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Wortbildung und Phraseologie

1997
978-3-8233-3011-0
Gunter Narr Verlag 
Rainer Wimmer
Franz-Josef Berens

Der Band enthält Untersuchungen zur Wortbildungs- und Phraseologismusforschung. Im Bereich der Wortbildung werden Adjektiv- und Negationsbildungen durch die Jahrhunderte verfolgt, Wortfamilienwörterbücher aufgearbeitet; semantische Fragen in der Wortbildung wird nachgegangen und "Fremdes" in der deutschen Wortbildung untersucht. Verbunden werden beide Bereiche durch einen Beitrag zum Zusammenwirken von Wortbildung und Phraseologisierung in bezug auf den Wortschatz. Im Bereich der Phraseologie wird, neben Fragen des Phraseologismenerwerbs bei Kindern, das Vorkommen von Phraseologismen in Kinder- und Jugendbüchern untersucht, sowie in standardisierten TExten (z.B. Todesanzeigen, Einladungen, Grußanzeigen und Dankesworten; Büttenreden; Frontberichten und -briefen). Kontrastive Untersuchungen - finnisch-deutsch und ungarisch-deutsch - runden den Phraseologiebereich ab.

Studien zur deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Rainer Wimmer/ Franz-Josef Berens (Hrsg.) Wortbildung und Phraseologie Gunter Narr Verlag Tübingen STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE 9 Studien zur deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Herausgegeben von Bruno Strecker, Reinhard Fiehler und Hartmut Günther Band 9 1997 Rainer Wimmer / Franz-Josef Berens (Hrsg.) Wortbildung und Phraseologie gnw Gunter Narr Verlag Tübingen Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufmhme Wortbildung und Phraseologie: Rainer Wimmer/ Franz-Joseph Berens (Hrsg.). - Tübingen: Narr, 1997 (Studien zur deutschen Sprache; Bd. 9) ISBN 3-8233-5139-7 © 1997 • Gunter Narr Verlag Tübingen Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Das Werk einschUeßlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Druck: Laupp&Göbel, Nehren Verarbeitung: Gogl, Reutlingen Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 3-8233-5139-7 INHALT Rainer Wimmer/ Franz-Josef Berens Vorwort 7 Wolfgang Fleischer Das Zusammenwirken von Wortbildung und Phraseologisierung 9 in der Entwicklung des Wortschatzes Lorelies Ortner Zur angemessenen Berücksichtigung der Semantik im Bereich der 25 deutschen Kompositaforschung Gertrud Greciano Das hintergründige Idiom. 45 Uber die Implikatur als theoretischen Erklärungsansatz für den Idiomgebrauch Hans Wellmann Wortbildung im Sprachwandel 65 Gerhard Augst Wort - Wortfamilie - Wortfamilienwörterbuch: 89 Zur Konzeption eines neuen Wörterbuchs der deutschen Gegenwartssprache auf der Basis der Wortbildung Gisela Harras Fremdes in der deutschen Wortbildung 115 Elisabeth Gülich Routineformeln und Formulierungsroutinen. 131 Ein Beitrag zur Beschreibung ‘formelhafter Texte’ Helmut Kuntz Zum Gebrauch von Phraseologismen in informellen 177 Texten des ausgehenden 19. Jahrhunderts Annelies Häcki-Buhofer Phraseologismen im Spracherwerb 209 Harald Burger Phraseologie im Kinder- und Jugendbuch 233 Regina Hessky Einige Fragen der Vermittlung von Phraseologie im Unterricht 255 Deutsch als Fremdsprache Jarmo Korhonen Deutsche und finnische Phraseologie im Kontrast 263 VORWORT Der vorliegende Band vereinigt Beiträge zu der Jahrestagung „Wortbildung und Phraseologie“ des Instituts für deutsche Sprache im März 1988. Die Tagungsbände des Instituts erscheinen normalerweise pünktlich innerhalb eines Jahres nach der Veranstaltung, und so haben sich viele fachlich Interessierte und Freunde des Instituts gefragt, warum dieser Band so lange auf sich warten ließ. Jeder, der mit wissenschaftlichen Publikationen zu tun hat, weiß, daß es immer zahlreiche oft auch in der Sache liegende - Schwierigkeiten gibt, die Termine nicht einhaltbar erscheinen lassen. Hier aber gab es einige gravierende zusätzliche Probleme, die den Band letztlich regelrecht unter die Räder kommen ließen um einen Phraseologismus zu gebrauchen. Während der Vorbereitungen zu dem Band ergab es sich unvorhersehbar, daß das Institut seine Reihe „Sprache der Gegenwart“, in der die Jahrbücher traditionellerweise erschienen, im Schwann-Bagel- Verlag (Düsseldorf) nicht weiterführen konnte. Ein neuer Verlag mußte regelrecht gesucht werden; das Institut konnte schließlich eine gesonderte Jahrbuch-Reihe im Verlag Walter de Gruyter (Berlin/ New York) eröffnen. Das Jahrbuch 1988 hätte entweder der letzte Band der Reihe „Sprache der Gegenwart“ oder der erste der neuen Jahrbuchreihe werden sollen, allein: Inzwischen erschien die Konzeption des Bandes (mit der Dokumentation zweier aktueller Podiumsdiskussionen und mit Bebilderungen) nicht mehr haltbar. Eine konzeptionell reduzierte Publikation wurde schließlich für die „Forschungsberichte des IDS“ geplant, die inzwischen in die „Studien zur deutschen Sprache“ übergegangen sind. Trotz des organisatorischen Wandels bleibt die verzögerte Publikation ein Versäumnis, für das sich die Herausgeber bei der interessierten Fachöffentlichkeit, vor allem aber bei den Beiträgern zu der Jahrestagung 1988 entschuldigen möchten. Aus den oben genannten Gründen können die Podiumsdiskussionen, die sich vor allem mit dem aktuellen Forschungs- und Dokumentationsstand auseinandergesetzt haben und die „Wortbildung und Phraseologismen im Wörterbuch“ sowie „Wortbildung in der Sprachpraxis“ zum Gegenstand hatten, nicht dokumentiert werden. Die Anfragen nach dem Band in der letzten Zeit haben gezeigt, daß die Vorträge nach wie vor als wichtige und zum Teil unverändert aktuelle Diskussionsbeiträge zur Wortbildung und zur Phraseologie angesehen werden. 8 Die Tagung 1988 hatte u.a. zwei Ziele: a) neuere theoretische Entwicklungen in der Syntax, Semantik, Lexikologie, Pragmatik und Textlinguistik von Wortbildungen und Phraseologismen zur Diskussion zu stellen; b) Anwendungen neuerer Erkenntnisse in der Sprachdidaktik, in der Lexikographie, in der Spracherwerbsforschung, in der Textinterpretation und nicht zuletzt in der Sprachhistorik zu zeigen. Die Herausgeber denken, daß die Beiträge diesen Zielen gerecht werden und danken allen Autoren, die trotz der Verzögerung mit der Publikation ihrer Beiträge zum jetztigen Zeitpunkt einverstanden waren. Rainer Wimmer Franz-Josef Berens Wolfgang Fleischer Das Zusammenwirken von Wortbildung und Phraseologisierung in der Entwicklung des Wortschatzes Der Gebrauch einer Sprache erfordert artikulatorisch-phonetische bzw. graphische Fertigkeiten, die Beherrschung von Modellen der Zeichenbildung und -kombination sowie die Kenntnis konkreter Zeicheneinheiten und ihrer Verwendungsmöglichkeiten dies alles auf der Grundlage sprachlicher Handlungsmuster, wie in jüngerer Zeit nachdrücklich hervorgehoben wurde. Die Forschung hat diese Komponenten sprachlicher Kompetenz im Laufe der Zeit in unterschiedlicher Weise ins Blickfeld gerückt und ist dabei mit ihren Erkenntnissen auf unterschiedliche Resonanz gestoßen. Von den vier Bänden von Jacob Grimms ‘Deutscher Grammatik’ befassen sich zwei mit der Wortbildung, aber berühmt geworden ist er in erster Linie durch die sogenannte ‘Lautlehre’ des ersten Bandes, und über ein Jahrhundert hinweg haben ‘Laut-’ und zur Not noch ‘Flexionslehre’ die sprachwissenschaftliche Forschung der Germanistik weitgehend bestimmt bis hin zu Th. Frings mit seiner bekannten Metapher vom „Gerüst“ der neuhochdeutschen Schriftsprache, das er sieht „in den Lauten, auch Buchstaben, in den Formen“, ein „in sich geschlossenes lautliches und flexivisches Gefüge“ (Frings 1956, S. 8). Und die „Fetischisierung“ der Isoglossen, der Verbreitungsgebiete lautlicher Erscheinungen in der deutschen Dialektgeographie wird von V. Schirmunski zu Recht kritisiert (Schirmunski 1962, S. 146). Daß „die Worte“ „der Grund und Boden einer Sprache“ seien (Leibniz 1967 [1717], S. 33), „das einfache Wort“ „die vollendete“, der Sprache „entknospende Blüte“ (v. Humboldt 1963 [1830/ 35], S. 449) derartige schöne Formulierungen von Leibniz und W. v. Humboldt vermochten die germanistische Forschung in der junggrammatischen Tradition nicht entscheidend zu beeindrucken. Das ist auch abzulesen an dem wechselvollen Geschick des ‘Deutschen Wörterbuches’ von Jacob und Wilhelm Grimm. W. Scherers absolutes Diktum, das Wörterbuch sei „streng genommen keine wissenschaftliche Form“ und verlange lediglich „Handlangerarbeit“ (Schererl885, S. 308f.) entsprach eher dem herrschenden Trend als H. Pauls beschwörende Worte, daß „das Wörterbuch ein Werk von selbständigem wissenschaftlichem Wert sein“ solle (Paul 1895, S. 91). Seit der Mitte unseres Jahrhunderts hat sich die Situation in bemerkenswerter Weise geändert. Mit dem Erscheinen des letzten Grimm-Bandes im Jahre 1960 fiel die Publikation der ersten Doppellieferung des neuen Berliner Wörterbuches der deutschen Gegenwartssprache (1961) nahezu zusammen, und heute haben wir erstmalig in unserer jüngeren Geschichte mehrere große, nicht historisch angelegte Wörterbücher der deutschen 10 Wolfgang Fleischer Gegenwartssprache vorliegen, dazu auch handliche und modernere Kurzfassungen. Wenn auch die Entwicklung von Lexikographie und Lexikologie nicht synchron verläuft und es immer wieder zu entsprechenden Kontroversen kommt, so darf doch festgestellt werden, daß sich in den letzten Jahrzehnten beide Disziplinen wechselseitig angeregt haben. Selbst strukturalistisch orientierte Forschung, deren sogenannten „strengen“ theoretischen Ansprüchen der Wortschatz nicht gewachsen schien, weshalb er zunächst einfach beiseite gelassen wurde, gewährt ihm heute Heimstatt mit der Formel von ‘Lexikon und Grammatik’ oder gar ‘das Lexikon der Grammatik’. ‘Sprachbau’ und ‘Sprachschatz’ seien beide in der Darstellung einer Sprache gleichermaßen zu berücksichtigen, hatte G. v.d. Gabelentz um die Jahrhundertwende gefordert (v.d. Gabelentz 1901, S. 121f.), auf den ‘Sprachbau’ die Grammatik beziehend: sie lehre „das Zulässige“; im ‘Sprachschatz’ dagegen sei gespeichert, „was wirklich zur Tatsache geworden ist“ (ebd., S. 122). In gewisser Hinsicht ist der Ausdruck ‘Sprachschatz’ treffender als ‘Wortschatz’, denn die gespeicherten Einheiten haben nicht nur die morphosyntaktische Struktur von Wörtern, sondern auch von Wortgruppen. Andererseits ist nicht jedes sprachliche Zeichen in Wortstruktur auch schon Bestandteil des ‘Wortschatzes’ einer Sprache, so daß sich die terminologische Unterscheidung von ‘Wort’ und ‘Lexem’ empfiehlt. Zwischen beiden besteht keine l: l-Beziehung. Das ‘Wort’ kann Wortschatzelement sein, muß es aber nicht (z.B. Selbstfremdheit, übereinstimmungsbesessen, beschweigen in C. Wolfs ‘Kassandra’ (Berlin/ Weimar, 1983 u.ö)). Das ‘Lexem’ andererseits als Wortschatzelement kann die Struktur eines Wortes (Grünschnabel), aber auch einer Wortgruppe (grüne Welle ‘hintereinander geschaltete Verkehrsampeln eines Straßenzuges’) haben. Auch eine nichtgespeicherte, textgebundene okkasionelle Wortstruktur ist ein ‘Wort’ der deutschen Sprache (aber kein Bestandteil ihres ‘Wortschatzes’) wie jeder korrekte Satz eines Textes ein ‘Satz’ der deutschen Sprache ist -, sofern sie nach den entsprechenden Regeln gebildet und in den Text entsprechend eingebettet ist (über „textabhängige“ und „textunabhängige“ Benennungen vgl. auch Barz 1984a, S. 438). Andererseits sind nicht alle gespeicherten Einheiten auch Wortschatzbestandteile (über die Speicherung von komplexen Einheiten „trotz ihrer regelmäßigen Bildbarkeit“ vgl. z.B. Coulmas 1985, S. 264f.). Dies gilt beispielsweise für die Sprichwörter, wozu ich mich an anderer Stelle geäußert habe (Fleischer 1982, S. 80ff.), und für die sogenannten ‘Losungen’. Wie das Sprichwort ist auch die Losung eine Konstruktion mit Aussagencharakter, keine Benennung. Aber wie aus Sprichwörtern Wortschatzeinheiten entstehen können (z.B. der Phraseologismus im Glashaus sitzen aus dem Sprichwort Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen), so auch aus Losungen. So hat sich aus der Losung Schöner unsere Städte und Gemeinden - Mach mit! , mit der seit Ende der 60er Das Zusammenwirken von Wortbildung und Phraseologisierung 11 Jahre die Bürger der DDR zur Verschönerung und Pflege der Wohngebiete aufgerufen werden, eine ganze Serie von Wortbildungskonstruktionen entwickelt, die wenigstens teilweise zu Wortschatzeinheiten zu werden im Begriffe sind: )r Mach mit! “-Bewegung, -Initiative, -Leistung, -Stützpunkt, -Wettbewerb u.a. (Stand: 1988! ) Die „Vermehrungsfähigkeit“ (so v.d. Gabelentz 1901, S. 438) des Wortschatzes ist natürlich nicht an den Rückgriff auf Sprichwörter und Losungen gebunden, doch mit den genannten Beispielen sind die beiden wichtigen Verfahren der Wortbildung und der Phraseologisierung ins Blickfeld getreten, die hier in ihrem Zusammenwirken betrachtet werden sollen. Dies soll unter folgenden Gesichtspunkten geschehen: 1. Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Wortbildungs- und Phraseologisierungsprozeß 2. ‘Funktionsaufteilung’ zwischen Wortbildung und Phraseologisierung 3. Dephraseologische Derivation und Verwendung phraseologischer Komponenten in Komposita als Ausdruck der Wechselbeziehung zwischen Wortbildungskonstruktionen und Phraseologismen Zu 1. Weder ‘Wortbildung’ noch ‘Phraseologisierung’ sind in sich gleichartig, sondern in der Verflechtung und Wechselwirkung von semantischen und formativstrukturellen Prozessen differenziert. Allerdings ist für eine Wortbildungskonstruktion konstitutiv auf jeden Fall das formale Moment der Verdichtung zur Wortstruktur, mit morphosyntaktischen Konsequenzen. Die Identifizierung einer Wortbildungskonstruktion kann sich an die Formativstruktur (die ‘Stabilität’ des Wortes) halten. Das gilt für die Komposition, einen formativstrukturellen Prozeß, der entweder im Laufe der Zeit zu (partieller oder totaler) Idiomatisierung (Demotivation) führen kann oder von Anfang an (vgl. Herbermann 1981, S. 334) mit einer semantischen Spezifizierung verbunden ist (etwa durch Koppelung von semantisch „eigentlich“ nicht kompatiblen Elementen: Ölpest). Das gilt auch für die explizite Derivation und die Präfigierung, die modellhaft mit speziellen Formativelementen (und -Strukturen) mit einer Semantik hohen Abstraktionsgrades operieren, die nicht frei verwendbar, sondern an die Wortstruktur gebunden sind. Setzen wir dazu in Beziehung die Phraseologisierung mit den drei großen Gruppen der ‘Phraseolexeme’, der ‘Nominationsstereotype’ und der ‘kommunikativen Formeln’ (zu dieser Unterscheidung vgl. Fleischer 1982, S. 72L, 63ff., 130fL), wobei die Differenzierung zwischen ‘primärer’ und ‘sekundärer’ Phraseologisierung hier vernachlässigt werden soll (dazu vgl. Barz 1985). Die Hauptgruppe der Phraseolexeme entsteht gerade umgekehrt wie bei der Wortbildung durch einen primär semantischen, keinen formativstrukturellen Prozeß wenngleich mit formativstrukturellen Konsequenzen: Stabilität der Komponenten, eingeschränkte syntak- 12 Wolfgang Fleischer tische Expansionsfähigkeit, Tendenz der graphischen Differenzierung von der entsprechenden freien Wortgruppe durch dudenwidrige Großschreibung adjektivischer Attribute {Roter Hahn ‘Feuer’) einerseits und dudengemäße Kleinschreibung einstiger substantivischer Komponenten {im dunkeln tappen, außer acht lassen) andererseits. Der konstitutive semantische Prozeß besteht in partieller oder totaler Idiomatisierung auf dem Wege der Metaphorisierung oder Metonymisierung (‘Bedeutungsspezialisierung’): ein Auge ausfahren - ‘erstaunt aufblicken’, jmdm. den Kopf waschen - ‘tadeln’, ein freudiges Ereignis - ‘Geburt eines Kindes’. Eine Teilgruppe der Phraseolexeme entsteht auf ganz andere Weise: durch einen primär formativstrukturellen Prozeß, die sogenannte ‘Unikalisierung’ einer Komponente {etwas ausfindig machen). Einen formativstrukturellen Prozeß stellt auch die ‘Stereotypisierung’ nominativer Wortgruppen ohne semantische Umdeutung dar, die zur Entstehung von Nominationsstereotypen führt {grüne Heide, der Ernst des Lebens.) Die ‘Unikalisierung’ einer Komponente ist eine geläufige Erscheinung auch in der Wortbildung. Hier wie dort besteht sie in der distributioneilen Einschränkung eines Wortschatzelements bis hin zur ‘unikalen’, einmaligen Verbindbarkeit. Der entscheidende Unterschied zur Phraseologisierung liegt darin, daß der Unikalisierungsprozeß eine Art Endpunkt markiert: Das neuhochdeutsche Adjektiv hurtig bewahrt das mittelhochdeutsche Substantiv hurt{e) - ‘Lanzenstoß, stoßendes Losrennen in Kampfspiel und Kampf’ (aus dem Französischen), auch in der substantivischen Weiterbildung Hurtigkeit. Das Adjektiv ist synchron heute nur beschränkt segmentierbar, und insofern könnte man eine Statusveränderung zum Simplex hin konstatieren. Daß dies allerdings nicht ganz so einfach ist, zeigen Verben wie vergessen (mit dem unikalen Element -gess-), die das Partizip II ohne gebilden und daher nicht ohne weiteres als Simplex angesehen werden können. Hiervon zu unterscheiden sind die nicht selbständig ‘wortfähigen’, wohl aber ‘kompositions-’ und/ oder ‘derivationsfähigen’ sogenannten ‘Konfixe’ wie Schwieger-{-eitern) usw.) bzw. die zahlreichen Fremdelemente wie thermo- {Thermoschalter, thermostabil, thermofixieren) (dazu Schmidt 1987). Mit dem Blick darauf ist die generalisierende Feststellung, Komposita bestünden „aus Wörtern, die lexikalischen Kategorien angehören“ (Mötsch 1983, S. 108), doch etwas einzuschränken. Im phraseologischen Bereich bedeutet die Unikalisierung eine entscheidende Statusveränderung: Erst durch sie wird die komplexe Wortgruppe zum Wortschatzelement, während die unikale Komponente allein keines mehr darstellt {fröhliche Urständ feiern). Die Extreme der Unikalisierung in Wortbildung und Phraseologisierung werden über die mannigfaltigsten Abstufungen erreicht. Manche Elemente begegnen sowohl in Wortbildungskonstruktionen als auch in Wortgruppen, sind also streng genommen nicht völlig ‘unikal’, wenn auch distributioneil Das Zusammenwirken von Wortbildung und Phraseologisierung 13 festgelegt: Lauer'm auflauern und auf der Lauer liegen, stutzig in begriffsstutzig und stutzig werden/ machen, fehl ‘falsch’ in Fehlschuß, -verhalten und fehl am Platze sein. Während die Phraseologisierung durch Metaphorisierung wie z.T. auch die Wortbildung als bewußter Akt erfolgt (vgl. metasprachliche Signale wie z.B. Anführungszeichen), ist die Unikalisierung wie auch die Demotivation einer einst bewußt geprägten Wortbildungskonstruktion ein allmählicher Prozeß, der dem durchschnittlichen Sprachträger gewöhnlich nicht bewußt wird. In bezug auf die Wortbildung sind allerdings noch Unterschiede zu machen. Wenn man davon ausgeht, daß ‘Wort-Bildung’ nach zwei verschiedenen Prinzipien erfolgen kann, die als „kompositionell-regulär“ und als „analog-holistisch“ bezeichnet worden sind (vgl. Coulmas 1985, S. 257 in Aufnahme von Überlegungen Planks 1981), so wird man der von F. Plank geäußerten Vermutung zustimmen: Das analog-holistische Prinzip gilt danach bevorzugt für „bewußte innovative Leistung“ (H. Baierl, Die Köpfe ... Berlin/ Weimar, 1974, S. 12: „... das als formalistisch verflüsterte Stück“, nach verrufen). Dagegen dürfte „bei spontanen Bildungen nach allgemeinen Regeln“ das Bewußtsein, „ein neues Wort zu kreieren, gering sein“ (Plank 1981, S. 25), z.B. bei deverbalen Adjektiven auf -bar und Präfixbildungen mit un-. Derartige Wortbildungsmodelle weisen die Wortbildung als einen Bereich der Grammatik aus (so schon v.d. Gabelentz 1901, S. 122). Im Verhältnis von Wortbildungskonstruktionen zum Wortschatz sind demnach vier ‘Stufen’ nicht nur zwei, wie meist zu lesen ist zu unterscheiden: a) nach Modellen (bzw. Regeln) „frei bildbare“, aber noch nicht „gebildete“ Wörter, potentielle lexikalische Ausfüllungen produktiver Modelle; b) bereits „gebildete“ (und zwar entweder nach dem analog-holistischen oder nach dem kompositionell-regulären Prinzip), in einem Text vorkommende Wörter, die aber noch nicht „sozial approbiert“ (vgl. Große/ Neubert 1982, S. 11) sind, textgebunden, okkasionell bleiben; c) „sozial approbierte“ komplexe Wörter, die zwar gespeichert und intersubjektiv verfügbar sind, aber keinen Lexikalisierungsprozeß im Sinne einer zumindest teilweisen Demotivation durchlaufen haben (zum Lexikalisierungsbegriff vgl. Fleischer 1987, S. 57) und daher keine Lexeme, sondern Lexemkombinationen darstellen (Gewerkschafts-mitglied, unbeeinflußt, hinunter-steigen)', d) Lexeme als die „eigentlichen“ Einheiten des Wortschatzes (gespeichert und semantisch nicht voll zerlegbar, d.h. demotiviert). Diese Gliederung läßt sich nicht ohne weiteres auf die Phraseologismen 14 Wolfgang Fleischer übertragen, da hier Modellierungsmöglichkeiten und Prädiktabilität eingeschränkt sind (dazu Fleischer 1985). Immerhin sind neben den „gängigen“, „sozial approbierten“ Phraseologismen mehrere Arten okkasioneller Konstruktionen zu unterscheiden: a) individuelle lexikalische Ausfüllungen des komparativen phraseologischen Strukturmodells mit wie (riechen wie eine tote Maus unterm Vertiko, vgl. Schade 1976, S. 13); b) individuelle Modifikationen gespeicherter Phraseologismen (sich einen Kopf machen ‘angestrengt nachdenken’: „Wir machen uns tausend Köpfe, damit jeder den ihm angemessenen Beruf ... bekommt ...“, Universitäts-Zeitung Karl-Marx-Universität Leipzig 15.7.82; vgl. Barz 1986 und Greciano 1987, wo die „Anfälligkeit für individuelle Variation“ (S. 204) in kontrastiver Betrachtung des Deutschen und Französischen vorgeführt wird); c) sogenannte „Autorphraseologismen“, die innerhalb eines künstlerischen Werkes geschaffen werden, an dieses Werk gebunden sind, ohne Allgemeingut zu werden (Th. Mann, Buddenbrooks: auf den Steinen sitzen - ‘vereinsamt sein und sich langweilen’). Der strukturellen Differenzierung von Wortbildungskonstruktionen (innerhalb der Komposition, Derivation, Präfixbildung) entspricht die Differenziertheit in der inneren syntaktischen Struktur der Phraseologismen. Ihre Grundformen (in denen sie lexikographisch zu kodifizieren sind) erscheinen in drei Strukturtypen: a) Wortgruppen ohne feste Prädikatsbeziehung (danach die morphologische Klassifikation in substantivische, adjektivische, adverbiale und verbale Phraseologismen); b) „festgeprägte prädikative Konstruktionen“ (Terminus nach Reichstein 1974), z.B. der Kragen platzt jmdm.] c) festgeprägte Sätze oder kommunikative Formeln (Das wird dir noch leid tun\ Das kannst du mir glauben]). Der richtige Gebrauch der Phraseologismen setzt die Kenntnis der Grundform mit der Unterscheidung von variablen und invariablen Komponenten voraus. Das ist hier schwieriger als bei einer Wortbildungskonstruktion, die formativstrukturell deutlich als Worteinheit abgrenzbar ist (mit wenigen typischen Problemfällen) - und hier liegt übrigens auch noch ein Desiderat der lexikographischen Beschreibung von Phraseologismen. Mit der inneren syntaktischen Struktur hängen Unterschiede im Kom- \ plexitätsgrad der Phraseologismen zusammen. Es liegt nahe, daß festgeprägte Sätze in höherem Grade komplex sind (obwohl darunter auch Formeln mit reduzierter Satzstruktur erscheinen). Bei den Phraseologis- Das Zusammenwirken von Wortbildung und Phraseologisierung 15 men mit Wortgruppenstruktur herrscht eine starke Tendenz zur Limitierung der Komplexität. Am häufigsten sind Konstruktionen mit zwei oder drei autosemantischen Komponenten. Unter den substantivischen überwiegen bei weitem die mit zwei Basiskomponenten (grüne Welle, Rad der Geschichte)-, unter den verbalen sind die mit zwei und drei Komponenten annähernd gleichmäßig verteilt (Haare lassen, die Engel singen hören). Eine derartige Limitierungstendenz findet sich auch in der Wortbildung. Sie ist nicht generell regelhaft fixiert, setzt sich aber in der Praxis durch. Es ist nicht nur eine Frage der optimalen Speicherfähigkeit (vgl. Mötsch 1983, S. 103, wo lediglich „mnemotechnische Gründe“ für das „Prinzip der Knappheit“ verantwortlich gemacht werden), sondern auch der Handlichkeit im praktischen Sprachgebrauch. Ganz offensichtlich dominieren die Wortbildungskonstruktionen mit zwei und allenfalls noch drei Grundmorphemen. In einer speziellen Untersuchung über die sogenannten ‘polymorphematischen’ Nominalkomposita (mit mindestens vier Grundmorphemen), die ihr Material sowohl aus Wörterbüchern als auch aus laufenden Texten (vorwiegend der Presse) schöpfte, zeigte sich, daß die Komposita mit der hier angesetzten Mindestgrenze von vier Grundmorphemen bei weitem überwiegen und daß Konstruktionen mit sieben Grundmorphemen das selten zu findende Maximum darstellen (vgl. Muhamed-Aliewa 1986). Die innere Struktur von Wortbildungskonstruktionen wie Phraseologismen beruht von wenigen Ausnahmen abgesehen auf dem Binaritätsprinzip. In der Wortbildung ist dies mit der Differenzierung von Erst- und Zweitglied (meist Bestimmungs-, Grundwort) bei Komposita, von Derivationsbasis und -affix bei expliziter Derivation (einschließlich der ‘kombinatorischen Derivation’) terminologisch erfaßbar. Bei Phraseologismen ist das etwas schwieriger, weil syntaktische und semantische Relationen nicht kongruieren müssen und wie bereits erwähnt kein so eindeutig formativstrukturell bestimmter Rahmen gegeben ist. Mit dem syntaktisch zu charakterisierenden ‘Kernwort’ (bei verbalen Phraseologismen das Verb, bei substantivischen das durch Attribute bestimmte Substantiv) kann die semantische Hierarchie der phraseologischen Wortgruppenstruktur nicht immer adäquat erfaßt werden. Die semantisch dominierende Basiskomponente muß nicht immer mit dem syntaktisch dominierenden Kernwort identisch sein; sie wird als ‘Stützwort’ (vgl. Fleischer 1982, S. 90) davon abgehoben: So ist für die Semantik des Phraseologismus große Augen machen - ‘erstaunt blicken’ nicht das Kernwort machen, sondern das Stützwort Auge relevant. Das hat natürlich Konsequenzen für die lexikographische Kodifizierung. Zu 2. Was das Zusammenwirken von Wortbildung und Phraseologisierung unter funktionalem Aspekt betrifft, so ist zunächst festzuhalten, daß sie einerseits unterschiedliche Aufgaben lösen, sich aber andererseits 16 Wolfgang Fleischer auch überlagern. Unterschiede bestehen insofern, als die Funktion der Wortbildungskonstruktionen als syntaktische Parallel- oder Alternativformen von den Phraseologismen nicht wahrgenommen werden kann, wenn wir von den Funktionsverbgefügen einmal absehen, die von mir zu den ‘Phraseoschablonen’ gerechnet werden (Fleischer 1982, S. 139ff.) und die tatsächlich in das Ubergangsfeld zur Syntax gehören. Der phraseologischen Seite bleibt andererseits Vorbehalten die Spezifik der sogenannten kommunikativen Formeln, der festgeprägten Sätze. Hier versagen die Mittel der Wortbildung, die eine „morphologisch komplexe Form“ und nicht wie die Phraseologisierung eine „syntaktisch komplexe Form“ (Plank 1981, S. 40) erzeugt. Wortbildung und Phraseologisierung treffen sich dagegen in der ‘nominativen Funktion’, der Bildung von Benennungseinheiten als sprachlichen Repräsentanten von ‘Gegenständen’ (dies im weiteren Sinne verstanden, also auch Ideelles mit umfassend). Mit dem Begriff der ‘Benennung’ oder ‘Nomination(seinheit)’ ist es möglich, sprachliche Zeichen unter dem invarianten Gesichtspunkt ihrer Gegenstandsrepräsentation zu erfassen, und zwar unabhängig von variablen Parametern wie Wort- oder Wortgruppenstruktur, terminologischer oder onymischer (Eigennamen-)Funktion und auch unabhängig davon, ob es sich um ein gespeichertes Wortschatzelement oder einen textgebundenen Okkasionalismus handelt. Bei der Erzeugung von Nominationseinheiten besteht zwischen Wortbildung und Phraseologisierung eine gewisse „Arbeitsteilung“. Im Unterschied zur Wortbildung dient die Phraseologisierung jedenfalls was den Kernbereich der Phraseolexeme betrifft in besonderem Maße der Expressivitätssteigerung. Dies ist am deutlichsten ausgeprägt beim Verb, wo die Wortbildung nur in recht geringem Ausmaß konnotierte Modelle zur Verfügung stellt (herum-reden, -sitzen; kritteln). Beim Substantiv und Adjektiv ist die Wortbildung in dieser Hinsicht aktiver (vgl. für das Substantiv z.B. Ladissow 1983), so daß die Phraseologisierung hier weniger einseitig gefordert ist. Doch auch Phraseolexeme, die primär der Schließung einer Benennungslücke dienen (was die dominierende Funktion der Wortbildung ist), weisen vielfach ein gewisses Maß an Expressivität auf, hervorgerufen durch den metaphorischen Charakter (grüne Welle, Mann auf der Straße - ‘den Durchschnitt der Bevölkerung repräsentierender Bürger’). Andererseits ist natürlich festzuhalten, daß die Expressivitätssteigerung wohl ein entscheidendes Motiv für die Schaffung von Phraseolexemen darstellt, daß aber deren Gebrauch zu einem Verschleiß dieser Expressivität führt und die Konstruktionen mit reduzierter oder völlig geschwundener Expressivität weiterhin als Wortschatzeinheiten zur Verfügung stehen können. Sie sind dann nicht selten kennzeichnend für Textsorten und Kommunikationsbereiche, in denen stark expressive Phraseolexeme gewöhnlich fehlen, vgl. z.B. eine Rolle spielen, dahingestellt sein lassen. Das Zusammenwirken von Wortbildung und Phraseologisierung 17 Daß die Phraseologisierung mit der Schaffung expressiver Bilder auch zu spezifischen semantischen Merkmalen der Konstruktionen führt, durch die sie sich nicht selten von nichtphraseologischen (Quasi-)Äquivalenten - Simplizia und Wortbildungskonstruktionen unterscheiden, gehört ebenfalls zur „Arbeitsteilung“ zwischen Wortbildung und Phraseologisierung und ist schon wiederholt festgestellt worden. Gleichwohl ist es offensichtlich schwierig, diese „zusätzlichen“ Merkmale in der lexikographischen Beschreibung angemessen zu berücksichtigen. In der Untersuchung von D. Steffens, die die Bedeutungsbeschreibungen der Phraseologismen mit Auge, Hand und Herz im Berliner Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (1984) überprüft hat, wird lediglich bei 12 % der bearbeiteten Phraseologismen die lexikographische Bedeutungsbeschreibung als in vollem Umfang treffend angesehen (Steffens 1986, S. 83). Veranschaulicht sei dies an dem Phraseologismus jmdm. lacht das Herz im Leibe, der nicht schlechthin bedeutet ‘jmd. ist erfreut’, sondern etwa ‘jmd. ist durch einen unmittelbaren visuellen Eindruck höchst erfreut’ (vgl. ebd., S. 149). In der Verteilung auf die Hauptwortarten sind die Proportionen der Benennungsbildung durch Wortbildung bzw. Phraseologisierung ungleich; auch hier tritt der erwähnte Unterschied zwischen Nomen und Verb zutage. Am auffälligsten ist die phraseologische Abstinenz des Adjektivs gegenüber der phraseologischen Affinität des Verbs. Substantiv und Adverb nehmen eine gewisse Mittelstellung ein. Was es an adjektivischen Phraseologismen tatsächlich gibt (zu Problemen der Abgrenzung und zur Begründung im einzelnen vgl. Fleischer 1982, S. 152ff.), das sind außer einigen Wortpaaren (fix und fertig) Vergleichsbildungen (hungrig wie ein Wolf) und adjektivierte Konstruktionen mit Partizip II (kurz angebunden, dünn gesät). Doch die Vergleichsbildungen werden in der Regel nicht attributiv verwendet, sondern in dieser syntaktischen Funktion durch entsprechende Wortbildungskonstruktionen ersetzt (bärenstark, 1 wolfshungrig). Wo die Bildung einer Wortbildungskonstruktion blockiert ist (frech wie Oskar), muß syntaktisch ausgewichen werden (Nachstellung: der Junge, frech wie Oskar ...). Angesichts der keineswegs geringen Entfaltung adverbialer Phraseologismen, deren strukturelle Vielfalt (die verschiedensten Präpositionalgefüge, Wortpaare und erstarrte Genitiv- und Akkusativkonstruktionen), wie mir scheint, durch die verbale Wortbildung nicht übertroffen wird, tritt die Enthaltsamkeit des Adjektivs um so stärker hervor. Die substantivische Benennung ist generell durch eine Tendenz zur ‘Univerbierung’ gekennzeichnet, wobei sich die ausgeprägte Kompositionsfähigkeit des Deutschen auswirkt. Doch das Verhältnis von substantivischer Wortbildungskonstruktion und substantivischer Wortgruppe ist 18 Wolfgang Fleischer recht differenziert in Abhängigkeit zunächst von dem Status der Wortgruppe als freier syntaktischer Fügung oder Phraseologismus. Im erstgenannten Fall können semantische Differenzierungen vorliegen: soziale Politik [wertend] - Sozialpolitik [nicht wertend, sondern einen Teilbereich der Politik benennend]. Dann ist die wechselseitige Benennung durch die semantische Differenzierung bestimmt. Eine derartige Differenzierung ist aber nicht immer gegeben: Die beiden Ausdrücke soziale Struktur und Sozialstruktur sind als ‘Benennungsvarianten’ anzusehen. Ihre wechselseitige Verwendung wird vor allem durch Faktoren der Textstruktur bestimmt. In diesem Zusammenhang wird neuerdings sogar von einer zur Univerbierung gegenläufigen Tendenz der ‘Multiverbierung’ gesprochen mit dem Hinweis darauf, daß „auf dem Hintergrund eines Benennungstyps (der Mehrwortbenennung oder der Einwortbenennung) synonymische Varianzmittel des entgegengesetzten Typs begegnen“ (Jedlicka 1983, S. 56), z.B. Kulturleben kulturelles Leben. Doch ist das Verhältnis durchaus asymmetrisch: Neben den syntaktischen Fügungen starker Raucher/ Esser fehlt die jeweilige Wortbildungskonstruktion, und neben der Wortbildungskonstruktion Langschläfer, bei der in ähnlicher Weise das Adjektiv bzw. Adverb auf die durch das Verb ausgedrückte Tätigkeit zu beziehen ist, fehlt die syntaktische Fügung Hanger Schläfer (vgl. Valentin 1984, S. 246). Anders liegen die Dinge bei phraseologischen Wortgruppen. Hier begegnet Benennungsvariation mit einer Wortbildungskonstruktion nur ganz vereinzelt [Faden der Ariadne - Ariadnefaden, schwarzer Markt - Schwarzmarkt, dieses Kompositum gefördert durch Weiterbildungen wie Schwarzmarktpreise). Meist ist entweder die Wortgruppe usualisiert (kalte Dusche - ‘Dämpfer’) oder die ebenfalls metaphorisch verwendbare - Wortbildungskonstruktion (Brustkorb, Ölpest). Selten sind Fälle mit semantischer Differenzierung wie großes Tier - ‘hochgestellte Persönlichkeit’ und Großtier - ‘großes Säugetier’. Das Gesagte gilt auch für die ‘Nominationsstereotype’. Für sie sind teilweise „spezifische Benennungsaufgaben“ erkannt worden: Ihre „Mehrwortstruktur mit mehr als einer betonten Silbe“ begünstige die Verwendung als Benennung für „Ehrentitel, Auszeichnungen und Gedenktage“ (Barz 1984b, S. 254); jedenfalls gilt das für den Gebrauch in der DDR: Kollektiv der sozialistischen Arbeit, Medaille für ausgezeichnete Leistungen, Verdienter Arzt des Volkes. (Stand: 1988! ) Auch innerhalb der Wortbildung haben die Komposition einerseits, die Derivation andererseits nicht durchweg die gleichen „Benennungsaufgaben“ zu lösen. Das Kompositum kommt „am besten dem Bedürfnis ... nach möglichst deutlicher begrifflicher Fassung eines Gegenstands“ entgegen, während für zahlreiche semantische Beziehungen die Ausdrucksmöglichkeiten durch entsprechende Suffixe fehlen (vgl. Barz 1983, S. 13ff.; über Das Zusammenwirken von Wortbildung und Phraseologisierung 19 die Beschränkung der Derivation gegenüber der Komposition vgl. Mötsch 1983, S. 113). Die Feststellung, „neben den meisten Derivationstypen“ existierten „auch entsprechende Komposita“ (ebd.), trifft in keiner Weise auf das Verb zu, und sie ist in bezug auf das Nomen mit I. Barz dahingehend zu ergänzen, daß auch die Derivation nur ihr eigene Benennungsaufgaben hat; man vgl. z.B. die Typen auf -ismus sowie Reihen abgeleiteter Adjektive wie arbeitsteilig, anteilig, mengenmäßig. Mögliche Komposita können auf Grund der „individuellen lexikalischen Bedeutung“ der entsprechenden Wörter „kaum synonymisch“ mit den Derivaten gebraucht werden (Barz 1983, S. 16). Auch wo eine Benennungsparallelität existiert, kann es doch Unterschiede geben, vgl. Begleiter - Begleitperson, Sender - Sendeanlage (Näheres Barz 1983, S. 17, wo auch auf die „Möglichkeit der Kohärenzerzeugung unter Vermeidung wörtlicher Wiederholung“ mit Hilfe des Wechsels von Derivat und Kompositum verwiesen wird). Ob im Verhältnis zwischen nominativen Wortgruppen einerseits und Wortbildungskonstruktionen andererseits (eine exemplarische Darstellung dieses Verhältnisses auf der Grundlage einer detaillierten Analyse der Berufsbenennungen in der DDR bei Barz 1984a, S. 439ff.) die „syntaktischen Fügungen“ tatsächlich „die meisten Möglichkeiten bieten, semantische Beziehungen als Lexikoneintragungen zu fixieren“, während Komposita „eingeschränkter“ seien (Mötsch 1983, S. 113, Hervorhebung W.F.), ist mir zweifelhaft. Das mag zutreffen auf die freie syntaktische Fügung mit ihren kaum begrenzten Möglichkeiten der semantischen Explikation auf der Grundlage syntaktischer Expansion, wird aber fraglich, wenn es um die Lexikalisierung, die Bildung fester Wortgruppen geht. Schließlich hat man die Paraphrase als „an wesentlichen Merkmalen ärmer“ als die entsprechende Sememstruktur in Gestalt eines Wortes bezeichnet (Viehweger 1977, S. 257) und das Kompositum andererseits als „eines der potenzstärksten Zeichen überhaupt“, als „stärker als einen paraphrasierten Satz“ (Seppänen 1986, S. 95). Gesondert wäre das Verhältnis von Wortstruktur und Wortgruppenstruktur bei Eigennamen und Termini zu betrachten. Auf die terminologischen Wortgruppen als „einen vernachlässigten Benennungstyp“ ist von Möhn nachdrücklich hingewiesen worden (1986); ich muß dieses weite Feld heute unberücksichtigt lassen. Was die Eigennamen betrifft, so habe ich mich an anderer Stelle dazu ausführlich geäußert (Fleischer 1981). Im Bereich des Verbs begegnet, wie bereits angedeutet, die strukturelle Parallelität von Wortbildungskonstruktion und phraseologisierter oder auch nichtphraseologisierter - Wortgruppe weit häufiger; die Unterschiede sind dabei weniger semantisch-referentieller als vielmehr syntaktischer, semantisch-distributioneller und stilistischer Art. Sie betreffen z.B. die Valenz (auflauern = 2-wertig auf der Lauer liegen = 1-wertig), die Transitivität (versprechen = transitiv - Versprechungen machen = intransitiv), 20 Wolfgang Fleischer die semantische Kompatibilität (erröten nur von Personen rot werden allgemeiner), stilistische Markierungen (musizieren - Musik machen): Modelle syntaktischer Fügungen wie Adjektiv + werden! machen, Substantiv + machen fungieren in ähnlicher Weise wie Derivationsmodelle zur Erzeugung von speicherfähigen Benennungseinheiten im Verhältnis zu den entsprechenden Wortbildungskonstruktionen mit einer spezifischen „Realisierungstyplogie“ (Terminus nach Cernyseva 1984, S. 21; dort mit Bezug auf Phraseologismen). Zu 3. Dem dritten Aspekt unserer Betrachtung des Zusammenwirkens von Wortbildung und Phraseologisierung können nur noch wenige Bemerkungen gewidmet werden. Es handelt sich um die ‘Wortbildungsaktivität 1 von Phraseologismen. Unter Wortbildungsaktivität (ausführlicher dazu Fleischer 1988) wird die Eigenschaft von Wörtern, allgemeiner von Lexemen, also auch phraseologischen Wortgruppen, verstanden, als Konstituente von Wortbildungskonstruktionen zu fungieren. Die Wortbildungsaktivität erfaßt den Entfaltungsgrad von Lexemen in der Wortbildung. In bezug auf die Phraseologismen erscheint sie entweder als sogenannte ‘dephraseologische Derivation’ oder als Komposition mit phraseologischer Konstituente. Dephraseologische Derivation ist eine Derivation von einer phraseologischen Wortgruppe als Basis; sie vollzieht sich im Prinzip nach den gleichen Wortbildungsmodellen wie die Derivation von freien Wortgruppen, allerdings werden die Modelle unterschiedlich genutzt. Im Einklang mit den sonstigen Verhältnissen (s.o.) ist die dephraseologische Derivation von Substantiven auf der Grundlage verbaler Phraseologismen besonders stark entwickelt; das betrifft sowohl die Bildung von Nomina agentis (Dünnbrettbohrer) als auch von Nomina actionis: Der in C. Wolfs ‘Kassandra’ wiederholt zu findende Phraseologismus sein Gesicht verlieren wird zum Substantiv verdichtet: „Wie kommen wir da wieder raus, ohne Gesichtsverlust? “ Die merkwürdige Konstruktion Hobbyreiterei (Sonntag 9/ 1980) ist auf den Phraseologismus (s)ein Steckenpferd reiten mit Ersatz von Steckenpferd durch Hobby zurückzuführen. Die dephraseologische Derivation in Form der Konversion hat gewisse Besonderheiten. Enthält beispielsweise der zugrunde liegende Phraseologismus eine präpositionale Wortgruppe, so kann sie vollständig in das Derivat übernommen werden (in Kraft treten das Inkrafttreten)] sie kann aber auch erspart bleiben: jmdm. auf die Schulter klopfen - ‘Wohlverhalten versichern, beruhigen’ —> „... inmitten des gegenseitigen Schulterklopfens ...“ (Weltbühne 1.1.80, S. 9). In anderen Fällen ist die Nominalisierung überhaupt ausgeschlossen, z.B. vom Phraseologismus einen Bock schießen - ‘einen groben Fehler machen’ (*das Bockschießen, *Schießen eines Bockes, *der Bockschuß). - Eine systematische Erfassung und Beschreibung der verschiedenen Möglichkeiten und Einschränkungen stellt ein Desiderat der weiteren Forschung dar. Das Zusammenwirken von Wortbildung und Phraseologisierung 21 Die dephraseologische Derivation von Verben, also die Bildung eines Verbs auf der Grundlage eines Phraseologismus, greift ebenfalls auf verbale, nicht auf nominale Phraseologismen zurück. Sie vollzieht sich entweder a) als Univerbierung einer verbalen phraseologischen Wortgruppe zu einem einzigen Verb (also auf dem Wege der ‘Zusammenrückung’) oder b) als Verbalisierung der nominalen Komponente eines verbalen Phraseologismus unter Reduktion des verbalen Elements. Was den Fall a) betrifft, so stößt seine Beurteilung auf die Schwierigkeiten, die sich im Deutschen generell ergeben, wenn im verbalen Bereich zwischen Wort- und Wortgruppenstruktur unterschieden werden soll. Es kommt hier zu einem stärkeren Neben- und Ineinander beider Konstruktionstypen: kalt bleiben - ‘kühl bleiben’ kaltbleiben - ‘besonnen bleiben’, sich bereit erklären bereithalten. Die Abgrenzungskriterien sind für die lautliche und die graphische Repräsentationsform der Sprache nur zum Teil die gleichen; deshalb kommt es zu Diskrepanzen. Prozesse der Demotivation (Idiomatisierung) verbaler Wortgruppen besonders aus Adjektiv/ Adverb + Verb dienen in höherem Maße als Kriterium für ‘Worteinheit’ als beim Substantiv und wirken sich unmittelbar auf die Schreibung aus. Damit ist für derartige Strukturen die Möglichkeit einer Existenz als Phraseologismus stark eingeschränkt; sie tendieren zur Wortbildungskonstruktion: blindfliegen, kurzhalten. Ein etwas klareres Bild ergibt der obengenannte Fall b): Das Verb eintrichtern ist durch Verbalisierung der nominalen Komponente Trichter in dem Phraseologismus mit dem Nürnberger Trichter einflößen - ‘auf grobe Lehrweise beibringen’ entstanden, ähnlich umhalsen aus um den Hals fallen. In diesen Zusammenhang sind möglicherweise auch Verben zu stellen wie büffeln, ochsen, die sich aus Vergleichskonstruktionen ergeben haben können: (hart) arbeiten wie ein Büffel/ Ochse. Substantivische Phraseologismen spielen als Basis für die Derivation eine untergeordnete Rolle; ein Beispiel ist etwa dickes Fell - ‘psychische Unempfindlichkeit, (übertriebene) Gelassenheit, mangelnde Sensibilität’, wovon dickfellig und Dickfelligkeit. Komposita mit phraseologischer Konstituente benutzen vorwiegend Wortpaare (Nacht-und-Nebel-Aktion) und andere adverbiale Phraseologismen mit Präposition; die Präposition wird entweder mit in das Kompositum übernommen (Vor-Ort-Bericht, Reportage-vor-Ort-Übung), oder sie entfällt ( Vier-Augen-Gespräch). Auch Komposita wie Frechdachs, Schnattergans, Naschkatze könnten sich in ihrem Bezug auf den Menschen durch Zurückführung auf komparative Phraseologismen erklären lassen (schnattern wie eine Gans). 22 Wolfgang Fleischer Zusammenfassend ist festzuhalten: Bestimmend für die dephraseologische Derivation sind verbale Phraseologismen, vorwiegend als Basis substantivischer Derivate (durch Suffigierung oder Konversion). Die Bildung verbaler Derivate, keine Transposition darstellend, vollzieht sich nach einem völlig anderen Mechanismus und ist weit weniger entwickelt. Adverbiale Phraseologismen spielen eine besondere Rolle als phraseologische Konstituente von Komposita. In allen Fällen gilt, daß der Phraseologismus mit seiner Semantik als Ganzes in die Wortbildungskonstruktion eingeht; sie ist demzufolge nicht ohne Bezug auf den phraseologischen Charakter der Derivationsbasis dekodierbar, auch wenn diese formal nur reduziert in der Wortbildungskonstruktion erscheint. Ich komme zum Schluß: Der Phraseologisierung liegt soweit es um die Kerngruppe der Phraseolexeme geht ein ‘Bedeutungswandel’ zugrunde - ‘semantische Umdeutung’ bringt besser die Bewußtheit des Vorgangs zum Ausdruck. Die Prozesse dieses ‘Bedeutungswandels’ von Wortgruppen wären auch in Beziehung zu setzen zum ‘Bedeutungswandel’ von Wörtern, der ja auch einen Weg der Wortschatzvermehrung darstellt. Dabei gibt es wiederum Unterschiede zwischen komplexen und einfachen Wörtern. Diese Prozesse können in ihrem Zusammenwirken hier nicht mehr verfolgt werden. Sie haben für uns heute - und damit knüpfe ich an meine einleitenden Bemerkungen an durchaus „den unmittelbaren reiz“, den Jacob Grimm in der „Untersuchung der laute und flexionen“ fand, in der Wortbildungslehre jedoch vermißte (Vorrede zur Deutschen Grammatik, Dritter Theil, Gütersloh 1890, S.V.). Literatur Barz, Irmhild (1983): Zum Anteil der Wortbildungsarten an der Benennungsbildung. In: Germanistisches Jahrbuch DDR - UVR. Hrsg. v. Deutschlektorat beim Kultur- und Informationszentrum der DDR in Budapest. II. Jg. S. 7-21. Barz, Irmhild (1984a): Prinzipien und Tendenzen bei der Bildung und Verwendung komplexer Benennungen. In: Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung, 37, S. 433-446. Barz, Irmhild (1984b): Wortgruppen als Benennungen. 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Und zwar nicht, weil über die Ziele keine Verständigung erreicht werden konnte, sondern, weil der Teufel bekanntlich im Detail steckt. Wie oft in der Forschung, so auch in der einschlägigen Forschung zur Wortbildung ist über die anzustrebenden Ziele, wenn sie nur abstrakt genug formuliert sind, schnell Einigkeit zu erreichen. Etwa darüber, daß jeder Forschungsbeitrag ein Entwurf für eine brauchbare Theorie der Wortbildung darstellen oder Materialien für eine solche aufarbeiten oder bereitstellen sollte. Was dagegen umstritten ist und was umstritten bleiben wird, ist die Frage, auf welchem Weg zu den Zielen zu gelangen ist. Umstritten war und ist die Gewichtung zwischen analytischem und prozessualem Ansatz, umstritten sind die Analysemethoden, umstritten ist der Wert eines Korpus gegenüber der Intuition des native speaker usw. Dem Innsbrucker Projekt „Nominale Kompositionen und kompositionsähnliche Strukturen“, 3 haben die lange Bearbeitungszeit und die Vorgaben durch die Vorgängerprojekte zur Ableitung manchen Vorteil gebracht: 1 Holly (1985, S. 89). 2 Holly (1985, S. 104). 3 Am DFG-gestützten Projekt des IDS (Mannheim), Forschungsstelle Innsbruck, waren beteiligt: Elgin Müller-Bollhagen, Maria Pümpel-Mader, Hanspeter Ortner, Lorelies Ortner, Hans Wellmann sowie Elsbeth Gassner-Koch und Hildegard Gärtner; siehe Ortner u.a. (1991) und Pümpel-Mader u.a. (1992). 26 Lorelies Ortner Zum ersten konnten wir die Zeiten, in denen mit unduldsamer Radikalität jeder nicht-generativistische Ansatz als Hokus-Pokus-Unternehmen abgetan wurde, buchstäblich aussitzen. Forschungsgeschichtlich sind wir heute in einer Lage, die gekennzeichnet ist durch das Zurückdrängen des Alleinvertretungsanspruchs eines einzigen, des weiterentwickelten generativistischen Paradigmas. Chomsky und seine Jünger sind heute Vertreter eines Beschreibungsansatzes. Sie sind nicht mehr die Magier des einzig brauchbaren und allein seligmachenden Paradigmas. Aufgrund dieser Entwicklung hatten wir fast freie Hand bei der Erprobung der vorhandenen Methoden. Wir konnten unter anderem eine Adaption der Kasusgrammatik für die Beschreibung der Nominalkomposita erarbeiten, deren Grundzüge in unserem „Begleitbuch“ zur Theorie und Praxis der Kompositaforschung niedergelegt sind. 4 Weiters sind die Untersuchungen zu den Komposita der Tradition der bisher publizierten Bände 5 in der Bindung an ein konkretes, repräsentatives Korpus verpflichtet. Die Arbeit basiert auf einer Materialbasis von 62 000 verschiedenen Substantivkomposita und 12 000 Adjektivbzw. Partizipialkomposita. Aus dieser Festlegung auf die Korpusarbeit ergab sich fast automatisch die Akzentsetzung, das Korpus aus der Perspektive der analytischen, strukturalistischen Wortbildungsforschung zu beschreiben. Ich glaube nicht, daß mit der Wahl dieser Beschreibungsperspektive der prozessuale Aspekt, der ja gerade angesichts der Produktivität von Komposita nicht zu übersehen ist, unter die Räder gekommen ist. Prozessualer und analytischer Angang stellen Annäherungen an dasselbe Phänomen dar. Darauf hat Johannes Erben im Anschluß an Dokulil schon im Vorwort zum ersten Band der „Deutschen Wortbildung“ hingewiesen: Auch wer Wortbildung vorwiegend als Prozeß verstehen und im Hinblick auf künftige Bildungen „generativ-prädikativ“ beschreiben will, muß schon bei der Formulierung der „Regel“ den jeweils gegebenen „Spielraum“ einkalkulieren, und er kann auch darum vom Bestand der schon gebildeten Wörter nicht gänzlich absehen, weil eine ‘dialektische Wechselbeziehung zwischen den wortbildenden Prozessen und dem Funktionieren der Wortbildungsstrukturen’ besteht, eine ‘Wechselbeziehung der Prozesse und der Ergebnisse, die selbst wieder zu Bedingungen neuer Prozesse werden’. 6 Als dritten Punkt möchte ich hervorheben, daß wir durch unsere Vorgängerbände außer auf die Arbeit mit einem Korpus auch auf einen gerade in der Kompositaforschung stark vernachlässigten Aspekt verpflichtet wurden: auf den der Beschreibung der semantischen Beziehungen zwischen den Konstituenten der Wortbildungskonstruktion. Das heißt: Wir 4 Ortner/ Ortner (1984). 5 Kühnhold/ Wellmann (1973), Wellmann (1975) und Kühnhold/ Putzer/ Wellmann (1978). 6 Erben in Kühnhold/ Wellmann (1973, S. 9). Berücksichtigung der Semantik in der Kompositaforschung 27 mußten und wollten die Komposita unseres Korpus nach den, wie Henzen sagt, „mannigfachen Möglichkeiten des Verhältnisses von Determinativ und Grundwort“ 7 beschreiben. Ein Seufzer Hermann Pauls hätte uns vorab den Mut nehmen können, denn er meinte: „Dieselben“ nämlich die Komposita - „in erschöpfender Weise in Gruppen einzuordnen ist kaum möglich“. 8 Die Paulsche Autorität hat sicher das Ihre dazu beigetragen, daß in der Wortbildungsliteratur meist nur Kostproben für die „mannigfachen Verhältnisse“ gereicht werden. Eine solche Klassifikationsprobe stammt von Hermann Paul selber und wurde von Walter Henzen 9 übernommen. Hier werden Komposita klassifiziert nach dem, was das erste Glied bezeichnet, z.B. Stoff in Darmsaite usw.: Die mannigfachen Möglichkeiten des Verhältnisses von Determinativ und Grundwort seien hier mit einigen Fällen angedeutet ... Das erste Glied bezeichnet z.B. den Stoff: Darmsaite, Strohhut, Weizenbrot, Dornbusch, oder den Ort, wo sich das zweite befindet: Meerfisch, Fingerring, Turmuhr, bzw. eine Richtung: Bergwind, Welschlandfahrt, oder die Zeit, in die das zweite fällt oder für die es bestimmt ist: Morgensonne, Julihitze, Nachthemd, oder den Gegenstand, für den das zweite bestimmt ist: Weinfaß, Kaffeelöffel, Mistgabel, Briefpapier, oder das, wogegen es gebraucht wird: Regenschirm, Wurmpillen, Blutsegen, Diebstahlversicherung, oder den Gegenstand, durch den das zweite Glied ausgeführt wird: Handarbeit, Fußtritt, Wagenfahrt, oder den Gegenstand, der durch das zweite erzeugt wird: Leineweber, Kesselschmied, Honigbiene, Hanfsame, oder den Stoff, mit dem das zweite sich beschäftigt: Buch-, Weinhändler, Gold-, Kupferschmied, oder die Sache, mit der das zweite ganz (Königstiger ...) oder nur in einer seiner Eigenschaften (Leberfleck, Blutbuche, Hirschkäfer, Wundts „Komposition durch assoziative Fernwirkung“) verglichen wird. Unser vermessenes Ziel war es, über Kostproben hinaus zur Sichtung und Beschreibung der gesamten Mannigfaltigkeit zu gelangen. Wie wir dabei vorgegangen sind, werde ich zunächst an drei Komposita demonstrieren, die intuitiv sofort als sehr verschieden eingeschätzt werden, obwohl sie demselben Wortnetz angehören und vielleicht sogar in derselben Galerie 7 Henzen (1965, S. 53). 8 Paul (1920, S. 9). 9 Henzen (1965, S. 53f.). 28 Lorelies Ortner verwendet werden: Es sind dies die Beispiele Malergenie, Künstlerhand und Picasso-Bild. 1. Klassifikation der Komposita nach morphologischen, syntaktischen und semantischen Kriterien Bei einer Klassifizierung, der nur morphologische Kriterien zugrundeliegen, würde heute vor allem nach der Wortart der beiden Konstituenten gefragt werden. Die genannten drei Komposita fallen alle in die Klasse der Zusammensetzungen aus zwei Stubstantiven. Weil dieses morphologische Muster keine Erklärung bietet für die Unterschiede, die zwischen den drei Komposita bestehen, liegt es auf der Hand, daß nach anderen Einteilungsprinzipien gesucht werden muß. Komposita unter syntaktischem Aspekt zu beschreiben heißt, die Beziehung zwischen Komposita und syntaktischen Strukturen aufdecken. Den Anforderungen der analytischen Methode gemäß wurde wenn das möglich war die Relativsatzparaphrase als umgangssprachliche Erklärungsstruktur 10 angewandt, also z.B. für Malergenie —» ‘Maler, der ein Genie ist’, für Künstlerhand —» ‘Hand, die ein Künstler hat’ und für Picasso-Bild —* ‘Bild, das Picasso gemalt hat’. In einem nächsten Schritt habe ich die in der Relativsatzparaphrase verwendeten spezielleren Verben einem Archilexem zugeordnet. Also z.B. das Verb malen der Klasse ‘machen’ bzw. ‘tun’. So lassen sich aus den Relativsätzen abstraktere Prädikationen gewinnen; in unserem Fall ergäbe das für Malergenie die Prädikation ‘A ist B’, für Künstlerhand ‘A hat B’ und für Picasso- Bild ‘A macht B’, wobei A für die Bezugsgröße der ersten Konstituente steht und B für die der zweiten. Die syntaktische Struktur der Sätze ist somit beschreibbar als „Subjekt - Prädikat - Prädikativ“ für die Paraphrase ‘A ist B’ bei Malergenie bzw. als „Subjekt - Prädikat - Objekt“ für ‘A hat B’ bei Künstlerhand und für ‘A macht B’ bei Picasso-Bild. Wie man sieht, kann eine bloß syntaktische Analyse den Unterschied zwischen den beiden letztgenannten Komposita auch nicht deutlich machen, da die Subjekt-Objekt-Struktur für beide Komposita gleichermaßen zutrifft. Dennoch stellen die Relativsatzparaphrasen bzw. die abstrakteren Prädikationen den Schlüssel zum Geheimnis dar, da sie deutlich das Mehr an Information gegenüber den Komposita zeigen: Die drei Sätze unterscheiden sich nämlich in der Aussageform. Mit den ersten zwei Sätzen werden „Seinsbestimmungen“ 11 ausgedrückt, und zwar in Form der ‘Sein’-Prädikation und der damit verwandten ‘Haben’-Prädikation, 12 mit dem dritten 10 Vgl. v. Polenz (1972). 11 Erben (1972, S. 58). 12 ‘Sein’- und ‘Haben’-Strukturen sind zwar linguistisch gesehen verwandt, Seinsmodus und Habensmodus jedoch stellen „zwei grundlegend verschiedene Formen mensch- Berücksichtigung der Semantik in der Kompositaforschung 29 hingegen wird eine „Verhaltensbestimmung“ 13 explizit gemacht, und zwar als ‘Tun’-Prädikation. Ich komme hiermit zu einer ersten semantischen Fragestellung, die sich für die Untergliederung der Belege als wichtig erwiesen hat: „‘Sein’- oder ‘Tun’-Prädikation? “ oder: „To be or not to be? “ In den Verbsystemen der indogermanischen Sprachen hat sich im Laufe der Jahrtausende der Schwerpunkt von der ‘Sein’-Prädikation zur ‘Tun’- Prädikation verschoben. 14 Dies hängt unter anderem zusammen mit dem ständigen Zunehmen der Agens-Actio-Struktur als Eigenheit dieser Sprachen. 15 Wenn man nun annimmt, daß Komposita Äquivalente von expliziten Prädikationen sind, so ist es verblüffend, daß sich bei ihrer Analyse ein ganz anderer Befund ergibt: Nur etwas mehr als ein Drittel der von uns untersuchten Determinativkomposita läßt sich mit einer ‘Tun’- Prädikation paraphrasieren. Hingegen kann fast die Hälfte aller Komposita in ‘Sein’-Prädikationen aufgelöst werden. Den verbleibenden Bildungen können Prädikationen mit ‘haben’ zugeordnet werden. 2. Komposita mit ‘Haben’-Relation Im folgenden beschränke ich mich auf Komposita des letztgenannten Typs, solche also, die um mit Brinkmann 16 zu sprechen aus einer ‘Haben’- Perspektive heraus gebildet worden sind. 2.1 Semantische Relationen und Topikalisierung Im Innsbrucker Korpus fanden sich fast 10 000 Komposita, die mit ‘Haben’-Prädikationen aufgelöst werden können. Um einen Eindruck von der Vielfalt des von mir bearbeiteten Materials zu geben, sei hier ein kleiner Ausschnitt daraus vorgestellt: Arztgattin Augenkind Bärenstärke Bauernknecht Beamtenspitzbauch Bräutigamsurin Brillenkittelmann Buchauszug Chorknabe Dreifingerfaultier Eisglätte Engelsmiene Förstersfrau Frau-Kommerzienrat- Froschhaltung liehen Erlebens“ dar; Fromm (1976, S. 26). Zum Unterschied zwischen den beiden Modi vgl. ebd., S. 25ff. 13 Erben (1972, S. 58). 14 Hartmann bezeichnet das Indogermanische als „tätigkeitsfreudig“ im Gegensatz zu außerindogermanischen Sprachen, bei denen eine Verschiebung von der ‘Tun’zur ‘Sein’-Prädikation zu beobachten ist. Hartmann (1956, S. 63 und 179); vgl. dazu auch Brinkmann (1950/ 51, S. 74f.). 15 Vgl. Koller (1983, S. 103). 16 Brinkmann (1959, S. 176.). 30 Lorelies Ortner Furunkelhiob Geigenbogen Gelddynastie Gesellschaftskapital Gesellschaftskreise Götter-Ehefrau Hosenmädchen Hosenträger Humphrey-Bogart-Mantel Jahresviertel Kalbsfilet Kapitalgesellschaft Kardinalshäupter Kinderaugen Kinderhand Kinderkleid Klassepianist Komponistenwitwe Konstantinopohianischerdudelsackpfeifenmachergesellenrisikozulage Lehrergehalt Lehrplanstrukturen Lindenblatt Löwenmut Mädchenhose Mädchenliebling Männerarm Männergeschmack Manuskriptteil Maria- Theresia- Tochter Menschenseele Natur-Leder-Look Qualitätsstoff Richterrobe Rinderzunge Schaftstiefel Schrägheck- Windkanal- Heckklappen-Auto Schwertfisch Stiefelschaft Stoffqualität Tochtermann Vereinsmitglied Vereinsvermögen Vierteljahr 14-Kurven-Lindwurm Zuschußbetrieb Zweifingerfaultier Die Komposita Arztgattin und Augenkind bis hin zu Zuschußbetrieb und Zweifingerfaultier korrelieren zwar alle in irgendeiner Weise mit ‘Haben’- Prädikationen, fallen aber auf den ersten Blick schon als uneinheitlich auf. Daher war es natürlich interessant zu prüfen, ob die Elemente dieser Menge nicht weiteren Subklassen zugeordnet werden können. Die von mir angenommene abstrakte Prädikation enthält nicht nur Informationen über die zwei Aussageformen der Seins- und der Verhaltensbestimmung, sondern sie gibt auch Auskunft darüber, welches Satzglied dem Determinans und welches dem Determinatum entspricht. D.h., in dieser Prädikation ist bereits der Aspekt der Topikalisierung der Elemente berücksichtigt. Ich möchte das anhand der beiden Beispiele Schaftstiefel und Stiefelschaft erläutern, wobei ich mich im weiteren immer auf das folgende Klassifikationsbeispiel (s. Übersicht) beziehe. Berücksichtigung der Semantik in der Kompositaforschung 31 Klassifikationsbeispiel B.2. POSSESSORISCH/ BENE- FAKTIV Komposita, die eine Größe nach ihrem Besitzer, Träger oder Empfänger benennen (747 Stichwörter) B.2.1. Vereinsvermögen Besitzer - Besitz B.2.2. Mädchenhose Träger (Zielgruppe) - Getragenes B.2.3. Lehrergehalt Empfänger - Zuwendung A.2. POSSESSIV Komposita, die eine Größe nach dem benennen, was sie besitzt, trägt oder erhält (123 Stichwörter) A.2.1. Gelddynastie Besitz - Besitzer A.2.2. Hosenmädchen Getragenes - Träger A.2.3. Zuschußbetrieb Zuwendung - Empfänger 32 Lorelies Oriner Für Schaftstiefel gilt die Analyse ‘B (also die Bezugsgröße der zweiten Konstituente) hat A’, Stiefelschaft hingegen entspricht der Prädikation ‘A hat B’. Wenn man nun gleich die Topikalisierung mitberücksichtigt und vom Grundwort ausgeht, gilt für Stiefelschaß die konverse Prädikation ‘B gehört zu A’. Wenn den Topikalisierungsverhältnissen solchermaßen Rechnung getragen wird, ergibt sich als Großgliederung der Komposita mit ‘Haben’-Perspektive die Einteilung in die Gruppe A „Kennzeichnungskomposita“ (und zwar solche mit ‘Haben’-Relation) 17 und in die Gruppe B „Zugehörigkeitskomposita“. Aufgrund der verschiedenen Prädikationen wurden für die Komposita mit substantivischem Grundwort zwölf solche Großklassen ermittelt, deren Umfang unterschiedlich groß ist. Z.B. ist die Gruppe der Zugehörigkeitskomposita (B) mehr als dreimal so häufig belegt wie die der Kennzeichnungskomposita (A). 18 Die weitere Untergliederung erfolgte wiederum nach semantischen Prinzipien, diesmal allerdings nicht mehr ausgehend von der abstrakten Form der Prädikation, sondern bereits unter Berücksichtigung der Semantik der Einzelkonstituenten und ihres Verhältnisses zueinander. Grundsätzlich treten ‘Haben’-Strukturen in zwei Hauptvarianten auf: einerseits als "‘Teil-von’- Relation (im weitesten Sinn)“, andererseits als „Besitz-“ bzw. „Verfügbarkeitsrelation“ (in der Übersicht das mittlere und das untere eingerahmte Feld). Die ‘Teil-von’-Relation führt je nach der Besetzung der Thema-Rhema- Positionen im Kompositum zu zwei Haupttypen. Für die erste Gruppe (A.l), die durch 2100 Wörter belegt ist - und zwar types, nicht tokens stehen die Beispiele Qualitätsstoff und Schaftstiefel. Sie lassen sich als ornativ/ qualitative Komposita beschreiben, das sind solche, die eine Größe nach einem kennzeichnenden Teil oder einer Qualität benennen. Die zweite Gruppe (B.l) ist durch Beispiele wie Stoffqualität und Stiefelschaft vertreten. Die über 6000 partitiv/ soziativen Bildungen benennen eine Größe nach ihrer partitiven oder soziativen Beziehung zu einer übergeordneten Größe. Das sehr viel schwächer belegte zweite Paradigma, die Besitzbzw. Verfügbarkeitsrelation, kommt ebenfalls in zwei Gruppen zum Ausdruck, deren Komposita sich in den Topikalisierungsverhältnissen unterscheiden. Für die Gruppe A.2 stehen die Leitbeispiele Gelddynastie, Hosenmädchen und Zuschußbetrieb. Diese Gruppe stellt mit 123 Stichwörtern nur 1,3 % des Bestandes der ‘Haben’-Komposita. Es handelt sich in A.2 um pos- 17 Im Unterschied zu Kennzeichnungskomposita mit ‘Sein’-Relation, vgl. Bestsellermodell (Kurier 22.7.1978, S. 4) —> ‘Modell, das ein Bestseller ist’ bzw. Glatteis —* ‘Eis, das glatt ist’/ 'glattes Eis’; vgl. dazu Pümpel-Mader in Ortner u.a. (1991, S. 16111.) bzw. H. Ortner (ebd., S. 71811.). 18 Die Zahlenangaben beziehen sich immer auf verschiedene Stichwörter, nicht auf Belege desselben Stichwortes. Berücksichtigung der Semantik in der Kompositaforschung 33 sessive Bildungen, die eine Größe nach dem benennen, was sie besitzt, trägt oder erhält. Dagegen sind Vereinsvermögen, Mädchenhose und Lehrergehalt Beispiele für die im Korpus etwas stärker belegte Gruppe von Komposita, die eine Größe nach ihrem Besitzer, Träger oder Empfänger benennen (B.2). Um sie von den possessiven Komposita des Typs in A.2 zu unterscheiden, wählte ich - Adolf Noreen 19 folgend den Terminus „possessorisch/ benefaktive 20 Komposita“. 2.2 Semantische Rollen Unter Berücksichtigung der Semantik der Einzelkonstituenten und ihres Verhältnisses zueinander wurden die deutschen Substantivkomposita in 34 Haupttypen eingeteilt, solche wie „ornativ“ oder „partitiv“. Die Termini beziehen sich vorerst auf die Relation, die zwischen den Konstituenten eines Kompositums oberflächenstrukturell feststellbar ist; implizit geben diese Termini aber auch in verallgemeinernder Form über die semantischen Rollen Auskunft, in denen sich die Konstituenten gegenüberstehen, und auch darüber, wie diese Rollen sich gegenseitig semantisch festlegen. Die weitere Feinanalyse war der expliziten Beschreibung der Rollenpaare gewidmet; so konnten die Haupttypen in Subtypen untergliedert werden. Klassen wie „Merkmal - Träger“ geben die wie Dokulil sie nennt - „gnoseologisch-logischen Kategorien“ 21 wieder, denen die Konstituenten zuzuordnen sind. Sie veranschaulichen also den generalisierten Inhalt von Komposita. „Wieviele Rollen-Typen man ansetzen kann/ soll/ darf, wird immer umstritten bleiben“, stellt Peter von Polenz fest. Und weiter: „Dies ist von Anwendungszwecken abhängig.“ 22 Im Innsbrucker Wortbildungsprojekt ist es darum gegangen, eine möglichst genaue Analyse von Komposita durchzuführen. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, wurde ein feinmaschiges Netz von Rollentypen geknüpft, die jeweils aus der Oberflächenstruktur nachzuweisen waren. Mit diesem feinen Raster von semantischen Rollen wurden für die deutschen Substantivkomposita 123 Subtypen ermittelt, woran sich noch weitere 13 als Restgruppen mit sehr niedriger Frequenz anschließen lassen, d.h. solche, die mit weniger als 10 Stichwörtern belegt sind. Die Zahl der semantischen Subtypen erscheint auf den ersten Blick vielleicht erschreckend hoch. Tatsächlich wird man aber durch die Vielfalt der Belege gezwungen, eine derart komplexe Klassifizierung anzusetzen. Viele For- 19 Noreen (1923, S. 364). 20 Der Terminus „benefaktiv“ geht auf Fillmore zurück und wird von Kürschner (1974, S. 117f. und 183f.) übernommen. 21 Dokulil (1964, S. 218). 22 v. Polenz (1985, S. 169). 34 Lorelies Ortner scher/ innen, die ein repräsentatives Korpus vollständig beschrieben haben, sind auf eine ähnliche „Mannigfaltigkeit“ gestoßen: so etwa Adolf Noreen bei der Beschreibung von Komposita und syntaktischen Strukturen der deutschen Sprache 23 oder in jüngerer Zeit - Wilfried Kürschner für die deutschen Substantivkomposita 24 und Beatrice Warren für englische Komposita mit substantivischem Grundwort. 25 Auch Herbert Brekle kommt aufgrund einer Hochrechnung in seinem Buch über englische Nominalkomposita zu folgender Aussage: „Insgesamt ergeben sich aus ca. 25 Satzbegriffstypen über 100 nach ihrer satzsemantischen Binnenstruktur differenzierbare Kompositionstypen.“ 26 2.2.1 ‘Teil -von’-Relation a) Doch nun zurück zu den Komposita mit ‘Teil-von’-Relation, und hier zunächst zur Gruppe B.l. Das erste Rollenschema wird vom Leitbeispiel Stoffqualität repräsentiert. Es geht um die Beziehung „Träger - Merkmal“ (B.l.l), die bei 3 % aller Komposita des Innsbrucker Korpus vorliegt. Diese in der Kompositaliteratur kaum beachtete - ‘Merkmal-von’- Relation kann als Variante der ‘Teil-von’-Relation angesehen werden, 27 mit dem einen Unterschied allerdings, daß ein Merkmal keinen diskreten Teil angibt, sondern dem Träger inhärent ist, vgl. die Teilbezeichnung Männerarm aus der Gruppe B.1.2 und die Merkmalbezeichnung Männergeschmack a,ns B.l.l. Als besonderes Kennzeichen der Träger-Merkmal-Bildungen ist hervorzuheben, daß sie oft Lexikalisierungsprozessen unterworfen sind. Dies wird vor allem deutlich, wenn zwischen den Konstituenten oder zwischen verschiedenen Wortbildungskonstruktionen paradigmatische Beziehungen bestehen. Semantische Abschwächungen des Bestimmungswortes oft beschleunigt durch reihenhaften Gebrauch weisen z.B. Analogiebildungen mit Tierbezeichnungen auf, wie die ursprünglich metaphorischen Komposita Bärenstärke, Bärenkraft, Bärenhunger oder Löwenstärke, Löwenkraft, Löwenmut; die Bestimmungwörter rücken in die Nähe von augmentativen Morphemen wie Super- oder Mords-,Auch im Bereich der abstrakten Grundwörter findet Bedeutungsentleerung statt, wenn in der Sprache des öffentlichen Lebens von der Erarbeitung neuer Lehrplanstrukturen 29 die 23 Noreen (1923). 24 Kürschner (1974, S. 158ff.). 25 Warren (1978, S. 78ff.). 26 Brekle (1970, S. 193). 27 Vgl. Bierwisch (1966, S. 72f.). 28 Vgl. dazu Wellmann (1975, S. 145f. und 142f.). 29 Hoffmann (1974, S. 190). Berücksichtigung der Semantik in der Kompositaforschung 35 Rede ist und es sich dabei schlicht um neue Lehrpläne handelt. Die Merkmalbezeichnung -Struktur dient hier vorwiegend als Pluralsignal. Die semantische Unbestimmtheit des Typs wird vor allem von der Werbung genutzt, wenn sie z.B. Schuhe im Natur-Leder-Look 30 anbietet, was natürlich wesentlich zugkräftiger, weil weniger deutlich ist als Lederimitation, Imitationsleder und Kunstleder oder gar Pseudoleder, Scheinleder und unechtes Leder - oder ganz einfach, wie’s der Wahrheit entspräche, Schuhe aus Kunststoff. b) Nach diesem Exkurs zu einigen semantischen Besonderheiten der Träger-Merkmal-Komposita kehre ich zu den semantischen Rollen zurück. Für das zum Schema „Träger - Merkmal“ komplementäre Rollenpaar, nämlich „Merkmal - Träger“, steht das Leitbeispiel Qualitätsstoff (A.l.l). In den beiden Beispielen Stoffqualität und Qualitätsstoff zeigt sich die prinzipielle Umkehrbarkeit der beiden Rollen. Lebensweltliche Gründe sind allerdings oft ausschlaggebend für Lücken in diesem System. Obwohl gerade in diesem Typ, A.l.l, viele Gelegenheitsbildungen bezeugt sind wie etwa Sägezahnprofilsohle, ist z.B. zum Kompositum Männergeschmack keine Gegenbildung *Geschmacksmann belegt. Wie Johannes Erben feststellt, schafft Wortbildung „Gebilde eigener Struktur und Funktion, keine ... beliebig auswechselbare sprachliche Alternativformen“. 31 Die Komposita der Gruppen A.l.l bzw. B.l.l vertreten einen Aspekt der ‘Teil-von’-Relation. Diejenigen in A.1.2 bzw. B.1.2 repräsentieren einen weiteren, sehr viel bekannteren: c) Dem Rollenschema „Ganzes - Teil“ entspricht die Bildung Stiefelschaft in B.1.2. ‘Ganzes-Teil’-Komposita werden sehr oft mit Grundwörtern aus der Kategorie der Partitiva gebildet, z.B. Kastenhälfte, Frontabschnitt und Sekundenbruchteile. Die relationalen Nomina 32 Hälfte, Abschnitt und Bruchteile eröffnen eine Leerstelle, die durch die erste Konstituente „gesättigt“ wird, und enthalten bereits als isolierte Lexeme die Bedeutung ‘Teil-von’, so daß für die mit ihnen gebildeten Komposita Paraphrasen wie ‘Hälfte, die Teil des Kastens ist’ tautologisch wirken. 33 Bei nicht-relationalen Nomina muß die Relation ‘Teil-von’ erst „etabliert“ 34 werden, vgl. Schuhriemen, Kompaßnadel, Tischplatte usw.: 30 Werbeschrift Schuhhaus Dialer, Innsbruck 1978. 31 Erben (1976, S. 305). 32 Zur Kategorie der relationalen Nomina in ihrer Funktion als zweite Konstituenten vgl. z.B. Heidolph (1961, S. 73ff.) und Fanselow (1981, S. 46). 33 Das Auftreten von relationalen Nomina als Zweitglieder ist mehrfach zu beobachten, vgl. z.B. Familienmitglied in B.1.4 und Diplomatensohn in B.1.5 oder in anderen Typen z.B. Kaffeesorte, Fleischportion, Lehrermangel; vgl. dazu Ortner in Ortner u.a. (1991, S. 218ff., 222f, 236ff. und 317ff.). 34 Vgl. dazu Seiler (1977, S. 201f.). 36 Lorelies Ortner —* ‘Riemen, der Teil des Schuhes ist’ usw. Die ‘Ganzes-Teil’-Komposita machen im System aller Substantivkomposita 5 % aus. Damit stellen sie den zweitproduktivsten Subtyp überhaupt. 35 Die hohe Produktivität des Musters „Ganzes - Teil“ erweisen auch Augenblickskomposita wie etwa Beamtenspitzbauch (eines Filmschauspielers), 36 Leibkutscherseele 37 oder Hanna-Mädchen-Gesicht 3S (—> ‘das Gesicht des Mädchens Hanna’). d) Der Umkehrtyp „Teil - Ganzes“ mit dem Leitbeispiel Schaftstiefel (A.1.2) ist dagegen nur halb so oft realisiert. Dieser Typ bietet das Muster, nach dem oft verfahren wird, wenn Sonderarten benannt werden sollen, etwa in populärwissenschaftlichen Nomenklaturen, wo Dreifingerfaultiere von Zweifingerfaultieren abgehoben werden und Nasenaffen von Pinselaffen. Systematisch nützt Günther Grass diese Möglichkeit, ein Nominationsparadigma aufzubauen, im „Tagebuch einer Schnecke“, wo z.B. von Nabelschnecken, Napfschnecken, Pfeilschnecken und Schließmundschnecken 39 die Rede ist. Am Beispiel dieser Tierbezeichnungen wird deutlich, daß Komposita ein Hauptmittel sind, um begriffliche Teilstrukturen zu entwickeln. Dabei kann diese Aufgabe gelegentlich durchaus auch von anderen Wortbildungsarten übernommen werden, wie ein Blick auf die Klasse der Borstenwürmer zeigt, die die Klasse der Vielborster miteinschließt. Hier konkurriert das tierbezeichnende Grundwort -wurm der extensionsweiten Bildung mit dem Suffix -er der extensionsengeren. Nicht selten ist der Fall, daß der Oberbegriff einer Teilklasse im Sprachsystem fehlt. So wird niemand den zu Autoräder komplementären Begriff *Räderauto vermissen, obwohl eine vom Prototyp abweichende Sonderentwicklung des Automarktes durchaus als 9-Räder-Auto A ° bezeichnet werden kann. An diesem Beispiel wird einmal mehr sichtbar: Wo der Teil eines Ganzen als selbstverständlich vorauszusetzen ist und kein besonderes Kennzeichen darstellt, besteht keine Bezeichnungsnotwendigkeit. Auch Personen werden üblicherweise nicht als *Halsmenschen oder *Lungenmenschen bezeichnet. Aus einem besonderen Stilwillen heraus können aber Autoren wie Paul Celan doch einmal Komposita wie im folgenden Kontext prägen: „Es sieht, denn es hat Augen, die helle Erden sind. Die Nacht, die Nacht, die Laugen. Es sieht, das Augen- 35 Am häufigsten genutzt wird in der Gegenwartssprache das Muster „Actio - Mittel“ (z.B. Bohrmaschine); vgl. dazu Müller-Bollhagen in Ortner u.a. (1991, S. 610ff.). 36 Gong (1978/ 17, S. 29). 37 Strittmatter (1963, S. 209). 38 Frisch (1966, S. 116). 39 Grass (1974, S. 123, 36 und 47). 40 Süddeutsche Zeitung (10.11.1976). Berücksichtigung der Semantik in der Kompositaforschung 37 kind. “ 41 Stilistische Absicht und sachliche Notwendigkeit das sind also die Benennungsmotive für nichtusuelle Bildungen. Zum Normalfall der ‘Teil-Ganzes’-Struktur ist als Sonderfall eine Bezeichnungsvariante belegt, nämlich der Typ Vierteljahr. Hier determiniert nicht, wie üblich, die erste Konstituente die zweite, sondern es muß umgekehrt die zweite Konstituente als Bestimmungswort aufgefaßt werden; deshalb ist diese Wortbildungskonstruktion, Vierteljahr, mit ‘Viertel eines Jahres’ zu paraphrasieren. Beim Umkehrtyp Jahresviertel (B.1.2) ist diese Bezeichnungsbesonderheit nicht zu beobachten. e) Bildungen wie Kalbsfilet (B.1.3) können nicht mehr als ‘Ganzes-Teih- Strukturen im eigentlichen Sinn aufgefaßt werden. Die Semantik der zweiten Konstituente legt eine Interpretation als „(ab)gesonderter Teil“ nahe: Kalbsfilet —» ‘Filet, das vom Kalb stammt’. Natürlich bestehen Übergänge zu echten Teilbezeichnungen, meist sichern aber Alltagspraxis und Gebrauchsnorm die richtige Auflösung von polysemen Bildungen; man vergleiche Rinderzunge; umgeformt als ‘Zunge, die vom Rind stammt’ gegenüber ‘Zunge, die ein Rind hat’. Mit den Kontexten, in denen solche Komposita verwendet werden, und wie sie in diesen Kontexten verwendet werden, hat sich ausführlich Manfred Schonebohm 42 befaßt. Neben Speisenbezeichnungen sind übrigens auch Vertreter anderer Bezeichnungsklassen belegt, wie Katzendreck und Buchauszug sowie das vom Arzt Benn geprägte Kompositum Bräutigamsurin.' 