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Soziale Welten und kommunikative Stile

2002
978-3-8233-3013-4
Gunter Narr Verlag 
Inken Keim
Wilfried Schütte

Die linguistisch-gesprächsanalytischen bzw. soziologisch-ethnographischen Beiträge dieses Sammelbandes beschreiben den Zusammenhang zwischen dem kommunikativen Stil von sozialen Welten und sozialen Prozessen der Integration bzw. der Ab- und Ausgrenzung.

Studien zur Deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Inken Keim/ Wilfried Schütte (Hrsg.) Soziale Welten und kommunikative Stile Festschrift für Werner Kallmeyer zum 60. Geburtstag gnW Gunter Narr Verlag Tübingen STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE 22 Studien zur Deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRÄCHE Herausgegeben von Ulrike Haß-Zumkehr, Hartmut Schmidt und Bruno Strecker Band 22 • 2002 Inken Keim/ Wilfried Schütte (Hrsg.) Soziale Welten und kommunikative Stile Festschrift für Werner Kallmeyer zum 60. Geburtstag gnw Gunter Narr Verlag Tübingen Die Deutsche Bibliothek - C1P-Einheitsaufnahme Soziale Welten und kommunikative Stile : Festschrift für Werner Kallmeyer zum 60. Geburtstag / Inken Keim/ Wilfried Schütte (Hrsg.) - Tübingen: Narr, 2002 (Studien zur Deutschen Sprache; Bd. 22) ISBN 3-8233-5152-4 © 2002 • Gunter Narr Verlag Tübingen Dischingerweg 5 ■ D-72070 Tübingen Das Werk einschheßlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: Volz, Mannheim Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 3-8233-5152-4 Inhalt Inken Keim/ Wilfried Schütte Einleitung 9 Grundlegende Fragen und Konzepte Konrad Ehlich „Stil-Übung“ 27 JohnJ. Gumperz Sharing Common Ground 47 Fritz Schütze Das Konzept der sozialen Welt im symbolischen Interaktionismus und die Wissensorganisation in modernen Komplexgesellschaften 57 Berufswelten Andreas Paul Müller Interaktionsregeln in innerbetrieblichen sozialen Welten 85 Reinhold Schmitt Hierarchie in Arbeitsgruppen als stilbildender Aspekt 113 Thomas Spranz-Fogazy Das letzte Wort. Untersuchungen zum Kontrollhandeln gesellschaftlicher Führungskräfte in Gesprächen 137 Elisabeth Gülich/ Ingrid Furchner Die Beschreibung von Unbeschreibbarem. Eine konversationsanalytische Annäherung an Gespräche mit Anfallskranken 161 Migration und soziale Umbrüche Christine Bierbach/ Gabriele Birken-Silverman Kommunikationsstil und sprachliche Symbolisierung in einer Gruppe italienischer Migrantenjugendlicher aus der HipHop-Szene in Mannheim 187 6 Inhalt Rita Franceschini Umgang mit Fremdheit: mixed style und Quasi-Italienisch bei Deutschschweizer Händlern in Gundeldingen (Basel) 217 Inken Keim Sozial-kulturelle Selbstdefinition und sozialer Stil: Junge Deutsch-Türkinnen im Gespräch 233 Katharina Meng/ Ekaterina Protassova Zum ethnischen Selbstverständnis in einer russlanddeutschen Familie 261 Norbert Dittmar Zur ‘Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen’. ‘Umbruchstile’: terra incognita 281 Medial geprägte Welten Susanne Günthner/ Gurly Schmidt Stilistische Verfahren in der Welt der Chat-Groups 315 Wilfried Schütte Normen und Leitvorstellungen im Internet. Wie Teilnehmer/ -innen in Newsgroups und Mailinglisten den angemessenen Stil aushandeln 339 Werner Holly „Klare und normale Sprache“ als sozialer Stil. Zu Elke Heidenreichs ‘Brigitte’-Kolumnen 363 Öffentlichkeit und Privatheit Johannes Schwitalla Komplexe Kanzleisyntax als sozialer Stil. Aufstieg und Fall eines sprachlichen Imponierhabitus 379 Frank Ernst Müller Aspekte der Rhetorik von Benito Mussolini 399 Liisa Tiittula Der finnische Präsidentschaftsstil. Beobachtungen zu Wahldiskussionen 425 Helga Kotthoff Ironie in Privatgesprächen und Fernsehdiskussionen. Zum Zusammenhang von Konversation, Kognition und Ethnografie 445 Inhalt 1 Werner Nothdurfl Die poetische Dimension alltäglichen Streitens 473 Alt und Jung Reinhard Fiehler Der Stil des Alters 499 Carmen Spiegel Identitätskonzepte - Individualitätskonturiemngen. Zur schrittweisen Herausbildung von Identität bei Jugendlichen in der institutioneilen Interaktionssituation ‘Deutschunterricht’ 513 Jürgen Streeck Hip-Hop-Identität 537 Werner Kallmeyer Verzeichnis wissenschaftlicher Veröffentlichungen 559 Inken Keim/ Wilfried Schütte Einleitung 1. Zur Entstehung des Bandes „Soziale Welten und kommunikative Stile“ In der Abteilung Pragmatik des IDS haben wir mit einem Langzeitprojekt begonnen, einer „Soziostilistik der Kommunikation in Deutschland“. Zentral für dieses groß angelegte Forschungsvorhaben ist der Zusammenhang zwischen dem kommunikativen Stil von sozialen Welten und sozialen Prozessen der Integration bzw. der Ab- und Ausgrenzung. Mit einer Publikation erster Analysen aus diesem Projekt und thematisch einschlägiger Beiträge externer Kolleginnen und Kollegen wollen wir den Soziolinguisten und Gesprächsanalytiker Werner Kallmeyer ehren, der Anfang des Jahres 2001 seinen 60. Geburtstag begeht. Er hat das neue Projekt der Abteilung initiiert und leitet es. Die Festschrift ist eine thematisch gebundene Sammlung von Forschungsbeiträgen zum Gegenstandsbereich „soziale Welten und kommunikative Stile“. Bei der Beschreibung kommunikativer sozialer Stile geht es darum herauszufinden, wie Einzelzüge sprachlich-kommunikativen Handelns zu einem konsistenten Bild von Stil verknüpft werden und wie soziale Bedeutung und Differenzierung damit verbunden sind. Die ausgesprochen positive Resonanz auf unsere Idee und die Bereitschaft vor allem der projektexternen Beiträger/ -innen, sich mit unserem Stilkonzept zu befassen, hat es möglich gemacht, einen Band zusammenzustellen, der thematisch und im Hinblick auf die Gegenstandsbereiche sehr aspektreich ist und viele für die Stilbildung relevante gesellschaftliche Bereiche präsentieren kann und trotzdem eine gewisse Einheitlichkeit in theoretischer und analysemethodischer Hinsicht zeigt. Die meisten Beiträge haben eine linguistisch-gesprächsanalytische bzw. soziologisch-ethnografische Ausrichtung. Auch wenn in den Analysen nur einzelne Stilzüge fokussiert werden, gerät doch das stilistische Gesamtbild der beschriebenen sozialen Welt oder Gruppe nicht aus dem Blick. 2. Zum Konzept des kommunikativen sozialen Stils Viele Beiträger/ -innen des Bandes nehmen explizit oder implizit Bezug auf das Konzept des kommunikativen sozialen Stils und verorten ihre Arbeit in Relation dazu. Dieses Konzept wollen wir im Folgenden skizzieren. Es basiert im Wesentlichen auf den Ergebnissen des Projekts „Kommunikation in 10 Inken Keim/ Wilfned Schütte der Stadt“ 1 und wurde vor allem von Werner Kallmeyer formuliert. 2 Im Projekt „Kommunikation in der Stadt“ wurde die sozialstilistische Differenzierung zwischen sozialen Welten beschrieben, die an unterschiedlichen Polen der sozialen Skala angesiedelt waren und vom Bildungsbürgertum bis zu den „einfachen Leuten“ aus dem Arbeitermilieu reichten. Untersucht wurde vor allem das Kommunikationsverhalten im Alltagsleben bzw. im Freizeitbereich. Damit sind was die Auswahl relevanter Gesellschaftsbereiche und die darauf aufbauende Entwicklung eines Stilkonzepts anbelangt bestimmte Beschränkungen verbunden, die in dem gegenwärtigen Forschungsvorhaben des Instituts für Deutsche Sprache, einer „Soziostilistik der Kommunikation in Deutschland“, aufgehoben werden sollen. Für dieses langfristige und umfassende Vorhaben bildet das im Folgenden skizzierte Stilkonzept die Ausgangsbasis. Durch die erhebliche Ausweitung der Untersuchung auf Dimensionen der Gesellschaft, die in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung als Grunddimensionen gesellschaftlicher Realität gelten, werden sich neue Fragestellungen ergeben und neue stilrelevante Aspekte in den Fokus kommen, die voraussichtlich zu einer Modifizierung und Ausweitung unseres bisherigen Stilkonzepts führen werden. Die gegenwärtige Untersuchung umfasst überregional orientierte Funktionseliten, verschiedene berufliche Sozialwelten, verschiedene Migrationswelten, medial geprägte Welten und Welten, die im Bereich der Altersdimension variieren. In der Stilforschung wird stilistische Variation häufig als Wahl zwischen zwei oder mehr bedeutungsähnlichen Ausdrucksalternativen verstanden. In der neueren linguistischen Stildiskussion wird mit Stil der Zusammenhang von sehr unterschiedlichen Ausdrucksmitteln bezeichnet, die auf unterschiedlichen Ausdrucksebenen über längere Strecken hinweg erscheinen. Sandig (1986, S. 31) z.B. bezeichnet Stil als „System, das auf die verschiedenen Dimensionen sprachlichen Handelns bezogen ist und das den Arten der Handlungsdurchführung differenzierenden sozialen Wert verleiht“. Nach dem Konzept des „kommunikativen sozialen Stils“ haben Sprecher keine Wahl zwischen Alternativen, wenn sie ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Welt ausdrücken wollen, sondern der in dieser sozialen Welt ausgeprägte und durch ständige Arbeit weiterentwickelte Stil ist Ausdruck ihrer sozialen und kulturellen Identität. Stil ist hier in sozialfunktionaler Hinsicht definiert: Stilformen werden zur sozialen Positionierung der Sprecher entwickelt und eingesetzt; sie sind Mittel zum Ausdruck von sozialer Präsenz auf wichtigen Schauplätzen der politischen bzw. kulturell-politischen Auseinandersetzung. Die Ausprägung von Stil schafft Identitätssymbole, über die auch die Positionierung von Angehörigen einer sozialen Welt in einen übergreifenden gesellschaftlichen Rahmen möglich wird; Vgl. Kallmeyer (Hg.) (1994 und 1995), Keim (1995), Schwitalla (1995). Vgl. Kallmeyer (1994, 1995a und 1995b); vgl. auch Kallmeyer/ Keim (1996 und 1999). Einleitung 11 sozialer Stil bildet das Kapital (im Sinne von Bourdieu 1982) für die politische und kulturelle Auseinandersetzung mit anderen sozialen Welten. Über die Außenwahrnehmung des Auftretens von Repräsentanten sozialer Welten im gesellschaftlichen Raum eröffnen sich Einflussmöglichkeiten von bestimmten kommunikativen Stilen auf die gesamtgesellschaftliche Stil- und Sprachentwicklung. Kommunikative Stile haben hohe gesellschaftliche Relevanz; sie dienen als Instrumente im Prozess der sozialen Auseinandersetzung und fungieren als Indikatoren bei der Bewertung gesellschaftlicher Erfolge. Dieses Konzept des kommunikativen sozialen Stils knüpft an Ansätze zur linguistischen Stilistik an, an die Ethnografie der Kommunikation, die auf die Untersuchung von kulturellen Stilen ausgerichtet ist, an den makrostrukturell-kultursoziologischen Ansatz Bourdieus zur stilistischen Differenzierung in der hierarchisch geschichteten Gesellschaft und an die Aushandlungstheorie der sozialen Ordnung in der Nachfolge des symbolischen Interaktionismus (vor allem Strauss 1984). Die Entwicklung dieses soziostilistischen Beschreibungsansatzes ordnet sich einerseits in die „rhetorische“ Konzeption von Sprachvariation ein, wie sie schon Gumperz propagiert hat (vgl. u.a. Gumperz 1982 und 1994), und andererseits in die neuere Stilforschung unter ethnomethodologischem, ethnografischem und gesprächsanalytischem Einfluss. Diese Entwicklung wird im deutschsprachigen Bereich u.a. durch Veröffentlichungen von Sandig (1986), Dittmar/ Schlobinski (1988), Hinnenkamp/ Selting (1989), Selting/ Sandig (1997) sowie Jakobs/ Rothkegel (2001) dokumentiert. Stil ist ein holistisches Konzept bzw. ein Gestalt-Konzept. Konstitutiv für einen Stil ist, dass unterschiedliche Ausdrucksformen zu einem Bild, einer Figur bzw. einem Hyperzeichen zusammengenommen werden (Sandig 1978 und 1986; Hinnenkamp/ Selting 1989). Die Vorstellungen von spezifischen Stilen sind prototypisch organisiert, d.h., sie werden um Kernbzw. Leitphänomene herum aufgebaut und haben unscharfe Grenzen. Stilbildung entspricht einem ständigen Prozess kultureller Arbeit durch die Beteiligten. Zu den Stilbildungsprinzipien gehört die Inkorporierung immer neuen Materials und die „gleichsinnige“, einer zentralen „Logik“ folgende Bearbeitung. Stil wird umso dichter und als Gestalt wahrnehmbarer, je vielfältiger das verarbeitete Material ist. Dabei kann Stilbildung unterschiedliche Stadien der Anreicherung und Durcharbeitung erreichen. Stil als Hyperzeichen erfordert eine gewisse Kontinuität und eine situationsübergreifende Rekurrenz. Stile sind komplexe Interaktions- und Interpretationsressourcen. Durch Stilwechsel können unterschiedliche Kontexte und Interpretationsrahmen hergestellt werden. Stil hat immer auch Kontextualisierungsfunktion 3 und wird von Das gilt aber nicht umgekehrt; nicht jedes Kontextualisierungsmittel ist stilistisch relevant; vgl. dazu auch Auer (1989, S. 29ff.). 12 Inken Keim/ Wilfried Schütte Beteiligten für die Rekonstruktion von frames im Gegensatz zu anderen frames benutzt. So ermöglicht Stil die Rekonstruktion von Wissensbeständen, vor allem auch von kulturellen Wissensbeständen. Damit greift eine Stilanalyse weit über die klassische Konversationsanalyse hinaus und beschreibt Sinn- und Handlungsdimensionen, die von letzterer nicht erfasst werden können. Kommunikative soziale Stile werden in Kommunikationszusammenhängen im Rahmen von sozialen Strukturen entwickelt. Daher ist eine zentrale Frage der Stiluntersuchung, welche Art von Sozialstrukturen relevant ist. In der Soziologie und in der Soziolinguistik wird immer wieder festgestellt, dass die moderne Gesellschaft durch die Auflösung langfristig stabiler sozialer Grenzen bestimmt ist und dass in der variabel strukturierten Umgebung vielfache Identitäten bzw. die vielfältige, kontextbezogene Aspektualisierung von Identität den Normalfall darstellen. Angesichts dieser Tatsache ist das Konzept der sozialen Welt im Sinne von Anselm Strauss eine Erfolg versprechende theoretische Alternative zu mikroanalytischen Ansätzen wie der Netzwerktheorie oder soziologischen Makrostrukturkonzepten. Um die Dynamik von sozialen Prozessen erfassen zu können, zielt der Ansatz der sozialen Welten nicht auf formale Organisationsstrukturen, sondern auf relativ flexible Zusammenschlüsse von Akteuren, die Aufgaben für die Bearbeitung wichtiger Belange des gesellschaftlichen Lebens übernehmen. In der Kooperation entwickeln die Akteure auf den Handlungsprozess bezogene Sozialbeziehungen. Sie verschaffen sich Ressourcen, u.a. auch die Unterstützung von Organisationen, es entstehen Arenen für die Austragung von Streitfragen um Aufgabenstellung, Legitimität und Ressourcen, und es bilden sich vorbildhafte Handlungsweisen heraus, m.a.W. ein weltspezifischer kommunikativer Stil. Soziale Welten sind dynamische Gebilde; sie haben eine Tendenz zur Segmentierung, d.h. zur Ausgliederung von Subwelten, und sie verzahnen sich mit anderen sozialen Welten (Strauss 1979 und 1993). Im Rahmen von sozialen Welten können sich soziale Gruppen mit mehr oder weniger stabilen Organisationsstrukturen herausbilden, zu deren wesentlichen Zielen die Bearbeitung sozialweltspezifischer Anforderungen und Aufgaben gehören. Wegen der für einen externen Beobachter leicht erkennbaren Organisationsstruktur von Gruppen und ihrer in der Regel lokalen Verankerung ist stilistische Arbeit sehr gut in Gruppengesprächen zu beobachten, u.a. bei der Auseinandersetzung mit externen Problemen. Der Bezugsrahmen für solche Debatten ist jedoch nicht die soziale Identität der Gruppe als dauerhafte soziale Einheit, sondern die soziale Welt, in deren Handlungszusammenhang die Gruppenbildung und die Definition der relevanten Sozialbeziehungen stattfmdet. Einleitung 13 Debatten in Arenen über die Lösung von Aufgaben im Rahmen sozialer Welten (z.B. Debatten in Gremien auf unterschiedlichen Hierarchieebenen, in Institutionen und Organisationen, politische Debatten in der Öffentlichkeit u.Ä.) sind für die Stilbildung von zentraler Bedeutung, weil hier symbolisierende Verfahren und explizite Definitionen und Bewertungen von Stilformen vorgenommen werden. Für Sprecher besteht hierbei in besonderer Weise die Anforderung, die Eigenperspektive konturiert zu entfalten, die Fremdperspektive zu berücksichtigen und Eigen- und Fremdperspektive in Beziehung zu setzen. In diesem Kontext wird die eigene stilistische Praxis in ihrer Spezifik markiert und ggf. überhöht, so dass ein gut konturiertes Stilbild nach außen (und innen) präsentiert werden kann. Stil wird hier in seinen relevanten Zügen realisiert und als „eigener Stil“ bzw. „unser Stil“ demonstriert. In den Arena-Debatten wird gleichsam ein ideologisches Spotlight auf Stilformen gesetzt (vgl. Kallmeyer/ Keim 1996). Die hier behandelten Fragen und Anliegen bilden Kerne für die Stilentwicklung. Was in der Routinepraxis der Handlungsvollzüge im Rahmen einer sozialen Welt als relevante Züge des kommunikativen sozialen Stils produziert und wahrgenommen wird, ist (mit-)bestimmt durch die Hervorhebung der Stilbilder in den Arena-Debatten. Diese Relevanzsetzung und damit auch Aufmerksamkeitssteuerung ist für die Stilpraxis von großer Bedeutung, weil die Art und Weise des kommunikativen Handelns niemals homogen ist, sondern vielfältigen Schwankungen unterliegt, die u.a. durch wechselnde situative Anforderungen und Kontextualisierungen bedingt sind. Stil umfasst einerseits die alltägliche Normalität von Gruppen, ihr normales alltägliches Auftreten und Handeln, ihren normalen Umgangston, und andererseits auch hervorgehobene Formen. Dabei werden bestimmte Stilmerkmale inszeniert und in besonderer Weise überhöht. Das geschieht vor allem bei Abgrenzungshandlungen, bei Stildiskussionen, bei Kritik am Verhalten von Mitgliedern und besonders dann, wenn eine(r) sich als besondere(r) Repräsentant/ -in der sozialen Welt bzw. der Gruppe darstellt. Bei diesen hervorgehobenen Manifestationsformen bildet das alltägliche, routinehafte Verhalten die Basis. Es werden dann gerade die Merkmale aus dem alltäglichen Repertoire hervorgehoben, die in besonderer Weise in Kontrast gesetzt werden können zu Merkmalen anderer Welten, gegen die man sich aktuell abgrenzt. Das heißt: Zur Hervorhebung von Zugehörigkeit bzw. von Nicht-Zugehörigkeit können je nach Anlass, Auslöser und Kontrastkategorie andere Merkmale verwendet werden. In unserem soziolinguistisch-ethnografischen Ansatz ist Stil also bezogen auf die Kultur und soziale Identität von sozialen Welten oder sozialen Gruppen, das Ergebnis der Auseinandersetzung mit spezifischen ökologischen, sozialstrukturellen, sprachlichen und ästhetischen Voraussetzungen und Bedingungen der umgebenden Lebenswelt/ en, 14 Inken Keim/ Wilfried Schütte ein Modell für angemessenes soziales und kommunikatives Handeln, der Ausdruck von Leitvorstellungen für originäres Handeln und ein wesentliches soziales Unterscheidungsmerkmal. Zur Beschreibung des kommunikativen Stils sozialer Welten und sozialer Gruppen werden die Darstellungsformen und Ausdrucksweisen auf allen Ebenen und Dimensionen des Handelns berücksichtigt, um die Einheitlichkeit des stilistischen Ausdrucks zu erfassen. Aufgrund der bisherigen anthropologischen und ethnografisch-soziolinguistischen Forschung und der Ergebnisse unserer Untersuchungen von städtischen Gruppen können wir davon ausgehen, dass für die Herausbildung kommunikativer sozialer Stile zumindest folgende Aspekte des Kommunikationsverhaltens eine Rolle spielen: die Ausprägung von bestimmten pragmatischen Regeln des Sprechens: Das sind vor allem Regeln für die Regulierung von sozialer Distanz und Nähe, Regeln für den alltäglichen Umgang miteinander; dazu gehören Regeln zum Umgang mit Territorien, Regeln für den Umgang mit Partneraktivitäten, Thematisierungsregeln; außerdem Regeln für den Ausdruck von Lob und Kritik, für die Bearbeitung von Problemen und Konflikten, für die Herstellung von Geselligkeit usw.; die Verwendung unterschiedlicher sprachlicher Ressourcen (verschiedener Sprachen oder Sprachvarietäten) zur Äußerungsstrukturierung und Interaktionsorganisation, vor allem aber zur Symbolisierang sozialer Eigenschaften; die Ausprägung eines Systems sozialer Kategorien, das für die Selbst- und Fremddefmition wesentlich ist; dazu gehören Inhalt und Ausdrucksformen für die kategoriendefmierenden Merkmale und sprachliche Verfahren, die bei der gesprächsweisen Herstellung von Kategorien verwendet werden; die Analyse des Kategoriensystems ermöglicht die Rekonstruktion des soziosemantischen Systems einer sozialen Gruppe bzw. eines Milieus; die Bevorzugung bestimmter Kommunikationsformen und Genres sowie bestimmter Darstellungsformen und Interaktionsmodalitäten für Sachverhaltsdarstellungen und Sachverhaltsklärungen ebenso wie für die Problem- und Konfliktbearbeitung; die Bevorzugung bestimmter rhetorischer Verfahren und einer bestimmten Art formelhaften Sprechens für die Lösung praktischer Interaktionsaufgaben; die Bevorzugung einer bestimmten Sprachästhetik, bestimmter Lexik, Metaphorik und prosodischer Merkmale (Rhythmik, Intonation, nichtlexikalisierte Laute, Stimmführung und Lautstärke); die Bevorzugung bestimmter Kleidung und bestimmter Gegenstände zum Ausdruck von Geschmack (Musik, Filme, Bilder, Zeitschriften), die äuße- Einleitung 15 re Aufmachung (Haare, Schminke, Schmuck) und die Ausprägung bestimmter gestischer und proxemischer Besonderheiten (Gestik, Mimik, Raumverhalten). Diese Ebenen des Ausdrucksverhaltens geben Ressourcen an, die für die Stilbildung genutzt werden (können). Die jeweiligen Ausprägungen von Phänomenen auf den unterschiedlichen kommunikativen Ebenen und ihre Verknüpfung folgen Stilbildungsprinzipien, die zu strukturellen und ästhetischen Homologien und zu einem einheitlichen „Bild“ von Gruppenstilen führen. Nach unseren bisherigen Beobachtungen spricht viel dafür, dass diese Ebenen generell von stilistischer Relevanz sind, dass jedoch die Gewichtungen unterschiedlich sein können. 3. Anlage und Inhalt des Bandes Der Band beginnt mit Arbeiten, die sich mit grundlegenden Fragen und Konzepten beschäftigen, die unserem Konzept des sozialen Stils vorgelagert sind bzw. auf denen es basiert. Konrad Ehlich beleuchtet in einem groß angelegten geschichtlichen Überblick einen zentralen Aspekt des Stilbegriffs, den seiner Übertragungsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart. Er zeigt dabei auch Traditionslinien auf, in die er das Projekt „Soziostilistik der Kommunikation in Deutschland“ einordnet und die es historisch fundieren. Ehlich beginnt seine Begriffsgeschichte mit der Übernahme des griechischen „stylos“ ins Lateinische, die mit einer Bedeutungsausweitung von „Griffel“ bzw. „Schreibwerkzeug“ hin zur Bezeichnung von „Darstellungsweisen“ verbunden ist. Als „stilus“ in die Rhetorik übernommen wird und eine Dreigliederung in „stilus humilis“, „stilus mediocris“ und „stilus gravis“ erfährt, wird damit die Grundlage für eine elementare Schreibweisenlehre geschaffen. Vom Mittelalter bis ins 18. Jh. erfährt der Begriff in mehreren europäischen Ländern eine vielfache Veränderung und Ausweitung; die Rhetorik wird allmählich durch die Stilistik verdrängt, und im Laufe dieses Transformationsprozesses entwickelt sich „Stil“ zu einem Konzept, mit dem Autorschaft und Werkcharakteristik erfasst werden können. „Stil“ hatte bereits in der Antike auch einen direkten gesellschaftlichen Bezug; waren bei Vergil Hirte, Bauer und Soldat die prototypischen Vertreter der drei Stilausprägungen, so waren es im Mittelalter Höflinge, Stadtbürger und Bauern. Stil wurde damit zum Stabilisierungselement und zum Symbolträger einer ständischen Gesellschaft. In diesem Verständnis von Stil, das einen Bezug herstellt zwischen Ausdrucksweisen einerseits und in bestimmten Gesellschaftsformationen geprägten sozialen Typen andererseits, sieht Ehlich Anknüpfungspunkte für das Projekt einer kommunikativen sozialen Stilistik. Der Beitrag von John Gumperz fokussiert das Konzept des „common ground“, das er als Schlüsselelement für das Verständnis von Alltagsgesprä- 16 Inken Keim/ Wilfried Schütte chen betrachtet. Aus Gumperz' Perspektive wirken im semiotischen Aushandlungsprozess sowohl konventionalisierte lexikalische und grammatische Hinweise als auch indexikale, kontextverweisende und kontextproduzierende. Common ground bildet die Basis für die Wirksamkeit von Kontextualisierungshinweisen im Prozess der interaktiven Bedeutungsherstellung. Anhand eines Alltagsgesprächs zwischen zwei Schwestern zeigt Gumperz die Bedeutung von diskursiven Praktiken, die sich im Laufe einer langen Interaktionsgeschichte herausgebildet haben: Sie wirken als Interpretationsressource bei der Bedeutungsherstellung und treiben gleichzeitig den Prozess der Verdichtung und Ausdifferenzierung von common ground zwischen den Interaktanten voran. Herstellung, Stabilisierung und ständige Ausdifferenzierung eines common ground und der Rückgriff darauf durch konventionalisierte Kontextualisierungsmittel bilden eine wesentliche Voraussetzung für die Herausbildung von kommunikativen Stilen. Fritz Schütze beschäftigt sich mit dem für unser Stilkonzept zentralen soziologischen Konzept der sozialen Welt. Ausgehend von der Feststellung, dass in modernen komplexen Gesellschaften die von der phänomenologischen Wissenssoziologie postulierten Alltagswissensbestände, die grundlegende Konzepte für die Routinegestaltung gewöhnlicher Ereignisse enthalten, nicht mehr ausreichen, um die ständige Veränderung und Spezialisierung im Zuge des raschen gesellschaftlichen Wandels konzeptionell erfassen zu können, führt Schütze das in der Chicago-Soziologie entwickelte Konzept der sozialen Welt ein. Mit diesem Konzept können auch soziale Arrangements der Wissensproduktion erfasst werden, die den permanenten Veränderungen von Wissensbeständen mit Spezialisierungen, Ausdifferenzierungen und Widersprüchlichkeiten Rechnung tragen. Charakteristisch für soziale Welten sind die Hervorbringung einer gemeinsamen Kultur, die Ausprägung eines Wir- Bewusstseins und einer zentralen Orientierung für die Durchführung sozialweltspezifischer Aktivitäten. Die Fokussierung auf Problembearbeitung, auf Authentizität und auf stilistische Angemessenheit von Kernaktivitäten führt immer wieder zu Auseinandersetzngen in Arenadebatten, die die Aufspaltung in Subwelten oder die Herausbildung sozialer Bewegungen zur Folge haben können. An einigen Beispielen führt Schütze vor, wie überkommene Wissensbestände der bisherigen Gesellschaftsordnung radikal in Frage gestellt und wichtige Fragestellungen der gesellschaftlichen Neuordnung in Diskursarenen spezifischer Sozialwelten bearbeitet wurden. Die übrigen Beiträge des Bandes präsentieren Stilanalysen aus sehr unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft. Dabei nehmen sie Bezug auf das oben beschriebene Stilkonzept bzw. fokussieren einzelne stilkonstitutive Aspekte: Einige Beiträge fokussieren für bestimmte soziale Gruppen spezifische Regeln des Sprechens (A. Müller, Spranz-Fogazy und Schmitt), andere Beiträge beschreiben die für bestimmte soziale Gruppen charakteristischen Formen und Verfahren der Selbst- und Fremdtypisierung bzw. Kategorisie- Einleitung 17 rung (Bierbach/ Birken-Silverman, Keim, Meng/ Protassova und Spiegel). In einigen Beiträgen kommt der Zusammenhang zwischen mehreren stilkonstitutiven Phänomenen in den Blick (Bierbach/ Birken-Silverman, Günthner/ Schmidt, Holly, Schütte, Schwitalla). In allen Beiträgen wird Stil im weitesten Sinne als sozialer Stil, als Gruppenstil oder als an bestimmte gesellschaftlich relevante Rollen gebundener Stil gefasst, und bei der Analyse stilrelevanter Aspekte wird der Bezug zu den zugrunde liegenden gesellschaftlichen Voraussetzungen und Bedingungen hergestellt. Es werden Ausschnitte aus wesentlichen Bereichen der gesellschaftlichen Stilbildung präsentiert und einige Autorinnen und Autoren zeigen auch, wie die Spannung zwischen unterschiedlichen soziostrukturellen, kulturellen und politischen Voraussetzungen und Bedingungen und die Spannung zwischen konkurrierenden Handlungsorientierungen in der Stilbildung ihren Niederschlag finden. Für die Anordnung der Beiträge haben wir uns für ein Ordnungsprinzip entschieden, das die Beiträge nach den gesellschaftlichen Bereichen zusammenfasst, die Gegenstand der Stilanalysen sind: - Verschiedene Berufswelten, die sich im Spannungsfeld zwischen lokalen und überregionalen oder globalen Bedingungen und Anforderungen bewegen; verschiedene Migrationswelten, die sich in Auseinandersetzung mit alteingesessenen Welten etabliert haben, und Prozesse sozialer Umbrüche; verschiedene medial geprägte Welten, die in unterschiedlicher Weise die medialen Voraussetzungen verarbeiten, die Herausbildung sozialer Welten unter medialen Bedingungen; - Welten, die im Bereich der Altersdimension variieren und - Welten, die sich im Spannungsfeld zwischen Öffentlichkeit und Privatheit bewegen. Berufswelten Andreas P. Müller beschreibt einige Interaktionsregeln in innerbetrieblichen sozialen Welten aus drei Betrieben in Frankreich, Spanien und Deutschland. Die im Regelfall nicht hinterfragten Interaktionsregeln bestimmen die Erwartungen der Beteiligten an die Normalform eines Gesprächsverlaufs in bestimmten Situationen mit. Müller beschreibt vor dem Hintergrund einer stark arbeitsteiligen Organisation von Unternehmen die situativen Repertoires an Ausdrucksmöglichkeiten für Mitarbeiter in den untersuchten Betrieben, aus denen sie nach handlungsökonomischen und zielorientiert-strategischen Gesichtspunkten auswählen. Anhand von Beispielen werden einige Regeln herausgearbeitet, die in vergleichbaren Situationen in allen drei Betrieben gelten: In Informationsgesprächen, in denen ein effektiver Wissenstransfer geleistet werden soll, gilt die Regel „nur Verständnisfragen und kei- 18 Inken Keim/ Wilfried Schütte ne Problematisierungen“. Eine Regel, die den Umgang mit der Identität von Personen in Arbeitsbesprechungen betrifft, ist das „Entpersonifizierungsgebot“, das der Versachlichung schwieriger, konfliktträchtiger Themen und der Wahrung einer Imagebalance im Zusammenhang mit negativer Selbst- und Fremddarstellung dient. Reinhold Schmitt untersucht den Kooperationsstil in einer Editing-Gruppe einer internationalen Untemehmensberatung; die Hierarchie in solchen professionellen Arbeitsgruppen sieht er als wesentlich für die Strukturierung und die Bildung des Kooperationsstils an. In seinem Beitrag fokussiert Schmitt vor allem methodologische Aspekte einer Stilanalyse und geht von einem sequenziell geordneten Drei-Ebenen-Analysemodell aus: auf der Konversationsanalyse, die, ausgehend von unterschiedlichen Realisierungsmöglichkeiten für Äußerungen nach den Realisierungsregeln unter konkreten Interaktionsbedingungen sucht, baut die gesprächsrhetorische Analyse auf, die sich mit den Chancen und Risiken konkreter Handlungszüge für die Beteiligten befasst; bei der stilistischen Analyse werden die Ergebnisse der vorangegangenen Analysen reinterpretiert mit dem Ziel, einen „Konvergenzpunkt“ zu finden, von dem aus sich die unterschiedlichen Aspekte als Symbolisierungsformen von Gruppenidentität zusammenfassen lassen. Nach diesem Modell analysiert Schmitt einen Gesprächsausschnitt aus der Sitzung einer editing- Gruppe und kommt zu dem Ergebnis, dass die Art und Weise der gemeinsamen Konstitution von Hierarchie und die spezifische Entsprechung der Beteiligungsweisen von Mitarbeiterin und Chefin die zentralen stilrelevanten Aspekte sind. Für Thomas Spranz-Fogasy ist das kommunikative Alltagshandeln gesellschaftlicher Führungskräfte situatives und übersituatives Kontrollhandeln. Er vergleicht den Stil von Führungskräften in drei Dimensionen: den generellen stilistischen Eigenschaften gesellschaftlicher Führungskräfte im Vergleich zu anderen sozialen Welten, den sektorenspezifischen stilistischen Unterschieden und den individuellen Eigenschaften. Das führt er exemplarisch vor durch die Analyse der Kontroll- und Steuerungstätigkeit zu Gesprächsbeginn und dann mit einer typologischen Skizze zum interaktiven Entscheidungshandeln, dem „letzten“ Wort. Vor dem Hintergrund der These, dass Führungskräfte bei gesteigerten kommunikativen Anforderungen bzgl. der Informationsmenge, schnell wechselnder Handlungsaufgaben und Interaktionspartner die aktuelle Kommunikationssituation stark kontrollieren, scheint das verbreitete langsame Sprechtempo hinsichtlich einer kommunikativen Effizienz dysfunktional, eröffnet aber einen Freiraum für die eigene Äußerungsplanung und schafft gesprächsorganisatorische Zwänge für die Beteiligungsmöglichkeiten der Partner. Elisabeth Gülich und Ingrid Furchner beschäftigen sich damit, wie Epilepsiekranke im Arzt-Patienten-Gespräch kommunikative Grenzerfahrungen be- Einleitung 19 wältigen, wie sie ihre Anfälle, die sog. „Auren“, beschreiben und wie sie insbesondere mit dem Problem der Nicht-Mitteilbarkeit umgehen, dem subjektiven Erleben einer äußerst schweren Beschreibbarkeit. Deren „accountability“ wird durch unterschiedliche Verfahren deutlich für einen Teil der Patienten durch Kapitulation bis hin zum Verstummen, für andere durch erhöhten Formulierungsaufwand mit Reformulierungen, Negativdefmitionen, Veranschaulichung durch Metaphern und Vergleiche sowie Redebewertung und -kommentierung. Die Analyse ist zum einen auf einen linguistischen Forschungskontext bezogen für eine Beschreibung des Unbeschreibbaren müssen die Beschreibungskategorien entwickelt werden; die kommunikative Grenzwertigkeit dieser Kommunikation wird zugleich daran kenntlich, dass die Reziprozität der Perspektiven zumindest partiell in Frage gestellt ist. Zum anderen sind Aura-Beschreibungen für die Epileptologie ein wichtiges Erkenntnisinstrument sie zieht mittlerweile nicht mehr nur objektive Befunde heran, sondern beachtet auch die subjektive Krankheitserfahrung. Da es nicht um den Erfahrungsaustausch unter Patienten geht, ist es zunächst schwierig, von einer sozialen Gruppe und ihrem konstitutiven kommunikativen Stil zu sprechen. Die Patientinnen und Patienten konstruieren aber ihre Identität als Angehörige einer spezifischen Gruppe von Anfallskranken, indem sie ihre eigene Bewertung als schwer beschreibbar gegen alternative Bewertungen immunisieren und sich gegen Andere abgrenzen, die zu diesen Erfahrungen einen allenfalls eingeschränkten Zugang haben. Migration und soziale Umbrüche Christine Bierbach und Gabriele Birken-Silverman beschreiben den Kommunikationsstil in einer Gruppe italienischer jugendlicher Migranten aus der HipHop-Szene in Mannheim. Für die Selbstpositionierung dieser Breakdance-Gruppe von Jugendlichen der 2. und 3. Migrantengeneration ist die Spannung zwischen der traditionellen Welt der Familie und der als „avantgardistisch“ und multi-ethnisch erfahrenen lokalen Jugendszene charakteristisch. Im Rahmen eines Konzepts, jugendliche Migranten nicht als entwurzelt und doppelt-halbsprachlich abzuwerten, sondern ihr kulturelles Repertoire und ihren gruppenspezifischen Stil als „Kultur der Zwischenräume“ und als Montage unterschiedlicher Sprachvarietäten und Stilelemente aufzufassen, stehen insbesondere der „subversive“ Stil und spezifische Formen der Selbstinszenierung innerhalb der Jugendclique im Fokus. Rita Franceschini befasst sich mit Verkaufsgesprächen in kleineren Geschäften in einem Basler Stadtteil mit ethnisch gemischter Population. An den Gesprächen sind deutschschweizer Händler und italienische Kundinnen beteiligt. Auf die Wahl des Italienischen als Interaktionssprache zu Beginn der Gespräche reagieren die deutschschweizer Händler mit verschiedenen Sprachmischungen, vor allem mit Quasi-Italienisch und der lokalen Variante 20 Inken Keim/ Wilfried Schütte des Deutschen. Die Vorgefundenen Sprachmischungen sieht Franceschini weder als Ergebnisse von Code-switching noch als Fusionen oder Transfer, sondern als einen spezifischen „mixed style“, einen nicht-normierten Umgang mit mehreren Sprachen in einem handlungspraktischen Kontext. Die Herausbildung dieses mixed-style wird als spezische Form der Verarbeitung der multilingualen Gesprächssituation und als spezifische Lösung für den Umgang mit Fremdheit gedeutet. In ihrem Beitrag beschäftigt sich Inken Keim mit einem der stilkonstitutiven Aspekte, mit Prozessen der sozialen Kategorisierung in einer jugendlichen Migrantinnengruppe türkischer Herkunft. In einem als Schlüsselereignis ausgewählten Gespräch, in dem die Beteiligten, ausgehend von der gesprächsweisen Verarbeitung von Diskriminierungserlebnissen, an einer Neudefinition des Selbstbildes und relevanter Fremdbilder arbeiten, werden in einer exemplarischen Analyse unterschiedliche Kategorisierungsprozesse herausgearbeitet, die sich hinsichtlich der Kategorienrelationen, der Perspektivierungen, der Interaktionsmodalitäten und der verwendeten Darstellungsmittel unterscheiden. Die spezifischen Migrationsbedingungen und -erfahrungen der Beteiligten werden als konstitutiv für die Herstellung bestimmter kategorieller Bedeutungen, für die Festlegung der Relationen zwischen Kategorien und für die Herausbildung bestimmter Kategorisierungsverfahren betrachtet. Katharina Meng und Ekaterina Protassova erörtern das ethnische Selbstverständnis in einer russlanddeutschen Familie. In der Erfahrung dieser Familie sind für die Kategorie „Deutscher“ in der Sowjetunion und in Deutschland ganz unterschiedliche Merkmale dominant dort „amtliche“ Momente wie Abstammung und Familienname und historische Zuschreibungen, etwa die Assoziation des deutschen Aggressors im 2. Weltkrieg, hier die Sprachfähigkeiten im Deutschen und alltagsweltliche Handlungskompetenz. Dies zeigen Meng und Protassova durch den Vergleich zwischen einem biografischen Interview, das sechs Monate nach der Übersiedlung geführt wurde, und einem Interview, das dreieinhalb Jahre später stattfand. Norbert Dittmar fragt, mit welchem Begriff verbale und nichtverbale Unterschiede im kommunikativen Verhalten zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen fassbar werden mit „Varietäten“, mit „Stil“ oder mit „Gestalt“ - und ob durch Kontextualisierungsverfahren Spuren abgelagerter West- und Osterfahrungen im sprachlichen und kommunikativen Verhalten kenntlich werden. Stereotypisierende und argumentative Äußerungen führen heuristisch zur Annahme unterschiedlicher Argumentationsstile: im Osten der Stil einer beschädigten, im Westen einer hegemonialen Identität. Die Bestimmung des ostdeutschen Stils ist aufgrund zweier Paradoxien schwierig: Zum einen wird in analytischer Asymmetrie der Oststil über einen als bekannt unterstellten Weststil definiert; zum anderen war der Oststil zumindest für den öffentlich-politischen Diskurs bis 1989 gut über seine Manifestationen an der Einleitung 21 Textoberfläche (etwa denen der verbreiteten steifen Nominalisierungen und des moralischen Argumentierens) kenntlich und institutionell gebunden. Eine methodisch interessante Frage ist, ob die Spuren zehn Jahre später in der Situation eines Übergangsverhaltens noch als „Stil“ zu beschreiben sind. Medial geprägte Welten Susanne Günthner und Gurly Schmidt beschreiben die stilistischen Mittel von Internet-Chats. Leitfragen dabei sind, welche kommunikativen Verfahren in der Welt der Chat-Gruppen bereits konventionalisiert und damit Bestandteile dieser kommunikativen Gattung geworden sind und welche Kommunikationsformen die erst schwach sozialisierten Anfänger, die sog. „Newbies“ erwerben müssen, um reibungslos in dieser synchronen Form computervermittelter Kommunikation mitmachen zu können. Dabei nehmen Günthner und Schmidt ein reflexives Verhältnis zwischen der Etablierung bestimmter stilistischer Konventionen in Chat-Groups und der Konstituierung bestimmter sozialer Milieus an: Die Milieus konstituieren sich u.a. durch die Orientierung an gemeinsamen kommunikativen Konventionen, die zugleich von den Teilnehmenden interaktiv ausgehandelt werden. Wilfried Schütte untersucht Mailinglisten, Newsgroups und Internet-Clubs und ordnet den „Stil“ in diesen Internet-Foren metaphorisch zwischen „Stille und Lärm“ ein. Vor dem Hintergrund einer Internet-spezifischen hybriden konzeptionellen Mündlichkeit auf schriftlichem Kanal ist eine effiziente Kommunikation in diesen Foren potenziell von zwei Seiten bedroht: durch zu wenige oder zu viele Informationsangebote. Wenn man eine Kommunikation via Internet als neue Kulturtechnik ansieht, ergeben sich Veränderungen für die Normen und Leitvorstellungen auf mehreren Ebenen: Lexikalisch verändert sich die Internet-Fachsprache durch Neologismen und semantische Verschiebungen; bei den Internet-typischen Kommunikationsmustern fällt besonders das „Quoten“ mit seinen Chancen und Risiken auf; eine Verrätselung (durch „nicknames“) steht einer vollen Präsentation der eigenen Identität gegenüber. Für eine Heuristik der Formen von Kommunikationsregulierung sind für Schütte besonders Mailinglisten mit einer nicht vollständig ausgebildeten professionellen Orientierung (z.B. für Berufsanfänger) interessant, ebenso autoreflexiv-metakommunikative Passagen und die Reaktionen darauf. Diese Texte dienen dazu, Kommunikationsprobleme und Krisen zu bewältigen, Divergenzen zum angemessenen Kommunikationsstil auszugleichen, Störungen abzuwehren und Beteiligungsrollen zu definieren. Werner Holly beschreibt den Stil der „Brigitte“-Kolumnen von Elke Heidenreich aus den Jahren 1983 bis 1988. Der Stil dieser Kolumnen wird geprägt durch die Bedingungen einer medial konstruierten Kommunikationssituation zwischen dem nur teilweise autobiografischen „Ich“ der Kolumnistin und 22 Inken Keim/ Wilfried Schütte einer typisierten und idealisierten Leserin. Dabei wird mit impliziten und expliziten sozialen Kategorisierungen ein „sozialer Stil“ von Selbstbestimmtheit, autonomer Mündigkeit, Kritik und zu Selbstironie fähiger Ironie, Toleranz und Perspektivenvielfalt konstruiert. Dazu werden spezifische Ausdrucksformen verwendet wie szenische Vergegenwärtigungen von Alltagssituationen, als typisch umgangssprachlich markierte Routineformeln, Phraseologismen und Partikeln und als witzig modalisierte Neologismen. Öffentlichkeit und Privatheit Johannes Schwitalla beschreibt die Syntax des Kanzleistils, wie er vom 14. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts für viele Textsorten öffentlicher Herrschaftsdarstellung und -ausübung kennzeichnend war, als sozialen Stil. Er führt damit einen Aspekt aus, auf den auch Ehlich in seinem stilhistorischen Überblick hinweist. Stilprägend waren komplexe Hypotaxe, syntaktische Parallelismen, Substantivableitungen aus Verben mit vielfältigen Attributen und formelhaften Ausdrücken zur Kennzeichnung des Personen-Standes. Satzgefüge mit vorangestellten und mehrfach untergeordneten Nebensätzen dienten dazu, bei einer Verfügung nicht nur die Entscheidung selbst, sondern auch ihre Vorgeschichte und die Grundlagen der Entscheidung darzustellen der Stil der EU-Rechtsakte erscheint mit seinen legitimierenden Erwägungsgründen und seiner syntaktischen Sprödheit als ein aktuelles Pendant. Auch außerhalb des Kontextes politischer Macht war der Kanzleistil mit seiner Aura von Herrschaft und seinem Prestige attraktiv als Mittel, sich öffentlich Aufmerksamkeit zu sichern. Die syntaktische Komplexität des Kanzleistils kann als Allegorie der feudalen Herrschaft interpretiert werden im Rahmen einer über einzelne Kulturen und Epochen hinaus gültigen prinzipiellen Analogie zwischen sprachlichem Mehraufwand und sozial gehobener Stellung. Frank E. Müller beschäftigt sich anhand eines Ausschnitts aus einer öffentlichen Rede von Benito Mussolini mit Aspekten dessen Rhetorik und zeigt in seiner Analyse ihre rhetorische Wirksamkeit. Müller analysiert die Rede als Interaktion zwischen Redner und Publikum und zeigt die Relevanz der interaktiven Prozeduren zwischen Redner und Publikum auch gerade für die rhetorische Analyse einer nur scheinbar monologischen öffentlichen Rede. Alle Ebenen des Ausdrucksverhaltens des italienischen Faschistenführers, die verbale Produktion, Gestik und Mimik sind eng aufeinander bezogen und verstärken sich wechselseitig in ihrer Wirkung. Durch die Analyse wird deutlich, wie sich unter spezifischen historischen und politischen Bedingungen und in Reaktion auf spezifische situative Anforderungen ein ganz bestimmter Stil politischer Rede in Interaktion mit dem Publikum herausbildet, der durch eine „high-key“-Rhetorik charakteristiert ist, zu deren wesentlichen Elementen Theatralik und die Inszenierung von Außergewöhnlichkeit gehören. Mit Einleitung 23 seiner Analyse der auf der Piazza theaterhaft inszenierten Führer-Volk- Kommunikation zeigt Müller, wie der italienische Faschistenführer die Massen begeistern konnte. Anhand von finnischen Fernsehdiskussionen zeigt Liisa Tiittula, wie sich die beiden Bewerber um die finnische Präsidentschaft im Frühjahr 2000- Esko Aho und die spätere Wahlsiegerin Tarja Halonenwährend des Wahlkampfes bei gemeinsamen Fernsehauftritten mit konkurrierenden Anforderungen auseinander setzen. Diese Anforderungen bestehen zum einen darin, jeweils eine eigene politische Position im Kontrast zum politischen Konkurrenten zu profilieren, zum anderen darin, sich überparteilich als Präsident/ -in „für das ganze Volk“ zu stilisieren. Das Dilemma dieses Anforderungs"Spagats“ lösen die beiden durch eine Demonstration von kommunikativen Eigenschaften, die sie in jeweils persönlicher Akzentuierung als zentral für das Handeln eines guten Präsidenten ansehen. So fuhrt die Orientierung an einem präsidialen Stil zu einem unaggressiven und toleranten Umgang miteinander, der im Kontrast steht zum kommunikativen Handeln beider, wenn sie als politische Gegner im Parlament auftreten. Hier wird Stil funktional als Mittel der Symbolisierung von Rollenidentität eingesetzt. In der literarischen Stilforschung gilt Ironie als stilkonstitutives Merkmal. In ihrem Beitrag zeigt Helga Kotthoff, die sich mit der Rezeption von Ironie im Kontext befasst, dass es in der mündlichen Kommunikation situationsspezifische Verarbeitungsformen von Ironie gibt. Während die kognitionsorientierte Ironie-Forschung mit Labor-Situationen operiert, in denen die Rezipienten von der Ironie nicht betroffen sind und sie somit auch nicht weiterführen können, erhellt die Ironie-Rezeption in natürlichen Gesprächssituationen Prozesse der Informationsverarbeitung. Kotthoff zieht Privatgespräche unter guten Bekannten und kontroverse Femsehdiskussionen als unterschiedliche Situationstypen heran. Sie stellt fest, dass in Privatgesprächen vorzugsweise auf das in der Ironie Gesagte reagiert werde, in den Mediengesprächen dagegen auf das mit der Ironie Gemeinte. So wird Ironie zu einem Sonderfall der Kommunikation mit einer Bewertungskluft zwischen Gesagtem und Gemeintem, und die Verarbeitung von Ironie wird zum unterscheidenden Charakteristikum für private und öffentliche Kommunikation. Werner Nothdurft fokussiert in seinem Beitrag einen in der Forschung bisher relativ wenig berücksichtigten Aspekt von Alltagsgesprächen, ihre poetische Qualität. Er wendet sich dagegen, die Analyse von Streitgesprächen auf rationale Handlungsziele der Beteiligten zu reduzieren. Die evidente Vitalität des alltagsweltlichen Streitens, die sich in artistischen und für die Beteiligten bei aller Härte als „lustvoll“ erlebten Momenten ausdrückt, wie sie in Schlichtungsgesprächen zur außergerichtlichen Beilegung von Streitfällen zu Tage treten, verlangt vielmehr nach einer „Poetik des Streitens“. Anknüpfend an zwei Forschungstraditionen, die Ethnopoetik und die Forschung zu „Per- 24 Inken Keim/ Wilfried Schütte formance“ zeigt der Verfasser an einem Beispiel aus einer Schlichtungsverhandlung Phänomene auf, die die Verlaufsdynamik und die Poetik des Streitens mit hervorbringen, strukturelle Besonderheiten wie gleichzeitiges, immer lauter und intensiver werdendes Sprechen, Unterbrechungen, mehrfache Wiederholungen, Blockaden und Verschleppungen, Synchronizität und Asynchronizität des nichtsprachlichen Handelns, Karikatur und Mimikry. Mit seinem Plädoyer für die Erforschung poetischer Qualitäten alltäglicher Kommunikation macht Nothdurft auf einen wesentlichen stilkonstitutiven Aspekt aufmerksam, der wie der Beitrag von Streeck zeigt vor allem auch in Jugendkulturen und in Jugend-Musikszenen zum Tragen kommt. Alt und Jung Reinhard Fiehler beschäftigt sich mit dem Konzept des sozialen Stils und seiner Anwendbarkeit auf die Altersdimension vor allem theoretisch. Er geht davon aus, dass sich für ältere Menschen aufgrund veränderter sozialer, sozioökonomischer und kommunikativer Bedingungen in der Zeit nach dem Berufsleben auch die Lebenssituation und die alltäglichen Erfahrungen und Anforderungen ändern. Der Stil des Alters ist Resultat der Auseinandersetzung mit den Veränderungen und den neuen Lebensbedingungen. Fiehler unterscheidet Altersstil entlang zweier Kontrastierungsachsen: Zum einen wird er erkennbar durch den Vergleich mit Kommunikationsstilen von jüngeren, berufstätigen Menschen. Zum anderen gibt es eine Variation quer zur Altersachse; verschiedene Gruppen oder Milieus von älteren Menschen entwickeln in Abhängigkeit von ihren jeweils spezifischen gesellschaftlichen Einbindungen und Orientierungen unterschiedliche Kommunikationsstile. Durch die Unterscheidung dieser beiden Dimensionen versucht Fiehler sowohl die Einheitlichkeit eines Altersstils als auch seine Varianz zu erfassen. Carmen Spiegel zeigt, wie Schülerinnen und Schüler in Argumentationsübungen im Deutschunterricht einer 10. Klasse ihre Identität und Individualität herausarbeiten. Dabei greifen sie auf bestimmte Eigenschaften von gesellschaftlich relevanten sozialen Typen zurück, wie den „Hip-Hopper“, den „Grünen“ u.Ä. Bei den Formen von Individualitätskonturierung unterscheidet Spiegel zwischen den einfacheren, die sich auf nur wenige Rollenstereotype oder soziale Kategorisierungen beziehen, und den komplexeren, in Interaktionsverlauf und -modalität dynamischen, die mehrere soziale Kategorisierungen beinhalten. Jürgen Streeck beschreibt die Kultur der so genannten „Hip-Hop-Nation“ und betont ihre Dynamik: Sie konstituiert sich über sprachlichen Praktiken, die in ständigem Wandel und beständiger Erweiterung Sprache in Bestandteile zerlegt, ihre kulturellen Referenzen indexiert und sie neu zusammensetzt. Streeck sieht dabei das mündliche Genre des Rap als evolvierende Dis- Einleitung 25 kursinstitution, mit deren Beherrschung Beteiligte an kulturellen (Re-) Konstruktionen von Wirklichkeit teilhaben können. Wenn dabei zum einen die Protagonisten, die „Masters of Ceremony“ (M.C.'s), soziale Zugehörigkeit etwa über Ortsgebundenheit definieren, zum anderen idiosynkratische Techniken sprachlicher Improvisation benutzen, bedienen sie sich einer seindynamischen Kombination traditioneller und „postmoderner“ Montage- Methoden. Diese Montagetechnik wird exemplarisch deutlich in der Ambivalenz der beiden Verfahren „representing“ und „dedication“, d.h., in der Spannung zwischen einer Authentizität ermöglichenden Selbstverortung als loyaler Repräsentant eines Ortes und damit der Fokussierung einer lokalen Face-to-Face-Interaktion einerseits und der Markierung des eigenen Ortes in einem globalen, medial vermittelten Netzwerk, in dem Vorbilder benannt und Abgrenzungen betrieben werden andererseits. Arenen für die Identitätsbildung sind „battles“, sprachliche Kämpfe. In ihnen wird die eigene Potenz überhöht („boasting“) und die der Gegner herabgesetzt („dissing“); Ressourcen sind dabei die „skills“ mit ihrer spezifischen Kombination von improvisierender Spontaneität und Repertoirebezug. Das Schillernde, Dynamische, Ambivalente, Anspielungsreiche und Autoreflexive der Rapper-Sprache ist Ausdruck ihrer weit reichenden kommunikativen Kraft: Hip-Hop wird zu einer alternativen soziolinguistischen Analyse, mit der Rapper die symbolischen Bausteine ihrer Identitäten untersuchen und damit zugleich in einer alltagspraktischen Weise Sprachpolitik betreiben. 4. Literatur Auer, Peter (1989): Natürlichkeit und Stil. In: Hinnenkamp/ Selting (Hg.), S. 27-60. Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M. Denzin, Norman (Hg.): Studies in symbolic interaction 5. Greenwich CT. Dittmar, Norbert/ Schlobinski, Peter (1988): The sociolinguistics of urban vernaculars. Case studies and their evaluation. Berlin. Gumperz, John (1982): Discourse strategies. Cambridge. (= Studies in interactional sociolinguistics 1). Gumperz, John (1994): Sprachliche Variabilität in interaktionsanalytischer Perspektive. In: Kallmeyer, Werner (Hg.), S. 611-638. Hinnenkamp, Volker/ Selting, Margret (Hg.) (1989): Stil und Stilisierung. Arbeiten zur interpretativen Soziolinguistik. Tübingen. Jakobs, Eva/ Rothkegel, Annely (Hg.) (2001): Perspektiven auf Stil. Akten des Kolloquiums zum 60. Geburtstag von Barbara Sandig. Tübingen. Kallmeyer, Werner (1994): Das Projekt „Kommunikation in der Stadt“, ln: Kallmeyer (Hg.), S. 2-38. Kallmeyer, Werner (1995a): Zur Darstellung von kommunikativem sozialem Stil in soziolinguistischen Gmppenporträts. In: Keim, Inken (1995), S. 1-25. 26 Inken Keim/ Wilfried Schütte Kallmeyer, Werner (1995b): Der kommunikative soziale Stil der „kleinen Leute“ in der Filsbach. In: Keim, Inken (1995), S. 506-531. Kallmeyer, Werner (Hg.) (1994): Kommunikation in der Stadt. Teil 1: Exemplarische Analysen des Sprachverhaltens in Mannheim. Berlin/ New York. Kallmeyer, Werner (Hg.) (1995): Kommunikation in der Stadt. Teil 2: Ethnographien von Mannheimer Stadtteilen. Berlin/ New York. Kallmeyer, Wemer/ Keim, Inken (1996): Divergent perspectives and social style in conflict talk. In: Kotthoff, Helga (Hg.): Interactional Sociolinguistics. Berlin. (= Folia Linguistica xxx/ 3-4). S. 271-298. Kallmeyer, Wemer/ Keim, Inken (1999): Deutsch-Türkische Sprachvariation und die Herausbildung sozialer Stile in jugendlichen Migrantlnnengruppen. Ms. Mannheim. Keim, Inken (1995): Kommunikative soziale Stilistik einer sozialen Welt „kleiner Leute“ in der Mannheimer Innenstadt. Kommunikation in der Stadt. Teil 3. Berlin/ New York. Sandig, Barbara (1978): Stilistik: Sprachpragmatische Grundlegung der Stilbeschreibung. Berlin/ New York. Sandig, Barbara (1986): Stilistik der deutschen Sprache. Berlin/ New York. Schwitalla, Johannes (1995): Kommunikative Stilistik zweier sozialer Welten in Mannheim- Vogelstang. Kommunikation in der Stadt. Teil 4. Berlin/ New York. Selling, Margret/ Sandig, Barbara (1997): Sprech- und Gesprächsstile. Berlin/ New York. Strauss, Anselm (1979): A social world perspective. In: Studies in symbolic interaction Bd. 1, S. 119-128. Strauss, Anselm (1984): Social worlds and their segmentation. In: Denzin, Norman (Hg) S. 123-139. Strauss, Anselm (1993): Continual permutation of action. New York. Konrad Ehlich „Stü“-Übung* Es scheint alles gesagt. Der „Stil“ ist in vielfältigen Dimensionen erforscht. Das Konzept gehört zu den unverkennbaren Favoriten der analytischen Bemühungen einer Reihe von Disziplinen, ja, die Erforschung seiner Geschichte ist integraler Bestandteil dessen, was Literaturwissenschaftler und Linguisten, was Rhetoriker und Philosophen, was Lexikographen und Mentalitätshistoriker am „Stil“ fasziniert. Wie bei nur wenigen anderen Konzepten gehört die Reflexion der je früheren Phasen der Begriffsgeschichte und Semantik zu den Elementen seiner heutigen Nutzung; und diese verdankt sich weithin der immer neuen und immer unterschiedlichen Aktualisierung eines durch und durch „schillernden“ Begriffs. „Dem Stilbegriff eignet eine vielleicht untilgbare Vagheit.“ (Pfeiffer 1986, S. 693). Im Ergebnis zeigt sich eine Literaturkonfiguration, die nicht nur etwa in den großen Wörterbüchern, z.B. Grimm/ Grimm (1960), Mitzka u.a. (1955), Paul (1992) die unterschiedlichsten Verwendungen des Ausdrucks minutiös und zusammenfassend vorhält. Vielmehr sind etwa in detaillierten Monographien wie Müller (1981) einzelne Aspekte, einzelne „topoi“ zu einer ganzen „Topik des Stilbegriffs“ synthetisiert worden. Forschungsgeschichtliche Kompendien in systematisierender Absicht (z.B. Sowinski 1983) liegen ebenso vor wie eine Vielzahl von Einzelstudien, wie sie sich etwa in dem aus der Fülle der einschlägigen Literatur durch die Intensität des theoretischen Zugriffs herausragenden Sammelband Gumbrecht/ Pfeiffer (1986) finden. Dieser Band bietet auch mit seinen beiden „Synthesen“ (Gumbrecht 1986, S. 729) zwei Versuche einer Systematik des Stilbegriffs (Gumbrecht 1986 und Pfeiffer 1986). Ein Wissenschaftler wie Hans-Martin Gauger, für dessen eigenes, linguistische und literaturwissenschaftliche Gegenstände zusammenfassendes Arbeiten „Stil“ eine fundamentale Rolle zukommt, umspielt das Thema in einer Reihe brillanter Artikel (Gauger 1992, 1995a-f). Linguistische Untersuchungen repräsentativ Stickel (1995)nähern sich dem Gegenstand aus einer anderen Richtung, und die insbesondere von Sandig (vgl. zusammenfassend Sandig 1983, 1995, Spillner 1984, Sowinski 1991 und Sanders 1973) vorangetriebene neuere linguistische Stilistik thematisiert Aspekte von „Stil“, die sich in den literaturwissenschaftlichen Herangehens- * Anm. d. Red.: Trotz der Abfassung des Manuskripts in alter Rechtschreibung wurde dieser Aufsatz gemäß den für diese Reihe geltenden Konventionen an die neue Orthografie angepasst. Nicht verändert wurden Wortformen, die auch weiterhin wie bisher geschrieben werden können. Dies betrifft z.B. die Schreibung der Wörter "-grafie/ -graphie“ und „Potenzial/ Potential“ sowie ihrer Zusammensetzungen und Ableitungen. 28 Konrad Ehlich weisen schon aufgrund der anderen sprachlichen Objektbereiche nicht zur Geltung bringen konnten (vgl. die Überblicke insbesondere von Sanders 2000 und Asmuth 1990). Die Beziehungen zur Didaktik erfahren neue Beachtung (Neuland/ Bleckwenn 1991). Es versteht sich, dass die hier aufgeführten Arbeiten lediglich exemplarisch genannt werden können, um die Vielfalt und Differenziertheit des Feldes zu illustrieren zahlreiche weitere verdienten es, erwähnt zu werden. Die Arbeiten Werner Kallmeyers bezeichnen in diesem Geflecht eine eigene, für ihn und seinen Arbeitszusammenhang charakteristische Substruktur. Zugleich, so scheint mir, ist das Konzept „Stil“ gerade aufgrund seiner philologisch-linguistischen Ubiquität etwas, was von Kallmeyers Dissertation über Lorca (Kallmeyer 1971) über das große Vorhaben der Stadtsprachen- Erforschung (Kallmeyer 1994, Kallmeyer 1995, Keim 1995, Schwitalla 1995) bis hin zum aktuellen Projekt einer Sozialstilistik (s. Keim/ Schütte in der Einleitung dieses Bandes) jenen roten Faden abzugeben vermag, der den Weg durch seine vielfältige Autorschaft weisen kann. Freilich, der „rote Faden“ ist in diesem Fall seinerseits eher ein aus unterschiedlichsten Fasern zusammengesetztes Phänomen, dessen Konsistenz und Bestandteile, vor allem aber dessen Einwebung in so außerordentlich voneinander unterschiedene „Texte“ und dessen Präsenz in den heutigen Wissenssystemen weiteres Nachdenken lohnen. Ziel der folgenden Überlegungen ist es, einen Aspekt, nämlich den der Übertragungsgeschichte von „Stil“, etwas genauer zu betrachten. Dieses Unterfangen wird in der Hoffnung unternommen, dadurch vielleicht einen kleinen Beitrag zu einer zukünftigen „Kritik des Stilbegriffs“ noch nicht einmal eigentlich zu leisten, sondern vorzubereiten. 1. Um über Reden und Schreiben sprechen zu können, wird in den (west- und nord-)europäischen Sprachen in erheblichem Umfang auf Ausdrücke wie auf Konzepte zurückgegriffen, die in der griechisch-römischen Welt entwickelt wurden. Reden und Schreiben sind nicht die einzigen Gebiete von Kultur, in denen das geschieht; doch hier geschieht es besonders intensiv - und dies ist alles andere als erstaunlich. Differenzierte kommunikative Anforderungen erbten die Völker der nachlateinischen Welt ebenso wie die Verfahren ihrer Bearbeitung von denen, bei denen diese sich bereits seit Jahrhunderten entwickelt hatten. In dem Amalgam, das unsere heutigen sprachlich-lexikalischen Mittel darstellen, sind diese Elemente weiter präsent. Sie sind zu einem geradezu ,Stil“-Übung 29 selbstverständlichen Bestandteil der Lexika aller der Sprachen geworden, die die Rede- und Konzeptualisierungstraditionen fortsetzen, deren Ausbildung in der griechisch-römischen Welt begann. Dabei haben sie innerhalb der jeweiligen Lexika ganz unterschiedliche Stellenwerte. Sie sind einerseits Teil jenes allgemeinen Vokabulars und der in ihm aktualisierten konzeptionellen Wissensbestände, die als Ergebnisse früherer wissenschaftlicher Reflexion entstanden und allmählich in den gedanklichen Allgemeinbestand überführt wurden. Sie sind andererseits eine „stille Ressource“, die je neu aktualisiert und als Potential neuen Nachdenkens, neuer Konzeptualisierungen genutzt werden kann. Das Ergebnis dieser komplexen Prozesse ist eine semantische Konglomeration, deren einzelne Elemente schwer zu sondern und noch schwerer zu durchschauen sind. Diese für den Ausdruck „Stil“ kennzeichnende Kombination von resultatsichernden Fixierungen, aktualisierbarem Potential, das jeweils neu aufgerufen und in als gesichert geltende Erkenntnisse überführt werden kann, und einem Changieren zwischen beidem, bei dem die spezifischen Stellenwerte und damit die kognitiven Verlässlichkeiten nur schwer im Einzelnen bestimmbar sind, kennzeichnet die meisten Ausdrücke, die eine vergleichbare Geschichte und eine vergleichbare Geschichtlichkeit aufweisen. Es ist, denke ich, deutlich, dass es dabei nie einfach nur um die Ausdrücke allein geht, vielmehr genau um sie als Identifikatoren und Stellvertreter von Wissens-, Ableitungs- und Gedankenstrukturen, die ihr Gebrauch aufruft und zur Verfügung stellt. Für derartige Ausdrücke lohnt sich eine reflexiv-kritische Analyse, die die kognitive Qualität der Ressource näher zu bestimmen sucht, indem die in ihr niedergelegten Erkenntnisstrukturen und das Potential zu deren Weiterungen eruiert werden. 2. Die Zusammenfassung zu einer vermeintlich einheitlichen Kultur, der griechisch-römischen eben, verbirgt dabei ganz im Sinn der späten Sicht jenes Beerbungsvorganges -, dass für das differenzierte Reden und Schreiben und seine Mittel, seine Verfahren wie für deren Professionalisierung eine erste solche Beerbung vorausgegangen war, die der griechischen Welt durch die römische. Die Subsumtion des Griechentums unter die Macht Roms war eine eigenartige Mischung von militärisch-politischer Flegemonisierung bei gleichzeitiger kultureller Unterwerfung. Es waren die Griechen, die trotz einer weit entwickelten öffentlichen Redepraxis auch bei den Römern als Muster, als Vorbild, als Experten des Wortes erschienen. Ihre Erkenntnisse über Wort und Schrift übernahm man - und tat es mit allen dafür transkultu- 30 Konrad Ehlich rell zur Verfügung stehenden sprachlichen Verfahren. Vier Aspekte sind hervorzuheben: (a) die Belehnung der Terminologie im fremden Wortlaut; (b) die Belehnung der Bezeichnungsweisen in der Gestalt von Neuschöpfungen oder von Wortbedeutungserweiterungen („Lehnübersetzungen“); (c) die Übernahme des Wissenssystems; (d) die Herstellung von Praxisfeldern und Vermittlungsinstitutionen. Die ersten beiden sind hier von besonderem Interesse. Am Beispiel der Ausdrücke für die Rhetorik wie für die Grammatik selbst sind (a) und (b) zu illustrieren: aus der techne rhetorike und der techne grammatike werden die ars rhetorica und die ars grammatica: Der Ausdruck techne wird durch ars übersetzt; rhetorica hingegen übernimmt das griechische Wort und adaptiert es lediglich graphisch und in der Flexion. Der Terminologie-Status wird so unterstrichen. Entsprechend wird die auf die Schrift bezogene techne mit dem fremden Wort grammatikös bezeichnet: das, was mit den grämmatä, den Buchstaben als dem einzelnen Geschriebenen (Stamm graph- / gram- und die Neutrum-Bildung -ma), zu tun hat. Lateinisches oratorius (auf die Rede bezogen, zur Rede gehörig) und litteralis (auf die Schrift bezogen, zu den Buchstaben gehörig) gewinnen keine vergleichbare Nutzung. Es ist die sozusagen „technische“ Seite, die besondere, durch eine eigene Ausbildung gewonnene Qualifizierung der Spezialisten, die sich in der Terminologie selbst kenntlich macht. Die Rhetorik als eine vermittlungsfähige „Kunst“ also war spätestens in römischer Zeit eine durch und durch interkulturelle Angelegenheit - und es bedurfte der Herausbildung besonderer Umstände, um ihr in Rom einen vergleichbaren Platz zu vermitteln, wie sie ihn zur Zeit ihrer Höhepunkte im „Großen Griechenland“ gehabt hatte. Sie waren am Ende der Republik gegeben, als sowohl die juristischen wie die „politischen“ Umstände dem Reden einen je eigenen Platz gaben. Cicero und Quintilian antworteten auf die Herausforderungen und entwickelten jene lateinische Rhetorik, die zur Grundbildung des Mittelalters werden, die zugleich auch über dessen Ende hinaus und in seiner Ablösung durch die „Renaissance“ eine neue Faszination ausüben sollte. 3. Die einschlägigen Erkenntnisse waren bereits in der griechischen Geschichte zu einer in sich recht stabilen Tradition geronnen, aufgeführt zu einem „Gebäude“ (die Metapher taucht in der Gedächtnislehre der Rhetorik nicht umsonst auf) von Kenntnissen und Fertigkeiten, die lehrbar waren und so wei- 31 „Stil“-Übung tervermittelt werden konnten. Dieses Wissenssystem zielte auf Praxis ab und unterschied sich darin von der episteme und noch mehr gar von der theoria. Es war eine techne\ darin lagen sein Nutzen und seine besondere Herausforderung. Freilich: zugleich waren erhebliche auch (im heutigen Sinn) theoretische Ansprüche damit verbunden. Die Rhetorik ging in der bloßen Fertigkeitensammlung nicht auf. Schnell war sie zu einer Weitsicht geworden, die sich mit Aggressivität und Polemik quasi als Systemangebot propagierte. (Die Philosophie nahm die Herausforderung an - und „modernisierte“ sich so. Die Fragen nach den Urgründen des Wissens und der Welt traten zurück, die Fragen der Grundlegung von Gesellschaft und Zusammenleben in den Vordergrund. Stand nach sophistischer Art „der Mensch“, das heißt der einzelne Bürger in seinen jeweiligen Interessen und seinen Versuchen, sich den anderen gegenüber durchzusetzen, im Mittelpunkt- oder sollte nicht die Wahrheit als etwas, was, über ihn hinausgreifend, eine verlässliche philosophische Grundlage für das Zusammenleben der Polis abgeben kann, diesen Mittelpunkt ausmachen? ) Mit dem Ende der Polis-Welt durch die makedonische Eroberung und Einigung, die die Gestalt einer neuen gesellschaftlichen Gesamtorganisation annahm, durch die schließliche Subsumtion unter die römische Herrschaft verlor die griechische Rhetorik große Teile ihrer Funktionszusammenhänge. Das Wissenssystem, nunmehr ohne seine eigentliche Basis, war aber derartig konsolidiert, dass seine Tradierung nicht mehr ernsthaft behindert war. Ja, vielleicht hat diese Loslösung gerade dazu beigetragen, dass es als konsolidiertes Wissen systematisiert (Quintilian) und geradezu schulisch vermittelt werden konnte. 4. Nur an wenigen Stellen erfuhr das System Erweiterungen. Die Einführung von stilus gehört dazu. Dieser Ausdruck hat eine eigenartige Vorgeschichte (vgl. Georges 1992, Sp. 2800f.). stilus ist (a) zunächst „jeder aufrecht stehende spitze Körper“ (ebd.). Dies betrifft die Landwirtschaft, in der (b) „ein spitzes, länglich rundes Werkzeug“ genützt wurde, „um die Gewächse auseinander zu machen“; (c) es betrifft das Militär, in dem „verdeckte spitze Pfähle, vorn mit eisernen Haken versehen“, als Palisaden eingesetzt wurden; (d) es betrifft den Gartenbau, wo stilus Stängel, Stange (Spargel), Stiel oder Stamm (Walnuss-, Olivenbaum) bezeichnet. (e) Schließlich wird stilus verwendet für die Tätigkeiten des Schreibens. Hier ist es der „Griffel“ (es ist diese wohl volksetymologisch aus graphium 32 Konrad Ehlich entlehnte Bezeichnung, die sich im Deutschen seit althochdeutscher Zeit durchsetzte (Paul 1992, S. 371)), mit dem geschrieben wurde, und zwar vor allem „in die wächsernen Tafeln“. Er war „oben breit wie ein Falzbein, unten spitz“ (Georges, ebd.). Diese zwei unterschiedlichen Enden des stilus waren beide wichtig: „Auf der einen Seite war der S[tilus] spitz, um die Schrift in Blei oder meist Wachs einzuritzen, während er auf der anderen Seite abgeplattet war, um das Wachs wieder glattstreichen und damit Fehler korrigieren zu können.“ (Oppermann 1975, Sp. 374; vgl. Gauger 1992 u. ö.). Die Verwendungsweisen (a) bis (d), besonders die Grund-„Bedeutung“ (a) „jeder aufrecht stehende spitze Körper“, verbinden das Wort mit dem griechischen stylos, das freilich eher für Säulen und vergleichbare Objekte verwendet wurde. Dass in der Zeit der klassischen „Bildung“ im Französischen, Englischen (bis heute) und im Deutschen „Stil“ lange, nämlich bis ins ausgehende 19. Jahrhundert, mit y geschrieben wurde, also „style“, mag zwar als „irrige Ableitung des lat. Wortes aus dem Griechischen“ bezeichnet werden (Mitzka 1955, S. 593). Man ist fast versucht, hier neben die „Volksetymologie“ sozusagen eine „Gelehrten-“ bzw. eine „Fachetymologie“ zu setzen mit ähnlichen Qualitäten, sozusagen als frühe Form für fachsprachliche Bildungen vom Typ „Handy“. Andererseits ist aufgrund der tatsächlichen etymologischen Beziehung die Kontamination von stilus und stylos so völlig ohne Stimmigkeit nicht. Die Beziehung des Schreibwerkzeugs stilus zur wächsernen Tafel rief einen besonderen Teilbereich des Schreibens auf: „Man bediente sich seiner besonders zur Übung im Schreiben ... u. zum Konzipieren.“ (Georges 1992, Sp. 2800). stilum vertere, den Griffel von der spitzen zur flachen Seite umdrehen, bedeutete, dass, wenn das Wachs wieder glattgestrichen wurde, Platz für das Konzipieren eines anderen Gedankens statt des ersten entstand und dieser ins Wachs gebracht werden konnte. Dass der Griffel zugleich auch als handliche und gut zu verbergende Kleinwaffe dienen konnte, musste nicht zuletzt der Autor Caesar an eigenem Leibe erfahren. Im „Stilett“ hält sich dieser Aspekt von „Autorschaft“ weiter präsent. 5. Das Schreibwerkzeug, genauer gesagt: die schreibbezogene Konzipierungshilfe, verwies auf eine weit entwickelte Praxis solchen Konzipierens. Die Rhetorik, die Aspekte von Mündlichkeit und Schriftlichkeit verbindet, bedurfte der schriftlichen Hilfe gerade dazu, um zu jener festen Form zu gelangen, die schließlich der memoria zugeführt werden konnte, um mündlich 33 „Stil“-Übung vorgetragen zu werden. Diese Praxis legte eine Nutzung des Ausdrucks stilus jenseits jener materiellen Konkretheit nahe, in der ein handliches Werkzeug des Schreibens erfasst war. Es kommt zu einer ersten Übertragung, und diese ist metonymischer Art. Hierfür häufen sich die Belege bei Cicero (vgl. Georges 1992, Sp. 2800, IV), 2)a)). Zunächst wird dabei das Schreiben im Sinne der schriftlichen Abfassung, im Sinne der Komposition gemeint; stilus wird zum Ausdruck für die Bezeichnung bestimmter Darstellungsweisen, zum Beispiel nach Art der Geographen. Ein stilus exercitatus ist sozusagen „eine geübte Feder“. 6. Doch mit dieser Metonymie beginnt erst eine fulminante Übertragungsgeschichte. Diese betrifft vor allem die Rhetorik und die Wissenschaften, die mit ihr in der einen oder anderen Weise verwandt sind. Um diese Übertragungsgeschichte näher zu charakterisieren, bedarf es der analytisch-kategorialen Hilfsmittel die wiederum eben die Rhetorik zur Verfügung stellt. Absehbar ergibt sich hier ein methodologisches Dilemma, das in der Definitionslehre aufgelöst wurde, indem die Nutzung des definiendum im definiens strikt untersagt wurde. Doch solche Verbote, so sehr sie in Motivation und Begründung nachvollziehbar sind, verfangen nicht. So wird man nicht umhin können, sich dem Dilemma auszusetzen und vorsichtig mit ihm umzugehen. Bekanntlich ist das Bemühen um das genaue Verständnis dessen, was es an Übertragungsprozessen gibt, trotz intensivster theoretischer und praktischer Anstrengungen bis heute kaum zu einem befriedigenden Ergebnis gekommen. Gerade der Umstand, dass mit den antiken Bestimmungen relativ früh eine Art Sättigungsgrad der Erkenntnisbewegung erreicht war, dürfte dazu beigetragen haben, dass die weiteren internen Arbeiten von Rhetorik und Literaturwissenschaft sich weithin als Explikationen des in der Antike bereits Bekannten darstellen. Die je neuen Entwicklungen anderer Disziplinen waren hingegen vielleicht am ehesten geeignet, neues Licht auf die Phänomene und ihr Verständnis zu werfen, wie gerade die im Anschluss an Lakoffs (1987; Lakoff/ Johnson 1980) Untersuchungen entstandenen Analysen zeigen. Allerdings fehlt dann weithin eine Verortung der neuen Erkenntnisse mit Blick auf die älteren Konzeptionen. 7. In der weiteren Übertragungsgeschichte zeigen sich die unterschiedlichsten Formen der Metaphorese.Sie nimmt die Metonymie zum Ausgangspunkt. Es zeigt sich etwa eine Verwendung für „die Ausdrucksweise, Schreibart“. Dies nähert sich bereits dem, was später „Stil“ werden sollte (Georges 1992, 34 Konrad Ehlich Sp. 2800, IV), 2)b)). Doch diese Facette war keineswegs fest, wie weitere Übertragungen zeigen, stilus ist auch „das Schrifttum“ allgemein; stilus ist sogar die „(schriftliche) Stimmenabgabe“ und in diesem Sinne „die Stimme“, die der Wählende einzubringen hat. Schließlich wird stilus — eine weitere Übertragung zum Ausdruck für die beiden großen Sprachvarietäten des Römischen Reiches: Graecus, Romanus stilus (Georges 1992, Sp. 2801). 8. Indem die Übertragungsgeschichte soweit vorangeschritten ist, wird stilus für das wohlgeformte Gebilde der Rhetorik interessant. Dies ist am großen zusammenfassenden Werk des Quintilian ablesbar: Der Griffel wird in den „Grundlagen der Redekunst“ bei den allerersten Anfängen erwähnt - und dies in der Beschreibung des Schrifterwerbs durch das Kind (I 1, 27): Nach dem Erwerb der Lesefähigkeit „wird es nicht unnütz sein, diese [sc. die Schriftzüge] so gut wie möglich auf einem Täfelchen eingraben zu lassen, damit der Griffel durch sie wie durch Furchen gezogen werden kann“. Diese frühen Bemühungen so schließt Quintilian seine nächsten Gedanken andienen dem Erwerb einer „sauberen, schnellen Handschrift“ (28). Gerade der Schnelligkeit steht die Hemmung des Denkens gegenüber, die von einem „allzu trägen Griffel“ ausgeht so wie „ein ungewandter, wirrer Griffel ... es an der Verständlichkeit fehlen“ lässt (ebd.). Diese wahren Anfangsgründe des Schreibens - und der angewandten Übertragungsgeschichte für stilus lässt der Verfasser bald zurück. Es ist „die schriftliche Darstellung“ (Zundel 1989, S. 94), auf die sich die weitere Übertragung bezieht. In Gestalt von Aufsatzübungen schreitet die weitere Arbeit voran - „Stilübung“ überschreibt der Übersetzer treffend das 3. Kapitel von Quintilians X. Buch (Rahn 1995, S. 497). Vor allem ist es das schriftlich ausgearbeitete „Redekonzept“, um das es geht (Zundel 1989, S. 95). Noch randständig bleibt die Verwendung des Ausdrucks für „die Ausdrucksweise, Schreibart“, den „Stil“. Er wird aufgerufen, wenn Quintilian sagt, dass er in einem bestimmten Zusammenhang „alle Stileffekte beiseite“ lässt und sich „ganz dem an[bequemt], wie es dem Lernenden praktisch von Nutzen ist“ (VII 1, 54). Die entscheidende Übertragung freilich findet sich dann und dort, wo stilus in den Bereich der elocutio übernommen wird. Diese, „der sprachliche Ausdruck ... der in der inventio ... gefundenen Gedanken“ (Lausberg 1990, § 91), lässt drei unterschiedliche stili erkennen (Lausberg 1990, § 465): den stilus humilis, den stilus mediocris und den stilus gravis. Diese Differenzierung in unterschiedliche stili macht den zweiten zentralen Teil der elocutio aus. Die ,Stir-Übung 35 Einteilung in den einfachen, den mittleren und den schweren Stil bietet eine Grundlage für eine elementare Schreibweisenlehre. Ist diese nun, wie die Verwendung des genuin lateinischen Ausdrucks stilus nahe legen könnte, eine Entdeckung erst der lateinischen Rhetorik? Die Antwort auf diese Frage fällt negativ aus. Vielmehr wird der mittlerweile mehrfach übertragene Ausdruck stilus an einer Stelle eingesetzt, an der in der lateinischen Tradition bereits eine hinreichende Differenzierung ausgewiesen ist aber unter einem anderen Terminus. Es ist das allgemeine und abstrakte Wort genus, das die Arten der elocutio bezeichnet. Dieser Terminus hat im Griechischen mit genos durchaus seine Entsprechung. Freilich wird genos in der griechischen Tradition auf die materia, die res, bezogen. Zurückgehend auf Aristoteles, finden sich drei Arten der Redegegenstände. Sie heißen gene ton logon, aber auch elde. Quintilian sagt (III 3, 14): partes (s. Lausberg 1973, S. 53 (§ 61), Anm. 2). Es ist ersichtlich, dass hier von einer terminologischen Präzisierung und Fixierung noch nicht die Rede sein kann. Die genera dicendi, bei Quintilian im 10. Kapitel des XII. Buches abgehandelt, enthalten vieles von dem, was heute unter einer Stilistik gefasst wäre. Doch ist auffallend, dass die Nutzung des Ausdrucks „Stilgattung“ ganz dem Bemühen des Übersetzers geschuldet ist, einen möglichst sprechenden Terminus für die Übertragung von genus im lateinischen Text zu gewinnen. Hier findet also sozusagen eine Rückübertragung einer späteren, konsolidierten Metaphorese in deren Ausgangsphase statt. Erst bei dem Grammatiker Servius aus dem 4. christlichen Jahrhunderts erfolgt der Einsatz von stilus an der Stelle von genus (Asmuth 1990, S. 403). Die mittelalterliche Tradition hingegen verwendet stylus ganz selbstverständlich anstelle von genus elocutionis, (s. Lausberg 1973, S. 695). Die genns-Konzeption der elocutio iherseits ist auf subtile Weise mit der ductus-Lehrt (Lausberg 1990, § 66) verbunden. 9. Neben der Übertragung in Bezug auf die genera elocutionis sieht Lausberg (1990, § 97) eine zweite, die er als die erste darstellt. Lausbergs Argumentation verdient es, hier im Detail angeführt zu werden: „Die Beobachtung, daß die elocutio als sprachlicher Ausdruck nicht nur ein aptum zur ausgedrückten res sondern auch zum Ausdrückenden (dem eine mehr oder minder bestimmbare Variante der Ausdrucksmittel eigen ist) hat, erlaubt es, das eigentlich den >Schreibgriffel< des Schreibenden bezeichnende Wort stilus als Terminus für die >elocutio-Variante< (genus elocutionis ...) zu verwenden, und zwar: 1) zunächst (der Grundbedeutung von stilus entsprechend) für die >elocutio-Variante, die für einen Autor (oder darüber hinaus: für eine Autorengruppe, für ein Zeitalter) charakteristisch ist< (Macr. Sat. 5, 1, 16; 6, 9, 3); 36 Konrad Ehlich 2) sodann für eine >elocutio-Variante (genus elocutionis) überhaupK (Plin. epist. 7, 9, 7).“ Die hier vorliegende Übertragungs-Interpretation ist aufschlussreich. Wieso die „elocutio-Variante, die für einen Autor ... charakteristisch ist“, eine besondere Beziehung zur „Grundbedeutung von stilus“ haben soll, wird jedenfalls nicht expliziert. Die Rekonstruktion überschlägt hier sowohl den oben herausgearbeiteten Schritt der anfänglichen Metonymie wie die darauf aufbauende Folge-Metaphorese, die dargestellt wurde. Der Gewährstext, auf den sich die Argumentation stützt, Macrobius, ca. 400 n.Chr., scheint gleichfalls wenig geeignet zu sein, ein solches „zunächst“ rechtfertigen zu können. Vielmehr legt sich die Vermutung nahe, dass hier eine heute herrschende Stilauffassung aufgrund ihrer Präponderanz die Priorität setzt. 10. Das in sich fest gefügte Gebäude der Rhetorik in seiner mittelalterlichen Gestalt, also als Bestandteil des Triviums, bildet die Basis für die weitere Wirkungsgeschichte. Französisches, englisches und schließlich auch deutsches Vokabular greifen den Ausdruck auf. Sie tun dies, indem sie an der als stylus reinterpretierten genus-Lehre anknüpfen. Boileaus „Art poetique“ wird von Lausberg (1973, S. 948f.) als Beispiel angeführt. Hier erscheint etwa der style simple neben vielen anderen, und es kommt zu einer gewaltigen Vermehrung von „Stil“-Charakteristika. Diese freilich lassen die genus-Lehrt hinter sich: Die Übertragungsgeschichte setzt sich fort. Das, was an den Grundgenera, an ihrem aptum und an den Gefährdungen, die es zu verfehlen drohen, ausgemacht worden war, wird zu einer allgemeinen Einschätzungslehre sprachlicher Produktion weiterentwickelt. 11. Die Übernahme ins Deutsche knüpft hier an (Erstbeleg 1425, Mitzka 1955, S. 593; vgl. Paul 1992, S. 852). Freilich: „Stil bleibt bis in die Mitte des 18. Jh. ein ziemlich seltenes Wort“ (ebd.). Als Terminus für „Schreibart“ übernommen, unterliegt es der Reinigungsarbeit der Puristen. Wenn es bei Mitzka heißt: „Der Begriff steht zunächst unter dem Einfluß der antiken Rhetorik, doch wirken literarische Einflüsse aus Italien, Frankreich, England usw. zeitweise stark auf ihn ein“ (1955, S. 593f), so wird hier knapp das zusammengefasst, was an Übertragungsgeschichte bis hin zur nachmittelalterlichen Verwendung sich konglomeriert hatte. Die Adaptierung an die neuen poetischen Bedürfnisse findet erst seit der Mitte des 17. Jhs. statt, wenn man nunmehr „in engerem Sinne auch von ge- 37 „Stil“-Übung bundenem, poetischem und von ungebundenem, losem, prosaischem Stil“ spricht (Mitzka 1955, S. 594). Diese Übertragung transportiert das Wissenskonglomerat, das unter dem Ausdruck „Stil“ abgebunden ist, in eine Debatte, die sich durchaus unter Bezug auf das Wissenssystem der Rhetorik doch neuer Bemühung um die Gestaltung literarischer Texte verpflichtet weiß. 12. Eine ganz andere Richtung schlug die Übertragung von „Stil“ innerhalb der fast anderthalb Jahrhunderte sich hinziehenden Debatte über das Normaljahr ein. Wenn hier vom „Kalender alten und neuen Stils“ die Rede war, so geht es um nichts anderes als die jeweilige Kalender-Variante. Die Erläuterung „Brauch, Gewohnheit“ (ebd.) knüpft zwar an einer mittellateinischen Bedeutung an, doch findet sie hier eine klare Zuspitzung durch die Spezifizierung für einen besonderen Verbalisierungsbereich. Stärker der inzwischen traditionellen Verwendung verpflichtet ist die Nutzung des Ausdrucks „Stil“ für ganze Typen von schriftlichen Texten, die sich besonders in der Herausbildung der Schreibweisen einzelner Kanzleien seit der frühneuhochdeutschen Zeit finden. Der bedeutende Beitrag, den der in diesen Kanzleien entwickelte, gepflegte und vermittelte „Stil“ für die Herausbildung und Konsolidierung raumübergreifender Varietäten des Deutschen geleistet hat, ist inzwischen vielfältig anerkannt. Dass er als Kanzleistil zunächst mustergültig war, schließlich aber immer stärker auf Kritik stieß (Mitzka u.a. schreiben ganz in diesem Sinn, dass er „später als gekünstelt, schwerfällig und undeutsch [sic! ] der Verachtung“ „verfiel“ (1955, S. 594)), erbrachte für die Semantik des Stilbegriffs eine neue, eigene Dimension (s. Schwitalla in diesem Band). Der Umschlag vom Muster zum Verdikt markiert eine wichtige Phase in der Herausbildung jener Entwicklung, in der Rhetorik, inzwischen zur „literarischen“ geworden, als „Stilistik“ reinterpretiert und re-etabliert wurde (vgl. Asmuth 1990; 1991). 13. Auf anderem Wege gewann Stil eine weitere Nutzungsfacette: Im Italienischen war die musikalische Vortragsweise des Rezitativs mit stilo bezeichnet worden. Die europäische Verbreitung italienischer Musikpraxis und -theorie im 17. Jh. brachte auch diese Verwendung mit in die deutsche Sprache einmit der interessanten Variante, dass ähnlich wie die drei genera elocutionis, die drei stili, in der Redekunst eine Grundkategorisierung der vorliegenden Verfahrensweisen ermöglicht hatten nunmehr in den Bemühungen um allseitige Systematisierung gesagt werden konnte: „Die Music führet einen dreyfachen stylum ...“, nämlich die Kirchen-, Theater- und Kammermusik (so 38 Konrad Ehlich in einem Lexikonartikel aus dem Jahr 1717, zitiert nach Mitzka 1955, S. 594). Dieser Übertragungsprozess ist insofern besonders interessant, als hier eine klassifikatorische Sachparallelität über eine andere Metaphorese sozusagen hergestellt wurde anders, als es die ursprüngliche im Bereich sprachlicher Sachverhalte war. Ein weiterer solcher Prozess kam mit Winckelmann zustande, als dieser für seine kategorisierende kunsttheoretische Arbeitwahrscheinlich im Anschluss an italienische, französische und englische Verfahren (Mitzka, ebd.) neben der „Manier“ auch den Stil zur Erfassung unterschiedlicher Phasen griechischer Kunst terminologisierend einsetzte. Was sich hier fast unbemerkt gegenüber den früheren Übertragungen zusätzlich gleichsam „einbringt“, ist eine historische Dimension. Dies sollte für die weitere Entwicklung folgenreich werden vor allen Dingen freilich über ein zuvor schon in Frankreich entwickeltes Übertragungsmodell, jenes nämlich, das Buffon (1753) bot (vgl. Gauger 1995c). 14. Dieses hat Müller (1981) in seiner großen Monographie über die „Topik des Stilbegriffs“ in seinem Zusammenhang genauer untersucht (ein Werk, das, rhetorische Kategorien nutzend (vgl. die Einleitung), ein Stück Rhetorikgeschichte aufzuklären sich vorgenommen hat). Die genaue Funktionalität des ja auf einem anderen als dem eigentlich literarischem Gebiet tätigen Autors Buffon präzise zu bestimmen, ist nicht ganz einfach. Müller weist sowohl rückwärts wie für die sich weiter anschließende „Stü“-Geschichte Kontinuitäten, Bezüge und - Fehlbezüge nach. Die spätere Inanspruchnahme sah in Buffons Diktum „Le style est l'homme meme“ die Möglichkeit, eine Individualisierung des Stilkonzeptes im Sinne einer Autorcharakterisierung vorzunehmen. Besonders die romantische Theoriebildung knüpfte hieran an (Müller 1981, V). Die bloße Einkleidungsmetaphorik des Stils erfährt ihren Widerpart im Konzept des Stils als „Inkarnation“ des Gedankens. Die Konzentration auf Individualität fand gerade in derart individualisierten Stilauffassungen jene Spezifizierung, die auf der Suche nach einer Theorie eine besondere „Physiognomie des Geistes“ ausmachen wollte (Schopenhauer, Parerga II, § 282). Nietzsche nimmt dies auf und transformiert es zu einem Kernkonzept seiner eigenen Autorschaft, das Klass (2000) detailliert und in seiner Vieldimensionalität rekonstruiert (vgl. schon Gauger 1986, 1995e). Dass Nietzsche dabei zugleich mit seinen Versuchen eines „großen Stils“ geradezu einen Topos des wilhelminischen Deutschland sich adaptiert, gehört zur Dialektik von Distanz und Nähe, in der sich Nietzsche in- und außerhalb jenes „Zweiten Reiches“ positioniert. 39 „Stil“-Übung 15. Versuchen wir, die hier allenfalls angerissenen Aspekte der Übertragungsgeschichte von „Stil“ seit dem 17. Jh. zusammenfassend zu charakterisieren: Es sind drei solche Aspekte, die gleichsam wie Funken im Prozess der Übertragungen aus dem Konglomerat von „Stil“-Verwendungen geschlagen werden: Historisierung, Individualisierung und Essentialisierung. Was ein gattungsbezogenes Merkmalsbild war, wird zum Kristallisationspunkt einer neuen Sichtweise von Autorschaft und Werkcharakteristik. 16. Es ist gerade die in der Metaphorese hergestellte Vieldimensionalität des semantischen Konglomerats, die „Stil“ geeignet erscheinen lässt, zu einer Leitmetapher der theoretischen Auseinandersetzungen zu werden. Während die Rhetorik in ihrer Bedeutung zurücktritt, wird der sich aus ihr lösende „Stil“ mit im Einzelnen unterschiedlichen, in der Gesamtheit jedoch vielfältigensemantischen Leistungen ausgestattet (vgl. Asmuth 1991). „Stil“ tritt dabei aus der Funktion eines relativ jungen Hilfskonstrukts der lateinischen Rhetorikgeschichte heraus und wird zum Träger solcher Theoriediskurse, denen das rhetorische Gesamtgebäude zu eng und zu abständig wird. Asmuth (1990) formuliert treffend in Bezug auf den Übergang, der im 18. Jahrhundert begann: „Die Rhetorik geriet ins Zwielicht. Die Elokutionslehre löste sich aus ihrem Rahmen, erhielt als nun primär schreiborientierte >Stilistik< eine neue, bis heute bestimmende Prägung u. verdrängte allmählich die Rhetorik ...“ (S. 404). Der Transformationsprozess, der mit dieser Verdrängung verbunden war, nahm im Deutschen sozusagen charakterologische Züge an. Natürlichkeit und Anschaulichkeit wurden leitende Maximen. Die überkommene und überlieferte Detaillierung, in der einst die einzelnen sprachlichen Mittel ihre e/ ocwü'o-bezogene Bestimmung erfahren hatten, wurde durch neue Fragestellungen ersetzt. Diese thematisierten sprachliche Einzelstrukturen - und ebneten so die im Trivium verankerte Unterscheidung zwischen Rhetorik und Grammatik ein. Für diesen Prozess erwies sich die sich neu formierende Stillehre gleichsam als Katalysator. Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts wird eine neue Ableitung von „Stil“ gebildet, die „Stilistik“. Schon Novalis sieht nicht mehr die Ableitungszusammenhänge, sondern ein Parallelwissenssystem, wenn er schreibt (zitiert nach Grimm/ Grimm 1960, Sp. 2938): „die Stilistik hat ungemein viel ähnlichkeit mit der deklamationslehre oder der redekunst im strengen sinne“. Damit ist Stil zu einer umfassenden Charakterisierung alles dessen geraten, das aus der Rhetorik für „moderne“ Autorschaft noch interessant ist. 40 Konrad Ehlich 17. Dieser Übertragungsprozess verdient nähere Betrachtung: Er hat eine einigermaßen vertrackte Struktur. Ein Element einer Wissenschaft, eben „Stil“, wird, dermaßen herausgelöst, zur Bezeichnung für eben jene Wissenschaft; semantisch eine Bedeutungserweiterung, genauer gesehen aber eigentlich eine neue Metonymie. Die Gemeinsamkeit der Partizipation in der Sache wird durch den Übertragungsprozess ebenso sehr vorausgesetzt wie mystifiziert. Man tritt sozusagen in eine „zweite Runde“ des Übertragungsprozesses ein. Sie beschränkt sich nicht auf diese neue Metonymie, sondern sie betrifft gleichfalls die stärker metaphorisierenden Übertragungen, in denen die „Sachhälfte“ der Metapher eine Wissenschaft ist und die Übertragung eine andere Wissenschaft betrifft. Die Wissenschaftssprache unterliegt im Prinzip einem „Metaphemverbot“ (Weinrich 1989). Die Metaphorese steht im Widerspruch zu eben jenen auch sprachlichen, insbesondere terminologischen, Präzisionsanforderungen, in denen Wissenschaftsethik kulminiert. Gleichwohl kommt (und dies gilt wahrscheinlich sogar für die Sprache der Mathematik) die Wissenschaftssprache ohne die Nutzung von Metaphern offensichtlich nicht aus. Zugleich setzt sich die im Metaphernverbot artikulierte befürchtete Erkenntnisverfehlung im metaphorischen Sprachgebrauch durchaus sehr real um: Nur allzu leicht steht der bloße Ausdruck, metaphorisch gewendet, an der Stelle der durch ihn suggerierten Erkenntnis. Um so kühner eine Metapher im literarischen Zusammenhang gestaltet wird, um so willkommener mag sie dort sein, stiftet sie doch „auf einen Schlag“ jenen kognitiven und/ oder ästhetischen Gewinn, den sich der Leser von seiner Lektüre verspricht. Wie dieser Gewinn erzeugt wird, liegt weithin im Dunkeln. Ein vergleichbarer Prozess, im wissenschaftlichen Zusammenhang initiiert, steht hingegen vor der Problematik, dass er eo ipso jene Explikation schuldig bleiben wird, ja muss, auf die Wissenschaft nicht verzichten kann. Gleichwohl verzichtet sie de facto immer dann darauf, wenn sie sich auf die Metaphorese verlässt. Damit dieser Widerspruch nicht manifest wird, sind derartige Übertragungsprozesse in den Wissenschaften subtiler als im literarischen und im diskursiven Handeln. Es ist eine Metaphemnutzung „in disguise“, eine Metaphernnutzung, deren Eigenart selbst verborgen bleiben muss. In ihr ist die Sachhälfte ebensosehr Wissenschaft wie der Ort, für den die Metapher gewonnen wird. Der argumentative Gewinn hingegen besteht darin, dass in unpräzisierter und unpräzisierbarer Weise die semantische und damit die kognitive „Aura“ dessen, was in der Spenderdomäne mit dem zu metaphorisierenden Ausdruck verbunden ist, in den neuen Anwendungsbereich dieses Ausdrucks hinübergenommen wird. Der neue Ort des Ausdrucks partizipiert gleichsam an all jener wissenschaftlichen Dignität und kognitiven Erkennt- ,Stil“-Übung 41 nisverheißung, die im Spenderbereich am Ausdruck festgemacht ist. Das Ergebnis einer solchen Metaphembildung nenne ich eine „minimale Metapher“. 18. „Stil“ ist, nachdem das Konzeptbündel im 18. und 19. Jahrhundert zur oben bezeichneten Grundlagenposition entwickelt wurde, einer der hauptsächlichen Kandidaten für die Bildung einer minimalen Metapher. Hier ist es insbesondere die Sprachwissenschaft, die im 20. Jahrhundert eine derartige Metaphorese vorgenommen hat, und dies nicht nur einmal, sondern in immer neuen Ansätzen. Nachdem zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Konstruktion einer eigenen „Stilistik“ vorgenommen wurde und diese, wie oben angedeutet, die Rhetorik zunehmend ersetzte, war deutlich, dass die Einzelbestimmung „stilistischer“ Elemente solche sprachlichen Phänomene sich zum Gegenstand wählte, die traditionellerweise am Rande auch der Grammatik lokalisiert waren. Dieser Prozess verlagerte den Stellenwert von „Stil“. „Von der Rhetorik frei, wandte sich die Stilistik der Grammatik zu. Als deren Schwesterdisziplin wurde sie im 19. Jh. der Sprachwissenschaft einverleibt.“ (Asmuth 1991, S. 405). Gleichwohl blieb das Verhältnis problematisch, so dass Trabant (1986) geradezu zu dem Ergebnis kommt, dass „die Sprachwissenschaft ... den Begriff... mit Gründen gemieden“ hat (Pfeiffer 1986, S. 688). Gerade die dem metaphorischen Prozess eigene Unbestimmtheit macht sich hier bemerkbar. Dies gilt bereits für die erste emphatisch-theoretische Nutzung in der Prager Konzeption des „Funktionalstils“. „Stil“ wird als eine von mehreren kompensatorischen konzeptionellen Strategien eingesetzt, um der Sprachwissenschaft aus dem engen Korsett der bloßen Satzzentrierung zu helfen. Dies sollte prototypisch für die metaphorisierende „Stil“-Nutzung der Linguistik im 20. Jahrhundert bleiben. So wird „Stil“ zu einer von mehreren minimalen Metaphern, durch die eher ein immer dringlicher bemerktes theoretisches Desiderat markiert wurde, als dass dieses bereits in solchen Ausdrücken und den dadurch metaphorisierend entlehnten Konzepten tatsächlich bearbeitet wäre. So findet sich „Stil“ auf demselben Feld wieder wie insbesondere „Kontext“, „Situation“, „Register“, ja, „Text“. Es vermag angesichts der spezifischen metaphorischen Qualität der „Stil“- Nutzung kaum zu verwundern, dass zwischen dem proklamativen Einsatz und der tatsächlichen Durchführung einer so charakterisierten linguistischen „Stil“-Auffassung, ihrer Umsetzung zu einer „Stiltheorie“, erhebliche Lücken klaffen, ja klaffen müssen. Es ergibt sich so eher die Aufgabe, „Stil“ selbst theoretisch im Zusammenhang mit systematischer entwickelten Konzeptionen des sprachlichen Handelns zu rekonstruieren (Rehbein 1983), eine Aufgabe freilich, die ebenso ihrer weiteren Bearbeitung und ihrer konkreten Explikation bedarf wie die kritische Systematisierung der in der äußerst um- 42 Konrad Ehlich fangreichen Literatur zur „linguistischen Stilistik“ im vergangenen Vierteljahrhundert erhobenen Detailbeobachtungen und -analysen. 19. Obgleich im selben allgemeinen linguistischen Diskurszusammenhang sich entwickelnd, scheinen mir die auf eine „Gruppenstilistik“ abzielenden Versuche einer soziolinguistischen Übertragung des „Stil“-Konzepts einer anderen Nutzungslinie zuzugehören. Sie führt uns zurück zur „Stil“-Konzeption, wie sie in der Subsumtion der „genus“-Lehre unter stilus entwickelt wurde (vgl. oben § 8). In der Zeit des Mittelalters hatte diese Konzeption eine einigermaßen aus heutiger Sicht merkwürdige Übertragung der besonderen Art erfahren. Die sich konsolidierende mittelalterliche Feudalwelt griff auf einen geradezu kanonisch gewordenen Illustrationskomplex zur Erläuterung der genera elocutionis, der drei stili, zurück. Der stilus humilis, mediocris und gravis wurde jeweils durch drei Hauptwerke Vergils exemplifiziert (Lausberg 1990, § 465-469). In der rota Virgilii fand dies seine mnemotechnischdidaktische triviumsfähige Gestalt. Waren bei Vergil Hirt, Bauer und Soldat (oder Herr) Repräsentanten für Humilität, Mediokrität bzw. Gravität, so „verteilte man [nun] Höflinge, Stadtbürger u. Bauern“ (Asmuth 1990, S. 404) auf die stili. So gewann die „Stil“-Lehre einen Übertragungsbereich, der, so scheint mir, geradezu verblüffend ist. stilus wird Stabilisierungselement einer ständisch organisierten Gesellschaftsformation und gewinnt der Rhetorik so ein Stück jenes gesellschaftlichen Fundierungszusammenhangs zurück, der ihr in ihrer langen Geschichte in mehreren Phasen und Etappen abhanden gekommen war. In der Überführung der „Stil“-Lehre in die frühe bürgerliche Zeit erwies sich diese Metaphorese selbstverständlich als obsolet: Die Metapher hatte ihre Schuldigkeit fürs Erste getan freilich nicht, ohne dass sie nicht alsbald aufs Neue genutzt wurde, um nun antihöfisch eingesetzt zu werden. Dies geschah in der Funktionalisierung der „Stil“-Konzepte „Natürlichkeit“ und „Anschaulichkeit“ (Asmuth 1991), die gegen die spätfeudale höfische „Stil“- Praxis ins Feld geführt wurden. Die Wiedereinsetzung des „Stils“ in einen direkten gesellschaftlichen Bezug geschah individuell vielleicht am deutlichsten bei Nietzsche (s. oben § 14.). Eine transindividuelle, sich auf Gesellschaft beziehende Metaphorese entwickelte sich hingegen bereits früher im 19. Jahrhundert: Es „rückten nun auch kollektive Stilsubjekte in den Blick (Epoche, Nation, Klasse)“ (Asmuth 1990, S. 405). Dies konnte anknüpfen an der insbesondere musikbezogenen Verwendung von „Stil“ (vgl. Grimm/ Grimm 1960, Sp. 2921ff, besonders Sp. 2923), auch an der kunsttheoretischen (vgl. oben § 13). Diese neue Nutzung, soweit sie sich auf ein „Kollektivsubjekt Nation“ bezieht, steht ohne 43 „Stil“-Übung Zweifel im allgemeinen Zusammenhang der Entfaltung jenes „Projekts Nation“, das die Diskurse des 19. und des 20. Jahrhunderts bestimmte. Der Versuch einer „Soziostilistik der Kommunikation in Deutschland“ scheint mir eine Transposition solcher Übertragungen zu sein, eine sozialgruppenbezogene Spezifizierung. Man darf auf die Ausarbeitung dieses Programms gespannt sein. 20. Literatur Asmuth, Bernhard (1990): Stil. Stilistik. Artikel in: Killy, Walther (Hg.): Literatur Lexikon. Gütersloh/ München. S. 401-406. Asmuth, Bernhard (1991): Stilprinzipien, alte und neue. Zur Entwicklung der Stilistik aus der Rhetorik. In: Neuland/ Bleckwenn (Hg.), S. 23-38. Gauger, Hans-Martin (1986): Nietzsches Auffassung vom Stil. In: Gumbrecht/ Pfeiffer (Hg.), S. 201-214. Gauger, Hans-Martin (1992): Zur Frage des Stils. In: Erzgräber, Willi/ Gauger, Hans-Martin (Hg.): Stilffagen. Tübingen. S. 9-27. Gauger, Hans-Martin (1995a): Was ist eigentlich Stil? In: Stickel, Gerhard (Hg.), S. 7-26. Gauger, Hans-Martin (1995b): Stil. Kleine Geschichte eines großen Worts. In: Gauger (Hg.), S. 187-202. 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Because we are moved, Fundamentally moved, from racial battlegrounds by law, to economic common ground. Tomorrow we'll challenge to move, to higher ground. Common ground. Jesse Jackson (quoted Tannen 1989) By now, it is generally agreed that to understand and participate in conversational exchanges we require more than just lexical and morpho-syntactic knowledge. A key factor in our interpretations of everyday talk is Common ground. Common ground can roughly be described as shared information that, along with linguistic knowledge, participants in an encounter rely on assessing what a speaker intends to convey at any one time in a particular set of circumstances. As the above quotation from Jesse Jackson's speech to the 1988 Democratic National Convention in the USA indicates, common ground has become part of our general vocabulary as a metaphor to allude to the unity of purpose we seek to achieve through joint political action. In this paper, I will show that, although rarely overtly mentioned, common ground is also a key force, affecting our ability to carry on conversation. 1 The term first gained currency in academic circles through the work of linguists Kartunen and Peters (1975) and philosopher Robert Stalnaker (1978) who used it to refer to generally taken-for-granted knowledge, beliefs and assumptions that enter into interpretation. The notion was later dropped because existing analyses that treated it then as disembodied shared or mutual personal knowledge were clearly psychologically unrealistic. 1 Many of the ideas expressed in this paper were developed in the course of my long-term asociation with Werner Kallmeyer and his lively associates in Mannheim. 1 vividly remember our lucheon and coffee table conversation, and i hope I am not wrong in assuming that by now we share a significant amount of common ground. 48 JohnJ. Gumperz It was Herbert H. Clark (1991, 1996a, 1996b) who first revived the notion by applying it to a joint collaborative action and grounding it in a Gricean theory of inference. He points out that speaking and listening are by their very nature joint activities requiring collaboration on the part of more than one individual and the negotiation of shared interpretations over a set of speaking turns. Collaboration needs to be established and actively maintained in the course of an encounter. Building on David Lewis (1967), Clark goes on to argue that Common Ground is the coordination device by means of which collaboration is achieved. In doing so, he develops a process oriented perspective on communication where meaning no longer just resides in relations between linguistic forms or signifiers and their objects or signifieds, but in how linguistic forms are assessed by particular actors in specific sets of circumstances. Meaning, when seen in this perspective, is produced as the outcome of a semiotic process of negotiation extending over more than one turn at speaking; it cannot be regarded as a one-time individual assessment. A negotiation of meaning typically falls into several phases: an initial presentation phase where a speaker presents an utterance for the listeners' consideration, followed by an evaluation where listeners assess what has been said, and a third phase where listeners give evidence that they have understood what the speaker intended to convey by means of the utterance. Clark's discussion is important. In fact, it would be fair to say that in his recent book Using Language (1996b), which grounds the notion of common ground in philosophy of language and semantic and pragmatic theory and relates it to ongoing research on speech acts and conversation, Clark establishes the basis for a semantics of interaction that accounts for both individual and social aspects of human activity within a single theoretical framework. His discussion suggests ways of performing interpretive analysis that, while they build on the empirical reality of linguistic constructions, enable us to focus on the inferences based on what participants hear and see. But as it stands, his discussion also has a number of limitations. My claim is that once we focus on participants' joint assessment of communicative intent in interactive exchanges rather than on individuals' utterances extracted from interaction a number of additional questions arise. In talk involving more than one person, it is taken for granted that social relationships significantly affect what transpires. Clark deals with some aspects of these issues by arguing that common ground is shared along community lines and that individuals often belong to many overlapping communities. However, no matter how narrowly we define the relevant population units, recent anthropological research shows that shared community membership does not guarantee common ground (Gumperz 1996). There is also the matter of context. A discussion of meaning that only deals with relatively limited overt Sharing Common Ground 49 instances of referential ambiguity tends to neglect the well known complexities of contextual effects on interpretation . I this paper, I argue that to deal with context, culture and group membership in talk it is necessary to distinguish between language, on the one hand, and communicative (or discursive) practice, on the other. Communicative practice as Hanks (1996) defines it enables us to look at verbal signaling as resting both on denotational grammar (i.e., syntactic and lexical signs) and indexical signs; it reflects conventionalized direct associations between forms and context of the kind that develop through long term collaboration in the pursuit of common goals. I will illustrate my basic argument with an in-depth analysis of the following excerpt from a coffee shop conversation, Sisters. Two sisters, college students, are sitting at a table in an open air coffee shop. It appears from parts of the tape not reproduced here that the two women have recently returned to college and have found a new place to live. They are uncertain about their landlords, and not sure how serious the two adults are about renting to them. I will treat the extract as a string of move and response pairs. The analysis will proceed sequentially starting with the second member of each pair and attempt to determine: a) what does it respond to; b) how does it relate to the preceding move, and c) how do we make sense of the relationship between the two moves in such a way as to account for what has happened before and what is expected to come in the following conversation. 1. L: <5 sec> ((f) i mean) i think that's kinda (f)(l)flaky) she just gives us the place and,.. =he didn't= 2. D: = I think-- • 3. L: even get to *say anything. 4. D: .. I don't think he really- I mean- ((ac) just like from him talking/ it seems like he doesn't really, get along with her that well.) or he kinda thinks she's kinda weird. 5. L: == he's like- ((hi) oh-) = but he said she's a good *landlord.= 6. D: = (p) cause uh she said= ((hi) oh and they're family friends.)= 7. L: but she's a *flake... 50 John J. Gumperz I'm like well ((l)that's *kind of a *self cancelling *phrase.) 8. D: ((laughing) ((ac, lo) ya know we should probly watch it, they're probly =*sittin there.=)) 9. L: =1 know 10. D: its just nice going to cafes now and I feel like I- =((ac)don't have to avoid anybody.)) 11. L: =this is the life.= 12. D: 'but its like-= because no one is around now that we know. [5 sec] Although a casual observer may have difficulty following the exchange, someone familiar with U.S. college student life is likely to see it as a lively, spirited, but generally quite smooth and informal conversation. The transcript begins with L 's remark about the landlady 's „flaky“ behavior and her failure to consult ‘him’ (her partner) about the rental arrangements. In reply, D (4) suggests that it could be that the two do not get along. Two overlapping remarks (5, 6) follow; both support and expand D's point, whereupon L follows up by once more referring to the landlady as a flake. D (8) then responds by jokingly interjecting: „they're probably sitting there“. L hastily acknowledges with a rapid tempo „I know“ which overlaps D's „sittin there“. D then changes topic to „cafes“ where one „doesn't have to avoid anybody“. The shift is jointly acknowledged with another pair of overlapping responses, and this is followed by a brief silence. Turning now to the second part of the exchange: i just love/ ==I mean I could, *hang out in cafes for the rest =of my life. = rest o-= ((hi) member wait,) last semester. ((sing song) lets *hang out a *little bit *more.) ==I know=I know.