bd. 3, S. 52) 3 Die zahlreichen, vor allem den Bereichen Philosophie, Geisteswissenschaften und Literatur angehörenden historischen Belege in den Abschnitten 3.1,3.2, 4.1 und 4.4 entstammen teilweise der Belegsammlung des „Deutschen Fremdwörterbuchs“, teilweise den ids- Korpora bzw. den beiden digitalen Textsammlungen „Digitale Bibliothek. Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka“ und „Digitale Bibliothek. Philosophie von Platon bis Nietzsche“. 170 Gerhard Strauß / Gisela Zifonun (3) Die logische Form des Satzes als Satzes steht, (wenn der Satz aufgestellt wird -A = -A unter der Bedingung der Identität des Subjects, und des Prädikats (d.i. des vorstellenden, und des als vorstellend vorgestellten Ich. (J.G. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, 1794, in: Werke. Bd.l, S. 102) (4) (...) denn da sich durch Nennung des Subjects nicht sogleich alles, was in ihm liegt oder zu ihm gehöret, irgend ein Merkmal, ein Verhältniß, eine Beschaffenheit desselben, offenbaret; so mäßen uns, wenn wir nicht ewig Identitäten, d.i. Ein und Dasselbe A = A herbeten oder 4 in 2 + 2 auflösen wollen, Urtheile Vorkommen, die unsre Kenntniße erweitern (...) (J.G. Herder, 1799, Sämtl. Werke. Bd. 21, S. 34) Trotz seiner ursprünglichen Beschränkung auf den formallogischen Bereich wurde das neue Fremdwort von den Zeitgenossen (meist Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen, aber auch Literaten) rasch aufgegriffen, um Probleme, Sachverhalte oder Bewusstseinsinhalte sprachlich präzise zu erfassen. Schrittweise wurde es zu einem historischen, politischen, sozialen und psychologischen Begriff, indem man es auf die entsprechenden Zusammenhänge bezog und inhaltlich von ihnen her auffüllte. An der Art dieser Auffüllung des Begriffs lassen sich spezifische Ausprägungen von Identitätsvorstellungen in der Folge konkret aufzeigen. Ihre sprachliche Ausformulierung ist zwar nicht mehr an den ursprünglichen philosophischen Kontext gebunden - Identitätsaussagen finden sich in natur- oder geisteswissenschaftlichen ebenso wie in literarischen und schließlich in modernen bildungssprachlichen Texten der Massenmedien. Das semantische Kernmuster von Identität (s.o.) im Sinne von ‘Gleichheit’ bleibt jedoch bezogen auf die Identität zwischen zwei konkreten Größen (z.B. Bezeichnungen für Belebtes und Unbelebtes) über die gesamte Wortgeschichte hin bis in die jüngste Gegenwart konstant. So, wenn Hölderlin Kant paraphrasiert: (5) Aber dieses Sein muß nicht mit der Identität verwechselt werden. Wenn ich sage: Ich bin Ich, so ist das Subjekt (Ich) und das Objekt (Ich) nicht so vereiniget, daß gar keine Trennung vorgenom- Auf der Suche nach Identität 171 men werden kann (...) (F. Hölderlin, Urteil und Sein, 1795, in: Sämtl. Werke. Kleine Stuttgarter Ausgabe. Bd. 4, S. 226 f.) Oder wenn Goethe in seiner Morphologie (Hamburger Ausgabe. Bd. 13, S. 164) von der „ursprünglichen Identität aller Pflanzenteile“ spricht. Oft ist insbesondere in der Schönen Literatur von Identität als Personengleichheit die Rede. Dabei wird in der Regel auf eine Person über zwei verschiedene Kennzeichnungen zugegriffen (vgl. dazu auch Abschnitt 3.3). Wir verzeichnen hierzu einige Belege, beginnend mit E.T.A. Hoffmann über Nietzsche (hier mit generischer Personenreferenz) und Thomas Mann bis zu einem aktuellen Beleg aus der „taz“: (6) (...) und so die Identität meiner Person mit dem Mönch Medardus festgestellt hatte. (E.T.A. Hoffmann, Die Elixiere des Teufels, 1815/ 16, in: Poetische Werke. Bd. 2, S. 203) (7) Ich suchte nun ihr auf alle mögliche Weise meine Identität mit jenem Verfasser darzutun (...) (E.T.A. Hoffmann, Letzte Erzählungen, 1822, in: Poetische Werke. Bd. 6, S. 756) (8) Nehmen wir jetzt das wichtigste Phänomen der ganzen antiken Lyrik hinzu, die überall als natürlich geltende Vereinigung, ja Identität des Lyrikers mit dem Musiker (... ) (F. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, 1872, in: Werke. Bd. 1, S. 37) (9) (...) es ist so gut wie ausgeschlossen, dass der spekulierende Theolog, der das vierte Evangelium schrieb, identisch war mit dem Jünger des Herrn, „der an seiner Brust lag“, obgleich er diese Identität behauptet. (Th. Mann, 1944, Nachträge zur Gesamtausgabe. Bd. 13, S. 201) (10) (...) die Karteikarte, aus der eine Identität zwischen de Maiziere und einem Stasi-Mitarbeiter Czerny konstruiert werde (...) (taz, 19.12.1990, S. 4) Auch Personengruppen können so identifiziert werden: (11) Die Identität der bürgerlichen und politischen Stände war der Ausdruck der Identität der bürgerlichen und politischen Gesellschaft. Diese Identität ist verschwunden. (K. Marx, Zur Kritik der 172 Gerhard Strauß / Gisela Zifonun Hegelschen Rechtsphilosophie, 1843-1844, in: MEGA 1. Abtlg., Bd. 1, S. 78) 4 (12) Auch wenn sich eine Identität zwischen den Roten Brigaden und UCC keineswegs nachweisen läßt (...), geht (...) die Terrorismus- Angst wieder um. (taz, 9.2.1988, S. 3) Häufig ist auch die Übereinstimmung konkreter nicht-belebter Gegenstände: (13) Erinnerung ist nicht die bloße Wahrnehmung der Identität zweier Bilder, sondern sie ist die Wahrnehmung der Verschiedenheit des räumlichen und zeitlichen Verhältnisses gleicher Bilder. (Jean Paul, Leben des Quintus Fixlein, 1796, in: Werke. Bd. 4, S. 195) (14) (...) um die Identität von Faßinhalt [Atommüll] und Begleitpapieren [an der Grenze] zu überprüfen (taz, 17.9.1988, S. 2) oder die Übereinstimmung von abstrakten Größen wie etwa Mentalem, Gefühlen, Wissenschaftsdisziplinen: (15) (...) Identität der erneuerten Eindrücke mit den alten Vorstellungen (...) (G. Forster, Ansichten vom Niederrhein ..., 1791, in: Werke. Bd. 2, S. 801) (16) Außer den historischen Zeugnissen spricht vieles für die Identität demokritischer und epikureischer Physik. (K. Marx, Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophe, um 1841, in: MEW. Bd. 40,8.270) (17) Dieser (...) Dilettantismus [Goethes] empfängt in seiner Wißbegier (...) Kraft und Prägung aus einer (...) immer neu gesuchten Nähe, wenn nicht Identität von Erkenntnis und Selbsterkenntnis (Frankfurter Rundschau, 14.8.1999, S.14). 3.2 Identität von theoretischen Konstrukten in Philosophie oder den Gesellschaftswissenschaften Identität in diesem Sinne wird außerhalb von Logik und Philosophie mit Bezug auf konkrete Objekte in eher trivialen Zusammenhängen thematisiert. 4 Vgl. dazu auch Abschnitt 3.2. Aufder Suche nach Identität 173 Die Erkenntnis, dass es sich bei zwei Dingen um dieselbe Sache handelt, dass zwei Personen identisch sind, ist in der Regel der schlichten Beseitigung eines Wissensdefizits zu verdanken. Allenfalls hat die Angelegenheit romaneske oder detektivische Qualität, etwa wenn der Neuankömmling sich als der tot geglaubte Bruder herausstellt oder sich erneut bewahrheitet, dass der Gärtner der Mörder war; vgl. auch die Belege (6) bis (10) des vorigen Abschnitts. Semantisch interessant wird Identität / , wenn es nicht um die Identität von konkreten raum-zeitlich einigermaßen stabilen Individuen geht, sondern um die Identität von ethischen, sozialen oder historischen Konstrukten. Identität bedeutet dann so viel wie ‘Gleichwertigkeit, Gleichsetzung, Identifizierung’. Der Gedanke der Gleichsetzung gegensätzlicher abstrakter, nicht direkt beobachtbarer Phänomene hat seinen Ursprung vermutlich in der von Schelling ausgehenden und vor allem von Hegel und Marx kritisch rezipierten Identitätsphilosophie. Für dieses idealistische philosophische System ist kennzeichnend, dass es die in der traditionellen Ontologie thematisierte Differenz von Denken und Sein, oder Geist und Natur, aufhebt. Subjekt und Objekt stimmten dieser Vorstellung nach im Absoluten, dem Indifferenten, überein und seien als Geist (in dem das Subjektive überwiege) und Natur (in der das Objektive dominiere) dessen Entfaltung. (1) Haben wir (...) festgesetzt, das Absolute selbst sei von. allem Entgegengesetzten weder das eine noch das andere, lautere Identität, und überhaupt nichts als es selbst, nämlich durchaus absolut. (F.W.J. Schelling, Bruno, oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge, 1802, in; Werke. Bd. 2, S. 527) (2) (...) versuchte Schelling zu vermitteln, indem er das Ideale und Reale als Eines begründete im Absoluten, aus dem das Ich und die reale Welt hervorging und das also die Identität von Natur und Geist oder Gott selber ist. Dieser Totalanschauung des Lebens gemäß sind Wissenschaft und Religion Emanationen jenes Absoluten. (J. v. Eichendorff, Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands, 1857, in: Werke. Bd. 3, S. 903) (3) Diese Frage heißt in der philosophischen Sprache die Frage nach der Identität von Denken und Sein und wird von der weit- 174 Gerhard Strauß / Gisela Zifonun aus größten Zahl der Philosophen bejaht. (F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, um 1850, in: MEW. Bd. 21, S. 275) (4) Ich behaupte, daß sie [Terroristen] denkende Wesen sind, die in ihrer Zeit und auf ihre Weise die Identität von Denken und Sein als das Prinzip ihrer Existenz für sich entdeckt haben, (taz, 21.1.1989, S. 19) Bestimmte für fundamental gehaltene Oppositionen wie die von Geist und Materie, Denken und Sein, Seele und Leib, Subjekt und Objekt sind demnach nur zwei Seiten oder Erscheinungsformen eines und desselben Wesens. In welcher Weise dieser philosophische Identitätsbegriff auch für gegensätzliche abstrakte Phänomene oder Konstrukte des ethischen, sozialen oder politischen Bereichs Geltung beanspruchen konnte, zeigen folgende Textausschnitte: (5) (...) die Identität von Volk und Staatsgewalt, oder die Volksouveränetät [! ], wird durch diese Wahl aller Beamteten manifestirt (...) Der Mensch und der Staatsbürger sind fürderhin identisch (L. v. Stein, Der Begriff der Gesellschaft, 1850, S. 133) (6) die Identität, die er [Hegel] zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat construirt hat, ist die Identität zweierfeindlichen Heere, wo jeder Soldat die ,Möglichkeit“ hat durch „Desertion“ Mitglied des feindlichen“ Heeres zu werden (K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie 1843-44, in: MEGA 1. Abtlg. Bd. 2, S. 54) (7) [Mit der Besoldung der Beamten und damit] daß der Staatsdienst (...) die Sicherheit der empirischen Existenz garantirt, ist die wirkliche Identität der bürgerlichen Gesellschaft und des Staats gesezt (ebd. Bd. 2, S. 56) Es geht in diesen Texten um die Forderung nach Verwirklichung demokratischer Prinzipien, besonders im Sinne von rechtlicher, staatsbürgerlicher und materieller Gleichheit bzw. Gleichstellung. Die Identität von Staat und Gesellschaft wird dabei also nicht als etwas Gegebenes (wie im Falle von ‘A=A’ oder der Identität zweier Personen) konstatiert, sondern sie wird als Aufder Suche nach Identität 175 Setzung bzw. Synthese postuliert, und zwar in projektivem Sinne: Die „staatsgesellschaftliche Einheit“ sowohl in politischer als auch in sozialer Hinsicht muss erst hergestellt werden. Mit einem derart dynamischen, postulatorischen Identitätsbegriff können sich zugleich Zukunftserwartungen und politische oder soziale Wunschbilder mannigfaltiger Art verbinden, mit denen der staatlichen und gesellschaftlichen Zurückgebliebenheit Deutschlands begegnet werden sollte. Identität erschien, speziell in Bezug auf Zukunftserwartung, geradezu als Synonym für Harmonie, geglückte Synthese, völlige Gleichheit in allen Lagen, Gerechtigkeit usw. und konnte in diesem Sinne von allen politischen Gruppierungen beschworen werden. In bestimmten verbalen und adjektivischen Kookkurrenzen wie „construirte, gesetzte“, „spekulative Identität“ zeigt der Identitätsbegriff eine irrationale Wirkungskraft ebenso in Richtung auf die Mobilisierung und Aktivierung der betroffenen Mitglieder eines Kollektivs (Staat, Gesellschaft) wie zum Zweck der ideologischen Verschleierung der Wirklichkeit. Die interessante Wirkungsgeschichte dieses spekulativen gesellschaftspolitischen Identitätsbegriffs kann in diesem Rahmen nicht weiter verfolgt werden. 5 Wir weisen lediglich hin auf einen Nachhall dieses Denkmusters etwa in folgenden Belegen aus Thomas Manns politischer Essayistik: (8) (...) der Typus des patriotischen Vernunft- und Opportunitätsdemokraten von heute, welcher die Demokratie, die Identität von Volk und Staat, die Politisierung der Köpfe und Herzen fordert, damit Deutschland leben (...) könne (Th. Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen 1918, in. Werke. Bd. 12, S. 283) (9) (...) der Ausdruck meiner Empörung gegen die Unverschämtheit, womit der Geistespolitiker die Identität von Politik und Moral statuiert (...) (ebd. Bd. 12, S. 566) Mit dieser Verwendungsweise ist also immer ein evaluatives oder im weiteren Sinne ideologisches Moment verbunden: In einer bestimmten Lehrmei- 5 Man vergleiche aber Niethammer (2000), der die Identitätsbegriffe von Carl Schmitt, Georg Lukäcs, C.G. Jung, Siegmund Freud, Erik H. Erikson, Maurice Halbwachs und Aldous Huxley untersucht und auch Zeitgenossen wie Ulrich Beck und Peter Sloterdijk einbezieht. 176 Gerhard Strauß / Gisela Zifonun nung, nach bestimmten Auffassungen werden Konstrukte wie Volk und Staat oder Politik und Moral als eins gesetzt, wird ihre Identität behauptet. 3.3 Zur Syntax und Semantik von Identität 1 Identität 1 hat als Äquivalenzrelation (im logischen Sinne) eine ähnliche Argumentstruktur wie Gleichheit, Ähnlichkeit, Verwandtschaft usw., die zu demselben logischen Typ gehören und die wir linguistisch als semantische Feldnachbarn von Identität 1 betrachten können. Identität verfügt über zwei semantische Argumentstellen. Sie gehen zurück auf die beiden Argumente des Adjektivs identisch'. (1) a ist identisch mit b. ARG1 ARG2 Als Äquivalenzrelation, und zwar als die „feinste“ aller Äquivalenzrelationen (vgl. Dubiel 1976, S. 145) hat ‘identisch’ die Eigenschaften der Reflexivität, Symmetrie und Transitivität. Das heißt: Wenn (1) ein wahrer Satz ist, so sind auch (2), (3) und (4) wahr. (2) a ist identisch mit a und b ist identisch mit b. (Reflexivität) (3) b ist identisch mit a. (Symmetrie) (4) Wenn a identisch ist mit b und b identisch ist mit c, dann sind auch a und c identisch. (Transitivität) Identität übernimmt, wie gesagt, die beiden Argumentstellen des Adjektivs. Wie bei anderen Substantiven, die symmetrische Relationen ausdrücken, gibt es bei Identität eine ganze Bandbreite syntaktischer Realisierungsmöglichkeiten für die beiden Argumente: (Muster 1): Identität zwischen ARG1 und ARG2 die Identität zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat (Muster 2): Identität von ARG1 und ARG2/ Identität ARGt.Gen und ARG2.Gen die Identität von Fritz und Paul/ die Identität der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates Aufder Suche nach Identität 177 (Muster 3) Identität von ARG1 mit ARG2/ Identität ARGl.Gen mit ARG2.Dat die Identität von Fritz mit Hans/ die Identität meiner Person mit dem Mönch Im folgenden Muster ist ausdrucksseitig nur ein Argumentausdruck vorhanden. Dieser ist notwendigerweise ein Ausdruck, der eine ganze Gruppe von Individuen bezeichnet, in der Regel also ein Pluralausdruck wie {die) Begriffe. Semantisch sind die beiden Argumentstellen ARG1 und ARG2 hier zu einem einzigen Argument ARG3 „fusioniert“: die Identität des Begriffs Staat (ARG1) und des Begriffs Nation (ARG2) —» die Identität der Begriffe Staat und Nation (ARG3) (Muster 4) Identität ARGS.Gen! Identität von ARG3 die Identität der beiden Begriffe/ die Identität von Begriffen Vergleicht man diese Muster mit den Realisierungsmöglichkeiten beim Adjektiv, so zeigt sich, dass es beim Adjektiv nur Parallelen bei den Mustern 2 bis 4 gibt, nicht jedoch bei Muster 1. (Adj-Musterl) ARG1 ist identisch mit ARG2 Die bürgerliche Gesellschaft ist identisch mit dem Staat. entspricht Muster 2 beim Substantiv (Adj-Muster 2) ARG1 und ARG2 sind (miteinander) identisch Der Begriff Staat und der Begriff Nation sind identisch. entspricht Muster 3 beim Substantiv (Adj-Muster 3) ARG3 sind (miteinander) identisch entspricht Muster 4 beim Substantiv, ARG3 ist „Fusion“ von ARG1 und ARG2 Die beiden Begriffe sind (miteinander) identisch. Man beachte, dass das semantisch zweistellige Identität 1 auch syntaktisch nullstellig, also ohne Ergänzung verwendet werden kann: Die beiden Begriffe sind bedeutungsähnlich. Identität liegt jedoch nicht vor. 178 Gerhard Strauß / Gisela Zifonun In einem solchen Fall sind die Argumente aus dem Kontext zu ergänzen. Man könnte dies verbalisieren durch die explizitere Fassung: ... Identität zwischen den beiden Begriffen liegtjedoch nicht vor. Was die Bedeutung von Identität 1 angeht, hören wir zunächst die Stimme eines Logikers: Identity is such a simple and fundamental idea that it is hard to explain otherwise than through mere synonyms. To say that x and y are identical is to say that they are the same thing. (Quine 1966, S. 208). Identitätsaussagen sind u.a. notwendig, so führt Quine aus, um der Redundanz der Namen, die natürliche Sprachen mit sich bringen, Herr zu werden. Nur wer weiß, dass Cicero und Tullius dieselbe Person bezeichnen, bzw. dass Cicero und Tullius identisch sind, wird erkennen können, dass Cicero war der Autor der „Philippischen Reden“. und Tullius war der Autor der „Philippischen Reden“. notwendigerweise denselben Wahrheitswert haben, also entweder beide wahr oder beide falsch sind. Solange in natürlichen Sprachen ein und dasselbe Ding mehrere Namen tragen kann, haben Identitätsaussagen also ihre Berechtigung. Eine Identitätsaussage, in der man zweimal denselben Namen für dieselbe Sache benutzt, etwa Cicero ist identisch mit Cicero, hingegen ist nicht informativ. Nicht nur schlichte Eigennamen, sondern auch so genannte Kennzeichnungen können dieselbe Sache bezeichnen. Aus unseren Beispielen können wir so ableiten, dass gilt: Cicero und der Autor der „Philippischen Reden“ sind identisch. Dabei ist der Autor der „Philippischen Reden“ eine Kennzeichnung, die ebenso wie der Eigenname Cicero ein bestimmtes Individuum eindeutig identifiziert. Insbesondere der Zugriff auf ein und dasselbe Individuum durch unterschiedliche Kennzeichnungen ist nun im Gegensatz zur Verwendung mehrerer Namen nicht mehr eigentlich redundant, sondern kann Aufder Suche nach Identität 179 per se schon sehr informativ sein. Spricht man von Cicero als dem Autor der Philippischen Reden oder als dem Gegner Catilinas, so wird derselbe Einzelne „in verschiedenen Gegebenheitsweisen“ angesprochen. Auch in solchen Fällen stellt die Prädizierung von Identität erst klar, dass beide Kennzeichnungen von derselben Sache handeln, und kann somit informativ sein. „Sie [Identität] sagt über einen Gegenstand, dass er in verschiedenen Gegebenheitsweisen derselbe ist.“ (Henrich 1979, S. 150) Wir betonen diesen Aspekt besonders, weil es sich hier um ein Charakteristikum von Identität 1 handelt, das diese Verwendung von Identität 2 abgrenzt. Identität 1 ist als „notwendiges Prädikat jeden Einzeldings“ (Henrich 1979, S. 149) zunächst fraglos gegeben. Das Mit-sich-selbst-identisch-Sein in diesem Sinne ist unhintergehbar und wird nur zum Thema, wenn unterschiedliche sprachliche Zugriffsweisen auf eine Sache gegeben sind, und nicht aus der Sache selbst heraus. Bedeutsam im logischen Kontext ist vor allem die Frage, wann die unterschiedlichen Bezeichnungen für ein und dieselbe Sache miteinander austauschbar sind, wann also die für die Äquivalenzrelation Identität konstitutive ‘Substitutivität’ 6 gegeben ist. Vereinfacht gesagt: Ausdrücke, die Identisches bezeichnen, dürfen gegeneinander in Aussagen ausgetauscht werden, wenn diese mit der so genannten wirklichen Welt befasst sind. Erscheinen sie dagegen in Kontexten, in denen es „nur“ um Vorstellungen von der Welt oder Meinungen über die Welt geht, dann dürfen die Ausdrücke nicht ohne weiteres gegeneinander ausgetauscht werden: Ein solcher Kontext ist: Cäsar glaubte, dass Cicero an der Verschwörung gegen ihn beteiligt war. Hier darf Cicero nicht gegen der Autor der „Philippischen Reden“ ausgetauscht werden, weil möglicherweise Cäsar nicht über die Identität des Autors der „Philippischen Reden“ mit Cicero Bescheid wusste, ja in diesem 6 Diese geht zurück auf Leibniz, der folgende Definition von Identität gab („Leibniz' Gesetz“): Zwei sind dann voneinander ununterscheidbar und nur ein Einziges, wenn alles, was von dem einen wahrheitsgemäß gesagt wird, auch von dem anderen gesagt werden darf. (Vgl. Henrich 1979, S. 138.) 180 Gerhard Strauß / Gisela Zifonun Fall gar nicht Bescheid wissen konnte, weil Cicero erst nach Casars Tod die „Philippischen Reden“ verfasst hat. 7 Die scheinbar eher technische Frage der Austauschbarkeit von Ausdrücken unter Identität ist also in Wahrheit verknüpft mit der zutiefst philosophischen Frage nach der Identität der irdischen Dinge, die notwendigerweise der Veränderung in der Zeit unterworfen sind. Quine (1966, S. 210) formuliert die schon auf Heraklit zurückgehende Frage so: „How can a thing that changes its substance be said to remain identical with itself? “ 8 Der Gedanke der ‘Identität im Fluss’ ist es auch dies wird zu zeigen sein -, der die moderne Verwendung von Identität 2 aus Identität 1 heraus motivieren kann. 4. Identität bezogen auf eine einzige Größe {Identität 2) 4.1 Vorläufer zu der modernen Verwendung von Identität 2 Im Unterschied zu dem indigenen Nachbarbegriff Gleichheit wird Identität schon bald auch verwendet, um auf die Übereinstimmung einer Größe mit sich selbst abzuheben. Anders als bei der prototypischen Verwendung von Identität 1 werden hier erst gar nicht unterschiedliche Benennungen ein und derselben Sache ins Spiel gebracht (also etwa die Identität von Cicero und Tullius), sondern es ist die Rede z.B. von der Identität Ciceros. Die eine Argumentstelle, die hier auftritt, ist im Unterschied zu Muster 4 nicht (notwendigerweise) pluralisch belegt. Wir ordnen hierher historische Belege wie: 7 Nicht-Austauschbarkeit ist zumindest dann gegeben, wenn wir diese Aussage als Aussage über eine „Meinung de dicto“ betrachten, wenn also das, was die Kennzeichnung der Autor der „Philippischen Reden“ besagt, als Inhalt der Meinung von Cäsar zu gelten hat. Geht es dagegen nur um eine „Meinung de re“, also über den Cicero der wirklichen Welt, liegt die Sache anders. Zu diesen und ähnlichen Komplikationen vgl. z.B. Henrich (1979, S. 152ff.) sowie Lemer/ Zimmermann (1991). s Heraklits Aussage lautet in Quines englischer Version: „You cannot step into the same river twice, for fresh waters are ever flowing in upon you.“ Aufder Suche nach Identität 181 (1) Ruinen von wahrhaft colossaler Form (...), denen vollkommen entsprechend, welche sich häufig noch in Griechenland (...) finden, und folglich von der Identität des Volkes zeugend (...) (Almanach aus Rom für Künstler und Freunde der Bildenden Kunst. 1. Jahrgang. Leipzig 1810, S. 211) ‘(die Tatsache) dass es sich um ein und dasselbe Volk handelt’ (2) Wenn also von irgend etwas Endlichem gesagt wird, daß ihm Identität zukomme, so ist dieß wahr; aber es ist nicht die ganze Wahrheit, denn es kommt ihm auch Gegenheit, Differenz, Nichtidentität, nach außen und nach innen zu. (K.Ch.F. Krause, Vorlesungen über das System der Philosophie. Göttingen 1828, S. 268) ‘(die Tatsache) dass etwas (zu verschiedenen Raum-Zeit-Koordinaten) als dasselbe erscheint’ (3) Um diese Identität ihrer selbst zu erkennen, muß sie sich als das Subjekt aller der Veränderungen denken, deren sie sich bis auf den gegenwärtigen Augenblick ihres Denkens bewußt ist. (J.A. Eberhard, Theorie, 1776, S. 25) Sehr nahe noch an Identität 1 ist dabei Beleg (1): Hier geht es um die Erkenntnis, dass bei mehreren Gelegenheiten dasselbe Individuum („dasselbe Volk“) involviert war. In Beispielen wie (2) und (3) wird die Grundeigenschaft der ‘Reflexivität’ der Identität, thematisiert. Dies geschieht deshalb, weil sie, angesichts all der „Veränderungen“, die ein „Endliches“ erfährt, keineswegs unproblematisch erscheint. Es geht also um die „diachrone Identität“ (Henrich 1979, S. 140) von Individuen. In Philosophie und Geistesgeschichte spielt diese Vorstellung vor allem mit Bezug auf den Menschen, das denkende und fühlende, sich seiner selbst bewusste Subjekt eine zentrale Rolle. Erste Reflexionen über die Identität der menschlichen Persönlichkeit, die personale Identität, hat im deutschen Sprachraum wiederum Leibniz (etwa gleichzeitig mit dem englischen Philosophen Locke) angestellt. Damit werden dem Begriff der Identität psychologische Konnotationen zugeschrieben, und zwar besonders im Zusammenhang mit der Frage nach oder dem Zwei- 182 Gerhard Strauß / Gisela Zifonun fei an der Einheit des Selbst, der Übereinstimmung der Person mit sich selbst, die sich angesichts der vom Individuum erfahrenen Variabilität der Person stellt (vgl. Locke: „the unity of the self 1 ). Eine wichtige Rolle spielt der in der Auffassung des menschlichen Wesens ins Zentrum gerückte Begriff des Bewusstseins (Leibniz: „conscience“). Selbstbewusstsein wird zum wichtigsten Merkmal der Persönlichkeit. In diesem Selbstbewusstsein bin ich von Anfang an meiner selbst bewusst als eines, der gestern, heute und morgen derselbe ist: Das Wort Person bedeutet ein denkendes und einsehendes Seiendes, das der Vernunft und Reflexion fähig ist und das sich selbst als das Seihst, als etwas Selbiges, betrachten kann, welches zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten denkt... dadurch ist jeder für sich selbst das, was er ‘ich selbst’ nennt ... So liegt auch allein darin das, was die persönliche Identität ausmacht, oder das, was ein vernünftiges Seiendes immer dasselbe sein läßt. (Leibniz, zit. nach Levita 1971, S. 27) So weit sich dieses Bewusstsein auf schon Vergangenes erstrecken könne, so weit erstrecke sich auch die Identität dieser Person, und das Ich sei jetzt dasselbe, das es damals gewesen sei. Für Leibniz ist dieses Selbstbewusstsein, das mit sich selbst identisch bleibt, die Grundlage der ethischen Existenz der Person. Identität mit sich selbst, das Wissen um die diachrone Identität der Person, setzt die Konstanz der Person voraus, Erinnerung wird also erst durch die Identität der Persönlichkeit möglich. Identität heißt bei Leibniz, dass der Mensch sich mit dem, was er in der Vergangenheit war, identisch fühlt. Und weil er mit sich identisch ist, erinnert er sich. Das Bewusstsein von der Kontinuität und Unverwechselbarkeit der individuellen Biografie macht Erinnerung (aller oder bestimmter Lebensphasen) erst möglich. Locke sah den Zusammenhang zwischen persönlicher Identität und Erinnerung umgekehrt: Erinnerung erst ermögliche persönliche Identität. Man vergleiche dazu folgende Aussagen aus einer deutschen Übersetzung einer zeitgenössischen Locke-Rezeption: (4) (...) eben so entstehet aus der Vergleichung des Bewußtseyns unserer selbst oder unsers Daseyns in zween verschiedenen Zeitpunkten, unmittelbar in dem Gemiithe der Begriff der persönli- Auf der Suche nach Identität 183 chen Identität. (...) Auf die Art kann nun zwar das Bewußtseyn von dem Vergangenen uns selbst von unserer persönlichen Identität vergewißern. (J. Butler, Bestätigung der natürlichen und geoffenbarten Religion (...) Nebst zwo kurzen Abhandlungen von der persönlichen Identität (...), aus dem Engl. Leipzig 1756, S. 416) Bei Kant verschiebt sich die Identitätsdiskussion in den Bereich der Erkenntnistheorie. Dabei geht er von einem analytischen, logischen Identitätsbegriff aus, und zwar im Zusammenhang mit der Selbst-Wahrnehmung, d.h. der Wahrnehmung meiner selbst als immer und überall gleich bleibend: Der Satz der Identität meiner Selbst bei allem Mannigfaltigen, dessen ich mir bewußt bin, ist ein eben sowohl in den Begriffen selbst liegender, mithin analytischer Satz; aber diese Identität des Subjekts, deren ich mir in allen seinen Vorstellungen bewußt werden kann, betrifft nicht die Anschauung desselben, dadurch es als Objekt gegeben ist (Kant, zit. nach Levita 1971, S. 31) Kant thematisiert hier das Ich-als-Objekt (oder das Selbst) in genau derselben Weise wie andere Objekte, die man wahrnehmen kann. Die Identität, die ich mir selbst als Person zuschreibe, ist nicht einfach eine Eigenschaft dieser Person, sondern liegt a priori beim wahrnehmenden Subjekt. Die Identität meiner selbst als ein Objekt muss als apriorische Erkenntnis verstanden werden. Aber auch die Tatsache, dass ich mir selbst überhaupt als Objekt erscheinen kann, ist in dem a priori des Subjekts begründet. Ein Objekt kann nur als das Objekt eines Subjekts Vorkommen. Vgl. auch: (5) Die moralische Persönlichkeit ist also nichts anders, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen (die psychologische aber bloß das Vermögen, sich seiner selbst in den verschiedenen Zuständen, der Identität seines Daseins bewußt zu werden (...)“ (I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797, in: Werke. Bd. 8, S. 329f.) (6) Die letzte Bestimmung aller endlichen vernünftigen Wesen ist demnach absolute Einigkeit, stete Identität, völlige Übereinstimmung mit sich selbst. Diese absolute Identität ist die Form des reinen Ich und die einzige wahre Form desselben; oder vielmehr: 184 Gerhard Strauß / Gisela Zifonun an der Denkbarkeit der Identität wird der Ausdruck jener Form erkannt (J.G. Fichte, Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, 1794, in: Werke. Bd. 6, S. 297) Aber nicht nur in Philosophie und Geistesgeschichte, sondern auch in allgemeineren Reflexionen von Zeitgenossen, insbesondere Autoren populärwissenschaftlicher und belletristischer Literatur mit psychologischer, seelenkundlicher Themenstellung zeigt sich die subjektorientierte Wendung des Begriffs. Hier spielen seit dem Zeitalter der Empfindsamkeit und der Aufklärung Menschen als „ihrer selbst bewusste“ Subjekte, spielt deren Selbstheit eine wichtige Rolle, man vgl. etwa folgende Textausschnitte: (7) Empfindung der Selbstheit oder Identität ... Dadurch wird der Mensch ein ganzes Identisches Wesen (Dtsch. Museum, 1776, Bd. 1,S. 215) (8) (...) wo er [der philosophierende Verstand] uns das Gefühl unserer Identität und Personalität verdächtig zu machen suche (...) (F.H. Jacobi, Woldemar. Eine Seltenheit aus der Naturgeschichte, 1796, in: Werke. Bd. 5, S. 82) (9) Die Persönlichkeit des Menschen, oder das Bewusstseyn der Identität seiner selbst (J.S. Beck, Propädeutik zu jedem wissenschaftlichen Studio, Halle 1799, S. 12) (10) Ich will die Identität meines Selbstbewußtseins in allen seinen Theilvorstellungen erkennen, ich will in allen mich selbst finden (Schiller vor 1805 in: E. Boas, Nachträge zu Schillers Sämtl. Werken. Bd. 2, S. 301, zit. aus J. Kehrein, Fremdwörterbuch 1876, S. 253) (11) (...) so ist notwendig, wenn das Einige nicht entweder (sofern es an sich selbst betrachtet werden kann) als ein Ununterscheidbares sich selbst aufheben und zur leeren Unendlichkeit werden soll, oder wenn es nicht in einem Wechsel von Gegensätzen, seien diese auch noch so harmonisch, seine Identität verlieren, also nichts Ganzes und Einiges mehr sein, sondern in eine Unendlichkeit isolierter Momente (gleichsam eine Atomenreihe) zerfallen soll (F. Hölderlin, Über die Verfahrensweise des poetischen Aufder Suche nach Identität 185 Geistes, in: Sämtl. Werke. Kleine Stuttgarter Ausgabe. Bd. 4, S. 261) (12) um die Persönlichkeit, um die Identität seiner selber faßte er die ächten und falschen Eisele und Beisele allesamt beim Arme und warf sie dergestalt untereinander (...) (Riehl, Eisele & B., 1848, S.283) Die in der Philosophie im Zusammenhang mit dem Leib-Seele-Problem und der Frage des Selbstbewusstseins entwickelte Bedeutung von Identität, die allmählich auch in den allgemeineren Sprachgebrauch eindringt, lässt sich etwa so paraphrasieren (wie in englischen und französischen Wörterbüchern für das 18. Jahrhundert registriert, nicht aber in deutschen): ‘die Selbstheit einer Person (oder Sache) zu allen Zeiten und unter allen Umständen; die Tatsache, dass eine Person (oder Sache) sie selbst ist und nicht irgendetwas anderes; Individualität; Persönlichkeit’. 9 In dieser Lesart ist Identität schon semantisch einstellig: ‘innere Identität des Individuums’. Syntaktisch jedoch ist bei diesen Vorläufern des modernen Sprachgebrauchs seltener einfach die Rede von der Identität einer Person als vielmehr von der Identität mit sich selbst, der Identität seiner selbst/ seines Selbst. Insofern wird noch an die syntaktischen Muster für Identität 1 angeknüpft. Die Verschiebung der Perspektive auf die Frage der Individualität gibt somit den Anstoß zu einer neuen Bedeutungsvariante. Was in diesen Vorläuferkonzepten mit ihrer stark idealistischen Prägung noch nicht vorhanden ist, ist die Dialektik zwischen den Selbst-Vorstellungen des Individuums (Individuation) und den Ansprüchen bzw. normierten Rollenerwartungen der Gesellschaft (Sozialisation). 4.2 Abgrenzung gegenüber Identität 1 Im Unterschied zu Identität 1 ist Identität 2 im „Vollbild“ seiner Verwendung in der Gegenwart grundsätzlich einstellig. Dies bedeutet auch, dass in 9 Vgl. etwa Oxford English Dictionary, Bd. 7, S. 620 s.v. identity (Bedeutung 2a, um 1690); vgl. auch Tresor de la langue frangaise. Bd. 9, S. 1084 s.v. identite: „conscience de la persistance du moi“ (1756). 186 Gerhard Strauß / Gisela Zifonun dieser Verwendungsweise Identität nicht (mehr) in einer (musterhaften bzw. regulären) Beziehung zu dem Adjektiv identisch steht. 10 Das Adjektiv identisch wird selbst niemals mit nur einer (semantischen) Argumentstelle gebraucht: * Cicero ist identisch, versus Cicero ist mit sich selbst identisch. Es kommen nur die bereits verzeichneten Muster (Adj-Muster 1) bis (Adj- Muster 3) vor, bei denen semantisch zwei Argumente gegeben sind und die Identität 1 zuzuordnen ist. ln semantischer Hinsicht bedeutet dies, dass Identität 2 nicht als nomen qualitatis zu dem Adjektiv identisch fungiert. Wenn z.B. Hans endgültig seine (innere) Identität gefunden hat oder wenn er gegenüber den Behörden seine (äußere) Identität" nachgewiesen hat, so bedeutet dies nicht, dass er nun endgültig herausgefunden bzw. nachgewiesen hat, dass er (mit sich selbst) identisch ist. Das folgende für deadjektivische Ableitungen mit -ität zentrale semantische Muster der „reinen Nominalisierung“ (Mötsch 1999, S. 350) liegt hier somit nicht vor: Wenn A ein (einstelliges) Adjektiv ist, das über einen Eigenschaftsträger x prädiziert, dann bezeichnet A-ität die Eigenschaft des Eigenschaftsträgers x, A zu sein. vgl. etwa Stabilität (von x), Loyalität von x, Nervosität von x Zwar weichen auch andere -üüf-Bildungen von diesem zentralen semantischen Muster ab, etwa Nationalität (nicht: ‘die Eigenschaft, national zu sein’). Bei Identität 2 jedoch liegt ein Sonderfall vor. Es scheint eine semantische Verschiebung stattgefunden haben. Genannt wird ein „Analytisches“ etwas, das in Bezug auf Individuen notwendigerweise wahr wird -, gemeint ist ein „Kontingentes“ etwas je Spezifisches, die Qualität(en) oder gar der 10 Wir sprechen hier nicht von einer Ableitungsbeziehung zwischen Adjektiv und Substantiv. Denn beide Wörter sind jeweils suffixal aus dem gemeinsamen Konfix identabgeleitet. Vgl. zu dieser Konzeption die Wortbildungskomponente des im IDS entwickelten Grammatischen Informationssystems GRAMMIS (http: / / www.ids-mannheim.de/ grammis). Im Fall von identisch - Identität 1 liegt jedoch eine Beziehung zwischen Adjektiv und Substantiv vor, die genau dem Muster regulärer -irär-Ableitungen mit adjektivischer Basis entspricht. Dies rechtfertigt es, auch im Fall von Identität 2 nach einer regulären Korrelation zwischen Adjektiv und Substantiv zu fragen. 11 Vgl. zu dieser Feindifferenzierung genauer unten die Abschnitte 4.3ff. Aufder Suche nach Identität 187 Wesenskern, der die „Einzelheit“ oder „Selbstheit“ des Individuums begründen kann. Es findet also eine Verschiebung vom Formalen auf ein Inhaltliches oder Wesenhaftes (bzw. bei der ‘äußeren Identität’ auf ein Konkret-Objekthaftes) statt. Denn benannt wird ja nur eine an sich inhaltsleere Eigenschaft, das ‘Mit sich selbst Identisch-Sein’. Gemeint sind die fundierenden oder abgrenzenden Eigenschaften und Merkmale, die ein Gegenüber oder das sich selbst erkennende und verstehende Subjekt als über die Zeit konstant bzw. (bei ‘innerer Identität’) als wesentlich und als das Individuum oder das Selbst definierend begreift. Der Übergang von Identität 1 zu Identität 2 verläuft nicht abrupt. Wie der vorhergehende Abschnitt gezeigt hat, können vereinfachend diese Stufen ausgemacht werden: (i) dass ein Individuum mit sich identisch ist —> (ii) inwiefern ein Individuum (mit sich) identisch ist —> (iii) das, was es ausmacht, dass ein Individuum (mit sich) identisch ist Diese intensionale Verschiebung in Richtung einer nicht benannten aber anzusetzenden und vorauszusetzenden intensionalen Füllung unterscheidet Identität 2 in seinem „Vollbild“ (= iii) von den Vorläuferkonzepten (= i bzw. ii). Während bei den Vorläuferkonzepten in gradueller Abstufung die Vorstellung der reinen Äquivalenz erhalten bleibt, ist das „Vollbild“ von Identität 2 inhaltlich angereichert ohne dass allerdings benannt würde, worin diese Anreicherung besteht. Diese Unterspezifikation ist sicher eine der Ursachen für den „Plastikwort“-Charakter, der dieser Verwendung von Identität zugeschrieben wird. Identität 2 ist im Gegensatz zu Identität 1 in aller Regel referenziell eingeschränkt auf Personen, Personenkollektive oder Institutionen, die auf Personenkollektiven, beruhen. Die beiden Verwendungen unterscheiden sich auch kontextuell: Während Identität 1 typischerweise in syntagmatischen Verbindungen vorkommt wie: Identität zwischen A und B/ von C liegt vor; zwischen A und B besteht Identität; A und B kommt Identität zu, wird Identität 2 typischerweise in Kollokationen verwendet wie seine (weibliche) Identität suchen, um Identität ringen, auf der Suche nach Identität, seine Identität wechseln usw. 188 Gerhard Strauß / Gisela Zifonun Vorzusehen ist hier nur ein Muster mit Varianten: (Muster) Identität ARG1 .Gen / von ARG1 ARG1 kann durch Individuenbezeichnungen oder durch Bezeichnungen für Kollektive bzw. Institutionen belegt sein: die Identität von Hans die Identität der Europäer / der grünen Partei 4.3 Semantische Feindifferenzierung von Identität 2 Weitere Unterschiede der Kontextualisierung legen folgende Feindifferenzierung für Identität 2 nahe, die im Folgenden zu begründen sein wird. Schema: Bedeutungsstruktur von Identität 2 Identität 2 a äußere b innere (7) des Individuums (2) von Kollektiven (A) nicht (B) Im Hinblick spezifisch auf Zugehörigkeit zu Kollektiven (A) nicht {B) Im Hinblick spezifisch auf Aspekte 4.4 Identität 2a: äußere Identität Identität im Sinne von ‘äußere, auf konkrete (Personen-)Merkmale und -daten wie Name, Geburtsdatum, -ort, sowie entsprechende Dokumente zurückführbare eindeutige Identifizierbarkeit, juristische Feststellung’ ist zunächst von dem Gesamtkomplex ‘innere Identität, Selbstverständnis’ abzu- Aufder Suche nach Identität 189 trennen. Zwar kann ‘äußere Identität’ in der Regel nur Individuen, nicht Kollektiven zugeschrieben werden, sodass auch eine primäre Unterteilung von Identität 2 nach den Merkmalen ‘bezogen auf Individuen’ versus ‘bezogen auf Kollektive’ möglich wäre. Jedoch besteht ein engerer systematischwortsemantischer wie worthistorischer Zusammenhang zwischen den Spielarten der ‘inneren Identität’ als zwischen der äußeren und der inneren Identität des Individuums. Es wurde daher die vorliegende Hierarchisierung gewählt. Vermutlich eine der frühesten im Deutschen bezeugten, mit dem Begriff We/ Jt/ tdY formulierten Personenfeststellungen findet sich im ausgehenden 18. Jahrhundert in der folgenden Textpassage: (1) Auf seinen Rat sollte ich nach dem Rathause in der Altstadt zu dem erwählten Präsidenten (...) gehen, und mich zum Arrest melden, Unwillkürlich marschierte ich von ihm fort durch den Sächsischen Hof um einen andern Freund, den Doktor Blauberg aufzusuchen, der als Arzt doch nicht mit bei der Schlächterei gewesen sein konnte. Hier erschien ich als ein Gespenst; denn ich sollte mit Gewalt den vorigen Tag nicht weit von dem Hause gefallen sein, und die Bedienten hatten noch die Identität meines Kadavers nach genauer Besichtigung behauptet. Kaum wollte man mir glauben, als ich selbst das Gegenteil versicherte. (J.G. Seume, Über die Vorfälle in Polen im Jahre 1794, (1796), in: Werke Bd. 2, S. 200). Hier treibt der Autor mit der vermeintliches Identität eines „Kadavers“ sprich Leichnams es soll sein eigener sein ein makaber-leichtfertiges Spiel in zwei Akten: Ein Schlachtfeld mit seinen möglicherweise bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten und damit kaum Anhaltspunkte für eine sichere Personenfeststellung bietenden Leichen liefert die düstere Szenerie einer falschen Identifikation. Diese aber erweist sich im nächsten Auftritt einer kleinen Groteske als so suggestiv, dass sie den quicklebendigen Totgeglaubten kurzerhand in ein Gespenst verwandelt. Auch ein anderer früher Beleg weist aus der Perspektive der heutigen, eingeengten Verwendung ungewöhnliche Charakteristika auf: 190 Gerhard Strauß / Gisela Zifonun (2) Jeder Laut eines lebenden Wesens hat seinen eigentümlichen Sinn, und auch die Gleichartigkeit mehrerer Laute ist nicht bedeutungslos. Wie der einzelne Laut den vorübergehenden Zustand, so bezeichnet sie die beharrliche Eigentümlichkeit. Sie ist die tönende Charakteristik, das musikalische Portrait einer individuellen Organisation. So wiederholen viele Tierarten stets dasselbe Geräusch, gleichsam um der Welt ihre Identität bekannt zu machen — sie reimen. (F. Schlegel, Über das Studium der griechischen Poesie, 1797, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. 1. Abtlg. Bd. 1,S. 234) Auf poetische Weise abweichend von der heutigen Verwendung im amtlichen Kontext sind hier mehrere Aspekte: Zum einen geht es um eine indirekte Form der Selbstidentifizierung: Identität wird hier also nicht (amtlicherweise) festgestellt, sondern (freiwillig) bekannt gemacht. Zum anderen gibt sich hier nicht ein Individuum zu erkennen, sondern eine ganze Gattung, eine Tierart, die sich auf akustische Weise, durch Wiederholung einer bestimmten Geräuschfolge selbst „porträtiert“. Die beiden folgenden Belege aus dem 19. Jh. sind bereits auf den engeren Fall der (juristischen) Personenfeststellung eingeschränkt: (3) Er erfuhr von dem Arzt (...), daß der Ort (...) doch der Sitz eines preußischen Landeskollegii sei, und daß er mit aller Förmlichkeit sein Testament dort deponieren könne, sobald es ihm nur gelänge, die Identität seiner Person nachzuweisen. Dies war aber der harte Punkt. Denn wer kannte den Grafen in dieser Gegend? (E.T.A. Hoffmann, Letzte Erzählungen, 1823, in: Poetische Werke. Bd. 6, S. 665) (4) JUSTITIAR erstaunt. Lipsius redivivus - Ihm respektvoll näher tretend. Euer Gnaden erlauben, daß ich mich von der Identität überzeuge. LIPS. Lassen S' mich ungeschoren, ich will von der Welt und ihren Faxen nix mehr wissen. (J.N. Nestroy, Der Zerrissene, 1844, in: Werke. S. 560) Aufder Suche nach Identität 191 Dagegen zeigt der folgende Beleg von 1861 wiederum ein weiteres Verständnis, das zwar in den juristischen Kontext führt, dort jedoch zu der Identität einer Urkunde, somit der Identität einer Sache, nicht einer Person: (5) Wie? Ew. Durchlaucht wollten Allerhöchstihren [! ] letzten Willen anderswo, als im Staatsarchive deponiren? Eine solche Art der Niederlegung könnte mindestens einen Prozeß über die Identität der Urkunde, wo nicht gar, meo voto, eine absolute Nullität mit sich führen. (C.L. Werther, Klein-Deutschland, 1861, S. 95) Was diese spezielle Verwendung mit der üblicheren personenbezogenen verbindet, ist das semantische Moment der ‘Echtheit, Übereinstimmung einer Person oder Sache mit dem, was sie zu sein vorgibt’. Belege aus dem 20. Jh. haben in aller Regel den engen Bezugsbereich der juristischen Personenfeststellung. Zu nennen etwa in chronologischer Folge: (6) Eine eingewanderte weibliche Person kann ebenso wie ein männlicher Einwanderer das amerikanische Bürgerrecht erwerben. Wenn im sog. ersten Papier der Name ungenau bezw. fehlerhaft geschrieben wird, wird dasselbe dadurch nicht ungültig, wenn nur die Identität der Person nachgewiesen wird. (E. Smithanders, Land und Leute in Nordamerika, 1926, S. 138) (7) Das deutsche Konsulat in Neapel (...) teilte auf Grund des zweimaligen Verhörs nach Berlin und Endingen mit, daß die Identität Daubmanns unzweifelhaft feststehe. (Berl. Illustr. Nachtausgabe, 12.1.1933,o.S.) (8) Glauben Passanten dennoch, eine Ähnlichkeit mit der berühmten Schwimmerin zu entdecken, verleugnet sie kurzerhand ihre Identität. (Spiegel, 15.2.1993, S. 196) Identität 2a kommt als Bestimmungswort in Zusammensetzungen vor wie Identitätsfeststellung, -beweise, -marke, -papiere, -ausweis (österr., während der Besatzungszeit 1945-1955, für ‘Personalausweis’), Identitätskarte (Schweiz, für ‘Personalausweis’). Auch folgende typischen verbalen Kontextpartner grenzen diese Verwendungsweise im Rahmen von Identität 2 erkennbar ab: jemandes Identität feststellen, klären, bestätigen, bestreiten, nachweisen, ermitteln; seine (eigene) Identität angeben, verheimlichen, ver- 192 Gerhard Strauß / Gisela Zifonun leugnen, wechseln; jemandes Identität steht fest, istfraglich, zweifelhaft, unsicher, unbekannt; für jemandes Identität bürgen, sich von jemandes Identität überzeugen. Die externe Identität, über die wir in den Zuständigkeitsbereich amtlicher Erfassung, erkennungsdienstlicher Polizeiarbeit usw. geraten, macht sich fest an „unveränderlichen Kennzeichen“: (9) Unübertrefflich jene amtliche Definition der bekannten unveränderlichen Kennzeichen unserer Identitätsbeschreibung aus einem bayrischen Ministerialamtsblatt) nämlich „insbesondere Narben, Muttermale, fehlende Körperteile, wenn sie ohne weiteres sichtbar sind“. Wie sagte doch Galetti: Ich sehe heute wieder so viele, die nicht da sind! “ Angesichts solcher Logik würde sich unser großer Philosoph der Vernunftlehre, der selige Immanuel Kant, im Grabe herumdrehen, falls er noch lebte. (W. Sanders, Sprachkritikastereien 1992, S. 20) Als eines dieser Kennzeichen es ist allerdings nicht unveränderlich kann auch die Nationalität der Person dienen. In dem folgenden Beleg erscheint ethnische Identität als Synonym zu Nationalität: (10) Den berühmt-berüchtigten ,fünften Punkt“, die Rubrik Rationalität“, in dem einst die ethnische Identität der Person eingetragen wurde, gibt es nicht mehr. (Berliner Zeitung, 5. 11.1997, S.4) Im Unterschied zu Identität 2b sind adjektivische Attribute hier kaum üblich, mit deren Hilfe restriktiv die Art der gemeinten Identität, also der Identitätsaspekt spezifiziert werden könnte. Dies bedeutet, die externe Identität wird in der Regel als unteilbar begriffen, als ein Ganzes. In Beleg (10) wird eher ungewöhnlicherweise ein spezifizierendes Adjektivattribut gebraucht, um einen bestimmten Aspekt der äußeren Identität zu benennen. Man beachte, dass das Syntagma ethnische Identität auch eine Lesart im Sinne der inneren Identität hat (vgl. Beleg (8) in Abschnitt 4.6). Möglicherweise hat diese heute stark verbreitete Verwendung auf die Lesart ‘äußere Identität’ zurückgewirkt. Etwa nach dem Motto: Warum sollte die wohlklingende Verbindung ethnische Identität nicht auch im schlichten Sinne der amtlich beglau- Aufder Suche nach Identität 193 bigten Nationalität Anwendung finden? Man vergleiche auch Beleg (3) in Abschnitt 4.5 zu einer Verwendung von nationale Identität. Ohne Probleme kann, wenn geheimdienstlich erforderlich, die äußere Identität auch gewechselt werden, etwa wenn ein Spion „umgedreht“ wurde: (11) Das BKA habe sie „umgedreht“, um dem aufgebrachten Ausland schuldige Deutsche präsentieren zu können; mit einer neuen Identität versehen, werde man sie bald abschieben. (Spiegel 7.12.1992, S. 37) Dass der Wechsel der äußeren Identität Folgen für die innere Identität eines Individuums haben kann, versteht sich. Wenn nicht nur ein neuer Name, Haarschnitt usw. verpasst wird, sondern eine „Legende“ aufgebaut ist, derzufolge Mensch A ein Wesen mit der Lebensgeschichte, den Gewohnheiten, Vorlieben, Schwächen und Fähigkeiten von B wird, was geschieht? Passt A seine innere Identität an die von B an, trennt er die beiden inneren Identitäten, gelingt es ihm, zwischen wahrer und falscher innerer Identität in der Selbstwahrnehmung zu unterscheiden? Ein Stoff für John le Carre! Nicht zu vergessen aber Thomas Manns spielerischer Umgang mit den Verwerfungen von äußerer und innerer Identität im „Felix Krull“: (12) Denn obgleich ich zögerte, ihn zu grüßen (...) machte das unwillkürliche Lächeln (...) ihn meiner Identität der Identität zwischen dem Kavalier und dem Kellner gewiß. (Th. Mann, Felix Krull, 1954, Werke. Bd. 7, S. 500) 12 (13) (...) kann es sein, daß ich die Verliebtheit in sie in meine neue Identität aufgenommen, daß ich mich nachträglich in sie verliebt hatte (...) (Th. Mann, Felix Krull, 1954, Werke. Bd. 7, S. 560) Im Folgenden werden wir uns auf die Verwendungsweise im Sinne von ‘innere Identität’ konzentrieren. 12 In diesem Beleg wird spielerisch von Identität 2a (erstes Vorkommen) zu Identität 1 (zweites Vorkommen) übergegangen. 194 Gerhard Strauß / Gisela Zifonun 4.5 Identität 2b(l)\ innere Identität des Individuums 13 Identität im Sinne der inneren Identität des Individuums gehört in ein semantisches Feld mit Ausdrücken wie Individualität, Persönlichkeit, Selbst, Selbstheit, Selbstbestimmung, Selbsh’erständnis. Es wird zum einen ohne spezifizierende Attribute verwendet; hier ist dann pauschal von der Identität oder auch den (wechselnden) Identitäten einer Person die Rede, etwa in folgenden Belegen: (1) „Woran auch immer die jungen Leute früher geglaubt haben“, sagt die Psychologin Hacioglu, „es gab ihnen ein Gefühl von Identität, es hat ihre Persönlichkeit gestützt.“ (Spiegel 45/ 2000, S. 270) (2) [bezogen auf Joschka Fischer] schnell erlernte und wieder abgelegte Identitäten (Stern 19.10.2000, S. 47) Zum anderen wird Identität, bezogen auf Individuen, auch mit Adjektiv- Attributen verwendet wie in: (3) Statt dessen fragt Friedmann lächelnd, ob er dem Beamten, der ihm, dem eingewanderten Franzosen, einst seinen deutschen Paß in die Hand drückte, mit einem tiefen Diener hätte danken müssen. „Dabei gehört doch niemandem dieses Land. Und dabei ist doch nationale Identität a priori das Recht des Individuums, nicht das einer Nation ...“ (Süddeutsche Zeitung, 20.1.1995, S. 13) (4) Das Benehmen serbischer Soldaten und das Leiden der Zivilbevölkerung, das Heckner aus zahlreichen Sarajevo-Besuchen gut kennt, wecken in ihm und semen Berufskollegen einen starken Impuls zu militärischem Eingreifen. Aber in den Grundfesten seiner soldatischen Identität beunruhigt es ihn nicht. (Spiegel 14/ 1993, S. 185) 13 Die Formulierung ‘Identität des Individuums’ bzw. ‘individuelle Identität’ wird gewählt, weil mögliche Konkurrenzbezeichnungen wie ‘personale Identität’, ‘persönliche Identität’, ‘Ich-Identität’ bereits im Rahmen bestimmter sozialpsychologischer Theorien terminologisch festgelegt sind und jeweils spezifische Interpretationen von Aspekten der Identität des Individuums bezeichnen. Aufder Suche nach Identität 195 (5) Sie hat gelernt, mit Macht zu hantieren wie ein Mann, ohne ihre weibliche Identität zu verachten oder zu glorifizieren. (Spiegel 19/ 1993, S. 27) (6) Wichtig ist allein, wie der Junge mit der Suche nach seiner sexuellen Identität umgeht, und vor allem: wie die Umwelt darauf reagiert. (Berliner Zeitung, 6.11.1997, S. 7) (7) Der 1949 geborene Gerhard Stäbler gehört zu einer Generation, in der die Ausbildung künstlerischer Identität schwierig war. (Berliner Zeitung, 20.1.1998, S. 12) Die attributiven Adjektive, die hier in Frage kommen, sind durchweg aus Substantiven abgeleitet. Ihre semantische Funktion besteht in der „Geltungsbeschränkung“ (Mötsch 1999, S. 218) des durch den substantivischen Kopf ausgedrückten Charakteristikums: Im vorliegenden Fall wird also z.B. durch die adjektivischen Attribute soldatisch oder künstlerisch das Charakteristikum ‘Identität’ auf den Geltungsbereich des Soldatischen bzw. Künstlerischen eingeschränkt. Adjektive, die nach diesem semantischen Muster zu interpretieren sind, 14 werden wie in den Beispielen attributiv gebraucht oder als Qualitativsupplemente (im Sinne der IDS-Grammatik, S. 1177ff.). Man vergleiche etwa: (8) Künstlerisch wird sie überschätzt. (Mötsch 1999, S. 219) Prädikative Verwendung ist bei der Lesart jedoch ausgeschlossen: (9) *Seine Identität war soldatisch/ künstlerisch/ sexuell. 14 Viele adjektivische Wortbildungsprodukte sind nach mehreren semantischen Mustern zu interpretieren: weiblich wird z.B. nicht nur geltungsbeschränkend verwendet, sondern auch zum Ausdruck einer „zusätzlichen Klassenzugehörigkeit’ (Mötsch 1999, S. 194), etwa in weibliche Bürokraft ‘Bürokraft, die auch zur Klasse der „Weiber“ gehört’. (Die semantische Sonderentwicklung von Weib ist in Rechnung zu stellen.) Außerdem kommt das Muster „Vergleich“ in Frage, etwa für weibliche Figur ‘eine Figur, die prominente Eigenschaften der Figur von „Weibern“ hat’ (vgl. Mötsch 1999, S. 199). Mit der Veränderung des semantischen Musters kann auch eine Änderung der syntaktischen Distribution einhergehen. In den beiden zuletzt genannten Mustern wird weiblich auch prädikativ gebraucht: Die Bürokraft ist weiblich, ihre Figur ist weiblich. 196 Gerhard Strauß / Gisela Zifonun Die substantivische Basis des Adjektivs ist in unseren Beispielen entweder eine Personenbezeichnung wie Weib, Soldat, Künstler, eine (abstrakte) Personenkollektivbezeichnung wie Nation oder bezeichnet eine abstrakte Kategorisierung für Eigenschaften von Lebewesen wie Sex(us). (Sexus ist die Kategorisierung der Eigenschaften ‘männlich’ und ‘weiblich’.) Inwiefern ist es bei dieser Diversität gerechtfertigt, hier von einer Spezifikation „im Hinblick auf die Zugehörigkeit zu Kollektiven“ zu sprechen, wie wir es oben in der schematischen Darstellung in Abschnitt 4.3 getan haben? Die folgenden Paraphrasen liefern eine mehr oder minder direkte - Brücke nationale Identität'. 'Identität als Angehöriger einer Nation’ soldatische Identität. ‘Identität als Soldat / als zu dem Kollektiv der Soldaten Gehöriger’ (ähnlich auch weibliche/ künstlerische Identität) sexuelle Identität: ‘Identität als Person, die sich einem über eine Sexuskategorie bestimmten Kollektiv zugehörig fühlt’. Seltener als durch Adjektivattribute erfolgt eine Spezifikation der Aspekte individueller Identität durch Zusammensetzungen: Hier erscheint Identität als Determinatum (Kopf der Konstruktion) und ein anderes Substantiv als Determinans (Modifikator) wie etwa in Familienidentität oder DDR-Identität: (10) Nicht untypisch fiir viele junge Frauen aus bürgerlichen, deutschjüdischen Familien ihrer Generation boten Bildungsidee, soziales Engagement und Familienidentität gleichsam einen Ersatz für Religion. (Rhein-Neckar-Zeitung 7.3.2001, o.S.) (11) Nicht, daß ich wüßte. Der Hauch von Geschichte, der hier durchpusten soll ich spüre den nicht. Meine DDR-Identität verbindet sich mit anderen Dingen. (Berliner Zeitung, 12.12. 1997, S. 27) Die Identität einer Person, so könnten die Beispiele insgesamt nahe legen, ergibt sich als Zusammensetzung (Addition oder Verschmelzung) lauter einzelner Identitäten, die ihrerseits Gruppen zugehörig sind. „Wer bin ich? “ wird beantwortet durch die Kollektion der Antworten auf die Frage „Wohin Auf der Suche nach Identität 197 gehöre ich? “ Selbstverständlich ist es so einfach nicht. Gehören nicht Kollektive sofern sie nicht einfach die Menge ihrer Elemente sind zu den Entitäten abstrakterer Natur, die über personale Eigenschaften nur in einem vermittelten Sinne verfügen? Wir werden auf dieses prekäre Verhältnis der kollektiven zur individuellen Identität noch zurückkommen. Was die innere Identität des Individuums angeht, so wird im fachlichwissenschaftlichen Gebrauch des Terminus in der (Sozial-)Psychologie in der Tat stets auf die Bedeutsamkeit sozialer Konzepte wie Rolle, Kollektiv oder Norm abgehoben. In dieser spezifischen Auslegung hat der Begriff selbst ungeachtet der oben evident gewordenen Vorgeschichte eine relativ kurze Geschichte. Nach Vorläuferkonzeptionen in der Psychologie von William James (1842-1910) hat vor allem George Herbert Mead in „Mind, Seif and Society“ (1. Aufl. 1934) den engen Zusammenhang zwischen dem „innersten Selbst“ des Individuums und seinem „sozialen Selbst“ hergestellt, der für den sozialpsychologischen Identitätsbegriff durchweg prägend wurde, ohne dass Mead selbst von dem Terminus Identität Gebrauch machte. Die Begriffsprägung bzw. Begriffsumprägung selbst ist Erik H. Erikson zu verdanken, der anknüpfend an die analytische Ich-Psychologie Freuds dem Konzept der Identität (zunächst in Veröffentlichungen zwischen 1946 und 1951 unter dem Terminus „Ich-Identität“) eine zentrale Rolle für das Verständnis der Persönlichkeitsentwicklung zuwies. Gestützt auf das klinische Studium vor allem adoleszenter Persönlichkeitsstörungen stellte Erikson die Theorie auf, das psychisch gesunde Individuum bilde nach krisenhaften Phasen der Unsicherheit und Suche („Identitätskrise“) in der Adoleszenz eine stabile Synthese zwischen den eigenen Trieben und Bedürfnissen und den von der sozialen Umwelt geforderten Rollen aus. Diese Synthese wird ‘Identität’ genannt. Erikson betont bei aller Würdigung der sozialen Faktoren stets, dass Identität auf „etwas im Kern des Individuums Angelegtem“ beruhe: „Der Begriff »Identität« drückt also insofern eine wechselseitige Beziehung aus, als er sowohl ein dauerndes inneres Sich-Selbst-Gleichsein wie ein dauerndes Teilhaben an bestimmten gruppenspezifischen Charakterzügen umfaßt“ (Erikson 1956, zit. nach Erikson 1998, S. 124). Der symbolische Interaktionismus hingegen (vgl. Goffman 1967) betont den dynamisch-interaktionalen Charakter von Identität. Die Konstitution von Identität wird als ständig neu zu erbringende Leistung des Individuums defi- 198 Gerhard Strauß / Gisela Zifonun niert, als kreativer Akt einer jeweils zu vollziehenden Ausbalancierung zwischen dem eigenen Identitätsentwurf und den Anforderungen der Interaktionspartner. In Interaktion mit anderen gewinnt das Individuum Identität, muss sie aber andererseits abgrenzend wahren und aufrechterhalten. Um in seiner Identität wahrgenommen und respektiert zu werden, muss es sie symbolisch präsentieren. Wie bereits deutlich wurde, spiegelt sich die fachliche Ausrichtung des Identitätskonzeptes an der sozialen Verankerung des Individuums auch in der gemeinsprachlichen Verwendung wieder, insofern als überwiegend Identität in rollenbezogenen Spezifikationen wie weibliche Identität usw. angesprochen wird. 4.6 Identität 2b(2): innere Identität von Kollektiven Dass Kategorien, Charakterisierungen oder Zuschreibungen, die gemeinhin und in erster Linie für Individuen gelten, auf Kollektive übertragen werden und dass sich diese Übertragung im Sprachgebrauch widerspiegelt, ist kein ungewöhnlicher Vorgang. Bekanntestes Beispiel aus der neueren Sprachgeschichte, das auch in der Sprachkritik viel diskutiert wurde, ist die Anwendung pathologischer oder psychologischer Metaphorik auf das „Volk“, den „Volkskörper“ im Sprachgebrauch des Faschismus wie in dem des „hilflosen Antifaschismus“ (Haug 1967, v. Polenz 1985, S. 192). Dabei wird die Vorstellung vermittelt, Kollektive aus Individuen würden zu einem Organismus verschmelzen, in dem die Schranken zwischen den Einzelpersonen aufgelöst sind und der nun seinerseits Körper- und Seelenzustände erleben und erleiden kann wie sonst nur das Individuum. Möglicherweise entspringt aber dieses Verfahren nicht nur einer kalkulierten Verschleierungs- und Manipulationsstrategie im Sprachgebrauch etwa des Faschismus oder der traumatisierten Hilflosigkeit einer historischen Schocksituation, sondern korreliert mit notorischen Schwierigkeiten in der Kategorisierung und Benennung des Verhaltens von Gruppen. Wie anders ist es zu erklären, dass sich etwa auch Hans Magnus Enzensberger in seiner aktuellen Polemik gegen den Machbarkeitswahn der neuen Leitwissenschaft Biotech- Aufder Suche nach Identität 199 nologie der psychiatrischen Metaphorik zur Beschreibung gesellschaftlicher Befindlichkeiten bedient: Aus der Psychiatrie weiß man, wie leicht eine depressive in eine manische Phase umkippen kann - und umgekehrt. Einiges spricht für die Vermutung, dass ein solcher plötzlicher Umschwung nicht nur bei individuellen Patienten, sondern auch bei großen Kollektiven zu beobachten ist. In den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts schien die Depression zu überwiegen. Überall wurden Szenarien des Untergangs ausprobiert. (...) Offenbar hatten sich die westlichen Gesellschaften zu früh auf den Untergang gefreut. Schon lange vor der Jahrtausendwende bahnte sich die manische Phase an. (Spiegel 23/ 2001, S. 216) Was unseren Zusammenhang angeht, so ist in jedem Fall festzustellen, dass es eine zu der Verwendung von Identität im Sinne ‘innere Identität des Individuums’ im Kontextverhalten weitgehend parallele Verwendung im Sinne von ‘innere Identität von Kollektiven7‘kollektive Identität’ gibt. Auch hier gibt es aspektual unspezifische Verwendungen. Bei diesen wird allenfalls der Identitätsträger, also das Kollektiv als Genitivattribut benannt: (1) Seit einigen Jahren (...) produzieren einige westdeutsche Historiker einen intellektuellen publizistischen Nieselregen, der sich in Äußerungen wie ßdentität der Deutschen“, die gemeinsame Identität der deutschen Nation“, das „kollektive Erbe der deutschen Geschichte“, „Vergangenheit und Gegenwart“ und ähnlichem kondensiert. (ZEIT 6.2.1987, S. 46) (2) Als Mahnung gab Genscher seinem einstigen Zögling zwei Fragen mit auf den Weg: „Wohin treibt die FDP? Wo bleibt die Identität der Partei? “ (Spiegel 2/ 1993, S. 19) (3) Motiv war die Frage, ob es so etwas wie eine Identität Europas jenseits des rein ökonomischen Zusammenschlusses gebe. (Berliner Zeitung, 27.10.1997, S. 11 ) (4) Die Fragen, worauf die Identität des europäischen Judentums beruhe wenn es sie denn bereits geben sollte - (...) sind bei dem „11. Deutsch-Jüdischen Dialog“ lebhaft und kontrovers diskutiert worden. (Berliner Zeitung, 29.10.1997, S. 6) 200 Gerhard Strauß / Gisela Zifonun Die Kollektive bzw. kollektivbasierten Institutionen, denen hier Identität zu- oder abgesprochen wird, reichen von informellen Gruppen wie der Gleichaltrigengruppe (peer group) über subnationale Gebilde wie die Partei sowie die hier wohl nach wie vor bedeutsamste Größe der Nation bis zu supranationalen Größen wie Europa oder das Judentum. Gelegentlich werden auch Städte zu Identitätsträgern - Entitäten, deren ontologischer Status besonders flexibel zu sein scheint. Sie zählen dann nicht als Lokalitäten (Ansammlungen von Gebäuden usw.), sondern als kollektive Größe (Ansammlung von Einwohnern) oder gar in einer Art Personifikation als Individuen eigenen Rechts: (5) Die Stadt Venedig, die immer nach Osten und nie nach Rom geschauthat, sucht ihre Identität. (FAZ, 18.7.1974, S. 17) (6) Die Simulation ist ein Vorgeschmack auf den Plan, der derzeit die Köpfe in Berlin bewegt - Wiederaufbau der einst gerühmten Mauern mit Spendenmitteln, um Hauptstadt-Identität zu fördern. (Spiegel 26/ 1993, S. 68) Es überwiegen jedoch wie bei der Verwendung ‘innere Identität des Individuums’ aspektual differenzierte, d.h. durch adjektivische Attribute spezifizierte Verwendungen. Dabei kann zusätzlich ein Genitivattribut erscheinen, das wie oben den Träger identifiziert. Wir ordnen die Belege nach der Größe der Trägerkollektive: Trägerkollektiv ‘subnational’, z.B. Partei, Bundesland bezogen auf Deutschland: (7) Der offene Brief Hildegard Hamm-Brüchers an die knapp 400 Delegierten, mit dem die unbequeme Alt-Liberale vor dem Verlust an liberaler Identität im „koalitionsopportunistischen“ Alltagsgeschäft warnte, fand allenthalben wenig Resonanz. (Mannheimer Morgen, 25.2.1985, S. 2) (8) Dort die planungsbesessene, anonyme EG-Zentralverwaltung, hier die Bundesländer, „die Garanten kultureller Selbständigkeit, ethnischer Identität, regionaler Eigenart, bürgernaher Verwaltung, wirtschaftlicher Ausgewogenheit und politischer Selbstbestimmung“. (ZEIT, 16.5.19.1986, S. 4) Aufder Suche nach Identität 201 (9) „Wir wollen heißt es in einer Erklärung von Bisky und der Berliner PDS-Vorsitzenden Petra Pau, „diese Tradition [des Gedenkens an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht] nicht missen.“ Ein schöner, feierlicher Anlaß, kontinuierliche sozialistische Identität“ und Abwendung vom. DDR-Regime auf einen Schlag zu demonstrieren. (Frankfurter Rundschau, 11.1.1997, S. 4) Trägerkollektiv ‘Nation“, bezogen auf Deutschland: (10) Das hängt auch damit zusammen, daß manche Fernsehredakteure deutsche nationale Identität ausschließlich in der Tradition der demokratischen Linie der deutschen Geschichte sehen, was bedeutet, daß für sie deutsche Geschichte erst in Hambach beginnt. (ZEIT, 4.1.1985, S. 14) (11) Ob man es die Wertekrise oder die Sinnkrise oder sonstwie nennt, ob diese Krise die Suche nach der nationalen Identität und den Wunsch nach nationalem Stolz hervorgerufen hat das Streben nach einem anderen als dem bisher gepflegten, eher kritischen Geschichtsbewußtsein ist deutlich. (ZEIT, 7.6.1985, S. 43) (12) Eine gesamtdeutsche und zugleich eine multikulturelle Identität für das Ganze zu schaffen mutet der Gesellschaft mehr zu, als sie heute einlösen könnte. Es ist ein Zuviel an Gutseinwollen und Gutmachenwollen, was den bösen Deutschen her\>orbringt. (Spiegel 1/ 1993, S. 29) (13) Der Konflikt schwelt seit einem Jahr. Ein Text Templins zu grüner und nationaler Identität hatte auch die Aufmerksamkeit der stramm rechts ausgerichteten Wochenzeitschrift Junge Freiheit gefunden, die Templin zum Interview bat. (Süddeutsche Zeitung, 20.1.1995, S. 3) Dieser Beleg verbindet subnationale („grüne“) und nationale Identität. (14) Wolfgang Schäubles rhetorische Forderung nach einer Wiedererstarkung nationaler Identität zeugt in exemplarischer Weise von der tiefen Krise, in die unsere Demokratie geraten ist. (Süddeutsche Zeitung, 21.1.1995, Wochenendausgabe S. Vll) 202 Gerhard Strauß / Gisela Zifonun (15) Als nach den napoleonischen Kriegen die Bindekraft der Dynastien nachließ, trat das idealisierte „Volk“ an ihre Stelle. Seine Legenden und Mythen, seine Bräuche wurden aufgezeichnet und zur Grundlage einer neuen nationalen Identität gemacht. (Berliner Zeitung, 25.10.1997, S. 9) (\6) Deutsche stolz auf Nationalität [Überschrift] (...) Wie das Meinungsforschungsinstitut Emnid ermittelte, gehören Willy Brandt, Konrad Adenauer, Thomas Mann, Johann Sebastian Bach, Martin Luther und Albert Einstein zu den „identitätsstiftenden Leitfiguren“. (Rhein-Neckar-Zeitung 20.6.2001, S.13) Sonderfall: ‘West- und Ostdeutschland vor und nach der Vereinigung’: 15 (17) (...) die Zweideutigkeit von Einsicht und Verdrängung, von Verarbeitung und Selbstrechtfertigung das politische Strukturprinzip bundesrepublikanischer Identität bestimmt auch das Verhältnis zu den außenpolitischen und machtpolitischen Folgen des Zweiten Weltkrieges. (ZEIT, 3.5.1985, S. 6) (18) Jetzt, beim Zusammenrücken in Europa, stellen die Deutschen in Ost und West fest, daß es ihnen mittlerweile an nationaler Identität mangelt. (...) Der Bonner Politikprofessor Karl Dietrich Bracher fand das Stichwort für den Zeitgeist: ,j)ostnationale Identität“ heißt internationale Verflochtenheit, heißt Verzicht auf volle Souveränität. (Spiegel 12/ 1993, S. 150) (19) Die illegalen Stationen signalisieren Auflehnung gegen die westdeutsche Mediendominanz und „Widerstand gegen die Zerstörung der sozialen und kulturellen Identität“. (Spiegel 22/ 1993, S. 81) (20) Früher, in der DDR, war es eine Art Massen-Staatsakt, wenn auf Honeckers Geheiß der Kommunisten Rosa Luxemburg und Karl 15 Dieses Spezialthema, die Verwendung von (nationale/ deutsche) Identität im „Einheitsdiskurs“. wird ausführlich dargestellt in Fraas (1996. S. 30-79). Fraas' Analyse bestätigt auch die generelle Verlagerung des Konzeptes von der inneren Identität des Individuums auf die Befindlichkeit von Kollektiven in Medientexten seit den 80er fahren, somit die deutliche Herausbildung der Variante ‘innere Identität von (großen) Kollektiven’. Aufder Suche nach Identität 203 Liebknecht gedacht wurde, die am 15. Januar 1919 einem Mordanschlag von Freikorpssoldaten zum Opferfielen. Seit 1990 aber findet immer um den 15. Januar auf dem „Sozialistenfriedhof“ in Berlin-Friedrichsfelde eine Demonstration ostdeutscher Identität statt. (Frankfurter Rundschau, 11.1.1997, S. 4) Trägerkollektiv ‘Nation’, bezogen auf europäische und außereuropäische Nationen: (21) KARADZIC: Dies ist das Recht aller Völker, und wir werden es in einem uns günstig erscheinenden Moment nutzen. Derzeit stemmt sich die internationale Gemeinschaft dagegen. Sie will aus Serben, Kroaten und Moslems eine neue Nation mixen. Wir werden trotzdem das jetzige Angebot akzeptieren eine maximale Autonomie, Schutz unserer kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Identität. (Spiegel 4/ 1993, S. 123) (22) Durch die indonesische Besatzung ist Osttimor massiver Unterdrückung ausgesetzt: Die Menschenrechte werden dauerhaft verletzt; der Krieg gegen dieses kleine Volk erreicht die Dimensionen eines Genozids (...), die kulturelle und religiöse Identität des Volkes wird systematisch zerstört. (Frankfurter Rundschau, 3.1.1997, S. 25) (23) Die heutige kulturelle Identität Schottlands in ihren Repräsentationen in Film und Literatur ist allerdings nicht bestimmt durch Tartans, sondern durch eine junge, urbane Kultur, die sich in der Arbeiterklasse und einem durch Drogen und Arbeitslosigkeit gekennzeichneten Leben verwurzelt sieht. (Berliner Zeitung, 2.1.1998,8.111) (24) Eine walisische Identität entstand erst mit dem kulturellen Nationalismus, der am Anfang des 20. Jahrhunderts ganz Europa erfaßte, wenn es auch schon im 18. Jahrhundert Versuche gab, das keltische Erbe vor dem Aussterben zu retten. (Berliner Zeitung, 2.1.1998, S. III) 204 Gerhard Strauß / Gisela Zifonun Trägerkollektiv ‘supranational’: (25) So tönt es uns besonders aus Frankreich entgegen, dessen Präsident als eine Art europäischer de Gaulle auftritt und dem maroden Europa eine superindustrielle Identität einzuhauchen versucht (ZEIT, 28.12.1984,8.31) (26) Es soll neben der Würdigung der genannten Komponisten vor allem dazu beitragen, die Musik aller Epochen, einschließlich der zeitgenössischen, als Ausdruck eines gemeinsamen kulturellen Erbes an möglichst viele Menschen in Europa heranzutragen und das Bewußtsein für die kulturelle Identität Europas zu wecken. (Mannheimer Morgen, 3.1.1985, S. 36) (27) 1985 wird sich erneut erweisen: nur aus gemeinsamem Handeln fließt europäische Identität. (ZEIT, 4.1.1985, S. 1) (28) Musiker und Dichter sind die Fünfte Kolonne der armen Welt; im Multikulturalismus Jan Garbareks, in den afrikanischen Explorationen des Kronos-Quartetts, im Grassschen Indienjahr, in Welt-Romanen wie dem „Englischen Patienten“, Filmen wie „Night on Earth“ bildet sich tastend eine globale Identität zunächst über Gefühle. (Berliner Zeitung, 1.11.1997, S. IV) Auffällig ist, dass einerseits Bezeichnungen für geografische bzw. staatlichinstitutionelle Gebilde wie Deutschland, Schottland, Europa, Nation als Genitivattribute erscheinen, zum anderen aber auch entsprechende Adjektivattribute: Identität Schottlands versus schottische Identität (vgl. walisische Identität in Beleg 24), Identität Europas versus europäische Identität, Identität der Nation versus nationale Identität usw. Die beiden Konstruktionen haben eine gemeinsame Lesart, sind aber nicht synonym. Die gemeinsame Lesart ist zu paraphrasieren als ‘Identität, die Schottland hat/ über die Schottland verfügt’. Diese HABEN-Relation bzw. possessive Relation ist eine prototypische Interpretation für den attributiven Genitiv. Beim Adjektiv kann sie (nach Mötsch 1999, S. 249) als Muster ‘Verfügen über etwas’ in Erscheinung treten: So ist heidnische Sitten zu interpretieren als ‘Sitten, über die Heiden verfügen’, kindlicher Trotz als ‘Trotz, den Kinder haben und an den Tag legen’. Aufder Suche nach Identität 205 Die Konstruktion mit Adjektivattribut hat jedoch darüber hinaus die bereits erläuterte Lesart der Geltungsbeschränkung ‘Identität, soweit es das Schottische/ Europäische angeht’, ‘der Identitätsaspekt, der sich auf Schottland/ das Schottische erstreckt’. Letzere Lesart kann sowohl vorliegen, wenn es um die Identität von Kollektiven geht, als auch wenn es um die von Individuen geht. Dagegen kann die erstgenannte Lesart nur bei der Identität von Kollektiven vorliegen. Das bedeutet auch, dass ein Individuum z.B. sagen kann: (29) Ich bekenne mich zu meiner schottischen Identität. (= ‘Identität als Schotte’) nicht aber: (30) ' ■ Ich bekenne mich zu meiner Identität Schottlands. Zusammensetzungen wie etwa DDR-Identität dagegen können mit Bezug auf Individuen verwendet werden; vgl. Beleg (11) in Abschnitt 4.5, wo von meiner DDR-Identität die Rede ist. Die bereits mehrfach angesprochene enge Verzahnung zwischen der inneren Identität des Individuums und der kollektiven Identität oder Gruppenidentität macht es in vielen Vorkommensfällen nicht einfach, zu entscheiden, welche der beiden Lesarten vorliegt. Wenn ein Kollektiv als Träger z.B. von Identität genannt wird, kann grundsätzlich entweder gemeint sein, dass jedes einzelne Mitglied der Gruppe über diese Form der Identität verfügt, oder nur das Kollektiv insgesamt. Ein einschlägiges Beispiel ist: (31) Nach dem Zweiten Weltkrieg ließen sie sich zunächst von den Kommunisten vereinnahmen. Seit 1963 kollaborierten sie mit den Christdemokraten. Erst in den achtziger Jahren fanden sie zur Eigenständigkeit allerdings um den Preis ihrer linken Identität. (Spiegel 19/ 1993, S. 155) Bevorzugt ist hier sicher die Lesart, dass die Partei (die italienischen Sozialisten) als Ganze den Preis ihrer linken Identität zahlen musste. Nicht auszuschließen ist jedoch die Annahme, auch die einzelnen Parteimitglieder hätten einen Identitätsverlust erlitten. 206 Gerhard Strauß / Gisela Zifonun Man kann daraus den Schluss ziehen, dass Identität im Sinne ‘innere, über die Zugehörigkeit zu Kollektiven definierte Identität’ ein so genanntes „gemischtes Prädikat“ im Sinne der IDS-Grammatik, S. 2054 ist. Das heißt, in manchen Kontexten gestattet es den Bezug auf die einzelnen Individuen, in manchen nicht. Exemplarisch zeigt sich dieser Doppelcharakter auch in dem Oberbegriff kollektive Identität. Zum einen wird er gebraucht, um einen bestimmten Anteil der Identität des Individuums zu bezeichnen, den dieses durch Identifikation mit einem Kollektiv und durch Zugehörigkeit zur „symbolischen Realität einer Gruppe“ (vgl. Habermas 1990, S. 93) ausbildet. Zum anderen aber bezeichnet er die übergreifende symbolische Realität der Gruppe selbst. Der Bezug auf die einzelnen Elemente des Kollektivs ist in den folgenden Belegen für kollektive Identität möglich und intendiert: (32) Die Argumentationsweise ist in etwa so einleuchtend, wie wenn deutsche Literaten ihre kollektive Identität im Nibelungenlied suchten. (Spiegel 7/ 1993, S. 228) (33) STOIBER: (...) Aber die Nation wird noch für lange Jahre als ein Stück kollektiver Identität für die Menschen wichtig bleiben. (Spiegel 14/ 1993, S. 122) Dagegen ist bei folgendem Beleg (aus einem Beitrag von Jürgen Habermas zum Thema „Warum braucht Europa eine Verfassung? “) die Staatsbürgernation als Träger kollektiver Identität intendiert, nicht die einzelnen Staatsbürger: (34) Denn damit wird der voluntaristische Charakter einer Staatsbürgernation verfehlt, deren kollektive Identität weder vor noch überhaupt unabhängig von dem demokratischen Prozess, aus dem sie hervorgeht, existiert. (ZEIT, 28.6.2001, S. 7) Die Ausweitung des Konzeptes der inneren Identität vom Individuum auf Gruppen ganz unterschiedlicher Observanz stellt zweifelsohne den bisher letzten Akt in der Karriere des Wortes dar. Mitte der 60er Jahre kam der Begriff zunächst im Angloamerikanischen als Fachterminus der Soziologie und Politikwissenschaft mit Bezug auf Kollektive in Gebrauch. „Political Aufder Suche nach Identität 207 identity“ wurde zunächst auf postkoloniale Gesellschaften der „dritten Welt“ angewendet, denen damit von außen die Entwicklung eines als positiv bewerteten Gemeinschaftlichkeitsbewusstseins als Auftrag und Zukunftschance zugewiesen wurde. Später wurde er dann in der amerikanischen Fachdiskussion auch zur Charakterisierung der politischen und sozialen Verhältnisse im eigenen Land herangezogen (vgl. Gleason 1983, S. 923ff.). Habermas (1976, wieder abgedruckt in Habermas 1990) etablierte das Konzept der politisch verstandenen kollektiven Identität endgültig auch in der deutschen Diskussion. Habermas thematisiert das aus seiner Sicht in modernen Gesellschaften zugespitzte Verhältnis zwischen der Identität des Ich, das sich ja „nur an der übergreifenden Identität einer Gruppe ausbilden könne“ (S. 96) und dem vernünftigerweise einzig noch zur Identifikation bereitstehenden Kollektiv einer Weltgesellschaft: „Und wenn nicht die Menschheit im ganzen oder eine Weltgesellschaft, wer sonst könnte den Platz einer übergreifenden kollektiven Identität einnehmen, an der sich postkonventionelle Ich- Identitäten bilden? “ (S. 96f.). Die Menschheit im Ganzen aber ist ein Abstraktum, keine Gruppe mit Grenzen gegenüber anderen Gruppen. Das bereits mehrfach angesprochene Problem, dass Gruppen Entitäten anderen Typs und anderen Rechts sind als Individuen - Entitäten mit riskanten Grenzen ist im Fall der Weltgesellschaft also potenziert. Radikalisiert ist die Skepsis gegenüber gängigen Vorstellungen von politisch-kultureller Identität im Ansatz des Kulturwissenschaftlers Bhabha, der in der Tradition von Freud und den Poststrukturalisten Lacan, Derrida und Foucault, vor allem aber geprägt von der Wahrnehmung kultureller Differenz in den postkolonialen Gesellschaften „eine radikale Revision des Begriffs der menschlichen Gemeinschaft“ (Bhabha 2000, S. 8) postuliert. Erst die Abkehr von Orientierungsgrößen wie „Klasse“, „Geschlecht“, „geopolitischer Raum“, „Generation“ und „institutionelle Verortung“ schaffe „Zwischen-Räume“ für die Artikulation kultureller Brechungen, Spiegelungen und Ambivalenzen, von denen aus „Strategien individueller oder gemeinschaftlicher - Selbstheit ausgearbeitet werden können“ (a.a.O., S. 2). Auch in der konventionelleren soziologischen Theoriebildung geht man heute davon aus, dass die Mitglieder einer Gruppe eine kollektive Identität ausbilden oder „konstruieren“ können. Voraussetzung ist, dass sie die Gruppe als partikuläre Einheit verstehen und repräsentieren können, somit als 208 Gerhard Strauß / Gisela Zifonun Einheit, die Grenzen gegenüber anderen Gruppen aufweist und über Formen der Gemeinschaftlichkeit verfügt. Diese Gemeinschaftlichkeit kann auf geteilten Werten, Interessen bzw. einer gemeinsamen Kultur beruhen. Wesentlich ist aber auch hier (vgl. Giesen 1999) ähnlich wie bei der individuellen Identität, dass Gruppenidentität nicht als statisch und vorgegeben begriffen wird, sondern dass die Gruppen ihre jeweilige Identität durch gemeinschaftliches Handeln, gegebenenfalls auch durch gemeinschaftliche Rituale selbst erzeugen und transformieren. Eine wesentliche Rolle kommt dabei der symbolischen Repräsentation zu: Geteilte verbale wie nonverbale Zeichen, etwa bestimmte gruppenspezifische Sprachmerkmale, ein bestimmter Stil der Kleidung oder des Auftretens erzeugen Identität, indem sie sie symbolisieren und damit kommunikativ verfügbar machen. Kennzeichnend für 'kollektive Identität’ bzw. ‘Gruppenidentität’ ist der gegenüber den anderen Verständnissen noch ausgeprägtere Grad an Abstraktheit. Dies wird deutlich daran, dass es keine semantischen Nachbarbegriffe zu ‘Gruppenidentität’ gibt, oder wenn man so will eine ganze Reihe recht disparater, vom jeweiligen Kontext abhängiger Nachbarbegriffe. Wollte man z.B. in den Belegen konkretisierende Ersatzausdrücke substituieren, so böten sich an: (2) ,(7): Kenntlichkeit, inhaltliche Linie, Unverwechselbarkeit, (3) Zusammengehörigkeit(sgefiihl), (4) ,(9), (20) Einheit, Tradition, Solidarität, (5) ,(12), (17), (25), (32), (33), (34) Selbstverständnis, (10), (14), (15), (16), (18), (23), (24) Nationalgefühl, Nationalbewusstsein, (19), (21), (22) Integrität, Unversehrtheit, Autonomie, Selbstständigkeit, (27), (28): Wertegemeinschaft{lichkeit). Beleg (16) zeigt eine aktuelle Kontextualisierung im Zusammenhang der Nationalstolzdebatte. 16 16 Für die Verwendung von national identity bzw. American identity stellt Gleason (1983) sogar eine Überlappung mit national character bzw. American character fest. Er beruft sich dabei auf die in der Zeit um den zweiten Weltkrieg wieder neu aufgekommene Debatte um Existenz und Wert eines Nationalcharakters. Wiederum sei Erikson es gewesen. Auf der Suche nach Identität 209 Ein solch breiter Interpretationsspielraum garantiert vielseitige Einsetzbarkeit, riskiert aber semantische Unverbindlichkeit: Kollektive Identität ist adaptiv, aber vage. Welche Vorteile bietet der Gebrauch dieses Vielzweckbegriffs. Selbstverständlich ist das, was wir „Adaptivität“ genannt haben, schon ein Vorteil an sich: Wenn ich einen einzigen schillernden Begriff zur Verfügung habe, so ist dessen Verwendung für den Sprecher bzw. Schreiber ökonomischer, als der differenzierte Einsatz einer ganze Palette präziser bestimmter Ausdrücke. Elinzu kommt, das zumal da, wo es um so heikle „Entitäten“ wie die Nation oder das Volk geht, die präziseren Ausdrücke Nationalbewusstsein, Nationalgefühl allemal belastet sind und daher zumindest von vielen Sprechern bewusst gemieden werden: Dabei kann, auch dies ein Aspekt der Adaptivität des Ausdrucks, hinter der Verwendung von nationale Identität statt Nationalbewusstsein zum einen das ehrliche Bemühen stecken, neue, weniger traditionale Gemeinschaftlichkeitsvorstellungen zu schaffen und abgrenzend auch neu zu benennen. Ebenso gut kann nationale Identität aber auch als Euphemismus gebraucht werden, als Tarnbezeichnung für ein nach wie vor ungebrochen auf Tradition, Herkunft, Sprache und positiv konnotierten „nationalen“ Eigenschaften beruhendes Nationalgefühl bzw. einen solchen Nationalstolz. Wir vermuten dies zumindest bei der Verwendung durch Karadzik in Beleg (21) in diesem Kapitel. 5. Selbstreflexion: Verwendungen von Identität in der Linguistik Mehrfach ist bereits angeklungen, dass kollektive Identität maßgeblich an zeichenhafte Symbolisierung geknüpft ist. Es nimmt von daher nicht Wunder, dass auch die Linguistik, insbesondere in sozio- oder interaktionslinguistischer Fragestellung, von diesem Konzept Gebrauch macht. Während in der Soziologie das Konzept Identität die Frage ‘auf welche Weise und mit der 1950 in dem Artikel „Reflections on American Identity“ den Ausdruck American identity als Äquivalent für American character gebraucht habe. Identity habe jedoch sehr viel größere Popularität gewonnen, als character jemals hatte. Wir haben keine Textstudien etwa an Texten der 60er- oder 70er-Jahre darüber angestellt, ob auch im Deutschen Identität die Färbung Nationalcharakter annehmen konnte. Unsere Beleglage zeigt, dass die Kontexte heute kaum einen Ersatz durch Nationalcharakter erlauben. Auch dies verweist auf die äußerst versatile Semantik von identity/ Identität. 210 Gerhard Strauß / Gisela Zifonun welchen Mitteln konstituieren sich soziale Gruppen? ’ klären helfen soll, ist Identität in der (Sozio-)Linguistik eine der Antworten auf die Frage ‘welche Funktion haben sprachliche Mittel im Hinblick auf soziale Gruppen? ’ Dabei knüpfen die Vorstellungen über das „Wesen“ der Identität sozialer Gruppen dezidiert an das interaktiv-prozessuale Konzept in der Nachfolge Goffmans an, nicht aber an die Annahme einer konstanten, intrinsisch/ vorab gegebenen Größe. Stellvertretend für viele Verwendungen im Rahmen der Sprachwissenschaft verzeichnen wir abschließend einige Belege aus dem unmittelbaren Kontext der Arbeit des „Instituts für Deutsche Sprache“. Dabei haben Aussagen zu dem Projekt „Kommunikative soziale Stilistik“ bzw. seinen Teilprojekten das erste Wort (vgl. Beispiele 1-3). In ihnen ist deutlich der fachliche Bezug zum soziologischen Verständnis erkennbar: Identität ist hier ein Fachterminus zur Beschreibung der Funktionalität kommunikativer Stile. (1) Die unterschiedlichen kommunikativen sozialen Stile und damit verbundenen Leitbilder des sozialen Handelns sind Lösungsversuche, die einerseits nach innen gerichtet sind und die eigene Identität bestimmen, andererseits aber auch an die deutsche Gesellschaft adressiert sind im Bemühen, einen Platz zu finden und zu behaupten (...) (Sprachreport 3/ 2000, S.7: zum Projekt „Sprachvariation und die Herausbildung kommunikativer Stile in dominant türkischen Migrantengruppen“) (2) Kommunikativer sozialer Stil fungiert als Ausdruck soziokultureller Identität: Durch die Beschaffenheit ihrer Medientexte teilen uns die Kommunikatoren mit, dass sie einer bestimmten Sozialwelt angehören und als Vertreter einer Kultur gesehen werden wollen. (Sprachreport 4/ 2000, S.3: zum Projekt „Jugendkulturelle soziale Stile ...“) (3) Indem ältere Menschen diese Veränderungen, die gegenüber ihrer Situation als Erwachsene eintreten und die sie von dieser Phase entfernen, kommunikativ be- und verarbeiten, sind sie — nicht unbedingt intentional zugleich noch mit einer weitreichenderen und umfassenderen Aufgabe befasst, der Ausbildung von Altersidentität. (Fiehler, demn., o.S.: zum Projekt „Alterskommunikation“) Aufder Suche nach Identität 211 Aber auch die Grammatikerin und Mitautorin dieses Artikels bedient sich aus dem Fundus der Identitätszuschreibungen: (4) Die europäische >Sprachidentität< wird wie die kulturelle Identität der Europäer überhaupt auf dem Prinzip der Vielfalt beruhen, also der Sprachenvielfalt auf der Basis erkannter Gemeinsamkeit. (Sprachreport 1/ 2000, S. 18: zum Projekt „Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich“) Das letzte Wort habe der Direktor und Jubilar. 17 Auch er bezieht sich auf die europäische Identität. Mit seinem Gebrauch des „Europäismus“ europäische Identität fügt er sich selbst ein in die „Traditionen europäischen Denkens“, fordert Gemeinschaftlichkeit ein und symbolisiert sie gleichermaßen. Was will man mehr von einer Verwendung des Wortes Identität? (5) „Europäische Hochsprachen sind Ausdruck europäischer Kultur und ein herausragendes Mittel ihrer weiteren Entfaltung“, betonte der Initiator der Tagung, Prof Dr. Gerhard Stickel, Direktor des Instituts für Deutsche Sprache. „In ihnen sind Traditionen europäischen Denkens formuliert, deren Erhaltung und Entwicklung für die Ausbildung einer europäischen Identität unerlässlich sind.“ (Sprachreport 1/ 2001, S. 27: Konferenz „Europäische Hochsprachen und europäische Mehrsprachigkeit“). 6. Literatur Bhabha, Homi K. (2000): Die Verortung der Kultur. Tübingen. (= Stauffenburg- Discussion 5). Dubiel, Helmut (1976): Identität. In: Ritter, Joachim/ Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4. Darmstadt. S. 148-151. Erikson, Erik H. (1998): Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a.M. (= Suhrkamp- Taschenbuch Wissenschaft 16). Fiehler, Reinhard (demn.): Die kommunikative Verfertigung von Altersidentität. Ersch. in: Sichelschmidt, Lorenz (Hg.): Sprache, Sinn und Situation. Festschrift zum 60. Geburtstag von Gert Rickheit. 17 Wir wünschen Gerhard Stickel einen sanften und geglückten Übergang in den Ruhestand. Ob dazu "Altersidentität’ erworben werden muss, sei ihm anheim gestellt. 212 Gerhard Strauß / Gisela Zifonun Fraas, Claudia (1996): Gebrauchswandel und Bedeutungsvarianz in Textnetzen. Die Konzepte IDENTITÄT und DEUTSCHE im Diskurs zur deutschen Einheit. Tübingen. (= Studien zur deutschen Sprache 3). Giesen, Bernhard (1999): Kollektive Identität: Die Intellektuellen und die Nation 2. Frankfurt a.M. (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1410). Gleason, Philip (1983): Identifying Identity. A Semantic History. In: The Journal of American History 69, S. 910-931. Goffman, Erving (1967): Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt a.M. Habermas, Jürgen (1976): Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. Frankfurt a.M. (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 154). Habermas, Jürgen (1990): Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden? (Zuerst 1976). In: Habermas, Jürgen (1990): Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. Frankfurt a.M. (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 154). S. 92-126. Haug, Wolfgang F. (1967): Der hilflose Antifaschismus. Zur Kritik der Vorlesungsreihen über Wissenschaft und Nationalsozialismus an den deutschen Universitäten. Frankfurt a.M. Henrich, Dieter (1979): „Identität“ - Begriffe, Probleme, Grenzen. In: Marquard/ Stierle (Hg.), S. 133-186. Henscheid, Eckhard/ Henschel, Gerhard/ Kronauer, Brigitte (2000): Kulturgeschichte der Mißverständnisse. Studien zum Geistesleben. Leipzig. IDS-Grammatik = Zifonun, Gisela/ Hoffmann, Ludger/ Strecker, Bruno et al. (1997): Grammatik der deutschen Sprache. 3 Bde. Berlin/ New York. (= Schriften des IDS 7). Krappmann, Lothar (1978): Soziologische Dimensionen der Identität: Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen. Stuttgart. Lemer, Jean-Yves/ Zimmermann, Thomas E. (1991): Eigennamen. In: Stechow, Arnim v./ Wunderlich, Dieter (Hg.) (1991): Semantik. Ein Handbuch der internationalen Forschung. Berlin/ New York. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 6). S. 349-370. Levita, David J. de (1971): Der Begriff der Identität. Frankfurt a.M. Marquard, Odo/ Stierle, Karlheinz (Hg.) (1979): Identität. München. (= Poetik und Hermeneutik 8). Mötsch, Wolfgang (1999): Deutsche Wortbildung in Grundzügen. Berlin/ New York. (= Schriften des IDS 8). Aufder Suche nach Identität 213 Niethammer, Lutz (1995): Diesseits des »Floating Gap«. Das kollektive Gedächtnis und die Konstruktion von Identität im wissenschaftlichen Diskurs. In: Platt/ Dabag (Hg.), S. 25-50. Niethammer, Lutz (2000): Kollektive Identität: heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbek. Platt, Kristin/ Dabag, Mihran (Hg.) (1995): Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten. Opladen. Pörksen, Uwe (1988): Plastikwörter: die Sprache einer internationalen Diktatur. 2. Aufl. Stuttgart. Polenz, Peter v. (1985): Deutsche Satzsemantik. Grundbegriffe des Zwischen-den- Zeilen-Lesens. Berlin/ New York. Quine, Willard van Orman (1966): Methods of Logic. London. Schmidt, Gerold (1976): Identität. Gebrauch und Geschichte eines modernen Begriffs. In: Muttersprache 86/ 1976, S. 333-354. Wodak, Ruth/ Cillia, Rudolf de et al. (1998): Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität. Frankfurt a.M. Kathrin Steyer Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt. Zum linguistischen Erklärungspotenzial der korpusbasierten Kookkurrenzanalyse 1. Einleitung Eine Herausforderung für die Linguistik ist die Beantwortung der Frage, wie man Wissen über Wörter, vor allem implizites Bedeutungswissen, explizit und damit darstellbar macht. Die Semantiker ob bekennend kognitiv oder nicht versuchen es vor allem mit Introspektion, die Psycholinguisten auch mit Tests und Experimenten; in den Wörterbüchern findet man überwiegend basierend auf der Sprachkompetenz des Lexikografen - Bedeutungsparaphrasen. Sprachkompetenz und in Wörterbüchern gespeichertes sprachliches Wissen stellen zweifellos Orientierungspunkte für derartige Analysen dar. Viel weitreichendere Ergebnisse erzielt man aber, wenn man dabei das empirische Grundprinzip der strikten Korpusbasiertheit verwirklicht. In Textkorpora findet man geronnenes sprachliches Wissen; sie bilden so Teubert einen Querschnitt des Diskursuniversums einer Sprachgemeinschaft (vgl. 1999, S. 296). Der heuristische Wert von Korpusdaten für eine Explizierung semantischen Wissens und der Gebrauchsspezifik von Wörtern wird zwar immer mehr erkannt, 1 konsequent korpusbasiertes Arbeiten ist aber nach wie vor eher die Ausnahme in der germanistischen Linguistik. Eine Ursache dafür liegt in der unzureichenden Symbiose zwischen KorpustechnologieZ-recherche einerseits und linguistischer Adaption andererseits. Um in dieser Hinsicht einen qualitativen Fortschritt zu erreichen, braucht man große elektronische Korpora und intelligente Recherchewerkzeuge. Der Philologe muss sich aber vor allem auf neue Denkweisen, auf automatische Analysemethoden und korpusstatistische Prämissen einlassen. i Vgl. dazu ausführlich Haß-Zumkehr (2002). 216 Kathrin Steyer Im Folgenden soll ein integrativer Ansatz vorgestellt werden, der ein hochkomplexes automatisches Tool, die am IDS von Cyril Belica entwickelte COSMAS-Kollokationsanalyse, mit dem linguistischen Modell der usuellen Kookkurrenz (vgl. Steyer 2000; Belica/ Steyer 2002) zu verbinden versucht. 2 Zunächst als Werkzeug zur Extraktion von Kollokationen und Mehrwortverbindungen gedacht, ist die statistische Kookkurrenzanalyse immer mehr zu einem weit reichenden Konzept geworden, mit dem ein empirischer Zugang zu sprachlichem Wissen möglich wird.’ Der Ansatz wird unter zwei grundsätzlichen Perspektiven diskutiert: - Es wird erstens gezeigt, dass man sprachliches Wissen generell über usuelle Syntagmen aus Korpora rekonstruieren kann, dass also nicht allein Introspektion zu einer Systematisierung sprachlichen Wissens führt, sondern dies auch und vielleicht sogar vor allem über Kookkurrenzen zu leisten ist. - Es soll zweitens demonstriert werden, dass mit diesem Ansatz Bedeutungszuschreibungen und Gebrauchsspezifika rekonstruierbar sind, die so nicht im Wörterbuch stehen können und sich bisher weitgehend einer Systematisierung verschließen. Wir greifen dabei mit dem Kookkurrenzfeld von Hund ganz bewusst einen ‘Beispielklassiker’ der Idiomatik auf, 4 weil auf diese Weise die neuen Möglichkeiten unseres Konzepts besonders deutlich werden. 2 Die Basis bilden die Textkorpora des IDS, die mit derzeit über 1,7 Milliarden Textwörtem die weltweit größte Sammlung elektronischer Korpora von geschriebenen deutschsprachigen Texten darstellen. Sie sind online mit dem am IDS entwickelten Werkzeug COSMAS recherchierbar. (http: / / corpora. ids-mannheim.de/ ~cosmas/ ) 3 Derzeit wird die Kookkurrenzanalyse vor allem im IDS-Projekt „Wissen über Wörter“, einem Hypertext-Informationssystem zum deutschen Wortschatz, eingesetzt, zum einen zur Extraktion von usuellen Mehrwortverbindungen, zum anderen als lexikologischlexikografisches Arbeitsinstrument. 4 Vgl. schon Porzig (1934). Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt 217 2. Zur empirischen Methode der statistischen Kookkurrenzanalyse 2.1 Usuelle Kookkurrenz Wörter, die in besonderer Weise mit einem anderen Wort verbunden sind, können etwas aussagen über die Bedeutung dieses Wortes und seine Stellung im Kontext, Text bzw. Diskurs. Bei der „idiomatischen Prägung sprachlicher Ausdrücke“ geht es, wie Feilke betont, „um weit mehr als um bloß reproduktive mechanische Routinen des Gedächtnisses, es geht um die Ordnung des sprachlichen Wissens selbst und das ist stets und zuerst eine über Texterfahrung zeichenhaft vermittelte Kompetenz“ (2000, S. 7). So erweisen sich auch Ausdrücke mit gänzlich regulärer Struktur und kompositioneller Bedeutung als hochgradig konventionell und zeichenhaft {ein Problem behandeln, Zähne putzen) (vgl. ebd.). Diese Formelhaftigkeit lässt sich schwerlich regelhaft allein aus dem Sprachsystem ableiten, die Verbindbarkeit ist arbiträr. Es handelt sich um Gebrauchsnormen bzw. konventionalisierte Kombinationsmodi, um sprachlichen Usus, um usuelle Kookkurrenz. Usuelle Kookkurrenzen sind zum einen einzelwortbezogene Kookkurrenzen (im Kern Kollokationen) und zum anderen ‘echte’ Mehrwortverbindungen (u.a. Phraseologismen, Routineformeln, Funktionsverbgefüge usw.). 5 Kollokationen definieren wir, u.a. aufbauend auf Viehweger, als binäre, usuelle Relationen von Autosemantika. Sie stellen typische Verknüpfungen von Wortschatzelementen dar, die in verschiedenen syntaktischen Strukturen realisiert werden (vgl. 1989, S. 889). Dies ist ein enger Kollokationsbegriff, der nur die binäre Relation zwischen Autosemantika umfasst, dabei aber nicht nur die Kombinationen zwischen unterschiedlichen Wortarten wie Verb-Nomen oder Adjektiv-Nomen, sondern auch solche Kombinationen wie Nomen- Nomen berücksichtigt. Der usuelle Status einer kookkurrenziellen Relation ergibt sich in diesem Konzept aus der statistischen Signifikanz der Wortverbindung, dem Grad der lexikalischen Kohäsion zwischen Wortformen bzw. Types im Korpus. Es geht dabei immer um eine korpusbezogene Usualität. 5 Zur linguistischen Begründung und klassifikatorischen Differenzierung dieses Konzepts vgl. Steyer (2000, 2002). 218 Kathrin Steyer 2.2 Hauptaspekte der statistischen Kookkurrenzanalyse Der Wert der Kookkurrenzanalyse besteht in folgenden Aspekten: - Sie ermöglicht den Zugang zu Massendaten, wie sie beispielsweise am IDS akquiriert und aufbereitet werden. Ab einer bestimmten Größenordnung von Korpora ist der Mensch mit der Verarbeitung dieser Massendaten überfordert. Er braucht den Rechner, der in einer nicht vergleichbaren Schnelligkeit Häufigkeitsbewertungen und Signifikanzsetzungen vornimmt. Besonders die statistische Kookkurrenzanalyse dient dabei solchen Präferenzbildungen. Der Algorithmus versucht, die innere Struktur der Belegmenge aufzudecken und zu visualisieren, indem er die Kollokatoren des Suchwortes, die Kookkurrenzpartner der Kollokatoren, deren Kookkurrenzpartner usw. sucht und diese hierarchisch anordnet. - Sie erlaubt kontextsensitive Extraktionen usueller Kookkurrenzen aus großen Korpora. Dabei handelt es sich um ein interaktives und dynamisches Werkzeug, das sich im Gegensatz zu den meisten Tools dieser Art flexibel an unterschiedliche Korpusgegebenheiten anpassen kann und online auf dem neuesten Stand abrufbar ist. Es ermöglicht nicht nur die Erfassung binärer Wortrelationen (Kollokationen), sondern auch usueller phrasaler Muster bis hin zu (idiomatischen) Mehrworteinheiten und ihrer Kontexte. - Sie eröffnet den empirischen Zugang zu sprachlichem Wissen, da signifikante Kookkurrenzen nicht zufällige Kontextualisierungen darstellen. Auf diesen Aspekt wird im Folgenden ausführlich eingegangen. 2.3 Funktionsweise der COSMAS-Kollokationsanalyse Den Ausgangspunkt der Analyse bildet die Erfassung des Vorkommens eines Einzelwortes im Korpus. Die entsprechenden Key-Word-in-Context- Belege (KWICs), also die zeilenweise präsentierten Kontexte des Bezugswortes, stellen dann wiederum einen eigenen neuen Sprachausschnitt dar, ein eigenständiges Analysekorpus. Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt 219 Ausschnitt aus der KWIC-Übersicht für ‘&Hund’ in den IDS-Korpora geschriebener Sprache: M00/ 009, Mannheimer Morgen, September 2000 erde aus. Es folgen Kamele, Vögel, Hunde . . . Später wird frei model keine Tür verschlossen, selbst der Hund durfte auf Wunsch im Kofferra eschult", erklärt, der als "harter Hund" bekannte Trainer. Vor dem Sa dem versteckten Lager zurück. Die Hunde nahmen dort, wo das Zelt ges r wissen es nicht. Aber einer, der Hunde aufspießt, hat kein reines G inen größeren Bruch heftete er dem Hund ans Halsband, als Dank für di Bürstadt. Besitzer gefährlicher Hunde müssen in Bürstadt demnächst R99/ JAN, Frankfurter Rundschau, wenn sie sich zu benehmen wissen, nen als Insektenvertilger im Haus, nen 14 Jahren auch schon ein alter zur Jagd und wurde von einer Meute on nichts mit. Künftig stehen sich Herr B. einen Maulkorb trägt: sein den Grabplatz von Kaiser Wilhelms mittelbar am Geschehen beteiligten [. . .] Januar 1999 Hunde, die hier noch Defizite habe Hunde dagegen gelten als der Inbeg Hunde-Herr, während Minnie immerhi Hunde unterstützt. Hund und Passagier gegenüber. Denn Hund trägt diesen Maulkorb nämlich Hund kümmert sich heute der Deutsc Hunde zurück. Gegen die also vom G A99/ MÄR, St. Galler Tagblatt, März 1999 Freund stellte sich als Bobi, der Hund, heraus. Das mit einem Augenz u+z+ Hunde: +z+u , 8 Monate alt. Ruhiger, sensibler Hund. Kaskhu Jagd gerne und brauch Göttergatte bei der Arbeit und der Hund an einem guten Plätzchen unte samtes Hab und Gut, aber auch ihre Hunde und Katzen ein Raub der Flam volle Arbeit für die Gruppe Jugend+Hund geehrt und mit einem Gesehen Autobahn: Da wird der Polizei ein Hund gemeldet, der auf der Al umhe u+z+ Hund erschossen +z+u [. . .] Der Rechner versucht nun herauszufinden, ob es in diesem Sprachausschnitt Textwörter gibt, die im Vergleich zum Vorkommen im Gesamtkorpus überproportional häufig miteinander korrelieren häufiger, als nach dem statistischen Zufallsprinzip zu erwarten gewesen wäre. 6 6 Die Kollokationsanalyse bietet die Möglichkeit der vielfältigen Parametervarianz, die dem Nutzer ganz verschiedene Perspektiven eröffnet und je nach Erkenntnisinteresse äußerst differenzierte Analyseergebnisse hervorbringt. So ist die Kollokationsspanne beliebig einstellbar, können Funktionswörter ein- oder ausgeschlossen werden, und vor allem ist der Grad der Kontextsensitivität der Analyse wählbar. Deshalb ist die Anwendung ohne Reflexion und genaue Bestimmung dessen, was man herausfinden will, nicht effizient möglich. 220 Kathrin Steyer Man erhält zunächst statistische Listen von Kookkurrenzpartnern zu einem Bezugswort, die schon ohne Einbeziehung der entsprechenden KWICs und Kontexte eine Vielzahl an Informationen liefern, wie an einem Ausschnitt der Liste der Kollokatoren zu Hund illustriert werden soll. Kollokatoren Analyse-Kontext: 5 Wörter links, 5 Wörter rechts, Autofokus, höchstens 1 Satz Granularität: grob Zuverlässigkeit: hoch Clusterzuordnung: eindeutig Lemmatisierung: nein Funktionswörter: ignoriert Kollokatoren sind sortiert absteigend nach der berechneten Stärke der lexikalischen Kohäsion. 7 8 BelegNr Gamma Fokus Kollokatoren Häufigkeit 1 + 309 310+142 452+89 541+58 599+104 703+66 769+70 839+50 889+54 943+54 997+26 1023+15 1038+39 1077+31 1108+36 1144+30 1174+20 1194+34 1228+29 1257+20 1277+27 1304+31 1335+30 1365+39 1404+27 1431+22 1453+18 1471+10 1481+20 3024 1134 772 659 612 608 575 506 489 486 475 414 358 357 351 345 340 327 322 311 302 290 289 243 236 236 -5; 4 -4; 5 2 ; 5 -3; 5 1; 1 -5; 5 -5; 5 -1; -1 -5; 5 -5; 5 -1; -1 5 5 -1 -1 -1 -1 -5; 5 -1; -1 -2 2 5 5 2 ; 5 -1; -1 -3; 5 229 -1; -1 Katzen Katze Leine bellen gekommen Herrchen Halter gefährlichen Tierheim beißen 9 bunter bekannt bunter bellt Gassi gefährliche gefährlicher streunende harter Leinenzwang streunenden Halten Katz gebissen Schwanz Rassen Bunte beißt Mann beißt armer 309 142 89 58 104 66 70 50 54 54 26 15 39 31 36 30 20 34 29 20 27 31 30 39 27 22 18 10 20 7 Der Gammawert ist der interne Wert für die ermittelte Stärke der lexikalischen Kohäsion. Die Häufigkeitsangabe bezieht sich auf die 10 000 Treffer der statistischen Zufallsauswahl. Bei größeren Belegmengen potenziert sie sich entsprechend. Die signifikanten Kookkurrenzpartner der jeweiligen Kollokation sind Courier kursiv gesetzt. 9 Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt 221 1501+30 1531+14 1545+50 1595+13 1608+25 1633+12 1645+21 1666+12 1678+21 1699+11 1710+13 1723+46 1769+14 1783+24 1807+20 1827+10 1837+144 1981+6 1987+20 2007+31 2038+11 2049+22 2071+8 2079+9 2088+8 2096+12 2108+13 2121+9 2130+7 2137+10 2147+22 2169+14 2183+20 2203+1 2204+14 2218+13 2231+8 2239+9 2248+7 2255+17 2272+2 2274+24 2298+14 2312+18 2330+50 2380+15 2395+8 2403+7 2410+17 2427+58 2485+26 2511+11 2522+9 2531+7 2538+7 2545+12 2557+10 2567+5 223 1; 5 spazieren 221 -1; -1 wildernde 213 -5; 5 Besitzer 203 -3; 5 Frauchen 197 -5; 5 Hundehalter 196 -2; -1 freilaufende 191 1; 5 angefallen 190 -1; -1 freilaufenden 187 1; 5 gehetzt 178 -1; -1 geprügelte 178 1; 5 angeleint 176 -2; -2 Herr 173 1; 3 Katzenfutter 173 1; 1 begraben 167 -1; -1 arme 167 -1; -1 streunender 165 -1; -1 zwei 159 -1; -1 Streunende 147 -4; 5 Schafe 147 -1; -1 Junge 146 -1; -1 bissigen 145 -5; 3 Pferde 144 -1; -1 herrenlose 143 -3; -3 Negers 141 -3; 4 Erziehungskurs 141 -1; -1 schlafenden 141 -3; 5 beissen 140 -1; -1 Pawlowschen 139 -5; -2 Gefahrenabwehrverordnung 136 -5; 5 streunen 136 -5; 5 Pferden 135 -5; 5 Halsband 135 -1; -1 Erwin 135 -2; -1 IGP-Vorsitzender 132 -1; -1 aggressive 131 2; 4 Maulkorb 129 -1; -1 geprügelter 128 1; 5 eingeschläfert 127 -5; 3 Esel 125 2; 4 Ofen 124 2; 5 Kleintiere 121 -5; 5 Tiere 121 -3; 5 biß 120 -1; -1 toten 118 -1; -1 kleinen 117 -5; 3 Spaziergänger 115 -4; 5 Vögel 115 -1; -1 Pawlowscher 115 -5; 5 Rasse 111 -4; -2 Mann 108 -1; -1 kleiner 108 -4; 5 Auslauf 108 -3; 4 Gebell 107 -4 ; -3 Prokyon 107 1; 4 anzuleinen 105 -1; -1 schlafende 102 1; 4 vergiftet 102 -4; 5 Ziegen 30 14 50 13 25 12 21 12 21 11 13 46 14 24 20 10 144 6 20 31 11 228 9 8 12 139 7 10 22 14 20 1 14 1389 7 17 2 24 14 18 50 158 7 17 58 26 119 7 7 12 10 5 222 Kathrin Steyer 2605+4: [. . .] 2749+6: [. . .] 3445+6: [. . .] 3476+39: 3515+2: [. . .] 4169+7: [. . .] 4639+5221: 100 - 5; 4 wedelt 91 1; 2 Kampnagel 67 1; 5 streicheln Kind Haustiere 54 -5,-5 Zucht statistisch unspezifisch 66 -3; -2 66 - 5; - 2 392 5221 10 Diese Listen lassen sich nach ganz unterschiedlichen Kriterien sortieren. Sortiert man sie beispielweise nach Häufigkeit, rücken jene Kollokationen in die oberen Ränge, die eine gewisse Prototypik aufweisen. Sortiert man sie nach Granularität, rücken signifikante nicht-binäre Phrasen an die oberen Stellen, eine Sortierung nach phrasaler Festigkeit also, die einen wichtigen Anhaltspunkt zur Selektion von Idiomen bietet. Wichtige Informationen liefert die Fokusangabe. Mit ‘Fokus’ wird die typische Stellung des Kollokationspartners zum Bezugswort angegeben. Man kann also bereits anhand dieser Liste Modifikationsanfälligkeiten beurteilen. Fokus -1; -1 bedeutet beispielsweise, dass der Kollokationspartner typischerweise nur unmittelbar vor dem Bezugswort auftritt (geprügelter Hund). Diese Kollokationen weisen einen solch engen Grad syntaktischer Gebundenheit auf, dass man von einer ausgeprägten Modifikationsresistenz sprechen kann. Kollokationen mit einer Spanne von -5; 5 (der typische Vorkommensbereich kann in einem Feld von 5 Wörtern vor und nach dem Bezugswort liegen wie bei Hund- Schwanz) sind in einem besonders ausgeprägten Maße modifikationsanfällig und damit syntaktisch weniger fest. 10 Wie unschwer zu erkennen ist, sehen wir uns auch mit Befunden konfrontiert, die man außer Acht lassen muss, wie Eigennamen bzw. Abkürzungen, z.B. IGP-Vorsitzender, Erwin, Kampnagel usw. Überprüft man die KWIC-Zeilen, erkennt man den Zusammenhang: M98 ... ranzosen zu finden, bedauert Erwin Hund. Vorsitzender der IGP ... T96 +u+ Ein Resümee des Festivals Junge Hunde auf Kampnagel... Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt 223 2.4 Vom Prototyp zum Stereotyp Es lässt sich nun überprüfen, ob die Korpusbefunde zum einen überhaupt das abdecken, was man als Wissen über dieses Lexem bereits kodifiziert hat, und ob zum anderen Kontextualisierungen rekonstruierbar sind, die uns das Wörterbuch nicht anbietet. Zum Vergleich sei zunächst der Lexikoneintrag im zehnbändigen Duden (2000) herangezogen: Hund, der; -[e]s, -e [...] l.a) (in vielen Rassen gezüchtetes) kleines bis mittelgroßes Säugetier, das bes. wegen seiner Wachsamkeit u. Anhänglichkeit als Haustier gehalten wird, einen gut ausgebildeten Gehör- und Geruchssinn besitzt u. beißen u. bellen kann [...] Signifikante Kollokationspartner unserer Liste erscheinen da direkt oder indirekt kompatibel mit den Elementen der Bedeutungsparaphrase im Duden und wohl auch mit unserem Sprecherurteil darüber, was für einen Hund typisch ist. Sie können ohne Kontext interpretiert werden. Typische Kollokationspartner sind u.a. Leine [Hunde werden an der Leine geführt] bellen [Hunde bellen] Herrchen [Hunde haben einen Besitzer] Rassen [Hunde werden in Rassen eingeteilt] beißen [Hunde beißen] Schwanz [Hunde haben einen Schwanz] wedelt [Hunde wedeln mit dem Schwanz] Gassi [Mit Hunden geht man nach draußen] Haustiere [Hunde gehören zur Gattung der Haustiere] Zucht [Hunde werden gezüchtet] streicheln [Hunde sind Lreunde des Menschen] Neben diesen als prototypisch zu interpretierenden Kookkurrenzpartnern weist die Liste aber auch eine Vielzahl von Befunden auf, die auf thema- 224 Kathrin Steyer tisch-diskursive bzw. domänenspezifische Verwendungsweisen hindeuten, bei denen eine signiflkante Kohäsion ohne Einschränkung auf der Ebene der ‘parole’ liegt. Sie helfen uns, Aussagen zu so genannten pragmatischen Bedeutungen treffen zu können. So sind Kontextualisierungen von Hund ersichtlich, auf die das Wörterbuch nicht eingeht: der Hund als Widerpart des Menschen; der Hund, der als Mittel der Bedrohung dient. Besonders deutlich wird dies, wenn man die Kollokationsanalyse mit dem feinsten Kontextparameter durchführt und somit nicht nur binäre Relationen erhält, sondern weitere statistisch auffällige Kookkurrenzpartner in der Umgebung der Kollokationsrelation, die diese weiter spezifizieren. Die Signifikanz des Miteinandervorkommens bezieht sich nicht nur auf die Relation: Wenn LEXEM 1, dann typischerweise LEXEM2 sondern Wenn LEXEME dann typischerweise LEXEM2 in der Kombination mit LEXEM3-n oder Wenn LEXEM 1+LEXEM2, dann LEXEM3-n. Solche phrasalen Festigkeiten können in besonderer Weise darüber Aufschluss geben, welche Konzeptualisierungen nicht nur temporärer Natur sind. Kollokatoren Analyse-Kontext: 5 Wörter links, 5 Wörter rechts. Autofokus, höchstens 1 Satz Granularität: fein Zuverlässigkeit: analytisch Clusterzuordnung: eindeutig Lemmatisierung: nein Funktionswörter: ignoriert Kollokationscluster sind sortiert absteigend nach ihrer Granularität BeleqNr Gamma Fokus Kollokatoren Häufigkeit 8+1: 369 1; 5 gebissen kleine angegriffen Mens 1 9 + 1: 299 -5; 5 Besitzer Rasse aggressiven solch 1 10+1: 262 1; 5 spazieren gehen Kampfhunde ander 1 f. . .] 67+1: 938 2; 5 Leine laufen bunte 1 68+1: Leine Gefährliche müssen 1 69+1: Leine verboten müssen 1 70 + 1: 596 -5; 5 Herrchen Frauchen angeleinte 1 Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt 225 71 + 1: [. . .] 73 + 1: 74 + 2 : 76 + 1 : 77 + 1 : 78 + 1: 79 + 1 : 80 + 1: 81 + 1 : 82 + 1: 83 + 1: 84 + 1: 85 + 2 : 87 + 1 : 88 + 1: 89 + 1: [. . .] 93 + 7 : 100+2: 102+1: 103+1: 104+1: 105+1: 106+1: 107+1: 108+1: 109+1: 110+1: 111+1: 112+1: 113+1: 114+1: 115+1: 116+1: 117+1: 118+1: 119+1: [. . .] 125+1: 126+2: 128+1: [. . .] 139+1: 140+1: [. . .] 142+1: 143+1: [. . .] 685+1: [. . .] 873+1: 874+1: 875+1: 876+1: 956+1: 957+1: Herrchen Bissige Vierbeiner 1 486 -5; 5 Halter gefährlichen gefährliche 1 Halter gefährlicher sind 2 Halter gefährliche aggressive 1 Halter gefährliche Vierbeiner 1 Halter sind eingeschläfert 1 Halter sind solchen 1 Halter gefährlich Rasse 1 Halter ausführen Maulkorb 1 Halter Tier müssen 1 434 -1; -1 gefährlichen Halten Besitzer 1 gefährlichen Halten Leinenzwang 1 gefährlichen Halten Führen 2 gefährlichen Menschen bekannt 1 gefährlichen halten solchen 1 424 -5; 5 bellt laufen Auto 1 386 -1; -1 gefährlicher Halten Führen 7 gefährlicher Halten Polizeiveror 2 gefährlicher Rassen sind 1 gefährlicher Haltung Polizeivero 1 gefährlicher Zucht verboten 1 369 1; 5 gebissen angefallen Mann 1 gebissen angefallen Spaziergänge 1 gebissen angefallen Bein 1 368 -1; -1 gefährliche Rassen verboten 1 353 -5; -2 Halten Hundehalter Gefahrenabweh 1 299 -5; 5 Besitzer biß Tier 1 Besitzer aggressive Angst 1 Besitzer Tier müssen 1 Besitzer müssen solchen 1 269 -1; -1 armer sind Kind 1 266 -4; 5 Gassi Hundehalter Spaziergänger 1 262 1; 5 spazieren Herr Bauschan 1 spazieren gehen Auto 1 spazieren gehen anderen 1 254 -3; -2 Leinenzwang bissige Maulkorb 1 180 1; 5 angefallen zwei Meute 1 angefallen zwei großen 2 angefallen Gefährliche Menschen 1 147 -1; -1 freilaufende sind wildernde 1 freilaufende sind anderen 1 136 1; 1 sind aggressiv gefährlich 1 sind Tiere Menschen 1 154 -3; -2 Führen Gefahrenabwehrverordnung 1 92 -1; -1 scharfen aggressiven 1 scharfen Angst 1 scharfen anschaffen 1 scharfen totgebissen 1 65 -5; -2 Angst großen 1 Angst Auto 1 226 Kathrin Steyer Konnte man die Thematisierung von Hund als Mittel zur Bedrohung von Menschen noch allein anhand der Signifikanzlisten erkennen, erschließen sich pragmatische Zuschreibungen wie beim folgenden Beispiel erst bei der Analyse der Ko- und Kontexte, die man über die KWICs zur jeweiligen Kollokationsrelation und die entsprechenden, variabel erweiterbaren, Volltextbelege erhält. So ist das Nomen Kind ein signifikanter Kollokationspartner von Hund und wird u.a. in folgender Weise kontextuell eingebettet. Kind M95 en hat. Mit Kind und Kegel und Hund schlendern sie über den Platz T90 en Augen des mit Oma, Kind und Hund erschienenen Publikums streut T93 ischen Karriere wegen Kind und Hund und Mann zurückläßt und Gelde T95 en Fotos von Frau und Kind und Hund und Haus aus der Tasche. Der T95 erbringen Mami, Papi, Kind und Hund heutzutage auf der Straße. Es ist ein Muster zu erkennen, das auf Grund des signifikanten Auftretens weiterer Kookkurrenzpartner einem sozialen Stereotyp nahe kommt: die Zugehörigkeit des Lexems Hund zum Schema ‘Familie’: Signifikante Kookkurrenzpartner der Kollokation Hund-Kind sind u.a. Kegel {mit Kind und Kegel), Mutter, Vater, Eltern, Familie{n), Frauen, Männer, Oma, Weib, Papi, Opa, Ehefrau. Erweitert man nun den Kotext der einzelnen Belege, erhält man Ausdifferenzierungen dieses Stereotyps mit unterschiedlichen konnotativen Zuschreibungen und Typisierungen: Das Lexem ‘Hund’ erscheint als Bestandteil einer typischen Familie: Eine relativ einfache Sache ist es, den Wecker in die Hand zu nehmen und für den Morgen um eine halbe Stunde vorzustellen, statt auf halb sieben auf sechs Uhr. Wenn er klingelt, düdelt, surrt oder piept aufstehen! Frau, Mann, Kinder, Hund, Katze sind zu dieser frühen Stunde weniger bereit, stören zu wollen. Bei Singles erübrigt sich die Sorge, wird aber in den meisten Fällen an der frühen Stunde nichts ändern. (Die Zeit, 2.1.1998, S. 49) als Indikator für die ‘heile Welt der Familie’: „Frieden für alle“, versichert die CDU Vater, Mutter, Kind und Hund beim Waldspaziergang in großen Lettern, während nur die kleinen Buchstaben (gegen Krieg, Gewalt und Terror in Europa) an schlimme Dinge anknüpfen, (die tageszeitung, 11.6.1994, S. 5) Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt 227 als Mitgestalter einer familiären Atmosphäre: Zu Fuss auf dem Pass angelangt, war dann alles ganz anders als am Fernsehen. Zaungäste gab es jede Menge, die meisten offenbar Flabitues. Jedenfalls rückten viele an mit Kind und Kegel, Hund und Gartenbestuhlung und manche auch mit Verpflegung. Jung und alt schmorte in der Hitze. Farbtupfer unter die zivilen Zaungäste setzten die bunten Trikots der Freizeitsportler. (Züricher Tagesanzeiger, 13.6.1996, S. 17) als Symbol für die ‘Familie als (klein)bürgerliches Korsett’: Was wollen wir eigentlich? Wohlstand - Beruf - Hund oder Kind soziale Betreuung von der Wiege bis zur Bahre, ohne daß in unsere Lebensplanung „etwas Unvorhergesehenes einbricht“? - Ich frage mich manchmal, [...] ob es nicht besser wäre, überhaupt keine Kinder mehr in die Welt zu setzen. Das wäre zumindest sehr viel billiger und gäbe uns mehr Zeit für Freizeitgestaltung und berufliche Karriere. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1995) als Bestandteil der ‘typisch deutschen Familie’: Es ist die Welt bundesdeutscher Normalniks. Wir sind in Vorstadtsiedlungen und Kinderspielparks. Wir essen Fertiggerichte, spielen Lotto, haben Kind und Hund und sehen viel fern. (Die Zeit, 20.1.1995, S. 52) 3. Idiomatisches Anhand von Beispielen aus dem Bereich der Idiomatik soll abschließend gezeigt werden, wie man mit Hilfe der Kookkurrenzanalyse u.a. auch Hinweise zu neuen Lexemen, zu abweichenden Lesarten, zu Invarianzen und zu besonderen Gebrauchsspezifika erhalten kann. Wie schon beschrieben, ist das COSMAS-Werkzeug in der Lage, Kontextmuster zu identifizieren, die in vielen Fällen auf usuelle Mehrwortverbindungen hindeuten. 322+2: 586 1; 5 bellen beißen 2 329+4: bellen Getroffene 4 388+24: 407 -1; -1 bunter bekannt 24 412+1: 392 -4; 5 beißen aggressiv 1 413+9: beißen Letzten 9 427+6: 387 1; 1 gekommen sind 6 482+21: beißt Mann 21 562+6: 225 -5; 5 Schwanz wedelt 6 568+5: Schwanz wedeln 5 574+8: 220 -1; -1 schlafende wecken 8 228 Kathrin Steyer Hier liegen Kookkurrenzcluster vor: Nicht nur das Verb bellen ist ein signifikanter Kollokationspartner von Hund, in der Umgebung dieser Kollokation weist auch das Verb beißen eine statistisch auffällige Kohäsion mit Hundbellen auf. Ob diese Kookkurrenzcluster tatsächlich ein Ausdruck von Idiomatizität sind, lässt sich nicht ohne die eigene linguistische Kompetenz bzw. die Berücksichtigung der typischen Kontexte bestimmen. So kann man Zweiwortkombinationen nur durch das eigene idiomatische Wissen den Status einer usuellen Mehrwortverbindung zuschreiben (z.B. bei solchen signifikanten adjektivischen Kollokationspartnern wie hart, dick, arm, scharf, tot). Darüber hinaus gibt es zahlreiche Fälle ‘verdeckter Usualität’ (oft bei nichtidiomatischen Verbindungen), die man erst durch die Kontexte erkennt. Für Hund sind u.a. folgende Kollokationspartner zugleich Komponenten einer Mehrwortverbindung: Katze, Ofen, bellen, beißen, begraben, gekommen, wecken, schlafend, getroffene, bunter, armer, harter, toter, geprügelter, scharfer, gefährlicher, dicker. 3.1 ‘Neue’Mehrwortverbindungen Durch die Kollokationsanalyse lassen sich solche Wortverbindungen herausfiltern, die zwar im allgemeinen Sprachgebrauch schon üblich sind, aber noch nicht Eingang in die Wörterbücher gefunden haben. Beispiel: toter Hund Diese idiomatische Kollokation wird häufig zur Beschreibung der Tatsache verwendet, dass sich etwas oder jemand überlebt hat, „von gestern ist“ und keine Bedeutung mehr besitzt u+d+ ZITIERT +d+u „Die PDS hat einen festen Platz im bundesdeutschen Parteiensystem. Sie ist ein Sammelbecken der Protestwähler. Die SPD ist kein toter Hund. In einigen Monaten wird sie sich erholen. Sie wird dann auf die PDS als stabilen Partner vertrauen können.“ Helmut Holter, PDS-Landesvorsitzender in Mecklenburg-Vorpommern (Berliner Zeitung, 11.10.1999, S. 6) Kurzum: Sollte all das Reden von stets noch zunehmender postreligiöser Indifferenz nur bloßes Gerede sein? Haben wir überwertige religiöse Fixierungen tatsächlich verabschiedet? Religion sei ein „toter Hund“. So hatte Marx in der Mitte des aufklärungsseligen 19. Jahrhunderts dekretiert. Zu Unrecht. (Die Zeit, 26.12.1997, S. 43) Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt 229 Damit verbunden ist die zweite Verwendungsweise von toter Hund als Gleichnis für den achtlosen bzw. verachtenden Umgang mit etwas oder jemandem. In China dient heute Mao der Legitimation einer Staatsordnung, die für ihn der Inbegriff all dessen gewesen wäre, was er verabscheute. Im Volk wird er verehrt, wie der erste Kaiser und Einiger Chinas, der große, aber grausame Qin Shihuang, mit dem er sich oft verglich. Bei uns im Westen wird er wie ein toter Hund traktiert, wenn man vom Interesse für sein Liebesieben absieht. Das wird sich ändern. Denn in unserer hochdifferenzierten, in ihren Subsystemen kreisenden Gesellschaft ist das Bedürfnis nach Utopie unausrottbar. (die tageszeitung, 24.12.1993, S. 3) In den Texten jener Jahre finden sich Sätze, mit denen er sein politisches, intellektuelles und moralisches Niveau weit unterschritt. Für viele ein Grund, vor seinen Qualitäten die Augen zu schließen. Aber nicht darum wird er heute meist „wie ein toter Hund“ behandelt. Strenger noch als für seine politischen Sünden, strafte man ihn für sein Können. Kaum ein Autor der jungen deutschen Literatur, der von ihm nicht gebeutelt wurde. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1993) Beispiel: der Schwanz wedelt/ wackelt mit dem Hund Diese Wendung dient als Bezeichnung für die von Sprechern als anachronistisch empfundene Umkehrung eines normalen Prinzips, oft auch verbunden mit einer asymmetrischen Perspektive, z.B.: Minderheiten bestimmen über Mehrheiten, Schwache über Starke, Kleine über Große, Machtlose über Mächtige usw. Doch Bremens Regierungspolitiker fühlen sich gegenüber dem Wirtschaftsriesen wie der Schwanz, der mit dem Hund wedeln will. Gewerbeflächen, Straßenneubauten und Qualifizierung von Arbeitskräften [sic! ] werden nicht für Daimler geplant, sondern von Daimler gefordert. Und als MBB für den Abtransport der in Bremen produzierten Flügel des neuen Airbus 400 nach einer verlängerten Startbahn verlangte, setzte der Senat im Schnellverfahren und mit Geldgeschenken an die lärmgeplagten Anwohner die Flughafenerweiterung durch, (die tageszeitung, 08.09.1989, S. 9) „... Unser Koordinatensystem stimmt. Es wird nicht verschoben. Nicht nach links, nicht nach rechts, nicht nach oben, nicht nach unten.“ Wolfgang Schäuble neuer Bundesvorsitzender der CDU „Über kurz oder lang wird der Schwanz PDS mit dem Hund SPD wedeln.“ (Die Zeit, 13.11.1998, S. 2) 230 Kathrin Steyer 3.2 Invarianten Mit der statistischen Kookkurrenzanalyse ist es möglich, binnenstrukturelle Validierungen vorzunehmen, z.B. der invarianten semantischen bzw. semantisch-syntaktischen Struktur einer Mehrworteinheit näher zu kommen und somit den obligatorischen Teil zu bestimmen." Beispiel: -allen Hunden gehetzt KWIC-Übersicht B99 önnte. Keiner ist wie er von allen Hunden gehetzt, schon gar nicht M96 Hooker. 22.45 Von allen Hunden gehetzt. 0.30 (SW) Kilom M98 Von allen Hunden gehetzt. Spionagefilm. 0 T96 hat und außerdem mit "Von allen Hunden gehetzt" eine pferdestar S93 Wassern gewaschen, bin von allen Hunden gehetzt und habe hinter LES/ DMS einem Pferd, sie ist mit allen Hunden gehetzt. Es hat jetzt au THM/ AMB Rednertalent , der mit allen Hunden gehetzt und in den beden U96 aar, das wegen der Beute von allen Hunden gehetzt wird, nur um am Die invariante Formulierung kann aus den jeweils fixen lexikalischen Einheiten und/ oder metasprachlichen Markierungen bestehen und sähe für dieses Beispiel folgendermaßen aus: [PRÄP+allen Hunden gehetzt] 12 Während -allen Hunden gehetzt nicht variiert wird, erscheint neben von auch die Präposition mit. Invariant ist also hier nicht die lexikalisierte Form, sondern die Kategorie ‘Präposition’. Beispiel: -hinter dem Ofen hervorlocken Die idiomatische Wendung wird fast ausschließlich in der Normalform ‘keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken’ im Wörterbuch bzw. der Idiomatik-Fachliteratur angegeben. Die KWIC-Zeilen beim Kookkurrenztest zum Basiselement Ofen zeigen jedoch, dass dies nicht die invariante Form ist: 11 Zur Problematik der (‘invarianten’) Normalform als subjektive Abstraktion vgl. vor allem Dobrovol’skij (1993) und Burger (1998), auch Fleischer (1997). In diesem Fall ist sogar die flektierte Form invariant; im Regelfall werden die flektierten Formen auf ihre Grundform zurückgeführt. 12 Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt 231 T92 gentlich keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken. Und trotzdem b U97 ers wohl keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken", dürfte die er R97 en damit keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken. Die intellektu E00 de keinen müden Hund hinter dem Ofen hervorlocken. Dazu braucht e U98 keinen Menschen mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Auf den Plakat B98 ßlich niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Aus der losen M99 kein Nachfolger mehr hinter dem Ofen hervorlocken. B98 g kaum noch jemanden hinter dem Ofen hervorlocken. Der erneute Ni T92 ann so leicht nichts hinter dem Ofen hervorlocken. Und doch: stat T99 A noch weniger Leute hinter dem Ofen hervorlocken als eine weiter Z97 ete! " noch irgendwen hinter dem Ofen hervorlocken zu können. "Oc M00 en locken nur wenige hinter dem Ofen hervor. Die Formel "global d Invariant ist hier nur hinter dem Ofen hervorlocken. Das Lexem Hund stellt zwar das prototypische Basiselement dar; es ist aber austauschbar, z.B. durch ‘Mensch’. Die Negation ist gleichfalls ein kategoriales Basiselement, das allerdings nicht in allen Fällen durch die Quantitätsverneinung kein repräsentiert ist. 13 Die invariante Form lautet demzufolge: [NEG+(fak Nomen)+hinter dem Ofen hervorlocken] 14 Pilotuntersuchungen im Rahmen des IDS-Projektes „Wissen über Wörter“ haben dabei gezeigt, wie sehr die eigene Intuition gerade in Bezug auf solche invarianten Kerne täuschen kann. 3.3 Semantische Informationen und Gebrauchsspezifik Die Kookkurrenz- und Kontextanalyse der Belege bietet schließlich eine Vielzahl von Informationen, die man durch Introspektion oder durch die Analyse einzelner Texte in keinem Fall gewinnen kann. Ein typisches Beispiel dafür ist die relativ ‘neue’ Kollokation harter Hund. In den IDS-Korpora ist sie erst seit 1991 belegt; bei den Printwörterbüchem hat sie bisher nur der zehnbändige Duden (2000) aufgenommen: „[...]; der neue Trainer gilt als harter H. (ugs.; als Anhänger harter Trainingsmethoden); [...]“ 13 Vgl. zu den unterschiedlichen Negationstypen u.a. Stickel (1970), Hentschel (1998) 14 Im Korpus gleichfalls enthaltene Formulierungen ohne explizite Negationsmarker sind okkasionell. 232 Kathrin Steyer Korpusbasiert lässt sich folgende Paraphrase formulieren: wertende Bezeichnung für einen Mann (oft in einer Führungsposition), der konsequent, u. U. ohne Rücksicht auf seine Umgebung, seine Ziele durchsetzt Harter Hund wird dabei häufig in Verbindung mit Nomina wie Härte, Angst, Respekt, Disziplin, Ordnung und Durchsetzungsvermögen gebraucht. Gleichzeitig werden typische Eigenschaften eines solchen Mannes 15 durch die Kontrastierung mit Eigenschaften manifest gemacht, die der Sprecher für gegenteilig hält, wie Weichheit, Feinsinnigkeit, menschliche Sensibilität oder Nachgiebigkeit. „Natürlich kann man Erfolg kaufen“, meint der wortkarge Trainer des Fußball-Regionalligisten Tennis Borussia Berlin. Zum Philosophieren wurde der als „harter Hund“ verschriene Sportlehrer („Ich geh' gradeaus durch drei Wände“) auch nicht geholt, (die tageszeitung" 29.1.1998, S. 23) Raschen Einordnungen entzieht sich der neue Bezirksleiter, dessen Leidenschaft das Lesen ist und dem nicht gerade der Ruf vorauseilt, „ein harter Hund“ zu sein. (Frankfurter Rundschau, 26.11.1998, S. 5) Diese Kontextualisierungen werden z.B. anhand paradigmatischer Relationen deutlich, die aus der eigenen Sprachkompetenz nicht ohne weiteres ableitbar wären. Erkennbar sind z.B. solche Antonyme wie Softie, Kumpeltyp, Weichspüler aus expliziten Negationsmustern in den KWIC-Zeilen [Er ist ein harter Hund, kein SoftieJ. Der Gebrauch dieser Wendung ist im Korpus an bestimmte Domänen gebunden; dort wiederum werden spezielle Berufsgruppen zu präferierten Referenzobjekten. Der frequenteste Gebrauch ist in der Domäne ‘Sport’ zu verzeichnen und hier fast ausschließlich für Vertreter der Berufsgruppe ‘Trainer’. In der Domäne ‘Wirtschaft’ werden vorzugsweise Manager, besonders Sanierer maroder Wirtschaftsuntemehmen, in dieser Art und Weise bezeichnet. In der Domäne ‘Politik, Staat und Recht’ betrifft die Zuschreibung insbesondere Anwälte und Vertreter der öffentlichen Ordnung. Korpusbasiert lassen sich typische Verwendungsmuster systematisieren wie: 15 ‘Harter Hund’ als Bezeichnung für eine Frau ist im Korpus nicht belegt. Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt 233 als harter Hund gelten, als harter Hund verschrien sein, den Ruf/ das Image als harter Hund haben, jemandem eilt der Ruf/ das Image eines harten Hundes voraus, den harten Hund raushängen lassen Besonders aufschlussreich sind bei diesem Beispiel die mit der Verwendung der Kollokation verbundenen Sprechereinstellungen und -bewertungen. Analysiert man die Korpusbelege zu harter Hund, so lassen sich eindeutige Zuordnungen zu einem negativen bzw. positiven Konnotationsfeld nur selten vornehmen. Vielmehr changieren die Einstellungen der Sprecher in einem sehr differenzierten Bewertungsspektrum, das durch seine Vagheit den Hörern auch einen größeren Interpretationsspielraum ermöglicht. In den meisten Fällen werden die Zuschreibungen in weitere Bewertungskontexte eingebettet. Das heißt, Sprecher positionieren sich zu ihrer eigenen Zuschreibung. Ein impliziter Wertekonsens scheint die Sprecher augenscheinlich dazu zu veranlassen, ihre eigene Bewertung zu thematisieren, zu relativieren bzw. zu verteidigen. Dabei gibt es abgestufte argumentative Varianten. Explizit negativ: Sprecher bewerten die Zuschreibung, ein harter Hund zu sein. In der deutschen Managerelite weht der Wind der Veränderung. Die patriarchalisch geprägte, von Nationalsozialismus und Wiederaufbaustolz bestimmte Managergeneration, in der Ingenieursdenken, Produktstolz und ein selbstgefälliges Baden im Wohlgefühl wirtschaftspolitischer Gesamtverantwortung zur Grundausstattung gehörten, räumt seit einigen Jahren die Chefsessel für „harte Hunde“. So jedenfalls beschreibt Norddeutschlands IG- Metall-Chef Frank Teichmüller die Newcomer, denen Traditionen, Vaterland und das liebevolle Streicheln einer Maschine made in Germany piepegal sind. Jürgen Schrempps erster Blick morgens im Büro gilt denn auch dem Reuter-Monitor, der online jede Zuckung der Daimler-Aktie registriert. Wo früher Marktstrategen, Visionäre und Techniker die Vorstandsflure beherrschten, sitzen, so erläutert Hamburgs IG-Metall-Boß Klaus Mehrens, „heute oft Finanzmanager und Controller“ am Ruder, (die tageszeitung, 6.3.1996, S. 3) Explizit positiv: In anderen Sequenzen wird die negative Bewertung überhaupt nicht explizit gemacht und ausschließlich im positiven Sinne argumentiert. Corts habe den Beweis dafür antreten müssen, daß auch er ein harter Hund sein könne. So erreichte ihn denn auch ein dickes Lob von seiner Konkurrentin für seine „klare Haltung“. Erika Steinbach: „Ein fähiger Mann.