13 f) An das Rollenschema „Ganzes - Teil“ schließt sich eng die Struktur B.1.4 „Kollektiv - Element“ an mit dem Leitbeispiel Vereinsmitglied. Auch diese Kategorie wurde im Anschluß an Bierwisch 44 und Lyons 45 als eigenständige Kategorie aufgefaßt, obwohl es auch zwischen den Strukturen „Ganzes - Teil“ und „Kollektiv - Element“ Gemeinsamkeiten gibt. Die spezifische Leistung der Komposita mit den Rollen „Kollektiv - Element“ besteht in ihrer individuierenden Funktion: Sie stellen ein Element als aus einer Menge anderer ausgesondert dar. 46 41 Celan (1963, S. 22). 42 Schonebohm (1979). 43 Benn (1968, S. 415). 44 Bierwisch (1966, S. 74f.). 45 Lyons (1980, S. 326). 46 Im Gegensatz dazu haben Komposita der Struktur „Element(e) - Kollektiv“, z.B. Kinderchor (—* ‘Chor von Kindern’/ 'Chor, der aus Kindern besteht’), kollektivierende Funktion. Dieser Typ korrespondiert mit dem Paraphrasenausdruck ‘bestehen aus’ und ist eher den ‘Sein’als den ‘Haben’-Strukturen zuzuordnen. Zwischen der ‘Teil-von’-Relation (‘haben’) und der Bestandteil-Relation (‘bestehen aus’) sind allerdings fließende Übergänge anzunehmen. Zum Typ „Element(e) - Kollektiv“ vgl. Ortner in Ortner u.a. (1991, S. 247ff ). 38 Lorelies Ortner g) Kann man bei Komposita wie Vereinsmitglied schon nicht mehr von partitiven Beziehungen im engeren Sinn sprechen, so muß erst recht beim Subtyp B.1.5 mit dem Leitbeispiel Mädchenliebling (—> ‘Liebling der Mädchen’) eine soziative Variante angenommen werden. In der Syntax- und Semantikforschung wurde die entsprechende Variante des öfteren erwähnt. 47 Dieter Krohn geht sogar soweit, eine eigene ‘Haben’-Klasse mit der Bedeutung ‘ist verwandt/ befreundet/ verfeindet mit’ anzusetzen. 48 Hingegen wird in jüngeren Arbeiten zur Kompositaforschung dieser Typ kaum erwähnt. Es handelt sich hier um Bildungen, mit denen eine Zuordnung von Personen zu Partnern vorgenommen wird. Angesichts unserer modernen Sichtweise verbietet es sich sogar schon aus feministischen Gründen, diese Komposita zur ‘Ganzes-Teil’-Relation im engeren Sinn zu zählen, sind in diesem Typ doch zahlreiche Bildungen wie Arztgattin, Götter-Ehefrau, 119 Förstersfrau oder Komponistenwitwe zu finden, womit auf Personen referiert wird, die wohl nicht gerne als Teile ihrer männlichen Partner gesehen werden möchten. Es stimmt nachdenklich, daß zwar nicht wenige Komposita mit den Grundwörtern -gattin oder -frau belegt sind, aber kein einziges Beispiel mit -gatte und nur ein veraltetes mit -mann, nämlich Tochtermann, obwohl in der Welt doch genügend *Professorinnengatten, *Ärztinsgatten, *Friseusengatten oder *Hausfrauengatten zu finden sind. Personale Hierarchien können also auch implizit durch Lücken im System sichtbar werden, nicht nur durch explizite Unterordnungs- oder Uberordnungslexeme wie in Bauernknecht —* ‘Knecht des Bauern’. 2.2.2 Besitz und Verfügbarkeitsrelation Die ‘Teil-von’-Relation wird nach Fillmore oft generalisierend mit dem Begriff der „inalienable possession“, übersetzt etwa des „unveräußerlichen Besitzes“, gleichgesetzt. Entsprechend kann der zweite große Block der ‘Haben’-Beziehungen, die Besitz- und Verfügbarkeitsrelation, mit dem Schlagwort der „alienable possession“, des „veräußerlichen Besitzes“, etikettiert werden. 50 a) Das zentrale Rollenschema ist im Leitbeispiel Vereinsvermögen repräsentiert (B.2.1). Es handelt sich um das Schema „Besitzer — Besitz“. Die umgekehrte Beziehung, „Besitz — Besitzer“, wird nur selten verwirklicht, vgl. in A.2.1 z.B. Gelddynastie — ♦ ‘Dynastie, die viel Geld 47 Z.B. v. Bondzio (1966, S. 24fF.), Brinkmann (1971, S. 75), Teubert (1979, S. 112ff.) und Helbig (1973, S. 213). 48 Krohn (1980, S. 32). 49 Süddeutsche Zeitung (11.5.1978, S. 12). 50 Fillmore (1971, S. 85fF.). Berücksichtigung der Semantik in der Kompositaforschung 39 besitzt’. Echte komplementäre Komposita mit gleichen Konstituenten sind in unserem Korpus nicht belegt. b) In der Rubrik A.2.2 und B.2.2 geht es um Hosenmädchen 51 und Mädchenhosen. Dieter Krohn hat die Träger’-Relation als eigene Variante der Pertinenzrelation angesetzt, wobei hier das Verb ‘haben’ durch ‘tragen’ oder ‘anhaben’ spezifiziert wird. 52 Zur selben Lösung bin ich aufgrund der Belege auch gekommen. Daß bei vielen Bildungen mit der Relation „Träger - Getragenes“ eine benefaktive Komponente hinzukommt, ist als Eigenheit der ‘Träger’-Relation festzuhalten. Aber es gibt auch eindeutige Bildungen ohne diese Komponente in der Gruppe B.2.2, z.B. Richterrobe —+ ‘Robe, die ein Richter trägt’. Durch die benefaktive Komponente wird die im Erstglied genannte Größe als Zielgruppe dargestellt; sie tritt vor allem bei den in der Werbung produktiven Komposita des Typs Mädchenhose auf und führt zu Paraphrasen wie ‘Hose, die für ein Mädchen bestimmt ist’ oder ‘Hose, die ein Mädchen tragen sollte’. Das umgekehrte Rollenschema, „Getragenes - Träger“, weist diese Zielkomponente nie auf; man betrachte nur die konstituentengleiche Bildung Hosenmädchen (A.2.2): Hier muß allerdings das Merkmal ‘iterativ’ bzw. ‘voluntativ’ in der Bedeutungsbeschreibung berücksichtigt werden. Zusatzelemente in der Paraphrase machen dies deutlich: Ein Hosenmädchen ist ein ‘Mädchen, das gern/ oft Hosen trägt’. Dieser Subtyp, der vom Leitbeispiel Hosenmädchen repräsentiert wird, ist nur schwach und außerdem nur durch nichtusuelle Bildungen belegt. Ein weiteres Beispiel wäre das Kompositum Brillenkittelmann von Borchert. 53 c) Die Palette der Komposita mit ‘Haben’-Perspektive wird schließlich vervollständigt durch Zusammensetzungen des Typs Lehrergehalt —* ‘Gehalt, das ein Lehrer bekommt’ (B.2.3). Solche Komposita vertreten den Rollentyp „Empfänger - Zuwendung“. Das Paraphrasenverb ‘bekommen’ bzw. ‘erhalten’ bezeichnet den „Eintritt des ‘Habens’“, 54 was nach Ursula Wallin bereits eine „Veränderung der ‘Haben’-Relation“ 55 darstellt. Deswegen steht diese Kategorie am Ende der ‘Haben’-Kategorien. Auf dem Hintergrund von usuellen Bildungen wie Kurzarbeiterzulage läßt sich auch das folgende, extrem nichtusuelle „Bandwurmkomposi- 51 neue mode, zit. nach Ortner (1981, S. 160). 52 Krohn (1980, S. 27ff.). 53 Vgl. den Kontext: „... einen Dr. Faust ... mit einem weißen Kittel und einer schwarzen Brille ... der Brillenmann ... dem Kittelbrillenmann ... der Kittelmann, der weiße Brillenkittelmann ... der weiße Mann mit der Brille.“ (Borchert 1956, S. 78ff.). 54 Brinkmann (1959, S. 183). 55 Wallin (1978, S. 38). 40 Lorelies Oriner tum“ 56 von Rühmkorf 5 ' dem Typ „Empfänger - Zuwendung“ anschließen: das Kompositum Konstantinopolitanischerdudelsackpfeifenmachergesellenrisikozulage —* ‘Risikozulage, die ein konstantinopolitanischer Dudelsackpfeifenmachergeselle erhält ’. Der umgekehrte Rollentyp, nämlich „Zuwendung - Empfänger“, ist sehr schwach belegt, z.B. durch Zuschußbetrieb — ♦ ‘Betrieb, der Zuschüsse erhält’ oder ‘Betrieb, dem Zuschüsse gegeben werden müssen’ (A.2.3). 3. Ausblick: Die „Hölle der Semantik“ Ich habe nun an einem kleinen Ausschnitt aus der riesigen Menge des Materials diejenigen semantischen Kriterien aufgezeigt, die für die Einteilung der Komposita in Großklassen sowie in Untergruppen relevant waren. Bei der Feinanalyse stellten sich noch viele weitere Fragen, die ebenfalls nur unter Berücksichtigung der Semantik beantwortet werden konnten. Z.B. die Frage nach den metaphorischen Bezügen in den Komposita, wenn eine Bob- und Rodelbahn vergleichend-exozentrisch als 14-Kurven-Lindwurm 58 bezeichnet wird, also als ‘Lindwurm mit 14 Kurven’ dargestellt wird, oder wenn in der Mode Humphrey-Bogart-Mäntel angepriesen werden, ‘Mäntel, die wie der Mantel Humphrey Bogarts aussehen’. Im Gegensatz dazu waren mit Trivialnamen wie Schwertfisch und Wollhandkrabbe lexikalisierte Metaphern zu beschreiben. Ich möchte es bei diesen knappen Andeutungen belassen 59 und zum Schluß kommen. Bertrand Russel hat einmal von der Hölle der Logik gesprochen. 60 Salopp gesagt ist die Logik nur ein Kreis in der Hölle der Semantik, und noch nicht einmal der schlimmste. Wir haben mit dem Versuch, Komposita nach semantischen Gesichtspunkten zu beschreiben, einen anderen Kreis dieser Hölle betreten. Wir haben die Seufzer der dort Arbeitenden registriert die Seufzer von Hermann Paul angefangen bis hin zu den Bearbeitern des Wörterbuchs der deutschen Gegenwartssprache, die über die unübersehbare Vielfalt der Kompositabildungen im Deutschen klagen. Wir wissen, daß die Bearbeiter dieses Wörterbuchs auch darin -eine Pionierleistung erbracht haben, daß sie in ihrem Wörterbuch Zeugnis ablegen von der Fülle der im Deutschen bildbaren Komposita. Sie haben ohne auf mehr als historische Vorarbeiten zurückgreifen zu können über 41 000 56 Knobloch (1978). 57 Rühmkorf (1979, S. 12). 58 rotes dachl (24.1.1977). 59 Die verschiedenen, unter semantischem Gesichtspunkt sich ergebenden Beschreibungsaspekte habe ich ausführlich dargestellt in Ortner/ Ortner (1984, S. 124-165). Russel, zit. nach Wittgenstein (1984, S. 491). 60 Berücksichtigung der Semantik in der Kompositaforschung 41 nichtlexikalisierte Komposita registriert und einfachen, vorwiegend onomasiologischen Kategorien zugeordnet. Ein Beispiel dafür ist die folgende Klassifikationsprobe. 61 Klassifikationsprobe Klappenbach u.a.: „Eine nur kurze und willkürlich herausgegriffene Probe der durch die Gruppen gegebenen Vielfalt im folgenden: Bei Abteilung, Bataillon', in Verbindung mit militärischen Begriffen, z.B. Artillerie-, Auftlärungsabteilung ...; Ersatz-, Fhegerbataillon ... Bei Allee, Aufwuchs: in Verbindung mit Bäumen, z.B. Birken-, Buchenallee ...; Fichten-, Lärchenaufwuchs ... Bei Arbeit: in Verbindung mit Berufen, Personen, z.B. Bauern-, Bergmanns-, Drechslerarbeit ... Bei Arbeit: in Verbindung mit Bezeichnungen des Arbeitsmittels, z.B. Laubsäge-, Maschinenarbeit ... Bei Auge, Bart, ... in Verbindung mit Farben (Farbbezeichnungen), z.B. Blauauge\ Blaubart; ... Bei Ausgabe: in Verbindung mit Angaben über Umfang und Ausstattung, z.B. Auswahl-, Dünndruck-, Einzelausgabe ... Bei Ausstellung: in Verbindung mit Ausstellungsobjekten, z.B. Automobil-, Bilder-, Blumenausstellung ... Bei Bau: in Verbindung mit Bodenschätzen, z.B. Braunkohlen-, Kahbau ... Bei Baum: in Verbindung mit bestimmten Baumarten, z.B. Eich(en)-, Fichten-, Lindenbaum ... Bei Baum: in Verbindung mit Früchten, Samen, z.B. Apfel-, Birnbaum ... Bei Band: in Verbindung mit Kleidungsstücken, z.B. Hauben-, Hosenband ... Bei Beamte, Behörde: in Verbindung mit den besonderen Aufgabenbereichen, z.B. Aufsichts-, Auskunftsbeamte ...; Anklage-, Aufsichts-, Baubehörde ... Bei Beet: in Verbindung mit dem Angepflanzten, z.B. Astern-, Blumen-, Erbsenbeet Bei Befehl: in Verbindung mit Handlungen, bes. auf -ung, z.B. Ausweisungs-, Einberufungsbefehl Gelegentlich, z.B. bei den Komposita mit Ausstellung und Beamte als Grundwort, kamen die Bearbeiter des Wörterbuchs in die Nähe, Komposita als Repräsentationen von Rollenschemata zu beschreiben. 61 Malige-Klappenbach (1986, S. 21f.). 42 Lorelies Ortner Wir haben diesen Ansatz auf die Beschreibung aller Belege übertragen und hoffentlich auch weiterentwickelt. Wir nehmen also für uns in Anspruch, die Menge der 62 000 exzerpierten Komposita nach einem einheitlichen Gesichtspunkt beschrieben zu haben, einem Gesichtspunkt, der von der Strukturierung der Komposita nach semantisch aufeinanderbezogenen Rollen ausgeht. Was die Semantik zur Hölle macht, ist die Ungewißheit, ob das, was man als Kategorien beschreibt, nicht Kategorien einer Privat-Ontologie sind, womöglich sogar bearbeiterspezifische Kategorien, die erst aus der Not der Bearbeitung heraus geboren worden sind. Dieser Ungewißheit kann ich nur zweierlei entgegensetzen: erstens die Gewißheit, daß Komposita so wie Sätze sich rollenkategorial auf die, wie Heraklit sagt, „allen wachen Menschen ... gemeinsame Welt“ 62 in gleicher Weise beziehen; und zweitens die Hoffnung, daß ich diese rollenkategorialen Beziehungen intersubjektiv nachvollziehbar rekonstruiert habe, und mir dabei immer bewußt blieb, daß man in Komposita im Gegensatz zu einem Vortrag - Vieles vielsagend im wahrsten Sinn des Wortes ausdrücken kann, ohne allzu umständlich und ohne allzu genau werden zu müssen. 4. Literatur 4.1 Primärliteratur Benn, Gottfried (1968): Gesammelte Werke in 8 Bänden, hrsg. v. Wellershoff, Dieter. Wiesbaden. 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Problemstellung Der folgende Beitrag soll Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, daß Phraseologismen/ Phraseme (PH) neben der Lexikologie und Lexikographie auch für Pragmasemantik interessante Ansatzpunkte bieten; daß es sich dabei nicht nur um eine Beschreibungsmöglichkeit handelt, sondern, daß die Auseinandersetzung mit den phraseologischen Gebrauchsformen, mit den lebendigen PH in Rede und Text unumgänglich ist, will man die Spezifik dieses Sprachphänomens in den Griff bekommen. In diesem Sinne setzt das hier vorgeschlagene Thema eine Einschränkung und eine Erweiterung: eine Einschränkung im Bereich der Phraseologie auf das Idiom und eine Erweiterung im Bereich der Inhaltsforschung auf das Hintergründige. Idiom. Es handelt sich dabei um eine Unterklasse von PH, jene Teilmenge, die sich durch die notwendige Kumulierung von drei Merkmalen von den benachbarten Artbegriffen abhebt: die Mehrgliedrigkeit/ Polylexikalität, die Festgeprägtheit/ Fixiertheit, die Figuriertheit. Die Hinwendung zum Idiomgebrauch nun macht hellhörig für die Dominanz eines der drei Merkmale, nämlich die Figuriertheit, denn der Verwendungsspielraum auf der Ebene der Form das Einhalten von Mehrgliedrigkeit und Festgeprägtheit bzw. von deren tolerierten Varianzen hat unvermeidliche Konsequenzen auf der Ebene des Inhalts. Mehr noch, die nähere Untersuchung der Idiomverwendung deckt die Komplexität der idiomatischen Figuriertheit auf: als obligate lexikalische Demotivation und als zusätzliche fakultative pragmatische Remotivation. Demotivation und Remotivation operieren hier als einander ergänzende Teilhandlungen. Hintergründig. Dabei geht es um den komplexen, nie vordergründigen, immer indirekten, uneigentlichen, manchmal verschmitzt bzw. hinterhintergründigen Inhalt des Idioms, der nur ko- und kontextuell erfaßbar ist und nach jenem Hintergrund- und Weltwissen verlangt, das pragmasemantische Modelle besonders gut thematisieren. Für eine solche Erkundung des idiomatischen Inhalts stehen mehrere Beschreibungsrahmen zur Verfügung, soziolinguistisch und kommunikationsorientierte (Coulmas, Gülich), nach Logik und Diskurs ausgerichtete (Grice, v. Polenz). 1 1 Die angenommene Logik- und Diskursorientiertheit von Pragmasemantik bedarf einer kurzen Rechtfertigung. Forschungen der letzten zehn Jahre betonen die Inadäquatheit für Sprachwissenschaft einer allein auf Wahrheitsfunktionen ausgerich- 46 Gertrud Greciano Der hier eingeschlagene Weg geht in die zweite Richtung. Der Terminus stimmt in seinem Wortlaut und seiner BegrifFsdefinition mit v. Polenz (1985) überein, der die fachwissenschaftliche Debatte von den entsprechenden Fremd- und Lehntermini, wie „Implikation, Inferenz, Deduktion, Induktion und Abduktion“, anhaftenden beklemmenden Interferenzen befreit hat. 2 Unter Verweis auf von Polenz (1985, S. 298-327) Kategorisierung des Hintergründigen in Mitbedeutetes, sprecherseitig Mitgemeintes und hörerseitig Mitverstandenes können die im Idiom mitenthaltenen, unterschwellig mitklingenden Inhaltskomponenten in ihrer Sprachsystembedingtheit, in ihrer Sprecher- und Hörerbedingtheit erfaßt werden. Ziel dieses Beitrags ist es zu zeigen, daß das hintergründige Idiom keineswegs ungenau, unbestimmbar und unwillkürlich, sondern aus geklärten pragmatischen Regelmäßigkeiten ableitbar ist. Das will ich in folgendem Argumentationsgang darlegen: 2. Demotivation und Remotivation als Erklärung des Hintergründigen 3. Die Implikatur als Erklärung für Demotivation und Remotivation 4. Die Implikatur als Erklärung des Hintergründigen. 2. Demotivation und Remotivation als Erklärung des Hintergründigen Kempson (1977, S. 74), Davidson (1980, S. 238), Levinson (1983, 5. 156), Sperber/ Wilson (1981, S. 295), versuchen zu beweisen, daß Stilfiguren, besonders Metaphern und Ironie, einer wahrheitswertfreien Logik bedürfen, v. Polenz (1985, S. 298-327) stützt sich zur Erkundung derselben Phänomene auf Kommunikationsprinzipien. In meiner Arbeit (Greciano 1983) habe ich beschrieben und erklärt, warum auch das Idiom nicht anspricht auf Wahrheitsbedingungen. Noch unter dem Einfluß der Referenzsemantik war damals die Rede vom areferentiellen, nicht extensionalen, nicht denotativen, intensionalen, konnotativen Idiom. Angesichts der aktuellen Pragmasemantik ist hier die Rede von hintergründigem Bedeutungspotential, weil sich zur Idiombedeutung über die Situationsbedeutung noch weitere Sprechermeinungen, -einstellungen und Hörerwirkungen hinzugesellen. Das hintergründige Idiom entsteht aus Teilbedeutungen und ergibt sich als Gesamtgröße aus der im Sprachwissen fundierten Idiombeteten Logik, siehe Kempson (1977, S. 74); Grice (1981, S. 198); Levinson (1983, S. 112); Gazdar (1979, S. 4). 2 Tarski (1971, S. 25) erinnert daran, daß die Polemik zwischen logischem und gemeinsprachlichem Gebrauch von ‘Inferenz’ auf das 4. Jahrhundert zurückgeht, auf Philon von Megara und Diodorus Cranus. Auch unterscheidet er (1971, S. 42) die Inferenz als Beweisregel von der Implikation als logischem Gesetz. Für Quine (19? 8, S. 72) reicht die Inferenz über die Wahrheitsbedingungen hinaus und auch bei (Martin 1976, S. 39) bleibt Inferenz ein Allgemeinbegriff, der die spezifischen Merkmale der Implikation und Präsupposition nicht teilt. Das hintergründige Idiom 47 deutung pi D und der sich aus dem Handlungskontext ergebenden Situationsbedeutung qiD, die Sprecherintention und -einstellung durchschauen lassen. Es sind asymmetrische Größen, die sich in einer Teil-von-Relation verbinden: pi D entspricht einem nominalen/ verbalen/ adverbialen Idiom, qiD bedient sich keiner bzw. willkürlicher Markierungen, und ergibt sich aus dem Kontext. Das hintergründige Idiom entsteht wie folgt durch die Eingliederung dieser Idiombedeutung pi D in eine bestimmte handlungskontextbedingte Situationsbedeutung qm : Pin £ qm —»hintergründiges Idiom. Idiome aus den verschiedensten Textsorten sind von mir in den letzten zehn Jahren auf ihren Inhalt hin untersucht worden. Unter Verweis auf diese Vorarbeiten und auf ergänzendes punktuelles hier erstmals verwendetes Material aus Büttenreden vor der närrischen Gesellschaft in Mainz, aufgenommen über das bundesdeutsche Fernsehen ARD am 12.2.1988 darf ich behaupten, daß das Idiom unter beiden Aspekten seiner Figuriertheit, in seiner obligaten Demotivation und in seiner fakultativen Remotivation an das Hintergründige appelliert. Das lexikalisch demotivierte Idiom (pm ) es ist die lexikographisch fixierte Form impliziert einmal (i) die Aufhebung, jedoch nicht Auflösung der wörtlichen Bedeutung der Formative: an heiße Eisen fassen = überhitztes Metall mit den Fingern berühren; mit dem Feuer spielen = sich als Zeitvertreib an den Flammen einer Verbrennung betätigen; für die Katz tun = etwas zu Gunsten eines Raubtieres unternehmen; den Rücken decken 2 etwas bei Menschen oder Affen über die hintere Seite des Rumpfes breiten; die Zeche zahlen = einen Geldbetrag als Gegenleistung geben für genossene Speisen und Getränke in einer Gaststätte; aus der Hand fressen = feste Nahrung aus dem äußersten Teil der vorderen Gliedmaße eines Menschen zu sich nehmen. Die systemgetreue Abberufung des Idioms in Rede und Text setzt die Fähigkeit des Sprechers voraus zur Distanz von der Realität, zum Auffinden und Weglassen des Zufälligen, zum „Auf-die-Seite-Stellen des sinnlichen Stoffes“, 3 zur Extension Null. 4 3 Wortlaut nach Hegel, zitiert nach Hoffmeister (1955). 4 Begriffsmerkmal nach Lalande (1983, S. 161): „tont concept possede une extension qui peut etre nulle“. 48 Gertrud Greciano Das lexikalisch demotivierte Idiom impliziert weiter (ii) einen abstrakten globalen Sinn: 5 an heiße Eisen fassen — ► sich mit einer gefährlichen Sache auseinandersetzen; mit dem Feuer spielen —* leichtsinnig eine Gefahr heraufbeschwören/ in gewissenloser Weise mit einer ernsten Gefahr umgehen; für die Katz tun —> Zweckloses tun; den Rücken decken —* sich in einer bestimmten Sache absichern/ sich eine Auswegmöglichkeit offen/ frei halten; die Zeche zahlen —> für anderer Taten büßen müssen/ unangenehme Folgen von etwas tragen müssen; aus der Hand fressen —> jdm. treu ergeben/ hörig sein. Zwischen dem Idiom und diesem seinen Begriffsinhalt besteht eine hierarchische Relation, die ersteren zum Unterbegriff und zweiten zum Oberbegriff macht. Die orthodoxe Idiomverwendung setzt die Fähigkeit des Sprechers zur Umsetzung empirischer Fakten in allgemeine Begriffe, zur Erkenntnis des Wesentlichen und die Reduktion darauf voraus. Was die Inferenzen der Demotivation betrifft, so können sie nach v. Polenz (1985) als „Mitbedeutetes“ bezeichnet werden, weil sie durch die Lexikalisierung des Idioms in seiner demotivierten Fassung zur Idiombedeutung schlechthin geworden sind. Nach Paul wäre es die „usuelle Bedeutung“ des Idioms; nach Kellers (1977) Dichotomie entspricht der demotivierte Sinn dem, was das Idiom „zum Ausdruck bringt“, nach Sandigs (1978) Pragma-, Makrostilistik ist es die „Verstehensvoraussetzung“. Das pragmatisch remotivierte Idiom, entstanden durch die Eingliederung der Idiombedeutung (pm) in einen bestimmten Ko- und Kontext (üid) es ist der kreative und überraschenderweise häufigere Gebrauch -, beinhaltet eine zusätzliche Wiederbelebung von wörtlichen Reminiszenzen, die nicht einfache Repräsentation der Bezeichnung, sondern Spiel mit ihr ist, nicht als Redeschmuck, sondern mit komplexen Kommunikationsabsichten und -Wirkungen, die Kellers (1977) kollokutionären Akten ziemlich treffend entsprechen. Die auf Remotivation fundierten implikativen Inhaltskomponenten sind (i) sprecherorientiert und verraten seine kognitive und affektive Einstellung zu den Dingen. Sie sind aber auch (ii) textorientiert und garantieren neben anderen Indikatoren die strukturelle Verflechtung, die metrische oder spielerische Gestaltung und thematische Entfaltung des Textes. Meine Aufsätze (Greciano 1986 und 1987) waren vorwiegend diesen Funktionen gewidmet. 5 Die Begriffsinhalte sind vorwiegend Röhrich (1977), aber auch Drosdowski et al. (1983) und Corner (1984) entnommen. Das hintergründige Idiom 49 In bezug auf v. Polenz (1985, S. 302), müssen die Inferenzen der Remotivation als Mitgemeintes betrachtet werden. Denn sie sind lexikographisch unberücksichtigt und bedürfen ganz gewisser situativer Bedingungen, die nicht Zufall, sondern im Idiomverwender selbst, bzw. seiner Fähigkeit zum Analogie- und Bilddenken verwurzelt sind. Mitbedeutetes und Mitgemeintes stehen in diesem Beitrag stellvertretend für Mitverstandenes, ohne daß jedoch Stellung genommen wird weder zur Symmetrie und Asymmetrie der Dimensionen, noch zur Tatsache, daß sich dieser Idealfall selten bestätigt, was die kontrastive Forschung beweist. Auch gehe ich auf den aktuellen Vergleich, angeregt durch Holly (1987, S. 147), zwischen Mitverstandenem und Durchschautem hier noch nicht ein; ebenso nicht auf die von Falkenberg (1987) aufgeworfene Frage nach der hörerseitigen Resonanz und Übernahme der ausgedrückten Einstellungen und Wirkungen. Wie immer bedarf es auch hier empirischer Untersuchungen, um das Hintergründige, das Mitbedeutende, das Mitgemeinte und ergo Mitverstandene anhand von intuitiven, operationalen und analytischen Verfahren aus dem Idiomgebrauch herauszukristallisieren. Ich stütze mich auf die sechs bereits erwähnten prototypischen Belege aus der Faschingsveranstaltung „Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht“ und verwende metasprachliche Paraphrasen als Ergebnis von Introspektion des Muttersprachlers und von deren intersubjektiven Überprüfung, die hier nur stichwortartig angeführt seien. die heikle Frage: was darf man und was soll man nichtl Faßt man an wirklich heiße Eisen, und da zählt sicher Kiel dazu, oder erzählt in Narrenkreisen das Ehrenwort man zum Taboul (D. Brandt, Till) Pid <— DEM qm Pid G Pid REM REM Idiombedeutung: sich mit gefährlichen Sachen auseinandersetzen Situationsbedeutung: raum- und zeitbezogene Referenz: Kiel-Affäre als eines der heikelsten Themen des Jahres Sprechermeinungen, -einstellungen emphatische Sprecher- und Hörerunterstellung gestützt auf formale (heiße Eisen) und figurierte Aspekte des Idioms: mit der Behandlung dieser Affäre verbindet sich äußerste Gefahr, für Till-Brandt, moralischer Natur situationsbezogene Unterstellung: Karneval gestattet dem Büttmann diese Tollheit, lädt ihn dazu ein; formbedingte textstrukturierende metrische Funktion der Reimbildung (Eisen, -kreisen) 50 Gertrud Greciano «— DEM argumentierende Handlungsstrategie: Till nimmt die Fehde auf, ohne jedoch, im Unterschied zur Presse, das Ehrenwort zu verletzen Stoltenberg erfand die Quellensteuer und spielt dabei mit dem Feuer (J. Kurz) Pid *— DEM qm Pid e qm DEM — REM — REM Idiombedeutung: leichtsinnig/ gewissenlos eine Gefahr herauf beschwören Situationsbedeutung: raum-, zeit-, personenbezogene Aussage: In der BRD kam der Finanzminister 1987 auf die Idee der Quellensteuer Sprechermeinungen, -einstellungen Sprecher- und wahrscheinlich hörerbezogene rationale Bebzw. Verurteilung der Handlung formbedingte textstrukturierende metrische Funktion der Reimbildung (-steuer/ Feuer) argumentative Handlungsstrategie bildbedingte emotionale Bewertung als Warnung tierliebend sind die Grünen; es gibt nichts für das sie so viel tun wie für die Katz (J. Dietz) Pid <— DEM qm Pid € qio — DEM <— DEM — REM Idiombedeutung: Zweckloses tun Situationsbedeutung: raum-, zeit- und personenbezogene Referenz: Attribuierung dieser Handlung auf eine politische Partei in der BRD, die Grünen Sprechermeinungen, -einstellungen Sprechernicht unbedingt hörerbezogene rationale Bewertung der Mißachtung für die politischen Bemühungen der Grünen als sinnlos Handlungsträger-orientierte Unterstellung: Hervorhebung innerhalb der Umweltpolitik (wenn nicht Einschränkung) des Einsatzes für den Tierschutz der Grünen Sprechernicht unbedingt hörerbezogene emotionale Bewertung der Ironie für die politischen Bemühungen der Grünen uns jetzt den Rücken zu decken im Krisenkampf, das war probat denn nur um Pershings zu verstecken sind wir uns zu schad (D. Brandt, Till) - DEM Idiombedeutung: sich in einer bestimmten Sache absichern Situationsbedeutung: raum- und zeitbezogene Referenz: sich in der BRD im 20. Jahrhundert militärisch zu sichern Das hintergründige Idiom 51 Pid G qm Sprechermeinungen, -einstellungen <— REM sprecherbezogene Bewertung und argumentative Handlungsstrategie: europäische, d.h. deutsch-französische Rükkendeckung und amerikanische Abrüstung als natürliches Bedürfnis der Selbstverteidigung <— REM formbedingte textstrukturierende, metrische Funktion der Reimbildung (zu decken/ verstecken) <— REM textkonstituierende Funktion durch Synonyme (Rücken zu decken/ Pershings zu verstecken) und will man wegen leeren Kassen in den USA als Bündnispflicht jetzt uns die Zeche zahlen lassen heiligt der Zweck dies Mittel nicht (D. Brandt, Till) Pid *— DEM qm Pid £ qio REM — REM REM Idiombedeutung: für andere büßen müssen Situationsbedeutung: raum- und zeitbezogene Referenz: Börsenkrach und Dollarsturz in NY, der durch europäische bzw. bundesdeutsche Währungs- und Aktienbeschlüsse ausgeglichen werden soll Sprechermeinungen, -einstellungen formbedingte und emotionale emphatische Sprecher- und Hörereinstellung (Zeche zahlen) Sprecher- und hörerbezogene rationale Verurteilung des Geschehens als Mißwirtschaft argumentative Handlungsstrategie: Ablehnung des amerikanischen Verhaltens als unfaires Mittel zur Behebung des Mißstandes 0 Michael Gorbatschow, du hast es schwer, denn echte Gefühle hat nicht der Bär. So ein Bär, läßt sich nicht zähmen. Wer ihm traut ist ein Tor. Bleib’ wach mit Aug’ und Ohr. Gelingt es Dir, daß aus der Hand er frißt, dann bist Du in Rußland der größte Artist. (Mainzer Hofsänger, Die große Bärennummer: Gorbatschow als Dompteur) Pid *— DEM Idiombedeutung: jdm. treu ergeben/ hörig sein qio Situationsbedeutung: raum-, zeit- und personenbezogene Referenz: Prozeß der Unterwerfung des sowjetischen Volkes und seiner Regierungspartei unter Gorbatschows Reformbemühungen 52 Gertrud Greciano Pid £ qm Sprechermeinungen, -einstellungen *— DEM textkonstituierende Funktion durch Antonymie (er läßt sich nicht zähmenlaus der Hand er frißt) <— REM formbedingte textstrukturierende, metrische Funktion der Reimbildung (er frißt/ Artist) <— REM argumentierende Handlungsstrategie: gelungene Auflösung des Kontrastes in Komplementarität als Berechtigung für das abschließende Lob (größte Artist). 3. Die Implikatur als Erklärung für Demotivation und Remotivation Da sich einmal linguistische Erklärungen nicht mit Beschreibung begnügen, sondern nach theoretischer Rekonstruktion verlangen und da sich zum anderen pragmasemantische Modelle in der Idiomforschung am besten behaupten konnten, soll hier nochmals die Effizienz von Grices Implikatur geprüft werden. 6 Abgesehen von den praktischen Vorteilen natürlichsprachlicher Erklärungsrahmen ohne lange und kontroverse Vorgeschichte 7 garantiert die Implikatur die Einheitlichkeit der Griceschen Entwicklung, die 1957 mit der „Sprecherintention (utterer’s meaning meaningnn)“ beginnt und 1975 in den „Konversationsprinzipien (conversation rules)“ ausklingt. Die Anwendung der Implikatur (IMP) auf das Idiom scheint insofern vielversprechend, als hinter diesem Konzept die pragmatische Grundthese steht, nach der weder die einzelnen Elemente eines Ausdrucks noch deren Interrelationen dessen Inhalt bestimmen, sondern allein Gebrauchsregeln. Die IMP ist so etwas wie ein Rechenschieber, ein Interaktionspostulat, das es erlaubt, einen größeren, bzw. anderen Informationswert zu berechnen als das unmittelbar Ausgedrückte, wenn der Hörer anderes oder mehr versteht als der Sprecher sagt. In den linguistischen Arbeiten der letzten zehn Jahre wird gerne auf die vier Griceschen Konversationsmaximen hingewiesen: die Qualität, Quantität, Relation und Modalität. Manchmal wird eine Hierarchie erwogen: meistens schließt die Relation die anderen mit ein, Gazdar (1979, S. 43) ausgenommen, für den Qualität und Quantität dominieren. Selten jedoch abgesehen von den Ergebnissen der AG6 „Kooperatives Handeln“, anläßlich der Jahrestagung 1986 der DGfS in Heidelberg und der dar- 6 „Nochmals“, weil die Brauchbarkeit dieses Konzepts bereits mehrmals hervorgehoben wurde, u.a. Platts (1979, S. 8), Levinson (1983, S. 97), v. Polenz (1985, S. 310), sowie Greciano (1986b), wo ich die Implikatur als Form der Inferenz an französischem Idiommaterial erprobe und zuletzt natürlich bei Liedtke/ Keller (1987). 7 Grices meist zitierte Veröffentlichungen beschränken sich auf fünf und erstrecken sich über die Jahre (1957, 1968, 1969, 1975, 1981); wenn auch wie bei Horn (1973), Entsprechungen bis zur griechischen Philosophie zurückverfolgt worden sind. Das hintergründige Idiom 53 aus entstandenen Publikation, Liedtke/ Keller (1987) wird auf die Unterordnung der Konversationsmaximen unter die Intention des Sprechers hingewiesen, dem das rationale Kooperationsprinzip eine letzte souveräne Entscheidung über das Einhalten bzw. das Nichteinhalten der Maximen zuerkennt, wodurch gerade, siehe Heringer (1986), „Das Gricesche Kooperationsprinzip“, ein Eindruck von Arbitrarität entsteht. In seinem Ziel nähert sich mein Beitrag den Bemühungen von Holly (1987) und Liedtke (1987), die Sprecherintention durch die jeweilige Situationsbedeutung, hier des Idioms, etwas zu entlasten. Grice selbst widmet seinen Aufsatz 1975 vorwiegend jenem Sprachgebrauch, der die Maximen nicht befolgt und dennoch nicht zur Anomalie führt. Drei Viertel aller Beispiele zeugen von der Nicht-Verbindlichkeit der Maximen („flouting, violation“). 8 Die IMP stellt dabei das Weichensystem dar, das trotz aufgehobener Konversationsmaximen das Funktionieren des Kooperationsprinzips bestätigt. „Kooperation“ scheint mir gerade hier ein zu weit und heterogen gefaßter Begriff, teils zweck-, Sprecher- und partnerzentriert; auch die in der Linguistik verbreitete Synonymreihe zeugt davon: „Kooperativität, Reziprozität, Resonanz, Wechselseitigkeit“. Es handelt sich meiner Meinung nach um eine kommunikative Interaktion mit ihren einfachen natürlichen Voraussetzungen zugunsten eines Maximums an Information bei einem Minimum an Anstrengung. Der Bezug auf die konversationelle IMP (KS IMP), als Nicht-Befolgung der Konversationsmaximen, brachte gute Rechtfertigungen für Metaphern und Ironie. Auf das Idiom bezogen, verfügt die IMP über eine zweifache Erklärungspotenz: die konventionelle IMP (KN IMP), als die Verletzung der konventionellen wörtlichen Bedeutung, begründet die Demotivation; die KS IMP als die Nichteinhaltung der Konversationsmaximen, die Remotivation. Diese Aufteilung liefert einen schönen Beweis für Henne/ Rehbock (1979, S. 234), daß „Grade des kooperativen Prinzips gegenseitig akzeptiert und aktualisiert werden“ und für Hermanns (1987, S. 79), der sprachliches Handeln immer als so etwas wie einen Balanceakt sieht. Erste Rekonstruktion: Die KN IMP erklärt das lexikalisch demotivierte Idiom (pm) so wie es lexikographisch erfaßt und vom systemgetreuen Idiomgebraucher abberufen ist: an heiße Eisen fassen —* sich mit einer gefährlichen Sache auseinandersetzen; mit dem Feuer spielen —> leichtsinnig eine Gefahr heraufbeschwören/ in gewissenloser Weise mit einer ernsten Gefahr umgehen; für die Katz tun — ► Zweckloses tun; 8 Grice (1975, S. 49-55): „A participant in a talk exchange may fail to fulfill a maxim in various ways: 1. He may quietly and instentatiously violate a maxim. 2. He may opt out from the operation both of the maxim and of the CP ... 4. He may flout a maxim: that he may blatantly fail to fulfill it.“ 54 Gertrud Greciano den Rücken decken —> sich in einer bestimmten Sache absichern/ sich eine Auswegsmöglichkeit offen/ frei halten; die Zeche zahlen —* für anderer Taten büßen müssen/ unangenehme Folgen von etwas tragen müssen; aus der Hand fressen —* jdm. treu ergeben/ hörig sein. Die Konvention erlaubt es, daß man sich einer Form bedient, um einen Inhalt zu vermitteln, der nicht direkt der verwendeten Form entspricht. Die Konvention legalisiert den uneigentlichen Gebrauch und macht durch Lexikalisierung aus dieser ins Sprachsystem aufgenommenen Mitbedeutung eine Grundbedeutung des Idioms die, v. Polenz (1985, S. 302), allgemeinen Überlegungen zum Trotz im einzelsprachlichen Ausdruck hier nicht „unberücksichtigt“ sind. Sie rechtfertigt einen beabsichtigten unkonventionellen Inhalt als Sprachinhalt und bestätigt Holly (1987, S. 143), der Bedeutung „Konventionen über sprachliche Zeichen entnommen“ wissen will und in der Konvention eine erste „Einsparung der umständlichen Frage nach der Intention“ erkennt. Der Appell an die KN IMP unterscheidet das Idiom von der Metapher; sie determiniert die idiomatische Bedeutung, im Vergleich zur metaphorischen Bedeutung, die auch laut Martin (1976, [1983], S. 199), noch unbestimmt, unbegrenzt und verschwommen und laut v. Polenz (1985, S. 321), schwer verständlich bleibt. So kann das Beispiel von Grice John hat eine schöne Schrift ]e nach Kontext bedeuten John ist kein guter Philosoph / John ist nicht gut in Rechtschreibung / Wechseln Sie das Thema! Im Idiom bewirkt die Konvention, daß nicht nur ein anderer Inhalt, sondern daß ein bestimmter Inhalt verständlich vermittelt wird, so daß die stille Folgerung hier zur lauten semantischen Inferenz wird. Das obligat demotivierte Idiom erfüllt vollkommen jene Konventionsbedingung, die Peacoke (1980, S. 144), wie folgt definiert „Sentence s means that p in community C when there is a convention in C to utter s only if S means thereby that p“. In gewissem, d.h. beschränktem Maß betrifft die KN IMP auch die Ironie, wo sie das Gegenteil von dem zum Ausdruck bringt, was gesagt wird. Die Eigenart der bisher untersuchten Sprachphänomene ist für die Vernachlässigung der KN IMP verantwortlich. Bereits Levinson hat Grice und Kempson richtiggestellt, die die KN IMP als selten belegte Kategorie vermuten. Ohne eingehende Untersuchung weist Levinson (1983, S. 128) darauf hin, daß zahlreiche Text-, Rede- und Anredeformeln auf der KN IMP aufbauen. Im Idiom bewirkt die Konvention die Aufhebung des scheinbaren Verstoßes gegen die Wörtlichkeit und die Lexikalisierung ist die Anerkennung dieser Konvention durch die Sprachgemeinschaft, die in diesem Fall quasi automatisch kooperiert. Zweite Rekonstruktion: Die KS IMP erklärt das pragmatisch remotivierte Idiom (qm), so wie es beim kreativen Idiomgebraucher Verwendung findet: Das hintergründige Idiom 55 an heiße Eisen fassen —* ‘Betonung der Gefahr, die sich mit der Aufnahme der Kieler Affäre verbindet,’; mit dem Feuer spielen — ♦ ‘Warnung vor der Leichtsinnigkeit/ Verantwortungslosigkeit der Einsetzung der Quellensteuer’; für die Katz tun — ► ‘abschätzende Bewertung der Unterstützung der Tierschutzvereine durch die Grünen’; den Rücken decken —* ■ ‘Ausdruck für die Natürlichkeit und Notwendigkeit einer europäischen Selbstverteidigung’; die Zeche zahlen — ► ‘Hervorhebung der Mißwirtschaft und Ungerechtigkeit des amerikanischen Verlangens’; aus der Hand fressen —* ‘Sinnbild für die zutraulichste Haltung des sowjetischen Volkes und der Regierungspartei zu Gorbatschow’. Es geht hier um alle jene Bedeutungen, die nicht zum lexikalisierten Inhalt des Idioms gehören, die aber gerade durch das Überschreiten auch der Konvention entstehen. Dabei handelt es sich nicht um die erneute Aufhebung der konventionellen Bedeutung, was deren Ersatz durch die wörtliche Bedeutung zur Folge hätte, sondern um die Aufrechterhaltung der KN IMP unter zusätzlichen Sprecher- und situationsbedingten Anspielungen, die auf ko(n)textueller Reliteralisierung des einen oder anderen Konstituenten fußen. Bei Mehrwortlexemen allein hat das Nicht- Einhalten von Konventionen diese kumulativen semantischen Folgen, die das Idiom doppelt hintergründig werden lassen. Das Mitbedeutete, entstanden durch die obligate globale Demotivation verbindet sich mit dem Mitgemeinten, ausgedrückt durch eine fakultative fragmentarische Remotivation. Eigenartigerweise ist aber auch diese zweite Überschreitung kein willkürlicher Verstoß gegen das von Grice postulierte Kooperationsprinzip und verstärkt meine Vermutung, daß es sich dabei um eine ökonomische Kommunikationsregel handelt. Der Informationszuwachs und die Tatsache seines Mitverstandenwerdens rechtfertigen auch sie. Es sind nicht unentzifferbare oder nur intuitiv deutbare Inhaltskomponenten, sondern stille Folgerungen; es ist illokutiv und diskursiv also kollokutionär Mitgemeintes, das durch pragmatische Regelmäßigkeiten wie folgt erläutert werden kann. Die KS IMP rechtfertigt, daß man hier mehr meint, als man sagt. Grice (1975, S. 56) und (1981, S. 185), trennt innerhalb der KS IMP die allgemeine („generally“) von der besonderen („particularly“) IMP. In bezug auf diese Unterscheidung gehört das remotivationsbedingt Mitgemeinte zur letzteren. In der Tat, das im Idiom noch zum Ausdruck Kommende, das Hinter-Hintergründige ist verwendungsbedingt und von ganz bestimmten pragmatischen Konstellationen abhängig; es haftet entschieden nicht dem isolierten Idiom an, sondern ist ableitbar aus seiner Situationsbedeutung. Es ist nicht aus dem Sprachwissen, sondern aus dem Handlungswissen mitzuverstehen. Aus diesem Grunde ist das remotivierte Idiom eine Aufforderung, den Text zu hinterfragen. Ähnlich den von Perennec (1985, 56 Gertrud Greciano S. 107) daraufhin untersuchten Modalpartikeln widersteht auch das remotivierte Idiom besonders schlecht dem Test der Dekontextualisierung: das Brenzlige vom heißen Eisen wird in der Kiel Affäre bewußt; das Gefährliche von mit dem Feuer spielen betrifft Finanzminister Stoltenberg und die Quellensteuer; das Treffende an für die Katz tun kommt vom Einsatz der Grünen für die Umwelt; das Persuasive an der Verteidigung einer deutsch-französischen Aufrüstung und einer amerikanischen Abrüstung steckt in den Rücken decken; die allein für Amerika günstigen Börsenentscheide seit dem 19.X.87 rechtfertigen das Idiom die Zeche zahlen; das sowjetische Emblem und Gorbatschows Reformtätigkeit berechtigen zur Verbildlichung: der Bär, der dem Dompteur aus der Hand frißt. Wegen seiner Hintergründigkeit nimmt das Idiom in Sadocks (1978, S. 283) Schema zu Grice folgende Stellungen ein: conveyed said imolicated demotivierter Gebrauch des Idioms: Mitbedeutetes onversationally remotivierter Gebrauch des Idioms: Mitgemeintes Das hintergründige Idiom 57 4. Die Implikatur als Erklärung des Hintergründigen In der pragmatischen Tradition wird die IMP gerne als Bindeglied zwischen natürlichsprachlichen und logischen Operationen dargestellt. So wie Gazdar (1979) bedienen sich auch Grice (1981) und Nunberg (1981) ihrer, zum Zwecke einer treffenderen Erklärung der phrastischen und textuellen Konnektoren, der Quantoren, der definiten Kennzeichnungen. Diese Pragmatiker kommen zur Erkenntnis, daß die IMP zusätzlich zur Konjunktion, zur Quantifizierung, zur Existenzaussage und Existenzvoraussetzung der analytischen Schule jene Ergänzungen bringt, die die Anwendung dieser logischen Operationen auf die natürliche Sprache möglich machen. Grice (1975) selbst interessiert sich vorwiegend für Figurationsprozesse es sind 75 % der Beispiele -, weil hier der Verstoß gegen eine der Konversationsmaximen zum Auslöser der Bedeutungsübertragung wird. Levinson (1983) besteht auf der Überlegenheit der IMP für die Erklärung der Metapher, leider ohne weitere Beweisführung. Levinson (1983, 5. 151) vermutet auch einen Zusammenhang zwischen Metapher, Parabel und Sprichwort. Sadock (1978) überprüft seine Deutung der IMP am lexikalisierten Euphemismus: to go to the bathroom und Morgan (1978) untersucht die Erklärungspotenz der IMP anhand einiger indirekter Sprechakte, die typischerweise ebenfalls lexikalisiert sind: can you pass the salt. Sperber/ Wilson (1981), erproben sie im Bereich der Ironie: What lovely weatherl, so daß meine Anwendung des Konzeptes auf das Idiom eigentlich nicht überraschen kann. Diese letzte Überlegung zu den mitenthaltenen Bedeutungskomponenten im Idiomgebrauch geht in die Richtung von Grice/ Morgan/ Sadock und nicht Grice/ Gazdar. Sie beschränkt sich auf die sogenannte Voraussagbarkeit vs. Eigentümlichkeit des Idioms. Im Bereich der IMP hat die These ihrer Berechenbarkeit eine Kontroverse ausgelöst. Ansatzpunkt dafür waren Grices Tests (1975, S. 5) und (1981, S. 86) zur empirischen Erfaßbarkeit der KS IMP, die er als revidierbar („cancelable“), unverzichtbar („non detachable“) und prognostizierbar („calculable“), aber unbestimmt („indeterminate“) darstellt. Die Auseinandersetzung entstand wegen der Fehldeutung dieser Proben, von denen Grice nie behauptet hat, daß sie als Merkmalbeschreibung für die IMP genügten. Dieses Mißverständnis führte Sadock (1978, S. 288), Morgan (1978), Platt (1979, S. 75) und Nunberg (1981, S. 199) dazu, die Prognostizierbarkeit der IMP zu belegen bzw. zu widerlegen und der Streit um eine einberaumte Undeterminiertheit („indeterminancy“) vs. vorgeschlagene Prognostizierbarkeit („calculability“) hat sich noch nicht gelegt. Ohne zur Dominanz der einen oder anderen Beweise Stellung zu nehmen, kann man sich weiterhin auf diese empirischen Verfahren stützen und sie als methodisches Werkzeug verwenden in der operationellen, nicht definitorischen Funktion, die ihnen Grice (1981, S. 186) zuerkennt. Die Anwendung 58 Gertrud Grtciano dieser Tests auf die das demotivierte Idiom bestimmenden KN IMP und die das remotivierte Idiom bestimmenden KS IMP ist aufschlußreich. (i) Die Revidierprobe fügt mitenthaltene Komponenten explizit hinzu, löst sie auf in Gesagtes. Beim Idiom ist dieser Test vereinbar mit dem über die KS IMP erklärten remotivierten Mitgemeinten, nicht jedoch mit dem über die KN IMP erklärten demotivierten Mitbedeuteten, wo er zum Widerspruch führt: an heiße Eisen fassen KS IMP KN IMP REM: Ich fasse an heiße Eisen, damit will ich nicht sagen, daß ich mir daran die Finger verbrenne DEM: * Ich fasse an heiße Eisen, damit will ich nicht sagen, daß die Sache gefährlich ist. mit dem Feuer spielen KS IMP <— REM: A propos Quellensteuer spielt Minister Stoltenberg mit dem Feuer, was nicht heißen soll, daß ich ihn davor warnen will. KN IMP ♦ — DEM: * A propos Quellensteuer spielt Minister Stoltenberg mit dem Feuer, was nicht heißen soll, daß dies gefährlich ist. für die Katz tun KS IMP <— REM: Die Grünen tun für nichts so viel wie für die Katz, womit ich nicht sagen will, daß sie allein für den Tierschutz engagiert sind. KN IMP <— DEM: * Die Grünen tun für nichts so viel wie für die Katz, womit ich nicht sagen will, daß sie Zweckloses tun. (ii) Die Verzichtbarkeitsprobe verwendet Synonyme, um die Aufrechterhaltung der IMP zu überprüfen. Beim Idiom bestätigt sie das Weiterbestehen des über die KN IMP demotivierten Mitbedeuteten und den Verlust des über die KS IMP erklärten remotivierten Mitgemeinten Besser sich den Rücken zu decken als Pershings zu verstecken. Besser sich abzusichern als Pershings zu verstecken. KN IMP <— DEM: Aufrechterhaltung des Mitbedeuteten: Vorzug einer europäischen militärischen Absicherung KS IMP <— REM: Verlust des Mitgemeinten, die Argumentationskraft; europäische Aufrüstung als natürliche notwendige Selbstverteidigung Das hintergründige Idiom 59 Die USA können uns nicht aus Bündnispflicht die Zeche zahlen lassen. Die USA können uns nicht aus Bündnispflicht die unangenehmen Folgen tragen lassen. KN IMP <— DEM: Aufrechterhaltung des Mitbedeuteten: Europa/ die BRD müssen für Amerikas Verhalten büßen KS IMP <— REM: Verlust des Mitgemeinten: die amerikanische Wirtschaft und Währungspolitik als Mißwirtschaft. Wenn der Bär Dir aus der Hand frißt, bist Du der größte Artist. Wenn der Bär Dir ergeben ist, bist Du der größte Artist. KN IMP ♦ — DEM: Aufrechterhaltung des Mitbedeuteten: die Unterwerfung des Bären würde den größten Erfolg des Dompteurs bedeuten KS IMP <— REM: Verlust des Mitgemeinten: nicht nur Ergebenheit, sondern auch Anhänglichkeit und Vertrauen des Bären wären wünschenswert Die Revidierprobe läßt die KS IMP als Möglichkeit erkennen, die KN IMP als Notwendigkeit. Die Substitution macht aus der KN IMP eine Banalität und aus KS IMP eine Orginalität. Lexikon und Pragmatik, Konvention und Konversation, Mitbedeutetes und Mitgemeintes machen das hintergründige Idiom vorhersehbar, ohne es restlos zu bestimmen. Die „Vorhersehbarkeit“ dürfte im Sinne von v. Polenz (1985) und Posners (1987) Bemühen um Deutsch als Wissenschaftssprache eine treffende Entsprechung sein zu Grices Termini „what can be worked out, extraction, delivery, but nevertheless undeterminacy“. Die beiden am lebendigen Idiom beteiligten Varianten der IMP bestätigen sie jede auf ihre Art. Die auf lexikalische Konvention begründete IMP ist deduktiv, die über Remotivation und pragmatische Konversation erklärbare IMP ist induktiv, jedoch nicht nur rein experimentell. Die These der Vorhersagbarkeit läßt dem Idiom jene Bewegungsfreiheit, die ein Rechnungsdeterminismus, welcher Art auch immer, zerstört hätte. Eine solche Vorhersehbarkeit macht aus dem hintergründigen Idiom eine Wahrscheinlichkeit und man kann die Reaktionen der im Idiomgebrauch beteiligten IMP wie folgt zusammenfassen. Tests Revidierbarkeits- Verzichtbarkeits- Vorhersehbarkeits- KN IMP —DEM + + KS IMP —REM + + Die Erklärung des hintergründigen Idioms durch die IMP führt uns zu einer letzten Bemerkung. Sie betrifft die Eigenart des Idioms im Vergleich zu den benachbarten Sprachphänomenen. Der erste Stein des Anstoßes ist die Interferenz zwischen den verschiedenen Formen der IMP. Grice selbst 60 Gertrud Greaano (1975, S. 56) macht auf die heikle Unterscheidung zwischen der allgemeinen KS IMP und der KN IMP aufmerksam, weil das Hintergründige den entsprechenden Sprachformen ganz natürlich anhaftet und den KSbzw. KN-Ursprung nicht unmittelbar erkennen läßt. Diese Unschärfe wird für amerikanische Linguisten, gerne Empiriker, zur Unsicherheit, weil noch kein formaler Test eine präzise Trennung ermöglicht. So warnt Grice (1975, S. 56) vor der Gefahr der Verwechslung „it is too easy to treat a generalized conversational implicature as if it were a conventionalized“. Hinzu kommt eine historische Intuition und gerade in der zitierten amerikanischen pragmatischen Literatur überrascht die Unzahl diachronischer Vermutungen, wohl weil diese Ausbildung in der amerikanischen Linguistik sehr fehlt. Levinson (1983, S. 166) zieht diese Deutungsmöglichkeit wie folgt in Erwähnung: „Is there a point at which implicatures suddenly become conventional senses or is there a gradual process of conventionalization? We simply do not yet know much about the role of IMP in this process.“ Im Fall eines hintergründigen Idioms wäre die Möglichkeit einer Entwicklung von der KS IMP zur allgemeinen KS IMP und dann der Übergang zur KN IMP nicht auszuschließen, wenn sich die Idee auch nicht verallgemeinern läßt, denn alle Idiome entstehen nicht aus Metaphern und alle Metaphern werden nicht zur Konvention, wenn sie verblassen. Das Fehlen an diachronischem Vorwissen, gegen das Röhrich (1977) mit besonderer Zähigkeit und viel Geschick und auch Eckert (1987) ankämpfen, ist wahrscheinlich auch eine Erklärung für die in pragmatischen Arbeiten hervorgehobene Konvention. Lewis (1969) hat bereits daraus ein philosophisches Konzept und eine Universalregel gemacht, die jedes Handeln begründet. Im Anschluß an die Logik bedient sich auch die Pragmatik ihrer, um das durch die Lücken in der Diachronie aufgeworfene Problem zu lösen. In diesem Sinne kann man laut Nunberg (1981, S. 205) dann von Konvention sprechen, wenn sprecherintentions- und sprechereinstellungenbedingte Hypothesen den Gebrauch einer Wendung nicht mehr in allen Kontexten klären. Auch Sadock (1978, S. 288) erkennt in der Konvention die Rechtfertigung dafür, daß Gesprächspartner über Sprachformen hinweg kommunizieren. Die IMP als mehr oder weniger stille Folgerung bietet eine befriedigende Erklärung für das Idiom. Die erwähnte Fluktuation zwischen allgemeiner, besonderer KS und KN IMP bestätigt sich im Idiom nicht, das immer von einer KN IMP und häufig einer zusätzlichen KS IMP getragen wird. Die Lexikalisierung ist die Voraussetzung für die konventionelle Natur des hintergründigen weil demotivierten Idioms; die Delexikalisierungstendenzen zeugen vom kommunikativen Reiz des hintergründigen, weil remotivierten Idioms, das eine Herausforderung zum Zwischen-den-Zeilen-Lesen geworden ist. 9 9 Dies als Erweiterung und abschließende Stellungnahme zu v. Polenz (1985, S. 325). Das hintergründige Idiom 61 5. Linguistische Standortbestimmung Der oben unternommene Erklärungsversuch des Bedeutungspotentials des Idioms darf nicht als Überbewertung der IMP mißverstanden werden. Selbst wenn die Pragmatik in den Konversationsmaximen universale Rationalitätsannahmen, siehe Liedtke (1987), zu erkennen vermeint, so möchte ich abschließend noch einmal auf der Sprachlichkeit, Natürlichsprachlichkeit und Einzelsprachlichkeit dieses theoretischen Werkzeugs bestehen. Das lexikalisch demotivierte und pragmatisch remotivierbare Idiom kann weder mit binären vergegenständlichenden noch mit multiplen universellen Zeichendefinitionen beschrieben werden. Die pragmatische IMP in ihren beiden Spielarten bedarf jener Zeichenmodelle, die über Vermittlungsgrößen zwischen Wortgestalt und Wortinhalt verfügen, seien es die Begriffs- und Bedeutungspole in den Trapezmodellen von Heger, Baidinger, Coseriu oder die synthetische Artikulation in Jägers (1976, 1978) und Vigeners (1979) Rehabilitation des authentischen ternären Modells von Saussure; Kategorien also für die mentale, d.h. rationale und emotionale Verarbeitung von Realität und Sprache, die im Idiomgebrauch intersubjektiv konventionalisiert (demotiviert) und intrasubjektiv innoviert (remotiviert) besonders fasziniert. Der hier durch IMP erklärte Idiomgebrauch bedarf der Gleichursprünglichkeit der sich gegenseitig bestimmenden Komponenten nämlich Sprache und Welt, insofern besonders, als sie seine vorrangige Abhängigkeit vom materiellen Substrat würdigt. Über die Lautgestalt verrät die Situationsbedeutung den Sprecher, ohne direkten Zugang zu ihm zu verlangen. Das festgeprägte und figurierte Mehrwortlexem generiert und regeneriert durch seine Sprachgestalt, seine De- und Remotivation ist sprach- und einzelsprachgebunden, weshalb Idiome nur mit Bedeutungsverlusten paraphrasierbar und übersetzbar sind und hohe Anforderungen an kulturenspezifisches Vorwissen stellen. Der Straßburger Theologe Resweber (1979, S. 14) hat generell vor der Vernachlässigung des ‘signifiant’ gewarnt, die das Abgleiten des gesamten Sprachzeichens in die Referenz zur Folge hat. Hinzuzufügen ist als zweite Gefahr die der Überbewertung des ‘signifiant’. Wie alle Makroeinheiten sind auch die Idiome komponentiell entstanden. In einem populärwissenschaftlichen Aufsatz „Faire un poumon avec un l’oesophage“ berichtet Jacob (1982) über den Gebrauch biologischer Rohstoffe für neue unbekannte Organe und erinnert, daß Isomorphie nie über Polyfunktionalität hinweg täuschen darf. Im Idiom rettet die IMP vor beiden Gefahren: die KN IMP vor einer primären, die KS IMP vor einer sekundären Verwechslung mit der Wörtlichkeit. Trotz Bruch mit der Konversation durch das Mitbedeutete und mit der Konvention durch das Mitgemeinte garantiert hier die IMP die Kommunikation. Pragmatik ist der geeignete Rahmen, IMP ein passendes Kon- 62 Gertrud Greciano zept, die die Komplexität dieser Unterklasse der von Soziologen anfangs irrtümlich zum restringierten Kode gerechneten PH entschlüsseln, dieser wenn auch längst üblichen, dennoch nicht sinnentleerten Redensarten, deren Frequenz eindeutig die von v. Polenz festgestellte Tendenz zur komprimierten anspielungsreichen und hintergründigen Rede bestätigt. 6. Zeichen e Element von, Eingliederung in = ist nicht, Aufhebung von => impliziert <— entsteht durch —> bedeutet/ ist die Folge von 7. Literatur Burger, Harald/ Buhofer, Annelies/ Sialm, Ambros (1982): Handbuch der Phraseologie. Berlin. Coulmas, Florian (19851: Lexikalisierung von Syntagmen. In: Schwarze, Christoph/ Wunderlich, Dieter (Hg.): Handbuch der Lexikologie. Königsstein. S. 250-268. Davidson, Donald (1980): What metaphors mean. In: Platts, Mark (Hg.): Truth and Reality. London/ Boston. Drosdowski, Günther et al. (Hg.) (1983): DUDEN: Deutsches UniversalWörterbuch. Mannheim. Eckert, Rainer (1987): Synchronische und diachronische Phraseologieforschung. In: Korhonen, Jarmo (Hg.): Beiträge zur allgemeinen und germanistischen Phraseologieforschung. (= Veröffentlichungen des Germanistischen Instituts 71 Oulu. S. 37-50. Falkenberg, Gabriel (1987): Ausdruck und Übernahme von Einstellungen. In: Liedtke, Frank/ Keller, Rudi (Hg.): Kommunikation und Kooperation. 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Die Wechselbeziehung kann man schon an der einzelnen Sprachäußerung, aber auch an der Sprache als Ganzem beobachten. (a) Fragt man sich nämlich beispielsweise, warum in der Einzeläußerung gerade diese und nicht eine andere Ableitungsmöglichkeit genutzt wird, so stößt man auf große Unterschiede im Anwendungsbereich und in der Produktivität der Ableitungsmuster. Neben produktiven, zum Teil geradezu „powerful“ wirkenden Mustern mit -lieh, -har, -isch und -ig, die starke Verschiebungen im Wortschatz bewirkt haben, finden sich z.B. auch wenig gebrauchte und wenig produktive wie die mit (-e)n und -sam und sodann auch unbewegliche, gewissermaßen „erratische Blöcke“ und „Schwellen“ im Wortschatz, die die Bildungsmöglichkeiten der Muster synchron einschränken, im Bereich der adjektivischen Bezeichnungen des Feldes ‘klug dumm’ z.B. besonders in Form von Entlehnungen (wie naiv, raffiniert), lexikalisierten Bildungen (wie einfältig, auch lexikalisierten Partizipia, die zahlreich auftreten: beschlagen, abgefeimt, gerieben, durchtrieben), Resten früher produktiver Muster (wie bei töricht) und Simplizia (wie dumm usw.). Die Ableitung mit den Hauptsuffixen ist hier nicht so ergiebig gewesen, wie man erwartet hätte, insbesondere bei den Mustern, die sonst bevorzugt dazu dienen, das Verhalten der Mitmenschen zu charakterisieren und zu bewerten, adjektivische Formen des impliziten und expliziten Vergleichs, wie sie etwa genutzt werden um einen zweiten Bezeichnungsbereich zu nennen wenn der Vergleich mit dem ausgedrückt wird, wie „man“ (d.h. wie ein „Typus von Personen“) handelt. Diese Form wird z.B. viel benutzt, wenn das Verhalten eines anderen vergleichend charakterisiert werden soll, z.B. durch 66 Hans Wellmann väterlich und mütterlich, brüderlich, aber selten schwesterlich', es wird einerseits fraulich, andererseits männlich und auch mannhaft genannt, mädchen-, burschen-, knaben- und jungenhaft, nicht etwa *bürschlich oder *jünglich', es heißt weiblich und mit anderer Bedeutung weibisch, kindlich und kindisch (während z.B. mit Tochter und Sohn keine vergleichbaren Bildungen im allgemeinen Sprachgebrauch existieren). Das Nebeneinander der Suffixe -lieh, -isch und -haft wird in diesem Fall so gut wie gar nicht durch -ig oder ein anderes Ableitungsmittel ergänzt. Die Derivationsmuster sind wie hier oft durch ihre Anwendungszonen synchron so miteinander verzahnt, daß meistens entweder das eine oder das andere Suffix steht. Manchmal überlappen sie sich aber auch und treten in Konkurrenz miteinander, wie männlich neben bieder-, weltmännisch - und mannhaft', andererseits gibt es aber auch „Lücken“ (wie bei Sohn und Tochter, woneben es allerdings die seltenere Ableitung schwiegertöchterlich gibt). Hie und da heben sich Verdichtungszonen ab, in denen die Bildungen nicht nur konkurrieren, sondern sich reihenhaft nach Art von semantischen Minimalpaaren in sprachlicher Wechselwirkung voneinander abheben, wie etwa kindisch von kindlich, weibisch von weiblich. Größer sind aber, wie der Vergleich von -isch und -lieh zeigen wird (s.u.), die Zwischenbereiche, in die weder die eine noch die andere Bildungsweise hineinreicht. Aus alledem ergibt sich auch die Notwendigkeit, zu prüfen, „wie stark historische Ablagerungen das gegenwärtige System kennzeichnen“. So hat es W. Fleischer 1980 formuliert, als er sich an die Auswertung der Innsbrucker Bände zur Wortbildung machte; 1 ähnlich hat es sich z.B. auch W. Holly in seiner großen Rezension 2 unserer Untersuchungen 3 gewünscht. Grund und Möglichkeit dazu geben die Vergleichstabellen, in denen dort die Zahlen der betreffenden Bildungen für die deutsche Gegenwartssprache und die Vergleichswerte für die Goethezeit einander gegenübergestellt wurden. Das ging auf eine Anregung von J. Erben, dem Leiter der Innsbrucker Forschungsstelle, zurück. Die Hauptabsicht war seinerzeit, auf diese Weise die Produktivität der einzelnen Muster und Affixe deutlicher abheben und sicherer beschreiben zu können sowie den Transfer der erarbeiteten Typen auf einen anderen Sprachstand zu erproben, der ja Gewähr für ihre Brauchbarkeit leisten kann. 4 1 Fleischer (1980, S. 57). 2 Holly (1985, S. 91f.). 3 Deutsche Wortbildung (1973ff.), Bd. 1-3 (= DtWb). 4 Das zeigen für den Bereich der gesprochenen Sprache deutlich Tübinger Untersuchungen zur Sprache in Südwestdeutschland (s. Gernsbach/ Graf) und für den Transfer auf ältere Sprachstufen die Untersuchungen zum Frühneuhochdeutschen u.a. in den westdeutschen Arbeitsstellen (Bonn, Augsburg) und in der DDR (s. Bentzinger). Wortbildung im Sprachwandel 67 (b) Die „historischen Ablagerungen“, von denen W. Fleischer gesprochen hat (s.o.), beeinflussen aber nicht nur das System der Sprache im Ganzen, sondern auch die sprachliche Gestaltung des einzelnen Textes. Als Felix Krull mit süßen Worten um die Tochter des Lissaboner Professors Kuckuck wirbt, antwortet sie ihm keck mit einem Versehen, das pietistischer Provenienz sein dürfte: „Der Mensch, wie schön er sei, wie schmuck und blank, ist innen doch Gekrös’ nur und Gestank.“ 5 Felix Krull tadelt sie darauf mit den Worten: „Ihr geistliches Versehen ist sündhafter als die sündlichste Fleischeslust, denn es ist spielverderberisch, und dem Leben das Spiel zu verderben, das ist nicht bloß sündlich, es ist rund und nett teuflisch.“ 6 Das sündliche Fleisch war ein Begriff der reformatorischen Morallehre von Luther und Zwingli und in dieser Tradition auch im 19. Jahrhundert noch ganz geläufig. Es steht in unserem Zitat als Archaismus in reizvollem Kontrast zu dem modern wirkenden Neologismus spielverderberisch. Etwas von dem, was Felix Krull alias Marquis de Venosta das „Schwebende seiner Existenz“ 7 nennt, spiegelt sich auch in der Art, wie er hier den Zentralbegriff sündig vermeidend mit den (alten) Bildungen sündlich und sündhaft das Gemeinte spielerisch umkreist. Dies mag ein erstes Beispiel dafür sein, wie sehr die Individualität eines Autors (oder Sprechers) dafür bestimmend sein kann, was jeweils (im Schreibakt) aus den tradierten Inventaren des Wortschatzes ausgefiltert wird und wie diese (etwa durch Neuschöpfung) ergänzt werden. 1.2 Beschränkung auf Beispiele der gleichen Wortart Das Thema „Historische Bedingtheit des heutigen Sprachgebrauchs“ ist unerschöpflich; die Aufmerksamkeit der Zuhörer in öffentlichen Vorträgen aber leicht erschöpfbar. Deshalb will ich mich ganz auf den kleineren Teilbereich der Wortbildung beschränken, aus dem die bisherigen Beispiele stammten. Schauplatz des Geschehens ist also das Gebiet der Adjektivbildung, insbesondere deren Architektur, Baupläne und „Bausteine“ (Lexeme, Affixe). Die Wörter Architektur, Bauplan, Baustein stellen sich hier nicht zufällig ein. L. Wittgenstein schreibt einmal: „Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten 5 Mann (1974, S. 633). 6 ebd. (S. 633). 7 vgl. ebd. (S. 632). Hans Wellmann aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern.“ Um Sprache einmal so zu betrachten, führe ich mir den Grundriß einer alten Stadt vor Augen, mit konzentrischer Anordnung von Kernbereich und Angliederungsringen, durchbrochen oft von radialen Ausbaustreifen, vom Wechsel zwischen ungeregelter Verwinkelung und planer Entfaltung all das als Ergebnis des Zusammenwirkens verschiedener Kräfte, insbesondere zwischen individuellem Stil- und Ausdruckswillen, Sachzwecken, Gemeinschaftsaufgaben, allgemeinen Strukturtendenzen und Zeitmoden. Um dies Zusammenwirken zu veranschaulichen, möchte ich zunächst Proben aus Belegen bringen, die aus der Augsburger Arbeitsstelle „Frühneuhochdeutsch“, dem Grimmschen Wörterbuch (das hier für das Frühneuhochdeutsche ausgewertet wird) und aus der Innsbrucker Arbeitsstelle für Wortbildung stammen. 8 2. Tradition und Innovation im Adjektivbereich Unter I sind in der folgenden Übersicht Bildungen genannt, die die Tradition der produktiven Adjektiv-Ableitung mit -isch und -lieh bis ins Alt- und Mittelhochdeutsche zurück zeigen. Unter II folgen dann Innovationen der frühneuhochdeutschen oder neuhochdeutschen Zeit. Nicht immer freilich hat man es dabei mit so schönen Belegen zu tun, daß der Kontext selbst schon Aufschluß über die Art der Wortbildung gibt. Für diesen Fall je ein Beispiel aus der Wortbildung mit -lieh und -isch: „Des menschen hertz sei vnaußforschlich, vnt niemant kan es erforschen, denn (Agricola). „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“ ... ,^Aber ehe denn ich mich umbsihe, faren sie furt, und ... rauben und toben.“ 9 Beide Ableitungssufiixe sind schon im mittelalterlichen Deutsch und auch bereits auf der germanischen Sprachstufe produktiv: althochdeutsch -isc (gotisch -isks), das auch ins Französische (-esque) und Italienische (-esco) entlehnt und von dort aus spät, im 20. Jahrhundert, als -esk wieder ins Deutsche zurückentlehnt worden ist, und althochdeutsch -lih (gotisch leik), 8 In der Augsburger Arbeitsstelle „Frühneuhochdeutsch“ werden bearbeitet: Die Pronomina und Numeralia (S. Haeckel, M. Walch); die ‘Besonderen Verben’ (H. Graser); die Wortbildung der Adjektive und Adverbien (E. M. Heinle, H. Wellmann u.a.); die Konsonanten (H. Graser); die Bibliographie zum Frühneuhochdeutschen (S. Freund, E. Glaser). - In der Innsbrucker Arbeitsstelle sind unter der Leitung von L. Ortner den frühen drei Bänden der DtWb. (‘Das Verb’, ‘Das Substantiv’, ‘Das Adjektiv’) jetzt die Bände zur Komposition der Substantive und Adjektive gefolgt, bearbeitet von L. Ortner, E. Müller-Bollhagen, M. Pümpel-Mader, H. Wellmann, E. Koch, H.-P. Ortner. 9 Agricola (1525, S. 202f.) u. Luther (1525, S. 357). Wortbildung im Sprachwandel 69 das neben dem selbständigen Wort Uh (neuhochdeutsch Leiche) bis ins Neuhochdeutsche hinein mit der älteren Bedeutung „Körper, Gestalt“ existiert hat und das auch im englischen Adverbialsuffix -ly weiterlebt. Ihre Produktivität hält im Deutschen die Zeiten hindurch an, bei -isch (wie die Übersicht ausweist) absolut und auch relativ, d.h. im Verhältnis zur Gesamtzahl der erhobenen Adjektivableitungen, bei -lieh absolut zunehmend, aber relativ allmählich abnehmend. Warum? Der Philologe wird bei dieser Frage gewöhnlich vom Text und damit vom konkreten Beleg, der Linguist auch vom Ganzen der Sprache (als System, Norm und ‘Typ’; s.u. 2.4) ausgehen. Beides gehört zusammen; das erste (d.h. hier die Analyse der einzelnen Bildung in ihrem Kontext und Kotext) sollte dem zweiten vorausgehen. Dazu mag die folgende Übersicht als Ausgangspunkt dienen. Beispiele zum „Ausbau“ und „Umbau“ in der Adjektivbildung mit: -lieh: -isch: I. Die mittelalterliche Tradition (germ./ ahd.) fnunilih (germ./ ahd.) uuiblih (ahd.) säl(l) i(c)h (ahd.) manlih (ahd.) chintlih (mhd.) künstlich (mhd.) sinnelich (-) (-) (-) (mhd.) wibisch (-) (germ./ ahd.) mennisk (ahd.) chindisc (-) (-) (mhd.) bäuerisch (mhd.) bürgerisch II. Innovationen der Neuzeit im 16. Jahrhundert bürgerlich unwiderleglich staatlich (-) (-) (-) seelisch (einheimisch aufrührisch 17. Jahrhundert bäuerlich wissenschafllich (-) (") (-) (-) romantisch theoretisch 70 Hans Weltmann -lieh: -isch: 18. Jahrhundert freundschaftlich (-) traulich (-) (-) moralisch (-) klassisch (-) (nicht) dichterisch (-) humoristisch 19. Jahrhundert mittelalterlich (-) vorsintflutlich (-) sportlich (-) (-) künstlerisch (-) zoologisch 20. Jahrhundert (innerbetrieblich (-) widersprüchlich (-) (-) filmisch (-) rass(ist)isch (-) automatisch Anteil am Gesamt der untersuchten Adjektive: um 1550 20 % 6 % um 1800 10 % 10 % heute 8_% 11 % Was bestimmt nun die Verteilung der Neubildungen auf die verschiedenen Jahrhunderte im einzelnen? Hinweis: Die Datierung der Erstbelege bleibt freilich im Einzelfall oft zu diskutieren. Sie hat ganz unterschiedliches Gewicht, je nachdem, welche Texte zum Zeitpunkt der Datierung erhoben waren, wann diese konzipiert und wann sie niedergeschrieben worden sind, welcher Textart und -tradition der Beleg entstammt, welchem Autor er zuzuschreiben ist und wie oft das Wort wiederkehrt usw. (s.u.). 2.1 Bezug auf externe Faktoren des Sprachwandels Externe Einflüsse fallen zuerst ins Auge, und zwar (a) (onomasiologisch faßbare) Faktoren der Referenzänderung Auf den lexikologischen Zusammenhang, der mit dem Namen einer alten sprachwissenschaftlichen Zeitschrift auch als „Wörter und Sachen“ bezeichnet wurde, sieht man sich gleich bei den sprachgeschichtlich jungen Bildungen sportlich, filmisch und automatisch verwiesen. Es handelt sich zunächst um den indirekten Wirkungszusammenhang, daß die Grundwörter nicht wesentlich früher im Deutschen vorhanden waren und die Sprachgemeinschaft durch Entlehnung (beim Wort Wortbildung im Sprachwandel 71 Sport z.B. um 1850, bei Film um 1890) auf Neuerungen in der Lebenswelt reagiert hat in diesem Falle so, daß die Wörter durch alte Muster der Suffixableitung (rasch) integriert wurden. Das Beispiel automatisch ist besonders repräsentativ. Denn nach einer Erhebung von L. Mackensen 10 ist im heutigen Deutsch jedes neunte Wort der Umgangssprache im Zusammenhang mit der Entwicklung der Technik entstanden oder inhaltlich geprägt. Basisentlehnung und Ableitung müssen aber nicht in die gleiche Zeit fallen. Das Adjektiv humoristisch z.B. ist im 18. Jahrhundert entstanden, seine Basis indes schon im 16. Jahrhundert aus dem Lateinischen übernommen worden. Aber die inhaltliche Prägung, von der die Suffixableitung dann ausgeht, ist erst im 18. Jahrhundert durch das Englische erfolgt. Und auch die allererste Bildung und die Prägung, die dem Wort dann seine dauerhafte Geltung gegeben hat, können in ganz verschiedene Zeiten fallen. Staatlich ist erstmals im 16. Jahrhundert nachgewiesen, aber noch für Jahrhunderte ungebräuchlich gewesen und erst im 19. Jahrhundert, im Zeitalter der Nationalstaaten, zu seiner späteren Bedeutung gekommen. (b) Das Zusammenspiel, die Interferenz benachbarter Sprachen ist also ein zweiter Faktor, der sich dem Betrachter unmittelbar aufdrängt, und zwar, je länger er sich mit der Sprachgeschichte des Deutschen beschäftigt, um so intensiver, nicht nur im Alt- und Mittelhochdeutschen. Sprachliche Gründe dieser Art erklären uns im 17. Jahrhundert das Aufkommen von theoretisch nämlich als Nachbildung zu lateinisch theoreticus - und von romantisch, nämlich als Derivat zu Roman, französisch roman, wobei wie das -tverrät französisch romantesque als direktes Vorbild gedient hat. Besonders starken Einfluß haben im Frühneuhochdeutschen griechisch -ikos, lateinisch -icus und französich -esque gehabt. Um das Ausmaß dieser Wirkung anzudeuten, das bei -isch zu beobachten ist: Interferenz ist für die Mehrzahl der in der Tabelle angeführten Adjektive in irgendeiner Weise mitbestimmend gewesen. (c) Als dritte Art von wirksamen Faktoren begegnet uns dann die Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichen und sprachlichen Veränderungen (im weitesten Sinne). Ableitungen wie innerbetrieblich, das in Kollokation mit dem Substantiv Mitbestimmung entstanden ist, reflektieren Änderungen in der Organisation der Arbeit im 20. Jahrhundert. Als sich die Bauern gegen die Feudalherren erhoben, wurde in der frühen Neuzeit von den Gegnern das Adjektiv aufrührisch gebildet und dann auch oft gebraucht. Die Fügung (das Funktionsverbgefüge) auffrur anrichten wird bei Luther z.B. durch die attributive Konstruktion auffrurische Menschen wieder aufgegriffen (auch durch 10 Vgl. Mackensen (1971, S. 49ff.). 72 Hans Wellmann auffrurige Menschen), in formaler Angleichung an textbestimmende Adjektive wie räuberisch und mörderisch. 11 Bürgerlich ist im 16. Jahrhundert (neben bürgerisch. 15. Jahrhundert) in einer Anreihung von -hch-Adjektiven aufgekommen: „Eusserlich tregt eyn Christ dültighch vnd fröhlich alle weltlich, vnd bürgerlich Ordnung ... .“ 12 Das Wort ist dann erst im 18. Jahrhundert unter dem Einfluß des französischen Adjektivs bourgeois zur Standeskennzeichnung geworden. Bäuerlich ist (nach älterem bäu(e)risch) im 17. Jahrhundert aufgekommen. In dem Zusammenspiel dieser Bezeichnungen erkennt man die semantische „Umpolung“ von der Motivation durch die Strukturform des „Funktionsstandes“ (f Bürger, Bauern ...’ als Träger, Agens, Ausgangsbereich) zur Motivation durch Oppositionen, Affinitäten und Konnotationen im „Wortfeld“ (L. Weisgerber) 13 im Falle von bürgerlich etwa durch die Opposition zu anderen Adjektiven wie proletarisch, durch die Affinität zu bourgeois und konnotativ besetzten Erweiterungen wie klein-, groß-, spießbürgerlich. (d) Auf die Wechselwirkung zwischen geistesgeschichtlichen und sprachlichen Veränderungen, um dies als vierten Faktor zu nennen (der z.T. auch bei den schon besprochenen Bildungen mit im Spiel war), verweist z.B. die Entstehung von wissenschaftlich im Vorfeld der Aufklärung, von moralisch in der literarischen Aufklärung eines Geliert, Lessing, Kant, von traulich in der Poesie des Hainbundes (DWB) und von rassisch im demagogischen Sprachgebrauch des 19./ 20. Jahrhunderts bzw. von rassistisch in der späteren kritischen und metasprachlichen Behandlung dieses Phänomens. Einen Perspektivenwechsel zeigt im 18. Jahrhundert die Bildung von überirdisch und außerweltlich als Gegenstück zu irdisch und weltlich in einer Phase an, in der das Vordringen der Komposita mit Welten- ( Weltenpyramide) das neue Weltbild erkennen läßt, 14 ferner die Bildung von klassisch als Hinwendung zur Antike und im 19. Jahrhundert die Bildung von mittelalterlich, insoweit sie die Wiederentdeckung des Mittelalters reflektiert. Bei Wackenroder können wir lesen: „Da seh ich in Gedanken den künstlichen Meister Albrecht auf seinem Schemel sitzen. 11 Das Adjektiv künstlich ist alt (s.o.). Es hat die hier vorliegende Bedeutung „künstlerisch, kunstreich 11 schon lange. Die Verdrängung des Wortes künstlich in dieser Bedeutung durch die Neubildung künstlerisch im 19. Jahr- 11 Luther (1525, S. 357); zum pejorativen Charakter vieler frühneuhochdeutscher -isch- Adjektive s. Goetze (1899, bes. S. 514ff.). 12 Melanchthon (1525, S. 136). 13 Zu ‘Wortfeld’ und ‘Wortstand’ vgl. Weisgerber (1962, S. 254). 14 Erben (1964, S. 92f.) u. Fleischer (1986, S. 35). Wortbildung im Sprachwandel 73 hundert darf wohl als Signal gelten als Zeichen für die begriffliche Verbindung zwischen ästhetischer Qualität und origineller Individualität (vgl. Künstler, ein Wort, das zwar im 16. Jahrhundert gebildet worden ist, aber erst im 18. Jahrhundert seine heutige Prägung erhalten hat und neben dem schon bei Tieck das Adjektiv unkünstlerisch steht) nach der Geniezeit, die auch schon die Neubildung dichterisch und ihr Antonym nichtdichterisch hervorgebracht hatte. Was künstlich bis dahin in diesen Kontexten primär bedeutet hatte, zeigt auch die Verwendung des Gegenwortes unkünstlich: „Alle die übrigen unkünstlichen Menschen, Handwerker und Bauern. “ 15 Historische Erklärungen durch externe Faktoren des Sprachwandels wie diese gelten mutatis mutandis auch für den Bedeutungswandel vergleichbarer Simplizia. Sie lassen sich nicht einfach auf ganze Reihen des gleichen Wortbildungstypus übertragen, sondern wollen bei jedem Wort neu überdacht werden. Sie machen darauf aufmerksam, daß man bei der historischen Wortbildung das Zusammenspiel zwischen (a) den strukturgleichen Ableitungen des gleichen Affixes (also des Wortbildungstypus) und (b) den Bildungen zur gleichen Basis (also der Wortfamilie) besonders beachten muß, die beide ihre eigene Geschichte haben. 