= = member that? = ok we'd hang out in the morning and have coffee, we'd meet N, ..like after class/ have lunch, in the afternoon we'd go to a *coffee shop, and then at night, ==like I really- 13. D: 14 . L: 15. D: 16. L: 17 . D: Sharing Common Ground 51 18. L: ==go to Roma's. 19. D: ==like I kept saying, when I was in North Carolina I kept saying, ((hi) you know like god there's no coffee shops an- ((ac) when a person is not=used to going out, - 20. L: =did you feel kinda ((f) *lost ? =) 21. D: I felt kinda like- ((hi) god there's nothin to *do like-) not that we'd *do anything we just *hang out, but its like something you know, there is nothing that's open, all that's open is like places to get beer, and ya know just like, 22. L: ==it's such a trip we're smoking at Roma's as if we had never done this. 23. D: oh I know, like two years ago we'd be like- <breaks off and changes topic> After the pause, D (13) picks up the theme again saying she could hang out in cafes „for the rest of my life“. Before she can finish, L (14) responds, overlapping and echoing D's last phrase with her „rest o-“. But she abruptly breaks off the last word as if searching for an appropriate expression, and then raising her voice, she continues: „member wait, last semester“ before segueing into a sing-song performance of the chant they used to sing two years ago: „lets hang out a bit more“. When D hastens to tune in with a latched „I know, I know“, we can infer she shares L's memories. L's (16) acknowledgement overlaps D's second „I know“, and then she segues into her narrative of how they spent their days dividing their time between coffee shops, classes, meals, and coffee shops. D's latched last response (18) is cut short by L's similarly latched concluding phrase. Then D takes the floor with a narrative of her own about the lack of coffee shops in North Carolina. When she is interrupted by L's (20) overlapping question: „did you feel kinda lost? “, she starts her reply by echoing L's words, once more indicating that they are on the same wave length, and then she goes on to elaborate on what it is like to feel lost in a world apart from their coffee-shop student sphere. Before D can finish she is interrupted by L's remark that returns to the Roma theme, and she starts to respond by going back to talk about what they did two years ago but then decides to break off and change topic. The excerpt ends here. 52 John J. Gumperz What is remarkable about the exchange is the degree to which the two women collaborate in shaping the performance, coordinating moves, and reinforcing and elaborating key points. In spite of the frequent shifts in topic, the many aborted starts, neither one of the two conversationalists has any trouble following what the other one is saying or even anticipating what is to come. The interaction is marked by close cooperation throughout. Topics or key points initiated by one speaker are confirmed by the other and then collaboratively elaborated. For example, in (1) L refers to the landlady's behavior as „flaky“ and D(4) concludes suggesting that the lanlady's partner thinks ‘she’ is weird, and this may indicate that the couple do not really get along. A few turns later in (8) when L again calls ‘her’ a flake, D jokingly counters „they're probably sitting there“ (i.e., they may hear them). L has evidently understood that D is suggesting they have been gossiping because she immediately responds with the overlapping „I know“ signalling her agreement with what is being said and, at the same time, predicting what is to follow. Later in turn 10, L reacts to D's „hang out in cafes all my life“ by recalling the ‘hanging out’ chant they used to use. D's seeming change of topic has the effect of further reinforcing the coffee shop theme by setting up a new opposition between their present life and life without coffee shops. L again tunes in by means of her interjection. Finally, in turn 17, D mentions her stay in North Carolina where there are „no coffee shops“. L again interrupts, once more overlapping her „Used to going out“ with „did you feel kinda lost? “ In response, D following her lead takes up the hanging-out theme again implicating that in the absence of coffee shops it is no fun to do this in North Carolina. It seems as if speakers by the way they talk evoke an envisagement of an activity and express their stance toward it so that their performance as a whole can be seen as trope for how they feel about their current life as students. What do conversationalists need to know in order to achieve cooperation by engaging in this kind ofjoint performance? Clearly, their ability to collaborate is a matter of shared experience. We could say that having been brought up in the United States, the sisters are aware of generally accepted norms such as „do not gossip about people, especially when they are in a position to overhear what you are saying“ and that this explains the communicative significance of the juxtaposition „Watch out“ and „Sitting there“ in (8) and „going to cafes“ and „not having to avoid people“ in (10). Moreover, we can also assume that having been socialized into college student culture, the women will be aware of the „social meaning“ of coffee shops and of the significance of going there rather than frequenting „places to get beer“ (20) in the ancedote about North Carolina. Altogether the two women are indirectly, that is, without saying it in so many words, invoking an opposition between the ease and freedom they are enjoying at the moment and the constraints of life with people like their landlords whom they do not understand. The opposition is elaborated over the next few turns with the singsong performance in (13) and the recitation ‘hanging out’ and ‘going to coffee shops’ in (16) comes to serve as a metaphor Sharing Common Ground 53 representing the students' desire to get away from the constraints of college class work. This remains the underlying theme in what follows. However, there are other issues that cannot be resolved by the assumption that understanding is just a matter of extra-communicative background knowledge, morpho-syntax, and lexicon. When, as is customary in established analyses, we examine the transcript in more detail, looking at one utterance at a time and concentrating on grammar and referential meaning, many of the constituent utterances seem problematic. The exchange is made up of a total of 23 turns at talk of which 8 take the form of brief twoto four-word exclamations, acknowledgements, or aborted turns. The majority of the remaining 15 turns rely on some form of reported speech for their communicative effect. Reported speech, as recent writings in linguistic anthropology show, is a quintessentially human ability to use language simultaneously to enliven an interaction and to talk reflexively about what is being said, thereby reflecting on one's own and others' verbal actions. (Lucy 1991). Yet given the inherent complexties of reported speech, lexicalized information alone is not capable of conveying exactly what is intended. The problem is that we need to rely on other communicative signs to identify what is going on. Consider turns (5) and (6) once more. Expressions like the initial „he's like“ in (5) are commonly employed as reported speech markers by younger people (additional instances elsewhere in the transcript from which our example is extracted and not analyzed here are: „He's like, "'thirty **six years years old“ where the slight rise after „like“ and the extra strong accent mimics a speaker expressing surprise at someone's age, and also: „he'd be like, "“"flirting with the girls who came in“, which from the way it is chunked and accented, sounds as if someone is mockingly being accused of flirting. But even after we identify the quotations, both of the above utterances remain seemingly ungrammatical or at least inappropriate. For example, how do we interpret the relation between the „oh“ (5) and the following „but he said“? This utterance makes sense only if we separate the string into two tone groups, an initial truncated „oh“ set off from the remainder by shift to high pitch register and the remainder all of which falls under a single intonation contour and is marked by the return to normal register. We can then assume that the speaker started out to produce a prosodically marked direct quote, and then, shifts strategy coming out with an indirect quote. D's turn (6) which overlaps with the latter part of L's turn is somewhat less problematic. The high pitch register here extends over the entire quotation. But the use of „they're“ is odd here, since, in the quote, the speaker is talking about herself and her partner. Based on similar instances elsewhere, we assume that the choice of „they're“ serves as a strategy to attenuate the directness of the quotation. In turn (7) phrase 2, „I'm like well that's kind of a self cancelling phrase“ also sounds ungrammatical unless, by analogy with (5), we take „I'm like“ to be a reported speech marker and the rest as a self quote. Aditional seemingly odd utterances involving reported speech are: „'Member 54 JohnJ. Gumperz wait, last semester lets hang out a little bit more“(14); „I felt kinda like God there's nothing to do like“ (22); „It's such a trip we’re smoking at Roma’s“. The point here is that throughout this text we find many instances where the citations are not lexically set off from the remaining talk. In order to make sense of such instances of reported speech which play an important role in the interaction, we need to account for the functioning of prosody in the inferential processes that underly the assessment of communicative intention. Even lexical markers like ‘he says / she says...’ by themselves in many cases do not enable us to determine the nature of the quotation. There are some significant, additional problems with intra and inter-turn cohesion and coherence. It is, for example, often not easy to determine who is responding to whom. In turn (6), „’cause uh she said, oh and they're family friends“ cannot be regarded as an appropriate countermove to „but he says he's a good landlord“ (5). It is only by considering timing and rhythmic patterning that we come to see that D's (6) overlaps with the latter part of L’s preceding turn and that (6) functions as a dependent clause which syntactically goes with the last part of D's turn (4). Once we recognize this relationship, we can identify L's (7) as a reply to the latter part of D's (4). Similar difficulties arise a bit further on in (10-12), where D's „but its like“ (12) overlaps L's „this is the life“ (11). At first glance, L's truncated „because no one is“ does not seem to cohere until we note that L is attempting to go on with her turn in (10) and then finally manages to complete what she intended to convey in (12). L acknowledges with a latched, and, therefore, affirmative, „I know“ in (10) and has apparently understood what D intends to say before the latter has come to her main point. Conclusion Extra-communicatively conveyed information in the form of beliefs, values, and memories of shared experiences are essential ingredients of discourse level interpretation and are used in all everyday communication (Kallmeyer 1994) It is clear from the discussion above that without such information we could n t understand what significance conversationalists regularly assign to ambiguom utterances. In utterances like „she just gives us the place“, „he didn't even get to say anything“, „we should probably watch it“ a great deal of contextual information must be assumed to begin unravelling a strand of meaning. But extra-communicative knowledge is not all that is shared. Interpretations are, in a very real sense, jointly constructed and, thus, are ultimately subject to real on-going interactional time constraints, of lower level inferencing. To deal with such issues, I concentrated on discoursive practices and took a functional semiotic perspective on interpretation which argues that lexico and grammatical signs work together with indexical signs to produce interpretations. In other Sharing Common Ground 55 words, indexical signs, such as rhythm, tempo, along with phonetic detail that does not enter into Saussurian emic oppositions, all play a key role. Indexical signs signal by virtue of direct form-context association and are acquired in the course of long-term shared communicative experience. In this way, educational experience, socio-cultural background, and ultimately also community and ethnic identity are directly brought into the communicative process. Finally, by analysing the talk in terms of communicative practices, we are able to show a) how common ground is acquired and b) how it is detectably brought into the interactive process. In sum, we gain a dynamic process-oriented perspective on common ground that more directly reflects everyday social realities than other existing approaches. References Clark, Herbert H. (1991): Areanas ofLanguage. Oxford. Clark, Herbert H. (1996a): Using Language. New York. Clark, Herbert H. (1996b): Communities, Communalities and Communication. In: Gumperz, John J./ Levinson, S. (eds.): Rethinking Linguistic Relativity. Cambridge, pp. 324-358. Gumperz, John J. 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Einleitung: Alltagswissen und soziale Welten Die phänomenologische Wissenssoziologie (Schütz 1971a, b, c; 1972a, b, c; Berger/ Luckmann 1969) ging noch davon aus, dass es auch in modernen Gesellschaften einen Grundbestand von gesamtgesellschaftlich gleichverteiltem Alltagswissen gibt, der die selbstverständlichen Hintergrandsannahmen dieser Gesellschaft beinhaltet und in seinen Kembausteinen als elementares Wissen an die „Wörterbucheinträge“ der Umgangssprache in dieser Gesellschaft gebunden ist. Alfred Schütz spricht diesbezüglich von der elementaren Typisierungsschicht des Alltagswissens (Schütz 1971a), die von der Alltagssprache transportiert wird (Schütz 1971c); Berger/ Luckmann (1969, S. 69f., 98-138) und später auch Anselm Strauss (1993, S. 155-160) sprechen in Anlehnung an Cassirer vom symbolischen Universum. In dieser elementaren Wissensschicht sind nach Meinung der phänomenologischen Wissenssoziologen und auch der symbolisch-interaktionistischen Wissenstheorie von Strauss grundlegende Konzeptionen dessen formuliert, was vom Standpunkt der Gesellschaftsmitglieder in einer Gesamtgesellschaft der Fall sein kann, d.h., was ihrem Erwartungsfahrplan von gewöhnlichen Ereignissen und deren Routinegestaltung entspricht, und was an wechselseitigen Kernverpflichtungen zwischen den individuellen Mitgliedern zur Erhaltung der gesamtgesellschaftlichen Kollektivität und zur Sicherung der Sphäre individueller Handlungsmöglichkeiten festgelegt ist. 1 Insbesondere der Fremde 1 An einigen Stellen in ihrem Buch unterscheiden Berger und Luckmann zwischen verschiedenen Legitimationsschichten des Wissens. Das symbolische Universum wird von ihnen dann im Gegensatz zur elementaren Typisierungs-Wissensschicht der Wörterbucheinträge einer Alltagssprache speziell als Produkt bzw. Lehrgebäude einer theoretischen Tradition bezeichnet, welches die verschiedenen Sinnbezirke und institutionellen Teilordnungen einer Gesellschaft in symbolischer Totalität bedeutungssystematisch integriert. Unter den heutigen Bedingungen von pluralistischen Komplexgesellschaften können dies aber nicht mehr explizite religiöse oder ideologische Doktrinen (wie die mittelalterliche Scholastik oder die staatssozialistische Dogmatik) sein, sondern nur noch unbewusstsystematische theoretische Denkzwänge, die wiederum sehr eng mit der impliziten Ordnungslogik der elementaren Wissensbestände verbunden sind. - So hatte das auch Emst Cassirer (1944) gesehen, und gerade für diesen engen Zusammenhang zwischen theo- 58 Fritz Schütze (Schütz 1972a), der sich dem Zivilisations- und Kulturmuster dieser Gesamtgesellschaft annähert und dabei schmerzlich erfährt, dass sein eigener mitgebrachter selbstverständlicher Alltagswissensbestand dem Erwartungsfahrplan und den selbstverständlichen Annahmen jener fremden Gesamtgesellschaft nicht entspricht, spürt das Systematische, ja das Monolithische des Alltagswissensbestandes letzterer. Ähnlich ergeht es dem Heimkehrer (Schütz 1972b), der nach längerer Zeit in seine Heimatgesellschaft zurückkehrt und erleben muss, dass sich aufgrund der Aufschichtung unvertrauter historischer Erfahrungsbestände im Zuge des Zusammenlebens und Gemeinsam-Älter- Werdens, an welchem der Heimkehrer nicht mehr beteiligt war, die dortigen Alltagswissensbestände und die mit ihnen verbundenen Erwartungsfahrpläne geändert haben und gerade in dieser fremdartigen, irritierenden Andersartigkeit monolithisch abweisend und für seine Verstehensversuche undurchdringlich sind. Zwar arbeitet Schütz in einer Theorie der Wissensverteilung heraus, wie sich die jeweilige Aktualisierung des Alltagswissens der Akteure von ihren subjektiven Standpunkten im Hier und Jetzt des Interaktionsfeldes aus in unterschiedliche Sphären des genaueren Wissens von nahe liegenden Dingen der Welt und der entfernteren Bekanntheit über andere Dinge schichtet (Schütz 1972a, S. 55f, 67); aber gerade die subjektiven Wissensbestände, welche nur die Qualität der entfernteren Bekanntheit über Dinge aufweisen, seien — so Schütz in der Regel hochgradig typisiert und abstrahiert und somit Kern des geteilten Wissensbestandes aller Gesellschaftsmitglieder. In eingeschränkter Reichweite wiederholt sich zudem in der Sicht von Schütz die „prinzipielle“ Gleichverteilung eines elementaren Wissensbestandes unter den Kollektivitätsmitgliedem auch auf der Ebene des Wissens in und von lokalen Ortsgesellschaften und lokalen Gruppen, die dann in der Regel eine spezifische Binnensprache sprechen, die auch dialektal stilisiert sein kann. Wichtig für die von der phänomenologischen Wissenssoziologie charakterisierten Alltagswissensbestände sind also die Eigenschaften der Elementarität, der Gleichverteilung, der Anwendungsmühelosigkeit, der Erwartungsselbstverständlichkeit und der Nichtfokussierung auf einen speziellen Problembestand oder gar der Platzierung der von ihnen erfassten Probleme in einer speziellen Auseinandersetzungsarena. Zwar haben Berger/ Luckmann in ihrem wissenssoziologischen Aufriss später auch theoretische Wissensbestände insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Legitimation institutioneller Regelungen und Strukturen untersucht, aber auch hier wird der Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Gleichverteilung bzw. der maßgeblichen Geltung für die Gesamtgesellschaft insgesamt beibehalten. Und diese Gesamtgesellschaft wird immer noch mehr oder weniger unausgesprochen als eine klar beretischen Denkzwängen und der Selbstverständlichkeit der elementaren Alltagswissensbestände hatte er dann den Begriff des symbolischen Universums geprägt. Das Konzept der sozialen Welt 59 grenzte, festumrissene und homogene in nationalstaatlichen Grenzen angesehen. Es ist nun aber unübersehbar, dass die Wissenslandschaften moderner Komplexgesellschaften außerordentlich kompliziert geworden sind. Zunächst einmal muss man im Zeitalter der Globalisierung die Transzendierung der Wissensbestände über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus stärker in den Blick nehmen. Darüber hinaus ist der Anteil derjenigen Wissensbestände, der hochgradig spezialisiert und theoretisch reflektiert ist, angewachsen. In diesen je bereichsspezifischen - Zusammenhängen kann von einer Professionalisierung und Verwissenschaftlichung vieler Wissensbestände gesprochen werden. Sicherlich wirkt eine solche Professionalisierung und Verwissenschaftlichung von Experten-Wissensbeständen auf die elementaren alltäglichen Wissensbestände im Wege der Vulgarisierung zurück. Zudem werden die Wissensbestände immer mehr durch die Massenkommunikationsmittel, insbesondere durch die Thematisierungs-, Aktualisierungs- und Stabilisierungsmechanismen der elektronischen Medien überformt. Zugleich wächst der Grad der Neuproduktion, der Veränderung und der medialen Stilisierung der Wissensbestände im Zuge des raschen gesellschaftlichen Wandels, der nicht zuletzt auf innovativen Erkenntnisprozessen, aber auch auf sekundären Überformungen durch die Massenmedien beruht, immer mehr an. Die Wissenslandschaft wird also immer fluider, immer multiaspektueller, immer konkurrenter und widersprüchlicher, immer theoretischer und reflexiver kurz immer unübersichtlicher. In einer solchen modernen Komplexgesellschaft gibt es sicherlich auch weiterhin elementare selbstverständliche Alltags-Wissensbestände im Sinne der Schütz'schen Wissenssoziologie, aber selbst sie sind fluider und veränderlicher geworden. (Es lohnt sich also durchaus auch heute noch, der Schütz'schen Fragestellung nach den elementaren Alltagswissensbeständen nachzugehen, wenn auch diesbezüglich der Forschungsgesichtspunkt ihrer raschen Veränderung stärker akzentuiert werden muss.) Darüber hinaus müssen aber gerade auch solche sozialen Arrangements der Wissensproduktion und -anwendung theoretisch konzeptualisiert und empirisch untersucht werden, die fokussiert den permanenten bereichsspezifischen gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung tragen, wie sie für moderne Komplexgesellschaften typisch sind. Ein zentrales theoretisches Konzept für diese sozialen Arrangements der kreativen Wissensproduktion und -anwendung ist die Kategorie der sozialen Welten, 2 wie sie in der Chica- 2 In der Denktradition des Symbolischen Interaktionismus wird die soziale Erscheinung der „sozialen Welt(en)“ phänomenbezogen immer im Plural gedacht. „Soziale Welten“ in ihrer Vielzahl und Unterschiedlichkeit sind in dieser Sicht stets der Ausdruck einer heterogenen („pluralistischen“) und veränderlichen Komplexgesellschaft sowie der mannigfaltigen und rasch wechselnden Orientierungsbedürfnisse der Menschen in ihr. - Im Folgenden wird der Begriff der „sozialen Welt(en)“ immer dann im Plural benutzt, wenn an die Mannigfaltigkeit und Heterogenität der Orientierungsbedürfhisse in den modernen Komplexgesellschaften (mit-)gedacht wird. Andererseits wird der Begriff stets dann im 60 Fritz Schütze go-Soziologie und im Symbolischen Interaktionismus, insbesondere später von Anselm Strauss (1991b/ 1978b, 1982, 1984, 1991a, 1993), entwickelt worden ist. 2. Das Phänomen der sozialen Welten in modernen Komplexgesellschaften In den modernen Komplexgesellschaften werden die elementaren selbstverständlichen, mühelosen, gleichverteilten Alltagswissensbestände von Nationalgesellschaften, Ortsgesellschaften, lokalen Gruppen immer mehr ergänzt, überformt, fokussiert, in Teilbereichen möglicherweise auch ersetzt durch besondere soziale Welten mit ihren spezialisierten Wissensbeständen. Diese sozialen Welten sind in ihrer thematischen Ausrichtung einerseits sehr viel fokussierter und spezieller als die integralen Alltagswissensbestände von nationalen Gesellschaften, lokalen Gruppen und Ortsgesellschaften. Andererseits sind sie in der diskursiven Einbeziehung von verschiedenartigsten Menschen als Wissensträgem und Kommunikationsbeteiligten sowie in ihrem Geltungsbereich im Prinzip nicht lokal-territorial gebunden und eingeschränkt (obwohl natürlich ihre Diskurse lokal verankert material hergestellt und organisiert werden müssen). Soziale Welten haben in modernen Komplexgesellschaften immer mehr einen weltgesellschaftlichen Diskursbezug und Geltungsbereich und z.T. auch eine entsprechende thematische Ausrichtung, welche lokale Einschränkungen und Rücksichten transzendiert. Soziale Welten richten sich an zentralen Problembeständen des jeweils thematischen Interaktionsfeldes aus und entwickeln für ihre Bearbeitung definierbare Kernaktivitäten, die sich bei zunehmendem Institutionalisierungsgrad zu festen Verfahren der Fallanalyse bzw. Diagnose und der Arbeitsdurchführung kristallisieren (Behandlung, Therapie usw.). Die einzelnen Anhänger und Akteure der jeweiligen sozialen Welt fühlen sich zur Teilnahme an diesen Kernaktivitäten und zur Verfolgung ihrer Ziele (d.h. der Bearbeitung der Problemstände) moralisch verpflichtet (Becker 1977/ 1960; Clarke 1991, S. 230f., 142f.). Soziale Welten schöpfen und systematisieren im Medium der Kommunikation von Theorie- und Geschichtsprotagonisten (und natürlich auch der imaginierten Auseinandersetzung zwischen ihnen) zentrale Orientierungsideologien und Darstellungen ihrer eigenen Geschichte mit Selbstverständigungsfunktion. Sie entwickeln zugleich ein kommunikatives Binnennetzwerk, das die eigenen Kernaktivitäten, Orientierungstheorien, Bearbeitungsverfahren und Geschichtsdarstellungen fortlaufend bekräftigt und weiterentwickelt. Hierbei kann es auch um Auseinandersetzungen um Singular benutzt, wenn der analytisch-grundlagentheoretische Fokus auf die begriffsbestimmenden Merkmale und die Konstitutionsvoraussetzungen des empirischen Phänomens der „sozialen Welt(en)“ im Allgemeinen dominant ist. Das Konzept der sozialen Welt 61 den richtigen Weg zwischen verschiedenen Lagern der Sozialwelt gehen; auf diese Weise bildet sich eine Binnenarena der sozialen Welt heraus (Clarke 1991, S. 135), innerhalb derer sich verschiedene Subwelten argumentativ und stilistisch differenzierend gegenübertreten. Zugleich wird aber so auch ein Kriterienkatalog richtigen Verhaltens für die Kernaktivitäten (und auch für die symbolische Stilisierung der alltäglichen Peripher-Aktivitäten) in der Sozialwelt ausgebildet. Entsprechend kristallisiert sich bei fortschreitender Institutionalisierung (samt organisatorischer Untermauerung) ein sozialweltimmanentes Kategoriensystem samt Reputationshierarchie heraus, nach dem einzelne Aktortypen von Sozialweltteilnehmern (z.B. Protagonisten, Aktivisten, Anhänger, Mitläufer) systematisch unterscheidbar sind. Regelrechte Karriereleitern und der Aufstieg und Abstieg auf ihnen können die Folge sein (Wiener 1981, 1991). Nach außen vermittelt sich die Sozialwelt durch ein kommunikatives Außennetzwerk, das in großen, gesamtgesellschaftlich relevanten Auseinandersetzungsarenen organisiert ist. In diesem stellt sich die Sozialwelt stilisiert dar, verteidigt und legitimiert sie die von ihr erworbenen Vorrechte, grenzt sie sich nach außen ab und erarbeitet sie über Repräsentationsmechanismen ihre Aktivitätschancen, ihre Ressourcenzuführung und ihre Arrangements von Arbeitsteilung mit anderen Sozialwelten im Wege der Aushandlung, des argumentativen Drucks, der Drohung, der Manipulation, des Zwangs zur Setzung von Fakten. Hierbei sind auch kollektive Veränderungen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und des Status der Sozialwelt erwartbar. Im Wettbewerb der unterschiedlichen Sozialweiten miteinander in Arenen kann es auch zur Erweiterung bzw. Reduktion ihrer Aktivitätsbereiche, zur teilweisen Verschmelzung der Aktivitäten der anderen Sozialwelten mit den eigenen oder zur teilweisen Adaption der eigenen an die anderer, zum sozialen Aufstieg der eigenen Aktivitäten gegenüber denen der konkurrierenden Sozialwelten im Sinne einer Prestigehierarchie bis hin zur Aushöhlung der bisherigen Aktivitätsbasis oder auch zur Konversion der bisherigen eigenen Aktivitäten in Richtung der Aktivitäten anderer sozialer Welten in der Arena kommen (Wiener 1991). Eine institutionalisierte Sozialwelt fußt auf eigenen Organisationsterritorien und -mechanismen, mit deren Strukturrahmen und Regelabläufen sie stets in mehr oder weniger deutlichem Konflikt steht, und sie versucht, die Vermittlung ihrer Traditionen an die jeweils nächste Novizen-Generation ihrer Akteure durch die Einrichtung eigener Ausbildungsorganisationen und Sozialisationsverfahren selber zu kontrollieren. Durch den Wettbewerb einzelner Akteure innerhalb des Binnenkommunikationsnetzwerks (und seiner Auseinandersetzungsarenen um die Authentizität und/ oder Legitimität der Kernverrichtungen einzelner Akteurskategorien) kommt es immer wieder zu Tendenzen der Differenzierung und Aufspaltung sozialer Welten. 62 Fritz Schütze Mit dem Konzept der sozialen Welten lassen sich besonders dichte und flexible Wissenschöpfungs-, Orientierangs- und Symbolisierungsprozesse in modernen Komplexgesellschaften untersuchen, die durch lebensbereichsspezifische und institutionelle Sinnsegmentierungen, hohe Selbstreflexivität und die Fluidität von fortlaufenden raschen, multiaspektuellen und z.T. unerwarteten Veränderungsprozessen geprägt sind. Freilich müsste wie schon eingangs angesprochen die Beziehung der sozialen Welten zu den elementaren Wissensbeständen des Alltagswissens und des selbstverständlichen symbolischen Universums von sozialen Gruppen, Ortsgesellschaften und Nationalgesellschaften sowie zu den Mechanismen der Flerstellung öffentlicher Meinung noch genauer abgeklärt werden. (Diesbezüglich könnte sich auch ein Rückgriff auf späte wissenssoziologische Überlegungen von Park vgl. Park 1967, S. 33-52, Park 1974, Bd. I, S. 36-52 - und auch auf Deweys Überlegungen zur Öffentlichkeit - 1996/ 1927 empfehlen.) 3. Die wissenschaftsgeschichtliche Tradition des Konzepts der sozialen Welten An dieser Stelle ist es freilich wichtiger, zunächst eine kurze theoriegeschichtliche Skizze darüber anzuschließen, wie das Konzept der sozialen Welten in der Chicago-Soziologie und im symbolischen Interaktionismus entstanden ist. Das Konzept ist schon in den einschlägigen ethnografischen Chicago-Monografien der Zwanzigerjahre verwendet worden. Eine seiner beiden wichtigsten Quellen sind die stadtökologischen Untersuchungen zu den „natürlichen Gebieten“ in der Metropole. So wird von Zorbaugh (1976/ 1929) das Konzept der sozialen Welt für all diejenigen Gebiete der Großstadt verwendet, die eine gemeinsame Kultur (bzw. Subkultur) und ein Wir- Bewusstsein entwickelt haben. In diesem Sinne sind natürlich die geschlossenen ethnischen Wohngebiete bzw. „Gettobezirke“ der Immigranten wie „Little Sicily“ im Chicago der Zwanzigerjahre (Zorbaugh 1976/ 1929, S. 158- 181) oder auch andere relativ geschlossene ethnische Wohngebiete jener Zeit (Wirth 1956/ 1928) „soziale Welten“. 3 Ähnliches gilt freilich in abge- 3 Von hieraus lässt sich der Bogen zur phänomenologisch-ethnografischen Analyse „kleiner sozialer Lebens-Welten“ („small life-worlds“ - Benita Luckmann 1970) schlagen, wie sie vor allem von Ronald Hitzier und Anne Honer entwickelt worden ist. Bezüglich der Fokussierung dieser „kleinen sozialen Lebens-Welten“ ist der Grundgedanke der, dass der „moderne Mensch“ ... „sein Leben sozusagen als ‘Collage’ aus Partizipationen an verschiedenen sozialen Teilzeit-Aktivitäten und ‘Zweckwelten’ gestaltet, in denen oft völlig heterogene Relevanzen ‘gelten’ und von denen jede lediglich einen begrenzten Ausschnitt seiner Erfahrung betrifft.“ (Hitzler/ Honer 1995, S. 382A) Die entsprechende lebensweltliche Ethnografie (Honer 1993) ist z.B. auf das spezifische Wissen und Milieu von Freizeitinteressengruppen wie Heimwerkern (Honer 1993), von Jugendszenen wie Techno-Fans oder Skater (vgl. Hitzler/ Bucher/ Niederbacher 2001) und von Kommunikationsnetzwerken wie Fernsehserien-Fangemeinden, z.B. der Star-Trek-Fans (vgl. Brüdigam 2001) erfolgreich angewandt worden. - Das Konzept der „kleinen sozialen Das Konzept der sozialen Welt 63 schwächtem Maße auch für die damaligen geschlossenen Wohnbezirke der Reichen — so in Chicago für die „Gold Coast“ am Michigan-See — und die suburbs der Angehörigen der Mittelschicht. Die Unterstellung von gemeinsamer Kultur (bzw. Subkultur) und Wir-Bewusstsein im jeweiligen städtischen Quartier war freilich nicht für die die Innenstadt Chicagos umschließenden rooming house districts möglich, die durch die nur sehr kurzfristige Verweildauer isoliert lebender Singles geprägt waren 4 (vgl. Zorbaugh 1976/ 1929, S. 69-86, Park/ Burgess/ McKenzie 1967/ 1925, S. 40f.). Eine andere Quelle des Konzepts der sozialen Welten ist die empirische Analyse der Auskristallisierung von funktional differenzierten Aktivitäten im Zuge der beruflichen Arbeitsteilung (vgl. etwa Hughes Untersuchung zur Entstehung des Chicago Real Estate Board - Hughes 1928) und im Bereich der Organisation von Freizeitaktivitäten (so etwa Cresseys Untersuchung zur damals neuartigen Institution der Taxi-Dance-Hall - Cressey 1972/ 1932). Auch hier ist der Gesichtspunkt der Entstehung einer gemeinsamen Kultur mit Wir-Bewusstsein und eines gemeinsamen Orientierungszentrums für die Pflege sozialweltsspezifischer, einschlägiger Aktivitäten, ihrer Beobachtung, ihres Genusses, ihrer Beurteilung, ihrer Konkurrenz, ihrer Stilisierung entscheidend. - In den Fünfziger- und Sechzigerjahren wurde dann, angeregt durch die Forschungen von Everett Hughes zu den Berufen (Hughes 1958, 1971) das Konzept der sozialen Welten insbesondere zur Erforschung der Einsozialisation in das Sinnsystem des professionellen Berufs (insbesondere der Medizinprofession vgl. Becker/ Geer/ Hughes/ Strauss 1977/ 1961, Olesen/ Whitaker 1968) und zur Untersuchung der systematischen Aktor- Haltungen zu den Arbeitsabläufen im Beruf (vgl. Strauss/ Schatzman/ Bucher/ Ehrlich/ Sabshin 1981/ 1964) dies mit moralischem Verpflichtungscharakter (Becker 1977/ 1961, Clarke 1991) weiterentwickelt. Schließlich ist noch als weitere wesentliche Quelle Blumers Analyse von sozialen Bewegungen als natürlichen Ablaufsgeschichten zu nennen: Soziale Lebens-Welten“ weist viele Überschneidungen mit dem Sozialwelt-Konzept des Symbolischen Interaktionismus auf; es ist insgesamt aber stärker mikrotheoretisch auf kleine und lokal gebundene Milieus und Szenen fokussiert als das mesotheoretische interaktionistische Konzept (mit seinem Bezug auf gesellschaftliche Arbeitsteilung, Professionen, Institutionen und entsprechende großflächigere Handlungsschemata und Arbeitsbögen). Das Konzept von Honer und Hitzier hat wie das Konzept der „natürlichen Gebiete“ der klassischen Chicago-Soziologie der Zwanzigerjahre zudem eine dezidiert ethnografische methodologische Implikation für die empirische Forschung; das interaktionistische Konzept der sozialen Welt bezieht sich dagegen eher auf Arbeitsbögen und Diskursarenen, die mit einer Vielzahl von qualitativen Erhebungs- und Analysemethoden (auch stärker zeitraffenden und Überschau vermittelnden Charakters) erfasst werden sollen. 4 Obwohl Zorbaugh auch hier in einer Art von rhetorischer Übergeneralisierung und wohl aus dem Wunsch nach stilistischer Gefälligkeit heraus von „the world of furnished rooms“ spricht. 64 Fritz Schütze Bewegungen können nur Momentum gewinnen, wenn sie ein Wir-Gefühl und eine zentrale Orientierung auf Auseinandersetzungsarenen entwickeln, in denen die Konflikte mit der Gesellschaft und ihren institutionellen Teilbereichen und Organisationen ausgetragen werden (Blumer 1975; vgl. auch Wiener 1981, 1991). Das bedeutet aber: ihr grundlegendes soziales Arrangement muss sozialweltlich gestaltet sein, damit die Veränderungsdynamik der sozialen Bewegung freigesetzt und gefördert werden kann. - Bei der Entwicklung der theoretischen Kategorie der sozialen Bewegung dürften wie auch bei der Gewinnung der theoretischen Kategorie der sozialen Welt empirische Erscheinungen des urbanen Lebens in modernen Komplexgesellschaften, wie Rassenunruhen im Konflikt über Quartiersterritorien und Massenauseinandersetzungen in der industriellen Arbeitswelt (wie Streiks) empirischer Ausgangspunkt gewesen sein. Auch Blumer geht es in erster Linie um die Frage, wie unter dem Veränderungsdruck moderner Komplexgesellschaften spezifische Fragen als soziale Probleme fokussiert werden und dabei eine zentripetale Ausrichtung der Aufmerksamkeit, der Erkenntnisprozesse und der Wissensbestände auf Streitpunkte in Auseinandersetzungsarenen geschieht. Aber das Prinzip der sozialweltlichen Fokussierung des Wissens in sozialen Bewegungen, um die bisherigen Alltagswissensbestände und die damit verbundenen gesellschaftlichen Zustände zu transzendieren, d.h. Aspekte der gesellschaftlichen Wirklichkeit mit einer grundsätzlich neuen Orientierung zu konfrontieren, ist historisch älter als der moderne Urbanismus, der seinen Anfang in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts nahm. Der historische locus classicus, in welchem das neue bewegungsspezifische und zugleich sozialweltliche Prinzip des Wissensarrangements den Mitgliedern der Gesellschaft selbst bewusst wurde, ist die Französische Revolution (Richet 1996a, 1996b). In ihr wurden, zumindest dem Selbstverständnis ihrer radikaleren Kräfte nach, alle überkommenen Alltagswissensbestände der bisherigen Gesellschaftsordnung in Frage gestellt was natürlich faktisch umfassend gar nicht möglich ist; auch die Revolutionäre haben viel Herkömmliches verdeckt oder auch offen weiter mit transportiert -, und ihre Akteure versuchten, wichtige Fragestellungen der gesellschaftlichen Neuordnung in zentripetal ausgerichteten Diskursarenen und thematisch spezifischen Sozialweltarrangements neu zu bearbeiten. (Auch Park - 1974(1927/ 1955), S. 34- 37 hatte sich schon in diesem Sinne für die großen Revolutionen interessiert. Er sah ihre Ähnlichkeit mit alltäglichen Vorgängen wie Streiks und betonte das Merkmal der bewussten kollektiven Repräsentation als verändernde Wir-Gemeinschaft.) Die Untersuchungen von Becker/ Geer/ Hughes/ Strauss (1977/ 1961) und Strauss/ Schatzman/ Bucher/ Ehrlich/ Sabshin (1981/ 1964) seien wegen ihrer zentralen Bedeutsamkeit für die weitere analytische Ausarbeitung des Konzepts der sozialen Welt nunmehr etwas genauer betrachtet. Das Konzept der sozialen Welt 65 Becker/ Geer/ Hughes/ Strauss (1977/ 1961) hatten in ihrer Untersuchung der biografisch einschneidenden Ausbildungskarrieren von Medizinstudenten herausgefunden, dass diese keineswegs schon früh und umstandslos im Studium die Leitorientierungen ihrer ärztlichen Ausbilder übernehmen, also sich nicht bereits in den vorklinischen und frühen klinischen Kursen in ihrer biografischen Identität zu professionellen Ärzten wandeln. Stattdessen sind sie lange Zeit im Studium Studenten, die im Stress des Kurs- und Prüfungswesens überleben wollen. Dazu gehört auch, dass sie ein eigenes kollektives Orientierungssystem und die dieses stützenden Kommunikationsgeflechte entwickeln. Es bildet sich eine eigene studentische Kultur bzw. Sozialwelt heraus, die es den Studenten ermöglicht, im Kontrast zu den Erwartungen ihrer akademischen Lehrer ihre Identität als Studenten zu stabilisieren (Becker/ Geer/ Hughes/ Strauss 1977/ 1961, S. 46, 308f., 31 If, 432). Strauss/ Schatzman/ Bucher/ Ehrlich/ Sabshin (1981/ 1964) stießen bei ihrer vergleichenden Untersuchung dreier psychiatrischer Krankenhausstationen einer staatlichen und einer privaten psychiatrischen Klinik auf den Tatbestand, dass unterschiedliche psychiatrische Wissens- und Orientierungssysteme („Ideologien“ der somatischen, psychoanalytischen und soziobzw. milieutherapeutischen Behandlung) in den drei Stationsterritorien als mehr oder weniger verbindliche kollektive Wissensbestände und Wertorientierungen verankert waren und ihrer jeweiligen Ausrichtung und Organisation der Arbeit das Selbstverständnis gaben. Sie waren gewissermaßen in die jeweiligen Organisationsterritorien eingewurzelt und bildeten dort für ihnen folgende Berufstätige bekräftigende, legitimierende und Sicherheit gewährende Kommunikationsgeflechte, griffen freilich zugleich auch über das jeweilige Stationsterritorium hinaus, indem sie sich zusätzlich an identisch orientierten Berufstätigen in anderen Organisationen (anderen Stationen des Krankenhauses, anderen Krankenhäusern, anderen Einrichtungen des ambulanten Gesundheitswesens, bestimmten Gruppen und Instanzen in der Gesundheitsverwaltung sowie Gruppen und Instanzen in entsprechenden Ausbildungsinstitutionen) ausrichteten. Die drei unterschiedlichen psychiatrischen Wissens- und Orientierungssysteme waren wie die Forschergruppe herausfand für die konkrete Interaktion zwischen den Kollegen und deren Behandlungs- und Organisationsarbeit, vermittelt über „operationale Anwendungsphilosophien“, äußerst folgenreich. Dies zeigte sich z.B. an der fortlaufenden Auseinandersetzung um die Aufteilung zwischen den besonderen Stationsbereichen der Behandlung akut Kranker und den besonderen Stationsbereichen der Bewahrung „chronischer Patienten“ im Kreise bzw. der Auseinandersetzungsarena der Professionellen unterschiedlicher Orientierung: die eine Gruppe warf der jeweils anderen immer wieder vor, die Patienten nur unter bewahrendem Verschluss zu halten, ohne mit ihnen wirklich therapeutisch zu arbeiten. Die drei unterschiedlichen ideologischen Wissens- und Orientierungssysteme vermittelten, so fand die Forschergruppe heraus, technische und moralische Standards für die Arbeit mit den Patienten z.B. 66 Fritz Schütze Kriterien dafür, wann der Patient von der Stationsordnung abwich und ob wegen seines Abweichens eine Abstufung des Patienten im Stationssystem nach den Kriterien abnehmender Behandlungsintensität und zunehmender Bewachungsintensität erforderlich und legitimiert war. Strauss et al. kamen zu dem Schluss, dass die Wissens- und Orientierungssysteme der drei unterschiedlichen psychiatrischen „Ideologien“ bzw. Ausrichtungen den professionell Berufstätigen im psychiatrischen Krankenhaus jeweils eine kollektive Identität vermittelten, die ihnen wiederum eine gewisse professionelle Handlungsautonomie gegenüber Standardabläufen im Organisationssystem des Krankenhauses ermöglichte. Gerade die psychiatrisch-„ideologischen“ Wissens- und Orientierungssysteme machten so Strauss et al. die professionelle Kollegenschaft mit derselben ideologischen bzw. theoretischen Lehrorientierung zum wichtigsten Publikum für das eigene Handeln und dessen Beurteilung. Die Forschergruppe um Strauss kommt zu folgendem Gesamtbild: Die rasante Entwicklung in den Wissenschaften und in den auf ihnen aufbauenden Professionen, gerade auch der Richtungsstreit zwischen unterschiedlichen Professionen bzw. Professionslagern, lasse die in den Großorganisationen (wie den psychiatrischen Kliniken) arbeitenden Professionsakteure von festen organisatorischen Vorgaben relativ unabhängig werden. Typisch sei in solchen Großorganisationen die Teaminteraktion eines Gemenges von Akteuren aus unterschiedlichen Professionen und Professionsausrichtungen im Rahmen desselben Arbeitsablaufs. Die notwendigen, sachlich begründeten argumentativen Auseinandersetzungen im Team verunsicherten die Akteure aus verschiedenen Professionen immer wieder, und deshalb seien die verpflichtende Orientierung auf theoretisch zentrierte Sozialwelten der verschiedenen Professionsschulen (wie die theoretischen Ausrichtungen der somatischen, psychoanalytischen und soziobzw. milieutherapeutischen psychiatrischen Behandlung) und die fortlaufende Interaktion in ihren kommunikativen Beziehungsgeflechten notwendig. Die sozialen Welten der Professionsschulen mit einer je bestimmten Theorieorientierung hätten auch die gesamtgesellschaftliche Funktion, die kollektive Bewegung einer Profession (bzw. Paraprofession, die zunächst noch keinen allgemein anerkannten Ehrenstatus als Profession mit exklusivem gesellschaftlichem Mandat und exklusiver gesellschaftlicher Lizenz hat) zu höherem Status im System der Arbeitsteilung zu fördern oder auch umgekehrt zu retardieren. (Zum Beispiel diene die milieutherapeutische Orientierung zur Statusanhebung der Sozialarbeitsprofession zu einer anerkannten therapeutischen Profession, während eine einschlägige somatische oder psychoanalytische Orientierung dies eher verhindere.) Das Konzept der sozialen Welt 67 4. Das soziale Arrangement der sozialen Welt Das formale Theoriestück der sozialen Welten hat auf der Grundlage weiterer Forschungen z.B. zur sozialen Welt der Kunst (Becker 1982), zur sozialen Welt und sozialen Bewegung der Thematisiemng und Bearbeitung der Alkoholismus-Problematik bzw. der AIDS-Problematik, ihrer Selbsthilfe- und professionellen Gruppen und ihrer politischen Auseinandersetzungsarenen (Wiener 1981, 1991), zur sozialen Welt der Computerindustrie (Kling/ Gerson 1977, 1978) sowie zu den sozialen Welten verschiedener naturwissenschaftlicher und technischer Bereiche (Clarke 1991, Fujimura 1991) eine zunehmende Systematisierung erfahren (vgl. Shibutani 1955, 1962; Strauss 1991b/ 1978b, 1982, 1984; Becker 1982: Kap. 1, S. 10, 11; Unruh 1979; Maines 1982, S. 270; Clarke 1991). - Folgende systematische Theoriefigur zeichnet sich ab: Gestaltungsvorstellungen und komplexe Zukunftsbetrachtungen des Interaktionsfeldes werden besonders gefördert durch die Kommunikation und Kooperation in sozialen Welten (vgl. Strauss 1991b/ 1978b; 1982; 1993, Kap. 9 und 10). Die Akteure, die in ihrem Bezugsrahmen handeln, sind in ihrer Aufmerksamkeit zentripetal ausgerichtet auf zentrale Handlungsverrichtungen und entsprechende Diskursarenen, welche die Standards der Einschätzung und Kritik für die Authentizität und Angemessenheit oder aber für die Unechtheit und Fehlerhaftigkeit dieser zentralen Handlungsverrichtungen festlegen. Solche sozialen Welten entstehen für viele thematisch besonderen Interaktionsfelder der Gesellschaft, die je spezifische Gestaltungsprobleme und -aufgaben fokussieren. Sie sind in ihrer zentripetalen arenaförmigen bzw. „marktmäßigen“ Ausrichtung und Ausgestaltung (vgl. Strauss 1993, Kap. 10) äußerst flexibel und deshalb vorzüglich geeignet, die Veränderungspotenziale einer Gesellschaft in den Blick zu nehmen und in Arenadiskursen immer wieder zu formulieren. Auf der anderen Seite kristallisieren sie sich massiert in den Aufgabenbrennpunkten der gesellschaftlichen Gestaltung, die von der soziologischen Tradition gemeinhin als Institutionssektoren (wie Wissenschaft, Wirtschaft, Religion, Rechtspflege, professionelle Arbeitsbereiche) bezeichnet werden, heraus. Und insofern weisen sie zugleich auch einen kulturelle Thematisierungszusammenhänge fortsetzenden und ausgestaltenden Diskurscharakter auf. Soziale Welten sind in ihrer Einrichtung, Gestaltung und Veränderung wie schon angedeutet außerordentlich flexibel. Sie benötigen zwar zentrale Verortungen für die Lokalisierung und Fokussierung der Arena-Aktivitäten (und wenn es nur die Homepage im Internet ist; es kann sich aber auch um das sehr aufwändig organisierte soziale Arrangement der Ausstellung handeln vgl. Becker 1982 -, das verschiedene Kernaktivitäten wie das Sammeln vgl. Hoving 1975 - und das Auslegen impliziert), und es ist auch ein 68 Fritz Schütze Nukleus von sozialer Organisation dieser Verortung, Ausrichtung und institutionellen Rahmung (des symbolischen Aufzeigens vorbildlicher Aktivitäten und ihrer Stilistik, der Sozialisation bzw. auch formalen Ausbildung für die authentischen Aktivitäten, der Formulierung und Überwachung der Angemessenheitsstandards sowie der Einhaltung der Kritikkriterien, usw.) erforderlich. Sie sind aber ansonsten nicht an Orte, feste angestammte Personengruppen, organisierte Einrichtungen bzw. „institutionelle Anstalten“ usw. gebunden. Sie ermöglichen vielseitige und fluide Vermittlungen individueller Akteure mit kollektiven Aufgaben sowie kollektiven Orientierungs- und Funktionszusammenhängen und sind deshalb ein zentrales soziales Arrangement für den sozialen Wandel moderner Komplexgesellschaften. Soziale Welt ist in doppeltem Sinne ein bewusstseinsförderndes soziales Arrangement. (1) Dieses ist zunächst einmal immer dann von zentraler gesellschaftlicher Wichtigkeit, wenn bisher noch nicht gesehene bzw. bisher noch nicht bewusst gewordene Probleme von Welt angegangen und/ oder neue Tätigkeitsformen entwickelt werden sollen; diese Innovationsaufgabe ist in der Regel mit sozialen und kulturell-stilistischen Erfindungen verbunden. Die Bewusstseinssteuerung erfolgt, wie schon angedeutet, in der zentripetalen Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf eine soziale Tätigkeitsarena, in der für alle beteiligten Akteure relevante Probleme bearbeitet und Kernaktivitäten abgewickelt werden. Die Arena zieht aber nicht nur die individuelle bzw. parteispezifische Aufmerksamkeit der einzelnen Akteure an; sie schafft darüber hinaus auch gemeinsame Problemsichten, Flandlungskategorisierungen und symbolische Tätigkeitsstilistiken (zu den Tätigkeitsstilistiken vgl. Kallmeyer 1995a, 1995b). Dies geschieht einerseits in der wechselseitigen praktischen Anspornung bezüglich der Profilierung und Angleichung der Tätigkeitsstilistiken (im wechselseitigen Vor- und Nachmachen) und andererseits im diskursiven kommunikativen Austausch über die Kernprobleme und die Frage der Authentizität und Angemessenheit der zentralen Flandlungsabläufe. Gerade die grundlegende Arenastruktur erlaubt es auch, die bisher noch nicht gesehenen bzw. beachteten Probleme überhaupt erst einmal als solche zu definieren und sie gegebenenfalls im Sinne eines sozialen Dramas, das veränderte Sichtweisen, neue Kategorisierungen und andere Grenzlinien schafft, theatralisch zu skandalisieren und einer krisenhaften Höhepunktsauseinandersetzung zuzuführen (vgl. Turner 1974, Kap. 2). Gerade durch ihre Arenastruktur ist das Arrangement der sozialen Welt also in der Lage, zentrale gesellschaftliche Veränderungsthemen zu formulieren und dynamisch-dramatisch auf gesellschaftliche Höhepunktsdebatten hinzuführen. Dies geschieht oftmals im Bezugsrahmen und Prozessablauf sozialer Bewegungen. Insbesondere im Kontext sozialer Bewegungen wird soziale Welt also zum aufkläre- Das Konzept der sozialen Welt 69 rischen Gegenprinzip gegen systematische Ignorierungs-, Dethematisierungs-, Ausblendungs- und Rationalisierungsmechanismen. Eine wichtige formale Voraussetzung für die Öffentlichkeitsmobilisierung sozialweltlicher Themen, insbesondere solcher sozialer Bewegungen, ist, dass soziale Welten nicht nur Binnenarenen auskristallisieren, sondern auch die besondere Thematisierungskraft entfalten, durch das Aufgreifen zentraler Themen neue gesamtgesellschaftliche Situationsdefmitionen zu schaffen, die provokativ sind, die deshalb in andern gesellschaftlichen Aktivitätszentren und bei andern wichtigen Akteuren der Gesellschaft Widerspruch hervorrufen und so diskursive Außenarenen der strittig-kommunikativen Auseinandersetzung schaffen, an denen ganz unterschiedliche soziale Welten beteiligt sind. (2) Das soziale Arrangement der sozialen Welt kann aber auch dafür sorgen, dass Problemausschnitte und Tätigkeitsbereiche der gesellschaftlichen Wirklichkeit einer dauerhaften analytischen Betrachtung, diskursiven Auseinandersetzung und kritischen Reflexion zugeführt werden und zugeführt bleiben. Durch die Stabilisierung und universalistische Offenhaltung von Diskursarenen entsteht eine analytische Reflexionskultur, die es ermöglicht, sich vom unmittelbaren Handlungsdruck abzulösen. Das schafft auch die Bedingungen für die Schärfung der Urteilskraft und für die Entwicklung von Standards der Kritik mit Hinblick auf die fokussierten Kernaktivitäten. Auf diese Weise kann beim Funktionieren offener Diskursarenen eine fortlaufende Kultivierung gesellschaftlich wertvoller Tätigkeiten und des Expertenwissens über sie sichergestellt werden. Das ist die evolutive Wissensschöpfungs- und Kultivierungsfunktion sozialer Welten. Insbesondere für die Förderung des professionellen Berufshandelns, das auf die Unterstützung von Klienten und die Wahrung der zentralen Werte der Gesellschaft (wie Gesundheit, Recht, soziale Wohlfahrt, Bildung usw.) bezogen ist, ist die Wissensschöpfungs- und Kultivierungsfunktion von zentraler Relevanz (Strauss/ Schatzman/ Bucher/ Ehrlich/ Sabshin 1981/ 1964, Introduction und Kap. 15). Die Fallarbeit als zentrale Aktivität wird in der Arena der professionellen Sozialwelt von den Akteuren wechselseitig angeregt und diskursiv reflektiert. Sie ist fundamentiert durch die höhersymbolischen (wissenschaftlichen und erfahrungsmäßigen) Wissensbestände der professionellen Sozialwelt. Die höhersymbolischen Wissensbestände erklären zwar Einzelfälle, haben aber in ihrem kategorialen Bestand eine fallübergreifende Relevanz. Auch erheischen sie eine tendenziell unversalistische Geltung, weil sie so formuliert sein müssen, dass sie für jeden in der Handlungsarena Kompetenten akzeptabel sind - und jeder spezifisch Handlungskompetente hat dem Ideal nach Zugang zur einschlägigen professionellen Sozialwelt. Der wechselseitige Handlungsansporn und die diskursive Auseinandersetzung in der professionellen Sozialarena haben einen prinzipiell ega- 70 Fritz Schütze litären und emergent-fluiden (nicht lückenlos planbaren) Charakter; professionelle Sozialwelten stehen also in einem grundlegenden Steuerungs- und Orientierungsgegensatz zu bürokratischen Organisationen. Dieser Gegensatz wird vertieft durch die Orientierung der Kemaktivitäten in der professionellen Sozialwelt auf die Wohlfahrt des singulären individuellen bzw. kollektiven Klienten und nicht auf die Generalisierung, Schematisierung und Automatisierung von Abläufen (vgl. Schütze 1992, 1993, 1996, 2000; Riemann 2000). Gerade in ihrer hochgradigen Fokussierung auf Problemdefmitionen, die Authentizität und Angemessenheit der Kernaktivitäten und auf ausgeprägte symbolische Stilistiken neigen soziale Welten zu harschen diskursiven Meinungsverschiedenheiten, die zu ihrer Aufspaltung in Subwelten führen können, welche sich gegenseitig die Authentizität ihrer Aktivitäten bestreiten oder aber doch zumindest dezidiert unterschiedliche Praxisstrategien kultivieren (vgl. Strauss 1982, 1984). Dies kann zur Desavouierung der sozialen Welt in den Augen der Öffentlichkeit führen und sie destabilisieren. Wichtiger ist aber der Gesichtspunkt, dass die Aufspaltung sozialer Welten immer auch das kreative Element der Vervielfältigung von Handlungs- und Sichtweisen beinhaltet und somit der entscheidende Motor für die „Zellteilung“ in der Evolution kultureller Leistungen ist. Da die Fassetten der zentralen Probleme, die in sozialen Welten bearbeitet werden, vielfach sind und zudem Nachdruck auf die Innovation der entsprechenden bearbeitenden Flandlungsstrategien gelegt wird, ist auch oftmals die Überschneidung der Tätigkeitsfelder von sozialen Welten beobachtbar dies mit der Wirkung, dass aus dieser „kulturellen Kreuzung“ neue interdisziplinäre Subwelten entstehen. Auf diese Weise kommt es zur Amalgamierung von unterschiedlichen kulturellen Traditionen, und dies löst mitunter Explosionen kultureller Innovation aus. Aber mitunter ist auch umgekehrt mit einer wechselseitigen Verwässerung der Authentizitätsanforderungen an die Kemaktivitäten zu rechnen, die in den Muttersozialwelten noch strikt in Ehren gehalten werden, oder auch mit dem Entstehen einer sektenmäßigen Kultur der Abschließung derjenigen, welche den vollen Umfang der Handlungskompetenzen, die aus beiden Muttersozialwelten „mitgenommen“ wurden, nur noch teilweise beherrschen und/ oder das aus der Überkreuzung entstandene kulturelle Mischgebilde mit seinen teils reduzierten und seinen teils neuartigen Authentizitätsanforderungen gegen die Kontrollansprüche der Muttersozialwelten verteidigen müssen. Soziale Welten, die sich im Zuge sozialer Bewegungen auskristallisieren und letztere dann kognitiv ausrichten, neigen mitunter aber auch das soll hier abschließend ergänzt werden zur Eskalation der Gegenstandpunkte unter extremer Vereinfachung der wechselseitigen Betrachtungsweisen. Die jeweiligen Standpunkte der Kontrahenten werden beim Dominantwerden dieser Neigung extrem vereinfacht konzipiert; ihnen wird wechselseitig Umsicht Das Konzept der sozialen Welt 71 und guter Wille abgesprochen. Das reduziert das kognitive Aufklärungspotenzial des sozialweltlichen Diskursarrangements (vgl. Prokopp 2000). Kernabsicht ist bei einer solchen Auseinandersetzung die Imagekonstruktion im Präsentationsprozess und nicht die inhaltliche Problemuntersuchung. Bezeichnend sind die massierte Belegung des Standpunktes des Kontrahenten mit essenzialistischen Prädikaten wie „unvernünftig“, „unverantwortlich“, „unmoralisch schlecht“ und die massierte Belegung des eigenen Standpunktes mit den entsprechenden essenzialistischen Gegenprädikaten wie „vernünftig“, „verantwortungsbewusst“ und „moralisch gut“. Die Interaktionskontrahenten neigen dann schon aus Gründen der Gegenwehr dazu, reaktiv dasselbe zu tun, denn sie erleben die auf sie zielenden negativen essenzialistischen Fremdzuschreibungen als böswillig. Impliziert sind hier also obendrein Fremdzuschreibungen auf der Metaebene, die natürlich wiederum entsprechend vom Interaktionskontrahenten im Falle unserer Darstellung zunächst vom ursprünglichen Initiator der Zuschreibungseskalation mit eigenen Metazuschreibungen beantwortet werden (vgl. Laing/ Phillipson/ Lee 1971). - Nun lässt sich allerdings der Ursprung der Zuschreibungseskalation schon nach kurzer Zeit nicht mehr ausmachen; sie gewinnt für die Akteure einen Dauercharakter sui generis. Und da sich die Zuschreibungen auf interaktive Gegensatzanordnungen beziehen und mit essenzialistischen Kontrastprädikaten vollzogen werden, sind mit den Metazuschreibungen zugleich auch selbstverständliche Fremd-Primärzuschreibungen essenzialistischer negativer Prädikate verbunden, die einen selbstverständlichen Dauercharakter suggerieren. Auf diese Weise wird sich dann eine binär-schematisierte gegnerschaftliche Lagerbildung verfestigen, durch deren Wirkmechanismus die Auseinandersetzung entweder weiter eskaliert oder aber umgekehrt ritualisiert wird. In beiden Fällen tritt das Bemühen um die Klärung der ursprünglichen Streitmasse und der mit ihr verbundenen Sachverhalte immer mehr in den Hintergrund. Stattdessen geht es vornehmlich um die eigene Imagekonstruktion und die Konstruktion des Heterostereotyps des Gegners. Die Erscheinungen der Lagerbildung, des Eskalationsmechanismus und der binären Schematisierung können sozialweltliche Auseinandersetzungen in überhitzten Wachstumsphasen sozialer Bewegungen oder auch umgekehrt in Phasen der Verknöcherung sozialer Bewegungen bestimmen. Solche sozialweltlichen Auseinandersetzungen sind nicht mehr wie das etwa bei sachbezogenen Debatten in professionell-sozialweltlichen Diskursarenen oder bei offenen Problematisierungen und neuen Situationsdefmitionen in sozialen Bewegungen durchaus der Fall ist kognitiv erhellend und von aufklärerischer Qualität. 72 Fritz Schütze 5. Die Bedeutung des Konzepts der sozialen Welt für die Analyse von modernen Komplexgesellschaften Was ist nun aber die Bedeutung des grundlagentheoretischen Konzeptes der sozialen Welt wie es gerade skizziert wurde für die Analyse der Wissensveränderungen in den modernen Komplexgesellschaften? Wenn Menschen in aktuellen Interaktionsbegegnungen immer wieder Neues erleben, dann bedeutet das, dass gesamtgesellschaftliche Wissensvorräte nur noch partiell die Erwartungsfahrpläne für das tagtägliche Leben festlegen können. Das Leben in der modernen Komplexwelt ist zu kompliziert geworden, als dass die Akteure für ihre aktuelle Sinn- und Handlungsorientierung mit „flächendeckenden“ Erwartungs- und Aktivitätsskripten von gesamtgesellschaftlich-institutioneller Gültigkeit zurechtkommen könnten. Das gilt zunächst einmal für die außerordentlich tief gehende Ausdifferenzierung der Berufsarbeit in sehr unterschiedliche, voraussetzungsreiche und weitgespannte Arbeitsbögen (Strauss 1985); das gilt aber auch für alle übrigen Lebensbereiche. In allen Lebenssphären ist heutzutage von einer multiplen Divergenz der Interessen und auch von beträchtlichen kulturellen Unterschiedlichkeiten der Erlebnisverarbeitung und der Weltbetrachtung auszugehen. Dem entspricht aber auch, dass die verschiedenen existenztranszendierenden religiösen („höhersymbolischen“) Sinnwelten, die den heutigen Komplexgesellschaften aufgrund der Traditionsvermittlung und/ oder im Wege der transkulturellen Diffusion Sinngebungen zu vermitteln trachten, von den jeweiligen Interaktionsparteien einander in ihren jeweiligen subjektiven Adaptionen nicht als identisch orientierend für das eigene Handeln und Erleiden wechselseitig unterstellt werden können. Sie sind so vielfältig, dass nicht von einem umfassenden und einheitlichen, etwa kirchlich-organisatorisch gestützten, heiligen Kosmos ausgegangen werden könnte. Zudem werden diese religiösen Sinnwelten von vielen Menschen für wichtige Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens als nicht mehr maßgeblich, als empirisch falsifiziert oder gar als ihrer moralischen Integrität beraubt angesehen. Zwar fußen auch die Sinnorientierungen in den heutigen Komplexgesellschaften auf Alltagswissensbeständen (Schütz 1971a, 1971b) und symbolischen Universa (Park 1967, S. 172, 216; Park 1972; Park/ Burgess 1972; Berger/ Luckmann 1969; Strauss 1993); deren Sinnvorstellungen sind aber derart elementar, dass sie selten in Prozesse diskursiver Auseinandersetzung geraten stattdessen gelten sie in der Regel als unhinterfragte Selbstverständlichkeiten. Das bedeutet andererseits, dass die wirklich drängenden Probleme des Lebens von ihnen gewöhnlich nicht mitrepräsentiert werden. Hierfür sind besondere Diskursarrangements und Diskursmechanismen erforderlich. Diese schlagen sich z.T. in der öffentlichen Meinung (Park 1967, S. 42, 216, 220; Dewey 1996/ 1927) einer Ortsgesellschaft oder auch Gesamtgesellschaft nieder. Die öffentliche Meinung kann sich wegen ihrer zentralen Ausrichtung Das Konzept der sozialen Welt 73 und ihres Thematisierungsaufwandes (mittels massenmedialer Einrichtungen) aber nur auf ganz wenige Problembestände der kollektiven Lebenssphäre beziehen, die für die individuellen Gesellschaftsmitglieder häufig sehr fern liegen. Auch ist der Ausdruck des existenziell Relevanten durch massenmediale Manipulation der öffentlichen Meinung häufig extrem beeinträchtigt. In diese Lücke stoßen als besondere Diskursarrangements und Diskursmechanismen die intermediären sozialen Welten, die mit ihren Sinnfokussierungen und Aktivitäten zwischen der familialen und biografischen Privatsphäre einerseits und gesamtgesellschaftlichen Thematisierungen und Institutionalisierungen andererseits stehen. (Sie sind gesellschaftliche Meso-Erscheinungen vgl. Maines 1982.) Sinnerzeugung geschieht dort mit Bezug auf selektiv interessierende Kemaktivitäten im Arena-Diskurs; hierbei müssen interessenbedingte Meinungskonflikte ausgetragen werden, die oft nur in komplizierten Aushandlungsprozessen (Strauss 1978a) beigelegt werden können. Die Sinnstiftung einer sozialen Welt ist stets auf ein spezifisches Problem- und Aktivitätsfeld beschränkt. Auch wenn die Protagonisten einer solchen sozialen Welt von dieser Sinnstiftung in ihrer biografischen Relevanzsetzung und in ihrer existenziellen Aufmerksamkeitsleistung zeitweilig voll vereinnahmt werden, wissen sie doch zugleich, dass diese nicht den gesamten biografischen Möglichkeitshorizont abdeckt. Damit ergibt sich das Fragmentarische, das Unübersichtliche, Sich-Überlagernde, Kurzfristige, Sich-Wandelnde, Chaotische der Sinnstiftung in sozialen Welten und durch sie. Die Menschen in den heutigen Komplexgesellschaften haben als Protagonisten, Aktivisten, aber auch einfache Teilnehmer Anteil an verschiedenen sozialen Welten: ganz wie das die beruflichen Problem- und Aktivitätszusammenhänge und die Interessenausprägungen der gesamten Lebenslage (einschließlich der Freizeit) nahe legen. Entsprechend stellt sich aber auch die fortlaufende Aufgabe der Herstellung der biografischen Einheit der verschiedenen Sozialwelt-Engagements. Die Problemfokussierungen, Sinnquellen und Aktivitätsarten der verschiedenen Sozialwelten sind z.T. sehr unterschiedlich; das einzelne Gesellschaftsmitglied kann nicht davon ausgehen, dass sie in einer Beziehung der Wahlverwandtschaft zueinander stehen oder dass sie als Einzelelemente durchaus unterschiedlich in einer vorgeprägten Gesamtanordnung zueinander passen wie die einzelnen Bestandteile eines wohlgeplanten Hauses. Auch kann es keine prästabilisierte Harmonie zwischen den individuellen, lebensgeschichtlich geprägten Sinnquellen und -erzeugnissen, die oftmals aus Begegnungen mit Sozialwelten in vergangenen Epochen der eigenen Biografie hervorgegangen sind, einerseits und den einzelnen Versatzstücken der kollektiven Sinnquellen und -erzeugnissen derjenigen Sozialwelten, an denen die bzw. der Einzelne gerade jetzt aktuell durch Orientierungen und/ oder Aktivitäten teilnimmt, andererseits geben. In den heutigen Komplexgesellschaften besteht nicht mehr die weit gehende wechselseitige Identität zwischen dem kollektiven Wissenssystem der Gesamtgesellschaft und dem individuellen biografischen 74 Fritz Schütze Sirmhorizont, wie das in traditional-religiös geprägten Gesellschaften noch der Fall war (Luckmann 1967 spricht diesbezüglich von der Abbildung des heiligen Kosmos der Gesamtgesellschaft im „Kosmion“ des biografischen Wissens- und Orientierungshorizontes). Der biografische Gesamtsinnhorizont ist demgegenüber in den heutigen Komplexgesellschaften eine Basteibzw. Kollagenleistung (Berger/ Berger/ Kellner 1975, S. 32; Piotrowski/ Czyzewski/ Rukuszewska-Pawelek 1994); und hierbei kann es zu zahlreichen zentralen Problemen der Sinnunvereinbarkeit, Sinnwidersprüchlichkeit, wechselseitigen Entwertung von thematisch gebundenen biografischen Teilorientierungen und des Mangels an Glaubwürdigkeit einer Gesamtkonstruktion, die aus diesen thematischen Teilorientierungen zusammengesetzt ist, kommen: d.h. zum Chaos innerhalb der biografischen Arbeit. Die Schwierigkeiten der biografischen Arbeit und der alltäglichen Sinnorientierung sind freilich nicht nur durch die Unterschiedlichkeiten der Sozialwelten, an denen die bzw. der Einzelne teilnimmt, und deren wechselseitigen Fremdheit für einander begründet. Es ist in vielen Lebensbereichen für das einzelne Gesellschaftsmitglied unklar, an welchen Sozialwelten denn nun eigentlich empirisch vorfmdliche Aktivitäten, deren Kontextualisierungsmarkierer (Gumperz 1982; Kallmeyer/ Keim 1986) zwar durchaus sichtbar, aber doch unterschiedlich ausdeutbar sind, faktisch ausgerichtet sind. Verschiedene Sozialwelten geben zwar oberflächlich vor, sich in bestimmter Weise zu orientieren, liefern dann aber faktisch keine - oder ganz andere - Sinnorientierungen: dies trifft insbesondere für wirtschaftsnahe und konsumorientierte Sozialwelten zu, die sich gerne mit tiefer gehenden, den Alltag transzendierenden Sinnangeboten schmücken. Viele Sozialwelten stehen mit ihren Sinnproduktionen zudem in Gefahr, durch interessengeleitete Fremdorganisationen wie wirtschaftliche oder politische Interessengruppen oder den Staat selbst vereinnahmt und manipuliert zu werden. Zudem wirken besonders mächtige professionelle Sozialwelten (wie die der Medizin, der Jurisprudenz, der verschiedenen Management-Sparten in der Wirtschaft) mit ihren Sinngehalten, Wertvorstellungen und Handlungsregeln in die Aktivitätsbereiche anderer Sozialwelten (z.B. in die der sozialen Arbeit, der Kunst, der Wissenschaft) per kultureller Diffusion oder gar per hoheitsstaatlicher Anweisung und/ oder hierarchischer Organisation (vgl. Schütze 1996) hinein. Auf beide Weisen werden in den betroffenen Sozialwelten hybride, in sich widersprüchliche Fragestellungen, Einschätzungen, Handlungsorientierungen geschaffen, die dem Gegenstandsbereich sachlich eigentlich nicht angemessen sind. All das macht es für das einzelne Gesellschaftsmitglied sehr schwierig zu erfassen, was in nicht ganz vertrauten Interaktions- und Erfahrungsbereichen überhaupt an Aktivitäten ihrem eigentlichen Gegenstandsgehalt nach gespielt wird. Orientierungsdiffusion, „Modalitätensalat“ beim Interpretieren von symbolischen Kundgaben (wenn etwas nicht buchstäblich gemeint ist, wie kann es dann sonst noch verstanden werden? ), die Unfähigkeit klarer Gestaltenerfassung und die damit verbundene Irritation sind dann die Folge. Das Konzept der sozialen Welt 75 (Insbesondere moderne Dramatiker wie Luigi Pirandello, Harold Pinter, Botho Strauß haben sich mit solchen Erscheinungen von „Modalitätensalat“ beschäftigt vgl. Schilling 1991.) Soziale Welten erhalten hier die Funktion von interpretatorischen sozialen Rahmen Für die Bedeutungszuschreibung und Deutung von Handlungsabläufen und Reaktionen auf sie seitens der Interaktionsgegenüber (Goffman 1980, Kallmeyer/ Schütze 1976). Das mit dem dissonanten Konzert der sozialen Welten verbundene Orientierungschaos ist nicht nur in ihrer Unterschiedlichkeit voneinander begründet. Viele soziale Welten stehen auch in Spannung bzw. sogar in verdeckter oder offener Auseinandersetzung miteinander, indem sie in sich wechselseitig überlappenden Ausstrahlungsbereichen oder gar im dezidierten Wirkungsfeld der jeweils anderen um Teilnehmer werben bzw. über die bereits geworbenen Teilnehmer eifersüchtig als eigenen Klientelbzw. Besitzstand wachen. - Folgende Erscheinungen lassen sich diesbezüglich analytisch trennen: - Die Konkurrenz ähnlicher Teilsozialweiten (und der sie stützenden Organisationen) im Werben um dieselben möglichen Teilnehmer, Einflussnahmen, Subsistenzmittel dies z.B. im Bereich der Bearbeitung sozialer Probleme, der Umwelt- und Nachhaltigkeitsarbeit, der Religion, der Parteipolitik, der Wirtschaft, des professionellen Berufshandelns. Von parallel arbeitenden Binnenarenen gehen ähnlich erscheinende, aber partiell heterogene Sinnbotschaften und Loyalitätsaufforderungen aus, welche die biografischen Sinnhorizonte und die Handlungsorientierungen verwirren. Es bestehen erhebliche Schwierigkeiten, diesbezüglich integrale Außenarenen aufzubauen, in denen für alle Beteiligten gleichermaßen verbindliche Kriterien für die Beurteilung der Authentizität, Angemessenheit und Stilpassung der konkurrierenden Versionen von Kernaktivitäten entwickelt und anerkannt werden; die Ersetzung eines Typus von Sozialwelt durch einen anderen für die Orientierung und Steuerung einer bestimmten Lebenssphäre von identischen Personenkreisen (z.B. die Ersetzung der Aktivitäten von Freiwilligkeitsvereinen wie etwa der freiwilligen Feuerwehr durch Veranstaltungen der Freizeitindustrie) und die entsprechenden verdeckten und expliziten Auseinandersetzungen, insbesondere Ressourcen-, Jurisdiktions- und Loyalitätskonflikte, in Außenarenen des Konflikts, der Konkurrenz und der wechselseitigen Alternation und Ersetzung (z.B. in Gemeinderäten und Parlamenten, in denen über die finanzielle Forderung entsprechender Sozialweltorganisationen beraten wird); die partielle Versäulung von Teilsozialwelten (Matthes 1964), d.h. die Existenz vergleichbarer Teil-Sozialwelten für unterschiedliche Gruppen der Bevölkerung, die in mehr oder weniger äußerlicher Zuschreibung nach religiösen, ethnischen oder sonstigen Kriterien differenziert werden 76 Fritz Schütze ( obei die Regeln der Zurechnung längst nicht immer klar und teil eise auch mehr oder eniger „historisch zufällig“ sind); so ie die Einbeziehung ethnisch divergenter soziokultureller Milieus in die Gesamtgesellschaft als kulturell andersartiger Sozial eiten mit Insulierungsbz . Gettobildungsfunktion (Wirth 1956/ 1928) oder auch mit mehr oder eniger nostalgischer Stilisierungsfunktion für die eigene soziobiografische Einordnung (Glazer/ Moynihan 1964, 1975; Moynihan 1986). Das Gesamt der sozialen Welten in der modernen Komplex eit ist entsprechend für das einzelne Gesellschaftsmitglied eine prinzipiell diffuse, zerfließende, unbegrenzte und unübersichtliche Gemengelage. Z ischen einzelnen sozialen Welten bz. Teilsozial eiten finden heftige Arena-Auseinandersetzungen statt. Diese sind nicht auf Binnenarenen beschränkt, in denen sich Akteure, Gruppen und Organisationen desselben Typus innerhalb einer sozialen Gesamt eit auseinander setzen (z.B. die Parteien innerhalb der verschiedenen Teilarenen der Parlamentsarbeit). Der Streit z ischen individuellen bz . auch kollektiven Repräsentanten von Sozial eiten findet auch in Außenarenen der Auseinandersetzung statt so enn z ischen religiösen und politischen Organisationen (mit unterschiedlichem Sozial elthintergrund) eine Auseinandersetzung um die religiöse Ausrichtung der Schulerziehung stattfindet. Aber es entfalten sich auch viele Konkurrenzen und Auseinandersetzungen z ischen Sozial eiten bz . Teilsozial eiten, die dem relativ geräuschlosen individuellen Entscheidungs- und Aus ahlverhalten des einzelnen Gesellschaftsmitglieds und seiner biografischen Arbeit überlassen sind oder in ihrer Wirksamkeit überhaupt nicht be usst erden (ie z.B. die biografische Überlagerung des Orientierungs- und Denkstils religiöser Sozial eiten durch den der Sozial eiten der ver issenschaftlicht-professionellen Berufsarbeit in der Eingangs- und Substanzaufbauphase des professionellen Berufslebens in den altruistischen Professionen der Pflege und der Sozialarbeit). Die Unübersichtlichkeit der komplexen Sozial eltlandschaft ird schließlich noch dadurch gefördert, dass soziale Welten historisch und biografisch veränderliche, fließende Gebilde sind. Manche soziale Welten bz . Teilsozialelten haben nur eine recht kurze Lebensdauer. Sie können die Konkurrenz mit ähnlichen oder alternativen Orientierungs- und Aktivitätsgebilden nicht bestehen, oder ihre Sinnquellen verlieren ihre Orientierungskraft aufgrund des Wechsels der gesamtgesellschaftlichen Präferenz- und Stilmoden. Fast alle sozialen Welten unterliegen in der Veränderung ihrer Kernaktivitäten und entsprechender Präferenzen und Regelungen einem sehr raschen soziokulturellen Binnen andel. Und die einzelnen Menschen ent achsen im Laufe ihres Lebens zahlreichen sozialen Welten (so den jugendtypischen ie den Startrek-Fangemeinden - Brüdigam 2001) und treten zugleich mit neuen in Kontakt (so et a solchen der beruflichen Sphäre vgl. Nagel 1997); hierbei Das Konzept der sozialen Welt 77 kommt es zugleich einerseits zu kultureller Diffusion und Innovation und andererseits zu biografischer Irritation angesichts des Abschieds von eingeübten Sinnbezügen und Stilausprägungen und der Annäherung an neue fremdartige. Unter dem massiven Eindruck solcher Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Sozialweiten bzw. Teilsozialwelten und der raschen gesellschaftlichen Veränderung der Gesamtlandschaft der Sozialwelten steht das einzelne Gesellschaftsmitglied vor einer nie abreißenden Aufgabe der Strukturierung des Orientierungs- und Aktivitätschaos. Es muss immer wieder marginale Unterschiede zwischen konkurrierenden gleichartigen Sozialweltangeboten differenziert wahrnehmen und stilistisch ausmachen (Berger 1965), deren angebliche, ja z.T. sogar nur angemaßte, Bedeutsamkeit für die eigene persönliche Lebensführung eingeschätzt werden muss; entsprechend muss es die Loyalitätsansprüche der konkurrierenden Sozialwelten im Rahmen eigener biografischer Präferenzen abwägen. Das einzelne Gesellschaftsmitglied muss sich damit auseinander setzen, dass durch den Konflikt von Sozialwelten unterschiedlichen Typs um die Steuerung und Kontrolle der Aktivitäten eines bestimmten Lebensbereichs und um die Rekrutierung der Teilnehmerschaft sowie die Sicherung der moralischen Verantwortlichkeit und Loyalität für die jeweils eigenen diesbezüglichen Angebote Fragen der Anerkennung von Jurisdiktionen, der Abwägung von moralischen Standards und der Präferenz von letzten Sinnfragen und deren Beantwortung aufgeworfen werden. Das einzelne Gesellschaftsmitglied muss sich zudem darauf vorbereiten, dass sich im Zuge der Dominierung oder gar Ersetzung einer sozialen Welt durch eine andere in einem bestimmten wichtigen gesellschaftlichen Lebensbereich die Gesamtlogik der Weltbetrachtung auf biografisch oder gar kollektiv-historisch erhebliche Weise verändern kann. Das einzelne Gesellschaftsmitglied muss sich weiterhin nicht selten die Frage stellen, inwieweit innerhalb von Paaren gegeneinander versäulter Teilsozialwelten (z.B. der konfessionell getrennten Suchtkrankenhilfe vgl. Böhm 1994, Reim 1996) die Orientierungen und Standards der eigenen Sozialwelt mit denjenigen der korrespondierenden Sozialwelt aus der anderen Säule kompatibel sind das nämlich immer dann, wenn es mit Menschen der jeweiligen anderen Sozialwelt kooperieren und/ oder Zusammenleben muss; die Furcht vor der letztlichen Nichtkalibrierbarkeit der zentralen Sinngebungen in den beiden Pendant- Sozialwelten und vor der tief gehenden Verletzlichkeit der Kommunikation mit dem Partner, der der anderen versäulten Teilsozialwelt angehört, lässt sich nie ganz ausräumen. Und bezüglich der Begegnungen des einzelnen Gesellschaftsmitglieds mit Menschen aus fremdkulturellen Sozialwelten geht die Furcht vor der Bodenlosigkeit der Schwierigkeiten mit der wechselseitigen Verständigung so weit, dass der eigene Kontakt mit diesen fremden Menschen von vornherein auf unvermeidliche Minimalanlässe und leicht manipulierbare oberflächliche 78 Fritz Schütze Problemstellungen beschränkt wird. Das einzelne Gesellschaftsmitglied nimmt dann zu ganz einfachen Aktortypisierungen Zuflucht; der Teilnehmerin bzw. dem Teilnehmer der fremdkulturellen Sozialwelt wird eine äußerliche, stereotypisierende Identitätszuschreibung übergestülpt, die sie bzw. ihn zum Zwecke der leichteren Orientierung einerseits fremder und andererseits im Verhalten scheinbar erwartbarer macht, als das dann faktisch der Fall ist (vgl. Schütz 1972a). Dasselbe gilt in solchen Fremdheitssituationen für das holzschnittartige Arrangement der Interaktionsschematisierungen. Jede komplexere Interaktionsentfaltung, in der (vermeintlich unerwartbare) Probleme der Interessenkollision und der kulturellen Diversität auftauchen, führt dann zur Gefahr systematischer Missverständnisse, die nicht mehr situativ reparabel sind weil keine kontrollierende und stützende Vorstellung von den Universalien des sozialen Lebens, der Kulturleistungen und der Interaktionsabläufe wechselseitig kommunikations- und handlungsprägend werden kann (angesichts einer die moderne Mentalität prägenden Ideologie der totalen Diversität, Partialität und Brüchigkeit sozialer Welten). Und schließlich droht bei Iterierung dieser Missverständnisse die Gefahr des Kommunikationsabbruchs. Es lässt sich mithin abschließend sagen, dass die intermediäre Ordnungsstruktur der sozialen Welt in den modernen Komplexgesellschaften zum Zwecke flächendeckender sozialer Arrangements für die Gestaltung chaotischer Ereignis- und Aktivitätsbereiche unter den Bedingungen rascher kollektivhistorisch-sozialer Globalveränderungen und dynamischer sozialweltlicher Binnenveränderungen von Problemkonstellationen und Bearbeitungsstrukturen in spezifischen Aktivitätsfeldem der Gesellschaft immer wichtiger geworden ist. Sie ist zugleich ein Prinzip sozialer Strukturierung und mentaler Fokussierung. Einerseits wird durch sie soziales Handeln in den modernen Komplexgesellschaften flexibler, im pragmatischen Sinne kooperationsfähiger, in sich wandelbarer und zugleich innovationsstiftender für das soziale Umfeld. Andererseits werden durch den Stückwerkcharakter der sozialen Welten für die biografische Arbeit, für die kommunikative Verständigungsarbeit, für die interaktive Beziehungsarbeit und natürlich auch für die kollektive Kooperationsarbeit (auf unterschiedlichen Ebenen der sozialen Organisation) völlig neuartige Chaosmomente gesetzt, die dem Labyrinth-Gefühl des Lebens in den heutigen Komplexgesellschaften (unter den faszinierenden Bedingungen fortlaufender technologischer, wissenschaftlicher und kultureller Veränderung und der leidvollen Vertreibung aus den heiligen Kosmoi traditionaler, religiöser Weltorientierungen) entsprechen. Die Bearbeitung dieser Chaosmomente sozialer Welten stellt Einzelne, Gruppen und Organisationen vor ganz neue soziokulturelle Strukturierungsaufgaben. 5 5 Ich bedanke mich für viele Hinweise bei Ulf Brüdigam und Gerhard Riemann. - Abschnitt 4 des vorliegenden Beitrags ist teilweise die Adaption eines Abschnitts aus Das Konzept der sozialen Welt 79 6. 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Andreas Paul Müller Interaktionsregeln in innerbetrieblichen sozialen Welten 1. Einleitung Die Regeln, nach denen sich die Mitglieder einer Gemeinschaft in bestimmten kommunikativen Situationen miteinander und zueinander verhalten, sind ein wesentliches, für die soziale Ordnung in der Gemeinschaft konstitutives Element. Als Anfang der 60er Jahre durch Arbeiten von Hymes und Gumperz die Ethnografie des Sprechens ins Leben gerufen wurde, waren die so genannten Regeln des Sprechens deshalb ein wichtiger Bestandteil für die Beschreibung partikulärer Eigenschaften von Sprachgemeinschaften (speech communities). Regeln des Sprechens sind die Verbindungsmomente, mit denen die Gemeinschaftsmitglieder bestimmte Situationen und Settings mit spezifischen Formen der Sprachverwendung korrelieren. Regeln des Sprechens können die thematische Steuerung des Gesprächs betreffen, sie können die für einen bestimmten Gesprächskontext geltenden Höflichkeitsmechanismen enthalten, sie umfassen Konventionen in Bezug auf die Rederechtsverteilung und sogar in Bezug auf prosodische Eigenschaften des Sprechens (z.B. die Lautstärke des Sprechens in der Kirche und auf dem Wochenmarkt). Regeln des Sprechens sind kulturell determiniert. Sie gelten für und in einem bestimmten Adressatenkreis, der in einer mehr oder weniger geschlossenen Gemeinschaft lebt, die typischerweise neben den Interaktionsregeln eine Reihe weiterer Kodizes zur Identitätsbildung und -bewahrung pflegt, z.B. im Umgang mit Körperlichkeit (Kleidung, Schmuck, Bemalung etc.), mit Technologien und mit Kunst. Die exakten Grenzen der Gemeinschaft sind dabei nicht von vomeherein festlegbar, sondern sind im Hinblick auf die von den Gemeinschaftsmitgliedern beanspruchten Räume zu ermitteln. Die Ethnografie des Sprechens bzw. der Kommunikation betont deshalb u.a., dass die kulturelle Determiniertheit des sprachlichen Handelns Anlass dazu geben müsse, den Untersuchungsgegenstand in Sprachgemeinschaften und nicht in der isolierten sprachlichen Handlung zu suchen. Dadurch gelingt es ihr, systematische Zusammenhänge zwischen einer Sprachgemeinschaft, sprich: einem sozialen, makrostrukturellen Verbund, und konkreten Aktivitäten in der verbalen Interaktion zu formulieren. Regeln des Sprechens gelten insbesondere in Zusammenhang mit kommunikativen Ereignissen, deren Spezifik sich grundsätzlich erst über die für sie jeweils geltenden sprachgemeinschaftlichen Regeln definieren lässt. 86 Andreas Paul Müller Kommunikative Ereignisse und ihre deskriptive Analyse stellen einen zentralen Gesichtspunkt in Hymes' Betrachtungen zur Weiterentwicklung der Soziolinguistik am Beginn der 60er Jahre dar. Im Rückgriff auf eine heute zu den Klassikern zählende - Arbeit von Jakobson entwickelt er ein Modell des kommunikativen Ereignisses, das acht Komponenten enthält (Hymes 1972a, (Erstveröffentl. 1964), S. 22f.). 1 Später wird Hymes dieses Modell noch deutlicher ausdifferenzieren und insgesamt sechzehn Komponenten nennen (Hymes 1972b). Zu diesem Zeitpunkt argumentiert er mit Regel- und Normbegriffen, die praktisch seine gesamte Darstellung durchziehen, - Regeln, die in der Gemeinschaft vorauszusetzen und die zu identifizieren und mittels Sequenzanalysen zu rekonstruieren seien. Regeln des Sprechens sind Interaktionsnormen, die in die Erwartungen der Interaktanten an die Normalform eines Gesprächs einfließen und deren Stellenwert i.A. nicht hinterfragt wird. Solche Normen setzen konventionell Übereinkünfte der Gesprächsteilnehmer hinsichtlich des ‘Normalen’, des Erlaubten und des Nichterlaubten im Gespräch voraus: „Normative- oder Oberflächenregeln setzen den Handelnden in den Stand, seine Perspektive von der Welt mit derjenigen anderer in einer aufeinander abgestimmten sozialen Handlung zu verbinden und davon auszugehen, daß Konsens oder geteiltes Einvernehmen die Interaktion steuern“ (Cicourel 1981, S. 172). Cicourel trennt die Oberflächenregeln eines Gesprächs von Basisregeln in einer Tiefenstruktur, in der es darum gehe, „ein Gespür von sozialer Ordnung, das für die Existenz oder das Aushandeln und den Aufbau einer normativen Ordnung [...] fundamental ist“ (ebd., S. 173), als Voraussetzung für das gemeinschaftliche Anerkennen von Normen zu bewerten. Die analytische Arbeit mit authentischen Materialien mache die interpretative Rekonstruktion solcher Basisregeln notwendig (vgl. auch Kallmeyer 1979). Grundsätzlich gehen ganz unterschiedliche Ansätze in verschiedenen wissenschaftlichen Teildisziplinen von der Notwendigkeit aus, soziale Signifikanz beim sprachlichen Handeln gewissermaßen ‘naturalistisch’ zu rekonstruieren. Neben der Konversationsanalyse, die es sich von Beginn an zum Programm gemacht hatte, die (Ethno-)Methoden von Interaktanten beim gemeinsamen, und zwar lokalen Herstellen von Sinn und sozialer Ordnung zu beschreiben, sind dies u.a. Ansätze in der Wissenssoziologie (vgl. Knoblauch 1996) und in der Kulturanthropologie (Geertz 1995). Gemein haben diese Disziplinen, dass sie das Handeln von Mitgliedern einer Gemeinschaft als konstitutiv für das Entstehen sozialer Ordnung in einer Ethnie auffassen. Die Interpretation Es handelt sich um die folgenden: (1,2) die Teilnehmer, v.a. Sender, Adressaten, (3) den Kanal, z.B. mündlich oder schriftlich, (4) die verwendeten Kodes, (5) die Settings, (6) die Form (Genre u.a.), (7) die Themen und schließlich (8) das kommunikative Ereignis als solches, seine Eigenschaften und Spezifika. Die Theorie des kommunikativen Genre, die in jüngster Zeit neue Impulse bekommen hat, baut u.a. auf diesem Konzept auf (vgl. Günthner/ Knoblauch 1996). Interaktionsregeln in innerbetrieblichen sozialen Welten 87 authentischer Daten führt zu einer Bestimmung, wie Hymes sagte, ‘emischer’ Bestandteile des Kommunizierens. Ein bislang nicht hinreichend gelöstes Problem ist in diesem Zusammenhang, dass Kontextdaten relativ unkontrolliert die Interpretation beeinflussen. Hierzu haben in jüngster Zeit soziolinguistische Arbeiten, die sich auf derartige Methoden einer interpretierenden Rekonstruktion stützen, neue Impulse gegeben. Deppermann (1999) plädiert beispielsweise — in einer Diskussion über mögliche interpretationstheoretische Defizite bei der Konversationsanalyse dafür, die vom Analytiker angenommene Selbstevidenz von Gesprächen kritisch zu beurteilen und Interpretationen mit Hilfe ethnografischen Wissens, z.B. zu Schauplätzen, Zeitparametem und Teilnehmerstrukturen, zu disambiguieren. Gleichzeitig warnt er allerdings davor, dieses Wissen zu einer allein gültigen Basis für Interpretationen aufzuwerten. Schließlich bleibe das linguistische Datum die Bezugsgröße der Analyse. Als eine weitere Quelle für solche Betrachtungen kann auch in Bezug auf Regeln des Sprechens ein Text aus den Bänden zum Sprachverhalten in Mannheim herangezogen werden (Kallmeyer/ Keim/ Nikitopoulos 1994). Die Autoren nennen die häufig zitierten Regeln des Sprecherwechsels nach Sacks/ Schegloff/ Jefferson (1974) als ein Beispiel für Regeln des Sprechens und betonen, dass der Sprecherwechsel Raum lasse für eine Vielzahl sozial determinierter Steuerungsmechanismen. Deshalb spiele der Kontext bei der Analyse möglicher Symbolhaftigkeit bei Sprecherwechseln eine wichtige Rolle: Verteilt werden Handlungschancen und -zwänge. In die darauf bezogenen Regeln des Sprechens gehen im Kern alle relevanten sozialen Regelungen und Differenzierungen ein: die Anforderungen an die gesellschaftliche Arbeitsteilung, die Differenzierung von sozialer Geltung, die Institutionalisierung von Handlungszusammenhängen usw. [...] Regeln des Sprechens, wie sie uns hier interessieren, sind kontextspezifische Regeln, die bei der Bearbeitung von allgemeinen Anforderungen der Interaktionskonstitution unter den soziohistorisch spezifischen Bedingungen wirksam werden und die Berücksichtigung dieser Bedingungen steuern. (Kallmeyer/ Keim/ Nikitopoulos 1994, S. 46) In ausführlichen Analysen zu den sprachlichen Verfahren, die die Teilnehmer einer Gesprächsgruppe in einem Stehcafe verwenden, zeigen die Autoren im Folgenden, dass Regeln des Sprechens z.B. für Übergänge zwischen formellen und informellen Interaktionsmodi, für bestimmte Formen des Sich- Präsentierens und themenbezogener Handlungsmodalitäten (‘Klatsch’) sowie für das Kategorisieren von Personen (‘Diskriminierungsverbof) gelten (vgl. S. 72f, 122f. u.p.). Insgesamt wird deutlich, dass stilistische Eigenschaften der Sprachverwendung eine tragende Rolle dabei spielen, wie sich die Interaktanten in ihre eigene, ‘lokale’ soziale Welt einordnen. Konsequenterweise sind auch die Regeln des Sprecherwechsels stilistischen Ausdifferenzierungen unterworfen. Die Autoren stellen zwar nicht eingehender dar, welche interpretationsleitenden Einflüsse ethnografisches Wissen haben kann; im 88 Andreas Paul Müller Zuge ihrer Analysen wird jedoch beispielsweise klargestellt, dass die Interaktanten der Stehcafe-Gruppe über ein komplexes sozialgeografisches Orientierungssystem verfugen. Die Ethnografie dieses Hintergrundwissens liefert entscheidende Hinweise für die Rekonstruktion sozialsymbolischer Aktivitäten im Gespräch (vgl. S. 92ff.). Ortskundigkeit ist ein wichtiger Integrationsfaktor in dieser Gesprächsrunde. 2 Der vorliegende Beitrag hat das Ziel, Regeln des Sprechens in bestimmten situativen Kontexten zu rekonstruieren, die in einer außerordentlich komplexen und heterogenen Sprachgemeinschaft existieren: dem industriellen Unternehmen. Zur systematischen Berücksichtigung des sozialen Wissens von Mitarbeitern bei der Analyse greife ich auf ein soziologisches Konzept, das Konzept der ‘sozialen Welt’ zurück. Im zweiten Teil des Beitrags folgen Beispielanalysen. 2. Interaktionsregeln und innerbetriebliche soziale Welten Industrielle Unternehmen sind professionelle, in sich relativ geschlossene Welten. Die Außengrenzen der Organisation sind in der Regel klar gezogen und z.B. durch Mauern oder Zäune repräsentiert. Die Mitarbeiter eines Unternehmens entwickeln im Rahmen ihrer alltäglichen Arbeit die für die Bewältigung spezifischer Aufgaben notwendigen kommunikativen Vorgänge. Die Kommunikation steht in unterschiedlichen Verhältnissen zu diesen Tätigkeiten sie kann arbeitsbegleitend oder -vorbereitend sein, sie kann Distanz zur Arbeit signalisieren, sie kann auch als Arbeit schlechthin verstanden werden (vgl. Brünner 1992, Lacoste 1995). Beim Start bestimmter kommunikativer Ereignisse, die häufig mit einem hohen Grad an Routine stattfinden, treten spezifische Regeln für die verbale Interaktion in Kraft. Geübte Mitarbeiter unterscheiden beispielsweise ohne weiteres, wann ein reiner Informationsaustausch bzw. eine dezidierte Problemanalyse mit Berücksichtigung diverser Rahmenbedingungen als Handlungsschemata etabliert sind (Kallmeyer 1985, Müller 1997), wann der Adressat Wissensvoraussetzungen mitbringt, die eine typisch fachsprachliche Reduktion des Aufwands für Formulierungen erlauben bzw. wann zusätzliche Erläuterungen notwendig werden (Brünner 1998). Mitarbeiter verfügen entsprechend über mehr oder weniger umfangreiche Repertoires an Ausdrucksmöglichkeiten, aus denen sie zu bestimmten Zeitpunkten im Hinblick auf spezifische Gesprächszwecke und individuelle strategische Gesprächsziele eine Auswahl treffen. Die Sprachgemeinschaft oder auch die ‘Subkultur Unternehmen’ (Bungarten 1994) kann 2 Vgl. Bausch (1994), der die Etablierung, die sequenzielle Durchführung und die Einbettung von Mustern des Erzählens in den diskursiven Gesamtzusammenhang an Hand von Gesprächen in einer Jugendlichengruppe untersucht. Vgl. auch Schütte (1991) zu Eigenschaften der Interaktion in der sozialen Welt von Orchestermusikem. Interaktionsregeln in innerbetrieblichen sozialen Welten 89 deshalb starke interne Ausdifferenzierungen aufweisen. Sprachliche Aktivitäten und im Prinzip alle zeichenbasierten Kommunikationsprozesse konstituieren gemeinsam die kommunikative ‘Lebenswelt’ des Unternehmens- „die im kommunikativen Handeln erzeugten sozialen Strukturen, die ihre Beständigkeit durch feste Kommunikationsformen sichern“ (Knoblauch 1996, S. 11, in Anlehnung an Luckmann und Schütz). Die Annahme, dass Unternehmen heterogene Gebilde sind, stützt sich auch auf die arbeitsteilige Organisation vieler Betriebe, die Unterscheidung etwa zwischen Verwaltungs-, Produktions- und Stabseinheiten. Typische kommunikative Vorgänge wie z.B. die Planung der Wochenproduktion sind aber nicht notwendig an Abteilungsgrenzen gebunden, sondern gehören als ‘crossdepartmental communication’ vielerorts zum Alltag. Vergleicht man Betriebe miteinander, so lässt sich ferner beobachten, dass bestimmte kommunikative Ereignisse sich von einem zum andern wiederholen bei aller Verschiedenheit in ihrer stilistischen Ausformung (z.B. Ausbildungsgespräche, Verhandlungen, Mitarbeitergespräche oder Einstellungsgespräche). Wir können deshalb allgemein sagen: 1) In Unternehmen führen spezifische Arbeitsaufgaben zur Herausbildung zweckgerichteter kommunikativer Vorgänge. Für diese Vorgänge ist es charakteristisch, dass bestimmte Kanäle präferiert (mündlich, schriftlich, maschinell) und bestimmte Kodes verwendet werden (z.B. Fachsprache, Zeichensprache, Abkürzungen). Betriebsinterne Gesprächsgruppen können in Übereinstimmung mit organisatorischen Strukturen im herkömmlichen Sinne (Abteilungen) oder quer zu diesen bestehen. Insofern ist das Unternehmen eine heterogene Subkultur. 2) Der Vergleich von Unternehmen ergibt zugleich, dass bei übereinstimmenden Arbeitsaufgaben bestimmte kommunikative Vorgänge in unterschiedlichen Betrieben dieselben Kennzeichen aufweisen können (z.B. spezielle asymmetrische Teilnehmerkonstellationen, die Orientierung an denselben Handlungskomplexen). Insofern existieren äquivalente Mittel zur sozialen Orientierung in partikulären Ausschnitten verschiedener Subkulturen. Der letzte Punkt scheint nicht weiter auffällig; auch bei der soziolinguistischen Arbeit an institutioneller Kommunikation i.A. rechtfertigten grundlegende Übereinstimmungen hinsichtlich kommunikativer Konventionen etwa das Voraussetzen von Typen wie dem Verkaufs-, dem Beratungs- oder dem Schlichtungsgespräch. In die jeweiligen Korpora gingen durchaus Gespräche ein, die aus verschiedenen Institutionen stammten; die Typen selbst umfassten sogar nicht-institutionelle Gespräche (Kallmeyer 1985). Im Prinzip verhält es sich nicht anders mit innerbetrieblichen kommunikativen Konventionen bei einem (Sub-)Kulturvergleich: Ein französischer Manager, der seinen gleichgestellten Kollegen in Deutschland besucht, wird dort u.U. weniger 90 Andreas Paul Müller Schwierigkeiten mit konventionellen Regelungen haben, als wenn er am eigenen Standort mit ungelernten Hilfsarbeitern im Lager ins Gespräch zu kommen versuchte. Dies soll nicht die im interkulturellen Kontakt sicherlich vorhandenen Sprach- und Kommunikationsbarrieren abwerten, sondern als Hinweis auf die angesprochenen Äquivalenzen gelten, die zwischen Unternehmensteilen oder bestimmten kommunikativen Ereignissen existieren. Verhandlungen beispielsweise werden in Frankreich und in Deutschland mit ‘ungefähr’ denselben linguistischen Mitteln konstituiert (vgl. Ehlich/ Wagner 1995). Die Grenzen von ‘Sprachgemeinschaften’, ein Begriff, den wir auch für Betriebe gelten lassen können, müssen u.a. im Zusammenhang mit Forschungsfragen festgelegt werden. 3 Mehrere, oder gar alle Unternehmen als Sprachgemeinschaft klassifizieren zu wollen, würde m.E. bedeuten, den Begriff in einer Art auszuweiten, die ihn obsolet werden ließe. Betriebe miteinander zu vergleichen, heißt vielmehr, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Sprachgemeinschaften zu analysieren. In diesen Gemeinschaften gibt es, wie bereits angesprochen wurde, Ausschnitte, deren Vergleich identische Regeln des Sprechens wiederkehren lässt. Bei einem Vergleich rekonstruieren wir äquivalente sozialsymbolische Formen des Ausdrucksverhaltens in partikulären Ausschnitten aus Sprachgemeinschaften. Unseren Gegenstand konstituieren nicht Kulturunterschiede, sondern partielle (sub-)kulturelle Übereinstimmungen. Die Beschreibung eines Ausschnitts aus einem Einzelbetrieb kann also auf zwei Weisen erfolgen: einmal hinsichtlich seiner Interaktion mit dem ihn umgebenden Umfeld im Unternehmen, zum anderen im Vergleich mit ähnlichen Ausschnitten aus anderen Betrieben. Für die Diskussion der komplexen Fragen, die bei einer naturalistischen Betrachtung solcher Untersuchungsfelder auftreten werden, kann auf das Konzept der ‘sozialen Welt’ zurückgegriffen werden. Das Konzept der sozialen Welt ist im Kontext des soziologischen Pragmatismus in der Schule von Chicago entstanden; es basiert auf den interaktionistischen Annahmen von Mead — wie etwa auch der symbolische Interaktionismus. Die Schule von Chicago sah das Werden und den Wandel gesellschaftlicher Räume im Wesentlichen mit den Aktivitäten von Gruppen in Auseinandersetzung mit ihren Grenzen und insbesondere bei Konflikten verbunden (Coulon 1992, Strauss 1993, S. 159ff). Soziale Welten sind insofern Resultate aus dem interaktiven Geschehen an den Grenzen gesellschaftlicher Räume. Ihre Beobachtung verlangt die Rekonstruktion des Stellenwerts partikulären Handelns in Zusammenhang mit dem kulturellen Kontext, in dem diese Handlungen stattfindeneine Parallele zur Ethnografie der Kommu- 3 Vgl. zu der Entstellung des Begriffs Gumperz (1971, (Erstveröffentl. 1968)), Hymes (1972b, S. 55) und Clyne (1994, S. 29); Dittmar gibt einen Überblick zu neueren Ansätzen (1997, S. 13Iff). Interaktionsregeln in innerbetrieblichen sozialen Welten 91 nikation (vgl. Hymes 1972a, S. 24, Kallmeyer 1995). Strauss, der das Konzept der sozialen Welt in mehreren Arbeiten aufgreift und weiterentwickelt (Strauss 1978, 1984, 1993), kritisiert an den Vorgängerarbeiten u.a., dass die Grenzziehungen von Gruppen als relativ statisch angesehen wurden, die gesellschaftliche Wirklichkeit in vielerlei Hinsicht aber dynamischer und wandelbarer sei. Ferner insistiert er darauf, dass sich die Mitglieder einer sozialen Welt außer am symbolischen Gewicht von Aktivitäten in der diskursiven Dimension an einer Reihe von kontextuellen Merkmalen orientieren: Though the idea of social worlds may refer centrally to universes of discourse, we should be careful not to confine ourselves to look merely at forms of communication, symbolization, universes of discourse, but also examine palpable matters like activities, memberships, sites, technologies, and organizations typical of particular social worlds. (Strauss 1978, S. 121) Strauss folgt bei der Konzeptionierung keinem strikten Schema. Zumindest umfasst eine soziale Welt aber diejenigen Ausschnitte aus der Gesellschaft, die an Hand wenigstens eines gemeinsamen Kennzeichens als miteinander verbunden angesehen werden können. Größe, Dauer, Ursprünge, Geschichte, Ressourcen, Techniken, Geschlechter, soziale Klassen u.a. (vgl. Strauss 1993, S. 213) sind Merkmale, mit deren Hilfe eine soziale Welt analytisch allgemein bestimmt werden kann. Die soziale Welt entwickelt eine eigene Kultur durch Abgrenzung, die Bestimmung von Repräsentanten (unter der Vorgabe von deren Authentizität), die Sozialisation neuer Mitglieder u.a. Insbesondere sind in einer sozialen Welt diskursstilistische Eigenschaften relevant, also etwa situationsadäquate Gebrauchsformen, Fachwortschatz, Formelhaftes und die hier interessierenden Regeln des Sprechens. Soziale Welten sind dynamische Gefüge. Wegen der hohen Variabilität von Handlungen und deren sozialsymbolischem Gehalt sind einerseits die Grenzen der Welt extrem durchlässig, eine interne Zersplitterung in kleinere Welten andererseits sehr typisch (‘intersection’ bzw. ‘segregation’ oder ‘segmentation of social worlds’). Überschneidungen zwischen sozialen Welten sind dort möglich, wo Mitglieder verschiedener Welten in ihrem Handeln kooperieren oder wo einzelne in verschiedene Welten integriert sind (‘bridging agents’, Begriffe nach Strauss 1978, S. 122f.). Interne Segmentierungen entstehen u.a. in Zusammenhang mit Debatten um den Stellenwert von Kemaktivitäten und divergente Interpretationen der eigenen Geschichte (Strauss 1984). In so genannten ‘Arenen’ treffen Mitglieder unterschiedlicher sozialer Welten aufeinander und fechten Grundfragen aus, ob oder wie bspw. strittige Punkte aus der einen oder anderen Perspektive legitim zu beantworten seien oder nicht (vgl. z.B. die Raucher-Nichtraucher-Debatte in der Öffentlichkeit). Wesentlich ist auch hier der prozessuale Charakter in der Entwicklung sozialer Welten ein niemals stillstehender Wandel. 92 Andreas Paul Müller Aus Raumgründen kann die Konzeption hier nicht weiter ausgeführt werden. Jedoch lassen sich innerhalb eines industriellen Unternehmens schon ad hoc verschiedene ‘Welten’ voneinander unterscheiden: Mitarbeiter in der Verwaltung kleiden sich anders als ihre Kollegen in der Produktion, die häufig uniforme, strapazierfähige Arbeitskittel tragen; sie verwenden Telekommunikationsmedien (etwa Telefon und Telefax) mit einer höheren Frequenz; ihre Arbeitswerkzeuge sind der Kugelschreiber und vor allem die Tastatur ihres Rechners, während der Arbeiter auf die Schieblehre angewiesen ist. Für die weitere Vorgehensweise ist insbesondere der sprachstilistische Punkt relevant: Welche sind die diskursiven Eigenschaften sozialer Welten, welche Regeln des Sprechens sind konstitutiv für das Entstehen einer sozialen Welt? Die Rekonstruktion von Regeln des Sprechens in einer sozialen Welt ist eine Beschreibung der intersubjektiven, sozialen Signifikanz sprachlicher Aktivitäten in Zusammenhang mit der internen sozialen Organisation von Gruppen. Konsequenterweise möchte ich deshalb fortan den Begriff Tnteraktionsregehf an Stelle von ‘Regeln des Sprechens’ verwenden. Zwei solcher Regeln sollen in meinem Beitrag vorgestellt werden. Eine betrifft den Umgang der Teilnehmer mit allgemeinen Anforderungen des etablierten Handlungsschemas in Informationsgesprächen. Hier herrscht eine mehr oder weniger explizierte Übereinkunft, dass Teilnehmer nur Verständnisfragen stellen, aber keine Initiativen mit allzu hohem Bearbeitungsbedarf starten sollen. An anderer Stelle habe ich dies als eine der steuerungsfunktionalen Eigenschaften des Sprechhandelns von Vorgesetzten in Arbeitsgesprächen beschrieben (Müller 1997). Eine andere Regel berührt Höflichkeitsmechanismen im Umgang miteinander und kann als eine Konvention verstanden werden, in konfiktiven Phasen keine Namen zu nennen. Auch diese Regel ist an bestimmte Genres oder kommunikative Ereignisse gekoppelt. Einleitend gebe ich Beispiele für die erste Regel; im darauf folgenden, zweiten Teil meines Beitrags konzentriere ich mich allerdings auf die zweite. Ein augenfälliges Beispiel für rekurrente Interaktionsregeln im Kontakt etwa zwischen Führungskräften und Untergebenen liefern bestimmte Gesprächssituationen, in denen Arbeiter zu einem Informationsgespräch eingeladen werden. Solche Informationsgespräche sind mit dem Anspruch verknüpft, einen Wissenstransfer zu leisten, zielen jedoch in aller Regel nicht auf argumentative Auseinandersetzungen hinsichtlich einzelner, spezifischer Sachverhalte. Die Arbeiter sollen Fragen zu den Gesprächsgegenständen stellen, ohne diese grundsätzlich zu problematisieren. Die folgenden beiden Transkriptaussschnitte (fortan: TA) verdeutlichen, wie die Interaktionsregel ‘Nur Verständnisfragen’ in Momenten, in denen sie unterlaufen zu werden droht, salient wird: 4 4 Angaben zur Transkriptionskonvention befinden sich im Anhang. Beigefilgte Übersetzungen (vgl. u. und im Anhang) folgen dem Original nach Möglichkeit au pied de la lettre. Etwaige Unebenheiten in der Formulierung lassen sich deshalb nicht vermeiden. Interaktionsregeln in innerbetrieblichen sozialen Welten 93 TA 1 1 PL 2 PL 3 PL 4 A5 5 PL 6 A5 7 PL 8 A5 9 BA 10 BA 11 BA 12 BA und der herr Knapp macht jetzt mal weitert * wir müssen bloß aufpassen dass mir nicht zuviel andere dinge dazu reinbrinqe sonst (wie ma=s wird=s zut ja entsprechende jetz)angsproche hawwe miss=ma okayt des vielleicht noch- (da mache) se mich ant * alles was Ihne in richtung entlohnung entgelt * frage se mich- * dafür bin ich da- * fragen se mich- * Der Sprecher PL, ein Produktionsleiter, beharrt hier zu Beginn der Sitzung darauf, dass man sich nicht zu lange von Abschweifungen aufhalten lassen wolle. Es geht hier darum, eine Gruppe von zehn Arbeiter(inne)n nebst zwei Einrichtern (Produktionsvorbereitern) über ein neues Entlohnungssystem zu informieren. Der Sprecher BA, der eigentliche Vortragende, reagiert wiederum positiv auf den Vorschlag der Arbeiterin A5, das entsprechende (Z. 6) zu gegebener Zeit zu klären. Mit seiner Aufforderung {da mache) se mich anX [...] fragen se michl (Z. 7-9) lässt er erkennen, in welcher Form eine Beteiligung der Arbeiterinnen erwünscht ist (vgl. Müller 1997, S. 118ff.). 5 Vergleichen wir diese Sequenz mit einem spanischen Gesprächsausschnitt. Hier sind Vorarbeiter zu einem Gespräch mit dem Stabsbeauftragten der Werkleitung eingeladen, um die Parameter zur Durchführung von Teamsitzungen (Arbeitergruppengesprächen), die sie später selbst leiten sollen, durchzusprechen. Es handelt sich um eine betriebsinterne Schulung: TA 2 1 P en el momento que creais oportunot * me Nenn ihr es in einem Moment für günstig haltet, 5 Die Form ‘Anmachen’, unter der in anderem Kontext auch ‘Belästigen’ verstanden werden kann, konnotiert hier nicht diesen negativen Aspekt. Bereits mehrfach hatte BA die Teilnehmer(innen) zum Fragen ermuntert. Dass drei der Satzkonstruktionen in diesem Ausschnitt nicht zu Ende geführt werden (Z. 3,5; 6,8; 10,11), weist im Übrigen auf die Dichte der von den Beteiligten reziprok vorausgesetzten Eigenschaften der Interaktion hin. 94 Andreas Paul Müller 2 P corteisT * y que lo hagamos participativoi * unterbrecht ihr mich, dass wir es partizipativ 3 P va ir- * voy tratando de ir punto a punto y machen. Es geht, ich werde versuchen, Punkt für 4 P en y voy preguntando pero si en cualquier Punkt vorzugehen, und ich werde fragen, aber wenn 5 P momento decidis e: h ** eh quiero esta ihr in irgendeinem Moment entscheidet, ich will 6 P aclaraciönt * cortäisT * y fuerai * ehT * diese Klärung, unterbrecht ihr, und raus, ne? Der Sprecher P, der Gesprächsleiter, gibt hier ebenfalls zu Beginn der Sitzung — eine ganz ähnliche Anweisung wie BA im vorherigen Ausschnitt: In bestimmten Momenten, wenn die Vorarbeiter eine zusätzliche Information oder Klärung einfordern wollen, sollen sie ihn unterbrechen. Auch hier wird die erwünschte Form der Beteiligung projiziert und sozusagen vorformuliert: quiero esta aclaraciön (Z. 5f.). Eine auffällige Parallele ist bei beiden Beispielen eine Senkung der Sprachlage beim Formulieren der steuernden Aktivität: {da mache) se mich an\r ist ebenso wie cortäis'l' * yfuerai (TA 2, Z. 6) eine umgangssprachliche Form. Die Funktion dieses Sprachlagenwechsels ist hier eine Form sozialer Konvergenz gegenüber Adressaten, die in beiden gezeigten Fällenüber eine wesentlich niedrigere Bildungsstufe als der Sprecher verfügen und eine ebenfalls niedrigere Position im Unternehmen bekleiden. Der Wechsel zur Umgangssprache senkt sozusagen die Beteiligungsschwelle der Arbeiterinnen und Arbeiter. Standardnahe Formulierungen aufgebend, nähert sich der Sprecher der präsupponierten Normallage seiner Adressaten. Insofern ist die sozialsymbolische Funktion dieses Wechsels in der Sprachlage durchaus ambivalent: einerseits eine Ermunterung zur Beteiligung unter den vorgegebenen Handlungserwartungen, andererseits eine Form sozialer Kategorisierung, denn mit dem Wechsel zu umgangssprachlichen Formen wird unterstellt, dass sie und nicht die Standardsprache die bevorzugten Sprachformen der Adressaten sind. 6 Die beiden gezeigten Ausschnitte stammen aus Gesprächen, die in zwei völlig verschiedenen Betrieben aufgezeichnet wurden. Parallelen bestehen darin, dass die steuernden Aktivitäten der Gesprächsleiter jeweils auf die Etablierung eines Interaktionsmusters zielen, das im Wesentlichen die Weitergabe von Information vonseiten der Vorgesetzten und entsprechende Rezeptionsaktivitäten vonseiten der Angestellten verlangt. Es wird somit eine ‘lokale’, konversationelle Maxime geltend gemacht, die Beiträge der Anwesenden, die Vgl. zu dieser Ambivalenz von Fremddarstellung und Konvergenz die Analysen bei Kallmeyer/ Keim/ Nikitopoulos (1994), S. 123f., sowie den Begriff des ‘metaphorischen’ Stilwechsels bei Gumperz (1994), S. 622. Interaktionsregeln in innerbetrieblichen sozialen Welten 95 ein bestimmtes Maß an Bearbeitungsanforderungen überschreiten, als unangemessen erscheinen lässt. Dies nenne ich eine Interaktionsregel, die man mit ‘Nur Yerständnisfragen’ bezeichnen kann. Bei einer späteren Verletzung der Regel kann sie eingeklagt werden. Die Vortragenden wahren sich gleichsam die Macht, unangemessene Teilnehmerbeiträge unbearbeitet zu lassen (was in beiden Gesprächen später auch mehrfach geschieht). Da die Einführung der Regel eher eine sprecherseitige Festlegung als ein Resultat von Aushandlungen ist, ist sie ein Hinweis auf die asymmetrische Struktur der Teilnehmerkonstellation. Die Asymmetrie äußert sich jedoch nicht nur in der Macht, Beiträge der Anwesenden zu beurteilen: Beide Arbeitergruppen befinden sich zum Zeitpunkt des Gesprächs in Räumlichkeiten, in denen sie sich in aller Regel nur sehr selten aufhalten. Die Arbeiter(innen) tragen in beiden Betrieben weiße Kittel, die Vorgesetzten erscheinen in Zivil. Die Beteiligten sitzen um eine karreeförmige Anordnung von Tischen, an deren Stirnseite der/ die Vorgesetzte/ n platziert sind. Die Vortragenden sprechen im Stehen, an ihrer Seite steht ein Overhead-Projektor, in ihrer rechten Hand halten sie einen Teleskop-Zeigestab. Diese Elemente unterschiedlicher Kodes (Kleidung, Proxemik, Accesoires) korrelieren mit den Möglichkeiten und Grenzen sprachlichen Ausdrucks. Insgesamt indiziert die gezeigte Interaktionsregel deshalb als eines von mehreren Merkmalen die soziale Distinktheit in einer Gesprächsgruppierung, in der sich Mitglieder zweier sozialer Welten begegnen. Diesen Zusammenhängen gehe ich in der folgenden Analyse anhand eines weiteren Beispiels für Interaktionsregeln nach. 3. Interaktionsregeln am Beispiel des ‘Entpersonifizierungsgebots’ in Mitarbeitergesprächen Bei der Durchsicht meiner Materialien war häufiger eine Thematisierung von ‘Namen’ zu finden. Die betreffenden Besprechungen finden alle unter relativ formalisierten Rahmenbedingungen statt, so z.B. unter Leitung eines ‘chairman’, der in einem partikulären Verhältnis zu den übrigen Anwesenden steht, sei es, dass es sich um einen Vorgesetzten oder aber auch wie in dem folgenden Beispiel um einen Externen handelt, der die Sitzung moderiert. Bei den Fällen, in denen die Regel eingeführt wird, dass Namen nicht genannt werden sollen, in denen metakommunikativ auf sie verwiesen oder in denen implizit auf sie rekurriert wird, handelt es sich in aller Regel um konfliktträchtige Schlüsselstellen im Gespräch. Bei kritischen oder imagebedrohenden Äußerungen „erhöht die explizite Nennung des Adressaten ihre Schärfe“ (Schwitalla 1995, S. 501). Der Verzicht auf eine durch Namensnennung disambiguierte Referenz kann entsprechend der Abschwächung von Kritik dienen (vgl. Brown/ Levinson 1987, S. 197). 96 Andreas Paul Müller Die folgende Beispielanalyse präsentiert Ausschnitte aus den zwei bereits vorgestellten Gesprächen und aus einem Gespräch aus einer französischen Fabrik. 7 Im Anhang meines Beitrags befinden sich Transkriptpassagen von dessen Beginn. Im Folgenden werden Auszüge daraus zitiert. Es handelt sich um das Gespräch einer Arbeiterinnengruppe (in der Gruppe gibt es nur einen Mann) mit ihrer Vorarbeiterin und einem externen Psychologen, der in regelmäßigen Abständen solche Teams im Werk besucht. Seine Aufgabe im Werk ist es, die vor zwei Jahren eingeführte Gruppenarbeit weiter zu betreuen und die Arbeiter bei der Entwicklung einer Selbstverantwortlichkeit zu unterstützen. Der Psychologe moderiert das Gespräch. Ziel ist es, einen Maßnahmenkatalog, den die Gruppe drei Monate zuvor zusammen mit ihm zur Verbesserung ihrer eigenen Arbeitsplatzbedingungen entworfen hatte, hinsichtlich des erreichten Erfolgs und Misserfolgs zu überarbeiten. 3.1 Explizite Hinweise auf die Regel Der Beginn des französischen Gesprächs war relativ turbulent. Kaum hatten sie ihre Plätze eingenommen, diskutierten einige der Arbeiterinnen heftig miteinander. Augenblicklich sei das Arbeitsklima in der Gruppe miserabel. Der Psychologe, PY, reagiert auf die Turbulenzen mit dem Versuch, einen sachlichen Interaktionsmodus zu etablieren. Er startet seinen ersten längeren Turn: d'oü ga vient d'apres vous [...] (Z. 30-32, vgl. u.), mit einer Frage, die aufgrund langsameren Sprechtempos und ruhigeren Tonfalls deutlich mit den vorherigen Aktivitäten der Arbeiterinnen kontrastiert. Die mit vous erfolgende Allokation des Rederechts ist hier nicht spezifisch. Als Außenstehender hat man den Eindruck, PY fordere die Anwesenden allgemein zu einer gemeinsamen Analyse möglicher Ursachen für das schlechte Klima auf. Zwischen die Frage und deren Paraphrasierung ‘schiebt’ er allerdings eine Bedingung ein: en sans citer de * nom de personne T (Z. 30-31). Namen sollen nicht genannt werden: TA 3 30 PY d'oü ga vient d'apres vousT * en sans citer 31 PY de * nom de personnet * d'oü viennent les 32 PY problemes d'apres vous-f Der Einschub ist in die intonatorische Gestalt des Turns eingepasst, bei der es sich um eine Kontinuitätsstruktur mit zwei Hebungen und einer abschließen- Die Gespräche bilden einen Teil aus einem insgesamt 21 Besprechungen aus 7 verschiedenen Betrieben (aus den drei Ländern) umfassenden Korpus. Es handelt sich u.a. um Lieferplanungssitzungen, Projektgruppengespräche, Meistergespräche und Sitzungen kleinerer Produktionsteams sowie um Gespräche aus Versicherungsgesellschaften. Interaktionsregeln in innerbetrieblichen sozialen Welten 97 den Senkung handelt. Der Sprecher trennt ihn durch kurze Pausen von den Fragen. Vor dem topischen Element nom setzt er erneut ab, wahrscheinlich zur Hervorhebung des Lexems. Die Thematisierung der ‘Namen’ und die Aufforderung, ihr Nennen zu vermeiden, haben an dieser Stelle die Funktion, Mitarbeiterinnen, denen eine persönliche Schuld am schlechten Arbeitsklima angekreidet werden könnte, vor Attacken zu bewahren. Aufgrund seiner Erfahrungen auch mit genau dieser Gruppe weiß der Moderierende, dass auf Personen zielende Angriffe Rechtfertigungsrituale in Gang setzen können (vgl. Müller 1997, S. 284f). Mit seinem ‘Entpersonifizierungsgebot’ wirkt er auf eine sachliche Aufklärung der Probleme in der Gruppe hin. Immerhin war schon zuvor bemerkt worden, dass es personnes concernees gebe, Betroffene und mutmaßliche Verursacher also, mit denen es zu reden gelte (vgl. Z. 5-8, im Anhang). Die explizite Einführung der Regel am Beginn des Gesprächs ist eine auffällige Variante der Möglichkeiten ihres Erscheines an der Oberfläche. Doch auch ohne eine solche Thematisierung scheint sie latent über weite Strecken in Kraft zu sein. In der deutschen Besprechung etwa (vgl. TA 1) kam es zu keiner Regelthematisierung zu Gesprächsbeginn. Gleichwohl ist sie auch hier wirksam. Als die Arbeiterinnen bei fortgeschrittenem Stand des Gesprächs die Frage thematisieren, ob sie selbst oder ob nicht ihre ständigen Wechsel von einer Maschine zur anderen Schuld an der Produktion von Ausschuss hätten, reagiert der Sprecher PL, der Vorgesetzte, mit einer Darstellung, wie er selbst solche Versetzungen plant ohne einen einzigen Namen zu nennen. Im Anschluss formuliert er ein Beispiel: TA 4 1437 PL ich möcht also eins nichtT * daß wir * 1438 PL festschreibendes heißt zum beisp * ich nenn 1439 PL jetzt nament * die frau Oberst arbeitet immer 1440 PL an der #MASCHINeT# * nummer * fünfunzwanzichf 1442 PL * von jetz bis in alle ewichkeitf das will 1443 PL ich nichtf * des brauchen wer auch netf * Der Sprecher leistet mit ich nenn jetzt namen\ (Z. 1438f.) einen expliziten Hinweis darauf, dass er von der Entpersonifizierungsregel abweicht. Wieder handelt es sich um eine eingeschobene Aktivität, die durch Pausen abgetrennt und in eine intonatorische Kontinuitätsstruktur eingebettet ist. Die Aktivität an dieser Stelle des Gesprächs ist auffällig, weil PL den Namen von Frau Oberst (d.i. eine anwesende Arbeiterin) einige Minuten zuvor durchaus schon genannt hatte: wir müssen uns unternander austauscheni * weil zum beispiel 98 Andreas Paul Müller eine frau Oberst * es besser im dreh hat * die teile rauszubekommen (Z. 1353ff. des Gesprächs). Der explizite Verweis auf die Interaktionsregel rechtfertigt oder legitimiert nun gleichsam die Wahl einer eindeutigen Referenz {die frau Oberst, Z. 1439) statt einer indefiniten Namensnennung {eine frau Oberst). Dadurch ermöglicht er die Konstruktion eines konkreten Beispiels ohne Gesichtsbedrohung für Frau Oberst. Der Ausschnitt macht deutlich, dass die Beteiligten die Regel als Bestandteil ihrer Normalformerwartung bei ihren Gesprächspartnern voraussetzen können. Der Verzicht auf Namensnennungen ist für die Anwesenden ein latent aufrecht erhaltener Schutzmechanismus, der in potenziell imagegefährdenden Situationen kleinräumig in den Vordergrund der Interaktion treten kann und derwenn er außer Kraft gesetzt werden soll einen erhöhten Formulierungsaufwand erforderlich macht, um einer Imageverletzung vorzubeugen. 