“ Ordnung 234 Kathrin Steyer muß schließlich das Credo eines Ordnungsdezementen sein, (die tageszeitung, 17.6.1997,8. 5) Roland Kochs Ideen zur Sozialhilfe sind so ein Fall. Sein Vorstoß passt einfach zu gut zu dem Image als harter Hund, das der hessische Ministerpräsident so hingebungsvoll kultiviert. (Süddeutsche Zeitung, 7.8.2001, S. 4; bisher noch nicht in den IDS-Korpora enthalten) Positive Einbettung: Ein Sprecher sagt, jemand hat zwar diese Eigenschaft, die im allgemeinen Verständnis negativ zu bewerten ist, aber unter bestimmten Umständen sind solche Verhaltensweisen auch positiv zu werten. Mit dieser adversativen Konstruktion wird zwar das negative Konnotationspotenzial eingeräumt, aber es erfährt eine teilweise Umbewertung. Ein ehemaliger Mitarbeiter der Vereinsbankgruppe urteilt gar: „Wenn es sein muss, geht der über Leichen.“ Unfair, gar brutal, nein diesen Vorwurf will ein Mitglied des Vorstandes nicht gelten lassen. „Harter, sehr harter Hund, einverstanden. Aber immer kollegial.“ (Die Zeit, 19.11.1998, S. 37) Diese adversative argumentative Einbettung ist bereits bei den Erstbelegen festzustellen und stellt den typischen Fall dar. Deshalb kann man hier durchaus von einer diskursiven Stereotypisierung sprechen. Zumeist drückt ein Sprecher neben allen Distanzierungssignalen auch eine gewisse Anerkennung für ein derartiges soziales Verhalten aus. Durch die Analyse des Kookkurrenzfeldes von harter Hund und der damit verbundenen Kontextmuster lässt sich also eine sehr viel differenziertere Beschreibung der Bedeutung und der Gebrauchsspezifik dieses Idioms vornehmen, als das mit der eigenen Kompetenz bzw. auf der Basis einzelner Texte möglich ist. 4. Schlussbemerkung Es sollte deutlich geworden sein, dass die Kookkurrenzanalyse ein heuristisches Instrument zur linguistischen Analyse darstellt, ein Instrument, das der Methode der reinen Introspektion weit überlegen ist. Es sollte auch deutlich geworden sein, dass linguistische Kompetenz dabei in keiner Phase durch den Computer zu ersetzen ist. Die Entscheidung, wie mit welcher Korpusinformation umzugehen ist und welche Schlussfolgerungen zu ziehen sind, bleibt dem Menschen Vorbehalten. Aber mit Hilfe von Korpusdaten und automatischen Analysewerkzeugen wird es dem Linguisten ermöglicht, sich Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt 235 in der Welt der Massendaten und der Informationsflut zu orientieren und für ihn relevante sprachliche Informationen zu extrahieren. Die Kookkurrenzanalyse hilft schließlich, den Blick für Phänomene des sprachlichen Usus zu schärfen, vor allem für Erscheinungen, die sich bisher einer Systematisierung verschließen. Wenn man sich mit statistischen Listen beschäftigt, mit KWICs und massenhaften Belegreihen, erkennt man Rekurrentes, Muster und geordnete Strukturen. Man findet neue Hypothesen und Prämissen. Man kommt zu Fragen, die man sonst gar nicht gestellt hätte. Besonders für den Bereich der korpusbasierten Pragmatik scheinen diese Methoden einen wirklich neuartigen Weg zur empirischen Verifzierung pragma-kommunikativer Modelle und Theoreme zu eröffnen. Wir sind erst am Anfang. 5. Literatur Belica, Cyril/ Steyer, Kathrin (2002): Die COSMAS-Kollokationsanalyse statistisches Modell, Funktionsweise und Interpretationsspielräume, (http: / / www.ids-mannheim.de/ kt (in Vorher.)). Burger, Harald (1998): Phraseologie. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen. Berlin. (= Grundlagen der Germanistik 36). Dobrovol’skij, Dmitrij (1993): Datenbank deutscher Idiome. Aufbauprinzipien und Einsatzmöglichkeiten. In: Földes, Csaba (Hg.): Germanistik und Deutschlehrerausbildung. Szeged/ Wien. S. 51-67. Duden (2000): Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. 10 Bde. Mannheim. Feilke, Helmuth (2000): Textroutine, Textsemantik und sprachliches Wissen. Bielefeld. (Vortragsmanuskript). Fleischer, Wolfgang (1997): Phraseologie der deutschen Gegenwartssprache. 2., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen. Haß-Zumkehr, Ulrike (2002): Das Wort in der Korpuslinguistik. Chancen und Probleme empirischer Lexikologie. In: Agel, Vilmos/ Gardt, Andreas/ Haß- Zumkehr, Ulrike/ Roelcke, Thorsten (Hg.): Das Wort ... Festschrift für Oskar Reichmann zum 65. Geburtstag. Tübingen, (ersch.) Hentschel, Elke (1998): Negation und Interrogation. Studien zur Universalität ihrer Funktionen. Tübingen (= Reihe Germanistische Linguistik 195). Porzig, Walter (1934): Wesenhafte Bedeutungsbeziehungen. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 58, S. 70-97. 236 Kathrin Steyer Steyer, Kathrin (2000): Usuelle Wortverbindungen des Deutschen. Linguistisches Konzept und lexikografische Möglichkeiten. In: Deutsche Sprache 2/ 00, S. 101- 125. Steyer, Kathrin (2002): Idiomatik hypermedial. Zur Repräsentation von Wortverbindungen im Informationssystem „Wissen über Wörter“. In: EUROPHRAS 2000 (ersch.). Stickel, Gerhard (1970): Untersuchungen zur Negation im heutigen Deutsch. Braunschweig. (= Schriften zur Linguistik 1). Teubert, Wolfgang (1999): Korpuslinguistik und Lexikographie. 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Das Ziel des Projektes ist die lexikografische Beschreibung und Dokumentation von ca. 800 dieser Neologismen im Rahmen des Internet-Wörterbuchs „Wissen über Wörter (WiW)“ (dazu Fraas/ Haß-Zumkehr 1998, Haß-Zumkehr 2000). Da der Tagungsbeitrag das Projekt „Neologismen der Neunzigerjahre“ möglichst umfassend vorzustellen versuchte angefangen von der Projektbegründung bis hin zu Problemen der Datenbankdarstellung -, konnte jedem Einzelaspekt nur relativ wenig Raum gegeben werden. Gern nehme ich daher die Gelegenheit wahr, hier auf eines der damals nur knapp behandelten, aber wesentlichen Probleme, nämlich auf das der Stichwortselektion, etwas ausführlicher zurückzukommen. Zunächst werden einige allgemeinere Probleme der Stichwortselektion erörtert (1.), es folgen Ausführungen zu den maßgeblichen Selektionskriterien für das Neologismenprojekt (2.) und schließlich wird das Selektionsergebnis präsentiert (3.). Zur Illustration wird Wortmaterial mit dem Anfangsbuchstaben A verwendet. 238 Dieter Herberg 1. Stichwortselektion als Problem Einer der wesentlichsten Arbeitsschritte auf dem Weg vom Wörterbuchplan zum Wörterbuch ist die Auswahl, die Selektion der zu bearbeitenden lexikalischen Einheiten, also der Stichwörter. Als Voraussetzung dafür sollten ausgehend vom jeweiligen Wörterbuchplan und ggf. unter Berücksichtigung bisheriger metalexikografischer Erkenntnisse und wörterbuchpraktischer Ergebnisse begründete Anhaltspunkte für die Stichwortauswahl gewonnen und diese in möglichst gut handhabbare Auswahlkriterien umgesetzt werden. Jeder, der vor einer entsprechenden Aufgabe steht, kommt nicht um die ernüchternde Feststellung herum, dass er ungeachtet einer vielseitigen Wörterbuchforschung und einer reich bestückten Wörterbuchlandschaft weitgehend auf sich gestellt ist. Und das nicht nur deshalb, weil das Problem, welche Arten von lexikalischen Einheiten als Stichwortkandidaten in Frage kommen, „selbstverständlich nicht generell [zu entscheiden ist], sondern immer nur abzumessen im Hinblick auf den Zweck des jeweiligen Wörterbuchs“ (Schaeder 1987, S. 89), sondern auch, weil die aktuelle diesbezügliche Forschungssituation dadurch gekennzeichnet ist, „daß das überaus große Interesse an der Lemmaselektion in Werkstattberichten und Rezensionen in einem krassen Mißverhältnis zur geringen Zahl der metalexikographischen Beiträge steht, die eine Theorie der Lemmaselektion anstreben“ (Bergenholtz/ Meder 1998, S. 285). Wenig Hilfe ist auch was den hier interessierenden neologischen Aspekt betrifft vonseiten der Wörterbuchpraxis zu erhoffen: Die großen allgemeinsprachlichen Wörterbücher halten ihre Selektionspolitik bewusst im Dunkeln. Wie soll man beispielsweise auf rationelle Weise herausfmden, welche neuen lexikalischen Einheiten in Duden-DUW (2001) gegenüber der Vorgängerauflage von 1996 aufgenommen worden sind, wenn es in der Einleitung unter „Wortauswahl“ dazu lediglich heißt: „In den letzten Jahren fand in vielen Bereichen des alltäglichen Lebens eine rasante Entwicklung statt, die sich im Wandel der Sprache spiegelt. Daher wurde in dieser Neubearbeitung des Deutschen Universalwörterbuchs eine Vielzahl an Neuwörtern (Neologismen) aufgenommen, bei denen aufgrund der Belegstellenlage die realistische Annahme zu rechtfertigen ist, dass es sich dabei nicht nur um kurzlebige Momentprägungen handelt, wie es etwa bei dem Wort *Eierwerfer der Fall war“ (a.a.O., S. 13)? Die von uns bereits früher kritisch be- Der lange Weg zur Stichwortliste 239 trachtete Wörterbuchpraxis, Neologismen ohne diachronische Markierung zu lassen (vgl. z.B. Herberg 1988 und 1997), tut ein Übriges, um die Auswahlprinzipien in Bezug auf diesen lexikalischen Teilbereich zu verschleiern. Infolge der bekannten Defizite der genuinen Neologismenlexikografie für das Deutsche (vgl. z.B. Herberg 2001, S. 89f.) werden neue lexikalische Einheiten auch in verschiedenartigen Spezialwörterbüchem gebucht. So konstatiert Ludwig (2001, S. 406): „Neologismen findet man heute vor allem in den sogenannten Trendwörterlexika oder Trendwörterbüchern“. Aber auch diese helfen bei der Suche nach stichhaltigen Selektionskriterien nicht weiter. Stellvertretend sei aus dem Vorwort zum Trendwörterlexikon von Loskant (1998, S. 5) zitiert: „Alle Wörter dieses Lexikons wurden seit 1997 vom Bertelsmann Lexikon Verlag aus überregionalen deutschen Zeitungen und Zeitschriften zusammengetragen. Die Auswahl ist naturgemäß subjektiv. Manches, was uns aktuell schien, wird der Leser möglicherweise als überholt empfinden und dafür andere Dinge vermissen oder Wörter gar in abweichenden Bedeutungen kennen.“ Angesichts dieser Befunde bleibt nur übrig, einen projektbezogen-pragmatischen Weg einzuschlagen, um eine kriteriengestützte Stichwortauswahl sicherzustellen. 2. Selektionskriterien Entsprechend der Einsicht, dass die Stichwortauswahl vom Zweck des jeweiligen Wörterbuchs bestimmt wird (s.o.), ist im vorliegenden Lall davon auszugehen, was unter dem Wortschatzausschnitt „Neologismen der Neunzigerjahre“ verstanden wird. Wir haben die folgende Bestimmung zugrunde gelegt (s. Herberg 2001, S. 93): Unter Neologismen der Neunzigerjahre verstehen wir lexikalische Einheiten bzw. Bedeutungen, die in den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts in der deutschen Allgemeinsprache aufgekommen sind, sich darin ausgebreitet haben, als sprachliche Norm allgemein akzeptiert und in diesem Jahrzehnt von der Mehrheit der deutschen Sprachbenutzer über eine gewisse Zeit hin als neu empfunden worden sind. 240 Dieter Herberg Aus dieser Bestimmung des zu bearbeitenden Wortschatzausschnitts sind drei wesentliche Auswahlkriterien zu entnehmen. Die zu berücksichtigenden lexikalischen Einheiten müssen dem deutschen Sprachgebrauch entsprechen (2.1), neu für die Neunzigerjahre sein (2.2) und der Allgemeinsprache angehören (2.3). Diese Kriterien, die im Folgenden genauer charakterisiert werden, wurden angewandt auf die ca. 6000 Einträge umfassende Gesamtwortliste, die aufgrund der subjektiven Kompetenz der Projektmitarbeiter aus Primär- und Sekundärquellen zusammengestellt worden war. Durch diese strenge Selektion wurde die Gesamtwortliste auf einen Umfang von rund 800 Einträgen reduziert, die nun die Stichwortliste bilden. 2.1 Deutscher Sprachgebrauch Erfasst werden lexikalischen Einheiten, die in den deutschsprachigen Ländern benutzt werden und in unterschiedlichen Quellen mehrfach belegt sind. Das heißt in Bezug auf angloamerikanische lexikalische Einheiten, die nahezu die Hälfte der Stichwortkandidaten stellen, dass ihr Gebrauch in deutschen Texten genauer: die Übernahme in den deutschen Sprachgebrauch als Angloamerikanismen eine Voraussetzung für die Berücksichtigung ist. Insofern ähneln die Auswahlgesichtspunkte für das NeologismenWörterbuch z.B. denen des Anglizismen-Wörterbuchs (Carstensen/ Busse 1993), nur dass es ausschließlich um Neologismen der Neunzigerjahre geht. Merkmal dafür, dass eine englische/ amerikanische lexikalische Einheit im Deutschen „angekommen“ ist, also als Anglizismus/ Amerikanismus bzw. Lehnwort bestimmt werden kann, sind vor allem die Assimilation in Bezug auf die Schreibung und auf die Flexion. Auch der Verlust des Zitatcharakters, wie er sich in der Verwendung von Anführungszeichen oder anderen Markierungen äußert, ist ein Merkmal für die Aufnahme in den deutschen Sprachgebrauch. Konkret: Hätten sich im Erfassungszeitraum z.B. für die lexikalische Einheit Anchorman lediglich Belege von der Art des folgenden gefunden, so hätten wir es im Sinne unserer Definition nicht mit einem Neologismus zu tun ge- Der lange Weg zur Stichwortliste 241 habt, weil die Integration in den deutschen Sprachgebrauch nicht (vollständig) erfolgt wäre: „Wo war an diesem familiären Samstagabend Ulrich Meyer, der frische neue anchorman der Sat.l-Nachrichten? “ (Die Zeit, 23.2.1996) Dass diese lexikalische Einheit dennoch Eingang in die Stichwortliste gefunden hat, ist dem Umstand zu danken, dass die weitaus meisten Belege das Wort in der nach Schreibung (Substantivgroßschreibung) und Flexion (deutsche Genitivendung -s) assimilierten Form und unmarkiert in den Text integriert zeigen, z.B. „Günther Jauch erteilte seinem alten Weggefährten Kogel eine Absage, als es um den Job des Nachrichtenchefs und Anchormans ging.“ (Mannheimer Morgen, 10.1.1996) 2.2 Aufkommen in den Neunzigerjahren Der Zeitpunkt des Aufkommens ist für die Definition des Neologismus als einer relativen und historisch gebundenen Kategorie ein konstitutives Merkmal. Ein weiteres Hauptkriterium bezieht sich deshalb auf den Zeitpunkt des Aufkommens der lexikalischen Einheiten, der bei dem in Rede stehenden Projekt in den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts liegen muss. Dieser Erfassungszeitraum wurde aus verschiedenen Gründen gewählt (vgl. Herberg 2001, S. 93), unter anderem deshalb, weil ein Zeitraum von zehn Jahren für den ersten Angang wissenschaftlicher deutscher Neologismenlexikografie sinnvoll erscheint, da er weder zu knapp noch zu umfangreich bemessen und damit relativ gut überschaubar ist. In die bereits erwähnte Gesamtwortliste waren die lexikalischen Einheiten zunächst auf der Basis der subjektiven Sprachkompetenz der Projektmitarbeiter in der Annahme aufgenommen worden, dass sie dem vorgegebenen Erfassungszeitraum zuzuordnen wären. Es zeigte sich aber bald, dass diese subjektiv gesteuerte Auswahl eines objektivierenden Korrektivs bedurfte, denn häufig erwies sich eine für relativ neu gehaltene lexikalische Einheit als schon in den Achtziger-, vereinzelt sogar in den Siebzigerjahren belegt und war also auszusondern. Diese unerlässliche Objektivierung wurde auf zweierlei Weise erreicht: Zum einen wurde ein Abgleich mit einem Kanon von 242 Dieter Herberg Vergleichswörterbüchem, die bis 1990 erschienen sind, vorgenommen; jede lexikalische Einheit, die bereits in einem dieser Wörterbücher genannt war, wurde aus der Gesamtwortliste gestrichen. Zum anderen wurde für jede lexikalische Einheit in zeitaufwändigen Prozeduren in dem für diesen Zweck zusammengestellten elektronischen Vergleichskorpus (NEOKOMP), das gegenwartssprachliche Texte aus der Zeit vor 1991 umfasst, die Beleglage recherchiert. In der Regel wurden in NEOKOMP bereits mehrfach belegte lexikalische Einheiten ausgeschieden: Auf diese Weise wurde die Gesamtwortliste z.B. um Einträge wie (soziale) Abfederung, Airbag, Alki, Altkommunist, Ampelkoalition, andenken/ angedacht, angesagt (sein), Artothek, Ärztehaus reduziert. Allerdings wurde nicht mechanisch verfahren, wie wiederum am Beispiel Anchorman gezeigt werden kann. Obwohl sich im Vergleichskorpus bereits ab 1988 einige Belege finden, ist diese lexikalische Einheit erst in den Neunzigerjahren wirklich im deutschen Allgemeinwortschatz angekommen und war also von uns zu berücksichtigen. Das Gewicht der wenigen älteren Belege relativiert sich insofern, als sie aus Texten stammen, die sich auf nichtdeutsche Verhältnisse beziehen. 2.3 Zugehörigkeit zur Allgemeinsprache Das lexikografische Projekt „Neologismen der Neunzigerjahre“ ist als Teil- und Pilotprojekt des lexikalisch-lexikologischen korpusbasierten Informationssystems „Wissen über Wörter (WiW)“ der Abteilung Lexik des IDS dem für diese Abteilung im Allgemeinen wie für WiW im Besonderen definierten Gegenstandsbereich verpflichtet. Die Leiterin der Abteilung Lexik fasst ihn im Bezug auf WiW folgendermaßen: „Gegenstand dieses Informationssystems ist der Wortschatz der deutschen Standardsprache der Gegenwart in ihrer öffentlichen Verwendung und mit fachlich-interdisziplinärem Elorizont“ (Haß-Zumkehr 2000, S. 3). Mit Bezug auf die Abteilungsprojekte generell heißt es: „Hinsichtlich der Varietäten werden Mundarten, Fach- und Sondersprachen in der Regel ausgeschlossen; im Zentrum stehen die Gemeinsprache und die gemeinsprachlichen Bereiche vor allem der funktionalen und sozialen, weniger die der regionalen Varietäten“ (a.a.O., S. 2). Der lange Weg zur Stichwortliste 243 Bei der Anwendung des diesbezüglichen Selektionskriteriums - Zugehörigkeit einer lexikalischen Einheit zum Wortschatz der Allgemeinsprache helfen weder formale Anhaltspunkte noch Abgleichsprozeduren weiter. Die Möglichkeiten der Objektivierung sind einschränkt und es gibt oft beträchtlichen Entscheidungsspielraum, d.h., die Anwendung dieses Kriteriums ist schwieriger als die der beiden zuvor behandelten Kriterien. Stellen wir zunächst klar, was hier unter Allgemeinsprache verstanden werden soll. Im vollen Bewusstsein dessen, welche Unklarheiten in der Terminologie für die Gliederung der Gesamtsprache einer Sprachgemeinschaft bestehen, verwenden wir die Bezeichnung Allgemeinsprache und verstehen darunter die Gesamtheit jener standardsprachlichen Mittel, die dem größten Teil der Angehörigen einer Sprachgemeinschaft (hier der deutschen) zur Verfügung stehen. Die allgemeinsprachlichen lexikalischen Mittel kann man dann zusammenfassend als Allgemeinwortschatz bezeichnen, der das Zentrum des Gesamtwortschatzes bildet (vgl. auch Petermann 1982, S. 203; Heller u.a. 1988, S. 80). Ausgeklammert bleibt neben Regionalem vor allem rein fach- und gruppensprachliche Lexik. Dabei darf „die intensive Wechselbeziehung zwischen der Standardsprache einerseits und den Fach- und Gruppensprachen andererseits jedoch keinesfalls aus dem Blickfeld geraten“ (Kinne 1996, S. 343). So besteht für die Stichwortselektion die Notwendigkeit von Grenzziehungen. Insbesondere das Problem der Auswahl von fachgebundener Lexik für allgemeinsprachliche Wörterbücher ist wiederholt diskutiert worden (vgl. z.B. Pererva 1982, Petermann 1982, Kempcke 1989). Dabei wird zumeist dafür plädiert, nicht die statistische Gebrauchshäufigkeit, sondern vielmehr Gesichtspunkte wie den „allgemeinen Bekanntheitsgrad“ (Pererva 1982, S. 169) oder die „Allgemeinverständlichkeit“ (Heller u.a. 1988, S. 84) einer lexikalischen Einheit für die Auswahl zugrunde zu legen, die man auch als einen hohen Grad von „sozialer Reichweite“ der betreffenden Einheit um einen Ausdruck von Steger (1988) zu verwenden interpretieren kann, mit der ihre kommunikative Relevanz für die Benutzer der Allgemeinsprache einhergeht (vgl. Pererva 1982, S. 170). Daraus ergibt sich, dass in Abhängigkeit vom jeweiligen Erfassungszeitraum und von der gesellschaftlichen Gesamtsituation bestimmte Fach- und Sachbereiche dominieren können 244 Dieter Herberg (gegenwärtig sind es z.B. der Computer-, der Medien-, der Wirtschafts-, der Sozial- und der Sportbereich (Herberg 2001, S. 96; vgl. auch Kempcke 1989, S. 843)). Die Frage ist aber nicht nur, welche wesentlichen Fach- und Sachbereiche für ein gegebenes Wörterbuch besonders zu beachten sind, sondern auch, welche der Schichten einer Fachsprache ggf. zu berücksichtigen ist. „Die reine Theoriesprache sollte sicher ebensowenig in Betracht kommen wie die fachinterne Umgangssprache. ... Bleibt jene Schicht, die (als sogenannte Verteilersprache) dazu bestimmt ist, dem Laien Kenntnisse über fachliche Gegenstände bzw. Sachverhalte zu vermitteln“ (Schaeder 1987, S. 90). Man sollte folglich in die auszuwertenden Textkorpora keine reinen Fachtexte aufnehmen, „sondern Texte aus jenem Übergangsbereich, dessen Funktion in der Vermittlung fachlicher Inhalte an ein Laienpublikum besteht, also vor allem Schullehrbücher, populärwissenschaftliche Publikationen, Zeitschriften mit einem breiten Leserkreis, Tageszeitungen und nach Möglichkeit auch Rundfunk- und Fernsehtexte“ (Petermann 1982, S. 211), „so daß rein theoretisch davon ausgegangen werden kann, daß sie [die fachsprachlichen Wörter, D. H.] dem Leser der Zeitung, Zeitschrift etc. bekannt sind und sogar von diesem Leser selbst verwendet werden (könnten)“ (Carstensen/ Busse 1993, S. 39). Sinngemäß ist die Auswahl von allgemeinsprachlicher Lexik aus Gruppensprachen (z.B. aus der Jugendsprache, aus „Szenesprachen“) vorzunehmen. Es kann festgehalten werden, dass sich in Bezug auf die Zugehörigkeit von Neologismen zur Allgemeinsprache die Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen zentralen und peripheren lexikalischen Einheiten durch die Anwendung bestimmter Zuordnungskriterien zwar mildern, nicht aber beseitigen lassen, „da es hier keine festen Grenzen, sondern immer nur fließende Übergänge gibt“ (Heller u.a. 1988, S. 85). Betrachten wir zur Illustration vergleichend die Selektionsergebnisse in Bezug auf Stichwörter aus dem Sachbereich Wirtschaft in unserem Wörterbuch allgemeinsprachlicher Neologismen der Neunzigerjahre, im Trendwörterlexikon von Loskant (1998) und im Duden-Wörterbuch der New Economy (2001) wiederum für den Buchstaben A. Den oben erläuterten relativ strengen Auswahlgrundsätzen für das IDS- Projekt haben nur sechs Neulexeme - Allzeithoch, Allzeittief Ankerwährung, Der lange Weg zur Stichwortliste 245 Arbeitszeitkonto, Armutsfalle, Assessmentcenter - und eine Neubedeutung atmen (z.B. eine atmende Fabrik) standgehalten. Loskant (1998) hat in sein Trendwörterlexikon neun A-Stichwörter aus diesem Bereich aufgenommen: ABM-Stütze, abzocken. Acquisition, Airdesign, Aldisierung, Alpha-Geek, Altersteilzeit, Arbeitszeitkonto, Assessment. Nur zwei davon stimmen mit den von uns ausgewählten Stichwörtern überein: Arbeitszeitkonto, Assessment bzw. Assessmentcenter. Andererseits kamen die bei Loskant zusätzlich gebuchten lexikalischen Einheiten für unser Projekt aus unterschiedlichen Gründen nicht in Betracht: teils sind sie bereits vor den Neunzigerjahren belegt (abzocken, Altersteilzeit), teils sind sie (noch) nicht lexikalisiert (ABM-Stütze, Aldisierung), teils gehören sie als Elemente des „Economy-Slang“ (Rückseite von Duden-Wörterbuch der New Economy) nicht zur Allgemeinsprache (Acquisition [Neubedeutung], Airdesign, Alpha-Geek). Kaum verwundern kann es, dass von den 30 A-Stichwörtern des Duden- Wörterbuchs der New Economy (2001) nur ein einziges (nämlich Assessmentcenter) auch in unserer Stichwortauswahl vorkommt, wirbt doch der Verlag für dieses Buch wie folgt: „Duden und Trendbüro blicken auf den sich neu entwickelnden Economy-Slang. Ein Nachschlagewerk für alle, die sich im Zuge des Börsenbooms und der Entwicklung der New Economy stärker für Wirtschaftsfragen interessieren“ (Rückseite). Lediglich zur Illustration des Kontrastes zwischen diesem Slang und allgemeinsprachlicher Lexik seien die A-Stichwörter dieses Spezial-Trendwörterbuchs ohne weitere Kommentierung aufgeh stet: Account, Acquisition and Development, Adclick, Ad-hoc-Mitteilung, Adimpression, Adserving, Adtargeting, Advertorial, Adview, Affiliate Program, Ajfluenzia, After-Work-Clubbing, Agent, Akquise, fundamentale Aktienanalyse, technische Aktienanalyse, Aktienoption, Ambient Advertising, Ambiguitätstoleranz, Analyst, Angel-Funding, Aquapharmazie, Aromascanner, Ask-Price, Assessmentcenter, Attachment, Auction-Economy, Autopoiese, Avater, Awareness. 246 Dieter Herberg 2.4 Neubedeutung vs. Neugebrauch Zu den Neologismen gehören nach unserem Begriffsverständnis (vgl. Herberg 2001, S. 92f. und oben) sowohl Neulexeme als auch Neubedeutungen (zur Terminologie s. Kinne 1996, S. 342ff.). Um eine Neubedeutung handelt es sich, wenn bei einer im Deutschen etablierten mono- oder polysemen lexikalischen Einheit zu deren vorhandenem Semen bzw. zu deren vorhandenen Sememen im betreffenden Erfassungszeitraum hier also in den Neunzigerjahren ein neues Semem hinzukommt. Es gehört zum Wesen von Neubedeutungen, dass der Prozess ihrer Herausbildung „in der Regel wesentlich langwieriger, diffiziler und somit oft auch schwerer erkennbar [ist] im Vergleich zum Entstehungs- und Durchsetzungsprozeß von Neulexemen“ (Kinne a.a.O., S. 345). Für die Stichwortselektion macht sich in Bezug auf den Neologismentyp Neubedeutung ein zu den drei für Neulexeme wie sinngemäß für Neubedeutungen geltenden Selektionskriterien (2.1, 2.2, 2.3) hinzutretendes spezifisches Aufnahmekriterium erforderlich: Es ist zu entscheiden, ob es sich im gegebenen Fall um ein neues Semem, d.h. um ein Resultat von „Bedeutungsbildung“ um einen Ausdruck von Munske (1990, S. 391) zu verwenden handelt oder ob „nur“ eine neue Gebrauchweise eines Altlexems in dem Sinne vorliegt, dass zu dessen „vorhandenen Sememen, Verwendungsweisen, Bezugs- und Gebrauchsbereichen lediglich neue Varianten und Nuancierungen hinzukommen, die als solche aber kein eigenständiges neues Semem konstituieren“ (Kinne a.a.O., S. 345). Diese jedem Lexikografen für die Strukturierung seiner Wortartikel geläufige Entscheidungsfrage ist hier in Bezug auf die Neunzigerjahre zu beantworten und führt nur im Falle der Bewertung als neues Semem zur Aufnahme in die Stichwortliste als Neubedeutung, z.B. abhängen ‘sich, oft zusammen mit anderen, passiv entspannen und so die Zeit verbringen’. Diese Entscheidung ist für jeden einzelnen Fall zu treffen, was oft nicht leicht ist. Gestützt wird die Annahme des Sememstatus häufig durch bestimmte „neue“ Eigenschaften z.B. in Bezug auf spezifische semantische Merkmale, bevorzugte Kollokationspartner, Änderungen von Rektion bzw. Valenz, abweichende Stillage u.Ä. Als Beispiel mag abziehen dienen. In Duden-DUW (2001) hat dieses Lexem 18 Bedeutungen, von denen manche noch unterteilt sind. Noch nicht gebucht sind zwei Sememe, die in den Neunzigerjahren aufgekommen sind und die sich sowohl voneinander als auch von den u- Der lange Weg zur Stichwortliste 247 suellen Sememen durch jeweils mehrere der genannten Eigenschaften abheben. Es handelt sich um die jugendsprachlichen Neubedeutungen abziehen: ‘jemandem etwas, besonders teure Markenbekleidung, gewaltsam vom Körper reißen und rauben’ (Phrasenmuster: jemand zieht jemandem etwas ab) abziehen: ‘jemanden räuberisch erpressen’ (Phrasenmuster: jemand zieht jemanden ab). 3. Selektionsergebnis Die Stichwortliste enthält als Ergebnis der beschriebenen Selektionsschritte und -prozeduren nur noch solche Einträge für selbstständige Wortartikel, bei denen es sich nach Einschätzung der Projektgruppe um Neologismen im deutschen Allgemeinwortschatz der Neunzigerjahre handelt. (Die innerhalb der Wortartikel einzelner Stichwörter bei der Darstellung von deren Wortbildungsproduktivität hinzukommenden lexikalischen Einheiten wie z.B. Nachrichtenanchorman, ARD-Anchorman, RTL-aktuell-Anchorman, Tagesthemen-Anchorman beim Stichwort Anchorman sind hier nicht einbezogen.) Für den Buchstaben A ergibt sich die folgende Auswahl in alphabetischer Anordnung, wobei NB für Neubedeutung steht: abgezockt (NB) abhängen (NB) - Abschübling abspacen abziehen (NB) - Adresse (NB) - Alarmismus alarmistisch - Alles-inklusive-Reise all inclusive - All inclusive - All-inclusive-Reise - Allzeithoch - Allzeittief 248 Dieter Herberg - Anchor - Anchorman - Anchorwoman - Ankerwährung anklicken anklopfen (NB) - Anklopfen (NB) anmailen - Antipersonenmine - Aqua-Jogging - Arbeitszeitkonto - Armutsfalle - Arzt: bis der Arzt kommt - Ärzte-Hopping - Assessmentcenter atmen (NB) - Atomkoffer - Audiobook aufbrezeln auschillen - Autoteilen - Autoteiler 4. Literatur Bergenholtz, Henning/ Meder, Gregor (1998): Die äußere Selektion in LANGEN- SCHEIDTS GROSSWÖRTERBUCH DEUTSCH ALS FREMDSPRACHE. 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Nach der Erweiterung der Erkenntnisinteressen und dem Einbezug von neuen u.a. interdisziplinären Sichtweisen und Methoden nimmt die bei den Textvergleichen zu Grunde liegende Vergleichsgröße immer mehr an Komplexität zu: Ein einzelnes sprachliches Element als Tertium comparationis gilt nicht mehr als ausreichend, sondern das Analysemodell muss ein Bündel von Elementen verschiedener sprachlicher Ebenen und von nicht-sprachlichen Aspekten berücksichtigen (s. Baumann 1992, Gläser 1992). Nach Baumann hängt diese Komplexität mit dem Gegenstand zusammen: Je komplexer der Gegenstand des Vergleiches ist, desto umfangreicher und vielschichtiger muss die Vergleichsgröße sein (1992, S. 32). Wird eine Textsorte in der Sprache A mit der Textsorte in der Sprache B verglichen, so geht es darum, interlinguale bzw. -kulturelle Unterschiede im Hinblick auf die Bewältigung der gestellten Kommunikationsaufgabe aufzudecken. Das Gebilde der verwendeten sprachlichen Mittel entsteht nicht einfach aus einer Kumulation, sondern die einzelnen Elemente sind auf komplexe Weise aufeinander bezogen (vgl. Gläser 1992, S. 80). Auch wenn vom Textsortenvergleich als komplexem Untersuchungsgegenstand ausgegangen wird, konzentrieren sich die Untersuchungen schon aus praktischen Gründen in der Regel auf ein begrenztes Merkmalensemble. Ein zentraler Gegenstand bei kontrastiver Textforschung ist die Textstrukturierung. So sind u.a. unterschiedliche kulturspezifische Handlungsbzw. Makrostrukturen in verschiedenen Textsorten wie z.B. Gerichtsurteil (Arntz 1992, Stolze 1992) oder Lebenslauf (Mißler/ Servi/ Wolff 1995) sowie Unterschiede in der Linearität der thematischen Progression in wissenschaftlichen 252 Marja-Leena Pütulainen / Liisa Tüttula Texten (u.a. Clyne 1993) festgestellt worden. Mit Fragen der Textorganisation beschäftigt sich auch die anglistisch orientierte kontrastive Rhetorik, die zugleich als Diskursforschung, kontrastive Linguistik als auch als vergleichende Kulturforschung angesehen werden kann. Als Analysemodelle werden u.a. die systemisch-funktionale Theorie von Halliday (1985), die Theorie der rhetorischen Strukturen (Mann/ Thompson 1987; Rhetorical Structure Theory, RST) und Genretheorie von Swales (1990) verwendet. Unterschiedliche Arten, Texte zu organisieren, werden als kulturspezifische Stile, bisweilen auch als Nationalstile, bezeichnet, hinter denen sogar unterschiedliche kulturgebundene Denkweisen vermutet werden (vgl. Kaplan 1966). Wenn die verschiedenen Textkonventionen mit kulturellen und sozialen Normen und Regeln in Verbindung gesetzt werden, so können die Unterschiede als Indiz für unterschiedliche Vorstellungen von jeweils angemessener Textetikette und letztendlich unterschiedlichen Höflichkeitsauffassungen angesehen werden. Ein „guter“ Schreiber berücksichtigt den Rezipienten, dessen Erwartungen je nach Kultur, Situation usw. variieren. Mauranen z.B. hat Kohäsionsmittel in wissenschaftlichen Texten von finnischen und angloamerikanischen Autoren als Ausdruck von Implizität und Explizität untersucht (1993) und meint, dass ein finnischer Schreiber mit seinen eher impliziten Textstrategien dem Rezipienten gegenüber höflich sei, indem er die Intelligenz und die Kenntnisse seiner Leser respektiert; ein angloamerikanischer Autor, der im Vergleich zur finnischen (oder deutschen) Schreibweise expliziter formuliert, nehme dagegen auf die Zeit und Mühe des Lesers Rücksicht (Mauranen 2000, S. 33). Obwohl das Interesse an kontrastiver und interkultureller Text- und Diskursforschung in letzter Zeit stark zugenommen hat, liegen im Sprachenpaar Deutsch-Finnisch immer noch relativ wenig konkrete, auf breiter Materialgrundlage basierende Untersuchungen vor. Ein großer Teil der finnischen Untersuchungen zielt darauf ab, Unterschiede in Textsortenkonventionen zu ermitteln, die eine Palette von Erscheinungen umfassen, von zum Teil grammatischen Erscheinungen wie Kohäsionsmittel bis hin zu textuellen Gegebenheiten wie Aufbau und Gliederung des Textes. So hat z.B. Pütulainen (1993) finnische und deutsche Todesanzeigen untersucht und Unterschiede im Vorkommen bestimmter makrostruktureller Bestandteile, in der Texthaftigkeit und Ausführlichkeit, im Stil sowie in der Handlungsstruktur festge- Absatzstruktur als Organisationsmittel in deutschen undfinnischen Texten 253 stellt. Liefländer-Koistinen (1993) hat finnische und deutsche Kochrezepte in Bezug auf die Linearität des Textes und die Art der Aufforderungen und das Anredeverhalten kontrastiert, Sorvali (1997) lebendige Bildlichkeit als Mittel der Themen und Handlungsstrukturierung in deutschen und finnischen Sportartikeln. Die Einführung des Themas in finnischen, englischen und deutschen Leitartikeln war Gegenstand eines Vergleichs von Tirkkonen- Condit/ Liefländer-Koistinen (1989) (s. dazu auch Tiittula 1994). Kontrastive Untersuchungen sind insbesondere im Bereich der Fachsprachenforschung durchgeführt worden: der Vergleich als Methode und über ihn ausgewiesen, die kontrastive Forschung, werden sogar als Kernstück der Disziplin betrachtet (Baumann/ Kalverkämper 1992, S. 24). Von kontrastiven Untersuchungen finnischer und deutscher Fachtexte sei das Projekt Deutschfinnische Kulturunterschiede in der Wirtschaftskommunikation erwähnt, in dem Betriebsbroschüren unter verschiedenen Aspekten, wie in Bezug auf Anredeverhalten (Tenhonen-Lightfoot 1992) und Text-Bild-Verhältnis (Pakkala 1994), untersucht worden sind (s. auch Roinila 1994). Neben den genannten Wirtschaftstexten sind medizinische Fachtexte aus der Sicht des finnisch-deutschen Kontrastes analysiert worden (Ylönen et al. 1989). Bevor wir zur konkreten Analyse von deutschen und finnischen Texten übergehen, sei noch auf einige Probleme der kontrastiven Textforschung hingewiesen. Wie weiter oben festgestellt wurde, gilt die Festlegung des Tertium comparationis in der kontrastiven Linguistik als ein zentraler Punkt, ohne die die Untersuchung keine objektive Basis haben kann. Die Festlegung garantiert jedoch nicht, dass die zu vergleichenden Objekte immer im gleichen Verhältnis zueinander erscheinen. Denn zwei Objekte können in Bezug auf verschiedene Merkmale verglichen werden, und je nach dem Tertium comparationis können dieselben Objekte als gleich oder verschieden erscheinen (Krzeszowski 1989, S. 60). Die Wahl des Tertium comparationis ist somit nur scheinbar objektiv; Vermeer (1996, S. 140) zufolge hängen der Vergleich sowie die Auswahl der Vergleichskriterien immer vom Ziel ab. Er betont auch, dass die zu kontrastierenden Merkmale, die Merkmalselektion und der Vergleich immer nur von einer Kultur ausgehen, also an eine spezifische Kultur gebunden sind (S. 143). Wenn wir vergleichen, interpretieren wir und tun dies in einem bestimmten Kontext: somit ist das, was wir sehen, immer relativ. 254 Marja-Leena Pütulainen / Liisa Tiittula Der Vergleich erfolgt immer aus einer bestimmten Perspektive, d.h. aus der Sicht der eigenen Kultur. Bei Betrachtung der Phänomene dient also das Eigene unbewusst als Ausgangspunkt, als Norm, Selbstverständlichkeit. Damit schleichen sich Bewertungen in die Forschung ein. Wie Beschreibungen häufig mit Bewertungen verbunden sind, zeigt ein Aufsatz von Graefen (1994), in dem sie sich mit den Untersuchungen von Clyne (u.a. 1987) auseinander setzt. Bei dem von Clyne durchgeführten Vergleich deutscher und englischer Wissenschaftstexte fällt die Beurteilung des „deutschen Schreibstils“ in vielen Punkten negativ aus: Der idealtypische deutsche Autor lege wenig Wert darauf, wohl geordnete Texte zu schreiben, schweife ab, schreibe monologisch, achte nicht auf den Leser, sondern schreibe nur um der Sache willen, wobei er dem Leser die Verantwortung für das Verstehen auflaste (Graefen 1994, S. 143). Graefen kritisiert auch die von Clyne angeführte Dichotomie von Sachbezogenheit (auf deutscher Seite) und Leserbezogenheit (auf englischer Seite) mit der Begründung, dass die Konstellation sprachlichen Handelns nicht kulturspezifisch unterschiedlich ist: Die erfolgreiche Verständigung des Autors mit dem Leser über den Gegenstand ist für deutschsprachige Texte ebenso wichtig wie für englische; in Clynes Untersuchungen werden die Mittel der englischsprachigen Autoren beschrieben, während die Verfahren der deutschsprachigen Autoren nicht erfasst werden (S. 155f.). Kontrastive Untersuchungen geben häufig ein schiefes Bild vom Gegenstand, denn sie konzentrieren sich auf Unterschiede und bringen die Gemeinsamkeiten der Texte oder Kulturen kaum oder überhaupt nicht hervor. Die einzelnen Kulturen wiederum erscheinen homogener als sie in Wirklichkeit sind. Wegen der Praxisbezogenheit und Anwendungsmöglichkeiten haben kontrastive Untersuchungen jedoch eine besondere Relevanz insbesondere für den Fremdsprachenunterricht und das Übersetzen. Bisweilen wird aber auch gefragt, welchen Stellenwert in der interkulturellen Kommunikation die Beibehaltung der kulturellen Konventionen der insbesondere kleineren Kulturen hat. Durch den Kontrast werden aber nicht nur Differenzen zwischen zwei Sprachen und Kulturen ermittelt, sondern zugleich auch Besonderheiten des eigenen Systems aufgedeckt; dadurch kann man also auch zur besseren Kenntnis der einzelsprachlichen oder eigenkulturellen Erscheinungen gelangen. Absatzstruktur als Organisationsmittel in deutschen undfinnischen Texten 255 2. Ziel und Methode der Analyse In der folgenden Analyse gehen wir der Frage nach, wie die Absatzstruktur mit der Gesamtorganisation des Textes zusammenhängt. Zweitens wird gefragt, ob es diesbezügliche interlinguale und interkulturelle Unterschiede zwischen finnischen und deutschen Texten gibt. Der Textorganisation dienen außer verschiedenen sprachlichen Mitteln auch nichtsprachliche Mittel grafisch-semiotischer Art, die zusammen mit den sprachlichen Organisationsmitteln die Gestalt des Textes ausmachen und ihn als einer bestimmten Gattung bzw. Textsorte zugehörig erscheinen lassen. Grafisch-semiotische Organisationsmittel sind vor allem die Gliederung des Oberflächentextes in Teiltexte, Überschriften und Untertitel, die typografische Struktur des Textes und andere grafisch-semiotische Mittel (z.B. Formeln, Diagramme und Tabellen) (vgl. z.B. Graefen 1997, S. 161-170). Die Teiltexte lassen sich hierarchisch einordnen: In der textlinguistischen Literatur wird u.a. von der Hierarchie Kapitel - Paragraph - Abschnitt - Absatz gesprochen (vgl. Heinemann/ Viehweger 1991, S. 252; Graefen 1997, S. 162), wobei allerdings zu bemerken ist, dass die Terminologie recht uneinheitlich ist und z.B. die Differenzierung zwischen Abschnitt und Absatz nicht immer eindeutig ist (vgl. z.B. Graefen 1997, S. 166). Das Ziel des Beitrags ist zu untersuchen, ob es zwischen deutschen und finnischen Texten Unterschiede darin gibt, wie die Texte in Absätze gegliedert werden und wie die Absatzstruktur mit der sonstigen Textstrukturierung korreliert. Betrachtet wird das Verhältnis von Absatzstruktur und Kohäsion, von Absatz- und Makrostruktur sowie Absatz- und Handlungsstruktur. Von den Kohäsionsmitteln werden nur einige Einzelaspekte berücksichtigt: Konnektoren, Metadiskurs und einige Deixisformen (vor allem das Adverb hier und das Pronomen dies-). In der Analyse wird von der Beobachtung ausgegangen, dass sich finnische Texte häufig in mehr Absätze gliedern als deutsche Texte, in denen die Absätze entsprechend länger sind. Die zentrale Fragestellung der Analyse lautet somit: Welche Wirkungen hat die unterschiedliche Absatzstruktur deutscher und finnischer Texte auf die anderen oben genannten Strukturen der textuellen Gesamtorganisation? Das der Analyse zu Grunde liegende Material stammt aus Zeitungs- und Zeitschriftentexten. Die Zeitungstexte sind Nachrichtentexte aus den deut- 256 Marja-Leena Piitulainen / Liisa Tüttula sehen Zeitungen Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, die Tageszeitung, Frankfurter Rundschau und die Welt sowie aus den finnischen Zeitungen Helsingin Sanomat, Aamulehti und Turun Sanomat, die als überregionale Zeitungen zu kennzeichnen sind. Die Texte, insg. 19 deutsche und 21 finnische, wurden so gewählt, dass es zum selben Thema jeweils zumindest einen deutschen und einen finnischen Artikel gab. Die Zeitschriftentexte stellen sprachwissenschaftliche Rezensionen dar. Sie stammen aus den Fachzeitschriften Virittäjä (veröffentlicht von der finnischen Gesellschaft für Muttersprache) und Zeitschrift für Germanistik. Weil die Rezensionen in Virittäjä durchschnittlich länger sind als in Zeitschrift für Germanistik, war das erste Kriterium bei der Wahl der zu analysierenden Rezensionen die Länge: Aus Virittäjä wurden die kürzesten Besprechungen (mit der durchschnittlichen Länge von drei Seiten in zwei Spalten) herausgesucht, und in der Zeitschrift für Germanistik wurden fünf Rezensionen gesammelt, die einen ungefähr entsprechenden Umfang haben. Weil die Spalten in den deutschen Rezensionen etwas mehr Zeilen pro Seite und etwas mehr Zeichen pro Zeile haben als die in den finnischen, ist das deutsche Korpus letzten Endes insgesamt etwas umfangreicher als das finnische, aber der Unterschied ist klein und hat keine Bedeutung bei der Analyse der Absatzstrukturen. Es wurde auch eine grobe thematische Äquivalenz angestrebt: Vier der Rezensionen handeln von sprachwissenschaftlichen Themen und jeweils eine bespricht ein Lehrwerk. Die Rezensionen stammen aus den folgenden Nummern: Virittäjä 3/ 2000, 4/ 2000, 1/ 2001; Zeitschrift für Germanistik 2/ 2000, 3/ 2000, 1/ 2001. Bei unserem Textvergleich handelt es sich somit um eine Paralleltextanalyse, d.h., die zu analysierenden Texte stehen nicht in einer Übersetzungsrelation zueinander, sie gehören aber der gleichen Textsorte(nklasse) an, weil sie sich in Bezug auf die wichtigsten Abgrenzungskriterien ähnlich verhalten (vgl. z.B. Brinker 1997, S. 133-141): Sie sind jeweils in ähnlichen Kommunikationssituationen entstanden (kontextuelle Kriterien), sie dienen der Bewältigung einer ähnlichen Kommunikationsaufgabe, d.h., sie haben eine ähnliche Textfunktion (Textfunktion als Abgrenzungskriterium), und sie handeln jeweils von dem gleichen oder einem ähnlichen Thema (thematisches Kriterium, strukturelles Kriterium nach Brinker). Absatzstmktur als Organisationsmittel in deutschen undfinnischen Texten 257 3. Kontrastive Aspekte der Absatzstruktur 3.1 Absatz als Teiltext Die nichtsprachlichen Mittel der Textorganisation bieten nicht nur dem Textproduzenten eine Möglichkeit, seine Gedanken zu gliedern und seine kommunikative Intention durchzusetzen, sondern stellen auch für den Leser eine wesentliche Hilfe bei der Rezeption dar: Sie „fallen ins Auge“ und bestimmen die Rezeption des Textes als gegliedertes Ganzes und bewirken „eine visuell vermittelte, vom Leser kaum als solche registrierte Steuerung bestimmter mentaler Operationen“ (Graefen 1997, S. 162). Die Frage, ob die Absatzstruktur des Textes formaler oder inhaltlich-thematischer Art ist, ist in der einschlägigen Literatur diskutiert worden. Auch wenn die Absatzgliederung eventuell nicht mit der bestmöglichen thematischen Gliederung identisch ist, so stellt sie jedenfalls eine typografische Umsetzung dessen dar, was „nach Gutdünken des Autors“ ihm „als notwendige oder zumindest die Übersicht fördernde Abgrenzung erscheint“ (Graefen 1997, S. 166). Im Folgenden verstehen wir unter einem Absatz einen Teiltext, der typografisch (durch Einrückung der ersten Zeile oder Zwischenschaltung von Abständen) begrenzt ist und eine potenzielle thematische und Handlungseinheit darstellt. (Vgl. Graefen 1997, S. 165-167.) Der Absatz als Element der hierarchischen Aufgliederungsstruktur des Textes ist bei der Textrezeption in mehrerer Hinsicht von Bedeutung: 1) Die Absatzgliederung entsteht mit dem ersten Blick auf den Text, „geht in die Wahrnehmung ein als Vorgabe für die weitere Kenntnisnahme des Textes“, braucht also nicht nach und nach während des Rezeptionsprozesses erarbeitet werden (vgl. Graefen 1997, S. 169). 2) Die Absatzgliederung stellt für den Leser eine Art Aufforderung dar, aus dem typografisch begrenzten Textblock auch mental einen „Sinnblock“ zu bilden (vgl. Graefen 1997, S. 167). 3) Der Schritt von einem Absatz zum anderen erlaubt dem Leser „einen vorläufigen Abschluß, die Möglichkeit einer Zwischenbilanz“ (Graefen 1997, S. 165) und bereitet ihn zugleich mental auf die Aufnahme eines neuen Themas bzw. Sinnblocks vor. 258 Marja-Leena Piitulainen / Liisa Tüttula 4) Bei der Erschließung der Textwelt trägt die Absatzstruktur dazu bei, die „Sinnblöcke“ als Sinnkontinuität zu sehen, indem der jeweils neue Absatz zum vorangehenden und nachfolgenden Absatz sowie zum Textganzen in Beziehung gesetzt werden muss bzw. kann (vgl. auch Graefen 1997, S. 165). 5) Die Absatzstruktur als nichtsprachliches textsortenspezifisches Merkmal trägt zur Kodierung und Erkennung textsortentypischer Merkmale und Strukturen bei, was sich in vielen Bereichen auch in der praktischen Normierung niederschlägt. Die analysierten deutschen Rezensionstexte enthielten (ohne Anmerkungen und Literaturverzeichnis, die nur vereinzelt verkommen) durchschnittlich 8,4 Absätze pro Text, während die entsprechende Anzahl in den finnischen Rezensionen 15,4 betrug. Auch bei den Zeitungstexten ist ein deutlicher Unterschied zwischen den deutschen und den finnischen Texten festzustellen. Da die Artikel von unterschiedlicher Länge sind, haben wir die Länge der Absätze an der Zahl der Sätze gemessen. Die durchschnittliche Satzzahl pro Absatz betrug in den deutschen Texten 5,3, in den finnischen dagegen 1,8. Die Variation bei den deutschen Absätzen war deutlich größer als bei den finnischen und bewegte sich zwischen 1 und 17 Sätzen (jeweils aber nur 2 Lälle). Bei den finnischen Artikeln dagegen umfasste ein typischer Absatz ein oder zwei Sätze, der längste Absatz bestand aus 5 Sätzen (nur 3 Lälle). Berücksichtigt man nicht nur Gesamtsätze, sondern zählt auch die Teilsätze pro Absatz mit, so ergeben sich die Durchschnittswerte 8,3 für deutsche und 2,8 für finnische Texte, In der Satzlänge gerechnet nach der Zahl der Teilsätze gab es keine bemerkenswerten Unterschiede, d.h., dass die finnischen Sätze keineswegs länger sind als die deutschen. Ein weiterer deutlicher Unterschied, der eventuell mit der Absatzlänge in den Zeitungstexten zusammenhängt, ist die Spaltenbreite, die in finnischen Zeitungen merkbar schmaler ist als in deutschen (ca. 30 Zeichen gegenüber ca. 40 Zeichen). 3.2 Absatzstruktur und Kohäsion Unsere Hypothese war, dass die Absatzstruktur mit den Kohäsionsmitteln zusammenhängt und zwar so, dass Sätze innerhalb eines Absatzes eher mit expliziten Verknüpfungsmitteln miteinander verbunden werden als Sätze, die zu verschiedenen Absätzen gehören. Von den verschiedenen Kohäsi- Absatzstruktur als Organisationsmittel in deutschen undfinnischen Texten 259 onsmitteln haben wir uns hier auf Konnektoren (Konjunktionen und satzverbindende Adverbien), bestimmte Pro-Formen sowie auf Metadiskurs beschränkt. Im Gebrauch dieser Elemente gibt es sowohl textsortenspezifische als auch interlinguale bzw. -kulturelle Unterschiede. So hat z.B. Redeker (2000) festgestellt, dass in Rezensionen und Zeitungsberichten relativ wenig Konnektoren Vorkommen. In kulturkontrastiven Untersuchungen wiederum ist festgestellt worden, dass finnische Texte tendenziell weniger explizite textorganisierende Mittel enthalten als z.B. angloamerikanische (Mauranen 1993; vgl. auch Tiittula 1993). Vergleicht man nun die verwendeten Konnektoren in den Zeitungsartikeln, so scheint sich die Hypothese der geringeren Verwendung in finnischen Texten gegenüber deutschen Texten zu bestätigen. Der Mittelwert für deutsche Artikel betrug etwa 3 Konnektoren pro 10 Sätze, der entsprechende Anteil bei finnischen Texten belief sich auf 1,3. Trotz des Unterschieds ist zu beachten, dass die Frequenzen insgesamt doch recht gering sind, was darauf hindeutet, dass für die Kohäsion bzw. Kohärenz in dieser Textsorte eventuell andere Mittel, wie z.B. Rekurrenz (Wiederaufnahme eines Textelements) und Substitution, von größerer Bedeutung sind. Ein deutlicher Unterschied war im Gebrauch der verschiedenen Konnektoren festzustellen, insofern als die lexikalische Variation in den deutschen Texten erheblich größer war. In den finnischen Texten nahmen die Konnektoren myös/ myöskään (‘auch’/ ‘auch nicht’) und kuitenkin/ kuitenkaan (‘jedochV‘doch nicht’) mit Abstand die Spitzenposition ein. Für ‘auch’ wurden darüber hinaus ein paarmal zwei weitere Varianten verwendet: lisäksi (‘zusätzlich’) und das Suffix -kin. In den deutschen Texten war der üblichste Konnektor ebenfalls auch, daneben wurde aber eine Reihe anderer Varianten gebraucht wie darüber hinaus, außerdem, ebenfalls, zusätzlich, ferner, zudem. Von den adversativen Konnektoren kamen folgende vor: aber, doch, jedoch, im Gegensatz, im Gegenzug, andererseits, zwar, allerdings, gleichwohl, vielmehr. Bei den Rezensionen scheint sich eine ähnliche Tendenz in der lexikalischen Variation abzuzeichnen. Wichtige Kohäsionsmittel waren in den beiden Textsorten Pronominaladverbien, die teils zu Konnektoren, teils zu Deixisformen gehören, zu nennen sind vor allem dabei und damit. Von den (anderen) deiktischen Formen haben wir den Gebrauch von hier/ tässä und dies-/ tämä untersucht. In den Re- 260 Marja-Leena Piitulainen / Liisa Tiittula zensionen waren signifikante Unterschiede zwischen den deutschen und finnischen Texten festzustellen: Im deutschen Korpus ließen sich 77 Belege (ca. 15/ Text) und im finnischen Korpus 20 Belege (4 Belege/ Text) finden. Ohne genauer auf die verschiedenen BedeutungsVarianten und Verweistypen (Deixis im Sprechzeitraum - Deixis im Textraum (mit unterschiedlichen Varianten) der deiktischen Elemente einzugehen, (vgl. Genaueres dazu Graefen 1997, S. 241-246, 217-223) sei nur festgestellt, dass trotz der Unterschiede in ihrer Frequenz gewisse Ähnlichkeiten in ihrem Gebrauch zu finden sind: 1) In beiden Textkorpora werden die betreffenden Deixisformen vorwiegend mitten im Absatz verwendet. Im deutschen Korpus ließen sich zwei Belege am Anfang des Absatzes finden, im finnischen gar keine. 2) In beiden Korpora dominiert der Verweis auf den Textraum (vgl. auch Graefen 1997, S. 217f.); das oft sprechsituationsbezogene hier/ tässä kommt bedeutend seltener vor als die Deixisform diesVtämä, die primär auf den Textraum verweist. 3) Die anadeiktische Verwendung, d.h. der Rückverweis, dominiert; das Verweisobjekt (eine vorher ausgedrückte Proposition oder ein Teil davon) wird vorher im Text erwähnt im Unterschied zur katedeiktischen Verwendung, bei der das Verweisobjekt erst später im Text folgt. 4) Bei dies-/ tämä dominiert der adjektivische Gebrauch (vgl. auch Graefen 1997, S. 217). Das adjektivische dies-/ tämä steht oft in Verbindung mit abstrakten Substantiven, wobei diese Kombination eine (zusammenfassende) „Neufokussierung eines mental bereits verarbeiteten propositionalen Gehalts“ ermöglicht (Graefen 1997, S. 219). Tämä/ diesin Verbindung mit abstrakten Substantiven kann auch zur Bewertung des im vorangehenden Text Ausgedrückten eingesetzt werden, vgl. z.B.: Tätä puutetta tasapainottaa ensimmäisen kirjoituksen ulkoisen evidenssin hankalan metodisen ja metateoreettisen luonteen pohdiskelu. (Virittäjä 1/ 2001) (Dieser Mangel wird kompensiert durch das Erörtern des methodologischen und metatheoretischen Problems der äußeren Evidenz in dem ersten Beitrag.) Diese Skepsis verliert sich auch nicht nach der Lektüre der einzelnen Kapitel. (Zeitschrift für Germanistik 1/ 2001) Absatzstruktur als Organisationsmittel in deutschen undfinnischen Texten 261 In den Zeitungstexten scheint es kaum Unterschiede im Gebrauch der behandelten Deixisformen zu geben. Eine Differenzierung zwischen Textdeixis und Situationsdeixis (vgl. Linke et al. 1994, S. 218ff.) ist in diesen Texten vielfach problematisch. Es sei noch eine Verwendungsweise erwähnt, die typischer für deutsche Texte (sowohl für Zeitungsartikel als auch für Rezensionen) zu sein scheint. Es handelt sich um die anadeiktische Verwendung vom substantivisch gebrauchtem dies, wie im folgenden Beispiel: Die pakistanische Regierung hat die indische Einladung zu Friedensgesprächen über Kaschmir begrüßt, die gleichzeitige Beendigung des Waffenstillstands in dem umstrittenen Territorium durch Neu-Delhi aber kritisiert. Dies ist der Inhalt einer Erklärung des pakistanischen Außenministeriums vom Donnerstag. (FAZ 25.5.2001) Die entsprechende finnische Nachricht beginnt mit dem Satz „Pakistan teilte am Donnerstag mit ...“ (Helsingin Sanomat 25.5.2001), sodass sich der Rückverweis erübrigt, der Text aber zugleich komprimierter wirkt. Dem betreffenden Satz im obigen Beispiel kommt fast ein metadiskursiver Charakter zu, ansonsten scheinen die Nachrichtentexte jedoch wenig vom Metadiskurs Gebrauch zu machen. In den deutschen Rezensionen kommt dagegen Metadiskurs öfter vor, in den finnischen deutlich weniger. Vgl. das folgende Beispiel: Wie die Verf.n diese Funktionen im Kontext der Gesprächsanalysen einzelner Textkorpora behandelt, wird im folgenden erörtert. Dabei wird ein besonderes Augenmerk darauf zu richten sein, wie die Funktionen linguistisch operationalisiert werden, d.h. welche sprachlichen Merkmale ihnen zugeordnet werden können. (Zeitschrift für Germanistik 2/ 2000) Woher kommen die Unterschiede im Gebrauch der Kohäsionsmittel? Hängen sie mit den unterschiedlichen Absatzstrukturen zusammen, wobei die größere Frequenz dieser Formen im deutschen Korpus auf eine kleinere Anzahl von Absätzen und damit auf längere Absätze zurückführbar wäre: Zum Zusammenhalten von Propositionen sind in längeren Absätzen mehr deiktische Formen und andere kohäsive Mittel nötig als in kürzeren Absätzen. Oder ist die Erklärung eher in den Unterschieden in der Handlungsstruktur (vgl. Referieren/ Informieren - Bewertung in den Rezensionen) zu finden oder in den systembedingten sprachlichen Unterschieden. Heino (1996) hat z.B. in ihrer Magisterarbeit für die Pronomen dieser/ jener und tämä/ tuo diesbezügliche Unterschiede festgestellt. Es ist auch möglich, dass die Un- 262 Marja-Leena Piitulainen / Liisa Tüttula terschiede auf allgemeinere kulturelle Unterschiede in der finnischen und deutschen Schreibkultur zurückführbar sind und kulturelle Werte und Konventionen der Interaktion der Kommunizierenden widerspiegeln (vgl. u.a. Clyne 1993). 3.3 Absatzstruktur und Makrostruktur In Bezug auf die Makro- und Handlungsstruktur lassen sich bei den Nachrichtentexten, die als eine internationale Textsorte gelten, keine Unterschiede feststellen. Aus diesem Grund betrachten wir in diesem und im folgenden Kapitel nur Rezensionen. Die Absatzstruktur als potenzielle thematische und Handlungseinheit spiegelt die Makrostruktur des Textes wider. Zwischen den makrostrukturellen und absatzstrukturellen Einheiten besteht aber kein l: l-Verhältnis, d.h., eine makrostrukturelle Einheit kann auf mehrere Absätze verteilt sein, und entsprechend kann ein Absatz mehr als eine makrostrukturelle Einheit umfassen. Unter makrostrukturellen Einheiten werden im Folgenden solche Textteile verstanden, denen im Rahmen des thematisch und handlungsstrukturell aufgebauten Gesamttextes eine thematisch-intentionale Funktion zugesprochen werden kann. Bei der so definierten Makrostruktur handelt es sich um „Text-Globalstrukturen“, die weitgehend die Textsortengebundenheit eines Textes kennzeichnen (vgl. Heinemann/ Viehweger 1991, S. 45), im Unterschied zu dem rein semantisch (propositional) bestimmten Makrostrukturbegriff von van Dijk (1980). Aus der unterschiedlichen Absatzstruktur der deutschen und finnischen Texte kann im Hinblick auf das Verhältnis von Makro- und Absatzstruktur die Hypothese abgeleitet werden, dass in den finnischen Texten einer makrostrukturellen Einheit eher ein eigenständiger Absatz entspricht als in den deutschen. Die Analyse der Makrostruktur der Rezensionen scheint diese Hypothese auch zu bestätigen. Bei den Rezensionen kann mit folgenden makrostrukturellen Einheiten gerechnet werden: 1) Überschrift (nur in Virittäjä)- 2) Textanfang, in dem die bibliografischen Angaben des zu besprechenden Buches stehen: Name des Verfassers (der Verfasser) bzw. des Herausgebers (der Herausgeber) und des Werkes, Veröffentlichungsreihe bzw. Serie und Nummer des Bandes, Verlag, Erscheinungsort- und Jahr, Absatzstruktur als Organisationsmittel in deutschen undfinnischen Texten 263 Seitenzahl, ISBN-Nummer (nur in Virittäjä)-, 3) Einleitung, in der u.a. auf die Entstehung oder den Hintergrund des Buches eingegangen wird oder seine Stellung im Rahmen des jeweiligen Faches oder Wissenschaftszweiges betrachtet wird; 4) Untertitel (nur in Virittäjä)-, 5) Vorstellung des zu rezensierenden Werkes und die (kritische) Auseinandersetzung damit; 6) Resümee, in dem eine zusammenfassende (und relativierende) Gesamtbewertung erfolgt; 7) Anmerkungen (nur in den deutschen Rezensionen vorhanden: in zwei von fünf); 8) Literaturverzeichnis (jeweils ein Beleg); 9) Schlussteil, in dem die Identifizierung des Rezensenten erfolgt; in den deutschen Rezensionen werden der Name und die Adresse des Rezensenten angegeben, in den finnischen der Name und die E-Mail-Adresse oder sowohl die Adresse als auch die E-Mail-Adresse. Außer den oben schon festgestellten Unterschieden im Vorhandensein, in der Frequenz oder im Inhalt der makrostrukturellen Bestandteile gibt es Unterschiede darin, wie sich die makrostrukturellen Einheiten auf die Absätze verteilen. Für die deutschen Rezensionen scheint es erstens typisch zu sein, dass sie eine allgemeine Einleitung enthalten (in vier von fünf vorhanden) und zweitens, dass diese mit der Präsentation des zu besprechenden Buches oder des Verfassers im ersten Absatz gekoppelt wird. Solche kombinierten Einleitungen sind in drei von fünf untersuchten Rezensionen vorhanden. Ein Beispiel: Die seit über 30 Jahren andauernde Forschungsdiskussion zum Thema Intertextualität hat bislang kein zufriedenstellendes Modell zur Beschreibung intertextueller Phänomene vorlegen können. Der Grund hierfür dürfte darin liegen, daß die Diskussion durch die allgemeine Theoriedebatte, die im Zeichen von Postmoderne bzw. Poststrukturalismus geführt wurde, überlagert war. Nach dem ‘Abklingen’ dieser Debatten jedoch scheint der Weg frei für eine ‘unaufgeregtere’ Auseinandersetzung mit dem Thema, die zu einem für die Literaturwissenschaft handhabbaren Konzept führen könnte. Die von PETER STOCKER vorgelegte Studie ist in diesem Kontext zu sehen. (Zeitschrift für Germanistik 2/ 2000) In den analysierten finnischen Rezensionen kommt man dagegen öfter „direkt zur Sache“, d.h., der erste Textabsatz beginnt direkt mit der Vorstellung des zu rezensierenden Werkes. Nur in einer Rezension ist eine allgemeine Einführung zu finden; sie bildet einen eigenen Absatz, und erst im zweiten Absatz wird auf das zu rezensierende Werk eingegangen. 264 Marja-Leena Piitulainen / Liisa Tiittula Die gleiche Tendenz, thematisch und handlungsstrukturell zusammenhängenden Textteilen eigene Absätze zu widmen, zeigt sich in den finnischen Rezensionen auch im makrostrukturellen Teil Gesamtresümee. In allen untersuchten finnischen Rezensionen bildet die Gesamtbewertung einen eigenständigen Absatz oder sie ist nach thematischen Gesichtspunkten sogar auf mehrere Absätze verteilt. In den deutschen Rezensionen werden dagegen auch hier Kombinationen bevorzugt, d.h., im letzten Absatz erfolgt eine Auseinandersetzung mit einem bestimmten Gesichtspunkt des zu rezensierenden Werkes und anschließend eine Gesamtbewertung. Solche kombinierten Resümees kommen in drei von den untersuchten fünf Rezensionen vor. Im folgenden Beispiel handelt der letzte Absatz von den sprachlichen Merkmalen der Funktionen der Jugendsprache und „ohne Zwischenbilanz“ erfolgt die Gesamtbewertung: Aus linguistischer Hinsicht bleibt noch weitgehend ungeklärt, durch welche sprachlichen Merkmale die Funktionen gekennzeichnet sind. Hieraus ergibt sich auch die Frage: Was ist spezifisch jugendsprachlich bei den Funktionen und was gilt ‘generell’? Ungeachtet dessen vermittelt die Studie immerhin einen umfangreichen Einblick in die „Kehrseite“ der deutschen Jugendsprachforschung, und zwar in die Jugendsprache im Munde „Nicht-Jugendlicher“. Sie ist bei allen Einschränkungen ein interessanter linguistischer Beitrag zur Kommunikationswissenschaft im engeren Sinne. (Zeitschrift für Germanistik 2/ 2000) Was den makrostrukturellen Bestandteil Vorstellung des Werkes und (kritische) Auseinandersetzung damit betrifft, so zeigt sich hier eine ähnliche Tendenz: Die finnischen Rezensionen enthalten mehr thematisch abgegrenzte Absätze als die deutschen. Als thematisches Gliederungsprinzip dominieren in beiden Sprachen die Reihenfolge, in der die Sachen im Buch behandelt werden, und/ oder die zur Betrachtung stehenden Sachbereiche. 3.4 Absatzstruktur und Handlungsstruktur Die Absatzstruktur hängt auch mit der Handlungsstruktur von Texten zusammen. Was die Handlungsstruktur von Rezensionen an sich anbelangt, so sind in der einschlägigen Literatur einige interkulturelle Unterschiede festgestellt worden. Sabine Fiedler z.B. hat pädagogische Rezensionen im Englischen und Esperanto miteinander verglichen und festgestellt, dass in den englischsprachigen Rezensionen positive Einschätzungen dominieren, wäh- Absatzstruktur als Organisationsmittel in deutschen undfinnischen Texten 265 rend in den Esperanto-Texten im Vergleich zum englischsprachigen Material negative Kritik „recht offen und deutlich“ zu Tage tritt (vgl. Fiedler 1992, S. 154f.). Liang wiederum hat ähnliche Unterschiede zwischen deutschen und chinesischen wissenschaftlichen Rezensionen festgestellt: In deutschen Rezensionen spielen die Meinungsverschiedenheiten eine wichtige Rolle und von der Handlung der Würdigung (der positiven Bewertung) wird recht behutsam Gebrauch gemacht, während in chinesischen Rezensionen eine kritische Auseinandersetzung selten stattfindet (vgl. Liang 1991, S. 303-306). Neben der bewertenden Funktion haben die Rezensionstexte auch andere Funktionen. Darüber, welche Funktion in (wissenschaftlichen) Rezensionen vorherrschend ist, gibt es unterschiedliche Meinungen. Einige Linguisten ordnen Rezensionstexte den informativen Texten zu (vgl. z.B. Brinker 1997, S. 133), während u.a. Jokubeit (1980; referiert nach Wiegand 1983, S. 128) das Erörtern als dominierend ansieht. Liang (1991, S. 291) wiederum zählt die Rezensionen zu den bewertenden bzw. evaluativen Texten mit der Begründung, dass gerade das Bewerten die Rezensionen von anderen Textsorten unterscheidet (vgl. dazu auch Henne 1990, S. 28f. und Dalimann 1979, S. 69). Unser Rezensionskorpus ist klein und auf Grund dessen können keine weit gehenden Schlussfolgerungen gezogen werden, aber es lässt sich mindestens die Tendenz feststellen, dass in den finnischen Rezensionen die informative Funktion dominiert, während in den deutschen Rezensionen die bewertende Funktion „Hand in Hand“ durch den ganzen Text hindurch geht. Unter den finnischen Rezensionen gibt es eine Rezension, in der die bewertende Funktion überhaupt erst am Schluss des Textes zu Tage tritt, und auch dann sehr kurz, während im Text sonst nur referiert, informiert und erörtert wird. Die negative Kritik, wenn sie geübt wird, wird insgesamt sehr vorsichtig formuliert. Typisch ist der Gebrauch des Konditionals (entspricht oft dem deutschen Konjunktiv II), des Verbs toivoa (‘hoffen’), der Modalwörter, Modalitätsverben (tuntua, näyttää ‘scheinen’) und anderer Abschwächungstechniken sowie Relativierung der negativen Kritik durch positive Äußerungen, vgl. z.B.: Vaikka taulukointitekniikkaa olisi syytä hioa, tämä osa tutkimusta tuottaa kiinnostavaa tietoa. (Virittäjä 4/ 2000) (Auch wenn es angebracht wäre, die Tabellierungstechnik noch auszufeilen, liefert dieser Teil der Untersuchung interessante Erkenntnisse.) 266 Marja-Leena Piilulainen / Liisa Tiittula Karttojen puute tosin hieman häiritsee. (Virittäjä 3/ 2000) (Der Mangel an Karten stört allerdings etwas.) Mallit sopisivat paremmin „kirjoittajalle“-osaan kuin leipätekstiin. (Virittäjä 4/ 2000). (Die Muster würden besser in den Teil „Für den Schreiber“ als in den Fließtext hineinpassen.) Wie weit die Vermeidung der negativen Kritik oder deren vorsichtige Formulierung mit der in anderen Zusammenhängen (vgl. z.B. Nuolijärvi/ Tiittula 2000) festgestellten finnischen Tendenz zur Vermeidung vom Streit (im Unterschied zur deutschen „Streitkultur“) verbunden ist, ist eine interessante Frage, die an größeren Textkorpora untersucht werden müsste. Dass die negative Kritik und Auseinandersetzung in den deutschen Rezensionen stärker zum Vorschein kommt als in den finnischen, zeigt sich in der Absatzgliederung. In einer deutschen Rezension können die verschiedenen Kritikpunkte die Grundlage der Absatzgliederung bilden, während in den finnischen Rezensionen der jeweilige thematische Gegenstand die Gliederungsgrundlage bildet. Allerdings gibt es unter den analysierten deutschen Rezensionen nur eine, die klar nach den Kritikpunkten aufgegliedert ist. Nach den einleitenden und vorstehenden zwei ersten Kapiteln folgen die drei anderen, die jeweils einen Kritikpunkt darstellen. Die Absätze werden entsprechend eingeleitet: Ein erster Kritikpunkt betrifft... Ein zweiter Kritikpunkt zielt auf ... Ein dritter Kritikpunkt bezieht sich auf ... (Zeitschrift für Germanistik 1/ 2001) Das Kritisieren wird also in diesem Textbeispiel metasprachlich klar markiert. Darüber hinaus wird die Kritik vor den Kritikpunkten metadiskursiv angekündigt: Bevor ich auf diese Muster näher eingehe, möchte ich drei Kritikpunkte nennen, die sich auf den Absatz als solchen beziehen. (Zeitschrift für Germanistik 1/ 2001) Absatzstruktur als Organisationsmittel in deutschen undfinnischen Texten 267 4. Zum Schluss Die Mehrschichtigkeit der Textorganisation, das Zusammenspiel sprachlicher und nichtsprachlicher Elemente einerseits und die Durchführung der Organisation auf verschiedenen aufeinander bezogenen Ebenen andererseits, macht die Textanalyse kompliziert. So können sehr unterschiedliche Faktoren die Rezeption eines Textes steuern und erleichtern wie z.B. die typografische Absatzgliederung, explizit verknüpfende Vertextungsmittel, der thematische Aufbau und die Handlungsstrukturierung. Diese Elemente können in verschiedenen Sprachen und Kulturen unterschiedlich kombiniert eingesetzt werden, wie die obige exemplarische Analyse gezeigt hat. Bei der Analyse konnten wir nur auf einige Aspekte eingehen, andere Mittel der Textorganisation wären im interlingualen und -kulturellen Vergleich aber auch von Interesse. Bei der Auswertung der Ergebnisse ist der Umfang des Textkorpus natürlich immer zu berücksichtigen. Angesichts der Fülle zusammenwirkender Faktoren bleibt das der Analyse zu Grunde liegende Korpus häufig recht klein, wie es auch in unserer Analyse der Fall ist. Da viele Textsorten eine weite individuelle und situationsbedingte Variation aufweisen, sind zur Verallgemeinerung größere Korpora nötig. Bei der kontrastiven Textanalyse ist auch zu beachten, dass die Unterschiede nicht nur kultursondern auch sprachstrukturell bedingt sein können. Dies gilt besonders für strukturell so unterschiedliche Sprachen wie Deutsch und Finnisch. 5. Literatur Arntz, Reiner (1992): Interlinguale Vergleiche von Terminologien und Fachtexten. In: Baumann/ Kalverkämper (Hg.), S. 108-122. Baumann, Klaus-Dieter (1992): Die Fachlichkeit von Texten als eine komplexe Vergleichsgröße. In: Baumann/ Kalverkämper (Hg.), S. 29-48. Baumann, Klaus-Dieter/ Kalverkämper, Hartwig (Hg.) (1992): Kontrastive Fachsprachenforschung. Tübingen. (= Forum für Fachsprachenforschung 20). Brinker, Klaus (1997): Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. 4., durchges. u. erg. Autl. Berlin. (= Grundlagen der Germanistik 29). 268 Marja-Leena Piitulainen / Liisa Tiittula Clyne, Michael (1987): Cultural differences in the organization of academic texts. In: Journal of Pragmatics 11, S. 211 -247. 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Aber seitdem die Pragmatik immer mehr an Interesse gewinnt, wird der Vergleich auch auf der pragmatischen Ebene gezogen, und das Augenmerk wurde vor allem auf den pragmatischen Transfer gerichtet. Dabei standen im Mittelpunkt des Interesses oft so genannte negative Transfers, die auf die interkulturelle Kommunikation eventuell unerwünschte Wirkungen ausüben könnten. In diesem Aufsatz werden aber nicht solche Interferenzen behandelt, sondern lediglich die Abweichungen und Transfertendenzen. Ein Transfer könnte eventuell wegen der Unterschiedlichkeit der Darstellung reizvoll sein, was manchmal bei der Übersetzung literarischer Werke festzustellen ist. 2. Skizze des Experiments Zum Vergleichsgegenstand wird hier eine Reihe Bilder aus einem Buch genommen, das für den Englischunterricht für Anfänger (Kinder) konzipiert ist. Acht Bilder aus dem Buch stellen eine Geschichte dar, die dann von den Experimentteilnehmern verbalisiert werden soll. (Siehe Anhang 1). 272 Shigeru Yoshijima 2.1 Informanten und untersuchte Sprachen Das Experiment wurde in drei Sprachkombinationen durchgeführt: Japanisch-Deutsch: in Japan waren daran die Studenten im Postgraduierten- Kurs von drei Universitäten (7 von der Universität Tokyo, 5 von der Universität Hokkaido, 7 von der Keiogijuku-Universität, 5 von der Kansai-Universität) beteiligt sowie 12 Besucher des DaF-Einführungskurses im Goethe- Institut Tokyo und eine Japanerin in Mailand/ Italien, die dort zufällig den Deutschkurs besuchte; also waren es insgesamt 30 Beteiligte bzw. Informanten. (Gruppe Tokyo I). Deutsch-Japanisch: 19 Japanologie-Studenten in München und 2 in Leipzig; insgesamt 21 Beteiligte. (Gruppe München). Deutsch-Englisch: 10 Braunschweiger Anglisten. (Gruppe Braunschweig). Englisch-Deutsch: 7 Mittelstufe-Lerner im Goethe-Institut London. (Gruppe London). Italienisch-Deutsch: 17 Deutschkursbesucher im Goethe-Institut Mailand.' (Gruppe Mailand). Japanisch-Englisch: 51 Studenten der Universität Tokyo im 3. und 4. Studienjahr im Englischunterricht. (Gruppe Tokyo II). 2.2 Verfahren des Experimentes Zu diesen Beteiligten hatte ich keinen direkten Kontakt, außer zu den Kursteilnehmern von meinem DaF-Einführungskurs im Goethe-Institut Tokyo. Ich habe daher meine Freunde und Bekannten in Japan und in Europa gebeten, zu den Bildern eine Erzählung verfassen zu lassen. Diese erhielten zusammen mit den Bildern die folgenden Anweisungen: i Bei der Analyse der Mailänder Beiträge habe ich meine italienischkundige Doktorandin um Hilfe gebeten. Erzählerperspektive 273 1) Die Informanten erhalten je ein Blatt mit einer Bildergeschichte, die aus acht Bildern besteht. 2) Sie haben etwa 2 bis 3 Minuten zur Verfügung, um die Geschichte zu entschlüsseln. 3) Sie bekommen dann ein Blatt Papier. Sie sollen bestimmte Basisinformationen über sich selbst geben. 4) Sie sollen dann eine Geschichte zu den Bildern in der Zielsprache (Deutsch) schreiben, möglichst im Stil einer mündlichen Erzählung. Hinsichtlich der Länge, Genauigkeit der Beschreibung usw. können sie alles so gestalten, wie sie wollen. Aber sie sollten darauf achten, dass ihre Erzählung nicht zu lang wird. 5) Diese Erzählung können sie zu Hause als Hausaufgabe anfertigen. In diesem Fall kann die Arbeit in der nächsten Woche abgegeben werden. Die Informanten dürfen hierbei nicht wissen, dass auf sie in der nächsten Woche noch eine weitere Aufgabe wartet, nämlich das Gleiche in ihrer eigenen Muttersprache zu tun. 6) Wenn die gestellte Aufgabe gleich an Ort und Stelle erledigt wird, kann anschließend die weitere gegeben werden, nämlich eine Fassung der Geschichte in der eigenen Muttersprache zu erstellen. Auch in diesem Fall dürfen die Informanten nicht vorher von dieser zweiten Aufgabe wissen. Dabei sollte es wenigstens eine Pause von 20 Minuten geben, bis sie mit der neuen Aufgabe anfangen. Dabei sollte die/ der Experimentleiter/ in darauf achten, dass die beiden Fassungen in Bezug auf den Verfasser identifiziert werden können. Auf den jeweiligen Blättern soll derselbe Name bzw. dasselbe Pseudonym stehen. 7) Wenn die Arbeit als Hausaufgabe gemacht wird, soll in der darauf folgenden Woche die anschließende Aufgabe, die Erzählung in der Muttersprache, als Hausaufgabe erledigt und in der Woche darauf eingesammelt werden. Dabei ist wieder darauf zu achten, dass man die Verfasser der beiden Fassungen identifizieren kann. 274 Shigeru Yoshijima 3. Ziel der Untersuchung In diesem Aufsatz wird erstens untersucht, inwieweit interkulturelle und interlinguale Unterschiede bei der Perspektivenwahl bei einer Erzählung festzustellen sind. Zweitens sollen mögliche pragmatische Transfers aus der Muttersprache in die Fassung in der Zielsprache festgestellt werden. Dieser Aufsatz setzt sich weder eine theoretische Auseinandersetzung noch einen Vergleich der Systeme innerhalb der einzelnen Sprachen zum Ziel, sondern es wird auf Grund der oben genannten funktional-semantischen Erzählungssammlung eine empirische Analyse vorgenommen. 3.1 Grammatische Möglichkeiten für die Perspektivenwahl Unter „Perspektive“ bei der Erzählung verstehe ich hier die Themenbzw. Subjektwahl in einzelnen Sätzen und die Wahl der Genera Verbi zwischen Aktiv und Passiv; hinzu kommt noch das Intransitiv. Thema und Subjekt des Satzes sind oft identisch. Dies ist am ehesten im Englischen zu beobachten. Aber dieses Phänomen variiert in Wirklichkeit je nach Sprache sehr stark. Im Deutschen spielt dabei auch die Wortstellung eine große Rolle, vor allem, wenn ein obliques Substantiv vorangestellt wird. In der Tat wird das Subjekt oft mit dem Thema gleichgesetzt, wie im Satz: „Der Korb wird (ihr) gestohlen“, solange kein klares Indiz dagegen spricht, z.B. „ihr wird der Korb geklaut“. Hierbei ist der Satz derart zu verstehen, dass der Erzähler eher über die mit „ihr“ benannte Person spricht, indem er die Ereignisse mit „ihr“ berichtet. Bei unseren untersuchten Belegen gab es aber keinen Fall diesen Typs; wir können daher bei der Analyse praktisch von den Unterschieden zwischen aktivem, passivem und intransitivem Verbgebrauch ausgehen. Im Japanischen wird das Thema des Satzes meistens durch das Anhängen der Partikel „wa“ an das Ende einer Phrase realisiert. Erzählerperspektive 275 3.2 Zur Analyse der gesammelten Erzählungen Die Fassungen in verschiedenen Sprachen werden nach den gleichen Prinzipien untersucht. Zuerst wird jede Geschichte in 9 Sequenzen gegliedert. Die Null-Sequenz ist dem Fall Vorbehalten, dass eine Vorgeschichte oder ein Titel dem eigentlichen Erzählteil vorangestellt wird. Und der 9. Punkt, also die letzte Sequenz, ist für die Nachgeschichte oder die Moralien Vorbehalten. Diese beiden Sequenzen werden außer Acht gelassen, weil es sehr wenige Belege dafür gibt, und weil sie sehr unterschiedlich sind. Die erste Sequenz betrifft die Bilder 1 bis 3. Hier werden keine sinnvollen Unterschiede erkannt; sie können einmal sehr lang oder auch kurz sein, aber die Darstellungsperspektive schwankt dadurch nicht. Die zweite Sequenz bezieht sich auf das Bild 4, in der die Hauptfigur ihren Einkaufskorb auf das Sofa setzt und dann in der dritten Sequenz, ebenfalls in Bild 4 ein „verdächtiger“ Mann auftaucht. Es wird kontrolliert, ob diese beiden Tatsachen erwähnt werden. ln der vierten Sequenz der Erzählung, in Bild 5, soll das Stehlen des Korbs durch den Dieb/ Mann oder das Verschwinden des Korbs behandelt werden. Hier wird gecheckt, ob die Aktivform des Stehlens oder die Passivform „gestohlen werden“ verbalisiert werden, oder aber ob das Geschehen intransitiv als verschwinden bzw. fehlen des Korbs aufgefasst wird. Bei der fünften Sequenz, in Bild 6, soll die Verlegenheit der Hauptfigur oder das Weglaufen des Diebs geschildert werden. Bei der Analyse wird diese Sequenz aber außer Acht gelassen, da sich sehr große Variationen innerhalb der Sequenz zeigten, und bei diesen relativ kleinen Belegzahlen kein eindeutiges Ergebnis zu erwarten war. In der sechsten Sequenz, Bild 7, geht es um die Darstellung des Klingeins des Weckers und die dadurch erfolgte Identifizierung des Diebs. 276 Shigeru Yoshijima Die siebte Sequenz, Bild 8, handelt von der Festnahme des Diebs, und die achte Sequenz, ebenfalls in Bild 8, vom Korb, den die Hauptfigur nun wieder hat. 4. Allgemeine Beschreibung der gesammelten Erzählungen 4.1 Verlauf der Experimentsphasen Das oben vorgestellte Verfahren über die Zuarbeit anderer Institute gemäß meiner Bitte ergibt ein Problem, da die beteiligten Informanten nur unzureichend über das Arbeitsverfahren informiert werden konnten. Die Arbeitsanweisung, die ich oben zitiert habe, reichte nämlich nicht aus, eine einheitliche Herangehensweise an die Arbeit sicherzustellen. Zuerst gab es offensichtlich oft größere Zeitabstände als vorgesehen zwischen der Fassung in der Zielsprache und der darauf folgenden Fassung in der Muttersprache, außer von Studenten in der englischen Klasse der Universität Tokyo. Aber ein größerer Zeitabstand konnte sicherlich keine negativen Einflüsse auf die Authentizität der Darstellungsweise ausüben, er minimiert eher die Einflüsse der Zielsprache auf die Fassung in der Muttersprache. Aber auf der anderen Seite ermöglichte der größere Zeitabstand eine völlig andere Fassung, wenn z.B. aus der Geschichte dann eine Spionagegeschichte gemacht wird, die von einer spontanen Beschreibung der Bilder stark abweicht. Es gab zwei solche Beiträge: einmal mit einer Spionagegeschichte und einmal mit einer Geschichte von einer Brautsuche. Diese etwas verwirrenden Beiträge müssten jedoch im Hinblick auf das Hauptanliegen dieses Aufsatzes in Bezug auf die Perspektivenwahl nicht als negatives Faktum gelten; sie lassen sich grundsätzlich zusammen mit anderen Beiträgen nach den gleichen Prinzipien analysieren. 4.2 Bezeichnungen der Hauptperson Die Hauptfigur der Geschichte, die in den Bilderserien eindeutig optisch zu identifizieren ist, stellt dem Autor bei der Verbalisierung der Geschichte eine Aufgabe: der Autor muss sie durch eine verbale Bezeichnung sprachlich Erzählerperspektive 277 identifizieren. Dazu gibt es hier drei Alternativen: erstens Ich-Form, identifiziert mit dem Autor, zweitens Substantive, die eine weibliche Person bezeichnen, und drittens ein konkreter Frauenname (Personenname). Wir haben alle drei Möglichkeiten akzeptiert. Aber wenn die Geschichte in einer dialogischen Form erzählt wird, also eine szenische Darstellung vorliegt, haben wir sie nicht berücksichtigt, da es hier um die Narration geht, nicht um alle Möglichkeiten der Darstellungen. Wir haben nur diejenigen direkten Reden berücksichtigt, die in einer Narration integriert sind. Dieses gilt auch für die anderen Figuren, aber für diese gibt es die erste und die dritte Möglichkeit nicht. 4.3 Länge der Erzählungen Die Länge der Erzählungen war sehr unterschiedlich. (Die längsten Erzählungen betragen in der deutschen Fassung etwa 300 Wörter und die kürzesten 50 Wörter.) Nur die der Studenten der Universität Tokyo und die aus Mailand weisen eine relativ einheitliche Länge auf. Offensichtlich wurden die Mailänder Texte, ebenso wie die der Studenten in Tokyo, im Rahmen einer Unterrichtsstunde geschrieben. Bei näherer Beobachtung ergibt sich, dass bei den meisten langen Erzählungen eine Ausdehnung der ersten Sequenz die Einkäufe des Füllers, des Weckers und das Anprobieren des Schuhpaars vorliegt und die anderen Sequenzen weitaus weniger variieren. Nach dem Auftauchen des Diebs geht alles sehr schnell bis zu seiner Verhaftung. Hier herrschen knappe Darstellungen vor. 4.4 Vor- und Nachgeschichte Die freiwilligen künstlerischen Zutaten bei den Vor- und Nachgeschichten werden bei der Analyse nicht berücksichtigt. Insgesamt gab es 14 Vorgeschichten unter den 292 (146 x 2) Beiträgen (= 5%) und 26 Nachgeschichten (= 9%). 278 Shigeru Yoshijima 4.5 Abweichungen beim gleichen Autor Die einzelnen Autoren weichen in ihrer Darstellung in der anderen Sprache manchmal von der muttersprachlichen ab. Dies wird unten in Bezug auf vier Sequenzen gezeigt. Zahl der Informanten (): Prozentsatz Sequenz 4 Sequenz 6 Sequenz 7 Sequenz 8 München Braunschweig London Mailand Tokyo I Tokyo II 21 10 7 17 30 51 7 (33) 0 ( 0) 0 ( 0) 1 ( 6) 3 (10) 14 (27) + 6 (29) 5 (50) 3 (43) 7 (41) 10 (33) 32 (62) 7 (33) 3 (30) 2 (29) 4 (24) 8 (27) 11 (21) + 2 (10) 2 (20) 1 (14) 4 (24) 10 (33) 13 (25) * die Zahl 7 in Sequenz 4 bei den Münchnern z.B. bedeutet, dass 7 (33%) von 21 Münchner Informanten bei den Darstellungen der Sequenz 4 in Mutter- und Zielsprache voneinander abweichende Sprachmittel verwendet haben. ** „+“ weist auf einen statistisch signifikanten Unterschied bei einem Freiheitsgrad von 1 hin. Hierbei werden statistisch gesicherte Unterschiede nicht festgestellt, abgesehen von der Gruppe Tokyo II in Bezug auf die Sequenz 4 und 7. Dies lässt sich dadurch erklären, dass sie sich innerhalb des stilistischen Spielraums bewegen. Auf die Besonderheiten der Gruppe Tokyo II soll später eingegangen werden. 5. Analyse der einzelnen Sequenzen 5.1 Sequenz 1 In der Sequenz 1 wird festgestellt, wie die Hauptfigur bezeichnet wird. Es gibt im Allgemeinen drei Möglichkeiten: erstens „ich“, zweitens weibliche Personen bezeichnende Substantive wie „Frau, Dame, Mädchen“, um nur deutsche Repräsentative zu nennen, drittens Personennamen wie ,Anna, Erzählerperspektive 279 Susanne 1 ' etc. Dass „Ich“ sich mit dem Autor identifiziert, hat die Konsequenz, dass der gesamte Verlauf der Handlung bzw. der Geschichte aus dieser Sicht gesehen und erzählt wird. Somit wird in diesen Ich-Erzählungen der Dieb in der dritten Sequenz nicht erwähnt. Dies geschieht höchstens zurückblickend als Unaufmerksamkeit. Während ich mit der Verkäuferin gesprochen habe, hat ein Verdächtiger hinter uns herumgelungert. Aber dabei habe ich nichts geachtet. Wenn (= Als) ich gefunden habe, dass meine Geschenke verloren sind, war es zu spät. (Tokyo I kita 1) Dazu kommt, dass der Diebstahl in der 4. Sequenz passivisch oder als Verschwinden des Einkaufskorbs dargestellt wird. Die Darstellung Verschwinden ist nur als Wahrnehmung der Hauptfigur möglich. Gestern habe ich in einem Kaufhaus Einkäufe gemacht. Ich habe einen Füller und einen Wecker gekauft und wollte noch ein Paar Schuhe. Während ich mit der Verkäuferin sprach, bemerkte ich, dass ich meine Einkaufstasche nicht mehr bei mir hatte. (Tokyo I Hon 5) Shingakki ga hajimatta node, benkyoo no tame no hitsuyoo na mono wo kai ni itta. Mazu, sutekina mannenhitsu wo katte kara, ookina mezamashitokei wo katta. ... Kawaii sandaru ni shita tokoro de, kyuu ni „Are? Kago wa dokoni oichatta? “ to omotte, kago wa nakunacchatta to wakatta. Neulich bin ich also in ein Kaufhaus gegangen, um ein paar Sachen für den Semesteranfang zu kaufen. Zuerst habe ich einen Füller gekauft und dann einen Wecker ... Gerade als ich mich für ein Paar schöne Schuhe entschieden hatte, denke ich mir: Mann, wo ist denn mein Korb mit den Sachen? Einfach weg! Als hätte er sich in Luft aufgelöst! (München 12) Die Ereignisse werden also aus der Perspektive der Hauptfigur dargestellt. Sich auf diese Erkenntnis stützend könnte man sagen: Wenn der Diebstahl in der 4. Sequenz durch ein Passiv oder die Minus-Existenz des Korbs dargestellt wird, wird das Ereignis eher aus der Perspektive der Hauptfigur und nicht aus der Perspektive eines so genannten allwissenden Gottes (Erzählers) gesehen. 280 Shigeru Yoshijima Nehmen wir dann die Hauptfigur mit einem konkreten Personennamen, so stellt sich heraus, dass der Autor sich eher mit der Hauptfigur identifiziert und aus ihrer Perspektive erzählt. Hier wird das Passiv bzw. Intransitiv nämlich vorgezogen. Maria wollte im Stadtzentrum Einkäufe machen. ... Es kam ein Mann, der den Korb stahl. Plötzlich spürte Maria, dass etwas nicht in Ordnung sei. Sie blickte herum und schrie laut. Ihr Korb sei veschwunden. (LDN 7) Maria went shopping in the town centre. ... He reached over and surreptitiously removed it. Maria, sensing that something was amiss, looked round. „Someone's stolen my basket! “ she screamed. (LDN 7) Hingegen bei unbestimmter Hauptfigur wie „eine Frau“ ist anzunehmen, dass der Autor eventuell den Standpunkt einer dritten Person annimmt. Eine statistische Erhebung zeigt: 59% der Informanten, die das Subjekt in Sequenz 1 als eine Frau bezeichnen, erwähnen in Sequenz 3 einen Dieb, hingegen nur 42%, die das Subjekt in Sequenz 1 als Ich bezeichnen. Die Hauptfigur hat wenig Ahnung von dem Dieb. Auch die Aktivform wird in der Sequenz 4 weniger benutzt (in Sequenz 4 benutzen 33% Aktiv, wenn Ich in Sequenz 1 steht; 41% benutzen in Sequenz 4 Aktiv bei einer Frau in Sequenz 1). Diese Beobachtung legt die Annahme nahe, dass der Grad der Einfühlung in bzw. der Identifizierung des Autors mit der Hauptfigur in der Rangordnung „Ich“ - „Personenname“ - „normales Substantiv“ abnimmt. 5.2 Sequenz 2, Bild 4: Erwähnung des Korbs Hier geht es darum, ob die Frau auf den Korb Acht gibt oder darum, ob erwähnt wird, dass die Frau den Korb auf das Sofa oder die Bank stellt. Da dies offensichtlich keinen Einfluss auf die Wahl der Perspektive auszuüben scheint, wird diese Sequenz nicht eingehend analysiert. Die Angaben hierzu erklären nur, warum und wie der Diebstahl gelungen ist. Sie dienen lediglich der Textkohärenz. Erzählerperspektive 281 5.3 Sequenz 4, Bild 5: Darstellung des Diebstahls In der Sequenz 4 wird der Diebstahl des Korbs hauptsächlich durch 3 Verbformen wiedergegeben. 1. Aktivform eines transitiven Verbs wie stehlen, klauen oder wegnehmen, um nur deutsche Beispiele zu nennen: Doroboo ga onna no hito no basuketto wo nusunda. (Ein Dieb stahl den Korb der Frau.) (München 04) Ein Dieb stahl ihr jedoch den Korb, als sie sich mit der Verkäuferin unterhielt. Als die Frau merkte, dass sie bestohlen wurde. (München 05) 2. Passivform eines transitiven Verbs, wie das obige Beispiel mit dem Verb bestehlen zeigt, oder: Nach ein Paar Minuten schreit das Mädchen, „Ach, meine Tasche ist weg! “ Die Tasche wurde gestohlen! (Tokyo DaF 4) 3. Intransitives Verb „verschwinden“ oder „nicht da sein“ wie schon im Beispiel oben (Tokyo DaF 4) mit weg sein. Oder: Der Mann nimmt ihren Korb und läuft weg. Als sie sieht, dass ihr Korb ihrfehlt. (Mailand 15) (Sie) schrie laut. Ihr Korb sei veschwunden. (LDN 7) ikcoPRlh LA. Tsugino shunkan onna no hito wa kaimono-kago ga nai koto ni ki ga tsuki mashita. (Im nächsten Augenblick merkte die Frau, dass ihr Einkaufskorb nicht mehr da war.) (Tokyo I DaF 3) Die Passivformen stellen aber in den deutschen Fassungen der Japaner eine sehr kleine Minderheit dar (3% mit einem Beleg). Die Japaner ziehen ein 282 Shigeru Yoshijima intransitives Verb vor (43%). In den deutschen Fassungen der Europäer herrscht die Aktivform vor (Münchner: 52%, Braunschweiger: 60%, Engländer: 57% und Italiener: 82%; hingegen Japaner: 50%.) In den japanischen Fassungen der Japaner überwiegt die dritte Darstellungsform mit Intransitiv: Münchner: 19%, Tokyo I: 60%, Tokyo II allerdings: 39%. Den Sätzen im Aktiv folgen aber oft Sätze mit der zweiten oder mit der dritten Darstellungsform mit Intransitiv. Dasselbe Ereignis wird nämlich aus anderen Perspektiven dargestellt. Eher kann man auch einen gewissen Unterschied zwischen der Münchner und den japanischen Gruppen feststellen: München: 33%, Tokyo I: 13%, Tokyo II: 14%. In den japanischen Fassungen zeigt sich ein interkultureller Unterschied zwischen der Münchner Gruppe und den Gruppen Tokyo I und II. 15 (71%) von 21 Münchner Studenten ziehen die Transitiv-Aktiv-Form vor, hingegen 35 (43%) der Tokyoter. Und die Tokyoter Gruppen I und II ziehen eine intransitive Form wie „verschwinden“ vor: nämlich 32 von 81 Japanern (40%) gegen 4 von 21 Münchnern (19%). Vgl. die Tabelle in Anhang 3. Der Unterschied zwischen den englischen Fassungen - 65% der Gruppe Tokyo II benutzen die Aktivform im Gegensatz zu nur 57% der Londoner (also mehr als englische Muttersprachler) führt dazu, dass sich zwischen der Verwendung der Gruppe Tokyo I und II, innerhalb einer Nationalität, eine Zäsur ergibt. Dieses ist nur durch die Situation Englisch-Unterricht zu erklären. Im Englisch-Unterricht wird nämlich im Allgemeinen vor dem Gebrauch der Passivform stark gewarnt oder davon abgeraten. Der Unterschied zwischen den englischen Fassungen der Londoner zu denen der Braunschweiger ist im Vergleich dazu nicht groß: die Braunschweiger weisen 50% auf. Der Unterschied in den deutschen Fassungen zwischen der Gruppe Tokyo I und den Mailändern besteht ebenfalls in der unterschiedlichen Bevorzugung der Passivformen. Tokyo I: 43% versus Mailand: 18%. Hierbei lässt sich ein statistisch signifikanter Unterschied zwischen der Gruppe Tokyo I und den Erzählerperspektive 283 Münchnern sowie zwischen den Mailändern und den Münchnern nicht feststellen (4.99/ 3; 4.93/ 3). Die statistischen % 2 -Prüfungen zeigen, dass zwischen den deutschen, englischen und den italienischen Fassungen kein nennenswerter Unterschied besteht. Unterschiede gelten somit nur zwischen Japanern und Europäern. 5.4 Sequenz 6, Bild 7: Klingelnder Wecker Hier handelt es sich um das Klingeln des Weckers und das Erkennen des Diebs. Hier ist kein statistisch relevanter Unterschied zu erkennen, außer bei den japanischen Fassungen zwischen Tokyo I und Tokyo II und zwar mit 90% Wahrscheinlichkeit. Hier geht es um den Vorzug der kombinierten Darstellung (Klingeln und anschließendes Erkennen des Diebs) gegenüber der allgemeinen Erwähnung, dass der Wecker geklingelt hat: Tokyo I: 16 (53%) versus Tokyo II: 20 (39%). Sono toki sakihodo Lisa ga katta mezamashi-tokei ga nari-hajimeta nodesu. (Kurz bevor der Dieb aus dem Ausgang gegangen ist,) hat der Wecker geklingelt, (den sie kurz vorher gekauft hat). (Tokyo I DaF 5) vgl. Suguni kanojo ga katta mezamashi-tokei ga narimashita. Sokode doroboo wa mitukari, ... but at the moment the clock which she had bought rang. The man who stole her basket was arrested, (Tokyo II Komaba 10) 5.5 Sequenz 7, Bild 8: Festnahme des Diebs Hier handelt es sich um die Festnahme des Diebs. Als Darstellungsmöglichkeiten bieten sich 4 Alternativen an: 284 Shigeru Yoshijima 1. Ein Polizist, die Hauptfigur, oder ein anderer nimmt ihn fest. The policeman arrests the thief. (LDN 9) 2. Passivischer Ausdruck: der Dieb wird festgenommen. Soredee, doroboo ga taiho-sare, (Der Dieb wird verhaftet',) (München 03) 3. Diese intransitive Form findet sich nur in den japanischen Beiträgen. Es handelt sich um eine mediumartige Bedeutung, die im Deutschen etwa durch „in die Festnahme geraten“ wiedergegeben werden könnte. 2 Doroboo wa tsukamatte shimai mashita. (Von der Polizei wurde er verhaftet.) (Tokyo I KO 6) Doroboo ha keisatuni tukamari mashita. (Der Dieb geriet dann in die Festnahme.) (Tokyo I KO 0) Gott sei dank, der Polizei hat ihn genommen. (Mailand ? ) 4. Sonstiges, z.B. bloßer Hinweis auf die Polizei, der die Festnahme des Diebs impliziert. Tadachi ni kago no naka no mezamashi-tokei wa natte ita. Sore de minasan ga dare ga doroboo daka wo wakatte. keisatsu wo yonda. (Sie riefen die Polizei.) (München 13) Bei der statistischen Überprüfung werden lediglich die ersten drei Alternativen berücksichtigt, die vierte, die zahlenmäßig unbedeutend ist, als eine gemischte Gruppe aufgefasst. Hier sind wieder zwischen der Münchner Gruppe und den Gruppen Tokyo I sowie Tokyo II in den japanischen Fassungen relevante Unterschiede zu In einem Beitrag aus Tokyo I versucht ein Informant diesen japanischen Ausdruck direkt im Deutschen und zwar mit einem Reflexivverb (fälschlich? ) wiederzugeben: Das Mädchen nimmt den Korb zurück, und der Dieb fängt sich. (Tokyo I. Kita 2) Erzählerperspektive 285 erkennen. Sie betreffen beide Male die unterschiedliche Bevorzugung der dritten intransitiv-medialen Form, die im Deutschen nicht vorhanden ist. Diese Form wird im Deutschen immer im Passiv wiedergegeben, ausgenommen das Beispiel aus Italien (wo im Italienischen die Aktivform überwiegt: 10 gegenüber 5). Wenn man daher diese mit dem Passiv zusammennimmt, so ist der Unterschied nur zwischen den Münchnern und den Tokyoter Gruppen zu erkennen. Intralinguale Unterschiede zwischen den Gruppen Tokyo I und II, und interlinguale Unterschiede zwischen den beiden deutschen und japanischen Fassungen von Tokyo I sowie zwischen den japanischen und englischen Fassungen sind nicht erkennbar. Gemäß dieser Berechnung ist das Passiv als entscheidender Faktor zu betrachten. Aktiv Passiv Intransitiv- Medium Sonstiges München 14 (67%) 5 (23%) 0 2(10%) Tokyo I (30) 6 (20%) 11 (37%) 11 (37%) 2 (7%) 22 (73%) Tokyo 11(51) 2 (4%) 19(37%) 24(47%) 7 (13%) 43 (84%) Diese Neigung der Gruppe Tokyo II zum Passiv zeigt sich auch in ihren englischen Fassungen. Und sie unterscheiden sich hier stark von den Londoner und Braunschweiger englischen Fassungen. Tokyo II: 78%, London: 42%, Braunschweig: 20%; hierbei beträgt der Wahrscheinlichkeitswert 95%. Dass die Gruppe Tokyo II in der Sequenz 4 sehr viel seltener das Passiv benutzt, möchte ich aus der Anweisung in der Unterrichtspraxis (Warnung vor Passsiv) erklären. Die hohe Frequenz des Passivs hier könnte aber darauf zurückzuführen sein, dass die Studenten unbewusst oder automatisch das japanische Intransitiv-Medium (in der japanischen Grammatik wird es als intransitiv(aktiv) behandelt) ins englische Passiv übertragen haben. Die reinen Passivformen betragen hier nur noch 37%, und im Vergleich mit den Londonern und Braunschweigern fallen sie fast gar nicht auf (vgl. oben 5.3). 286 Shigeru Yoshijima Außerdem gibt es noch das Problem der Wortwahl: Im Japanischen sind für diesen Kontext zwei Verben üblich: 1. tsukamaeru (tr.) / 2. tsukamaru (intr./ medium) und 3. taihosuru (tr.) / 4. taihosareru (passiv). Das Verb taihosuru kommt nur viermal vor und zwar im Passiv. Die Aktivform wird von der Gruppe Tokyo II nicht benutzt, dagegen zweimal von der Gruppe Tokyo I. Das sinojapanische Verb taihosuru hingegen benutzt die Gruppe Tokyo II elfmal im Passiv und nie im Aktiv, die Gruppe Tokyo I hingegen dreimal im Passiv und zweimal im Aktiv. Die Verwendung von tsukamaru unterstützt hier die These von Ikegami, dass man im Japanischen die Form des Werdens/ Vorgangs vorziehe, während die europäischen Sprachen lieber die Form des Akts/ Handelns benutzen. 3 5.6 Sequenz 7, Bild 8: Der zurückgegebene Korb Hier handelt es sich um den Korb der Frau. Es ist natürlich anzunehmen, dass sie ihn wieder hat. Die Frage ist, wie dies zum Ausdruck gebracht wird. Die erste Möglichkeit nimmt das als Selbstverständlichkeit hin und erwähnt nichts davon. Die zweite lässt die Frau zum Subjekt eines transitiven Verbs werden, wobei wieder eine gewisse Breite zu erkennen ist, wie z.B. „Sie hat den Korb wieder“ und „Sie gewinnt den Korb wieder“. Da der letzte Fall nur einmal unter den japanisch-deutschen Beiträgen vorkommt, wird er nicht berücksichtigt; er hat ja hier statistisch keinen Wert. Frl. Suzuki erhält ihren Korb zurück. (München03) 3 Ikegamis Auffassung birgt auch ein Problem: Wenn man davon ausgeht, dass ich habe viel Geld und watashi ni wa kanega takusan am {bei mir ist viel Geld da) die gleiche Bedeutung haben bzw. einen gleichen Zustand referieren, ist es spracherwerbstheoretisch nur eine Frage der Interlanguage in einer Phase, in der sich die Lernenden noch nicht automatisch Code-Switching leisten können. Dahinter steckt die Gleichsetzung der Form und der Funktion bzw. der Bedeutung, also eine Art Überverallgemeinerung. Da es hier aber um Transfers geht, die nur auf einer gewissen Stufe der Interlanguage zu erwarten sind, gibt uns seine These einen Interpretationsschlüssel. Vgl. 6.2.2.3. Erzählerperspektive 287 Die dritte Möglichkeit besteht in der Verwendung der intransitiven Form mit Verben wie zurückkommen, wobei der Korb das Subjekt des Satzes ausmacht. y d Lfc 0 Bakku wajosei ni modori mshita. Her bag came back to her. (Tokyo II Komaba 7) Die statistischen Überprüfungen deuten wieder auf die Besonderheiten der japanischen Gruppen hin: Beide Tokyoter Gruppen weichen hier von der Münchner in den japanischen Fassungen ab, was von dem unterschiedlichen Gebrauch der intransitiven Form herrührt. Die Münchner bevorzugen die Aktivform mit transitiven Verben im Gegensatz zu den Japanern. Nur die Japaner benutzen intransitive Verben vom Typ wiederkehren: Tokyo I: achtmal, Tokyo II: neunmal. Ein Japaner benutzt diese Form auch in der deutschen Fassung. Das gleiche lässt sich auch in den japanisch-englischen Fassungen viermal feststellen: Zum Schluss hat (ist) ihr Korb wiedergekehrt. (Tokyo I Nishi 5) ... and the bag returned to her. (Tokyo II Komaba 4) Hier zeigt sich wieder die Vorliebe der Japaner für die „werden“-Form. vgl. oben. 6. Transfer Von einem Transfer sprechen wir hier dann, wenn die muttersprachlichen Fassungen und die zielsprachlichen einer Gruppe nicht voneinander abweichen, aber die zielsprachlichen Fassungen von den muttersprachlichen Fassungen der Vergleichsgruppe abweichen. Dies ist immer dann der Fall, wenn z.B. eine Sequenz der japanischen Gruppe in beiden Fassungen, der deutschen und der japanischen, nicht voneinander abweichen, aber deren deutsche Fassungen von der deutschen Fassung der deutschen Muttersprachler abweichen. Allerdings wird dabei vorausgesetzt, dass die Abweichungen statistisch relevant sind. 288 Shigeru Yoshijima 6.1 Zur Definition von drei Transferfällen Exkurs: Genera Verbi und Wortschatz bzw. Wortbildungslehre im Japanischen Im Japanischen verhalten sich die Gegensatzpaare Transitiv und Intransitiv, sowie Aktiv und Passiv semantisch und syntaktisch anders als im Deutschen. Geschichtlicher Hintergrund: Das japanische „Passiv“ hat sich in den letzten 100 Jahren unter dem Einfluss europäischer Sprachen in seinen Verwendungen und Bedeutungen sehr verändert. Die Passivform wurde früher kaum benutzt. Wenn sie auftauchte, haftete ihr eine besondere Nebenbedeutung an, nämlich die Nachteiligkeit des Geschehnisses für das Subjekt des Passivsatzes, d.h., das Geschehnis wird vom Subjekt des Passivsatzes als unangenehm aufgefasst. (Insofern passt die alte dt. Bezeichnung „Leideform“ genau.) Dies wird besonders deutlich, wenn ein intransitiver Satz ins Passiv umgesetzt wird. Z.B. „Kare wa nyooboo ni shinareta“ (Passiv von einem Aktivsatz „(Kare) no nyooboo ga shin-da“\ dt.: „Seine Frau ist gestorben.“). Die Besonderheit des japanischen Passivs besteht dabei darin, dass ein neues Subjekt, das weder als Ergänzung noch als Angabe im Aktivsatz einen Platz hatte, im Passivsatz angegeben werden kann. Im obigen Beispiel ist „kare“ (= dt. „er“) als von diesem Geschehnis (Tod seiner Frau) Betroffener dargestellt. Deswegen war der Gebrauch des Passivs im Japanischen sehr beschränkt. Auch ein Passivsatz, der aus einem Satz mit einem transitiven Verb gebildet wird, kann ein neues Subjekt angeben. Z.B. „(Uchi wa) kakine wo taifuu ni kowasare-ta.“\ dt.: „Wir kriegten den Zaun vom Taifun umgestürzt.“ oder „Der Zaun ist uns (zu großem Bedauern) vom Taifun umgestürzt worden.“ Ein Passivsatz aus einem transitiven Aktivsatz, in dem das Verb eindeutig positive Bedeutung hat, drückt deswegen eine ironische Einstellung bzw. eine Verlegenheit des Satzsubjektes mit aus, wie im Satz „Sensei ni musuko wo homerare-ta“\ dt.: ,Mir wurde mein Sohn (gegen meine Erwartung) vom Lehrer gelobt.“ Heute weiß man aber nicht mehr, ob ein Passivsatz immer solch eine Nebenbedeutung hat, vor allem, wenn das Subjekt im Passivsatz mit einer Ergänzung aus dem Aktivsatz identisch ist. Der Gebrauch des Passivs ist nämlich viel neutraler geworden. Was im Deutschen durch eine Passivform ausgedrückt wird, versucht man im Japanischen auch heute noch durch ein intransitives Verb wiederzugeben. Das ist aus der oben skizzierten Entwicklung der japanischen Sprache zu erklären. Anders gesagt: Aktiv und Passiv bilden im Japanischen keinen symmetrischen Gegensatz, also keine syntaktischen Genera Verbi im eigentlichen Sinne. In japanischen intransitiven Verben müssen wir daher oft eine Entsprechung zur deutschen Passivform sehen. Die Bildung einer japanischen Passivform eines Verbs könnte man eher als eine Art Wortbildung betrachten, denn als ein syntaktisches Phänomen. Dies gilt eigentlich für alle Verbflexionen (Japanisch zählt zu den agglutinierenden Sprachen), und in diesem Sinne sind Transitiv-Aktiv, Passiv, Intransitiv(-Medium) insgesamt eher im Rahmen der Wortbildungslehre zu behandeln. Erzählerperspektive 289 Japanische transitive Verben teilen sich übrigens in zwei Gruppen: Eine Gruppe mit diesem Dreiersystem wie z.B. tsukamaeru (= dt. fangen), wobei das Intransitiv- Medium passiv-unfähig ist, und eine andere, bei der das Intransitiv-Medium fehlt, wie z.B. taihosuru (= dt. verhaften). Im Sprachunterricht zieht man im Allgemeinen ein gewisses systematisches Vorgehen vor. Bekanntlich wird der Wortschatz im Fremdsprachenunterricht wegen seiner Unüberschaubarkeit eher stiefmütterlich behandelt. Wenn ein Lehrer den syntaktischen Gegensatz zwischen Aktiv und Passiv erläutert, konzentriert er sich daher automatisch auf seine Transformationsregeln. Er versäumt somit die Gelegenheit, semantische Äquivalenzen auf der lexikalischen Ebene mit zu betrachten. Bei den heutigen neueren Unterrichtsmethoden wie z.B. dem ‘kommunikativen Ansatz’ tolerieren die Lehrer außerdem sprachliche Fehler bzw. pragmatische Abweichungen der Lernenden viel großzügiger, solange sie kommunikativ nicht störend wirken, d.h., solange sie verständlich sind. Die Lernenden werden somit selten auf eine andere Ausdrucksmöglichkeit, und zwar auf einer anderen Ebene, aufmerksam gemacht. 6.1.1 Sequenz 4: Die japanischen Fassungen der Münchner Gruppe Hier zeigt sich ein großer Unterschied: Die deutschen Studenten bleiben lieber bei ihrer Aktivform und vermeiden die intransitive Form, die die Japaner gern verwenden. Unter den Münchnern sind 7 Studenten, die weniger als 3 Jahre Japanisch gelernt haben. Sie benutzen hier die Aktivform. Sie sind wohl noch nicht so sehr mit der japanischen Passivform vertraut; aber die Wahl eines intransitiven Verbs gehört eher zum Bereich des Wortschatzes, wo sich eine systematische Behandlung solcher pragmatischen Probleme im normalen Sprachunterricht kaum erwarten lässt. Vgl. 5.3. 6.1.2 Sequenz 7: Die japanischen Fassungen der Münchner Gruppe Hier gilt genau dasselbe wie zur Sequenz 4. Die Münchner kennen wohl die japanische intransitiv-mediale Form tsukamaru. Dass die Münchner in den japanischen Fassungen häufiger das Aktiv benutzen als in ihren deutschen Fassungen, könnte darauf zurückzuführen sein, dass sie weniger als 3 Jahre Japanisch gelernt haben. 5 (71%) der 7 Münchner „Anfänger“ ziehen nämlich die Aktivform vor; hingegen sind es bei den Mittelbis Oberstuflern nur 7 von 14 (50%). 290 Shigeru Yoshijima Die Abweichungen der Gruppe Tokyo II von den Londonern in den englischen Fassungen lassen sich nur durch einen indirekten Transfer erklären. Die Tokyoter Studenten setzen das japanische intransitiv-mediale Verb tsukamaru mit dem englischen Passiv gleich, andere Möglichkeiten sind beinahe ausgeschlossen. Wenn dieses japanische Verb schon beim Verfassen des englischen Textes im Hinterkopf der Studenten schwebte, (sino-japanisches Verb taiho-suru klingt formell bis schriftsprachlich, und das Passiv tukamaerareta von tsukamaeru umständlich), war tsukamaru nur noch durchs englische Passiv wiederzugeben. Hier handelt sich eher um die Übertragung eines japanischen Intransitivs und nicht um die Übertragung eines japanischen Passivs wie in der Sequenz 4 mit der Verbform „gestohlen werden“. Somit scheint die übliche Faustregel „vermeide das Passiv“ nicht mehr in den Sinn gekommen zu sein. Diese Tendenz kann man auch bei der Gruppe Tokyo I beobachten. Sie benutzt in den deutschen Fassungen häufiger Passiv als in den japanischen. Hier gibt es keinen Unterschied zwischen Tokyo I und II. (Beide Gruppen 37%). Dass die Statistik keinen sinnvollen Unterschied zwischen den Münchnern und Tokyo I bestätigt, liegt wohl an der Größe der Gruppen. Wenn man die beiden deutschen Gruppen zusammen nimmt, ergibt die % 2 - Prüfung die Zahl 6,61 bei einem Freiheitsgrad 2, d.h. Wahrscheinlichkeitswert 95%, was auf einen grundsätzlichen Unterschied hinweist. Deutsche (31) dt. F. Aktiv 16: 52% Passiv 13: 42% Sonstiges 6% Intransitiv- Medium Tokyo I (30) dt. F. jap-F. 6: 20% 6: 20% 21: 70% 11: 37% 10% 7% 11: 37% Wie diese Tabelle zeigt, wird deutlich, dass es hier um die japanische intransitiv-mediale Form geht. Hier ist auch ein indirekter Transfer auf Deutsch wie bei Tokyo II der Transfer auf Englisch anzunehmen. Erzählerperspektive 291 6.1.3 Sequenz 8: Die japanischen Fassungen der Münchner Hier geht es um die Wahl des Verbs. Die Münchner ziehen die Aktivform mit dem Verbtyp „zurückhabenZ-bekommen“ vor, und übertragen diese Form ins Japanische. Niemand von ihnen benutzt die Form mit einem unbelebten Substantiv (Korb) als Subjekt. Hier scheinen die Lernerfahrungen keine Rolle zu spielen. 6.2 Richtung des Transfers 6.2.1 Muttersprachlicher Transfer zur Zielsprache Unter Transfer versteht man normalerweise einen unilateralen, der von der Muttersprache auf die Zielsprache gerichtet ist. Der Vergleich in den zielsprachlichen und muttersprachlichen Fassungen bestätigt grundsätzlich diese Regel. Aber die Gruppe Tokyo II zeigt eine deutliche Abweichung zwischen den beiden Fassungen zur Sequenz 7. Die % 2 -Prüfung ergibt hierbei für die Sequenz 7 einen sehr hohen Signifikanzgrad: 34,47 bei einem Freiheitsgrad von 3. Dieser Wert täuscht aber. Wenn man das Passiv und das Intransitiv- Medium zusammen nimmt, ergibt die Prüfung einen sehr kleinen Wert von 1,92, der statistisch die Signifikanz widerlegt. Hier geht es um eine ungleiche Wortfeldbesetzung. Aktiv Passiv Intransitiv- Medium Sonstiges Englisch (51) 6: 12% 40: 78% 0: 0% 5: 10% Japanisch (51) London (7) 2: 4% 4: 57% 19: 37% 3: 43% 25: 49% 5: 10% 6.2.2 Zielsprachlicher Transfer zur Muttersprache Einen Zweifelsfall bildet die Gruppe Tokyo II bei der Sequenz 4: Hier ergibt die Prüfung nur noch den Wert 4,41 bei einem Freiheitsgrad von 3. Aber die Tabelle unten zeigt uns eine starke Tendenz zum Passivgebrauch in der japanischen Fassung sowie zum Aktiv in den englischen Fassungen. Zwar 292 Shigeru Yoshijum kennen die Studenten sicherlich die englischen Passivformen, denn ohne deren Kenntnis hätten sie nicht in die Universität eintreten dürfen. Dies alles zeigt jedoch, dass die allgemeine Neigung der Japaner zum Passiv nicht auf die Zielsprache transferiert wurde. Tokyo II, Sequenz 4 Aktiv Intransitiv Passiv Sonstiges Englisch (51) 33: 64% 13: 25% 4: 8% 1: 2% Japanisch (51) 25: 49% 14: 27% 11: 22% 1: 2% Wenn man die Gruppe Tokyo I zum Vergleich nimmt, die nur den Signifikanzgrad 3,14 bei einem Freiheitsgrad von 3 zeigt, ist eine gewisse Neigung der Gruppe Tokyo II zum Aktiv auch in den japanischen Fassungen mit einem statistischen Wahrscheinlichkeitswert von etwa 80% anzunehmen. Der Vergleich zwischen den beiden Tokyoter Gruppen ergibt einen hohen Signifikanzgrad von 9,34 bei einem Freiheitsgrad von 3, d.h. einem Wahrscheinlichkeitswert von 97,5%. Diesen Unterschied kann man nicht aus dem japanischen Einfluss auf die englische Fassung erklären, da sowohl Tokyo I als auch II in den japanischen Fassungen eine gewisse Abneigung gegenüber dem Aktiv zeigen. Man müsste eher umgekehrt für Tokyo II den Einfluss der Zielsprache auf die Muttersprache annehmen. Hingegen ergibt die Prüfung zwischen den Tokyotem und den deutschen Gruppen nur den Wert 2,60 bei einem Freiheitsgrad von 3, der keinen Hinweis auf die Signifikanz gibt. Eine mögliche Interpretation hierfür lautet, dass entweder die deutsche und die japanische Pragmatik in diesem Punkt einander ähnlich sind, oder dass sich Tokyo I der deutschen Praxis angeglichen hat, da die Münchner Daten in den japanischen Fassungen eine ziemlich starke Abweichung von den japanischen zeigen. Tokyo I, Sequenz 4 Aktiv Intransitiv Passiv Sonstiges Deutsch (30) 15: 50% 13: 43% 1: 3% 1: 3% Japanisch (30) 10: 33% 18: 60% 2: 7% 0: 0% Erzählerperspektive 293 Die übliche Annahme vom unilateralen Transfer von der Muttersprache zur Zielsprache wird hier grundsätzlich bestätigt, aber die Daten schließen auch einen umgekehrten Fall nicht aus. 7. Repräsentative Erzählweisen Unten werden sprachtypische Erzählweisen aus dem Korpus vorgestellt. Hierbei werden diejenigen Beiträge genommen, die prozentsatzmäßig repräsentative Ausdrucksformen der Gruppe je zur Sequenz 4, 6, 7 und 8 zeigen. Vgl. Anhang 2. 7.1 Deutsch-deutsche Erzählungen Als repräsentative deutsch-deutsche Erzählweise gilt die Kombination: Sequenz 4: Transitiv-Aktiv; Sequenz 6: Klingeln des Weckers, oft mit der Erwähnung vom Entdecken des Diebs; Sequenz 7: Passiv; Sequenz 8: Null- Erwähnung des Korbs oder Hinweise auf den „zurückbekommenen“ Korb. Hier sei ein Beispiel angeführt: Eine Frau geht Einkäufen: Sie erwirbt einen Füller, einen großen Wecker und ein Paar Schuhe. Vom Einkäufen erschöpft, setzt sich die Frau auf eine Pushbank, um etwas zu verschnaufen, als eine Freundin zufällig vorbeikommt. Stolz zeigt die Frau ihrer Freundin die neugekauften Schuhe. Derweil hat sich von hinten ein Mann herangeschlichen. Gleich ergreift er den auf der Bank abgestellten Einkaufskorb der Frau und rennt damit davon. Die Frauen sind bestürzt. Als der Dieb schon außer Reichweite ist, ertönt plötzlich der Wecker im gestohlenen Korb der Frau. Damit kann der Dieb lokalisiert und festgenommen werden. Welch Glück für die Frau! Nun hat sie wieder alle Weihnachtsgeschenke beisammen. Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins Neue Jahr! ! (München 17) 294 Shigeru Yoshijima 7.2 Japanisch-deutsche Erzählungen Repräsentativ ist die Kombination von Sequenzen: Sequenz 4: Transitiv- Aktiv oder Intransitiv-Aktiv (eventuell beides); Sequenz 6: Klingeln des Weckers; Sequenz 7: Passiv; Sequenz 8: Null-Erwähnung oder Intransitiv- Aktiv. Eine Frau hat sich einen Füller und eine Uhr gekauft. Dann ist sie ins andere Geschäfte (= Geschäft) gegangen, um sich die Schuhe anzuschauen. Während sie sich mit ihrer Freundin unterhaltet (= unterhalten) hat, ist ein Mann an ihnen vorbeigegangen. Er hat ihr ihr Gepäck gestohlen. Plötzlich hat sie bemerkt, dass ihr Gepäck verloren war. Glücklich hatte sie sich einen Wecker gekauft. Plötzlich hat er geklingelt. Endlich (gemeint: ‘Schließlich'? ) bekommt sie ihr Gepäck und der Mann wurde festgenommen. (Tokyo I DaF 6) 7.3 Englisch-deutsche Erzählungen Repräsentativ ist die Kombination der Sequenzen: Sequenz 4: Transitiv- Aktiv mit stehlen oft mit Intransitiv-Aktiv des Verschwindens-, Sequenz 6: Klingeln des Weckers allein oder mit dem Hinweis auf das Entdecken des Diebs; Sequenz 7: Transitiv-Aktiv; Sequenz 8: Transitiv-Aktiv des Zurückbekommens Maria wollte im Stadtzentrum Einkäufe machen. Es wurde bald Weihnachten und sie wollte Geschenke kaufen. Zuerst kaufte sie eine (= einen) Stift für ihren Bruder; zunächst einen Wecker für ihren Vater. Sie packte alles in ihren Korb hinein. Nachher suchte sie Schuhe für ihre Schwester. Sie wählte ein Paar aus. Man packte die Schuhe für sie. Inzwischen setzte sie sich auf einen Sessel und wartete bis das Paket fertig war. Nachlässig setzte sie den Korb auf den Sessel. Es kam ein Mann, der den Korb stahl. Plötzlich spürte Maria, dass etwas nicht in Ordnung sei. Sie blickte herum und schrie laut. Ihr Korb sei verschwunden. Der Dieb wollte schwiegsam (= schweigsam) aus dem Laden gehen. Leider, für ihn jedenfalls, klang plötzlich der Wecker. Maria freute sich. „Da ist mein Korb mit meinen Einkäufen.“ Es dauerte kaum zehn Minuten, bis sie den Korb wieder bei sich hatte, und der Dieb verhaftet wurde. (LDN 7) Erzählerperspektive 295 7.4 Italienisch-deutsche Erzählungen Repräsentativ ist hier die Kombination: Sequenz 4: Transitiv-Aktiv; Sequenz 6: Klingeln des Weckers, seltene Hinweise auf das Entdecken des Diebs; Sequenz 7: überwiegend Transitiv-Aktiv, aber auch beinahe genau so oft Passiv: Sequenz 8: meistens Null-Erwähnung. Die Frau geht einkaufen. Sie kauft erst einen Kugelschreiber, dann kauft sie auch einen Wecker. Sie steckt die Sachen in einen Korb. Sie geht dann in ein Schuhgeschäft. Sie will ein Paar Schuhe kaufen, aber sie muss erst (= zuerst) sie (= es) anprobieren. So setzt sie sich auf den (= das) Sofa, während die Verkäuferin die Schachtel ihr gibt. Sie ist nicht aufmerksam, und sieht einen Mann nicht, der ihre Sachen stehlen will. Der Mann nimmt ihren Korb und läuft weg. Als sie sieht, dass ihr Korb ihr fehlt, versucht sie den Dieb unter den Leuten zu finden. Der Wecker lautet (= läutet), und der Dieb gefunden wird (= wird gefunden). Die Polizei nimmt ihn fest und die Frau bekommt ihre Sachen wieder. (Mailand 15) 7.5 Japanisch-japanische Erzählungen Repräsentativ ist hier die Kombination: Sequenz 4: Transitiv-Aktiv sowie Transitiv-Passiv; Sequenz 6: Klingeln des Weckers allein (43-mal), manchmal mit dem Hinweis auf das Entdecken des Diebs (29-mal); Sequenz 7: Passiv oder Intransitiv-Medium „in Festnahme geraten“-, Sequenz 8: überwiegend Null. Zu den Beispielen gibt es eine wortgetreue Übersetzung ins Deutsche vom Autor dieses Aufsatzes. Onna no ko ga kaimono ni iki-mashita. Mazu hajime ni bunnboogu-ten de pen wo kai-mashita. Tsugi ni tokei-ya de meyamashi-tokei wo kaimashita. Sorekara kutsu-ya ni itte kutsu wo erabi-mashita. Eranda kutsu wo tameshi ni haite miru toki, kanojo wa katta shinamono wo ireta kago wo benchi no ue ni oki-mashita. Futo ki ga tsuku to kago ga nakunatte imashita. Onna no ko wa sokoni ita hitobito ni kanojo no kago wo minakatta ka to tazune-mashita. Sono toki kago no naka no mezamashi-tokei ga nah, kago wo nusunde otoko ga mitsukari-mashita. Onna no ko wa 296 Shigeru Yoshijinia kago wo tori modoshi, kago wo nusunda otoko wa keisatuni tukamarimashita. Ein Mädchen ging einkaufen. Zuerst kaufte sie im Schreibwarengeschäft eine Feder. Darauf kaufte sie im Uhrenladen einen Wecker. Dann ging sie zum Schuhladen und wählte sich Schuhe aus. Als sie die ausgewählten Schuhe anprobierte, stellte sie den Korb mit den Einkäufen auf eine Bank. Als sie zu sich kam, war der Korb nicht mehr da. Das Mädchen fragte die Leute um sie herum, ob sie nicht ihren Korb gesehen hatten. Dann klingelte der Wecker im Korb und der Mann, der den Korb gestohlen hatte, wurde gefunden. Das Mädchen bekam ihren Korb zurück und der Mann, der den Korb gestohlen hatte, wurde von der Polizeifestgenommen. (Tokyo I. Hon 3) Übersetzt von Sh.Y. 7.6 Deutsch-japanische Erzählungen Repräsentativ ist die Kombination: Sequenz 4: Transitiv-Aktiv; Sequenz 6: meistens nur Klingeln des Weckers; Sequenz 7: überwiegend Transitiv-Passiv; Sequenz 8: Null-Erwähnung sowie Transitiv-Aktiv Hanako-san wa kaimono wo suru tarne mi depaato ni yuki-mashita. Kono depaato ni iroirona mono ga ari-mashita. Hanako-san wa mazu pen wo kalte kara ookina tokei wo erande kai-mashita. Sonogo, kutsu wo kaitakatta desu. Kutsu wo erande iru toki ni, Hanako-san wa kaimono no kaban ni chuui wo harawa-nakatta node, aru doroboo wa kaban wo nusunde nige-mashita. Depaato no nakani takusan kokyaku ga i-mashita kara, doroboo ga mie-masen deshita. Niwakani katta tokei kara ookina otoga kimashita. Kono tokei wa doroboo no kakushibasho wo morashi-mashita. Sonogo keisatukan wa kono nusubito wo taiho deki-mashita. Hanako-san wa ureshikatta desu. Frau Hanako ging zu einem Kaufhaus, um Einkäufe zu machen. In diesem Kaufhaus gab es verschiedene Sachen. Sie kaufte sich zuerst eine Feder und dann wählte sie einen großen Wecker aus und kaufte ihn. Dann wollte sie Schuhe kaufen. Bei der Auswahl der Schuhe gab sie keine Acht auf ihre Einkaufstasche, deshalb stahl ein Dieb ihre Tasche und lief davon. Da im Kaufliaus viele Kunden waren, war der Dieb nicht zu sehen. Da kam plötzlich ein großes Geräusch aus dem gekauften Wecker. Der Wecker verriet das Versteck des Diebs. Danach konnte der Polizist den Dieb festnehmen. Hanako freute sich. (Leipzig 02) Übersetzt von Sh.Y. Erzählerperspektive 297 7.7 Deutsch-englische Erzählungen Repräsentativ ist hier das Vorherrschen der Aktivformen. Sequenz 4: Transitiv-aktiv; Sequenz 6: meistens (70%) nur Klingeln des Weckers; Sequenz 7: Transitiv-Aktiv; Sequenz 8: Null-Erwähnung sowie Transitiv-Aktiv: A young woman goes shopping. At the stationer's she buys a pen. Then she goes to another shop and buys an alarm-clock. After that she decides to look at some shoes. She puts her shopping-basket with the alarm-clock on a bench and while she is trying on several shoes a man comes along and steals the shopping-basket. But when he tries to escape with his prey, the alarm-clock in the shopping basket begins to ring and the owner notices that the man has taken her newly bought clock. A policeman comes and arrests the thief. (BS04) 7.8 Englisch-englische Erzählungen Repräsentativ ist hier die Kombination: Sequenz 4: Transitiv-Aktiv; Sequenz 6: Klingeln des Weckers manchmal mit dem Hinweis auf den Dieb; Sequenz 7: Transitiv-Aktiv fast so wie Transitiv- Passiv; Sequenz 8: Transitiv-Aktiv Hinweis auf das Zurückhaben des Korbs. Maria went shopping in the town centre. She bought her brother a pen. Then she bought an alarm clock for her father. Afterwards she went to the shoe shop. She choose (= chose) a pair of shoes for her sister. The assitant went to wrap them up. Maria sat down on a seat to wait for her shoes. She put the basket down on the seat next to her and paid no further attention to it. A man crept furtively past and eyed up the basket. He reached over and surreptitiously removed it. Maria, sensing that something was amiss, looked round. „Someone's stolen may basket! “ She screamed. The thief wanted to creep out silently but suddenly the alarm clock rang. „My basket! “ yelled Maria. Less than ten minutes later Maria had her basket of presents back and the man was arrested. (LDN7) 298 Shigeru Yoshijima 7.9 Japanisch-englische Erzählungen Repräsentativ ist hier die Kombination: Sequenz 4: Transitiv-Aktiv; Sequenz 6: Klingeln des Weckers, manchmal mit dem Hinweis auf den Dieb. Sequenz 7: Starkes Vorhandensein der passivischen Formen im Vergleich zu den englischen Beiträgen anderer Gruppen; Sequenz 8: meistens Null-Erwähnung sowie Transitiv-Aktiv. First, a girl bought a pen at a stationery store. Secondly, she bought an alarm clock at a clock store. Then, she was browsing shoes and finally decided on a pair of shoes to buy. But at the time she was not being in charge of her possession, so a man passing by stole her basket. On realizing it was stolen, she cried, „Someone has stolen my basket.“ She was at a loss what to do, but at the moment the clock which she had bought rang. Then, the man who stole her basket was arrested, so a policeman took him to the police Department. (Tokyo II Komaba 10) 7.10 Italienisch-italienische Erzählungen Repräsentativ ist hier die Dominanz der Aktivform: Sequenz 4: Transitiv-aktiv; Sequenz 6: Intransitiv-Aktiv (Wecker klingelt); Sequenz 7: Transitiv-Aktiv; Sequenz 8: Null-Erwähnung. Una bimba va in vari negozi compra in cartoleria una penna, dell'orologiaio una sveglia, e in un negozio di calzature un paio di scarpe. Mentre nel negozio parla con la commessa, un ladro si avvicina e ruba la cesta la bimba aveva riunito le sue cose. II ladro fugge ma viene raggiunto dalle grida della bimba e soprattutto tradito dalla sveglia che si mette a suonare. E quindi facile catturarlol (Mailand 13) 8. Vergleich mit der koreanisch-japanischen Untersuchung und Zusammenfassung Meine Arbeit hier verdankt ihren Anlass einer Master-Abschlussarbeit von einer Koreanerin. Sie hat 20 Japanisch lernende Koreanerinnen und Koreaner beauftragt, eine Erzählung zu derselben Bildergeschichte einmal im Ja- Erzählerperspektive 299 panischen und einmal im Koreanischen aus der Perspektive der dritten Person zu schreiben, und zwar in einem Japanischunterricht in Korea. Ein entsprechendes Experiment hat sie in Japan mit 20 Japanern durchgeführt, allerdings nur im Japanischen. Bei der Analyse hat sie jeden Satz in der Erzählung auf den Fokus und auf die Wahl der Genera Verbi hin untersucht, und deren Verteilung in der Erzählung statistisch erhoben. Bei ihr ging es darum, wie oft der Fokus (Satzthema) auf eine bestimmte Figur oder Sache gesetzt wird, und welche Form der Genera Verbi der betreffende Satz aufweist. In meiner Arbeit habe ich auf den ersten Punkt verzichtet. Wegen der zu unterschiedlichen Länge der Erzählungen einmal innerhalb der Informantengruppen als auch der Gruppen untereinander (s. 4.3) war nämlich nur ein Erhebungsergebnis der Daten zu erwarten, das bei der ^-Prüfung ein schiefes Bild ergeben würde. Hier unten wird ihr Ergebnis zu den beiden Untersuchungspunkten zitiert: Genera Verbi Thema / Fokus Zahl der Sätze unten: Prozentsatz Total Aktiv Passiv Intransitiv Hauptfigur Dieb Sonstige^ Unbelebtes Koreanischkoreanisch 191 152 80% 16 8% 23 12% 116 61% 44 23% 11 6% 20 10% Koreanischjapanisch Japanischjapanisch^ 186 220 142 76% 146 66% 21 11% 37 17% 23 12% 37 17% 107 58% 146 66% 47 25% 35 16% 13 7% 4 2% 19 10% 35 16% Hierbei lässt sich durch die )( 2 -Prüfung ein relevanter Unterschied zwischen den japanischen Fassungen der Koreaner und den japanischen Fassungen der Japaner erkennen, nämlich: Signifikanzgrad 4,29 bei einem Freiheitsgrad von 2 mit 90% Wahrscheinlichkeit, während der Unterschied zwischen den koreanischen und den japanischen Fassungen der Koreaner: Signifikanzgrad 300 Shigeru Yoshijirm 4,36 bei einem Freiheitsgrad von 2 mit 90% Wahrscheinlichkeit keinen signifikanten Unterschied aufweist. Bei der Themabzw. Fokuswahl tritt der o.a. Unterschied noch klarer hervor: Für die japanischen Fassungen der Koreaner versus die japanischen Fassungen der Japaner beträgt der Signifikanzgrad sogar 14,53 bei einem Freiheitsgrad von 3; hingegen ergibt sich für die koreanischen und die japanischen Fassungen der Koreaner ein Signifikanzgrad von 0,59 bei einem Freiheitsgrad von 3. Hier können wir eine ähnliche Neigung der Japaner zu intransitiven Ausdrücken erkennen, wie im Vergleich zu den Europäern feststellbar war. Gleichzeitig lässt sich eine Transfertendenz vom Koreanischen auf das Japanische feststellen. Koreaner zeigen eine ähnliche Tendenz wie Europäer, und dies ergibt einen Gegensatz zwischen Europäern/ Koreanern im Vergleich zu Japanern. Es ist sehr interessant, wenn wir daran denken, dass Koreanisch und Japanisch sprachtypologisch sowie genetisch sehr nahe verwandt sind. Das spricht wohl für eine relative Unabhängigkeit der Sprachpraxis vom Sprachsystem. 