2.2 Bezug auf interne Faktoren Bei der Reihenbildung semantisch durchsichtiger Wortstrukturen nach festen Mustern kommen durch die Frage nach dem „Warum? “ daneben übergreifende Formungsregularitäten ins Spiel, die man zu den internen Faktoren des Sprachwandels rechnen kann. Bei diesen internen Wirkungen fallen zunächst die Verschiebungen zwischen Wortbildungsweisen ins Auge. Das Adjektiv seelisch, dessen Geltung heute zunehmend durch den ursprünglich wissenschaftlichen Ausdruck psychisch eingeschränkt wird, erweist sich als eine Bildung des 16. Jahrhunderts. Es trat damals neben leiblich und geistlich als eines von „dreyerley eiern,enten^, die für Melanchthon und seine Zeit den „dryfaltigen menschen u ausmachten. Diese -isch- Ableitung tritt an die Stelle alter Wortbildungen wie der Suffixableitung sdl-i (sel-i) und der dazugehörigen Präfixbildung gasäli. Die Ableitung mit -los ist dann mit großer Verspätung im 17. Jahrhundert (zu den Bildungen mit sinn gibt es schon mittelhochdeutsch das Adjektiv sinnelosl) als entsprechendes Antonym hinzugekommen, und im 18. Jahrhundert das ornative - Partizipialadjektiv (mit spezieller Bedeutung) beseelt als eine Lehnbildung zu lat. animatus. Das Beispiel steht hier stellvertretend für eine produktive Reihe von Bildungen, deren Erzeugung zunächst über entsprechende Verbableitungen 15 Wackenroder (1968, S. 71f.). 74 Hans Wellmann läuft, die sich im Neuhochdeutschen aber als eigenes, produktives Muster der Adjektivableitung verselbständigt hat (s. bemoost, gepunktet, geblümt usw.). Oft ist es auch so, daß die Lexikalisierung einer Ableitung, etwa von altem sinnlich (mhd. sinnelich), das sich gegenüber altem sinnig, sinnhaft, sinnesam, 16 sinnelös, sinnebaere mit der Zeit isoliert, den Bedarf an entsprechenden Neubildungen weckt; sie entstehen dann besonders durch andere Suffixe (wie -haft) 17 und die Verbindung mit neuen Halbaffixen wie -voll, -gemäß, -widrig, die sich aus der Komposition gelöst haben, nachdem sinnlich im 18. Jahrhundert semantisch durch Bezug auf das Pluraletantum die Sinne umgepolt worden war (vgl. auch sinnenfreudig-, 20. Jahrhundert). Insoweit handelt es sich hier um Prozesse in der ‘Mittellage’ geschriebener Sprache. Sie laufen aber nicht unberührt von den Vorgängen ab, die sich einerseits im Bereich der gesprochenen Sprache vollziehen die Verteilung der Suffixvariante -sch im Frühneuhochdeutschen, die sich in ripuarischen Texten häuft, verweist z.B. zurück auf den Einfluß des niederfränkischen Suffixes -sk, andererseits in weniger zentralen Bereichen geschriebener Sprache, wie sie insbesondere Fach- und Wissenschaftssprachen zeigen die Ausbreitung der Suffixvariante -alisch (frühneuhochdeutsch sacramentalisch) verweist z.B. in diesen Bereich. 2.3 Bezug auf interne Wirkungen Manche dieser (internen) Verschiebungen auf der (lexikologischen) Ebene der Wortbildungsmittel sind nicht durch „(teilsystem-)immanente“ Gesetze oder Regularitäten dieser Ebene zu erklären, wie es etwa bei der „Umfunktionierung“ von Kompositionsgliedern (wie -haft, -mäßig-, s.o.) zu Suffixen der Fall ist, sondern durch Einwirkung sprachlicher Prozesse, die auf einer ganz anderen Ebene liegen (bei sinnlich z.B. auf der semantischen; s.o.). (a) Eine solche Induktion durch Vorgänge anderer Art ist etwa bei der Ableitungskette des Wortes Seele (althochdeutsch sali, gaseli, säl{T)ich, neuhocheutsch seelisch, beseelt usw.) zu beobachten. Die angedeuteten Verschiebungen sind vor allem durch Vorgänge auf der Lautebene bedingt. Nach der (germanischen) Festlegung des Akzents auf die erste Stammsilbe und der dann im Althochdeutschen einsetzenden Endsilbeneinebnung hatte das Ableitungssuffix -i an Deutlichkeit und damit an unterscheidender Kraft verloren; vgl. auch Bildungen wie aeze, das neuhochdeutsch durch eßbar ersetzt wurde, oder neuhochdeutsch gäbe (in gang und gäbe). Es war lautlich mit anderen Wortbil- 16 Vgl. Erben (1972, S. 182ff.). 17 Bentzinger (1987, S. 255) u.ö. Wortbildung im Sprachwandel 75 dungssuffixen wie der Adverbendung mittelhochdeutsch -e, althochdeutsch -o (z.B. althochdeutsch lango, mittelhochdeutsch lange) zusammengefallen. Adjektivsuffix und Adverbialsuffix sind dann im Gefolge der frühneuhochdeutschen Apokope ganz verlorengegangen, von Ausnahmefällen wie lange abgesehen, in denen eine Bedeutungsverengung eingetreten ist und dadurch ein semantischer Unterschied das Nebeneinander von lang und lange ermöglichte. Das volle lange -i um auch einen Blick auf das homonyme Suffix der Substantivableitung zu werfen -, das in Adjektivabstrakta wie althochdeutsch hohi, mittelhochdeutsch hoehe steckt, war dagegen durch eine viel längere Reihe analoger Bildungen morphologisch stabilisiert, wurde nicht so stark abgeschwächt und konnte sich deshalb im Neuhochdeutschen halten. Es wurde dann im Neuhochdeutschen erst mit historischer Verspätung zunehmend unproduktiv, in diesem Falle aber aus anderen Gründen, nämlich durch Querverschiebungen innerhalb der lexikologischen Schicht (durch das Aufkommen synonymischer Bildungen), vor allem natürlich aufgrund der Bildungskraft des neuen und deutlicheren Suffixes -heit und seiner Erweiterungsformen, z.B. bei altem Schöne (mittelhochdeutsch schoene) durch die Konkurrenz von Schönheit usw. Doch zurück zu den Adjektiven. (b) Der Sprachwandel auf der (flexions)morphologischen Ebene steht z.T. in deutlichem Kontrast zu dem innerhalb der Wortbildung. Von der Lautgeschichte der Formen her ist ihre „Profilierung“ (Fleischer) hervorzuheben: Die Vokale der Flexionsendungen haben sich zu -e abgeschwächt, diejenigen der Ableitungssilben -sam, -bar, -ig, -isch usw. dagegen nicht, und wo sie schon auf dem Wege dazu waren, wie in den frühneuhochdeutschen Varianten -her oder -esch, setzt sich die alte Form im Neuhochdeutschen durch. Auch von daher erweisen sich diese Morpheme als Bausteine einer ganz anderen Sprachebene. Das schwach charakterisierte und auch wenig produktive Stoffsuffix -en weicht davon ab. Es hat aber schon früh ein lautlich deutlicheres Seitenstück bekommen, das (ebenfalls schwach produktive) Allomorph -ern (besonders unter dem Einfluß von Pluralformen wie Hölzer, Gläser). Es begegnet uns in Bildungen wie hölzern, gläsern, steinern, elfenbeinern usw. Die Induktion von der morphologischen Ebene aus ist auch bei Mitteln der Flexion wie -er, -s, -e und -en zu beobachten, die an sich die Kasus anzeigen und im spätmittelalterlichen Deutsch in Komposita diese Funktion verloren haben und zu Fugungselementen umfunktioniert worden sind, die dann ihren eigenen Gesetzlichkeiten folgen. Sie liegen in der Allomorphie von Kompositionsgliedern begründet. So hat sich schon im spätmittelalterlichen Deutschen das Genitiv-s durch analoge Übertragung von Maskulina/ Neutra auf Feminina mit -ung und auch 76 Hans Wellmann -heit verselbständigt und in das ganz anders geartete Regelwerk der Kompositionsfugung integriert, ähnlich wie in der Neuzeit dann auch das -en- (in Bildungen wie gertenschlank und schwanenweiß), als die Basissubstantive längst aus der (schwachen) Flexionsklasse mit -en in Genitiv/ Dativ Singular abgewandert waren. Dazu s.u., wo von der Entwicklung neuer Ableitungssuffixe aus dem Inventar der Flexion die Rede ist. (c) Gegenüber dem Teilsystem der Syntax ist die Wortbildung besonders offen. Von historischen Veränderungen im Bereich der Sprechstile, Schreibstile, Textarten und -gattungen wird sie deshalb besonders betroffen. Ihre Umgebung und Position verdient besonderes Augenmerk. Als Neubildung des 19. Jahrhunderts erscheint in unserer Übersicht z.B. vorsintflutlich (oder auch vorzeitig). Sie dokumentiert, daß auch syntaktische Gruppen wie hier die präpositionale Fügung vor der Sintflut (bzw. vor d(ies)er Zeit) - (als Basen) in die Adjektivableitung einbezogen werden. Der Anteil solcher „Zusammenbildungen“ ist im Neuhochdeutschen beträchtlich angewachsen, besonders bei dem Suffix -ig. Es handelt sich dabei um Adjektive, die z.T. überwiegend, z.T. auch, wie vorzeitig, ausschließlich attributiv gebraucht werden. Erklärung? Bei diesem Befund kommt man nicht umhin, die Ergebnisse von H. Eggers 18 einzubeziehen, nach denen in der Syntax des Neuhochdeutschen seit der Goethezeit die Nebensätze zurückgehen und die attributiven Einbettungen zunehmen, in deren Dienst auch diese -ig- und -hc/ i-Adjektive stehen. Wie eine Untersuchung von W. Admoni 19 ergeben hat, ist schon in der Prosa Goethes und Winkelmanns das zitierte „Aufblühen“ des Nominalsatzes mit attributiv erweiterten Substantivgruppen zu beobachten. Für die Geschichte der Adjektiv-Bildung hat ihre Position besonderes Gewicht. Adjektive auf -isch entstehen z.B. fast immer als Attribute kein Wunder, wenn man sieht, daß die -tsc/ i-Adjektive schon in der frühneuhochdeutschen Zeit zu 80 - 90 % attributiv gebraucht wurden. (d) So wichtig dieser Gesichtspunkt ist häufiger noch sieht man sich bei der Interpretation der Belege auf die Tatsache verwiesen, daß die Genese und besonders die Ausbreitung von Wortbildungen im Dienst semantischer Aufgaben erfolgt, die sich, wie bei -isch (s.o.), auch in der Syntax auswirken können. Diese Funktionen, die historischen Verschiebungen zwischen ihnen, wie etwa bei unserem Beispiel sinnlich, und die Gründe dafür lassen sich nicht so knapp erläutern wie die syntaktischen. Sie sind zu vielfältig. Deshalb hier nur ein Textbeispiel, das andeuten mag, worum es geht: 18 Eggers (1983). 19 Admoni (1980, S. 20f.). Wortbildung im Sprachwandel 77 Über die künstlerische Qualität der zeitgenössischen Lyrik gibt es die widersprüchlichsten Urteile. Ja, die gestalterische Kraft der Brechtschen Sprache, die hochkarätige Symbolik der Verse eines Paul Celan und die thematische Originalität von Nelly Sachs scheinen unwiderbringlich der Vergangenheit anzugehören. Unmusisch wirkt die Lyrik von heute ohnehin oft. Und allzuviele sprach- und auch sinnwidrige Partien finden sich in ihr, dazwischen aber auch Werkstücke hochgradiger Kunstfertigkeit. Von ästhetisch minderwertigem oder nur durchschnittlichem Rang ist ein Großteil der veröffentlichten Produkte; dazwischen aber finden sich großartige Gedichte von Weltrang. 20 Der Abschnitt enthält 16 Adjektivableitungen, und zwar 7 auf -isch, 6 auf -ig und 3 auf -lieh. Und keine davon ist, allein auf dies kommt es hier an, älter als 200 Jahre! Sie veranschaulichen nicht nur die ungestörte Produktivität dieser alten Suffixe (ich verweise auf die Zahlenwerte der Übersicht), sondern auf kleinem Raum auch die Vielfalt semantischer Leistungen, die sie erfüllen, vom Ausdruck der Zugehörigkeit (z.B. in zeitgenössisch), des Ornativen (z.B. in minderwertig), Possessiven (z.B. in Brechtsch), Modalen (z.B. in hochgradig) bis zu dem des Gegenüberstellens (z.B. in sinnwidrig), Vergleichens (z.B. in durchschnittlich), qualifizierenden Einordnens (z.B. in künstlerisch) und Wertens (z.B. großartig). Hier wäre ins einzelne zu gehen. Allerdings müssen Beispiele genügen. Nehmen wir das Suffix -isch: Bei ihm kann man im heutigen Deutsch acht Funktionen mit einer Frequenz >50 so deutlich voneinander abheben, daß sie sich genau zählen lassen. Um Verwechslungen zu vermeiden: Es gibt viele ‘funktionelle Homonyme’. Ein Wort wie studentisch kommt z.B. in Abhängigkeit vom Bezugssubstantiv in 4 verschiedenen Funktionen vor: Z.B. Bezugssubstantiv Funktion -isch 1 -isch 3 -isch 4 -isch 6 transformationeller Wert studentische studentische studentische studentische Bräuche Frage, Hilfskraft, Aktionen ‘Bräuche, die die Studenten haben/ pflegen’ ‘Frage, die die Studenten betrifft’ ‘Hilfskraft, die ein Student/ eine Studentin ist’ ‘Aktionen, die die Studenten machen/ unternehmen ’ 20 Dieser Text ist ‘erfunden’. 78 Hans Wellmann Diese Erscheinung ist keineswegs ein Charakteristikum des heutigen Deutsch. Bei den bisher in der Augsburger Arbeitsstelle untersuchten frühneuhochdeutschen Adjektiven ist es z.B. bei 60 % aller Bildungen auf -isch, die in mehr als einem Beleg Vorkommen, der Fall, daß sie in zwei oder mehr Funktionstypen Vorkommen. Die Ableitungen mit -isch im Neuhochdeutschen 21 : um 1800 heute absolut absolut -isch insgesamt davon -isch 1 -isch 3 +-isch 5 -isch 7 -isch 2 ,-isch 4 -isch 6 usw. z.B. heidnische Sitten studentische Frage mißtrauisches Weib 659 152 89 90 335 10,05 % 2,43 % 1.42 % 1.43 % 5,36 % 1387 376 306 76 632 11,40 % 3,10 % 2,50 % 0,60 % 5,20 % Bei dem Suffix -isch, mit dem um 1800 etwa 10 % aller untersuchten Adjektive, im heutigen Deutsch 11,4 % gebildet sind, gibt es gegenläufige Entwicklungen, wie auch bei einem Teil der anderen Suffixe: Einzelne Bedeutungsgruppen haben prozentual abgenommen, wie die der ornativen Bildungen (mißtrauisches Weib „voller Mißtrauen“; -isM 7 '*)-, andere aber haben überproportional zugenommen, so die „umgekehrten“ Ziaien-Prädikationen, die auch oft in possessiven Genitivattributen stecken (heidnische Sitten „Sitten der Heiden“; -ischWß und die Bildungen mit der Beziehungsbedeutung „entsprechend, gemäß“ (-isc/ i (3) ; -isM 5 '); vgl. studentische Frage als „Frage, die die Studenten betrifft“, modische Farbe als „Farbe, die der jetzigen Mode entspricht“), was besonders überrascht, da das Neuhochdeutsche gerade für den Ausbau dieses ‘Funktionsstandes’ mit -gerecht, -mäßig und -gemäß schon einige Halbaffixe entwickelt hat. Für -mäßig hat Inghult 22 dafür neben den schon zitierten Tendenzen (s. Eggers! ) im Satzbau besonders morphologische Kombinationsrestriktionen bei anderen Suffixen, etwa -lieh, angeführt. Aber der allgemeine Ausbau des Funktionsstandes muß, soweit er die Entwicklung des einzelnen Mor- 21 Nach DtWb. Bd. 3. (1978, S. 110, 262, 288, 301, 347) u.ö. Die Vergleichswerte beziehen sich auf die Adjektivbildung als Vergleichsrahmen. In dieser Gesamtdarstellung der Sprachentwicklung wäre auch noch auf Fragen wie die einzugehen, ob das Verhältnis zu Komposita des Typus Heidensitten, Studentenfragen usw. gleich geblieben ist. 22 Inghult (1975). Wortbildung im Sprachwandel 79 phems übergreift, 23 doch auch Gründe in der Art des begrifflichen Erfassens und Zuordnens haben, das sich in den letzten 200 Jahren so stark ausgebreitet hat. (e) Auch auf der äußersten Ebene der (pragmatischen) Textgestaltung, die sich an einem bestimmten kommunikativen Zweck orientiert, gibt es Abläufe, die Veränderungen auf der Ebene der Wortbildung bewirken. Das ist natürlich schon an der Prägung des einzelnen Wortes wie auffrürisch bei Luther zu beobachten. 24 Es betrifft aber auch ganze Muster. Zu ihnen gehören namentlich die Kompositionsweisen der Ausdruckssteigerung, die im heutigen Deutsch, insbesondere in der Zeitungssprache, zunehmen und die mehr konnotative (z.B. assoziative) als bezeichnende (denotative) Aufgaben haben. Die wertenden („augmentativen“) Adjektivbildungen der Ausdruckssteigerung mit riesen-, superusw., die hier zu nennen sind, nehmen aber nicht in dem gleichen Ausmaß zu wie die entsprechenden Substantive. Etwas anderes ist für den Bereich der neuhochdeutschen Adjektive und Adverbien viel auffälliger: 25 Die Entwicklung von Bildungsmustern, die der Bewertung von Satzaussagen durch den Sprecher dienen, insbesondere die Entwicklung von Satzadverbien auf -maßen und -weise in anerkanntermaßen, verständlicherweise usw., ist für das Neuhochdeutsche charakteristisch. Im mittelalterlichen Deutsch hat es jedenfalls noch keine eigenen Suffixfunktionen gegeben, die eigens für diese (pragmatische) Aufgabe da waren. Der Hauptgrund dafür, daß eigene Sprachmittel dieser Art entstehen, mag in den Veränderungen der Kommunikationsbedingungen nach der Erfindung des Buchdrucks zu suchen sein. 2.4 Änderungen im Bereich der Wortbildung Allgemeine Wirkfaktoren, die die Existenzform der Sprache selbst betreffen: Die Frage nach ihnen führt zu den Bedingungen der Wortbildung hin, die in der sprachlichen Norm, im System und im Sprachtypus begründet liegen: (a) Veränderungen in der Norm. Sie sind im Kernbereich der Laute und Formen leichter zu verfolgen. Für ihre Beurteilung eignen sich z.B. die Fugen der Adjektivkomposition. Sie haben keine besondere „Bedeutung“ oder syntaktische Funktion und lassen sich insofern davon 23 Brinkmann (1964, S. 101). 24 Luthers begrifflich ‘gezielte’ Wortprägung hat die Wortbildung seiner Zeit, insbesondere die religiösen und politischen Texte, stark beeinflußt. Vgl. Bentzinger (1987, S. 257fr.). 25 Dazu s. jetzt Heinle (1988). 80 Hans Wellmann isoliert betrachten. Diese Verbindungselemente, die in der Adjektivbildung zwischen Grund- und Bestimmungswort treten können, stimmen nun, wie Untersuchungen ergeben haben, 26 weitgehend mit denen der Substantivkomposition überein. Der Grund ist leicht einzusehen: Ihre Setzung richtet sich bei Adjektiven und Substantiven (ganz) nach der Beschaffenheit des Vordergliedes. Es bedingt, daß etwa ein -(e)reauftaucht in Zusammensetzungen wie gertenschlank, schwanenweiß und in vergleichbaren Suffix(oid)bildungen wie seidenartig, feenhaft. In dem historisch-kontrastiven Vergleich nun, den ich zwischen dem Sprachgebrauch um 1800 und der Gegenwart angestellt habe, erweist sich folgendes: Die Regeln, Regularitäten und auch Irregularitäten der Fugung zeigen um 1800 auffallend geringe Unterschiede gegenüber dem heutigen Gebrauch. Jedenfalls sind sie z.B. geringer als die heutigen Unterschiede zwischen StandardVarietäten. Hirt schreibt 1925 in seiner Sprachgeschichte: 27 In Leipzig saß der Zensor (gemeint ist der Lexikograph und Grammatiker Adelung) und wachte über den richtigen Gebrauch der Sprache. Soweit wäre alles ganz schön, und wir ständen (d.h. um 1800) eigentlich am Ende, wenn die Sprache nur aus Lauten und Formen und schließlich den nötigen Satzverbindungen bestände. Für die Regularitäten der Wortfügung trifft diese Feststellung auch weitgehend zu. So folgt etwa dem Wort Schwan auch um 1800 in alten wie in neuen Zusammensetzungen die -ere-Fuge ebenso regelmäßig wie heute. Das überrascht vor allem angesichts der Tatsache, daß diese Regeln nicht die Verbindlichkeit hatten, die man ihnen aus der Perspektive der Gegenwart leicht zuzumessen geneigt ist. Immerhin konnte noch Jean Paul auf die Idee kommen, die verhaßte -s-Fuge nicht nur durch Traktate, sondern auch über seine Romane (durch ihre Nichtsetzung) zu bekämpfen. Diese Beobachtung überrascht aber nicht angesichts ganz ähnlicher Befunde, die sich für morphologische Teilbereiche wie das grammatische Geschlecht ergeben haben. So hat Nerius zeigen können, 28 wie die Variation des Genus in den Texten der Goethezeit zunehmend zurückgeht (um 1800 nur noch insgesamt 85 Abweichungen vom heutigen Stand). Soviel zur ‘Norm’, wie sie sich in der Wechselbeziehung zwischen den Regularitäten des Gebrauchs (Usus) und deren Beschreibung (durch Schottel, Adelung, Hirt u.a.) zeigt. Davon abzuheben ist als eine Kraft ganz anderer Art die Einstellung der Sprachbenutzer zur Norm (zu Gebrauch und Regel), die sich im späteren Mittelalter sehr stark als eine Art Traditionalismus (insbesondere der Schreiber und frühen Drucker) erweist und sich so 26 DtWb. (Bd. 4, 5, 1988/ 89). 27 Hirt (1925, S. 172). 28 Nerius (1967, S. 128). Wortbildung im Sprachwandel 81 ganz anders auswirkt als die Haltung gestalterischer Welt- und Sprachveränderung, die in die Sprache des 16. und 17. Jahrhunderts einen Zug zur Innovation gebracht hat, sei es durch schöpferische Aktivierung schon vorhandener, sei es durch Prägung neuer Muster. Die so geschaffene Vielfalt und der Reichtum an Varietäten 29 bot dann die Möglichkeit zur Auswahl und Ausfilterung, die den neuen Sprachstand des 18. Jahrhunderts entscheidend vorbereiten half. (b) Nun zu den Veränderungen im System. Von ihren Erscheinungsformen und Gründen war schon wiederholt die Rede, wenn eine Antwort auf die Frage gesucht wurde: „Wie kann man die Verzahnungen, Überlappungen, Differenzierungen und „Lücken“ zwischen den verschiedenen Bildungsmustern „clare et distincte“ erfassen, einordnen und sachgenau darstellen? “ Die Einheit in der (historisch bedingten) Vielfalt sucht man in der Sprachwissenschaft etwa im Unterschied zur Philosophie gleichermaßen in den Forschungsparadigmen der synchronen und diachronen Beschreibung zu erfassen, und zwar so, wie es der Romanist von Wartburg vor 57 Jahren als das „Ineinandergreifen von historischer und deskriptiver Sprachwissenschaft“ gefordert hatte und wie es in der Wortbildung schon seit längerem exemplifiziert wird. 30 Ihre Verbindung kann der Tatsache Rechnung tragen, daß jedes System im Zusammenwirken der Teile funktioniert und zugleich als Evolution auftritt. 31 Sprachhistorische „Evolution“ bedeutet: ein Gefüge von Veränderungen, die durch die historisch schon angelegten Variablen und Konstanten bedingt sind, wechselnden, jedenfalls mehreren Wirkfaktoren folgen, verschiedene Regelkreise durchlaufen und die letztlich zu der Sprachform geführt haben, die wir heute sprechen und schreiben. Von daher ist zu verstehen, was es heißt, wenn der sprachlichen „Evolution“ andererseits zwangsläufig Systemcharakter zugesprochen wird. Die Sprache funktioniert eben mit Coseriu zu sprechen synchron und konstituiert sich diachron, 32 im Wechselspiel zwischen System, Norm und Rede. Methodisch ist dabei folgende Schwierigkeit zu bewältigen: Die diachrone Beschreibung und Erklärung des „Warum? “ muß der synchronen Beschreibung des „Was? “ und „Wie? “ folgen. Das Zusammenspiel der geschichtlichen Veränderungen aber geht dem Zustand der „antreffbaren sprachlichen Einheit der Struktur“ (Glinz) 33 voraus; und dieser „Zustand“ ist zunächst auf den schon unterschiedenen Ebenen der Sprache getrennt zu untersuchen, bevor man nach Interdependenzen zwischen 29 Vgl. v. Polenz (1986, S. 10); Bentzinger (1986, S. 50f.); u.a. 30 Vgl. v. Wartburg (1939). 31 Vgl. z.B. Erben (1964); DtWb. (1973ff); Bentzinger (1987); u.a. 32 Vgl. Coseriu (1988, S. 13f.). 33 Glinz (1966). 82 Hans WtUmann ihnen und induktiven Wirkungen suchen kann. Auf der Ebene, die die Lexikologie beschreibt, wirken sich systemhafte Beziehungen zwischen Adjektivbildungen, sofern sie semantisch zu erfassen sind, am deutlichsten in Konkurrenzen und Konvergenzen einerseits, andererseits in Minimaloppositionen (Beispiel: kindisch vs. kindlich) und in Antonymien aus, wie sie sich nicht nur bei der Negationsbildung mit wn-, in-, nonusw., sondern etwa auch zwischen ornativen und privativen Adjektiven (vgl. rußig vs. rußfrei) oder zwischen passivischmodalen und aktivisch-modalen Bildungen (wie gläubig und glaubhaft, empfindlich einerseits, spürbar andererseits) auswirken. Die Minimalpaarreihen wirken daneben wie Teile kleiner, nicht sehr weit ausgebauter Fächer. Sie sind oft das Ergebnis eines strukturellen Ausbaus der Grundmuster durch bestimmte Sprechergruppen, denen es um eine feinere begriffliche Differenzierung geht. Zu terminologisch geprägten Reihen dieser Art gehören etwa kontradiktorische Oppositionen des Typus römisch nichtrömisch und auch konträre Oppositionen wie zwischen akademisch unakademisch nichtakademisch, wissenschaftlich unwissenschaftlich nichtwissenschaftlich pseudowissenschaftlich/ scheinwissenschaftlich. Nähe einerseits, antonymische Gegenüberstellung andererseits bestimmen diese Reihen. Das ist kein Zufall in einer Wortart, die schon in ihrem lexikalischen Grundbestand polar angelegt ist. Diese Eigenart des adjektivischen Wortschatzes wird also durch Mittel der Wortbildung verstärkt. So alt die Bildungsweise (insbesondere mit dem Präfix un-) auch ist, so kann man die heutigen Verhältnisse doch nicht als Bewahrung und Fortsetzung eines alten Typus allein ansehen. Ein Ergebnis unseres Vergleichs zwischen dem Stand um 1800 und heute ist vielmehr, daß sich die Tendenz, strukturelle Antonymien auszubilden, eher noch verstärkt hat. Dafür sprechen die folgenden Vergleichswerte: Wortbildung im Sprachwandel 83 Negationsbildungen: 34 Der Anteil der Negationsbildungen am Adjektivbestand ist demnach insgesamt noch um etwa ein Fünftel gestiegen. Dafür sind natürlich insbesondere die vielen Bildungen mit dem alten Negationspräfix unbestimmend. Die „Vitalität“ dieses Musters hat dazu beigetragen, daß der Anteil der Lehnformen mit in-, il-, ir-, im-, die besonders seit dem Humanismus dazugekommen sind, in feist dem gleichen Umfang zurückgedrängt worden ist. Demgegenüber fällt insbesondere die Zunahme des Musters nicht-römisch versus römisch auf. Für dieses ist um 1800 gar erst ein Beispiel gebucht. Als zeittypisch kann angesehen werden, daß es gerade das Wort nichtdichterisch ist. Für die Gegenwartssprache haben wir nicht weniger als 154 Beispiele („types“, nicht „tokens“) erfaßt. Die ältere Negationsform hieß natürlich unchristlich. Heute haben wir daneben nichtchristlich zur Verfügung (mit bezeichnender Nuancierung des Inhalts). Die Gründe liegen auf der Hand. Im Unterschied zur Negierung mit unist die neue Bildungsweise mit nichtregelmäßig wertungsfrei. Sie dient einer auf streng binäre Gliederung angelegten Unterscheidung: Wie eine detaillierte „Spracharchäologie“ ergibt, ist sie erst seit 40 Jahren so produktiv, daß sie systemhafte Bedeutung gewinnt und auch die Verwendung von unbeeinflussen kann, also seit Bekanntwerden der Kybernetik. Die gleiche wissenschaftliche Prägung zeigt übrigens die Substantivbildung Nicht- Fachmann versus Fachmann-, dabei ist eine Zunahme von 6 Komposita um 1800 auf 42 Bildungen im 20. Jahrhundert festzustellen. Daß der Grund hier zu suchen ist, bestätigt die annähernd gleichzeitig einsetzende, analoge Differenzierung der Präfigierungsmuster mit un- und nonim Englischen. 35 Mit dieser Tendenz zu mehr Systematizität ist 34 DtWb. Bd. 3. (1978, S. 110f.; 261f.; 287f.; 346f.; 300f.; 186f.); u.a. 35 Zimmer (1964). 84 Hans Wdlmann die bemerkenswerte, ebenfalls systemprägende Wirkung verbunden, die Funktionen des Gegenüberstellens und des Wertens ausdrucksseitig deutlich voneinander abzuheben. In abstrakter Form lassen sich die Veränderungen auf folgenden Nenner bringen: Morphemschwund (wie z.B. bei dem Adjektiv-SufEx -icht), Morphemgenese (wie z.B. bei dem frühneuhochdeutschen Adverbial-Suffix -liehe), Teilersatz (wie z.B. bei -lieh, das in bestimmten Funktionen von -haft, -6ar und -ig abgelöst wird). (c ) Bei den Gründen und Bedingungen für diese Veränderungen sind auch sprachtypologische Bedingungen des Sprachwandels zu erkennen. (ca) Einerseits ist zu beobachten, daß bei der Adjektivableitung, sei es nun die mit -lieh, -bar, -ig, -sam oder -haft, die Ausweitung der Bildungsweise von denominalen zu deverbalen Formen geht, genauso wie im Englischen. Im Französischen ist die Entwicklung dagegen nach G. Stein genau umgekehrt verlaufen. 36 (cb) Zum anderen ist eine Tendenz zu größerer lexikalischer Komplexität zu erkennen. Die Bildung freundlich ist alt (friuntlich), freundschaftlich dagegen jung (18. Jh.). Komposita mit mehr als zwei Gliedern sind im mittelalterlichen Deutsch die Ausnahme. Sie gehen im Adjektivbereich aber auch heute bei usuellen Bildungen nur bis zur Drei-, bei okkasionellen bis zur Viergliedrigkeit des linksverzweigten Typus (wie z.B. in der linguistischen Prägung wortbildungsregelkonform)-, beim Substantiv reicht die Komplexität dagegen bekanntlich viel weiter. (cc) Ferner gilt: Bei den Affixen verdrängt die deutlichere Form die weniger deutliche; (vgl. z.B. das Adverbialsuffix althochdeutsch -o, mittelhochdeutsch -e und das spätere (mittelhochdeutsche) Erweiterungssuffix -lie(n), die Abstraktsuffixe althochdeutsch -i und -heit oder das althochdeutsche Agenssuffix -o, das von althochdeutsch -ari, mittelhochdeutsch -aere verdrängt wird). (cd) Schließlich und letztens: Der Aufbau des Inventars von Affixen unterliegt im Deutschen weitgehend ähnlichen Gesetzen wie z.B. im Englischen und Französischen. Darauf hat ebenfalls schon G. Stein aufmerksam gemacht. 37 Allerdings liegen die Akzente im Deutschen doch anders: Daß Suffixe aus Flexiven entstehen, kommt hier wiederholt vor, man vergleiche die Muster mit -er [Tiroler Musik), -s [nachts) und ge-...-t [geblümt). Und die Ablösung neuer Suffixe durch „Umsegmentierung“ („Suffixverkennung“) spielt für das 36 Stein (1970, S. 339). 37 Stein (ebd.). Wortbildung im Sprachwandel 85 Deutsche, besonders seine jüngere Sprachgeschichte, eine besonders große Rolle, etwa bei der Entwicklung von -mäßig in Bildungen wie ebenmäßig oder taktmäßig, die auf Komposita wie Ebenmaß und Taktmaß zurückgehen können, was bei berufsmäßig, gebietsmäßig usw. nicht mehr der Fall ist; ähnlich ist es bei -haltig, -artig, -pflichtig, -förmig, -färben, -widrig. 2.5 ‘Universelle’ Faktoren des Sprachwandels Mit diesen (mehr beiläufigen) Hinweisen könnte man den kleinen Rundgang um im Bilde des Wittgenstein-Zitats (s.o.) zu bleiben abschließen. Vor allem war es darauf angekommen, die Ergänzung der synchronen Betrachtung durch die diachrone zu erläutern, im großen bei ganzen Wortbildungsmustern wie den Ableitungen auf -lieh, -isch, -icht usw. wie im kleinen etwa bei dem Beispiel sündlich von Th. Mann, das man ohne einen Blick in die Geschichte sowohl als Innovation (Neologismus) als auch als Wiederaufnahme einer alten Tradition interpretieren kann. Bei den laufenden Untersuchungen zur Wortbildung im Frühneuhochdeutschen hat sich immer wieder der multikausale Charakter solcher Entwicklungen erwiesen, aus dem sich die Notwendigkeit ergibt, auch bei der diachronen Analyse so multikausal zu argumentieren und insbesondere über die Verschiebungen auf der jeweils untersuchten Ebene hier der lexikologischen der Wortbildung hinaus zu sehen auf Prozesse auf den anderen (phonologischen, morphologischen, semantischen, syntaktischen) Ebenen der Sprache. 38 Es hat sich herausgestellt, daß es immer wieder diese vier genannten Schwerpunkte der Betrachtung sind, die hier voneinander abzuheben und eigens zu berücksichtigen sind. Nur muß gesichert bleiben, daß die Beobachtung auf anderen Sprachebenen ihre Hilfsfunktion für die Erklärung der Einzelphänomene behält und sich nicht verselbständigt. Ausgeklammert habe ich dabei die Frage nach universellen Faktoren des Sprachwandels. Die Hinweise dazu würden innerhalb eines so knappen Vortrags zu allgemein ausfallen. Deshalb mag genügen, abschließend zu sagen, worum es dabei geht: Bei der Wortart ‘Adjektiv’ etwa um deren Grundfunktion, den Vergleich auszudrücken (vgl. Komparativ und Superlativ) oder doch Vergleiche vorauszusetzen (vgl. die Semantik des Positivs, insofern sie einen Vergleich impliziert), zu der dann in der Wortbildung Kategorien wie die der prädikativen Identifizierung (vgl. -ischt*)), des Vergleichs (der Komparation (s. -isett 2 '))) und schließlich auch der Negation (s.o.) passen; dazu gehören im engeren Bereich des Sprachwandels als Entstehungsbedingungen etwa die Übertragung und insbesondere bei der Entstehung neuer Funktionen die Verschiebungen 38 Allerdings nicht multikausal im Sinne R. Kellers, der drei Arten von Kausalität unterscheidet: die naturwissenschaftliche, die finale und die bewirkte, nicht beabsichtigte; s. Keller (1982, S. Iff.). 86 Hans Weltmann zwischen „ad-verbalem“ (prädikativem, adverbialem) Gebrauch und andererseits „ad-nominaler“ Konstruktion, wie bei der Funktion (dort-ig; Attribuierung), dann bei der einzelnen Bildung jeweils die Formund/ oder Strukturähnlichkeit selbst („Analogie“; dazu s.o. das Beispiel bürgerlich unter l.c) und bei der Vermittlung von Neuerungen die Spielarten der Verbreitung von Phänomenen überhaupt. Gesichtspunkte dieser Art gehen gewissermaßen schon als Voraussetzungen in die Beschreibung der Sprachveränderungen ein und nicht erst in die lexikologische Analyse der Adjektivbildungen im Zusammenhang, die hier versucht wurde. 3. Literatur Admoni, Wladimir G. (1980): Zur Ausbildung der Norm der deutschen Literatursprache im Bereich des neuhochdeutschen Satzgefüges (1470-1730). Ein Beitrag zur Geschichte des Gestaltungssystems der deutschen Sprache. (— Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen 56/ IV). Berlin. 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Gerhard Augst Wort - Wortfamilie - Wortfamilienwörterbuch Zur Konzeption eines neuen Wörterbuchs der deutschen Gegenwartssprache auf der Basis der Wortbildung In dem Roman ‘Nachdenken über Christa T.’ beschreibt die DDR-Autorin zu Anfang das Tagebuch ihrer „Heldin“ (Christa Wolf, 1970, 4. Aufl. Neuwied, S. 23): ... und auf dem Deckel steht in kindlicher Krakelschrift: Ich möchte gerne dichten und liebe auch Geschichten. Die Zehnjährige im Ton einer Feststellung. Dichten, dicht machen, die Sprache hilft. Was denn dicht machen und wogegen? Mein zweites Einleitungsbeispiel läßt sich assoziativ aus dem ersten entwickeln. Der „Störfall“ Tschernobyl verursachte auch einen Störfall in der deutschen Werbesprache. Von einem Tag auf den anderen verschwand im Mai 1986 der Slogan vom strahlendsten Weiß meines Lebens aus der Waschmittelwerbung als Reaktion auf den doppeldeutigen Spruch verunsicherter Eltern: Wir wollen keine strahlenden Kinder. In beiden Beispielen reden oder schreiben nicht einfach Menschen, indem sie Wörter aus dem inneren Lexikon mittels Regeln zu Sätzen verbinden, sondern beide beschäftigen sich auch mit abwesenden zusätzlichen Sprachinformationen: Christa Wolf thematisiert in einer bewußten Metakommunikation einen etymologischen Zusammenhang; die Waschmittelwerbung hofft verdeckt in einer Anspielung von der strahlend weißen Wäsche den Zusammenhang zur strahlenden Sonne und weiter zu strahlenden, gesunden, freundlichen Menschen herstellen zu können. Diese Strategie wird durch Tschernobyl zum Bumerang, denn nun wird plötzlich das strahlende, gefährliche Afom“ mitassoziiert. Die Wörter und Bedeutungen in ihrem aktuellen Gebrauch verweisen auf andere: die Ableitung dichten auf das Adjektiv dicht, die metaphorische Bedeutung strahlend auf die literale Bedeutung strahlend durch Sonnen- oder Atomstrahlen. Die Durchsichtigkeit der Wörter, ihre relative Motiviertheit ist Teil der Kommunikation. In diesem Vortrag geht es um diese Durchsichtigkeit: Welche Funktion und Bedeutung hat sie, wenn wir Sprache gebrauchen? Welche Funktion hat sie im Sprachsystem? Spielt sie eine Rolle beim Aufbau des inneren Wörterbuchs, des mentalen Lexikons? Wenn hier was bei einer derartigen Exposition des Themas erwartet werden kann eine bedeutsame Funktion ermittelt wird, so leitet sich daraus die Frage ab, ob solches sprachliches Wissen nicht in einem Wörterbuch systematisch abgebildet werden kann. Daraus ergibt sich die Zweiteilung meines Vortrags: ich spreche zunächst über die Durchsichtigkeit als lexikologisches Phänomen und dann über ein lexikographisch geplantes Wort- 90 Gerhard Augst familienwörterbuch. - Und das alles steht unter dem Leitwort von Christa Wolf: dichten, dicht machen, die Sprache hilft! “ Ja, wie aber hilft die Sprache? 1. Relative Motiviertheit als lexikographisches Phänomen Da ich am zweiten Tag auf diesem thematisch organisierten Kongreß rede, hieße es Eulen nach Mannheim tragen, wenn ich Ihnen einen systematischhistorischen Abriß über das Phänomen der Durchsichtigkeit, der Transparenz, der relativen Motiviertheit, der Wortstruktur und weiterer Begriffe des Wortfeldes geben wollte, angefangen bei den alten Griechen bis zu de Saussure und den vielen Kontroversen, die sich daran angeschlossen haben (vgl. Scheerer 1980, S. 119; Herbermann 1981). Statt dessen will ich konkrete Fälle sprachlicher Kommunikation anführen, die m.E. etwas mit Durchsichtigkeit zu tun haben. Ich gliedere sie nach drei Ebenen, die unlängst Brigitte Schlieben-Lange (1987, S. 176) nochmals hervorgehoben hat. Sie unterscheidet: 1. die Sprachaktivität 2. ein naives Begleitbewußtsein (cognito clara confusa) 3. ein theoretisches Sprach- und Textbewußtsein (cognito clara distincta) Mir scheint diese Unterscheidung sehr nützlich zum richtigen Verständnis des Phänomens der Durchsichtigkeit. Beginnen wir mit der Sprachaktivität. Es wird Sie nicht verwundern, wenn ich bei meiner wissenschaftlichen Biographie mit der Orthographie anfange. Das morphologische, lexikalische, semantische, etymologische Prinzip - oder wie immer die Terminologie auch lauten mag fordert vom Schreiber, den Stamm in unterschiedlichen Umgebungen gleich zu schreiben: So unterscheiden sich die Wände des Gebäudes von der Wende in der Politik und das Entgelt, das ich jemandem zahlen muß, hat weder etwas mit dem Ende noch mit Geld zu tun. 1 Sparformen im Mündlichen und Schriftlichen wie Sonn- und Feiertage, aber nicht *Sonn- und Montage weisen auf die Grade der Relativität der Durchsichtigkeit hin (Püschel 1978). Der Gegensatz von der verregneten Feriengefahr zur deutschen Sprachwissenschaft läßt sich hier anschließen (vgl. Bergmann 1980). Besonders deutlich tritt das implizite Wissen um die Wortstruktur in der Wortbildung hervor, vor allem wenn es um analoge Neuprägungen geht. Ein sehr aufschlußreiches Beispiel zitiert Seibert (1996) in seiner Untersuchung zu juristischen Querulantenbriefen: 1 Erwähnen möchte ich dazu noch das programmierte Scheitern des Computers an so simplen Beispielen zur morphematischen Worttrennung wie Haus-tür. Hierher gehören auch die Fälle zur richtigen Bestimmung der Zusammensetzungsfuge, z.B. Rauhmeter vs. Raummeter. Wort - Wortfamilie - Wortfamilienwörterbuch 91 Der abgelehnte Richter hat in der anhängigen Familiensache das Recht in schwerstes Unrecht umgekehrt und am 22.1.1985 um 17.28 Uhr am Beschwerdeführer folgende Verbrechen begangen: 1. Obdachlosmachung. 2. Hablosmachung. 3. Kindlosmachung. 4. Familienzerstörung. Wer als Richter solche Verbrechen vom Schreibtisch aus begeht, ist nicht nur ein Schreibtischtäter, sondern ein Krimineller im öffentlichen Dienst und ein Verbrecher. Dem abgelehnten Richter ist das Handwerk zu legen. Er ist seines Amtes zu entheben. Der Beschwerdeführer bändigt seinen Zorn in einer quasijuristischen Sprache, indem er neue Sachverhaltsbegriffe schafft: Obdachlosmachung usw. Die Wörter sind im Kontext verständlich. Ihre Funktionsbedeutung erschöpft sich in ihrer Kompositionsbedeutung 2 oder wie man auch sagen kann - Motivbedeutung. Das muß nicht immer so sein; und gerade die Spannung zwischen Funktions- und Motivbedeutung ist oft ein Anlaß für das naive sprachliche Begleitbewußtsein die zweite Stufe diesen Sachverhalt anzusprechen. Einerseits beklagt man eine falsche Motivbedeutung: Wer kennt es nicht, das viel bemühte Beispiel, daß die Arbeitgeber eigentlich Arbeitnehmer und die Arbeitnehmer eigentlich Arbeitgeber seien. Andererseits hoffte man auf die wohltuende Wirkung der Durchsichtigkeit, als der Fremdarbeiter zum Gastarbeiter wurde, oder auch auf die Verschleierungsfunktion, wenn Arbeitnehmer nicht entlassen, sondern freigesetzt werden. 3 Bei manchen Wörtern fürchtet der Benutzer, daß die falsche Bedeutung aktualisiert wird; so ist ein Schreiben von zwei Seiten ein zweiseitiges Schreiben, ein einseitiges Schreiben führt meist zu einer scherzhaften Bemerkung. 4 Bei der Wortbildung werden oft solche Verwechslungen thematisiert. So berichtet ein Reporter (HR III 28.1.88) den Zuschauern von einem höchstrichterlichen Urteil zum Arbeitsrecht, das einige Vorurteile eh, ich meine richterlich aufhebt. Vorurteil im Sinne von ‘vorinstanzliches Urteil’ dürfte sich wohl schwer in der Sprachgemeinschaft durchsetzen; Wildgen (1982) konstatiert zu Recht das Phänomen der „Wortbildungs- und Lexikalisierungsblockierung“. 5 Schon in den Be- 2 Serebrennikow (1975, S. 295) spricht von „Wortbildungsbedeutung“. 3 Ein besonders drastischer Fall liegt vor, wenn ein Konzern für Babytrockenmilch statt Muttermilch konsequent Erstmilch schreibt. 4 Vgl. dazu auch die konventionelle Replik der Krankenschwester zum „Auf Wiedersehen“ des entlassenen Patienten „Nein, lieber nicht! “ Dies ist wohl auch das Motiv für den Stilfehler der Katachrese: z.B. Er schlug die Scheibe und dann den Weg nach Mannheim ein. 5 Weitere Belege für die Bedeutung der Durchsichtigkeit in der Wortbildung sind die Fälle der Doppelbildung, z.B. Grundprinzip, Fachexperte-, ferner die systematische Eindeutschung, die versucht, eine fremde Begriffshierarchie durch lexikalische Variation abzubilden, z.B.: Präsens = Jetztzeit, Präteritum = Vorbeizeit. Gelegentlich wird auch als Motiv für den Wortuntergang die etymologische Isolierung angeführt. 92 Gerhard Augst reich der Laienetymologie gehört die Sentenz Kunst kommt von können oder das war im wahrsten Sinne des Wortes merk-würdig-, die Mannheimer Linguisten sprechen gerne von den sogenannten Fremdwörtern, ein anderer lobt die Durchsetzung des Fremdwortes Teenager, da es die „irreleitende Motivierung“ von Backfisch vermeide. In vielen Fällen dient die Durchsichtigkeit auch dazu, den Begriffsinhalt zu interpretieren: so erklären Linguisten den Begriff Text, d.h. seine Seinsweise, gern aus lat. textura, verwandt mit Textil, d.h., der Text ist eine Verschlingung von Propositionen. 6 Der russ. Linguist Serebrennikow (1975, S. 308) sieht gar einen Einfluß der Wortstruktur auf das Gemeinte: Die motivierten Wörter haben also zu den zu bezeichnenden Gegenständen des Denkens andere Beziehungen als die nicht motivierten. Die nicht motivierten Wörter bezeichnen den Gegenstand unmittelbar, (sic) durch ein besonderes Einzelzeichen, die motivierten über die Feststellung der Beziehung dieses Gegenstandes zu einem anderen, d.h. vermittelt indirekt. Kainz (1962, S. 264) spricht sogar von dem blinden Vertrauen in die sinnvolle Struktur der einzelnen Worte und der Geneigtheit, von hier aus Sachaufschlüsse zu erwarten. 7 Ganz gewiß trifft dies oft für die Fachsprache zu, denn die Wortstruktur offenbart z.B. dem Chemiker die chemische Struktur des Stoffes, z.B. der systematische Wechsel von Endungen wie in Äthan, Athen, Äthal, Äthin, aber auch in Zusammensetzungen, z.B. Äthylathanat. & Bei der Fachsprache befinden wir uns schon im 3. Bereich, dem theoretischen Sprach- und Textbewußtsein, aufgrund der systematisch geplanten Wortbildung. Auch die schon angeführten Äußerungen von Linguisten gehören zu diesem 3. Bereich. Die Reihe der Beispiele ließe sich noch viel 6 Manchmal warnen auch Wissenschaftler vor der Verführung durch die Etymologie; so schreibt D. Gramm in seinem Buch ‘Entwicklungsgemäßes Schreibenlernen’ (Bd. 1, Hannover 1971, S.26): „Schrift und Schreiben sind wohl als Wörter etymologisch voneinander abhängig, in der Sache besteht jedoch eine größere Unabhängigkeit, als man gemeinhin annimmt.“ 7 Dies läßt sich auch in der Wissenschaft nachweisen: „Daß diese Folgerung wirklich daraus gezogen werden darf, beweist die deutsche Sprache, die in höchst bedeutsamer Weise, wenn ich nicht sehr irre, die Wörter ‘denken’ und ‘Ding’ von derselben Wurzel ableitet.“ (Polle 1889, S. 100) 8 Hans-Rüdiger Fluck: Fachdeutsch in Naturwissenschaft und Technik. Heidelberg (1985, S. 57) zitiert eine Stelle aus Lubomir Drozd/ Wilfried Seibicke: Deutsche Fach- und Wissenschaftssprache (1973, S. 197): „Seine Fähigkeit [des Kompositums - G.A.], im Grundwort den Grundbegriff und im Bestimmungswort die Merkmalseinschränkung des Unterbegriffs darzustellen, wird in sämtlichen FWS [= Fach- und Wissenschaftssprachen - G.A.] reichlich genutzt, da sie gnoseologisch-logischen Ansprüchen an die parallel auftretende oder zu bildende onomasiologische Struktur Rechnung trägt.“ Wort - Wortfamilie - Wortfamilienwörterbuch 93 weiter fortsetzen, ich möchte aus einsichtigem Anlaß nur noch den Lexikographen erwähnen, der in vielfältiger Weise auf die naive Fähigkeit des Benutzers baut, mit Wortstrukturen umzugehen: So fehlen in kleinen Wörterbüchern oft geläufige Zusammensetzungen und Ableitungen, z.B. auf -chen, -ung, oder sie werden erwähnt, aber ihre Bedeutung wird nicht erklärt; beides geschieht in der oft explizit ausgesprochenen Hoffnung, daß der Benutzer das Fehlende aus eigener Kompetenz ergänzt. Andererseits möchte der Lexikograph die Wortstrukturierungsfähigkeit des Benutzers nicht enttäuschen und gibt oft die strikt alphabetische Reihung zugunsten einer nestalphabetischen auf, in der dann, z.B. im GdW, Zeitwort unter Zeit vor Zeitung steht. Noch einen Schritt weiter gehen Lexikographen, wenn sie die Bedeutung der komplexen Wörter mit Hilfe der Durchsichtigkeit erklären; so findet sich im selben Artikel zu Zeitvertreib die Bedeutungsangabe „Tätigkeit, mit der man sich die Zeit vertreibt“. Es wird uns schon gar nicht mehr bewußt, daß dabei in der halben Wortfamilie mit dem Bestimmungswort Zeit eben dieses Wort ausgelassen und die Tilgung durch ein Auslassungszeichen markiert ist. Fassen wir die Beispiele zusammen, so dürfte deutlich geworden sein: die Fähigkeit, Wörter zu strukturieren, begegnet uns auf der Ebene der Sprachaktivität, auf der Ebene des naiven Begleitbewußtseins und auf der Ebene eines theoretischen Sprach- und Textbewußtseins. Diese Wortstrukturierungsfähigkeit geht der Wortbildungsfähigkeit voran, so wie das Satzverstehen erst die Satzproduktion ermöglicht. Auf der einen Seite der Skala stehen die undurchsichtigen Wörter, d.h. Wörter ohne Motivbedeutung, auf der anderen Seite textuelle Augenblicksbildungen als Oberflächenergebnis syntaktisch-textueller Regeln. Die Funktionsbedeutung dieser Augenblicksbildungen ergibt sich einzig und allein aus der Kompositionsanalyse ihrer Elemente, d.h. der Motivbedeutung, im Kontextbezug, z.B.: Er klonte die Maus. Die Klonung ist geglückt. Die Maus ist klonbar. Nach dem Verstehen zerfallen wie bei den Sätzen diese Wortkonstruktionen; hier ist die Frage nach dem Neuheitswert ziemlich irrelevant (vgl. Plank 1981, S. 251). Davon zu unterscheiden sind die bewußt geschaffenen Neologismen, die sozusagen durch den Taufakt eine beginnende Konvention begründen zum Zweck der Benennung oder sprachlichen Konstitution eines Gegenstandes oder Sachverhaltes. So haben wir gerade Vermummungsverbot, Zusammenrottung gelernt. Gemäß ihrer Bestimmung reihen sich diese komplexen Wörter bald ein in die Menge der konventionellen Zeichen, im Bezug auf die Wörterbücher werden sie lexikalisiert. Was die Bezeichnungsfunktion angeht, so ist es gleichgültig, ob die lexikalisierten Wörter durchsichtig sind; innerhalb der durchsichtigen können sie sich durch Regeln oder durch Analogie erklären. Dabei können die Regeln dieselben wie die zur Bildung von Augenblickswörtern und Neologismen, oder 94 Gerhard Augst es können Nachzügler nicht mehr produktiver Regeln sein; dasselbe gilt für die metaphorischen und metonymischen Prozesse. Die Tabelle 1 kann die Zusammenhänge verdeutlichen. Im bescheidenen Umfang ragt die morphologische Durchsichtigkeit über die semantische hinaus. So signalisiert in üppig oder garstig -ig die Wortart Adjektiv, in Wörtern wie König oder Harnisch kann man deshalb von einer pseudomorphologischen Durchsichtigkeit sprechen, aber selbst diese ist nicht ohne Funktion in der Sprache. Nach den Analysen der Psycholinguistik (Aitchison 1987, Günther 1987) besteht das individuelle mentale Lexikon nicht aus Morphemen plus Kombinationsregeln, sondern aus einem mehr oder weniger großen Anteil an konventionellen Wörtern und individuellen Zusatzinformationen über deren Wortstruktur, die Teil eines Sets von Wortstrukturregeln sind, die wiederum eine Teilmenge als produktive Kombinationsregeln einschließen. 9 Daß der Sprachteilhaber konventionelle Wörter speichern muß, ergibt sich eben aus dieser Konventionalität, denn im Prinzip ist jeder Gegenstand oder Sachverhalt sprachlich unterschiedlich erfaßbar. Der beste Beleg sind viele Neologismen der Kinder. Natürlich könnte z.B. ein Jeep auch Safariauto heißen, aber er heißt nun einmal konventionell nicht so. Außerdem stehen oft mehrere Wortbildungsmöglichkeiten zur Wahl, so daß ein Kind statt einem konventionellen Lügner den Neologismus Läger formte. Tabelle 1: Möglichkeiten zur Gliederung der Wortstruktur aktuell (= in Texten zu finden) potentiell konventionell lexikalisiert okkasionell Neologismen Haus dicht König Harnisch Wiedehopf ähnlich üppig Hobel nur raorph. motiviert Zollstock Augenblick Dichte Koch Heimatdichter lußdicht Verdichtung Verdichter Songdichter atrahlendicht verdichtbar Abdichter nach Regeln oder Analogie gebildet nach Regeln oder Analogie bildbar morphologisch und semantisch motiviert nicht mot. arbiträr 9 Es ist eine psycholinguistisch offene Frage, ob die Wortbildungsregeln lediglich eine Konverse der Wortstrukturregeln sind, vgl. ablehnend Plank (1981, S. 229). Wort - Wortfamilie - Wortfamilienwörterbuch 95 So wie das individuelle Lexikon von Sprachteilhaber zu Sprachteilhaber etwas verschieden aussieht nach Größe und Aufbau, so verhält es sich auch mit dem Phänomen der Durchsichtigkeit und den Strukturinformationen für jedes einzelne Wort, vgl. dazu Tabelle 2. Tabelle 2: Grade der Durchsichtigkeit spontan metakommunikativ durchsichtig nach längerem Nachdenken I,II Star Haupti'i Schloßt Kater I,II bereiten Haustür Kotflügel schwänzen nein ja nein ja, aber wie nein ja ja nein (irgendwie) Viele Wörter werden ganz spontan für durchsichtig gehalten, z.B. Haustür, andere erst nach längerem Nachdenken, z.B. Kotflügel oder Augenblick, 10 einige hält man zwar spontan für durchsichtig, aber trotz längerem Nachdenken kann man die Motivbedeutung nicht in Einklang bringen mit der Funktionsbedeutung, z.B. beim Kater nach Alkoholgenuß oder bei die Schule schwänzen. Manchmal lernt man auch Motivationen hinzu: So habe ich in K.D. Büntings Buch ‘Richtiges und gutes Deutsch’ als Muster für Wortzusammengehörigkeit Bürste und Borsten gefunden. Das schien mir spontan völlig falsch, und mein Morpheminventar von 1975 gab mir mit getrennten Einträgen recht. Aber je mehr ich darüber nachdachte, umso deutlicher erschien mir die semantische Zusammengehörigkeit, dargestellt durch den schlichten Satz Bürsten haben Borsten. Es ist in der Forschung umstritten, ob man denn überhaupt den Sprachteilhaber nach der Durchsichtigkeit fragen kann (Augst 1975, Derwing 1976, Plank 1981). So befürchtet schon Porzig (1959, S. 161), daß man alles mit allem zu verbinden vermag. Ja, man kann schon, aber der Sprachteilhaber tut es nicht, und das schlichte Sprachspiel vom Papagei - Mamagei oder dem Klavier und Klafünf beruht ja darauf, daß hier bewußt eine Pseudomotivierung vorgenommen wird. Auch hier hat H. Paul bereits (1898, S. 70) den Weg gewiesen, indem er als Probe vorschlägt, einen Satz zu formulieren, in dem die Bedeutung der Ableitung, Komposition, Metapher 10 Das Wort Augenblick wird vielfach in der Literatur (z.B. Wolfgang Fleischer: Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache, 1974, 3. Auf! ., Tübingen, S. 14) als nicht semantisch motiviert, sondern nur noch als strukturell motiviert angesehen. Ich teile diese Ansicht nicht: die Semantik ist dem Sprachteilhaber metakommunikativ klar: Mit dem Akt der Zusammensetzung wird gleichzeitig eine Metaphorisierung geleistet, wie in Handschuh, Fingerhut (als Pflanze): der Augenblick ist so kurz, wie die Zeitspanne, die man braucht, um mit den Augen etwas zu erblicken. 96 Gerhard Augst oder Metonymie erklärt wird durch den Bezug auf das oder die zugrundeliegenden Elemente. Gelingt dies ohne Verrenkungen, so liegt eine Motivation vor, andernfalls nicht. Schon meine Formulierung „ohne Verrenkung“ zeigt, daß es hier einen Ermessensspielraum gibt. Aber wie sollte es in der Sprache anders sein! Überdeutlich wird dies, wenn wir, ausgehend von der Ebene des theoretischen Sprach- und Textbewußtseins, ein etymologisches Wörterbuch konsultieren. Der Reiz auch für den sprachlichen Laien 11 besteht ja gerade darin, dort überraschende Zusammenhänge zu finden, die längst verloren sind. So gehört z.B. flott zu fließen, emsig zu Ameise, Ose zu Ohr oder morsch zu Mörser. Mit einer ganzen Portion Überheblichkeit haben die Etymologen dabei die Volksetymologie goutiert, das heißt jene Fälle, in denen im Rahmen einer „Volkslinguistik“ (Brekle 1985, 1986) gegen die historische Etymologie Wörter zusammengebracht wurden und werden; erinnert sei nur an die bekannten Beispiele wie Maulwurf, Schlittschuh, Enterich, Pfarrherr und auch dichten (vgl. Sanders 1972, S. 4). 1975 habe ich in den Untersuchungen zum Morpheminventar darauf hingewiesen, daß die Verachtung der Volksetymologie und ihre Abstemplung als sprachliche Pathologie eine Vermischung der diachronen und synchronen Sehweise darstellt. Um dies auch terminologisch deutlich zu machen, habe ich dem Begriff der diachronen Etymologie die „synchrone etymologische Kompetenz“ (Augst 1975) 12 entgegengestellt. D.h.: Unabhängig von der historischen Etymologie baut jede nachfolgende Generation eigenständig ein Wortstrukturwissen zu den für komplex gehaltenen Wörtern auf, das auch dazu beiträgt, nie gehörte komplexe Wörter zu verstehen oder neue komplexe Wörter zu bilden. Zwischen zwei Zeitstufen in einer Sprache können dabei folgende Verhältnisse im Bezug auf die Durchsichtigkeit auftreten, wie sie die Tabelle 3 zeigt: 11 Ilson (1983, S. 81) berichtet, daß populäre etymologische Abhandlungen zu den bestverkauften Büchern über Sprache gehören. 12 Im gleichen Jahr kommt Henning Bergenholtz in einem Aufsatz ‘Volksetymologie oder synchrone Etymologie’ (in: Muttersprache, 85, 1975, S. 89-94) zu derselben Bewertung. Den Terminus „synchrone Etymologie“ gebraucht auch Gerd Schank in: ‘Die Linguistik und die sogenannten Volksetymologien ...’ (in: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 10, 1976, S. 103-117), jedoch nur als neuen Ausdruck für Volksetymologie. Rohde (1986) bringt einen wichtigen pragmatischen Ausdruck als Ergänzung. Wort - Wortfamilie - Wortfamilienwörterbuch 97 Tabelle 3: Diachrone und synchrone Etymologie Zeitstufe Beispiele früher heute Polyseme Wortbildung 1 zusammengehörig ebenso / / aupii ; 2 Kircheib süßi : i erfahrern-j Pitcher ( Feiertag { Augenblick ( entbinden ( fischen Feier + Tag Auge +Blick binden 2 zusammengehörig ja, aber anders: Ummotivierung Scheibei : 2 Kragen\-2 fnmmi-2 Bein\-2 Bethaus findig drängen dankbar 3 zusammengehörig nicht mehr Demotivierung Dissoziierung UlScA/ ojS (? ) I.IIßojen l,lldämpfen das -daß heute Adler Bote Krähe * * * tL Tag edel bieten krähen 4 nicht zusammengehörig zusammengehörig Attraktion Volksetymologie Kettej-2 Krug\-2 Laib -Leib Greife { Lachmöwe ( Hängematte dichten greifen lachen dicht 6 nicht zusammengehörig ebenso I,II5(ar (? ) I.IiAojlen IMEnkel malen -mahlen Silbe Not Rasse List * Silber Note Rassel Liste Es gibt Wörter und Bedeutungen, die früher wie heute zusammengehören oder nicht zusammengehören. Auch noch akzeptiert in der diachronen Theorie ist der Sachverhalt, daß Wörter und Bedeutungen früher zusammengehörten, heute aber getrennt sind, so wie ein überschwerer Ast eines Wortstammes sich zur Erde neigt und dort durch Klonung einen neuen Wortstamm bildet. Statt Dissoziation und Demotivierung kann aber auch das Umgekehrte eintreten, die Attraktion der Bedeutungen zweier Wörter zu einem Wort mit zwei Bedeutungen, Beispiel Kette, Krug, Laib/ Leib, oder die sogenannte Volksetymologie zu komplexen Wörtern, z.B. Greif greifen, Eiland, Hängematte. Viel zu wenig in den Blick der diachronen Etymologie rückt aber vor allem die Ummotivierung. Bei ihr bleibt der Sprachteilhaber des späteren Zeitzustandes in derselben Wortfamilie, aber er interpretiert die Bedeutungszusammenhänge um, z.B. Butzenscheibe - Fensterscheibe, oder er gibt ein neues Ausgangswort für die Ableitung an; so wird heute drängen zu Drang gestellt, etymologisch gehört es näher zu dringen. 13 Nimmt man dazu noch solche Phänomene wie die Aphärese 13 Besonders deutlich wird der Unterschied bei der (diachronen) Rückbildung, z.B. Sanftmut < sanftmütig; synchron ist der Vorgang natürlich umgekehrt Sanftmut > sanftmütig. 98 Gerhard Augst (z.B. Otter < Natter) oder die Prothese (z.B. Adler < edel aar), so wird Ihnen deutlich, wie eigenständig um ein Wort von Goethe abzuwandeln jede neue Generation den Wortschatz erwirbt, um ihn zu besitzen. 14 Die Frage, wie ein Sprachteilhaber heute naiv Wörter oder Bedeutungen strukturell-semantisch zusammenbringt, ist kategorial verschieden von der theoretisch-diachronen Frage der historischen Etymologie, selbst wenn im Einzelfall die Antwort gleich ist. Diese Teilgleichheit ist zur Kontinuität der Verständigung notwendig. Synchronic ist nicht das auf den Punkt geronnene Differential der diachronen Linie, sondern eine Gegenwart, die Vergangenheit und Zukunft mehr oder weniger weit mitumschließt. Kehren wir mit diesem Wissen zurück zu der Frage, wie der Wortschatz lexikologisch organisiert sein könnte. Es ist schon ein Topos zu sagen, daß er nicht alphabetisch aufgebaut ist. Verworfen haben wir auch schon die Möglichkeit eines Morpheminventars mit Wortbildungsregeln. Es gibt m.E. lexikologisch drei Hauptordnungsmöglichkeiten für den Wortschatz: 1. nach Begriffsfeldern, als Wörterbuch realisiert in „Sinnverwandten Wörterbüchern“. Zu dem Merkmal ‘scharf’ führt Wehrle/ Eggers u.a. Schwert, Messer, Skalpell, Schere, Hobel, Pflugschar an. Die dahinterliegende lexikologische Theorie ist vor allem in Deutschland als Wortfeldtheorie entwickelt worden. 2. nach Wortfamilien, d.h., Wörter mit demselben Stamm werden zusammengestellt, z.B. Dichter, Dichtung, Gedicht zu dichten, als Wörterbuch realisiert in Wortfamilienwörterbüchern. Die dahinterliegende lexikologische Theorie konkretisiert sich in der synchronen Etymologie, der Wortbildungstheorie und neuerdings auch in der Wortstrukturtheorie. 3. nach Handlungsfeldern, z.B. Messer, Gabel, Löffel, Ober, flambieren, Trinkgeld usw. zum Handlungsfeld ‘Essen im Restaurant’; in Wörterbüchern bisher nicht umfassend realisiert; aber ein wichtiges Ordnungsprinzip für das Erlernen des Wortschatzes im Fremdsprachenunterricht. Die dahinterliegende Theorie wurde erst im letzten Jahrzehnt als Frame-Theorie entwickelt (Minsky 1977, für das Deutsche I. Wegner 1985). Welche dieser Ordnungen nun primär ist oder gar am ehesten in Frage kommt für eine mentale Repräsentation, ist beim heutigen Stand des Wissens kaum entscheidbar. Es sprechen einige empirische Befunde dafür, die einzelnen Ordnungstypen aufeinander zu beziehen. 14 Das darin anklingende Goethe-Zitat wählt Polle (1889) als Motto für sein Buch. Wort - Wortfamilie - Wortfamilienwörterbuch 99 Selbst wenn mir nun die Wortfamilien sehr am Herzen liegen, so muß ich doch ganz klar betonen, daß im Bezug auf eine mentale Repräsentation des Wortschatzes die Ordnungsstruktur nach Handlungsfeldern primär ist. Dafür sprechen viele empirische Befunde. Ich kann das hier nicht ausführen. Aber gesetzt: es ist so, dann müssen alle anderen Ordnungsstrukturen sich auf diese beziehen, so daß sich die gesamte Strukturierung des Wortschatzes modellhaft als ein mehrdimensionaler Raum beschreiben läßt. Wie sieht dies für die Ordnungsstruktur nach Wortfamilien aus? Legen wir die lexikologisch elementare Ordnung des Wortschatzes nach Handlungsfeldern zugrunde und ordnen jedem beteiligten Wort nach unserer obigen Erkenntnis eine Wortstruktur zu, so ergeben sich ganz von selbst handlungsbestimmte Wortfamilien. So gehört z.B. zu steigen wie die Tabelle 4 zeigt einsteigen, umsteigen mit dem Umsteigebahnhof, aussteigen, der Bahnsteig mit der Bahnsteigkante. Tabelle 4: Handlungsfeld „Eisenbahn fahren“ reisen — I Reise Reisender Eisenbahnreise Reieseroule Rundreise fahren — I Fahrgast Fahrkarte F.-ausgabe F.-automat Zugführer steigen — I einsteigen umsteigen U.bahnhof Bahnsteig B.-kante ziehen i Zug Zugpersonal D-Zug Bummelzug Zugbegleiter Ich gehe davon aus, daß die Wörter mit gleichem Stamm innerhalb der Struktur nach Handlungsfeldern in einer sekundären Struktur nach Teilwortfamilien miteinander verknüpft sind. Dabei motiviert das Wortstrukturwissen eine solche Verknüpfung. Hat ein Wort mehrere Bedeutungen, d.h., gehört es mehreren Handlungsfeldern an, so bilden die inhaltlich dazugehörigen Ableitungen und Zusammensetzungen Teil Wortfamilien. Diese Teilwortfamilien sind Untereinheiten, die z.B. über das Strukturwissen der Metaphorik oder Metonymie miteinander verbunden sind. Dies kann z.B. ein lexikologischer Auszug aus der Wortfamilie Stimme/ stimmen vergleichen Sie Tabelle 5 zeigen, das zumindest drei verschiedenen Handlungsfeldern angehört: 1. Wahlvorgang, 2. menschliche Stimme/ Klang des Instruments und 3. Überzeugung/ seelische Lage. Zumindest in der Gruppe der beiden zuletzt genannten gibt es eine Reihe von metaphorischen Parallel-Beziehungen, die durch waagerechte Pfeile dargestellt sind. Gerade solche metaphori- 100 Gerhard Augst sehen Parallel-Beziehungen bringen empirische Evidenz für das Konzept der handlungsfeldbezogenen Teilwortfamilien. Ich setze daher nicht eine Zweiteilung: Wort - Wortfamilie an, sondern eine Dreiteilung: Wort - Teilwortfamilie - Gesamtwortfamilie. Wir sind damit an dem Punkt angelangt, wo sich eine Funktion der Wortfamilie lexikologisch nachweisen läßt. Es kommt nun im 2. Teil darauf an. zu bestimmen, wie sich dies lexikographisch niederschlägt. Tabelle 5: Die Wortfamilie Stimme/ stimmen in verschiedenen Handlungsfeldern Handlungsfeld Handlungsfeld Handlungsfeld WAHL KLANG ÜBERZEUGUNG INSTRUMENT SEELISCHE LAGE Stimme stimmen (für) \1/ abstimmen Abstimmung überstimmen Stimme stimmen \1/ Stimmung —abstimmen Abstimmung —• Stimmmhaflfigkeit) Stimmlos(igkeit) verstimmen Stimme stimmen \K Stimmung abstimmen Abstimmung verstimmen 2. Ein synchrones Wortfamilienwörterbuch Die ersten größeren deutschen Wörterbücher im 17. und 18. Jahrhundert sind ansatzweise Wortfamilienwörterbücher. Die dahinterliegende Sprachauffassung drückt sich sehr schön in dem Titel des Wörterbuchs von Caspar Stieler (1691) aus: „Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs ...“. Wider Erwarten verpflichtet sich das Zeitalter der historischen Sprachforschung allein dem wortisolierenden alphabetischen Wörterbuch. Gegen das Verdikt von Jacob Grimm in der Vorrede zu seinem Deutschen Wörterbuch (XI) Wer diese alphabetfolge ... heute nicht handhabt, sondern aufhebt und stört, hat sich an der philologie versündigt. Wort - Wortfamilie - Wortfamilienwörterbuch 101 begehrt nur Daniel Sanders (1860) auf als Verfasser eines dreibändigen Stammwörterbuchs (vgl. Holly 1986, S. 201). Wortfamilienwörterbücher und auch onomasiologische Wörterbücher führen seit dieser Zeit ein Schattendasein. Der Vorteil des schnellen Benutzerzugriffs durch das Alphabet zahlt aber den hohen Preis, fast jeden lexikologischen Zusammenhang zu zerstören, und so dreht sich die lexikographische Diskussion oft darum, wie man dennoch beim einzelnen Stichwort solche Information raumsparend wiederherstellen kann. Es verwundert daher auch nicht, daß Wortfamilienwörterbücher meist nicht über den Status der Lernerwörterbücher hinausgekommen sind, so z.B. Hastings (1911), Stucke (1912), Bergmann (1923), Keller (1973 und 1978), Ortmann (1983), Erk (1985), Kandier/ Winter (1992-1995). Auch die strukturalistische Linguistik hat nur sehr zögernd Aktivitäten in dieser Richtung in Gang gebracht, selbst wenn Antal (1963, S. 76) „a new type of dictionary“ gefordert hat auf der Basis von Morphemen „as the only true dictionary“ (S. 81). Begrenzt ist die Forschung auf drei Sprachen: Deutsch, Französisch und Russisch (vgl. Augst 1990). Ich beschränke mich hier auf das Deutsche. Hundsnurscher (1985) und Splett (1985) arbeiten an einer Geschichte der Wortfamilien vom Althochdeutschen bis zur Gegenwart. Sie soll die Enge isolierter Einzelwortgeschichten überwinden. Dazu werden sie zunächst vier Wortfamilienwörterbücher zum Althochdeutschen, Mittelhochdeutschen, Neuhochdeutschen des 18. Jahrhunderts und dem gegenwärtigen Deutsch erstellen. Die vier Wörterbücher sollen alle demselben Aufbau folgen, so daß die Veränderungen leicht registrierbar sind. Neben der teils ikonischen Abbildung wird jedem komplexen Wort eine Strukturformel zugeordnet, die, ähnlich wie in der strukturalistischen Syntax, durch Klammerung die Struktur und grammatische Einstufung deutlich machen soll, z.B. zu brehhan (Splett 1985): brehhan sw.V. (wV)Von/ ‘bedrängen, anap((wV)Von)/ heimsuchen’ ‘heftig losbrechen (gegen)’ p(p((wV)Von))/ ‘zornig losbrechen (gegen)’ muot- (((wS)+(wV))Von / (wS)(wV)Von) ‘(sich) in Gram verzehren’ zugil- * (((wV)sS)+(wV))Von / ((wV)sS)((wV)Von) ‘die Zügel zerreißen’ 102 Gerhard Augst Dieser Plan ruft wie das Deutsche Wörterbuch von J. Grimm nach einem Jahrhundertwerk, und es ist daher gut, wenn bescheidenere Unternehmungen daneben in Angriff genommen werden. 1975 habe ich ein „Morpheminventar - Lexikon zur Wortbildung“ vorgelegt, das den Aufbau der Wortfamilien gemäß der synchronen etymologischen Kompetenz gestaltet. Zusammen oder getrennt aufgeführt ist nicht nach der Etymologie, sondern nach dem naiven Empfinden der heutigen Sprachteilhaber. 15 Dieser ich darf wohl sagen weitgehend akzeptierte Ansatz ist in den letzten Jahren ein gutes Stück weitergebracht worden durch die Forschungen von Gerda Schott (1984), die m.E. als erste auf die Idee kam, solchen Wortfamilienwörterbüchern nicht einfach Affixtabellen hinzuzufügen, wie es Augst (1975) oder Keller (1973, 1978) tun, sondern die Affixe semantisch sowie nach ihrem Bildungstyp zu indizieren, wie es Erben und Wellmann in der dreibändigen Arbeit zur deutschen Wortbildung machen (vgl. z.B. Kühnhold/ Wellmann 1973ff.). So erhält z.B. das Suffix -er als Nomen agentis den Index 1, als Nomen instrument! den Index 2. Diese Indexzahl soll dann im Wortfamilienwörterbuch angefügt werden und somit bei der betreffenden Ableitung die Zugehörigkeit zu einem semantischen Bildungsmuster verdeutlichen, z.B. Klavierstimmer ein Klavier stimmen + (Nomen agentis). Dieser Ansatz scheint mir äußerst fruchtbar, wenn man ihn vor allem auf die heute in der Wortbildung produktiven Affixe anwendet, damit würde sich nämlich auch das Problem mildern, wie man die verschiedenen Vorkommensweisen eines Affixes durch eine alles abdeckende Gliederung erfassen soll. Durch diese Indizierung wird es in Fortführung des Schottschen Ansatzes auch möglich, eine Unzulänglichkeit alphabetisch-einzelwortbezogener Wörterbücher aufzuheben, wie dies schon Liebich (1899) in seinem Wortfamilienwörterbuch versucht hat. Am Beispiel verdeutlicht: Die alphabetischen Wörterbücher geben an, daß verschreiben mehrere Bedeutungen hat, z.B. ‘falsch schreiben’ oder ‘ärztlich verordnen’. In Wirklichkeit handelt es sich hier um zwei Wörter, die mit zwei verschiedenen Präfixen ver-i und ver-2 zu dem Simplex schreiben gebildet worden sind. Macht man dieses Prinzip von G. Schott zur Grundlage eines Wortfamilienwörterbuchs, wie ich es gerne tun möchte, so stößt man sehr bald auf eine zweite wesentliche, altbekannte Einsicht: Wortzusammensetzungen oder Wortableitungen beziehen sich nicht auf das Grundwort als Ganzes, sondern immer nur auf das Grundwort in einer bestimmten Bedeutung. So ist z.B. verhütten keine Ableitung von Hütte schlechthin, sondern nur von Hütte in der Bedeutung ‘erzverarbeitender Industriebetrieb’. Große alphabetische Wörterbücher suchen den Nachteil der Atomi- 15 Dabei wird das komplexere Wort auf das nächstliegende vorgängige Wort bezogen (vgl. Serebrennikow 1975, S. 297). Es wird so auch möglich, den doppelten Ableitungsweg zu beschreiben, z.B. friedlich > unfriedlich > Unfriedlichkeit oder friedlich > Friedlichkeit > Unfriedlichkeit. Wort - Wortfamilie - Wortfamilienwörterbuch 103 sierung in diesem Punkt dadurch auszugleichen, daß sie bei dem komplexen Wort durch Indexzahlen auf die jeweilige Bedeutung des fraglichen, meist an anderer Stelle notierten Grundwortes verweisen. Beachtet man bei der Erstellung eines Wortfamilienwörterbuchs diesen Sachverhalt, dergestalt daß man untergliedernd alle Ableitungen und Komposita zu einer bestimmten Bedeutung des Grundwortes zusammenstellt, so erreicht man von dieser Seite her, was sich im lexikologischen Teil meiner Ausführungen als ein sekundäres Gliederungsprinzip nach Teilwortfamilien erwiesen hat, z.B. stimmen 1. im Bezug auf Wahlen, 2. im Bezug auf den Klang der menschlichen Stimme und der Instrumente, 3. im Bezug auf die metaphorische Bedeutung von Überzeugung und seelischer Befindlichkeit. Schließlich und letztlich hat die Wortstrukturtheorieforschung (z.B. Toman 1986) eine Fülle von Ergebnissen gezeitigt, die in einem Wortfamilienwörterbuch ihren Niederschlag finden sollten; ich denke hier vor allem an die Theorie der Argumentvererbung. Es geht darum in aller Kürze -, daß die semantisch-syntaktischen Verknüpfungsrelationen eines Grundwortes in bestimmter Weise an das Kompositum oder die Ableitung vererbt werden. So zieht z.B. hoffen die Präposition au/ nach sich, die auch bei der Ableitung wiederkehrt: die Hoffnung auf etw., aber: etw. von jdm. erwarten = meine Erwartung an jdn. Zusammenfassend komme ich daher zu folgenden Forderungen an ein neues synchrones Wortfamilienwörterbuch des Deutschen, das eine lexikologische Struktur widerspiegeln soll: 1. Ein Wortfamilienwörterbuch muß zu jedem komplexen Wort die Motivbedeutung explizit angeben. Nur so wird deutlich, was zu einem bestimmten Zeitpunkt kollektiv in einer Sprachgemeinschaft (oder größerer Teile von ihr) als ein mehr oder weniger laienhaftes Zusatzwissen vorhanden ist. Der Grad der Durchsichtigkeit sollte markiert werden. 2. Ein Wortfamilienwörterbuch muß die Wortstruktur komplexer Wörter deutlich machen und dazu die verschiedenen semantischmorphologischen Funktionen der Affixe berücksichtigen. Dabei können durch die Indizierung produktive von lediglich nur noch durchsichtigen Wortstrukturen abgegrenzt werden. 3. Ein Wortfamilienwörterbuch muß die „Bedeutungsklumpen“ (Weisgerber 1971, S. 201) der atomisierten alphabetischen Wörterbücher zerschlagen. Dies geschieht dadurch, daß zu allen Grundwörtern die Bedeutungen aufgezählt werden. Zu den einzelnen Bedeutungen werden dann die jeweiligen Ableitungen und Zusammensetzungen gestellt, wie sie sich aufgrund der synchronen Durchsichtigkeit ergeben. Dadurch bilden sich Teilwortfamilien aus. 4. Ein Wortfamilienwörterbuch muß deutlich machen, wie sich die 104 Gerhard Augst semantisch-syntaktische Umgebungsstruktur eines Grundwortes auf die Ableitung oder Zusammensetzung vererbt. Diese vier Neuerungen werden es notwendig machen, von der so schönen und einprägsamen Stammachse abzugehen, in der die Links- und Rechtserweiterung augenfällig abgebildet wird (z.B. bei Keller 1973, 1978; Augst 1975; Erk 1985). Wenn ein Wortfamilienwörterbuch mehr sein soll als eine dürre Wortliste, dann müssen zusätzlich viele Informationen, die das alphabetisch-semasiologische Wörterbuch enthält, in das Wortfamilienwörterbuch übertragen werden. Nur so kann die lexikologische Wortfamiliengliederung als lexikographisches Ordnungsprinzip ihre volle Wirkung entfalten. So weit, so gut; in der Lexikographie kommt es jedoch erst dann zum Schwur, wenn Probeartikel vorliegen, die demonstrieren, wie die guten Absichten in die Tat umgesetzt werden sollen, denn bekanntlich steckt der Teufel im Detail. Als Beispiel finden Sie daher im Anhang (1) die Wortfamilie des Lexems DICHT, zunächst in einigen älteren Wörterbüchern: Stucke 1912 Keller 1978 Augst 1975a Pinloche 1922 unter dem Einfluß der Diachronie als Lernerwörterbuch unter dem Einfluß der Synchronic als Vollwörterbuch Ich habe bewußt das Wörterbuch von Pinloche zuletzt genannt, weil es m.E. eine zu Unrecht vergessene lexikographische Glanzleistung ist. Es wäre eine gute Tat, den Pinloche neu aufzulegen. Für den Probeartikel DICHT (im Anhang (2)) habe ich das zweibändige Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache benutzt, das die Akademie der Wissenschaften der DDR 1984 herausgebracht hat. In einem hervorragenden Druckbild verzeichnet es ca. 60.000 Wörter, die zum Kernbestand des gemeinsprachlichen Wortschatzes gehören. Gerade im Bezug auf die hier thematisierte Durchsichtigkeit zeigt sich, daß umfangreichere Wörterbücher meist auf den seriellen Charakter von Zusammensetzungen zurückgreifen, z.B.: Dichtung Dichter Gedicht Gelegenheitsx x x Heimatx x x Liebesx x x usw. Der Übergang zur syntaktisch-kompositionellen Bedeutungserschließung ist oft gegeben, z.B. Barockgedicht, Heldengedicht, Spruchgedicht, Jamben- Wort - Wortfamilie - Wortfamilienwörterbuch 105 gedieht usw. Ebenso lassen sich zum konventionellen wasser- und schalldicht viele reihenbildende Parallelen formen, z.B. gas-, hagel-, regen- oder staubdicht. Ausgangswort zur ganzen Wortfamilie ist das Adjektiv dicht in drei Bedeutungen, die mit den Ziffern 1, 2, 3 als Gliederung der Teilwortfamilien dienen. 