8 3.2 Implizite Hinweise auf die Regel Es muss allerdings betont werden, dass eine Berücksichtigung der Interaktionsregel nicht in erster Linie im Verzicht auf Namensnennungen besteht, auch wenn die bislang diskutierten Ausschnitte dies vermuten lassen könnten. Hinweise auf die komplexe soziale Wirkungsweise der Regel liefern die bereits angesprochenen und für Gruppengespräche im Betrieb sehr typischen, indefiniten Namensnennungen {eine frau Oberst). Im folgenden Ausschnitt aus dem spanischen Schulungsgespräch (vgl. TA 2) verwendet der Gesprächsleiter P beispielsweise den (Kurz- oder Spitz-)Namen eines anwesenden Vorarbeiters {Santi) in einer eigentümlichen Form bei der Konstruktion eines Beispiels: Techniker und Arbeiter sollen nach der Entscheidung, ein Maschinenteil {cabezal = ‘Kopfstück’, Z. 427) zu kaufen, gemeinsam für dessen Einbau sorgen. Der Sprecher referiert auf el Santi de turno (Z. 426, etwa: ‘den Santi vom Dienst’), wodurch er den Eigennamen des Mitarbeiters für ein allgemeines Beispiel für Aufgabenteilungen sozusagen funktionalisiert. TA 5 425 P y cuando lo tenga comprao y ya lo tenga decidido Und wenn er ihn gekauft und es entschieden hat, 426 P * que le hable co: n * con el Santi de turnot * dass er [dann] mit dem Santi vom Dienst spricht Auch im französischen Gespräch rekurriert noch ein weiteres Mal eine Anwesende explizit auf die Regel. Mit non on cite personnel (Z. 166, im Anhang) ‘erinnert’ die Arbeiterin A2 ihre Kollegin Al an die eingangs von dem Psychologen eingefuhrte Regel, nachdem Al gegen die Regel verstoßen hatte (vgl. das Folgende). Interaktionsregeln in innerbetrieblichen sozialen Welten 99 427 P y le diga Toye Santi! * voy a e este cabezal und ihm sagt: „Hör mal, Santi, ich gehe an dieses 428 P he pensaot * en traerT ah! igual que en aquella Kopfstück, ich habe mir gedacht, ich hole eines, 429 P otra mäquina genau wie bei jener anderen Maschine.” Eine solche Funktionalisierimg namentlicher Referenz ist für das Arbeitsgespräch charakteristisch. Deutlicher wird die Funktionalisierung noch, wenn statt der Namen Berufs- oder Stellenbezeichnungen verwendet werden (etwa der ‘Techniker’, der ‘Einrichter’, der ‘Teamchef, die ‘Qualitätskontrolle’ u.Ä.), die durchaus auf Anwesende referieren können. Dies verleiht einer allgemein in den vorliegenden Sitzungstypen herrschenden Tendenz zur Versachlichung der Interaktion Ausdruck. Solche Funktionalisierungen sind Hinweise darauf, dass die Identität von Individuen hinter der Relevanz von Arbeitsaufgaben und Verantwortlichkeiten im Zusammenhang mit ‘Positionen’ in den Hintergrund treten. Bei Namensnennungen in diesen Fällen kann man von ‘kalkulierten’ Verstößen gegen das Entpersonifizierungsgebot sprechen, weil der Sprecher abschätzen kann, dass die Auswirkungen seines Handelns für das Gesamtgeschehen gering sein werden, weil sie z.B. nicht in Rechtfertigungsprozesse münden. Typisch ist demgegenüber, dass bei steigender Erwartbarkeit eines Konflikts der Vagheitsgrad in der Formulierung was die Identität des Betroffenen anbelangt zunimmt. 9 Zwei Dinge werden dadurch insgesamt deutlich: Zum einen ist die Berücksichtigung bzw. Nicht-Berücksichtigung der Regel nicht an ein binäres Prinzip i.S. von „ich nenne Namen, oder ich nenne sie nicht“, sondern an Abstufungen im sprachlichen Verhalten von Gesprächsteilnehmern gebunden, die die Wirkungen ihres Tuns im jeweils vorliegenden Gesprächsrahmen abschätzen können. Zum anderen kann dennoch ein eindeutiger Verstoß gegen das ‘Entpersonifizierungsgebot’ bei einer disambiguierten Referenz auf eine Person im Zusammenhang mit konfliktträchtigen Sachverhalten identifiziert werden; in aller Regel führt dies zu sofortigen Reparaturmechanismen. Um dies zu veranschaulichen, möchte ich jetzt abschließend auf die französischen Transkriptausschnitte eingehen. In TA 3 wurde die Initiative des Psychologen zitiert, die auf eine Analyse der Problemgenese zielt (vgl. Z. 30-32). Die Arbeiterinnen reagieren zunächst mit einem Gemeinplatz, dem unterschiedlichen Charakter der Gruppenmitglieder. Daraufhin wird auch die ungerechte Verteilung unterschiedlich schwieriger Arbeitsplätze für das schlechte Arbeitsklima verantwortlich gemacht. Der ‘Pate’ der Gruppe, ein Techniker des 9 Und zwar gerade dann, wenn allen Anwesenden klar ist, wer gemeint ist, im Sinne von: „Ich sage zwar den Namen nicht, aber ihr wisst ja sowieso, um wen es sich handelt“. V.a. am Ausdrucksverhalten von Arbeitern und Arbeiterinnen in Gesprächen des hier beschriebenen Typs lassen sich hierfür Belege finden. 100 Andreas Paul Müller Werks, erklärt dazu, dass zur Abhilfe ein rotierender Wechsel der Arbeitsplätze beabsichtigt war, ein mouvement tournant entre differents postes (Z. 101 des Gesprächs). Sofort verleihen diesbezüglich mehrere Arbeiterinnen ihrer Missbilligung Ausdruck und negieren ihre Bereitschaft, an einer Rotation mitzuwirken. Der Psychologe wendet sich an eine dieser Arbeiterinnen (A6). A6 antwortet, jemand habe während ihres Urlaubs ihren Platz besetzt (wahrscheinlich, ohne dass dies zuvor geklärt worden war): TA 6 128 PY 129 A6 130 A6 131 Al 132 Al 133 PY vous souhaitez pas pourquoi vousf non parce que j'ai ete prise en revenant des vacances et (...) prise ma placef * PRUSTET c'est pour moi qu'elle dit pal * n'inquietez past * moi je vais moi j=vais u: ps Obwohl A6 eine passivische Konstruktion wählt und die betroffene Kollegin nicht nennt, reagiert die Arbeiterin Al mit der Behauptung, A6 sage dies wegen ihr und unterstellt ihr damit eine indirekte Schuldzuweisung (Z. 131). Der Psychologe äußert eine Partikel, u: ps (Z. 133), die wir aufgrund konventionalisierten Gebrauchs als Symptom für Überraschung oder Bestürzung ' oder auch als das Konstatieren eines plötzlichen Missgeschicks deuten können (z.B. beim Fallenlassen eines Gegenstands). Die Aussprache der Partikel hinsichtlich ihrer Lautstärke, Tonhöhe und Dehnung ist außerordentlich markant. Die Arbeiterin sieht sich zu einem Neuansatz ihrer Formulierung veranlasst (vgl. Z. 132). Die prosodischen Eigenschaften der Partikel sprechen m.E. für die Interpretation, dass PY die Äußerung von Al durchaus als eine 0 Time (s) 0.3978 Interaktionsregeln in innerbetrieblichen sozialen Welten 101 Art Missgeschick registriert hat. 10 Man kann die Partikel als eine Zwischenfallmarkierung im Goffmanschen Sinne interpretieren: Al hat in diesem Moment klar gegen das Entpersonifiziemngsgebot verstoßen, indem sie mit c'est pour moi qu'elle dit qa die Debatte personalisiert und sich selbst als mutmaßliche Verursacherin eines Problems ‘outet’. Der Psychologe geht nicht auf Al ein, sondern spricht weiter zu A6 in Bezug auf die Rotation. (Das Gefüge jouer la polyvalence, Z. 136 u. 140, kann hier vereinfacht als Synonym für die Rotation gelten.) Christine, die Teamchefm, kommt A6 zu Hilfe, betont deren grundsätzliche Bereitschaft, weist aber auf eine Person hin, die die Rotation vereitelt hätte, und zwar indem sie darüber geklagt und indem sie ein ärztliches Attest vorgelegt habe (vgl. Z. 139-147). Die Teamchefm weiß sehr genau, dass sie über Al spricht; sie verzichtet aber auf die namentliche Referenz: mais il y a une personne qui: se plaint qui ne pouvait plus le faire (Z. 140, 142, 144). Verschiedene Arbeiterinnen unterstützen mit Bestätigungen die Ausführungen der Teamchefm. Ihre Solidaritätsbekundungen gipfeln im Signal für die grundsätzliche Bereitschaft zur Rotation: TA 7 151 TC voiläf 152 AX pourtant je vais partoutf * hein 153 AX Christine- 154 TC oui c'est vraif 155 Al et moi aussiT * Auch wenn Al behauptet (Z. 155), ebenfalls bereit dazu zu sein wegen des Attests wäre ihre Teilnahme an der Rotation ausgeschlossen. Während der Psychologe nun mehrfach versucht, Problemlösungsinitiativen in die Wege zu leiten (Z. 157, 159, 160f., 164-165), entwickelt sich ein Dialog zwischen Al und A2. Al gibt kund, sie selbst habe das Attest vorgelegt: c'est moi le certificat medicali (Z. 158) und sie habe nicht um den Platz von A6 gebeten (Z. 162). A2 ‘erinnert’ sie nun an die Regel: non on cite personnei (Z. 166), worauf Al mit einer deutlich lauteren Stimme und in einem sehr aufgebrachten Tonfall ihre schuldhafte Verwicklung in die Probleme der Gruppe eingesteht (vgl. Z. 167-173). Schon diese prosodischen Stilelemente in der Gegenrede von Al illustrieren die soziale Signifikanz ihrer (wiederholten) Regelverletzung und deren Behandlungsbedürftigkeit. 10 Zu der Grafik: Im oberen Bereich werden die Lautstärkeverhältnisse wiedergegeben, im mittleren die F 0 -Kurven. Die gepunktete Linie zeigt die Intonation von PYs, die durchgezogene die von Als Äußerung. Die Grafik wurde mit Hilfe des Programms Praat von Boersma erstellt. Eine günstige Sitzposition der beiden Sprecher erlaubte eine relativ ‘saubere’ Trennung ihrer parallel gesprochenen Beiträge im linken und rechten Kanal der Stereoaufnahme. 102 Andreas Paul Müller Bei dieser Passage handelt es sich insgesamt um eine außerordentlich komplexe konfliktive Auseinandersetzung, die sich bereits vor der Einführung der Interaktionsregel ankündigte (vgl. on n'est pas lä pour faire d=la delation, Z. 2f.). Der explizit und implizit indizierte Verzicht auf Namensnennungen (sans citer de nom, on cite personne, bzw. les personnes concernees, une personne qui), Solidaritätsbekundungen {d'accord, c'est vrai) sowie die häufig verwendete Formel j=uis desolee weisen auf einen stark von rituellen Mustern überformten Problemlösungsprozess hin. Von einiger Wichtigkeit sind außerdem die gehäuften Fälle des Redens über Anwesende in der dritten Person (c'est pour moi qu'elle dit ga, eile etait prete, eile est venue, c'est eile qui se trouve prise), die die soziale Ausgrenzung von Beteiligten zur Folge haben. Insbesondere betrifft dies die Arbeiterin Al, der durch die Ausgrenzung die Möglichkeit genommen wird, ihr Image zu verteidigen bzw. eine Reparatur zu versuchen (Muley 1999). Die Teamchefm, die den ‘Fall’ von Al ohne namentliche Referenz darstellt (ab Z. 139), grenzt sie von der übrigen Gruppe ab; indem Al ihre Schuld eingesteht, positioniert sie sich selbst als eine außerhalb der Gruppeninteressen stehende Beteiligte. Der Vorwurf von A2: mais madame vous faites le jugement d'une personne je suis desolee (Z. 172, 174), indiziert abschließend durch die förmliche Anrede und die Sprachlage (je suis stattj=uis) eine totale Distanzierung von Al. Der Leser mag den Eindruck haben, die Vereitelung der Rotation durch die Arbeiterin Al (durch Klagen, Attest) habe sie in die Rolle einer Außenseiterin gedrängt, was hier nun zu Tage trete. Interviews mit Beteiligten, die vor und nach diesem Gespräch stattfanden, machten jedoch deutlich, dass die Arbeiterinnen an einer Rotation, einem ständigen Wechsel in Wirklichkeit wenig Interesse haben (vgl. hierzu auch TA 4); v.a. die älteren unter ihnen (z.B. Al, A2, A5, A6) präferieren einen festen Platz. 11 Dieser Aspekt ist m.E. entscheidend. Der von dem ‘Paten’, dem Psychologen und auch der Teamchefm hervorgehobene Punkt ‘Rotation’ spielt in der sozialen Welt der Arbeiterinnen eher eine untergeordnete Rolle. Das Fehlverhalten der Arbeiterin Al berührt andere Bereiche: Die Arbeiterin Al hat einen Arbeitsplatz als Vorbereiterin; sie bereitet Platinen für die manuelle Bestückung mit elektronischen Bauteilen vor. Sie hat den Platz aufgrund ihres Attests bekommen: Die Vorbereitung zählt zu den einfacheren Arbeitsplätzen. Die Gruppe ist auf effiziente, sauber und schnell arbeitende Vorbereiterinnen angewiesen, denn eine langsame Vorbereitung vermindert die Produktion, was auf die ganze Gruppe, die nach einem Gruppenentlohnungsverfahren bezahlt wird, zurückfällt. Wenn die Produktionszahlen nicht stimmen, werden die Vorbereiterinnen leicht zu Sündenböcken abgestempelt (im übrigen nicht nur in dieser, sondern auch in anderen Gruppen). Die Arbeiterin Al hat unter diesen Bedingungen keine 11 Die Ursachen hierfür lassen sich in der Firmengeschichte um zwanzig Jahre zurückverfolgen, als Handarbeitsplätze die Regel waren, man bestimmten Kolleginnen gegenüber saß und die Privatheit an den Produktionslinien einen hohen Stellenwert genoss. Interaktionsregeln in innerbetrieblichen sozialen Welten 103 günstige Ausgangsposition für die Durchsetzung ihrer Interessen. Hinzu kommt, dass sie sich stilistisch den Gegebenheiten im formelleren Gespräch mit dem Psychologen nicht anzupassen vermag: An dem Produktionsband, an dem die hier anwesenden Arbeiterinnen tätig sind, sind gegenseitige Vorwurfshandlungen, ein scharfer Ton, Beleidigungen u.Ä. durchaus keine Seltenheit. Im dortigen Rahmen haben sich andere Normalformerwartungen an den täglichen verbal-interaktiven Umgang etabliert, als sie jetzt hier in dem Gespräch mit dem Psychologen gelten sollen, den die Arbeiterinnen immerhin seit zwei Jahren kennen. Die Arbeiterin Al überträgt gleichsam stilistische Gegebenheiten, die an der Linie als ‘normal’ empfunden werden, in das Gespräch mit ihm. Schwerwiegender ist jedoch die Personalisierung der Debatte und die Unterstellung, ihre Kollegin beschwere sich über sie (vgl. Z. 129f.). Die Arbeiterin Al verstößt gegen ein Grundprinzip: Auch wenn Schuldzuweisungen am Band zum Alltäglichen gehören, ist es in ihrer jetzigen Lage für sie riskant, persönlich zu werden. In einer Gemeinschaft, in der das Zusammengehörigkeitsgefühl z.B. durch alltägliche Rituale (z.B. Anbieten von Schokolade, Kuchen, Pralinen) auch bekräftigt wird, ist die Verletzung des Entpersonifizierungsgebots ein Ausdruck von Missmut gegenüber der Gruppe. Die Frauen sind aufeinander angewiesen; Solidarität spielt eine wichtige Rolle (vgl. die häufigen Solidaritätsbekundungen anderer Teilnehmer sowie PY: je crois que vous etes condamnes ä vous entendre, Z. 2556L des Gesprächs). Mit der Verletzung der Interaktionsregel trägt die Arbeiterin sozusagen eine Disharmonie in die Gruppe hinein, die nicht toleriert wird. (Einige Zeit nach diesem Gespräch wurde sie wegen fortdauernder Querelen in eine andere Gruppe versetzt.) 4. Fazit: Kommunikative Stilistik und soziale Welt Die Beispielanalyse versuchte zu zeigen, dass der Umgang mit der Identität von Personen in innerbetrieblichen Arbeitsbesprechungen ganz bestimmten Regeln oder Normen folgt. Fokus der Betrachtungen waren v.a. explizite und implizite Hinweise auf ein Entpersonifizierungsgebot in konfliktträchtigen Interaktionspassagen, und zwar in durch äußere Rahmenbedingungen typologisch klar eingrenzbaren Gesprächsformen (etwa: moderierte Teambesprechung oder Schulung von Gruppen). Die explizite Festlegung der Regel ist die Verdeutlichung einer Norm, an die man sich im vorliegenden Setting, auch ohne sie zu thematisieren, hält. Die Thematisierung der Regel ist sozusagen nur eine metakommunikative Notbremse angesichts eines drohenden Konflikts. Eine allgemeine Funktion des Entpersonifizierungsgebots ist die Versachlichung auch schwieriger, emotional besetzter Themen. Eine spezifische Funktion ist die Wahrung der Imagebalance in Zusammenhang mit komplexen Verfahren negativer Selbst- und Fremddarstellung. Die in der linguistischen Analyse ermittelten, sozialstilistischen und -signifikanten Elemente sind Kontextualisierungshinweise sowohl in Bezug auf die Sozio- 104 Andreas Paul Müller Struktur der Teilnehmergruppe als auch auf Strukturen im arbeitsweltlichen Umfeld. Im Ausdrucksverhalten der Mitarbeiter spiegeln sich die Strukturen ihrer sozialen Welt. Das tertium comparationis, das Vergleichsmoment für die diskutierten Beispiele, ist in bestimmten Eigenschaften der sozialen Welt der Arbeiterinnen und Arbeiter zu suchen, im Spannungsfeld zwischen der Normalform einer Unterhaltung an der Linie und im formalisierten Rahmen, an normativen Barrieren zwischen halb-privaten und beruflich eng determinierten Möglichkeiten der Repertoires und an weiteren Eigenschaften, die im Rahmen ethnografischer Beschreibungen erhellt werden können und die semantisch-pragmatische Tragweite des sprachlichen Handelns verdeutlichen. Aus der übersituationalen Perspektive auf die Gespräche ergeben sich soziostilistische Parallelen und Hinweise auf diskursive Eigenschaften der sozialen Welt, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: 1) Das Entpersonifizierungsgebot ist gebunden an situationale Kontexte mit bestimmten Eigenschaften wie asymmetrischen Rollenverteilungen (Moderation), formalisiertem Gesprächskontext (Räume, Kleidung, Vortragsaccessoires o.Ä.), diastratischem Gefälle (Bildung, Stellung der Mitarbeiter, evtl, ihr Alter). Es wird salient in konfliktiven Phasen, steht aber als Interaktionsressource latent zur Verfügung. Bestimmte regelverletzende Aktivitäten (c'est moi) zeigen, dass das Entpersonifizierungsgebot auch bei negativen Selbstdarstellungen gelten kann. 2) Zur Aktivierung der Regel stehen den Sprechern metakommunikative Mittel der Explizitheit und eine ganze Reihe impliziter Verschleierungsmechanismen zur Verfügung, wie etwa Substitute {une personne, eile), indefinite Formen {eine frau Oberst), Passivkonstmktionen (j'ai ete prise) oder im Spanischen subjektlose Sätze. Die Analyse hat gezeigt, dass die Verwendung solcher Formen ambivalent sein kann, weil die im Prinzip als Schutzmechanismen eingesetzten Elemente ggf. zu einer sozialen Ausgrenzung Anwesender führen. 3) Varianten weisen darauf hin, dass sich sprachliche Verfahren mit der Funktion der Regeletablierung und -bearbeitung ausbilden und festigen können. In bestimmten Besprechungen begegnen sich Angehörige verschiedener sozialer (Sub-)Welten (Führungskräfte und Arbeiter), wobei die Vorgesetzten eine Art Multiplikatoren-Rolle einnehmen und die Arbeiter sozialisieren (vgl. Müller 1999). Einerseits weisen soziostilistische Ausprägungen im Umgang mit der Interaktionsregel auf Gruppenstile von Angehörigen bestimmter Milieus hin; andererseits bestimmen Machtverhältnisse zwischen (Sub-)Welten die Legitimation des Handelns. 4) Die Interaktionsregel existiert aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nur im Kontext von Arbeitergruppengesprächen, sondern auch auf anderen unternehmerischen Ebenen (gehobenes Management) und sogar in anderen als organisationalen Institutionen. Dies gilt es noch vergleichend zu untersuchen. Spekulierte man auf ähnliche, dort vorhandene Normen, blieben die Interaktionsregeln in innerbetrieblichen sozialen Welten 105 Grenzen der sozialen Welt von Arbeiter(inne)n durch andere Kodizes gleichwohl gewahrt. 5) Die Interaktionsregel steht in Zusammenhang mit anderen für das Gespräch geltenden Normen, z.B. mit Vorgaben an die Gestaltung von Beiträgen seitens der Arbeiter(inne)n. Parallel existieren auf einer anderen Ebene - Normen, die grundsätzliche kooperative Prinzipien berühren (wie etwa eine asymmetrische Rederechtsregelung. Weiterhin können wir eine Ebene grundlegender kulturspezifischer Werte annehmen, die an der Oberfläche als Solidaritätsbekundung, als ein Voraussetzen von Konsens etwa bei der Bewertung der Lebenswelt (>fa c'est couillon gai<) oder auch als ein Einklagen persönlicher Mäßigung (mais madame vous faites le jugement d'une personne) salient werden. Die Unterscheidung normativer Ebenen schließt an die Betrachtungen Cicourels (1981) zu interpretativen Regeln einerseits und zu Basisregeln dem Sinn sozialer Ordnung an. Eine solche Unterscheidung modelliert außerordentlich komplexe Zusammenhänge in einer als kulturspezifisch verstandenen verbalen Interaktion und fuhrt zu schwierigen Fragestellungen, etwa, inwiefern sich nicht auch grundlegende kooperative Prinzipien kulturell ausdifferenzieren (vgl. Kallmeyer 1979 sowie die Betrachtungen zu Grice bei Clyne 1994, S. 192ff.). Solche Fragestellungen konnten hier nur angeschnitten werden, sind aber Gegenstand meiner eigenen Weiterarbeit. 5. Literatur Bausch, Karl-Heinz (1994): Regeln des Sprechens, Erzählstile und soziale Typisierungen, Sprachvariation und Symbolisierungsverfahren unter Jugendlichen der Kemgesellschaft in Neckarau. In: Kallmeyer, Werner (Hg.): Exemplarische Analysen des Sprachverhaltens in Mannheim. Berlin/ New York. S. 387-466. Brown, Penelope/ Levinson, Stephen C. 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Mit (-) wird ein schwebender, mit (T) ein steigender, mit (-l) ein fallender Grenzton bzw. am Wortanfang ein Tonhöhensprung gekennzeichnet. Unterstrichene Äußerungen sind parallel gesprochen, Beiträge zwischen horizontalen Pfeilen schneller (—» <—), zwischen spitzen Klammern lauter (< >). Runde Klammem umschließen einen unverständlichen (...) oder vermuteten (hon) Wortlaut. Der Asterisk (*) kennzeichnet eine kurze Pause (< 1 Sek.), das Gleichheitszeichen (=) eine Verschleifung, der Doppelpunkt (: ) eine Lautdehnung, Großbuchstaben indizieren Kommentare mit einer durch zwei (#) angegebenen Reichweite. Transkriptionsausschnitt Ai-n = Arbeiterinnen PY = Psychologe TC = Teamchefm (Vorarbeiterin) A5 mais ayez le courage Habt doch die Courage. Al on n'est pas lä pour faire d=la Wir sind nicht hier, um jemanden anzu- A1 delation j=uis entierement d'accord avec toi schwärzen. Bin ganz mit dir einverstanden. A5 d'accord In Ordnung. A5 mais les personnes concernees les personnes Aber die Leute, die's betrifft, die Leute, mit A5 avec qui ga va pas il faut en pariert denen es nicht klappt, darüber müssen wir reden. Al ouaisJ- Ja. AX faudraitJ- Müssten. A5 mais oui mais ä ce moment-lä [. . . ] 30 PY d'oü ga vient d'apres voust * en sans citer Woher kommt es, ihrer Meinung nach, ohne irgend 31 PY de * nom de personnet * d'oü viennent les einen Namen zu nennen, woher kommen die Probleme 32 PY problemes d'apres voust ihrer Meinung nach? Interaktionsregeln in innerbetrieblichen sozialen Welten 109 33 A5 34 PY 35 PY 36 AX 37 All 38 PY 39 AX [• • •] 126 Al 127 PY 128 PY 129 A6 130 A6 131 Al 132 Al 133 PY 134 Al 135 PY 136 PY 137 PY 138 AX 139 TC du caractere- Vom Charakter. du caractere de chacuni * vous etes tous Vom Charakter des Einzelnen. Stimmen sie alle d'accord lädessus on a tousbonlon a darin überein, wir haben alle, gut, jeder hat ga on a vu on a chacun un Das weiß man, jeder hat einen ah ben oui Ja, klar. chacun son caracterel' * heinT je penseT seinen Charakter, nicht wahr, denke ich. caractere different^ anderen Charakter. de toute fagon Christine- Christine auf jeden Fall allez allez-y- * euh vous Sagen sie doch mal, äh, sie vous souhaitez pas pourquoi vousi wünschen das nicht, warum sie nicht? non parce que j'ai ete prise en revenant des Nein, weil ich in der Patsche saß, als ich aus dem vacances et (...) prise ma placed * Urlaub kam, (...) mein Platz war weggenommen. PRUSTET c'est pour moi qu'elle dit gai * Wegen mir sagt sie das. n'inquietez past * moi je vais moi j=vais Keine Sorge. Ich, ich gehe, ich geh u: ps partout alorst * ga me derange past überall hin. Macht mir nichts aus. c'est vrai que vous vous etes pas pret ä Es ist also so, dass sie nicht bereit sind zu faire ä jouer la polyvalence —»c'est ä rotieren, das heißt, sie dire<— vous preferez garder vo: s copainst bevorzugen es, bei ihren Kameraden zu bleiben? non si eile etait Sie war schon bereit 110 Andreas Paul Müller 140 TC prete ä jouer la polyvalence mais il y a zu rotieren, aber es gibt eine Person, 141 PY ouit 142 TC une personne qui: se plaint qui ne pouvait die sich beschwert, die das nicht mehr machen 143 AX oui 144 145 146 147 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162 163 TC TC AX TC AX PY PY TC AX AX TC Al Al PY Al PY PY PY Al Al plus le faire (apres eile est venue) avec un machen konnte. (Nachher kam sie) mit einem certificat medicalT et maintenant c'est Attest, und jetzt ist sie es, ouais^ eile qui se trouve prisei voilä^ die in der Patsche sitzt. Da haben wir's. oui-l ah oui- >ah oui en effet ga c'est couillon ga^< Ah ja, das ist ja wirklich saublöd, das da. voiläi pourtant je vais partout^ * hein Ich gehe allerdings überall hin, nicht Christinewahr, Christine? oui c'est vraii Ja, das stimmt. et moi aussit * Und ich auch. j=uis desolee hein- Tut mir Leid. alors qu'est-ce vous Also, was werden sie £' est moi le certificat medicalJ' Das bin ich, das Attest. (•• • ) qu'est-ce que Was, qu'est-ce que ga peut comment vous pouvez was kann das, wie können sie dieses regier ce probleme lä Problem regeln? j'ai pas demande sa place Ich habe nach ihrem Platz nicht moi j=uis desolee- ** gefragt, tut mir Leid. 164 PY comment vous pouvez Wie können sie 165 166 167 168 169 170 171 172 173 174 175 176 177 178 179 180 Interaktionsregeln in innerbetrieblichen sozialen Welten 111 PY regier ce Probleme lät dieses Problem regeln? A2 non on cite personnel Wir nennen doch keine Namen. Al <non non mais Nein, nein, aber Al on cite personne mais c'est moi qui a pris la wir nennen keine Namen, aber ich bin es, die den PY et si- Und wenn A3 non Al place- *alors vou: s c'est pas hein c'est pas Platz genommen hat. Also sie, das ist nicht, das A2 mais madame vous faites le juqement d'une Aber Madame, sie urteilen über jemanden, Al personne d'au: tre-> ist niemand anderes. A2 personne je suis desoleetut mir Leid. PY oui nonben il faut pas Ja, nein. Gut, man soll dem auch PY non plus tourner (tourner le dos) je crois nicht den Rücken zukehren. Ich glaube, PY qu'il faut mettre les choses man muss die Dinge auf den Al bien absolumentl Jawohl, absolut. PY sur sur la table- Tisch bringen. AX on est pas lä pour juger des gensl Wir sind nicht hier, um die Leute zu verurteilen. Reinhold Schmitt Hierarchie in Arbeitsgruppen als stilbildender Aspekt 1. Einleitung Dieser Beitrag informiert über erste Ergebnisse des Projektes „Kooperation in Arbeitsgruppen“, einem Teil des größeren Forschungsvorhabens „Kommunikative soziale Stilistik des Deutschen“, das in der Abteilung Pragmatik am IDS durchgeführt wird. Im Rahmen dieses übergeordneten Zusammenhangs, in dem exemplarisch relevante gesellschaftliche Bereiche als stilbildende Kontexte analysiert werden, untersuche ich die jeweiligen Kooperationsstile, die sich in Arbeitsgruppen aus vier verschiedenen Bereichen herausgebildet haben. Analysiert und verglichen werden Meetings und Arbeitssitzungen von Software-Entwicklern, Wissenschaftlern, einem Ausstellungsteam und der Editing-Gruppe einer internationalen Unternehmensberatung. Der Kooperationsstil dieser Gruppen wird konzipiert als charakteristisches Kommunikationsverhalten, das geprägt ist durch die Auseinandersetzung der Gruppen mit den für sie jeweils gegebenen konkreten Arbeitsbedingungen, wie z.B. formale Organisation, Aufgabenprofil, Gruppenstruktur und Gruppengröße, Dauer der Zusammenarbeit, Fluktuation etc. Ein wesentlicher Aspekt der Arbeitsbedingungen aller Gruppen ist deren formale hierarchische Struktur. Auf Grund meiner bisherigen Beobachtungen 1 gehe ich davon aus, dass die Gruppenhierarchie und das sie konstituierende Verhalten ihrer Mitglieder ein wichtiges Struktur- und stilbildendes Element für deren Kooperation ist. Mit dieser Hypothese will ich mich nachfolgend weiter beschäftigen. Dazu werde ich zunächst einen Ausschnitt aus einem Workshop der Editing- Gruppe sequenzanalytisch aufbereiten und die dabei gewonnenen Einsichten als gesprächsanalytische und gesprächsrhetorische Befunde zusammenfassen. Im Anschluss daran reinterpretiere ich diese Ergebnisse im Hinblick auf dominante Orientierungen, die dem Kooperationsverhalten der Beteiligten in der analysierten Stelle zu Grunde liegen. Dieser im engeren Sinne stilanalytische Schritt erfolgt mit dem Ziel, allgemeine Beschreibungsdimensionen für ‘Gruppenstil’ zu erhalten und diese auf ihre Brauchbarkeit sowohl für die 1 Siehe hierzu: Schmitt (1998b), Schmitt (1999), Schmitt (2000), Schmitt (2001), Schmitt/ Brandau/ Heidtmann (1999). 114 Reinhold Schmitt Analyse unterschiedlicher Gruppen als auch für deren Kontrastierung zu prüfen. Zum Abschluss formuliere ich einen Vorschlag, wie man aus ethnomethodologischer Perspektive die interaktive Konstitution von Hierarchie und deren Bedeutung für Kooperationsstil konzeptualisieren kann. Zunächst will ich jedoch die wichtigsten theoretischen Bezugspunkte, mein eigenes Stilverständnis und das meinen Analysen zu Grunde liegende Modell von Stilbeschreibung kurz darstellen. 2 2. Theoretische Bezugspunkte Bei der Suche nach relevanten Bezugspunkten für mein Erkenntnisinteresse - Analyse und Vergleich von Kooperationsformen in unterschiedlichen Arbeitsgruppen orientiere ich mich vor allem an Ansätzen, die sich mit natürlicher verbaler Interaktion beschäftigen und auf der empirischen Grundlage konkreter Gesprächsaufzeichnungen arbeiten. Hier schließe ich mich an Arbeiten an, die unter der Bezeichnung „Interaktionale Stilistik“ (Hinnenkamp/ Selting 1989, Selling 1995 und 1997, Jakobs/ Rothkegel 2001, als Vorläufer Franck 1984 und Tannen 1984) eine stilanalytische Synthese versuchen aus interaktionstheoretischen Überlegungen von Mead (1934), Schütz (1974), Garfinkei (1967) und Goffman (1967) sowie dem Kontextualisierungsansatz von Gumperz (1982a und 1982b). 3 Bedeutsam sind für mich insbesondere Arbeiten, die ihr interaktionstheoretisch fundiertes stilanalytisches Interesse auf stabile soziale Gruppen beziehen. Wenn es um gruppenstilistische Untersuchungen geht und nicht darum, die Bearbeitungsweise einzelner interaktionskonstitutiver Anforderungen in einem stilanalytischen und stiltheoretischen Rahmen zu beschreiben (siehe z.B. den Sammelband von Selting/ Sandig 1997), finden sich bis auf die Analysen zur „Kommunikativen sozialen Stilistik“ im Rahmen des Mannheimer Projektes „Kommunikation in der Stadt“ (Kallmeyer 1995a und 1995b, Keim 1995, Schwitalla 1995, Keim/ Schwitalla 1989) kaum Arbeiten, die sich in theoretischer, konzeptioneller und methodischer Hinsicht als Orientierung anbieten. Obwohl die Stilistik in der Sprachwissenschaft seit langem fest etabliert ist, bleibt nach wie vor zu klären, was genau Stil ist (z.B. Stickel (Hg.) 1995). Grundsätzlich ist das Stilkonzept abhängig von der jeweiligen analyseleitenden Perspektive, die bei meinem Vorhaben dadurch charakterisiert ist, dass ich a) Stil als sozialen Stil begreife und b) an der Analyse von Gruppenstilen 2 Siehe auch Kallmeyer/ Schmitt (1999). 3 Zum Kontextualisierungsansatz vgl. auch Auer (1986) und Schmitt (1993). 115 Hierarchie in Arbeitsgruppen als stilbildender Aspekt interessiert bin (im Unterschied etwa zu Stil in sozialen Milieus oder sozialen Welten). 4 Konkret gehe ich von folgendem GrundVerständnis von Stil aus: - Stil bezieht sich auf die Symbolisierung sozialer Identität von Gruppen {Stil = Gruppenstil), - Stil entsteht in der kommunikativen Auseinandersetzung mit den für die Gruppen relevanten sozialen Bedingungen (Stil = sozioökologisch geprägtes und kultiviertes Kommunikationsverhalten), - Stil drückt sich aus im Gesamt der sprachlichen und nichtsprachlichen sowie interaktiven Ausdrucksmittel, wie Lexik, Grammatik; Gestik, Mimik, Proxemik; turn taking, Regeln des Sprechens und thematische Relevanzen sowie Verfahren der sozialen Kategorisierung etc. {Stil = holistische Kategorie), - Stil bezeichnet die rekurrente und systematische, d.h. situationsübergreifende Kombination unterschiedlicher Ausdrucksformen auf verschiedenen Ebenen {Stil = rekurrentes Kommunikationsverhalten), - Stil entsteht, indem einzelne Gruppen zur Symbolisierung ihrer Identität ein jeweils spezifisches Ausdrucksrepertoire nutzen (Stil = Ergebnis einer Selektionslogik). Stil ist ein Gestaltphänomen, das sich aus dem Zusammenspiel sehr unterschiedlicher stilkonstitutiver Aspekte in verschiedenen Kontexten zusammensetzt. Stil ist daher kein lokales Phänomen; die Gesamtheit der für eine Gruppe stilbildenden Aspekte lässt sich nie in einer einzigen Situation beobachten. Gleichwohl ist Stil empirisch nur über die Beschreibung einzelner lokal realisierter stilkonstitutiver Merkmale erfassbar. Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass die Kooperationsweisen der Gruppen als wesentliches Element ihres sozialen Stils zu rekonstruieren sind, d.h. als Mittel der Symbolisierung ihres Selbstverständnisses (z.B. als Mitarbeiter eines internationalen Branchenführers, als Professionelle in einem internationalen Unternehmen, als autonome Köpfe im Prozess wissenschaftlicher Er- 4 Die untersuchten Gruppen sind jeweils Teil unterschiedlicher sozialen Welten, z.B. der sozialen Welt der „Software-Entwickler“ oder der „Unternehmensberater“. Insofern zeigen sich Strukturelemente dieser sozialen Welten auch im Gruppenkontext. Mein Interesse richtet sich jedoch nicht auf den übergeordneten Rahmen solcher sozialer Welten, sondern auf den kooperativen Umgang innerhalb der einzelnen Gruppen. Für eine Analyse der sozialen Welt beispielsweise der Untemehmensberater wäre eine andere empirische Grundlage nötig, die verschiedene relevante Gruppen aus verschiedenen Untemehmensberatungen in unterschiedlichen prototypischen Situationen zeigt. 116 Reinhold Schmitt kenntnisgewinnung oder als Teilnehmende an einem einmaligen sozialen Ereignis wie der Ausstellung „Körperwelten“ 5 ). Inwieweit die Ergebnisse aus dem Mannheimer Projekt „Kommunikation in der Stadt“, die primär bei der Untersuchung von Freizeitgruppen gewonnen wurden, auch auf funktional definierte und hierarchisch strukturierte Arbeitsteams übertragen werden können, ist ein noch offener Punkt. Die zentrale Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist folgende: Auf welcher Grundlage lassen sich Stilvergleiche unterschiedlicher sozialer Gruppen durchführen und welche Formen der Kontrastierung sind hierzu notwendig? Diese Frage tangiert v.a. die allgemeinen Gesichtspunkte, die als Leitschnur für soziostilistische Vergleiche formuliert worden sind: „sozioökologische Prägung des Kommunikationsverhaltens“, „Kultivierung des Kommunikationsverhaltens“, „Entwicklung eines Ausdruckssystems zur Symbolisierung sozialer Identität“ und „Entwicklung von kommunikativem sozialen Stil als ‘symbolisches Kapital’“ (Kallmeyer 1995b). 3. Ein ethnomethodologisches Fundament für die Stilistik? Sandig (1986) hat vorgeschlagen, für eine linguistische Stilistik der verbalen Interaktion einen „pragmatischen Ansatz mit einer ethnomethodologischen Fundierung“ zu formulieren. 6 Ihr Bezug auf die Ethnomethodologie beinhaltet dabei primär Anleihen grundlagentheoretischer Art. Hierzu gehört die Vorstellung von Stil als Vollzugskonzept, d.h. der jeweils lokalen Hervorbringung von Stil als spezifischer sozialer Sinn im faktischen Handlungsvollzug, und Stil als Teilnehmerkategorie, d.h. als eine Orientierung der Beteiligten selbst. Weiterhin versteht sie Stil als Indexikalisierungsmittel, d.h. als Mittel des situationsspezifischen und kontextsensitiven Vollzuges allgemeiner und abstrakter Handlungstypen. Letztlich weist sie Stil die Qualität von Handlungsbeschreibungen im Handlungsvollzug zu; ihre Vorstellung von stilistischem Sinn ist somit parallel zur Accountability-Vorstellung von Garfinkel (1967). Die Ausstellung „Körperwelten. Einblicke in den menschlichen Körper“ wurde in Mannheim vom 30.10.1997 bis 01.03.1998 gezeigt. Etwa 786.000 Besucher sahen in diesem Zeitraum die Plastinate Gunther von Hagens'. Der immense Andrang der Besucher, das enorme öffentliche Interesse, die 24-stündige Öffnungszeit in den letzten sechs Tagen der Ausstellung und die Bereitschaft der Besucher, stundenlang anzustehen, machten die Ausstellung zu einem sozialen Ereignis mit „Kultstatus“. 6 „Es geht weniger um das Auf-den-Begriff-Bringen von Bedeutungen, als vielmehr um das ‘in-vielen-Worten-sagen’, was der Fall ist, wer man ist, was die Situation ist, was die Absichten sind. In der Hervorhebung des Wie, des prozeßhaften Vollzugs und der Mitteilung von Sinn treffen sich Ethnomethodologie und Stilistik“ (1986, S. 14); vergleichbare Überlegungen finden sich auch in Sandig (1995). Hierarchie in Arbeitsgruppen als stilbildender Aspekt 117 Eine solche stiltheoretische Reinterpretation zentraler ethnomethodologischer Grundgedanken birgt jedoch die Gefahr in sich, bei der Beschreibung jeglicher Varianz sprachlichen Handelns Stil als allmächtiges Beschreibungskonzept zu institutionalisieren. Aus gesprächsanalytischer Sicht stellt sich hier die Frage, ob Interaktionsbeteiligte mit dem Wie ihres Verhaltens tatsächlich stilistischen Sinn im Verständnis Sandigs produzieren oder ob sie damit auf Bedingungen und Anforderungen reagieren (müssen), die im Laufe der Interaktionsentwicklung entstehen. Die Schwierigkeit, eine eigenständige stilanalytische Perspektive zu entwerfen, hängt mit der Vielfalt von Aspekten zusammen, auf die sich Stil beziehen lässt. Beobachtbar ist eine Tendenz, den Stilbegriff relativ unkontrolliert „freizugeben“, was zu einer Mannigfaltigkeit von Stilen und sprachlichinteraktiven Phänomenen führt, denen Stilbildungsrelevanz zugeschrieben wird (vgl. u.a. Selting/ Sandig 1997). In letzter Konsequenz bedeutet dies, dass jede Äußerung Stil besitzt, was Fiehler (1997) veranlasst, auf die Gefahr einer verdinglichten Sichtweise auf Stil hinzuweisen. Zum großen Teil liegt die bis heute gültige Bestandsaufnahme Sandigs (1986, S. 13) „Stilistik als linguistische Teildisziplin präsentiert sich noch immer als ein Chaos“ darin begründet, dass es bislang keine theoretisch motivierte Gegenstandsbestimmung für stilanalytische Untersuchungen gibt. Meines Erachtens ist es notwendig, den von Sandig eingebrachten Vorschlag, die linguistische Stilistik ethnomethodologisch zu fundieren, weiter zu reflektieren (siehe auch Selling 2001). Dabei wird es zum einen notwendig sein, Sandigs zentrale grundlagentheoretische Annahmen wie ‘Stil ist ein Mittel der Indexikalisierung’ und ‘Stil als Accountability’ zu problematisieren und neu zu bewerten. Zum anderen werden Konzepte, die in anderen Theoriezusammenhängen entstanden sind, und sich dort ebenfalls auf Wahlmöglichkeiten und das Wie von Handlungsrealisierungen beziehen, auf ihr stiltheoretisches Potenzial hin zu befragen sein. 4. Ein Drei-Ebenen-Modell der Stilbeschreibung Meines Erachtens müssen zur Klärung der konkreten ethnomethodologischen Bezugspunkte für das stilanalytische Interesse an dem Wie sprachlichen Handelns drei eigenständige Analyseperspektiven differenziert und auf ihren Zusammenhang hin reflektiert werden: Konversationsanalyse, Gesprächsrhetorik und kommunikative Sozialstilistik. Vorstellungen, die punktuell in die gleiche Richtung weisen, finden sich bei Gumperz (1982a, 1982b) und Kallmeyer (1994). Gumperz hat schon früh die Bedeutung der Wahl rhetorischer Verfahren (bei ihm unterschiedliche Formen von Code-switching) zur Symbolisierung der sozialen Identität von Gruppen betont. Das nachfolgende 118 Reinhold Schmitt Modell integriert den gesprächsrhetorischen Ansatz und deutet die vereinzelt vorhandenen Vorstellungen methodologisch im Zusammenhang aus. Es beinhaltet zumindest folgende drei Beschreibungsebenen, die in sequenzieller Folge aufeinander aufbauen: - Die klassische Konversationsanalyse hat Konzepte entwickelt, die ganz grundsätzlich der Tatsache Rechnung tragen, dass es für jede Äußerung unabhängig davon, an welcher Stelle im Interaktionsverlauf sie vollzogen wird immer mehrere, teilweise sehr unterschiedliche Realisierungsmöglichkeiten gibt. Auf diese nicht hintergehbare, permanente Wahl- und Entscheidungsmöglichkeit von sprachlichem Verhalten verweisen z.B. die Vorstellungen von Präferenzorganisation (Sacks 1987, Schegloff/ Jefferson/ Sacks 1977, Sacks/ Schegloff 1979, Bilmes 1988, Kotthoff 1993, Boyle 2000) und von „participants' work“, das in der Konversationsanalyse vernachlässigte Gegenstück der durch das Interaktionssystem vorgesehenen „structural provisions“ (Jefferson 1972, in ähnlicher Weise auch Schegloff 1997). - Die Gesprächsrhetorik als Weiterentwicklung der Konversationsanalyse (Kallmeyer 1996, Kallmeyer/ Schmitt 1996, Schmitt 1998a, Wolf 1999) konzentriert sich auf die interaktiven Handlungsmöglichkeiten des Individuums unter den konkreten Bedingungen von Interaktion. Sie betont im Gegensatz zur formal-technischen Perspektive der Konversationsanalyse den Aspekt „participants' work“ und fragt nach den Chancen und Risiken, die für die Beteiligten mit der konkreten Handlungsrealisierung verbunden sind. Hier steht das Individuum und sein Bemühen im Mittelpunkt, sprachliche Handlungen so zu realisieren, dass sie für seine Zwecke zielführend sind. - Unter einer kommunikativ-sozialstilistischen Perspektive werden die Ergebnisse der vorangegangenen Analysen mit einem neuen Erkenntnisinteresse reinterpretiert. Hier wird nach Rekurrenzen, systematischen Zusammenhängen und Konsistenzen konversationsanalytischer und gesprächsrhetorischer Phänomene gesucht. Wie eine solche stilanalytische Interpretation zuvor erarbeiteter linguistischer und gesprächsanalytischer Ergebnisse aussehen kann, wird exemplarisch in Kallmeyer (1994) vorgeführt. Bei diesem Analyseschritt steht die Frage im Vordergrund, ob die unterschiedlichen Phänomene einen gemeinsamen Konvergenzpunkt haben, von dem aus sie sich in sozialstilistischer Weise als Symbolisierungsformen von Gruppenidentität bündeln lassen. Eine Implikation dieses allgemeinen Modells von Stilbeschreibung besteht darin, dass es eine von der Konversationsanalyse und der Gesprächsrhetorik unabhängige, eigenständige Stilanalyse nicht geben kann. Stilanalyse ist in Hierarchie in Arbeitsgruppen als stilbildender Aspekt 119 meinem Verständnis immer eine forschungslogisch nachgeordnete Reinterpretation bereits vorliegender konversationsanalytischer und gesprächsrhetorischer Ergebnisse in einem neuen, letztlich soziologisch bestimmten Erkenntnisrahmen. Dies bedeutet aber, dass Stilanalyse im Verständnis des skizzierten Modells immer schon ethnomethodologisch fundiert ist. Die vorgelagerten konversationsanalytischen und gesprächsrhetorischen Analyseschritte verfügen ja hinsichtlich ihrer Methode und Theorie deutlich über einen ethnomethodologischen Ursprung. 7 Im Folgenden will ich exemplarisch skizzieren, wie das entworfene Modell der Stilbeschreibung arbeitet. Der ausgewählte Ausschnitt zeigt unterschiedliche Aspekte, die für mein spezielles Interesse an Formen interaktiver Konstitution von Flierarchie von besonderer Bedeutung sind. 5. Die Editing-Gruppe: Eine Beispielanalyse Bei der Analyse gehe ich vom ethnomethodologischen Standpunkt aus, dass Kommunikation das Ergebnis der gemeinschaftlichen Hervorbringung aller Beteiligten und somit das Ergebnis einer Aushandlung ist. Dabei wird die gemeinschaftliche Hervorbringung vor dem Hintergrund der gegebenen hierarchischen Struktur der Gruppe reflektiert. In einem noch vorläufigen Verständnis begreife ich Asymmetrie als interaktionsstrukturelle Entsprechung des organisationsstrukturellen Konzepts „Hierarchie“. 8 Ich gehe weiter davon aus, dass sich diese Asymmetrie auf die Selektion möglicher Handlungen sowie möglicher sprachlich-interaktiver Handlungsrealisierungen auswirkt. Weiterhin nehme ich an, dass sich diese Asymmetrie besonders bei der Bearbeitung bestimmter Anforderungen der Gruppenkooperation zeigt. Der folgende Ausschnitt stammt aus einem Korpus von Videoaufzeichnungen vierteljährlich stattfindender Workshops der Editing-Gruppe einer international tätigen Unternehmensberatung. Die Gruppe besteht zum Zeitpunkt der Aufnahme aus acht Editorinnen, der „Chefin“ Silke sowie deren Sekretärin. Die Workshops sind sowohl Informationsveranstaltungen, bei denen für die Gesamtgruppe relevante Themen besprochen werden und die Gruppe auf einen gemeinsamen Stand gebracht wird, als auch wichtige Integrationsereignisse. In der Regel treffen neue Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen anlässlich dieser Workshops zum ersten Mal mit der Gesamtgruppe zusammen. Weiterhin besitzen diese Veranstaltungen einen hohen Stellenwert für die gemeinsame Entscheidungsfindung bei anstehenden Problemen. 7 Was dies letztlich für Sandigs Vorschlag bedeutet, muss noch genauer reflektiert werden. 8 Zu Asymmetrie in Gesprächen siehe den Sammelband von Markovä/ Foppa (1991). 120 Reinhold Schmitt Die Gruppe hat zum Zeitpunkt der Aufnahme eine flache Hierarchie: Neben der Chefin gibt es nur gleichberechtigte Editorinnen, wobei sich eine gewisse informelle Gliederung in Abhängigkeit von der Dauer der Mitarbeit in der Gruppe etabliert hat. 9 So gibt es drei erfahrene Editorinnen, die noch die Gründerzeit des Editing im Unternehmen miterlebt haben, weiterhin zwei Editorinnen, die schon etwas länger dabei sind, eine, die erst ein halbes Jahr mitarbeitet, sowie zwei Novizinnen, die erst vor kurzem zur Gruppe gestoßen sind. 5.1 Der Kontext des Ausschnitts Der Ausschnitt ist Teil einer Präsentation von Kerstin, die ihre Kolleginnen mit Hilfe eines Overhead-Projektors über die Struktur eines neuen Einführungsseminars für Berater informiert. Das Seminar dauert drei Wochen, und von diesen soll das Editing insgesamt achteinhalb Tage mit Referentinnen besetzen. 10 Die Gruppe diskutiert über die konkrete Organisation ihres achteinhalbtägigen Einsatzes. Insbesondere geht es um die Ruhephase zwischen zwei Teileinsätzen (Samstag Nachmittag und Sonntag Vormittag sind für die Editorinnen frei). Die Aussicht auf nur zwei halbe Tage zur Erholung wird kritisch gesehen. Gisela, eine der erfahrenen Editorinnen, bringt schließlich die Stimmung mit einer expliziten Negativbewertung auf den Punkt. 5.2 Giselas markierte Negativbewertung GI: ich find# es eine gnadenlose XW: unmöglich # XW: j al # K& DURCHEINANDER # GI: Unverschämtheitsorry ich muss es rauslassenl ST: hmhm GI: das is- ** 9 „Informelle Hierarchie“ ist für die Kooperationsweise von Gruppen ein wichtiger Aspekt: „Alte Hasen“ haben beispielsweise auf Grund ihrer längeren Zugehörigkeit andere Beteiligungsmöglichkeiten als „Novizen“. Letztere müssen sich in vielen Fällen ihr volles Beteiligungsrecht erst noch erarbeiten. Von ihnen wird bei der Diskussion bestimmter Themen z.B. Zurückhaltung erwartet, da sie noch nicht über eigene Erfahrungen verfugen oder von den Folgen der Diskussion (noch) nicht betroffen sind. 10 Konkret besteht deren Aufgabe darin, die Berater mit den Tools „Pyramid Thinking“ und „Effective Presentation“ (PEP) vertraut zu machen. Beides sind wichtige Instrumente zur Textstrukturierung und zur Präsentation von Ergebnissen und gehören zu den Kemaufgaben der Editorinnen. Hierarchie in Arbeitsgruppen als stilbildender Aspekt 121 Zunächst markiert sie ihre persönliche Perspektive mit ich find es, bevor sie mit gnadenlose Unverschämtheit ihre Haltung zu der Dauer der vorgesehenen Ruhephase in deutlichen Worten zum Ausdruck bringt. Diese Bewertung modalisiert sie im Nachhinein mit einer eigenständigen Äußerung als legitimen Normverstoß sorry ich muss es rauslasseni, wobei die pragmatische Eigenständigkeit dieser Modalisierung nicht mit einer klaren äußerungsstrukturellen Zäsur (z.B. einer Pause) einher geht. Ihr Beitrag ist formulierungsdynamisch aus einem Guss, beide Segmente gehören zusammen. Die nachgeschobene Modalisierung besteht aus zwei unterschiedlichen Teilen: Mit sorry entschuldigt sie sich für die vorangehende Bewertung und gibt damit zu erkennen, dass sie etwas Entschuldigenswertes tut, einen Normverstoß begeht. Mit ich muss es rauslassen legitimiert sie genau dieses Verhalten." Unklar ist, wer Adressat dieser Bewertung ist, da niemand namentlich angesprochen wird. Unklar ist weiterhin, worauf sich das in Giselas Bewertung ich find es eine gnadenlose Unverschämtheit bezieht: auf die Kürze der Pause zwischen den beiden Editing-Einsätzen, auf den Aspekt der Wochenendarbeit? Insgesamt hat Giselas Äußerung den Charakter einer inszenierten Eruption. Gisela startet nach der Rückmeldung von Steffi (hmhm) mit das iseine weitere Äußerung, bricht diese jedoch ab. Dadurch entsteht eine kleine Pause. Dieser Expansionsverzicht ist hier durchaus funktional, da sie ihren Kolleginnen dadurch die Möglichkeit eröffnet (bzw. diese dazu auffordert), auf ihre Negativbewertung zu reagieren. 5.3 Reaktionen von Kolleginnen GI RO AN das is- ** was lieh frag mi=auch immer was die was I is da unverschämtt also ich versteh GI: |schau| RO: die ju/ | AN: irgendwie diel emotionalität nich so: - |so: - | Als erste Kollegin reagiert Anna, eine der beiden Novizinnen. Ihre Äußerung besteht aus zwei eigenständigen Teilen: zum einen aus der Nachfrage was is da unverschämte, zum anderen aus der mit dem Fazitindikator also eingeleiten interaktionsreflexiven Thematisierung ich versteh irgendwie die emotionalität nich so: -. Der zweite Teil, der im Gegensatz zum ersten nicht den In- 11 Solche legitimierenden Züge sind systematischer Bestandteil und konstitutive Voraussetzung für Forcieren als gesprächsrhetorisches Durchsetzungsverfahren (siehe Kallmeyer/ Schmitt 1996). 122 Reinhold Schmitt halt, sondern die Form der Äußerung (das Wie) betrifft, thematisiert die Modalität von Giselas Negativbewertung. Gisela beantwortet Annas Frage mit folgender Äußerung: schau schau dir mal samstag sonntag ani ** >in unserm editing teilK du hast=n halben samstag um dich zu erholen- und den sonntag vormittag netterweise auch noch- * und dann geht=s gleich wieder weiterl. Im Gegensatz zu ihrer emphatischen, mit Formulierungsdruck produzierten Bewertung ist Giselas Antwort auf Annas Frage neutral. Sie besteht, abgesehen von der kleinen Spitze netterweise auch noch, aus der Beschreibung dessen, was auf der Overheadfolie zu sehen ist. Gisela lässt die Folie für sich selbst sprechen und überlässt es Anna, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Wie der weitere Verlauf zeigt, kann sich Gisela auch beruhigt zurücklehnen, denn ihre Kolleginnen schlagen nun in die gleiche Kerbe. Mehrere Anwesende solidarisieren sich mit ihr und ziehen in Giselas Sinne Schlussfolgerungen. Gisela hält sich während dieser Solidarisierungssequenz jedoch nicht gänzlich zurück. Sie platziert eine kurze, abgebrochene und hochgradig interessante Äußerung, nämlich sorry silke in\/ . Nun wird Silke, die Chefin der Gruppe, explizit angesprochen. Nachträglich wird klar, dass Gisela ihr gegenüber die drastische Bewertung legitimiert hat. Silke reagiert nun auch mit also ich auf diese Anrede, denn sie ist Adressatin sowohl der Bewertung als auch der nachgeschobenen Legitimierung. 5.4 Reaktion der Chefin: Silkes Einstieg Während Giselas Bewertungen und in den nachfolgenden Solidarisierungssequenzen blickt Silke bewegungslos und ohne Blickkontakt mit Gisela vor sich hin. Am Ende von Annas Äußerung wendet sie sich einmal kurz ihr zu, um anschließend auf die Folienprojektion zu blicken, auf die Gisela verweist. Kurz bevor Silke mit ihrer längeren Ausführung beginnt, bringt sie sich jedoch in Position: Sie lehnt sich langsam zurück, atmet hörbar ein, schließt ihr Jacket, setzt sich aufrecht hin und reagiert dann wie folgt: RE: +also die party SI: I also ich! würd=s mal * es is es is schon hart RE: |is: | SI: es is wochenendarbeit aber das ham wir auch SI: vorher so gehandhabt dass man das auch abbummeln Hierarchie in Arbeitsgruppen als stilbildender Aspekt 123 SI: kann- * und wir sind auch in ländern | dingen <kulant> Gl: I >es is<I Silke übernimmt die Redegelegenheit mit der teilweise simultanen Eröffnung \also ich\ würd=s mal, führt diese Äußerung jedoch nicht weiter, sondern macht eine kurze Pause (*). Sie beendet diese Pause mit einem Neustart, bei dem sowohl die konjunktivische Formulierung, als auch der Verweis auf ihre eigene Sichtweise verschwunden sind. Dadurch gewinnt die neue Formulierung an Faktizität. Der erste Teil ihrer längeren Äußerung hat die Struktur einer Fokusopposition des Formats SCHON-ABER. 12 Der Einräumungsteil besteht aus zwei Segmenten, die die gleiche Struktur aufweisen „es ist X“, „es ist Y“. Durch diese Parallelisierung entsteht der Eindruck einer Aufzählung, so als würde Silke in dem einräumenden Fokusteil Argumente wiederholen, die Gisela zuvor gebracht hatte. Bei genauerem Hinsehen ist die Berücksichtigung von Giselas Kritik mehr formal und durch die Struktur der Äußerung suggeriert, als dass sie inhaltlich tatsächlich vorläge. Gisela hatte von einer gnadenlose(n) Unverschämtheit gesprochen, Silke macht daraus es is schon hart und modifiziert damit Giselas Bezugsäußerung in erkennbarer Weise. Giselas Beschwerde ist eine Reaktion auf eine zurückliegende Handlung eines Agenten (Handlungsbewertung) und verweist damit indirekt auf ein Konzept von „Schuld“ oder „Verantwortung“ für diese Handlung. Silkes Äußerung es is schon hart ist hingegen eine Qualitätsbeschreibung eines Zustandes. Ihre Äußerung nimmt also den Agenten aus dem Fokus und suspendiert damit auch die Frage der Verantwortlichkeit. Den zweiten Aspekt es is wochenendarbeit hatte Gisela explizit nicht angesprochen. Der einzige Zusammenhang zum Wochenende besteht darin, dass die Ruhephase auf dem Wochenende liegt. Deutlich ist, dass in Silkes Einräumung der evaluative Aspekt der Äußerung Giselas vollständig verschwunden ist. Während also der erste Teil als gleichsinnige Wiederholung von Giselas Argument verstanden werden kann, ist der zweite Teil eine thematische Verschiebung. Silke geht mit ihrer Eröffnung nicht direkt auf Giselas Kritikpunkt ein, sondern bringt selbst den neuen Aspekt „Wochenendarbeit“ ein. Dieser Aspekt ist gesprächsrhetorisch hochgradig funktional. Er stellt den argumentativen Bezugspunkt für den im ABER-Teil relevanzhochgestuften eigenen Fokus dar. Mit ihrer Äußerung aber das ham wir auch vorher so gehandhabt dass man das auch abbummeln kann- * und wir sind auch in \andern\ dingen <kulant> beschäftigt sie sich nun ausschließlich mit dem von ihr selbst eingebrachten neuen Aspekt. Diesen benutzt sie, um die Kulanz des Unternehmens nicht nur im Hinblick auf das Abbummeln von Wochenendarbeit, son- 12 Zu Fokusoppositionen siehe Kallmeyer/ Schmitt (1993). 124 Reinhold Schmitt dem ganz allgemein hervorzuheben. Silke begreift sich in dieser Situation selbst als Mitglied der Geschäftsleitung (wir sind auch in andern dingen kulant) und nicht als Mitglied der Editing-Gruppe. Gisela, die sich nicht über die Kulanz des Unternehmens beschwert hatte, wird durch die Struktur der Fokusopposition implizit als „undankbare Mitarbeiterin“ positioniert. Giselas Reaktion in Form des leise geäußerten \>es is<\ scheint dann auch ein zaghafter Versuch zu sein, auf diese implizite Positionierung 13 als „undankbare Mitarbeiterin“ zu reagieren. Danach zieht sie sich zurück und schaut unbewegt in ihre Unterlagen, in denen sie von Zeit zu Zeit einige Unterstreichungen vomimmt. Ihre Chance, sich als Sprecherin zu etablieren, wird jedoch auch durch eine spezielle Formulierungsdynamik in Silkes Äußerung verhindert: sie formuliert mit einer erhöhten Geschwindigkeit und einem gewissen Druck. Beides verdeutlicht, dass hier eine Äußerung entsteht, die auf Expansion angelegt ist und selbst für Rückmelder keine Gelegenheiten anbietet. SI: das is schon und mir is auch klar das macht man nich SI: so: irgendwie im vorbeigehn und es is sicherlich nich SI: nur spa: ßl * aber für die * bera”ter- * is es au''ch SI: harte arbeit aber es is eben auch als #incentive# K tBelohnung# SI: gedacht^ * und ich glaube auch als referentin- * Als strukturprägende Formative fungieren hier erneut Fokusoppositionen. Im Einräumungsteil bringt Silke wieder neue Aspekte ein. Diese modifizieren die in der Einräumung der Eröffnung getroffene Bewertung is schon hart, die noch nahe an Giselas Bewertung ist, zu macht man nich so: irgendwie im Vorbeigehen und es is sicherlich nich nur spa.ß, wobei v.a. in der letzten Formulierung nichts mehr von Giselas harter Negativbewertung übrig bleibt. Aus der gnadenlosen Unverschämtheit ist nun nich nur spa.ß geworden. Im relevanzhochgestuften Eigenfokus bringt sie dann die Berater ins Spiel, für die das Einführungsseminar durchgeführt wird. Nun wird den Editorinnen nahegelegt, die Perspektive der Berater zu übernehmen, für die es auch harte arbeit ist, für die das Seminar aber auch als incentive gedacht ist. Diese Aufforderung bleibt zwar implizit, wird aber durch das Anhängen dieser Äußerung an die Fokusopposition klar erkennbar gemacht. Silke bleibt weiterhin bei der Incentive-Orientierung und hebt nun die attraktiven Seminarorte hervor, an denen das alte Einführungsseminar durchgeführt wurde. 13 Zur sozialen Positionierung als gesprächsrhetorisches Verfahren siehe Wolf (1999). Hierarchie in Arbeitsgruppen als stilbildender Aspekt 125 SI : auch bei den SI: je"tzigen #pep#seminaren hatten wir auch K #ABK.# SI: attraktive seminarorte und es war immer SI: seh”r anstrengend aber es hat eben auch spaß SI: gemacht! ' also es inspiriert auches baut auch SI: aufi jede von uns geht ja ge"rne auf diese SI: seminare-i also das jetz nu: r als stress abzutun- SI: * Gl : das seh ich einfach nich I sol I Inich| Sie benutzt erneut eine Fokusopposition, deren oppositiver Charakter jedoch durch die konkrete Markierung der Einräumung verschwindet. Der Anschluss mit und behandelt die folgende Formulierung es war immer se “hr anstrengend formal als gleichsinnige Fortführung des Teiles mit den attraktiven Seminarorten. Faktisch ist er aber ein in seiner Bedeutung hierzu kontrastierender eigenständiger Teil der Einräumung der folgenden Fokusopposition. Im eigenen Fokus werden die positiven Aspekte der anstrengenden Situation formuliert und gestisch mit nach oben geöffneten flachen Händen, die vom Körper weg in Richtung auf den Tisch geführt werden, rhythmisch präsentiert: a) es hat auch spaß gemacht, b) es inspiriert auch, c) es baut auch auf. Diese drei positiven Aspekte werden durch eine vergleichbare Formulierungsstruktur „zusammengebunden“ und stärken sich so gegenseitig als Bestandteile einer prinzipiell erweiterbaren Liste positiver Aspekte. Dieser Teil hat durch die Rhythmisierung der Sprechweise, durch die Parallelisierung der Äußerungsstruktur und durch die gestische Unterstreichung offensichtlich einschwörenden Charakter. Die positive Bewertung der Seminare wird abschließend mit jede von uns gehtja ge“rne auf diese seminarei formuliert. Der Akzent auf ge“rne macht klar, worauf es ihr ankommt, nämlich die Freude und Bereitschaft, mit der jede von uns auf diese Seminare geht. Hier ist zum einen zu sehen, dass sich Silke nunmehr in das uns mit einschließt und sich so mit den Editorinnen solidarisiert. Zum anderen ist „auf Seminare gehen“ im konkreten Kontext eine ambivalente Äußerung, da man damit eher die Perspektive von Seminarteilnehmern, weniger jedoch die von Referenten beschreibt: Letztere „führen Seminare durch“ oder „halten Seminare“. 126 Reinhold Schmitt Die folgende Äußerung fasst Silkes vorangegangene Reaktion auf Giselas Bewertung insgesamt relativierend zusammen. Sie macht deutlich, dass sie Giselas einseitige Sichtweise (dasjetzt nu: r als stress abzutun-) nicht teilt. 5.5 Giselas Erwiderung SI: is |logisch | de/ Gl: nich nu: rl aber au”ch4- * | aber au"chti +und Gl: die die Seminare die wir bi”sher hatten die warn Gl: drei” tage und ich bin i''mmer nach den drei tagen SI : hmhm- GI: * erstmal völlig geschafft^ und des trotz Gl: obwohl ich es jetz seit zwei” jahren mache- GI: und ne ziemliche praxis habef * Gisela insistiert mit dem zweimaligen Kommentar nicht nu: rl aber au "chi * aber au “chi eher defensiv auf ihrer Sichtweise und kommt im Anschluss auf die von Silke so positiv bewerteten alten Einführungsseminare zu sprechen. Sie betont dabei, dass bereits die dreitägigen Einführungsseminare auch für sie als erfahrene Referentin anstrengend und mit Stress verbunden sind ich bin i“mmer nach den drei tagen * erstmal völlig geschaffti und des trotz obwohl ich es jetz seit zwei“ jahren mache- und ne ziemliche praxis habei. Aus dieser Schilderung kann man schließen, dass die von Silke unterstellte Freude an der Seminarteilnahme (die ja tatsächlich eine Seminardurchführung ist) von Gisela relativiert wird. Und man kann weiterhin schließen, dass die negativen Auswirkungen des neuen Einführungsseminars, das dreimal so lange dauern soll, v.a. für die weniger erfahrenen Editorinnen eine wesentlich größere Anstrengung sein wird. Dies wird aber nicht explizit formuliert, der interpretative Schluss wird vielmehr durch die beiden kontrastiven Akzente nahegelegt (bi“sher ... drei“ tage). Auf diese Äußerung Giselas reagiert Silke mehrmals mit einem Nicken und mit Zustimmung: SI: is auch |klar- | es is I echt | Gl: |und ich| |<und=ich>| mö”cht es Gl: einfach hier sagen könnend ** von daher- * SI: nee *3* entschuldigung giselaf das so”llst du Gl: +hmhml SI: auch sa|genf| *4,5* aber es is eben * ich Gl: |hm: -| Hierarchie in Arbeitsgruppen als stilbildender Aspekt 127 SI: seh einfach tro"tzdem dass es nich nur SI: ne fre''chheit is4- *3* Gisela fordert nachfolgend das Recht ein, es einfach hier sagen (zu) können, sprich: ihren Standpunkt und ihre Kritik offen zur Sprache bringen zu können, ohne dass ihr dadurch Nachteile irgendwelcher Art erwachsen. An der konkreten Formulierung fallt die vage Realisierung auf: es (was? ) sagen können. Diese Vagheit betrifft nicht den konkreten Bezug, dieser verweist klar auf die zurückliegende gnadenlose Unverschämtheit. Sie zeigt sich vielmehr in der konkreten sprachlichen Gestaltung dieses Bezuges, der durch den Verzieht auf eine explizite Kategorisierung ihres eigenen zurückliegenden Verhaltens (z.B. als „Beschwerde“, „Kritik“, „Frust“, „Widerstand“ o.Ä.) charakterisiert wird. Der Intonationsbogen sinkt deutlich am Ende ihrer Äußerung. Sie macht eine kleine Pause, die mit von daherbeendet wird, um dann erneut eine kürzere Pause zu machen. Hatte sie sich also zunächst zur Realisierung einer Äußerungsprojektion entschlossen, lässt sie diese Orientierung nach kurzer Zeit fallen. 5.6 Silkes Entschuldigung und letztes Wort Silke reagiert zunächst mit einem nee und macht dann selbst wieder eine Pause von drei Sekunden. Sie scheint abzuwarten, ob Gisela ihre Äußerung weiterführt. Als dies nach drei Sekunden nicht der Fall ist und Gisela lediglich mit dem Kopf nickt, ergreift Silke wieder das Wort. Sie entschuldigt sich bei Gisela und spricht diese dabei auch namentlich an entschuldigung giselai. Gisela reagiert unmittelbar auf diese Entschuldigung mit einem ratifizierenden hmhm. Silke gesteht Gisela das von ihr eingeforderte Recht zu, wobei die weitreichende Übernahme von Formulierungsmaterial aus Giselas voranstehenden Äußerungen auffällt. Silke ist hier sprachlich deutlich auf Gisela orientiert. Diese Orientierung an der Partneräußerung ist sehr weitgehend und beinhaltet sogar die Akzentwiederholung auf der zentralen Modalisierung (Gisela: mö“cht es ... sagen - Silke: so "list du auch sagen). Nach Silkes explizitem Zugeständnis entsteht eine sehr lange Pause von 4,5 Sekunden Dauer. Aufgrund der beziehungsindikativen Entwicklung der Diskussion kommen als Folgesprecherinnen nur Silke oder Gisela in Betracht. Beide warten zunächst darauf, ob sich die andere wieder als Sprecherin etabliert. Silke beendet dann die Pause, indem sie noch einmal ihre eigene Position formuliert. Sie beginnt dabei zunächst mit einer unpersönlichen Konstruktion aber es is eben, macht dann eine kurze Pause und startet dann mit einem Äußerungszuschnitt, der klar ihre persönliche Perspektive kenntlich macht (ich seh ein- 128 Reinhold Schmitt fach). Sie modifiziert ihre Aussage also vom Unmarkiert-Faktischen zum Perspektiviert-Persönlichen und schränkt damit deren Gültigkeit und Anspruch ein. Diese Korrektur trägt neben der langen Pause, die ihre Entschuldigung wahrnehmbar macht, auch dazu bei, diese authentisch und glaubhaft zu machen. Mit ihrer akzentuierten fre “chheit schlägt sie einen weiten Bogen zurück zu Giselas Negativbewertung Unverschämtheit. Nachdem Silke auf die beziehungsimplikative Qualität der zurückliegenden Diskussion mit ihrer Entschuldigung und dem expliziten Zugeständnis reagiert hat, behält sie in dieser Sache aber das letzte Wort. 14 Zunächst entsteht erneut eine längere Pause, die dann von Jasmin beendet wird, die in ihrem Beitrag beide Positionen zu vermitteln sucht. 5.7 Zusammenfassung der Ergebnisse Der Ausschnitt zeigt die Inszenierung einer negativen Evaluation einer Mitarbeiterin und wie die Gruppe damit umgeht: Der Großteil der Kolleginnen solidarisiert sich mit Gisela; Anna, eine Novizin, thematisiert jedoch die Emotionalität der Bewertung. Silke, die Chefin, trennt bei ihrer Reaktion klar ihre Orientierung auf die Sache (in der sie hart bleibt) von dem für die Dissensbearbeitung notwendigen Beziehungsmanagement (in dem sie nachgibt und sich explizit entschuldigt). Die Reaktion der Chefin wird weitgehend durch das formal-pragmatische Mittel der Fokusopposition strukturiert. In deren Einräumungen finden sich Aspektualisierungen, thematische Verschiebungen und selbst eingebrachte, neue Aspekte, die als argumentative Bezugspunkte für die eigene Position dienen. Silke bearbeitet den Kritikpunkt ihrer Mitarbeiterin schrittweise in aspektualisierter Weise, um damit ihre eigene Position zu stärken. Sie schwört ihre Mitarbeiterinnen ein und formuliert in diesem Zusammenhang teilweise auch in „euphemistischer“ Weise. Die Mitarbeiterin ihrerseits insistiert nicht auf der Behandlung ihrer Kritikpunkte, die sie zudem nicht konkret benennt. Abgesehen von ihrer emotionalen Negativevaluation formuliert sie teilweise implizit: Relevante interpretative Schlüsse werden nur angedeutet und kritische Sachverhalte werden zwar projiziert, aber nicht explizit formuliert. 14 Siehe auch den Beitrag von Spranz-Fogasy in diesem Band zum „letzten Wort“, der darunter jedoch nicht primär ein interaktionsstrukturelles Phänomen versteht, sondern eine grundsätzliche Entscheidungsorientierung als allgemeines Charakteristikum für Führungskräfte. Hierarchie in Arbeitsgruppen als stilbildender Aspekt 129 6. Stilistische Reinterpretation der Ergebnisse Bei der Beispielanalyse wurden erste Hinweise auf gruppenstilrelevante Beschreibungsdimensionen deutlich. Hierzu zählt die Modalität, die der gemeinsamen Kooperation zu Grunde liegt, das Verhältnis von Sachorientierung und Beziehungsmanagement sowie die Hierarchieorientierung, d.h. die Art und Weise sowie das Ausmaß der „Einpassung“ der interaktiven Beteiligungsweise in den Rahmen der formalen hierarchischen Ordnungsstruktur. In weiteren Analysen und Kontrastierungen muss die Bedeutung dieser Aspekte als relevante Beschreibungsebenen geprüft und neue Dimensionen müssen integriert werden. Erst dann kann auch die Frage geklärt werden, wie sich diese Aspekte zu einem Konzept von „Professionalität“ bzw. als „professionelles Selbstverständnis“ verhalten und ob letzteres dazu geeignet ist, diese verschiedenen Beschreibungsdimensionen auf einer höheren Ebene zu bündeln. Im Moment habe ich den Eindruck, dass „Professionalität“ als Konvergenzpunkt sehr unterschiedlicher Formen von Gruppensymbolisierung dienen kann. 15 6.1 Modalität der Kooperation Die Frage, welche Modalität der Kooperation und dem professionellen Selbstverständnis der Gruppe zu Grunde liegt, besitzt allgemeine Relevanz für die Beschreibung und Kontrastierung von Arbeitsgruppen insgesamt. Annas Bemerkung also ich versteh irgendwie die emotionalität mich so: - (vgl. Kap. 5.3) verweist auf den „normalen“ oder „eigentlichen“ Kooperationsstil der Gruppe, in Bezug auf den sie Giselas Verhalten als Auffälligkeit thematisiert. Das Interessante dabei ist, dass eine Entsprechung zwischen Giselas eigener Äußerungsmodalisierung (und der damit implizit realisierten Bearbeitung ihres Normverstoßes; Stichwort: sorry ich muss es rauslassen) und Annas Thematisierung vorliegt: Hier liefern also beide Seiten einen account für einen gruppenstilrelevanten Aspekt. Wie sich die Vorstellung von „Kooperationsmodalität“ zu Interaktionsmodalität im Konstitutionsmodell von Kallmeyer verhält, muss noch geklärt werden. 16 Im Moment konzentriert sich mein Interesse auf das Verhältnis von Modalitäten und der Bearbeitung bestimmter Kernaufgaben. Einige Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, sind folgende: In welcher Modalität bearbeiten die Gruppen sachbezogene Probleme, in welcher werden 15 Zumindest für die Editing-Gruppe spielt professionelles Selbstverständnis eine zentrale Rolle. Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass die Gruppe zur Klärung ihres Selbstverständnisses eigens einen Workshop einberufen hat. 16 Zum Konstitutionsmodell interaktiver Anforderungen siehe Kallmeyer/ Schütze (1976, 1977) sowie Kallmeyer (1978, 1985). 130 Reinhold Schmitt gruppendynamische oder persönliche Probleme behandelt? Gibt es im Vergleich der Gruppen typische Modalitätsverteilungen in der Art, dass Emotionalität bei der Klärung bestimmter Punkte in der einen Gruppe zugelassen, in der anderen eher ausgeschlossen ist? Lassen sich also gruppenspezifische Modalitätsreliefs rekonstruieren oder sind diesbezüglich keine Unterschiede vorhanden? 6.2 Sachorientierung und Beziehungsmanagement Gleiches gilt auch für das Verhältnis von Sachorientierung und Beziehungsmanagement. Das Verhalten sowohl der Chefin, als auch der Mitarbeiterin wird weitgehend durch eine Orientierung auf die Sache bei gleichzeitigem engagierten Beziehungsmanagement bestimmt. Dieses Verhältnis in einer funktionalen Balance zu halten, ist eine kontinuierlich zu leistende Aufgabe aller Gruppen. 17 Besonders in konfliktären Situationen (beispielsweise bei harten Auseinandersetzungen in der Sache) zeigt sich in der Art und Weise, in der die Gruppe durch Beziehungsarbeit ihre Arbeitsfähigkeit zu erhalten sucht, ein weiterer Hinweis auf ihren Kooperationsstil. 6.3 Hierarchieorientierung Der analysierte Ausschnitt zeigt eine deutliche Entsprechung in der interaktiven Beteiligungsweise von Silke und Gisela, die sich auf deren formale hierarchische Positionen beziehen lässt: Die Chefin argumentiert offensiv und thematisch steuernd, die Mitarbeiterin hingegen defensiv und deskriptiv. Ausdruck der offensiven Argumentationsweise der Chefin sind vor allem die thematische Steuerung durch Aspektualisierung bei der Partnerberücksichtigung, die implizite Fremdpositionierung als „undankbare Mitarbeiterin“ und die entsprechende Selbstpositionierung als Vertreterin des Unternehmens, das Postulieren gemeinsamer Bewertungen und Haltungen („einschwören“) sowie eine professionelle Flexibilität im Verhältnis von Sachorientierung und Beziehungsmanagement. Ausdruck der defensiven Argumentationsweise der Mitarbeiterin sind die inszenierte Entrüstung und die damit verbundene Solidarisierungsaufforderung, die explizite Thematisierung eines „Normverstoßes“ als nachträgliche Legitimation des eigenen Verhaltens, das vorsichtige Insistieren, das implizite Formulieren von Sachverhalten und das Nahelegen interpretativer Schlüsse, der Verweis auf eigene Erfahrung und der Einsatz von Sachverhaltsdarstel- 17 Vgl. hierzu auch die Arbeit von Poro (1999). Hierarchie in Arbeitsgruppen als stilbildender Aspekt 131 lungen als dominante Argumentationshilfe („Fakten für sich sprechen lassen“), wodurch explizite eigene Bewertungen vermieden werden können. 7. Asymmetrie als interaktiver Ausdruck von Hierarchie Ich sehe in dem korrespondierenden Verhalten der Chefin und der Mitarbeiterin den interaktiven Ausdruck von Asymmetrie und damit auch im weiteren Sinne einen Verweis auf die Relevanz von Hierarchie für den Kooperationsstil der Gruppe. Die Asymmetrie zeigt sich als ein Ungleichgewicht im Einsatz interaktiver, gesprächsrhetorischer und wissensspezifischer Ressourcen. Dies führt zu einem strukturellen Ungleichgewicht in den Handlungs- und Durchsetzungsmöglichkeiten von Hierarchiehöheren und Hierarchieniederen. 18 Das interaktive Verhalten im Rahmen hierarchischer Strukturen betrachte ich als habituell und rechne es damit zunächst primär den Gruppenmitgliedern zu. Ich verstehe es nicht automatisch und zwangsläufig als kausale Folge der formalen hierarchischen Struktur, sondern vielmehr als Interpretation und Beitrag aller Gruppenmitglieder zur Konstitution und Ausgestaltung dieser formalen Ordnungsstruktur. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen können auf ganz allgemeine, im Laufe der Berufskarriere einsozialisierte Erfahrungen reagieren. Ihr Verhalten muss nicht zwangsläufig, obwohl sie sich im Rahmen fallspezifischer Bedingungen bewegen, tatsächlich durch diese bedingt sein. Wenn Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen darauf verzichten, die durch die formale Ordnungsstruktur faktisch gesetzten Grenzen durch und für das eigene interaktive Verhalten auszuloten, werden sie die vorhandenen Spielräume nicht kennenlemen und folglich auch nicht für sich selbst nutzen können. Das kann durchaus ein Nachteil für die Gruppe insgesamt sein. Bricht der Habitus (z.B. in Zeiten strukturellen Wandels oder durch die Integration neuer Mitglieder) jedoch auf, dann sind im Rahmen der gleichen Ordnungsstruktur auch andere Verhaltensweisen möglich. Es können neue Spielräume für die konkrete Ausgestaltung der eigenen Beteiligungsrolle ausgehandelt werden, 18 Dass Chefin und Mitarbeiterin auf der Grundlage einer strukturellen Asymmetrie miteinander interagieren, die sich beispielsweise darin zeigt, dass die Mitarbeiterin bestimmte Dinge unterlässt, die die Chefin fraglos realisieren kann, ist gleichermaßen banal wie methodologisch implikativ. Versucht man kontextspezifisches Interaktionsverhalten als Manifestation von Asymmetrie zu beschreiben, muss man z.B. auf Seiten der Hierarchieniederen den für Asymmetrie konstitutiven Verzicht auf den Einsatz bestimmter Ressourcen analytisch fassen und gehaltvoll beschreiben: Ist eine Reaktion auf Grund der Hierarchieorientierung ausgeblieben oder aus anderen Gründen? In Bezug auf die Chefin hingegen muss man die Frage beantworten, wie man von einzelnen sprachlich-interaktiven Aspekten zu kategoriengebundenen Aktivitäten gelangt, ohne subsumtionslogisch alles in die Kiste mit dem Kategorienaufkleber „Chefin“ zu packen. 132 Reinhold Schmitt die die bislang gemeinsam konstituierte Form von Asymmetrie in ihrer interaktiven Gestalt verändern, ohne dass damit die formale Ordnungsstruktur tangiert wird. Der faktische Umgang mit Hierarchie und die Formen der Asymmetrie in den interaktiven Beteiligungsweisen sind Aushandlungssache. Dabei kann es verkommen, dass beide Seiten (sowohl Vorgesetzte als auch Untergebene) darauf warten, dass die jeweils andere Seite zur Veränderung der bislang vorherrschenden Interpretation von Hierarchie den ersten Schritt macht, wodurch der ebenfalls von beiden Seiten als hinderlich empfundene Status Quo weiterhin erhalten bleibt. So berichtet Silke, die Chefin, anlässlich einer gemeinsamen Analysesitzung, dass es bei der Einführung einer neuen Ordnungsstruktur in der Gruppe (es gibt jetzt zwei Koordinatorinnen, die einen Teil der Führungsaufgaben übernehmen) zu einer Diskussion kam, bei der es intensiv um die Frage ging „ob die Kolleginnen sich die Kompetenzen genommen haben, die sie aus meiner Sicht hätten haben können“. 8. Schlussbemerkung In meinem ethnomethodologischen Verständnis liegt der relevante gruppenstilistische Befund nicht im Einsatz der oben beschriebenen gesprächsrhetorischen Verfahren der Chefin und der Mitarbeiterin. Die Bündelung der beschriebenen allgemeinen gesprächsrhetorischen Verfahren verweist noch nicht auf eine gruppenstilistische Spezifik. Auf dieser Beschreibungsebene kommen vielmehr allgemeine Verfahren in den Blick, die in typischer Weise in Alltagsdiskussionen und Auseinandersetzungen auch von Interaktionsbeteiligten zur Anwendung gelangen, die nicht den Status „Chefin“ und „Mitarbeiterin“ haben. Der relevante gruppenstilistische Aspekt ist vielmehr die spezifische Entsprechung der Beteiligungsweisen von Chefin und Mitarbeiterin, die zusammen eine Form von Asymmetrie konstituieren, die die Kooperationsweise der Gruppe prägt. Die spezifische Ausformung der Asymmetrie ist kontextsensitiv, d.h., sie muss nicht zwangsläufig so aussehen, wie das im analysierten Beispiel der Fall ist, wo der Kontext durch eine kooperationsirritierende Auseinandersetzung geprägt ist. Asymmetrie ist vielmehr ein dynamisches Konzept, das je nach konkretem Rahmen und abhängig von den jeweils aktuellen Kemanforderungen kontextspezifisch hergestellt wird. Aus sozialstilistischer Sicht ist nicht interessant, dass sich Hierarchie in asymmetrisch verteilten Handlungsmöglichkeiten zeigt. Wichtig ist vielmehr die Frage nach den spezifischen Formen interaktiver Beteiligung, mit denen die Gruppen die aus der objektiv gegebenen Hierarchie resultierende asym- Hierarchie in Arbeitsgruppen als stilbildender Aspekt 133 metrische Grundlage ihrer Kooperation ausgestalten und die den Gruppenstil konstituieren. Auf diese Frage geben Gruppen in Auseinandersetzung mit den für sie geltenden allgemeinen Arbeitsbedingungen durchaus unterschiedliche Antworten. 9. Literatur Auer, Peter (1986): Kontextualisierung. In: Studium Linguistik 19, S. 22-47. Bilmes, Jack (1988): The concept of preference in conversation analysis. In: Language in Society 17, S. 161-181. Boyle, Ronald (2000): Whatever happened to preference organization? In: Journal of Pragmatics 32, S. 583-604. Fiehler, Reinhard (1997): Kommunikation im Alter und ihre sprachwissenschaftliche Analyse. 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Die schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin Heide Simonis formuliert das in der interessanten Langzeitstudie der Fotografin Herlinde Koelbl als ein häufiges Problem von Frauen in Führungspositionen: „Frauen“, sagt sie dort, „können nachts nicht so lange rumsitzen und miteinander saufen. Ich kann das schon relativ gut, aber selbst ich sage mir irgendwann: Wie siehst du morgen wieder aus. Oh Gott, geh' jetzt lieber ins Bett! Männer haben solche Schwierigkeiten offensichtlich überhaupt nicht, und deswegen sind wir Frauen dann in den entscheidenden Momenten, wenn das Letzte ausgeklüngelt wird, nicht dabei...“ (Koelbl 1999, S. 217) Mittlerweile können offensichtlich doch immer mehr Frauen auch „saufen“, wie Simonis das ausdrückt, es gibt immer mehr Frauen in Führungspositionen. Aber Heide Simonis hat Recht in der Sache: dann, wenn die Entscheidungen getroffen werden, muss man und müssen vor allem Führungskräfte präsent sein nach den bisherigen Eindrücken der Untersuchung des kommunikativen Alltagshandelns von Führungskräften kann geradezu gesagt 1 Dieser Beitrag basiert auf drei Vorträgen, die im Februar 2000 auf der 4. Arbeitstagung Linguistische Pragmatik in Marburg und im März 2000 auf der 6. Freiburger Arbeitstagung „Neuere Entwicklungen in der Gesprächsforschung“ sowie an der Staatlichen Moskauer Lomonossow Universität gehalten wurden. Ich danke den Teilnehmern für wertvolle Hinweise. Ebenso danke ich meinen Kolleginnen und Kollegen der Abteilung Pragmatik des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim, namentlich Inken Keim, Reinhard Fiehler, Reinhold Schmitt und Wilfried Schütte für ihre ausführliche konstruktive Kritik. 138 Thomas Spranz-Fogasy werden: Führungskraft wird nur, wer regelmäßig Schlussentscheidungen trifft, wer also, und das ist der Titel dieses Beitrags, „das letzte Wort“ hat. Die Untersuchung des kommunikativen Handelns gesellschaftlicher Führungskräfte steht im Zusammenhang des Forschungsprojekts zur „Kommunikativen sozialen Stilistik des Deutschen“, das unter der Leitung von Werner Kallmeyer am Institut für Deutsche Sprache durchgeführt wird. In diesem Projekt geht es, grob gesagt, darum, Phänomene und Funktionen kommunikativer sozialer Stile in wichtigen Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens in Deutschland zu beschreiben und ihre Bedeutung für die soziale Identität von Gesellschaftsmitgliedem, für Prozesse der Integration, Differenzierung, Distanzierung und Ausgrenzung herauszuarbeiten. Bedeutsame Dimensionen sind dabei Arbeitsleben, Freizeithandeln, Lebensalter, Öffentlichkeit, Privatheit, neue Medien oder Herkunftskultur - und eben auch die vertikale Dimension der Gesellschaft. In dieser vertikalen Dimension sind in der Linguistik bzw. Soziolinguistik bislang fast ausschließlich „die kleinen Leute“ oder mittlere Schichten untersucht worden, gehobene Schichten und Führungskräfte fast gar nicht und jedenfalls nicht in stilanalytischer Hinsicht. 2 Gründe dafür liegen u.a. auch im Problem der Zugänglichkeit: Gerade solche Gesellschaftskreise wissen sich mit zugegeben guten Gründen 3 abzuschotten. Die Seltenheit der Untersuchung gesellschaftlicher Führungskräfte ist ein Motiv, es gibt aber auch einen weiteren, sachbezogenen Grund dafür, kommunikatives Handeln dieser Zielgruppe zu untersuchen: Gesellschaftliche Führungskräfte müssen kommunizieren können, sie sind in ein umfangreiches und außerordentlich komplexes Netzwerk eingebunden, das sie ständig aufrechterhalten und aktualisieren müssen. Kommunikation ist damit das zentrale Charakteristikum im Alltag solcher Personen. Neben fachlicher Kompetenz ist es so v.a. die kommunikative Kompetenz, die von Führungskräften gefordert wird. Im Folgenden wird zunächst die Forschungslandschaft dargestellt, auf die die Untersuchung trifft (2.). In einem zweiten Schritt wird das ethnografisch angelegte Untersuchungsvorgehen erläutert (3.). Danach werden überblicksartig 2 Eine Ausnahme bildet neuerdings Hollys Analyse des „gehobenen Stils“ am Beispiel des Notizbuchs des Journalisten Johannes Gross (Holly 1999). Allerdings geht es Gross m.E. eher um den Versuch der Selbststilisierung der Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Schicht, die zudem durch die mediale Funktionalisierung als regelmäßige Zeitungskolumne „verbildet“ ist. Gründe liegen bspw. in der notwendigen Vertraulichkeit ihres Kommunikationshandelns oder in häufigen Anfragen für Beobachtungen, v.a. seitens Journalisten, aber auch Wissenschaftlern; solche Anfragen kommen wöchentlich und z.T. noch häufiger. Das letzte Wort 139 erste linguistisch-gesprächsanalytische Beobachtungen präsentiert (4.) und schließlich werden zur Illustration der analytischen Zugangsweise beispielhaft zwei Studien vorgestellt, die sich einmal einzelfallanalytisch mit der Kontroll- und Steuerungstätigkeit von Führungskräften zu Gesprächsbeginn (5.) und zum anderen in typologischer Weise mit einer kurzen Skizze ihres interaktiven Entscheidungshandelns, mit dem „letzten Wort“, befassen (6.). 2. Forschungsstand Unmittelbar auf Führungskräfte bezogene Untersuchungen gibt es in der Linguistik bis dato nicht. Soziolinguistik und bisherige Stilforschung spiegeln einen allgemeinen gesellschaftswissenschaftlichen Unterbzw. Mittelschichtbias wider. Lediglich Hollys Analyse der Politikersprache (Holly 1990) und verschiedene Arbeiten zur Kommunikation von Politikern oder anderen gesellschaftlichen Führungskräften lassen sich gegen den Strich der originären Untersuchungsinteressen auf kommunikationstypische und kommunikationsstilistische Fragestellungen hin auswerten (bspw. Atkinson 1984, Klein 1989, Kindt 1995, Diekmannshenke/ Klein 1996, Harras 1999; weitere Literatur in Holly 1990). In den genannten Arbeiten selbst sind die Analysen von Interaktions- und Argumentationsmustem, von institutioneilen Einbindungen und Zwängen, kommunikativer Aufgabenvielfalt, besonderer Interaktionstypik und spezifischer Handlungsfunktionalität von Interesse. Führungskraft-bezogene Forschung gibt es hingegen in anderen gesellschaftswissenschaftlichen Bereichen, der Politologie, der Soziologie und der Geschichtswissenschaft. 4 In der Politologie gibt es eine lange Tradition der Eliteforschung (zusammenfassend Endruweit 1997). Hier gibt es eine Reihe umfangreicher Studien (zuletzt Bürklin und Mitarbeiter in Fortführung der Arbeiten von Wildenmann, Kaase u.a.; Lit. dazu s. Bürklin et al. 1997), die zusammengenommen auch als Längsschnitt der Entwicklung gesellschaftlicher Eliten in der BRD nach dem 2. Weltkrieg gesehen werden können. Die empirischen Untersuchungen der politologischen Forschung sind dabei v.a. Umfrage- und interviewgestützt. Ausgangspunkt ist i.d.R. der sog. Funktionsbzw. Positionsansatz, also die Bestimmung institutionell gebundener Führungspositionen, da sowohl Herkunfts- und Entscheidungs-, wie auch Werte- und Verdienstansatz eine Reihe theoretischer und methodischer Pro- 4 Die umfangreiche und vielfältige Literatur zu Management- und Führungstraining bzw. zu Führungsstilen kann nicht als empirisch fundierte Grundlage herangezogen werden, da sie im Wesentlichen auf eher makroanalytischen arbeits- und organisationspsychologischen und -soziologischen Voraussetzungen beruht. Auf dieser Grundlage werden Führungsstile und Handlungsbzw. Kommunikationsanweisungen hergeleitet, die aber i.d.R. nur postuliert werden, ohne in einem tatsächlichen Kommunikationszusammenhang erforscht worden zu sein. 140 Thomas Spranz-Fogasy bleme für eine repräsentative Auswahl aufwerfen. 5 Institutionen werden hierbei auf ihre Funktion im Rahmen der Gesellschaft der BRD hin bewertet. Die derzeit aktuelle politologische Definition der nationalen Elite bezieht sich dann unter Berücksichtigung der institutionellen Funktion auf drei Hauptmerkmale: die spezielle, regelmäßige und nachdrückliche Beeinflussung nationaler Politik (Bürklin et ah, S. 35 u.a.). Die politologische Forschung differenziert die gegenwärtige Gesellschaft nach Sektoren. Relevante Sektoren sind danach u.a. Politik, Verwaltung, Justiz, Wirtschaft/ Finanzwirtschaft, Verbände (Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften, Berufsverbände, kommunale Spitzenverbände, Umwelt-ZVerbraucherschutzverbände, EU-Verbände etc.), Medien, Wissenschaft, Kultur, Kirche, Militär und Vereine usw. Innerhalb dieser Sektoren und zwischen diesen werden Faktoren untersucht wie Geschlossenheit bzw. Offenheit, Herkunft, Aufstiegswege, Zirkulation, konsensuelle Integration der Eliten (horizontale Integration), Integrationskraft für die Gesellschaft, Kontaktmuster und Netzwerke, Integration und Segmentation, politische Einstellungen, Wertorientierungen, Problemwahmehmung, Autonomie und Kooperationspotenzial usw. Andere Untersuchungsinteressen im Rahmen der Eliteforschung hat die Soziologie. Nachdem sie sich in Folge des in der Nazizeit pervertierten Elitegedankens lange Zeit scheute, einen konzeptionellen Zugang weiter zu entwickeln, schloss sie sich der angelsächsischen Tradition an, die Elite als wertfreie soziologische Kategorie fasst. Dabei interessiert sie sich dann für die Sozialstruktur einer Gesellschaft, für die Bedingungen des Erhalts und der Veränderung der Sozialstruktur, für Normenbildung und -tradierung und für die Funktion von Eliten im Rahmen der Kultursoziologie. 6 Neuere soziologische Forschung zu sozialer Ungleichheit 7 untersucht Lebenslagen, Lebensläufe und Lebensstile, kaum jedoch mit Blick auf die Führungsschicht der Gesellschaft. Und schließlich hat sich auch die Geschichtswissenschaft mit diesem Gegenstand befasst. Eliten kommen dieser Forschung ohnedies zentral in den Blick, weil lange Zeit hauptsächlich von diesen untersuchungsrelevantes Material vorlag und Historiografie sich als Personen- und Gruppengeschichte bezogen auf zentrale machtpolitische Positionen am günstigsten entfalten ließ. Im Zuge der Entwicklung von Sozial- und Kulturgeschichte werden dann auch gesellschaftliche Entwicklungen und Auseinandersetzungen beobachtbar, bei denen Ungleichverhältnisse als Motor historiografisch relevanter Ereignisse angesehen werden. Vgl. Bürklin et al. (1997), S. 15ff. 6 Vgl. Boudon/ Bourricaud (1992). 7 Vgl. bspw. Kreckel (1983) oder Berger/ Hradil (1990). Das letzte Wort 141 In allen genannten Disziplinen werden makroskopisch gesellschaftliche Faktoren untersucht. Die Analyse konkreter Kommunikation von Führungskräften wird jedoch allenfalls in ihren institutioneilen Bezügen vorgenommen (also wer mit wem), nicht aber in ihrer konstitutiven Funktion für das Erreichen und den Erhalt von Führungspositionen. 8 Ganz anders positioniert als die gegenstandsbezogene Forschung ist in der (Sozio-)Linguistik die stilanalytische Forschung. Dort gibt es eine Reihe von Untersuchungen und Ansätzen, die hier nicht einmal ansatzweise referiert werden können. Es soll daher nur ein grober Umriss der Voraussetzungen und Forschungsbezüge gegeben werden, die die Untersuchung anleiten. Als Grundlage der stilorientierten Untersuchungen dienen Ansätze, die mit Gesprächsaufzeichnungen aus natürlichen Kommunikationssituationen arbeiten. Hier sind in erster Linie die Arbeiten der interaktionalen Stilistik zu nennen (Hinnenkamp/ Selting 1989, Selting 1995 und 1997, Sandig 1986 und 1995, Jakobs/ Rothkegel 2001). Darin werden die interaktionstheoretischen Überlegungen Meads (1934), Schütz' (1974), Garfinkeis (1967) und Goffmanns (1967) sowie der Kontextualisierungsansatz von Gumperz (1982) zu integrieren gesucht (s. auch Auer 1986 und Schmitt 1993). Des Weiteren werden auch gesprächsanalytische Untersuchungen zu Formen der Selbstdarstellung (im Überblick s. Spiegel/ Spranz-Fogasy 1999) sowie zu personbezogenen Interaktionsprofilen einbezogen (Spranz-Fogasy 1997). In Bezug auf die Analyse sozialer Welten finden sich in den Analysen zur „kommunikativen sozialen Stilistik“ im Rahmen des Forschungsprojekts „Kommunikation in der Stadt“ (Kallmeyer 1994 und 1995, Keim 1995, Schwitalla 1995, Keim/ Schwitalla 1989) Anknüpfungspunkte in theoretischer, konzeptioneller und methodischer Hinsicht. Für die konkrete Untersuchung des sprachlich-kommunikativen Stils gesellschaftlicher Führungskräfte ergibt sich aus den dargestellten Anknüpfungspunkten der Forschung die Annahme, dass sich Stil im Gesamt der sprachlichen und nichtsprachlichen sowie der interaktiven Ausdrucksmittel realisiert, also bezogen auf die sprachlichen Ausdrucksmittel auf phonologischer, lexi- 8 Auch in der Literatur zu Management und Führung sind nur die vermeintlich zentralen Gesprächstypen und Kommunikationspartner erfasst (wie Personalgespräch, Planungsgespräch etc.), die alltägliche Kommunikation, in die diese Ereignisse aber eingebettet sind, in denen sie vorbereitet, begleitet und nachbereitet werden, werden weitgehend ignoriert (s. Breisig 1990, Neuberger 1984, v. Rosenstiel et al. 1991). Die organisationspsychologische bzw. betriebswirtschaftliche Forschung bezieht sich darüber hinaus auch weitgehend nur auf die innerbetriebliche Kommunikation in Wirtschaftsunternehmen und ggf. Verwaltung, nicht aber auf interinstitutionelle Kommunikation oder auf andere gesellschaftliche Sektoren. 9 Dies geschieht teilweise unter Bezug auf einen Forschungsantrag von Kallmeyer/ Schmitt (1999); s. auch Schmitt (in diesem Band). 142 Thomas Spranz-Fogasy kalischer und grammatischer Ebene, bezogen auf nichtsprachliche Ausdrucksmittel in der Gestik, Mimik, Kinesik und Proxemik und bezogen auf interaktive Ausdrucksmittel im tum taking, den Regeln des Sprechens, der Organisation thematischer und handlungsbezogener Relevanzen sowie den Verfahren der sozialen Kategorisierung etc. Stil bezeichnet dann die ganzheitliche, rekurrente und systematische Kombination unterschiedlicher Ausdrucksformen auf den verschiedenen Ebenen. Die Untersuchungen kommunikativen Handelns werden eingebettet in bzw. bezogen auf ethnografische Erhebungen zum beruflich-kommunikativen Netzwerk, in denen typische Interaktionsformen ermittelt werden, Typen von Interaktionspartnem, Tagesabläufe und solche Gespräche erhoben werden, die im natürlichen Alltag von Führungskräften häufig Vorkommen (Genaueres s.u.). Die darauf bezogenen Stilanalysen zielen auf drei Vergleichsdimensionen. (1) In allgemeinster Hinsicht zielen sie auf generelle stilistische Eigenschaften gesellschaftlicher Führungskräfte im Vergleich zu anderen sozialen Welten (z.B. der „kleinen Leute“, s. Keim 1995; oder im Vergleich zu den in den anderen Teilprojekten der „Kommunikativen sozialen Stilistik des Deutschen“ untersuchten Gruppen wie Jugendliche, Menschen der älteren Generation, Arbeitsgruppen, durch die Herkunftskultur geprägte Gruppen usw.). (2) In Hinsicht auf die innere Differenzierung der Gmppe gesellschaftlicher Führungskräfte zielen die Analysen dann auf sektorenspezifische stilistische Unterschiede, ob also Politiker andere stilistische Eigenschaften realisieren als bspw. Unternehmer, Wissenschaftler oder Kirchenrepräsentanten. (3) Und schließlich werden auch individuelle stilistische Eigenschaften gesellschaftlicher Führungskräfte erfasst, weil gerade die Demonstration von Individualität bzw. die Abhebung von Anderen die Aufnahme in Führungspositionen ermöglicht. (Individualität ist insofern aber wiederum auch ein generelles Merkmal gesellschaftlicher Führungskräfte.) 3. Die Vorgehensweise Der Vorgehensweise dieser Untersuchung liegt ein ethnografischer Ansatz zu Grunde. Diese Forschungsstrategie richtet sich darauf, Interaktionsereignisse in ihren natürlichen Kontexten zu erfassen. Sie beruht auf den zentralen Annahmen qualitativer Methodologie, wie sie zunächst in der Anthropologie bzw. Ethnologie und der Soziologie entwickelt wurde und in der Linguistik v.a. in der Soziolinguistik und der Ethnografie der Kommunikation verwandt wurde. Einen Überblick über diese Forschungsstrategie geben Spranz- Fogasy/ Deppermann (2001). Die Vorgehensweise ist darauf angelegt, die Typizität von Kommunikationsereignissen, Handlungsweisen und Ereignisverläufen zu erfassen. Fallanalytisch werden kommunikative Netzwerke untersucht und weitestgehend alle Das letzte Wort 143 Typen von Kommunikationssituationen und Typen von Partnerkonstellationen ermittelt, und es werden Gespräche aufgezeichnet, die die Kommunikationscharakteristik der einzelnen Führungskraft soweit wie möglich abdecken. Das Vorgehen erfolgt in mehreren Schritten, die in einer heuristischen Vorphase entwickelt wurden. (1) In einem ersten Schritt werden Informationen über die jeweils ausgewählte Person erhoben, die öffentlich verfügbar sind (z.B. im Internet, in der Presse oder in den Funkmedien). (2) Die Führungskraft wird dann angeschrieben und um ihre Teilnahme gebeten. (3) Bei Zustimmung zur Beobachtung wird die Führungskraft an einem ausgewählten, der Alltagsnormalität nahe kommenden Arbeitstag beobachtet; dabei werden alle Vorgänge in ihren kommunikativen Eigenschaften protokollarisch erfasst. (4) Als weiterer Schritt erfolgen dann Kalenderanalysen mit Sekretariatspersonen über mindestens einen Monat (mit dem Beobachtungstag im untersuchten Zeitraum); darüberhinaus werden institutioneile Bindungen, periodische Ereignisse und kommunikative Besonderheiten nach innen und nach außen erfragt. (5) In der Auswertung der bisherigen Erhebungen werden Schlüsselsituationen ermittelt und (6) aufgezeichnet. 10 (7) Schließlich werden Unklarheiten der bisherigen Erhebung, Biografisches zur Person sowie die kommunikationsbezogenen Vorstellungen und die Selbstwahrnehmung der Führungskraft noch durch ein Interview zu ermitteln gesucht. Auf der Grundlage dieser ethnografischen Erhebungen erfolgt dann die Rekonstruktion allgemeiner kommunikativer Anforderungen, die gesellschaftliche Führungskräfte in Ihrem Führungshandeln bearbeiten müssen. Diese Anforderungen stellen den Vergleichsmaßstab für die stilanalytischen Untersuchungen dar, die durch den Vergleich in einem begrenzten Sample abgesichert werden. 10 Die Zugänglichkeit solcher Schlüsselsituationen stellt ein erhebliches Problem dar. V.a. Hintergrundgespräche, in denen Rahmenbedingungen von Entscheidungen vorbereitet, kollusive Absprachen vorgenommen oder Einflussnahmen verhandelt werden usw., können nicht aufgezeichnet werden, weil ihnen damit ihr eigentlicher Charakter von Vertraulichkeit genommen wird oft werden über solche Gespräche nicht einmal Aktennotizen angefertigt geschweige denn weitergehende Dokumentationsformen. (Ein eigener Untersuchungsgegenstand sind aber dann die Phänomene der Vertraulichkeitssicherung und der Abschottung solcher Gespräche als off record. Bei bisher jeder teilnehmenden Beobachtung ist mindestens ein solches Gespräch erfolgt und konnte wenigstens mitgehört werden.) Ein weiteres besonderes Problem der Datenerhebung stellt die Mobilität von Führungskräften dar. Diese sind i.d.R. regional, meist bundesweit und oft auch international tätig. Eine Begleitung auch außerhalb der Heimatinstitution wäre aber deshalb von Bedeutung, weil sich das kommunikative Handeln auf eigenem Territorium i.d.R. von dem unterscheidet, wenn Verhandlungen auf neutralem oder gar fremdem Boden stattfmden oder auch, wenn in einer anderen Sprache oder Kultur verhandelt werden muss. 144 Thomas Spranz-Fogasy 4. Erste Befunde: Mittel der Situationskontrolle Führungskräfte sind in ihrem Alltag mit einer Fülle von kommunikationsbezogenen Aufgaben konfrontiert: Informationen müssen aufgenommen und weitergeleitet werden, Entscheidungen müssen geplant, strategisch abgesichert und umgesetzt werden, die institutionellen Geschäfte müssen überwacht und gesteuert werden, die Institution muss nach außen repräsentiert werden usw. Die Erfüllung all dieser Aufgaben macht ein weitgespanntes und hochkomplexes soziales Netzwerk erforderlich, in dem Führungskräfte kommunizieren müssen, das es herzustellen, aufrechtzuerhalten und zu aktualisieren gilt. Es müssen, auf allen medialen Kanälen (face-to-face, Telefon, Brief, Fax, Email etc.), vorgeordnete Personen oder Gremien, Personen mit Einflussmöglichkeiten auf relevante Institutionen, gleichgestellte Kollegen, interne Mitarbeiter, externe Berater, Medien u.v.a.m. kontaktiert werden. Allein schon die Fülle dieser Aufgaben und Kontakterfordernisse zwingt Fühmngskräfte dazu, die jeweils gegebenen Anforderungen handlungsorganisatorisch und zeitlich effektiv zu bewältigen. Diese Notwendigkeit, effektiv zu handeln, erklärt einige Phänomenbefunde, die sich bei teilnehmender Beobachtung des kommunikativen Handelns von Führungskräften und bei der Analyse von Gesprächen ergeben haben: Führungskräfte sprechen häufig knapp, dezidiert assertorisch und direktiv, gelegentlich informationsheischend interrogativ. Es finden sich kaum Verzögerungssignale, und sie verwenden vielfach einen elaborierten Wortschatz und klare, syntakisch der Schriftsprache angenäherte Konstruktionen, auch in komplexen Äußerungen. Sie markieren sachliche und kommunikativhandlungsorganisatorische Relevanzen, und sie richten sich danach bzw. fordern ihre Interaktionspartner oft explizit dazu auf. Und sie sind aktiv, was die Initiierung von Gesprächen und ihre Beendigung anbelangt. Andere Befunde bleiben dagegen erst einmal unverständlich, wenn man sie am oberflächlichen Kriterium der Effektivität misst. In manchen Zusammenhängen sprechen Führungskräfte bspw. nicht sachlich-präzis, sondern eher vage, unverbindlich und gelegentlich stereotyp. Dies ist z.B. in den weniger verpflichtenden Gesprächen der Fall wie mit Gesprächspartnern, die nicht zum professionellen Handlungsfeld einer Führungskraft gehören oder auch in solchen Gesprächen mit Mitarbeitern, die keinen unmittelbar beruflichen Zweck erfüllen, häufig also in sog. Smalltalks. Dort sind aber Vagheit und Unverbindlichkeit funktional, weil damit Festlegungen vermieden und Optionen offen gehalten werden. Eine der auffälligsten Erscheinungen im kommunikativen Handeln von Führungskräften ist jedoch ein bei fast allen dieser Personen zu beobachtendes relativ langsames Sprechtempo. Dies konterkariert eine Interpretation hin- Das letzte Wort 145 sichtlich bloß zeitlicher Effektivität ebenso wie die vorher angesprochene Vagheit, Unverbindlichkeit und Stereotypik sachlicher Effektivität zu widersprechen scheint. Das langsamere Sprechtempo erlaubt andererseits aber eine genauere Planung der eigenen Äußerungen, und es erzeugt gesprächsorganisatorische Zwänge für die Beteiligungsmöglichkeiten der Gesprächspartner, vor allen Dingen in Kombination mit gesprächsrhetorischen Mitteln zur Rederechtssicherung. Beide Befunde legen also eine allgemeinere Interpretation nahe, in die auch die anderen o.a. Phänomenbefunde integriert werden können: Führungskräfte üben starke Kontrolle hinsichtlich der aktuellen Kommunikationssituation aus. Diese Kontrolle erstreckt sich auf das eigene Kommunikationshandeln ebenso wie auf das der Partner und auf die situative Umgebung; sie dient aber nicht nur zur Interaktionskontrolle im engeren Sinne, sondern bspw. auch der Enaktierung überdauernder Eigenschaften, wie z.B. Imageeigenschaften, die im Rahmen von Repräsentanzanforderungen für Führungskräfte stets relevant gesetzt sind. 11 Eine solche Interpretation deckt sich mit weiteren Befunden bzw. wird dadurch noch weiter gestützt. So lassen sich bspw. auf der nonverbalen Ebene an systematischen Gelenkstellen eines Gesprächs (v.a. vor und am Beginn von Gesprächen sowie vor und an deren Ende) Formen der visuellen und praxemischen Umgebungs- und Selbstkontrolle bemerken. Man findet weiter vielfach eine auffallend geringe Selbstberührungstendenz 12 sowie andere Merkmale intensiver Zuwendung zum und Aufmerksamkeit für den/ die Interaktionspartner (Wachheit/ Awareness bzw. Empathie). Und auf der verbalen und paraverbalen Ebene lassen sich starke Einflussnahmen auf die Gesprächsorganisation wahrnehmen mit Behauptung der eigenen und Steuerung der partnerlichen Rederechte, es findet sich häufig strikte thematische Kohärenz sowie eine Tendenz, die eigenen inhaltlichen Gesichtspunkte und Positionen markiert zu behandeln. Auch sind die o.g. Sprechhandlungsqualitäten der dezidierten Assertion und der häufigen Verwendung von Direktiven und Interrogativen unter dem Gesichtspunkt der Kommunikationsbzw. Partnerkontrolle höchst funktional: Solche Sprechhandlungen stellen Reaktionsver- 11 Zum Situationskonzept „im Spannungsfeld von wiederholbarer Kategorisierung und biografischer und historischer Einzigartigkeit“ s. Deppermann/ Spranz-Fogasy (2001); dort werden auch eine Reihe von Problemen des Situationsbegriffs diskutiert (Abschnitt 6.), mit denen sich die Konzeption von Situationskontrolle zukünftig auseinanderzusetzen hat. 12 Eine geringe Selbstberührungstendenz ist deshalb kontroll-relevant, weil zum einen eine Symptompräsentation möglicherweise problematischer innerer Befindlichkeiten vermieden wird und zum anderen vollständige Konzentration auf das laufende Geschehen signalisiert wird. 146 Thomas Spram-Fogasy pflichtungen für die Partner her i.S. konditioneller Relevanzen und präferierter Reaktionen. 13 Die verschiedenen kommunikativen Phänomene können alle als Mittel der Situationskontrolle bei gesteigerten kommunikativen Anforderungen dienen, vor die sich gesellschaftliche Führungskräfte bei der Ausfüllung ihrer Führungsposition gestellt sehen. Diese Anforderungen betreffen bspw. die Informationsmenge (schnell wechselnde Kommunikationstypik und Inhaltsbereiche), viele und schnell wechselnde kommunikative Handlungsaufgaben oder viele und schnell wechselnde Interaktionspartner u.v.a.m. Und die genannten Phänomene finden sich, in unterschiedlicher Verteilung und Ausprägung, bei allen von mir beobachteten Führungskräften und ebenso bei allen Führungspersonen, die in ausführlicheren Femsehporträts dargestellt wurden oder auch in den vielen öffentlichen Diskussionen mit Führungskräften, die ich beobachten und auswerten konnte. 14 Als vorläufiges Fazit aus den bisherigen Untersuchungen zum kommunikativen Handeln gesellschaftlicher Führungskräfte möchte ich folgende globale Thesen festhalten, die in späteren Phasen der Untersuchung weiter verfolgt werden sollen. 1. Führungskräfte nutzen Eigenschaften der Interaktionskonstitution in besonderer Weise. Dies bezieht sich auf Organisationsstrukturen aller Ebenen, auf gesprächsorganisatorische und handlungsstrukturelle Zwänge und Möglichkeiten wie auf beziehungs-, themen- oder modalitätenorganisatorische Eigenschaften. 2. Führungskräfte operieren in ausgeprägter Weise mit kulturell anerkannten kommunikativen Werten wie: Empathie, Awareness, Involvement, besonders anerkannte Formen der Selbstdarstellung (z.B. bzgl. Kompetenz, Integrität etc.), Dezidiertheit, Prägnanz, Zielführung, syntaktische Korrektheit (i.S. schriftsprachlicher Standards), variabel adaptierter Wortschatz (elaboriert bis volkstümlich) usw. Es gibt ein ganzes Bündel solcher Werte, die von einzelnen Führungskräften in unterschiedlicher Verteilung und Ausprägung realisiert werden. Die Unter- Zur gesprächsrhetorischen Funktion solcher Sprechhandlungsverpflichtungen s. bspw. Kallmeyer 1996, Kallmeyer/ Schmitt 1996, Keim 1996, Schmitt 1997, Spranz-Fogasy 1999). Die Materialien aus solchen öffentlichen Situationen sind jedoch nur mit Vorsicht einzubeziehen, da zum einen die Porträtierten und öffentlichen Diskutanten selbst noch weitaus stärkere Kontrolle ausüben, als in weniger oder gar nicht öffentlichen Kommunikationssituationen. Und es muss die Rolle der medialen Aufbereitung (Kameraperspektive, Schnitttechnik, Kommentierung usw.) für die Analyse relativiert werden. Das letzte Wort 147 schiedlichkeit ist dabei teilweise sektorenspezifisch (also bezogen auf den jeweiligen gesellschaftlichen Bereich). Im Folgenden sollen exemplarische Analysen zu zwei entgegengesetzten Gelenkstellen von Gesprächen verdeutlichen, welche kommunikativen Mittel Führungskräfte nutzen, um die aktuelle Kommunikationssituation zu kontrollieren und ihre Führungsposition zu demonstrieren. An einem Einzelfall wird dargestellt, welche interaktiven Möglichkeiten bestehen, Gesprächspartner am Beginn von Gesprächen „unter Kontrolle“ zu bekommen. In typologischer Manier wird dann das handlungsbezogene Ende von Gesprächen oder Gesprächsphasen bzw. das interaktive Entscheidungshandeln von Führungskräften untersucht. 5. Alles unter Kontrolle! ? Die folgenden Analysen beziehen sich auf einen Gesprächsausschnitt, der einer Serie von Gesprächen einer selbstständigen Unternehmerin 15 entstammt, die fortlaufend in deren Büroräumen aufgezeichnet wurde. Insbesondere sind damit auch die Übergänge von einem Gespräch zum nächsten, also Verabschiedungen und Begrüßungen und deren Kontext dokumentiert. Strukturell gegebene Gelenkstellen von Gesprächen sind nicht nur bei Führungskräften regelmäßig auch Brennpunkte interaktiver „Arbeit“. Hier wird vielfach bereits ausgehandelt und festgelegt, wie das nachfolgende Gespräch oder die einer Interaktion nachfolgenden sozialen Beziehungen ausgestaltet werden. Gesprächseröffnungen wie -beendigungen verdienen daher in gesprächsanalytischer Hinsicht besondere Aufmerksamkeit. 16 Der folgende Gesprächsausschnitt ist in einen fortlaufenden Gesprächszusammenhang eingebettet. Die Unternehmenschefin (Fk) ist im Gespräch mit 15 Das Unternehmen ist im Versandhandel tätig mit Schwerpunkt im medizinischen Bereich, für den auch eine eigene Produktlinie entwickelt wurde. Es wurde von der Unternehmerin selbst gegründet und operiert global mit eigenen Dependancen in verschiedenen europäischen Ländern. Weitere Niederlassungen in Südamerika und Asien sind in Vorbereitung. In der Untemehmenszentrale selbst arbeiten ca. 100 Mitarbeiter, die relativ freien Zugang zur Unternehmensleiterin haben. Die Gebäude sind architektonisch und ergonomisch nach modernsten Gesichtspunkten gestaltet, es gibt mehrere Kreativräume für Arbeitssitzungen, die, wie die gesamte Anlage, u.a. mit Werken moderner Kunst ausgestattet sind. Die Unternehmerin ist frauenpolitisch und als Kunstmäzenin aktiv. Im gesamten Unternehmen herrscht ein ausgesprochen direkter, aber empathischer Kommunikationsstil nach dem Motto „hart aber herzlich“, der von den Mitarbeiter/ innen auch gefordert wird. Die zu beobachtende Arbeitsmotivation der Mitarbeiter/ innen ist dabei ausgesprochen hoch. 16 Dies ist gerade auch in der konversationsanalytischen Literatur deutlich, die viel von der systematischen Untersuchung dieser Gesprächspositionen profitiert hat. Vgl. Spiegel/ Spranz-Fogasy (2001). 