9. Literatur Quelle der Bilder: D. H. Howe ( l5 1977): Two Stories. Start with Englisch Readers Grade 2. Oxford. Ikegami, Yoshihiko (1997): Suruto Naru no Gengo-gaku (Tun oder Werden). Tokyo. Kim, Kyonju (1998): Daini Gengo Shutoku ni okeru Dannwa to „Shiten“ (Fokus im Diskurs bei Japanisch lernenden Koreanern), unveröff. Master-Arbeit der Universität Tokyo. Yoshijima, Shigeru (1972): Das Passiv im Deutschen und im Japanischen. Bulettin der Fremdsprachenabteilung. Bd. 20, H. 1. Fakultät für Allgemeine Bildung der Universität Tokyo. Engel, Ulrich (1988): Deutsche Grammatik. Heidelberg. Brinker, Klaus/ Antos, Gerd/ Heinemann, Wolfgang/ Sager, F. Sven (2000): Text- und Gesprächslinguistik. Berlin. Zifonun, Gisela/ Hoffman, Ludger/ Strecker, Bruno (1997): Grammatik der deutschen Sprache. Berlin. Erzählerperspektive 301 Anhang 1: Bildergeschichte mit 8 Bildern 302 Shigeru Yoshijima Anhang 2: Distribution der Darstellungsformen (Die oberen Zahlen einer Zeile zeigen die Zahl der Belege, die unteren den Prozentsatz in der Gruppe.) Erzählerperspektive 303 Anhang 3: Tabelle mit den ^-Prüfungen zu 4 Sequenzen Deutsche Fassungen Münchner Gruppe vs. Tokyo I Sequenz 4 4,99/ 3 (-) Sequenz 6 1,10/ 2 (-) Sequenz 7 2,08/ 2 (-) Sequenz 8 2,05/ 3 (-) Münchner Gruppe vs. Mailänder 4,93/ 3 (-) 1,57/ 2 (-) 0,87/ 2 (-) 1,64/ 2 (-) Alle Deutschen vs. alle nicht Dt.sprachigen außer Japaner (Tokyo I) 3.49/ 3 (-) 0,32/ 2 (-) 0,49/ 2 (-) 0,78/ 2 (-) Alle Deutschen vs. Tokyo I 4,05/ 3 (-) 0,09/ 2 (-) 6,61/ 2 (+) 3,46/ 3 (-) Japanische Fassungen Münchner Gruppe vs, Tokyo I Sequenz 4 9,96/ 3 (+) Sequenz 6 4,25/ 2 (-) Sequenz 7 15,13/ 2 (+) Sequenz 8 7,21/ 3 (-) Münchner Gruppe vs. Tokyo II 4,70/ 3 (-) 0,43/ 2 (-) 31,57/ 3 (+) 8,58/ 3 (+) Münchner vs. Tokyo I u. II 7,29/ 3 (-)/ * 0,86/ 2 (-) 28,84/ 3 (+) 8,74/ 3 (+) 304 Shigeru Yoshijima Japanische vs. deutsche Fassungen Jap. vs. dt. Fassung der Münchner Gruppe Sequenz 4 1,16/ 3 H Sequenz 6 0,40/ 2 (-) Sequenz 7 4,47/ 2 (-) Sequenz 8 1,04/ 2 (-) Jap. vs. dt. Fassung von Tokyo I 3,13/ 3 (-) 4,29/ 2 (-) 14,32/ 3 (+) 1,26/ 2 **(-) 5,32/ 3 (-) Münchner jap. Fassung vs. dt. Fassung, Tokyo I 3,27/ 3 (-) 0,49/ 2 (-) 10,58/ 2 (+) 2,48/ 3 (-) Dt. Fassung aller Dt. vs. jap. Fassung, Tokyo I u. II 4.05/ 3 (-) 0,09/ 2 (-) 32,27/ 2 (+) 23,32/ 2 ** (+) 3,40/ 3 (-) Münchner dt. Fassung vs. jap. Fassung, Tokyo I u. II 6,60/ 3 (-)/ * 2,04/ 2 (-) 18,70/ 3 (+) 10,35/ 2 ** (+) 8,30/ 3 (+) Alle dt. Fassungen vs. jap. Fassung, Tokyo I u. II 10,27/ 3 (+) 5,44/ 2 (-) 45,54/ 3 (+) 28,76/ 2 ** (+) 19,17/ 3 (+) / : Die Zahlen nach dem Schrägstrich zeigen den Freiheitsgrad (+): signifikant bei 95% Wahrscheinlichkeit * : signifikant bei 90% Wahrscheinlichkeit (-): kein Indiz ** : Signifikanzgrad beim Zusammenfassen der japanischen Kategorien ‘Passiv’ und ‘Intransitiv-Medium’ als ‘Passiv’ Gertrud Greciano Europaphraseologie Zur Findung und Verbreitung der Begriffe über Bilder 1. Thema und Korpus Der Beitrag ist der Europaproblematik gewidmet, einem beliebten Arbeitsfeld des Jubilars, zu dem er auf mehreren internationalen Tagungen direkt Stellung genommen hat und das im Hintergrund mehrerer Jahrestagungen des IDS steht. Folgende Überlegungen antworten zumindest teilweise auf die von Gerhard Stickel auf dem IVG-Kongress im September 2000 in Wien aufgeworfene Frage nach der Kulturspezifik der Europaideen. Der Titel impliziert eine These, die sich als Hypothese bereits mehrerenorts, d.h. in natur- und geisteswissenschaftlichen Bereichen behauptet und bewahrheitet hat. Es geht um die Schlagwörter: Begriffe über Bilder, vom Bild zum Begriff, Bildbegriffe, Untersuchungsgegenstand in mindestens zwei linguistischen Gebieten, nämlich der Metaphorologie, wenn Metaphern zusätzlich zur Ästhetik auch aus der Perspektive der modernen Rhetorik, Pragmatik und Kognition gesehen und gelesen werden, Wege, die auch sonst eingeschlagen worden sind. Bei Sandig (1986) ist es der „stilistische Sinn“, der sich sozial, ethisch, wissenschaftlich und praktisch gestaltet; bei Rothkegel (2000, S. 235) die „interaktionistische logische, Situationelle und alchemische Bildvalenz“; bei Greciano (1995, 1997) sind es die wissenschaftlichen Metaphern, im Bereich vorwiegend der Medizin, wo Anatomie, Technologie und Elektrophysik zur produktiven und effektiven terminologischen Nomination neuer Phänomene führen; der Phraseologie, wenn man besonders in der Gemeinsprache untersucht, welche Mehrwörter sich festgeprägt haben und unter welchen Bedingungen bzw. Modalitäten sie das tun. Es ist einmal die Verlockung durch den Bildwert und die Freude der Gebraucher gerade an seinen euphemistischen und hyperbolischen Möglichkeiten; es sind aber auch die zwingen- 306 Gertrud Greciano den Gründe der begrifflichen Benennungslücken für phraseologische Termini bzw. terminologische Phraseme. „Europaphraseologie“ ist nicht zu verstehen als europäische Phraseologie, d.h., die Phraseologie der Sprachen Europas, wie bei Eismann (1998): „Europäische Phraseologie im Vergleich“ oder Burger/ Häcki-Buhofer/ Gautier (2001): „Aspekte europäischer Phraseologie“, sondern als Phraseologie für Europa, eng verbunden mit der Europa-Terminologie und dem Europa-Diskurs. Es geht um die sich schon seit fünfzig Jahren verbreitenden und sich uns heute völlig aufdrängenden Wörter und Wendungen, die sich über Metaphorologie zum Teil, über Phraseologie als Ganzes erklären lassen, weil Metaphern dem Bild, Phraseme aber zusätzlich dem Begriff dienen. Faszinierend an der Phraseologie sind die Mobilität, ihre Entwicklungen, Neuprägungen und Anpassung an die Desiderata und Realien der Zeit. Es beeindruckt nachzuvollziehen, wie sich über phraseologische Festgeprägtheit Vielfalt in Entfaltung konvertieren lässt und festzustellen, dass Festgeprägtheit alles andere ist als der von Soziolinguisten (Bernstein) vorschnell und zu früh abgetane „restringierte Kode“. Es herrscht somit die Gebrauchsdynamik vor und nicht wie oft, besonders früher, missverstanden, die Statik fossilisierter Formen. In den folgenden Überlegungen wird einer der Hauptakzente auf Begriffsfindung und Begriffsverbreitung liegen, weil Mehrgliedrigkeit in ihren Spielarten und Variationen, sowie Festgeprägtheit oft der Struktur und Schablonen entschieden zur fortschreitenden Präzisierung, Determinierung, Quantifizierung und Qualifizierung führt und deren Verbreitung durch Lexikalisierung über die Wiederaufnahme und Vertextung in den unterschiedlichen Textsorten erfolgt: den Vorschriften, Richtlinien, Urteilen, Protokollen, Verträgen, Abkommen, Mitteilungen, Bekanntmachungen auf den Informationsstraßen aller Verteilermedien. Es ist der Wiedergebrauch gerade dieser Mehrwortbegriffe, der ihre Lexikalisierung begründet und über die Isotopie durch alle Textsorten hindurch zu einer Textsortenvernetzung führt. In den Nominationsstereotypen ist leicht zu erkennen, wie Schlüsselbegriffe über fortschreitende Präzisierung entstehen, ganz im Sinne von Kleists Verfertigung der Gedanken beim Reden; so werden oft aus Einwörtern des Alltags, wie Bürger/ Erbe durch sukzessive und kumulierende Erweiterungen nach Schablonen Mehrworttermini der Europaideologie: Europaphraseologie 307 - Bürger die Sicherheit der ein Risiko für die Sicherheit der Bürger ein Risiko für die Sicherheit der Bürger bergen; - ((ein Risiko für (die Sicherheit (der Bürger))) bergen) — (Übereinkommen zum (Schutz (des gemeinsamen (architektonischen und archäologischen (Erbes))))) - (Initiative zur (Förderung (des gemeinsamen (architektonischen und archäologischen (Erbes))))) — (Annahme der ((Europäischen Konvention zum (Schutz (der Menschenrechte und der Grundfreiheiten))) vom 4. November 1950)) Europaphraseologie befindet sich am Berührungspunkt, an der Begegnungs- und Verknüpfungsstelle zwischen Gemein- und Fachsprache, zwischen Alltag und Sachbereich. Es liegt mir immer mehr am Herzen, die Vorurteile von Phraseologie als Anomalie und von Fachsprache als Kalkülsprache abzubauen. Korpusarbeit beweist die Grammatikalität von Phraseologie und zeigt, dass Terminologie über phraseologische Einbettung von Lexik und Morphosyntax der Gemeinsprache entsteht. Der linguistische Zugang zu den Domänen führte zu Beginn über den Fremdwortschatz, erübrigte sich bei den Pionieren meistens in formalen Beschreibungen und Klassifikationen der Komposita und Derivata nach lat./ griech. Suffixen bzw. Wortstämmen. Seit 20 Jahren interessiert sich die Sprachwissenschaft für die pragmasemantische Gestaltung der Bereiche über den Text als Fachtext. Wir verdanken diesen neuen Weg der Textlinguistik, die sich vorzugsweise den Gebrauchs- und Sachtexten gewidmet hat, die überhaupt erst mit Brinker (1985) wissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand geworden sind. Phrasemvorkommen zeigen sich in ihrer Form und in ihrem Inhalt ganz besonders kontext- und situationsgebunden, abhängig von permanenten Veränderungen, sodass Textsortenlinguistik als Textmustervielfalt auch oder besonders für Europaphraseologie eine entscheidende Rolle spielt. Zum zeitlich und chronologisch bedingten Wandel gesellt sich die räumliche multinationale und -kulturelle Varietät in ihrer Gleichzeitigkeit. Das gemeinsame Europa, der Mythos, die Idee, verwirklicht sich über Sprache anhand eines interlingualen Kommunikationsnetzes, das um 200 Billionen € eine Infor- 308 Gertrud Greciano mationsgesellschaft von 800 Millionen Menschen verbindet. Das Selbstporträt der Europäischen Institutionen, besonders der Europarats, als Ideenlaboratorium ist ein sehr treffendes. Der EU-Aktionsplan für das dritte Jahrtausend betrifft ganz entschieden Gesetzes- und Öffentlichkeitsarbeit anhand von Sprachmanagement zur Verbesserung der gemeinsamen internationalen Kooperation. Europatextsorten - Abkommen waren relativ früh schon Forschungsobjekt bei Rothkegel/ Sandig (1984). Die Beiträge sind der damals aktuellen maschinellen Textanalyse, der maschinellen Übersetzung, der semantischen und framesemantischen Textstruktur, den Illokutionsindikatoren und einem Sprachvergleich gewidmet. Europatexte haben sich seither durch die bekannten politischen Veränderungen quantitativ und qualitativ vervielfacht, wenn nicht verselbstständigt. Angesichts der erst zu erhebenden Vielfalt der Europatextsorten, bedingt durch die Vielzahl der Institutionen, Abteilungen, Bereiche und Reihen eine vorderrangige Forschungsaufgabe, die erleichtert werden kann durch die Kataloge der (nicht)periodischen Veröffentlichungen des Amtes für amtliche Veröffentlichungen der EU eignen sich für jeweils themenbedingte Auswahlen aus Texten der internen und externen institutionellen Kommunikation. Für Untersuchungen zur Sachlichkeit und Nützlichkeit der Termini, der Gesetzeskraft und Bürgernähe der Sätze und Texte bewähren sich: das Amtsblatt der EG, das in den Amtssprachen in den Reihen L (Rechtsvorschriften/ Legislation), C (Mitteilungen-Bekanntmachungen/ Communications-Informations) und D (Verhandlungen des Europäischen Parlaments/ Debats du parlement europeen) erscheint; das Bulletin der Europäischen Union, herausgegeben von der Europäischen Kommission; die Europäischen Verträge/ Traites europeens des Europarats. Da Medienarbeit eine der Hauptkompetenzen der Institutionen bedeutet und die Verteilersprache eine besonders interessante Symbiose zwischen Experten- und Alltagssprache bildet, in der das Bild ein eigenes Relief annimmt, stütze ich mich im Folgenden angesichts des gewählten Themas ganz besonders auf die Europaphraseologie 309 - Jubiläumsschrift des Europarates anlässlich seines 50-jährigen Bestehens: Europa unter einem Dach/ L'Europe sous un seul toit/ Europe under a single roof/ L'Europa sotto un solo tetto, sowie auf - Informationen aus dem Europäischen Parlament: Europa Forum/ Tribune pour ['Europe. 2. Bild, Sprache und Buch (Inter)Kulturelle Fragestellungen eignen sich, wie der Jubilar es anlässlich vieler Jahrestagungen immer wieder betont, die Zweibzw. Mehrsprachigkeit der Dokumente zu problematisieren. Kontrastiv zum Sprachenpaar Deutsch-Französisch (D-F) sind verschiedene Aspekte bereits untersucht (Greciano 1999, 2001a, c): Präpositionalgruppen (D), Partizipialkonstruktionen (F), Artikeldetermination (D), Deixis (F), synthetische Lexik (D), analytische Lexik (F), Anaphorisierung (D), Erweiterungen (F). Bisher noch unbearbeitet bleibt die multilinguale Perspektive, die sich interkulturell nicht mehr mit Gleich- und Ungleichheit begnügt, sondern übereinzelsprachlich, kognitiv, interkulturell und anthropologisch verbindende und universale Erkenntnisse anstrebt. Das für die Europaproblematik zu Grunde liegende Korpus eignet sich besonders für eine mehrsprachige Paartextarbeit, die üblicherweise unter den Schwierigkeiten der Materialbeschaffung leidet. Ganz allgemein behauptet sich für die multilinguale und multikulturelle Kommunikation die Bildersprache, weil sie Sprachbarrieren überwindet. Was die Text-Bildrelation betrifft, Thema des Leipziger Kolloquiums vor einem Jahr (FixAVellmann 2000), so erlaubt das dort nicht verwendete Europakorpus zusätzliche überzeugende komparative Schlussfolgerungen. Alligand (1998) verwendet das Europajournal als Paralleltext im Sinne von Hartmann (1994) und unternimmt eine kontrastive Studie zur deutschen und französischen Ausgabe: Europa Forum/ Tribune pour l'Europe. Für beide Sprachen, Leserkreise und Kulturen verteilt sich die Information über Text und Bild; die Informationsvermittlung bedient sich der Koordinierung und Kohärenz zwischen beiden Zeichensystemen, sodass das Bild der optischen Erwartung des Lesers entspricht, aber dennoch sekundär zum Text steht. Als konnektive Elemente garantieren nonverbale Farbbilder den ersten Kontakt, um die Aufmerksamkeit zu fesseln, die Neugierde zu erwecken und das Inte- 310 Gertrud Greciano resse zu steigern (AIDA-Effekt). Natürlich gibt es auch Unterschiede: abstrakte Schemata und Zahlenstatistik erscheinen nur im Europa-Forum. Untertitel sind seltener in der Tribune pour ['Europe, wo die Illustration in den jeweiligen Text voll integriert ist, sodass die Kohärenz zwischen Sprache und Fotografie nicht nur über sprachliche, d.h. semantische Wiederaufnahme bzw. Isotopie, sondern auch über sprachlose Kontiguität hergestellt werden kann, die deiktische Verweise überflüssig macht. Bilder dienen als Lückenfüller. Als Untertitel finden wir Verbalphrasen oft appelativer oder interrogativer Formen im Deutschen, Nominalphrasen, Substantivprädikate, dem Text entnommen oder auf ihn verweisend, meistens neutral und sachlich im Französischen, weil das Hintergrundwissen der Leser vorausgesetzt wird; z.B. anlässlich eines portugiesischen Staatsbesuchs (Abb.la+b), der Einweihung des Europaparlaments (Abb. 2), der Vorstellung des Euro (Abb. 3): fachliche und emotionale Kontextualisierung und Bewertung im Deutschen, präzise europarechtliche und -politische Information, oft Authentifizierung im Französischen; zum Thema Tierschutz: sentimentale und appellative Ikonografie im Europa-Forum, neutrale Information in der Tribune pour ['Europe. Portugiesischer Besuch Präsident mit bewegter Vergangenheit in Straßburg Portugal ist ein Land der Exlrettte. Vom Meer begrnn/ t, liegt es im äußersten Westen und zielt doch mitten ins Herz Europas. Hst spät, mit ihrer sogenannten Nelkenrevo lulion im Jahr 1974. haben die Portugiesen die Diktatur überwunden. Erst spät haben sie ihre europäische Identität vc jeder gefunden. Darum ist der portugiesische Präsidenl lorge I Sampaio auch so stolz darauf, daß sein Land die Bedingungen für die Teilnahme an der YVährungstmtnn weitgehend erfüllt hat. ; Sampaio sieht darin die Krönung der klugen Critscireidung, das Schicksal Portugals nach der Zeir der Diktaktur in das Schicksal Europas einzubclten. Der Präsident, im Februar zu Gast in Sfraßburg, erklärte, das Parlament sei eine Institution. Ort- Rikkkiifn / or Demokr.uie war für Portugal gleichbedeutend mit der Kurkkebr <Mt: h Cornftä. Zu eiltet feicflidien Sitzung in StraSburg begriifit? bV-Pniwient 0.1- Rohks den fKntugicsHcben Präsident Sampaio. Abb. la Europaphraseologie 311 Succes et solidarite Lc President de ia Repu blique portugaise. M Jörge SAMPAIO s'est f^liciie de l'imminence du passage ä la troisieme phase de ri nion ^conomique et munelaire Abb. 1b Parlement europeen Inauguration Royale ’est en presence du Roi Albert II, que le Parlement europeen a inaugure le 12 fevrier ses nouveaux bätiments bruxellois. La ceremonie Einweihung neuer Gebäude Gutes Fundament für gute Arbeit Am 12. bohruvir 1996 war es so weil, die new* Gebäude rfos fcl* ’n Brüssel wurden in Amvosenheit dos höllischen Königs Allied II eingeweiht Prasirlenr josd-Maria (j*l- Roblos donkrn allen, die Arbeit ^incl Mühe in den Bau invest«»* .haben. Git-Rohlos ctinnerle daran, daß rast 40 lahre vergangen sind seit der ersten Tagung dor damaligen parla nvfiiarisdx-n Versammlung dor bu- •opäischen Gemoinsrhafton, Der Bezug dt» notion <jobäude sei 10 Jahre später der sichllxare Beweis dit ür, daß die Versammlung »ich von oinom rein beratenden Gremi um / u einem Parlamon* ontwifkolt IiuIä, das ühor oinor' « oßen Teil der Hotu-gnissc verfüge, <Jie zur demokratischen Kontrolle drfJeriein- Abb. 2 312 Gertrud Greciano DEM Un contröle democratique pour la Banque centrale Lc calcndricr de I'Union Economique ei Mon£liiirc se resserre. 29 el 30 avril, adoption par lc Pariement du rapport sur la convergence. I‘ mai, recom mandaiiofK» du Conseil ECO- FIN sur lu liste des Eiat.s mcmhrcs qui rcmplisscnt les conditions n6ccssaircs pour I'adoplion d une nionnaie unique. 2 mai uu matin, examen par le Parlemenl de ces recommandalions, apitsnudi. decision des Chefs d f Etats et de Gouvememenls sur la fixation des pays «euro». 3 mai. designation par le Conseil du directoire de la Banque Centrale Europeenne ct fixation des paritds entre monnaies des pays euro. 7 et 8 mai, audition par la commission economique ct monctaire des futurs metnbres du directoire de la Banque Centrale Euro Der Euro rollt Jeder hat zukünftig ein Stück Europa in der Tasche Viele Menschen sind mit großen Worten häufig schnell zur Hand, um irgendein momentan wichtiges Ereignis gleich zum lahrhundertereignis hochzushlisieren, obwohl sich nach fünf Jahren wohl nur noch wenige und nach zehn lahren kaum noch jemand daran erinnern werden. Da« erste Mai-Woc henende hat iVeoes Geld braucht ein neue« Symbol: das Furn-7picben. £ Europäische Zentralbank (EZB) Direktorium PrÄsMcri jnd Vjtc pTteidonl dt» EZB und bis aj »iw wekeiü Mityfcetiti Präsidenten — 0»nat»na>*ri ZeotrefcanKtn ces Euro- Wkhn,nasoebea* genehmig« die Ausgebe Präsident und Vlzepröe ident 3er CZD Präsidenten aCer natona«-) ZoniratonköT n dar Euro paschen Ui kri Eiten Sch Tnd! Veng Abb. 3 Europaphraseologie 313 Europa unter einem Dach/ L'Europe sous un seul toit, die Jubiläumsschrift des Europarats, ist fast als Bilderbuch gedacht, in dem Text und Fotografie einander ergänzen. In dieser globalen Semiotik beschränkt sich das Symbol, d.h. das arbiträre (Sprach-)Zeichen, auf die objektive Benennung der Schlüsselbegriffe, die Aufzählung von Eckdaten und Anführung von Zitaten. Das Ikon, d.h. das natürliche (visuelle) Zeichen, exemplifiziert den Begriff und wird zum Auslöser des ergänzenden und angestrebten subjektiven Effekts, zu Gesprächsanlass, Interpretations- und Verstehenshilfe. Im Unterschied zum Europa-Informationsjoumal, wo wir es mit Textbildern zu tun haben, handelt es sich hier um Begriffsbilder; Bilder als beispielhafte Belege, als Beweisführung und Argumentationsstütze für virtuelle Begriffe, denen gesellschaftlich Wirklichkeit zu verleihen und ethisch und sozial Sinn zu geben ist, z.B. MENSCHENRECHTE & GRUNDFREIHEITEN (Abb. 4), RECHTS- STAAT (Abb. 5); SOZIALER ZUSAMMENHALT (Abb. 6). Abb. 4 314 Gertrud Greciano RECHT UKSISmkßi S Abb. 5 Sozial er Abb. 6 Es sind semiotisch betrachtet anspruchsvolle, intellektuelle Bilder, völlig anders als die der gerne untersuchten Werbespots, die begrifflich zusammenhanglos mit der Semantik des Slogans nur konkrete Objekte darstellen, die Ware selbst inszenieren und sich mit dem Heischeffekt begnügen. Es handelt sich um Exemplifizierungen von Abstrakta, deren Interpretation nach Hin- Europaphraseologie 315 tergrundwissen verlangt und eine Erfassung der Begriffsbilder auf allen Gebieten dringend notwendig macht. 3. Idiome als Titel Zum materiellen, besser grafischen Bild gesellt sich hier das sprachliche. Phraseme sind die Sprachzeichen, die par excellence den Bildcharakter veranschaulichen; par excellence, weil sie gerade wegen ihres Bildwertes fixiert, d.h. lexikalisiert, wurden, was so viel bedeutet, wie von der Sprechergemeinschaft akzeptiert und präferiert; par excellence aber auch, weil sie vordergründig einen Begriffsinhalt verkörpern. Man weiß heute von der Phrasemträchtigkeit der Titel, sowohl in der Kunst als auch in der Presse und Literatur. Auf EUROPHRAS 2000 in Uppsala waren die Bildertitel von Rene Magritte und Man Ray auf dem Programm (Greciano 2001b, Eismann 2001). Auf EUROPHRAS 92 in Saarbrücken bin ich auf literarische Titel eingegangen und im Anschluss daran hat Schneider (1994) dieser Thematik eine besonders gute kontrastive Arbeit zu deutschen und französischen Titeln gewidmet, aus den parallelen Sparten „Belletristik“ der Deutschen Bibliographie und „Romans et Nouvelles“ der Bibliographie Nationale Frangaise der Jahre 1991 und 1992. Phraseologische Titel sind Handlungs- und Sinneinheiten und stehen in komplexer Interaktion mit dem Text. Die meisten Titel sind modifizierte, elliptische oder kabarettistisch verdrehte Phraseme; vorwiegend - Verbalphrasen mit wertender Modalität im Deutschen: auf Sand gebaut, alles geschafft und fast erledigt! , Wer zuletzt lacht, lacht am schönsten/ am besten; - Nominalphrasen im Französischen: La tete en l'air, La cour des miracle, La part du Hon. Sie reagieren sehr treffend auf Sandigs (1996) prototypische Textmerkmale wie Situationalität und Intentionalität, sowie auf die Wechselbeziehung zwischen Themenentfaltung und Textfunktion. Dank ihrer propositionalen und prädikativen Natur beinhalten phraseologische Titel das Thema, im Unterschied zu nicht-phraseologischen Titeln, die meistens nur Textgegenstände und -umstände zitieren. 316 Gertrud Greciano Im Titel der Jubiläumsschrift Europa unter einem Dach, einer okkasionellen Variation bzw. kreativen Modifikation angewendet auf die politische Lage, schwingen mehrere Phraseme mit: 1) ein Dach über dem Kopf haben ‘GEBORGENHEIT’; 2) mit jdm. unter einem Dach leben/ wohnen/ hausen ‘LEBENSRAUM TEILEN’; 3) etw. unter Dach bringen ‘SCHÜTZEN’; 4) unter Dach und Fach sein ‘GLÜCKLICH ABGESCHLOSSEN SEIN’. Ein Problem ergibt sich mit unter Dach und Fach sein. Angesichts der fortschreitenden Dynamik der europäischen Erweiterung nicht nur in der Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch für die Zukunft, wäre ‘GLÜCK- LICH ABGESCHLOSSEN SEIN’ als Mitgemeintes und Mitbedeutung energisch auszuschließen und dies trotz dem so einschlägigen Tac/ i/ Fachwerk aus dem Bildspenderbereich des Hausbaus. Im Gegenteil, die europäische Außauarbeit ist nicht abgeschlossen, sie dauert an mit entscheidenden bereits beschlossenen Etappen auch für die Zukunft. Dennoch, und etwas im Widerspruch damit, ist unter einem Dach ein statischer Lokativ mit (+ Dativ), der ABGESCHLOSSENHEIT impliziert. Eindeutig implizit hingegen bleiben die Phraseme (1) und (2), die die Lesarten der GEBORGENHEIT und des GETEILTEN LEBENSRAUMES auf die Formative unter einem Dach konzentrieren. Kreative Variationen dieser Art, hier die Ellipse von wohnen/ leben/ hausen, führen zu neuen, komplexen, gleitenden Bedeutungen, was zu einer Aufschlüsselung der semantischen Merkmale einlädt, sogar verleitet. Nicht nur die Idiome sind immer mehr oder anders als die Summe ihrer Teile, sondern auch ihre Kontamination ist ein Vielfaches der implizierten Phraseme. Ein kontrastiver Blick auf den französischen Paartext ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Rechts- und Verwaltungstexte werden in den Amtssprachen des Europarats verfasst, in Französisch und Englisch; in diesem konkreten Fall, es handelt sich um Öffentlichkeitsarbeit und Verteilerpresse, ist der Ausgangstext Deutsch, die Muttersprache der Autorin. Die französische Fassung ist die Übersetzung durch dieselbe Person; sie klingt für Germanophone idiomatisch, ist es aber im Französischen nicht. Dach, ein relativ produktives Formativ im Deutschen (17 Belege in DUDEN 11) ist im Europaphraseologie 317 Französischen (toil) bei Rey/ Chatreau (1985) nur zweimal belegt: le toit du monde, crier qch. sur tons les toils. Die Präpositionalgmppe: sous un toit hat exklusiv konkrete Bedeutung, es gibt keine Wendung *etre/ mettre sous un toit, erfährt aber durch den hinzugefügten Quantor sous un seid toit eine Steigerung, sodass über die Hyperbel ein Figurierungsprozess auch im Französischen ausgelöst und eine semantische Annäherung bewirkt wird an das deutsche Phrasem mit jdm. unter einem Dach leben in der Bedeutung des ‘GETEILTEN LEBENSRAUMES’. Gerade an dieser Stelle erlebt man konkret, wie auch Sprachkontakt, hier durch Übersetzung, neben dem bekannten Caique und den Entlehnungen, zu Sprachveränderungen und Sprachneuerungen führt und angesichts der Streuung gerade dieses Mediums zu ihrer Lexikalisierung beitragen kann. Übersetzungstheorie und -praxis wissen von der Hürde der Phraseologie. Idiome sind ein Prüfstein. Die Güte von Übersetzungen steht und fällt mit der Phraseologie (Greciano 1999, 2001a, c). 4. Analogiestiftung und Konzeptfindung Phraseologieforschung hat gezeigt, wie Metaphern dank Realitätserfahrung Konzepte bilden und gerade zu diesem enzyklopädischen Begriffsverständnis führen, das sich auch die holistisch kognitive Semantik zum geeigneten Erklärungsrahmen macht. Seit ca. 20 Jahren verbreiten sich das Analogiemodell und das Prototypenmodell und erklären in ihrer Ergänzung auch folgende Korpusbelege. Europatexte tragen unwillkürlich die Spuren auch ihrer Komplexheit; sie versprachlichen Muster und Werte; sie decken Virtualität und Realität in allen Lebensbereichen, von biologischer Bedingtheit über wissenschaftliche Erkenntnis zu gesellschaftlichem Handeln. Sprache ist gerade im Europabereich, dem Ideenlaboratorium, das Hauptmedium zur Verwirklichung dieser Ideen und Wünsche, dieser Ideale und Entscheidungen. Phraseme stehen im Dienst dieses Vorhabens und bewähren sich als dessen geeignetes Sprachwerkzeug. Die Belege zeigen wie phraseologisch gebunden dieser Versprachlichungsprozess bleibt: diese Begriffsfmdung bedarf der Mehrgliedrigkeit und der Figuriertheit, die Begriffsverbreitung bedient sich der Festgeprägtheit. Ganz nebenbei gesagt werden darf, dass auch der Hauptteil des von Baldauf (1997) bearbeiteten Materials, nämlich die Gemeinsprache, nicht Einwörter, sondern Mehrwörter sind. 318 Gertrud Greciano Die dem Bildbegriff zu Grunde liegende Analogie ist nicht Redeschmuck, sie dient zur Erklärung von einer weitgefassten kategorialen Ähnlichkeit: nicht objektive Gleichheit, Äquivalenz oder Isomorphie, sondern formale, materielle, funktionelle, kausale, finale Entsprechung, historische Abhängigkeit und biologische Übereinstimmung, formal: funktional: kausal: final: in Bahnen lenken die Oberhand behalten ein Licht geht auf unter Druck setzen = kanalisieren = beherrschen = verstehen = Zwang ausüben. Die Entbindung, bzw. Loslösung von der Darstellung/ Referenz und die Hinwendung zur Vorstellung/ Fiktion ermöglichen es, die Metaphorisierung phraseologischer Bildbegriffe in ihrer Doppeldeutigkeit nachzuvollziehen. Mit Weinrich (1967) spricht auch Kubczak (1978, S. 92) für bestimmte Metaphern von „konstruierten Ähnlichkeiten, von Analogiestiftung und demiurgischen Werkzeugen“. Es ist das Poetische am Idiom, das nach einer a-/ antireferenziellen, d.h. ontologiefemen Analogie verlangt (Cohen 1966, Meschonnic 1970), die man auch surrealistisch bzw. metaphysisch nennen kann: das Recht (Konzept) verankern (Bild), Schutzmaßnahmen (Konzept) festigen (Bild). Magrittes Bildtitel funktionieren nach diesem Prinzip. Es sind eindeutig mentale Vorgänge, intellektuelle Operationen am Werk, eine aktive, projizierende Wahrnehmung, die die Fähigkeiten der Beobachtung, Unterscheidung und Assoziation voraussetzt, denn trotz Loslösung von der Lexembedeutung der Konstituenten wird das ihnen anhaftende Bild zur Verstehenshilfe. Bildbegriffe machen ganz deutlich, dass die jeweils wörtliche Bedeutung nicht gelöscht, sondern abstrahiert, d.h. aufgehoben, virtualisiert, potenzialisiert wird. Bereits für die frühen Arbeiten der Philosophie und Psychologie ist Assoziation Denken; sie definieren es über Analyse und Synthese, Deduktion und Induktion zur Erweiterung der Erkenntnis auf Unbekanntes und Neues. Die an phraseologischer Begriffsfmdung beteiligte Analogie ist ein aktiver und kreativer Prozess, näher der Pragmatik als der Ästhetik, meistens Katachrese, Synekdoche und Metonymie. Die utilitaristische Rolle vom Bild im Phrasem führt zur Wahlverwandtschaft mit dem wissenschaftlichen Denken und zum häufigen Phrasemgebrauch in der Sachliteratur. Die den Mehrwörtern anhaftenden Bilder vermitteln Wissensstrukturen, rollensemantische Konstellationen der Domänen. In der Fachidiomatik untersuche ich mit meinen Studenten den Begriffs- und Bildcha- Europaphraseologie 319 rakter der am Geschehen teilhabenden Instanzen in Texten der Verhaltensforschung (Greciano 1982) in Teildisziplinen von Recht, Verwaltung und Medizin (2001a, b, c, d, 1998, 1995). 5. Bildspender für Europabegriffe Die Kurzkommentare der Jubiläumsschrift Europa unter einem Dach verbinden sehr auffällig Sach- und Bildlichkeit im Idiom und verraten die bereits eingebürgerte Europaphraseologie oft unwissend und unbewusst, über den spontanen typografischen („ “, Kursivschrift) und lexikalischen Gebrauch metadiskursiver Indikatoren: Motto, Devise, Slogan, Appell, Beispiel: Nach dem Motto: alle anders, alle gleich. In den Kurztexten fällt besonders auf, wie nicht nur Begriffe, sondern auch Bilder ihre Netze spinnen. Garantieren die Begriffe der Domänen gleich Textgegenständen deren Kohäsion, so sind Bildbegriffe als prädizierende Benennung, sekundäre Nomination und Prädikate zweiter Ordnung ein wesentlicher Beitrag zur Textkohärenz, die konkret über den jeweiligen Begriffsinhalt, Bildwert, deren Reihung und Relation zur Themenentfaltung und Illokution zu erheben ist. Phrasemvorkommen als Begriff und Bild sind mit der Textgliederung in Zusammenhang zu bringen. Sie verlangen nach textsemantischen und textpragmatischen Analysen, die bisher nur sehr wenig unternommen worden sind und die jene Verstehensbzw. Kommunikationshilfe aufdecken, die phraseologische Bildbegriffe zusätzlich leisten. Die Hauptbildspender der Jubiläumsschrift und des Europakorpus schlechthin sind die Technik und die Natur mit Interferenzen zwischen beiden: Beispiel: Ein Blick in Europas Werkstatt (S. 54-57): - Bauwerkmetaphorik: Abstrakte Phänomene als konkrete Gegenstände, Handlungen und Vorgänge: europäische Aufbauarbeit, Aufbau Europas, den Erfolg aufbauen, das Haus Europa muß solide gebaut werden, Ausbau der kommunalen Selbstverwaltung, Bauwerk ist nicht vollendet, Europa unter einem Dach, das Dach der NATO/ EU, Pfeiler/ Fundament der EU, Grundpfeiler der Politik, Eckstein von Maastricht, Eckdaten Europas, Eck und Stütze der kulturellen yielfalt, Zahnräder/ Hebel des Aufbaus/ der Erweiterung, Europas Werkstatt, Europa gestalten, den Hebel ansetzen, eine Kommission einrichten, der Fall der Mauer, Schutzmecha- 320 Gertrud Greciano nismen in nationale Rechte einbauen, die Schwelle zu einem neuen Jahrtausend, im Rahmen der Gesetze/ des Programms, in einer Rahmenkonvention Übereinkommen, den Rahmen sprengen, den Nagel auf den Kopf treffen, in den entlegensten Winkel Vordringen, Technologie ist nicht mehr im Kommen/ ist gebremst, Dynamik des Fortschritts, Energie in andere Bahnen lenken/ eindämmen/ ableiten/ stauen, das Ventil öffnen, Schranken setzen/ fallen, in Schranken halten, Schranken zwischen Recht und Politik/ Kultur, - Naturmetaphorik: Abstrakte Phänomene als Menschen und Pflanzen und sie betreffende Vorgänge und Handlungen: Vater Staat, Gärtner der Demokratie, Dinge in die Hand nehmen/ geben, Blick schärfen, ein Thema beleuchten, Augen öffnen, Einsicht/ Einblick bekommen, Grundfreiheiten genießen, Europa kann jetztfrei durchatmen, Herzstück der europäischen Patientenordnung, pluralistische Demokratie mit menschlichem Antlitz, die Verabschiedung der Sozialcharta, die europäische Landschaft, fruchtbarer Boden, an Boden gewinnen, Saat und Ernte, sorgen, daß die Saat aufgeht und gedeiht, die Demokratie hegen und pflegen, den Bäumen im Obstgarten der Menschenrechte eine sorgfältige Pflege angedeihen lassen, Wurzeln des Staates/ der Gesellschaft, im Keim ersticken, totalitäre Systeme zu Grabe tragen, Warnungen in den Wind schlagen, Gipfel von Wien, auf den Weg bringen, auf dem Weg zum Beitritt, Mittel und Wege finden, auf den Kulturwegen/ -Straßen des Europarats wandeln/ pilgern, Schaffung und Vernetzung neuer Formen von Solidarität, Sicherheitsnetz für die Demokratie/ der Nation/ der europäischen Einigung, das ökologische Netz, das ganz Europa umspannt, Geflecht persönlicher und beruflicher Kontakte, eng verknüpft, sein mit. Technisches und organisches Vorgehen sind entschieden nicht das semantische Ziel dieser Wendungen, sondern bleiben ein Mittel, in die neue, oft unvorhersehbare Europawelt vorzudringen, sie zu gestalten, ihre Probleme mit geringstem Risiko zu lösen. Diese Bilder behalten ihre heuristische und operationale Bedeutung und ihr Begriffsinhalt ist Warnung und Schutz zugleich vor der keimenden Gefahr der reduzierenden Vereinfachung und Verblendung durch den „rhetorischen Blattgoldeffekt“. Greciano (1982, S. 202-203) erklärt die scharfe und berechtigte Kritik an Konrad Lorenz und auch an Sigmund Freud durch ihren Missbrauch der Analogie, wenn tierisches Verhalten anhand von Sprache auf den Menschen übertragen und da- Europaphraseologie 321 mit erklärt und begründet wird: wenn zwei seiner Mitbürger oder seiner Haustiere sich in die Wolle kriegen. Die Polemik steigert sich unter den Befürwortern der Aggressionsthese und den Verteidigern der Friedensfähigkeit (Selg 1971). Phraseme als Bildbegriffe sind vorherbestimmt für den Europadiskurs. Als beschreibende und bewertende Nominationen erreichen sie kognitive und kommunikative Performanz. Mehrgliedrigkeit, Festgeprägtheit und Figuriertheit stehen im Einsatz von optimaler Aufklärung, effizienter Meinungsbildung und Vertrauensschöpfung. Zugleich versinnbildlichen Phraseme die komprimierenden, implikativen und elliptischen Wesensmerkmale der deutschen Gegenwartssprache (v. Polenz 1985), aber auch Wortschatzveränderungen wie Internationalismen und Neologismen (Stickel 1995, 2001); ihre Erfassung führt zur Öffentlichkeitsarbeit der Linguistik (Stickel 1984, 1999). Phraseme werden zu den besagten „demiurgischen Werkzeugen der Maurer, Schmiede, Mechaniker, Weber und Gärtner, die im Ideenlaboratorium dieser menschlichen Alchemie Mythos und Wirklichkeit, Idealismus und Pragmatik“ verbinden {Europa unter einem Dach). Das Europarat-Jubiläumsbilderbuch als Korpus sei Ikon und Symbol für Gerhard Stickels Jubiläumsschrift! 6. Literatur Alligand, Sandrine (1998): Europe: Informations officielles paralleles. Tribune pour l'Europe/ Europa Forum. Memoire de DEA. Strasbourg. Baldauf, Christa (1997): Metapher und Kognition. Grundlagen einer neuen Theorie der Alltagsmetaphern. Frankfurt a.M. (= Sprache in der Gesellschaft 24). Brinker, Klaus (1985): Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. Berlin. (= Grundlagen der Germanistik 29). Burger, Harald/ Häcki-Buhofer, Annelies/ Gautier, Laurent (Hg.) (2001): Phraseologiae amor: Aspekte europäischer Phraseologie. Baltmannsweiler. (= Phraseologie und Parömiologie 8). Cohen, Jean (1966): Structure du langage poetique. Paris. Drosdowski, Günther/ Scholze-Stubenrecht, Wolfgang (Hg.) (1992): Redewendungen und sprichwörtliche Redensarten. Mannheim. (= DUDEN 11). Eismann, Wolfgang (2001): Bilder von Sprachbildem - Sprachbilder von Bildern. 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Informationen aus dem Europäischen Parlament. Luxemburg. Tribune pour l'Europe. Informations du Parlement Europeen. Antwerpen. L'Europe sous un seul toit 1949-1999. Conseil de l'Europe. Strasbourg. Europa unter einem Dach 1949-1999. Europarat. Straßburg. Michael Clyne Die Rolle des Deutschen bei interkulturellen Erscheinungen unter Dreisprachigen 1 Für einen Sprachwissenschaftler vom „anderen“ Ende der Welt bedeuten Auslandsreisen, „die Batterien wieder aufzuladen“. Seit Jahrzehnten steht das Institut für Deutsche Sprache auf fast jedem meiner Reisepläne, egal ob ich Forschungsurlaub habe oder nur für wenige Tage zwecks einer Tagung in Europa bin, denn das Zusammentreffen von so vielen Kolleginnen und Kollegen mit interessanten Ideen lässt sich an wenigen anderen Stellen wiederholen. Ein ganz besonderer Teil einer jeden Reise zum IDS ist das Gespräch mit Gerhard Stickel, das immer anregend wirkt und immer neue Ideen katalysiert. Daher widme ich ihm diesen Bericht über ein relativ neu entwickeltes Forschungsgebiet. 1. Zur Dreisprachigkeit Die Dreisprachigkeit ist erst in der letzten Zeit zum eigenständigen Forschungsgebiet unter Linguisten geworden. 2001 war das europäische Jahr der Sprachen; in diesem Jahr fand in Ljouwert/ Leeuwarden die zweite Internationale Trilinguismustagung statt. Im gleichen Jahr gab es auch eine dreisprachige Sektion bei der Internationalen Tagung für Bilinguismus in Bristol. Der große Pionier der Sprachkontaktforschung Haugen (1956, S. 9) z.B. konzipierte den Gebrauch von drei oder mehr Sprachen nicht als autonomes Gebiet sondern als eine Art ‘multiple bilingualism’. Unter den ‘dreisprachigen’ Themen, die viele Forscher beschäftigen, sind Englisch als Drittsprache unter Zweisprachigen in Europa (s. z.B. die vierzehn Artikel in Cenoz/ Jessner 2000, C. Hoffmann 1996, 2000), die funktio- 1 Mein Dank gilt dem Australian Research Council für finanzielle Unterstützung und Helen Cain, Marie-Jose Palmen, Marguerite Boland, Eugenia Mocnay, Tibor Endrody und Sonja Fischer für die Sammlung, Transkription bzw. Analyse der trilingualen Daten. Ich danke auch Werner Kallmeyer und Susanne Scharnowski für Vorschläge stilistischer Art. 326 Michael Clyne nale Verteilung dreier Sprachen, die im diglossischen Verhältnis zueinander stehen (z.B. F. Hoffmann 1996 und andere Beiträge in Newton 1996, Platt/ Weber/ Ho 1992, Tabouret-Keller 1992, Gardner-Chloros 1992, Penalosa 1996, Douaud 1980, McConvell 1988) und der Sprachwechsel zwischen einem distinktiven Dialekt, der supraregionalen Herkunftssprache und der Nationalsprache in der Einwanderungssituation (Bettoni/ Rubino 1996, Haller 1993). Da Englisch jetzt in vielen europäischen Staaten die Haupt-Schulfremdsprache ist, wird die Dreisprachigkeit in vielen Gegenden Europas mit einer anderen regionalen lingua franca oder einer Minderheitssprache vermutlich eine wesentliche Rolle in der Diskussion zur Verständigung in Europa spielen. Es besteht wenig Zweifel, dass in Europa und der Welt zwei Sprachen zur interkulturellen Kommunikation nicht genügen werden. Unter den erörterten Möglichkeiten der interkulturellen Verständigung befinden sich: der polyglotte Dialog, wo jeder seine eigene Sprache spricht und andere Sprachen versteht (Posner 1991); die multilaterale Kompetenz in einer ganzen Sprachgruppe oder -Untergruppe (z.B. Skandinavisch, Slavisch, Romanisch) (Munske 1972, Schmid 1996); der Erwerb und Gebrauch mehrerer Sprachen. Die Dreisprachigkeit hat eine lange, ehrwürdige Geschichte in Europa. Nicht nur war es üblich, neben der Muttersprache und den klassischen Sprachen mindestens zwei moderne europäische Sprachen zu lernen. Es gab Länder und gewisse Gegenden verschiedener Länder, in denen die Dreisprachigkeit Teil der Realität des Lebens war. Hier verwendet man drei Sprachen, wie etwa Deutsch-Friaulisch-Italienisch, Ungarisch-Deutsch-Slowakisch, Ungarisch-Rumänisch-Deutsch, Letzebuergesch-Deutsch-Französisch, Romanisch-Italienisch-Schweizerdeutsch/ Deutsch oder Dänisch-Nordfriesisch- Deutsch. Es ist kein Zufall, dass die deutsche Sprache in all diesen Beispielen vorkommt. Es gab jahrhundertelang mehrsprachige Gebiete in dem und um den deutschen Sprachbereich, und vor allem im mehrsprachigen Österreich-Ungarn war das Deutsche weitgehend die Kultursprache und die lingua franca sowie auch die Sprache der Herrschenden. Die Rolle des Deutschen hei interkulturellen Erscheinungen... 327 Es gibt auch viele Menschen, die die Erfahrung als Einwanderer bzw. Emigranten von Zweisprachigen zu Drei- (bzw. Mehr-)sprachigen verwandelt hat. In diesem kurzen Aufsatz möchte ich mich drei von den vier Gruppen, mit denen ich mich befasse, widmen, nämlich niederländisch-deutsch-englischen Trilingualen in Australien mit einer Kontrollgruppe von Informanten mit den gleichen Sprachen in Nijmegen und ungarisch-deutsch-englischen in Australien. Die vierte Gruppe sind italienisch-spanisch-englische Trilinguale in Australien (s. Clyne/ Cassia 1999). Die Daten für jede Gruppe mit drei Kontaktsprachen wurden bei je 36 Informanten in Australien aufgenommen. Die Nijmegener Kontrollgruppe bestand aus 15 Informanten. Ich möchte mich mit der Frage beschäftigen, wie die einzelnen Informanten mit ihren Sprachen und mit ihrer Dreisprachigkeit umgehen, wie die einzelnen Sprecher die drei Sprachen verbinden, aber auch, was für eine Rolle das Deutsche bei den Sprachveränderungs-, Sprachwechsel- und Konvergenzerscheinungen spielt. 2. Die Daten und Informanten Die Datensammlungsbedingungen waren einheitlich. Es wurden mit allen Informanten jeweils etwa 30 Minuten lange Interviews aufgenommen, bei denen sie über ihre Tätigkeiten und ihre Lebensweise, gelesene Bücher bzw. gesehene Fernsehsendungen und ggf. erste Eindrücke von Australien erzählten. Sie äußerten sich zu politischen Themen wie etwa dem Multikulturalismus in Australien (oder, bei den Nijmegenern, dem Multikulturalismus an sich), der europäischen Integration und der eventuellen Gründung einer australischen Republik. Jedes Thema war in einer bestimmten Sprache zu besprechen, z.B. Multikulturalismus auf Englisch, europäische Integration in einer der anderen Sprachen und eine künftige australische Republik bzw. (in Nijmegen) gesellschaftliche Veränderungen in den Niederlanden in der anderen. Auf diese Weise konnte festgestellt werden, inwiefern verschiedenen Sprachen klare Rollen zugeordnet worden sind. Zudem wurden Bilder beschrieben. Dieses schon in früheren Untersuchungen angewandte Format wurde gewählt, um Vergleiche zwischen Bilingualen und Trilingualen und zwischen unterschiedlichen Kontaktsprachen zu ermöglichen (Clyne 1967, 1977, Endrody 1971). 328 Michael Clyne Wenden wir uns aber den Informanten zu. Fast alle der ungarisch-deutschenglischen Versuchspersonen hatten den Hauptteil ihres Lebens in Australien verbracht. 13 hatten Ungarisch als chronologische Sl, Deutsch als S2, und Englisch als S3. Deutsch hatten sie zunächst in der Schule gelernt, aber aktiv verwendet, weil ihr erster Emigrationsort Deutschland, Österreich oder die Schweiz war, bzw. weil sie mit einem/ einer Deutschsprachigen verheiratet waren. 16 waren zweisprachig aufgewachsen, entweder in einem deutschsprachigen Siedlungsgebiet Ungarns oder (häufiger) in Budapest, wo man in bürgerlichen Familien noch zu Hause viel Deutsch sprach bzw. weil Deutsch die wichtigste Kultursprache war und zu Hause durch ein „Fräulein“ vermittelt wurde. Dies war vor allem bei Mädchen der Fall, denn Deutschsprechen galt in Ungarn vor und nach dem 1. Weltkrieg als wichtiger Teil einer bürgerlichen Erziehung. Stark (2000, S. 27) gibt den historischen Grund dafür an: „In der Mitte des 19. Jahrhunderts war jede größere Stadt im Habsburgerreich, es sei Prag, Pressburg (Bratislava), Zagreb, Budapest, Krakau oder Lemberg, zweisprachig wobei Deutsch gesellschaftlich den höheren Status besaß“. Zwei unserer Versuchspersonen hatten Ungarisch und Schwyzertütsch als Sl, weil ihre Eltern in die Schweiz emigriert waren. Vier waren in Australien geboren und dort dreisprachig aufgewachsen; eine hatte Ungarisch als Sl, war aber vom 10. Lebensjahr an in Australien mit Englisch und Deutsch aufgewachsen, bis sie im Alter von 21 Jahren das Ungarische wieder erwarb. Drei der Informanten kamen zwischen 1938 und 1940 nach Australien, 13 zwischen 1947 und 1951, sieben um 1956 und neun später. Gebrauch und Funktionen der drei Sprachen variierten wesentlich. Deutsch wurde durch mündlichen Gebrauch, Lesen und manchmal auch durch Schreiben gepflegt. Wie häufig unter Dreisprachigen wurden die Verwendungsbereiche der drei Sprachen deutlich differenziert, z.B. Ungarisch zu Hause und mit Verwandten (also als Privatsprache), Deutsch unter Freunden, als untergeordnete Berufssprache, zum Reisen und für die Lektüre, Englisch mit den Kindern (bzw. Enkelkindern), als Hauptberufssprache und innerhalb der breiten Gemeinschaft. Als „kakanisches Erbe“ wird Deutsch weiterhin als supranationale Kultursprache gewürdigt, Ungarisch aber als Medium der Nationalidentität. Und dies, obwohl die große Mehrheit der Informanten zu einer Zeit nach Australien auswanderte, wo eine Assimilierungspolitik verfolgt wurde, die sprachliche Vielfalt nicht unterstützte. Die Die Rolle des Deutschen bei interkulturellen Erscheinungen... 329 Differenzierung zwischen Ungarisch und Deutsch war vielfach sprecherorientiert (interlocutor-based). Alle drei Sprachen spielten für Australier ungarischer bzw. mitteleuropäischer Herkunft eine wesentliche Rolle, deren deutsch-ungarische Prägung an den Kontext einer vorwiegend englischsprachigen Gesellschaft angepasst wird. Nun zu den niederländisch-deutsch-englischen Trilingualen Australiens. 24 der Informanten hatten Niederländisch als S1, sieben Deutsch, drei Englisch und zwei Niederländisch und Englisch. Von den 36 wunderten 20 in den 50er-Jahren aus, eine in den späten 40er-Jahren (aus Indonesien), sieben nach 1960, und fünf waren in Australien geboren, ln der Mehrheit der Fälle wurde mit dem Ehepartner bzw. der Ehepartnerin Niederländisch gesprochen. Bei den geborenen Niederländern wurde die Zweitsprache Deutsch zunächst vielfach in der Schule erlernt und nachher durch Gebrauch in der Ehe, im Studium bzw. auf der Arbeit im jeweilig-sprachigen Land. Die Deutschsprachigen lernten Niederländisch während eines beruflichen oder Studienaufenthalts in den Niederlanden oder durch den Ehepartner bzw. die Ehepartnerin. Der Sprachgebrauch nahm hauptsächlich die folgende Form an: Niederländisch mit Ehepartnern und manchen Freunden, Englisch mit den Kindern (auch wenn sie nicht mehr zu Hause wohnten), Englisch außerhalb des Hauses. Auch diese Gruppe las, sah fern und hörte Radio auf Deutsch. Beide Gruppen in Australien haben gemeinsam, dass sie die jeweilige Sprache neben Englisch und Deutsch (also Ungarisch bzw. Niederländisch) für nicht nützlich genug halten, um sie an die nächste Generation weiterzuvermitteln. In mehreren Fällen bedeutet dies, dass die Kinder ermutigt werden, in der Schule Deutsch (in manchen Fällen eine andere Fremdsprache) zu lernen. Die Nijmegener Kontrollgruppe, die aus 15 Informanten bestand, war vorwiegend akademisch ausgebildet und gehörte zum Teil einem pendelnden internationalen Heer von Angestellten an. Sechs hatten Deutsch als Sl, Englisch als S2; die S3 Niederländisch wurde für Arbeit, Studium oder Ehe erworben. Vier hatten Englisch als Sl. Einer von ihnen erhielt fast den ganzen Unterricht in den Niederlanden. Dass viele eine so wichtige Muttersprache hatten, war kein Hindernis, das Niederländische zu erwerben; ihr perma- 330 Michael Clyne nenter Aufenthalt im Ausland hält sie nicht zurück, die S1 weiterhin als wichtigste und bevorzugte Sprache zu betrachten. Die übrigen Fünf hatten Niederländisch als Sl. Die meisten Informanten verwendeten mindestens zwei Sprachen bei der Arbeit. Obwohl Australien sich als multikulturelle Nation darstellt und Fernseh- und Rundfunksendungen sowie Bibliothekssortimente in einer Reihe von Einwanderersprachen anbietet, sind die Möglichkeiten, z.B. das Deutsche in Nijmegen (das sich an der deutschen Grenze befindet) zu verwenden, sehr viel größer. Die funktionale Verteilung der Sprachen ist oft sehr deutlich getrennt z.B. das Lesen von Zeitungen auf Niederländisch, Romanen auf Englisch und Illustrierten auf Deutsch; im Fernsehen werden Nachrichten auf Englisch, Unterhaltungssendungen auf Niederländisch, und Detektivfilme auf Deutsch gesehen. Alle drei Sprachen wirkten identitätsprägend für viele ungarisch-deutschenglische Trilinguale, die sich als Australier mitteleuropäischer Herkunft verstehen. Im Vergleich war die Dreisprachigkeit der niederländischdeutsch-englischen Trilingualen in Australien eher pragmatisch als identitätsprägend. Die Nijmegener Informanten hingegen drücken ihre europäische Identität stärker über ihre Dreisprachigkeit aus. Zusammenfassend kann man sagen, dass unsere Dreisprachigen im Großen und Ganzen ein tiefes Sprachbewusstsein haben und ein Interesse, ihre Sprachen durch differenzierten Gebrauch aufrechtzuerhalten, was unter Zweisprachigen (vor allem Niederländisch-Englischen und Deutsch-Englischen, s. Clyne 1991, Clyne/ Kipp 1997) weniger vorhanden ist. 3. Sprachkontakterscheinungen Wenden wir uns jetzt den Sprachkontakterscheinungen zu, die für die Dreisprachigen charakteristisch sind, um festzustellen, welche Rolle das Deutsche spielt. Es leuchtet ein, dass Deutsch in der Dreiergruppe Ungarisch- Deutsch-Englisch die Rolle der Sprache in der Mitte übernimmt, die dem Englischen näher ist. In der Dreiergruppe Niederländisch-Deutsch-Englisch hingegen ist Deutsch die Sprache, die am unterschiedlichsten und historisch Die Rolle des Deutschen bei interkulturellen Erscheinungen... 331 am stabilsten ist. Dies ist vorwiegend an der Morphologie zu erkennen; das konservative Kasussystem schützt vor starkem Wandel in der syntaktischen Typologie (s. dazu unten Kap. 4.). Folgende Fragen werden erörtert: 3.1: In welcher Richtung werden die Sprachen beeinflusst, da drei miteinander in Kontakt stehen? 3.2: Vollziehen sich die Regeln für den Sprachwechsel bei Dreisprachigen anders als bei Zweisprachigen? 3.3: ln welchem Verhältnis stehen die Sprachen zueinander? Inwieweit handelt es sich um multilaterale Kompetenz verwandter Sprachen. 3.1 Interlinguale Identifizierung Charakteristisch für die Dreisprachigkeit ist die Konvergenz unter den drei Sprachen, wobei zwei davon Ähnlichkeiten besitzen, die sie mit der dritten nicht teilen. 2 Dies ist auf allen Ebenen der Sprache zu erkennen. Die beiden germanischen/ indoeuropäischen Sprachen beeinflussen das Ungarische in der Lexik, Semantik und Syntax, z.B.: Lexikalisch (1) 'perfektui das ein Informant im Ungarischen statt tökeletes verwendet, basiert auf einem Kompromiss zwischen engl, 'perfect und dt. perfekt. (Erwerbsreihenfolge des Sprechers: Ungarisch/ Deutsch, Englisch) Semantisch - Ungarisch nap ‘Tag’ für Wetter, z.B. (2) szep napos nap van ‘schöner sonniger Tag ist’ Std. ung.: szep napos idö van Modelle: dt. es ist ein schöner Tag, engl, it's a nice day. (Erwerbsreihenfolge: Deutsch-Ungarisch-Englisch). 2 Das bezieht sich auch auf die dritte Dreiergruppe, die wir untersuchen, Spanisch-Italienisch-Englisch (Clyne/ Cassia 1999). 332 Michael Clyne Syntaktisch - Plural bei sok (solch) und Numeralien, z.B.: (3) egy pär szekek Std. ung.: egy par szek mit Singular. Modelle: dt. ein paar Stühle, engl, a couple of chairs. (Erwerbsreihenfolge: Ungarisch/ Deutsch. Englisch). In der Prosodie hingegen teilt Englisch in manchen Wörtern die Anfangsbetonung, die für das Ungarische typisch ist. Es ist nicht erstaunlich, dass es in unserem Korpus keine morphosyntaktischen und lexikalischen Gemeinsamkeiten zwischen Ungarisch einerseits und Englisch oder Deutsch andererseits gibt, die zur Konvergenz zur anderen Sprache führen. Bei niederländischdeutsch-englischen Dreisprachigen hingegen geht die Konvergenz manchmal vom Englisch-Niederländischen aus, manchmal aber vom Deutsch-Niederländischen, zuweilen auch vom Deutsch-Englischen, z.B.: Semantisch (4) big books (Std. engl, greaf, niederl. groot/ dl. groß entspricht sowohl big als auch great). Syntaktisch z.B. aspektuelle Konvergenz: (5) my father has been German (Erwerbsreihenfolge: Deutsch-Englisch- Niederländisch) Modelle: dt. mein Vater ist Deutscher gewesen', niederl. mijn vader is Duitser geweest. Std. engl, my father was German (6) they've closed it down years ago (Erwerbsreihenfolge: Niederländisch-Deutsch/ Englisch) Modelle: dt. sie haben es vor Jahren geschlossen', niederl. ze hebben hetjaren geleden gesloten. Std. engl, they closed it down years ago z.B. Konvergenz in der Satzstellung: (7) I was last year in England (Erwerbsreihenfolge: Deutsch, Englisch, Niederländisch) Modelle: dt. ich war voriges Jahr in England', niederl. ik was vorig jaar in Engeland Std. engl. I was in England last year. Die Rolle des Deutschen hei interkulturellen Erscheinungen... 333 Im Niederländischen wird die Singularform des Substantivs bei Zahlen für Zeit, Geld oder Gewicht verwendet, z.B.: (8) die was drie jaren jonger (Erwerbsreihenfolge: Niederländisch- Deutsch-Englisch) Modelle: dt. die war drei Jahre jünger, engl, she was three years younger Std. nl. die was drei jaarjonger Lexikalisch (9) das ist nicht so provinzial Std. dt. das ist nicht so provinziell engl, that isn 't so provincial nl. dat is niet zo provinciaal Morphologisch (10) meist normale (Std. dt. normalste, engl, most normal, nl. meest normale). 3.2 Sprachwechselmechanismen Englisch ist unter Zwei- und Mehrsprachigen in Australien gewöhnlich in Myers-Scottons (1993) Sinne die Matrixsprache. Bei Bilingualen ist festgestellt worden, dass Wörter, die als Teil beider Sprachsysteme wahrgenommen werden lexikalische Transfers, bilinguale Homophone und Eigennamen einen Sprachwechsel auslösen (Clyne 1967, 1991). Das ganze System, dem das Wort als Teil angehört, wird aktiviert, z.B.: (11) Das ist ein Foto gemacht an der beach CAN BE kann BE kann sein in Mount Martha, kann auch sein an der Westküste in Australien. (Lexikalischer Transfer; bilingualer Informant). (12) Es war Mr Fred Burger der wohnte da in Gnadenthal AND HE WENT DOWN THERE ONE DAY (Bilinguales Homophon + Deutscher Ortsname in Australien, ebenfalls bilingualer Informant). 334 Michael Clyne Hier gehört Gnadenthal (im voraufgehenden Beispiel) zur Überlappungszone zwischen zwei oder mehr Sprachen und trägt zum Sprachwechsel bei. (13) Ik denk dat is de dat is de HARDEST THING FOR THE MIGRATION ‘Ich denke das ist de das ist de ... ’ (Bilinguale Homophone durch unvollständiges Lernen und Konvergenz des Sprechers). Bei den Trilingualen sind es fast ausschließlich lexikalische Transfers, die einen Sprachwechsel auslösen. Der Vergleich zwischen den niederländisch-deutsch-englischen und den ungarisch-deutsch-englischen Trilingualen weist uns darauf hin, dass der Kontakt zwischen nah verwandten Sprachen zu größerer Konvergenz führt, was das Potenzial zum Auslösen eines Sprachwechsels vergrößert. Dies ist auch bei Zweisprachigen der Fall. Das große Potenzial von niederländisch-englischen bilingualen Homophonen wird durch Konvergenz verstärkt, z.B. werden unter erwachsenen niederländischen Einwanderern the und that vielfach als de und dat ausgesprochen. Das führt zur Auslösung des Sprachwechsels, wie in (10). Unter den gleichen Sprechern löst ein lexikalischer Transfer' im Deutschen öfters einen Sprachwechsel aus, im Ungarischen aber nicht. Die gleichen Informanten haben 46-mal über ein englisches Auslösewort vom Deutschen ins Englische umgeschaltet, vom Ungarischen ins Englische aber lediglich sechsmal. Das Ungarische erfordert nämlich bei lexikalischen Transfers wie auch bei Eigennamen ein großes Maß an morphologischer Integration. Unter den Beispielen sind Melbournetöl - ‘von Melbourne’, St. Kildaba ‘ in St. Kilda’, armchairben - ‘im Lehnstuhl’, nursinghomeja - ‘des Pflegeheims’,/ orm twoba - ‘in der zweiten Klasse’. Der Unterschied an Auslösepotenzial zwischen dem Niederländischen und Deutschen unter Trilingualen ist weniger dramatisch - 16-mal scheint eine Auslösung vom Niederländischen aus stattzufinden und zwölfmal vom Deutschen aus. Bei Kontakt zwischen drei Sprachen kann ein Wort in Sprache A einen Sprachwechsel zwischen Sprache B und C auslösen. In Australien ist es 1 Bei lexikalischen Transfers werden Form und Inhalt von einer Sprache zur anderen transferiert. Die Rolle des Deutschen bei interkulturellen Erscheinungen... 335 meistens Englisch als Einbettungssprache (Myers-Scotton 1993), die das Auslösewort stellt, z.B.: (14) dingen van de shops EINKÄUFEN. Diese Informantin, die chronologisch Niederländisch als Sl, Englisch als S2 und Deutsch als S3 hatte, und kurz vor dem Interview längere Zeit in Deutschland verbracht hatte, verwendet das ursprünglich englische Wort shops in allen drei Sprachen. Dieses Wort erleichtert hier den Sprachwechsel vom Niederländischen ins Deutsche. Im nächsten Beleg bewirkt ein trilinguales Homophon in den Auslöseprozess: (15) denk ich in DUITS en ... and so on. 1 Das zweite Auslösewort en ist nicht nur ein niederländisches Wort, sondern auch eine unakzentuierte Form des englischen and. Die Sprecherin hat Niederländisch als S1, Englisch und Deutsch als S2. (16) drie nou IT'S Three Double YR NENNEN SIE DAS. Nou, ein bilinguales Homophon zwischen Niederländisch und Englisch, ist eine beliebte Interjektion unter niederländisch-englischen Bilingualen. Der Auslöseprozess wird gleichzeitig durch dieses Wort und antizipierend durch den Namen THREE DOUBLE YR gestartet. Nach dem Namen wird aber in die falsche Sprache zurückgewechselt. Der Sprecher hat Niederländisch als Sl und die beiden anderen Sprachen als gleichzeitig erworbene S2. 3.3 Konversionsformeln Das Verhältnis der Sprachen untereinander bei Mehrsprachigen ist die Frage, die für die europäische Kommunikation am relevantesten ist. Es handelt sich um die multilaterale Kompetenz (s. o.), bei der es Konversionsformeln zwischen nah verwandten Sprachen wie etwa Niederländisch, Deutsch, Englisch (auch Italienisch/ Spanisch, s. Clyne/ Cassia 1999) ermöglichen, bei Erwerb und Gebrauch ökonomisch vorzugehen. Im Zweitspracherwerbsprozess wird 4 ... = eine Pause von zwei (bis drei) Sekunden; ... = lange Pause von drei Sekunden oder mehr; (A) ungefüllte Pause. 336 Michael Clyne Kompetenz in der einen Sprache über Kompetenz in der nahe verwandten Sprache und einer Reihe von Konversionsregeln entwickelt. Weinreich (1953) nannte dies ‘subordinate bilingualism’ (untergeordnete Zweisprachigkeit). Oft wird die Kompetenz in der später erworbenen Sprache automatisiert und verselbstständigt. Ähnliches wird bei Nordenstam (1979) für das Schwedisch in Norwegen, bei Schmid (1994) für das Italienisch von Spaniern und bei Häcki-Buhofer/ Burger (1998) für den „Schriftdeutscherwerb“ von deutschschweizerischen Kindern berichtet. Der Prozess lässt sich an Korrekturen und auch Pausen gut nachvollziehen, z.B.: (17) No, für die beide la [ae] (A) Zahl (A) Sprache macht kein Unterschied. Dieser Informant hatte Niederländisch als Sl, Englisch und Deutsch als S2. Der englische lexikalische Transfer language wird unvollständig artikuliert, kontrolliert und nach Zögern durch deutsch Zahl ersetzt, das eine Konversion des gleichstämmigen niederländischen taal ist, und nach etwas weiterem Zögern durch das entsprechende deutsche Wort Sprache. Dies gibt auch Einsichten in die Sprachprozessierung, z.B.: (18) wie man sagt, MOREpausisch dan(n) de Paus der de der Paus ‘wie man sagt, mehr (Papst) ADJ als der Paus der de der Paus’. Der Informant, ebenfalls mit Niederländisch als Sl, Deutsch/ Englisch als S2, der viele Jahre als Deutschlehrer tätig war, erfährt Schwierigkeiten mit der Redewendung päpstlicher als der Papst (Niederländisch roomser dan de paus ‘römischer als der Papst’). Ihm fällt aber das deutsche Wort für paus nicht ein. Hier reichen die üblichen Konversionsformeln nicht, da die Wörter papst und paus nicht über die üblichen Konversionsregeln ableitbar sind. Der Sprecher prägt aus paus nach den entsprechenden deutschen morphologischen Regeln ein Adjektiv pausisch und integriert damit den lexikalischen Transfer. Er versucht, das niederländische Substantiv durch Selektion eines deutschen Artikels morphologisch zu integrieren, ist aber unsicher, ob Integration im Gegensatz zu Trennung der Codes der geeignete Weg ist. Die Rolle des Deutschen bei interkulturellen Erscheinungen... 337 Ein paar weitere Beispiele von Konversionsformeln: (19) Niederl. grondlage [x], < dt. Grundlage [g], Standardnl. grondslag. (Erwerbsreihenfolge des Sprechers: Niederländisch, Englisch, Deutsch); (20) Dt. Programma [g] < niederl. programma [x], Standarddt. Programm. (Erwerbsreihenfolge: Deutsch, Niederländisch, Englisch). In beiden Fällen wird der hervorstechende phonologische Unterschied zwischen dt. [g]/ nl. [x] in der Konversion berücksichtigt, der lexikalische nicht. Alle oben besprochenen Beispiele stammen von Dreisprachigen in Australien. Im Unterschied dazu zeigen die Nijmegener Informanten einen hohen Grad der erfolgreichen Automatisierung. Allerdings berichten auch einige Nijmegener mit deutsch als Sl, dass Deutsch und Niederländisch im Laufe der Zeit die Rollen getauscht haben. 3.3.1 Divergenzen Die oben dargestellten Konversions- und Integrationsmechanismen sind eine Form der Divergenz, welche die eigene Konvergenz zwischen Sprachen ausgleicht. Manche trilinguale Informanten machen sich große Mühe, ähnliche Wörter und Konstruktionen zwischen den beiden Sprachen zu vermeiden, z.B.: (21) ondanks dat ik op de school matem...(A) wiskunde gedaan had obwohl ich auf der Schule Mathem.. .(A) Mathematik gelernt hatte. Dieser Informant korrigiert sich, nachdem er mit dem Fächemamen matematica (‘Mathematik’) begonnen hatte, der im Niederländischen auch möglich ist. Wiskunde ist der üblichere Terminus, vor allem für das Schulfach. (22) voordat ik studeerde ben gaan studeren ‘bevor ich studierte bin gehen studieren’ bevor ich studierte bin ich studieren gegangen. Dieser Sprecher ersetzt die gemeinsame Konstruktion studierte/ studeerde durch eine für das Niederländische distinktive, der inchoativen, die den Be- 338 Michael Clyne ginn einer Handlung ausdrückt. In den beiden letzten Fällen handelt es sich um Trilinguale, die Deutsch als S1 hatten und durch Divergenz mehrfache Identität und Identifizierung mit der Sprache ihres zweiten Heimatlandes und ihrer Ehefrau ausdrücken. 4. Typologiekontrast 4.1 Satzstellung Obwohl die typologische Stellung des Niederländischen vielfach als morphologisch zwischen Deutsch und Englisch stehend und syntaktisch dem Deutschen näher (schon z.B. im klassischen Werk von van Haeringen o.J.) dargestellt wird, hat Niederländisch eine latente Tendenz in Sapirs (1921) Terminologie drift, in der von Hawkins (1986) unified typology zur englischen Typologie mit morphologischem Kasusverlust, bei der der Satzstellung eine größere Verantwortung zukommt, um grammatische Beziehungen auszudrücken. D.h., Niederländisch hat eine verstärkte Neigung zur grammatischen Satzstellung (Givon 1979) im Gegensatz zum Deutschen mit seiner stärkeren Neigung zur pragmatischen. Das kommt in niederländisch-englischen Sprachkontaktsituationen in Einwandererländem (Australien, Clyne 1977, 1991; Neuseeland: Hülsen 2000; USA: van Marle/ Smits 1997) viel mehr zum Ausdruck als im europäischen Niederländisch. Die Beschleunigung des Sprachwandels im Sprachkontakt wird ausführlich von Silva-Corvalän (1994) für das Spanische in Los Angeles beschrieben und bei Thomason/ Kaufman (1988) im Rahmen von „multiple causation“. Unter Bilingualen wird SVO in der ersten, auch in der zweiten Generation sehr viel mehr bei Niederländischsprachigen als bei Deutschsprachigen allgemein angetroffen. In zwei vergleichbaren Korpora von deutschsprachigen und niederländischen Nachkriegseinwanderern und deren Kindern kommt die SVO-Übergeneralisierung im Deutschen nur achtmal vor, im Niederländischen 110-mal. 76 der Belege stammen von Bilingualen, die als Erwachsene nach Australien kamen, 17 von denen, die in der Kindheit einwanderten und ganz oder großenteils in Australien geschult wurden und 18 von in Australien geborenen Kindern von Einwanderern. Die relativ geringe Zahl der Belege in der zweiten Generation ist auf die einfache Satzkonstruktion bei diesen Informanten zurückzuführen. Bei der dritten Generation, vor allem bei Nachkommen deutschsprachiger Siedler in ehemaligen Sprachinseln, ist die SVO-Genera- Die Rolle des Deutschen bei interkulturellen Erscheinungen... 339 lisierung im Deutschen üblicher. Es gibt in beiden Sprachen zwei SVO-Verallgemeinerungserscheinungen bei SVO: Zweitstellung statt Endstellung im Nebensatz, z.B.: (23) wem ich hab' zu Schule gegangen (3. Generation, ehemalige deutsche Sprachinsel in Australien) und Fronting, wo ADV von SVO gefolgt wird, z.B. (24) dann wir wohnten nicht weit von den River (3. Generation, andere ehemalige deutsche Sprachinsel in Australien). Fronting ist in beiden Korpora am üblichsten. Beide Erscheinungen sind im folgenden Beispiel vertreten, z.B.: (25) Als wij spreken Hollands, z.e verstaut drommels goed. ‘Wenn wir sprechen holländisch, sie versteht verdammt gut.’ (Bilinguale, 1. Generation). Die Frage ist, ob sich die niederländisch-deutsch-englischen Dreisprachigen im Deutschen und im Niederländischen wie die jeweiligen Bilingualen verhalten. Nach unseren Daten ist dies nicht der Fall. Der Konservatismus des Deutschen lindert den Radikalismus des Englischen. Die SVO-Verallgemeinerung ist im Deutschen selbst stärker vorhanden als im Niederländischen. Tab. 1: SVO-Verallgemeinerung bei niederländisch-deutsch-englischen Dreisprachigen Niederländisch Deutsch nach Fronting 32/ 1565 (2,0 %) 41/ 1023 (4,0 %) in Nebensätzen 41/ 1080 (3,8 %) 56/ 857 (6,53%) Einer der Informanten lieferte ein Fünftel der Beispiele der SVO-Verallgemeinerung. Wenn wir ihn ausschließen, kommen wir aber immer noch auf eine bedeutend größere Zahl im Deutschen als im Niederländischen. Ich würde die Hypothese aufstellen, dass bei den niederländisch-deutsch-englischen Dreisprachigen keine scharfe Trennung zwischen der Syntax des Deutschen und Niederländischen gemacht wird. Außerdem wird bei der 340 Michael Clyne Mehrheit, die Niederländisch als S1 hat, die fremdere Sprache, in der die Informanten weniger kompetent sind, mehr durch das Englische beeinflusst. Interessant ist, dass bei den Trilingualen im Vergleich zu den Bilingualen SVO im untergeordneten Satz häufiger vorhanden ist als nach Fronting. Auf jeden Fall handelt es sich um ein „Tauziehen“ zwischen dem gemeinsamen Konversativismus des Deutschen und Niederländischen einerseits und dem Radikalismus des Englischen andererseits. Die Entwicklung einer festen Satzstellung ist bei ungarisch-deutsch-englischen Dreisprachigen weniger ausgeprägt. Sowohl Ungarisch als auch Deutsch sind Sprachen mit strenger Kasusmorphologie und pragmatischer Satzstellung. In wenigen Fällen gibt es dennoch eine SVO-Verallgemeinerung, wo der pragmatische Kontext nicht unmittelbar verständlich ist, z.B.: (26) vagy szeretek imi leveleket ‘oder mag ich schreiben Briefe’ Standard-Ung. vagy szeretek leveleket Inü (Informant in Australien dreisprachig aufgewachsen). Trilinguale, die Ungarisch und Deutsch als S1 hatten, verallgemeinerten SVO im Deutschen durchschnittlich 6,375-mal und diejenigen mit Ungarisch als S1 6,75-mal. Bei der pragmatischen und grammatisch nicht festgelegten Satzstellung des Ungarischen ist es nicht erstaunlich, dass die SVO-Verallgemeinerung im Deutschen der ungarisch-deutsch-englischen Trilingualen fast nur auf den untergeordneten Satz beschränkt ist, z.B.: (27) dass man kann mitjemand sprechen (Erwerbsreihenfolge: Ungarisch, Deutsch, Englisch). (28) wenn ich bin hinüber nach Europa gefahren (Erwerbsreihenfolge: Ungarisch, Deutsch, Englisch). Für diese Verallgmeinerung gibt es aber eine mögliche Erklärung. Das ist die SVO-Nebensatzstellung in manchen Varietäten des Deutschen als mitteleuropäische lingua franca, wie es in verschiedenen Teilen der k.u.k.-Monarchie jahrhundertelang als Kommunikationsmedium zwischen Sprechern mehrerer slawischer Sprachen, des Ungarischen, des Jiddischen und auch anderer Sprachen verwendet wurde. Die Rolle des Deutschen bei interkulturellen Erscheinungen... 341 4.2 Artikel Im Niederländischen gibt es eine binäre Wahl zwischen zwei Genera bzw. Artikeln - Neutrum (het) und Utrum (de). Hierbei ist das Utrum das produktivste Genus, während der Artikel de zugleich bestimmter Artikel des Plurals ist. Im zweisprachigen deutsch-englischen Nachkriegseinwandererkorpus wurden lediglich zehn deutsche Substantivformen ungrammatisch zugeordnet, je drei Substantive den drei Genera, und eines schwankte zwischen Maskulinum und Neutrum. Im vergleichbaren niederländischen Korpus hingegen wurden 52 her Wörter mit de gebraucht, dies im Niederländischen von 43 Informanten. Nur neun Substantive, die im Standard-Niederländischen de als bestimmten Artikel haben, wurden dem Neutrum zugeordnet. Die meisten dieser Substantive tragen phonetische Gemeinsamkeiten mit ihrem englischen Äquivalent (bed, land, soort) aber 18 von 52 nicht (darunter gebouw ‘house’, gezi« ‘family’,paard ‘horse’). Auch direkte Befragung unter jungen deutsch-englischen Zweisprachigen wies zwar ungrammatische Zuordnungen, aber keine klare Tendenz zur Verallgemeinerung eines bestimmten Artikels auf (Clyne 1970, Monheit 1975). In der dritten Generation ist eine schwache Tendenz zum Neutrum zu erkennen (Clyne 1997a). Der Neigung, niederländische Substantive mit dem Artikel de zu verwenden, geht eine noch größere voraus, lexikalische Transfers aus dem Englischen als de Wörter zu gebrauchen. Das gilt für 150 von 174 transferierten Substantiven in unserem niederländischen Korpus. Man kann von einem implikationellen Kontinuum für die Transferenz des de ausgehen: lexikalische Transfers aus dem Englischen bilinguale Homophone andere niederländische Substantive. Unter den Dreisprachigen ist diese Erscheinung bei sechs niederländischen Substantiven belegt (eines davon bei drei Informanten), die alle keine bilingualen Homophone im Englischen haben. Allerdings haben fünf davon deutsche Homophone, von denen alle das als Artikel haben. Im Deutschen der Trilingualen treten bei ganz wenigen Verallgemeinerungen eines Artikels 342 Michael Clyne auf, bei einem sehr häufig die (z.B. Laden, Streit, Stock, Gebäude, Spaß), bei drei anderen zuweilen die, bei drei zuweilen das (z.B. das Hand, Lage, Landschaft) 3 und bei einigen, und zwar deutsch-niederländischen Homophonen de (z.B. de Chor/ koor, de Strand/ strand). Das Kontinuum, das oben für Artikel beschrieben wurde, gilt auch für die Übergeneralisierung des Suffixes -.v im Plural bei den Bilingualen. Dieses Suffix erscheint bei fast allen lexikalischen Transfers aus dem Englischen und ersetzt en bei 15 Substantiven, von denen vier kein englisches Homophon haben. Allerdings wird im Deutschen das Suffix -en durch -e ersetzt, z.B. Straßenbahne, Zeitunge. -en ist im schriftlichen Niederländischen weitaus das häufigste Pluralsuffix. Im mündlichen Standard-Niederländisch und in vielen Dialekten ist [o] das Äquivalent. Andere unserer Trilingualen gebrauchen -en statt -e als Pluralsuffix im Deutschen, z.B. Freunden, Jahren, Leuten. Dies hängt mit dem hyperkorrekten Bewusstsein zusammen, dass Deutsch oft mit -en den Plural bildet, wo beim verwandten niederländische Substantiv fo| verwendet wird, z.B. Betten, Frauen, Sonnen, (mit bestimmtem Artikel) Verwandten. Diese Neigung wird offensichtlich durch das Suffix des Dativ-Plural verstärkt. Diese Erscheinung kommt aber bei den Nijmegener Informanten nicht vor. 4.2 Kasus Sowohl einige ungarisch-deutsch-englische als auch manche niederländischdeutsch-englische Trilinguale in Australien (aber nicht die Nijmegener) tendieren im Deutschen zum akkusativ-dativen Einheitskasus, z.B.: (29) fühl' ich mich zuhause in die in die Sprache (Niederländisch Sl, Deutsch/ Englisch S2). (30) auch mit ihre Freunde und so (Niederländisch Sl, Deutsch/ Englisch S2). (31) mit meine Freunde (Ungarisch S1, Deutsch S2, Englisch S3). (32) mit die technische Sprache (Ungarisch Sl, Deutsch S2, Englisch S3). (33) wegen die andere Leute (der gleiche Sprecher wie 26). 5 Niederl. het landschap Die Rolle des Deutschen bei interkulturellen Erscheinungen... 343 In beiden Dreiergruppen wird auch vielfach die periphrastische Form des Genitivs mit von verwendet. Bei den Informanten mit Niederländisch kann diese Erscheinung dem Einfluss des Niederländischen und Englischen zugeschrieben werden, deren Substantive keine expliziten Kasusformen (bis auf engl. Possessiv) mehr ausdrücken. Bei denen mit Ungarisch, dessen Kasuszahl von Grammatikern unterschiedlich auf zwischen 17 und 27 geschätzt wird (Abandolo 1988, Benkö/ Imre 1972, Sang-Hyup Lee 1990, Tompa 1968), spielen noch zwei andere Faktoren mit. Einer ist, wie bei der SVO- Verallgemeinerung im Deutschen, die deutsche lingua franca in Mitteleuropa, auf die schon in diesem Kapitel hingewiesen wurde. Zugleich hatte diese Erscheinung in der Wiener Umgangssprache, die durch diese lingua franca in der multilingualen Flauptstadt des k.u.k.-Reiches stark beeinflusst wurde, aber zugleich auf das Deutsch der ganzen Monarchie eingewirkt hat, eine Vorbildfunktion. Was das Ungarische betrifft, gibt es wie bei ungarisch-englischen Zweisprachigen (Endrody 1971) Unsicherheiten zwischen den Kasus. Die verbreitetste Tendenz ist die Verallgemeinerung des unmarkierten (suffixlosen) Nominativkasus statt des markierten Akkusativs, z.B.: (34) Ä nemet, azt ügy tanultam, mini Das Deutsch-NOM das wirklich lern-VERG.SGl meine mäsodik anyanyelvem zweite Muttersprache ‘Ich lernte Deutsch wirklich wie eine zweite Muttersprache.’ Std. Ung. a nemetet.... (Akkusativ) (Erwerbsreihenfolge: Ungarisch/ Deutsch, Englisch). Keiner spricht einen deutschen Dialekt mit akkusativischem/ dativischem Einheitskasus. Diese Tendenz zum Einheitskasus ist in unserem Korpus jedoch 75-mal belegt. Die anderen bedeutenden Kasusersatzerscheinungen, die zu bemerken sind: Akkusativ für den Nominativ (23-mal), für den Inessiv (vgl. dt. in) (12-mal), für den Possessiv (12-mal), für den Superessiv (vgl. dt. auf) (4-mal). 344 Michael Clyne 5. Fazit Unsere Untersuchung handelt von der Rolle des Deutschen bei Strategien und Mechanismen der niederländisch-deutsch-englischen und ungarischdeutsch-englischen Dreisprachigkeit. Bei dieser unterstützt Deutsch englische Transferenzen in der Morphosyntax und im Lexikon des Ungarischen. Eine Ausnahme bildet die lexikalische Betonung, die manchmal im Englischen und Ungarischen identisch ist. In der niederländisch-deutsch-englischen Dreisprachigkeit spielt Deutsch eine konservative Rolle und „schützt“ vor morphosyntaktischen Veränderungen im Niederländischen, die bei niederländisch-englischen Zweisprachigen häufig Vorkommen und eine latente typologische Tendenz im Niederländischen zur grammatischen Satzstellung reflektieren. Bei den Dreisprachigen beeinflussen im großen Gegensatz zu den Zweisprachigen niederländisch-deutsche Homophone die Genuswahl im Niederländischen mehr als niederländisch-englische. Sprachwechsel zwischen Deutsch und Niederländisch wird weniger über bilinguale Homophone als über lexikalische Transfers, oft aus dem Englischen, ausgelöst. Niederländisch und Deutsch sind bei unseren Dreisprachigen oft über Konversionsregeln verbunden, die im Laufe der Zeit automatisiert werden. Die Nähe zu Deutschland, die europäische Identität, die durch die Dreisprachigkeit ausgedrückt wird, und die Gelegenheiten, alle Sprachen zu verwenden, stärken das Deutsche unter den Nijmegener Informanten im Kontrast zu den australischen. Mechanismen und Strategien aller untersuchten trilingualen Gruppen können bewusst angewendet werden, um aktive Sprachkenntnisse in einer größeren Zahl von Sprachen zu entwickeln. 6. Literatur Abandolo, Daniel M. (1988): Hungarian inflectional morphology. Budapest. 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Problemstellung Die vorliegende Arbeit setzt sich mit einer spezifischen Sprach- und Sprachensituation 1 auseinander, die besondere Ausformungen sowie Strukturierungen des Deutschen aufweist und für die ein umfassender und durchdringender soziokultureller sowie sprachlicher Austausch - und als deren Folge - Mehrsprachigkeit und Interbzw. Transkulturalität den Bezugsrahmen darstellen. In dieser interbzw. transkulturellen „Fugen-Position“ ist das Deutsche weder Mutternoch Fremdsprache im herkömmlichen Sinne des Wortes. Es handelt sich um Deutsch als Minderheitensprache (nach einer anderen Terminologie: Nationalitätensprache) in Ungarn." Die Sprach(en)verhältnisse der Ungarndeutschen werden seit über 250 Jahren grundlegend durch immer intensiver werdende „Außenkontakte“ mit dem Ungarischen und mit anderen Umgebungssprachen bzw. -Varietäten gekennzeichnet: Ungarisch übt seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen sukzessiv erstarkenden Einfluss auf das kommunikative Handeln und dadurch auf das Sprachrepertoire der Ungarndeutschen aus, wohingegen nach 1945 die Einwirkung des Ungarischen besonders massiv wurde. Im Hinblick auf den sog. „geschlossenen“ (m.E. besser: zusammenhängenden) deutschen Sprachraum hat Mattheier (1980, S. 160) ausgeführt, dass Veränderungen in den Sprachgebrauchsstrukturen eng mit Veränderungen in den sprachlichen Strukturen verbunden sind und dass beide Prozesse ge- 1 Unter Sprachsituation verstehe ich Standort und Gesicht einer gegebenen Sprache (bzw. Varietät) in areallinguistischer, soziolinguistischer und systemlinguistischer Hinsicht; mit Sprachensituation bezeichne ich die zu einem bestimmten Zeitpunkt herrschende Konstellation von mehreren Sprachen (bzw. Varietäten) in einer Gesellschaft. 2 Eine in vieler Hinsicht ähnliche sprachliche Situation ist auch in weiten Teilen Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas sowie der GUS-Staaten anzutreffen. 348 Csaba Földes wohnlich gleichzeitig vor sich gehen. Unter Bedingungen der Mehrsprachigkeit und der Interbzw. Transkulturalität gilt dies, wie mir scheint, verstärkt. Denn die Sprachgebrauchsstrukturen der Ungarndeutschen haben sich zugleich aus zweierlei Hauptgründen mehrfach geändert: a) Zum einen haben die erwähnten lange andauernden und tief greifenden (alle sozialen Domänen erfassenden) soziobzw. interkulturellen und sprachlichen Kontakte und die sich aus ihnen ergebenden kommunikativen Muster erhebliche Konsequenzen für die Sprache. Denn Sprachenkontakte lösen „von Haus aus“ nicht unwichtige Veränderungen in den interagierenden Sprachvarietäten aus. Dies betrifft sowohl die sprachlichen Formen, Strukturen und Modelle als auch die Sprachbzw. Diskursgewohnheiten und darüber hinaus wie ich meine sogar das Weltmodell 1 der miteinander in Berührung befindlichen ethnischen Gruppen bzw. Kommunikationsgemeinschaften. b) Zum anderen erfolgte die sprachliche Bewältigung der Umwelt auch abgesehen von der Mehrsprachigkeitssituation auf andere Art und Weise als im zusammenhängenden deutschen Sprachraum, unterscheidet sich doch der soziokulturelle Referenzrahmen für die deutsche Minderheit in Ungarn fundamental von dem im deutschen Sprachgebiet. Diese beiden Aspekte (a und b) üben ihre sprachgestaltende Wirkung auf das Deutsche als Minderheitensprache im Kulturraum Ungarn auch heute aus. Somit werden im vorliegenden Beitrag Elemente, Strukturen, Modelle und Gesetzmäßigkeiten im Mikrokosmos einer spezifischen Kontaktvarietät des Deutschen beschrieben und exemplifiziert, die sich von der binnendeutschen Standardsprache, aber auch von den binnendeutschen regionalen Varietäten grundlegend unterscheidet. Anhand ausgewerteter oraler Sprachproben, die ich im Rahmen eines kontaktlinguistischen Feldforschungsprojekts in der ungarndeutschen („donauschwäbischen“) Ortschaft Hajosch (auf Ungarisch: 3 Weltmodell kann im Anschluss an Bäcker/ Civ’jan (1999, S. 289f.) als die Summe der Vorstellungen des Menschen von sich und der Welt definiert werden. Ob denn die durch Sprachenkontakte „per definitionem“ hervorgerufenen kontaktsprachlichen Veränderungen wirklich „vor allem transzendent“ sind, wie Bäcker/ Civ’jan (1999, S. 290) behaupten, bedarf wohl noch einer wissenschaftlichen Verifizierung. Kontaktsprache Deutsch 349 Hajos) in der nördlichen Batschka erhoben habe, sollen Aspekte der Varianz und der Sprachinnovation 4 ermittelt und dokumentiert werden. 2. Zwei- und Mehrsprachigkeit als eine kontaktlinguistische Herausforderung Die Untersuchung von Sprachen- und Kulturenkontakten und damit auch der Interbzw. Transkulturalität ist im Falle der deutschen Sprache generell besonders interessant und wichtig, weil ja dieses Sprachgebiet die längste Sprachgrenze und die meisten Nachbarsprachen in Europa hat. Dadurch bietet sich eine Vielfalt an menschlichen Kontakten und damit auch an kulturellen und sprachlichen Berührungen. Außerdem finden seit jeher direkte Sprachenkontakte auch innerhalb des deutschen Sprachraums statt. Man denke nur an die Interaktionen mit den Sprachen der autochthonen Minderheiten (z.B. Sorbisch, Dänisch und Friesisch in Deutschland, Slowenisch, Kroatisch und Ungarisch in Österreich etc.) und neuerdings an die Koexistenz mit zahlreichen Migrantensprachen (Türkisch, Spanisch usw.). Dennoch wird Deutsch oftmals als eine „strukturell gegen Transfer resistente Sprache“ betrachtet; solche Hinweise findet man sogar im epochalen Werk von Weinreich (1968, S. 62). Diesbezüglich kann man genauso auch auf jüngere Arbeiten verweisen: Tesch etwa bezeichnet Deutsch geradezu als „introvertierte Sprache“ (1992, S. 85). Auf Grand der von mir bereitgestellten und analysierten empirischen Datenbasis bin ich aber zumindest für die behandelte Konstellation zu entgegengesetzten Schlussfolgerungen gekommen.^ 3. Erträge einschlägiger Forschungen Nach der Darlegung der besonderen Eignung des Deutschen für sprachen- und kulturenvergleichende sowie kontaktologische Untersuchungen sollen 4 Statt dieser Bezeichnung steht in linguistischen Publikationen meist der Terminus ‘Sprachwandel’. Da aber ‘Sprachwandel’ nicht in Sprüngen, sondern durch kontinuierliche Ausbreitung stattfindet, spreche ich, wie z.B. Andersen (1989, S. llf), lieber von ‘Innovation’. 5 Teile dieser Ausführungen gehen auf einen Gastvortrag zurück, den ich am 8. Dezember 2000 im Fachgebiet Interkulturelle Germanistik an der Universität Bayreuth gehalten habe. 350 Csaba Földes nun die Anwendungsfelder solcher Forschungen kurz herausgearbeitet werden. Die Erforschung der Zwei- und Mehrsprachigkeit sowie der Sprachenkontakte stellt ab ovo ein inter-, multibzw. transdisziplinäres Feld dar und kann für verschiedene Wissenschaftsbereiche Relevantes bieten. So besitzt sie etwa mit Blick auf Aspekte der sprachlichen Norm und der philologischlinguistischen Terminologie erhebliche Bedeutung. Denn es gibt beispielsweise bis heute keinen Konsens über die Definition von Sprachnormen. Auch die sprachliche bzw. linguistische Terminologie gilt momentan allenfalls aus dem Blickwinkel der Einsprachigkeit als ausgearbeitet und einigermaßen angemessen man denke nur daran, dass die fundierte Klärung selbst solcher grundlegenden Fragen noch aussteht, was denn im Falle von Bilingualen unter sog. ‘Muttersprache’ oder ‘Fremdsprache’ zu verstehen ist. Mit folgender Ansicht des ungarischen Ex-Kultusministers, Professor Andräsfalvy, kann ich mich weder terminologisch noch inhaltlich einverstanden erklären: „Wie jeder nur eine Mutter hat, so hat jeder nur eine Muttersprache [...]“ (1992, S. 5). In diesem Zusammenhang finde ich die neue Begrifflichkeit der Plansprache Esperanto viel günstiger. Sie hat den Ausdruck gepatra lingvo, d.h. „Eltemsprache“ geprägt (ge- = Präfix des Kollektivums, patro = Vater, gepatroj = Eltern), d.h. die Sprache, die man von seinen Eltern gelernt hat. Eine neue Bezeichnung ist im Esperanto denaska lingvo (de = Präfix, naski = gebären, naskigi = geboren werden), d.h. die Sprache, die man seit der Geburt als Erstsprache gelernt hat. Den Mehrsprachigkeitsstudien kommt ferner unter dem Aspekt der immer bedeutsamer werdenden sprachphilosophischen Emergenz-Theorie erhebliches Gewicht zu. Sie bedeutet in unserem Fall, dass in Situationen, in denen die kulturelle Tradierung der Sprache abbricht oder die Tradierung unvollkommen ist, latente, nur unter besonderen Bedingungen realisierbare Möglichkeiten von natürlichen Strukturtypen hervortreten (BechertAVildgen 1991, S. 139). 6 Das heißt: In Sprachenkontaktsituationen können unter Umständen auch Möglichkeiten einer Sprache zu Tage treten, die unter den Bedingungen der (relativen) Einsprachigkeit nicht auftreten. 6 Zu Begriff und Problematik der Emergenz vgl. etwa die Monografie von Stephan (1999). Kontaktsprache Deutsch 351 Die kontaktlinguistischen Beschreibungsverfahren können u.U. überdies einen nicht zu unterschätzenden Ertrag für die kontrastive Linguistik versprechen. Ihr wichtiges Anliegen ist nämlich, Kontaktphänomene also Unterschiede zu den Strukturen und Mustern der deutschen Sprache unter Einsprachigkeitsbedingungen zu ermitteln. Diese Abweichungen kommen in ihrer Mehrheit durch komplexe Übertragungsmechanismen aus der/ den Umgebungssprache(n) zu Stande. Vor diesem Hintergrund kann man indirekt in diesem Fall deutsch-ungarische - Systemunterschiede wahrnehmen, die sonst vielleicht unbemerkt geblieben wären. Dies ist in Sonderheit bei Sprachenpaaren von Bedeutung, die kontrastiv-linguistisch bislang nicht umfassend bearbeitet worden sind. Kontaktlinguistische Forschungen und ihre Erkenntnisse sind ferner für die Theorie und Praxis der Sprachenpolitik (Aspekte der Sprachplanung etc.) von großem Wert. Last, but not least können Zwei- und Mehrsprachigkeitsforschung und Kontaktlinguistik vor allem durch ihr empirisches Forschungsmaterial und ihr immer feineres Instrumentarium nicht unerheblich zu einer paradigmatischen Theorie der Interbzw. Transkulturalität beitragen. 4. „Kontaktdeutsch“ oder die Sprache „geht fremd“ Es ist bekannt, dass Kulturen- und Sprachenkontakte beim Umgang der Menschen miteinander immer und überall auftreten können. Trotz der geläufigeren Bezeichnung ‘Sprachkontakt’ spreche ich terminologisch mit Bedacht von ‘Sprachenkontakt’, ‘Sprachenmischung’ etc., um mit diesen Varianten den Umstand deutlicher herauszustellen, dass es sich um die Koexistenz und die Interaktion von zwei oder mehr Sprachen handelt. In diesem Aufsatz möchte ich also eine hochkomplexe Sprachenbzw. Varietätenkontaktsituation im Kräftefeld zwischen typologischer Tradition und sukzessiver Innovation exemplarisch am Material des erwähnten Feldforschungsprojekts beschreiben. 352 Csaba Földes Die behandelte ungarndeutsche Nicht-Standardvarietät wird von mir als „Kontaktdeutsch“ bezeichnet, weil sie ja genuin unter den Bedingungen der interbzw. transkulturellen Mehrsprachigkeit (nicht selten in Konfliktsituationen) existiert. Prozesse und Produkte interkultureller, interlingualer und interdialektaler Kontakte lassen sich an einer solchen ungarndeutschen Varietät sehr gut erforschen, weil sie auf Grund ihrer spezifischen soziolinguistischen und soziokulturellen Merkmale optimale Voraussetzungen für Sprachenmischungsphänomene bietet: Sie existiert (a) nur als Kontaktvarietät, kommt (b) ausschließlich als Low-Varietät in einer Kommunikationsgemeinschaft mit dibzw. triglossischer Varietätenverteilung vor und verfügt (c) nicht über eine standardisierte Norm. 5. Besonderheiten der analysierten Kontaktsituation Die aktuelle sprachliche Situation kann man m.E. am besten als „bilinguale Dialekt-Standard-Diglossie“ bezeichnen und mit den Stichwörtern ‘Dialektalität’, ‘Zweibzw. Mehrsprachigkeit’, ‘Sprachenkontakte’ und ‘Sprachumstellung’ charakterisieren. Deutsch als authentische Muttersprache (Minderheitensprache) existiert in Ungarn etwa seit Anfang des 20. Jahrhunderts weitgehend nur noch in Form von (archaischen) Siedlungsmundarten. In meinem Untersuchungsort Hajosch liegt eine Siedlungsmundart vor, deren Basis Schwäbisch ist. Während sich der ungarndeutsche Ortsdialekt (als L- Varietät) im Wesentlichen auf die Primärdomäne Familie zurückzog und selbst in diesem Bereich immer häufiger dem Ungarischen weicht, findet Ungarisch (als H-Varietät) inzwischen so gut wie in allen sozialen Domänen exzessiv Verwendung. Daraus resultiert u.a., dass bekannte, seit längerer Zeit stabil vorhandene Formen von Sprachenbzw. Varietätenmischung durch neuere Kontaktbzw. Mischformen (auf den verschiedenen Ebenen, aber ganz besonders in der Lexik, Phraseologie und Pragmatik) ergänzt oder teilweise abgelöst wurden (vgl. meine einschlägigen Befunde in Földes 1996, S. 62ff. und Földes 2001). Die Flauptakteure des mehrsprachigen Sprachrepertoires sind also heute idealtypisch: (a) der jeweilige ungarndeutsche Ortsdialekt, (b) die deutsche Standardsprache und (c) die ungarische Standardsprache, wobei die Dominanzverhältnisse von Generation zu Generation einer Verschiebung unterlie- Kontaktsprache Deutsch 353 gen. Bei den alten und ältesten Ungarndeutschen ergibt sich in der Regel die Reihenfolge Dialekt-Standarddeutsch-Ungarisch, bei der mittleren bis älteren Altersgruppe Ungarisch-Dialekt-Standarddeutsch und bei den jüngeren Sprechern Ungarisch-Standarddeutsch-Dialekt. Für diese Sprachverlagerung gibt es ein Bündel historischer, sozialpsychologischer, soziobzw. ethnolinguistischer und anderer Gründe. Bei genauerem Hinsehen kann man aber erkennen, dass die zu besprechende Sprachenkontaktsituation nicht bloß auf das Zusammenwirken von zwei Sprachsystemen des Deutschen und des Ungarischen zu reduzieren ist: Der „prototypische“ ungarndeutsche Kommunikator von heute ist während seiner Sozialisation zumindest potenziell mit mehreren Sprachen bzw. Varietäten konfrontiert. Es handelt sich m.E. um ein komplexes Bündel von endogenen („deutschen“) und exogenen („fremden“) Varietäten, das in der Regel als ein Varietätenkontinuum mit teilweise fließenden Übergängen zu betrachten ist. Dazu können je nach der individuellen Sprachbiografie vor allem folgende Varietäten gehören: - Der jeweilige ungarndeutsche Ortsdialekt; er ist in typologischer Hinsicht immer auch schon eine Mischmundart und weist zudem meist mehrere Schichtungen auf. - Die ungarische Standardsprache; sie wird primär von der Schule und den Medien vermittelt. - Das deutsch gefärbte Ungarisch ist ebenfalls wichtig; es wird in der Forschung dennoch kaum berücksichtigt. - Das von ungarischen Kontakteinflüssen durchsetzte (Standard-)Deutsch. - Der deutsche Standard (dabei ist auch der Einfluss des österreichischen Deutsch zu betonen). - Die deutsche(n) Mundart(en) der Umgebung. - Die ungarische(n) Mundart(en) der Umgebung. - Die regionalen Varietäten anderer Minderheitensprachen, z.B. des Kroatischen oder des Slowakischen. Die obige Aufzählung soll allerdings nicht bedeuten, dass sämtliche Varietäten auf allen Sprachebenen und in allen Funktionsbereichen vertreten sind. 354 Csaba Földes Vielmehr ist in der Sprachwirklichkeit etwa typisch, dass von einer Varietät die eine Ebene und/ oder der eine Funktionsbereich präsent ist, während von anderen Varietäten andere Ebenen und/ oder Funktionsbereiche die Kontaktsituation und den individuellen Varietätenraum der Sprecher prägen. In der doch eher als heterogen zu bezeichnenden ungarndeutschen Kultur- und Kommunikationsgemeinschaft ist die Sprachkompetenz immer in Abhängigkeit von zahlreichen außerlinguistischen Aspekten zu sehen, denn auf das Sprachkönnen wirken sich verschiedene soziologische Parameter aus, wie z.B. Bildungsstand, Beruf, das soziale Netzwerk, Medienkonsum (besonders in jüngster Zeit) und Kontakte mit dem binnendeutschen Sprachraum. Vor dem Hintergrund der eminenten Aktualität der Kontaktproblematik ist es eigentlich überraschend, wie wenig der gegenseitige sprachliche und kulturelle Austausch bei den deutschen Minderheiten und ihren Nachbarn ins Blickfeld der germanistischen Forschung gerückt ist. So weisen beispielsweise BechertAVildgen in ihrer relativ neuen Überblicksmonografie (1991, S. 153) in Südosteuropa „Sprachinseln mit relativ schwacher Mischung“ aus. Aus meiner Untersuchung geht jedoch deutlich hervor, dass sich in diesem Sprachmaterial eine beeindruckende Breite und Fülle von punktuellen Sprachenkontaktphänomenen wie auch von Überlappungs-, Übergangs- und Konvergenzerscheinungen zwischen den zwei sprachlichen Systemen manifestieren. 6. Forschungsterminologie Im Anschluss an Haugen (1953, S. 60ff.) gehe ich von einer Unterscheidung zwischen der einsprachigen, von den Wörterbüchern und Grammatiken kodifizierten „rhetorischen“ Norm und der bilingualen Norm aus. Der binnendeutsche Standard wird dabei der Operationalisierbarkeit halber als Bezugsgröße aber keineswegs als Bewertungsmaßstab! angesehen. Entsprechend wird von mir die Primärsprache von zwei- oder mehrsprachigen Personen als „Kontaktvarietät“ betrachtet. Eines ihrer hervorstechenden Merkmale besteht darin, dass der bilinguale Sprecher regelmäßig aus der jeweils anderen Sprache (bzw. Varietät) Elemente und Muster übernimmt oder die Sprachen abwechselnd benutzt, was zu verschiedenen Arten von Sprachenmischung führt. Mitglieder zweibzw. mehrsprachiger Gemein- Kontaktsprache Deutsch 355 schäften halten also ihre Sprachwelten in aller Regel nicht getrennt und überschreiten in ihrer gesprochensprachlichen kommunikativen Alltagspraxis kreativ die Grenzen einer Sprache. Kürzlich hat z.B. Romaine (2000, S. 157) klar dargelegt, dass es keine eindeutigen Kriterien zur Unterscheidung der einzelnen Typen von Sprachenkontakterscheinungen gibt. Nicht zuletzt deswegen werden von mir (wie etwa bei Pfaff 1979, S. 291) die verschiedenen kontaktbedingten Besonderheiten ungeachtet ihrer teilweise erheblichen Unterschiedlichkeit unter dem Oberbegriff Sprachenmischungsphänomene behandelt, zumal empirisch ausgerichtete Untersuchungen operationale Definitionen erfordern. Unter Sprachenmischung ordne ich sämtliche Manifestationen der Sprachenkontakte ein, so (a) die Transferenzen, (b) die Kode-Umschaltungen und (c) die Vorgänge und Ergebnisse sonstiger Arten von bibzw. multilingualen Diskursmodi (wie z.B. die Neutralitätsstrategie, die Vermeidungsstrategie, die Überblendungen, den bilingualen Semidialog etc.). Unter Transferenz wird in meinem kontaktlinguistischen Projekt als integrierendes bilinguales Verfahren die Übernahme von Elementen, Merkmalen und Regeln aus der/ den Kontaktsprache(n) verstanden (vgl. Clyne 1975, S. 16). Der Terminus Kode-Umschaltung bezeichnet (etwa im Anschluss an Haugen 1956, S. 40) als komplexe orale Kommunikationsstrategie zweisprachiger Sprecher einen Wechsel zwischen zwei Sprach- (varietät)en innerhalb eines Diskurses, eines Satzes oder einer Konstituente. Auch hier wird ein wichtiger Vorzug des für meine Untersuchung gewählten terminologischen Apparates deutlich: Aufgrund der obigen Definition geht es bei der Kode-Umschaltung um den alternierenden Gebrauch zweier Sprachen/ Varietäten, d.h., wenn wir dieses Phänomen unter die Mischungsvorgänge subsumieren wollen, eignet sich als Oberbegriff nur (die pluralisierende) ‘Sprachen mischung’ und nicht die ‘Sprachmischung’, weil ja letzterer Terminus lediglich eine Mischung innerhalb einer Sprache bezeichnet. Überdies erlaubt die Verwendung von Termini wie ‘Sprachenmischungsphänomene’ oder ‘Sprachenkontaktphänomene’ auch solche Erscheinungen wie Vermeidungsstrategien etc. einzubeziehen (vgl. Földes 1999). 356 Csaba Földes 7. Vorgänge und Ergebnisse der Sprachenmischung: Hybridität in der Sprache Aus der Vielfalt der Sprachenmischungserscheinungen, die ich im Rahmen meiner Forschungen in Hajosch erschlossen habe (vgl. Földes 1996, S. 20ff. und Földes 2001), sollen nur einige wenige verallgemeinerbare Beispiele genannt werden. 7.1 Phänomenfeld der Transferenzen 7.1.1 Lexik und Semantik Im Bereich der besonders zahlreichen lexikalisch-semantischen Transferenzen wirken Belege wie (1) Soll ma itt em polgärmester 7 saj ajändek zimacsomagolni and teand legaläbb zwi, drei szaloncukor odr eappes naj? Akkor szep lenne. (Standarddeutsch, 8 im Weiteren - SD: Soll man nicht dem „polgärmester“ [= Bürgermeister] sein „ajändek“ [= Geschenk] zusammen-„csomagolni“ [= packen] und tut „legaläbb“ [= wenigstens] zwei, drei „szaloncukor“ [= Süßigkeit am Weihnachtsbaum] oder etwas hinein? Dann wäre es schön.) auf den ersten Blick zwischen Befremdlichkeit und Faszination recht spektakulär. Von der Theoriebildung her sind aber Fälle wie (2) Tuars naj a Suppdba. (SD: Tu es hinein in die Suppe! ) interessanter. Das a vor dem Wort Suppdba ist ein bestimmter Artikel des Ungarischen, die Endung -ba (bzw. -be) figuriert als ungarisches lllativsuffix (Ortsbestimmungssuffix des inneren Raumes auf die Frage ‘wohin? ’). Be- 7 Die Übernahmen aus dem Ungarischen erscheinen bei allen Belegen gemäß der ungarischen Orthografie und typografisch zur prägnanteren Kennzeichnung und Hervorhebung im Fettdruck 8 Darunter verstehe ich hier zur größtmöglichen Wahrung der Authentizität die texttreue Wiedergabe des sprachlichen Belegs mit Elementen und Mitteln der deutschen Standardsprache. unabhängig davon, ob im binnendeutschen Standard die gegebene lexikalische oder morphosyntaktische Ausformung gebräuchlich ist oder nicht. Angesichts der Tatsache, dass das Deutsche eine plurizentrische Sprache darstellt, gibt es ja sowieso keinen gänzlich einheitlichen Standard. Kontaktsprache Deutsch 357 merkenswert ist, dass mit der Wahl der SuffixVariante -ba der für das Ungarische charakteristischen Assimilation nach dem Gesetz der sog. Vokalharmonie voll entsprochen wurde. 9 7.1.2 Morphosyntax Die Problematik der grammatischen Transferenzen ist in der Forschungsliteratur spärlicher bzw. weniger einheitlich bearbeitet; über morphosyntaktische Transfers gehen die Meinungen der Linguisten nach wie vor stark auseinander. Müller hat in seiner zuerst 1861 erschienenen Schrift noch gemeint, dass „Sprachen in ihrem Vokabular zwar gemischt sein können, aber in ihrer Grammatik nie gemischt werden können“ (1965, S. 79). Diese Ansicht wurde von der nachfolgenden Forschung nahezu in den Rang einer Lehrmeinung erhoben. Noch heute vertreten viele Linguisten den Standpunkt, dass zwischensprachliche morphosyntaktische Beeinflussungen praktisch nicht möglich sind, vgl. Filipovic (1986, S. 185), Barba (1982, S. 181), Stepanova (1983, S. 198f.) und Berend/ Jedig (1991, S. 182). In meinem Material konnte jedoch eine Reihe relevanter morphologischer und syntaktischer Kontaktphänomene nachgewiesen werden. Diese gehen in mancher Hinsicht wesentlich über das hinaus oder sind nur teilweise parallel zu dem, was an anderen Sprachenpaaren und unter anderen kulturellen Konfigurationen beschrieben wurde. Besonders frappierend sind Strukturen, bei denen die Grammatik sowohl deutsch als auch ungarisch ist, z.B. (3) Schits miar ans Kläsliba! (SD: Schütte es mir ins Gläslein! ) 9 Die Vokalharmonie ist eine wichtige phonetische Besonderheit der finnisch-ugrischen Sprachen (derzufolge es im Ungarischen helle, dunkle und gemischte Wörter gibt), die sich auch auf die Suffixaltemation auswirkt. Das ungarische Korrelat für Suppe heißt leves und bekommt als helles Wort die Suffixvariante -be im Gegensatz zu der im Beleg vorkommenden Form Suppdba, die mit der Variante -ba suffigiert wurde. Da auch schon Suppa eine assimilierte Form darstellt, ist die Wahl der Endung, aus heutiger Sicht, lediglich eine Auswahl zwischen zwei wegen der Vokalharmonie entstandenen - Morphemalternanten. 358 Csaba Földes Hier erfolgt die Sprachenmischung beim ungarischen lllativsuffix am Wortende, weil ja die vorausgehende Kontraktion aus Präposition und Artikel noch deutsch ist. Ein möglicher Grund für diesen Transfer der ungarischen Morphologie dürfte in der sprachökonomischen Leistung des Ungarischen in diesem Bereich liegen, nämlich, dass raumbezogene Richtungsangaben im Ungarischen durch die jeweiligen Illativsuffixe rein morphologisch realisiert werden, während man sie im Deutschen etwas aufwändiger durch Präfixe plus den davon abhängenden (und indirekt vom Verb bestimmten) Kasus in den Artikeln und Kernsubstantivendungen der Nominalgruppe - und somit morphosyntaktisch ausdrückt. Überdies kommt in diesem Beleg eine eigentümliche Dualität ins Bild: Die grammatischen Relationen kommen doppelt (d.h. in beiden Sprachen) und zudem mit kategorial unterschiedlichen Beziehungsmitteln zum Ausdruck. Eine weitere Auffälligkeit ist hier die Frage der Vokalharmonie. Durch Nachfragen bei den Informant(inn)en und weitere analoge Beispiele wurde klar, dass in diesem Beleg im Prinzip auch die helle Variante -be - Kläslibe (= ins Gläslein) möglich wäre; ähnlich wie die beiden Optionen Häfiliba oder Häfilibe (= ins Häfilein). Bei Stämmen mit dunklen Vokalen wie dies durch den aus ausschließlich dunklen Vokalen bestehenden Diphthong [ua] im folgenden Beispielwort belegt wird ist hingegen nur die Suffixvariante -ba möglich, vgl. z.B. Kruagba (= in den Krug). Manche dieser Eigentümlichkeiten (z.B. die zusätzliche Suffigierung beim Substantiv in einem Präpositionalgefüge wie im Beleg Nr. 3) sind ausnehmend spannend, wären sie doch beim Kontakt von zwei flektierenden indogermanischen Sprachen nicht denkbar. Bekanntlich hängen ja die verschiedenartigen Kontaktphänomene neben vielfältigen psycho-, neuro-, sozio- und pragmalinguistischen Faktoren im Wesentlichen von den strukturellen (typologischen) Eigenheiten und Möglichkeiten der miteinander in Berührung stehenden Sprachen ab. In diesem Zusammenhang fehlen noch größere empirische Untersuchungen mit Blick auf den Kontakt des Deutschen mit nicht-flektierenden Sprachen. Eine weitere faszinierende interlinguale Erscheinung kann man bei einigen Formen der Hybridisierungen in der Wortbildung entdecken. Sehr produktiv Kontaktsprache Deutsch 359 sind beispielsweise die mit der ungarischen Vorsilbe akärentstandenen kompakten „ungamdeutschen“ Pronominaladverbien, vgl. Beleg (4) und (5): (4) I han s tr ksait, ta kascht kau, akärmonah, tas ta witt, t’ Wared sagitse tiar toch itt! (SD: Ich habe es dir gesagt, du kannst gehen, akär-[= egal]wohin, dass du willst [eigentlich: ...wo du auch immer hinwillst], die Wahrheit sagen sie dir doch nicht! schwäb. mo = ,wo’ + nah = ‘nach’, entsprechend: monah - ‘wohin’) (5) Tez muss kau, akärwiea! (SD: Das muss gehen, akär-[egal]wie! ) 10 Diese durch Zusammensetzung konstruierten ungarischen konzessiven Komposita werden vom deutsch-ungarischen bilingualen Sprachträger reetymologisiert. Dadurch tritt ihre Motivation klar in Erscheinung: Die Vorsilbe akdru wird aus der Zusammensetzung isoliert und mit den deutschen Fragepronomina wohin und wie verknüpft. Es gibt auch weitere Formen wie akärwas, akdrmo (< wo) etc. Nach meiner Ansicht kommt es deswegen zur Übernahme der Vorsilbe akdr- und zu verschiedenen damit gebildeten Komposita, weil die als Muster dienende ungarische Konstruktion sprachlich viel einfacher, ökonomischer und transparenter ist als die entsprechenden analytischen Ausdrucksweisen des Deutschen (w-Fragewort + auch immer + Nebensatz). Der Transparenz fällt eine besondere Bedeutung zu, weil sie dem kognitiven Prozess entgegenkommt, was den zwischensprachlichen Transfer begünstigt. 7.1.3 Pragmatik Sprachenkontaktvorgänge treten natürlich nicht nur auf der Systemebene zu Tage, sondern sie erstrecken sich über die verschiedenen pragmatischen Dimensionen (einschließlich der nonverbalen und paralinguistischen Aspekte in ihrer jeweiligen Kulturspezifik der Sprachverwendungsbeziehungen) bis hin zur soziokulturellen Transferenz. So etwa kann man auf die Erfahrung in Zweibzw. Mehrsprachigkeitssituationen hinweisen, dass interethnische (kulturelle und sprachliche) Annäherungen und Berührungen oft mit der 10 Der Gebrauchsnorm des binnendeutschen Standards würde etwa folgende Übersetzung entsprechen: Das muss gehen, wie auch immer! 11 Sinngemäß: egal. 360 Csaba Földes Übernahme der Umgangs- und Höflichkeitsstrategien, -modelle und -formein einsetzen. Vor diesem Hintergrund liegen in meinem Material vielfältige Beispiele auch für Transferenzen auf der Textbzw. Diskursebene vor. Dabei erscheint es mir wichtig festzuhalten, dass nicht nur einzelne Sprachelemente und -muster beeinflusst worden sind, sondern auf der Makroebene auch die Diskurstraditionen 12 und die sprachlich-kommunikativen Verhaltensweisen. Man kann wohl davon ausgehen, dass die Kommunikationsweisen und Diskursnormen der Ungarndeutschen mit den entsprechenden Kulturmustern heute eine Mittelposition zwischen denen der (weitgehend unilingual und unikulturell) binnendeutschen und der ungarischen Kommunikationsgemeinschaft einnehmen. Diese Dimension dürfte auch im Hinblick auf die Theorie der sog. interkulturellen Kommunikation nicht ohne Bedeutung sein. Zu ihrer genauen Erforschung sind jedoch noch gründliche Vorarbeiten sowohl psycho-, neuro-, sozio- und pragmalinguistischer als auch ethnologischkulturanthropologischer Art erforderlich. 7.2 Phänomenfeld der Kode-Umschaltungen Viele intrasentenzielle Kode-Umschaltungen setzen seitens des Kommunikators eine ziemlich hohe bilinguale Sprachkompetenz voraus, denn es treten kaum syntaktische Konflikte zwischen den aufeinander treffenden grammatischen Systemen auf. Das heißt, an den Schaltstellen werden die syntaktischen Regeln beider Sprachen weitgehend eingehalten, vgl. insbesondere den Schlussteil der folgenden Redesequenz. Hier folgt auf die ungarische Konjunktion mer (eigentlich mert [= weil]) die normative Satzgliedstellung des Deutschen, die in diesem Fall auch den Usancen des Ungarischen nicht widerspricht. (6) Mama tülvoltam a Dördnäl, hajt hani iara Medili huajmksuacht. So groß ischt sie schau, mär gagyog. Sechs Kilo hatse. And t Dora hat so viel Mill, pis jetz hat sie ellawajl kenna a Mill vakaufa. Jetz hatsie ksajt, jetz kajt sie kuajna me hear, hadd nöjön ez a kisläny. Nacht hama lang vazelt, iaran Ma ischt en Teutschland gi arbada, sie hand scha a nujs Haus, 12 In Anlehnung an Stehl (1994, S. 139) verstehe ich darunter die unterschiedlichen Sprech-, Text- und Schreibtraditionen. Kontaktsprache Deutsch 361 abr sie kennid itt najzia, well sie haud kuaj Geld. Jetz ischt iaran Ma uf Teutschland kanga, azon a penzen bütort akartak venni, mer a Kuchi praucht ma au, and en tr Kuchi tenna hat sie no kar nix. (SD: Heute war ich bei der Dora, heute habe ich ihr Mädel [= ihre Tochter] heimbesucht. So groß ist sie schon, sie lallt schon. Sechs Kilo hat sie. Und die Dora hat so viel Milch, bis jetzt hat sie immer können eine Milch verkaufen. Jetzt hat sie gesagt, jetzt gibt sie keine mehr her, damit dieses Mädchen doch wachsen soll. Danach haben wir lang erzählt, ihr Mann ist in Deutschland arbeiten, sie haben schon ein neues Haus, aber sie können nicht einziehen, weil sie haben kein Geld. Jetzt ist ihr Mann nach Deutschland gegangen, von dem Geld wollten sie Möbel kaufen, weil eine Küche braucht man auch, und in der Küche drin hat sie noch gar nichts.] In manchen anderen Fällen funktioniert die zwischensprachliche Symbiose nicht mehr ganz so harmonisch. Im folgenden Beleg will die Sprecherin ihrer jüngeren Gesprächspartnerin, die genauso der deutschen Ortsmundart mächtig ist, etwas erklären, wobei sie ständig fast verkrampft den Zugriff auf das Ungarische sucht. Es ist aber offenkundig, dass dies nicht funktional bedingt ist, weil sie ja diese Sprache nicht sehr gut beherrscht. Daher entsteht ein kaum verständliches sprachliches Konglomerat aus verzweifelter ungarischer Wortsuche und urtümlichem ungarndeutschem Dialekt: (7) Ziegl ischt so vill, hogy ... wiea soll i’s diarjetz uff Angrisch saga ... hooo ... hogy ... hogy ... hogy sok gyereket nevelnek, tudod... hogy sok gyerek van, tudod, es ahun [sic! ] sok gyerek van, wiea sagid sie uff sealli Angresch, hogy ezek olyanok, mint a disznök, annyira [von der Gesprächspartnerin zur Hilfe vorgegeben: szaporäk] szaporäk, so kan das sei, ... s ... s ... s Ziegldorf, das ischt szapora-Dorf, kasch au saga. (SD: Ziegel ist so viel, dass ... wie soll ich es dir jetzt auf Ungarisch sagen ... da ... dass ... dass ... dass sie viele Kinder erziehen, du weißt ... dass es viele Kinder gibt, und wo viele Kinder sind, wie sagen sie [= sagt man] auf solche [= das] ungarisch, dass diese so sind wie die Schweine, sie vermehren sich so. so kann das sein, [da]s ... [da]s ... [da]s Ziegeldorf, das ist ein „szapora“- [= fortpflanzungsfreudiges] Dorf, kannst [du] auch sagen.) Anmerkung: Statt Dorf ist in Hajosch normalerweise Aat (= Ort) gebräuchlich. Die Bezeichnung Ziegeldorf haben die Waschkuter 1 als Spottnamen für Hajosch verwendet. 13 Waschkut/ Vasküt ist ein anderer ungamdeutscher Ort in der Gegend. 362 Csaba Földes 7.3 Sonstige Arten von bibzw. multilingualen Diskursmodi Auch andere Ausprägungen des bilingualen Sprecherverhaltens ließen sich aus meinen Sprachproben erschließen, vgl. (8) Ihr Kutya Hand,' 4 ihr Räudige! (SD: Ihr räudigen Hunde! ) Der Beleg Nr. (8) dokumentiert das von BechertAVildgen (1991, S. 3) sowie von Appel/ Muysken (1997, S. 129ff.) als „Neutralitätsstrategie“ und von Ziegler (1996, S. 70) als „zwischensprachliche Dopplung“ bezeichnete Sprecherverhalten, bei dem die Mitteilung oder ein Teil von ihr nacheinander in der anderen Sprache wiederholt wird. 15 Auch im Bereich der Wortbildung ist dieses Phänomen präsent. Beispielsweise nennt ein von mir sprachlich beobachtetes Kind seinen Urgroßvater Nienipapa (aus Nieni = Urgroßvater + Papa = Opa), wohl weil es zuerst das in diesem Fall zum Ungarischen zu zählende papa gelernt hat, während es von den Eltern und den anderen Erwachsenen später zunehmend das schwäbische Nieni hörte. Daraus bildete es diese Kombination. Es ist auch hervorzuheben, dass als Folge von Sprachenkontakten nicht lediglich mit der von 7.1 bis 7.3 diskutierten Hybridität der Sprache zu rechnen ist, sondern auch mit z.T. recht subtilen Vermeidungsstrategien, Übergeneralisierungen u.a. Das heißt: nicht nur das ist kontaktlinguistisch relevant, was der zweibzw. mehrsprachige Sprecher sagt und wie er das sprachlich formuliert, sondern auch was und warum er etwas nicht sagt, warum er sich bestimmter Zeichen(kombinationen) der einen Sprache gar nicht oder nur kaum bedient. So kann sich eine Sprache auch auf die Bevorzugung oder Vermeidung von Elementen, Strukturen und Modellen der anderen Sprache auswirken, was nur recht schwierig, z.B. durch aufwändige Frequenzuntersuchungen etc. fassbar ist. Hand = 'Hund'. Im Übrigen kann man nicht ausschließen, dass ung. kutya (‘Hund’) hier ein Attribut ist wie in kutya nehez, (wörtlich: „hundeschwer/ hundemäßig schwer“) oder kutya hideg/ meleg („hundekalt/ -warm„ bzw. „hundemäßig kalt/ warm“) usw. Kontaktsprache Deutsch 363 8. Fazit und Folgerungen Verallgemeinert können aus den untersuchten synchronen Kontaktphänomenen u.a. folgende Schlussfolgerungen gezogen werden: Wie eben die Zweibzw. Mehrsprachigkeitssituationen weltweit sehr unterschiedlich sind, so weist auch die bilinguale Sprachverwendung eine außerordentlich große Vielfalt auf. Lediglich das Faktum des Kontaktes selbst kann als Konstante betrachtet werden, während sämtliche Rahmenbedingungen als Variablen fungieren. So lassen sich hinsichtlich der Mechanismen der Sprachenmischung meiner Überzeugung nach allenfalls bestimmte allgemeine Tendenzen, aber keine universalen, von einzelnen Sprachenpaaren und soziokulturellen Rahmenbedingungen unabhängigen Gesetzmäßigkeiten absoluter Gültigkeit feststellen. Folglich kann man die bei einem Sprachenpaar in einem soziokulturellen Referenzrahmen erschlossenen Phänomene und Schlüsse nicht automatisch auf ein anderes Sprachenpaar übertragen. 16 Dies bestätigen die vielfach auftretenden Diskrepanzen zwischen dem von mir bearbeiteten Material (bzw. dessen Interpretation) und den Belegen aus der Fachliteratur (bzw. deren Interpretation). 17 In diesem Lichte muss man an die Hypothesen der sog. Universalien des Sprachenkontaktes sehr vorsichtig herangehen. Zur Problematik der Kontakt-Universalien stellen Neide (1981, S. 117ff.) in Bezug auf die natürlichen deutsch-französischen Sprachenkontakte und Spillner (1986, S. 151ff.) hinsichtlich der künstlichen Sprachenkontakte (konkret: des gesteuerten Zweitspracherwerbs) im germanistischen Schrifttum erste und konstruktive Überlegungen zur Diskussion. In diesem Zusammenhang können die genetisch nicht verwandten und typologisch einander nicht ähnlichen Sprachenkonstellationen so auch die in dieser Studie thematisierte deutsch-ungarische Relation höchst wertvolle Impulse geben. Bereits Schappelle (1917, S. 25 und 40f.) hat die genetische Nähe bzw. Distanz der miteinander in Berührung stehenden Sprachen angesprochen, in der Weise, dass seiner Ansicht nach das Deutsch der deutschstämmigen Siedler in Brasilien (auch) deswegen „schwerer zu verstehen ist als die deutschen Dialekte in Nordamerika“, weil letztere „unter dem Einfluß einer verwandten Sprache“ standen, während die sprachliche Beeinflussung 16 Das soll allerdings keinesfalls bedeuten, dass vergleichende Analysen von unterschiedlichen Sprachenkontaktsituationen und bilingualen Redeprodukten wert- oder sinnlos wären. 17 Vgl. ausführlicher Földes (1996, S. 62ff.). 364 Csaba Földes in Brasilien von einer „ganz fremden“ Sprache ausging. Es wäre hierzu zu sagen, dass einmal abgesehen davon, dass auch zwischen den Kontaktsprachen Deutsch und (brasilianisches) Portugiesisch im Rahmen der indogermanischen Sprachfamilie genealogische Beziehungen bestehen die genetische, aber vor allem die typologische Ähnlichkeit oder Unterschiedlichkeit bei den Sprachenkontakten (neben soziokulturellen Faktoren) von großer Bedeutung ist. Wie schon unter 7.1.2 ausgeführt, kann sich daher das Sprachenpaar Deutsch-Ungarisch eminent dazu eignen, dass man an ihm besondere und auch für die Theoriebildung höchst bedeutsame Erkenntnisse herausarbeitet bzw. entsprechende Hypothesen aufstellt. Meine Untersuchungsergebnisse haben deutlich werden lassen, dass viele Thesen der meist angloamerikanisch dominierten Bilingualismus-Forschung in der von mir analysierten deutsch-ungarischen Kontaktsituation oft nicht oder nur teilweise Bestand haben. 18 Es könnte sein, dass der Grund dafür in der sprachtypologischen Divergenz der analysierten Sprachenkontakt-Konstellation oder im völlig unterschiedlichen diachronen und synchronen gesellschaftlichen Umfeld der untersuchten Populationen liegt. Die Befunde der Arbeit legen also die Dringlichkeit einer Validisierung und Differenzierung des bisherigen sozio- und kontaktlinguistischen Erkenntnishorizonts nahe, wobei typologisch und genetisch divergenten Sprachenkonstellationen eine besondere Rolle einzuräumen ist. Die Untersuchungsergebnisse haben ferner Implikationen für die Sprachtypologie und andere Disziplinen der Sprachwissenschaft. Meine Betrachtungen haben auch zu der Überlegung geführt, dass die Beschreibung und Interpretation von Kontaktphänomenen nicht auf die systemlinguistische Forschungsausrichtung beschränkt bleiben 18 Die vor allem deskriptiv-systemlinguistischen Forschungen zur Kode-Umschaltungsproblematik im Hinblick auf die Identifizierung muster- und regelgeleiteter Kode-Umschaitungsvorgänge haben im Rahmen verschiedener grammatischer Studien zur Entwicklung mehrerer theoretisch-syntaktischer Modelle geführt. Diese Modelle sind auf die Analyse und Interpretation von Kode-Umschaltungen und die Herausarbeitung syntaktischer Konstituenten bzw. von sog. „constraints“ (Restriktionen) ausgerichtet, die eine Kode-Umschaltung vorhersagbar machen oder ausschließen. Dass diese Restriktionen nicht ganz allgemein gültig sind, geht auch aus anderen Studien hervor, vgl. beispielsweise Pandharipande (1990, S. 18ff.), Nortier (1995, S. 84) und Bader/ Mahadin (1996, S. 36 und 51). Kontaktsprache Deutsch 365 darf, 19 sondern vielmehr auch - und besonders aus kommunikations-, sozio- und pragmalinguistischer Perspektive im weitesten Sinne möglich und sinnvoll ist. Dabei wären u.a. sowohl makrosoziolinguistische Aspekte (sprachökologische Variablen) als auch mikrosoziolinguistische Erscheinungsformen (die konkrete Sprachverwendung) gleichfalls zu berücksichtigen. Obwohl besonders bei den Transferenzerscheinungen wie unter 7.1.2 vorgeführt die strukturellen Eigenschaften der kontaktierenden Sprachen und der soziokulturelle Rahmen zugleich den Ausschlag geben, fällt beispielsweise bei der Kode-Umschaltung deutlich den psycho-, neurosowie den soziobzw. pragmalinguistischen Umständen die maßgebliche Rolle zu. Bei aller Wichtigkeit sprachenpolitischer Rahmenbedingungen sollen solche Untersuchungen m.E. prononciert von linguistischen und nicht von politischideologischen Auffassungen bzw. Wertesystemen gesteuert werden. Eine Überpolitisierung von ohnehin brisanten Zwei- und Mehrsprachigkeitsfragen wie dies etwa bei Mahlstedt (1996, S. 223) stellenweise geschieht, ist den wissenschaftlichen Forschungsinteressen nicht dienlich. Auf Grund der durchgeführten Analyse lässt sich annehmen, dass es in der Sprache wenig gibt, was unter entsprechenden Bedingungen - Stichwort Kontextgebundenheit des Sprechens nicht variieren bzw. sich nicht ändern würde (wobei allerdings diese Prozesse nicht ohne System und Regeln vor sich gehen). Insofern muss dem rigiden Standpunkt von Stiehler (2000, S. 4f.) über das Deutsche in Ostmittel- und Südosteuropa klar widersprochen werden, dass „Ortsmundarten als Folge gewollter oder ungewollter Isolation sprachlichem Wandel gegenüber am verschlossensten bleiben“. Die Gesellschaft, die Sprachensituation und damit auch die Sprache und der Sprachgebrauch sind natürlich auch im behandelten Bedingungsgefüge nichts Statisches, vielmehr zeichnen sie sich als Folge sprachexterner wie auch sprachinterner Faktoren durch einen permanenten Innovationsprozess aus. Wenn Fabov (1971, S. 134) z.B. erkennt, dass der Wandel des soziokulturellen Kontextes und des Redegegenstandes eine Veränderung einiger sprachlicher Variablen nach sich zieht (Stilwechsel), so wären zu dieser für die Einsprachigkeit festgestellten - Erscheinung unter Mehrsprachigkeitsbe- Die Postulierung morphosyntaktischer Regeln z.B. für Kode-Umschaltungen dürfte auch deswegen problematisch sein, weil Kode-Umschaltung vor allem in der gesprochenen Sprache auftritt, in der die Regeln, die an der und für die geschriebene Sprache erarbeitet wurden, weniger bindend sind. 366 Csaba Földes dingungen die verschiedenen Sprachenkontaktphänomene in ihrer Komplexität zu betrachten. Es handelt sich also um vor allem durch Sprachen- und Kulturenkontakte und die besondere sprachliche Bewältigung der ungarischen Umwelt induzierte - Innovationsvorgänge im Sprachsystem wie auch im Sprachgebrauch im weitesten Sinne. Hinsichtlich der einzelnen Typen von Sprachenmischung und der durch sie hervorgerufenen systemverändernden Sprachinnovationen kann man eine interessante Prozesshaftigkeit annehmen.“ 0 Demnach stellen Kode-Umschaltungen nur eine spontane, kurzfristige Form der Sprachaltemation bei der Interaktion dar und sind auf der Ebene der Sprachvariation anzusetzen. Sie können aber längerfristig zu Transferenzen (und dann u.U. zu etablierten Lehnwörtern, Lehnwendungen etc.) führen, die schon zu einem wirklichen Sprachinnovationsprozess essenziell beitragen. Aus der Untersuchung geht ferner hervor, dass das besprochene „Kontaktdeutsch“ einen Mikrokosmos für sich darstellt und einer holistischen Betrachtung bedarf. In diesem Kontext wurde deutlich, dass der individuelle Sprachgebrauch bei Zweibzw. Mehrsprachigen infolge seines dynamischen Fassettenreichtums in Sonderheit im mikrostrukturellen Feinbereich des Sprachverhaltens kaum prognostizierbar ist. Während sich die bisherige soziolinguistische Literatur vorrangig auf die makrostrukturellen Zusammenhänge in der Kommunikationsgemeinschaft konzentriert und in diesem Kontext wertvolle soziologisch definierte Sprachgebrauchsmuster erarbeitet hat, würde m.E. nun die Hinwendung zu Aspekten des sprachlichen Handelns des Individuums künftig eine vorwärts weisende Perspektive eröffnen. Für die immer instabiler werdende bilinguale Dialekt-Standard-Diglossie bei der überwiegenden Mehrheit der Ungarndeutschen dürfte eine solche Blickrichtung einschließlich der kognitiven Dimension von ganz besonderer Relevanz sein. Die sozio-, psycho- und pragmalinguistisch orientierte Kontaktlinguistik sollte in diesem Zusammenhang manch fruchtbaren Ansatz der Ethnomethodologie aufgreifen. So wäre eine nicht unwichtige Aufgabe für Untersuchungen wie die vorliegende, einen Beitrag zur Konstruktion von Schnittstellen zu leisten. An unterschiedlichen Sprachenpaaren und unter unterschiedlichen soziokulturellen Bedingungen haben auch andere Wissenschaftler in dieser Denkrichtung Hypothesen aufgestellt, vgl. etwa Heath (1989) in arabisch-französischer Relation in Marokko und Müller (2000, S. 31) in spanisch-deutscher Beziehung in Südchile. Kontaktsprache Deutsch 367 9. Perspektiven und Aussichten Im Sinne eines zusammenfassenden Ausblicks wäre also zu sagen, dass die kontakt-induzierten Phänomene in Zukunft m.E. stärker aus der Sicht des Individuums - und besonders des in der Forschung bislang praktisch vernachlässigten Rezipienten - und weniger mit systemlinguistischer Ausrichtung als vielmehr aus psycho-, neuro-, sozio- und pragmalinguistischer Perspektive zu analysieren sind. Wir wissen zum Beispiel kaum etwas darüber, wie das sprachliche Verhalten und die Interaktionsstrategien der Bibzw. Multilingualen in Abhängigkeit von verschiedenen sozialen und kulturellen Faktoren variieren. Solche sind z.B. Alter, Geschlecht, Bildung, Beruf, Kommunikation u.a. Es wäre selbstverständlich der Idealfall, wenn es einmal gelänge, den sprachhistorischen, sprachstrukturellen, sprachideologischen, sprachdidaktischen, sprachsoziologischen und kulturwissenschaftlichen Diskurs miteinander zu vernetzen. Anhand der durchgeführten kontaktlinguistischen Untersuchung (vgl. auch Földes 1996 und 2001) wurden manche weiterführende Forschungsdesiderata sichtbar. Beispielsweise ist noch umstritten, ob für die verschiedenen Sprachen eines multilingualen Individuums identische oder unterschiedliche neuro- und psycholinguale Prozesse charakteristisch sind. Ein weiteres gewiss viel versprechendes Thema wäre die Untersuchung der Beeinflussung auch in den anderen semiotischen Medien. 10. Literatur Andersen, Henning (1989): Understanding linguistic innovations. In: Breivik, Leiv Egil/ Jahr, Ernst Häkon (Hg.): Language Change. Contributions to the Study of Its Causes. Berlin/ New York. (= Trends in Linguistics, Studies and Monographs 43). S. 5-27. Andrasfalvy, Bertalan (1992): A mäsik anyanyelv. In: Györi-Nagy, Sändor/ Kelcmen, Janka (Hg.): Ketnyelvüseg a Kärpät-medenceben. II. Budapest. S. 5-10. Appel, Rene/ Muysken, Pieter (1997): Language Contact and Bilingualism. 8. Aufl. 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Die staatliche Grenze der mitten in Europa gelegenen Bundesrepublik Deutschland hat eine Länge von 3.767 km, wobei die Küsten von Nord- und Ostsee nicht mitgerechnet sind. An ihr hegen neun Anrainerstaaten: Dänemark, die Niederlande, Belgien, Luxemburg, Frankreich, die Schweiz, Österreich, Tschechien und Polen. Diese Länder sind von Deutschland aus unmittelbar zugänglich. Die staatliche Grenze der Bundesländer Sachsen und Bayern zu Tschechien ist mit 810 km die längste. Die deutsche Ostgrenze zu Polen und Tschechien, an der die Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen und Bayern hegen, verläuft von der Mündung der Oder in die Ostsee bis zur Mündung des Inn in die Donau bei Passau. Sie misst insgesamt etwa 1.300 km. Deutschland ist das nachbarreichste Land der Erde (Friedlein/ Grimm 1995, S. 9Iff.). Die Grenzen zu den einzelnen Nachbarstaaten sind auf Grund der historischen Ereignisse, bei denen sie vertraglich festgelegt worden sind, unterschiedlich alt. Die jüngste ist die seit 1945 bestehende, aber erst 1991 von der Bundesrepublik anerkannte polnische Grenze (ebd. S. 92). Das Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland ist nicht mit dem deutschen Sprachgebiet, das größer ist, identisch. Betrachtet man dieses in seiner Gesamtheit, dann sind noch sechs weitere Nachbarstaaten hinzuzuzählen: Italien, Liechtenstein, Slowenien, Kroatien, Ungarn und die Slowakei, die bis auf Liechtenstein eigene Sprachen haben. Dazu kommen die binnenstaatlichen Kontakte mit der fremdsprachlichen Minderheit des Friesischen, mit den nach dem Ende des zweiten Weltkrieges großen immigrierten Minderheiten (Türken, Jugoslawen, Italiener, Griechen, Polen, Rumänen, Spanier, Niederländer und Vietnamesen), die etwa 4,75 Millionen Personen zählen (Friedlein/ Grimm 1995, S. 16), oder mit Sprachen kleinster Nationalitäten, die keinen eigenen Staat bilden, wie Sorbisch und Ladinisch. 372 Siegfried Grosse Somit haben die deutschen Muttersprachler an den äußeren Rändern ihres Sprachgebietes Berührung mit 15 fremden Sprachen in den täglichen Kontaktzonen der Grenzbereiche. Sie können diese Fremdsprachen jenseits der Grenzen vielleicht teilweise verstehen, aber sie lernen nur selten, sie zu sprechen. Denn ihre Bereitschaft, sich mit den Sprachen jenseits der Sprachgebietsgrenze zu befassen, um mit den Nachbarn besser kommunizieren zu können, ist mit Ausnahme des Französischen, das zusammen mit Englisch in den Schulcurricula die in der Regel obligatorischen modernen Fremdsprachen vertritt, leider bisher wenig entwickelt. Man hat sich seit Jahrzehnten daran gewöhnt, dass die Bewohner jenseits der Landesgrenzen die Sprache des größeren Nachbarn, also Deutsch, sprechen. Frankreich und Italien sind hierbei eine Ausnahme, da sie unter den Anrainern die bevölkerungsstärksten sind. Ihre Sprachen haben einen weiten, historisch fundierten überregionalen Geltungsbereich und werden deshalb in den deutschen Schulen unterrichtet (Französisch in den meisten Bundesländern als zweite oder dritte Sprache; Italienisch, wie auch Spanisch, nur fakultativ). Außerdem ist Französisch neben dem Englischen Amtssprache der EU. Im Vergleich hierzu ist der Wirkungsgrad der anderen Nachbarsprachen eng an das Einzugsgebiet ihres Staates gebunden. Sie werden überregional kaum gesprochen, gelesen und verstanden. Damit ergibt sich für die Bewohner die existenzielle Notwendigkeit, neben der Muttermindestens eine Fremdsprache zu erlernen, die jenseits der Landesgrenzen weiter führt. Diese Sprachen erscheinen in Deutschland bestenfalls auf den Lehrplänen grenznaher Schulen als fakultative Fächer oder zur Reisevorbereitung in Kursen der Volkshochschulen. Im Folgenden wende ich mich einer Landschaft zu, in der sich Deutschland, Polen und Tschechien mit ihren Grenzen und den Sprachen Deutsch, Sorbisch, Tschechisch, Polnisch und als lingua franca auch Englisch berühren und im Hinblick auf ein vereinigtes Europa enger zusammenrücken wollen. Dieses Dreiländereck hat am 21.12.1991 grenzübergreifend die EUROREGI- ON NEIßE (D)/ NISA (CZ)/ NYSA (PL) institutionalisiert. Sie umfasst etwa 12.300 km 2 mit 1.693.000 Einwohnern. Zur sprachlichen Situation in der Euroregion Neiße (D)/ Nisa (CZ)/ Nysa (PL) 373 In Deutschland besteht die Kommunalgemeinschaft Euroregion Neiße (3.200 km 2 , 560.000 Einw.) aus den Landkreisen Niederschlesischer Oberlausitzkreis, Löbau-Zittau, Bautzen und den kreisfreien Städten Hoyerswerda und Görlitz. In Tschechien setzt sich der kommunale Gemeindeverband der Euroregion Nisa (3.500 km 2 , 500.000 Einw.) aus Gemeinden und staatlichen Instanzen der Kreise Liberec, Ceskä Lipa, Japlonec, Semily und Decin zusammen. Der polnische Gemeindeverband der Euroregion Nysa (5.600 km 2 . 633.000 Einw.) hat 48 Gemeinden der Wojewödzlwo Dolnosl^skie und der Wojewödzlwo Lubuskie, außerdem gehören ihm die Kreise Jelenia Göra, Lubah, Kamienna Göra, Lwöwek Slaski. Zlotoryja, Zgorzelec und Boleslawiec an (Schulze u.a., o.J., S. 8) an. Die Grenzen zwischen den drei Ländern haben 43 Übergänge. Die größte Stadt ist Liberec mit etwas mehr als 100.000 Einwohnern (Schulze u.a. o.J., ebd.). Die Region wurde wegen des seit 1925 immer stärker intensivierten Braunkohle-Tagebaus, der viele Dörfer beseitigt hat, und wegen des hohen Schadstoffausstoßes ‘Das schwarze Dreieck' genannt. Heute - 10 Jahre nach der Wende hat sich die ökologische Situation zwar wesentlich verbessert, allerdings auf Kosten der Ökonomie und der verschlechterten Beschäftigungslage. Denn die Braunkohlenwerke sind stillgelegt worden und viele Betriebe der mittelständischen Industrie arbeiten seit der Wende nicht mehr. Diese negative ökonomische Entwicklung hat die Messergebnisse des Umweltschutzes positiver erscheinen lassen als kostenaufwändige zusätzliche Investitionen, die es auch schon in grenzübergreifender Zusammenarbeit gibt. Als Folge der beträchtlichen Arbeitslosigkeit steigt die Abwanderungsquote vor allem der jungen Leute erheblich. Die gemeinsamen Sorgen um die künftige Lebensgrundlage und die Bereitschaft zur großräumigen Planung mit wirtschaftlicher und soziokultureller Zusammenarbeit und gegenseitigem Informationsaustausch haben den Zusammenschluss in die Euroregion bewirkt, um den Beitritt Polens und Tschechiens zur Europäischen Union vorzubereiten. Von diesem Ereignis erhoffen und befürchten zugleich alle drei Länder sowohl Vorteile als auch Risiken vor allem im wirtschaftlich-industriellen Bereich, die jetzt noch nicht abzuschätzen sind (z.B. Verbesserung von Handel und Beschäftigung/ Differenzen in der Lohn- und Tarifpolitik, Grunderwerb von deutscher Seite jenseits der Grenzen) (vgl. FAZ Nr. 146 v. 27.6.01, S. 11). 374 Siegfried Grosse Auf einer Exkursion des Instituts für Deutschlandforschung der Ruhr- Universität Bochum (13.-17.6.01) nach Bautzen, Görlitz, Jelenia Göra (Hirschberg), Zittau und Liberec (Reichenberg) konnte ich einen ersten Einblick in die Problematik der grenzüberschreitenden Kooperation nehmen. Dabei habe ich meine Beobachtungen besonders auf die sprachliche Situation gerichtet, da die gegenseitige Kenntnis voneinander nicht ohne Überwindung der sprachlichen Barrieren möglich ist. Die Unterschiede der drei Staaten im Verlauf ihrer jüngsten politischen Geschichte bestimmen den Umgang miteinander und machen die Region politisch hoch sensibel. Der Freistaat Sachsen ist ein neues Bundesland, das bis 1990 ein Teil der DDR war und damit über die DDR wie auch die Volksrepublik Polen und die Tschechoslowakei zu den Ländern des Warschauer Paktes gehörte. Der eiserne Vorhang hatte Deutschland und Europa zweigeteilt und die beiden Teile mit diametral entgegengesetzten Ideologien in das westliche und östliche Lager fest eingebunden. Die politische Spannung zwischen den beiden Blöcken prägte das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten. Die Verbindungen der Tschechoslowakei und Polens zur DDR waren trotz der gemeinsamen marxistisch-leninistischen Ideologie und der Einbindung in den Ostblock kühl und nicht besonders herzlich. Die Wende 1990 hat in allen drei Ländern das Leben politisch und wirtschaftlich grundlegend verändert. Die Dominanz der kommunistischen Partei und die imperiale Vorherrschaft der Sowjetunion wurden ohne Blutvergießen von einem Mehr-Parteien-System und von demokratischen Strukturen abgelöst. Damit existierte die Teilung Europas und Deutschlands durch den eisernen Vorhang nicht mehr. In den Schulen aller drei Länder verschwand Russisch als obligatorische erste Fremdsprache aus den Curricula. Für das neue Bundesland Sachsen hat sich die Eingliederung in das System der westlichen Demokratien mit dem Eintritt in die Bundesrepublik schneller entwickelt als in allen anderen osteuropäischen Ländern. Die DDR verlor mit der Wende ihre staatliche Identität; denn sie wurde ein Teil der größeren, schon 40 Jahre existierenden Bundesrepublik Deutschland. Mit der Übernahme der demokratischen Staats- und Gesellschaftsform war eine beträchtliche, bis heute anhaltende solidarische Subventionshilfe für Wiederaufbau und Restaurierung in einer Größenordnung verbunden, die Zur sprachlichen Situation in der Euroregion Neiße (D)/ Nisa (CZ)/ Nysa (PL) 375 keinem anderen der ehemaligen Ostblockstaaten zuteil geworden ist. Der sich damit ergebende Unterschied etwa zu Polen und Tschechien wird auch noch nach 10 Jahren jedem vergleichenden Besucher deutlich. Und er verstärkt sich, wenn man nicht sichtbare Fakten erfragt wie z.B. die Lohn-, Gehalts- und Rentenverhältnisse, ln den ersten 10 demokratischen Jahren der drei ehemaligen Warschauer Pakt-Länder hat sich der persönliche Umgang im Grenzverkehr entkrampft. Die Grenze zu Polen und Tschechien markiert von Deutschland aus gesehen ein deutliches Währungs- und Sozialgefälle. Mit dem Anschluss an die Bundesrepublik haben die sechs neuen Bundesländer ihren Platz in der Europäischen Gemeinschaft bekommen. Jetzt ist ihre Grenze nach Osten und Südosten zu Polen und zu Tschechien nicht nur die der Bundesrepublik Deutschland, sondern (vorläufig noch) auch die des vereinten Europa. Denn ihre Aufnahme in die europäische Staatengemeinschaft ist 10 Jahre nach der Wende noch nicht erfolgt. Die Qualität der östlichen Grenzen hat sich ständig geändert. Der Verlauf der Landesgrenze zu Tschechien folgt seit Habsburger Zeiten dem Kamm des Lausitzer Gebirges und in Fortsetzung den Bergen des Erzgebirges, Vogtlandes und Bayrischen/ Böhmischen Waldes. Hitler hatte diesen Verlauf verändert und das Sudetenland dem Deutschen Reich einverleibt. Diese Grenzverschiebung wurde nach dem Ende des zweiten Weltkrieges korrigiert. Jetzt wohnen Tschechen in dem Gebiet, das einst eine deutschsprachige Bevölkerung bis zu ihrer Vertreibung besiedelt und bewohnt hatte. Auch die Orts-, Straßen-, Berg-, Fluss- und Flurnamen sind nicht mehr deutsch, sondern ins Tschechische übersetzt oder neu gebildet worden. 