1975 habe ich mich noch nicht getraut, dichten, Dichter, Gedicht usw. synchron zum Adjektiv dicht zu stellen, obwohl die Befragungen dies hergaben. Aber angesichts einer so prominenten synchronen etymologischen Analyse wie der von Christa Wolf sehe ich keine Veranlassung mehr, diachrone Homonymie anzusetzen, wie es alle erwähnten Wörterbücher (noch) tun. Poetisch dichten ist heute eine metaphorische Wortbildung zu dicht 1 im Sinne von ‘Sprache dicht machen’. Durch diese Ableitung poetisch dichten hat sich nun eine umfangreiche Teilwortfamilie an dicht 1 angeschlossen, die ich zur Verdeutlichung an den Schluß der Wortfamilie gestellt habe. Zu dem Wort dicht in seinen drei Bedeutungen sind die semantisch einschlägigen Ableitungen und Zusammensetzungen gestellt. Dabei sind Ableitungen 1. Grades zur besseren Strukturierung durch Absatz getrennt. Zu den Ableitungen wird in spitzen Klammern die Durchsichtigkeit erklärt. Oft stützt sich das Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache bei der Bedeutungsangabe auch auf die Durchsichtigkeit, z.B. bei Dichte, verdichten. Bei Zusammensetzungen habe ich nur dann eine Angabe zur Bedeutung und Durchsichtigkeit gemacht, wenn sie nicht ohne weiteres offensichtlich sind, daher nur bei Sinngedicht und Tondichter. Ob dies ausreicht, müßte diskutiert werden. Bei den Affixen und Partikeln sind die Indexzahlen bisher nur Platzhalter, da ich die Affixtabellen noch erstellen muß. In einem Fall habe ich ein Wort gestützt auf GdW hinzugefügt; das Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache bringt zwar Nachdichtung, aber nicht nachdichten, dies ist aber die belegte Zwischenstufe zu dichten. Aus dem Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache sind zu jedem Wort die notwendigen morphologischen Angaben, die Bedeutungserklärung und Verwendungsweisen hinzugefügt. Damit wird der Schritt von der Wortliste zum Wörterbuch getan. Ich möchte meine kurze Erläuterung zu dem Probeartikel hier beenden. Ich hoffe, daß Ihnen aus meinen lexikologischen, lexikographischen Darlegungen und aus dem Probeartikel deutlich geworden ist, daß das Wortfamilienwörterbuch als Spezialwörterbuch zum alphabetischen, wenn es mehr ist als eine bloße Wortliste, eine der Strukturen des inneren Lexikons deutlich machen kann. Auf dieser Grundlage kann dann auch ein neues nützliches Lernerwörterbuch entwickelt werden. Die Fähigkeit, Durchsichtigkeit zu handhaben, gehört nicht nur zum theoretischen Sprach- und 106 Gerhard Augst Textbewußtsein der Linguisten, sondern auch zum naiven Begleitbewußtsein jedes Sprachbenutzers und zu seiner Sprachaktivität. Wortbildung setzt Wortstrukturwissen voraus. Ein synchrones Wortfamilienwörterbuch expliziert dieses Wissen für eine bestimmte Zeit im Sinne von Christa Wolf: Dichten, dicht machen, die Sprache hilft. Wie aber die Sprache hilft, das beantwortet Peter Handke in seinem Theaterstück ‘Kaspar’ (1. Aufl. Frankfurt a.M. 1968, S. 57): 16 Du hast <Modellwörter>, mit denen du dich durchschlagen kannst. PS: Zwei notwendige Nachbemerkungen 1996: 1. Die DFG hat die Ausarbeitung eines ‘Wortfamilienwörterbuchs der deutschen Gegenwartssprache’ finanziert, das nach Anpassung an die neue Rechtschreibung - 1997 im Verlag Niemeyer (Tübingen) erscheinen wird. 2. Der Nachdruck des vorzüglichen Wörterbuchs von Pinloche (1922) ist an den immensen finanziellen Forderungen des französischen Verlages gescheitert. 16 Im Original steht natürlich „Modellsätze“. Wort - Wortfamilie - Wortfamilienwörterbuch 107 3. Anhänge 3.1 Lexikonartikel 3.1.1 Anhang 1, 1: Augst 1975a, S. 235 1. DICHT dichte dicht 2. 1. 2. 3. Adj. Zus. ün- Abi. (-0) -0 -heit -igkeit (Sf. -en), PI. selten V. 'verschließen' Zus. (-0) ver- Abi. -0 ver... -er -ungr Zus. V. 'ersinnen, verfassen' er... Abi. -0 ge... -0 Sn. -e Zus. -0 -er Zus. -in -isch -ling er- -ung beachte: ändicht V. 'etw. Falsches v. jem. behaupten' etym. 1^2, heute 2 aus 1 im Sinne von 'verdichten'? 108 Gerhard Augsl 3.1.2 Anhang 1, 2: Keller 1978, S. 29 dicht en Dicht er Dicht erin dicht er isch Dicht er ling Dicht ung an dicht en er dicht en Er dicht ung Ge dicht nn Nach dicht ung compose, write poet; author, writer poetess; authoress, writer poetic would-be poet, poetaster poetry; fiction; poem, poetical work; work of fiction ascribe s.t. to s.o.; address verses to s.o. invent, fabricate, trump up fiction; figment, invention, fabrication poem, piece of poetry adaptation, free version dicht a Dicht e dicht en un dicht a ver dicht en Ver dicht er Ver dicht ung tight, impervious; leakproof; compact, closely packed density make tight not tight; leaky, not waterproof, porous condense; solidify; compress, concentrate steam condenser condensation; compression; concentration Wort - Wortfamilie - Wortfamilienwörterbuch 109 3.1.3 Anhang 1, 3: Pinloche 1922, S. 85 (engl, tight), a. (comp, bicfitcr) 20,8 : fest zusammenhaftend oder zusammengedrängt: Nebel, Wald, Laub; gut schließend, nicht durchlassend: Röhre usw.; ade.: sehr nahe: dicht am Rande, bei mir, hinter jemand; || a. birfjtbcijanrt; -betäubt; -betuadjlen; -gebrängt; -gewebt; || bie Uictjtc, ai(t)tt)cit, Sidjtigfcit, Dichtsein : des Wassers, der Bevölkerung usw.; b.r $irf|tigleitömeffer; a . iinbiitjt, nicht dicht, durchlassend: Stelle an einer Röhre usw.; || Ir. bitten 1 , dicht, wasserdicht machen: Schiß, Zeug usw.; || Ir. berbidjten 1 , dicht machen, kondensieren: Körper, Gas usw.; infr.ljein): dicht werden; berStcrbidjter, auch: 'ISS,! , Apparat zum Verdichten, Kondensator; bie ®etbiiljtung, Kondensation. bluten 2 (lat. dictate, diktieren), tr. u. intr.: • abfassen, poetisches Werk schaßen, inverse »fassen; || bie Xictittuuft, poetische Kunst, ; Poesie; || ber airier, -ä, -, der dichtet,Poet, ; Autor: / em.bieÜiihterin, ...innen; ber Xidjter- • beruf; -flug; -guelt, Inspiration; bie Siihter- ; über; -nutuge; -nrt; -gobe; -glut; -iprurhe; ■ baö Siif)tcrfcuer; -rofi, Pegasus; -Werf; || ber jSithterling, [c]ä, e, schlechter Dichter; ; || bie iSidjtuug, -en, Dichterwerk, Poesie; • bie Sidjtungöurt; -lehre; || a. bilhterifih, i poetisch. an-biihten, tr.: dichtend, ersinnend beilegen: S einem eine Absicht usw. erbilbten, tr.: dichtend ersinnen: Fabel usw.; ! bie (Srbitbtung. ®ebid)t, buä, -eä, -e (dim. beä ®ebi(htihen, -ö, •-): dichterisches Werk: bad ßelegenheits-, ! Hochzeitsgedicht; bie (iW'bitbtinmmlung. hinju-biihten, tr. u. intr.: dichtend hinzufügen S oder unterschieben, narij-bidjten, tr.: dichtend nachmachen, um-bidjten,tr.: dichtend umändern: Gedicht usw. berbithten 2 , tr.: dichtend verbringen: Zeit usw. Siditlmtft, s. bid)trn. 110 Gerhard Augst 3.1.4 Anhang 1, 4: Stucke o.J. (1912), S. 31+32 100. 1. tnljb. diht, dihte (engl, tight), gehört jum mfjb. Sehroort dihen „ge* beihen". Sie germ. SSurjel ift thinh. Saäu: ®id)te, 2)id)theit, ®id)ttgteit, oerbid)ten. 2. bid, mt)b. dicke, af)b. dicki, dicchi „bitf, biiht" (engl, thick), ift mit „bid)t" öer* ttmnbt. Sie ißebeutung „bicht" lommt nocf) beutlid) äum ülu^bruc! in „Oicücht". (Baju: iEicJe, Berbiden. 3. gcbethcn, mhb. gedlhen, ahb. gedihan „mad)fen, (id) gut entroideln, guten gort* gang nehmen,“ gehört mit „bid“ unb „bidjt" ju einer Sippe. Sejüglid) ber S3ebeutung§Berroanbtid)aft ift roof)! tie SSorftellung oon „feft, bicpt jufammen* fchiiefjen, Iräftig roerben" gtunblegenb. ®aäu: ©ebeipen, gebeihlid). 4. gebiegen, mhb. gedigen „auägeroado'en, feft, hart ( rein", ahb. gedigan „rein, teujd), ernft“ ift eigentlich ba§ ißerfeft* Partizipium zu „gebeihen". ®azu: ©e* biegenijeit. 101. 1. 0 i (h t C tt, mhb: tihten, ahb. tihtön „Bet* faffen, bichten, erfinnen", ift Bon lat. dictare „ahfaffen" entlehnt, bas mit lat. dicere „fagen" Berroanbt ift. ®azu: er*, anbidjten, ®id)tung, dichter, ©elegen* heitSbid)ter,ßieberbid)ter ufro., bid)terifd). ®gl. aud) bie grembtnörter: biltieren, ®i! tat, ®i! tator, biltatorijch, gnterbilt, gnbej u. bgl. 2. prebtgen, mhb. predigen, Predigen, ahb. predigen, bredigön, ift ein £ef)ntOOrt auS firdjlid) = lat. praedicare „öffentlich he* tannt machen, Bertünbigen" (nämlid) baS ©Bangelium); praedicare ift ein Sfompo* fitum, bas bemfelben Stamme roie dictare unb dicere (f. bidjten) angehört. SSgl. aud) bas Bertoanbte ftanzöf. precher unb bie engl. gortfe|ung preach „pre* bigen". ®azu: fßrebigt, gaften*, geft*, ©arbinenprebigt ufro., ißrebiget, ffof* ptebiger, geftprebiger, gelbprebiger ufm. 3. henebetett, mhb. benedien, benedigen (ftanzöf. benir), „fitd)lid)en Segen fpen* ben, fegnen" ftammt Bon lat. benedicere auS bene „gut“ unb dicere „fagen"; Bgl. „bichten" unb „prebigen“. ®azu: Die ©ebenebeite, fjoihgebenebeite. 93gl. aud) ben fßetjonennamen „SSenebift". 4. uermalebeien, malebeien, mhb. vermaledien, maledien (ftanzöf. maudire) „Ber* fluchen“, beruht auf lat. maledicere auS male „übel" unb dicere „fagen". 3.2 Anhang 2 [Probeartikel: ] DICHT 1. dicht / Adj./ mit keinen (größeren) Zwischenräumen zwischen denen das Ganze bildenden Elementen: d. Haar, Gestrüpp, Verkehr, Netz, Folge; d. bebaut, bewaldet; undurchdringlich: d. Wolkendecke, Nebel, Vorhänge; dichtbesiedelt, dichtbevölkert, dichtgedrängt Dichte, die 1. / o.Pl./ <das Dichtsein>: D. des Haares, 2. Phys. Verhältnis der Masse eines Körpers zu seinem Volumen: die mittlere D. des Wassers; Bevölkerungsdichte dichten vgl. unten verdichten, verdichtete, hat verdichtet <ver-2 + dicht> 1. Techn. Gas, Flüssigkeit, Dampf v. (durch Druck in der Ausdehnung Sverringem und dadurch die Dichte erhöhen; sich v. <ver-3>: der Nebel hat sich v.; es verdichten sich die Gerüchte, daß; Verdichter, der, -s, <-er 2 > Techn. Kompressor, 2. die Busfolge wurde verdichtet (es wurden mehr Busse eingesetzt, so daß die Busse in kürzeren, dichteren Abständen verkehren); 2. dicht / Adj./ nicht durchlässig: <ohne Zwischenraum> d.Schuhwerk, Boot, Dach, Faß; dichthalten / Vb./ umg.: etw., was verschwiegen werden soll, verschweigen: sag Wort - Wortfamilie - Wortfamilienwörterbuch 111 es ihm nicht, er kann nicht d.; dichtmachen / Vb./ umg.: den Laden d. (das Geschäft schließen; den Betrieb von etw. einstellen); lufldichi, schalldicht, wasserdicht; dichten, dichtete, hat gedichtet etwas dicht, undurchlässig machen: das Fenster d.; Dichtung die; -en <dichten + ung> Gegenstand, der zwischen zwei Teile eines Gerätes zum (Ab)Dichten gelegt wird: eine neue D. ein-, auflegen; Dichtungsmasse, Dichtungsring, Dichtungsscheibe, Gummidichtung undicht / Adj./ <un-i> durchlässig, nicht dicht: eine u. Leitung, das Dach ist u. abdichten / Vb./ <ab-i +dicht/ dichten> etw. dicht, undurchlässig machen: ein Fenster (gegen Zugluft) a.; etw. mit Filz a. 3. dicht / vorw. adv./ sehr, ganz nahe <mit wenig Zwischenraum>: d.am Rand, Fenster; d. vor, hinter jmdm., d. beieinander; / nur adv./ sehr nahe: das Fest steht dicht bevor dichten, dichtete, hat gedichtet <Sprache dicht (1) machen; metaph. = etym. lat. dictare> ein sprachliches Kunstwerk (in gebundener Rede) schaffen: N. hat vor allem Dramen gedichtet; Dichtkunst Dichter, der; -s, - <+eri> Schöpfer einer Dichtung, von Dichtungen, sprachlichen Kunstwerken: ein zeitgenössischer, revolutionärer D., Dichterkreis: Dichterlesung, Dichterschule, Gelegenheilsdichter, Tondichter geh. <metaph.> Komponist; Textdichter Dichter des Textes für ein Musikwerk; Dichterin, die -, -nen <+ in> dichterisch / Adj./ 1. / nicht präd./ <den Dichter betreffend, +ischi>: er hat eine d. Begabung (Begabung zu dichten); die d. Gestaltung (Gestaltung in Form einer Dichtung); / nur attr./ die d. Werke (Werke von Dichtern) des 18. Jahrhunderts, d. Freiheit (einem Autor zugestandene Möglichkeit, einen authentischen Stoff in einem belletristischen Werk im Rahmen der Wahrheit nach seiner Phantasie abzuwandeln), Dichterling, der; -s, -e <-lingi> als literarisch minderwertig, mißliebig eingeschätzter Dichter Dichtung, die 1. -en <-|-ung 1 > sprachliches Kunstwerk in gebundener Rede: eine große unverfängliche D.; 2. / o.Pl./ <+ung2> dichterisches Schaffen; Werke von Dichtern als Gesamtheit: die D. des Mittelalters; Dialektdichtung, Liebesdichtung, Tondichtung geh. <metaph.> Komposition. andichten / Vb./ <metaph. an_i, wie eine Dichtung schaffen> jmdm. etw. zu unrecht zuschreiben: jmdm. unlautere Absichten, gute Eigenschaften a. erdichten / Vb./ <metaph. er-i, wie beim Dichten> s. etw. Unwahres ausdenken: seine Schilderung war zum großen Teil erdichtet; das stimmt so nicht, da hat er (sich) etw. erdichtet Gedicht, das; -(e)s, -e <ge-i + dichten> gereimte Dichtung, die durch besonderen Rhythmus in der Regel durch die Gliederung in Verse und Strophen bestimmt ist: ein lyrisches, episches, dramatisches G.; Liebesgedicht, Sinngedicht Gedicht mit oft witzigem, satirischen Sinn, Epigramm *nachdichten / Vb./ <nach-i> eine fremdsprachige Dichtung, frei übersetzen und bearbeiten; Nachdichtung 112 Gerhard Augst 4. Literatur 4.1 Einige Wortfamilienwörterbücher der deutschen Sprache Augst, Gerhard (1975a): Lexikon zur Wortbildung. Morpheminventar. 3 Bde. Tübingen. Bergmann, Karl (1923): Deutsches Wörterbuch ... alphabetisch und nach Wortfamilien geordnet. Leipzig. Erk, Heinrich (1985): Wortfamilien in wissenschaftlichen Texten. Ein Häufigkeitsindex. München. Hastings, Florence Emily (1911): Studies in German Words and Their Uses. Boston/ New York/ Chicago. Kandier, Günther/ Winter, Stefan (1992-1995): Wortanalytisches Wörterbuch. Deutscher Wortschatz nach Sinn-Elementen in 10 Bänden. München. Keller, Howard H. (1973): German Root Lexikon. Coral Gables, Florida. Keller, Howard H. (1978): A German Word Family Dictionary. Together with English Equivalents. Berkeley/ Los Angeles/ London. Liebich, Bruno (1899): Die Wortfamilien der lebenden hochdeutschen Sprache als Grundlage für ein System der Bedeutungslehre ... Breslau. Ortmann, Wolf Dieter (1983): Wortbildung und Morphemstruktur eines deutschen Gebrauchswortschatzes. München. Pinloche, Auguste (1922): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Paris/ Leipzig. Sanders, Daniel (1860-1865): Wörterbuch der deutschen Sprache. Leipzig. Schottel, Justus Georg (1663): Ausführliche arbeit von der teutschen haubtsprache ... Braunschweig. (ND Tübingen 1967). Steinbach, Christoph Ernst (1734): Vollständiges Deutsches Wörterbuch ... 2 Bde. Breslau. (ND Hildesheim 1973). Stieler, Caspar v. 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Gisela Harras Fremdes in der deutschen Wortbildung* 1. Eigentümlichkeiten nicht-nativer Wortbildungen im Deutschen Wenn der Titel meines Beitrags an Adornos Rede von den Wörtern, die aus der Fremde kommen, erinnert, dann ist dies durchaus beabsichtigt. Wörter bzw. Wortbestandteile, die aus anderen Sprachen ins Deutsche übernommen sind, sollen im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen. Wörter, die aus nicht-nativen Elementen zusammengesetzt sind, bzw. diese enthalten, machen einen nicht unbeträchtlichen Bestandteil des Lexikons des Deutschen aus. Eine bloß kursorische Lektüre der ersten und letzten Seiten eines bekannten bundesdeutschen Nachrichtenmagazins aus Hamburg erbringt eine reiche Ernte solcher Wörter, vgl. z.B.: Propagandist, Stilist, Solidarität, radioaktiv, Nuklearkriminalität, Elektrotechnik, Tragigrusical, neostrukturalistisch, postmodern, Pluralismus, Politvokabel, Biograph, Schizoschickeria, psychosomatisch, Ferns eheritis, Pornographie, Pornophilie. Die meisten erwachsenen Sprecher des Deutschen dürften wohl in der Lage sein, diese Wörter in ihre einzelnen Bestandteile zu zerlegen. Diese jedoch zu analysieren, würde bei vielen in vielen Fällen auf Schwierigkeiten stoßen: Fragen kämen auf wie: ‘ist elektro oder nuklear ein Wort oder ein Präfix? ’, ‘ist solidar in Solidarität ein Adjektiv und somat in psychosomatisch ein Substantiv? ’ oder: ‘ist itis in Fernseheritis wirklich nur ein Suffix? ’. Fragen von der zitierten Art stellen sich aber auch dem Sprachwissenschaftler, wenn er eine nähere Bestimmung der segmentierten Wortbestandteile vornehmen will und dabei auf das Instrumentarium zurückgreift, das für einheimische Wortbildungen und deren Beschreibung zur Verfügung steht. Ausgerüstet mit der Differenzierung allein zwischen freien und gebundenen Formen, also zwischen Lexemen bzw. Wurzeln und Stämmen einerseits und Affixen, Präfixen und Suffixen andererseits wird man in vielen Fällen nicht zu einer befriedigenden Bestimmung kommen. Zwar kann man Formen wie -ist, -istisch, -iv, -ität, -ismus eindeutig als Suffixe bestimmen, die die jeweilige Wortart der Gesamtkonstruktion spezifizieren, darüber hinaus müßte man jedoch über ein Merkmal [± nativ-] verfügen, um die Gebundenheit dieser Suffixe (im Unterschied etwa zu -itis) an nicht-native Vorderglieder festzulegen, -itis ist aufgrund seiner Position und Wortartbestimmtheit eindeutig als Suffix zu bestimmen, sein Beitrag zur Gesamtkonstruktion ist allerdings darüber hinaus in erhebli- * Der Vortragsstil wurde im wesentlichen beibehalten. Für hilfreiche Diskussionen bedanke ich mich bei Gisela Zifonun und Wolfgang Mötsch. 116 Gisela Harras chem Maß semantisch zu spezifizieren. Neo- und postsind als Präfixe bestimmbar, problematisch wird es mit radio-, nuklear-, elektro-, tragi-, polit-, bio-, schizo-, psycho-; sind sie als Kompositionsglieder zu spezifizieren und wenn ja, welcher Wortart gehören sie an? Schließlich: welchen Status hat -philin Pornophilie? Wie die Bildungen Philosoph, Frankophilie oder bibliophil zeigen, ist die Form -philnicht an eine bestimmte Position in einer Wortstruktur gebunden, andererseits kann sie im gegenwärtigen Deutsch auch nicht frei in flektierten Formen Vorkommen. Die angesprochenen Probleme machen deutlich, daß Wortbildungen mit nicht-nativen Elementen Eigentümlichkeiten - oder wenn man so will: Fremdartigkeiten aufweisen, denen man mit den Mitteln der Beschreibung heimischer Wortbildungen nicht gerecht werden kann. Die wichtigsten Eigentümlichkeiten, die sich bisher gezeigt haben, lassen sich in den folgenden Tendenzurteilen zusammenfassen: bei nicht-nativen Wortbildungen spielt das Merkmal [± nativ] eine Rolle bei der Markierung der Kombinierbarkeit von Elementen; 1 bei nicht-nativen Wortbildungen ist die Bestimmung der Wortartzugehörigkeit der Konstituenten einer Gesamtkonstruktion problematisch; bei nicht-nativen Wortbildungen gibt es gebundene Wurzeln, die produktiv sind, im Unterschied zu einheimischen, wo solche Formen als unikal und unproduktiv zu beurteilen sind; bei nicht-nativen Wortbildungen gibt es positionsfreie gebundene Formen sowie positionsfeste gebundene Formen. 2. Die beiden Hauptprobleme: die Unterscheidung Komposition - Derivation und die Kategorienbestimmbarkeit Ein wichtiger Schritt zur Berücksichtigung der beiden letztgenannten Gesichtspunkte ist im Zusammenhang mit konzeptionellen Überlegungen zu einem Lexikon der Lehnwortbildung im Deutschen am IDS gemacht und von Schmidt so zusammengefaßt worden: 2 1 Vgl. dazu Plank (1981, S. 132). 2 Schmidt (1987, S. 50). Fremdes in der deutschen Wortbildung 117 Kombineme (WB-Einheiten, die nur in Kombinationen Vorkommen also nicht wortfähig sind) Konfixe (basis und/ oder kompositionsgliedfähige Kombineme) Komponeme Baseme (nur komposi- (nur basisfätionsgliedfähige hige Kombi- Kombineme) neme) Präponeme Postponeme (nur an 1. (nur an 2. Stelle beleg- Stelle belegte Kompote Komponeme) neme) Affixe (weder basisnoch kompositionsgliedfähige Kombineme) Basokomponeme (basis- und kompositionsfähige Kombineme) Präpostponeme (an 1. und an 2. Stelle belegte Komponeme) Präfixe Suffixe (an 1. (an 2. Stelle, Stelle d.h. am Ende stehende stehende Affixe) Affixe) Das begriffliche Instrumentarium zur Beschreibung von nicht-nativen Wortbildungen ist um Differenzierungen innerhalb des Typs der gebundenen Wortbildungseinheit erweitert, wobei unter Einheit jeweils die unmittelbare Konstituente einer Wortkonstruktion zu verstehen ist und kein Grundbestandteil in diesem Sinn ist die Form -ologie also eine Wortbildungseinheit. Die gebundenen Einheiten, insgesamt Kombineme genannt, werden nach dem Merkmal [± basisund/ oder kompositionsfähig] weiter differenziert in Konfixe und Affixe, letztere nach Präfixen und Suffixen unterschieden. Konfixe werden zusätzlich zu ihrer Spezifizierung als kompositionsglied- oder basisfähig nach ihren Positionierungen in Komposita unterschieden. Ich halte den hier skizzierten Vorschlag zur begrifflichen und terminologischen Erweiterung des Instrumentariums für eine wesentliche Verbesserung des Beschreibungsnotstands in der nicht-nativen Wortbildung, auch wenn damit nicht alle Probleme auf einen Schlag gelöst werden können. Bei der einführenden Problemauflistung stellte sich z.B. die Frage nach 118 Gisela Harras der Differenzierung zwischen Präfixen wie neo- oder post- und kompositionsgliedähnlichen gebundenen Formen wie psycho-, tragi-, polit-, schizousw. Dieses Problem macht das Aufscheinen eines generellen Problems vorhersagbar: (1) Eine klare Unterscheidung zwischen Komposition und Derivation im nominalen Bereich wird angesichts der Befunde von nicht-nativen Wortbildungen problematisch. Ein zweites Problem ist auch bereits deutlich geworden: bei nicht-nativen Wortbildungen ist die Wortartzugehörigkeit von Kompositionsgliedern in vielen Fällen unbestimmbar, so daß als generelles Problem vorhersagbar ist: (2) Es wird Schwierigkeiten geben bei der Ableitung der Wortkategorie der Gesamtkonstruktion aus ihren einzelnen Bestandteilen. Ich werde mich im folgenden mit den beiden genannten Problemen näher befassen, zunächst mit der Komposition-Derivation-Unterscheidung und dann mit der Frage nach der Kategorisierung. Insgesamt geht es dabei auch um einen Entwurf der Möglichkeit, mit dem oben skizzierten Instrumentarium bzw. seinen begrifflichen Differenzierungen zu arbeiten, ohne daß ich mich im einzelnen der vorgeschlagenen Terminologie bediene. Daß ein solches Arbeiten nur in einem theoretischen Rahmen sinnvoll ist, dürfte sich von selbst verstehen. Deshalb sind an dieser Stelle einige theoretische Überlegungen angebracht, bevor ich zum Thema Komposition-Derivation komme. 3. Wortbildung und Lexikon — ein theoretischer Exkurs In den letzten zehn Jahren hat sich weitgehend die Auffassung durchgesetzt, daß das Lexikon einer Sprache eine autonome Komponente menschlicher Sprachfähigkeit darstellt. Die Autonomie-Forderung ist besonders gegen die generativ-transformationelle Auffassung gerichtet, nach der komplexe Wörter einer Sprache durch die transformationeile Komponente der Syntax erzeugt werden. In der lexikalistischen Konzeption dagegen werden komplexe Wörter durch morphologische Regeln erzeugt, die innerhalb des Lexikons operieren, und zwar in doppelter Weise: einmal dienen sie wie gesagt dazu, neue Wörter zu bilden, zum anderen aber auch dazu, bestehende Komposita und Derivate zu analysieren. 3 Morphologische Regeln haben damit einen doppelten Bezug zur Sprachfähigkeit: erstens zur generativen oder kreativen Fähigkeit, neue Wörter zu bilden und zweitens zur analytischen Fähigkeit, bereits bestehende Wörter zu 3 Vgl. Mötsch (1987, S. 2fF.); Grewendorf/ Hamm/ Sternefeld (1987, S. 276). Fremdes in der deutschen Wortbildung 119 analysieren. Insgesamt stellt sich das Lexikon einer Sprache folgendermaßen dar: 4 Das Lexikon einer Sprache enthält demnach: eine Liste von Morphemen morphologische Regeln mit der analytischen und der generativen Komponente die usuellen Bildungen einer Sprache die möglichen Wörter einer Sprache Was an diesem Schema sicher einer Klärung bedarf, ist das Verhältnis, in dem die Liste von Morphemen zu den morphologischen Regeln steht. Jackendoff (1975) und Aronoff (1976) beide Vertreter einer lexikalistischen Konzeption zählen zur Morphemliste lediglich die usuellen Wörter einer Sprache, d.h., Affixe zählen nicht zum Bestand von Lexikoneintragungen, sondern sind Bestandteile morphologischer Regeln. Nach Jackendoff würde beispielsweise ein Lexikoneintrag für das Wort trenndurch eine phonologische und eine kategoriale Charakterisierung sowie eine Subkategorisierung und eine semantische Charakterisierung spezifiziert. Das gleiche gilt für den Lexikoneintrag des usuellen Derivats Trennung, wobei dieser im Vergleich zum Eintrag trennredundante Informationen bezüglich 4 Aus: Grewendorf/ Hamm/ Sternefeld (1987, S. 277). 120 Gisela Harras der Subkategorisierung enthält, andererseits durch das Suffix -ung und die semantische Charakterisierung ‘abstraktes Resultat der Handlung’ spezifiziert ist. Die beiden Wörter trenn- und Trennung können durch eine morphologische Redundanzregel zueinander in Bezug gesetzt werden, wobei das komplexe Wort Trennung auf das einfachere morphologisch verwandte Wort trennzurückgeführt wird. Als nicht redundante Information bleibt die semantische Information und die Angabe der Suffigierung durch -ung, beides Informationen, die für einen Lexikoneintrag von Trennung gelernt werden müssen. Die Redundanzregeln sind in erster Linie Analyseregeln, können aber auch zur Bildung neuer Wörter verwendet werden. Aronoff konzipiert morphologische Regeln dagegen in erster Linie als generative Regeln innerhalb des Lexikons. Die Eingabe einer solchen Regel ist ein Wort des Lexikons, also ein usuelles Wort, das in ein neues Wort mit bestimmten phonologischen, syntaktischen und semantischen Eigenschaften überführt wird. Die Behandlung von Affixen ist bei beiden Autoren dieselbe: sie kommen nur innerhalb morphologischer Regeln vor, nicht hingegen in der Morphemliste des Lexikons. Demgegenüber hat Tilman Höhle (1982) eine Konzeption der Wortbildungstheorie vorgeschlagen, in der Affixe Wortstatus haben sollen und die hier deshalb von besonderem Interesse ist, weil sie eine Entgegnung von Marga Reis (1983) erfahren hat, in deren Argumentation nicht-native Wortbildungen eine wesentliche Rolle spielen. 4. Komposition und Derivation - Abgrenzungsprobleme bei nicht-nativen Wortbildungen Höhle schlägt vor, sowohl Komposita als auch Affixderivate durch die folgende interne Konstituentenstruktur zu repräsentieren: 5 (1) [N [v schwimm] [ N bad] ] (2) [N [v vermeid] [ N ung] ] Eine solche Strukturierung setzt eine Regel voraus, die als Erweiterung üblicher Phrasenstrukturregeln zu verstehen ist: (3) X — ► Y t> " _s Z° Dabei sind X, Y, Z Variablen über syntaktischen Kategorien wie V, N, A, das Superskript 0 besagt, daß es sich um eine Expansion auf dem zerobar-level handelt, daß Y° und Z° also lexikalische Elemente sind oder auf lexikalische Elemente zurückgehen. Die durch Regel (3) gegebenen Möglichkeiten interner Wortstrukturierung sind notwendig und für sämtliche Wörter hinreichend zusammen mit den Voraussetzungen: 5 Höhle (1982, S. 77). Fremdes in der deutschen Wortbildung 121 - Affixe sind im gleichen Sinn Wörter wie Wurzeln, d.h., sie stellen im Unterschied zu JackendofF und Aronoff kategorial und selektional spezifizierte Lexikoneinträge dar; die Unterscheidung Wurzel-Affix bzw. Komposition-Derivation ist auf die Unterscheidung frei vs. gebunden vorkommend reduzierbar. Unter diesen Voraussetzungen ist dann die Unterscheidung Komposition- Derivation wortbildungstheoretisch irrelevant. 6 Gegen die erste Voraussetzung vom Wortstatus von Affixen wendet Reis ein, daß sie für Präfixe im Unterschied zu Suffixen nicht aufrecht zu erhalten ist: Suffixe sind wortartbestimmend, was für Präfixe nicht gelten muß und meist auch nicht gilt. Selbst wenn neben dem Präfix morphologisch verwandte freie Wörter existieren, sind sie keine zuverlässigen Indikatoren für die Kategorie des Präfixes: stockin stockbetrunken oder riesenin Riesenerfolg können nicht auf das Substantiv Stock bzw. Riese bezogen werden. Wenn Präfixe nicht für eine Kategorie markiert sind, können sie auch nicht durch Regel (3) erzeugt werden. 7 Interessanter für unseren Zusammenhang sind die Einwände, die Reis gegen die Reduzierbarkeit der Komposition-Derivationsunterscheidung auf frei vs. gebunden vorbringt: es gibt Elemente, die gleichzeitig gebunden und reihenbildend sind, dennoch nicht ohne weiteres zu den Affixen gezählt werden können, wie z.B.: 8 Euro- (rakete, kommunismus, dollar, strategisch) Öko- (bewegung, markt, welle, laden) Polit- (clown, szene, rocker, theater) Tele- (brief, kommunikation, spiele, kratie) Euro-, Öko-, Polit-, Telehaben die gleiche Semantik wie die entsprechenden Vollwörter Europa/ europäisch, Ökologie/ ökologisch, Politik/ politisch, Television. Man könnte sie also als Verkürzungen der Vollwörter auffassen. Zum gleichen Typ von gebundenen Formen, die reihenbildend sind, gehört neben den von Reis angeführten das gesamte Paradigma neoklassischer Bildungen wie z.B. sozio-, psycho-, physio- oder ethno-. Letztere sind im Unterschied zu den gebundenen Formen euro-, Öko- oder politsemantisch von den morphologisch verwandten freien Wörtern sozial/ soziologisch bzw. psychisch/ psychologisch/ Psyche usw. zu differenzieren. Das heißt: diese Formen wären in keinem Fall in eine morphologische Regel ä la JackendofF oder Aronoff integrierbar. Zu welchem Lexikoneintrag sollte man beispielsweise sozioin Bezug setzen, 6 Höhle (1982, bes. S. 77-82). 7 Reis (1983, S. 113ff.). 8 Reis (1983, S. 117). 122 Gisela Harras zu sozial oder soziologisch? Der Witz der Verwendung von sozioliegt offenbar genau in der Offenheit einer solchen Zuordnung. Das gleiche gilt für psycho-, das auf Psyche, auf psychisch oder auf psychologisch bezogen werden könnte. 9 Die einzige Möglichkeit, mit solchen gebundenen Formen zurecht zu kommen, besteht offensichtlich darin, sie als eigene Einträge in der Morphemliste des Lexikons zu spezifizieren. 10 Das gleiche gilt natürlich auch für die gebundene Form polit-, die zwar semantisch auf die freien Formen politisch/ Politik bezogen werden kann, deren morphologische Ableitbarkeit jedoch nicht auf eines der beiden VollWörter Politik/ politisch festgelegt werden kann, politist im Lexikoneintrag als gebundene Form zu spezifizieren, die einmal basisfähig und zum andern in Erst- und Zweitstellung kompositionsgliedfähig und reihenbildend ist. Aus der bisherigen Diskussion können wir das folgende Fazit ziehen: die Kriterien „frei“ vs. „gebunden und reihenbildend“ sind für die Unterscheidung zwischen Wurzel und Affix untauglich. Auch wenn man das Kriterium der Positionsfestigkeit hinzunimmt, verbessert sich die Unterscheidungsmöglichkeit nicht, wie die gebundenen Formen des neo-klassischen Bildungsmusters zeigen. Für Präfixe, so die Folgerung von Reis, bleibt also nur die nicht kategoriale Markierung durch das Merkmal [± Präfix] allein. 11 Zur weiteren Stützung dieser Aussage werden noch die Positionsvariabilität gebundener Wurzeln wie naut in Astronaut und nautisch angeführt, sowie die Möglichkeit, daß positionsfeste gebundene Formen auch frei Vorkommen können, wie folgende Beispiele belegen: Multi, Chaot, Öko, Mini, Maxi, Lekte (für Dia- und Soziolekte zusammen). Für Affixe ist eine solche Aufhebung ihres gebundenen Status ausgeschlossen. Das letzte Argument gegen die Wurzel-Affix-Unterscheidung durch ‘frei’ und ‘gebunden’ ist allerdings noch aus einem anderen Grund interessant: zu den angeführten gebundenen Formen, die auch frei Vorkommen können, lassen sich noch eine ganze Reihe anderer hinzufügen wie pro, kontra, ex, anti, super, meta oder pseudo. Außer dem letzten sind sie wohl eher zu Präfixen als zu Wurzeln zu zählen. Für nicht-native Wortbildungen heißt das zusammen mit bereits vorgetragenen Argumenten, daß sie sich häufig einer klaren Unterscheidung zwischen Komposition und Derivation widersetzen, wenn was wohl keiner bestreiten will die Kriterien ‘frei’ und ‘gebunden’ für die Wortbildung insgesamt eine Rolle spielen sollen. So ist es nicht weiter verwunderlich, daß einem relativ kleinen Bestand von stabilen nicht-nativen Präfixen wie a, ab-, en, ob, off; in, im, irr, re-, syn usw. ein vergleichsweise großer Bestand an instabilen präfixartigen Formen wie 9 Vgl. Wolff (1984, S. 75). 10 Vgl. Wolff (1984, S. 76). 11 Reis (1983, S. 125f.). Fremdes in der deutschen Wortbildung 123 die oben angeführten sowie eine beträchtliche Menge von positionsgebundenen Formen gegenüberstehen. Die bisherige Erörterung der Eigentümlichkeiten nicht-nativer Wortbildungen läßt nun zwei Tendenzaussagen der folgenden Art zu: (1) Die gebundenen Formen nicht-nativer Wortbildungen sind in einem hohen Maß lexikalisiert, d.h., sie sind sowohl qualitativ als auch quantitativ durch Lexikoneinträge ausgezeichnet qualitativ insofern, als jeweils sehr reichhaltige Informationen für selektionale und semantische Charakterisierungen vorgesehen werden müssen, und quantitativ insofern, als für eine Form wie beispielsweise naut mehrere Lexikoneinträge in Erwägung gezogen werden müssen. Daraus könnte man mit aller Vorsicht die Hypothese ableiten, daß Elemente nichtnativer Wortbildungen in gleicher Weise gelernt werden müssen wie Vollwörter. (2) Die Eigentümlichkeit nicht-nativer Wortbildungen verleiten auch mit aller Vorsicht zu dem Schluß, daß für sie Analyse und Generierungsregeln nicht als zwei analytische Aspekte ein und desselben Phänomens ‘morphologische Regeln’ gelten können, jedenfalls dann nicht, wenn man Regeln als eine Komponente menschlicher Sprachfähigkeit begreift. Während im Fall einheimischer Wortbildung die Abbildbarkeit von Analyseauf Generierungsregeln im großen und ganzen als unproblematisch angesehen werden kann, ist dies für die nicht-native Wortbildung wohl nur sehr bedingt der Fall, zumindest aber hat man hier mit beträchtlichen Abstufungen zu rechnen. Dies hängt natürlich mit dem Umstand zusammen, daß nicht-native Wortbildungen zu einem Großteil auf bestimmte Sprachstile und Fachterminologien beschränkt sind. Andererseits aber sind nicht-native Bildungen syntaktisch wie semantisch in das Diasystem des Deutschen integriert, und ihre Elemente sind produktiv wie einheimische auch, so daß es keinen Grund gibt, sie aus dem Lexikon des Deutschen als ganzem auszuschließen. 5. Probleme der Kategorisierung von nicht-nativen Wortbildungen Um die beiden Tendenzaussagen zu erhärten und gegebenenfalls zu präzisieren, braucht man nach allem, was wir bis jetzt wissen eine Wortbildungstheorie, die streng lexikalistisch ist und, im Unterschied zu Höhles Konzeption, Regeln enthält, die nicht der Syntax entnommen, sondern autonom sind. Eine solche Theorie ist in den achtziger Jahren von Selkirk (1982) entwickelt worden. Diese umfaßt eine lexikalische Komponente, die als Ba- 124 Gisela Harras sis sowohl lexikalische Einträge für Wörter und gebundene Morpheme als auch Wortstrukturregeln enthält, die durch Konventionen streng von syntaktischen Regeln getrennt sind. So enthalten Wortstrukturen außer Wörtern auch Affixe, aber keine phrasalen Strukturen, während sich syntaktische Regeln bezüglich Affixen und phrasalen Strukturen genau entgegengesetzt verhalten. Die Selkirkschen Wortstrukturregeln haben folgendes Format: 12 X" —> XP^X m o > n > p,m Danach ist eine Wortstruktur streng gestuft: eine lexikalische Kategorie kann nur durch eine gleichrangige oder eine niedrigere, aber niemals durch eine höhere Kategorie ersetzt werden. Wortstrukturregeln operieren innerhalb der lexikalischen Komponente. Komplexe Wörter werden nicht jeweils neu für einen Satz erzeugt, sondern bei der Satzbildung aus dem bereits bestehenden Inventar geholt. Mit der kategorialen Beschränkung durch die Wortstrukturregeln ist die Forderung verknüpft, daß sich die Kategorienbestimmung eines komplexen Wortes aus der Kategorienbestimmung seiner Bestandteile ableiten lassen muß, in ähnlicher Weise wie phrasale Kategorien nach Kategorien ihrer Bestandteile bestimmbar sind. Diese formale Ähnlichkeit ist allerdings nicht so zu interpretieren, daß Phrasen- und Wortstrukturregeln auf eine gemeinsame Basis zurückgeführt werden könnten, denn dies würde dem streng lexikalistischen Ansatz widersprechen, demzufolge Wortstrukturregeln eine eigenständige Komponente des Lexikons darstellen. Das Prinzip der Ableitbarkeit der Kategorie eines komplexen Wortes aus den Kategorien seiner Bestandteile wird in den jüngsten lexikalistischen Wortbildungstheorien mit dem Begriff des lexikalischen head oder Kopfes erfaßt. 13 In einer Wortstrukturtheorie ä la Selkirk gibt es eine Konvention, die wie folgt formuliert werden kann: Innerhalb einer Wortstruktur gibt es einen lexikalischen head, der die Kategorie der Gesamtkonstruktion bestimmt. Anders als bei syntaktischen Strukturen muß der head positionell bestimmt sein. Da man allgemein davon ausgeht, daß Wortstrukturen Rechts-links-Verzweigungen darstellen, kann der head prinzipiell rechts oder links in einer Wortstruktur auftreten. Daraus läßt sich die folgende allgemeine sprachunspezifische Konvention ableiten: In einer Wortstruktur ist der head, der die Kategorie der Gesamtkonstruktion bestimmt, entweder die rechte oder die linke Konstituente. 12 Selkirk (1982, S. 9). 13 Vgl. Williams (1981, S. 245ff.); Selkirk (1982, S. 9ff.); Olsen (1986, passim). Fremdes in der deutschen Wortbildung 125 Für das Deutsche ist diese Konvention offensichtlich ausreichend: im nominalen Bereich, bei Substantiv- und Adjektivkomposita und -derivaten bildet die rechte Konstituente den head der Gesamtkonstruktion, z.B. in vereinfachter Notierung: N mal stift Im verbalen Bereich gibt es bei präfigierten Verben Fälle, wo der head links steht. 14 Die Bestimmung des heads einer Konstruktion setzt die Kategorisierung ihrer Konstituenten voraus. Bei nicht-nativen Wortbildungen, so hatten wir zu Anfang unserer Überlegungen gesehen, gibt es bei der Kategorisierung von gebundenen Formen Schwierigkeiten. Wie sind diese innerhalb der skizzierten Wortbildungstheorie zu behandeln? Damit sind wir jetzt nach einem längeren, aber notwendigen Vorlauf bei unserem zweiten angesprochenen Problem, der Kategorisierung von nicht-nativen Wortbildungselementen, angelangt. Nehmen wir zunächst die schon mehrfach zitierte gebundene Form naut in Wortbildungen wie Nautik, nautisch und Astronaut. Beginnen wir mit Nautik. Das Suffix -ik bestimmt hier eindeutig die Kategorie N sowie die morphosyntaktischen Eigenschaften der Gesamtkonstruktion, es bildet also den head. Die erste Konstituente naut ist kategorial unbestimmt, insofern könnte man sie in der Wortstruktur als Präfix notieren, denn Präfixe bilden im Deutschen, was den nominalen Bereich betrifft, nie den head einer Konstruktion und können somit kategorienunbestimmt sein. Wir erhielten dann die folgende (fragwürdige) Struktur: I Naut N aff I ik 14 Vgl. z.B. Olsen (1986, S. 101f.) 126 Gisela Harras Entsprechend erhielten wir für nautisch: ? A naut isch Da, wie wir bereits gesehen haben, die Anzahl solcher basisfähigen gebundenen Formen wie naut nicht unbeträchtlich ist, müßte man für das Deutsche unter Berücksichtigung nicht-nativer Wortbildungen die folgende (fragwürdige) Strukturregel annehmen: ? X —> Y aff ^X aff Diese fände dann sowohl auf eine Menge nicht-nativer gebundener wie auch auf die begrenzte Menge einheimischer unikaler Formen Anwendung. Man könnte sie als Spezialfall der generellen Präfigierungsregel für den nominalen Bereich ansehen: 15 Präfigierung im N-/ A-Bereich: X — ♦ Y aff X Durch diese Regel wird ausgeschlossen, daß Präfixe im nominalen Bereich head-Status haben können. Bevor darüber entschieden werden soll, ob man den Spezialfall ‘kategorial unbestimmtes Affix plus kategorial bestimmtes Affix’ zulassen soll, noch ein Blick auf naut als Zweitglied einer Konstruktion wie Astronaut. Wenn astro als kategorienunbestimmtes Element als Affix notiert wird, muß naut nach der Präfigierungsregel der head der Gesamtkonstruktion sein; wir erhalten also die folgende (fragwürdige) Struktur: ? N Ästro naut Damit haben wir für Nautik und für Astronaut dieselbe Wortstrukturregel erhalten. Die Positionsgebundenheit von naut als Erst- und als Zweitglied muß demnach im Lexikon spezifiziert sein, und zwar durch (mindestens) zwei Einträge. 15 Olsen (1986, S. 100). Fremdes in der deutschen Wortbildung 127 Nun zurück zum fragwürdigen Spezialfall der Präfigierungsregel. Er widerspricht den gängigen Bestimmungen von Affixen als elementar und gebunden. Selkirk nimmt für den Bereich nicht-nativer Wortbildungen im Englischen eine rekursive Kategorie ‘root’, Wurzel, an, die durch die folgende Kompositionsregel definiert wird: 16 Root — ► Root^Root Für Präfigierungen und Suffigierungen gelten die entsprechenden Regeln für das Englische insgesamt: Root — ► Affix Root Root —* Root Affix neben den Regeln, die als nicht-afRxale Elemente Wörter enthalten, also: 17 Wort —* Wort Wort (für Komposition) Wort —* Affix Wort (für Präfigierung) Wort —+ Wort Affix (für Suffigierung) Roots, Wurzeln, sind als einfache oder komplexe Wortbildungsbestandteile immer auf einem niedereren Rang (level) als Wörter in einer Wortstruktur. Um die allgemeine Geltung der generellen Wortstrukturregel X n —>X P X m o > n > p,m zu gewährleisten, muß es eine Konnektion geben zwischen Wurzel und Wort, die mit der folgenden Regel ausgedrückt wird: 18 Wort —+ Root Diese wird spezifiziert durch (das hochgestellte r markiert das Element als root): N —> N r A — ► A r V —>V r Mit den Spezifizierungen wird zugleich gefordert, daß Wurzeln kategorial bestimmt sein müssen. Wenn man den Selkirkschen Vorschlägen folgt, erhält man für die hier erörterten Wortbildungen Nautik, nautisch, Astronaut die folgenden Strukturen: 16 Selkirk (1982, S. 99). 17 Selkirk (1982, S. 95 und 99). 18 Selkirk (1982, S. 95). 128 Gisela Harras Nautik N r Y r N a ^ I I Naut ik N r —»N nautisch A r naut isch A r -^A Astronaut N r —»N Die Konsequenz, die eine solche Behandlung nicht-nativer Wortbildungselemente mit sich bringt, unterscheidet sich übrigens kaum von der der Behandlung als affixale Elemente: in beiden Fällen muß man mit sehr differenzierten und reichhaltigen Subkategorisierungen der jeweiligen Lexikoneinträge rechnen. Ein letztes Beispiel soll diesen Befund präzisierend verdeutlichen: in der rückläufigen Wortliste des IDS sind eine ganze Reihe von Bildungen aufgeführt, die auf -nom enden. Nehmen wir als Beispiel autonom und Astronom. -nom als zweiter Bestandteil der Konstruktionen müßte im ersten Fall als A, im zweiten als N notiert werden. Fremdes in der deutschen Wortbildung 129 Wenn wir beide Bestandteile als Wurzeln betrachten, erhalten wir die folgenden Strukturen: autonom A r Y r A r I, l auto nom A r -*A Astronom N r Y r N r U L m N r —N Um überhaupt eine korrekte Wortstruktur zu erhalten, muß man über zwei Lexikoneinträge für -nom verfügen können, in denen die jeweilige Kategorienzugehörigkeit spezifiziert ist. Darüber hinaus werden sicher noch weitere Lexikoneinträge für nom in anderen Positionsgebundenheiten wie z.B. in Antinomie, antinomisch erforderlich sein, damit diese Bildungen in korrekte Wortstrukturen überführt werden können. Eine ganz andere Möglichkeit, mit den erörterten Problemen zurecht zu kommen, bestünde darin, überhaupt auf Wortstrukturregeln zu verzichten und stattdessen von paradigmatischen Bezügen zwischen Vollwörtern auszugehen; für unsere Fälle hieße das, daß man von dem Lexikoneintrag Nautik ausgeht und nautisch als adjektivisches Derivat dazu auffaßt. 19 Insgesamt hat die Erörterung des Kategorienproblems die Tendenzaussage bestätigt, derzufolge die gebundenen Formen nicht-nativer Wortbildungen in einem hohen Maß lexikalisiert sind, d.h. qualitativ und quantitativ durch Lexikoneinträge ausgezeichnet sind. Dies könnte auch eine einheitliche Erklärung dafür liefern, daß solche Wortbildungen eine gewisse Disposition zur (semantischen) Schwere haben, und es könnte auch ein plausibles Motiv abgeben für ein Arbeitsvorhaben, das als Ergebnis ein Lexikon der Lehn-Wortbildung im Deutschen anstrebt. 19 Einen ähnlichen Vorschlag hat Aronoff für Bildungen mit -ist, ism, -istic gemacht, vgl. Aronoff (1976, S. 118ff.). 130 Gisela Harras 6. Literatur Aronoff, Marc (1976): Word Formation in Generative Grammar. Cambridge/ Mass. Bauer, Laurie (1983): English Word-formation. Cambridge. Brekle, Herbert E./ Kastovsky, Dieter (Hg.) (1977): Perspektiven der Wortbildungsforschung. Bonn. Fanselow, Gisbert (1985): Die Stellung der Wortbildung im System kognitiver Module. In: Linguistische Berichte, 96, S. 91-126. Grewendorf, Günther/ Hamm, Fritz/ Sternefeld, Wolfgang (1987): Sprachliches Wissen. Eine Einführung in moderne Theorien der grammatischen Beschreibung. Frankfurt a.M. Höhle, Tilman (1982): Uber Komposition und Derivation. Zur Konstituentenstruktur von Wortbildungsprodukten im Deutschen. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft, 1, S. 76-112. Hoppe, Gabriele/ Kirkness, Alan/ Link, Elisabeth/ Nortmeyer, Isolde/ Rettig, Wolfgang/ Schmidt, Günther Dietrich (1987): Deutsche Lehnwortbildung (= Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache 64). Tübingen. 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Elisabeth Gülich Routineformeln und Formulierungsroutinen Ein Beitrag zur Beschreibung ‘formelhafter Texte’ 1. ‘Formelhafte Texte’ als Gegenstand der Phraseologie? Die Phraseologie ist ein weites Feld. Ein so komplexes und vielfältiges Thema kann an dieser Stelle nicht erschöpfend behandelt werden. Insbesondere die Klärung des Verhältnisses zwischen Phraseologismen und Routineformeln bleibt weitgehend ein Desiderat. Es würde jedoch den Rahmen dieses Vortrags sprengen, wenn ich auch nur annähernd versuchen wollte ...Es kann also allenfalls darum gehen, hier in aller Vorläufigkeit ... usw. Die Fortsetzung läßt sich leicht ergänzen. Jeder, der es gewohnt ist, wissenschaftliche Vorträge zu hören oder Aufsätze zu lesen, kennt diese Art von Äußerungen, hat sie unzählige Male am Anfang eines Vortrags oder eines Aufsatzes gehört oder gelesen - oder auch selbst produziert. Eine solche Einleitung ist ein vorhersagbarer vorgefertigter Textteil mit einigen Leerstellen, die von Fall zu Fall ausgefüllt werden müssen. Damit habe ich den Gegenstand der folgenden Ausführungen bereits illustriert: Es geht mir um komplexe formelhafte Äußerungen, also nicht um Phraseologismen im üblichen Sinne, d.h. in der Funktion eines Satzglieds, auch nicht um satzwertige Phraseologismen, sondern wie ich vorläufig sagen will um Phraseologismen auf Textebene. Mit solchen Strukturen hat man sich im Rahmen der Phraseologie-Forschung bisher allenfalls am Rande beschäftigt. Im folgenden schlage ich ein Konzept ‘Formelhafter Text’ vor; dabei will ich an die bisherige Phraseologie-Forschung anknüpfen. Ich stelle damit die Frage zur Diskussion, ob man sinnvollerweise Textteile und sogar ganze Texte als Phraseologismen beschreiben kann; das ist letztlich die Frage nach dem Gegenstandsbereich der Phraseologie, nach möglichen Erweiterungen oder Eingrenzungen. Diese Frage ist an sich nicht neu, sie wurde bisher nur nicht - oder zumindest nicht explizit in bezug auf Texte gestellt. 1 1 In den mehr als 7 Jahren, die zwischen der Fertigstellung des Manuskripts und der Veröffentlichung dieses Beitrags lagen, ist an der Thematik weitergearbeitet worden. Sowohl aus der Phraseologieforschung, die hier als Ausgangspunkt dient, als auch aus der Textproduktionsforschung, die den Rahmen für die Überlegungen in den letzten beiden Abschnitten abgibt, wäre über neuere Arbeiten zu berichten. Dies in einer einigermaßen vollständigen Weise zu tun, ist mir nicht möglich. Der Versuch würde vermutlich auch zu erheblichen Änderungen des vorliegenden Beitrags führen. Ich habe selbst auf dem hier skizzierten Gebiet zusammen mit Ulrich Krafft weitergearbeitet, vgl. Gülich/ Krafft (1992), (1995) und (1996). Die Grundgedanken und die Argumentation des vorliegenden Beitrags behalten aber ihre Gültigkeit; auf neuere 132 Elisabeth Gülich Ich wähle im folgenden zunächst einige Beispiele für formelhafte Texte als Ausgangspunkt (Abschnitt 2), diskutiere dann die Anknüpfungsmöglichkeiten ihrer Beschreibung an die Phraseologie (Abschnitt 3) und versuche auf dieser Grundlage, wesentliche Charakteristika formelhafter Texte zu entwickeln (Abschnitt 4) und die Funktion solcher Texte in der Interaktion zu beschreiben (Abschnitt 5). Abschließend gehe ich auf die Rolle von Formelhaftigkeit in der Textproduktion, d.h. bei der Lösung von Formulierungsproblemen, ein (Abschnitt 6). Diese Überlegungen eröffnen einige Perspektiven für die Anwendbarkeit der Ergebnisse dieser Art von linguistischen Untersuchungen (Abschnitt 7). 2. Beispiele für formelhafte Texte Im Unterschied zu dem Beispiel, das ich selbst am Anfang produziert habe, geht es mir im folgenden vor allem um abgeschlossene Texte. Als formelhafte Texte sehe ich einerseits solche an, die als ganze in bestimmten Situationen unverändert produziert, genauer: re-produziert werden: (1) Nach Hinweis des Notars auf die Bedeutung einer eidesstattlichen Versicherung, insbesondere auf die strafrechtlichen Folgen falscher Angaben, versichere ich hiermit an Eides Statt, daß mir nichts bekannt ist, was der Richtigkeit meiner vorstehenden Angaben entgegensteht. Die erforderlichen Personenstandsurkunden werden dem Nachlaßgericht gesondert vorgelegt. Ich beantrage die Erteilung eines gemeinschaftlichen Erbscheins, der die Erbfolge ausweist, wie sie in Ziffer II. dieser Urkunde niedergelegt ist. (aus: Becksches Formularbuch zum Bürgerlichen, Handelsu. Wirtschaftsrecht. Beck’sche Verlagsbuchhandlung 1980, S. 608) (2) Hiermit versichere ich, daß ich die Arbeit selbständig verfaßt habe, daß ich keine anderen Quellen und Hilfsmittel als die angegebenen benutzt und die Stellen der Arbeit, die anderen Werken dem Wortlaut oder Sinn nach entnommen sind, in jedem einzelnen Fall unter Angabe der Quelle als Entlehnung kenntlich gemacht habe. (Ort) (Datum) (Unterschrift) Diese Versicherungen werden in den betreffenden Situationen mit völlig identischem Wortlaut reproduziert und nur durch Datum und Unterschrift auf einen spezifischen Einzelfall bezogen. Ihr Wortlaut ist gesetzlich mehr oder weniger genau vorgeschrieben. So ist die Formulierungsanweisung für den als Beispiel (2) zitierten Text in der Lehramtsprüfungsordnung enthalten: Überlegungen werde ich von Fall zu Fall verweisen. An der Universität Bielefeld sind in den letzten Jahren eine ganze Reihe von z.T. sprachvergleichenden - Examensarbeiten mit empirischen Untersuchungen zu formelhaften Texten entstanden, z.B. über Glückwunschtexte (Harms 1990), über Anweisungen und Verbote (Aschentrup 1990), über Todesanzeigen (Baksmeier 1996), über Abstracts (Möller 1996) u.a., denen ich viele Anregungen verdanke, ohne sie immer im einzelnen dokumentieren zu können. Routineformeln und Formulierungsroutinen 133 Am Schluß der Arbeit muß der Kandidat versichern, daß er sie selbständig verfaßt hat, daß er keine anderen Quellen und Hilfsmittel als die angegebenen benutzt und die Stellen der Arbeit, die anderen Werken dem Wortlaut oder Sinn nach entnommen sind, in jedem einzelnen Fall unter Angabe der Quelle als Entlehnung kenntlich gemacht hat. (aus: Ordnung der Ersten Staatsprüfungen für Lehrämter an Schulen (Nordrhein- Westfalen) §13, Abs. (4)) Andererseits rechne ich aber auch Texte wie Beispiel (3) zu den formelhaften Texten: (3) Auf der Autobahn A ... zwischen den Anschlußstellen ... und ... kommt Ihnen ein Fahrzeug entgegen. Bitte fahren Sie äußerst rechts und überholen Sie nicht. Wir melden uns wieder, wenn die Gefahr beseitigt ist. Auch dieser Text wird als Durchsage im Rundfunk in nahezu identischer Form immer wieder reproduziert; im Unterschied zu den beiden ersten Beispielen weist er aber Leerstellen auf, in die situationsspezifische Angaben in diesem Fall: die Ortsangaben eingesetzt werden. Vergleichbar wären z.B. auch Ansagen in Fernzügen oder Flugzeugen wie: Im Namen von Kapitän ... und seiner Besatzung begrüßen wir Sie sehr herzlich an Bord unserer Boeing ... auf dem Flug von ... nach ... usw. Auf demselben Prinzip vorgegebene Strukturen mit situationsspezifisch auszufüllenden Leerstellen beruhen auch die folgenden Beispiele für Einladungen: (4) DAS PRÄSIDIUM DER BUNDESNOTARKAMMER GIBT SICH DIB EHRE fron* ZUM 21. DEDTSCHEN NOTARTAO VOM 24. BIS 27. JUNI 1081 IN BERLIN EINZCLADEN. DR. HAMM BEGHCSSUXGSKMPPANO. ».JUNI. ».15 URB. ICC SAAL • PK8TESSKN DBB SBBENOlSTB. ».JUNI. OBOEN 15.00 UH B, BOTEL EEMPINSHI U.A.W.Q. BIS ZUM SO. APBIL 1M1 134 Elisabeth Gülich (5) Die Dudenredaktion gestattet sich, Hwm/ Frau oZ)-i~- _____ zu einem Empfang zu Ehren des neuen Konrad-Duden-Preisträgers Professor Dr. Peter von Potenz am Mittwoch, dem 5. März 1980, im Anschluß an den Festakt um 20.00 Uhr in die Räume der Dudenredaktion, Mannheim, Dudenstraße 6, einzuladen. Busse zur Fahrt in die Dudenredaktion stehen vor dem Mannheimer Schloß bereit. u. A. w. g. auf beiliegender Karte (6) • '<S-/ y6-r — ZS. fff*. S9.SC ‘26C*. I *i»y/ •örnnm/ mSrnm. (7) CIPLttJtejJcM EKt/ ci*iafccnabv ^^ütßfius/ eH/ cHoieuei ßccÄiett Xu M-neett f'fiyyfHy •Jat/ ^tneLu irörl. WERKER RAHNER nt ASIDE NT DEN NATIONALEN VONUIIEIIVNGS. KOMITEES Hier sind zwischen den einzelnen Texten zwar Unterschiede festzustellen, aber ein einheitliches Schema liegt offensichtlich allen zugrunde: beehrt sich x (3.Person) gestattet sich y (3.Person) zu z (Anlaß, Zeit, Ort) gibt sich die Ehre Sie einzuladen. Rouiineformeln und Formulierungsroutinen 135 Fakultativ ist die Unterschrift (Beispiel 4, 7), ebenso der Zusatz „u.A.w.g.“ (Beispiel 4, 5). Abweichend von diesem Schema werden in Beispiel (8) die Elemente in umgekehrter Reihenfolge und ohne Nennung eines Adressaten realisiert: (8) Am 1. November 1987 ist der Gründer der Bielefelder Schulprojekte, Professor Dr. Hartmut von Hentig, aus seinem Amt als deren Wissenschaftlicher Letter ausgeschieden. Zur offiziellen Verabschiedung und Amtsübergabe in Anwesenheit der Ministerin für Wissenschaft und Forschung am Montag, dem 8. Februar 1988, 10.15 Uhr bis 12.00 Uhr, Oberstufenkolleg, Feld 2, laden das Rektorat und die Wissenschaftliche Leitung der Schulprojekte der Universität Bielefeld herzlich ein. Bielefeld, im Januar 1988 Ähnlich wie die Einladungen lassen sich auch die im folgenden zitierten Weihnachts- und Neujahrswünsche aus Zeitungen wenigen festen Mustern zuordnen: (9) Die „Vierländer Blumenbinderei“ > Gerhard und Marien Wöbb i wünscht all ihren Kunden ein frohes k und besinnliches Weihnachtsfest 5 sowie ein gutes und gesundes neues \ Jahr 1988. 1 2050 Hamburg 80 Norderquerweg 73 | 136 Elisabeth Gülich (10) Unseren Geschäftsfreunden und Kunden sowie allen Freunden und Bekannten wünschen wir ein frohes Weihnachtsfest und ein gesundes, erfolgreiches neues Jahr. Familie Karin und Klans-Peter Jendrasik und unsere Mitarbeiter Am 27. Dezember 1987 (3 Weihnachts-Sonntag) bleibt die Konditorei Schwartau geschlossen. Diese beiden Beispiele repräsentieren zwei Grundformen, die in der 3. Person (Die Vierländer Blumenbinderei ... wünscht allen ihren Kunden ...) und die Form in der 1. Person (Unseren Geschäftsfreunden und Kunden ... wünschen wir ...). In Beispiel (11) allerdings werden beide Formen vermischt: beim Possessiv-Artikel wird die 1. Person verwendet (meinen), beim Verb die 3. (wünscht) (vgl. dazu unten 6.2): (11) Meinen verehrten Kunden, allen Geschäftsfreunden und Bekannten ein frohes Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr wünscht Uwe Eggert Tischlermeister Hamburg 80, MaikatraBe 60 Telefon 7 21 99 64 Durch die Wortstellung ergeben sich zwei verschiedene Satzmuster: es steht entweder der Verfasser (Subjekt) oder der Adressat der Wünsche (Dativ-Objekt) in Anfangsstellung. Das Repertoire an lexikalischen Elementen ist relativ gering (vgl. auch die Beispiele 12-19): das Weihnachtsfest soll meistens froh (Varianten: gesegnet, besinnlich, schön) sein, das neue Jahr gesund, erfolgreich, gut oder glücklich. Nur wenige Adjektive werden für beide Anlässe verwendet. Eine Erweiterung des Grundmusters besteht in der Verbindung mit einer Dankesformel: (12) Roulineformeln und Formulierungsroutinen 137 (13) ... , Verbunden mit dem Dank für das langjährige Vertrauen wünsche ich meinen Kunden ein frohes Weihnachtsfest und ein glückliches neues Jahr. r ^C\,iKtbxoiod. Kosmetik und med. Fußpflege Hamburg 80. Kirchenheerweg 166. Tel. 7 23 98 79 Schließlich werden häufig wie schon in Beispiel (10) - Informationen hinzugefügt: (14) Allen Gasten und Freunden ein frohes Weihnachtsfest und ein glückliches 1989 MllltiM «u SIMtf» OIK H> UM UU letffwet Durch den Zusatz solcher Informationen kann der Weihnachts- und Neujahrswunsch geradezu den Charakter eines Werbetexts annehmen: (15) Taxi Schnalke Telefon 33 33 und 23 33 Unseren Fahrgästen danken wir für das uns entgegengebrachte . Vertrauen Wir wünschen Ihnen ein frohes ' Weihnachtsfest und alles Gute für das neue Jahr. Lauenburg/ Elb«. Baltische Str. 2 Büro: Fürstengarten 2 neben der Pro Wir sind für Sie mit Pkw Tae und Nacht, auch Weihnachten, dienstbereit. J (16) Oriochlachm Spaisarastaurant BlalafaM, BMchstr. 41 (Freibad-Gaststätte), Telefon 64244 Das Restaurant mit vielen griechischen'Spezialitäten AH»n unm»mn OKmtmn froh« Weihnachten und ein gemundet neue» Jahr Hilda 4- Joennls Ntinos An allen Feiertagen geöffnet - Große Silvesterfeler ■■■■■ Tischbestellungen rechtzeitig erbeten Werbewirksame informative Elemente können natürlich auch in die Formulierung des Wunsches integriert sein: 138 Elisabeth Gülich (17) OMouiDaeioaBiaaeiciMicaB Si Unseren verehrten Kunden und Liebhabern erle- Q S sener Volkskunstteppiche wünschen wir ein fro- W SU hes. geruhsames Weihnachtsfest und «in gutes, S erfolgreiches Neues Jahr, verbunden mit dem £2 Dank für die Treue zu unserem Haus und das Bf Interesse an unseren Orientteppichen SIhr Teppichhaus g ROGGE I C Inh. Bernhard Krüger H 0 Oberntorwall 19 a, 44 Bielefeld 1 acaiacnvacotaeciUKauKataKD Durch die Bezeichnung der Adressaten als Kunden und/ oder Geschäftsfreunde (9, 10, 11, 13, vgl. auch unten 18), Gäste (14, 16), Fahrgäste (15) oder gar Liebhaber erlesener Volkskunstteppiche (17) werden die Leerstellen im generellen Muster dem Einzelfall entsprechend gefüllt. Seltener scheint der Fall zu sein, wo der Inhalt des Wunsches in für den Verfasser der Anzeige spezifischer Weise formuliert wird, die Gärtnerei also ein erfolgreiches Gartenjahr (18) oder die Nähmaschinenfirma immer eine haltbare Naht (19) wünscht: (18) Garten Quelle Bergedorf wünscht allen Kumten ein frohes Weihnachtsfest und ein erfolgreiches Gartenjahr 1988. RouUneformeln und Formulterungsroulinen 139 (19) Reichhaltiges Beispielmaterial für solche relativ kurzen formelhaften Texte bieten auch die sogenannten Familienanzeigen, wie sie in Lokalzeitungen erscheinen. Ich gebe im folgenden einige Beispiele für Todesanzeigen: 2 (20) Statt Karten Plötzlich und unerwartet, für uns alle unfaßbar, entschlief heute mein lieber Mann, unser guter Vater, Schwiegervater, Opa, Bruder, Schwager und Onkel 0 L Im Alter von 52 Jahren. In stiller Trauer: Ilse L , geb. K und Kinder Bill M und Frau Ron), geb L 4800 Bielefeld 18 (Ubbedissen), den 4. März 1988 Gräfinghagener StraSe 26 Oie Trauerleier findet am Mittwoch, dem 9. Marz, um 13 Uhr in der Friedhofskapelle Ubbedissen statt. Bestattungen Kornfeld. Ubbedisser StraSe 18. 4800 Bielefeld 18 2 Die hier zitierten Beispiele stammen aus meiner eigenen Sammlung. Ein reichhaltiges Corpus bietet darüber hinaus Baum (1980). Todesanzeigen sind inzwischen verschiedentlich Gegenstand linguistischer Analysen gewesen. Darauf kann hier nicht eingegangen werden. Eine vergleichende Untersuchung deutscher und französischer Todesanzeigen wurde von Baksmeier (1996) vorgelegt. 140 Elisabeth Gülich (21) Diesen Tbg, Herr, leg k± zurück in deine Hinde: denn du gehst ihn mir. Du bist der Ursprung und des Ende, ich vertreue dir. Nach langer, schwerer, mit großer Geduld ertragener Krankheit entschlief am 22. Februar 1988 meine liebe Mutter und unsere gute Oma E Sch geh. Bi im Alter von 87 Jahren. In stiller Trauer Gisela W Baseler Straße 49 Günter W 1000 Berün 45 Andreas W Die Beerdigung lind et am Dienstag, dem 8. MArz 1988, um 10.45 Uhr auf dem Parklriedhoi Lichterfelde, Thuner PUU 2-4. 1000 Berlin 45. statt. (22) Routineformeln und Fonnulierungsroutinen 141 (23) (24) Ein treues Herz hat aufgehört zu schlagen. M H gebb K Unerwartet und für uns alle unfaßbar verließ mich meine geliebte Frau, unsere herzensgute Mutter, Omi und Schwester im 80. Lebensjahr. In Liebe und Dankbarkeit Walter H Berlin-Chariouenburg. 19. Februar 1988 im Namen aller Angehörigen Du* Trauerleier finde! im engsten Familienkreis slall. 142 Elisabeth Gülich (25) (26) Todesanzeigen enthalten bestimmte obligatorische Komponenten als Minimum die Namen der Verstorbenen und der Leidtragenden, die aber meist in einen Satz integriert sind, der die Tatsache des Sterbens mitteilt, und eine Einleitungsformel für diejenigen, die diese Mitteilung machen, z.B. In stiller Trauer (20, 21, 23) oder In tiefer Trauer oder auch In Liebe und Dankbarkeit (25, 26). Obligatorisch sind ferner die Angaben über Zeit und Ort der Beerdigung, ersatzweise ein Hinweis darauf, daß die Beerdigung im engsten Familienkreis stattfindet (24) oder bereits in aller Stille stattgefunden hat (s.u. Bsp. (42)). Für die Formulierung dieser Komponenten wird ein relativ eingeschränktes Reper- Routineformeln und Formulierungsroutinen 143 toire lexikalischer Ausdrücke benutzt. So gibt es z.B. eine Reihe von Standard-Adjektiven zur Charakterisierung der Verstorbenen: lieb (20, 21, 23, 25, 26) oder geliebt (22, 24), gut (20, 21, 22, 23) oder herzensgut (24), treusorgend (25, 26). Ebenso werden immer wieder dieselben Verben zur Bezeichnung des Sterbens verwendet: entschlief (20, 21), Gott der Herr nahm ... zu sich in sein Reich (22), wurde von ihrem schweren Leiden erlöst (23), verließ mich (24) (oft auch für immer verlassen), wurde von uns genommen (25), ist für immer von uns gegangen (s.u. Bsp. (41)) das Verb sterben selbst wird fast nie verwendet (Ausnahme: Bsp. (26)), allenfalls versterben. 3 Fakultative Komponenten sind der Zusatz Statt Karten (20, 25) oder Statt besonderer Anzeige (s.u. Bsp. (42)) über der Anzeige oder am Schluß der Anzeige der Zusatz Sollte jemand aus Versehen keine Anzeige erhalten haben, so bitten wir, diese als solche anzusehen (23), ferner Hinweise wie Von Beileidsbekundungen am Grabe und Beileidsbesuchen bitten wir abzusehen (22) oder Freundlich zugedachte Blumen und Kränze nimmt ... entgegen (26). Daß weitere Zusätze möglich sind, zeigt Beispiel (26): Gern hat er gelebt. Gern hätte er weitergelebt. Hier wird das Bemühen deutlich, mehr und anderes als die üblichen Formeln zu schreiben. Die Reihenfolge der Komponenten ist weitgehend konstant. Beispiel (24) zeigt allerdings eine Vertauschung der Reihenfolge der beiden ersten Komponenten: die Anzeige beginnt mit dem Namen der Verstorbenen, und dann folgt die Aufzählung der familiären Rollen der Verstorbenen (Frau, Mutter, Omi, Schwester), während in den anderen Beispielen die familiären Rollen der Namensnennung vorangehen. Ich habe bisher als Beispiele für formelhafte Texte relativ kurze Texte - Versicherungen, Einladungen, Weihnachts- und Neujahrswünsche, Todesanzeigen angeführt. Ähnliche Beobachtungen wie an diesen lassen sich auch an komplexeren Texten machen. Als Beispiele werde ich Danksagungen aus wissenschaftlichen Arbeiten wählen. 4 Um an ihnen aber systematisch Charakteristika formelhafter Texte entwickeln zu können, suche ich Anknüpfungspunkte für die Beschreibung formelhafter Texte in der bisherigen Phraseologie-Forschung. Diese scheint mir ein geeigneter Ausgangspunkt zu sein, da die bisher betrachteten kurzen Texte dem 3 Bei den Todesanzeigen ist noch auf eine weitere syntaktische Besonderheit hinzuweisen, nämlich die Verwendung des Possessiv-Artikels. Dadurch, daß derselbe Possessiv-Artikel sich auf verschiedene Personen oder Gruppen von Personen bezieht, kommen Verbindungen von Substantiven zustande, die in anderen Kontexten zumindest mißverständlich wären, z.B. „meine liebe Mutter und Tochter, unsere gute Kusine und Nichte 11 (Bsp. (23)). 4 Bei dem Symposium „Aktuelle Probleme der Phraseologie“, Zürich (1984) habe ich eine ähnliche Analyse anhand von Begrüßungsansprachen vorgelegt. 144 Elisabeth Gülich als „pragmatische Phraseologismen“ oder „Routineformeln“ beschriebenen Typ von Phraseologismen relativ nahestehen. 3. Anknüpfungspunkte für die Beschreibung formelhafter Texte in der Phraseologie-Forschung 3.1 Formelhafte Texte und Routineformeln Um die Frage nach Anknüpfungspunkten überhaupt sinnvoll stellen zu können, muß man eine weite Auffassung von Phraseologie vertreten, wie z.B. Burger/ Buhofer/ Sialm (1982) oder Coulmas (1981), nach denen in den Bereich der Phraseologie auch die sogenannten „pragmatischen Phraseologismen“ (Burger/ Buhofer/ Sialm 1982, Kap. 4.1) oder „Routineformeln“ (Coulmas 1981) gehören, also etwa Grußformeln, Dankes- und Entschuldigungsformeln, aber auch „gesprächsspezifische Phraseologismen“ (Burger/ Buhofer/ Sialm 1982, Kap. 4.1.3). 5 Die Einbeziehung solcher Ausdrücke in die Idiomatik wurde von Burger (1973) vorgeschlagen; er nannte sie damals „pragmatische Idiome“ (Kap. 3.3). In anderen Arbeiten wurde seine Anregung aufgegriffen (vgl. dazu Burger/ Buhofer/ Sialm 1982, S. 105). Es ist vor allem das Verdienst von Coulmas, diesen Typ von idiomatischen oder phraseologischen Ausdrücken ausführlich beschrieben zu haben. Coulmas führt Routineformeln ganz selbstverständlich neben Redewendungen, Sprichwörtern und Gemeinplätzen als „Arten verbaler Stereotype“ an und benutzt sie als Argument für eine „pragmatische Fundierung der Idiomatik“ (so der Untertitel seines Buchs): Routineformeln sind wie Sprichwörter oder auch Gemeinplätze Muster für die Konstituierung von Handlungen, und zwar von solchen Handlungen, die sich in der alltäglichen kommunikativen Praxis jeder Sprachgemeinschaft wiederholen. Sie sind an rekurrente Situationen des sozialen Verkehrs gebunden und sind als Resultat dieser Situationsstandardisierungen zu betrachten (Coulmas 1981, S. 13). „Phraseologismus“ wäre danach als Oberbegriff für verschiedene Typen formelhafter Ausdrücke aufzufassen, nämlich einerseits zu phraseologischen Ausdrücken in der Funktion eines Satzgliedes wie einen Stein im Brett haben, auf des Messers Schneide, Kind und Kegel sowie Sprichwörtern wie Morgenstund hat Gold im Mund, andererseits zu Routineformeln wie Gute Besserung, Herzlichen Glückwunsch usw. Die Beschreibung formelhafter Texte könnte also an das Konzept der Routineformeln anknüpfen. Beispielsweise werden Einladungs-, Wunsch- und Dan- 5 Eine solche weite Auffassung von Phraseologie vertritt auch Stein (1994), der in seinem Forschungsbericht zur Phraseologie auch Arbeiten zu „ritualisierter Sprache“ einbezieht und auf die „ständige Ausweitung des Gegenstandsbereichs“ der Phraseologie ausdrücklich hinweist (S. 153). Diese Ausweitung wird auch in seiner eigenen Untersuchung (Stein 1995) deutlich, die in diesem Zusammenhang eine ausführlichere Würdigung verdiente, deren Ergebnisse hier jedoch leider nicht mehr eingearbeitet werden konnten. Routineformeln und Formulierungsroutinen 145 kesformeln im allgemeinen zu den Routineformeln gerechnet, so auch von Coulmas (1981, Kap. 4; 1985a, S. 64f.). Allerdings läßt Coulmas ebenso wie alle anderen Autoren, die sich mit Routineformeln beschäftigen, offen, wie komplex solche Formeln sein können. Immerhin führt er im Zusammenhang mit Routineformeln auch Todesanzeigen als Beispiel an und sagt, sie seien „aus einem Baukasten präfigurierter Bestandteile zusammengesetzt“ (1981, S. 99). Aufgrund der Beispiele, die er sonst und die andere Autoren für Routineformeln zitieren, muß man allerdings annehmen, daß im allgemeinen eher an Strukturen von der Komplexität eines Satzes gedacht ist. Gleichwohl sagt Coulmas, wenn er von der Kontaktfunktion von Routineformeln spricht, sie könne dominierend sein „von einem nicht-expandierten Austausch von Grüßen bis zu längeren inhaltsleeren, stilisierten Formen sozialer Konversation“ (1981, S. 95). Das Definitionskriterium für Routineformeln par excellence, das alle Autoren benutzen, ist ihre Bindung an einen bestimmten Typ von Situation (Thun 1978, S. 24; Schemann 1981, S. 186; Burger/ Buhofer/ Sialm 1982, S. 117; Coulmas 1981, S. 66). Dieses Kriterium scheint mir auf formelhafte Texte ebensogut anwendbar zu sein wie auf andere formelhafte Ausdrücke. Jeder der oben als Beispiele angeführten Texte ist in dieser Weise an eine spezifische Situation gebunden und nur aus ihr heraus verstehbar. Auch die vier Gesichtspunkte, mit deren Hilfe Coulmas diese Situationsabhängigkeit näher beschreibt, lassen sich auf formelhafte Texte beziehen: 1) die Voraussagbarkeit im Kommunikationsablauf, 2) die Obligiertheit (d.h., ihr Vorkommen ist im Bewußtsein der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft relativ zu einer bestimmten Situation obligatorisch), 3) die Abhängigkeit der Bedeutung und der Verständlichkeit von der Situation (die Bedeutung ist die Funktion), 4) die Kulturspezifik (1981, S. 81ff.). Allerdings ist die Obligiertheit nicht für alle Typen formelhafter Texte in gleicher Weise gegeben. Zumindest ist die Form der Zeitungsannonce für Weihnachts- und Neujahrswünsche sicher nicht als obligatorisch anzusehen, während das Aussprechen einer Formel vom Typ Frohe Weihnachten in bestimmten Situationen tatsächlich zwingend sein kann. 146 Elisabeth Gülich 3.2 Formelhafte Texte und Phraseologismen 6 Wenn man Routineformeln als einen Typ von Phraseologismen ansieht, dann muß man annehmen, daß sie wenigstens einige gemeinsame Merkmale mit den anderen Phraseologismen teilen. Versucht man nun, bei der Beschreibung von formelhaften Texten an die Beschreibung von Routineformeln anzuknüpfen, so muß man auch für formelhafte Texte ebenso wie für Routineformeln die Frage stellen, inwieweit die Definitionskriterien für Phraseologismen im allgemeinen auf sie angewendet werden können. Ich meine Kriterien wie nach Fleischer (1982, S. 35) - Idiomatizität, semantisch-syntaktische Stabilität, Lexikalisierung und Reproduzierbarkeit oder nach Greciano (1983, S. 233ff.) - Mehrgliedrigkeit, Festigkeit und Figuriertheit. Sicher kann man schon bei Routineformeln und noch weniger bei formelhaften Texten kaum oder nur in den seltensten Fällen von Idiomatizität oder Figuriertheit sprechen. Routineformeln sind nicht unbedingt syntaktisch oder semantisch abweichend gebildet, heißt es bei Coulmas (1985, S. 265), sondern sie sind oft nur durch häufigen Gebrauch zu Formeln geworden. „Die wirkliche Bedeutung spielt bei vielen Routineformeln aufgrund ihrer großen Rekurrenz nur eine sehr geringe Rolle, oft ist sie gänzlich suspendiert“ (Coulmas 1981, S. 77). Wenn Idiomatizität das entscheidende Kriterium für Phraseologismen sein soll, fallen die meisten Routineformeln aus der Phraseologie heraus. Kriterien wie Festigkeit bzw. Stabilität und Reproduzierbarkeit sind hingegen auf Routineformeln durchaus anzuwenden. 7 Das Problem, mit welchem Recht Routineformeln überhaupt als phraseologisch bezeichnet werden, will ich hier jedoch nicht diskutieren. Wenn man Routineformeln zum Bereich der Phraseologie rechnet und die für sie formulierten Definitionskriterien dann auf formelhafte Texte anwendet, so spricht nichts dagegen, formelhafte Texte als eine Art von komplexen Routineformeln zu beschreiben. Wenn man dieser Meinung zustimmt, wird der Bereich der Phraseologie natürlich erheblich ausgeweitet - und das könnte als Nachteil erscheinen. Aber dem ist entgegenzuhalten, daß der entscheidende Schritt zu einer Erweiterung bereits durch die Einbeziehung der Routineformeln getan wurde. Burger war sich 1973 dessen durchaus bewußt: 6 In neueren Arbeiten habe ich nicht mehr den Terminus ‘formelhafter Text’ verwendet, sondern ihm den Terminus ‘vorgeformter Ausdruck’ bzw. ‘vorgeformte Struktur’ (‘structure preformee’ in Gülich/ Krafft 1995) vorgezogen, um deutlich zu machen, daß Vorgeformtheit auf verschiedenen Ebenen der Sprachbeschreibung beobachtbar ist; vgl. Gülich/ Krafft (1992), (1995) und (1996). In diesen Arbeiten wird weniger von der Phraseologie als von formulierungstheoretischen Überlegungen ausgegangen. „Formulierungsroutinen bei der Textproduktion“ behandelt auch Stein (1995, Kap. 6). 7 Zur Reproduzierbarkeit vgl. auch Burger/ Buhofer/ Sialm (1982, S. 61ff.). Routineformein und Formulierungsroutinen 147 Es ist klar, daß durch die Einbeziehung solcher Erscheinungen [gemeint sind: „pragmatische Idiome“] in die Idiomatik der zunächst semantisch abgegrenzte Begriff des Idioms in unabsehbarer Weise ausgeweitet wird. Vielleicht sind pragmatische ‘Idiome’ aus Gründen der terminologischen und methodischen Stringenz eher in einer Teiltheorie der Pragmatik als im Rahmen einer semantisch orientierten Idiomatik zu behandeln (Burger 1973, S. 59f.). Dieser Mahnung zur Vorsicht ist man in der Phraseologie seither jedoch nicht gefolgt. 8 Nunmehr auch formelhafte Texte in die Phraseologie einzubeziehen, erscheint mir als ein zweiter Schritt nur konsequent, nachdem man den ersten mit der Einbeziehung der Routineformeln nun einmal getan hat. Diese Erweiterung des Gegenstandsbereichs läßt sich auch durch das zunehmende Interesse der Phraseologie-Forschung an textuellen und pragmatischen Aspekten von Phraseologismen rechtfertigen, das u.a. auch in der Annahme „textbildender Potenzen“ Ausdruck findet (vgl. z.B. Fleischer 1982, S. 216ff.). Darum soll es hier zwar nicht gehen, aber meine Hypothese ist, daß Routineformeln ähnlich wie andere phraseologische Ausdrücke eine textkonstituierende Rolle haben können. Die Überlegungen von Greciano (1987) zu Idiom und Text könnte man daher u.U. auch für Routineformeln methodisch fruchtbar machen. Die Konsequenzen einer immer wieder geforderten textlinguistischen Betrachtungsweise von Phraseologismen liegen m.E. eben nicht nur in der Berücksichtigung pragmatischer und textueller Aspekte, sondern können auch zur Annahme von Phraseologismen auf Textebene führen. Burger/ Buhofer/ Sialm referieren Konzeptionen von Phraseologie aus der sowjetischen Linguistik, nach denen auch komplexe Einheiten oberhalb der Satzgrenze als „phraseologisch“ bezeichnet werden könnten, „sofern auch auf der Textebene strukturelle Gesetzmäßigkeiten anzunehmen sind, die verletzt werden können“. Allerdings halten sie eine derart weite Definition von Phraseologie für „wenig praktikabel und theoretisch nicht unproblematisch“ (1982, S. 5). Die Frage ist letzten Endes, ob man die Termini ‘phraseologisch’ und ‘formelhaft’ gleichsetzen will. In einem Handbuchartikel über sprachliche Stereotype definiert Quasthoff (1987, S. 796) „formulaic expressions“ als „shared contents associated with a fixed linguistic form“. Diese Definition nimmt auf die Komplexität der „Form“ keinen Bezug. Eine ausdrückliche Definition ‘formelhafter Texte’ geben Zavarin/ Coote (1979, S. 4): Formulaic texts are ready-made, stable, reproducible units of language not generated during the speech process. A formulaic text is stereotypic in both its lexical and its syntactic qualities, and usually is situationally bound; it must be part of a folklore tradition or of the living, conversational idiom of a people. 8 Burger/ Buhofer/ Sialm (1982, S. 105) berichten über die Weiterführung von Burgers Überlegungen in späteren Arbeiten. Sie nennen drei hauptsächliche Zugänge für die Behandlung des Problems der pragmatischen Phraseologismen: die Sprechakttheorie, die Theorie der Sprachfunktionen und die Theorie der Sprechsituationen. 