148 Thomas Spranz-Fogasy ihrem männlichen Stellvertreter (ST) über Probleme der Vertragsgestaltung für Praktikant/ innen. Anschließend geht es zwischen diesen beiden um Probleme der Aktualisierung von Intemetseiten. Zwei weibliche Auszubildende (Azubis AW1 + AW2) treffen zu einem bereits länger vereinbarten Zeitpunkt ein, werden begrüßt und aufgefordert, sich zu setzen, was sie auch tun (darauf bezieht sich der Kommentar „Geklapper und Gerumpel“ zu Beginn des Ausschnitts). Mit den beiden will Fk eine Firmenchronik besprechen. Fk wendet sich nun den beiden kurz zu, und es entspinnt sich die folgende kleine Szene, nach der sich Fk wieder ihrem Stellvertreter zuwendet und noch eine längere Zeit (ca. sieben Minuten) mit ihm die Frage der Pflege von Internetseiten verhandelt, bevor sie dann endgültig mit den Azubis das Gespräch über die Firmenchronik aufnimmt. K& Fk: Fk: AW1: GEKLAPPER UND GERUMPEL *2* wollten sie schon immer mal intemetseiten pfle"geni * LACHT VERLEGEN 5 AW2: +äh: ich hab=s noch nie gema"cht >aber * Fk: AW2 : 8 Fk: 9 K 10 AW2: 11 Fk: 12 K 13 Fk: 14 Fk: 15 Fk: 16 Fk: 17 Fk: 18 AW1: 19 Fk: 20 ST: 21 ST: I lernen keine ah"nungj< LACHT VERLEGEN=|LACHT könn | sie a"llesj *1,5* >(is ja auch MURMELND VERLEGEN| wasj)< *4* also=s=n andres themai * also ich denke ja: ich geb ihnen völlig rechti * s=gehört zum marketing! * dort muss=mer schaun dass=es erledigt wirdf und wer letztlich dann des: * macht! * wieviel programmie"r*kenntnis da- RÄUSPERT SICH sein muss! ** es ist dann viel einfacher wenn man (die Seite vergeben wird)i * [ . . . Das letzte Wort 149 Die Frage, die sich für diesen Gesprächsausschnitt stellt, ist nun: Was passiert hier, und in welcher Weise ist das Führungskraft-relevant, was hier geschieht? Dazu die folgenden, auf den Einzelfall bezogenen Bemerkungen. Fk flachst die beiden Azubis beim Hinsetzen oder unmittelbar danach an mit den Worten: wollten sie schon immer mal internetseiten pfle "gen. Dass es sich hier um Flachs handelt, wird intonatorisch, lexikalisch und auch syntaktisch markiert, ist aber auch schon durch die Platzierung indiziert, indem ohne Vorwarnung eine Frage mit Aufforderungscharakter gestellt wird, für deren Inhalt die beiden Azubis gar nicht kompetent sind, was alle Beteiligten wissen. Aber: Die beiden Azubis werden damit explizit einbezogen und zu anerkannten Gesprächspartnern gemacht. Im Gegenzug wird der Stellvertreter zeitweilig als unmittelbarer Gesprächspartner suspendiert, was er sich gefallen lässt und gefallen lassen muss. Fk hat die absolute Situationshoheit und sie nimmt sie auch in Anspruch und demonstriert sie gerade mit solchen Aktivitäten. Wie stellt sich nun die Situation für die beiden Azubis dar? Sie sind konfrontiert mit einer Reaktionsverpflichtung, die, wie immer „rhetorisch“ auch das Potenzial der Frage sein mag, konditionell relevant gesetzt ist. D.h. auch immer: sie sind Reagierende in dieser Situation, und die Situation ist für sie beide ziemlich ambivalent einerseits der joviale Flachs, andererseits die Beziehungskonstellation, u.a. auch ausgedrückt in den räumlichen Konstellationen, aber natürlich auch vorhanden im allgemeinen und spezifischen Weltwissen der Beteiligten: Stellvertreter und Azubis sitzen auf drei (von zehn) Besucherstühlen vor dem großzügigen, Raum-mittig platzierten Dreiviertelkreis-förmigen Schreibtisch der Chefin in deren Büro, das auch sonst einiges an Chef-Ambiente aufzubieten hat. Alle wissen um ihre Beteiligungsrolle und um ihre Zuständigkeiten, Pflichten und Rechte. Die Azubis müssen nun also irgendwie reagieren, sind den Aktivitäten der Chefin ausgesetzt, wissen aber vielleicht nicht, wie weit sie mitflachsen dürfen. Die Reaktionen sind entsprechend: Verlegenheit, die sich in Lachen bei AW1 ausdrückt, in ernsthaftem Antwortversuch, Aufgabe, Zögern, Verhaspeln, Akzentsetzung, anderen Unsicherheit markierenden prosodischen Merkmalen und ebenfalls Lachen bei AW2: äh: ich hab=s noch nie gema“cht aber * keine ah "nung. Fk reagiert darauf generalisierend phrasenhaft mit lernen kann sie a "lies und suspendiert das Subthema und damit auch ihre Gesprächspartner (also=s=n andres thema) bevor sie einen dann endgültigen Themen- und Partnerwechsel vornimmt. Interessant sind hier die Pausen von einmal 1,5 und einmal 4 Sekunden, in denen durchaus eine der Gesprächspartner/ innen den tum übernehmen könnte. Ich behaupte, gerade auch aufgrund der folgenden Äußerungen von Fk, dass es allen Beteiligten ziemlich ungemütlich wird, dass aber 150 Thomas Spranz-Fogasy die Handlungs-, Themen- und Beziehungshoheit klar bei Fk liegt, und sie sie auch wahmimmt, wenn auch ihrerseits etwas verlegen, was an vielen linguistischen Merkmalen ihrer defokussierenden Formulation: also=s=n andres thema deutlich wird. Alle, nicht zuletzt sie selbst, erwarten von ihr, dass sie die Richtung weist, in die das Gespräch weiter laufen wird. Fk nimmt denn auch dezidiert und unvermittelt das kurz unterbrochene Arbeitsgespräch mit ihrem Stellvertreter wieder auf: also ich denke ja: ich geh ihnen völlig recht * .V =-gehört zum marketing usw. Die beiden Azubis werden damit im Goffmanschen Sinne zu zugelassenen Mithörern zurückgestuft, die bis auf Weiteres nicht mehr eingreifen sollten (was sie auch nicht tun; erst als Fk sehr viel später wieder von sich aus den Partnerfokus erweitert, reagieren beide hörbar und werden von Fk auch durch eine Frage zu kurzer Beteiligung aufgefordert; diese Beteiligung wird aber wiederum suspendiert, und erst, als Fk sich ca. sieben Minuten später wieder direkt ihnen und ihrem Anliegen zuwendet, werden sie erneut vollgültige und anerkannte Gesprächspartner). Die Beteiligungskontrolle erstreckt sich in dieser Passage aber nicht nur auf die beiden Azubis, sie erstreckt sich auch auf den anderen Interaktionspartner, der immerhin ihr Stellvertreter im Unternehmen ist. Qua Vollzug dieser Aktivitäten suspendiert sie zeitweilig ST, bis sie ihn wieder direkt anspricht. In fast allen Gesprächen, die an diesem Tag aufgezeichnet wurden, organisiert und behält Fk mit diesen und mit anderen Mitteln die Kontrolle über Rederechte, über Beteiligungsrechte und -pflichten, über Themenwahl und Handlungsaufgaben; sie bestimmt die Interaktionsmodalität, und sie definiert das Ausmaß der Reziprozitätssicherungsmaßnahmen. Die Mittel sind in unterschiedlichem Maße explizit, tw. bis hin zu Formulationen des eigenen Kommunikationshandelns, tw. nur intonatorisch oder inferenziell indiziert. Insbesondere bei Gesprächseröffnungen wählt Fk vielfach offensive Strategien, wie im Beispiel zu sehen ist. Sie scheint von Anfang an oder anders gesagt, vor allem am Anfang darauf aus zu sein, die Kontrolle über das Geschehen oder mindestens über die Gesprächspartner/ innen zu erlangen, wenn dies irgend möglich ist (dem Verfasser, der zugleich die Erhebung durchführte, erging es übrigens genauso). Lediglich in zwei Gesprächen hat sich Fk anders verhalten; einmal im Telefonat mit einem ranghohen Mitarbeiter des Landeswirtschaftsministeriums, der eine unternehmerische Strategie mit ihr vorantreiben sollte, zum anderen im Gespräch mit einem Großkunden, der einige Millionen DM an Umsatz einbringen kann. In diesen Gesprächen hat Fk eine deutlich weichere Stimm- Zu den unterschiedlichen Beteiligungsrollen in Gesprächen s. Goffinan (1981). Das letzte Wort 151 läge realisiert, den Gesprächspartnern weitgehende Rederechte überlassen und sich deren gesprächsorganisatorischen, thematischen und handlungsorganisatorischen Vorgaben angepasst, ohne aber dabei subordiniert oder gar servil zu wirken. 18 Was man nun an dieser kleinen Szene alles sehen kann, ist enorm: auf der ganzen Palette der Interaktionskonstitution also gesprächsorganisatorisch, handlungsorganisatorisch, themenorganisatorisch, identitäts- und beziehungsorganisatorisch oder modalitätenorganisatorisch 19 wird aktiv an einem bestimmten Modell von Situation gearbeitet, und zwar sowohl aktiv von Seiten Fk's, als auch reaktiv und geschehen lassend seitens der anderen Gesprächspartner/ innen: Es geht um die Kontrolle der aktuellen Kommunikationssituation in Hinblick auf alle für die anstehenden Handlungsaufgaben relevanten Interaktionsebenen. Eine so direkte und direktive Inanspruchnahme führt nicht zwangsläufig zu gestörten Sozialbeziehungen; die Sach- und Handlungsorientierung der Gesprächsteilnehmer/ innen ist im Weiteren sehr ausgeprägt und zeugt von hohem Engagement und starker Verbundenheit mit dem Unternehmen und seiner Leiterin. Die von der Unternehmensleiterin geprägte Kommunikationskultur erzwingt, ermöglicht aber auch für alle Mitarbeiter/ innen eine sehr offene Auseinandersetzung mit den Sachproblemen der Untemehmensführung. Natürlich besteht bei dieser Darstellung auch immer die Gefahr einer Überinterpretation eines Einzelfalles, aber es finden sich auffallend ähnliche Situationsstrukturierungen bei Fk wie im Übrigen auch bei anderen Führungskräften. 6. „Das letzte Wort“ - Eine typologische Skizze Alle Handlungsabläufe haben Strukturmomente von besonderer Relevanz für das gesamte Geschehen. In allen aufgabenbezogenen Interaktionen sind bspw. immer die Positionen von Bedeutung, in denen bestimmte Handlungsaufgaben, wie Problempräsentationen, Lösungsentwicklung etc., beendet werden; hier entscheidet sich, wer die Situation kontrolliert. 20 Gespräche, die Führungskräfte in ihrem beruflichen Alltag führen, sind in der überwiegen- 18 Diesen Eindrücken kann der Verf. gesprächsanalytisch leider nicht nachgehen, da sich Aufzeichnungen solcher Gespräche aus unternehmerischen und datenschutzrechtlichen Gründen verbieten: Gesprächspartner, von denen man sich in dem genannten Umfang Entgegenkommen oder Mitarbeit erhofft, kann man kaum auffordem, ihre Äußerungen aufzeichnen zu lassen bzw. ohne deren Einverständnis darf nicht aufgezeichnet werden. 19 Die genannten Ebenen der Interaktionskonstitution orientieren sich an einer Theorie der Interaktionskonstitution, die von Kallmeyer und Schütze in einer Reihe von Aufsätzen entwickelt worden ist. Kallmeyer/ Schütze 1976 und 1977, Kallmeyer 1977, 1985, 1988 u.a. 20 Zur Charakterisierung aufgabenbezogener Interaktionen s. Spiegel/ Spranz-Fogasy (2001). 152 Thomas Spranz-Fogasy den Mehrzahl strikt aufgabenbezogen und weisen daher mehrere solcher Positionen auf. Ich komme damit zu einer kurzen typologischen Skizze des letzten Worts. Aufgefallen war mir die Bedeutung des „letzten Worts“ in einem Femsehporträt über die damalige Bundesfamilienministerin Christine Bergmann (SPD), die beim Kochen mit ihrem Ehemann gezeigt wurde. In einem inhaltlich banalen Gespräch war es ihr offensichtlich doch wichtig, bei einem kleinen Dissens ihre Position durchzusetzen. Und sie hat dabei sorgfältig darauf geachtet, dass das von allen Anwesenden auch so ratifiziert wurde, bevor dann zu anderen Aktivitäten übergeleitet wurde. Diese Entdeckung führte dazu, die bis dato erhobenen Materialien durchzusehen und das Entscheidungshandeln von Führungskräften zu überprüfen. Führungskräfte, so zeigte sich dabei, arbeiten interaktiv immer sehr gezielt auf Entscheidungen hin dafür sind es eben Führungskräfte mit herausgehobener Entscheidungsfunktion. Interessant ist dabei aber, in welcher Weise sie sich interaktiv „das letzte Wort” erarbeiten, wie sie es realisieren und absichern. Das letzte Wort ist natürlich selten tatsächlich das letzte Wort. Es geht vielmehr darum, Entscheidungen durchzusetzen oder auch mal offen zu halten und den eigenen Beitrag genau dort zu platzieren, wo der substanzielle Abschluss einer Aushandlung stattfmdet; nur dies garantiert die Kontrolle des aktuellen Geschehens, aber auch über die Situation hinaus. Es gibt nun unterschiedliche interaktive Wege, eine Entscheidung heranreifen zu lassen und durchzusetzen. Dabei lassen sich strukturell drei wesentliche Phasen im interaktiven Umgang mit der Herstellung von Entscheidungen unterscheiden: (1) die Vorbereitungsphase, (2) die Entscheidung selbst und (3) deren Nachverarbeitung. In der Vorbereitungsphase sind Führungskräfte unterschiedlich aktiv. Das hängt u.a. auch davon ab, wer eine Entscheidung sucht, der/ die Partner/ innen oder die Führungskraft selbst. Zu beobachten ist jedenfalls eine Tendenz bei Führungskräften, Problemstellungen schnell zu kanalisieren in Richtung auf eine Problembestimmung. Ich spreche von einer Tendenz, weil es natürlich auch andere Umgangsweisen gibt, wie sich bei den verschiedenen Typen von Entscheidungshandlungen zeigen wird. Jedenfalls wird i.d.R. eher der Lösungsentwicklung Raum gegeben, als der Sachentfaltung, und die Sachentfaltung wird v.a. von den Führungskräften regelmäßig interpunktiert mit Aktivitäten der Lösungsresp. Entscheidungssuche (also etwa i. S. v. „ist da ein Ansatzpunkt für eine Lösung bzw. Entscheidung“). Dieses Verhalten lässt vermuten, dass Führungskräfte generell eher entscheidungsdenn sachorientiert handeln. Das wird übrigens auch von Führungskräften selbst gelegentlich so gesehen, die den Habitualisierungsgrad der Entscheidungsorientierung Das letzte Wort 153 beklagen, so bspw. Angela Merkel, die, ebenfalls in Herlinde Koelbls Langzeitstudie, sagt: „Ich kann mir nicht mehr die Sorgen von jemandem anhören, ohne unter dem Druck zu leben, ich müsste das Problem lösen.“ (Koelbl 1999, S. 53). Die Entscheidung selbst nun, „das letzte Wort“ also, wird sehr unterschiedlich realisiert. Da gibt es zum einen die dezidierte, direktive Erklärung seitens der Führungskraft. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, sich einen Vorschlag von den anderen Teilnehmern „absegnen“ zu lassen. Durchaus häufig ist es auch, eine Entscheidung zu vertagen auch das ist eine Entscheidung, die die Führungskräfte fällen. Besondere Varianten der Vertagung sind die Beauftragung von Mitarbeiter/ innen, Entscheidungsgrundlagen auszuarbeiten oder umgekehrt die Ankündigung, dass die Führungskraft die Entscheidung allein treffen werde. Nicht immer entstammt natürlich die definitive Sachentscheidung den Vorstellungen und Ideen der Führungskraft. Eine weitere Möglichkeit, Entscheidungen herbeizuführen bzw. zu treffen, ist dann die, Vorschläge anderer aufzugreifen und als Resultat zu deuten. Und schließlich konnte schon mehrfach beobachtet werden, dass Führungskräfte Entscheidungen „sich ergeben lassen“, dass sie also in der Sachauseinandersetzung in einer Art und Weise intervenieren, die alle Beteiligten zwingend auf eine bestimmte Entscheidung hinzuführen scheint, die dann letztlich im Einvernehmen getroffen und von der Führungskraft abgesegnet wird. Dies muss im Einzelfall aber sehr genau untersucht und aufgezeigt werden, es handelt sich dabei um ein sehr subtiles Zusammenspiel von Darstellungen und Interventionen, bei dem der Nachweis einer „weichen“ Strategie schwer fällt. Die Typen von Entscheidungshandeln, die eben genannt wurden, decken sicher noch nicht das gesamte Spektrum von Handlungsmöglichkeiten ab und auch die folgende Charakteristik der Nachverarbeitung ist sicher nicht vollständig. Es gibt, wie gesagt, natürlich selten Entscheidungen, mit denen ein Gespräch definitiv beendet würde. Mindestens Verabschiedungsrituale müssen i.d.R. folgen. Nichtsdestotrotz kann man spätestens zu einem solchen Zeitpunkt sicher sein, dass die für das Gespräch relevanten Entscheidungen getroffen sind, man kann deren Platzierung eindeutig festlegen und deren Vorlauf und Nachverarbeitung untersuchen. Es gibt auch Gespräche, in denen verschiedene Entscheidungen aufeinander aufbauen, es gibt solche Gespräche, in denen nacheinander ganz verschiedene Entscheidungen getroffen werden und natürlich gibt es Mischformen. Man kann aber gesprächsanalytisch doch in den meisten Fällen die Platzierung einer Entscheidung recht genau rekonstruieren und damit auch bestimmen, was zur Nachverarbeitung gehört. Entscheidungen müssen immer auch interaktiv abgesichert bzw. nachverarbeitet werden. Der unmarkierte, aber eher seltene Fall ist der einer Ratifikati- 154 Thomas Spranz-Fogasy on qua Vollzug weiterführender Aktivitäten entweder einer Verabschiedung oder eines Übergangs zu anderen Aktivitäten. In diesen Fällen ist aber auffällig, dass die Entscheidungshandlung selbst relativ markiert realisiert wurde, derart, dass klar gemacht wurde: Jetzt kommt eine Entscheidung“ und die Entscheidung gewissermaßen mit Ausrufezeichen versehen wurde. Eine zweite Art der Absicherung besteht darin, die Akzeptanz bzw. Ratifikation der Gesprächspartner explizit einzuholen. Interessanter sind zwei andere Fälle, die durchaus häufig Vorkommen: In konfliktären Entscheidungssituationen, wenn also die Auffassungen der Teilnehmer differieren, eine Entscheidung von der Führungskraft aber getroffen wird, gibt es manchmal Initiativen der Führungskraft zu einer Art „Nachverbrennung“; die Partner/ innen erhalten richtiggehend die Gelegenheit, die Entscheidung zu bewerten, den Entscheidungshergang zu charakterisieren und sich relativ dazu auch emotional zu äußern. Dies geht natürlich selten so weit, dass die Führungskraft explizit disqualifiziert oder angegriffen würde, aber diese nachträgliche Diskussion gibt der Führungskraft doch Hinweise darauf, wie mit der Entscheidung später umgegangen werden wird. Und interessant ist auch eine zweite Form der Nachverarbeitung: Wenn eine Entscheidung gefallen oder verkündet ist, kann immer wieder beobachtet werden, dass nachträglich Zugeständnisse erfolgen, die zwar die Entscheidung nicht in ihrer Substanz berühren, aber bspw. Darstellungen der Führungskraft im Entscheidungshergang umkehren; da werden zuvor geäußerte Auffassungen zurückgenommen, es werden Entschuldigungen ausgesprochen und Ähnliches. Im Nachgang zu Entscheidungen werden so noch einmal Bewertungsgesichtspunkte offen gelegt, es wird emotionale Verarbeitung ermöglicht und damit werden immer auch mittel- und langfristig die Interaktionsbeziehungen der Beteiligten stabilisiert. 7. Schlussbemerkungen Die beiden skizzenhaften empirischen Studien illustrieren an zwei zentralen Gesprächspositionen, dem Gesprächsbeginn und der Entscheidungsphase, charakteristisches Kommunikationshandeln gesellschaftlicher Fühmngskräfte. Es zeigt sich beide Male, dass Führungskräfte ein starkes Augenmerk auf die Kontrolle der aktuellen Kommunikationssituation haben. Dafür stehen ihnen eine ganze Reihe von kommunikativen Ausdrucksmitteln zur Verfügung, die systematisch ausgewählt und in je spezifischer Ausprägung eingesetzt werden (können). Auf diese Weise ergeben sich zum einen individuelle Interaktionsprofile einzelner Führungskräfte, zum anderen aber auch überindividuell Kommunikationsmuster, die für Führungshandeln in hohem Maße funktional sind. Führungskräfte erarbeiten sich mit kommunikativen Mitteln die Position, Interaktionsrechte und -pflichten nach ihren Vorstellungen verteilen zu können, Das letzte Wort 155 und sie arbeiten sehr gezielt auf die Erledigung kommunikativer Aufgaben hin; sie behalten weitgehend die Kontrolle über das Entscheidungshandeln und dessen Absicherung auch über das aktuelle kommunikative Geschehen hinaus. Situationskontrolle ist den bisherigen Analysen zufolge daher das zentrale Merkmal im Kommunikationshandeln gesellschaftlicher Führungskräfte. Qua Situationskontrolle Führung(-shandeln) zu etablieren und aufrechtzuerhalten, ist ein zentrales Bestimmungsstück der sozialen Identität von Führungskräften und damit wichtiger Bestandteil ihres kommunikativen sozialen Stils. Und auch die anderen eingangs genannten sozialen Prozesse, auf die eine Untersuchung kommunikativer sozialer Stile abzielt, die gesellschaftlichen Prozesse der Integration, Differenzierung, Distanzierung und Ausgrenzung, können an den Phänomenen der Situationskontrolle geradezu verdichtet beobachtet und untersucht werden. Dies ist eine der Aufgaben des Projekts „Kommunikatives Handeln gesellschaftlicher Führungskräfte“. 8. Transkriptionserläuterungen Die Transkription der in dieser Untersuchung verwendeten Gesprächsausschnitte richtet sich nach den Richtlinien des Instituts für Deutsche Sprache (Mannheim). Im Fließtext sind kurze Gesprächsausschnitte kursiv gesetzt. Alle Äußerungen von Gesprächsteilnehmern werden in der Partiturschreibweise dargestellt; dabei wird, ähnlich einer musikalischen Partitur, jedem Teilnehmer eine Zeile zugeordnet, sodass eine Partiturzeile ggf. aus mehreren Schreibzeilen besteht. Jeder Sprecher erhält eine Siglenkennzeichnung. Transkriptionszeichen GROSSBUCHSTABEN K& [• • •] (schon mal) (...) I I + >< Kommentare (Sigle K) Globalkommentar Auslassung des Autors fragwürdiges Wortverständnis unverständliche Passagen Simultanpassagen und deren Extension unmittelbarer Wortanschluss leiser Thomas Spranz-Fogasy lauter Mikropause (unter 1 Sekunde) Pause mit Sekundenangabe Akzentsetzung Dehnung Hebung und Senkung der Stimmlage Verschleifung 9. Literatur Atkinson, J. Max (1984): Our masters' voices. London. Auer, Peter (1986): Kontextualisierung. In: Studium Linguistik 19, S. 22-47. Berger, Peter/ Hradil, Stefan (Hg.) (1990): Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile. 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(= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 16). Berlin/ New York. S. 1241-1252. Elisabeth Gülich / Ingrid Furchner Die Beschreibung von Unbeschreibbarem. Eine konversationsanalytische Annäherung an Gespräche mit Anfallskranken 1 Com' io divenni allor gelato e fwco, nol dimandar, lettor, ch'i' non lo scrivo, perö ch'ogne parlar sarebbe poco. Io non mori' e non rimasi vivo; 1. Problemstellung Wissen Sie, diese Auren sind für mich das mit Abstand Unerträglichste an meiner ganzen Krankheit, weil sie mir total den Boden unter den Füßen wegziehen und vor allem auch, weil sie sich für mich durch ihre Nicht-Mitteilsamkeit auszeichnen. Ich kann sie niemandem begreiflich machen. (...) Wie oft habe ich versucht, Freunden und Bekannten klarzumachen, was ich meine, wenn ich sage, mir gehe es heute nicht gut. Meistens erkläre ich es mit starken Kopfschmerzen und mit einem komischen Gefühl im Kopf, was die Leute (verständlicherweise) nicht verstehen können, weil ich einfach keine Sprache finde für das, was passiert. (Aus dem Brief einer Epilepsie-Patientin) Die von der Autorin dieses Briefes formulierte Nicht-Mitteilbarkeit dessen, was ihr in ihren Auren 3 widerfährt, scheint ein zentraler Aspekt des Erlebens 1 Diese Arbeit steht in Zusammenhang mit dem am Epilepsie-Zentrum Bethel/ Bielefeld durchgeführten Forschungsprojekt „Linguistische Differentialtypologie epileptischer und anderer anfallsartiger Störungen diagnostische und therapeutische Aspekte“, das vom 1.3.1999 bis zum 28.2.2001 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefordert wurde (Informationen unter http: / / www. uni-bielefeld.de/ lili/ projekte/ epiling). Daran sind (oder waren) außer den Autorinnen dieses Beitrags beteiligt: Martin Schöndienst (Epilepsie-Zentrum Bethel), Meike Schwabe, Volker Surmann, Nicolas Tsapos, Melanie Werner (alle Universität Bielefeld). Die Arbeit der Projektgruppe ist von Anfang an von „den Mannheimern“ begleitet worden: Reinhard Fiehler, Werner Kallmeyer, Inken Keim, Reinhold Schmitt, Wilfried Schütte, Thomas Spranz-Fogasy und zu Anfang auch Wolfgang Klein. Ihnen allen danken wir für die vielen Stunden intensiver Transkriptarbeit, die konversationsanalytische Kompetenz und die unermüdliche Diskussionsfreude, die sie in unser Projekt investiert haben. 2 Dante Alighieri, Divina Commedia. Inferno. Inf. XXXIV: „Wie ich nun stumm und eisig dort geworden / Darfst du nicht fragen, Leser, und ich schreibe / Es nicht, weil jedes Wort vergeblich wäre. / Ich war nicht tot und war auch nicht lebendig ...“ 3 Der Terminus ‘Aura’ (wörtlich: ‘Lufthauch’, ‘Wind’, ‘Brise’) geht auf Galen zurück und bezeichnet Vorgefühle oder Vorempfmdungen, die einem Anfall vorausgehen, manchmal 162 Elisabeth Gülich / Ingrid Furchner und Erleidens von Anfällen zu sein. Bei dem Versuch, ihre Aura-Empfindungen zu beschreiben, kommen auch durchaus wortgewandte - Patienten 4 an die Grenzen dessen, was sie für beschreibbar oder formulierbar halten. Kommentare vom Typ wie soll ich das beschreiben? , ich kann es echt nicht erklären, das ist wirklich schwer zu sagen, da fehlen eigentlich auch die Worte usw. gehören zu den auffälligsten sprachlichen Phänomenen, mit denen Aura-Darstellungen eingeleitet werden. Diese Formulierungsschwierigkeiten sind gelegentlich auch von Epileptologen beobachtet worden. Hier ist in erster Linie auf Janz hinzuweisen, der in seinem Buch „Die Epilepsien“ (1997/ 1969) ausführlich darauf eingeht, wie Patienten beim Versuch, ihre Auren zu beschreiben, nach Worten suchen, immer wieder neu ansetzen, Formulierungen finden und wieder verwerfen. Weil „die Erlebnisse ihrer Natur nach schwer zu beschreiben sind“, sind so Janz auch „allen Klassifikationsversuchen nach vorgegebenen Kategorien (...) Grenzen gesetzt“. Das schwer Beschreibliche läßt sich jedes Mal wieder an der Verlegenheit und den ratlos umherirrenden, wie nach Vergleichen suchenden Augen der Kranken ablesen, wenn sie zur Schilderung ihrer Sensationen ansetzen. Formulierungen wie „Es ist etwa wie ...“ oder „Nein, eher wie ...“ oder „Ungefähr wie ...“ zeugen von Erfahrungen, für die es an Worten gebricht. Aber gerade weil diese Empfindungen so außerhalb aller geläufigen Erfahrungen stehen, daß sie sich kaum in Worte fassen lassen, werden sie von den Kranken bei flüchtiger Befragung zunächst oft in einer rationalen Form wiedergegeben: „Ich bekomme immer so Schwindel“, „Ich hab's immer so im Leib, ... am Herz, ... im Kopf 1 . Wenn man jedoch die erste Fassung nicht als bare Münze nimmt, sondern eine genauere Beschreibung verlangt, werden sie ratlos, suchen nach Worten und geben schließlich kopfschüttelnd zu, daß es im Grunde kein richtiger Schwindel sei und eigentlich auch nicht genau im Leib, am Herz oder im Kopf vor sich gehe, sondern daß es ein diffuses und nur vage zu lokalisierendes „Es“ sei, das sich schwer beschreiben lasse (...). (Janz 1997/ 1969,8. 181) Die Patienten haben oft geradezu Hemmungen, davon zu sprechen, „weil sie ihre Erlebnisse für so unnatürlich halten, dass sie befürchten, für verrückt angesehen zu werden“ (ebd.). aber auch isoliert auftreten und die der Patient bewusst erlebt, bevor ggf. eine Bewusstseinsstörung auftritt; vgl. dazu ausführlicher Janz (1997/ 1969, S. 187-190). Üblicherweise werden Auren nur bei bestimmten Anfällen (nämlich komplexen fokalen Anfällen) angenommen. Die Arbeit an Gesprächstranskripten zeigt aber, dass auch Patienten mit anderen Anfällen über Auren berichten. 4 Wenn im Folgenden von ‘Patienten’, ‘Ärzten’ usw. die Rede ist, ist immer die generische Form gemeint. Die Beschreibung von Unbeschreibbarem 163 So schwierig die Beschreibung der Auren auch sein mag, sie wird für die Behandlung von Anfallskranken doch oft für erforderlich oder gar unerlässlich gehalten. Auch angesichts der sehr ausgefeilten Technologie in der modernen Epilepsie-Diagnostik mit der Entwicklung neurophysiologischer und bildgebender Verfahren plädieren Epileptologen für eine sorgfältige Aura-Erhebung und eine intensive Befassung mit den Auren, da sich auf diese Weise wertvolle Erkenntnisse über die Anfälle, u.U. auch für die Entwicklung spezifischer Anfallsunterbrechungstechniken gewinnen lassen (vgl. z.B. Wolf 1994, Rimpau 1999). Wolf macht darüber hinaus auch klar, dass insgesamt in der Epileptologie die Beachtung der subjektiven Krankheitserfahrung ebenso konstitutiv ist wie die objektiven Befunde (Wolf 1990, S. 22-23). Allerdings hängt es maßgeblich vom Interesse an Auren und von der Erhebungstechnik ab, ob bei Patienten überhaupt Auren festgestellt werden: Beispielsweise ermitteln Janati et al. (1990) nur bei gut einem Drittel ihrer Patienten mit fokalen Epilepsien Auren, während Palmini/ Gloor (1992) mit anderer Erhebungstechnik bei 79% ihrer entsprechenden Patienten Auren nachweisen; sie zeigen darüber hinaus, dass allein eine sorgfältige Aura-Erhebung in knapp einem Drittel der Fälle präzise Lokalisationshinweise zu geben vermag, selbst wenn nur auf das, was die Patienten sagen, geachtet und die sprachliche Gestaltung ihrer Mitteilungen vernachlässigt wird. Gerade für die neuen therapeutischen Ansätze ist die Aura laut Wolf „von überragender Wichtigkeit“; die Faszination liegt für ihn in der „unüberbrückbaren Spannung zwischen dem, was zeitlich und örtlich genau eingegrenzt und mit feinsten Meßmethoden objektiviert werden kann, und dem, was dabei subjektiv erlebt wird“ (Wolf 1990, S. 22f). Dass die subjektiven Wahrnehmungen und Empfindungen hauptsächlich sprachlich vermittelt werden und dass somit nicht nur zu beachten ist, was die Patienten über das anlässlich ihrer Anfälle Erlebte zu sagen haben, sondern auch, wie sie es formulieren, wird im Allgemeinen zu wenig beachtet (Janz bildet in dieser Hinsicht eine Ausnahme). 5 Eine systematische linguistische Befassung mit den sprachlichen Aura- Darstellungen von Patienten scheint sich also geradezu aufzudrängen. Zugleich stellen die Beschreibungen von Auren eine doppelte Herausforderung an die linguistische Analyse dar: Zum einen gehört das Unbeschreibbare, Unausdrückbare, Unsagbare nicht unbedingt zu den etablierten linguistischen Themen; 6 die Beschreibungskategorien müssen also erst entwickelt werden. 5 Ein Beispiel für die Vernachlässigung der sprachlichen Seite ist der ansonsten sehr umfassende Übersichtsartikel von Erkwoh (1991). 6 Die Zeitschrift LINX (Revue des Linguistes de Paris X) hat der Thematik ein Sonderheft gewidmet (1998), in dessen Einleitung der Gegenstand („L'indicible“) als „un defi en somme pour les linguistes, resolument tournes vers le dire“ (S. 7) qualifiziert wird. Zur Begriffsbestimmung heißt es: „Ce terme negatif [gemeint ist „l'indicible“] ne designe pas, selon nous, l’impossibilite düne formulation, mais sa difficulte. 11 renvoie ä l'effort düne enonciation jugee non adequate, ä ce qui est ressenti comme un travail, parfois un echec ä dire“ (S. 9). Ähnliche Beschreibungsprobleme lassen sich z.B. in Traumerzählungen 164 Elisabeth Gülich / Ingrid Furchner Zum anderen müssen die Analyse-Ergebnisse auf den epileptologischen Kontext bezogen und im Hinblick auf epileptologische Fragestellungen betrachtet werden. Im Folgenden soll zunächst herausgearbeitet werden, welche Formulierungsverfahren Patienten bei der Beschreibung ihrer Aura- und Anfallserlebnisse einsetzen und wie sie dabei deren Unbeschreibbarkeit bzw. schwere Beschreibbarkeit darstellen (Abschn. 2). In einem zweiten Schritt wird gezeigt, mit welchen Faktoren die Patienten selbst diese schwere Beschreibbarkeit in Verbindung bringen (Abschn. 3). Schließlich soll die Darstellung schwerer Beschreibbarkeit in ihrer Funktion für die Konstitution des Selbstbildes der Patienten und ihrer sozialen Beziehungen betrachtet werden (Abschn. 4). 2. Verfahren zur Darstellung schwerer Beschreibbarkeit Patienten, die im Gespräch mit Ärzten oder Therapeuten ihre Auren oder Anfälle zu beschreiben versuchen, bringen auf unterschiedliche Arten zum Ausdruck, dass das von ihnen Erlebte nicht oder nur schwer zu beschreiben sei. Einen konkreten Ansatzpunkt für die linguistische Analyse bilden metadiskursive Kommentare, in denen das Beschreibungsproblem explizit thematisiert wird. Beispiel 1: Herr Länger (Z. 21-43) 7 21 A: ich würd so . gern nochmal das so mit ihren Eigenen Worten hören, vor 22 allem die AUra . wie . die . wie is das, 23 L: . n=jA, . das find ich gAnz schwierig dIE zu beschrEIben,. äh: m ich mErk 24 da was dass da was im köpf passIErt, . das is wEder . irgendwie son 25 schmErz oder irgendwie so' 26 A: . nen schmerz' 27 L: . nEIn das is kEIn . schmErz' finden, wie schon Janz (1997/ 1969), S. 180 konstatiert (zu linguistischen Analysen vgl. Hanke 1992 und darin bes. Schmitz 1992) und generell bei der Darstellung außergewöhnlicher Phänomene wie z.B. in Todesnähe-Erfahrungen (vgl. u.a. Knoblauch/ Soeffher 1999) oder in Zukunftsvisionen (Schnettler 2000, Knoblauch/ Schnettler 2001). Vgl. dazu auch die Untersuchung von Wooffitt (1992), in der es um „accounts of anomalous phenomena“ bzw. „of paranormal experiences“ (S. 2) geht. Schließlich kann man sich an bestimmte Topoi in der antiken und mittelalterlichen Rhetorik erinnert fühlen, die in der Betonung der Schwierigkeit der Aufgabe, der Unfähigkeit, dem Thema gerecht zu werden, bestehen (‘Unsagbarkeitstopos’, vgl. Curtius 1961, S. 168-171). Das Corpus des DFG-Projekts (s. Anm. 1) besteht aus Ton- oder Video-Aufnahmen von Gesprächen unterschiedlicher Dauer (10-60 Minuten) mit stationär und mit ambulant behandelten Patienten; es liegen (Mai 2001) über 100 Aufnahmen vor, von denen etwa drei Viertel transkribiert sind. Die verwendeten Transkriptionszeichen finden sich am Schluss des Artikels. Die Eigennamen zur Bezeichnung der Patienten sind erfundene Namen. Die Beschreibung von Unbeschreibbarem 165 28 A: mh,mh' 29 L: un: d ähm: das is äh: . son ähm . . son komisches gefÜHl äh so sowas 30 hAtt=ich vOrher noch nIE'. un: d da fehlen eigentlich auch die wOrte direkt 31 zu das zu beschrEIben ne' das is schw/ sEHr schwierig da was 32 A: ... und sie ham=n gefÜHl das sie dann immer wIEdererkEnnen, . wenns 33 (? ...) 34 L: ja, das erkenn ich [eindEUtig dann immer wieder,. ja 1 * ja 35 A: [ganz . ganz chara*kteristisches gefühl, 36 A: . is das Unangeneh: m' 37 L: . nein,. [(? ...) 38 A: [auch nich (? re...)/ 39 L: aber auch nich richtig schön oder irgendwie natürlich AUch nich ne' aber 40 A: mhm‘ 41 L: ich wEIß ja was sich damit verbindet, 42 A: . . und wie gehts dann weiter' . . was is das nächste nach diesem . . komi- 43 sehen gefühl Das Beispiel stammt aus einem Gespräch in der Chefarztvisite. Durch seine Aufforderung, die Auren mit eigenen Worten zu beschreiben, setzt der Arzt die Darstellung der subjektiven Aura- und Anfallsempfindungen des Patienten ausdrücklich relevant. Auf diese Aufforderung hin formuliert Herr Länger als Allererstes einen metadiskursiven Kommentar, mit dem er die Aufgabe des Beschreibens explizit als schwierig definiert (Z. 23). In einem ersten Beschreibungsversuch fokussiert er ein Symptom, das er unspezifisch benennt mit was, das im köpfpassiert, und beschreibt dieses näher, indem er es negativ bestimmt (Z. 24-25). Dann reformuliert er das Symptom, wiederum mit einem vagen Begriff (Z. 29 son komisches gefÜHl), und kommentiert dessen Unvertrautheit: sowas halt ich vorher noch nie. Anschließend formuliert er erneut in einem metadiskursiven Kommentar, diesmal in verallgemeinernder Form, die Unzulänglichkeit der Sprache für die Beschreibung dessen, was er erlebt (Z. 30), und setzt dann zu einer Reformulierung seines Anfangs- Kommentars zur Schwierigkeit des Beschreibens an, die er aber nicht vollendet. Die weitere Beschreibung des „komischen Gefühls“ wird interaktiv erarbeitet, und zwar durch Fragen des Arztes, die Herr Länger beantwortet. Auch hier rekurriert er wieder auf Negativdefinitionen; u.a. charakterisiert er das Gefühl als nicht natürlich (Z. 39). Herr Länger stellt hier also die Schwierigkeit, das von ihm Erlebte zu beschreiben, deutlich heraus. Diese manifestiert sich neben der Feststellung von Unvertrautheit und Unnatürlichkeit des Phänomens und der gezeigten Unfähigkeit, es positiv zu bestimmen, auch in Vagheitsindikatoren {irgendwie) und zahlreichen Verzögerungen {ähm, Pausen, Dehnungen). Man gewinnt den Eindruck, dass Herr Länger ebenso viel Formulierungsaufwand auf die Darstellung des Beschreibungsproblems verwendet wie auf die Darstellung 166 Elisabeth Gülich / Ingrid Furchner der Empfindung selbst. Letzten Endes macht er deutlich, dass er trotz seiner Anstrengungen zu keinem befriedigenden Ergebnis kommt. Die Patientin im nächsten Beispiel kapituliert von vornherein vor der Schwierigkeit, das Erlebte in Worte zu fassen, und formuliert dies auch ganz explizit: Beispiel 2: Frau Gleichen (Z. 35-44) 35 G: der ,äh normAle' ablaut is dass ich n . son drÜckn' im thOraxbereich habe'. 36 und ähm . dass son: . son <lauter> drUck' + . son komisches gefÜhl, & das: 37 komische gefiihl kann=ich ihn leider nich beschrEIbm, das konnt=ich frÜ- 38 her aber AUch .schon nich 39 A: .mh 40 G: äh: wie=ich öh: . epilepsie . gehabt hatte & ich bin=äh . (? jetz so) ungefähr 41 zehn Jahre anfallsfrEI gewesn' und dann sind se dann nAchher wiederge- 42 komm, . . . könnt die dAmals, schon nich richtich beschreibm . . äh . . JA, 43 dass ich dann nachher ebmd äh das gefiihl habe dass mein hErz schneller 44 schlägt' In der Beschreibung ihrer Anfallsverläufe benennt Frau Gleichen ein erstes Symptom mit einem Vagheitsindikator als son drücken im thoraxbereich, reformuliert dann zweimal, mit zunehmend generelleren Ausdrücken (Z. 35- 36 son druck, son komisches gefühl), wobei sie mit Verzögerungen und Vagheitsindikatoren Formulierungsprobleme anzeigt. Dann geht sie direkt zu einem metadiskursiven Kommentar über, in dem sie zunächst ihre aktuelle, dann ihre frühere Unfähigkeit, das Phänomen zu beschreiben, explizit formuliert (Z. 36-38). Nach einem erklärenden Einschub reformuliert sie den Kommentar zur früheren Beschreibungsunfähigkeit, bevor sie zum nächsten Symptom im Anfallsverlauf übergeht. Frau Gleichen stellt hier also ihre Einschätzung, dass es ihr unmöglich sei, ein bestimmtes Phänomen zu beschreiben, als Resultat früherer, erfolgloser Beschreibungsversuche dar. Mit dem Übergang zum nächsten Symptom zeigt sie an, dass sie daraus die Konsequenz zieht, auf einen erneuten Versuch im aktuellen Gespräch von vornherein zu verzichten. Noch einen Schritt weiter in der Kapitulation vor der Schwierigkeit des Beschreibens geht der Patient im folgenden Beispiel; für ihn ist die Unbeschreibbarkeit ein Argument dafür, ein bestimmtes Symptom von sich aus gar nicht erst anzusprechen: Beispiel 3: Herr Keller (Z. 133-150) 133 A: oder . ANgst oder AUFregung oder sowas auch nich so, . jedenfalls von 134 IHnen erwÄHnt worden, 135 K: Im anfall,<AA> Die Beschreibung von Unbeschreibbarem 167 136 A: ja, 137 K: . doch . schon, <EA> also einen angst so, . angstzustände hab ich da 138 schon, . . aber die kann man nich so richtig . beschrEIben ,so äh [pf] . 139 <EA> das is au denn mEHr so: , . wenn der: . anfall langsam abklingt, . 140 am anfang is die angst weniger, 141 A: . aha' 142 K: und das is dann zum ende hin, . kommt schon die angst, 143 A: (6 sec.) kann man die noch . versuchen in wOrte zu fassen' oder Is die 144 <EA> . die nAmenlos, 145 K: <AA> die angst, . <AA> mh: . . wie sOll ich=n das: . (leiser) wie soll 146 ich=n datt jetz sAgen, + (4 sec.) <langes AA> . . <EA> so: . dass man: : 147 [n ph] (schnalzt) mh: : : , . (leise) (? so da) . hinfällt und und denn auch 148 <EA> (? ...) oder (? konnten nochmal so) richtig geholfen, (? ...) + <EA> 149 mh=<AA> . dass ma so allEIne is: so, . wEIt weg, ... ich hab da: AUch, . 150 also . wenn ich jetz so die angstzustände hAbe so zum schlUss (...) Der hier zitierte Austausch findet statt, nachdem Arzt und Patient bereits seit geraumer Zeit miteinander im Gespräch waren und der Patient in mehreren Gesprächssequenzen den Verlauf seiner Anfälle dargestellt hat. Dass im Anfallsverlauf auch Angst auftritt, stellt sich erst heraus, als der Arzt gezielt danach fragt: Herr Keller gibt daraufhin an, durchaus Angst zu haben, schließt aber sofort einen generalisierten Kommentar zur Schwierigkeit des Beschreibens dieser Angst an (Z. 136-138), mit dem er begründet, warum er das Symptom nicht selbst thematisiert hat. Im Weiteren geht er zwar auf den Aspekt der Angst ein (Lokalisierung im Anfallsverlauf), unternimmt jedoch keinen Beschreibungsversuch (auch die 6 Sekunden Pause nach seinem Beitrag machen deutlich, dass er dazu keine Anstalten macht). Vom Arzt anschließend zu einem Versuch des Beschreibens aufgefordert, gibt Herr Keller zunächst explizit seine Schwierigkeit zu erkennen (Z. 145-147); diese manifestiert sich in seinem nachfolgenden Versuch auch deutlich in einer Häufung von Dehnungen, Zögerungen und Abbrüchen. Während bei den Patienten in den bisherigen Beispielen die dargestellte Formulierungsschwierigkeit dazu führt, dass sie wenig oder gar nicht beschreiben, lässt sich in anderen Gesprächen die entgegengesetzte Tendenz beobachten. Manche Patienten, die im Gespräch ebenfalls die Schwierigkeit oder gar Unmöglichkeit des Beschreibens metadiskursiv anzeigen, verbinden dies mit hohem Formulierungsaufwand. Mit immer neuen selbstinitiierten Beschreibungsschüben, Verkettungen von Reformulierungen, Rückgriff auf Veranschaulichungsverfahren wie Metaphern und Vergleiche oder Beispielerzählungen versuchen sie, ihr Erleben dem Gesprächspartner begreiflich zu machen, und ‘inszenieren’ (im Sinne von Kallmeyer/ Schmitt 1991) dabei durch Verzögerungen, Selbstkorrekturen, Satzabbrüche, Konstruktionswech- 168 Elisabeth Gülich / Ingrid Furchner sei und Vagheitsindikatoren ihre Formulierungstätigkeit. 8 Das Problem des Beschreibens manifestiert sich also nicht in erster Linie oder ausschließlich in expliziten metadiskursiven Kommentaren, sondern vor allem in der immensen Formulierungsarbeit, die die Patienten bei dem Versuch leisten, ihre Erfahrungen und Erlebnisse dem Gesprächspartner zu vermitteln. Dass es nicht allein auf solche metadiskursiven Kommentare ankommt, die die Beschreibungsaufgabe explizit als schwierig definieren, macht auch das Beispiel Frau Nieders deutlich, die im gesamten Gesprächsverlauf immer wieder neue selbstinitiierte Bearbeitungsschübe liefert, ohne dass solche Kommentare eine besondere Rolle spielten: Beispiel 4: Frau Nieder (Z. 13-27) 13 das: fangt also bei mir . hier'. in der MAgen' ,und in der brUstgegend fängt es AN' 14 . . öh: und das is: öh: m . ein gefühl ,wie . 'wie stArr, . ich also ich spÜr=s: ' . äh: 15 jetz KOMMt=s, . es kommt also ganz lANgsam' . ,un: d dann is=es eben DA' . . 16 u: n: d dann . macht es sich öh: . GANz schNEll dann eigentlich <EA> im: . KÖR- 17 per, breit <EA> es geht also ich spürs dann in den BEInen' ,in den FÜßn' ,in den 18 ARmen' . ich spürs im ganzen KÖRper’ . <EA> un: d das is halt n gefühl' das öh 19 nicht GUT ,tut . . das: : . Ist KEIn schmERz: 1 . aber wenn (e)s SEHR ,stARk ist 20 dann tut es schon fast ,wEH . <EA> weil: . es MAcht den körper' <AA> . zum 21 Teil'. kribbelich 1 ... ,öh: . aber gLEIchzeitich'. bin=ich also wenn (e)s sEHr stark 22 ist' <EA> ,öh: auch . NICH direkt geLÄHmt' aber . ich bin bewegungs' . LOser, . 23 <EA> also ich . KAnn dann NICHT' . mehr weitermachen, was ich grade TUe, . 24 egal' was es auch grade Ist <EA> ich muss damit AUFhöm' . <EA> un muss eben 25 warten' . bis dieses gefühl' . wieder zurückgeht, & ich spür .auch wie=s zurück- 26 geht, . es geht halt so LANgsam' wie=s gekommen is' geht=s dann auch wieder 27 zurück' (...) (Z. 57-74) 57 A: is das n: e . mh: : . . <EA> ne/ . ne UN: ruhe ,oder is das ne / 'ANgst noch ,oder 58 N: also ne ANgst' is=es NICHT, 59 A: ,jaa‘ 60 N: also angst'. das is=es Nicht, 61 A: mhm‘ 62 N: aber es IS: . <EA> es IS=n gefühl es KOMMT' ,ich sage Immer des KOmmf 63 wie: . <EA> öh . 'wie NE: : bel . wie DUN: st' . . wie/ wie GÄNsehaud ,wie: 64 <EA> so: . . SO KOmmt ,das gefühl, . . . und wenn=s dann im GANzen 65 kÖRper sitzt'. und DAnn is es ne UNruhe' 'IM .körper' 66 A: . .ehe 1 67 N: aber gLEIch.zeitich' öh: . is mir alles zu VIEL, . . tROtz dieser unruhe'. ,öh . Zwei sehr deutliche Beispiele für eine intensive Formulierungsarbeit, die durch metadiskursive Kommentare zur Unbeschreibbarkeit eingeleitet bzw. gerahmt wird, werden in Gülich/ Schöndienst (1999) analysiert (Frau Tolkow und Frau Reifen). Die Beschreibung von Unbeschreibbarem 169 68 möchte ich also . sEhr oft nichts mehr reden' . mir is jedes WOrt das ich 69 sprEchen, muss zu viel . also ich möcht am besten gar keine ANTwort, mehr 70 geben . . wenn mich dann mein sOHn was fracht 1 und da sach ich 'kind . im 71 moment Nicht, . <EA> öh ich KAnn jetz nicht . also ich KAnn schon noch 72 sprechen' aber es is mir zu ,viel &<EA> ich möcht NICHts ,sagen , <EA> 73 ich möchtfs] nichts TUN' . ich möcht MANchmal einfach nur da sitzen' <tief 74 EA> und warten bis=es rum ist. Bei der intensiven Beschreibungsarbeit, die Frau Nieder hier leistet, um das von ihr Erlebte darzustellen, bedient sie sich verschiedener Formulierungsverfahren: - Sie produziert komplexe Reformulierungsstrukturen, indem sie Reformulierungen miteinander verkettet oder ineinander einbettet. 9 Beispielsweise sind in die Reformulierungsstruktur macht es sich (..) im: . KÖRper, breit ich spürs im ganzen KÖRper (Z.16-17) drei Konkretisierungen eingebettet. Oder ein noch komplexeres Beispiel: Innerhalb des Rahmens, der durch den Bezugsausdruck is mir alles zu VIEL, (Z. 67) und die Reformulierung dieses Ausdrucks mit es is mir zu viel (Z. 72) geschaffen wird, erfolgen zunächst eine Konkretisierung {möchte (..) nichts mehr reden), dann zwei zunehmend konkrete Reformulierungen dieses Ausdrucks {jedes wort {..) zu viel, möchte (..) gar keine antwort mehr geben) (Z. 68-70) und schließlich in einer weiteren Konkretisierung eine Illustration durch ein Szenario 10 mit direkter Rede. - Neben der Illustration durch Szenarien nutzt Frau Nieder noch andere sprachliche Ressourcen zur Veranschaulichung, wie Metaphern und Vergleiche (Z.14, 62-63). - Als weiteres Verfahren verwendet sie mehrfach adversative Strukturen, mit denen sie das gleichzeitige Auftreten widersprüchlicher Empfindungen zum Ausdruck bringt: 11 das: : . Ist KEIn schmERz: '. aber wenn (..) tut es schon fast ,wEH (Z. 19-20) es MAcht den körper' {..) kribbelich' {..) aber gleichzeitich'. bin=ich (..) bewegungs'. löser, (Z. 20-22) 9 Bei der Beschreibung von Reformulierungen legen wir den Ansatz von Gülich/ Kotschi (1996) und frühere Arbeiten zugrunde. 10 Vgl. Brünner (1999, S. 31): „Ein Szenario ist der verbale Entwurf einer vorgestellten, kontrafaktischen Situation, wobei Ereignisse und Handlungen des Adressaten verbal geschildert und ausgemalt werden.“ In Brünner/ Gülich (im Druck) werden Szenarios und Konkretisierungen neben Metaphern und Vergleichen sowie Beispielen und Beispielerzählungen als Verfahren der ‘Veranschaulichung’ beschrieben. 11 Ein ähnlicher Fall wird in Wolf/ Schöndienst/ Gülich (2000) analysiert; vgl. auch Gülich/ Schöndienst (1999, S. 210-212). 170 Elisabeth Gülich / Ingrid Furchner DAnn is es ne Unruhe' 'IM ,körper' aber glEIch,zeitich' öh: . is mir alles zu VIEL, . . tROtz dieser unruhe' (Z. 65, 67) Obgleich Frau Nieder ihre Beschreibungen nicht durch metadiskursive Kommentare strukturiert oder rahmt, in denen sie die Darstellung ihrer Anfallsempfmdungen explizit als Problem ausweist, gibt sie mit dem sprachlichen Aufwand, den sie auf die Darstellung verwendet, einen deutlichen ‘account’ für ihre Schwierigkeit, das, was sie erlebt, zu beschreiben. An einer späteren Stelle im Gespräch stellt sie es als ein grundsätzliches Problem dar, subjektive Aura- oder Anfallsempfindungen überhaupt anderen Menschen zu vermitteln (s.u. Abschn. 4). Spuren eben dieses Problems, dem Gegenüber das Gemeinte begreiflich zu machen, finden sich auch in den Erklärungen des Patienten im folgenden Ausschnitt: Beispiel 5: Herr Vielfalt (Z. 56-60) 56 ich war geistig da' ich hatte vielleicht ma ne sEhstörung' . das ist ne <schneller> 57 sehstörung, w(ie)=soll ich das beschrEIben, + . . stellens(e)=sich ne kAmera vor 58 die urplötzlich gANZ nah auf ein motiv drAUf geht’ . und Ursprünglich wieder 59 zurückgerissen wird, ne’ . . diesen effekt' son effEkt ,hab ich bei: den sEhstörun- 60 gen,... das geht dann so drEI vier mal’. immer schnell hintemander, ne’ Ohne es ausdrücklich zu formulieren, macht dieser Patient deutlich, dass dem Gesprächspartner etwas vermittelt werden soll, was dieser nicht ohne Weiteres verstehen kann: Er nimmt eine Metapher (aus einem in Anfallsbeschreibungen relativ geläufigen Metaphemsystem 12 ) zu Hilfe und zeigt an, dass er diese auf seinen Gesprächspartner zuschneidet {stellen se sich vor). Mit dem metadiskursiven Kommentar, mit dem er seine Erklärung einleitet, lenkt er die Aufmerksamkeit auf das Formulierungsproblem und präsentiert seine Erklärung als Lösung dieses Problems obgleich er diese ganz routiniert, ohne Spuren nennenswerter Versprachlichungsschwierigkeiten äußert. Dass diese Metapher Bestandteil seiner Formulierungsroutine ist, zeigt sich im Übrigen in einem vier Jahre später stattfindenden Gespräch, in dem er genau denselben Vergleich mit der Kamera bringt. Im folgenden Ausschnitt wird die Orientierung am Adressaten noch deutlicher, weil der Patient hier ausdrücklich an dessen Erfahrungs- und Vorstellungsbereich appelliert: 12 Solche Metaphemsysteme werden ausführlicher beschrieben in Brünner/ Gülich (im Druck, Abschn. 3.1). Die Beschreibung von Vnbeschreibbarem 171 Beispiel 6: Herr Reger (Z. 85-97) 85 ,äh das fÄngt an' . mit . (? hä) einem gefiih: ! unangenehmer wÄrme, das (? m b) 86 <EA> . äh sich im ganzen kÖrper ausbrEItete’ . <EA> und . ,ähm . meine erfAH- 87 rung’ . hat mir gesagt ,äh . da kOmmt vielleicht was' <EA> <AA> <EA> u: nd . 88 ,ähm . wenn ich das: . ,äh nochmal etwas lAIenhaft <EA> . ,äh beschrEIben darf, . 89 . ,äh ich wElß nich ob sie jemals das geflihl hatten dass sie . . <schnalzt> <EA> 90 ,äh: . mal . einige tAge’ . mit irgend . einer krAnkheit im bett gelegen hAben' 91 <EA> dann AUfgestanden sind, und . ,ähm . momEnte später <EA> gemerkt ha- 92 ben jetz hab ich mir aber zUviel zUgemutet, <EA> . und . Irgendwo, . hört man 93 dann noch ne stimme, und äh <EA> . . die: . manchmal . nimmt man den: . slrm- 94 gehalt da AUch nich mehr, . <EA> wAHr . wAs da noch zu einem gesagt wird is 95 ,äh <EA> ,und . alles drEHt sich und=,ähm <EA> und <AA> multi . plizIEm sie 96 das: . mit dem faktor X dann: . harn se Ungefähr das gefühl, <EA> . ,äh: m . das . 97 das ich da: bei der AUra habe, ja Mit dem metadiskursiven Kommentar kündigt Herr Reger eine laienhafte Beschreibung an, die er als direkt an seinem Gesprächspartner ausgerichtet darstellt {ob sie jemals das gefühl hatten dass sie... usw.). Um das eigene Erleben dem Gegenüber anschaulich und begreiflich zu machen, knüpft er an alltagsweltliche Erfahrungen und Vorstellungen an. Dabei ergibt sich eine interessante Doppeldeutigkeit in der Zuordnung des Begriffs „Laie“: Während er mit dem Kommentar zunächst sich selbst als Laien (gegenüber dem medizinischen Experten) kategorisiert, weist ihn der anschließende Rekurs auf die Veranschaulichungsverfahren eher als Experten aus. 13 Fazit Die Formulierungsaufgabe, den ärztlichen Gesprächspartnern Auren bzw. Anfallserscheinungen zu beschreiben, wird von den Patienten als schwer lösbar oder gar unlösbar dargestellt, d.h. durch metadiskursive Kommentare als schwierig definiert und/ oder durch eine Vielzahl von Indikatoren als besondere Formulierungsanstrengung ausgewiesen. Sie scheint die Patienten an eine Grenze zu bringen: an die Grenze ihrer eigenen Formulierungsfähigkeit oder an die Grenze dessen, was sie überhaupt für sprachlich darstellbar halten. Dabei lassen sich zwei unterschiedliche Tendenzen erkennen: Auf der einen Seite gibt es Patienten, die vor der Aufgabe mehr oder weniger kapitulieren, was im extremen Fall so weit geht, dass als unbeschreibbar eingestufte Phänomene gar nicht erst thematisiert werden. 13 Vgl. zur konversationellen Konstitution von Experten und Laien Furchner (1997) und (1999), im Kontext medizinischer Kommunikation: Gülich (1999, Abschn. 4). 172 Elisabeth Gülich / Ingrid Furchner Auf der anderen Seite führt die Einschätzung als schwer beschreibbar zu ausgesprochen intensiver Arbeit an der sprachlichen Darstellung des Phänomens. Das, was als unbeschreibbar präsentiert wird, wird also so paradox es klingen mag sehr wohl beschrieben. An die Grenzen des Beschreibbaren zu kommen, führt mitnichten zum Verstummen, sondern im Gegenteil zumindest bei manchen Patienten zu erhöhtem verbalen Aufwand; je schwerer die Beschreibungsaufgabe zu sein scheint, um so mehr Worte werden gemacht. Zur Lösung dieser schwierigen Aufgabe rekurrieren die Patienten auf verschiedene sprachliche Verfahren: Reformulierungen, insbesondere in Form von längeren Reformulierungssequenzen mit Verkettungen und/ oder Einbettungen von Reformulierungen, - Negativdefmitionen, adversative Strukturen, - Veranschaulichungsverfahren wie Metaphern und Vergleiche, Beispiele, Konkretisierungen und Szenarios, mit denen an Alltagserfahrungen und -Vorstellungen angeknüpft werden soll, - Verfahren der Redebewertung und/ oder -kommentierung, d.h. vor allem metadiskursive Kommentare, die die schwere Beschreibbarkeit betreffen und die die genannten Verfahren häufig einleiten oder rahmen. Die intensive Arbeit an der Formulierung trägt zudem Spuren der Versprachlichungsarbeit, z.B. Verzögerungen, Abbrüche, Konstruktionswechsel, Selbstreparaturen sowie Vagheitsindikatoren, die verwendete Ausdrücke als vorläufig markieren. Die Bearbeitung der Formulierungsaufgabe weist sich so durch sich selbst, d.h. durch die Inszenierung der Formulierungsarbeit als Anstrengung zur Lösung eines schwierigen Problems, als schwer lösbar aus. Metadiskursive Kommentare bieten zwar einen guten Ansatzpunkt, um sich dem Phänomen zu nähern, aber der Schlüssel zur Unbeschreibbarkeit liegt nicht in ihnen allein. Zum einen kann Unbeschreibbarkeit bzw. schwere Beschreibbarkeit auch ohne solche expliziten Kommentare deutlich dargestellt werden. Zum anderen können metadiskursive Kommentare auch mehr oder weniger formelhaft verwendet werden und dann fast im Widerspruch zu ihrer inhaltlichen Aussage stehen. Es ist also immer die Kombination der verschiedenen sprachlichen Verfahren zu beachten. Die Beschreibung von Unbeschreibbarem 173 3. Dimensionen der Unbeschreibbarkeit Ich denke, was die Beschreibung dieser Art von Aura so schwierig macht, ist, daß man sie in ihrer gleichzeitigen Gegensätzlichkeit nicht erfassen kann. Wenn ich sage, ich bin desorientiert in diesem Zustand, ist das so paradox sich das anhören mag gleichzeitig wahr und falsch. Ich bin desorientiert und bin es gleichzeitig auch wieder nicht. Wie oft halte ich inne, um mich zu fragen, was ich hier eigentlich soll, was ich hier eigentlich mache. Aber gleichzeitig weiß ich ganz genau, was das soll und was ich tue, ich weiß es, aber ich weiß es nicht. (Aus dem Brief einer Epilepsiepatientin) Die Patienten, die ihre Anfallserlebnisse als schwer beschreibbar darstellen, bringen dieses Beschreibungsproblem mit verschiedenen Faktoren in Verbindung, die zum Teil in den oben zitierten Ausschnitten schon erwähnt wurden. Einer dieser Faktoren liegt in dem zu beschreibenden Phänomen selbst begründet: Es handelt sich um etwas schon an sich Vages, um Gefühle, Empfindungen, Wahrnehmungen, die als diffus, unklar, nicht greifbar, widersprüchlich, absurd usw. erlebt werden. Dies kommt u.a. in den Vagheitsindikatoren zum Ausdruck, die die Patienten bei der Benennung solcher Phänomene verwenden: so=n komisches gefühl (s.o. Bsp. 1 und 2), weder irgendwie so=n schmerz (Bsp. 1). In etwas anderer Form zeigt es sich im Beispiel des Patienten in dem folgenden Ausschnitt, der Stimmen hört; hier wird das Nicht-Fassbare der Erfahrung auch durch die interaktive Bearbeitung des Phänomens deutlich: Beispiel 7: Herr Rheinländer (Z. 36-45): 36 R: ja und dAnn war das so als würde: ne innere stimme zu mir sprechen (...) 37 A: und sie konnten dann in dem moment wo sie das . g/ vernOmmen haben’ 38 nich unterscheiden’ is das jetz wirklich jemand’ ode: r . äh: m . is das jetz ne: 39 art EfNgebung, 40 R: ja’ das is schwer zu sAgen also wie gesacht’ das kam mir immer so vor’ als 41 war wär ich noch als war irgendwo noch ne zweite person’ die irgendwie mir 42 irgendwas sAgt ne’ . als hält ich noch ne zweite person in mir’ 43 A: . . also es war nicht ne ffEMde stimme sondern es war eigentlich ihre Eigene 44 st. die so z: u ihnen sprach’ 45 R: . . ja’ das könnte man viellEIcht so sAgen . das is wirklich schwer zu sAgen Hier versucht auch der Arzt, sich durch Formulierungsvorschläge dem Phänomen der „inneren Stimme“ zu nähern: Seine Nachfrage veranlasst Herrn Rheinländer zu einer Präzisierung seiner Wahrnehmung (Z. 42: als hält ich noch ne zweite person in mir), aber als der Arzt daraufhin versuchsweise die 174 Elisabeth Gülich / Ingrid Furchner Stimme als die eigene, nicht eine fremde Stimme charakterisiert, entzieht sich das Phänomen offenbar wieder einer präzisen Beschreibung, denn sein Vorschlag wird nur als vielleicht zutreffend akzeptiert (wobei das vielleicht betont wird, vgl. Z. 45), und der Patient reformuliert seinen Kommentar zur schweren Beschreibbarkeit. Ein anderer Fall, in dem das Phänomen selbst für die Unbeschreibbarkeit verantwortlich zu sein scheint, liegt bei der Darstellung gleichzeitig auftretender widersprüchlicher Empfindungen vor, wie sie zum Beispiel von Frau Nieder (s.o. Bsp. 4) und in dem Briefzitat zu Beginn dieses Abschnitts geschildert werden. Ein weiterer Faktor ist in der Abweichung des erlebten Phänomens von der Normalität begründet: Entweder es ist etwas Fremdes, noch nie da Gewesenes (vgl. in Bsp. 1 sowas hatt ich vorher noch nie und nicht natürlich), oder es handelt sich um ein bekanntes Phänomen, das aber in anderer, unbekannter Form oder Qualität auftritt. So grenzt beispielsweise die Patientin im folgenden Beispiel die von ihr in der Aura erlebte Angst ausdrücklich von einem „normalen“ Angstgefühl ab: Beispiel 8: Frau Kakia weil ja ne angst. donfall „wegwerfend“> ne einfache angst des=is + . . aber DA da schlägt irgendwas <sehr hoch> zu" + es is . . es kommt ne Todesangst Die Angst, die sich mit der Aura verbindet, ist ganz offensichtlich das bestätigen auch andere Gespräche mit Anfallskranken nicht die des täglichen Lebens; so äußern auch solche Patienten Angst, die „sonst keine Angst haben , und ärztliche Fragen wie die nach „der Angst vor der Angst“ sind daher keineswegs tautologisch. Ein dritter Faktor, der von den Patienten mit der Beschreibungsschwierigkeit in Zusammenhang gebracht wird, ist die Sprache. Dabei wird nicht nur die eigene Ausdrucksfähigkeit, sondern auch die Sprache selbst als unzulänglich charakterisiert, wie beispielsweise in dem Kommentar von Flerrn Länger der generell das „Fehlen der Worte“ anführt (s.o. Bsp. 1) oder in dem oben zitierten Brief, wo die Verfasserin einfach keine Sprache findet für das was passiert (s.o. Kap. 1). Natürlich sind diese beiden Faktoren nicht unabhängig voneinander. Die Mittel, die die Sprache zur Beschreibung bereitstellt, sind eben deshalb nicht ausreichend, weil es sich um ein unvertrautes, ungewöhnliches, vages Phänomen handelt. In Verbindung mit dem Beschreibungsproblem erscheint schließlich auch das ' r dl die Patienten von ihren Gesprächspartnern machen, als ein wichtiger Faktor: Ihre Formulierungsanstrengungen deuten darauf hin, dass sie deren Vorstellungsfähigkeit nicht so recht trauen. Das für sie Unbe- Die Beschreibung von Unbeschreibbarem 175 schreibbare ist zugleich das für das Gegenüber Unvorstellbare, diesem nicht Zugängliche. Dieses Vermittlungsproblem stellt sich zunächst einmal in einer konkreten Gesprächssituation mit einem konkreten Gesprächspartner, dem sie ihr Erleben vermitteln sollen; so lokalisiert die Patientin im folgenden Beispiel das Problem eindeutig bei ihrem Gegenüber: Beispiel 9: Frau Kurz A: ich habs immer noch nicht richtig verstanden wies einsetzt K: ja wie soll ich ihnn das denn anders erzählen <mit verzweifelt-ungeduldigem Ton> anders kann ich ihnen das nicht (...) wie soll ich ihnen das erkläm so dass sie das verstehen Das Problem hängt jedoch nicht an diesen spezifischen Personen, sondern es ist genereller. In den Gesprächen bringen die Patienten mehr oder weniger deutlich die Annahme zum Ausdruck, der Gesprächspartner könne sich das Beschriebene deshalb nicht vorstellen, weil er es nicht selbst erlebt habe. Als Frau Kakia ihre in der Aura erlebte Todesangst schildert (s.o. Bsp. 8), formuliert sie diese Annahme ganz explizit: man kann es sich mich vorstelln . . man muss=es vielleicht sicher . sELbst erstma durchmachen, . (? also) es is . eh <schnell> ich könnte mir das ebmd auch nich vorstelln wenn SIE mir das jetz zum beispiel erzählen würden. Hier wird deutlich, dass nur die eigene Erfahrung solche Empfindungen überhaupt zugänglich oder nachvollziehbar macht, und diese Aussage wird als allgemeingültig, d.h. nicht an den aktuellen Gesprächspartner gebunden, präsentiert. Nicht an eigene Erfahrungen anknüpfen zu können wird offenbar nicht durch medizinisch-epileptologische Fachkompetenz ausgeglichen. In dieser Hinsicht sind nicht die Ärzte die Experten, sondern die Patienten. Daher ist die Einschätzung der Unbeschreibbarkeit der Erlebnisse seitens der Patienten im Gespräch auch äußerst resistent gegen gegenläufige ‘accounts’. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür bietet das Gespräch mit einer Patientin (Frau Tolkow), die ihre immer neuen Beschreibungsversuche mit zahlreichen metadiskursiven Kommentaren vom Typ das istfurchtbar schwer zu erklären versieht. Im Anschluss an einen dieser Kommentare sagt der Arzt ausdrücklich: sie beschreibm das ja sehr ANschaulich (..) und es is ja auch nichts: : für für unsereins . äh hier . gan: z UNvorstellbares oder gan.z . . UNerhörtes <Lachansatz> . nie da gewesenes. Frau Tolkow scheint das auch aufzunehmen, wenn sie antwortet: mhm (..) hörn sie auch schon von andern (..) sind bekAnnt sicherlich solche Störungen Aber der Fortgang des Gesprächs zeigt, dass die Aussage des Arztes bei ihr letztlich nicht ‘angekommen’ ist: Auch ihre späteren Beschreibungen versieht sie wiederum mit derselben Art metadiskursiver Kommentare: es is so . wirklich <lachend> schwEr zu erklärn. 176 Elisabeth Gülich / Ingrid Furchner Fazit Anfallskranke Patienten sehen sich vor der schwierigen Aufgabe, ein als sehr ungewöhnlich, als nicht normal empfundenes, höchst subjektives und irritierendes Erleben einem Kommunikationspartner zu vermitteln, der auf diesem Gebiet nicht an eigene Erfahrungen anknüpfen kann. Im Hinblick auf solche Erlebnisse kann also anders als sonst in der Alltagskommunikation keine gemeinsame Wissensbasis (im Sinne von Alltagswissen) unterstellt werden, die zum Nachvollziehen des je spezifischen Erlebens befähigen würde. Das fachliche medizinische Wissen, über das der Arzt verfügt, kann die eigene Erfahrung aus der Sicht der Patienten nicht ersetzen. Interaktionspostulate (im Sinne von Alfred Schütz), die als grundlegend für das Funktionieren von Kommunikation angesehen werden wie die Reziprozität der Perspektiven scheinen für die Beschreibung der Auren nicht oder nur eingeschränkt zu gelten. 14 4. Selbst- und Fremdbilder es hört sich mANchmal' . ,öh: sehr verzwickt an & und jemand . der außen, steht und und das: überhaupt nicht: weiß was da los ist' ,dem kann man das ja sowieso nicht. SO erkläm, weil der denkt manchmal die spinnt, . weil . ich/ werm=ich sage=es Sind keine schmERzen . aber es tut WEH, . dann . is das KOmisch, aber so IS es, so FÜHL ,ich das (Frau Nieder) Die ‘Unbeschreibbarkeit’ des subjektiven Aura- oder Anfalls-Erlebens manifestiert sich zwar zunächst als Formulierungsproblem, sie erweist sich aber bei genauerem Hinsehen auch als ein Vermittlungsproblem; sie hat somit nicht nur eine individuelle, sondern auch eine soziale Seite. Das Beschreibungsproblem stellt sich für die Patienten zunächst in konkreten Gesprächssituationen gegenüber konkreten Gesprächspartnern. Seine Auswirkungen auf die Möglichkeiten der Verständigung mit anderen und auf die Beziehungen zu anderen reichen aber erheblich weiter als das konkrete aktuelle Ge- Hier drängt sich natürlich die Frage auf, wie Anfallskranke untereinander über ihre Auren bzw. Anfallswahmehmungen reden, wenn sie voraussetzen können, dass sie einen gemeinsamen oder zumindest ähnlichen Erfahrungshintergrund haben. Diese Frage lässt sich jedoch auf der Grundlage unserer Daten nicht beantworten. Man kann nun zwar auch im Internet Anfallsbeschreibungen von Patienten finden („Das Epilepsie-Netzwerk: Ich rede jetzt“: http: / / www.epilepsie-online.de), aus denen deutlich wird, dass sie im Wesentlichen an andere Betroffene gerichtet sind, aber sie sind mit Anfallsbeschreibungen aus Arzt-Patient-Gesprächen gerade unter dem Aspekt der Vermittelbarkeit schwer vergleichbar, weil es sich hier eben doch um schriftliche Kommunikation handelt. Wenn man in diesen Beschreibungen keine Darstellung von ‘Unbeschreibbarkeit’ findet so unser Eindruck -, dann kann das ebenso gut mit der konzeptionellen Schriftlichkeit der Mitteilungen und dem Fehlen direkter Interaktion Zusammenhängen wie mit der Tatsache, dass bei den Adressaten geteiltes Wissen vorausgesetzt wird. Die Beschreibung von Unbeschreibbarem 177 spräch. Mit der Darstellung von Unbeschreibbarkeit tragen die Patienten auch zur Konstitution eines Selbstbildes bei und vermitteln zugleich auch ein Bild der anderen. Auch wenn man sich in Anfallsdarstellungen von Patienten auf die Beschreibung der subjektiven Wahrnehmungen und Empfindungen konzentriert, zeigt sich bei einer vertieften Beschäftigung mit diesen Darstellungen mit überraschender Deutlichkeit, dass „die Anderen“ darin eine zentrale Rolle spielen, die nicht zuletzt auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass diese Anderen sehr häufig von den Patienten selbst ins Gespräch eingeführt werden, ohne dass vom Gesprächspartner eine entsprechende Frage gestellt wurde. Dies hängt sicher zum einen damit zusammen, dass ein konstitutives Moment für einen großen Teil der Anfälle eine Phase eingeschränkter Selbstverfügbarkeit 15 ist. In Bezug auf diese Phase sind die Patienten u.U. darauf angewiesen, sich ihr eigenes Verhalten von anderen berichten zu lassen, die Zeugen eines Anfalls wurden. Zum anderen sehen sich Anfallskranke im Alltagsleben in einem so hohen Maße Vorurteilen, Fehleinschätzungen und Benachteiligungen durch die Umwelt ausgesetzt, 16 dass sich ihnen beim Reden über Anfälle das Reden über andere geradezu aufzudrängen scheint. Im vorliegenden Zusammenhang ist nun natürlich von besonderem Interesse, wie über die Anderen geredet wird. Die Patientin im folgenden Gesprächsausschnitt lässt in ihrer Antwort auf die Frage des Arztes, wie sie erfahrt, was während eines Anfalls mit Bewusstseinsverlust passiert, eine Zuordnung anderer Leute zu unterschiedlichen Gruppen erkennen: 13 Wir haben in unserer Forschungsgruppe (s.o. Anm. 1) den Ausdruck ‘Phase eingeschränkter Selbstverftigbarkeif gewählt, weil es wenn man den Darstellungen der Patienten folgt nicht nur Bewusstlosigkeit oder Bewusstheit gibt, sondern viele Grade mehr oder weniger starker Einschränkungen in Bezug auf das, was Patienten „mitkriegen“. Dem speziellen Darstellungsproblem, das sich daraus ergibt, wird ausführlich nachgegangen in Furchner (im Druck). 16 Dass in der Öffentlichkeit häufig Vorurteile oder zumindest unzutreffende Vorstellungen von dieser Krankheit anzutreffen sind, bestätigen auch die Versuche, ihnen entgegen zu treten, z.B. in Büchern mit Erfahrungsberichten von Patienten (wie etwa Bichler 1991, Schächter 1997) oder auch in Rundfunk- und Fernsehsendungen. In einer Rundfunksendung („Sprechstunde: Epilepsie“, DLF 13.10.1998) wendet sich beispielsweise Prof. Peter Wolf vom Epilepsie-Zentrum Bethel als Studiogast bei der Beantwortung von Hörerfragen ausdrücklich dagegen, dass „aus einer Erkrankung mit Epilepsie eine soziale Ausgrenzung wird“; er weist darauf hin, dass vielen Patienten mit Epilepsie eine angemessene Beschäftigung vorenthalten wird, sie nicht ihrem Ausbildungsstand und ihren Fähigkeiten entsprechend eingesetzt werden, „weil gleich die Klappe runter geht, wenn das Wort Epilepsie fällt, auch wenn es sich um sehr leichte Formen handelt und die Patienten vielleicht sehr gut eingestellt sind, gar keine Anfälle mehr haben oder nur nachts im Schlaf, da erlebt man groteske Dinge (...)“. 178 Elisabeth Gülich / Ingrid Furchner Beispiel 10: Frau Olliver O: also hier' is ja so in der runde: . gleichartig hier jeder hat epilepsie 1 un=da wird doch gleich auch mehr . darauf geACHtet, . WIE ,der andre jetz sich verhält, . . geht MIR jedenfalls so ne’ . empfind Ich ,das jedenfalls . ne' und . . da: . IS es einfach so, da: Achtet man halt drauf, wenn=ich jetz mit UNbekannten person(en) äh: zusammensitze: ' A: & die würden sie gar nich ffAgen, O: jA, die/ Erstmal so: die: se hEmmschwel/ schwelle überhAUpt' also da muss man sich er/ sowiesO ,erstmal immer dUrchffagen' . WEnn man irgendwie was spürt' . Und äh . ansonsten sAgt ,ei(ne)m das ja keiner . . DAS einmal' ,und wenn=ich jetz mit bekannten zusammemsitze: ’ ,oder: äh verwandten oder so' dann/ und die wissen . dadrüber <EA> die Achten, auch schon irgndwie da drauf ne' un: d . die sAgen, ei(ne)m das auch mal . . auch noch nich ma unbedingt Immer' wenn se das auch nich . so richtich mitkriegen, Frau Olliver kategorisiert die Epilepsiekranken in der Klinik {hier in der runde) als eine Gruppe, die sich durch einheitliches Verhalten auszeichnet (nämlich auf die Anderen zu achten). 17 Dieser stellt sie die Gruppe der Anderen gegenüber, genauer gesagt: zwei andere Gruppen, denn die Welt der „Anderen“ ist nicht homogen: Unbekannte Personen sind im Falle eines Anfalls offenbar keine geeigneten Interaktionspartner. Bekannte und Verwandte, die Bescheid wissen, sind es schon eher; sie teilen mit der Gruppe der Epilepsie- Patienten die Verhaltensweise, „darauf zu achten“, aber auch sie haben nur einen eingeschränkten Zugang zu deren Welt, da sie das auch nich so richtich mitkriegen. Frau Nieder dagegen (s. Zitat am Anfang dieses Abschnitts) grenzt sich als Mitglied der Gruppe von Anfallskranken {man) umfassender ab gegen einen generalisierten „Außenstehenden“, als sie über ihre Schwierigkeit berichtet, ihre gleichzeitigen, aber widersprüchlichen Empfindungen zu beschreiben. Im Kontext dieses Buches liegt die Frage nahe, ob man im Falle dieser Gruppe von „sozialer Identität“ und „sozialer Zugehörigkeit“ im Sinne von Kallmeyer (1994) sprechen kann. Wir können in unseren Daten wie die wenigen hier zitierten Beispiele schon zeigen - Fälle von Selbst- und Fremdzuschreibungen von Zugehörigkeit finden und können beobachten, dass und mit Hilfe welcher sprachlicher Verfahren die Patienten sich zuordnen, wie sie Andere zuordnen und wie sie von Anderen zugeordnet werden, d.h. in diesem Fall: wie sie von solchen Zuordnungen durch Andere berichten. Wir können auch die sprachlichen Mittel der Selbst- und Fremddarstellung beschreiben. Aber unsere Daten sind nicht geeignet, um zu ermitteln, ob sich — und sei es auch nur für einen gewissen Zeitraum auf der Station einer Klinik — Anfallskranke als soziale Gruppe konstituieren, sich eine gemeinsame Identität geben, sich geteilten Wissens und geteilter Wertvorstellungen vergewissern usw. Dazu brauchten wir Gruppengespräche unter Anfallspatienten (s.o. Anm. 12). In den Arzt-Patient-Gesprächen, aus denen unser Corpus besteht, geht es eher um die Abgrenzung als um den Aufbau einer Gruppen-Identität. Nur dies ist auch der im vorliegenden Zusammenhang relevante Aspekt. Die Beschreibung von Unbeschreibbarem 179 Sie schildert eine Fehleinschätzung, die aus dem Beschreibungsproblem resultiert: die denken ja die spinnt. Solche zitierten Fehleinschätzungen bilden einen thematischen Schwerpunkt in den Aussagen über Andere. Sie bestehen im Grunde in einer Fehlkategorisierung: man gEHt durch die Straße die leute sagen haste einen getrunken ‘ (Frau Kakia) oder die leute ham gedacht was hAt se denn heute (..) hat se schlechte lAUne (Frau Kosch). Die Patientinnen werden von den jeweiligen Interaktionspartnern nicht der Kategorie ‘Anfallskranke’ oder überhaupt ‘Kranke’ zugeordnet, weil dazu das erforderliche Vorwissen fehlt, sondern ihr Verhalten wird unter Rekurs auf alltagsweltliche Deutungsmuster als ‘spinnen’, ‘betrunken sein’ oder ‘schlechte Laune haben’ interpretiert und dementsprechend in andere Kategorien eingeordnet. Die Fehlurteile werden typischerweise in direkter Rede zitiert und dadurch in besonderer Weise konkretisiert; solche Fälle referierter Fremdkategorisierung finden sich häufig in Erzählungen, in denen sich der Erzähler mit negativen Kategorisierungen durch Andere auseinander setzt. 18 Die Erzähler verweisen dabei oft gar nicht konkret auf einzelne Personen, sondern bezeichnen die Anderen meist unspezifisch als die, sie bzw. se oder die Leute. Fehlkategorisierungen können zu einer unangemessenen Behandlung durch die Anderen führen; einen solchen Fall schildert die Patientin im folgenden Ausschnitt: Beispiel 11: Frau Raschke nur in der Öffentlichkeit die menschen' die glauben dann ich will die überfAllen, ne . ich hab ja auch schon also . <EA> bin: geschlAgen worden' getrEten worden und . polizEI hat mich mitgenommen' weil se geglAUbt haben' ich stehe unter rAUschgift ich musste blUt abgEben' <AA> (...) es is ja auch passiert dass ich aus geschÄften rausgelaufen bin mit äh . sAchen also . , und dann hat/ ham die gedacht ich wollte klAUn' . (? und dann so) mUsst ich dIEbstahlprämien bezahln, . ich wurde fEstgehalten, die polizei kam . es gab ne strAfanzeige' hAUsverbot n jahr, <tiefes EA> Frau Raschke rekurriert hier auf die Form der iterativen Erzählung; sie präsentiert das Erlebte nicht als ein singuläres Ereignis, sondern als einen typischen, wiederholten Ablauf. Ähnliche Beispiele finden sich in unserem Datenmaterial in großer Zahl. Auch im folgenden Ausschnitt wird von einer typischen Situation erzählt: 18 Vgl. dazu Czyzewski/ Drescher/ Gülich/ Hausendorf (1995, Kap. 1, bes. Abschn. 4.2 und 4.3), wo am Beispiel der Auseinandersetzung mit nationalen, ethnischen und kulturellen Selbst- und Fremdbildem auf die Leistung des Erzählens in diesem Zusammenhang ausführlicher eingegangen wird. 180 Elisabeth Gülich / Ingrid Furchner Beispiel 12: Frau Vogel ich habe als bäckerFACH,Verkäuferin gearbeitet. un war auch also als bedienung, im CAfe, . tätich, <EA> un . wenn ich da son ANfall' bekomm habe natü(rl)ich die künden KUckten natürlich . und wussten nich bescheid' über die krAnkheit' und wAs ich habe' & und die ham gedacht oh gOtt da gehste nie wieder HIN, Auch Frau Vogel benutzt die direkte Rede, um die Reaktion der Anderen, in diesem Fall: der Kunden im Cafe, wiederzugeben. Diese Reaktion geht allerdings noch einen Schritt über die negative Fremdkategorisierung hinaus; sie beinhaltet die Konsequenz aus diesem Ereignis, die die Anderen aufgrund ihres Unwissens ziehen, nämlich künftig den Kontakt mit dieser Person zu vermeiden (da gehste nie wieder hin). Die Erzählung erfolgt im Rahmen des in diesem Gespräch intensiv bearbeiteten Themenkomplexes der Berufsausbildung und dient als einer der Belege dafür, dass Frau Vogel ihre Lehre abbrechen musste. Von ähnlichen Konsequenzen, die der Arbeitgeber angesichts des Anfallsleidens zieht, erzählt auch die Patientin im folgenden Beispiel: Beispiel 13: Frau Ohnesorg O: die ham gesacht ja, . für sie is das am besten äh: sie machen ne LEIchte tätichkeit’ . . un dann kam das AUch zwei drei mal, . und dann: ’ . ja, . . wa=ich ma beim arzt’ ,un: d . . die meinten dann so ja am besten: is das: äh . wir entlassen sie’ un: d . suchen se sich am besten: . ne LEIchte tätichkeit weil . wir KEnn das nich’ ,und: wir ham ANgst dass sie: . sich verLEtzen könn’ . . so an=ner: . maschine’ geschirrspül ,oder: mEsser ,oder . hERd oder so . . <leiser> ja,+ A: . . wegen der anfälle, . ham die denn mal was geSEhn’ wo dann so ne verletzungsgefahr bestand’ ,oder O: nee, . also [(? vonner ....) A: [oder ham sie das nur erZÄHlt, dass sie manchma so anfälle habm O: ja ich hab das dann so erzählt’ so: ne’ (? weil/ ) . also: . (? regelzeit) so . un: d . (? ja und hat=er gesacht/ ) also die ham das auch mltgekricht’ . . wolltn auch gr/ gleich den krANkenwagen anrufen’ ,ich sach nee’ brAUchen sie nich und so das geht gleich wieder vorüber’ . ,un: d . ja und die hatten ANgst’ und so ,und die KEnn’ das nich ,und: . da hab=ich das so n bisschen erklärt’ jA ,und dann meinte der chef dann zu mir . am besten sie suchen sich ne LEIchte’ . tätichkeit. . ja,. wegen . verLEtzungsgefahr, Auch hier wird die Reaktion der anderen nämlich die Entlassung aus dem Arbeitsverhältnis in direkter Rede wiedergegeben, und zwar nicht weniger als dreimal. Sprecher sind im ersten und zweiten Vorkommen die, während bei der letzten Redewiedergabe der chef als Sprecher eingeführt wird. Die zitierten Äußerungen sind inhaltlich im Wesentlichen gleich, weisen aber Die Beschreibung von Unbeschreibbarem 181 unterschiedliche Akzentsetzungen auf. Auf eine resümierende Form am Anfang (für sie is das am besten äh: sie machen ne LEIchte tätichkeit ) folgt eine expandierte Form, in der zum einen auch die Konsequenz (wir entlassen sie) ausdrücklich formuliert und zum anderen die Verletzungsgefahr konkretisiert wird, auf die auch in der abschließenden Reformulierung noch einmal Bezug genommen wird. Ebenfalls durch Reformulierungen stellt Frau Ohnesorg das fehlende Wissen als entscheidendes Argument heraus (wir KEnn das nich, die KEnn das nich). Dieser Mangel ist auch verantwortlich für die aus der Sicht der Patientin unangemessene - Reaktion auf einen erfolgten Anfall (einen Krankenwagen zu rufen), die sie in der Erzählung ebenfalls mit Flilfe direkter Rede zurückweist (nee ’ brAUchen sie nich usw.). Fazit Wenn man die Darstellung von „Unbeschreibbarkeit“ in Beziehung setzt zu Verfahren, auf die die Patienten beim Reden über sich selbst und über Andere rekurrieren (Erzählungen, Kategorisierungen u.a.), ergibt sich eine unübersehbare Parallele zwischen der Herstellung von Nicht-Beschreibbarkeit und Nicht-Vermittelbarkeit im Gespräch und den berichteten oder erzählten Ereignissen, die zentral auf dem Unverständnis der Anderen basieren. Das Gefühl, etwas zu erleben bzw. zu erleiden, was man nicht oder nur sehr schwer vermitteln kann und was Andere nicht verstehen können, scheint für das Selbstbild der Patienten konstitutiv zu sein; das wird auch darin deutlich, dass der Ausdruck der schweren Beschreibbarkeit so resistent gegen alternative Bewertungen ist. Mit dieser Darstellung konstruieren die Patienten ihre Identität als Angehörige einer spezifischen Gruppe von Anfallskranken, und sie grenzen sich von den Anderen und eben auch den ärztlichen Gesprächspartnern ab, die dazu keinen oder nur eingeschränkten Zugang haben, weil sie die entsprechenden Erfahrungen nicht teilen und deshalb nicht verstehen können. 19 Die Grenze zwischen der Welt der Anfallskranken und der der „Anderen“ ist bestimmt durch die Grenze des Beschreibbaren und Kommunizierbaren. 19 Die „Anderen“ sind natürlich keine homogene Gruppe das wurde schon in Beispiel 10 deutlich; es gibt auch Freunde, Nachbarn, Verwandte, Menschen, die Bescheid wissen, die Verständnis haben, die „gut damit umgehen“ usw. Auch die medizinischen Gesprächspartner nehmen unter den Anderen einen besonderen Platz ein: Während sie mit diesen teilen, dass sie nicht wirklich verstehen können, was die Patienten durchmachen, unterlaufen ihnen aber aufgrund ihres Fachwissens nicht dieselben Fehlurteile oder Fehleinschätzungen wie manchen Anderen; auch Vorurteile und dergleichen werden ihnen nicht unterstellt. Ihre Sonderrolle zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die Patienten mit ihnen über die Anderen reden. - Solche Unterscheidungen sind aber für den vorliegenden Zusammenhang nicht von Bedeutung, da es hier um die Grenzen geht, die den Möglichkeiten des Beschreibens und Verstehens gesetzt zu sein scheinen. 182 Elisabeth Gülich / Ingrid Furchner Insofern könnte man die Darstellung von schwerer Beschreibbarkeit zu den ‘kategorien-gebundenen Aktivitäten’ im Sinne von Sacks (1992, z.B. 16) rechnen: Die Sprecher geben sich damit als ein Mitglied einer bestimmten Gruppe zu erkennen - Anfallskranke (mit einer bestimmten Art von Anfallen). Die Darstellung von Unbeschreibbarkeit (dessen, was man erlebt) ist nicht nur ein Detail im Gespräch, ein sprachliches Verfahren unter anderen. Sie ist zentral, weil sie in kondensierter Form die (zweigeteilte) Gesamtproblematik enthält, sich nicht verständlich machen zu können und negativ bewertet zu werden. Die Grenze zwischen den im Gespräch konstitutierten Gruppen scheint zumindest in einer Richtung durchlässig zu sein. Während die „Anderen“ zur Welt der Anfallskranken keinen wirklichen Zugang haben, ist eine Verbindung aus dieser Welt in die der Anderen durchaus möglich. Auffällig in vielen Äußerungen ist das Verständnis, das die Anfallskranken für die Anderen signalisieren, während diese eher durch Unverständnis für die Anfallskranken charakterisiert werden. So schreibt die eingangs zitierte Patientin in ihrem Brief, dass die Leute verständlicherweise nicht verstehen können, was sie zu beschreiben versucht (s.o. Kap. 1); die Kunden in dem Cafe, in dem Frau Vogel arbeitete, guckten natürlich, Frau Ohnesorg begründet das unangemessene Verhalten bei einem Anfall mit die hatten Angst und so. Eine andere Patientin versetzt sich in die Lage von Personen, die einen Anfall miterleben: ja ich denk mal, . die . würd=n schreck kriegen, . . . weil (...) jemand frEmdes wird das wahrscheinlich auch noch nit gesehn haben, (Frau Hoffmann). Auffällig ist auch das Fehlen des Ausdrucks von Empörung über die berichteten Zumutungen (was sich neben dem Fehlen entsprechender Kommentare z.B. auch in einer relativ flachen, „gleichmütigen“ Prosodie ausdrückt). Die Patienten zeigen also, dass sie die Reaktionen der Anderen verstehen und nachvollziehen können: Aus Unkenntnis oder Angst interpretieren diese die Geschehnisse „natürlich“ auf dem Hintergrund ihrer normalen Deutungsmuster - und die kennen die Patienten ja und teilen sie im Prinzip. Dieses Verständnis geht so weit, dass Patienten sich manchmal bemüßigt fühlen, die Anderen zu beruhigen, zu unterstützen oder gar zu schützen. So beruhigt Frau Ohnesorg bei einem Anfall ihre Arbeitskollegen, das gehe gleich wieder vorüber (s.o. Bsp. 13). Eine andere Patientin (Frau Rose) gibt ein Telefongespräch mit ihrer Mutter wieder, in dem sie ihre eigenen tröstenden Äußerungen zitiert: ich hab gsagt mama ich wEIß es ist schwEr für dich ’ ,zu akzeptiern was=ich HAb . . aber=s brAUcht seine zeit dass du damit fERtich wirst’ ,und=ich kann das verstEHn. Frau Rose äußert auch die Notwendigkeit, Rücksicht auf andere zu nehmen, wenn sie einen Anfall hat: (f)ch hab halt gmErkt jetz fÄngts ,An . un: d . hab das gefÜhl ghabt' ich muss wo hlnrEnn, =ich muss erstma von der: ganzn menschnmenge wEg' weil=ich das den(en) nit zumuten wollt' .dass die das mitkriegn'. muss wEg'. Die Patienten Die Beschreibung von Unbeschreibbarem 183 befinden sich also in gewisser Weise durch ihr Anfallsleiden in einer „verkehrten Welt“, wie der Gesprächspartner von Frau Rose explizit zum Ausdruck bringt: dann entstehtja was Ungewöhnliches ’ dass SIE: ’. . der mUtter helfen müssen es zu verarbeiten statt von der mUtter hilfe zu bekomm es sElbst .verarbeiten zu kann. Auch wenn die Patienten sich als zur Gruppe der Anfallskranken zugehörig kategorisieren, ist mit dieser Zugehörigkeit keine positive Identität verbunden. Es sind nicht nur die Anderen, die diese Gruppe negativ bewerten. Das gezeigte Verständnis für die Anderen, der Versuch, sie zu schützen, die im Prinzip mögliche Partizipation an deren Welt bringen zweifellos den Wunsch zum Ausdruck, die Trennung zwischen den Gruppen aufzuheben und zur Gruppe der Anderen, der „Normalen“ zu gehören. ‘Accounts’ dafür finden sich in den Ausführungen der Patienten sehr häufig und in verschiedenen Formen. In sehr eindrucksvoller Weise wird es von Frau Lerens ganz explizit zum Ausdruck gebracht: „ich möchte wirklich ganz . . wIEder . ganz . normal sein, . wie Alle anderen dass ich Alles wieder machen kann: ' . wie vOrher, . . . nich' . ich würde wirklich Alles tun“ 5. Literatur Bichler, Hannelore (1991): Der Blitz aus heiterem Himmel. Mein Leben mit Epilepsie. Wiesbaden. Brünner, Gisela (1999): Medientypische Aspekte der Kommunikation in medizinischen Fernsehsendungen. In: Bührig, Kristin/ Matras, Yaron (Hg.): Sprachtheorie und sprachliches Handeln. Tübingen. S. 25-42. Brünner, Gisela/ Gülich, Elisabeth (im Druck): Verfahren der Veranschaulichung in der Experten-Laien-Kommunikation. Erscheint in: Brünner, Gisela/ Gülich, Elisabeth (Hg.): Sprechen über Krankheiten. Bielefeld. Curtius, Emst Robert (1961): Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern/ München. 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Transkriptionszeichen [bin ich jetzt* [ja: * / (x sec) & <EA> <AA> nich’ ‘doch nicht, ,er jA FRAge ja: ach so: : (? ersmal) (? ) <lachend> + gleichzeitiges Sprechen: der Beginn ist durch eckige Klammern in übereinander stehenden Zeilen gekennzeichnet, das Ende ggf. durch * hörbarer Abbruch ohne Pause kurzes Absetzen innerhalb einer Äußerung oder zwischen zwei Äußerungen kurze Pause mittlere Pause Pause von x Sekunden Dauer auffällig schneller Anschluss auffällige Bindung Einatmen Ausatmen steigende Intonationskurve; hoher Einsatz fallende Intonationskurve; tiefer Einsatz dynamische Hervorhebung eines Wortes, einer Silbe, eines Lautes Dehnung einer Silbe, eines Lautes unsichere Transkription unverständliche Passage Kommentar; geht dem entsprechenden Segment voraus und gilt bis + Christine Bierbach/ Gabriele Birken-Silverman Kommunikationsstil und sprachliche Symbolisierung in einer Gruppe italienischer Migrantenjugendlicher aus der HipHop- Szene in Mannheim 0. Einleitung Zu den zentralen Fragen sprachwissenschaftlicher Migrantenforschung gehört die nach Struktur und kommunikativer Funktionalität des Sprachrepertoires der Jugendlichen der 2. und 3. Generation, also derjenigen Jugendlichen, die bereits im gesellschaftlichen Kontext des Aufnahmelandes in spezifischen, meist (groß-)städtischen Milieus aufgewachsen und sozialisiert sind, aber über ihre Primärsozialisation, Eltern, Großeltern, Verwandte innerhalb der Migrantenkolonie sowie über Ferien „in der Heimat“ mit Sprache und Kultur des familiären Herkunftslandes verbunden sind. Wie artikuliert sich diese doppelte - oder auch plurale - Orientierung im Spektrum der sprachlichen Varietäten, die potenziell zur Verfügung stehen, zu gruppen- und situationsspezifischen Kommunikationsmustern? In welcher Weise werden sie als Ressourcen für interaktive, diskursstrukturierende, sozialsymbolische, identitätsmarkierende Funktionen genutzt? Speziell im Hinblick auf die Altersgruppe zwischen ca. 14 und 19 Jahren stellt sich darüber hinaus die Frage, auf welche Weise die verfügbaren Varietäten an der Herausbildung einer gruppenspezifischen „Jugendsprache“ beteiligt sind, die die Migrantenjugendlichen als eigene soziale Gruppe konstituiert und identifiziert, zugleich aber im Gesamtspektrum der lokalen, städtischen Jugendszene - und über diese auch innerhalb globaler jugendkultureller Ausdrucksformen positioniert. In dieser Hinsicht ist die im Folgenden betrachtete italienische - oder genauer: sizilianische - Breakdance-Gruppe, der wir im Laufe unserer Feldforschung zur Sprache italienischer Migranten in Mannheim begegnet sind, von besonderem Interesse, da sie sich genau in diesem Spannungsfeld ausgeprägt gegensätzlicher Kulturen - und damit Sprach- und Kommunikationsstilen der „traditionellen“ (oder zumindest als solche erlebten) Welt der familiären Herkunft und einer „avantgardistischen“ lokalen eher multiethnischen als deutschen - Jugendszene, bewegt, die ihrerseits zwischen den Maßstäben einer modernen (post-industriellen) Gesellschaft, massenmedial vermittelten kulturellen Modellen und Versatzstücken und ihrer subversiven Aneignung/ Unterlaufung ihren eigenen Lebensstil sucht. 188 Christine Bierbach / Gabriele Birken-Silverman HipHop als spezifische Jugendszene mit einem „hochgradig kodierten und selbstreferentiellen Kommunikationssystem“ (Bämthaler 1999), an der die italienische Gruppe als Breakdancer teilhat, und speziell der Breakdance, fungiert in dieser urbanen Subkultur als Ausdrucksform des Konkurrenzkampfs um Prestige, Status, Anerkennung „von unten“, der in absolutem Kontrast zu der Herkunftsgesellschaft der Eltern steht und einen Ersatz für andere, den Jugendlichen versperrte Möglichkeiten des Gewinns von sozialer Anerkennung und Status darstellt. Bereits von daher ist also die Herausbildung einer neuen Identität, unter weitgehender Auflösung der Bindung an die Traditionen der Herkunftsgesellschaft impliziert. In der sozialwissenschaftlichen und pädagogischen Literatur werden diese Migrantengenerationen, und speziell die Altersgruppe der Jugendlichen, häufig als „entwurzelt“ oder mit dem Durkheimschen Konzept der Anomie (Nicht-Zugehörigkeit) apostrophiert (z.T. mit dem linguistischen Korrelat der „doppelten Halbsprachigkeif‘) eine Perspektive, die wir uns hier nicht zu Eigen machen und welche die bisher gesammelten Daten nicht belegen. Diese verweisen im Gegenteil auf vielfältige „Wurzeln“ (auch wenn sie von den Interaktanten überwiegend mit kritisch-ironischer Distanz genutzt werden) und zeigen z.T. durchaus originelle sprachliche Verästelungen und Früchte. Interessanter erscheint in diesem Zusammenhang vielmehr das Konzept einer „culture intersticielle“ - Kultur der Zwischenräume -, wie es von Exponenten der Chicago School (Burgess, Park, Thrasher u.a.) formuliert wurde, mit Bezug auf die Lokalisierung von Migrantenmilieus im städtischen Raum, zwischen Zentrum und Peripherie, in den „Lücken“, die von der lokalen Wohnbevölkerung, bzw. infolge stadtplanerischer Entwicklungen, für die Ansiedlung neuer, „sozial schwacher“ Einwohnerschichten gelassen wurden, aber auch in Bezug auf die hier entwickelten (transitorischen) Kulturformen, neuen ethnischen Netzwerke (inch aber nicht nur - Gangbildung und Jugenddelinquenz; vgl. Thrasher 1927/ 1963 2 , Whyte 1943, Tertilt 1996), Konsumformen und natürlich Sprachen und Kommunikationsstile (vgl. u.a. Calvet 1994, Chambers 1996). Komplementär dazu erscheint der Begriff des bricolage (Willis 1981), der Montage oder des patchwork unterschiedlicher Sprachvarietäten und Stilelemente, besonders geeignet, den gruppenspezifischen Stil der hier vorzustellenden Jugendclique zu charakterisieren. Natürlich wollen wir nicht beanspruchen, mit den hier betrachteten Sprachdaten einer spezifischen Jugendgruppe den Sprachstil italienischer Migrantenjugendlicher insgesamt zu kennzeichnen. Dennoch weisen sie etwa im kontrastbildenden und „symbolischen“ Gebrauch des Sprachwechselns — tendenziell eine Reihe charakteristischer Strukturmuster auf, wie sie auch in an- Kommunikationsstil und sprachliche Symbolisierung... 189 deren Arbeiten zu jugendlichen Migranten beschrieben wurden 1 und sich in den weiteren Rahmen einer städtischen Soziostilistik (Kallmeyer 1995b) einordnen lassen. Schließlich erscheint uns die subkulturelle Szene einer sizilianischen HipHop-Gruppe in einem hochgradig multikulturellen, sozial defavorisierten „Ausländerviertel“ weniger marginal, als es vielleicht den Anschein hat, insofern solche Milieus eine aktuelle Tendenz auch westdeutscher Großstadtentwicklung widerspiegeln (vgl. Heitmeyer/ Dollase/ Backes 1998) und sich in eben diesen Milieus jugendsprachliche Stile entwickeln, die modellbildend auch für Jugendliche anderer sozialer Schichten werden können. Bevor wir im Folgenden kurz dieses städtische Milieu charakterisieren und anschließend Sprache und Kommunikationsstil der Jugendclique beschreiben, noch eine Vorbemerkung zu einem methodischen Problem: Per defmitionem stellt „Jugendsprache“ ja eine Ausdrucksform der „ingroup“ dar, ist also der methodischen Beobachtung von außen kaum zugänglich sozusagen eine Verschärfung des soziolinguistischen Beobachter-Paradoxons, potenziert durch die eben skizzierte soziale Lokalisierung der Jugendclique. Der ethnografisch-pragmatische Ansatz unserer Studien bedeutet also in diesem Fall in besonderer Weise die Erkundung eines fremden Territoriums. Wir haben versucht dieses Problem teilweise zu entschärfen, indem wir nach bewährten soziolinguistischen Vorbildern für einen Großteil der Feldarbeit mit den Jugendlichen eine selbst aus dem sizilianischen Migrantenmilieu stammende und der Jugendgruppe altersmäßig nahe stehende studentische Exploratorin einsetzen - Rosaria (Sara) Calcagno -, die zudem mit einem Gruppenmitglied (Silvia) verwandtschaftlich verbunden ist. Es bleibt jedoch auch hier eine gewisse soziale Distanz, die sich aus der Zugehörigkeit zu verschiedenen Szenen (HipHop-Szene eines quasi-Getto-Stadtteils vs. akademisches Milieu) ergibt und der Studentin zudem in ihrer Funktion als Datenerheberin einen ambivalenten Status zwischen „ingroup“ und „outgroup“ verleiht. Dagegen wird die leitende Feldforscherin (G. Birken-Silverman) in vielfacher Hinsicht (Nationalität, Alter, Bildung, Status, Ortsverbundenheit) von den Jugendlichen als „out-group“ mit großer sozialer Distanz wahrgenommen. Eben diese soziale Distanz hat aber Kommunikationsformen provoziert, die wiederum charakteristisch für den „subversiven“ Stil und spezifische Formen der Selbstinszenierung innerhalb der Jugendclique sind und deshalb hier für die Beschreibung ihres Kommunikationsstils genutzt werden konnten. Aufgrund der ethnisch-kulturellen, auch sprachlich manifesten relativen Nähe zwischen Sara und den Jugendlichen sprechen wir in diesem Fall von „ingroup“-, im Falle der Interaktion mit der deutschen Exploratorin von „outgroup“-Kommunikation. 1 Vgl. die Arbeiten von Auer und di Luzio zu Migrantenkindem in Konstanz, z.B. Auer (1984), Auer/ di Luzio (1984), di Luzio (1984), auch das Forschungsprojekt Kallmeyer/ Keim zu türkischen Jugendlichen in Mannheim. 190 Christine Bierbach / Gabriele Birken-Silverman 1. Der Stadtteil und die italienische HipHop-Gruppe Einige demografische Daten mögen zunächst die Situation im Stadtteil, in dem die Jugendclique agiert, veranschaulichen. Während auf ganz Mannheim bezogen der Anteil Nichtdeutscher unter den Jugendlichen ein Drittel beträgt, liegt im Bezirk Jungbusch der Anteil ausländischer Jugendlicher unter 18 Jahren bei 80% (bei einem Ausländeranteil von insgesamt 60%), in der angrenzenden Westlichen Unterstadt beläuft sich der Anteil der ausländischen Jugendlichen auf 60% bei einem Ausländeranteil von insgesamt 40%. 2 Nach der nationalitätenspezifisch detaillierten, aber nach Stadtteilen und Altersgruppen abweichend gegliederten Statistik des Sozialamts Mannheim/ Sozialplanung lagen 1996 folgende Verhältnisse vor: Tabelle 1: Anteil der ausländischen Jugendlichen In engem Zusammenhang mit der multiethnischen Situation und sozialen Problematik des Stadtteils ist die dortige Entwicklung einer HipHop- Jugendkultur zu sehen, die sich als alternative Szene darstellt, wie sie in spezifischer Kleidung, Musik und Sprache ihren Ausdruck findet. Nach Rose (1997, S. 149) stellt ElipHop eine Kulturform dar, die als Quelle alternativer Identitätsbildung fungiert: „In Mode, Sprache, Alias-Namen und, vielleicht am wichtigsten, in Crews oder Posses bilden sich alternative und lokal begrenzte Identitäten heraus“. Demzufolge verleiht HipHop den Jugendlichen gesellschaftlichen Status in einer Gemeinschaft, in denen die traditionellen handlungsleitenden Normen der Herkunftsgesellschaft in Auflösung begriffen sind und im Rahmen des sozialen Umfelds statt der Teilhabe an den Ressourcen der Aufnahmegesellschaft, materiellen Gütern und Erfolg, vielmehr Marginalisierung und Degradierung den Alltag prägen. In diesem Kontext ist die im Folgenden vorgestellte sizilianische Clique und Breakdance-Gruppe zu verorten. Die miteinander im Jungbusch, bzw. der angrenzenden westlichen Unterstadt aufgewachsenen Jugendlichen treffen sich in ihrer Freizeit unregelmäßig in den Jugendhäusern Cafe Filsbach (Westliche Unterstadt) und Erlenhof (Neckarstadt), wo Breakdance als Teil des sozialpädagogischen Konzepts insti- 2 Angaben nach Nortmeyer, Matthias (1997): JUST-Modellprojekt für interkulturelle Jugendarbeit (http: / / www.uni-karlsruhe.de/ ~za301/ Gemeinschaftskunde/ gkproj.htm). Kommunikationsstil und sprachliche Symbolisierung ... 191 tutionalisiert ist und entsprechende Trainingsräume und -Zeiten zur Verfügung stehen. Bei der italienischen Clique ist zu unterscheiden zwischen peripheren und zentralen Mitgliedern; letztere stellen die Crew dar und bilden die Breakdance-Gmppe — nach eigenen Angaben die einzige nur aus Italienern bestehende Gruppe und laut selbstironischer Aussage eines Mitglieds „die schlechteste Gruppe im Moment in Mannheim“ (=1999). Als DJ und Head der Gruppe fungiert der 17jährige Giovanni (Gio), der zusammen mit Pino (15) und dessen Cousin Dani (13) zu den Begründern der Breakdance- Gruppe nach dem Vorbild der ehemaligen Mannheimer Italy B-Boys im Jahre 1997 gehört. Vorbilder der Gruppe sind DJ Bobo und Run-MDC (Vertreter des Heavy Metal HipHop). Als einziges weibliches Mitglied wurde Pinos Freundin Silvia (15) in die Gruppe aufgenommen, während die Jungen weiteren interessierten Mädchen die Teilnahme am Breakdance verwehrten. Weitere Gruppenmitglieder sind Francesco (16) und Flavio (17), wobei eine gewisse entwicklungsbedingte Instabilität die Gruppe während des zweijährigen Erhebungszeitraums (1998/ 99) kennzeichnet. So wurde z.B. ein Mitglied - Carmine (16) wegen angeblichen Drogengebrauchs ausgeschlossen. Um diesen engen Kern gruppieren sich als periphere Mitglieder weitere italienische Jugendliche, die nicht Breakdance betreiben: Pinos Schwester Mariangela (18), Carmelo (18), Paolo (19), Claudia (15), Sonia (15) und Giovanna (17) sowie die Freundinnen einiger Jungen. Abb. 1 veranschaulicht die Gruppenkonstellation mit ihren Beziehungsgeflechten (kursiv die Codenamen der zentralen Mitglieder und ihres engsten Anhangs, in Klammem Angaben zum Alter und zum Herkunftsort der Familie). Die Vernetzung der Gruppe ist dergestalt, dass über gemeinsame Freizeitaktivitäten hinaus persönliche und verwandtschaftliche Beziehungen eine Rolle spielen. Der größte Teil der Jugendlichen steht seit 1999 bereits im Berufsleben, bzw. jobbt neben der Schule. Giovanni ist als Bauarbeiter in derselben Firma wie sein Vater tätig. Carmelo und der arbeitslose Paolo arbeiten, bzw. arbeiteten als Koch, die Gymnasiastin Mariangela jobbt stundenweise bei einem Anwalt, die Hauptschüler Dani und Silvia arbeiten als Aushilfen. Pino, ebenfalls Hauptschüler, nimmt nur gelegentlich am Schulunterricht teil, Francesco hat die Mittlere Reife und Flavio besucht das Internationale Bemfsbildungszentrum in Mannheim. Wie schon erwähnt, ist die „ingroup“-Feldforscherin Sara über verwandtschaftliche Beziehungen mit dem Gruppenmitglied Silvia verbunden, deren Firmpatin sie ist, während die übrigen Gruppenangehörigen ihr vor der Kontaktaufnahme nicht bekannt waren. Grosso modo ist die Gruppenstruktur der von Tertilt (1996) beschriebenen nicht ganz unähnlich: eine ethnische Gruppierung von Jugendlichen aus Migranten- (und Unterschicht-)Milieu, mit im Unterschied zu anderen (deutschen) Jugendcliquen unterschiedlichen Bildungsniveaus, die ihre Freizeit gemeinsam verbringen, allerdings im Gegensatz zu den Power Boys nur 192 Christine Bierbach / Gabriele Birken-Silverman vereinzelt durch kleinere Delikte ihrer Mitglieder (wie Schuleschwänzen, Drogenkonsum) auffällig geworden sind. Abb. 1: Gruppenkonstellation mit Beziehungsgeflechten .Invasion of Beat“/ „Fisch-Boys“/ „Italy B-Boys“ Ay§e Carmelo (18, Raddusa) Calimero Incognito Manangela (18, Agua) Bloody Mary Paolo (19, Niscemi) Diana (16) = Claudia (15) Schlaudia Kiffer Sonia (15, Troina/ Barrafranca) Giovanna (17, Favara) Vossia Giovanni (17, Ramacca) Napuletanu (B-Boy Earthquake, Fulippu Mangiaficu, Sucabrodu) Pino (15, Agira) ' Pinocchio Flavio(lT) Francesco Flamingo (16, Sciacca) Dani (13, Agira) Fruchtzwerg Silvia (15, Raddusa) Pesce i Sara (23, Raddusa) Carmine (16, Raddusa) Gruppenbeziehung verwandtschaftliche Beziehung Mädchen/ Jungen-Freundschaft 2. Sprachliche Ausdrucksformen der HipHop-Kultur Zu den konstitutiven Elementen der HipHop-Kultur gehören symbolische Praktiken, die eine gemeinsame „alternative“ Identität der Gruppenmitglieder nach innen zugleich mit der Abgrenzung nach außen artikulieren, wie z.B. die Codenamen und Songs im Rap-Stil. Dazu schöpfen die Jugendlichen aus Wissensbeständen, die in hohem Maße medienvermittelt sind und in unserem Fall auf spezifische - und kreative - Weise mit Elementen aus der „Heimatkultur“ der Migranten vermischt werden (Bricolage-Prinzip). Neben Werbung und Konsumprodukten bilden die für die Jugendkultur besonders relevanten massenmedialen Gattungen wie Zeichentrickfilme, Comedy, Western, Horrorfilme und insbes. auch sizilianische Mafiafilme (Videos) sowie natürlich die einschlägigen Musikgenres wichtige Ressourcen. Kommunikationsstil und sprachliche Symbolisierung ... 193 2.1 Codenamen Als ein szenespezifisches Merkmal lassen sich der Name der Breakdance- Gruppe und vor allem die Codenamen der Clique-Mitglieder betrachten, die als eine Art „Selbsterneuerung“ und gruppenintemer Individualisierung, als Annahme einer neuen, selbstgewählten szenespezifischen Identität interpretiert werden können (vgl. Rose 1997, S. 151). Als Formel gilt: neuer eigener Name, eigene Identität, eigenes Territorium in diesem Fall der Trainingsraum der Gruppe im Keller des Jugendhauses, der als „unser Raum im Cafe Filsbach“ bezeichnet wird. Die (innerhalb der Szene als allgemein verständlich erachteten) wechselnden englischen Namen der Breakdance-Gruppe zunächst Italy B-Boys (d.h. Breakdance-Boys), dann „Fisch-Boys“ und schließlich „Invasion of Beat“ nehmen nicht mehr auf die ethnische Dimension (des Immigrantenmilieus) Bezug, sondern orientieren sich an Bezeichnungsmustern aus der HipHop-Jugendkultur und spielen auf lebensweltliche Konzepte der Gruppe an, haben also symbolischen Charakter. „Fisch-Boys“ stellt eine Übernahme aus der Mannheimer Jugendsprache mit positiver Bedeutungsumwertung des dort im Sinne von „Schwächling“ gebräuchlichen Schimpfnamens „Fisch“ dar, erweitert durch sexuelle Konnotationen und von den Jungen den „coolen Sprüchen“ zugeordnet. Der letzte Name, „Invasion of Beat“, impliziert in der Grundbedeutung die Machtübernahme durch Fremde, die hier aber wohl nicht wörtlich zu nehmen ist es sei denn als spielerische Drohgebärde gegenüber dem Territorium der „bürgerlichen“ Kultur - und orientiert sich wahrscheinlich an aktuellen Musik(gruppen)- oder Filmtiteln. Die Codenamen der einzelnen Mitglieder verweisen auf ein spezifisches Merkmal der HipHop- und Rapszene, die sprachlich auf Abgrenzung, Transformation herrschender Ausdrucksweisen und „Geheimcodes“ im Sinne „abhörsicherer“ Kommunikation unter Gleichgesinnten zielt (Bärnthaler 1999). Sie werden in der Regel nicht als Anredeform („Spitznamen“) gebraucht (Ausnahme „Fruchtzwerg“), sondern haben kryptische, bzw. zugehörigkeitsmarkierende Funktion im Sprechen über die Person, bzw. über sich selbst (s.u., 3.2 und 3.3). HipHop-Akteure bedienen sich der Codenamen in Form „sprechender“ Pseudonyme aber nicht nur zur Tarnung und/ oder Suspendierung ihrer „bürgerlichen“ Identität, sondern verweisen damit auf Status oder Attitüde, machen auf bestimmte Fähigkeiten aufmerksam, nutzen sie als Mittel der Selbststilisierung (Bärnthaler 1999). 194 Christine Bierbach / Gabriele Birken-Silverman Tabelle 3: Namen der Gruppenmitglieder Name Code-Name medialer Bezug/ Formprinzip ethnisch-kultureller Hintergrund Pino Carmelo Dani(ele) Claudia Giovanna Mariangela Flavio Silvia Giovanni Pinocchio Calimero Incognito Fruchtzwerg Schlaudia Kiffer Vossia Bloody Mary Flamingo Pesce Napuletanu/ B-Boy Earthquake/ Fulippu Mangiaficu/ Sucabrodu Zeichentrickfilm Zeichentrickfilm Klangassoziationen Danone-Werbung „Samstag Nacht“ (RTL) trad. Respektsformel Konsum/ Werbung Klangassoziation gruppenspez. Metapher Hiphop Lieder des siz. Sängers Brigan Tony ital. ital. (siz.) deutsch deutsch siz. international ital. siz. engl. Die Namen der sizilianischen Gruppenmitglieder basieren zum großen Teil auf Wortspielen mit den echten italienischen Vornamen (Klangassoziation), die durch „internationalisierte“ Codenamen kaschiert werden können, und liefern dadurch zugleich Indices bezüglich der kulturellen Ressourcen, aus denen die Jugendlichen schöpfen: Aus Zeichentrickfdmen mit italienischem Hintergrund, die auch in deutscher Version verfügbar sind, stammen Pinocchio (Pino) der abenteuerlustige Junge und (durch seine „Machart“) Außenseiter, der sich nicht unterkriegen lässt - und Calimero (Carmelo), ein freches Küken aus Palermo. Aus der Fernsehsendung „Samstag Nacht“ stammt Schlaudia Kiffer, eines der dort vorgetragenen zumeist obszönen Textbeispiele, dessen Witz aus der Vertauschung von Buchstaben aufgrund eines gemimten Sprachfehlers entsteht bei sicher nicht unwillkommener Assoziation der jugend-szenerelevanten „weichen“ Drogen mit entsprechender Lexik. Aus der Werbung stammt der einzige deutsche Codename des jüngsten Gruppenmitglieds: Dani{ele) > Danone> Fruchtzwerg', ebenfalls aus der Konsumsphäre Bloody Mary. Tendenziell können die Codenamen als Ausdruck eines multikulturellen Referenzsystems interpretiert werden: Pinocchio, Calimero und Claudia Schiffer verweisen auf international bekannte - „berühmte“ - Figuren oder Personen, dazu kommen kommerzielle Internationalismen (Bloody Mary, evtl. Flamingo), aber auch bemerkenswert viele Anspielungen auf die (süd-) italienische Herkunftskultur: außer den genannten Pinocchio und Calimero entstammt Vossia als ironisierte, archaisch-höfliche (siz.) Anredeform ge- Kommunikationsstil und sprachliche Symbolisierung... 195 genüber älteren Respektspersonen -„gnädige Frau“ 3 Fulippu Mangiaficu, Sucabrodu oder Napuletanu evozieren als ironisch-folkloristische Bezeichnungen „volkstümliche“ meridionale Typen. 4 Insgesamt lässt sich die Namenswahl mit Rose (1997, S. 151) in dem Sinne interpretieren, dass „angesichts der sehr begrenzten legitimen Möglichkeiten des Statusgewinns [...] das Annehmen neuer Namen und Identitäten ‘Prestige von unten’ verspricht“, zugleich mit den szenespezifischen (internationalen) Modalitäten der Namensbildung aber auch eine deutliche ethnische Spezifizierung markiert wird. 2.2 Der Song der Gruppe Zu den identitätsmarkierenden Merkmalen der HipHop-Kultur gehört auch der gruppeneigene Song im rhythmisierten Sprechgesang des Rap als „Markenzeichen“ der Breakdance-Gruppe, der im folgenden Ausschnitt aus einem Gespräch mit der sizilianischen Exploratorin (Sara) stückweise rekonstruierend vorgeführt und kommentiert wird: Gesprächsausschnitt 1 (21.7.99): „Gruppensong“ 5 —> 1 Gio: Das macht nix, ja/ hier/ hier: 2 <Sprech- Wir sind die drei Kids 3 -gesang> die Großen denkn, wir warn ein Witz, 4 sie wäm schon sehn, 5 dass wir kommen und gehn, 6 wann imma wir wolln, sch bin / ja sing doch * ja Freaks gesprochen— > 7 sara: s is auch richtich 8 Gio: ja (da mi ? ), dreizehn, zwölf, s is unser Eigener Text wo isch eben gsunge hab 9 sara: si ? 10 Gio: vun die Fische höhö singe me den, ey ihr lacht euch Alter a va cantamu (los singen wir) 11 sara: ( ) a va cantati (los singt) 12 Gio: wie ging der wart mal noch * hö des war vor wo wir zwölf 13 «jo, jo, wir sin die drei Kids, <Sprechgesang > 14 da war isch. er un Car7 Caf 15 sara: > der Esel nennt sich immer zuerst 16 Gio: äh äh 17 Si: <lacht> 18 F: Car + RD 3 Der Codename der 17jährigen Giovanna erkärt sich durch den altersmäßigen Abstand gegenüber ihren erst 15jährigen Freundinnen und ihre Stellung als „Oma“ in der gemeinsam besuchten 9. Schulklasse. 4 Fulippu Mangiaficu und Sucabrodu sind einem der im Migrantenmilieu bekannten Lieder des Catanesen Brigan Tony mit dem Titel „Intervista“ entnommen. 5 In den abgedruckten Gesprächsausschnitten wird die Aufnahmeleiterin durch Kleinschreibung des Namens gekennzeichnet. 196 Christine Bierbach / Gabriele Birken-Silverman -» 19Pino: —> 20 Gio: dai Giovanni (los Giovanni) he ja wir sin die drei Kids, <Sprechgesang> die Großen denken wir wäm ein Witz, sie wäm schon sehn, dass wir kommen und gehn un weiter weiß isch nisch mähr <gesprochen> <lacht> Carme <Gelächter> sie werden schon sehn, dass wir kommen und gehn wann imma wir wolln, spieln wir verschiedene Rolln sie glaubn uns nich, aba * nur sie brauchn ja disch wieso ? so gehts doch ja 21 22 23 24 25 Si: 26 Gio: 27 28 Gio: 29 30 31 32 33 34 sara: 35 Gio: Der Song der Breakdance-Gruppe ist deutsch und besteht, soweit von Gio zitiert, aus 8 Zeilen mit größtenteils einsilbigen Wörtern, bei wechselnder Silbenzahl (zwischen 4 und 7) pro Zeile und mit Paarreimen und Alliterationen, wie sie kennzeichnend für Rapsequenzen sind. Dadurch kommt ein abgehackter, hämmernder Rap-Rhythmus zustande. Die Wahl des Deutschen für den Text weist zum einen auf die präferierte Sprache der Gruppenmitglieder hin und ist zum anderen begründet durch das Streben nach allgemeiner Verständlichkeit der programmatischen Botschaft. Der Song artikuliert an der örtlichen Jugendszene orientierte Lebensvorstellungen und ist der solidaritäts- und identitätsstiftende Ausdruck des Wir-Bewusstseins der Gruppenmitglieder: „Kids“ in Opposition und Abgrenzung von den Erwachsenen, die sie nicht für voll nehmen, Infragestellung gesellschaftlicher Rollenmuster, die durch die Autorität der Erwachsenen geprägt sind, Herausforderung der geltenden Ordnung, Durchsetzung eigener Interessen, Forderung nach Selbstbestimmung, Beanspruchung von Freiräumen, Nichtbeachtung von Grenzen und Hierarchien, Auflehnung und Widerstand gegen die den Erwachsenen implizit unterstellten restriktiven Vorschriften, die ihren Lebensalltag bestimmen und für sie repressive Machtstrukturen verkörpern („Du kannst doch nicht kommen und gehen, wann du willst“), die umgekehrt werden („Wir kommen und gehn wann wir wolln“). Der Crew (Gruppe) als Ort der Identitätsfmdung und gegenseitigen Unterstützung kommt daher die Funktion einer Ersatzfamilie zu (Rose 1997, S. 149). Trotz dieses zunächst grundsätzlich nicht kulturspezifischen Konflikts, auf den mittels des selbstreferenziellen „wir“ kontinuierlich verwiesen wird, verbirgt sich dahinter sehr wohl eine kulturspezifische Komponente, insofern als der Generationenkonflikt in den häufig konservativ orientierten Migrantenfamilien einen Bruch mit der traditionellen Familienstruktur darstellt: War in Kommunikationsstil und sprachliche Symbolisierung... 197 den 60er und 70er Jahren noch die weitgehend familienorientierte Lebensgestaltung der Jugendlichen üblich (sonntägliches Flanieren auf der Breiten Straße, gemeinsamer sonntäglicher Kinobesuch, Tanzlokalbesuche der männlichen Immigranten), beansprucht heute die 3. Generation Freiräume nach dem Muster deutscher Peers (Pino und Dani wünschen sich eine eigene Wohnung, Jungen-Mädchen-Freundschaften werden heimlich unterhalten). Damit werden „moderne“ deutsche - und städtische - Lebensformen übernommen und entsprechende Forderungen nach Rechten erhoben, während die Generation der Eltern und Großeltern diesen Aspekten einer liberaleren Gesellschaft eher mit Misstrauen begegnet. 6 Der Songtext erscheint so als Übertragung der im Rap ursprünglich ausgedrückten sozialen und ethnischen Konflikte auf den Generationenkonflikt, also zumindest auf der Oberfläche in Übereinstimmung mit der Wahl des Deutschen als Sprache der Selbstdarstellung gelöst von dem spezifischen ethnischen Hintergrund der Jugendclique er wendet sich ja auch an die lokale Jugendszene insgesamt -, entspricht dabei aber in der durchgehenden Polarisierung zwischen dem „wir“ der Jugendgruppe und dem „sie“ der Eltern sowohl der Haltung der 3. Migrantengeneration als auch dem Gestus des Rap als „rebellischer Pose“, der Auflehnung gegen die „spießige“ Gesellschaftsordnung der „Großen“ und der Betonung der eigenen Freiheit - und des „Eigenen“ generell 7 . 3. Zum Kommunikationsstil (in) der Gruppe Im folgenden Teil sollen einige Aspekte des Kommunikationsstils (in) der Gruppe betrachtet werden, die in unmittelbarem Zusammenhang mit den oben diskutierten jugendkulturellen Handlungsmustern (der HipHop-Szene) gesehen werden können. Auslösend und bestimmend für die beiden ersten Beispielsequenzen (Gesprächsausschnitte 2-4) werden „Ingroup-Outgroup“- Konfrontationen, die im Zusammenhang mit der eingangs diskutierten Problematik des „Zugangs zum Territorium“ (einer geschlossenen Jugendszene) und damit der Dokumentation gruppeninterner Ausdrucksformen stehen. Als „Vermittlerin“ fungiert dabei die sizilianische Exploratorin, Sara, die zwar „die Sprache der Gruppe“ spricht, als Repräsentantin einer sozial distanten (und tendenziell negativ bewerteten) Institution (Universität) und mit dem Ansinnen, die kulturelle Performanz der Gruppe (Breakdance) mit der Videokamera zu dokumentieren, hier aber selbst in die Schusslinie „subversi- 6 Vgl. auch entsprechende Äußerungen in den Gesprächsdaten der Konstanzer Migrantenkinder, die sich vom „respektlosen“ Verhalten deutscher Kinder gegenüber ihren Eltern abgrenzen, vgl. d'Angelo (1984), di Luzio (1984). 