1993 wohnten schätzungsweise noch etwa 80.000 Deutsche in Tschechien (Friedlein/ Grimm 1995, S. 16), so dass auch noch heute dort Deutsch verstanden und gesprochen wird. Nach der Vertreibung sind neue vielfache und enge tschechisch-deutsche Kontakte entstanden. Die DDR war für die Tschechoslowakei der wichtigste Handelspartner nach der Sowjetunion. Außerdem waren Prag und die nordböhmischen Bäder jahrzehntelang für die Bewohner der DDR das am leichtesten im Ausland erreichbare Urlaubsziel. Der Tourismus wurde und ist bis heute ein wichtiger Wirtschaftsfaktor (mit be- 376 Siegfried Grosse trächtlichem deutschen Anteil). Er hat sich nach der Wende (vor allem mit Prag als Reiseziel) wesentlich verstärkt. Es wäre interessant, die Quelle und den Umfang der heutigen aktiven und passiven Deutschkenntnisse auf tschechischer Seite zu ermitteln. Gehen sie auf muttersprachliche Kenntnisse zurück? Sind sie in oder nach der Schule erlernt oder in einer wirtschaftlichen Berufstätigkeit frei erworben worden? Wie verhalten sich mündlicher und schriftlicher Sprachgebrauch zueinander? Doch für eine sorgsame Erhebung und das Desiderat einer neuen Vermessung der deutschen Sprache in Grenzbereichen fehlen die finanziellen und personellen Mittel. Außerdem würde eine solche Befragung auf tschechischer Seite Empfindlichkeiten wecken und vermeidbare Missverständnisse auslösen. Es ist auch zu erwähnen, dass sich inzwischen das Staatsgebiet der Tschechoslowakei geteilt hat in die beiden autonomen Staaten Tschechien und die Slowakei, die den gleichen Umfang hat wie zwischen 1938 und 1945, als Hitler sie neben dem Protektorat Böhmen und Mähren als eigenen Staat geschaffen hatte. Die jüngste Trennung der Tschechoslowakei hat vermutlich Reminiszenzen an die verhängnisvolle Vergangenheit geweckt. Die staatlichen und sprachlichen Grenzen Polens sind nicht unproblematisch. Sie waren bei ihrer Festlegung politisch umstritten, da sie die in Jahrzehnten gewachsenen Sozialstrukturen der Bevölkerung ignoriert haben. Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges sind sie bei der Verschiebung Polens in Richtung Westen neu bestimmt worden: Dabei hat Polen einen Teil seines östlichen Staatsgebietes an Russland (jetzt Ukraine) abgeben müssen und dafür im Westen die pommerschen und schlesischen Gebiete, die zu Deutschland gehörten, hinzu gewonnen. Oder und Neiße markieren seither die Grenze zu Deutschland. Die neue Grenzziehung hat eine große Migrationsbewegung in Richtung Westen ausgelöst. Die ehemals deutschen Gebiete sind sogleich von Polen wieder besiedelt worden. Die Leiden, die stets mit politisch befohlenen und rücksichtslosen Bevölkerungsverschiebungen verbunden sind, haben auch die Polen beim Verlassen ihrer russischen Heimat erfahren müssen. - Nach Angaben des Bundesministeriums des Inneren lebten 1992/ 93 in Polen noch immer etwa eine Million Deutsche. Es dürfte schwierig sein, genaue statistische Werte zu ermitteln. Eine geschlossene Zur sprachlichen Situation in der Euroregion Neiße {D)/ Nisa (CZ)/ Nysa (PL) 377 deutsche Minderheit ist in Polen eher in der Region Oppeln zu finden als in der Euroregion Neiße. Sowohl in Görlitz als auch in Zittau bekam ich als Antwort auf meine Frage, wie die Verständigung mit Polen und Tschechen in deren Ländern, mit den Kleinhändlern oder den Interessenten für Sperrmüll, die oft nach Deutschland kommen, funktioniere, die Antwort: „Gut; die sprechen alle Deutsch.“ Auch bei überregionalen Konferenzen ist Deutsch die unangefochtene Verhandlungssprache. Das könnte sich im Laufe der nächsten Jahre ändern, denn inzwischen ist an den tschechischen und polnischen Schulen Englisch die erste Fremdsprache und Deutsch die zweite. Vor den drei Euregio-Partnem möchte ich die Sorben als innerdeutsches Fremdsprachenpotenzial und als regionale Besonderheit betrachten. Sie sind ein seit mehr als 1400 Jahren im deutschen Sprachraum fest ansässiges westslawisches Volk, das keinen Staat, aber eine eigene Sprache und eine vielfältig entwickelte Kultur (Literatur, Musik, Trachten, Brauchtum) aufweisen kann. Schriftliche Zeugnisse der sorbischen Sprache gibt es erst von der frühen Neuzeit an (nach der Reformation). Viele Ortsnamen weisen in Sachsen auf ursprünglich sorbische und slawische Siedlungen hin. Heute besitzen die Sorben die deutsche Staatsangehörigkeit und einen deutschen Pass. Sie sprechen alle fließend Deutsch. Die doppelte Bezeichnung der Orts- und Straßennamen (z.B. in Bautzen) ist also ein Akt von political correctness. Er entspringt nicht der Notwendigkeit einer breit gestreuten sprachlichen Information zur besseren Orientierung. Seit 1948 hat das Sorbische den Status einer regionalen zweiten Amtssprache; denn es ist in Behörden und vor Gericht zugelassen (Ela 1999, S.17). Das von den Sorben bewohnte Gebiet umfasst die Nieder- und die Oberlausitz mit Cottbus und Bautzen als jeweiligen Zentren. Die Niedersorben werden auch Wenden genannt. Die Sprache beider Gebiete, das Nieder- und das Obersorbische, weicht, wie das bei sprachlichen Varietäten üblich ist, in Phonologie, Wortschatz und Grammatik voneinander ab, auch in den ortsgebundenen Dialekten. Die gegenseitige Verständigung wird dadurch nicht behindert. Die Einrichtung der neuen Bundesländer teilt das sorbische Ge- 378 Siegfried Grosse biet: denn die Niederlausitz gehört zu Brandenburg, die Oberlausitz zu Sachsen (vgl. Oschlies 1990). Seit Beginn des letzten Jahrhunderts wird die sorbische Enklave von der fünften deutschen Staatsform umgeben: Kaiserreich, Weimarer Republik, Drittes Reich, Deutsche Demokratische Republik und jetzt nach der Wende von der Bundesrepublik Deutschland. Mit diesen Veränderungen waren für die Sorben trotz gesetzlich verankerter Bestandsgarantien stets politische Wechselbäder verbunden. Die schärfsten Repressionen gab es unter den Nationalsozialisten, die höchsten Subventionen gewährte die DDR. Die Zahl der in der Nieder- und Oberlausitz lebenden Sorben wird laufend kleiner. Um 1800 soll sie noch 250.000 betragen haben, 200.000 in Sachsen und 50.000 in Preußen. Bis 1945 hat sich diese Anzahl auf 100.000 mehr als halbiert (Oschlies 1990, S. 18 u. 29). Die Ursachen der Verminderung sind in einer Auswandererwelle nach Übersee (Mitte des 19. Jahrhunderts) und in den Verlusten während der beiden Weltkriege zu sehen. Außerdem dürfte sich ein Teil der sie umgebenden deutschen Mehrheitssprache zumindest sprachlich assimiliert haben. So betrug die Anzahl 1990 60-80.000 (Oschlies 1990, S. 44). Nach Auskünften des Sorbischen Instituts in Bautzen gibt es heute nur noch 60.000 (bekennende) Sorben, 40.000 in Sachsen, 20.000 in Brandenburg. Das jüngste Informationsblatt des Instituts geht von 50bis 60.000 Menschen aus, die heute die sorbische Sprache mündlich und schriftlich gebrauchen, wobei nichts über die Art der Anwendung (ob schriftlich und/ oder mündlich) gesagt wird (Sorbisches Institut 2000, S. 5). Pessimistischer beurteilen Ludwig Ela und Gunter Spieß die Situation. Ela weist auf eine ethnosoziologische Erhebung in der Oberlausitz von 1987 hin: „Die Anzahl der Personen mit Lesekenntnissen des Sorbischen lag bei ca. 50.000 und nur etwa 27.000 Personen vermochten sorbisch zu schreiben. ... Es scheint daher heute gerechtfertigt, von etwa 20.000 Menschen zu sprechen, die für eine aktive Kommunikation ausreichende sorbische Sprachkenntnisse besitzen. ... Die Zahl der Schüler, die derzeit sorbische Schulen besuchen, ist bekannt und liegt unter 2.000“ (Ela 1999, S. 18). Überalterung der Bevölkerung und Geburtenrückgang werden die künftige Entwicklung weiterhin negativ verlaufen lassen. Auch verlassen sorbische Jugendliche die Region, um in den alten Bundesländern einen Arbeitsplatz zu finden. Ähnli- Zur sprachlichen Situation in der Euroregion Neiße (D)/ Nisa (CZ)! Nysa (PL) 379 ches berichtet Spieß von der Niederlausitz, in der soziolinguistische Untersuchungen (zwischen 1993 und 1995) ergeben haben, dass nur etwa 17 % der sorbischen Bevölkerung über Kenntnisse des Niedersorbischen verfügen (Spieß 1999, S. 23). Die erste Halbierung der gesamten Bevölkerungszahl hat sich also innerhalb von 150 Jahren vollzogen, die sich anschließende zweite in nur 50 Jahren. Seit 1945 waren 14 Dörfer und drei Ortsteile dem Braunkohleabbau zum Opfer gefallen, wodurch der sorbische Lebensraum wesentlich eingeschränkt wurde (Oschlies 1990, S. 46). Nach beiden Weltkriegen haben die Sorben die Errichtung eines eigenen Staates angestrebt und die Trennung von Deutschland erwogen. Dabei gab es verschiedene Varianten. 1918 wollte man die Vereinigung mit einem anderen slawischen Staat. Die Niederlausitz neigte zu Polen, die Oberlausitz tendierte eher zu der unmittelbar benachbarten, eben erst aus der Habsburger Monarchie ausgegliederten und deshalb staatlich jungen Tschechoslawakei, mit der man die gesamte Lausitz vereinigen wollte. Der dritte Vorschlag war die Schaffung eines wendisch-sorbischen Bundesstaates innerhalb des Deutschen Reiches. Nach 1945 strebte ein Sorbischer Nationalrat die Vereinigung mit der Tschechoslowakei an (Oschlies 1990, S. 30). Doch diese Anschlusserwägungen wurden weder von der CSSR, noch von Polen aufgenommen, da beide Staaten offenbar andere politische Prioritäten verfolgten. Der Einigungsvertrag von 1990 sichert den Sorben ihre Rechte und die freie Entfaltung ihrer Aktivitäten, wofür auch die Bundesländer Sachsen und Brandenburg bürgen. Die Sorbische Volksversammlung hat einen Programmentwurf veröffentlicht, in dem es heißt: „Den Sorben als einem im deutschen Staatsgefüge fest verankerten Volk liegt an einem guten Zusammenleben mit den Deutschen. Es bestehen keine Separationsabsichten oder -pläne. Da aber die Sorben, der slawischen Völkerfamilie zugehörig, ein Bestandteil der europäischen Kultur sind, müssen sie ihre Auslandsbeziehungen bewußt gestalten. Entsprechend der Tradition der slawischen Wechselseitigkeit und in Aufnahme der engen Beziehungen in der Vergangenheit sind vor allem die Kontakte zur CSSR und zur Republik Polen neu zu gestalten.“ (Oschlies 1990, S. 62L). 380 Siegfried Grosse Dazu bietet die Konstitution der Euroregion gute Möglichkeiten. Man könnte mit Blick auf die Erklärung annehmen, dass die Sorben ihre zum Teil noch vorhandene Zweisprachigkeit nutzten und sich als Brückenbauer und vermittelnder Dolmetscher zwischen Deutschland und den osteuropäischen Ländern anböten. Doch von einer politischen Aktivität, die über den minimalen Bereich der kleinen Minderheitensprache hinausgeht, ist nichts zu hören. Am 1.1.1992 haben der Freistaat Sachsen und das Land Brandenburg in Bautzen das Sorbische Institut gegründet. Es setzt die Arbeit des Instituts für sorbische Volksforschung fort, das seit 1952 in der DDR bestanden hatte und bis 1991 der Akademie der Wissenschaften zu Berlin zugeordnet war. In Cottbus besteht eine Arbeitsstelle des Instituts. Eine erste Gesamtsorbische Gesellschaft für die wissenschaftlich-kulturelle Zusammenarbeit hatte es mit der Macica Serbska bereits seit 1845/ 47 gegeben. 1912 schlossen sich die sorbischen Vereine in der Domowina zusammen, um politischer und wirtschaftlicher Bedrängnis zu begegnen und die Germanisierungstendenzen des Staates abzuwehren. Das Institut verfügt über die Abteilungen Kultur- und Sozialgeschichte, Empirische Kulturforschung (Volkskunde), Sprachwissenschaft (Wörterbücher, Grammatik, Phraseologie, Dialektologie, Schulbücher) und Niedersorbische Forschungen. Es hat 31,5 Planstellen, darunter 20 für Wissenschaftler. Die Bibliothek umfasst ca. 80.000 Bände, mehr als 200 slawistische und geisteswissenschaftliche Zeitschriften und die Bestände des sorbischen Kulturarchivs (ca. 300 Regalmeter). In Bautzen gibt es ein Museum für sorbische Geschichte und Kultur und das Deutsch-Sorbische Volkstheater, dem ein ebenfalls zweisprachiges Puppentheater angegliedert ist. Der Fundus und die Ausstattung für die Kulturarbeit eines sehr kleinen Volksstammes sind also respektabel. Besondere Aktivitäten entfaltet das Institut auf sprachlichem Gebiet. Der möglichst früh einsetzende Sprachunterricht und seine gezielte Förderung in den Schulen ist eine zentrale Aufgabe der sorbischen Kulturarbeit; denn man hofft, mit ihm die gefährdete Existenz der Minderheit für die Zukunft zu sichern. Das Schlagwort heißt: Revitalisierung des Sorbischen. Aber kann Zur sprachlichen Situation in der Euroregion Neiße (D)/ Nisa (CZ)/ Nysa (PL) 381 man eine verschwindende Sprache durch gezielten Unterricht künstlich am Leben erhalten, selbst wenn man sie schon im Kindergarten zu unterrichten beginnt, wie das versuchsweise zurzeit in einem Cottbuser Modell geschieht, wenn sie nicht auch im außerschulischen Bereich in allen ihren Formen benutzt wird? Die vielen Vorschläge, die seit der Wende hierzu erarbeitet wurden, sind bisher (nicht ohne sorbische Schuld) Papier geblieben. Auch Ela und Spieß überzeugen nicht mit einer engagiert optimistischen Prognose der künftigen Entwicklung, mit der sie ihre nüchterne Analyse der prekären heutigen Situation beschließen. Es dürfte schwierig sein, Eltern von der Notwendigkeit zu überzeugen, ihre Kinder eine Fremdsprache mit einem geringen Wirkungsradius lernen zu lassen und damit das Stundenkontingent des Lehrplans für das Erlernen wichtigerer Sprachen zu blockieren. Diese Überlegung gilt natürlich auch für die Fächer Polnisch und Tschechisch an deutschen Schulen. Ein interessantes Projekt der grenzübergreifenden Studien-, Lehr- und Forschungskooperation ist die geplante Gründung der Neiße-Universität, die als virtuelle Einrichtung, ohne großen Aufwand (wie man meint) aus vorhandenen wissenschaftlichen Ressourcen aller drei Länder entstehen soll. Die Technische Universität Liberec (Reichenberg), die Universität Wroclaw (Breslau) und die Fachhochschule für Technik, Wirtschaft und Sozialwesen (HTWS) Zittau-Görlitz sind als tragende Instanzen aus dem Niederschlesischen Oberlausitzkreis vorgesehen. Die geringen Entfernungen zwischen den vier Städten stehen der eventuell nötigen Mobilität der Lehrenden und Studierenden nicht im Wege. Diese Hochschulgründung beruht auf einer ungewöhnlichen Konzeption, die sich der Region zuwendet und einen neuen Studiengang, den man für zukunftsträchtig hält, zum Kern der Entwicklung macht. Der Studiengang heißt ‘Informations- und Kommunikationsmanagement’. Er soll 6 Semester dauern und mit dem B.A.-Examen abschließen. Bei Studienbeginn werden zunächst 30 Studierende aufgenommen, je 10 aus Polen, Tschechien und der Bundesrepublik. Englisch ist die lingua franca in der Lehre (mit schriftlichen Leistungsnachweisen und Prüfungen) und in der gegenseitigen Verständigung. Die einschlägige, die Lehre begleitende Lite- 382 Siegfried Grosse ratur sei ohnehin zum größten Teil in Englisch abgefasst. Um sicher zu sein, dass es keine sprachlichen Defizite gibt, wird dem Studienbeginn ein für alle Studierenden obligatorischer Intensivkurs Englisch vorgeschaltet. Da in den drei Ländern Englisch in der Regel die erste Fremdsprache an den höheren Schulen ist, dürfte sich ein gutes gemeinsames Ausgangsniveau der Erstsemester im passiven und aktiven Sprachgebrauch für den akademischen Unterricht ohne Schwierigkeiten erreichen lassen. Ein begleitender Sprachunterricht ist während des gesamten Studiums vorgesehen. Die Studierenden sollen neben dem Englischen eine zweite Fremdsprache geläufig beherrschen. (Es blieb unklar, wie sich diese durchaus unterstützenswerte Forderung in das Kontingent der Semesterwochenstunden einpassen lässt. Die Englischkenntnisse der Lehrenden scheinen dank mehrjähriger Aufenthalte in englischsprachigen Ländern den Anforderungen zu entsprechen.) Die Gruppe der dreißig Informations- und Kommunikationsstudierenden absolviert das Studium gemeinsam nacheinander an drei verschiedenen Hochschulen in den Ländern der Euroregion Nysa/ Nisa/ Neiße. In den beiden ersten Semestern wird Mathematik in Liberec (Reichenberg) studiert, im Mittelpunkt der Semester 3 und 4 stehen Informatik und Computerwissenschaft in Wroclaw (Breslau), und die letzten beiden Semester 5 und 6 gelten den multimedialen Studien in Zittau/ Görlitz. Die drei Fachgebiete nennen das Kemgebiet der jeweiligen Studienabschnitte, das von Nachbardisziplinen angereichert wird. Der gemeinsame ambulante Wechsel des Studienortes ist zweifellos vorteilhaft für die Beteiligten; denn er führt in die Arbeitsweise und die Rituale einer Hochschule im Ausland ein. Der Umgang mit den Kommilitonen außerhalb der Studiengruppe, die Teilnahme an Vorträgen und akademischen Veranstaltungen neben dem vorgeschriebenen Curriculum (soweit die Zeit dies erlaubt) und das Wohnen in der fremden Stadt sorgen für landeskundliche Erfahrungen mit den Nachbarregionen. Vermutlich wird damit auch der Erwerb zumindest rezeptiver Kenntnisse der jeweiligen Landessprache verbunden sein. Das Modell leuchtet ein und erscheint in der Anwendbarkeit und Erweiterung (evtl, zu einem Studium von 8 Semestern Dauer mit Magister-Abschluss) einfach zu sein. Aber, wie stets in solchen Fällen, steckt der Teufel Zur sprachlichen Situation in der Euroregion Neiße (D)/ Nisa (CZ)/ Nysa (PL) 383 im Detail, das heißt: es wird noch langwieriger und vielleicht auch komplizierter Verhandlungen auf den Fach- und Verwaltungsebenen über die Grenzen hinweg bedürfen, bis z.B. Inhalt und Umfang der Stundentafel des Fach- und Sprachunterrichts durch strukturiert sind und Bewertungsskalen für erbrachte Leistungen und Prüfungsmodalitäten entworfen und gegenseitig anerkannt werden. Auch sind die Lehrmethoden und die Progression in der Vermittlung der Lehrstoffe gemeinsam abzusprechen. Eingefahrene Praktiken in den einzelnen Curricula erweisen sich oft als tückische Verhandlungshindernisse, wenn es darum geht, sich aus drei verschiedenen Richtungen an einem gemeinsamen Ziel zu treffen. Die virtuelle Universität kann nicht frei in der Luft schweben. Sie braucht eine (auch lokal verankerte) Koordinierungs-, Verwaltungs- und Weisungsinstanz, vor allem, wenn es nicht bei dem Versuchsballon eines ersten, einzelnen Studienmodells bleiben soll. Die anfallenden Kosten werden mit Gewissheit wachsen und dabei ist zu fragen, ob hierfür die aus Brüssel erwarteten Gelder ausreichen werden. Ob die Fachhochschule Zittau-Görlitz auf diese Weise anstrebt, in eine Universität umgewandelt zu werden, bleibt eine offene Frage, die nur im Dialog mit dem zuständigen Wissenschaftsministerium geklärt werden kann. Unter der Überschrift ‘Dreispracheneck’ berichtet die FAZ am 10.7.2001 (S. 39) von vergleichbaren Aktivitäten an der deutschen Grenze zu Frankreich, den Niederlanden und Belgien. In Aachen soll eine ‘Euregionale Akademie für Sprache und Kultur’ entstehen, mit der man der ‘Euregio Maas- Rhein’ als europäischer Modellregion Nachdruck verleihen möchte. Das Interesse an den jeweiligen benachbarten Fremdsprachen Deutsch, Französisch und Niederländisch habe abgenommen. Denn mittlerweile dominiere Englisch als Verkehrssprache. Dieser Entwicklung soll die geplante Akademie entgegenwirken. (Hier wird die gegenteilige Tendenz verfolgt wie an der Neiße, wo man bewusst das Englische als gemeinsame Unterrichts- und Kommunikationssprache einführt.) Auch im Westen will man bestehende Einrichtungen und Angebote für den Sprachunterricht des Dreisprachenecks in den Städten Aachen, Heerlen, Maastricht, Hasselt und Lüttich nutzen und miteinander vernetzen. Man sollte, können wir nach dem Besuch in Görlitz hinzufügen, Ideen und Erfahrungen (Projektionen, Fehler und Erfolge) zwi- 384 Siegfried Grosse sehen den beiden Regionen Maas/ Rhein und Neiße/ Oder gegenseitig austauschen, um Fehlentwicklungen zu vermeiden. In der Neißeregion gibt es auch in den Schulen Aktivitäten des grenzübergreifenden Sprachunterrichts. Es besteht der Plan, ein deutsch-tschechisches bilinguales Gymnasium in Thurnau, 30 km von der Grenze entfernt zu gründen. In diesem Zusammenhang ist auf das, allerdings außerhalb der Neiße- Region liegende, tschechische Gymnasium in Pirna hinzuweisen, dem ein Internat angegliedert ist und das schon einige Jahre, allerdings mit umstrittenem Erfolg, besteht. Vor allem müssen auf deutscher Seite die Defizite in der Kenntnis des Polnischen und Tschechischen behoben werden. Der Deutschunterricht ist sowohl in Polen als auch in Tschechien in den Schulcurricula (in den höheren Schulen als zweite Fremdsprache nach Englisch) verankert. Polen hat gesetzlich fest geschrieben, dass bei jeder deutschen Gründung eines Unternehmens in Polen mindestens eine Person mit Polnisch-Kenntnissen dem Gründungsgremium angehören muss. Die Polnisch-Kurse in den deutschen Volkshochschulen haben seit einiger Zeit steigende Teilnehmerzahlen. In der Oberlausitz, unweit von Zittau, wurde seit 1990 zwischen der freien, von einem privaten Verein getragenen Grundschule des Dorfes Hartau und einer Grundschule im grenznahen tschechischen Städtchen Hrädek der Versuch einer 'grenzenlosen Schule’ vorbereitet und 1999 endlich in die Tat umgesetzt. An einem Tag in der Woche wechseln 17 Kinder der Klassen 1 und 2 zwischen den Partnerschulen von der tschechischen zur deutschen Seite und umgekehrt. Sie verbringen jeweils einen ganzen Schultag im anderen Land, an dem sie zunächst einmal das rudimentäre Vokabular ihres Wahrnehmungshorizontes in der fremden Sprache erlernen und im Spiel üben. Sie lernen mit der fremden Schule eine andere Institution kennen und werden mit deren engerer Umgebung vertraut, gewinnen also behutsam erste landeskundliche Erfahrungen außerhalb der Familie. Das scheint den kleinen Schülern Spaß zu machen und zu sichtbaren, mühelosen Lernerfolgen zu führen. Vermutlich teilt sich ihnen das begeisterte Engagement der Lehrenden mit, die den Unterricht mit kreativer Improvisation tragen. Denn eine methodisch ausgearbeitete Grundlegung, die sich an vorhandenen Mustern orientiert oder selbst versucht, Leitlinien und Lehrmaterialien (z.B. Stoff, Zur sprachlichen Situation in der Euroregion Neiße (D)/ Nisa (CZ)/ Nysa (PL) 385 Methode, Progression) zu entwickeln, fehlt noch und soll erst aus den praktischen Erfahrungen entstehen. Bis zum heutigen wechselseitigen Unterrichtsaustausch zwischen den beiden Schulen in Hartau und Hrädek, der zwischen den Schülern, Eltern und Lehrenden unproblematisch funktioniert, war auch hier von 1990 bis 1999 ein weiter Instanzenweg zurückzulegen, auf dem zahlreiche behördliche Hindernisse und Blockierungen beider Länder nur mit beständiger Hartnäckigkeit überwunden werden konnten. Die Erfahrung kameralistischer Hindernisse hat auch der Leiter des Annengymnasiums in Görlitz gemacht, bis er durchsetzen konnte, 12 polnische Schüler aus Zgorzelec, dem jenseits der Neiße liegenden polnischen Teil der Stadt, ein Jahr lang in Görlitzer Familien unterzubringen und in seinem Gymnasium zu unterrichten. Jetzt scheinen die Fragen der Versicherung geklärt zu sein, so dass dem Gastaufenthalt der polnischen Schüler nichts mehr im Wege steht. Allerdings bedarf die Anerkennung der in deutschen Schulen erworbenen Kenntnisse und erbrachten Leistungen auf polnischer Seite noch der Regelung. Die stundenweise Ausstrahlung eines Rundfunk- oder gar Fernsehprogramms, das in allen drei Ländern empfangen werden kann, wäre z.B. für Sprachunterricht und Informationssendungen eine Verbreitungsbasis mit einem besonders großen Multiplikationseffekt. Aber die Einrichtung scheitert an der Vergabe von Frequenzen. Auch die Nutzung des Internet stößt auf Schwierigkeiten. Sie ist offenbar noch gar nicht ernsthaft erwogen worden. Die Konzeption einer dreisprachigen Zeitung für die Region, in der immerhin mehr als anderthalb Millionen Menschen wohnen, scheitert an der Finanzierung, der Gewinnung geeigneter Mitarbeiter und der Verteilung der Kompetenzen. So steht als Instrument für die Überwindung der sprachlichen Barrieren nur das Medium des direkten Unterrichts zur Verfügung. Alle bisherigen, mit großem Engagement und eben solcher Unverdrossenheit begonnenen Experimente sind kleine, aber hoffnungsvolle Schritte, die Grenzen durchlässig zu machen und die gegenseitige Verständigung zu verbessern. Der damit verbundene mentale Fortschritt ist sehr viel höher zu veranschlagen als der gegenwärtig greifbare tatsächliche Erfolg. 386 Siegfried Grosse Literatur (Außer der zitierten Literatur werden noch einige Titel mit weiterführenden Informationen genannt.) Ela, Ludwig (1999): Die heutige Situation der sorbischen Sprache und Konzepte zu ihrer Revitalisierung, ln: Erhaltung, Revitalisierung und Entwicklung von Minderheitensprachen. Bautzen. S. 17-21. Friedlein, Günter/ Grimm, Frank-Dieter (1995): Deutschland und seine Nachbarn. Spuren räumlicher Beziehungen. Unt. Mitarb. v. von Arno Hartung. Leipzig. Friedrich, Andreas (2001): Leben an der Neiße: Wenig Brücken, viele Vorurteile. Ängste und Hoffnungen vor Polens EU-Beitritt / Ein Grenzbericht. In: Leipziger Volkszeitung, 16./ 17. Juni. Ludwig, Michael (1997): Vorherrschaft und Selbstbehauptung. Vor fünfzig Jahren begann die Aktion ‘Weichsel’. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 98, 28.4., S. 12. Oschlies, Wolf (1990): Die Sorben - Slawisches Volk im Osten Deutschlands. Bonn. (= Forum Deutsche Einheit. Perspektiven und Argumente 4). Schmid, Klaus-Peter, 1998: Die Gefahr aus Deutschland. In Polen weckt die Bonner Europapolitik ein altes Mißtrauen gegenüber dem starken Nachbarn. In: DIE ZEIT Nr. 35, 20. August. Schulze, Erich/ Faltus, Milan/ Zawila, Marcin (o.J.): Grenzüberschreitende Zusammenarbeit 1991-1999 der Bundesrepublik Deutschland, der Tschechischen Republik, der Republik Polen. Euroregion Neisse - Nisa - Nysa. Zittau/ Liberec/ Jelenia Göra. Seibt, Ferdinand (2000): Deutsch-tschechischer Diskurs 1947-1999. Ein Lesedrama in sieben Akten. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Heft 611. Stuttgart. S.216-230. Sorbisches Institut (2000): Information. Bautzen. Spieß, Gunter (1999): Hat das Niedersorbische noch eine Perspektive als Muttersprache? ln: Erhaltung, Revitalisierung und Entwicklung von Minderheitensprachen. Theoretische Grundlagen und praktische Maßnahmen. Bautzen. S. 22-25. Konrad Ehlich Was wird aus den Hochsprachen? ^ 1. Prospekt Die Frage, die der Titel dieses Artikels stellt, führt uns in den Bereich von Veränderung, von Entwicklung und damit in die Geschichte - Geschichte freilich nicht im Sinn des Vergangenen, Abständigen, sondern in unsere gegenwärtige Geschichte, einen Bereich also, der nicht ohne unser aller Zutun weiter verläuft. Es wird im Folgenden nicht so sehr eine Prognose angestrebt; vielmehr geht es mir um einen Aufweis von Entwicklungstendenzen und um Alternativen, vor die die Sprechergemeinschaften gestellt sind. Welche dieser Alternativen die Sprecher und Sprecherinnen wahrnehmen, ob sie überhaupt eine der Alternativen wahrnehmen oder nicht, ob sie in Bezug auf ihre Sprache handeln oder sprachliche Entwicklungen lediglich erleiden, nicht zuletzt dies steht in der gegenwärtigen Weltkonstellation, besonders aber in der europäischen Konstellation auf der Tagesordnung. * Dieser Gerhard Stickel gewidmete Beitrag erscheint auch in einem demnächst im Eos- Verlag (St. Ottilien) publizierten Sammelband mit Vorträgen, die aus Anlass der Jahrtausendwende in einer Ringvorlesung der Ludwig-Maximilians-Universität München gehalten wurden. Dem Herausgeber Venanz Schubert danke ich für die Erlaubnis, ihn an dieser Stelle Gerhard Stickel direkt zu überreichen. - Meinem Münchener Kollegen Wolfgang Schulze danke ich für freundlich erteilte Auskünfte in Bezug auf verschiedene kleinere Sprachen, Diana Barth für die Erstellung der Abbildungen. Herausgeber und Herausgeberinnen haben den Text für den gegebenen Anlass verständlicherweise in die neue Rechtschreibung umsetzen lassen. Dies ändert freilich nichts daran, dass meine Skepsis in dieser Frage (vgl. § 6.) bestehen bleibt. Die mancherlei Gelegenheiten, bei denen der Geehrte und der Autor dieses Beitrags mit und ohne Ze-do- Rock-Begleitung über neue und alte Rechtschreibung miteinander gestritten haben, haben gezeigt, dass dieser Disput unserer wissenschaftlichen Freundschaft bisher nicht geschadet hat; er wird es, so denke ich, auch in Zukunft nicht tun. [Anm. d. Red.: Auf ausdrücklichen Wunsch des Verfassers erfolgt die Verwendung der neuen Rechtschreibung in diesem Aufsatz abweichend von den für diese Reihe festgelegten Konventionen. Dies betrifft insbesondere die Schreibung der Wörter „-grafie“ und „Potenzial“ sowie ihrer Zusammensetzungen und Ableitungen.] 388 Konrad Ehlich Was ich im Folgenden versuchen möchte, ist, einen kleinen Beitrag zur Bewusstwerdung über die sprachliche Situation zu leisten - und zwar die sprachliche Situation einer Gruppe von Sprachen, für die ohne besondere Ambitionen, aber auch ohne besondere Emphase der Ausdruck „Hochsprache“ verwendet wird. Ich werde eingangs eine Verständigung über diesen Ausdruck vorschlagen und ihn erläutern. Ich werde dann der Stellung der Hochsprachen im europäischen Bereich nachgehen. Ich möchte besonders am Beispiel des Deutschen etwas über die Herausbildung und Erhaltung der Hochsprachen sagen. Dies dient als Vorbereitung dafür, mit Blick auf die anstehenden sprachpolitischen Entscheidungen die propagierten Alternativen zu betrachten und die Voraussetzungen zu erörtern, die für ein rationales, Nutzen und Nachteile, Vorteile und Kosten abwägendes Handeln erforderlich sind. Schließlich werde ich einige bildungspolitische und bildungsökonomische Folgerungen aus dem Befund ziehen. 2. „Anglizismen-Flut“ und Veränderungsängste Dieses Papier verwendet die deutsche Sprache selbstverständlich und selbstredend. Wäre ein sprachanalytischer Artikel vor 500 Jahren erfolgt, res linguae linguarumque latine tractandae fuissent ich hätte spätestens hier ins Lateinische wechseln müssen. Und wer weiß perhaps it would have been much more appropriate to present this paper in English dies jedenfalls möchte uns eine Reihe von Kritikern angeblicher deutscher Wissenschaftsprovinzialität und von Sachwaltern so genannter „Spitzenforschung“ teils lockend, teils drohend nahe legen. Das scheinbar Selbstverständliche ist alles andere als selbstverständlich. Dass wir uns ohne Schwierigkeiten, mit differenziertem Ausdruck und für vielfältige Zwecke im Deutschen bewegen, dass wir uns seiner bedienen können, dies erscheint uns als ein einfach zur Verfügung stehendes Gut, ohne jede Frage vorhanden, zugänglich, nutzbar so sehr, dass es uns nicht Was wird aus den Hochsprachen ? 389 einmal in den Sinn kommt, dieses Selbstverständliche könnte plötzlich nicht mehr da sein, könnte sich verflüchtigen, auflösen, könnte verschwinden. Zugleich freilich illustrieren die kursiven Einsprengsel, dass das Selbstverständliche so selbstverständlich nicht ist. Es hat eine Geschichte. Alternativen gingen ihm voraus. Wird es selbst durch eine andere Alternative bereits in naher Zukunft abgelöst? Gerade in den vergangenen Jahren, den letzten des alten Jahrhunderts, haben mehr und mehr Menschen begonnen, sich darüber Gedanken zu machen, dass Sprache nicht einfach immer und selbstverständlich und in hoher Qualität zur Verfügung steht. Besonders an auffälligen Wörtern entsteht und wächst dieses Bewusstsein; alte Ängste vor dem Fremden werden durch das Fremdwort wachgerufen. Das Fremdwort kommt heute meist aus dem Englischen, und die Werbebranche gefällt sich darin, uns mit immer neuen Wort-Produkten zum Erwerb immer neuer Produkte zu animieren. Manchmal sind die englischen Ausdrücke so englisch, dass sie nicht einmal im Englischen vorhanden sind prominente Beispiele sind das handy und der Overhead-Projektor. Dieser Überschuss an Anglizismen zeigt, wie groß der Bedarf offenbar ist, und wo ein Bedarf ist, da wird bekanntlich das gewünschte Angebot nicht lange auf sich warten lassen. Die Fremdwörter machen sprachliche Veränderungen nicht nur bewusst. Sie rufen, wie gesagt, auch Ängste auf, Ängste vor dem Fremden, und diese gehen gelegentlich eine Allianz mit einem allgemeinen Fremdenhass ein, diffus, ohne viel Nachdenken, aber wirkungsvoll. Die „Sprachpflege“ knüpft zum Teil auch an solche Ängste an. Sie verspricht, ja verlangt Abhilfe. Ein alter Kampf, der Kampf der Sprachpurifizierer, gewinnt neue und neueste Nahrung. Für die meisten Sprecher und Sprecherinnen freilich ist es weniger der Hass auf das Fremde als vielmehr ein diffuses Unbehagen, eine Verweigerung gegenüber dem Jargon der Konsumwerber, die sich in der Abwehr gegen city call und service point angesichts einer Telefonrechnung und einer Bahnreise artikuliert. 390 Konrad Ehlich Jedenfalls interessiert die Frage nach der zukünftigen Gestalt von Sprache offensichtlich mehr Menschen, als lange vermutet wurde. Ein Verein, der zunächst „Verein zur Wahrung der deutschen Sprache“ hieß und jetzt den Namen „Verein deutsche Sprache“ 1 trägt und von dem Dortmunder Statistikprofessor Walter Krämer gegründet wurde, hat in kürzester Zeit circa zehntausend Mitglieder gewonnen, eine Breitenwirkung, die die Erwartungen auch der Initiatoren bei weitem übersteigt. Was hat es mit den Hochsprachen und ihrer Entwicklung auf sich? Sie erscheinen überall als ein festes und fertiges, unverlierbares Gut - und sie werden doch von neuen sprachlichen Entwicklungen, besonders durch die Medien, erschüttert; sie werden zur Disposition gestellt; sie geraten in einen internationalen Konkurrenzdruck, für den sie kaum gerüstet sind. Die Selbstverständlichkeit, auf Deutsch, auf Dänisch, auf Griechisch reden zu können, schwindet. Was für diese Sprachen gilt, gilt ähnlich für das Französische, für das Niederländische - und so weiter. Es gilt in einer spezifischen Weise selbst für das Englische in Großbritannien, das für die Zwecke der neuen „lingua franca“ in Anspruch genommen wird. Die „Hochsprachen“ befinden sich in einer Situation der Krise. 3. „Hochsprachen“ Was ist nun aber unter dem Ausdruck „Hochsprachen“ genauer zu verstehen? Der Ausdruck ist nicht unumstritten, denn er enthält ja zugleich so jedenfalls wird er weithin wahrgenommen neben seiner Bezeichnungsqualität eine massive Wertung: Dem „Hohen“ steht das „Niedrige“ gegenüber. Es fällt aber andererseits schwer, einen neutralen, wertungsfreien und theoretisch nicht schon spezifisch gewichteten bzw. belasteten Ausdruck zu finden. In der neueren Linguistik wird zum Beispiel von der „Standardsprache“ gesprochen. Dieser Ausdruck ist vielleicht am ehesten geeignet, eine relativ neutrale Darstellung der entsprechenden Sprachen vorzunehmen, gleichwohl Vgl. „Verein deutsche Sprache“ http: / / www.vds-ev.de. Was wird aus den Hochsprachen ? 391 ruft er durch seinen Bestandteil „Standard“ die Idee eines Maßstabes auf, der allenfalls auf einzelne Hochsprachen anwendbar ist. In anderen linguistischen Zusammenhängen, besonders im Osten Europas, wird von der „Literatursprache“ geredet. Aber gerade unsere „Standardsprache“ ist ja nicht einfach verrechenbar mit einer wie immer bestimmten Literatursprache; vielfältige sprachliche Ressourcen werden in ihr genutzt, vielfältige sprachliche Strukturen spielen eine Rolle. Die Literatursprache ist nur eine besondere Variante eine herausgehobene, ganz ohne Zweifel - , aber doch eine Variante des breiten Feldes der Standardsprache. Häufig wird auch von der „Schriftsprache“ geredet, wenn es um Hochsprachen geht. Aber schon am Beginn des 20. Jahrhunderts wurde von Siebs ein Wörterbuch der Hochlautung herausgebracht. Man sprach dann von der „Theatersprache“, um diese mündliche Variante der Hochsprache herauszuheben. Auch der Ausdruck „Volkssprache“ ist im Gebrauch aber welchem Gegensatzbegriff stellt er sich gegenüber? Dieser Ausdruck gehört einer Verwendungsweise zu, die einer früheren sprachlichen Konstellation geschuldet ist, als einzelne Gruppen innerhalb einer Sprechergemeinschaft sich durch die Verwendung des Lateinischen oder Französischen gerade vom „Volk“ unterschieden und abhoben. Die im Ausdruck „Hochsprache“ enthaltene Wertung setzt auf ähnliche Weise der Hochsprache die „Mundart“ oder den „Dialekt“ entgegen, denen dann keine besondere positive Wertung zugeschrieben wurde was den lebhaften Protest aller derer hervorrief und -ruft, die die Vorzüge und Attraktivität gerade dieser Dialekte unterstreichen. Alle solche Wertungen sollen nicht mitgemeint sein, wenn hier von „Hochsprache“ die Rede ist. Seien wir vielmehr vorsichtig bei der Verwendung dieses Ausdrucks, verbinden wir möglichst wenig Wertung damit. Benutzen wir ihn vielmehr als einen beschreibenden Ausdruck in Bezug auf bestimmte sprachliche Strukturen, bestimmte sprachliche Formationen, wie wir sie in Europa vielfältig vorfinden; zur Bezeichnung jener sprachlichen Varietäten, die sich nicht zuletzt im Zuge der Nationenbildung moderner 392 Konrad Ehlich Prägung (vgl. Anderson 1983 und unten § 5) zu übergreifenden, leistungsfähigen, alle Zwecke der Kommunikation befriedigenden Mitteln des sprachlichen Verkehrs herausgebildet haben, sodass wir von „dem Französischen“, „dem Dänischen“, „dem Italienischen“, „dem Englischen“, „dem Russischen“, „dem Deutschen“ sprechen können - und alltagssprachlich und darüber hinaus eine doch recht deutliche Vorstellung von dem haben, was wir mit diesen Bezeichnungen meinen. 4, Die europäische Sprachensituation Betrachten wir als Nächstes die hochsprachliche Situation Europas genauer, indem wir sie zugleich in die Welt-Sprachensituation einbetten. 2 Ein Blick auf eine Welt-Sprachenkarte, wie sie z.B. in Störig (1987) 3 oder König ( 13 2001, S. 36) zu finden ist, zeigt die Verteilung der großen Verkehrssprachen in der Welt. Es finden sich heute die großen Areale des Englischen, oder genauer, des US-Amerikanischen und der englischen Varietäten. Dem steht die Welt der Communaute frangaise gegenüber. Das Spanische ist auf Grund der neuzeitlichen Kolonisierung in Lateinamerika breit vertreten (demgegenüber bedürfte die Karte für das Mutterland Spanien z.T. der Korrektur, sofern man in Übereinstimmung mit der gegenwärtigen spanischen Verfassung die regionalen Sprachen als solche beachtete). Das Portugiesische, das in Portugal über eine nur geringe Sprecherzahl verfügt, wird in Brasilien von mehr als 150 Millionen Menschen gesprochen. - Es findet sich das Chinesische, die von den meisten Sprechern der Erde gesprochene Sprache die eigentlich ihre kommunikative Reichweite im Wesentlichen der .vc/ i/ '/ '/ rbczogenen Varietät verdankt. Es findet sich das Russische, das Japanische, das Niederländische und schließlich, neben vielen anderen Sprachen, das Deutsche. Die hier verwendeten Zahlen gehen vor allem auf verschiedene der verdienstvollen Arbeiten von Haarmann zurück (1975, 1993, 2001a, 2001b); zusätzlich wurden herangezogen: Comrie (1990), http: / / www.ethnologue. com, Stand Sept. 2001; v. Baratta (2001). Ein wirklich präziser Abgleich wurde nicht angestrebt; er ist auch aus prinzipiellen Gründen (vgl. unten und Ehlich 2001, § 1.) schwerlich möglich. Leichte Abweichungen von Ehlich (2000, 2001) erklären sich hieraus. Sie sind m.E. für die Zwecke dieser Zusammenstellung nicht von erheblicher Bedeutung, geht es hier doch vor allem um die Relationen der verschiedenen Daten zueinander. 1 innerer Umschlag. Was wird aus den Hochsprachen? 393 Schon ein Blick auf eine solche Karte macht eine spezifische Problematik des Deutschen innerhalb eines Welt-Konkurrenzkampfes der Sprachen deutlich: Das Deutsche ist unter den größeren Sprachen kaum je eine Verkehrssprache in einer ähnlich weltumspannenden Weise gewesen, wie sich das für die meisten anderen genannten Sprachen sagen lässt. Das hat einen einfachen Grund: Deutschland hatte kaum Kolonien, und in seinen Kolonien o = Sprachen mit über 10 Mio. Sprechern 1 Isländisch 2 Norwegisch 3 Schwedisch 4 Dänisch 5 Grönländisch 6 Färingisch 7 Friesisch 8 Englisch 9 Niederländisch 10 Deutsch 11 Letzeburgisch 12 Jiddisch 13 Irisch 14 Schottisch-Gälisch 15 Kymrisch 16 Bretonisch 17 Portugiesisch 18 Spanisch 19 Judenspanisch 20 Katalanisch 21 Galicisch 22 Französisch 23 Occitanisch 24 Korsisch 25 Sardisch 26 Italienisch 27 Bündnerromanisch 28 Friaulisch 29 Ladinisch 30 Rumänisch 31 Russisch 32 Ukrainisch 33 Gagausisch 34 Weißrussisch 35 Sorbisch 36 Polnisch 37 Tschechisch 38 Slowakisch 39 Slowenisch 40 Kaschubisch 41 Kroatisch 42 Serbisch 43 Makedonisch 44 Bulgarisch 45 Lettisch 46 Litauisch 47 Albanisch 48 Griechisch 49 Ossetisch 50 Romani 51 Ungarisch 52 Ingrisch 53 Finnisch 54 Karelisch 55 Wepsisch 56 Estnisch 57 Liwisch 58 Lappisch 59 Syrjänisch 60 Permjakisch 61 Wotjakisch 62 Tschuwaschisch 63 Tatarisch 64 Baschkirisch 65 Türkisch 66 Karaimisch 67 Georgisch 68 Baskisch 69 Maltesisch Abb. 1: Die Sprachen Europas 394 Konrad Ehlich hat Deutschland seine Sprache kaum implantiert. Vielmehr wurde z.T. eine vergleichsweise differenzierte Sprachenpolitik betrieben, für die sich in den Ex-Kolonien möglicherweise sogar eine gewisse Erkenntlichkeit zeigt, etwa in Deutsch-Ostafrika, wo die deutsche Verwaltung frühzeitig auf eine afrikanische Verkehrssprache, das Kisuaheli, setzte, die noch heute die dortige Verkehrssprache ist. Nach 1918 waren diese Kommunikationsmöglichkeiten für das Deutsche Reich ohnehin aus durchsichtigen Gründen Vergangenheit. Vergleicht man eine Weltsprachenkarte mit einer sprachlichen Europakarte, so weist die letztere eine erheblich andere Struktur auf (siehe Abb. 1). Der Kontinent Europa mit seinen 60 bis 80 Sprachen (die Grenzen sind oft nicht ganz einfach zu ziehen zwischen dem, was als eine Sprache, was als ein Dialekt zählt) hat doch eine große sprachliche Homogenität, und zwar in dem Sinn, dass wir hier eine Sprachgruppe als dominant vorfinden, die indoeuropäische. Nur einige wenige andere Sprachgruppen sind darüber hinaus präsent. Dies lässt sich an einigen Zahlen gut demonstrieren. Betrachten wir zunächst den großen Block der indoeuropäischen Sprachen (s. Abb. 2). 250.000. 000 225.000. 000 l 200.000. 000 I 175.000. 000 150.000. 000 • 125.000. 000 100.000. 000 J 75.000. 000 50.000. 000 I 25.000. 000 - Slawische Romanische Germanische Griechisch Indische Baltische Sprachen Sprachen Sprachen Sprache Sprachen Sprachen 3.400.000 2.521.400 Albanisch Keltische Iranische Sprachen Sprachen Abb.2: Indoeuropäische Sprachen Wenn wir bei den uns nächstliegenden Sprachen dieser Sprachengruppe beginnen, so haben wir die germanischen mit etwas unter 200 Millionen Was wird aus den Hochsprachen? 395 Sprechern, sodann, im Osten, die slawischen Sprachen mit nahezu 245 Millionen Sprechern, und im Westen und Süden die romanischen Sprachen, mit etwas über 200 Millionen Sprechern. Die anderen Sprachen bzw. Sprachgruppen indoeuropäischen Charakters weisen demgegenüber nur kleine Sprecherzahlen auf, zum Beispiel die keltischen Sprachen, also etwa das genuin Irische, oder die Sprache, die in der Bretagne gesprochen wird wenn sie denn dort noch gesprochen wird -, das Bretonische; das Manx- Gälische, eine keltische Sprache auf der Insel Man, hat es linguistisch sogar zu einer gewissen Berühmtheit gebracht, fand sich doch seit Jahrzehnten in den Lehrbüchern die Angabe, dass es von dieser Sprache nur noch einen Sprecher gebe. Damit hatte das Manx-Gälische gute Chancen, Wittgensteins „Privatsprachen“-Vermutung zu falsifizieren. Es muss ein Sprecher mit einer gewissen Befähigung zum Selbstgespräch gewesen sein, und einer mit einem langen Leben zudem. Inzwischen freilich ist er verstorben (Haarmann 1993, S. 53). Je eigene sprachliche Einheiten im Südosten Europas bilden das Griechische und das Albanische. Vom östlichen Zweig der indoeuropäischen Sprachgruppe findet sich in Europa aus dem iranischen Sprachenspektrum das Ossetische; und sogar eine indische Sprache wird in Europa gesprochen, nämlich die Sprache der Sinti und Roma, das Romani. Neben dieser für Europa zentralen großen Sprachgruppe finden sich an weiteren Sprachgruppen drei: finn-ugrische Sprachen, Turk-Sprachen und das Semitische. Die größte Zahl an Sprechern der uralischen Sprachen haben das Ungarische und das Finnische, aber auch das Estnische und andere an Sprecherzahlen kleine Sprachen gehören hierzu. Die zweite Sprachgruppe umfasst die Turksprachen, deren für Europa wichtigste das Türkische ist. Auch eine semitische Sprache findet sich neben dem für religiöse Zwecke genutzten Hebräischen und Arabischen in Europa, das Maltesische. Weiter gibt es in Europa z.B. eine Sprache, die für Linguisten eine besondere Faszination hat, weil sie in keines der linguistischen Raster passt, nämlich 396 Konrad Ehlich das in Südwestfrankreich und Nordspanien gesprochene Baskische, möglicherweise Urgestein einer sprachlichen Vorbevölkerung in Europa. 4 Betrachtet man jetzt die Sprecherzahlen, so ergibt sich gegenüber dieser Sprachenvielfalt ein erstaunlich anderes Bild. 96,86 % der europäischen Sprachen gehören der indoeuropäischen Sprachfamilie an, die altaischen, die uralischen Sprachen, das semitische Maltesisch und das Baskische sind verschwindend gering an Sprecherzahlen gegenüber der großen Masse der indoeuropäischen Sprachen. Europa weist sprachlich also, wie gesagt, eine relativ große Homogenität auf. Eine einzige Sprache in Europa kommt über 100 Millionen Sprecher (das Russische) und gelangt damit sozusagen in den Bereich der großen Sprachen der Welt. Daran schließt sich in der Gruppe zwischen 100 und 10 Millionen Sprechern (siehe Abb. 3) als nächstgroße Sprache das Deutsche mit 97 Mil- Sprachen Abb. 3: Sprachen Europas mit über 10 Millionen Sprechern 4 Mit der Beschreibung dieser Sprache begann der bedeutende Sprachforscher und Bildungspolitiker Wilhelm v. Humboldt seine linguistische Karriere (Die Sprache der Vasken, 1979), bevor er sich später dann anderen „exotischen“ Sprachen wie dem Kawi zuwandte. Auch für die Frage der frühen Sprachverhältnisse in Europa findet das Baskische durch die jüngsten Arbeiten von Vennemann neues Interesse, vgl. zusammenfassend Vennemann (2000). Was wird aus den Hochsprachen ? 397 lionen Sprechern an ein Punkt, der eigene Aufmerksamkeit verdient, weil er selten bedacht wird. Es folgen immer bezogen allein auf Europa das Italienische (61 Millionen), das Französische mit 60,6 Millionen Sprechern und, erst an vierter Stelle, das Englische mit ca. 58 Millionen. Sodann schließen sich Spanisch (38,9 Milk), Ukrainisch (37,4 Milk), Polnisch (37 Milk), Rumänisch (20,4 Milk) an. Das Serbokroatische (17,8 Milk) folgt, wenn man denn Serbisch und Kroatisch weiter zusammenfasst. Angesichts der jüngsten politischen Trennungen des Serbokroatischen ins Serbische, Kroatische und sogar Serbo-bosno-Kroatische gehören hingegen die neu als Nationalsprachen etablierten Gebilde z.T. in diese Tabelle von Abb. 3 nicht mehr hinein, da die Sprecherzahlen der einzelnen Sprachen dann selbstverständlich geringer sind. Es folgt das Niederländische (15 Milk), das sozusagen die kleinste der großen Sprachen ist, oder nach dem Selbstbild ihrer Sprecher eher die größte der kleinen. Ungarisch (10,3 Milk), Tschechisch (10,1 Milk), Portugiesisch (10 Milk) schließen sich an. Abb. 4: Sprachen Europas mit weniger als 10 und mehr als 1 Million Sprechern Die Sprachen mit weniger als einer Million Sprechern (siehe Abb. 5), beginnend mit dem Bretonischen (850.000) und dem Baskischen (800.000) bis Sprecherzahlen Sprecherzahlen 398 Konrad Ehlich hin zum Permjakischen (117.100), setzen die Liste fort; danach folgen die an Sprecherzahlen ganz geringen Sprachen (siehe Abb. 6). Sprachen Abb. 5: Sprachen Europas mit weniger als 1 Million und mehr als 100.000 Sprechern Sprachen Abb. 6: Sprachen Europas mit weniger als 100.000 Sprechern Was wird aus den Hochsprachen? 399 All diese Sprachdaten sind mit einer gewissen Vorsicht zu nutzen, denn ihre Erhebung ist sehr schwierig (vgl. weiter Ehlich 2001). Demographische Angaben sind insgesamt oft mit einer nicht unerheblichen Einsicherheit behaftet. Für die sprachbezogenen Angaben kommt hinzu, dass sie häufig auf Selbsteinschätzungen der Sprecher beruhen, und diese Selbsteinschätzungen sind, gelinde gesagt, sehr flexibel, wie man aus anderen Zusammenhängen weiß. Die Antworten können z.B. aus politischer Opportunität so oder anders gegeben werden. Auch ist es nicht unproblematisch, genau zu bestimmen, was die Aussage „Ich bin Sprecher der Sprache L“ genau bedeutet: Heißt das z.B., dass man über einige Wörter in dieser Sprache verfügt, dass man die Sprache vollständig spricht, dass man sie (noch) versteht, dass man sich erinnert, dass diese Sprache in der Generation der Eltern oder Großeltern einmal gesprochen wurde? Dennoch, das Gesamtbild ist deutlich. Die Sprachen unterscheiden sich erheblich hinsichtlich der Sprecherzahlen. Auch die Frage, auf welche der genannten Sprachen wir das Epithet „Hochsprache“ anwenden können, ist nicht einfach zu beantworten, insbesondere hinsichtlich der in Abb. 5 und Abb. 6 aufgenommenen Sprachen. Betrachtet man etwa die jüngste politische Karriere des Schottisch-Gälischen heute oder die des Irischen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, so wird daran deutlich, wie sich die Stellung einer Sprache verändern kann. Vergleichen wir die Situation in Europa mit der Situation in einem anderen größeren geographischen Areal, mit der Sprachensituation auf dem indischen Subkontinent (vgl. Kottayil-Cherian 1996, Gupta-Basu 1999). Hier findet sich eine sehr viel größere Zahl von Sprachen mit einer an Sprecherzahlen überragenden Sprache, dem Hindi (264 Millionen). Die anderen Sprachen verteilen sich über den indischen Subkontinent in einer sprachlich geradezu dramatischen Weise. Der Subkontinent wird nämlich von zwei zentralen Sprachgrenzen durchzogen: Im Norden und Nordwesten bis in die Mitte findet sich das Hindi, also das „Indische“, das mit den europäischen Sprachen verwandt ist (/ / nafoeuropäisch). Im Süden werden Sprachen gesprochen, die einer völlig anderen Sprachgruppe, den drawidischen Sprachen, zugehören. Im äußersten Nordosten schließlich sind tibetobirmanische Sprachen verbreitet. Bezieht man diese sprachliche Situation mit ein, so relativieren sich, so scheint mir, bestimmte Probleme, vor denen 400 Konrad Ehlich wir in Europa stehen - und vielleicht ließen sich ja sogar Problemlösungen mit Nutzen für die europäische Situation gebrauchen, die andernorts sprachpolitisch entwickelt wurden. Die jüngste arbeitsmarktpolitische Situation mag vielleicht auch in dieser Hinsicht das Nachdenken in Bezug auf ein so genanntes „Schwellenland“ befördern (vgl. Kottagil-Cherian 1996). Das differenzierte Bild, das sich für Europa ergeben hat, lässt sich nun noch weiter konkretisieren, wenn wir die numerische Stärke der Sprecher sowie die numerische Stärke in Gestalt des Bruttosozialproduktes in der europäischen Union in Beziehung setzen und dabei die stärkste Gruppe (Sprecherzahlen und ökonomisch), nämlich den deutschsprachigen EU-Bereich, also die BRD und Österreich, mit dem Nennwert 100 versehen. Wird zudem das Katalanische vom Spanischen differenziert, so zeigt sich das in Abb. 7 dargestellte Bild (nach Zacher 1999, S. 59; die hier zugrundegelegten Zahlen differieren geringfügig von denen der obigen Abb. 3 und 4). Bei kleinen Numerische Stärke Sprache Sprache Ökonomische Stärke 100 Deutsch Deutsch 100 79,9 Englisch Französisch 65,7 78,3 Französisch Englisch 49,5 71,8 Italienisch Italienisch 46,9 37,9 Spanisch Spanisch 17,3 19,8 Niederländisch Niederländisch 15,9 14,0 Griechisch Schwedisch 13,1 Portugiesisch Dänisch 6,8 11,1 Schwedisch Flämisch 6,4 8,5 Katalanisch 10 Finnisch 4,6 7,7 Flämisch 11 Portugiesisch 4,3 6,8 Dänisch 12 Katalanisch 3,9 6.7 4.8 Finnisch Irisch 13 "TZ" Griechisch Irisch 3,9 2,4 Abb. 7: Numerische und ökonomische Stärke im Vergleich Was wird aus den Hochsprachen? 401 Abweichungen im Einzelnen ergibt sich eine Positionskonfiguration, die einigermaßen frappant ist. Nach der numerischen Stärke folgt dem Deutschen das Englische und in knappem Abstand das Französische und Italienische. Das Spanische nimmt eine Mittelstellung ein (Position 5), es folgt das Niederländische, Griechische, Portugiesische und Schwedische, danach schließt sich die Gruppe Katalanisch bis Irisch an. Zöge man das Flämische mit dem Niederländischen zusammen (27,5), so würde dies mit dem Spanischen zusammen den Mittelblock ausmachen, von dem sich in deutlichem Abstand die kleineren europäischen Sprachen abhöben. Ökonomisch hegt das Französische mit zwei Dritteln der deutschen Wirtschaftskraft vor dem Englischen und dem Italienischen. Verbunden mit dem flämischen Bereich, nähme das Niederländische (22,5) den fünften Rang ein, demgegenüber das Spanische deutlich zurückfällt. Auch hier folgten dann die kleineren ökonomischen Potenzen, beginnend mit dem Schwedischen bis zum Irischen. Die in Abb. 7 enthaltenen Sprachen sind durchgehend Hochsprachen mit einer möglicherweise ambivalenten Position des Katalanischen und mit gewissen Problemen bei der Zuordnung des Irischen, bei dem die offiziell zweisprachige Situation praktisch zu Gunsten des Englischen entschieden zu sein scheint (wie beim Niederländischen ließen sich entsprechend die Daten mit den britisch-englischen vereinen). Es verblieben dann die so genannten Amtssprachen“ der EU. Davon unterscheiden sich die so genannten ,Minderheitensprachen“ innerhalb der EU, die durch die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen einen besonderen rechtlich geschützten Status erhalten haben. Zu diesen rechtlich geschützten Minderheitensprachen gehören z.B. das Baskische und das Bretonische, das Korsische und das Friesische, das Fadinische, das Okzitanische und Sardische, das Färingische und das Sorbische. Zu den Minderheitensprachen gehören aber auch einige Hochsprachen wie das Deutsche und das Dänische - und zwar dort und nur dort, wo in einem anderen Sprachgebiet Sprecher dieser Sprachen wohnen, also Dänen in Nordschleswig oder Deutsche in Jütland. Der rechtliche Schutz von Minderheitensprachen, wie unvollständig er auch in den einzelnen Ländern gegenwärtig umgesetzt wird, gibt den Sprechern dieser Sprachen gewisse Handlungsmöglichkeiten. 402 Konrad Ehlich Anders als die Minderheitensprachen erfahren die Hochsprachen in Europa keinen eigenen europäischen rechtlichen Schutz. Zwar sind sie innerhalb der Europäischen Union als Amtssprachen ausgezeichnet, und diese Amtssprachenregelung, diese Regelung in Bezug auf die Hochsprachen, ist in die europäische Gesetzgebung eingegangen (vgl. z.B. Bruha/ Seeler 1998, S. 159f.). Es sind dieses die Sprachen, in die die Dokumente der Europäischen Union übersetzt werden. Dabei gilt keineswegs für alle Länder, dass es nur eine Amtssprache gibt. Am deutlichsten wird das für Luxemburg, ein sehr kleines Land mit den Amtssprachen Französisch, Letzeburgisch und Deutsch, und etwa für Belgien mit Französisch, Niederländisch und Deutsch. In Südtirol haben wir eine der interessantesten Sprachkonstellationen, die wir gegenwärtig in Europa beobachten können, eine Situation, in der die damit verbundenen Chancen auch genutzt zu werden scheinen. Die Situation gerade der Hochsprachen in Europa ist nicht unproblematisch. Der Ruf nach ihrer Förderung, Weiterentwicklung und Pflege gewinnt an Intensität (vgl. Ehlich/ Ossner/ Stammerjohann 2001 und darin die „Homburger Empfehlungen zur Förderung der Europäischen Hochsprachen“, S. 387- 389). So viel hier zum Bild der Hochsprachen und der Minderheitensprachen in Europa mit seiner, was die Sprachverwandtschaft anlangt, relativ homogenen Situation. Bei aller sprachlichen Diversifizierung ist für diese Situation kennzeichnend, dass es in ihr eine gewisse Vielfalt von ausgeprägten, entwickelten Hochsprachen gibt. Wie ist es dazu gekommen? 5. Die Historizität der Hochsprachen Dies kann hier nur relativ kurz behandelt werden, indem einige zentrale Aspekte in Bezug auf die Herausbildung der Hochsprachen benannt werden. Wir stoßen auf ein gesamteuropäisches Phänomen, das die Umwandlung, die Transformation der mittelalterlichen Situation in die Neuzeit betrifft. Entsprechend setzt dieses Umwandlungsphänomen zu verschiedenen Zeiten ein, in Italien früher als etwa in Frankreich und wesentlich früher als in Was wird aus den Hochsprachen ? 403 Deutschland - und mit jeweils unterschiedlichen Ausprägungen und Folgen. Für alle Länder, die sich heute in Europa finden, ist charakteristisch, dass sich teils schon ab dem 12., 13. Jahrhundert, teils sehr viel später, teils gar erst in unserer Gegenwart einsetzend die Notwendigkeit übergreifender Verkehrssprachen bemerkbar machte, die über größere Kommunikationsräume hin verstanden werden können, als die jeweiligen Orts- und Regionaldialekte mit ihren kleinen, engen Nutzungs-Radien es gestatten. In der mittelalterlichen Welt fand sich diese Konstellation so nicht. Es gab vielmehr eine übergreifende Verkehrssprache, besonders der Intellektuellen, die Sprache des Klerus, das Lateinische, und auch die Sprache der höheren Administration orientierte sich weitgehend daran. Darüber hinaus ergab sich kaum großer Bedarf. Urkunden, die die jeweilige Volkssprache aufnahmen, die theodiscus-Sprache (in unserem Raum etwa das später dann so gewordene „Deutsch“, das sogar seinen Namen von der Qualifizierung „Volks-Sprache“ hat; vgl. zur Diskussion zuletzt Jakobs 2000, Thomas 2000), waren gering an Zahl und von einer untergeordneten kommunikativen Bedeutung. Eine für alltägliche Zwecke vollkommen hinreichende Fülle von Orts- und Regionalsprachen, die in einem kleinen Radius als Kommunikationsmittel verwendet werden konnten, reichte aus. Die Herausbildung übergreifender Verkehrssprachen als Kennzeichen des Übergangs von der mittelalterlichen Situation in die Neuzeit hat die Basis für das Europa der Sprachen gelegt, wie wir es heute vorfinden. Diese Situation wurde im 17., besonders dann aber im 18. und 19. Jahrhundert von einer zweiten großen Bewegung überformt. Die Verkehrssprachen waren zunächst sehr stark administrativ und wirtschaftlich von den Bedürfnissen der Händler bestimmt, die sich nicht nur in kleinen Räumen bewegten, sondern in großen Wanderungen den Kontinent durchzogen. Im 18. und 19. Jahrhundert kam als ein zweiter Aspekt das hinzu, was Anderson (1983) und andere treffend das „Projekt Nation" genannt haben. Das Projekt Nation kam in den politischen Umwälzungen der Französischen Revolution zum ersten Mal umfassend zu seiner europäischen Ausgestaltung und zur Entfaltung seiner vollen sozialen, wirtschaftlichen und vor allen Dingen politischen Potenz. 404 Konrad Ehlich Das Projekt Nation bediente sich der entwickelten Verkehrssprachen, dieser großräumigen Sprachen, um neue Einheiten zu schmieden: Ein Territorium ein Volk eine Nation eine Sprache ein Staat, dies war die neue und faszinierende Devise, ein Programm, das determinierend in das politische Handeln einging. Dieses Programm hat die Geschichte Europas bestimmt und bestimmt sie bis heute. Wir sehen dies z.B. an dem, was sich im südslawischen Raum, im ehemaligen Jugoslawien, vor unseren eigenen Augen und unter unserer Zeugenschaft abgespielt hat und bis heute abspielt. Dort wird dieses Programm gegenwärtig exekutiert, indem z.B. die serbokroatische Sprache nunmehr in zwei Sprachen, die serbische Sprache und die kroatische Sprache, deutlich geschieden wird und indem sogar eine serbobosno-kroatische Sprache als neue Sprache für das bosnische Territorium linguistisch konstituiert, linguistisch hergestellt wird. Die Differenzen zwischen diesen Sprachen sind offensichtlich gering. Nach demselben Verfahren ließe sich hier und dort eine Sprachgrenze errichten, etwa zwischen Niederbairisch und Oberbairisch - und schon sowieso zwischen Niederbairisch und Fränkisch, eine Grenze, die ja als solche auch durchaus besteht, aber eben nicht in Bezug auf die politische Einheitenbildung. Die Unterschiede liegen sozusagen „unterhalb“ der großen Verkehrssprachen, beschränken sich auf die verbliebenen dialektalen und regionalen Sprachen, in denen die alltägliche, meistens nicht-schriftliche Verständigung geschieht. Diese national überformten Hochsprachen nun treffen am Ende des 20. Jahrhunderts auf eine Konstellation, die im 7. Abschnitt unter dem Stichwort „Nach den Nationen“ thematisiert werden soll. Die Hochsprachen sind also Entwicklungsergebnisse, die sich in komplexen Prozessen herausgebildet haben. Dies macht deutlich: Es handelt sich bei den Hochsprachen nicht einfach um Naturgrößen. Wenn die Entwicklungen weitergehen und die Hochsprachen etwa wieder verschwänden, geschähe ihnen nichts Ungewöhnliches, es geschähe ihnen nur das, was bei ihrem Entstehen auch geschah, indem z.B. die Dialekte ihre Bedeutung für sehr viele Kommunikationsbereiche verloren. Doch ist es sinnvoll, sich hier einfach einer Art Naturwüchsigkeits-Konzept anzuvertrauen? Für ein solches Konzept wird heute in den Argumentationen meist die Metapher „des Marktes“ eingesetzt. Ist ein solches Modell sinnvoll oder gar unumgänglich? Was wird aus den Hochsprachen? 405 Bevor auf diese Frage weiter eingegangen wird, soll zunächst ein Blick auf die Situation des Deutschen als Hochsprache geworfen werden. 6. Deutschsprachige Länder ein schwieriger Fall Bei den deutschsprachigen Länder stoßen wir nämlich auf einen recht spezifischen Fall. Während in Frankreich und in England, aber etwa auch in Spanien, sehr früh eine Art Nationalisierung des Hochsprachen-Konzeptes erfolgt ist (vgl. die Beiträge in Ehlich/ Ossner/ Stammerjohann 2001, Gardt 2000), ging im deutschsprachigen Gebiet die Hochsprachenwerdung den politischen Einigungsprozessen um z.T. Jahrhunderte voraus eine Konstellation, die wenige Parallelen hat. Am ehesten ist die Asynchronie dieser Entwicklung vielleicht mit der italienischen zu vergleichen. Dort freilich ist die Vereinheitlichung zur einheitlichen Hochsprache, wenn man den Fachleuten glauben darf, tatsächlich erst zum Ausgang des 20. Jahrhunderts voll erfolgt. Die Frage beim Zensus, wer Italienisch spricht, fand in Italien lange nur bei wenigen Intellektuellen eine positive Antwort, vielleicht noch bei denjenigen Florentinern, deren Sprache Ausgangspunkt für das „Italienische“ war und die diese Sprache zugleich als ihre alltägliche Regionalsprache benutzten. In Deutschland geschah die Herausbildung einer homogenisierten hochsprachlichen Situation in einem langanhaltenden, umfassenden gesellschaftlichen Diskussionsprozess, der sich im 18. Jahrhundert konsolidierte und an dessen Ende wesentlich zum Abschluss kam - und dies lange vor der Herstellung einer politischen Einheit. Als im 19. Jahrhundert das Projekt Nation sich auch für den deutschsprachigen Bereich umsetzte, kam es zur so genannten „kleindeutschen Lösung“, die für die Herstellung eines „Deutschen Reiches“ 1870/ 71 das größte Mitglied des „Deutschen Bundes“, nämlich die Habsburger Monarchie, ausschloss. Diese hatte sich im so genannten „Ausgleich“ von 1867 zu einem als Personalunion organisierten Modell politischer Struktur umgewandelt - und blieb damit im Wesentlichen dem überkommenen, freilich auslaufenden Prinzip der personalen Organisation der Gesamtpolitik verpflichtet. Bezogen auf die neuen Kategorien des Projekts Nation, stellte sich dieses „k.-und-k.“ Österreich-Ungarn als ein Vielvölkerstaat dar, und das heißt: als ein Vielsprachenstaat. Die deutsche Sprache war 406 Konrad Ehlich darin eine Sprache unter anderen sicher mit einem gewissen Vorrang im Einzelnen, aber insgesamt doch eingeordnet in ein plurilinguales Gesamtsprachenregiment (vgl. Goebl 1999, Burger 1995). Die damals begründete Problematik schrieb sich durch das 20. Jahrhundert hin fort und ist bis heute in der Identitätsfindung der Österreicher und Österreicherinnen in Bezug auf ihre Sprache zumindest unterschwellig virulent: Ist die hauptsächlich in Österreich gesprochene Sprache deutsch, oder ist sie etwas Eigenes, „österreichisch“ (vgl. Ammon 1995)7 Beim Eintritt in die EU wurde von Österreich eine Liste von mehreren Dutzend Wörtern kontraktuell festgeschrieben, die als spezifisch österreichisch geschützt werden und in Europa- Texten neben den in Deutschland üblichen gebraucht werden sollten, Wörter wie „Paradeiser“, „Karfiol“ etc., Ausdrücke, die vor allem den kulinarischen Bereich betreffen (vgl. de Cilia 1995). Die Befürchtungen, vom Deutsch aus dem Norden überrollt zu werden, sind sehr präsent (vgl. zum österreichischen Deutsch zusammenfassend Wiesinger 2001). Diese Problematik hat zugleich ihre Auswirkungen für den deutschsprachigen Kulturraum als ganzen; Sprecher und Sprecherinnen aus Österreich und der Schweiz fühlen sich übergangen, wenn einfach der Ausdruck „deutsch“ einerseits als Adjektiv für die Sprache, andererseits aber zugleich als Adjektiv zu „Deutschland“ verwendet wird. Man spricht inzwischen denn auch von „nationalen Varietäten“ des Deutschen (Ammon 1995 und die ausführliche Bibliographie Ammon 1997) - und schreibt darin natürlich genau die Koppelung von Sprache und Nation fort. So wird Deutsch dann unter die „plurizentrischen Sprachen“ eingeordnet (Clyne 1992). Doch kommen wir zurück auf die allgemeine deutsche Situation. Sie hat das Merkwürdige, dass Sprache mit einem gelungenen Resultat früher und erfolgreicher für den gesamten Sprachraum festgeschrieben wurde, als die politischen Größen dies nachvollzogen haben. Sprache läuft also den anderen Entwicklungen voraus. Dies ist eine erstaunliche Leistung - und eine, die vielleicht eine besondere Wertschätzung verdient. Sie hat aber auch einige fatale Konsequenzen in Bezug auf den Stellenwert der deutschen Sprache innerhalb des politischen Lebens. Denn bei der Herstellung der politischen Einigung galt es immer schon als selbstverständlich, dass die deutsche Sprache, genauer: die deutsche Hochsprache, einfach da Was wird aus den Hochsprachen ? 407 ist, als etwas selbstverständlich Vorhandenes wie sie eingangs (§ 2.) charakterisiert wurde. Der einzige sprachliche Aspekt, für den man meinte, politisch-administrativ etwas tun zu müssen, war die Orthographie. Diese Bemühungen gehören in die Frühgeschichte der Versuche einer deutschen Rechtschreibreform. Nach der Reichsgründung fand in den 70er Jahren die erste, zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts 1901/ 1902 die zweite Berliner orthographische Konferenz statt. Die aktuelle Situation, die nicht auf eine dritte orthographische Konferenz, sondern auf eine ganze Konferenzenfolge zurückgeht und in ihren Ergebnissen noch keineswegs ausgestanden ist, ist bekannt alles in allem ein Kapitel der angewandten Sprachwissenschaft, dem wohl niemand einen besonderen Glanz attestieren würde. Ansonsten aber war die Hochsprache so selbstverständlich etabliert, dass man nicht meinte, man müsse irgendeinen Gedanken auf sie verschwenden. Die rechtliche Situation ist bis heute so, dass wir in Deutschland keinerlei politisch relevante Gremien haben, die sich mit der deutschen Hochsprache beschäftigten. Manche sagen, das sei gut so, und wenn man sich die Probleme der Rechtschreibreform ansieht, könnte man geneigt sein, dieser Einschätzung leichthin zuzustimmen, bietet das Ergebnis der Arbeit der Kommission doch jenes oben beschriebene betrübliche Bild. Doch andererseits: In einer Situation, in der die selbstverständliche Einheit Volk - Sprache - Nation - Staat so nicht mehr gegeben ist, findet sich das Deutsche in einer Weise vor, in der Sprachbewusstheit als Sprachpolitikbewusstheit in der deutschen Öffentlichkeit faktisch nicht präsent ist. Aufschlussreich ist dafür zum Beispiel die Behandlung sprachlicher Fragen in der überregionalen Presse. Man tut dies in einem gewissen ironischen Duktus und mit dem allgemeinen augenzwinkernden Einverständnis des Tenors: „Solche Sorgen möchte ich haben ...“ In Bezug auf die Sprache sei eigentlich doch „alles klar“, man brauche sich über sie keine Gedanken zu machen mit Ausnahme solcher vielleicht, in denen die Grenze zwischen dem guten und dem schlechten Stil erörtert und der mangelhafte Gebrauch des Deutschen durch die jeweils bei der Konkurrenz schreibenden journalistischen Kollegen gerügt wird. Es gibt in Deutschland, ja, im deutschsprachigen Bereich keine Institution, die sich auf systematische Weise mit dieser Hochsprache beschäftigt, wie 408 Konrad Ehlich dies in anderen Ländern der Fall ist, so seit Mitte des 17. Jahrhunderts die Academic Frangaise (1635) oder schon ca. fünfzig Jahre vorher die Accademia della Crusca in Florenz (1583). Das Institut für Deutsche Sprache in Mannheim, erst relativ spät (1964) gegründet, ist keine Institution, die in dieser Hinsicht tätig werden will. Es ist vielmehr ein Forschungsinstitut, das in der kurzen Zeit seines Bestehens eine vielfältige und erfolgreiche Arbeit geleistet hat. Doch Normierungsanforderungen zum Beispiel weist es von sich. Andere Einrichtungen, bei denen man eine entsprechende Tätigkeit vermuten möchte, zum Beispiel die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, haben noch deutlicher andere faktische Schwerpunkte ihrer Arbeit. Diese Situation einer Unbewusstheit in Bezug auf die Sprache wird dadurch verschärft, dass man, wenn man mit Blick auf den kulturpolitischen Bereich von der Bundesrepublik Deutschland spricht, von einer Größe redet, die es eigentlich gar nicht gibt. Vielmehr gibt es hier eben sechzehn völlig souveräne, selbstständige Staaten, mehrere Freistaaten darunter. Jenseits der Grenzen der BRD kommen dann noch jene anderen Staaten hinzu, in denen das Deutsche in der einen oder anderen Weise Staatssprache ist, Österreich, die Schweiz, aber auch Liechtenstein, Belgien, Luxemburg. Alle sechzehn kulturpolitisch souveränen Staaten hätten eigentlich, vielmehr: haben gleichberechtigt etwas zu sagen in Bezug auf die deutsche Hochsprache - oder eben auch nicht. Eine bloße, verfassungsrechtlich zudem bedenkliche Hilfskonstruktion befördert eine gewisse Absprache unter den kultur- und sprachpolitischen Repräsentanten, die „Kultusministerkonferenz der Länder (KMK)“. Dies stellt eine zwar auf langen Traditionen der deutschen Geschichte beruhende, nichtsdestotrotz hoch problematische - Konfiguration dar, die für die heutigen sprachpolitischen Erfordernisse ein schweres Erbe bildet. 7. Nach den Nationen Denn was geschieht in einer Situation nach den Nationen, einer Situation, in der bei allen Grundsatzüberlegungen zur verfassungsrechtlichen Zukunft Europas der Stellenwert der Nationen für diesen Kontinent nicht mehr Was wird aus den Hochsprachen? 409 derselbe ist wie im „Projekt Nation“? Europa bewegt sich von der nationalen Fundiertheit der Sprachen weg, durch die die Hochsprachen als nationale Ausprägungen von Sprache konzeptualisiert wurden. Nach den Nationen, so ist gegenwärtig vor allem zu hören, komme die Intemationalisierung, die „Globalisierung“. Fragt man nach, geht es hierbei freilich weniger um die Ausweitung der Perspektiven auf die ganze Welt. Vielmehr geht es vor allem um eine - Nation, nämlich die Vereinigten Staaten von Amerika, einen National-Staat mit 270 Millionen Einwohnern, der durch die weltpolitischen Entwicklungen des abgelaufenen Jahrhunderts zur scheinbar fraglosen Weltspitze, zu dem geworden ist, als was er sich schon länger selbst gesehen hat, die „number one in the world“, und die sprachliche Tendenz, die sprachliche Drift, geht in genau diese Richtung. Demgegenüber hat Europa natürlich schlechte Karten, denn es ist ein mehrsprachiges Gebiet. Wenn sich Europa in seiner Selbstdefinition auf diese Drift hin orientiert, dann ist klar, was die Konsequenzen sind: Es ist, koste es, was es wolle, zu versuchen, die Sprache dieses „globalen“ Partners möglichst perfekt zu adaptieren. Der Englischunterricht in den europäischen Schulen der nicht-englischsprachigen Teile Europas ist nicht nur zu verbessern; das ist er wie jeder Fremdsprachenunterricht ohnehin. Vielmehr ist das Englische möglichst frühzeitig für alle Zwecke der höheren Bildung einzuüben. Eigentlich schon ab der Sekundarstufe I ergäbe sich die Aufgabe: Hin zu einer Nutzung der englischen Sprache! Denn wie soll sonst jemand, der in Hamburg oder in Freising oder in Fulda oder in Aachen aufgewachsen ist, später kompetent in diesem internationalen Kontext mitspielen? Das bedeutet dann zugleich: Schluss mit dem Curriculum auf Deutsch. Interessanterweise finden wir zwar einen Teil dieser Überlegungen didaktisch und bildungsökonomisch durchaus, freilich kaum je in der Radikalität ausgesprochen. Deutlicher zeigt sie sich für die Wissenschaftssprache. Hier erschallt mehr und mehr der Ruf: Schluss mit der Lehre und der Forschung auf Deutsch (vgl. z.B. Ammon 1998). Eine Forschung, die sich dieser Sprache bedient, ist sinnlos; es hat keinen Zweck mehr mit diesem Deutsch - und nur die Unbelehrbaren halten daran noch fest. Um die ist es freilich auch nicht schade, denn sie sind in ihrer Provinzialität für die Wissenschaft ohnehin verzichtbar. 410 Konrad Ehlich Dieses Szenarium verkennt meines Erachtens die Frage, was in der Situation nach den Nationen auf der Tagesordnung steht, gründlich. Für die weitere Entwicklung der europäischen Sprachensituation (einschließlich der der Wissenschaftssprachen) ist die Frage vielmehr: Wie können wir den Reichtum der entwickelten europäischen Hochsprachen in das 21. Jahrhundert hinübernehmen, und wie kann dieses Potential an sprachlicher und kultureller Erfahrung genutzt werden nicht nur, indem wir unsere eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten weiter entwickeln, sondern indem wir versuchen, zugleich die europäische Mehrsprachigkeit als eine zentrale Verstehens- und Verständigungs-Herausforderung wahrzunehmen und zu realisieren. 8. Mehrsprachigkeit - Reichtum, Chance, Aufgabe In der jüngeren Geschichte der europäischen Hochsprachen hat sich herausgestellt, dass die Wissensentwicklung, die wir in Europa über mehrere Jahrhunderte so produktiv erlebt haben, jeweils in den einzelnen Sprachen bestimmter Kulturräume andere Wege gegangen ist. Diese Entwicklung stellt also nicht eine einzige Linie dar, sondern die verschiedenen ich sage abkürzend und mit allen erforderlichen Einschränkungen nationalen Wissenstraditionen, die in den Hochsprachen niedergelegt sind, haben jeweils unterschiedliche Akzente gesetzt. Sicherlich, alle Sprachen können in alle Sprachen übersetzt werden. Aber die historische Ausgestaltung einer einzelnen Sprache derart, dass sie zu einem vollgültigen Medium der Erkenntnis auf der Höhe der Zeit werden kann, ist ein erhebliches Stück gesellschaftlicher Arbeit. Sie tut sich nicht „einfach so“. Es bedarf vor allem einer entwickelten diskursiven Praxis in dieser Gesellschaft, um zu einer solchen Sprach-Ausbildung zu kommen. Ja, mehr: die Sprachen selbst sind als ein Werkzeug unseres Geistes, wie es Wilhelm von Humboldt sagen würde, von einem tiefen Einfluss auf die Verfahren und die Resultate der Erkenntnisgewinnung in den verschiedenen nationalen Traditionen und in deren Umsetzungen. Wenn diese Einschätzung richtig ist, und ich glaube, sie kann bis ins Einzelne, bis in den Wortschatz, z.T. sogar bis in die Syntax hinein nach- und als wahr aufgewiesen werden, dann haben wir in Europa mit diesen Hochsprachen (nicht einfach mit dem Reichtum der Sprachen insgesamt, sondern Was wird aus den Hochsprachen ? 411 speziell mit diesen Hochsprachen) ein erhebliches Potential, einen Reichtum, den wir gegenwärtig ohne Not aufs Spiel zu setzen im Begriff sind. Die deutsche Sprache und die darin gefasste deutsche Kultur- und Wissenstradition gehört mit zu den zentralen Bestandteilen dieses Potentials, wie die spanische, wie die italienische, wie die französische, wie die nordischen, wie die englische, wie die russische und wie eine Reihe von weiteren solchen Traditionen, zu schweigen von der griechischen, die in einer sehr spezifischen Weise eine Adaptierung der altgriechischen Ursprünge dieses Wissenssystems praktiziert. Dieses ist eine Chance, die ergriffen werden will. Die Europäische Union hat sich für Mehrsprachigkeit entschieden. Die so genannten Praktiker werden nicht müde, auf die ihrer Meinung nach ungeheuren Kosten der Mehrsprachigkeit im Alltag der europäischen politischen und bürokratischen Arbeit hinzuweisen, Kosten der Übersetzungsdienste, Kosten an Papier, an Druck usw. Inzwischen kostet einiges davon weniger, weil das, was elektronisch kommuniziert wird, schon fast gar nichts mehr kostet. Doch die Argumente bleiben. Aber wie verhalten sich diese Kosten zu der Gesamtpotenz, der ökonomischen, dieses Wirtschaftsraumes? Aber nicht nur das. Diese Kosten sind zu vernachlässigen, wenn die Europäer und Europäerinnen sich eine klare Priorität in der Umsetzung der Mehrsprachigkeitskonzeption der Europäischen Union vornehmen; sie sind zu vernachlässigen, bezogen auf die Bruttosozialprodukte der beteiligten Länder. Ihnen steht der Nutzen gegenüber, mit dem wir es zu tun haben, der zu einem großen Gesamtnutzen zusammengefasst werden kann, nämlich einer optimalen Verwendung, Weiterentwicklung und Entfaltung dessen, was in den Hochsprachen niedergelegt ist. Ich will das an einem zentralen Punkt für die politische Verfasstheit kurz erläutern, in der wir uns befinden. Wir leben in den Ländern der Europäischen Union in demokratischen Staaten. Das bedeutet Teilhabe aller an den politischen Entscheidungen; diese Teilhabe aber heißt, dass sich alle, jedenfalls im Prinzip, in gleicher Weise in die gesellschaftlichen Verständigungsprozesse einbringen können. Dies das erfahren wir nicht zuletzt dadurch, dass wir die Situation in anderen Ländern vergleichen geht nur durch eine entsprechende sprachliche Kompetenz. Wenn die Hochsprachen in enger Beziehung zur oder sogar als Ausdruck der Muttersprache frühzeitig gelernt, 412 Konrad Ehlich umgesetzt und in der schulischen und nachschulischen Praxis konkret angewendet werden, besteht die Möglichkeit, dass Demokratie real bleibt, real wird auch, dass sie nicht nur als nominelle Einmalentscheidung alle vier oder fünf Jahre realisiert wird. Wenn Europa die muttersprachliche, die hochsprachliche Bindung unseres Wissens, unseres politischen Wissens, unseres gesellschaftlichen Wissens aufgibt, wird es in ein ähnliches Problem geraten, wie es etwa in Lateinamerika heute konkret zu beobachten ist: Die Gesellschaften zerfallen in eine kleine Schicht von englischsprachigen, international tätigen „Machern“ und eine große Gruppe der Bevölkerung, die mit dem Spanischen bzw. Portugiesischen von den Entscheidungen und ihren Repräsentanten abgekoppelt ist. Wir können andere Beispiele heranziehen. Demokratie und Zugangsmöglichkeit zu den Sprachen bilden einen zentralen Punkt. Er wird, wie uns nicht zuletzt die späten nationalistischen Tendenzen im südöstlichen Europa gegenwärtig zeigen, über die Zukunft der Europäischen Union entscheidend mitbestimmen. Ein zweiter wichtiger Punkt tritt hinzu: Mehr und mehr Entscheidungen, über die alle als Bürger und Bürgerinnen befinden müssen, betreffen die Umsetzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse in das alltägliche Leben. Die jüngeren Beispiele, die das illustrieren, sind zahlreich - und werden noch zahlreicher werden. Sie reichen von den Energiefragen über die aktuellen Diskussionen zu genmanipulierten Nahrungsmitteln bis hin zur Genforschung insgesamt. Wenn mündige Bürger und Bürgerinnen über diese Fragen gemeinsam entscheiden wollen, müssen sie wenigstens ein Basiswissen von den Gegenständen haben. Wenn das gesellschaftliche Wissen sich aber abkapselt in hochspezialisierter und zugleich in kommunikativer Isolation abgehobener Wissenschaftssprache, wird dieser Zugang immer schwieriger. Ein dritter Punkt bedarf der expliziten Thematisierung. Wer Englisch als Muttersprache hat, wer zum Bereich der englischen Hochsprache gehört, wird in Zukunft keine andere Sprache mehr lernen. Leicht kann man sagen, das spare sehr viel Lebenszeit was in einem kurzsichtigen Sinn „stimmt“. Aber zu welchem Preis geschieht diese Einsparung? Der Preis ist, dass die elementare Verunsicherung durch eine Konfrontation mit der anderen Zugangsweise zur Welt in anderen sprachlichen Gemeinschaften sich für eine solche forciert einsprachige Population überhaupt nicht mehr ergibt. Diese Was wird aus den Hochsprachen? 413 Verunsicherung, als Verunsicherung zunächst etwas, wovor man zurückschreckt, ist wiederum ein erhebliches Potential zum Nachdenken über das, was man selbst ist und was die anderen sind, vor allem aber in Bezug darauf, dass man selbst, dass die eigene Kultur und Sprache nicht einfach der Mittelpunkt und der Nabel der Welt sind. Wenn die europäische Einigung etwas werden soll, worin die verschiedenen Identitäten aufgehoben werden, dann gehört diese Einsicht, dieser Anfangspunkt des Verstehensprozesses, diese hermeneutische Grunderfahrung zu den wesentlichen zukunftsträchtigen Bestandteilen für die Biographien der einzelnen Mitglieder dieser verschiedenen Sprachgemeinschaften und über sie für die Gesellschaften, denen sie zugehören. Die ideologische Vorbereitung eines „Zusammenstoßes der Kulturen“ (Huntington 1996; vgl. Calvet 1999) ist leicht getan, ihre Exekutierung von allen Seiten ebenso einfach ins Werk gesetzt. Schwieriger ist die Entwicklung einer praktischen Verstehenslehre und die Lehre einer effektiven Verstehenspraxis. Bewusst gelebte Mehrsprachigkeit kann dazu meines Erachtens wichtige Beiträge leisten. Dies ist für das Gelingen eines Zusammenlebens im beginnenden 21. Jahrhundert ein meines Erachtens sehr wichtiger Aspekt. 9. Sprachenvermittlung eine Herausforderung Ich denke, es ist deutlich, dass es für die Frage der europäischen Hochsprachenzukunft keine einfache Lösung gibt. Sicher wäre es auf eine Weise für die europäische Kommunikation „ökonomisch“, wenn die europäischen Hochsprachen in, sagen wir, fünf bis zehn Jahren zu dem geworden wären, was heute die Dialekte sind: kleinräumige Sprachen innerhalb der Familie und Freunde, vielleicht noch in religiösen Zusammenhängen. Sobald hingegen der öffentliche Raum betreten wird, findet Sprachwechsel statt - „Codeswitching“ (und das dann vielleicht einmal im wörtlichen Sinn, denn die verwendete Sprache wäre für viele wahrscheinlich wirklich kaum mehr als ein „Code“). Dieses Szenarium freilich ist aus den genannten Gründen einer „Ökonomie“ verpflichtet, die zu wenige Parameter in ihr Kalkül einbezieht. 414 Konrad Ehlich Die Perspektive europäischer Mehrsprachigkeit, von den europäischen Staaten verbal proklamiert, verlangt ein anderes Szenarium - und alle Sparapologeten haben Recht: in der Tat, die Mehrsprachigkeit wird die Europäer etwas kosten: Ökonomisch ist hier einiges aufzuwenden, und zwar in mehrfachen Hinsichten. Eine davon, zudem eine zentrale, gilt es hervorzuheben, nämlich die bildungsökonomische. Sollen die Regelungen von Maastricht und die anderen auf Multilingualität, auf Mehrsprachigkeit zielenden rechtlichen Dokumente wirklich umgesetzt werden, so sind in den verschiedenen europäischen Ländern und in der Gemeinschaft als ganzer die bildungsökonomischen Konsequenzen zu bedenken. Sie verlangen zugleich nach einer anderen Vermittlungspolitik in Bezug auf die europäischen Fremdsprachen. Bisher geschieht die Fremdsprachenvermittlung im Wesentlichen in der Schule, und dies trotz erheblicher Verbesserungen in den vergangenen Jahren leider (und ich denke, auch die Englisch- und Französischdidaktiker werden mir hier zustimmen) noch immer auf eine vergleichsweise ineffiziente Weise. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass gerade für den Spracherwerb die Schule eine schlechte Umgebung ist, weil in ihr so vieles künstlich wird, simuliert, gespielt; daneben stehen die überkommenen Sprachstrukturvermittlungen mit ihren unwandelbaren griechisch-lateinischen Kategorisierungen von Sprache. Viele realisieren für ihre Biographie die eigentliche Chance zum Fremdsprachenerwerb erst später, nachdem sie die Schule verlassen haben (die Volkshochschulen sind ein lebendiges Zeugnis dafür, aber auch die vielen mehr oder minder großen privaten Sprachschulen), dann, wenn es nötig ist, und dann, wenn eine hohe Motivation auch zu effizienten Lernprozessen führt. Der Fremdsprachenunterricht muss umdenken immer noch. Das kostet. Bildungspolitisch bedeutet es in unseren deutschen Ländern, dass wir in Bezug auf den Fremdsprachenunterricht uns etwas Neues einfallen lassen müssen, und dieses Neue kann nicht darin bestehen, dass wir die Sprachen behandeln wie andere Schulfächer. Die bisherigen Verfahren haben mit zu dem Ergebnis geführt, dass etwa im Vergleich zur Schulsituation vor 40 Jahren heutzutage die Chance, an einer Schule etwa Französisch zu lernen, z.T. praktisch gegen Null schrumpft. Das Fach kann abgewählt werden - und es wird abgewählt, denn es bringt keine guten Noten. Dafür ist, um eine Metapher zu gebrauchen, der „Anmarschweg“ zur Sprachbeherrschung zu schwierig, und gerade dieser Anmarschweg phonologisch, grammatisch, lexikalisch wird in der Schule Was wird aus den Hochsprachen? 415 zurückgelegt. Das Englische hat demgegenüber den großen Vorteil, dass der allererste Anmarschweg sehr leicht erscheint. Erst sehr viel später wird es schwieriger; aber darüber wird dann in der Schule nicht mehr und meistens auch nicht im restlichen Leben geredet. Radebrechend kommt man „irgendwie“ mit dem Schul-Englisch durch die Welt. Das Französische wie auch das Deutsche in anderen europäischen Ländern haben einen steilen Anmarschweg; danach wird's dann eher bequem und gut zu machen. Die schulischen Curricula und die dort praktizierten Bewertungen gehen darauf nicht ein. In den Schulen müssten andere Prioritäten gesetzt werden, die die Sprachen aus der Abwahlmöglichkeit herausnehmen. Es ist - und dies wird durchaus auch von Englischdidaktikern so gesehen neu zu überlegen, ob es sinnvoll ist, mit Englisch als erster Fremdsprache zu beginnen. Diese Sprache wird von den Schülern aus eigener Motivation heraus allemal gelernt - und Selbstmotivation ist ein zentraler Punkt. Es ist demgegenüber sinnvoll, ihnen zunächst einmal eine andere Sprache zuzumuten, z.B. die Nachbarschaftssprachen, Italienisch etwa in Bayern oder Französisch im deutschen Südwesten oder Tschechisch oder Dänisch - oder eine andere wichtige europäische Sprache wie Spanisch oder noch einmal - Französisch oder Italienisch. Zugleich sollte der Fremsprachenerwerb von Anfang an so gestaltet sein, dass man neben und in der konkreten Sprache, die man lernt, das Fremdsprachenlernen insgesamt mit lernt, um frühzeitig zur eigenen Weiterarbeit befähigt zu sein. Die stärkere Betonung der Sprachen sollte zudem durch ein Bonussystem begleitet werden, in dem die Befassung mit und der Erwerb von anderen Sprachen durch entsprechende Notenanreize belohnt wird. Weiter greifende Maßnahmen, die den Fremdsprachenerwerb aus dem Bereich der schulischen Künstlichkeit herausnehmen, wären damit zu kombinieren; ein früher Erwerbsansatz hilft zu mehr Effizienz und zu verlässlicheren Ergebnissen. Ich denke, das Exemplarische gerade an den ersten Fremdsprachenerwerbsschritten bekommt einen ganz neuen Stellenwert, wenn Multilingualität in Europa in der Wirklichkeit des gesellschaftlichen Lebens eine Rolle spielen soll. Bisher erfahren wir vor allen Dingen, dass das traditionellste Verfahren, das Linguisten und Didaktiker in ihrer Fachterminologie die „Grammatik-Übersetzungs-Methode“ nennen, aus der Vermittlung von zwei „toten“ Sprachen, dem Lateinischen und Altgriechischen, gewonnen, wenig weit trägt: Der Übersetzungsprozess von den Regeln in die Praxis misslingt. 416 Konrad Ehlich Es gilt, frühzeitig lernend mit dem Umstand umzugehen, dass es andere Sprachen gibt und dass, was man von diesen Sprachen lernen kann, ein erstrebenswertes Ziel ist. Die Fähigkeiten und die Kompetenzen zu erwerben, andere Sprachen schnell und effizient und mit Freude und Spaß sich anzueignen, vermittelt eine Befähigung besonderer Art. Sie gestattet geradezu einen sprachlichen Luxus, den, so meine ich, Europa sich leisten sollte. Um die Zukunft seiner Hochsprachen braucht Europa nicht in Sorge zu sein, wenn es gelingt, die bildungspolitischen und die politischen Herausforderungen anzunehmen und umzusetzen, die ein Europa nach den Nationen stellt. 10. Literatur Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin u.a. Ammon, Ulrich (1997): Nationale Varietäten des Deutschen. Heidelberg (= Studienbibliographien Sprachwissenschaft 19). Ammon, Ulrich (1998) Ist Deutsch noch internationale Wissenschaftssprache? Englisch auch für die Lehre an den deutschsprachigen Hochschulen. Berlin u.a. Anderson, Benedict (1983): Die Erfindung der Nation. Frankfurt a.M. Baratta, Mario v. (Hg.) (2001): Der Fischer Weltalmanach 2001. Frankfurt a.M. Burger, Hannelore (1995): Sprachenrecht und Sprachgerechtigkeit im österreichischen Unterrichtswesen 1867-1918. 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Zacher, Irmgard (1999): Die deutsche Sprache in einem sich einigenden Europa. Mag.-Arb., Inst. f. Deutsch als Fremdsprache, Univ. München. http: / / www.ethnologue.com Vural Ulkü Sprachnationalismus und Sprachpolitik Deutsche und türkische Modelle Sprache ist überall und immer mehr gewesen als lediglich ein praktisches Kommunikationsmittel; sie ist seit jeher auch als ein Ausgangspunkt kultureller Eigenart und der nationalen Identität angesehen worden. Der national gesinnte zeitgenössische türkische Dichter Fazil Hüsnü Daglarca spricht in diesem Sinne von der türkischen Sprache als „mein Stimmbanner“ („Türkgern, benim ses bayragim“). Der Weg von der Sprache über Nation zum Nationalismus ist, genau beobachtet und beschrieben, zum Gegenstand mehrerer Untersuchungen gemacht worden. Die diesbezüglichen Entwicklungen in Deutschland und in der Türkei weisen manche Ähnlichkeiten und Parallelitäten auf, die eine nähere Betrachtung verdienen, zumal manche Erscheinungen in der deutschen Sprachgeschichte, wie Fremdwortpurismus, oder Einrichtungen wie der „[Allgemeine] Deutsche Sprachverein“ in der Türkei als Vorbilder, als idealisierte Muster hingestellt wurden und immer wieder hingestellt werden. Auf der anderen Seite bildet Sprachnationalismus einen wichtigen Bestandteil der historischen Entwicklung in den beiden Ländern, obwohl er dort im Vergleich zu den westeuropäischen Nationalstaaten ziemlich spät Eingang gefunden hat beide, die Türkei und Deutschland, gehören ja zu der Gruppe der „verspäteten Nationen“. Nationalstaat und Sprachnationalismus, diese Erfindungen und Erzeugnisse der europäischen Kultur, sind eng miteinander verknüpft, und wer sich mit diesen Erscheinungen auseinander setzt, kommt nicht daran vorbei, die damit zusammenhängenden Problemkreise Sprachpolitik, Sprachpflege, Sprachlenkung, Sprachregelung usw. genauer zu untersuchen. In dieser Arbeit geht es allerdings nicht darum, zwei Sprachen, Deutsch und Türkisch, oder Teile von ihnen zu kontrastieren, sondern lediglich darum, mit Hilfe einiger Begriffe einige Erscheinungen in beiden Sprachen bzw. Sprachgeschichten gegenüberzustellen, und zu versuchen, sie jeweils aus erkennbaren 420 Vural Ülkü Grundzügen der betreffenden Sprache oder aus den Tatsachen der betreffenden Kultur- und Sprachgeschichte der dazugehörigen Gesellschaft zu erklären. 1. Türkisch - Osmanisch Geografisch (und kulturell? ) bildet die Türkei eine Brücke zwischen Europa und dem Orient, und die Intellektuellen fühlen sich seit der Abschaffung des Sultanats und des Kalifats (1922 bzw. 1924), seit der Gründung der Republik im Jahre 1923, seit den Reformen Kemal Atatürks in den Zwanziger- und Dreißigerjahren als Europäer. Das Land hinkt aber in vielen Bereichen den Entwicklungen in Europa, manchmal mit großer Verspätung, hinterher. So konnte sich z.B. die Buchdruckerkunst in Mittel- und Westeuropa sehr schnell, innerhalb einiger Jahrzehnte, ausbreiten, fand den Weg in die Türkei aber erst mit einer Verspätung von fast 300 Jahren! Die erste türkische Einrichtung, die die Bezeichnung Universität trug, entstand erst 1863, die erste Universität im europäischen Sinne wurde aber erst 1933, nach einer Reform auch in diesem Bereich, unter Mitwirkung von 142 deutschen Wissenschaftlern und Künstlern gegründet. Die erste türkische Tageszeitung erschien mit einer ähnlich großen Verspätung erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts usw. Man könnte mühelos zahlreiche Beispiele dieser Art nennen. Auch der Nationalstaat auf der Grundlage des Sprachnationalismus wurde ziemlich spät, zu Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckt, nachdem die Führung des Osmanischen Reiches den Nationalismen der in dem Herrschaftsbereich lebenden und seit Anfang des 19. Jahrhunderts um ihre Unabhängigkeit kämpfenden Völker, der Griechen, Rumänen, Bulgaren, Serben, Albaner usw., zuerst mit völligem Unverständnis begegnet war, um sie dann sehr heftig und rücksichtslos zu bekämpfen. Die Herrschenden konnten nicht verstehen, wie diese „undankbaren“ Volksgruppen sich in dem multikulturellen Vielvölkerstaat nicht wohl fühlen konnten es handelte sich ja nicht um das Türkische, sondern um das Osmanische Reich, und dieser Staat war alles andere als nationalistisch. Die Bezeichnungen Türkei, türkisch wurden nur von den Europäern verwendet; sie waren im Lande selbst nicht nur nicht üblich, sondern geradezu verboten oder aber wurden im pejorati- Sprachnationalismus und Sprachpolitik 421 ven Sinne gebraucht, z.B. „Türkisch“ in der Bedeutung „ungehobelte, primitive, grobe Sprache“. Der türkische Diplomat, der dem französischen Kaiser Napoleon als „der türkische Botschafter“ vorgestellt wurde, lehnte diese Bezeichnung mit Empörung ab, und bestand darauf, „der osmanische Botschafter“ genannt zu werden; „osmanisch“ stand etwa für das Edle, Feine, eben für das „Höfliche“. Die Bezeichnung „Türkiye“ (Türkei) ist erst seit der Gründung der Republik üblich, vorher sagte man nur „Osmanh Devleti“, also „Osmanischer Staat“ (nach dem Namen seines sagenhaften Gründers), und die Staatsbürger hießen „Osmanhlar“ (Osmanen), also nicht „Türken“. Auf die deutschen Verhältnisse übertragen, hieße das, statt von „Deutschen“ von den „Karolingern“ oder „Habsburgern“ zu reden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bekam die Bezeichnung „Osmanh“ politischen Inhalt, weil die politische Führung damit den übernationalen Charakter des Systems betonen wollte. Später kam die Bezeichnung „Osmanisch“ für die Sprache auf, ein Begriff, der zuerst einfach das Türkische in der Zeit des Osmanischen Reiches (1299-1922) bezeichnete, aber danach, hauptsächlich nach der Gründung der Republik, besonders von den radikal-kemalistischen Reformern und Sprachpuristen dazu benutzt wurde (und wird), die arabischen und persischen Elemente und die Archaismen in der Sprache im pejorativen Sinne zu markieren. Richtig ist: In dem Osmanischen Reich sowie in den ihm vorangegangenen „türkischen“ Staaten waren massenhaft arabische und (in kleinerer aber doch beträchtlicher Zahl persische) Wörter übernommen worden, in einen Wortschatz, der sich sowieso nicht durch Reichtum auszeichnete. Obwohl der Satzbau durch die „fremden“ Bestandteile wenig berührt wurde, entwickelte sich (die Reformer meinen: verkam) das Türkische in lexikalischer Hinsicht zu einer Mischsprache. Wie aber war diese Entwicklung möglich geworden, und welche Faktoren hatten eine Rolle gespielt? Diese Fragen sind auch deshalb wichtig, weil die Kritiker den sozialen und politischen Entwicklungen keine oder wenig Beachtung schenken und sich die Sprache wie eine Person vorstellen, die willkürlich Wörter aus anderen Sprachen nähme, Wörter anderen Sprachen gäbe, usw. - Es ist also eine methodologische Frage. 422 Vural Ülkü 2. Entwicklung der türkischen Sprache Die ältesten schriftlichen Denkmäler der türkischen Sprache stammen aus der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts u.Z. und zwar aus Zentralasien, der Urheimat der Türken. Auf den am Ufer des Jenissej-Flusses (im Norden der heutigen Mongolei) aufgefundenen Stelen, die zwischen 732-735 von dem türkischen Herrscher Bilge Kagan und seinem Minister aufgestellt worden sind, finden sich die mit Hilfe des Runenalphabets (mit 38 Zeichen) geschriebenen „Orhun-“ oder „Orchon-Inschriften“. Die in der Nähe gefundenen anderen Stelen werden auf etwa 716 und 731 datiert. Die Inschriften sind auch deshalb sehr wichtig, weil in ihnen zum ersten Mal die Bezeichnung „Türke“ auftaucht, und auch Informationen über den ersten bekannten türkischen Staat der „Göktürken“ sowie über die Verwaltung dieses Staates zu finden sind. (Zum Vergleich: Die germanischen Stämme haben bis ins 8. Jh. die Runenschrift gekannt und benutzt. „Abrogans“, das älteste Sprachdenkmal des Deutschen, stammt aus der 2. Hälfte des 8. Jahrhunderts.) Die Türken in Mittelasien hatten mehrere Staaten gegründet, aber diese Staaten hatten in der Regel eine kurze Lebensdauer, wobei die inneren Kämpfe hierfür fast immer die eigentliche Ursache waren. In Turkestan, dem weiten Gebiet östlich des Kaspischen Meeres, waren im 7. Jahrhundert große und reiche Städte, große Handels- und Kulturzentren entstanden. Diese Region wurde von der Mitte des 7. Jahrhunderts an das Hauptziel der hemmungslos auf Eroberung drängenden, ideologisch indoktrinierten arabischen Angreifer und deren Raubzüge. In fast 80 Jahre dauernden, sehr blutigen Kriegen zwischen 664-751 haben die Araber, die vorher auf der arabischen Halbinsel eine sehr gründliche ethnische Säuberung durchgeführt und alle Juden ausgerottet hatten, in Zentralasien den zähen, hartnäckigen Widerstand der Türken am Ende gebrochen, und das Land, deren Urheimat, für Jahrhunderte besetzt. Die Islamisierung wurde gewaltsam und grausam verwirklicht, indem Hunderttausende von Türken ermordet wurden. Das bedeutete zugleich den Tod der sich entwickelnden türkischen Sprache. Von der Besatzungsmacht wurde den Türken verboten, Türkisch zu schreiben und auch zu sprechen. Jeder Haushalt wurde gezwungen, arabische Be- Sprachnationalismus und Sprachpolitik 423 Satzungssoldaten als Dauergäste zu bewirten, die zugleich neue Herren des Hauses und islamische „Lehrer“ waren, die darauf achteten, dass niemand sich mit irgendetwas außerhalb der „allein richtigen und selig machenden“ islamischen Lehrbücher beschäftigte. Alle mussten den Koran auswendig lernen, niemand sollte sich aber darum bemühen, den Sinn zu verstehen. Es wurde auch niemals der Versuch unternommen, den Koran ins Türkische zu übersetzen. Während den Beginn der deutschen Sprachgeschichte „Abrogans“, ein lateinisch-deutsches Wörterbuch, markiert, das in engem Verhältnis zu religiösen Texten steht, haben weder die arabischen Okkupanten noch ihre türkischen Lakaien in den besetzten Gebieten sich die Mühe gegeben, religiöse Texte den Menschen verständlich zu machen, weil es für sie überhaupt keine Rolle spielte, ob die Menschen diese Texte verstanden oder nicht. Das einzige Ziel war es, zu erreichen, dass große Massen ein in einer für sie völlig fremden Sprache verfasstes Buch von mehreren Hundert Seiten auswendig lernten und zu völlig willenlosen Untertanen wurden. Das Ergebnis dieser Politik war kulturell und sprachhistorisch katastrophal: Zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert ist kein einziges Werk in türkischer Sprache entstanden. Erst nachdem die Türken das Joch der arabischen Besatzung abgeschüttelt und angefangen hatten, wieder eigene türkische Staaten zu gründen, wagte Kasjgarh Mahmud (M. von Kaschgar) 1070-72, eine türkische Sprachkunde, „Divanü Lugati’t-Türk“ (eigentl. „Sammlung der türkischen Wörter“), vergleichbar mit „Ausführliche Arbeit von der Teutschen Haubt Sprache“ von Schottel, zu verfassen. In den folgenden Jahren entstanden nur drei Bücher in türkischer Sprache, und alle drei sind oberflächliche, kulturhistorisch wirkungslose, agitatorische Machwerke. Die Zeit nach dem 11. Jh. ist die Zeit der neuen türkischen Staaten, von denen das Seldschukische Reich das sich zuerst über den Iran und Teile von Anatolien erstreckte, dann bis ins 14. Jh. als „Anatolisch-Seldschukisches Reich“ weiterlebte als der Vorgänger des Osmanischen Reiches betrachtet werden kann. Das war zugleich die Zeit, in der die Herrscher und die herrschende Klasse dieser Staaten ihre nationale Identität völlig abgelegt haben, es gänzlich vergessen und geleugnet haben, dass sie türkischer Herkunft waren, und dazu übergegangen sind, an Stelle ihrer türkischen Namen „islamische“ Namen zu tragen. Türkische Namen wie Gültekin/ Kültigin, Bilge, Ertugrul, Selcuk, Oguz ... verschwanden als Herrschernamen; sie 424 Vural Ülkii wurden durch arabische und persische Namen wie Aläeddin Keykubat, Giyaseddin Keyhusrev, Rükneddin Süleyman, izzeddin Keykavus und ähnliche ersetzt. Trotz allem war unter dem Volk der Widerstand gegen die politische Unterdrückung und gegen die Sprache der Herrschenden sehr stark. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, nach dem Einfall der Mongolen in das Land, war das Seldschukische Reich in einem fortschreitenden Auflösungs- und Zersetzungsprozess begriffen; überall in Anatolien strebten die Fürstentümer nach Unabhängigkeit, überall gab es Aufstände. In diesem Chaos hat die türkische Sprache eine Atempause erlebt, die aber nur einige Wochen gedauert hat. Im Mai 1277 besetzte Mehmed Bey, Herrscher des Fürstentums „Karamanogullan“, Konya, die Hauptstadt der Seldschuken, und rief den Sohn des Herrschers zum Sultan und sich selbst zum Wesir (Minister) aus. Nicht die politische Seite seiner Tat ist in diesem Zusammenhang interessant, sondern sein erster Erlass gleich nach der Machtergreifung. Nach dieser Anordnung sollte „von diesem Tag an im Hof und in der Kanzlei nur Türkisch und nichts als die türkische Sprache“ verwendet werden. Diese erste Amtshandlung eines erfolgreichen Putschisten ist Ausdruck einer tiefen Unzufriedenheit und einer Not, gepaart mit dem Wunsch, das Bestehende zu verändern. Die Sprache der Kanzleien sollte nicht mehr Arabisch oder Persisch sein, die Urkunden sollten nur türkisch, in der Sprache des Volkes, geschrieben werden. 3. Sprache und soziale Schichten im Osmanischen Reich Daraus ist nichts geworden. Mehmed Bey wurde nur einige Wochen nach dem Putsch von den Regierungstruppen gestürzt und ermordet, und als Erstes wurde sein Erlass außer Kraft gesetzt. Der Jahrestag der Verkündung seiner Anordnung wird jetzt wegen der Bedeutung der Tat als „Tag der [türkischen] Sprache“ begangen, aber die Wirkung dieses Erlasses blieb in den folgenden Jahrhunderten sehr begrenzt. Im Osmanischen Reich verwendete man nicht das Arabische oder Persische als Verwaltungs- und Verkehrssprache, sondern eine Mischsprache auf der Grundlage der türkischen Syntax, und Arabisch blieb die alleinige Sprache der Religion. Sprachnationalismus und Sprachpolitik 425 Das Türkisch des Osmanischen Reiches war stark nach den sozialen Schichten gestuft, und nach der Anzahl der verwendeten persischen und arabischen Bestandteile kann man drei Gruppensprachen unterscheiden: Das „fasih“ (feine, elegante) Türkisch der hohen Poesie und gelehrten Werke; das „orta“ (mittlere) Türkisch, die Sprache der gebildeten Kreise - Lehnwörteranteil etwa 30-60%; und das „Kaba Türk5e“ (das gemeine Türkisch). Die Sprache der hohen Poesie enthielt eine hohe Anzahl arabischer und persischer Wörter - Lehnwörteranteil bis zu 90% und darüber -, in manchen Gedichten gab es, abgesehen von notwendigen Verben, nur noch einzelne türkische Füllwörter. Diese Schriftsprache war selbstverständlich nicht Allgemeingut des Volkes, sondern nur einer sehr kleinen Schicht der Hofdichter zugänglich, die sich sowieso vom Volk absondern und abheben wollten. Die Sprache des „Volkes“ bestand aus einem kleinen Wortschatz, der auch eine begrenzte Anzahl Lehnwörter persisch-arabischer Herkunft enthielt, die fest eingebürgert waren. „Kaba Türkte“ war zugleich die verächtliche Bezeichnung des turksprachlichen Teils der Sprache im Gegensatz zu der „richtigen, korrekten Sprache“. Das „mittlere“ Türkisch kann man sich vielleicht als die Vorstufe der Standardsprache vorstellen, die erst im 19. Jh. angefangen hat, sich zu entwickeln. Die türkischen Intellektuellen haben es immer wieder bedauert, dass sie keinen „türkischen Luther“ hatten, der mit seiner „Koran-Übersetzung“ die türkische Sprache hätte mitprägen, der Entwicklung der Sprache einen großen Schwung hätte geben können. So ein „türkischer Luther“ ist bis jetzt nicht in Erscheinung getreten, obwohl der Koran in den letzten Jahren mehrere Male ins Türkische übersetzt worden ist, und man auf dem Markt sehr gute Koran-Übersetzungen finden kann. Wahrscheinlich ist die Zeit endgültig vorbei, in der die Übersetzung des grundlegenden Buches einer Religion, der Bibel oder des Korans, bei der Entwicklung der betreffenden Sprache noch wesentlich sein könnte. Bei der Entwicklung einer Sprache spielen hervorragende Dichter, Schriftsteller und Denker, spielt die klassische Periode der Literatur eines Landes die wichtigste Rolle. Die Türkei hat eine solche Periode noch nicht erlebt. Klassische Bildungsideale, Dichter und Schriftsteller, deren Sprache als Muster und Vorbild ge- 426 Vural Ülkii nommen werden könnte, gibt es nicht. Philosophie war jahrhundertelang, bis zur Entstehung der Republik verboten; es gab keine philosophischen Werke. Schon Voltaire hat sich lustig gemacht über die kleine Zahl der Bücher, die im Osmanischen Reich gedruckt wurden, und über die Türken, die so wenig lasen. Für die Machthaber im Osmanischen Reich war es gleichgültig, ob Menschen sich kulturell betätigten oder nicht. Der Erfolg der Schriftreform, der Einführung des lateinischen Alphabets (1928 innerhalb von drei Monaten! ), hat viele Beobachter von außen in Verwunderung gesetzt, weil sie keine Ahnung davon hatten, dass die Zahl der Analphabeten, wie immer im Osmanischen Reich, fast 95% betrug es war also ein Leichtes, etwas Neues einzuführen. 4. Schriftreform und Sprachreform Die Schriftreform ist einer der entscheidenden Schritte der Türkei auf dem Wege zur Europäisierung gewesen, weil dadurch ein Strich gezogen war sowohl zur Vergangenheit als auch zum „Orient“. Diese Reform bildete zugleich die erste Stufe der „Sprachreform“, der großen, staatlich gelenkten Sprachreinigungsbewegung, durch die versucht wurde, einen großen Teil der persischen und arabischen Wörter durch „türkische“ Wörter zu ersetzen. Die Angelegenheit stellte ein Politikum dar, und das Ganze war Ausdruck des türkischen Sprachnationalismus und Nationalismus. Im Osmanischen Reich hatte man unter Geschichte nur die Aufzählung der Heldentaten und Eroberungen der osmanischen Sultane verstanden, um die ein Personenkult betrieben worden war. Die Chronisten hatten die vorislamische Zeit totgeschwiegen, weil es keine nicht-islamischen Türken geben konnte und durfte. Das war 1931 der Anlass für die Gründung der „Türk Tarih Kurumu“ (Türkischen Historischen Gesellschaft), deren Hauptaufgabe in der wissenschaftlichen Erforschung der Geschichte der Türken und der Türkei bestand. Während unter „Türkei“ im weiteren Sinne Anatolien verstanden wurde und die wissenschaftliche Erforschung der alten Geschichte Anatoliens besonders im Bereich Archäologie außerordentliche Erfolge erzielte, erweiterte die Erforschung der türkischen Geschichte, die nun die Geschichte der Türken in Mittelasien, in ihrer Urheimat, mit einbezog, nicht nur das Blickfeld, sondern legte den Grundstein für den türkischen Nationalismus. Dabei hat Sprachnationalismus und Sprachpolitik 427 Kemal Atatürk diese Einrichtung in jeder Hinsicht unterstützt, und auch bei der Abfassung eines Geschichtsbuches mitgewirkt, das jahrelang als das Lehrbuch an allen Gymnasien benutzt wurde. In diesem Buch, das als eines der wichtigsten Manifeste der jungen Republik und der kemalistischen Ideologie bezeichnet werden kann, wird die Weltgeschichte, die Geschichte der Türken und die islamische Geschichte zum ersten Mal in der Türkei rational und kritisch betrachtet, und die Eigenart der Türken und ihre Unabhängigkeit von den Arabern betont, ohne in Chauvinismus zu verfallen. Der Begriff ‘Nationalismus’ ist in vielen europäischen Sprachen ambivalent: er enthält auch eine Notion des Pejorativen und Negativen. Das Türkische kennt dagegen nur die positive Seite dieses Begriffs. Der türkische Nationalismus (vielleicht sollte man in diesem Sinne lieber vom Patriotismus reden) in der türkischen Republik war notwendig, weil die Türken sich behaupten und von dem Arabischen ablösen wollten. Die Worte Atatürks oder die Losungen von damals (z.B.: „Wie glücklich ist derjenige, der sich einen Türken nennt! “, oder: „Türke! Sei stolz, selbstsicher und arbeite! “ u.Ä.) klingen heute zu pathetisch und für manche Ohren vielleicht lächerlich, aber damals war so etwas notwendig, weil viele Türken sich nicht als „Türken“ sondern nur als „Muslime“ bezeichneten. Deshalb war es wichtig, das Türkische zu betonen, und deshalb hatte der Nationalismus (richtiger: Patriotismus) als eines der sechs Prinzipien („sechs Pfeile“ der Republikanischen Volkspartei Atatürks) einen wichtigen Platz in der kemalistischen Ideologie. 5. Die Türkische Sprachgesellschaft Die Hervorhebung des türkischen Elements in der Geschichte hatte den Anfang gebildet. Nur ein Jahr später, 1932, wurde dann „Türk Dil Kurumu“ (Türkische Sprachgesellschaft) gegründet. Zuerst hieß diese Institution „Gesellschaft zur Erforschung der türkischen Sprache“ und hatte die Aufgabe, die Geschichte der türkischen Sprache zu erforschen, ihre Entwicklung zu fördern, neue Terminologien für Wissenschaften und Sachbereiche zu schaffen und die Sprache von arabischen und persischen Wörtern und Wortbildungselementen zu reinigen. Das Ziel der Türkischen Sprachgesellschaft war, nach der Satzung vom Jahre 1936, „die Schönheit und den Reichtum der türkischen Sprache ans Tageslicht zu bringen und dafür zu sorgen, dass 428 Vural Ülkü sie den ihr gebührenden Platz unter den Sprachen der Welt einnimmt“. Die Gesellschaft war dem Anschein nach keine staatliche Behörde, aber ihr Einfluss war stärker als der vieler Ministerien. Die von dieser Organisation getroffenen Regelungen, z.B. im Bereich Rechtschreibung, hatten Gesetzeskraft und waren im Schulbereich und für alle Behörden verbindlich; was Norm war, wurde von den Ausschüssen dieser Einrichtung festgesetzt. Nach ihrer Satzung stand sie unter der Schirmherrschaft Kemal Atatürks, und der Präsident des Parlaments, der Ministerpräsident und der Generalstabschef waren die Ehrenvorsitzenden; tatsächlich übte der Minister für Erziehung und Bildung das Amt des Vorsitzenden aus. Die Ähnlichkeit mit dem “[Allgemeinen] Deutschen Verein” (1885-1945) im Namen und in der Arbeitsweise ist nicht zufällig. In den Zwanziger- und Dreißiger(! )jahren wurden viele Nachwuchskräfte aus verschiedenen Bereichen zum Studium an die deutschen Universitäten geschickt, die nach einigen Jahren mit Diplomen, Titeln und voll Bewunderung für „Ruhe und Ordnung“, Disziplin und Organisationswunder und vieles andere in Deutschland zurückkamen. Da zur gleichen Zeit in der Türkei deutsche Wissenschaftler und Künstler, die vor der Nazi-Diktatur in die Türkei immigriert waren, beim Aufbau der ersten türkischen Universitäten und Verwaltungseinheiten mitwirkten, kam es zu einer interessanten Zusammenarbeit. Der Deutsche Sprachverein verkörperte nach Meinung vieler Gebildeten das Idealbild einer Sprachbehörde; es wurden immer wieder Beispiele deutscher Sprachreinigungstätigkeit zitiert. Fast jeder Türke, gleichgültig ob er die deutsche Sprache beherrschte oder nicht, kannte - und kennt die Beispiele Fernsprecher, Fernseher, Anschrift, Bahnsteig, Personenkraftwagen ... für Telefon, Television, Adresse, Perron, Auto ... usw. Dabei wird übersehen, dass im Deutschen die Verdeutschung und Innovation durch Wortersatz „zu einer neuen, sozialstilistisch geregelten Variantenbildung führte, nicht zur beabsichtigten Wortverdrängung“ und in vielen Fällen „die Verdeutschung als Amtssprache eine sozialdistanzierende Konnotation erhielt“ (v. Polenz 1991, S. 63, 73f.). In den Jahren 1932-1936 hat die Türkei eine staatlich gelenkte, große Sprachreinigungswelle erlebt, wobei für eine Zeit die Kommunikation fast zusammenbrach, weil die Sprachreform (viele sagten „Sprachrevolution“) dem kulturellen Wandel und der kulturellen Entwicklung zu weit vorausge- Sprachnationalismus und Sprachpolitik 429 eilt war (Güven? 1993, S. 264). Die radikalen Reformer haben die Sprache, die bis zur Gründung der Republik im Lande gebraucht wurde, nicht als türkisches Erbe akzeptiert, und sie wollten die Sprache nicht nur reformieren, erneuern, sondern eine völlig neue, gänzlich fremdwortfreie Sprache auf der Basis der idealisierten Volkssprache schaffen, die angeblich in der Lage sei, „alle Gedanken und Gefühle auszudrücken“. Dass noch kein etymologisches Wörterbuch existierte, dass man eigentlich oft nicht genau wusste, welches Wort als „echt türkisch“ eingestuft werden sollte und welches nicht, wurde nicht als wichtig empfunden. Die Radikalsten waren sogar der Meinung, man müsse sehen, mit 350-400 Wörtern auszukommen, falls die Behauptung sich als richtig herausstellten sollte, in der Sprache seien nur so viele „rein türkische“ Wörter vorhanden. Man hatte gesehen, dass der Wortschatz nicht sehr umfangreich war (die neueste Ausgabe des Großen Türkischen Wörterbuchs enthält nach eigenen Angaben ca. 75 000 Wörter), und ein großer Teil davon sollte entfernt werden. Man brauchte neue Wörter. Zuerst wurde versucht, das in älteren Werken nachweisbare, in der Gegenwartssprache ganz oder teilweise ungebräuchlich gewordene turksprachliche Wortschatzgut mit Hilfe von Umfragen zusammenzustellen. Außerdem machte man Anleihen bei den Türksprachen Zentralasiens und beim Alttürkischen, das Beziehungen zum Mongolischen und Tungusischen zeigt. Daneben wurden alle Türken aufgefordert, neue Wörter zu „schaffen“, wobei die Sprachgesellschaft mit Beispielen voranging. Dabei entstanden neben guten und richtigen Neologismen auch solche, die von den Experten, den „Sprachalchimisten der Türkischen Sprachgesellschaft“ (Brands 1973, S. 59) künstlich und gewaltsam geschaffen worden sind. So erfand oder „machte“ man durch künstliche Kontamination von türk, oku- („les-“) und fr. ecole —> okul („Schule“), von türk. geni§ („weit“) und fr. general —> genel („allgemein“), von fr. symbole + türk, -ge —> simge („Symbol“) u.v.a.m. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass diese falschen oder fehlerhaften Prägungen sich nicht nur durchgesetzt haben, sondern bald Grundlage neuer Bildungen wurden, da es im Türkischen (einer agglutinierenden Sprache) sehr einfach ist, mit Hilfe von Suffixen mühelos neue Wörter zu bilden, z.B. göz („Auge“) —» gözlük [göz+lük] („Brille“) —> gözlükgü [gözlük+gü] („Brille“+„-er“ -> „Optiker“) -> gözlükgülük („Optikerberuf 4 ),' gözlüklü [gözlük+lü] („Brille“+„mit“ -> „Brillenträger, bebrillt, eine Brille tragend“) usw. So entstanden in den letzten Jahren genellemek 430 Vural Ülkü („verallgemeinern“), genelge („Rundschreiben“), simgesel („symbolisch“), simgelemek („symbolisieren“) und ähnliche Bildungen. Bei der Sprachreinigungsbewegung haben die deutschen Wissenschaftler in der Türkei die türkischen Puristen zu neuen Taten ermuntert, indem sie immer wieder an die Errungenschaften des Deutschen Sprachvereins und der deutschen Sprachreiniger erinnerten. So kritisiert 1948 Prof. Gerhard Kessler in einem Aufsatz über die „Sprachreinigung in Deutschland“ den Gebrauch der Fremdwörter in den beiden Ländern, und empfiehlt seinen türkischen Kollegen, es wie die Deutschen zu tun und die „dummen“ Entlehnungen aus der Sprache zu entfernen. Er lehnt Wörter wie interessantAüvk. enteresan, Renaissance/ rönesans, Chevalier/ yövalye, Garderobe/ garchrop, Prinzip/ prensip für beide Sprachen ab und schlägt vor, statt dieser Wörter die einheimischen fesselnd/ spannend/ geistvoll, Wiedergeburt, Reiter, Schrank, Grundsatz zu verwenden, und u.a. das Wort ampul („Glühbirne“), wie im Deutschen, durch armut („Birne“) zu ersetzen. - Diese Wörter, auch das Wort ampul, leben im Türkischen weiter. Man will zwar nicht eingestehen, dass in der türkischen Gegenwartssprache Tausende von arabischen, persischen, französischen, griechischen, italienischen und englischen Wörtern weiter bestehen, und dass das Türkische, genau so wie das Deutsche und andere moderne Kultursprachen, seit langem eine Mischsprache ist (v. Polenz 1991, S. 14), aber man bekämpft die „fremden Bestandteile“ weiterhin. Vielmehr als anderswo ist die Sprache in der Türkei ein Merkmal politischer, kultureller und religiöser Gesinnung. Im täglichen Leben wird auf das Sprachverhalten des Einzelnen sehr genau geachtet, weil mit der Wortwahl hinsichtlich des Anteils „reintürkischer“ oder „osmanischer“ Wörter, in der letzten Zeit auch der Anglizismen, angeblich die politische Einstellung des Sprechers zum Ausdruck kommt, was gesellschaftliche Folgen haben kann. Einer, der viele Neologismen bzw. „echt türkische“ Wörter benutzt, gilt als „progressiv“, wird als „Sozialdemokrat“ eingestuft mit positiven oder negativen Folgen -, gleichgültig wie rückschrittlich er in den sozial-ökonomischen Fragen denkt. Konservative lehnen die Neubildungen ab, weil sich in denen, nach ihrer Meinung, neben nationalistischem auch säkularisiertes Denken niederschlägt. Religiöse Fundamentalisten hassen sowieso alles Türkische und haben ihren eigenen Soziolekt. Sprachnationalismus und Sprachpolitik 431 6. Sprache als Symbol der nationalen Einheit - Frankreich als Vorbild Die Problematik der Auseinandersetzung mit dem Kurdischen hängt auch mit der Rolle des Türkischen zusammen. Für die mitteleuropäischen Vertreter der EU geht es bei diesem Problem in der Türkei um die Sprache einer Minderheit. Für die Türken ist aber Türkisch nicht nur Staatssprache, sondern, wie z.B. in Frankreich, Symbol der nationalen Einheit. Die Türkei hat sich im Staatsleben in vieler Hinsicht von Frankreich inspirieren lassen. Die föderalistische Struktur mit vielen Bundesländern nach dem deutschen Modell bedeutet für türkische Politiker einen Albtraum, ja sie wird als Hoch- und Landesverrat angesehen. Die administrative Einteilung des Landes folgt genau dem französischen Modell mit (z.Zt.) 81 als vilayet oder neutürk, il bezeichneten Departements, die strikt zentral und durch direkt von der Regierung ernannte Gouverneure, offizielle Vertreter des Staatspräsidenten, geleitet werden. Kemal Atatürk, der Gründer der Republik Türkei, war ein Bewunderer und ein sehr aufmerksamer Schüler der französischen Aufklärung und der Französischen Revolution, deren Ideen und Ideale er mit seinen Reformen in der Türkei verwirklichen wollte. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass in der Verwaltung und in der Sprachfrage das streng zentralistische System Frankreichs als Vorbild gedient hat. Frankreich mit seiner multinationalen Bevölkerung ist der europäische Staat mit der ältesten Tradition einer zentralistischen Sprachregelung. Das Prinzip der Staatssprache gilt in Frankreich seit dem 16. Jahrhundert, und daran hat sich bis heute nichts Wesentliches geändert (Haarmann 1993, S. 89f.). Der sprachpolitische Zentralismus in Frankreich wurde in mehreren Stufen verwirklicht. Zuerst wurde Paris als Hauptstadt bestimmt und dadurch die wichtige Voraussetzung für die Konsolidierung einer im ganzen Land gültigen, überregionalen Schriftsprache erfüllt. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts haben die französischen Könige damit begonnen, Verordnungen zur Regelung des Sprachgebrauchs im amtlichen Schriftverkehr zu erlassen. In der „Ordonnance de Villers-Cotterets“, der in dieser Hinsicht wichtigsten Verordnung vom Jahre 1539, bestimmte König Fran? ois I. (die Deutschen 432 Vural Ülkü schreiben „Franz“ I.), dass in den Kanzleien, Gerichten und bei allen amtlichen Angelegenheiten ausschließlich die Sprache des Königs, d.h. Französisch, mit anderen Worten: die Sprache der Hauptstadt Paris, gebraucht werden sollte. Alle Urkunden sollten lediglich „in der französischen Muttersprache, und nicht anders“ geschrieben werden. Diese Sprachenregelung hatte den festen Anschluss Südfrankreichs an die Pariser Zentralregierung zur Folge, und mit der politischen Zentralisierung verstärkte sich im Süden auch der kulturelle Einfluss des Französischen als Bildungssprache. In der weiteren Entwicklung, besonders nach der Verordnung von 1738, die das Katalanische außer Kraft setzte, verloren die Regionalsprachen in Frankreich jede Bedeutung und wurden zu lokalen Dialekten. Die Französische Revolution verstärkte die Vereinheitlichungstendenz, insbesondere die Grundsatzerklärung der Nationalversammlung 1792 bedeutete die Erneuerung des Staatssprachenprinzips. „Die Dominanz der Staatssprache als Symbol der nationalen Einheit wird zum wesentlichsten Element des französischen Ausschließlichkeitsanspruchs hochstilisiert. Die nationale Einheit wird dabei als die sprachliche Gleichheit aller Bürger des Nationalstaates Frankreich aufgefaßt. (...) Die Idee von der „nationalen Integrität“ gipfelt im Staatsnationalismus, und dieser erfordert wie selbstverständlich die Aufrechterhaltung der Staatssprachenfunktion“ (Haarmann 1993, S. 94). Genau dieser Aspekt ist auch der Grund, warum das französische Modell der Türkei als Vorbild dient. Die Idee der Staatssprache bildet, seit der Entstehung des ideologischen Nationalismus, der zur Gründung zahlreicher neuer Staaten im 19. und 20. Jahrhundert führt, die eigentliche geistige Existenzgrundlage der neuen politischen Einheiten. In den meisten Staaten des heutigen Europa herrscht das Staatssprachenprinzip auch heute noch vor in Frankreich genauso wie in der Türkei. Aus diesem Grunde können die Franzosen die Empfindlichkeit der Türkei in der Frage des Kurdischen besser verstehen als die Mittel- und Nordeuropäer, z.B. als die Deutschen. Dazu kommt, dass die Türken ihre eigenen, lebendigen Erfahrungen auf diesem Gebiet gemacht haben. Sie haben seit dem 19. Jahrhundert gesehen, wie der ideologische Nationalismus im europäischen Teil des Osmanischen Reiches, in den Balkanländem, den Unabhängigkeitsbewegungen den Weg gebahnt hat, der am Ende zur Ent- Sprachnationalismus und Sprachpolitik 433 stehung neuer Staaten bzw. zum Niedergang des Vielvölkerstaates geführt hat. Deshalb will man „diesen Film nicht noch einmal sehen“, deshalb besteht man auf Türkisch als Staatssprache. 7. Sprachnationalismus in Deutschland In Deutschland entwickelte sich der ideologische Nationalismus zu Anfang des 19. Jahrhunderts, wobei die Besetzung des Landes durch französische Truppen als der ausschlaggebende Umstand bezeichnet werden kann. Es ist kein Wunder, dass diese Zeit zugleich einen der Höhepunkte in den sprachpuristischen Bestrebungen darstellt. Kennzeichnend für das Deutschland der betreffenden Zeit war das Streben nach Abgrenzung gegenüber Frankreich und der französischen Kultur sowie die Suche nach der kulturellen Identität. Alles ging nach dem gleichen Schema, das in jedem von der nationalistischen Bewegung erfassten europäischen Land beobachtet werden kann: „Zunächst wird die eigene Sprache gegen die bis dahin gültige antike Sprache oder die des westlichen Nachbarn abgegrenzt und verteidigt. Bei allen Völkern von den Spaniern bis zu den Ukrainern finden wir darum eine besondere, diesem Zweck gewidmete Literaturgattung: die Sprachverteidigungen. Die Argumente und Formulierungen sind bei allen überraschend gleich: Auch die eigene Sprache sei schön und fähig, edle Gedanken und Gefühle auszudrücken und Klänge nachzuahmen. Auch sie sei als Sprache der Dichtung und der Wissenschaft geeignet. Der in der höheren Gesellschaft überhandnehmende Gebrauch der Sprache des westlichen Nachbarn wird als Gefahr für den eigenen nationalen Bestand angesehen und bekämpft. Man wirbt für den Gebrauch und die Pflege der eigenen Muttersprache. Diese muß freilich erst in Wortschatz und Stil vom Einfluß des Lateinischen oder der benachbarten Fremdsprache gereinigt werden.“ (Lemberg 1962, S. 114). Genau nach diesem Schema wurde Anfang des 19. Jahrhunderts immer wieder die deutsche Sprache als das Band erwähnt, das das deutsche Volk sowohl einigte als auch gegenüber anderen Völkern abgrenzte. Nationalsprache und Nation wurden zu einem Ganzen zusammengefügt. Typisch und sehr wichtig für diese Epoche und auch für die Folgezeit sind die in den „Reden an die deutsche Nation“ verkündeten Lehren Johann Gottlieb Fichtes, die die ideologische Grundlage des Nationalismus sowie der späteren Sprachreinigungsbestrebungen, besonders der des Allgemeinen 434 Vural Ülkü Deutschen Sprachvereins, bilden. Nach ihm sind unter den germanischen Stämmen nur die Deutschen ein „reines“ Volk, weil die Deutschen „in den ursprünglichen Wohnsitzen des Stammvolks blieben“, und „die ursprüngliche Sprache des Stammvolks behielten und fortbildeten“, während die übrigen aus derselben Wurzel erzeugten Stämme eine fremde Sprache annahmen, und diese allmählich nach ihrer Weise umgestalteten (4. Rede). Die Veränderung, die einen „vollkommenen Gegensatz“ zwischen den Deutschen und den übrigen Völkern germanischer Herkunft begründe, sei die der Sprache: „Es wird dort (bei den Deutschen) Eigenes behalten, hier Fremdes angenommen.“ Die anderen Völker germanischen Ursprungs hätten sogar „keine Muttersprache“. Nur die deutsche Sprache sei rein und dazu eine „Ursprache“. Der Deutsche rede „eine bis zu ihrem ersten Ausströmen aus der Naturkraft lebendige Sprache, die übrigen germanischen Stämme eine nur auf der Oberfläche sich regende, in der Wurzel aber tote Sprache“ (ebd.). Deshalb seien nur die Deutschen ein „Urvolk“, das das „Recht hat, sich das Volk schlechtweg, im Gegensatz mit andern von ihm abgerissenen Stämmen zu nennen“. Von da an gab es „bei Deutschen wie bei den von ihnen in ihrem Risorgimento beeinflußten Völkern keinen wichtigeren Beweis nationalen Wertes als die Reinheit der Abstammung und der Sprache, keinen schwereren Vorwurf als Zweisprachigkeit und Einwirkung fremden Blutes“ (Lemberg 1964, S. 132). Typisch für den „Zeitgeist“ sind neben Fichtes „Reden“ auch die sprachpuristischen Bemühungen Joachim Heinrich Campes, die Arbeit der kleinen Sprachgesellschaften der Zeit, das Werk von Adam Heinrich Müller (1779- 1829), der in seinen „Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland“ (1812) die Überfremdung der nationalen Sprachkultur durch die französische Sprache kritisiert, der „Turnvater“ Friedrich Jahn und viele andere Personen und Werke. Der Fremdwortpurismus wurde zur nationalpolitischen Aufgabe erhoben und Nationalismus die Grundlage aller Bemühungen. Im 19. Jahrhundert haben die Deutschen endlich ihren Nationalstaat bekommen (1870/ 71), nachdem die Sprachnation von allen Seiten politisiert worden war. Es ist kein Zufall, dass Preußen als der erste Staat in seinen Statistiken die Deutschen aufgrund ihrer Sprache definiert (Haarmann 1993, S. 260). Die Feststellung von Richard Böckh, den Haarmann in diesem Zu- SprachnationaUsmus und Sprachpolitik 435 sammenhang zitiert, wonach „die Sprache das unverkennbare Band“ sei, „welches alle Glieder einer Nation zu einer geistigen Gemeinschaft verknüpft“, betont ganz im Geiste der Zeit die politische Bindung von Nation, die als Gemeinschaft der Muttersprachler als Träger der einen und selben Kultur verstanden wird, und Staat. Der in dieser Formulierung zum Ausdruck gebrachte Sprachnationalismus ist nicht nur die politische Ideologie des 19. Jahrhunderts, sondern die Sprachpolitik beider Länder, in der Türkei viel stärker als in Deutschland. Der Fremdwortpurismus in den beiden Ländern ist besonders unter diesem Aspekt zu betrachten. In Deutschland erreichte die sprachpuristische Bewegung um die Jahrhundertwende einen neuen Höhepunkt, und sie wurde 1885, mit der Gründung des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins institutionalisiert. Dieser Verein war wie später die Türkische Sprachgesellschaft keine staatliche Einrichtung, genoss aber die volle Unterstützung der Behörden, besonders des Erziehungsministeriums, ja des Kaisers selbst. Das Hauptziel des Vereins, „... die Reinigung der Muttersprache von unnötigen fremden Bestandteilen zu fördern, und auf diese Weise das deutsche Volksbewußtsein zu kräftigen“ (Satzung) war der Hauptgrund dieser Unterstützung. Von 1933 an „entwickelt“ sich der Sprachverein zur „SA unserer Muttersprache“ (MS 1934, Sp. 145), weil „die Reinheit des Blutes auch Reinheit der Sprache verlangt“ (MS 1935, Sp. 414) und weil „unser Kampf ein sehr wichtiges Teilgefecht in Adolf Hitlers Großangriff wider alles Undeutsche ist“ (MS 1937, Sp. 409). Nach manchen Höhen und Tiefen wurde die sprachpuristische Arbeit des Deutschen Sprachvereins im Herbst 1940 ausgerechnet von Hitler verboten. Auch die 1949 gegründete Bundesrepublik hat diese Linie befolgt, obwohl vom „Verbot“ i.e.S. nicht die Rede sein kann. Die „Gesellschaft für deutsche Sprache“, 1947 von den ehemaligen Mitgliedern ins Leben gerufen, ist in diesem Sinne keine richtige „Nachfolgeorganisation“ des Sprachvereins, sondern bemüht sich um Förderung und Kultivierung der deutschen Sprache durch fundierte Sprachberatung und Sprachkritik. Der national-völkische Fremdwortpurismus stellt in Deutschland kein öffentliches Anliegen mehr dar, obwohl die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem „Fremdwort“ weiter besteht. Die Deutschen haben einge- 436 Vural Ülkü sehen, Entlehnungen aus anderen Sprachen nicht mehr einseitig als Sprachverfall, -Verderb, -Zerstörung, Verwelschung, Verhunzung, Beschmutzung, Verunreinigung ... der Sprache zu betrachten, sondern als einen sprachkultureilen Gewinn (vgl. v. Polenz 1991, S. 14); eine Bereicherung des deutschen Wortschatzes (Munske 1988, S. 63, 67). Auch in der Türkei hat man sich von dem Gedanken, Sprache staatlich zu lenken, etwas entfernt. Im Bereich Rechtschreibung gibt es ein staatlich anerkanntes „Rechtschreibwörterbuch“ der Türkischen Sprachgesellschaft, aber daneben Wörterbücher anderer Gesellschaften und privater Verlage - und genau wie in Deutschland, ist man von einer allgemein gültigen Regelung noch weit entfernt. Es ist zu hoffen, dass die angestrebte Mitgliedschaft in der EU sich auch in Sprachfragen positiv auswirkt. 