148 Elisabeth Gülich Diese Definition läßt sich ohne weiteres auf die hier angeführten Beispiele für formelhafte Texte anwenden. Allerdings bezieht sich die Untersuchung von Zavarin/ Coote trotz dieses weiten Konzepts nur auf Sprichwörter. Sie halten die Untersuchung von Sprichwörtern aber für eine Voraussetzung für die Untersuchung auch komplexerer Einheiten (Zavarin/ Coote 1979, S. 2). Bei der Annahme von Phraseologismen auf Textebene ist auf jeden Fall zu bedenken, daß die Festigkeit eines Ausdrucks mit zunehmender Komplexität abnimmt (es sei denn in institutionell gebundenen Ritualen). Daher ist das Kriterium der Festigkeit im Zusammenhang mit formelhaften Texten nur dann von Interesse, wenn es wie z.B. Burger/ Buhofer/ Sialm das für alle Phraseologismen tun (1982, S. 67ff.) zu dem der Variabilität in Beziehung gesetzt wird. Auch für Fleischer ist die Stabilität des Phraseologismus grundsätzlich relativ (1982, S. 209ff.); Erweiterungen und Reduktionen werden als Verfahren der Variation beschrieben. 9 Ebenso ist davon auszugehen wie es in neueren Arbeiten zur Phraseologie auch geschieht -, daß es nicht nur „feste“ Wortverbindungen einerseits und „freie“ andererseits gibt, sondern eine ganze Skala unterschiedlicher Grade von Festigkeit (vgl. auch die Idiomatizitätsgrade bei Fleischer 1982, S. 35ff.). „Frei“ und „fest“ sind nur die äußersten Enden einer Achse mit zahlreichen Zwischenstufen oder Übergangsformen (Moreau 1986, S. 137). 3.3 Formelhafte Texte als Phraseoschablonen Ein Typ phraseologischer Ausdrücke erscheint mir in diesem Zusammenhang als besonders fruchtbar im Hinblick auf das Konzept ‘formelhafter Text’, nämlich jener Typ von Wortverbindungen, „bei dem ein bestimmtes syntaktisches Schema mit einer ‘typisierten Semantik’ ausgestattet ist, wobei die lexikalisierte Besetzung der syntaktischen Positionen mehr oder weniger frei ist“ (Burger/ Buhofer/ Sialm 1982, S. 35). Dieser Typ von Phraseologismen wird als „Modellbildungen“ (ebd.) oder als „Phraseoschablonen“ bezeichnet (Fleischer 1982, S. 135-139). Gemeint sind Ausdrücke wie von Tag zu Tag, von Hand zu Hand, von Mund zu Mund oder: Schritt für Schritt, Tag für Tag usw., oder auch: er will und will nicht, er kommt und kommt nicht, oder schließlich Satzmuster wie ‘X ist X’ (z.B. sicher ist sicher, Urlaub ist Urlaub, geschenkt ist geschenkt usw.) oder ‘X bleibt X’ (z.B. doof bleibt doo/ u.ä.). 10 Texte wie Einladungen, Glückwunsch- und Familienanzeigen, aber auch Danksagungen oder Grußworte bzw. 9 Vgl. auch Coulmas (1985, S. 254): „Zu allen Zeiten gibt es lexikalische Einheiten, die sich im Grad ihrer inneren Festigkeit unterscheiden.“ 10 Beispiele für solche „Schablonen“ im Bereich der Sprichwörter bringt Mieder (1975, S. 62ff.); er stellt fest, daß „viele Tausende von Sprichwörtern (...) auf eine viel kleinere Anzahl von sprachlichen Formeln zurückzuführen sind“. Vgl. auch Gülich (1978/ 1981) über vorgeformte Satzmuster für Gemeinplätze. Routineformeln und Formulierungsroutinen 149 Begrüßungsansprachen und viele andere lassen sich meiner Meinung nach mit solchen Phraseoschablonen vergleichen. Abgesehen von den oben als Beispiel (1) und (2) zitierten Versicherungsformeln lassen sich alle anderen Beispiele - und darüberhinaus wohl die meisten formelhaften Texte den ‘Phraseoschablonen’ zurechnen. Ich möchte also festhalten, daß eine textlinguistisch bzw. pragmatisch orientierte Phraseologie unter bestimmten Voraussetzungen nämlich bei Berücksichtigung von Variabilität, bei Annahme verschiedener Stabilitätsgrade und bei Einbeziehung von Phraseoschablonen - Anknüpfungspunkte für die Beschreibung formelhafter Texte bieten kann. Speziell im Bereich der Routineformeln erscheint mir der Übergang von der Formel zum Text auch deshalb als relativ unproblematisch, weil Routineformeln häufig Sequenzen bilden. Coulmas (1981, S. 108ff.) hat die Prinzipien der Verknüpfung als „Sequenzierungsbedingungen“ genauer beschrieben: einerseits gibt es Folgen von Routineformeln, die vom selben Sprecher geäußert werden (Beispiele: die Weihnachts- und Neujahrswünsche in den Anzeigen, die mit Dankesformeln kombiniert werden); andererseits sind viele Routineformeln zu Formelpaaren organisiert (Gruß - Gegengruß, Dank - Quittierung des Danks, Wunsch - Dank usw.). Es können sich also auch Abfolgen von Formeln zu Routinen verfestigen. Ebenso heißt es bei Burger/ Buhofer/ Sialm, nicht nur vereinzelte phraseologische Äußerungen könnten als situationsspezifisch gelten, sondern u.U. könne sich „ein ganzes Netz von Phraseologie um eine Situation“ herumlegen (1982, S. 120). 4. Charakteristika formelhafter Texte 4.1 Beispiel: Danksagungen in wissenschaftlichen Arbeiten Überlegungen wie die vorangegangenen könnten nun die Annahme nahelegen, ein formelhafter Text sei nichts weiter als eine Aneinanderreihung von formelhaften Ausdrücken bzw. von Routineformeln. Zwar kommen in formelhaften Texten häufig auch phraseologische Ausdrücke im engeren Sinne vor, z.B. auch solche, die archaische Elemente enthalten, wie an Eides Statt in Beispiel (1) oder beehrt sich, gestattet sich, gibt sich die Ehre in den Beispielen (4) bis (7) oder auch Paarformeln wie plötzlich und unerwartet in Todesanzeigen (Bsp. (20) u. (25)). M.E. ist in solchen Fällen die Bindung an einen formelhaften Text häufig gerade die Voraussetzung für die Tradierung der Formeln. Aber das Vorhandensein solcher Formeln im Text ist allein nicht entscheidend für Formelhaftigkeit auf Textebene. Über das Vorkommen von formelhaften Ausdrücken hinaus, sehe ich es als konstituierend für einen formelhaften Text an, daß er aus konstanten inhaltlichen Komponenten besteht und eine feste Gesamtstruktur aufweist. 150 Elisabeth Gülich Was ich damit meine, will ich am Beispiel von Danksagungen aus wissenschaftlichen Arbeiten erläutern. Aus einem größeren Corpus habe ich im folgenden einige Beispiele für Danksagungen vor allem aus Dissertationen zusammengestellt. 11 Beispiel (27) stellt die Minimalform dar, die in Dissertationen höchst selten zu finden ist; sie besteht nur aus einer einzigen Dankesformel: (27) MW 1978 Den Herren Professoren L., H. und P., die die Arbeit durch zahlreiche Anregungen gefördert haben, bin ich zu großem Dank verpflichtet. Das nächste Beispiel weist eine geringe Erweiterung um ein informatives Element auf: (28) GK o.J. Die vorliegende Arbeit wurde am Institut für Radiochemie der Universität Karlsruhe durchgeführt. Herrn Professor Dr. C. und Herrn Professor Dr. W. danke ich für die wohlwollende Förderung dieser Arbeit. Die Beispiele (29) und (30) hingegen lassen die typische Struktur solcher Texte erkennen: es wird mehreren Personen in einer bestimmten Reihenfolge mit wechselnden Dankesformeln gedankt: (29) JN 1986 Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. W., der diese Arbeit mit großem Interesse betreut hat. Der Stiftung Stipendien-Fonds des Verbandes der Chemischen Industrie danke ich für ein Doktorandenstipendium und der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Förderung im Rahmen eines Projektes. Ferner danke ich Herrn Prof. Dr. E. und Herrn Prof. Dr. R. für Proben der untersuchten Phosphorverbindungen sowie Herrn Prof. Dr. H. und Herrn Prof. Dr. IV., die die Meßgeräte zur Verfügung gestellt haben. (30) DS 1979 Die vorliegende Arbeit wurde unter der Anleitung von Herrn Prof. Dr. Th. in der Zeit von Februar 1975 bis Dezember 1978 an der Fakultät für Chemie der Universität Bielefeld durchgeführt. Mein besonderer Dank gilt meinem verehrten Lehrer, Herrn Prof. Dr. Th., für die Themenstellung zu dieser Arbeit, für Anregungen und Diskussionen und für sein stets förderndes Interesse bei der experimentellen und theoretischen Ausführung. Ich danke dem Deutschen Akademischen Austauschdienst für die finanzielle Unterstützung bei der Durchführung dieser Arbeit. 11 Obwohl es sich in der Regel um veröffentliche Arbeiten handelt, aus denen die zitierten Danksagungen stammen, habe ich in den folgenden Beispielen die Eigennamen abgekürzt, da ich die Aufmerksamkeit hier auf die Form, nicht auf die Verfasser oder Betreuer der Dissertation lenken wollte. Routineformeln und Formulierungsroutinen 151 dieser Stelle möchte ich meinen Eltern sowie Herrn Prof. Dr. M. dafür danken, daß sie mir die Wissenschafl als Weg zur Wahrheit gezeigt haben. Meiner Lebensgefährtin E. danke ich für ihr Verständnis und für ihre immerwährende Unterstützung. Beispiel (30) beginnt mit einem informativen Teil, der in (29) fehlt. Es folgen die Dankesformeln, wobei die Personen, denen gedankt wird, in einer hierarchischen Reihenfolge präsentiert werden: Doktorvater, Geldgeber, weitere Förderer der Arbeit, Lebensgefährtin (in 30) (die letzte Stelle in den Danksagungen ist sehr häufig der Ehefrau oder der Lebensgefährtin Vorbehalten, manchmal auch der Schreibkraft in einigen Fällen sind auch beide Rollen in einer Person vereint). In den folgenden Beispielen geht dieser Hierarchie ein pauschaler Dank an die Gesamtgruppe der Förderer der Arbeit voran, der im nachfolgenden Text detailliert wird: (31) HW 1969 An dieser Stelle möchte ich allen danken, die mir bei der Abfassung der Schrift geholfen haben. Mein Dank gilt vor allem Herrn Prof. Dr. M., der meine Arbeit von Anfang an geleitet und sie in jeder Hinsicht gefördert hat. Großen Dank schulde ich auch Herrn Prof. Dr. E. für zahlreiche wichtige Hinweise, so zum Beispiel über das Homophonenproblem und den Vergleich mit der griechischen Sprache, die mir sehr geholfen haben. Auch Herrn Prof. Dr. W., der das Manuskript vor der endgültigen Fertigstellung durchgesehen hat, sage ich hiermit meinen besten Dank. (32) SW 1978 Danken möchte ich allen, die mich bei der Durchführung dieser Arbeit unterstützt haben, insbesondere den Herren Prof. Dr. A. und Prof. Dr. W. für ihre wissenschaftliche Förderung, den Professoren an Fachhochschulen Frau B., Herrn B., Frau Dr. E. und Herrn S. für ihre Hilfe und ihr Entgegenkommen bei allen Problemen, die die Durchführung der Untersuchungen im Rahmen meiner Tätigkeit als Lehrbeauftragte am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Regensburg betrafen. Weiteren Dank schulde ich Frau G. (Dipl.-Psych.) und Herrn G. (Ing.-grad.) für ihre Unterstützung bei allen technisch-organisatorischen Belangen der Versuchsdurchführung. Der Graduiertenförderung der Universität Regensburg verdanke ich ein 12monatiges und der Konrad-Adenauer-Stiftung ein 15-monatiges Promotionsstipendium während der Durchführung dieser Arbeit. Gedankt sei auch den vielen Studenten des Fachbereichs Sozialwesen der Fachhochschule Regensburg, ohne deren Mitarbeit die vorliegende Arbeit letztlich nicht hätte durchgeführt werden können. (33) PF 1977 Es bleibt mir die angenehme Pflicht, Dank abzustatten für mannigfache Belehrung, Hilfe, Ermutigung, anregende Diskussion und - Geduld. An erster Stelle steht, bei allen diesen Punkten (und gewiß beim letzten! ), mein Lehrer G. Bei ihm habe ich gelernt, daß Philosophie lebendig, klar und wissen- 152 Elisabeth Gülich schaftsnah betrieben werden kann. Ich weiß, daß ich leider in vielen Punkten seinen Maßstäben für Klarheit und Genauigkeit der Darstellung, Souveränität des Urteils und Aufmerksamkeit der Argumentation nicht habe entsprechen können. An zweiter Stelle nenne ich J., S. und P., die, auf unterschiedliche Weise, einen starken Einfluß auf das hatten, was in diesem Buch steht. Auch W. und T. möchte ich hier herzlich danken. Außerdem habe ich von vielen Freunden und Kollegen Belehrung und Hilfe in unterschiedlicher Form empfangen; ich nenne insbesondere ( ■■■ ) ■ Sehr nützlich waren für mich einige Diskussionen mit J. zum Problem der Übertragbarkeit seiner wissenschaftstheoretischen Konzeption auf die Linguistik. Dem Vieweg-Verlag, und hier insbesondere Herrn A., danke ich für seine Geduld und Sorgfalt bei der Herstellung des Buches. Zuletzt er wird es verstehen nenne ich M.; ohne unsere gemeinsamen Exkursionen, vom Hansäg bis ins Ochsenmoor, sähe dies mit Sicherheit ganz anders aus. Durch die Formeln An dieser Stelle möchte ich allen danken, die mir bei der Abfassung der Schrift geholfen haben (31), Danken möchte ich allen, die ... (32) und Es bleibt mir die angenehme Pflicht, Dank abzustatten für ... (33) wird zugleich auch die Funktion des gesamten Texts vorab explizit verdeutlicht. Anschließend wird die Gruppe der Förderer differenziert: Jeder Person wird mit einer anderen Dankesformel gedankt; die Variation der Formel scheint geradezu ein durchgängiges Formulierungsprinzip zu sein. Die gängigsten Formeln sind: ich danke, ich möchte danken, ich schulde Dank, ich bin zu Dank verpflichtet, ich habe zu danken, mein Dank gilt, gedankt sei. Häufig wird das Abstatten des Dankes auch wie in Beispiel (33) als eine angenehme Pflicht bezeichnet. Die Hierarchie wird verdeutlicht durch Ausdrücke wie mein besonderer Dank, insbesondere danke ich, an erster Stelle für die erste Position, außerdem, auch, ferner für die folgenden, schließlich oder zuletzt für die letzte Position, hier wird manchmal auch die Formel last but not least verwendet. Die einzelnen Beispiele unterscheiden sich darin, daß sie mehr oder weniger formelhaft sind (Beispiel (33) besonders der zweite Absatz ist z.B. weniger formelhaft als die übrigen Texte). Auch bzw. gerade auf Textebene lassen sich also Gradunterschiede an Formelhaftigkeit feststellen. Es ist unschwer zu erkennen, daß sich aus solchen Texten leicht eine Schablone herstellen ließe, die für jede wissenschaftliche Arbeit passen würde und die Leerstellen vor allem für die Eigennamen enthielte, die für den jeweiligen individuellen Fall auszufüllen wären. Im folgenden stelle ich besonders häufige Formeln 12 aus meiner Materialsammlung tabellenartig zusammen (s. nächste Seite). 12 Die Zusammenstellung ergibt sich nicht nur aus den hier zitierten Beispielen, sondern aus einem Corpus von ca. 80 Texten. Eine genauere und vollständige zahlenmäßige Auswertung habe ich allerdings nicht vorgenommen, da das Corpus ohnehin ad hoc zusammengestellt wurde und sicher nicht repräsentativ ist. In diesem Zusammenhang kommt es mir lediglich darauf an, einige typische Beispiele aufzulisten. Routineformeln und Formulierungsroutinen 153 Nimmt man je einen Ausdruck aus jeder Spalte, so lassen sich daraus verschiedene, aber gleichermaßen formelhafte Texte produzieren, in die nur die Namen der Adressaten einzusetzen sind. (Die Leerstellen werden mit Großbuchstaben bezeichnet.) Zum Beispiel: In erster Linie [Sp.l] möchte ich [Sp.2] A herzlich [Sp.3] danken [Forts, von Sp.2] für wesentliche Anregungen und wertvolle Ratschläge [Sp.4], Mein [2] aufrichtiger [3] Dank gilt [Sp.2] außerdem [Sp.l] B für kritische und hilfreiche Diskussionen [4], Schließlich [1] habe ich C zu danken [2], der die Arbeit durch zahlreiche nützliche Hinweise gefördert hat. Bei solchen Texten sehe ich durchaus eine Parallele zu den von Fleischer beschriebenen Phraseoschablonen, wenn auch die Kombinationsmöglichkeiten auf Textebene ungleich vielfältiger sind als auf der Ebene weniger komplexer Ausdrücke (wie die oben zitierten ‘von X zu X’ oder ‘X ist X’ usw.). Dabei knüpfe ich bewußt an Überlegungen aus der Phraseologie- Forschung an, anstatt einfach von ‘Textsorten’ oder wie Sandig (1986) und Antos (1986a) von ‘Textmustern’ zu sprechen, weil eben die Realisierung der Komponenten mit Hilfe vorgefertigter Bausteine, also formelhafter Elemente erfolgt. Anordnung der D ankesformeln performativer Ausdruck des Dankes nähere Charakterisierung des Ausdrucks in Sp.2 Inhalt des Dankes Adjektive Nomina an dieser Stelle in erster Linie vor allem insbesondere ferner außerdem schließlich zuletzt last but not least ich danke ich möchte danken danken möchte ich ich habe zu danken zu danken habe ich gedankt sei ich bin dankbar ich sage Dank mein Dank gilt ich schulde Dank Dank schulde ich ich bin zu Dank verpflichtet es is t/ bleibt mir eine angenehme Pflicht zu danken/ Dank abzustatten besonders (besonderer) herzlich(er) aufrichtig(er) großer (nur als Adj.) zahlreiche nützliche hilfreiche wesentliche kritische wertvolle fachliche Hinweise Anregungen Ratschläge Diskussionen 154 Elisabeth Gülich Zusammenfassend möchte ich die folgenden Charakteristika formelhafter Texte festhalten: Konstante inhaltliche Textkomponenten, relativ feste Reihenfolge, formelhafte Realisierung der Komponenten, Bindung des ganzen Texts an eine bestimmte Situation, aus der sich eine Hauptfunktion ergibt. Diese Charakteristika machen die Reproduzierbarkeit des Texts als Ganzes aus. 13 ‘Reproduzierbarkeit’ bezieht sich also sowohl auf einzelne Bausteine als auch auf die gesamte Schablone mit gewissen Leerstellen, die situationsspezifisch ausgefüllt werden. Diese Beschreibung von Danksagungen 14 weist Parallelen zur Beschreibung von Grußworten in den Arbeiten von Antos (1986, 1986a und 1987) auf, wo ausdrücklich „Regeln der Textsorte Grußwort“ bzw. „Bedingungen“ für Grußworte formuliert werden (1986, S. 56ff.; 1987, S. 17ff.). Danksagungen und Grußworte haben u.a. gemeinsam, daß in ihnen die alltagsweltlichen Formeln zum Vollziehen der betreffenden Sprechakte, also Guten Tag bzw. Danke oder Vielen Dank ausgeschlossen sind (vgl. die erste Regel in Antos 1986, S. 56). Daß Grußworte sich von der alltäglichen Handlung des Grüßens und Danksagungen von der des Dankens unterscheiden, wird auch daran deutlich, daß eine Erwiderung des Grußes bzw. ein Annehmen des Danks nicht vorgesehen ist (vgl. Antos 1986a, S. 175). In Danksagungen herrscht ferner wie in den Grußworten ein „Zwang zur begrenzten textuellen Expansion“ (Antos 1986, S. 56; 1986a, S. 178; 1987, S. 20). Damit ist gemeint, daß sie im allgemeinen eine bestimmte Mindestlänge nicht unterschreiten 15 das oben zitierte Beispiel (27) stellt 13 Aufgrund von weiteren Untersuchungen an empirisch erhobenem Material erscheint mir die Formulierung dieser Charakteristika heute als zu eng. Insbesondere das Kriterium der „relativ festen Reihenfolge“ dürfte nicht immer zutreffen, wie z.B. auch Drescher (1994) am Beispiel von Absagebriefen zeigt (vgl. bes. S. 131); es könnte vielleicht ersetzt werden durch „wiedererkennbare Textstruktur“. Diese Problematik wird auch in Gülich/ Krafft (1995) wiederaufgenommen: sie wird am Beispiel von Abstracts ausführlich in der Arbeit von Möller (1996) behandelt. Zur Auseinandersetzung mit den „Merkmalen formelhafter sprachlicher Einheiten“ vgl. auch Stein (1995, bes. Kap. 2). 14 Die Beobachtungen zu Danksagungen stehen in einem Arbeitszusammenhang, der hier nicht im einzelnen entwickelt werden kann, obwohl er vielleicht geeignet wäre, sie fundierter erscheinen zu lassen. Ich habe mich einerseits mit einer ähnlichen Textsorte, nämlich Begrüßungsansprachen befaßt (s.o. Anm. 4), andererseits für Danksagungen auch ein entsprechendes Corpus französischer Texte ausgewertet („Formules toutes faites et discours ä faire: le röle des expressions stereotypees pour la constitution du texte“, Vortrag im DRLAV-Seminar, Paris, 5.6.1987). Die Beschäftigung mit Routineformeln und ihrer Rolle in Texten geht im übrigen auf eine frühere Arbeit zurück (Gülich/ Henke 1979/ 80). 15 Der Terminus ‘Expansion’ erscheint mir in gewisser Hinsicht inkonsequent, da er zu beinhalten scheint, daß eine (kurze) Äußerung also in dem Fall wohl eine Gruß- Routineformein und Formulierungsroutinen 155 eher die Ausnahme als die Regel dar. Die Danksagung muß ebenso wie das Grußwort „einen die Höflichkeit nicht unterschreitenden Umfang“ (Antos 1987, S. 20) haben. Coulmas hatte bereits für Routineformeln darauf hingewiesen, daß der Höflichkeitsgrad mit der Länge der Äußerung zunimmt (1985a, S. 56L). Die Wertschätzung des oder der Adressaten des Danks findet ihren Ausdruck u.a. in der Länge. Dieser Zwang zur „Expansion“ ist jedoch „begrenzt“: die meisten Danksagungen nehmen ähnlich wie die Grußworte nicht mehr als eine halbe oder eine Seite ein 16 (sofern sie nicht in ein Vorwort oder eine Einleitung mit anderem Inhalt integriert sind). Ich will hier nicht alle von Antos für das Grußwort formulierten Regeln auf ihre Gültigkeit für Danksagungen überprüfen auf einige komme ich unten in anderem Zusammenhang noch zurück. An dieser Stelle ist nur festzuhalten, daß Antos von anderen linguistischen Ansätzen aus - Stilistik und Textsortenlinguistik - und für eine andere Textsorte das Grußwort zu Ergebnissen kommt, die sich für die Beschreibung formelhafter Texte aus der Perspektive der Phraseologie-Forschung nutzbar machen lassen. Der Aspekt der Formelhaftigkeit steht bei ihm allerdings nicht im Vordergrund. 4.2 Das Bewußtsein von Formelhaftigkeit 4.2.1 Kreativer Umgang mit Formeln Ein wichtiger Gesichtspunkt für die Konzeption des formelhaften Textes liegt m.E. auch darin, daß die Mitglieder einer Sprach- oder Kommunikationsgemeinschaft ein Bewußtsein von der Formelhaftigkeit solcher Texte haben ein Kriterium, dessen Relevanz Quasthoff (1983) 17 für formelhafte Wendungen herausgearbeitet hat. Ich habe eine ganze Reihe Beispiele von Danksagungen gefunden, in denen dieses Bewußtsein explizit zum Ausdruck gebracht wird und die Formeln in ihrer Verwendung als Formeln gekennzeichnet werden: (34) HRF 1987 Das vorliegende Buch ist die leicht geänderte Fassung meiner 1986 von der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Heidelberg angenommenen Dissertation. Die Arbeit wurde im Frühjahr 1986 abgeschlossen. An dieser Stelle ist es üblich, das Sprachspiel des Dankens zu spielen; dem formel expandiert wird. Das ist aber nach Antos gerade nicht der Fall. 16 Antos gibt für Grußworte als Mindestumfang drei Absätze (drei Sätze) und als obere Grenze eine Textseite an (1986, S. 57). 17 Vgl. dazu auch Quasthoff (1987, S. 796): „Under functional perspectives the formulaic character itself, the fixedness of the linguistic form must be known to the interlocutors in order to turn an expression into a formulaic one.“ 156 Elisabeth Gülich möchte auch ich mich nicht entziehen. Für die langjährige Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit meinen Positionen zu Wittgenstein bin ich meinem Freund, Dr. H., Heidelberg, besonders verpflichtet. Für die lange, kritische Unterstützung und Betreuung meiner Arbeit im Bereich der Philosophie danke ich Prof. Dr. H. Da der Blickwinkel dieser Arbeit von Anfang an über die Grenzen des Faches Philosophie hinaus gerichtet war, suchte und fand ich Anregungen, Kritik und wichtige Hinweise von Lehrern anderer Fachbereiche. Hierfür habe ich mich insbesondere bei den Professoren S. (Famihentherapie/ Psychoanalyse) und R. (Linguistik) herzlich zu bedanken. Schließlich bleibt dem Evangelischen Studienwerk in Vilhgst Dank zu sagen für die großzügige finanzielle Förderung dieser Arbeit. Um den Text lesbar zu gestalten, wurde ein großer Teil wichtiger Detaildiskussionen im Anmerkungsteil abgehandelt. Dies sollte den Leser nicht abschrecken, gelegentlich die Mühe des Blätterns auf sich zu nehmen und in diesem Teil des Buches nachzulesen. Durch den einleitenden Kommentar An dieser Stelle ist es üblich, das Sprachspiel des Dankens zu spielen; dem möchte auch ich mich nicht entziehen distanziert sich der Verfasser von der Formelhaftigkeit des nachfolgenden Textes. Wenn dann auf diesen Kommentar mehr oder weniger die üblichen Formeln folgen, so hat er zumindest zu erkennen gegeben, daß er sich dessen bewußt ist. Im folgenden Beispiel erfolgt die Distanzierung hingegen dadurch, daß der Routinecharakter der Danksagung negiert wird: (35) FC 1981 Es soll mir keine bloße Routineübung sein, wenn ich den Ublichkeiten folgend hier meine Dankbarkeit denen gegenüber vermerke, die mich beim Verfassen dieser Schrift unterstützt haben. An erster Stelle gilt sie D. W., von dessen stets produktiver Kritik ich sicher am meisten profitiert habe. Sehr anregend waren für mich auch viele Gespräche mit C. F., L. W. und C. Y., die zu führen ich während des Summer Institute der LSA im Sommer 1979 in Salzburg Gelegenheit hatte. Was meine Ausführungen über die japanische Sprache betrifft, so wären sie ohne die Geduld von H. A. W. und I. M., die sich als Informanten zur Verfügung stellten, noch unvollkommener, als sie es jetzt sind. Außerdem hat mir Herr Professor B. L. geholfen, einige Fehler zu vermeiden. Möglich geworden ist diese Arbeit durch die finanzielle Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. ... Sie wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Düsseldorf als Habilitationsschrift angenommen. Der auf den distanzierenden Einleitungssatz folgende Text läßt das Bemühen um die Vermeidung allzu gängiger Formeln erkennen, macht aber zugleich auch deutlich, daß es nicht möglich ist, völlig aus dem Schema auszubrechen; letztlich wird immer noch weitgehend das vorgegebene Muster realisiert, nur sind die Ausdrücke weniger formelhaft. Formelhaftigkeit ist in bestimmten Situationen eben nur bis zu einem gewissen Grade vermeidbar. Die Tatsache, daß die Verfasser wissenschaftlicher Arbeiten sich u.U. um ein Abweichen vom herkömmlichen festen Muster bemühen, beweist im Grunde deren Formelhaftigkeit. Zugleich zei- Routineformeln und Formulierungsroutinen 157 gen solche Beispiele aber auch, daß ein kreativer Umgang mit Formeln möglich ist, wenn die Formelhaftigkeit als solche thematisiert wird. Dafür abschließend noch zwei Beispiele, in denen ausdrücklich auf die Textsorte ‘Vorwort’ Bezug genommen wird: (36) AK 1978 Nicht selten findet sich im Vorwort von Dissertationen eine genaue Schilderung der glücklichen Umstände, unter denen sie zustande gekommen sind. Solche Vorwörter habe ich stets mit großer Freude gelesen und ihre Heiterkeit mag dazu beigetragen haben, daß ich mich auch selbst einmal an einer solchen Schrift versucht habe. Ich glaubte, ich könnte dadurch Ratlosigkeit und Kummer wenigstens für eine kurze Zeit aus meinem Leben fernhalten. Es sollte alles ganz anders kommen. Dafür, daß es nicht noch schlimmer gekommen ist, danke ich ganz herzlich meinen Freunden, Lehrern und Kollegen in Konstanz, Wellington und Nijmegen. Auch an finanzieller Unterstützung hat es mir nie gefehlt: Für das Jahr 197f bekam ich vom Deutschen Akademischen Austauschdienst ein Stipendium, um an der Victoria Universität in Wellington zu studieren. Dort wurden die Grundgedanken dieser Arbeit entwickelt. Die Ausarbeitung hat länger gedauert: Vom März bis zum Oktober 1975 hatte ich ein Graduiertenstipendium der Universität Konstanz. Danach habe ich bis zum Juni 1978 im Sonderforschungsbereich „Linguistik“ derselben Universität gearbeitet. Seitdem bin ich Mitarbeiterin bei der Projektgruppe „Psycholinguistik“ der Max-Planck- Gesellschaft in Nijmegen. (37) DB 1986 Als Wissenschaftler sind wir es gewöhnt, das Mitreden-Lassen (durch Zitate und Literaturhinweise) zu einer Technik zu machen. Oft sind es aber gerade die nicht hteraturförmigen Anstöße, aus denen wir am meisten lernen. Und um darauf aufmerksam zu machen, hat man die Textform der Vorworte erfunden. Deshalb möchte ich an dieser Stelle vor allen anderen R. W. danken; ohne ihn, der sie angeregt, betreut, abgesichert und durch die verschiedenen Stadien stets mit Interesse verfolgt hat, wäre diese Arbeit nicht entstanden. Das Wissen um unsere Übereinstimmung in den wichtigsten inhaltlichen Fragen war eine bessere Stütze für mein Wagnis dieser Unternehmung, als es jede Detailkritik sein konnte. Mein Dank gilt ebenso H. W., welcher durch seine Lehre und seinen Rat in wichtigen Stadien meiner linguistischen Ausbildung an manchen Grundsteinen der hier vorgelegten Ideen mitgebastelt hat. Für Kritik und Anregungen in verschiedenen Stadien dieser Arbeit danke ich G. 0. M. S. H. F. R. C. und ganz besonders H. B. Danken möchte ich an dieser Stelle aber auch den Herausgebern (...) Ob ich den Straßenmusikern danken soll, welche die Arbeit an meinem Schreibtisch inmitten Heidelbergs Fußgängerzone musikalisch untermalten, weiß ich nicht so recht; ob die wechselnde Qualität und Intensität ihrer Darbietungen sich auf den dunklen Pfaden des Unbewußten in der Qualität meiner hier vorgelegten Gedanken widersptegeln? In Beispiel (36) wird die Gleichförmigkeit der Vorworte ironisiert; mit dem Ausdruck glückliche Umstände wird auf typisierte Inhalte hingewie- 158 Elisabeth Gülich sen. Das geschieht auch in Beispiel (37), wo allerdings nicht wie in (36) das durchweg positiv dargestellte Arbeiten an der Dissertation im Vordergrund steht, sondern die Bedeutung der fördernden Personen (die nicht literaturförmigen Anstöße), denen durch die Erfindung der Textform der Vorworte Rechnung getragen werden kann. In beiden Fällen weicht auch der auf den distanzierenden Kommentar folgende Text weitgehend von den üblichen Formeln ab. In (36) wird der Inhalt des Danks negativ ausgedrückt: Dafür, daß es nicht noch schlimmer gekommen ist, danke ich ... In (37) liegt die Abweichung vor allem im letzten Absatz, wo einerseits ungewöhnliche Adressaten für den Dank (die Heidelberger Straßenmusiker) genannt werden, andererseits der Akt des Dankens überhaupt problematisiert wird (Ob ich ... danken soll, weiß ich nicht so recht). Der Witz beruht in solchen Fällen darauf, daß die übliche feste Form, also der formelhafte Text, beim Leser als geteiltes Wissen vorausgesetzt werden kann: er kennt die vorwortspezifischen Darstellungen der Arbeit an der Dissertation, die von wertvollen Ratschlägen, hilfreicher Kritik, großzügiger finanzieller Unterstützung kurz: von Wohlwollen und Hilfsbereitschaft auf allen Seiten begleitet wird. Er kennt die üblichen Adressaten: Doktorväter (seltener: -mütter), Kollegen, Freunde usw. Auf diesem Hintergrund kann mit der Formelhaftigkeit gespielt werden. Das Verfahren ist im Grunde ähnlich wie das in der Phraseologie-Forschung häufig beschriebene Spiel mit Phraseologismen im engeren Sinne, z.B. in literarischen Texten oder in der Werbung. 18 4.2.2 Anleitungen zur Produktion von Texten Während das Bewußtsein von Formelhaftigkeit in Beispielen wie den zuletzt zitierten bei der Produktion eines formelhaften Textes selbst durch Kommentare des Verfassers zum Ausdruck gebracht wird, läßt sich dieses Bewußtsein auch noch aus einer ganz anderen Quelle erschließen, die der Möglichkeit des kreativen Umgangs mit Formeln geradezu entgegengesetzt ist, nämlich aus den unzähligen Anleitungen und „Ratgebern“ zum Abfassen von Briefen, Reden usw., die den Mitgliedern einer Kommunikationsgemeinschaft zur Verfügung stehen. 19 Ich möchte hier nur zwei Beispiele aus den letzten Jahren anführen: das Handbuch von Hagen und Silber (1985) „Briefe, Reden, Verträge“ und den Duden „Einfach richtig schreiben! “ (1987). In beiden werden sowohl für den privaten wie für den geschäftlichen Bereich für alle nur denkbaren Gelegenheiten von der 18 Vgl. dazu neuerdings vor allem Sabban (1991); Hinweise finden sich auch z.B. bei Burger/ Buhofer/ Sialm (1982, Kap. 3.2.3) (Werbeanzeigen) und (3.2.4) (G. Grass) und bei Fleischer (1982, insbesondere Kap. 5.2). 19 Beispielsweise halten die meisten Zeitungen Muster für das Formulieren von Familienanzeigen bereit; oder um ein Beispiel aus einem ganz anderen Bereich zu wählen: von Kongreßveranstaltern oder den Herausgebern von Zeitschriften werden Normen für das Verfassen von Abstracts formuliert (vgl. dazu auch Möller 1996). Routineformeln und Formulierungsroutinen 159 Geburt bis zum Tod, von der Gründung bis zur Auflösung einer Firma ~ „Regeln“ und „Muster“ für Briefe, Verträge, bei Hagen/ Silber auch für Reden gegeben. Beide Handbücher gehen davon aus, daß „richtiges Schreiben“ zunächst einmal Probleme bereitet (Duden, Vorwort, S. 6), daß es schwierig ist, „den für einen bestimmten Anlaß richtigen Ton zu treffen“ (ebd., S. 12), daß beim Schreiben „die endgültige Formulierung sehr genau und eingehend durchdacht werden“ muß (Hagen/ Silber, S. 17). Bei Hagen/ Silber wird der Charakter des Formelhaften und die Möglichkeit, Formulierungsprobleme mit Hilfe von Mustern zu lösen, stärker betont als im Duden. Von den Musterbriefen und -reden, so heißt es, „können viele Gedankengänge und Formulierungen übernommen werden. Schließlich ist es leichter, sich an den Inhalt eines Briefes oder den einer Rede anzulehnen, als selbst mitunter sehr viel Zeit für neue Formulierungen aufzuwenden“ (Hagen/ Silber, S. 18f.). Neben Beispieltexten werden auch „allgemeine Regeln“ z.B. für Glückwünsche, Danksagungen usw. formuliert. Der Leser wird zum Reproduzieren vorgegebener Muster geradezu ermutigt. So beginnen die Regeln für Danksagungen mit der Feststellung: „Die Danksagungen für die Glückwünsche werden meist schematisch sein“ (Hagen/ Silber, S. 34). Der Duden setzt sich dagegen auch kritisch mit bestimmten Konventionen auseinander. Herkömmliche Formen (z.B. nicht mit ich beginnen, vgl. S. 17f.), „steife Förmlichkeiten“ (S. 19), „Floskeln“, „alles das, was ‘man’ so schreibt und alles, was ‘schon immer’ so geschrieben wurde“ (S. 21) werden als veraltet kritisiert. Aber z.B. von Anrede und Grußformeln in Briefen heißt es: „Sie gehören zur allgemeinen Form eines Briefes; man kann sie kaum ändern und nur sehr selten ganz weglassen“ (S. 21). Im übrigen wird der Leser aber zumindest bei Privatbriefen dazu ermutigt, „persönlich“, „individuell“ und „unverwechselbar“ zu formulieren (Duden, S. 49). Es wird z.B. ein „Rezept“ für einen „brauchbaren Glückwunsch“ gegeben, aber gleichzeitig distanzieren sich die Verfasser von den „üblichen Gratulationsfloskeln“ (S. 49L). Die „Briefmuster für die unterschiedlichsten Schreibanlässe“ sollen als Anregungen für eigenes Bemühen verstanden werden (S. 50). Wenn es jemandem „schwerfällt”, sich etwas ganz Eigenes auszudenken, dann kann der „sich natürlich auch an die üblichen Gratulationsmuster halten“ (S. 61). Zu diesem Zweck wird dann „eine Art Checkliste zur Gratulation“ gegeben, die einem die Sicherheit gibt, daß man „alles Wichtige im Brief untergebracht [hat] und daß die Reihenfolge stimmt“ (Duden, S. 61). Bei Geschäftsbriefen wird von einer „strengeren Normierung“ bezüglich der „Formalien“ und der „Gestaltung“ ausgegangen. Hier werden der Aufbau und die konstitutiven Elemente in schematischer Form gegeben. Als Beispiel soll das Muster für eine „Anfrage“ dienen (Duden, S. 171): 160 Elisabeth Gülich Das Vorhandensein solcher Anleitungen, Muster und Regeln zeigt m.E. sehr deutlich, daß die betreffenden Texte weitgehend formelhaft und also mit geringen Varianten reproduzierbar sind. Handbücher wie die hier genannten dokumentieren ein Wissen, das zwischen dem Alltagswissen der Mitglieder einer Kommunikationsgemeinschaft und dem Fachwissen von Spezialisten vermittelt. Für eine linguistische Beschreibung formelhafter Texte sind die in solchen Büchern formulierten Regeln und die dort angeführten Beispiele eine unverzichtbare Quelle. 5. Funktionen formelhafter Texte Allein aus der Tatsache, daß immer wieder Handbücher und Briefsteller auf den Markt kommen, daß Anleitungen oder gar Vorschriften für das Verfassen bestimmter Texte formuliert werden, läßt sich schließen, daß diese Texte als formelhafte Texte wichtige Funktionen im sozialen Leben erfüllen. Anderenfalls wäre die Notwendigkeit, es „richtig“ zu machen oder die Gefahr, etwas „falsch“ zu machen, ja nicht gegeben. Die Funktionen formelhafter Texte in der sozialen Interaktion scheinen mir mit dem von Antos so bezeichneten - Zwang zur „Expansion“ (vgl. o. Anm. 15) zusammenzuhängen. Welche Faktoren in Kommunikationssituationen allerdings dazu führen, daß dieser Zwang wirksam wird, ist meines Wissens noch nicht systematisch untersucht worden. Das kann auch in diesem Rahmen nicht geleistet werden. Eine Rolle spielt dabei sicher das Kommunikationsmedium; Burger/ Buhofer/ Sialm unterscheiden zu Recht zwischen „gesprächsspezifischen“ und „schreibspezifischen“ Phraseologismen (1982, Routineformeln und Formulierungsroutinen 161 S. 123). Relevant sind ferner die soziale Beziehung zwischen den Kommunikationspartnern und der öffentliche Charakter der Situation. Antos nennt als Merkmale von Grußworten Offizialität und wechselseitige Funktions- und Positionsverdeutlichung. Bezogen auf Danksagungen bedeutet das: in einer Danksagung werden die Leistungen von Professoren als Betreuer einer Dissertation, von Geldgebern und Diskussionspartnern, u.U. auch die von Freunden und Familienangehörigen offiziell und öffentlich gewürdigt. Der Verfasser nennt die Funktionen der einzelnen Personen, denen er dankt, und präsentiert sich selbst in der Position des Empfangenden. Es kommt dabei nicht auf die Dankbarkeit als eine Einstellung zu empfangenen Hilfeleistungen an, sondern auf das öffentliche Aussprechen, das „Deklarieren“ des Danks. 20 Um mit Goffman zu sprechen: solche Danksagungen sind ein Ausdruck der „Ehrerbietung“, mit denen der Verfasser symbolisch dem Adressaten seine Wertschätzung ausdrückt (1971, S. 64). Man könnte sie zu den Zuvorkommenheitsritualen rechnen (ebd., S. 79). Sie gehören damit zu dem, was Goffman den „bestätigenden Austausch“ (1974, S. 97ff.) nennt, d.h. den Ritualen, die der Bestätigung gesellschaftlicher Beziehungen dienen. Für Rituale und auch für Routineformeln ist vielfach festgestellt worden, daß sie besonders das Aufnehmen und Abbrechen von Interaktion bzw. Übergänge von einer sozialen Situation zur anderen kennzeichnen (vgl. z.B. Coulmas 1985a, S. 59). Auf diesem Hintergrund ließe sich die Tatsache erklären, daß sich kaum eine Dissertation ohne Danksagung findet, während die Danksagungen in anderen wissenschaftlichen Arbeiten durchaus auch fehlen können. Es gibt im übrigen auch einen Typ von wissenschaftlicher Arbeit, in dem die Danksagung verpönt ist, nämlich die Staatsexamensarbeit. Das Kultusministerium in Nordrhein-Westfalen hat sich die Mühe gemacht, dies in einer „Niederschrift“ (Dienstbesprechung vom 9.9.1987) festzuhalten: „Danksagungen“ sind bei schriftlichen Hausarbeiten im Rahmen einer Ersten Staatsprüfung für ein Lehramt unüblich und überflüssig; der Themensteller nimmt keinen Einfluß auf Inhalt und Gestaltung der Arbeit. (§ 13 Abs. 4 LPO) Offenbar wird hier der formelhafte Text als Information über Hilfestellung durch den betreuenden Prüfer wörtlich genommen - und damit mißverstanden. Durch die Danksagung stellt sich der Autor einer wissenschaftlichen Arbeit in einen bestimmten wissenschaftlichen Kontext, er erscheint als Mitglied einer besonderen Kommunikationsgemeinschaft. Für den Promovenden ist 20 Vgl. Antos (1986, S. 61-62): „Anders als Grüße sind Grußworte nicht Expressiva, da ihre Funktion primär nicht darin besteht, psychische Einstellungen wie Freude oder Anteilnahme auszudrücken. Als institutionelle ‘Textakte’ wird mit ihnen öffentliche Wertschätzung und Offizialität einer Veranstaltung ‘deklariert’.“ 162 Elisabeth Giilich es in gewissem Sinne die Gemeinschaft, zu der er durch die Dissertation Zugang bekommen will. Er befindet sich am Übergang von einer sozialen Situation zur anderen. Durch prominente Betreuer und Diskussionspartner kann darüberhinaus die Arbeit aufgewertet werden; der Promovend präsentiert sich auf diese Weise auch selbst in einem günstigen Licht. Daß es mehr um das öffentliche Aussprechen des Danks als um den Ausdruck einer Einstellung gegenüber einem bestimmten Adressaten geht, läßt sich auch daraus entnehmen, daß derjenige oder diejenigen, an die der Dank adressiert ist, diesen oft gar nicht zur Kenntnis nehmen können, so z.B. wenn den Informanten oder den Testpersonen für eine Untersuchung oder den auf Tonband aufgenommenen Gesprächsteilnehmern oder den anonym gebliebenen Kindern, deren Texte untersucht werden, gedankt wird: (38) WH 1979 Vor allem aber danke ich den „Interaktanten“, die sich freundlicherweise für Tonbandaufnahmen zur Verfügung gestellt haben oder die ohne ihr Zutun hier interpretiert werden; sie werden sich vielleicht wundern, was sie alles getan und gesagt haben sollen es handelt sich aber nur um mein recht einseitiges Verständnis ihrer Interaktionen. (39) WK 1978 Ich möchte allen danken, die in unterschiedlicher Weise zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben. An erster Stelle danke ich Herrn Professor Dr. H. W., von dessen Arbeiten meine Untersuchung wesentlich beeinflußt wurde, und der mich mit zahlreichen Anregungen und Hinweisen gefördert hat. Frau Privat-Dozentin Dr. E. G. sowie Herr Dr. W. K. und Herr Dr. R. M. haben mich während der einzelnen Stadien der Arbeit in intensiven Gesprächen durch kritische Anmerkungen unterstützt. Meiner lieben Frau R. danke ich für ihre vielfältige Hilfe und ihren ermutigenden Zuspruch. Schließlich gilt mein besonderer Dank der großen Zahl der hier anonym gebliebenen Kinder, deren Texte die Grundlage für diese Untersuchung bilden. Ebenso ist es relativ unwahrscheinlich, daß die Bewohner eines portugiesischen Dorfs die soziologische Dissertation lesen, in deren Vorwort ihnen für ihre Gastfreundschaft gedankt wird: (40) UL 1983 Viele weitere Personen trugen mit ihrer Hilfsbereitschaft zur Entstehung der Arbeit bei. Ihnen allen und besonders den Dorflewohnern für ihre Gastfreundschaft schulde ich Dank. Die rituelle Funktion solcher Äußerungen hängt natürlich nicht davon ab, daß die „Interaktanten“, die Kinder oder die Dorfbewohner diesen Dank zur Kenntnis nehmen. Die Funktion ist wie Antos für Grußworte im Unterschied zu Grüßen gezeigt hat aus den üblichen Regeln für einen Sprechakt ‘Danken’ sicher nicht befriedigend abzuleiten. Routineformein und Formulierungsroutinen 163 Es gilt als charakteristisch für Routineformeln, daß ihre Bedeutung durch die Funktion zu explizieren ist (Coulmas 1981, S. 73ff.). Das trifft auch auf formelhafte Texte zu. 21 Äußerungen in verschiedenen Arbeiten zu typischen Funktionen von Routineformeln oder zur pragmatischen Funktion von Phraseologismen lassen sich auch auf formelhafte Texte beziehen. Fleischer sieht die pragmatische Funktion phraseologischer Ausdrücke darin, daß sie Indikatoren sozialer Verhältnisse sind (1982, S. 221). Für Schemann liegt die entscheidende Funktion gerade nicht in der Äußerung oder Realisierung eines spezifischen illokutionären Akts (wie ‘Danken’ in meinem Beispiel), sondern in der „‘offiziellen Bekundung’, die sozialen Normen einzuhalten, die Ordnung der Gesellschaft zu respektieren und damit im Rahmen dieser Ordnung ‘dazuzugehören’“ (1981, S. 190). Von den von Coulmas beschriebenen sozialen Funktionen von Routineformeln sind in bezug auf die hier zitierten Beispiele die Konventionalitätsfunktion (besonders für die Weihnachts- und Neujahrswünsche) und vor allem die „Verstärkung der Verhaltenssicherheit“ und die sogenannte „Schiboleth“-Funktion zu erwähnen. Auf die Verstärkung der Verhaltenssicherheit zielen Anleitungen zum Verfassen von Texten wie die oben erwähnten (Abschnitt 4.2.2) ab. Die „Schiboleth“-Funktion besagt, daß ein Sprecher (oder Schreiber) sich durch den Gebrauch bestimmter Formeln als Mitglied einer Kommunikationsgemeinschaft erweist: er gibt einen Hinweis auf seine soziale Identität (vgl. Kallmeyer/ Keim 1986, S. 98). Kallmeyer/ Keim haben solche Funktionen an umfangreichen Materialien mit Beispielen formelhaften Sprechens herausgearbeitet und sie im Anschluß an Gumperz als ‘Kontextualisierung’ interpretiert: Kontextualisierung bedeutet dabei, daß bestimmte Eigenschaften des formelhaften Sprechens als ein entscheidender Hinweis darauf fungieren, welche Wissensbestände für die Interpretation der Äußerung herangezogen werden sollen (...). Handelt es sich bei diesen Wissensbeständen um gruppen- oder kulturspezifische, wird das formelhafte Sprechen zu einem Mittel der Symbolisierung der eigenen sozialen Identität und der der Adressaten (Kallmeyer/ Keim 1986, S. 103). 22 Nun wird ‘formelhaftes Sprechen’ von den Autoren zwar in einem weiteren Sinne verstanden als im vorliegenden Zusammenhang der Begriff ‘formel- 21 Coulmas spricht davon, daß im Falle von Routineformeln die eigentliche Bedeutung durch Stereotypisierung verflacht sei. Er definiert Formelhaftigkeit als „die Eigenschaft, daß sich Ausdrücke mit einer Binnenstruktur nicht gemäß derselben verhalten, weil diese Struktur entweder keiner produktiven Regel mehr entspricht, nicht auf regelmäßige Weise auf die Bedeutung beziehbar ist oder in ihrer Modifizierbarkeit stark beschränkt ist“ (1985, S. 252). Inwieweit man auf Textebene einen vergleichbaren Prozeß annehmen kann, müßte noch genauer untersucht werden. Der Idiomatizität oder der Figuriertheit anderer Typen von phraseologischen Ausdrücken entspricht Formelhaftigkeit auf Textebene aber sicher nicht. 22 Die soziale Funktion von Formelhaftigkeit ist inzwischen an reichhaltigem Material aus dem Mannheimer Stadtsprachenprojekt noch ausführlicher gezeigt worden in Kallmeyer/ Keim (1994). 164 Elisabeth Giilich hafter Text’, aber gerade deshalb liegt es nahe, auch formelhaften Texten eine Kontextualisierungsfunktion zuzuschreiben. Mit der erkennbar gemachten Formelhaftigkeit der Ausdrucksweise weist ein Sprecher auf vorausgehende Verwendungen bzw. einen komplexeren Verwendungszusammenhang hin. Formelhaftes Sprechen ist insofern geeignet, Diskurswelten zu indizieren, aus denen die Formeln stammen, in denen sie gebräuchlich sind und eine besondere Funktion haben (Kallmeyer/ Keim 1994, S. 260). Von daher erklärt sich eine Tendenz zur Formelhaftigkeit in vielen Zusammenhängen es werden ja fortwährend in allen möglichen Bereichen neue Formeln gebildet. Mit zunehmender Formelhaftigkeit wird offenbar die Orientierung in der Interaktion erleichtert, gleichzeitig nimmt aber auch die Verhaltensunsicherheit zu für den Fall, daß man die richtigen Formeln nicht beherrscht. Die Existenz von Handbüchern des oben beschriebenen Typs zeugt von der Relevanz, die den Formeln für die soziale Interaktion beigemessen wird. 6. Formelhafte Texte als Gegenstand einer Formulierungstheorie 6.1 Der Rekurs auf Formelhaftigkeit als Mittel zur Lösung von Formulierungsproblemen Mit den vorangegangenen Überlegungen zu sozialen Funktionen von Routineformeln und formelhaften Texten stellt sich aufs Neue die Frage, ob die Untersuchung von Routineformeln in eine Teiltheorie der Pragmatik gehört, wie Burger (1973, S. 60) vermutete (s.o. 3.2), oder in ein Teilgebiet der „Theorie der sozialen Interaktion“ (Schemann 1981, S. 187), oder in die Sozialpsychologie (Coulmas 1981, S. 94) und somit laut Schemann (ebd.) - „über die Linguistik in ihrem bisherigen Selbstverständnis“ hinausführt. Die Frage nach dem Gegenstandsbereich der Linguistik und seinen Grenzen halte ich zwar im vorliegenden Zusammenhang für relativ unergiebig, wohl aber möchte ich das Problem eines angemessenen Beschreibungsrahmens für formelhafte Texte noch einmal aufgreifen. Dazu knüpfe ich wiederum an Coulmas’ Überlegungen zu den Funktionen von Routineformeln an: Coulmas trifft nämlich die in diesem Zusammenhang weiterführende Unterscheidung zwischen sozialen und diskursiven Funktionen; als eine der diskursiven Funktionen nennt er die Entlastungsfunktion: durch die Verwendung von Routineformeln wird die Sprechplanung entlastet (Coulmas 1981, S. 105). Fleischer geht noch einen Schritt weiter und spricht den Phraseologismen insgesamt die Funktion der Kommunikationserleichterung zu (1982, S. 223). Nachdem ich bei der Beschreibung formelhafter Texte zunächst Anknüpfungspunkte in der Phraseologie-Forschung gesucht hatte, da dort das Routineform ein und Formulierungsroutmen 165 Phänomen der Formelhaftigkeit am intensivsten und genauesten bearbeitet worden ist, legt die Annahme entlastender oder kommunikationserleichternder Funktionen es nun nahe, Routineformeln und formelhafte Texte im Zusammenhang mit Überlegungen zu einer Formulierungstheorie zu diskutieren. Ich nehme dabei Anregungen aus Arbeiten von Antos (1982), (1984) auf und setze eigene Überlegungen zu Formulierungsverfahren in mündlicher Textkonstitution fort (vgl. z.B. Gülich/ Kotschi 1987). Zwei Grundannahmen aus diesen Arbeiten müssen hier in aller Kürze noch einmal angeführt werden: (a) Das Formulieren hat Handlungscharakter; der Formulierungsprozeß kann beschrieben werden als eine Folge von Formulierungsvorschlägen und Umformulierungen, die dazu dienen, Formulierungsprobleme zu lösen. (b) Die Formulierungsanstrengungen der Kommunikationspartner hinterlassen im Text bestimmte Spuren. Dazu gehören einerseits Verzögerungsphänomene und Pausen, andererseits auch Reformulierungen sowie redebewertende und -kommentierende Äußerungen (vgl. Gülich 1986; Kotschi 1986). Solche Spuren der Formulierungsarbeit sind sowohl in mündlichen als auch in schriftlichen Texten zu finden, wenn auch in unterschiedlichen Formen, m.a.W.: es gibt sprechspezifische und schreibspezifische Ausprägungen. Verzögerungen, Pausen und Korrekturen in spontan gesprochener Sprache sind in psycholinguistischen Arbeiten als Indikatoren des Verbalisierungsprozesses beschrieben worden (vgl. z.B. Wiese 1983, der auch über frühere Untersuchungen berichtet). Spezifische Formen in geschriebenen Texten wie Streichungen, Substitutionen, Umstellungen sind anhand von literarischen Manuskripten dargestellt worden (vgl. z.B. Gresillon 1988). 23 Reformulierungen und redebewertende und -kommentierende Äußerungen kommen dagegen in mündlichen und schriftlichen Texten vor; sie lassen sich als Resultate von Formulierungshandlungen interpretieren, mit deren Hilfe Formulierungsprobleme gelöst werden. Eine ganz andere Art von Verfahren zum Lösen von Formulierungsproblemen stellt nun der Rückgriff auf formelhafte Muster dar. Sie lassen sich als typische Lösungsverfahren für häufig auftretende Formulierungs- 23 Auf die linguistische Untersuchung von Manuskripten, wie sie von Gresillon, Lebrave, Viollet u.a. am Pariser Institut des Textes et Manuscrits Modernes z.B. an Manuskripten von Marcel Proust, Heinrich Heine oder Christa Wolf durchgeführt wird, kann hier nicht näher eingegangen werden. Sie bieten eine neue und originelle Möglichkeit, den Formulierungsprozeß beim Schreiben zu rekonstruieren und schreibspezifische Lösungen von Formulierungsproblemen herauszuarbeiten. Zur weiteren Information sei vor allem auf die zusammenfassende Darstellung von Gresillon (1994) verwiesen. Beiträge in deutscher Sprache finden sich u.a. in Baurmann/ Weingarten (1995). 166 Elisabeth Gühch aufgaben auffassen. Mit anderen Worten: bestimmte Aufgaben, die fester Bestandteil sozialer Interaktionen in einer Gesellschaft sind, werden routiniert mit Hilfe vorgefertigter sprachlicher Ausdrücke, „Schablonen“ oder „Modelle“ bewältigt (vgl. Coulmas 1985a, S. 53f.). Formelhaftigkeit muß also konsequenterweise auf verschiedenen Ebenen beschrieben werden, auf der Ebene von Syntagmen und Satzkonstruktionen das ist im Rahmen der Phraseologie geleistet worden (hierher gehören auch die erwähnten Phraseoschablonen oder Modellbildungen) -, aber auch auf der Ebene von Satzsequenzen, Textteilen und ganzen Texten diese Arbeit ist im Rahmen einer Formulierungstheorie zu leisten. Auf allen Ebenen gibt es mit dem Rekurs auf Formelhaftigkeit typische Lösungen für Formulierungsprobleme. Ein Repertoire vorgefertigter Elemente, die reproduziert und situationsspezifisch variiert werden können, erlaubt es, Kommunikationsbarrieren leichter zu überwinden (vgl. Antos 1984; 1982, S. 194). In Arbeiten zur Planung der Sprachproduktion und zum Fremdsprachenerwerb ist die Bedeutung von Formulierungsroutinen für die Fähigkeit zum flüssigen Sprechen und Schreiben besonders herausgearbeitet worden. Muster, die als Ganze gespeichert und abgerufen werden können und nur an Leerstellen zu ergänzen sind, werden als Voraussetzung für die „fließende Sprechtätigkeit“ ohne Planungspausen angesehen. Im allgemeinen denkt man dabei allerdings nur an Satzmuster. Die Existenz formelhafter Texte legt es jedoch nahe, anzunehmen, daß auch komplexere Muster gespeichert und reproduziert werden können. Diese Annahme steht im Einklang mit psycholinguistischen Ansätzen, nach denen die Planung der Sprachproduktion als satzübergreifender Prozeß verstanden wird, der auch Diskurspläne umfaßt. 24 „Planung ist eine Form der Lösung komplexer Handlungsprobleme durch Vorausstrukturierung“ (Keseling/ Wrobel/ Rau 1987, S. 350). Ein Teil der Textplanung ist globaler Natur, d.h., er bezieht sich auf die Makroplanung (ebd.). Formelhafte Texte erscheinen unter dieser Perspektive als Mittel zur Lösung sowohl globaler als auch lokaler Planungsaufgaben: die Gesamtstruktur mit den konstitutiven inhaltlichen Elementen in mehr oder weniger fester Reihenfolge erlaubt die Lösung globaler Aufgaben, während die formelhaften Ausdrücke, mit deren Hilfe die einzelnen Komponenten realisiert werden, lokale Lösungsverfahren darstellen. Für die Behandlung formelhafter Texte im Rahmen einer Formulierungstheorie stellt sich nun die Aufgabe, diejenigen Formulierungsverfahren, die im Rückgriff auf Schablonen bestehen, in Beziehung zu setzen zu solchen wie Paraphrasen, Korrekturen, Verzögerungsphänomenen und Pausen, die Spuren der Formulierungsarbeit erkennen lassen. So müßte beispielsweise 24 Einige Ansätze werden in Tiittula (1987, S. 21) referiert. Auch bei Coulmas (1985, S. 265 und 1985a, S. 60) finden sich Hinweise in diese Richtung. Routineformein und Formulierungsroutinen 167 genauer untersucht werden, inwieweit Planungsindikatoren wie Verzögerungsphänomene und Pausen in formelhaften Texten fehlen bzw. an welchen Stellen sie fehlen. Es müßte sich ja im Text bemerkbar machen, wenn die Formulierungsarbeit durch solche Muster erleichtert würde. Einige Ergebnisse aus psycholinguistischen Untersuchungen deuten in diese Richtung. Wenn z.B. gezeigt werden kann, daß beim Sprechen relativ flüssige mit verzögerten Phasen alternieren (Wiese 1983, S. 173), wenn verschiedene Planungsebenen und unterschiedlich komplexe Planungseinheiten angenommen werden (vgl. z.B. Butterworth 1975; Wiese 1983, S. 191f.), dann ist zu vermuten, daß formelhafte Texte mehr als andere Texte flüssige Phasen aufweisen und größere Planungseinheiten darstellen. Je formelhafter ein Text insgesamt ist, oder je formelhafter eine Textkonstituente realisiert wird, desto weniger Verzögerungsphänomene und Reformulierungen (z.B. Korrekturen) wären zu erwarten. Dies gilt allerdings nur für den Fall, daß der Sprecher das Muster beherrscht (auf diesen Aspekt wird in Gülich/ Krafft 1992 und 1995 näher eingegangen). Was die schriftliche Textproduktion betrifft die hier angeführten Beispiele für formelhafte Texte sind ja ausnahmslos schriftliche Texte -, so kann man bereits auf einige Ergebnisse aus experimentellen Untersuchungen, die im Bereich der Schreibforschung durchgeführt worden sind, zurückgreifen. In dem Marburger Forschungsprojekt zur Textproduktion (vgl. u.a. Keseling/ Wrobel/ Rau 1987) hat man -ähnlich wie in anderen Schreibforschungsprojekten das Pausenverhalten von Versuchspersonen bei der Produktion verschiedener Textsorten beobachtet. Die Pausenlänge wird in solchen Untersuchungen als Indikator für die Komplexität zugrunde liegender Planungsprozesse angesehen (z.B. Wrobel 1988, S. 196). Es hat sich nun herausgestellt, daß bei Wegbeschreibungen im Vergleich zu summaries und Geschäftsbriefen die Pausenzeit nur etwa halb so lang war wie in den beiden anderen Textsorten, während die Schreibgeschwindigkeit sich nahezu verdoppelte und die Schreibflüssigkeit zunahm (Wrobel 1988, S. 203). Offenbar war also der Planungsaufwand bei Wegbeschreibungen geringer. Das erklärt sich zweifellos dadurch, daß zumindest die untersuchten Personen mit diesem Textmuster besser vertraut waren. Das Musterwissen, das die Textproduzenten beim Verfassen von Texten leitet, spielt also für die Textproduktion eine wichtige Rolle (darauf geht besonders Keseling in seinen Arbeiten ein, vgl. z.B. 1987, 1993). Keseling nimmt lexikalisch-syntaktisch vororganisierte Textmuster an, die die Textproduktion bis zu einem gewissen Grade als Reproduktion erscheinen lassen. Texte wie Wegbeschreibungen, aber auch summaries enthalten formelhafte Ausdrücke (Keseling bezeichnet sie sogar als ‘Phraseologismen’, vgl. 1987, S. 107), die weitgehend austauschbar sind. Sie werden ‘Rahmenausdrücke’ genannt; sie setzen sich aus einem sehr begrenzten Repertoire von Ausdrücken zusammen und legen einen syntaktischen Rahmen fest, in dessen Leerstellen die inhaltlich spezifischen Ausdrücke eingesetzt 168 Elisabeth Gülich werden können. Dies entspricht im Prinzip den Phraseoschablonen (s.o. Abschn. 3.3). Von den Rahmenausdrücken werden die ‘Deskriptionen’ unterschieden, die eine wesentlich größere Formenvielfalt aufweisen (vgl. auch Keseling/ Wrobel/ Rau 1987, S. 360). Textmuster sind weitgehend in Form von Rahmenausdrücken im Gedächtnis repräsentiert. Beim Verfassen von Texten werden Rahmenausdrücke im allgemeinen flüssig, d.h. mit wenig bzw. ohne Schreibpausen produziert. Die verbale Planung reduziert sich hier auf ein Minimum (Keseling/ Wrobel/ Rau 1987, S. 361). Ein Teil der für die Textproduktion relevanten Prozesse scheint in Form von Routinen abzulaufen, derart daß Elemente des Musterwissens abgerufen und zu Bestandteilen des aktuellen Textes oder Gesprächs werden. In einem jeweils zweiten, nicht mehr routinemäßig ausgeführten Schritt wird dann die ungesättigte Rahmenstruktur um die jeweilige Deskription vervollständigt (Keseling 1987, S. 115). Diese Untersuchungsergebnisse stehen im Einklang mit dem oben entwickelten Konzept des formelhaften Texts. Formelhafte Texte lassen sich als eine besondere Form der Textmuster im Sinne Keselings auffassen, nämlich solche mit einem ungewöhnlich hohen Grad von Formelhaftigkeit; sie erhalten einen besonders hohen Anteil von ‘Rahmenausdrücken’. Auf diese Weise stehen den Textproduzenten Formulierungsroutinen zur Verfügung, deren Auswirkungen direkt in ihrem Verhalten beim Schreiben beobachtbar sein müßten, die allerdings auch eine Norm darstellen, der der Schreiber zu genügen hat. Insofern wird die Textproduktion nicht nur erleichtet, sondern u.U. auch erschwert. 6.2 Probleme beim Gebrauch formelhafter Elemente Eine indirekte Möglichkeit, etwas über Schwierigkeiten zu erfahren, die Kommunikationsteilnehmer im Umgang mit formelhaften Versatzstücken haben, kann auch eine systematische Analyse von Stilblüten bieten, wenn man diese im Sinne von Sandig (1981) als Mittel zur Erforschung „stilistischer Kompetenz“ versteht. Die Benutzung formelhafter Versatzstücke kann nämlich dazu führen, daß der formelhafte Ausdruck nicht adäquat verwendet wird, d.h., daß er nicht zum übrigen Kontext paßt oder daß Fertigteile zusammengesetzt werden, die semantisch oder syntaktisch nicht miteinander verträglich sind. Jede Stilblütensammlung bietet hier reichhaltiges Beispielmaterial, insbesondere aus der Verwaltungssprache. In den Beispielen, die ich hier präsentiert habe, kann man ansatzweise in den Weihnachts- und Neujahrswünschen und in den Todesanzeigen solche Probleme im Umgang mit formelhaften Mustern erkennen. In den oben zitierten Beispielen für Weihnachtswünsche werden etwa in Beispiel (11) zwei mögliche Realisierungsformen, die in der 1. und die in der 3. Person, kombiniert (s.o. (11)). Das Ergebnis: Meinen verehrten Kunden, allen Geschäftsfreunden und Bekannten ein frohes Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr wünscht... Rouiinefomieln und Formulierungsroutinen 169 In den Todesanzeigen gibt es häufig Schwierigkeiten mit dem Wort unfaßbar, das zum festen Repertoire dieser Anzeigen gehört, ohne daß die Verfasser immer wissen, an welcher Stelle es eingesetzt werden kann: (41) Ein ähnliches Problem zeigt sich in (42); zum Repertoire der Ausdrücke für sterben, die in Todesanzeigen verwendet werden, gehören u.a. entschlafen und aus unserer Mitte reißen bzw. gerissen werden. Hier werden beide Ausdrücke miteinander kombiniert: (42) Statt besonderer Anzeige Nach einem arbeitsreichen Leben riß eine tückische Krankheit unseren lieben Entschlafenen W Sch • 12. 3. 1920 t 3. 8. 1978 viel zu früh aus unserer Mine. Im Namen aller, die ihn lieb hanen: Lisa S geb. U 4800 Bielefeld 1. DetmoWer Straße 62 Auf Wunsch dm Vsrttorbsnsn fand dta Maaoung in aüsrSttta statt 170 Elisabeth Gülich Verantwortlich für den „Fehler“ ist in diesen Fällen vermutlich gerade das Bemühen, es möglichst richtig oder besonders gut zu machen. Der Verfasser weiß zwar, daß er einen formelhaften Text zu produzieren hat, die Formeln sind ihm aber nicht hinreichend vertraut. Solche Fälle wären m.E. unzureichend beschrieben, würde man sie einfach nur als den falschen Gebrauch eines Wortes ansehen. Das Repertoire fester Formeln, das zu einem bestimmten Typ von formelhaften Texten gehört, muß in Betracht gezogen werden, um diese Art des Formulierens mit Hilfe von Versatzstücken zu beschreiben. Die Untersuchung von Formulierungsfehlern im Zusammenhang mit der Verwendung formelhafter Ausdrücke scheint mir ein vielversprechender ergänzender Ansatz zur Untersuchung von Formelhaftigkeit im Rahmen einer Formulierungstheorie zu sein. 25 7. Perspektiven Die zu Beginn gestellte Frage, ob formelhafte Texte als Gegenstand der Phraseologie anzusehen sind, ist im Laufe dieses Beitrags bisher nicht eindeutig beantwortet worden, und sie läßt sich auch nicht eindeutig mit „ja“ oder „nein“ beantworten. Der Gegenstandsbereich der Phraseologie ist an sich schon uneinheitlich, weil bereits zwischen Phraseologismen im engeren Sinne und Routineformeln deutliche Unterschiede bestehen. Formelhafte Texte haben wichtige Charakteristika mit Routineformeln gemeinsam. Insofern finden sich in einer so weit gefaßten Phraseologie-Forschung, die Routineformeln einschließt, eine ganze Reihe von Anknüpfungspunkten für die Beschreibung formelhafter Texte. Bei der Beschäftigung mit Routineformeln ist es nur konsequent, auch komplexe Äußerungen mit Textcharakter einzubeziehen. Ein besonders fruchtbares Konzept, welches innerhalb der Phraseologie entwickelt wurde, ist unabhängig von den Routineformeln das der Phraseoschablone oder der Modellbildung (s.o. Abschn. 3.3). Ich plädiere hier dafür, dieses Konzept auch auf Texte zu übertragen. Es bietet einen Ansatz zur Beschreibung von Formelhaftigkeit auf verschiedenen Ebenen, der über die Grenzen einer traditionellen Phraseologie hinausweist. Phraseologie in einem weiten Verständnis wäre dann das Gebiet der Linguistik, in dem Formelhaftigkeit - oder Vorgeformtheit (s.o. Anm. 6) in einem umfassenden Sinne untersucht wird. Auch wenn die Phraseologie eine Reihe von Gesichtspunkten zur Beschreibung formelhafter Texte zur Verfügung stellt, würde man diesem Phänomen jedoch nicht gerecht, wenn man sich auf den phraseologischen Ansatz beschränkte. Dieser sollte vielmehr durch einen formulierungstheoretischen ergänzt werden. Ich schlage daher vor, den Rückgriff auf Formelhaftigkeit als Formulierungsverfahren zu verstehen und demzufolge das 25 Am Beispiel von Emile Ajars Roman „La vie devant soi“ werden solche „fehlerhaften“ Formulierungen in Gülich/ Krafft (1996) genauer untersucht und auf ihre Funktionen im Roman hin analysiert. Routineformein und Formulierungsroutinen 171 Formulieren mithilfe formelhafter Texte in Beziehung zu anderen Formulierungsverfahren zu setzen. Die Untersuchung der Leistung formelhafter Muster beim Formulieren, d.h. beim Sprechen und beim Schreiben, steht noch in den Anfängen. Auch zwischen „freiem“ Formulieren und Formulieren nach vorgegebenen Mustern bzw. mithilfe von Schablonen gibt es natürlich alle möglichen Zwischenstufen. Wenn man sich an einem Ende der Skala vorformulierte rituelle Texte und am anderen Ende spontan gesprochene Sprache in der Alltagskonversation denkt, dann nehmen formelhafte Texte wiederum eine gewisse Breite in der Mitte der Skala ein: einige kommen den rituellen Texten sehr nahe, andere weisen Leerstellen auf, die situationsspezifisch auszufüllen sind. Mit manchen der Probleme, die hier auftauchen, hat man sich etwa im Zusammenhang mit Textsorten oder mit Stilmustern schon befaßt. Die Analyse formelhafter Texte liegt offenbar an der Schnittstelle verschiedener linguistischer Gebiete. Es ist nicht verwunderlich, daß Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Routineformeln und Formulierungsroutinen auch in Arbeiten zum Fremdsprachenerwerb auftauchen. Bei der Kommunikation in einer Fremdsprache stellen sich Formulierungsprobleme mit besonderer Deutlichkeit (vgl. dazu Gülich/ Krafft 1992). Der Fremdsprache-Sprecher macht häufig die Erfahrung, daß es nicht genügt, Sätze oder Texte nach den erlernten Regeln zu produzieren. Man produziert vielleicht etwas Korrektes, aber nicht das, was ein Muttersprachler in dem Fall sagen oder schreiben würde. 26 Zum „Erwerb diskursiver Routine“ gehört auch so würde ich über Coulmas (1985a) hinausgehend sagen der Erwerb formelhafter Muster für die Textproduktion. Eine linguistische Untersuchung formelhafter Texte fände hier also ein ausgesprochen sinnvolles und nützliches Anwendungsgebiet, denn der Bereich formelhafter Texte ist sehr groß. In der alltäglichen Kommunikationspraxis spielen formelhafte Texte eine weit wichtigere Rolle als die hier besprochenen Beispiele vermuten lassen. Zwar kann man die meisten kommunikativen Handlungen auch ohne den Rekurs auf formelhafte Muster vollziehen, aber man tut es eben nicht. Abgesehen von den Fällen, wo nur eine bestimmte Formel juristisch gültig ist man kann in einer Staatsexamensarbeit eben nicht schreiben: „Ich habe mir ganz bestimmt von niemandem helfen lassen“ -, gibt es unzählige Fälle, wo die formelhafte Realisierung üblich, gesellschaftlich anerkannt ist, wo ihr Fehlen negativ sanktioniert würde. Ein Lebenslauf, ein Bewerbungsschreiben, ein Geschäftsbrief, ein Glückwunsch, eine Anzeige in der Zeitung und viele andere Texte haben eine bestimmte Form, an der man den kompetenten Sprecher identifiziert. 26 Nicht umsonst betont Coulmas (1981, S. 82) den kulturspezifischen Aspekt von Routineformeln und geht ausführlich auf ihre „interkulturelle Varianz“ ein (1981, IV, 4). Vgl. auch Quasthoff (1987, S. 795) zur Rolle von Stereotypen in interkultureller Kommunikation und Gülich/ Henke (1979/ 80) zur Rolle von Routineformeln im Fremdsprachenunterricht. 172 Elisabeth Gülich In der Wissenschaft und in der Praxis des Übersetzens kommt man an der Notwendigkeit, die richtigen Formeln zu kennen, nicht vorbei. Man muß die Realisierungsmuster für die Textsorte beherrschen, um einen Text zu übersetzen bzw. um den gleichen Text etwa im Bereich der EG einen Vertrag oder eine Resolution (vgl. Thiel/ Thome 1987) in mehreren Sprachen zu produzieren. Die systematische Analyse formelhafter Texte würde hier nur einen Schritt weitergehen. Sie fände jedenfalls auch hier ein Anwendungsgebiet, auf dem noch viel zu tun ist: In einer kontrastiven Textsortenlinguistik wie sie etwa von Spillner (1981; 1983) gefordert wird, verdienen formelhafte Texte einen zentralen Platz; und es ist sicher kein Zufall, daß Spillner seine Überlegungen am Beispiel hochgradig formelhafter Texte konkretisiert (Hochzeitsanzeigen, Erlasse, Verordnungen, amtliche Bekanntmachungen, Wetterberichte). An solchen Beispielen zeigen sich unterschiedliche Formulierungskonventionen am deutlichsten. 27 Auch in der Muttersprache müssen diese Konventionen erst erlernt werden (vgl. Antos 1988; Augst 1986 und 1988), aber bei der Textproduktion in einer Fremdsprache (vgl. Krings 1986) fällt die mangelnde Kenntnis der Muster auf Seiten der Sprecher/ Schreiber noch stärker ins Gewicht. Dieser Tatsache muß beim Fremdsprachenerwerb Rechnung getragen werden. Dafür kann die linguistische Analyse formelhafter Texte die Voraussetzungen schaffen. 8. 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Bei aller Gefahr einer Übertypisierung halten wir die sprachliche Entwicklung im Ruhrgebiet während der Industrialisierung für prototypisch. Die besprochenen Texte entstammen daher einem Korpus, das im Rahmen eines Projekts „Sprachwachstum und Sprachwandel im Ruhrgebiet im ausgehenden 19. Jahrhundert“ an der Bochumer Ruhr-Universität zusammengetragen wurde (Näheres hierzu in Grosse et al. 1987, S. 202-221). Daß der phraseologische Bereich frühzeitig aus einem auf umfassende pragmatische Fundierung und ganzheitliche Sprachbetrachtung ausgerichteten Projekt ausgekoppelt wurde, mag überraschen. Tatsächlich war bei einer ersten Materialdurchsicht etwas anderes, mit Phraseologie allerdings eng Verbundenes Gegenstand des Interesses, nämlich die Frage: Welche Hilfen gab es für Schreibende in einer Zeit des Verlusts sozialer Behaustheit, eines zunehmenden Zwangs zu schriftlicher Kommunikation und einer fortschreitenden Alphabetisierung? Die Anlehnung an etwas, was ich mit Karlheinz Daniels (1979, S. 291-) sprachliche Schematismen nennen möchte, schien an den Texten von der Wortwahl bis hin zu längeren Satzsequenzen mit Händen greifbar für uns Grund genug, in einer Detailstudie das 1 Für den Spezialbereich der Parömiologie (Sprichwörterforschung) sei auf zahlreiche, äußerst sachkundige Publikationen hingewiesen, die sich im deutschen Sprachraum mit den Namen Lutz Röhrich und Wolfgang Mieder verbinden. 2 Der Begriff „kleine Leute“, im Einleitungsteil a) näher expliziert, wird der Einfachheit halber im folgenden ohne Anführungszeichen verwendet. 3 So v. Polenz (1978, S. 198) und Eggers (1986, S. 366). Ähnlich wie die hier berücksichtigten Sprachgeschichten urteilen auch Moser, Langen, Wagner, Bach und vor allem Schildt. Zu den konvergierenden und divergierenden, bewahrenden und innovatorischen Kräften jener Zeit vgl. Cherubim (1983), vor allem die einleitenden Passagen S. 398-408. 178 Helmut Kuntz Problem gleichsam in umgekehrter Richtung, also von der sprachlichen Erscheinung, dem Vorkommen im geäußerten Text her anzugehen. Eingangs möchte ich kurz die nötigen Ein- und Abgrenzungen allgemeiner Art vornehmen, und zwar in vier Bereichen: a) hinsichtlich der Schreiber, b) hinsichtlich der Textauswahl, c) hinsichtlich der Formalität als Hauptkriterium und d) hinsichtlich der Erfassung von Phrasemen. a) Zu den Schreibern: Auch in dieser Studie, wie schon in vielen zuvor, soll der Textproduzent im Mittelpunkt stehen, obwohl wir uns noch weniger als Projekte mit gegenwartssprachlichem Bezug anmaßen, den Standpunkt der Schreibenden einnehmen zu können. Fest steht, daß die kleinen Leute nicht mit dem Proletariat gleichzusetzen sind, wenngleich sowohl in zeitgenössischen Dokumenten als auch in modernen Sozialgeschichten öfter zu lesen steht, in einigen Regionen des Ruhrgebiets hätten bis zu 90 % der Erwerbstätigen der Lohnarbeiterschaft angehört. Soweit es sich um Verwaltungsdokumente aus damaliger Zeit handelt, ist damit meist nur gemeint, daß diese Schicht unter der Besteuerungsgrenze lag und daher für die jungen Gemeinden eher eine Bedenn eine Entlastung darstellte. 4 Dieter Cherubim hat in einem Aufsatz über bürgerliche Sprache im 19. Jahrhundert (1983, S. 408) bereits auf die Durchlässigkeit der sozialen Grenzen des Bürgertums sowohl nach unten als auch nach oben aufmerksam gemacht und nachdrücklich auf die Bedeutung hingewiesen, die neben dem materiellen Besitz der Bildung und damit nicht zuletzt der Beherrschung eines sprachlichen Standards in Wort und Schrift im Kampf um sozialen Aufstieg bzw. Sicherung von Privilegien zukam (ebd., S. 406-408). Die Schreiber der Texte dürfen alle als wenigstens einigermaßen literat gelten. Extreme Fälle, in denen professionelle Schreiber oder Konzeptionisten als Mittler aufgetreten sind, waren ebenso auszuklammern wie zahlreiche Polen-Briefe als Dokumente einer Sprachnot sui generis (involviertes Fremdsprachenproblem). Dennoch scheint die soziale Streubreite bei den verbliebenen Texten erheblich zu sein. Beim Korpus der Kriegsveteranenberichte besteht eine zusätzliche Schwierigkeit darin, daß biographische Angaben über die Autoren sich häufig nur aus den Texten selbst erschließen lassen. Als glücklicher Umstand ist zu werten, daß das Textmaterial sich sowohl für Längsals auch für Querschnitte eignet. So dokumentieren die Veteranenberichte, deren Entstehungsjahr 1913 den ge- 4 Zur verwaltungsmäßigen Ordnung vgl. Croon (1971) sowie Brüggemeier (1983, S. 28-41). Demonstration am Beispiel der Stadt Bochum bei Crew (1980). Allgemeine Information über den Verlauf der Industrialisierung bei Henning (1984). Zum Gebrauch von Phraseologismen 179 steckten zeitlichen Rahmen schon fast sprengt, die Sprache der Generation der über Siebzigjährigen, die um 1840 geboren sind und deren berufliche und sprachliche Sozialisation in die Jahre der Einigung, Reichsgründung und des stärksten Industrialisierungsschubs fällt. Dagegen erlauben Briefe von Auswanderern, bei aller gebotenen Vorsicht gegenüber interferierenden Einflüssen der fremden Sprache und Kultur, die sprachliche Entwicklung von Individuen über Zeiträume bis zu 40 Jahren hinweg nachzuzeichnen. b) Zu den Korpora: Wie bereits angedeutet, wurden zwei teilweise recht verschiedenartige Teilkorpora herangezogen. 1. Erlebnisberichte von Kriegsveteranen, die an dem sog. glorreichen Feldzug gegen Frankreich (1870/ 71) teilgenommen hatten. Auf Anregung Kaiser Wilhelms des Zweiten erging im Jahre 1912 an alle Kriegervereine die Aufforderung, Kriegserinnerungen zu Papier bringen zu lassen und zu sammeln. Neben der bereits erwähnten Generationskonformität bietet dieses Korpus mit seinen ca. 60 Beiträgen die Möglichkeit, die Textgenese durch die begleitende Korrespondenz zwischen Herausgebern, Bearbeitern, Presse und Verwaltung fast lückenlos zu verfolgen und so das staatliche Interesse mit den Schreibintentionen der kleinen Leute besser zu kontrastieren. Ein weiterer Vorzug unseres unveröffentlicht gebliebenen Wattenscheider Veteranenbuches 5 besteht darin, daß uns sowohl unbearbeitete Originaltexte als auch Selbstkorrekturen bzw. von fremder Hand nachträglich angebrachte Korrekturen deutlich trennbar vorliegen, so daß rekonstruktive und damit hochgradig spekulative Erschließungsverfahren nicht in jedem Fall angewandt werden müssen. 2. Das zweite Korpus versammelt Privatbriefe gleichsam das Paradepferd, wenn es um Informalität geht. Ausgegrenzt wurde lediglich Korrespondenz aus rein konventionellem Anlaß. 