7 Vgl. Grimm (1998), Kap. 1 und 2; vergleichbare Abgrenzungen gegenüber Eltern und Familie finden sich im Übrigen auch in frz. Raptexten (z.B. von Ste). Zur Betonung des „Eigenen“, s. auch Gios Kommentar, Z. 8. 198 Christine Bierbach / Gabriele Birken-Silverman ver“ Kommunikationsformen (i.e. der Verweigerung der Kooperation mit „außen“) gerät. Im anschließenden Beispiel (Gesprächsausschnitte 5-6) wird die „höhere Instanz“, die deutsche Feldforscherin, thematisiert und mit einem provozierenden (fingierten) Sprechakt der Drohung auf sizilianische Art bedacht. In der letzten Beispielsequenz (Gesprächsausschnitte 7-8) schließlich demonstrieren Mitglieder der Gruppe ihre Einstellung zur sizilianischen „Heimatkultur“ durch parodistisches Zitieren. Diese Sequenzen sollen nun unter dem Gesichtspunkt der Sprachvariation, d.h. des interaktionssteuemden, sozialsymbolischen und identitätsmarkierenden (bzw. stilisierenden) Rekurses auf die verschiedenen Komponenten des Sprachrepertoires der Jugendlichen, betrachtet werden. Im Mittelpunkt steht hier die Verwendung des Sizilianischen als Ressource für die Inszenierung bestimmter sozialer Rollen(konstellationen), wie sie für die internen Beziehungen in der Gruppe und Abgrenzung nach verschiedenen Dimensionen der „Außenwelt“ charakteristisch scheint. 3.1 Breakdance für die Kamera: Formen des Aushandelns (und Verweigems) eines Termins In dieser Gesprächssequenz eröffnet die bereits gut in der Gruppe eingeführte - Exploratorin Sara zum ersten Mal ihren Wunsch, die Mitglieder mit der Videokamera beim Breakdance aufzunehmen. Die darauf erfolgende Aushandlung eines Kameratermins kann in 4 thematische Abschnitte gegliedert werden: nach Einführung des Themas „Videoaufnahme“ durch Sara (Gesprächsausschnitt 2, Sequenz 1, Z.l-15) geht es in der folgenden Sequenz (2, Z. 16-35) um die Diskussion und Bewertung des Vorschlags, die Gruppe zu filmen, im anschließenden dritten Teil um ein Programm, das vorgeführt werden könnte (3, Z. 36-63). In diesen drei Abschnitten artikulieren alle Beteiligten ihre geringe Begeisterung über den Vorschlag abgesehen von einlenkenden Kooperationsangeboten des einzigen weiblichen Mitglieds, Silvia. Die Ausdrucksformen der Verweigerung reichen von scherzhaften Verdrehungen vorausgehender Äußerungen, bzw. Handlungsabsichten, persönlichen Distanzierungen Einzelner bis zur Negierung der Existenz der Gruppe überhaupt. Nach einer kurzen Seitensequenz (Gesprächsausschnitt 3, Z. 64-74), verursacht durch provozierendes Verhalten eines Gruppenmitglieds, und anschließender Rückkehr zum Thema (Z. 75-76), bemüht sich Sara, unterstützt von Silvia, in einer ausgedehnten Sequenz gegen immer neue Einwände um die Vereinbarung eines Termins (4, Z. 77-150). Die Basissprache der Interaktion bleibt die gesamte Sequenz hindurch das Deutsche — mit lokal-dialektalen und jugendsprachlichen Markierungen (s.u., Kap. 4.) — als präferierte und habituelle Sprachvarietät der Ingroup. Dadurch werden die kurzen italienischen und sizilianischen Einschübe (von einzelnen Kommunikationsstil und sprachliche Symbolisierung... 199 Worten bis zu mehreren turns umfassenden switches) zu auffälligen, bedeug tungsvollen Elementen. Gesprächsausschnitt 2 (21.7.99): „Video“ (Z. 1-15) 1 sara: ja was isn mit der Gruppe, Leut, ich muss euch was sagn 2 Pino: okay 3 Dani: ja 4 sara: nächste Woche komm ich noch mal 5 Jungen: aaah 6 X: ohjeohje 7 <Lachen> 8 sara: 9 Fr: 10 sara: 11 Fr: 12 sara: 13 Fr: 14 Pino: 15 sara: danke, danke, danke, ich komm aba net alleine madri * c-i ginitori (Mamma mia * mit den Eltern) isch komm mit * Videokamera perche ? solln wir (...) sin die zusamm ? (warum) <ironisch> ö ö ö isch will euch auf/ beim Tanzn aufnehm oaaah ** oah wenn Kamera is bin isch imma Scheiße (...) ma perche ? (aber warum) <zu sara> warum ? ich wi/ wenn isch schon so ne coole Gruppe hab, dann will ich euch tanzn sehn <aufbrausend> Auf Saras Ankündigung einer Mitteilung (Z. 1) reagieren die Jungen zunächst kooperativ (Z. 2, 3), auf die Präzisierung „Besuch“ (Z. 4) mit scherzhaften Zustimmungs- und Ablehnungssignalen. Auf Saras Ratifizierung des scherzhaften Modus (Z. 8) und ihre präzisierende Ergänzung "...aba net alleine“) nimmt Francesco einen switch ins Sizilianische vor, der zum einen expressive Funktion („madri“) hat, zum anderen referenzielle Funktion auf die Welt der Familie („c-i ginitori“) (Z. 9). Der „ridikülisierende“ Interaktionsmodus wird von Francesco fortgesetzt (Z. 11, it. mit Switch zurück ins Deutsche) und auch in weiteren Passagen zwischen ablehnenden Äußerungen vor allem von Gio wieder aufgenommen. Der nächste Abschnitt, in dem ein Wechsel ins Sizilianische auffällt, basiert auf einem von mehreren gesichtsbedrohenden „incidents“, der eine Seitensequenz auslöst: Gio, der vorher schon seine Einstellung gegenüber dem Filmvorhaben durch Ausspucken symbolisiert hat (Z. 33), zieht jetzt die Aufmerksamkeit durch Nasebohren auf sich. Dabei bildet sich nach einer längeren deutschsprachigen Sequenz eine sizilianischsprechende Triade, bzw. eine Da die Gesamtsequenz mit 150 Transkriptzeilen sehr lang ist, können hier nur Ausschnitte vorgeführt und der weitere Interaktionsverlauf unter den relevanten Gesichtspunkten resümiert werden. 200 Christine Bierbach / Gabriele Birken-Silverman doppelte Dyade (Sara: Gio, Pino: Gio), in der der Provokateur in der Sprache der Familie zur Ordnung gerufen wird: 9 Gesprächsausschnitt 3: Seitensequenz „Fehlverhalten“ (Z. 64-74) 64 Fr: hey ho <singt in HipHopArt> 65 Si: <singt>( ) party last night <lacht> 66 sara: Giovä 67 Pino: ou, vatini fora, okay ? (ou, geh raus, okay) <zu Gio> 68 sara: ca piriti e un discorsu {dass dufurzt das ist eine Sache) 69 Fr: ( ) 70 Si: = er hat grad gepopelt <lachend> 71 sara: e un discorsu, ma ora cu sti pi/ purpetti (das ist eine Sache, aber jetzt mit diesen Pi/ Popeln) 72 Fr: ( 1 73 Gio: ne. ich hab grad so/ iaia ey seid ihr hlöd voll übatriebn Langa, isch 74 hab/ es hat gejuckt, isch hab kurz so gemacht Ein weiteres Beipiel, in dem das Sizilianische einen Wechsel von der gemeinsamen Gruppeninteraktion zu einer personalisierten Dyade - und damit zugleich den Modus Metakommunikation/ Verhaltenskritik markiert, findet sich im 4. Gesprächsabschnitt, der (non-kooperativen) Aushandlung eines Termins. Bereits in der Eingangssequenz erfolgt ein satzinterner Switch ins Sizilianische, durch den ein Teilnehmer (Francesco, Z. 86) die bisherige Interaktionssprache Deutsch verlässt und einen vorangegangenen Vorschlag (Gio, Z. 80) für sich persönlich (mit Negation und betontem Personalpronomen) zurückweist: -> Gesprächsausschnitt 4 (21.7.99.): „Terminverhandlung“ (Z. 77-89) —> 77 Fr: > Mittwoch 78 Si: nächste Woche Mittwoch 79 sara: sagt ihr mir, wann, um wieviel Uhr 80 Gio: Montag 81 sara: Montag. Wieviel Uhr ? 82 Sy: den Montag schon ! s is zu FRÜH 1 83 Pino: > Dienstag, > Dienstag 84 Gio: »> s is geil <flüstert> 85 Pino: was wollt ihr machn, was willst du machn ? <zu sara> 86 Fr: am Montag non ci sugnu iu {am Montag bin ich nicht da) 87 Si: ja 88 sara: non ci sei TU ? allora Mo/ Montag non voi {bist DU nicht da ? also Mo/ Montag willst du nicht) 9 An wen sich der deutsche Kommentar Silvias richtet, ist unklar. Kommunikationsstil und sprachliche Symbolisierung ... 201 —> 89 Fr: <aufgebracht> « non ci SONO. c-a-dari cunt-a-ttia ? {ich bin nicht DA. Hab ich dir darüber Rechenschaft zu geben) Die primäre Adressatin, Sara, übernimmt zunächst in einer (Echo-)Rückfrage (Z. 88) Sprachwahl und syntaktische Struktur des letzten (Rhema-)Teils der Vorgängeräußerung und reformuliert dann den gesamten turn unter Beibehaltung der deutsch-italienischen Satzstruktur. Der nächste Code-switch findet in Z. 89 vom Italienischen ins Sizilianische statt: Während der italienische Teil der Replik („non ci sono“) Saras Konklusion („non voi“) wiederum korrigierend reformuliert - und schon durch erhöhte Lautstärke und aufgebrachten Tonfall als ungerechtfertigte Unterstellung zurückweist -, bildet der sizilianische Folgesatz einen metakommunikativen Kommentar, der ähnlich wie oben (Beispiel 3) an Handlungsnormen appelliert. Das Interaktionsmuster beim Gebrauch des Sizilianischen ähnelt wiederum einer Familienrollenkonstellation: Während im vorigen Beispiel (3) Gios „unbotmäßiges“ (kindliches) Verhalten quasi aus einer Elternposition heraus auf Sizilianisch getadelt wird, weist hier der unkooperativ erscheinende Junge, Francesco, einen (unterstellten) Vorwurf durch einen Gegenangriff zurück. Durch seine Reaktion markiert Francesco die vorangegangene Feststellung - „non v(u)oi“ erst als Vorwurf und durch die Wahl des Sizilianischen die Dyade als pseudofamiliäre Konstellation, innerhalb der er „sein eigenes Territorium“ verteidigt. Auffällig ist in dieser Sequenz im Übrigen der Dissens markierende Wechsel zwischen Deutsch und Italienisch, der zu einer Topic-Comment-Struktur tendiert (Z. 86, 88); dabei behalten gleich gerichtete (auch korrigierende) Reformulierungen zunächst die gewählte Sprache bei, Dissens formulierende Kommentare wechseln sie. Der SprachWechsel trägt somit zur Verstärkung der Illokution bei, und durch sein Kontrastpotenzial speziell zum Ausdruck von Distanzierung, Dissens oder Perspektivenwechsel, wie es analog schon in den Studien zu den Konstanzer Migrantenkindern herausgearbeitet wurde. 10 Das ist bei dieser Gruppe in einer Reihe weiterer Gesprächsausschnitte zu beobachten, speziell auch dort, wo es um die Demarkation des Territoriums zwischen der Gruppe und der durch die Beobachterrolle Saras repräsentierten Institution geht. Dabei kann der Gestus der Abgrenzung nach außen (bzw. der Ablehnung Außenstehender) durch die Wahl des sizilianischen Dialekts noch gesteigert und dank seiner sozialsymbolischen Potenziale zur Selbststilisierung als „bad boy“ also einer „performativen Selbstinszenierung“ (Grimm 1998) im Sinne der HipHop-Kultur überhöht werden, wie das folgende Beispiel demonstriert. 11 10 Vgl. die schon zitierten Arbeiten von Auer und di Luzio. 11 Die hier diskutierten Gesprächsauszüge lassen im Übrigen wohl schon erahnen, dass die schließlich doch noch vereinbarte und realisierte Videoaufnahme zum ethnografischen Fiasko wurde, insofern eine „authentische“ breakdance performance dem Kamerateam 202 Christine Bierbach / Gabriele Birken-Silverman 3.2 „Performative Selbstinszenierung“: Sizilianische Drohgebärden Die Selbstinszenierung als hartgesottener Macho oder „tough guy“ durch entsprechendes demonstrativ-expressives Verhalten ist ein zentrales Merkmal der afroamerikanischen Rapszene, speziell in der Spielart des „Gangsta-Rap“, die modellbildend auch für die „weißen“ und (multiethnischen) europäischen Hiphop-Szenen wurde (Rose 1994, Grimm 1998 u.a.). Dabei konvergiert die Konstruktion von Maskulinität nach eher stereotypen Männlichkeitsbildern von Stärke, Aggressivität und Ingroup-Solidarität mit positiv besetzten Konzepten sozialer Randpositionen (Gangster, Rebell), die wiederum mit sizilianischen Traditionen, bzw. dem ethnischen Stereotyp der Mafia übereinstimmen. Im folgenden Beispiel werden solche jugendkulturellen und ethnischen Selbststilisierungen von Mitgliedern der Mannheimer Gruppe miteinander verknüpft und demonstrativ in Szene gesetzt - und zwar in deutlicher Polarisierung gegenüber den weiblichen Mitgliedern und präsenten und nichtpräsenten - Adressatinnen, die komplementär zu den genannten Maskulinitätsmodellen eher als „Begleiterinnen“ („groupies“) oder „Publikum“ denn als gleichrangige „Mitspielerinnen“ fungieren, bzw. als Außenstehende zur Zielscheibe von Überlegenheitsdemonstrationen werden. Auslösend für eine solche Inszenierung ist hier die nicht-präsente deutsche Feldforscherin. Den lokalen Kommunikationskontext bildet (wie bei den bisherigen Beispielen) die Thematisierung der Aufnahmesituation und der Hinweis einer Teilnehmerin (Silvia), dass schon bei früheren Aufnahmen „die Mädels“ sich anders verhalten haben als die Jungen. Dies regt Gio zur Formulierung einer provozierenden Grußbotschaft an die abwesende deutsche Feldforscherin an: Gesprächsausschnitt 5 (21.7.99): „Grußbotschaft“ 1 Si: 2 Pino: 3 Gio: ->• 4 Fr: -* 5 sara: 6 Pino: 7 sara: 8 Si: 9 Pino: <nich* > nur wir Mädels haben eintlisch sozusagen die Wahrheit erzählt >ja hört die des ? » siamo tutti rutti (wir sind alle erledigt) ja: hört/ das hört-es » nein, die kommt (...) <flüstert> oh: > die vertreibt mich > isch hab die aba letzin in der Bahn gesehn (Birken-Silverman/ Calcagno) vorenthalten wurde. Vielmehr spiegelt die Aufnahme die hier (und im Folgenden) schon erkennbaren Interaktionsstrukturen „subversiver Kommunikation“ und die Gruppenstruktur mit Gio als Sprecher und „Boss“ wider, also die diversen Formen des Unterlaufens der Flandlungsintention, speziell durch parodistische Selbstinszenierung des Gruppensprechers. Kommunikationsstil und sprachliche Symbolisierung... 203 lOGio: 11 12 13 sara: 14 Si: -> 15Gio: -> 16 -> 17 18 X: -> 19 sara: kenn/ hallo 0: : ma, wie gehts, Hallo 0: : ma, wie geht's l <ruft> kenns-u misch noch ? Isch bin der Napuletanu, napuleta: : nu, capi: sti, u capi: sti ah: / {Neapolitaner, Neapolitaner, haste kapiert, hast du 's kapiert) <mit tiefer Stimme nach Mafia-Art> t-a stari mu: ta, a prossima Vota quannu vegni, ti tagghi-a faxcia {du hast still zu sein, das nächste Mal wenn du kommst zerschneid ich dir das Gesicht) = » a prossima simana venni {die nächste Woche kommt sie) ahahaha <lacht und klatscht in die Hände> ouh u/ um-mi-ffari/ appena/ um-mi fari/ u/ u/ ö/ i-schtotta jetz/ picchi mi scandäiu, u capksti, non veniri chiuni, c'avi scagghiuna comu un cavaddu. Minchia, scherzavu ccat {nicht/ mach mir nicht/ sobald/ mach mich nicht/ nicht/ nicht/ ö/ ich stotterjetzt weil ich Angst bekommen habe, hast du verstanden, komm bloß nicht mehr her, die hat Zähne wie ein Pferd. Donnerwetter, ich hab hier Spaß gemacht) ah * zum Deufel a mit der, zum Deufel a mit / * e uautr ancora fungia < singt mit ital. Intonation > {und die wird weiter bei euch rumschnüffeln) ou = du bringst mich in Teufels Küche Mit Einschränkung erscheinen hier Parallelen zu dem von Schwitalla (1994, 1995) und Schwitalla/ Streek (1989) untersuchten Kommunikationsstil der Arbeiterjugendlichen aus Mannheim-Vogelstang, gekennzeichnet durch subversives Sprechen, wofür sich bereits in einer früheren Untersuchung des Kommunikationsstils der italienischen Jugendgruppe Anhaltspunkte ergaben. 12 Die Interaktionssprache dieser Sequenz ist wie dominant in sämtlichen ingroup-Aufzeichnungen - Deutsch mit Mannheimer Markierungen, die ausgehend von der Selbstidentifizierung Gios als napuletanu ins Sizilianische wechselt (Z. 11-17) mit kurzen eingebetteten Switches ins Deutsche. 13 Bei dem hier interessierenden Format handelt es sich um eine an die abwesende deutsche Feldforscherin gerichtete, im Rahmen der Gesprächsaufzeichnungen via Kassette mitgeteilte „Grußbotschaft“, die jedoch gegen die etablierten Regeln dieses kommunikativen Genres vielmehr die Form einer Droh- und Beleidigungssequenz annimmt. Diese besteht aus despektierlicher Begrüßung, Identifikation als Sprecher, Drohung, Zuschreibung von Eigenschaften, 12 Bierbach/ Birken-Silverman (1998). 13 Interessant ist, dass hier - und an anderen Stellen der Einsatz des sizilianischen Dialekts mit der Selbstrepräsentation als „napuletanu“ einhergeht. „Napuletanu“ als ethnisches Stereotyp des süditalienischen „bad guy“ bzw. „mascalzone“ hat für den Sprecher (Gio) und die Gruppe offenbar emblematische Bedeutung (s. auch die Codenamen Gios in 2.1 und unter 3.3 Parodistisches Zitieren, Gesprächsausschnitt 8). 204 Christine Bierbach / Gabriele Birken-Silverman Kommentaren und einer Verwünschungsformel (dt., Z. 17) mit abschließender Begründung (siz.: „Schnüfflerin“). Sie dient der Profilierung des Sprechers im Rahmen einer Art verbaler Mutprobe, in der er sich über gesellschaftliche Tabus und Gebote der Höflichkeit hinwegsetzt und zugleich Gruppensolidarität konstruiert, indem ein „Gegner“ demonstrativ angegriffen bzw. „heruntergeputzt“ wird. Die Verwendung des Sizilianischen zur ingroup-gerichteten Übermittlung der polemischen Äußerungen kann evtl, als rhetorischer Trick und zusätzlicher Affront gegen ein Nicht-Mitglied der Sprachgemeinschaft interpretiert werden, sodass der Gebrauch dieser Varietät als expressive Ressource und Demonstration sprachlicher Überlegenheit gleichzeitig Vergnügen („Spaß“, s.u.) und Machtgefühl vermittelt. Im Rahmen einer Strategie der Demontage des altersbedingten Autoritätsgefalles folgt auf die joviale Begrüßungsfloskel („hallo Oma“) eine aufmerksamkeitsheischende Selbstreferenz („kenns-u misch noch“), die die initiale Normverletzung durch die Einführung des „du“ bekräftigt. Dies bedeutet eine Umkehrung etablierter Interaktionsnormen: Während von der deutschen Exploratorin in den vorangegangenen Interviews die Anrede tu („du“) gegenüber den Jugendlichen gebraucht wurde und diese die von ihnen als „Respektsform“ erwartete Anrede „Sie“ verwendeten, dreht Gio nunmehr die Verhältnisse als „Repräsentant“ der Jugendgruppe um und macht die Exploratorin zum Gesprächsgegenstand. Er stellt sich als napuletanu vor, betont damit also die Zugehörigkeit zu verschiedenen ethnischen Gruppen zusätzlich zum Altersunterschied. Zum einen weist er damit der Angesprochenen eine aus seiner Perspektive negative Position der Schwäche zu (Alter vs. Jugend), zum anderen betont er die Stärke seiner eigenen Position als Jugendlicher durch die Präsentation als Neapolitaner mit daran geknüpften (prosodisch und stimmlich markierten) „power“- Konnotationen. Der Beginn der Drohsequenz wird markiert durch Verlangsamung des Sprechtempos und das mit tiefer Männerstimme nachdrücklich mit Dehnung gesprochene napuleta: : nu, verstärkt durch die zweimalige Rückfrage aus der Position des Überlegenen: capi: sti, u capi.sti („hast du kapiert? “). Durch die Übertreibung der „furchteinflößenden“ Stimmführung zusammen mit dem übertrieben provozierenden Sprachstil wird hier aber zugleich signalisiert, dass es sich um ein Spiel handelt. Dies setzt sich bei Beschleunigung des Sprechtempos mit einer rituellen Drohformel in Mafia-Manier fort, mit der traditionell vor Territoriumsverletzungen gewarnt wird - Z. 12: a prossima vota quannu vegni ti tagghi-a fatccia d.h. über die symbolische Bedeutung der Gesichtszerstörung (die bereits durch die beleidigenden Anreden verbal demonstriert wurde). Es geht hier also um die Inszenierung einer „verbotenen“ Gegenwelt, die gespielte Verteidigung eines geschlossenen Territoriums gegen „illegitime“ Eindringlinge, die zugleich den Sprecher vor der Gruppe wirkungsvoll in Szene setzt. Saras unerwartete zeitliche Präzisierung des nächsten Besuchs der deutschen Feldforscherin verleiht der Äußerung Aktu- Kommunikationsstil und sprachliche Symbolisierung ... 205 alität und eine Pointe, die Gios Phantasien der Realität gegenüberstellt und von Silvia mit Lachen und Klatschen quittiert wird (Z. 14). Gio ändert zunächst seine Strategie durch Mimen von Schrecken, indem er stottert und dies metasprachlich auf Deutsch kommentiert (Z. 15). Im ingroup-Code knüpft er wieder an seine Warnung an, die er in variierter Form wiederholt: u capi: sti, non veniri chiuni („hast du kapiert, komm bloß nicht mehr her“) und zu einem neuen Höhepunkt führt: der Demontage des „Feindes“ durch Attackieren des Aussehens, ein für die Jugendgruppe zumal auf weibliche Objekte bezogen wesentlicher Wert. Das Sizilianische (Z. 16) markiert hier wiederum das Interaktionsformat „spaßige Demontage eines Nichtgruppenmitglieds“, „Verscheißern“ und symbolisiert zugleich die territoriale Integrität der Gruppe. Dass es sich um einen Spaß handelt, wird durch die eigene metasprachliche Aussage explizit gemacht („Minchia, scherzavu cca“). Daran schließt sich eine Verwünschungs- (und Vertreibungs-)formel auf Deutsch an („Zum Deufel a mit der“) wobei hier wiederum die erwartbaren Interaktionsregeln durch die Sprachwahl verkehrt werden (fingierte direkte Anrede der Deutschen auf Sizilianisch; Sprechen über sie in der 3. Person auf Deutsch). Begründet wird die Verwünschung (und darin enthaltene Bewertung) der Eigengruppe gegenüber auf Sizilianisch: „und die wird weiter bei euch rumschnüffeln“ der Kern des Konflikts. Saras deutscher Kommentar (Z. 19) kann als Schritt interpretiert werden, das Spiel nicht fortzusetzen und durch Wechsel der Interaktionssprache Distanzierung auszudrücken. Die Jungen (Gio, Pino, Francesco) lassen sich davon aber nicht abhalten, die „Darbietung“ (Pino, Z. 23) mit spielerischen Assoziationen an die eingeführten „features“ der Adressatin weiterzuführen auf deutsch, mit improvisierten Werbesprüchen, verspottenden Wortspielen, Geräuschen, Gesangseinlagen und selbstironischen Kommentaren; dabei wechseln sie mit der Sprache sozusagen das Terrain von der Welt der sizilianischen Mafia in die deutsche jugendkulturelle Szene. Den Abschluss des Themas bilden schließlich Gios entschärfende und „selbstkritische“ (? ) metasprachliche Kommentare (Z. 41, 45); der letzte, anscheinend an die deutsche Exploratorin (evtl, als fiktiver Kommentar Saras? ) gerichtete, markiert die vorangegangene Sequenz noch einmal als „unernst“ und formuliert ein Deeskalierungsangebot. Gesprächsausschnitt 6: Grußbotschaft (Schluss): 41 Gio: äh un das stellt natürlich nisch/ nix gegen die Saharahara 42 Fra: ihr wollts nur mit ihr essen gibs zu 43 Gio: <atmet tief ein> Sara Saretta <räuspert sich> na etta 44 Si: » hallo, Giovanni 45 Gio: Kollegin, war nur Scheiße-okay. Die Szene verdeutlicht insgesamt die Möglichkeiten, herkunftskulturelle (dialektale) Sprachmuster in spielerischer Übertreibung zur Suggestion eines 206 Christine Bierbach / Gabriele Birken-Silverman ethnischen (und gender-spezifischen) Stereotyps - „der süditalienische Macho“ als zusätzliche Ressource in Kombination mit anderen kommunikativen Mitteln zur Provokation einer Repräsentantin der outgroup der „feindlichen“ Welt der Erwachsenen zu nutzen. Insofern bildet die Szene eine „kommunikative Umsetzung“ der im oben (2.2) betrachteten Song der Gruppe ausgedrückten Haltung. Neben der Betonung des Altersunterschieds als trennendem Kriterium wird hier die ethnische Differenz als zusätzliches Mittel der Abgrenzung aktiviert. 3.3 Parodistisches Zitieren Zu den in der Literatur herausgearbeiteten Stilmerkmalen jugendsprachlicher ingroup-Kommunikation gehört auch das Zitieren (Literatur), das sowohl in originalgetreuer als auch in verfremdeter Form eine markante Komponente des Kommunikationsstils der Jugendclique darstellt. Während im eben besprochenen Beispiel mit der in verstellter Stimme artikulierten sizilianischen Drohung und im weiteren Verlauf mit Versatzstücken aus deutschen Werbesprüchen auch schon Zitatelemente eingesetzt und hier zur Inszenierung einer Verteidigung des eigenen („heimischen“) Territoriums bzw. zur Provokation eines „Eindringlings“ genutzt werden, verweisen eine Reihe weiterer zitatförmiger Verwendungsweisen sizilianischer Sequenzen auf die ambivalente Rolle des Dialekts, als Mittel gruppeninterner (ironischer) Selbstinszenierungen bzw. Abgrenzungen gegenüber der eigenen Herkunft. So erscheinen spielerisch verfremdete Dialektelemente charakteristischerweise in Kontexten, die auf die ethnisch-kulturelle Herkunft der Teilnehmer bzw. des Gesprächsgegenstands verweisen. So z.B. in einem Gesprächsausschnitt über die Ferienpläne der Teilnehmer/ innen, in dem die Exploratorin Sara durch die gemeinsame Herkunft und gemeinsamen Handlungskontext (die üblichen Sommerferien im Heimatdorf der Familie) zur ingroup zählt. Symptomatisch für die Einstellung der Jungen zum Herkunftsland der Eltern und Reiseziel ist dabei die ironisch-herablassende Vergegenwärtigung der Herkunftsorte, die zum Auslöser für die Reproduktion von dialektalem Sprachspott in Form von Ortsneckereien, für Wortspiele (Ramacca ngravacca > a vacca) 14 und die zitierende Inszenierung einer dörflichen Marktszene werden. Gesprächsausschnitt 7 (21.7.99): „o mercatu“ (auf dem Markt) 1 sara: allora te ne vai o paisi ? (dufährst also ins Dorf? ) 10 Fr/ Pino (? ) a Ramacca GJ (nach Ramacca) (...) 1 6 Gio: < Ramacca ngravacca (Ramacca galoppiert zu Pferde) Der bekannte Spottvers auf den Heimatort cu rriv-a Ramacca ngravacca „wer nach Ramacca gelangt, kommt zu Pferde“, der auf die einstige Pferdewechselstation anspielt, wird volksetymologisch assoziiert mit a vacca „die Kuh“. Kommunikationsstil und sprachliche Symbolisierung ... 207 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 (...) 37 sara: Si: Gio: Pino: Fr: Pino: sara: Si: sara: Gio: Fr: Gio: Fr: Gio: Fr: Gio: Fr: Si: e cu rriva ngravacca, veru e * no, iu di Casteldiudica sugnu** (und wer hinkommt galoppiert zu Pferde, stimmt * nein, ich bin aus Castel di ludica) nich weit de galoppiert) no des is cu ngravacca (wer zu Pfer- <singend, leiemd> Ramacca Ramacca a vacca (die Kuh) no ma gehn oft dort aufh Markt Ramacca wir auch o mercatu niemu (aufden Markt gehn wir) 0 mercatu ? (aufden Markt) poi c'e Giovanni < « Cipoddi (dann ist da Giovanni <<< Zwiebeln) «< dumila liri (2000 Lire) «< batati (Kartoffeln) «< an/ anciovi, anciovi (An/ Anschovis, Anschovis) pasulini. pasulini (grüne Bohnen, grüne Bohnen) anciovi, dumila liri * batati (Anschovis, 2000 Lire * Kartoffeln) <mit dunklem a> 1 masculi, i masculi (die Sardellen, die Sardellen) <lacht schallend (über Francesco)> Das Stichwort o mercatu löst hier die zitierende Imitation einer sizilianischen Marktszene aus, an der sich die anwesenden Jungen mit entsprechender Stimmführung und im Dialekt beteiligen; zudem wird dabei Gio meist „Wortführer“ der Gruppe frotzelnd als erster „Marktschreier“ vorgeführt (Z. 27). Ebenso wie das erste Sprachspiel erscheint diese Sequenz als witziger Versuch, das sizilianische Dorf Ramacca lächerlich zu machen, indem eine typisch „südländische“ Marktszene durch lautes Anpreisen der Ware eher Arme-Leute-Kost wie Zwiebeln, Kartoffeln, grüne Bohnen, gesalzene Fische gemimt wird. Diese Nahrungsmittel (Zwiebeln, Bohnen, Fische, Feigen, Kartoffeln) haben im Übrigen sozialsymbolischen Wert in der Alltagswelt der italienischen Migrantenjugendlichen und werden in den Sprachaufnahmen immer wieder meist in scherzhaft-ironisierender Geste benannt. Die durch Lautstärke, Intonation und Auswahl der Inhalte indizierte Parodie auf das Herkunftsdorf beinhaltet die subjektive Darstellung eines negativ konnotierten Klischees: des lauten Südländers aus ärmlichen Verhältnissen. Gleichzeitig zeichnet sich hier das Gegenbild zu den die städtische (und speziell die HipHop-)Kultur auszeichnenden Formen des Konsums und seiner Vermarktung als kultureller Ausdrucksform ab, das auch in der sprachlichen Kontrastierung - Sizilianisch/ Marktschreier für die traditionelle Herkunfts- 208 Christine Bierbach / Gabriele Birken-Silverman kultur, Deutsch/ jugendsprachliche Kommentare für die lokale städtische Alltagswelt seinen Ausdruck findet. 15 Weitere Beispiele für parodistisch-zitierende Formate finden sich in Form von Gesangseinlagen nach italienischen Vorbildern, die als „Collagen“ von Gesang und gesprochenen Äußerungen generell als ein herausragendes Merkmal des expressiven, sich selbst performativ in Szene setzenden Kommunikationsstils der (männlichen) Jugendlichen erscheinen. Der folgende Auszug ist besonders interessant, da es dabei wiederum um Abgrenzungsprozeduren unter Verwendung analoger Mittel wie im obigen Fall geht diesmal werden die Anhänger einer süditalienischen Fußballmannschaft mittels Dialekt und Ausdrucksweise (FC Napoli, von Gio in Z. 4 als squadra di cipudda „Zwiebelmannschaft“ bezeichnet) lächerlich gemacht und mittels des gesungenen Schlachtrufs Iforza Napuli) szenisch vorgeführt. Damit verbunden führt Gio eine ironische Selbstdarstellung („Filippu Feigenfresser“) mit Zuordnung nach Neapel ein, deren soziale Bedeutung er hier expliziert und die er ja verschiedentlich in der Gruppeninteraktion relevant macht und mit unterschiedlichen inszenatorischen Mitteln als „kulturelle Rolle“ markiert. 16 Gesprächsausschnitt 8 (7.4.99): „a squadra di cipudda“ (die Zwiebelmannschaft) 1 sara: 2 Gio: 3 sara: 4 Gio: 5 Fr: (...) 10 Gio: -> 11 Fr: 12 Gio: 13 Fr: 14 Gio: da la/ da labert voll die Scheiße von wegen isch liebe Neapel, warum harn wi wie was (...) / (...'Ibre a squadra (die Mannschaft) a squadra di cipudda canusci: te ah (die Zwiebelmannschaft kennt ihr ah) scibuci (Zwiebeln) ciao * mi chiamo Mangiaufico Filippu. Vegnu di Na: puli. Tu canusci a (ich heiße Feigenfresser, Filippo. Ich komme aus Neapel. Kennst du wart mal Napuli, a Na: puli, a megghiu mo/ cittä ca c e. Napuli, Napuli, Napuli. forza Napuli. <singt > Neapel, Neapel, die beste Stadt wos gibt. Neapel, Neapel, los Neapel, Neapel, Neapel Napuli. forza Napuli Napuli, Napuli auau Napuli, Napuli, Napuli, mi fimü Taria. Iu sugnu napuletanu. Neapel, Neapel auau Neapel, Neapel, die Luft ist mir ausgegangen. Ich bin Neapolitaner) <singt > 15 Aus Platzgründen hier nicht transkribiert, aber im zitierten Gespräch deutlich in den Kommentaren und generell in der „unmarkierten“ Ingroup-lnteraktion. Vgl. auch die von Gio verwendeten „ethnisch markierten“ Codenamen, in 2.1. Kommunikationsstil und sprachliche Symbolisierung ... 209 Die zweite Gesangseinlage ergibt sich im weiteren Gesprächsverlauf im Zusammenhang mit fiktiven Ferienplänen - Spanien, Griechenland die Wunschvorstellungen der Jungen (im Gegensatz zum verordneten Familienurlaub in Sizilien) in Verbindung mit Selbstdarstellungen als „pappagallo“ inszenieren und sogleich wieder (dialektal) ironisieren: Gesprächsausschnitt 9 (7.4.99): „Wir beide am Meer“ 15 16 17 ^ 18 19 -> 20 -» 21 -> 22 23 24 25 26 27 -> 28 -> 29 -> 30 31 32 33 34 35 36 37 -» 38 39 40 41 42 Gio: iu mi ne vai-a Spagna mi ni va: iu (ichfahr nach nach Spanienfahr ich) sara: a Spagna ? (nach Spanien) Gio: nä a Spa: gna (nach Spanien) Dani: nach Grieschenland (...) mit meina Tante Gio: ispagn/ * ispagnolita m-a-fa: (Span/ kleinere Spanierin aufreißen) Si: > der kommt vielleicht nach Italien <ihr Freund Pino> Gio: » (... brusciari....) (verbrennen) Fr: wer ? sara: die Silvia is aba net da <zu Pino> Si: wo bin isch ? sara: die geht mit mir ans Meer Pino: hihi Si: bin isch am Meer ? Fr: der kommt dann/ als pescicani (Hundshai) Gio: (...) ans Meer. Che fai o Meer (Was machst du am Meer) Fr: Pino kommt dann/ Pino kommt doch auch als pescicani. Huu Dani: dann komm mit nach Grieschnland Gio: geh doch n Grieschenland Pino: wenn-ers erlaubt Fr: wohin Grieschenland, is-er Griesche (? ) sara: > (....) erlaubt ( ) Fr: ( ) sara: der Vatter Gio: <singt> a-mmare ou, o-o-oou (ans Meer ou, o-o-oou) Fr: <singt> o-o-oou iamucine (fahrn wir hin) Gio: <singt> a-mmare due, tutti dui (am Meer zu zweit, wir beide) Fr: <singt> sapori di sali (Geschmack nach Salz) Gio: <singt> sapuri di patati (Geschmack nach Kartoffeln) 4. Fazit: Zum Sprach- und Kommunikationsstil der Jugendgruppe Bei der Untersuchung des jugendsprachlichen Kommunikationsstils einer Gruppe ist zunächst zu differenzieren zwischen den bislang dominant untersuchten sprachinternen Merkmalen (Lexikon, Wortbildungsverfahren, Phraseologie etc.) deren Funktion und sozialsymbolische Bedeutung allerdings erst durch Einbeziehung des Kontextes analysierbar werden - und andererseits Stilmerkmalen im Sinne spezifischer Interaktionsformate und Kommunikationsmuster, wie sie hier in den Beispielanalysen herausgearbeitet wurden. 210 Christine Bierbach / Gabriele Birken-Silverman Ganz allgemein zeichnet sich für die untersuchten italienischen Jugendlichen in Mannheim ab, dass sich lexikalisch-stilistische Merkmale, wie sie bislang sowohl für die deutsche als auch für die italienische Jugendsprache herausgestellt wurden, 17 in dem Korpus der intragruppenspezifischen Gespräche praktisch ausschließlich im Deutschen widerspiegeln, d.h. unter diesem Aspekt bedienen sich die Mitglieder der Jugendclique der deutschen Jugendsprache, während ein entsprechendes italienisches Register fehlt. Dabei gilt für sämtliche Gruppenmitglieder das Deutsche als präferierte und in der ingroup-Interaktion dominante Sprache (die auch habituell zwischen Silvia und ihrer Firmpatin, der ingroup-Exploratorin Sara, verwendet wird). Insofern richtete sich das Hauptaugenmerk dieses Beitrags auf die italienischen und vor allem sizilianischen Kommunikationsanteile, die somit zu „markierten“, bedeutungsvollen Elementen der Interaktion werden und den (immigranten-) spezifischen Kommunikationsstil der Clique speziell ihrer männlichen Mitglieder konstituieren. Zur Jugendsprachlichen“ Charakterisierung im engeren Sinne seien hier ergänzend aber noch einige Aspekte zusammengefasst, die aus Platzgründen nicht alle in den obigen Beispielanalysen dokumentiert werden konnten. Sprachlich ist der Kommunikationsstil der Jugendgruppe allgemein gekennzeichnet durch gesteigerte Expressivität, die sich sowohl auf der lexikalischen wie auf der intonatorischen Ebene manifestiert, und das Brechen gesellschaftlicher Tabus mit entsprechender Verwendung von für die jugendliche Kommunikation typischen (Substandard-)Elementen wie Vulgarismen, vulgärsprachliche Verstärkungen, expressiven Gesprächspartikeln und Interjektionen (wie ey oder ou etc.). Mit Adjektivbildungen stuf -mäßig, Anglizismen (eher selten), ludischen Elementen durch eigene Wortkreationen (mit dt. Wortmaterial, z.B. Fenstonien nach dem Muster Balkonien), Wortspiele {Sex- Freundin für Ex-Freundin) und Mimen von Sprachfehlern zum Erzielen komischer Effekte (z.B. Pisseria statt Pizzeria) und nicht zuletzt lokalen (Mannheimer) Markierungen unterscheiden sich die italienischen Jugendlichen sprachstilistisch wenig von gleichaltrigen Einheimischen desselben sozialen Milieus. Marginale Sprachkompetenzen, wie sie aus den Wechselbeziehungen mit dem Türkischen von Migrantenjugendlichen resultieren, scheinen eine relativ geringe Rolle zu spielen (z.B. isch schwörs bei meina Mutter, türkische Tabuwörter; vgl. Franceschini 1996, Birken-Silverman i.Vorb.). Was die Tendenz zur Verwendung von Vulgarismen (aus dem sexuellen und skatologischen Bereich) anbelangt, die sich auch in unseren Gesprächsaufnahmen manifestiert, so handelt es sich zwar um ein von vielen Autoren her- 17 Vgl. zum Deutschen Androutsopoulos (1998), Schlobinski/ Kohl/ Ludewigt (1993), Schwitalla (1994) u.a.; zum Italienischen allgemein Banfi/ Sobrero (1992), Cortelazzo (1994), Radtke (1993), vgl. a. Androutsopoulos/ Scholz (1998). Kommunikationsstil und sprachliche Symbolisierung... 211 ausgestelltes ,jugendsprachliches“ Merkmal, 18 das aber in Bezug auf den spezifischen Kommunikationsstil der italienischen Jugendclique hinsichtlich Frequenz und Funktion zu präzisieren wäre. Bemerkenswert erscheint, dass unter den durchaus häufigen Vulgarismen deutsche Ausdrücke überwiegen und dass geschlechtsspezifische Unterschiede im Gebrauch vulgärsprachlicher Elemente zu beobachten sind. Von beiden Geschlechtern, aber in unterschiedlichem Maße, verwendet werden die mittlerweile gängigen wertenden Lexeme für ‘gut’ (geil, z.B. Gesprächsausschnitt 4, Z. 84) und ‘schlecht’ (Scheiß(e), s. Gesprächsausschnitt 2, Z. 13, Ausschnitt 6, Z. 45). Dagegen gehören vor allem einige nur unter den Jungen gebräuchliche Anredeformen offenbar zum maskulinen Code: Du Vollidiot, du Wichser, Penner sind Anreden, deren funktionaler Gebrauch sich von ihrer Verwendung in möglichen anderen Kontexten unterscheidet, insofern sie nicht als Beleidigungen aufgefasst werden, sondern vielmehr als personenbezogene negative Wertungen verbaler und nichtverbaler Handlungen fungieren bzw. als Verstärkung von Aufforderungen zum Unterlassen einer Handlung. Lateral in der 3. Pers. gebrauchte Vulgarismen als personenreferenzielle Bezeichnungen dienen häufig der gruppenintemen Darstellung und Kategorisierung einzelner Mitglieder und erfordern eine eigene Analyse (X, unser Scheiß-man, Y, unser Schwuler). Einer gesonderten Untersuchung bedürfte auch die Analyse phonetischer und prosodischer Eigenheiten des Kommunikationsstils in der Jugendclique. An dieser Stelle sei lediglich auf zwei auffällige Phänomene verwiesen: die z.T. abgehackte, „hämmernde“ Aussprache, die auch in anderen ethnischen Jugendgruppen beobachtet wurde und möglicherweise ein Stilmerkmal der (männlichen? ) HipHop-Kultur (in Imitation afroamerikanischer Sprechweisen) darstellt, andererseits weit gehendes Fehlen von „glottal stops“ an Wort- und Silbengrenzen und „Verschlucken von Lauten“ bzw. undeutliche Aussprache, so dass der Eindruck eines „nuschelnden Sprechens“ entsteht. Ähnliche Erscheinungen wurden von Schwitalla (1995, S. 252) bei den Arbeiterjugendlichen in Mannheim-Vogelstang nachgewiesen und werden heute auch als deutsche Kurzsprache („Hitsch-Kitschn-Sprache“) der Moderne thematisiert (Bulthaupt 1999). Deutsch ist bei den italienischen Migrantenjugendlichen die Sprache des gesellschaftlichen Erfolgs, das primäre Kommunikationsinstrument in der Auseinandersetzung um Teilhabe an den lokalen Ressourcen, aber in der betrachteten Jugendszene - und in der hier beschriebenen Form nicht im Sinne integrationsorientierter sozialer Anpassung, sondern sowohl als interethnische Vehikularsprache (im Umgang mit Gleichaltrigen/ peers oder auch in der 18 U.a. Radtke (1990) für die italienische Jugendsprache; ein allerdings keineswegs auf die Sprache der Jugendlichen beschränktes Merkmal, vgl. Fernsehprogramme wie „peepl“, „Samstag Nacht“ u.a., die zumindest teilweise den Jugendlichen bekannt sein dürften. 212 Christine Bierbach / Gabriele Birken-Silverman selbstbewussten, herausfordernden Kommunikation mit Älteren) wie auch als identitätsstiftendes Element in der Abgrenzung von den Eltern und der familiären Herkunft. Es wäre aber zu kurz gegriffen, die sprachlich-kulturelle Identität der 2. und 3. Migrantengeneration auf das Deutsche zu reduzieren und die zweifellos eingeschränkter auftretenden italienischen und sizilianischen Sprachanteile lediglich als „Relikte“ zu betrachten. Zwar ist Italienisch im dokumentierten Material relativ schwach charakterisiert es fungiert tendenziell eher als „Distanzcode“ und erhält vor allem aus dem Kontrast zum umgebenden sprachlichen Kontext eine interaktionssteuernde, modifizierende Funktion, wie z.B. Dissensmarkierung, Themenwechsel oder -abschluss. 19 Die oben betrachteten Beispiele, sowohl aus der Namenssymbolik der Hiphop-Gruppe wie aus den konkreten kommunikativen Handlungen, zeigen, dass vor allem der sizilianische Dialekt eine vielschichtige und ambivalente Rolle spielt, die ihn zu vielfältigen kommunikativen Funktionen befähigt. Gemeinsamer Nenner ist dabei zweifellos seine indexikalische Verweiskraft auf die (familiäre) Herkunft. Damit evoziert er zum einen die soziale Ordnung der Familie und kann zu Sprechakten wie Vorwürfen, Tadeln, Aufforderungen und metasprachlichen Kommentaren unerwünschter (aktueller) Handlungen nach Art (elterlicher) Autoritätspersonen herangezogen werden (s.o. Beispiele in 3.1). Gleichzeitig - und darüber hinaus verweist er auf die soziale Welt (bzw. bestimmte soziokulturelle Klischees) der Herkunftsgesellschaft insgesamt - und dient dem (ironischen, scherzhaften, spielerischen oder provozierenden) Ausdruck ihrer traditionellen Werte und Rollenbilder (Mafioso, Marktschreier, Pappagallo, Dorftölpel etc.; s.o. 3.2 und 3.3). 20 Ambivalent ist dabei auch die Position der Verwender zwischen Identifizierung (Markierung des „eigenen“ Territoriums gegenüber dem Anderen, Fremden, non-member) und Abgrenzung/ Distanzierung (Welt der Eltern und der Alten, des Ländlichen vs. großstädtische jugendliche Lebenswelt), wie sie vor allem in den parodistischen Gebrauchsweisen des Dialekts zum Ausdruck kommt (3.2, 3.3). Sizilianisch wird so zur gruppenspezifischen expressiven und „verortenden“ Ressource, die zusammen mit dem Deutschen ein vor allem durch „Rauheit“ und Grobheit, aber auch Ludik und Kreativität und nicht zuletzt von ständigen Verweisen auf eine internationale großstädtische Jugendkultur (s. 2.1, 2.2) gekennzeichnetes, „gemischtes“ kommunikatives Repertoire bilden. Die hier beschriebenen kommunikativen Muster stehen insofern durchaus in Einklang mit den in Abschnitt 2 benannten Ausdrucksformen der Hiphop-Kultur. Eben in diesem patchwork vielgestaltiger und hete- 19 Auch diskurs- oder argumentationsgliedemde Funktionen ital. Konjunktionen und Gliederungssignale (wie allora, eppoi,perch'e etc.) sind zu beobachten. 20 Auch hier wären allerdings geschlechtsspezifische Unterschiede zu beachten, die wir hier aber eben aufgrund der beschriebenen asymmetrischen Geschlechterrollen (und -Proportionen) in der Hiphop-Gruppe nur sehr begrenzt an Beispielen demonstrieren können; vgl. aber auch Bierbach/ Birken-Silverman (2000). Kommunikationsstil und sprachliche Symbolisierung... 213 rogener sprachlicher und anderer expressiver Elemente sehen wir die Konstruktion einer „culture intersticielle“, die der sozialen Welt und dem Lebensgefühl von Migrantenjugendlichen der 3. Generation entspricht. 5. Literatur Androutsopoulos, Jannis K. (1998): Deutsche Jugendsprache: Untersuchungen zu ihren Strukturen und Funktionen. Frankfurt a.M. Androutsopoulos, Jannis K./ Scholz, Arno (Hg.) (1998): Jugendsprache — langue des jeunes — youth language. Soziolinguistische und linguistische Perspektiven. Frankfurt a.M. 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Bierbach, Christine/ Birken-Silverman, Gabriele (1998): Aspekte der Konversation italienischer Migrantenjugendlicher in Mannheim: Zur Varianz narrativer Muster. (Arbeitspapier, als Vortrag gehalten am 1.12.98 anlässlich des Kolloquiums „Sprachvarianz“ an der Universität Mannheim). Bierbach, Christine/ Birken-Silverman, Gabriele (2000): Come parlano i giovani immigrati italiani in Germania. (Vortrag auf dem VI. Convegno Internazionale der SILFI „Tradizione e Innovazione. Linguistica e filologia italiana alle soglie di un nuovo Millennio“, Duisburg, 28.6.-2.7.2000). Birken-Silverman, Gabriele (i. Vorb.): Gelebter Sprachkontakt in einer deutschen Großstadt: Erwerb und Aktivierung türkischer Sprachkompetenzen in der italienischen Migrantenkolonie in Mannheim. Beitrag zur 31. Jahrestagung der GAL (28.-30.9.2000, Bremen). Bulthaupt, Sabine (1999): Die Hitsch-Kitschn-Sprache. Das Wort zur deutschen Kurzsprache. <http: / / www.apfel.de/ -jesse/ fsr/ Kurzsprache.html>. 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Rocker, Hippies: Subversive Stile der Jugendkultur. Frankfurt a.M. Rita Franceschini Umgang mit Fremdheit: mixed style und Quasi-Italienisch bei Deutschschweizer Händlern im Gundeldingen (Basel) Eine Frau tritt in ein Geschäft in einem Basler Viertel. Eine Verkäuferin nähert sich und begrüsst die Kundin in Baseldeutschem Akzent mit „Griezi 4 ". „Buongiomo“ ist die ebenso freundliche Antwort der Kundin: 2 In einer Bäckerei (Aufn. 034) 1 Verkäuferin: griezi 2 Anna: buongiomo Die Situation beginnt mit unterschiedlichen Interpretationen der Situation und unterschiedlichen Erwartungen. Die beiden Sprecherinnen fokussieren für die Sprachproduktion in diesen ersten turns auf unterschiedliche Sprachen, was sich in der divergierenden Sprachwahl zeigt. Der Rest des Gesprächsverlaufs ist ein aufmerksames Erkunden, inwiefern das gegenseitige Verständnis gesichert sein könnte. Die Situation, in der sich eine deutschsprachige Person unversehens vor einer italienischsprachigen Kundin befindet, verlangt, dass schnell und in angemessener Weise reagiert wird. Beide Interaktionspartner wissen anfänglich nichts über die gegenseitigen aktiven Kenntnisse der italienischen, resp. der deutschen Sprache, noch über die Reichweite der Verstehenskompetenzen. Als Aussenstehende können wir nur beobachten, wie die Akteure die Aufgabe lösen; eine Aufgabe, die verlangt, gegenüber mehreren möglichen Optionen (bspw. konvergierende oder divergierende Sprachenwahl, mehrere Sprachen einbeziehen, Mischverhalten) jene zu wählen, die eine gangbare Lösung darstellt. 1 Der Begriff Quasi-Italienisch entstand vor nicht allzulanger Zeit während eines Austausches zwischen Werner Kallmeyer und mir. Impliziert wird damit das im guten Sinne Approximative, das sich Langsam-Herantasten ebenso wie das Bemühen um eine Zielvarietät. Der Begriff erscheint hier zum ersten Mal nicht oral oder digital, sondern publik gedruckt und sei Dir, lieber Werner, im Andenken an unsere Ausflüge in Basel und Mannheim, zum Geburtstag gewidmet. 2 Anna ist das Pseudonym für die Kundin. Zu den Transkriptionskonventionen: die eckige Klammer ([) kennzeichnet die Ueberlappung mit der oberen Zeile; der Schrägstrich markiert einen selbstinitiierten Wortabbruch; (h) bedeutet kurzes Atemholen oder Lachen; in (xx) steht Unverstandenes oder Unsicherheiten; — sind Pausenlängen; das Komma steht für leichtes Anheben der Stimme, der Punkt für deutliches Senken der Stimme. Klare Frageintonation ist mit ? angegeben. 218 Rita Franceschini Mehr noch als eine sprachlich korrekte Antwort bereit zu halten, verlangt diese Verkaufssituation jedoch vor allem, dass wie auch immer gestaltete Problemlösungsstrategien gefunden werden, die ganz konkretes, praktisches Handeln ermöglichen, wie hier das Verkaufen von Waren, das Anbieten von Serviceleistungen, die Beratung usw. In einem solchen Setting birgt der Gebrauch des Italienischen von Seiten der Kundin einige Spannungen in sich, da die unmarkierte Sprachwahl im Grossraum Basel Schweizerdeutsch ist. 3 Somit muss das Verkaufspersonal wie im obigen Beispiel schnell entscheiden, wie im nächsten turn vorzugehen ist: Soll man Hilfe anfordern? Soll man versuchen, die eigenen Italienischkenntnisse zu mobilisieren? Soll man versuchen herauszufmden, ob die Kundin etwa (Schweizer-)Deutsch versteht? Versucht der Deutschschweizer Interaktionspartner Italienisch, Schweizerdeutsch, Deutsch oder andere Sprachen zu verwenden, oder gar ein Gemisch davon? In der Folge kann nicht auf alle Fragen eingegangen werden. Ziel des Beitrags ist, an Gesprächsanfängen die ersten Reaktionen von Seiten der Deutschschweizer darzustellen und damit Elemente für eine Soziostilistik des Umgangs mit Fremdheit beizusteuern. Das Eingangsbeispiel ist aus Interaktionen entnommen, die sich im Gundeldingen, einem Basler Viertel, zugetragen haben. 1. Die Datenlage und einige Hinweise zur Kommunikationskultur Das Gundeldingen liegt zwischen dem Schweizer Bahnhof und der Anhöhe des Viertels Bruderholz, einer privilegierten Wohngegend. Das länglich im Tal liegende Gundeldingen weist eine Siedlungsgeschichte als Viertel von Eisenbahnarbeitem und Beamten auf. Diesen gemischten, mittelständischen Charakter hat es bis heute bewahrt; hinzu kamen nach den Sechzigerjahren vermehrt ausländische Migranten. Beliebt ist das Viertel auch als Wohngegend für Studenten. Es bietet eine vollständige Infrastruktur, weshalb das Überqueren des Riegels, den die Bahnhofsanlage gegenüber der Innenstadt am Rhein darstellt, oft nicht nötig erscheint. Auf diese Autarkie sind die Bewohner des Gundeldingen stolz, wie sie des Öfteren in Interviews zu ‘ihrem’ Viertel kundtun. Im städtischen Diskurs benennen sich denn auch die Bewohner (und nicht nur die lang Ansässigen) stolz als ‘Gundelianer’, und werden auch so von Aussenstehenden scherzhaft genannt. Wie kein anderes Viertel hat das Gundeldingen einen Uebemamen: Man nennt es selbst in Zeitungsartikeln der lokalen Presseliebevoll ‘Gundeli’. Durch die verstärkte Immigration der letzten Jahre gibt es nun auch eine Abwandlung dieses Kosenamens, nämlich Gündülü, was die sprachliche Durchmischung iko- Zumindest in Geschäften, die nicht explizit an eine sprachlich, bzw. ethnisch definierte Klientel gerichtet sind. Umgang mit Fremdheit 219 nisiert und nicht primär abschätzig gemeint ist. Das Viertel scheint also im städtischen Diskurs ein klares Profil zu besitzen und eine spezifische kollektive Identität zu vermitteln, die auch Neuzugezogenen offen steht. Trotz hoher Immigration im städtischen Gebiet liegt das Gundeldingen nur leicht über dem Basler Durchschnitt an Fremdsprachigen. 4 Die dem türkischen Kulturkreis 5 zugewiesenen Erscheinungen (wie es sich bspw. im Passantenbild zeigt) geben dem Viertel sprachlich nicht das zahlenmässig überwiegende Gepräge; es ist dies Italienisch, welches auch hier, wie so oft in der Deutschschweiz, die zweitstärkste Sprache darstellt. 6 Italienischfrüher 4 Abb. 1: Hauptsprachen in der Schweiz, in der Stadt Basel und im Gundeldingen (100%~TolaI der Bevölkerung in den jeweiligen Einheiten) Deutsch Französich Italienisch Rätoromanisch Andere Sprachen Schweiz 63.6% 19.2% 7.6% 0.6% 8.9% Basel 77.0% 2.8% 7.0% 0.1% 13.1% Gundeldingen 69.6% 3.1% 9.0% 0.1% 18.2% Quelle: Volkszählung 1990 Schätzungen ergeben, dass mehr als die Hälfte der in Basel ansässigen türkischen Staatsbürgerinnen) einen kurdischen Hintergrund haben (Franceschini 1996). Die kurdischen Varietäten sind den indoeuropäischen verwandt, während die Turksprachen einen auch typologisch anderen Sprachbau aufweisen. Zu einer Interpretation der Sprachdaten der schweizerischen Volkszählung 1990 s. Lüdi/ Werlen/ Franceschini et al. 1997. Abb.2: Detaillierte Liste der Minderheitensprachen in Basel in absteigender Reihenfolge (100%o=Tolal der städtischen Bevölkerung) in absoluten Zahlen in % der Gesamtbevölkerung Italienisch 12482 Spanisch 5438 slavische Sprachen 5149 Türkisch 5130 Französisch 4997 Englisch 1988 andere europ. Sprachen 1364 Portugiesisch 1028 Niederländisch 267 skand. Sprachen 274 Arabisch 263 Rätoromanisch 257 Griechisch 140 afrikanische Sprachen 73 andere Sprachen 2209 7.0% 3.0% 2.9% 2.9% 2.8% 1.1% 0.8% 0.6% 0.2% 0.2% 0.1% 0.1% 0.1% 0.0% 1.2% TOTAL 41059 Quelle: Volkszählung 1990 Zu den beiden Begriffen „Hauptsprache“ (Abb.l) und „Minderheitensprache“ (Abb. 2): „Hauptsprache“ bezieht sich auf die Daten der Volkszählung; der deskriptive Begriff 220 Rita Franceschini wohl ganz ähnliche Fremdheitsgefühle weckend wie heute Türkisch, Kurdisch oder Südslawische Sprachen wurde durch die Massenimmigration der Nachkriegszeit in die Deutschschweiz gebracht. 7 In der Zwischenzeit ist das italienische Kulturelement von den Deutschschweizern sozusagen ‘vereinheimischt’ worden: Italiener werden als sympathische Personen und als integrierter Bevölkerungsteil der einheimischen Kultur geschildert. Sie werden heute nicht wie in den italophoben Jahrzehnten der 60er- und 70er-Jahre als der in-group zugehörig kategorisiert. 8 Bemerkenswert ist an diesem Prozess, dass das ehemals niedrige Prestige des Italienischen, das von der Stellung als Immigrantenvarietät in den Jahren der Massenimmigration herrührte, heute bei Einheimischen nicht mehr präsent ist. 9 Gegenüber anderen Immigrationssprachen wird diese Umlagerung der Einstellungen natürlich in einem gewissen Ausmass auch dadurch erleichtert, dass die italienische Sprache eine symbolische Unterstützung erfährt, weil sie quand meme dritte Landessprache ist. Was lässt sich von den sprachlichen Kenntnissen der Immigranten italienischer Herkunft sagen? Weite Teile der zweiten und dritten Ausländergeneration der Italiener haben den Weg des sozialen Aufstiegs beschriften, doch immer noch sind viele Vertreter der ersten Generation in einer Weise integriert, die nichts mit sprachlicher Integration zu tun hat, wie man dies allgemein annehmen würde: Die sprachlichen Kompetenzen in Schweizerdeutsch oder Deutsch sind bei der ersten Generation relativ wenig ausgebaut und weisen jene Fossilisierungen auf (von Wartburg 1999), die auch in Deutschland untersucht worden sind (HPD 1975). Noch heute, wie in den Sechzigerjahren, besteht eine manchmal mit nicht wenig Stolz vorgetragene - Weigerung, den als schwierig und unästhetisch klingenden Deutschschweizer Dialekt zu sprechen; verstärkt wird diese Haltung durch eine selbstverständlich gewordene Gewohnheit von Immigranten, auch in öffentlichen settings Italienisch zu sprechen - und dabei auch verstanden zu werden. Bspw. erscheint einem in Basel lang ansässigen Sizilianer es durchaus einsichtig, dass die Schweizer „Minderheitensprache“ dient als Oberbegriff für einige der Hauptsprachen, die je nach Ort den Status einer Minderheitensprache haben. 7 Der Anteil der Personen in der Deutschschweiz, die aus den historisch italienischsprachigen Gebieten stammen (aus dem Tessin und Italienischbünden) fällt demgegenüber gering aus. 8 Inspiriert von der Sichtweise von Moscovici (1985), habe ich diesen Prozess Sprachadoption gennannt (kurz: wenn Kulturelemente einer Minderheit von einer Mehrheit aufgenommen und von letzterer nicht mehr als gänzlich fremd taxiert werden). S. dazu Franceschini (1998a, 1999). 9 Dies ergibt sich v.a. aus den sprachbiografischen Interviews, wird aber auch aus den weiteren Datensammlungen ersichtlich. Zu den Sprachbiografien aus dem Gundeldingen s. Anhang in Franceschini (1998a), Franceschini (2001a) und Fünfschilling (1998). Umgang mit Fremdheit 221 Italienisch gelernt hätten, sie hätten sogar alle Waren in italienischer Sprache angeschrieben ... (Deslarzes 1998). Der nicht sehr weit gehende Erwerb der deutschen Varietäten bei italienischen Immigranten der ersten Generation (sicherlich auch durch die mediale Diglossiesituation der Deutschschweiz erschwert) hat jedoch nicht verhindert, dass sich eine eigene, unproblematische Identität als ‘Italiener in der Schweiz’ herausgebildet hat; Rückkehrwünsche stehen auch nicht mehr wie in früheren Jahrzehnten im Vordergrund (Allemann/ Franceschini/ Mordasini 1988). Es handelt sich aber auch nicht durchgehend um eine Integration in eine selbst gebaute Nische einer Minoritätenkultur, die in Deutschland eher beschrieben wird (s. die Arbeitsgruppe rund um W. Kallmeyer), sondern um einen interaktiv gewachsenen sozialen Stil im Umgang mit der sprachlichen Nicht-Integration und der sozialen Anerkennung, wie sie vielleicht nur vor dem historischen Hintergrund der natürlich gewachsenen Schweizer Mehrsprachigkeit interpretiert werden kann. Kurz: Beiderseits akzeptierte Integration ohne weit gehenden Spracherwerb von Seiten der Immigranten wird nunmehr von der Mehrheitskultur als akzeptabel empfunden. Ja, weit mehr: Das italienische Kulturelement wird, v.a im Zuge der Neunzigerjahre, von Einheimischen als Zeichen für raffinierte Lebensweise und temporär anzueignende Wahlidentität angenommen (Franceschini 1998a, Franceschini 1999). Eine Minderheitensprache ist dabei zu einer Varietät herangewachsen, welche Einheimische für eigene Zwecke benutzen. Die Werte, die mit italienischen Elementen indiziert werden, sind durchwegs positiver Natur, und im kommerziellen Bereich scheinen sich italienisch klingende Bezeichnungen im wörtlichen Sinne auszuzahlen: Ein Einrichtungsstück mit italianisiertem Namen transportiert Raffinesse und ein gewisses savoir vivre. Diese Prozesse der sekundären Aufladung, ja gar Einverleibung in den einheimischen Habitus sind jedoch als teilweise abgekoppelt von der lokalen Migrantenkultur zu sehen und nähren sich mehr vom global agierenden Erfolg des made in Italy. Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass auf die italienischen Immigranten aus diesem unter romanischen Flaggen dahinwehenden kommerziellen Siegeszug auch ein sekundärer lokaler Prestigegewinn zurückfällt. Ähnliche Prozesse sind auch in Deutschland beobachtbar, wenn sie mir auch (noch? ) weniger weit prononciert erscheinen. 10 10 Warst Du es, Werner, der mich unlängst auf die Snackeria am Mannheimer Bahnhof aufmerksam gemacht hat? Das Suffix -eria ist auch in der Schweiz das produktivste Morphem für kreative Wortbildungen im Bereiche der Geschäftsnamen; so ist bspw. die 222 Rita Franceschini 1.1 Unfokussierter Spracherwerb von Seiten der Deutschsprachigen Von linguistischem Interesse an diesem Makrokontext, der hier nur schemenhaft umschrieben werden kann, ist nun, dass durch die Beharrlichkeit v.a. der ersten Immigrantengeneration, auch in öffentlichen Kontexten Italienisch zu sprechen, Deutschschweizer unweigerlich dazu gebracht wurden, mit dieser Sprache in Kontakt zu kommen, ja sie zu erlernen, wenn auch nur rudimentär. Es ist nicht unrealistisch, sich ein Szenario auszumalen, in dem ein Deutschschweizer Kind in den Sechzigerjahren in seiner unmittelbaren Nachbarschaft die italienische mamma seines Spielgefährten hört, auf dem Spielplatz dies ‘andere’ Verhalten vielleicht auf exotisierend-interessierter Weise wahmimmt, zum Essen eingeladen wird ... etc. Schriftlich kann unser fiktiver Deutschschweizer/ unsere fiktive Deutschschweizerin mit der italienischen Sprache durch Warenbeschriftungen in Kontakt kommen: so bspw. über die Produkte, die auf dem Frühstückstisch stehen. 11 Während der Schulzeit wird Italienisch als fakultatives Fach angeboten (mit zwei Ausnahmen von der Sekundarstufe an, doch selten wird das Angebot genutzt). Ferner kann man sich vorstellen, dass ein(e) DeutschschweizerZ-in italienische Schlager und weitere Musikprodukte goutiert; ganz zu schweigen von den kulinarischen Neuerungen, die in der Nachkriegszeit in deutschschweizer Küchen kamen. Italienische Kulturelemente waren und sind angebracht, umfassend jene positiven Gefühle zu wecken, die im Übrigen für eine gute Memorisierung nicht zu unterschätzen sind (Schumann 1998). Das nahe italophone Feriengebiet (das schon im Tessin beginnt) trägt auch zu positiven Erfahrungen mit dem italienischen Kulturkreis bei. Ferner kann unser imaginärer Deutschschweizer am Arbeitsplatz leicht mit jener Spielart des Italienischen in Kontakt kommen, die sich unter Immigranten unterschiedlicher Erstsprache als lingua franca durchgesetzt hat(te) (Berruto 1991) und auch heute noch auf Baustellen, im Spitalwesen, im Reinigungsbereich etc. gehört werden kann. 12 Als (deutschschweizer) Vorgesetzter in Berufen, in denen wenig qualifiziertes Personal ausländischer Herkunft rekrutiert wird, ist es fast unabdingbar, sich auf Italienisch verständlich machen zu können. Italienisch hat sich in diesen Schichten verbreitet, und nicht selten erwerben andere Immigranten durch Arbeitskontexte zuerst Italienisch und dann Schweizerdeutsch. Deutschschweizer spielen in dieser Bezeichnung cafeteria fur einen (uni-)betriebsintemen Kleinimbisstreffpunkt ja schon völlig integriert davon zeugt auch die verdeutschte Schreibweise. 1 In der Schweiz werden die Waren in den Landessprachen angeschrieben, manchmal fehlt Rätoromanisch, Englisch kommt vermehrt hinzu. Diese Beschriftungen ergeben sich aus langen Gepflogenheiten und haben mit dem verbürgten viersprachigen Status der Schweiz zu tun. Für einen aktuellen juristischen Abriss s. Previtali (2000). 12 Für weitere statistische Details s. Lüdi/ Werlen/ Franceschini et al. (1997), daselbst von Antonini, „Das Italienische ausserhalb des eigenen Sprachgebietes“, S. 383-420. Umgang mit Fremdheit 223 Pidgin-ähnlichen Situation mit eine wichtige Rolle. 13 Und ist nun unser imaginärer Deutschschweizer ein Händler, dann war er (und ist er weiterhin) gut beraten, die nicht unbedeutende italienische Kundschaft auch sprachlich entgegenkommend zu behandeln. Dies skizzenhafte sprachliche Porträt ist aus durchaus realistischen Versatzstücken zusammengesetzt, die sich von Tiefeninterviews ableiten: Mit Händlern, Verkaufs- und Dienstleistungspersonal aus dem Gundeldingen wurden sprachbiografische Interviews geführt, die der lebensgeschichtlichen Verankerung des Spracherwerbs von Italienisch und anderen Immigrantensprachen nachgingen. 14 Die obige Darstellung sollte verdeutlichen, wie Kenntnisse der italienischen Sprache in den letzten Jahrzehnten in alltagspraktischen Kontexten aufgenommen werden konnten; diese kamen in einer Art zustande, die dem spontanen Spracherwerb eigen sind. Über die ganze Datenlage hinweg beurteilt, 15 kann man sagen, dass für den Erwerb des Italienischen nicht viel Aufmerksamkeit aufgewendet wurde, sondern dass diese Sprache vornehmlich unbeachtet gelernt wurde, en passant: Italienisch ist ‘nebenher’ erworben worden, in jener spezifischen Art, die ich unfokussierten Spracherwerb genannt habe (Franceschini 1998a, 1999). Das Italienisch, das dabei produziert wird, ist eine Varietät des Kontaktitalienischen (oder eben, ein Quasi-Italienisch, s. Fussnote 1). 2. Gesprächsanfänge Nach diesem Ausflug in die Makroebene, nun zurück zu unserem ersten Kundenkontakt und zu den Ende der Neunzigerjahre erhobenen Daten. Wie wird bei Gesprächseröffnungen auf die Kundin reagiert? Welcher soziale Umgangsstil hat sich in Basel - und wohl auch in der Deutschschweiz generell etabliert? Nachstehend die weiteren turns der Anfangssequenz: 13 Dabei ist interessant zu beobachten, dass sie Italienisch in einer Art und Weise sprechen, die dem Italienischen (bspw. in Italien) näher kommt, d.h. zielsprachenorientierter, als Immigranten ebenfalls nicht-italienischer Muttersprache, doch dazu an anderer Stelle (Franceschini 1998a, Franceschini 2001b). 14 Vgl. Fussnote 9. 15 Die hier dargestellten Daten stammen aus einem Gesamtkorpus, in dem die hier besprochenen Verkaufsgespräche ein zentrales Corpus bilden. Die Untersuchung war multimethodologisch angelegt und umfasste weitere Sammlungen wie: Daten aus der Volkszählung, Feldtagebücher, sprachbiografische Tiefeninterviews, ethnografisches Material, Expertengespräche, Aufnahmen von Rundgängen im Viertel, Sprachtests. Zur epistemologischen Seite eines solchen Vorgehens, s. Franceschini (1998b). Es handelt sich um ein Projekt, das für die Dauer von vier Jahren von 1995 an vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt wurde und den Titel trug: „Sprachkontakt in einer Schweizer Stadt: die Übernahme einer Minderheitensprache im Sprachrepertoire der Mehrheit (am Beispiel der italienischen Sprache)“; Projektnummer: 12-40502.94. 224 Rita Franceschini In einer Bäckerei (Aufn. 034) (wenn nötig interlineare Uebersetzung in kursiv) Verkäuferin: Anna: Verkäuferin: Anna: Verkäuferin: Anna: Verkäuferin: 8 Anna: 9 Verkäuferin: 10 Anna: 11 Verkäuferin: gnezi buongiomo buongiomo signora (h)(lei ha) una ciabatta (haben sie) eine Ciabatta una ciabatta si he la ciabatta cos'e la ciabatta he die Ciabatta was ist eine Ciabatta, ma (xx) also (xx) [cioe — un pane bianco, also — ein Weissbrot, si un pane un pane molto piatto che fanno qui — ma non ja ein Brot — ein Brot — sehrflach das sie hier machen — aber nicht no io — (abbiamo) solo questi — che sono ripieni nein ich — (wir haben) nur diese — die gefüllt sind Die Verkäuferin lässt sich auf die Sprache der Kundin ein. Sie spricht Italienisch relativ fliessend, wenn auch mit klarem deutschen Akzent, und erkundigt sich durchaus gekonnt nach der Art des Brotes, das sie allem Anschein nach nicht kennt (die ciabatta ist ein flaches Brot, eine Art ‘Modebrot’, zu jener Zeit). Dass die konvergierende Sprachwahl durchaus nicht die unmarkierte darstellt, gegenüber Schweizerdeutsch, indiziert die Wiederholung des Grasses der Verkäuferin auf Italienisch (s. Zeile 3). Er stellt den zweiten Start der Konversation in der nächsten Sprache dar. Dass Anna nur Italienisch spricht, führt bei keinem der über 150 aufgenommenen Personen zu geharnischten Reaktionen. Nur in zwei Fällen stellt sich Irritation ein, wie im folgenden Beispiel, in dem der Verkäufer die Aussage, die Kundin solle gefälligst Deutsch reden, kurz später sogar wiederholt. In einem Lebensmittelgeschäft (Aufn. 045) 1 Verkäufer: i verstand net si münd scho tütsch rede Ich verstehe sie nicht sie müssen schon Deutsch reden Pikanterweise führt das Geschäft einen modisch klingenden, italienischen Namen. Zwischen diesen beiden Polen dem umfassenden Wechsel in die Sprache der Kundin und den Kommunikationsweigerungen liegen eine Vielzahl von weiteren Strategien, die ich in der Folge exemplarisch darstellen möchte. Ein anderer Umgang zeigt bspw. die Reaktion des folgenden Sprechers: Umgang mit Fremdheit 225 In einem Möbelgeschäft [Aufn. 012) 1 Verkäufer: 2 Anna: 3 Verkäufer: 4 Anna: 5 Verkäufer: 6 Anna: 7 Verkäufer: 8 Anna: 9 Verkäufer: 10 Anna: 11 Verkäufer: 12 Anna: 13 Verkäufer: 14 Angestellte: 15 Anna: griezi. eeh buongiomo scusi parla italiano eeh Guten Tag - Verzeihung sprechen Sie Italienisch no. niente nichts niente. o solo un po' oder nur ein bisschen no. cerco una libreria ich suche ein Büchergestell he, una libreria. librerira librerira si un mobile per metter i libri ja ein Möbel um Bücher hineinzustellen ahaa do. (xx) ((sagt etwas zu einer Angestellten: )) ahaa hier, (xx) du cha/ du chasch italiänisch. si wil der öbbis sage du ka/ du kannst Italienisch. Sie will dir etwas sagen [jä-buongiomo buongiomo Hier wird offensichtlich, dass der Verkäufer kein Italienisch versteht. Die Kommunikation kann jedoch weitergeführt werden, da der Erstangesprochene gleich eine Lösung zur Hand hat: eine andere Angestellte wird beigezogen. Diese wendet sich dann an Anna auf Italienisch (s. Z. 14, nach dem „jä“, das wohl dem ersten Verkäufer gilt). Hier liegt eine Strategie vor, den Sprachexperten in loco zu bemühen. Dies ist weiter nichts Ungewöhnliches, bemerkenswert ist jedoch die Schnelligkeit, mit der das Problem gelöst wird. Dazu auch folgendes Beispiel: In einem Haushaltsgeschäft (Aufn. 050) 1 Anna: 2 Verkäuferin 1: 3 Verkäuferin 1: 4 Anna: 5 Verkäuferin 2: 6 Verkäuferin 1: 7 Anna: ehm mi=mi serve della gomma piuma parla ita/ ehm — ich=ich brauche Schaumstoffsprechen Sie ita/ [näi itäliänisch, ((ruft eine andere Verkäuferin: )) ffä (X) Frau (X) [(ah un attimo) si (h) (ah einen Moment)ja (h) jä [Antwort auf die Verkäuferin 1] ((zur Kundin: )) äi momänt he, einen Moment ne, hm si ((die Verkäuferin 2 kommt)) In den Kommunikationen im Gundeldingen ist erstaunlich, dass zumindest in grösseren Geschäften immer sehr schnell eine Person ermittelt wird, die 226 Rita Franceschini die nötigen Kompetenzen hat. Das verweist darauf, dass das Personal von den sprachlichen' Kompetenzen der Kolleginnen und Kollegen Kenntnis hat. Gleichwohl hat man nicht den Eindruck, es gäbe dazu ein geplantes Wissen, etwa im Sinne einer auferlegten Strategie des Managements. Die Suche nach der geeigneten Person erfolgt immer in einer Weise, die ich als ‘natürlich’ bezeichnen möchte in dem Sinne, dass nicht eine besondere Anstrengung nötig ist, um das Problem zu lösen. Es liegt eine gewohnheitsmässig etablierte Routine vor, die ein wesentliches Merkmal dessen ist, was ich unter Soziostilistik fassen möchte. Die Schnelligkeit der Reaktionen weist ferner daraufhin, dass das Verhalten der Kundin nicht unüblich ist, d.h. es deutet vieles darauf hin, dass vor ihr viele andere sich in ähnlicher Weise verhalten haben. Die Abwicklung der Interaktion verweist darauf, dass es sich nicht um einen völlig aussergewöhnlichen Fall handelt, sondern eine Kommunikationsgeschichte vorliegt. In der Tat ist die Kompetenz in diesen aber nicht nur in diesen - Alltagsroutinen nicht nur im Gundeldingen vorhanden, sondern allgemein in der Deutschschweiz. Eine weitere Lösung des Problems, mit einer nur italienisch sprechenden Kundin umzugehen, ist die Hilfeleistung durch bystanders. Auch dies ist an sich nichts Ungewöhnliches, eher interessant ist festzustellen, dass die Hilfeleistung nicht sofort angeboten wird, sondern nach einer gewissen Zeit. Man siehe dazu das folgende Beispiel, in dem eine zufällig anwesende Kundin in die Rolle der Sprachmediatorin schlüpft, nachdem sie höflich der Verkäuferin ihre Hilfe angeboten hat: In einem Stoffgeschäft (Aufn. 002) 1 Verkäuferin: 2 Mediatorin: 3 Verkäuferin: 4 Mediatorin: 5 Mediatorin für Stoff oder so müssten sie ins heimatwerk, (x) ((zur Verkäuferin: )) sölli übersetze, soll ich übersetzen jä könne si au wenn si italiänisch ja können sie auch wenn sie Italienisch [((zur Kundin)) c'e un altro negozio specializzato per Es gibt einen anderen Laden der auf la tradizione basilese e nella nel centre della cittä, die Basler Tradition spezialisiert ist — es ist im im Stadtzentrum, - Bis die Mediatorin ihre Hilfe anbietet - „sölli übersetze,“(Z. 2) ist mehr als eine Minute vergangen. In dieser Zeitspanne wird deutlich, dass die Verkäuferin weder aktive noch passive Italienischkompetenzen besitzt. Erst nachdem dies evident ist, interveniert die Mediatorin. Dieses nicht unmittelbare Eingreifen ist in den Aufnahmen in analog gelagerten Fällen systematisch. Die Gründe für dieses zeitverschobene Eingreifen liegen sicherlich einerseits bei einer weit gefassten Annahme, das Gesicht der Umgang mit Fremdheit 227 anderen nicht gefährden zu wollen. Die Zeitspanne zwischen erstem Auftreten der Verstehensschwierigkeiten und erstem Eingreifen deutet jedoch andererseits auch darauf hin, dass sich solche Situationen in der Regel von selbst auflösen: sei es, dass sich die Verstehensbasis langsam aufbaut, sei es, dass anderes Personal herbeigezogen wird, wie wir oben schon gesehen haben. Somit ist das Ausbleiben eines unmittelbaren Eingriffs von Seiten der bystanders ein Zeichen dafür, dass es verbreitete und eingeschliffene Praktiken der Reaktion gibt. Ebenso ist es ein Hinweis darauf, dass in der Regel gewisse Kenntisse (aktive und passive) des Italienischen angenommen werden, die es nicht nötig machen, von der ersten Schwierigkeit gleich auf eine totale Kommunikationsbarriere zu schliessen. Die Normalerwartung ist also, dass die Schwierigkeiten nur vorübergehender Natur sind. Dauern sie an, ist eine Intervention von dritter Seite angebracht. Ein zu frühes Angebot der Hilfeleistung läuft den lokalen Gepflogenheiten im Umgang mit mehrsprachigen Situationen entgegen. Böte der Mediator seine Hilfe zu früh an, würde er damit bekunden, die spezifische lokale Kommunikationskultur nicht zu kennen. Zur Soziostilistik gehört hier, dass nach ersten Verstehensschwierigkeiten ein slot eröffnet wird, der den ersten Interaktanten eine Zone des gegenseitigen Abtastens bereitstellt. Erst nachdem dieser slot abgearbeitet ist, ist die Sequenz für eine Mediatorfunktion potenziell angebracht. Bis zu diesem Punkt sind Situationen herbeigezogen worden, in denen bei der ersten Begegnung Divergenz in der Sprachwahl vorlag und Übereinstimmung gesucht wurde in Richtung der Sprache der Kundin. In den Aufnahmen aus dem Gundeldingen werden aber folgende Kommunikationsanfänge als ebenso akzeptabel behandelt: An einem Kiosk (Aufn. 026) 1 Anna: 2 Verkäuferin: 3 Anna: 4 Verkäuferin: 5 Anna: 6 Verkäuferin: 7 Anna: 8 Verkäuferin: 9 Verkäuferin: buongiomo ((schaut sich um)) — il giomale la stampa non non c'e Guten Tag die Zeitung 'La Stampa' gibt es nicht [griezi [no hm=m perche no, weshalb nicht, s got nit bei uns bruuchs nit ((2 Sek. Pause)) es geht nicht bei uns ich brauche es nicht cioe io verrei also ich käme [(h) i kann scho bschtelle das wer aso käi problem {h) ich kam es schon bestellen das wäre kein Problem perö non vengo ogni giomo ich komme aber nichtjeden Tag ah si — jo macht nüt eh wer käi problem den gib i se ahja — gut macht nichts eh wäre kein Problem dann gebe ich sie zrugg i probier s emol se bschtelle zurück ich versuche einmal sie zu bestellen 228 Rita Franceschini Jede Person spricht eine Sprache. Von den ersten türm an ist klar, dass genügend Verstehenskompetenzen vorhanden sind, so dass ein Codewechsel nicht nötig erscheint. Von der Flüssigkeit her, in der diese Interaktionen stattfmden, hat ein Aussenstehender, der weder Schweizerdeutsch noch Italienisch versteht, keine Hinweise, dass es sich um eine divergente Sprachwahl handelt. Die Interaktion verläuft reibungslos, auch über längere Zeit hinweg. Die Turnanschlüsse erscheinen interaktiv und thematisch kohärent. Konvergenz besteht in solchen Situationen im gegenseitig angenommenen Verstehen, Divergenz herrscht lediglich bei der Externalisierung vor, d.h. in der Codewahl für den sprachlichen Ausdruck. Weit typischer für unsere Interaktionen ist jedoch, dass selten diese klare Sprachwahl über die ganze Interaktion hinweg beibehalten wird. Wie man auch schon in der ersten minimalen Antwort der Verkäuferin in Z. 2 ersehen kann, bauen die deutschschweizer Sprecher im Verlaufe der Interaktion immer wieder mehr oder weniger ausgebaute italienische Elemente ein, darin einem Prinzip folgend, das man in etwa so formulieren könnte: „Wenn dir das italienische Wort oder die italienische Wendung einfällt, dann benutze sie innerhalb deiner (schweizer-)deutschen Rede.“ Anbei lediglich ein einzelner turn einer Sprecherin, die ansonsten fast ausschliesslich auf Schweizerdeutsch zu Anna spricht: In einem Möbelgeschäft (Aufn. 113) Verkäuferin: jo quattro is e bitz troppo he, In einem syntaktisch deutschen Satzbau werden hier Zahlwort und Adverb eingebaut, wobei „troppo“ sieben turns vorher von Anna benutzt worden war. Routineformeln wie bspw. grazie mille, va bene, per lei etc. und Zahlwörter erscheinen häufig in solchen Kürzest-Einschüben. Das sprachliche Entgegenkommen der Klientin gegenüber wird hier angezeigt, indem aus der eigenen Kompetenz der weitestmögliche Einbau von italienischen Elementen getätigt wird. Damit wird — Rückmeldesignalen gleich - Verständnissicherung bezüglich der anderen Sprache angezeigt. Als kleiner Wink, als emphatische Marker quasi, konvergieren die deutschschweizer Sprecher bei diesem Umgang mit den zwei Sprachen in einer Art und Weise, die einen völlig unnormativen Umgang mit unterschiedlichen Sprachen bezeugt. Noch weitergehend in dieser offenen Art und Weise, mehrere Sprachen zu behandeln, ist das folgende Beispiel: Bei einem Bildhauer {Aufn. 004) 1 Anna: buongiomo eh scusi parla italiano? Guten Tag eh Verzeihung sprechen Sie Italienisch Umgang mit Fremdheit 229 2 Verkäuferin: ah no ffanze, eh frantsch ffench 3 Anna: ffance/ eh hmm 4 Verkäuferin: [franfais un petit peu, Französisch ein klein bisschen, 5 Anna: ((lachend: )) un po' (x) ein bisschen (x) 6 Verkäuferin: [oui 9a va vous avez ((das Telefon klingelt)) ja es geht haben, 7 vu quelque chose, sie etwas gesehen 8 Anna: si eh lo scoiattolo 11 ((Geste)) ja eh das Eichhörnchen 9 Verkäuferin: ah das äikhömli, mhm questo, mhm dieses 10 Verkäuferin: uno momento ((mit Blick auf das Telefon)) einen Moment 11 Anna: prego. bitte. 12 Verkäuferin: nimm s'delefon schnall he ich nehme schnell das Telefon ne [...] ((spricht kurz mit dem Besitzer)) 13 Verkäuferin: so. ee j'ai demande monsieur (x) il a telephone en ce moment. so. ee ich habe Herrn (x) gefragt er hat eben telefoniert. — Die Verkäuferin hat zwar anfangs Schwierigkeiten, ‘Französisch’ adäquat auszusprechen, die anvisierte Zielform ist wie man durch die Selbstkorrekturen sidhXfranqais (Z. 4). In der Folge der relativ langen Konversation wechselt sie frei zwischen Französisch (Z. 6-7, 13 nach ‘so’), (Schweizer-) Deutsch (Z. 9, 12) und Italienisch (Z. 9, 10) ab und baut, wie im vorangehenden Beispiel, diejenigen italienischen Elemente ein, die sie zu benutzen versteht. Im ausgewählten Abschnitt sieht man dies bspw. in Z. 9, wo sie das fast schon topisch gewordene - „uno momento“ einbaut, gleich darauf wechselt sie wieder auf Schweizerdeutsch. 3. Ein quantitativer Ausblick Sehr wenige Konversationen werden von Seiten der deutschschweizer Interaktanten lediglich in einer Sprache durchgehalten (die Alternanz zwischen Deutsch und Schweizerdeutsch einmal ausgenommen). In diesen Verkaufsgesprächen erscheinen immer Elemente aus anderen Sprachen, auch wenn es sich nur, wie in einigen der eben diskutierten Beispiele, um Minimaleinschübe handelt. Der Normalfall ist durchweg ein mehr oder weniger ausgebautes mehrsprachiges Verhalten, gleich in welchen Sprachkombinationen. 230 Rita Franceschini Von den insgesamt rund 21.000 grafischen Worteinheiten, die im besagten Corpus die deutschschweizer Sprecher produziert haben, 16 kann man rund 20% zu Schweizerdeutsch und Deutsch zählen, 5% umfassen andere Sprachen, wie in der Tabelle 3 dargestellt. Der Rest ist Italienisch. Abb. 3: Andere im Korpus vorhandene Sprachelemente nebst Italienisch und (Schweizer-) Deutsch (Zählung nach grafischen Worteinheiten) Französisch 844 Englisch 58 Spanisch Al Latein 1 Die Gesamtheit von fast 5% ‘anderer’ sprachlicher Elemente nebst Italienisch, Deutsch und Schweizerdeutsch ist Bestandteil jener Soziostilistik, die dem Einbezug mehrerer Sprachen gegenüber offen ist: In Abhängigkeit von der eigenen Kompetenz können frei andere Sprachen einbezogen werden. Es gibt ferner Personen, die eher in Richtung einer möglichst (im Endeffekt nie gänzlich) einsprachigen Option tendieren, sei diese nun in Konvergenz oder Divergenz zur Sprachwahl der Kundin. Der überwiegende Teil der Interaktionspartner von Anna greift mehr oder weniger stark auf weitere Sprachen zurück. Die anderen, im eigenen Repertoire vorhandenen Sprachkenntnisse werden dabei als Ressource genutzt, aus der Mittel und Strategien entwickelt werden, um in einer alltagspraktischen Situation kommunizieren zu können. Dass diese Rückgriffe ohne grosse Anstrengung getätigt werden, verweist auf eine lange Kontaktgeschichte und einen offenen ich wage zu sagen: toleranten - Umgang mit mehreren Sprachen hin. 16 Abzüglich unverständliche Einheiten, Wortabbrüche sowie Nennungen von Zahlen (letztere sind in Verkaufssituationen überrepräsentiert). Nicht ungenannt soll bleiben, dass einige Elemente nur mit Mühe eindeutig einer Sprache zugeordnet werden können (s. z.B. die analogische it. Pluralbildung bei dt. Wurzel in monati für „Monate“, it. mesi oder frz.it. Fusionen wie c'est troppo). Ferner stellen sich beim Kodieren all jene Probleme ein, die man aus der Quantifizierung von hochqualitativen Daten kennt: Etische und emische Kriterien vermischen sich, die Intention der Sprecher wird unhinterffagt belassen (ist bspw. c'est troppo für die Verkäuferin nicht italienisch ‘gedacht’? ), die lokale Funktion der Elemente geht verloren. Weit schwer wiegender ist, dass ein rigides, grundsätzlich nach binären Kategorien operierendes Kodierungssystem an die Daten herangetragen wird. Die Quantitäten haben hier deshalb nur orientativen Charakter. Andererseits ist ebenso evident, dass man eine ‘interpretative Statistik’ machen kann, d.h. eine Statistik, die in den Dienst von interpretativen, qualitativen Methoden gesetzt wird und letztere stützt, aber nicht erklärt. Umgang mit Fremdheit 231 4. Ein soziostilistischer Ausblick Dass es sich bei diesen verschiedenen Misch-Verhalten weder um codeswitching handelt noch durchgängig um Fusionen oder bewussten Transfer, sollte aus den vorgelegten Daten ersichtlich geworden sein. Es ist vielmehr ein grundsätzlich unnormativer Umgang mit mehreren Sprachen in diesen handlungspraktischen kommerziellen Kontexten, die in dem Ausmass selbst helvetisch gewohnte Ohren zu überraschen vermag. Faute de mieux, habe ich dieses Sprachverhalten einem mixed-style zugeschrieben, wohlweislich implizierend, dass man damit im guten Sinne durchschnittliche Deutschschweizer exotisiert. Dass gerade die Mitglieder der Zentrumgesellschaft, die sog. ‘Einheimischen’, überraschend interessante Untersuchungsthemen bieten, gehört jedoch zu jener Soziostilistik, die wohl eher mit dem Standpunkt — oder der Biografie des (wissenschaftlichen) Beobachters zusammenhängt. 17 Es bleibt zu wünschen, 18 dass in Zukunft vermehrt Einflüsse von Minderheitenkulturen auf die Mehrheitskultur ins Zentrum der wissenschaftlichen Betrachtung gerückt werden und generell den Interaktionen und gegenseitigen Zuschreibungen mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. 5. Literatur Allemann-Ghionda, Cristina/ Franceschini, Rita/ Mordasini, Dario (1988): Chi siamo? Un ritratto di corsisti adulti emigrati. Ricerca sui bisogni formativi e il retroterra socioculturale di partecipanti ai corsi dell'ECAP. Basilea: Fondazione ECAP. Antonini, Francesca (1997): Das Italienische ausserhalb des eigenen Sprachgebietes. In: Lüdi, Georges/ Werlen, Iwar/ Franceschini, Rita/ Antonini, Francesca/ Bianconi, Sandro/ Purer, Jean-Jacques/ Quiroga-Blaser, Christine/ Wymann, Adrian (Hg.): Die Sprachenlandschaft Schweiz. Bern. Bundesamt für Statistik. S. 383-420. Berruto, Gaetano (1991): Fremdarbeiteritalienisch: Fenomeni di pidginizzazione dell'italiano nella Svizzera tedesca. In: Rivista di linguistica 3, 2, S. 333-367. Deslarzes, Patrick (1998): ‘Qua, se tu vai alia Migro o al consumo, parli italiano, ti capiscono dalia A alia Z’: a colloquio con Bilbo. Seminararbeit Romanisches Seminar, mimeo, Skizze und Transkription. Basel, (revid. Version i.Dr.) Franceschini, Rita (1996): Mehrsprachigkeit in Gesellschaft und Schule: einige Ergebnisse der Volkszählung 1990. In: Babylonia 3, S. 58-68. 17 In der Tat meine ich, dass das Interesse für Minderheiten auch dadurch zustande gekommen ist, dass die Forscher sich eher als Mitglieder der Zentrumgsgesellschaft verhalten haben. 18 Der Mannheimer Gruppe um Werner Kallmeyer (s. http: / / www.ids-mannheim/ prag/ sprachvariation/ index. html) gilt eine solche Aufforderung natürlich nicht, da schon längst eingelöst. 232 Rita Franceschini Franceschini, Rita (1998a): Italiano di contatto. Parlanti occasionali e riattivazioni di conoscenze non focalizzate, Habilitationsschrift, Phil. Fak. Univ. Basel, Bd. I-Hi. Franceschini, Rita (1998b): L'observateur et le Systeme de la recherche linguistique: reflexions de methodologie ä la lumibre du changement epistemologique. In: Mahmoudian, Morteza/ Mondada, Lorenza (Hg.): Le travail du chercheur sur le terrain. Questionner les pratiques, les methodes, les techniques de l'enquete. Publication de (Institut de Linguistique et des Sciences du Langage de l'universite de Lausanne, ILSL 10, S. 69-89. Franceschini, Rita (1999): Sprachadoption: der Einfluss von Minderheitensprachen auf die Mehrheit, oder: Welche Kompetenzen der Minderheitensprachen haben Mehrheitssprecher? In: Dazzi Gross, Anna/ Mondada, Lorenza (Hg.): Les langues minoritaires en contexte. Minderheitensprachen im Kontext. Bd. 2: Minorites en mouvement: mobilite et changement linguistique. Minderheitensprachen in Bewegung: Mobilität und Sprachwandel. (= Bulletin suisse de linguistique appliquee 69/ 2). S. 137-153. Franceschini, Rita (2001a): Sprachbiographien randständiger Sprecher, ln: Franceschini, Rita (Hg.): Biographie und Interkulturalität: Diskurs und Lebenspraxis. Eingeleitet durch ein Interview mit Jacques LeGoff. Tübingen. (= Stauffenburg discussion 16). Franceschini, Rita (2001b): Ai margini linguistici della cittä: l'italiano in una cittä germanofona. 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In einigen deutschen Großstadtmilieus entwickeln sich bestimmte Formen des Türkischen bzw. der Sprache der türkischen Jugendlichen zu prestigebesetzten Sprachformen für Jugendliche. 1 Für die Sprache und das Kommunikationsverhalten von Jugendlichen dieser Großstadtmilieus gibt es in den Medien bereits Bezeichnungen wie „Slang der Hip-Hop beeinflussten Deutsch-Türken“ 2 oder „Proll-Kult“ 3 . Verschiedene Formen des Türkischdeutschen 4 werden durch eine einflussreiche Jugendkultur verbreitet 5 und erfahren dadurch zumindest unter Jugendgruppen eine gewisse Bedeutung. 6 Das Verhältnis der deutschen Gesellschaft zu verschiedenen Migrantengruppen, vor allem türkischen Migrantengruppen, ist das hat die Diskussion um die „doppelte Staatsbürgerschaft“ wieder gezeigt immer noch problem- und 1 Vgl. z.B. die Beiträge von Auer/ Dirim und von Hinnenkamp in Hinnenkamp/ Meng (Hg.) (i. Vorb.) 2 Vgl. z.B. den Artikel aus „IQ“, März 1999, Berlin, S. 57-58. ln diesem Artikel wird dargestellt, dass deutsche Schüler und Studenten das New Pidgin German verwenden, das von Hip-Hop-Bands und Komikern wie „Badesalz“ verbreitet werde und von ausländischen Hauptschülem gesprochen werde: eine Sprache, die „kurz“, „pathetisch und ausdrucksstark“ sei. In diesem Artikel finden sich auch viele Sprachbeispiele. 3 Telefonische Mitteilung der Redakteurin für die Sendung „Quer“ bei BR3, 10.9.99. 4 Sie sind auf unterschiedliche Weise durch phonetische, prosodische, grammatische Besonderheiten und durch deutsch-türkische Sprachmischungen charakterisiert, vgl. dazu Kallmeyer (2000), Keim (i. Vorb.) und Kallmeyer/ Keim (i. Vorb.). Solche Formen des Türkendeutschen spielen in dem vorliegenden Beitrag keine Rolle. 5 Vgl. in der Musikszene Hip-Hop-Stücke mit deutsch-türkischen Texten oder mit Nachahmungen des Deutschen ausländischer oder türkischer Jugendlicher (z.B. „weischei“); vgl. in der Literatur und Kunstszene Schriftsteller wie Zaimoglu, der die Sprache türkischer Jugendlicher zur „Kanak Sprak“ stilisiert oder Kabarettisten wie Sedat Pamuk, der das Kommunikationsverhalten türkischer Jugendlicher in stilisierter Form präsentiert. 6 Nach eigenen Beobachtungen und nach Darstellung deutscher und türkischer Lehrer und Sozialpädagogen verwenden auch deutsche Jugendliche türkische Droh- und Anmachformeln, z.B. siktir lan (= verpiss dich). 234 Inken Keim spannungsgeladen. Eine Reihe politisch-gesellschaftlicher Gruppierungen bemüht sich zwar um eine Normalisierung der Beziehungen mit dem Ziel der gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe von Migranten. Es gibt jedoch immer wieder (auch von prominenter Seite) Meinungsäußerungen, die Migranten vor die Alternative stellen: entweder Assimiliation in die deutsche Gesellschaft oder gesellschaftliche Ausgrenzung. 7 Auch unter Migrantengruppen gibt es (u.a. in Reaktion auf erfahrene Ausgrenzung und Diskriminierung im Schul- und Ausbildungsbereich, im Wohn- und Kulturbereich, im politischen Bereich) vermehrt Aktivitäten der politischen und gesellschaftlichen Selbstausgrenzung, die oft durch Einflüsse aus dem Herkunftsland gefördert und verstärkt werden. 8 Alltägliche Kontaktsituationen zwischen Mitgliedern der deutschen Bevölkerung und Migranten und die dabei gemachten Erfahrungen können als Schlüsselsituationen für die Herausbildung kommunikativer Stile in Migrantengruppen angesehen werden: In Alltagssituationen immer wieder erfahrene Ab- und Ausgrenzungen und die besondere Verarbeitung solcher Erfahrungen gehören zu den Voraussetzungen für die Herausbildung von Subkulturen, über die dann die sozial-kulturelle Selbstdefmition und die Selbstebenso wie die Fremdausgrenzung hergestellt werden (können). Die im Folgenden vorgestellte Untersuchung gehört zu einem ethnografischsoziolinguistischen Projekt, 9 das das Ziel hat, die Herausbildung und Verbreitung von kommunikativen Stilen in Guppen jugendlicher Migranten in Mannheim zu untersuchen. Um das Spektrum jugendlicher Milieus und damit verbundener kommunikativer sozialer Stile zu erfassen, wurden Jugendgruppen ausgewählt, die im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Einbindung und ihre soziale Orientierung maximal kontrastieren: einerseits Jugendgruppen aus städtischen Milieus, die von verschiedenen Informanten als „Ausländer-Gettos“ charakterisiert werden, und andererseits Jugendgruppen aus studentisch-akademischen Milieus mit einer starken Orientierung auf überregionale und internationale Berufskarrieren. 10 7 Vgl. u.a. die politischen Kontroversen um die doppelte Staatbürgerschaft in „Die Zeit“ vom 19.11.98, S. 5; vom 14.1.99, S. 11; vom 4.2.1999, S. 11 und vom 18.2.1999, S. 13. Vgl. die zunehmende Aktivität fundamentalistischer islamistischer Gruppierungen, die unter jugendlichen Migranten der 2. und 3. Generation um Mitglieder werben und die ihrer Ausgrenzungserfahrung (geringe Ausbildung, kein Job) und ihrer Orientierungslosigkeit („Leben zwischen zwei Kulturen“) ein neues Gruppengefühl und ein neues Selbstwertgefuhl entgegensetzen wollen, vgl. „Mit Koran und Grundgesetz“ in: Die Zeit, 4.2.1999, S. 11-13. Das Projekt wird z. Zt am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim durchgeführt, vgl. Kallmeyer/ Keim (Ms.). 10 Die ausgewählten Gruppen werden mit ethnografischen Methoden untersucht; das aus Gruppeninteraktionen, aus Interaktionen mit Outsidern und aus ethnografischen Interviews aufgezeichnete Gesprächsmaterial wird gesprächsanalytisch untersucht und durch Vergleich auf stilkonstituierende Merkmale hin beschrieben. Sozial-kulturelle Selbstdefinition und sozialer Stil 235 Bei der im Folgenden vorgestellten Gruppe handelt es sich um eine stabile Gruppe von Migrantinnen aus einem Ausländerstadtteil der Mannheimer Innenstadt, einem der „Ausländer-Gettos“. 11 Es werden Ausschnitte aus einem Gruppengespräch vorgestellt, in dem die Gruppe in Reaktion auf die negative Fremddefmition gemeinsam an einem Selbstbild arbeitet. Dieses Gruppengespräch hat für das Selbstverständnis der Gruppenmitglieder Schlüsselfunktion. Ziel des Beitrages ist es, die in diesem Gespräch vorgenommenen sozialkulturellen Selbst- und Fremddefmitionen der Gruppenmitglieder mit gesprächsanalytischen Mitteln zu rekonstruieren, die dabei verwendeten sprachlichen Mittel und Verfahren herauszuarbeiten und sie als charakteristisch für den kommunikativen Stil dieser Gruppe zu beschreiben. Dabei werden verschiedene Formen der Selbst- und Fremdkategorisierung deutlich, die mit unterschiedlichen Perspektivierungen und unterschiedlichen Interaktionsmodalitäten korrespondieren. 2. Kommunikativer sozialer Stil und soziale Kategorisierung Mit dem im Folgenden vertretenen Konzept von sozialem Stil 12 knüpfe ich an den anthropologischen und ethnografischen Stilbegriff an, wonach die Ausdrucksvariation zwischen bestimmten Gruppen im Sinne kultureller Unterschiede betrachtet wird; d.h., Stil wird auf Kultur und soziale Identität der Sprecher bezogen. In diesem Stilverständnis bezeichnet sozialer Stil die von Mitgliedern einer sozialen Einheit (soziale Gruppe, soziale Welt) getroffene Auswahl an und Weiterentwicklung von Ausdrucksformen aus den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen für die Durchführung kommunikativer Aufgaben. Das herausgebildete Repertoire an Ausdrucksformen ist charakteristisch für die Mitglieder der sozialen Einheit und zeigt ihre soziale und kulturelle Zugehörigkeit an. Aus dieser Perspektive entsprechen Stile Verhaltensmodellen, die das Ergebnis der Auseinandersetzung mit spezifischen Lebensvoraussetzungen und Lebensbedingungen sind. In sozialen Stilen kommen Vorstellungen der Gesellschaftsmitglieder zu einem vorbildhaften, kommunikativen Handeln zum Ausdruck. Stile sind für sie ein wesentliches soziales Unterscheidungsmerkmal. Konstitutiv für Stil ist, dass Ausdrucksformen auf unterschiedlichen Kommunikationsebenen zu einem einheitlichen Bild zusammengefügt werden. 13 11 Das ist eine Bezeichnung der Informanten, von einigen Migrantenjugendlichengruppen ebenso wie von deutschen und türkischen Sozialpädagogen. 12 Zur ausführlichen Darstellung dieses Stiikonzepts vgl. die Einleitung zu diesem Band. 13 Für die Untersuchung zum kommunikativen Stil von Jugendgruppen kann auf Arbeiten zur Ethnografie der Kommunikation, die auf die Untersuchung von kulturellen Stilen ausgerichtet sind (z.B. Heath 1983, Moerman 1988), auf anthropologische Arbeiten (z.B. Willis 1981), auf die kultursoziologischen Arbeiten Bourdieus (1989) und auf die Aushandlungstheorie der sozialen Ordnung in der Nachfolge des symbolischen Interaktionis- 236 Inken Keim Aufgrund der bisherigen ethnografisch-soziolinguistischen Forschung kann man davon ausgehen, dass alle Dimensionen des Ausdrucksverhaltens Ressourcen für die Herausbildung kommunikativer sozialer Stile bilden (können). Im Folgenden werde ich mich mit einem Ausschnitt des Ausdrucksverhaltens, das stilkonstitutiv ist, beschäftigen: mit der Ausprägung eines Systems sozialer Kategorien für die Selbst- und Fremddefmition und mit den sprachlichen Mitteln und Verfahren, die im Kategorisierungsprozess verwendet werden. 14 Die Analyse des Kategoriensystems ermöglicht die Rekonstruktion des soziosemantischen Systems einer sozialen Welt bzw. einer Gruppe als Repräsentanten einer sozialen Welt. 15 Für die Kategorisierungsanalyse knüpfe ich an interpretativ-soziologische und gesprächsanalytische Arbeiten von Sacks, Schenkein und Gumperz und an Arbeiten aus dem Mannheimer Projekt „Kommunikation in der Stadt“ und der Bielefelder Forschergruppe „Nationale Selbst- und Fremdbilder im Gespräch“ (Drescher/ Dausendschön, Hausendorf) an. Grundlegende Annahme dieser Arbeiten ist, dass soziale Identität (Alter, Geschlecht, Status, Zugehörigkeit zu nationalen, ethnischen oder kulturellen Gruppen) nicht zumindest nicht ausschließlich objektiv gegeben ist, so dass Handlungen davon determiniert werden, sondern sie wird in Gesprächen konstituiert, sie wird durch Handlungen hervorgebracht und von anderen bestätigt, modifiziert oder abgelehnt. mus (vor allem Strauss 1984) zurückgegriffen werden, ebenso wie auf Arbeiten zu Jugendsprachen und -kulturen, vgl. Clarke/ Honneth (Hg.) (1979), Androutsopoulos (1996), Schlobinski/ Heins (1998), u.a. 14 Neben der Ausprägung eines Systems sozialer Kategorien sind vor allem folgende Dimensionen des Kommunikationsverhaltens stilistisch relevant: die Ausprägung von bestimmten pragmatischen Regeln des Sprechens (z.B. Regeln für die Wahl von Unterhaltungsthemen, Regeln für die Regulierung von sozialer Distanz und Nähe, für den Ausdruck von Lob und Tadel, für die Bearbeitung von Problemen und Konflikten, für die Herstellung von Geselligkeit u.Ä.); die Verwendung unterschiedlicher sprachlicher Ressourcen (verschiedener Sprachen oder Sprachvarietäten) zur Äußerungsstrukturierung und Interaktionsorganisation, vor allem aber zur Symbolisierung sozialer Eigenschaften; die Verwendung bestimmter Kommunikationsformen, bestimmter rhetorischer Verfahren und einer bestimmten Art formelhaften Sprechens zur Bearbeitung von kommunikativen Aufgaben; Äußerungsformen von Geschmack (wie Kleidung, Aufmachung, Bevorzugung bestimmter Medien u.a.) und Formen von Körperverhalten (nonverbales Ausdrucksverhalten, Bevorzugung von körperlicher Nähe oder Distanz u.Ä.). Bestimmte Ausprägungen des AusdrucksVerhaltens auf diesen Dimensionen und ihre Verknüpfung charakterisieren den kommunikativen Stil einer sozialen Welt; vgl. dazu die Bde. 4.3 und 4.4 „Kommunikation in der Stadt“, Mannheim 1995; vgl. auch die Einleitung in diesem Band. Im Verhältnis von sozialer Welt und Gruppe ist soziale Welt die übergreifende soziale Einheit. Gruppen können im Rahmen sozialer Welten angesiedelt sein, sie können Repräsentanten für soziale Welten sein, sind aber nicht identisch mit sozialen Welten. Angehörige sozialer Welten müssen nicht in persönlichem Kontakt miteinander stehen, sie können auch über Netzwerke miteinander verbunden sein; Gruppen dagegen sind in festen Einheiten organisiert. Zum Konzept der sozialen Welt vgl. den Beitrag von Schütze in diesem Band, Sozial-kulturelle Selbstdefinition und sozialer Stil 237 Gesellschaftsmitglieder kategorisieren sich und andere unter Benutzung eines Systems von Kategorien, die in ihrer sozialen Welt für die Orientierung und für die Selbst- und Fremddefmition zur Verfügung stehen. Solche Kategorien beziehen sich auf unterschiedliche Bereiche der Gesellschaft, auf Geschlechtszugehörigkeit, auf Alter, auf die soziale Hierarchie, auf mit bestimmten gesellschaftlich definierten Rollen verbundene Aufgaben und Pflichten, auf moralische Bewertungen u.Ä. Den Begriff der sozialen Kategorie verwende ich in Anknüpfung an das von Sacks entwickelte Kategorienkonzept dann, wenn die Beteiligten zur Charakterisierung von Personen und ihren Eigenschaften und Handlungsweisen einen festen Bestand von Inhaltsfiguren und Ausdrucksweisen verwenden, die in einem System organisiert sind. Bestimmte soziale Kategorien werden von Gesellschaftsmitgliedern als zusammengehörig betrachtet; sie bilden eine Kollektion, in die nicht jede beliebige andere Kategorie aufgenommen werden kann. Wenn eine Kollektion eine geschlossene Einheit bildet, ist sie ein System, in dem Kategorien in Relation zueinander definiert sind. 16 Die Definitionskriterien für Kategorien sind kategoriengebundene Eigenschaften und Handlungsweisen, die das angeben, was man als Kategorienangehöriger zeigt und tut (Sacks 1972, 1979; vgl. auch Jayyusi 1984). Die inhaltliche Füllung von Kategorien und kategoriengebundenen Charakteristika ist sozial und kulturell gebunden, ebenso wie die Organisation von Kategorien in Kategoriensystemen und die Festlegung der Relationen zwischen Kategorien. Nach Sacks gibt es eine begrenzte Anzahl von Kategorien, die so genannten „Basiskategorien“, denen die meisten Gesellschaftsmitglieder zugeordnet werden können; das sind Kategorien wie Geschlecht, Alter, Konfession, Ethnie. Solche Kategorien sind „inference rieh“, d.h., über sie erschließt sich ein weites Hintergrundwissen über Personen, die ihnen zugeordnet werden (Sacks 1992). In Gesprächen erscheinen Basiskategorien im Zusammenhang mit der Selbst- und Fremdzuordnung vor allem als zweiwertige Klassifikationsmuster (z.B. „Frau“ vs. „Mann“, „Kind“ vs. Erwachsener“, „Deutscher“ vs. „Ausländer“ u.Ä.), d.h., Sprecher unterscheiden dichotomisch zwischen „ichAvir“-Zuordnungen und „du/ ihr/ sie“-Zuordnungen. 16 Vgl. Sacks (1972), (1979), (1992); Sacks entwickelt einen methodischen Apparat zur Erschließung des Hintergrundwissens, das Gesprächsteilnehmer bei der sozialen Kategorisierung und bei der Bedeutungsfestlegung von Ausdrücken zur Selbst- und Fremddefinition aktivieren. Die Bedeutung erschließt sich erst über die Zugehörigkeit einer Kategorie zu einer kulturell determinierten Kategorienkollektion und über ihre Position innerhalb eines Kategoriensystems. Sacks' Arbeiten zu Kategorisierungen sind vor allem wissenssoziologisch orientiert; den Prozess der sprachlichen Realisierung berücksichtigen sie kaum. Zu neueren Untersuchungen, die auch die sprachliche Realisierung von Kategorien im Gespräch untersuchen vgl. Drescher (1993), Hausendorf (2000), Kallmeyer/ Keim (1994), Keim (1995), Keim/ Schmitt (1993), Schilling (2001). 238 Inken Keim Kategorisierungen sind immer perspektivisch. Zum einen sind sie abhängig von der lokalen Relevantsetzung im Gespräch; eine Person kann sich oder andere verschiedenen sozialen Kategorien zuordnen und damit verschiedene Aspekte/ Fassetten ihrer Identität relevant setzen. Außerdem kann an der inhaltlichen Füllung von Kategorienbezeichnungen gearbeitet werden; neue Aspekte können hervorgehoben und Kategorien definierende Eigenschaften können modifiziert werden je nach Kontext und lokaler Relevantsetzung durch die Beteiligten. Perspektivierung spielt aber auch in einem umfassenderen Sinne bei der Organisation von Kategorienkonstellationen und der Festlegung der Relationen zwischen Kategorien eine Rolle. Unterschiedliche Perspektivierungen haben dann auch Konsequenzen für die Kategorisierungsarbeit im Gespräch. So kann beispielsweise die Selbstdefmition in Reaktion auf den Blick von außen erfolgen, also in Reaktion auf Fremddefmitionen; in diesem Fall steht die Arbeit am Selbstbild in Reaktion auf positive oder negative Fremdbilder im Fokus der Kategorisierungsarbeit. Die Selbstdefinition kann aber auch über den Blick auf andere erfolgen, indem z.B. eine Gruppe die soziale Welt um sich herum ordnet und Eigenschaften anderer in Relation zu eigenen herausarbeitet und bewertet. In diesem Fall steht die Arbeit an Fremdbildem im Fokus der Kategorisierung, und die Selbstdefinition erfolgt eher indirekt über den Kontrast zu manifest bewerteten Fremdbildern. Die Art der Perspektivierung spiegelt die Sicht auf die zugrunde liegenden sozialen Verhältnisse und Konstellationen und deren Verarbeitung durch die Beteiligten wider. Unter dem Prozess der sozialen Kategorisierung im Gespräch verstehe ich die Art und Weise, wie Gesprächsbeteiligte auf der Basis ihres sozialen Wissens sich und andere typisieren und bewerten und die Relationen zwischen Personen in überschaubare Zusammenhänge bringen. Beim Reden über Dritte kann die Zuordnung zu Kategorien durch explizite Bezeichnung mit Kategoriennamen erfolgen; sie kann aber auch mithilfe der Präsentation Kategorien definierender Merkmale in narrativen Darstellungen, in Illustrationen, Zitaten, Beispielbelegen u.Ä. erfolgen. Kategorielle Zuordnungen können durch bloße Benennungen erfolgen, sie können aber auch in Kategorisierungsprozessen expandiert werden, in denen in relevanten Ereignissen offenkundig gewordene Merkmale von Personen sukzessive zu kategorienrelevanten Merkmalen verarbeitet werden. 17 Auch für die kategorielle Selbstzuordnung gibt es verschiedene Verfahren; sie reichen von der expliziten Benennung über eher implizite Formen (z.B. durch Kontrastherstellung zu negativ bewerteten Fremdkategorien) bis zur pragmatischen Verdeutlichung von kategorienrelevanten Merkmalen. Im letzten Fall werden Kategorien definierende Merk- Vgl. dazu Keim (1995), Kap. 6 und (1997); zu den expandierten Durchfuhrungsweisen gehören in der dort beschriebenen sozialen Gruppe folgende Prozessstadien: a) indexikaie Falldarstellung und Bewertung; b) Herausarbeiten typischer Merkmale, die durch Gruppenformeln dargestellt werden; c) Generalisierung durch Verwendung von Sprichwörtern; d) Nennung des Kategoriennamens. Sozial-kulturelle Selbstdefinition und sozialer Stil 239 male enaktiert, d.h., die Beteiligten sprechen und handeln wie ein bestimmter Kategorienangehöriger. Auf der Basis von Arbeiten zu Kategorisierungen in verschiedenen sozialen Welten 18 gehe ich davon aus, dass folgende Aspekte des Kategorisierungsprozesses sozialstilistisch relevant sind: die Organisationsstruktur des Kategoriensystems für Selbst- und Fremdkategorien; die Bezeichnungen für Kategorien und Inhalt und Ausdrucksformen für Kategorien definierende Merkmale; die Interaktionsmodalität, in der der Kategorisierungsprozess durchgeführt wird und die Perspektive, aus der die Selbstkategorisierung erfolgt: erfolgt sie in Reaktion auf Außenzuschreibungen, steht die Arbeit am Selbstbild in Reaktion auf (vor allem negative) Fremdbilder im Fokus; ordnet eine Gruppe dagegen die Welt um sich herum in Relation zu ihren zentralen Eigenschaften und Werten, steht die Arbeit an den Fremdbildem in Relation zum positiven Selbstbild im Fokus. 3. Kurze Charakterisierung der Gruppe Die ausgewählte Gruppe besteht aus ca. zwölf jungen Frauen der 2. und 3. Migrantengeneration, Kinder ehemaliger Gastarbeiter. Die Gruppenmitglieder sind zwischen 15 und 22 Jahren alt und sind, mit Ausnahme von zwei Italienerinnen, türkischer Herkunft. Sie treffen sich fast täglich in einer Einrichtung für Jugendliche, die von einer Sozialpädagogin türkischer Herkunft betreut wird. Die Einrichtung liegt in einem Innenstadt-Stadtteil von Mannheim, der einen Ausländeranteil von 60% hat. Die jungen Frauen sind alle in diesem Stadtteil aufgewachsen. In der Einrichtung machen sie Hausaufgaben und verbringen ihre Freizeit miteinander (Spiele, Kaffeetrinken, rauchen, reden) usw. Die meisten sind in der Realschule bzw. im Gymnasium. Zum sprachlichen Repertoire der jungen Frauen gehören neben dialekal geprägten türkischen Varietäten Standarddeutsch und deutsch-türkische Sprachmischungen. 1-2 mal die Woche bin ich in der Gruppe und mache Aufnahmen. 4. Analyse eines Gesprächsausschnitts: die interaktive Herstellung zweier unterschiedlicher Selbstbilder als „Ausländerin“ Typische Anlässe für die Thematisierung von Selbst- und Fremdbildern sind Ereignisse, bei denen die Gruppenmitglieder mit negativen Bildern von sich selbst konfrontiert werden, bei denen sie erfahren, dass sie als Fremde gese- 18 Vgl. Keim (1995), Kap. 6.; vgl. Schwitalla (1995), Teil A, Kap. 6 und Teil B, Kap. 6. 240 Inken Keim hen, auffällig gemacht und auch abgelehnt werden. Das Gespräch, aus dem der Ausschnitt stammt, den ich im Folgenden analysieren werde, hat in Bezug auf die Verarbeitung von negativen Fremddefinitionen und die Arbeit der Gruppenmitglieder an einem Selbstbild Schlüsselfunktion. Es ist das erste Mal im Gruppenkonstitutionsprozess, dass die Beteiligten derart intensiv an einem Selbstbild arbeiten. Die in diesem Gespräch hergestellten Selbst- und Fremdbilder werden in späteren Gesprächsereignissen immer wieder relevant gesetzt; sie werden bestätigt, modifiziert und differenziert, oder sie bilden die Folie für weitere Kategorisierungen. Zur Situation: Die Gruppe plant einen Videofilm über typische Erfahrungen in Familie, Schule und Alltag. Die Stoffsammlung zum Bereich Schulerfahrung beginnen einige Gruppenmitglieder mit Erzählungen, in denen sie als Ausländer oder Türken auffällig gemacht oder ausgegrenzt wurden. Die Diskriminierungsthematik und vor allem die aktive Beteiligung der Betreuerin am Gespräch und ihr Hinterfragen der Ausländer-Kategorie führen sehr schnell zu einer intensiven Diskussion, bei der der Gesprächsanlass, der Videofilm, schnell in den Hintergrund tritt, und Diskriminierungsereignisse und ihre Verarbeitung im Fokus der Interaktion stehen und zu einer intensiven Beschäftigung mit verschiedenen Kategorien für die Selbst- und Fremddefinition führen. Ziel der folgenden Gesprächsanalyse ist es, die Selbstbilder, die in Auseinandersetzung mit Fremdbildern interaktiv hergestellt werden, zu rekonstruieren und die Kategorien definierenden Merkmale zu bestimmen; den Herstellungsprozess und die dabei verwendeten sprachlichen Mittel und Verfahren zu beschreiben unter Berücksichtigung von Interaktionsmodalität und Perspektivierung bei den Selbst- und Fremddarstellungen, und den Zusammenhang zwischen der Spezifik von Selbstbildern und den zu ihrer Herstellung verwendeten Mitteln und Verfahren als konstitutiv für den kommunikativen Stil der Gruppe darzustellen. Als aktuellen Beleg für die negative Fremddefmition „Ausländerin“ nennt eine der Sprecherinnen einen Vorfall, der sich am vorangegangenen Tag ereignete: Einige der Beteiligten fahren in der Straßenbahn. Als eine Mutter mit Kinderwagen einsteigen will, rücken sie zur Seite und stoßen aus Versehen zwei ältere Leute an. Die drehen sich um und beschimpfen sie mit „scheiß ausländer“. Bei der Beschäftigung mit dem Vorfall ist interessant, dass nicht seine Rekonstruktion und Charakteristik im Fokus der Bearbeitung stehen, sondern die Reaktionsweisen der Betroffenen auf den Vorfall. Dabei werden zwei unterschiedliche Orientierungen erkennbar, die sukzessive zur Herstellung von zwei kontrastierenden Selbstbildern führen. Die Verarbeitung des Vorfalls besteht aus folgenden Phasen: Sozial-kulturelle Selbstdefinition und sozialer Stil 241 dem Enaktieren zweier typischer Reaktionsweisen auf den Vorfall (4.1) der Herstellung des Selbstbildes „nirgendwo hingehören“ (4.2) und der Herstellung des Selbstbildes der überlegenen Ausländerin (4.4) 4.1 Enaktieren zweier typischer Reaktionsweisen auf den Vorfall Der Vorfall wird als Beispielbeleg im Rahmen der Diskussion über Diskriminierungserfahrungen angeführt. Die Sprecherin ES verweist auf ihn in äußerst knapper und indexikaler Form. Diese Formulierung zeigt, dass ES davon ausgeht, dass der Vorfall den Rezipientinnen präsent ist und sie sofort die Referenz herstellen können. 19 01 ES: zum beispiel letztens die situation in der bah"n- * 02 ES: isch: fand des so”: lus | tig mit den | 03 DI: |ey isch hätt| isch 04 ES: | scheiß | au"slän | dem | fisch fand des 05 DI: |hab da-| lisch! hab da fast geheu”lt 06 ES: so: lustig hätt misch to”tlache könne- * weil wenn je"mand 07 ES: schon mit so=ner mei"nung kommt «—scheiß auslä"nderf—» * 08 ES: diesem person ka''m=man doch gar nischt mehr helfend * 09 ES: odert 10 DI: aber tro''tzdem tut des wehf und tro"tzdem regt misch 11 K ERREGT 12 ES: warum soll des dir weh”tun'l 13 DI: des auf es tu"t mir halt weht 14 K # HOCH # 15 DI: isch: des/ da kann isch auch nichts |>dafür<| Die Thematisierung des Vorfalls letztens die situation in der ba“hn dient nicht als Einleitung zur Rekonstruktion des Falles, sondern die Äußerung fungiert als eine Art Vergegenwärtigungsappell, dem sofort die manifeste Stellungnahme und Bewertung folgen: isch: fand des so“: lustig mit den. Mit dieser Formulierung und durch prosodische Hervorhebung (starke Akzentuierung und Dehnung der Gradpartikel so“: ) setzt die Sprecherin ihre Reaktion auf den Vorfall relevant. Noch bevor sie das Referenzobjekt ihrer 19 Vgl. die Minimisierungspräferenz im Zusammenhang mit dem recipient design, Sacks/ Schegloff (1978, S. 151), die besagt, dass in Orientierung am Empfänger und seinem Wissen personale Referenz mithilfe einer einzelnen Referenzform gemacht werden sollte. Die Minimisierungspräferenz lässt sich auch auf Gelegenheiten übertragen, bei denen es um Referenz auf Ereignisse oder Sachverhalte geht. 242 Inken Keim Bewertung nennen kann (ich fand des so lustig mit den scheiß au“sländern, 02/ 04), wird sie von DI unterbrochen: ey isch hätt/ isch hab daisch hab da fast geheu“lt (03/ 05). Analog zu ES reagiert auch DI mit einer persönlichen Stellungnahme zu dem Vorfall. Beide Sprecherinnen setzen also nicht den Vorfall, sondern ihre Reaktionen darauf relevant; sie enaktieren zwei stark kontrastierende Reaktionen, die über Generalisierungen zu typischen Reaktionensweisen auf herabsetzendes und diskriminierendes Verhalten vonseiten der Deutschen gemacht werden: ES enaktiert die Überlegene, die auf den Vorfall belustigt reagiert. Diese Haltung führt sie in demonstrativer Weise vor durch starke Akzentuierung und Dehnung der Gradpartikel so (02), durch Lachen in der Stimme und in Reaktion auf Dis kontrastierende Darstellung durch Wiederholung und Steigerung mit der hyperbolischen Formulierung to"tlache (06). ES unterstreicht sowohl den Kontrast zu Dl als auch den Kontrast zwischen dem Auslöser für diese Reaktion, der ungerechtfertigten Rüge und Beschimpfung als „scheiß ausländer“, und der Reaktion selbst, ihrer Belustigung, wo doch viel eher Empörung und Ärger erwartbar wären. Die zweifache Kontrastierung verleiht der Reaktion den Charakter des Ungewöhnlichen und macht eine Begründung erwartbar. Die folgt direkt im Anschluss: weil wenn je“mand schon mit so=ner mei“nung kommt «^scheiß au“sländeri-^> * diesem person ka“m=man doch gar nischt mehr helfeni * (06/ 08). Die Begründung hat die Form einer Regel im wenn-dann-Format. Das ist eine starke Form von Begründung. Mit der Regelformulierung macht ES deutlich, dass ihre Haltung auf reicher Erfahrung basiert und sie die Haltung von demonstrativer Belustigung immer dann einnimmt, wenn sie auf Deutsche trifft, die sich durch ihr Verhalten als stereotypenverhaftet und unfähig zur situationsadäquaten Wahrnehmung zeigen und sich dadurch selbst disqualifizieren. Im Kontrast dazu enaktiert DI die Betroffene. Die Kontrastherstellung erfolgt auf mehreren sprachlichen Ebenen. Auf der prosodischen Ebene kontrastiert mit dem Lachen in ES' Stimme das erregte Sprechen bei DI (hohe Stimme, lauteres Sprechen). Auf der lexikalischen Ebene kontrastiert isch hab da fast geheu‘‘lt (05) mit der demonstrativ hervorgehobenen Belustigung bei ES. Dann folgt der Ausdruck von Schmerz (tut des weh, 10) und Erregung: (regt misch des auf 10/ 13). Auf der syntaktischen Ebene wird der Kontrast zur Haltung von ES durch die Verwendung des Oppositionsmarkers aber tro“tzdem (10) hervorgehoben, mit dem DI auf die Begründung von ES reagiert im Sinne von: „auch wenn das Verhalten der Deutschen stereotypenverhaftet ist und sie sich dadurch selbst disqualifizieren, erlebe ich sie trotzdem als verletzend.