8. Zitierte und weiterführende Literatur Aksan, Dogan (2000): Türkiye Türkpesinin Dünü, Bugünü, Yarmi. Ankara. Brands, Horst Wilfried (1973): Studien zum Wortbestand der Türksprachen. Leiden. Dronke, Ernst (1915): Nation und Sprache. In: MS 1915, Sp. 344-347. Dünger, Hermann (1910): Die deutsche Sprachbewegung und der Allgemeine Deutsche Sprachverein. Berlin. Europa und der Nationalismus (1950): Bericht über das III. Internationale Historiker- Treffen in Speyer. Baden-Baden. Fichte, Johann G. (1955): Reden an die deutsche Nation, ln: Fichtes gesammelte Werke, Bd. V, hrsg. v. F. Medicus. Hamburg. Geißler, Ewald (1937): Sprachpflege als Rassenpflicht. (= Flugschrift des Deutschen Sprachvereins 1). Güvenp, Bozkurt (1993): Türk Kimligi. Ankara. Haarmann, Harald (1975): Soziologie und Politik der Sprachen Europas. München. Haarmann, Harald (1993): Die Sprachenwelt Europas. 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Zu klären ist, welche Relationen zwischen den Wirklichkeitsbereichen bestehen, auf die sich die Bezeichnungen semantisch beziehen. „Sprachenpolitik“ und „Fremdsprachenpolitik“ sind ja als Wörter vieldeutig. Bei beiden sind vor allem zwei Bezugsbereiche zu unterscheiden: einmal die Ebene der Praxis, zum anderen die Ebene der wissenschaftlichen Reflexion über die Praxis. Auf der ersten (unteren) Ebene haben wir es mit praktischen oder zumindest praxisorientierten Tätigkeiten zu tun. Dabei handelt es sich einerseits um Tätigkeiten wie Entwerfen von Projekten und Plänen für praktisches Handeln, Festlegung von zu erreichenden Zielen etc., andererseits um die praktische Arbeit, deren Ziel die Verwirklichung der Planungsvorgaben ist. Die zunächst genannten Tätigkeiten kann man als mentale Gestaltung der Sprachenpolitik, die letzten als ihre Verwirklichung bezeichnen. Die Aufgaben auf der zweiten Ebene lassen sich in drei Gruppen einteilen: (a) die Schaffung von theoretischen Voraussetzungen für eine rationale prak- 440 Franciszek Gmcza tische Sprachenpolitik, (b) die wissenschaftliche Analyse und Rekonstruktion der konkret praktizierten Sprachenpolitik und schließlich (c) die Erarbeitung von Konzepten zur effizienten Umsetzung der theoretischen Vorgaben in die Praxis. Natürlich ist Reflexion auch auf der ersten Ebene, d.h. auf der Ebene der Praxis gefragt, nur handelt es sich dabei grundsätzlich nicht um wissenschaftliche Reflexion. Diese zweite Ebene, d.h. die der wissenschaftlichen Reflexion, ist eine Subdisziplin der angewandten Linguistik, die man in einen überwiegend gegenstandsbezogenen und einen überwiegend methodologisch orientierten Bereich gliedern kann. Im Rahmen des gegenstandsbezogenen Bereichs geht es vor allem um die wissenschaftliche Rekonstruktion und Analyse konkret praktizierter Sprachenpolitik, im Rahmen des zweiten Bereichs um die Erarbeitung solider wissenschaftlicher Grundlagen für (a) die Konstituierung einer rationalen praktischen Sprachenpolitik und (b) deren effiziente Verwirklichung (praktische Umsetzung). Im Folgenden beschäftigen wir uns hauptsächlich mit der letztgenannten Aufgabe. 1.2 Axiologische Aspekte der Sprachenpolitik Eine wissenschaftliche (genauer: methodologische) Rekonstruktion praktischer Sprachenpolitik ist erforderlich, weil deren Gestaltung, Ziele und Umsetzungsmodalitäten nicht immer klar formuliert und oft durchaus manchmal mit Absicht nicht einmal explizit ausgeführt werden. Nicht selten ist weder den die Sprachenpolitik Umsetzenden noch den von ihr Betroffenen überhaupt bewusst, dass sie eine bestimmte Sprachenpolitik realisieren bzw. von dieser betroffen sind, und nicht selten ist den Betroffenen vollkommen unklar, ob und inwiefern die Sprachenpolitik, der sie unterworfen sind, sinnvoll, gerechtfertigt, für sie günstig oder eher ungünstig ist. Daher ist außer der Ebene der praktischen Sprachenpolitik, also ihrer Gestaltung und/ oder Umsetzung, und der Ebene der wissenschaftlichen analytisch-rekonstruktiven Beschäftigung mit dieser Politik noch eine weitere Ebene, nämlich die der axiologischen Evaluierung der praktischen Sprachenpolitik zu konstituieren. Auf dieser Ebene ist zu überprüfen, inwiefern die jeweils verordnete und/ oder praktizierte Sprachenpolitik rational, sinnvoll und ethisch akzeptabel ist. Theoretische Voraussetzungen einer holistischen Fremdsprachenpolitik 441 Diese Ebene ist über den beiden erstgenannten und damit auf der Ebene der Metawissenschaft zu situieren. Denn zum einen kann man die praktische Sprachenpolitik sehr oft erst nach ihrer Rekonstruktion einer sinnvollen axiologischen Evaluierung unterziehen; zum andern muss man auch die analytische Ebene der Sprachenpolitik axiologisch untersuchen, vor allem ihren teleologischen und argumentativen Teil, werden doch oft gerade hier außerwissenschaftliche Faktoren ins Spiel gebracht - Faktoren, die den Interessen der Urheber oder Macher der Politik entsprechen, die Betroffenen aber gezielt benachteiligen und in ihren natürlichen Rechten beschränken. Auf jeden Fall aber gehört die Ausübung der praktischen Sprachenpolitik zu jenen menschlichen Aktivitäten, die eine möglichst systematische axiologische Evaluierung erfordern. Denn ethisch neutral sind weder ihre Ziele noch die von ihr „verordneten“ und/ oder praktizierten Umsetzungsmodalitäten. 1.3 Ethische versus unethische Sprachenpolitik Als ethisch kann man eine Sprachenpolitik bezeichnen, die die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit und das natürliche Recht auf eigene Sprachenwahl nicht einschränkt. Eine solche Sprachenpolitik gesteht jedem Menschen das Recht zu, sich sowohl seine Muttersprache als auch beliebige weitere Sprachen, einschließlich beliebiger Fremdsprachen, anzueignen und sie immer und überall uneingeschränkt anzuwenden. Als unethisch ist eine Sprachenpolitik zu bezeichnen, die diese Rechte auf irgendeine Weise einschränkt oder verletzt. Sprachenpolitik kann zum Ziel haben, die Sprache einer Gemeinschaft zu pflegen, sie zu entwickeln, zu normieren, zu „reformieren“ und so ihren Verwendungsbereich zu erweitern, ihren Gebrauch effizienter zu machen und auf ein höheres Niveau zu heben; sie kann aber auch gegenteilige Ziele verfolgen nämlich die Entwicklung der Sprache zu stören, ihre Anwendung zu erschweren oder sie ganz zu verhindern. Im letzten Fall kann Sprachenpolitik auch unethische Mittel vorsehen und/ oder einsetzen, um ihre Ziele zu erreichen. Das können Gesetze sein, die die Benutzung einer Sprache verbieten oder einschränken und Strafen bei Zuwiderhandlung vorsehen; es können aber auch Maßnahmen sein, die dazu er- 442 Franciszek Grucza mutigen, die Träger einer Sprache zu hänseln, zu erniedrigen oder zu verspotten; und nicht zuletzt gehören auch Wertungen hierhin, die dazu führen, eine Sprache als minderwertig oder gar primitiv einzustufen. Aus diesen Gründen ist unser Verhältnis zum Gebrauch der Sprachen bzw. der Sprachvarianten, die als „Dialekte“ oder „Mundarten“ bezeichnet werden, neu zu durchdenken: Das Recht eines jeden Menschen auf seine „Muttersprache“ impliziert unter anderem das Recht auf seinen Dialekt und seine Mundart, sofern diese die jeweils innerhalb einer Gemeinschaft geltenden ethischen Normen vor allem die ethischen Kommunikationsnormen nicht verletzen. 1.4 Zur Legitimierung von Sprachenpolitik Ziele und Umsetzungsmodalitäten von Sprachenpolitik können auf mindestens zwei Wegen festgelegt werden von unten her, auf dem Wege mehr oder weniger demokratischer Entscheidungen, oder von oben her durch autoritäre Maßnahmen. Nicht nur die Sprachenpolitik, die von nicht-demokratischen Regierungen und deren verschiedenen Organen gestaltet, vertreten oder praktiziert wird, kann autoritären Charakter haben. Autoritär kann eine Politik auch sein, wenn sie Meinungen und Empfehlungen von Experten zur Grundlage hat. Autoritär ist jede Sprachenpolitik, die im Sinne einer obligatorischen Maßnahme umgesetzt wird, ohne dafür die entsprechende demokratische Legitimierung zu besitzen. Bislang sind sowohl Gestaltung als auch Umsetzung der Sprachenpolitik fast überall auf der Welt autoritär, wenn auch nicht überall im gleichen Maß. Noch nirgendwo hat man sich von den um die Wende des 17./ 18. Jahrhunderts mit der Gründung der so genannten (eben autoritären) Sprachakademien entstandenen Verfahrensweisen wirklich verabschiedet, ja man hat dies noch nicht einmal angedacht. Bis heute wurden auf diesem Gebiet nirgends demokratische Entscheidungs- und Umsetzungsmodalitäten erarbeitet und erprobt. Die heute praktizierte Sprachenpolitik entspricht insofern nicht mehr dem Geist unserer Zeit. Hier gibt es deutlichen Aufholbedarf. Parlamente beschäftigen sich kaum mit Sprachenpolitik, und so liegen die Entscheidungen in diesem Bereich nach wie vor meistens nicht bei demokratisch legiti- Theoretische Voraussetzungen einer holistischen Fremdsprachenpolitik 443 mierten, sondern bei mehr oder weniger zufällig konstituierten Gruppen von Experten und manchmal sogar Einzelpersonen. Im Allgemeinen hat also die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung nach wie vor keinen direkten Einfluss auf Entscheidungen der Sprachenpolitik. Wohl zum ersten Mal hatte die Gesamtgesellschaft in Deutschland im Vorfeld der Einführung der letzten Rechtschreibreform Gelegenheit zur Meinungsäußerung. Tatsächlich aber konnten die deutschen Bürger dieses Recht nur in den Bundesländern ausüben, in denen man sich zu einer Volksbefragung über die Annahme oder Ablehnung dieser Reform entschlossen hatte. 1.5 Eigene, quasi-eigene, fremde Sprachenpolitik Eine „von oben“ bestimmte Sprachenpolitik kann einer Gemeinschaft, insbesondere einem Volk, von innen verordnet werden, d.h. von Personen oder Personengruppen, die integraler Bestandteil dieser Gemeinschaft oder dieses Volkes sind, oder aber von außen von Vertretern einer anderen ethnischen oder politischen Gemeinschaft. Vom Standpunkt ihrer „Gestalter“ lässt sich daher die autoritäre Sprachenpolitik in eine „innere“ und eine „äußere“ einteilen, in Sprachenpolitik also für die eigene Gemeinschaft bzw. das eigene Volk oder aber gegenüber einer anderen Gemeinschaft bzw. einem anderen Volk. Vom Standpunkt der Betroffenen dagegen kann man autoritäre Sprachenpolitik in „eigene“, „quasieigene“ und „fremde“ einteilen. „Quasi-eigen“ ist eine Sprachenpolitik, wenn die eigene Obrigkeit diese im Auftrag einer anderen Macht betreibt (denken wir z.B. an den obligatorischen Russischunterricht in den Ländern des realen Sozialismus). Unabhängig davon, ob es sich um „fremde“ oder „eigene“ Sprachenpolitik handelt, kann eine demokratische Legitimierung vorliegen (oder auch nicht). Bei der „fremden“ Sprachenpolitik sind zwei unterschiedliche Wege der Legitimierung zu unterscheiden: entweder Legitimierung durch das fremde Volk oder aber eine Art Scheinlegitimierung durch Vertreter des betroffenen Volkes (wie zum Beispiel bei der „quasi-eigenen“ Sprachenpolitik). Bei der Legitimierung durch das fremde Volk ist zwischen Legitimierung durch die gesamte Sprachgemeinschaft oder nur durch Teile von ihr zu unterscheiden. 444 Franciszek Grucza Die Frage der Legitimierung ist nicht nur für die Gegenwart, sondern auch bei der Untersuchung historischer Situationen zu berücksichtigen. So ist z.B. bei der Analyse der preußischen Sprachenpolitik gegenüber Polen im 19. Jahrhundert zu bedenken, dass Preußen bis 1871 nur einer unter vielen deutschen (deutschsprachigen) Staaten war, und die damalige preußische Politik nicht von allen deutschen Staaten (Teilvölkern oder Teilgemeinschaften) dieser Zeit, geschweige denn von allen Deutschen als Individuen unterstützt wurde. Auch sollte in Rechnung gestellt werden, dass diese Sprachenpolitik zunächst selbst aus preußischer Sicht keine demokratische Legitimierung hatte und ihr die Unterstützung der Mehrheit der Bürger des damaligen Preußens fehlte. Hinzugefügt sei, dass die oben beschriebene „äußere“ Sprachenpolitik nicht mit der „auswärtigen“ Sprachenpolitik verwechselt werden darf. Deren Aufgabe ist es, die Kenntnis der Sprache der eigenen Gemeinschaft im Sinne einer Zweit- oder Fremdsprache in anderen Ländern zu popularisieren und ihren Unterricht zu fördern. Diese Politik bietet etwas an, zwingt aber niemanden zur Annahme des Angebots. 2. (Fremd)Sprachenpolitik - Fremdsprache vs. Muttersprache Jede Sprachenpolitik, insbesondere aber jede Fremdsprachenpolitik, die einen Anspruch auf wissenschaftliche Fundierung erhebt, muss sich mit dem Begriffspaar Fremdsprache vs. Muttersprache auseinandersetzen, denn das Verständnis dieser Begriffe bildet eine ihrer wichtigsten Voraussetzungen. Unter anderem hat sie zu überprüfen, ob die als Mutter- oder Fremdsprache anvisierte Sprache wirklich die Mutter- oder Fremdsprache aus der Sicht der jeweiligen Schüler ist und ob sie im gegebenen konkreten Fall für alle Schüler eine Mutter- oder eine Fremdsprache ist. Ich beabsichtige aber auch in diesem Fall keine ausführliche Analyse. Ich möchte lediglich anhand einiger Beispiele verdeutlichen, dass der deskriptive Wert dieser Begriffe relativ ist, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Denn die Einteilung der Sprachen in Muttersprachen und Fremdsprachen ist bekanntlich nicht naturgegeben, d.h. auf Grund von an ihnen zu erkennenden Merkmalen vorgenommen, sondern basiert auf persönlicher Einschätzung. Theoretische Voraussetzungen einer holistischen Fremdsprachenpolitik 445 2.1 Zur Relativität der Attribute „eigene“ und „fremde“ Sprache Für viele Menschen, die in sog. gemischten Familien aufwachsen, ist Muttersprache (bzw. Vatersprache, wie sie in vielen Sprachgemeinschaften z.B. in Polen in etwa heißt) nicht nur die Sprache der Mutter (bzw. des Vaters), sondern auch die des Vaters (bzw. der Mutter). Unter natürlichen Bedingungen, d.h. in Situationen ohne gezielte Einwirkung seitens Schule, Kirche, Politik u.a., entscheiden die Nachkommen jeweils selbst darüber, wie sie die Sprachen ihrer Eltern einordnen als Muttersprache, Zweitsprache, Fremdsprache. In der modernen Welt, insbesondere im heutigen „vereinten“ Europa, ist dies wieder immer öfter möglich und nötig. Und dies ist ein wichtiges praktisches Ergebnis der Diskussion und der Bemühungen um die Menschenrechte. Sehr oft haben wir es in Gebieten, die von zwei Sprachgruppen bewohnt werden, mit einer besonderen Art von Zweisprachigkeit zu tun. Die jeweils andere Sprache der in solchen Gebieten zusammen lebenden Individuen, Familien oder Gruppen (sofern ihr Zusammenleben nicht beispielsweise „ideologisch“ pathologisiert wurde) wird nicht als eine Fremdsprache, sondern eher als eine andere oder eine zweite Sprache (engl, second language) empfunden, insbesondere von denen, die sich diese andere Sprache in gewissem Umfang angeeignet haben. Ähnlich handeln bzw. verhalten sich oft Immigranten: nach einiger Zeit betrachten sie die Sprache der Gesellschaft, in die sie gekommen sind und in der sie sich zu leben entschlossen haben, nicht als eine „fremde“, sondern ebenfalls als die ihre, wenn auch ggf. als ihre „zweite“, Sprache. Manchmal spielt hierbei auch die jeweilige kulturelle Tradition eine Rolle. Dass man z.B. in den meisten europäischen Ländern, auch in Polen, in der Regel weder Latein noch Griechisch zu den normalen Fremdsprachen zählt, ist keine Folge einer besonderen Sprachenpolitik, sondern vor allem einer historischen Tradition. Diese geht auf die Zeit zurück, als die europäischen Eliten Latein und in gewissem Umfang auch Griechisch als ihre eigentliche Sprache betrachteten, während die Dialekte, die den heutigen nationalen europäischen Sprachen vorausgingen, als (bestenfalls) primitive volkstümliche Mundarten galten, als Sprachen der niedrigen, um nicht zu sagen primitiven, Sozialschichten. Die Kategorie „klassische Sprachen“ begann man zu 446 Franciszek Grucza konstituieren, als sich die „neuen Sprachen“ allmählich unter den europäischen Eliten durchsetzten und damit langsam den Geruch eines primitiven Kommunikationsmittels des einfachen Volkes verloren. Zugleich begann man in dieser Zeit dem Unterricht klassischer Sprachen andere Ziele zu setzen als dem Unterricht der „neuzeitlichen“ Sprachen dem Unterricht der „Mutter-“ ebenso wie dem der „Fremdsprachen“. Damit wurde ein Prozess in Gang gesetzt, in dessen Verlauf die europäischen Eliten vom Uatein als „ihrer Sprache“ Abschied nahmen und die „gesamteuropäische Dimension“ des Lateins allmählich durch eine „nationale Perspektive“ ersetzt wurde. Inhalte und Konnotationen der Wörter „Muttersprache“ und „Fremdsprache“ und die emotionale Einstellung zu den mit diesen Wörtern bezeichneten Wirklichkeiten begannen sich zu ändern. Wenn wir bei linguistischen Überlegungen die „nationale Dimension“ auf Zeiten anwenden, in denen es noch keine „nationalen“ Standardsprachen im heutigen Sinne gab, müssen wir uns bewusst sein, dass wir damit die Kategorien Muttersprache und Fremdsprache auf Phänomene anwenden, für die wir heute Ausdrücke wie „Dialekt“ oder „Mundart“ verwenden. Mit anderen Worten, auch in historischer Perspektive relativiert sich die Bedeutung dieser beiden Ausdrücke sowie der Sinn der mit ihnen assoziierten Begriffe. 2.2 Zur Relativität der Begriffe „Muttersprache“ und „Fremdsprache“ Ob wir eine Sprache als Muttersprache, Zweitsprache oder Fremdsprache einordnen, kann Folge einer bestimmten (oft aufgezwungenen) Sprachenpolitik, insbesondere der schulbezogenen Sprachenpolitik sein. Es hängt zweifellos auch weitgehend von der konkreten Sprachenpolitik ab, ob man die Sprache einer Gemeinschaft als Sprache oder eher als Dialekt oder Mundart auffasst. Insbesondere die schulische Sprachenpolitik kann gewollt oder ungewollt, bewusst oder unbewusst derartige Empfindungen und Meinungen beeinflussen. Ein Beispiel: Dass der Deutschunterricht in den von Preußen besetzten polnischen Gebieten im Laufe des 19. Jahrhunderts, insbesondere aber an seinem Ende und am Anfang des 20. Jahrhunderts, von den preußischen Behörden als Unterricht in der Muttersprache und nicht in einer Fremdsprache Theoretische Voraussetzungen einer holistischen Fremdsprachenpolitik 447 betrachtet wurde, ergibt sich zwangsläufig aus den Voraussetzungen der damaligen preußischen Kulturpolitik, die auch die Sprachenpolitik einschloss. Die österreichischen Behörden fassten den Deutschunterricht in den von ihnen besetzten Gebieten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ganz ähnlich auf. Erst nach 1870 liberalisierte Österreich seine Politik und bot seitdem den Polen in den österreichisch besetzten Gebieten die deutsche Sprache nur als Fremdsprache an. Nur in den von Russland besetzten Gebieten galt Deutsch die ganze Zeit über als Fremdsprache, wurde aber auch hier von den Polen selbst anders als andere Fremdsprachen empfunden. Nach der Zeit der Teilung, d.h. nach 1918, änderte sich in ganz Polen das Verhältnis zur deutschen Sprache sehr deutlich. Waren die Polen früher der deutschen Sprache gegenüber nicht besonders voreingenommen, d.h. nicht mehr oder weniger als gegenüber anderen Nachbarsprachen, so erschien ihnen die deutsche Sprache jetzt von der Natur der Dinge her als Sprache der Besatzer. In vielleicht noch größere Ungnade fiel bei den Polen in dieser Zeit die russische Sprache, besonders in den von Russland besetzten Gebieten. Dennoch betrachteten nach dem Ende der polnischen Teilung viele Polen die Sprache ihrer jeweiligen Besatzer als „ihre“ Sprache, wenn auch nicht unbedingt als ihre „Muttersprache“. Dass die Besatzer versuchten, diese Akzeptanzprozesse durch Gewalt und sogar Terror zu beschleunigen, hat diese Prozesse verlangsamt, ja sogar Widerstand provoziert. 2.3 Zum Problem „Sprache“ versus „Dialekt“ Die Sprachenpolitik kann Einfluss darauf haben, ob eine Sprache als „Sprache“ oder als „Dialekt“ eingestuft wird. Sehr deutlich wird das beim Umgang der Polen mit der kaschubischen Sprache. Dies im Einzelnen zu erörtern ist hier jedoch nicht der Ort. Ich möchte nur auf zwei Dinge aufmerksam machen. Zum einen hatte und hat die Diskussion, ob die Sprache einer ethnischen Gemeinschaft als selbstständige Sprache oder nur als ein gewisser Dialekt einer anderen Sprache zu betrachten ist, immer auch, ob man will oder nicht, politische Implikationen unabhängig von den Intentionen der an der Diskussion Beteiligten: jedem, der sich zu Wort meldet, wird sofort ein politisches Motiv unterstellt; und nicht selten muss er sogar darauf gefasst sein, dass 448 Franciszek Grucza man versucht, ihn für eventuelle politische Folgen der von ihm geäußerten Ansichten verantwortlich zu machen. Zum Zweiten: Der hier mit Hilfe des Ausdrucks „Sprache“ ausgegliederte Begriff ist entgegen dem Anschein kein rein linguistischer (sprachwissenschaftlicher) Begriff, sondern immer auch stark durch politische Konnotationen gefärbt; mit anderen Worten: die verwendete (scheinbar rein linguistische) Nomenklatur führt automatisch politische Inhalte in die einschlägige Diskussion ein, ob man will oder nicht. In unserem Zusammenhang ist jedoch vor allem das Folgende wichtig: auf der analytischen Ebene ist man dazu befugt, ja sogar dazu gezwungen, im Falle derjenigen, die schon einen Dialekt beherrschen, die Aneignung der „Standardsprache“ nicht anders zu betrachten als die Aneignung einer beliebigen Zweit- oder Fremdsprache. Dies gilt insbesondere, wenn zwischen beiden Sprachen ziemlich große phonetisch-phonematische, morphologische oder lexikalische Unterschiede bestehen wie beispielsweise zwischen den meisten deutschen Dialekten und der deutschen Hochsprache oder zwischen dem Kaschubischen und dem Polnischen. 3. Schulbezogene (Fremd)Sprachenpolitik Im Rahmen der allgemeinen Sprachenpolitik ist der schulbezogenen Sprachenpolitik besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Sie stellt einen spezifischen Bereich der Sprachenpolitik dar, auch deshalb, weil sie zugleich Bestandteil der allgemeinen Bildungspolitik ist. Sowohl im Mutterals auch im Fremdsprachenunterricht sind beide Perspektiven eng miteinander verflochten. Daher behandele ich sie hier nicht getrennt voneinander. Auch gehe ich im Rahmen dieses Artikels nicht im Einzelnen auf die „nationalen“ Motive der schulbezogenen (Fremd)Sprachenpolitik ein. Ebenso wenig möchte ich ihre kulturellen Implikationen gesondert behandeln. Ich beschränke mich hier auf die Anmerkung, dass jede Sprachenpolitik zum einen von der Kultur ihrer Gestalter oder der sie Umsetzenden geprägt ist, zum anderen Einfluss nimmt auf die Kultur derer, die sie betrifft. Und schließlich: Im Folgenden werde ich nur die schulbezogene Fremdsprachenpolitik berücksichtigen. Die schulbezogene Muttersprachenpolitik lasse ich hier völlig außer Acht. Theoretische Voraussetzungen einer holistischen Fremdsprachenpolitik 449 3.1 Der holi stische Ansatz Will man die auf der Ebene des Fremdsprachenunterrichts realisierte bzw. zu realisierende Sprachenpolitik wissenschaftlich rekonstruieren, so muss man mit der Beantwortung einer Reihe von Fragen beginnen. Aufgabe einer jeden derartigen Rekonstruktion ist es, die einem Bereich menschlicher Tätigkeiten (Aktivitäten) zu Grunde liegenden Ideen bewusst zu machen. Daher dürfen die Fragen nicht beliebig gewählt werden. Von einer wissenschaftlichen Rekonstruktion der Fremdsprachenpolitik kann in unserem Fall nur insofern die Rede sein, als dabei das giottodidaktische Gefüge insgesamt berücksichtigt wird mit allen konstitutiven Faktoren und allen zwischen diesen bestehenden Relationen, insbesondere wenn sie für die funktionale Effizienz der jeweiligen Konstituente von Bedeutung sind. Fremdsprachenpolitik beschränkt sich üblicherweise auf die Wahl der im Unterricht anzubietenden Fremdsprachen, die Festlegung ihrer Reihenfolge und die Formulierung der Unterrichtsziele. Dies ist jedoch nicht ausreichend. Fremdsprachenpolitik, wie ich sie verstehe, hat sich mit der Gesamtheit der im nächsten Abschnitt aufgelisteten Faktoren und/ oder Fragen zu befassen, sie hat aber auch dafür Sorge zu tragen, dass ihre Antworten ein in sich kohärentes Ganzes bilden. Vor diesem Hintergrund ist einerseits zwischen partieller und holistischer Fremdsprachenpolitik und andererseits zwischen partieller und holistischer Rekonstruktion von Fremdsprachenpolitik zu unterscheiden. Hier wird der holistische Ansatz eingefordert. Ich wiederhole: Es geht hier um die Entwicklung eines Konzeptes, das das gesamte giottodidaktische Gefüge in Betracht zieht alle seine konstitutiven Faktoren und auch möglichst alle zwischen ihnen bestehenden Abhängigkeiten, also alles, wovon das Erreichen der festgelegten Fehr- und Fernziele im Bereich des Fremdsprachenunterrichts abhängig ist. 3.2 Zum Gegenstandsbereich einer holistischen Fremdsprachenpolitik Die Fragen, die jede holistische Fremdsprachenpolitik zu beantworten hat und die bei jeder holistischen Rekonstruktion einer Fremdsprachenpolitik zu berücksichtigen sind, teile ich in mehrere Gruppen ein, je nach dem Faktor 450 Franciszek Grucza des giottodidaktischen Gefüges, auf den sie sich in besonderer Weise beziehen. Diese Einteilung ist aber keineswegs im Sinne einer einzig möglichen zu verstehen. Die Fragen ließen sich sicherlich auch anders einteilen, ihre Zahl erweitern und ihre Reihenfolge ändern. Hier kommt es mir lediglich darauf an, exemplarisch möglichst alle wesentlichen Konstituenten des giottodidaktischen Gefüges und die zwischen ihnen bestehenden Abhängigkeiten zu problematisieren. Zumindest die folgenden Faktoren sind von einer holistischen schulbezogenen Fremdsprachenpolitik zu berücksichtigen, sofern sie Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt: Schule, Lehrplan, Fremdsprachenunterricht, Zielsetzung, Unterrichtsgruppen, temporale und methodische Modalitäten, Unterrichtsmaterialien, Schüler, Lehrkräfte. Dies sind zugleich Faktoren, die auch bei jedem Versuch einer wissenschaftlichen Rekonstruktion einer Fremdsprachenpolitik beachtet werden müssen. 4. Grundlegende Fragen einer holistischen Fremdsprachenpolitik 4.1 Zum Faktor Schule: Wie ist das (öffentliche) Schulsystem gegliedert? Ist Fremdsprachenunterricht an allen Schulen und auf allen Schulstufen vorgesehen? Ist er obligatorisch oder fakultativ? Wie stark ist die Schule an behördliche Vorgaben gebunden? Wieweit entscheidet sie selbstständig über Lehrkräfte, Lehrpläne, Stundenpläne, Materialien, Methoden? Verfügen die Schulen über entsprechend qualifizierte Lehrkräfte? Sind sie in der Lage (vor allem finanziell), die besten jeweils verfügbaren Lehrkräfte zu gewinnen? Theoretische Voraussetzungen einer holistischen Fremdsprachenpolitik 451 4.2 Zum Faktor Lehrplan. Wie umfangreich ist der Lehrplan? Wie viele Tages- und Wochenstunden umfasst er? Wie ist die Rangordnung der einzelnen Fächer? Welches Gewicht hat dabei der Fremdsprachenunterricht? Sieht der Lehrplan eine Vernetzung von Fremdsprachenunterricht und muttersprachlichem Unterricht vor? Sieht er eine Vernetzung mit anderen relevanten Fächern vor? Stellt der Lehrplan sicher, dass der Fremdsprachenunterricht beim Übergang von einer Ausbildungsstufe zur nächsthöheren möglichst reibungslos fortgesetzt werden kann? 4.3 Zum Faktor Fremdsprachenunterricht. Welchen Stellenwert hat der Fremdsprachenunterricht in der Bildungstradition eines Landes und im regionalen und/ oder sozialen Umfeld der jeweiligen Schule? Welche Fremdsprachen sollen/ können auf den einzelnen Schulstufen und/ oder in den jeweiligen Schulformen unterrichtet/ erlernt werden? Wie ist das „Ranking“ der einzelnen Fremdsprachen? Wird dabei „Nachbarsprachen“ ein besonderer Stellenwert gegeben? Wer entscheidet über das Angebot an Fremdsprachen und ihr Ranking? Nach welchen Kriterien? Haben Schüler und/ oder Eltern Wunsch- und Wahlmöglichkeiten? 4.4 Zum Faktor Zielsetzung: Ist der Fremdsprachenunterricht ausschließlich praktisch-kommunikativ ausgerichtet? 452 Franciszek Grucza Soll er darüber hinaus auch Kenntnisse beispielsweise in Geschichte, Landeskunde oder Literatur vermitteln? Soll er zur Entwicklung interkultureller Kompetenz (und Toleranz) der Schüler beitragen? Soll er im Sinne eines Interaktionstrainings betrieben werden? Soll er der Entwicklung von Mehrsprachigkeit dienen? 4.5 Zum Faktor Unterrichtsgruppen'. Welche Klassen-ZGruppengröße ist für den Fremdsprachenunterricht vorgesehen? Wird die für den Fremdsprachenunterricht optimale Gruppengröße von 15- 20 Personen nicht überschritten? Ist eine im Hinblick auf die fremdsprachlichen Vorkenntnisse möglichst homogene Zusammensetzung von Klassen bzw. Gruppen gewährleistet? 4.6 Zum Faktor temporale und methodische Modalitäten'. Zu welchem Zeitpunkt der Ausbildung (in welcher Klasse) beginnt der Fremdsprachenunterricht? Wann endet er? Wie viel Zeit ist insgesamt für den Unterricht der einzelnen Fremdsprachen vorgesehen? Ist die lineare Distribution der vorgesehenen Zeit sinnvoll? Ist die Zeit sinnvoll portioniert? Sind die Abstände zwischen den einzelnen Unterrichtseinheiten sinnvoll? Wer ist befugt, über die Wahl von Interaktionsformen und Methoden zu entscheiden? Stehen den Lehrern vorwiegend „importierte“ Methoden und Materialien zur Verfügung, oder können sie sich auch für Methoden und Materialien entscheiden, die den methodisch-didaktischen Traditionen eines Landes und seiner allgemeinen Verhaltenskultur entsprechen? Theoretische Voraussetzungen einer holistischen Fremdsprachenpolitik 453 4.7 Zum Faktor Unterrichtsmaterialien: Berücksichtigen die zum Gebrauch zugelassenen fremdsprachlichen Lehrbücher und Materialien die muttersprachlichen Vorkenntnisse der Schüler, ihren kulturellen Hintergrund, die Umwelt, in der sie leben? D.h., sind sie für „globale“ Anwendung konzipiert oder speziell für die Situation „vor Ort“? Beachten sie die sog. kontrastiven Prinzipien? Wer ist befugt, über die Wahl von Lehrbüchern zu entscheiden? Schulverwaltung, Schulleitung, Lehrkräfte, Schüler, Eltern? Wird darüber „autoritär“ entschieden oder „einvernehmlich“ (beispielsweise Schulleitung zusammen mit Lehrern, Lehrer zusammen mit ihren Schülern)? Werden auch Eltern an der Entscheidung beteiligt? Werden die an der Entscheidung beteiligten Personen darauf vorbereitet, sich in die Diskussion kompetent einzubringen oder nicht? 4.8 Zum Faktor Schüler: Berücksichtigt die Fremdsprachenpolitik das Alter der Schüler? Berücksichtigt sie ihre muttersprachlichen und fremdsprachlichen Vorkenntnisse? Werden die allgemeine Leistungsbereitschaft der Schüler und ihre Motivation zum Erlernen der angebotenen Fremdsprache in Betracht gezogen? Wie groß ist die Gesamtbelastung der Schüler nach Unterrichtsstunden und Hausaufgaben? Lässt ihr schulisches und außerschulisches Zeitbudget genügend Raum zum Einüben der Fremdsprache? 4.9 Zum Faktor Lehrkräfte: Welche Institutionen sind berechtigt, Fremdsprachenlehrer auszubilden? Bieten diese spezielle Studiengänge für Fremdsprachenlehrer an? Gibt es 454 Franciszek Grucza Institutionen für die Weiterbildung von Fremdsprachenlehrem und wenn ja, reichen sie aus? Wie sind die aktuell unterrichtenden Lehrkräfte fachlich (giottodidaktisch) ausgebildet? Wie gut beherrschen sie die zu unterrichtende (Fremd)Sprache? Über welche Unterrichtserfahrung verfügen sie? Sind sie in der Lage und bereit, die sprachlichen und vor allem die muttersprachlichen Vorkenntnisse ihrer Schüler im Unterricht zu berücksichtigen? Wieweit können/ dürfen sie selbstständig über Lehrpläne, Stundenpläne, Materialien, Methoden entscheiden? 5. Anspruch und Realität - Abschließende Bemerkungen Fremdsprachenkenntnisse sind schon heute für die meisten Menschen unerhört wichtig. In Zukunft aber und insbesondere für die jungen Menschen, die sich heute in der Schule auf ihr aktives Berufsleben vorbereiten, werden sie unerlässlich sein. Vor dem Hintergrund einer schon heute weltweit agierenden Wirtschaft und der Vision eines Europa ohne Grenzen ist diese Einsicht eine Selbstverständlichkeit. Aber auch die rapide zunehmende Europäisierung und Globalisierung zwischenmenschlicher Kontakte machen es notwendig, andere Sprachen zu kennen und andere Kulturen zu verstehen. Zu erläutern, dass und warum Fremdsprachenkenntnisse heute notwendig sind, hieße Eulen nach Athen tragen es besteht allgemeine Einigkeit, dass dem so ist. Auch die Politik hat sich parteiübergreifend diese Einsicht schon lange zu Eigen gemacht - und mehr noch, sie leitet daraus Forderungen ab. Es sind keineswegs allein die Bildungspolitiker, die bei jeder Gelegenheit anmahnen, es müsse mehr für die Verbesserung der Fremdsprachenkenntnisse getan werden. Misst man aber die politischen Forderungen an der schulischen Realität, dann drängt sich der Eindruck auf, dass Fremdsprachenunterricht in der Pra- Theoretische Voraussetzungen einer holistischen Fremdsprachenpolitik 455 xis weit weniger wichtig genommen wird als die öffentlichen Erklärungen vermuten lassen. Eine zentrale Rolle in der Ausbildung der Schüler und der Weiterbildung der Berufstätigen wird dem Fremdsprachenunterricht nach wie vor nicht zuerkannt. Das liegt meines Erachtens vor allem daran, dass nach wie vor nur Experten sich darüber klar sind, wie stark der Erfolg des Fremdsprachenunterrichts vom Vorhandensein bestimmter Bedingungen abhängt. Wir müssen mehr für die Verbreitung der Einsicht tun, dass die schulbezogene Fremdsprachenpolitik gleichgültig, ob „von oben“ oder „von unten“ konzipiert den an sie gestellten Erwartungen nur dann entsprechen kann, wenn sie alle diese Bedingungen zugleich berücksichtigt. Vor allem Politiker sowie Vertreter der Geisteswissenschaften, die auf die Gestaltung der schulbezogenen Politik Einfluss nehmen, haben auf diesem Gebiet einiges nachzuholen. Notwendig ist ein besseres Verständnis dafür, dass es sich beim Fremdsprachenunterricht um ein bestimmtes Gefüge von vielen „vernetzten“ Faktoren handelt. Vom Funktionieren dieses Gefüges als einer Ganzheit ist es abhängig, ob der Fremdsprachenunterricht zum gewünschten Erfolg führt. Die einzelnen Faktoren können nicht willkürlich aus dem Gefüge herausgebrochen oder auch nur beliebig geändert werden. Dass eine mit fünf Pfeilern projektierte Brücke, soll sie die vorgesehenen Lasten tragen können, nicht auf nur drei Pfeilern erbaut werden und ein mit vier Rädern konzipiertes Auto nicht mit drei Rädern fahren kann, braucht man nicht lange zu erklären es leuchtet sofort ein. Im Fall des Fremdsprachenunterrichts hingegen meint man anders Vorgehen zu können. Tatsächlich haben wir es hier aber mit einer ganz ähnlichen Situation zu tun wie bei der erwähnten Brücke oder dem Auto. Die Nichtberücksichtigung einzelner Faktoren hat Konsequenzen. Je nachdem welche Faktoren vernachlässigt werden, bedeutet solche Nichtberücksichtigung eine graduelle Einschränkung des angestrebten Ergebnisses oder aber macht es überhaupt unmöglich, irgendein Ergebnis zu erzielen. Dies sollte auch Lehrern, Schülern und Eltern viel stärker bewusst gemacht werden. Vielleicht wären sie dann weniger frustriert, wenn große Anstrengungen beim Lehren und Lernen nur unverhältnismäßig magere Ergebnisse erbringen. Vielleicht würden sie dann ihre „privaten Theorien“ zum Fremd- 456 Franciszek Grucza Sprachenunterricht korrigieren - „Theorien“, die sie oft zur falschen Einflussnahme auf den Fremdsprachenunterricht vor Ort verleiten. Eine wissenschaftliche Fundierung der auf Fremdsprachen bezogenen Politik ist dringend notwendig sowohl im Hinblick auf die Entwicklung von Konzepten als auch im Hinblick auf die rekonstruktive (kritische) Betrachtung der vorliegenden Konzepte und der Vorgefundenen Praxis. Und wir brauchen eine holistische Fremdsprachenpolitik, weil ich wiederhole der konkrete Unterricht einer Sprache immer in einer bestimmten lokalen, regionalen und nationalen Unterrichtstradition von Fremdsprachen steht, die ihrerseits Teil der allgemeinen Bildungstradition eines Volkes oder Landes und damit von ihr geprägt ist. Auch findet der Unterricht immer in einer ganz konkreten Schule statt, die in ihrer jeweiligen lokalen Umwelt situiert ist, aus ganz konkreten individuellen Menschen vor allem Fehrern und Schülern - „besteht“ und auch ganz konkrete Gebäude, Geräte etc. zur Verfügung hat. In einem anderen Beitrag habe ich schon einen ersten Versuch unternommen, die gegenwärtige polnische Fremdsprachenpolitik im Sinne des hier vorgetragenen holistischen Konzeptes zu rekonstruieren (vgl. Grucza, 1999). Es hat sich herausgestellt, dass sie in mehrfacher Hinsicht defizitär ist. Diese Kritik hat leider noch nichts an Aktualität verloren jedenfalls dann nicht, wenn die Politik wirklich will, dass Fremdsprachemmtern'c/ zf zu Fremdsprachen/ : führt. Im Großen und Ganzen trifft die damals im Hinblick auf Polen geäußerte Kritik auch auf viele andere Länder zu. Somit stellen sich der Fremdsprachenpolitik, sofern sie sich als der Wissenschaft zugehörig begreift, unterschiedliche und auf verschiedenen Ebenen angesiedelte Aufgaben. Zum einen muss sie an der theoretischen Fundierung der praktischer Fremdsprachenpolitik weiter arbeiten, zum anderen muss sie die jeweils praktizierte Fremdsprachenpolitik einer wissenschaftlichen Rekonstruktion und Kritik unterziehen, zum Dritten muss sie sich stärker an der Ausarbeitung von Konzepten für die praktische Sprachenpolitik (i.e. an ihrer Gestaltung) und natürlich auch an ihrer Umsetzung beteiligen. Darüber hinaus muss sie Grundlagen für die eingangs erwähnte axiologische Evaluierung der Konzepte für praktische Sprachenpolitik und ihre Umsetzung ausarbeiten. Und nicht zuletzt muss sie sich bemühen, die einschlägigen Erkenntnisse den Entscheidungsträgern und Akteuren so zu vermitteln, dass Theoretische Voraussetzungen einer holistischen Fremdsprachenpolitik 457 diese bereit sind, sie in Politik und Praxis auch tatsächlich umzusetzen. Dies letztere dürfte der schwierigste Teil der Aufgaben sein! 6. Literatur Meine Ausführungen habe ich formuliert vor dem Hintergrund der im Folgenden genannten Literatur (was auch heißt: teilweise im Gegensatz zu ihr). Aus Platzgründen habe ich hier auf eine explizite Darstellung der kritischen Auseinandersetzung verzichtet. Die folgenden Angaben sind auch für diejenigen gedacht, die sich mit dem Thema weiter beschäftigen möchten. Ammon, Ulrich (Hg.) (2000): Sprachförderung. Schlüssel auswärtiger Kulturpolitik, Frankfurt a.M. Arntz, Rainer (1997): Passive Mehrsprachigkeit eine Chance für die ‘kleinen’ Sprachen Europas. In: Sociolinguistica 11, S. 166-177. 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Wer die Bibliothek des Instituts für Deutsche Sprache aufsucht, findet eine internationale und interkulturelle Gemeinschaft vor, deren ‘einigendes Band’ das Interesse an der deutschen Sprache ist. Die auswärtigen Sprachgermanistinnen und -germanisten im IDS suchen den Anschluss zum neuesten Stand der Forschung und den Kontakt zu deutschen Kolleginnen und Kollegen, mit denen sie eigene Forschungsvorhaben besprechen oder gemeinsame Projekte planen können. Sie nützen aber auch die Gelegenheit, Kontakt miteinander zu knüpfen, und dadurch spielt das IDS auch eine wichtige Rolle als internationale Begegnungsstätte mit Deutsch als Verkehrssprache. Das IDS als interkulturelles Begegnungszentrum legt beredtes Zeugnis von den Bemühungen seines Direktors um die Stellung des Deutschen im internationalen, speziell im europäischen, Kontext ab. Letzten Endes ist es wohl das Arbeitsgebiet „Deutsch im europäischen bzw. internationalen Kontext“, das den ausländischen Sprachgermanisten am ehesten am Herzen liegt, sind wir doch alle darauf angewiesen, dass die deutsche Sprache weiterhin die ihr gebührende wichtige kulturelle, politische und wirtschaftliche Rolle in der kulturellen Vielfalt des ‘globalen Dorfes’ spielt; hierzu leisten wir aber auch durch unsere berufliche Tätigkeit einen wichtigen Beitrag. Von zentraler Bedeutung für die internationale Rolle des Deutschen ist die Entwicklung des Faches ‘Deutsch als Fremdsprache’, das seine Randposition schon längst hinter sich gelassen hat, was zum Beispiel aus der Einrichtung von DaF-Lehrstühlen und wachsenden Absolventenzahlen im Fach zu ersehen ist; wer die Bewerbungen um Lektorenstellen z.B. in Großbritannien und Irland zu sichten hat, stellt fest, dass der Besitz einer DaF-Qualifikation vor allem bei österreichischen Bewerberinnen und Bewerbern fast zur Regel geworden ist. 464 Michael Townson Vor allem in den letzten Jahren und infolge der verstärkten Einwanderung nach Deutschland musste sich das Fach ‘Deutsch als Fremdsprache’ auf zwei Säulen stützen - DaF im Inland, was sich vor dem innenpolitischen Hintergrund und Debatten z.B. um ‘Assimilation’ oder ‘Integration’ abspielt, und DaF im Ausland, was auch von Fragen der auswärtigen Kulturpolitik der deutschsprachigen Fänder tangiert wird. In diesem Beitrag geht es vor allem um die Außenperspektive, und drei Fragen werden hier im Mittelpunkt stehen: Erstens geht es um die äußeren Bedingungen, die erfüllt sein müssen, wenn die deutsche Sprache überhaupt eine internationale Rolle spielen soll. Der Stellenwert von ‘Deutsch im internationalen Kontext’ hängt von zwei sich gegenseitig bestimmenden Faktoren ab: inwiefern wird das Deutsche als Kommunikationsmedium im internationalen Austausch anerkannt und akzeptiert; dies bedingt das Vorhandensein einer ‘kritischen Masse’ an Deutschsprachigen außerhalb des deutschen Sprachraums, was wiederum die Bereitschaft ausländischer Partner, sich der deutschen Sprache anzunehmen und sie zu erlernen, voraussetzt. Obwohl beide Faktoren auch von Verhältnissen und Einstellungen außerhalb des deutschen Sprachraums abhängen, können sie auch von politischen Entscheidungen in den deutschsprachigen Fändern beeinflusst werden. Zweitens geht es um DaF-Jnhalte, und zwar um die Frage, was heißt es, diese (deutsche) Sprache zu ‘erlernen’, und was soll man können, wenn man sie einmal erlernt hat? Hinzu kommt aber auch noch eine dritte Frage, und zwar danach, wie deutsche Muttersprachler mit (der hoffentlich wachsenden Zahl von) Nichtmuttersprachlem umgehen. Grund zum uneingeschränkten Optimismus bezüglich der internationalen Rolle der deutschen Sprache ist nicht ohne weiteres gegeben, da sogar in Deutschland selbst Stimmen laut werden, die für eine Ablösung des Deutschen durch das Englische plädieren und diese auch durchzusetzen versuchen, sei es im tertiären Bildungsbereich oder in der Binnenkommunikation Kannst du Deutsch, was kannst du? 465 deutscher Unternehmen, während die Bundesregierung eine auswärtige Kulturpolitik zu betreiben scheint, die, den Sorgen um den Status der deutschen Sprache zum Trotz, die Rolle des Deutschen in Europa eher schwächt als stärkt (Stichwort: Abbau der Goethe-Institute). Nicht zuletzt den anglophonen Europäern soll der scheinbar unaufhaltsame Vormarsch des Englischen als weltweite Verkehrssprache Sorgen bereiten, verführt er doch zu einer sprachlichen Faulheit und Überheblichkeit und letzten Endes zu einer zunehmenden Insularität und kulturellen Blindheit. Solche sprachliche Faulheit lässt sich in dem (noch) Vereinigten Königreich nicht zuletzt am Rückgang des Fremdsprachenunterrichts auf allen Ebenen erkennen z.B. ziehen sich britische Universitäten unter dem Druck regierungsseitiger finanzieller Vorgaben zunehmend aus dem Fremdsprachengeschäft zurück; und mit der Einführung eines zentral dirigierten Schulcurriculums in England und Wales bieten immer weniger Schulen ihren Schülerinnen und Schülern die Gelegenheit, mehr als nur eine Fremdsprache zu erlernen. Auf makropolitischer Ebene ist die angeblich weit verbreitete ‘Euroskepsis’, die eher als eine Kombination von Unwissen und Apathie gesehen werden kann, an dieser Situation wohl auch nicht unbeteiligt. Was speziell das Deutsche anbetrifft, stellt man eine rückläufige Tendenz bei der Zahl der Lernenden (gemessen z.B. an der Zahl der Anmeldungen zu den GCSE- und GCE-Prüfungen) fest; die einzige Fremdsprache, die eine positive Tendenz aufweist, ist das Spanische, das dem Deutschen den Rang der traditionell ‘zweiten’ Fremdsprache streitig macht; es soll hier zwar nicht einem ‘Sprachkampf’ das Wort geredet werden, aber ökonomische Überlegungen beschränken die Zahl der angebotenen Fremdsprachen im Bildungsbereich, und die wenigsten öffentlichen Schulen sind in der Lage, neben der traditionell ersten Fremdsprache Französisch mehr als eine weitere Fremdsprache anzubieten. Die Gründe für den Rückgang des Interesses am Deutschiemen in der südlichen Hälfte der größeren Insel sind vielfältig und -schichtig, hängen aber wahrscheinlich u.a. mit der zunehmenden Beliebtheit der iberischen Halbinsel als Ferienziel, mit dem Rückzug der britischen Besatzungsmacht aus 466 Michael Townson Deutschland und mit dem eher negativen Deutschlandbild in den britischen Massenmedien zusammen. Mit ein Grund dürfte jedoch auch der sein, dass das Deutsche allgemein als schwierig zu erlernende Sprache gilt, eine Einstellung, die vielleicht auf Mark Twains Vorurteile gegen eine flektierte Sprache mit Klammerstruktur und rechtsverzweigenden Tendenzen zurückgeführt werden könnte. Allgemein gilt aber wohl das Prinzip, dass keine Sprache ‘schwieriger’ oder ‘einfacher’ ist als eine andere; leider gilt aber auch, dass - Soforterfolg versprechenden Inseraten von gewinnorientierten Anbietern zum Trotz das Erlernen einer fremden Sprache, will man sie richtig beherrschen und nicht nur mit Versatzstücken rudimentäre kommunikative Bedürfnisse befriedigen, nicht einfach ist, ja eine beträchtliche geistige Leistung darstellt. Im vorliegenden Beitrag soll erstens die Frage angeschnitten werden, was es wohl heißt, eine Fremdsprache zu ‘können’ oder, mit den Worten des Titels ‘Kannst du Deutsch, was kannst du? ’. Zweitens soll dann auf die Konsequenzen eingegangen werden, die sich aus einer größeren Masse von ‘nichtdeutschen’ Deutschsprechenden für die Muttersprachler ergeben. Schon die system- und soziolinguistische Interpretation der Formulierung der ersten Frage birgt eine Vielzahl von Fragen für die Lernenden in sich zum Beispiel auf soziolinguistischer Ebene: warum die du-Form benutzt wird, und ob der Nichtmuttersprachler den Stellenwert dieser Anredeform erkennt. Im Unterricht werden die Anrederegeln vielleicht nach den Kategorien der Nähe und der Ferne oder des Grades der Formalität erklärt worden sein, aber danach wird dem Nichtmuttersprachler nicht klar, dass der deutsche Redner diese Form nicht unbedingt als Zeichen der Nähe oder der Solidarität einsetzt, sondern dass er unter bestimmten Umständen den Angeredeten als Ausländer und damit als nicht zur deutschen Sprachgemeinschaft gehörig markieren will. Auf der Systemebene wird man mit Wortstellungsfragen und mit dem Problem der Satztypidentifikation konfrontiert; es erhebt sich die Frage, ob es dem Angeredeten beim Parsen des Textes klar ist vorausgesetzt, dies wird als Frage erkannt -, dass die Frage nicht durch die Inversion im ersten Teil- Kannst du Deutsch, was kannst du? 467 satz sondern durch die Stellung des ‘was’ im zweiten Teilsatz markiert wird, und dass die Inversion im ersten Teilsatz nicht als Frageform sondern als Zeichen eines vorgestellten Nebensatzes, speziell einer conditio realis interpretiert werden soll. Weiter gehört zum Systemwissen, dass die Änderung der Wortstellung sich auf den Satztyp auswirken kann, sodass „Kannst du Deutsch, was kannst du? “ etwas ganz anderes bedeutet als „Kannst du Deutsch, kannst du was! “ So wichtig es für Deutschlernende auch ist, auf der einen Seite zielsprachige Äußerungen richtig zu interpretieren und einzuordnen und auf der anderen Seite angemessene Texte selber zu erzeugen, geht das Erlernen einer fremden Sprache weit über die Aneignung eines neuen Codes hinaus mit seinen phonologischen, lexikalischen, syntaktischen und semantischen Komponenten - und hier z.B. unterscheidet sich das Erlernen einer natürlichen Sprache von der Aneignung einer Computersprache. In der Fremdsprachendidaktik wird der kulturellen Komponente eine wachsende Bedeutung zugemessen, aus der Erkenntnis, dass der Erwerb einer fremden Sprache Verhaltens- und womöglich auch Einstellungsänderungen mit sich bringt. Da aber der Mensch normalerweise rational handelt d.h. nicht ohne ersichtlichen und einsichtigen Grund Mühe und Arbeit auf sich lädt setzt der Abschied von lieb gewordenen Verhaltensmustern und Wertvorstellungen eine relativ starke Motivation voraus. In der Motivationsforschung unterscheidet man bekanntlich zwischen „extrinsischer“ und „intrinsischer“ oder, um die Begriffe von Lambert u.a. zu benutzen, zwischen „instrumentaler“ und „integrativer“ Motivation, wobei man bedenken muss, dass es sich hier um graduelle Unterschiede handeln kann, sodass sich eine ursprünglich instrumentale Motivation zu einer integrativen entwickeln kann. Während bei der instrumentalen Motivation definitionsgemäß pragmatische Gründe ausschlaggebend sind die Notwendigkeit einer gewissen Integration bei Einwanderern; bei Geschäftsleuten und Diplomaten die Notwendigkeit, in der Sprache ihrer Geschäfts- und Gesprächspartner verhandeln zu können; bei Wissenschaftlern der Wunsch nach internationaler Zusammenarbeit und EU-Fördermitteln wird die integrative Motivation durch Offenheit und Neugier, gar Faszination durch fremde Sprachen und Kulturen bedingt. Sie schließt letzten Endes auch die 468 Michael Townson Bereitschaft der Lernenden ein, sich selbst zu ändern und die eigenen Prämissen und Werte in Frage zu stellen und gegebenenfalls zu revidieren. An diesem Punkt muss unterstrichen werden, dass die Art der Motivation nicht unbedingt mit dem Grad des Fremdsprachenerwerbs gleichzusetzen ist; es braucht z.B. nicht der Fall zu sein, dass eine integrativ motivierte Lernerin die Zielsprache unbedingt ‘besser’ kann als ein instrumental motivierter Ferner, obwohl wirtschaftliche Gründe wahrscheinlich dazu führen, dass letzterer nicht mehr lernt als das für die jeweiligen kommunikativen Bedürfnisse Notwendige. Ein altmodischer Spion zum Beispiel ist extrem instrumental motiviert; nicht aus Interesse an einer fremden Kultur an sich erlernt er eine fremde Sprache, sondern mit der erklärten Absicht, die Zielkultur zu unterwandern und, wenn möglich, zu ihrer Zerstörung beizutragen. Gleichzeitig aber ist es für ihn absolut lebenswichtig, die fremde Sprache so perfekt zu beherrschen, dass er als Muttersprachler akzeptiert wird, ohne jedoch die eigene Persönlichkeit aufzugeben oder die eigenen Werte in Frage zu stellen. Außer bei Linguisten und Philologen lässt sich kaum ein Fall vorstellen, wo Systemwissen allein ausreicht. Soll Verständigung erreicht werden, genügt es nicht, grammatisch richtige Sätze zu bilden und auszusprechen, sondern der Nichtmuttersprachler muss auch über die richtigen Umgangsformen verfügen, muss auch wissen, welche Sätze nicht gesprochen werden dürfen, wer wen wie wann anredet, muss wissen wann geredet und wann geschwiegen wird. Noch dazu muss er sich mit den Inhalten auseinander setzen können, muss in der Lage sein, Prämissen zu erkennen, Bezugnahmen auf Ereignisse, Institutionen, Strukturen zu verstehen, Anspielungen zu interpretieren, aber auch das Nichtausgesprochene, das Zwischen-den-Zeilen-Gesprochene herauszuhören und richtig einzuordnen. Dass es sich hier um den Idealfall handelt, liegt auf der Hand; gleichzeitig aber leistet der Nichtmuttersprachler noch mehr. Es kann und soll nicht Ziel des Fremdsprachenerwerbs sein, Muttersprachler zu klonen; der Nichtmuttersprachler muss sich viele der Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse bewusst aneignen, ist also auch in der Lage, darüber zu reflektieren und die in zielsprachlichen Texten enthaltenen Voraussetzungen und Werte zu hinterfragen. Dadurch aber, dass die Reflexion wahrscheinlich auch den Ver- Kannst du Deutsch, was kannst du? 469 gleich mit der eigenen Kultur mit sich bringt, werden fast zwangsläufig auch die eigenen kulturellen Werte kritisch reflektiert und hinterfragt. Das bisher Gesagte wurde sehr allgemein gehalten und gilt für den Erwerb einer jeden Fremdsprache, nicht nur des Deutschen. Es weist auch auf den Bildungswert des Fremdsprachenlernens hin, denn hierdurch wird auch der Sinn für die kulturelle Vielfalt, die einen so wichtigen Teil des europäischen Erbes bildet, geschärft. Als Illustration der richtigen sprachlichen Umgangsformen soll ein Beispiel aus dem deutsch-englischen Sprachvergleich angeführt werden. Man kann davon ausgehen, dass in beiden Sprachen dieselben tiefenstrukturellen Sprechakte vollzogen werden, nur die Realisierung unterscheidet sich. Nehmen wir das Beispiel ‘Information erbitten’. Es wird oft behauptet, im Deutschen sei der sprachliche Verkehr viel direkter als im britischen Englisch; im Deutschen neige man eher dazu, gleich in medias res zu gehen, während man im Englischen zuerst ein Pensum an ‘small talk’, Vorgeplänkel, absolvieren müsse. Will man in der Fremdsprache Informationen bekommen, reicht es leider nicht, nur die Grammatik der Interrogativformen zu beherrschen. Stimmt es aber, dass in diesem Fall das Deutsche viel ‘direkter’ ist? Man macht sich manchmal über ‘die Briten’ lustig, mit ihrem T say, would you possibly mind telling me the way to the station? ’ Hier wird zuerst Aufmerksamkeit erregt (T say’), und dann liegt eine doppelte Indirektheit vor, erstens durch die distanzierende Form des Modalverbs ‘will’ und zweitens durch die Frage, ob gegen die Erteilung der gewünschten Information Einwände bestehen. Wie ist es aber im Deutschen? Es stimmt zwar, dass durch die Interrogativ- oder Imperativform direkt gefragt werden kann: ‘Wie komme ich zum Bahnhof bzw. ‘Sagen Sie mir, wie ich zum Bahnhof komme’, aber solche Möglichkeiten gibt es auch im Englischen. Genauso wahrscheinlich ist im Deutschen eine Äußerung wie: ‘Entschuldigen Sie, dürfte ich mal fragen, wie man hier zum Bahnhof kommt? ’ Hier haben wir wieder die Erregung der Aufmerksamkeit, auf die auch eine doppelte Indirektheit folgt (Konjunktiv 11 + Bitte um Erlaubnis, eine Frage zu stellen). Also in beiden Fällen ein ähnliches Grundmuster, mit jeweils unterschiedlicher Ausführung obwohl man auch argumentieren könnte, das Englische sei doch direkter, weil hier zumindest der Angesprochene zur Erteilung der Information aufgefordert wird. Unter anderem ist aber auch interessant zu beobach- 470 Michael Townson ten, wie die deutsche Äußerung sprecherorientiert ist (‘dürfte ich mal fragen’) während die englische zumindest in der Form zuhörerorientiert ist (‘would you possibly mind telling me’), ein Muster, das man auch in anderen Situationen beobachtet: tritt man z.B. mit einem Anliegen an einen Kollegen heran, fragt man im Deutschen eher ‘Störe ichT, während man im Englischen eher danach fragt, ob der Betreffende gerade beschäftigt ist, ‘Are you busy? ’ Als freilich extremes und peripheres - Beispiel der Fähigkeit, Anspielungen zu verstehen und zwischen den Zeilen zu lesen, werden hier zwei Illustrationen aus dem Sommerpreis(kreuzwort)rätsel der Zeit vom 5. Juli 2001 gebracht, und zwar 6 waagerecht: „Sterngedeutete im Dichterfürstendreiecksverhältnisschauspiel“ (6 Buchstaben) und 38 waagerecht: „Laufend beanspruchtes Riemenschneiderwerk“ (11 Buchstaben). Um zum ersten Losungswort zu kommen, muss man wissen, dass es sich bei dem ‘Dichterfürsten’ um Goethe handelt, und bei dem ‘Dreiecksverhältnisschauspiel’ um seine relativ frühe dramatische Dichtung Stella, womit dann auch die Verbindung zu den Sternen hergestellt wird. Bei der zweiten angeführten Definition wird man durch das ‘Riemenschneiderwerk’ absichtlich auf die Spur Tilman Riemenschneiders irregeleitet, um dann auf den Ursprung des Namens ‘Riemenschneider’ zu kommen und so durch die Doppeldeutigkeit von ‘laufend’ zum Lösungswort ‘Sandaletten’ zu gelangen. So versteht man denn auch, warum die Zeit-Kreuzworträtsel normalerweise den Titel ‘Um die Ecke gedacht’ tragen. Bisher ist nur von der Anpassung der Nichtmuttersprachler an die Normen und Werte der Zielsprache die Rede gewesen, was praktisch auf ein Assimilationsmodell hinausläuft. Wenn aber, wie oben angedeutet, das Fremdsprachenlernen nicht das Klonen eines Muttersprachlers zum Ziel hat, ist ein anderes Modell gefragt, und zwar ein Integrationsmodell, das zwar potenziell Probleme mit sich bringt, aber auch Gelegenheit zur gegenseitigen Bereicherung bietet. Während die Assimilation dem zu Assimilierenden ein hohes Maß an Anpassung abverlangt, muss bei der Integration nicht nur materiell sondern auch kulturell ein Platz für den Neuankömmling geschaffen werden, also wird auch den Ältereingesessenen eine kommunikative und kulturelle Leistung abverlangt Kannst du Deutsch, was kannst du? 471 Bisher haben wir uns wenn auch nur ansatzweise mit der Kompetenz der Nichtmuttersprachler auseinander gesetzt und mit den Vorteilen, die sie aus dem Erlernen einer fremden Sprache, in diesem Fall des Deutschen, ziehen. Wie sieht es aber mit den ‘Einheimischen’, mit den Muttersprachlern aus, oder soll die Lernleistung und die interkulturelle Leistung nur von den ‘Gästen’ erbracht werden? Selbst bei einem Assimilationsmodell werden Fragen an die Einheimischen gestellt, z.B. wie reagieren sie überhaupt darauf, dass Fremde ‘ihre’ Sprache sprechen, was für Performanzerwartungen haben sie, welche Maßstäbe legen sie an? Handelt es sich jedoch um Integration, werden die Fragen vielfältiger und vielschichtiger, denn hier geht es letzten Endes um die Akzeptanz der Alterität und um die Bereitschaft, kulturelle Freiräume zur Verfügung zu stellen. Wie geht man also auf die Fremden zu, was wird angeboten, was wird verlangt? In Einwanderungsländern herrscht häufig eine Situation vor, in der Einwanderer vor allem der ersten Generation die Landessprache nur mangelhaft beherrschen, wenn überhaupt, was leicht zu einer Gettoisierung führen kann, in der Kommunikation mit der Bevölkerung oder den Instanzen des betreffenden Landes entweder über Dolmetscher oder durch Rückgriff auf eine gemeinsame dritte Sprache oder dadurch erfolgt, dass z.B. Behörden und Unternehmen fremdsprachliche Dienste anbieten; solche Dienste reichen von der Bereitstellung gedruckten Materials bis hin zur Möglichkeit der Beratung und evtl. Antragsstellung in der betreffenden Sprache. Auf den ersten Blick liegt ein ähnlicher Fall bei Besuchern, z.B. bei Touristen und Geschäftsleuten, vor; hier darf aber die soziale Stellung der ‘Sprachunkundigen’ nicht verkannt werden. Sie gehören oft einer zahlungskräftigeren Schicht an und können eine wichtige Rolle in der Außenhandelsbilanz spielen, sodass die Erleichterung der Kommunikation zu einem wirtschaftlichen Faktor wird; es kommt noch hinzu, dass Touristen sehr oft in abgeschirmten Gruppen reisen also auch gettoisiert werden - und Geschäftsleute und Einzeltouristen, sofern sie keine Kenntnisse der Landessprache besitzen, oft über zumindest rudimentäre Kenntnisse der ‘Weltsprache’ Englisch verfügen, sodass die kommunikativen Voraussetzungen für die Deckung des täglichen Bedarfs damit gegeben sind. 472 Michael Townson Im Einwanderungsfall besteht für das aufnehmende Land auch die Möglichkeit, dass von potenziellen Einwanderern der Nachweis von ausreichenden Kenntnissen der Landessprache zur Bedingung für die Einreise gemacht wird. In diesem Zusammenhang ist es interessant zu beobachten, wie in Großbritannien in letzter Zeit Stimmen laut werden, die genau diese Forderung erheben. In der Bundesrepublik Deutschland schreiben die Verwaltungsvorschriften zum reformierten Staatsangehörigkeitsgesetz außer wirtschaftlicher Selbstständigkeit, Straflosigkeit und Verfassungstreue den Nachweis ausreichender deutscher Sprachkenntnisse für die Einbürgerung vor. der in der Regel durch den Nachweis einer Ausbildung in Deutschland oder durch Vorlage des Zertifikats Deutsch zu erbringen ist. Hiermit wird also eine Politik der offiziellen Einsprachigkeit unterstrichen und der Wert der deutschen Sprache als Merkmal der Vollmitgliedschaft in der deutschen Gesellschaft aufrechterhalten. Hierbei darf aber nicht vergessen werden, dass die Einbürgerung nur eine mögliche Form der Aufnahme darstellt. Die volle Mitgliedschaft in der bundesdeutschen Gesellschaft, die ‘ausreichende Sprachkenntnisse’ voraussetzt, wird durch einen Verwaltungsakt, die Einbürgerung, erworben. Wird man aber dadurch auch zum Mitglied der deutschen Sprachgemeinschaft ja, wie wird man überhaupt zum Mitglied der deutschen Sprachgemeinschaft - oder ist ‘die deutsche Sprachgemeinschaft’ angesichts der Polyzentrizität der deutschen Sprache sowieso eine Fiktion, sodass nur von deutschen Sprachgemeinschaften in der Mehrzahl gesprochen werden kann? Ungeachtet der Zahl der Sprachgemeinschaften steht die Frage immer noch im Raum, wie die Mitgliedschaft erworben wird. Wird sie zum Beispiel Muttersprachlern Vorbehalten, in welchem Fall die deutschen Neubürger, die sich am gesellschaftlichen und politischen Leben durch das Medium der deutschen Sprache beteiligen, nicht zu der/ einer deutschen Sprachgemeinschaft gehören? Oder wird eine deutsche Sprachgemeinschaft dadurch definiert, dass in ihr das Deutsche als Hauptverkehrssprache verwendet wird, in welchem Fall man nach dem Status deutscher Emigranten in der sprachlichen Diaspora fragen muss. Und wie passen dann die Millionen Menschen ins Bild, die, der deutschen Sprache mehr oder weniger mächtig, weder Muttersprachler sind, noch sich des Deutschen als primärer Verkehrssprache bedienen? Oder ist die Vorstellung einer homogenen auf einer Muttersprache basierenden Sprachgemeinschaft zu einer Fiktion geworden, von der in einer polykulturellen und -lingualen Welt Abschied ge- Kannst du Deutsch, was kannst du? 473 nommen werden soll? Wenn sich zunehmende Internationalisierung und Globalisierung nicht auf der kleinsten gemeinsamen Ebene einer McDonaldisierung abspielen soll, werden unsere kulturellen Identitäten, die sowieso nie einfach waren, immer komplexer und vielschichtiger, wo wir z.B. in Europa nicht nur Bürger (oder im britischen Fall Untertanen) einer Nation oder eines Staates haben sondern auch Bürger einer Union, die sich der kulturellen und sprachlichen Vielfalt verschreibt. Unsere Überlegungen gingen zunächst von der Frage nach den Fähigkeiten und Fertigkeiten der Deutschlemenden aus, und jetzt, da sprachliche Kommunikation ein wechselseitiger Prozess ist, für dessen Gelingen alle Beteiligten Verantwortung tragen, nähern wir uns an die Frage nach den vom Muttersprachler im Umgang mit Nichtmuttersprachlern zu erbringenden Leistungen an, denn mit zunehmender Mobilität wächst, wie oben angedeutet, die Wahrscheinlichkeit, dass der Umgang der einheimischen Sprachteilnehmer sich nicht auf Kommunikation mit ihren Landsleuten beschränken wird. Die Erweiterung des sprachlichen Horizonts geht seit jeher Hand in Hand mit Fortschritten in der Kommunikations- und Verkehrstechnik und bedingt auch Änderungen in der kulturellen Identität, die nie eine abgeschlossene einfache Größe darstellt, sondern immer nach vorne hin offen ist und dem geschichtlichen Wandel unterliegt (vgl. v. Thadden 1991, S. 496). Die Frage nach der Sprachfähigkeit ist auch die Frage nach der kommunikativen Vielseitigkeit, danach, ob wir uns in allen möglichen sprachkommunikativen Situationen zurechtfinden können, und deswegen richtet sich die Frage ‘Was kannst du? ’ auch an Muttersprachler, vor allem was den sprachlichen Umgang mit Fremden anbetrifft, denn hier werden an den Muttersprachler besondere Anforderungen gestellt. Wie wir wissen kann in der Kommunikation zwischen Muttersprachlern unterschiedlicher regionaler Herkunft ein Prozess der gegenseitigen Akkommodation durch Herunterspielen der eigenen regionalen Spracheigenschaften und eine Annäherung an die Hochsprache stattfinden, und im sprachlichen Umgang mit Kindern, vor allem in der Schrift, können erwachsene Muttersprachler mit ‘defizitären’ Äußerungen konfrontiert werden, die es dann zu kompensieren gilt. 474 Michael Townson Parallelen hierzu können auch bzgl. der sprachlichen Kommunikation zwischen Muttersprachlern und Nichtmuttersprachlern gezogen werden. Schon beim Initiieren der Kommunikation muss von dem einen Teilnehmer eine beträchtliche Akkommodationsleistung durch seine Bereitschaft erbracht werden, sich der Sprache des anderen zu bedienen, aber eine weiter gehende Akkommodation wird ihm vielleicht wegen mangelnder Fähigkeiten in der fremden Sprache nicht möglich sein, sodass dann der Muttersprachler stärker gefordert wird und sich besonders bemühen muss, auf den Kommunikationspartner einzugehen, um seine Intentionen zu ergründen und die eigenen deutlich zu machen, ohne sich durch etwaige sprachliche Mängel seitens des Gegenübers beirren zu lassen. Mit anderen Worten: soll das Deutsche eine internationale Rolle spielen, soll es, wenn man so will, zur ‘Weltsprache’ werden, dann gehört zur Sprachkompetenz nicht nur der Nichtmuttersprachler auch eine interkulturelle Kompetenz; diese gilt es sowieso im Rahmen der europäischen Einigung zu entwickeln, denn im heutigen Europa ist es nicht der Schmelztiegel USamerikanischer Prägung sondern die Salatschüssel, die die tonangebende Metapher liefert. Das bedeutet also, dass die Sprache nicht mehr das ‘scharf geschliffene Schwert zur geistigen Verteidigung der Nation’ (Goebbels) oder Instrument der kulturellen Hegemonie ist, sondern ein Mittel der internationalen Verständigung und Annäherung; und in dieser Rolle kann das Deutsche einen besonderen Stellenwert erlangen. Hierbei ist jedoch ein wichtiges Caveat anzubringen. Wer die Sprache als Mittel der internationalen Verständigung zur Verfügung stellt, kann nicht gleichzeitig die exklusiven Besitztitel aufrecht erhalten und das ‘Recht’ beanspruchen wollen, allein über diese Sprache zu bestimmen. Es gilt, die Verzahnung von Ethnizität, ‘Leitkultur’ und Sprache zu lösen. Das ist eine manchmal schmerzliche - Erfahrung, die vor allem die Engländer haben machen müssen; gleichzeitig aber hat die Teilhabe von Menschen verschiedenster Kulturen an dieser englischen Sprache zu einer enormen Bereicherung des Englischen geführt. Auf dem Gebiet der Literatur braucht man nur an die Schriften von James Joyce und Samuel Beckett zu denken, für die Englisch, obwohl ihre erste Sprache, eine fremde Sprache war, oder an die Werke indischer und schwarzafrikanischer Schriftsteller. Auch in der Sprachwissenschaft ist auffallend, wie viele Koryphäen, angefangen mit Jes- Kannst du Deutsch, was kannst du? 475 persen, keine Engländer waren; von den vier Verfassern der Standardgrammatik des Englischen, A Comprehensive Grammar of the English Language stammt nur einer aus England. Es wäre anmaßend und in diesem Zusammenhang unangebracht, Prognosen über die kulturelle Integrationsfähigkeit des Deutschen zu stellen; man braucht aber nicht die eher pessimistische Analyse v. Thaddens zu teilen: „das deutsche Nationsverständnis traut den kulturellen Integrationsmöglichkeiten weniger zu, so daß es in der Summe eher ab- und ausgrenzend wirkt“ (S. 500), denn wie er an anderer Stelle feststellt, sind „nationale und kulturelle Zugehörigkeiten immer in bestimmten historischen Zusammenhängen zu sehen,“ da sie „keine anthropologischen Konstanten darstellen“ (S. 498). Es bleibt also zu hoffen, dass sich die internationale und interkulturelle Rolle des Deutschen durch die weitere Öffnung im Zuge der europäischen Integration und die zunehmende kulturelle Vielfalt in den beiden Bundesrepubliken (Deutschland und Österreich), die z.B. durch die zunehmende Zahl von Literaturwerken deutschsprachiger Autoren unterschiedlicher Ethnizität dokumentiert wird, verstärkt. Literatur Thadden, Rudolf v. (1991): Aufbau nationaler Identitäten. Deutschland und Frankreich im Vergleich. In: Giesen, Bernhard (Hg): Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit. Frankfurt a.M.S. 493-512. Heinrich Löffler Stadtsprachen-Projekte im Vergleich: Basel und Mannheim 1. Das IDS-Projekt „Mehrsprachigkeit in der Stadtregion“/ „Kommunikation in der Stadt“ Die Frühjahrstagung 1981 des IDS damals im Mannheimer Gewerkschaftshaus hatte die „Mehrsprachigkeit in der Stadtregion“ zum Thema. Die Tagung war als Vorbereitung und Eröffnung eines Stadtsprachen- Projektes gedacht, das im Themenspektrum der Forschungsplanung am IDS einen neuen Schwerpunkt darstellte (Bausch 1982). Bis dahin hatte in den ersten 20 Jahren seit der Gründung das Interesse im IDS eher den systematisch-linguistischen Fragestellungen gegolten. Selbst der Teilbereich „Gesprochene Sprache“ hatte sich im Grunde die „Regelhaftigkeit“ der mündlichen Sprache vorgenommen und nach der langue innerhalb der parole gefragt (vgl. als Bilanz dieser Analysen: Schwitalla 1997). Als Hauptregel der gesprochenen Sprache war dann das „Dyadische“ oder die Dialoghaftigkeit (vgl. Projekt Dialogstrukturen: Berens 1976) zu Tage getreten. Der Einbezug der situativen und gesellschaftlichen Kontexte bei der Dialoganalyse war dann nur ein weiterer logischer Schritt und fand seinen institutioneilen Ausdruck in der Errichtung der Forschungsabteilung „Sprache und Gesellschaft“, aus der die heutige Abteilung „Pragmatik“ hervorgegangen ist. Dass das erste große Gemeinschaftsprojekt dieser Abteilung der „Kommunikation in der Stadt“ gewidmet war, bot sich angesichts der aktuellen Forschungslage an, zumal die Stadt Mannheim mit ihrem viel versprechenden „Design“ geradezu vor der Tür lag. Im Vergleich zu den zeitgleich laufenden Stadtsprachenprojekten z.B. in Berlin oder kurz danach in Basel und anderswo hatte das IDS mit seinen „human resources“ und der übrigen vorhandenen Infrastruktur einschließlich eines wissenschaftlichen Beirates nahezu ideale Bedingungen für ein bis dahin als nahezu unmöglich geltendes Vorhaben. 478 Heinrich Löffler 2. Zur Vorgeschichte der Stadtsprachenforschung Ganz und gar Neuland betrat man mit dem Stadtsprachenprojekt jedoch nicht. Die Forschungsreferate auf der genannten Tagung (Dittmar/ Schlieben-Lange 1982) konnten aus der angelsächsischen und romanistischen Welt eine Reihe von Vorarbeiten und Ansätze zur Stadtsprachenforschung aufzeigen, publiziert im Tagungsband und mit einer kommentierten Bibliografie versehen (Bausch 1982). Als Gegenbewegung zum kontextfreien Strukturalismus war in den USA bereits in den Sechzigerjahren, früher als in Deutschland, die kontext-, handlungs- und gesellschaftsorientierte Soziolinguistik und Pragmatik aufgekommen. Das systematische Umgehen mit abstrakten Sprachstrukturen war für viele unbefriedigend geblieben: Es fehlte der Anwendungsaspekt oder der „Sitz im Leben“. Mit den Labovschen Fallstudien zur Artikulation bestimmter Laute im amerikanischen Englisch (Labov 1966, 1969, 1976/ 1978) konnte nicht nur dem gesprochenen Standard-Englisch eine Systematik bzw. Regelhaftigkeit bescheinigt werden, als regelhafte Sprache erwies sich auch das wenig geachtete „Nonstandard Negro English“. Die Soziolinguistik konnte so endlich einen Beitrag zur Lösung aktueller Sprachprobleme und auch gesellschaftspolitischer Fragen leisten. Die bisherigen Erwartungen der Politik an die Systemlinguistik, dass es ihr gelänge, mit Hilfe der Algorithmisierung sprachlicher Universalien einen Übersetzungscomputer bauen zu können, waren nicht in Erfüllung gegangen. Die empirischen Verfahren zur Sprachgewinnung hingegen waren in der Zwischenzeit weitergekommen (Wright 1966; Shuy/ Wolfram/ Rileyl968), und die sozialwissenschaftlichen und ethnografischen Rahmen für empirische Stadt(sprachen)forschung hatten schon in den Sechziger- und Siebzigerjahren die Sprachsoziologen und Anthropologen wie Fishman (1966, 1972), Bright (1966) oder Gumperz (1971, 1984), Hymes (Gumperz/ Hymes 1972), Haugen (1972) und andere vorgegeben. Auch in anderen Regionen war die Soziolinguistik dabei, sich politisch nützlich zu machen. In Belfast (Nordirland) hatte Milroy (1980) empirische Sprachdaten mit sozialen Parametern korreliert und die unterschiedlichen sprachlichen Repertoires und Netzwerke in den Stadtquartieren mit dem Stadtsprachen-Projekte im Vergleich: Basel und Mannheim 479 sozialen Unterschied von katholisch und protestantisch in Verbindung gebracht. So konnte auch hier die Beschreibung der linguistischen Phänomene und deren Korrelation mit sozialen und situativen Merkmalen etwas zum Verständnis und zur Lösung der gesellschaftlichen und politischen Spannungen beitragen. Die neue Aktualität der angelsächsischen Stadtsprachenforschung ließ in Deutschland die eigene germanistisch-linguistische Tradition in den Hintergrund treten. Diese wäre hauptsächlich in der Dialektologie oder Mundartforschung zu finden gewesen. - Im Zeitalter des Strukturalismus und der neuen Soziolinguistik hatte die Mundartforschung jedoch nicht gerade im Zentrum des Interesses gestanden. (Die Zeitschrift für Mundartforschung hatte sich eben gerade im Jahr 1969 einen neuen Namen gegeben und sich als Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, ZDL, zumindest nomenklatorisch von der „Mundartforschung“ verabschiedet.) Erst nach und nach wurden in der germanistischen Soziolinguistik auch die eigenen Vorgänger wahrgenommen und mit eingearbeitet, ohne dass sich die neuen Projekte als unmittelbare Fortsetzungen dieser Tradition verstehen mussten. Dabei ist es gerade die Dialektologie gewesen, welche die neuen Tendenzen früh in die eigenen Forschungen integriert hat. Ein Reflex dieser Neuorientierung der Dialektforschung findet sich in den im Turnus von drei Jahren seit 1972 erscheinenden Tagungsberichten der Alemannischen Dialektologen (Löffler 1995, darin die Liste der Berichte, S. IX-X). Bereits im 19. Jahrhundert hatte von der Gabelentz in seiner „Sprache“ am Beispiel der Stadt Magdeburg auf die Besonderheit des städtischen Sprechens hingewiesen (Gabelentz 1891, S. 249, 474). Wrede hatte 1903 mit Blick auf die Industrie-Agglomerationen von einer Soziallinguistik gesprochen. Der klassischen Dialektologie wurde nachgesagt, sie habe bei der Suche nach dem echten und wahren Dialekt jeweils um die Städte einen Bogen gemacht - Haag (1929, S. 34) spricht von „Löchern im Lautgewebe der Landschaft“ (nach Bürkli 1999, S. 2) - oder die Städte dann doch wie Dörfer behandelt und auf einen einzigen Ortspunkt bzw. einen Sprecher reduziert. Die ersten substanziellen Beiträge zur Besonderheit der Stadtsprachen stammen indessen von eben diesen traditionellen Dialektforschern. Verwiesen sei auf eine nicht kleine Anzahl so genannter Stadtgrammatiken 480 Heinrich Löffler (vgl. Löffler 1990, S. 27; Bürkli 1999, S. 2-4), die zwar nicht die Sprachwirklichkeit einer Stadt abbilden konnten, von den neueren Stadtsprachenprojekten jedoch bei der Isolierung von Varianten dankbar als Folie oder Bezugsgröße benutzt werden. Bach (1934, § 5) hatte in seinem Handbuch zur Mundartforschung von der städtischen „Halbmundart“ oder „Umgangssprache“ gesprochen und diese obwohl mit einem bewertenden Unterton einigermaßen beschrieben. Die Umgangssprache im Gegensatz zur reinen Mundart als etwas durchaus Städtisches wurde zunächst dem „gehobenen Umgang“ zugeschrieben. Erst nach und nach kamen über die Stichwörter „Industrielandschaft“ und „städtisches Umland“ auch die unteren Schichten der städtischen Sprecher in den Blickpunkt, und es entstanden die ersten Beschreibungen städtischer Umgangssprachen (von Bern: Baumgartner 1940; von Leipzig: Baumgärtner 1959; Hannover, Tübingen, Karlsruhe, Freiburg, Wien u.a.: Kretschmer 1918, 2 1969 u.a.; in Industriegebieten: Ruhrgebiet: Möhn 1968; Erzgebirge, Chemnitz, Halle: Bergmann 1965). Auch prinzipielle Überlegungen zur Stadtsprachen- und Stadtumlandforschung kamen aus Kreisen der Dialektologen (Debus 1962; Veith 1967; Radtke 1976). Ja selbst die ersten so genannten Ortserhebungen oder sprachlichen Ganz- Orts-Beschreibungen wurden von Dialektologen unternommen. Zu nennen ist hier das „Erp-Projekt“ (Besch u.a. 1981/ 1983; Besch/ Mattheier 1985; Lausberg 1993) oder das so genannte Schwarzwaldprojekt von Arno Ruoff und Hermann Bausinger (Ruoff 1973, S. 1 Iff.). 3. Neue Bedingungen, Fragen und Methoden Die moderne Stadtsprachenforschung im Deutschen war also keine bruchlose Fortschreibung der alten dialektologischen Tradition. Die Anstöße kamen vielmehr von außen über den Umweg einer angewandten Linguistik amerikanischer Prägung, die nicht ganz frei war von politischen Motiven und im Nachhinein als Gegenbewegung zum kontextfreien Strukturalismus anzusehen ist. Es gab aber auch noch interne Bedingungen, die eine solche Forschung überhaupt erst ermöglichten: Stadtsprachen-Projekte im Vergleich: Basel und Mannheim 481 Die Stadtsprachenforschung als Teildisziplin der Soziolinguistik konnte sich wie diese sowohl der traditionellen Methoden zur Erhebung der Sprachdaten (Interviews, freie Gespräche, Fragebogenerhebungen, teilnehmende Beobachtung; u.a. Löffler 1990, S. 45-60) ebenso bedienen wie der neueren Methoden der empirischen Sozialforschung zur Erhebung der Sozialdaten (Schichtenmodelle, Listen sozialer, kontextueller und handlungsspezifischer Merkmale; Löffler 1994, S. 48-58). Die Pragmatik hatte mit dem Einbezug der intentionalen Handlung (Sprachhandlung) und des Kontextes (Ort, Zeit, Personen, Intentionen) vor allem in der Gesprächslinguistik Muster und Verfahren entwickelt, welche sich auch für die Analyse komplexer Sprachereignisse im urbanen Kontext eigneten (Henne/ Rehbock 1982; Brinker/ Sager 1986). Für die Mikro-Ebene solcher sprachlicher Ereignisse, wo die Sprache im eigentlichen Sinne, d.h. die Laute, Formen, Wörter und Sätze ins Blickfeld gerieten, hielt die Systemlinguistik Möglichkeiten bereit, wie sich der wechselnde Gebrauch sprachlicher Einheiten nicht als fehlerhaft, schwankend oder nur oszillierend, sondern als regelhafte Varianz der sprachlichen Mittel in Abhängigkeit von situativen, thematischen oder personalen Parametern (Variablen) darstellen ließ (Beispiele Auer 1990; Lausberg 1993). Die Statistik erlaubte überdies mit Verfahren wie Faktorenanalyse die Korrelierung der sprachlichen (Text-)Elemente mit sozialen oder pragmatischen Variablen und damit auch die Auswertung großer Datenmengen und deren Interpretation in größeren Erklärungszusammenhängen (Löffler 1994, S. 51f.). Auch wenn sich die angewandte Linguistik zunächst als eine Abwendung von der traditionellen heimattümelnden Mundartforschung verstand, so wäre sie ohne die methodischen Errungenschaften gerade dieser als überwunden geglaubten Vorgänger gar nicht zu denken. Die Soziolinguistik als Stadtsprachenforschung war also interdisziplinär angelegt als Linguistik (Systemlinguistik, Dialektologie, Varietätenlinguistik, Sprachgeschichte), Soziologie (soziale Modelle, empirische Sozialforschung), Ethnologie, Anthropologie (Ethnografien, ethnomethodologische Interpretation von Kommunikationsereignissen), Statistik (Darstellung großer Datenmengen und deren Korrelierung und Sicherstellung von Validität und Reliabilität der Daten). Trotz Methodenmix und Verschränkung von 482 Heinrich Löffler Fragestellungen und Lösungsstrategien steht bei der Stadtsprachenforschung mehr oder weniger die Sprache im Mittelpunkt des Interesses: entweder als Objekt von Analysen oder als bevorzugtes Mittel, mit welchem Urbanität, soziale Konturierung, verschiedene Formen von Interaktionen sowie die kommunikative Kompetenz Einzelner oder ganzer Gruppen „symbolisiert“ oder gespiegelt werden. Es darf daher nicht verwundern, wenn die einzelnen Stadtsprachenprojekte innerhalb des gemeinsamen Rahmens doch unterschiedliche Erkenntnisinteressen verfolgen und auch einen unterschiedlichen Gebrauch von den zur Wahl stehenden Mittel machen. Nicht einmal der Begriff des Urbanen wird dabei einheitlich verstanden, abgesehen davon, dass die in jüngster Zeit untersuchten Städte sich allein schon durch die Art ihrer städtischen Charakteristik (Urbanität) markant unterscheiden. Aus diesem Grund gibt es keine exemplarischen Stadtsprachenprojekte mit Ergebnissen, die sich auf eine andere Stadt - oder gar auf alle übertragen ließen. Es war daher mehr als fragwürdig, als nicht nur Methoden, sondern auch Ergebnisse aus US-Städten oder Slums der Sechzigerjahre auf deutsche oder schweizer Agglomerationen der Neunzigerjahre übertragen werden sollten. Die Unvergleichlichkeit oder Singularität der einzelnen Stadtsprachenprojekte ist ebenso gewiss, wie es andererseits eine Illusion ist anzunehmen, dass eine Gesamtbeschreibung einer Stadtsprache oder des Varietätenmixes in einer städtischen Agglomeration möglich sei. Die herkömmlichen „Stadt- Grammatiken“ spiegeln eine falsche Einheitlichkeit oder gar einen Standard vor, der in der Wirklichkeit so nicht existiert. Für einen Gesamtüberblick über die aktuelle Stadtsprachenforschung müssten im Grunde alle neueren Orts- und Stadtsprachen-Projekte (neben den hier besprochenen von Basel und Mannheim auch Berlin: Dittmar/ Schönfeld/ Wachs 1986; Dittmar/ Schlobinski 1988; Schlobinski 1987; Schönfeld 2001; Mainz: Steiner 1994; Konstanz: Auer 1990; Bern: Werten et al. 1992) einzeln in ihren je eigenen Ansätzen, Vorgehensweisen und Ergebnissen beschrieben werden. Stadtsprachen-Projekte im Vergleich: Basel und Mannheim 483 Die exemplarische Beschränkung auf zwei der „größeren“, nämlich Mannheim und Basel, geschieht nicht nur aus Gründen des Umfangs: An beiden Projekten lassen sich wegen ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschiede einige markante Züge der aktuellen Urbano-Linguistik aufzeigen, die dann doch vielleicht für weitere Unternehmungen musterhaft sein könnten. Dem Vergleich liegen folgende Unterlagen zu Grunde: für Mannheim: Kallmeyer (1994/ 1995, Bde. 1-4); für Basel: Bürkli (1999), Hofer (1997, 2001), Leuenberger (1999), Löffler (1998), Hofer/ Leuenberger (1998), Bürkli/ Leuenberger (1998). Gleichzeitig werden indirekt die forschungspraktischen Vorzüge und auch Grenzen eines linguistischen Forschungszentrums sichtbar, wie sie am IDS vor allem in der Ära Stickel ihre derzeit größte Ausbaustufe erreichten. 4. Mannheim und Basel im Vergleich Im Folgenden werden die beiden Stadtsprachenprojekte Mannheim und Basel nach folgenden Gesichtspunkten einander gegenübergestellt: Urbanität (4.1); Sprachgeografische Situation (4.2); Forschungslage/ Forschungsbedingungen (4.3); Erkenntnisinteresse/ Vorgehensweise (4.4); Ergebnisse/ Desiderate (4.5). 4.1 Urbanität Bereits der Blick auf eine Karte und auf die Stadtpläne (Kallmeyer 1994/ 1995, Bd. 1, S. 696f.; Löffler 1998, S. 77f.) lässt erahnen, dass zwischen Basel und Mannheim in den Merkmalen, welche das Städtische einer Stadt ausmachen, d.h. in Bezug auf die „Urbanität“, beträchtliche Unterschiede bestehen. Mannheim liegt auf der rechten Seite des Rheins und hat zirka 300.000 Einwohner. Das Zentrum ist die „Quadratestadt“, welche im Krieg vollständig zerstört war und in der heutigen Gestalt also neueren Datums ist. Die übrigen Stadtteile haben noch die Namen der ehemaligen Dörfer und Gemeinden. Die Peripherie um die ehemalige Altstadt herum besteht aus sichtbar getrennten Einheiten (Sandhofen, Schönau, Käfertal, Waldhof, Feudenheim, Neckarau, Rheinau, Seckenheim u.a.). Am linken Rheinufer liegt die 484 Heinrich Löffler Stadt Ludwigshafen. Die beiden Rheinbrücken scheinen die Städte eher zu trennen als zu verbinden. Zudem wurde Mannheim bei der politischen Aufteilung der Kurpfalz von 1802 zum Großherzogtum Baden (heute Baden- Württemberg) und Ludwigshafen der bayerischen Vorderpfalz (heute Rheinland-Pfalz) zugeteilt (vgl. Kallmeyer 1994/ 1995, Bd. 1, S. 18-21). Mannheim ist im Bewusstsein der Bevölkerung eher eine Industrie- und Einkaufsstadt. Die upper-class-LnutQ wohnen nicht in der Stadt, sondern an der Bergstraße oder drüben in der Pfalz. Das Schloss erinnert an den ehemaligen Regierungssitz des Kurfürsten von der Pfalz, ist heute Hauptsitz der jungen Universität. Es gibt nur wenige höhere Verwaltungsinstanzen mit überregionaler Zentrumsfunktion. Die kulturell ruhmreichste Zeit Mannheims scheint der Vergangenheit anzugehören. Stellvertretend seien die „Mannheimer Jahre“ im Schaffen Mozarts genannt oder die Übersiedlung des Schauspielerensembles von Ekhof von Schwerin nach Mannheim im Jahre 1778, welchem ein maßgeblicher Einfluss auf die neue deutsche Bühnenaussprache nachgesagt wurde. An die große Zeit erinnern noch das Nationaltheater, das kurpfälzische Orchester und die zahlreichen Museen und andere kulturelle Einrichtungen. Dennoch wird Mannheim nicht (mehr) als Kulturstadt wahrgenommen. Selbst die Universität steht im Schatten der altehrwürdigen Nachbarin in Heidelberg. Der IC- und ICE-Bahnknotenpunkt und das perfekte Nahverkehrssystem symbolisieren eine eher zentrifugale Urbanität. Ausdruck dafür ist vielleicht die wenig spektakuläre Tatsache, dass die Besucher des Nationaltheaters nach Aufführungsschluss mit zahlreichen Bussen an ihre Wohnorte befördert werden und eine Viertelstunde danach die Umgebung des Theaters in nächtlicher Stille liegt. Basel liegt ebenfalls am Rhein(-Knie), im Unterschied zu Mannheim jedoch beiderseits des Flusses (Näheres: Hofer 1997, S. 103-109; Löffler 1998; Leuenberger 1999, S. 16-18). Auf nur drei Kilometern verbinden fünf Brücken das linksrheinische Gross-Basel mit dem rechtsrheinischen Klein-Basel. Es gibt zwar auch 19 Stadtquartiere (Wohnviertel), die jedoch nicht auf ehemals selbstständige Siedlungen zurückgehen sondern durch die konzentrische Ausdehnung der mittelalterlichen Stadt entstanden sind. Das Besondere an Basel mit einer Fläche von gerade nur 37 Quadratkilometern ist die Lage in einem Dreiländereck. Nur ein Drittel der Stadtgrenze verläuft zur Schweiz hin, ein zweites Drittel grenzt an Frankreich (Eisass), das dritte Stadtsprachen-Projekte im Vergleich: Basel und Mannheim 485 Drittel im Norden an Deutschland. Die Stadt ist wie Mannheim Einkaufszentrum für die Umgebung. Sie ist seit 1835 Stadtkanton und beherbergt somit alle kantonalen, d.h. staatlichen Behörden mit jener staatlichen Autonomie, welche die Schweizer Kantone auszeichnet, außer dass diese Kantonshauptstadt mit Ausnahme der beiden kantonalen „Landgemeinden“ Riehen und Bettingen kein weiteres Umland hat, für das sie politisch zuständig wäre. Obwohl auf der kleinen Fläche des Stadtgebietes zwei Weltfirmen der Chemie (Novartis, ehemals Ciba und Sandoz, und Hoffmann-La Roche) mit ihren Produktionsstätten und Zentralverwaltungen liegen, wird Basel nicht als Industriestadt, sondern als Kulturstadt wahrgenommen. Zeichen dafür sind die zahlreichen Theater, die drei Symphonieorchester, mehr als 30 Museen, darunter weltberühmte Kunstgalerien (Kunstmuseum, Fondation Beyeler, Tingueley-Museum, Museum für Gegenwartskunst u.a.). Das Studio Basel ist zuständig für das zweite Schweizer Radioprogramm (DRS 2), d.h. für das radiophone Kulturprogramm der deutschen Schweiz. Zeichen für eine spezielle soziale Durchdringung der musikalischen Kultur ist die Basler Fasnacht, wenn während drei Tagen und Nächten über zehntausend „aktive“ Fasnächtler Piccolo-Flöte spielend und trommelnd durch die Stadt ziehen. Die eigentliche Stadt hat kaum 180.000 Einwohner. Die Grenzen zu den Umlandgemeinden, die entweder einem anderen Kanton oder einem anderen Land angehören, verlaufen für das Auge mitten durch die Stadt oder Straßen und Häuser. Die aus der Vogelperspektive sichtbare Agglomeration über die Ländergrenzen hinweg umfasst hingegen über eine Million Menschen. Ein sternförmiges Nahverkehrssystem hält die trinationale Agglomeration verkehrstechnisch zusammen und ist auf die Stadt hin orientiert. Eine Tramlinie von 24 Kilometern Länge durchquert bzw. verbindet beispielsweise drei Kantone und zwei Länder. Das Nahverkehrssystem ist einerseits ein innerstädtisches Verteilsystem und wird selbst von Mitgliedern der Regierung benutzt, es dient andererseits auch zur Anbindung des Umlandes an die City. Ein S-Bahnsystem, welches mit Durchmesserlinien die verschiedenen Peripherien durch die Stadt hindurch miteinander verbinden soll, ist gerade im Aufbau begriffen. Basel ist ebenfalls IC- und ICE-Station: aus Schweizer Sicht jedoch „Endstation“ oder Durchgangstor ins Ausland (Frankreich und Deutschland), aus 486 Heinrich Löffler europäischer Sicht Eingangstor in die Schweiz und nach Italien. Sichtbarer Ausdruck dafür sind der Elsässer Bahnhof und der Badische Bahnhof, jeweils auf Stadtgebiet gelegen, jedoch nur mit Pass zu betreten. Umgekehrt liegt der internationale Flughafen ganz auf französischem Gebiet und ist von Basel aus über eine Zollfrei-Straße zu erreichen, von Deutschland her führt eine Rheinbrücke ohne Passkontrolle hin zum Flughafen. Die Stadt Basel besteht praktisch nur aus einer City von zirka drei Kilometern Durchmesser. Dies wirkt sich auch demografisch aus: In der Stadt wohnen eher mittlere und obere soziale Schichten. Die „Arbeiter“ der chemischen Fabriken sind Einpendler aus dem Umland und stammen zu gleichen Teilen aus der Schweiz, aus Deutschland und Frankreich. In und um Basel herum finden sich also auf engstem Raum unterschiedliche Steuer-, Schul- und Bildungssysteme, unterschiedliches Polizei- und Gerichtswesen. Die politische Grenze ist nicht selten die andere Straßenseite. 4.2 Sprachgeografische Situation Mannheim liegt sprachgeografisch mitten im Gebiet des Rheinpfälzischen, einer fränkischen Mundart. Die Übergänge zur Umgebung sind fließend. Die Stadtsprache Mannheims ist also eine Mundart, jedoch mit einer für süddeutsche Verhältnisse typischen sozialen Verteilung: Dialekt oder „Mannemerisch“ gilt eher für die einfacheren Ueute und eher für informelle alltägliche Bedürfnisse. Je höher der Sprecherstatus und der Sprechanlass angesiedelt ist, desto mehr rückt die Sprache in die Nähe der Umgangssprache mit überregionalen standardnäheren Merkmalen. Im Bewusstsein der Ueute ist das Mannemerische mit dem Merkmal vorlaut und witzig verbunden, symbolisiert durch die „Mannemer Gosch“, vergleichbar mit der Berliner Schnauze oder der Basler „Schnuure“ (s.u.). Basel liegt sprachgeografisch mitten im Gebiet des alemannischen Dialekts. Der Basler Stadtdialekt (das „Baseldeutsche“) hat jedoch infolge der Stadtstaatlichkeit eigene Dialektmerkmale entwickelt, die sich von der unmittelbaren Nachbarschaft merklich unterscheiden. Basel kennt als einzige Schweizer Stadt nicht die für die übrige Schweiz und die deutsche und el- Stadtsprachen-Projekte im Vergleich: Basel und Mannheim 487 sässische Umgebung typische K-Verschiebung: Man sagt in Basel Kind und nicht Chind, Kopf und nicht Chopf, wie dies bei den Nachbarn rundherum, also auch im Eisass und im Badischen, der Fall ist. Die Stadt bildet gewissermaßen eine Sprachinsel. Neben der lautgeografischen sprachinsularen Besonderheit unterscheidet sich das Baseldeutsche in seinem Gebrauchsstatus merklich von den umliegenden Dialekten (vgl. Löffler 1987). Während auf der deutschen Seite der markgräfler (alemannische) Dialekt wie überall im deutschen Süden den lower level eines Sprachkontinuums darstellt, dessen übergangsloser upper level die deutsche Umgangssprache darstellt je nach Öffentlichkeitsgrad der Sprechsituation -, so ist das Baseldeutsche in Basel die Hauptsprache, zumindest für den gesprochenen Bereich. Reich und Arm, Alt und Jung sprechen diesen Dialekt bei allen Gelegenheiten. Deshalb hat der Stadtdialekt durchaus verschiedene höhere und niedrigere Levels. Nur beim Schreiben wechselt man zum Schriftdeutschen. Es ist dies ein typischer Fall der „medialen Diglossie“, die für die ganze deutsche Schweiz gilt (Bickel/ Schlüpfer 2000, S. 8Iff.). 4.3 Forschungslage/ Forschungsbedingungen Für die Stadtsprache Mannheims ist die wissenschaftliche Forschungslage nicht gerade bedeutend. Hier mag sich die Tatsache auswirken, dass Mannheim erst in jüngerer Zeit Universitätsstadt geworden ist und auch andere wissenschaftliche Institutionen wie das IDS oder das Bibliographische Institut erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angesiedelt worden sind. So verwundert nicht, dass im Einleitungsband des Mannheimer Stadtsprachenprojekts (Kallmeyer 1994/ 1995, Bd. 1) zum „Beobachtungsfeld Mannheim“ kaum Literatur genannt wird. Nur gerade eine Dissertation zum Mannheimer Dialekt im Stile einer traditionellen Ortsgrammatik aus dem Jahre 1934 (Bräutigam 1934) kann zitiert werden. Dieses Manko wird jedoch durch die aktuellen Forschungsbedingungen am IDS ausgeglichen. Dank der neu eingerichteten Abteilung „Sprache und Gesellschaft“ konnten am Stadtsprachenprojekt vom Beginn an (1981) über mehr als zehn Jahre hin fünf Wissenschaftler mit der nötigen Infrastruktur 488 Heinrich Löffler und einer internen und externen Betreuung arbeiten, eine für ein Stadtsprachenprojekt unvergleichliche „Ausstattung“. So konnte das Projekt mit einem Kongress zum Thema beginnen (s. oben 1982) und sich während der gesamten Laufzeit einen wissenschaftlichen Beirat leisten - und sich dazu noch an den zeitgleich laufenden Stadtsprachenprojekten in Berlin und anderen Städten (Kallmeyer 1994/ 1995, Bd. 1, S. 7) orientieren. Die vorzügliche Ausstattung gilt selbst noch für die vier Ergebnisbände (Kallmeyer 1994/ 1995, Bde. 1-4). Selbst diese wurden noch von einem Herausgeberrat (Debus, Kallmeyer, Stickel) betreut. Basel kann demgegenüber eine reichhaltigere Forschung zum Thema Stadtsprache, Stadtdialekt vorweisen. An der 1460 gegründeten Universität, der ältesten der Schweiz, wurde das Thema Stadtdialekt in den letzten hundert Jahren immer wieder aufgegriffen - und dies nicht nur in traditionell lautgrammatischer Art (Hoffmann 1890; Heusler 1970/ 1888), sondern durchaus innovativ (zur Syntax: Binz 1888; zur Grammatik: Seiler 1879; zur sprachlichen Stadtumland-Problematik: Bruckner 1942; zum normativen „guten Baseldeutsch“ samt Wörterbuch: Suter 1992/ 1976, 1995/ 1984 u.v.a.m.). Auch die Dreiländer-Lage führte schon früh zu entsprechenden demografischen und soziologischen Beobachtungen und Beschreibungen. Selbstverständlich ist Basel auch im Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS) auf allen Karten als Ortspunkt vertreten. Die Forschungsbedingungen für das aktuelle Stadtsprachenprojekt können als vergleichsweise gut bezeichnet werden. An dem vom Schweizerischen Nationalfonds bewilligten Projekt arbeiteten während dreier Jahre (1994- 1996) drei MitarbeiterZ-innen auf je einer 75-Prozent-Stelle. Die Leitung und wissenschaftliche Betreuung lag in Händen zweier Dozenten (Annelies Häcki Buhofer und Heinrich Löffler). Auch die Ergebnisse sind vorzeigbar: Drei Ergebnisbände zu Teilaspekten sind als Dissertation der drei Mitarbeiter/ -innen entstanden: Hofer (1997), Bürkli (1999), Leuenberger (1999). Der vierte Band (Hofer u. Mitarb. v. Häcki Buhofer/ Löffler et al. 2001) erscheint demnächst. Als Vorteil für das Basler Projekt erwies sich der Umstand, dass der Hauptgesuchsteller und Forschungsleiter zuvor über all die Jahre hin dem wissenschaftlichen Beirat des Mannheimer Projekts angehörte (s. Kallmeyer 1994/ 1995, Bd. 1, S. IX). Überdies bestanden über viele Jahre hin intensive Kontakte zu den Forschungsgruppen in Berlin (Ditt- Stadtsprachen-Projekte im Vergleich: Basel und Mannheim 489 mar/ Schlobinski/ Wachs 1986; Schönfeld 2001), Bonn (Besch/ Mattheier 1985; Macha 1991), Heidelberg, Mannheim (Henn-Memmesheimer 1998) und anderen. 4.4 Erkenntnisinteresse/ Vorgehensweise Schon die Gesamtbeschreibung der Sprache eines ganzen Ortes nach dialektologischem Muster oder des Sprachverhaltens mit Hilfe kommunikationsorientierter Kriterien hat sich als unmöglich erwiesen. Dies gilt noch viel mehr für eine Stadt oder eine städtische Agglomeration. Alle Stadtsprachenprojekte beschränken sich daher auf Ausschnitte des Sprachvorkommens, der Varianten und der Sprachverwendungsfälle in einer Stadt. Empirische Stadtsprachenforschung ist Detailforschung. Es darf auch nicht verwundern, wenn fast alle Stadtsprachenprojekte der letzten dreißig Jahre sich unterschiedlichen Details zugewandt haben, abhängig von der unterschiedlichen Charakteristik einer Stadt in Bezug auf Urbanität, Geschichte, demografische Struktur, sprachgeografischen Standort und Status der vermuteten Varietäten. Stadtsprachenforschung kann somit Teilforschung an einem Gesamtprojekt „Stadtsprache(n)“ am Beispiel einer Stadt sein oder Teilforschung (am Beispiel Sprache) am Gesamtprojekt einer Stadtbeschreibung. Stadtsprachen(detail)forschung kann auch einen Beitrag leisten zur allgemeinen Kommunikation in Gruppen oder in institutioneilen Gemeinschaften. Stadtsprachenforschung ist somit Bewährungs- und Experimentierfeld verschiedener linguistischer Disziplinen wie Dialektologie, Varietätenlinguistik, Sozio- und Pragmalinguistik, Kommunikations- und Gesprächsforschung. In Mannheim sah sich das Projekt „Kommunikation in der Stadt“ in der Tradition der ethnografisch orientierten Kommunikationsforschung, welche ihre Methode an unerforschten Kulturen der dritten Welt entwickelt hat und danach die eigene Umgebung mit den Augen und dem Instrumentarium von Ethnologen betrachtete. Das Erkenntnisinteresse der Mannheimer Forschergruppe zielte auf (1) Kommunikationsformen zur Herstellung und Erhaltung von sozialem Zusammenhalt unter städtischen Lebensbedingungen, (2) Sprache als Aus- 490 Heinrich Löffler druck sozialer Identität, (3) einzelnes sprachliches Sozialverhalten als Teil einer allgemeinen sozialen Stilistik (Kallmeyer 1994/ 1995, Bd. 1, S. 21). Die ArbeitsVerteilung richtete sich nach diesen Zielen: Den einzelnen Mitarbeitern wurden Stadtbezirke zugeteilt (Keim: Filsbachwelt, das ist die Innenstadt; Schwitalla: Vogelstang; Bausch: Neckarau; Nikitopoulos: Sandhofen), die es zunächst ethnografisch mit dem nichtwissenden Vorwissen eines Ethnologen zu beschreiben galt. Anhand der Ethnografien (Kallmeyer 1994/ 1995, Bd. 2) wurden dann die kommunikativ sensiblen Gruppen und Ereigniszonen ausgewählt, die entsprechend den übergreifenden Erkenntniszielen genauer erforscht wurden. In der Regel wurde das „Material“ in teilnehmender Beobachtung erhoben (durch Mitschneiden und Protokollieren der Umstände). Auf diese Weise entstanden die monografisch konzipierten Ethnografien, in denen Sprachliches nur am Rande vorkommt (Kallmeyer 1994/ 1995, Bd. 2). Bei der Beobachtung der Gruppenkommunikation erhielt die Sprachverwendung eine größere Beachtung. Aber nicht die Sprache selbst und ihre oszillierende Variabilität war das Ziel, sondern die Formen des Miteinanderumgehens und die Rolle, welche die Sprache dabei spielte. Solche Gruppen waren: eine Frauen-Freizeitgruppe in der Altstadt, eine sozial gemischte Gruppe von einheimischen Jugendlichen im Vorort Neckarau, eine Gruppe von Gymnasiasten und im Vergleich dazu von Arbeiterjugendlichen im Vorort Vogelstang, eine Gruppe von Frauen der Oberschicht (Literaturgruppe), eine Politikerinnen-Gruppe, eine gemischte Frauen-Männer-Kegelgruppe, alle in Vogelstang. Auf diese Weise konnte das übergreifende Thema, wie Kommunikation in städtischen Gruppen abläuft, mit welchen kommunikativen Verfahren (Erzählen, Witze machen, Parodieren) und sprachlichen Mitteln (Umgangssprache, Dialekt, Tonlage, Imitieren, Zitieren u.a.) die Gruppenidentität, der soziale Status und die augenblickliche Rolle oder die Strategie des Kommunikationsverhaltens „symbolisiert“ wird, behandelt werden. Die sprachlichen Phänomene sind dabei nicht das eigentliche Suchziel, sondern nur Mittel zum Zweck der Bestimmung eines Geflechts kommunikativer Vorgänge und Verhaltensweisen. Stadtsprachen-Projekte im Vergleich: Base! und Mannheim 491 Auf Grund der anderen Forschungssituation mit zahlreichen Studien zur Basler Stadtmundart hat sich das Basler Projekt „Stadtsprachen - Sprachen in der Stadt am Beispiel Basels“ eine etwas andere Zielsetzung gegeben. Im Blickpunkt des Interesses stand die Sprache und ihre Variation. Die kommunikativen Situationen bilden den Rahmen und geben die möglichen Steuerungsfaktoren für Konstanz und Variation ab. Im Gegensatz zu Mannheim, wo man im Grunde Vorurteils- oder hypothesenlos ans Werk ging, lagen dem Basler Projekt einige Vorannahmen zu Grunde, dass z.B. (1) das gute alte Baseldeutsch (Stadtmundart) zwar noch vorhanden, jedoch in seiner Verbreitung vermutlich eingeschränkter ist als gemeinhin angenommen wird, dass es (2) daneben und hauptsächlich noch weitere Varianten des Stadtdialektes geben muss, in Abhängigkeit von Sprecher, Ort oder Anlass, dass es (3) innerhalb des Baseldeutschen umgangssprachliche Varianten gibt, welche (4) alle zusammen gegenüber der Umgebung dominant sind. Solche und weitere auf der Literatur und eigener Spracherfahrung beruhende Annahmen führten zu einem Design, nach welchem die Untersuchungen sich auf drei urbane oder baseltypische sprachliche Drehscheiben oder Begegnungsebenen konzentrieren sollten, so genannte Sprachmärkte. Diese waren das Warenhaus, ein Großbetrieb und die Schule. Als ein mehr zeitlich als räumlich umschriebener Sprachmarkt sollte zusätzlich die Basler Fasnacht gelten mit speziellen Möglichkeiten von Gruppenbildung, die vermutlich über die Fasnachtssaison hinaus auch sprachlich bemerkbar blieben. Im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses stand also die Sprache, genauer das Baseldeutsche als Stadtsprache, die langue der Stadt, ihre linguistische Charakteristik und Varianz in Abhängigkeit von sozialen und situativen Faktoren. Neben den Sprachmärkten blieben auch die 72 Informanten über die gesamte Projektzeit von drei Jahren konstant. Das sprachliche Datenmaterial wurde in einem mehrstufigen standardisierten Laborverfahren ermittelt: einer Fragebuchbefragung nach altbewährtem Muster des Schweizerdeutschen Sprachatlasses für den Status des Basisdialekts, einem sprachlichen Rollenspiel, einem freien Interview zur Sprachbiografie und Spracheinschätzung, einem matched-guise-Tesi mit fünf verschiedenen Varianten des Baseldeutschen und schließlich mit einer Reihe von Ganztagsaufnahmen {in vivo) sprachlicher Tagesläufe am Arbeitsplatz der Testpersonen. 492 Heinrich Löffler Die Erhebung und Bereitstellung der Daten war gemeinsame Aufgabe aller Mitarbeiter/ -innen. Die Auswertung erfolgte dann nach jeweils speziellem Interesse: Laut- und Wortvariation, deren Bandbreite und deren nachweisbare Faktoren bei Jugendlichen (Hofer 1997), die sprachlichen Tagesläufe mit den lautlichen, lexikalischen, stilistischen und Codevariationen in Abhängigkeit von der Person, den Umständen, Themen und Absichten (Bürkli 1999). Ein dritter Fragenkomplex befasste sich mit der Ortsloyalität als möglichem Steuerungsfaktor bei individueller Sprachvariation (Leuenberger 1999). Eine zusammenfassende Projekt- und Ergebnisdarstellung wird der vierte Band „Zur Dynamik urbanen Sprechens: Spracheinstellung und Dialektvariation“ (Hofer 2001) bringen. 4.5 Ergebnisse/ Desiderate Mannheim: Die Sprache erweist sich neben den ethnografischen bzw. stadtgeografischen Merkmalen als ein wichtiges Kriterium, um Gruppenidentität herzustellen und zu garantieren. Die Funktion phonetischer Variation (zum Zitieren anderer, zu sozialer Abgrenzung, zur Charakterisierung usw.), das formelhafte Sprechen oder das Nennen sozialer Marker wird ebenso wahrgenommen wie die Formen und Funktionen des Erzählens, dessen Thematik ebenso wie die Beziehungsaspekte. Man könnte auch sagen, es geht darum, an (recht großen) Ausschnitten zu zeigen, wie sich soziale Gruppenidentität konstituiert, wie sich gemeinsame (thematische) Welten aufbauen in einem urbanen citynahen oder suburbanen Vorortskontext. Man könnte auch sagen, es seien Bausteine zu einer umfassenden sozialen und kommunikativen Stilistik, die sich in ihrer Vielschichtigkeit nur in urbanen Kontexten beobachten lässt. Desiderate: So vielschichtig und schillernd die Ethnografien und die „Kommuniko-Grafien“ der Stadtteilgruppen auch sein mögen, so bleibt doch die Frage nach der typisch urbanen Kommunikation offen. Die meisten Gruppen (mit Ausnahme vielleicht der „Filsbachwelt“ in der Quadratestadt) könnten auch in einer größeren ländlichen Gemeinde zu finden sein oder in beliebigen Orten im Umkreis einer Stadt. Die sozialen Symbolisierungen durch Sprache sind offensichtlich nichts Städtisches, ihre Vielfalt ist im städtisches Kontext nur größer als anderswo. Stadtsprachen-Projekte im Vergleich: Basel und Mannheim 493 Offen bleibt auch die Frage nach der Mannheimer Stadtsprache, dem „Mannemerischen“, das als virtuelle Sprache in den Köpfen vieler Einwohner und Umlandbewohner konkrete Konturen trägt. Auch die linguistische Objektivierung der „Mannemer Gosch“ müsste sich noch realisieren lassen, wie dies für die „Berliner Schnauze“ (Dittmar/ Haedrich 1988; vgl. auch die „Schlagfertigkeit“ als Hauptmerkmal des Berlinischen (Schönfeld 2001, S. 127)) schon versucht worden ist. Interessant wären auch Fragen nach der Ausbreitung oder Regression sprachlicher Merkmale, nach der Wirkung der Zentrumsfunktion der City auf die Sprache der Stadt und des Umlandes. Man könnte also die Stoßrichtung umdrehen und nach der Funktion der Urbanität auf die Sprachvariation und Vielfalt fragen. Aus verständlichen Gründen vernachlässigt werden mussten die anderen Sprachen und die sprachliche melting-pot-Vunkxkm der städtischen Agglomeration auch für Fremdsprachige. Basel: Die Ergebnisse entsprechen zum größten Teil den Vermutungen. Die Variationsbreite innerhalb des Stadtdialektes ist größer als gemeinhin angenommen. Sie zeigt sich aber nur selten im Wechsel von Lauten und Wörtern: Die Unterschiede liegen häufiger in der Frequenz derselben Laute und Wörter. Das standardisierte Material war groß genug, um solche Zählungen vorzunehmen. Interessant war auch, dass die subjektiven Spracheinschätzungen ohne Beispiele sich beim Vorspielen von Textvarianten im Labor bestätigten. Die sprachlichen Tagesläufe brachten ein Reihe neuer Erkenntnisse: dass die einzelnen Personen eine so nicht vermutete Varianz-Kompetenz zeigen, diese sich aber nicht immer mit den subjektiven Einschätzungen der Sprecher und Sprecherinnen deckt. Ortsloyalität ließ sich zwar als Steuerungsfaktor für einheitlicheren und konsistenteren Sprachgebrauch festmachen, allerdings musste dafür zuerst ein operationales Konzept für Ortsloyalität erarbeitet werden (Leuenberger 1999). Als ein in dem Ausmaß nicht erwartetes Ergebnis stellte sich der Faktor „Individuum“ als Hauptursache der urbanen Sprachvarianz dar. Die urbanen Sprachmärkte selber unterschieden sich darin kaum von der Fasnacht abgesehen, die sich bei den „Aktiven“ als sprachkonservatives Moment bemerkbar machte. Das Individuum als der Steuerungsfaktor im urbanen Schmelztiegel und Varietätenmix war also fast eine Überraschung, könnte natürlich auch auf eine gewisse Einseitigkeit der Versuchsanordnung zurückgehen, welche den 72 Probanden (Individuen) doch eine starke Einzelaufmerksamkeit bescherte. 494 Heinrich Löffler Andererseits könnte die individuelle sprachliche Flexibilität ein Merkmal der urbanen Sprachbiografie überhaupt sein. Desiderate: Obwohl bei den Untersuchungen zahlreiche soziale und pragmatische Variablen berücksichtigt wurden, konzentrierte sich das Interesse doch auf die in Basel Sozialisierten und die später Dazugekommenen oder Einpendler immer in Hinsicht auf ihr Baseldeutsch. Die Rolle anderer Schweizerdialekte oder des Hochdeutschen oder die Integrationsfunktion der insularen Stadtsprache für Fremdsprachige konnten nicht oder nur am Rande berücksichtigt werden. Dass doch hin und wieder Umlandphänomene die städtische Sprachschwelle überwinden und in die Sprachinsel eindringen, müsste noch durch eine Gegenprobe im Umland ergänzt werden - und dies nach den drei angrenzenden Ländern getrennt. Die Trinationalität der Agglomeration einerseits und die Vitalität der städtischen Inselsprache andererseits müssten noch aus der Außensicht kontrolliert werden. Auch die Vielsprachigkeit der Stadt ergäbe noch zahlreiche Beobachtungsfelder für die Bilingualismusforschung. (Zum deutsch-italienischen Sprachkontakt in Basel: Franceschini 1998). 5. Schluss Die Gegenüberstellung zweier neuerer Stadtsprachenprojekte kann nur einen Ausschnitt der aktuellen Stadtsprachenforschung darstellen. Es hat sich gezeigt, dass Stadtsprachenforschung ein Netz von verschiedenen Ansätzen darstellt, die sich jeweils an der Vorgefundenen Forschungslage, an den Forschungsbedingungen und an den urbano-linguistischen Fakten orientieren. Das Basler Projekt sah sich in gewisser Weise in der Nachfolge des IDS-Projektes, jedoch unter baslerischen Vorzeichen. Das Mannheimer Projekt hatte eher die ethnografischen Ansätze (Gumperz/ Hymes 1964 und 1972) zum Vorbild, weniger unter den spezifischen Voraussetzungen der Stadt als vielmehr unter den besonderen Bedingungen und Arbeitsmöglichkeiten des IDS, das mit größerer personeller Ausstattung und einem längeren zeitlichen Rahmen umfassendere Konzepte in Angriff nehmen und diese dann mit Folgeprojekten zu weiteren Ergebnissen führen kann. Dabei besteht jedoch die Gefahr, dass sich die größeren Möglichkeiten eher extensional als intensional bemerkbar machen. Die kleineren Unternehmungen Stadtsprachen-Projekte im Vergleich: Basel und Mannheim 495 wiederum können sich gerade wegen der kürzeren Laufzeiten und der geringeren Ressourcen vermehrt den Mikroanalysen widmen. Eine Musterstadt mit sprachlichen Musterergebnissen wird es jedoch nicht geben. Jede der bisher untersuchten Städte hatte ihr eigenes sprachlich-kommunikatives Gesicht. Das beste Beispiel hierfür ist die Stadt Berlin (Schlobinski 1987, Schönfeld 2001). Eine linguistische Gesamtbeschreibung einer Stadt wird weiterhin Utopie bleiben. Die Stadt eignet sich jedoch in vorzüglicher Weise für pragma- und soziolinguistische Untersuchungen jeder Art. Viele der Teilaspekte und Prozeduren wie z.B. Einstellungsmessung oder Ortsloyalität und Sprachverhalten oder soziale Symbolisierung ließen sich vermutlich an jedem beliebigen Ort auch außerhalb einer großen Stadt untersuchen. In einer Stadt liegen jedoch alle Merkmale und Kategorien zwischen dörflichen Kleinstgruppen und großstädtischer Anonymität nahe beisammen oder gar ineinander vermengt vor. So unterschiedlich denn auch die einzelnen Ansätze und deren Ergebnisse sein mögen, sie alle liefern einen Beitrag zum Gesamtprojekt: Sprache und Sprechen in urbanem Kontext oder Urbanität im Spiegel der Sprache(n). 6. Literatur Auer, Peter (1990): Phonologie der Alltagssprache. Eine Untersuchung zur Standard-/ Dialektvariation am Beispiel der Konstanzer Stadtsprache. Berlin. Bach, Adolf (1934): Deutsche Mundartforschung. Ihre Wege, Ergebnisse und Aufgabe. 3. Aufl. 1969. Heidelberg. Baumgartner, Heinrich (1940): Stadtmundart - Stadt- und Landmundart: Beiträge zur bernischen Mundartgeographie. Bern. Baumgärtner, Klaus (1959): Zur Syntax der Umgangssprache in Leipzig. Berlin. (= Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur der deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 14). 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Die Bedeutung von Kommunikation für Unternehmen In den letzten fünfzehn Jahren ist in Wirtschaftsunternehmen wie auch in der wirtschaftswissenschaftlichen Theorie das Bewusstsein über die Bedeutung von Kommunikation für Unternehmensprozesse deutlich gewachsen. Immer klarer trat hervor, dass wirtschaftliches Handeln zu einem wesentlichen - und dazu noch stetig wachsenden - Anteil kommunikatives Handeln ist und dass der Unternehmenserfolg entscheidend von der Qualität sowohl der internen wie der externen Kommunikation abhängt. Kommunikation wurde als zentrale Produktivkraft erkannt, und entsprechend rückte Kommunikationsfähigkeit für das Management wie auch für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auf allen Ebenen in den Rang einer Schlüsselqualifikation. Entdeckt wurde auch die Vielfalt der Gesprächsformen, die wirtschaftliches Handeln ausmachen. Sie umfasst innerbetriebliche Gesprächstypen wie z.B. Arbeitsbesprechungen, Konferenzen, Mitarbeitergespräche, Unterweisungen sowie außerbetriebliche Gesprächstypen wie Bewerbungs- und Einstellungsgespräche, Verkaufsgespräche, Reklamationen, Beratungsgespräche, Messegespräche bis hin zur Vermittlungskommunikation der Telefonzentrale. Unternehmen wurden so als ein spezifisches Ensemble von Gesprächsformen erkennbar. Auch das Aufkommen des Konzepts der Kundenorientierung lenkte die Aufmerksamkeit verstärkt auf die Bedeutung von Kommunikation. Kundenorientierung wird dabei verstanden als die „systematische Umsetzung der Kundenerwartungen in leistungs- und interaktionsbezogene Maßnahmen mit dem Ziel, 502 Reinhard Fiehler / Reinhold Schmitt den Kundennutzen zu erhöhen und langfristig stabile Kundenbeziehungen zu etablieren.“ (Bruhn 1997, S. 48) Zu diesen interaktionsbezogenen Maßnahmen gehört in zentraler Weise auch das Gespräch mit dem Kunden, in dem sich der wirtschaftliche Erfolg oder Misserfolg eines Unternehmens am Unmittelbarsten entscheidet. Kommunikative Kundenorientierung ist dabei nicht auf Verkaufs- und Dienstleistungssituationen beschränkt, sondern umfasst alle Kontakte mit untemehmensextemen Personen: Damit soll der Kundenbegriff im folgenden als der gegenüber dem Käuferterminus umfassendere Begriff verstanden werden. In ihm [sic! ] gehen die Personen ein, die bereits eine Leistung erworben haben, diejenigen, die sich nur für die Leistung interessieren und diejenigen, die sich prinzipiell dafür interessieren könnten oder sollten. (Schnippe 2000, S. 19) Ein wesentlicher Aspekt der kommunikativen Kundenorientierung besteht nach unserem Verständnis darin, die untemehmensextemen Gesprächskontakte so zu gestalten, dass Wünsche und Bedürfnisse der Kunden in einem hohen Maß erkannt und in einer angenehmen persönlichen Atmosphäre in möglichst effektiver Weise erfüllt werden. Kundenorientierte Gesprächsfühmng in diesem Sinne ist für viele Unternehmen eine positive Zielsetzung, die in Untemehmensgrundsätzen und Firmenleitlinien verankert wurde und wird. 1 Entsprechend ist die Schulung von kundenorientierter Gesprächsfühmng das Ziel einer unüberschaubaren Flut von Kommunikationstrainings. 2 Auch wenn generell deutliche Fortschritte in Flinblick auf Kundenorientierung festzustellen sind, so belegen zahlreiche Beispiele jedoch, dass die alltägliche Praxis der Kommunikation mit Kunden den formulierten Ansprüchen in vieler Hinsicht (noch) nicht entspricht. Unsere Fallanalyse in Abschnitt 2 bestätigt dies in anschaulicher Weise. Der proklamierte Anspruch, von dem häufig auch 1 „Versteht man Kundenorientierung nicht als kurzfristige und taktische Managementweisung, sondern als eine langfristige und strategische partnerschaftliche Ausrichtung des Unternehmens auf die Bedürfnisse der internen und externen Kunden, so kann dieses Konzept als Untemehmensphilosophie verstanden werden, die auf das Unternehmen als Ganzes abzielt.“ (Schnippe 2000, S. 25f.). 2 Vgl. z.B. Gillen (1997) und Seiwert (1999). Das Potenzial der angewandten Gesprächsforschung ... 503 angenommen wird, dass er schon weitgehend realisiert sei, und die kommunikative Wirklichkeit im Untemehmensalltag laufen noch viel zu häufig auseinander. Dies bedeutet zweierlei: Zum einen sollte man, um weitere Fortschritte erzielen zu können, sehr genau wissen, wie die Wirklichkeit des Gesprächs mit dem Kunden aussieht und welche spezifischen Probleme mit der Kundenorientierung dabei auftreten. Zum anderen scheinen sowohl die Trainingsmaßnahmen als auch der individuelle gute Wille und die Überzeugung, dass es positiv ist, kundenorientiert zu kommunizieren, nicht auszureichen, um dieses Ziel weitgehend und dauerhaft verwirklichen zu können. Fragt man nach den Gründen für diese Mängel in der Kundenorientierung und für weitere Schwachstellen, die trotz der Erkenntnis der Bedeutung von Kommunikation die alltäglichen Gesprächsprozesse im Unternehmen belasten und nicht optimal verlaufen lassen, so wird Folgendes deutlich: Unternehmensvertreter und Kunde haben unterschiedliche Perspektiven und Interessen. Der Aufwand, der notwendig ist, um sich dies immer wieder zu vergegenwärtigen und im Gespräch zu berücksichtigen, wird aus den unterschiedlichsten Gründen nicht hinreichend erbracht. In vielen Fällen stimmen nach wie vor die grundlegenden Einstellungen zum Kunden nicht, z.B. wenn man ihn für eine Störung des eigenen Tuns hält oder ihn lieber als inkompetent behandelt, statt seinen Grad an Kompetenz herauszuarbeiten und dort anzusetzen. Eine fehlende positive Einstellung zum Kunden kann durch einstudierte Formulierungen und Gesprächsleitfäden nicht kompensiert werden. Eine wichtige Rolle spielen (nicht zuletzt auch durch Kommunikationstrainings induzierte) falsche Vorstellungen über den eigenen Anteil an Gesprächen. Eläufig meint der Untemehmensvertreter, dass das Resultat des Gesprächs nur von ihm abhängt und dass er den Kunden einseitig steuern muss. Aber auch genereller werden die Vorstellungen und Konzepte von Kommunikation, die im Bereich der Wirtschaft verbreitet sind und auf deren Basis Kommunikation dort betrachtet und gestaltet wird, der tatsächlichen Komplexität von Kommunikation nicht gerecht. Unsere zentrale These ist, dass sie zum einen den grundsätzlich interaktiven Charakter von Kommunikation nicht hin- 504 Reinhard Fiehler / Reinhold Schmitt reichend in Rechnung stellen, und zum anderen, dass sie Kommunikation häufig auf den Aspekt der Kommunikationstechnologie verkürzen. Beginnen wir mit dem zweiten Punkt, so kann man feststellen, dass Unternehmen, wenn sie ihre kommunikative Infrastruktur verbessern wollen, intensiv in Kommunikationstechnologie investieren. Komplexe Telefonanlagen, Videokonferenzen, Intra- und Internet werden zur Verbesserung und Optimierung der internen wie externen Kommunikation eingesetzt. Übersehen wird dabei leider oft, dass erfolgreiche Kommunikation nicht nur auf Technik basiert. Auch im Zeitalter der Informations- und Kommunikationstechnologie gilt: Der zentrale Faktor für effektive Kommunikation sind die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit ihren persönlichen kommunikativen Fähigkeiten. Kommen wir nun auf den ersten Punkt zurück, so herrscht im Bereich der Ökonomie aber nicht nur dort eine individualistische, sprecherzentrierte und instrumentalistische Auffassung von Kommunikation und Sprache vor. Sprache wird dabei als Werkzeug verstanden, mit dem eine Person ihr Gegenüber durch Anwendung bestimmter Techniken möglichst geschickt ‘bearbeitet’. Angenommen wird ferner, dass die Entwicklung und der Erfolg von Gesprächen sich weitgehend allein vom Sprecher bestimmen lassen und dass sie wesentlich von den sprachlich-kommunikativen Mitteln abhängen, die er wählt. Dies setzt voraus, dass der Sprecher auf allen Ebenen sein Kommunikationsverhalten willentlich beeinflussen und steuern kann und dass es auf der Grundlage von Einsicht und Training gezielt verändert und optimiert werden kann (vgl. Fiehler 1999). Die Analyse ebenso wie die Gestaltung von Wirtschafts- und Untemehmenskommunikation haben in der Sprachwissenschaft lange Zeit nur wenig Beachtung gefunden. Sie hat dieses Gebiet weitgehend Betriebswirten, Psychologen und Kommunikationstrainem überlassen, die im Regelfall aber keine spezielle sprachwissenschaftliche und kommunikationstheoretische Ausbildung haben. Erst mit der neuen Forschungsrichtung der Gesprächsanalyse, die Strukturen und Probleme von Gesprächen aus allen Bereichen der Gesellschaft untersucht, ist auch die Wirtschaft ins Blickfeld der Sprachwissenschaft gerückt (vgl. zuletzt Brünner 2000). Die Gesprächsforschung versteht sich dabei zunehmend nicht mehr nur als akademisch-wissenschaftliche Disziplin, sondern als eine Forschungsrichtung, zu deren zentralen Aufgaben auch die Vermittlung und Das Potenzial der angewandten Gesprächsforschung ... 505 Anwendung ihrer Ergebnisse in den untersuchten gesellschaftlichen Bereichen und Institutionen gehören (vgl. Brünner/ Fiehler/ Kindt 1999, Fiehler 2001). Wir wollen im folgenden Abschnitt zunächst an einem authentischen Gespräch zeigen, wie die angewandte Gesprächsforschung arbeitet und welche Einblicke in grundlegende Strukturen von Kommunikation allgemein sowie in Probleme der Kundenorientierung im Besonderen dabei möglich werden. Es wird also nicht nur deutlich werden, welche Mängel in der Kundenorientierung der Beteiligten vorliegen, sondern auch, wie diese analytisch herausgearbeitet werden können. Im dritten Abschnitt werden wir drei Vorteile der gesprächsanalytischen Methodik für die Analyse und Behebung von Kommunikationsproblemen hervorheben, und abschließend skizzieren wir aus Sicht der angewandten Gesprächsforschung, welche Bedingungen für eine erfolgreiche kommunikationsbezogene Schulung gegeben sein müssen. 2. Eine Fallanalyse: Kundenorientierung in der Praxis 2.1 Zum Kontext Vor einiger Zeit entwickelte ein international tätiges Bauunternehmen eine Imagebroschüre, um zur Fachkräfterekrutierung gezielt Absolventen von Universitäten und Fachhochschulen mit betriebswirtschaftlicher Ausbildung anzusprechen und sie für das Unternehmen zu interessieren. Diese hochglänzende Selbstdarstellung wurde bei Messepräsentationen verteilt und auch im Unternehmen flächendeckend verbreitet. Interessierte Absolventen sollten so ohne größere Schwierigkeiten an diese für sie relevanten Informationen herankommen, um gezielt mit dem Unternehmen in Kontakt treten zu können. Das Unternehmen suchte nun nach einer Möglichkeit, die Effektivität und Wirkung dieser Image-Initiative zu überprüfen und interessierte sich besonders für die Rolle, die die Mitarbeiter der einzelnen Niederlassungen dabei spielten, vor allem wie sie das Unternehmen am Telefon präsentierten. Dazu sollte ein Betriebswirtschaftsstudent in den verschiedenen Zentralen der Niederlassungen anrufen und sich dort ganz allgemein nach Arbeitsmöglichkeiten für Betriebswirte im Unternehmen erkundigen. 506 Reinhard Fiehler / Reinhold Schmitt Im Normalfall sollte die Zentrale ihn an Mitarbeiter weiterleiten, die hierüber kompetent Auskunft geben konnten. Im Optimalfall war zu erwarten, dass der Student von diesen nicht nur fundiert Auskunft erhalten, sondern von den angerufenen Stellen auch die Imagebroschüre zugeschickt bekommen würde. Die Aufzeichnungen des telefonischen Geschehens, das sich dabei entwickelte, dienten dann als Grundlage für die Evaluation der Image- Initiative. 2.2 Alltägliche Probleme der Kundenorientierung 3 Wir werden im Folgenden einen Blick auf einen authentischen Fall werfen, wobei eine Vielzahl von kleinen Misslichkeiten, Unerfreulichkeiten, ernsthafteren Katastrophen und anderen kommunikativen Missetaten deutlich werden, die leider immer noch zum ‘Dienstleistungsalltag“ gehören. 2.2.1 Erste Eröffnung 4 Der Anrufer wählt die Telefonnummer des Unternehmens. Im Unternehmen klingelt das Telefon (und zwar genau 4,5 Sekunden lang). Das Warten des Anrufers wird dann durch eine Frauenstimme beendet, die zunächst das Unternehmen identifiziert und anschließend den Anrufer grüßt: ZE: *4,5* Halbmann und Meyer guten Tag Wir sprechen hier und im Folgenden von der „Frauenstimme“, weil die Gesprächsteilnehmerin sich selbst nicht mit Namen vorstellt. Wenn jemand angerufen wird und sich nicht namentlich identifiziert, kann man davon ausgehen, dass der Name für das soziale Ereignis, das stattfinden wird, aus welchen Gründen auch immer für den Angerufenen keine nennenswerte Rolle spielt. In unserem Falle wird also nicht die Person, die spricht, sondern das Unternehmen identifiziert, für das gesprochen wird: Die Person tritt voll- 3 Das untersuchte Gespräch und alle weiteren kursiv gesetzten Zitate sind authentische Beispiele aus der Evaluation der Image-Initiative, die Reinhold Schmitt im Auftrag des Unternehmens durchgeführt hat. 4 Alle Namen und Bezeichnungen sind maskiert; die Transkriptionszeichen befinden sich im Anhang. Das Potenzial der angewandten Gesprächsforschung ... 507 kommen in den Hintergrund, sie ist nur funktional. Aber in welcher Funktion hat sie den Hörer abgenommen? Sie ist die erste Vertreterin des Unternehmens, mit der der Anrufer Kontakt bekommt. Solche Erstkontakte sind hochgradig wichtig, bilden sie doch die Grundlage für Sympathie oder Antipathie und strukturieren so das nachfolgende Geschehen weitgehend vor. Eine solche Sicht entspricht auch dem Selbstverständnis vieler Unternehmen: „Visitenkarte des Unternehmens“ und andere blumige Beschreibungen werden als Kennzeichnung für die Bedeutung der Telefonzentrale herangezogen. Halten wir also zunächst einmal fest: Die Visitenkarte dieses Unternehmens ist namenlos und unpersönlich. 5 AN: ja: schönen guten Tach Schu"lze am Apparat * Nun wird der Anrufer aktiv. Er erwidert zunächst den Gruß und identifiziert sich im Anschluss mit seinem Nachnamen. Hinsichtlich der Beziehung der beiden Gesprächspartner hat sich also bereits in der Gesprächseröffnung ein Ungleichgewicht etabliert: Für den Anrufer ist der Anruf von persönlicher Bedeutung, für die Angerufene ist der Anruf hingegen (nur) von funktionaler Wichtigkeit. 2.2.2 Erste Anliegensformulierung Als Nächstes formuliert der Anrufer einen ersten Hinweis darauf, warum er angerufen hat: ich hätte gerne eine Auskunft. Nach diesem Hinweis macht er eine kurze Pause (*), um dann konkret sein Anliegen zu formulieren: AN: * ich habe * Betriebswirtschaft studiert AN: und hab mein Studium mit dem Diplom abgeschlossen * AN: und wollte mich jetzt mal erkundigen * welche 5 Wir haben es hier mit einer unpersönlichen minimalistischen Identifikation zu tun, bei der der Anrufer nichts über seine Gesprächspartnerin erfährt. In letzter Zeit wesentlich häufiger anzutreffen sind jedoch unpersönliche maximalistische Identifikationen in Form von ‘Namensbandwürmern’, die den Anrufer nicht nur mit einer Fülle von Informationen Zudecken, sondern dieses auch noch mit einer einstudierten, schablonenhaften Stimme tun, die nicht ihm als Person gilt. 508 Reinhard Fiehler / Reinhold Schmitt AN: Arbeitsmöglichkeiten es bei ihnen im Unternehmen Als der Anrufer mit seiner Anliegensformulierung zu Ende ist, meldet sich die „Frauenstimme“ wieder und sagt: jaich verbinde mal. Dieser Hinweis wird durch ein ja des Anrufers ratifiziert. Beschäftigen wir uns noch einen Moment mit dem, was die „Frauenstimme“ bisher getan, und mit dem, was sie nicht getan hat. Während der Anliegensformulierung hat sie still gewartet. Erst als der Anrufer seine Anliegensformulierung abgeschlossen hat, wird sie relativ zu der Funktion, die sie im Unternehmen hat wieder aktiv. Man kann also sehen, die Mitarbeiterin, der die Stimme gehört, ist ihrem Selbstverständnis nach in erster Linie dazu da, Anrufer zu verbinden. Mehr tut sie nicht, obwohl sie im Sinne der Dienstleistungsphilosophie des Unternehmens einiges mehr hätte tun können und auch sollen. „Wir konkurrieren nicht mehr mit der Qualität unserer Produkte, sondern wir konkurrieren mit der Qualität unserer Mitarbeiter“ ist eine der geflügelten Formulierungen in Untemehmensphilosophien. Dabei ist ein wesentliches Element der Mitarbeiterqualität deren Kommunikationsbereitschaft und Kommunikationsfähigkeit. Der einzige Dienst, den die „Frauenstimme“ jedoch dem Anrufer hier leistet, ist die Auskunft, dass sie verbinden wird, und das anschließende faktische Herstellen der Verbindung. 2.2.3 Reaktion auf Anliegensformulierung Unterlassen hat sie es aber sehr weitgehend, selbst aktiv an der Entwicklung des Gesprächsgeschehens teilzunehmen und dazu beizutragen, dass sich ein dialogischer Gesprächsfluss entwickelt. Bezogen auf das Grundverständnis, das die Gesprächsforschung von Interaktion als einer ‘gemeinschaftlichen Hervorbringung aller Beteiligten’ 6 hat, verhält sich die „Frauenstimme“ erkennbar unkooperativ. 6 Siehe hierzu z.B. Schegloff (1983) und dessen Vorstellung von ‘discourse as an interactional achievement": zum Konzept von ‘joint action’ siehe Shotter (1984), Schegloff (1991 und 1992). Vor allem Formen gemeinschaftlicher Äußerungsproduktion sind in der Gesprächsforschung beschrieben worden (z.B. Ferner 1991; Sacks 1992, Diaz/ Antaki/ Collins 1996, Goodwin 1983, Goodwin/ Goodwin 1986); weiterhin das schrittweise Ent- AN: für Betriebswirte gibt ZE : ja! *15* jaich verbinde mal Das Potenzial der angewandten Gesprächsforschung ... 509 Das auffälligste Merkmal der „Frauenstimme“ ist: Sie ist keine aktive Hörerin. Als aktive Hörerin hätte sie die vom Anrufer produzierten Pausen als Reaktionsangebote nutzen und dessen sich entwickelnde Äußerung kontinuierlich mit Rückmeldungen begleiten können. Bleiben solche Rückmeldungen über längere Zeit aus, führt das auf der Seite des Sprechers zu Irritation und Verunsicherung und setzt interpretative Annahmen über seinen Adressaten in Gang. Doch die „Frauenstimme“ ist nicht nur keine aktive Hörerin, sondern auch in funktionaler Hinsicht fallen in ihrem Verhalten einige Punkte auf, die mit einem ernsthaften Konzept von Kundenorientierung und Dienstleistung wenig zu tun haben. Schauen wir uns also einmal an, wie sie in ihrer Funktion aktiv wird: jaich verbinde mal. Der Anrufer weiß nun zwar, dass er verbunden wird, er weiß jedoch nicht, in welche Abteilung er verbunden und wer sein nächster Gesprächspartner sein wird. Die „Frauenstimme“ sorgt nicht für die mögliche oder nötige Transparenz des weiteren Geschehens. Dem Anrufer bleibt so nichts anderes übrig, als am Hörer zu warten und der Dinge zu harren, die da kommen werden. Die Ankündigung der Verbindung durch die „Frauenstimme“ besitzt für den Anrufer nur einen sehr geringen Informationswert, da lediglich auf die Zeit und die Tätigkeit referiert wird, nicht jedoch auf das Ziel dieser Aktion. In die gleiche Kategorie gehören Realisierungen wie: 7 „Moment mal bitte“, „Mhm, einen kleinen Moment“, „Ja, einen Moment bitte“ und ,Moment mal bitte, ich verbinde“. Dem stehen Verbindungsankündigungen gegenüber, die für den Anrufer einen tatsächlichen Informationswert haben, da hier neben Zeit und Tätigkeit noch die Abteilung bzw. eine Person namentlich genannt werden: ,J)a gebe ich ihnen jemand aus der Personalabteilung“, „Moment, ich gebe ihnen mal unseren kaufmännischen Geschäftsleiter“, „Ich gebe ihnen mal die zustänstehen von Formulierungen im Wechsel von Sprecherformulierung und Hörerevaluation (z.B. Goodwin 1981, v.a. Kap. 4.), aktives Rückmeldeverhalten (z.B. Jefferson 1984) und das Anzeigen von ‘recipiency' (z.B. Heath 1982 und 1984) sowie die aktive Mitarbeit beim Entstehen von Partneräußerungen (z.B. Goodwin 1979). 