6 Das verbleibende Material wurde nach Anlässen der Trennung (= Schreibanlässen) wie folgt klassifiziert: a) Trennung wegen Arbeits- oder Ausbildungsplatz, b) Trennung wegen Bildungsreise oder Kur. Diese beiden Typen wurden unter dem Stichwort „kleine Mobilität“ zusammengefaßt und abgesetzt gegen c) Trennung durch Auswanderung („große Mobilität“). Die genannten Schreibanlaß- Typen lassen sich, jedenfalls von ihrer Häufigkeit her, sämtlich als unmit- 5 Zwei Jahre früher zusammengestellt und daher lange vor Kriegsausbruch schon veröffentlicht, war ein Bochumer Veteranenbuch, das den Wattenscheider Initiatoren als Vorbild galt. 6 Gemeint sind z.B. Glückwunschsendungen, die das Briefformat nur deshalb benutzten, weil es (vor 1871) Postkarten noch nicht gab bzw. weil (nach 1872) die Akzeptanz des neuen Mediums Postkarte bei der Bevölkerung anfänglich gering war. 180 Helmut Kuntz telbare Folgeerscheinungen der Industrialisierung im allgemeinen und des Zwangs zur Mobilität im besonderen auffassen. Den wichtigsten außersprachlichen Gemeinsamkeiten von Veteranenberichten und Privatbriefen, die eine Zusammenschau der beiden Teilkorpora nahelegen, möchte ich in einer tabellarischen Übersicht die gravierendsten Unterschiede stichwortartig gegenüberstellen: GEMEINSAMKEITEN: 1. Räumliches und soziales Zentrum ist das Ruhrgebiet. 2. Die Untersuchungszeitspanne beträgt max. 50 Jahre. 3. Die Textproduzenten sind kleine Leute. 4. Zentrale Themen sind Krieg, Krankheit, Trennung, Fremde, Tod. 5. Unmittelbar reaktionsauslösende Handlungsintention ist nicht vordergründig. 6. Schreibanlaß ist weniger äußerer Zwang als moralischer Impetus, der allerdings geringfügig variiert. UNTERSCHIEDE: 1. Der Öffentlichkeitsgrad auf der Adressatenseite ist sehr unterschiedlich. 2. Die Texte haben quantitativ und qualitativ unterschiedliche Kontaktfunktion. 3. Der Anonymitätsgrad ist unterschiedlich. 4. Soziale Symmetrie und Sanktionsfreiheit weichen teilweise voneinander ab. 5. Die Zwänge zur formalen Gestaltung sind in den Teilkorpora divergent. 6. Erzählt wird in Briefen spontan aus dem Erleben heraus, bei den Veteranenberichten zeitdistant (Erinnerung) und rollendistant (Soldat-Sein). c) Zum Kriterium der Formalität: Trotz mancher Divergenzen halte ich es für gerechtfertigt, die beiden Teilkorpora zusammenzufassen, und zwar unter dem Aspekt der Formalität. Das Merkmal „Formalität“ ist in Textkonstellationsmatrizen statischer Textklassifikationsmodelle häufig mit Merkmalen wie ispontan, iöffentlich, ivorbestimmt, Troutiniert u.a.m. in Verbindung gebracht, teilweise sogar mit ihnen gleichgesetzt bzw. auf die sprachliche Ausgestaltung selbst bezogen worden. Ich möchte dagegen die Formalitätsfrage stärker inhalts- und senderbezogen wie folgt stellen: Wie wird persönliches Erleben erzählt? Dabei läßt sich Erzählen auffassen als Hervortreten des erzählenden Individuums aus seiner sozialen Gruppe (vgl. Michel 1985, Zum Gebrauch von Phraseologismen 181 S. 77-81). In diesem Sinne sind beide Textkorpora, möglicherweise mit spezifischen Abweichungen in der Art der Ausformung von Erlebtem, als informell zu kennzeichnen. Daß sprachliche Schematismen in stark normierter Verwaltungskommunikation dominieren, war zu erwarten, wenn auch die Frage, wie sich selbst dort Individualität trotz Formalisierungszwangs in einer Art Demokratisierungsprozeß immer größere Freiräume schuf, noch eingehender erforscht werden muß. 7 An unseren vergleichsweise informellen Texten wäre nicht zuletzt anhand der Verwendung von Phraseologismen eine eher gegenläufige Tendenz zu prüfen, die sich am ehesten in die Frage kleiden läßt, wie es um die dem (literarischen) Erzählen verbaliter zugestandene Freiheit der Gestaltung tatsächlich bestellt war eine Freiheit, die sich für den Schreibungeübten sicher nicht nur als Chance, sondern oft genug als Bedrohung und Überforderung manifestiert haben dürfte. Literarische Vorbilder, etwa in Form der Reiseerzählungen, waren zwar in großer Zahl vorhanden, dürften jedoch den kleinen Leuten weniger zugänglich und hilfreich gewesen sein als die gezielt schreibanleitenden Briefsteller, 8 die jedoch für private Korrespondenz allenfalls standardisierte Muster für Glückwünsche aller Art, Eintragungen in Poesiealben, Liebeserklärungen, formelle Heiratsanträge, Beileidsbezeigungen etc. bereitstellten. 9 Das persönliche Erzählen verlangt nach komplexeren und freier zu handhabenden Vorlagen. Das Kriterium „Informalität“ verspricht somit auch Aufschlüsse über die Herausbildung neuer Gebrauchstextsorten im Kontrast zu bereits bestehenden, literarisch konventionalisierten Formen. d) Zur sprachlichen Auswertung: Forschungsgeschichtlich ist die Phraseologie den Weg aller linguistischen Teildisziplinen gegangen: von der engen, innersprachlichen Begriffsbestimmung bis hin zur Erfassung auch von Verwendungsaspekten durch die Pragmalinguistik. 10 Da sich in Abhängigkeit von der Hierarchie der Definitionskriterien theoretisch unzählig viele Subklassen von Phraseologismen 7 Die Dokumentation dieser Entwicklung in Texten und Kommentaren ist ein Hauptanliegen der umfangreichen Arbeit von Tenfelde/ Trischler (1986). Zeugnisse dieses ‘Demokratisierungsprozesses’ aus dem Bochumer Projekt nun auch in Grosse et al. (1989, S. 17-88) (in den von Jörg Karweick bearbeiteten Kapiteln zur Verwaltungskorrespondenz). 8 Zur Verbreitung von Briefstellern auch in neuerer Zeit vgl. Ermert (1981, S. 13f.). 9 Als typisches Beispiel für die Textsortenbreite damaliger Briefsteller wurde Kiesewetter (o.J.) ins Literaturverzeichnis aufgenommen. Erwähnenswert ist ferner, daß es nachweislich auch in USA einen deutschsprachigen Briefsteller gegeben hat als Ratgeber für die Korrespondenz der Auswanderer nach Hause. 10 Man vergleiche den isomorphen Aufbau der beiden Standardwerke von Burger et al. (1982) sowie Fleischer (1982); vgl. auch den Gesamtüberblick von Pilz (1981). 182 Helmut Kunlz bilden lassen, war neben der allgemeinen Frage der Operationalisierbarkeit vorrangig die Frage zu klären, welche Schwerpunktsetzung beim Phraseologiebegriff unserem Erkenntnisinteresse am ehesten gerecht wird. Rein syntaktische oder semantische Klassifikationen waren ebenso auszuscheiden wie Einteilungen nach Herkunft, Alter oder Universalität, 11 während Einteilungen nach gesprächsfunktionalen Gesichtspunkten 12 besser geeignet schienen. In welcher Weise unsere Schreiber auf bestimmte Vorräte an phraseologischen Elementen bei der Textproduktion zurückgreifen, scheint beim Lesen intuitiv leichter nachvollziehbar als analytisch exakt beschreibbar zu sein. Die Länge der benutzten Phraseologismen spielt meist eine untergeordnete Rolle und ist zudem in Verkettungsregeln strukturell nicht fest verankert. 13 Diesbezüglich wäre somit ein weiterer Interpretationsrahmen anzusetzen, was sich etwa auf die Pilzsche Formel bringen ließe: Phraseologismus = Phrasem (als lexikalisch substituierbare, semantische Einheit unterhalb der Satzebene) + Phraseotextem (als satzwertige, meist intentional bestimmte Größe) (Pilz 1983, S. 341-343). Doch selbst in dieser allgemeinen Form bleiben Abgrenzungsschwierigkeiten sowohl nach unten zum stereotypen Einzelwortgebrauch als auch nach oben zu festen Satzsequenzen hin bestehen. Von der unter dem Stichwort „Formalität“ skizzierten Ausgangsposition her lassen sich an das Textmaterial im wesentlichen zwei Fragestellungen herantragen: 1. Welche nicht in morpho-syntaktischen Regelsystemen vorgegebenen, aber doch vorgeformten Strukturen verheißen dem Textproduzenten Sicherheit? Die Frage zielt also auf den Parameter „Festigkeit“. 2. Über welche sprachlichen Mittel des bewußten Gestaltens verfügen die Schreiber, um persönlich Erlebtes auszudrücken? In diesem Zusammenhang wäre quantitativ und qualitativ auf sprachliche Kreativität/ Originalität zu achten. Aus diesen beiden Fragestellungen resultiert schließlich: 11 Universalität (oder besser: Vergleich meist zufälliger Ähnlichkeiten) war schon immer ein wichtiges Kriterium für die Vermittlung von Phraseologismen im Fremdsprachenunterricht, wenngleich didaktische Konzeptionen von ganz anderen Überlegungen ausgehen sollten. Vgl. Burger et al. (1982, S. 289-309). 12 So etwa: Makkai (1972, S. 172-179); Koller (1977, S. 119-187); Pilz (1978, S. 613- 701); Thun (1979, S. 498-512) und Coulmas (1981, S. 70-120). 13 So steht z.B. das Wortgruppenlexem Gott sei Dank paradigmatisch in synonymischer Sinnrelation zu dem ganzen Satz: Dafür wollen wir dem lieben Gott danken bzw. dem Nebensatz: wofür wir Gott danken wollen, es steht aber gleichzeitig in einem komplenymen Verhältnis zu dem einzelwortförmigen Adverb leider. Zum Gebrauch von Phraseologismen 183 3. Wie durchdringen sich Sicherheitsbedürfnis einerseits und Streben nach Kreativität andererseits? Gibt es gleichsam eine Achse, an deren Endpunkten Kreativität und Formelhaftigkeit anzusiedeln sind? Aus dem bisher Gesagten geht hervor, daß nur sehr wenige der in der Forschung mit dem Etikett „Phraseologismus“ versehenen Erscheinungen von der Auswertung ausgeschlossen werden konnten. Dies war lediglich der Fall bei Verben mit mehr oder weniger motivierter präpositionaler Rektion, die ich kurzerhand der Verbvalenz und damit der Systemgrammatik zugeschlagen habe. Dagegen sind Funktionsverbgefüge und verwandte Verbfügungen aufgrund bestehender Alternativen bei der Wortwahl sowie potentieller stilistischer Gestaltungsmöglichkeiten schon mitausgewertet worden. 14 Unter dem Aspekt der Festigkeit wurde sogar die für Phraseologismen gemeinhin als konstitutiv erachtete Zweiwortgrenze insofern unterschritten, als der formelhafte, kobzw. kontextgebundene Einzelwortgebrauch (meist Adverbien) ebenfalls registriert wurde (s. hierzu Anm. 18). An der oberen Grenze der Phraseotexteme haben wir unser Augenmerk auch auf noch größere Einheiten (feste Satzfolgen als phraseologische Teiltextstrukturen) gerichtet. Ferner waren auf allen phraseologischen Ebenen neben Sprachmustern auch Denkmuster zu berücksichtigen (Stereotypen, Topoi, Gemeinplätze), die allerdings häufig mit den sprachlich geprägten Phraseologismen zusammenfallen (vgl. auch Gülich 1978, S. 2ff. sowie Quasthoff 1973, S. 27-30). Bezüglich des Kriteriums „Kreativität“ erfaßten wir Stilmittel der Bildhaftigkeit und Ausschmückung, so etwa adjektivische Attribuierung (feste ZweiWortfügungen), Metaphern und Vergleiche. Bei der Bewertung dieser Erscheinungen als phraseologisch spielt der Grad an Bedeutungsübertragung eine zentrale Rolle. Eine detaillierte Auswertung ist statistisch quantitativ noch nicht erfolgt. Die Zuordnung und ansatzweise Interpretation kann und soll in diesem Beitrag ausschließlich phänotypisch durch Anführen bestimmter Einzelbelege vorgenommen werden. 2. Beobachtungen am Material Ausgangspunkt ist die Hypothese, daß die Textproduktionsbedingungen in ihrer Gesamtheit die sprachlichen Auswahlprozesse steuern. Bei aller Verschiedenheit der Forschungsansätze unterstelle ich als minima ratio für eine pragmalinguistische Klassifikation sprachlicher Erscheinungen insgesamt und phraseologischer Elemente insbesondere eine Grobgliederung in vier differenzierende Merkmalsgruppen: a) Situation (unterteilt in unmittelbare raum-zeitliche Kommunikationssituation, soziale und bildungspolitische Situation); b) Intention (primäre Handlungsintention und Schreibin- 14 Zum Status von Funktionsverbgefügen vgl. Rothkegel (1973, S. 50ff.). 184 Helmut Kuntz tention des Autors, die auch Rückschlüsse auf sein Sprachbewußtsein und seine Textsortenwahrnehmung zuläßt); c) Thematik (mit Themen sind Vorstellungswelten verbunden, die den Zugriff auf vorgeprägte Sprachformeln mehr oder weniger erwarten lassen); d) Partnerbezüge (sozialer und psychisch-emotionaler Natur, die auf der Grundlage von Situationseinschätzungen das Rollenverhalten wesentlich bestimmen). Anstelle einer hier nicht zu leistenden Explikation der vier Merkmalsbereiche werde ich jedem einzelnen punktuell eine Erscheinung zuordnen und diese am sprachlichen Material zu explizieren versuchen in der Hoffnung, daß ein derart grob gerastertes Mosaik dennoch erste Konturen erkennbar werden läßt. Freilich wird eine klare Gliederung in zweifacher Hinsicht erschwert: zum einen durch Interdependenzen einzelner Merkmale aus verschiedenen Merkmalsgruppen, 15 zum anderen dadurch, daß neben außersprachlichen Steuerfaktoren auch mit idiosynkratischen Einflüssen zu rechnen ist. 2.1 Situativität und Schriftlichkeit In der Merkmalsgruppe Situativität greife ich die für die Sprachgeschichtsschreibung seit jeher bedeutsame Frage des Kommunikationskanals heraus, hier in der Spielart: Wie haben fest vorgeformte Elemente gesprochener Sprache gewollt oder ungewollt die schriftliche Textgestaltung mitgeprägt? Die Erwartungshaltung des Analysierenden ist primär ausgerichtet an den Faktoren des Referenzbereichs 16 und des Adressatenbezugs. Vom Referenzbereich her wären umgangssprachliche Elemente in beiden Teilkorpora zum mindesten nicht auszuschließen, der Adressatenbezug ließe jedoch bei den Veteranenberichten infolge des höheren Öffentlichkeitsgrades eine stärkere Zurückhaltung erwarten. In den Texten selbst findet man dies noch ohne jeglichen Bezug zur Verwendung von Phraseologismen zuweilen metasprachliche Zeugnisse über den Vertrautheitsgrad mit Schriftlichkeit, so den Brief eines Bergmanns, der seiner „Mama“ (Ehefrau) aus der Kur mitteilt, daß das Schreiben fast so sei, als ob man sich unterhalte, und sie bezüglich der Verlängerung seiner Krankmeldung anweist: „... Wenn die Herren von der Grube jetzt wieder fragen nach mir, so sage ihnen nur was ich geschrieben hätte, lasse aber niemanden den Brief lesen, ist zu schlecht geschrieben ...“. Überhaupt begegnet das Verbalisieren von Sprachbzw. Schreibnot und Minderwertigkeitsgefühlen in beiden Teilkorpora recht häufig. Schon Informationen rein beschreibender Art können die Einstellung der Schreiber erhellen, so, wenn ein Auswanderer bekennt, er habe für einen knapp einseitigen Brief drei Stunden gebraucht und das Schreiben wegen einbrechender Dunkelheit abbrechen müssen. Hier ist mit welchem Erfolg bleibe dahingestellt - 15 Kritik der Faktorenmodelle zur Textsortendifferenzierung bei Helbig (1980, S. 264). 16 Gemeint sind Einteilungen in Berufsbzw. Arbeitswelt, Privatleben, Verwaltung etc. in Anlehnung an die „funktionalen Sprachbereiche“ der Prager Schule. Zum Gebrauch von Phraseologismen 185 gegen die dem Mündlichen eigene Spontaneität offensichtlich angekämpft worden. Doch nun zu den mündlich vorgeprägten Wendungen selbst: Eine Gruppe metasprachlicher Indikatoren von Mündlichkeit umfaßt Teilsätze und kommutierende Adverbien des Typs wie man so sagt, sozusagen, gewissermaßen u.a.m. Solche Elemente, die faktisch einen vorübergehenden Registerwechsel anzeigen, von der Sprachgeste her meist ein Zuvorkommenheitsritual sind (Terminus nach Goffman 1986, S. 45), waren uns bei Petitionen und ähnlichen Verwaltungsschreiben wiederholt aufgefallen. Während sie in den Veteranenberichten gänzlich fehlten, wurden sie namentlich in Auswandererbriefen meist mit einer völlig anderen, gleichsam imagehebenden Funktion eingesetzt, wenn es darum ging, Fremdsprachliches oder Fremdkulturelles den unwissenden Daheimgebliebenen fachmännisch zu erläutern. „... Hier in Amerika müste mann Steicher sein oder Bas wie sie hier sagen ...“. Neben metasprachlichen Formen des self-assessment (Sornig 1981, S. 121) finden sich im Text weitere Indikatoren für Mündlichkeit. Da sind insbesondere die in verschiedener Hinsicht klassifizierbaren Satzkommentarformeln (vgl. auch Pilz 1981, S. 72f.). Mit Blick auf unsere Problemstellung bevorzuge ich eine Einteilung in elokutive, alokutive und delokutive Satzkommentare, wobei die delokutiven (z.B. das trifft den Nagel auf den Kopf) oft nur als ein Sonderfall der elokutiven anzusehen sind. Quantitativ fällt auf, daß die Veteranenberichte mit zwei Ausnahmen alokutive Formeln vermeiden, während der Gebrauch elokutiver Formeln in den beiden Teilkorpora nicht signifikant abweicht. 17 Hier liegt der Bezug zur Anonymität der Adressatengruppe auf der Hand. Kommentarformeln, sowohl alokutive als auch elokutive, treten in der gesprochenen Sprache der Gegenwart häufig als Phraseologismen auf: das schlägt dem Faß den Boden aus, mich laust der Affe, da staunst du Bauklötze etc. Unsere Texte sind diesbezüglich durch strikte Enthaltsamkeit gekennzeichnet. „Spitzenreiter“ war mit Abstand „jemandem eine große Freude sein“ in sämtlichen temporalen und modalen Variationen. Andere beliebte Formeln waren: „das könnt ihr (mir) glauben“, „das könnt ihr euch (nicht) vorstellen“, „das war ganz neu für mich“ etc. In dieser Beziehung überwog Festigkeit bei weitem das Streben nach Bildhaftigkeit. Auf einer zweiten Ebene haben wir uns der Frage zugewandt: Wo interferieren umgangssprachliche oder mundartliche Sprechmuster bei der schriftlichen Textgestaltung? Neben hier nicht zu behandelnden stilblütenhaften Fehlleistungen, Stilbrüchen und formelhaftem Einzelwort- 17 Ein ähnlicher Befund ergab sich auch bei Fragesätzen, die in den Veteranenberichten nur dreimal als rhetorische Frage zum Einleiten von Zitaten auftauchten. Beispiel: „... und was sagte er in seiner Todesnot? Er sagte Durst, o Gott ...“ 186 Helmut Kuntz gebrauch 18 sind in erster Linie Aktionsformeln des Typs „dann gings nach „nix wie los“ oder „feste drupp“ zu nennen. Mundartliches im engeren Sinne, also spezifisch Westfälisches oder Niederfränkisches, ist nicht nachweisbar außer in drei durch Anführungszeichen als Zitat markierten Passagen. Wohl aber stößt man auf mundartlich mitgeprägte, umgangssprachliche Wendungen wie: „... Das mit deine rote Wangen wird sich schon all wieder machen ...“ u.a.m. Bei der Beurteilung mundartlicher Einflüsse ergibt sich die zusätzliche Schwierigkeit, daß man mitunter kaum entscheiden kann, was in diesem Subsystem regelhaft vorgegeben, etwa von der Verbvalenz her bestimmt ist, und was als phraseologisch bzw. fest lexikalisiert zu gelten hat. 19 Dennoch spricht vieles dafür, daß mundartliche Einflüsse in Orthographie, Flexion sowie Kasus- und Präpositionalgebrauch deutlicher faßbar sind als im phraseologischen Bereich, was m.E. nur dadurch zu erklären ist, daß Phraseologismen als „stilistische“ Gestaltungsmittel dem Sprachbewußtsein eher zugänglich sind als internalisierte Regelsysteme. Die weitaus meisten umgangssprachlichen Wendungen werden in beiden Teilkorpora in Zitate verlagert. Schimpfwörter wie „roter Hund“ (in Anspielung auf Sozialdemokraten) für ungehorsame Soldaten oder Sätze wie „Wir werden diesen roten Hunden (hier Franzosen wegen der Uniform) die Hosen stramm ziehen“ werden Vorgesetzten in den Mund gelegt. Aber nicht nur bei Abweichungen nach unten (Umgangssprache), sondern auch bei literarischen Überhöhungen (vaterländischer Diskurs) greifen die kleinen Leute häufig zu dieser Zitiertechnik. Da die bereits erwähnten Aktionsformeln meist in unmittelbarer Nachbarschaft von Zitaten anzutreffen sind (Muster: pathetische Ansprache des Vorgesetzten, aktionale Reaktion der Truppe), ergeben sich namentlich in den Veteranenberichten phraseologische Ballungsräume. Die Zitiertechnik legt die Vermutung nahe, daß die Schreiber bestimmte phraseologische Potentiale nicht nur kannten, sondern auch aktiv zur Verfügung hatten, jedoch vor deren Einsatz im ungeschützten Text zurückschreckten. Sie werden eher als von außen autorisierte Möglichkeit und Legitimation zu stilistischer Variation benutzt. Dies läßt darauf schließen, daß ein Bewußtsein von einem normalen, mittleren Niveau stark ausgeprägt gewesen sein muß. Im Falle der Veteranenberichte steht dieses Sprachbewußtsein vieler Schreiber in einem krassen Gegensatz 18 Er erinnert stark an die Diskussion um die sog. Modewörter. So verbinden die Schreiber aus dem Ruhrgebiet das positiv besetzte „tüchtig“ im Sinne von sehr mit allen Arten von Verben in ähnlicher Weise, wie man dies heute mit in wörtlicher Bedeutung negativ konnotierten Adverbien des Typs wahnsinnig, furchtbar tut. 19 Exemplarisch sei hier nochmals auf Verben mit („unmotiviertem“) Anschluß eines Präpositionalobjekts verwiesen, eine Erscheinung, die in einigen Arbeiten zu Beginn der 70er Jahre als zur Phraseologie gehörig eingestuft, von mir jedoch aus dem Untersuchungsbereich ausgeklammert wurde. Daß man bezüglich der mundartlichen Überlagerung über „forschungsleitende Hypothesen“ noch nicht hinausgekommen ist, ist bei Menge (1985, S. 194-200) nachzulesen. Zum Gebrauch von Phraseologismen 187 zur Intention der Auftraggeber, die auf eine gewisse Volkstümlichkeit, die mit authentischer Umgangssprache allerdings wenig zu tun hatte und teils Idealen der Romantik, teils vaterländischem Kraftmeiertum verpflichtet war, durchaus Wert legten. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: In einem Bericht heißt es Wir beschossen die feindlichen Stellungen, bis die Franzosen das Feuer einstellten...“. Der Bearbeiter, ein Wattenscheider Schullehrer, korrigiert: „..., bis die Franzosen im Sack waren ...“. 2.2 Intentionalität und Wahl der Textsorte Die Entscheidung zugunsten einer bestimmten Textsorte ist zwar per se kein phraseologisches Phänomen und wirkt sich nicht singulär auf phraseologische Textgestaltung aus, ist jedoch auch für diese so grundlegend, daß hierauf näher eingegangen werden soll. 20 Hugo Steger (1984, S. 186) führt aus: ... Dies [= das Erlernen der Sprache in sozialen und sozial kontrollierbaren Kontexten] führt dazu, daß wir in jeder Situation im Rahmen des zugehörigen Typus ein sozial angepaßtes Textexemplar erzeugen und erkennen können, dessen Aufbaumuster wir vorab wählen und das wir prozeßhaft nach flexiblen Regeln konstruieren .... Als Fallstudie greife ich die Veteranenberichte heraus, zu deren Abfassung der Kriegerverein Wattenscheid im Jahre 1912 mit folgenden Worten aufforderte (Auszug): (1) An die Veteranen von Stadt und Amt Wattenscheid. Ich beabsichtige, in ähnlicher, wenn auch bescheidenerer Weise, wie es der Kriegerverband des Landkreises Bochum getan hat, die Kriegserinnerungen unserer Veteranen im Druck erscheinen zu lassen. ... Ferner soll von jedem Veteran ein Bild in den Bericht aufgenommen werden. Hierzu bedarf es der Unterstützung aller Veteranen. Ich bitte Sie daher, alles, was Sie an persönlichen Erinnerungen an die große Zeit noch wissen, namentlich alle Schlachten, Gefechte, Belagerungen u.s.w. aufzuschreiben oder durch Ihre Kinder oder andere gute Bekannte aufschreiben zu lassen. ... Persönliche Erlebnisse und Eindrücke sowie besondere Beobachtungen möchte man eingehend darstellen, damit jeder Bericht eine ausgesprochen persönliche Note erhalte. Ob Ihr Bericht in gutem oder schlechtem Deutsch, in guter oder schlechter Schrift abgefaßt wird, ist gleichgültig. Ich werde alles überarbeiten und nötigenfalls richtig stellen lassen. Die Hauptsache ist, daß Ihre persönlichen Erinnerungen und Eindrücke aus jener Zeit zu Papier gebracht werden. Mit kameradschaftlichem Gruße Kampmann, Hauptmann d.R. Auffällig ist, daß die Veteranen auf den Aufruf des Hauptmanns Kampmann textsortenmäßig ganz unterschiedlich reagiert haben. Dies ist zum einen an den Überschriften ablesbar: Einige Beiträge sind als „Erlebnisse“ betitelt, andere als „Bericht“, andere als „Erinnerungen“ und wieder an- 20 Gerade hinsichtlich des Gebrauchs von Phraseologismen wecken die weiter unten in diesem Abschnitt zitierten Textpassagen (2)-(5) sehr dezidierte Erwartungen. 188 Helmut Kuntz dere gar als „Verzeichnis“. Einige verwenden einen Briefkopf, andere (die Mehrheit) schalten einen mit der ersten Einberufung beginnenden militärspezifischen Lebenslauf vor, wieder andere steigen unmittelbar in die Erzählung ein. Für das Ende der Beiträge lassen sich ähnliche Divergenzen feststellen. 21 Noch krasser treten inhaltliche und dadurch bedingte erzähltechnische Verschiedenheiten zutage, wobei sich m.E. vier Grundtypen voneinander abheben lassen: a) Die totale Verweigerung. Der Erzähler kann sich an keine Einzelheiten erinnern, besitzt auch kein Foto, so daß man sich fragt, warum er überhaupt auf den Aufruf reagiert hat. b) Das rein chronologische Aneinanderreihen von Marschbewegungen und Gefechten. In solchen Fällen haben die Herausgeber per Rückfrage Ergänzungen um persönliche Eindrücke angemahnt. c) Episodenhafte Darstellung wahrer oder angeblich wahrer Erlebnisse (der Schreiber will etwas „zum besten geben“) und d) patriotisch überhöhte Darstellungen, die man eher als propagandistisch denn als erzählend bezeichnen sollte. Für alle vier Grundtypen stelle ich zur Illustration charakteristische Textausschnitte vor: (2) ... Als Arbeitsmann, 68 Jahre alt geworden, kann ich mich auf Einzelheiten nicht mehr recht besinnen und wüßte somit nichts Bemerkenswertes mehr mitzuteilen. Briefe aus der damaligen Zeit habe ich auch nicht mehr, auch ist mein Soldatenbild nicht mehr vorhanden; leider habe ich jetzt auch kein Bild von mir. Am 4. April 1871 wurde ich wieder entlassen ... . (3) Wilhelm Lehmann gebohren den 26 März 1844 zu Höntrop traf am 23 Oktober 1865 in Dienste bei der 4 Compagnie l.ten Garde Regiment zu Fuß in Potsdam ein Und machte den Feldzug 1866 gegen Österreich mit, und nahm antheil die Schlacht bei Königgrätz am 3 Juli 1866. ... Am 13 September wurde ich als Reserve entlassen. Am 23 Juli 1870 wurde ich wieder bei der 4 Compagnie des 1 Garde Regiments zu Fuß eingezogen und machte den Feldzug gegen Frankreich mit, und nahm antheil die Schlacht bei St. Prievat am 18 August 1870 Schlacht bei Beamont am 30 August 1870. Belagerung von Paries vom 19 September 1870 bis 28 Januar 1871. Erstürmung bei +...+ am 30 Ocktober 1870. Gefecht bei +...+ am 28 November 1870 und am 30 November 1870 bei +...+ Ausfalgefecht gegen das Garde Corps am 21 Detzember 1870 bei +...+ Am 6 Juni 1871 stiegen wir in +...+ vor Paries ein und fuhren nach Berlin wo wir dann den Einzug machen. (4) Ich, Peter Felten, bin zu Gohr bei Neuss am 18. Aug 1844 geboren und diente vom ... bis ... bei ... Eigentliche Schlachten und Gefechte habe ich nicht mitge- 21 Als extremstes Beispiel sei ein Brief erwähnt, der durch ein PS zu erkennen gibt, daß die Erzählung nur ein Vorwand war, um die Verantwortlichen für die Erledigung einer Verwaltungssache günstig zu stimmen. Durch dieses PS wird der gesamte Bericht handlungsmäßig zu einer Supplikation. Zum Gebrauch von Phraseologismen 189 macht. Doch will ich von meinen Kriegserlebnissen einiges zum besten geben. Es war im Juli 1870, als ich eines Abends ... (5) ... Das Jahr 1869 ging ohne jegliche Störung seinem Ende zu. Keiner wußte und ahnte, was das kommende Jahr, das Jahr 1870 noch bringen würde, und doch sollte es für das ganze deutsche Vaterland das ereignisvollste Jahr werden. Gewitterwolken zogen am westlichen Himmel empor. Die Franzosen sahen mit neidischen Augen auf die wachsende Macht Preußens ... Möge das deutsche Reich weiter grünen und blühen. Einigkeit macht stark! Heinrich Hahn. Wanne, Röckstraße 59 a. Aus drei Überlegungen heraus wird die Unsicherheit unserer Schreiber besser verständlich: Erstens: Durch den Passus namentlich alle Schlachten, Gefechte, Belagerungen usw. wird in Kampmanns Rundschreiben trotz gleichzeitigen Betonens des persönlichen Eindrucks einer „Aufzählungsmentalität“ Vorschub geleistet, die auch in anderen Arbeiten zur Sprache der sog. kleinen Leute im 19. Jahrhundert bereits konstatiert worden ist. 22 Für unsere Schreiber war dieser Aufruf offensichtlich ambivalent. Zweitens muß es den Autoren sehr schwergefallen sein zu glauben, daß man höherenorts tatsächlich an ihren persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen interessiert sei - und das war ja auch nicht der Fall. Drittens schließlich herrschte eine weitgehende Unkenntnis hinsichtlich der Adressaten. Nur an einer Stelle: „... Wenn man ans Rad gebunden ist, Cameraden, das ist nicht zum lagen sondern zum Weinen ...“ gibt ein Textproduzent zu erkennen, daß er seine Alters- und Leidensgenossen fälschlicherweise für die Hauptzielgruppe hält. Daß derartige Sammlungen nicht der Erbauung von Kriegsveteranen dienen sollten, liegt auf der Hand. Nachdem eine Propaganda von oben der Bevölkerung suspekt geworden war, griff man in der Hoffnung, eine allgemeine Kriegseuphorie zu befördern, zu dem Mittel „authentischer“ Propaganda aus dem Volk, da die lebensnahe, naturhafte Darstellung des Heroischen weit mehr vermöge als jede literarische Ausschmückung. Am Beispiel der Elemente aus der gesprochenen Sprache versuchte ich bereits nachzuwejsen, daß diese Natürlichkeit eine Schein- Natürlichkeit war. Ähnliches gilt für die mitgeteilten Inhalte: Strapazen, Krankheit und Tod gelten nur als Meßlatte des Heldentums, der Feind verliert alle menschlichen Züge und verkommt zu einem „Tötungsobjekt“. Die Reaktionen auf diese sprachliche und inhaltliche Als-ob-Situation waren sehr unterschiedlich, wobei Verweigerung und Kolportage wohl die Extrempunkte markieren. Mit Sicherheit läßt sich behaupten, daß diese Als-ob-Situation den kolportierenden Autoren besonders bewußt gewesen ist, die Angemessenheit der Reaktion dürfte aber in beiden Fällen gleich sein. 22 Verwiesen sei hier auf einen von Cherubim (1983, S. 415f.) auszugsweise zitierten Reisebericht eines fahrenden Gesellen aus Braunschweig. 190 Helmut Kuntz 2.3 Themenbezug auf zwei sprachlichen Ebenen „Thema“ ist ein häufig benutzter, stark verschlissener und polysemer Begriff, der in der funktionalen Satzbetrachtung ebenso beheimatet ist wie in der Textbzw. Referenzsemantik und dem überdies ein wichtiger Stellenwert innerhalb der Erzähltheorie zukommt. Ich beschränke mich darauf, zu zwei Aspekten des Themenbegriffs anhand von Beispielen Näheres auszuführen: zum transphrastisch-textuellen sowie zum referentiellen, wobei ich dem Thema als eher übergreifender Größe die einzelnen Motive als Untereinheiten zuordne. Themen bzw. Teilthemen verbinden sich mit bestimmten Sprechhandlungen zu lokutiven Einheiten von der Größe eines Teiltexts, die infolge von Normierung/ Konventionalisierung einen erstaunlichen Grad an Festigkeit erreichen können. 23 So verbindet sich im Privatbrief das Thema „Gesundheit“ zwangsläufig mit den Handlungen: „Erkundigung nach Gesundheit des Adressaten, Bericht über eigene Gesundheit“ oder das Thema „Kontakt“ mit: „dankendes Bestätigen des Funktionierens bzw. bedauerndes Feststellen des Nichtfunktionierens mit dem Versuch einer Klärung“. Die beiden folgenden Briefanfänge, stellvertretend für fast ein Dutzend gleichlautender aus der Feder desselben Schreibers, mögen den Aspekt der Formelhaftigkeit, aber auch die potentielle Variationsbreite näher veranschaulichen: (6a) Massilonn den 22 August 1881 / Liebe Eltern und Geschwistern / Ich will euch eben mittheilen das ich den Brief vom 28 Juli erhalten und daraus gesehn das ihr noch alle gesund und Munter seit was mich sehr freut denn es geth nicht für die Gesundheit ich bin Gott sei Dnk auch noch gesund wenn ich so gesund bleibe bin ich zufrieden ... (6b) Bakinghamm den 6/ 5 1882 / Liebe Eltern und Brüdern / Eueren Brief vom 15 Apriel habe ich Gestern erhalten und schreibe euch heuthe schnell wieder, Nämlich das ich noch Gesund und munter bin welches ich von euch hoffe denn es geth nicht vor die liebe Gesundheith, und mann kann Gott nicht Genug danken wenn mann Gesund ist ... Thematisch-illokutive Einheiten besitzen keine so hohe strukturelle, wohl aber eine extreme, oft idiolektal geprägte, usuelle Festigkeit, so daß man sie eher pauschal als Schematismen denn speziell als Phraseotexteme einstufen sollte. 24 Sie bereiten jedoch gleichsam den Boden für das Vorkommen kürzerer phraseologischer Verbindungen, 26 was auch Fehlleistungen 23 Derartige Teilstrukturen sind von Textlinguisten wie Elisabeth Gülich seit Mitte der 70er Jahre eingehend untersucht worden und bilden in jüngerer Zeit forschungsmäßig den Hauptgegenstand der sog. frame-Theorie. (Vgl. Beaugrande/ Dressler 1982, S. 95 und 154f.). 24 Gülich (1978, S. 2ff.), wo Schematismen und „Sprachstereotypen“ am Beispiel des Gemeinplatzes besprochen werden. 25 Antos (1986, S. 72f.) spricht von aufeinander bezogenen makrostilistischen und mi- Zum Gebrauch von Phraseologismen 191 einschließt. So führte bei den Privatbriefen die im Einleitungssatz übliche Wortkombination „dein lieber Brief“ in Verbindung mit der Schlußtitulatur „dein dich liebender zu dem Anakoluth: „Ich habe deinen dichliebenden Brief erhalten“. Festgefügte Teiltextstrukturen machen sich in Textpassagen mit primär interaktiver (z.B. kontaktiver oder direktiver) Funktion stärker bemerkbar als in den rein erzählenden Passagen. Sie sind jedoch auch dort präsent. Das Verhältnis von Konstanz und (idiolektaler) Varianz soll am Beispiel der Schlußpassagen einiger Veteranenberichte zum Thema „Heimkehr“ verdeutlicht werden: (7) ... wurde dan am 1. April 1871 nach Barmen Entlassen. Es war eine große Freude für meine lieben Eltern und Geschwister daß ich wieder zu Hause war. (8) ... da kam ich den am 2. Octb. 1871, in Bochum bei meinen lieben Eltern Brüdern Geschwester mit Gott Glücklich wieder an. Meine liebe Mutter weinte mein lieber Sohn du bist aber lange ausgeblieben ... (9) ... Entlieh kam die frohe Stunde im August am 16. daß wir wieder in unsre liebe Heimath Entlassen wurden Aber leider hatte ich meine lieben Eltern Geschwister nicht mehr, sonst wäre daß für uns Alle ein Freuden-Tag gewesen. Achtungsvoll ... (10) ... Zwischen Bünde und Minden da stand eine ganze Gemeinde mit Schul Kinder mit Fahnen, und wollen ihren Lehrer wieder hohlen, die Freude der Kinder wahr gros, der Lehrer konte sein Gewehr abgeben und wurde dan von der Compgenie entlassen mit seine Kinder. Wie wir vor Minden ankamen da gingen die Carnonen wie 70. die ganze Stadt wahr auf schönste geflagt, und wir wurden alle von die Damen mit einen Kranz beschenkt. Gegen 6 Uhr Abens rückten wir dann in die Bahnhoff Kähmen wieder ein, Und bekamen Erbsen Suppe mit Spek. Schlus. Der Auszug (7) stellt mit der „großen Freude“ und den „lieben Eltern“ den in unserem Belegkorpus eindeutig dominanten Typ, also den Normalfall dar. Der Auszug (8) hingegen überschreitet bereits die Grenze der erlaubten Lebendigkeit und wurde möglicherweise als die Wehrmoral zersetzend eingestuft. Der von der Mutter gesprochene Satz: „Mein lieber Sohn du bist aber lange ausgeblieben“ wurde vom Korrektor getilgt. Auszug (9) zeigt, wie fest der Topos von der glücklichen Heimkehr in den Schoß der Familie im Bewußtsein der Schreiber verankert gewesen sein muß, so daß man selbst vor dem Gebrauch des Irrealis nicht zurückschreckte. Auszug (10) ist das einzige in unserem Korpus auffindbare Gegenbeispiel, das belegt, daß eine Heimkehrschilderung auch ohne Pathos, sprachliche Versatzstücke und damit auch ohne Phraseologismen auskommen kann. krostilistischen Kompositionsprinzipien, ordnet die Phraseologismen dem Mikrobereich zu und stellt generell fest, daß in Grußworten auf beiden Ebenen die Verfestigungstendenzen eher zunehmen. 192 Helmut Kuntz In die sprachliche Gestaltung einzelner Themen bzw. Motive interferieren auch die lebensweltlichen Erfahrungsbereiche (funktionalen Sprachbereiche) mit ihren stilistischen Normensetzungen. Als primär ist die alltägliche Erfahrung anzusehen: das militärische Umfeld bei den Rekruten, die fremdkulturelle Konfrontation bei den Auswanderern. Die häufige Verwendung militärspezifischer, phraseologisch geprägter Fachjargonismen wie den Affen aufhaben in den Veteranenberichten oder unübersetzter englischer Wörter, Ausrufe und sogar ganzer Sprichwörter in den Auswandererbriefen legt die Vermutung nahe, daß in der Intentionenhierarchie der Schreiber der Wunsch nach Verständnis der faktischen Zusammenhänge durch die Rezipienten nicht in jedem Falle ganz oben rangiert hat. Die alltagssprachliche Diktion wird stellenweise abrupt und stilbruchhaft durchsetzt von Sprachelementen aus den Bereichen von Verwaltung, Literatur, Religion und Patriotismus mit unverkennbarer Tendenz zur Ideologisierung und emotionalen Überhöhung. Hier spiegelt sich möglicherweise eine Entwicklung wider, die für das ausgehende 19. Jahrhundert kennzeichnend ist: Eine im Zeitalter des Liberalkapitalismus anachronistisch gewordene, feudale Staatsführung versucht sich dadurch zu legitimieren, daß sie die Werte der Religiosität und familiären Bindung, die im Industriezeitalter im Privatleben ständig an Bedeutung verlieren, auf die gesamtgesellschaftliche Ebene erhebt, das deutsche Volk zur großen Familie, seinen Monarchen zur Vaterfigur hochstilisiert und dem Leben/ Sterben durch Parolen wie „für Kaiser, Gott und Vaterland“ eine gleichsam sakrale Aura verleiht. Selbst ein so zentrales thematisches Motiv wie das des Todes in den Veteranenberichten verfügt nicht über ein ihm fest zuzuordnendes phraseologisches Inventar, auch wenn phraseologische Wörterbuchsammlungen Einteilungen nach Motivbzw. Sachgruppen wiederholt vorgenommen haben. 26 Wie unergiebig derartige Einteilungen gerade für pragmatisch orientierte Untersuchungen sind, mögen die folgenden Beispiele aus den Textkorpora belegen. (11) ... da kam schon eine Grannate und schluch von den bedinungs-Manschaften einem die Kugel vom Helm dem andern den Hinterkopf fort, der war gleich Tod, wir fuhren dann ... (12) ... unsre Comp hatte über 60 Mann an Tode und Verwundte; ... unsre Comp hatte über die Hälfte verloren; ... hier hat unsere Compagnie sehr viel gelitten; ... Aber am 18. Aug da waren unsre Verluste noch mehr wie am 16. Aug. von unsre Comp war die Hälfte leider nicht mehr am Leben; ... Unsre Comp hatte mitunter noch zimlich Verluste; ... nur unter großen Verlusten erreichten wir das jenseitige Ufer; ... da hatten wier sehr schwere Verluste, wie die Verluste immer sind hat kann man nicht Angebenen, ich bemerke nochmals mit den Pferden zu viel Arbeit hat; 26 So noch Friedrich in der ersten Aufl. von 1966, nicht mehr jedoch in der zweiten von 1976, die rein alphabetisch angeordnet ist. Zum Gebrauch von Phraseologismen 193 ... In das Rgt. 65 waren bereits große Lücken gerißen und wurde es durch uns ergänzt; ... Die Comp, war sehr zusammengeschrumpft. Viele lagen tot oder schwer verwundet auf dem blutigen Gefilde. ... (13) ... Wir hatten auch keine Verluste, aber ein furchtbares Regenwetter; ... Als wir ein Bauerngehöft passierten, fielen sieben Schüsse und ein Sergeant von uns blieb tot auf dem Platze. Der andere Sergeant ... beorderte uns sofort in die Quartiere; ... wurde der Reserve-Leutnant Koch schwer verwundet. Nach wenigen Minuten starb er in meinen Armen. Wir überschritten ...; ... Als dann abends zum Sammeln geblasen wurde, fehlte der größte Teil der Kompagnie, wodurch die Siegesfreude stark beeinträchtigt wurde; ... Am anderen Morgen mußten wir die gefallenen Kameraden beerdigen was mir furchtbar nahe ging, war doch mancher liebe gute Freund darunter ... . (14) ... Tausende meiner Kameraden dekte der kühle Rasen, als ich ...; ... unsere Hauptmann Zilterer hat dort sein Leben für unsere Comp. Einbüßen müßen. ... (15) ... Er (der Major) hoffe, daß sich keiner als Feigling zeige, es gäbe ja keinen schöneren Tod als den auf dem Schlachtfelde; ... Wier alten Veteranen freuen uns heute noch die theilweise noch nicht zur großen Arme hinübergegangen sind Und diejenigen, die damals Ihr Leben für Gott und Vaterland Hingeben müßen daß Ihnen Alle der liebe Gott ein guter Richter am Throne Gottes gewesen ist. Wattenscheid, den ... (16a) Ich habe Euern Brief und die trauernachricht Erhalten was mier sehr Angegrieffen hat, und mier Vom Herzen sehr Leid tuht das mein Lieber Bruder Carl so schnell von uns geschieden ist. Woh Ich den Brief Erhielt da hatte ich sonne Ahnung Als wen Etwas Vorgefallen werre. Woh ich Den Brief öffnete, dah sah ich den schwarzen streifen von der Todes Anzeige, den Ersten den Ich in Meinen Leben bekommen habe, da sah Ich gleich das was forgefallen wahr. Aber ich hätte nicht gedacht, das es Bruder Carl gewesen werre. Ich hätte noch Erst an Meinen Todt gedacht, den das so etwas konte fohrfallen ... (16b) ... daraus habe ich Gesehn das der Gottlieb Nebel schon in kühler Erde Ruth der Gottlieb war imer so ein prächtiger Kerl Aber Mann kann da nichts drann machen, Gott gebe dem Gottlieb den Himel. ... (16c) Liebe Mutter! Tief erschüttert stehe ich noch unter dem Eindruck der Nachricht, die ich gestern von Frieda erhalten habe. Ich kann es immer noch nicht fassen, daß Fritz nicht mehr leben soll, er, der in der Fülle der Kraft in Köln Abschied von mir nahm. Es ist unsäglich traurig so im besten Mannesalter sterben zu müssen. Hoffentlich hat er nicht lange gelitten. Ein Trost ist noch, daß er nicht verstümmelt den russischen Horden in die Hände gefallen ist ... . Die inhaltliche und stilistische Streubreite der angeführten Belege soll hier nur ganz knapp angedeutet werden: (11) ist der einzige von einem Korrektor verschont gebliebene Beleg einer geradezu brutal offenen, realistischen Todesdarstellung, die ohne jegliche phraseologische Elemente auskommt. Die Belege (12) versuchen, den Tod verbaliter auf ein militärstrategisches Phänomen zu reduzieren [Lücken reißen, zusammenschrumpfen) und mehr oder weniger genaue Verlustangaben im Stile eines Lageberichts 194 Helmut Kuntz zu machen, auch wenn durch die Wahl von Wörtern wie leider oder leiden Wertungen immer miteinfließen. Diese Objektivierungs- oder besser Verharmlosungstechnik kommt sicherlich einer ersten Stufe der Euphemisierung gleich. Die Beispiele in (13) zeigen in progressiver Anordnung, wie der Tod im Fortgang der Erzählung übergangen, erwähnt oder gar ausführlich, wenn auch syntaktisch gewollt und klischeehaft, kommentiert und gewertet wird. Die beiden Textstellen aus (14) repräsentieren gleichsam den phraseologischen Standard, jedoch waren solche standardisierten Wendungen nicht sehr häufig anzutreffen. Quantitativ mindestens ebenso stark repräsentiert waren stilistische Überhöhungen des Typs (15). In (16) habe ich gleichsam als Ergänzung drei recht unterschiedliche Verarbeitungen der Todeskonfrontation in Privatbriefen angefügt, die jedoch übereinstimmend zeigen, daß selbst ungeübte Schreiber 27 unter dem Zwang des Todesmotivs an der Wahl überhöhender Phraseme nicht vorbeikommen und sogar Stilbrüche dafür in Kauf nehmen, was meine Aussage über die vergleichsweise geringe stilprägende Kraft thematischer Motive an sich zwar nicht widerlegt, wohl aber relativiert. Anzumerken wäre zu dieser Beleggruppe schließlich noch, daß der Todeseuphemismus par excellence durch Textbelege überhaupt nicht zu erfassen ist, da er in Nichterwähnung, in Schweigen besteht. Obwohl die tägliche Konfrontation mit dem Sterben die zentrale persönliche Erfahrung der Kriegsveteranen gewesen sein dürfte, wird in fast der Hälfte der Veteranenberichte diese existentielle Erfahrung mit keinem Wort direkt erwähnt. 28 2.4 Sozialer Status und Erzählerrolle Wie aus den bisherigen Beispielen zu ersehen, lassen sich unterschiedliche Erzählweisen deutlich voneinander abheben. Um einen besseren Überblick zu gewährleisten, habe ich exemplarisch nochmals sechs Beispiele zusammengestellt: (17) Meine Reiße nach Amerika. Ich Matth Dorgathen bin Abgereist von Oberhausen den 5. Abriel 1881 Morgens 6 Uhr 25 Minuthen in Antwerpen Angekomen 1 Uhr Mittags von Antwerpen Abgefahren den 6. Apriel Nachmittags 4 1/ 2 Uhr mit dem Schiff Kauta Hamiltonn nach Harwich dort Angeckomen den 7 Abriel Morgens 5 Uhr fuhren dann mith der Bahn 6 Uhr nach London und kamen des Morgens 8 1/ 4 Uhr in Londonn an Aufenhalt in Londonn vom 7 Abriel bis zum 10 Apriel fuhren dann am 10 Apriel Morgens 12 Uhr mit der Bahn nach Liverbohl und kamen dort um 2 Uhr an und gingen dort auf das Schiff Vicktoria und 27 Das Adjektiv ungeübt trifft nicht auf den Autor des Belegs (16c) zu. Dieser Brief galt als so vorbildlich und mustergültig, daß mehrere Familienmitglieder ihn nachweislich abgeschrieben haben. 28 Ich unterscheide hier das auf die eigene Person und das eigene Umfeld bezogene „Sterben“ von dem auf den Feind bezogenen „Töten“, das an keiner einzigen Textstelle als Akt des Sterbens eines Mitmenschen sprachlich realisiert ist. Zum Gebrauch von Phraseologismen 195 ... Die Earth von Oberhausen nach Antwerpen mit Gebäk kostet 10 Mark von Antwerpen bis Navare kostet 120 Mark von Corning bis Rotterdam 22 Dolar von Rotterdam bis Oberhausen 11 Mark am Schlaffgelt und Transport von die Kisten das kostet auch noch vihl Gelt. (18) ... und Vögel sind da so schön das könnt ihr nicht glauben aber singen thun sie ganz schlecht lange nicht so schön wie bei uns in Deutschland hier Hatt man schwarze mit bluthrothe Flügel und ganze Rothe und grüne mit rothe Flügel man kans überhaubt nicht sagen wie schön sie sind, wir thun Sondags nichtz wir spaziehren in die Walter da sind die Vögel so zahm wenn man sie ein Stein wirft wissen sie nicht mahl op sie fliegen sollen oder nicht hier wäre es schön für einen der Romantische Gegende gern hatt für Oheim Heinrich währe das die schönste Gegend die sich denken last. (19) ... wie wir vor das Haus kamen mit 7 Mann, wahr die Haus thür fest verrigelt und wir konten zu der Thür nicht rein, da haben wir von der Seite Eine Fenster Scheibe eingedrückt, und wir sind dan in das Beste zimmer ein quartir, als die Frau das hörte kam sie auf uns zu Und schrie laut nichts Prüssien im Bösche Mann, Mischand, Bismar Kaput, da wüsten wir schon wo der Wind weg kam, der beste gang wahr einen nach den großen Kaminn, den ganz oben im Kamin hatten sie alles von lebens Mittel hingeheng, ich wahr ein Bergmann und kante das Klimen an die Fadsäke rauf und holte ein Stük Spek da runter. ... (20) ... Als wir bei Saargemünd die Grenze überschritten, trat aus unserer Sektion der Musketier Eßbach von der Lohrheide an einen an der Straße stehenden Franzosen heran mit den Worten. „Herr Franzose, wie weit haben wir nach Paris? “ Dieser antwortete: „Herr Preuße, wenn sie keinen Aufenthalt kriegen, sind sie in 6. Taagen da.“ ... (21) ... Ich sagte zu meinem Cameraden Petersen: „Sieh mal da, daß sind Franzosen! “ „Was sagst du Kerl da? “ ruft unser Rittmeister, nimmt sein Glas an die Augen und -fruft-|schreit gleich hinterher: „Hol mich der Deubel, das verfluchte Pack! “ Kaum waren die Worte gefallem, da kam auch schon preußische Infanterie und Artillerie heranmarschiert. Die Infanterie warf sich in den Chausseegraben, und die Artillerie jagte über uns weg +einige-F Granate+n-lum Granate in das Bauernhaus. Sogleich wurde es darin so lebendig wie in einem Ameisenhaufen. Das ganze Gehöft hatte voller Franzosen gelegen. ... (22) Duisburg-Wanheimerort d. 2./ 11 97. „Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit! “/ ... Meine Lieben! Es war Gottes Wille, daß ich hier in diese kleine Gegend gekommen, Er wollte nicht, daß ich verloren ging, Er wollte nicht, daß ich den breiten Weg der Hölle, (denn den ging ich, das habe ich erkennen müssen) weiterging. Wenn ich nach Bochum gekommen wäre, so wäre ich vielleicht noch schlechter geworden als ich war, und hätte es vielleicht noch schlimmer gemacht wie Klara Renno, wenn ich hätte meine Zügel schießen lassen dürfen und ihr nicht ein wachsames Auge auf mich gehabt hättet. Aber unser Heiland Jesus Christus ist treu und wahr, und ich bin ihm unendlich dankbar, daß er mich versöhnt hat mit unserem Vater, dadurch daß er mich erlöst hat vom Tode und von der Gewalt des Teufels und mich gewaschen mit seinem teuren Blut. Spontan würde man eine erste Grenzziehung zwischen den Texten (19) und (20) vornehmen, wobei die drei ersten Texte nicht zuletzt aufgrund des äußerst sparsamen Umgangs mit Phraseologismen als unpathetisch, 196 Helmut Kuntz vom Sprachgestus her vielleicht sogar als echt und ungekünstelt einen gewissen Kontrast bilden zu den restlichen, fast schon literarisch wirkenden Ausgestaltungen. Innerhalb der beiden Grobklassen ließen sich weitere Differenzierungen vornehmen, die in der „unliterarischen“ Gruppe an Art und Anzahl der phraseologischen Einheiten allerdings nicht festzumachen sind. Hier scheint eher die unterschiedlich starke Affinität zur Form des Berichtens eine Rolle zu spielen, wobei weder der Aspekt der Individualität des Erzählers noch der der Fiktionalität 29 klassenbildend wirken, da alle drei Texte persönlich Erlebtes und Erfahrenes nichtfiktional versprachlichen; der Eindruck, daß Text (17) fast ein Bericht, Text (18) fast eine Schilderung und Text (19) eine „typische Erzählung“ sei, wird eher durch den Gegenstand der Darstellung hervorgerufen: im einen Fall das zeitlich ausgedehnte, gleichsam flächendeckende Ereignis einer ganzen Reise, im anderen Fall eine eher statische Natur- und Landschaftsbeschreibung und im dritten Fall ein punktuelles, singuläres Ereignis. Bei der Gruppe der literarisch ambitionierten Texte ließen sich Subklassifizierungen schon eher an verwendeten Phraseologismen ablesen. Während sich Text (20) mit einer vergleichsweise natürlichen Diktion ohne phraseologische „Schnörkel“ um Scheinauthentizität bemüht, 30 illustriert Text (21), wie ein Autor sich als literarischen Gestalter empfindet und dementsprechend zu einer ganzen Palette von Stilmitteln greift, worunter sich nicht zuletzt phraseologische befinden (zu Stilmitteln in geschriebener Sprache generell vgl. Ueding 1985). Text (22) schließlich hat den Rahmen des Erzählens schon gesprengt. Eine zugrunde liegende Handlung wird nicht mehr erzählt, sondern eher bewertet und ist nicht zuletzt wegen der Überfrachtung mit religiösen Formeln und Zitaten für den uneingeweihten Leser kaum rekonstruierbar. Den Textausschnitt habe ich nur mitaufgenommen, um durch dieses Extrembeispiel unsere Beobachtung zu stützen, daß Phraseologismen und formelhafte Sprachelemente sich außerhalb des eigentlichen Erzählkontextes, namentlich in bewertenden und kommentierenden Passagen, häufiger und leichter ansiedeln. Soweit die bildliche Übertragung der verwendeten Phraseologismen angesprochen ist, wäre für die Gruppe der „literarisch gestalteten“ Texte auch eine Einteilung nach lebensweltlichen Herkunftsbereichen aufschlußreich: das schlicht Volkstümliche einer gewollt geglätteten Alltagssprachlichkeit, wie sie Text (20) zur Erhöhung der eigenen Glaubwürdigkeit einsetzt, stünde neben Übernahmen aus der Militär- und Verwaltungssprache, deren Hauptfunktion wohl eher das Dokumentieren des eigenen Bildungsgrades bzw. der eigenen Gruppenzuge- 29 Diese beiden Kriterien werden in der Fachliteratur stets angeführt, um das Erzählen vom Berichten abzugrenzen, vgl. Hoffmann (1984, S. 55-66) sowie Michel (1985, S. 28-31). 30 Die Episode findet sich in mehreren Lesebüchern der damaligen Zeit. Ähnlich kolportierende Elemente enthalten auch andere Veteranenberichte (z.B. wenn ein Rekrut als angeblicher Augenzeuge die in Geschichtsbüchern ganz ähnlich geschilderte WaffenübergaJoe des französischen Kaisers beschreibt). Zum Gebrauch von Phraseologismen 197 hörigkeit ist (emblematische Funktion). Hinzu kommen Anleihen bei der Dichtersprache und nicht zuletzt Übernahmen aus dem vaterländischen und religiösen Formelrepertoire mit der unverkennbaren Zielsetzung einer emotionalen Überhöhung. Die Frage, ob die Texte (17)-(19) mehr oder weniger Individualität zum Ausdruck bringen als die Texte (20)-(22), läßt sich mit Ja oder Nein nicht beantworten, allenfalls mit der Gegenfrage: Wo und wie wird Individualität überhaupt sichtbar? Dieses Problem hat eine sprachphilosophische Dimension, tangiert es doch die Grundfrage der Konventionalität bzw. Konventionalisierbarkeit von Sprache, auf die Handlungstheoretiker in der Nachfolge Ludwig Wittgensteins im allgemeinen eine ganz andere Antwort geben als logische Empiristen oder Transformationalisten. Zu erwähnen ist daneben aber auch eine sprachhistorische und sprachsoziologische Dimension. Da man im vorigen Jahrhundert noch stärker als heute im Zeitalter der Medienkommunikation allenfalls Dichtern das Recht zugestand, Regeln der sprachlichen Norm kreativ und individuell außer Kraft zu setzen, blieb für das Bürgertum und alle potentiellen „Aufsteiger“ als Ideal nur eine Pseudo-Individualität, die sich einzig in der Art und Weise manifestierte, wie man von Autoritäten Vorgeformtes zu Texten zusammenfügte. Daß die in normativen Stilistiken und Deutschlehrbüchern bis heute weit verbreitete Übung: „Suche den passenden (treffenden, speziellen, bildhaften) Ausdruck! “ der Herausbildung eines individuellen Sprachstils förderlich ist, muß auch von den Belegen unserer ambitionierteren Schreiber her bezweifelt werden. In aller Regel kommen nur usuelle Bildungen wie „die helle Freude“, „das heillose Durcheinander“ oder Topoi in Form sprachlicher Stereotypen „die neidischen Augen der Franzosen“ dabei heraus. Für den heutigen Betrachter engen sich die Freiräume der damaligen Autoren noch weiter ein, da Techniken der Verfremdung, der spielerisch ironisierenden Distanzierung (gewollte Brüche, phraseologische Anakoluthe) nur von wenigen Dichtern (Heine), aber kaum von „normalen Sprachbenutzern“ verwendet werden durften. 31 Für eine detaillierte statistische Auswertung des Textmaterials sind die literarisch ambitionierten Beiträge fraglos ergiebiger, doch stellt sich beim pragmatischen Herangehen an ein sprachliches Phänomen zwangsläufig als erstes die Frage: Trifft man die zu untersuchende Erscheinung überhaupt an und, wenn ja, wo? Unter diesem Gesichtspunkt stehen die Belege (17)- (19) mit vollem Recht im Beispielkorpus dieses Kapitels. Sie tun dies umso 31 Das in vielen Arbeiten zur Phraseologie konstatierte Spielen mit Bedeutungen hat Wolfgang Mieder 1983 unter dem Stichwort „Antisprichwörter“ an einem für die Phraseologie eher peripheren Phänomen sehr deutlich aufgezeigt. In unserem Textkorpus findet sich nur ein einziger sprachspielerischer Beleg, der sich zudem nicht auf eine phraseologische Einheit, sondern einen Namen bezieht: Der Schreiber merkt an, daß ein Hauptmann mit Namen „Engelhardt“ aufgrund seines Verhaltens gegenüber der Truppe eher „Teufelhardt“ hätte heißen müssen. 198 Helmut Kuntz mehr, als zum mindesten die Texte (18) und (19) den Gebrauch von Phraseologismen durchaus hätten erwarten lassen. Besonders Text (18) ist von seiner Thematik und ihren literarischen Vorprägungen her für Bildhaftigkeit geradezu prädestiniert. Die von mir phänotypisch erfaßten, verschiedenen Formen von Phraseologismen entzogen sich weitgehend einer sprachlich einheitlichen Bewertung. Worauf jeweils zu achten war, kann im Rahmen dieser Arbeit nur mit je einem Kurzbeispiel angedeutet werden: - Bei Zweiwortfügungen auf Festigkeit der Verbindung, („glorreicher Feldzug“ mehrfach in einem Wort geschrieben für den Frankreichfeldzug 1870/ 71, „weiße Fahne“ als Übergabesymbol versus „schöne Bewirtung“, „ereignisreicher Tag“ etc.). - Bei Paarformeln auf die Möglichkeit des wortwörtlichen Verstehens. („Schuß um Schuß “, „Tag und Nacht“ versus „Mann und Maus“). - Bei „klassischen Phraseologismen“ (Prädikativsyntagmen), aber auch Funktionsverbgefügen auf Herkunftsbereiche (alltäglich, militärisch, berufsspezifisch, literarisch, verwaltungsmäßig, patriotisch, pseudoreligiös). - Bei bildlicher Übertragung auf die Art des Bildes: Metapher und Personifikation („von Granaten unfreundlich begrüßt“), Allegorie („bei Mutter Grün“) sowie auf Vergleiche. - Bei Vergleichen auf den Idiomatizitätsgrad: oikotypische, bewußt unrealistische Vergleiche („wie ein Affe auf dem Schleifstein“ sie kamen im Korpus kein einziges Mal vor) versus bildhafte Vergleiche („lebendig wie in einem Ameisenhaufen“) versus sinnlich erfahrbare Vergleiche („so viele Vögel, daß man kaum die Blätter sehen kann“). - Auf das Vorkommen von Topoi (Weinen vor Wiedersehensfreude), Stereotypen („der Erbfeind“), Parolen („vorwärts mit Gott“), auch Zitaten („wir Deutsche fürchten nur Gott und sonst niemanden“), Sprichwörtern und Sentenzen („wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg“) und Gemeinplätzen („Hunger muß doch sehr weh tun“). Ohne diese Erscheinungen im einzelnen auswerten zu können, läßt sich doch immerhin soviel feststellen: Hinsichtlich der Erzählweise zeichnet sich in den Veteranenberichten extrem, in den Privatbriefen nicht ganz so stark, eine Polarisierung, wie folgt, ab: Die erste Gruppe, meist mit Unsicherheiten in Orthographie, Flexion und Syntax und somit im Hinblick auf eine standardsprachliche Norm mit defizitärem Sprachvermögen, bedient sich einer einfachen Wortwahl und schafft mit den sehr begrenzten Mitteln der Wiederholung und Aufzählung unter weitgehendem Verzicht auf sprachliche und inhaltliche Zum Gebrauch von Phraseologismen 199 Ausschmückungen einen zwar schwerfälligen, jedoch ursprünglich anmutenden, auf seine Art sehr individuellen Erzählstil. Phraseologisch äußert sich die Verweigerung der Übernahme standardsprachlicher Normen im weitgehenden Verzicht auf idiomatische Elemente mit Bildhaftigkeit (übertragener Bedeutung). Der Wunsch nach Verständlichkeit dominiert das Bestreben nach sozialer Anpassung „nach oben“, wobei das Mindestmaß an sprachlicher Sicherheit, das zur Vermeidung sozialer Stigmatisierungen nötig war, durch Rückgriffe auf ein begrenztes Repertoire fester Fügungen auf allen sprachlichen Ebenen vom Einzelwortgebrauch bis hin zum vorfixierten Teiltextablauf gewährleistet wurde. Offenbar können Phraseologismen im engeren Sinne als kleinere, sehr eigene und daher nicht so leicht wiederholbare Bauelemente ein vergleichbares Maß an Sicherheit nicht bieten. In dieser Hinsicht ist die in der Bernstein-Nachfolge mit Blick auf die vielgescholtene Sprache der Jugendlichen formulierte Hypothese von der Restringiertheit des phraseologisch geprägten Sprachgebrauchs für geschriebene Sprache nicht aufrechtzuerhalten. 32 Insgesamt kann man diese Form des Erzählens als produktiv und innovativ insofern einstufen, als im Bereich der geschriebenen Sprache der traditionell verankerten literarischen Erzählung erstmalig eine Gebrauchstextsorte „unliterarisches Erzählen“ zur Seite gestellt wurde. 33 Die zweite Gruppe verfügt über eine deutlich höhere standardsprachliche Kompetenz und versucht unter Heranziehung diverser Hilfsmittel wie Briefsteller, Lesebücher etc. was legitim ist und sich aus den Äußerungen der Schreiber selbst zuweilen belegen läßt -, komplexe Sachverhalte und Gedankengänge entsprechend komplex auszudrücken. Gerade im „stilistischen Bereich“, den Phraseologismen zu einem erheblichen Teil mitkonstituieren, wird dabei das Risiko des Scheiterns bewußt in Kauf genommen ja, stellenweise glaubt man sogar zu spüren, daß die zum Ziel gesetzte höhere Norm von den Schreibern als motivationaler Anreiz und Herausforderung betrachtet worden ist, so wie etwa beim Fremdsprachenerwerb die hohe Motivationskraft der Phraseologismen erst dann in Erscheinung tritt, wenn eine gewisse Grundsicherheit durch Internalisierung von Regeln erreicht ist und man erkennt, daß zur gesellschaftlichen Integration mehr gehört als nur die kognitive Kenntnis und performative Beherrschung eines grammatischen Regelsystems. Die auch an Art und Häufigkeit der verwendeten Phraseologismen abzulesende Zweiteilung der Schreiber korreliert in auffälliger Weise mit Beobachtungen aus der jüngeren Erzählforschung. Seitdem man die unter dem 32 Das souveräne Verfügen über phraseologische Einheiten und der spielerische Umgang mit ihnen scheinen gegenwärtig eher ein Zeichen von Elaboriertheit zu sein. Vgl. Anm. 31 sowie speziell zur Sprache des Jugendprotests die Sammlungen von Boehncke/ Stubenrauch (1983) und Gamber (1984). 33 Zur historischen Dimension der Gebrauchstextsorten vgl. Wimmer (1985, S. 1625f.). 200 Helmut Kuntz Einfluß von Labov/ Waletzky (dt. 1973, S. 78-126) sogar in der Linguistik dominante Fixierung auf den literarischen Aspekt des Erzählens 34 aufgegeben hat und nun auch verstärkt das mündliche Erzählen in die Forschung miteinbezieht, kristallisieren sich zwei Erzähltypen immer deutlicher heraus: die auf einem „Planbruchkonzept“ basierende, in diskreten Phasen eigendynamisch fortschreitende „Höhepunkterzählung“ literarischer Provenienz (zum Planbruchkonzept vgl. Quasthoff 1980, S. 45ff.) und die in ihrem Ablauf noch nicht detailliert erforschte „Geflechterzählung“. In einer dichotomischen Gegenüberstellung ordnet Wagner (1986, S. 152) der Geflechterzählung u.a. auch das Merkmal „leichter erwerbbar“ zu, 35 was zum einen erklären würde, warum ein Großteil der ungeübten Schreiber sich dieser Form des Erzählens (bis hin zur Grenze des Berichtens und Aufzählens) bedient und zum anderen auch plausibel machte, warum Phraseologismen bei dieser Schreibergruppe, wenn überhaupt, fast nur in solchen Textpassagen auftauchen, wo aus der epischen Darstellung eine dramatische wird, d.h., wo aus einer Geflechterzählung eine Höhepunkterzählung hervorgeht, in der persönlich Erlebtes episodenhaft ausgestaltet wird. Ohne bei dem begrenzten und bisher nicht systematisch ausgewerteten Datenbestand die Parallele überstrapazieren zu wollen, drängt sich doch die Frage auf, inwieweit der schichtspezifische Erwerb schriftsprachlicher Erzählformen als ein sprachgeschichtliches Ereignis in ähnlicher Weise verlaufen ist wie der kindlich-ontogenetische Erwerb solcher Strukturen heutzutage. 2.5 Zu einer Typologie der Bruchstellen Nach den Befunden am Textmaterial steht für uns außer Frage, daß die sozial schwer eingrenzbare Gruppe der sprachlich ambitionierteren „Höhepunkterzähler“ wesentlich häufiger am Zustandekommen stilistischphraseologischer Brüche beteiligt ist als die Gruppe der „Geflechterzähler“, bei der, wie gesagt, orthographisch und morpho-syntaktisch bedingte Fehler überwiegen. Schon früh wurde, etwa in dem bereits erwähnten Aufsatz von Dieter Cherubim (1983), gefordert, man solle solche Brüche stärker ins Zentrum der Betrachtung rücken, nicht, um die kleinen Leute der Lächerlichkeit preiszugeben, sondern, um die Schichtspezifik der zu realisierenden bürgerlichen Sprachnorm präziser lokalisieren zu können. Im Gegensatz zu einigen Sprachgeschichten (so v. Polenz 1978, S. 153) verstehen wir Brüche, also das ungewollte Verletzen konventionalisierter Fo- und Kontexte, nicht als etwas „Sprachpathologisches“, sondern als etwas 34 Als Beispiel aus jüngerer Zeit sei daran erinnert, daß Teun A. van Dijk noch 1980 sein Textentfaltungskonzept der „Superstruktur“ exemplarisch an der Narration vorgeführt hat (van Dijk 1980, S. 140ff.). 35 Andere Dichotomien sind: „etwas erzählen vs. von etwas erzählen“, „dramatisch vs. episch“, „individuell vs. kollektiv“, „punktuell vs. flächig“ und „Reihung von Ereignissen vs. zeitlich diffus“ (ebd.). Zum Gebrauch von Phraseologismen 201 im sozialen Spracherwerbsprozeß Normales und Notwendiges, denn Fehler gehören untrennbar zu jeder Form des Lernens. Um welche Erscheinungen es sich bei den sog. Bruchstellen konkret handelt, mag die folgende Übersicht veranschaulichen: (24) Unstimmigkeiten: a) Bruch innerhalb des Phrasems: Da wurde die Batterie auf Friedensfuß Gestelt. b) Unpassende attributive Verbindung: eure liebe Neugier, das liebe Brunnenwasser, deine gegenseitige Liebe, deinen dichliebenden Brief. c) Einfachere und komplexere syntaktisch-semantische Brüche: Wier dachte hier immer, es würde bald zum Krieg ausbrechen ... Nahe vor Paries traf unsere Proviant Kolonne ein französisches Dorf. ... und danke Dir bestens für Dein Bild welches Du mir sandtest. Es scheint sehr gut getroffen zu sein. ... ich hoffe das euch Mein Brief in der Besten Gesundheit Antrift wie er mir verlast. ... d) Bruch in Stilebene/ Stilschicht (Mischformen): ... und wier (waren) freuden voll das wier unser Tageswerk volbracht hatten, Es war noch immer Suawetter, und einen Schlam wo wier marschierten ... Lieber Vater, zürne mir nicht das ich so lange nicht geschrieben die Mädels hatten mir den Kopf verdreht, doch daß ist jetzt vorbei ... es fehlt mir nämlich 1 Flasche Cognack, den muß man immer haben dann aber soll mir die Wurst auch gut bekommen mit Gottes Hülfe, wenn Du mich immer so versorgst mit Geld und Wurst soll ich es mit Gottes Hülfe wohl aushalten können. ... Wenn Du Deine Geburt gemacht hast muß Du uns doch gleich benachrichtigen wie es Dir gegangen hat, wenn es möglich ist so wollen wir sehen das du ein Weisbrod und etwas Butter kriegtest, und wenn die Kälte in deinen Fuß vermehret so möchtest du die Güte haben und uns doch darüber benachrichtigen ... Wir taten uns jedoch an den Vorgefundenen Schinken und Würsten gütlich und ließen diese uns vortrefflich schmeken, jedoch fehlte uns dabei die nötige Feuchtigkeit. Bei einer Revision des Kellers entdekten wir daselbst ein großes Weinlager ... e) Erwünschte Stilbrüche und Mischformen: Hier hat noch manger Cammerad sein Leben Einbüßen müßen von dise Halunken ... Die politische Lage scheint in Europa noch unverändert zu sein. Die Franzosen diese Saubande sitzt noch immer auf hohem Roß, doch „Ein jeder Hund hat seinen Tag“ ist ein altes amerikanisches Sprichwort. Diese Lumpenbande schuldet uns über 11 Billionen Dollar ... und das es ein Krieg für die Existenz des deutschen Reiches ist, und darum sage ich auch „Jungens holt fast“ und „Feste drupp“ haut drauf, das sie alle die kränke kriegen in das klappernde Gebein, und der Herr sei mit Euch und segne euch, Amen! 202 Helmut Kuntz f) Nichtrealisieren sozialer Distanz: ... woh Alle die hohen Herren Kaiser Wilhelm Kronprins Friederich Moltke Bismark u.s.w. Alle die Truppen herzlich grüßten, da wurde Hura Hura Hura gerufen ... Die lügen, die uns Täglich auf getischt wierd, den Kaiser Wilhelm, und Franz Josef, Hindenburg, und wie sie alle heißen, weilen bei uns schon lange nicht mehr unter den lebenden die lüge ist zu dick ... Und wie geht es Dir Vater, bist du noch immer so rüstig als wie ich Euch verließ? Nebenbei gratuliere ich dir herzlich zu deinem Slsten Geburtstage und hoffe das du unserer Familie noch lange in guter Gesundheit erhalten bleiben mögest. ... g) Verstöße gegen Logik und Argumentationsstruktur: ... unsere Hauptmann Zilterer hat dort sein Leben für unsere Comp. Einbüßen müßen waß leider unsre Comp bedauert hat, den es war einen guten Hauptmann ... Sollte denn Deine gegenseitige Liebe gegen mich denn jetzt ganz aus Deinem Leben verschwunden sein, womit wir uns damaliger Zeit erfreuten, und uns gegenseitige Liebe schenkten? ... Da schimpfte unser Rittmeister ganz gewaltig: „Ihr solt mir besser für die Pferde sorgen, und wo eine Scheune mit Futter zu finden ist, muß das sofort gemeldet werden u. s. w.“ [das „usw.“ ist hier falsch, nämlich noch innerhalb des Zitats plaziert]. h) Logischer Textwiderspruch (erwünscht): Zu Beginn eines Berichts wird die Reaktion auf die französische Kriegserklärung so beschrieben: „Die Begeisterung war sehr groß. Sofort wurde Alarm geblasen und fort ging es mit klingendem Spiel zur Kaserne ...“ Gegen Ende heißt es dann: „Der überall sehnlichst erwartete Frieden wurde am 10. Mai 1871 zu Frankfurt a/ Main geschlossen ...“ i) Brüche im Textaufbau Auf Textebene sind die Unstimmigkeiten zwischen Textsortenankündigung und Ausführung („Erlebnisse“ + Auflistung von Heeresbewegungen und Schlachten) sowie die oft sehr abrupten Übergänge von erzählenden zu emotionalisierten (z.B. agitatorischen) Textpassagen zu nennen. Es mag manchen enttäuschen, daß die Klassifikation der Belegstellen mit Ausnahme der Klammerangabe „erwünscht“ nach rein formalen Kriterien vorgenommen wird, zumal einige Zuordnungen namentlich in der Behelfsgruppe „syntaktisch-semantische Brüche“ durchaus anfechtbar sind. 36 Vom sprachhistorischen Erkenntnisinteresse her wäre fraglos einer anderen Klassifikation der Vorzug zu geben, beispielsweise einer Klassifikation nach den am Zustandekommen von Brüchen beteiligten mentalen Prozessen. Allerdings sind derartige Fragestellungen schon bezogen auf den heutigen Sprachgebrauch trotz der Möglichkeit von Rückfragen und feed-back äußerst problematisch; bezogen auf Texte mit historischer Distanz werden 36 Dies hängt nach meiner Auffassung in erster Linie mit den Schwierigkeiten zusammen, syntaktische und semantische Einflußsphären sprachwissenschaflich eindeutig voneinander abzugrenzen. Zum Gebrauch von Phraseologismen 203 Bewertungen über den Status des rein Spekulativen nicht hinauskommen und somit stets unbefriedigend bleiben. Bei einer derartigen Ausgangslage ist es vielleicht erfolgversprechender, das sprachliche Raster der Bewertung noch feiner zu differenzieren und die im Text selbst faßbaren Ko- und Kontexte typologisch weiter aufzuspalten, was die obige Übersicht nicht einmal in dem Sinne geleistet hat, daß erzählende von nichterzählenden Texteinheiten getrennt worden wären. Funktionale Ansätze aus der Pragmalinguistik 37 könnten beim Entwurf von Klassifikationsmodellen wertvolle Dienste leisten. 3. Schlußbemerkung Daß man wenigstens für den Bereich des Erzählens im ausgehenden 19. Jahrhundert das Entstehen neuer Gebrauchstextsorten annehmen kann, hoffe ich an den Belegen hinreichend verdeutlicht zu haben. In einem nächsten Schritt wäre vorrangig zu klären, wie eine Auswertung der am Erzählstil wesentlich beteiligten Phraseologismen en detail aussehen könnte. Generell quantifizierende Methoden sind hier wenig aussagekräftig, und zwar aus mehreren Gründen: 1. Da sich bestimmte Teiltexte im Vergleich zu anderen als „phraseologisch anfälliger“ erwiesen haben, wird auf Massierung in teiltextförmigen Einheiten stärker zu achten sein. 2. Die Stimmigkeit oder Unstimmigkeit des Vorkommens kann nur dann adäquat beurteilt werden, wenn es gelingt, eine Typologie der Kontexte zu entwerfen und bei der Auszählung als Raster einzubringen. 3. Will man die Funktion phraseologischer Elemente erforschen, so muß man in Rechnung stellen, daß eine Vielzahl von Phraseologismen mit anderen, namentlich rhetorischen Stilmitteln kommutiert, die folglich mitausgewertet werden müßten. 4. Nur in ihrer Gesamtheit werden orthographische, lexikalische, morphosyntaktische, stilistische und handlungsfunktionale Sprachmittel ein zuverlässiges Bild der jeweiligen Textsorte vermitteln. 38 Wer eine qualitative Analyse anstrebt, benötigt zunächst ein Klassifikationsraster, wie es etwa Koller (1977, S. 119-187) mit seiner Auflistung von „Funktionen in bestimmten Kontexten“ entworfen hat. Die Kontexte (in geschriebener Sprache häufig als Kotexte verbal ausgeführt) fielen bei 37 Für den Bereich der Phraseologie sei hier nochmals auf die Literatur von Anm. 12 verwiesen. 38 Auf Kommutierbarkeit bzw. paradigmatische Substituierbarkeit durch Stilvarianten sowie das vorkommensmäßige Eingebundensein der Phraseologismen in ein Ensemble sprachlicher Mittel auf allen linguistischen Ebenen konnte mit Beispielen ausführlich nicht eingegangen werden. 204 Helmut Kuntz unseren Erzählungen umfangmäßig mit den „Teiltexten“ praktisch zusammen. Zwar würde ich den Funktionsbegriff aus der Sicht des Textproduzenten/ Autors eher als Intention fassen, jedoch könnte m.E. Kollers Einteilung in „Ökonomie“, „Anschaulichkeit“, „Bewertung“, „Anweisung“, „Herstellen von Situationsbezug“, „Vereinfachung“, „Emotionalisierung“, „Ideologisierung“, „Herstellung von Einverständnis“, „Anbiederung“ und „Distanzierung“ mit geringfügigen Modifikationen übernommen werden. Es bleibt, wie bei allen pragmatisch ausgerichteten Vorhaben, das Problem der Attribuierung im Einzelfall. Dies gilt umso mehr für sprachhistorische Projekte, wo die feed-back-Möglichkeiten praktisch auf die Auswertung von Textaussagen und schriftlich erfolgten Textkorrekturen beschränkt sind. Nach den Beobachtungen an unserem Material wären neben Kontext und Funktion als dritte Größe bei einer Auswertung die lebensweltlichen Herkunftsbereiche der Phraseologismen ebenfalls zu vermerken. Abschließend möchte ich betonen, daß diese Vorüberlegungen nicht auf ein allgemein verbindliches Modell zur pragmalinguistisch orientierten, empirischen Erfassung von Phraseologismen in allen denkbaren Textsorten abzielen. Derartige Modelle mit universalem Gültigkeitsanspruch scheinen mir ohnehin wenig erstrebenswert zu sein. Gerade für den strukturell wie funktional äußerst schwer eingrenzbaren Bereich der Idiomatik gilt, daß es die Funktion des Phraseologismus nicht gibt, sondern allenfalls eine Reihe von Einzelfunktionen, die sich phraseologische Elemente mit ihren Substituentia auf mehreren sprachlichen Ebenen teilen. 4. Literatur 4.1 Sammelbände, Wörterbücher, Briefsteller: Agricola, Erhard (1976): Einführung in die Probleme der Redewendungen. In: Ders. (Hg ): Lexikon der Wörter und Wendungen. 3. Aufl. München. S. 17-36. Beyer, Horst/ Beyer, Annelies (1985): Sprichwörterlexikon. Sprichwörter und sprichwörtliche Ausdrücke aus deutschen Sammlungen vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München. Boehncke, Heiner/ Stubenrauch, Herbert (Hg.) (1983): Klasse, Körper, Kopfarbeit. Lexikon linker Gemeinplätze. Reinbek. Büchmann, Georg (Hg.) (1981): Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes, gesammelt und erläutert von Georg Büchmann. 33., von W. Hofmann neubearb. Aufl. 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Nebst einer Auswahl von Stammbuchaufsätzen und einem Fremdwörterbuche. 23. Aufl. Glogau. Krack, Karl-Erich (1961): 1000 Redensarten unter die Lupe genommen. Vom Ursprung und Sinn vielgebrauchter Redewendungen und Begriffe. Berlin. Mieder, Wolfgang (1983): Antisprichwörter. Bd. 1. 2. Aufl. (= Beihefte zu „Muttersprache“ 4). Wiesbaden. Pützfeld, Karl (1937): „Jetzt schlägt’s 13.“ 1000 Redensarten und ihre Bedeutung. Berlin. Raab, Heinrich (1952): Deutsche Redensarten. Wien. Raub, Julius (1981): Plattdeutsche Sprichwörter und Redensarten zwischen Ruhr und Lippe. 6. Aufl. Münster. Röhrich, Lutz (1973): Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. 2 Bde. 3. Aufl. Freiburg/ Basel/ Wien. Schulz, Dora (1961): 1000 idiomatische Redensarten Deutsch. Berlin. Seiler, Friedrich (1967): Deutsche Sprichwörterkunde. 2. Aufl. München. 4.2 Benutzte Sekundärliteratur: Antos, Gerd (1986): Zur Stilistik von Grußworten. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik, 14, S. 50-81. 