“ Auf der argumentativen Ebene reagiert Dl auf die Nachfrage von ES warum soll des dir we“htun (12) mit einer ‘letzten’ Begründung: es tu“t mir halt wehi isch: des/ da kann isch auch nichts dafür (13/ 15). Durch die apodiktische Generalisierung wird die ausgedrückte Haltung zu einer typischen: DI enaktiert das Leiden unter der selbstverständlichen Zuordnung Sozial-kulturelle Selbstdefinition und sozialer Stil 243 zur Kategorie Ausländer und ihrer Ausgrenzung aufgrund ethnischer Kriterien bei jedem Anlass, der zu ihren Ungunsten gedeutet werden kann. Diese Art der Verarbeitung des Diskriminierungsvorfalls zeigt sehr deutlich, dass für die Beteiligten nicht der Fall an sich, die Herstellung einer gültigen Version oder das ungerechtfertigte Verhalten der Deutschen im Fokus des Interesses stehen. Der Fall ist für sie klar: Sie werden von Deutschen bei jeder Gelegenheit zu Ausländern gemacht, abgewertet und als nicht-dazugehörig ausgegrenzt. Diskussions- und Klärungsbedarf besteht für sie in Bezug auf die Verarbeitung des Falles, die zur Manifestation von zwei stark kontrastierenden Reaktionsweisen auf diskriminierende Erlebnisse führt, zum einen dem Leiden unter der Ausgrenzung und zum anderen dem sich in demonstrativer Weise darüber Lustigmachen. Dadurch, dass die beiden Sprecherinnen ihre Reaktionen als typische darstellen, eröffnen sie für die weitere Verarbeitung einen Rahmen für Kategorisierungen, in dem die vorgeführten Perspektiven und Reaktionsweisen auf den Fall in Relation zu den dazugehörenden Selbstbildern gebracht werden müssen. 4.2 Herstellung des Selbstbildes „nirgendwo hingehören“ Im Anschluss stellt die Betreuerin NA die Frage nach den Hintergründen für die Übernahme des Bildes als Ausländer, das den Beteiligten von Deutschen entgegengebracht wird. NA reagiert damit auf den Verzicht der Beteiligten, die Fremddefmition in Frage zu stellen oder sie zurückzuweisen und auf ihre Bereitschaft, sie fraglos zu übernehmen. Durch die Herstellung einer Opposition zwischen sich selbst und „euch“ zeigt sie, die selbst türkischer Herkunft ist und zur zweiten Migrantengeneration gehört, dass sie die Fremddefmition nicht übernimmt. Damit initiiert NA eine intensive Beschäftigung mit diesem Bild, die zunächst (a) zu Begründungen für die Übernahme der Ausländer-Kategorie und dann (b) zu ihrer Neudefmition führt. (a) Begründungen für die Übernahme der Ausländer-Kategorie: 15 DI: isch: des/ da kann isch auch nichts |>dafür<| 16 NA: 17 DI: 18 NA: ihr euch denn als au''sländer- *2 < I warum |empfindet eh weil 19 DI: des uns jeden tag ei"ngeklickert wirdT Iweil desweil 20 HA: |<nei''n weil wir 21 DI: wir weil wir| 22 HA: Iweil wir damit immer wieder! I 23 DI: 24 HA: |des=s wirk]lieh Iso | Isind hier |im guten deu"tschland> |kon|frontier! wer|den| 244 Inken Keim 25 ES: |wieso=s/ | |du (kannst dir doch 26 ES: deine eigene mei"nung bildn is doch scheiß|ega"l 27 NA: (aber 28 ES: was der andere sagt| 29 NA: du lebst doch hiertl Die Frage der Betreuerin nach den Hintergründen für das Selbstbild (warum empfindet ihr euch dem als au"slander, 16-18) etabliert für die Beteiligten eine Interaktionsverpflichtung, sich zu ihrem Selbstverständnis zu äußern. Sie liefern Begründungen und setzen dabei die Übernahme der Fremddefinition als Ausländer stillschweigend voraus: - DI begründet ihr Selbstverständnis als Ausländerin dadurch, dass ihr dieses Bild von außen routinemäßig entgegengebracht wird: eh weil des uns jeden tag ei “ngeklickert wird (17/ 19). Die passivische Formulierung und die Bezeichnung eingeklickert charakterisieren die Relation zwischen dem nicht genannten Agens und uns als asymmetrisch und als Relation mit erheblichem Machtgefälle: Es liegt eine dichotomisch organisierte Kategorienrelation zugrunde mit den „Deutschen“ als den Defmitionsmächtigen, die uns als anders, nicht-dazugehörig definieren und diese Definition bei uns durchsetzen (es uns einklickern). - Dem widerspricht HA: <nei"n weil wir sind hier im guten deu‘‘tschland> * des=s wirklich so (20/ 24). wir wird hier in Kontrast zu deutschland gesetzt, und über diese Kontrastrelation erhält wir eine „nationale“ bzw. „territoriale“ Aufladung. HAs Begründung liegt eine eher nationale bzw. territoriale Festlegung der Ausländer-Kategorie zugrunde im Sinne von: „Wir sind hier in Deutschland Ausländer, weil wir zu einem anderen Land gehören.“ - Überlappend damit reformuliert DI ihre Version: weil desweil wir weil wir ... weil wir damit immer wieder konfrontiert werden (19/ 23). DI bekräftigt den für ihr Selbstverständnis zentralen Aspekt, dass das negative Bild Ausländerin ihr von außen immer wieder entgegengebracht und sie darüber auffällig gemacht wird. Sie hebt den Aspekt des Immer-wiederausgegrenzt-werdens hervor, der in HAs Version fehlt. Auf Dis Übernahme der negativen Außensicht reagiert ES mit einem Gegenvorschlag: du kannst dir doch deine eigene mei“nung bilden is doch scheißega “l was der andere sagt (25/ 28), d.h., sie stellt die selbstverständliche Übernahme der Fremddefinition in Frage und schlägt vor, die Fremdperspektive zu ignorieren und eine eigenständige Perspektive für den Aufbau eines Selbstbildes zu entwickeln, unabhängig von der Außensicht. ES, die Freundin von DI, schließt an die Argumentationslinie der Betreuerin an und stellt ebenfalls bisherige Selbstverständlichkeiten in Frage. Sie bricht damit die argumentative Konstellation auf, die NA zwischen sich und den Gruppenmitgliedem durch ihre Frage nach Hintergründen etabliert hat. Noch bevor ES ihren Sozial-kulturelle Selbstdefinition und sozialer Stil 245 Beitrag zu Ende gebracht hat, wendet sich auch NA an DI und stellt fest aber du lebst doch hieA (27/ 29). Durch die adversative Einleitungspartikel aber ist die Formulierung als Einwand markiert und die Verwendung der Partikel doch signalisiert eine Anknüpfung an geteiltes Wissen. In der voraussetzungsreichen Formulierung ist die Inkompatibilität zwischen der Kategorie Ausländer und hier-leben präsupponiert im Sinne von „jemand der hier lebt, ist doch kein Ausländer“. NA deutet eine neue Definition für die Ausländer- Kategorie an, die ausschließlich territorial festgelegt ist, als „diejenigen, die nicht hier, also nicht in Deutschland, leben“. Eine solche Ausländer-Kategorie trifft auf keine der Beteiligten zu; alle sind hier geboren und leben seit Jahren hier. Die Neudefmition der Ausländer-Kategorie durch ein Merkmal, das nicht auf die Beteiligten passt, kann als Einwand gegen Dis Selbstbild und gleichzeitig als Angebot verstanden werden, mit dem die ausgrenzende Fremdkategorie in Frage gestellt und zurückgewiesen werden kann. 20 b) Neudefmition der Ausländerkategorie NAs Einwand und das weitere Hinterfragen des Selbstbildes veranlassen DI im Folgenden zu einer expandierten Beschäftigung mit der Ausländer- Kategorie 26 ES: deine eigene mei"nung bildn is doch scheiß|ega"l 27 NA: laber 28 ES: was der andere sagt| 29 NA: du lebst doch hiertl 30 DI: +aber isch isch füh"l misch au=nisch 31 DI: als deutschet ** 32 NA: ja wie so"lln wie soll sisch |denn=n 33 ES: Iwas 34 NA: deutscher fühlentl I wo wills/ wie soll I 35 ES: heißt=n deutsche-| ja genau" |<wie solln sisch die->| 36 NA: sisch=ne deutsche fühlnt * 37 DI: isch wei"ß es nisch aber isch 38 DI: fühle <-misch hier nisch <woh"l> * und wenn=sch misch in 39 DI: einem land nischt woh"lfühlet * dann fühle isch misch dort 20 Verfahren der Art, wie NA es hier vorfuhrt, werden in emanzipatorisch-politisch orientierten Migrantengruppen ebenso wie im Kampf mit Diskriminierern praktiziert und als erfolgreich dargestellt; vgl. dazu den Beitrag von Kallmeyer (2001). Mit dieser Perspektive auf die Ausländer-Kategorie rückt sich NA in die Nähe solcher Gruppen und sie agiert hier wie eines ihrer Mitglieder. NA hat persönlich Kontakt zu einer dieser Gruppen, die auch im Rahmen unseres Projekts untersucht wird, den „Unmündigen“; vgl. dazu auch Keim (i. Vorb.). 246 Inken Keim 40 DI: als au"sländerin4—> und isch- * denke isch bin auch in der 41 DI: türkei" eine ausländerin |->isch bin ü"ber|all eine 42 K HOCH # HOCH # 43 DI: ausländerin<- | <ni”r|gendswo bin isch 44 ES: >des is ja wohl * |klar4-<| 45 DI: diejenige die die- * die zu diesem 1/ <-äh die ähm-> * da 46 DI: in de”s landt oder in diese Stadt gehö"rt- ** [KURZE AUSLASSUNG] 58 DI: hier in deutschland bin isch die —>ausländerint 59 DI: ja wo gehör isch denn hi"nT<- * nirgendswohinf ** 60 DI: >über|allhint< | 61 ES: |>niemands|land< [KURZE AUSLASSUNG] 68 HL: [also ich ] fühl mich genauso wie DI- 69 ES: [also i”ch| <am 10 K ZUSTIMMUNG 11 HL: |>die hat mir aus der Seele geredete] 12 ES: a"nfang|hab ich mich vo"ll darüber * ge/ äh| Dis Reaktion aber ich fü“hl mich au=nich als deutsche (30/ 31) zeigt, dass sie NAs Beitrag nicht als Vorschlag zu einer Neudefinition der Ausländer-Kategorie verstanden hat, sondern als implizites Angebot zur Selbstdefmition als „deutsch“. Ein solches Angebot weist sie zurück mit der Begründung, dass sie sich emotional nicht mit dieser Kategorie identifiziere. Nach kurzer Pause hinterfragt NA den emotionalen Aspekt im Zusammenhang mit nationaler Zugehörigkeit: fa wie so“lln wie soll sisch denn=n deutscher fühlend (32/ 34). Noch bevor sie den zentralen Punkt ihrer Äußerung formuliert hat, hakt auch ES in derselben Richtung nach: was heißt=n deutscheja genau“ <wie solln sisch die> (33/ 35). Die mehrfache Manifestation der Zusammenarbeit von NA und ES, das Nachhaken beider und das Hinterfragen von Aspekten ihres Selbstbildes als Ausländerin etablieren für DI eine sehr hohe Reaktionsverpflichtung, auf die sie durch eine intensive Arbeit an ihrem Selbstbild reagiert. Die Mühe, die sie die Klärung ihres Selbstbildes kostet, kommt auf der Formulierungsebene durch Abbrüche, Neustarts, Wortsuche (43/ 46) und durch die wiederholten Fragen nach der eigenen Zugehörigkeit (59/ 60) zum Ausdruck. Durch prosodische Mittel wird Erregung und Verzweiflung zum Ausdruck gebracht: durch starke Modulationen, große Tonhöhensprünge (41), die fast wie Schreie wirken, starke Akzentuierungen auf den für die Definition der Kategorie entscheidenden semantischen Einheiten {wo “hlfühle, türkei“, ü“berall, nirgendswo) und durch den mehrfachen Wechsel Sozial-kulturelle Selbstdefinition und sozialer Stil 247 zwischen langsamem und schnellem und leiserem und lauterem Sprechen. Dl beginnt mit der Feststellung, nichts darüber zu wissen, wie sich Deutsche fühlen isch weiß es nisch (37), die ihre Distanz zum Erleben von Deutschen und ihr Nichtwissen über deren Innensicht deutlich machen; dann folgt die Feststellung aber isch fühle <—misch hier nisch <wo“hl> (37/ 38); das ist eine negative Aussage über ihr Leben in Deutschland mit deutlicher Fokussierung des Befindlichkeitsaspekts durch starke Akzentuierung und langsameres, lauteres Sprechen; darauf folgt eine Regelformulierung, in der das negative emotionale Befinden mit nationaler Nicht-Zugehörigkeit in Relation gebracht wird: und wenn=sch misch in einem Land nischt wo“hlfühlet dann fühle isch misch dort als au“sländerinX (38/ 40). Flier wird die Kategorie Ausländer über die Gleichsetzung „sich-nicht-wohlfühlen = sich als Ausländerin fühlen“ emotional-sozial definiert; sie wird zur Bezeichnung für ein negatives Grundempfmden im sozialen Umfeld in Deutschland; dann folgt der Vergleich mit dem Flerkunftsland und ihrem Befinden dort: und isch- * denke isch bin auch in der türkei“ eine ausländerin (40/ 41). Damit verliert die Kategorie Ausländerin das allgemeinsprachliche Definitionselement „nicht zu der Nation gehörig, zu der der Bezug hergestellt wird“; DI fühlt sich auch in dem Land als Ausländerin, dessen Staatsbürgerin sie ist. Ausländerin wird hier zum Synonym für ein negatives Befinden sowohl in dem Land in dem sie lebt, als auch in dem Land, aus dem die Eltern kommen und zu dem sie familiäre und staatsbürgerliche Bindungen hat; mit der Feststellung: -^isch bin ü“berall eine ausländerinkr- (41/ 43) wird die Erfahrung des Sich-Nicht-Wohlfühlens in den beiden Bezugsländem Deutschland und Türkei generalisiert, und „Überall-Ausländer-Sein“ wird für DI zur existenziellen Kategorie des sich Nirgends-Wohlfühlens und des Nirgendwo-Dazugehörens. Bei dieser Arbeit am Selbstbild verliert die Kategorie Ausländer sukzessive die dichotomische Fundierung als Kontrastkategorie zur Kategorie „Angehöriger einer Nation“ und sie wird zum Ausdruck für ein negatives sozialemotionales Grundempfinden. DI definiert die Ausländer-Kategorie neu mit Bezug auf die für sie relevanten Gesellschaften. Die hier ausgedrückte Erfahrung wird von ES in selbstverständlicher Weise bestätigt: >des is ja wohl * klari< (44). ES, die vorher eine zu DI kontrastierende Reaktion auf die Diskriminierung als „scheiß Ausländer“ vorgeführt und die mit Nachdruck nach Hintergründen für Dis Sicht gefragt hat, macht an dieser Stelle ihre Gemeinsamkeit mit DI manifest: Sie hat die hier dargestellte Erfahrung ebenfalls gemacht und sie hat für sich dieselbe Kategorisierung bereits durchgeführt. Damit erhält der von DI vorgenommene Prozess der Selbstdefinition typische 248 Inken Keim Züge für Personen mit dem Erfahrungshintergrund der Beteiligten. Dis Selbstbild wird auch von weiteren Gruppenmitgliedern ratifiziert; HL bestätigt es explizit: ich fühl mich genauso wie DI- >die hat mir aus der seele geredet< (68/ 71) und andere stimmen zu. Das Selbstbild, das Dl hier vorführt, basiert auf einer Kategorienkonstellation zwischen der Gruppe, die die Beteiligten bilden und der Kontrastgruppe der Deutschen, die folgendermaßen charakterisiert ist: das Selbstbild erfolgt in Reaktion auf die ausgrenzende negative Fremddefinition, die als immer wiederkehrende Erfahrung thematisiert und hervorgehoben wird; die Relation zwischen „uns“ und „ihnen“ wird asymmetrisch festgelegt; - „sie“ sind die Defmitionsmächtigen, definieren „uns“ und bringen „uns“ dazu, ihre Definition zu übernehmen; in der asymmetrischen Kategorienkonstellation wird die soziale Konstellation zwischen dominanter Gruppe („ihnen“) und untergeordneter Gruppe („uns“) abgebildet. Im Prozess der Neudefmition der Ausländer-Kategorie als Kategorie zur Erfassung typischer Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgeschlossensein im Kontext des Migrantenlebens übernehmen die Beteiligten die für ihr Selbstbild zentrale Fremdbezeichnung „Ausländer“ und eignen sie sich neu an. Sie lösen sie aus der dichotomischen Fundierung, die auf die Perspekive derjenigen hinweist, die die Defmitionsmacht haben, die Deutschen und die Türken; aus deren Perspektive werden sie jeweils zu Nicht-Dazugehörenden gemacht. Aus dieser doppelten Bindung wird die Kategorie herausgelöst und dann zur Erlebenskategorie, zum Ausdruck von allgemeiner Außenseiter- Erfahrung gemacht. Der Prozess der Neudefinition der Ausländer-Kategorie sieht also folgendermaßen aus: - Übernahme der negativen Fremdbezeichnung, - Lösung der Kategorie aus der allgemeinsprachlich zugrunde liegenden dichotomischen Kategorien-Konstellation und semantischen Bindung an „Nationalität“ bzw. „Nicht-Nationalität“, - Neudefmition als Erlebenskategorie für Außenseiter-Dasein, - Übernahme der negativen Erlebenskategorie. Der Anlass für die Selbstdefmition, die Bezugnahme auf die beiden relevanten Gesellschaften, die Interaktionsmodalität des ernsten und bewegten Sprechens, sind ebenso wie der Prozess der Umdefmition der Fremdkategorie Sozial-kulturelle Selbstdeßnition und sozialer Stil 249 charakteristisch für diese jungen Migrantinnen. Sie leben in ständiger Auseinandersetzung mit den beiden Bezugswelten, der der Eltern und des türkischen Umfeldes einerseits und der deutschen Umwelt andererseits und machen immer wieder die Erfahrung des Nicht-Dazugehörens. Das Selbstbild, das DI hier in exemplarischer Weise entwirft, ist eine typische Reaktion junger Menschen, die unter ähnlichen Bedingungen leben wie die jungen Frauen. 21 Sie lösen sich sukzessive aus der dichotomischen Zuordnung zu den Blöcken „deutsch“ oder „türkisch“ und stellen andere Erfahrungsdimensionen ins Zentrum ihres Selbstbildes, hier: eine spezifische sozial-emotionale Grunderfahrung des Ausgeschlossenseins. 4.3 Prozess der Kategorisierung: konstitutive Elemente und sozialspezifische Merkmale Der Prozess der Kategorisierung, den DI hier schrittweise vorführt, besteht aus vier Phasen, die von fall-nah formulierter Erfahrung über zwei Stufen von Generalisierung bis zur abstrahierenden Darstellung von Erfahrung führen. 22 Er beginnt mit der indexikal formulierten Feststellung isch fühle misch hier nischt ■ wohl, dann folgt die Regelformulierung im wenn-dann-Format „wenn=sch misch in einem land nischt wohlfühle fühle ich misch dort als ausländerin; damit wird die zunächst indexikal formulierte Erfahrung als regelhafte dargestellt und das Sich-nicht-Wohlfühlen als Kategorien definierendes Merkmal für Ausländerin festgelegt; nach der Regelformulierung erfolgt die empirische Generalisierung: die Regel wird auch auf das Herkunftsland der Eltern und das Land, dessen Staatsbürgerin sie ist, übertragen; damit gilt die Regel „Sich-nicht-Wohlfühlen = Sich-als-Ausländerin-Fühlen“ für die relevanten Bezugsländer; der empirischen Generalisierung folgt als Steigerung die apodiktische Generalisierung isch bin überall eine ausländerin', damit erhält die Kate- 21 In ethnografischen Interviews mit den Gruppenmitgliedem und mit anderen Migrantenjugendlichen kommen solche Erfahrungen und solche Selbstdefinitionen sehr häufig zum Ausdruck. Auch im weiteren Gruppenkonstitutionsprozess werden Diskriminierungserfahrungen mehrfach in der hier vorgeführten Art verarbeitet. 22 Die Auflistung der Phasen entspricht nicht in jedem Fall auch ihrer sequenziellen Abfolge in Gesprächen. Wie die Untersuchungen zur „Kommunikation in der Stadt“ gezeigt haben, können je nach Gesprächskontext, nach Themenrepertoire in der Gruppe, nach Auslöser für Kategorisierungen und nach der Interaktionsgeschichte in Bezug auf bestimmte Kategorien auch andere sequenzielle Abfolgen bei der Kategorisierung hergestellt werden. Wichtig für die endgültige Kategorisierung ist jedoch, dass alle Phasen realisiert werden bzw. analytisch rekonstruierbar sind; vgl. Keim (1995, Kap. 6). 250 Inken Keim gorie eine neue sematische Qualität, sie wird zur Kategorie für existenzielle Außenseiter-Erfahrung. Vergleicht man den hier dargestellten Prozess der Selbstdefinition mit Kategorisierungsprozessen, wie sie in anderen sozialen Gruppen oder Milieus zu finden sind dabei greife ich auf die umfangreichen Arbeiten aus dem Projekt „Kommunikation in der Stadt“ zurück 23 wird deutlich, dass eher formale und allgemeiner geltende Elemente oder Mechanismen für Kategorisierungsprozesse unterschieden werden können von sozialspezifischen Merkmalen. Zu den allgemeineren Merkmalen gehören die für den Kategorisierungsprozess konstitutiven Phasen. Das sind wie im vorliegenden Beispiel bereits vorgeführt folgende Phasen: - Indexikale Formulierung einer Erfahrung - Regelformulierung für die Erfahrung - Generalisierung der Erfahrung - Kategorienbezeichnung Die sprachliche Ausfüllung der einzelnen Phasen ist dann wieder sozialspezifisch geprägt. So erfolgt z.B. im vorliegenden Fall die Generalisierung über den Bezug zu den relevanten Kulturen und Gesellschaften; in anderen Milieus erfolgt die Generalisierung z.B. über den Bezug zu allgemeinen Erfahrungen, die in Formeln oder Spruchweisheiten zum Ausdruck kommen. Typisch für eine Erfahrung des Sich-ausgeschlossen-Fühlens, wie sie bei Minderheitengruppen zu finden ist, und damit sozialspezifische Merkmale des Kategorisierungsprozesses sind im vorliegenden Fall: die zugrunde liegende Kategorienkonstellation ist asymmetrisch; im Fokus steht die Arbeit am Selbstbild in Reaktion auf als übermächtig erfahrene negative Fremdbilder; die Interaktionsmodalität ist die des Betroffenseins und Leidens (ernstes, erregtes Sprechen); die Perspektivierung erfolgt von „außen nach innen“, d.h., die negative Sicht auf die Beteiligten wird thematisiert und bietet den Anlass zur Ausbreitung der Irmensicht und zur Fokussierung der inneren Verarbeitung der Außensicht; die Ausdrucksseite der Fremdkategorie wird übernommen, der Inhalt neu definiert. 23 Vgl. Schwitalla (1995), Teil A) und B), jeweils Kap. 6; Keim (1995), Kap. 6, und Keim (1997). Sozial-kulturelle Selbstdeßnition und sozialer Stil 251 Doch neben der Darstellung von Erfahrungen des Leidens unter dem Nirgends-Dazugehören und der kategoriellen Verarbeitung solcher Erfahrungen, wie sie bisher im Fokus stand, gibt es auch andere kategorielle Verarbeitungen. Sie wurden bereits zu Beginn des Gesprächsausschnitts im Beitrag von ES angedeutet, den sie in Kontrast zu Dis Perspektive der Leidenden präsentiert hat (vgl. oben). Hier scheint ein anderes Selbstbild durch: Es ist das Bild der überlegenen und offensiv gegen Diskriminierung vorgehenden Ausländerin. 24 Dieses Selbstbild führt ES direkt im Anschluss an Dis Präsentation in einer Beispielerzählung vor. 4.4 Die überlegene Ausländerin Noch überlappend mit der Ratifizierung von Dis Selbstbild beginnt ES mit ihrer Darstellung, die durch Kontrastakzent auf dem Personalpronomen i “ch als oppositive Version markiert ist. Sie setzt einen Erfahrungszeitpunkt <am a“nfang relevant, in dem auch sie sich vo“ll darüber geärgert (hat) dass die da immer mit so du“mme sa“chen kamen. Mit dieser Erfahrung knüpft sie direkt an die leidvolle Erfahrung Dis an und bestätigt sie. Doch durch den Kontrastakzent auf a“nfang projiziert sie eine Zeit danach, in der die ausgedrückte emotionale Reaktion geärgert keine Geltung mehr hat. Und für diese Zeit danach hat die folgende Erzählung Belegcharakter: 68 HL: |also ich | fühl mich genauso wie DI- 69 ES: |also i"ch| <am 70 K ZUSTIMMUNG 71 HL: |>die hat mir aus der seele geredete| 72 ES: a"nfang|hab ich mich vo"ll darüber * ge/ äh| 73 ES: geärgert> * dass die da immer mit so du”mme sa"chen 74 K GENERVT # 75 ES: kamen- * dass zum beispiel- * irgendso=n <—du"mmes kind 76 ES: kommt zu mirt-» * bei mir in der klasset * die is so 77 ES: alt wie icht * kommt zu mir und meint=se- * sti"mmt des 78 ES: dass die: dass ihr alle- * ju"ngfrauen sein müsstT und 79 ES: dass ihr dann mit äh: in der hochzeitsnachtt * nackt 80 ES: um die sta"dt laufen müsst +hab isch gemeint 81 HL: LACHT LAUT 82 ES: |ja des sti"mmtI I —>un=na hab=sch gemeint<—| und nachde”m 83 DI: |ach go: : tt I 84 HL: |4-oh mein gott-> I 85 K AMÜSIERT # 86 ES: du entjungfert bistt wird deine Unterhose am balkon 87 ES: au”fgehängt- * und dann darf dein vater das fotografiern 88 K& KICHERN 24 Ein solches Selbstbild wird auch in emanzipatorisch orientierten und für eine politischgesellschaftliche Gleichstellung kämpfenden Migrantengruppen gepflegt, vgl Anm. 18. 252 Inken Keim 89 ES: und in der Stadt zeigen? und voll stolz auf dich sein? ** 90 ES: meint se ja: ? ich so ja" -»volle kanne«des is mein 91 K ÄNGSTLICH 92 ES: e"rnst- «—und das hat die ga"nze kla"sse 93 K& GELÄCHTER 94 ES: geglaubt? —»> * ei"ne woche lang waren die tota"l geschockt * 95 ES: ahm dann hab=sch=s gesa"gt dass=s net sti"mmt * 96 NA: ja und dann? 97 K GESPANNT 98 ES: >ah dann pf: : stimmt des gar 99 K ENTTÄUSCHT 100 NA: wie ham se da”nn reagiert? * 101 ES: net oder was<? 102 K # 103 K& LACHEN Die Interaktionsmodalität, in der die Erzählung produziert und von den Zuhörerinnen rezipiert wird, korrespondiert zu der von ES vorher enaktierten Haltung demonstrativer Belustigung. Es ist eine witzige Konfrontationserzählung, die folgende Struktur hat: - Themeneinführung und Orientierung (69-75) - Ereignisschilderung (75-92) - Pointe und abschließende Kategorisierung der Akteure (95-103) a) Themeneinführung und Orientierung Die Themeneinführung enthält bereits eine bewertende Charakterisierung und Typisierung der an dem Ereignis beteiligten Personen, ES und ihren Gegenspielern. Diese werden als Personen eingeführt, über deren Verhalten sich ES in einer zurückliegenden Zeit voll geärgert hat. Auf sie wird indexikal durch Demonstrativpronomen die referiert und sie werden durch typische Handlungsweisen näher charakterisiert: die da immer mit so du“mme sa“chen kamen- (73/ 75). Die unspezifische Referenz auf diese Handlungen durch so sa“chen zusammen mit der negativen Bewertung dumm verweist auf ein ganzes Spektrum von Handlungsweisen, die für ES ärgerlich und gleichzeitig das zeigt sie durch prosodische Mittel, durch zweifache starke Akzentuierung und die „genervte“ Sprechweise lästig waren, da sie immer wieder auftraten und, offensichtlich unbeeinflusst von der verärgerten Reaktion ES', beibehalten wurden. „Dumm“ erhält damit die Konnotation von „unbelehrbar sein und immer wieder Dinge tun, die die Adressatin in negativer Weise betreffen“ und sie verletzen. Sozial-kulturelle Selbstdefinition und sozialer Stil 253 In der Orientierungssequenz, in der die handelnden Personen ES und eine gleichaltrige Klassenkameradin eingefuhrt werden, wird das negative Charakteristikum „dumm“ auf diese übertragen: dass zum beispiel- * irgendso=n <—du “mmes kind kommt zu mir^—» * bei mir in der klasset * die is so alt wie ich'l (75/ 77). Die Klassenkameradin wird als du“mmes kind bezeichnet, damit als „unbelehrbar und sich ihr in verletzender Weise nähernd“ charakterisiert. Die Selbstcharakterisierung von ES bleibt implizit, sie kann jedoch aufgrund der etablierten Kontrastrelation zu dem dummen kind rekonstruiert werden: ES hat zum einen die Eigenschaft „nicht-dumm“; zum anderen, da die Kontrastkategorie zu kind nicht auf der Altersdimension liegt, weil beide gleich alt sind, sondern auf der Verhaltensdimension, die Eigenschaft einer klügeren bzw. reiferen Person. Mit dieser ersten Charakterisierung der Akteure der Geschichte wird ein kategorieller Rahmen eröffnet mit ES als der Reiferen und Klügeren und ihrer Kontrahentin als der unbelehrbaren Dummen. Implizite Hinweise auf eine ethnische oder nationale Spezifik beider Kategorien können aus der Situation rekonstruiert werden: Das Ereignis fand in der Schule in Deutschland (nicht in der Türkei) statt und die Erzählung erfolgt im Rahmen von Diskriminierungserfahrungen in Deutschland. Für das dumme kind lässt das auf eine deutsche Zugehörigkeit schließen. b) Ereignisschilderung Die Ereignisschilderung zeigt, wie ES ihre Kontrahentin zum dummen kind macht und sich ihr gegenüber als die Überlegene positioniert. Im Zentrum steht die Wiedergabe eines Gesprächs zwischen beiden, in dem sie in sozialsymbolisierender Weise als Vertreter der sozialen Kategorien dargestellt werden, die in der Themeneinführung und Orientierungssequenz eingeführt wurden. Das Gespräch beginnt mit der Redewiedergabe der Kontrahentin: sti“mmt des dass die: dass ihr alle- * ju“ngfrauen sein müsst'l und dass ihr dann mit äh: in der hochzeitsnachA * nackt um die sta “dt laufen müsst (77/ 80). Das ist eine Vergewisserungsfrage über angebliche Heiratsbräuche in einer Kultur, zu der sie ES (über Personalpronomen ihr) als Angehörige zählt. Mit der Frage wird ES als Gewährsperson und Expertin für diese Kultur adressiert. Es handelt sich um eine Information vom Hörensagen, die die Sprecherin von ES bestätigt oder widerlegt haben will. Der Inhalt des angeblich Gehörten ist spektakulär und gleichzeitig abwegig: Es widerspricht dem allgemeinen Wissen, dass es in einer Kultur, in der für junge Frauen die strikte Einhaltung des Keuschheitsgebots gilt, einen Hochzeitsbrauch geben soll, der der jungen Braut vorschreibt, sich in aller Öffentlichkeit nackt zu zeigen und um die ganze Stadt zu laufen. Mit dieser ersten Redewiedergabe ist eine implizite Charakterisierung der Zitierten verbunden: Die Sprecherin ist entweder sehr naiv und ignorant, dass sie solche Informationen für möglich hält; oder sie beabsichtigt mit ihrer Frage eine Verletzung der Adressierten dadurch, dass sie sie als Angehörige einer barbarischen Kultur charakterisiert, in der junge Frauen missachtet und erniedrigend behandelt wer- 254 Inken Keim den, und sie nimmt dabei auch in Kauf, als „dumm“ zu erscheinen. Die Adressierung der Frage an ES und die Zuordnung von ES zu einer solchen Kultur hat gesichtsbedrohende Implikationen; ES kann sich verletzt und beleidigt fühlen. Auf die zitierte Rede reagieren die Zuhörer mit Lachen und dem Kommentar ach gor.tt (83 und 84) und bewerten sie als lächerlich und abwegig. ES fährt mit der Ereignisschilderung fort: In der damaligen Situation reagiert sie nicht verletzt, sondern kooperiert vordergründig. Sie geht auf die Frage ein, übernimmt die Rolle der Expertin und bestätigt den Inhalt der Frage nachdrücklich: +hab isch gemeint ja des sti"mmt (80/ 82). Dann greift sie die Darstellungsfigur der Kontrahentin auf, fährt im narrativen Modus mit der Darstellung des angeblichen Hochzeitsbrauchs fort, steigert das Spektakuläre des Dargestellten und treibt es ins Absurde: —>un—na hab=sch gemeint*— und na“chdem du entjungfert bist\ wird deine Unterhose am balkon au'fgehängt- * und dann darf dein vater das fotografieren und in der Stadt zeigend und voll stolz auf dich sein^v (82/ 89). Damit hat ES die Situation verändert und sich aus der Rolle der Angegriffenen in die Rolle der Angreiferin gebracht. Mit der absurden Geschichte testet sie das Wissen und die Urteilsfähigkeit der Kontrahentin. Die besteht den Test nicht so stellt es ES dar: Ängstlichverunsichert vergewissert sie sich über den Wahrheitsgehalt der Geschichte ja: \ (90). ES versichert ihr mit ernstem Nachdruck das hebt sie als besondere Übertreibung hervor -, dass es sich um eine realistische Darstellung handelt: ich so ja“ -^volle kanne*rdes is mein e “rnst (90/ 92). Die Kontrahentin glaubt ihr die Geschichte und macht sich damit selbst zum dummen kind. ES ist mit ihrer Darstellung erfolgreich: Sowohl in der damaligen Situation die Klassenkameradin hat ihr die unsinnige Geschichte geglaubt -, als auch in der aktuellen Erzählsituation: Die Rezipientinnen reagieren bei der Darstellung des seltsamen Hochzeitsbrauchs mit Kichern und bei ES' Erfolg der Kontrahentin gegenüber mit lautem Gelächter. Mit dieser Darstellung gelingt ES die Symbolisierung der Kontrahentin als zunächst dumm-dreist, als sie sie mit ihrer Frage provozieren will; dann als ignorant und leichtgläubig, weil sie sich reinlegen lässt. ES stellt sich selbst als überlegen agierend dar, als souverän im Umgang mit Deutschen, deren Handlungen als verletzend verstanden werden können und als erfolgreich, wenn es darum geht, sie reinzulegen. ES führt hier ein Verfahren vor, das in der Gruppe in späteren Gesprächen als „Verarschen der Deutschen“ bezeichnet wird. c) Pointe und abschließende Kategorisierung der Akteure. Die Kontrahentin erzählt die Geschichte in der Klasse weiter mit dem Ergebnis: «^und das hat die ga“nze kla“sse geglaubtl-» * ei “ne woche lang waren die tota“l geschockt (92/ 94). Durch diese Reaktion auf die unglaubliche Geschichte erfolgt jetzt auch eine Positionierung der restlichen Klasse in Sozial-kulturelle Selbstdefinition und sozialer Stil 255 Relation zu ES; alle reagieren genauso wie das dumme kind, sie glauben die Geschichte, fragen nicht nach, sondern verharren eine ganze Woche lang in Staunen und Entsetzen. Damit machen sie sich zu Angehörigen der zu ES kontrastierenden Kategorie: Sie werden ebenfalls zu dummen Deutschen, die sich von ES reinlegen lassen. Durch die gespannte Nachfrage von NA ja und dann\ (96) wird ES zur Fortführung der Erzählung gedrängt und sie berichtet, dass sie die Geschichte aufgeklärt hat ähm dann hab=sch=s gesa“gt dass=s net sti"mmt (95). Dann, auf NAs nochmalige Nachfrage {wie ham se da“nn reagiert^, 100), stellt ES die Reaktion der anderen dar: >ah dann pf: : stimmt des gar net oder was'\'< (98/ 101). Mit dieser Darstellung ist wiederum eine sozialsymbolische Charakterisierung verbunden. Durch das leisere Sprechen, die langgezogene Interjektion pf: : , die Enttäuschung ausdrückt, und die bedauernde Nachfrage stimmt des gar net oder was'l bringt ES zum Ausdruck, dass die anderen nicht wütend sind, dass sie reingelegt wurden, sondern eher enttäuscht, dass die schreckliche Geschichte nicht der Realität entspricht. Mit der Darstellung dieser Reaktion deutet ES eine Haltung der Kontrahenten an, die dazu geführt hat, dass sie die Geschichte geglaubt haben: Sie sind derart tief in Vorurteilen über die (barbarische) Herkunftskultur von ES verhaftet, dass sie jede noch so abwegige Geschichte für wahr halten, solange sie ihren Vorurteilen entgegenkommt. Und diese Haltung lässt sie in der Interaktion mit Partnern, die die mangelnde Urteilsfähigkeit zu ihren Gunsten nutzen, zu dummen Deutschen werden. Mit dieser Erzählung führt ES vor, wie sie die anderen zu dummen Deutschen und sich selbst zur Überlegenen macht: Sie bestätigt das unwissende und vorurteilsbeladene Denken der Deutschen über Sozialregeln ihrer Herkunftskultur und übertreibt maßlos. Die erfahrene Missachtung bestraft sie durch das Aufkündigen von Konversationsmaximen, und sie zeigt den anderen, dass sie sie als Kommunikationspartner nicht ernst nimmt: Mit der Übertreibung verletzt sie die „Aufrichtigkeits- und Ernsthaftigkeitsregeln“, 25 und dadurch, dass sie die anderen lange Zeit im Irrglauben lässt und sie nicht aufklärt, missachtet sie ihnen gegenüber grundlegende Kooperationsanforderungen. Vergleicht man die für die Selbst- und Fremdkategorisierung hier konstitutiven Voraussetzungen und Bedingungen mit der vorher dargestellten Kategorisierung, die von DI vorgenommen wurde, so zeigen sich folgende Unterschiede: - In der Kategorienkonstellation „ich“ vs. die „anderen“, ist „ich“ die Aktive/ die Initiierende und „die anderen“ sind die Reagierenden; 25 Vgl. dazu die Konversationsmaximen von Grice (1975). 256 Inken Keim Die Sprecherin definiert die anderen als die Dummen und bringt ihnen gegenüber diese Definition zum Ausdruck; sie behandelt sie als Dumme; die Selbstdefinition erfolgt implizit durch Enaktieren von Überlegenheit gegenüber den anderen, die als dumm bezeichnet und vorgeführt werden, und über die Kontrastrelation zu den Dummen als klug/ überlegen; im Fokus der Kategorisierungsarbeit steht die Darstellung der anderen und ihrer Handlungen in Reaktion auf die Handlungen der Sprecherin; die Perspektivierung verläuft von „innen“ nach „außen“, d.h., der Blick geht von der Sprecherin auf die anderen; die Interaktionsmodalität ist die von Spiel, Witz und Übertreibung. Diese Art der Selbst- und Fremdkategorisierung ist für die Gruppe zum Zeitpunkt ihrer Produktion neu. Wie die Reaktionen zeigen, wird die Erzählung mit Lust aufgenommen und der Erfolg von ES mit anerkennendem Lachen honoriert. Dadurch, dass ES ihre Erfolgsgeschichte in eine zeitliche Relation zur vorangegangenen Erfahrungsdarstellung setzt und sie chronologisch nachordnet und dadurch, dass sie mehrfach feststellt, dass sie die von DI dargestellte Erfahrung und Selbstkategorisierung ebenfalls gemacht hat, verleiht sie dem neuen Selbstbild einen besonderen Stellenwert: - Sie gründet es in denselben Erfahrungen aus einem Leben unter Migrationsvoraussetzungen und -bedingungen, wie sie für alle Beteiligten charakteristisch sind; durch die chronologische Anordnung („am Anfang hab ich mich geärgert, dann hab ich die anderen verarscht“) macht sie deutlich, dass sie das Leiden unter der Ausgrenzung und das von DI daraus abgeleitete Selbstbild an bestimmte Lebensphasen und Erfahrungen gebunden sieht; und dass das Leiden überwunden und durch eine neue Perspektive auf die Migrationserfahrung und eine neue Bewertung das Selbst- und Fremdbild verändert werden können. Die von ES präsentierte Art der Selbst- und Fremdkategorisierung ist charakteristisch für ein Selbstverständnis, das sich der eigenen Kraft und Klugheit sicher geworden ist und der verletzenden Dummheit der anderen mit Überlegenheit und Witz begegnet. 26 Typisch dafür sind in der Sprache der Beteilig- Die Mittel, mit denen ES Überlegenheit herstellt, sind auch alterspezifisch geprägt. Zum Zeitpunkt der Erzählung ist ES 21 Jahre alt, ihre Zuhörerinnen zwischen 16 und 20 Jahren. Zum Zeitpunkt des erzählten Ereignisses war ES 18 Jahre alt. Zum Zeitpunkt der Gesprächsauthahme habe ich die Gruppe ein halbes Jahr beobachtet. Nach bis jetzt zweijähriger Beobachtung der Gruppe habe ich festgestellt, dass vor allem bei ES die Mittel, die sie bei Verfahren des „Verarschens“ einsetzt, subtiler geworden sind. Das wird in einem Porträt der Gruppe und einer Beschreibung ihres kommunikativen Stils detailliert dargestellt werden. Sozial-kulturelle Selbstdefinition und sozialer Stil 257 ten Verfahren des „Verarschens“. Mit diesem „neuen“ Selbstverständnis, das das „alte“ nicht ablöst, aber eine Alternative für die Selbstpositionierung im Kontakt mit Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft bietet, bewegt sich ES in Richtung von Migrantengruppen, zu deren Leitbild die Abwehr von Diskriminierung und Ausgrenzung durch Gegenprovokation und durch ständiges Infragestellen von Werten und Orientierungen gehört, die für Mehrheitsangehörige als selbstverständlich und fraglos gegeben betrachtet werden. 27 ES bringt in ihrer Erzählung aber auch eine spezifische Haltung ihrer Herkunftskultur gegenüber zum Ausdruck, d.h. der Kultur, die ihr von den Eltern und der umgebenden türkischen Gemeinschaft vermittelt wird: Durch die maßlose Übertreibung von Sachverhalten, die im Zusammenhang mit dem Keuschheitsgebot und dem daran gebundenen Ehrbegriff stehen, distanziert sie sich von einer ungebrochenen Identifizierung mit Werten ihrer Herkunftskultur, die nach Aussagen der jungen Frauen von den Eltern für die Töchter immer wieder gefordert wird. 28 Das von ES vorgeführte Selbstbild, das zu dem von DI vorgeführten stark kontrastiert, ist ebenso typisch für das Leben der Beteiligten unter den für sie charakteristischen Migrationsvoraussetzungen und -bedingungen, und zwar sowohl bezüglich seiner Haltung gegenüber bestimmten Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft als auch bezüglich seiner Haltung zu den für junge Frauen zentralen Werten und Orientierungen ihrer Herkunftsgesellschaft. 5. 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Anm. 18. 28 Die Gruppenmitglieder berichten immer wieder von z.T. sehr heftigen, auch tätlichen Auseinandersetzungen mit ihren Eltern und der türkischen Nachbarschaft über Regeln, Gebote und Werte, die für junge unverheiratete Frauen in der Herkunftskultur gelten bzw. als dort geltend betrachtet werden, und von ihren Erfolgen bzw. Misserfolgen im Durchsetzen eigener Vorstellungen. ES selbst hat in einem Gespräch mit mir festgestellt, dass ihre Eltern schon viel haben lernen müssen und dass sie „langsam erwachsen“ werden. 258 Inken Keim Drescher, Martina (1993): Zur Konstitution von Selbst- und Fremdbildem in der interkulturellen Kommunikation. Vortrag gehalten auf dem 3 mc Colloque Franco Allemande „Xenophobie“, Nancy, Dez. 1993. Garfmkel, Harold (1977): Studies in Ethnomethodology. Englewoods Cliffs. Grice, H. Paul (1975): Logic and conversation. In: Cole, Peter/ Morgan, John L. (Hg.): Speech acts. (= Syntax and Semantics 3). New York. S. 41-53. 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Untersuchungsinteresse Wir (im Folgenden auch: KM und EP) gehen in diesem Beitrag davon aus, dass russlanddeutsche Aussiedler in Gruppen leben, die man in der Tradition des symbolischen Interaktionismus und ihrer Fortführung durch Kallmeyer (1994) als Repräsentanten einer spezifischen sozialen Welt ansehen kann. 1 Zu einer sozialen Welt gehören Personen und Personengruppen, die ihre Position in der Gesellschaft als ähnlich erleben und charakteristische Formen der Analyse, Bewertung und Bearbeitung ihrer Position gemeinsame Handlungsformen entwickeln. Die Handlungsformen verkörpern verschiedene, z.T. auch konkurrierende Verfahren zur Lösung der Probleme, vor die sich die Mitglieder der sozialen Welt gestellt sehen. Charakteristisch für eine soziale Welt ist auch die Ausbildung spezifischer Linien des kulturellen Gedächtnisses. Die soziale Welt der russlanddeutschen Aussiedler beruht auf den Erfahrungen in der Sowjetunion und in Deutschland. Ihr Zusammenhalt folgt aus dem Bestreben, die anfänglich begrenzte Kenntnis der bundesdeutschen Wirklichkeit zu erweitern und sich in Deutschland eine zufrieden stellende dauerhafte Lebensgrundlage zu schaffen. Dieses Bestreben wird wesentlich innerhalb familialer Strukturen verfolgt. Im Folgenden möchten wir die soziale Welt russlanddeutscher Aussiedler in einem exemplarischen Ausschnitt rekonstruieren. Von einem Ausschnitt sprechen wir dabei in zweifacher Hinsicht: a) Wir werden aus einer von uns beobachteten Großfamilie, der Familie Steiner/ Olbrich, lediglich ein junges Ehepaar vorstellen - Irma und Anton Olbrich, b) Aus der Vielzahl der sprachlich zugänglichen Handlungsformen, die die Mitglieder dieser Großfamilie und andere Aussiedler zum Verstehen und Gestalten ihres Lebens in Deutschland benutzen und die ihren kommunikativen sozialen Stil bilden, werden wir uns auf die Analyse der Kategorisierungen beschränken, mit deren Hilfe sich Irma und Anton Olbrich einer ethnisch benannten Gruppe zuordnen. Dabei interessiert, wie sie die Gruppe, der sie sich zugehörig fühlen, bezeichnen und welche Merkmale sie als charakteristisch für diese Gruppe ansehen. 1 Zu Kallmeyers Begriff von sozialen Welten vgl. Kallmeyer (1994), S. 2, 22-24. 262 Katharina Meng / Ekaterina Protassova Die ethnische Zugehörigkeit ist für Russlanddeutsche wie auch für andere Personen in unterschiedlichen Zeiten und Situationen von unterschiedlicher Bedeutung. Es kann Zeiten und Situationen geben, in denen sie in den Hintergrund tritt und kaum zum Gegenstand der Reflexion und Kommunikation wird, und es kann Zeiten und Situationen geben, in denen sie als besonders relevant wahrgenommen wird. Weiterhin können sich die Inhalte ethnischer Bestimmungen verändern oder verschieben, je nachdem in welchem Zusammenhang man sich mit anderen Gruppen vergleicht oder verglichen wird. Bei der Vorbereitung der Aussiedlung und in Deutschland kommen die Russlanddeutschen in eine Lebenssituation, in der ihre ethnische Zugehörigkeit gegenüber anderen Zugehörigkeiten hervorgehoben und der Inhalt ihres ethnischen Zugehörigkeitsverständnisses in Frage gestellt wird. Erörterungen und Präsuppositionen darüber, wer oder was ein Deutscher ist und wer oder was die amtlich als Aussiedler bezeichneten Menschen sind, finden sich vom Bundesverwaltungsamt über die Medien bis in Alltagsgespräche unterschiedlichster Art, und sie haben weit reichende lebenspraktische Folgen für den Einzelnen und die Familien (vgl. Meng 2001, Anhang 2, Dokument 12). Wie reagieren die Aussiedler auf diese Situation? 2. Familie Olbrich Die junge Familie Olbrich besteht aus dem Vater Anton Olbrich (geboren 1960), der Mutter Irma Olbrich geborene Steiner (geboren 1964) und den Kindern Nikolaus (geboren 1984) und Lisa (geboren 1986). Die Eltern haben zehn Jahre lang die sowjetische allgemeinbildende Schule besucht und eine wenige Monate umfassende Berufsausbildung als Mechanisator bzw. Verkäuferin erfahren. Anton Olbrich arbeitete in Kasachstan als Traktorist, Irma als Küchenhilfe. Die junge Familie kam 1992 mit Irmas Eltern, ihrem Bruder und dessen Familie aus Kasachstan nach Deutschland, wo bereits die Großeltern und andere Verwandte lebten und die Aussiedlung von Olbrichs organisiert hatten. KM lernte Familie Olbrich kurz nach ihrer Übersiedlung kennen, EP erst später. Bis heute, da die Familie mehr als sieben Jahre in Deutschland lebt, bestehen lose Kontakte zu ihr. Uns liegen mehr als 20 Stunden Ton- und Videoaufzeichnungen mit Familie Olbrich in verschiedenen Gesprächssituationen vor: innerhalb der Kernfamilie, innerhalb der Großfamilie, stets mit KM als einer ‘einheimischen Deutschen’ und teilweise mit EP als einer Besucherin aus Russland. Die ethnische Selbstbestimmung wird natürlich nur gelegentlich zu einem Gesprächsgegenstand. Aus diesen Gesprächen betrachten wir im Folgenden charakteristische Passagen. Zum ethnischen Selbstverständnis in einer russlanddeutschen Familie 263 3. Ethnische Selbstbezeichnung und Selbstbestimmung am Anfang der sprachlichen Integration - Darstellung der Lebenssituation in der Kasachischen Sowjetrepublik Die erste Aufnahme, die KM mit der Familie Olbrich anfertigen konnte, entstand sechs Monate nach der Übersiedlung. Sie enthält u.a. ein sprachbiografisches Gespräch 2 mit Anton Olbrich. Vgl. Ausschnitt (1). (1) 27.5.93, 039a/ boVidAO(33)Omaru6 1 KM: a Bbi" no HauHOHaJibHOCTM xoxe neMepT ÜbKM Und Sie" sind der Nationalität nach auch Deutscher? AO: xoace HeMeit'l lÜbAO Auch Deutscher, j 2 KM: ja ähä ja IO: oh ox Maxepn ox Maxepn ox scex b oßmeMl |ÜbIO Von Seiten der Mutter, der Mutter, von allen überhaupt. | 3 KM: AUSLASSUNG AO: Hy MOM pOflHXeJieJIH OHM / ** KaK-XO / ** ÜbAO Na meine Eltern, die / Irgendwie / ,10: , 4 KM: ähä ja AO: flOMa Mbl Ha HCMepKOM ne" OÖipatlHCbi Hy ** Mbl |ÜbAO Zu Hause sprachen wir ni"cht Deutsch. Na wir 5 AO: OßmaJIMCb na HCMCHKOM ÖOJIblHMHCXBO XOXfla KOFfla |ÜbAO sprachen auf Deutsch hauptsächlich dann, wenn die Großmutter-Oma 6 KM: flä ÜbKM Ja. AO: npnesMcatia 6a6ymKa-OMal AUSLASSUNG ÜbAO kam. 110: AUSLASSUNG 2 Vgl. zur Gestaltung der sprachbiografischen Gespräche Meng (2001), Kapitel 1.5. 264 Katharina Meng / Ekaterina Protassova AO: bot Korfla OMa npweBxajia xorfla mbi KaK-ro hcmho2kko [UbAO Also wenn Oma kam, dann sprachen wir irgendwie ein bisschen mehr, j KM: AO: 6o"jiMiie paarosapHBajiM-l Hy Ka"K paaroBapHBajuii lÜbAO 10 11 Na wie" sprachen wir. AO: oaa TaKHe flOMauiHHe * cjioBa xaM roBopMT-^ npHHecM |ÜbAO Sie sagt dort solche Hauswörter: "Bring da"s,. AO: TO—> npHHeCM TO AUSLASSUNG Hy 3TO TaK-TO HOHMMaTB [UtiAO bring da"s! " Na das verstehst du irgendwie, | AO: noHHMaemb-3 * a xoBopMit-TO ne Moxemti |ÜbAO verstehst du, aber sprechen kannst du nicht. J 12 13 KM: |AO: 14 KM: ÜbKM AO: ÜbAO welche spräche haben sie in ihrer kindheit zuerst AUSLASSUNG KM: gelemtT ** AUSLASSUNG jä 3HauMT MaMa h nana ÜbKM £) as heißt, Mutter und AO: russisch-l HC rOBOpMJIM C BaMH HO-HeMeilKHl Vater sprachen mit Ihnen nicht auf Deutsch? ny ne—> ny uero-3 Na nein, na was. J 15 AO: lÜbAO 16 AO: ,ÜbAO ny KaK > Hy uero ohm roBopHJiw ecjiH a HMuero KpoMe na wie, na was haben sie gesprochen, wenn ich nichts außer äh BOT 3THX HOMaiHHHX CJIOB fl SojIbUie HMHerO HC 3Hajll diesen Hauswörtem / mehr nicht konnte. Zum ethnischen Selbstverständnis in einer russlanddeutschen Familie 265 1 7 KM: ho MaMa HeMKa—> flä flä m ÜbKM Aber die Mutter ist Deutsche, ja? Ja. AO: AUSLASSUNG flä ÜbAO Ja ilO: AUSLASSUNG 18 KM: OTeu HeMeul Aä ho Bce-xaKM / ho roBopHJiw ÜbKM Auch der Vater ist Deutscher. Ja. Aber trotzdem / Aber sie sprachen AO: Aä |ÜbAO Ja. 19 KM: ÜbKM AO: [ÜbAO no-pyccKM i auf Russisch. Aä B OCHOBHOM no-pyccKii! Ja. Hauptsächlich auf Russisch. J Unmittelbar vor der in (1) dokumentierten Passage des sprachbiografischen Gesprächs beschreibt Anton Olbrich, wie sein Schwiegervater als Kind in ein russisches Dorf in Kasachstan kam, von den anderen Kindern immer als Deutscher abgelehnt wurde und sich deshalb nicht mehr als solcher zu erkennen geben wollte; dies sei aber nicht möglich gewesen, da er nicht habe Russisch sprechen können. Anton vergleicht dann die Kindheitssituation seines Schwiegervaters mit der Situation seiner Kinder in Deutschland. Als er seinen darauf bezogenen Gesprächsbeitrag beendet hat, geht die Interviewerin zur nächsten im Interviewfaden vorgesehenen Frage über, der Frage nach seiner Nationalität. 3 Dabei knüpft sie daran an, dass zuletzt von Irmas Vater und Großvater und deren Deutschsein die Rede war, und fragt, ob er auch wie sie - Deutscher sei (Fl). Anton Olbrich beantwortet die Frage mit ruhiger Selbstverständlichkeit: ‘Auch Deutscher.’ (Fl). Er übernimmt unmarkiert und ohne weiteren Formulierungsaufwand die Formulierung von 3 Für KM als ehemalige DDR-Bürgerin und für Anton Olbrich und EP als ehemalige Bürger der Sowjetunion war das keine ungewöhnliche Frage. In Personalbögen (unter ‘Punkt 5’, wie Eingeweihte wissen und sich gegenseitig oft in Erinnerung rufen) und Ausweisen wurden Staatsbürgerschaft und Nationalität systematisch unterschieden. Neben der Nationalitätsangabe sind Familienname und Geburtsort wichtig für Schlüsse auf die ethnische Zugehörigkeit einer Person. Im Aufnahmeverfahren für Russlanddeutsche in Deutschland ist die Unterscheidung von Volkszugehörigkeit und Staatszugehörigkeit zentral. Im Gegensatz dazu ist es auf Englisch (und in anderen Sprachen) sehr schwer, den Unterschied überhaupt auszudrücken: nationality bedeutet beides - Nationalität und Staatsangehörigkeit. 266 Katharina Meng / Ekaterina Protassova KM. Das ist ein Verfahren, das auf Russisch sehr häufig zur Bejahung einer Ja/ Nein-Frage verwendet wird. Das Gespräch vollzieht sich auf Russisch, weil Anton wie er mehrmals betont zum Aufnahmezeitpunkt nicht in der Lage ist, sich ernsthaft auf Deutsch zu unterhalten. Seine Antwort lautet in der Originalform: xoxe iicMeni {toze nemec i - ‘Auch Deutscher.’). Er benutzt das russische Ethnonym HCMen (nemec) zur Selbstzuordnung. Charakteristisch ist, dass er es hier ohne jegliche Spezifizierung auf sich bezieht. Dies war, wie uns viele Russlanddeutsche sagten, in ihrer Herkunftsgesellschaft der Normalfall. Dorthin in der Regel Orte in Kasachstan, Mittelasien oder Sibirien, fernab von internationalem Austausch und Tourismus kamen keine Deutschen aus der DDR oder der Bundesrepublik, von denen man die dort einheimischen Deutschen hätte unterscheiden müssen. Welche Bedeutung verbinden Anton und Irma Olbrich in der Kommunikationssituation mit dem Ausdruck neiviep (nemec)? Man kann das partiell aus dem Fortgang des Gesprächs erschließen. Zunächst (F2) begründet Irma Antons Selbstzuordnung zur ethnischen Gruppe der Deutschen mit seiner Abstammung von deutschen Vorfahren. Anton kommt dann von sich aus nach einer kurzen Nebensequenz zu einem anderen Thema (s. Auslassung, F3) auf den Sprachengebrauch seiner Eltern zu sprechen. Möglicherweise fühlt er sich dazu angeregt, weil zuvor davon die Rede war, dass Irmas Großvater gut und gerne Deutsch und nur schlecht Russisch sprach und spricht. Zur Formulierung seiner Mitteilungen setzt er mehrmals an. Es ist für ihn schwierig, den Sachverhalt in Worte zu fassen. Er sagt zunächst, dass in seiner Familie nicht Deutsch gesprochen wurde. Diese Aussage modifiziert er jedoch sofort, indem er sagt, dass die Familie ‘hauptsächlich’ Deutsch sprach, wenn die Großmutter 4 zu Besuch kam (FF3-6). Seine Frau hält weitere Erläuterungen für notwendig und unterbreitet Anton leise, in der Aufnahme nur teilweise verständliche Formulierungsvorschläge (s. Auslassung in F6). Anton greift diese Vorschläge nicht auf, sondern setzt seine Darstellung der familiären Sprachpraxis in der bereits eingeschlagenen Richtung fort, indem er zusätzliche Relativierungen vornimmt. Seine erste Relativierung ist quantitativer Art: ‘Also wenn Oma kam, dann sprachen wir irgendwie ein bisschen mehr’ Deutsch als sonst (s. FF7-8). Aber auch diese Charakterisierung befriedigt ihn noch nicht. Er sucht nach einer weiteren Präzisierung. Das Suchen wird sprachlich-interaktiv erkennbar, als er sagt: ‘Na wie" sprachen wir.’ (F8). Es wird deutlich, u.a. am sinkenden Tonhöhenverlauf, dass er den familiären Deutschgebrauch pejorativ qualifizieren möchte im Sinne von ‘Na wie" sprachen wir denn schon.’ Danach charakterisiert er die deutschsprachigen Äußerungen der Großmutter als ‘Hauswörter’ (F9). 4 Anton bezieht sich bezeichnenderweise mit der russisch-deutschen repetitiven Setzung 6a6yniKa-0Ma (babuska-oma - ‘Großmutter-Oma’) auf seine Großmutter. Zu repetitiven Setzungen als Charakteristikum der Sprechweise von Russlanddeutschen (und anderen Bilingualen) und ihren verschiedenen möglichen Funktionen s. Protassova (demn.). Zum ethnischen Selbstverständnis in einer russlanddeutschen Familie 267 Anton führt mehrere Bereiche an, von denen im Transkript nur ‘Bring da"s, bring da"s’ zitiert wird (FF9-10). Es ist auffällig, dass er die ‘Flauswörter’ der Großmutter nicht auf Deutsch anführt, sondern sie ins Russische übersetzt. Dafür liefert er auch sogleich die Begründung: ‘Na das verstehst du irgendwie, verstehst du, aber sprechen kannst du nicht.’ (FF 10-11). Das heißt, dass sich Anton nur rezeptiv an der deutschsprachigen Kommunikation mit der Großmutter beteiligen konnte. Mit diesen Ausführungen hat Anton zum Ausdruck gebracht, dass es seiner Erfahrung nach nicht selbstverständlich ist, dass Deutsche Deutsch können und Deutsch sprechen. Später lenkt die Interviewerin das Gespräch auf Antons frühen Spracherwerb. Sie fragt, welche Sprache er als Kind zuerst gelernt habe (FF 12-13). Er gibt nach einer Pause von etwa einer Sekunde, einer langen Pause mithin - Russisch als seine Erstsprache an (Fl3). Die Interviewerin glaubt Grund zu der Annahme zu haben, dass Anton ihre auf Deutsch formulierte Frage nicht genau verstanden hat (eine entsprechende Nebensequenz ist im Transkript ausgelassen, s. Auslassung Fl3). Um ganz sicher zu gehen, legt sie ihm auf Russisch ihren Schluss aus seinen Mitteilungen vor, dass also die Eltern zu ihm in der Kindheit nicht Deutsch gesprochen hätten (FF13-14). Anton akzeptiert diesen Schluss temperamentvoll als selbstverständlich nahe liegend, denn er besitze doch nur einfachste Deutschfähigkeiten (FF 14-16). Die Interviewerin wiederholt dann resümierend noch einmal Aussagen von Anton und markiert sie durch mehrmaliges ho (no - ‘aber’) und Bce-raKM (vse-taki - ‘trotzdem’) als einander ausschließend, sinngemäß: Ihre beiden Eltern waren Deutsche, aber sie sprachen Russisch (FF 17-19). Anton reagiert darauf ruhig-bestätigend, mit einer Einschränkung: ‘Ja. Hauptsächlich Russisch’ (F19). Wiederum zeigt sich, dass die Eigenschaften ‘Deutscher sein’ und ‘Deutsch sprechen’ für Anton nicht notwendig verknüpft sind. Im multiethnischen Kasachstan gehörte es zu den alltäglichen Erfahrungen, dass jemand einer ethnischen Gruppe zugeordnet wird bzw. sich ihr zuordnet, ohne die Sprache zu sprechen, die für diese ethnische Gruppe charakteristisch ist bzw. einst charakteristisch war. 5 Die Verknüpfung von Nation/ Nationalität und Nationalsprache/ Nationalitätensprache war in Auflösung oder zumindest in Abschwächung begriffen. Zwar waren in Kasachstan noch die meisten Kasachen fähig, Kasachisch zu sprechen (neben Russisch, das gemäß Zensus von 1989 knapp 63% der Kasachen zu verwenden in der Lage waren). Aber das war nicht verwunderlich, denn die Kasachen waren die Titulamation der Kasachischen Sowjetrepublik und gewannen aus dieser Stellung Selbstbewusstsein, auch im Hinblick auf ihre Sprache. Die in Kasachstan lebenden Usbeken hatten ihre Nationalitätensprache gleichfalls in 5 Vgl. Baskakov et al. (1995) zur Sprachsituation in Mittelasien und Kasachstan. 268 Katharina Meng / Ekaterina Protassova einem hohen Grade (zu 95,6%) bewahrt, wobei mehr als 50% von ihnen auch Russisch kommunizieren konnten. Bei den Usbeken wurde der Spracherhalt ebenfalls durch die Tatsache unterstützt, dass es eine Sowjetrepublik Usbekistan gab, und zwar in unmittelbarer Nachbarschaft. Bei den Russen Kasachstans lag die Aufgabe der Nationalitätensprache außerhalb jeder Erwägung, denn Russisch war zwar nicht Staatssprache, aber prestigereichste Sprache der Sowjetunion, Sprache der ‘übernationalen Kommunikation’ (MeacHaitnonajibHoe oßmeHue meznacional'noe obscenie - ‘Kommunikation zwischen den Nationen/ Nationalitäten’). Ihre Beherrschung war Voraussetzung für Mobilität, Bildung und beruflichen Erfolg. Es ist bezeichnend, dass sich gemäß Zensus von 1989 die in Kasachstan lebenden Russen kaum Kenntnisse anderer dort verwendeter Nationalitätensprachen angeeignet hatten. 6 Wenn man von den Kasachen, Usbeken und Russen absieht, gilt für die anderen Nationalitäten Kasachstans, dass sie ihre Sprachen zu hohen Graden aufgegeben hatten und immer stärker zum Russischen übergingen. Das trifft u.a. zu auf die Tataren, Ukrainer, Juden 7 und eben auch Deutschen (s. Baskakov et al. 1995). Umgekehrt gilt: Wer Russisch sprach, musste deshalb nicht Russe sein. Der Sprecher bediente sich vielleicht lediglich der für sein Leben nützlichsten und der funktional am weitesten ausdifferenzierten Sprache. Das war alltägliche Praxis, und das fand gewiss auch seinen Niederschlag im Verständnis dessen, was ein Tatare, Ukrainer, Jude oder Deutscher ist und sprachlich tut. 8 Im monolingual verfassten Deutschland jedoch gilt es als selbstverständlich, dass Personen, die sich als Deutsche bezeichnen, auch Deutsch können und sprechen. Das ist eine übliche Alltagsauffassung. Das ist aber auch Bestandteil der gegenwärtigen Gesetzgebung. Wenn die Verknüpfung von ‘Deutscher sein’ und ‘Deutsch sprechen’ für Anton Olbrich in Kasachstan nicht zwingend war und auch zum Aufnahmezeitpunkt nicht ist, dann ist zu fragen, was für ihn in Kasachstan das ‘Deutscher sein’ bestimmte. Eine direkte Antwort finden wir nicht. Aber in Anbetracht des gesamten Gesprächsverlaufs können wir seiner damaligen Auffassung davon folgende Momente zuschreiben: 6 Zur Stellung des Russischen in der Sowjetunion s. auch Lötzsch (1992). 7 Aufgrund welcher Kriterien ethnischer, sprachlicher, religiöser, kultureller, historischer, politischer usw. Art eine gesellschaftliche Gruppe von anderen unterschieden wird, ist einerseits eine Frage des jeweiligen historischen Kontextes und andererseits Gegenstand gesellschaftlicher Debatten. Die Juden galten in der Sowjetunion als eine Nationalität neben anderen. Ein Überblick über die Argumente zugunsten dieser Auffassung bzw. gegen sie kann hier nicht gegeben werden. 8 Die Lockerung der Assoziation von ‘Deutscher sein’ und ‘Deutsch sprechen’ ist auch für andere multiethnische und multinationale Regionen wie z.B. Teile Oberschlesiens in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts beobachtet worden. Kloss hat versucht, ihr begrifflich gerecht zu werden, indem er Sprachdeutsche und Kulturdeutsche unterschied (Kloss 1980). Zum ethnischen Selbstverständnis in einer russlanddeutschen Familie 269 1) Antons Eltern und Großeltern waren Deutsche. Er ist also deutscher Abstammung. Dies zeigt auch sein Familienname Olbrich. 2) Deutsch war vor seiner Geburt die Sprache seiner Familie. In seiner Kindheit und Jugend kann er beobachten, dass seine Grosseltern väterlicher- und mütterlicherseits leichter, besser und lieber Deutsch sprechen als Russisch. Er bewahrt einige wenige deutschsprachige Wörter und Formeln und benutzt sie mit sozial-symbolischer Funktion gegenüber den Großeltern oder mit Bezug auf sie, vor allem Oma und Opa. 3) Anton erfährt, dass die deutsche Sprache in seiner gesellschaftlichen Umgebung ohne nennenswerten praktischen Nutzen und in identifikatorischer Hinsicht zumindest ambivalent ist: ‘eine Sprache alter Leute’. Er übernimmt die Einstellung der Mehrheitsgesellschaft und insbesondere der für ihn ausschlaggebenden jüngeren Generationen zur Sprache seiner ethnischen Gruppe und beteiligt sich am Deutschunterricht der Schule nur widerstrebend und, wie er sagt, c npespenneM (s prezreniem - ‘mit Geringschätzung’). 4) Die älteren Deutschen seiner Umgebung haben ein Lebensmuster gemeinsam. Dieses ist ihm nicht in allen Varianten und Details bekannt, wohl aber im Atmosphärischen. Für das Selbstverständnis und die Verarbeitung dessen, wie ihn die anderen wahmehmen, ist grundlegend, dass die eigene ethnische Gruppe mit dem gleichen Ethnonym (neMeit nemec) bezeichnet wird, mit dem auch diejenigen Menschen bezeichnet werden, die für die existenzielle Gefährdung verantwortlich gemacht wurden, derer sich alle erinnern: der Zweite Weltkrieg, der ‘Große Vaterländische Krieg’. Daher rührt das Gefühl, bei den Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft immer wieder Misstrauen und Schuldzuweisungen auszulösen und in den eigenen Beiträgen zur Gestaltung des gemeinsamen Lebens nicht gewürdigt zu werden und also nicht dazuzugehören. Anton und seine Frau Irma deuten dies alles nur an, indem sie sinngemäß sagen: In den 70-, 80er Jahren habe es niemanden ‘mehr’ gestört, wenn die Großeltern Deutsch sprachen, ‘aber’ in den 60er Jahren waren sie ‘vielleicht’ noch sehr ängstlich, das habe mit dem Krieg zusammengehangen; aber sie wüssten das nicht so genau: die Großeltern und die Eltern hätten kaum darüber gesprochen (Kass. 039). Irmas Vater drückt das in einem anderen Gespräch sinngemäß so aus: Man hat die Deutschen immer daran erinnert, wer sie sind. Man hat sie schon nicht mehr wegen ihrer Nationalität beleidigt und unterdrückt wie in seiner Kindheit, aber man hat sie immer wieder an ihre Nationalität erinnert. Die Nationalität wurde nie vergessen, wer man auch war (Kass. 115). Diese Wissenselemente dürften genügen, innerhalb der Vielzahl der Selbstdefmitionen das ethnische Selbstverständnis wach zu halten und ihm einen besonderen Rang einzuräumen. Anton und Irma Olbrich sind vor allem Ab- 270 Katharina Meng / Ekaterina Protassova stammungsdeutsche und für den zweiten Weltkrieg verantwortliche Geschichtsdeutsche, kaum noch Sprachdeutsche. Ihre ethnische Selbstwahrnehmung ist zu einem großen Teil Reaktion auf die ethnische Zuordnung, die sie von ihrer Umgebung erfahren. Dies gilt für die Lebenssituation in der Kasachischen Sowjetrepublik in den 70er und frühen 80er Jahren und wird in einer Kommunikationssituation in Deutschland kurz nach der Übersiedlung dargestellt noch gemäß dem mitgebrachten Selbstbezeichnungsmuster (neMeit nemec - ‘Deutscher’). 4. Ethnische Selbstbezeichnung und Selbstbestimmung in einer Phase fortgeschrittener Integration - Darstellung der Lebenssituationen in der Republik Kasachstan und in Deutschland Wir überspringen jetzt eine längere Zeit und begegnen Anton und Irma Olbrich erst wieder, als sie bereits vier Jahre in Deutschland leben. Zu dieser Zeit führt KM erneut sprachbiografische Gespräche durch, um von den Informanten zu erfahren, wie ihre Integration verläuft und wie sie sie bewerten. Transkript (2) hält eine Passage aus einem dieser späteren sprachbiografischen Gespräche fest. Hauptperson des Interviews ist hier Irma Olbrich. Ihr Mann Anton hört zu, beteiligt sich aber phasenweise auch aktiv. (2) 10.11.96, 319aVidIO(32)warumdt48 1 KM: und warum wollten sie nach Deutschlandt AUSLASSUNG [KT AUSLASSUNG , 2 KM: LACHT ja * das glaub IO: Anton-» hilf mirl |AO: schwere antwort-l ^ 3 KM: ich-l *4* AO: ny xe Kaaaxn roBoprum hto ** 33 33 * mm |ÜbAO Na die Kasachen haben doch gesagt, dass äh äh wir keine | AO: ne KaaaxM—> bh 3flecb ne aojixhm xhtb—» 33 33 b |ÜbAO Kasachen sind. "Ihr dürft hier nicht leben." Äh äh in 1 4 Zum ethnischen Selbstverständnis in einer russlanddeutschen Familie 271 5 AO: [ÜbAO 6 AO: |ÜbAO AO: lÜbAO KM: ,AO: IO: AO: |ÜbAO 10 IO: AO: |ÜbAO 11 KM: l IO: 12 KM: ,10: Pocchh ** Toace / He pyccKHe mh-> hcmiiuI mh Russland auch / Russen sind wir nicht, Deutsche. Wir haben | imcajracb mm hcmumX weil wir uns geschrieben/ eingetragen/ erklärt, wir sind Deutsche. i deutsche sind-l a ** so eine land im Russland war keinei aber j hrfl für deutschel ** dann müssen wir ab/ umzieheni fort , aber hier wir sind ru: sse-i LACHT nach Deutschlandi 3flecb Hier | LACHT ja das ist * rischtischi mm byflCM Bcerna pyccKMMM-l werden wir immer Russen sein^ i haben sie nie" gedacht—> ach warum bin ich AUSLASSUNG j nicht * in Kasachstan gebliebent nein obwohl sie hie"r nee nee nee nee 13 KM: russen sindt 14 10: KM: IO: |A0: I IO: ja LACHT wir sind die russe hier—> LACHT ja ja is besser russe-deutscher als deutscher in Kasachstan! richtig! ** Anton—> du weißt viel—> 15 272 Katharina Meng / Ekaterina Protassova Die dokumentierte Gesprächsphase wird dadurch eingeleitet, dass KM Irma fragt, warum sie nach Deutschland übersiedeln wollte (Fl). KM bringt damit die Lebenssituation vor der Aussiedlung die Zeit Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre in Kasachstan zur Sprache. Die Frage stimmt Irma verlegen, und sie bittet ihren Mann, sie bei der Antwort zu unterstützen (F2). Anton sagt, dass die Antwort schwer ist (F2). Dass sie ihm in der Tat schwer fällt, zeigen die zahlreichen ungefüllten und gefüllten Pausen und Konstruktionsabbrüche (FF3-5). Möglichen Gründen dafür, dass Irma und Anton es schwer finden, über ihre Aussiedlungsmotive zu sprechen, können wir hier nicht nachgehen; wir konzentrieren uns auf ihre Benennungen der ethnischen Gruppe, der sie sich zuordnen. Zunächst ist bemerkenswert, dass Anton für die Bezeichnung seiner Gruppe wiederum unspezifiziert die Ethnonyme hcmuh (nemcy) sowie Deutsche gebraucht (FF5-8). 9 Die Zugehörigkeit zur Gruppe der Deutschen wird einerseits durch eine Negation der Tatsache, Russen zu sein, und eine damit nahe gelegte Implikation ausgedrückt (ue pyccKue mm -> ne russkie my-+ - ‘Russen sind wir nicht.’, F5), andererseits auch direkt behauptet (hcmpm^ nemcyl' - ‘Deutsche.’, F5) und durch einen Akt des ‘Schreibens’ begründet (FF5-6). Was für einen Schreibakt Anton meint, bleibt offen. Er kann sich auf das offizielle Bekenntnis zu einer Nationalität beziehen, das bei der Beantragung des ersten Personalausweises schriftlich abgegeben wurde, auf das Ausfällen von Formularen verschiedener Art, die häufig den ‘Punkt 5’ enthielten, oder/ und auf den Ausreiseantrag. Offen bleibt auch, wen Anton mit mm (my) und wir (FF3, 5, 6) meint: seine Familie, seine Großfamilie, die Russlanddeutschen in Kasachstan? Man ist geneigt, seine Äußerungen als generalisierend zu verstehen, da er zuvor auch schon ‘die Kasachen’ ganz allgemein erwähnt hat und überhaupt auf die Aufgabe von personalen, zeitlichen und örtlichen Details verzichtet. Anton und Irma lösen sich gleichsam in der Wir-Gruppe der Russlanddeutschen in Kasachstan auf. Die eigene ethnische Gruppe wird als in eine Konfrontation verwickelt beschrieben. Die Konfrontation geht von einer anderen ethnisch definierten Gruppe, den Kaaaxii (kazahi - ‘Kasachen’), aus. Diese bestreiten den Deutschen das Recht, ‘hier’ (d.h. in Kasachstan) zu leben. Die Reaktion der Deutschen auf dieses Ansinnen, das gewiss einen Bruch des Erwartbaren bedeutete, stellt Anton als einen Prozess der Entscheidungsfindung dar. Er benennt damals erwogene Umsiedlungsalternativen und bewertet sie nach dem Kriterium ‘Jeder ethnischen Gruppe ihr eigenes Territorium’. Das Kriterium wurde, so könnte man aus Antons Darstellung schließen, von den Kasachen eingeführt, von den Deutschen dann aber übernommen. Der Entschluss, nach Deutschland zu übersieden, erscheint auf diese Weise als etwas Zwangsläu- 9 Zu weiteren Bezeichnungen der Wir-Gruppe der Russlanddeutschen vgl. Meng/ Protassova (i. Vorb.). Zum ethnischen Selbstverständnis in einer russlanddeutschen Familie 273 figes. In der Einleitung seines Beitrages markiert Anton zudem durch ny xe (jiu ze - ‘Na ... doch’, F3) diesen Zusammenhang als allgemein bekannt. Insgesamt tendiert Anton hier zu einer Darstellungsweise, die Kallmeyer/ Keim als kondensiert und formelhaft beschrieben haben. Diese Darstellungsweise findet sich, so die beiden Autoren, charakteristischerweise dort, wo häufig thematisierte und für das Selbstverständnis einer Gruppe wesentliche Sachverhalte zur Sprache kommen (vgl. Kallmeyer/ Keim 1994). Es ist sehr bezeichnend, dass Anton die Auseinandersetzung zwischen den Kasachen und den Russlanddeutschen auf Russisch darstellt, obwohl er — wie auch Irma in dem zweiten sprachbiografischen Gespräch fast durchgehend Deutsch spricht. Der Übergang ins Russische dürfte hier zweifach motiviert sein: a) durch die Anforderung, über einen komplizierten und gewissermaßen auch intimen Sachverhalt, die Aussiedlungsmotivation, Auskunft geben zu sollen; in der Aufnahme wechseln Irma und Anton öfter für kurze Zeit ins Russische, wenn sie gemeinsam über etwas nachdenken müssen und die Antwort nicht routinehaft gegeben werden kann; sowie b) durch den Impuls, die Auseinandersetzung in der Sprache gleichsam nachzuspielen, in der sie sich in der Wirklichkeit ereignet hat der Sprache der ‘übernationalen Kommunikation’. Das entscheidende Argument für die Aussiedlung nach Deutschland, das Selbstverständnis als Deutsche, drückt Anton zweimal aus: zuerst auf Russisch, dann auf Deutsch (FF5-7). Es erhält durch diese Reformulierung ein besonderes Gewicht. Die Abfolge ‘erst Russisch, dann Deutsch’ symbolisiert den Grenzübertritt von Kasachstan nach Deutschland sowie den damit verbundenen Wechsel der jeweils relevanten Anderen (Kasachen > Binnendeutsche) und der in der Kommunikation mit diesen verwendeten Sprachen. Mit diesem Sprachwechsel kehrt Anton wieder in die bevorzugte Sprache des Interviews, ins Deutsche, zurück. Wenn wir zusammenfassen, wie sich Anton und Irma nach mehrjährigem Leben in Deutschland rückblickend auf die Zeit vor der Ausreise aus der Republik Kasachstan wahmehmen und darstellen, können wir Folgendes sagen: Sie scheinen sich als Personen zu verstehen, denen keine individuellen Entscheidungen offen standen; sie waren bloße Mitglieder der Gruppe der Deutschen. - Die Gruppe der Deutschen wurde als solche durch Fremdkategorisierung seitens der Kasachen ausgegrenzt und so in ihrem Bestand bestätigt und gefestigt (Deutsch durch Fremdkategorisierung). Der Zugehörigkeit zur Gruppe der Deutschen lagen im Falle von Anton und Irma individuelle offizielle Bekenntnisse zur deutschen Nationalität zugrunde, die in die Pässe eingegangen waren (Deutsche aufgrund eige- 274 Katharina Meng / Ekaterina Protassova ner offizieller Bekenntnisse > Deutsche gemäß Pässen des Herkunftslandes). Andere mögliche Kriterien für die Zugehörigkeit zur Gruppe der Deutschen werden nicht erwähnt. Mit der Aussiedlung nach Deutschland geraten Anton und Irma nun in einen neuen gesellschaftlichen Zusammenhang. Als sie in Deutschland ankommen, werden sie dort von den Repräsentanten der Mehrheitsgesellschaft, den Binnendeutschen, nicht als Deutsche wahrgenommen. Irma kommt darauf zu sprechen: aber hier wir sind rutssel (F9). 10 Wenn die Verbform wir sind noch offen lässt, ob sie sich nunmehr selbst als Russen sehen, deuten die Verwendung von aber und das begleitende Lachen doch an, dass es sich bei der Kategorisierung als Russen um eine Fremdkategorisierung handelt, unter die sie entgegen ihrer Erwartung und entgegen ihrer Selbstkategorisierung subsumiert werden. Anton bestätigt Irmas Feststellung und erweitert sie, indem er die Geltung der neuen Fremdkategorie auf eine unbegrenzte Zukunft ausdehnt: ‘Hier werden wir immer Russen sein’ (FF9-10). Er formuliert diesen seinen Beitrag auf Russisch und vollzieht damit einen auffälligen Wechsel aus der dominanten Sprache des Interviews, dem Deutschen, ins Russische. Es ist, als wolle er die Wahrnehmung der Russlanddeutschen durch die Binnendeutschen ironisch auf die Spitze treiben. Bisher haben wir noch nichts darüber erfahren, wie Anton und Irma sich in Deutschland selbst wahrnehmen. Zu einer expliziten Selbstkategorisierung kommt es erst in Fl4, als Anton über sich und seinesgleichen (die Gruppe, auf die sich die wir ab F3 wohl schon generalisierend bezogen) sagt: russedeutscher. Anton benutzt hier einen Ausdruck, den er kaum von einheimischen Deutschen gehört haben kann. Deutschsprachig möglich und üblich wäre die Bildung Deutschrusse" in Analogie zum Beispiel zu Deutschamerikaner oder Deutschschweizer. Diese Ethnonyme drücken entsprechend ihrem Bildungsmuster aus, dass die entscheidende Charakteristik durch das jeweilige Zweitglied Russe, Amerikaner bzw. Schweizer geleistet wird und Migration dürfte in der Regel zur Folge haben, dass die Migranten in einen neuen gesellschaftlichen Kontext eintreten und darin anders als im Kontext der Herkunftsgesellschaft wahrgenommen werden. So zitiert Ovdinnikova die Sentenz einer nach Israel ausgewanderten Frau aus Russland: B Poccnn hujin enpesiMM, a anecb OKasajincn pyccKMMM (V Rossii byli evrejami, a zdes' okazalis’ russkimi. - ‘In Russland war man Jude, aber hier ist man Russe.’) (Ovöinnikova 1996, S. 225). Analoge Sentenzen sind uns auch von ‘Russlandgriechen’ in Griechenland und ‘Russlandfinnen’ in Finnland bekannt. Man ist dem Pass nach Bürger der Aufhahmegesellschaft, wird jedoch der dominanten Sprache nach (noch) der Herkunftsgesellschaft zugeordnet. 11 Vgl. zu diesen Bezeichnungen auch Kossoslapow (1992). Die Autorin verweist darauf, dass die Bezeichnung von Deutschen in oder aus Russland und Polen lange umstritten war und „eine positive Bewertung der Modifikation des Deutschseins im Herkunftsland“ für viele in Deutschland undenkbar schien (ebd., S. 19). Zum ethnischen Selbstverständnis in einer russlanddeutschen Familie 275 dass das Erstglied Deutschlediglich eine Spezifizierung vornimmt. Dieses Selbstverständnis ist der Familie Olbrich nicht fremd. Sie benutzen das Wort Deutschrusse gelegentlich zur Charakterisierung von Aussiedlem, daneben auch die Ausdrücke Deutsche von Russland, Russlanddeutsche und Deutsche wie wir, sowie manchmal noch, aber deutlich seltener Deutsche (Kass. 318, 319). Es ist anzunehmen, dass Anton mit russe-deutscher den Ausdruck pyccKttü HCMeu (russkij nemec) ins Deutsche übersetzt, der u.a. in russlanddeutschen Zeitungen, die in Deutschland erscheinen, häufig verwendet wird. Da pyccKnn (russkij) als Adjektiv oder als substantiviertes Adjektiv gebraucht werden kann, kann man den Ausdruck pyccKMÜ hcmcu (russkij nemec) auf zweifache Art übersetzen: russischer Deutscher oder eben Russe-Deutscher. Die zweite Variante folgt einem Muster zur Bildung von Substantivkomposita, das im Russischen aktiver benutzt wird als im Deutschen, man vgl. z.B. napb-öariouiKa (car'-batjuska - ‘Zar-Väterchen’) oder nepeceneneuutKOJibHHK (pereselenec-skol ’nik - ‘Aussiedler-Schüler’). Die nach diesem Muster gebildeten Bezeichnungen sind einer Untergruppe der sog. Kopulativkomposita zuzuordnen, bei der zwei Substantive als gleichwertige verknüpft werden. Wenn Anton sich an diesem Bildungstyp orientiert hat, dann wollte er zum Ausdruck bringen, er gehöre zur Gruppe derer, die beides gleichzeitig sind: Russe und Deutscher. Wie das von Anton verwendete Ethnonym sprachlich auch zu erklären sei, es und die alternativ zu ihm benutzten Ausdrücke zeigen an, dass es in der neuen Lebenssituation, in Deutschland, nicht möglich ist, sich und die Wir-Gruppe umstandslos als Deutsche zu bezeichnen. Der ständige Kontakt und Vergleich mit den Binnendeutschen als den jetzt entscheidenden Anderen macht eine auch sprachliche Differenzierung notwendig. Für die Binnendeutschen werden in der Familie Olbrich folgende Ausdrücke verwendet: Deutsche als die gleichsam unmarkierten, ‘normalen’ Vertreter dieser Nation, deutsche Leute, rV’chtig deutsche Leute, Leute von Deutschland, hcmuh (nemcy - ‘Deutsche’) und Kopemtbie hcmuli (korennye nemcy - ‘eingewurzelte Deutsche’ oder, freier übertragen, ‘gebürtige Deutsche’, wobei sich ‘gebürtig’ auf das Geburtsland Deutschland bezieht). Anton verwendet das Wort russe-deutscher in einer Äußerung, die an Irmas und seine vergleichenden Aussagen und Bewertungen zum Leben als Deutscher in Kasachstan und zum Leben als Aussiedler in Deutschland anschließt (s. Auslassung in F11) und sie gleichsam zusammenfasst: besser russedeutscher als deutscher in Kasachstan^ (F14). Es ist auffällig, dass Anton die Geltung dieser Aussage nicht zeitlich einschränkt und sie nicht als persönliche Meinung deklariert. Damit gibt er seiner Aussage den Charakter 276 Katharina Meng / Ekaterina Protassova einer Sentenz. 12 Irma unterstreicht in unmittelbarem Anschluss die Gültigkeit von Antons Sentenz und drückt die Bewunderung für seine Fähigkeit aus, ihre widersprüchlichen Erfahrungen gegeneinander abzuwägen und auf den Punkt zu bringen: ja is richtigX Antone du weißt vieler (FF 14-15). Welche Charakterisierungen verbinden Anton und Irma mit der Selbstkategorie der Russen-Deutschen und der Kontrastkategorie der richtigen Deuschenl Alle Äußerungen, die man im Flinblick auf diese Frage auswerten kann, zeigen Folgendes: 1) Die Fähigkeit, Deutsch zu verstehen und zu sprechen, erhält jetzt im Unterschied zu den Lebenssituationen in der Sowjetunion und in Kasachstan eine herausgehobene Bedeutung. Irma und Anton ist der entscheidende instrumenteile Wert der deutschen Sprache und der Zusammenhang der Deutschfahigkeiten mit dem eigenen Selbstwertgefühl ganz klar geworden. Anton sagt: Wann ich wollte was fragen oder was erklären und denn kann ich nicht das, dann ich fühle mich so, wie ich bin kein Deutscher. Und wann ich was kann so erklären oder was fragen so schon besser und dann wann diese Leute verstehen verstanden mich, dann ich glaube, ich bin ein Deutscher (Kass. 318). Ganz klar ist ihnen auch geworden, dass sie in diesem Sinne nicht mehr richtige Deutsche werden können; ihre allgemeinen Sprachlemfähigkeiten sind bereits begrenzt und ihre gesellschaftlichen Deutschlernbedingungen stark eingeschränkt. Das gibt vielen ihrer Gedanken, Gespräche und Entscheidungen einen Unterton von Resignation. Wenn Irma und Anton nunmehr den Wert der deutschen Sprache für sich selbst und ihre Kinder erkannt haben, dann bedeutet das keinesfalls, dass die russische Sprache ihnen fremd geworden ist und dass sie sie ablehnen. Sie benutzen sie in der Kommunikation miteinander als das vertrauteste, selbstverständlichste und differenzierteste Medium, das ihnen zur Verfügung steht. 2) In ihrem Alltagshandeln stoßen Anton und Irma auf zahlreiche Überraschungen. Das verunsichert sie. Deshalb bemühen sie sich, Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Handeln von Russen-Deutschen und richtigen Deutschen durch Beobachtung, Erkundung und Diskussion zu ermitteln, zu verstehen und zu verallgemeinern. Sie möchten wissen, wie sich richtige Deutsche in auch für sie selbst wichtigen Situationen verhalten, z.B. wie sie Gäste bei einer gemeinsamen Mahlzeit begrüßen, wie sie ihre Kinder während der Schulzeit mit Essen und Trinken versorgen, wie sie auf Werbeversprechen von Händlern reagieren usw. Anton und Irma wollen beileibe nicht alles übernehmen, was sie von richtigen Deutschen 12 Vgl. zu diesem ‘Wissenstyp’ und anderen für Selbst- und Fremdkategorisierungen einschlägigen Wissenstypen u.a. Ehlich (1998), wo man auch weitere Literatur zur Untersuchung von Wissenstypen auf der Grundlage von Diskursen findet. Zum ethnischen Selbstverständnis in einer russlanddeutschen Familie 277 hören (so wollen sie ihren Kindern anstelle von Geld lieber notwendige und gute Lebensmittel in die Schule mitgeben), aber sie wollen wissen, welche Handlungsaltemativen üblich sind, und wollen sie bei eigenen Entscheidungen in Erwägung ziehen. 3) Anton und Irma haben erfahren, dass die richtigen Deutschen natürlich die Chefs sind und den Zuwanderern ihre Einstellungen und Praktiken aufdrängen (bis hin zu den Namensvarianten) und die Russlanddeutschen diejenigen, die putzen (wie Irma) und die sich regelmäßig in die Arbeitslosigkeit schicken lassen müssen (wie Anton stets in den Wintermonaten) usw. In einem gewissen Grade können sie das sogar akzeptieren. Aber es verstärkt ihre Resignation. 4) Anton und Irma haben gelernt, dass die Eigenschaft, Deutscher in Deutschland zu sein, nicht entweder gegeben oder aber nicht gegeben ist, sowie dass sie sich aus vielen Merkmalen zusammensetzt, so aus der Beherrschung der deutschen Sprache, der Abstammung von deutschen Vorfahren, der Geburt in Deutschland, der Dauer des Lebens in Deutschland sowie dem Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit und also des deutschen Passes. Nicht jede in Deutschland als Deutscher oder Deutsche anerkannte Person muss alle diese Merkmale aufweisen. Sie lassen sich zum Teil wechselseitig kompensieren und können gegebenenfalls auch nur graduell vorliegen. Auf dieser Grundlage ordnen Anton und Irma ein und dieselbe Person in Abhängigkeit von dem jeweils als relevant betrachteten Merkmal in wechselnde ethnische Kategorien ein. So sagen sie über Irmas Mutter einmal, sie sei Russin (ihrer bevorzugten Sprache nach), ein andermal, sie sei Ukrainerin (ihrer Abstammung nach), und ein drittes Mal, sie sei Deutsche (gemäß Pass des Aufnahmelandes). Die Erkenntnis, dass die Eigenschaft, Deutscher zu sein, nicht zwingend an den Geburtsort gebunden ist und erworben werden kann, gibt ihnen Zuversicht für ihre Kinder. Nach unseren Beobachtungen weisen Anton und Irma in ihren ethnischen Kategorisierungen zahlreiche Gemeinsamkeiten mit ihren russlanddeutschen Altersgefährten und auch mit älteren Russlanddeutschen auf. 13 Daneben gibt es freilich auch Unterschiede, auf die wir hier jedoch nicht eingehen können. Schließlich möchten wir noch folgende auffällige Eigenschaften in Antons und Irmas Selbstkategorisierungen hervorheben, die sie ebenfalls mit vielen Russlanddeutschen gemeinsam haben. 13 Vgl. Meng (2001) zur Generation der ‘jungen Eltern’. 278 Katharina Meng / Ekaterina Protassova 1) Viele ethnische Bezeichnungen in unseren Aufnahmen benutzten Anton und Irma nicht aus eigenem Antrieb, sondern in Reaktion auf Fragen der Interviewerin. Das heißt, sie wurden zu einer Ethnisierung gedrängt. Das geschieht ihnen in Deutschland häufig. 2) Anton und Irma antworten auf Fragen nach der ethnischen Zugehörigkeit einer Person oft, sie wüssten es nicht. Man kann daraus schließen, dass bei ihnen die ethnische Zugehörigkeit nicht von primärer Bedeutung für die Wahrnehmung und Beurteilung anderer Menschen ist. 5. Zusammenfassung Die Analyse charakteristischer Gesprächspassagen hat gezeigt, dass die Kategorie ‘Deutscher’ für Anton und Irma Olbrich ein höchst komplexes Gebilde ist, in dem in Abhängigkeit von der Kommunikations- und der Lebenssituation jeweils andere Momente in den Vordergrund treten. In der Sowjetunion waren Abstammung, Familienname, amtlich dokumentiertes Bekenntnis zur Nationalität (Nationalität gemäß sowjetischem Pass) und Assoziation mit Deutschland als dem Aggressor im Zweiten Weltkrieg dominante Merkmale. In der Republik Kasachstan wurde die Fremdkategorisierung als Deutscher, anknüpfend an die erstgenannten Merkmale, gegenüber den 70er und 80er Jahren verstärkt; ob die Assoziation mit Deutschland inhaltlich umakzentuiert wurde (etwa: vom einstigen Aggressorstaat zu einem Staat mit anderen Charakteristika) lässt sich auf der Grundlage der Gespräche mit Olbrichs nicht sagen; es ist jedoch nahe liegend. In Deutschland treten die Deutschfahigkeiten und die Kenntnis alltäglicher Handlungsmuster der in Deutschland aufgewachsenen Deutschen in den Vordergrund. Die Dominanz jeweils unterschiedlicher Merkmale ist aus der jeweiligen Lebenssituation heraus verständlich. Die Kategorie ‘Deutscher’ enthält mithin Konstantes und historisch Veränderliches. Einen die Zeiten und die Orte überdauernden, fixen Begriff von ‘Deutsch sein’ zu unterstellen und gar für verbindlich zu erklären, wie die Russlanddeutschen das in der Bundesrepublik oft erleben, zeugt entweder von Naivität oder der Entschlossenheit, die spezifischen historischen Zusammenhänge zwischen der deutschen Politik im 20. Jahrhundert und den Russlanddeutschen zu leugnen und allgemeine Gesetzmäßigkeiten des Erhalts und Aufgebens von Minderheitensprachen zu ignorieren. 14 Dies soll ausdrücklich auch auf die seit 1996 geltenden gesetzlichen Regelungen für das Aufhahmeverfahren von Russlanddeutschen bezogen werden. Nach diesen Regelungen muss der Antragsteller nachweisen, dass er als Kind in seiner Familie Deutsch gelernt und seither ständig als bevorzugte Sprache gebraucht hat. Diese Regelung für die Zuerken- Zum ethnischen Selbstverständnis in einer russlanddeutschen Familie 279 6. Literatur Baskakov, Aleksandr N./ Nasyrova, Ol’ga D./ Davlatnazarov, Mamadakbar (1995): Jazykovaja situacija i funkcionirovanie jazykov v regione Srednej Azii i Kazahstana / Die sprachliche Situation und das Funktionieren der Sprachen in der Region Mittelasiens und Kasachstans / . Moskau. Ehlich, Konrad (1998): Vorurteile, Vor-Urteile, Wissenstypen, mentale und diskursive Strukturen. In: Heinemann, Margot (Hg.): Sprachliche und soziale Stereotype. Frankfort a.M. S. 11-24. Kallmeyer, Werner (1994): Das Projekt „Kommunikation in der Stadt“. In Kallmeyer, Werner (Hg.): Kommunikation in der Stadt. Teil 1: Exemplarische Analysen des Sprachverhaltens in Mannheim. (= Schriften des Instituts für Deutsche Sprache 4.1). Berlin/ New York. S.l-38. Kallmeyer, Wemer/ Keim, Inken (1994): Bezeichnungen, Typisierung und soziale Kategorien. Untersucht am Beispiel der Ehe in der Filsbachwelt. In: Kallmeyer, Werner (Hg.): Kommunikation in der Stadt. 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Wenn es jedoch wie meist behauptet und wie moralisch notwendig darum geht, das Kriegsfolgenschicksal der Russlanddeutschen als solches anzuerkermen und möglichst wieder gutzumachen, dann hat das mit der Bewahrung oder dem Verlust der deutschen Sprache nichts zu tun. Russianddeutsche wurden während des Zweiten Weltkrieges und danach verfolgt, unabhängig davon, ob sie Deutsch sprachen oder nicht. Leider ist hier nicht der Ort für eine detaillierte Analyse der Zusammenhänge. Vgl. aber dazu Khuen-Belasi (1999). 280 Katharina Meng / Ekaterina Protassova Meng, Katharina/ Protassova, Ekaterina (i. Vorb.): pycaK rusak und andere russlanddeutsche Selbstbezeichnungen. In: Hinnenkamp, Volker/ Meng, Katharina (Hg.): Sprachgrenzen überspringen. Sprachliche Hybridität und polykulturelles Selbstverständis. Ovcinnikova, Ol’ga (1996): ‘... i otpravilsja v tridesjatoe carstvo ...’ Voläebnaja skazka kak model’ postroenija povedenija russkogo öeloveka za granicej / ... und begab sich auf den Weg ins dreißigste Zarenreich ...’ Das Zaubermärchen als Modell der Konstruktion des Verhaltens des russischen Menschen im Ausland / . ln: Aspekteja. Slavica Tamperensia. University of Tampere V, S.223-226. Protassova, Ekaterina (demn.): Sprachkorrosion: Veränderungen des Russischen bei russischsprachigen Erwachsenen und Kindern in Deutschland. In: Meng, Katharina/ Rehbein, Jochen (Hg.): Kinderkommunikation einsprachig und mehrsprachig. Münster. Norbert Dittmar Zur ‘Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen’. ‘Umbruchstile’: terra incognita Wir wüssten schon viel gäbe es einen westdeutschen Stil dann könnten wir die ostdeutsche Art zu reden mustergeordnet als Folie darüber legen. Und was ergäbe nun dieser Lackmustest? Gewiss, Ost ist ein Differenzmodell zu West; aber: im heiß gebrühten gesamtdeutschen Tee erkalten langsam die Muster Ooh-Weeh. Und selbst in interkulturellem Licht haben die Unterschiede nur wenig Gewicht weil sie sind halt eh ganz schlicht. Westwärts verlieren sich die alten Farben es bleiben nur noch ostpolierte Jammernarben. Und bleibt nun neben der Ostalgie noch viel? 1 Sphärengeruch' von Ossis undjede Menge Umbruchstil 1. Die konsequenteste mir bekannte systemlinguistische Untersuchung zu ‘Stil’ sind Raymond Queneaus ‘Stilübungen’. Die stets gleiche banale Alltagssituation, nämlich in einen Bus einzusteigen, dabei bestimmte Leute anzustoßen, schließlich einen Platz zu finden und irgendwo wieder auszusteigen (angereichert durch weitere Details), 1 wird in dem gleichen Ablauf, für die gleiche Situation und die gleichen Ereignisse (die situativen Parameter werden sozusagen konstant gehalten) in einem recht unterschiedlichen expressiven Stil dargestellt, der unterschiedlichen sozialen Welten entspricht und in deren Perspektiven das jeweilige Individuum sich als Exemplar einer ‘Gattung soziale Welt X’ präsentiert. 2 Bei Konstanthaltung der außer- 1 Die den ‘StilVariationen’ zugrunde liegenden „Angaben“ lauten wörtlich so: Im Autobus der Linie S, zur Hauptverkehrszeit. Ein Kerl von etwa sechsundzwanzig Jahren, weicher Hut mit Kordel anstelle des Bandes, zu langer Hals, als hätte man daran gezogen. Leute steigen aus. Der in Frage stehende Kerl ist über seinen Nachbarn erbost. Er wirft ihm vor, ihn jedesmal, wenn jemand vorbeikommt, anzurempeln. Weinerlicher Ton, der bösartig klingen soll. Als er einen leeren Platz sieht, stürzt er sich drauf. Zwei Stunden später sehe ich ihn an der Cour de Rome, vor der Gare Saint-Lazare, wieder. Er ist mit einem Kameraden zusammen, der zu ihm sagt: „Du solltest dir noch einen Knopf an deinen Überzieher nähen lassen.“ Er zeigt ihm wo (am Ausschnitt) und warum. 2 Zwei Beispiele aus Queneaus ‘Stilübungen’ (Queneau 1961, S. 56, 134) mögen dies illustrieren (um den Bezug zum Deutschen lebendig zu halten, wähle ich zwei Beispiele aus der deutschen Übersetzung): 282 Norbert Dittmar sprachlichen Referenzmatrix PERSONEN, ZEIT, raum, BEWEGUNGSABLÄUFE, situativer KONTEXT werden mit Hilfe lexikalischer und morphosyntaktischer Mittel in expressiver Funktion individuelle und soziale Identität inszeniert; solche expressiven Mittel würde Goffmann als ‘Stil’ der „gesellschaftlichen Konstruktion des Selbst“ (Auer 1999, S. 155) betrachten. Unterschiedliche Wahlen aus einem einzelsprachlichen System würden sich dann in der aktuellen Rede in Sprachgebrauchspräferenzen manifestieren, die als individueller oder sozialer Identitätsabdruck (ich treibe X, also bin ich ein X-er) Stil ausmachen. Eine durchgängige Idee der sprachwissenschaftlichen Stilforschung ist die Überlegung, dass nicht der Bau des Körpers, sondern seine äußere Hülle, die (Ver)kleidung, nicht der Notenschlüssel und seine Vorgaben, sondern die Melodie den Stil ausmachen. Im Folgenden versuche ich, einen auf Konnotationen mit ‘sozialen Welten’ und dem damit verbundenen Identitätsverständnis gegründeten ‘Stil’-Begriff als ‘Sphärengeruch’ in Anlehnung an Bühler (1934, S. 171, 172, 220) und Pätzold/ Pätzold (1998, S. 75ff.) als Alternative zu einem formalen ‘Stil’- Begriff fruchtbar zu machen, der nur die Varianten referenzidentischer (1) Berlinisch: Icke, icke Ick vasteh det schon, icke: een Kerl, der een uff de Latschen tritt, det kann een ja ooch in Raasche bringn. Aber sich wien Furzer hinsetzen, nachdem er losjemeutert hatte, det, nee, det vatsteh ick nich, icke. Ick, ick ha det vom paar Tarn uff da hintern Plattform von eem Autobus S jesehn. Icke, ick fand den Hals von den jungen Knülch n bißken lang und det Dinge, det aussah wie ne Kordel un wo er um sein Hut rum hatte, nee, det fand ick ja ooch verdammt ulkig. Icke, ick würd mir doch nie son Ding uffh Dez setzen. Aber det is jenau, wie ick ihn jesacht ha: wie er die Fresse uffjerissen hatte, weil ihn een andrer Fahrjast uff de Fieße treten tat, knallt er sich hin uffh Sitzplatz, un keen Wort mehr. Ick, ick hä deen Schleimscheißer eens in de Schnauze jeschlam, der mir immer uff de Fieße jetreten wäre. Jibt ja doch selsame Dinge im Leben, dahr ick ihn, nur de Berje bejegnen sich nie. Zwee Stunden später treff ick den Burschen doch von neuem. Ick, ja ick erblicke ihn vor der Gare Sängt Lazare. Ja, ick seh ihn mit nem Kumpel, eenem von seiner Sorte, der zu ihm sacht, un icke, ick ha's jehört: „Du solltest diesen Knopp hier wat höher setzen.“ Ick ha's jenau jesehn, icke, er zeigte uffh obersten Knopp. Dies ist das Beispiel für den Stil der prestigebewussten Großstadtsprecher, die, wenn sie in den Spiegel der rhetorischen Fähigkeiten schauen, nur sich selbst als ‘das schönste Mundwerk weit und breit’ wahmehmen können. Wie anders ist demgegenüber der fachsprachliche Stil der medizinischen Kommunikation: (2) Medizinisch Nach einer kleinen heliotherapeutischen Sitzung fürchtete ich, in Quarantäne zu kommen, stieg jedoch schließlich in eine mit Bettlägerigen belegte Ambulanz. Hier diagnostizierte ich einen von hartnäckigem Riesenwuchs mit Luftröhrenverlängerung und Rheumatismus deformans des Bandes seines Hutes befallenen Magenkranken. Dieser Irre gerät plötzlich in eine hysterische Krise, denn ein Dahinsiechender stampft ihm auf seine knöchernen Schwielen. Nachdem er seine Galle entleert hat, sondert er sich ab, um seine Krämpfe zu verarzten. Später sehe ich ihn verstört vor einem Lazarett wieder, im Begriff, einen Scharlatan wegen eines Furunkels, das seine Brust verunstaltete, zu konsultieren. Zur ‘ Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen' 283 Funktionen als Input stilistischer Beschreibungen zulässt. Dabei können dem Leser einige Beckmessereien um den ‘StiL-Begriff nicht erspart werden. ‘Stil’, so Kallmeyer (1994), ist die sprachliche Gestaltung einer „sozialen Welt“ und Ausdruck „sozialer Identität“ (S. 30ff.). (1) Kann man in diesem Sinne von ‘Ost-’ und ‘Weststilen’ nach der Wende 1989 reden? Welche Ordnungsdimensionen können einen solchen Unterschied im sprachlichen Repertoire trennscharf machen? (2) Wie, wenn Stile nur im Status der Momentaufnahme erfasst werden und die Illusion der ‘ Stabilität’ erwecken, in Längsschnittpersepktive aber Wandel unterworfen sind? 2. Als Prototyp sozialer Stile im großstädtischen Berlin der Achtzigerjahre wertete ich die ‘Berliner Schnauze’, für die u.a. gilt (vgl. Dittmar 1989): (i) Formuliere Sachverhalte und Sprechhandlungen nach der Maxime ‘je kürzer und direkter, desto besser’ (Skript: vermeide ‘sprachliche Hecken')? (ii) Sei um keine Antwort verlegen; identifiziere dich mit einem erfolgreichen und kreativen Berliner „Wortschläger“, der bei jedem ‘BERLIN OPEN’ ins Finale kommen will (Skript: Zeige dich schlagfertig). (iii) Vermittle anderen unmissverständlich deine stadtsprachliche Identität als ‘Sphärengeruch’ des ‘nimmerschläfrigen’, ‘distanziert witzigen’, ‘geistig-wachen’ Sprachspielers mit dem Instinkt für den (überlegenen) Gewohnheitsgewinner. Solche Aussagen über Ausdruckseigenschaften sind oft idealisierende Projektionen aus der Außenperspektive. Dass die ‘Berliner Schnauze’ ein distinktiver sozialer Stil ist, konnte ich nicht mit der strukturalistischen Methode der Queneauschen ‘Stilübungen’, sondern nur durch ethnografische Längsschnitterhebungen unter Berücksichtigung der folgenden Methode ermitteln: Als gemeinsamer Nenner [einer tatsächlich real existierenden stadtsprachlichen Variation - ND] kann angesehen werden, daß Stil am Zusammenhang einer Reihe von Merkmalen auf unterschiedlichen Ausdrucksebenen kenntlich wird, die ggf. über längere Äußerungen „gestreut“ erscheinen - Stil ist kein punktuelles Phänomen, sondern wird durch leitende Prinzipien oder so etwas wie eine innere Logik bestimmt. (Kallmeyer 1994, S. 30) 3 Typisches Beispiel: der Text des in Hochdeutsch (überregionale Umgangssprache) vorliegenden Asterixbandes „Die Trabantenstadt“ ist in der Übersetzung ins Berlinische („Platte Jottwedee“) nur etwa halb so lang wie seine Vorlage. 284 Norbert Dittmar Nach der Maueröffnung 1989 erwies sich der Ostberliner Kommunikationsstil bald als das ‘unbekannte Wesen’. Hielt man zunächst die Ostregister lediglich für stärker dialektal ausgeprägt und die kurzweilige Schlagfertigkeit („Berliner Schnauze“) hüben und drüben für gleich, wurden doch bald Zweifel an der Hypothese der qualitativen Gleichheit laut (Schönfeld 1993, 1997; Schmidt-Regener 1998; Dittmar/ Bredel 1999). Viele Westberliner äußerten in Bezug auf ‘Ost-Berlinisch’: „iss-n andres berlinern als in Westberlin“ (MANUELA, B 56 W, 150-152); zu Beginn der Neunzigerjahre war häufig die Meinung zu hören, man erkenne die ‘Ostberliner’ am Dialekt („wenn man jemanden in den medien berlinan hörte dann konnte man sicher sein das is-n ostberlina“, ANTON, B 76 W). So bin ich seit den frühen Neunzigerjahren auf der Suche nach einem Lackmustest, der mir jene Wörter, Wendungen, urbane Formeln, den prosodischen Duktus ... ausgibt, der via soziale Identität den Ostberliner Stil symbolisiert. Es bietet sich daher an, die Dimension ‘Ostberliner’ vs. ‘Westberliner’ Stil am 1993 bis 1995 erhobenen Korpus (31 Ostberliner und 25 Westberliner Sprecher/ innen) 4 von Erzählungen zum Mauerfall am 9. November 1989 zu untersuchen, deren Erinnerungen an jene einzigartige historische Nacht einen bunten Flickenteppich sedimentierter sozialer Erfahrungen und Zeugnisse sozialer Identität bilden, die Bausteine eines gesamtdeutschen kollektiven Gedächtnisses sind. Dieses narrative und argumentative Korpus (vgl. Dittmar/ Bredel 1999) gibt einerseits über metakommunikative Kommentare Einsichten in Unterschiede zwischen der Ost- und der Westgemeinschaft, andererseits zeigen sich die objektsprachlichen Unterschiede in den Diskursen und Formulierungen der Sprecher/ innen. Wie gestalten Ostberliner und Westberliner sprachlich ihre Erfahrungen dieser Nacht? Wie formulieren sie diese in der Gestalt ihres in der Sozialisation erworbenen sprachlichen Habitus und auf der Folie eines Ausdrucksrepertoires, das ihre Identität mit der sozialen Welt, der sie sich zugehörig fühlen, wiedergibt? Stil manifestiert sich auf verschiedenen sprachlichen Ebenen; wie Eigenschaften dieser Ebenen untereinander kookkurierren oder synchronisiert sind, können wir nur von Fall zu Fall rekonstruieren. Zunächst einige methodische Reflexionen. Die Produktion und Rezeption von ‘Stil’ ist an die grundlegende Bedingung der sozialen Perzeption und Relevanz gebunden: 4 Die Aufnahmen wurden dankenswerter Weise von Dr. Wilfried Schütte und Prof. Dr. Werner Kallmeyer (IDS, Mannheim) auf CD gebrannt und können als Datenmaterial für linguistische Untersuchungen vom IDS angefordert werden. Zur 'Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen' 285 Es gibt keine schlummernden Stile (außer in der Literatur). Ein gruppenspezifisches Ausdrucksrepertoire bezeichnen wir dann als ‘Stil’, wenn das Ausdrucksrepertoire einer Gruppe A in der sozialen Perzeption einer Gruppe B als identitätsstiftende Gestalt wahrgenommen wird, wobei die bewusste Wahrnehmung in der Regel transitiv, aber im Einzelfall auch intransitiv sein kann. Die soziale Wahrnehmung des Stils kristallisiert sich an bestimmten sprachlichen Eigenschaften und Mustern und wird durch aktuelle Bedürfnisse sozialer Abgrenzung motiviert. ‘Varietäten’ existieren auch ohne die stilrelevante soziale Perzeption, sie sind in diesem Sinne ‘unschuldiger’. Die Perzeptionsbedingung sei beispielhaft illustriert: - Der ‘Stil’ der 68er Studentenbewegung: Studenten grenzen sich mit ihm von der ‘traditionellen’ Gesellschaft ab der ‘Stil’ symbolisiert den sozialen Konflikt. - ‘Feministischer Stil’: Soziale Abgrenzung gegenüber traditionellen Frauenrollen. - ‘Ost-’ vs. ‘Weststil’: Soziale Abgrenzung aufgrund 40-jähriger unterschiedlicher kollektiver Sozialisation nach der Wiedervereinigung (1990). Für diese Fälle gilt: Der ‘Sphärengeruch’ des Stils haftet der gesamten Rede an 5 und wirkt illokutiv als ‘holistische Gestalt 1 . Die mit ihm verbundenen sozialen Abgrenzungen entstehen im Rahmen notwendiger Koexistenz, Kooperation, häufigen Kontakten, Konflikten und ihren sozialen Aushandlungen zwischen den Betroffenen. Solche Stile unterliegen salienter sozialer Perzeption; sie sind ‘markiert’, da die mit ihnen einhergehenden Abgrenzungen mit gesellschaftlichen Veränderungen meist Innovationen - Zusammenhängen. Das soll natürlich nicht heißen, dass der Münchener oder Rostocker Stil, der Stil der Landsmannschaft Hintertupfmgen oder der deutschen Fußballfans weniger gewichtig wäre. Es soll aber deutlich werden: - ‘Stil’ ist keine latente Eigenschaft, sondern Output sozialer Orientierungen und gebunden an soziale Praktiken, die als diskursive Gestalt wahr- 5 Pätzold/ Pätzold (1995, S. 76) schreiben: „Das Sprachzeichen engt den Spielraum des Meinens und Verstehens in einer aktuellen Situation dadurch ein, daß es die ‘Sphäre’ aufruft, in der das Sprachzeichen gewöhnlich verwendet wird in diese Richtung deutet die Metapher vom ‘Sphärengeruch’“. Wenn ‘Ossis’ oder ‘Wessis’ miteinander reden, umgibt den Sprecher eine ‘Aura’ oder eine ‘Duftnote’, die ‘Ossihaftes’ oder ‘Wessihaftes’ ausströmt. „Es ist in den methodisch einwandfreisten und zuverlässigsten Versuchssituationen geschulten Beobachtern immer wieder aufgefallen, daß häufig überhaupt keine angebbaren (anschaulichen) Sachvorstellungen da sind; wohl aber ein Bezug (eine Intention) des Denkenden auf ein Stück oder Moment der in seinem latenten Wissen vertretenen Welt [...] worauf der denkende Sprecher im Einzelfall erlebnismäßig abzielt, [ist] sphärenartig von anderem abgegrenzt“ (Bühler 1934, S. 220). 286 Norbert Dittmar nehmbar an Kemmerkmalen und einer ‘Aura’, die diese mit einer gestaltbildenden Hülle umgibt in Erscheinung treten. - ‘Stil’ will gesehen, gehört, geschmeckt ... sein. Er gehört zur ‘sinnlichsozialen Außenwelt der Innenwelt’ und wirkt in seinem Freisetzungspotenzial von Solidarität oder Distinktivität ‘illokutiv’. Solange die Ostberliner Kommunikationsgemeinschaft unter Bedingungen der Mauer im öffentlichen Berliner Alltag nicht in Erscheinung trat, konnte das breite konsistente Berlinern in den Westberliner Einkaufszentren nicht in Form kollektiver Erfahrung auffallen. Bald waren sich Ost- und Westberliner nur in einem Punkte gegenseitig vollkommen einig: Dass die Ostberliner mehr und die Westberliner weniger berlinern. Stellvertretend für viele ähnlich bewertende Stimmen seien vier typische Stellungnahmen angeführt: 6 (1) ANTON (B 76 W) 7 A\ ja das mit berlinan dis is mir in der tat aufgefalln dass wenn man jemanden in in den medien berlinan hörte dann konnte man sicha sein das is-n ostberlina Freund, is das immanoch so? A\ +1+ ich denke schon +1+ also stärka zumindestens als in im westen berlins weil da die durchmischung mit mit anderen + ja ja gruppen weiß ich mit unsan wessis um das jetz mal so auf-n punkt zu bringen doch stärka war Für die folgenden Beispiele und Korpusbelege gelten die folgenden, in Dittmar/ Bredel (1999, S. 35-39) ausführlich dargestellten Tranksriptionskonventionen für das Berliner Wendekorpus’: leise laut kurze Pause; längere Pause mit Sekundenangabe Dehnung steigende Intonation fallende Intonation auffällige, d.h. beabsichtigte Betonung der dem Symbol folgenden Silbe kurzes (Aufjlachen; längeres Lachen mit Sekundenangabe; lachend gesprochen Wortgrenzen bei zusammengezogenen Ausdrücken Selbstunterbrechung, Korrektur Unterbrechung durch einen anderen Sprecher Markierung gleichzeitig gesprochener Passagen, %string% ! string! +; +Zahl+ oo, ee string A string_ ‘silbe @@; @Zahl@; @string@ string=string / \ &string& &string& hm, mh (h) eh, eh: , eh: : ? string? (STRING) kommentierende, bewertende Hörersignale hörbares Ein- und Ausatmen Verzögerungssignale Markierung von Fragen Kommentar 7 ‘W’ steht für ‘West-’, ‘O’ für ‘Ostberliner’. Zur ‘ Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen' 287 (2) MANUELA (B 56 W) UM: [...] hm A (h) und ehm so mit der 'spräche + ? iss dir da + irgendwie was aufgefalln &wie& wie MANUELA: &@1@& UM: hast du das emp@funden@ &@&? MANUELA: &@& na @nervich@ &@ 1 @& UM: &@1@& [•••] MANUELA: schon so-n weiß ich nich abaa eh geht vielleicht mir persönlich och nur so ich denke also %ich kann dis einfach nich ab% UM: ja MANUELA: hmm + kann sagen wat se will noch so freundlich aba es geht eim irgendwiee gegen den hutstrich UM: und die ehm Sprecher aus ostberlin sagen wa mal die aus dem charitee ? wie war das da A ? MANUELA: wess auch nich iss-n andres berlinern als &in& Westberlin (3) PAULA (B 20 O) eh + ja also n Iganz! gravierender unterschied war + eh wenn wir + für uns n broiler jeholt ham + war dit ein Ihähnchen! ja A ein brathähnchen bei uns war=s halt der broiler + und der heißt bei/ bei uns in der familie heute noch broiler und Inich! hähnchen eh aufjeden fall + klang=n + vielleicht is da och nur persönlicher eindruck die die westberliner alle + sehr jebildet weil sie halt hochdeutsch sprachen ick dachte im ersten moment o gott jetzt musste dich aber anstrengen hier darfste nich ürgendwie so + hm na sagen wir ma bauernmäßig klingst ne A + aber eh wir ham auch ganz schnell gemerkt dass: hinter dem Sprachstil + oft + na ja mehr schein als sein war + undja die leute konnten sich alle sehr gut ausdrücken + das fehlte uns eigentlich so=n bisschen + dieses dieses Selbstbewusstsein diesesja + ich bin wer und ich zeige das auch jedem wir war=n doch immer mehr zurückhaltender + möchte uns nich loben bescheidener A und wem halt der andere was zu sagen hatte bitteschön dann konnte er es sagen A und ja er konnte ein=n och überzeugen aber bei den Westberlinern klang es oftmals sehr überheblich und von sich von sich eingenommen ja A und dis war eigentlich das was mich eh so=n bisschen störte... (4) LENA (B 22 O) wenn die den mund aufmachen und die sprechen ! hochdeutsch! n perfektet hochdeutsch + und vornehm denn noch dabei + dann sag ick die kommt aus=m westen 288 Norbert Dittmar oder der kommt aus=m westen mit schlips das is=n bankanjestellter ja @@ oder aber n Vertreter der von tür zu tür jeht um seine ware anzubieten + und vielleicht dann noch so=n kleen diplomatenkoffer wo wir immer sagten dit sind unsre stasianjehörigen die imma mit so=m koffer spazierengehn ne'' ham ja die meisten außenvertreter ja och alle +J+ ja und im jespräch +2+ ja würd ick sagen an-ner spräche aber in=ner Unterhaltung am am/ vom: Intellekt her würd ick sagen nehm wir uns nüscht ick würde sagen da sind unsere noch + klüger + wenn man sich intensiv mit denen unterhält + viele + bin ick der meinung + Der Westkommentar stellt das Faktum ‘mehr Dialekt’ relativ wertneutral heraus (ANTON, <1>); manche Westberliner sind von der ‘Frische’ und der ‘Natürlichkeit’ des Berlinems angetan. Hält man diesen Westberliner Stimmen den soziolinguistischen Spiegel vor, sieht das Ostberliner Schneewittchen so aus: Die Oststimmen bringen was Neues, Frisches in die Berliner Sprachgemeinschaft, aber deswegen müssen wir Westberliner unser Sprachverhalten nicht ändern, die ‘Neuen’ sind das ist doch o.k. Nicht zu übersehen ist aber auch eine moralisch-bewertende Kommentierung: Ostberliner sprechen eine einfache, undifferenzierte und ordinäre Variante des Berlinischen (Manuela, <2>) und das Ergebnis ist aus Westberliner Perspektive tadelnswert: da hat keine Anpassung stattgefunden (MANUELA). Auch die Ostberliner/ innen (<3> und <4>) setzen sich mit der soziolinguistischen Differenz auseinander. Typisch für die Ostkommentare zum Westverhalten ist die Doppelbödigkeit der Bewertungen: Das Westverhalten wird als ‘sozialer Mehrwert’ charakterisiert: Es klingt gebildet, dem Hochdeutschen näher, geselliger, akzeptabler, einem höheren sozialen Status angemessen; gleichzeitig wird selbstkritisch dem eigenen Verhalten ein gewisser ‘Minderwert’ unterstellt: Zurückhaltend, weniger selbstbewusst, „bauernmäßig“. Der typische feine Unterschied zwischen den Ost- und den Westbewertungen liegt darin, dass erste oft mit Reflexionen über eigene Identifizierungen enden. Manche bekennen sich zum Wunsch nach Anpassung (‘komplementärer’ subjektiver Verhaltenswunsch zur kritischen Anmerkung von MANUELA). Sie wollen das Berlinische aufgeben. 8 Häufig enden die Ostberliner Bewertungen defensiv. Der gehobene, hochsprachliche Sprechstil der Westberliner wird mit Schein und Hochglanz in Verbindung gebracht, dem gegenüber der Redestil der Ostberliner natürlicher, authentischer und bescheidener sei. Die Selbstrechtfertigungen legen den Schluss nahe, dass der Dialektgebrauch als ‘negative Identitätszuschreibung’ fungiert - ‘beschädigte Identität’ klingt an. Vergleichen wir große Mengen gesprochener Ost- und Westberliner Sprache in Bezug auf die Häufigkeit relevanter stadtdialektaler Merkmale, so ist die Im Kindergarten von Neuenhagen, einem östlichen Vorort von Berlin, wurde der Verfasser eines Tages von der Mutter zweier Kinder durch das Bekenntnis in Erstaunen gesetzt, dass die Familie sich „seit gestern“ entschlossen habe, keinen Berliner Dialekt mehr zu sprechen, denn der würde doch „schäbich“ klingen. Zur ‘ Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen' 289 soziolinguistische Diagnose in Schönfeld (1997), Pszolla (1999) und Dittmar/ Bredel (1999) einhellig: Die den Berliner Stadtdialekt sozial markierenden Varianten werden von den Ostberliner Sprechern signifikant mehr benutzt. Heißt das, dass tieferer ‘Dialektstif den Ostberliner zu erkennen gibt? Der Tendenz nach schon: Annahmen über den sozialen Hintergrund, die ja bekanntlich unsere kognitive Unsicherheit über die unberechenbare Fremdhaftigkeit des ‘Anderen’ reduzieren, verlaufen in dieser Richtung, wobei sicher weitere Indikatoren zur Sicherung solcher Annahmen hinzugezogen werden müssen. Schon diese wenigen Kommentare zu dem sprachlichen Habitusverhalten zeigen, dass Fremdzuschreibungen durch andere seien es auch nur antizipierte oder vermutete mit Inszenierungen der eigenen sozialen Gruppenzugehörigkeit einhergehen. Anhand von sprachlichen Habitus- und Stilmerkmalen wird die Statusbedeutung ‘hoch’ (West) vs. ‘niedrig’ (Ost) unterlegt, wobei die Legitimität einer solchen Unterscheidung gleichzeitig auf Ostberliner Seite hinterfragt wird. Bleiben wir auf der sprachlichen Ebene, so fallen auch Unterschiede im Gesprächsstil ins Gewicht. Betrachten wir Ost- und Westsprecher jeweils unter sich: Freunde fragen Freunde, wie sie den 9. November 1989 erlebt haben. Die Ostberliner Freundin von LORE hat unsere in einem Seminar der FU Berlin gefasste Entscheidung, Bekannte, Freunde oder Verwandte zum 9. November 1989 rückblickend zu interviewen, so aufgefasst: (5) LORE (B 24 O) Freundin, also ich möchte dir erst mal dankn dass du dich bereit erklärt hast + ina Lore : bitte bitte bitte Freundin: der + neunte november neunzehnhundertneununachzich + is ja nun schon wieder vier jahre her + und unsre Studiengruppe + hat sich die aufgabe gestellt + erlebnisse + erinnerungn: an diesn tag zu sammln + äh dieses matrejal wolln wir dann + für den einsatz im unterricht zusammstelln + wir möchtn den schülem möglichst hautnah zeign + welche erinnerung=n + welche gefühle die beffagtn unterschiedlichn alters mit diesm tag + verbindn + da du ja viel mehr lebenserfahrung hast als ich + den bau + der mauer selbst miterlebt hast + denk ich dass Ideine! erinnerung an den neuntn november neunzehnhundertneununachzich für die schüler intressant sind +2+ wie hast du diesn neuntn november + erlebt Lore: (h) ph: der neunte november + das war=n tach an dem wa in der schule n + ne Sitzung hattn (h) ähm: aber alle wusstn dass + irgend so eine Pressekonferenz übertragn würde im femsehn und jeder wollte die eigenlich sehn und die ging bis siebn + und (h) also ham wa in der schule wie auf kohln gesessn + also jednfalls ich +2+ wie auf kohln gesessn A +2+ bin flugs nach hause + wenn ich mich nich alles täuscht sogar mip=m taxi und kurz vor siebn erschien ich dann saß auf mei- 290 Norbert Dittmar ner couch + hatte die hosn schon in den kniekehln saß dort + äh den femseher an A +2+ ostn jestellt +1+jeguckt A +2+ und kam grade zu recht +3+ wie dieser schabowski A da so +1+ äh: angeblich so nembei so [AHMT GETUSCHEL VON SCHA- BOWSKI nach] äh erzählte A +2+ dass man nunmehr also ohne irgendein: scheineben oder so + äh die grenze passiem könnte + so danach war erstmal stille und ick saß mit offnem mund + habe dit Üiberhaupt! nich interpretiem könn gar nich + saß also mit runterjeiassn hosn da wie jesacht + ähm: obwohl noch paar presseleute hinterher gelffagt! haben und er sachte ja ja ja wenn ick dit + den zettel entnehme + denn is dit so + kann man so ohne und so + ich saß immer noch so da + ähm: dann stand ich auf A + äh: m stellte den: + westn A weil da + die die + abendschau kommt + zwanzich nach siebn A + a-er-de +2+ und da hat der moderator das dann äh: +2+ also noch mal gesacht + in/ und er hat=s also auch interpreltiert! + und ! da A ! hab ich s erst gecheckt + wenn man sich überlegt dis verging Imindestens! zwanzich + oder dreißieh minutn bis das + äh: f/ richtich vordrang +2+ daraufhin sprang ich auf + äh: zog die hosn wieder in richtung taille A Ischmiss! die haustür hinter mir zu +2+ und ! wetzte! wie verrückt + zu meiner tochter + ähm: + hab ihr das erzählt +2+ %das hatte se nich gehört + weil sie hatte nischt an% (h) +2+ hab ihr das erzählt + war im prinzip aber wieder n bisschn im zweifei weil + die strassn warn so leer ick hatte mir jedacht da müsse jetz jeder müsste jetzt da unten rumrennen ja A Die Freundin trägt ihre Interviewfragen im Lesestil vor; der Rhythmus des Sprechens, die gesetzten Pausen, die gleichmäßige Betonung und Aneinanderreihung der Silben und Wörter lässt auf Lesestil schliessen. 