7 Alle zitierten Realisierungen sind authentische Beispiele, die im Rahmen der Evaluationsstudie dokumentiert worden sind. 510 Reinhard Fiehler / Reinhold Schmitt dige Stelle, Frau Meier ist das“ und ,Jch gebe ihnen mal die Zentrale und sag, dass sie an die Personalabteilung verbunden werden wollen“. Der Anrufer muss dann 15 Sekunden warten. Was in dieser Zeit faktisch geschieht, ist nicht zu erfahren. Man kann aber eine ganze Liste von Dingen aufführen, die die „Frauenstimme“ in der Wartezeit des Anrufers hätte tun sollen, nämlich: einen zuständigen Ansprechpartner suchen und diesem relevante Kurzinfos geben, die zumindest den Namen des Anrufers und Stichworte zu dessen Anliegen beinhalten, wie beispielsweise: „Herr Alt, hier ist ein Herr Schulze, der will was über Einsatzmöglichkeiten von Betriebswirten bei uns wissen“. Wenn wir eine erste kurze Bilanz ziehen, dann fällt sie für die „Frauenstimme“ und das durch sie vertretene Unternehmen nicht günstig aus. In positiver Hinsicht bleibt nur festzuhalten, dass sie den Anrufer tatsächlich weiterleitet. In negativer Hinsicht ist jedoch ihre passive Gesprächsgestaltung, ihr gänzlicher Verzicht auf positive Beziehungsgestaltung und die ungenügende Transparenz hinsichtlich ihrer Tätigkeit zu vermerken. 2.2.4 Zweite Eröffnung und zweite Anliegensformulierung Das Warten des Anrufers wird durch die namentliche Identifikation eines Mitarbeiters beendet: Alt. Anders als die „Frauenstimme“ verzichtet dieser auf einen Gruß. Die Namensnennung, die in einer knappen und schneidigen Art und Weise erfolgt, drückt keinerlei Bereitschaft und Engagement aus, sich dem Anruferanliegen aktiv anzunehmen. Dies wäre aber durchaus wichtig, wollte der Mitarbeiter eine angenehme Gesprächsatmosphäre etablieren und dem Anrufer das Gefühl vermitteln, sein Anliegen werde ernst genommen. Hat sich die „Frauenstimme“ nur als Funktion präsentiert, so präsentiert sich Herr Alt im Gegensatz hierzu ausschließlich als Person. Der Anrufer weiß nun zwar, mit wem er spricht, nicht jedoch, in welcher Abteilung er gelandet ist und welche Funktion Herr Alt im Unternehmen inne hat. 8 h Keiner der von der Zentrale vermittelten Mitarbeiter hat sich neben seinem Namen zusätzlich noch mit der Bezeichnung seiner Abteilung gemeldet. Der Anrufer wusste also im Regelfall nicht, wohin ihn die Weiterleitung der Zentrale geführt hat. Das Potenzial der angewandten Gesprächsforschung ... 511 AN: schön guten Tag * Schu"lz am Apparat * |ich| hätte MI: Ij a j AN: gern eine Auskunft * und zwar habe ich Betrie"bs- AN: Wirtschaft studiert und habe mein Studium mit dem AN: Diplom abgeschlossen und wollte mich jetzt * mal AN: erkundigen welche * Arbeitsmöglichkeiten es bei AN: ihnen im Unternehmen für Betriebswirte gibt Der Anrufer grüßt seinen Gesprächspartner und stellt sich namentlich vor. Danach macht er eine kurze Pause, um zu erklären, warum er anruft. Anders als bei der „Frauenstimme“ erfolgt nun eine Rückmeldung des Mitarbeiters. Diese ist zwar leicht verzögert, reagiert aber auf die namentliche Identifikation des Anrufers. Diese Rückmeldung verdeutlicht, dass der Mitarbeiter, nachdem sich beide identifiziert haben, nun für die Anliegensformulierung des Anrufers bereit ist. Sie markiert in diesem Sinne den Übergang von der Gesprächseröffnung zur Sachbearbeitung. Analog zur „Frauenstimme“, wartet auch der Mitarbeiter nun still ab, was der Anrufer als Anliegen formuliert. Dass eine nochmalige vollständige Wiederholung des Anruferanliegens erforderlich wird, deutet darauf hin, dass die „Frauenstimme“ keine oder zu wenig Informationen an den Mitarbeiter weitergegeben hat oder dass der Mitarbeiter über die relevanten inhaltlichen Informationen verfügt, diese aber nicht nutzt. Er vergibt somit die Möglichkeit, von sich aus das Anruferanliegen zu formulieren und diesen zu fragen, was er für ihn tun könne. Dies hätte positive Folgen sowohl für seine eigene Selbstpräsentation als auch für die Gestaltung der Beziehung zu dem Anrufer. 2.2.5 Ein Verhör Wie die „Frauenstimme“ in der Zentrale, so wartet auch der Mitarbeiter ab, bis der Anrufer sein Anliegen vollständig vorgebracht hat. Erst dann wird er in überraschender Weise aktiv: Er definiert im Folgenden die Situation 512 Reinhard Fielder / Reinhold Schmitt vollständig um, und macht aus dem vom Anrufer ganz allgemein als Informationsgespräch begonnenen Austausch eine Art Verhör: MI: |wie kommen sie denn jetzt an unser Unternehmen! * 2 * K j MIT NACHDRUCK AN: ja ich bin dabei mich äh beru"flich zu orientiern AN: und| hab so| MI: |ja" wie] K jHERRISCHER MI: ko"mmen sie an unser Unternehmen jetzt| das ist die K TONFALL MI: Frage MI: LACHT Er fragt den Anrufer wie kommen sie denn jetzt an unser Unternehmen. Nach dieser Frage entsteht eine Pause von 2 Sekunden, die bei einer flüssigen Gesprächsentwicklung für den Wechsel zwischen zwei Sprechern bemerkenswert lang ist. Dass die Pause überhaupt entsteht, ist ein Hinweis darauf, dass für den Anrufer diese Frage überraschend kommt und er nicht auf sie vorbereitet ist. Gleichwohl beginnt er, die Frage zu beantworten ja ich bin dabei mich äh beru “flieh zu orientieren und hab so. Er kommt jedoch in seinem Antwortbemühen nicht sehr weit, da er von dem Mitarbeiter recht barsch unterbrochen wird. Dabei sind zwei Punkte interessant: Zum einen, dass der Mitarbeiter sich in die sich entwickelnde Äußerung des Anrufers hineindrängt, obwohl dieser erkennbar noch nicht fertig ist. Zum anderen ist es die konkrete Äußerung, mit der er den Anrufer unterbricht. Mit deutlicher Ungeduld und mit Nachdruck wiederholt er seine Frage noch einmal und betont dabei explizit, dass es bei dem Gespräch für ihn genau darum um die Antwort auf diese Frage geht. Er ignoriert damit also die bisherigen Antwortbemühungen des Anrufers als ungenügend und insistiert mit der gleichen Frage noch einmal auf einer „besseren“ oder „angemesseneren“ Antwort. Seinem Insistieren lässt er noch ein Lachen folgen, das keine erkennbare Plausibilität besitzt. Das Potenzial der angewandten Gesprächsforschung ... 513 Auch wenn der Mitarbeiter mit seiner Frage eine für die Bearbeitung des Anruferanliegens durchaus wichtige Voraussetzung für sich klären will, wäre hier im Sinne einer tatsächlichen Kundenorientierung ein gänzlich anderes Verhalten von Nöten. So wären nicht nur andere Formulierungen oder Nachfragen denkbar, um das spezifische Interesse des Anrufers zu erkunden, vor allem wäre ein wesentlich freundlicherer Tonfall nicht nur angebracht, sondern ein Muss (wie beispielsweise: Darf ich fragen, warum Sie sich gerade für unser Unternehmen interessieren, Herr Schulze? ). Der unangemessene Tonfall wird bei der Wiederholung der Frage noch deutlicher. Hier bestimmt ein herrischer Ton die Formulierung und durch die Unterbrechung erhält die Wiederholung deutlich forcierende Qualität. 9 Dem Anrufer ist es so nicht möglich, die gestellte Frage in Ruhe und vollständig zu beantworten. Auch das abschließende Lachen trägt nicht dazu bei, dass sich der Anrufer angemessen behandelt fühlt. Gleichwohl unternimmt er einen zweiten Anlauf zur Beantwortung der Frage, die er nun auch ohne Störung durch den Mitarbeiter zu Ende bringen kann. AN: ja ich habe Interesse äh: an der der Bau"wirtschaft AN: und habe gehört von Kommilitonen dass im Bausektor AN: verstärkt Betriebswirte eingesetzt werden 2.2.6 „Nachäffen“ des Anrufers Der Mitarbeiter liefert eine Art Erklärung für sein zurückliegendes Verhalten: Das Motiv für seine Nachfragen besteht darin, dass er zur Bearbeitung des Anruferanliegens - oder zumindest für dessen besseres Verständnis mehr Hintergrundinformationen benötigt. MI: mhm so: " äh: ja ich wollte ein bisschen MI: Hintergrundinformation haben |ich habe gehört von K IMITIERT DEN 9 Zum gesprächsrhetorischen Konzept „Forcieren“ als eingeschränkter Form der Kooperativität siehe Kallmeyer/ Schmitt (1996), zum kooperativen Gegenstück „Unterstützen“ siehe Schmitt (1998). 514 Reinhard Fiehler / Reinhold Schmitt MI: Kommilitonen dass| * es ist jetzt die Frage K ANRUFER Unklar bleibt bei seiner Reaktion die Bedeutung und das interaktive Potenzial des Zitates ich hat gehört von Kommilitonen dass und auch die Funktion der Wiederholung es ist jetzt die Frage bleibt offen. Um sich jedoch diese Hintergrundinformationen zu beschaffen, wäre ein anderes Gesprächsverhalten möglich gewesen, das nicht mit diesen offenkundig negativen Auswirkungen für den Anrufer verbunden gewesen wäre. Zum Beispiel: Interessieren sie sich speziell für unser Unternehmen oder für die Baubranche allgemein ? 2.2.7 Eine überraschende Antwort Der Mitarbeiter beginnt, sich mit dem Anruferanliegen konkret und bezogen auf die Niederlassung, in der er angestellt ist, zu beschäftigen. Er gibt dabei die falsche - Auskunft, dass in der Niederlassung keine Betriebswirte eingestellt würden (ehrn eh hier in X-Stadt oder in der Hauptniederlassung X- Stadt stellen wir keine Betriebswirte ein ... wir haben keine Se“rvicebereiche) und erklärt, dass in seiner Niederlassung nur klassische Baukaufleute arbeiten {wir haben hier die klassische Form der Bau“kaufleute ... da=s also ne pra“ktische Ausbildung). Dies bedeutet nun aber, dass die zurückliegende Einholung der Hintergrundinformationen für die Bearbeitung des Anliegens überflüssig war. Durch eine nachträgliche Einsicht in die Funktionalität des Mitarbeiterverhaltens wären die negativen Auswirkungen auf die Gesprächsentwicklung und die Untemehmenspräsentation zwar nicht vollständig relativiert, wohl aber immerhin plausibilisiert worden. Da der Mitarbeiter sein Verhalten auch rückblickend nicht verständlich machen kann, hat es nicht nur verheerende Auswirkungen auf die Beziehungsgestaltung, sondern umfassend auf die Präsentation des Unternehmens einem interessierten, potenziellen Kollegen gegenüber. Das Potenzial der angewandten Gesprächsforschung ... 515 2.2.8 Weiter im Verhör Ungeachtet der angeblich nicht vorhandenen Arbeitsmöglichkeiten in der angewählten Niederlassung fährt der Mitarbeiter in vergleichbar barschem Ton fort, den Anrufer weiter auszufragen. Dieser Eindruck entsteht dadurch, dass er wissen will, wo der Anrufer studiert hat und welches Examen er abgelegt hat, und v.a. durch die Art, wie er dies tut, nämlich völlig unmodalisiert und ohne einleitende Formulierung: wo“ haben sie: studiert und welches Examen haben sie. MI: wo" haben sie: * studiert und welches Examen haben MI: sie AN: ich wa: r in äh Ludwigsburg und äh also das MI: ja AN: gut |also| |ham | MI: jmhm j mhm und |sie| haben in Ludwigsburg was MI: studiert Fachhochschule AN: ja Fa"ch/ Fachhoch|schule MI: |Fachhoch| MI: schule Insgesamt wird dem Anrufer nicht ersichtlich, warum der Mitarbeiter diese Informationen einholt. Für eine direkte Bearbeitung seines Anliegens sich zu informieren, welche Arbeitsbedingungen es im betreffenden Unternehmen für Betriebswirte gibt sind Nachfragen zur Ausbildungsstätte und zur Güte des Abschlusses nur dann funktional, wenn sich daraus Alternativen zum negativen Bescheid der angerufenen Niederlassung ergeben. Der Mitarbeiter zeigt diesbezüglich jedoch keine Reaktion auf die Antworten des Anrufers und so bleibt das Motiv seines Verhörs im Dunkeln. 516 Reinhard Fiehler / Reinhold Schmitt 2.2.9 Geringes Engagement AN: ha"ben sie Unterlagen oder=n Prospe"kt den sie mir AN: |zuschicken könnten) MI: Inö hab ich nicht j hier in X-Stadt da solltn sie AN: ja MI: sich an unsre Hauptverwaltung B-Stadt wenden MI: die Hauptverwaltung kann ihnen bestimmt da einiges AN: ja MI: an Unterlagen zusenden was zu ihrer AN: ja MI: Entscheidungsfindung notwendig ist Der Mitarbeiter reagiert sehr schnell, als er hört, dass der Anrufer Unterlagen von ihm will. Seine Äußerung nö hab ich nicht hier in X-Stadt ist insofern korrekt, als er selbst (d.h. persönlich) wahrscheinlich keine Unterlagen besitzt. Sie ist aber nicht korrekt im Hinblick auf die Frage, ob es in der angerufenen Niederlassung Unterlagen gibt. Der Mitarbeiter fühlt sich nicht dazu veranlasst, z.B. bei seinen Kollegen wegen der Unterlagen nachzufragen. Stattdessen verweist er auf die Hauptverwaltung. Er überlässt es im Folgenden dem Anrufer, nach einem konkreten Ansprechpartner zu fragen, anstatt diesen von sich aus zu nennen. Immerhin weist er den von ihm genannten Mitarbeiter als Mitglied der Personalabteilung aus. Als der Anrufer den Namen des Mitarbeiters nicht gleich versteht und nachfragen muss, kommt der Mitarbeiter der Nachfrage eher unwillig und unfreundlich nach. 2.2.10 Gesprächsbeendigung Das Gespräch klingt mit dem Dank des Anrufers für die erhaltenen Informationen aus, den der Mitarbeiter mit ja bitte schön entgegennimmt. Nach der Verabschiedung des Anrufers platziert der Mitarbeiter noch ein gut vor seiner eigenen Verabschiedung. Das Telefongespräch ist damit beendet. Das Potenzial der angewandten Gesprächsforschung ... 517 AN: okay haben sie vielen Dank wiederhörn MI: ja bitte schön MI: gut wiederhörn Der Mitarbeiter unterlässt es, sich im Rahmen dieser Beendigungsphase bei dem Anrufer für das dem Unternehmen entgegengebrachte Interesse zu bedanken. Er entlässt den Anrufer aus einem Gespräch, das als Informationsgespräch begann und sich zu einem Verhör entwickelte, das bei dem Anrufer sicherlich nicht den besten Eindruck von dem Unternehmen hinterlassen hat. Hierzu trägt auch bei, dass der Anrufer von keinem der beiden Unternehmensrepräsentanten persönlich mit Namen angesprochen wurde. 2.3 Bilanz des Mitarbeiterverhaltens Vor allem die Bilanz des Mitarbeiters fällt wenig positiv aus. Er verfügt nur über ungenügendes Wissen über die Betriebsstrukturen (er gibt eine falsche Auskunft), er übernimmt nicht die Perspektive des Anrufers (er unterzieht den Anrufer einem Verhör), er schafft nur ungenügend Transparenz hinsichtlich seines eigenen Verhaltens (er erläutert nicht, worin dessen Funktionalität besteht), er redefiniert die Situation in unangemessener Weise und macht aus dem Anrufer einen „Verdächtigen“, der von ihm als „Kommissar“ verhört wird. Der Anrufer dürfte nach diesem Gespräch irritiert und ansatzweise verunsichert, vielleicht sogar gedemütigt sein: Er wurde unpersönlich behandelt, im Unklaren gelassen, ausgehorcht, nachgeäfft und blieb dabei weitgehend ohne aktive Hilfestellung der Unternehmensrepräsentanten. Dass der Anrufer motiviert worden ist, in diesem Unternehmen zu arbeiten, kann man sich nicht so recht vorstellen. 3. Drei Vorteile der angewandten Gesprächsforschung für die Analyse von Unternehmenskommunikation Reflektiert man die gesprächsanalytische Vorgehensweise bei der vorgestellten Fallanalyse, so fallen vor allem drei Punkte ins Auge: 1) Es ist ein authentisches Gespräch aus der ‘freien kommunikativen Wildbahn’, das zum Gegenstand der Analyse gemacht wurde. 2) Die Analyse erfolgte, in- 518 Reinhard Fiehler / Reinhold Schmitt dem die Entwicklung des Geschehens in Form einer „geführten Tour“ Äußerung für Äußerung analytisch aufbereitet wurde. 3) Hierdurch war es möglich, systematisch diejenigen Äußerungen und Verhaltensweisen zu ermitteln, die unter dem Gesichtspunkt ihrer Kundenorientierung problematisch erscheinen und schließlich hierzu Alternativen zu formulieren. Auf diese drei Punkte wollen wir nun genauer eingehen. 3.1 Authentische Beispiele als Ausgangspunkt Das untersuchte Gespräch ist ein authentischer Ausschnitt aus dem kommunikativen Alltag eines Unternehmens. Dieser Ausschnitt zeigt ungefiltert und ungeschminkt, wie in der täglichen Arbeitspraxis mit Kunden „umgegangen“ wird. Fragt man nach Alternativen, wie etwas über den kommunikativen Unternehmensalltag zu erfahren ist, so sind vor allem zwei Verfahren zu nennen: Zum einen kann man sich auf eigene oder berichtete Erfahrungen und Beobachtungen stützen, zum anderen kann man versuchen, diesen Alltag durch Simulationen und Rollenspiele zu reproduzieren. Beide Möglichkeiten weisen jedoch deutliche Nachteile gegenüber der Verwendung authentischer Gesprächsaufnahmen auf: Die Beobachtung und spätere Erinnerung von Kommunikationsverhalten ist ungenau, selektiv und nicht wiederholbar. Erfahrungen reflektieren überwiegend nicht das Unauffällige und Normale, sondern betonen in der Regel eher auffällige Erscheinungen. Bei Simulationen und Rollenspielen wiederum besteht die Gefahr, dass sie nicht die kommunikative Realität nachbilden, sondern Artefakte zum Gegenstand der Analyse machen. 10 So hat die Gesprächsforschung mit Aufzeichnungen authentischer Gespräche die beste im Moment verfügbare empirische Basis. 10 Schmitt (1999) plädiert allerdings für eine Neubewertung von Rollenspielen als Datenbasis. Dem Artefaktvorwurf (Brons-Albert 1995, S. 102 ff.) setzt er entgegen, dass Simulationen durchaus geeignet sind, Probleme im Bereich allgemeiner Konstruktionsprinzipien von Kommunikation (z.B. hinsichtlich Gesprächsorganisation, recipient design, Beziehungskonstitution, Fokussierung, Modalisierung) zu identifizieren. Das Potenzial der angewandten Gesprächsforschung ... 519 3.2 ‘Geführte Touren’ als Methode Die zentrale Vorgehensweise der Gesprächsforschung ist die sequenzielle Analyse, bei der die Gespräche Äußerung für Äußerung in ihrer Entwicklung untersucht werden. Um diese Analyse durchführen zu können, werden die aufgezeichneten Gespräche in Form von Transkripten verschriftlicht. Erst hierdurch wird es möglich, die wechselseitige Abhängigkeit der Aktivitäten und die Dynamik des Geschehens in der Interaktion mit großer Detailgenauigkeit zu erfassen. Das umfassende und detaillierte Wissen über die Gesprächsstrukturen bildet für den Gesprächsanalytiker die Voraussetzung, um mit Hilfe geführter Touren Einblicke in grundlegende Funktionsweisen von Kommunikation und in das Entstehen spezifischer Probleme vermitteln zu können. Eine wichtige Aufgabe solcher geführten Touren ist es, deutlich zu machen, dass die Entwicklung des Gesprächsgeschehens nie nur von einer einzigen Person abhängt, sondern dass diese zu jedem Zeitpunkt, selbst während der laufenden Produktion einer Äußerung, von allen Beteiligten beeinflusst wird: Kein Sprecher ist in der Lage, seine Vorstellungen und Ziele zu realisieren, wenn der Gesprächspartner nicht mitspielt. Dies wird in der Analyse besonders am unerwarteten Verhalten des Mitarbeiters deutlich, der aus der Absicht des Anrufers, sich einfach nur mit relevanten Informationen zu versorgen, ein Verhör macht, das für den Anrufer mit einer äußerst unangenehmen Beziehungsstruktur verbunden ist. Es zeigt sich aber auch, dass der Anrufer selbst dazu beiträgt, dass sich das Geschehen so zu seinen Ungunsten entwickelt. Er interpretiert nämlich das Verhalten des Mitarbeiters nicht als Übergriff und als unkooperativ, sondern normalisiert es durch seine Reaktionen, indem er allen Aufforderungen des Mitarbeiters fraglos nachkommt. Dabei hätte er triftige Gründe, dem UnternehmensVertreter anders gegenüber zu treten. Wird dem Anrufer eine Frage gestellt, dann muss er prinzipiell die Möglichkeit haben, diese Frage zu beantworten. Wird er aber, nachdem er gerade erst begonnen hat, zu antworten, bereits wieder unterbrochen, um ihm die gleiche Frage noch einmal zu stellen, dann ist dieses forcierende Verhalten grundsätzlich unkooperativ. Zum einen schränkt es seine Handlungsmöglichkeiten ein und setzt ihn unter Druck. Zum anderen verstößt es auch 520 Reinhard Fiehler / Reinhold Schmitt gegen das für das Zustandekommen von Kommunikation grundlegende Prinzip der ‘konditionellen Relevanz’." Das Prinzip der konditioneilen Relevanz regelt in einem ganz grundlegenden Sinne die Reaktionsmöglichkeiten auf vorangegangene Äußerungen. Es ist dafür verantwortlich, dass als Reaktion auf eine Frage eine Antwort erfolgt bzw. alles, was auf eine Frage folgt, als Antwort interpretiert wird. Da der Anrufer jedoch „alles über sich ergehen lässt“ und das Verhör-Spiel als Verdächtiger mitspielt, trägt er auf Grund des nicht hintergehbaren interaktiven Charakters des Geschehens selbst seinen Teil zu seiner eigenen Degradierung bei. Dieser grundlegend interaktive Charakter hat die Gesprächsforschung zu einer Auffassung von Gesprächen als gemeinsamen Hervorbringungen geführt, wobei Verlauf und Resultat durchaus nicht immer den Intentionen der einzelnen Beteiligten entsprechen müssen. Diese Vorstellung kontrastiert mit der im Kontext von Kommunikationstrainings dominanten Auffassung, dass jeder, wenn er nur will und geschickt genug ist, der Schmied seines eigenen kommunikativen Erfolgs sei. Darüber hinaus ist es in der geführten Tour möglich, durch Beobachtung der gleichzeitigen oder sich anschließenden Reaktionen des Gesprächspartners auf eine Äußerung nachzuzeichnen, wie der Gesprächspartner diese Äußerung interpretiert und welche Wirkungen sie auf ihn hat. Die Gesprächsforschung ist damit nicht auf Spekulationen oder auf allgemeine, situationsunspezifische Hypothesen über die Wirkung sprachlich-kommunikativer Mittel angewiesen. Sie rekonstruiert deren Potenzial aus den Reaktionen der Beteiligten selbst. Solche Einsichten in grundlegende Funktionsweisen von Kommunikation können durch geführte Touren in besonders anschaulicher Weise verdeutlicht und vermittelt werden, ohne die Konstruktionsprinzipien als solche zu nennen oder theoretisch herleiten zu müssen. Zur konditionellen Relevanz siehe z.B. Schegloff (1972, S. 364ff.). Das Potenzial der angewandten Gesprächsforschung ... 521 3.3 Die Identifikation von Problemen und die Entwicklung von Alternativen Die Methode der geführten Tour ermöglicht jedoch nicht nur grundlegende Einsichten in die Funktionsweisen von Kommunikation, sie ist auch die Basis für das Erkennen von Kommunikationsproblemen. Diese werden deutlich, wenn ein faktisches Kommunikationsverhalten mit Vorstellungen konfrontiert wird, wie Kommunikation sein sollte (es also an Normen gemessen wird), wenn dabei Abweichungen festgestellt und diese negativ bewertet werden (vgl. Fiehler 2001). Die geführten Touren ermöglichen es in besonders anschaulicher und nachvollziehbarer Weise, die Entstehung von Kommunikationsproblemen und ihre Auswirkungen auf das weitere Gesprächsgeschehen zu erkennen. Das letztendliche Ziel solcher geführten Touren ist es jedoch, zu den erkannten problematischen Verhaltensweisen Alternativen zu entwickeln, die einer ernsthaften Kundenorientierung tatsächlich entsprechen. So wäre es der Mitarbeiterin der Zentrale (der „Frauenstimme“) mit ganz einfachen Mitteln möglich, aus dem einseitig-monologischen ein dialogisches und für beide Seiten dadurch angenehmeres Vermittlungsgespräch zu machen. Ein engagiertes, auf Responsivität basierendes Kommunikationsverhalten repräsentiert nicht nur das Unternehmen in gewünschter Weise, sondern trägt auch zur Reduktion der für Telefonzentralen so charakteristischen Monotonie der Arbeit bei. Etwas pointierter formuliert: Die „Frauenstimme“ produziert hier selbst einen Teil der kommunikativen Armut ihres Arbeitsplatzes. Die Identifizierung von Kommunikationsproblemen sowie die Entscheidung für Alternativen sind nicht ohne Bewertungen und Rekurs auf Normen und Werte möglich: So haben wir das faktische Gesprächsverhalten der beiden Untemehmensvertreter an Vorstellungen von Partnerzuwendung, Engagement, Offenheit und Höflichkeit gemessen, die u.E. ein kundenorientiertes Verhalten ausmachen. Wie im vorliegenden Fall fördert eine geführte Tour schon durch ein einzelnes Gespräch in Hinblick auf Kundenorientierung eine Reihe von Defiziten zu Tage. Da die Gesprächsforschung aber nicht an singulären oder überwiegend persönlich motivierten Probleme interessiert ist, sondern auf überindividuelle strukturelle Probleme bei der Realisierung kommunikativer Aufgaben im 522 Reinhard Fiehler / Reinhold Schmitt Rahmen spezifischer Gesprächstypen abzielt, stellt eine solche Einzelfallanalyse nur den Ausgangspunkt für eine systematische Untersuchung spezifischer Kommunikationsprobleme im Unternehmen dar. Ist ein Unternehmen an der nachhaltigen Verbesserung seiner Kundenorientierung interessiert, dann sind weitere Untersuchungen notwendig, die vielfältige authentische Gespräche und unterschiedliche Gesprächsformen mit Kunden einbeziehen. Fasst man es thesenartig zusammen, so leistet die Gesprächsforschung ihren Beitrag zur Verbesserung der Untemehmenskommunikation in folgenden drei Bereichen: - Empirie: Indem die Gesprächsforschung mit authentischen Gesprächen arbeitet, ist sie in der Lage, die Wirklichkeit der alltäglichen Untemehmenskommunikation unmittelbar und ungeschminkt zu erfassen. - Methodik. Die Gesprächsforschung verfügt über ein methodisches Instrumentarium, das es ihr erlaubt, kommunikative Probleme in Gesprächen zu identifizieren und so empirisch fundiert Verhaltensweisen herauszuarbeiten, die nicht oder nicht optimal kundenorientiert sind. Und in besonders positiven und geglückten Fällen kann sie im Detail nachweisen, worauf sich der Erfolg gründet. - Theorie: Die Gesprächsforschung basiert auf Auffassungen und theoretischen Konzeptualisierungen von Gesprächen, die der Komplexität von Kommunikation gerecht werden und so auch eine realistische Einschätzung der Möglichkeiten ihrer Verbesserung erlauben. 4. Kommunikationsschulung aus Sicht der angewandten Gesprächsforschung Bei der konkreten Umsetzung dieser Vorteile in alternative Formen von kommunikationsbezogenen Schulungen halten wir auf Grand unserer langjährigen Erfahrungen 12 folgende Punkte für unabdingbar: 12 Vgl. z.B. FliegerAVist/ Fiehler (1992), Fiehler (1994), Fiehler/ Kindt (1994), Schmitt/ Brandau/ Heidtmann (1999), Schmitt (2000) und Schmitt/ Heidtmann (2000). Das Potenzial der angewandten Gesprächsforschung ... 523 1) Den Schulungen muss ein Kommunikationsmodell zu Grunde liegen, das der tatsächlichen Komplexität Rechnung trägt, ohne die Teilnehmer zu überfordern. 2) Einblicke in die Funktionsweisen von Kommunikation und in das Entwicklungspotenzial eigener kommunikativer Fähigkeiten werden von kommunikationstheoretisch und gesprächsanalytisch ausgebildeten Trainern und Trainerinnen vermittelt. 3) Übergeordnetes Ziel ist dabei, für die grundsätzlich interaktive Struktur von Gesprächen zu sensibilisieren und zu vermitteln, wie man diese Struktur im eigenen Sinne nutzen kann, ohne den anderen dabei „über den Tisch zu ziehen“. 4) Empirische Grundlage kommunikationsbezogener Seminare sind authentische Gespräche aus dem Arbeitsalltag der Seminarteilnehmer. 5) Die Aufnahmen werden vom Trainer in einer der Schulung vorausgehenden Analyse ausgewertet, um relevante Aspekte für „geführte Touren“ durch das Gespräch zu ermitteln. Hierdurch werden die mit Ad-hoc-Interpretationen verbundenen Gefahren (Übersehen relevanter Aspekte und Zusammenhänge, verkürzende Erklärungen etc.) vermieden. 6) Im Zuge der „geführten Touren“ erarbeiten sich die Seminarteilnehmer unter Anleitung des Trainers selbst grundlegende Einsichten in die Funktionsweisen von Kommunikation und in typische kommunikative Probleme (wie sie beispielsweise im Zusammenhang mit der Kundenorientierung auftreten). 7) Ziel solcher geführten Touren ist die Identifikation von besonders gelungenen Fällen und von Problemfällen. Bei den positiven Beispielen steht die Suche nach den „Erfolgsfaktoren“ im Vordergrund, bei den problematischen Fällen geht es primär um die gemeinsame Entwicklung von Alternativen. 8) Die Entwicklung kommunikativer Fähigkeiten ist ein kontinuierlicher, letztendlich lebenslanger Prozess. Einmalige Schulungen sind daher eher von symbolischem Wert, als dass sie tatsächlich zu einer anhaltenden Verbesserung des Kommunikationsverhaltens führen. Die systematische Entwicklung kommunikativer Fähigkeiten bedarf regelmäßiger Schulung. 524 Reinhard Fiehler / Reinhold Schmitt 9) Der Erfolg kommunikationsbezogener Entwicklungsmaßnahmen zeigt sich in der Praxis und muss folglich auch dort überprüft werden. 13 Ohne eine zyklische Struktur kommunikationsbezogener Weiterbildung versandet das Potenzial einmaliger Interventionen sehr schnell. Unternehmen mit einem ernsthaften Interesse an der Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen können unter den genannten Bedingungen in gesprächsanalytisch fundierten Schulungen tatsächlich mit einem dauerhaften Zuwachs kommunikativer Kompetenz ihrer Vertreter rechnen. Die Mitarbeiter/ innen werden durch die selbst erarbeiteten grundlegenden Einblicke in die Funktionsweisen von Kommunikation in die Lage versetzt, situationsangemessen, flexibel und eben auch kundenorientiert zu handeln. 5. Literatur Brons-Albert, Ruth (1995): Auswirkungen von Kommunikationstraining auf das Gesprächsverhalten. Tübingen. Bruhn, Manfred (1997): Kundenorientierung im Handel durch professionelles Qualitätsmanagement das Fallbeispiel Migros. In: Trommsdorff, Volker (Hg.): Handelsforschung: Jahrbuch der Forschungsstelle für den Handel Berlin (FfH) e.V. Wiesbaden. S. 47-70. Brünner, Gisela (2000): Wirtschaftskommunikation. Linguistische Analyse ihrer mündlichen Formen. Tübingen. Brünner, Gisela/ Fiehler, Reinhard (1998): Linguistische Untersuchungen zur Wirtschaftskommunikation. In: Sprachreport 3/ 1, 1998, S. 13-16. Brünner, Gisela/ Fiehler, Reinhard/ Kindt, Walther (Hg.) (1999): Angewandte Gesprächsforschung. Bd. 1 u. 2. Opladen/ Wiesbaden. Dfaz, Felix/ Antaki, Charles/ Collins, Alan F. (1996): Using completion to formulate a statement collectively. In: Journal of Pragmatics 26, S. 525-542. 13 ln der Regel belassen es die Unternehmen, wenn sie sich überhaupt zu kommunikationsbezogenen Maßnahmen durchringen, bei einmaligen Veranstaltungen. Dadurch kann aber deren Erfolg nicht in der Praxis überprüft werden. So ist es bezeichnend, dass es kaum Untersuchungen zum Erfolg von Kommunikationstrainings gibt; vgl. hierzu Brons- Albert (1995). Das Potenzial der angewandten Gesprächsforschung ... 525 Fiehler, Reinhard (1994): Unternehmensphilosophie und Kommunikationsschulung. Neue Wege und neue Probleme für betriebliche Kommunikationstrainings. In: Bungarten, Theo (Hg.): Kommunikationstraining und -trainingsprogramme im wirtschaftlichen Umfeld. Tostedt. S. 76-106. Fiehler, Reinhard (1999): Kann man Kommunikation lehren? Zur Veränderbarkeit von Kommunikationsverhalten durch Kommunikationstrainings. 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Liste der verwendeten Transkriptionszeichen SA: Kennzeichnung des Sprechers/ der Sprecherin SI: |ach SO: K I ironisch I Kommentar zur Äußerung (auf der Kommentarzeile) SI: | j a aber | simultan gesprochene Äußerungen stehen RE: |nein nie | untereinander * kurze Pause * * etwas längere Pause (bis max. 1 Sekunde) *3,5* längere Pause mit Zeitangabe in Sekunden = Verschleifung eines Lautes oder mehrerer Laute zwischen Wörtern (z.B. sa=mer für sagen wir) / Wort- oder Konstruktionsabbruch " auffällige Betonung (z.B. aber ge"rn) : auffällige Dehnung (z.B. ich war so: fertig) lacht nicht lexikalisierte Äußerungen Zitate aus den Transkripten werden im Text kursiv wiedergegeben. Werner Kallmeyer / Thomas Spranz-Fogasy Führung im Gespräch am Beispiel von „Eingreifen zur grundsätzlichen Voraussetzungsklärung“ Dieser Beitrag behandelt aufwändige Formen von Voraussetzungssicherung im Gespräch, bei denen ein Beteiligter die vorausgehende oder laufende Äußerung eines anderen Beteiligten zum Anlass nimmt, um einzugreifen und in einer expandierten Form aus Sprechersicht für die gegenwärtige Interaktion grundlegende Voraussetzungen zu klären. Charakteristisch für die Auffälligkeit des Vorgangs ist, dass das Eingreifen die Aktivitätsprogression im Gespräch suspendiert, bis die für das weitere gemeinsame Flandeln notwendig erscheinenden Voraussetzungen geklärt und akzeptiert sind. Eingreifende Voraussetzungssicherungen kommen teilweise in relativ einfacher Form vor, z.B. dann, wenn ein Sprecher beim Partner ein (mögliches) Missverständnis bemerkt und mit einer Äußerung vom Typ ja nee so meinte ich das nicht und einer folgenden Richtigstellung reagiert. Diese Form von Fremdkorrektur ist für die fortlaufende, in alle Aktivitäten inkorporierte Verständigungssicherung schon relativ manifest. Die hier interessierenden aufwändigen Formen der Voraussetzungssicherung im kommunikativen Handeln haben allerdings noch einen anderen Zuschnitt, der eher im folgenden Fall sichtbar wird. Im Gespräch einer jungen Frau (SW) und einer Bundestagsabgeordneten (WT) geht es um die Bafög-Berechtigung von SW, die aus zwingenden Gründen nicht bei ihren Eltern wohnen und von ihnen unterstützt werden will (sie war Opfer von Missbrauch) und deren spezifische Problemlage von der Gesetzgebung nicht angemessen erfasst wird. SW äußert von Beginn an mehrfach eine frustrierte und negative Sicht des politischen Willens und der Handlungsweise von Politikern, die sich in der vorliegenden Gesetzeslage niederschlagen. WT korrigiert die Sicht SWs in freundlicher und kooperativer Weise; auf SWs Vorstellungen einer möglichen Lösung und ihres Scheiterns am Desinteresse hin gibt WT eine expandierte zusammenhängende Darstellung der politischen Mechanismen, die eine Lösung schwierig machen. Als 530 Werner Kallmeyer / Thomas Spranz-Fogasy an dieser Stelle SW insistiert und auf ihrer Sicht beharrt, dass die Gesellschaft unmenschlich ist, greift WT ein mit nee: [ also das möcht ich hi/ da muss ich jetzt widersprechen (vgl. die Transkriptionserläuterung am Ende des Beitrags). Es folgt eine ausgebaute Zurückweisung und Richtigstellung der Ursachen-Wirkungsanalyse. In der Folge lenkt SW ein, beide Beteiligte zeigen ihre Übereinstimmung in der Einschätzung des problematischen Falles und WT setzt ihre Lösungssuche fort. Der gesprächsrhetorisch interessante Punkt ist, dass die grundsätzliche Voraussetzungsklärung immer mit einem Anspruch auf Führung im Gespräch, zumindest von mittlerer Reichweite, verbunden ist. Je nach Rollenverhältnis in der Interaktion kann die Durchsetzung dieses Führungsanspruchs unterschiedliche Ausprägungen annehmen. Das übergreifende analytische Interesse richtet sich auf die Erfassung gesprächsrhetorischer Muster, die auf der Grundlage elementarer Vorgänge der Gesprächskonstitution (wie den Sprecherwechselmechanismen, der thematischen Organisation oder der Handlungsstrukturierung) gebildet werden, die im Sinne einer Herstellung von formalen Ordnungsstrukturen die Durchführbarkeit von verbaler Interaktion sichern (vgl. Kallmeyer 1996). Die gesprächsrhetorischen Muster dienen ihrerseits als Ressource für die Ausprägung von sozial spezifischen kommunikativen Stilen, indem in sozialen Handlungszusammenhängen jeweils bestimmte gesprächsrhetorische Muster und bestimmte Realisierungsweisen systematisch bevorzugt werden (vgl. Keim/ Schütte i.Dr.). Die folgenden Ausführungen zielen darauf, (a) nach einer kurzen theoretischen Einordnung (Kap. 1.) die Eigenschaften des gesprächsrhetorischen Musters an dem oben schon eingeführten Beispiel aufzuzeigen (Kap. 2.), und (b) einige Realisierungsvarianten vorzuführen und dabei sowohl Einblick in die Variationsvielfalt zu geben als auch die Konstanz des Musters in variablen Erscheinungsformen zu verdeutlichen. Dafür soll zunächst eine verschärfte Variante des Eingreifens zur grundsätzlichen Voraussetzungssicherung dargestellt werden, die mit einer Zurechtweisung des Anderen verbunden ist (Kap. 3.). In der Folge wird dann an zwei Fällen eine Variante vorgeführt, bei der die Kritik am Anderen gedämpft bzw. ausgeklammert ist, und die Präsentation der eigenen Position eher den Charakter eines suggestiven Vorschlagens einer Perspektivenänderung hat (Kap. 4. u. 5.). Führung im Gespräch 531 1. Zur theoretischen Einordnung „Eingreifen zur Voraussetzungssicherung“ ist eine reagierende Aktivität und zugleich eine Durchsetzungsinitiative. In der sprechakttheoretisch orientierten Pragmatik sind relativ wenige Arbeiten zu negativ reagierenden Sprechakten entstanden. Ausnahmen bilden u.a. die Behandlung von „nonresponsiven Antworten“ (Schwitalla 1979) und „nichtakkordierenden Sprechakten“ (Apeltauer 1980). Reagierende Handlungen und insbesondere auch die Verbindung von Reaktion und Initiative in einer Aktivität rückt dann generell in der Gesprächsanalyse ins Zentrum, u.a. im Zusammenhang mit Konfliktanalysen (Schank/ Schwitalla 1987, Kallmeyer/ Schmitt 1996 und viele andere). Die Auffälligkeit des Eingreifens in der hier gemeinten Form lässt sich unter Bezug auf allgemeine Regeln der sprachlichen Interaktion so verdeutlichen: Eingreifen zur grundsätzlichen Voraussetzungssicherung nimmt die Regel in Anspruch, wonach generell Voraussetzungssicherung in der Interaktion Vorrang hat vor der Realisierung von Folgeaktivitäten, die möglicherweise von den fraglichen Voraussetzungen betroffen sind (vgl. Kallmeyer 1977). Der Vorrang der Voraussetzungssicherung ist besonders deutlich bei der lokalen, auf die aktuelle bzw. voraufgehende Äußerung bezogenen Verständigungssicherung. Die Vermeidung von Fehlinterpretationen hat Vorrang vor der Fortsetzung des Handlungskomplexes. Diese Präferenz wird durch andere Regeln begrenzt, die dazu führen, dass Verständigungssicherung normalerweise nicht ohne Not initiiert wird und im Bearbeitungsaufwand begrenzt bleibt (vgl. u.a. Schegloff/ Jefferson/ Sacks 1977). Zu den zentralen Restriktionen dieser Art von Verständigungssicherung gehören die thematische Gebundenheit und die Expansionsbegrenzung (vgl. auch Kallmeyer 1999). Die Grundsätzlichkeit der Voraussetzungsklärung setzt nun die Expansionsbeschränkungen außer Kraft, was oft bereits zu markanten und teilweise aufwändig realisierten Formen des Eingreifens führt. Ziel der grundsätzlichen Voraussetzungsklärung ist eine Perspektivenänderung beim Adressaten, konkret ein Austausch der handlungsrelevanten Voraussetzungen. Ein Kernelement der Realisierung ist Widersprechen, vor allem in der Form von Zurückweisung und Richtigstellung bzw. Gegendarstellung (vgl. Spranz-Fogasy 1986). Zu den für die Entwicklung der linguis- 532 Werner Kallmeyer / Thomas Spranz-Fogasy tischen Pragmatik wichtigen Schritten gehört u.a. der Übergang von der grammatischen Betrachtung von Position und Negation zur pragmatischen Betrachtung von Zustimmen und Ablehnen. Auch die Arbeiten von Gerhard Stickel spiegeln diese Entwicklung mit zwei Titeln über die Grammatik der Negation im Deutschen (1970) und ja und nein als Kontroll Signale im Dialog (1972) wider. In dieser diskursanalytischen Betrachtung findet sich auch der Hinweis, dass ja als Kontrollsignal teilweise uneindeutig ist, weil es entweder nur Verstehen signalisieren kann oder auch Akzeptieren. Wie die kleinen Beispiele oben zur Verständigungssicherung bereits zeigen, gibt es auch die Möglichkeit, beide Aspekte der Reaktion getrennt auszudrücken durch ja nein, wobei das erste Element sich auf das Verstehen bezieht und das zweite auf den Gesichtspunkt des Akzeptierens. Untersuchungen an Sammlungen solcher Verwendungen von ja nein zeigen, dass ja dabei offensichtlich die Funktion hat zu signalisieren, dass der Sprecher nicht vorschnell, ggf. ohne genau zugehört zu haben, widerspricht. In diesem Sinne ist die vorgeschaltete Verstehensbestätigung eine Absicherung des folgenden Widersprechens. Die Sprecher benutzen dafür in der Regel Verknüpfungsmuster wie JA- ABER oder NICHT-SONDERN (Kallmeyer/ Schmitt i.Vorb.). Die bisherigen Untersuchungen zeigen, dass bei Äußerungen, in denen sich der erste Teil auf die Position des Anderen bezieht, NICHT-SONDERN in der Regel wegen der expliziten Zurückweisung der Adressatenposition als deutlich schärfer eingestuft wird als JA-ABER-Konstruktionen, in denen im ersten Teil das Verstehen bestätigt und ggf. auch die Berechtigung des Standpunkts anerkannt wird, allerdings verbunden mit einer Einschränkung der Zustimmung (Kallmeyer/ Schmitt i.Vorb.). Die Härte der Durchsetzungsinitiative hat u.a. mit der Wahl solcher Äußerungsformative zu tun. Grundsätzliche Voraussetzungsklärungen sind expandierte Sachverhaltsdarstellungen, die sich unter Verwendung von Äußerungsformativen wie JA- ABER, NICHT-SONDERN, EINERSEITS-ANDERERSEITS, WENN-DANN, WEIL usw. oft in mehreren Schüben mit stufenweise fortschreitender Detaillierung entfalten. Sie folgen einem teilweise auch explizit angegebenen Darstellungsprogramm vom Typ „die Dinge im Zusammenhang darstellen“ oder „noch einmal von vorne anfangen“ und haben eine argumentative Struktur (vgl. u.a. Spranz-Fogasy i.Dr. a, b). Charakteristisch ist weiter die Verwen- Führung im Gespräch 533 dung von allgemeinen Aussagen zu den Bedingungen des gemeinsamen Handelns in Form von Leitsätzen und Maximen. 2. Muster: „Eingreifen zur grundsätzlichen Voraussetzungsklärung“ An dem bereits erwähnten Beispiel sollen die allgemeinen Eigenschaften des Musters „Eingreifen zur grundsätzlichen Voraussetzungsklärung“ genauer demonstriert werden, wie sie aus der vergleichenden Analyse einer Sammlung von Fällen gewonnen worden sind. Als Grundlage dient dabei ein umfangreiches Korpus zur „Gesprächsrhetorik“ und zum „Kommunikativen Handeln gesellschaftlicher Führungskräfte“. Voraussetzungsklärungen beziehen sich auf Kontexte, in denen die zu klärenden Voraussetzungen relevant sind. Diese Bezugsrahmen sind Handlungsschemata, die gemeinsam etabliert wurden oder als gemeinsam etabliert unterstellt werden. Für die Durchführung dieser Handlungsschemata sind bestimmte Voraussetzungen erforderlich, die vielfach zu den allgemeinen Sinnstrukturen übergreifender sozialer Rahmen gehören, z.B. der Welt der Politik oder des Geschäftslebens. Kernstücke sind u.a. allgemein anerkannte Zielsetzungen, Prinzipien des angemessenen Handelns und relevante soziale Kategorien mit ihren Rechten und Pflichten. Im vorliegenden Fall geht es um die Bedingungen des politischen Handelns und insbesondere die Handlungsbereitschaft der Politiker als Voraussetzung für einen gemeinsamen Problemlösungsversuch von WT und SW. SW wendet sich zwar einerseits an die Politikerin WT, zeigt zugleich aber tiefsitzende Vorbehalte gegenüber der Handlungsweise von Politikern. WT greift ein erstes Mal ein, als SW die Aussage des Gesetzestextes aus ihrer eigenen Perspektive wiedergibt (so für mich heißt das so wir wissen zwar dass es die gibt] *1 * ^diesemanschen] die irgendwie nich bei ihren eitern leben können] -^>da es wirklich unzumutbar is]- 1 — aber das interessiert uns überhaupt gar nicht das is ne minderheit] >und ähm-< * sind auch gar nich viele). WT liefert eine Interpretationskorrektur (äh das heißt es ja ni“cht... das steht ja hier ni“ch sondern es heißt nur ...), erkennt aber die Berechtigung der Beteiligtenperspektive von SW ausdrücklich an und bekräftigt ihren eigenen Willen zur gemeinsamen Problemlösung. 534 Werner Kallmeyer / Thomas Spranz-Fogasy Anlass für Aktivitäten der grundsätzlichen Voraussetzungssicherung sind Diskrepanzen der relevanten Wissensbestände und insbesondere der Beteiligtenperspektiven, so dass eine gemeinsame Erreichung des Handlungsziels gefährdet ist oder unmöglich wird. Die eingreifende grundsätzliche Voraussetzungsklärung entwickelt sich häufig in mehreren Schüben: Nach einer ersten, noch zurückhaltenden Intervention gibt die Adressatenreaktion Anlass zu einer insistierenden und weiter ausgebauten Realisierung des Verfahrens. Auch im Beispiel zeigt sich, dass SW ihre skeptische Perspektive beibehält, so dass WT sich erneut veranlasst sieht einzugreifen. Diese Voraussetzungsklärung entwickelt sich wiederum in zwei Schüben. 2.1 Erste grundsätzliche Erklärung von WT SW entwirft einen politischen Lösungsansatz für ihren Falltyp: ja aber dann müsste doch im prinzip auch irgendwie so=n amt oder irgend <—so=n vereinj—* oder sowas irgendwo oder ne Verwaltung] entstehen] die sich um diese fälle kümmert] (971-976). WT zeigt manifest Verstehen und Anteilnahme. Daraufhin schließt SW eine Anliegensfrage an: und dann kann man nich irgendwelche arbeitslosen aufgreifen und diese- * diesen verein gründen] (984-987), d.h. eine Interessenvertretung für sie und ihre Schicksalsgenossinnen. Auf SWs Anliegensfrage reagiert WT mit einer expandierten Erklärung der Voraussetzungen politischen Handelns. Am Beginn zeigt sie mit dem Aufmerksamkeitsappell wissen sie einen Wechsel in der Darstellungsform an. Ein solcher Ebenenwechsel hin zu einer umfassenden Klärung ist charakteristisch für das Muster und oft verbunden mit Formen gesteigerter Involviertheit. 986 WT: wissen sie) * 987 SW: diesen verein gründen) *1* 988 WT: natürlich Ikölnnte man das) aber man bräuchte dafür wieder 989 SW: Ija I 990 WT: mittel) *1,5* und die müsste man von steuergeldem 991 WT: nehmen) <—und * das passiert in der tat—> ** 992 SW: hmhm * 993 WT: immer nur dann wenn ein großes interesse daran 994 WT: besteht) und das große interesse ist leider gottes Führung im Gespräch 535 995 WT: oft gebunden an die große zahlf ** 996 SW: >ja< *1* WTs Erklärung hat manifest grundsätzlichen Charakter; sie zielt auf die Gesetzmäßigkeiten politischer Prozesse. Der grundsätzliche Charakter der Erklärung wird u.a. durch eine Stufenfolge von Bedingungen verdeutlicht: natürlich könnte man das], aber man bräuchte dafür wieder mittel und die müsste man von Steuergeldern nehmen und das passiert in der tat immer nur dann wenn ein großes interesse daran besteht und das große interesse ist leider gottes oft gebunden an die große zahl SWs leise, einsilbige Reaktion ohne Zeichen von Expansionsbereitschaft (** >ja[< *1*, Z. 996) signalisiert Nichteinverständnis bzw. eine erwartbare negative Reaktion. Darauf reagiert WT mit einer Expansion (ab Z. 997), die eine konkretisierende Detaillierung zur Aussage das große interesse ist leider gottes oft gebunden an die große zahl liefert: 997 WT: also wenn viele eitern- * <—ähm—> kinder habenf ** dann 998 WT: kann es schon mal- * soviel politischen druck geben 999 WT: dass gesacht wird wir müssen das kindergeld erhöhen], 1000 WT: ** aber wenn- * einzelne eitern] schlecht mit ihren 1001 WT: hindern umgehn] * dann wird man * bestimmte 1002 WT: hilfeeinrichtungen organisieren] natürlich] * >wir 1003 WT: sind ja keine< unmenschliche gesellschaft] aber es 1004 WT: wirds wird immer- Der grundsätzliche Charakter der Klärung wird durch Verallgemeinerungen, die Einbettung in „weite“ Kontexte und den Bezug auf Regeln, Mechanismen, Grundsätze, Prinzipien sowie übergeordnete Ziele realisiert. So erläutert WT allgemeine Eigenschaften politischer Prozesse (unter Verwendung einer WENN-DANN-Struktur) und Voraussetzungen des politischen Handelns (wir sindja keine unmenschliche gesellschaft). 536 Werner Kallmeyer / Thomas Spranz-Fogasy Der Charakter des Widersprechens ist auch im vorliegenden Fall unter Verwendung des Verknüpfungsmusters JA-Aß ER realisiert, aber ohne ausdrückliche Zurückweisung wie beim Formativ NICHT-SONDERN. Der Widerspruchscharakter ist weitgehend gedämpft, und insgesamt behält WT eine manifest kooperative Modalität bei. Diese drückt sich auch in der ruhigen Sprechweise und dem Gestus des Rekapitulierens aus: Die Darstellung setzt ohne Eile ein (nach 1 Sek. Pause) und wird relativ langsam und mit vielen Pausen produziert, wobei vor allem mit der Expansion ab Zeile 997 das Tempo sinkt und sich die Pausen häufen. In dieser Phase der grundsätzlichen Voraussetzungsklärung erscheint keine offene Zurechtweisung der Adressatin. Vielmehr wird mit der Aufklärung eine Perspektivenänderung nahegelegt: SWs Vorstellung einer unmittelbaren, relativ spontanen Abhilfe mit einer Strategie des kurzen Weges wird als unrealistisch dargestellt und konfrontiert mit einer realistischen Sicht der politischen Mechanismen, die dazu führen, dass auch in einer Gesellschaft, die nicht unmenschlich ist, die Belange von Einzelnen zwangsläufig weniger Gewicht haben als die Interessen von Vielen. 2.2 Das definitive Eingreifen von WT SW widerspricht und insistiert auf einer systemkritischen Position: aber es geht doch sehr in dieserichtung einer unmenschlichen gesellschaft{. Die Begründung unterstellt eine allgemeine Entwicklungstendenz in der Gesellschaft (da es immer mehr solcher minderheiten gibt). 1005 SW: aber es geht doch sehr in diese- 1006 SW: richtung einer unmenschlichen gesellschaftf * da es 1007 SW: immer mehr solcher minderheiten gibt diein diesem 1008 SW: * in diesem mit diesen gesetzen und so irgendwo also 1009 SW: durch diese gesetze irgendwo nich wirklich ähm * ja 1010 SW: immer wieder auf probleme stoßenJ, Die Verallgemeinerung bedeutet eine Verschärfung des Vorwurfs, dass die Politik mit SWs Falltyp zynisch umgeht bzw. an diesem Falltyp ihren Zynismus offenbart. WT reagiert ihrerseits mit einem verschärften Zug: Führung im Gespräch 537 1011 WT: nee: J, also das 1012 WT: möcht ich hi/ da muss ich jetzt widersprechen Idasl 1013 SW: Ija I 1014 WT: ksin ja nich die-> I es sind 1015 SW: ich weiß nich lieh erleb das irgendwie soJJ 1016 WT: ja nicht die probleme da weil die gese"tze schlecht 1017 WT: sindj, sondern weildie menschen nich mitenander 1018 WT: vernünftig umgehn| und deswegen <braucht> man dann 1019 WT: bestimmte gesetze und die gesetze mögen <da"nn> * 1020 WT: für diese * <—konfliktfällej,—> und für die notfälle 1021 WT: nich ausreichend sein j das geb ich ihnen gerne zu j 1022 WT: aber sie können ni"ch sagen j weil die gesetze so 1023 WT: sind geht=s den leuten schlechtJ, sondern * dass es 1024 WT: li"hnen schlecht geht hatl erstmal was damit zu tun 1025 SW: Ine: aber nein das das I 1026 WT: dass es in ihrer familie nicht funktioniert >hatj,< 1027 SW: ja klar]. Diesmal wird die Diskontinuitätsmanifestation als ein weiteres konstitutives Merkmal des Musters deutlich. Charakteristisch sind Diskontinuitätssignale und Widerspruchsmanifestationen wie nein bzw. nee o.Ä., Anreden, metakommunikative Formeln und ggf. auch Unterbrechen des Redebeitrags des Anderen. WTs Reformulierung von also das möcht ich hi/ zu da muss ich ihnen jetzt widersprechen zeigt, wie sie mit der Hervorhebung der Dringlichkeit (Modalität der Notwendigkeit) die Merkmale des Eingreifensmusters zielstrebig verstärkt; dazu gehört auch ihr manifestes Beharren auf dem Rederecht (Z. 1014). Außerdem wird mit jetzt in der definitiven Formulierung eine Positionierung in der Interaktionsentwicklung vorgenommen, die über den inhaltlichen Bezug auf die unmittelbare Vorgängeräußerung von SW mit da hinausgeht. Die temporale Deixis bezieht sich auf das Insistieren von SW und die damit gesteigerte Notwendigkeit für WT zur Klärung der relevanten Voraussetzungen. Diesmal ist auch die Veränderung der Darstellungs- und Beteiligungsweise deutlicher: Diese Äußerung wird schneller und mit weniger Pausen produziert als die erste Voraussetzungsklärung. 538 Werner Kallmeyer / Thomas Spranz-Fogasy Markanter als in der ersten Bearbeitung ist auch die Ausprägung von Zurückweisung und Richtigstellung (es sind ja nicht die probleme da weil die gesetze schlecht sind sondern weil die menschen nicht vernünftig mit einander umgehen), Einräumung (die gesetze mögen ... nicht ausreichend sein das geh ich ihnen gerne zu) und Widersprechen (aber sie können nicht sagen ...). WTs Intervention zielt auf eine Perspektivenänderung bei SW: Bearbeitet wird die Voraussetzung der Politikkritik bzw. Systemkritik mit der drohenden Konsequenz der Resignation; diese Voraussetzung würde die weitere gemeinsame Problembearbeitung gefährden bzw. unmöglich machen. Die von WT dagegen gesetzte Voraussetzung ist: Die Politik ist unzulänglich, aber nicht unmenschlich, und daher sind Initiativen im Rahmen der realistisch gesehenen politischen Möglichkeiten nicht chancenlos es lohnt sich, politisch zu handeln. In diesem Kontext wird auch als ein weiterer Aspekt des Musters die Fundierung des Geltungsanspruchs der Voraussetzungsklärung deutlich. Eine Rolle spielen dabei generell die Relevanz und die Gefährdung des gemeinsamen Aktivitätsprogramms (hier: die Behandlungsbedürftigkeit des Problems), die Bedrohung des organisationsspezifischen Programms, dessen Sachwalter der Sprecher ist (hier in dem Sinne relevant, dass WT in ihrem Selbstverständnis als Politikerin tangiert ist) und die Kompetenz des intervenierenden Sprechers. Die Kompetenzdemonstration hat zwei mögliche Elemente bzw. „Betätigungsfelder“: zum einen die Manifestation des Partnerverstehens, zum anderen die Situationsanalyse, wie sie im expandierten Darstellungsprogramm erscheint. 2.3 Verarbeitung durch den Adressaten und Folgehandlungen des Initiators In der Folge kommt es zur Herstellung einer für beide Seiten akzeptablen Lesart als Grundlage für das weitere gemeinsame Lösungshandeln. SW behandelt den Dissens zunächst zumindest partiell als Verständigungsproblem (das weiß ich auch) und Richtigstellung: aber durch die gesetze] ko/ stoß ich immer wieder auf neue probleme dadurch dass ich diese Vergangenheit habe. Diese Sicht wird von WT ausdrücklich akzeptiert: ja das ist richtig. Auf der neu etablierten gemeinsamen Grundlage setzt WT die Ent- Führung im Gespräch 539 Wicklung eines gemeinsamen Handlungsprogramms konstruktiver Politik fort (mit so=ner petition erfolg haben). Die Beispielanalyse hat geholfen, den Aufbau des komplexen gesprächsrhetorischen Musters „Eingreifen zur grundsätzlichen Voraussetzungsklärung“ zu präzisieren. Als Kernelemente treten dabei hervor: die Markierung von Diskontinuität (Durchbrechen der Aktivitätsprogression), Ebenenwechsel (gesteigertes Engagement, „grundsätzlich“ werden) sowie der „Austausch“ der fraglichen Voraussetzungen. Zum inneren Aufbau gehört auch, dass von den Kemelementen wiederum weitere Elemente abhängen, gleichsam sekundär ins Spiel kommen. Dazu gehört z.B. die Legitimation des grundsätzlichen Eingreifens. Häufig verbinden sich zwei Elemente der Legitimation: Steigerung des korrigierenden Eingriffs als Insistieren nach (mindestens) einer voraufgehenden, schwächer markierten Initiative, d.h. als Reaktion auf einen wiederholten Anlass; zum Zweiten, und als Folge aus dem ersten Element, durch die fallübergreifende Bedeutung der Voraussetzungssicherung, die nicht nur für den aktuellen Fall, sondern auch für zukünftige Handlungen relevant ist, und nicht nur für das Handeln des unmittelbaren Adressaten, sondern auch anderer Personen (vgl. Formulierungen wie weil ich das immer wieder höre). 3. Verschärfung des Eingreifens mit Zurechtweisung des Adressaten Am folgenden Beispiel soll eine „Verschärfung“ des Eingreifens gezeigt werden. Die Interaktion entwickelt sich analog zum ersten Beispiel in zwei Schüben, wobei wiederum wesentliche Elemente der grundsätzlichen Klärung schon im ersten Schub formuliert werden und im zweiten Schub, in Reaktion auf das Insistieren des Adressaten, die Durchsetzungsanstrengungen markant gesteigert werden. Das definitive Eingreifen hat den Charakter einer Zurechtweisung bzw. ein Potenzial der Bedrohung für den Adressaten. Das Beispiel stammt aus einem der regelmäßigen Arbeitstreffen des Vorstandsvorsitzenden eines regionalen Energieversorgungsunternehmens, WE, und seiner Abteilungsleiter. Der Interaktionsrahmen ist durch die Aufgabenorientierung, d.h. die Ausrichtung auf „gemeinsam Geschäfte machen“, die klare Asymmetrie der Beteiligungsrollen und den damit Zusammenhängen- 540 Werner KaUmeyer / Thomas Spranz-Fogasy den Äußerungsrechten im Arbeitstreffen bestimmt. Während WE einen sehr ausführlichen Bericht gibt, sind die Beiträge der Anderen zum Bericht in der Regel kurz und in erster Linie als Fragen formuliert. WE beantwortet sie jeweils schnell und tendenziell kurz. Nach der Beantwortung erscheint regelmäßig keine Rückmeldung des Fragers mehr, sondern WE geht zur nächsten Wortmeldung über. Als übergeordneter Rahmen ist eine spezifische Geschäftswelt mit ihren allgemeinen Leitvorstellungen des professionellen Handelns, der Ziele und Bewertungskriterien ausschlaggebend. Einer der Abteilungsleiter, AM, berichtet von der Anfrage eines potenziellen Kunden, der den Markt sondieren will und einen Partner mit besonders günstigen Konditionen sucht. WE signalisiert eingangs sein Verstehen des Sachverhalts (völlig klar[ **) und bewertet dann in einem ABER-Teil (bloß zunächst einmal...) das in der Anfrage angedeutete Geschäft als völlig uninteressant. Die durch völlig klar ausgedrückte Modalität der Fraglosigkeit hebt einerseits das Verstehen von WE und damit seine Kompetenz hervor (alles längst bekannt und durchschaut; solche Vorstöße machen Kunden immer wieder) und signalisiert damit zugleich die Herabstufung der Relevanz des thematischen Sachverhalts. Dieser Relevanzrückstufung entspricht die krasse Asymmetrie des Formulierungsaufwands: Der kurzen Zustimmungsformulierung völlig klar stehen lange Ausführungen zu ABER gegenüber (13 Zeilen im Transkript). Dieser Teil wird als mehrteilig eröffnet (bloß zunächst einmal: ) und durchgeführt (und dann de zweiter punkt äh weiterer punkt is noch). Dargelegt wird eine Analyse der Marktsituation und der Strategien der Mitbewerber (wollen diesen * gaspreiskrieg nicht]) und das eigene Desinteresse an einem Geschäft der angebotenen Art (der Interessent hat bereits einen so günstigen Gaspreis, das macht gar keinen spaß da irgendetwas zu liefern). Es folgt die Konsequenz für das geschäftliche Handeln in der aktuellen Situation (also von daher [...] kann man das ganz beruhigt äh sich ansehen] * wir bieten unsere Standardkonditionen] und dann wissen wir [...] dass wir mit diesen Standardkonditionen gar nich landen können]). Die Äußerung schließt mit einer Reformulierung der Bewertung des angebotenen Geschäfts (nicht lukrativ) und einer generellen Maxime (nur mengenwachstum mit roten zahlen macht keinen spaß). WE behandelt AMs Vorstoß in diesem ersten Durchgang kooperativ. Die Antwort ist im Vergleich zu den voraufgehenden relativ expandiert. Die Führung im Gespräch 541 Bereitwilligkeit zur Voraussetzungsklärung ist u.a. im Expansionsprogramm erkennbar, das von Beginn an angezeigt wird (zunächst einmal). Die Sprechweise ist ruhig, mit häufigen Pausen, teilweise langsamer als bei den früheren Antworten WEs auf Fragen seiner Abteilungsleiter. Die Tonhöhe ist niedrig, die Intonationskonturen haben nur geringe Expressivität. Insgesamt kennzeichnet die Äußerung eine Formulierungsmodalität der Gelassenheit. AM hakt noch einmal nach. Er signalisiert mit aber Widerspruch und insistiert darauf, dass es Umstände gibt, die das Geschäft bedenkenswert machen können (der Kunde denkt daran, im Verbund mit anderen günstiger einkaufen zu können). Gehäufte Verzögerungs- und Korrektursignale (dass äh * ahm sie * sie also stadtwerke äh Stahlwerke) machen die Äußerung auffällig im Vergleich mit der ersten Intervention von AM und auch im Vergleich mit den Fragen der Anderen. Die auffällige Formulierungsweise hat vermutlich mit dem Insistieren gegenüber dem Vorstandsvorsitzenden in der Öffentlichkeit der Versammlung zu tun. Solche Hartnäckigkeit kommt in den Gesprächen von Führungskräften mit institutionellen Untergebenen sonst fast nicht vor (vgl. Spranz-Fogasy i.Dr. c). Das folgende Eingreifen von WE zeigt einige Merkmale der Verschärfung. Dazu gehört bereits der Start mit Unterbrechen der laufenden Äußerung AMs. WE begleitet den Beitrag seines Abteilungsleiters zunächst mit knappen Rückmeldesignalen (ja [...] hrnhm). Im weiteren Fortgang sucht er zu intervenieren (Zeile 452), zieht aber in Reaktion auf die Konkurrenz um das Rederecht noch einmal kurz zurück, bevor er dann unterbricht. Die Anrede (Zeile 453) entspricht einer Diskontinuitätsmarkierung: 450 AM: Verfügung stelltf |und die ne | (fünfzig) 452 WE: l>das is natürliche! 453 AM: kilometer durchleitung äh 454 WE: herr (NAME AM) Es folgt eine komplexe JA-ABER-Konstruktion. Der Einräumungsteil wird gerahmt durch das istja durchaus richtig und die abschließende Reformulierung der Zustimmung ist doch völlig klar. Die Sprechweise ist gegenüber der voraufgehenden Äußerung WEs deutlich verändert. Das Tempo ist schneller, und es erscheint fortlaufend ein spezifisches Intonationsmuster. Charakteristisch dafür sind prosodische Einheiten mit relativ hohem Einsatz, gleichblei- 542 Werner Kallmeyer / Thomas Spranz-Fogasy bend hoher Tonlage (im Transkript mit H wiedergegeben) ohne deutliche Akzentunterschiede, mit einem markanten Intonationsgipfel (A) mit deutlichem Endabfall. Das prosodische Muster entspricht dem von Hartung (1996) beschriebenen Intonationsmuster der Gereiztheit. Die von Hartung festgestellte Tendenz zum skandierenden Sprechen bei gesteigerter Erregung ist hier nicht zu beobachten, aber die anderen Merkmale sind stark ausgeprägt: 454 WE: herr (NAME AM4) das is ja durchaus richtig ähm * H A 456 WE: wenn jetzt sag=mal ihre mutter zu“ uns käme) 457 WE: könnte sie mit uns gemeinsam au: ch günstiger gas einkaufenf *1,5* H A 458 WE: jeder künde kann das mit uns >wenn er sich bei uns dranhängt|< H A 459 WE: dann kriecht er- * 1 * —»diese hundert millionen kubikmeter 460 WE: dann eben zum gemeinschaftspreis is doch völlig klar- ** H A H A) Die für Einräumungen charakteristische Zustimmungseinschränkung wird durch das als hyperbolisch und absurd modalisierte hypothetische Beispiel mit einer Referenz auf AMs Mutter als Extremfall ausgedrückt. Nach kurzer Pause erfolgt eine massive Formulierung des Nichteinverständnisses (bloß das bringt mich nicht weiter) mit einer Begründung (denn ...) und einer abschließenden Feststellung (nützt uns ja überhaupt nichts oder nützt dem künden gar nichts). Auch hier erscheint mehrfach das prosodische Muster der Gereiztheit: 462 WE: bloß das bringt mich nich weiterJ, *2* H A 464 WE: denn wi/ wir reden * immer wieder auch 465 WE: im st/ im gasbereich über unsre briefmarkef 466 WE: und wenn ich mal ne briefmarke nehmet und deren durchleitungj *1* 467 WE: dann bin ich wieder bei den standardpreisen j. * H A 468 WE: der einkauf an=ner gre"nze nützt uns ja überhaupt nichtsj,—> / \ / \ H A Führung im Gespräch 543 469 WE: oder nützt dem Kunden gar nichts<— *4* A Es folgen dann vier Expansionsschübe mit der Darstellung von Beispielfällen, einer allgemeinen Betrachtung über die Mentalität der Kunden und einem hypothetischen Durchspielen der Konsequenzen eines solchen Geschäftes. Jeder dieser Darstellungsschübe endet mit einer längeren Pause (bis zu 7 Sekunden). Alle Expansionen stützen das Urteil, das WE bereits in der ersten JA-ABER-Konstruktion dargestellt hat. Schließlich formuliert er als Fazit eine generelle Einschätzung des Marktes und der gemeinsamen Ziele der Anbieter (preiskrieg vermeiden). Mit den Expansionsschüben ändert sich schrittweise die Äußerungsmodalität. Das Gereiztheitsmuster taucht hin und wieder auf, aber längst nicht mehr so konsistent. Außerdem deutet sich eine Umorientierung der Kritik auf außenstehende Dritte an: Eine markante Realisierung des Gereiztheitsmusters liegt auf der kritischen Darstellung der Kundenmentalität; und der Bericht über einen Vorstandsvorsitzenden eines anderen Unternehmens, der sich auch in der Einschätzung vertan hat und seinen Irrtum korrigieren musste, wird durch ein kleines Lachen von WE markiert. Diese Umorientierung auf Personen draußen als Zielscheibe legt eine gemeinsame Sicht der Insider nahe. Das Fazit schließlich hat insgesamt wieder den ruhigen, tiefen und selbstverständlich wirkenden Tonfall. Erst dann, nach wiederum zwei Sekunden Pause, übernimmt AM das Rederecht mit einer Frage an WE zu einer allgemeineren Thematik, die an die voraufgehenden Themen zur allgemeinen Beschaffenheit des Marktes anschließt. Diese Frage ist offensichtlich auch ein Friedensangebot seitens AM, das WE annimmt, indem er seinen normalen Frage-Antwort-Habitus wieder etabliert, den er in den beiden Durchläufen zuvor vermissen lässt. Die Interaktionssituation ist renormalisiert. Im Unterschied zum ersten Beispiel (WT und SW), bei dem die grundsätzliche Voraussetzung von WT Bestandteil der folgenden gemeinsamen Aushandlung ist (was u.a. an den ausdrücklichen Bestätigungen und der Perspektivenberücksichtigung erkennbar ist) und als Schritt zur Herstellung eines Arbeitsbündnisses für gemeinsame Problemlösungsaktivitäten fungiert, geht es im vorliegenden Fall nicht um Aushandlung, sondern um die Setzung 544 Werner Kallmeyer / Thomas Spranz-Fogasy und Durchsetzung von Vorgaben für das gemeinsame Handeln. Dementsprechend hat auch die Renormalisierung nicht den Charakter einer offenen Aushandlung, sondern eines verdeckten Prozesses der beidseitigen Annäherung an die Normalform des Wohlverhaltens. 4. Eingreifen mit der Inszenierung einer divergenten Perspektive Demonstriert werden soll nun eine alternative Form der Korrektur von Voraussetzungen des Anderen. Das Eingreifen entwickelt sich nicht in zwei Schüben mit einer Steigerung der Durchsetzungsanstrengung wie in den voraufgehenden Fällen; vielmehr gibt der intervenierende Sprecher zunächst einmal dem Anderen ausreichend Gelegenheit zur Bearbeitung einer Aufgabe und greift erst ein, als aus seiner Sicht der Andere die Gelegenheit nicht angemessen, d.h. in Übereinstimmung mit den relevanten Voraussetzungen nutzt. Es erscheinen auch keine expliziten Zurückweisungen, Widersprüche und Richtigstellungen bzw. nur andeutungsweise und in stark abgemilderter Form. Das Erfordernis einer Korrektur wird durch die manifeste, demonstrative Konzentration auf eine kontrastierende Perspektive verdeutlicht. Interaktionsrahmen ist die Geschäftsverhandlung zweier durch eine längere Zusammenarbeit vertrauter Partner, eines Gebäckproduzenten (AN) und des Vertreters einer Verkaufsorganisation (DE). Sie sind zusammengekommen, um eine Zusammenarbeit bei einer neuartigen Marketingstrategie zu besprechen. DE, der Initiator, hat zur Vorbereitung der Sitzung brieflich die besonderen Eigenschaften des anvisierten Geschäfts und seine damit zusammenhängenden Konditionsforderungen dargestellt. Nach einem Gespräch über die Marktbedingungen und einer Produktpräsentation eröffnet DE die Preisverhandlung, in die AN ohne Zögern einsteigt. DE zeigt zum ersten Mal bei der Vorbereitung des Übergangs zur PreisVerhandlung eine Orientierung auf sein Notizbuch vor sich, das er durch anhaltendes, auffälliges Blättern und sinnendes jajaja beim Blättern als bedeutsames Objekt einführt. Bei der Formulierung der Eröffnung (dann lassen=se uns mal zum preis kommen) blickt DE fest in sein aufgeschlagenes Notizbuch. Er behält diese Ausrichtung bei, nur durch kurze Blickhebungen zu AN unterbrochen. DE behandelt das Notizbuch als „symbolischen Ort“ für Führung im Gespräch 545 die spezifischen Bedingungen und Anforderungen des geplanten Geschäfts (zu Prozessen der situativen Symbolherstellung vgl. Streeck/ Kallmeyer 2001). Den Anlass für DEs Intervention bildet ANs erste Behandlung der Preisfrage, die sich ausschließlich auf die Standardkonditionen bezieht und die Informationen in DEs Brief nicht berücksichtigt. AN schließt einen ersten Darstellungsteil mit einem markanten Schaltsignal (50 “j) und projiziert damit einen zweiten Teil: 2374 AN: das gesamte fforentinersortiment * kostet * 2375 AN: fümunzwanzich mark * und zwanzig pfennig ** 2376 AN: bru"ttoJ, *2* so"f ** 2377 DE: >mhmj.< *2* jetz ne mischung 2378 AN: unsere ** eine mischung oder * einzelsortenf 2379 DE: mhm DE arbeitet zunächst kooperativ mit durch eine Zusatzaufforderung, die sich auf eine Ergänzung des ersten Teils und noch nicht auf einen kontrastierenden zweiten Teil bezieht. Die Aufforderung löst eine kurze Präzisierung aus und ist damit abschließend bearbeitet. DEs Rückmelder zeigt Verzicht auf Redeübernahme an, und AN setzt fort. AN expandiert seine Darstellung unter Bezug auf Erfahrungen mit speziellen Produkten, die aber nicht die Preisgestaltung und vor allem nicht DEs briefliche Hinweise auf angemessene Konditionen betreffen. DE beteiligt sich mit Äußerungsvervollständigungen (er kennt die Erfahrungen mit den speziellen Produkten) und einem kurzen Kommentar. AN expandiert daraufhin noch einmal den Erfahrungsbericht zu den speziellen Produkten. Jetzt nimmt DE eine nachdenkliche Haltung ein (rechter Arm aufgestützt, Kopf auf die rechte Hand gestützt, Stirn reiben; im Transkript als N-Haltung angegeben) und liefert keine Rückmeldungen mehr: 2397 AN: schon einen flop ef'nbaun * der sich nachher 2398 DE: mhm Blick auf Buch, konstant 2399 AN: auf das ganze Sortiment unter umständen * äh: *2,5* DE legt Stift weg, N-Haltung, konstant 546 Werner Kallmeyer / Thomas Spranz-Fogasy 2400 AN: das der das ganze Sortiment * falsch darstelltj, 2401 DE: mhm DE: kurzer Blick zu AN 2402 AN: es sind zwei ausreisserf * die also im ausland * DE: N-Haltung, konstant 2403 AN: etwas karriere gemacht haben], * a"ber * ich würde 2404 AN: ihnen empfehlen * diese produkte * zunächst mal in 2405 AN: ih"re Überlegungen nich miteinzubeziehn] Mit dem Rückzug aus der aktiven Mitarbeit als Rezipient und dem auffälligen Haltungswechsel verdeutlicht DE eine divergente Perspektive und bereitet das Eingreifen vor. Am Beginn seines Redebeitrags findet keine Haltungsänderung statt, d.h., DE signalisiert die Kontinuität seiner divergenten Perspektive. Die Diskontinuität gegenüber dem Beitrag von AN wird durch namentliche Anrede als Schaltsignal und durch einen thematisch diskontinuierlichen Anschluss verdeutlicht: Es gibt keine explizite Anknüpfung, keine Formulierungsübemahme und keinen unmittelbaren thematischen Bezug. Vielmehr behandelt DE einen Aspekt der Gesamtthematik, der inhaltlich im Gegensatz steht zu ANs Darstellung der Normalkalkulation: die Voraussetzungen des „neuartigen Geschäfts“. Die Struktur der Äußerung ist durch einen Rahmen geprägt, der aus einem Aussagesatz (im g v markt müssen wir damit rechnen', d.h. im Großverbrauchermarkt) und einem Bedingungssatz gebildet ist (wenn wir ...). Dieser Rahmen erscheint am Beginn und wird dann wieder aufgenommen (ich muss also ganz anders kalkulieren wenn wir ...). Dazwischen liegt ein komplexer Einschub mit einer „Detaillierungstreppe“, d.h. mit einer Folge weiterer Einschübe und Expansionen, die jeweils ein Element der Bezugskonstruktion aufgreifen und detaillieren. Diese Struktur erscheint markant im ersten Teil und wird dann abgeschwächt im zweiten Teil wiederholt. (Das Transkript ist in der Wiedergabe unten entsprechend arrangiert). Den ersten Teil dieser Expansionsstruktur verbindet DE mit einer spezifischen Inszenierung des Sprechens, die man als Nachdenklichkeit bzw. problematisierende Vergegenwärtigung bezeichnen kann (vgl. Kallmeyer/ Schmitt i.Vorb.). Merkmale sind die nachdenkliche Haltung, leises Sprechen Führung im Gespräch 547 und die Auflösung der syntaktischen Konstruktion in nicht explizit verknüpfte Konstruktionen, die hinsichtlich ihrer Zusammengehörigkeit und Unterschiedlichkeit durch kontrastierende Intonationsmuster markiert sind. Als Schlüsselwörter für die Interpretation der Inszenierung fungieren die Ausdrücke für kognitive Prozesse (damit rechnen und ganz anders kalkulieren) in der Rahmenformulierung: —dierr antpöhler<— Haltung unverändert wir müssen ja im: g v markt müssen wir damit rechnen wenn wir also einen service bie"ten * Kopf an Faust als Akzentuierung der N-Haltung n=gewissen service heißt auch gleich strich * teurerj" *2* Personalaufwand- * von der logistik- *1,5* [-- \ / - - \ / ] wenig ware also wenig de: mark wert * durch die gegend zu fahrn'l' * zum kundenf * oftf * [- - \/ - \/ V ] das heißt die aufträge die: de: mark äh summe wird also pro auftrag eigentlich kleiner], ** Ende der N-Haltung ch=muss also * ganz anders kalkuliern wenn wir also einen schnellen service also im direktvertrieb zwar —>auch in abrechnung über den fachgroßhandel gastronomic ausholende Kreisbewegung der linken Hand aber wenn wir das also so liefern wollen]-«— *3* schiebende Bewegung der rechten Hand gerade nach vorne, „durch die Mitte“, Endpunkt auf „so“ Die folgenden langen Expansionen zeigen die Orientierung auf „noch mal von vorne anfangen und die Dinge im Zusammenhang darstellen“. DE stellt Voraussetzungen und Implikationen des gemeinsamen Geschäfts dar und bettet dieses in weitgefasste Kontexte der zukünftigen Marktentwicklung ein. Dabei wird die Grundsätzlichkeit der Behandlung in allgemeinen Aussagen, Maximen und Zielformulierungen explizit gemacht: —>sie wissen es 548 Werner Kallmeyer / Thomas Spranz-Fogasy geht immer um die heiße wu "rst<— [...] es muss ja auch spaß machen das geschäft * —+a/ so=s ge"ldverdienen dürfen wirja nich vergessen sondern*^— wir müssen auch * --rdaran spaß haben*—\...\ die"nstleistung * is dat a und o —*is auch das was nur noch*— * die Zukunft bringt] ich möchte also einfach die Zukunft also absichern. Die Begründung des Durchsetzungsanspruchs wird in diesem Fall klarer noch als in den voraufgehenden Beispielen ausgedrückt. Dies geschieht einerseits durch die Kompetenzdemonstration (in der Situationsanalyse und der Darstellung allgemeiner Mechanismen und Entwicklungstendenzen) und andererseits durch die Hervorhebung der Rolle als Träger der neuen Geschäftsidee: <also ich möchte> ih"r know how also schon nutzen] von der qualität her * aber ich möchte auch gerne m/ ma: l sehn: oder ihre * signalwirkung in einem ma"rkt * wo ich denke der * Zukunft hat]. Und dieser Aspekt der gut überlegten und präzisen Initiative erscheint auch in der dritten Reformulierung des Anliegens: * .vof * undjetz macht ich mal wissen ~^>sie ham sicherlich sie harn auch meinen brief auch schon gelesen]*^- [...] sie haben sich sicherlich auch da mal gedanken gemacht * was wa da ma"rketingmäßig auch machen können]. Spätestens angesichts dieser explizierenden Reformulierung der Aufgabe für AN wird deutlich, dass auch in diesem Beispiel die Ausgangslage im Sinne des Schemas „Eingreifen zur grundsätzlichen Voraussetzungssicherung“ gegeben ist. DE zeigt an, dass AN seiner Aufforderung „zum Preis zu kommen“ nicht in angemessener Weise, d.h. nicht unter Berücksichtigung der aus DEs Sicht relevanten Voraussetzungen, nachgekommen ist. DE hat mit der Voraussetzungsklärung Erfolg: AN akzeptiert sofort und demonstriert sein Verstehen der besonderen Bedingungen des neuen Geschäfts (ich habe mir natürlich * viele gedanken gemacht] * vor allen dingen aufgrund der * sich * a"nders stellenden situatio"n ** [...] und ich kann das sogar verstehen] ** weil sie” * he: rr destrooper mit noch * viel höheren kosten * rechnen mW'ssen]). Bedeutsam für die Variation des gesprächsrhetorischen Musters ist, dass der Austausch von relevanten Voraussetzungen des Handelns als die entscheidende Zielgröße des Musters nicht nur durch JA-ABER- oder NICHT- SONDERN-Konstruktionen ausgedrückt werden kann, sondern auch durch Führung im Gespräch 549 die Demonstration einer kontrastierenden Perspektive. Dem Aspekt der Zustimmungseinschränkung bzw. Zurückweisung entspricht der thematisch diskontinuierliche Anschluss. Der Demonstrationscharakter wird im Beispiel sowohl durch eine Inszenierung der Nachdenklichkeit als auch durch die anschließende wortreiche Darstellung deutlich. 5. Eingreifen und suggestives Andienen einer Perspektive An einem letzten Beispiel soll eine verwandte Form der Inszenierung von Nachdenklichkeit gezeigt werden, die zur Verdeutlichung einer erforderlichen Perspektivenänderung dient. Die Inszenierung erscheint diesmal in Kombination mit einer Verwendung von oppositiven Verknüpfungsformativen. Der interessierende Vorgang ist eine Therapeutenintervention in einer Gesprächstherapiesitzung mit einer Therapeutin (TP) und einer Klientin (KL). Für die Therapie gilt ein spezifisches Arbeitsbündnis (KL berichtet und interpretiert, die TP spiegelt und steuert), und zu den zentralen Voraussetzungen aus Therapeutensicht gehört, dass KL über Emotionen spricht und damit Problemquellen für die Analyse und Bearbeitung zugänglich macht. Über eine längere Strecke verläuft das Gespräch im Kreis, weil sich KL hinter einer rationalen Argumentation verschanzt und es keine Fortschritte in der Annäherung an die emotionalen Probleme gibt. Dann beginnt TP eine Intervention. In einem ersten Schritt reformuliert und interpretiert sie die bisherigen Aussagen von KL (es is irgendwie auch was von nackt wehrlos von ungeheuer empfindlich hmT * also weh"rlos heißt ja auch ungeheuer empfindlich hmi). In einem zweiten Schritt wendet TP den Blick auf die aktuelle Therapie-Interaktion (wie is das denn hier mit uns beidenT * ich mein hier stehen sie ja doch auch eher weh"rlos daT ** gefühlvoll^ *9*). Auf diese Intervention reagiert KL wiederum mit einer Rationalisierung wie vorher. In Reaktion darauf macht TP nach einer langen Pause (7 Sekunden) einen weiteren, insistierenden Vorstoß. Nach einer bestätigenden Verstehensmanifestation folgt ein ABER-Teil, der mit der Ankündigung ich komme trotzdem noch mal zurück die Unterbrechung der Aktivitätsprogression und das Zurückgreifen explizit aussagt und den noch weiter zu bedenkenden Gesichtspunkt hervorhebt (sie zeigen sich ja hier ... von ihren schattensei- 550 Werner Kallmeyer / Thomas Spranz-Fogasy ten). Diese insistierende Wiedereinführung eines thematischen Aspekts behandelt die voraufgehende Bearbeitung durch KL als unzureichend: 825 TP: ja *7* ich glaub das kann ich verstehn also 826 TP: da kann ich verstehn dass auch so- * auch unsere rollen da=n 827 TP: schütz für sie sind jaf denn das is ja 828 KL: jaj stimmt 829 TP: irgendwie schon ne- * irgendwie eher eindeutig definiert], * 830 KL: 831 TP: ja** laber trotzdem ich komme I 832 KL: hm] I—»natürlich hat das ach entschuldigungi— I 833 TP: trotzdem noch mal zurück ich mein- * ähm- * 835 TP: sie zeigen sich ja hier- ** ja von ihren Schattenseiten] * 836 TP: und nich von ihren Schokoladenseiten ] *5* Der ABER-Teil setzt eine Klärungsaktivität relevant. Mit der Fortsetzung der Äußerung tritt TP in die Realisierung der projizierten Klärung ein. Ein erster, mit EINERSEITS eingeleiteter Teil reformuliert noch einmal KLs Erklärungsansatz wie bereits im JA-Teil (vgl. ich glaub das kann ich verstehn, Z. 825ff.) und demonstriert mit der Expansion der Darstellung ihr Verstehen: 837 TP: so einerseits ham wir jetzt gesagt so die rolle- * die rollen schützen] * 838 TP: sie sind freiwillig gekommen] * also ich bin nicht diejenige 839 TP: die auf sie zukommt und sie irgendwie kra"llt sondern sie 840 TP: sind zu mir gekommen und ham mir zu verstehen gegeben- * 841 TP: ich möchte gerne etwas besprechen 842 TP: mir klarheit verschaffen] * hilf mir] ja] * 843 TP: das verhindert auch so dieses zupackende und krallende] *8* Für den durch EINERSEITS projizierten ANDERERSEITS-Teil ist die Behandlung des Klärungsbedarfs relevant gesetzt, den der voraufgehende ABER-Teil formuliert hatte. Es folgt eine Segmentierung durch eine lange Pause (8 Sek.). Die anschließende Formulierung des zweiten Teils schließt in diskontinuierlicher Weise; an der Stelle von ANDERERSEITS erscheint eine syntaktisch unverbundene inszenierende Darstellung der Nachdenklichkeit, genauer des gedanklichen Absorbiertseins: Führung im Gespräch 551 844 TP: ich häng irgendwie noch im kopp dran ja 845 TP: ich häng im kopp dran was es- *4* ob es noch andere- * 846 TP: bedingungen gibt die die unsere situation hie"r anders macht j * 847 TP: als das was sie sonst l(...)l 848 KL: Inaja I ich meine sicher wir Die Grundsätzlichkeit der Intervention wird zum einen durch die relativ expandierte Feststellung des aktuellen Standes angezeigt, zum anderen durch die Inszenierung des Nachdenkens. Konstitutiv dafür sind die explizite Aussage (ich häng irgendwie noch im kopp dran), die das lange Schweigen vorher interpretiert, ihre Wiederholung als eine Form der Verlangsamung der thematischen Progression und die folgende lange Pause, in der gleichsam das „im Kopf dran hängen“ erneut greifbar wird. Diese Inszenierung symbolisiert eine hartnäckige und „tiefe“ Suche, die sich nicht vorschnell mit ersten Klärungsansätzen zufrieden gibt. Die demonstrierte Klärungsperspektive wird zur Übernahme angedient. Die Therapeutenintervention hat letztlich Erfolg: KL gibt einen Problemaspekt preis, indem sie die Unterschiedlichkeit der Beziehung zu TP und zu anderen Menschen darstellt, und TP bearbeitet diesen Punkt weiter mit einer Folge von Nachfragen zum Gefährdungspotenzial der „tieferen“ Beziehungen. In diesem Beispiel gibt es wieder eine Steigerungssequenz mit zwei Ansätzen (reflexive Rückwendung auf die Therapiesituation und Insistieren). Die rhetorische Stärke der Inszenierung des Nachdenkens in Verbindung mit diskontinuierlichem Anschluss zeigt sich erneut; diesmal bildet sie den Höhepunkt und Abschluss der redefinierten Aufgabenstellung. 6. Voraussetzungsklärung und Führung im Gespräch Die Beispielanalysen haben dazu gedient, die Musterhaftigkeit des gesprächsrhetorischen Verfahrens „Eingreifen zur grundsätzlichen Voraussetzungsklärung“ zu belegen. Zugleich haben sie Einblick in das Variationsspektrum gegeben, indem sie unterschiedliche Ausführungen der konstitutiven Elemente sichtbar gemacht haben: unterschiedliche Grade der Dring- 552 Werner Kallmeyer / Thomas Spranz-Fogasy lichkeit des Eingreifens, „Austausch“ der fraglichen Voraussetzungen als Zurückweisung und Richtigstellung oder als suggestives Andienen einer Perspektivenübernahme, zudem Grade der Härte und Explizitheit der Zurückweisung, den Einsatz von Argumentation und rhetorischer Inszenierung sowie Abstufungen der Modalität der Durchsetzung (direktive Setzung einer Perspektive als verbindliche Handlungsorientierung im Rahmen eines asymmetrischen, hierarchisch geprägten Rollenverhältnisses, Aushandlung in einer komplementär symmetrischen Rollenkonstellation, „nachdenkliches“ und suggestives Andienen einer Perspektivenänderung); schließlich auch der unterschiedliche Aufwand der Legitimation des Durchsetzungsanspruchs, der in allen Fällen durch Kompetenz fundiert ist, darüber hinaus aber auch durch die Akteursrolle und das RollenVerhältnis. Alle Fälle belegen, dass Eingreifen zur grundsätzlichen Voraussetzungsklärung mit einer zumindest vorübergehenden Führung im Gespräch verbunden ist, die jeweils auch Konsequenzen für die weitere Interaktion hat, wie u.a. am Erfolg bei den Adressaten erkennbar wird. Offensichtlich besteht auch eine Affinität zwischen situativen Rollen und der Wahl und Durchführung des Musters, und dieser Zusammenhang wird u.a. in der Legitimation des Durchsetzungsanspruchs erkennbar. In der Regel sind es die Situationsmächtigen, die Sachwalter eines Handlungszusammenhanges, die mit einer grundsätzlichen Voraussetzungsklärung eingreifen. Zugleich hat das Muster das Potenzial, Situationsdominanz zu etablieren. Wegen des relativ großen Aufwandes wird das Muster nur selten und nur aus triftigem Anlass gewählt (in allen untersuchten Interaktionen, in denen es vorkommt, erscheint es nur einmal), aber die Musterrealisierung ist jeweils erkennbarer Bestandteil weiter gespannter Aktivitäten der Führung im Gespräch (zur Analyse von Führungshandeln im Gespräch vgl. a. Schmitt 2001). Führung im Gespräch 553 7. Transkriptionserläuterung xxf, xxj" XX- <xxx>, >xxx< —>XXX-*—, <—XXX—> Ixxxl xxx=xx * ** *3* xx“x xx: x Schlussintonation steigend / fallend / in der Schwebe lauter / leiser schneller / langsamer Überlappung Verschleifung, Kontraktion von Wörtern Pausen starker Akzent Dehnung 8. Literatur Apeltauer, Emst (1980): Nichtakkordierende Sprechhandlungen (NASH). In: Kühlwein, Wolfgang/ Raasch, Albert (Hg.): Sprache und Verstehen. Mainz. S. 69-78. Hartung, Wolfdietrich (1996): wir könn=n darüber ruhig weitersprechen bis mittags wenn wir wollen. 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Bruno Strecker Ja doch, eigentlich schon noch Alltagsroutinen des Kommunikationsmanagements 1. Vorab Bis heute konnte sich keine Berufspraxis des Kommunikationsanalytikers etablieren, die ihren Mann oder ihre Frau ernährt, ein Umstand, den man in Rechnung stellen sollte, wenn man sprachliche Interaktionen wissenschaftlich analysieren will. Tatsache ist, dass schon einfache Sprachteilhaber wahre Experten in Kommunikationsanalyse sind. Das Reden über sprachliches Handeln ist längst fester Bestandteil unserer täglichen Praxis. Es war immer schon viel zu wichtig, als dass die Welt auf Forscher hätte warten können, die sich eigens damit befassen. In der wie Gilbert Ryle sie nannte hard school of everyday life hat sich ein reiches Repertoire an Ausdrucksmitteln für das Reden über das Reden entwickelt, über das man in mancher Hinsicht auch als professioneller Kommunikationstheoretiker letztlich nie hinausreichen wird. Weil dies so ist, muss eine linguistische Analyse von Kommunikationsereignissen schon Besonderes zu bieten haben, wenn sie mehr zu Wege bringen soll, als auch ohne sie erreicht werden könnte. Über das tägliche Maß hinausgehende Leistungen darf man dabei sicher nicht dort erwarten, wo brisante Fragen der Geltung von Aussagen und Normen abgehandelt werden, denn gerade in diesem Bereich ist unsere Kompetenz als Sprachteilhaber in der Regel bestens ausgebildet. Interessante Anwendungsmöglichkeiten finden sich eher in Bereichen, die selten oder nie Gegenstand alltäglicher Auseinandersetzung werden, etwa bei Verfahren der Hörersteuerung, oder allgemein bei allem, was man grosso modo als Kommunikationsmanagement bezeichnen könnte. Zwar ist auch hier bei routinierten Sprachteilha- 556 Bruno Strecker bern die Praxis gut entwickelt, doch fällt es ihnen schwer, davon Rechenschaft zu geben, was sie tun. Ein erstes Beispiel: In dem im Folgenden betrachteten Gesprächsausschnitt äußert Frau Däubler-Gmelin: Ja es kommt halt immer darauf an, wissen Sie. Trotz ihrer „Schwertgosch“, die ihr gesprächsweise attestiert wird, hätte sie gewiss Schwierigkeiten zu erläutern, was sie dabei mit ja, halt und wissen Sie zum Ausdruck bringen wollte. Kompetenten Sprachteilhabern mag es unnütz scheinen, sich von dergleichen Rechenschaft zu geben, denn das wirkt sich nicht erkennbar auf die Qualität ihrer Sprachbeherrschung aus. Für jemanden, der Deutsch erst erlernen soll oder will, stellt sich das allerdings anders dar. Er hat gerade in alltäglicher Rede haufenweise Schwierigkeiten beim Verstehen meist kleiner Ausdruckseinheiten, deren Bedeutung man ihm nur unzureichend erklärt. Ihm kann eine Analyse helfen, entsprechende Gesprächsbeiträge besser oder überhaupt erst zu verstehen. Dazu sind bestimmte Aspekte dessen herauszuarbeiten, was man als die kommunikative Funktionalstruktur des betrachteten Textes bezeichnen könnte. Die Betrachtung bleibt dabei im Wesentlichen auf Redeteile beschränkt, die nicht oder nicht hinreichend unter dem Aspekt sachlicher oder normativer Geltung zu beschreiben sind. Im Vordergrund stehen hier nicht formale Eigenschaften von Redeteilen, sondern die besonderen Aufgaben, die sie im Rahmen sprachlicher Handlungen übernehmen können. Zu klären ist danach etwa, was mit Ausdrücken wie schon oderja in einem gegebenen Zusammenhang erreicht werden soll, und nicht, ob es sich dabei um einen Ausdruck dieser oder jener Wortklasse handelt. 2, Das Kommunikationsereignis Kurz zum analysierten Kommunikationsereignis: Es handelt sich um einen kürzeren und einen kurzen Ausschnitt der Talkshow „Die Woche. Menschen im Gespräch“, die am 3.11.1988 im RTL-Studio Köln aufgenommen wurde. Geleitet wird das Gespräch von Geert Müller-Gerbes (MG). Gäste, soweit Ja doch, eigentlich schon noch 557 sie in den Ausschnitten zu Wort kommen, waren Dr. Wolfgang Mentrup (WM), Beate Wedekind (BW) und Dr. Herta Däubler-Gmelin (HD). Worauf ich im Einzelnen eingehen werde, zeigt in etwa dieser Ausschnitt des von mir etwas normalisierten - Transkripts, in dem solche Textteile hervorgehoben sind, die m.E. primär nicht der Vermittlung von Sachinformation dienen, sondern im weitesten Sinn dem Kommunikationsmanagement. MG: eh ich begrüße sehr herzlichdoktor herta däubler gmelini herzlich willkommenl der Spiegel hat frau däubler gmelin so einem em eine latte von bekanntheitsgraden jetzt grade wieder veröffentlicht da stehen sie ziemlich weit unten. HD: hmhman letzter MG: an letzter stelle, mit einem bekanntheitsgrad von HD: stelle. MG: zweiundzwanzig prozent oder so was nich HD: neinneingottseidank MG: sondern HD: nicht, er ist immerhin schon bei vierundfünfzig prozent MG: hmhm aber HD: aber ich finde das auch schon sehr hoch- MG: letzte stelledas ist doch nich sch- HD: mhm s ja auch kein wunder wenn man das erste mal auf der liste ist. MG: hundertfünfundzwanzig jahren hat die s p d sich zum ersten mal durchgerungen eine frau als stellvertretende parteivorsitzende zu wählen HD: mhmdas war MG: ein schwerer HD: ein schwerer entschluß- MG: entschluß- HD: hundertfünfundzwanzig jahre hats gedauert herr 558 Bruno Strecker MG: hundertfünfundzwanzig jahre HD: müller gerbes. MG: und mußte viel geackert werden HD: hundertfünfundzwanzig jahre- MG: daß das=eh zustande gekommen ist HD: aber ja: schauen sie das sowas kommt nie von selbst sondern es ist in der tat so: der boden mußte gut vorbereitet werdendie frauengrade bei uns in der s p d die haben gesagt jetzt reichts jetzt wird nicht mehr nur geredet jetzt fangen wir bei uns MG: so wie klein erna gesagt hat HD: selbst an MG: jetzt ist Schluß mit der pietät jetzt wird gestreut, mhm undalso da mußte die HD: so isses wahr, aber MG: quotenregelung ja nun herda sind sie HD: ja sicher. Und=eh MG: eigentlich dagegen nich HD: ja es kommt halt immer drauf an HD: wissen sieich bin sehr für die quotenregelungaber ich betrachte sie nich als das ziel sondern das is nedas is ne krücke. das is n brückengeiänder an dem hangeln wir uns dahin so langebis sie nich mehr nötig ist. und dann schaffen wirse wieder ab oder wir führen sie für die MG: oder sie führen sie für die manner ein HD: manner ein- Zu einer globalen Einschätzung der Leistung einerseits der unmarkierten, andererseits der markierten Textteile kommt man, wenn man jeweils eine Komponente ausblendet: MG: eh ich begrüße sehr herzlichdoktor herta däubler gmelini herzlich willkommen^ der Spiegel hat so einem em eine latte von bekanntheitsgraden jetzt grade Ja doch, eigentlich schon noch 559 wieder veröffentlicht da stehen sie ziemlich weit unten. HD: hmhman letzter MG: an letzter stelle, mit einem bekanntheitsgrad von HD: stelle. MG: zweiundzwanzig prozent oder so was HD: neinnein- MG: HD: nicht, er ist bei vierundfünfzig prozent MG: hmhm HD: ich finde das sehr hoch- MG: letzte stelledas ist nich sch- HD: mhm s kein wunder wenn man das erste mal auf der liste ist. MG: hundertfünfundzwanzig jahren hat die s p d sich zum ersten mal durchgerungen eine frau als stellvertretende parteivorsitzende zu wählen HD: mhmdas war MG: ein schwerer HD: ein schwerer entschluß- MG: entschluß- HD: hundertfünfundzwanzig jahre hats gedauert MG: hundertfünfundzwanzig jahre HD: MG: und mmußte viel geackert werden HD: hundertfünfundzwanzig jahre- MG: daß das=eh zustande gekommen ist HD: das sowas kommt nie von selbst sondern es ist in der tat so: der boden mußte gut vorbereitet werdendie frauenbei uns in der s p d die haben gesagt jetzt reichts jetzt wird geredet jetzt fangen wir bei uns MG: so wie klein erna gesagt hat HD: selbst an 560 Bruno Strecker MG: jetzt ist Schluß mit der pietät jetzt wird gestreut, mhm undda mußte die HD: so isses wahr. MG: quotenregelung nun herda sind sie HD: sicher, undeh MG: dagegen HD: es kommt immer drauf an HD: ich bin sehr für die quotenregelungich betrachte sie nich als das ziel sondern das is nedas is ne krücke. das is n brückengeiänder an dem hangeln wir uns dahin so langebis sie nötig ist. und dann schaffen wirse wieder ab oder wir führen sie für die MG: oder sie führen sie für die manner ein HD: manner ein- Hier bleibt der Text durchaus verständlich. Man bekommt recht gut mit, wovon die Rede ist und wer welche Ansichten hat. Anders, wenn diese informationshaltige Komponente ausgeblendet wird. Was bleibt, zeigt allenfalls noch Reflexe der verschiedenen Rollen der Gesprächsteilnehmer: MG HD MG HD MG HD MG HD MG HD MG HD MG gottseidank sondern immerhin schon aber aber auch schon doch ja auch frau däubler gmelin nich HD Ja doch, eigentlich schon noch 561 HD: ja auch MG: HD: MG: HD: MG: HD: MG: HD: müller gerbes MG: HD: MG: HD: aber ja schauen sie grade nicht mehr nur MG: HD: MG: HD: MG: also HD: aber MG: ja HD: ja MG: eigentlich nich HD: ja halt HD: wissen sie nich mehr MG: HD: herr aber 562 Bruno Strecker Bei Durchsicht des gesamten Transkripts gewinnt man den Eindruck, es könnte interessant sein, anhand solcher Analysen Sprecherprofile zu erstellen. Eine erste, sicher nicht hinreichend differenzierte Erhebung des Gebrauchs der betrachteten Ausdrucksformen seitens verschiedener Gesprächsteilnehmer zeigt bereits bemerkenswerte sprecherspezifische Unterschiede. So gehen etwa 50% der Verwendungen der Partikel ja auf Kosten des Gesprächsleiters, der ansonsten nur knapp ein Drittel der Menge aller Wörter äußert. 3. Exemplarische Detailanalysen 3.1 Explizite Adressierung Die erste, im vorliegenden Gesprächsfragment markierte Ausdruckseinheit lautetfrau däubler gmelin: MG: der Spiegel hat frau däubler gmelinso eine=em * e: m * eine latte von bekanntheitsgradenjetzt grade wieder veröffentlichtda stehen sie ziemlich weit u"nteni Der Sprecher schaltet sie als Parenthese in seinen Gesprächsbeitrag ein, um sich der gesteigerten Aufmerksamkeit dieser einen Gesprächspartnerin zu versichern und sie als die Person auszuwählen, die auf seine Feststellung reagieren soll. Dass er so vorgeht, hat natürlich mit den Rahmenbedingungen des Gesprächs zu tun. Im Zwiegespräch erübrigt sich das. Selbst bei mehr Partnern könnte die Selektion anders erfolgen, etwa durch Blickkontakt. Erst der Umstand, dass es sich um ein Gespräch vor Zuschauern und für Zuschauer handelt, motiviert dieses Vorgehen. Ohne Zuschauer würde dies geradezu irritierend wirken. Wenn dort Identifikation des Adressanten erforderlich ist, wird sie vorgeschaltet. Dasselbe Mittel wird in der Folge auch von Frau Däubler-Gmelin verwendet, jedoch in anderer Funktion: HD: hundertfünfundzwanzig jahre hat=s gedauert MG: HD: herr müller gerbesi hundertfünfundzwanzig jahre Ja doch, eigentlich schon noch 563 Hier wird die Anrede nachgeschaltet, um die Bedeutung des zuvor Gesagten zusätzlich zu unterstreichen; zusätzlich, weil derselbe Effekt bereits durch die insgesamt dreifache Angabe des bemerkenswerten Zeitraums erzielt werden soll. Im weiteren Verlauf der Gesprächs wird das Mittel der Anrede auch als Nachschaltung realisiert, doch dient sie hier der Adressierung der vorangegangenen Frage: MG: | ja |brauchen! denn diese frauen | überhaupt noch frau"enzeitschriften|beatewedekind Dies ist der Normalfall. Hier ist tatsächlich Adressierung erforderlich, denn es versteht sich unter den gegebenen Umständen nicht von selbst, wer antworten sollte. Bei Frau Däubler-Gmelin hingegen geht der nachgeschalteten Adressierung eine Feststellung voraus, und Feststellungen gelten ihrer Natur nach nicht nur für bestimmte Personen, sondern stets generell, weshalb prinzipiell auch jeder, der sie zu hören bekommt, aufgefordert ist, ihnen zuzustimmen oder zu widersprechen. Adressierung ist hier nicht nur nicht erforderlich, sondern prima facie sogar unangemessen. Die Erfahrung lehrt jedoch, dass Sprecher, wenn sie an sich Unangemessenes dennoch verbringen, einen besonderen Grund dafür haben, und dieser besondere Grund scheint mir in der Unterstreichung der Bedeutung des Gesagten zu finden zu sein. 3.2 Echo Die nächste markierte Textstelle zeigt eine echoartige Wiederholung eines Teils der vorangehenden Äußerung von Däubler-Gmelin durch den Gesprächsleiter: HD: hmhman letzter MG: an letzter stellet HD: stellet Wiederholungen von Textpassagen kommen als Selbstwie Partnerwiederholungen zum Teil unter Anpassung der Deixis grundsätzlich in ver- 564 Bruno Strecker schiedensten Funktionen vor. Hier soll m.E. mit der Partnerwiederholung gleich zweierlei erreicht werden: Der Gesprächsleiter sucht etwas hervorzuheben, das Däubler-Gmelin offenbar nicht gerade freudig einräumen muss. Er tut dies übrigens wenig später nochmals. Sinn dieser Übung dürfte sein sicherzustellen, dass dieser Punkt zum Thema wird, dass es mithin Frau Gmelin nicht gelingt, schnell darüber hinwegzugehen. Zugleich macht Müller-Gerbes damit immer mal wieder deutlich, dass er hier bestimmt, worüber geredet wird. Er setzt dieses Mittel im Verlauf der gesamten Talkshow wieder und wieder ein. Offenbar ist es seine Form, den Gesprächsverlauf zu kontrollieren. Zwei weitere Beispiele: MG: ein schwe"rer HD: ein schwerer entschluß- MG: entschluß- HD: oder wir führen sie für die MG: oder sie führen sie für die manner ein LACHT HD: manner ein- Bei Partnerwiederholungen durch Frau Däubler-Gmelin steht der Aspekt der Einterstreichung im Vordergrund. In einem Fall wirkt dies geradezu penetrant: MG: hundertfünfundzwanzig jahren hat die MG: |s p d sich zum ersten| mal durchgerungen eine frau als HD: |LACHT LEISE | MG: stellvertretende parteivorsitzendezu wählen HD: mhmdas war MG: ein schwe"rer Ja doch, eigentlich schon noch 565 HD: ein schwerer entschluß- MG: entschluß- HD: hundertfünfundzwanzig jahre hat=s gedauert herr MG: hundertfünfundzwanzig jahre HD: müller gerbesl MG: |und| m=mußte viel geackert werden HD: |hun|dertfünfundzwanzig jahre- Auch Selbstwiederholungen finden sich in anderen Geprächspassagen: WM: nein |die gab=s früher] MG: dann wider|sprechen sie doch mal] denn widersprechen sie BW: |ganz bestim/ LACHT MG: doch mal die |warn sind die nicht älter-] In beiden Fällen dient die Wiederholung der Stärkung des Anspruchs, der mit der Äußerung verbunden ist. 3.3 Nachgeschaltetes nich(t) Erfolgskontrolle und Gesprächssteuerung dürften die Funktionen des nachgeschalteten nich{i) sein: MG: zweiundzwanzig prozent oder so |was nich | HD: jneinnein-] gottseidank Gleich zwei weitere Verwendungen des nachgeschalteten nich : MG: eigentlich dage"gen nich- HD: ja es kommt halt immer drauf an MG: jah|ren| wußt ich das auch schon |nich-j HD: |ja-| |ist | da"s wahr 566 Bruno Strecker Da auf diese Weise meist Zustimmung erreicht werden soll, könnte man diese Nachschaltung als rhetorische Frage interpretieren, doch das geht wohl zu weit. Wie die ersten Beispiele zeigen, muss der Sprecher nicht auf Zustimmung aus sein. Im Vordergrund kann auch die Provokation einer Reaktion stehen. 3.4 Aufmerksamkeit heischen Vor den sperrigeren Ausdruckselementen noch eine allgemeine Bemerkung zu einem eher unproblematischen Verfahren des Kommunikationsmanagements: zur Fokussierung der Aufmerksamkeit der Hörer. Zwei Verfahren wurden bereits angesprochen: die zwischenbzw. nachgeschaltete Anrede und die Wiederholung. Bei der Wiederholung wird, was besondere Aufmerksamkeit bekommen soll, selbst herausgehoben. Ein weiteres Verfahren ist die Vor- oder Nachschaltung eines Aufmerksamkeit heischenden Ausdrucks. Vor allem Frau Däubler-Gmelin macht ausgiebig davon Gebrauch. Einige Beispiele: HD: |aber| ja: " schauen sie das sowas kommt <nie von selbst> sondernes ist in der tat so: "- * der boden mußte gut vorbereitet werden- HD: wissen sieich bin seh"r für die quotenregelungaber ich betrachte sie nich als das zie"l sondern das is nedas is ne krückei das is n brückengeiänderan dem hangeln wir uns dahinso langebis sie nich mehr nötig istsl HD: ich denke scho"n4' schauen sie wenn sie dieeh * fortschritte grade was die diskussion in bezug auf das was frauen leisten könnenin den letzten zehn jahren verfolgt habendann hat sich ja ne ganze menge gema"cht- In der Wahl der Ausdrucksmittel gibt es hier offenbar persönliche Präferenzen, um nicht zu sagen: Marotten. Beate Wedekind etwa verwendet in vergleichbarer Funktion meist also oder also so. Ja doch, eigentlich schon noch 567 3.5 Kommentierung und Wertung Ganz anders geartet ist die Funktion des nächsten Ausdrucks, auf den ich eingehen möchte: HD: |neinnein-| gottseidank nicht Mit gott sei dank kommentiert oder wertet Frau Däubler-Gmelin gewissermaßen en passant, was sie im Übrigen feststellt. Prinzipiell können solche Kommentare mit Aussagen aller Art verbunden werden, denn sie beziehen sich stets auf den Umstand, dass sich die Dinge so verhalten, wie sie dargestellt werden. Man hat beobachtet, dass sie mit sprachlichen Handlungen anderer Art nicht kompatibel sind, doch ist dies genau genommen keine Frage der Empirie: Sie können ihrer Natur nach nicht mit Handlungen anderer Art verbunden werden, denn mit diesen wird nichts als bestehend gesetzt. Gegenstand solcher Kommentare können Einschätzungen, Erwartungen und Wertungen aller Art sein. Noch im selben Gesprächsbeitrag verwendet Frau Däubler-Gmelin eine weitere Wertung: HD: er |ist immer|hin schon bei vierundfü"nfzig prozent Die Verwendungsbedingungen für immerhin sind einigermaßen komplex: Wer das Bestehen eines Sachverhaltes so bewertet, widerspricht damit einer Bewertung als eher schlecht, räumt jedoch ein, dass man sich Besseres vorstellen könnte. Allgemein zeichnen sich Kommentare dadurch aus, dass sie ohne Einfluss auf das bleiben, was sie kommentieren: Ob gesagt wird, etwas sei erwartungsgemäß oder überraschenderweise so, ändert nichts daran, dass es vor allem so zu sein hat. Darin unterscheiden sich Kommentare von einer Einstellungsbekundung, wie sie die folgende Reaktion von Frau Däubler- Gmelin zeigt: MG: irgendeiner hat mal gesagt sie könnten ka"nzler werdenfrau sü"ßmuth hat das gesagt- HD: tja ho"ffentlieh 568 Bruno Strecker Solche Einstellungsbekundungen verhalten sich wie Modalisiemngen und lassen sich nicht aus einem Gesprächsbeitrag streichen, ohne dass dadurch dessen Verifikationsbedingungen verändert würden: Was hoffentlich der Fall ist, ist bekanntlich oft genug nicht der Fall. 3.6 Strukturierung Nochmals zu den bereits betrachteten Kommentaren. Zwischen beide Kommentare von Frau Däubler-Gmelin platziert Müller-Gerbes ein sondern . HD: |neinnein-| gottseidank MG: |sondern- | HD: ni"chti er |ist immer|hin schon bei vierundfü"nfzig Prozent Dass es Müller-Gerbes ist, der hier ein sondern vorbringt, hat sicher mit seiner Funktion als Gesprächsleiter zu tun: Er scheint es nicht Frau Däubler- Gmelin überlassen zu wollen, ob sie seine Behauptung korrigiert. Um eine Fortsetzung in seinem Sinn zu erreichen, sucht er den Gesprächsbeitrag vorzustrukturieren. Mit sondern weist er dem folgenden Beitrag die Funktion einer Richtigstellung zu. Wie der Gesprächsverlauf zeigt, hätte er sich das sparen können. Frau Däubler-Gmelin bringt, ohne erkennbar auf seinen Zwischenruf zu reagieren, etwas vor, das genau in diesem Sinn zu deuten ist. Nun ist Müller-Gerbes sicher erfahren genug, um das vorherzusehen: Welcher Politiker würde dergleichen einfach stehen lassen. Welche Funktion hat also sein eingeschobenes sondern! Eben jene, die es auch bei selbstgewählter Verwendung hätte: Es strukturiert für den Hörer den komplexen Gesprächsbeitrag, nimmt ihm, wenn man soll will, einen Teil der Interpretationsarbeit ab, indem es ihn vorab informiert, dass jetzt etwas kommt, das als Richtigstellung zu verstehen ist. Offenbar betrachtet es Müller-Gerbes als seine Aufgabe als Gesprächsleiter, die Zuschauer in dieser Weise beim Verstehen zu unterstützen. Was an dieser Stelle eher überflüssig erscheint, hat grundsätzlich eine wichtige Hilfsfunktion in längeren, mehrere Sätze umfassenden Texteinheiten. Das Deutsche kennt eine beachtliche Zahl von Ausdrucksmitteln, die dazu gebraucht werden können, Texte und Diskurse transparenter zu gestalten. Ja doch, eigentlich schon noch 569 Ausdrücke wie insbesondere, desweiteren, zudem, erstens, zweitens, sowie auch, eigentlich, nur und obwohl in bestimmter Verwendungsweise gehören hierher. Das wohl am häufigsten verwendete Mittel dieser Art dürfte aber sein. Allein in dem kurzen Gesprächsausschnitt, der hier betrachtet wird, finden sich 11 Verwendungen von aber in dieser Funktion. Hier einige Beispiele: HD: er ist immerhin schon bei vierundfü"nfzig prozent aber ich finde das auch schon sehr hoch- HD: |nein aber sie le"sen| sie natürlich schrecklich gern BW: das is etwas was frauen spezifisch betrifftaber drumherum wollen wir über themen reden * die also gar nich wei"blich und gar nich mä"nnlich sind sondern die einfach den menschen |interessieren| Aber dient hier jeweils dazu, bestimmte Schlüsse aus dem zuvor Festgestellten abzublocken. So könnte man etwa denken: „Naja, 54%, das ist auch noch nicht so hoch.“ Dem sucht Däubler-Gmelin vorzubeugen, indem sie sofort nachreicht: „aber ich finde das auch schon sehr hoch.“ Syntax und die Semantik von aber sind wie übrigens bei den meisten hier betrachteten Phänomen nicht so simpel, wie es anhand dieser Beispiele scheinen mag, doch würde es den Rahmen dieses Beitrags bei weitem sprengen, darauf im Detail einzugehen. Deshalb nur exemplarische Bemerkungen zu den Hauptschwierigkeiten, um zu zeigen, wie man m.E. damit umgehen sollte. 4. Der exemplarische Fall: schon Eine weitere interessante Funktion zeigt diese bereits vorgestellte Passage, und zwar gleich doppelt: HD: ni"chtjer |ist immer|hin schon bei vierundfü"nfzig prozent aber ich finde das auch schon sehr hoch- Was soll hier mit schon erreicht werden? Einer gängigen Einschätzung nach wird damit eine Einstufung oder Gradierung vorgenommen: Die Sprecherin stellt nicht einfach fest, ihr Bekanntheitsgrad sei bei 54%, sie gibt zugleich 570 Bruno Strecker zu verstehen, dies sei ein Grad, der jenseits dessen liegt, was man erwarten könnte. Und für den Fall, dass mancher meinen könnte, von einem schon erreichten Grad könne hier nicht die Rede sein, da 54% allemal zu erwarten waren, schiebt sie eine zweite Einstufung derselben Art nach: ich finde das auch schon sehr hoch. Soweit damit der Effekt der Handlung gemeint ist, teile ich diese Einschätzung, jedoch nicht die häufig damit verbundene Auffassung, dies sei darauf zurückzuführen, dass schon hier als Gradpartikel verwendet wurde und nicht etwa als Modal- oder Abtönungspartikel. Im vorliegenden Text findet sich noch eine Reihe weiterer Einstufungen. Hier einige Beispiele zu grade, noch und sogar. HD: schauen sie wenn sie dieeh * fortschritte grade was die diskussion in bezug auf das was frauen leisten könnenin den letzten zehn jahren verfolgt habendann hat sich ja ne ganze menge gema"chtauch die tatsache daß wir so locker drüber reden- und daß mir=s zum beispiel ü"berhaupt nichts ausmachtwenn sie so liebenswürdig sagenich seikeine quotenfrausondern ich sei gu"tdas=eh hätten wir wahrscheinlich vor zehn jahren alle noch nicht so locker |gebracht-| MG: ja sehn sie |LACHANSATZ vielleicht! hat s i e sogar recht MG: ja braucht=s denn überhaupt unter der situation noch frauenzeitschriften- Solche Einstufungen zeichnen sich allgemein dadurch aus, dass sie eingetretene Sachverhalte an diesbezüglichen Erwartungen messen, die damit nicht erreicht (der Fall: nicht einmal), gerade mal erreicht (der Fall: wenigstens) oder gar übertroffen wurden (der Fall: sogar). Als Maßstab für die Einstufung dienen skalierte Einschätzungen der Eintretens- oder Zutreffenswahrscheinlichkeit gleich gearteter Sachverhalte. Charakteristisch für solche Einstufungen ist, dass sie sich stets auf eine Teilkomponente einer Proposition in besonderer Weise beziehen, obwohl sie die ganze Proposition in ihrem semantischen Skopus haben. Man sagt, sie fokussieren ein Element, dessen Ausdruck man hört dies mehr oder weni- Ja doch, eigentlich schon noch 571 ger deutlich in der Aufzeichnung intonatorisch hervorgehoben wird. Durch die Fokussierung der Elemente wird zugleich festgelegt, über welchen Bereich die Werteskala läuft: Wenn etwa davon die Rede ist, sogar Peter habe das Examen bestanden, dann ist davon auszugehen, dass Peter zu einer Reihe von Personen gehört, die im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit angeordnet werden können, mit der damit zu rechnen war, dass sie das Examen bestehen. Die syntaktischen und semantischen Regeln für solche Einstufungen exakt zu erfassen, ist an sich schon schwierig genug, doch wird das Problem dadurch weiter kompliziert, dass die entsprechenden Ausdrücke mit Ausnahme von sogar durchweg auch in anderer Funktion verwendet werden können und dass die unterschiedlichen Verwendungen oft nur schwer auseinander zu halten sind. Im exemplarisch betrachteten Fall HD: er (ist immer|hin schon bei vierundfü"nfzig prozent aber ich finde das auch schon sehr hochkann man, ohne die Bedeutung des Gesagten wesentlich zu verändern, schon durch bereits ersetzen. In den beiden nächsten Passagen würde dies zu eher seltsamen, wenn nicht geradezu abweichenden Äußerungen führen: MG: sind die manner- * sind die manner denn so lernfähig daß das irgendwann eines tages nicht mehr nötig wäre- HD: ja doch ich denke scho"ni MG: |so | jaja |das is I j a immer |so | LACHT HD: |und=eh| |neinnein-| |LACHT| nein das kann man aber scho"n sagen ich mein das was man versucht hat ihm MG: mm- HD: an=s hemd zu klebenwar ganz falsch! Offenbar wird in diesen Gesprächsbeiträgen mit schon eine andere Wirkung erzielt als dort, wo eine Ersetzung mit bereits möglich scheint. Im ersten Fall würde ich eher durchaus für schon einsetzen oder gleich eine ganz andere Formulierung wählen, z.B. Davon kann man ausgehen. Im zweiten 572 Bruno Strecker Fall scheint mir ebenfalls eine Ersetzung mit durchaus möglich oder auch mit sehr wohl. Was ist daraus hinsichtlich des Beitrags von schon zur Bedeutung der jeweiligen Sätze zu schließen? Bestimmt nicht, hier lägen drei Wörter schon vor, jedes mit einer eigenen Bedeutung. Dass man dies eine Wort in verschiedenen Zusammenhängen durch verschiedene andere Ausdrücke ersetzen kann, besagt keineswegs, dass sich dahinter in Wirklichkeit Wörter verschiedener Art verbergen. Schließlich wird man aus der Tatsache, dass ein und derselbe Stein als Briefbeschwerer, Hammer und Bremsklotz verwendet werden kann, auch nicht gleich schließen wollen, es handle sich in Wirklichkeit um drei verschiedene Steine. Schließen kann man lediglich, dass schon jeweils auf verschiedene Weise gebraucht wird. Im Gedenken an Wittgenstein möchte mancher vielleicht einwenden: „Na bitte, da hast du doch die drei Bedeutungen. Die Bedeutung ist der Gebrauch, und wenn drei Gebrauchsweisen vorliegen, hat man eben drei Bedeutungen.“ Aber daraus wird kein Einwand gegen die These, nur ein Wort liege vor, das genau einen, nämlich seinen spezifischen Beitrag zur Bedeutung der verschiedenen Sätze leistet. Schließlich lässt sich die Gebrauchsweise nicht von dem trennen, was gebraucht wird: Weder kann man mit schon Beliebiges tun, noch kann man, was mit schon getan werden kann, mit beliebigen anderen Wörtern tun. Wer den Beitrag von schon zur Bedeutung so verschiedener Sätze aufklären will, muss zwei Probleme lösen: die verschiedenen Gebrauchsweisen erfassen herausarbeiten, was gerade schon für solche Verwendungen qualifiziert Zum ersten Punkt ist festzuhalten: Hier ist keine Wortartklassifikation gefragt, etwa derart, dass schon einmal als Gradpartikel, einmal als Abtönungspartikel und einmal als Temporaladverb bestimmt wird. Derartige Klassifikationen beruhen m.E. auf einer elementaren Verwechslung von Klassenzugehörigkeit und Funktion. Die Gebrauchsweise besteht nicht in der Zugehörigkeit zu einer Klasse von Ausdrücken, sondern in der Einhaltung syntaktischer, semantischer und pragmatischer Regularitäten, wobei all Ja doch, eigentlich schon noch 573 dies nicht immer so eindeutig wirkt, dass ein Hörer auf Grund diesbezüglicher Information entscheiden könnte, was mit schon in einem gegebenen Zusammenhang erreicht werden soll. Zum zweiten Punkt sei an den Vergleich mit dem Stein erinnert: Was den Stein für die verschiedenen Verwendungen qualifiziert, ist seine Beschaffenheit. Was schon für verschiedene Verwendungsweisen qualifiziert, ist seine spezifische Bedeutung. Doch diese ist bekanntermaßen notorisch schwer zu fassen. Ich weiß, dass ich mich weit aus dem Fenster lehne, wenn ich jetzt versuche, den spezifischen Bedeutungsbeitrag von schon zu beschreiben und nicht etwa nur Paraphrasen anzugeben, für die sich letztlich dieselben Fragen stellen. Hier mein Versuch: Mit schon wird bei all seinen Verwendungen ein Urteil ins Spiel gebracht, das man etwa so beschreiben könnte: „Das Betreffende erfüllt die einschlägigen Ansprüche.“ Diese Einschätzung der Bedeutung von schon passt, nebenbei bemerkt, recht gut zu etymologischen Befunden, die schon von schöne herleiten: Die Sache ist so weit gelungen. Bei HD: er [ist immer|hin schon bei vierundfü"nfzig prozent aber ich finde das auch schon sehr hochbezieht sich schon auf die erreichte Höhe des Bekanntheitsgrads von Däubler-Gmelin. Sie sagt also im Grund: Er ist bei 54% und das erfüllt die Ansprüche. Wenn dies so verstanden wird, als habe sie gesagt, ihr Bekanntheitsgrad habe diesen Wert früher als erwartet erreicht, dann liegt das daran, dass Däubler-Gmelin der Konversationsregel folgt, dass man nur dann auf diese Weise eigens vermerkt, ein Zustand sei erreicht, der die Ansprüche erfüllt, wenn die Gesprächspartner ihn wahrscheinlich derzeit für nicht erreicht halten. Da schon unter anderem systematisch in dieser Weise verwendet wird, kann der Eindruck entstehen, es sei Teil der Bedeutung des Ausdrucks und nicht nur Folge einer Verwendungsweise, wenn ein in Frage stehender Sachverhalt als vorzeitig eingetreten gilt. Bei den anderen Passagen zu schon spielen denn auch Zeitverhältnisse keine Rolle. Einmal 574 Bruno Strecker MG: sind die manner- * sind die manner denn so lernfähig daß das irgendwann eines tages nicht mehr nötig wäre- HD: ja doch ich denke scho " ni wird der Grad der Lernfähigkeit der Männer als hinreichend oder zufrieden stellend gewertet. Der Gesprächsleiter setzt mit seiner Frage sind die Männer denn so lernfähig, daß ... selbst das Maß, das Däubler-Gmelin für erreicht erklärt. In der zweiten Passage gibt Frau Däubler-Gmelin mit schon zu verstehen, dass sie die Bedingungen für die Geltung ihrer Aussage erfüllt hält, trotz der ironischen Einwände von Müller-Gerbes: MG: |so | jaja |das is | j a immer |so | LACHT HD: |und=eh| |neinnein-| |LACHT| nein das HD: kann man aber scho"n sagen ich mein das was man versucht MG: mm- HD: hat ihm an=s hemd zu klebenwar ganz falsch^ Eine sorgfältige Charakterisierung der Verwendungsmöglichkeiten müsste natürlich die genauen Skopusverhältnisse sowie Vor- und Rückbezüge bei den verschiedenen Verwendungsweisen erfassen und auch Wortstellung und unterschiedliche Betonungsverhältnisse berücksichtigen. Letzteres scheint mir allerdings nicht so bedeutend, wie verschiedentlich angenommen wird: Setzte die korrekte Interpretation verschiedener Verwendungen von schon stets Kenntnis der Intonation voraus, müssten schriftliche Texte ungleich mehr Probleme mit sich bringen als mündliche Verwendungen. Das ist jedoch allenfalls bei isolierten Beispielsätzen der Fall. Man kann deshalb davon ausgehen, dass die Intonation das Verstehen zwar unterstützt, jedoch nicht erst ermöglicht. Eines allerdings schafft allein die Intonation: die Intensität zu vermitteln, mit der man mit schon seinen Punkt machen kann. Wer die eben zitierten Passagen nur in Schriftform kennt, kann trotz Kontext nicht beurteilen, ob Frau Däubler-Gmelin hier vorsichtig oder energisch Einspruch einlegt. Ja doch, eigentlich schon noch 575 5. Der exemplarische Fall: ja Als besonders sperrig bei der Analyse von Diskursen erweist sich die Partikel ja. Bei ja denkt man zuerst an zustimmende Antworten auf Entscheidungsfragen, und dabei scheint klar genug, was die Partikel leisten kann. Bei Durchsicht von Transkripten zeigt sich jedoch schnell, dass diese Verwendung weit seltener ist als andere, deren Funktionen trotz großer Häufigkeit schwerer zu fassen sind. Ich denke dabei an solche Verwendungen: (1) HD: |mhm |s ja auch| kein wunder wenn man das erste mal auf der li"ste istl (2) MG: | ja |brauchen| denn diese frauen | überhaupt noch frau"enzeitSchriften|beatewedekind (3) HD: ja es kommt halt immer drauf an (4) MG: |ja obwohl] vor zehn jah|ren| wußt ich das auch schon |nich-| (5) HD: ja-|ist | da"s wahr Dass in diesen Äußerungen mit ja Verschiedenes zu leisten ist, wird offenkundig, wenn man versucht, mit anderen Ausdrucksmitteln in etwa dieselbe Wirkung zu erreichen: - Bei (1) könnte man an Stelle von ja etwa an natürlich denken oder an wie jeder weiß. - Bei (2) fällt mir wenig ein, am ehesten noch wenn die Dinge so liegen oder wenn das so ist. - Bei (3) scheint mir der Verzicht aufja die beste Lösung, allenfalls die ebenso leicht verzichtbaren also und nun kommen als Ersatz in Frage. - Bei (4) scheint eher zugegeben oder das kann man so sehen angemessen. - Bei (5) könnte eine Formulierung wie ich nehm's zur Kenntnis oder einfach ein kurzes so in Frage kommen. Nach den Bemerkungen zur Bedeutung von schon darf man vermuten, dass auch für das eine Wort ja nicht mehrere Bedeutungen im Sinn von Potenzialen anzunehmen sind. Unterschiede sollte man mit dem erklären, was 576 Bruno Strecker offenkundig verschieden ist, nicht mit dem, was ebenso offenkundig gleich ist. Offenkundig verschieden sind die Verwendungsweisen von ja\ Zu klären ist, wie die Bedeutung dieses Wortes geartet sein muss, das sich für all diese Verwendungen eignet. Der Versuch, einen gemeinsamen Nenner zu finden, führt zu solchen Beschreibungen der Bedeutung vonja. zur Kenntnis genommen oder bekamt im Sinn von allgemein bekannt, nicht von berühmt. Im Fall von (1) wirktja als Kommentar: Was ich hier sage, kann als bekannt gelten. Typisch für diese Verwendungsweise ist die satzinterne Stellung. Grundsätzlich dieselbe Funktion hatja m.E. auch bei Ausrufen wie: Du bist ja ganz nass oder Das ist ja der Thomas, doch während hier in aller Regel keinerlei Zweifel daran sein kann, dass dies tatsächlich bekannt ist, wird Bekanntsein in Fällen wie (1) lediglich unterstellt. Dadurch ergibt sich dann doch ein gewisser Funktionsunterschied: Die Unterstellung des Bekanntseins soll denkbare Zweifel oder Widerspruch blockieren. Der Hinweis auf tatsächlich Bekanntes hingegen dient dazu, den Ausruf oder auch die Feststellung vor dem Vorwurf der Verletzung elementarer Prinzipien zu schützen, nämlich, dass man nicht informativ und relevant sei. Das vorgeschaltete ja bei (2) nimmt gewissermaßen explizit zur Kenntnis, was zuvor gesagt wurde, ohne den Sprecher darauf festzulegen, dass sich die Dinge tatsächlich so verhalten. Die Funktion der Kenntnisnahme wird erst in der Fortsetzung des Gesprächsbeitrags deutlich: Sie dient als Basis für die folgende Fragestellung, deren Zusammenhang mit dem bisher Gesagten nicht allzu offensichtlich ist. Der Gesprächsleiter sucht hier in Form einer hypothetischen Frage einen Übergang zu einem anderen Thema zu schaffen. Wenn man bösartig ist, könnte man sagen: Er sucht so, Kohärenz zu erschleichen. Auch bei (3) wird das ja vorgeschaltet und wirkt als explizite Kenntnisnahme des Gesagten ohne Festlegung auf dessen Wahrheit. Die Kenntnisnahme steht hier jedoch in einem anderen Zusammenhang: Sie reagiert auf die Aufforderung zur Stellungnahme, die der Gesprächsleiter in Form eines nachge- Ja doch, eigentlich schon noch 577 schalteten nich vorgebracht hatte. Bemerkenswert ist, dass hier das als Antwort auf eine Entscheidungsfrage verwendete ja nicht als Zustimmung zu verstehen ist. Wie man sieht, genügt es nicht zu wissen, dass eine Entscheidungsfrage vorausging, wenn man ein ja als Antwort erkennt. Alles hängt davon ab, was folgt. Folgt dem ja nichts, wird es als Zustimmung gewertet, denn explizite Kenntnisnahme ohne weitere Stellungnahme gilt generell als Zustimmung. Als Gefragter hat man aber immer die Option, an das ja eine Stellungnahme anzuschließen. Im Extremfall kann dies sogar nein sein: Ja nein, so ist das nicht! Zu dieser Einschätzung der Antwort mit ja passen auch die beiden vorgeschalteten ja (5): Der Sprecher bzw. die Sprecherin stellen direkt im Anschluss daran klar, dass sie nicht nur zur Kenntnis genommen haben, sondern zustimmen. Frau Däubler-Gmelin tut das explizit, Müller-Gerbes in Form einer Konzession. Sicher finden sich weitere Verwendungsweisen von ja neben den hier beschriebenen. Sie alle ausführlich zu betrachten würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, doch man kann mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass auch diese Verwendungsweisen mit der hier vorgestellten Hypothese über die Bedeutung vonja kompatibel sind. Ja, das wird's dann eben wohl vielleicht eigentlich auch schon gewesen sein. Ludwig M. Eichinger Adjektive postmodern: wo die Lebensstile blühen [...] da ließen ihn alle Adjektive im Stich. Kurz und artig? Dick und rund? Dünn und eckig? (Matthias Politycki, Weiberroman. München 1997, S. 76) 1. Postmoderne und Stil Matthias Polityckis „Weiberroman“ trägt seine Fabriziertheit, seine Konstruktion als postmodernes Markenzeichen vor sich her. Ein zwar durch die Erzählerfiktion zerstückeltes, dennoch ziemlich allwissendes Erzähler-Ich führt uns durch drei Phasen im Leben unseres Helden, Gregor Schattschneider. Jede dieser Phasen ist nach einer Frau benannt, und an einen Ort und an ein Alter gebunden. Im ersten Teil stoßen wir mit dem 15bis 16-jährigen Gregor, der um 1970 mit seinen Eltern auf dem norddeutschen „platten“ Land, in Lengerich, wohnt, auf Kristina; im zweiten Teil finden wir uns im Jahr 1977 in einer Wiener Wohngemeinschaft wieder, in der wir Gregor in seinem nunmehr drei Jahre währenden und praktisch nicht mehr recht fortgeführten Germanistikstudium als 21-Jährigen Wiedersehen. Mit Tania trifft er dort auf eine erhebliche erotische Herausforderung. Im dritten Teil letztlich tritt uns Gregor im Jahre 1990 in Stuttgart mit immer noch nicht abgeschlossenem Studium als Begleiter der hocheleganten und andererseits hedonistisch-bürgerlichen Chef-Stewardess Katarina entgegen. Es würde zu weit führen, die fiktionalen Verwischungstaktiken nachzuvollziehen, mit denen die Selbstbezüglichkeit und schwankende Kontinuität als Merkmal des postmodernen Erzählens dieser Geschichte erzeugt werden. Auf jeden Fall gehört Politycki mit all seinen Stilmitteln eher zur ironischunterhaltenden Variante dieser Erzählweise, so dass Stilwähl, Stilebenen- 580 Ludwig M. Eichinger Wechsel und ironische Bezüglichkeit im Wesentlichen der Unterhaltung und möglicherweise Verblüffung des Lesers dienen sollen. Wie die Zeitstufen, die gewählt werden, jeweils schon andeuten, hat diese unterhaltsame Selbstrelativierung insofern ein Aussageziel, als damit ein aus der Sicht der 68er-Generation, die Polityckis liebstes Feindbild darstellt, zu spät gekommenes Leben der 78er Generation in all seiner nicht gelingenden Durchschnittlichkeit geschildert wird, ohne dass das Ego unseres Helden daraus wesentliche Wunden davontragen würde. 78er-Selbstbezüglichkeit, Pop-Attitüde, pseudowissenschaftliche Inszenierung der Erzählsituation und die unterhaltsam und an plakativen Einheiten festgemachte Schilderung dreier Lebensphasen unseres Helden: so verkauft sich dieser Roman. Dabei fallen die Lebensphasen Gregor Schattschneiders und seiner teils bleibenden, teils wechselnden Umgebung zusammen mit Zeiträumen, die im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik Deutschland als Zeiträume hoher politischer Signifikanz kodiert werden. Es handelt sich bei der Schulzeit um die Phase des Übergangs zur sozialliberalen Koalition unter dem Kanzler Willy Brandt, um die Zeit der beginnenden Ostpolitik, einer allgemeinen Politisierung der Öffentlichkeit im Gefolge der 1968er-Revolte, bei der Studienzeit um die Hochphase des RAF-Terrorismus, letztlich bei der Stuttgarter Spät-Hilfskraft-Phase um die Zeit des Zusammenbruchs des Ostblocks und der deutschen Wiedervereinigung. Aber auch diese zeitliche Einordnung und das Spiel mit dem politischen Hintergrund wird durch die Erzählerfiktion, die ja unter anderem voraussetzt, dass der Herausgeber des Romans aus ungeordneten Einzelzetteln ein Ganzes gemacht hätte, relativiert und zumindest von der mittleren fingierten Autorenfigur, Eckart Beinhofer, in seinen Anmerkungen zu seiner „kritischen Ausgabe“ wieder abgeschwächt; so kommentiert er, wenn in der erzählten Zeit schon am 7. Juli 1977 auf Ereignisse Bezug genommen wird, die in der realen Bundesrepublik erst im Oktober desselben Jahres stattgefunden haben, folgendermaßen: „Schattschneiders Erinnerung an die sogenannte Zeitgeschichte ist äußerst lückenhaft und ungenau; ich vermute sogar, daß dahinter nicht nur Nachlässigkeit steht, sondern ein Programm: das unsere Generation als im wesentlichen apolitisch darstellen möchte“ (S. 403, Anm. 71). Adjektive postmodern: Wo die Lebensstile blühen 581 Auf verschiedenen symbolischen Ebenen, einigermaßen ernsthaft, zumeist aber in ironischer Brechung, wird diesen Abläufen und den dazugehörigen Lebensstilen ein Inventar an Zeichen beigegeben. Ist dabei auch vor allem die Popmusik der Hauptreferenzbereich, so tragen doch auch eine Reihe von anderen Ebenen wie Kleidung, Wohnungsstil, letztlich auch die sprachliche Markierung der Wirklichkeit zu jenem Umfeld bei, das unser Autor mit der jeweiligen Zeit, aber auch mit der jeweiligen Region und der jeweiligen Subkultur zu verbinden wünscht. Dabei wäre es nicht einfach, den soziologischen Boden dieser Beschreibungen ganz fest zu machen: ist es im ersten Teil der Boden einer kleinbürgerlichen Angestelltengesellschaft auf dem Aachen Lande, so im zweiten ein Milieu marginaler Szenen in der Großstadt Wien, und im dritten eher eine lebensstilorientierte Beschreibung gesellschaftlicher Ausschnitte der Stadt Stuttgart, wobei sich gerade in diesem letzten Teil das Zusammentreffen von freischwebenden Milieus und traditioneller Schichtenorientierung auch handlungstragend niederschlägt. Musikalisches Leitmotiv der frühen Phase ist „Stairway to Heaven“ von Pink Floyd, in der zweiten Phase spielen die Stones eine wichtige musikalische Rolle, im dritten Teil dann eher die Auseinandersetzung mit den „deutschen Schlagern“ des Hausmeisters Scheuffele, von denen die Aktivitäten in Anbetracht ihres Charakters möchte man sie eher Passivitäten nennen der Hauptfigur geradezu leitmotivartig begleitet werden. Zentral ist vielleicht der Osten und Westen vereinende Titel „Über sieben Brücken mußt Du geh'n“, der daneben auch die symbolischen Mühen unseres Helden immer einmal wieder symbolisch kommentiert. Aber auch andere Elemente erlauben uns eine ironische Identifikation von prägenden Milieus und Lebensstilen in der Geschichte der Bundesrepublik. Typische selbststilisierende Äußerungsformen stellen in der ersten Phase die „Kilroy was here“-Zeichnungen dar, in der zweiten Phase verschiedene pseudowissenschaftliche Listen von Frauen, österreichischen, überösterreichischen Wörtern usw. - und in der dritten DOS- und WORD-Befehle; wobei sich übrigens nebenbei der „mittlere Herausgeber“ Eckart Beinhofer als Apple-Addict outet. Manche der Symbole des Lebens in diesen Zeiten lassen dann unseren Helden vor allem im letzten Teil als einen Unzeitgemäßen erscheinen; so ist er im ersten Teil mit seiner Kleidung und seinen Kleidungsvorlieben durchaus ein unauffälliger Vertreter der von ihm repräsentierten Gymnasiasten-Schicht; im zweiten Teil passt er zwar für sich auch noch zu dieser informellen Studentengenera- 582 Ludwig M. Eichinger tion, wird aber durch Tanjas andere Lebenswelten doch in seinem Selbstverständnis erheblich erschüttert; im dritten Teil hingegen gibt es auch rein kleidungsmäßig eigentlich keine Schicht mehr, der er zugehört ein Fossil seiner selbst. Dem entspricht auch sein Beharren darauf, sich als überzeugter DOS-Benutzer auf die Neuerungen von WINDOWS einzulassen. 1 Allerlei stilistischer Aufwand wird in diesem Roman darauf verwendet, die zeitlichen Phasen, die Personen, die Rollen, die sie einnehmen, und ihre Wandlungen sichtbar - und zwar spielerisch sichtbar werden zu lassen. 2 Dem wollen wir im Folgenden auf der Wortebene etwas nachgehen einer zweifellos bedeutsamen Ebene dafür, wie sich leicht durch einen beliebigen Blick in das Buch feststellen lässt. Sie ist aber bei weitem nicht die einzige; ähnlich reizvoll wäre es zweifellos, den erkennbaren stilistischen Auffälligkeiten nachzugehen. Der gesamte Text ist gekennzeichnet durch die Ambivalenz zwischen einem scheinbar locker-gesprochenen Stil und der dann tatsächlich nachzukonstruierenden Komplexität. 