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Wissmann, Heinz (1961): Das Wortgruppenlexem und seine lexikographische Erfassung. In: Indogermanische Forschungen, 66, S. 225-258. Annelies Häcki Buhofer Phraseologismen im Spracherwerb* 1. Vorwort Währenddem der Spracherwerb von phraseologischen Wortverbindungen von seiten der Linguistik nur vereinzelt untersucht worden ist, sind in den letzten Jahren im angelsächsischen Sprachraum eine ganze Reihe von psychologischen Arbeiten entstanden, die sich mit der Entwicklung figurativer Sprache befassen. In diesen Arbeiten wird im allgemeinen versucht, eine Entwicklung der metaphorischen Kompetenz in einer Abfolge von Stufen zu skizzieren. Den Entwicklungsstufen entsprechen verschiedene Stufen des Verstehens. Dabei wird das Verstehen von figurativer Sprache grundsätzlich als mehrstufig gegenüber dem Verstehen nicht-figurativer Sprache eingeschätzt und davon ausgegangen, daß das Verstehen figurativer Sprache eine höhere Entwicklungsstufe voraussetzt als das Verstehen nicht-figurativer Sprache. Dieselben Arbeiten enthalten aber auch verschiedentlich Beobachtungen und Überlegungen, die gegen eine solche aktualgenetische und ontogenetische Stufentheorie (oder Phasentheorie) sprechen, die aber bisher nirgends zusammenfassend und in bezug auf ihre Konsequenzen gewürdigt worden sind. Dazu gehören verschiedene Aspekte der Aufgabenabhängigkeit der Testresultate, auf die ich hier vor allem eingehen möchte. Eine neue Würdigung solcher Nebenergebnisse und die methodischen Anleihen, die man mit Gewinn bei der Psychologie machen kann, lohnen die Beschäftigung mit diesen Arbeiten gerade auch, wenn man das Thema von linguistischer Seite neu angehen möchte. Wir haben in Zürich eine ganze Reihe von Arbeiten angeregt, bei denen der Erwerb von Phraseologismen mit neuen Fragestellungen angegangen worden ist und neue Hypothesen entwickelt worden sind, die wir in nächster Zeit an größeren Versuchspersonengruppen überprüfen möchten. Diese Hypothesen, deren Entwicklung, Begründung und erste empirische Bestätigungen ich im folgenden behandeln möchte, lauten: 1. Phraseologismen, insbesondere die stark idiomatischen, werden nicht grundsätzlich auf der Basis metaphorischer Prozesse verstanden und nicht in einer bestimmten kognitiven Entwicklungsstufe gelernt (Entwicklungsstufen-These), sondern in prinzipiell jeder Entwicklungsstufe, allerdings nicht immer auf dieselbe Weise. Das Verstehen und Lernen figurativer Sprache auf der Basis des Nachvollziehens metaphorischer Prozesse stellt nicht die Norm, sondern einen Spezialfall dar. Die kogni- * Inhaltlich vertrete ich nach wie vor die vorgelegten Auffassungen. Die Literatur seit 1988 konnte nicht mehr eingearbeitet werden. Basel 1996. 210 Annelies Häcki Buhofer tive Entwicklungsstufe wirkt sich allerdings aus auf die altersspezifische Bedeutungskonstitution (vgl. Szagun 1986, S. 1981, vor allem das Konzept der „sukzessiven Begriffsstrukturen“). 2. Eine wichtige Erwerbsmöglichkeit besteht über sogenannte Top-down- Verstehensprozesse, wodurch Phraseologismen mit ganzheitlicher Gesamtbedeutung in grundsätzlich gleicher Weise erworben werden wie einzelne Wörter (Lexikonthese) und keine zusätzlichen kognitiven Anstrengungen und auch keinen speziellen kognitiven Entwicklungsstand erfordern. Empirisch zeigt sich das in großen Leistungsunterschieden beim Verstehen einzelner Phraseologismen durch jeweils eine Altersgruppe. Eine Auswirkung dieses Erwerbsprozesses bildet eine auffällige Formorientierung, die man als lexikalische Speicherung interpretieren kann (vgl. Kapitel 6). 3. Die potentielle Doppeldeutigkeit, Ambiguität vieler phraseologischer Wortverbindungen wird von jüngeren Kindern nicht erfaßt, das heißt die wörtliche Bedeutung des gesamten Ausdrucks spielt für Kinder im Vorschulalter und im ersten Primarschulalter keine prinzipiell notwendige Rolle. Wohl aber können die wörtlichen Bedeutungen einzelner Komponenten eine Rolle spielen. Diese Auffassung wird gestützt durch Erkenntnisse über Mechanismen der sprachlichen Informationsverarbeitung, wie sie von der dualen Kodierungstheorie formuliert werden und bringt eine zusätzliche Dimension für das Verständnis des sprachlichen Synkretismus bei Kindern (vgl. Kapitel 7). 4. Der Vergleich der Entwicklung der phraseologischen Wortverbindungen mit den entsprechenden nicht-phraseologischen Paraphrasen zeigt, daß bei Kindern die Bedeutungsübereinstimmung größer ist als bei Erwachsenen. Das Spezifische der phraseologischen Bedeutung z.B. die Expressivität oder die Möglichkeit zur Aktualisierung der Doppeldeutigkeit entwickelt sich also nach dem Erwerb des Phraseologismus als Lexikon-Einheit (vgl. Kapitel 8). Generell verändert sich so die zentrale Fragestellung: Sie lautet nicht: „In welchem Entwicklungsalter lernen Kinder Phraseologismen? “, sondern „In welchem Entwicklungsalter verstehen und gebrauchen Kinder Phraseologismen in welcher Weise? “ 2. Forschungslage Aus der linguistischen Beschäftigung mit dem Erwerb von Phraseologismen hat sich bisher keine allgemein akzeptierte Lehrmeinung ergeben, und es gibt auch nicht so viel verfügbares Material spontaner gesprochener phraseologischer Sprache, daß sich eine Entwicklung der phraseologischen Kompetenz daran ablesen ließe. Was es gibt, sind einerseits viele verstreute Bemerkungen, die sich mangels vergleichbar verbreiteter Alter- Phraseologismen im Spracherwerb 211 nativen auf die alte Doktrin von Piaget stützen, wonach Kinder erst im formal-operatorischen Stadium imstande sind, Phraseologismen zu verstehen. Das formal-operatorische Stadium ist das vierte von 4 Hauptstadien der geistigen Entwicklung, die mit der sensumotorischen Phase zwischen 0 und zwei Jahren beginnt, weitergeht mit dem Stadium des voroperatorischen anschaulichen Denkens im Vorschulalter, abgelöst wird vom Stadium der konkret-operatorischen Strukturen bis etwa zum Alter von 10 Jahren und dann eben übergeht ins Stadium der formalen Operationen (vgl. Oerter/ Montada 1982, S. 375ff.). Auf der anderen Seite gibt es ein paar wenige Monographien, von denen einige an der Universität Zürich gemacht worden sind. (Schneider 1988, Scherer 1982, Buhofer 1980). Angesichts eines eigentlichen Phraseologiebooms in den 80er Jahren erscheint dieser unbefriedigende Forschungsstand vielleicht erklärungsbedürftig. Ich sehe in erster Linie zwei Gründe dafür: Einmal steht die Linguistik seit längerer Zeit weitgehend abseits, wenn es darum geht, die Ergebnisse der Spracherwerbsforschung zu sichten, zu gewichten und in Übersichten darzustellen, und zweitens untersucht der weitaus größte Teil der Arbeiten zum Spracherwerb Vorschulkinder, denen man Phraseologismen ohnehin noch nicht zutraut. (Eine Ausnahme bildet hier der Band „Grundwortschatz und Idiolekt“ von Augst et al. 1977.) 3. Wann und wie werden Phraseologismen erworben? Phraseologismen interessieren in der psychologischen Forschung soweit und insofern sie zur sogenannten figurativen Sprache gehören, also nicht wörtlich verstanden werden können, sondern zwei Bedeutungen haben, doppeldeutig, ambig sind. Da es die semantischen Eigenschaften der Phraseologismen sind, die sie zu einem Teil der figurativen Sprache machen, ist es nicht verwunderlich, daß es in erster Linie die semantisch auffälligsten Typen von Phraseologismen sind, die behandelt werden, nämlich diejenigen, die im Englischen unter „idioms“ zusammengefaßt werden, also die Ausdrücke mit ganzheitlicher Gesamtbedeutung („Phraseologische Ganzheiten“ in Burger/ Buhofer/ Sialm 1982, S. 31), wobei man davon ausgeht, daß ihnen Metaphorisierungsprozesse zugrundeliegen, was natürlich nur zum Teil zutrifft. Möglich ist ja auch eine Spezialisierung von Semen vom Typ es nicht mehr lange machen (im Sinne von ‘bald sterben’) (vgl. Fleischer 1982, S. 38). Wenn ich im Zusammenhang psychologischer Forschung von Phraseologismen spreche, so bezieht sich das auf den Terminus „idioms“, der dort alle nicht wörtlich verstehbaren Wortverbindungen umfaßt. Die Entwicklung der „idioms“ wird also im Rahmen der Entwicklung der figurativen Sprache gesehen. Als deren Hauptvertreter werden aber nicht Idiome, sondern Metaphern behandelt. Bei den Metaphern wird wohl ein Unterschied gemacht zwischen sogenannten primären, erst- und einmali- 212 Annettes Hackt Buhofer gen Metaphern und gefrorenen, lexikalisierten Metaphern, allerdings für den Erwerb kein großer Unterschied erwartet und auch nicht gefunden und das vor allem ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung es wird der Erwerb lexikalisierter Metaphern oft an idiomatischen Beispielen untersucht. Ich greife hier zwei typische Beispiele heraus: Prinz 1983 „The Development of Idiomatic Meaning in Children“ und Brinton/ Fujiki/ Mackey 1985 „Elementary School Age Children’s Comprehension of Specific Idiomatic Expressions“: In der Arbeit von Prinz geht es um Einheiten wie he broke the ice (S. 263). Die Forschungslage wird so beschrieben, daß es nur wenige empirische Untersuchungen gebe, die zudem widersprüchliche Aussagen machten: Auf der einen Seite Untersuchungen, wie die oft referierte Arbeit von Lodge und Leach 1975, die zum Schluß kommen, daß Kinder, um Idiome zu verstehen, zuerst Strategien entwickeln müßten, die es ihnen erlaubten, semantisch doppeldeutige ambige Strukturen zu verstehen. Diese Strategien entwickelten sich nicht vor dem Alter von 9 Jahren (S. 263). Auf der andern Seite Untersuchungen wie diejenigen der ebenfalls oft zitierten Autoren Winner und Gardner, die mit wechselnden Co- Autoren eine ganze Reihe von Beiträgen verfaßt haben (hier: Winner/ Mc Carthy/ Kleinmann/ Gardner 1979), wonach schon zweijährige Kinder empirisch nachweisbar nichtwörtliche Ausdrücke verstehen könnten. (Diese gegensätzlichen Auffassungen ziehen sich durch die ganze Literatur, es gibt allerdings verschiedene Versuche, sie in einen Entwicklungsablauf einzufügen und damit ihre gegensätzliche Unvereinbarkeit aufzuheben.) In der Arbeit von Prinz 1983 wird mit folgendem Material (nach Lodge und Leach 1975) experimentiert: 1. He kicked the bucket. 1. 2. He pulled her leg. 2. 3. He broke the ice. 3. 4. He spilled the beans. 4. 5. He faced the music. 5. 6. He chewed the fat. 6. 7. He buried the hatchet. 7. 8. He broke her heart. 8. 9. He hit the sack. 9. 10. He passed the buck. 10. He died. He teased her. He initiated interaction. He indiscreetely disclosed information. He accepted the responsibility. He talked or chattered. He made peace or made up. He hurt her feelings. He went to bed. He avoided work or responsibility. Die Ausdrücke werden in eine multiple choice Aufgabe bestehend aus Bildern eingebaut, und die Anweisung an die Kinderversuchspersonen lautet, aus 4 Bildern zu jedem Idiom dasjenige auszuwählen, das am genauesten die Bedeutung des Idioms wiedergibt. Für den Ausdruck he kicked the Phraseologismen im Spracherwerb 213 bucket zeigt das erste Bild einen Jungen, der mit dem Fuß einen Kübel anstößt, das zweite zeigt einen Jungen, der einen Kübel wirft, das dritte mit genügend Phantasie einen Jungen, der tot am Boden liegt, und das vierte einen Jungen, der in die Höhe gesprungen ist (vgl. Lodge/ Leach 1975, S. 524): Der Autor kommt zu folgenden Ergebnissen, die für diese Art von Arbeiten typisch sind: Während die 6jährigen sich noch deutlich, ja fast ausschließlich in einer Phase des wörtlichen Verstehens befinden und nur 10 Prozent auch eine idiomatische Bedeutung auswählen, sind es bei den 9jährigen schon 50, bei den ll-12jährigen 80, bei den 14-15jährigen 90 und bei den Erwachsenen sozusagen 100 Prozent, die eine idiomatische Bedeutung auswählen (ebd., S. 267). Interpretiert wird dies so, daß Kinder zwischen 6 und 9 Jahren eine wörtliche Interpretationsstrategie haben, während nach 9 Jahren eine idiomatische Interpretationsstrategie dominiert (ebd., S. 269f.). Das sind sogenannte „overall results“ (ebd., S. 269) das heißt, daß alle Antworten einer Alterskategorie in einen Topf geworfen werden und lediglich so ausgewertet werden, daß man die Anzahl der richtigen und falschen Antworten zusammenzählt und vergleicht. Die Interpretation dazu ist denn auch nicht besonders originell. Daß eine Fähigkeit sich entwickelt, kann man sich denken. Etwas interessanter ist es noch zu sehen, von wann bis wann sie sich etwa entwickelt in unserem Fall im wesentlichen zwischen 6 und 14-15 Jahren wobei die Frage, was sich denn in der Zeit entwickelt und wie, damit natürlich noch nicht einmal angeschnitten ist. In der Arbeit von Brinton et al. 1985, die ich als zweites Beispiel anführen 214 Annelies Häcki Buhofer möchte, weiden 80 Kinder im Alter von 6, 8, 10 und 12 Jahren mit 6 Idiomen konfrontiert, deren Bedeutung sie im Anschluß an eine kleine Kontextgeschichte auf einem von 4 gezeigten Bildern finden müssen (ebd., S. 248). Die 6 Idiome lauten: 1. hit the ceiling. 2. get carried away 3. now you are cooking 4. let the cat out of the bag 5. all tied up 6. lend me a hand Four pictures on 1 plate showing: 1. Mom very mad a 2. Mom literally hitting the ceiling with her hand 3. Mom smiling 4. Mom doing the dishes Examiner, „Show me, Mom hit the ceiling.“ Die „overall performance“ zeigt auch hier, daß die Zahl der richtigen Antworten mit dem Alter ansteigt, mit völlig anderen Prozentzahlen allerdings, nämlich von 20 % bei den Kindergärtlern zu 60 % bei den 12jährigen (ebd., S. 250). Interpretiert wird auch hier in den Denkschemen einer Entwicklungsstufentheorie: Weil das Verstehen von Idiomen Abstraktionsleistungen erfordert, müssen die Kinder genügend sogenannte „linguistic sophistication“ (ebd., S. 252) entwickeln, um zu realisieren, daß die gemeinte Bedeutung nicht dieselbe ist wie die wörtliche Bedeutung des Ausdrucks. Nun muß man Brinton et al. zugestehen, daß sie Undefinierte Vorstellungen wie „linguistic sophistication“ nicht allein verantwortlich machen für den Erwerb von Idiomen und Aussagen von der Art, daß „increased language ability undoubtedly facilitates the acquisition of idioms“ Phraseologismen im Spracherwerb 215 (S. 252) nicht einfach so stehen lassen, sondern in „linguistic sophistication“ und „increased language ability“ eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung sehen. Ihre ansatzweise weiter ausgeführten, eigentlich interessanten Überlegungen und Beobachtungen, die zudem in ihren Konsequenzen ihre Ergebnisse fragwürdig erscheinen lassen würden, bewerten die Autoren allerdings als Nebensache. Ich möchte darauf in Kapitel 5.2 zurückkommen. Den Hintergrund dieser Arbeiten zum Erwerb von Idiomen bildet eine weitaus größere Anzahl von Arbeiten zur Entwicklung figurativer Sprache generell, im speziellen zur Metapher, in deren Rahmen die Entwicklung der Phraseologie gesehen wird. Einen Aspekt dieser Literatur möchte ich hervorheben: den „Vorschulmetaphernboom“. 4. Der Erwerb von Metaphern Auch bei den Arbeiten zum Erwerb von Metaphern besteht das Ziel fast aller Untersuchungen darin, eine Entwicklungsabfolge in Stufen zu erstellen. Entwicklungsübersichten sind auch hier die Produkte sogenannter „overall-statistics“. Auch hier entwickeln sich erwartungsgemäß die metaphorischen Fähigkeiten, und wenn bei den Metaphern nicht noch wenigstens das Phänomen des „Vorschulbooms“ zu verzeichnen wäre, gäbe es überhaupt nichts Unerwartetes zu vermelden. Mit dem Vorschulmetaphernboom hat es folgendes auf sich: Bei der Entwicklung der Metaphern spielt ein Phänomen eine große Rolle, das verschiedentlich beobachtet worden ist und das die Zeichnung eines Bildes von einer kontinuierlichen Entwicklung der figurativen Sprache entschieden erschwert: Sowohl bei Untersuchungen spontaner Sprachproduktion als auch bei Tests, in denen Kinder zu Kleinstgeschichten ohne Ende eine passende Endung selber finden müssen, zeigt sich, daß die jüngsten Kinder am meisten passende primäre, nicht-lexikalisierte Metaphern gebrauchen. Nun fehlt es natürlich nicht an Stimmen, die diese Metaphern für gar keine Metaphern halten, sondern für Fehler, die die Kinder aus ihrer unreifen Sprachkompetenz heraus machen, für Übergeneralisierungen u.ä. Als Reaktion darauf gibt es Versuche, Kriterien herauszuarbeiten, mit denen man unterscheiden kann zwischen echten metaphorischen Äußerungen und solchen, die nur metaphorisch wirken und als Übergeneralisierungen, Fehlklassifikationen und sogenannte Anomalien angesehen werden müssen (Winner et al. 1980, S. 344f.). Dabei ergibt sich, daß auch nach dem Aussieben aller problematischen Fälle echte Metaphern bei Kindern zwischen 2 und 5 Jahren tatsächlich „übrigbleiben“, wenn als Kriterium dafür angesetzt wird, daß die Kinder das „richtige“ Wort für eine Sache kennen, im Falle der Metapher aber ein anderes Wort verwenden, z.B. „tiny little baby“ für einen klei- 216 Annelies Häcki Buhofer nen Ballon oder „big needle“ für einen Bleistift. Dabei beruhen die Ähnlichkeiten, aufgrund derer Bildspender und Bildempfänger verglichen werden auf folgenden Gesichtspunkten, die also das „tertium comparationis“ bilden: Umfang, räumliche Anordnung, Farbe, Größe, Geräusch, Bewegung, Oberflächenbeschaffenheit, Funktion und Affekt. Letzteres, wenn beispielsweise eine einzelne Kugel als „lonesome“ bezeichnet wird. (Winner et al. 1980, S. 346). Winner und Gardner setzen deshalb in ihren Arbeiten für die Vorschulzeit der Kinder eine Erwerbsphase an, in der die Kinder sehr viele Metaphern produzieren. Sie räumen ein, daß die Kinder dabei teilweise aus der Not eine Tugend machen, indem sie ihr quantitativ noch bescheidenes Vokabular möglichst weitgehend verwenden, sind aber andererseits der Auffassung, daß die Kinder teilweise absichtlich Dinge mit einem Wort neu versehen, von dem sie wissen, daß es eigentlich aus einem anderen Bereich stammt. Zu den erhöhten Fähigkeiten, die vorhandenen sprachlichen Ressourcen optimal auszunützen, also die Wörter so vielfältig wie möglich einzusetzen, kommt in dieser Phase das Fehlen einer Fähigkeit zur Zensur, die die so entstehenden Metaphern wieder ausmerzen würde (Winner et al. 1980 und Gardner/ Winner et al. 1978, S. 18f.). Nun enthalten die psychologischen Arbeiten zur figurativen Sprache eine Reihe von Daten, Beobachtungen und Überlegungen, die dort nur am Rande vermerkt werden, die jedoch interessante Ansatzpunkte für weitergehende Überlegungen und Neuinterpretationen der vorhandenen Daten bilden. Ich möchte hier zwei Aspekte herausgreifen, und zwar zwei Aspekte der Aufgabenabhängigkeit der Resultate. 5. Die Aufgabenabhängigkeit der Testresultate 5.1 Die wörtliche Bedeutung im multiple-choice-Test Generell hat sich im Laufe der psychologischen Forschung zur figurativen Sprache immer klarer gezeigt, wie stark die Resultate und damit auch die Entwicklungsmuster von der Art der Aufgaben abhängen, die man den Versuchspersonen gibt. Es ist ein wesentlicher Pluspunkt dieser Untersuchungen, daß diese Aufgabenabhängigkeit immer wieder zur Sprache kommt. Und Aufgaben im Rahmen von Experimenten sind es ja außer im Falle der Produktionsforschung bei Kleinkindern fast immer, die die Kinder lösen müssen. Da ist zuerst klargeworden, daß die Aufgabe, einen isolierten Ausdruck zu erklären und womöglich noch zu motivieren, ganz andere Anforderungen stellt, als ihn zu paraphrasieren, und wiederum auch ganz andere, als aus einer Reihe von angebotenen Paraphrasen eine auszuwählen. Das Auswählen impliziert am wenigsten metakommunikative Fähigkeiten und kommt insofern der Fähigkeit zum Sprachgebrauch am nächsten. Phraseologismen im Spracherwerb 217 Die Folge davon ist, daß für Verstehenstests, die bei der Mehrzahl der Arbeiten im Zentrum stehen und für sogenannte preference-Tests, multiplechoice-Anlagen verwendet werden. Von diesen multiple-choice-Tests gibt es ein paar Varianten, von denen ich zwei herausgreife: Der preference-Test (den Pollio und Pickens 1980, S. 319 nach den „Erfindern“ als „Gardner-Winner-Test“ bezeichnen) arbeitet mit unvollständigen Kleinstgeschichten, sogenannten Vignetten, für die 4 Schlußformulierungen angeboten werden. Die Aufgabe der Versuchspersonen besteht darin, die bevorzugte Endung zu wählen. Zur Auswahl stehen His voice was as quiet as (a) the quietest sound we’ve heard (b) a mouse sitting in a room (c) dawn in a ghost town (d) a family going on a trip (ebd., S. 314). Der üblicherweise verwendete Verstehenstest (bei Pollio und Pickens 1980, S. 319, der sogenannte „Pollio-Test“) besteht aus (lexikalisierten und nicht-lexikalisierten) metaphorischen und phraseologischen Einheiten, zu denen jeweils 4 Interpretationen in der Form sprachlicher Paraphrasen angeboten werden, von denen 3 falsch sind. Oft knüpfen alle falschen Endungen an wörtliche Bedeutungen an. Die Anweisung an die Versuchspersonen lautet, die beste Interpretation auszuwählen. 7 went into the kitchen and ate up (zuschlagen, tüchtig einpacken) a storm (a) 7 ate a lot (b) 7 drank some white lightening from the refrigerator. (c) 7 ate so much it rained. (d) I like to eat when it’s raining. (ebd., S. 319). Obwohl multiple-choice-Tests nicht nur für die Versuchspersonen, sondern auch für den Untersuchenden einfacher sind, haben sie auch ihre Nachteile. U.a. stellt ihre Konstruktion, die Auswahl und Anordnung der Antworten, ebenfalls eine Aufgabe dar, von der die Ergebnisse nicht unwesentlich abhängen. Das sieht man, wenn man die Fehler analysiert, die die Kinder machen: Ein Großteil der Fehler geht nämlich auf die Wahl der wörtlichen Bedeutung zurück: „wie beabsichtigt“ möchte man fast sagen. Hätte jedenfalls (literal) wörtliche passende Endung (conventional) lexikalisierte Metapher (appropriate) primäre Metapher (inappropriate) nicht-passende Metapher 218 Annelies Häcki Buhofer keine wörtliche Bedeutung zur Auswahl gestanden, dafür aber eine andere falsche Interpretation, so hätte dies mit Sicherheit die Zahl der richtigen Antworten positiv beeinflußt. Das ergibt sich aus dem Vergleich mit Tests, die ohne wörtliche Variante arbeiten (vgl. dazu Honeck et al. 1978). Nur am Rande sei hier auch darauf hingewiesen, daß die Wahl der wörtlichen Bedeutung den Schluß nicht zuläßt, daß ein Kind keine phraseologische Bedeutung kennt. Die wörtlichen Interpretationen locken also die Versuchspersonen systematisch quasi auf eine falsche Fährte - und nicht nur die Versuchspersonen, sondern auch diejenigen, die die Daten auswerten: Die wörtliche Bedeutung scheint dadurch viel wichtiger, als sie effektiv ist. Wenn man die Überlegungen zur Aufgabenabhängigkeit der Resultate weiterführt, ergibt sich also, daß ein Kernstück der verwendeten Tests die Resultate ebenfalls so verfälscht, daß sie die Annahme einer Entwicklungsphase nahelegen, die charakterisiert wird als geprägt von einer wörtlichen Interpretationsstrategie (vgl. Kapitel 3). Das Bestreben, die Kinder von der schwierigen Aufgabe des Erklärens zu entbinden, führt dazu, daß man ihnen wörtliche Bedeutungen nahelegt, und dem Test so nichts Weiteres entnehmen kann, als ob ein Kind die phraseologische Paraphrase wählt oder nicht. Aufgabenabhängig sind die Resultate dieser Tests aber nicht nur, insofern sie überhaupt eine wörtliche Interpretation vorlegen. Eine große Rolle spielt auch die Wahl der Ausdrücke figurativer Sprache, zu denen man eine wörtliche Interpretation vorlegt: So ist es wesentlich wahrscheinlicher, daß die wörtliche Bedeutung gewählt wird, wenn sie für sich (nicht in Hinsicht auf die phraseologische Bedeutung) plausibel ist. Es ist also zu unterscheiden zwischen plausiblen und nicht plausiblen wörtlichen Bedeutungen, wobei dafür bei Kindern die Syntax viel weniger ausschlaggebend ist als die Semantik, weil Kinder syntaktische Elemente erfahrungsgemäß nicht groß beachten. Ein weiterer problematischer Punkt liegt in der Verwendung von Bildern für den multiple-choice-Test. Bilder stehen in keiner eindeutigen Beziehung zur gemeinten sprachlichen Paraphrase. Wenn die Versuchspersonen die Bilder anders versprachlichen, als vom Versuchsleiter vorgesehen, so ergibt sich daraus eine weitere, allerdings nicht programmierte Fehlerquelle. 5.2 Der Kontext Eine weitere, sehr wichtige Komponente der Aufgabenabhängigkeit bildet der Kontext der getesteten Items. Eine Reihe von Aufsätzen verfaßt von Phraseologismen im Spracherwerb 219 Ortony mit verschiedenen Mitarbeitern ab 1978 befaßt sich mit dem Einfluß des Kontexts auf die Verstehensleistung. Erhoben wird z.B. die Zeit, die zunächst Erwachsene brauchen, um Metaphern und Idiome zu verstehen. Dies aus folgendem Grund: Wenn figurative Sprache gegenüber nicht-figurativer Sprache durch zusätzliche kognitive Anstrengungen verstanden wird, so müßte man erwarten können, daß man dafür mehr Zeit braucht. Es zeigt sich aber, daß man nur dann länger braucht, um Metaphern zu verstehen, wenn der Kontext kurz ist. Wenn er lang ist d.h. aus mehreren Sätzen besteht versteht man Metaphern gleich schnell wie wörtliche Ausdrücke. Und Idiome versteht man schneller in ihrer ganzheitlichen als in ihrer wörtlichen Bedeutung. Das wird dahingehend interpretiert, daß das sogenannte Stufenmodell des Verstehens von figurativer Sprache nur dann richtig ist, wenn der Kontext klein ist. Das aktualgenetische Stufenmodell geht davon aus, daß man zuerst die wörtliche Bedeutung versteht, dann realisiert, daß sie in diesem Kontext nicht gemeint sein kann, und dann eine figurative Bedeutung sucht. Dieses Stufenmodell ist demnach nur dann richtig, wenn der Kontext klein ist, wenn also wenig mehr als der Ausdruck selber zur Verfügung steht, um die Bedeutung herauszufinden. Dann findet ein sogenannter bottom-up-Verstehensprozeß statt, der von den Elementen des Satzes ausgeht. In allen Fällen aber, in denen ein größerer Kontext zur Verfügung steht, bildet man Kontexterwartungen und versteht einen figurativen Ausdruck wie auch einen nicht-figurativen Ausdruck von diesen Erwartungen her in einem sogenannten top-down-Prozeß (vgl. Ortony 1980, S. 80 und 1978, S. 470). Wenn aktualgenetische Ergebnisse auf die Ontogenese angewendet werden können, so bedeutet dies für die Sprachentwicklung: 1. Viele Untersuchungen kranken vermutlich daran, daß die zu testenden Ausdrücke mit zu wenig Kontext angeboten werden, so daß u.a. aus diesem Grund der Eindruck entsteht, es fehle den Kindern an metaphorischer Kompetenz, wo in Wirklichkeit etwas anderes Allgemeineres gemessen wird, nämlich die Fähigkeit, Sätze und Wortverbindungen in bottom-up-Prozessen zu verstehen. 2. Wenn man davon ausgehen kann, daß auch Kinder in top-down- Prozessen von den Kontexterwartungen her figurative Sprache in gleicher Weise wie nicht-figurative Sprache verstehen können, so wäre daraus die Schlußfolgerung zu ziehen, daß sie figurative Ausdrücke auch so lernen können. In genügend großen Kontexten, die ja den Normalfall der Spracherwerbssituation darstellen, würden dann Phraseologismen einzeln gelernt wie andere Einheiten des Wortschatzes auch und nicht als Prinzip, so wie man auch nicht mit einem bestimmten Alter 220 Annelies Häcki Buhoftr das Prinzip des Kompositums, der Ableitung etc. lernt und erst dann Komposita, Ableitungen etc. verstehen und gebrauchen kann. Ich bezeichne diese Auffassung als Lexikonthese. 6. Experimentelle Befunde Wenn diese Überlegungen zum Erwerb von Phraseologismen durch sprachliche top-down-Verstehensprozesse richtig sind und demnach lexikalisierte figurative Sprache auch in Prozessen gelernt werden kann, die denen des Erwerbs nicht-figurativer Sprache gleichen, dann ist zu erwarten, daß es beim Verstehen der einzelnen getesteten Idiome große Unterschiede gibt: Die alltäglichen, für Kinder besonders brauchbaren Idiome sind dann viel früher zu erwarten als speziellere, deren Bedeutung Kinder weniger interessiert, aus Domänen, mit denen Kinder noch wenig vertraut sind (vgl. Kapitel 1, Hypothese 2). Wenn dagegen die kognitive Entwicklungsstufe für das Verstehen eine Rolle spielen würde, wäre zu erwarten, daß Ausdrücke mit ganzheitlicher Gesamtbedeutung zu einem ähnlichen Prozentsatz im Primarschulalter wörtlich und später phraseologisch verstanden werden, daß die Unterschiede zwischen dem Verstehen der einzelnen Phraseologismen nicht groß sind, weil die Kinder entweder im Prinzip über die notwendigen Strategien verfügen oder eben nicht. Wie unterschiedlich die Verstehensleistungen der einzelnen Altersgruppen bei verschiedenen Phraseologismen tatsächlich sein können, zeigt folgendes Bild (Brinton et al. 1985, S. 251): key: hit the ceiling got carried away now you're cooking let the cat out of the bag all tied up lend me a hand Fig. 2. Percentages of appropriate task on individual idioms. Phraseologismen im Spracherwerb 221 Die Verstehensleistungen beispielsweise der Zweitklässler erstrecken sich von 0 bis 90 Prozent. Wenn die einzelnen Idiome auf die gleiche Weise gelernt werden müssen wie einzelne Wörter, kann auch erwartet werden, daß es dieselben Faktoren sind, die den Erwerb von Wörtern beeinflussen, die auch für den Erwerb von Idiomen wichtig sind in Betracht kommen da die Häufigkeit, mit der ein Individuum einen Ausdruck in bedeutungsvollen Situationen hört (S. 246), ferner die Auffälligkeit (salience), die Brauchbarkeit, die Leichtigkeit oder Schwierigkeit einen Ausdruck zu äußern etc. (Brinton et al. 1985, S. 253) Ein weiterer empirischer Hinweis in Richtung dieser Lexikonthese bildet die starke Formorientierung, die man vor allem bei Kindern beobachten kann. Um zu erläutern, was man sich unter „Formorientierung“ vorstellen muß, muß ich ein wenig ausholen: Wenn Phraseologismen durch Kinder vom Kontext her verstanden und gelernt werden, dann werden sie wie andere Wörter in der früheren Kindheit auch über das episodische Gedächtnis gelernt. Das bedeutet, daß sie zunächst in dem Teil des Gedächtnisses aufbewahrt werden, in dem Erinnerungen an einzelne Ereignisse zusammen mit den Umständen wie Ort und Zeit, also eingebettet in die Erfahrungssituation gespeichert sind. Und das wiederum heißt, daß sie mit ihren äußerlich wahrnehmbaren Merkmalen von der Form her erinnert werden. Das Gegenstück zum episodischen Gedächtnis ist das semantische Gedächtnis: es enthält Sprache und sprachlich vermitteltes Wissen, soweit es allgemein ist, also nicht mehr an bestimmte Zeiten und Orte gebunden, sondern nach sprachlichen oder wissensmäßigen Gesichtspunkten organisiert. Während also unsere Erinnerung an das gestrige Frühstück oder an ein eben gehörtes merkwürdiges Wort im episodischen Gedächtnis gespeichert ist, ist unser allgemeines Wissen, daß Eichhörnchen flink sind und einen buschigen Schwanz haben, und daß man „flink“ ohne „ck“ schreibt, im semantischen Gedächtnis gespeichert. Das semantische Gedächtnis kann sich erst auf der Grundlage von Einträgen ins episodische Gedächtnis entwickeln, es hat einen höheren Abstraktions- und Organisationsgrad und stellt im normalen Spracherwerb eine zweite Stufe dar (vgl. Paivio/ Bregg 1981, S. 171ff.). Wenn figurative Sprache grundsätzlich durch kognitive Anstrengung vermittelt würde, dann wären Idiome als sekundäre Konstruktionen auf vorhandenem Wortmaterial von Anfang an Bestandteile des semantischen Gedächtnisses. Nicht jedoch, wenn sie als ganze quasi von außen in topdown-Prozessen über das episodische Gedächtnis erworben werden und erst später im Laufe der allgemeinen kognitiven Entwicklung und der zunehmenden sprachlichen Organisation und metasprachlichen Bewußtwerdung ins semantische Gedächtnis überwechseln. 222 Anndies Häcki Buhofer In diesem zweiten Fall ist zu erwarten, daß Kinder stärker als Erwachsene an der Formseite von Phraseologismen orientiert sind, und daß die Stärke dieser Orientierung mit zunehmender semantischer Organisation des individuellen Wortschatzes und zunehmender Fähigkeit, Phraseologismen zu motivieren, zwar zurückgeht, aber auch bei Erwachsenen teilweise erhalten bleibt, weil Wortverbindungen mit ganzheitlicher Gesamtbedeutung vielleicht teilweise, aber nicht ganz semantisch analysierbar sind (vgl. Kapitel 1, Hypothese 2). Dafür spricht in der Tat einiges: In einer Zürcher Lizentiatsarbeit, Schneider (1988), zeigte sich in einem Gedächtnistest (S. 60), daß Phraseologismen wesentlich weniger oft abgeändert wiedergegeben wurden als freie Wortverbindungen. In einem zweiten Durchgang des Tests, bei dem die Phraseologismen und die entsprechenden freien Wortverbindungen durch Fragen abgerufen wurden, wurden von zehn Phraseologismen 7 im Wortlaut korrekt, aber es wurden von zehn freien Wortverbindungen nur 2 wörtlich wiedergegeben (S. 72). Man kann das so interpretieren, daß freie Wortverbindungen eher semantisch und Phraseologismen eher lexikalisch gespeichert sind. In dieselbe Richtung geht eine andere Beobachtung derselben Arbeit: Wenn die 10jährigen Versuchskinder Antonyme zu Phraseologismen bilden sollten, deren Bedeutung sie kannten, dann operierten sie spontan immer mit dem phraseologischen Schema, auch wenn die phraseologische Bedeutung dadurch zerstört wurde. Als Gegenteil von dann ist Essig bildeten sie, dann ist Zucker, dann ist es süß oder auch dann ist es Salz, als Gegenteil von ich habe den Kopf voll wurde gesagt ich habe den Kopf leer, als Antonym von jetzt mach einmal einen Punkt: jetzt mach einmal keinen Punkt. Der Vergleich von Kindern und Erwachsenen bei der Nacherzählung eines mit Metaphern und Phraseologismen präparierten Textes in einer Seminararbeit zeigte, daß die Erwachsenen den Text stärker mit eigenen Wörtern erzählten, während die Kinder vergleichsweise sehr am Text hingen und wesentlich mehr Metaphern und Phraseologismen in ihre Nacherzählung übernahmen: manchmal auch falsch und ohne daß sie imstande waren, die Ausdrücke figurativer Sprache anschließend zu erklären. An diesem Punkt der Überlegungen angelangt, könnte man denken, daß diese Lexikonthese zwar ein wichtiges Resultat darstellt, das einen Großteil der bisherigen Arbeiten zur Verifizierung einer Entwicklungsstufenthese als im Ansatz problematisch oder jedenfalls zu einseitig erscheinen läßt, daß sie aber gleichzeitig auf einen toten Punkt führt, weil sich damit die Fragestellung auflöst: Wenn man nämlich zum Thema „Phraseologismen im Spracherwerb“ nichts anderes sagen könnte, als daß sie wie Wörter Stück für Stück sozusagen vom Anfang des Spracherwerbs erwor- Phraseologismen im Spracherwerb 223 ben werden, so ergäben sich für eine weitere Forschung keine interessanten Perspektiven. Wenn man aber die allgemeine Vorstellung aufgibt, daß figurative Sprache grundsätzlich durch Prozesse verstanden wird, die über diejenigen hinausgehen, die man zum „normalen“ Wortverstehen braucht, ergeben sich eine Reihe von neuen Fragestellungen, Methoden und theoretischen Konzepten. Ich möchte hier je eine solche Fragestellung, Methode und ein theoretisches Konzept vorstellen und mit letzterem anfangen. 7. Duale Kodierungstheorie Daß man allgemein bei der Behandlung von Phraseologismen, konkret z.B. bei den multiple-choice-Aufgaben, so unerschütterlich an der Konfrontation der phraseologischen Bedeutung mit einer wörtlichen Bedeutung festhält, hängt ja wohl schon damit zusammen, daß man nicht einfach absehen kann von den Bedeutungen, die die einzelnen Wörter außerhalb der Phraseologismen haben. Es braucht deswegen aber nicht der Fall zu sein, daß die wörtliche Bedeutung des ganzen Ausdrucks eine Rolle spielt. Es spricht vieles dagegen, daß diese wörtliche Bedeutung des ganzen Ausdrucks grundsätzlich oder jedenfalls in vielen Verstehensprozessen überhaupt realisiert wird. Hingegen gibt es einen theoretischen Hintergrund, vor dem sich das Mitspielen der wörtlichen Bedeutung einer oder mehrerer Komponenten beschreiben und erklären läßt und der eine psycholinguistische Ursache liefert für die synkretistische kindliche Sprachverarbeitung. Es wird in verschiedensten stilistischen, entwicklungspsychologischen oder didaktischen Zusammenhängen ja immer wieder etwa davon ausgegangen, daß der Zugang zu bildhafter Sprache einfacher, für Kinder und Erwachsene besser gewährleistet sei. Man hält das wohl für evident, jedenfalls wird eine Erklärung dafür normalerweise nicht geboten. Es gibt allerdings eine Theorie, die diesen Umstand zu erklären versucht, und zwar zu erklären versucht mit der Grundannahme, daß es zwei verschiedene Systeme im Gedächtnis sind, die an der Endkodierung, Speicherung, Organisation und dem Abruf von Informationen sprachlicher und nichtsprachlicher Art beteiligt sind. Man nennt diese Theorie deshalb duale Kodierungstheorie und verbindet sie im allgemeinen mit dem Namen Paivios. Paivio unterscheidet zwischen einem nonverbalen imaginalen, bildhaften System mit einem ebensolchen Kode und einem verbalen System mit einem verbalen Kode. Das nonverbale System wird eingeschaltet, wenn es um solche Informationen geht, die als konkrete Objekte und Ereignisse bzw. Bilder davon vorliegen, das verbale System ist auf die Verarbeitung von abstrakten, linguistischen Informationen spezialisiert. Für die Beschreibung der Sprachverarbeitung interessant ist die Annahme, daß die beiden Kodiersysteme miteinander verbunden sind. Verarbeitungsprozesse im einen Kodiersystem können Verarbeitungs- 224 Annettes Häcki Buhofer prozesse im anderen auslösen, z.B. dann, wenn es um konkrete Wörter geht, die leicht ein Vorstellungsbild hervorrufen. Dann besteht nämlich die Möglichkeit, daß die zu verarbeitende Information dual, d.h. imaginal und verbal kodiert wird. Konkrete Wörter, die leicht ein Vorstellungsbild hervorrufen, werden nach dieser dualen Kodierungstheorie auf zwei Spuren verarbeitet, während abstraktes Sprachmaterial nur im verbalen System verarbeitet wird. Dieser supponierte Unterschied in der Verarbeitung muß natürlich Auswirkungen haben, die empirisch feststellbar sind, sowohl um plausibel gemacht zu werden als auch um von irgendwelchem praktischem Nutzen zu sein. Die empirisch faßbare Auswirkung der dualen Kodierung ist nun die, daß Wörter, die Bilder hervorrufen und deshalb auch imaginal verarbeitet werden, anders, schneller und besser verarbeitet werden und auch anders, schneller und besser wieder verfügbar sind. Figurative Sprache ist in vielen Fällen Sprache, die Bilder hervorruft. Paivio selber formuliert in der Arbeit „Psychology of Language“ die Vorteile, die das für die Verarbeitung von Metaphern und Phraseologismen haben kann, folgendermaßen: 1. Sprachmaterial, das eine duale Kodierung erlaubt, vergrößert damit gegenüber nicht dual-kodierbarem Material die Wahrscheinlichkeit, daß ein Ausdruck überhaupt verstanden wird, weil zwei Informationsquellen zur Verfügung stehen, im Falle der Metapher zwei Informationsquellen, um das „tertium comparations“, den „common ground“ zwischen Bildempfänger (topic) und Bildspender (vehicle) zu finden. Die Leistungen beider Systeme addieren sich also. (Man sieht das generell empirisch daran, daß Wörter mit einer hohen Bildhaftigkeit (wie z.B. vierfüßiges Tier) gegenüber Wörtern mit einer niedrigen Bildhaftigkeit (wie z.B. optisches Instrument) besser erinnert werden). 2. Wenn die imaginale Verarbeitung eingeschaltet wird, so werden große Mengen von Informationen schnell zugänglich gespeichert und wieder abrufbar. Dies deshalb, weil Bilder synchron und simultan organisiert sind: wer an die Sonne denkt, denkt gleichzeitig an den Himmel, wer an seine Wohnung denkt, denkt gleichzeitig an Fenster, Türen, Möbel, bestimmte Farben etc. 3. Bildhaftigkeit sichert zudem eine Verarbeitungsflexibilität, die nicht an sequentielle Zwänge gebunden ist. Bilder müssen nicht wie die Wörter eines Satzes in einer bestimmten Reihenfolge verarbeitet werden: wer gefragt wird, wieviele Fenster seine Wohnung hat, kann sich die Wohnung vorstellen und irgendwo zu zählen anfangen. Das Alphabet hingegen kann man wesentlich besser von vorne nach hinten aufsagen als von hinten nach vorne. Das „flexible processing“ des imaginalen Verarbeitungssystems eröffnet also zusätzliche Möglichkeiten für die Herstellung eines neuen integrierten Bildes von Wörtern, die in keinem üblichen Zusammenhang stehen. Phraseologismen im Spracherwerb 225 4. Sowohl Bildempfänger (topic), als auch Bildspender (vehicle), bilden Stichworte, unter denen der Ausdruck wiederaufgefunden werden kann. Es gibt also nicht nur einen, sondern zwei Zugänge, sogenannte „retriev : al cues“, deren einer normalerweise sogar besonders effizient ist: der Bildspender nämlich, weil er als meist konkreter und deshalb bildlich vorstellbarer Ausdruck schnellen Zugang zu informationsreichen Bildern bietet. Bildhaftigkeit verbessert also die Speichermöglichkeiten und ermöglicht darüber hinaus die Erhöhung der Bedeutungshaltigkeit und führt dadurch zu einer Verbesserung des Verständnisses (vgl. v. Eye/ Dixon 1984, 5. 166). In einschlägigen Arbeiten wird angenommen, daß die bildhafte Verarbeitung von Sprache bei Kindern eine größere Rolle spielt als bei Erwachsenen, ja sie wird z.T. für die „wichtigste Größe der semantischen Aktivitäten jüngerer Kinder“ gehalten (vgl. v. Eye/ Dixon 1984, S. 165). Ich habe an anderer Stelle ausführlich dargestellt, daß jüngere Kinder, wenn sie wörtlich verstehen, „synkretisch-wörtlich verstehen“, d.h., von einzelnen Wortbedeutungen ausgehen, aber dann ohne Berücksichtigung aller Einzelheiten schnell zu einem Gesamtschema vorstoßen (vgl. Buhofer 1980). Die duale Kodierungstheorie bietet eine Erklärung dafür, daß einzelne Komponenten bevorzugt werden, diejenigen nämlich, die sich vorstellen lassen (vgl. Kapitel 1, Hypothese 3). Wenn es richtig ist, daß die Bildhaftigkeit die Sprachverarbeitung positiv beeinflußt, müssen Phraseologismen besondere Zugangsmöglichkeiten bieten, bzw. anders, besser, schneller verstanden und behalten werden. Was das schnellere Verstehen von Phraseologismen betrifft, so gibt es meines Wissens nur eine Arbeit (Ortony et al. 1978), für die die Zeiten gemessen wurden, die allerdings erwachsene Versuchspersonen gebraucht haben, um einen Ausdruck in seiner idiomatischen und in seiner wörtlichen Bedeutung zu verstehen. Die Testitems, die dafür verwendet wurden, sehen folgendermaßen aus: „Idiom version Context: Dean spoiled the surprise that Joan had been planning for their mother’s birthday party. Wenn he realized what he’d done, he apologized for having Target: let the cat out of the bag. Literal version Context: Walking back from the store, Anne found a kitten which she put in with her groceries. She got home and her puppy went wild when she Target: let the cat out of the bag. 226 Annelies Häcki Buhofer Control version Context: Dean spoiled the surprise that Joan had been planning for their mother’s birthday party. When he realized what he’d done, he apologized for having Target: revealed the secret.“ (S. 471). Dabei hat sich gezeigt, daß die idiomatischen Bedeutungen signifikant schneller verstanden werden als die wörtlichen Ausdrücke es geht dabei um Zeiten wie 1383 msecs gegenüber 1677 msecs auch schneller als die Kontrollausdrücke (1486 msecs) (jedoch ist dieser Unterschied nicht signifikant) (S. 472f.). - Man braucht also jedenfalls nicht mehr Zeit, um Idiome zu verstehen, sondern tatsächlich eher weniger. Offen ist, ob das für Kinder ebenfalls zutrifft. Zur Frage, ob Phraseologismen anders oder besser verstanden würden, gibt es meines Wissens keine Arbeiten. Diese Art von Fragen setzt ja einen Vergleich der Verarbeitung von freien und phraseologischen Wortverbindungen voraus. Und ob in dieser Hinsicht Unterschiede bestehen, ist weder für die Erwachsenennoch für die Kinder-Psycholinguistik erforscht. Es scheint mir aber eine wesentliche Fragestellung, wie Phraseologismen im Verlauf der verschiedenen Entwicklungsalter verglichen mit freien Wortverbindungen verstanden werden. Nun hängt das Resultat natürlich auch damit zusammen, welche Methode man für die Erfassung des Verstehens wählt. Ich habe in einer ganzen Reihe von Seminararbeiten sowohl multiple-choice-Verfahren, als auch Paraphrasen, Nacherzählungen und Assoziationen verwenden lassen, möchte hier aber auf nur ein Beispiel für die Verwendung von Assoziationstests eingehen. 8. Die Verwendung von Assoziationstests Der Assoziationstest ist eine Methode, die bisher für solche Untersuchungen meines Wissens nicht in Anspruch genommen worden ist. Das Konzept der assoziativen Bedeutung versteht sich im allgemeinen als totales Gegenstück zum Bedeutungskonzept der strukturellen Semantik (vgl. Marx 1984, S. 73), indem es mit der Auffassung verknüpft ist, daß Bedeutung nicht ein Merkmal ist, das den Wörtern anhaftet, sondern etwas, das der Sprachbenutzer den Wörtern aktiv hinzufügt, so daß Wörter nicht Träger von Bedeutungen sind, sondern eine Art verbaler Hinweisreize, die im Hörer oder Leser bestimmte Vorgänge aktivieren können. Man braucht sich allerdings m.A. nicht für eine bestimmte Bedeutungsdefinition zu entscheiden, sondern kann unabhängig davon die Assoziationen als eine mögliche Operationalisierung von Bedeutung auffassen und den Assoziationstest infolgedessen als Test für die Erfassung von Bedeutungen verwenden. Die (assoziative) Bedeutung eines Wortes gilt unter dieser Voraussetzung als repräsentiert in der Verteilung der freien Assoziationen, die Phraseologismen im Spracherwerb 227 dieses Wort auszulösen imstande ist. Dabei ergeben sich zwei quantitativ meßbare Größen zur Charakterisierung dieser freien Assoziationen: 1. Der Assoziationshof, darunter versteht man die durchschnittliche Anzahl verschiedener Assoziationen, die eine durchschnittliche Versuchsperson zu einem bestimmten Reizwort reproduziert. Je nachdem spricht man von einem engen oder weiten Assoziationshof. 2. Die assoziative Bedeutungsähnlichkeit. Sie läßt sich ableiten aus dem Grad der Übereinstimmung, der Assoziationsverteilungen zwischen zwei Wörtern oder Wortverbindungen. Das Maß dafür ist der Überlappungskoefhzient (vgl. Marx 1984). In einer Seminararbeit zum Thema „Duale Codierung und bildliche Redewendungen“ wurden bei Schülern der dritten Klasse und bei Erwachsenen entsprechende Assoziationstests zu phraseologischen und freien Wortverbindungen durchgeführt. Dabei hat sich ergeben, daß die jeweiligen Assoziationshöfe erhebliche Unterschiede aufweisen, jedoch bei Kindern und Erwachsenen in unterschiedlichem Maß. Für Kinder scheinen bildhafte und nicht bildhafte Wendungen synonymer zu sein als für Erwachsene (vgl. Kapitel 1, Hypothese 4). Wie sich das äußert, ist aus dem Assoziationstest (Kinder) und Assoziationstest (Erwachsene) (s. folgende Seiten) zu ersehen. 228 Annelies Häcki Buhofer Tabelle Assoziationstast (Erwachsene) rel. Verteilung der rel. Verteilung der Ant- Antworten bei bild- Worten bei nicht bildhaftem Stimulus haftem Stimulus gesamthaft gegebene Assoziationen 2. jemandem platzt der Kragen/ jemand wird wütend aggressiver Ausbruch (sehr) wütend brüllt herum vor Wut genug haben von etwas (unbeherrscht) explodieren sich derart ereifern, dass... es nicht mehr aushalten Wutausbruch beleidigt verstimmt zornig schlechte Laune auf etwas böse sein sich ärgern sich aufregen Nennungen/ Aussagen 1.25 1.13 gesamthaft gegebene Assoziationen Verteilung der Verteilung der Ant- Minimum der Antworten bei bild- Worten bei nicht blldgemeinsamen haftem Stimulus haftem Stimulus Nennungen 2. jemandem platzt der Kragen/ jemand wird wütend aggressiver Ausbruch (sehr) wütend brüllt herum vor Wut genug haben von etwas (unbeherrscht) explodieren sich derart ereifern, dass... es nicht mehr aushalten Wutausbruch beleidigt verstimmt zornig schlechte Laune auf etwas böse sein sich ärgern sich aufregen 1 3 1 1 0.10 11 1 1 2 1 1 Total 10 Überlappungskoefizlent 0 10.00% Nennungen/ Aussagen Assoziationstest (Kinder) gosamdtafl gegebene Assoziationen 2. jemandem platzt der KragetVjemand wird wütend verrOckt (aul Jemanden/ etwas) ausrulen nicht mehr warten können/ wollen eine Wut In sich haben watend (werden) es nicht mehr aushalten pressieren dicker Halt und Knopf fällt ab der Kragen platzt keine Geduld mehr es Ist Ihm zu dumm rot Im Gesicht hässlg nach Beleidigung sich nicht vertragen können böse auf den andern Reaktion auf Erlittenes etwas passt einem nicht ...well's Immer nach dem andern geht böse und frech platzen genug haben etwas Ist Obeds ‘Läberli' gekrochen aul den Schlips gebeten Nennungen/ Aussagen rel.Vertellung der rel. Verteilung der Am- Antworten bei bild- Worten bei nicht blldhaltem Stimulus haltern Stimulus wV/ / / / / M E23 m w w mm U W m w 1.92 1.78 gesamthalt gegebene Assoziationen Verteilung dar Verteilung der Ant- Minimum der Antworten bei bildwerten bei nicht bildgemeinsamen haltern Stimulus haftem Stimulus Nennungen 2. jemandem platzt der Kragen/ jemand wird wütend verrOckt (aul jemanden/ etwas) ausrufen nicht mehr warten kOnnen/ wollen eine Wut In sich haben wütend (werden) es nicht mehr aushalten pressieren dicker Hals und Knopf fällt ab der Kragen platzt keine Geduld mehr es Ist Ihm zu dumm rot Im Gesicht hässlg nach Beleidigung sich nicht vertragen können böse auf den andern Reaktion auf Erlittenes etwas passt einem nicht ...well's Immer nach dem andern geht böse und frech platzen genug haben etwas Ist über's 'Läberli* gekrochen auf den Schlips getreten 9 0.36 t 0.04 t 0.04 01 0.04 1 1 3 2 1 11 t 1 Nennungen/ Aussagen Total 2 5 Überlappungskoelflzient 25 48.00% 230 Annelies Häcki Buhofer Ich kann die Tabellen nicht im einzelnen erläutern, man sieht jedoch links die Assoziationen von Kindern und Erwachsenen zu den Ausdrücken jemandem platzt der Kragen und jemand wird wütend. Bei den Kindern fällt die größte Zahl der Antworten bei beiden Wortverbindungen auf den Ausdruck verrückt werden. Das muß man vom Schweizerdeutschen her verstehen, wo verrückt werden soviel heißt wie ‘wütend werden’. Bei den Erwachsenen sind es weniger Antworten, die bei beiden Ausdrücken Vorkommen, z.B. zweimal explodieren. Entsprechend ist der sogenannte Uberlappungskoeffizient, der Indikator für das Maß der Bedeutungsähnlichkeit bei den Kindern höher, nämlich 48 gegenüber 10 bei den Erwachsenen. Die Untersuchung läßt von der Anzahl der Versuchspersonen her erst die Formulierung der Hypothese zu, daß phraseologische und nichtphraseologische Bedeutungen für Kinder synonymer sind als für Erwachsene. Wenn sich die Hypothese verifizieren ließe, wäre das Resultat m.E. sinnvoll einzubetten in eine Skizze des Erwerbs von Phraseologismen. Dabei wäre auszugehen von einer ersten Phase, deren Dauer empirisch erhoben werden muß, die aber durch drei Kriterien charakterisiert wird: 1. Die phraseologische und die entsprechende nicht-phraseologische Bedeutung sind noch weitgehend synonym. Das Spezifische der phraseologischen Bedeutung das ja auch nicht unbestritten ist, wozu aber gehören würde, die besondere Expressivität, ferner die Möglichkeit, die potentielle Doppeldeutigkeit der Wortverbindungen auszunützen entwickelt sich erst nach dem Erwerb der phraseologischen Form. 2. Entsprechend der stärkeren Abstützung von Kindern auf imaginale sprachliche Verarbeitungsstrategien, spielen einzelne Bestandteile der Phraseologismen in ihrer wörtlichen Bedeutung bei Kindern eine größere Rolle als bei Erwachsenen. 3. Die phraseologische Form wird zwar nicht von Anfang an korrekt erworben vor allem syntaktische Elemente werden oft weder genau wahrgenommen noch realisiert trotzdem ist die Verarbeitung, Speicherung und Wiedergabe stärker an der Formseite der Phraseologismen orientiert als die Verarbeitung von freien Wortverbindungen, und sie ist dies bei Kindern im größeren Ausmaß als bei Erwachsenen. Phraseologismen im Spracherwerb 231 9. Literatur Augst, Gerhard/ Bauer, Andrea/ Stein, Anette (1977): Grundwortschatz und Ideolekt. (= Reihe Germanistische Linguistik 7). Tübingen. Buhofer, Annelies (1980): Der Spracherwerb von phraseologischen Wortverbindungen. Eine psycholinguistische Untersuchung an schweizerdeutschem Material. (= Forschungen zum alemannischen Sprachraum 8). Frauenfeld/ Stuttgart. Brinton, Bonnie/ Fujiki, Martin/ Mackey, Teresa (1985): Elementary School Age Children’s Comprehension of Specific Idiomatic Expressions. In: Journal of Communication Disorders, 18, S. 245-257. 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Zürich. 232 Annelies Häcki Buhofer Szagun, Gisela (1986): Sprachentwicklung beim Kind. Eine Einführung 3. Auf! München. Winner, Ellen/ McCarthy, Margret/ Kleinmann, S./ Gardner, Howard (1979): First metaphors. Early Symbolization - New Directions for Child Development. Washington. Winner, Ellen/ McCarthy, Margret/ Gardner, Howard (1980): The Ontogenesis of Metaphor. In: Honeck, Richard/ Hoffman, Robert (Hg.): Cognition and Figurative Language. Hillsdale. S. 341-361. Was die zitierten Seminararbeiten betrifft, so bin ich allen Teilnehmern des Seminars „Psycholinguistische Aspekte der Semantik“ WS 1987/ 88 zu Dank verpflichtet; die Unterlagen in Kapitel 8 stammen von Vroni Hendry und Jürg Hofer. Harald Burger Phraseologie im Kinder- und Jugendbuch* Die Beschäftigung mit Phraseologie in Kinder- und Jugendliteratur hat sich für uns im Zusammenhang mit Arbeiten zum Spracherwerb ergeben. Kinderbücher sind hier zunächst in zweierlei Hinsicht interessant: Einerseits spiegeln sie das Bild, das die Autoren von der phraseologischen Kompetenz und auch vom Phraseologie-Gebrauch der Kinder haben, andererseits sind sie selbst ein Faktor im Erwerb der Sprache. Das gilt auch noch für das Jugendbuch und für die Phase der Konsolidierung und Differenzierung der Sprache. Ich kann hier nur zum ersten Aspekt also dem Bild, das die Autoren von der Kompetenz ihrer Adressaten haben etwas ausführen, da wir vorerst noch in der Phase der Textanalyse stehen. Die Frage, welche Wirkung Kinder- und Jugendbücher auf die Sprache ihrer Leser haben, erfordert empirische Untersuchungen, mit denen wir erst begonnen haben. Aber nicht nur unter dem Aspekt des Spracherwerbs sind Kinder- und Jugendbücher für die Linguistik ein aufschlußreicher Gegenstand. Als literarische Gattung sind sie heutzutage eingebunden in ein breites mediales Umfeld. Bücher werden bearbeitet für andere Medien, für Tonbandkassetten, fürs Radio und fürs Fernsehen. Und wie in den anderen Medien zeigt sich auch beim Buch ein Trend zur serienhaften Produktion. Und es ist insbesondere dieses Merkmal der Serienhaftigkeit, das sich in der Phraseologie auswirkt. Meine Überlegungen basieren auf eigener Lektüre und auf Materialsammlungen meiner Studenten und meiner Mitarbeiter. Statistische Repräsentativität kann ich noch nicht beanspruchen. Außerdem ist es klar, daß es sich mehr um einen Problemaufriß als um eine Darstellung von Resultaten handelt. Vorarbeiten gibt es kaum. (Auch zu allgemeineren linguistischen Aspekten dieser Textgattung ist die Literatur spärlich. Man vgl. etwa Engelen 1977, Oksaar 1979; linguistische Aspekte haben auch Lypp 1984, Jakob 1985.) Dementsprechend lassen sich einige grobe Vereinfachungen nicht vermeiden. Ich unterscheide im folgenden nur zwischen Bilderbüchern mit Text, Büchern fürs sog. erste Lesealter und Texten für geübte jugendliche Leser. Das rechtfertigt sich vom phraseologischen Material her, und auch die Pädagogik ist ja weitgehend von einer Trennung der sogenannten „Le- * Der Text wird in der Fassung von 1988 unverändert abgedruckt. Die Auseinandersetzung mit Literatur, die nach diesem Zeitpunkt zu ähnlichen Themen erschienen ist und in der verschiedentlich auf die Manuskriptfassung meines Aufsatzes Bezug genommen wird, sowie die Berücksichtigung neuerer Tendenzen im Bereich der Kinderbücher selbst müssen einem neuen Aufsatz Vorbehalten bleiben. 234 Harald Burger sealter“ abgekommen (vgl. Beinlich 1980). Innerhalb der Phraseologie behandle ich in erster Linie die metaphorischen und die stark idiomatischen Phraseologismen, ferner Sprichwörter und Vergleiche. 1. Aspekt des Spracherwerbs das Bild, das sich die Autoren von der Kompetenz ihrer Adressaten machen In den Kreisen, die sich mit der Beurteilung und Bewertung von Kinder- und Jugendliteratur zu befassen haben, zirkulieren jeweils Kriterienkataloge für besonders kindgerechte und besonders wenig kindgerechte stilistische Verfahren. Ein immer wieder genanntes Kriterium ist dabei die „Anschaulichkeit“ und „Bildhaftigkeit“ der Sprache, die dem Kind das Verstehen erleichtern soll. Nun sind diese Begriffe bereits theoretisch keineswegs klar was ich hier nicht näher ausführen kann (vgl. dazu Burger 1988). Sie lassen also der Interpretation in der Praxis des Schreibens einen breiten Spielraum. Jedenfalls ergibt sich hier für die Produzenten eine Zwickmühle: Einerseits sollen sie anschaulich, bildhaft schreiben, und das heißt auch Metaphern verwenden, und zwar nicht nur oder gar nicht in erster Linie ad hoc gebildete, innovative Metaphern, sondern auch und mit Vorzug metaphorische Phraseologismen. Andererseits hat sich die alte Doktrin von Piaget offenbar herumgesprochen, daß Kinder erst in der letzten kognitiven Entwicklungsphase (der formal-operatorischen Phase, frühestens vom 10. Lebensjahr an) imstande seien, Phraseologie zu verstehen. Wir wissen inzwischen, daß das keineswegs stimmt (vgl. Buhofer 1980). Und zum Glück geht auch kaum ein Kinderbuchautor so weit, Phraseologismen gänzlich zu vermeiden. Aber es gibt sehr unterschiedliche Arten, wie die Autoren mit Phraseologie umgehen. Vorweg sei gesagt, daß ein Phraseologie-Gebrauch, der nach den Maßstäben der Erwachsenensprache als „durchschnittlich“, „unauffällig“, „selbstverständlich“ gelten könnte, nach meinen Lektüre- Erfahrungen eher selten ist. Phraseologie wird entweder gemieden, oder aber sie wird besonders intensiv oder besonders auffällig verwendet. Ich möchte ganz umgangssprachlich vier Typen des Gebrauchs unterscheiden (damit ist natürlich nur das jeweils dominante Muster gemeint): (1) den abstinenten (2) den schonend-vermittelnden (3) den überbordend-hybriden (4) den spielerisch-augenzwinkernden. Zu (1): Dieser Typ ist rasch charakterisiert. Phraseologie-abstinent oder zumindest sehr ängstlich im Phraseologie- Gebrauch sind viele Bilderbücher und auch noch manche Bücher fürs erste Lesealter. Wenn Phraseologisches vorkommt, dann so hat man den Ein- Phraseologie im Kinder- und Jugendbuch 235 druck ungewollt, es „unterläuft“ sozusagen. Ein Phraseologismus, den ich in solchen Büchern mehrfach angetroffen habe, ist der Ausdruck „sie trauten ihren Augen nicht“ oder ähnlich. (Z.B.: Sacre, Marie-Jose/ Nagel, B.: Max die Vogelscheuche: „Und als die Mutter zum Fenster hinausschaute, glaubte sie ihren Augen nicht zu trauen.“) Es ist leicht verständlich, wieso. Wenn der springende Punkt, der sensationelle Augenblick der Geschichte erreicht ist, bietet sich diese Wendung wie keine andere an, um das Erstaunen der Beteiligten zu verbalisieren. Zu (2): Als schonend-vermittelnd möchte ich solche Verfahren bezeichnen, mit denen der Phraseologismus nicht einfach als bekannt vorausgesetzt, sondern eingeführt, eingebettet, erläutert wird. Am eindeutigsten ist das bei Sprichwörtern der Fall, von Bilderbüchern bis hin zu Büchern für geübte Leser. Ein typisches Beispiel solcher Einbettungen: In einem Bilderbuch, das die Jahreszeiten vorstellt, werden Sprichwörter und „Bauernregeln“ eingeführt: „April, April macht, was er will! “ sagen die Kinder, denn im April ist das Wetter unbeständig. Einmal regnet es in Strömen, dann scheint wieder die warme Frühlingssonne ... (Riha, Susanne: Spazier mit mir durchs ganze Jahr. Wien 1985) Hier wird das Sprichwort Kindern in den Mund gelegt, womit suggeriert wird, daß es zum kindlichen Formelschatz gehöre. Sodann wird es erläutert („denn ...“). Ähnlich die „Bauernregel“ zum Juli: „Im Juli sollst du schwitzen und nicht hinterm Ofen sitzen.“ sagt eine alte Bauernregel. Es ist Hochsommer und brütend heiß. Viele Schulkinder haben endlich Ferien. Sie gehen schwimmen, angeln oder bergsteigen ... (ebd.) Auch Kinder, die sich unter „Bauernregel“ nichts Konkretes vorstellen können, werden merken, daß es sich um etwas Formelhaftes handelt, und sie werden den Satz wohl als Handlungsanweisung begreifen, die man im Juli befolgen sollte. Die Bedeutung der Regel wird denn auch als Folge konkreter Handlungen „übersetzt“. Sehr raffiniert wird das Sprichwort im folgenden Beispiel vorbereitet und eingeführt: Als Miro am nächsten Morgen aufstand, seine Sonntagskleider anzog und sich auf den Weg in die Stadt machte, kam ihm der Großbauer entgegen. Er machte ein ganz betrübtes Gesicht. „Mein Pflug, stell dir vor, mein Pflug ist heute früh zerbrochen! Nun kann ich nicht mehr pflügen. Und wenn ich nicht pflügen kann, kann ich auch nicht säen, und wer nicht sät, nun, der kann auch nicht ernten! Also muß ich verhungern! “ klagt er laut. (Lussert, Anneliese: Die sieben Mondtaler. Mönchaltdorf/ Hamburg 1987) 236 Harald Burger Nach Art eines praktischen Syllogismus werden die Prämissen als singuläre Ereignisse („ich“ kann nicht mehr pflügen) angeführt, die dann unter einen All-Satz („wer“ nicht sät ...) subsumiert werden das ist eben das (biblische) Sprichwort aus dem dann eine Konsequenz gezogen wird. Man kann annehmen, daß sich bei den Kindern bei mehrfacher Rezeption der Satz automatisiert, natürlich ohne daß dadurch ein Bewußtsein von der „Sprichwörtlichkeit“ des Textes resultieren würde. Ein Musterbeispiel von überlegter Einbettung eines Sprichwortes fand ich bei Christine Nöstlinger. Der Titel des Buches heißt „Der Spatz in der Hand und die Taube auf dem Dach“ (Weinheim/ Basel 1974); das ist eine modifizierte Formulierung des entsprechenden Sprichwortes. Die Modifikation legt bereits nahe, das hier einerseits von einem „Spatz in der Hand“ und andererseits einer „Taube auf dem Dach“ die Rede sein wird, daß die Teile des Sprichwortes also auf Figuren des Romanes referieren werden. Auf dem Buchrücken liest man eine eigentliche semantische Erklärung und zugleich Applikation auf die Figuren des Romantextes: Als der Schurli zu Besuch kommt, hat die Lotte Prihoda den rotznasigen Mundi gleich vergessen. Aber es stellt sich heraus: „Besser den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach“ denn eines Tages geht der Schurli ja wieder weg. Die Frau Wolf hat der Lotte den Spruch erklärt: „Daß man nicht nach was greifen soll, was man nicht kriegt! “ Und der Herr Wolf hat hinzugefügt: „Weil man sonst noch das verliert, was man hat.“ Im Buch wird das Sprichwort dann noch viel differenzierter eingeführt und erläutert. Zunächst wird es als eine Art Text sichtbar gemacht: in einer Fensternische bemerkt Lotte (die Hauptfigur, die demnächst in die Hauptschule kommt) drei ovale hölzerne Scheiben mit Aufschriften, daneben ein Spinnennetz, und auf einer Scheibe steht das Sprichwort, „mit einer glühenden Nadel in das Holz geritzt“, und „über der Schrift flatterten weiße und hellblaue und graue Tauben“. (S. 31) Sehr viel mehr kann man kaum mehr tun, um einen Mikrotext als etwas Besonderes, eventuell Rätselhaftes, jedenfalls Bedeutungsschweres herauszustellen. Dann wird die Sprichwort-Kompetenz der Kinder und der Erwachsenen differenziert kontrastiert: Sie schaute lange auf den unteren Spruch: „Was soll denn das heißen? “ fragte sie. Der Mundi wußte es nicht. Der Herr Wolf schaute von seinen Geldhäufchen hoch. „Ein Sprichwort ist das“, sagte er. Sie nickte. Trottel, dachte sie. Daß es ein Sprichwort ist, das hab ich gemerkt! „Daß man nicht nach was greifen soll, was man nicht kriegt! “ sagte die Wolf. „Weil man sonst noch das verliert, was man hat! “ sagte der Herr Wolf. Sie verstand es nicht, aber sie nickte wieder. „Wer hat einen Spatzen in der Hand? “ fragte der Mundi. „Und wieso will der eine Taube? Und wieso ist ein Spatz besser? Tauben gehen doch leichter zu fangen als Spatzen ... Weil, so alte, hinige Spatzen gibt es gar nicht ...“ „Mundi, red nicht so blöd! “ unterbrach ihn die Wolf. (S. 31f.) Lotte weiß, was Sprichwörter sind, und sie hat den Spruch als Sprichwort identifiziert, aufgrund seiner rätselhaften Bildlichkeit vielleicht und seiner Phraseologie im Kinder- und Jugendbuch 237 kontextuellen Einbettung, aber sie kennt die Bedeutung nicht, ebenso wenig wie Mundi. Die Erwachsenen geben stufenweise die Erläuterung, aber die Kinder verstehen nicht, was das eine das Bildliche mit dem anderen der abstrakten Lebensregel zu tun haben soll. Mundi formuliert die Fragen, die sich beim Versuch der Ableitung der phraseologischen aus der wörtlichen Bedeutung ergeben. Damit bricht die Sprichwort-Episode ab. Erst viel später wird das Motiv wieder aufgenommen, gegen Schluß, wenn der Schurli die Taube auf dem Dach weggezogen ist. Der Text wird nicht mehr formuliert, es ist nur noch die Rede von der Scheibe mit dem „Spatzen-Tauben-Spruch“. Lotte starrt ihn an, denkt offenbar darüber nach, in der Situation, wo sie ihren Verlust bewältigen und sich auf die neue Situation einstellen muß (die Freundschaft mit Mundi dem Spatzen wieder aufzunehmen). Ob sie den Sinn des Sprichwortes verstanden hat, bleibt offen. Aber was den Leser betrifft, so ist anzunehmen, daß er genügend Fingerzeige bekommen hat, um das Sprichwort-Rätsel zu lösen. Aber auch bei sonstigen Phraseologismen ist zu beobachten, daß manche Autoren großen Wert auf altersgemäße Vermittlung legen. Das schon im obigen Beispiel zu beobachtende Verfahren, die altersspezifische Kompetenz explizit zu benennen, ist wohl der durchdachteste Weg der Vermittlung. Ein Beispiel aus „Der kleine Vampir“ (der Text wendet sich an eher jüngere Schulkinder, die Hauptfigur geht in die dritte Volksschulklasse): [Die Mutter hätte beinahe Antons Vampir-Geheimnis entdeckt.] Anton horchte, wie sie auch die Tür zum Nebenzimmer schloß, dann ließ er sich erschöpft auf das Bett sinken. „Um ein Haar! “ murmelte er. „Welches Haar? “ fragte Anna neugierig und kam unter dem Bett hervorgeklettert. „Das sagt man so“, erklärte Rüdiger [ihr älterer Bruder] herablassend, „aber Anna ist eben noch ein Baby und weiß es nicht! “ (Sommer-Bodenburg, Angela: Der kleine Vampir. Reinbek 1986, S. 81f.) Der Phraseologismus wird durch den Dialog explizit altersspezifisch eingeordnet: Anton verwendet ihn korrekt und unproblematisch. Anna versteht ihn nicht. Rüdiger charakterisiert ihn metasprachlich als Phraseologismus („das sagt man so“) und verweist damit Anna für eine Bedeutungserläuterung auf die Situation, in der man so etwas eben „so sagt“. Die Drittkläßler werden also als Phraseologie-Kenner eingestuft, und den potentiellen kleineren Lesern wird ein Wink gegeben, wo sie nach der Bedeutung zu suchen haben. Zu (3): Das Gegenstück zu den vorsichtigeren Varianten ist zunächst einmal der „überbordende“ Phraseologie-Gebrauch. Es gibt ihn in Texten für alle Altersstufen. Aber die Motive dürften je nach Adressatenalter unterschiedlich sein. Bei Büchern für jüngere Kinder steht sicher im Hintergrund die Forderung nach „bildhafter“ Sprache. 238 Harald Burger Eine erste Ressource von Bildhaftigkeit bilden die phraseologischen Vergleiche. In Eveline Haslers „Komm wieder, Pepino“ (Zürich 1967) findet sich streckenweise auf jeder Seite (des spatiös gedruckten Buches) ein Vergleich. Zunächst sind es phraseologische Vergleiche: (a) Sie glaubt mir, denkt Pepino. Sie hält mich nicht für einen Lügner. Andi? Er gleicht zwar seiner Schwester wie ein Ei dem andern, aber ich lasse mich nicht täuschen! Inwendig sind die beiden verschieden wie Tag und Nacht. (S. 36) (b) Das Auto ist vollgepackt wie eine Sardinenbüchse. (S. 53) (c) Pepino aber fühlt sich wohl in der Hitze wie ein Fisch im Wasser. (S. 53) (d) In seinem Herzen sitzt die Eifersucht wie ein Pfeil und bohrt und quält. (S. 68) (e) Es [das Boot] tanzt wie eine Nußschale auf den Wellen. (S. 72) Dann aber auch und vor allem neugebildete Vergleiche. Bezeichnenderweise findet man in Kinderbüchern seltener kreative Metaphern als innovative Vergleiche. Beim Vergleich ist ja im Gegensatz zur Metapher immer klar, was der Bildspender und was der Bildempfänger (in der Terminologie von Weinrich) ist, und die Aufgabe, das tertium comparationis zu suchen, erscheint den Autoren wohl als eine kindgerechte Aufgabe. Eine besonders gewagte Vergleich-Passage wird dem Buben Pepino in den Mund gelegt, einem Fremdarbeiterkind, das den Schulkameraden seine italienische Heimat (die Insel Elba) beschreibt: An steilen Hängen wachsen die Agaven. Auf ihren dicken Blättern sitzen Stacheln. Der Blütenstengel gleicht einem Telegraphenmast: er ist hoch und hat Glöckchen auf beiden Seiten. Und neben unserem Haus wächst ein Feigenkaktus. Er besteht aus lauter grünen abstehenden Ohren, ein Ohr wächst aus dem andern. (S. 33) Die anderen Kinder lachen über die Beschreibung. Am Schluß aber muß Andi, der Pepinos Heimat besucht, zugeben, „daß es hier wirklich Eselsohren-Kakteen und Agaven gibt, die Blütenstengel haben wie Telegraphenmaste.“ (S. 80f.) Neben den Vergleichen sind es besonders die metaphorischen verbalen Phraseologismen, die den Autoren als Vehikel „bildhafter“ Schreibweise dienen. Beispiele werde ich später unter einem anderen Aspekt noch präsentieren. Zu (4): „Spielerischer“ Umgang mit Phraseologie ist in Kinder- und Jugendbüchern nicht von vornherein zu erwarten, jedenfalls nicht die Klasse von Sprachspielen, die zum Verständnis höhere kognitive Fähigkeiten voraussetzt. (Abwandlungen von Phraseologismen in formaler oder semantischer Phraseologie im Kinder- und Jugendbuch 239 Hinsicht, bei denen es sich nicht um konventionalisierte Varianten handelt, nenne ich „Modifikationen“, vgl. Burger et al. 1982, S. 68ff.) Eine Art von Modifikationen erscheint freilich nicht unerwartet: In Geschichten, deren Personal sich aus der Tierwelt oder aus sonstigen Phantasiewelten rekrutiert, werden auch Elemente von Phraseologismen, deren wörtliche Lesart an die menschliche Sphäre gebunden ist, an die jeweilige Welt angepaßt. In Otfried Preusslers „Die kleine Hexe“(Stuttgart 1957) heißt es vom weisen Raben, daß er „ihr in allen Dingen die Meinung sagte und nie ein Blatt vor den Schnabel nahm“ (S. 4) oder: (a) Sicherlich wäre auch weiterhin alles gut gegangen nur hätte die kleine Hexe nicht ihrer Muhme, der Wetterhexe Rumpumpel, über den Weg tanzen dürfen! (S. 10) (b) Als er [der Rabe] die kleine Hexe erspäht hatte, fiel ihm ein Stein von der Rabenseele. (S. 16) (c) „Das ist ja zum Dreinhaken! “ krächzte Abraxas [der Rabe] empört. (S. 48) (d) [Die kleine Hexe sagt zu den Pferden: ] „Daß ihr euch nicht von der Stelle rührt, wenn er aufsteigt und abfahren will. Keinen Hufbreit.“ (S. 50) In den Geschichten vom kleinen Vampir (s.o.) wird die Vampirwelt als Variante der Menschenweit dargestellt, mit nur leicht veränderten Attributen. Das trifft auch auf die Sprache der Vampire zu: „Ich glaub, mein Sarg klemmt! “ rief Anna [das Vampirmädchen] entrüstet. „Sie haben aber überhaupt keine Ahnung.“ (S. 151) Ein Neo-Phraseologismus, der jugendsprachlichen „Sprüchen“ nachgebildet ist („ich glaub, mein Hamster bohnert“ oder die vielen Sprüche mit der Einleitung „ich glaub ...“). In Bilderbüchern wird man angesichts der ohnehin schon seltenen Phraseologie sicherlich nicht auch noch modifizierte Phraseologismen erwarten. Und doch gibt es das, und es gibt sogar Modifikationen anspruchsvoller Art. Besonders raffiniert, weil auf den ersten Blick völlig unauffällig, sind manche Texte von Janosch: „Uns geht es gut“, sagte der kleine Tiger, „denn wir haben alles, was das Herz begehrt, und wir brauchen uns vor nichts zu fürchten. Weil wir nämlich auch noch stark sind. Ist das wahr, Bär? “ „Jawohl“, sagte der kleine Bär, „ich bin stark wie ein Bär, und du bist stark wie ein Tiger. Das reicht.