9 Welche Funktion hat die mediale Form {oral vs. literal) der Äußerungen? Zunächst einmal scheint die Sprecherin mit den schriftlich vorformulierten Fragen mitzuteilen, dass sie nicht aus freien Stücken handelt, sondern einen Auftrag „unserer Studiengruppe“ hat. Sie möchte, dass dieser Auftrag authentisch übermittelt, korrekt vorgetragen und nicht dem Zufall spontan formulierter Äußerungen unterliegt. Die Interviewfragen sind recht komplex formuliert: Die Sätze sind lang und enthalten manche Einbettungen. Die Fragen selber umfassen viele Gesichtspunkte. Erinnerungen und Gefühle sollen elizitiert werden; es wird unterstellt, dass die Befragte den Schülern etwas Wichtiges mitteilen kann und letztere sollen dieses „hautnah“ erleben. Schließlich formuliert die Interviewerin der Freundin gegenüber eine captatio benevolentiae, indem sie ihr mehr Lebenserfahrung unterstellt (einschließlich des Miterlebens des Mauerbaus Anfang der 60er-Jahre). Der kompakte 9 Der Interviewbeginn mit LORE befindet sich im Internet unter http: / / userpage. fu-beriin.de/ ~nordit/ HP/ . Die Leser dieses Beitrags sollten sich unbedingt die originalen Diskurspassagen anhören, um selber einen Eindruck von dem Stil in diesem Interview zu bekommen und den Unterschied zwischen gedruckten Wörtern (Transkription) und der mit einer bestimmten Intonation/ einem bestimmten Sprechrhythmus gesprochenen Sprache wahrnehmen zu können. Das Gleiche trifft fiir den Beginn des weiter unten zitierten Westinterviews zu. Zur ‘Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen 291 literale Stil drückt implizit eine Erwartung an die Interviewte aus: Sie möge all das umfassend beantworten und damit einen authentischen Bericht geben. Die Erwartung der Gattung Bericht wird nicht per se explizit formuliert; sie ist aber sicher u.a. motiviert durch die Formel ich möchte dir erst mal dankn, dass du dich bereit erklärt hast. Der lange sprecherwechsellose Diskurs von LORE entspricht dieser Erwartung. LORE erwartet keine Rückmeldemanifestationen von der Fragestellerin außer redebegleitenden Feed back-Signalen. Die Berichterstatterin (oder Erzählerin? ) erwartet offenbar nicht, dass die Fragestellerin im Sinne eines ‘Gesprächs’ (interaktiver Austausch) in Teile ihres Berichtes eingreift. Offenbar haben die beiden Gesprächspartnerinnen aneinander gemeinsam geteilte Erwartungen. Wenn man die Dimension ‘OststiT in LORES Diskurs wahrnehmen will, muss man sich den gesprochenen Text anhören. Die Prosodie fällt ohne große Schwankungen aus („Treppe rauf 1 fehlt, nach Selting und anderen eine typische Eigenschaft des Berlinischen), Fokussierungen und emotionale Unterstreichungen bleiben weit gehend aus. Obwohl es sich um eine Erzählung handeln sollte (ganz persönliche Ereignisse an einem doch für die damaligen DDR-Bürger höchst bedeutungsvollen Tag werden wiedergegeben), fällt die Verbalisierung wie eine lange formale Aufgabe aus, die alle sprachlichen Bedingungen eines ‘Berichtes , erfüllt. Teilweise kommt Berlinisch durch, teilweise fällt es dem Filter des formalen Registers zum Opfer. Auffällig ist die gewählte und unter Kontrolle vorsichtig gestaltete Sprechweise. Streckenweise hört sich für das Westohr, das bei Erzählungen eher lockeren Stil gewohnt ist, die Erzählung so an, wie wenn jemand vor einem Ausschuss eine Zeugenaussage macht. Dabei wird die Fernsehdurchsage von Schabowski am Abend des 9. November als theatralische Inszenierung behandelt, Schabowski selber wird durch Stilwechsel in den Berliner Dialekt karikiert (mit dieser Kontextualisierung im Dialekt distanziert sich LORE von ihm); sie ist zwar selber Sprecherin des Berlinischen, wählt aber hier eine halbformale Sprechweise. Es entsteht ein seltsamer Kontrast zwischen den umgangssprachlichen, berlinischen Wortwahlen und dem planend, kontrollierend, gesetzt formulierenden Stil: (6) LORE (B 24 O) kurz vor siebn erschien ich dann saß auf meiner couch + hatte die hosn schon in den kniekehln saß dort + äh den femseher an A +2+ ostn jestellt +1+ jeguckR +2+ und kam grade zu recht +3+ wie dieser schabowski A da so +1+ äh: angeblich so nembei so [AHMT GETUSCHEL VON SCHABOWSKI NACH] äh erzählte A +2+ dass man nunmehr also ohne irgendein: Scheinehen oder so + äh die grenze passiem könnte + so danach war erstmal stille und ick saß mit offnem mund + habe dit lüberhaupt! nich interpretiem könn gar nich + saß also mit runterjelassn hosn da wie jesacht + 292 Norbert Dittmar ähm: obwohl noch paar presseleute hinterher gelfragt! haben und er sachte jaja ja wenn ick dit + den Zettel entnehme + denn is dit so Dem inszenierenden Bericht entspricht der Rhythmus: kleine Einheiten mit Pausen dazwischen. Eine leichte Steigerung zeigt, dass Spannung inszeniert werden soll. Die Ereignisse werden jedoch nach wie vor nach Prinzipien der Gattung Bericht angeordnet (indirekte Rede und Konjunktiv I sind Indikatoren eines formalen, Eigenschaften des Berlinischen Indikatoren eines informellen Registers). Die Kontamination des formellen und des informellen Registers ist für die Schilderung ihrer ‘Aufregung’ typisch: Sie springt auf, zieht die Hosen wieder in Richtung Taille, schmeißt die Haustür hinter sich zu und „wetzte wie verrückt“ zu ihrer Tochter etc. Sie erzählt dies jedoch so, als habe SIE dies nicht selbst erlebt, sondern eine andere Person. Sie formuliert ihre persönlichen Erlebnisse in einem berichtenden Stil. Anders ausgedrückt: Sie formuliert alles mit Distanz zu ihrer eigenen Person. Das Interview scheint hier im Sinne eines formalen, öffentlichen Registers realisiert zu sein und dementsprechend wird das Emotionale, Informelle unter die Anforderungen des formalen Stils untergeordnet. Nehmen wir im Kontrast dazu die Erzählungen von LEA (B 57 W). Die Eingangsfrage ist ganz locker: „Wie hast du den 9. November 1989 erlebt? “ Dann zeigt sich, was für Westberliner typisch ist, dass sie sich gar nicht so genau an die Details erinnern können (manifeste „Minderbetroffenheit“ durch die Ereignisse). Es findet sich wenig Inszeniertes, wenig Gewolltes; es kommen für die informelle gesprochene Sprache typische Selbstkorrekturen, Wiederholungen, Ellipsen vor; die stilkonsistente sprachliche Form gleicht der berlinischen Umgangssprache. Wir haben es hier mit dem authentischen Register ‘Erzählen’ zu tun und die Art der Ausgestaltung ist unmarkiert, unprätentiös und locker. (7) LEA (B 57 W) ? wie hast du den neunten elften neunzehnhundertneununachtzich erlebt? (h) ehmm +1+ja ich/ ich hab mich ehm sehr drüba gefreut dass die/ dass die maua auf war (h) und dass viele leute aus ostberlin dann/ dann jetz hier rübakomm konnten und dass wir uns mit den treffen konnten (h) und + ja dis/ dis hat eingtlich ziemlich lange angehalten diese/ diese freude ich hab se eingtlich heute noch ich freu mich also heute noch dassß &se&/ &hm& dass sie aufgegangen iss die maua (h) und ehmm ja ich bin dann auch rüba also erst am/ am eh am neunten am achten war-s ne also dann erst ein tach &späta& Freundin: Lea: Freundin: Lea: Zur 1 Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen' 293 Vergegenwärtigen wir uns noch einmal einige der Bestimmungskriterien von Stil durch Kallmeyer (1994, S. 30): Stile sprachlichen Verhaltens sind ein wesentliches soziales Unterscheidungsmerkmal, und ihre Ausprägung ist mit der Ausbildung von sozialen Welten und der sozialen Identität von Gruppen und größeren Gemeinschaften verbunden. Ihre Analyse gestattet die Aufdeckung der sprachlichen Mechanismen von sozialer Trennung und Integration. Zu der „sprachlichen Ausprägung“ rechnet Kallmeyer „Handlungsformeln für die Herstellung von sozialem Zusammenhalt“ (bestimmte Normen), „Symbolisierungsformen“ als „stabile Orientierungen der Sprecher“ und nichtsprachliche Verhaltensweisen. In der folgenden kleinen Tabelle habe ich unter den Stichwörtern ‘Westberliner’ und ‘Ostberliner’ Leiturteile zusammengetragen, mit denen sich die Gruppen im Bezug auf ihre Sprache kategorisieren. WESTBERLINER ÜBER OSTBERLINER OSSIS ÜBER WESSIS Unsicher, autoritätshörig, würdelos und unselbstständig, unfreundlich, ausländerfeindlich, hart und unpersönlich, einfache, umgangssprachliche, oft dialektale Varietät; unqualifizierter Redestil, „Zerstörer ihrer selbst“, JAMMERLAPPEN/ JAMMEROSSI kaltschnäuzig, arrogant und besserwissend, selbstbewusst, autoriär, überlegt, „neigen dazu sich besser darzustellen“, „mir is aufgefallen, dass um alles geredet wird und letztlich ganz wenig rauskommt“, redegewandt, aber nur „Fassade“, herzlich, aber trocken und „businesslike“, BESSERWESSI Die im Korpus verstreuten Stereotypen betreffen das gesamte kommunikative Verhalten. Bei einigen Attributen ergeben sich paarweise Wertekomplimente: AUTORITÄTSHÖRIG - ARROGANT; UNPERSÖNLICH/ AM ‘ALTER’ ORIENTIERT - EGO-ZENTRIERT; unselbstständig besserwissend, die in den Hyperstereotypen ‘Jammerossi 1 und ‘Besserwessi’ ihre Klammer haben. Die Wertegegensätze vermitteln den Eindruck einer Statusasymmetrie: OST niedriger Status (‘Dominierte’? ), WEST hoher Status (‘Dominierende’? ). Gibt es eine expressiv-sprachliche Analogie im Stil? 3. Zweifellos ist der Ausdruck sozialer Identität mit einem ‘OststiP und einem ‘Weststil’ verbunden und in den sozialen und sprachbezogenen Kategorisierungen auch nachvollziehbar: der ‘Oststil’ wäre dann grob mit folgenden Eigenschaften verbunden: - Umgangssprachliche bis dialektale Stilebenen, die in formellen Kontexten von einer schriftsprachlich-steifen Registerebene überlagert werden; eher kategorische Unterschiede zwischen informellen Registern (Familie, 294 Norbert Dittmar Freunde) und formellen (öffentlichen) Registern (kein Registerkontinuum). - Direktheit, Authentizität, Natürlichkeit und Bescheidenheit im Bezug auf die verbale Darstellung der eigenen Person in Gesprächen. - Betonung eines Ich-entlasteten eher kollektiven Standorts in den kommunikativen Ereignissen, individuelle Zurückgenommenheit (weniger „Ich“, mehr „man“), im Vordergrund der meisten Formulierungen bleiben kollektive und gruppenspezifische Themen, das EGO bleibt im Hintergrund. Auf der Wittenberger Tagung „Deutsch-deutsche Sprach- und Kommunikationserfahrungen nach der Wende“ wurde immer wieder der Versuch unternommen, durchgängige sprachliche und kommunikative Merkmale eines ‘Oststils’ zu isolieren (z.B. der Händedruck bei der Begrüßung). Auf der Ebene schriftlicher Texte, vor allem solcher, die vor 1995 geschrieben wurden, lassen sich stilistische Elemente klar isolieren (vgl. hierzu Auer 2000). Auch die Untersuchungen von Hellmann (u.a. 1997) haben hier durchgängige Merkmale festgestellt. Sei es aber nun, weil wir nicht viele authentische Aufnahmen nach dem Mauerfall haben, sei es, weil die Situation und die Rollen der Teilnehmenden an einer Konversation unberechenbare sprachliche und kommunikative Verschiebungen in die eine oder andere Richtung bewirken: für nahezu alle ‘regulativen’ Merkmale bzw. konstitutiven Regeln lassen sich Gegenbeispiele anführen; wir kommen daher zu dem Schluss: A gilt in Kontext X, aber nicht in Kontext Y oder tritt in Redekonstellation B auffällig in Erscheinung, bleibt jedoch relevanzlos in Redekonstellation C. Als Ausweg aus dieser Sackgasse forderten manche Linguisten, man möge doch bitte erst einmal den ‘ Weststif definieren, denn dieser sei ja der Stil der ‘Zielgesellschaft’ nach der Wiedervereinigung; der ‘OststiT ergäbe sich daraus als Abweichung. Diesem soziolinguistischen Lackmustest gehe ich im Folgenden nach, da die Diskussion der Ost-West-Unterschiede das Hinterfragen einer Dimension in sich birgt, die bisher keinen deutschen Sprachwissenschaftler zu untersuchen motiviert hat: die unhinterfragt geltenden naturwüchsigen westlichen Normen und kulturellen Werte kritisch auf ein Ausdrucksrepertoire ‘Weststif zu prüfen. Die interkulturelle Auseinandersetzung um sprachliche Verhaltensmodelle in Ost und West {Wer spricht das wahre Deutsch? , Reiher/ Läzer 1993) eröffnet geradezu suggestiv die Möglichkeit, aus der eigenen befangenen Perspektive herauszutreten und sich, in einem Perspektivewechsel, mit Determinanten westlichen Stils auseinander zu setzen. 10 Kallmeyer (1994, S. 22) weist zu Recht darauf hin, dass ein Stil an 10 ‘Weststif mit Hilfe expliziter Kriterien und als Regularitäten soziolinguistisch zu rekonstruieren, ist ein Problem der Quadratur des Kreises. Es bietet sich an, kontrastiv zu arbeiten. Dann müsste man jedoch regional- und lokal bedingt Dialektunterschiede draußen lassen, sowie situations- und interaktionsrollenbedingte Unterschiede neutrali- 295 Zur ‘ Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen' einer „Leitfunktion“ erkannt werden muss, die „modellhafte, erfolgreiche und als authentisch empfundene Verhaltensweisen“ einbindet. 11 Die westdeutsche Gesellschaft kann unter sprachlichen und kommunikativen Gesichtspunkten auch als eine „kommerz- und konsumorientierte Kommunikationsgemeinschaft“ betrachtet werden. Zum Zusammenhang von Markt, Kultur und Kommunikation hat Marcuse (1969, S. 26ff.) grundlegende und m.E. tiefere Einsichten geliefert als die heutzutage populären Schriften von Bourdieu (1982). Nach Marcuse ist der kreative Umgang mit und das Freisetzungspotenzial von Sprache durch Konsumzwang und „Konsumentenökonomie“ eingeengt und durch „repressive Toleranz“ ‘fehlgeleitet’. Zur Bestimmung des westdeutschen Stils können wir weder eine Merkmalliste vorlegen noch die Gründzüge eines Ausdrucksrepertoires präzisieren. Die folgenden Überlegungen sollen Denkanstöße für linguistische Präzisierungen liefern. sieren. Kurzum: Die Dimension ‘Ost-West’ könnte nur aufgabenbezogen unter Konstanthaltung situativer, interaktiver und kontextueller Bedingungen ermittelt werden. Prototypisch würde sich hierfür die kommunikative Gattung ‘Bewerbungsgespräch’ eignen (vgl. Birkner 1999 und Kem 2000). 11 Moderne Theaterstücke, wie sie derzeit an der Schaubühne aufgeführt werden {Shoppen und Ficken von Sarah Cane), haben eine solche Leitfunktion westlichen Stils klar erfasst und tun sich weniger schwer, einen solchen Stil darzustellen und kritisch zu bewerten; Wissenschaftler können solche Risiken eben nicht eingehen. 12 Eine Konstruktion und Rekonstruktion des ‘westdeutschen Stils’ auf der Folie der Marcuseschen „Konsumzwangtheorie“ muss einem anderen, ausschließlich dieser Fragestellung gewidmeten Beitrag Vorbehalten bleiben. Anhaltspunkte liefert die folgende Passage aus Marcuses „Versuch über die Befreiung“: „Ist einmal eine besondere Moral als Norm sozialen Verhaltens etabliert, so ist sie nicht bloß verinnerlicht sie arbeitet ebenso als Norm des ‘organischen’ Verhaltens: der Organismus empfängt und reagiert auf gewisse Stimuli, ‘ignoriert’ andere und weist sie im Einklang mit der introjizierten Moral ab, die derart die Funktion des Organismus als lebender Zelle in der jeweiligen Gesellschaft behindert oder begünstigt. Auf diesem Wege re-kreiert eine Gesellschaft, diesseits von Bewußtsein und Ideologie, Verhaltensmuster und Wünsche als Teil der ‘Natur’ ihrer Mitglieder.“ Diese Natur nennt Marcuse „zweite Natur“. „Die sogenannte Konsumentenökonomie und die Politik des korporativen Kapitalismus haben eine zweite Natur des Menschen erzeugt, die sie libidinös und aggressiv an die Warenform bindet. Das Bedürfnis, technische Gebrauchsartikel, Apparate, Instrumente und Maschinen zu besitzen, zu konsumieren, zu bedienen und dauernd zu erneuern, Waren, die den Leuten angeboten und aufgedrängt werden, damit sie diese selbst bei Gefahr ihrer eigenen Zerstörung gebrauchen, ist zu einem ‘biologischen’ Bedürfnis im soeben definierten Sinn geworden. Die zweite Natur widersetzt sich jeder Veränderung, welche diese Abhängigkeit der Menschen von einem immer dichter mit Handelsartikeln gefüllten Markt sprengte oder vielleicht abschaffte ...“ (Marcuse 1969, S. 26f.). 296 Norberl Dittmar AUSGEWÄHLTE EIGENSCHAFTEN WESTDEUTSCHEN STILS - Thematische Wendungen, die sich aus Arbeits-, Wirtschafts- und Konsumbedingungen ableiten (Gewerkschafts-, Wettbewerbs-, Arbeitsvs. Freizeitvokabular, Antagonismen aus dem „existentiellen Lebenskampf“). - Präferenzhierarchien im Alltag in Bewertungen wie ‘jung und schön’ als Leitprinzip im Bereich individuelle Geltung und Erfolg, die Verachtung dieses Prinzips in der realexistierenden Wirtschaft (die Jugend hat wenig Chancen; ‘Schönheit’ bietet keine Garantie). - Geschlechterstereotype: Verbindung des Geschlechts mit bestimmten Verwertungszusammenhängen, ihre Ableitung aus wirtschaftlichen Grundlagen. - Übernahmen aus dem amerikanischen Englisch; Gebrauch des Englischen als Prestigevarietät. - Die dialektische Wirkung der Werbesprache: die Werbesprache wird in der Spannung zur Alltagssprache formuliert („damit sie ankommt, muss sie an das Alltagsbewusstsein anknüpfen“), gleichzeitig gehen die von der Werbung geprägten Sprüche wieder in die Alltagssprache ein; ironische Verwertung und Umwertung von Werbesprüchen bei gleichzeitiger materieller Grundlegung kommunikativer Intentionen mittels bekannter, werbewirksamer Sprüche; Nutzung von Werbesprüchen zur äußeren Darstellung/ Identifikationen im sozialen Kontext. - Euphemismen, sprachoptisch aufhellende (überffeundliche) Bezeichnungen, sozial legitimierte Lügen (Arbeitszeugnisse, Gutachterstile, Persönlichkeitsbewertungen etc.). - Vertrautheit mit Interviewstilen, verbraucherbezogenen öffentlichen Anfragen, spaß- und werbebezogenen Kommunikationsanlässen: praktisches, thema- und bedürfhisbezogenes Einsteigen in solche Kommunikationsanlässe, Bewältigung der dabei auftretenden Aufgaben, Vertrautheit mit dem Zeitbudget im Rahmen solcher Aufgaben, Zurückstellen von Moral in geschäfts- und konsumbezogenen Kommunikationskontexten. - Kommunikative Praktiken: oberflächliche, auf Witz, Spaß und Gefallen hinausgehende Kommunikationsakte (im Unterschied zu tief schürfenden, moralisierenden, nicht verwertbaren und nicht unmittelbar materiellen Nutzen bringenden Kommunikationsakten). Was ‘westdeutscher Stil’ genannt werden kann und welche Orientierungen er für ethische, moralische und zukunftsbezogene Bewertungen von Oralität und Literalität gibt, hat die Sprachwissenschaftler bisher wenig beschäftigt. 13 Im makrostrukturellen Rahmen soziolinguistischer Untersuchungen müssten institutionelle Gattungen (vgl. Luckmann 1986) und private Gesprächsstrukturen auf Eigenschaften eines westlichen Stils untersucht werden. Dazu würde sich die Untersuchung von Werbe- und Anzeigensprache, Metaphern im Alltag und im wirtschaftlichen Leben (vgl. Lakoff/ Johnson 1980) eig- 13 Sprachkritik und Sprachreflexion gibt es nach Antos (1996) im Rahmen der sog. ‘Laienlinguistik’. Auch Habermas, und andere Philosophen haben sich mit Normen, ethischen und moralischen Aspekten des Sprachgebrauchs auseinander gesetzt, nicht zuletzt vgl. hierzu das Wörterbuch des Unmenschen. Zur ‘ Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen' 297 nen. In der Perspektive des Sprachphilosophen, der die Hülle des neutralen Linguisten einmal kurz verlässt, stellt sich dann der westdeutsche Stil als eine Fortsetzung von lexikalischen Wahlen unter deutschen Ausdrucksmitteln mit kommerziellem Fokus dar. Eine explizite reißbrettartige großflächige Beschreibung des westdeutschen Stils kann schon deswegen nicht gelingen, weil wir diesen als eine Koine von Varietäten und gruppengebundenen Ausdrucksrepertoiren herausfiltern müssten. Was die Stildefmition und die Isolierung von Stilen anbetrifft, ergeben sich aus dem Problem, Oststil gegen Weststil abzugrenzen, aber konstruktive kritische Fragen, die für Stilbestimmungen allgemein von Bedeutung sind: - Kann man Stil ‘an sich’ oder nur im Unterschied zu/ im Vergleich mit einem anderen Stil erfassen? Besteht ein bestimmter Stil für sich oder ist er nur aus Kontrast zu einem anderen Stil zu verstehen? Wir wissen ja, dass Dialekte und andere Varietäten nur im Bezug auf das Deutsche als Hoch- oder Standardsprache beschrieben werden können; verhält es sich mit Stil ähnlich? - Gehen soziale Bewertung in Stildefinitionen und Stilbeschreibungen ein? Der Linguist würde ja den Standpunkt vertreten, zwei Stile als für in sich selbst stimmig zu betrachten; nun sind ja im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung immer wieder Fragen aufgetaucht wie: Wer spricht das wahre/ bessere/ kompetentere/ richtigere Deutsch? Um diese Fragen geht es im Unterschied von Ost- und Westsprache, d.h. die soziale Welt, die dahinter steht, erfährt soziale Polarisierungen. Im Verhältnis vom Ostzum Weststil spielt der soziale Status der Ausdrucksrepertoire eine wesentliche Rolle. Wird ein Stil als besser und dominanter und der andere als weniger geeignet angesehen? Zu den „Konstituenten sozialer Stile“ gehören nach Kallmeyer (1994, S. 31) „längerfristig stabile Orientierungen der Sprecher“. Liegen diese in unserem Falle vor? Aufgrund der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 ist die ehemalige DDR mit allen rechtlichen, soziokulturellen und juristischen Bedingungen in die Verfassung und die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik übernommen worden. Das bedeutet, dass eine Gesellschaft mit völlig anderen sozialen Organisationsformen, Orientierungen, rechtlichen und soziokulturellen Bedingungen aufgelöst wurde und in ein anderes Modell überging. Die sprachrelevanten Sachverhalte habe ich in der folgenden Übersicht zusammengestellt. 298 Norbert Dittmar Abb. 1: Umbruch und Transfer Zur ‘ Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen' 299 Aus diesem sprachsoziologischen Systemvergleich ergibt sich als zentrale Differenz der Unterschied zwischen den SOMO-Varietäten (Sozialistische Moral, nicht kommerzielle Varietäten) und den KOKO-Varietäten (Kommerziell- und Konsumoriente Varietäten). Da es sich um eine nicht hintergehbare, endgültig vollzogene, abrupte und endgültige Annullierung eines einmal existierenden Staates und der Übernahme der zu diesem Staate gehörenden Volksgruppen in eine andere Gesellschaft handelt, wird in Anlehung an die migrationslinguistische Sprachsoziologie von Ausgangsgesellschaft und Zielgesellschaft geredet. Mit dem Sprachgemeinschaftstyp ‘Solidaritätsmodell’ sind eine Menge von makro-soziolinguistischen Parametern definiert, die auch letztlich den Stil des Einzelnen in dieser Gesellschaft in starkem Maße bedingen. Es besteht also kein Zweifel daran, dass die Orientierungen der gesamten kollektiven Sprachgemeinschaft einen bestimmten Stil über 40 Jahre hervorgebracht haben und dass wir diesen Stil, wenn auch nicht in geschlossener Form, so doch als holistische Gestalt idealtypisch wiederfmden. Genauso wenig kann Zweifel daran bestehen, dass, in der Perspektive der Angehörigen der ehemaligen DDR, ein ‘WeststiF existiert, der durch großflächig organisierten Spaß, Konsumzwang (im Sinne Marcuses) und Wettbewerb auf den verschiedenen Kapitalmärkten operationalisiert ist. Zweifellos trifft auch zu, dass die westdeutsche Gesellschaft von konsumorientierten, amerikanischen Normen und Moralvorstellungen „durchherrscht“ und letztlich auch eine fassettenreiche Kopie dieses westlichen Prestigemodells ist. Prestigemodell bedeutet ja: Sprache kovariiert mit Status- und Marktstrukturen, die Belastung des Individuums im sozialen Geschehen ist wie das Private gegenüber dem Öffentlichen markiert. Betrachten wir zunächst das Defmitionskriterium „längerfristige stabile Orientierung“. Anders als im Falle der Konstitution von Vereinen, Institutionen, Organisationen ... im Rahmen einer stabilen Gesellschaftsform (z.B. BRD seit 1950), in der sich Gruppen mit entsprechendem sozialsymbolischem Ausdrucksrepertoire bilden, verhält es sich im vorliegenden Fall umgekehrt: Alle stützenden Pfeiler einer „stabilen Orientierung“ entfallen mit dem Verlust aller ehemals existierenden Institutionen in der DDR. Da durch den Vereinigungsvertrag die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Verhaltens vorgegeben sind, gibt es keinen anderen Zugang zu der ‘neuen Gesellschaft’ als den durch kurzfristige bzw. langfristige Anpassung mit der Perspektive der Einflussnahme auf Veränderungen. In dem explizierten Sinne bleiben die Richtungsnormen und Orientierungen der BRD-Westgesellschaft bestehen, ja sie müssen sogar als die Ziel- und Leitnormen der neuen Mitbürger betrachtet werden, wiewohl in ihrer Legitimität legitimerweise durch die neuen Mitbürger zumindest teilweise in Frage gestellt. Zwischenbilanz: Aus der Perspektive der neuen Ostmitbürger gibt es den ‘Weststil’ als Leitnorm und als stabile Orientierungsgröße, wiewohl sehr heterogen und sozial differenziert nach Domänen und Märkten, und trotz der 300 Norbert Dittmar Tatsache, dass die Kontakte zwischen Ost- und Westbürgern lokal zu Veränderungen fuhren, vor allem dort, wo Westbürger als Minderheiten in den neuen Ostländem arbeiten. Wenn es nun eine Tatsache ist, wie Erhebungen zu verschiedenen Zeitintervallen im Laufe der letzten 10 Jahre deutlich belegen, dass ‘Oststile’ sich im ‘Umbruch’ befinden (vgl. Ditttmar/ Bredel 1999) und das „Ungleichzeitige des Gleichzeitigen“ ständig zu sprachlichen Umorientierungen, Konvergenzen und Divergenzen mit der Zielgesellschaft führen, so stellt sich fast paradoxerweise heraus: Anstatt von ‘Oststil’ sollten wir lieber im Plural von ‘Umbruchstilen’ reden (und diese genauer beschreiben); damit ist aber die soziolinguistische Aufgabe, die Kommunikationsformen der Westgesellschaft als ‘Weststil’ zu beschreiben, nicht gegenstandslos: dieses soziolinguistische Desiderat bleibt aufgrund des besonderen gesamtdeutschen sprachsoziologischen Hintergrunds bestehen; vielleicht würde niemand auf die Idee kommen, so etwas wie ‘Weststile’ zu beschreiben, da diese mehr oder weniger konkurrenzlos etabliert sind und überall alltäglich und fraglos praktiziert, von keinem bedrohlichen ‘Gegenstaat’ angefochten und somit auch nicht daraufhin befragt werden können, ob sie genügend kommunikative Ressourcen für unsere Kinder bereit stellen und genügend Flexibilität für unangepasste Rollen, Alternativen für (nicht am Konsum und am Kommerz orientierte) ‘Marktaußenseiter’ lassen. Paradoxerweise könnte uns das Fortbestehen ‘ostspezifischer Umbruchstile’ weiter ein Anlass dafür sein, die eigenen Normen kritisch zu hinterfragen ... 4. Resümee der bisherigen Überlegungen: ‘Ost-’ und ‘Weststil’ sind jeweils Ausprägungen zweier sozialer Kategorien, mit denen nach Hausendorf (2000) Prozesse der sozialen Kategorisierung einhergehen und entsprechend „soziale Stile“. Wir haben gezeigt (Dittmar/ Bredel 1999, S. 115-134), dass es in der Anfangsphase der Wiedervereinigung, vor allem in den ersten 5 Jahren, lebhafte Kategorisierungen verschiedener Art zu dem Verhalten von Ost- und Westdeutschen gegeben hat, einschließlich der Sprache. Im Großen und Ganzen beziehen sich die sozialen Kategorisierungen von Ostberlinern durch Westberliner auf Kompetenzbewertungen in den Bereichen Arbeit und Bildung, aber auch in Bezug auf Sprache, Freizeitverhalten und Umgang mit der neuen Freiheit. Wir haben diesbezüglich festgestellt (Dittmar/ Bredel, a.a.O.), dass die Westdeutschen den Ostdeutschen vor allem in den Bereichen Arbeit und Bildung eine geringere Kompetenz zuweisen und dies aus der Position der überlegenen, dominanten Gruppe formulieren. Zwar wurden einzelne Eigenschaften der Ostberliner auch immer wieder positiv bewertet, insgesamt aber eher die negativen hervorgehoben. Dabei wurde die Dynamik des Umbruchs deutlich: Solche Kategorisierungen entstanden zunächst einmal über den jeweils Anderen im narrativen Diskurs anhand von Ereignissen und Handlungen, die in Erzählungen formuliert werden. Der nächste Schritt be- 301 Zur ‘ Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen' stand darin, dass bestimmte Eigenschaften kurzen überschaubaren Äußerungen zugeschrieben wurden (deskriptive Kategorisierung); den abschließenden Schritt in diesem Prozess stellten die Stereotypen dar. (Eine Übersicht über die Stereotypen im Einzelnen findet sich in Dittmar/ Bredel 1999, S. 120ff.). Westberliner wenden mehr und differenziertere Stereotypen auf Ostberliner an, ihre Kategorisierungen sind direkter und vielleicht auch mit mehr Distanz formuliert. Die Stereotypisierungen der Westberliner durch die Ostberliner weisen in der Regel Sprechakte des Vorwurfs auf (meist vermittelt durch „andere Stimmen“, Polyphonic), diese werden jedoch dann kommentiert und häufig korrigiert bzw. zurückgewiesen (verbunden mit Erläuterungen und Hintergrundinformationen für die Westberliner). Die Oststereotypisierungen der ‘Wessis’ fallen defensiver aus. Stereotypen und soziale Kategorisierungen verändern sich also, es vollziehen sich für die Einzelnen und für Gruppen Konvergenzen und Divergenzen; dieser Prozess manifestiert sich in ‘Umbruchstilen’: Dass Zustände, die auf der Oberfläche gleich oder ähnlich sein mögen, recht verschieden sein können, darauf hat Bloch in seinem Beitrag „Ungleichzeitigkeit und Pflicht zu ihrer Dialektik“ (1973, S. 104) hingewiesen. Bloch schreibt: Nicht Alle sind im selben Jetzt da. Sie sind es nur äußerlich, dadurch, daß sie heute zu sehen sind. Damit aber leben sie noch nicht mit den Anderen zugleich. Sie tragen vielmehr Früheres mit, das mischt sich ein. Je nachdem, wo einer leiblich, vor allem klassenhaft steht, hat er seine Zeiten. Ältere Zeiten als die heutigen wirken in älteren Schichten nach; leicht geht oder träumt es sich hier in ältere zurück ... Doch wie, wenn es außerdem, durch nachwirkende altbäuerliche Herkunft etwa, als Typ von früher, in einen sehr modernen Betrieb nicht paßt? Verschiedene Jahre überhaupt schlagen in dem Einem, das soeben gezählt wird und herrscht. Sie blühen auch nicht im Verborgenen wie bisher, sondern widersprechen dem Jetzt; sehr merkwürdig, schief, von rückwärts her. (Emst Bloch 1973) Was hat die ‘Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen’ mit Umbruch und Stil zu tun? Stil bezieht sich nach Ansicht des Projektes ‘Kommunikation in der Stadt’ (Kallmeyer 1994, S. 22/ 23) in Anlehnung an die Chicagoer Schule auf „Verhaltensstile“ einer spezifischen „sozialen Welt“ unter Bezugnahme auf die „soziale Identität der Beteiligten und ihrer sozialen Beziehungen“. Wie behandeln wir nun das Problem, das Bloch in dem zitierten Sinne offenlegt: Dass Individuen oder Gruppen in einer Umgebung aktueller Modernität leben, während ihr soziales und individuelles Selbstverständnis prämodemen Formen verhaftet bleibt, d.h., sie bewegen sich zwar physisch in 302 Norbert Dittmar dem modernen Sozialraum, befinden sich jedoch mit ihrem Bewusstsein, ihrer individuellen und sozialen Identität, im „Gestern“, in einem früheren kulturellen Zustand. 14 In der Abbildung 1 hatten wir bereits auf makrostruktureller Ebene die Parameter spezifiziert, die im soziokulturellen Umfeld der ehemaligen Ostgemeinschaft und in dem aktuellen soziokulturellen Umfeld der westlichen Zielgemeinschaft stark divergieren. Während nun Bloch sich auf den Tatbestand bezieht, dass aufgrund von Industrialisierung handwerkliche oder agrarische Erwerbszweige einfach fortfallen und die in diesen Bereichen tätigen Menschen sich an andere Strukturen anpassen müssen, ist die „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ im Falle der Integration der ehemaligen DDR-Angehörigen in die 5 neuen Bundesländer (BRD) weniger naturwüchsig, sondern Ergebnis eines Staatsvertrages, mit dem die alten Prinzipien soziokultureller Zugehörigkeit annulliert und neue Bezugssysteme als verbindlich und legitim etabliert werden. Hat es vorher eine gewisse Stabilität in der sozialen Identität gegeben, verflüssigt sich letztere in kognitive Unsicherheit und in notwendige Anpassungstrategien an die neuen soziokulturellen Bedingungen. In diesem Prozess des Umbruchs wirken die Habituskräfte der vergangenen Sozialisation weiter fort, werden aber durch neu zu erwerbende Verhaltensstile gebrochen; die Mischung aus Anwendung automatisierter Verhaltensweisen, kognitiver Unsicherheit und Strategien im Umgang mit den neuen kommunikativen Anforderungen manifestieren sich in 'Übergangsstilen'. Solche Übergangs- oder Umbruchstile haben u.a. folgende Merkmale: 15 - Ein erhöhtes Aufkommen von Selbstkorrekturen (z.B. „Team“ statt „Kollektiv“); - Erhöhtes Aufkommen von gleitendem Personalpronominagebrauch: z.B. ‘Hin- und Herpendeln’ zwischen ich, du und man-, - Auffälliger Gebrauch von Vagheitsausdrücken, z.B. Indefinitpronomina wie irgend- (wer, wo, wie etc.), so (in Kombinationen mit anderen Morphemen); - Auffälliger Rückgriff auf Be- und Verarbeitungsformeln wie weß ick, weß ick nich, muss ich ehrlich sagen etc.; 14 Z.B. würde dies Personen charakterisieren, die im Kaiserreich gelebt haben und nach dem 1. Weltkrieg ab 1919 in einer Demokratie leben; die modernen Lebensformen ändern sich mit der politischen Repräsentation des Staates, die inneren Bewusstseinszustände und die soziale Identität bleiben jedoch den kaiserlichen Sozial- und Kulturformen verhaftet. Die Widersprüchlichkeit zwischen aktueller Modernität und inkorporiertem traditionellem Habitus wollte Bloch thematisieren. 15 „Stil [wird] am Zusammenhang einer Reihe von Merkmalen auf unterschiedlichen Ausdrucksebenen kenntlich, die ggf. über längere Äußerungen ‘gestreut’ erscheinen - Stil ist kein punktuelles Phänomen, sondern wird durch leitende Prinzipien oder so etwas wie eine innere Logik bestimmt.“ (Kallmeyer 1994, S. 30) Zur ‘Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen' 303 - Erhöhter und expansiver Erläuterungsbedarf bei Bewertungen von Handlungsergebnissen bzw. Ereignissen; - Auffällige und an TonhöhenVerläufen nachweisbare emotionale Bearbeitung bestimmter Argumente, thematischer Fokussierungen, aktueller Stereotypen etc. Die folgenden drei Beispiele mögen das Umbruchregister bzw. den Übergangsstil im Bezug auf die genannten Punkte illustrieren: (1) DOLLY benutzt in der folgenden Passage den Ausdruck so, den wir in Dittmar/ Bredel (1999) auch „Gestik ins Leere“ genannt haben: (8) DOLLY, B 15 O D: +5+ hm_ +2+ ich glob man würde jenauso reagiern wie damals A + %oh schön und oh gott + in einem A % +3+ aba + ja is schlecht zu 'sagn A +2+ man denkt ja imma een zweetet mal %oder naja is ja och quatsch% beim zweitn mal wird=s bessa aba +2+ man hat eben 'viel illusion jehabt un träume + dass es halt so werdn kann aba +3+ det is halt nich so jewordn + un ick globe ein zweites mal würde det o nich sein weil + det is halt der kapitalismus un det is hart und und kalt und +2+ unsereins man is / +2+ man is zu ehrlich un zu + un zu zu zu +3+ I: zu wenig eilbogen D: zu wenich ellbogn ja un och man man is och so lehrlgeizich un det is aba / + im westn müsste man zwar och ehrgeizich sein aba det is n andrer ehrgeiz oder ick weeß nich +2+ man is halt jar nich so +2+ so so so groß so so so er'zogn A wordn_ %ja A % man is + als ossi + weeß och nich + wenn man + in + 'irgendwo in ladn ringeht oder in restorang ob man Studien betreibt + man kann imma rauspicken wer is der ossi wer is der wessija A Mangels perspektivischer Klarsichtigkeit und deutlicher Konturen in der Orientierung vermitteln die Äußerungen von DOLLY einen Eindruck von erheblicher kognitiver Unsicherheit und Vagheit in der Bedeutungskonstitution; die Äußerungen vermitteln in dieser Form auch einen Schuss Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Situation und mit dem individuellen und sozialen Identitätsverständnis. (2) Die folgenden Äußerungen sind von STEFAN B 101 ON und dokumentieren den Gebrauch von und sowat - oder sowat. (9) STEFAN B 101 ON wir sagen das is een berlin das is ein deutschland und da gibs keene + also keene diskrepanzen mehr oder sowat dat hat sich erledigt relativ schnell och bei/ durch meine tätig/ tätigkeit oder sowas dadurch das ich mein praktikum drüben im west- 304 Norbert Dittmar teil eigentlich auch gemacht habe + is es für mich + eh + wedding reinickendorf und wedding oder sowas undjetzt neukölln da unten treptow oder sowat dat sind im prinzip das gehört so dazu wie prenzlauer berg oder (pankow) oder so Ist es jetzt ein Berlin oder ist es nicht ein Berlin? Gibt es nun Diskrepanzen oder gibt es sie nicht? Ist Wedding Reinickendorf oder Pankow Treptow oder so? Oder was? Durch die formelhafte Hinzufügung von und/ oder so werden dem Hörer Assoziationsräume offeriert, die weil referenzlos unablässig darauf orientieren, dass es so wie dargestellt sein könnte, dass aber auch alles anders sein könnte. Diese zweite Lesart von und sowat ist die der Bedeutungs- und Referenzverflüssigung; sie kann, wie das folgende Beispiel belegen soll, zur völligen Auflösung sinnhafter Bezüge führen: (10) STEFAN, B 101 ON meine kinder haben nun englisch und sowatfür die ist das eigentlich ne ganz normalität oder sowas; und sie bringen dem papa dann die entsprechenden suchen mit bei und durch beatgruppen oder sowat da die janze musikszene oder sowat is man sowieso mitdrin oder sowat da muss man sich ja + fithalten und + fällt das eigentlich gar nich auf ich akzeptiere das und is okay sicherfür die deutsche spräche nich das optimale oder sowas aber wie gesagt das is nu mal der trend da sollte man sich nicht/ dagegen sollte man nicht schwimmen. Durch die formelhafte Hinzufügung von und sowat entstehen hier erhebliche Widersprüche: Entweder handelt es sich um Englisch und dann ist die Aussage präzise, oder es ist eine Fremdsprache (z.B. wie Englisch), welche genau kann aber der Sprecher nicht sagen. Fremdsprachen lernen ist offenbar für den Sprecher eine Normalität, jedenfalls sollte sich der Hörer sich das so vorstellen. Aber: es könnte auch etwas anderes sein, oder so. Hier sind die Begrifflichkeiten, Prädikationen, ganze Sinnfelder erheblich kognitiv gelockert man ist versucht, diesen Sprecher für umbruchgeschädigt zu halten. Nimmt man die gesamten 98 Vorkommen im Korpus von STEFAN in den Blick, so können die folgenden nicht weiter spezifizierten Exemplare semantischer Konzepte/ Funktionen durch sowat als holistischer Platzhalter ersetzt werden. 1) Ursachen: aufgrund der ganzen politik oder sowat 2) Konditionalität: wenn die Sachsen komm' oder sowat, wenn ich jetzt nach Westberlin komme oder so 3) Ort: hier in berlin oder sowat, ost oder westen oder sowat 4) Eigenschaften: aufgeschlossen oder sowat Zur ‘ Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen' 305 5) Personen, Dinge oder Sachen: beatgruppen oder sowat, Staatssicherheit und sowat, rentnerfeiern oder sowat 6) Abstrakta: gleichberechtigung der partner oder sowat, und unser Sprachgebrauch und sowat, bedeutung des menschen oder sowat 7) Handlungen: reinfahren oder sowas, lerne tschechisch und sowat, bring dich um oder sowat, möchte ein goldbroiler ham oder sowat, haben bestimmte leute schon abgebaut und sowat, kann man nichts tun und sowa, ham erstmal gesehn wie ich arbeite und sowas, was mich immer bewegt hat oder sowat, ich bin ja och mit älteren leuten zusammen oder sowas In dem kurz nach der Wende durchgeführten Gespräch mit GINA (B 01 ON) kommt Orientierungslosigkeit (und eine gewisse Frustration) in Bezug auf ihre eigene individuelle und soziale Identität als auch die Fremdidentität der Westdeutschen zum Ausdruck. (II)ginaB 01 ON: nja ürgendwiee versucht [man\ den andern zu verstehen so + von de ansichten her von-ner + vielleicht von-ner erziehung her oder ürgendwat +1+ dass se sagen ja ok ihr wurdet so erzogen und + %und denn is jut% aber nich denn über den andern ürgendwie 'lästern da wat + %vor allem im moment dit sind ja + weeß ick osten (dis sind wir nun) + dass man ürgendwie so abjestempelt wird denn halt ne'' + oder ürgendwat% + [ 1 hm +2+ ja ooch +1,5+ tja wat kann man da noch zu sagen'' +6+ jafrüher hamse ooch diee %naja ebend halt sozusagen zusammenjehalten oder ürgendwat aber + ürgendwie% + war dit ebend doch allet eens weil weil jeder ebend jelitten hat unter heinz mielke und allet ne'' + undjetzt isset doch ürgendwie jeder aufsich + 'selber 'hinjestellt +4+ tja und wenn de (pech) hast kriechste nüscht mehr + war damals schon so und is jetzt imma noch so Neben so sind auch die Kombinationen mit irgendleere Referenzen; auffällig ist auch die Kumulation von Modalpartikeln, die die Unschärfe potenzieren. Sacks (1992), der heimliche Genius der modernen Konversationsanalyse, hat Überlegungen zum sprachlichen Ausdruck kommunikativer Funktionen durch „so-und-so-viele-Worte“ je nach beteiligten Interaktanten und Situation angestellt. GINA formuliert mit vielen vage bleibenden Worten (auch Wortblasen in der materiellen Form von indefiniten Proformen) ein Unbehagen an und um Sachverhalte, deren Hintergründe sie zur Zeit noch nicht recht in ihr Weltbild einordnen kann. Hier verweisen die Vagheitsausdrücke auf kognitive Unsicherheit und eine defensive soziale Identität. 306 Norbert Dittmar Im Folgenden behaupte ich, dass es sich bei dem sozialen Selbstverständnis der ostdeutschen Angehörigen der 5 neuen Bundesländer (im Unterschied zur weiterhin stabilen sozialen Identität der Westdeutschen) um eine aus dem Umbruch und der Wende resultierende ‘beschädigte’ Identität handelt. Vor 1989 gab es je eine durchschnittliche Ost- und Westidentität auf der Folie der jeweiligen Staaten. Die Trennung über 40 Jahre hat über die wirksame Kontaktbarriere eine Entfremdung und kognitive Unsicherheit gegenüber dem jeweils Anderen ausgebildet. Wenn man nun die nur geringen Kenntnisse über den Anderen, die kognitive Unsicherheit und die sehr verschiedenen soziokulturellen Hintergründe für den Ausgang von Begegnungen zwischen Ost- und Westdeutschen nach der Wende zugrunde legt, gelangt man zu dem Schluss, dass zunächst einmal von beiden Seiten in vielen Einzeltreffen konkret herausgefunden werden müsste und muss, was „typisch Ossi“ oder „typisch Wessi“ ist. Wenn wir so weit gehen, die Wende und die unmittelbare Zeit danach sowohl für Ostals auch für Westdeutsche als „Umbruchphase“ aufzufassen (die Ostberliner stürmen die Supermarktketten wie ALDI etc., die Westberliner flüchten sich in die weiten brandenburgischen Landschaften), dann entstehen in dieser Umbruchphase multiple neue Netzwerke, Kontaktcluster, Begegnungen unvorhergesehener Art, Berührungen ohne Planung, aber in ihrer spontanen Form auch unmittelbar einschlägig für neue soziale Erfahrungen. Diese Kontakte und ihre Spontaneität bringen in das soziale Leben, vor allem in den westlichen Gebieten, in denen sich die Einkaufszentren befinden, für die Beziehungsgeflechte im Einzelnen unvorhersehbare und unberechenbare Effekte mit sich. Sacks (1992) hat in unnachahmlicher Weise ausgeführt, in welcher Form viele Fragen der Beteiligten in Erstbegegnungen auf Präzisierungen zu den „which-type-sets“ abzielen. Äußerlichkeiten (z.B. ethnischer Hintergrund, Geschlecht, Alter etc.) sind bei Erstbegegnungen schnell herausgefunden, aber andere Kategorien-Sets (Zugehörigkeiten zu sozialen Netzwerken, moralische Vorstellungen, gesellschaftliche Vorlieben etc.) müssen erst erkundet werden, um über die für die angemessene Gestaltung verbaler Interaktion notwendigen Hintergrundkenntnisse zu verfügen. Vor allem am Gesprächsanfang, so Sacks in den Lectures (1992), finden sich häufig Hinweise der wechselseitigen Interpretation und Zuordnung. So gab es nach Paul (2000, S. 187) „zum Zeitpunkt des sprunghaften Anstiegs der interkulturellen Kommunikation einen immensen praktischen Kategorisierungsbedarf‘ die erste Phase, die man auch als Wieder- und Neubelebung von Kontakten auffassen kann, bedurfte solcher Kategorisierung, um für die Zukunft über soziale Hintergrundinformationen zu verfügen, die die Interaktionen berechenbar machen und gegenseitiges Verstehen erleichtern. So wird von Dittmar/ Bredel (1999) die Umbruchphase I als Phase der Intensivierung von Kontakten und der sozialen Kategorisierung, kurz: Prozess der kollektiven Stereotypenbildung, aufgefasst. In der Tat können wir den Prozess der sozialen Kategorisierung und der Stereotypenbildung anhand der Erzählungen unserer Ost- und Westberliner Informanten zum Mauerfall am 9. November 1989 rekonstruieren: Zunächst wird Zur ‘ Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen' 307 der jeweils „Andere“ (Ostvs. Westberliner) in Erzählungen narrativ-diskursiv kategorisiert, im nächsten Stadium finden wir satzbzw. äußerungsäquivalente deskriptive Kategorisierungen: schließlich werden am Ende begriffliche Kategorisierungen losgelöst von jeder konkreten Erfahrung vorgenommen, die dem jeweils Anderen a priori und stereotypenhaft einen sozialen Status zuschreiben. Viele Einzelstereotype oxidieren zum Stereotyp des Jammerossi für Ost-, des Besserwessi für Westberliner (die stereotypen Hyponyme nähren die stereotypen Hyperonyme wie Nebenflüsse große Flüsse anreichem). Es ist erstaunlich, dass der sog. ‘Ossi’ durch solche Stereotype (wie Pinocchio) eigentlich erst erschaffen wird (vgl. hierzu im Detail Dittmar/ Bredel 1999, S. 120ff.). Auf der Folie der negativen bzw. positiven stereotypen Bewertungsraster können wir den Ostberlinem schließlich eine ‘beschädigte Identität’ und den Westberlinern eine ‘hegemoniale Identität’ zuschreiben (vgl. Dittmar 2000). Der Sozialpsychologe Tajfel (zit. nach Giles 1977) geht davon aus, dass Gruppen, vor allem, wenn sie in zwei große gesellschaftliche Blöcke zerfallen, sich in und mit ihrer sozialen Identität vergleichen. Aus einem solchen Vergleich gehe dann konvergentes oder divergentes Verhalten hervor. In Abb. 2 (s.u.) haben wir festgehalten, dass die westdeutsche Identität im Konflikt mit der ostdeutschen nicht unter den Druck von Veränderungen gerät. Die bisherige Identität wird beibehalten, die psychologische Distinktivität als gegeben betrachtet; im Verhältnis zu den Ostdeutschen wird identitätsbezogen mehr oder weniger explizit/ implizit ein Hegemonieanspruch ausgelebt. Da die ostdeutsche Identität in der Regel beschädigt ist, stellt sich die Frage nach der psychologischen Distinktivität. Radikale und vollständige Anpassung an die Westidentität ist die Folge der Aufgabe psychologischer Distinktivität und das Ergebnis von Konvergenz. Die kognitive Alternative ist die Divergenz: Teile eigener sozialer Identität werden umgekehrt, neue Identitätssegmente werden kreativ ausgebildet und führen bei divergentem Verhalten zu einem neuen Bild sozialer Identität. 5. Ausblick: Im Unterschied zu meiner früheren Definition von Stil (vgl. Dittmar 1989), der als Habitussystem von Sprachgebrauchspräferenzen verstanden wurde, habe ich in diesem Beitrag das Konzept ‘Stil’ für eine Reihe von Phänomenen offengehalten, die nach Bühler als mit dem „Sphärengeruch“ von Sprache behaftet gelten oder in Anlehnung an Gumperz und die Chicagoer Schule als ‘Stile in Kongruenz mit sozialen Kontexten’ bezeichnet werden können. Die Aufgeschlossenheit gegenüber der Polyphonizität und 308 Norbert Dittmar Abb. 2: Dynamisches sozialpsychologisches Modell deutsch-deutscher Anpassungsverhältnisse nach Tajfel/ Giles et al. Zur 'Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen 309 310 Norbert Dittmar der Polyfunktionalität von Stilen erkaufe ich mir angesichts des gegenwärtigen methodischen status quo und fehlender konzeptueller Theoretisierungen des Gegenstandes mit der Lust des Sprachbotanikers an der Sammlung prachtvoller, auffälliger Stilmuster. In diesem Beitrag wurden insbesondere empirische Belege für die Untersuchung von ‘Umbruchstilen’ zusammengetragen. Der methodische und theoretische Status dieser Kollektion trägt zu einer ‘Proto-Stilistik’ bei, die zunächst nicht mehr als eine Ordnung der stilistischen Phänomene nach relevanten Kategorien anstrebt. Eine ‘Stiltypologie’ hingegen muss zweifellos auf der Folie eines operationalisierbaren Stilbegriffs ‘Stile’ systemisch differenzieren. Mit der Metapher „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ hatte ich angedeutet, dass Stil auch aus einer Mischung früherer mit aktuellen expressiven Mitteln bestehen kann; auf der zeitlichen Achse ist Stil in diesem Sinne, wie schon Sandig (1986) einmal formuliert hat, ein „Chamäleon“. Am Beispiel des Versuches, einen ostdeutschen von einem westdeutschen Stil zu unterscheiden, hat sich deutlich abgezeichnet, dass die polyphonen Stile ostdeutscher Sprecher divergent zu den Normen der Sprachgemeinschaft der ehemaligen DDR und zunehmend konvergent mit den Normen der BRD-Zielgesellschaft - Übergangsstile darstellen, deren Sprachgebrauchspräferenzen nur durch Längsschnittstudien erfasst werden können. Dabei müsste empirisch dokumentiert werden können, dass der Stil der Ausgangsgesellschaft sich im Sprachgebrauchssystem seiner Sprecher langsam ausdünnt, während die Übernahmen aus dem Repertoire des westdeutschen Stils zunehmen. Wenn Kallmeyer eine „längerfristige stabile Orientierung der Sprecher“ (1994, S. 31) für eine Stilbestimmung fordert, so heißt dies m.E. nicht, dass Umbruchstile damit ausgeschlossen sind. Denn Orientierungen der Sprecher sind nach wie vor vorhanden: Solche, die der Ausgangsgesellschaff entstammen, und solche, die sich mit Hilfe sozial-kognitiver Strategien auf die Zielgesellschaff richten. ‘Umbruchstile’ lassen sich jedoch über das sprachliche Ausdrucksrepertoire der Vagheit und der kognitiven Unsicherheit ebenso mit Hilfe von Indikatoren erfassen wie andere Stile unter Rückgriff auf immer wiederkehrende Wendungen, Formulierungen und Formeln. Wenn wir Umbruchstile im Sinne der obigen Liste von Indikatoren untersuchen, kommen Umbruchstile von sozialen Verbänden (z.B. ganzen Staaten oder Volksgruppen), sozialen Gruppen und Individuen ins Blickfeld. Die von den Schlüsselwörtern „Flexibilität“, „Mobilität“, „Umlernen“ etc. betroffene Gesellschaft wird mehr und mehr durch soziale Bruchstellen und Einbrüche und den damit verbundenen Orientierungen von Individuen und Gruppen betroffen sein. In diesem Sinne wird Stil nicht mehr ein langlebiges Phänomen sein: Stile wechseln mit technischen und sozialen Innovationen (vgl. hierzu aber die kritischen Anmerkungen von Marcuse). Es dürfte daher immer wichtiger werden, ‘Umbruchstile’ zu beschreiben und zu erklären. Wenn ich nun die obigen Merkmale für Umbruchstile angeführt habe, so bedeutet dies auch, dass bestimmte Wahlen in der Bedeutungs- und Diskurs- Zur ‘ Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen' 311 organisation mit Vorrang systematisch untersucht werden müssen. Es würde reichen, Umbruchstile zunächst mit Hilfe eines Repertoires an Vagheitsausdrücken genauer zu erfassen, z.B. so + Kombinationen und irgend- + Kombinationen. Wenn man Umbruchstile genauer erfassen will, muss man bei kleinen Einheiten beginnen und dann zur Erfassung größerer, diskursiver Einheiten übergehen. Das zunächst formulierte Anliegen, ost- und westdeutsche Stile zu unterscheiden, führte mich unter Einfluss soziolinguistischer Logik zu dem Schluss, die Problemstellung als Aufgabe der Beschreibung von Umbruchstilen (der Fall ostdeutscher Sprecher) und Dominanzstilen (westdeutsche Sprecher) zu reformulieren. Diese beiden Stile sind komplementär zueinander, sie sind Konversen voneinander. Bei Dominanzstil vermissen wir genau das an Wörtern, Ausdrucksrepertoiren und Indikatoren, was bei Umbruchstilen in vermehrter Form (größere Häufigkeit) als Vagheit und kognitive Unsicherheit auftaucht. Dominanzregister lassen unmarkierten Sprechfluss, unauffällige Bewertungen, unmarkierte Wendungen und unmarkierte Kommentare in der Argumentation erwarten. Das Umgekehrte gilt für Umbruchstile. Literatur Das Literaturverzeichnis enthält neben den im Text zitierten Aufsätzen auch weiterführende Literatur zum Thema. Antos, Gerd (1996): Laienlinguistik. 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Schließlich eignet man sich das notwendige Wissen, die technischen Voraussetzungen, die Befehlssyntax und die stilistischen Konventionen an (oder man verstummt und schaltet schließlich frustriert den Computer aus) und verliert langsam den Status des „Newbie“ und wird zum „Chatter“ sozialisiert. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, jene stilistischen Mittel herauszuarbeiten, die Intemet-Chats auszeichnen und damit diejenigen kommunikativen Verfahren, die in der Welt der Chat-Gruppen bereits konventionalisiert und mittlerweile Bestandteile dieser kommunikativen Gattung geworden sind. 1 Die folgende Analyse stilistischer Konventionen beim Chatten orientiert sich an Kallmeyers (1995) Konzept des „kommunikativen sozialen Stils“ sowie an Arbeiten zur „interaktionalen Stilanalyse“ (Sandig/ Selting 1997; Selting 1997) und legt damit besonderen Wert auf die empirische Untersuchung von stilistischen Phänomenen in natürlichen Interaktionskontexten. Damit knüpft sie an ein holistisches Stilkonzept an, das „Stil als aktiv hergestelltes, flexibles, dynamisches, auf den Zuhörer/ Rezipienten in der Situation zugeschnittenes sprachliches Gestaltungsmittel“ (Sandig/ Selting 1997, S. 6) betrachtet. Im Zentrum der vorliegenden Analyse stehen somit die Kommunikationsformen, die die soziale Gruppe der Chatter auszeichnen, um eine reibungslose, computerübermittelte, synchrone Kommunikation bewerkstelligen zu können. Hierzu zählen diskursorganisatorische Prinzipien und die Regeln der formel- ' Die Frage, inwiefern es sich beim Intemet-Chat um eine kommunikative Gattung mit Verfestigungen auf den verschiedenen Ebenen der Außenstruktur, Interaktionsebene und Binnenstruktur handelt, wurde von Schmidt (2000) diskutiert. Der vorliegende Beitrag wird sich schwerpunktmäßig auf die der Binnenebene einer Gattung zugeordneten stilistischen Konventionen beschränken. 316 Susanne Günthner / Guriy Schmidt len Organisation der Chat-Beiträge sowie Regeln der Höflichkeit, der Demonstration von Zugehörigkeit, Aspekte sprachlicher Variation, Verfahren zur Darstellung affektiver Aspekte etc. Die die Chatter auszeichnenden Kommunikationsregeln und -normen machen zusammengenommen den kommunikativen sozialen Stil der Interagierenden aus. Stil ist wie auch Kallmeyer (1995) in Zusammenhang mit dem Konzept des „kommunikativen sozialen Stils“ verdeutlicht keine statische Entität, sondern ein dynamischer Prozess, der durchaus Ambivalenzen, Brüche und Veränderungspotenziale aufweist. Die Beschreibung des kommunikativen Stils von Chat-Gruppen zielt folglich auch nicht auf die Fixierung eines scheinbar konsistenten Systems, sondern es werden bestimmte stilistische Verfahren der Chat-Kommunikation in bestimmten Channels zu einer bestimmten Zeit aufgezeigt. Zugleich muss betont werden, dass es verschiedene Typen und Formen von Chats mit teilweise eigenen Konventionen gibt. 2. Kommunikation in Internet-Chatgroups <hannie-> 2 i used to hate ire because i could not figure it out i love it now i meet ppl from all over the world i mean, how else would i be able to practice my really rusty german with someone? or learn all about holland, or learn about puters? ' (Harmie-08.01.99) Der Chat ist eine spezifische Form der Internetkommunikation. Das Chatten erfolgt synchron über Eingaben mit der Tastatur. Es findet in so genannten Chat-Räumen, auch Channels genannt, statt, die das Gespräch grafisch darstellen und deshalb auch als „virtuelle Räume“ bezeichnet werden. Die Teilnehmenden der Kommunikation, die von verschiedenen Orten aus im virtuellen Raum des Channels nahezu zeitgleich miteinander chatten, sind sich in der Regel zunächst fremd, d.h. sie sind sich in den seltensten Fällen vorher (real) begegnet. Die älteste und wohl populärste Form des Chats ist das im Jahr 1988 vom finnischen Studenten Jarkko Oikarinen programmierte Internet Relay Chat (IRC), das zum ersten Mal synchrone textbasierte Kommunikation über das Internet ermöglichte. Mit der Ausbreitung des Internet und dessen grafisch ansprechender Anwendung des World Wide Web (WWW) kommen immer 2 ,irc“ ist die Abkürzung für „Internet Relay Chat“. Stilistische Verfahren in der Welt der Chat-Groups 317 mehr so genannte Webchats hinzu, die entweder eine eigene technische Lösung für die synchrone Kommunikation anbieten, oder aber sich an die 1RC- Technologie anlehnen. Inzwischen bieten viele, meist kommerzielle Anbieter, auf ihrer Website einen eigenen Webchat an, was den Usern ermöglicht, mit einer Browser-Software zu chatten, ohne sich mit den spezifischen Software- Typen oder der Struktur des IRC auseinandersetzen zu müssen. 3 Die unterschiedlichen Möglichkeiten, wie gechattet werden kann, reflektieren zugleich Präferenzen bestimmter sozialer Gruppen: Das IRC, das die Installation und Handhabung einer eigenen Software (des so genannten IRC-Clients) erfordert, wird eher von Personen genutzt, die sich im Internet und der Computerwelt relativ gut auskennen. Die Webchats, die über den Browser per Mausklick erreichbar sind, erfordern weniger technische Vorkenntnisse und werden folglich auch von Personen ohne große Computerkenntnisse genutzt. Ferner gibt es auch Unterschiede bei den Typen von Chats, je nachdem ob ein Gespräch moderiert wird, ob im betreffenden Kanal themenbezogen gechattet wird, ob man nur auf Einladung teilnehmen kann, ob man in einem kleinen Kreis informell chattet etc. Jeder Typ der synchronen Kommunikation über Internet, d.h. jeder Chat-Typ, hat darüber hinaus spezifische technische Eigenheiten, Befehle, Benutzeroberflächen und andere Besonderheiten. 4 Je nach Chatsystem kann sich in verschiedenen Webchats die Befehlssyntax unterscheiden, die für die Kommunikation benötigt wird; 5 in einigen kann die Farbe der angezeigten Schrift geändert werden, in anderen wird den jeweiligen Äußerungen ein Bild vorangestellt ein so genannter Avartar. 6 Trotz der vielen kleinen Unterschiede können Gemeinsamkeiten im Kommunikationsstil festgestellt werden, die sich aus der nahezu synchronen, getippten Kommunikationsform und ihren Funktionen ergeben und die ungeachtet der Feinunterschiede für alle Chat-Typen des Internet-Chats gelten und sich mittlerweile als typische Stilmerkmale des Chattens etabliert haben. Die Grundvoraussetzung, überhaupt an Chatgroups teilnehmen zu können, stellt ein Intemetzugang dar. Wie die „5. Welle des GfK-Monitors“ vom Januar 2000 belegt, steigen die Nutzerzahlen exponentiell an: So wurden im 3 Hierzu detaillierter Schmidt (1998). Zu den verschiedenen Typen von Chats siehe Runkehl et al. (1998). 4 So unterscheiden sich die unterschiedlichen Typen der IRC-Software (so genannte IRC- Clients) untereinander. Sie sind wiederum abhängig von der Art des Betriebssystems (UNIX, Macintosh, Windows u.a.). 5 Beispielsweise ist der klassische IRC-Befehl für geflüsterte Äußerungen / msg <nickname> <text> („msg“ steht für „Message“), das Cassiopeia-Chatsystem verwendet hierfür die Befehlssynstax / m <nickname> <text> oder nur / <nickname> <text> und Chatcity.de wiederum / w <nickname> <text>, wobei das „w“ für „Whisper“ steht. 6 Vgl. Runkehl et al. (1998, S. 80). 318 Susanne Günthner / Guriy Schmidt Januar 2000 bereits 15,9 Millionen deutsche Intemetuser gezählt. 7 61% davon sind männlich. Knapp 50% der User sind zwischen 20 und 39 Jahre alt; dagegen stellt die Altersgruppe der 60bis 69-Jährigen lediglich 5% der User dar. 8 Nicht jeder Internetuser nutzt allerdings die Möglichkeit des Chattens. Auch die Häufigkeit des Chattens sowie die Motivationsgründe der Nutzung unterscheiden sich deutlich. Bei der 9. W3B-Umfrage 9 von Fittkau & Maas (2000), die sich mit der Gruppe der so genannten „Fun-User“ (zu denen auch die Chatter zählen) und deren Intemetbenutzung beschäftigte, gaben von 25.000 Befragten 13,7% an, häufig zu chatten, 19,7% gelegentlich, 27,0% chatten selten und 39,9% nie. Von den Befragten chatten 12,3% fast täglich, 12,9% zweibis dreimal die Woche, 11,9% einmal die Woche und der größte Anteil mit 25,8% circa alle zwei Wochen. Auf die Frage, weshalb sie den Chat nutzen, war die meistgenannte Antwort „zur Unterhaltung, um Spaß zu haben“ (49,7%), gefolgt von „zum Zeitvertreib, aus Langeweile“ mit 32,5%, dicht gefolgt von „weil ich dort interessante Menschen kennen lerne“ (30,7%) und „weil ich dort Menschen aus aller Welt kennen lerne“ (29,5%). Die Anonymität der Chats nimmt mit nur 11,5% einen vergleichsweise weniger wichtigen Stellenwert ein, und die Partnersuche nimmt mit 7,2% den am seltensten genannten Grund für das Chatten in dieser Umfrage ein (Fittkau & Maas GmbH 2000). Chatten wird somit zum unterhaltsamen kommunikativen Zeitvertreib vorwiegend jüngerer Intemetuser und zur Möglichkeit, risikolos, unverbindlich und anonym Kontakt mit Menschen aus aller Welt zu knüpfen, ohne sich vom Schreibtischstuhl erheben zu müssen. 3. Stilistische Verfahren im Chat Stilistische Arbeit bzw. die Konventionalisierung stilistischer Verfahren ist innerhalb von Chat-Grappen insofern recht gut beobachtbar, als in zahlreichen Channels „Newbies“ auftauchen, die aktiv oder passiv mit den stilistischen Konventionen der Chat-Welt vertraut gemacht werden und damit durch ihre kommunikativen Handlungen in eine „soziale Welt“ (Strauss 1978) hineinsozialisiert werden. Es handelt sich hierbei um ein reflexives Verhältnis zwischen der Etablierung bestimmter stilistischer Konventionen in Chat- Gruppen und der Konstituierung bestimmter sozialer Milieus: Die Milieus konstituieren sich u.a. durch die Orientierung an gemeinsamen kommunikativen Konventionen. Zugleich werden diese wiederum interaktiv von den Teilnehmenden ausgehandelt. Dies zeigt sich u.a. daran, dass „Newbies“ rasch zu erkennen sind, bzw. sich als solche zu erkennen geben, da sie Verstehens- 7 Im Vergleich dazu wurden im Sommer 1999 in der GfK-Studie nur 9,9 Millionen Internetnutzer registriert. Werben & Verkaufen Webseite: http: / / www.wuv.de/ studien/ gfk_0200/ 2 .html Die W3B-(Jmffage ist die größte, unabhängige deutschsprachige Meinungsumfrage im Internet, http: / / www.w3b.de (Fittkau & Maas). Siehe auch http: / / www.wuv.de/ studien/ w3b_0400/ index.html Stilistische Verfahren in der Welt der Chat-Groups 319 Probleme signalisieren, explizit nachfragen, bestimmte Kommunikationsregeln durchbrechen, Befehle falsch verwenden und teilweise korrigiert werden. Sie müssen sich mit stilistischen Konventionen des Chattens allgemein und den spezifischen Konventionen des betreffenden Channels erst vertraut machen und sich einen „Status“ erarbeiten. Zugleich entstehen ständig neue Typen und Konventionen der Chat-Kommunikation, die wiederum zur Konstitution neuer Kommunikationsformen beitragen. Im Folgenden wollen wir exemplarisch einige uns zentral erscheinende Merkmale der Chat-Kommunikation aufzeigen. 3.1 Nicknamen und die Konstruktion der Anonymität Im kommunikativen Raum des Chats besteht ein Zustand relativer Anonymität: Die Teilnehmenden können weder durch ihr Aussehen noch durch ihre Stimme kategorisiert werden. Dies erlaubt Freibzw. „Spiel“räume, die von fingierten Angaben zum Aussehen, Alter, zur sozialen Herkunft, bis hin zum „gender switch“ reichen. Dieser „Spiel“raum wird durchaus genutzt. So berichtet Reid schon im Jahre 1991, dass die Anonymität der computerübermittelten Kommunikation dazu anregt, Angaben über eigenes Aussehen zu fingieren: 10 How a [...] user ‘looks’ to another user is entirely dependant upon information supplied by that person. It becomes possible to play with identity. The boundaries delineated by cultural constructs of beauty, ugliness, fashionableness or unfashionableness, can be by-passed [...]. It is possible to appear to be, quite literally, whoever you wish. (Reid 1991: Kapitel: Anonymity) Ein besonderer Bestandteil der Anonymität ist der „Nickname“. Nicht der wirkliche Name dient in Chats als Erkennungsmarker, sondern ein von den Teilnehmenden gewähltes Pseudonym. Dieses hat einerseits die Aufgabe, die für Chats typische Situation der Anonymität zu garantieren, 11 und zum anderen dient es als virtueller Erkennungsmarker; d.h. die Beiträge beim Chatten können aufgrund des Nicknamens einer bestimmten Person zugeordnet werden. So unterhalten sich im folgenden Textausschnitt zwei Chatter bzw. Chatterinnen, die sich die Nicknamen „Emu“ und „Sara“ zugelegt haben: EMU 1 <Sara> was macht das Leben so? 2 <Emu> Ich bin auch erst seit ner Woche wieder drinnen 3 <Sara> wo warst du? 4 <Emu> Habe ein Jahr Pause gemacht 10 Gallery (1999, S. 71) stellt fest, dass die Anonymität als „wesentliches Charakteristikum computerübermittelter Kommunikation [...] nicht ausschließlich durch die technischen Gegebenheiten produziert, sondern von den Kommunizierenden selbst hergestellt wird“. " Vgl. Runkehl et al. (1998, S. 87). 320 Susanne Günthner / Guriy Schmidt 5 <Emu> In (Stadt), aber ich hatte keinen Bock mehr auf IRC 6 <Sara> wie Pause? Chatpause? 7 <Sara> so richtig ein Jahr abstnenz? Der vor der jeweiligen Äußerung in spitzen Klammem erscheinende Nickname indiziert, wer gerade am Zug ist, bzw. wem die betreffende Äußerung zugeordnet werden kann. Bei der Wahl des Nicknamens ist darauf zu achten, dass dieser nicht bereits von einem Mit-Chatter belegt ist und dass er nicht gegen die Regeln des Chats die so genannte Chatiquette verstößt. 12 Die Wahl des Nicknamens ist insofern relevant, als die Chat-Partner/ innen anfangs nur über diesen kategorisiert und als potenziell interessante, provokative, einfallsreiche, witzige, etc. Teilnehmer/ innen eingestuft werden können. Zahlreiche Nicknamen bestehen aus (fingierten) Vor- oder Spitznamen („Sara“, „Susi“, „Emu“). Andere erscheinen dagegen vollkommen willkürlich (z.B. „yaclo“, „Bettfeder“), bzw. setzen sich entweder aus scheinbar unmotivierter Kombination aus Zeichen, Zahlen und Buchstaben zusammen (z.B. „16E AA “ oder „pTe_“), aus geradezu „kreativen“ ASCII-Zeichenkombinationen (z.B. „ A RaVen A “ oder „d|ve“) oder aus computertechnischen Begriffen oder Abkürzungen wie „ipvö“. (Bei letzterem bezieht sich der Nickname auf das neue Internet- Protokoll „Internet Protocol Version 6“). Wieder andere Nicknamen referieren auf Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens (z.B. „heino“, „LadyDi“, „Kohl“), einige verweisen auf Medien- und Märchenfiguren, bzw. auf Fantasy- oder Comicfiguren („Teletubby“, „Biene Maja“, „Rapunzel“, „Herr der Ringe“, „Obelix“, etc.) oder auf Produktnamen („BigMac“, „Milka“). 13 Um die Aufmerksamkeit der Chat-Partner/ irmen zu wecken, werden Nicknamen in bestimmten Channels oft geschlechtsbetont bzw. geschlechtsstereotyp gewählt („SexyBoy23“, „Blondie“, „Püppchen“, „Blondgirl 19“) und mit einer Zahl zur (scheinbaren) Altersangabe versehen. Da zahlreiche Nicknamen provozieren und auffallen wollen — schließlich dienen sie der Selbstinszenierung —, wundert es nicht, dass diese von den Chat-Partner/ innen gelegentlich explizit kommentiert werden. Im folgenden Ausschnitt eines Chats kommentiert „Susi“ den Nicknamen des Chat-Teilnehmers „milchbubi“: MILCHBUBI 1 <Susi> milchbubi? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? ? 2 <milchbubi> igel! ! 3 <milchbubi> psst 4 <Susi> jajaja aber wasn nickname 5 <milchbubi> blickt sowieso keiner Hierzu auch Runkehl et al. (1998, S. 74). Eine Auflistung häufig verwendeter Nicknamen findet sich in Runkehl et al. (1998, S. 86). Stilistische Verfahren in der Welt der Chat-Groups 321 Die mit dem Nicknamen einhergehende Anonymisierung der Gesprächsteilnehmenden wie auch die Möglichkeit der fingierten Selbstinzenierung bilden wesentliche Rahmenbedingungen für die Chat-Interaktionen. 3.2 Stilisierte Mündlichkeit Chat-Kommunikation wird häufig als Mischform zwischen schriftlichem und mündlichem Sprachgebrauch bezeichnet. Und tatsächlich ist diese Hybridität ein wesentliches Merkmal der Chats: Zwar ähnelt die Chat-Kommunikation in vielfacher Weise mündlicher, informeller face-to-face-Interaktion, doch handelt es sich um eingetippte, elektronische Texte, die das Medium der Schrift (teilweise) auf neue Weise einsetzen. Thimm (2000, S. 11) spricht zu Recht von einer neuen „Schriftlichkeitskultur“, die sich im Chat herausbildet und die Konzepte einer dichotomischen Einteilung von Mündlichkeit versus Schriftlichkeit in Frage stellt. In der Chat-Kommunikation entwickeln sich neue kommunikative Verfahren, die die in der face-to-face-Kommunikation zur Verfügung stehenden Mittel wie die Ebenen der Prosodie, der Stimmqualität, der Gestik und Mimik - und deren Funktionen zu kompensieren versuchen. 14 Hierfür werden u.a. spezifische Möglichkeiten der Schriftlichkeit ausgebeutet, wie die Verwendung von grafo-stilistischen Elementen (Smileys etc.), Iterationen, Großschreibung etc. Aufgrund der Spezifika des Mediums (Synchronizität, räumliche Distanz zwischen den Kommunizierenden, Eintippen von Zeichen, Informalität etc.) haben sich also in Chats neue Formen von Schriftlichkeit, die durchaus zahlreiche Elemente mündlicher Kommunikation aufgreifen, entwickelt. 15 So sind Verfahren zu beobachten, die eine Art „stilisierte Mündlichkeit“, und damit eine schriftlich erzeugte Form von Mündlichkeit, darstellen. 16 Hierzu zählen die Verwendung von Diskurspartikeln und Hörersignalen („nö“, „nuja“, „ähm“, „echt? “, ,jau“, „oups“, ,jupps“), Lachpartikeln, bzw. die Markierung von Lachreaktionen („hahaha“, „hihi“, „LOL“ (= ‘Laughing Out Loud’)), Exklamationen und Interjektionen („saugeil! “, „kuh: : : l! “, „auweia! “, „scheisse! ! ! “, „mist! ! ! ! “, „iiiihgiiiiit“, „psssst“, „uuuhhhh“), schriftliche Repräsentationen mündlicher Aussprachevarianten („mitm Vadder“, „hab i ned“, „pax scho“, „i geh mal ufs klo“, „bid- 14 Wie Holly (1996, S. 14) ausfuhrt, versuchen neue Medien stets gewisse Schwächen bisheriger Kommunikationsformen zu kompensieren, was jedoch Jeweils zum Preis neuer Schwächen, die wiederum ausgeglichen werden müssen“ führt. Als solche „Schwächen“ könnte man die der Chatkommunikation fehlenden prosodischen, gestischen und mimischen Möglichkeiten bezeichnen. 15 Hierbei ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die verschiedenen Chat-Typen (moderiert nicht moderiert, informell formell, themenbezogene offene Themen etc.) an unterschiedlichen Stellen zwischen den Polen Schriftlichkeit-Mündlichkeit zu verorten sind. 16 Schmidt (2000, S. 126) verwendet hierfür den Begriff der „vermündlichten Schriftlichkeit“, da „sowohl die mediale Ausgangsform der Schriftlichkeit, als auch de(r) aktive{...) Prozess der Miteinbeziehung einer zugrunde liegenden Konzeptionalität sowie einer Synchronität gegeben sind“. 322 Susanne Günthner / Guriy Schmidt de für mich au“, „was bisch so kurz angebunden? “, „machs jut! ! ! ! ! “, „schühüss“), typische Enklisen mündlichen Sprechens („wasn“, „mitm“, „kannste“, „hastes“), Apokopen bzw. Tilgungen des Schwa-Lautes in Endsilben („ich find“, „leist dir“, „ich hab“), dialektale Varianten („was bisch so kurz angebunden? “, „mei Mudder au net“, „Goggel“) sowie typische Elemente der Syntax gesprochener Sprache, wie unverbundene Konditionalsätze („wenn's Probleme gibt, ruft mich an okay? “), Verbspitzenstellungen („blickt sowieso keiner“, „hab i ned“, „pax scho“, „machen die andern auch alle“) oder weil- und obwohl-Konstruktionen mit Verbzweitstellung („weil ich blicks halt nich so ganz“). Betrachten wir folgenden Textausschnitt, der einige der oben aufgelisteten Verfahren stilisierter Mündlichkeit im Kontext beleuchtet. Es handelt sich um eine Interaktion zwischen „Susi“ und „milchbubi“: MILCHBUBI 4 5 6 7 89 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 <Susi> <milchbubi> (...) <Susi> <milchbubi> <milchbubi> <Susi> <milchbubi> <Susi> <Susi> <Susi> <milchbubi> <milchbubi> <Susi> <milchbubi> <Susi> <milchbubi> <milchbubi> <milchbubi> <Susi> <milchbubi> <Susi> <milchbubi> <Susi> <Susi> <milchbubi> <Susi> jajaja aber wasn nickname blickt sowieso keiner naja, ich hatte heute Examen weiss gut? ja, ich hab schon mitm Vadder telepatiert j au und was macht ihr, wenn die weg sind? Fete? wie war Dein Spiel? 1: 0 geführt zur halbzeit dann? elfmetertor von mir wow! Abwehrschlacht halt 2. 5: 1 für Euch? verloren mist! tja naja, egal was bisch so kurz angebunden? und sons wenn's Probleme gibt, ruft mich an okay? Wie stark beim Chatten Formen stilisierter Mündlichkeit verwendet werden, hängt u.a. vom Informalitätsgrad des Chat-Kanals ab: Informelle Chats weisen häufig starke Annäherungen an gesprochen-sprachliche Formen auf, dagegen orientieren sich moderierte, themenbezogene Chats eher an schriftsprachlichen Konventionen. 17 17 Hierzu auch Runkehl et al. (1998, S. 99ff.). 3.3 Stilistische Verfahren in der Welt der Chat-Groups Die Verwendung von Elementen aus der Comic-Sprache 323 Eine besondere Art der Stilisierung, die sich in der Chat-Konversation entwickelt hat, ist die Verwendung von Elementen aus der Comic-Sprache. Diese „Ausflüge“ in die Sprache der Comics sind in der Regel sehr kurz und beinhalten meist nur einzelne Wörter bzw. Phrasen. Bezeichnend ist die Übernahme von Verbstämmen (bzw. „Wurzelwörtern“), wie „*umarm*“, „*brüll*“, „*kicher*“, sowie Kombinationen aus Verbstämmen und Adjektiven („*happysei*“). In der Regel werden diese Comic-Anleihen metasprachlich mittels zweier Asteriske indiziert („*traurig sei*“). 18 Da der Chat-Kommunikation im Gegensatz zu Comics, die über Fettdruck, Vergrößerung von Buchstaben und grafische Ausschmückungen verfügen 19 nur ASCII-Zeichen zur Verfügung stehen, wird die Comic-Sprache für die Zwecke der Chatkommunikation „instrumentalisiert“ und mit den Asterisken ein Verfahren gefunden, das das Comic-Format an die speziellen Gegebenheiten anpasst und gleichzeitig für alle Teilnehmenden deutlich erkennbar vom übrigen Text abhebt. So können Begeisterungs-, Langeweile-, Traurigkeitsmarkierungen sowie physische Zustandsbeschreibungen direkt an die Äußerung angehängt oder als alleinige Äußerung abgeschickt werden. Elemente des Comic-Stils finden sich recht häufig in Beendigungssequenzen, wie die folgenden Ausschnitte illustrieren: MILCHBUBI 32 <Susi> <Susi> 33 34 35 36 okay! tschuess 20 <milchbubi> cö <Susi> <Susi> *umarm* ...off MARY 1 2 3 4 5 6 <Mary> Ja, Du auch <Mary> TSchuuuuuuuueeeeeeeeessssssssssssss <Sara A > : ))))) <Mary> *drück* <Sara A > *drückfester* <Mary> : ) EMU 1 <Emu> *wink* Pass auf Dich auf : ) 2 <Sara> mach ich : -) 3 <Sara> wink 4 <Emu> Bye 18 Haase et al. (1997) bezeichnen dieses Phänomen als „Zustands- und Gefühlsäußerungen“. 19 Zur Comicsprache vgl. Welke (1966). 20 „cö“ könnte hier eine Verschriftlichung des Kölschen Abschiedsgrußes „tschö“ sein. 324 Susanne Günthner / Guriy Schmidt Charakteristisch ist, dass die verwendeten Verben allesamt non-verbale Verabschiedungshandlungen darstellen. Elemente aus der Comic-Sprache sind jedoch nicht auf Beendigungssequenzen beschränkt. In den folgenden Ausschnitten finden sich Comic-Elemente, die inmitten der Interaktion auftreten: EMU 4 <Emu> 5 <PezSara> 6 <Emu> 7 <PezSara> 8 <Emu> Das ist lange her jau, 3 Jahre 96 ebenT *sentimentalwerd* Der folgende längere Ausschnitt entstammt einem Chat, in dem sich „dizzy“ und „Sara A “ darüber unterhalten, was sie essen wollen: DIZZY 1 <dizzy> <dizzy> <Sara , '> <Sara , '> <Sara~> <Sara^> <dizzy> <dizzy> <Sara / s > <dizzy> <dizzy> <dizzy> <Sara A > <dizzy> <Sara A > <dizzy> <dizzy> <dizzy> <Sara A > <dizzy> <Sara A > 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 nee, egal gibs nich, jetzt sach... du kannst ja auch was bestellen hm. McDonlads nich scho n wieder hm. döner acuh nciht hm ne hm hm h m *grübel* *grüberl* *überleg* WIENERWALD *kopfrauch* JAU Was? aufm weg zur Fähre Huhn? Goggel und Salat Die Übernahme dieser der Comic-Sprache entstammenden Verbstämme hat sich als stilistisches Verfahren in zahlreichen Chat-Typen etabliert. 21 In der Regel handelt es sich wie auch die vorliegenden Beispiele verdeutlichen um expressive Verben (wie „*entsetz*“, „*seufz*“, „*sentimentalwerd*“) und Handlungsverben (wie „*drück*“, „*umarm*“). 22 Darüber hinaus werden auch lautmalerische Elemente aus der Comic-Welt übernommen, wie „*kloink*“, „*boing*“, „*bumm*“ und „*krach*“. Betrachten wir hierzu folgendes Beispiel: 21 Gelegentlich ist dieses stilistische Verfahren auch in E-mails, Newsgroups und im WWW zu finden. Hierzu auch Runkehl et al. (1998, S. 106ff.). 22 Stilistische Verfahren in der Welt der Chat-Groups 325 TANTE 1 <tante> und dann hats mich voll auf den hintern gehaun *kawummm* 2 <fridolin> LOL 3 <tante> haha wie witzig : -( 3.4 Äußerungen in der dritten Person: Formen lateraler Selbstreferenzierung Ein weiteres, zahlreiche Chats umfassendes stilistisches Merkmal stellen Äußerungen dar, in denen die Chatter/ innen in der 3. Person auf sich selbst referieren. Bei dieser Art der „lateralen Selbstreferenzierung“ wird der Nickname der sich äußernden Person nicht etwa in spitze Klammem (wie es bei sonstigen Äußerungen zur Kennzeichnung des Sprechers häufig der Fall ist) gesetzt um zu indizieren, wem die folgende Äußerung zuzuordnen ist, sondern der Nickname wird nun als Subjekt der Äußerung eingesetzt und folglich das Format der Äußerung geändert. 23 Diese Art der lateralen Selbstreferenzierung kommt meist in Zusammenhang mit der Thematisierung des emotionalen Zustandes der Schreibenden, zur Beschreibung (affektiver) non-verbaler Handlungen und bei Bewertungen und Kommentaren vor: NEW TUNES 12 <GS> Who here has heard the new tunes. 13 *hannie raises her hand in answer to OS's question HUGS 16 *curt hugs Mouse 17 *Mouse hugs back Die verschiedenen Chat-Typen haben jeweils eine bestimmte Befehlssyntax (beim IRC / me), die die Äußerung des Schreibers in eine Aussage über den Schreiber (in der 3. Person) umwandelt: Aus I / me winkt mal Heino I im Eingabefeld wird also: > rahmses winkt mal Heino im Chatfenster. Das Format der lateralen Selbstreferenzierung wird auf spezifische Art markiert, beispielsweise, wie im obigen Beispiel, durch eine der Äußerung vo- 23 Die grafischen Darstellungen von Äußerungen in der 3. Person unterscheiden sich von Chatsystem zu Chatsystem, bzw. sind abhängig vom benutzten IRC-Client und den persönlichen Einstellungen der grafischen Anzeige. Sie werden jedoch in den meisten Fällen deutlich von den „normalen“ Äußerungen abgehoben. 326 Susanne Günthner / Guriy Schmidt rangestellte spitze Klammer („>“) plus Kursivschreibung. In den folgenden Ausschnitten wird dagegen ein Asterisk zur Markierung verwendet: KISS 23 * Peter kisses hannie TACO BELL 1 2 3 4 5 6 Boink lets out another deadly fart <Boink> <Kim> <pet> <pet> <Boink> what I get for eating Taco Bell 24 that's ha? ugh' stop that! Tell my butt that Anstatt in der ‘Ichform’ zu schreiben, wählt „Boink“ in TACO BELL den „Befehl der 3. Person“ (Zeile 1) und erreicht damit, dass er eine Art „Regieanweisung“ 23 zu seinen körperlichen Handlungen übermittelt, für die er sich als „nicht verantwortlich“ präsentiert, wie er in Zeile 6 betont. Die Reaktionen von „Kim“ und „pet“ in den Zeilen 3 bis 5 veranschaulichen allerdings, dass eine Distanzierung mit dem „Befehl der 3. Person“ nicht ausreicht, um eine solche Äußerung zu rechtfertigen. Als Funktionen für die Verwendung der 3. Person-Referenz auf den Schreibenden selbst können angeführt werden: a) Die andersartige grafische (und gegebenenfalls farbliche) Darstellung einer Äußerung mit dem „Befehl der 3. Person“ bewirkt, dass diese sich von ihrer Umgebung abhebt und dadurch prominenter wird. b) Nonverbale Handlungen, Körpersprache, Gestik und Mimik können ausgedrückt werden und den Charakter einer „Regieanweisung“ erhalten. Auf diese Weise erhält der Chat neben der reinen Übermittlung von Äußerungen die Möglichkeit (wie in der face-to-face-Interaktion der Fall), non-verbale Aspekte in die Interaktionssituation einzubeziehen. c) Durch die distanzierende Form der lateralen Selbstreferenz wird die virtuelle Persönlichkeit des Chatters als eine Art „Figur“ im Chat-Geschehen vorgestellt. Der Chatter wird zum Erzähler, der von den Handlungen, Emotionen etc. seiner Figur berichtet. 3.5 Smileys Smileys (bzw. Emoticons) sind zwar in fast allen Anwendungen des Internet auffindbar, doch gelten sie aufgrund ihrer Häufigkeit als charakteristische Merkmale der Chat-Kommunikation. Es handelt sich hierbei um ikonische 24 ‘ugh’ ist die orthografische Darstellung der Lautfolge [a? ] für den Ausdruck des Ekels. 25 Sassen (1999, S. 98) redet hierbei von „Action-Format“. Stilistische Verfahren in der Welt der Chat-Groups 327 ASCII-Zeichen, die versuchen, mittels der zur Verfügung stehenden Zeichen menschliche Gesichter mit unterschiedlicher Mimik abzubilden. Um dieses Gesicht zu dekodieren, muss der Kopf um 90 Grad nach links gedreht werden. Die Funktion dieser Ideogramme besteht darin, eine Art von „Kompensation“ für jene prosodischen und gestisch-mimischen Mittel darzustellen, über die wir in der face-to-face-Interaktion verfugen und die dazu beitragen, eine Äußerung zu kontextualisieren. 26 Im Folgenden wollen wir einige Kontextualisierungsfunktionen von Smileys aufzeigen. Im Chat-Ausschnitt NOTHIN haben die Smileys “, und „: )))“ die Funktion, Lachen (in unterschiedlicher Stärke) zu markieren: NOTHIN <Alex> <Foot> <Alex> <Alex> <Foot> <eagle> ack! nothin ) ) ) ) ) ) Der im nächsten Ausschnitt verwendete Smiley keit: I “markiert Gleichgültig- STUDYING 1 <Black> 2 <Black> 3 <White> I think I gotta get going now I must start studying. Im Folgenden treffen wir auf einen verstimmten Smiley HANGOVER 1 <moon> 2 <Cat> 3 <moon> 4 <Cat> 5 <Cat> 6 <moon> 7 <Cat> r you hangovered? yeah : / : -) ) YESSSSSSSSSSS I am hangovered! ! ! ! ! how come, it's 8.30 pm? ? ! ! ! oh well, I am still suffering from last night : / Der im folgenden Ausschnitt in Zeile 7 verwendete Smiley („: p“) repräsentiert grafisch eine herausgestreckte Zunge. Er wird im Sinne eines Kontextualisierungshinweises zur Markierung der Interaktionsmodalität eingesetzt: Die Bemerkung „oh shut up“ wird somit als „frotzelnd“ bzw. „nicht ganz ernst gemeint“ modalisiert: PAID DAY OFF 1 <Fitz> ah you're at home? 2 <carot> yea 3 <carot> i have today off 26 Zum Konzept der Kontextualisierung siehe Gumperz (1982). 328 Susanne Günthner / Guriy Schmidt 4 <carot> 5 <carot> 6 <Cosette> 7 <Cosette> and i get paid : ) oh shut up : P Betrachten wir folgenden Ausschnitt, in dem zahlreiche Smileys in unterschiedlichen Funktionen auftreten. Die Situation ist folgende: Sara und Mary unterhalten sich über ein technisches Problem bei einem lokalen Computernetzwerk, das aus Apple-Macintosh-Rechnern besteht. Der augenzwinkernde Smiley ) “ (Zeile 2) markiert die scherzhaft-abwertende Einstellung zu diesem Rechnertyp. MAC SERVER 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 <Sara , '> <Mary> <Mary> <Mary> <Mary> <Sara' s > <Sara' s > <Mary> <Sara / '> <Mary> <Sara A > <Mary> <Sara A > <Sara A > <Mary> <Mary> <Sara A > <Mary> <Sara A > <Mary> noe, halt Dich fest: Mac Server Naja... so geht 1 s natürlich auch. ; ) oups gibt 1 s sowas? ? ; ) iss nicht meine Iddee anscheinend Okay... jeder wie er/ sie will ; ) keine Ah ung, max sind doooooof Ja, da kann ich auch garnicht weiterhelfen. hm, ich glaub ich muss jetzt offline gehn. Wird zu teuer sonst Okay... dann geh ich auch mal wieder. : ) Machs jut! ! ! ! ! ! ! ! ! Tschuesssssssssssssssss Ja, Du auch TSchuuuuuuuueeeeeeeeessssssssssssss : ))))) *drück* *drückfester* : ) Wie dieser Ausschnitt verdeutlicht, kommen Smileys häufig am Ende von Äußerungen vor (Zeilen 2, 8, 12), bzw. bilden die Äußerung selbst (Zeilen 5, 17, 20). Die Funktionen von Smileys lassen sich wie auch Runkehl et al. (1998, S. 97) argumentieren nicht allein aus der Ikonografie ableiten, sondern sind stark kontextbezogen: Smileys können unterschiedliche emotive, evaluative und auch kommunikativ-regulative Funktionen innehaben und tragen somit als Kontextualisierungshinweis zum Inferenzprozess einer Chat- Äußerung bei. Beispielsweise haben die augenzwinkernden Smileys in Zeilen 2 und 8 des obigen Beispiels („; ) “) die Funktion, Ironie zu signalisieren: 2 <Mary> Naja... so geht 1 s natürlich auch. ; ) 8 <Mary> Okay... jeder wie er/ sie will ; ) Der Smiley in Zeile 5 5 <Mary> Stilistische Verfahren in der Welt der Chat-Groups 329 verleiht der mit zwei Fragezeichen versehenen Frage in Zeile 4 4 <Mary> gibt's sowas? ? nachträglich eine ironische Bedeutung, mit der deutlich wird, dass Mary nicht wirklich wissen möchte, ob es Macintosh-Server gibt, sondern ihre Einstellung zu Macintosh-Servern zum Ausdruck bringt. Der Smiley in Zeile 5 hilft somit die Äußerung in Zeile 4 („gibt's sowas? ? “) nachträglich zu kontextualisieren. In Zeile 17 markiert der Smiley ein breites Grinsen, das in Zusammenhang mit der Gesprächsbeendigung erfolgt: 17 <Sara~> : ))))) In Zeile 20 übernimmt der Smiley die Funktion einer ganzen Äußerung, vergleichbar mit einem Lächeln in einer face-to-face Kommunikation und signalisiert ebenfalls einen Schritt in der Verabschiedungssequenz. 20 <Mary> : ) Am Beispiel der Smileys lässt sich recht gut beobachten, wie im Chat mittels neuer Techniken der Schriftlichkeit versucht wird, bestimmte Verfahren, die in der face-to-face-Kommunikation zur Kontextualisierung von Bedeutung zur Verfügung stehen (Prosodie, Gestik, Mimik, etc.), zu ersetzen. Folglich liegt eine der zentralen Funktionen der Smileys darin, den Chat-Partnern und -Partnerinnen zu signalisieren, wie bestimmte Äußerungen zu interpretieren sind (als freundlich, ironisch, witzig, etc.), bzw. welche Interaktionsmodalität vorliegt. 3.6 Abkürzungen und Akronyme Abkürzungen bzw. Akronyme geben den Schreibenden einerseits die Möglichkeit, die Zeit der sprachlichen Produktion zu verringern. Zum anderen tragen sie auch zur Gruppenkonstitution bei. Bestimmte Abkürzungen haben sich bereits konventionalisiert und gehören zum festen Wissensrepertoire geübter Chatter/ innen. Haase et al. (1997, S. 71) sprechen aufgrund der starken Verbreitung einzelner Abkürzungen und Akronyme bereits von „Lexikalisierungen“. Zu den wohl bekanntesten (auch in deutschsprachigen Chats verwendeten) Akronymen gehören u.a. „cu“ (für „see you“), „LOL“ (für „Laughing Out Loud“), „ROTFL“ (für „Rolling On The Floor, Laughing“), „FYI“ (für „For Your Information“) und „IMHO“ (für „In My Humble Opinion“). 27 27 Siehe hierzu auch Rosenbaum (1999). 330 Susanne Günthner / Guriy Schmidt Im Folgenden sollen einige (bekanntere) Akronyme beispielhaft präsentiert werden. 28 Betrachten wir zunächst folgenden Ausschnitt: OLLI 1 <011i> 2 <011i> 3 <Sara A, '> 4 <011i> 5 <Sara A ''> 6 <Sara AA > 7 <011i> 8 <Sara AA > 9 <011i> und was die Weisheit angeht, sorryle, aber ich schlag mich nun seit 2,5 jahren mit screendesign rum und krieg hin und wieder auch was mit von unseren designern... grobe Schnitzer? noe, bisher keine gesehen... ja, sehe ich ein, aber das mit den Links ist Korinthekackerei, IMHO wennde sowas ned hoeren willst, darfste moch ned fragen... mir isses einfach gleich in die äugen gefallen okay okay no offence Will sagen: Ich will hoeren: DAS IST GEIL! LOL *g* das wirste von mir nie hoeren,d a ich selbst von Sachen die ich supoeroberdupertoll finde (also meinen eigenen) nursag dasse in ordung sind ; ) oh Mann, okay seh ich ein: )) soll ich weiter mosern? ; )) „IMHO“ in Zeile 3 steht für „In My Humble Opinion“; „*g*“ (Zeile 7) steht für „grins“. Weitere Abkürzungen, auf die man immer wieder trifft, zeigen sich im folgenden Textausschnitt: KLO 31 <Mary> 32 <Mary> 33 <Mary> 34 <Sara A > oki brb ... klo back re „Oki“ ist eine Form von „okay“. Die Äußerung „brb ... klo“ (Zeile 2) ist vollkommen ausreichend, um anzudeuten, dass „Mary“ auf die Toilette geht und gleich wieder da sein wird, „brb“ ist die konventionalisierte Abkürzung für „be right back“. Nachdem „Mary“ wieder an den Bildschirm kommt, meldet sie sich mit „back“ (Zeile 33) zurück und „Sara A “ begrüßt sie mit dem in Chatkonversationen häufig benutzten Affix „re“. 3.7 Sprachliche Neubildungen/ Übernahme von Anglizismen Die kommunikative Gattung des Chats, deren mediale Bedingungen und die für sie typische informelle Kommunikationsform lassen reichlich Raum für sprachliche Kreativität und insbesondere für Neubildungen und Wortkreationen. Sehr häufig finden sich Übernahmen aus dem Englischen (Anglizismen), 28 Auf die Vielzahl an Akronymen kann hier nur verwiesen werden. Stilistische Verfahren in der Welt der Chat-Groups 331 29 die unterschiedlich stark dem deutschen Sprachsystem angepasst werden. Alltagssprachliche Wörter aus dem Englischen, wie „sorry“, „thanks“, „bye“, „fuck“, etc., Fachausdrücke aus der Computer-, Internet-, und Chatwelt, wie „topic“, „dient“, „nickname“, sowie die gängigen Abkürzungen, wie „LOL“, „cu“ („see you“), etc. werden meist direkt übernommen. Andere Termini (vor allem Verben) werden häufig dem deutschen System angepasst. So wird im folgenden Text „download“ der deutschen Perfektbildung angeglichen: MILCHBUBI 1 <milchbubi> macher mers halt an andern mal 2 <Sara> wo Hasses denn hiningedwnloaded 3 <milchbubi> progr/ eudora 4 <Sara> das download? 5 <Sara> oder die Installation? Im folgenden Ausschnitt wird „delete“ mit deutscher Infmitivform produziert: DIZZY 1 <dizzy> ein fenster weniger immerhin 2 <Sara A > kannste deleten 3 <Sara A > peart sagt danke 4 <dizzy> hups, war kurz weg, 3.8 Sprachspielereien In den Chats finden sich auch zahlreiche Beispiele von Sprachspielereien. Betrachten wir hierzu folgendes Beispiel, in dem sich „uri“ und „batwoman“ darüber unterhalten, ob „batwoman“ die Freundin von „dachs“ ist: DEUTSCHE SPRACHE SCHWERE SPRACHE 1 <uri> betwoman: unsinn... biste nun die freundin von dachs oder nicht ? 2 3 4 5 6 7 <batwoman> <batwoman> <batwoman> <uri> <THE_LIE> <uri> uri: ich bin nicht seine freundin uri: geht mir dir nicht an ! mit kann ich den letzten satz nochma auf deutsch haben ? eutse splche swele splache...: -)*feixx* ah Nachdem „batwoman“ „uri“ direkt adressiert und ihm erläutert hat, dass sie nicht die Freundin von „dachs“ ist (Zeile 2), da dies mit ihm („uri“) „nicht angeht“, korrigiert sie in Zeile 4 durch „mit“ das vorausgehende „mir“, „uri“ scheint verwirrt und fragt nach: „kann ich den letzten satz nochma auf deutsch haben? “ (Zeile 5), woraufhin sich der Teilnehmer „THE-LIE“ mit dem Kommentar: „eutse splche swele splache...: -)*feixx*“ einschaltet und damit 29 Vgl. auch Schlobinski (2000): „Anglizismen im Internet“ http: / / www.websprache.unihannover.de/ networx/ docs/ networx-14.htm 332 Susanne Günthner / Guriy Schmidt in einer Art „Ausländerdeutsch“ die Floskel „deutsche Sprache schwere Sprache“ verfremdet. Ein häufiges Verfahren in Chats stellen orthografische Spielereien dar: Ob ganze Morpheme oder Wörter durch einzelne Buchstaben oder Zahlen ausgetauscht werden (Zahlen oder Buchstaben dienen als phonologisches Ideogramm) oder aber Wörter lautmalerisch oder einfach ‘anders’ geschrieben werden das spontane Spiel mit dem getippten Wort ist sehr beliebt. So werden in den folgenden Ausschnitten Zahlen als phonologische Ideogramme verwendet: NACHT 41 <Mary> 42 <Sara''> PLANS 6 <Kim> UPDATE 45 <Hero> n8 dann! jau, schlaf gut! so what are your plans for 2day? it's been about 4ever since Live's site has been updated... Im folgenden Ausschnitt steht „cuL8r“ fur „see you later“: SHANGHAI 55 <gal22> cuL8r Gelegentlich werden auch bestimmte Begriffe orthografisch verfremdet. So wird im folgenden Textausschnitt, in dem sich „Emu“ und „PezSara“ über eine Städtereise unterhalten, die „Emu“ schließlich als „Kewl Fahrt“ (Zeile 9) bezeichnet, was das in der Jugendsprache geläufige Adjektiv „cool“ als „kewl“ repräsentiert: EMU 1 <Emu> 2 <PezSara> 3 <Emu> 4 <Emu> 5 <PezSara> 6 <Emu> 7 <PezSara> 8 <Emu> 9 <Emu> Dann warst Du aber auf einer Fahrt mit dabei (Stadt) Weia Das ist lange her jau, 3 Jahre 96 ebenT *sentimentalwerd* Kewl Fahrt Betrachten wir die verfremdeten Schreibweisen im folgenden Ausschnitt: ISDN 1 * GaNs zieht wohl bald um und kriecht le Ess De En 2 3 * fantaman4 zieht um und kricht analog...baibai isdn Stilistische Verfahren in der Welt der Chat-Groups 333 Zunächst referiert der Teilnehmer „GaNs“ in der 3. Person auf sich selbst und thematisiert seinen Umzug und die Tatsache, dass er bald einen ISDN („le Ess De En“)-Anschluss erhält, „fantamand“ greift diese Botschaft auf und thematisiert mittels lateraler Selbstadressierung, dass auch er umzieht und einen analogen Anschluss bekommt, „baibai isdn“ in Zeile 3 steht für „bye-bye ISDN-Anschluss“. 3.9 Verhaltensregeln und Sanktionen IRC-Netze und Webchats (gelegentlich sogar einzelne Chaträume) haben Verhaltensregeln, die analog zur „Netikette“ 30 für das gesamte Internet als „Chatiquette“ bezeichnet werden. Neben technischen Richtlinien, die beispielsweise das so genannte „Flooden“ (d.h. die wiederholte Eingabe von gleich lautenden Äußerungen), das „Lurking“ (d.h. das Eingeloggtsein ohne aktive Teilnahme) und „Bots“ (d.h. kleine Programme, die wie ein Chatteilnehmer „aussehen“, tatsächlich nur bestimmte technische Aktionen ausführen), betreffen, existieren auch inhaltliche Richtlinien: zur Höflichkeit im Chat, zum Unterlassen von rassistischen und sexistischen Äußerungen, zum Werbeverbot, zum Unterlassen von unnötigem „Schreien“ (d.h. Benutzen von Großbuchstaben), zum Unterlassen von Beschimpfungen anderer Teilnehmer/ innen, etc. Nicht alle Chat-Teilnehmer/ innen haben jedoch die gleichen Rechte. Vielmehr existiert eine hierarchische Struktur der RechteVerteilung: Im IRC haben die so genannten IRC-Operatoren die Möglichkeit, gegenüber „auffälligen Teilnehmer/ innen“ den „Kill-Befehl“ zu verwenden, um sie permanent aus dem gesamten IRC-Netz (d.h. nicht nur aus dem betreffenden Channel) auszuschließen. Dieser sehr harte Befehl wird allerdings nur selten benutzt. Häufiger sind „Ban-Befehle“, mittels derer die Channel-Operatoren bestimmte Chat-Teilnehmer/ innen dauerhaft aus einem Channel (nicht aus dem gesamten IRC-Netz) verbannen können, oder „Kick-Befehle“, die einen Teilnehmer kurzzeitig aus dem entsprechenden Channel ausschließen. Ist ein Teilnehmer mit dem „Kick-Befehl“ aus dem Channel hinausgeworfen worden, so kann er diesen Channel allerdings sofort wieder neu betreten. Normalerweise gilt der „Kick-Befehl“ als eine Art „Verwarnung“. Verstößt derselbe Teilnehmer wiederholt gegen die Regeln, wird schließlich der „Ban-Befehl“ eingesetzt. Ein solcher Vorgang findet sich im folgenden Beispiel: „AppMan“ verstößt 30 Storrer/ Waldenberger (1998, S. 65) fassen die Netikette folgendermaßen zusammen: „Indem Netiketten Erfahrungen tradieren, die in der Praxis gemeinsamer Techniknutzung gesammelt wurden, geben die darin verschriftlichten Kommunikationsnormen auch Aufschluss über den kommunikativen sozialen Stil (i.S.v. Kallmeyer 1995), der für die Kommunikationsdienste des Internet charakteristisch ist. Netiketten sind Dokumente, an denen sich vergangene und zukünftige Entwicklungen dieses neuen kommunikativen Stils nachzeichnen lassen.“ 334 Susanne Günthner / Guriy Schmidt mit Werbung gegen die Regeln des Chats. Er wird von verschiedenen Channel-Operatoren fünfmal aus dem Raum geworfen (Zeilen 4, 6, 9, 12 und 15), kommt immer wieder zurück und wird schließlich in Zeile 19 dauerhaft aus dem Raum verbannt: INFRA SOFTWARES 1 *** AppMan has joined #live 31 2 <AppMan> Do you want your Top Site to be on our homepage (Infra Softwares)? Mail Us at : Infra_Softwares@ofe.net 3 <Kes> appman blah 4 *** AppMan was kicked by Kes (Kes ) 5 *** AppMan has joined #live 6 *** AppMan was kicked by Kes (autojoin sux ) 7 *** AppMan has joined #live 8 <AppMan> Do you want your Top Site to be on our homepage (Infra Softwares)? Mail Us at : Infra_Softwares@ofe.net 9 *** AppMan was kicked by Lotte (sorry, not interested_J 10 *** AppMan has joined #live 11 <AppMan> Thanx lotte! 12 *** AppMan was kicked by Kes (Kes ) 13 *** AppMan has joined #live 14 <AppMan> Hey I'll quit advertising! 15 *** AppMan was kicked by Lotte (Lotte ) 16 <Kes> hey appman, pi** off 17 <Kes> LOL 18 <Lotte> heheheheh 19 *** Kes sets mode: +b *! *0callup278-4-32.swapnet.xy Im IRC besteht darüberhinaus die Möglichkeit, solche „Störenfriede“ mit dem „Ignore-Befehl“ auszuschalten: Äußerungen von Personen, die auf der persönlichen Ignore-Liste stehen, werden für die Chatterin bzw. für den Chatter dann nicht mehr angezeigt. Diese Sanktionsform eignet sich vor allem zur Abwehr wiederholter obszöner Botschaften. Um einen Nicknamen auf die Ignore-Liste setzen zu können, muss allerdings eine unerwünsche Botschaft vorausgegangen sein. Eine prophylaktische Abwehr unerwünschter Botschaften existiert in keinem Chat. 32 In folgendem Ausschnitt einer Chatkonversation im Pro? Webchat befragt ein Chatter im Flüstermodus den Teilnehmer „Kismet“ nach den Regeln des Chats: 1 Flüster zu Kismet: wann wird man hier rausgeworfen, gibt es irgendwo Regeln? Jl Bei Zeilen, denen drei Asteriske vorangestellt sind, handelt es sich um Meldungen des Servers, die angeben, welche Aktionen innerhalb des Channels durchgeflihrt werden. Manche Webchats haben eine dem IRC ähnelnde Rechteverteilung übernommen, beispielsweise existiert im Cassiopeia-System der Rang des so genannten „Superusers“, analog zum Channeloperator im IRC. Stilistische Verfahren in der Welt der Chat-Groups 335 2 Kismet flüstert: meinst du vom zueitlichen limit oder von den verhaltensregeln? 3 Kismet flüstert: na wegen daurndem wiederholen, sexistischne oder rassistischn Susserungen usw. 4 Flüster zu Kismet: und wer bestimmt das? 5 Kismet flüstert: na die SU halt Superuser können also Sanktionen gegen Teilnehmer/ innen einsetzen, die sich „daneben“ benehmen. Sie können Teilnehmer/ innen aus dem Raum „kicken“ oder aber einen Teilnehmer „knebeln“. Wird ein Teilnehmer „geknebelt“, kann er nur noch „flüsternd“ kommunizieren, d.h., seine Äußerungen gehen nicht länger an alle Teilnehmenden, sondern er kann nur noch einzelne anmailen. Im folgenden Ausschnitt wird der Knebelbefehl eingesetzt: KNEBEL 1 Pascha79 schreit: TELEFONS IST SCHWUL! 2 krys betritt den Raum 3 (Telefon3) nö.... 4 > mezzo ist lesbisch 5 yaclo verläßt den Chat 6 (mezzo) *gg* 7 Pascha79 ist von rahmses geknebelt worden Nachdem „Pascha79“ in Zeile 1 lautstark „Telefon3“ als „SCHWUL“ bezeichnet, wird er in Zeile 7 vom Superuser „rahmses“ mit dem „Knebel-Befehl“ zum Flüstern verurteilt. Wie im gesamten Internet so wird auch im Chat primär auf Selbstregulierung gesetzt: Möglichkeiten der Sanktionierung können bei der Einhaltung von Regeln behilflich sein, sie haben jedoch nur geringe Wirkungskraft, da sie nach dem subjektiven Ermessen der in der Hierarchie höher stehenden Teilnehmer/ innen eingesetzt werden können (aber nicht müssen) und zudem einen zurechtgewiesenen bzw. rausgeworfenen Teilnehmer/ innen nicht davon abhalten können, sich mit einem neuen Nicknamen und ggf. sogar anderer IP- Adresse erneut einzuloggen und wieder gegen die Regeln zu verstoßen. Chatter/ innen müssen sich also damit abfmden, immer wieder mit Teilnehmer/ innen konfrontiert zu werden, die gegen Verhaltensregeln verstoßen. 34 „SU“ ist die Abkürzung für die in Fußnote 32 erwähnten „Superuser“. 34 Mittlerweile liegt bereits ein Gerichtsurteil über den möglichen Ausschluss von Chat- Teilnehmern bzw. Teilnehmerinnen, die sich kommunikativ daneben benehmen und sich nicht an die so genannte „Chatiquette“ halten, vor. Dieses Urteil (LG Bonn, Urteil vom 16.11.1999) besagt, dass Betreiber/ innen von Chat-Foren nicht ohne weiteres einen Benutzer von dem Chat-Forum entsprechend der Ausübung eines „virtuellen Hausrechtes“ auschließen können. Beleidigende Äußerungen der Benutzer wie auch die Verwendung neuer Nicknamen, nachdem der Benutzer mit seinem ursprünglichen Nicknamen gesperrt 336 Susanne Günthner / Guriy Schmidt 4. Schlussfolgerungen Wie Kallmeyer (1995) in Zusammenhang mit dem Konzept des „kommunikativen sozialen Stils“ ausfuhrt, so handelt es sich auch beim kommunikativen Stil des Chattens um keine statische Entität, sondern um einen dynamischen Prozess mit unterschiedlichen Realisierungsformen. Die Sprache der Chatter/ innen, ihre stilistischen Konventionen und kommunikativen Regeln sind durchaus kontextabhängig: Je nach Chat-Typ, je nach Channel und je nach Gruppenzusammensetzung im jeweiligen Channel zeigen sich teilweise unterschiedliche stilistische Eigenheiten. Dennoch lassen sich bestimmte stilistische Konventionen, die nahezu sämtliche Chats umfassen und als prototypische Merkmale der Chat-Kommunikation bezeichnet werden könnten, ermitteln. Diese stehen in enger Verbindung zu den medialen Bedingungen und interaktiven Funktionen der kommunikativen Gattung des Chats. Speziell die Merkmale der medialen Schriftlichkeit der Gattung, der Synchronizität der Kommunikation bei örtlicher Distanz und Anonymität der Teilnehmenden, der Abwesenheit prosodischer und non-verbaler Verfahren und der (in der Regel) starken Informalität der Interaktion prägen die stilistischen Eigenheiten dieser Kommunikationsform. 5. Literatur Cassiopeia Chatsystem: <http: / / www. cassiopeia. de> Chatcity: <http: / / www. chatcity. de> Fittkau und Maas (2000): 9. W3B-Umfrage. Fittkau & Maaß, W3B Hamburg, Hermannstraße 14, 20095 Hamburg, <http: / / www.w3b.de>. Gallery, Heike (1999): ‘Bin-ich-klick-ich’ - Variable Anonymität im Chat, ln: Thimm, Caja (Hg.): Soziales im Netz. Sprache, Beziehungen und Kommunikationskulturen im Internet. Opladen. S. 71- 88. Gumperz, John J. (1982): Discourse Strategies. Cambridge. GfK-Monitor (2000): Werben & Verkaufen Webseite: <http: / / www.wuv.de/ studien/ gfk0200/ 2.html>. Haase, Martin/ Huber, Michael/ Krumeich, Alexander/ Rehm, Georg (1997): Intemetkommunikation und Sprachwandel. In: Weingarten, Rüdiger (Hg.): Schrift computerbasierter Medien und die Bildung sprachlicher Normen. Opladen. S. 51-86. Holly, Werner (1996): Alte und Neue Medien. Zur inneren Logik der Mediengeschichte. In: Rüschoff, Bemd/ Schmitz, Ulrich (Hg.): Kommunikation und Lernen mit alten und neuen Medien. Beiträge zum Rahmenthema „Schlagwort Kommunikationsgesellschaft“ der 26. wurde, sind kein Grund, jemandem das virtuelle Hausrecht in einem Chat-Forum zu entziehen. Ein virtuelles Hausverbot wäre nur dann gerechtfertigt, wenn ein Benutzer den Betriebsablauf gestört oder „die Software nicht im Rahmen des üblichen Chatter-Verhaltens genutzt hätte oder aber explizite Regeln für jeden Teilnehmer deutlich erkennbar festgelegt wurden.“ (http: / / www.netlaw.de/ urteile/ lgbn_2 .htm). Stilistische Verfahren in der Welt der Chat-Groups 337 Jahrestagung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik GAL e.V. Frankfurt a.M./ Berlin/ Bem/ New York/ Paris/ Wien. S. 9-16. Kallmeyer, Werner (1995): Zur Darstellung von kommunikativem sozialen Stil in soziolinguistischen Gruppenportäts. In: Keim, Inken (Hg.): Kommunikation in der Stadt. Bd. 3. Berlin/ New York. S. 1-25. Oikarinen, Jarkko (o.J.): <http: / / www.mirc.co.uk/ heip/ jarkko.txt>. (Stand: 10. Februar 1999). 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In erster Annäherung könnte man leicht kalauernd sagen, dieser Stil ordne sich irgendwo zwischen „Stille und Lärm“ ein. Das ist natürlich eine metaphorische Redeweise, die mit der phonetischen Ähnlichkeit zwischen „Stil“ und „Stille“ spielt. Ich deute damit drei Aspekte an: 1) Neue Kommunikationsformen, die vor allem durch technische Rahmenbedingungen und Zwänge geprägt sind, die für den laienhaften Benutzer in der Regel undurchschaubar sind, kann man sich durch bildliche Umschreibung plausibel und verständlich machen und so als Teil der eigenen kommunikativen Praxis aneignen. Darauf hat schon Jakob (1991) hingewiesen. 2) Die Redeweise von „Stille und Lärm“ ist freilich angesichts eines technischen Mediums, in dem man meist nur das Klappern der Computer- Tastatur hört, paradox. Bei der heute noch unausgebauten Technik ist eine hybride konzeptionelle Mündlichkeit auf schriftlichem Kanal angesagt, selbst bei Interaktionsformen, deren Bezeichnung wie etwa der Chat dezidiert auf mündliche Kommunikation verweist. Mein Gegenstandsbereich sind die gerade wegen ihres Verzichts auf Multimedialität attraktiven rein textbasierten Diskussionsangebote im Internet sie sind attraktiv, weil sie geringe Anforderungen an die Hardware und die Übertragungskapazität im Netz stellen und weil man mit einem E-Mail-Client und einem Web- Browser auskommt, ohne zahlreiche Zusatzprogramme (plug-ins) für multimediale Dateien installieren zu müssen. 3) Mit „Stille und Lärm“ deute ich vor allem auf das Problem hin, dass die Kommunikation im Internet potenziell nach zwei Seiten hin bedroht ist sie kann durch zu wenige oder zu viele (simultane) Informationsangebote gestört werden. Es gibt Mailinglisten, Clubs oder andere Internet-Gemeinschaften, die an Auszehrung eingehen, weil sich kaum jemand aktiv beteiligt, weil Anfragen unbeantwortet bleiben das Bild des „einsamen Rufers in der Wüste“. Hier ein Beispiel für eine Beschwerde über mangelnde Resonanz in einem Internet-Forum: 340 Wilfried Schütte Beispiel 1: (aus dem Yahoo-„CIub about Online Communities“) Club about Online Communities A place tots» about building online communities Dead community? t marux? (21/ M/ Netherlands) 2(10(00 5: 24 am Hello, are you sleeping? It's a dead community, or we are supposed to discus something? Auf der anderen Seite muss oft die Vielzahl nahezu simultaner Nachrichten geordnet werden und wird dennoch vielfach als Informationsüberflutung empfunden. Ordnungsmittel sind subjects („Betreff 1 ) in den Headern von Mails und Newsgroup-Postings, durch die Mails zum gleichen Thema zu sog. Threads verknüpft werden können. Das heißt für den Teilnehmer: Wenn er mehrere Mailinglisten abonniert hat und morgens nach dem Einschalten des PC in seinen Briefkasten schaut, kann er über die Header-Informationen gleich das für ihn Wichtige und Interessante vom (vermutlich) Unwichtigen trennen. Je mehr Mails er bekommt, desto wichtiger ist diese Selektion. Abseits von dieser Orientierung an Inhalten und effizienter Kommunikation gibt es freilich auch Interaktionsgruppen im Internet, die sich geradezu über ihre Lärmerzeugung definieren z.B. die Newsgroup „de.alt.dummschwatz“, beschrieben als Forum „für die dümmsten und inhaltsleersten Postings“. Ein Beispiel für den sehr auf Beziehungsschemata und „phatic communion“ orientierten Kommunikationsstil aus dieser sehr aktiven Newsgroup vom 15.2. Beispiel 2: (aus der Newsgroup „de.alt.dummschwatz“) >Wenn dieses Posting ankommt hat unser Ewald >es wahrhaftig geschafft, in viel muehevoller und >anstrengender Kleinarbeit einer Ploetine den Hamster >per Mail zu erklaeren und glaubt mir, das war nicht >einfach! ! ! ! Bitte streiche doch ganz schnell das Wort 'Ploetine'! Denn ploede warst nicht Du, sondern der OutlookExpress! ! ! >*knuddel* >Danke lieber Ewald, das kann ich garnicht wieder gutmachen! : -)))))) *knuddel zurück* Na, dadurch das Du Präsi von d.a.d. bist, machst Du doch schon wieder alles gut! ! Obwohl, wenn ich mir das so überlege : -))) View Replies to this Message < - PfBVtoti? Next -> Message 55 of 76 Reply 2000: Normen und Leitvorstellungen im Internet 341 Grüße von Ewald >Haaa? Bin ich da schon drin, oder was? >Ich bin schon drin! Das ist ja einfach! Drin! ? (Bumm Bumm Bobbele) Diese Mitteilungen sind für außenstehende Leser kaum verständlich die Newsgroup wird zum Forum für Insider-Gespräche. Über das Internet zu kommunizieren ist mittlerweile nicht mehr Angelegenheit einiger Experten und sog. Computer-„Freaks“, sondern wird zur Kulturtechnik wie vor hundert Jahren das Telefonieren. So verändern sich zunächst in der Internet-Kommunikation, dann auch in der Alltagssprache Wortschatz und Formulierungsmuster. Fachwörter wie Festplatte und Modem werden in der Alltagssprache heimisch. Abkürzungen wie „cu“ für „see you“ oder „rotfl“ für „rolling on the floor laughing“ beschleunigen die Internet-Kommunikation beim Mailen oder Chatten, verweisen außerdem auf das spielerische Potenzial dieser Kommunikation. In ähnlicher Weise sind Smileys wie ; -) oder : -( nicht nur Kommentare, die in etwa mit „das finde ich witzig/ schade“ oder „das solltest du nicht ernstnehmen“ zu paraphrasieren sind; sie sollen in ihrer kommunikativen Funktion den Leser darüber informieren, wie der Schreiber einen Teil seines Textes verstanden wissen will. Solche Smileys sind darüber hinaus spielerisch verwendete „Gewürze“, die gewissermaßen über den Text gekippt werden und ihn als Internet-Text markieren in ähnlicher Weise, wie Graffiti im öffentlichen Raum oft weniger als inhaltliche Mitteilungen eines anonymen Sprayers an ein disperses Publikum fungieren, sondern eher ein Mittel sind, eben diesen öffentlichen Raum für die eigenen Kommunikationsbedürfnisse zu reklamieren. Wörter wie navigieren und surfen nehmen neue Bedeutungen an, und viele englische Fremd- und Lehnwörter werden ganz selbstverständlich verwendet. Dass man im Internet häufig vom downloaden (dem Herunterladen einer Datei) und flamen (andere Netzteilnehmer wegen ihrer angeblichen Regelverstöße wüst beschimpfen) redet, ist Sprachschützern ein Dom im Auge, weil sie praktische Probleme in der Morphosyntax befürchten heißt es nun „ich habe downgeloadet“ oder „ich habe gedownloadet“? - und weil sie nun auch durch das Internet die deutsche Sprache und damit sogar die Kultur bedroht wähnen. 1 1 Der Vorsitzende des Vereins Deutsche Sprache, Walter Krämer, in einer Pressemitteilung „Kein Denglish in deutschen Wörterbüchern“ vom 25.5.1999: „Es gibt es für einen großen Teil des englischen Computer-Jargons perfekte und oft bessere deutsche Wörter, angefangen mit dem Computer selbst. Der hieß früher immer und bei wahren Profis auch noch heute Rechner. Außerdem weichen viele Anglizismen den Tiefencode der deutschen Sprache auf man weiß nicht mehr, in welcher Sprache man sich eigentlich bewegt (downloaded, gedownloaded oder downgeloaded? ) Sie erleichtern nicht die Verständigung der Menschen, sie erschweren sie.“ (http: / / vds-ev.de/ presse/ pressemitteilungen/ archiv/ pressemitteilungenl999.php#Wörterbücher). 