3 Ein weiteres Kennzeichen wäre, dass Zeichensetzung, Absatzbildung, Typografie und ähnliche Mittel in einer Weise genutzt werden, die den medialen Charakter der Schriftsprachlichkeit in der einen oder anderen Weise aufzubrechen scheint. Dem stehen auf der anderen Seite dann wiederum „hyper-schriftsprachliche“ Mittel gegenüber: nicht nur auf der Makroebene der Herausgeberfiktion von der kritischen Ausgabe bis hin zu Fußnoten und Literaturverzeichnis, sondern auch auf dieser Ebene der Medialität, wo gedruckte Herzchen für die Liebe stehen, und der Sex zu passagenweiten Schwärzungen im Buch führt; strukturell hochsignifikant am längsten natürlich da, wo unser letztlich doch eher biederer Held zum ersten Mal mit den beiden ihm begegnenden puren Objektivationen von sexuell selbstbewusstem Leben beim echten Sex konfrontiert wird; mit Tanja, der Heldin des Wiener Kapitels (S. 197), und Kar- 1 Einiges Erläuternde zum Umfeld und zur gesellschaftlichen Selbstpositionierung dieser Art von Literatur bringt Frank (2000); die Analyse beschränkt sich auf den „Weiberroman“, bei der die strukturelle Integration auch der hier behandelten Wortbildungsmittel besser gelungen erscheint als im Fortsetzungsbuch „Ein Mann von vierzig Jahren“. 2 Sodass das Interesse im Folgenden nicht nur dem Individualstil eines Autors, sondern auch seinen Rückbezügen auf unser Wissen und unsere Erwartungen gilt (vgl. Sandig 1995, S. 34). Das scheint insgesamt für eine Reihe von Autoren dieser Altersgruppe gültig zu sein; z.B. scheinen die Überlegungen von Poethe (2000, S. 72f.) zu Ingo Schulzes „Simple Storys“ eher davon zu zeugen, als von dem dort stark betonten Ost-Hintergrund. Adjektive postmodern: Wo die Lebensstile blühen 583 la, burschikoser Metzgersgehilfin und Anti- und Gegenheldin des Stuttgarter Teils (S. 324). Da aber, trotz dieses modernen Scheins, die traditionellen Mittel rhetorischstilistischen Gestaltens ausgiebig genutzt werden, erscheint es reizvoll, wie sich die traditionell stilmächtige Kategorie der Adjektivwahl unter diesen Umständen ausnimmt. Das nicht zuletzt auch unter dem Aspekt, dass die textkonstitutionelle Rolle von Lexematischem da steigt, wo auf die grammatisch-syntaktischen Zusammenhänge weniger Verlass ist. Auf die Andeutungen von Sinnzusammenhängen auf dieser Ebene reagieren wir zum Beispiel mit der Rekonstruktion von sinnvollen Schemata mittels Isotopie-Ebenen, in die wir auch ungewöhnliche Lexeme einzubinden versuchen. Darin zeigt sich übrigens Nutzen wie Problem der Handhabung dieser Kohärenz bildenden Technik: die Wörter haben nicht irgendwelche festen Merkmale von vomeherein, vielmehr lesen wir sie so, dass wir im Kontext Dinge als potenzielle Merkmale aktualisieren, an deren Existenz wir ohne den Kontext gar nicht, oder zumindest nicht gleich, gedacht hätten. Alle Mittel sind zu diesem Zweck nun besonders gut geeignet, die eine Verbindung zwischen Lexemen anzeigen, allerdings die genaue Art in unterschiedlicher Weise im Unklaren lassen. Adjektive sind von ihren externen Bindungen und von ihrer möglichen internen Struktur her gute Kandidaten für einen solchen Typ textueller Sinnkonstruktion. Sie verweisen dringend auf Bindungsnotwendigkeiten, geben aber unterschiedlich klar zu erkennen, wie genau die Bindung gemeint sein könnte. 2. Adjektiv, Wortbildung und Stil 2.1 Adjektive als Stilindikatoren 2.1.1 Der Bedeutungsbeitrag von Adjektiven Gerade mit Adjektiven können wir wirklich etwas sagen. Denn wo wir ein Adjektiv am ehesten erwarten, ist es grammatikalisch eigentlich nicht nötig, aber in der inhaltlichen Spezifikation dann doch oft entscheidend (vgl. Gauger 1995, S. 215). (1) [...] nachdem er sich ein weiteres warmes Bier geholt und ein weiteres warmes Bier getrunken hatte [...] (S. 53) 584 Ludwig M. Eichinger (2) [...] als sei eine schwere Last von ihm gefallen [...] (S. 54) (3) [...] seit gestern schien sich die Welt viel schneller zu drehen als zuvor (S. 55) Das gilt für die Verwendung als Attribut (s. (1) u. (2)), und dann auch in der als adverbiale Bestimmung (s. (3)). Und vielleicht ist in diesen Beispielen auch typisch, dass Angaben ja überhaupt relativ häufig die kommunikativ eigentlich interessante Spezifikation einbringen, während die adnominalen Bestimmungen links vom Nomen ihre Differenzierungen eher als etwas verstanden wissen wollen, was informatorisch mehr im Hintergrund steht. Das kann zweifellos unterschiedliche Funktion haben, warmes und eiskaltes Bier stecken Pole in einem Handlungszusammenhang ab, von denen der hier erwähnte zweifellos nicht der wünschenswerte ist, und etwas über den Zustand der geschilderten Party verrät, während in (2) ja eigentlich nur etwas ohnehin implizit in Last Enthaltenes zu Zwecken der Steigerung explizit gemacht wird. So ist denn ihre Setzung normalerweise schon eine weitere implizite Behauptung, die in ihrem Beitrag zu der Gesamtproposition ganz unterschiedlich zu bewerten ist. Dabei ist ja bekannt und häufig erwähnt, dass hier klasseneinschränkende („restriktiv“) und klassenakzentuierende („explikativ“) Bedeutungsbeiträge möglich sind. Weniger oft wird bemerkt, dass zumindest bei den restriktiven Attributen diese Restriktion eher beiläufige Zusatzinformation liefert oder jene Differenz ausdrückt, um die es geht: (4) [...] hüpfte ein blonder Pferdeschwanz vor ihm her (S. 55) (5) Von wo ihr helles Lachen fast pausenlos hochdrang (S. 76) (6) Draußen, in Weil der Stadt, schepperte eine leere Fanta-Dose durch den Rinnstein (S. 77) (7) „Guter Witz“, grinste der Milliardär (S. 81) So sind die Explikationen in (5) und (6) einigermaßen feste Kollokationen; der Tatbestand, dass es sich gerade um einen blonden Pferdeschwanz handelt, ist zwar an der zitierten Stelle eher beiläufig erwähnt, aber im ganzen Adjektive postmodern: Wo die Lebensstile blühen 585 ersten Kapitel ziemlich wichtig; in (7) ist die Restriktion, die im Attribut ausgedrückt wird, zweifellos zentral. Auch mit dieser Frage hat sich die Textlinguistik vor längerer Zeit zumindest im Ansatz schon beschäftigt, wenn bei der Konstruktion von Makro-Regeln entschieden werden muss, ob die jeweils gegebene Information den Text voranbringt oder ihn in der einen oder anderen Weise nur begleitet (vgl. aber Heringer 1989, S. 105). Wo sie zur Aktualisierung eine Kopula brauchen, wo sie also Kern eines Prädikats sind, sind die Anforderungen an Adjektive hoch hier müssen richtige Eigenschaftswörter her. Einfache davon sind selten, komplexe sind häufig auffällig. (8) Ist sie wirklich schön (S. 89) (9) [...] festen Willens, möglichst msüß zu sein (S. 175) 2.1.2 Interner und externer stilistischer Wert Und so scheint es denn ganz passend, dass die primären Adjektive wenige, kurz, und wenn man so will, unauffällig sind. Und in den allermeisten Textpartien auch diesen Textes überwiegen denn unter den Adjektiven eindeutig die unauffälligen. (10) Wie er in die Wüste des Donald-Posters starrte, sah er Karlas kleinen harten schweißbeperlten widerlich zähen wilden Körper. (S. 327) Abgesehen davon, dass hier mit der Reihenfolge stilistische Emotion erzeugt wird das stark bewertende wild am Ende der Nominalklammer, sowie der Einschub des schweißbeperlt zwischen die semantisch praktisch gleichwertigen Attributionen hart und zäh ist einigermaßen merkmalhaft überwiegen die vergleichsweise unauffälligen primären Adjektive die auffällige Partizipialinkorporation mit vier zu eins. Dass diese Bildung hier besonders auffällig wirkt, obwohl sie im Prinzip, wie wir später noch sehen werden, eigentlich dem semantischen Hauptmuster dieser Bildungsart folgt, hängt damit zusammen, dass die genaue Form dieses Wortes eigentlich nur über eine sehr weit gehende Wirkung von Analogieregeln in der Wortbildung erklärt werden kann. Ist es doch eine jener Bildungen, bei denen nun tatsächlich 586 Ludwig M. Eichinger kein Basisverb *beperlen eine Rolle spielt, sondern die Partizip-II- Morphologie in Verbindung mit dem Präfix be-, das ja bekanntlich funktional den eigentlichen Partizip-II-Marker geüberflüssig macht, eine zustandsartige Beziehung andeutet. Bei ihr wird das Bezugssubstantiv als Objekt fokussiert, das nominale Element bezeichnet hier wie häufig ein Objekt, mit dem das Bezugssubstantiv versehen ist; das Zweitelement des Adjektivs stellt so etwas wie eine modale Modifikation dar. Wir werden auf diese Bildungen noch zu sprechen kommen. Hier hegt auf jeden Fall der Untertyp vor, bei dem dieses Muster über existierende Komposita, die formal in die Adjektivbildung eingebettet werden, obwohl keine entsprechend verbale Basis außerhalb dieser scheinbar partizipialen Fügung existiert, analogisch weitergebildet wird. Erkennbar wird ja hier mit der Form des fast schon explikativen lexikalisierten Kompositums Schweißperlen gespielt. Die ‘Form von’-Bedeutung dieses Kompositums ist zwar an sich relativ gut geeignet für den Ausdruck modaler Modifikation, dennoch ist die Bildung stilistisch ziemlich auffällig. An diesem Beispiel sieht man aber auch, dass die stilistische Wirkung nicht allein an der Ungewöhnlichkeit eines einzelnen komplexen Lexems hängt, sondern an den Taktiken der Erwartungsverwirrung insgesamt. Alle Adjektive, die hier Vorkommen, gehören zu den echten Eigenschaftswörtern und besetzen damit alle gleichzeitig die Zentralstelle im pränominalen Feld zwischen Determinator und substantivischem Kopf der Konstruktion. Dabei sind nun abgesehen von der vorliegenden textuellen Einbettung mehrere der Adjektive geeignete Kandidaten, um in prototypischer Weise diese zentrale Position zwischen den Klammern einzunehmen: am neutralsten ist vielleicht die Qualifikation klein als die am wenigsten spezifische prototypische Eigenschaftsbezeichnung; gleichwertig nebeneinander scheinen zunächst die Beschreibungen als hart und als zäh zu stehen, beide durch eine höhere Subklassenspezifik gekennzeichnet, aber ähnlich objektiv feststellbar wie die relative Größe; dagegen ist wild deutlich bewertender u.d.h. sprecherbezogener als die bisher besprochenen Adjektive. Das heißt, eigentlich wäre mit solch einem Adjektiv eher im linken Bereich der Klammermitte zu rechnen. Und durch die Attribution mit widerlich wird auch das eigentlich neutrale zäh in diese Art der Deutung mit einbezogen. So hätten wir nach diesen Vorüberlegungen am ehesten mit einer Reihenfolge Karlas widerlich zäher, wilder harter kleiner Körper zu rechnen. Das auffällige Adjektiv schweißbe- Adjektive postmodern: Wo die Lebensstile blühen 587 perlt ist semantisch ebenfalls dem neutralen Eigenschaftsbereich zuzuordnen; wegen der stärkeren Individualisierung der Zuordnung kommt ihm wohl aber die Mitte zwischen den anderen beiden Gruppen zu. So würden wir denn, wenn bei solch einer Adjektivhäufung davon insgesamt die Rede sein kann, vermutlich am ehesten eine Abfolge erwarten wie: wilder zäher schweißbeperlter harter kleiner Körper. Die stilistische Überraschung liegt darin, wie nun die Erwartungen auf die normale Abfolge gebrochen werden. Zunächst wird uns der beschreibende Part das Ganzen gegeben, wobei auch hier in der Abfolge der Adjektive bis zu unserer Partizipialbildung schweißbeperlt hin die Umkehrung der erwarteten Reihenfolge auftritt, was auch wieder für die beiden wertenden Qualifikationen gilt, die wir wie gesagt, eigentlich schon viel eher erwartet hätten. So wird durch allerlei stilistische Technik eine wenn auch vielleicht nur geringfügige - Brechung der Erwartung erzeugt, bei der die zentrale Positionierung durch die interne Auffälligkeit dieser Bildung vielleicht noch schwerer wiegt als die Verschiebung der anderen, intern unauffälligen Bildungen. 2.1.3 Die „normalen“ Erweiterungen Dabei ist andererseits eigentlich die Existenz des Partizips und seine Anteilhabe an Merkmalen der Wortarten Adjektiv und Verb ein Weg der stilistischen Entlastung. Gerade die Möglichkeit, das Erbe der syntaktischen Bindungsfähigkeit des Verbs mit diesem technischen Mittel in die Nominalgruppe zu transportieren, bindet diese Adjektive stärker in die Struktur der Nominalgruppe ein. Das kann man im Beispiel (11) etwa am Bezug des Reflexivpronomens sehen. Gleichzeitig sieht man hier, wie die verbale Seite des Partizips es ermöglicht, mit ein und demselben Lexem den Blick auf den Vorgang und sein als Zustand formuliertes Ergebnis zu lenken. In der erhöhten Notwendigkeit der Einbindung mindert sich die Auffälligkeit. (11) eines sukzessive sich entblätternden und restlos schließlich entblätterten Frauenkörpers (S. 57/ 58) Wie schon in der Analyse des Beispiels (10) angedeutet, kann diese Bindungsfähigkeit dann allerdings wortbildungsintern zu einer Verbindung gewöhnlich nicht so fest verbundener Schemaelemente genutzt werden, bzw. zu einer Parodie relativ fest erwartbarer Verbindungen wie in (12), wo die 588 Ludwig M. Eichinger parodierte Fügung mit wechselndem Erfolg ebenso gängig ist wie eine verbale Auflösung ungewöhnlich. (12) mit wechselndem Mißerfolg (S. 59) Aber im Kern stellen Partizipien natürlich zunächst einmal eine Möglichkeit dar, primär verbal gefasste Inhalte adjektivisch verfügbar zu machen. Analog gilt auch für eine große Menge adjektivischer Suffixbildungen, dass sie relativ unauffällige Ausbaumöglichkeiten des Wortschatzes darstellen. Das betrifft vor allem die desubstantivischen Bildungen, da ja bei den deverbalen Adjektiven das Partizip zumindest einen Teil dieser Aufgabe übernehmen kann. Insbesondere die mengenmäßig dominanten Suffixe {-ig}, {-/ / c/ i|und {-isch} bieten normale Optionen des Ausbaus an, wie man sie an den Beispielen (13) bis (15) sehen kann. (13) inmitten einer riesigen Tropfsteinhöhle (S. 15) (14) die hauptsächlich aus steilen Dächern bestanden (S. 38) (15) durch übertrieben parodistische Bewegungen (S. 49) Dabei ist erkennbar, dass die komplexen Adjektive mit dem Suffix {-ig} ohne weitere Umstände an die zentrale Gruppe primärer Adjektive anschließen, auch die mit {-lieh} suffigierten Bildungen tun das in einem gewissen Ausmaß, haben sie doch ihr Zentrum in der adverbialen Modifikation. Dagegen haben die Adjektive auf {-isch} einen indirekteren Zugang zum Kernbereich, sind sie doch primär adnominale Bereichsangaben. 2.2 Metaphorisierung in Wort und Text Offenkundig ist, dass schon bis zu dieser Stelle zunächst einmal zwei Optionen gegeben sind, um stilistische Auffälligkeit zu sichern: beide arbeiten damit, dass morphologisch oder syntaktisch hergestellte Beziehungen mit metaphorisch oder metonymisch zu lesenden Elementen besetzt werden. Wenn wir in der bisherigen Richtung unserer Argumentation bleiben wollen, müssen wir zunächst davon sprechen, dass wortbildungsintern solche Techniken der Erwartungsenttäuschung an zwei Stellen ansetzen können. Erstens Adjektive postmodern: Wo die Lebensstile blühen 589 können die Erwartungen genutzt werden, die von verbalen Lexemen - oder Lexemen, die zumindest so behandelt werden gestiftet werden. (16) Aber da stand Cox bereits, beifallbeplätschert, mit einem neuen Stapel in der Hand (S. 255) Zweitens können die Relationen, die in komplexen vor allem bei -ig- Adjektiven zu findenden - Basen bestehen, überdehnt und gebrochen werden, so wenn es z.B. von den Nachhilfeschülern des Helden unseres Buches heißt: (17) [...] den zwei prallbäuchigen Nervensägen ihres Vermieters (S. 102) Die Auffälligkeit nehmen diese Bildungen aus ihrer Nähe zum Strukturtyp des possessiven Kompositums, das sich, wenn es funktioniert, ja geradezu als eine Art Rückbildung aus Adjektiven des in (17) vorliegenden Typs verstehen lässt. Daneben sind Adjektive ja ohnehin durch ihre Relation zu dem Bezugsnomen bzw. -verb gekennzeichnet, und so können diese Beziehungen gebrochen werden, was bei primären Adjektiven als Überdehnung der Selektionsbeziehungen (Typ: „Schlaf schneller, Genosse! “), bei komplexen Adjektiven durch die Art der Beziehung zwischen der Basis des Adjektivs und dem Lexem des Bezugswortes realisiert wird. (18) [...] aus diesem Kanalloch, diesem rattigen, runtergewohnten Bohnenviertel (S. 284) Wir wollen uns im Folgenden um diesen zweiten Typ, die textuelle Metaphorisierung als Aufmerksamkeitsmarker, nicht weiter kümmern, sondern uns auf die stilistische Nutzung wortbildungsintemer Relationen beschränken. 590 Ludwig M. Eichinger 3. Auffälligkeits-Techniken 3.1 Voraussetzungen 4 Wir haben bisher die beiden Optionen angesprochen, bei denen intern vorhandene Relationen in einer Weise aufgefüllt werden, die unsere Erwartungen inhaltlich wie formal in bestimmter Weise überdehnt, oder die mit der Besetzung der relationalen Posten in eine unerwartete Richtung weist uns damit einen Moment länger zum Nachdenken bringt, bevor das passende Schema aufgebaut ist. (19) Löwenzahnbesterntes Blühen auf den Burwiesen (S. 60); [...] die lachfreudigsten Wörter (S. 104) Der andere Weg ist, dass die Erwartbarkeit der durch bestimmte Bildungsmittel angedeuteten Muster analogisch gebrochen wird. Wir haben also offenbar eine Art Normalerwartung für die Erstreckung eines Musters; die Abweichung davon bedarf der Uminterpretation. So finden sich im ersten Teil von Polityckis „Weiberroman“ auffällig häufig unauffällige Bildungen mit dem Suffix {-/ ox} wie z.B.: (20) achtlos (S. 25), arglos (S. 13), blicklos (S. 67), endlos (S. 9), grundlos (S. 20), kommentarlos (S. 54), mühelos (S. 14), mutlos (S. 15), nahtlos (S. 36), tonlos (S. 9), trostlos (S. 24) Erkennbar entsprechen diese Bildungen einer normalen Reichweite dieses Bildungsmusters, auch wenn sie ihrerseits schon verschiedenen Untertypen angehören. So vorbereitet sind wir dann in der Lage, den stilistischen Reiz ungewohnter Bildungen ebenso wahrzunehmen wie sie an das System anzuschließen: (21) Während Gregors Vater wortlos, mienenlos seine Zeit zergabelte iS. 13) (22) [...] die hier herrchenlos, frauchenlos herumliefen (S. 61) 4 Danken möchte ich Frau Franziska Jackisch, die mir bei der Sammlung auffälliger Adjektive im „Weiberroman“ geholfen hat; in Jackisch (2001) gibt sie auch Hinweise zu einer Reihe von Bildungstypen und deren stilistischer Auffälligkeit. Adjektive postmodern: Wo die Lebensstile blühen 591 Im Beispiel (22) geht es um Hunde, die unseren Helden als jungen Mann auf dem Heimweg bedrohen. Bei der Erschließung und Einordnung dieser Bilder helfen uns die teils direkt genannten, teils einfach zu erschließenden analogischen Vorbilder. In der in (21) geschilderten Szene des beim Abendessen ebenso sprachwie reaktionslos herumsitzenden Vaters ist das Verständnis der ungewöhnlichen Bildung mienenlos durch den Typus wortlos syntagmatisch hinreichend vorbereitet, während in (22) der Kontext mit den Nachbarshunden die Substantive Herrchen und Frauchen liefert, die adjektivischen Bildungen dann aber ironisch verfremdend wirken durch den paradigmatischen Bezug auf das lexikalisierte Adjektiv herrenlos. Manchmal sind auch die Bildungen ganz üblich, aber die Art der Selektionsbeziehung zum Bezugssubstantiv wirkt in ihrer Verschiebung stilistisch auffällig, so wenn unser pubertierender Held des ersten Teils seine ihn nicht befriedigende körperliche Erscheinung im Spiegel würdigt: (23) [...] die Brustwarzen, die so mutlos auf den Rippen herumrutschten (S. 15). Manche der Bildungen mittlerer Auffälligkeit stammen schon aus einem lexikalischen Inventar, das bereits normativ Signale eines gehoben-literarischen Stils liefert, wie der folgende, an der zitierten Stelle völlig unironische Beleg, der ganz der Beschreibung der Verwendung des Adjektivs fühllos im Duden-Wörterbuch entspricht vielleicht bis auf die Wahl eines Abstraktums als Bezugssubstantiv; aber das betrifft eigentlich auch schon vorgängig die Verb-Subjekts-Relation: aus Veraltetem wird stilistisch Gehobenes gemacht (vgl. dazu Handler 1993, S. 199). (24) [...] aus dieserfühllosen, farblosen Leere (S. 77) Dagegen bricht sich die moderne, steigerungspartikelähnliche Verwendung von gnadenlos am Kontext: (25) einen weißen, einen gnadenlos weißen Pulli zu holen (S. 77) Das betrifft auf eine Weise in Sonderheit die Bildungen mit den Suffixen, und vielleicht mehr noch mit jenen Elementen, die in leicht ambivalenter Weise die Übergangszone zwischen Derivation und Suffigierung bilden. 592 Ludwig M. Eichinger 3.2 An den Rändern der Muster Wir haben ja eine Vorstellung von den analogischen Mustern, die den erwartbaren Aufbau dieser Muster prägen; diese Vorstellungen lassen sich enttäuschen. Im Einzelnen funktioniert das natürlich auf unterschiedliche Weise. 3.2.1 Suffigierungen Bei den „Eigenschaftswörtern“ auf {-ig} werden wir ohnehin grundsätzlich mit der Instruktion versehen, über einen Vergleich (s. (26)) oder Angabe zentraler Merkmale (s. (27)ff.) eine Beziehung zwischen adjektivischer Basis und Bezugswort herzustellen. (26) Ob die Nase wirklich als stupsig gelten mußte (S. 37) Bei ungewöhnlichen Adjektiven müssen wir versuchen, diese Beziehung adhoc herzustellen. Komplizierter, und daher stilistisch zu nutzen, kann das aus verschiedenen Gründen sein, wie man an den Beispielen sieht; so ist z.B. der Status der adjektivischen Basis ganz unklar in einem Beispiel wie stupsig, die sich ja in dieser Bedeutung auf das Bestimmungsglied des Substantivs Stupsnase bezieht, und somit eine in der syntaktischen Reformulierung steckende Art ironischer Remotivierung dieses Elements darstellt, das ansonsten synchron wohl jenen merkwürdigen morphologischen Status hat, den man mit dem Terminus singuläres Morphem belegt, mit dem man Elemente wie Himin Himbeere beschreibt. Einen geringeren Grad an Auffälligkeit haben jene Zusammenbildungen, die als Basen einen Typ von metonymischen Bezeichnungen haben, die auch als Possessivkomposita genutzt werden können, wie z.B. bei breitbäuchig: (27) Baute sich breitbäuchig am Treppenabsatz vor ihnen auf (S. 242) Bei der Interpretation implizieren sie zweifellos bewertende Urteile nicht nur über das Aussehen der auch ansonsten als außerordentlich spießig beschriebenen Hausmeisterfigur, der dann letztlich sogar eine entsprechende verbale Adjektive postmodern: Wo die Lebensstile blühen 593 Wortbildung entspricht: [...] hausmeisterte ihnen Herr Scheuffele entgegen (S. 242). Eine zusätzliche metaphorische Volte bringt das Adjektiv ner\>ensägig, das ja auf das lexikalisierte Substantiv Nervensäge zu beziehen ist, in diesen Typ ein: (28) [...] harmlos bis nervensägig (S. 183) Metonymisch ist ja auch der lexikalisierte - Typ langbeinig, an das sich das stilistisch auffällige dooßeinig des folgenden Belegs anschließt. (29) [...] wo sie sich in ihren abgerissenen Jeans zwar als höchst langbeinig erwies, vornehmlich aber als dooßeinig (S. 167) Es gewinnt seine Auffälligkeit aus der Schwierigkeit, selbst metaphorisch die Lücke zwischen der Attribution doof und dem Bezugslexem Bein zu überbrücken. Der weitere Kontext, der hier nicht mehr dokumentiert werden kann, hilft einem aber auch, die „Unkontrolliertheit“ dieser Wortbildung zu akzeptieren, die man als analogischen Übersprung auffassen muss. All diese Beispiele zeigen auf jeden Fall, dass das Suffix {-ig} in verschiedensten Untertypen als eine klare Instruktion fungiert, aus dem in der Basis genannten Element eine signifikante Eigenschaft zu lesen; dabei helfen verschiedene paradigmatische und syntagmatische Beziehungen bei der Decodierung. Für die Behandlung von Wortbildung generell kann man daraus schließen, dass nicht eine eigentliche Rekonstruktion der morphologischen Motiviertheit für das Verständnis solcher Bildungen erforderlich ist, sondern dass es darum geht, den Anschluss an das jeweils intendierte Schema zu fassen. Viel weniger auffällig sind die unter (30) aufgeführten Bildungen mit dem deutlicheren Suffix {-/ m/ t}‘nach Art und Weise von’, da hier die Art der Interpretation recht eindeutig vorgegeben ist (vgl. Handler 1993, S. 249): (30) [...] mit riesigen, mausmakihaft aufgerissenen Augen (S. 19); [...} flokatihaft bepelzt (20); an der trixihaften Art (S. 110); [...] den sirenenhaft warnenden Baß (S. 184) Wie leicht wir uns bei der Interpretation tun, hängt davon ab, wie weit uns die Basis etwas sagt: dabei ist Sirene relativ gängig, Mausmaki als prototy- 594 Ludwig M. Eichinger pisch großäugiges Nachttier leicht zu lesen, der Personenname Trixi wird uns im Kontext hinreichend mit interpretierbaren Merkmalen angereichert, und der Vergleich der Brust- und Rückenbehaarung einer Romanperson mit jenen langhaarigen F/ okah-Teppichen ist zudem eine der vom Erzähler der Handlungszeit und ihrer symbolischen Kultur angepasster Vergleich: Flokatiteppiche gehören in die frühen 70er-Jahre. 3.2.2 Komposition, lexikalische Inkorporation und Suffigierung Noch vielfältiger nutzbar sind logischerweise auf Grund der Deutlichkeit der jeweils rechten Elemente die im Grenzbereich zwischen Derivation und Komposition stehenden Bildungen, die von der inkorporierenden Wirkung dieser Zweitelemente leben, bzw. durch diese Art der Fügung bestimmten derartigen Zweitelementen solch eine relationale Bedeutung beiordnen. Der Grad an Auffälligkeit variiert hier sehr stark, je fester suffixähnlicher eine Bildung ist, desto leichter kann dies durch Überdehnung auffällig gemacht werden. Dabei gibt es natürlich eindeutig und problemlos als Komposita identifizierbare komplexe Adjektive, die allenfalls eine möglicherweise ungewöhnliche Determination enthalten: (31) [...] zum handspannengroßen Ausschnitt des Kleides (S. 208) (32) ein kappenbunter Trommler (S.206) ‘bezüglich der Kappe’ (33) mit zopfblondem Haar (S. 208) ‘bezüglich des Zopfs’ Zum Teil handelt es sich um Komposita, deren Eigenwilligkeit daher kommt, dass die in ihnen realisierten Relationen komplexer sind, als das bei den meisten gängigen Bildungen der Fall ist: (34) [...] denn wie jener Mensch aufseine Trommel einschlug, hart und schnell mit den Handkanten, hart und hell mit flachen Fingern, übern Rahmen übers Fell, knöchelfröhlich, ballenzärtlich (S. 206) Typischerweise sind in Muthmanns (1988, S. 428; 433) rückläufigem Wörterbuch keinerlei weitere Bildungen zu den Basen fröhlich und zärtlich vor- Adjektive postmodern: Wo die Lebensstile blühen 595 gesehen; die Bedeutung der vorliegenden Bildungen ist am ehesten allerdings auch nur ungefähr unterzubringen in der bei Fleischer/ Barz ( 2 1995, S. 244) letzten Untergruppe der adjektivischen Komposita: „‘limitativ-relational’ - , X ist A in bezug auf S.“, d.h., fröhlich in Bezug auf die Knöchel, zärtlich in Bezug auf die Ballen. Stärker instrumentale Bildungen finden sich sonst nur bei Partizipialbildungen. In leicht anderer Weise positionieren sich die unter (35) und (36) genannten Bildungen in diesem Übergangsfeld zwischen Komposition und Derivation. (35) Willi, der Schuhe mal wieder entledigt und strumpfsockenselig (S. 251); (36) Eine Liste der lachfreudigsten Wörter (S. 104) Beide Zweitelemente in diesen Beispielen, nämlich -selig und -freudig, sind Lexeme des Deutschen, die in starker Weise reihenbildend geworden sind, so dass sie gegenüber der selbstständigen Verwendung eine deutlich verallgemeinerte Bedeutung zeigen, wobei -selig noch eher auf der Kompositionsseite steht mit Bildungen wie in (37), während -freudig eher als ein Suffix mit einem Bedeutungskern von ‘angemessen, gut funktionierend’ gesehen werden muss, wie sich das in Beispielen wie denen unter (38) andeutet (s. Handler 1993, S. 255; Mötsch 1999, S. 10/ 11). (37) fußballselig, sonnenselig, tränenselig, weinselig (38) drehfreudig, gebärfreudig, gebefreudig, lauffreudig Die Bildungen mit -selig haben einerseits eine säkularisierte Bedeutung des ‘sich sehr Freuens’, wobei in der Basis der Grund dafür genannt ist. Hierbei ist typisch, dass eine einfache Paraphrase dafür oft nicht möglich ist. Davon zeugt z.B. auch die recht weitläufige Bedeutungsbeschreibung dieses Elements im Duden-Wörterbuch (S. 3529): „drückt in Bildungen mit Substantiven aus, dass die beschriebene Person in etw. schwelgt, sich dem damit verbundenen oder dadurch ausgelösten Gefühl [allzu] bereitwillig hingibt“. Unser Beispiel wird dann dadurch auffällig, dass dieses ohnehin schon leicht ironische Muster, das zur Ironisierung ja einer gewissen „Begeisterungsfähigkeit“ des im Basislexem Angedeuteten bedarf, nun noch einmal durch das vergleichsweise banale Objekt der „Strumpfsockigkeit“ gebrochen wird. 596 Ludwig M. Eichinger Zentraler von solch einer „gebrochenen“ Verwendung damit von der inkorporierenden Kraft dieses Elements geprägt sind die Bildungen mit -freudig, für deren deverbale Variante, mit der wir es hier zu tun haben, das Duden-WB (S.1317) feststellt, es drücke aus, „dass die beschriebene Person gern und häufig etw. macht“, was von der Abstraktion gegenüber der selbstständigen Verwendung zeugt, aber schon im Hinblick auf die ersten beiden unter (38) genannten Lexeme nicht hinreicht, wo es jedenfalls nicht um Personen als Bezugssubstantive geht. Auch die Bildungen in (39) und (40) spielen mit gängigen reihenbildenden Zweitelementen im Übergangsbereich zwischen Komposition und Derivation. Dabei gehört der Typus meisenfrei zu einem gut ausgebauten und zentralen Bereich, den privativen Bildungen, für die im Deutschen ansonsten kein einfaches Bildungsmittel zur Verfügung steht (s. Mötsch 1999, S.309f.). (39) ist sie meisenfrei? Zumindest: hat sie weniger Meisen als Trixi oder Kosima? (S. 90) Wie wir oben im Kontext der Bildungen mit {-los} schon gesehen haben, ist {-frei} bei weitem nicht das einzige Element, das im heutigen Deutsch dieser Funktion dient; es kommen zu diesen beiden Optionen zumindest noch Bildungen auf {-armjund {-leer} hinzu. Man kann aber sehen, dass die Bildungen mit {-frei} im Prinzip eher ein positiv bewertetes Fehlen von etwas signalisieren, und zwar ebenso im Vergleich zu anderen Bildungen wie zu der selbstständigen relationalen Verwendung frei von (vgl. Fandrych 1993, S. 162ff.). Die Ironisierung der Bildung liegt ja hier darin, dass ein Phraseologismus eine Meise haben ‘verrückt sein’ zur Basis eines Wortes genommen wird, aber so klingt, als sei die konkrete Bedeutung der Basis wie in einer Bildung autofrei gemeint. Eine weitere wichtige Nische bilden entsprechende rektionale Bildungen im Umfeld von Modalität und Einstellung (vgl. Weinrich 1993, S. 1007), wie in (40), wo das Adjektiv zudem wieder mit der Folie von lexikalisiertem sehenswert, hörenswert, bemerkenswert spielt, alles Adjektiven, die eine weitaus aktivere Reaktion vorschlagen als das schweigenswert des Beispiels: (40) [...] bis auf ihre Fogal-Strümpfe [...], die allein schon schweigenswert waren (S. 249) Adjektive postmodern: Wo die Lebensstile blühen 597 Eine Art differenzierender Erweiterung der Optionen des Suffixes [-lieh] mit seinem adverbialen Kern stellt das sprachkritisch gern kommentierte, restriktive Adverbien bildende Element -mäßig dar: „Der ‘Sparvorteil’ liegt darin, daß man dann fast mit den Verben machen, haben, sein auskommt: ‘steuermäßig’ mache ich das so; was ich ‘abschreibungsmäßig’ habe, habe ich auch ‘gewinnmäßig’; ‘clubmäßig’ bin ich Rotarier“ (v. Hentig 1986, S. 50). Auch hier ist die Eigenwilligkeit der in unserem Text zu findenden, adverbialen und attributiven Muster in Unüblichkeiten der Basis (schönwienerin-) begründet oder in der eigenwilligen Fokussierung der Szene durch eine modale Paraphrase auf radiergummimäßige Weise statt der direkten instrumentalen Fügung mit einem Radiergummi. (41) wofür er stets an/ dieselbe geodreieckige, radiergummimäßige Weise belohnt wurde (S. 21); schönwienerinnenmäßig (S. 183); [...] er würde 33 werden, also hobbitmäßig volljährig (S. 304) 3.2.3 Präfigierung über- Auf eine andere Weise ist stilistische Nutzbarkeit angelegt in den Bedingungen präfigierender Steigerung und Negation, durch die ein Überhang an Bildlichkeit bzw. Techniken des indirekten Redens vor allem im Umfeld der Litotes schon vorbereitet sind. Dabei sind Fälle wie in (42) durch den insgesamt tendenziell dem jugendlichen Erlebnismilieu zugeordneten Sprachduktus der Erzählung erwartbar (vgl. Eichinger 1996), sind doch verschiedene Arten von Steigerungsformen für diesen Kontext typisch. Vielleicht eine ironische Fußnote dazu mag sein, dass sich gerade die hier gewählte Steigerungspartikel überinsofern als besonders erfolgreiche erweist, als sie in gewissem Umfang in Bildungen wie über-powerful ins Englische übernommen wird: (42) [...] so lästig, so überlästig (S. 267) 598 Ludwig M. Eichinger un- Auffällige Negationsbildungen mit unnutzen verschiedene Taktiken. Eine Reihe von ihnen findet sich in dem folgenden Beispiel versammelt: (43) [...] daß irgendwie alles an ihm ungrimmig und ungefährlich, ja ungenügend, geradezu verkehrt wirkte, nein, nicht mal verkehrt, eher: unrichtig (S. 43/ 44); Zum Ersten bezeichnet eine Reihe von zu? -Adjektiven einfach das Antonym zur entsprechenden Basis, vor allem, wenn keine eindeutige Alternative besteht, die nicht entsprechend motiviert wäre. Das ist der Fall z.B. bei ungefährlich, das vielleicht neben so etwas wie positiver formulierendem harmlos steht, aber eine möglicherweise entsprechende Eigenschaft viel stärker als Gegenpol formuliert. Dabei hat dieser Typ eine „geringe Affinität zur Verbindung mit dem ‘Minuspol’ von Paaren“ (Fleischer/ Barz 2 1995, S. 271). Das erklärt wohl die relativ hohe Auffälligkeit von Bildungen wie ungrimmig. Zum anderen gibt es im Lexikon schon eine Reihe von Bildungen, wo die Form mit ungerne das negative Ende eines Antonymenpaars, das schon eine andere Bezeichnung kennt, mit einer gewissen Modifikation versieht: „In Reihen wie klug unklug dumm, sauber unsauber schmutzig schwächt das z/ n-Adjektiv gegenüber dem negativen Antonym die Wertung ab.“ (Fleischer/ Barz "1995, S. 272). Ein typischer Fall dafür ist das Adjektiv unrichtig, das ja im Kontext von falsch oder wie im Text von verkehrt zu sehen ist, sich aber im Wesentlichen konnotativ von diesen Optionen unterscheidet. Des Weiteren gibt es eine Reihe von Adjektiven, die uns eigentlich nur in der mit unpräfigierten Form begegnen, bzw. in dieser Form normaler erscheinen, dafür kann das Beispiel ungenügend stehen. Vor diesem Hintergrund sind die relativ häufigen auffälligen Bildungen dieses Musters in unserem Text zu sehen. Nicht selten ist der oben schon angedeutete Fall, dass eine in sich eher negative Benennung entsprechend präfigiert wird: Adjektive postmodern: Wo die Lebensstile blühen 599 (44) sehr satt, sehr undurstig (S. 51); [...] die Geschichte seinerzeit am Gymnasium sei sehr unkomisch gewesen (S. 64); [...] was insofern nicht unheikel war (S. 17); Dabei wird im ersten Beispiel zudem mit einer klassischen Wortschatzlücke im Deutschen gespielt ‘satt getrunken’, für die ja bekanntlich unlängst sin vorgeschlagen wurde. Bei dem zweiten Beispiel kommt noch dazu, dass es sich bei der positiven Entsprechung um eine Art fester Wendung handelt. Das gilt ebenfalls für die Litotes im dritten Fall. Das Spielen mit festen Formen wird in weiteren Fällen wie in (45) noch deutlicher: (45) [...] wurde Max bierunselig (S. 41); aus unheiterstem Himmel (S. 162); [...] wie's nur ein fremder, böser, ein durch & durch unsüßer Weltmann zuwege brachte (S. 195) Die Wendung aus heiterem Himmel = ‘unvermutet’ wird bezüglich der Adjektivbedeutung remotiviert, was sowohl durch die Präfigierung wie durch die Graduierung angedeutet wird. Bierselig wird nicht nur durch das eingeschobene unwieder sprechend gemacht, erschwerend kommt hinzu, dass unselig etwas gänzlich Anderes bedeutet. Der letzte Beleg in (45) lebt stilistisch davon, dass insgesamt schwer vorstellbar ist, wie man den Gegensatz zu der Qualifikation, jemand sei so süß, überhaupt sprachlich fassen sollte wobei die Verbindung mit Weltmann immerhin ein erster Versuch sein könnte. Letztlich sind noch Fälle wie in (46) zu erwähnen, wo durch die Dominanz einer wertenden Negation bei unauch ein Adjektiv wie blond entsprechend gelesen wird, während man ungeflüstert wohl als den Fall einer nur negiert vorkommenden Bildung lesen muss, ohne dass das die Interpretation ungemein erleichtern würde. (46) [...] weil sie nicht etwa bloß völlig unblond [...] war (S. 47); [...] die Nächte voll von [...] ungeflüsterten Sekunden (S. 148) 3.2.4 Inkorporationstyp Partizipialkompositum Vielleicht am meisten Möglichkeiten der verfremdenden Enttäuschung von Erwartungen bietet aber der expliziteste Typ adjektivischer Inkorporation, die Bildung von erweiterten partizipialen Fügungen, bei deren quasi-syntaktischer Basis ja nun zunächst keinerlei Kombinationsbeschränkungen 600 Ludwig M. Eichinger vorhanden sind. Dabei geht es häufig um den auffälligen Ausbau erwartbarer Muster. Semantischer Typ Eines der gängigsten semantischen Muster für diese so genannten Partizipialkomposita ist ja das, bei dem das Versehensein mit etwas ausgedrückt wird, und so wird es auch leicht zum Analogiemuster, dem sich zu mehr oder minder üblichen Bildungen folgen lässt (vgl. Eichinger 2000, S. 160). Viele dieser Bildungen bieten ein vergleichsweise gängiges Inventar der Differenzierung, und sind daher auch hochgradig kollokativ erwartbar: (47) [...] auf diese [...] staubbedeckte Weise (S. 114); dessen pelzbesetzter Kragen (S. 194); drei alufolienverpackte Teller (S. 268) Dabei ist der einfachste Typ der, bei dem wie bei staubbedeckt, pelzbesetzt, aber auch alufolienverpackt, das Objekt, womit etwas versehen ist, als Erstglied genannt ist, während das verbale Zweitglied die Art des Versehenseins mit etwas spezifisch ausformuliert; wie das Beispiel unter (48) mit dem Adjektiv weißbekittelt zeigt, können entsprechende nominale Szenenelemente auch in die Basis des Partizips eingehen, gleich ob es das Verb geben mag, oder ob es nur in dieser partizipialen Fügung vorkommt. (48) [...] zwinkerte von dort jeder weißbekittelten Person zu (S. 228) Schon an dieser Beschreibung und an der Betrachtung dieser Beispiele kann man sehen, dass es nicht sehr weit führt, diese Bildungen als eine Art von Adjektivkomposita zu beschreiben. Denn, um das nur an einem Beispiel anzusprechen, es geht nicht um Differenzierungen von -besetzt, sondern um eine spezifische Ausformulierung der Art der Junktion, die zwischen den Lexemen Pelz und Kragen besteht - und analog in den anderen Fällen. (49) Aber da stand Cox bereits, beifallbeplätschert (S. 255); der lehrstuhlbestallte Gottsucher (S. 251) An den Beispielen in (49) lässt sich dann sehen, dass das Muster mit verschiedenen Verben auch relativ variabel genutzt werden kann, wobei aber Adjektive postmodern: Wo die Lebensstile blühen 601 jedenfalls entsprechende Basisverben existieren, und die Vorgabe der be- Verb-Struktur analog erweitert wird: eine vernünftige Paraphrase etwa mit ‘x bestallt den Gottsucher mit einem Lehrstuhl’ erscheint schwierig. In (50) geht die Analogisierung der Bildungen in der Weise jenen Schritt weiter, wie wir sie oben im Kontext allgemeiner Überlegungen zur stilistischen Wirkung von primären und auffälligen komplexen Adjektiven unter (10) anhand des Beispiels schweißbeperlt schon besprochen haben. (50) Löwenzahnbesterntes Blühen auf den Burwiesen (S. 60); als plüschbepolsterte Begrenzung (S. 91); man schob ihm [...] eine Papierserviette zu, auf der sich ein paar kuchenbekrümelte Papierserx’iettensätze fanden (S. 107) Erkennbar befinden wir uns in jenem Zwischenbereich, wo es zwar zum Teil die verbalen Basen auch sonst noch gibt, diese aber gleichzeitig mit hoher Wahrscheinlichkeit die Erinnerung an die eingebauten Substantivkomposita aufrufen, deren Remotivation im Kontext dann stilistisch auffällig wirkt, wobei dieser Effekt durch Besonderheiten im Bezugssubstantiv noch verstärkt werden kann: Polster polstern bepolstern - Plüschpolster, Krümel krümeln bekrümeln - Kuchenkrümel', Stern - *sternen - ’ bestemen besternt - Löwenzahnsterne. Dabei wird zumindest bei dem letztangesprochenen Beispiel die Sache noch dadurch kompliziert, dass eigentlich ja die Wiesen löwenzahnbesternt sind, und nicht so sehr das Blühen, bzw. dass die semantische Beziehung dazu nicht die direkte des / ^-Musters ist. Auch der direkte Bezug auf die Sätze, die mit Kuchenkrümeln versehen sind, wird durch das Kompositum Papierserviettensätze verunklart. Häufig wurde schon festgestellt, dass einer der semantischen Effekte der Objektsfokussierung durch be-Verben ein gesamthaftes Betroffensein durch die entsprechende Handlung darstellt: so nimmt es nicht richtig wunder, dass andere Bildungen mit vergleichbarem semantischen Effekt ebenfalls an dieser Stelle auftreten, wie die entsprechenden rtber-Bildungen in (51). (51) [...] durch die kastanienüberblühten Straßen (S. 184); Daß ihm von dort, zahnpastaübersprenkelt, nicht etwa die tägliche Variation der Eigenschaftslosigkeit entgegenblickte (S. 226) Auch bei diesen Bildungen wird noch einmal sichtbar, dass diese partizipialen Bildungen einen Status haben, der deutlich von einer rein verbalen Ver- 602 Ludwig M. Eichinger Wendung abweicht, der aber Grundgegebenheiten der angedeuteten verbalen Muster nutzt. Inkorporierender Typ Aber nicht nur der ‘versehen mit’-Typ, der zweifellos am häufigsten ist, taucht auf, auch andere Untermuster werden in diesem Kontext genutzt: (52) [...] hinter all den frischbeschnippelten Vorgartenhecken, hinter all den [...] Gardinen mit all den frischbetüterten Geldbäumen (S. 22) Dabei ist der in (52) belegte Typ formal und semantisch zwar unauffällig, würde aber im Sinne der neuen Rechtschreibung seinen Wortcharakter verlieren, was wohl nicht im stilistischen Sinne des Erfinders ist: bei der Schilderung der kleinbürgerlichen Vorgärten im Lengerich seiner Jugendzeit geht es nicht darum, dass hier unmittelbar etwas geschehen ist, dass die Hecken frisch beschnippelt bzw. die Geldbäume/ mc/ z betütert wären, sondern dass dieses latent zu ihrem Wesen gehört. Ja, darüber hinaus, dass damit bestimmte stereotype Vorstellungen vorstädtischen Siedlungswesens aufgerufen werden: „die vorgelagerten Gärten“ so Bausinger (2000, S. 46) - „sind im allgemeinen kein Ort fröhlicher Kommunikation, sondern Demonstrationen geordneter Ästhetik - Nutzpflanzen und vor allem Blumen wachsen in genau abgegrenzten Rabatten, und der Rasen wird mit dröhnenden Maschinen kurz gehalten“. (53) ein ziemlich friedensbewegter Körnerfresser (S. 105); [...] betrat er dann hinter ihr besitzerstolzgeschwellt den „Bräunerhof‘ (S. 144) Ungeachtet der Unterschiede der in diesen Bildungen realisierten semantischen Relationen ist erkennbar jeweils der gleiche Trick angewandt, um vergleichsweise harmlose Bildungen von wirklich auffälligen zu scheiden: es werden die Ränder der Technik ‘Wortbildung’ aufgerufen. Dabei ist friedensbewegt nicht nur bereits im Duden-Wörterbuch (S. 1319) verzeichnet: „vom Geist der Friedensbewegung erfüllt“, sondern auch auf Grund dieser Paraphrase leicht als eine Rückbildung zu dem vorgängigen Substantiv Friedensbewegung erkennbar. Dieses Substantiv ist zudem nach Adjektive postmodern: Wo die Lebensstile blühen 603 Ausweis des Paulschen Wörterbuches seit den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts belegt, einer Zeit, in die man auch eines der Musterwörter dieses Typs zu legen hat: Jugendbewegung. Auch dazu gibt es das entsprechende Partizip, und nicht zuletzt ihm ist wohl die generell ironische Charakteristik dieses Bildungstyps zu verdanken. Besitzerstolzgeschwellt ist eine jener Bildungen, die sich einer einfachen binären Analyse sperren und die man vielleicht am sprechendsten als „motvalise“ (Gresillon 1984; vgl. Handler 1993, S.207f.) bezeichnet hat. Genauer handelt es sich dabei um den häufigsten Typ dieser Bildungen, bei denen ein homophones mittleres Element die Verbindung zweier mehrgliedriger Elemente erlaubt: Besitzerstolz + stolzgeschwellt (s. Gresillon 1984, S. 24). Wie die Übersicht über die „Stilistik des komplexen Wortes“ bei Handler (1993) zeigt, ist das insgesamt eine der beliebteren stilistischen Techniken, in unserem Text ist sie eher selten. 4. Schluss Komplexe Adjektive intern strukturiert und an ein Substantiv oder Verb angebunden bieten zwei potenzielle Bruchstellen, an denen unser Wissen über Schemata, die mit einzelnen Lexemen aufgerufen werden, gebrochen werden können. Beide Stellen erweisen sich als Schnittpunkte intertextueller Verweise im postmodemen Spiel dieses Romans, die es uns erlauben, den Text auch an diesen Stellen gemäß dem Hintergrund unseres Wissens auszuleuchten. 5. Literatur Bausinger, Hermann (2000): Typisch deutsch. Wie deutsch sind die Deutschen? München. DUDEN ( 3 1999): DUDEN: Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden. Hrsg. v. wiss. Rat d. Dudenredaktion. Mannheim usw. Eichinger, Ludwig M. (1996): Deutsch von heute. Zum Wandel des Sprachgebrauchs am Beispiel der Jugendsprache. In: Triangulum 3, S. 172-194. Eichinger, Ludwig M. (2000): Deutsche Wortbildung. Eine Einführung. Tübingen. 604 Ludwig M. Eichinger Fandrych, Christian (1993): Wortart, Wortbildungsart und kommunikative Funktion. Am Beispiel der adjektivischen Privativ- und Possessivbildungen im heutigen Deutsch. Tübingen. Fleischer, Wolfgang/ Barz, Irmhild ( 2 1995): Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen. Frank, Dirk (2000): „Talking about my generation“: Generationskonstrukte in der zeitgenössischen Pop-Literatur. In: Der Deutschunterricht 52, H. 5, S. 69-85. Gauger, Flans-Martin (1995): Über Sprache und Stil. München. Gresillon, Almuth (1984): La regle et le monstre: le mot-valise. Tübingen. Handler, Peter (1993): Wortbildung und Literatur. Panorama einer Stilistik des komplexen Wortes. Frankfurt a.M. usw. Heutig, Hartmut v. (1986): Zwölf Sprach-Ärgernisse in der Gegenwart. In: Gauger, Hans-Martin (Hg.): Sprach-Störungen. Beiträge zur Sprachkritik. München. S. 49-54. Heringer, Hans Jürgen (1989): Grammatik und Stil. Praktische Grammatik des Deutschen. Frankfurt a.M. Jackisch, Franziska M. (2001): Sprachkreativität und postmoderner Individualstil in Matthias Polityckis Romanen Weiberroman und Ein Mann von vierzig Jahren. Unveröff. Staatsexamensarbeit. Kiel. Mötsch, Wolfgang (1999): Deutsche Wortbildung in Grundzügen. Berlin/ New York. Muthmann, Gustav (1988): Rückläufiges deutsches Wörterbuch. Handbuch der Wortausgänge im Deutschen mit Beachtung der Wort- und Lautstruktur. Tübingen. Paul, Hermann ( 9 1992): Deutsches Wörterbuch. Bearb. v. Helmut Henne u. Georg Objartel. Tübingen. Poethe, Hannelore (2001): „Simple Storys“ - Das Alltägliche im Poetischen. In: Zeitschrift für Germanistik 11, S. 71-87 Politycki, Matthias (1997): Weiberroman. München. Politycki, Matthias (2000): Ein Mann von vierzig Jahren. München. Sandig, Barbara (1995): Tendenzen der linguistischen Stilforschung. In: Stickel (1995), S. 27-61. Stickel, Gerhard (Hg.) (1995): Stilfragen. Berlin/ New York. Weinrich, Harald (1993): Textgrammatik der deutschen Sprache. Mannheim u.a. Marisa Siguan Über Sprache und ihre Grenzen: einige Beispiele zur Bewältigung von Sprachlosigkeit in der Literatur (Jean Amery, Primo Levi, Jorge Semprün) Zu den Themen, die Linguistik, Sprachphilosophie und Literaturwissenschaft gleichermaßen betreffen, gehören die Überlegungen über die Möglichkeiten der Sprache, Grenzerfahrungen auszudrücken und verständlich zu machen, über den Versuch, die Sprachlosigkeit zu überwinden, über die Ausdrucksmöglichkeiten des Schweigens und den Ort, wo die Literatur sich dabei ansiedelt. Eins von den ersten Gesprächen, die ich mit Gerhard Stickel führte, handelte von diesem Themenkomplex. Ich möchte es hier gewissermaßen weiterführen, indem ich es von einer literaturbezogenen Perspektive wieder aufnehme. Wie werden in der Literatur Grenzerfahrungen zur Sprache gebracht, wie fassen die Schriftsteller extreme Erfahrungen in eine verständliche Sprache? „Wir waren dabei, uns zu fragen, wie man es erzählen könnte, damit man uns versteht. (...) Wie kann man eine wenig glaubbare Geschichte erzählen, wie kann man das Unvorstellbare zur Geltung bringen ...“: so stellt sich die Frage für den Schriftsteller Jorge Semprün (1997, S. 139), gerade von Buchenwald befreit - und für seine Gefährten. Die Situation erscheint in fast allen Romanen Semprüns: Wie ist eine Realität zu schildern, die als unvorstellbar und somit als unglaublich für den erscheint, der sie nicht erlebt hat? Das gleiche Problem stellt sich für Primo Levi in Form eines Albtraums in Auschwitz-Monowitz: er sei nach Flause zurückgekehrt, erzähle den Horror von dem, was er erlebt hat, und müsse feststellen, dass ihm niemand zuhöre. Levi urteilt: „Und doch, es ist nicht zu übersehen, meine Zuhörer folgen mir nicht, ja, sie sind überhaupt nicht bei der Sache: sie unterhalten sich undeutlich über andere Dinge, als sei ich gar nicht vorhanden. Meine Schwester schaut mich an, steht auf und geht, ohne ein Wort zu sagen“ (1992, S. 70). Die gleiche Situation erscheint öfter in seinen Träumen. Als er mit anderen 606 Marisa Siguan darüber spricht, stellt sich heraus, dass viele seiner Gefährten Ähnliches träumen, dass es geradezu ein kollektiver Traum ist. In diesen Aussagen geht es um den Versuch, das Unglaubbare, Undenkbare zu erzählen, zu schildern, zu benennen. Zu schildern ist die Erfahrung des absoluten Horrors, des „radikal Bösen“. Eine Erfahrung, die als solche, als Erlebnis und Gefühl, für das Individuum jenseits der Sprache liegt, und wofür die Schriftsteller eine Erzählsprache suchen, um sie glaubwürdig zu machen, um sie für die Erinnerung aufzubewahren, um sich beim Benennen von ihr zu erlösen oder um sich am Erlebten zu rächen: Imre Kertesz, ein weiterer Überlebender aus den Konzentrationslagern, schreibt in einem Aufsatz über Jean Amery, dass er selber zu schreiben anfing, um endlich zum benennenden Subjekt zu werden, um von der Kondition des Opfers loszukommen (1996, S. 17-18). Das Bewusstsein der Unaussprechbarkeit des Erfahrenen, der eigenen Empfindungen, der Emotionen, der Versuch, dennoch eine adäquate Ausdrucksform zu finden, die Grenzen des Sagbaren zu erweitern, vollzieht sich in der Sprache selber und davon lebt die Literatur, dort siedelt sie sich an, an diesen Grenzen. Die Überlegungen dazu sind ein fundamentales Thema unserer literarischen Tradition, besonders wenn es darum geht. Extremes, Grenzerfahrungen der Existenz auszudrücken. Qui no es trist de mos dictats no cur O en algun temps que sia trist estat E lo qui es de mals passional Per fer-se trist no cerque Hoc escur Llija mos dits mostrant penssa torbada 1 So schreibt im 15. Jahrhundert Ausias March in einem seiner schönsten Gedichte. Er beschränkt damit sein Publikum auf diejenigen, die die gleichen Schmerzen, die gleiche Trauer wie er empfunden haben: den reduzierten Kreis der möglichen Ritter der höfischen Minne, diejenigen, die seine Spra- 1 Wer nicht traurig ist, soll meiner Stimme nicht lauschen / / Oder jemals traurig gewesen ist / / und wer in Leidenschaft verfallen ist / / soll nicht an dunkler Stelle seinen Schmerz verbergen / / das verstörte Denken lese er in meinen Versen ... March, Ausias: Poesies (Hrsg. v. Joan Ferrate ). Gedicht 39. Über Sprache und ihre Grenzen 607 che, seine Tradition, seinen Kode beherrschen. Er nimmt als gegeben hin, dass derjenige, der nicht die gleiche Erfahrung gemacht hat, ihn nicht wird verstehen können. Seine Art, seinen Schmerz auszudrücken, wird sich im Rahmen einer Tradition abspielen, die er zu erneuern sucht, aber in der er mit der Fähigkeit des Lesers rechnet, ihn zu verstehen. Es geht um Kommunikation einer gemeinsamen Erfahrung: nur diese ist möglich. Einige Jahrhunderte später und in der Sprache der Sprachphilosophie zeigt sich die Unsagbarkeit der Welt und der Empfindungen wie ein individuelles Ringen mit den Grenzen der Sprache betreffs ihrer Fähigkeit, diese Welt und diese Empfindungen an Andere zu übermitteln. Ludwig Wittgenstein formuliert in seinen Philosophischen Untersuchungen das schwierige Verhältnis zwischen der eigenen Intimität und ihrem Ausdruck gegenüber den Anderen folgendermaßen: „293. Wenn ich von mir selbst sage, ich wisse nur vom eigenen Fall, was das Wort „Schmerz“ bedeutet, muß ich das nicht auch von den Andern sagen? Und wie kann ich denn den einen Fall in so unverantwortlicher Weise verallgemeinern? (...) 302. Wenn man sich den Schmerz des Anderen nach dem Vorbild des eigenen vorstellen muß, ist das keine so leichte Sache: da ich mir nach den Schmerzen, die ich fühle, Schmerzen vorstellen soll, die ich nicht fühle. 315. Könnte der das Wort „Schmerz“ verstehen, der nie Schmerz gefühlt hat? (...)“ (1988, S. 248-254) Wittgenstein berührt damit das Thema der Subjektivität der Empfindungen und der Schwierigkeit, sie mittels der Sprache auszudrücken: das schwierige Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv beim Versuch des Ausdrucks der Intimität. Dahinter steht das moderne Konzept von Individualität, vom Subjekt, dessen Intimität nicht kontrastierbar ist. In den Worten des Psychiaters Castilla del Pino, „mit dem verbalen Ausdruck bezieht sich der Sprecher auf „seine“ sentimentale Welt, aber der Hörer kann nicht den gleichen Bezugspunkt haben sondern er hat einen anderen: den eigenen, den, den er selber aufbaut über dem Diskurs des Anderen.“ (2000, S. 26). Unter den theoretischen Texten, die Castilla del Pino zitiert, um die Individualität der Gefühle zu begründen, sind bezeichnenderweise die eben genannten von Wittgenstein. 608 Marisa Siguan Den Psychiater interessieren weder die Problematisierang der Sprache als Ausdrucksform der Intimität, noch die Sprachphilosophie, sondern die Konstruktion des Subjekts ausgehend von seiner Intimität, seinen Gefühlen, eine Konstruktion, die sich über Sprache und Interkommunikation mit den Anderen realisiert. Mich interessieren hier zwei Problemstellungen: erstens, die Ausdrucksmöglichkeit dieser Intimität, die Suche nach einer ihr adäquaten Sprache. Und zweitens das Faktum, dass diese Suche, in der literarischen Tradition der Modernität, von der Romantik ausgehend, ein ganz bestimmtes Bewusstsein von Individualität, von Originalität, von Subjekt voraussetzt. Die Erfahrung, die die genannten Schriftsteller zu beschreiben haben, ist aber ganz strikt die der Zerstörung, der Auslöschung ihrer eigenen Existenz: „Täglich morgens kann ich beim Aufstehen von einem Unterarm die Auschwitznummer ablesen; das rührt an die letzten Wurzelverschlingungen meiner Existenz, ja, ich bin nicht einmal sicher, ob es nicht meine ganze Existenz ist. Dabei geschieht es mir annähernd wie einst, als ich den ersten Schlag der Polizeifaust zu spüren bekam. Ich verliere jeden Tag von neuem das Weltvertrauen. Der Jude ohne positive Bestimmung, der Katastrophenjude, wie wir ihn getrost nennen wollen, muß sich einrichten ohne Weltvertrauen“ schreibt Amery (1997, S. 147). Das Subjekt erkennt sich an seiner Identifikationsnummer, aber sein Individualitätsmerkmal ist zugleich das Zeichen für seine Auslöschung. Gerade diese Individualität ist dasjenige, was ihn dem Kollektiv der zur Auslöschung Bestimmten zuschreibt. Der Verlust von Individualität zeigt sich in erschütternder Form in einem anderen kollektiven Traum der Überlebenden: „Es ist ein Traum im Traum, unterschiedlich in den Details, gleichbleibend in der Substanz: Ich sitze am Familientisch, bin unter Freunden, bei der Arbeit oder in einer grünen Landschaft die Umgebung jedenfalls ist friedlich, scheinbar gelöst und ohne Schmerz, dennoch erfüllt mich eine leise und tiefe Beklemmung, die deutliche Empfindung einer drohenden Gefahr. Und wirklich, nach und nach oder auch mit brutaler Plötzlichkeit löst sich im Verlauf des Traumes alles um mich herum auf; die Umgebung, die Wände, die Personen weichen zurück; die Beklemmung nimmt zu, wird drängender, deutlicher. Dann ist alles ringsum Chaos, ich bin allein im Zentrum eines grauen wirbelnden Nichts; und plötzlich weiß ich, was es zu bedeuten hat -, und weiß auch, daß ich es immer gewußt habe: ich bin wieder im Lager, nichts ist wirklich außer dem Lager; alles andere waren kurze Ferien, oder Sinnestäu- Über Sprache und ihre Grenzen 609 schung, Traum: die Familie, die blühende Natur, das Zuhause. Der innere Traum, der Traum vom Frieden, ist nun zu Ende, der äußere dagegen geht eisig weiter: Ich höre eine Stimme, wohlbekannt, ein einziges Wort, nicht befehlend, sondern kurz und gedämpft. Es ist das Morgenkommando von Auschwitz, ein fremdes Wort, gefürchtet und erwartet: Aufstehen, „Wstawac“.“ So endet Levis Atempause (1999, S. 245-246). Semprün, der eine ähnliche Angst in verschiedenen seiner Romane schildert, zitiert ihn in Algarabi'a (1989, S. 142). Und er zitiert im Verhältnis dazu den Anfang des dritten Kapitels von Adornos Negativer Dialektik, beeindruckt darüber, dass dies von jemandem geschrieben worden ist, der nicht die Erfahrung eines Lagers gemacht hat: „Und von nun an kann ich Schweigen bewahren weil das gesagt worden ist Meine ganze Existenz ist vielleicht nur das von wildem Verlangen eines vor zwanzig Jahren Gestorbenen durchdrungene Imaginarium Zeit ist vergangen seit Adorno schrieb Dreißig Jahre schon Ein vor dreißig Jahren Gestorbener der der Lebende war der ich nicht mehr bin Dessen ungewisser Traum ich nur mehr bin“ (Semprün 1989, S. 142. Kursivdruck im Original). Wie kann man aus der Erfahrung der Zerstörung des Subjekts heraus erzählen? Einer Zerstörung, die so weit geht, dass dieses Subjekt nicht mehr weiß, ob es Teil eines Traumes von einem Toten ist, in einer monströsen modernen Variante des barocken Themas „Das Leben ist Traum“? Sowohl Semprün als auch Amery produzieren literarische Werke und Essays, in denen die Einarbeitung von der Autobiografie in den Roman und die problematische Konstruktion des Ichs im Essay eine bestimmende Rolle spielen. Ich möchte hier einige der Aspekte dieser „Ichkonstruktion“ aus folgender Perspektive analysieren: Wie bauen diese Schriftsteller ein Ich auf, wie erzählen sie es: aus der Erfahrung der Auslöschung des Ich, die sie überlebt haben? Sowohl in den Werken Amerys wie auch Semprüns fällt auf, dass dieses Ich, das sie aufbauen, ein mit Literatur „aufgefülltes“ Ich ist: in ihrem Erzählen, in ihrem Sagen ist das Wort der Anderen immer präsent. Das Wort der Anderen, die literarische Tradition, von beiden Autoren in einer sehr unterschiedlichen Art und Weise erfahren, aber von beiden systematisch benutzt, um ein Ich von einer fließenden Identität aufzubauen, ein offenes, nur au- 610 Marisa Siguan genblicksweise stabilisiertes, nie fixiertes Ich. In einer konstanten Spannung zwischen Aufbau und Zerstörung baut es sich bei Semprün im Spiel von verschiedenen Identitäten auf, bei Amery in der Beschreibung vom Verlust der Identität. Der Identitätswechsel wird bei Semprün schon von seiner Biografie vorgegeben. 1923 in Madrid geboren, kommt er nach dem Bürgerkrieg, fünfzehnjährig, mit seiner Familie nach Paris ins Exil. Er fängt sein Studium im Lycee Henry IV als Vorbereitung für die Ecole Normale Superieure an, unterbricht es aber sehr bald, um im besetzten Frankreich im Widerstand zu kämpfen. 1944 wird er von der Gestapo verhaftet und nach Buchenwald deportiert. Nach der Befreiung tritt er der spanischen kommunistischen Partei im Exil bei. Er wird dann eine sehr aktive politische Aktivität im Untergrund in Spanien ausüben. Sowohl im Widerstand in Frankreich wie auch in Spanien lebt er unter verschiedenen falschen Namen, sodass der Identitätswechsel eine biografische Notwendigkeit ist. Nach der Rückkehr aus dem Lager hat er sich vorgenommen, einen Roman darüber zu schreiben, muss aber die Unmöglichkeit seines Vorhabens entdecken und darauf verzichten. Erst fünfzehn Jahre später schreibt er seinen ersten Roman, in dem er die autobiografische Erfahrung des Lagers verarbeitet. Um es mit seinen eigenen Worten zu sagen: „Gleich einem gleißendem Krebs zerfraß der Bericht, den ich Brocken für Brocken, Satz für Satz meinem Gedächtnis entriß, mein Leben. Zumindest meine Lebenslust, mein Verlangen, in dieser armseligen Freude zu verharren. Ich wußte mit Sicherheit, daß ich an einen Punkt kommen würde, wo ich mein Scheitern zur Kenntnis nehmen müßte. Nicht, weil es mir nicht gelang, zu schreiben: vielmehr, weil es mir nicht gelang, das Schreiben zu überleben. Nur ein Selbstmord könnte diese unvollendete endlose Trauerarbeit besiegeln, ihr willentlich ein Ende setzen. Oder aber das Unvollendete selbst würde ihr selbst, willkürlich, ein Ende setzen, durch den Verzicht auf das Buch, an dem ich schrieb.“ (1997, S. 232) Literatur ist Erinnerung, Memoria, Leben ist Vergessen. Aber Semprün wird das Vergessen, das Leben, nicht durchhalten können: er wird zum Schreiben, zur Memoria zurückkehren, und indem er zur Literatur zurückkehrt, kehrt er zur Erinnerung, zur Angst, zum Horror zurück. Den Preis, den er dafür zahlt, das Buch zu schreiben, was er 15 Jahre früher aufgegeben hatte, nennt er selber: „so bezahlte ich diesen Erfolg, der mein Leben verändern sollte, mit der massiven Wiederkehr der alten Ängste“ (1997, S. 269). Über Sprache und ihre Grenzen 611 Ab 1961, inzwischen hat er sich von der spanischen kommunistischen Partei distanziert und ist ausgeschlossen worden, widmet er sich seiner Arbeit als Schriftsteller. Er schreibt Romane und verschiedene autobiografische Bände. Immer wieder sind in ihnen Namensänderungen und Identitätsänderungen Thema des Erzählens. In seinen Romanen wechseln sich die syntaktischen Konstruktionen in erster Person mit in dritter Person geschilderten Figuren ab, die autobiografische Erlebnisse Semprüns teilen. Im Roman Was für ein schöner Sonntag (1980 erschienen), zum Beispiel, wechselt die Erzählstimme in erster Person mit einer dritten Person ab, die Gerard beschreibt, eins der Alias von Semprün, dessen Erlebnisse und Biografie mit denen der ersten Person zusammenfallen. In Algarabi'a (1981 erschienen) trägt der Protagonist, Rafael Artigas, autobiografische Züge Semprüns. Artigas ist es, der den oben zitierten Monolog über Primo Levi und Adorno hält. Aber es gibt eine weitere Figur in dem Roman, Carlos Bustamante, der von Erinnerungen beherrscht wird, die nicht aus seinem eigenen Leben sondern aus der Biografie von Artigas stammen, bis hin zu Gedichten, die jener geschrieben hat (und die Semprüns Jugendgedichte sind). Der Text ist so erzählt, als ob sich das Ich von Artigas auf verschiedene Figuren verteilte, oder als ob alle Figuren eigentlich Artigas wären. Das Verhältnis zwischen Leben, Erinnerung, Traum und Wirklichkeit scheint hier grundsätzlich gestört. In dieser ganzen Auflösung der Ichs spielt die Literatur eine fundamentale Rolle. Die Literatur, die Memoria der literarischen Tradition, ist ein Teil des Bewusstseins, einer kulturellen Kollektivität anzugehören und somit eine kulturelle Identität zu besitzen. Semprün benützt das Spiel mit der literarischen Tradition, um die eigene Identität zu definieren. In dem Band seiner Autobiografie Schreiben oder Leben (1997) wird das sehr offensichtlich zum Ausdruck gebracht: der Pubertierende, der ins Lycee Henry IV geht, ist wortwörtlich mit Literatur „gestopft“, bis zum Ausmaß der Pedanterie, sogar der Unausstehlichkeit (zumindest für die Lehrer! ), bis zum Versuch, die Literatur im Leben zu verwenden, die Grenzen zwischen dem Einen und dem Anderen zu verwischen. Die Literatur dient als Selbstdarstellungsmedium im Leben: um sich zu profilieren, um in Gesellschaft zu glänzen, um Frauen zu verführen, aber auch um in Buchenwald zu überle- 612 Marisa Siguan ben. Man spricht dort in den einzigen Ruhemomenten am Sonntagnachmittag über Literatur. Das erste Thema des Gesprächs Semprüns mit einem französischen Offizier nach der Befreiung des Lagers sind angeblich die französischen literarischen Neuigkeiten. Semprün entdeckt den Dichter Rene Char und brüllt dessen Gedichte durch das ganze Lager. Die Literatur gibt dem Ich eine gewisse Identitätskarte, sie wird aus den Büchern gerissen und im Leben angewandt (dazu auch Soria 1996, S. 69-77). Literarische Texte dienen als Bezugspunkt, sogar als Trost, als Hilfsmittel zum Ausdruck der Verzweiflung, als Hilfe beim Versuch, in einer konkreten Situation die Sprachlosigkeit zu bezwingen. In zwei schrecklichen Momenten im Lager, beim Tod zweier Freunde, sagt ihnen Semprün zwei Gedichte vor, von Cesar Vallejo und Baudelaire, um die eigene Sprachlosigkeit zu überwinden. (1997, S. 229-230 und S. 33-34). Es ist die gleiche Art „Benützung“ von Literatur, die auch Primo Levi (1992) in Ist das ein Mensch? beschreibt, wo er sich bemüht, Dantes Inferno einem Gefährten aufzusagen, der ihn gebeten hat, ihm Italienisch beizubringen. Der Gefährte versteht kein Wort davon, ist aber erschüttert von Levis Versuch. Die Literatur wird hier als Überlebenshilfe benützt, aber auch als Kommunikationsinstrument zwischen den Personen: sie wird mit ähnlichen Funktionen wie die gesprochene Sprache im Alltag ausgestattet. Und sie wird als kollektive Tradition benützt um die Sprachlosigkeit des Individuums in extremen Situationen zu überwinden. Eine erlösende Funktion der Literatur, die ihr Amery jedoch absprechen wird. In Semprüns Werk erscheint außerdem noch eine Art von metaliterarischer Funktion der Literatur: sie wird als Instrument benützt, um über die erzählte Realität und über den eigenen Erzählprozess zu reflektieren (dazu auch: Soria 1996; Renner 1988, 1999). Es werden zum Beispiel literarische Autoren in die Romane einbezogen, und ihre Überlegungen ins Erzählpräsens versetzt. So lässt Semprün Goethe in seinem Werk auftreten. Goethe entwickelt sich im Roman zu einer fast obsessiven Figur sowohl in Was für ein schöner Sonntag, als auch in Schreiben oder Leben. In Was für ein schöner Sonntag lässt ihn Semprün mit Eckermann auf dem Ettersberg spazieren gehen, wo das Konzentrationslager errichtet worden ist. Der argumentative Faden, der es zulässt, ist die Anwesenheit von Leon Blum in Buchenwald, auch er ver- Über Sprache und ihre Grenzen 613 haftet und Verfasser des Essays Nouvelles conversations de Goethe avec Eckermann. In den Gesprächen, die Semprun entwirft, wird das Thema der Kultur, des Intellektuellen in seinem Verhältnis zur Macht angeschnitten. Es geht um die Frage, wie man in Weimar eine Vergangenheit von aufgeklärter Klassik mit einem Konzentrationslager vereinbaren kann. Goethe schaut sich das Lager aus der Distanz an und lässt geschehen. Als Beispiel dieser „Goethebenützung”, dieser Polemik mit der deutschen Kulturtradition eigentlich, kann man folgenden Absatz aus Semprüns Roman zitieren (der Sprecher ist Eckermann): Dann nahm Goethe mich wieder beim Arm und ließ mich einige Schritte auf das Lagertor zu machen. „Sehen Sie diese Inschrift? “ fragte er mich, Jedem das Seine". Ich weiß nicht, wer der Verfasser ist, wer die Initiative ergriffen hat. Aber ich finde es sehr bedeutungsvoll und sehr ermutigend, daß eine derartige Inschrift das Eingangstor zu einer Stätte der Freiheitsberaubung, der Umerziehung durch Zwangsarbeit ziert. Denn was bedeutet letztlich Jedem das Seine! Ist das nicht eine ausgezeichnete Definition einer Gesellschaft, die dazu gebildet worden ist, die Freiheit aller, die Freiheit der Allgemeinheit, wenn es sein muß, sogar auf Kosten einer übertriebenen und unseligen individuellen Freiheit zu verteidigen? Ich habe es Ihnen bereits vor mehr als einem Jahrhundert gesagt, und sie haben es in Ihren Gesprächen unter dem Datum Montag, dem 9. Juli 1827, aufgezeichnet.“ (1994, S. 290) Es folgt der bekannte Kommentar Goethes zur Zensur als geistfördernde Einrichtung. Aus der Perspektive der Realität des Lagers wird der gefährliche Weg einer mit dem Despotismus verbundenen Aufklärung sichtbar, auch die Ambivalenz des Verhältnisses der Kultur zur Macht. Die Figur Leon Blums wird zu ähnlichen Überlegungen in Bezug auf Sozialdemokratie und Macht führen. Dass Semprun später selber Kulturminister in Felipe Gonzalez Regierung sein würde, scheint in diesem Zusammenhang beinahe als Ironie der Geschichte. Goethes Kommentare fungieren im Kontext der Realität des Lagers geradezu als Brechmittel. Und sie machen klar, dass Semprun sowohl Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung als auch Adornos Negative Dialektik gut kennt. Die Konfrontation mit der literarischen Tradition wird aber ebenfalls benützt, um die eigene Erzählung als Prozess zu problematisieren und zu strukturieren. In diesem Sinne spielt die Konfrontation mit Proust eine große Rolle in Semprüns Werk. 614 Marisa Siguan In seiner Suche nach der verlorenen Zeit findet Proust die Zeit über das Schreiben wieder: ein Schreiben, das sich von der Erinnerung aus über das Erzählen realisiert. Das wirklich erlebte Leben, die wirklich erlebte Zeit, sind letzten Endes das erzählte Leben, das literarisierte Leben. In einer konstanten Spannung zwischen der Literatur (dem Erinnern, der Memoria) und dem Leben (dem Vergessen), beschreibt Semprün autobiografisch seine Vergangenheit. Aber was für einen Sinn hat die Linearität der Zeit, eine chronologische Ordnung, die voraussetzt, man wisse sehr genau, was das Präsens, die Realität, und was die Vergangenheit, das Erinnern sei, für denjenigen, der nicht mehr unterscheiden kann, was Wirklichkeit und was Traum ist? Ob die letzte Wirklichkeit nicht vielleicht doch die des Lagers, des Todes ist, und das, was wir für Wirklichkeit halten, eigentlich nur ein Traum? Was sind Realität und Präsens, was Erinnerung und Vergangenheit für denjenigen, der die Auslöschung überlebt hat? Proust erfährt bekannterweise die Vergangenheit in der Gegenwart in Form einer Epiphanie beim Schmecken eines in Tee getunkten Gebäcks, einer Madeleine. In Semprüns Werk erscheinen verschiedene ähnliche Erlebnisse. Ein solches eröffnet den Roman Was für ein schöner Sonntag und erscheint auch in Schreiben oder Leben', das intensive Licht des Schnees versetzt den Protagonisten und Semprün sofort ins Lager, stellt ihn vor das Leuchten des Schnees unter den Reflektoren. Aber dieses Erlebnis führt natürlich nicht zu einer glücklichen Vereinigung mit der Vergangenheit und damit zu einem erneuerten Zeit- und Lebensgefühl: es führt in eine Art von Zeitloch, das Epochen verbindet, die .Wirklichkeit der Gegenwart in Frage stellt und den Protagonisten in den Horror zurückwirft. Es zeigt die Auflösung des Ichs, des Individuums, das darum kämpft, Zeit und Raum, Realität und Traum zu ordnen: Denn mein Leben gleicht keinem Fluß, vor allem keinem immer anderen, niemals gleichen Fluß, in dem man nicht zweimal baden könnte: mein Leben ist die gesamte Zeit des Bereits-Geschehenen, des bereits Erlebten, der Wiederholung, des Gleichen bis zum Überdruß, bis es durch das Identische etwas Anderes, etwas Fremdes wird. Mein Leben ist kein zeitliches Fließen, keine fließende Dauerhaftigkeit, sondern etwas Strukturiertes oder schlimmer noch: etwas sich Strukturierendes, eine sich selbst strukturierende Struktur. Mein Leben ist unentwegt destrukturiert, ständig im Begriff, sich zu destrukturieren, sich zu verflüchtigen, in Rauch aufzugehen. [...] Das Leben als Fluß, als Fließen ist eine romanhafte Erfindung. Eine erzählerische Beschwörung, ein Trick des Ego, um an sein ewiges, zeitloses Dasein glauben zu lassen sogar Über Sprache und ihre Grenzen 615 in der perversen oder pervertierten Form der Zeit, die verfließt, verlorengeht und wiedergefunden wird - und um sich selbst davon zu überzeugen, indem man sein eigener Biograph, der Romancier seiner selbst wird.“ (Semprun 1994,8.330) Semprun verweist in seinen Werken auf eine außerordentlich breite europäische Kulturtradition. Er benützt problemlos verschiedene Sprachen, unter ihnen Deutsch, kennt die deutsche Philosophie, die französische und englische, bedient sich als Exil- und Schreibsprache des Französischen. Das Exil ist auch ein babylonisches Exil der Vielsprachigkeit, schreibt er. In einem Interview, das er vor kurzem gegeben hat (El Pafs, 19.5.2001), erzählt er, wie er in Frankreich mit seinen Geschwistern sofort angefangen hatte, Französisch zu sprechen, um sich besser einzuleben, und wie er in Buchenwald, als „Rotspanier“ klassifiziert, wieder zum Spanischen zurückgekommen ist. In Buchenwald ist Semprun ein politischer Häftling, der in seinem Kampf für bestimmte Ideale verhaftet worden ist. Von ihnen und von sich glaubt er, dass das Recht der Geschichte auf ihrer Seite steht. Die Kultur dient ihm als Überlebenshilfe, sie ist ein Instrument, das er beherrscht, und zwar ist es eine kosmopolitische Kultur. In den Grenzen des Möglichen, und wenn man es überhaupt so formulieren kann, ist seine Situation im Lager privilegiert: das Lager wird von politischen Häftlingen, von Kommunisten, verwaltet, und er hat dank dieser Situation einen Arbeitsplatz in der Verwaltung. Im Lager existiert eine Bibliothek, und er hat Gefährten, mit denen er über Literatur reden kann, mit denen er Gedichte aufsagen kann, sogar Jazzmusik hören. Er hat keine Probleme mit der literarischen Tradition, die für ihn ein weiter Fundus ist, aus dem er schöpfen kann in dem Maße, in dem er es für das Überleben braucht, um für sich dieses fließende Ich aufzubauen, das die Auslöschung überlebt. Ganz anders ist die Situation Jean Amerys. Auch er bezeugt einen Prozess der Ichkonstruktion aus der Erfahrung der Zerstörung, der Auslöschung. Aber der Prozess des Identitätsverlustes in der Lagererfahrung ist in Amerys Fall viel intensiver und radikaler. Auch er hat unter nicht nur einem Namen gelebt. Hans Mayer, alias Jean Amery, wurde 1912 in einer im Habsburgerreich assimilierten und integrierten jüdischen Familie geboren. Seine Familie ist nicht zum Christentum übergetreten, aber sie feiert Weihnachten mit einem Christbaum, und sein 616 Marisa Siguan Vater stirbt im ersten Weltkrieg in der Uniform der Tiroler Kaiserjäger. Bis zu seinem 19 Lebensjahr hat Hans Mayer nicht von der Existenz des Jiddischen reden hören. Er wächst nicht in dem Bewusstsein auf, Jude zu sein; er konnte weder Hebräisch noch Jiddisch, er war ein Agnostiker, was die Religion betrifft. Er wächst in der deutschsprachigen Kultur auf, mit einem Heimatkonzept, das sein Land, seine Sprache, seine Kultur umfasst. Die Nürnberger Gesetze und der Anschluss zwingen ihn dazu, Jude zu sein, sie entziehen ihm die nationale Identität: damit werden die Konzepte von eigener Heimat und eigener Kultur zur Heimat und Kultur der Feinde. Amerys Art, die eigene Dignität zu erhalten, wird darin liegen, dass er das Judentum akzeptiert, gleichzeitig aber dagegen rebelliert, es akzeptieren zu müssen. Und in dieser Hinsicht ist die Interpretation, die Primo Levi von Amery in seinem Aufsatz „Der Intellektuelle in Auschwitz“ (1986) gibt, eine sehr zutreffende. Amery emigriert nach Belgien und kämpft im Widerstand, bis er gefangen genommen, gefoltert und als Jude nach Auschwitz deportiert wird. Nach dem Krieg wird er in Belgien bleiben und seinen Namen aus dem Widerstand behalten, 1978 wird er sich in Salzburg das Leben nehmen. Ich erwähnte oben, dass sein Prozess der Desindividuation viel intensiver und traumatischer verläuft als der von Semprün. In Jenseits von Schuld und Sühne (1966 erstmals erschienen) versammelt Amery verschiedene Essays, die auf den ersten Blick in ihrem Inhalt zusammenhanglos erscheinen. Aber sie haben doch einen gemeinsamen Nenner: sie beschreiben die Zerstörung von fundamentalen Komponenten der Individualität, der Subjektkonstruktion. Im Essay Wieviel Heimat braucht der Mensch kommt Amery zu dem Ergebnis, dass die Heimat nur notwendig ist, wenn man sie verliert. Das „Heimatkonzept“ in dem Hans Mayer aufgewachsen ist, baut sich (so erzählt er selber) aus einer provinziellen Literatur und einem postromantischen Gefühl für Landschaft auf. Das alles wird später vom Nazismus integriert, auch gefördert. Wenn „Heimat“ ein bestimmtes Gefühl für die Landschaften, für die Menschen, die sie bewohnen und deren Sprache ist, wenn „Heimat haben“ die Konsequenz hat, dass man ein „wir“ hat, ein „wir“ das es ermöglicht, „ich“ zu sagen, dann ist die Erfahrung, von diesen Menschen weggejagt zu werden, eine extreme Erfahrung des Verlusts der eigenen Wurzeln, der Möglichkeit, „ich“ sagen zu können, und so die eigene Individualität zu definieren. „Heimat ist, reduziert auf den positiv-psychologischen Grundge- Über Sprache und ihre Grenzen 617 halt des Begriffs, Sicherheit“. „Man muß Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben, so wie man im Denken das Feld formaler Logik besitzen muß, um darüber hinauszuschreiten in fruchtbare Gebiete des Geistes.“ (1997, S. 81) Die Erfahrung, dass Menschen, die seinen eigenen Dialekt sprechen, Todfeinde sein können, die seine Liquidierung planen, führt Amery dazu, die Feindschaft der Heimat zu konstatieren: „In diesem Augenblick begriff ich ganz und für immer, daß die Heimat Feindesland war und der gute Kamerad von der Feindheimat hergesandt, mich aus der Welt zu schaffen (...) Für uns war, was mit diesem Land und seinen Menschen zusammenhing, ein Lebensmißverständnis“ (1997, S. 86). Damit aber erhält das Heimweh ein wichtiges Element an Selbstzerstörung, an Selbsthass: „Das echte Heimweh war nicht Selbstmitleid, sondern Selbstzerstörung. [...] Die Feindheimat wurde von uns vernichtet, und zugleich tilgten wir das Stück eigenen Lebens aus, das mit ihr verbunden war. [...] Was zu hassen unser dringender Wunsch und unsere soziale Pflicht war, stand plötzlich vor uns und wollte ersehnt werden: ein ganz unmöglicher, neurotischer Zustand, gegen den kein psychoanalytisches Kraut gewachsen ist.“ (1997, S. 88) In diesen in erster Person geschriebenen Essays beschreibt der Sprecher Erfahrungen, die auf eine sehr fundamentale Art gegen die Möglichkeit, „ich“ sagen zu können, agieren. Er beschreibt traumatische Erfahrungen der Desindividuation. Im Falle der Heimat beschreibt er die Nichtexistenz von einem „wir“, die es ermöglichen würde, „ich“ zu sagen. Im Essay An den Grenzen des Geistes beschäftigt sich Amery mir der Erfahrung des Intellektuellen in Auschwitz und der möglichen Hilfe, die ihm seine Kultur, seine Intellektualität, leisten könnten. Im Unterschied zu Semprün fällt die Analyse der Funktion und der Präsenz der Kultur im Lager extrem negativ aus. Die Kultur, so Amery, ist im Lager zu nichts nütze. Denn sie hilft nicht dabei durchzukommen, zusätzliches Essen zu erringen, Waren zu tauschen, die überlebensnotwendigen Dinge zu erlangen. „Das Lagerleben erforderte vor allem körperliche Gewandtheit und einen notwendigerweise hart an die Grenze der Brutalität liegenden physischen Mut. Mit beiden waren die Geistesarbeiter nur selten gesegnet, und die moralische Courage, die sie oft anstelle der körperlichen einsetzen wollten, war keinen Pfifferling wert.“ (1997, S. 22) 618 Marisa Siguan Amerys Situation in Auschwitz ist schlimmer als die Sempruns in Buchenwald. Eine Anzahl von Häftlingen aus der Widerstandsbewegung mit einem ähnlichen kulturellen Hintergrund bildet für Semprün ein Kollektiv, in dem er zumindest zeitweise vergangene gemeinsame Erfahrungen erläutern kann, gemeinsam Gedichte bespricht oder aufsagt, Jazzmusik hört, sich am Aufbau einer klandestinen Verteidigungsstruktur beteiligt, die am Ende des Krieges zur Befreiung des Lagers beiträgt. Semprün erlebt Möglichkeiten der Zusammenarbeit, der Handlung, der Zukunftsperspektive, die Amery, Jude und der Auslöschung gewidmet, in Auschwitz abgehen. Viel später wird er noch darüber klagen, nichts von der heimlichen Widerstandsorganisation erfahren zu haben. Unter diesen Bedingungen, schreibt Amery, ist die Literatur kein Instrument, das ermöglichen würde, die Realität zu transzendieren. Die Verse von Hölderlin, an die er sich eines Tages beim Rückmarsch zum Lager erinnert, sagen ihm nichts mehr: „„Die Mauern stehn sprachlos und kalt, im Winde klirren die Fahnen“ murmelte ich assoziativ mechanisch vor mich hin. Dann wiederholte ich die Strophe etwas lauter, lauschte dem Wortklang, versuchte dem Rhythmus nachzuspüren und erwartete, daß das seit Jahren mit diesem Hölderlin- Gedicht für mich verbundene emotionelle und geistige Modell erscheinen werde. Nichts. Das Gedicht transzendierte die Wirklichkeit nicht mehr. Da stand es und war nur noch sachliche Aussage: so und so, und der Kapo brüllt „links“, und die Suppe war dünn, und im Winde klirren die Fahnen.“ (1997, S. 269) Der einzige Moment, in dem Amery zugibt, etwas einer ästhetischen Emotion Ähnliches gefühlt zu haben, geschieht, als er krank ist und jemand ihm eine zusätzliche Portion Suppe gebracht hat, wo er also für ein Mal keinen entsetzlichen Hunger leidet. Und da kommt ihm Thomas Manns Zauberberg in den Sinn. Es ist interessant, dass Primo Levi, auch in Auschwitz, in diesem Punkt nicht mit Amery einverstanden ist. In seinem Essay Der Intellektuelle in Auschwitz stellt er Amerys Interpretation des Intellektuellen und der Funktion der Kultur in Auschwitz in Frage, und verweist auf den schon geschilderten Versuch, den 26. Gesang aus Dantes Inferno einem elsässischen Gefährten zu rezitieren. Levi schildert diese Szene in Ist das ein Mensch? , und er schildert sie als eine sehr intensive Erfahrung, ln dieser Szene wird die Literatur Über Sprache und ihre Grenzen 619 in den Alltag integriert, in die gleiche Situation des Rückmarsches zum Lager, die für Amery Hölderlins Verse sinnlos hatte werden lassen. Und die Literatur erfüllt dabei eine intensive, kommunikative Funktion in einer Situation, in der weder der literarische Text noch die Sprache, in der er vermittelt wird, dem bewegten Zuhörer bekannt sind. Im Unterschied zu Amery konnte Levi auf eine Tradition und eine Sprache zurückgreifen, die er nicht als entfremdet und in Feindeshänden befindlich empfand. Denn als weiterer verschlimmernder Faktor für Amery und für die deutschsprachigen Juden kommt hinzu, dass ihre „Heimatliteratur“, die ihre literarische Memoria ausmacht, jetzt in Feindeshand war, genauso wie die Heimat: „Von den Merseburger Zaubersprüchen bis Gottfried Benn, von Buxtehude bis Richard Strauss war das geistige und ästhetische Gut in den unbestrittenen und unbestreitbaren Besitz des Feindes übergegangen.“ (1997, S. 27) Die eigene kulturelle Identität wird in Frage gestellt und gerät damit in eine selbstzerstörerische Hassliebe, die auch das Verhältnis zur Heimat charakterisierte. Den Erwägungen Amerys zufolge hilft auch das analytische Denken dem Intellektuellen nicht, im Lager zu überleben. Denn der Versuch, die Wirklichkeit des Lagers zu verstehen, führt auch nur in eine Dialektik der Zerstörung. „Der Intellektuelle aber revoltierte dagegen in der Ohnmacht des Gedankens. Für ihn galt am Anfang die rebellische Narrenweisheit, dass nicht sein könne, was doch gewiß nicht sein darf. Allerdings nur im Anfang“ (1997, S. 31). Dieser erste kantische, durch Morgenstern hindurchgeführte Unglaube, führt nämlich letzten Endes zum Verstehen, zum Akzeptieren, zur Resignation gegenüber der Logik des Lagers, die eine Logik der Zerstörung ist. „Die grundsätzliche geistige Toleranz und der methodische Zweifel des Intellektuellen wurden so zu Faktoren der Autodestruktion“ (1997, S. 32). Hinzugefügt sei, so Amery, der traditionelle Respekt des Intellektuellen vor der Macht. Das Ergebnis sei ein gebeugtes Individuum, ein schlechter Überlebender. Zum Überleben sei es besser, nicht zu verstehen. „Ne pas chercher ä comprendre“, hat ein Häftling in den Boden seines Suppennapfes geritzt, so erzählt Primo Levi. 620 Marisa Siguan Im Essay über Die Folter, im gleichen Band veröffentlicht, analysiert Amery den Zerstörungsprozess des Subjekts, das die Folter durchlebt als Angriff auf die Möglichkeiten des Individuums, sich selbst zu definieren. Die Folter ist ein Angriff auf die Grenzen seines leiblichen Ichs, seines Körpers. Sie zerstört für immer das Vertrauen des Gefolterten in das Kollektiv, das Vertrauen in das „wir“, das es erlaubt, auf eine harmonische Weise „ich“ zu sagen. Auch hier beschreibt die erste Person Singular die Zerstörung der ersten Person. Amery beendet seinen Essay An den Grenzen des Geistes mit einem Paragrafen über die Unmöglichkeit der Sprache, die Wirklichkeit des Lagers zu beschreiben, und paraphrasiert damit Karl Kraus: „Das Wort entschläft überall dort, wo eine Wirklichkeit totalen Anspruch stellt. Uns ist es längst entschlafen. Und nicht einmal das Gefühl blieb zurück, daß wir sein Hinscheiden bedauern müßten.“ (Amery 1997, S. 45) Das hält Amery aber nicht davon ab, weiterzuschreiben. Er, wie auch Semprün oder Levi, bemüht sich darum, anzuschreiben gegen die Grenzen oder den Traum des Wortes, in dem Versuch, die Grenzen des Sagbaren zu erweitern, das Wort zum Erwachen zu bringen. Amery benutzt in seinen Schriften die Erzählperspektive der dritten Person, um autobiografische Elemente einzufügen, und er greift auch, wie Semprün, und trotz seiner Erklärung der Ohnmacht des Geistes gegenüber Auschwitz, auf die literarische Memoria, auf die Tradition als Bauelement in seinen Werken zurück: eine nicht so kosmopolitische Tradition, hauptsächlich deutsch- und französischsprachig. In Charles Bovary, Landarzt unternimmt er eine hemmungslose Verteidigung von Charles Bovary, um Flaubert anzugreifen, den höchsten Repräsentanten des Romans in seiner Tradition des allmächtigen Erzählergotts des 19. Jahrhunderts. Charles Bovary, im Roman eine ziemlich lächerliche Figur, rebelliert bei Amery gegen seinen Schöpfer und plädiert für einen zwar allmächtigen, strukturierenden, manipulierenden Autor, aber für eine subjektive, betroffene Haltung beim Schreiben. Amery wirft Flaubert seine Kälte, seine Verachtung vor, und indem er seinem Charles Bovary diese Haltung eingibt, rebelliert Amery selber gegen den Philosophen, der ihn wahrscheinlich am intensivsten geprägt hat, gegen Sartre und dessen Verherrlichung Über Sprache und ihre Grenzen 621 Flauberts. Amerys Haltung ist die einer radikalen Verteidigung des Opfers aus der Perspektive der zivilen Rechte. Letzten Endes wirft er Flaubert vor, nicht das progressive bürgerliche Potenzial Bovarys gesehen zu haben, und befürwortet damit eine literarische Haltung, bei der es um die Allmacht eines in dritter Person schildernden, aber subjektiv verstrickten Autors geht. In Lefeu oder der Abbruch, dem einzigen Roman Amerys, schafft die Erzählung in dritter Person eine rebellierende und Widerstand leistende, zugleich aber auch resignierende und selbstzerstörerische Figur, die einige Züge von Amerys Biografie trägt. Mit ihr möchte sein Autor zwar nicht identifiziert werden. Aber auch in diesem Roman spielen die Verweise auf die Literatur, die Philosophie des Existenzialismus, Sartre, eine große Rolle. Der Essay Über das Altern trägt einen Untertitel, der für Amerys Position gegenüber dem Leben und der Welt sehr bezeichnend ist: „Revolte“ und „Resignation“. Er selber hat die Bände Jenseits von Schuld und Sühne (1966), Unmeisterliche Wanderjahre (1971) und Über das Altem (1969) als seine Autobiografie bezeichnet. Auch hier ist die Stimme des Erzählers eine dritte Person. Die alternde Person und Protagonistin des Essays, „A“ genannt, ist sowohl Marcel Proust als der Erzähler selbst, verschiedene literarische Figuren, eine Undefinierte Frau, Sartre ... Die literarischen Figuren stehen auf der gleichen Argumentationsebene wie der Erzähler oder andere real fiktive Modellfiguren. Die Überlegungen von Dr. Behrens über den Tod unterstützen die Argumentation der Erzählstimme genauso, wie es der gealterte Proust im Gespräch mit seinen Figuren und die wissenschaftlichen Argumente eines realen Arztes tun. Die Autobiografie, könnten wir sagen, wird in der dritten Person mit Hilfe der literarischen Memoria verarbeitet. Die Perspektive meines Beitrags ging von der Erfahrung der Sprachlosigkeit aus im Versuch, den Horror zu erzählen, die Sprachlosigkeit zu überwinden, das Schreckliche zu sagen. Beim Erzählen ist der Verweis auf das nicht Sagbare, auf die Stille, auf die Sprachlosigkeit für den Horror implizit. Man könnte jetzt aber eine weitere Perspektive einsetzen, und zwar, dass die Sprache beim Benennen auch beruhigt, banalisiert, zähmt. Durch die Erzählung in der Sprache als „gemeinsames Haus für alle“ wird wieder das Zugehören zu einem Kollektiv offenbar. Beim Benennen wird der Horror erträglicher für diejenigen, die ihn benennen. 622 Marisa Siguan „Könnte der das Wort „Schmerz“ verstehen, der nie Schmerz gefühlt hat? “ In dem Versuch, ihn doch verständlich zu machen, siedelt sich die Literatur an. Literatur Amery, Jean (1969): Über das Altem. Revolte und Resignation. Stuttgart. Amery, Jean (1971): Unmeisterliche Wanderjahre. Stuttgart. Amery, Jean (1974): Lefeu oder der Abbruch. Stuttgart. Amery, Jean (1976): Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod. Stuttgart. Amery, Jean (1978): Charles Bovary, Landarzt. Stuttgart. Amery, Jean (1997): Jenseits von Schuld und Sühne. Stuttgart. ('1966). Castilla del Pino, Carlos (2000): Teoria de los sentimientos. Barcelona. Kertesz, Imre (1996): Die Panne. Der Holocaust als Kultur. In: Steiner, Stephan (Hg.): Jean Amery (Hans Maier). Frankfurt a.M. S. 13-25. Levi, Primo (1986): I sommers! e i salvati. Torino. Levi, Primo (1992): Ist das ein Mensch? München. (1958: Se questo e un uomo. Torino.) Levi, Primo (1999): Die Atempause. München. (1963: La treva. Torino.) March, Ausias (1979): Poesies. Hrsg. v. Joan Ferrate. Barcelona. Renner, Rolf Günter (1988): Die postmoderne Konstellation. Freiburg. Renner, Rolf Günter (1999): Transformationen des Eigenen ins Fremde. Interkulturelle Strategien in der Moderne am Beispiel von Jorge Semprun. In: Renner, Rolf Günter/ Siguan, Marisa (Hg): Selbstbild und Fremdbild. Aspekte wechselseitiger Perzeption in der Literatur Deutschlands und Spaniens. Barcelona. (= Ediciö Forum 1). Semprun, Jorge (1981): Was für ein schöner Sonntag. Frankfurt a.M. (1980: Quel beau di manche. Paris.) Semprun, Jorge (1989): Algarabfa. Frankfurt a.M. (1981: L'Algarabie. Paris.) Semprun, Jorge (1997): Schreiben oder Leben. Frankfurt a.M. (1994: L'ecriture ou la vie. Paris.) Soria, Andres (1996): Vida y razones de Jorge Semprun. In: Boletln de la Unidad de estudios biogräficos 1, S. 69-77. Wittgenstein, Ludwig (1988): Philosophische Untersuchungen/ Investigaciones filosöftcas. Barcelona. Hartmut Schmidt Austrasien ein pfälzischer Landschreiber entwirft einen Staat, einen Friedensvertrag und eine deutsche Verfassung. Text und Wortgebrauch 1. Die Situation Wir befinden uns im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts. Die junge Republik Frankreich hat das expansive außenpolitische Programm Ludwigs XIV. übernommen, im April 1792 Österreich den Krieg erklärt und alle linksrheinischen Gebiete des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation (dem sie den Krieg nicht erklärt hat) besetzt. Die kleineren deutschen Reichsfürsten teilen weder die Interessen der deutschen Hauptmächte Österreich und (seit Februar 1792 mit ihm verbündet) Preußen, noch die des französischen Nachbarn und hoffen lange, dass der Sturm vorüberziehe, ehe sie sich auf dem Regensburger Reichstag im März 1793 dann doch, ein Jahr nach der Besetzung, zur Mitwirkung bei der Verteidigung der Reichsgrenzen entschließen. 1793 werden die Franzosen daraufhin für kurze Zeit zurückgedrängt, 1794 aber marschieren sie wieder ein. Die linksrheinischen Gebiete bleiben bis zum Wiener Kongress französisch. Frankreich lässt ‘Schwesterrepubliken’ gründen, im Norden wird aus den Vereinigten Niederlanden die ‘Batavische Republik’, im Süden transformiert sich die Schweizerische Eidgenossenschaft zur ‘Helvetischen Republik’, im fernen Italien entstehen gleich fünf getrennte Republiken und das ganze Gebiet zwischen helvetischer und batavischer Republik teilt nun das Schicksal, das das Eisass schon im 17. Jahrhundert ereilt hat, es wird französisch. Ein Rheinischer Konvent von Freunden der Französischen Revolution, der im März 1793 in Mainz tagt, beschließt die Vereinigung des Linksrheins mit Frankreich. Erst Preußen, dann Österreich stimmen in den Friedensverträgen von Basel (1795) und Campo Formio (1797) der Loslösung dieser Gebiete vom Reichskörper mehr oder weniger offen zu. Den Schwesterrepubliken und den annektierten Reichsteilen werden hohe Kontributionen auferlegt. Dafür gehören sie in den kommenden schweren Auseinandersetzungen zunächst einmal zur siegrei- 624 Hartmut Schmidt eben Partei, werden von den früheren Feudallasten befreit und lernen, eine einheitliche, gestraffte Verwaltung und ein modernes Rechtssystem zu genießen. Die neben den ehemals österreichischen Niederlanden (dem heutigen Belgien) größte weltliche Herrschaft der frisch annektierten Reichsgebiete war das Herzogtum Pfalz-Zweibrücken, einer der deutschen Kleinstaaten, die sich auf das Reich verließen, aber den Vormächten des Reichs mindestens ebenso misstrauten wie dem großen Nachbarn im Westen und doch in ihrer Spitze selbstzufrieden die Gegenwart genossen. Es heißt: „In Zweibrücken war Karl August II. vollauf mit den anstrengenden Vergnügen des Hoflebens beschäftigt, so dass ihn die Operationen eingedrungener fremder Truppen nicht interessierten, bis die ersten französischen Soldaten vor den Toren seines Schlosses standen“ (Sheehan 1994, S. 218). Aber der Herzog besaß einen hohen Beamten, den die schwierige Lage seines Landes nicht ruhen ließ, der Lösungen suchte, die von den Interessen des Herzogtums ausgingen und den Ansprüchen Frankreichs und des Deutschen Reichs nicht zuwider liefen: Maximilian Karl Friedrich Kaerner, geboren am 29.10.1752 in Karlsruhe, verstorben am 22.6.1806 in Rimsberg bei Birkenfeld/ Pfalz. Kaerner war Jurist, wurde 1784 Landschreiber in Homburg/ Saar und 1789 Landschreiber, d.h. oberster Regierungsbeamter, des pfälzischen Oberamts Lichtenberg in Kusel. Dort geriet er in die Auseinandersetzungen über die Ursachen, die zur Einäscherung der Stadt Kusel durch französische Truppen am 26.7.1794 führten; es handelte sich dabei um den Vorwurf, von Kusel aus seien falsche französische Assignaten in Umlauf gebracht worden. Auskunft hierüber gibt die gegen Kaerner gerichtete Schrift „Species Facti mit einigen Beilagen die Verbrennung der Stadt Cussel betreffend, auf das von den Beamten Müller und Kärner unterm 19ten September 1794 Denen öffentlichen Zeitungen eingerückte Avertissement, von dem Verfasser des darinnen angeführten Memoire aufgesetzt“. Verfasser dieses ohne Ort 1795 gedruckten polemischen Textes war der Kuseler Arzt und Titular-Regierungsrat Dr. Daniel Emil Koch. Von 1801 bis zu seinem Tod war Kaerner Notar und Steuerkontrolleur in Kusel. Der herzogliche Landschreiber Kaerner verfasste drei Texte, die sich im Familienbesitz erhalten haben und bisher nicht veröffentlicht worden sind, einen Rahmentext „Aegri Somnia“ (im Folgenden: AS), ein Verfassungskonzept „Ideen über die Verbesserung der Deutschen Verfassung im Großen“ (im Folgenden: DV) und einen „Plan des Friedens Austrasien 625 zu Lande“ (im Folgenden: PF). Diese Texte sollen hier vorgestellt und sprachlich befragt werden. 1 Kaerner steht mit seinen Entwürfen zeitlich noch vor bekannteren Zeitgenossen wie Johann Gottfried Pahl (1768-1839), der nach einem weiteren Kräftemessen zwischen Frankreich und Österreich den Friedensschluss von Luneville (9. Februar 1801) durch einen ‘Patriotischen Appell’ zu beeinflussen versuchte, oder Julius von Soden (1754-1831), der mehrmals Vorschläge zur Gesetzes- und Reichsreform ausarbeitete. Alle drei waren Juristen, die den Versuch machten, der sich abzeichnenden Katastrophe der Auflösung des Reichs zu begegnen (über Pahl s. Sheehan 1994, S. 225; über von Soden ADB 34 [1892] S. 532-537). Kaerners Texte bilden eine konzeptuelle Einheit, sie nehmen nicht nur inhaltlich aufeinander Bezug, sie sind auch durch Querverweise verknüpft. Zeitpunkt und Anlass ihrer Entstehung gehen aus dem Rahmentext AS hervor: Preußen und Frankreich haben bereits Frieden geschlossen, den Basler Frieden vom Mai 1795. Österreich und Frankreich befinden sich noch im Kriegszustand, vor dem Friedensschluss von Campo Formio im Oktober 1797, oder genauer: vor der Aufnahme der Kämpfe der Generäle Moreau und Napoleon Buonaparte gegen die österreichischen Erblande, das heißt wohl auch vor dem Feldzug Napoleons in der Lombardei vom Frühjahr 1796. Wir setzen deshalb als Entstehungszeit 1795 an, spätestens die Jahreswende 1795/ 96. Unmittelbar vor dem Basler Friedensschluss zwischen Frankreich und Preußen war nun aber in Pfalz- Zweibrücken dem Herzog Karl August II., dessen Tod im Text erwähnt wird (PF 2), am 1.4.1795 sein Bruder Maximilian Joseph (1756-1825) in der Regierung gefolgt, sorgfältig erzogen und bis zur Revolution verbunden mit Frankreich als französischer Generalmajor. Mit Maximilian Joseph, ab Februar 1799 auch Nachfolger des Kurfürsten Carl Theodor in Bayern, begann Die Texte im Gesamtumfang von 43 Folioseiten sind dem Verfasser durch den emeritierten Heidelberger Professor Hans Christian Kaerner zur Verfügung gestellt worden. Hans Christian Kaerner hat die von ihm gewünschte Veröffentlichung und den Dank für sein Entgegenkommen nicht mehr erlebt, er ist am 1. Mai 2001 in Samoa verstorben. Die Vornamen und Lebensdaten des Landschreibers Kaerner verdanke ich den Bemühungen des Stadtarchivs Zweibrücken, das eine Beamtenkartei des Hof- und Staatsdienstes des Herzogtums Pfalz-Zweibrücken besitzt, und der Leiterin der Bibliotheca Bipontina in Zweibrücken, Frau Dr. S. Herbert-Reichling. Für wichtige Literaturhinweise danke ich dem Leiter des Deutschen Rechtswörterbuchs in Heidelberg, Herrn Dr. Heino Speer, und Herrn Dr. Ulrich Kronauer. 626 Hartmut Schmidt der Aufstieg des Grafen Montgelas (1759-1838), zuerst in Zweibrücken und ab 1799 als leitender Minister in München. In dieser neuen Konstellation der Zweibrücker Regierung fanden die Vorschläge Kaerners wohl auch im eigenen Land keinen Zugang mehr zum Ohr des Herzogs. Sie bleiben trotzdem interessante Zeugnisse alternativen Staatsdenkens eines bürgerlichen Beamten. Der Verfassungsentwurf Kaerners ließe sich sprachlich und sachlich mit der ‘wirklichen Verfassung’ des Reichs vergleichen, wie sie Franz von Zeiller in einem Text zur Prinzenerziehung am Wiener Hof aus den Jahren 1795- 97 in klarer Sprache dargestellt hat (Wagner 1968). 2. Die Texte Um dem Leser zunächst den Aufbau eines komplexen Urteils über die Sprache einer uns heute fremden Textwelt, die Gedankenführung und Argumentationsweise des Autors zu übermitteln, seien einige Passagen in der originalen Abfolge knapp zitiert. 2 Die sich anbietende textwissenschaftliche Analyse kann hier nicht geboten werden. Doch soll auf die besonders interessanten Aspekte auch historischer, politisch engagierter Texte summarisch aufmerksam gemacht werden. Der unvergessene Horst Grünert hat im Anschluss an seine Untersuchungen zum Sprachgebrauch der Frankfurter Nati- Der Abdruck folgt dem Original, auch in die Zeichensetzung wird nur dann eingegriffen, wenn der Textzusammenhang es unbedingt erfordert. Besondere Probleme, die nicht immer zufriedenstellend gelöst werden können, stellen die Schreibung der ,s-Laute (mit zahlreichen Varianten, denen die Druckschrift nicht gewachsen ist) und die Groß- und Kleinschreibung dar. Kaerner benutzt wie viele Zeitgenossen neben Groß- und Kleinbuchstaben eine Fülle von Übergangsformen, die hier vorsichtig, aber nicht orthografisch regulierend, in unser System überführt worden sind. Auffällig sind insbesondere Groß- und Kleinschreibungen, die sich bei Komposita oder Zusammenbildungen nicht am Grundwort, sondern am ersten Bestandteil orientieren, z.B. Ehrenvoll oder Geistlich. Auffällig ist auch die (allerdings in sich wieder inkonsequente) Kleinschreibung zahlreicher Verbalabstrakta, z.B. fortgang, Zukunft. Besonders schwierig ist die Bewertung des B/ b im Wortanfang. Da Kaerner wohl z.B. keinen Unterschied in der Groß- oder Kleinschreibung der Bildungen auf -ung gemacht hat, wurde hier nach dem Vorbild aller übrigen (mit anderen Buchstaben beginnenden) Fälle auch dann das große B gewählt, wenn die orthografische Qualität des Buchstabens zweifelhaft war. Die zahlreichen, am massivsten in den am flüchtigsten geschriebenen Textteilen auftretenden Abbreviaturen sind in eckigen Klammern aufgelöst. Die Unterscheidung von Fraktur und Antiqua für deutsche und für Fremdwörter befolgt Kaerner nicht konsequent. Austrasien 627 onalversammlung von 1848/ 9 15 Thesen zur ‘Sprache in der Politik’ formuliert (Grünert 1974, S. 323f.), an die hier in modifizierter und strukturierter Form erinnert sei: 1) Politische Sprache hat das Ziel der Persuasion (der Überzeugung der noch Unentschlossenen) und dadurch der Stabilisierung der Positionen der eigenen Gruppe wie der Destabilisierung der Positionen des politischen Gegners. 2) Politische Sprache benutzt die Mittel der Information, der Argumentation und der emotionalen Appellation (dies alles in aufrichtigem oder manipulativem Bezug auf die gemeinsame Erfahrung). 3) Politische Sprache ist geprägt durch die Verfolgung von Interessen in einem spezifischen historischen Kontext und durch ein mehr oder weniger ausgeformtes Konzept, das die Erfahrungen und Ziele einer gesellschaftlichen Gruppe reflektiert. 4) Politische Sprache ist gekennzeichnet durch einen hohen Grad an Formelhaftigkeit und Iteration. Die von Kaerner gewählten Formulierungen haben das Ziel, die Entscheidungsträger der französischen Republik (im vorgeblich eigenen französischen Interesse und in ausdrücklich propreußischer und antiösterreichischer Haltung) von den Vorteilen eines ‘sanften’ Friedensvertrages mit den deutschen Teilstaaten und dem Deutschen Reich zu überzeugen, sie zur Schaffung eines Pufferstaats zu überreden, der einem vergrößerten und erneuerten Herzogtum Pfalz-Zweibrücken entspräche, eine Reichsreform unter Abschaffung der geistlichen Herrschaften durchzuführen und im Deutschen Reich und seinen Teilstaaten eine Verfassungsdiskussion zu eröffnen. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Appelle an die Eigeninteressen weltlicher Landesherren, die Kritik an den katholischen geistlichen Fürsten und die Konstruktion der Partner des Friedensvertrags, in der die drei Republiken mit Austrasien und Preußen gegen Österreich, den Fürsten von Oranien und das Reich stehen. Die im Folgenden zitierten Abschnitte sind nach inhaltlichen Aspekten, aber auch im Hinblick auf ihre Eignung für genauere textanalytische Behandlung ausgewählt. DirekteAussagenüberSprachgebrauch,Sprachgrenzen,Gebiete mit sich überschneidendem deutsch-französischem, deutsch-italienischem oder deutsch- 628 Hartmut Schmidt slavischem Sprachgebrauch und den sich daraus ergebenden Problemen oder Chancen sucht man in Kaerners Texten vergeblich. Die Zeiten, in denen etwa im deutsch-französischen Grenzgebiet Untersuchungen über den einheimischen Sprachgebrauch angestellt wurden, sind noch ein Dreivierteljahrhundert entfernt. Auch von Nationalgefühl, Reichsbewusstsein oder patriotischer Gesinnung der Bewohner ist nicht die Rede; sie spielen in der politischen und rechtlichen Argumentation noch keine Rolle. Die Rechtskonstruktion basiert im Wesentlichen auf den Herrschaftsrechten der Reichsstände und dem Okkupationsanspruch der französischen Republik. Ansprüche oder Rechte der Bevölkerung werden nicht erwähnt. Im Gegensatz zu neueren Grenzverschiebungen haftet die Bevölkerung mit ihren Individualrechten, z.B. der Nutzung von Grund und Boden, allerdings fest am angestammten Ort; sie gehört zum ‘immobilen’ Besitz der feudalen oder republikanischen Gebietsherrschaften und macht zu einem wesentlichen Teil gerade den Wert der hin- und hergeschobenen Ländereien aus. Das einzige Individualrecht, das am Rande ins Spiel kommt, ist die Religionszugehörigkeit, allerdings auch jetzt noch wie seit dem Westfälischen Frieden im Wesentlichen definiert über die Konfession des Landesherrn. Neu für das Deutsche Reich ist nur der Anspruch, nun auch mit geistlichen Reichsständen etwa so umgehen zu können wie mit abhängigen Privatpersonen. Das hat man von den französischen Revolutionären gelernt, mit dem Unterschied der Schonung von Leib und Leben und der persönlichen finanziellen Entschädigung. 2.1 „Aegri Somnia“ 2.1.1 Textcharakterisierung Die „Aegri Somnia“, „Träume eines Leidenden“, beschreiben die Situation, in der sich das Reich und das Herzogtum Pfalz-Zweibrücken im Jahr 1795 befinden; sie begründen den Anspruch, durch einen Friedensvertrag die Selbstständigkeit des Herzogtums Pfalz-Zweibrücken wieder herzustellen, die Autorität des neuen Zweibrückener Herzogs Maximilian Joseph gegen den nächsten Konkurrenten, den kurpfälzisch-bayrischen Kurfürsten Carl Theodor, zu stärken und das Reich zu reformieren. Austrasien 629 2.1.2 Textauszüge aus AS (AS 1: ) Die beispiellose Energie, mit welcher die französische Nation sich dem gegen sie verbündeten beinahe ganzen Europa widersezzet hat, und der in den lezten Jahren ununterbrochene fortgang der Fränkischen Waffen haben die fürchterliche Koalition so zertrümmert, daß nur noch Österreich und ein kleiner Theil von Deutschland nebst England die Waffen gegen die Republik gebrauchen [...]. ( AS 2: ) Es frägt sich [...] auf welche Bedingnisse der Frieden zu machen sei? damit dem Elend unter welchem Europa seit so manchem Jahr seufzet und dem schreklichen Blutvergiessen, für dem die Menschheit schaudert nicht bloß für jezt sein Ziel gesteh, sondern auch für die Zukunft dauerhaft vorgebogen werde. Die Republik Frankreich zumal in Verbindung mit Preussen kann dem Hauß Österreich und dem deutschen Reich allerdings die Friedensbedingungen vorschreiben, sie darf aber dabei nicht ihren StaatsVorteil allein zur Grundlage machen, sondern muß, wenn es auch mit einiger scheinbaren Aufopferung geschehen sollte, etwas von ihren errungenen Vorteilen nachlassen um ihrem edelmüthigen Karakter gleich zu bleiben, sie muß ferner in eben dieser Rüksicht und um des allgemeinen Bestens der Menschheit die Völker Deutschlands glüklicher durch bessere Verfassungen zu machen suchen [...]. (AS 3: ) Meines Erachtens ist bei diesem Frieden dahin zu sehen 1. ) daß er nicht blos Ehrenvoll für die Nation sei, sondern daß er sie auch durch Erwerbung neuer Lande für die bißherige Aufopferungen an Menschen und Geld entschädige [...]. 2. ) daß das Flauß Österreich gedemüthiget und kleiner gemacht, sein Einfluß in Deutschland und seine Überlegenheit in deutschen Reichsgeschäften geschwächt, hingegen der Fränkischen Republik Freunde und Anhang in Deutschland erworben, besonders 3. ) das Flauß Preussen möglichst arrondirt und verstärkt werde, um nicht bloß in Deutschland gegen Österreich, sondern auch im Norden, als natürlicher Verbündeter der Republik gegen Rußland und Österreich das Gegengewicht zu machen 4. ) daß die Republik sich das Ansehen einer billigen Mässigung hierbei gebe [...], auch 5. ) das deutsche Volk glüklicher mache [...] auch sich zugleich der Dankbarkeit Deutschlands versichere [...]. (AS 4: ) Von Basel biß Germersheim ist nun der Rhein die Gränze, von da die Queich [...], von hier [...] das beschwerliche Waßgauische Gebürge [...] biß an die leicht zu vertheidigende Bließ und Saar wo Luxenburg und die weiter hinab liegende Festungen jedem Feind unüberwindliche Schranken biß an die batavische Gränze sezzen. 630 Hartmut Schmidt Was aber die Stärke dieser Gränze noch beträchtlich vermehret, ist einestheils die Entfernung Österreichs und Preussens [...] von derselben wie von Batavien, anderntheils die Lage des neuen Grosfürstenthums Austrasien, welches nun zwischen der fränkischen Republik und dem deutschen Reich eine Schiedwand macht [...], so daß meines Bedünkens die fränkische Republik sicherer für die Zukunft ist, wenn sie Austrasien, als ein ganz unabhängiges Fürstenthum zwischen sich, Deutschland, Österreich und Preussen aufkommen läßt, als wenn sie den Rhein durchgehends zur gränze behielt, Österreich und Preussen aber zu nächsten Nachbarn an dessen rechtem Ufer [...]. Um jedoch auch hier es an keiner Art von Vorsicht ermangeln zu lassen, soll nach dem Plan der schwache ganz an Österreich verkaufte Kurfürst von der Pfalz die Regierung niederlegen, und Austrasien sowol, als Kurpfalz dem Herzoge von Pfalzzweibrükken [...] übergeben werden. [...] Dieser Fürst und sein Hauß sind nicht allein von jeher Frankreich sehr zugethan gewesen, sondern er hat sich auch bekanntlich sehr eng an Preussen angeschlossen und sich mit dem Hauß Österreich äußerst veruneiniget und ist folglich in jeder Rüksicht vorzuziehen. [...] (AS 5: ) Nun beruhet Österreichs Überlegenheit bekanntlich a. auf der Menge der deutschen katholischen geistlichen Fürsten und Stände: die nach dem Plan secularisirt und unter die weltliche verteilet werden, bei welcher Theilung die Protestanten Dennemark, Preussen, Hessen, Würtenberg, Baden, Meklenburg etc. vorzüglich gut bedacht werden, und überhaupt auch nicht ein etwas beträchtlicher Reichsfürst leer ausgehet, b. auf den Reichsstädten und c. auf der freien Reichsritterschaft, die aber [...] ihre Unmittelbarkeit verlieren und unter die Landeshoheit der weltlichen Fürsten und Stände fallen. Diese Fürsten müssen aus Dankbarkeit und Politik Österreichs künftigen Anmassungen in Deutschland, und allem was es gegen diesen Frieden vornehmen wollte, kräftigst widerstehen und sich auf jeden Fall die Freundschaft der Republik zu erhalten suchen. [...] (AS 6: ) Durch Errichtung eines ganz von Deutschland unabhängigen, durch Lage, Dankbarkeit, mindere Macht und Politik an die Republik gefesselten Fürstenthums [sei] wol besser und dauerhafter für die Ruhe Frankreichs, das nun zu Lande keinen mächtigen Nachbar mehr haben wird, gesorget [...], als wenn ganz Deutschland am linken Rheinufer derselben einverleibt würde, Österreich aber und Preussen noch immer die Gränznachbam blieben. [...] Selbst die Stimmung der Völker in den austrasischen Gegenden, ihre Vorurteile, Erziehung, Anhänglichkeit an ihre alte Verfassungen, religiose Denkungsart etc. macht sie des Vorteils in einem Freistaat zu leben weniger empfänglich, als man wol denken sollte. Sie sind zu Republikanern größtentheils unreif oder gar verdorben, und es würden nur desto mehr Gährungen, die in den demokratischen Staaten ohnehin nicht zu vermeiden sind, entstehen, wenn man das deutsche Volk am linken Rheinufer mit dem französischen schlechterdings in einen Teig kneten wollte. Zulezt muß auch nicht unberührt gelassen werden, daß Austrasien 631 die Republik durch Austrasiens Herausgabe sich das Ansehen von Großmuth, Mäsigung und Billigkeit geben werde, das ihr desto mehr Zutrauen erwerben muß, und also die reellste Vorteile für die Zukunft gewähren wird.[...] Auf den Dank des deutschen Volkes kann die Republik bei Schliessung des Friedens auf den projektirten Fuß sicherlich rechnen. Nirgends wird das deutsche Volk der Regel nach mehr gedrükt als in den Staaten der deutschen katholischen Geistlichen Reichsstände, in den Reichsstädten und in den Reichsritterschaftl[ichen] Besizzungen. Die Ursachen liegen am Tage. Die geistliche Reichsfürsten sind bloße Wal- und nicht Erbfürsten, sie haben also nicht, wie die weltliche, Bewegungsgründe ihre Unterthanen gelind zu behandeln, ihren Wolstand zu befördern, damit sie ihren fürstlichen Nachfolgern ein blühendes Land und zufriedene Unterthanen hinterlassen [...]. 2.2 „Plan des Friedens zu Lande zwischen dem deutschen Kaißer und Reiche, deßgleichen dem Hauß Österreich und dem Fürsten von Oranien einerseits, sodann der Fränkischen Republik, den Königen von Dennemark und Preußen, der Batavisch- und Helvetischen Republik, auch dem Grosfürstenthum Austrasien andererseits“ 2.2.1 Textcharakterisierung Der Entwurf des Friedensvertrags zählt zunächst in 53 Artikeln die territorialen und sonstigen Verluste und Zuwächse der vertragschließenden Partner und der sonstigen betroffenen Grundherren auf. Die Artikel 54 bis 56 behandeln das Schicksal der Reichsdörfer, der Reichsritterschaft und der Reichsstädte (nur Augsburg und Schweinfurt, als neuer Sitz des Reichskammergerichts, bleiben reichsunmittelbar). Artikel 57 benennt die Entschädigungen der zu säkularisierenden geistlichen Herrschaften und die für solche Entschädigungen zuständigen Rechtsträger. Artikel 58 beschreibt die Modalitäten der Durchsetzung des Friedensvertrags. Die Ähnlichkeit des Grundkonzepts: ‘Abtrennung der linksrheinischen Gebiete vom Reich und Entschädigung der Fürsten und des Hochadels aus der Säkularisierung der geistlichen Reichsstände und kirchlichen Grundherrschaften’ mit den Paragraphen des acht Jahre später ausformulierten Reichsdeputationshauptschlusses (1803) ist im Ganzen und z.T. auch im Einzelnen frappant. Nur die Idee eines Pufferstaats Austrasien hatte dort keine Chance mehr. Im Friedensvertrag wird das Konstrukt eines souveränen Großfürstentums Austrasien entworfen, dessen Oberhaupt, der Großfürst, zugleich als Nachfolger Carl Theodors neuer 632 Hartmut Schmidt Landesherr der Kurpfalz und Kurfürst des Deutschen Reichs wird, also eine ähnliche Stellung wie der König von England (über Hannover) und der König von Dänemark (über Schleswig-Holstein) im Reich erlangt. 2.2.2 Textauszüge aus PF (PF 1: ) Art. I. Der deutsche Kaißer und das gesammte Reich [tritt ab: ] a. den zu Deutschland gehörig gewesenen mit der Fränkischen Republik reunirten Theil des ehemaligen Bißthums Basel b. sämmtliche den geist- und weltlichen Ständen des Reiches im Elsaß, Lothringen oder sonsten in dem ehemaligen Umfang Frankreichs gehörig gewesene so reichsunmittelbare als unter der ehemaligen französischen souverainete belegene Lande, Recht und Gerechtigkeiten auch Einkünfte, zum vollkommensten Eigenthum, ohne daß die fränkische Republik einige Entschädigung dafür zu bezahlen hätte [...] c. den sogenannten burgundischen Kreiß mit allen Rechten und Ansprüchen des Reiches an denselben, das Bißthum Lüttich und alle am linken Ufer der Maaß belegene zum Deutschen Reiche behörige Reichslande mit aller Hoheit und Gerechtigkeit [...] e. das Stück Deutschlands welches von der Gränze des Elsasses an biß an die Batavische Gränze an dem linken Ufer des Rheines liegt [...]. [Im Gegenzug soll beschlossen werden: ] et eine bessere dem Geist der Zeiten und dem allgemeinen Wohl angemessenere Verfassung, worüber einige flüchtige Ideen in einer besondern Anlage hier beigehen ß die meiste durch den Verlust ihrer Lande am linken Rheinufer geschmälerte Stände des Reichs von der weltlichen Bank werden entschädiget durch andere Länder in Deutschland [...] y die geistliche bei diesem Frieden betroffene Stände, Orden und Stifter erhalten Pensionen [...] (PF 2: ) art. III. die Fränkische Republik a. erläßt dem Hauße Pfalzzweibrükken diejenige 6. Millionen Livres, welche der lezte König dem verstorbenen Herzog Karl vorgeschossen hatte, mit der Bedingung jedoch, daß diese Geldsumme innerhalb 3. Jahren, mit 2. Millionen Livres jährlich der [durch die französische Besatzung am 26.7.1794] verbrannten Stadt Kussel [Kusel] und ihren dabei verunglükten Einwohnern zur Schadloshaltung für den erlittenen Verlust und ausgestandenes nachheriges Elend und Drangsal, deßgleichen auch andern bei diesem Brande mit in Schaden gekommenen Gemeinden und particuliers vertheilet werden sollen. [...] Austrasien 633 (PF 3: ) art. VIII. Austrasien, Kurpfalz und Pfalzzweibrücken [erhält: ] a das völlig souveraine mit Deutschland in ganz keiner Verbindung mehr stehende Grosfürstenthum Austrasien: welches die ehemalige am linken Ufer des rheines belegene deutsche Reichslande biß an die oben [...] beschriebene neue franzößische und biß an die Batavische Gränze, so wie ferner [...] Venlo und die um solches am rechten Ufer der Maas belegene batavische Besizzungen enthält ß die am rechten Rheinufer belegene Mainzisch, Trierisch und Köllnische, Worms und Speierische Lande, so ferne nicht über ein oder das andere Stück [...] besonders disponirt wird. [...] di Das Reichserzmarschallamt mit dessen Verrichtungen und der 3ten Stimme im kurfürstlichen] Collegia i folgende neue Stimmen auf Reichs und Kreißtägen a. im kurfürstlichen Collegia: die dritte b. im Reichsfürstenrath: 1. Mainz 2. Trier 3. Kölln 4. Worms 5. Bruchsal und Odenheim 6. Kiev 7. Berg c. im grävlichen collegia: 1. Königstein 2. Heilbronn Nota 1. Da mehrere fürstliche, grävliche und adeliche Geschlechter solcher gestalt ihre Besizzungen und Rechte in Austrasien verlieren [...] so werden solche in den folgenden Artikeln namentlich entschädiget. Die übrige nicht entschädigte behalten solche jedoch unter der Oberherrlichkeit von Austrasien und Kurpfalz. Nota 2. Der Kurfürst von der Pfalz entsaget Alters und Schwachheits wegen der Regierung Austrasiens und aller kurpfälzischen alt und neuen Länder für sich und seine allenfallßige Successions fähige Leibeserben zu Gunsten des Herzogs von Pfalzzweibrükken und dessen standesmäßiger Nachkommenschaft [...] Nota 3. Der Grosfürst von Austrasien erhält den Titel: Hoheit und in politischen Geschäften den unmittelbaren Rang nach der Helvetischen Republik [...] (PF 4: ) art. LVIII. Zu Hebung der Anstände bei Vollziehung des Friedens wird Österreich, Frankreich, Dennemark, Preussen, die Batavische und Helvetische Republik, Austrasien, Kurfranken, Hannover, Hessen und Würtenberg als sämmtliche garant[en] desselben, sodann die fürstliche Häußer von Sachsen, Wolfenbüttel, Darmstadt, Münster, Baden und Oranien jedes einen Gesandten an einem schiklichen Orte Deutschlands, etwa in Anspach oder Würzburg als executionscongress zusammentretten lassen, welche über die möglichst schnelle genaue Erfüllung der Friedensbedingnisse wachen, die deßhalb vorkommende Streitigkeiten entscheiden und dabei die Stimmenmehrheit beobachten, die authentische Auslegung der etwa dunkel scheinenden 634 Hartmut Schmidt Friedenspunkte gleichfallß nach der Stimmenmehrheit bewürken [...] Auf den Fall unvermutheter Widersezlichkeit wird eine FriedenscAccMt/ on.varmee parat gehalten werden zu welcher jeder Kurfürst 6000. Mann zu Fuß, 2000. Reiter und die proportionirte artillerie, die vorbenannte weltliche fürstliche Häußer aber jedes halb so viel Manschaft und Artillerie in steter Bereitschaft halten muß: dieses Heer wird sich zusammenziehen und operiren sobald majora des Friedensexecwrionskongresses die gedachte Stände dazu auffodern und den HauptheerFührer ernannt haben werden. So wie den Sammelplaz: Sollte diese Macht nicht hinreichen so werden die mitpacificirende Auswärtige Mächte, jede mit doppeltem kurfürstlichen Anschlag, ja wo nöthig mit aller Macht ins Feld rükken und den widerspänstigen Reichsstand zu Befolgung der Friedenspunkte zwingen, der sich dann die erwachsende enorme Kosten selbst beizumessen haben wird. 2.3 „Ideen über die Verbesserung der Deutschen Verfassung im großen“ 2.3.1 Textcharakterisierung Besprochen werden: 1) die Modalitäten der Kaiserwahl durch die nunmehr sieben Kurfürsten, 2) die Rechte und Pflichten der beiden Reichsvikare (‘Kurfranken’ und Kurpfalz) während des Interims nach dem Tod eines Kaisers, 3) die Einteilung des Reichs in ebenfalls 7 Kreise, 4) die Reform der ‘Reichsmatrikd’ (der Heeresverfassung), 5) das ‘Reichskriegswesen’ (bis hin zur Uniformierung der Soldaten und zur Manöverordnung), 6) besonders eingehend das ‘Reichsjustizwesen’ (Abgrenzung der Zuständigkeiten des Reichskammergerichts in Wetzlar und des Reichshofrates in Wien, Ausstattung und Verfahrensordnung des Reichskammergerichts, Appellationsrecht), ohne scharfe Trennung überleitend zur ‘Reichsgerichtsverfassung’ (mit Bestimmungen über die ‘privilegia de non appellando’ und die durch den Reichstag zu verhängende Reichsacht) und 7) die Verfassung des Reichstags (mit den Kollegien der Kurfürsten, der Fürsten und der reichsunmittelbaren Grafen). Gegen Ende der Vorschläge zur Reform des Reichstags franst die Darstellung sichtlich aus und nimmt auch in der Flüchtigkeit der Notierung den Charakter erster Entwürfe an. Die Aufstellungen des ‘Reichsfürstenraths’ Austrasien 635 und des 'Reichsgravencol legi ums' (im Zusammenhang der Nennung der auf dem Reichstag und in den Kreistagen stimmberechtigten Reichsstände) sind vielfach korrigiert und nicht zu Ende geführt. Die letzten abgeschlossenen Texte behandeln: 8) die Wasser- und Landzölle des Reiches und 9) das Religionswesen. 2.3.2 Textauszüge aus DV (DV 1: ) I. [Kaiserwahl: ] Deutschland bleibt ein Wahlreich und hat folgende Kurfürsten: 1. KurFranken als Erzkanzler 2. Kurböhmen, Erzschenk 3. Kurpfalz, Erzmarschall 4. Kurbrandenburg, Erzkämmerer 5. Kurhannover, Erztruchseß 6. KurWürtenberg, Erzpannerherr 7. Kurhessen, Erzschazmeister die / ? |er] majora den Kaißer wählen: die Krönung verrichtet bei einem katholischen Kaißer ein Bischof nach seiner Wahl, bei einem Protestantischen Kursachsen unter protestantischem Gottesdienste. Die Kaißerinnen werden nicht mehr gekrönet. Eine Römische Königswahl kann nur dann statt finden, wenn auf vorhergehende Kaißerlfiche] Proposition an den Reichstag unanimia im Kurfürstlfichen], zwei drittel im fürstlichen und majora im grävl[ichen] Collegia sie nöthig und rathsam finden. Die Kurfürsten entwerfen die Wahlkapitulation, die Fürsten stellen ihnen ihre monita zu, und was nach re- und correlation zwischen beiden collegiis [...] placidiret wird, soll der Kapitulation einverleibt werden. Die Kapitulation wird in die Flände des Kurfürsten von Franken beschworen. [...] (DV 2: ) III. [Kreiseinteilung: ] Das deutsche Reich bestehet künftig aus 7. Kreißen in deren jedem 1. Kurfürst sich befindet, als 1. der Böhmischösterreichische Kreiß 2. der Schwäbische Kreiß [...] 3. der Rheinischwestphälische Kreiß: Welcher außer den kurpfälzischen Landen auch noch den ehemalig Westphälischen Kreiß [...] enthält [...] 636 Hartmut Schmidt 4. der Hessische Kreiß [...] 5. der Niedersächsische Kreiß 6. der Obersächsische Kreiß 7. der Fränkische Kreiß die ausschreibende und dirigirende Fürsten im Schwäbischen Kreiße sind KurWürtenberg und Baden, im rheinisch Westphälischen: Kurpfalz und Münster, im Hessischen: Kurhessen und HessenDarmstadt, im Niedersächsischen: Kurbraunschweig und Magdeburg, im Obersächsischen: Kurbrandenburg und die jedesmalig erstgebohme Linie der Herzoge von Sachsen, im Fränkischen: Kurfranken allein, im böhmischösterreichischen: Österreich allein. [...] (DV 3: ) V. Reichskriegswesen: In Ansehung des Reichskriegswesens wird bemerkt, daß alljährlich 10. Römermonathe in dem Reich ausgeschrieben und in der Stadt Augsburg unter Obsicht des Reichstages und Verrechnung besonders zu ernennender Reichspfenningmeister hinterlegt werden sollen, und zwar so lange biß ein baarer Geldvorrat! ! von 10. Millionen Reichsgulden beisammen sein wird: wo als dann jährlich] nur so viel mehr beigetragen werden wird, als zu Bestreitung der laufenden Ausgaben erfodert wird. Wird aber inzwischen ehe das Geld beisammen ist, oder auch, wenn die 10. Millionen würklich schon vorräthig sind, ein Reichskrieg erkläret, so sollen gleich bei dessen Anfang wenigstens 30. Römermonath ausgeschrieben, binnen dem laufenden Jahr erleget, und mit diesem oder einem nach Umständen zu erhöhenden Beitrag jährl[ich] so lange der Krieg dauert, fortgefahren werden damit die Reichsarmee auch fürs künftige respektabler werde [...] (DV 4: ) [VI.] Reichsjustizwesen: In ganz Deutschland wird für alle u. jede auch Lehens Prozesse geg[en] unmittelbare [Reichsstände] u. zwischen solch[en] u. als höchste Instanz in causis appellationis mediatorum nur 1. Tribunal bleiben, nemlich das Reichskammergericht; jedoch ohnbeschadet der Austrägalinstanz. Der Reichshofrath hat sich aller Erkenntnisse in Prozeßsachfen] zu enthalten], u. wird blos auf Gnadensach[en] deßgl[eichen] auf die Belehnungshandlungfen] eingeschränket, so wie er in politisch[en] u. andern R[eichs]angelegenheiten dem Kaißer mit erfodertem Rath an Hand zugeh[en] hat. Die laufend[en] Reichshofräthlfichen] Prozeßsachfen] werdfen] dem Kfammer]- Austrasien 637 g[ericht] zu dedicir\cn| ausgeliefert, welches sich in betreff derselbfen] nach den Vorschrift[en] der RHRO. zu halten hat. Das Kammergericht bestehet aus 1 Kammerrichter, 8 Präsidenten und 60 assessoren [...]• Zu Bestreitung dieser Besoldung u. anderer Unterhaltungskost[en] des Kammergerichtes sollen jährlfich] 350,000 f. [...] im Reiche ausgeschlagen werden. Auch werdfen] die Kreiße die Transportkostfen] von Wezlar nach Schweinfurth ohne Verzug vorläufig zu gleich[en] Theil[en] unter sich übernehmfen] u. vorschiess[en] [-] Der Kammerrichter ist abwechselnd der katholisch[en] u. evangelisch[en] Religion zugethan. 4 Präsidenten sind kath[olisch] 4 Evangelisch u. die assessor\en ] sind ebenfalls halb kathfolisch], halb Evangelisch. [...] Die ReichskammerGerichts Visitationen werdfen] wider in Gang gebracht u. alle 3 jahre ohne Fehl vorgenomfmen]. Es wird eine neue RKGO. besonders auch in Rüksicht auf die Lehnsprozesse u. andere nach der RHRO biß daher behandelt[e] Sach[en] baldmöglichst entworf[en] u[nd] promulgirt, dabei aber vorzüglich] auf die Abkürzung der Prozesse Rüksicht genommen, damit kein Prozeß mehr über 2. höchstens 3. Jahre daure, wie dann vor allem gerichtlichen] Verfahr]en] das tentamen amicabilis vorangehfen] solle. Die Senate, welche sich durch Abthuung der meistfen] u. schwierigstfen] Prozessfe] in der bestimmt[en] Zeit hervorgethan hab[en], werden öffentlich] belobt u. durch Belohnung aus dem Überschuß der zum Rkg. eingekomme[nen] Gelder ermuntert. Die saumseligefn] Senate erhalten] das 1. mal einen Verweiß, das 2te mal wird jedem Mitglied derselben eine halbjährige Besoldung einbehaltfen], zum 3ten mal aber dieselbige[n] sammt u. sonders entlassen u. andre taugliche] assessores durch die concernirend[en\ Kreise u. Stände gewählt, es wäre dann daß sie sich vor der Visitation hinlänglich] de mora purgirt hätt[en], welches majora visitationis zu entscheid[en] hab[en], [...] (DV 5: ) [VIII. Zölle: ] 1. Keine neue Wasser noch Landzölle 2. Erleichterung der Zollabgaben a. Unterthanen eines Rfeichs]Standes sind in allen deutschfen] Staat[en] desselben zollfrei, wann sie aber ihre HandelsWaarfen] ausser den Staatjen] desselben] führen, so bezalen sie nur einmal den Ausgangszoll davon, ja wenn sie ihre Waarfen] nicht alle ausserhalb absetzfen] so wird ihn[enj pro rata dess[en] was sie davon zurükbring[en] der Zoll zurükbezalt [...] b. wo die Unterthanen verschiedener Staaten durch Verträge oder Herkommen Zollfreiheit in totum vel tantum gegeneinander zu geniessfen] hab[en], da sind die Landesherrn nicht befugt, solche Freiheit geg[en] einander zum Nachtheil der Unterthanen aufzuheb[en]. 638 Hartmut Schmidt c. an allen grossen Flüssen Deutschlands, dem Rhein, Donau, Elb[e], Weser, Oder sollen nur 2 Hauptzölle statt finden, einer nahe an dem Punkt, wo der Fluß schifbar wird oder in Deutschland eintritt, der andere am Ausflusse desselben [...]. Dem Grosfürst[en] v[on] Austrasi[en] u. Kurfürstfen] von der Pfalz auch übrig[en] am Rhein liegend[en] zollberechtigtfen] Ständen wird die Anlegung 2 solcher Hauptzölle [...] von der fränkisch[en] bis zur batavischen Gränze [...] gestattet [...]• Im Schwäbisch[en] Kreiße darf kein R[eichs]stand mehr Zolle am Rhein erheb[en j. [...] f. Das sogenannte geleit u. die Sicherheit auf d[en] Straßfen] ist jeder Staat seiner eigenen Ehre, Nuzzen u. der ihm obliegend[en] Sorge für die Polizei u. Criminaljustiz schuldig, desh[alb] wird dafür weder unter disem noch einem andern Nahmfen] mehr etwas entrichtet. [...] h. Monopolia in Deutschland] zu erteilten] bleib[en] dem Kjaiser] verbotjen]: auch werdfen] sämmtlfiche] R[eichs]glieder dergleichen] so wenig als möglfich] ist erteilen, u. sich auf jede beschwerde ihrer Unterthanfen] darüber vor dem Rkg. stellen u. dessfen] Urt[e]il befolgten]. [...] (DV 6: ) [IX.] Religionswesen: Die schon subsistirende Religionsparität in Deutschland wird mit dem jure eundi in partes bestättiget [...]. Den Rfeichs]ständen kommt das jus reformandi zu: Die herrschende Aufklärung wird hoffentlfich] keinen mehr dahin treibfen], ein[en] Theil seiner Unterthan[en] geg[en] d[en] andern zu drükk[enj, von den dienstfen] des Landes, dessfen] Bürger sie sind, auszuschließ[en], oder gar zum emigrir[en] zu nöthigen. Die mediaten Stifter u. Klöster kann jeder Stand in sfeinem] Landfe] aufheb[en], besonders die katholisch[en] u. die Ordensgeistlfichen] entweder mit Pensionfen] versehen, oder als Pfarrer anstellen, wenn sie dazu taugten]. [...] Jeder Landesherr ist summus episcopus in seinen Staat[en] und wird die nöthige consistoria oder collegia für die verschiedenen Religionen von Leutfen] ihres Glaubens einrichten, auch die nöthige Einrichtung in der Hierarchie trefffen]. [...] 3. Ansätze einer sprachlichen Analyse Neben einer textanalytischen Behandlung scheint die lexikalische Analyse und dabei vor allem die Feststellung wichtiger Formulierungsbausteine von besonderem Interesse zu sein. Aus der Menge lexikalisch aufschlussreicher Einheiten soll hier nur eine Auswahl vorgestellt werden, die sich ganz überwiegend auf die oben wiedergegebenen Teiltexte stützt. Nur in Ausnahmefällen werden zusätzliche Nachweise direkt aus den Handschriften angeführt. Die im Folgenden gebotenen Übersichten geben die Beispiele in orthogra- Austrasien 639 fisch und grammatisch nach Lemmatisierungsprinzipien leicht normalisierter Fassung wieder. Über die Stellenhinweise lassen sich die Originalbelege bequem verifizieren. Unsinnig wäre es, bei einer so schmalen Textbasis auf die Jagd nach Frühbelegen oder solitären Wortverwendungen zu gehen. Stattdessen soll hier auf die hohe Dichte von Bezeichnungen interessanter staatsrechtlicher und politisch relevanter Bezeichnungen hingewiesen werden. Viele der von Kaerner gebrauchten lexikalischen Einheiten und Kombinationen sind uns in ihrer historischen Referenz seit dem Untergang des alten Reichs fremd geworden und doch bezeichnen sie nicht ganz selten politische Relationen, die uns merkwürdig modern anmuten und die heutige Sprache und Denkweise der Politik als Fortsetzung eines recht stabilen Erbes ausweisen. 