“ (Oh, wie schön ist Panama. Weinheim/ Basel 1978) „Stark wie ein Bär“ und „stark wie ein Tiger“ sind zwar nicht in gleicher Weise lexikalisiert (außerdem ist das Kompositum bärenstark üblicher als die explizit-komparative Formulierung, so daß von hierher schon eine 240 Harald Burger leichte Modifikation ausgeht), doch können die Verbindungen als durchaus übliche Verstärkungsphraseologismen gelten und werden wohl auch von Kindern mühelos so verstanden. Nun ist es aber im Gegensatz zur üblichen Verwendung solcher Vergleiche der Bär selbst, der stark ist wie ein Bär, und der Tiger, der stark ist wie ein Tiger. Durch diese Modifikation wird man als Erwachsener schmunzelnd sich eines sprachlichen Verfahrens bewußt, das man sonst automatisiert anwendet. In einer kleinen empirischen Untersuchung haben wir gesehen, daß auch noch ältere Kinder, wie zu erwarten war, dieses aha-Erlebnis nicht haben, daß es für sie keineswegs redundant ist zu sagen, ein Bär sei eben stark wie ein Bär. Ich vermute, daß solche Verfahren in Kinderbüchern, die gar nicht so selten anzutreffen sind, die doppelte Adressierung dieser Texte anzeigen: für Kinder die unproblematische Lesart, für den vorlesenden Erwachsenen die hintersinnig-augenzwinkernde Lesart. Ähnliches gilt wohl für das „Land der Träume“ im gleichen Band: [Der kleine Bär fischt eine Kiste aus dem Wasser, mit der Aufschrift „Panama“.] „Die Kiste kommt aus Panama, und Panama riecht nach Bananen. Oh, Panama ist das Land meiner Träume“, sagte der kleine Bär. Das „Land meiner/ unserer Träume“ kommt noch mehrfach vor. Für das Kind wird der Ausdruck allenfalls textintern allmählich zu einer festen Verbindung, sicherlich aber nicht zu einem Klischee, wie es der Erwachsene auffaßt. Unter dem Aspekt der Modifiziertheit ist das obige Beispiel aus „Der kleine Vampir“ besonders raffiniert: Was für die am Dialog beteiligten Kinder als eine Frage der altersspezifischen Kompetenz dargestellt wird, ist für den Leser eine Form der Modifikation: Die Frage „Was für ein Haar? “, die ein Element des Phraseologismus semantisch und syntaktisch isoliert, zerstört die semantische Identität des Phraseologismus, hat also den Effekt einer Modifikation. Ein problematisches Beispiel fand ich in der Übersetzung von Roald Dahls „Fantastic Mr. Fox“ (deutsch „Der fantastische Mr. Fox“, Reinbek 1979): [Das Fuchskind fragt im Augenblick der Gefahr den Vater: ] „Ziehen sie uns jetzt das Fell über die Ohren, Mama? “ fragte eines der Fuchskinder. Seine runden schwarzen Augen waren ganz groß vor Angst. „Hetzen sie die Hunde auf uns? “ (S. 17) Der Phraseologismus ist kontextuell sorgfältig eingebettet und synonymisch erläutert, zudem kommt er im Buch mehrfach vor, so daß man annehmen muß, daß die Leser am Ende wissen, was damit gemeint ist. Merkwürdig ist nur, daß im Kontext des Buches nur die wörtliche Lesart in Frage kommt. Phraseologisch bedeutet der Ausdruck jmdm. das Fell über die Ohren ziehen ‘jmdn. betrügen, übervorteilen’ (Duden GW, mit dem Zusatz / bes. von Kaufleuten / und mit dem etymologischen Hinweis Phraseologie im Kinder- und Jugendbuch 241 / urspr. von der Arbeit des Schinders/ ). Was hier also eingeübt wird, ist eher die etymologische insofern sie nahe an der wörtlichen Lesart ist als die synchrone phraseologische Bedeutung. Die Kinder- und Jugendbücher von Erich Kästner (zur Wirkungsgeschichte vgl. Kaminski 1988, S. 134ff.), und zwar bereits die Vorkriegswerke, sind Musterbeispiele von Phraseologiegebrauch auf mehreren Ebenen: In „Pünktchen und Anton“ (1929, vielfach nachgedruckt) z.B. ist die Mehrfachadressiertheit und der damit eröffnete Spiel-Raum für Phraseologie geradezu zum Stilprinzip gemacht: In der Einleitung sagt Kästner, es gebe Kinder, die sich gerne an „kniffliche Dinge“ heranwagen, und andere, die Angst haben, „ihr kleines, niedliches Gehirn könnte Falten kriegen“. Er schlägt einen „Ausweg“ vor: Ich werde alles, was in diesem Buch mit Nachdenken verbunden ist, in kleine Abschnitte zusammenfassen, und den Mann, der das Buch druckt, werde ich bitten, daß er meine ‘Nachdenkereien’ anders druckt als die Geschichte selber (...) Wenn ihr also etwas Schräggedrucktes seht, dann könnt ihr es überschlagen, als ob es gar nicht dastünde. Kapiert? Ich hoffe, daß ihr verständnisvoll mit den Köpfen nickt. Hier werden schon zwei Verstehensstufen differenziert, Abstufungen innerhalb der Kinder-Adressaten. Dazu kommt noch eine dritte: die der Erwachsenen, die aber nur gelegentlich explizit indiziert wird: In der „zehnten Nachdenkerei“, die vom „Familienglück“ handelt, heißt es am Schluß: Beim Schreiben fällt mir plötzlich auf, daß diese Nachdenkerei eigentlich von den Erwachsenen gelesen werden müßte. Also, wenn’s mal wieder zu Hause qualmt, dann schlagt die Seite hier auf und gebt sie euren Eltern zum Lesen. Ja? Schaden wird es nichts. Diese Differenzierung läßt sich auch in der Phraseologie nachweisen. Kästner ist grundsätzlich, auch im „Text für alle“, nicht sparsam mit Phraseologie. Aber in den „Nachdenkereien“ wird die Phraseologie anspruchsvoller. Zunächst wird sie „lehrhafter“: Das Leben ist ernst und schwer. Und wenn die Menschen, denen es gutgeht, den anderen, denen es schlechtgeht, nicht aus freien Stücken helfen wollen, wird es noch mal ein schlimmes Ende nehmen. (Die siebente Nachdenkerei) Die Phraseologie wird auch komplizierter, es treten z.B. Modifikationen auf, in denen sich die „Moral“ des vorangehenden Erzähltextes kondensiert: Mögt ihr den Anton gut leiden? Ich hab ihn sehr gern. Aber einfach davonlaufen und die Mutter sitzenlassen, das gefällt mir, offen gestanden, nicht besonders. Wo kämen wir hin, wenn jeder, der etwas falsch gemacht hat, davonrennen wollte? Das ist gar nicht auszudenken. Man darf nicht den Kopf verlieren, man muß ihn hinhalten! (Die neunte Nachdenkerei) 242 Harald Burger Im Text über das „Familienglück“ wird ein Phraseologismus expandiert zu einer metaphora continuata: Erwachsene haben ihre Sorgen. Kinder haben ihre Sorgen. Und manchmal sind die Sorgen größer als die Kinder und die Erwachsenen, und dann werfen die Sorgen, weil sie so groß und breit sind, sehr viel Schatten. Und da sitzen dann die Eltern und die Kinder in diesem Schatten und frieren. (Die zehnte Nachdenkerei) „Schatten werfen“ ist bereits eine Modifikation von einen/ seinen Schatten auf etw. werfen, sodann ist der Ausdruck in ein metaphorisches Umfeld eingebettet (die „Sorgen“, die so „groß und breit“ sind, daß sie „Schatten werfen“), das den Phraseologismus als kreative neue Metapher erscheinen läßt. 2. Phraseologie in der Sprache der Kinder und Jugendlichen — wie sie in den Büchern erscheint Die Sprache, die den kleineren Kindern in vielen Kinderbüchern in den Mund gelegt wird, scheint immer noch geprägt zu sein von sehr alten Vorstellungen: Kinder sprechen wie kleine Erwachsene bzw. Noch-nicht- Erwachsene, d.h., sie sprechen eine reduzierte Form von Erwachsenensprache. Phraseologie ist nach unseren früheren Untersuchungen in gesprochenen Alltagstexten (Burger et al. 1982, S. 152f.) ohnehin nicht so frequent, wie man das gelegentlich annimmt. Umso weniger wird man sie in Kinder- Dialogen suchen. Das Bild ändert sich aber drastisch, wenn man Bücher für geübtere Leser heranzieht. Phraseologie in Dialogen wird hier zu einem zentralen Stilmittel, mit denen die Autoren ihre Jugendlichen mittels der Sprache charakterisieren. Die Frage ist nur, welche Phraseologie. Hier ist freilich vorsichtshalber zu sagen, daß über jugendsprachliche Phraseologie noch wenig Empirisches bekannt ist. Helmut Henne (1986) erfaßt mit seiner Kategorie „Sprüche“ sicher eine für die Befragten einleuchtende und relevante Kategorie, aber natürlich nicht die gesamte Phraseologie. Ich spreche also vorsichtshalber von sprachlichen Erscheinungen, die offensichtlich eine jugendsprachliche Stilfärbung bewirken sollen. In dieser Hinsicht gibt es große Unterschiede. Manche Bücher und Serien verzichten ganz darauf, andere geben sich extrem jugendsprachlich. In Arbeiten zur Jugendsprache wird betont, daß es sich bei Jugendsprache um ein Phänomen des 20. Jahrhunderts handle, mit Vorläufern insbesondere in der Gymnasial- und Studentensprache. Phraseologie spielt eine wichtige Rolle in dieser zeitgenössischen Art von Sondersprache. Wenn man nun ältere Jugendbücher auf die Phraseologie hin untersucht, wird deutlich, daß die Phraseologie im Kinder- und Jugendbuch 243 Autoren Jugendsprache nicht als eine jugendspezifische Sondersprache aufgefaßt haben, jedenfalls sehr viel weniger, als das heute in manchen Texten der Fall ist. Bekannte Jugendbücher noch aus der Zeit zwischen den Weltkriegen zeigen zwar Rückgriffe auf die Sprache der Wandervogel-Bewegung und auf die Gymnasialsprache, aber keinen durchgehenden Jugend-Jargon (z.B. Wilhelm Speyer: Der Kampf der Tertia. Berlin 1927). Im übrigen aber bedienen sich Jugendliche einer standardsprachlichen Phraseologie, die stilistisch zwischen „neutral“ und „salopp“ anzusiedeln ist. Das in der Schweiz und wohl auch sonst sehr bekannte Buch „Timpetill - Die Stadt ohne Eltern, Ein Roman für Kinder“ (Manfred Michael, Zürich 1937) liest sich (im Dialog wie in den narrativen Passagen) streckenweise wie ein Exzerpt aus einem Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten: (a) „Tolle Sache! “ sagte ich. „Aber ich wette tausend zu eins, daß morgen alles wieder in Butter ist“, fuhr Thomas fort. „Jetzt müssen wir ihnen beweisen, daß wir auch nicht aus Pappe sind.“ (S. 80) (b) [Der Junge überlegt sich, wie er das abgestellte Wasserwerk wieder anstellen kann: ] „Probieren geht über studieren“, dachte ich mir. „Aber kommen wir hinein in das Elektrizitätswerk? “ fragte er. „Das ist allerdings der springende Punkt“, erwiderte ich. (...) „Kinder! “ schrie Fritz" (...) Mein Vater hat mir erzählt, daß im Rathaus alle Ersatzschlüssel für die städtischen Betriebe aufbewahrt werden.“ „Allewetter! “ rief ich. „Das nenne ich Glück! “ (S. 169) Mit „Allewetter“ (sonst auch „Alle Wetter“ geschrieben) dürfte wohl ein echt jugendsprachliches Element hereingekommen sein, aus Karl May, der eine wichtige Quelle von Jugendsprache war. Manche Autoren differenzieren zwischen narrativen und dialogischen Partien und verwenden Jugendsprachliches nur dort, wo Jugendliche sprechen, bei anderen ist auch der narrative Text davon durchsetzt. Zur ersten Gruppe gehören Autoren wie Christine Nöstlinger oder Peter Härtling. Christine Nöstlinger ist sehr sparsam mit Jugendsprachlichem. Ganz anders verhält es sich mit den von der dritten/ vierten Klasse an äußerst beliebten Serien-Büchern: Die „TKKG“-Serie ist alles andere als asketisch. Hier findet sich drastisch Jugendsprachliches auf Schritt und Tritt. (a) „Da stecken doch zwei kaputte Typen dahinter, zwei Psycho-Bettlägerige oder Seelen-Sieche. Aber von anderem Zuschnitt als die arme Natascha, über die Willi und ich vorhin gesülzt haben. Weil wir sie der Schmählich ans Herz legen wollen. Zwecks Hilfe. Du, Karl, ich habe einen Flash (Erleuchtung).“ (Wolf, Stefan: Gefangen in der Schreckenskammer - Ein Fall für TKKG. S. 43) (Alle Bücher der Serie haben Kommentare zu Fremdwörtern, auch den geläufigsten [z.B. Walkman ‘kleiner Kassettenrecorder mit Kopfhörern’], und auch zu jugendsprachlichen Wörtern, bei denen sich der Autor of- 244 Harald Burger fenbar nicht sicher ist, daß die Jugendlichen ihre Sprache auch wirklich verstehen! ). (b) „Und wenn der Armleuchter hinter mir nicht gleich die Tür schließt, kriegt er eine auf den Rüssel, daß seine Zähne Samba tanzen.“ (ebd., S. 29) (c) „O Mann! “ sagte Karl. „Das reißt mir echt die Hornhaut von der Ferse.“ (ebd., S. 104) (d) Mich tritt ein Dinosaurier! dachte Tim. (ebd., S. 114) (e) Seine Stimme klang schlapp wie immer. Wahrscheinlich schob er wieder Frust. (Wolf, Stefan: Der letzte Schuß - Ein Fall für TKKG, S. 41) (f) Er hängt seelisch wirklich ganz schief in der Wäsche, (ebd., S. 22) Auffällig ist bei den „TKKG“-Bänden, daß neben dem Jugendsprachlichen auch konventionellste Phraseologie zuhauf vorkommt, ohne jede erkennbare funktionale Differenzierung: jdm. schlägt das Gewissen sich in besten Händen befinden klein beigeben es ist noch nicht aller Tage Abend (usw.) 3. Kinder- und Jugendbücher im Medienverbund Es gibt natürlich auch heute noch Kinder- und Jugendbücher, die als individuelle Produkte individuell schreibender Autoren verstanden werden wollen und auch so gelesen werden. Von einzelnen, besonders erfolgreichen Ausnahmen abgesehen, können aber gerade die meistgelesenen Texte kaum mehr als individuelle Produkte eingestuft werden. Nach unseren Umfragen in Schulbibliotheken, Kinderbuchläden und bei Schülern selbst sind es Serien wie „TKKG“, „Die drei Fragezeichen“, auch die „Klassiker“ von Enid Blyton („Hanni und Nanni“, „Die fünf Freunde“) usf., die allenfalls auch die in der Kommunikationswissenschaft sogenannten „Selten-Leser“ anziehen. Unterstützt wird die Distribution dieser Texte durch die multimediale Vermarktung. Nachdem sich gezeigt hat, daß die Biene Maja als Fernsehserie zum Schlager geworden ist (der freilich mit dem Kinderbuchklassiker wenig mehr zu tun hat), daß Astrid Lindgren noch beliebter geworden ist durch die Verfilmungen, und seit ein großer Teil der serienähnlichen Bände von Enid Blyton auch als Kassette und als Fernsehfilm konsumiert wird, gibt es kaum eine beliebte Serienproduktion mehr ohne Bearbeitung als Tonbandkassette und wenn möglich als Fernsehserie. Und neben dem Jugendbuch sind es auch Jugendzeitschriften, die sich an der Produktion von Erzählungen, Romanen usw. beteiligen. Man denke etwa an die für diese Gattungen charakteristischen Fotoromane „Bravo“ oder „Mädchen“. Ty- Phraseologie im Kinder- und Jugendbuch 245 pische Züge des Phraseologiegebrauchs lassen sich auf diese Weise in einem sehr breiten Kommunikationsspektrum studieren. Ich will nur ein paar Aspekte dieses Problemfeldes herausgreifen: (! ) Mit der zunehmenden Bedeutung serieller Produktion und multimedialer Distribution rücken insbesondere Bücher für geübte Leser in die Nähe von Serienprodukten der Erwachsenenliteratur. Ich greife ein Symptom heraus: Die Gruppe von Phraseologismen, in der mimisches und nonverbales Verhalten sprachlich kodifiziert ist, dient in Erzähltexten dazu (vgl. Burger 1976), psychische Befindlichkeiten zu versprachlichen. In Trivialliteratur ist sie vor allem deshalb so beliebt, weil man sich damit eine differenzierte Verbalisierung psychischer Zustände und Prozesse ersparen kann. Ich nenne diese Gruppe von Phraseologismen „Kinegramme“. Inzwischen wurde gezeigt (Albrecht/ Seidel 1978), daß Häufung von Kinegrammen auch in belletristischen Texten vorkommt, die man sicher nicht als trivial klassifizieren würde, z.B. bei Christa Wolf. Dort ist dann aber wichtig zu sehen, daß die konventionellen Formeln meist in irgendeiner Weise abgewandelt und damit transparent gemacht werden. In Büchern für ältere Kinder und für Jugendliche spielen Kinegramme nun ebenfalls eine auffallend große Rolle, hier freilich durchwegs in den konventionellen Formulierungen und ohne jeden Anspruch auf Innovation. Enid Blyton weist jeder ihrer Hauptfiguren ein bestimmtes Set von äußeren Merkmalen und von nonverbalen Verhaltensmerkmalen zu, die über das jeweilige Buch und sogar über eine ganze Serie konstant bleiben können (vgl. Kaminski 1988, S. 94f.). Ähnliches gilt für die Serien „Die 3 ? ? ? “ oder „TKKG“. In einigen Jugendserien nun läßt sich die gleiche Häufung von Kinegrammen beobachten wie in Erwachsenentexten. Beispielsweise in der Reihe „Die drei ? ? ? “, die einem fiktiven Hitchcock zugeschrieben wird: Justus Jonas, eine der Hauptfiguren, ein ca. 12jähriger Junge, wird als fett, blond und äußerst altklug charakterisiert. Er verwendet eine seinem Alter keineswegs entsprechende hochgestochene Diktion, seine Hauptbeschäftigung ist Nachdenken. Das alles wird ausgiebig mit Kinegrammen verbalisiert. Er „zieht die Augenbrauen zusammen“, er „starrt ins Leere“, er „runzelt die Stirn“, er „beißt sich auf die Unterlippe“, wenn er nachdenkt. Wir haben eine fünfte Volksschulklasse einen Aufsatz schreiben lassen über ein Buch dieser Serie, das ihnen der Lehrer über Wochen hinweg vollständig vorgelesen hatte. Die Resultate zeigen die suggestive Kraft der Phraseologismen. Die meisten Kinder waren fasziniert vom nonverbalen Verhalten, insbesondere der Mimik, des Justus Jonas, und sie gaben es mit Kinegrammen der genannten Art wieder. Ein Schüler formuliert es extrem (dazu muß man wissen, daß „studieren“ im Schweizerdeutschen 246 Harald Burger soviel bedeutet wie ‘scharf nachdenken’): „Wenn er etwas denken muß, so denkt er ganz genau. Seine Unterlippen braucht er zum Studieren.“ (orthographisch normalisiert) In der „TKKG“-Serie spielen Mimik und nonverbales Verhalten eine geradezu exzessive Rolle. Dabei werden lexikalisierte Kinegramme ebenso verwendet wie ad hoc-Kreationen. (a) Tim grinste sie an. Aber so hätte auch ein Hai gegrinst, bevor er sich die Sardine schnappt. Die Köchin schüttelte ratlos den Kopf. (Wolf, Stefan: Gefangen in der Schreckenskammer. S. 132) (b) Tomatenrot färbte sich Obermeiers Kopf. Daran war die Wut sicherlich mit 55 Prozent beteiligt, die Scham mit 45. Mit einem Kriegsschrei warf er sich auf Tim. (...) Tim verzichtete auf harte Bandagen. Trotz seiner Stinklaune ließ er Milde obwalten, (ebd., S. 133) (c) Sein Blick wich aus. Die lange Unterlippe und die kurze Oberlippe verzogen sich zum Flunsch. (Wolf, Stefan: Der letzte Schuß. S. 19) (d) Der Penner war abgekämpft und ließ die Zunge in seine Zahnlücken hängen, (ebd., S. 30) (e) Der Penner nickte. Sein Gesicht sollte Schuldgefühl ausdrücken. Und er bemühte sich auch, Ohren und Schultern möglichst tief zu hängen, (ebd., S. 32) (f) Christian ließ Nase und Mund aus dem Gesicht hängen jedenfalls wirkte es so. (ebd., S. 45) An diesen Beispielen sieht man bereits ein typisches Merkmal der wenn man so will - „trivialen“ Verwendung von Kinegrammen: Es genügt meist nicht die phraseologische Formulierung, sondern die Deutung wird zur Sicherheit auch gleich mitgeliefert (‘ratlos’ den Kopf schütteln, 55 Prozent Wut/ 45 Prozent Scham). Ähnlich: (g) Tim schluckte. Worte drängten sich auf seine Zunge. Aber er sprach sie nicht aus. Kein Gesichtsmuskel zuckte. Karl hingegen konnte nicht soviel Gelassenheit Vortäuschen, sondern pflückte sich die Brille von der Nase und begann, die Gläser zu polieren, (ebd., S. 76) (h) Er stockte. Seine Zähne gruben sich in die Unterlippe. Jetzt ist ihm was eingefallen, dachte Tim. (ebd., S. 52) (Sogar die Gesprächspartner dienen als Interpreten des nonverbalen Verhaltens.) Der gesamte phraseologische und metaphorische Bereich wird in einer hybriden Weise verwendet: Die vorhandene Phraseologie genügt dem Drang nach äußerster Expressivität nicht, daher wird Lexikalisiertes hemmungslos verstärkt. Phraseologie im Kinder- und Jugendbuch 247 Inhaltlich entspricht dem streckenweise eine Tendenz zur Brutalität, die sogar explizit legitimiert wird: „Handgreifliche Rohheiten“, verfügte Tarzan, „unterbleiben. Sollten jedenfalls nur als allerletztes Mittel [im Kampf gegen die Verbrecher] angewandt werden. Allerdings sehe ich einen Riesenvorteil darin, daß wir damit drohen können. Die Polizei muß pfleglich mit Verdächtigen umgehen. Mit Pennern wie mit Massenmördern, Taschendieben oder Steuerhinterziehern. Wir ziehn die Glace (‘Ziegenleder’[-Handschuhe gar nicht erst an.“ (ebd., S. 67) Beim Vergleich der „TKKG“-Bücher mit den entsprechenden Tonbandkassetten fällt sofort auf, daß die Kassetten sehr viel ruhiger, harmloser, gemäßigter wirken. Das liegt in erster Linie daran, daß der gesamte Bereich der Kinegramme und verwandter Erscheinungen entfällt, da die Erzählerrolle auf ein Minimum reduziert ist (der Erzähler gibt nur noch einleitende Situationsbeschreibungen und Zusammenfassungen des zwischen den Szenen liegenden Geschehens) und der Dialog dominiert. Auch die jugendsprachlichen Elemente im Dialog (s.o.) sind reduziert, wenn auch nicht völlig getilgt. Gelegentlich treten bei gekürzten Passagen sogar neue jugendsprachliche Elemente auf („Aha, mir geht eine Stallaterne auf! “ 11. Szene, im Buch „Gefangen in der Schreckenskammer“ nicht enthalten). Dem Phänomen exzessiver Verwendung von Kinegrammen und ähnlichen Formulierungen wäre genauer nachzugehen in empirischen Studien, in denen geprüft würde, ob Serienliteratur womöglich zur Kategorisierung psychischer Prozesse beiträgt und ein gewisses Vokabular dafür einübt. Das hätte positive und negative Aspekte: positiv wäre, daß überhaupt eine Verbalisierung von Psychischem bereits in einem Alter angeboten wird, in dem dies nach unseren Kenntnissen des Spracherwerbs keineswegs eine Selbstverständlichkeit ist; negativ könnte das konventionelle Formelinventar eine Fossilierung der Bezeichnungsverfahren in diesem Bereich zur Folge haben und damit die sprachliche Differenzierungsfähigkeit auf einem unterentwickelten Niveau blockieren. (2) In älteren Kinder- und Jugendbüchern war Phraseologie durchwegs auch ein Vehikel der Vermittlung der jeweiligen pädagogischen Ideologie (vgl. dazu Grenz 1981). Generationen von Mädchen haben Bücher gelesen, die nach dem Strick-Muster des „Trotzkopf“ verfaßt waren. In nuce ist das ganze Programm solcher Bücher in einer phraseologischen Formuherung wie dieser enthalten: [Der Deutschlehrer Dr. Althoff sieht Ilses Entwicklung von Anfang an voraus: ] In unserer kleinen Ilse steckt ein tüchtiger Kern. Lassen Sie nur erst die rauhe Schale sich abstoßen, und Sie werden sehen, in welch ein liebenswürdiges, echt weibliches Wesen sich (...) Ilse verwandeln wird! (Rhoden, Emmy v.: Der Trotzkopf. Wien 1982 [1885], S. 72) 248 Harald Burger Durch Phraseologismen wird das pädagogische Ideal, ebenso wie das dahinterstehende Menschenbild immer auf den Nenner gebracht. Derartiges findet man heute am ehesten noch in Serien für Mädchen, z.B. den auch auf Deutsch sehr beliebten Büchern der Norwegerin Berte Bratt. Auch hier steht ein Mädchen im Mittelpunkt, das allmählich seine Rolle als Frau in der Gesellschaft findet, eine Rolle aber, die von einer männerdominierten Ideologie definiert ist. Die „glückliche Familie“, in der die Rollen klar verteilt sind, ist das Lebensideal in diesen Büchern. Zum Beispiel: Die achtzehnjährige Katrin ist auf der Berufssuche. Nachdem sie zunächst mit einer Mechanikerlehre geliebäugelt hat, trifft sie den Arzt Bernt, der ihr den Beruf der medizinisch-technischen Assistentin nahelegt. Das leuchtet ihr voll ein. „Bist du jetzt sicher, Katrin? “ fragte Bernt. „Ja, Bernt“, sagte Katrin, und ihre Stimme klang gedämpft, es war eine neue Stimme, die Stimme eines Erwachsenen, nachdenklichen Menschen. „Ich bin nie in meinem Leben so sicher gewesen. Denk bloß, wenn ich mein Leben damit verbracht hätte, an schmutzigen Automotoren zu schrauben, anstatt den Ärzten zu helfen, etwas so so Nützliches wie dies hier zu arbeiten.“ „Noch eins, Bernt“, sagte Katrin, und jetzt hatte ihre Stimme einen weichen, warmen Unterton. „Diese Arbeit hängt ja so eng mit deiner zusammen.“ „Ja, das stimmt. Denk nur, wenn wir in Zukunft Zusammenarbeiten könnten, Katrin, Hand in Hand arbeiten könnten, buchstäblich.“ (Bratt, Berte: Hab Mut, Katrin! München/ Wien o.J., S. 13) In der Zwillingsformel „Hand in Hand“, noch dazu in beiden Lesarten, kondensiert die Utopie der Identität von Beruf und Privatleben. Es sind einerseits Phraseologismen mit dem Illokutionsschema „man soll“, „man soll nicht“, andererseits Gemeinplätze, die in diesen Texten eine zentrale Rolle spielen für die Verbalisierung der pädagogischen Ideologie. Im übrigen scheint mir die pädagogische Funktion der Phraseologie kaum mehr relevant zu sein, wie überhaupt der ganze Textbereich sich aus der didaktisch-pädagogischen Tradition der Gattung weitgehend emanzipiert hat. In der Kinderliteratur werden die potentiellen ideologischen Funktionen der Phraseologie kaum mehr genutzt. Für das Jugendbuch hingegen gilt das nicht in gleicher Weise: An die Stelle pädagogischer Ideologien sind neue Wertsysteme getreten, die nicht zuletzt durch Phraseologie transportiert werden: in manchen Serien eine Ideologie der Gewalt und Brutalität, oder auch das Wertsystem einer coolen, cleveren Jugend, wie es sich z.B. in den Fotoromanen der Jugendzeitschriften „Bravo“ oder „Mädchen“ zeigt. (3) Schließlich möchte ich noch einen Blick auf andere Medien werfen: Ein aufschlußreiches Bild bieten die Fotoromane in den Zeitschriften „Mädchen“ und „Bravo“. Beim Vergleich der beiden Zeitschriften fällt zunächst ein Unterschied ins Auge, der sich in Bild und Text gleichermaßen manifestiert: „Mädchen“ gibt sich elitärer, „Bravo“ salopper. In „Mädchen“ sind die Mädchen gepflegt, tragen teure Kleider, die fotografische Aufma- Phraseologie im Kinder- und Jugendbuch 249 chung ist den italienischen fotoromanzi nachgestylt. In „Bravo“ tragen die Mädchen Jeans, die Bilder wirken alltäglich bis billig. Diese Differenz zeigt sich kraß auch in der Phraseologie. Während die „Bravo“-Romane voll sind von Jugendsprache oder dem, was die Autoren dafür halten, sind die „Mädchen“-Texte viel diskreter, im Stilniveau betont normalsprachlichunauffällig (so unauffällig, daß es in die Augen fällt). [Die folgenden Beispiele stammen aus „Herzklopfen - Sag, daß du mich liebst“, „Bravo“ Nr. 14-22, 1987; „Die Clique vom Reitstall“, „Mädchen“ Nr. 9-12, 1987.] „Ich habe gerade die Zeitung gelesen ... das ist ja ein starkes Stück mit diesem Dorian ...“ „Das kann man wohl sagen ... hier ist zur Zeit die Hölle los.“ „Er hat mich betrogen ... und lügt mir ins Gesicht.“ „Wenn sie dir weh tut, so wie mir Perry weh getan hat, dann mußt du die Konsequenzen ziehen.“ „Christian ... endlich! Ich habe schon alle Hoffnung aufgegeben! “ „Das hat gerade noch gefehlt das beste Pferd im Stall verschwindet spurlos ...“ („Mädchen“) Das Maximum an Saloppheit ist ein Ausdruck wie „So eine verdammte Sauerei! “ Bei den „Bravo“-Texten fällt weiterhin ein charakteristisches Verfahren auf: Die Phraseologie verteilt sich soziolektal oder stilistisch nach Dialog- Text und Legende. Im Dialog-Text Jugendsprache, in der Legende und den Zusammenfassungen viel traditionelle Phraseologie: Legende und Zusammenfassung: In ihrer Freude über das Rendezvous mit Florian hat Tanja ihre neue Liebe gleich an die große Glocke gehängt. Tannis Eltern haben auch sofort erkannt, aus welchem Holz der neue Freund ihrer Tochter geschnitzt ist. Sie ahnt ja nicht, welches Unheil sich inzwischen hinter ihrem Rücken zusammenbraut. So nimmt das Mißverständnis seinen Lauf. (! ) Sie fällt aus allen Wolken, als ihre Mutter ihr das anonyme Machwerk auf den Tisch knallt. Timos böse Saat geht auf. (Nur selten findet man in der Legende mal einen Satz wie diesen: „Als Timo geht, trifft er vor der Tür den wartenden Florian. Er macht ihn total fies an.“) Was das Fernsehen betrifft, so habe ich den Eindruck, daß von „ängstlichem“ Umgang mit Phraseologie in Kinder- und Jugendsendungen kaum die Rede sein kann. Besonders phraseologieanfällig scheinen mir Filme mit phantastischen Elementen zu sein (z.B. die Serie „Meister Eder und sein Pumuckl“, nach den Büchern von Ellis Kaut) oder Trickfilme, die in fiktiven Welten spielen. Die Serie „Die Biene Maja“ beispielsweise, die sich doch wohl an ein eher jüngeres Zielpublikum richtet, geht völlig 250 Harald Burger ungeniert mit allen Verfahren um, die ich als „selbstverständlich“ und „spielerisch“ skizziert habe. Die Serie hat mit dem gleichnamigen Buch von Waldemar Bonsei (1912) mindestens in sprachlicher Hinsicht kaum noch etwas zu tun. In der Fernsehserie ist Phraseologie wichtiges Mittel der idiolektalen Gestaltung der Figuren und Vehikel des witzigen Dialoges. (Die folgenden Beispiele sind den Folgen „Erntedankfest mit Hindernissen“, Februar 1987, „Spuk auf der Waldwiese“, März 1987, „Alexander geht in die Luft“, Mai 1987, entnommen.) Alexander, die altkluge Maus beispielsweise, wird charakterisiert durch ihre elaborierte Phraseologie: (a) Ich darf in aller Bescheidenheit sagen, daß ich immer recht gut abgeschnitten habe. (b) Wer wird wohl im Siegesglanz erstrahlen? (c) Ah, aber da lauert eine Versuchung auf ihn. (d) Wichtig im sportlichen Wettkampf ist der sportliche Geist, und den habt ihr damit unter Beweis gestellt. (e) Mit anderen Worten: Du warst geistesgegenwärtig und hast mit Mut und Umsicht gehandelt. Ich spreche dir meine Hochachtung aus. Auch Sprichwörter spielen eine zentrale Rolle für die Personencharakterisierung: Willy ist der Spezialist für „Bienensprichwörter“, d.h. gängige Sprichwörter, die meist als „Bienensprichwörter“ deklariert werden, oder solche, die durch Modifikationen an die Tierwelt adaptiert sind, oder schließlich neu kreierte „Bienensprichwörter“: Ein altes Bienensprichwort sagt: „Eile mit Weile“. Ein altes Bienensprichwort sagt: Heden ist Silber, Schweigen ist Gold, und das ist immer richtig. Hm, ja, aber wie das alte Bienensprichwort sagt: „Hat dich einer aufgeweckt flugs, gleich wieder hingelegt.“ [neu: ] Es heißt: „Honig auf’s Brot ist besser als der Gesang der Vögel.“ Auch andere Tiere verwenden ad hoc Sprichwörter und Geflügelte Worte: [Die Tiere versuchen einen Bach zu überqueren: ] A: Ich will ja nicht unken, aber werd’ wohl eintunken. B: Und ich versuch es mit Schwimmen. C: Er hat recht: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Die Phraseologie wird häufig spielerisch verwendet. Zum Beispiel durch lexikalische Substitution eines Elementes, wodurch der Phraseologismus an die aktuelle Situation adaptiert wird: [Freddy, der Floh, überlegt sich, ob er beim Wettlauf mitmachen oder lieber „Blut saugen“ soll: ] Ach was, ein Tröpfchen in Ehren kann keiner verwehren. (Saugt) Phraseologie im Kinder- und Jugendbuch 251 [Tekla, die Spinne, hangelt sich an einem Faden über den Bach, darauf sagt ein unidentifiziertes Insekt: ] Was dem einen sein Uhl, ist dem andern sein Seil. Modifikationen dienen auch zur Adaptierung des Phraseologismus an die Tierwelt. Ihr solltet euch das aber alle hinter die Ohren schreiben, auch die, die eigentlich gar keine haben! Das gibt es übrigens schon im Buch von Bonseis (Die Biene Maja, Nachdruck 1981): „Nun, ich muß doch bitten“, meinte die Libelle nicht ohne Entrüstung, „Sie gehen zu weit. Einen Frosch bedauern, heißt sich in den eigenen Flügel schneiden.“ (S. 36) Zuweilen suchte sie an ruhigen Abenden für ein Stündchen der Unterhaltung das stille Kämmerchen auf, in dem immer noch Kassandra lebte, Gnadenhonig aß und alterte. (S. 172) Das Sprachspiel vollzieht sich aber auch mit den elaborierten Mitteln, die sonst als nicht kindgerecht gelten, z.B. der bloß durch den Kontext hervorgerufenen Evozierung beider Lesarten des Phraseologismus: [Alexander, die Maus, hat einen Flugversuch gemacht und ist auf einem Baum gelandet, von dem sie nun herunterzufallen droht: ] Willy: Na Leute, das wird einen Reinfall geben. Hochmut kommt vor dem Fall, sagt das Bienensprichwort. Vorher ist schon von „auf die Nase fallen“ die Rede gewesen. Jetzt wird durch „Reinfall“ seinerseits idiomatisch der „Fall“ des Sprichwortes in beiden Lesarten aktualisiert. [Alexander, die Maus, saust nach ihrem Flugversuch direkt auf die Tiere am Boden zu: ] Maja: Du fliegst direkt auf uns zu. Au, mein Kopf, mein Kopf! Alexander: Au, mein Kopf, mein Kopf! Willy: Ja, da legt ihr die Ohren an, hm? Das war ein echter Flug von einem echten Könner! „Die Ohren anlegen“ hat zwei Lesarten, die beide durch den Kontext ermöglicht werden (phraseologisch ‘da staunt ihr’; man beachte auch die Ironie in der Fortsetzung). Auch der Erzähler (im off) erlaubt sich solche semantischen Spielereien: [Am Schluß einer Folge, zur Ankündigung der nächsten: ] Tja, nächstes Mal geht’s hoch her auf der Wiese im Wald. Menschen sind in der Nacht dagewesen und haben alles zertrampelt - und also beschließen die Insekten die Flucht. Obwohl Maja und Willy gar nicht davon überzeugt sind, daß das auch richtig ist. Und als dann eine Brücke bricht und die Flucht ins Wasser fällt, kommt sowieso alles ganz anders wollen wir wetten? Allerdings ist ohne Bild noch nicht voll erkennbar, daß die Flucht auch buchstäblich „ins Wasser fällt“ (der kontextuelle Hinweis „eine Brücke 252 Harald Burger bricht“ würde wohl nur für Erwachsene hinreichendes Indiz sein). Bei einer Sendung ist schon der Titel doppeldeutig: „Alexander geht in die Luft“ (er bekommt einen Zornanfall und beschließt dann zu fliegen). Man könnte nun sagen, das sei alles zu hoch für die Adressatengruppe, und die Beliebtheit der Sendung sei eben wie so oft beim Fernsehen eine Folge der einfachen Handlungsstruktur und vor allem der schönen Bilder. Aber ich glaube, das stimmt nur zum Teil. Sicher wird eine ganze Menge an Phraseologie den Kindern unverständlich bleiben. In manchen Fällen hingegen dürfte sich ein Lernprozeß abspielen, der von den Textern ich weiß nicht, ob bewußt oder nicht gesteuert wird: Es werden hier alle die oben besprochenen Verfahren eingesetzt, die der Vermittlung des Phraseologismus dienen, und darüberhinaus auch Techniken, die der Spezifik des Mediums Rechnung tragen: insbesondere die Stützung der wörtlichen oder der phraseologischen Lesart des Phraseologismus durch das Bild oder auch die Wiederholung des Phraseologismus in wechselnden Kontexten, v/ odurch sich allmählich ein Bild von der Bedeutung aufbauen läßt. Effi: Wir verlassen auf schnellstem Wege diesen Ort des Grauens und kehren der Wiese den Rücken. Und das sofort! Du bist doch sicher meiner Meinung, Liebling? Kurt: Ich widerspreche dir nur ungern. Aber wenn ich so sagen darf wir könnten noch ein wenig hierbleiben und warten. Ich meine, ich wollte damit sagen nun, ja, du weißt. Effi: Ja, du wolltest sagen, daß wir sofort die Sachen packen. Ist es nicht so? Kurt: Ja, so ist es, meine Liebe, so ist es. Effi: Dann komm. Sammle Binsen zum Zusammenschnüren. Tekla: Ich mache mich auch dünn. Insekt: Ich verschwinde auch. Insekt 2: Ich verschwinde auch. Insekt 3: Augenblick, Augenblick, ich komme mit. Schneckenfrau: Dann wollen wir uns auf die Socken machen. Wer langsam ist, muß sich beeilen. Kommt Kinder, Tempo, Tempo. Kurt signalisiert überdeutlich durch gesprächsspezifische und metakommunikative Formeln, daß „hierbleiben“ im Kontrast zu „der Wiese den Rücken kehren“ zu verstehen ist, erläutert also freilich nur rückwirkend die Bedeutung des Phraseologismus. „Ich verschwinde auch“ kann als ‘Übersetzung’ von „ich mache mich dünn“ verstanden werden, „sich beeilen“ als Kommentar zu „wollen wir uns auf die Socken machen“ usw. Verwirrend, weil in ironischer Umkehrung gemeint, ist Effis Aussage „du wolltest sagen, daß wir sofort die Sachen packen“, eben das Gegenteil von „hierbleiben“. Zusammenfassend lassen sich wohl folgende Thesen formulieren: Ein inflatorischer Gebrauch der Phraseologie ist problematisch: Er macht die spezifischen Funktionen des Phraseologismus unkenntlich, und der Le- Phraseologie im Kinder- und Jugendbuch 253 ser ist außerstande zu sehen, zu welchem Zweck der Phraseologismus gerade an dieser Stelle und in diesem Kontext eingesetzt ist. Andererseits besteht überhaupt kein Grund für Phraseologie-Abstinenz, auch nicht bei Texten für Vorschulkinder. Wenn der Erwerb der Phraseologie nicht an ein bestimmtes Alter gebunden ist, so ergeben sich Verstehensschwierigkeiten allenfalls dadurch, daß die Kinder den einzelnen Phraseologismus noch nicht kennen. Das Buch, insbesondere auch im Kontext der anderen Medien, ist aber in vorzüglicher Weise geeignet, durch passende Verfahren der Vermittlung den Phraseologie-Erwerb zu fördern und zu beschleunigen. Schließlich eröffnet gerade der anspruchvollste Aspekt der Phraseologie den man als den „ästhetischen“ bezeichnen könnte die interessantesten Perspektiven: Bücher wie die von Janosch oder Fernsehserien wie die „Biene Maja“ mit ihrer spielerischen Nutzung der Lesarten des Phraseologismus bieten die Möglichkeit, in verschiedenen Dimensionen zu verstehen, je nach dem Sprachentwicklungsstand des Lesers oder Zuschauers. Damit ist das Vorurteil, Phraseologie sei erst von einem bestimmten Alter an zumutbar, vollends verabschiedet. 4. Literatur Albrecht, Christel/ Seidel, Brigitte (1987): Vielsagende Blicke - Versprachlichungen nonverbalen Verhaltens, insbesondere durch Phraseologismen, in vier trivialen Frauenromanen und einem belletristischen Erzähltext. In: Wirkendes Wort, S. 308-330. Beinlich, Alexander (1980): „Lesealter“? Die literarische Entwicklung der Kinder und Jugendlichen. In: Maier, Karl Ernst (Hg.): Kind und Jugendlicher als Leser. Bad Heilbrunn. S. 13-85. Buhofer, Annelies (1980): Der Spracherwerb von phraseologischen Wortverbindungen. Eine psycholinguistische Untersuchung an schweizerdeutschem Material. Frauenfeld. Burger, Harald (1976): „Die Achseln zucken“ zur sprachlichen Kodierung nichtsprachlicher Kommunikation. In: Wirkendes Wort, S. 31T334. Burger, Harald (1988): „bildhaft, übertragen, metaphorisch ...“ zur Konfusion um die semantischen Merkmale von Phraseologismen. Erscheint in: Buridant, Claude/ Greciano, Gertrud (Hg.): Akten des Colloque International de Phraseologie Contrastive. Strasbourg. Burger, Harald/ Buhofer, Annelies/ Sialm, Ambros (1982): Handbuch der Phraseologie. Berlin/ New York. Duden. Großes deutsches Wörterbuch. (1976-81): 6 Bde. (= Duden GW). Mannheim. Engelen, Bernhard (1977): Zur Sprache des Kinder- und Jugendbuchs. In: Lypp, Maria (Hg.): Literatur für Kinder. Lili, Beih. 7, S. 196-219. Grenz, Dagmar (1981): Mädchenliteratur. Von den moralisch-belehrenden Schriften im 18. Jahrhundert bis zur Herausbildung der Backfischliteratur im 19. Jahrhundert. Stuttgart. Jakob, Franziska (1985): Zur Wertung des Mädchenbuches. (Diss.). Zürich. Kaminski, W. (1988): Kinder- und Jugendliteratur in der Zeit von 1945-1960. In: Doderer, Klaus (Hg.): Zwischen Trümmern und Wohlstand - Literatur der Jugend 1945-1960. Weinheim. S. 17-207. 254 Harald Burger Lypp, Maria (1984): Einfachheit als Kategorie der Kinderliteratur. Frankfurt a.M. Oksaar, Eis (1979): Zur Sprache des Kindes und der Kinderbücher. In: Gorschenek, Margareta/ Rucktäschel, Annamaria (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur. München. S. 94-114. Regina Hessky Einige Fragen der Vermittlung von Phraseologie im Unterricht Deutsch als Fremdsprache Im Beitrag sollen zunächst bestimmte Fragen angeschnitten werden, die die Vermittlung phraseologischer Einheiten im Unterricht Deutsch als Fremdsprache generell betreffen. Anschließend folgen weitere Überlegungen, bezogen auf die konkrete Situation des Unterrichts Deutsch als Fremdsprache in Ungarn. 1. Die allgemeine Lage läßt sich m.E. mit zwei Zitaten zutreffend kennzeichnen: „Zu wenig Überlegungen wurden bis heute angestellt, wie sich der Sprachstudent die Phraseologie einer Fremdsprache aneignen könnte. Die Resultate der kontrastiven Untersuchungen sind in den Lehrbüchern kaum vertreten“ (Burger/ Buhofer/ Sialm 1982, S. 309) und: „Die wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung war, bei allem Verdienst der führenden Forscher, unter didaktischem Aspekt wenig hilfreich“ (Daniels 1985, S. 146). Sämtlichen Ursachen dieser nicht gerade erfreulichen Lage kann man in einem kurzen Referat nicht nachgehen. Ich möchte aber bemerken, daß dafür auch die Praxis eine bestimmte Verantwortung zu tragen hat, da sie ihre Bedürfnisse der Forschung gegenüber bezüglich der Phraseologie nicht mit der gleichen Deutlichkeit artikulierte, wie sie es in manchen anderen Bereichen der Sprache getan hat (etwa Verbvalenz, Wortbildung etc.). Das wiederum läßt sich in erster Linie dadurch erklären, daß die Einstellung der Praktiker der Phraseologie gegenüber nach meinen Erfahrungen etwas zwiespältig ist. Auf der einen Seite trifft für sie zu, was Daniels in seiner bereits zitierten Arbeit so formuliert hat: „Daß ... gerade das idiomatische Sprechen einer Fremdsprache erstrebenswertes Lernziel ist, wird allgemein anerkannt“ (Daniels 1985, S. 147). Andererseits meinen viele Praktiker, daß a) Phraseologismen zu den „komplizierten“, daher für den Lerner schwierigsten Bereichen der Sprache gehören, mit denen man sie auf der Grundstufe überhaupt nicht, und auch später nur in Maßen abplagen sollte; und b) Phraseologismen für die grundlegenden kommunikativen Situationen keine wichtige Rolle spielen, sie seien lediglich ein „Ornament“ der Sprache, ohne die man besonders als Nichtmuttersprachler immerhin auskommen könne. Angesichts des ständigen Zeitdrucks, unter dem der Fremdsprachenlehrer arbeitet, sei es ein ausgesprochener Luxus, auch noch die Phraseologie in den Unterricht mit einzubeziehen. 256 Regina Hessky Hier wird deutlich, daß in breiten Kreisen immer noch eine „enge“ Phraseologie-Auffassung verbreitet ist (Phraseologie = Idiomatik), wie sie in der gegenwärtigen Forschung, zumindest in der germanistischen, kaum noch vertreten wird. Hinzu kommt eine bestimmte terminologische Unklarheit, die zur Folge hat, daß dem Praktiker bestimmte Teilmengen der Phraseologie (noch) nicht bewußt sind. 2. In diesem Kreis und nach den Vorträgen und Diskussionen der vergangenen Tage erübrigt es sich wohl, die Unhaltbarkeit dieser Lage zu beweisen und für eine stärkere Beachtung der Phraseologie im Unterricht Deutsch als Fremdsprache zu plädieren. Vielmehr soll im weiteren gezeigt werden, welche wissenschaftlichen Vorarbeiten noch zu leisten sind, um das für den DaF-Unterricht relevante phraseologische Sprachmaterial ermitteln und selektieren zu können. Bei dieser Arbeit sind verschiedene Kriterien zu berücksichtigen, deren Hierarchie je nach Ansatz verschieden sein kann, wenn nicht sein muß, z.B. in Abhängigkeit vom gegebenen Lernziel und/ oder der Adressatengruppe. Diese Kriterien sind einerseits linguistischer Natur, wie die Frage, was man in der Linguistik als Phraseologie betrachtet und worin ihre Spezifik besteht. Andererseits gehören sie in den didaktisch-methodischen Bereich, wie die Frage, was von der Phraseologie unter z.T. extralinguistischen Gesichtspunkten für den Unterricht auszuwählen ist. Freilich kann selbst diese Frage ohne entsprechende linguistische Fundierung nicht zufriedenstellend beantwortet werden. Die Frage, was für die Sprachwissenschaft als Phraseologie gilt, läßt sich heute aus einer bestimmten Position relativ leicht beantworten es sei hier nur auf die in der germanistischen Phraseologie-Forschung in breiten Kreisen akzeptierte Definition des Handbuchs der Phraseologie verwiesen (Burger/ Buhofer/ Sialm 1982, S. 1). Für eine z.T. andere Position seien hier zwei Meinungen zitiert. Mario Wandruszka sieht das entscheidende Merkmal des Idiomatischen (schon im Terminus ein Unterschied! ) darin, „daß nämlich, wie schon der Name sagt, seine Bildungen nur einer Sprache, oder nur einigen Sprachen eigentümlich sind, daß daher alles Idiomatische in dieser seiner Besonderheit überhaupt nur kontrastiv oder konfrontativ richtig erfaßt und beschrieben werden kann“ (Wandruszka 1979, S. 951). Einen ähnlichen Standpunkt vertritt Klaus-Dieter Gottschalk: „Idiomatisch ist das, was für eine Sprache charakteristisch oder was ihr eigentümlich ist, sie kennzeichnet“ (Gottschalk 1975, S. 144). Es ist in diesem Rahmen nicht möglich, die Unterschiedlichkeit dieser beiden Auffassungen und ihre Konsequenzen für Forschung und Lehre eingehend zu analysieren. Es sollte mit ihrer Anführung lediglich gezeigt wer- Phraseologie im Unterricht Deutsch als Fremdsprache 257 den, daß nicht nur ein einziger Ansatzpunkt denkbar ist. Grundsätzlich dürfte außer Zweifel stehen, daß nicht nur einzelsprachliche, sondern auch kontrastive linguistische Untersuchungen zu der wissenschaftlichen Basis gehören, auf welcher eine solide und möglichst optimale Vermittlung des phraseologischen Sprachmaterials im FU aufgebaut werden kann. Diese etwas pauschale Feststellung läßt sich folgenderweise konkretisieren: - Funktionalstilistische und pragmalinguistische Untersuchungen, Untersuchungen zur Frequenz, zu den textbildenden Potenzen der Phraseologie helfen bei der richtigen Auswahl des unter kommunikativem Gesichtspunkt, im kommunikativ orientierten Unterricht relevanten Materials. Aus dieser Sicht kommt Routineformeln (bei Fleischer: „kommunikative Formeln“), sprachlichen Stereotypien, Funktionsverbgefügen und Phraseolexemen mit fortschreitendem DaF-Unterricht eine ständig wachsende Bedeutung zu. Aus didaktischen Überlegungen ist sogar für eine noch weitere Phraseologie-Auffassung als in der Forschung zu plädieren. - Kontrastive Untersuchungen haben in zweifacher Beziehung eine Bedeutung, und sie müssen auf die einzelsprachlichen, intralingualen Arbeiten zurückgreifen. Sie helfen uns u.a. die Frage zu beantworten, was unter lernpsychologischem Aspekt zunehmend schwer bzw. leichter anzueignen ist, wo man mit einem muttersprachlichen Transfer bzw. einer Interferenz rechnen muß. Daraus läßt sich ein zusätzliches Auswahlkriterium gewinnen. Von kontrastiven Untersuchungen können wir uns aber auch Erkenntnisse im Hinblick auf Fragen der Kompensation versprechen, woraus sich ein zusätzliches Auswahlkriterium ergibt. Der ersterwähnte Gesichtspunkt ist zielsprachenspezifisch (hier — ► Deutsch), so dürfte man als Auslandsgermanist von der Forschung im deutschen Sprachraum mit Recht die erforderlichen Vorarbeiten erwarten. Der zweite Gesichtspunkt hingegen kommt jeweils in der Relation Muttersprache - Fremdsprache, hier Deutsch als Fremdsprache, zur Geltung, und in dieser Beziehung hat die Auslandsgermanistik ebenfalls ihren Beitrag zu leisten. 3. Im weiteren sollen obige Ausführungen an Beispielen in der Relation Ungarisch —* Deutsch erläutert werden. Bekanntlich ist in der Phraseologie prinzipiell mit mehreren, verschiedenen, interlingualen Entsprechungsmöglichkeiten zu rechnen: 258 Li (Muttersprache) Regina Hessky L 2 (Zielsprache) (1) Phraseologismus — ► Phraseologismus (2) Phraseologismus — ► Einwortlexemen (3) Phraseologismus —* Umschreibung (auch als Paraphrase oder Interpretation bekannt) Für den Ferner am wichtigsten ist der Entsprechungstyp (1), allerdings in einer bestimmten Differenzierung, über die weiter unten noch kurz gesprochen werden soll. (2), vor allem aber (3) können wichtig sein, damit der Nichtmuttersprachler nicht den Fehler begeht, in der Fremdsprache selbst „kreativ“ zu werden, in dem Sinne, daß er aus seiner Muttersprache durch „Spiegelübersetzung“ selbst Phraseologismen bildet, wie man sie mitunter in Ferneräußerungen vorfindet, z.B.: *zuletzt, aber nicht in letzter Reihe (ung.: vegül, de nem utolso sorban) für last not least *etw. nicht ins Fenster stellen/ legen (ung.: nem teszi ki az ablakba) im Sinne von: ‘mit etwas nicht prahlen, eher versuchen, es zu verheimlichen’ Die aufgezählten interlingualen Entsprechungstypen sind bis auf (1) nicht reversibel. Es ist durchaus möglich, und für den Ferner außerordentlich wichtig, daß bestimmte Einwortlexeme seiner Muttersprache in der Zielsprache nur phraseologische Entsprechungen haben. In ungarischdeutscher Relation z.B.: negyszemközt (negy- ‘vier’ + szem- ‘Auge’ + közt- ‘unter’) und unter vier Augen legbolkapott (legbol- ‘aus der Fuft’ + kapott- ‘gegriffen’) und aus der Luft gegriffen gondolkozik und sich Gedanken machen Insofern dürfen kontrastive Untersuchungen für den EU nicht als „Einbahnstraße“ aufgefaßt, sondern in beiden Richtungen durchgeführt werden. 4. Am meisten erarbeitet ist der interlinguale Entsprechungstyp Phraseologismus —* Phraseologismus. Innerhalb dieses Typs gibt es totale Äquivalente, partielle Äquivalente und quasi-Äquivalente (eigentlich: phraseologische Ersatzlösungen in konkreten Kontexten). Hier kann für die Belange des EU nach der Fernschwierigkeit relativ leicht und eindeutig eine Auswahl getroffen werden. Totale Äquivalenz bedeutet Entsprechung in sämtlichen wesentlichen Eigenschaften einer phraseologischen Einheit. Außer der phraseologischen Gesamtbedeutung gehören hierher die wörtliche (literale) Bedeutung, die syntaktisch-strukturellen Merkmale, die stilistische Markierung. Hier ist mit einem Minimum an Phraseologie im Unterrichi Deutsch als Fremdsprache 259 Lernschwierigkeiten zu rechnen, man kann auf den muttersprachlichen Transfer bauen, z.B.: a falra festi az ördögöt (a falra- ‘an die Wand’ + fest ‘malen’ + az ördögöt- ‘den Teufel’) und den Teufel an die Wand malen Es dürfte interessant sein zu erwähnen, daß kontrastive Untersuchungen in der Relation Ungarisch — ► Deutsch einen relativ, um nicht zu sagen überraschend hohen Anteil der totalen Äquivalenz an allen phraseologischen Entsprechungen ergeben haben (vgl. dazu Hessky 1987). Hoch ist der Anteil angesichts dessen, daß diese beiden Sprachen weder genetisch noch typologisch verwandt sind: Bei insgesamt 1000 Einheiten liegt der Anteil totaler Äquivalente etwas über 20 %. Zum Vergleich: Für die Relation Russisch —* Deutsch hat A. Raichstejn 10,5 % registriert, wobei seine Vergleichskriterien allerdings z.T. andere waren (Raichstejn 1980, S. 34). Dieser relativ hohe Anteil der totalen Äquivalenz beim Ungarischen und beim Deutschen ist teilweise mit unmittelbaren Entlehnungen, teilweise mit dem in vieler Hinsicht gemeinsamen kulturellen Kontext zu erklären. Bei der partiellen Äquivalenz ist die Lernschwierigkeit generell größer, wobei nach Art des Unterschiedes/ der Unterschiede eine Abstufung zu beobachten ist. Lexikalisch-semantische Unterschiede sind als Störfaktor von größerer Bedeutung als syntaktische bzw. morphologische: nagydobra ver vmit (worth: „etw. auf die große Trommel schlagen/ hauen“) und etw. an die große Glocke hängen gleich: phraseologische Bedeutung Struktur syntaktische Funktion Konnotationen verschieden: wörtliche Bedeutung und demzufolge zum Teil anderes Bild ami a sziven, az a szdjdn (worth: „was auf seinem Herzen, das auf seinem Mund“) und das Herz auf der Zunge haben gleich: phraseologische Bedeutung Konnotationen verschieden: wörtliche Bedeutung Struktur syntaktische Funktion teilweise verschiedenes Bild 5. Partielle Äquivalenz bedeutet nichts anderes als Ähnlichkeit. Ähnlichkeit ist in interlingualer Relation zu verstehen als teilweise Gleichheit und teilweise Verschiedenheit. Die obigen Beispiele zeigen, daß die möglichen 260 Regina Hessky Unterschiede in verschiedenen Bündelungen auftreten können, und sich so eine Abstufung der Ähnlichkeit ergibt, die unter didaktischem Gesichtspunkt von Bedeutung ist. Die Spezifik der Phraselologie besteht nun darin, daß Phraseologismen polylexikalisch und wie freie Wortfügungen strukturiert sind. Daher werden sie vom Lerner viel mehr als vom Muttersprachler zunächst in ihrer wörtlichen (literalen) Bedeutung dekodiert, umso mehr, als der Nichtmuttersprachler infolge seiner beschränkten Kompetenz bestimmte Irregularitäten, vor allem im Bereich der semantischen Kompatibilität, weit weniger erkennt als ein Muttersprachler. Dadurch wird ihm auch die vorhandene bzw. die nicht (mehr) vorhandene Beziehung zwischen wörtlicher und phraseologischer Bedeutung eher bewußt. Das hat zwei Konsequenzen: Es dominiert die semantische Ebene, und dem Lerner wird dadurch auch die kulturhistorische Dimension der Phraseologie bewußt - oder sie kann ihm durch den Lehrer bewußt gemacht werden. Aus der Dominanz der semantischen Ebene folgt ferner, daß für den Eindruck einer Gleichartigkeit (‘Ähnlichkeit’) die syntaktisch-strukturelle Seite weniger relevant ist als Gemeinsamkeiten auf der lexikalisch-semantischen Ebene. Das heißt, daß die einzelnen Ebenen bzw. Aspekte, die für die „rein“ kontrastive linguistische Arbeit in gleichem Maße ins Gewicht fallen, für den Lerner nicht die gleiche Rolle spielen. So erwecken z.B. die gleiche syntaktische Funktion und die gleiche Struktur bei Verschiedenheit der lexikalischen Konstituenten - und somit der Bildschöpfung überhaupt nicht den Eindruck der Gleichartigkeit. Einheiten wie ung. hüzza a löbort (worth: „die Pferdehaut ziehen“) und dt. den Ast durchsägen werden trotz gleicher Struktur (Verb + Nomen A kk: ), gleicher syntaktischer Valenz und syntaktischer Funktion eher als verschieden empfunden. Dagegen fällt z.B. bei ung. ölbe tett kezzel (worth: „mit in den Schoß gelegter Hand“) und dt. die Hände in den Schoß legen die Bildähnlichkeit wesentlich mehr auf als die Verschiedenheit von Struktur und syntaktischer Funktion. Aus didaktischer Sicht wäre die detaillierte Untersuchung dieser Erscheinung ebenfalls von großem Nutzen. Diese Untersuchungen sind nämlich besonders wichtig, wenn man an den produktiven und den rezeptiven Wortschatz der Lerner denkt, wobei die Bildähnlichkeit (oder -gleichheit) in Muttersprache und Fremdsprache z.B. das Textverstehen erheblich erleichtert (abgesehen von bestimmten Fällen der Faux amis, die aber hier nicht behandelt werden). Andererseits ist diesbezüglich bei produktiver Verwendung der Fremdsprache, also bei der Textproduktion, gerade umgekehrt die Gefahr der muttersprachlichen Interferenz relativ groß, was entsprechende didaktisch-methodische Maßnahmen erforderlich macht. Phraseologie im Unterricht Deutsch als Fremdsprache 261 6. In dem mir zur Verfügung gestellten Rahmen habe ich versucht, einige, für die Praxis Deutsch als Fremdsprache im Ausland m.E. wichtige Fragen aufzuwerfen, die noch einer wissenschaftlichen Antwort harren. Meine Absicht war nicht mehr, als die Aufmerksamkeit und das Interesse für diese Fragen zu wecken. Die bisherigen Ergebnisse ungarisch-deutscher kontrastiver Untersuchungen dürften in mancher Hinsicht mögliche Arbeitsansätze bzw. Lösungsversuche zeigen. Literatur Burger, Harald/ Buhofer, Annelies/ Sialm, Ambros (Hg.) (1982): Handbuch der Phraseologie. Berlin/ New York. Daniels, Karlheinz (1985): „Idiomatische Kompetenz“ in der Zielsprache Deutsch. Voraussetzungen, Möglichkeiten, Folgerungen. In: Wirkendes Wort, S. 145-157. Gottschalk, Klaus-Dieter (1975): Was ist idiomatisches Englisch? In: Linguistik und Didaktik, 6, S. 139-148. Hessky, Regina (1987): Phraseologie. Linguistische Grundfragen und kontrastives Modell deutsch—> ungarisch. (= Reihe Germanistische Linguistik 77). Tübingen. Raichstejn, A.D. (1980): Sopostavitel’nyj analiz nemeckoj i russkoj frazeologii. Moskau. Wandruszka, Mario (1979): Kontrastive Idiomatik. In: Festschr. für Kurt Baidinger zum 60. Geburtstag. Tübingen. S. 951-963. Jarmo Korhonen Deutsche und finnische Phraseologie im Kontrast 1. Kultur- und sozialspezifische Aspekte Gegenstand des vorliegenden Beitrags sind phraseologische Ausdrücke des Deutschen und des Finnischen, wobei das Hauptgewicht auf die Betrachtung von verbalen Phraseolexemen bzw. Verbidiomen, einer der zentralen phraseologischen Klassen, gelegt werden soll. Die nachstehenden Ausführungen beziehen sich besonders in den Abschnitten, in denen rein sprachspezifische Fragen zur Sprache kommen, auf bisherige Erfahrungen und Ergebnisse des kontrastiven Verbidiomatikprojekts Deutsch- Finnisch. 1 Gegebenheiten der Wortbildung können nur am Rande behandelt werden: Sie werden in die Beschreibung der Verbidiomkerne unter lexikalischem Gesichtspunkt integriert. - Zunächst jedoch einige Bemerkungen zu kultur- und sozialspezifischen Aspekten deutscher und finnischer Phraseologie. Gemeinsamkeiten in der Phraseologie des Deutschen und des Finnischen ergeben sich in erster Linie daraus, daß beide Sprachen am westeuropäischen Kulturerbe teilhaben. Wichtige Quellen in diesem Zusammenhang sind vor allem die Antike, das Mittelalter und die Bibel. 2 Lateinische Maximen, Sentenzen, geflügelte Worte, Sprichwörter und andere phraseologische Ausdrücke wurden auch in finnischen Schulen gelernt 3 und gelangten außerdem durch Übersetzungen der Literatur in den geistigen Besitz von Finnen. Eine wesentlich größere soziokulturelle Wirkung hatte die Bibel ab dem 16. Jahrhundert: Jetzt floß eine beträchtliche Zahl von Ausdrücken, die früher nur einer dünnen Oberschicht bekannt gewesen war, in übersetzter Form in die Sprache breiter Bevölkerungsteile ein und wurde dort auch phraseologisiert. 4 Die Tatsache, daß Mikael Agricola bei seiner Übersetzung des Neuen Testaments die Luther-Übersetzung mit benutzt hat, 5 führte dazu, daß sich bestimmte Bibelstellen im Finnischen in einer von Luther geprägten Gestalt wiederfinden. Doch ist die Bibel nicht die einzige Quelle, die Übereinstimmungen zwischen deutscher und finnischer Phraseologie hervorgebracht hat. Es kann 1 Näheres zum Projekt in Korhonen (1987), Korhonen (1991) und Korhonen (1995). 2 Vgl. z.B. Schellbach-Kopra (1980, S. 30), Schellbach-Kopra (1985, S. 37), Korhonen (1991, S. 56), Korhonen (1995, S. 233) und Röhrich (1991, S. 45). 3 Siehe M. Kuusi (1954, S. 32ff., S. 162). 4 Vgi. u.a. auch M. Kuusi (1954, S. 29ff.), A.-L. Kuusi (1971, S. 91) und Röhrich (1991, S. 30). 5 Vgl. dazu etwa Schmeidler (1969), siehe aber auch Tarkiainen (1946, S. 117f.). 264 Jarmo Korhonen sicherlich auch von Entlehnung gesprochen werden, d.h., Phraseologismen des Deutschen wurden ins Finnische übernommen. Voraussetzung dafür waren die Kontakte zwischen Vertretern der beiden Sprachgemeinschaften: Finnen haben sich beispielsweise als Studenten bereits im 15. Jahrhundert in Deutschland aufgehalten, 6 später kamen sie u.a. als Wissenschaftler und Soldaten dorthin. Ebenso gab es schon im Mittelalter Deutsche in Finnland, z.B. in kaufmännischer Eigenschaft, 7 und noch bis zum zweiten Weltkrieg bestanden militärpolitische Beziehungen zwischen Deutschland und Finnland. Die Entlehnung deutscher phraseologischer Ausdrücke ins Finnische konnte direkt (mündlich bzw. schriftlich) oder indirekt erfolgen; in letzterem Falle kamen sie über Schweden oder über das Baltikum, vorwiegend über Estland, nach Finnland. Ein Beispiel für eine direkte Übernahme sind die ins Finnische übersetzten Zitate aus dem Sprachgebrauch berühmter deutscher Schriftsteller, Philosophen, Historiker und Politiker. 8 Neben dieser Art von Sprachgut, die als ein Grenzbereich der Phraseologie anzusehen ist, finden sich jedoch auch zentralere phraseologische Einheiten, etwa Verbidiome, für die eine Entlehnung aus dem Deutschen ins Finnische erwogen werden könnte, z.B.: (1) noch in den Kinderschuhen stecken olla vielä lapsenkengissä Hinsichtlich der Verwendung mit Sachsubjekt haben u.a. Französisch, Italienisch, Englisch und Schwedisch für Kinderschuhe jeweils eine andere lexikalische Entsprechung. Allerdings kennt das Schwedische ein Idiom mit einem genauen lexikalischen Äquivalent für Kinderschuhe (ha trampat ut barnskorna), aber die deutsche Entsprechung lautet dann die Kinderschuhe ausgetreten haben. - Heutzutage bezieht das Finnische den größten Teil von Lehnphraseologismen aus dem Englischen, 9 wenn auch hier bemerkt werden muß, daß eine endgültige Entscheidung über die Primärquelle nicht immer einfach ist. So kann man fragen, ob z.B. das Idiom näyttää jollekin vihreää valoa aus dem Englischen (to give the green light to s.o./ s.th.), aus dem Deutschen (jmdm. für etw. grünes Licht geben) oder aus dem Schwedischen (visa grönt ljus för ngn/ ngt) ins Finnische übernommen wurde. 10 Hier können uns wohl nur genau datierte Textbelege weiterhelfen. 6 Vgl. beispielsweise M. Kuusi (1969, S. 174) und M. Kuusi u.a. (1985, S. 24). Siehe außerdem Korhonen (1987, S. 9), Korhonen (1991, S. 56ff.), Korhonen (1995, S. 224) und Gelehrte Kontakte (1988). 7 Siehe M. Kuusi u.a. (1985, S. 24). 8 Belege dafür finden sich u.a. in Sinnemäki (1983). 9 Vgl. Schellbach-Kopra (1985, S. 41), siehe aber u.a. auch Pulkkinen (1984, S. 5). Pulkkinen (1984, S. 185f.) nimmt für dieses Idiom eine Entlehnung aus dem Englischen an. io Deutsche und finnische Phraseologie im Kontrast 265 Wie die Gemeinsamkeiten lassen sich die Unterschiede im deutschen und finnischen phraseologischen Material zu einem großen Teil unter soziokulturellem Aspekt erklären. In beiden Sprachen existiert eine ältere Phraseologieschicht, die sich jeweils unter den gegebenen kulturellen (aber auch anderen, u.a. geographischen) Umständen eigenständig entwickelt hat. So hängen typisch finnische Phraseologismen herkunftsmäßig weitgehend mit der Agrargesellschaft zusammen; Erwerbszweige, die hier genannt werden können, sind Jagd und Fischerei, desgleichen ist auf die Rolle handwerklicher und handarbeitlicher Beschäftigungen hinzuweisen. Wenn bedeutungsäquivalente deutsche und finnische Phraseologismen auf unterschiedlichen sprachlichen Bildern beruhen, so geht das nicht selten auf eine größere Naturverbundenheit der Finnen zurück. Ein weiterer Erklärungsfaktor, der nicht zu vergessen ist, sind die Besonderheiten der Flora und Fauna in Deutschland und Finnland. 11 Unterschiede in den sprachlichen Bildern im Deutschen und Finnischen gehen u.a. aus den folgenden Beispielen hervor: (2) jmdm. schöne Augen machen pitää teerenpeliä jonkun kanssa ‘mit jmdm. Birkhahnbalz machen’ (3) einen kleinen Mann im Ohr haben jollakulla on päreitä kainalossa ‘Kienspäne unter dem Arm haben’ Ferner haben finnische Phraseologismen ihren Ursprung in bestimmten Gattungen der mündlichen und schriftlichen Überlieferung. Im Vergleich zum Deutschen stammen jedoch phraseologische Ausdrücke des Finnischen in wesentlich geringerem Maße aus den Werken einheimischer Dichter und Schriftsteller. 12 - Die ältere eigenständige Phraseologieschicht im Deutschen und Finnischen trägt einen mehr oder weniger volkstümlichen Charakter. Heute macht sich etwa in der finnischen Phraseologie eine deutliche Umwandlung bemerkbar: Neben der älteren Schicht ist eine neue mit Ausdrücken aus der urbanisierten Umwelt entstanden. Eine unverkennbare Tendenz ist auch die Beeinflussung der Standardsprache durch Fach- und Gruppensprachen sowie Jargon. Das heißt für volkstümliche Ausdrucksweisen, daß sie in der Zukunft immer mehr vor saloppumgangssprachlichen zurücktreten müssen. 13 11 Zur Herkunft und zu sprachlichen Eigenheiten finnischer Phraseologismen vgl. näher Schellbach-Kopra (1980, S. 30ff.), Schellbach-Kopra (1985, S. 37ff., S. 47), Korhonen (1991, S. 56) und Korhonen (1995, S. 228f.), siehe jedoch auch Hakulinen (1979, S. 486ff.). 12 Vgl. Schellbach-Kopra (1985, S. 37, S. 41). 13 Vgl. dazu Schellbach-Kopra (1985, S. 15). 266 Jarmo Korhonen 2. Zur deutsch-finnischen Verbidiomatik Im Rahmen des deutsch-finnischen Phraseologieprojekts sind bislang unter Zugrundelegung inhaltlicher Entsprechung rund 2700 idiomatische Einheiten in linguistischer Hinsicht genauer beschrieben worden. Es hat sich gezeigt, daß bei nur 10 bis 12 % der Fälle für Deutsch und Finnisch vollständige Äquivalenz, d.h. Übereinstimmung in bezug auf Morpho- und Semantosyntax sowie Lexik und Pragmatik, vorhanden ist. Allerdings muß dabei wegen der typologischen Verschiedenheit beider Sprachen für die Morphosyntax von einigen Unterschieden abgesehen werden. In solchen Fällen sind bestimmte morphosyntaktische Strukturen einfach als reguläre interlinguale Entsprechungen zu behandeln. 14 Bei idiomatischer Totaläquivalenz handelt es sich um Ausdrücke, die entweder hauptsächlich nur dem Deutschen und dem Finnischen (wie Bsp. (1)) oder gleichzeitig mehreren Sprachen gemeinsam sind. Letzteres gilt u.a. für folgende Idiome: (4) mit dem Feuer spielen leikkiä tulella (5) die erste Geige spielen soittaa ensimmäistä viulua Daß man sich bei einer kontrastiven Beschäftigung mit der Idiomatik allein an der Form, also an der Morphosyntax und Lexik, orientiert und die inhaltliche Äquivalenz vernachlässigt, kann zur Entstehung von Scheinentsprechungen, sog. falschen Freunden, führen. Die Zahl der falschen Freunde auf dem Gebiet der deutsch-finnischen Idiomatik ist zwar sehr gering, auf eine Darlegung dieser Erscheinung kann aber selbstverständlich weder in der Theorie noch in der Praxis verzichtet werden. U.a. bei den folgenden zwei Paaren liegen falsche Freunde vor: (6) über etw. im Bilde sein olla kuvassa mukana (7) zu etw. passen wie die Faust aufs Auge sopia johonkin kuin nyrkki silmään Bei (6) hat man es mit formaler Teiläquivalenz zu tun, wobei die wörtliche Übersetzung für das finnische Idiom ‘mit im Bild sein’ lauten würde. Das deutsche Idiom bedeutet ‘über etw. informiert sein’, das finnische dagegen ‘dabeisein’, ‘mitwirken’; als deutsche idiomatische Entsprechung käme mit von der Partie sein besonders dann in Betracht, wenn das Subjekt des finnischen Ausdrucks eine Personenbezeichnung ist. (7) wiederum ist ein Beispiel für formale Totaläquivalenz. Das deutsche Idiom hat zwei Bedeutungen, und zwar ‘zu etw. überhaupt nicht passen’ und ‘zu etw. genau passen’. Die zweite Bedeutung ist äußerst selten, und nur damit ist das finnische Idiom bedeutungsäquivalent. Somit kann hier von inhaltlicher Teildifferenz gesprochen werden. 15 14 Genaueres dazu in Korhonen (1987, S. 10) und Korhonen (1988, S. 202). 15 Zu falschen Freunden im Bereich deutscher und finnischer Idiomatik siehe auch Deutsche und finnische Phraseologie im Kontrast 267 Interlinguale Idiompaare, in denen jeweils alle lexikalischen Elemente unterschiedlich sind (häufig gehen die Differenzen auf voneinander abweichende sprachliche Bilder zurück), dürften aus der Sicht des Fremdsprachenlernens nicht so problematisch sein wie Fälle, in denen jeweils nur ein Teil des Idiomkerns differiert. Ein oder zwei lexikalische Elemente der Muttersprache werden auf die Fremdsprache übertragen, was im Sinne eines negativen Transfers einen fehlerhaften Ausdruck zur Folge hat. Für deutsche und finnische Verbidiome lassen sich u.a. folgende Möglichkeiten lexikalischer Verschiedenheit feststellen: Verb, Verb und Adjektiv, zwei Substantive, ein Substantiv, eine Komponente des Substantivs, Adjektiv und Substantiv, Adjektiv. Einige Beispiele: (8) jmdm. läuft die Galle über jollakulla kiehahtaa sappi (9) ins gleiche Horn blasen puhaltaa samaan hiileen (10) jmdn. wie den letzten Dreck behandeln kohdella jotakuta kuin vierasta sikaa (11) ein toter Mann sein olla mennyttä miestä Bei (8) betrifft der Unterschied das Verb (Fi. wörtlich: ‘bei jmdm. kocht die Galle auf’), bei (9) das Substantiv (Fi. wörtlich: ‘in die gleiche Kohle blasen’), bei (10) das Adjektiv und das Substantiv (Fi. wörtlich: ‘jmdn. wie ein fremdes Schwein behandeln’) und bei (11) das Adjektiv (Fi. wörtlich: ‘ein gegangener Mann sein’). 16 Hinsichtlich der Wortbildung in der Phraseologie beziehen sich die Lernschwierigkeiten und Kompensationsprobleme sowohl auf den verbalen als auch nichtverbalen Teil des Idiomkerns. Für zahlreiche Präfixbildungen des Verbs im Deutschen kennt das Finnische entweder ein Simplex oder eine Kombination einfaches Verb + Adverb, z.B.: (12) etw. mit der Muttermilch einsaugen imeä jotakin äidinmaidossa ‘etw. in der Muttermilch saugen’ Einem nominalen Kompositum des Deutschen kann im Finnischen ein Simplex, eine genitivische Wortgruppe oder eine Verbindung von Adjektiv und Substantiv entsprechen: (13) etw. unter dem Ladentisch verkaufen myydä jotakin tiskin alta ‘etw. unter dem Tisch verkaufen’ (14) ein Wolf im Schafspelz sein olla susi lammasten vaatteissa ‘ein Wolf in den Kleidern der Schafe sein’ Schellbach-Kopra (1985, S. 35ff.), Korhonen (1987, S. 11), Korhonen (1991, S. 51) und Korhonen (1995, S. 251, S. 376). 16 Vgl. auch Korhonen (1987, S. 12). 268 Jarmo Korhonen (15) aufs Glatteis geraten joutua heikoille jäille ‘auf schwaches Eis [PL] geraten’ Wenn ein deutsches Verbidiom ein zusammengesetztes Adverb oder ein abgeleitetes Substantiv als Komponente enthält, kann die finnische Entsprechung ein zusammengesetztes Substantiv bzw. eine genitivische Wortgruppe sein: (16) mit jmdm./ etw. geht es bergab mennä alamäkeä ‘den Hang hinuntergehen’ (17) den Bock zum Gärtner machen panna pukki kaalimaan vahdiksi ‘den Bock zum Wächter des Kohlfeldes setzen’ Es ist auch möglich, daß ein finnisches Idiom ein Kompositum, sein deutsches Äquivalent aber eine Verbindung von Adjektiv und Substantiv oder ein Simplex aufweist: (18) mit einem silbernen Löffel im Mund geboren sein joku on syntynyt hopealusikka suussa ‘mit einem Silberlöffel im Mund geboren sein’ (19) irgendwo (festen) Fuß fassen saada jalansijaa jossakin ‘irgendwo Fußplatz bekommen’ Ein weiterer Problemkomplex, auf den bei der Vermittlung deutscher Phraseologie etwa für Finnen aufmerksam gemacht werden sollte, ist der Umfang des Kerns eines Verbidioms. Finnische Entsprechungen deutscher Verbidiome mit einem Substantiv können u.a. Ausdrücke mit zwei Substantiven oder einem Adjektiv und einem Substantiv sein. Zwischen den beiden finnischen Substantiven herrscht entweder eine Nebenordnungs- oder eine Unterordnungsbeziehung. Für Idiome mit einem Adjektiv und einem Substantiv im Finnischen gibt es außerdem einen Typus, in dem das Adjektiv fakultativ ist, z.B.’: (20) das Handtuch werfen heittää pyyhe kehään ‘das Handtuch in den Ring werfen’ (21) auf der Erde bleiben pysyä maan kamaralla ‘auf der Oberfläche der Erde bleiben’ (22) den Faden verlieren kadottaa punainen lanka ‘den roten Faden verlieren’ (23) in seinem Element sein olla (omassa/ oikeassa) elementissään ‘in seinem (eigenen/ richtigen) Element sein’ In den folgenden Fällen lassen sich einem substantivierten Adjektiv im Deutschen ein Adjektiv und ein Substantiv im Finnischen gegenüberstellen: Deutsche und finnische Phraseologie im Kontrast 269 (24) den kürzeren ziehen vetää lyhyempi korsi ‘den kürzeren Halm ziehen’ (25) im trüben fischen kalastan sameassa vedessä ‘im trüben Wasser fischen’ Wenn ein deutsches Idiom neben einem Verb zwei Substantive enthält, kann das finnische Äquivalent strukturmäßig eine Kombination Verb + Substantiv + Adjektiv + Substantiv sein. Ist eines von den zwei nichtverbalen Komponenten im Deutschen ein Indefinitpronomen, erscheint im Finnischen eine Konstruktion mit nur einem Substantiv als Entsprechung: (26) Salz in die Wunde streuen ripottaa suolaa avoimeen haavaan ‘Salz in die offene Wunde streuen’ (27) jmdm. eins/ ein paar hinter die Ohren geben antaa jotakuta korville ‘jmdm. an die Ohren geben’ Aus Unterschieden im Numerus von Substantiven in Idiomkernen von zwei Sprachen resultieren beim Erlernen von Fremdsprachen leicht Fehler, wenn die Unterschiede bei der Vermittlung der betreffenden Sprache nicht systematisch erläutert werden. Deutsche Idiome mit je einem singularischen Substantiv haben manchmal finnische Äquivalente, in denen das Substantiv im Plural steht: (28) aus dem Konzept kommen seota konsepteissaan ‘in seinen Konzepten durcheinanderkommen’ (29) jmdm. einen Streich spielen tehdä jollekulle tepposet ‘jmdm. Streiche machen’ In den untenstehenden Beispielen erscheint das deutsche Substantiv im Plural und seine finnische Entsprechung im Singular: (30) sich in den Haaren liegen olla toistensa tukassa ‘einander im Haar sein’ (31) sich über/ wegen etw. keine Kopfschmerzen machen joku ei ota jostakin päänsärkyä itselleen ‘sich aus etw. kein Kopfweh nehmen’ Für deutsche Idiome mit zwei Substantiven im Kern lassen sich u.a. diese zwei Differenztypen feststellen: Dt. 2 Substantive im Singular - Fi. 2 Substantive im Plural und Dt. 2 Substantive im Singular - Fi. 1 Substantiv im Singular, 1 Substantiv im Plural, z.B.: (32) jmdm. durch Mark und Bein gehen käydä jollakulla luihin ja ytimiin ‘bei jmdm. in Knochen und Mark [PL] gehen’ (33) jmdm. das Wort aus dem Mund(e) nehmen viedä joltakulta sanat suusta ‘jmdm. die Worte aus dem Mund nehmen’ 270 Jarmo Korhonen Problematische Erscheinungen beschränken sich nicht auf Idiomkerne; sie begegnen auch in der valenzbedingten Umgebung von Idiomen. So ist die Anzahl der Ergänzungen inhaltlich äquivalenter Verbidiome im Deutschen und Finnischen nicht immer identisch. Für einige einwertige Idiome des Deutschen gibt es jeweils eine zweiwertige finnische Entsprechung: (34) seine Hände in Unschuld waschen pestä kätensä jostakin ‘seine Hände aus etw. waschen’ (35) mit heiler Haut davonkommen päästä ehjin nahoin jostakin ‘mit heiler Haut aus etw. kommen’ Umgekehrt kann ein deutsches Idiom mit zwei, sein finnisches Äquivalent jedoch mit nur einer Ergänzung verbunden werden: (36) etw. an den Nagel hängen panna hanskat naulaan ‘die Handschuhe an den Nagel tun’ Einen Grenzfall bildet folgendes Idiompaar: (37) bei jmdm. in Mißkredit kommen joutua huonoon huutoon ‘in schlechten Ruf kommen’ Als Entsprechung für das deutsche Präpositionalobjekt mit bei kann das finnische Idiom eine Lokalbestimmung {jossakin irgendwo) oder eine Personenbestimmung mit der Postposition keskuudessa unter, in zu sich nehmen, wobei die Personenbestimmung ein pluralisches Substantiv oder ein Kollektivum ist. - Idiomäquivalente mit unterschiedlicher Anzahl von Ergänzungen bereiten bei der Übersetzung Schwierigkeiten. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn man bemüht ist, den ursprünglichen Kontext syntaktisch weitgehend aufrechtzuerhalten. 17 3. Schlußbemerkung Die hier in aller Kürze besprochenen Aspekte stellen nur eine kleine Auswahl von Problemen dar, die bei einer systematischen Gegenüberstellung deutscher und finnischer Verbidiomatik zu berücksichtigen sind. Sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht sind u.a. auch folgende Aspekte von Belang: morphosyntaktische und lexikalische Variation, transformationelle Möglichkeiten und Beschränkungen (z.B. Nominalisierung, Attribuierung, Negation, Passivtransformation), Stilschicht und Gebrauchssituation. Diese und die weiter oben erläuterten Fragen gehören zu den Beschreibungsaufgaben des Forschungsprojekts zur deutsch-finnischen 17 Weitere Beispiele zur Wortbildung in der Verbidiomatik, zum Umfang von Idiomkernen, zum Numerus von Substantiven und zur Anzahl der Ergänzungen von Verbidiomen in deutsch-finnischem Kontrast in Korhonen (1988) und Korhonen (1991, S. 42ff.). Zu den ersten drei Aspekten vgl. auch Korhonen (1995, S. 271ff.). Deutsche und finnische Phraseologie im Kontrast 271 Verbidiomatik. Es ist geplant, die theoretischen Ergebnisse in verschiedenen Publikationen, u.a. in einem deutsch-finnischen Idiomatiklexikon, in die Praxis umzusetzen und damit für den Deutschunterricht in Finnland nutzbar zu machen. Auf diese Weise wird versucht, zur Verbesserung von Kenntnissen deutscher Phraseologie in finnischen Schulen und Hochschulen beizutragen. 4. Literatur Gelehrte Kontakte zwischen Finnland und Göttingen zur Zeit der Aufklärung (1988). Ausstellung aus Anlaß des 500jährigen Jubiläums des finnischen Buches. Gesamtred. Esko Häkli. Göttingen. Hakulinen, Lauri (1979): Suomen kielen rakenne ja kehitys [‘Struktur und Entwicklung der finnischen Sprache’]. 4., durchges. und erw. Aufl. Helsinki. Korhonen, Jarmo (1987): Überlegungen zum Forschungsprojekt „Kontrastive Verbidiomatik Deutsch-Finnisch“. In: Ders. (Hg.): Beiträge zur allgemeinen und germanistischen Phraseologieforschung, Internationales Symposium in Oulu 13.-15. Juni 1986. (= Veröffentlichungen des Germanistischen Instituts der Universität Oulu. 7). Oulu. S. 1-22. Korhonen, Jarmo (1988): Valenz und kontrastive Phraseologie. Am Beispiel deutscher und finnischer Verbidiome. In: Mrazovic, Pavica/ Teubert, Wolfgang (Hg.): Valenzen im Kontrast. Festschr. für Ulrich Engel zum 60. Geburtstag. Heidelberg. S. 200-217. Korhonen, Jarmo (1991): Kontrastive Verbidiomatik Deutsch-Finnisch. Ein Forschungsbericht. In: Sabban, Annette/ Wirrer, Jan (Hg.): Sprichwörter und Redensarten im interkulturellen Vergleich. Opladen. S. 37-65. Korhonen, Jarmo (1995): Studien zur Phraseologie des Deutschen und des Finnischen I. (= Studien zur Phraseologie und Parömiologie. 7). Bochum. Kuusi, Anna-Leena (1971): Johdatusta suomen kielen fraseologiaan [‘Einführung in die finnische Phraseologie’]. (= Suomi. 115-4). Helsinki. Kuusi, Matti (1954): Sananlaskut ja puheenparret [‘Sprichwörter und Redensarten’]. Helsinki. Kuusi, Matti (1969): Lainasananlaskujen tutkimusongelmia [‘Probleme der Erforschung von Lehnsprichwörtern’]. In: Suomalainen Tiedeakatemia. Esitelmät ja pöytäkirjat 1968. Toim. Esko Suomalainen. Helsinki. S. 169-181. Kuusi, Matti u.a. (Hg.) (1985): Proverbia septentrionalia. 900 Balto-Finnic proverb types with Russian, Baltic, German and Scandinavian parallels. (= FF Communications. 236). Helsinki. Pulkkinen, Paavo (1984): Lokarista sponsoriin. Englantilaisia lainoja suomen kielessä [‘Englische Entlehnungen im Finnischen’]. Helsinki. Röhrich, Lutz (1991-1992): Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. 3 Bde. Freiburg/ Basel/ Wien. Schellbach-Kopra, Ingrid (Hg.) (1980): Finnisch-Deutsches Sprichwörterbuch. Suomalais-saksalainen sananlaskukirja. Helsinki/ Bonn. Schellbach-Kopra, Ingrid (1985): Suomi-saksa fraasisanakirja. Finnisch-deutsche Idiomatik. Porvoo/ Helsinki/ Juva. Schmeidler, Marie-Elisabeth (1969): Zur Analyse der Übersetzung des Neuen Testaments durch Michael Agricola (1548): Das Verhältnis von Agricolas Text zu seinen deutschen Vorlagen. In: Studia fennica, 14, S. 41-56. Sinnemäki, Maunu (Hg.) (1983): Lentävien lauseiden sanakirja [‘Geflügelte Worte’]. 2. Aufl. (= Suomen kielen sanakirjat. 5). Helsinki. Tarkiainen, Viljo (1946): Mikael Agricolan opiskelu Wittenbergissä. [‘Das Studium von Mikael Agricola in Wittenberg’]. In: Suomalainen Tiedeakatemia. Esitelmät ja pöytäkirjat 1945. Toim P.J. Myrberg. Helsinki. S. 111-132. Der Band enthält Untersuchungen zur Wortbildungs- und Phraseologismusforschung. Im Bereich der Wortbildung werden Adjektiv- und Negationsbildungen durch die Jahrhunderte verfolgt, Wortfamilienwörterbücher aufgearbeitet; semantischen Fragen in der Wortbildung wird nachgegangen und “Fremdes” in der deutschen Wortbildung untersucht. Verbunden werden beide Bereiche durch einen Beitrag zum Zusammenwirken von Wortbildung und Phraseologisierung in bezug auf den Wortschatz. Im Bereich der Phraseologie wird, neben Fragen des Phraseologismenerwerbs bei Kindern, das Vorkommen von Phraseologismen in Kinder- und Jugendbüchern untersucht, sowie in standardisierten Texten (z.B. Todesanzeigen, Einladungen, Grußanzeigen und Dankesworten; Büttenreden; Frontberichten und -briefen). Kontrastive Untersuchungen finnischdeutsch und ungarisch-deutsch runden den Phraseologiebereich ab. ISBN 3-8233-5139-7