3.1 Namen von Ländern und Bezeichnungen für Landesherrschaften Die Namenwelt des Textes ist, wie nicht anders zu erwarten, europabezogen. Neben dem Namen des Kontinents selbst, der durchaus schon als politischer Begriff gemeint ist (Europa AS 1; 2), wird die Gruppe der Krieg führenden europäischen Mächte genannt: Dänemark (Dennemark AS 5; PF 4), Deutschland (AS 1; 2; 3 usw.), England (AS 1); Frankreich (AS 2; PF 1; 4), Österreich (AS 1; 2; 3; usw.), Preußen (AS 2; 3; 4; PF 4) und Russland (AS 3), dazu die französisch bestimmten Umgründungen Batavische (PF 4) und Helvetische Republik (PF 3; 4) für die Vereinigten Niederlande und die Schweiz, dazu schließlich auch der Name des von Kaerner propagierten Pufferstaates Austrasien (AS 4; PF 3; 4; DV 5). Außerdem werden viele der deutschen Teilstaaten aufgeführt, darunter vor allem die von Kaerner neu gefasste Gruppe der Kurfürstentümer Kurböhmen, Kurbrandenburg, Kurfranken, Kurhannover, Kurhessen, Kurpfalz und Kurwürtenberg (alle DV 1). Zusätzlich begegnen aber auch noch die bei Kaerner nicht mehr wahlberechtigten, also ihrer Kurwürde entkleideten Fürstentümer Kurbraunschweig (DV 2) und Kursachsen (DV 1). Näher eingegangen sei auf die Namen Austrasien und Deutschland. 3.1.1 Austrasien Um das Interesse Frankreichs am Konstrukt eines Großfürstentums Austrasien zu wecken, entwarf Kaerner eine historische und eine politische Moti- 640 Hartmut Schmidt vation. Die historische zeigt sich in der Namenwahl: Austrasien hieß das Kernland der frühen Frankenkönige zwischen Tournai, Arras und Cambrai im Westen und Köln, Mainz, Trier und Metz im Osten. Das andere alte Teilreich Neustrien mit Paris, Chartres, Orleans (das vorfränkische Königreich des Syagrius) schloss sich im Westen an. Dieses Austrasien der Frankenkönige von Chlodwig bis Pippin aus dem 6. bis 8. Jahrhundert sollte der Namenpate des teilweise gebietsgleichen im Ganzen aber etwas südlicher gelegenen, neuen Zweibrücker Großfürstentums werden. Die politische Begründung ist nicht weniger geschickt: Die von Frankreich bisher angestrebte Rheingrenze sei für Frankreichs Sicherheit weniger günstig als ein Pufferstaat - und den Deutschen am Rhein fehle überdies die nötige Reife zu Staatsbürgern der französischen Republik. Dass Maximilian Joseph, der Herzog von Pfalz-Zweibrücken, gegen die Aussicht, die französische Besatzungsmacht friedlich loszuwerden, (fast) souveräner Großfürst von Austrasien zu sein, gleichzeitig aber als Erbe der Kurpfalz im Besitz der Kurwürde einer der wichtigsten Reichsfürsten zu bleiben, nichts einzuwenden haben werde, durfte der Landschreiber Kaerner voraussetzen. 3.1.2 Deutschland Auf die komplizierte Geschichte der Territorial- und Staatsbezeichnung Deutschland werfen die Texte Kaerners ein bezeichnendes Licht. Hören wir aber zuerst zwei andere Zeitzeugen. Wir wissen schon aus Hegels Verfassungsschrift, die er nach der Besetzung der linksrheinischen Gebiete durch Lrankreich und den darauf folgenden Verhandlungen zwischen Lrankreich und dem Deutschen Reich in Rastatt (November 1797 bis April 1799) schrieb, wie schwer die Inhalte der Namenwörter ‘Deutsches Reich’ und ‘Deutschland’ zu fassen waren und wie mühsam es deshalb oft ist, heute im Einzelfall zu bestimmen, ob auch Österreich jeweils gedanklich eingeschlossen oder ausgegrenzt war. Bei Hegel heißt es z.B.: „Die Verhältnisse Österreichs mit Deutschland schreiben sich aus alten Zeiten her“ (1985, S. 564). Hier sind Deutschland und Österreich als zwar verbundene, aber eher parallele, je für sich und unabhängig bestimmbare Entitäten gedacht. Viel häufiger begegnen bei Hegel allerdings Formulierungen, die Österreich als Teil Deutschlands verstehen und deshalb nicht gesondert erwähnen, z.B.: „Frankreich als Staat und Deutschland als Staat“ (1985, S. 548) oder: „Es haben sich im letzten Kriege vier politische Systeme in Deutschland gezeigt: das Austrasien 641 eine das österreichische, das andere, das kaiserliche, [das dritte] das neutrale, das vierte, das preußische“ (1985, S. 560). Doch auch bei gesonderter Erwähnung kann die Einordnung Österreichs als Teil Deutschlands deutlich bleiben: „Dessenungeachtet bleibt Österreich übermächtig in Deutschland“ (1985, S. 571). Gerade im Rückblick auf die Koalitionskriege gegen Frankreich sieht Hegel also nicht nur Österreich durchaus noch als Teil des Reichs, sondern er gebraucht auch ‘Deutsches Reich’ und ‘Deutschland’ weitgehend synonym: „Sollte das politische Resultat des verderblichen Krieges, den das Deutsche Reich mit Frankreich zu führen hatte, für Deutschland kein anderes sein, als daß einige seiner schönsten Länder [...] ihm entrissen, zur Entschädigung der dadurch verlierenden Fürsten ihre geistlichen Mitstände vernichtet werden [...]? “ (1985, S. 451). Karl Otmar von Aretin betont deshalb mit Recht das Festhalten Hegels am Ordnungssystem und hierarchischen Aufbau des Reichs (Aretin 1997, S. 504 und 623), geht dann aber so weit, zu sagen: „Die Rechtsordnung des Reiches lebte schon in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts nur noch in den Überlegungen seiner Theoretiker“ (Aretin 1997, S. 487). Das ist wohl etwas zu pointiert, denn gerade die deutsch-französischen Kriegszüge der 90er-Jahre zeigten nicht nur die deutschen Einzelstaaten, sondern auch die wichtigste Institution des Reichs, den Reichstag, in lebhafter Aktion, von der Billigung der Kriegssteuern (‘Römermonate’) über die Auswahl der Oberbefehlshaber der Reichstruppen bis zur Vorbereitung der Friedensverträge. Und die Rechtsordnung des Reichs im engeren Sinne, die durch das Reichskammergericht gewährleistet wurde, funktionierte nie so gut wie unmittelbar vor dessen Auflösung: „in den letzten Jahren vor 1806 wurden alle Eingänge aufgearbeitet und jährlich über 100 Urteile verkündet“ (Smend 1965, S. 240). Die Einbeziehung Österreichs in den Gesamtbegriff ‘Deutschland’ ist auch bei Staatsrechtlern der Spätzeit des alten Reichs eben aus rechtlichen Gründen noch selbstverständlich: „nach Verlust des burgundischen Kreises bestehen noch neun Kreise, in welche ganz Teutschland eingetheilt ist, nämlich 1) der kurrheinische, 2) der österreichische, 3) fränkische [...]“ (Gönner 1804, S. 54). Dass auch die Politiker des alten Reichs nach dessen Ende unter neuen Bedingungen im Banne des alten Ländernamens blieben, zeigt die Präambel der Bundesakte vom 8. Juni 1818: „Die souverainen Fürsten und freien Städte Teutschlands [...] sind übereingekommen, sich zu einem beständigen Bunde zu vereinigen“ (Klüber 1830, S. 142). Auch die Präzisierung der Bundesakte durch die Wiener Schluss-Akte vom 15. Mai 1820 bleibt bei der alten Terminologie, 642 Hartmut Schmidt inzwischen in der modernen Schreibweise: „Die souverainen Fürsten und freien Städte Deutschlands, [...] überzeugt, daß sie, um das Band, welches das gesammte Deutschland in Friede und Eintracht verbindet, unauflöslich zu befestigen, nicht länger anstehen durften [...]“ (ebd., S. 188). Bei Kaerner nun begegnen (1) in Übereinstimmung mit dem Wortgebrauch seiner Zeit Formulierungen, in denen Deutschland als Ganzes unter Einschluss Österreichs gemeint ist: „Die Republik Frankreich [...] muß f...J die Völker Deutschlands glüklicher durch bessere Verfassungen zu machen suchen“ (AS 2); „das Stück Deutschlands welches [unter Einschluss der österreichischen Niederlande] von der Gränze des Elsasses an biß an die Batavische Gränze an dem linken Ufer des Rheines liegt“ (PF 1); „In ganz Deutschland wird [...] nur 1. Tribunal bleiben, nemlich das Reichskammergericht [...]. Der Reichshofrath [in Wien] hat sich aller Erkenntnisse in Prozeßsach[en] zu enthalten] (DV 4). Es gibt (2) eine ganze Anzahl von Formulierungen, die den scharfen Interessenkonflikt der Einzelstaaten innerhalb Deutschlands ansprechen: „Meines Erachtens ist bei diesem Frieden dahin zu sehen [...] daß das Haus Österreich gedemüthiget [...], sein Einfluß in Deutschland [...] geschwächt [...], besonders [...] das Hauß Preussen möglichst arrondirt und verstärkt werde, um nicht bloß in Deutschland gegen Österreich, sondern auch im Norden [...] gegen Rußland und Österreich das Gegengewicht zu machen“ (AS 3). Schon dieser Beleg zeigt, dass Österreich und Preußen als Konkurrenzmächte sowohl innerhalb wie außerhalb Deutschlands gesehen wurden. Diese Sicht konnte wiederum in Übereinstimmung mit der Sprache der Zeit bis zu Formulierungen führen, die (3) Deutschland und Österreich als unvereinte, getrennte Mächte sehen: „die fürchterliche Koalition [sei jetzt] so zertrümmert, daß nur noch Österreich und ein kleiner Theil von Deutschland nebst England die Waffen gegen die Republik gebrauchen“ (AS 1) oder „Austrasien [...] zwischen sich [Frankreich], Deutschland, Österreich und Preussen“ (AS 4). Der letzte Beleg zeigt wie schon andere weiter oben dass die Einbeziehung Preußens in den Begriff ‘Deutschland’ ganz ähnliche, sachliche und semantische Probleme aufweist. Australien 643 3.1.3 Bezeichnungen für Organisationsformen und Träger von Landesherrschaften Die Mehrzahl der in Kaerners Texten begegnenden Herrschaftsbezeichnungen zeigt keine semantischen Schwierigkeiten. Der Reihe der Landesherren gelten in den zitierten Textausschnitten die Beziehungen Fürst (AS 4; AS 5; DV 1 u.ö.), Großfürst (PF 3; DV 5); Fierzog (AS 4; PF 3; DV 2), Kurfürst (AS 4; PF 4, DV 1 u.ö.), König (Überschrift 2.2; PF 2) und Kaiser (DV 1; DV 4; DV 5). Dabei kann vor allem der Titel Fürst Individualbezeichnung sein {dem Fürsten von Oranien, s. Überschrift 2.2) oder generalisierend auf Gruppen deutscher Landesherren bezogen werden (die Landeshoheit der weltlichen Fürsten und Stände, AS 5). Deshalb tritt gerade Fürst auch mit determinierenden Zusätzen auf: Erbfürst (AS 5; 6), Reichsfürst (AS 5; 6), Wahlfürst (AS 6). Weitere Bezeichnungen bieten insbesondere die hier nicht wiedergegebenen Entschädigungslisten. Nur vereinzelt begegnet Landesherr als Oberbegriff aller Territorialherren: Jeder Landesherr ist summus episcopus (DV 5; vgl. DV 6). Neben die Personentitel treten die Bezeichnungen institutionell gefasster Träger der Territorialrechte: Stand {die [...] durch den Verlust ihrer Lande am linken Rheinufer geschmälerte Stände des Reichs, PF 1; vgl. AS 5; PF 4; DV 6); Reichsstand {Unterthanen eines Reichsstandes, DV 5; vgl. AS 6; PF 4; DV 6) und unter dem Aspekt der Mitwirkung aller reichsunmittelbaren Territorialherren an den Reichsgeschäften vereinzelt: Reichsglied {sämmtliche Reichsglieder DV 5). Etwas interessanter ist die Palette der Bezeichnungen für Staatsformen und feudale Herrschaften. Frankreich erscheint meist als Fränkische Republik (AS 3; PF 1 u.ö.), seltener als Republik Frankreich (AS 2), relativ oft aber prägnant als die Republik (z.B.: die Freundschafl der Republik, AS 5; das Hauß Preußen [...] als natürlicher Verbündeter der Republik, AS 3; die Waffen gegen die Republik gebrauchen, AS 1). Die übrigen Republiken erhalten immer differenzierende Zusätze: Batavische Republik (PF, Überschrift 2.2), Helvetische Republik (ebd.). An die Stelle der Republik kann auch die Nation treten, prägnant: ehrenvoll für die Nation (AS 3), aber auch: fränkische Nation (AS I) und im seltenen Austausch für fränkisch -.französische Nation (AS 1). Auf der anderen Seite gelten die Gliederungen der Feudalordnung: Das deutsche Reich (AS 2; 4; PF 1; DV 1), seltener prägnant das Reich {den [...] Ständen des Reiches, PF 1), gliedert sich unter territorialen 644 Hartmut Schmidt Aspekten in eine Vielzahl geistlicher und weltlicher Herrschaften, die in den Entschädigungslisten als Kurfürstentümer (in der Regel präzise als Kurböhmen, Kurfranken, Kurhessen usw.), Fürstentümer, Herzogtümer, Grafschaften, Bistümer, Reichsstifte usw. aufgeführt werden. Dazu parallel gliedert sich das Feudalsystem sozusagen familiär in die Häuser der Herrschenden: das Hauß Österreich (AS 3; 2; 4), das Hauß Preussen (AS 3) oder die fürstliche Häußer von Sachsen, Wolfenbüttel, Darmstadt, Münster, Baden und Oranien (PF 4). Hier werden allerdings generell nicht die genealogischen Familien der Habsburger, Hohenzollern usw. genannt, sondern Ländernamen (und Städtenamen in der Funktion von Ländernamen). Rein rechtlichen Charakter haben Bezeichnungen wie Erbstaat {die österreichische Erbstaaten, AS Hs. Bl. 19) oder Wahlreich {Deutschland bleibt ein Wahlreich, DV 1). Ein Terminus der Militär- und Justizverwaltung schon des alten Reichs ist der Kreis {das deutsche Reich bestehet künftig aus 7. Kreißen, DV 2; vgl. PF 1; Auch werden die Kreiße die Transportkosten [des Reichskammergerichts] von Wezlar nach Schweinfurt [...] übernehmen, DV 4). Auch der im späten 19. und im 20. Jahrhundert wiederbelebte Terminus Reichslande begegnet in Kaemers 'Plan des Friedens’ (PF 1; 3). Interessant wird es beim Staats- und Volksbegriff. Wir finden nebeneinander: das deutsche Volk (AS 3; 6) bzw. den Dank des deutschen Volkes (AS 6) und die Völker Deutschlands (AS 2) und dürfen daraus wohl ableiten, dass eine Hypostasierung der Einheitsidee rechtsrheinisch noch nicht vollzogen war. Dasselbe gilt für den Staatsbegriff, der sich noch keineswegs auf das ‘Reich’ bezieht, sondern auf seine Glieder: in den Staaten der deutschen katholischen Geistlichen Reichsstände (AS 5); die Sicherheit auf den Straßen ist jeder [deutsche] Staat seiner eigenen Ehre [...] schuldig (DV 5). Und auch der einzelne ‘Reichsstand’ herrscht nicht über einen Staat, sondern über ein Mehrfaches: Jeder Landesherr ist summus episcopus in seinen Staaten (DV 6). Derartiger pluralischer Gebrauch möglicherweise eine Nachwirkung des Zusammenhangs der Wortgeschichte mit der älteren Entwicklung im Niederländischen ist im DWB (X, II, 1 [1919] 282, vgl. 279) für Schiller, Adelung und Campe bezeugt. Staatsrechtlich war die Rede vom Staat oder den Staaten des Deutschen Reichs in Kaerners Zeit widersprüchlich, und zwar so sehr, dass wir bei ein- und demselben Staatsrechtler einander widersprechende Auskünfte erhalten: Teutschland als ein aus mehreren Staaten zusammengesetzter Körper (Gönner 1804, S. 4) und: So verschieden auch die Theile des teutschen Staatskörpers [...] Australien 645 sind, so beweisen doch überwiegende Gründe, dass Teutschland rechtlich ein Staat, kein System föderirter Staaten sei (ebd., S. 94). 3.2 Alte und neue Formulierungen für öffentliche Angelegenheiten 3.2.1 Personenbezeichnungen Zunächst das einfachere Problem: Der Blick auf die politisch Handelnden lässt neben den schon erwähnten verschiedenen Gruppen der Landesherren, ihren Reichsämtem (s. DV 1) und den höheren militärischen Funktionen (die allerdings vor allem in den hier nicht wiedergegebenen Texten zur Militärreform in DV behandelt sind) nur wenige andere Amtsträger erkennen: Gesandte (PF 4), den Hauptheerführer (PF 3) oder den Reichspfenningmeister (DV 3) und die Vertreter der Justiz: Kammerrichter, Präsidenten, Assessoren (DV 4). Der vor allem in ihren Spitzen doch reich differenzierten Gruppe der Herrschaftsträger steht die im Ganzen eher selten erwähnte Masse der Beherrschten gegenüber: Bürger (DV 6), Einwohner (PF 2), Leute (DV 6) und am häufigsten genannt - Untertanen (AS 6; DV 5; 6), oder nach der Einziehung zum Militär - Mann zu Fuß (PF 4) bzw. Reiter (PF 4). Dieses ungleichmäßige Vorkommen differenzierter Bezeichnungen erklärt sich leicht aus der Anlage der Texte: Bei der Darstellung von Pflichten und Rechten der Staatsverwaltung bleibt der Blick auf den Bürger in den Entwürfen von Verfassung und Friedensvertrag unspezifisch und erschöpft sich in der Regel in allgemeinen Aussagen. 3.2.2 Kollokationen Interessanter ist die Ausbildung formelhafter Ausdrücke staatlichen Handelns. Sie gehören zum öffentlichen Sprachgebrauch und sind zwar teilweise eng an die gegebenen autoritären Ordnungsverhältnisse gebunden, bilden im Ganzen aber doch eine wichtige Grundlage auch für die neuere Entwicklung des öffentlichen Redens über öffentliche Angelegenheiten, in denen der Staatsbürger keine bloße Verhandlungsmasse mehr ist. Die Lektüre der oben wiedergegebenen Texte führt beim heutigen Leser sehr wahrscheinlich zu komplexen Urteilen, in denen orthografische, lexikalische, formengrammatische und syntaktische Besonderheiten dieser Texte als zwar noch verständlich, aber in vieler Hinsicht altertümlich bewertet werden (orthografische 646 Hartmut Schmidt Besonderheiten werden auch im Folgenden allerdings vorsichtig normalisiert, die Originalschreibweisen lassen sich über die Stellenangaben leicht feststellen). Zerlegt man die Texte in ihre Textbausteine, knapp gefasste Kollokationen, und nennt zuerst Substantivgruppen, so fallen naturgemäß zahlreiche Formulierungen auf, die unserer Gegenwartssprache aus sprachlichen, aber auch aus sachlichen Gründen fremd geworden sind oder die heute nur in neueren Varianten begegnen. So sprechen wir nicht mehr von Hebung der Anstände (PF 4), Beschwerden der Untertanen (DV 5), Oberherrlichkeit von Austrasien (PF 3), sukzessionsfähigen Leibeserben (PF 3), mitpazifizierenden Mächten (PF 4); widerspenstigen Reichsständen (PF 3) oder den Völkern Deutschlands (AS 2). Eine Formulierung wie standesgemäße Nachkommenschaft (PF 3) schiene zwar noch möglich, wenn in der einschlägigen Presse über Fürstenhäuser berichtet wird, würde aber bei der Mehrzahl der Leser als Ironiesignal verstanden. Der Verlust ihrer Lande (PF 1) wäre verkehrssprachlich nur durch die Korrektur Länder zu normalisieren und das allgemeine Beste der Menschheit (AS 2) müsste durch das ebenfalls schon bezeugte allgemeine Wohl ersetzt werden. Brunner/ Conze/ Koselleck erwähnen die um die Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzende Sattelzeit, die sprachlich auf janusköpfige Weise mit ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft verbunden sei (Bd. 1, 1972, S. XV). Auch wenn eine solche Charakterisierung mehr oder weniger auf jede irgendwie ‘mittlere’ Epoche zutrifft, soll hier noch einmal auf das bis heute bewahrte sprachliche Erbe des späten 18. Jahrhunderts aufmerksam gemacht werden, ein Erbe, das sich nicht nur in der literarischen Hochsprache der klassischen Periode, sondern auch in der Sprache der Politik, der Verwaltung, der Wirtschaft und sogar der Justiz zeigt. Beispiele aus den Texten Kaerners sind leicht zu finden. Genannt seien, wenn auch ohne Rücksicht auf einige leichte semantische Verschiebungen, der Dank des deutschen Volkes (AS 6), ganz Deutschland (DV 4), Garanten des Friedens (PF 4), Geist der Zeiten (PF 1), eingekommene Gelder (DV 4), politische Geschäfte (PF 3), höchste Instanz (PF 4), blühendes Land (AS 6), laufende Prozesssachen (PF 1), Rechte und Ansprüche (PF 1), politische [Reichs-]Angelegenheiten (DV 4), Sicherheit auf den Straßen (DV 5), Sorge für die Polizei (DV 5), die Stimmung der Völker (AS 6), das allgemeine Wohl (PF 1), natürlicher Verbündeter (AS 3), gerichtliches Verfahren (DV 4), errungene Vorteile (AS 2), Vorteile für die Zukunft (AS 6). Unter diesen Kollokationen sind einige alt bezeugte und mit Hilfe des DWB unter den entsprechenden Stichwörtern in Artikeln unterschiedlicher Qualität auch als Austrasien 647 alt nachweisbare, so das allgemeine Wohl (schon bei Albrecht von Haller), ganz Deutschland (die Rede von ganz Israel, dem ganzen Land, der ganzen Erde, der ganzen Welt ist durch die Lutherbibel populär geworden), Geist der Zeiten (Herder) oder gerichtliches Verfahren (z.B. bei Wieland). Die Mehrzahl der aufgeführten Formeln lässt sich allerdings mit FWB und DWB (Erstausgabe und Neubearbeitung) bisher nicht vor Kaemer nachweisen. Dabei ist zu bedenken, dass die historische Darstellung von Wortgruppen im DWB zwar vielfach geleistet wird, aber als Regelleistung nicht erwartet werden darf. Wir wissen also nicht, wie es um die historische Ableitung von Formeln wie blühendes Land, natürlicher Verbündeter, politische Angelegenheiten oder Sicherheit auf den Straßen vor Kaerner steht. Es ist eben nicht nur die Sprache der 1848er, die gewiss wichtige Sprache der erwachenden deutschen Demokratie, die noch unser heutiges Reden und Schreiben über öffentliche Angelegenheiten prägt. Es sind vielmehr in ganz erheblichem Umfang auch die Formulierungstraditionen des 1806 unter dem Druck Napoleons durch Kaiser Franz II. aufgelösten alten Reichs, die sich bis in den Sprachgebrauch seiner heutigen Nachfolgestaaten hinein fortsetzen. Namen, Bezeichnungen und in gewissem Umfang auch die Gebrauchsregeln grammatischer Strukturen ändern sich spürbar im Verlauf weniger Generationen. Trotzdem sichern die verbleibenden in der Regel großen - Übereinstimmungen über Generationsgrenzen und wechselnde politische Systeme hinweg zumindest Grundanforderungen an die Verständlichkeit der Texte und an die Stabilität unseres Sprachgebrauchs. Traditionen des Formulierens fördern die Bereitschaft, das sprachlich gefasste politische Erbe der Vorgängergenerationen zu verstehen und zu befragen, es zu bewerten, zu übernehmen oder zu verwerfen. Unter den tradierten Kollokationen sind verbale Fügungen besonders wichtig. Auch hier sei zunächst auf einige heute (teilweise erst im 20. Jahrhundert) ungebräuchlich gewordene Formulierungen hingewiesen (einfache -nng-Bildungen, wie Abkürzung der Prozesse, sind hier in der Regel in Infinitivkonstruktionen, wie Prozesse abkürzen, transformiert): Prozesse abtun (DV 4); Hauptzölle anlegen (DV 5); jmdn von den Diensten seines Landes ausschließen (DV 6); Römermonate [‘Kriegssteuern’] ausschreiben, erlegen, hinterlegen (DV 3); Elend und Drangsal ausstehen (PF 2); einen Teil der Untertanen gegen den anderen drücken (DV 6); das deutsche Volk drücken 648 Hartmut Schmidt (AS 6); sich der Erkenntnisse [‘Rechtsentscheidungen’] enthalten (DV 4); der Regierung entsagen (PF 3); Handelswaren außer den Staaten führen [‘exportieren’] (DV 5); gegen Österreich das Gegengewicht machen (AS 3); [mit Truppen] ins Feld rücken (PF 4); die Stände des Reichs schmälern (PF 1); sich aufjede Beschwerde [vor Gericht] stellen (DV 5); dem Blutvergießen ein Ziel stellen (AS 2); die Reichsunmittelbarkeit verlieren (AS 5); die Krönung verrichten (DV 1); Anmaßungen widerstehen (AS 5) usw. Beeindruckender sind auch hier die so massiv nicht erwarteten Zeugnisse der Kontinuität des Sprachgebrauchs. Dazu gehören Kollokationen wie: Prozesse abkürzen (DV 4); Waren außerhalb [eines Landes] absetzen (DV 5); ein Gebiet abtreten (PF 1); Geistliche als Pfarrer anstellen (DV 6); laufende Ausgaben bestreiten (DV 2); Entschädigung bezahlen (PF 1); die Besoldung einbehalten (DV 4); [sich] ganz Deutschland einverleiben (AS 6); Mitglieder [eines Gerichts] entlassen (DV 4); Streitigkeiten entscheiden (PF 4); einen Verweis erhalten (DV 4); Zölle erheben (DV 5); einen Beitrag erhöhen (DV 3); Zollabgaben erleichtern (DV 5); Verlust erleiden (PF 2); Vorteile erringen (AS 2); Zutrauen erwerben (AS 6); Zollfreiheit genießen (DV 5) [seinen Nachfolgern] ein blühendes Land hinterlassen (AS 6); in einem Freistaat leben (AS 6); Völker glücklich machen (AS 2); die Regierung niederlegen (AS 4); auf den Dank des deutschen Volkes rechnen (AS 6); den Einfluss [eines Landes] in Deutschland schwächen (AS 3); Bürger eines Landes sein (DV 6); für die Zukunft sicherer sein (AS 4); zollfrei sein (DV 5); die Transportkosten übernehmen, vorschießen (DV 4); sich gegen jemanden verbünden (AS 1); Besitzungen und Rechte verlieren (PF 3); die Saar [als Grenze] verteidigen (AS 4); sich einem Gegner widersetzen (AS 1); den Zoll zurückbezahlen (DV 5). Auch hier wissen wir nach der Beleglage in FWB und DWB bisher nicht, ob sich für Kaemersche Formulierungen wie Prozesse abkürzen, Waren absetzen, ein Gebiet abtreten, laufende Ausgaben bestreiten, einen Verweis erhalten, einen Beitrag erhöhen oder die Transportkosten übernehmen eine wesentlich ältere Gebrauchstradition nachweisen lässt. Ohne Rücksicht auf einige heute ungewöhnliche Fncdms-Komposita sei noch der politisch interessante Vorrat an FriedensWorme 1 n geschlossen vorgeführt: authentische Auslegung der Friedenspunkte', einen Reichsstand zur Befolgung der Friedenspunkte zwingen', über die genaue Erfüllung der Friedensbedingnisse wachem, eine Friedensexekutionsarmee parat halten', bei Austrasien 649 Vollziehung des Friedens (alles PF 4); bei Schließung des Friedens (AS 6); etwas gegen diesen Frieden vornehmen (AS 5); einem Land die Friedensbedingungen vorschreiben (AS 2). 3.2.3 Fremdwortgebrauch In Texten eines Juristen des alten Reichs darf eine Fülle inzwischen unverständlicher Fremdwörter erwartet werden, deshalb sei auch der Fremdwortgebrauch Kaerners kurz skizziert. Dem heutigen Leser (und den nichtjuristischen Zeitgenossen des Autors) fremd sind lateinische Wortgrappen wie de mora ‘über die [Gründe der] Verzögerung’ (DV 4); in causis appellationis mediatorum ‘in Appellationsprozessen der nicht reichsunmittelbaren Stände’ (DV 4); in toturn vel tantum ‘für das Ganze oder einen Teil’ (DV 5); ins eundi in partes [sonst: itio in partes] ‘das Recht, sich [als katholische oder evangelische Reichsstände] nicht überstimmen zu lassen’ (DV 6); ius reformandi ‘das Recht, [die Landeskirche] zu reformieren’ (DV 6); maiora visitationis ‘die Mehrheit der Visitationskommission’ (DV 4); per maiora ‘durch Mehrheit [der Stimmen]’ (DV 1); pro rata ‘für die Anteile’ (DV 5); summus episcopus ‘oberster Bischof (DV 6); tentamen amicabilis ‘Aussöhnungsversuch [der Rechtsparteien]’ (DV 4). Derartige lateinische Einsprengsel sind bei Kaerner vor allem durch den Zwang zu eindeutigen, rechtsverbindlichen Aussagen motiviert, aber sie haben wohl auch eine ornamentale Funktion. Unter den übrigen Fremdwörtern fallen relativ wenige mit fremden Flexionsmorphemen auf, lateinische: consistoria oder collegia (DV 6); im collegia (DV 1); monita (DV 1); monopolia (DV 5); unanimia (DV 1) und französische: livres (PF 2); souverainete (PF 1); particuliers (PF 2). Der Anteil sonstiger schwerer verständlicher Fremdwörter dürfte kaum höher sein als in heutigen Fachtexten, z.B. die Verben concerniren ‘betreffen’ (DV 4); placitiren ‘genehmigen’ (DV 1); promulgiren ‘verkünden’ (DV 4); reuniren ‘wieder vereinigen’ (PF 1); subsistiren ‘bestehen, fortdauem’ (DVG) oder das Adjektiv rnediat ‘nicht reichsunmittelbar’ (DVG) und das ursprünglich deutsche, aber latinisierte Rechtswort Austrägal(instanz) ‘Schlichtungsinstanz’ (DV 4). Wiederum bedeutsamer als diese Gruppe erscheint die große Zahl überwiegend leicht verständlicher Fremdwörter, die eine stabile deutsche Gebrauchs- 650 Hartmut Schmidt tradition aufweisen, so die Verben: arrondiren (AS 3); dediziren (DV 4); dirigiren (DV 2); disponiren (PF 3); emigriren (DV 2); existiren (AS 3); operiren (PF 4); pazifiziren (PF 4); proportioniren (PF 4); säkularisieren (AS 5); die Adjektive authentisch (PF 4); demokratisch (AS 6); enorm (PF 4); reell (AS 6); respektabel (DV 3) und Substantive wie Armee (AS 1); Assessor (DV 4); Energie (AS 1); Garant (PF 4); Instanz (DV 4); Transportkosten) (DV 4) oder Tribunal (DV 4). Unter den Substantiven fällt die starke Vertretung von lateinisch-romanischen Bildungen auf -um auf: Diversion (AS 1); Exekutionskongress, Friedensexekutionsarmee (PF 4); Kapitulation, Wahlkapitulation (DV 1); Koalition (AS 1); Operation (AS 2); Proposition (DV 1); Relation, Korrelation (DV 1); Sukzession (PF 3); Visitation (DV 4). Dank der Leistung des DFWB ist die Geschichte der geläufigen Fremdwörter im Allgemeinen heute recht gut fassbar. Unter den hier genannten Fremdwörtern Kaemers sind im DFWB nicht oder noch nicht behandelt die Verben arrondiren, concerniren, emigriren ( 2 DWB bezeugt es im Deutschen seit 1633), placetiren/ placitiren und reuniren; für operiren sind nur medizinische Belege genannt. Auch das Adjektiv mediat und die Substantive Garant und Korrelation sind im DFWB noch nicht behandelt, auch nicht die semantisch bis heute interessante Friedensexekutionsarmee. Aber auch für mehrere gut erarbeitete Wortgeschichten bietet Kaerners Sprachgebrauch zusätzliche anregende Varianten. 3. Schlussbemerkung Auch wenn die Texte Kaerners hier nicht vollständig angeführt und ausgewertet werden konnten, mahnen sie uns zunächst einmal, Untersuchungen zur Ausprägung des Sprechens über öffentliche Angelegenheiten nicht auf das 19. und 20. Jahrhundert zu beschränken. Dabei sollten uns nicht nur Begriffsuntersuchungen interessieren, wie sie bei Brunner/ Conze/ Koselleck mit weiter historischer Perspektive und wichtigen Ergebnissen durchgeführt worden sind, und auch nicht nur die Entwicklungen der Verkehrs- und literatursprachlichen Geltung der lexikalischen Elemente unseres Wortschatzes, wie sie in unseren großen und grundlegenden historischen Wörterbüchern dargestellt werden. Es geht vielmehr um klarere Einsichten in die Traditionen des Formulierens, um den Status, den formelhafte Wortkomplexe und ihre Variationen im Gebrauch der Sprache und in der historischen Ausbil- Austrasien 651 dung dieses Gebrauchs haben. Denn Sätze und Texte sind großenteils nicht auf einfache Weise aus einzelnen Lexemen nach grammatischen Regeln gebildet. In seinen Textzusammenhängen und mit seinen lexikalischen Partnern gelangt das Wort zur Geltung. In tradierten Wortgruppen lebt es in bemerkenswerter Weise auch im Sprachgedächtnis des Sprechers und der Sprachgemeinschaft und wird auch so zum Gegenstand der Sprachgeschichte. Und zur Sache: Kaerner hat Austrasien nicht durchsetzen können. Auch Kaerners Vorschlag einer Verfassung Deutschlands, einer Neuordnung der Rechtsverhältnisse, des Militärwesens und der Zölle kam zu früh. Aber die Idee, die deutschen Fürsten für ihre linksrheinischen Verluste durch die Säkularisierung des Besitzes ihrer geistlichen Brüder zu entschädigen und die Versorgung der Verlierer durch Ausgleichszahlungen zu sichern, wurde im Reichsdeputationshauptschluss von 1803 Realität. Nur stand Kaerner mit diesem Vorschlag in den 90-er Jahren längst nicht allein (über frühe Säkularisationspläne deutscher Staaten, insbesondere Preußens, in diesem Jahrzehnt s. Aretin 1997, S. 407ff., 447ff., 454ff., 465f., 484). Deshalb wissen wir nicht, ob auch sein Anstoß und der Hof von Pfalz-Zweibrücken bei den frühen Verhandlungen über die Enteignung der geistlichen Landesherren eine Rolle spielten. Dass die Zweibrücker mit Paris geheime Verhandlungen führten, ist bezeugt. Der österreichische General Wurmser fand 1795 nach dem Einmarsch in Mannheim entsprechende Unterlagen, verhaftete einen pfalzbayerischen und einen Zweibrücker Minister und erpresste von der Stadt Mannheim eine Brandschatzung von 400 000 Gulden. Der Protest des Zweibrücker Herzogs vor dem Reichstag wurde von niemandem unterstützt (Aretin 1997, S. 448). 1799 aber wurde der Zweibrücker Herzog Maximilian Joseph als Nachfolger Carl Theodors Kurfürst von Bayern und gehörte mit dieser Würde zu den wenigen deutschen Fürsten, die den Reichsdeputationshauptschluss von 1803 unter Federführung der Franzosen ausarbeiteten. 1806 wurde er mit Napoleons Hilfe erster König von Bayern. Was uns von Kaerner bleibt, sind seine Texte. 652 Hartmut Schmidt 4. Literatur Allgemeine deutsche Biographie. Hrsg, durch die historische Commission bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften. Leipzig 1875-1912. 56 Bde. [= ADB], Aretin, Karl Otmar v. (1997): Das Alte Reich 1648-1806. Bd. 3: Das Reich und der österreichisch-preußische Dualismus (1745-1806). Stuttgart. Brunner, Otto/ Conze, Werner/ Koselleck, Reinhart (Hg.) (1972-1997): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 7 Bde. u. Registerbde. Stuttgart. Deutsches Fremdwörterbuch. Begonnen von Hans Schulz (A - K), fortgeführt von Otto Basler (L - Q), weitergeführt im Institut für Deutsche Sprache (R - Z). Straßburg (ab Bd. 2: Berlin) 1913-83. 6 Bde. Dass. 2. Aufl., völlig neu bearb. im Institut für Deutsche Sprache. Bd. Iff. Berlin/ New York. 1995ff. [= DFWB], Grimm, Jacob/ Grimm, Wilhelm (1854-1971): Deutsches Wörterbuch. 32 Bde. u. Quellenverzeichnis. Leipzig. [= DWB]. Grimm, Jacob/ Grimm, Wilhelm (1983ff.): Deutsches Wörterbuch. Neubearbeitung. Bd. Iff.: Leipzig (später Stuttgart). [= 2 DWB]. Frühneuhochdeutsches Wörterbuch (1989ff.): Hrsg. v. Robert R. Anderson, Ulrich Goebel, Oskar Reichmann. Bd. Iff. Berlin/ New York. [= FWB]. Gönner, Nicolaus Thäddäus (1804): Teutsches Staatsrecht. Landshut. Grünert, Horst (1974): Sprache und Politik. Untersuchungen zum Sprachgebrauch der ‘Paulskirche’. Berlin/ New York. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1985): Die Verfassung Deutschlands (1800-1802). In: Ders.: Werke 1. Frühe Schriften. 20. Tsd. Frankfurt. (= Theorie Werkausgabe). S. 449-610. Huber, Ernst Rudolf (Hg.) (1978): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. Bd. 1: Deutsche Verfassungsdokumente 1803-1850. 3., neu bearb. u. verm. Aufl. Berlin/ Köln/ Mainz. Klüber, Johann Ludwig (Hg.) (1830): Quellen-Sammlung zu dem Oeffentlichen Recht des Teutschen Bundes. Erlangen. [Fotomech. Neudruck Leipzig 1970]. Sheehan, James J. (1994): Der Ausklang des alten Reiches. Ins Deutsche übertragen v. Karl Heinz Siber. Berlin. (= Propyläen Geschichte Deutschland 6). Smend, Rudolf (1911): Das Reichskammergericht. Geschichte und Verfassung. Weimar. [Neudruck Aalen 1965]. Wagner, Wolfgang (Hg.) (1968): Das Staatsrecht des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Eine Darstellung der Reichsverfassung gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Mit e. Vorw. v. Hermann Conrad. Karlsruhe. Rainer Wimmer Noch mal zu „Leitkultur“ 1. Einleitende Bemerkungen Weshalb ich „Leitkultur“ im Titel dieses Beitrags in Anführungszeichen gesetzt habe, hat damit zu tun, dass ich hier nichts über die Leitkultur bestimmter politischer Richtungen oder gar Parteien sagen möchte, sondern etwas über den Ausdruck „Leitkultur“. Es soll nicht über Bekenntnisse oder Ablehnungen von politischen Ideologien gehen, sondern um bestimmte Gebrauchsweisen eines Ausdrucks, der zeitweise (2000 bis 2001) eine gewisse Karriere gemacht hat. „Karriere“ heißt in diesem Zusammenhang, dass ein Ausdruck eben dieser Ausdruck „Leitkultur“ in der öffentlich-politischen Diskussion eine auch medienwirksame Rolle gespielt hat bzw. spielt und extensiv in Gebrauch gekommen ist. Es geht aber nicht um die quantitative Auffälligkeit des Ausdrucks in politischen Diskussionen und den Medien, sondern um die konzeptionellen Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit „Leitkultur“, d.h. um den Streit um die Bedeutung des Ausdrucks. An diesem Streit sind viele beteiligt, die Wesentliches dazu gesagt haben und noch sagen werden. Sprachwissenschaftler können zu der öffentlichen Debatte vielleicht nur wenig beitragen, was die politischen Protagonisten interessiert. Aber sie können aus ihrer Sicht etwas zu den Kommunikationsereignissen sagen, die den Gebrauch und damit: die Bedeutung des Ausdrucks „Leitkultur“ prägen; sie können den Sprachgebrauch analysieren und (in Teilen) beschreiben; und die Beschreibungen mögen dann auch öffentlichen Akteuren etwas sagen können über das, was sie tun, wenn sie den Ausdruck „Leitkultur“ im Munde führen. So verstehe ich die Aufgabe der linguistisch begründeten Sprachkritik: dass auf der Basis von linguistischen Analysemethoden und Beschreibungsmustem Stellungnahmen abgegeben werden zu konfliktären Sprachverwendungen. Dabei ist zu bedenken: Wenn in der Gesellschaft über Sprache gestritten wird, geht es für die Streitenden in den allermeisten Fällen nicht um die spezifisch sprachlichen Phänomene, ganz im Gegenteil: es geht (weitestens formuliert) um Inhalte, meistens um 654 Rainer Wimmer soziale Geltung und im öffentlichen Bereich um politische Macht. Das Sprachliche ist hier nur Medium. Das Medium bleibt meistens unreflektiert. Aufgabe der linguistisch begründeten Sprachkritik aber ist die Reflexion des Mediums Sprache. Nun ist zu dem Zeitpunkt, zu dem ich diesen Artikel schreibe (Mitte 2001), die oben angedeutete „Konjunktur“ der politischen Auseinandersetzung um das Konzept „Leitkultur“ schon wieder abgeflaut, und man kann zurecht fragen: Was soll jetzt noch ein sprachkritischer Nachschlag? Die Antwort ist: Die Leitkultur-Diskussion ist ein Musterbeispiel dafür, wie sich Politiker heute in einer Schlagwort-Debatte verfangen, wie sie sich geradezu in einer Schlagwort-Falle befinden, die durch die medial-öffentliche Kommunikationssituation produziert ist. Es handelt sich also um einen exemplarischen Fall, zu dessen Analyse Sprachwissenschaftler etwas beitragen können. Es ist natürlich auch nicht ausgemacht, dass die „Leitkultur“-Debatte nicht noch einmal „aufflammt“, je nach dem, welche Themen, Einstellungen und politischen Überzeugungen die (Wahlkampf-)Auseinandersetzungen der kommenden Jahre nach oben befördern. (Wenn ich hier metaphorische Ausdrücke wie „nach oben befördern“, „Karriere“, „Konjunktur“, „abflauen“, „aufflammen“ in Bezug auf sprachliche Phänomene verwende, so soll damit lediglich verkürzend angedeutet sein, dass wir es mit nicht-prognostizierbaren evolutionären Prozessen zu tun haben, die man auch weniger metaphorisch kennzeichnen könnte. Nur: das würde sehr viel mehr Aufwand erfordern.) 2. Die Schlagwortfalle für Politiker Worin besteht die Schlagwort-Falle, in der sich Politiker befinden, wenn sie sich des Ausdrucks „Leitkultur“ für ihre politische Arbeit in der Öffentlichkeit bedienen? Aus linguistischer Sicht können hier u.a. die folgenden Aspekte der Sprachkommunikation in den Blick genommen werden: 1) Der Schlagwortbegriff. Wie funktioniert ein Schlagwort in der Kommunikation? Welche typischen Merkmale eines Schlagworts zeigen sich in der öffentlich-politischen Verwendung des Ausdrucks „Leitkultur“? Noch mal zu „Leitkultur' 655 2) Welches sind die pragmatischen Bedingungen (u.a.: Rollen der Handlungsbeteiligten) bei der Verwendung des Schlagworts in den öffentlichen politischen Debatten? 3) Die Adressaten. Welche Rolle spielen die Adressaten in der politischen Schlagwort-Debatte? Welche Rolle spielt das sog. Wahlvolk? Was ist ein Schlagwort? Ob ein Wort ein Schlagwort ist, zeigt sich in seinem Gebrauch, das heißt: in seiner Bedeutung. Der Gebrauch (die Bedeutung) eines Schlagworts wird gemeinhin als vage, unbestimmt und schlechtbestimmt angesehen. Das heißt, man kann vieles darunter verstehen. Zum Beispiel: Das (mit positiver Konnotation versehene) Schlagwort par excellence der heutigen politischen Diskussion ist „Demokratie“: Die Sozialisten verbinden damit z.B. die Merkmale „Gleichheit“ und „Gerechtigkeit“, die Christdemokraten die Merkmale „Verantwortung“, „Subsidiarität“. „Subsidiarität“ sagen eher Christdemokraten, Sozialisten würden „Solidarität“ bevorzugen. Die Begrifflichkeiten haben ihre z.T. subtilen Bedeutungsnuancen, die auf Traditionen weit verzweigter Art beruhen. Nur: Für die Verwendung eines Schlagworts zählen historische Differenzierungen nicht mehr. Auch Pinochet, ein chilenischer Caudillo südamerikanischer Art, konnte sagen, sein diktatorisches Regime sei „demokratisch“, nur eben kulturspezifisch („typisch südamerikanisch“) gewendet. Es gibt auf der Erde heute keine Regierung bzw. kein Regime bzw. kein Herrschaftssystem mehr, das sich je nach Bedarf nicht als „demokratisch“ selbst bezeichnen würde. Das verlangt die Opportunität, aber nicht nur die. Aus wissenschaftlicher Sicht (aus der Sicht aller Wissenschaften) sind Schlagwörter wie „demokratisch“, „christlich“, „sozial“, „europäisch“, „ethisch“, „human“ einfach schlechtbestimmt in dem Sinne, dass man weder einzelne gesellschaftliche Gruppen (z.B. Parteien, kirchliche Verbände, Vereine jeglicher Art, wissenschaftliche Gruppierungen), geschweige denn die Gesamtgesellschaft oder alle Standardsprache-Sprecher/ innen darauf verpflichten kann, bestimmte Bedeutungsmerkmale als dominant anzuerkennen. „Anerkennen“ soll hier nicht heißen, dass für eine Gebrauchsregel die bewusste Zustimmung der Sprecher/ innen erforderlich wäre. Das nicht! Es zählt vielmehr der tatsächliche Gebrauch. Und der tatsächliche Gebrauch ist hier unüberschaubar auch in dem speziellen Sinne, dass die Sprecher/ innen sich nicht einmal in Kernbereichen, vielleicht gerade in Kernbereichen 656 Rainer Wimmer nicht der Gebrauchsweise des Ausdrucks sicher sein können. Das zeigt sich in alltäglichen (auch in freundschaftlichen oder nachbarschaftlichen) Gesprächen zum Beispiel darin, dass man sich ständig aufgerufen fühlt, den speziellen Sinn, den man mit den schlechtbestimmten Wörtern verbindet, zu erläutern und zu erklären. Die Vagheit oder Schlechtbestimmtheit des Ausdrucks macht aber nicht (allein) seinen Schlagwortcharakter aus. Ausschlaggebend ist vielmehr die Funktion, die diese Vagheit in der Kommunikation hat. Im DUDEN-Universalwörterbuch 2001 wird neben der bibliothekswissenschaftlichen Bedeutung von „Schlagwort“ und neben der prägnant historisch-beschreibenden Bedeutung (z.B. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“) die Kampfwort-Bedeutung in der politischen Kommunikation wie folgt beschrieben: „(oft abwertend) abgegriffener, oft ungenauer, verschwommener, bes. politischer Begriff, den jmd. meist unreflektiert gebraucht; abgegriffene Redensart, Gemeinplatz ...“. Auffällig ist die Metapher „abgegriffen“. „Abgegriffen“ heißt: in vieler Munde. Aber in wessen Munde? Und warum, und mit welchen Intentionen? Linguisten, die den öffentlichen und insbesondere politischen Sprachgebrauch analysieren und beschreiben, unterscheiden seit langem sog. Kampfwörter verschiedener Art: auf der einen Seite Fahnenwörter, die positiv konnotiert dazu dienen, die eigenen Ideen herauszustellen und zu propagieren („christlich“ in „christlich/ soziale, christlich/ demokratische Union“), auf der anderen Seite Stigmawörter, die negativ konnotiert dazu dienen, den politischen Gegner herabzusetzen und (bei den Wählern) in ein schlechtes Licht zu rücken („Chaot“, „Kommunist“, „Versager“). Es geht um die Beschreibung parteisprachlicher Wörter (vgl. Hermanns 1982), deren Gebrauchsbzw. Bedeutungsspektrum sehr weit sein kann, ausgreifend von Hochwertwörtern aus der politischen Ideen- und Konzeptgeschichte bis hin zu gruppensprachlichen Kennzeichnungen, die auch vor persönlichen Diffamierungen nicht Halt machen. Der Sprachgebrauch steht im Dienst der Erlangung und des Erhalts von Macht und Herrschaft; andere Funktionen treten bis zum Verschwinden dahinter zurück. Die Autoren- und die Adressatenfrage haben ein dominierendes Gewicht: Wer spricht hier zu wem? Ist der Gebrauch von Schlagwörtern in der öffentlichen politischen Diskussion „unreflektiert“, wie es die DUDEN-Beschreibung für die meisten Fälle Noch mal zu „Leitkultur' 657 annimmt? Unreflektierter Sprachgebrauch mag für die meisten Stammtischdiskussionen unterstellt werden können, auch für viele Alltagsdiskussionen, nicht aber für die Redeweise von Politikern in ihrer Funktion als Politiker. Glücklicherweise haben Grenzgänger zwischen Politik und Wissenschaft explizit gesagt, wie man die „Schwierigkeiten des politischen Sprechens in der Demokratie“ realistischerweise sehen kann oder sehen sollte (vgl. Bergsdorf 1985). Ein solcher Grenzgänger ist Wolfgang Bergsdorf. Bergsdorf (gegenwärtig Präsident der Universität Erfurt, als Nachfolger von Peter Glotz) war in der Ära Kohl der Bundesrepublik Deutschland im Bundespresseamt tätig, und er war Politologe an der Universität Bonn, der zahlreiche Arbeiten zum Zusammenhang zwischen Sprache und Politik publiziert hat. Bergsdorf hat markante Charakterisierungen des Verhältnisses zwischen Politikersprache einerseits und der Sprache des Wahlvolks andererseits geliefert. Er entwickelt folgendes Szenario: Die politischen Führer stehen in der Demokratie vor der Schwierigkeit, für ihre notwendigen politischen Entscheidungen eine Zustimmung (einen Konsens) von einem unüberschaubaren Wahlvolk zu erhalten. Die Frage ist: Welches ist die Sprache, die eine solche Zustimmung Erfolg versprechend befördert? Bergsdorfs Antwort ist: Es ist ein Sprachgebrauch, der auf Vagheit und Unbestimmtheit setzt, und zwar aus folgendem Grund: Allein die vage Verwendung von Schlagwörtern erlaubt es, ein (im angedeuteten Sinne) unüberschaubares Wahlvolk in der Weise anzusprechen, dass sich erstens alle angesprochen fühlen, zweitens alle Angesprochenen sich ihren Reim auf die Bedeutung des Gesagten machen können. Es geht im Kern darum, die je individuellen Meinungen Einzelner zu bündeln, sodass Entscheidungen (sog. Konsensentscheidungen) per Wahlzettel zu Stande kommen. Für dieses Konzept nimmt Bergsdorf auch traditionelle linguistische Theorienbildung in Anspruch (vgl. Bergsdorf 1978). De Saussures „parole“ soll den Meinungen der unzähligen Wahlvolk- Sprecher/ innen entsprechen. Jeder Wahlvolk-Sprecher bzw. jede Wahlvolk- Sprecherin verbindet mit einem Schlagwort ein mehr oder weniger individuelles Konzept, das ihren eigenen Meinungen und Überzeugungen entspricht. Die Wähler „identifizieren“ sich. Aber es geht darum, die Langue-Bedeutung (im Saussure'schen Sinne) herzustellen; dies sei die Sprachsystem-Bedeutung und damit die Bedeutung, die alle Sprecher/ innen mit dem Ausdruck verbinden. Die Saussure'sche „Langue“ soll also das Konzept sein, das begründet, warum ein Sprecher/ eine Sprecherin zur Einheit, zum Konsens kommen müsse und vielleicht auch wolle, weil er/ sie Teil der 658 Rainer Wimmer Sprachgesellschaft sei. Die Langue-Bedeutungen der Wörter, d.h. die gewissermaßen gesamtsprachlichen Bedeutungen der Wörter in der natürlichen Sprache seien ebenfalls vage und unbestimmt und entsprächen in dieser Hinsicht der Vagheit von Schlagwörtern in der öffentlichen politischen Auseinandersetzung. So wie es im normalen Sprachverkehr darum gehe, die individuellen Bedeutungen bzw. Meinungen der Sprecher/ innen den allgemeinen Sprachbedeutungen anzupassen, so komme es in der öffentlich-politischen Rede darauf an, die individuellen Meinungen der Wähler/ innen zum Konsens hinzuführen, der die Politiker/ innen handlungsfähig mache. Und der Transmissionsriemen (um eine antiquierte Technik-Metapher zu benutzen) für diese Konsensbildung seien semantisch vage Programmwörter bzw. Schlagwörter, die ihre kommunikative Qualität gerade dadurch zeigen, dass sie auf Grund ihrer Unbestimmtheit Integrationswörter sind. In dem hier vorgestellten Konzept der öffentlich-politischen Rede und Diskussion wird dem Schlagwort bzw. Programmwort bzw. Integrationswort eine zentrale Rolle zugewiesen. Bergsdorf (1978) räumt ein, dass hier eine gemäßigt-manipulative Kommunikationsform konzipiert wird, die der Demokratie angemessen sei, allerdings in ganz deutlichem Unterschied zu Diktaturen, in denen gegen die Leitkonzepte der politischen Führung keine Widersprüche geduldet werden. Man kann in der Tat fragen: Wo lägen die kommunikativen Gegenentwürfe zu dem Bergsdorf-Konzept? Ich habe dieses Konzept deswegen so relativ ausführlich erläutert, weil es m.E. das stillschweigend vorausgesetzte bzw. unterstellte Konzept der meisten Politiker ist. Es wird u.a. deswegen so wenig öffentlich gemacht, weil in seiner Ausformulierung ein gewisser Affront gegen das Wahlvolk liegt: Die Meinungen der Einzelnen werden nicht so sehr hoch eingeschätzt; sie haben ihren Wert lediglich in ihrem Beitrag zur politischen Konsensbildung. Die einzelnen Wähler/ innen haben aber ihre je eigenen Interessen, Vorstellungen und Konzepte, und diese möchten sie repräsentiert sehen. Sie möchten ihre kognitiven Auffassungen in dem Maße berücksichtigt finden, wie sie als Wähler/ innen von den Politiker/ innen hofiert werden. Auf die linguistische Problematik der de Saussureschen Begrifflichkeit von Langue und Parole möchte ich hier nicht ausführlich eingehen. Lediglich so viel: Die de Saussuresche Unterscheidung ist im Kern eine methodologische, d.h. eine Unterscheidung, die auf die Möglichkeiten des Redens über Noch mal zu ^eitkultur' 659 Sprache bezogen ist: Wenn man über Sprache redet, kommt man nicht umhin, sich über die je aktuelle, historisch einmalige Äußerung (Parole) zu „erheben“. Man muss generalisieren, und das impliziert das Systematisieren, und das Produkt der Systematisierung ist die Langue, nämlich ein theoretisches Konstrukt. Dies ist etwas völlig anderes als das, was Bergsdorf im Sinn hat. Für ihn ist die Langue ein inhaltliches (nicht ein theoretisches) Gebilde, das die Menschen im Kopf haben und das sie leiten soll, sich einer gewissen gesamtgesellschaftlichen Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken anzupassen. Ein solches Konzept mag man haben; es lässt sich aber linguistisch nicht rechtfertigen. Der Verweis auf die sprachwissenschaftliche Theorie hat für den Politologen und Politiker lediglich legitimatorische Funktion. Es stehen sich zwei Konzepte gegenüber: auf der einen Seite das Konzept der Politiker/ innen, das auf Integrationsschlagworte und auf Meinungskonsens setzt, und auf der anderen Seite das je individuelle Konzept der Wähler/ innen, das auf Verwirklichung, zumindest Beachtung und Berücksichtigung der je eigenen Vorstellungen und Interessen setzt. Politiker/ innen-Konzept Konsensbildung Schlagwort-Kommunikation Programm-Interessen Generalisierung Phraseologie der Politik Wähler/ innen-Konzept Eigeninteressen artikulieren Differenz verdeutlichen individuelle Wünsche Präzisierung individuelle Sprache Die Gegenüberstellung zeigt den latenten oder offenen Interessenkonflikt zwischen Politiker/ innen und Wähler/ innen; und sie zeigt die differierenden sprachlichen und kognitiven Orientierungen auf beiden Seiten. Der Konflikt ist ein institutioneller, d.h. einer, der durch unser demokratisches Herrschafts- und Verwaltungssystem produziert ist. Die Kommunikation zwischen Regierenden, die auf Wählerstimmen angewiesen sind, und dem Wahlvolk, das wählen soll, ist durch diesen Konflikt weitgehend bestimmt. Die Schlagwort-Falle, von der ich gesprochen habe, besteht darin, dass die Politiker/ innen einerseits darauf angewiesen sind, schlechtbestimmt-vage Schlagworte zu benutzen, um in ihrer öffentlichen Rede möglichst viele Adressaten und Adressatinnen im Wahlvolk zu erreichen, andererseits darauf bedacht sein müssen, auf die spezifischen Vorstellungen, Wünsche und 660 Rainer Wimmer Emotionen der Wähler/ innen einzugehen, um Aufmerksamkeit zu erregen, Interesse zu wecken, kurz: um zu werben und um damit Zustimmung zu erreichen, die sich in Wahlentscheidungen niederschlägt. Es stehen sich gegenüber: einerseits das Generalisierungsinteresse der Politiker/ innen, andererseits das Spezifizierungs- und Individualisierungsinteresse der Wähler/ innen. Der Gegensatz bzw. Interessenkonflikt ist unauflöslich und hat insofern den Charakter einer „Falle“, als die Politiker/ innen ihm erstens nicht entgehen können und zweitens auch nicht die Möglichkeit haben, ihn steuernd zu beherrschen. Denn die Entwicklung der Meinungsvielfalt im Wahlvolk ist weder prognostizierbar noch mit Zuverlässigkeit beeinflussbar. 3. Zur Leitkultur-Debatte. Im Duden (Deutsches Universalwörterbuch, 4. Aufl. 2001) sind 35 Nominalkomposita mit „Leit-“ als Bestimmungswort aufgeführt (und lemmatisiert), darunter die Komposita „Leitantrag“, „Leitartikel“, „Leitbild“, „Leitfaden“, „Leitgedanke“, „Leithund“, „Leitidee“, „Leitlinie“, „Leitsatz“, „Leitseite“ (Homepage), „Leitspruch“, „Leitstern“, „Leitstrahl“, „Leitthema“, „Leittier“, „Leitwolf“, „Leitwort“, „Leitzins“. Das Wort „Leitkultur“ kommt nicht vor; ich finde es auch nicht in den Schlüssel- und Schlagwortverzeichnissen der sprachhistorischen Darstellungen zum Sprachgebrauch in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 (vgl. z.B. StötzelAVengeler 1995). Von der Gesellschaft für deutsche Sprache wird „Leitkultur“ unter den „Wörtern des Jahres 2000“ besprochen (vgl. Bär 2001, S. 45f.). Dort wird auch darauf hingewiesen, dass Dieter E. Zimmer das Wort bereits 1998 verwendet hat, und zwar mit Bezug auf die amerikanische Leitkultur (Zimmer 1998, S. 27). Dort wird weiter vermerkt, dass das Schlagwort „Leitkultur“ bereits kurz nach seiner Einführung in die politischen Auseinandersetzungen des Jahres 2000 semantisch verfremdet wurde durch Bildungen wie „Lightkultur“ und „Leidkultur“. Die Lemmatisierung von Komposita mit „Leit-“ als Bestimmungswort in Wörterbüchern der deutschen Gegenwartssprache macht zweierlei deutlich: 1. Die Bedeutung des Bestimmungsworts „Leit-“ ist in allen Komposita so klar, wie die Bedeutung des Verbs „leiten“ klar ist: nämlich „führen“, „bestimmen“, „bestimmend begleiten“ (vgl. DUDEN 1999, Bd. 6, S. 2405). Noch mal zu „Leitkultur“ 661 Es kann kein Zweifel darüber bestehen, wie „Leitkultur“ in diesem Bestandteil zu interpretieren ist. Ein „Leitwort“ (so lemmatisiert im DUDEN 1999, Bd. 6, S. 2407) ist ein „Ausdruck, der einen Leitgedanken zur Geltung bringt“, und zwar in politischer Hinsicht (entsprechende Beispiele werden dort gegeben). 2. Die für politische Schlagwörter so wichtige kommunikative Vagheit/ Unbestimmtheit/ Schlechtbestimmtheit hegt bei „Leitkultur“ in dem Basiswort "-kultur“. Zu „Kultur“ haben die Wörterbücher der deutschen Gegenwartssprache nicht sehr viel zu sagen (vgl. die eine Spalte im DUDEN 1999, Bd. 5, S. 2304), umso mehr die Enzyklopädien (vgl. z.B. die Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Aufl., Bd. 12 (1990), S. 580ff.). Der Grund dafür ist, dass die sprachsystematischen Grundbedeutungen von „Kultur“ im heutigen Deutsch schnell abzustecken sind (z.B. Kultur im Sinne von Anpflanzung/ Kultivierung bestimmter Pflanzen im Unterschied zu „Kultur“ der Griechen), dass man aber in ein fast unüberschaubares inhaltlich-historisches Feld eintritt, wenn man unter „Kultur“ die Handlungsweisen bzw. -muster von Einzelpersonen und Gruppen und Gemeinschaften (und Nationen) in Geschichte und Gegenwart begreift. In dem Schlagwort „Leitkultur“ ist mit der Komponente "-kultur“ dieses historisch offene, inhaltlich weite Bedeutungsfeld angesprochen. Auf Grund seiner syntaktisch-semantischen Eigenschaften eignet sich „Leitkultur“ hervorragend als Schlagwort in der öffentlich-politischen Auseinandersetzung. Es enthält mit dem Basiswort "-kultur“ ein Hochwertwort, das reich an Bedeutungsnuancen ist und in seiner semantischen Offenheit so vage/ unbestimmt/ schlechtbestimmt ist, dass es viele Adressat/ innen anspricht, die sich alle und je einzeln ihre eigene Vorstellung über die Bedeutung machen können. Es ist ein ideales Integrationswort mit hohem Assoziationspotenzial in der politischen Werbung. Ferner enthält „Leitkultur“ mit dem Bestimmungswort „Leit-“ (zumal in der Verbindung „deutsche Leitkultur“) eine sehr spezifische Bedeutungskomponente, die in ihrer Bestimmtheit provokant wirkt und Aufmerksamkeit erregt. Das Wort ist in dieser Eigenschaft geeignet, in der parteipolitischen Auseinandersetzung zu polarisieren und die Medien zu interessieren. Ich bin davon überzeugt, dass eine empirische Untersuchung über den Gebrauch von „Leitkultur“ (durch Auswertung größerer Belegmengen oder auch durch Benutzerbefragung) die genannten Schlagwort-„Qualitäten“ 662 Rainer Wimmer deutlicher hervortreten lassen würde. In der Tat hat die Braunschweiger Befragungsaktion „Unwörter 2000“ ergeben, dass „Leitkultur“ der Spitzenreiter der als Unwort kritisierten Wörter war und dass die negativen Charakterisierungen „inhaltlich nichtssagend“ sowie „gefährlich“ besonders auffällig sind (vgl. Griesbach/ Kilian 2001, S. 14f.). Die beiden Charakterisierungen entsprechen den Schlagwort-Merkmalen „unbestimmt/ vage“ und „provokant/ polarisierend“. Ich beschränke mich im Folgenden darauf, einige Belege aus Presse-Publikationen anzuführen, die den Gebrauch von „Leitkultur“ weiter verdeutlichen können. - Nachdem Friedrich Merz (Fraktionsvorsitzender der CDU im Deutschen Bundestag) im Oktober 2000 den Begriff „Leitkultur“ in die Debatte um das Einbzw. Zuwanderungsland Deutschland geworfen hatte, zeigte sich rasch die Brisanz des Schlagworts. Die F.A.Z. zitierte am 7.11.00 in einer Schlagzeile auf der ersten Seite die CDU-Vorsitzende Angela Merkel: „Der Begriff irritiert den Gegner, was schon mal gut ist.“ Am 26.10.00 bringt die SZ auf der ersten Seite die Aufmacher-Schlagzeile: „Union rückt vom Schlagwort ‘Leitkultur’ ab“ und ergänzt: „Nach heftiger Kritik auch in den eigenen Reihen“. Am 26.10.00 bringt die ZEIT auf S. 45 eine Glosse von Jens Jessen mit dem Titel: „Leitkultur. Ein Gespenst geht um in Deutschland“. Am 4./ 5.11.00 bringt die SZ auf S. 5 eine Schlagzeile: „CDU will Schlagwort ‘Leitkultur’ doch verwenden“ und bezieht sich auf ein Eckpunkte-Papier der CDU zur Zuwanderung; der Generalsekretär der CDU wird zitiert mit den Worten: „Jetzt auf den Ausdruck zu verzichten wäre unglaubwürdig.“ Am 4.11.00 schreibt die F.A.Z., S. 41, in einer Glosse: „Am Ende dieser windungsreichen Debattenwoche steht fest: Der unterkomplexe Begriff der Leitkultur wird nicht in dem neuen Eckpunkte-Papier zur Zuwanderung auftauchen, das das CDU-Präsidium und der Vorstand der Unionsfraktion am Montag verabschieden wollen.“ Am 8.11.00 zitiert die SZ, S. 6, aus dem verabschiedeten Eckpunkte-Papier der CDU: „In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn die Beachtung dieser Werte als Leitkultur in Deutschland bezeichnet wird.“ Also: Der Ausdruck „Leitkultur“ kommt vor, allerdings nicht in der Kollokation „deutsche Leitkultur“, sondern „Leitkultur in Deutschland“; darüber war gestritten worden. Aus linguistischer Sicht lässt sich zu dem Unterschied zwischen „deutscher Leitkultur“ und „Leitkultur in Deutschland“ vieles sagen. Hier nur so viel: Das Attribut „deutsch“ in „deutsche Leitkultur“ spricht an auf eine spezifisch „deutsche“ Eigenart, Noch mal zu „Leitkultur‘ 663 auf etwas spezifisch Deutsches. Aber was ist das? Viele Ad-hoc-Kommentierungen und Bemerkungen in der Presse stellen die Beliebigkeit von potenziellen Bedeutungsmerkmalen heraus, z.B.: „Was zum Teufel soll das sein, die ‘Deutsche Leitkultur’? Die Nationalmannschaft, Goethe, ‘Cats’ oder um 7 Uhr aufstehen, um 12 Uhr Mittagessen und um 18 Uhr Abendbrot? Die ‘deutsche Leitkultur’ ist nichts weiter als eine Worthülse, die dazu benutzt wird, eine emotionale Diskussion über gute und böse Ausländer, über Identitätsverlust und über die so genannte Überfremdung anzustacheln.“ (König Boris, Rapper bei „Fettes Brot“, in: DIE WOCHE, 10.11.00, S. 38). Die Attribuierungsverhältnisse in einer so einfach aussehenden Nominalgruppe wie „deutsche Leitkultur“ sind komplex; das adjektivische Attribut „deutsche“ bezieht sich normalerweise auf den „Kopf 1 der Konstruktion, also das Basiswort in dem Kompositum, also auf "-kultur“; dieses Basiswort ist aber bereits enger attribuiert durch „Leit-“. Das heißt: Wer nach Definitionen/ Erläuterungen sucht, muss in der deutschen Kulturgeschichte suchen und hier wiederum nach dem „Leitenden“. Dabei könnte sich herausstellen, dass das Merkmal „Leit-Zleiten“ bereits etwas „typisch Deutsches“ ist; Journalisten haben Probleme gehabt, „deutsche Leitkultur“ in andere Sprachen zu übersetzen, z.B. ins Französische: „culture pilote“ oder „culture dominante“? Etwas andere Attribuierungsverhältnisse ergeben sich, wenn man von „Leitkultur in Deutschland“ spricht. Hier scheint das Konzept einer multikulturellen Gesellschaft noch etwas näher zu liegen. Man kann von verschiedenen Kulturen in Deutschland ausgehen und fragen: Welche Kultur ist wo unter welchen Bedingungen die leitende/ dominierende? Ich habe nicht bemerkt, dass Politiker, die den Begriff „Leitkultur“ mit positiver Konnotation verwendet haben, selbst versucht hätten, sich ausführlicher mit der komplexen Frage, was denn deutsche Kultur als dominante Kultur sei, auseinander zu setzen. Es sind keine Darstellungen dieser Art öffentlich geworden. Wohl aber gibt es eine ganze Reihe von Wortmeldungen in der Presse, die das breite Spektrum von Assoziationen verdeutlichen, die (auch) die Politiker mit „Leitkultur“ verbinden. Der prominente CSU-Politiker Peter Gauweiler greift eklektisch in die große Kiste der Stichwörter, die in Stammtischregionen bis hin zu „höheren“ Regionen von Parlamentsdebatten, die an die „Menschen draußen im Lande“ gerichtet sind, gern verwendet werden (vgl. Gauweiler 2000). Da geht es um die sog. „Toskana- 664 Rainer Wimmer Kultur“ in der SPD, um kulturelle Identitäten nordamerikanischer Indianer, um den „Kulturverlust“ der Deutschen (Masochismus? ), um das Wort „Nation“ als abgeleitet von lateinisch „natus“, um deutsche Sprache, um den Literaturkanon, der in unseren Schulen (nicht) beachtet wird, um Walther von der Vogelweide, um Thomas Mann und um Günter Grass. Man könnte hinzufügen: Da haben wir den Salat, aber wo bleibt die deutsche Leitkultur? So fragt denn auch Erika Steinbach, Präsidentin des Bundes der Vertriebenen und Mitglied des CDU-Bundesvorstands: „Wie aber kann heute der Begriff Leitkultur verstanden werden, wenn konservatives und wertebewusstes Denken vorsätzlich stigmatisiert wird? Daraus droht Gefahr.“ (Steinbach 2000). Auch Frau Steinbach sieht in der deutschen Sprache ein identitätsstiftendes und einigendes Band für die Deutschen: „Natürlich brauchen wir nicht nur eine Leitkultur, sondern wir haben sie sogar: unsere Sprache in all ihren Facetten ...“ (Steinbach 2000). Der Gedanke, dass die Sprache (gewissermaßen als Ersatz für politische Uneinigkeit) eine Nation eine/ einige, zu einer Einheit macht, ist ein gängiges Ideologen! (in Bezug auf Deutschland) seit dem 19. Jahrhundert. Noch vor der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 wurde stereotyp argumentiert: 1. Zwei Staaten, nämlich BRD und DDR, aber eine Nation. 2. Warum eine Nation? Weil: eine Kultur, d.h. eine Sprache. Insofern lag es nahe, die Diskussion über Leitkultur auch mit der Frage nach dem angloamerikanischen Einfluss auf das Deutsche (Anglizismen- Frage) in Verbindung zu bringen. Wird die „deutsche Leitkultur“ etwa auch durch die englische Sprache bedroht? (vgl. Heuwagen 2000). Es gibt andere und vielleicht auch gewichtigere Kandidaten für „Leit“merkmale zur deutschen Leitkultur, z.B. das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Ich zitiere exemplarisch den Leserbrief von Oliver Sperl (Berlin) aus der F.A.Z., 26.10.00, S. 15: „Wie Michel Friedman richtig feststellte, darf die einzige Leitkultur in Deutschland nur das Grundgesetz sein. Will Merz sagen, dass Muslime nur noch in Deutschland leben dürfen, wenn sie zu Christen werden und Schweinebraten essen? Biedermänner und Brandstifter sollten keine große Volkspartei im Bundestag führen dürfen.“ Wenn das Grundgesetz die Leitlinie für die Bestimmung von „Leitkultur“ angeben soll, kann man sich mit Recht fragen - und das haben sich viele gefragt: Warum dann noch ein Konzept „Leitkultur“, wenn im Grundgesetz schon die entscheidenden Werte festgeschrieben sind? Noch mal zu „Leitkultur' 665 Aus den vorangehenden Pressezitaten wird vielleicht deutlich, dass die meisten Beiträge, die den Begriff „Leitkultur“ positiv aufnehmen, auch bereits skeptische und kritische Bemerkungen enthalten. In der Tat überwiegen in den Medien/ Printmedien die kritischen Stellungnahmen (vgl. Bornhöft/ Leinemann/ Mestmacher 2000). Eine pointiert kritische Haltung nimmt der Zentralrat der Juden in Deutschland ein meines Erachtens zu Recht. Denn wer sollte intensiver sensibilisiert sein für die Ausgrenzung von Minderheiten in Deutschland als die Juden? Der stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Michel Friedman, hat in Interviews verschiedentlich darauf hingewiesen, dass diejenigen, die eine „deutsche Leitkultur“ propagieren, genau wissen, was sie tun, wenn sie ein Konzept der Leitkultur auf ihre Fahnen schreiben und damit einer Minderheiten-Ausgrenzungspolitik Vorschub leisten. Er ist damit in Übereinstimmung mit dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland. In der F.A.Z., 16.11.00, S. 6, ist über den Präsidenten des Zentralrats der Juden Paul Spiegel unter dem Titel „Spiegel wiederholt seine Kritik“ zu lesen: „Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Spiegel, hat abermals an die CDU/ CSU appelliert, auf das Schlagwort von einer „deutschen Leitkultur“ zu verzichten und es durch den Begriff „deutsche Kultur“ zu ersetzen.“ - Mit dem Ausdruck „deutsche Kultur“ wäre man dann wieder auf dem Boden der äußerst vielfältigen und keineswegs einheitlichen deutschen Kulturgeschichte. Die Diskussion über „Leitkultur“ hat natürlich auch Programmpolitiker auf den Plan gerufen. Fragen waren: Wie hält man es mit dem Verhältnis Nation und Sprache? Was macht die Identität der Deutschen aus? Wie geht man mit der Geschichte „der Deutschen“ um? Wie steht man zur Geschichte der Deutschen in Nazi-Deutschland? Meines Erachtens sind diese Fragen heute nicht mehr offen. Man weiß weitgehend, was man von Nazi-Deutschland zu halten hat, und man weiß auch, dass das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland eine gute Grundlage für die Lebensbedingungen der Bürger/ innen bietet. Ausgrenzungen jenseits des Grundgesetzes sind nicht mehr gefragt. Das ist die Position des SPD-Programmatikers Erhard Eppler. Er schreibt: „Wer „Leitkultur“ definieren will, grenzt immer aus, ob er will oder nicht“ (Eppler 2001, S. 37). Das Grundgesetz und dessen Regelungen sind für ihn selbstverständlich eine Selbstverständlichkeit. - Der früher prominente CDU-Politiker Rainer Barzel äußert sich wie folgt zu der Frage, 666 Rainer Wimmer wie es um das Vermächtnis von Konrad Adenauer steht: „Wir sind des Glaubens, dass die Würde und Freiheit des einzelnen Menschen geachtet werden müssen und von niemandem verletzt werden dürfen. Und er (Konrad Adenauer) würde, glaube ich, heute hinzufügen, das sei der Kern der von ihm geschaffenen Bundesrepublik Deutschland nicht eine nebelhafte „Leitkultur“.“ (SZ, 5./ 6./ 7.01.01, S. 10.). 4. Fazit Der Versuch, das Schlagwort „Leitkultur“ als politischen Kampfbegriff einzuführen, ist gescheitert. Bereits am 27.10.00 schreibt Edo Reents in der SZ, S. 17: „Die deutsche Leitkultur ist tot. Sie ist im Alter von wenigen Tagen relativ sanft entschlafen man könnte auch sagen: sang- und klanglos untergegangen.“ Das Schlagwort hatte trotz seiner oben genannten „Qualitäten“ für die politischen Auseinandersetzungen zu wenig Profil. Die Politiker/ innen, die „deutsche Leitkultur“ für sich nutzen wollten, haben sicher den Fehler gemacht, dass sie selbst zu wenig zur inhaltlichen Definition/ Fixierung beigetragen haben. Auch wenn wie wiederholt betont - Schlagwörter in ihrer Bedeutung charakteristischerweise vage sind, sollen sie doch einem „Programmtransport“ (vgl. Wolter 2000, S. 26ff.) dienen, und dazu müssen sie einen profilierten, zumindest für die Adressaten interessanten Gebrauch haben. „Deutsche Leitkultur“ weckt zu viele divergierende Assoziationen, vor allem auch solche, die für viele Adressaten negativ konnotiert sind (z.B. Nazi-Vergangenheit, Rechtsradikalismus). Der Diskurs über die „deutsche Leitkultur“ ist nicht nur von Anfang an mit der Zubzw. Einwanderungsfrage verknüpft worden, sondern wurde dann auch noch mit Fragen nach dem „Nationalstolz“ der Deutschen verbunden (vgl. Haß-Zumkehr 2001, Prantl 2001). Dies sind brisante gesellschaftspolitische Fragen, die die Protagonisten der Leitkultur-Debatte erfolgreich hätten behandeln müssen, um das Schlagwort „Leitkultur“ als positives Fahnenwort gegenüber dem Wahlvolk zu platzieren. Die Protagonisten haben es weiterhin versäumt, sich der neueren Diskursgeschichte von „Leitkultur“ zu vergewissern, um ihren eigenen Sprachgebrauch abzusichern (vgl. Schuller 2000; Sommer 2000). So hat die Schlagwort-Falle zugeschlagen: Die Adressierungsvielfalt des Schlagworts „deutsche Leitkultur“ wurde unterschätzt, und seine Integrationskraft überschätzt. Noch mal zu „Leitkultur" 667 Es ist bemerkenswert, wie schnell das Schlagwort „deutsche Leitkultur“ wieder aus der politischen Diskussion verschwunden ist. Es hat unter Politikern keine breite Resonanz gefunden und wurde im Wesentlichen von Akteuren aus dem konservativen Lager für diskussionswürdig gehalten. Politiker anderer Parteien haben sich auffällig zurückgehalten. Bundesaußenminister Joschka Fischer spricht von den Trägern der Leitkulturdebatte despektierlich als von „unseren Leitkulturisten“ (vgl. DIE WOCHE, 29.06.01, S. 7). Einige Wirkung hat die Leitkulturdiskussion im Bezug auf ausgewählte innenpolitische Themen entfaltet; darüber hinaus etwa im Bezug auf europäische oder andere internationale Fragen erwies sich der Begriff „Leitkultur“ nicht als brauchbar. Auch in die Kulturdiskussion hat der Begriff nicht nachhaltig Eingang gefunden; man findet nur vereinzelte Belege (vgl. z.B. „geisteswissenschaftliche Leitkultur“, verwendet von Heike Schmoll in einem Artikel über die Rolle der Geisteswissenschaften, F.A.Z., 01.09.01, S. 1). Möglicherweise war der Begriff „Leitkultur“ lediglich eine Art Versuchsballon in der politischen Auseinandersetzung, und zwar ohne das Ziel, substanzielle politische Programmarbeit zu leisten. In einer Zeit, in der der Kampf um Wählerstimmen wesentlich mit Mitteln der kommerziellen Produktwerbung geführt wird, spielt das „Begriffe-Besetzen“ in der Politik nicht mehr die Rolle wie in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. In einer Leitglosse über die Taktik der politischen Parteien heute heißt es in der F.A.Z. vom 31.07.01, S. 1, unter der Überschrift „Leitkulturfrei“ zur Arbeit der FDP, dass „sie der schnellen, unbürokratischen und völlig leitkulturfreien Erfüllung wirtschaftlicher Erfordernisse allen Vorrang einräumt. In diesem Geist des unverblümt Situativen steckt ein viel größeres Potenzial kultureller Umwälzung als in den schalen multikulturellen Fantasien, die viele Konservative so ängstigen.“ 5. Literatur Bär, Jochen A. (2001): Wörter des Jahres 2000. In: Der Sprachdienst 2/ 01, S. 41-51. Bergsdorf, Wolfgang (1978): Politik und Sprache. München/ Wien. Bergsdorf, Wolfgang (1985): Über die Schwierigkeiten des politischen Sprechens in der Demokratie. In: Wimmer, Rainer (Hg.): Sprachkultur. Jahrbuch 1984 des Instituts für deutsche Sprache. Düsseldorf. S. 184-195. 668 Rainer Wimmer Besch, Werner (1990): Die Schlagwörter. Noch einmal zur Wortgeschichte und zum lexikologischen Begriff. In: Muttersprache 100, S. 192-203. Brockhaus-Enzyklopädie (1990): „Kultur“. In: Brockhaus-Enzyklopädie. Bd. 12. 19. Aufl. Wiesbaden u.a., S. 580ff. DUDEN (1999): Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in 10 Bänden. 3. Aufl. Mannheim/ LeipzigAVien/ Zürich. DUDEN (2001): Deutsches Universalwörterbuch. 4. Aufl. Mannheim/ LeipzigAVien/ Zürich. Griesbach, Thorsten/ Kilian, Jörg (2001): Sprachkritik als Unwortkritik. Die Aktion „Unwörter 2000“ und die laienlinguistische Wortkritik. In: Sprachreport 3/ 2001, S. 11-17. Haß-Zumkehr, Ulrike (2001): Die Grenzen des Stolzes im Deutschen. In: Sprachreport 2/ 2001, S. 2-4. Hermanns, Fritz (1982): Brisante Wörter. Zur lexikographischen Behandlung parteisprachlicher Wörter und Wendungen in Wörterbüchern der deutschen Gegenwartssprache. In: Wiegand, Herbert Ernst (Hg.): Studien zur nhd. Lexikographie II. Hildesheim/ Zürich/ New York. S. 87-108. Klein, Josef (1989): Wortschatz, Wortkampf, Wortfelder in der Politik. In: Josef Klein (Hg.), S. 3-50. Klein, Josef (Hg.) (1989): Politische Semantik. Bedeutungsanalytische und sprachkritische Beiträge zur politischen Sprachverwendung. Opladen. Stötzel, Georg/ Wengeler, Martin (1995): Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin/ New York. Teubert, Wolfgang (1989): Politische Vexierwörter. In: Klein, Josef (Hg.), S. 51-68. Wimmer, Rainer (2000): Sprachkritik in der Öffentlichkeit seit der Mitte des 20. Jhs. In: Besch, Wemer/ Betten, Anne/ Reichmann, Oskar/ Sonderegger, Stefan (Hg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2. Aufl. Bd. II. Berlin/ New York. S. 2054-2064. Wolski, Werner (1980): Schlechtbestimmheit und Vagheit - Tendenzen und Perspektiven. Methodologische Untersuchungen zur Semantik. Tübingen. Wolter, Beatrice (2000): Deutsche Schlagwörter zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Frankfurt a.M. (= Europäische Hochschulschriften 1749). Zimmer, Dieter E. (1998): Deutsch und anders. Reinbek. Noch mal zu „Leitkultur' 669 6. Presseartikel Bliim, Norbert (2001): Mehr Obst, weniger Äpfel? Die CDU in der liberalen Falle oder Wider den Imperialismus der Verwirtschaftung des Lebens. In: F.A.Z., 05.09.01, S. 12. Bornhöft, Petra/ Leinemann, Jürgen/ Mestmacher, Christoph (2000): Stolze schwarze Deutsche. In: DER SPIEGEL, 30.10.00, S.30-32. Brenner, Michael (2000): Nur kein Ehrenplatz. Die Rolle der jüdischen Minderheit im Tempel der Leitkultur. In: SZ, 2./ 3.12.00, S. 17. Eppler, Erhard (2001): Brauchen die Deutschen tatsächlich eine Leitkultur? In: Chrismon 01/ 2001, S. 36-37 Gauweiler, Peter (2000): Ein heimliches Klopfen. Wer hat Angst vor der Leitkultur? In: SZ, 08.11.00, S. 17. Heuwagen, Marianne (2000): Was ist deutsch? Multikulti, interkulturell und „Denglisch“: Die Debatte über die Leitkultur erfasst alle Parteien. In: SZ, 02.11.00, S. 6. Korn, Salomon (2001): Schlicht Deutsche. In: SZ, 26.01.01, S. 19. Leggewie, Klaus (2000): Missachtung der Intelligenz. In: taz, 475.11.00, S. 9. Prantl, Heribert (2001): Vom Stolz, Deutscher zu sein. In: SZ, 20.03.01, S. 4. Schuller, Konrad (2000): Die Leitkultur als Schutz vor Intoleranz. In: F.A.Z., 26.10.00, S. 16. Sommer: Theo (2000): Einwanderung ja, Ghettos nein. Warum Friedrich Merz sich zu Unrecht auf mich beruft. In: DIE ZEIT, 16.11.00, S. 9. Steinbach, Erika (2000): Ohne „Leitkultur“ entwurzeln wir uns selbst. In: Welt am Sonntag, 05.11.00, S. 11. Norbert Richard Wolf Wie spricht ein Populist? Anhand eines Beispiels Nach den jüngsten Parlamentswahlen in Italien erschien im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung ein Artikel mit dem Untertitel: „Berlusconi erobert das Reich der Postpolitik“ (Zizek 2001). Auf diese Weise sind wir, z.B. nach der Postmodeme oder dem Poststrukturalismus, bei einem weiteren Post- Phänomen angelangt. Dann die Erläuterung: Aus diesem Grund sind alle Sorgen der Linken und Liberalen, wonach hinter Berlusconi schon die Gefahr des Neofaschismus lauere, unangebracht und gewissermaßen viel zu optimistisch: Denn Faschismus ist immer noch ein politisches Projekt, während sich im Fall Berlusconis tatsächlich nichts dahinter verbirgt, kein geheimes ideologisches Projekt, nur die reine Versicherung, dass die Dinge funktionieren werden; und dass er es besser machen wird. Berlusconi ist pure Postpolitik. (S. 13) Die „Postpolitik“ ist also eine Politik, in der oft nicht so sehr eine Partei, sondern viel häufiger eine Person, die von sich behauptet, ‘moralisch sauberer’ als die bisherigen Politiker zu sein und ‘es’ besser zu machen, eben so gut, wie der ‘Führer’ in voller Übereinstimmung mit dem ‘Volk’ es will. In diesem Sinne spricht man von ‘Populismus’ als einer „negativ bewertetefn] Politik, die sich der Gier nach Zustimmung von Seiten des Volkes demagogischer Parolen bedient, dem Volke nach dem Munde redet, an Instinkte appelliert und einfache Lösungen propagiert sowie verantwortungsethische Gesichtspunkte weitestgehend außer acht läßt“ (Noblen 1998, S. 514). Wie jede Politik vollzieht sich auch die populistische „Postpolitik“ vor allem sprachlich, in der Sprache und wird auf diese Weise kommunizierbar und manifest. Gerade die „demagogischen Parolen“ und der Appell „an Instinkte“ werden in erster Linie in öffentlichen Reden realisiert, und die „Zustimmung von Seiten des Volkes“ wird ebenfalls in solchen Reden eingeholt. Mit anderen Worten, Populismus äußert sich zunächst in öffentlicher Rede; ob die tatsächliche Politik dem verbalen und rhetorischen Ideal auch folgt, ist für die Beurteilung eines politischen Ansatzes als populistisch geradezu 672 Norbert Richard Wolf irrelevant. Dennoch strebt ein populistischer Politiker die ‘Lufthoheit über die Stammtische’ an und hat die Wahlergebnisse zeigen das oft allzu deutlich - Erfolg damit. Populismus als eine oder besser die Form der Postpolitik ist heute zum einen auf die modernen Massenmedien fixiert und deshalb zum anderen stark personenbezogen; im Mittelpunkt steht häufig eine Person oder eine Figur, deren Existenz, wie soeben angedeutet, durch die Medien definiert und garantiert ist, sodass diese Person immer bestrebt sein muss, die Aufmerksamkeit der Medien nicht nur zu erregen, sondern vielmehr für sich zu erhalten. Das bringt einen Populisten in die Nähe von Personen aus dem ‘Show-Business’, deren Hauptlebenszweck darin bestehen muss, im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit zu bleiben; wenn ihnen das misslingt, dann sind sie ‘weg vom Fenster’. So legt auch ein Verteidigungsminister Wert darauf, sich, seine Geliebte im Schwimmbad liebkosend, fotografieren und in einer bunten Illustrierten veröffentlichen zu lassen. Es ist notwendig, sich nie im Widerspruch zu dem zu befinden, was man als die Meinung der (schweigenden? ) Mehrheit ansieht, die als umso wahrer ‘verkauft’ wird, je lauter sie am Biertisch geäußert wird. So nimmt es nicht wunder, dass z.B. die ‘politischen Aschermittwochsveranstaltungen’ sehr gute Rahmen für populistische Äußerungen sind, weil hier der Stammtisch ins Überdimensionale vergrößert erscheint und sich zudem immer der medialen Aufmerksamkeit sicher sein kann. Es hat den Anschein, dass in der heutigen Politik Personen entscheidender sind als Parteien und deren Programme. Einzelne Personen, wie z.B. der PDS-Politiker Gregor Gysi, sind bekannt, bestimmen die mediale Diskussion, und die mehr oder weniger teilnahmslose Öffentlichkeit weiß gar nicht mehr, wer in solch einer Partei eigentlich den Vorsitz innehat. Neue Gruppierungen, wie die vor kurzem entstandene ‘Partei Rechtsstaatlicher Offensive’ ist unter diesem Namen kaum bekannt, da alle Medien nur von der ‘Schill-Partei’ sprechen, deren Gründer und Vorsitzender einer Partei bedarf, um die Statisterie für seine eigenen Auftritte zu bekommen. Aus diesem Grunde zeugen populistische Äußerungen in der Regel von einem möglichst niedrigen Niveau. Der österreichische Politiker Jörg Haider, auf den im Folgenden noch ausführlicher eingegangen wird, scheut Wie spricht ein Populist? 673 sich nicht nur nicht, sondern genießt es geradezu, Spiele mit Namen an die Stelle von politischen Inhalten zu setzen: In einer Rede zum ‘Politischen Aschermittwoch' in der Öberösterreichischen Stadt Ried im Innkreis am 28. Februar 2001 1 nannte er den Vorsitzenden der SPÖ, Alfred Gusenbauer, nur Gruselbauer, mit antisemitischen Ressentiments agiert in dieser Rede Haider unter starkem Applaus des Publikums gegen den Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde: Der Herr Ariel Muzikant - I versteh überhaupt net, wie, wenn aner Ariel heißt, so viel Dreck am Stecken haben kann. Die alte Regel, dass Namen sich nicht zu irgendeiner ‘Argumentation’ eignen, gilt in solch einer Situation für den populistischen Redner nicht. Das intellektuelle und moralische Niveau, das mit Populisten immer wieder regierungsfähig wird, zwingt zu einer Stellungnahme, die am besten einen Populisten selbst sprechen lässt, dies deshalb, weil er sich auf diese Weise am besten selber darstellt, charakterisiert und sein Niveau einnimmt. Als Beispiel wähle ich den Österreicher Jörg Haider, der in den Massenmedien immer wieder als ‘Rechtspopulist’ bezeichnet wird. Es geht (mir) dabei nicht um Kategorisierungen wie ‘rechts’ oder ‘links’, die gerade bei unserem Beispielfall nicht sehr von Bedeutung sind. Haider ist vor allem ein Anhänger Haiders bis zum letzten Atemzug; Haider will, dass Haider möglichst viel Erfolg hat, möglichst schnelle und möglichst große Karriere macht. Haider ist der erste und vorderste Haideranhänger und Haiderianer. Haider ist grenzen- und gnadenloser Opportunist. Die Äußerung Haiders, die im Folgenden exemplarisch beschrieben werden soll, stammt vom 30. September 1995. Wie jedes Jahr trafen sich auch damals Veteranen der Waffen-SS im kärntnerischen Ort Krumpendorf. Bei dieser Gelegenheit ergriff auch Jörg Haider das Wort. Mehr oder weniger zufällig war eine Person dort, die einen kurzen Ausschnitt aus der Rede Haiders mit einer Video-Kamera aufnahm; dieser Redeausschnitt gelangte ins Fernsehen und erregte großes Aufsehen. Mit dieser Rede konfrontiert, hat Haider eine Taktik gewählt, die von ihm oft angewendet wird: Er hat Mir liegt eine Video-Aufzeichnung dieser Rede vor; deren Transkription stammt von der Würzburger Studentin Tanja Hahn, die diese Rede ausführlich im Rahmen ihrer Magisterarbeit analysieren wird. 674 Norbert Richard Wolf alles geleugnet. Ich erinnere mich an eine Diskussion im österreichischen Fernsehen, in der er unbeirrt auf den Wortlaut in einem Manuskript in seinen Händen verwies und auf das vorgespielte Video ebenso unbeirrt nicht einging. - Mir steht eine Tonkopie zur Verfügung, die für unsere Zwecke ausreicht. Nun der Redeausschnitt: 1 ... und dass es in dieser Welt einfach anständige Menschen gibt, die einen 2 Charakter haben und die auch bei größtem Gegenwind zu ihrer Überzeugung 3 stehen und ihrer Überzeugung bis heute treu geblieben sind. Und des is eine 4 Basis, meine lieben Freunde, die auch an uns Junge weitergegeben wird. Und 5 ein Volk, das seine Vorfahren nicht in Ehren hält, ist sowieso zum Untergang 6 verurteilt. Nachdem wir auch eine Zukunft haben wollen, werden wir lei den 7 Linken von political correctness beibringen, dass wir nicht umzubringen sind 8 und dass sich Anständigkeit in unserer Welt allemal noch durchsetzt, auch 9 wenn wir momentan vielleicht nicht mehrheitsfähig sind, aber wir sind 10 geistig den Anderen überlegen, und des is etwas. [Applaus^ Meine Herr- 11 schäften, dafür haben wir das Geld; wir geben das Geld für Terroristen, wir 12 geben Geld für gewalttätige Zeitungen, wir geben Geld für arbeitsscheues 13 Gesindel und wir haben kein Geld für anständige Menschen. [Applaus] Es ist leicht, das Textstück als Ausschnitt aus einem größeren Ganzen zu erkennen. Es ist allerdings unmöglich, dieses Textstück so misszuverstehen, dass es aus dem Zusammenhang gerissen und deshalb völlig falsch interpretiert wird. Der Ausschnitt ist die Fortsetzung eines Satzgefüges; das Tonband enthält nur das abschließende Nebensatzgefüge. Aus einer Information aus der Homepage der FPÖ, der Partei Haiders, können wir den vorausgehenden Hauptsatz erschließen: Es gibt nämlich keines [gemeint ist ein Argument gegen Waffen-SS- Veteranentreffen, Anm.], außer dass man sich ärgert, dass es in dieser Welt einfach noch Menschen gibt, die einen Charakter haben und die auch bei größtem Gegenwind zu ihrer Überzeugung stehen und ihrer Überzeugung bis heute treu geblieben sind. (Zit. nach Wodak 2000, S. 181) Ansonsten werde ich es vermeiden, auf FPÖ-Informationen als Quelle für ‘unsere’ Rede zurückzugreifen, weil nachträgliche Retuschen nicht nur möglich, sondern geradezu wahrscheinlich sind. Das Problem der Quellenlage manifestiert sich schon in unserem Fall: Der Redeauschnitt beginnt mit der Konjunktion und: d.h., dass der übergeordnete Satz nicht so lauten kann, wie er in der Parteiinformation steht. Mit anderen Worten, schon das kleine Wie spricht ein Populist? 675 Wörtchen und macht uns auf Schönungen um nicht zu sagen: Fälschungen oder Manipulationen aufmerksam. Dies ist auch der Grund, warum ich in der Folge nicht mehr auf offizielle Parteiaussendungen zurückgreifen werde. Der obige Redeausschnitt scheint schon deshalb für unsere Zwecke geeignet, weil es sich um einen relativ ‘normalen’ Text handelt. Er enthält keine größeren Entgleisungen etwa in dem Sinne, dass NS-Sprüche zitiert werden. Schon der Anfang unseres Redeausschnittes macht uns einen weiteren Grundzug populistischen ‘Argumentierens’ deutlich: Es ist das Arbeiten mit deutlichen und eindeutigen Kontrasten. Es gibt immer zwei Gruppen auf dieser Welt: die Guten und die Bösen. Klar ist des Weiteren, dass der Populist selbst immer weiß, wer die Guten sind, wer zu den Guten gehört und dass er selbst immer bei den Guten ist und die Bösen zu benennen und zu beschreiben weiß. Die Guten, das sind die anständige[n\ Menschen, die einen Charakter haben und die auch bei größtem Gegenwind zu ihrer Überzeugung stehen und ihrer Überzeugung bis heute treu geblieben sind (Z. Iff.). Die Bösen sind die, die sich über derartige Veteranentreffen ärgern, die sich allerdings nicht so sehr über ein solches Treffen ärgern, sondern, wie der Redetext es explizit ausdrückt, über die Tatsache, dass es immer noch anständige Menschen gibt. Die Bösen sind ‘unanständig’, sie haben ‘keinen Charakter’, sind demnach ‘charakterlos’. Die Guten fürchten keinen Gegenwind, sie sind treu, sie stehen treu zu ihrer Überzeugung. Der Gegenwind kommt von den Bösen, die nicht zu ihrer Überzeugung stehen, die ‘ihrer Überzeugung untreu geworden’ sind. Diese Art von Weitsicht ist ein immer willkommenes strategisches Mittel, wenn es darum geht, ein Publikum für seine Pläne zu gewinnen. So sagte der amerikanische Präsident George W. Bush in seiner Rede vor dem Kongress am 20. September 2001, 2 in der er Aktionen gegen „die Terroristen“ ankündigte: Dies ist nicht nur Amerikas Kampf. Und es geht nicht nur um Amerikas Freiheit. Dies ist der Kampf der Welt. Dies ist der Kampf der Zivilisation. Der Kampf aller, die an Fortschritt und Pluralismus glauben, an Toleranz und Freiheit. Wir bitten jede Nation, teilzunehmen. Ich zitiere aus: http: / / www.sueddeutsche-zeitung.de/ sz/ printv.php? urlö=Ausland/ politik/ 2 503 7 vom 09.1 1.01. 676 Norbert Richard Wolf Bush vereinfacht ebenfalls die Komplexität der Welt. Auch für ihn gibt es nur Gute und Böse, und der terroristische Anschlag am 11. September 2001 war nichts anderes, als ein Anschlag der Bösen auf die Guten. Es gilt ganz allgemein: Die Welt ist trotz aller Komplexität für Populisten denkbar einfach: Es gibt nur Gute und Böse. Wir bekommen hier eine Klassifizierung, eine Typisierung geliefert, die eine Orientierung in dieser Welt wenn nicht ermöglicht, so doch ganz wesentlich vereinfacht. Es ist hier schon für die Teilnehmer des Treffens klar, auf welcher Seite sie stehen. Damit aber will der Redner auch verhindern, dass ehemalige Angehörige der Waffen-SS darüber nachdenken müssen, was sie getan haben, dass sie sich eingestehen müssen, Mitglieder einer verbrecherischen Organisation gewesen zu sein, selbst wenn sie persönlich nicht schuldig geworden sind. Wichtig ist, eine Überzeugung zu haben und treu zu dieser zu stehen-, welcher Art, welchen Inhalts diese Überzeugung ist, das spielt keine Rolle, weil Überzeugung grundsätzlich etwas Positives ist. Wichtig ist, diese Treue auch bei größtem Gegenwind zu beweisen. Die Guten haben einige wenige positive Eigenschaften, die, wie schon gesagt, genannt werden; über Anderes braucht in diesem Zusammenhang nicht gesprochen zu werden. Den Bösen fehlen gerade diese Eigenschaften, was die Verwerflichkeit ihres Tuns und ihres Daseins begründet und erklärt. Und da über andere Eigenschaften nicht gesprochen wird, ist auch auf dieser Ebene die Welt einfach und überschaubar. Komplexität ist nicht gefragt und an dieser Stelle zu diesem Zeitpunkt nicht brauchbar. Gerade die Vereinfachung etwaiger komplexer und komplizierter Verhältnisse würde eine Ordnung der Welt - und die Welt erkennen heißt, die Welt ordnen erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen. Trotz dieser einfachen Weitsicht (vgl. Z. 1: dass es in dieser Welt einfach anständige Menschen gibt) kann Haider nicht umhin, darauf zu verweisen, dass der Gegenwind groß ist (wobei ich mich frage, was ein ‘großer Wind’ ist, warum der Gegenwind nicht ‘stark’ oder ‘heftig’ ist); gleichwohl, er deutet an, dass die Bösen möglicherweise in der Mehrzahl sind, was ja dann kurz darauf explizit gesagt wird (Z. 9). Wenn dem so ist, dann sind die Guten zwar die Geisterfahrer, die nicht wahrhaben wollen, dass sie auf der falschen Fahrbahn in die falsche Richtung fahren, aber das ‘Geisterfahren’ ist eben etwas Gutes, etwas moralisch hoch Stehendes. Wie spricht ein Populist? 677 Der erste Satz ist zwar mit deutlich österreichischem Tonfall, jedoch in Standardsprache gesprochen; das stilistische Pathos ist unüberhörbar. Der nächste Satz ist demgegenüber dialektal oder umgangssprachlich gefärbt: Und des is eine Basis, meine lieben Freunde, die auch an uns Junge weiter gegeben wird. (Z. 3f.) Der Redner wird vertraulich, er spricht sein Publikum mit meine lieben Freunde an. Und in diesem Zusammenhang greift er zum Stilmittel der vertraulichen, der heimatlichen Sprachform. Die Vertraulichkeit, die diese wenigen dialektalen Elemente ausdrücken, wird durch andere sprachliche Einheiten verstärkt: Die Zuhörer werden direkt angesprochen, allerdings nicht mit der distanzierten Anrede meine Herren oder meine [sehr) verehrten Herren, sondern mit meine lieben Freunde. Der Redner solidarisiert sich mit den Veteranen, er tut kund, dass er sich mit ihnen einig und eins weiß. Sie, die Guten, sind seine lieben Freunde, wodurch die Vermutung bestätigt wird, dass sich Haider selbst auch zu den Guten rechnet. Gleichwohl, auch dieser Äußerungsteil, dieses Satzgefüge ist auf irgendeine Weise stilistisch nicht voll geglückt. Es stellt sich die Frage, ob man eine Basis an jemand anderen weitergeben kann. Eine Basis kann für Andere als ‘Grundlage des Handelns’ fungieren, deswegen muss man, kann man sie aber nicht weitergeben. Dennoch ist weitergeben ein ‘Hochwertwort’. Hochwertwörter spielen gerade in der politischen Rede eine wichtige Rolle. Man darf nicht nur den politischen Gegner niedermachen, man muss Positives, positive Werte immer entgegensetzen, denn auch in der Politik darf man nicht nur negativ, destruktiv sein. Weitergegeben wird nur Positives, in unserem Fall die Basis, die die Alten geschaffen haben. Basis ist in diesem Zusammenhang natürlich auch ein Hochwertwort. Haider benennt damit zusammenfassend die fundamentalen Werte, die ein Volk (Z. 5) am Leben erhalten, Überzeugung und Treue, ohne dass er etwas über den Inhalt dieser Werte sagt. Haider passiert hier also eine Bildvermengung, man kann, wie ausgeführt, Werte weitergeben bzw. ‘das Wissen um Werte/ von Werten/ was Werte sind’, aber nicht eine Basis. Dieser Befund lässt vermuten, dass solche Passagen nicht genau vorbereitet, sondern dass sie improvisiert sind. Es dürfte ein Grundzug Haiderscher Rhetorik sein, dass besonders seine ‘verbalen Ausrutscher’, seine direkten ‘Attacken’ auf die 678 Norbert Richard Wolf Anderen, seine ‘Säger’ (wie man das in Österreich nennt) vorbereitet sind, nicht aber die ‘Conference-Teile’ dazwischen (vgl. Worm 2000, S. 175f.). Die genannten Werte werden von den Veteranen gelebt und gleichzeitig an uns Junge weitergegeben. Die Wendung an uns Junge ist Ausdruck besonderer Ehrerbietung: Das Publikum des Redners sind die ‘Alten’, sind die Männer mit Lebenserfahrung und Wertebewusstsein. Der Redner zählt sich selbst zu den Jungen, die von den ‘Alten’ noch lernen können und müssen, an die die ‘Alten’ die Werte überliefern. Haider reiht sich in die Generationenkette ein, die Kette, die letztlich ein Volk ausmacht. Deshalb ist es konsequent, dass der nächste Satz eine allgemeine und allgemein gültige Sentenz ist: Und ein Volk, das seine Vorfahren nicht in Ehren hält, ist sowieso zum Untergang verurteilt. (Z. 4ff.) Diese Sentenz wird mit der Konjunktion und eingeleitet, wodurch der Anschluss an den Vorgängersatz besonders eng wird. Was zunächst über das Publikum gesagt wird, hat seine ‘logische’ Folge in der moralischen Verallgemeinerung, wie auch die konkrete Anwendung auf das konkrete Publikum sich aus der normativen Äußerung ergibt. Aufschlussreich ist, dass Haider in diesem Zusammenhang vom Volk und nicht etwa von der ‘Gesellschaft’ spricht. Vor den SS-Veteranen wählt er den historisch belasteten Begriff, von dem schon im Jahre 1935 Bert Brecht gesagt hat, dass man ihn wohl nicht mehr verwenden dürfe (Brecht 1967, S. 231). Haider aber geht es eben, zumindest vor diesem Publikum, um die Grundlagen, die Basis der ‘Volksgemeinschaft’, die sich, wie schon gesagt, durch die Generationenkette konstituiert. Am Anfang dieser Kette stehen die SS-Veteranen, sie sind die Vorfahren, die in Ehren zu halten sind. Wenn man den Bösen folgt, die sich im Laufe der Rede als die Linken (Z. 7) entpuppen, dann geht es mit dem Volk zu Ende, dann ist es zum Untergang verurteilt. Haider hingegen und sein Publikum wollen eine Zukunft haben, und sie allein wissen, wie man eine Zukunft haben kann. Der Gegensatz ‘Gute gegen Böse’ ist gleichzeitig der Gegensatz ‘Zukunft gegen Untergang’. Doch auch diese Sentenz ist schief formuliert. Zum Pathos der allgemeinen Aussage passt die umgangssprachliche Partikel sowieso nicht. Der Redner vermengt die Stilebenen, was zeigt, dass auch das Pathos kurz eingesetzt ist. Wie spricht ein Populist? 679 dass es jederzeit gestört, unterbrochen werden kann. Das Pathos wird unecht, genau so wie die tieferen Stilebenen unecht sind. Dazu kommt, dass das Pathos auch unwahr ist: Die Sentenz spricht von den Vorfahren-, die angesprochenen Veteranen aber sind, vor allem in Hinblick auf den Redner, mitnichten Vorfahren, sondern bestenfalls ‘Väter’ oder ‘Onkel’; diese Wörter sind in diesem Zusammenhang allerdings nicht so positiv aufgeladen. Das ‘Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache’ bucht s.v. Vorfahren die Bedeutung „die Menschen früherer Generationen, einer vergangenen Epoche“ und vermerkt dazu die stilistische Markierung ‘gehoben’ (Klappenbach/ Steinitz 1977, S. 4194); und das Langenscheidt-Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache notiert zur Bedeutung: „jemand, von dem man abstammt (u. der vor langer Zeit gelebt hat)“ (Götz/ Haensch/ Wellmann 1999, S. 1101). Da im Zusammenhang der Rede nur die Bedeutung „die Menschen früherer Generationen, einer vergangenen Epoche“ und nicht die in anderen Kontexten wirksame Bedeutung des Singulars Vorfahr „Person, von der jmd. abstammt“ (Klappenbach/ Steinitz 1977, S. 4193) in Frage kommt, ist die gesamte Sentenz hohl und sinnlos. Mit diesen wenigen Sätzen ist ein einfaches und vereinfachendes ‘Programm’ formuliert. Was nunmehr folgt, ist explizierende Variation des Vorausgehenden: 1) Die ‘Bösen’ werden genannt. Es sind [die] Linken (Z. 6f.). Der bestimmte Artikel drückt aus, dass es sich um ein bekanntes Phänomen in seiner Gesamtheit handelt. 2) Die Linken sind potenzielle Mörder der ‘Guten’. Die Formulierung wir sind nicht umzubringen (Z. 7) hat bekanntlich passivischen Charakter: ‘Wir können nicht umgebracht werden’. Das Passiv ist eine sprachliche Möglichkeit, den Urheber eines Geschehens den Täter nicht zu nennen. Man braucht ihn, im Zusammenhang mit der Haiderschen Rede, nicht zu nennen, weil er bekannt ist. Der Redner kann hier auf ein Weltwissen, das er mit seinem Publikum gemeinsam hat, rekurrieren. Indem er das tut, weiß er sich mit seinem Publikum einig. Andererseits kann er - und Derartiges tut er gerne und oft immer behaupten, dass er nicht gesagt habe, dass die Linken die Guten umbringen wollten. Jedes Dementi ist mit dieser Formulierung vorbereitet. 680 Norbert Richard Wolf 3) Die Unken wollen den Sprachgebrauch bestimmen; political correctness (Z. 7) ist das Ergebnis dieser Art von Sprachdiktatur. Haider zeigt deutlich, dass er nichts davon hält, dass er mutig genug ist, dass er in dieser Männergesellschaft von Veteranen Manns genug ist, das zu sagen, was er sagen will, und nicht bloß das, was er sagen darf oder sagen soll. Dass er in dem Kreis der SS-Veteranen genau demselben Zwang der Zeichenwahl unterliegt, wie er von den Linken gefordert wird, scheint ihm nicht bewusst zu sein. Das heißt, dass Haider sich hier ebenfalls ‘politisch korrekt’ gibt; er sagt genau das, was dieses Publikum von ihm erwartet; er widerspricht mit keiner Silbe diesen Erwartungen. Dazu gehört auch sein demonstrativer Heroismus, die Haltung ‘Ich resp. wir gegen den Rest der Welt’. 4) Wir, die Guten, verfügen über das Charakteristikum der ‘Anständigkeit’. Dieses Kennzeichen ist stark wie seine Träger; deshalb wird es sich in unserer Welt allemal noch durchsetzen (Z. 8). unsere Welt ist einfach wie ein Wildwestfdm, das Gute setzt sich letztendlich doch durch. Eine solche dualistisch aufgebaute Welt aber braucht auch ihre Helden, und sie hat ihre Helden im Publikum und in seinem Redner. 5) Der Wildwestfilm ist noch nicht an seinem Ende angelangt, momentan (Z. 9) scheinen die Bösen zu obsiegen, die Guten sind im Augenblick vielleicht nicht mehrheitsfähig (Z. 9). Die Partikel vielleicht schwächt diese Aussage ab: Es könnte so sein, wir wissen es aber nicht genau, ob es tatsächlich so ist. 6) Als die, die die wahren Werte kennen, als die, die nicht umzubringen sind, sind die Guten geistig den Anderen überlegen (Z. 9f.), wobei offen bleibt, was geistig eigentlich bedeutet. In der üblichen Alltagssprache meint geistig ‘intellektuell’; doch darauf scheint es Haider nicht anzukommen; er will kein Intellektueller sein. Das Vorausgehende und auch das Nachfolgende könnten darauf schließen lassen, dass ‘moralisch’ gemeint ist; doch dieses Wort dürfte im Kontext von alten SS-Recken zu konservativ, zu religiös, zu harmlos klingen. Geistig zielt auf eine Überzeugung ab, auf Anständigkeit, auf Charakter, auf die Tatsache, zu wissen, dass man zu den Guten gehört. In diesem Satz verwendet Haider das inklusive wir (Z. 9), er schließt sich in den Kreis der guten Überlegenen ein. Und dass alle genau das wissen, dass sie die Besseren sind, das wird mit der beschwörenden Formel und des is etwas (die wiederum mit dia- Wie spricht ein Populist? 681 lektalem Anklang artikuliert wird; Z. 10) bekräftigt. Eine solche Formel ist immer auch ein Signal ans Publikum, Applaus zu spenden, was dann auch tatsächlich geschieht. Der erste emotionale Höhepunkt ist erreicht. 7) Der abschließende Teil dieses Redeausschnitts wird mit der Anrede Meine Herrschaften (Z. 10f.) eingeleitet. Der Unterschied zur Anrede meine lieben Freunde kann deutlicher nicht sein: Was nun folgt, ist nicht mehr die moralische und emotionale Übereinstimmung, sondern die geänderte Anrede bereitet das Publikum auf eine schwer zu ertragende Wahrheit vor: Der Staat, der momentan von den Linken regiert wird, hat Geld nur für die Bösen, nicht aber für die Guten. Die Bösen, die das Geld bekommen, sind Terroristen (Z. 11), gewalttätige Zeitungen (Z. 12, wiederum eine schiefe Formulierung) und arbeitsscheues Gesindel (Z. 12f.), wobei die Aussagen bewusst vage bleiben; statt eindeutiger Hinweise belässt es der Redner bei mehrdeutigen Anspielungen, aus denen jeder Hörer das heraus suchen kann, was ihm am besten in sein Vorurteil passt. Dreimal setzt Haider mit der Wortgruppe wir geben {das) Geld (Z. 1 lf.) ein, und dreimal werden die Empfänger mit ‘Stigmawörtern' genannt. Gerade diese Aussage ist bewusst rhetorisch geplant, von den Terroristen geht es in einem Dreierschritt zum negativen Höhepunkt arbeitsscheues Gesindel. Dem steht dann die niederschmetternde Tatsache und wir haben kein Geld für anständige Menschen (Z. 13) gegenüber. Für diese Aussage, für die Gestaltung dieser Aussage und für den Mut, diese Wahrheit zu sagen, wird der Redner aufs Neue mit Applaus belohnt. 8) Auch nach der Anrede Meine Herrschaften verwendet Haider das Pronomen wir, es ist diesmal kein inklusives wir, das eine Gemeinschaft zwischen dem Redner und seinem Publikum signalisieren soll, sondern es ist ein umfassendes wir: wir leben in diesem Staat, wir müssen in diesem Staat leben, und somit wird auch in unserem Namen all das Böse getan, das nunmehr endlich ausgesprochen wird. Haider ist damit bei seinem Lieblingsthema, dem verrotteten Staat, dem er seine ‘Bewegung’ so nannte er einige Zeit lang seine Partei, die Anspielung auf eine frühere Partei ist sicherlich nicht zufällig als Vision von einem sauberen Staat gegenüber stellt. Dieser kurze Redeausschnitt ist in nuce die ganze populistische Rhetorik und auch die ganze populistische Theorie: 682 Norbert Richard Wolf a) Die Welt ist dualistisch aufgebaut: es gibt die guten und die bösen Mächte. Haider gehört zu den Guten. Wer die Bösen sind, entscheidet die jeweilige Situation. Es können wie hier die Linken sein, in anderen Situationen sind es die ‘Ausländer’, dann wieder sind es die ‘Altparteien’, der Fantasie des Redners sind keine Grenzen gesetzt. b) Der Staat ist in schlechten Händen. Er bedarf eines Saubermannes, der den Augiasstall endlich einmal ausmistet. c) Je nach Situation, je nach Publikum wählt der Redner seine Worte, seine Argumente. Es geht dabei nicht um bestimmte Haltungen, bestimmte Überzeugungen, sondern es geht um den ‘Gag’ in der Situation. Haider, um bei diesem Beispiel zu bleiben, weiß sein Publikum sehr genau einzuschätzen. Es ist bekannt, dass er sich seine Reden nicht schreiben lässt, sondern dass er nur mit Notizen kommt, die einige markige Worte enthalten; und während einer Rede hangelt er sich improvisierend von einem vorbereiteten markigen Ausspruch zum nächsten. Es sind gerade seine verbalen Entgleisungen, die vorbereitet sind. Und er ist stets in der Lage, das Gegenteil von dem zu sagen, was er soeben geäußert hat. Und es ist geradezu ein Charakterzug von ihm, dann zu leugnen, dass er früher etwas anderes gesagt hat. Deshalb kann es auch passieren, dass manche Sätze nicht ganz glücken. Auf einige solche stilistischen Unebenheiten habe ich schon hingewiesen. Gänzlich missglückt ist der Hauptsatz werden wir lei den Linken von political correctness beibringen (Z. 6f.). lei ist ein Dialektwort des Südbairischen (in Kärnten spricht man Südbairisch) und bedeutet ‘nur’; dies passt allerdings nicht. Auf einen Versprecher, der durch die Wortgruppe den Linken korrigiert wird, deutet der gesprochene Text nicht; doch gilt oft die Partikel lei als kärntnerisches Schibboleth. Auch die Präpositionalgruppe von political correctness ist nirgends syntaktisch angeschlossen. Irgendwie wirkt der Satz so, dass einige positiv klingende Versatzstücke mehr oder weniger geglückt aneinander gereiht sind. Das zweite politische Credo eines Populisten ist der Protest. Man ist einfach dagegen, ganz gleich, wogegen man gerade sein soll. Das erste politische Credo ist eine Selbstverliebtheit und eine Selbstbewunderung, die an das Krankheitsbild des Narzissmus grenzt, wenn nicht gar schon narzisstisch ist (vgl. Worm 2000). Aus diesem Grund sucht, giert der Redner nach der Wie spricht ein Populist? 683 Zustimmung der Massen, die er leicht bekommt, weil er genau das sagt, was sein Publikum hören will, weil der populistische Redner letztlich immer dasselbe abspult: Es sind seine Wortgags zusammen mit seinen Vereinfachungen und dem Gestus des letzten aufrechten Kämpfers. Zu diesem Zweck scheut er keine inneren Widersprüche in seinen Texten. Da sie, wie dargelegt, nicht als Ganzes geplant sind, fallen solche Widersprüche erst im Nachhinein auf. Da die einzelnen Textteile für den Augenblick und aus dem Augenblick heraus entstehen, stören den Redner diese Widersprüche auch nicht. Es fällt ihm nicht auf, dass in dem kurzen Ausschnitt aus der Krumpendorfer Rede vier verschiedene Verwendungsweisen des Personalpronomens wir verkommen: 1. In der Wendung an uns Junge (Z. 4); Haider präsentiert sich hier als Mitglied der anständigen Jungen, die von den Alten die wahren und richtigen Werte übernehmen. 2. Das wir in Z. 6, das sich auf das Volk bezieht, wir, das Volk, das eine Zukunft haben will und deshalb seine Vorfahren in Ehren hält. 3. Das schon erwähnte inklusive wir, das eine Einheit zwischen Redner und seinem Publikum hersteilen soll; es handelt sich um die Einheit der Anständigen. Haider verwendet also zwei unterschiedliche wir in einem einzigen Satzgefüge. 4. Den Abschluss in dieser Reihe bildet ein wir in der Bedeutung ‘unser Staat’ bzw. ‘der Staat, in dem wir leben, vertreten durch die Regierung’. So können wir populistisches Sprechen zunächst als ein Sprechen über ein „einfaches Welt-Bild“ (Ötsch 2000, S. 13) bezeichnen: Die Welt bzw. die Gesellschaft wird geteilt „in zwei Teile: in DIE WIR und in DIE ANDEREN“ (Ötsch 2000, S. 15). Auf diese zwei Teile werden dann Hochwertwörter und Stigmawörter verteilt; diese Wörter sind allesamt ‘Reizwörter’, also lexikalische Einheiten, bei denen es mehr um Konnotationen, dagegen kaum um Denotationen geht. Deshalb ist es auch nicht von Bedeutung, dass sich ein Redner innerhalb einer Rede selbst widerspricht, dass der Text ingesamt nicht kohärent ist und dass der Redner bei jedem Publikum etwas anderes sagt (vgl. die Zitatensammlung Czernin 2000), da ja die Texte letztlich nicht mehr als Aneinanderreihungen von Reizwörtern mit weitgehend belanglosem Zwischentext sind. ‘Reizwörter’ gehören also nicht zum „Ideologievo- 684 Norbert Richard Wolf kabular“ (Klein 1989, S. 7), auch nicht zu dem Ausschnitt, in dem „die grundlegenden Werte und Handlungsorientierungen zum Ausdruck kommen“ (ebd., S. 8), weil in den Reizwörtern eben keine „Werte“, sondern nur „Emotionsanreize“ zum Ausdruck kommen. Die wichtige Rolle der ‘Reizwörter’ zum Aufbau der ‘einfachen Welt’ wird, zumindest in unseren Beispiel, auch dadurch hervorgehoben, dass Haider kaum mit intonatorischen Mitteln arbeitet. Das Textstück wird ziemlich schnell, nahezu in einem Stimmten und ohne Akzent gesprochen; es kommt eben in erster Linie auf die Wortsemantik an. Der populistische Redner erreicht die für ihn notwendige „Zustimmung“ seines Publikums durch „herabsetzende Beschimpfungen“ der ‘Anderen’; gleichzeitig dienen die ‘Reizwörter’ der Erzeugung „vieldeutige[r] Anspielungen“ (Januschek 1994, S. 285), ohne die ein ‘populistischer Diskurs’ wohl kaum möglich ist. Literatur Brecht, Bertolt (1967): Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit. In: Gesammelte Werke. Bd. 18. Frankfurt a.M. S. 222-239. Czernin, Hubertus (2000): Wofür ich mich meinetwegen entschuldige. Haider beim Wort genommen. Wien. Götz, Dieter/ Haensch, GüntherAVellmann, Hans (1999): Langenscheidts Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache. Berlin/ MünchenAVien/ Zürich/ New York. Januschek, Franz (1994): J. Haider und der rechtspopulistische Diskurs in Österreich. In: Tributsch, Gudmund (Hg.): Schlagwort Haider. Wien. S. 284-335. Klappenbach, Ruth/ Steinitz, Wolfgang (Hg.) (1977): Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Bd. 6. Berlin. Klein, Josef (1989): Wortschatz, Wortkampf, Wortfelder in der Politik. In: Klein, Josef (Hg.): Politische Semantik. Opladen. S. 3-50. Noblen, Dieter (1998): Populismus. In: Noblen, Dieter/ Schultze, Rainer-Olaf/ Schüttemeyer, Suzanne J. (Hg.): Politische Begriffe. München. (= Lexikon der Politik 7). S. 514f. Ötsch, Walter (2000): Haider Light. Handbuch für Demagogie. Wien. Wie spricht ein Populist? 685 Wodak, Ruth (2000): „Echt, anständig und ordentlich“. Wie Jörg Haider und die FPÖ Österreichs Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beurteilen. In: Scharsach, Hans-Henning (Hg.): Haider. Österreich und die rechte Versuchung. Reinbek. (= rororo aktuell 22933). S. 180-187. Worm, Alfred (2000): Widersprechen, auffallen, trendsetten. Jörg Haider eine schlechte, aber perfekte Inszenierung. In: Scharsach, Hans-Henning (Hg.): Haider. Österreich und die rechte Versuchung. Reinbek. (= rororo aktuell 22933). S. 169-179. Zizek, Slavoj (2001): Wir sind die Couch. In: Süddeutsche Zeitung 26.121. Mai 2001, S. 13. Gerhard Stickels Vita Gerhard Stickel studierte die Fächer Germanistik, Anglistik, Allgemeine Sprachwissenschaft und Philosophie an den Universitäten Freiburg, Bonn und der Wesleyan University in Connecticut/ USA. Nach dem Staatsexamen im Herbst 1963 arbeitete er zweieinhalb Jahre lang als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Rechenzentrum (DRZ) in Darmstadt, das inzwischen in die GID Frankfurt/ M. integriert wurde. In diesen Gründerjahren der linguistischen Datenverarbeitung, als die Rechner noch mit Lochkarten gefüttert wurden, konnte Gerhard Stickel als an der Entwicklung von DV-Programmen für linguistische und philologische Fragestellungen beteiligter wissenschaftlicher Programmierer einen ersten Einblick in ein Sachgebiet nehmen, das auch heute in völlig abgewandelter Form ein wesentliches Werkzeug der Arbeit am IDS ist: die rechnergestützte Gewinnung und Aufbereitung von Sprachdaten. Erste Erfahrungen im Wissenschaftsmanagement sammelte er dort in der Funktion des Leiters der Fachgruppe „Linguistik“. Im September 1966 wechselte er an die Universität Kiel und war dort als Assistent am Seminar für Allgemeine und Indogermanische Sprachwissenschaft tätig. 1970 erfolgte die Promotion in den Fächern Allgemeine Sprachwissenschaft, Germanistik und Anglistik. Bereits in demselben Jahr erschien die Buchpublikation der Dissertation „Untersuchungen zur Negation im heutigen Deutsch“. Mit dieser viel zitierten Arbeit, die von einer Reihe thematisch benachbarter Arbeiten flankiert war, hat Gerhard Stickel nicht nur die deskriptive Forschung zur Negation im Deutschen nachhaltig beeinflusst, sondern einen wichtigen Impuls für die Etablierung moderner Grammatiktheorien in Deutschland gegeben. Im Anschluss an die Zeit in Kiel verbrachte Gerhard Stickel zweieinhalb Jahre als DAAD-Lektor an der „Literatur-Fakultät“ der Kyushu-Universität in Fukuoka/ Japan. Auf diese Erfahrungen im universitären Deutschunterricht für Ausländer geht Gerhard Stickels hohe Wertschätzung der Auslandsgermanistik und der Pflege der Beziehungen mit der internationalen Germanistik zurück. Die Mitgliedschaft im Fachbeirat Germanistik des DAAD (seit 688 Gerhard Stickels Vita 1993) und die Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut zeugen von diesem Engagement. Die Erfahrung deutsch-japanischer Kontraste fand ihren unmittelbarsten Ausdruck in Gerhard Stickels erstem Tätigkeitsfeld am Institut für Deutsche Sprache, dem Projekt einer „Deutsch-japanischen kontrastiven Grammatik“. Im April 1973 wurde Gerhard Stickel, nachdem er zwei Rufe zu Gunsten des IDS-Angebots ausgeschlagen hatte, Mitarbeiter des IDS und gleichzeitig Leiter des genannten Projekts. Nach dem Intermezzo einer Lehrstuhlvertretung an der Universität Bielefeld (Prof. Weinrich) wurde Gerhard Stickel im Dezember 1974 zum Leiter der Abteilung „Kontrastive Linguistik“ des IDS ernannt, in der neben dem deutsch-japanischen Projekt auch die deutschfranzösische und die deutsch-spanische kontrastive Grammatik angesiedelt waren. Aus dieser Zeit datieren eine Reihe von Publikationen zum deutschjapanischen Kontrast wie auch zu allgemeineren Aspekten der kontrastiven Linguistik. In einer für das Institut kritischen, ja existenzbedrohenden Zeit wurde Gerhard Stickel im März 1976 zum Direktor des IDS, ab Juli 1976 zum geschäftsführenden Direktor bestellt. Nicht zuletzt seiner Tatkraft und seiner Überzeugungsarbeit in den Verhandlungen mit den Behörden ist es zu verdanken, dass das IDS nicht nur erhalten werden, sondern auch in der Folgezeit konsolidiert und ausgebaut werden konnte. Zu verweisen ist hier insbesondere auf das „Memorandum zur Situation des IDS“ vom Jahr 1977. Die Rolle im Vorstand des IDS hat Gerhard Stickel seit nunmehr 26 Jahren inne, von 1982 bis 1994 übte er sie gemeinsam mit Prof. Dr. Rainer Wimmer aus. Marksteine seiner administrativen Tätigkeit nach innen sind unter anderem die Umsiedlung des Instituts in das neue Domizil im Herzen der Stadt und die Integration von über 20 Mitarbeitern des „Zentralinstituts für Sprachwissenschaft“ der Akademie der Wissenschaften in Berlin im Jahr 1991. Seine wissenschaftliche Tätigkeit erstreckte sich auf Themenbereiche wie „Sprache und Recht“, „öffentlicher Sprachgebrauch“, z.B. im Zeichen des Sprachfeminismus, und „Deutsch als Wissenschaftssprache“. Zunehmend traten dabei Fragen in den Vordergrund, die die Öffentlichkeit bewegen wie Gerhard Stickels Vita 689 die Debatte um den wachsenden Einfluss des Englischen auf das Deutsche oder die Rechtschreibreform. Als wichtiger Ansprechpartner der öffentlichen Diskussion hat Gerhard Stickel stets klar Stellung bezogen. Mit seiner abwägenden, jeglichem Verfalls-, Krisen- oder Untergangsszenario abgeneigten Linie hat er sich für eine Versachlichung dieser Debatten eingesetzt und damit viel Resonanz gefunden. In der 1999 veröffentlichten bundesweiten Repräsentativumfrage „Meinungen und Einstellungen zur deutschen Sprache“ konnte Gerhard Stickel auch empirisch dokumentieren, wie sprachkultureile Fragen von der Sprachgemeinschaft reflektiert und bewertet werden. Seine 1986 erfolgte Bestellung zum Honorarprofessor an der Universität Mannheim, die Mitgliedschaft im Forschungsrat der Universität Mannheim und vor allem seine seit 1994 erfolgreich ausgeübte Funktion als Sprecher der geistes- und kulturwissenschaftlichen Sektion der Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz, der das IDS angehört, spiegeln die Anerkennung wider, die Gerhards Stickels wissenschaftliche und wissenschaftsorganisatorische Leistungen finden. Eine Krönung seines Lebenswerkes ist sicherlich in der von ihm angeregten europäischen sprachpolitischen Initiative zu sehen. Dabei konnten die Vertreter der Institute für die Landessprachen in der europäischen Union für ein gemeinsames Vorgehen im Interesse der Förderung der europäischen Hochsprachen gewonnen werden. Gerhard Stickel: Verzeichnis wissenschaftlicher Veröffentlichungen (Stand: Okt. 2001) 1. Monografien und Aufsätze (1964) Automatische Textzerlegung und Registerherstellung. Darmstadt. (= Programm-Information PI-11, hrsg. v. Deutschen Rechenzentrum). (1966a) Linguistik und automatische Datenverarbeitung. In: Darmstädter Blätter (TH Darmstadt) 4, S. 31-36. (1966b) ‘Computerdichtung’ - Zur Erzeugung von Texten mit Hilfe von datenverarbeitenden Anlagen. In: Der Deutschunterricht 2, S. 120-125. (1966c) [zus. mit Manfred Gräfe] Automatische Textzerlegung und Herstellung von Zettelregistem für das Goethe-Wörterbuch. In: Sprache im technischen Zeitalter 19, S. 247-257. (1967) ‘Monte-Carlo-Texte’ - Automatische Manipulation von sprachlichen Einheiten. In: Exakte Ästethik 5, S. 53-57. (1968a) [Rezension von] Hays, David G. (Hg.) (1966): Readings in Automatic Language Processing. New York, und Hays, David G. (1967): Introduction to Computational Linguistics. New York. In: IRAL VI [= International review of applied linguistics in language teaching], S. 305-311. (1968b) Zur Syntax der Negation im Deutschen. In: Zweites Linguistisches Kolloquium. Stuttgart. (= Papier Nr. I des Lehrstuhls für Linguistik der Universität Stuttgart). S. 25-39. (1970) Untersuchungen zur Negation im heutigen Deutsch. Braunschweig. (= Schriften zur Linguistik 1). (1971) Verwendungsarten von ‘ja’ und ‘nein’. In: Energeia 3 (Tokyo), S. 100- 112. (1972a) [zus. mit Klaus Vorderwülbecke] Deutsche Deutschlehrbücher für Ausländer. In: Berichte des Japanischen Deutschlehrerverbandes 2, S. 35-40. (1972b) Was ist kontrastive Linguistik? In: Energeia 4 (Tokyo), S. 90-102. (1972c) ‘Ja’ und ‘Nein’ als Kontroll- und Korrektursignale. In: Linguistische Berichte 17, S. 12-17. 692 Gerhard Stickel (1973a) Zur Situation des Deutschunterrichts in Japan. In: Berichte des Japanischen Deutschlehrerverbandes 6, S. 10-19. (1973b) Plan einer kontrastiven deutsch-japanischen Analyse. In: Mitteilungen des Instituts für deutsche Sprache 2, S. 13-26. (= Gek. Fassung von 1976c). (1974) Sätze vom Typ „Wann glaubst du, daß Hans kommt“. In: Berichte des Japanischen Deutschlehrerverbandes 6, S. 14-20. 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(= Jahrbuch 1989 des Instituts für deutsche Sprache). S. 372-385. (1991) Koordination im Deutschen und Japanischen. In: Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses Tokyo 1990. Bd. 4. München. S. 16-25. (1992a) [zus. m. Dieter Herberg] Gesamtdeutsche Korpusinitiative. Ein Dokumentationsprojekt zur Sprachentwicklung 1989/ 90. In: Deutsche Sprache 1992, S. 185-192. (1992b) Forschungseinrichtungen für deutsche Sprache - Kleine Institutionenkunde. In: Deutsche Literatur und Sprache aus ostasiatischer Perspektive (Japanisch-Deutsches Zentrum Berlin). Berlin. S. 275-283. Verzeichnis wissenschaftlicher Veröffentlichungen 695 (1992c) (1992d) (1992e) (19921) (1993a) (1993b) (1994a) (1994b) (1994c) (1994d): (1994e) (1995a) (1995b) Ist die deutsche Sprache noch zu retten? In: Lensch, Günter (Hg.): Die multikulturelle Gesellschaft. St. Ingbert. (= Akademie Forum Masonicum, Jahrbuch 1991). S. 123-138. Eröffnung. In: Hoffmann, Ludger (Hg.): Deutsche Syntax: Ansichten und Aussichten. Tübingen. (= Jahrbuch 1991 des Instituts für deutsche Sprache). S. 1-5. Ein neues Haus für die Sprachforschung. Zur Übernahme des neuen Institutsgebäudes am 9. Juli 1992. In: Sprachreport Extra/ 3. Quartal 1992. S. 1-3. Forschungseinrichtungen für deutsche Sprache kleine Institutionenkunde. In: Deutsche Literatur und Sprache aus ostasiatischer Perspektive (Japanisch-deutsches Zentrum Berlin). S. 275-283. Architektur und Sprache. In: Paetz gen. Schieck, Eberhard (Hg.): Professor Helmut Striffler 65 - Bemerkungen im Vorübergehen und Erinnerungen an eine bessere Zukunft. 2. Aufl. Darmstadt. S. 16-18. Vorwort. In: Born, Joachim/ Stickel, Gerhard (Hg.): Deutsch als Verkehrssprache in Europa. Berlin/ New York. (= Jahrbuch 1992 des Instituts für deutsche Sprache). S. 1-2. [Rezension von] Hayashi, Akiko: Japanische Demonstrativa und ihre deutschen Entsprechungen: eine kontrastive Untersuchung anhand deutscher literarischer Werke und ihrer japanischen Übersetzungen. Trier 1993. In: Germanistik 35, S. 396f. [Rezension von] Busse, Dietrich: Recht als Text: linguistische Untersuchungen zur Arbeit mit Sprache in einer gesellschaftlichen Institution. Tübingen 1992. In: Leuvense Bijdragen 83, S. 1-4. Engleutsch. In: Sprachreport 4, S. 13-14. Vorschläge zur Vorurteilsforschung. In: Grucza, Frantisek (Hg.): Vorurteile zwischen Deutschen und Polen. Materialien des deutsch-polnischen wissenschaftlichen Symposiums 9. bis 11. Dez. 1992 in Görlitz- Zgorzelec. Warschau. S. 161-165. Geleitwort. In: al-Wadi, Doris: COSMAS: Ein Computersystem für den Zugriff auf Textkorpora. Version R. 1.3-1. Benutzerhandbuch. Mannheim. S. v-vi. Vorwort. In: Stickel, Gerhard (Hg.): Stilfragen. Berlin/ New York. (= Jahrbuch 1994 des Instituts für deutsche Sprache). S. If. Vom IDS an die Uni Trier. In: Sprachreport 1/ 1995, S. 15. 696 Gerhard Stickel (1996a) The Institute for the German Language: Its Aims and Organization. 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S. 1-2. (1998a) Eröffnung der Jahrestagung 1997. In: Kämper, Heidrun/ Schmidt, Hartmut (Hg.): Das 20. Jahrhundert. Sprachgeschichte - Zeitgeschichte. Berlin/ New York. (= Jahrbuch 1997 des Instituts für deutsche Sprache). S. 5-8. (1998b) Zum Streit um die Reform der deutschen Rechtschreibung. In: Leksika i leksikografica. Bd. 9 (Rossijskaja Akademija Nauk, Institut Jazikoznanija). Moskau. S. 150-167. [Auch in: Bäcker, Iris (Hg.): Das Wort. Bonn. (= Germanistisches Jahrbuch '98 GUS). S. 317-336.]. (1998c) Der Sprachfeminismus geht in die falsche Richtung. In: Brunner, Margot/ Frank-Cyrus. Karin M. (Hg.): Die Frau in der Sprache. Gespräche zum geschlechtergerechten Sprachgebrauch. Wiesbaden. S. 73-80 et pass. (1999a) Deutsch als Wissenschaftssprache und Gottfried Wilhelm Leibniz. In: Sprachreport 2, S. 16-19. (1999b) La langue allemande. In: D’Haenens, Albert/ Delvaux, Michel (Hg.): L’Allemagne (L'Europe d'aujourd'hui). Bruxelles. S. 91-103. (1999c) De Duitse taal. 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(= amades, Arbeitspapiere und Materialien zur deutschen Sprache 2/ 1999). (2000a) Einstellungen der Deutschen zum Deutschen und seinem Verhältnis zu anderen Sprachen. In: Wilss, Wolfgang (Hg.): Weltgesellschaft - Weltverkehrssprache - Weltkultur. Globalisierung versus Fragmentierung. Tübingen. S. 27-49. (2000b) Sprachliche Umgangsformen im Deutschen und mehreren asiatischen Sprachen - Beiträge zu einer multilingualen Arbeitsgruppe. In: Deutscher Akademischer Austauschdienst (Hg.): Germanistentreffen Deutschland - Indien - Indonesien - Philippinen - Taiwan - Thailand - Vietnam 3.- 8.10.1999. Bonn. S. 199-204. (2000c) Konventionell-medialer Auftakt. In: Kallmeyer, Werner (Hg.): Sprache und Medien. Berlin/ New York. (= Jahrbuch 2000 des Instituts für Deutsche Sprache). S. 1-5. (2000d) Englisch-Amerikanisches in der heutigen deutschen Lexik und was die Leute davon halten. In: Herberg, Dieter/ Tellenbach, Elke (Hg.): Sprachhistorie(n). Hartmut Schmidt zum 65. Geburtstag. Mannheim. (= amades, Arbeitspapiere und Materialien zur deutschen Sprache 2/ 2000). S. 137- 149. (2000e) Was West- und Ostdeutsche sprachlich voneinander halten. In: Reiher, Ruth/ Baumann, Antje (Hg.): Mit gespaltener Zunge? Die deutsche Sprache nach dem Fall der Mauer. Berlin. S. 16-29. (Gek. Fassung als (2Ö01e). (2000f) Leibniz und Deutsch als Wissenschaftssprache. In: Ehlich, Konrad (Hg.): Deutsch im 3. Jahrtausend. München. S. 35-46. (2000g) Repräsentativerhebung zur ‘Sprachbefindlichkeit’ in Deutschland. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, 47. Jg., H. 2-3/ 2000, S. 196-213. 698 Gerhard Stickel (2001a) Wissenschaftssprachen an deutschen Forschungsinstituten. In: Ehlich, Konrad/ Ossner, Jakob/ Stammerjohann, Harro (Hg.): Hochsprachen in Europa. Entstehung, Geltung, Zukunft. Freiburg i.Br. S. 309-320. (2001b) Deutsch als Wissenschaftssprache an außeruniversitären Forschungsinstituten. In: Debus, Friedhelm/ Krollmann, Franz Gustav/ Pörksen, Uwe (Hg.): Deutsch als Wissenschaftssprache im 20. Jahrhundert. Vorträge des Internationalen Symposions vom 18./ 19. Januar 2000, Mainz: Akad. der Wiss. und der Literatur. Stuttgart. S. 125-142. (2001c) [mit Rudolf Gerhardt] Die Sprache der Juristen ist besser als ihr Ruf. In: Zeitschrift für Rechtspolitik mit Rechtspolitischer Umschau, Mai 2001, 34. Jg„ S. 229-232. (2001d) Memorandum: Politik für die deutsche Sprache. In: Sprachreport 3, S. 8- 11. (2001e) Ost- und westdeutsche Spracheinstellungen. In: Kühn, Ingrid (Hg.): Ost- West-Sprachgebrauch zehn Jahre nach der Wende. Eine Disputation. Opladen. S. 51-64. (= Gek. Fassung von (2000e). 2. Herausgebertätigkeit (1974ff.) [mit Heinrich Löffler, Gisela Harras, Hugo Steger und Gisela Zifonun] Deutsche Sprache. Zeitschrift für Theorie, Praxis und Dokumentation. Bde. 2ff. Berlin. (1976) Deutsch-japanische Kontraste. Vorstudien zu einer kontrastiven Grammatik, Tübingen. (= Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache 29). (1976-1984) [mit Gisela Zifonun] Reihe: Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache. Bde. Nr. 30-55. Tübingen. (1981) [mit Dieter Krallmann] Zur Theorie der Frage. Vorträge des Bad Homburger Kolloquiums, 13.-15. November 1978. Tübingen. (= Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache 52). (1983/ 84) [mit Tohru Kaneko] Deutsch und Japanisch im Kontrast. Bd. 1 u. 2. Heidelberg. (1984) Pragmatik in der Grammatik. Jahrbuch 1983 des Instituts für deutsche Sprache. Düsseldorf. (= Sprache der Gegenwart 60). (1985) [mit Ursula Pieper] Studia Linguistica Diachronica et Synchronica: Werner Winter sexagenario anno MCMLXXXIII. Gratis animis ab eius colllegis, amicis discipulisque oblata. Berlin u.a. Verzeichnis wissenschaftlicher Veröffentlichungen 699 (1986ff.) [mit Johannes Erben et al.] Reihe: Schriften des Instituts für deutsche Sprache. Berlin/ New York. (1987a) [mit Tohru Kaneko] Deutsch und Japanisch im Kontrast. Bd. 1: Japanische Schrift - Lautstrukturen - Wortbildung. 2., verbess. Aufl. Heidelberg. (1987b) [mit Tohru Kaneko] Deutsch und Japanisch im Kontrast. Bd. 4: Syntaktisch-semantische Kontraste. Heidelberg. (1990) Deutsche Gegenwartssprache - Tendenzen und Perspektiven. Berlin/ New York. (= Jahrbuch 1989 des Instituts für deutsche Sprache). (1993) [mit Joachim Born] Deutsch als Verkehrssprache in Europa. Berlin/ New York. (= Jahrbuch 1992 des Instituts für deutsche Sprache). (1994/ 95) [mit Friedhelm Debus und Werner Kallmeyer] Kommunikation in der Stadt. Berlin/ New York. (= Schriften des Instituts für deutsche Sprache 4.1, 4.2, 4.3, 4.4). (1995) Stilfragen. Berlin/ New York. (= Jahrbuch 1994 des Instituts für deutsche Sprache). (1995-97) [mit Werner Nothdurft] Schlichtung. Berlin/ New York. (= Schriften des Instituts für deutsche Sprache 5.1,5.2, 5.3). (1997a) Varietäten des Deutschen. Regional- und Umgangssprachen. Berlin/ New York (= Jahrbuch 1996 des Instituts für deutsche Sprache). (1997b) [mit Reinhold Schmitt] Polen und Deutsche im Gespräch. Tübingen. (= Studien zur deutschen Sprache 8). (1999) Sprache - Sprachwissenschaft - Öffentlichkeit. Berlin/ New York. (= Jahrbuch 1998 des Instituts für Deutsche Sprache). (2001) Neues und Fremdes im deutschen Wortschatz. Berlin/ New York. (= Jahrbuch 2000 des Instituts für Deutsche Sprache). Studien zur deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Marcel Schilling Reden und Spielen Die Kommunikation zwischen Trainern und Spielern im gehobenen Amateurfußball Studien zur deutschen Sprache 23, 2001,447 Seiten, € 84,-/ SFr 151,- ISBN 3-8233-5153-2 Nach dem Spiel ist vor dem Spiel sowohl für Gewinner wie Verlierer. Die einen müssen ihre Fehler erkennen und bearbeiten, um nicht erneut zu verlieren, die anderen müssen ihre erfolgreichen Verfahren perfektionieren, um nicht auf einmal zu den Verlierern zu zählen. Die Bearbeitung des Vergangenen und die Orientierung aufdas Neue: all das geschieht im Training - und vor allem geschieht es verbal. Dieser Band analysiert die Kommunikation zwischen Trainern und Spielern im Amateurfußball. Die Sprache der Fußballer wird erst dann verständlich, wenn man die Strukturen der Fußball-Welt kennt: Wo und wie begegnen sich Trainer und Spieler, wer hat was zu leisten, welche sozialen Regeln sind einzuhalten, was und wer kann die Interaktion beeinflussen? Vor dem Flintergrund dieser sozialen Strukturen werden dann auch die rhetorischen Strategien der Trainer erklärbar: als funktionale, individuell geprägte kommunikative Verfahren, um die Spieler möglichst effektiv aufdas nächste Spiel einzustellen. Gisela Harras (Hrsg.) Kommunikationsverben Konzeptuelle Ordnung und semantische Repräsentation Studien zur deutschen Sprache 24, 2001, 229 Seiten, € 39,-/ SFr 74,- ISBN 3-8233-5154-0 Kommunikations- und speziell Sprechaktverben sind in den letzten 20 Jahren kaum systematisch bearbeitet worden. Dies ist umso erstaunlicher, als dieser Bereich einen nicht unbeträchtlichen Bestandteil des Verbwortschatzes aller indoeuropäischen Sprachen ausmacht. Die Vernachlässigung ist aber auch aus qualitativen Gründen unverständlich, denn schließlich sind Kommunikationsverben der Indikator für die Konzeptualisierung des kommunikativen Verhaltens innerhalb einer Sprach- und Kulturgemeinschaft. Mit diesem Band wird ein erster Versuch unternommen, diese Lücke zu schließen. Er enthält Beiträge zu Fragen der Performativität, Ereignisstruktur, semantischen Dekomposition, Lexikalisierung und Synonymik. gnW Gunter Narr Verlag Tübingen Studien zur deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Franc Wagner Implizite sprachliche Diskriminierung als Sprechakt Lexikalische Indikatoren impliziter Diskriminierung in Medientexten Studien zur deutschen Sprache 20, 2001, 180 Seiten, € 29,-/ SFr 55,- ISBN 3-8233-5130-3 Die Arbeit handelt von sprachlicher Implizitheit und sprachlichen Diskriminierungen. Anhand der Sprechakttheorie und anderer pragmatischer Ansätze werden lexikalische Indikatoren impliziter Diskriminierung zusammengestellt und empirisch an einem Zeitungskorpus überprüft. Die Erkenntnisse und Analysemethoden der Arbeit ermöglichen das Auffinden impliziter Diskriminierungen in umfangreichen Medienkorpora wie z.B. Zeitungen und Zeitschriften im Internet. Katharina Meng Russlanddeutsche Sprachbiografien Untersuchung zur sprachlichen Integration von Aussiedlerfamilien Unter Mitarbeit von Ekaterina Protassova Studien zu deutschen Sprache 21, 2001, 549 Seiten, div. Tab., € 99,-/ SFr 178,- ISBN 3-8233-5151-6 Die Publikation beruht auf mehrjähriger Beobachtung und Dokumentation der russisch- und deutschsprachigen Kommunikation von russlanddeutschen Familien in Mannheim. Es wird gezeigt, wie sich die familiären Gespräche verändern, welche Rolle die russische Sprache für das Einleben in Deutschland spielt, wie die Familienmitglieder miteinander Deutsch lernen und wie sie selbst ihre sprachliche Integration verstehen. Dabei werden die Lernprozesse der Kinder mit denen der Eltern, Großeltern und Urgroßeltern verglichen. Die Untersuchung markiert generationstypische Unterschiede in den Zielen, Strategien, Etappen und Ergebnissen der sprachlichen Entwicklung und begründet sie aus der Geschichte der Russlanddeutschen, den mitgebrachten sprachlichen Voraussetzungen und Einstellungen sowie den allgemeinen Lebensbedingungen und dem zugänglichen Sprachangebot in Deutschland. yiW Gunter Narr Verlag Tübingen Der Band enthält ein Spektrum von Untersuchungen zur deutschen Sprache aus inlands- und auslandsgermanistischer Perspektive. Die Beiträge vermitteln ein aspektreiches Bild gegenwärtiger germanistischer Forschung zur Struktur und Verwendung des Deutschen. Sie konzentrieren sich auf drei Schwerpunkte: (1) Lexikalische und grammatische Strukturen, (2) Sprachvergleich, Sprachkontakt, Sprachpolitik, (3) Stile, Räume, Strategien. Die Beiträger(innen) sind Wissenschaftler(innen), die entweder dem IDS angehören oder dem IDS und dem Jubilar in langjähriger Zusammenarbeit verbunden sind. ISBN 3-8233-5155-9