342 Wilfried Schütte Doch nicht nur die Lexik der Internet-Fachsprache ist betroffen. Auch die Kommunikationsformen, die im Internet benutzt werden, die Regeln für den angemessenen Stil, wie man miteinander in den Diskussionsforen des Internet, im Usenet und in den Mailinglisten diskutieren und aufeinander Bezug nehmen sollte, stehen zur Diskussion. In einem Medium, dessen Gebrauchsregeln noch nicht starr sind, bei dem Neulinge (die sog. Newbies) auf Erfahrene und tatsächliche oder angemaßte Experten treffen, bietet sich die Chance, Genese, Aushandlung und Etablierung derartiger Kommunikationsformen und -normen zu beobachten. Interessant sind neben den Veränderungen im Wortschatz die besonderen Kommunikationsmuster, die sich im Internet etabliert haben. Beispielsweise kann man bei E-Mails, in Newsgroups und Mailinglisten die Mail, auf die man sich bezieht, zitieren (das sog. Quoten). Das bringt Chancen und Risiken mit sich man spart sich die Schreibarbeit, noch einmal zu wiederholen, was der Partner schon geschrieben hat; man markiert zudem ganz eindeutig, auf welchen Text und welchen Textteil man sich beziehen möchte. Wenn man aber die ganze Mail zitiert, werden Textteile ohne Informationsgewinn vervielfacht — es entsteht Text-Müll. Das empfinden viele Leser im Usenet wie auch viele Subskribenten von Mailinglisten als Belästigung: Je mehr sich das eigene Mailaufkommen erhöht, je mehr Newsgruppen man täglich konsultiert, desto mehr ist man daran interessiert, einen schnellen Überblick zu behalten und nicht durch mehrfach verschickte und obendrein redundante Texte verwirrt zu werden. Üppige, womöglich vollständige Zitate, gefolgt von lakonisch-abfälligen Kommentaren, in denen das Zitat als Beleg für Defizite in der kommunikativen Kompetenz des Anderen herangezogen wird, bewirken oft beleidigte Reaktionen. Die Diskussion kann sich dann in einer Weise zum nur mühsam zu bereinigenden Konflikt hochschaukeln, wie es bei Gesprächen von Angesicht zu Angesicht so nicht ohne weiteres erwartbar wäre. In der Face-to-Face-lnXereküon (im Internet auch knapp f2f genannt) gibt es sanfte Mittel, eine Eskalation des Konflikts zu bereinigen. Neben den kulturell etablierten Höflichkeitsregeln sind das vor allem die Mehrkanaligkeit der Kommunikation (z.B. können hochgezogene Augenbrauen als Warnsignale dienen) und ihre Verankerung in einem reichen sozialen Kontext, auch etwa einer langjährigen gemeinsamen Kommunikationsbiografie, was bei flüchtigen Internet-Begegnungen nicht gegeben ist. Dass sich Konflikte über L/ awe-Mails aufschaukeln können, zeigt, dass die Kommunikation im Internet in ganz besonderer Weise erweiterte Möglichkeiten, aber auch Risiken bietet. Normen und Leitvorstellungen im Internet 343 Zum Forschungsstand In der neueren Literatur sind wenn auch oft nicht konversationsanalytisch (z.B. Smith/ Collock 1998)bereits vielfach Formen sozialer Organisation im Internet beschrieben worden (Baym 1995, Jones 1997, Surratt 1998, Thimm 2000). Döring (1995) hat sich gegen die populäre, aber unempirische These einer tendenziellen Vereinsamung des Nutzers im Netz gewandt. Döring (2000) weist insbesondere auf Motive und Formen des Übergangs von internet-vermittelter zur direkten Kommunikation hin. Gräf (1997) beschreibt die Änderungen sozialer Netzwerke durch das Internet; Kasperski (1998) befasst sich mit gruppenspezifischem Verhalten in Newsgroups. Mit Aspekten von Höflichkeit, für die Internet-Kommunikation auch Netiquette genannt, beschäftigen sich Djordevic (1998), Storrer/ Waldenberger (1998) und Shea (1994). Gängig wird die besondere E-Mail-Mischform als „hybride Mündlichkeit“ beschrieben (Feldweg/ Kibiger/ Thielen 1995, die auch auf die Autoreflexivität in Newsgroups, also die häufige Thematisierung des medienspezifischen Sprachgebrauchs, hinweisen). Besondere Ausdrucksformen für E-Mails sind Smileys, Akronyme und Anglizismen (Abel 1999, Runkehl/ Schlobinski/ Siever 1998, Sanderson 1997 im Hinblick auf Emoticons). Baym (1998) beschreibt die häufige Modalisierung von E-Mail-Kommunikation in Form von Scherzkommunikation. Als E-Mail-spezifische Kommunikationsmöglichkeiten ist das Kommentieren (Fehr 1998) analysiert worden; elektronische Post gilt als neuer Kommunikationstypus mit spezifischen Formen und Mustern (Goll 1998a); für die Themenentwicklung (Gruber 1997) sind das Zitieren und eine ausgebaute Metakommunikation kennzeichnend. Formen der Selbstdarstellung äußern sich in einer „(Selbst-)Inszenierung“ der Teilnehmer und in der „Theatralität“ in Chat-Kommunikation (Aycock 1995, Bahl 1997, Beißwenger 1999). Metaphorik dient als Technik der Aneignung konzeptionell neuer über vertraute Kommunikationsformen (Bickenbach/ Maye 1997). Die professionellen Möglichkeiten für eine Nutzung des Internet wurden dargestellt von Clasen/ Wallbrecht/ Rommerskirchen (1998), von Meier (1999) (für Journalisten), Batinic (1997) (für Psychologen). Goll/ Meier (1997) und Goll (1998b) beschreiben Videokonferenzen für Arbeitsgruppen. Jones (1999) und Kardas/ Milford (1996) sehen eine Ambivalenz des Internet: es ist sowohl Objekt als auch Medium der Forschung. Im Hinblick auf die Interaktivität haben Rafaeli/ Sudweeks (1997) insbesondere Threads als interaktivitätsstiftende Ressource dargestellt. 344 Wilfried Schütte Beobachtungen zum Diskussionsstil Ich befasse mich mit Mailinglisten, Newsgroups und Internet-Clubs, wie sie vor allem seit 1999 von vielen Suchmaschinen-Betreibern und anderen großen Internet-Anbietern als Teil ihrer sog. Portale, also umfassender Informationsangebote und Starthilfen auf dem Weg ins Internet angeboten werden. Beispiele derartiger Mailinglisten sind „ard-bildung“ mit Informationen zum Bildungsprogramm auf den ARD-Sendern, „bnc-discuss“ zum „British National Corpus“, „endnote-interest“ für Benutzer der Literaturdatenbank EndnotePlus, die englischsprachige „ethno hotline“ für Ethnografen und Ethnomethodologen, die deutschsprachige „gesprächsforschung“ zu eben diesem Thema, „languse“ zur Pragmatik und Gesprächsanalyse, „linse-list“ aus Essen zur Linguistik allgemein, „netzforum“ zu Kommunikationsnetzen der Zukunft, „semantik“ zur linguistischen und logischen Semantik. In solchen Mailinglisten mit professioneller Orientierung ist es üblich, seine volle soziale Identität zu präsentieren und ähnlich einer Visitenkarte eine signature am Schluss beizugeben. Im Fokus stehen für mich zum einen die professionelle Nutzung dieser Dienste und die Frage, wie die für die ablaufende Interaktion gültigen Normen und Leitvorstellungen unter den Interaktionsbeteiligten, also den Mailinglistenteilnehmern oder C/ wb-Mitgliedern, ausgehandelt werden. Solche Thematisierungen von Normen und Leitvorstellungen findet man gehäuft in thematisch einschlägigen Newsgroups zur Sozialisation von unerfahrenen Newbies 2 , zur Autoreflexion und Metakommunikation. 3 Durch diese Subkultur von Internet-Gemeinschaften mit metakommunikativ-autoreflexiver Zweckbestimmung wird die eigentliche Internet-Kommunikation entlastet; 2 de.newusers.infos und de.newusers.questions mit der Beschreibung „Neue Benutzer im Netz fragen, Experten antworten“. 3 Das sind u.a. zur Höflichkeit im Netz de.soc.netzkultur.umgangsformen, zu sonstigen Netzkultur- und Netzpolitik-Themen de.soc.netzkultur.misc, zur Netzkultur etc. verschiedener Netze z-netz.forum.netzwesen, zur Schadensbekämpfung de. admin, net-abuse. announce für Maßnahmen gegen Netzmissbrauch, de.admin.net-abuse.mail zum E-Mail- Missbrauch, de.admin.net-abuse.news zum Fehlverhalten im Usenet, de.alt.flame für Beschimpfungen wegen angeblicher Regelverstöße im Netz. Die Newsgroup z-netz. forum.netzwesen scheint allerdings ziemlich tot zu sein. Am 16.2.2000 bot der Newsserver news.beiwue.de nur 4 Nachrichten an: zwei deplatzierte mit kommerziellen Werbelinks, die Antwort auf ein Gebraucht-ov-Angebot, was auch nichts mit dem Thema dieser Newsgroup zu tun hat, schließlich die offensichtlich regelmäßig gepostete Information zur Zweckbestimmung dieser Newsgroup. Die enthält allerdings ein nettes Akronym: Diese Newsgroup sei ein „GABELN“, und das sei „Abk. für: Gruppen / Area / Brett / Echo / Listen / Netz (Mz. GABELNs)“. Dieses spielerische Akronym verweist auf eine Bezeichnungsunsicherheit bei den interaktiven Diensten des Internet: aus historischen Gründen variierende deutsche und englische Bezeichnungen für Gruppen zur Internet-Kommunikation. Normen und Leitvorstellungen im Internet 345 zugleich sind diese Gruppen für die linguistische Forschung heuristisch interessant, weil hier Normen und Leitvorstellungen der Kommunikation unter den spezifischen technischen Bedingungen sowie technische und kommunikative Entwicklungstendenzen — mitunter auch kontrovers — diskutiert werden. Diese Diskussion wäre für die alltägliche Interaktion in Internet-Foren zu ganz anderen Themen kontraproduktiv; sie ist hier nur im Dissens- oder Konfliktfall zu erwarten. Hier noch zwei Beispiele aus einem Yahoo-Club, der sich mit Chancen und Risiken der Community-Bildung über ein Internet-Portal, mit Erwartungen und Enttäuschungen von Club-Gründern befasst; communities, die im Rahmen derartiger Internet-Dienstleistungen angeboten werden, scheinen in jüngster Zeit herkömmliche Mailinglisten und Newsgroups zu verdrängen. Beispiel 3: (aus dem Yahoo-„Club about Online Communities“, 5.7.2000) Dieses ist der Begrüßungsbildschirm für mich als Mitglied „willi52_1999“ (unter Pseudonym): Man meldet sich an unter Angabe einer E-Mail-Adresse, an die nach Wahl des Teilnehmers nur eine automatische Anmeldebestätigung oder sämtliche neuen messages dieser community geschickt werden. Da 346 Wilfried Schütte jederzeit auch wieder eine Abmeldung möglich ist, ist die „Mitgliedschaft“ in einer derartigen Online-Community sehr flüchtig und sozial unverbindlich. Das Yahoo-Portal hat zudem Links zu club-bezogenen Angeboten und weiteren Informationen, eine Besucher-Statistik, aus der man entnehmen kann, wie lebendig der Club ist, das zusätzliche Angebot eines Chat, in dem nicht asynchron Texte, sondern synchron Äußerungen im Turn-Format ausgetauscht werden und einen Überblick über die eingegangenen Textbeiträge, rückwärts nach Datum sortiert (sodass die jüngste message als erste in der Liste erscheint). Beispiel 4: (aus dem Yahoo-„Club about Online Communities“, 5.2.2000) Re: 1 haw some ideas about © mamxz »hat- (21/ M/ Nycferlanda! ) 2/ 5/ 00 10: 41 am shula20 wrote: <but IVe yet to see a successful example of a strong online community. Well shula, frankly I think that it is impossible to create STRONG community, unless all members of community know each other personally, but then the community itself can change it's content to arranging meetings and parties, chatting about useless issues etc. it's better to go to chat then... Scholars clearly say, that in such kind of community 90% of members are just silently lurking, waiting until somebody asks them a question; 9% are active members and the last 1 % is leading. I was reading about one community in Santa Monica when in the begining everyone was friendly and active, but afterwards the community died because of quarrels and personal insults. [Jones, S. G. "Virtual Culture"].From my own expierence I also know the same situation when members recquire the administrator to delete them because they cannot bear insults any more. I’m not sure about the main reason why is so, but I think that people lose their interests to communicate in cyberspace under nicknames. They want to know the names the background of other members, but in cyber community this is not allowed. Well, there are more reasons, but I dont want to irritate you with my rather pesimistic opinion. This Is a Reply to: Msg 35 by anosrep View Replies to this Message „maruxz“ redet hier seine Vorrednerin „shula“ direkt an die beiden führen damit eine Art Podiumsdiskussion vor dem Publikum der community. Aus seiner Sicht hat die f2f-Kommunikation gegenüber der Online-Kommunikation Vorrang, weil sie eher alltägliche Kommunikationsbedürfnisse befriedigen könne. In einer Gegenüberstellung von community und chat verweist er auf eine Entwicklung des chat von einer Interaktionszu einer (technischen) Organisationsform, „maruxz“ spricht auch die Rollenverteilung in einer Online-Gemeinschaft an; er unterscheidet zwischen dem leader, dem Aktiven Normen und Leitvorstellungen im Internet 347 und dem lurker und problematisiert die quantitative Dominanz der Mitglieder mit passiv-rezeptivem Verhalten, wenn nicht gar lediglich voyeuristischen Motiven. Ein weiteres Problem der Online-Gemeinschaften kann ihre Dynamik sein, wenn sich aufschaukelnde Konflikte bis zur Zerstörung der Gruppe führen, „maruxz“ sieht diese Gefahr, weil die Teilnehmer/ -innen nicht mit ihrer vollen sozialen Identität, sondern mit einer inszenierten und partiellen unter Pseudonym interagieren. Für die professionelle Nutzung hingegen kennzeichnend ist eine strikte thematische Disziplin, die bei Abweichungen auch durch Kommentare wie off topic oder oft kurz OT thematisiert wird. Das ist dann entweder eine Rüge, dass andere mit ihrer Mail den verbindlichen Themenbereich der Internet-Gemeinschaft verfehlt haben, verbunden mit einer Aufforderung, dieses Verhalten künftig zu unterlassen - oder aber eine vorgreifend-prophylaktische Entschuldigung: Man kündigt die Absicht an, den definierten Themenbereich mit seiner Mail überschreiten zu wollen, und ermöglicht dadurch diese Handlungsweise. Dazu ein Beispiel aus der Mailingliste INETBIB, die sich eigentlich mit der Internet-Nutzung für Bibliotheken befasst: Beispiel 5: (aus der Mailingliste „INETBIB“) Date: Mon, 5 Jan 1998 14: 03: 19 GMT+100 Subject: Schach [...] Hoffentlich verzeiht man mir diese ungewoehnliche Anfrage im neuen Jahr: ich suche eine Schachpartie aus dem Jahr 1994: Kasparow : Gegner egal, die Partie geht ueber 32 Zuege, Schwarz gewinnt. Toll waere es diese Partie im Internet nachzulesen. Wer Informationen hat mail bitte direkt an mich. Vielen Dank. Die Entschuldigung markiert das vorgebrachte Anliegen implizit als offtopic. Das Anliegen, offenbar ein Hobby der Autorin, gehört nicht zu den gängigen Themen in der Mailingliste INETBIB das ist eine gegenseitige Information und Hilfestellung über die Integration von Bibliotheken und Internet. Das Anliegen wird aber strategisch günstig platziert, gleich nach Neujahr die Autorin rechnet offenbar mit überdurchschnittlicher Nachsicht für Digressionensozusagen einem „Neujahrsbonus“. Antworten auf ihre Frage sollen nicht an die Liste, sondern direkt an die Absenderin geschickt werden. Damit markiert sie nochmals, dass ihr Anliegen eigentlich off topic ist, dass sie jedenfalls nicht unterstellt, dass Antworten für die Listenteilnehmer generell interessant sein könnten. Die Zuschreibung off topic ist häufig explizit als Rüge oder als vorgreifende Absicherung eines eigenen potenziellen Verstoßes. Im folgenden Beispiel findet sich (s. Pfeil-Markierung) als weiterer Typ ein impliziter Kommentar zu thematischen Abschweifungen. Zum Charakter einer Anspielung gehört 348 Wilfried Schütte eine schillernde kommunikative Funktion zwischen ernsthafter Rüge und scherzhafter Frotzelei: 4 Beispiel 6: (aus der Mailingliste „heinz-list“) From heinz-list Wed Mar 31 22: 46: 30 0800 1999 remote from machno.hbistuttgart.de [. . .] Date: Wed, 31 Mar 1999 22: 46: 30 -0800 (PST) From: Andreas Wertheim<wertheim0yahoo.com> Subject: Re: Was ist das Internet ? To: heinz-list0rnachno.hbi-stuttgart.de Sender: owner-heinz-list0machno.hbi-stuttgart.de Reply-To: heinz-list0machno.hbi-stuttgart.de Message for heinz-list Hallo Jochen, die Frage ist nach meiner Meinung gar nicht so einfach, wie es zunaechst den Anschein hat. Trotzdem auch von mir ein knapper Definitionsversuch: Das Internet ist *ein* weltweites Netz, das viele unterschiedliche Netze verbindet. Das verbindende Kommunikationselement ist dabei das TCP/ IP-Protokoll, auf dem alle verfuegbaren Dienste wie Mail, WWW, News etc. aufbauen. Fuer Fragen dieser Art empfehle ich normalerweise waermstens PCWEBOPEDIA (http: / / webopedia.internet.com/ TERM/ I/ Internet.html). Auch wenn die Erklaerungen oft nicht ausreichend sind, die weiterfuehrenden Links helfen bestimmt weiter. Viele Gruesze und Viel Erfolg bei der Arbeit Andreas Wertheim -- Klaus Fach<fach0koma.free.de> wrote: Message for heinz-list > ...und warum ist der himmel blau? <= beginn der weitergeleiteten nachricht= ## Ersteller: zirn0zfn.uni-bremen.de ## Betreff: Was ist das Internet ? ## Erstellt: 30.03.99 ## Quelle: / de/ sci/ paedagogik > Hallo ! Ich schreibe gerade eine Arbeit über das Internet in der Berufsausbildung. Wer kann mir sagen (definitiv) was das Internet ist ? Möglichst eine verständliche und griffige Erklärung oder Beschreibung was das Internet eigentlich ist. > Vielen Dank >> Jochen E-Mail: zirn0uni-bremen.de [...] 4 Diese Mail ist von hinten nach vorne zu lesen; zweifach wird der zitierte Teil, der chronologisch vorangeht, nachgestellt. Normen und Leitvorstellungen im Internet 349 Ob etwas off topic ist oder nicht, ob eine Frage in der Mailingliste sinnvoll beantwortet werden kann oder nicht darüber können die Meinungen auseinander gehen. Hier wird die „Gott und die Welt“-Frage „Wer kann mir sagen (definitiv) was das Internet ist? “ sehr unterschiedlich beantwortet: Zunächst fügt der Listenverwalter seiner eigenen Weiterleitung dieses Beitrags aus einer Newsgroup den Kommentar „...und warum ist der himmel blau? “ hinzu. Aus der Tatsache der Weiterleitung allein ist unklar, ob der Listenverwalter die Frage als auch für diese Liste relevant hochstufen oder ob er im Stil des „Hohlspiegels“ des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ eine skurrile Internet-Fundsache durch Zitat bloßstellen möchte der Kommentar deutet aber ironisch die Uferlosigkeit und damit Unbeantwortbarkeit der Frage an. Dann erhält der Fragesteller doch noch eine Antwort, in der zunächst die Frage als wesentlich und nicht-trivial hochgestuft, eine Definition versucht und für weitere Recherchen ein Link empfohlen wird. Heuristisch aufschlussreich sind in Mailinglisten mit professioneller Ausrichtung Diskussionen zum angemessenen Gruppenstil, oft ausgelöst durch Beiträge, die andere Teilnehmer als off topic oder stilistisch unangebracht, etwa als beleidigend, empfinden. Für diese Metakommunikation gibt es freilich ein Kipp-Phänomen: Sie dient zunächst für die Beteiligten als Regulativ bei Kommunikationsstörungen; wenn sie aber einen ausgebauten eigenen thread bildet, wenn also etwa die Vorstellungen zum angemessenen Kommunikationsstil divergieren und die Zuschreibung eines Verstoßes strittig ist, folgt oft eine Art ‘Meta-Metakommunikation’, in der ein Ende des Streits und die Rückkehr zum anerkannten Themenspektrum gefordert werden, oder gar Beiträge mit der Befürchtung, die ausgebaute Metakommunikation behebe nicht die Kommunikationsstörung, sondern sei selbst eine und gefährde, falls sie fortgesetzt werde, die Gruppe, weil sich dann zu viele Gutwillige frustriert abwenden würden. Im folgenden Austausch wird eine Rüge an verbreiteter unangemessener Zitiertechnik (vgl. Beispiel 7) vom Schreiber durch Markierung als off topic abgesichert; er erhält mehrfache Zustimmung (vgl. Beispiele 8 und 9) und wird so auch vom antizipierten offtopic-Vorwurf entlastet: Beispiel 7: (aus der Mailingliste „Endnote-interest“) Date: Fri, 26 May 2000 12: 08: 14 +0100 To: endnote-interest@isiresearchsoft.com From: j.harris@ucl.ac.uk (John Harris) Subject: A request Sender: listmasteröisiresearchsoft.com Reply-To: endnote-interest@isiresearchsoft.com I'm not sure how other listmembers feel about this, but one thing that annoys me is when people reply to the list and include the whole of the digest. This makes a thread hrder to follow, and increases bandwidth not very nice if you have to pay for the phone time required to download the message. It is very simple to cut and paste the relevant passage and it is lazy and rude not to. 350 Wilfried Schütte Thanks for letting me rant off topic Dr. John Harris j.harris@ucl.ac.uk <Signature> Beispiel 8: (aus der Mailingliste „Endnote-interest“) X-Authentication-Warning: niles.com: majordom set sender to listmaster@isiresearchsoft.com using -f Date: Sat, 27 May 2000 09: 35: 18 +0800 To: endnote-interest@isiresearchsoft.com From: Harry Butcher <hbutcher@hkucc.hku.hk> Subject: Re: endnote-interest-digest VI #701 Sender: listmaster@isiresearchsoft.com Reply-To: endnote-interest@isiresearchsoft.com John Harris wrote: >one thing that >annoys me is when people reply to the list and include the whole of the >digest. >Thanks for letting me rant off topic Ian, I don't think you are off topic. What you are suggesting would make the digest more readable and, therefore, more useful. I agree with you. As a new user I want to read the digests to get the benefit of listening to experienced users, however, I feel I am wasting a lot of time wading through large chunks of repeated text. I assumed it was either due to ignorance or technical problems but it would be nice if it stopped. Regards David Harry Butcher <Signature> Beispiel 9: (aus der Mailingliste „Endnote-interest“) X-Authentication-Warning: niles.com: majordom set sender to listmaster@isiresearchsoft.com using -f Date: Tue, 30 May 2000 14: 31: 10 -0800 To: endnote-interest@isiresearchsoft.com From: Harold Masters <mgmast@lsu.edu> Subject: Replying to list #2 Sender: listmaster@isiresearchsoft.com Reply-To: endnote-interest@isiresearchsoft.com At 06: 32 PM 5/ 26/ 00 -0500, you wrote: > Good day I would like to reiterate John Harris' reminder. Please do not include the whole digest when replying to a message. When I first joined this list 8 months ago, this did not happen as many times. Full text replying is especially painful when one returns from a multi-day conference or holiday. Yours sincerely Harold Masters >Date: Fri, 26 May 2000 12: 08: 14 +0100 >From: j.harris@ucl.ac.uk (John Harris) >Subject: A request >>I'm not sure how other listmembers feel about this, but one thing that >annoys me is when people reply to the list and include the whole of the >digest. This makes a thread hrder to follow, and increases bandwidth not >very nice if you have to pay for the phone time required to download the >message. It is very simple to cut and paste the relevant passage and it is >lazy and rude not to. Normen und Leitvorstellungen im Internet 351 >Thanks for letting me rant off topic > David L. Deephouse, Ph.D. <Signature> Diese Mailingliste ist eine Art Online-Selbsthilfegruppe für Benutzer der Literaturdatenbank „EndnotePlus“, in der sehr spezielle technische Fragen gestellt und oft auch für die Fragesteller zufrieden stellend beantwortet werden. Mit der aktiven Beteiligung an einer derartigen Mailingliste reagieren die Software-Nutzer auch darauf, dass sie den Support durch die Software- Firma als unzureichend empfinden. Die Vorstellung dabei ist, dass in einer weltweiten Nutzergemeinschaft die Wahrscheinlichkeit, jemanden zu finden, der dasselbe Problem hatte, es selbst lösen konnte und bereit ist, dieses Wissen weiterzugeben, größer ist als im direkten sozialen Umfeld, sogar größer als bei der Firma, die die Software entwickelt hat. Beispiel 10: (aus der Mailingliste „Endnote-interest“) >From endnote-interest Mon Apr 6 18: 11: 54 0700 1998 remote form niles.com Date: Mon, 6 Apr 1998 18: 11: 54 -0700 (PDT) From: „Dave Valentine; Webb 2012/ 3471" <dwv@geol.ucsb.edu> X-Sender: dwv0magic.geol.ucsb.edu To: endnote-interest@niles.com Subject: Re: It's realy very simple Sender: listmaster@niles.com Reply-To: endnote-interest@niles.com > OK - I admit it. I need help from my fellow academics, since Niles (now > going on the second day) has not posted a return to me -an authorized > buyer of their product. <Flame on> Mailing lists are NOT official support channels. They are users helping users. They are usually faster and easier than picking up the phone. They are monitored by some company employees, who will chime in to provide answers. But mostly maling lists are for users, to users, because they have more experience with product uses than any other technical support employee monitoring a list. <Flame off> If you submitted your message to niles support directly, I apologize. But also realize that a major upgrtade just came out, and that support is probably overwhelmed. With all the flaming of Niles going on, it's not surprising that a real message or two got missed. In dieser Mail wird das recht delikate Verhältnis zwischen selbstorganisierter Nutzergruppe und kommerzieller Firma, zwischen den Vorstellungen von Support-Defiziten und Beteiligung der Firma an der Mailingliste thematisiert: Die Mailingliste kann nicht Bestandteil des offiziellen Firmen-Supports sein, hat aber gegenüber diesem Support Vorteile wie Schnelligkeit und Zielsicherheit bei der Fokussierung auf ein bestimmtes Problem. Auf eine Beschwerde in der Gruppenöffentlichkeit der Mailingliste, dass die Firma eine Support-Anfrage über die Mailingliste nach zwei Tagen (so kurz ist die Zeit- 352 Wilfried Schütte spanne, in der man eine Antwort per E-Mail erwarten kann! ) noch nicht beantwortet habe, reagiert ein anderer Subskribent in der Mailingliste. Er wendet sich gegen überzogene Ansprüche in der Bezugsmail, die auf einem falschen Verständnis von Wesen und Funktion von Mailinglisten generell beruhten: Mailinglisten werden zwar oft wie in diesem Fall vom Listserver der Herstellerfirma betrieben, sind aber inhaltlich weitgehend autonom. Sein Text thematisiert in diesem Konfliktfall, was im unproblematischen Normalfall der Kommunikation Bestandteil eines nicht weiter thematisierungswürdigen Hintergrundwissens wäre. Er sichert den belehrenden Tonfall ab durch zwei „hyperbolische“ rahmende Tags: <Flame on> und <Flame off> die Belehrung wird durch Kennzeichnung als Beschimpfung sagbar gemacht, obwohl sie eigentlich gar nichts von flaming, also persönlich-emotional vorgetragenen Invektiven bei unterstellten Regelverstößen, an sich hat. Nach dieser mit flame getaggten Passage sichert der Schreiber vorgreifend seine Interpretation der Bezugsmail ab und wirbt zugleich um Verständnis für die Nöte der Support-Mitarbeiter der Herstellerfirma, wenn gerade eine neue Programm-Version herausgekommen ist und ungewöhnlich viele Support- Anfragen zu erwarten sind. Abschließend wirft der Verfasser indirekt dem Schreiber der Bezugsmail vor, durch Vorbringen von Beschwerden anstelle von sachlichen Anfragen gegen seine eigenen Interessen zu verstoßen: Beschwerden gehören zum thematisch irrelevanten „Rauschen“ in der Mailingliste; gehäuft erschweren sie die Identifizierung der eigentlichen Nachrichten und verhindern so Antworten auf gestellte Fragen ein Plädoyer gegen zu viel Metakommunikation in der Mailingliste. Wenn man eine derartige Mailingliste mit recht hohem täglichen Mailaufkommen abonniert hat, stellt sich das Problem der Orientierung: Welche Mails sind unmittelbar relevant, welche sollten archiviert werden, weil sie einmal relevant werden können, welche sind aktuell irrelevant? Eine solche Orientierung sollte tunlichst schon durch die Summary (Mailbox, Autor, Datum, Subject) möglich sein. Zu diesem Zweck gehen auch immer mehr Listserver von Mailinglisten dazu über, für die erste Orientierung des Benutzers oder damit er Filter zur Umleitung dieser Mails in spezielle Mailboxen setzen kann, den Namen der Mailingliste dem Subject (oft in eckigen Klammern) voranzustellen. Wenn man aber in den body text der Mail selbst gucken möchte, ist man bei einem hohen Mailaufkommen dankbar für kurze Texte, die Redundanzen vermeiden und eine schnelle thematische Orientierung ermöglichen. Und so stimmen die beiden Reply-Mails (Beispiele 8 und 9) dem Schreiber bei seiner Rüge durchaus zu; sie ratifizieren durch expliziten Widerspruch oder implizit durch Bekräftigung seinen Fokus und lassen damit die Relevanzrückstufung off topic nicht gelten. Interessant ist die unterschiedliche Formulierungsweise: Harry Butcher spricht den ersten Schreiber, John Harris, offenbar mit dessen nickname „lan“ direkt an, zitiert seine Mail auszugsweise (führt damit demonstrativ und vorbildhaft auch das präferierte Verhalten vor), entlastet lan explizit von der Selbstzuschreibung off topic, Normen und Leitvorstellungen im Internet 353 thematisiert seine Nutzer-Erwartungen und verweist schließlich auf die Dynamik der sozialen und der technischen Entwicklung der Internet-Dienste: Was zunächst aufgrund von Unerfahrenheit oder einer unausgebildeten Technik tolerierbar war, muss das nicht bleiben vielmehr ist eine ständige Bereitschaft zur Reflexion und Prüfung eingefahrener Verhaltensweisen notwendig, damit die Mailingliste ihren Nutzen für die Mitglieder behält. Der dritte Schreiber, Harold Masters, spricht John Harris in lateraler Adressierung an, verweist auf eine Fehlentwicklung, die er in der Zeit seines Abonnements beobachtet hat; er streicht insbesondere heraus, dass er sich durch diese Vollquote belästigt fühlt, wenn er die Mailingliste professionell nutzen will und auf Zeitökonomie beim Sichten der Mails achten muss. Seltsam ist hier der Widerspruch zwischen der Unterstützung für die Intervention, nicht unnötig viel aus einer Bezugsmail oder aus täglichen Kompilationen {digest) zu zitieren, und der begleitenden Praxis, genau diese üppige Zitiertechnik doch zu gebrauchen. Eine Zwischenbilanz: Soziale Bedingungen und Muster von Internet- Kommunikation Worauf sind die neuen Ausdrucksformen im Internet zurückzuführen und warum zeigen sich dabei mitunter auch ganz widersprüchliche Tendenzen? Mit dem Internet ist ja nicht das Rad der Kommunikation neu erfunden worden, und so kann man auch zur Erklärung für sprachliche Entwicklungen im Internet Begriffspaare heranziehen, die es zur Kennzeichnung der sozialen Bedingungen etablierter Formen von Kommunikation schon länger gibt. Das deute ich kurz an: - Schriftlichkeit und Mündlichkeit: Noch sind Videokonferenzen und Telefonieren übers Internet technisch sehr aufwendig; daher wird per E-Mail, auch in Mailinglisten und Newsgroups, so viel geschrieben wie schon lange nicht mehr. Man schreibt aber, indem man sich einiger Merkmale mündlicher Kommunikation bedient, also informell, oft ohne viel Rücksicht auf Orthografie und langes Feilen am Text. Internet-Kommunikation ist also eine hybride Form, ein besonderer Zwitter zwischen mündlich und schriftlich. - Beschleunigung und Informalität: Alles, was einer Beschleunigung der Kommunikation dient, wird bevorzugt. Die Anreden sind informell, bis hin zum sofortigen Duzen, man fällt in einer E-Mail oft gleich bei seinem Anliegen „mit der Tür ins Haus“, ohne wie beim Briefeschreiben lange höfliche Vorreden zu pflegen; die Mails sind oft viel kürzer als herkömmliche Briefe. Sie sind eben zum baldigen Verbrauch bestimmt und eigentlich keine Texte für die Ewigkeit. In seltsamem Kontrast dazu werden aber die Beiträge zu Mailinglisten und Newsgroups oft jahrelang auf öffentlich zugänglichen Servern archiviert. Es wäre näher zu untersuchen, ob die be- 354 Wilfried Schütte sondere Informalität wirklich auf die gesamte Internet-Kommunikation bezogen werden darf und ob sich darin ein bestimmter angloamerikanischer Einfluss auf die Kommunikationskultur zeigt. - Privatheit und Öffentlichkeit: Was sich schon bei den inflationär verbreiteten Nachmittags-Talkshows im Fernsehen andeutete, wird durch das Internet verstärkt die öffentliche Präsentation privater, wenn nicht gar intimer Aspekte der eigenen Person. Auf Homepages findet man oft Linklisten, die zunächst zu den beruflichen Interessen des oder der Betreffenden führen, dann aber auch zu seinen/ ihren Hobbys und vielleicht sogar zu seinem/ ihrem privaten Fotoalbum. Diese Perforierung der tradierten Trennung zwischen öffentlicher und privater Kommunikation kann man als einen erfrischend lässigen neuen Stil, aber auch als lästigen sozialen Zwang bewerten. - Anonymität und Gruppenstil: Im Internet werden einige Kommunikationskanäle ausgeblendet, die es für Alltagsgespräche gibt beim Mailen sieht, fühlt, hört man den anderen nicht, man weiß vielleicht auch viel weniger von ihm als bei Personen aus dem eigenen realen Umfeld. Das fördert Anonymität und die Herausbildung von „virtuellen Identitäten“, also einer Art Mimikry bis hin zum gender-switching, indem sich etwa ein Mann als Frau ausgibt und auch nicht sofort enttarnt werden kann. Andererseits bilden sich im Internet durchaus alle möglichen Gruppen von Menschen mit gleichen Interessen etwa in Mailinglisten; dann kennt man sich, kann sich gegenseitig einschätzen, und es bildet sich für die Kommunikation ein spezieller Gruppenstil heraus, der regelt, was als angemessen und was als verfehlt gilt. So findet man auf Mailinglisten oft ausufemde Diskussionen, ob ein bestimmter Beitrag zum Thema dieser Liste gepasst hat oder doch offtopic war, ob sich jemand richtig verhalten hat oder als permanenter Störenfried doch lieber aus der Gruppe ausgeschlossen werden sollte doch eine solche Sanktion ließe sich freilich bei der prinzipiellen Zensurfreiheit des Internet nur schwer durchsetzen. Das Problem ‘Öffentlichkeit’ vs. ‘Privatheit’ Beispiel 11: (aus der Mailingliste „Ethno“) Date: Tue, 15 Feb 00 07: 27 -0400 To: "Multiple recipients of ETHNO" <ETHNO0CIOS.ORG> Sender: "ETHNO hotline" <ETHNO0CIOS.ORG> Reply-to: "ETHNO hotline" <ETHNO0CIOS.ORG> From: "Agnes Holmes" <ah.ikl0cbs.dk> Subject: Re: Research Positions X-HOTLINEName: ETHNO X-HomepageURL: http: / / www.cios.org X-ID: db.ikl236670cbs.dk Dear Ulf, I don't want a research position, but .... well, maybe I DO: : ? Life here in Copenhagen is pure shit. Normen und Leitvorstellungen im Internet 355 Anyway, wanted to say I just LOVED the papers you sent ... took them with me over Christmas to read in the bright light of my native San Francisco and benefited SO: : : : much from reading 'em. Is there anyway (without hassling you) that I could get a copy of the thesis? I'll send you an utterly different (=weird) paper of mine. Best wishes for the new Millennium. Cordially, dede ulf.keating@kcl.ac.uk wrote: > Work, Interaction and Technology Research Group > The Management Centre > King's College London >> Research Studentship/ Research Associateship Diese Mail ist eine Replik von „dede“ (unter Benutzung einer anderen Mailadresse) auf Ulf Keating in der Mailingliste „ETHNO hotline“ am 15.2.2000: Keating hat eine Ausschreibung für Graduiertenstipendien in seiner eigenen Forschungseinrichtung in der Mailingliste verbreitet. Dies ist ein gängiger Typ von Bekanntmachungen in Mailinglisten; sie werden dadurch zu einer Art globalem „Schwarzen Brett“. In der Regel findet dazu keine Interaktion statt, etwa indem jemand sich über die Mailingliste nun tatsächlich bewirbt; ob die Publikation solcher Ausschreibungen per E-Mail dazu führt, dass auch vermehrt Bewerbungen über E-Mail geschrieben werden, kann man nicht ohne weiteres feststellen. Die Reaktion von „dede“ ist nun auffällig: persönliche Anredeform, Gebrauch einer informellen Selbstbezeichnung, die den in den Internet-Foren verbreiteten nicknames ähnelt, sowie Verzicht auf eine professionelle Signatur, Gestus einer privaten Mitteilung, auch von durchaus brisanten Inhalten (dass sie sich am Ort ihrer Gastprofessur nicht wohl fühlt, werden die Kollegen in Kopenhagen mit besonderer Freude lesen! ). Sie wechselt entgegen dem beibehaltenen Betreff das Thema und kommentiert diesen Wechsel spielerisch. Dabei spielt sie mit der Großschreibung in Verbindung mit Ketten von Doppelpunkten auf gemeinsames berufliches Wissen von Ethnomethodologen an, nämlich auf die Konvention, so skalierend Betonungen und Dehnungen in konversationsanalytischen Transkripten zu kennzeichnen. Insgesamt scheint mir fraglich, ob hier ein Bedienungsfehler vorliegt, ob sie also versehentlich statt einer persönlichen Mail an Keating an die Mailingliste geantwortet hat, oder ob sie bewusst die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit zu perforieren versucht, nach dem Motto: „alles was wir uns zu Aspekten unserer beruflichen Tätigkeit mitzuteilen haben, also an welchen Arbeitsorten wir uns wohlfühlen und was wir von den Texten des Kommunikationspartners halten, ist für die Gruppenöffentlichkeit von Belang“. 356 Wilfried Schütte Sprachenwahl und Internationalisierung Als letzte Beispiele drei Beiträge in der Mailingliste „gir-1“ (= German Internet Research List, in der es um die Methodologie sozialwissenschaftlicher Forschung zum und via Internet geht) zu einer längeren Diskussion unter wechselndem Betreff (zunächst „Internationalisierung der gir-l“, dann „Diskussion um Englisch-Liste“), ob diese deutschsprachige Liste sich internationalisieren soll, ob Englisch als Sprache für Beiträge zugelassen werden soll - oder ob sich die Liste besser spalten sollte in eine nationale und eine internationale Ausgabe. Beispiel 12: (aus der Mailingliste „gir-1“) >From gir-1 Wed Nov 03 20: 52: 54 +0100 1999 remote from dgof.de From: mail0fritz-kasten.de Date: Wed, 03 Nov 1999 20: 52: 54 +0100 X-Mailer: Mozilla 4.5 [de] (Win95; I) X-Accept-Language: de To: gir-10dgof.de Subject: Re: [gir-1] Internationalisierung der gir-1 Reply-To: gir-10dgof.de Sender: gir-l-admin0dgof.de X-Mailman-Version: 1.0rc2 List-Id: German Internet Research List <gir-l.dgof.de> X-BeenThere: gir-10dgof.de Klingt ausgezeichnet. Gruß, Fritz Kasten "Dr. Werner Harms" schrieb: Liebe Kolleginnen, girl-ie (—> girlie) = GOR Internet Research List, International Edition wie klingt das in Euren Ohren ? Das Argument der guten Merkbarkeit des Akronyms ist schlagend, vor allem bei der Propagierung der Liste.Englisch hat nicht nur den Vorteil der internationalen Verständlichkeit im internationalsten aller Medien, sondern bedeutet auch kürzere Texte (bei gleichem Inhalt). Weiters entsteht kein Problem mit deutschen Sonderzeichen.Bekomme oft nur Buchstabensalat in meinem Outlook Express. Wer fasst die GOR Reformvorschläge in übersichtliche Thesen zusammen? Mit herzlichen Grüßen aus Wien Dr. Werner Harms <Signatur> gir-1 mailing list gir-10dgof.de Infos im WWW: http: / / www.online-forschung.de/ kom/ gir-1/ Dieser Beitrag von Fritz Kasten vom 3.11.99 wird im Betreff ausgewiesen als Antwort {Reply) zum Thema „Intemationalisierung der gir-1“: Fritz Kasten beschränkt sich auf einen kurzen elliptisch formulierten Kommentar („Klingt ausgezeichnet“) zu einer Bezugs-Mail, die er dann vollständig zitiert. In dieser Mail hat Werner Harms zunächst entertainment-mäßig das Akronym- Wortspiel mit einer fast sexistischen Doppeldeutigkeit bei dem Namen der Mailinglist fortgesetzt: Er schlägt für die neue internationale Gruppe „girl-ie“ („ie“ für „international edition“) vor und plädiert danach für die Einrichtung dieser englischsprachigen Liste. Er beruft sich dazu auf die Leitvorstellungen Verständlichkeit und Kürze: „Kürze“ ist ein Topos bei der Aushandlung der Leitvorstellungen für Internet-Kommunikation: Alles, was der Beschleunigung der Kommunikation dient, ist angemessen: z.B. Kürze des Textes, Zi- Normen und Leitvorstellungen im Internet 357 täte statt eigener Reformulierungen, Vernachlässigung von Orthografie und stilistischer Überarbeitung des Textes. Kasten hat zusätzlich noch ein technisches Argument parat, nämlich dass trotz aller Bemühungen mit der Mime- Enkodierung 5 deutsche Umlaute oft verstümmelt ankommen und so die Lesbarkeit von E-Mails beeinträchtigen. Beispiel 13: (aus der Mailingliste „gir-1“) From: hardy mohr<hardy@ipg.Psychologie.fu-berlin.de> X-Sender: hardy@kitchen.heer.dialup.zedat.fu-berlin.de To: gir-l@dgof.de Subject: Re: [gir-1] Diskussion um Englisch-Liste [...] Hallo, On Yesterday, Wolfgang Miller used to say: > Treffer > Gruss, W.Miller >>> > Hallo, > > > > es ist mir ein Beduerfnis, zu der derzeitigen Diskussion ebenfalls > > etwas beizutragen: cut So geht es mir jetzt auch. Mit Eurer beider Meinung kann ich ganz und gar nicht konform gehen. Ob man eine bestehende Mailingliste in eine andere Sprache umstellt oder eine zweite Sprachversion ergaenzt oder wie auch immer halte ich fuer eine unbedingt fuehrenswerte Diskussion eben durch alle Listenteilnehmer. Dabei handelt es sich um ein Stueck Basisdemokratie die eben durch das Netz moeglich gemacht wird. Die vorgebrachten Argumente hatten auch allesamt Hand und Fuss und waren alles andere als hanebuechen. Aehnlich verhaelt es sich IMHO bei der Diskussion "technischer" Details wie der Verwendung von Umlauten im Subject. Bevor man einen Beitrag bei einer Zeitschrift einreicht oder seinen Auftraggebern eine Praesentation darbietet wird man sich vermutlich auch um eine Version frei von Rechtschreibfehlern und entsprechend der ueblichen Form bemuehen. Aehnlich sollte es sich bei der CMC verhalten. Es gibt Regeln. Z. B. ist es nicht noetig, Adressaten einen Text den diese schon laengst besitzen ohne Grund nochmals zukommen zu lassen. Will sagen: Quotings nur wenn sie noetig sind und Vollquotings sind praktisch nie noetig. Jetzt will ich hoffen, durch die nochmalige Erhoehung des administrativen Traffics auf dieser Liste nicht noch mehr Teilnehmer vertrieben zu haben. Mit bestem Gruss - Andy *********** hardy mohr <Signatur> ****** * * * * 5 „Multipurpose Internet Mail Extensions. MIME erweitert die Funktionalität des E-Mail- Transportes, indem es das Versenden von beliebigen Dateiformaten erlaubt. Es können binäre Dateien wie Grafiken, Dokumente aus Textverarbeitungen und Multimedia-Files als Attachment verschickt werden. Zu diesem Zweck werden die Daten so codiert, daß sie keine Zeichen mehr enthalten, die außerhalb des bei Mail zulässigen Bereichs liegen (AS- CII). Auf der Empfangerseite wird die Datei dann wieder in ihre Ursprungsform gebracht. Moderne Mailprogramme machen das automatisch, so daß man sich nicht darum kümmern muß. Allerdings wird durch die Codierung die zu übertragende Datei um etwa ein Drittel größer. In MlME-codierter E-Mail können auch Umlaute und nationale Sonderzeichen verwendet werden.“ (http: / / WWW. athe .de/ info/ help/ hlp-glossar .htm#7, 17.2.2000). 358 Wilfried Schütte UNIX _ist_ benutzerfreundlich. Es ist nur waehlerisch, wen es zu seinen Freunden zaehlt. *********************************************************** gir-1 mailing list gir-10dgof.de Infos im WWW: http: / / www.online-forschunq.de/ kom/ gir-l/ Dieser Beitrag von Hardy Mohr vom 6.11.99 wird im Betreff ausgewiesen als „Diskussion um Englisch-Liste“. Hier finden wir ein zweifach geschachteltes Zitat: Wolfgang Miller hat einen anderen, hier nicht genannten Listenteilnehmer zustimmend zitiert. Hardy Mohr zitiert diese doppelte Bezugs- Mail nun nur so weit, dass eine Referenzherstellung möglich ist, markiert den Verzicht auf ein vollständiges Zitat mit „--cut-“ und kommentiert die nur andeutungsweise zitierte Mail: Er rechtfertigt die vorgängige ausgebaute Metakommunikation zur möglichen Änderung der Liste unter Rekurs auf Hochwert-Konzepte („Basisdemokratie“) als situativ angemessen. Die Existenzberechtigung von Kommunikationsregeln dokumentiert er an einem Beispiel dreifach: durch explizite Nennung der generellen Regel mit implizitem Bezug auf Prinzipien einer Ökonomie der Kommunikation („ist es nicht noetig, Adressaten einen Text den diese schon laengst besitzen ohne Grund nochmals zukommen zu lassen.“), einer Fokussierung und Aktualisierung auf die spezifischen Bedingungen von Internet-Kommunikation in Form einer expliziten Reformulierung („Will sagen: Quotings nur wenn sie noetig sind und Vollquotings sind praktisch nie noetig“) und schließlich durch sein leuchtendes Vorbild: Er hat auf eine Vollquote verzichtet die Kosten dafür liegen darin, dass wir aus der Lektüre nur seiner Mail gar nicht erfahren, wen er vor allem kritisiert (das ist ja nicht nur Wolfgang Miller, der nur lakonisch zugestimmt hat) und was dieser Teilnehmer geschrieben hat; wir müssten den ganzen Thread in unserer Mailbox verfolgen. Beispiel 14: (aus der Mailingliste „gir-1“) >From gir-1 Wed Nov 17 14: 28: 42 +0100 1999 remote from dgof.de From: "Giovanni Mertone" <giovanni0parlando.de> To: <gir-10dgof.de> Date: Wed, 17 Nov 1999 14: 28: 42 +0100 X-Mailer: Microsoft Outlook Express 5.00.2014.211 Subject: [gir-1] Nachtrag: englisch vs. deutsch [...] Hallo, wo ich einmal gerade in der Liste aktiv bin: die Diskussion um englisch oder deutsch und ob das Thema in der Liste passend ist, finde ich ganz lustig. Zugegebenermassen hab ich auch nicht alles verfolgt, aber die Aeusserung der Vermutung, daß sich wegen dieser Diskussion Leute aus der Liste austragen, haette ich von Forschern nun wirklich nicht erwartet! Darueber hab ich mich koestlich amüsiert. Wo ist denn da bitte der (nachgewiesene) Zusammenhang? Na ja, dazu haben ja auch schon einige etwas Treffendes gesagt. Noch kurz meine Meinung zur Sprachdiskussion: ich glaube, solange wir deutschsprachigen/ -verstehenden dieses Thema angehen ist es ein Totlaeufer. Entweder hier (oder woanders) ist jemand daran interessiert eine englischsprachige Liste aufzubauen und treibt es voran, weil es fuer ihn/ sie wesentlich einfacher oder ueberhaupt erst moeglich ist mitzudiskutieren, oder das gibt nichts. Normen und Leitvorstellungen im Internet 359 Und die Diskussion ueber die Diskussion ist ja ein ganz üblicher Vorgang in Newsgroups und Mailinglisten. Womit nur "bewiesen" waere, dass die gir-1 auch "nur" funktionert wie alle anderen {jemand aergert sich ueber etwas, äussert sich, worueber sich wieder jemand aergert... nun gut, mich eingeschlossen Ich bin froh, dass es die gir-1 gibt und ein so reger Informationsaustausch stattfindet. Jegliche geforderte Beschraenkung oder Beschwerde, dass zuviel geschrieben wird, wuerde moeglicherweise dazu führen, dass eher zurueckhaltende Schreiber gar nicht mehr schreiben, weil sie nicht wissen, ob's offtopic ist. Letztendlich gibt's dann 30 Aktive und 500 passive Leser, was doch nicht in unserem Sinne ist, oder? Freut Euch doch ueber den regen Austausch und lest lieber mal nicht, schaltet ab und lest das Archiv oder setzt einen Filter auf die Liste. Aber bitte, versucht nicht an der Funktionsweise dieser Liste zu "wurschteln". Ciao Andera gir-1 mailing list gir-l@dgof.de Infos im WWW: http: / / www.online-forschung.de/ kom/ gir-1/ Dieser Beitrag von Giovanni Mertone vom 17.11.99 wird im Betreff ausgewiesen als „Nachtrag: englisch vs. deutsch“: 6 Nach dem mailinglist-typischen Gruß „Hallo,“ folgt hier eine Selbstverortung zum eigenen Beteiligungsverhalten („wo ich einmal gerade in der Liste aktiv bin“). Auffällig ist hier der Verzicht auf ein explizites „Quoten“, vielmehr wird die bisherige Diskussion zusammenfassend bewertet. Damit versucht Giovanni Mertone offenbar zu vermeiden, erneut Öl ins Feuer zu gießen, also durch Zitate und eigene Kommentare unvermeidlich die Relevanz für den Fokus Sprachendiskussion erneut hochzustufen. Sein Interesse ist ein anderes: Er plädiert für eine Beendigung der Diskussion zum Thema „Veränderung der Liste“. Seine Mittel dazu sind modalisierende Kommentierung der vorgängigen Diskussion („finde ich ganz lustig“ „darüber hab ich mich köstlich amüsiert“ sowie der Smiley) mit einem generalisierenden und fokusauflösenden Verweis („dazu haben ja auch schon einige etwas Treffendes gesagt“). Für ihn gibt es in der Frage eine Autodynamik: Das regelt sich von selbst nach den Bedürfnissen der Beteiligten und bedarf keines regelnden Eingriffs. Er bestreitet zudem, dass die von anderen zuvor kritisierte ausufernde Metakommunikation ein Krisensymptom sei: Sie sei vielmehr Indiz der Normalität dieser Mailingliste. Er entwirft ein Szenario der Folgen von zu viel Regulierung: Verunsicherung von Schreibwilligen und ein Missverhältnis zwischen Aktiven und Passiven bloße Imker sind unvermeidlich, helfen aber nicht, eine Liste am Leben zu halten. Der Wechsel in der Anrede am Schluss deutet daraufhin: Jetzt kommt die Quintessenz des Beitrags: Wer sich am eigentlich positiv zu wertenden „regen Austausch“ stört, soll sich, statt zur Arbeitsweise der ganzen Liste zu intervenieren, in seinem eigenen Bereich und in eigener Verantwortung um Abhilfe bemühen dazu gibt es genügend Optionen: „lest lieber mal nicht, schaltet ab und lest das Archiv oder setzt einen Filter auf die Liste“. 6 Der modifizierte Betreff verortet also die Mail im gesamten thread. 360 Wilfried Schütte Zusammenfassung In den interaktiven Foren des Internet, also in Mailinglisten, Newsgroups und Clubs von Portalbetreibem ist eine effiziente Kommunikation potenziell von zwei Seiten bedroht durch zu wenige oder zu viele Informationsangebote. Wenn man eine Kommunikation via Internet als neue Kulturtechnik ansieht, ergeben sich Veränderungen für die Normen und Leitvorstellungen auf mehreren Ebenen: Lexikalisch verändert sich die Internet-Fachsprache durch Neologismen und semantische Verschiebungen; bei den Internet-typischen Kommunikationsmustern fallt besonders das Quoten mit seinen Chancen und Risiken auf; eine Verrätselung (durch nicknames) steht einer vollen professionellen Präsentation der eigenen Identität gegenüber. Für eine Heuristik der Formen von Kommunikationsregulierung besonders interessant sind Mailinglisten mit einer nicht vollständig ausgebildeten professionellen Orientierung (z.B. für Berufsanfänger) sowie autoreflexiv-metakommunikative Beiträge und Passagen sowie die Reaktionen darauf; diese Text(teile) dienen dazu, Kommunikationsprobleme und Krisen zu bewältigen, Divergenzen zum angemessenen Kommunikationsverhalten und -stil auszugleichen, Störungen abzuwehren und Beteiligungsrollen zu definieren; diese Thematisierungen von Kommunikationsregulierung werden häufig in spezielle Foren ausgegliedert. Das geschieht teils mit didaktischer Absicht etwa als Sozialisationshilfe für Newbies teils zur Entlastung der eigentlichen gruppenspezifisch thematischen Internet-Diskurse. Für Internet-Gemeinschaften mit strikter thematischer Orientierung sind off to/ üc-Beiträge und ihre interaktive Behandlung ein besonderes Problem. Der Stil dieser Internet-Kommunikaton wird durch vier Paare oppositiver Begriffe geprägt: Schriftlichkeit und Mündlichkeit, Beschleunigung und Informalität, Privatheit und Öffentlichkeit sowie Anonymität und Gruppenstil. Literatur Abel, Jürgen (1999): Cyberslang: die Sprache des Internet von A - Z. München. (= Beck'sche Reihe 1294). Aycock, Alan (1995): „Technologies of the self 1 . Foucault and Internet Discourse. Online. Internet, http: / / WWW. ascusc. org/ jcmc/ voll/ issue2/ aycock.html.T.4.1998. Bahl, Anke (1997): Zwischen On- und Offline. Identität und Selbstdarstellung im Internet. München. Batinic, Bemad (Hg.) (1997): Internet für Psychologen. Göttingen. Baym, Nancy K. (1995): The emergence of Community in computer-mediated communication. In: Jones, Steve G. (Hg.): CyberSociety. Computer mediated Communication and Community. Thousands Oakland/ London/ New Delhi. S. 138-163. Baym, Nancy K. (1998): The Performance of Humor in Computer-Mediated Communication. Online. 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Diese Stile können von verschiedenen Faktoren geprägt oder beeinflusst sein: von der geschichtlichen Epoche; von lokalen, regionalen, nationalen, übernationalen Kulturen; von persönlichen, charakterlichen, familiären Eigenheiten und Gewohnheiten; von bestimmten Handlungsbereichen, Domänen und Situationen; von Textsorten und Textfunktionen und von vielem anderen mehr (Sandig 1986, S. 20ff.). Hier soll es um „soziale Stile“ gehen und zwar auf dem Feld der Sprache, d.h. um die Frage, wie sprachliche Stile mit Sozialem Zusammenhängen, mit sozialen Welten und sozialen Identitäten. Ich folge dabei Kallmeyer (1994, S. 30f.): Stile sprachlichen Verhaltens sind ein wesentliches soziales Unterscheidungsmerkmal, und ihre Ausprägung ist mit der Ausbildung von sozialen Welten und der sozialen Identität von Gruppen und größeren Sprachgemeinschaften verbunden. Ihre Analyse gestattet die Aufdeckung der sprachlichen Mechanismen von sozialer Trennung und Integrität. Ausgangspunkt meines Interesses für „soziale Stile“ war die Beschäftigung mit nicht-fiktionalen Texten, die sich offensichtlich an einem „gehobenen“ Sprachstil orientierten: dem „Neuen Notizbuch 1985-1990“ des Journalisten und Publizisten Johannes Gross (1990). Dabei stieß ich darauf, dass bestimmte (auch journalistische) Textsorten nicht nur von sozialen Stilen geprägt sind, sondern zugleich solche Stile prägen oder zumindest daran beteiligt sind, sie zu vermitteln und für ihre Aneignung Test- und Übungsmaterial bereitzustellen (Holly 2001). Ihr stilistischer Sinn liegt im symbolischen Ausdruck und der symbolischen Konstruktion einer Distinktionsklasse. Was bei Bourdieu ( 5 1992) im Begriff des ‘Habitus’ gefasst ist er verbindet „sozioökonomische Klassenposition und soziale Praktiken einerseits, kulturelle Sinndeutung, Symbolkonstruktion, Weltbild andrerseits“ (Wehler 1998, S. 30) -, wird dort markiert und formiert zugleich. 364 Werner Holly Hier sollen nun, als Erweiterung, Kontrast und Überprüfung der bisherigen Stildeutungen, Textbeispiele aus einer vergleichbaren, wenn auch nicht identischen Textsorte herangezogen werden, die aber sicherlich in einer anderen „Stillage“, „Stilschicht“, in einem anderen „Stilniveau“ spielen: 121 Kolumnen der Journalistin und Autorin Elke Heidenreich, die in den Jahren 1983- 1988 (also etwa zur selben Zeit wie die untersuchten Gross-Texte) in der Frauenzeitschrift ‘Brigitte’ und dann als Taschenbuch erschienen (Heidenreich 1988). Auf Anhieb sind Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede der beiden Textsorten wahrnehmbar. Es sind in beiden Fällen eindeutig meinungsbasierte, oft sehr subjektiv anmutende Texte, die thematisch kaum eingegrenzt sind, die aber dabei dennoch gewisse thematische Parallelen aufweisen. Während die Länge der Gross-Texte vom Aphorismen-Format bis zu längeren Anekdoten und Reflexionen ziemlich variiert, bleibt Heidenreich beim kolumnenüblichen Umfang von eineinhalb (Buchdruck-)Seiten. Ihre Texte sind deutlicher und durchgängiger kommentarhaft, während Gross die seinen als „Notizen“ in der Form weitaus unterschiedlicher inszeniert. Noch deutlicher aber sind die Stil-Unterschiede, die im Folgenden auf ihre Bedeutung für die Konstruktion sozialer Welten und Identitäten hin, unterschieden nach Selbst- und Fremddarstellungen, dann auf ihre sprachstilistischen und ausdrucksseitigen Mittel hin untersucht werden sollen. 2. Elemente der Konstruktion sozialer Identitäten Bei den Texten von Johannes Gross zögerte man nicht, sie als ‘Habitus’- Ausprägungen im Sinne von Bourdieu zu charakterisieren, als Ausdruck und Konstruktion einer Distinktionsklasse. Dies vor allem, weil aus ihnen mit all ihren Inszenierungen von Bildung und Weitläufigkeit ein deutliches Elitenbewusstsein, ja die Forderung eines solchen, spricht und die Abgrenzung „nach unten“, gegen Dumme, Biedermänner, Philister und Spießer, aber auch gegen kritische Künstler und Sozialdemokraten und deren jeweilige Gräuel, ziemlich ungehemmt praktiziert wird und ein wesentliches Element der Texte ausmacht. Bei den Heidenreich-Texten ist anderes im Vordergrund. Sie stehen ganz und gar in der Tradition der Aufklärung und dokumentieren Arbeit mit gesundem Menschenverstand. Ihr zentrales Muster ist hinterfragen, die kritische Reflexion der verschiedensten Erscheinungen und Meinungen, die Selbstkritik mit einschließt, ja sogar sehr häufig dabei endet. Welche soziale Gruppe dabei markiert und formiert werden soll, ist nicht auf Anhieb ersichtlich. Klar ist natürlich, dass die Zielgruppe zuerst die Leserinnen der Frauenzeitschrift ‘Brigitte’ sind, was als „recipient design“ die gesamte Gestaltung der Texte ,Klare und normale Sprache''' als sozialer Stil 365 prägt. Dazu enthalten die Texte durchaus noch weitere Hinweise auf Merkmale der eigenen und Abgrenzungen gegen andere Gruppen. Dabei werden innerhalb der und manchmal auch gegen die Konstruktion von ‘sozialen’ Identitäten häufig ‘individuelle’ Eigenheiten und persönliche Abweichung gesetzt, wobei mir aber Individualität hier auch ein sozialer Wert zu sein scheint. (Verweise auf Seitenzahlen des Beispielstexts stehen in Klammern). 2.1 Selbstdarstellungen Obwohl die Textsorte ‘Kolumne’ dies üblicherweise keineswegs vorsieht, enthalten die Texte doch eine Reihe von persönlich gefärbten Erlebnissen und Kommentaren, die allmählich puzzleartig ein Bild von der Person der Autorin und ihren Lebensumständen entstehen lassen. Man erfahrt vom Großvater, der „um die Jahrhundertwende Chauffeur bei ganz feinen Leuten“ war (S. 172), von der ostpreußischen Großmutter Elise, die sich „drastisch“ ausdrücken konnte (S. 220). Aus der Kindheit kommen Erinnerungen ans Sparen der 50er Jahre (S. 198), „an den Anblick bettelnder Kriegsversehrter in den Hauseingängen und vor den Kaufhäusern“ (S. 112), an die erste Begegnung mit Reichtum bei einem Besuch in der Villa Hügel, aber auch daran, „daß es in unsern zwei Zimmern ohne Bad und mit Kohleofen menschlicher zuging“ (S. 228), an Seufzer der Mutter über „mein bißchen dünnes Blondhaar“ (S. 22). Von der Mutter, von der sie außer der Neigung zum Sparen auch die zum Wegwerfen hat (S. 168), gibt es ein indirektes Porträt in Form eines verdichteten Mutter-Tochter-Telefongesprächs, das zugleich charakteristisch für die häufigen szenischen Vergegenwärtigungen typischer manchmal gut beobachteter, manchmal etwas klischeehafter - Alltagssituationen ist und im Stil den berühmt gewordenen Kommentaren ihrer Hörfunkfigur „Else Stratmann, Metzgersgattin“ ähneln; hier ein Auszug (S. 240): [...] liebe Mutter, ja ich esse genug. Ja, auch genügend Vitamine, warum ich trotzdem dauernd erkältet bin, mein Gott, ich weiß es nicht. Doch, ich zieh mich auch jetzt an kühlen Tagen warm an, ja, auch die Socken, die du gestrickt hast. Nein, im Winter hab ich auch nicht diese kleinen Tanga-Höschen, natürlich nicht, und ich hab's schließlich auch nicht an der Blase, sondern nur ein bißchen Schnupfen, deshalb mußt du doch nicht gleich ... was? Ich klinge bedrückt? Ich bin aber nicht bedrückt. Nein, es ist alles in Ordnung, ja wir vertragen uns gut, doch, ja, bestimmt. Du kennst ihn doch nicht mal richtig, warum sagst du ... Du meinst es nicht so? Dann sag es doch auch nicht so. Nein, ich bin nicht aggressiv, aber ich kann es nicht vertragen, daß du immer wieder schon gut. Ja. Ja, natürlich weiß ich, daß du es gut meinst. Du meinst es immer gut. Alle Mütter meinen immer alles gut, das weiß ich. Nein, das mein ich jetzt überhaupt nicht ironisch, ich -. Ach, komm, das lassen wir lieber, mir geht es gut, und aus. Und du? 366 Werner Holly Man liest von der Studentin und ihrer Pietät „gegenüber dem Heiligtum Buch“ (S. 169), über „die erste eigene Bude - [...] ein möbliertes Zimmer bei einer alten Dame“ und „diverse Studentenbuden“ (S. 180). Gelegentlich taucht das Berufsleben in den Schilderungen auf, z.B. in Form von Stress und Terminen mit Redaktionen (S. 16); sie plagt sich mit ihren Kolumnen, aber sie hat auch Humor und Erfahrung: Wie üblich verschiebe ich auch diesen Beitrag bis zu dem Tag, an dem die geplagte Redakteurin anruft: „Du denkst doch an die Kolumne...? “ „Jaja, ist schon fertig, muß ich nur noch mal abschreiben.“ (Von wegen, ln meinem Kopf ist sie vielleicht fertig.) (S. 120) „Guten Tag, ich bin Elffiede Stapel“, war bei mir jahrelang ein beliebter Kalauer, wann immer ich eine neue Redaktion betrat. (S. 146) Sie geht in eine Kneipe, „weil ich keinen Schlips mehr sehen kann nach einem Tag in deutschen Funkhäusern“ (S. 64), sie geht mit einem Kollegen essen, „um darüber zu reden, warum wir in der Redaktion dauernd aneinandergeraten“ (S. 188). Und sie hat mit einem Typus Redakteur zu tun, der Gelegenheit für kleine Parodien liefert: [...] da haben sie im Funk wieder einen neuen Redakteur, einen von diesen jungen forschen Typen, die sofort alle Programme anders und natürlich besser machen wollen. Er legt die schönen langen Beine in den türkisfarbenen Turnschuhen auf den Schreibtisch, bietet mir eine ägyptische Zigarette an und sagt: Weißt du, mach mir doch mal 'ne Glosse über die Frau. Ich denk, ich hör nicht recht. Glosse über die Frau? Naja, sagt er, das muß doch mal wieder möglich sein, verstehste, daß man das alles wieder 'n bißchen lockerer sieht, diese Emanzipation und so, und wenn du als Frau da so 'ne scharfe Glosse machen würdest, das fand ich echt stark, ich mach da so 'ne neue Mittemachtssendung, weißte, das soll ganz scharf werden er beugt sich vertraulich vor: Ich will in diesem verschissenen Sender sowieso nicht lange bleiben, also hau ruhig richtig drauf, mach's deutlich. Über die Frau. (S. 98) Wo wir nicht cool sind, da sind wir flott und lässig. Wie dieser dynamische Redakteur, der eben mal anrief - „Du, wir machen da so 'ne rot-grüne Sendung, und für die letzten drei Minuten wollten wir 'n Kabarettisten einkaufen, damit die Post abgeht, wir dachten da an dich, du machst das doch so easy“. Klaro, Mann. Ich kann mir dich so richtig vorstellen in deinen lässigen Bundfaltenhosen und deiner Jacke aus italienischem Knitterleinen und dem Dreitagebart, wie du gerade eine echte Havanna rauchst, wenn ich komme. Dann gehen wir ins Studio, und du sagst: „So, laß uns mal 'n Happen warmquatschen, und dann gehen wir gleich auf Rille, und in fünf Minuten hast du das schon easy runtergerissen.“ Sag ich doch. Immer easy. (S. 170) .Klare und normale Sprache“ als sozialer Stil 367 Auch die Femsehauftritte werden thematisiert, allerdings nicht zu eigenem Ruhme, sondern weil es sehr persönliche Probleme gibt, die wiederum mit den Haaren Zusammenhängen (für ‘Brigitte’-Leserinnen vermutlich nachvollziehbar): [...) vor jedem Femsehauftritt fragt mich die Maskenbildnerin als erstes: „Was machen wir denn mit den Haaren? “ Das ist der Moment, wo ich stark sein muß [...] Ich habe mich nicht beworben, ich bin durch Zufall da gelandet. Wenn ich mich recht erinnere an meinen ersten Femsehauftritt, bin ich deshalb engagiert worden, weil ich so was „Natürliches“ habe. Ah ja. Warum wollen sie denn, verdammt noch mal, jetzt alle was mit meinen Haaren machen? (S. 22f.) Bei all dem Berufsstress kommt es vor, dass sie einen „Zettel mit Terminvorschlag bekommt von jemandem, mit dem ich in derselben Wohnung lebe“ — Anlass für Vorsätze zur Besserung (S. 17); ansonsten spricht sie einmal von ihrem „sogenannten Lebensgefährten“ (S. 162), meist von „meinem Freund“ (S. 18, 30, 114, 182), der gelegentlich auch einfach „er“ ist (S. 10, 250). Ein Besuch bei „diesem unsäglichen deutsch-französischen Liederabend“ bringt sie dazu, sich über „die feinen Leute“ dort lustig zu machen, endet aber in einem ironischen Selbstporträt des Paares: Und während ich noch so herumgucke und alle in Gedanken einmal durchhechele, dreht sich vom die Weinrote, die einmal Kulturattache werden will, um und mustert plötzlich uns mit großem Blick. Und ich sehe genau, was sie denkt: „Wer ist denn diese blasierte Blasse mit dem unmöglichen Haarschnitt und dem doofen Flohmarktkleid, die den struppigen Bärtigen neben sich hat, der schon fast eingeschlafen ist? Ein scheußliches Paar! “ - Eine Frechheit, was manche Leute so über einen denken! (S. 35) Eigene Kinder werden nicht erwähnt, von Hund und Katzen ist gelegentlich und mit Tierliebe die Rede (S. 12, 208, 251). Freunde sind wichtig, man hat mit ihnen zusammengewohnt (S. 78), in Küchen und Kneipen die Nächte durchdiskutiert (S. 104), ihnen beim Umzug geholfen (S. 182), man lädt gerne Freunde ein (S. 198), es gibt sogar eine berühmte Freundin, mit der sie aber nicht angeben will, sondern an der sie nur zeigen kann, wie lästig Berühmtsein ist (S. 102), im Freundeskreis, nicht beim Psychiater sollten Probleme besprochen werden (S. 192), man hat Freunde durch Krankheit verloren (S. 200), eine Kolumne wird sogar an eine Freundin adressiert (S. 230); aber sie muss auch sehen, dass Urlaubsfreundschaften nicht halten (S. 110), dass echte Freunde (die statt zu telefonieren Briefe schreiben, und zwar mit Tinte (S. 176)) rar sind, vielleicht „ein bis zwei Menschen pro Person und Welt“ (S. 203), bei denen Gastgeber-und-Gast-Sein nicht anstrengend ist (S. 202f.). Eine ganze Kolumne widmet sie der Erfahrung, dass Freundschaften zwar das Leben erhellen, aber doch zu Ende gehen können (S. 216f.): 368 Werner Holly [...] Freunde sollte der Mensch schon haben, sonst wird es wirklich kalt in der Welt. Irgendein weiser Mann hat gesagt, das Traurigste unter der Sonne wäre ein Mann ohne Freunde von uns Frauen war da nicht die Rede, aber ohne DIE wirklich gute enge Herzensfreundin, die alles versteht, über Jahre alles mitkriegt, alles erzählt und tröstet und getröstet wird, ohne diese Freundin ist das Leben trübe. [...] In einem langen Femsehinterview wurde Max Frisch zu seiner nun beendeten - Freundschaft mit Friedrich Dürrenmatt gefragt: Warum ist es vorbei? Er überlegte lange und formulierte es dann sehr schön und sehr vorsichtig: daß auch Freundschaften ihre Zeit haben, nicht auf ewig gelten, daß es auch auf die Dauer eigentlich gar nicht ankomme, sondern auf die Intensität. Und die kann man ja nicht immer auf dem gleichen hohen Niveau halten. Äußere Statuszeichen werden nicht gesetzt. Man wohnt zwar in einem Kurort, aber nur weil es sich so ergeben hat, und man sieht das Leben dort mit großer ironischer Distanz (S. 32), später zieht man um und nimmt dies zum Anlass, den allmählich wachsenden Wohlstand kritisch und mit Abstand zur eigenen Entwicklung zu kommentieren (S. 180). Die Schauplätze der geschilderten Erlebnisse sind unspektakuläre Alltagswelten, Kneipen, die Arbeitsplätze, Reisen in Arbeitszusammenhängen, Fußgängerzonen, die Buchmesse, Besorgungen; auffällig ist schon ein Besuch bei einem italienischen Paar, einem Busfahrer und einer Friseuse in ihrer neuen Wohnung (s.u.) (S. 232). Reichtum ist wenig erstrebenswert: Inzwischen kenne ich sogenannte „reiche“ Leute. Die meisten wirken eher gestreßt als glücklich. Sie müssen Alarmanlagen haben und Scheinwerfer im Garten, sie haben zwar Personal „fürs Grobe“, aber der Seelenpreis, den sie dafür zahlen nie allein, immer Leute im Haus, die alles mitkriegen! ist hoch, wäre mir zu hoch. Ich bin also ich schwöre es nicht mehr neidisch. (S. 228) Wichtiger als Äußerlichkeiten sind also innere Werte, die in verschiedensten Zusammenhängen thematisiert werden. Es sind vor allem die Werte der Aufklärung: in erster Linie „selbständiges Denken“ (S. 24), mit dem man sich davor bewahren kann, blind den lächerlichen modischen Trends der anderen zu folgen (S. 50, 238); gegen „modische Probleme“ hilft eben nur die bewährte aufklärerische Mündigkeit: Also, nur her mit immer neuen Modemätzchen. Solange ich aussuchen kann, was mir gefallt, macht mir die Sache Spaß. Aber gerade da hört der Spaß für mich oft schon auf. Weil ich mich nicht gern bevormunden lasse, was MAN trägt und was nicht. (S. 144) Andere so genannte Grundwerte, wie sie sich z.T. auch in den Programmen der Parteien finden lassen, werden explizit und implizit vertreten: Menschlichkeit (S. 41), Solidarität (S. 27, 111), Toleranz (S. 27), Individualität (S. 91, 159), gesellschaftliches Engagement (S. 120), Ehrlichkeit (S. 73); dann auch konkretere politische Ziele wie Soziales (S. 112), Umweltschutz ,Klare und normale Sprache“ als sozialer Stil 369 (S. 66, 114, 119, 120, 149, 160, 186), Frieden (S. 51, 76). Dazu kommt das Eintreten für Gefühle, Zärtlichkeit, Wärme (S. 136, 170), Phantasie (S. 166), sentimentale Erinnerungen (S. 168), Pietät (S. 174). Wenn andere nach Äußerlichkeiten schauen und sich um Falten im Gesicht sorgen, wird mit Selbstbewusstsein und Idealismus geantwortet: Und wenn ich heute, mit über 42, in den Spiegel gucke, ganz ehrlich: Mein Gesicht gefällt mir besser als mit Mitte 20. Da ist doch was passiert mit mir, in all diesen Jahren, und darauf, verdammt noch mal, bin ich stolz! Ich bin stolz auf all die Nächte, die ich in Küchen und Kneipen mit Freunden saß, um die Welt zu verändern oder dem Wesen der Liebe auf die Spur zu kommen. „Kind, du schläfst zuwenig! “ Ja, Mutter, ich lebe dafür aber mehr als du. (S. 104) Wichtiger als all die Mode- und Kosmetikdiktate, denen sich vor allem Frauen ausgesetzt fühlen, (und zwar besonders in Frauenzeitschriften wie ‘Brigitte’,) sind „innere Werte“: Ist es vielleicht gar nicht nur die Haarfarbe, die uns Frauen wahlweise sinnlich oder göttlich, faszinierend oder kühl-interessant, erotisch oder verführerisch oder sonstwas macht? Sollten Geist, Witz, Charme, Ausstrahlung, Natürlichkeit auch noch eine Rolle spielen? Warum aber sind dann diese tollen Frauen in der Vorabendwerbung immer erst dann so von ganzem Herzen strahlend glücklich, wenn sie endlich ihr Haar richtig koloriert haben? [...] Sollen wir verzweifeln oder uns an die Stirn tippen, wenn wieder mal von verführerischen Schwarzen und liebreizenden Blonden die Rede ist? Na klar. Wir tippen uns an die Stirn. Denn unser Geheimnis liegt dahinter. (S. 133) Die Werte, um die es geht, werden zwar mit Verve, mit entschiedener Klarheit und auch mit Witz vorgetragen; dabei werden zwar nicht immer Klischees, aber jeder verbissene Dogmatismus vermieden. Davor ist sie schon deshalb gefeit, weil sie sich der Gefahr von Übertreibungen ebenso bewusst ist wie der Tatsache von Widersprüchen, in die man unweigerlich gerät. Man tritt für den Frieden ein, aber muss sich gegen „inflationäres Engagement“ wehren (S. 109). Das Engagement für mehr Selbstbewusstsein von Frauen ist unstrittig (S. 213), aber Gettos für Frauen in Form von Frauen-Mitfahr-Zentralen, Frauen-Park-Etagen, Frauenbuchhandlungen und Frauenmusikfestivals (S. 138f.) werden ebensowenig gutgeheißen wie Quotenregelungen, die als „Almosenquotierungen“ gesehen werden (S. 223). Man will etwas für die Umwelt tun, aber ertappt sich bei technischem Overkill im eigenen Küchenmaschinenpark (S. 162) oder scheitert an praktischen Problemen beim beabsichtigten Einbau eines Katalysators (S. 182). Mit Selbstkritik muss sie die eigene Entwicklung zu immer mehr Luxus und Konsum bilanzieren: Wir, die wir nie Besitz und „Festes“ wollten, bewohnten also ein Haus, um mit Freunden und Tieren unabhängig zu sein von Vermieterlaunen und Hausordnun- 370 Werner Holly gen. Es ist unglaublich, wie schnell sich ein Haus füllt. Man braucht Sofas, an die man früher nie gedacht hätte, große Schränke sind voll, kaum daß sie angeliefert werden. Aber bloß nicht so viele Maschinen, nur ja keine perfekte Küche oder so was! Als erstes kam die Spülmaschine, unglaublich billig, aus einer Haushaltsauflösung. Dann kam die Espressomaschine. Dann schenkte Mutter die elektrische Obstpresse. Saft soll ja so gesund sein. [...] Nichts fand ich je überflüssiger, als daß Menschen zum Mond fliegen. Betrachte ich meine eigene Entwicklung der letzten Jahre ja, dann fliege ich wohl bald, konsequent, selbst. (S. 78f.) Natürlich will sie sich mit ihrem Engagement vor Selbstüberschätzung bewahren, aber sie will es auch nicht gleich zynisch ganz aufgeben. Beim ständigen Balanceakt bleibt sie gelegentlich wie in der Spendenfrage ratlos: Da gibt es Themen, die brennen geradezu unter den Nägeln, wichtige Themen, Lieblingsthemen, und man fängt an und stockt nach dreißig Zeilen: Gehört das in eine Frauenzeitschrift? Vorne Mode, hinten Kochen, in der Mitte die zornige Kolumne über jugendliche Penner? Was aber gehört denn in eine Frauenzeitschrift? Soll man die Leserinnen unterhalten, bedienen, aufrütteln, überfordem, unterfordern, missionieren, in Ruhe lassen? So wichtig, liebe Elke, ist so eine Kolumne wieder nicht. Andererseits was Unnützes will ich auch nicht schreiben. (S. 120) Also... ich gebe zu, daß ich im Hinblick auf Spendenaufrufe ratlos bin und sehr willkürlich reagiere. Nach Gefühl. Also: mit Sicherheit unsachlich und falsch. Aber was soll ich machen angesichts der Fülle ins Haus flatternder Zahlkarten, angesichts der Aufrufe in Fernsehen und Zeitschriften, ich, die ich auch Bettler manchmal bewußt sehe und sie manchmal auch bewußt übersehe, und ich glaube nicht, daß das etwas mit Geiz zu tun hat. Eher mit ohnmächtiger Wut und Unsicherheit. [...] Wir können Spenden steuerfrei absetzen, aber wir haben das Gefühl, in den luftleeren Raum zu spenden. Der Hund, der gut untergebracht wird, das kann ich sehen! Nichts gegen den Tierschutzverein. Aber ein ungutes Gefühl habe ich doch und denke: Die in der Türkei könnten meine 100 Mark vielleicht dringender brauchen, oder? ...? Ich weiß keine Antwort. Wie machen Sie es? (S. 124) Sie ist sich der Relativität der eigenen Ansichten bewusst, sowohl der sozialen Stile, die sie z.B. anhand von Kleinanzeigen vergleicht (S. 72f.) oder während eines Besuchs bei dem italienischen Paar mit seinem biederen Geschmack, den sie nicht mehr gut finden, nur noch tolerieren kann: Ich höre und sehe all das mit einer Mischung aus Rührung und Entsetzen und versuche, nur ja keinen großstädtischen Hochmut, keine Besserwisserei aufkommen zu lassen. Gegen die Coolheit „meiner“ Kreise ist all dies ganz und gar unmöglich, aber ländliches Glück, verwurzeltes Brauchtum ist es auch schon nicht mehr. [ ■■ •] Aber sie sind nicht ich, und ich bin nicht sie. Sie machen es so, ich mache es „Klare und normale Sprache“ als sozialer Stil 371 anders. Wenn sie uns besuchen, wundem sie sich über die Matratze auf dem Boden und die selbstgebauten Regale voller Bücher statt Kupfergeschirr. Von der einen Welt zur andern fuhren nur Besuchswege. Aber auf denen gehen wir freundlich und trinken Wein miteinander. Das Paradies entdeckt eh niemand von uns. Jeder nur sein Stückchen davon. (S. 233) So kommt man in einigen Fällen trotz aller Meinungsbereitschaft doch zu einer postmodern komplexen Perspektivenvielfalt, die z.B. Radfahrer je nach Standpunkt als „beste“, „rücksichtsloseste“ oder „ärmste“ Menschen zugleich beschreiben muss, als Prototypen des „Menschen wie du und ich“: Ergebnis: Der Radler ist Dr. Jekyll und Mr. Hyde in einer Person. Friedlich kann er durch die Wiesen dahinfahren, aber wehe, etwas reizt ihn, dann wird er zum wilden Stier und kennt kein Erbarmen. Er schwankt zwischen tiefer Verzweiflung, wenn er in Abgaswolken an Ampeln steht, und grenzenlosem Hochmut, wenn er sich an der Kreuzung an die Spitze einer hupenden Autoschlange setzt. Er empfindet Hindernisse als Herausforderungen, an denen er wächst. Er fühlt sich frei, aber eben auch als Verkehrsanarchist. Er hält sich für ein Vorbild und ist wie alle solche gefährlich. Er ist tatsächlich ein Mensch wie du und ich. (S. 187) Zu den aufklärerischen Werten gehört auch Bildung, die aber nicht zum Zweck der Distinktion als Prestigemerkmal vorangetragen wird, sondern die in volksaufklärerischer Tradition genutzt wird, um Vorurteile, Irrationales, Tabuisiertes abzubauen und einen rationalen, aber nicht gefühlsfeindlichen Diskurs zu fördern. Wenn doch statustragende Bildung gezeigt wird, z.B. in Form lateinischer Zitate, dann werden diese ganz anders als etwa bei Johannes Gross erläutert und übersetzt: Daß in einem gesunden Körper ein gesunder Geist wohne, hat der vielzitierte Juvenal damals so nicht gemeint. Angesichts kraftstrotzender Athleten rief er bekümmert aus: „Orandum est ut sit mens sana in corpore sano! “ Das heißt: „Es wäre wünschenswert, daß in einem gesunden Körper auch ein gesunder Geist stekke.“ Wann trainieren wir den mal wieder so intensiv wie unsere Waden? (S. 87) Und auch wenn alles nicht stimmt, „semper aliquid haeret“, spricht der Dichter Plutarch, immer bleibt irgendwas hängen. In „Über den Schmeichler und den Freund“ läßt er einen Herrn Medius auftreten, der den guten Rat gibt, „kühn mit Verleumdungen zu packen und zu beißen, damit, wenn auch des Gebissenen Wunde heilt, doch die Narbe der Verleumdung bleibe.“ (S. 204f.) Ähnlich wird zwar auch gegen den Fitness-Wahn - „das Volk der Dichter und Denker“ beschworen (S. 87), es werden Grillparzer (S. 77), Wieland (S. 211), Frisch (S. 217) und ungenannt auch Goethe (S. 107) zitiert, aber dies alles geschieht ziemlich unprätentiös und erscheint angesichts der vielen umgangssprachlichen Elemente, von denen noch zu sprechen ist, eher als Nachweis der Fähigkeit, auch andere Stilebenen zu beherrschen. Der Enthu- 372 Werner Holly siasmus und Optimismus, mit dem für Bücher geworben wird, ist frei von kulturpessimistischer Herablassung (S. 211), wobei die (schon erwähnte) „angelernte Pietät der ehemaligen Studentin gegenüber dem Heiligtum Buch“ (S. 169) eher wieder selbstkritisch-ernüchternd wirkt; die überschwängliche Begeisterung für mit Tinte geschriebene Briefe (S. 176) (und die Plädoyers gegen das Telefon und den Anrufbeantworter (S. 184)) folgen allerdings gängigen Mustern von Medienkritik, die auch den Bebilderungszwang im Fernsehen (S. 164) oder Ratgeberliteratur und -Sendungen (S. 242) behandelt; ähnlich die Kritik an der „Sprache, bei der bekanntlich alles anfängt“ (S. 66), z.B. an Modesprache (S. 58), an „neuen Wörtern“ aus der Politik, an Phrasen (S. 118) und Floskeln (S. 134), an der „Psychosprache“ (S. 192), die allesamt „Unechtes“ aufspießen, wovon noch die Rede sein wird. 2.2 Fremddarstellungen Es ist deutlich geworden, dass die Texte nicht für eine kleine Gruppe geschrieben sind. Sie stehen in einer großen „Publikumszeitschrift“ und die in ihnen vertretene Haltung ist alles andere als exklusiv. Obwohl also die „eigene Gruppe“ nicht als eine konstruiert wird, die wie im Falle bestimmter Eliten - Wert darauf legt, geschlossen zu wirken und sich abzugrenzen, wird doch Distanzierung in zwei Richtungen betrieben. Zum einen „nach oben“, gegenüber „der reichen und feinen Gesellschaft“, zum andern „nach hinten“, gegenüber dem traditionellen bürgerlich-spießigen Mief, der erst in den 60er Jahren allmählich überwunden werden konnte. „Feine Leute“ nimmt sie aufs Korn z.B. bei dem schon erwähnten „deutsch-französischen Liederabend“ (S. 34), in feinen Parfümerien, in denen „Göttinnen, Schönheitsköniginnen, Anwärterinnen auf Gatten aus der Millionärsklasse“ bedienen (S. 26), „in einem der ganz, ganz feinen Restaurants, in denen nur der Herr die Speisekarte mit den Preisen bekommt“ (S. 70) und wo der Ober wie öfter bemerkt wird - „wie ein Pinguin gekleidet“ ist (S. 14, 32, 70), als „neue Reiche“, die in den 80er Jahren auch in die Bundesrepublik ein „neues Luxusgefühl“ gebracht haben, mit all seinen Symbolen (Uhren (S. 126), Schmuck (S. 48), Pelze (S. 79), exklusive Frottee-, Leder-, Bademoden, Feinkost, Schaubäckerei und Gemüseboutique (S. 85)), wogegen sie „das Normale“ setzt: Armut schändet nicht. Reiche Leute sagen das gern, und lange Zeit mögen sie dabei gedacht haben: Vielleicht schändet mein Reichtum viel mehr ... Nach den protzigen neureichen 50er Jahren zeigte man Reichtum hierzulande nicht mehr so gern, aber mir scheint, das ist jetzt gründlich anders geworden. Es gibt immer mehr piekfeine Eßlokale, wieder mehr Schmuck an Ohr und Hals, wieder lange Kleider in der Oper, mehr und teurere Feinkostläden, vor allem allen Aufklärungskampagnen zum Trotz mehr Pelze an noch mehr Damen. [...] Man haut auf den Putz, man zeigt, was man hat, man lebt „auf der Überholspur“. ,Klare und normale Sprache“ als sozialer Stil 373 Das neue Luxusgefühl kommt, denke ich, aus Amerika. Dort war es immer angesagt, zu zeigen, wie reich man ist — man kann ja stolz drauf sein, ist doch alles selbst verdient! [...] Ist es der lange, gar nicht so friedliche Frieden, der die Leute durchdrehen läßt, oder ist es ein letztes vorapokalyptisches Luftschnappen? Was Normales ist es jedenfalls nicht. (S. 92f.) Der andere Bereich, von dem sie sich sozialstilistisch distanziert, ist die traditionelle bürgerliche Welt, prototypisch verkörpert im vereinshaften Karneval mit seinen „Witzen über Frauen, Nachrüstung, Schwule und was sonst noch komisch ist“ und seinem ernsthaften Frohsinn mit „viel Schmiß und Schmackes“ (S. 42). Kern dieser Welt sind bürgerliche Benimmregeln, die inzwischen „wundervolle Lachschlager“ geworden waren, aber nach der Ablösung der stilprägenden 68er-Generation fürchtet sie die Wiederkehr der alten Gesellschaft (S. 146f.): [...] Aber jetzt, wo die Tumschuhgeneration unmerklich von nackenrasierten Schlipsträgem abgelöst wird, jetzt ist auf einmal Benimm wieder angesagt, und zwar nicht das ganz normale rücksichtsvolle Benehmen, ohne das menschliches Zusammenleben selbst im Atomzeitalter nicht möglich wäre, sondern der ganze verklemmte Unfug kommt wieder hoch: [...] [...] da kommen die alten Prophetinnen der neuen Dämlichkeit schon wieder aus dem Mief vergangener Zeiten. Ich warte auf den ersten Kerl, der bei der Begrüßung die Hacken mit einem Knall zusammenschlägt, weil ich als Dame auf so was schon wieder Anspruch habe. Residuen der alten bürgerlichen Welt sind natürlich auch die Feste mit ihren eingeschliffenen Ritualen, die aber sinnentleert sind: Trotzdem verkommt die Konfirmation immer mehr zu einem bürgerlichen Freß- und Schenkfest wie Taufe, Hochzeit, Weihnachten. Kirchenservice wird mitgenommen. Nylonstrümpfe und lange Hosen bedeuten nichts mehr, am Gemeindeleben wird nach der Konfirmation nicht mehr teilgenommen, ja, warum wird Benno denn überhaupt konfirmiert? „Werden doch alle in dem Alter.“ (S. 44) Weihnachten wird aus der Perspektive verschiedener Familienmitglieder geschildert, die allesamt jeweils aus Rücksicht auf die anderen an den Ritualen festhalten; jeder hält es für „verlogen“, aber weil keiner offen ist, gilt: „da müssen wir wohl durch, dann also wie immer.“ (S. 74) In diese Welt gehören auch die „bürgerliche deutsche Gaststätte“ mit ihrer Devise: „Im Garten nur Kännchen“ (S. 90), überhaupt Orte, wo „alles schon reserviert“ ist (S. 218), das Reisen in Zügen („der Speisewagen ist immer ein Ort des Schreckens“) (S. 128) oder in Flugzeugen, wo man dasselbe Musikberieselungsprogramm hören muss wie im Hotelfahrstuhl (S. 229f). Für diese „soziale Welt“ gilt: „Immer alles zuviel und zuwenig. Zuwenig Qualität, 374 Werner Holly zuviel Getue.“ (S. 128) Was sie am meisten zu stören scheint, ist Unechtes. „Getue“ auch in einem Trend zu „mehr Diplomatie“, Gegenbegriff zum aufklärerischen „aufrechten Gang“, oder auch in immer mehr „Jubelfeiern“, die als Entpolitisierung und Wirklichkeitsfluchten gedeutet werden: Aber dieses ständige diplomatische Getue in allen Bereichen des Privatlebens, des Berufs, auch der Politik, da, wo ersichtlich etwas faul ist, das schafft lauter Duckmäuser und eine Rundum-Atmosphäre von öliger Ungewißheit. Man muß nicht. Laßt uns wieder undiplomatisch sein! Es geht sich gerader. (S. 207) Gedenken wir tatsächlich? Wessen? Der Vergänglichkeit, und die macht Angst, also rasch das nächste Jubiläum, 80 Jahre Teddybär oder Wuppertaler Schwebebahn, 20 Jahre 1968, das kriegen wir jetzt gerade rein, und hoffentlich vergißt niemand das pikante Thema 1000 Jahre Christentum in Rußland, das steht auch 1988 an. „Entwirklichung durch festliche Überhöhung“ nannte Horst Krüger des Deutschen Lust am Gedenken, einen Mechanismus der kollektiven Zustimmung als eine besonders feinsinnige Art, sich der Wirklichkeit auch und vor allem der politischen zu entziehen, ln der Vergangenheit schwelgt es sich so schön. (S. 247) Wo sie Irrationales, Verrätselung und Tabuisierung findet, sei es in Fantasy- Filmen (S. 150), angeblich erotischen Strapsen (S. 122), Astrologie (S. 96) oder im ängstlich-ratlosen oder gar hysterisch-diffamierenden Umgang mit Aids-Kranken (S. 200), überall da setzt sie nüchternen gesunden Menschenverstand und Menschlichkeit dagegen. Im gemeinsamen Kern solcher entlarvender Gesellschaftskritik geht es um das Verlogene, die bloßen Äußerlichkeiten, das Oberflächliche, Ausgehöhlte in allen seinen Erscheinungsformen: „das Lächeln als Maske, als Fratze“ (S. 94), „die Küßchengeberei von Leuten, deren Freund man nicht ist und nicht werden will“ (S. 226, 217, 238), Kleidung als täuschende Verpackung: Darum setzen sich ja Politiker gern den Malocherhelm aufs Denkerhaupt seht, ich bin einer von euch - und werden trotzdem ausgebuht. Margaret Thatcher ist einer der ganz wenigen Fälle, scheint mir, wo Form und Inhalt absolut übereinstimmen — Stahlbeton außen, Stahlbeton innen. Die Mafia dagegen täuscht in Kamelhaarmänteln den Ehrenmann vor und straft ihn durch Brillantine im Haar wieder Lügen, und die Terroristen haben längst nicht mehr lange Haare und Bärte, sondern schmale Koffer und dunkle Anzüge. Gut: Kleider machen Leute. Aber nur, weil wir uns angewöhnt haben, die Kleider aufmerksamer zu betrachten als die Leute. (S. 225) Hier trifft sich die alte, verlogene Welt mit den Auswüchsen der „schönen, neuen , die von Kommerz, Konsum, Entfremdung und Konkurrenz regiert wird. Kennzeichen der Konsum- und Warenwelt ist aggressive Werbung, die als Hochglanzbroschüren („Faltblattpest“) in Zeitungen und Zeitschriften liegt (S. 194) oder unverlangt im Briefkasten und dann im Papierkorb landet „Klare und normale Sprache“ als sozialer Stil 375 (S. 52); in ihrer blödesten Form sind es „Glückslose“, die zu Parodien einladen: [...] Ab Heft 23 unserer Hausfrauenpostille werden dann die Glücksregen- Gewinnzahlen veröffentlicht. Je mehr Spielkarten Sie haben, desto größer ist Ihre Chance beim Super-Glücks-Expreß, und die Freude am Ende ist unbeschreiblich. Bitte füllen Sie den unten abgebildeten Glückscoupon mit Ihrem ganz speziellen Glückslos jetzt sofort aus, vergessen Sie aber nur ja nicht, die Supergewinnchance in der Glückslawine anzukreuzen! Da können Sie nämlich aus unserer Glückstrommel 500 Mark extra gewinnen, auf jeden Fall aber ist Ihnen ein Überraschungsgeschenk jetzt schon sicher! Zusätzlich nehmen Sie natürlich an unserer Supergold-Schlußverlosung teil, da können Sie dann Reisegutscheine im Wert von 2000 Mark errubbeln. So, und jetzt geht's aber los, jeder kann einsteigen in den Glücksexpreß, jeder darf mitrubbeln, jeder hat Chancen bei unserer Glücksrevue mit den sieben Extrarunden. Bargeld lacht, wenn Sie jetzt auf den Gewinnfeldern rubbeln. Rubbeln Sie, streichen Sie durch, kreuzen Sie an, und schon steht das Glück vor Ihrer Tür, so einfach ist das, beachten Sie unbedingt auch die roten Superquadrate schon haben Sie wieder einen Sachpreis gewonnen, sind noch Fragen offen? Nein, der Rechtsweg ist ausgeschlossen. (S. 106) Die Konsumgesellschaft ist zugleich eine Überflussgesellschaft mit Butterbergen (S. 66) und „Zuviel von allem“ (S. 78), mit Überflüssigem z.B. in Form von „Geschenken für den Herrn“ (S. 30), eine Wegwerfgesellschaft mit Verschleißindustrie mit immer neuen Produkten (S. 234, 250) und maßlosen Übertreibungen z.B. in Sportausrüstungen: [...] wenn ich Sehnsucht nach dem total Abgehobenen habe, dann gehe ich in ein Sportgeschäft und lasse mich zum Beispiel über eine Skiausrüstung beraten. [...] Der Ski mit der Torsionskastenbauweise, der hat sie, die Kontaktzonentoleranz, der wurde ja auch im Naßwickelverfahren hergestellt. Nein, sagen Sie! Und aus Highmodul-Carbonfasem ist er auch. Versteht das noch jemand? Weiß Vater, ob er auf Kronen- oder Steinschliff achten muß? Hat der Skischuh Vorlagedämpfüng und Cantingeinstellung? Was ist die praktische Gripnop-Sohle, und welches Geheimnis verbirgt sich hinter dem variablen Frontspoiler? Gerne sähe ich einmal das Airfitluftsystem im Schuh, aber es ist voll im Innenschuh integriert, leider. Ich schließe die Augen und denke an zwei Brettln und einen führigen Schnee oder so ähnlich, aber die Rede ist von der Zangenbackensicherheitsbindung mit Totalkompensation im Multi-Control-System, ach Sport, wo bist du hin, ach Natur, verstehst du noch, was da durch deine Reste rast? (S. 82) Der Arbeitsalltag wird beherrscht von Leistungs- und Konkurrenzdenken, das sogar dazu führt, „daß die Freizeitnervenkitzel immer perverser werden“ („Abenteuerurlaub“) (S. 130), und das uns bis in die Abendunterhaltung verfolgt, wo auch noch Wettkämpfe aller Art stattfmden, und das schließlich in der Rekordsucht gipfelt: 376 Werner Holly Konkurrenzdenken, Wettbewerbsdenken, Siegerverehrung, Obrigkeitshörigkeit lauter schleichende Gifte. Sie untergraben das Selbstbewußtsein und verschleiern den klaren Blick. Unsere Manager machen Führungskurse und trainieren Härte, unsere Hunde werden zu Siegern ausgebildet, unsere Kinder durch die Leistungskurse gepaukt, am Ende sind wir dann ein Volk von Allerbesten, werden alle Bundeskanzler, und morgen gehört uns die ganze Welt. (S. 191) Ein Engländer hält den Weltrekord im Schlangenkäfigsitzen, die längsten Fingernägel der Welt hat man in Indien gemessen, und das teuerste Menü, das jemals zusammengestellt wurde, setzte 1971 der Schah von Persien seinen Gästen zur 2500 Jahr-Feier vor. Die kostbarsten Schuhe der Welt sind nerzgefütterte Golfschuhe mit Rubinspitzen, und das blödeste Buch der Welt ist für mich das Buch der Rekorde. (S. 88) Die abschließenden Elemente dieser Kritik an der modernen westlichen Welt sind logischerweise eine gewisse wenn auch moderate - Skepsis gegenüber Technik und Forschung, der Vernunft und Ethik entgegengehalten werden, und die Klage über die Umweltzerstörung: Keine Frage: Die Computer verändern unsere Welt. Aufhalten läßt sich diese Entwicklung nicht mehr aber ob wir wirklich sprechende Wecker und Kameras brauchen? Mit echten Menschen sprech ich noch lieber. (S. 81) Ich will nicht, daß es alles gibt, was es geben kann. Ich halte uns nicht für mündig genug. Weil ich aber weiß, daß auch bisher immer alles gemacht wurde und sich immer sofort ein Markt dafür fand, habe ich wenig Hoffnung auf Vernunft und Ethik. (S. 161) Belege für die Skepsis liefern Tschernobyl (S. 140) oder das „Fahrverhalten des normalen Autofahrers“ (S. 173). 3. Einige Sprachstilmittel: „klare und normale Sprache“ Das gesamte bisher dargestellte Material der Texte kann mit seinen impliziten und expliziten sozialen Kategorisierungen als sprachliche Konstruktion eines „sozialen Stils“ angesehen werden. Abschließend soll noch auf die im engeren Sinne ‘sprachlichen’, d.h. sprachstilistischen und ausdrucksseitigen - Mittel dieser Stilkonstruktion, die dann noch sehr kurz zusammengefasst werden soll, eingegangen werden. Die sprachliche Gestaltung der Texte ist durch mindestens dreierlei Elemente auffällig: 1. die häufige szenische Vergegenwärtigung von Alltagssituationen (s. z.B. den Dialog mit der Mutter); ,Klare und normale Sprache“ als sozialer Stil 1,11 2. der ungehemmte Einsatz typisch umgangssprachlich markierter Routineformeln und anderer gesprochensprachlicher Phraseologismen, Interjektionen, Satz-, Abtönungs- und Gesprächspartikeln: na, Sie wissen schon; nichts für ungut; nein, sagen Sie! ; aha; na, sehen Sie! ; ach, daher weht der Wind? ; zack; mach dir nichts draus; los, nimm dich zusammen; wer weiß wie; also gut; aberja doch, machen wir u.v.a. 3. die Fülle witziger Neologismen: rattenkurz, Kunstledergazelle, Gröl-, Schunkel- und Saufhumor, Press- und Schenkfest, in-Bratkartoffeln, Wendeforscher, Schnullerindustrie, Tortenpfunde, Schießknaben, übermackert, Rekrutenloch, Mümmelmannessenz, Fresspabst usw. Die ersten beiden Elemente sind gängige Mittel, Texte lebendig, alltagsnah, gesprächshaft und damit verständlich zu machen. Die kleinen, typischen Dialoge, wie sie sich auch in Alltagserzählungen finden, lassen uns an den Situationen unmittelbar teilnehmen. Die gesprächshaften Elemente in den eigentlich monologischen Passagen eröffnen solche Dialoge gewissermaßen mit dem Leser. Der Anschluss an die Alltagskommunikation, der damit erreicht wird, kann für die Rezeption von Medientexten gar nicht überschätzt werden. Hier geht es aber um die Frage, was dies für die Konstruktion eines sozialen Stils bedeutet. Es ist klar, dass hier ein „Nähestil“ angestrebt wird, der einen fast vertraulichen Kontakt zum Leser versucht; es sind Texte, die ohne Umweg argumentieren, aber dabei nicht abschrecken wollen, sondern sehr persuasive Alltagsrhetorik, wie sie jeder gute Zuhörer überall entdecken kann, zum Blühen bringen. Solche alltagsrhetorischen Stile sind verwurzelt in den regionalen Umgangssprachen, in diesem Fall im Ruhrgebietsdeutsch, in dem Elke Heidenreich aufgewachsen ist. Dazu kommen die sehr treffenden Wortbildungen, die mit dem Kunstgriff der Univerbierung komplexe Sachverhalte und Bewertungszusammenhänge aufs stärkste verdichten und in alltäglich verständlichere und zugleich alltäglich gewertete Formulierungen übersetzen; damit bedienen sie nicht nur eine Grundanforderung jedes journalistischen und didaktischen Textes, sie treffen auch im Konflikt von Komplexität und Anschaulichkeit die Entscheidung eindeutig zugunsten der letzteren. Stilistisch gesehen ermöglichen sie die Integration von sonst nur fachsprachlich oder wissenschaftssprachlich zugänglichen Sachverhalten in die Alltagssprache. In Elke Heidenreichs eigener Diktion ist dies „die Tugend der klaren und normalen Sprache“ (Heidenreich 1996), die sie dadurch gekennzeichnet sieht, dass sie auf adressaten- oder domänenspezifische Variation verzichtet; im Klartext: Ich spreche mit allen gleich. Sprache ist für mich kein sakraler Ort, keine devote Unterscheidungsmaschinerie, sondern ein Mittel zur Verständigung. Darum muß 378 Werner Holly sie so klar und gerade wie nur möglich sein, und auch wenn ich über komplizierte Sachverhalte rede, muß ich das deswegen noch nicht kompliziert tun. (ebd., S. 102) Diese Einstellung zur Sprache ist ob sie immer praktikabel ist oder nicht auf jeden Fall Teil der Konstruktion eines sozialen Stils. Er steht ohne jeden Zweifel in der Tradition der Volksaufklärung und er passt nahtlos zu den anderen aufklärerischen Elementen, die aus den Selbst- und Fremddarstellungen sichtbar werden: Selbstbestimmtheit, Mündigkeit, die nicht mehr in der Tradition verhaftet, aber doch bodenständig bleibt; Kritik und Selbstkritik, die Ironie einschließt; die Spannung von Individualismus und Gruppenbezogenheit; postmaterielle Werte wie die Verbindung von Verstand und Gefühl; Toleranz und Perspektivenvielfalt; Bildung als Instrument, nicht als Statusmerkmal; scharfe Ablehnung von Verlogenheit und Dünkel, ob bei „den Reichen“ oder „den Spießern“, von „falschen“ Formen und Ritualen; abgelehnt werden auch die Leitideen moderner westlicher Gesellschaften, Konsum, Leistung, Konkurrenz; Skepsis gegenüber Technik und Forschung, vor allem in Anbetracht der Umweltgefährdungen. Alles in allem und in freundlicher Betrachtung könnte man wohl am ehesten von einem „gereiften“, einem „Altersstil“ der 68er-Generation sprechen. 4. Literatur Bourdieu, Pierre ( 5 1992): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M. Gross, Johannes (1990): Das neue Notizbuch 1985-1990. Stuttgart. Heidenreich, Elke (1988): Also... Kolumnen aus „Brigitte“. Reinbek. Heidenreich, Elke (1996): Die Tugend der klaren und normalen Sprache, ln: Sprachdienst 3- 4/ 96,8.98-102. Holly, Werner (2001): „Gehobener Stil“ als sozialer Stil. „Das neue Notizbuch“ von Johannes Gross als Textbeispiel. In: Jakobs, Eva-Maria/ Rothkegel, Annely (Hg.): Perspektiven auf Stil. Akten des Kolloquiums zum 60. Geburtstag von Barbara Sandig. (= Reihe germanistische Linguistik 226). Tübingen. S. 423-442. Kallmeyer, Werner (1994): Das Projekt „Kommunikation in der Stadt“. In: Kallmeyer, Werner (Hg.): Kommunikation in der Stadt. Teil 1. (= Schriften des Instituts für deutsche Sprache 4.1). Berlin/ New York. S. 1-38. Sandig, Barbara (1986): Stilistik der deutschen Sprache. Berlin/ New York. Wehler, Hans-Ulrich (1998): Die Herausforderung der Kulturgeschichte. München. Johannes Schwitalla Komplexe Kanzleisyntax als sozialer Stil Aufstieg und Fall eines sprachlichen Imponierhabitus 1. Eigenschaften der Kanzleisyntax Von der zweiten Hälfte des 14. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts herrschte in vielen Textsorten öffentlicher Herrschaftsdarstellung und -ausübung eine überaus komplexe Hypotaxeprosa (Überblicke: Sowinski 1998; Bentzinger 2000). Mehrfacheinbettungen von Nebensätzen und Reihung vieler Nebensätze vor dem finiten Verb des Hauptsatzes erzeugten eine so hochgradig syntaktische Komplexität, dass uns heute solche Sätze als „inflationäre Entwicklung“ (Hundsnurscher 1990, S. 433), als „kolossale Satzgefüge“ (Admoni 1990, S. 152), gar als „Satzmonster“ (Reiffenstein 1994, S. 191) erscheinen. Von Anfang an trug die Kanzleisyntax die konnotative Aura von Macht und Herrschaft mit sich. Deshalb wurde sie auch für Personen, die kein politisches Amt ausübten, attraktiv; in der metaphorischen Kraft des Kanzleistils sahen sie eine Möglichkeit, Aufmerksamkeit zu wecken und Anspruch auf öffentliches Gehör zu erheben. Was Kanzleisyntax ist, möchte ich zunächst an einem gemäßigten Beispiel illustrieren; es stammt aus einer Zeit, als es mit diesem Schreibstil schon zu Ende ging. Es handelt sich um die urkundliche Bestätigung des Herzogs von Weimar aus dem Jahr 1801, dass Goethes Sohn August als legitimer Sohn anerkannt wird (zit. bei Sigrid Damm, Christiane und Goethe, Frankfurt a.M./ Leipzig 1998, S. 268). Der ganze Text besteht aus einem Satzgefüge mit neun Teilsätzen bis zu dreifacher Einbettung und insgesamt 136 Wortformen: 1 Demnach Uns der Veste Johann Wolfgang von Goethe, Unser Geheimer Rat, allhier, untertänigst bittend anlanget, daß Wir seinen natürlichen Sohn August „per Rescriptum“ zu legitimiren in Gnaden geruhen mögten i Ich zähle Infinitive zu einem Teilsatz, wenn mindestens eine Ergänzung oder Angabe an den Infinitiv gebunden ist. Rechtseinrückungen sollen die hierarchischen Unterordnungen augenfällig machen. 380 Johannes Schwitalla und Wir durch Ertheilung der „legitimationis plenae“ diesem Ersuchen zu willfahren Uns entschlossen [haben] und daher benannten von Goethischen Sohne nicht nur das Gebrechen seiner Geburt aus LandesfUrstlicher Macht und Gewalt entnommen und denselben in den Stand ehelich erzeugter Kinder auf die beständigste Weise als solches geschehen kann und Kraft hat gesetzt [haben] sondern ihm auch das „ius successionis ab intestato“ in das väterliche Vermögen zugestanden haben, als verordnen und wollen Wir aus Landesherrlicher Macht, daß selbigem seine außerehelich Geburt von niemand zu einiger Verkleinerung und Nachtheil oder sonstiger Behinderung vorgerückt werden soll bey Vermeidung ernsten Einsehens und unnachbleiblicher schwerer Strafe. Hier kommen die typischen Elemente des Kanzleistils zusammen: 1) Vorangestellte und mehrfach untergeordnete Nebensätze enthalten die Vorgeschichte (narratio) und die Grundlagen für die Entscheidung (Nachdem ...); im Hauptsatz, dessen Beginn an einem Korrelat und dem finiten Verb erkennbar ist, wird die Entscheidung (dispositio) formuliert: als verordnen und wollen Wir ; 2) Reihung und Doppelformen (Macht und Gewalt; geschehen kann und Kraft hat; verordnen und wollen; Verkleinerung und Nachtheil oder sonstiger Behinderung)-, syntaktische Parallelismen (bey Vermeidung ernsten Einsehens und unnachbleiblicher schwerer Strafe); 3) deverbale Substantivableitungen (Ertheilung; Vermeidung; Verkleinerung; Behinderung), oft mit vielen und sehr ausgedehnten Attributen; 4) formelhafte Adjektive für jeden Stand (der Veste Johann Wolfgang von Goethe), Hervorhebungen der sozialen Differenz (unterthänigst bittend) und Hinweise auf die Legitimation (aus Landesfürstlicher Macht und Gewalt)-? 2 Wesentlich komplexere Beispiele finden sich syntaktisch analysiert in Schulze (1991, S. 145f.): Münchener Urkunde aus der Kanzlei der Herzoge von Oberbayem 1294: Ganzsatz mit 10 Teilsätzen (5 vor und 5 nach dem finiten Verb des Hauptsatzes, bis zu Sfacher Einbettung; Admoni (1980, S. 42ff.): Schreiben des Erzbischofs von Trier an die Stadt Frankfurt 1411: Ganzsatz mit 39 Teilsätzen bis zu ISfacher Einbettung vor dem Hauptsatz, insgesamt 790 Wortformen; alle 39 Teilsätze waren durch Rechtsverschiebung des finiten Verbs, durch Konjunktionen, in einem Falle durch den Konjunktiv als Nebensätze markiert; Schwitalla (1983, S. 236ff): Ausschreiben König Maximilians I. an die Stände des Reichs 1498: Ganzsatz mit 14 Teilsätzen bis zu Sfacher Einbettung und 294 Wortformen; ders. (2000): (Ausschreiben der habsburgischen Regierung von Ensisheim 1513: Ganzsatz mit 50 Teilsätzen bis zu 7facher Einbettung und 568 Wortformen; Reiffenstein (1994, S. 191f.): Kundmachungspatent Kaiserin Maria Theresias für Komplexe Kanzleisyntax als sozialer Stil 381 5) formelhafte Ausdrücke für bestimmte Briefteile und Sprechhandlungen (die abschließende Drohformel bey Vermeidung ernsten Einsehens und unnachbleiblicher schwerer Strafe). 2. Vorgeschichte: der imperiale Stil Seit der Spätantike und zunehmend im Mittelalter wurde die Lehre von den drei Stilebenen auf die soziale Hierarchie angewendet (Quadlbauer 1962, S. 64f., 116; Spang 1994, S. 922, 936). Der stilus supremus {gravis, grandiloquus) war den höchsten Personen angemessen: „gravis [stilus] convenit gravibus personis, que presunt pastoribus et agricolis“ (Johannes von Garland, 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts; zit. bei Quadlbauer 1962, S. 112f.). Man schrieb ihn in der päpstlichen Kurie („Kurialstil“; Frenz 1998, S. 1537ff.); letztlich geht er auf die Urkunden der spätrömischen Kaiser zurück (z.B. das Mailänder Edikt von 313). Als wichtigste Merkmale des hohen Stils wurden erstens prächtige und ausgefallenene Wörter angesehen, zweitens die Vielzahl und Variation rhetorischer Figuren, selten eine ausladende Syntax. 3 Bei den lombardischen Stilisten des 12. Jahrhunderts bestand ein idealer Brief aus drei Satzgefügen {clausulae), die die drei Briefteile exordium, narratio und dispositio/ petitio enthielten. Den Anfang bildete oft ein konzessiver (quamvis, licet, quamquam), kausaler {cum, quia, quoniam), konditionaler {si, nisi, tum), temporaler {cum, postquam, quando, Abi. abs.) oder ein Vergleichssatz; die entsprechenden Korrelate oder Adverbien führten zum Hauptsatz über (Schaller 1958, S. 318ff). Thomas von Capua, Kanzlist der Kurie, forderte in seiner Ars dictandi (cap. 26-28) sogar, den ganzen Text in einem Satz zu formulieren. Papst Innozenz III. und Kaiser Friedrich II. ließen ihre entscheidenden Manifeste im stilus supremus erscheinen: „mächtige Perioden, die mit rhetorischen Figuren prunken, und in denen ein schillerndes Spiel mit erlesenen Worten getrieben wird“ (ebd., S. 285; vgl. S. 286ff.). 4 Sprachliche Formen zum symbolischen Ausdruck der Machtfülle waren Superlative und andere Arten der Hyperbolik, Plural majestatis, Substantiviedie Constitutio Criminalis 1769, wegen ihrer Länge nur teilweise zitiert; ebenfalls nur teilweise zitiert ist ein Satz aus einem juristisches Lehrbuch von 1722 mit 24 Zeilen vor Beginn des Hauptsatzes (v. Polenz 1994, S. 380f.). 3 Z.B. Kaspar Stieler (Teutsche Sekretariat-Kunst, Nürnberg 1674, Bd. 1, S. 341): die „hocherhabene Schreibart [...] hebt sich weit höher empor, mit durchdringenden gewaltigen und prächtigen Worten/ verzieret sich mit Bluhmwerk und auserlesenen Ubersätzen/ vergrößert sich mit weitgeholten nachdenklichen Reden und kräftigen Erweiterungen.“ 4 Die berühmtesten Stilisten Kaiser Friedrichs II. waren seine Notare Petrus de Vinea und Peter von Prezza (ein Beispiel für diesen Stil ist das auf Deutsch übersetzte Manifest Manfreds aus dem Jahr 1265; vgl. Müller 1913, S. Iff.). 382 Johannes Schwitalla rung der eigenen Person {unsere erlauchtigste Hoheit), ihrer Eigenschaften {die Milde unserer Hoheit) und Handlungen {unseres Strebens Streben), der Abstand zur Alltagslexik durch Metaphern und Anklänge an die Bibel, die Zuschreibung von Eigenschaften, die zuvor in liturgischen Texten nur Gott zukamen (eine Liste bei Schaller 1958, S. 31 Off.). Der stilus supremus galt als sprachliches Zeichen imperialer Macht und Würde. Er wurde z.B. 1284 von dem Schmied Tile Kolup imitiert, der sich als wieder erstandener Friedrich II. ausgab (Wieruszowski 1933, S. 71). Die später die deutschen Texte so bestimmende Folge von langen und mehrfach eingebetteten Nebensätzen vor dem finiten Verb des Hauptsatzes war allerdings nur eine unter vielen Konstruktionsmöglichkeiten. In den Briefen Friedrichs II. unterstützen Reim und Rhythmik (die drei Arten des Cursus) die Gliederung von Teilsätzen, sodass sie auch beim Hören verstanden werden konnten: „omnia in stilo epistolari debeant ita esse lucida et aperta, quod in prima vel secunda prolatione audientes intelligere possint“ (Boncompagno, 13. Jahrhundert, zit. bei Schaller 1958, S. 316, Anm. 336). Die deutschen Urkunden des 13. Jahrhunderts die Belege werden erst in den letzten beiden Jahrzehnten dichter haben meistens Satzgefüge mit zwei oder drei Teilsätzen, die dem Hauptsatz vorangehen, ihn unterbrechen oder ihm nachfolgen (Schulze 1991). Es gibt aber gelegentlich Sätze mit sieben Teilsätzen vor dem Hauptsatz (ebd., S. 145f); die dispositio einer Urkunde von 1291 besteht sogar aus einem Satzgefüge mit 12 nachfolgenden Teilsätzen (ebd., S. 148f). Durch Briefsammlungen wurde diese komplexe Syntax Vorbild in der Kanzlei Kaiser Karls IV. (Wieruszowski 1933, S. 69; Schaller 1958, S. 288f). In dessen Urkunden nahmen Zwei- und Dreigliedrigkeit und lange Satzperioden im Laufe der Zeit zu, während gleichzeitige Kanzleien von Städten (Nürnberg) und hohen Fürsten (Wettiner) eine solche Komplizierung noch nicht erkennen lassen (Schmitt 1936, S. 102). Die Mehrzahl der Briefe Karls IV. haben noch die syntaktische Form Wir tun kund, dass wir ..., wenn auch das dazu gehörige Prädikat durch viele Satzteile lange auf sich warten lassen kann. 5 In einem Brief an den Erzbischof Friedrich von Köln von 1374 schreibt die Kanzlei aber schon mit mehreren Nebensätzen vor dem Hauptsatz: wanne wir mit dem [...] erczbischoffe [...] ubereynkomen seyn, das er den [...] Wenczlawen [...] zu eynem Römischen kunge [...] welen [...] sulle als das in [...] seinen brieten, die er uns doruber geben hat, volkomplich begriffen ist: 5 Zur syntaktischen Struktur solcher Eingangssätze: Wolf (1981, S. 192f.). Komplexe Kanzleisyntax als sozialer Stil 383 dorumb so haben wir [...] gelobt und verheizzen [...] das wir dorczu arbeiten [...] sullen und wellen [...], wie das wir den [...] fürsten der schulde, die er unserm heiligen vater [...] schuldig ist, ledig und loz gemachen mögen. (RTA 1, 32). Im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts wurde dieser Satztyp mit mehreren vorangestellten Nebensatzreihen in den (kur-)lurstlichen Kanzleien aufgegriffen; er erscheint z.B. in einem Brief der Kurfürsten an die Stadt Speyer von 1397 (5 Nebensätze mit dreifacher Stufung vor dem Hauptsatz) oder in der Absetzungsurkunde König Wenzels durch den Erzbischof von Mainz 1400 (13 Teilsätze mit bis zu sechsfacher Einbettung vor einer Reihe anaphorischer Hauptsätze; RTA III, Nr. 204). Insgesamt war die Urkundensyntax merklich komplexer als die literarische Prosa der damaligen Zeit (z.B. der Prosa- Lancelof, Betten 1987, S. 148f.). 3. Adaptionen im 15. und 16. Jahrhundert Der Kanzleistil wurde in der Öffentlichkeit hauptsächlich durch Widmungsbriefe und Vorreden bekannt. Da der Widmungsbrief oft an Adlige gerichtet war, die man sich als Mäzene gewogen machen wollte, war der Kanzleistil auch angemessen. Johann von Neumarkt formulierte 1353 eine Vorrede an Karl IV. in der Weise, dass dem Hauptsatz exakt fünf Nebensätze vorangehen und nachfolgen {Schriften, S. 7f.; seine lateinischen Urkunden hatten die Tendenz, den ganzen Haupttext in ein Satzgefüge zu fassen). Der Autor eines Berichts von der Vermählung Kaiser Friedrichs III. redet im Widmungsbrief den Kaiser sehr hypotaxenreich an und entschuldigt sich fast, dass er den Text selbst „in Teütsch schlechtlich. nit mit Cantzelleischh vh gesetzten Worten außgelegt“ habe, damit ihn „vil menschh mochten wissen“ (Druck von 1503, Köhler Nr. 4599, Bl. A3b). Vermittler des Kanzleistils waren außerdem die Autoren von Briefstellern, Lehrer in deutschen Schulen und Kanzleischreiber. Von Stadt zu Stadt ziehende Schreiber, die ihre Dienste für das Aufsetzen von Briefen auf gedruckten Plakaten anpriesen, taten dies selbstreflexiv in kunstvoll hypotaktischer Prosa, mit synonymischen Reihen, lateinischen Fremdwörtern und Nominalstil. Einer dieser Plakattexte lautet folgendermaßen (Joachimsohn 1893, S. 37; vgl. Müller 1882,8.320): Wan auch n[i]manczs ichs [etwas] wol brieflichs, hoflichs als wolgeczirates reden, seczen, ord[i]nieren oder gedichten mag, allain er siege [sei] dann der deutschen sirmonima vnd der Verwandlung der pslus[Beschluss]wortter vor in allen geleit vnd vnderricht[et] 384 Johannes Schwitalla demnach were nun yemant von predigem, canczlschreibem, procuratoren, brieftichtem, burger[n], rather[r]n, rednem oder vorsprechem, die da ainen köstlichen tractat mit zirlichen sinonimam vnd brieflichen canczlischen pslusworten in dreyen tagen verstann, hören vnd den mit seiner auslegung vnd deciarierung ad permas schreiben wollen, durch den man höflich redt [Rede] kurcz conclusiones, zirlich colores, auch aller Sachen mainung, statliche begreiffhus, künstlich vnd förmlich nach artt der fürsten cantzley volfüren vnd zustaten bringen mag, der fuege sich hewt oder morgen zu der obgenanten person in die hie beigeschriben herperg. Der ganze Text besteht aus einem einzigen Satzgefüge. Der Hinweis „nach artt der fürsten cantzley“ hebt den Stil solcher Texte in die Höhe fürstlicher Machtsphäre. In deutschen Schulen, in denen auch das Briefeschreiben gelehrt wurde, beschränkte man sich auf den Hinweis, dass man das Exordium mit dieweyl, die Narratio mit als, die Petitio mit darumb beginnen müsse, um eine wohlgeformte Bittschrift schreiben zu können (Steinhausen 1889, S. 104). 6 Obwohl die ersten handschriftlichen und gedruckten Briefsteller des 15. Jahrhunderts Anleitungen für den amtlichen Schriftverkehr waren, wurden die eher seltenen Beispieltexte für private Briefe schon im Kanzleistil aufgesetzt, z.B. der Brief an ein allerliebstes basslein im handschriftlichen Tractat des Bernhard Hirschfelder um 1480 (Text in Joachimsohn 1893, S. 39), im Spiegel der wahren Rhetorik Friedrich Riedrers von 1493 und später auch in vielen Formularbüchern des 16. Jahrhunderts. Als Beispiel wähle ich einen Musterbrief aus Friedrich Riedrers Spiegel der wahren Rhetorik (Erstdruck 1483). Es ist ein Brief einer Schwester an ihren Bruder, in dem sie diesen darum bittet, er möge ihr und ihren Kindern nach Übrigens gab es in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine andere Initiative für einen hohen Stil, nämlich Niklas' von Wyle latinisiertes Deutsch. Gedacht war er für ein adliges Publikum: „besonder hochen adellichen gemüten [...] die allwegen von nature sint nüwe vnd fremde ding zehören“, nicht die „groben, ungelerten laien“. Die deutsche Sprache sollte auf ein anspruchsvolles kulturelles Niveau gehoben werden, auch auf Kosten der Verständlichkeit („nit geachtet ob dem schlechten gemainen vnd unemieten [ungeübten] man das vnverstentlich sin werd oder nit“; die Zitate in Backes 1999, S. 106ff.). Dennoch haben, auf dem Umweg eidgenössischer Kanzleien, Spuren des lateinischen Deutsch auch ihren Weg in öffentliche Texte von Stadtbürgem gefunden. Der Züricher Glockengießer Hans Füßli schrieb 1524 eine Streitschrift, in der er den lateinischen Ad nach Verben des Denkens verwendete: es muß ein jeder dis epistel lesender version/ Paulum hie vermeint haben [...]“. Komplexe Kanzleisyntax als sozialer Stil 385 dem Tod ihres Mannes helfen. Nach Anrede und Gruß lautet das erste Satzgefüge folgendermaßen: Dwyl menschlich gemüt\ so in eilend vh angstbarkeit stat: by eim fründt da [r]yn hoffhung aller meist lit: dz jm hilft vn trost nit versagt werd\ ergetzlichkeit sucht: Vemem üwer Ersamkeit vnbrüderlich früntschaffh dahin min höchst vertruwen uff erd züuersicht hat: das ich in solich armüt vnd Verlassenheit nach hinscheiden myns mans als jr vor bericht synt: gesielt körnen vh verlassen byn: [sodass ich] mich selbs vh myn kinder der grossen tuning vh krigslöff halb\ weder mit noch on bettlen nit zu entere noch sust enichen fründt dah allein üch anzerüffen weiß. (Riedrer, Spiegel der wahren Rhetorik, Bl. Ixxvib). Das Formular allerlai Schrifften, Briefe und Instrumenten (Frankfurt 1557) gibt folgenden Musterbrief für einen Bittbrief an einen Schwager vor (gekürzt): Exordium wie nach gemeinem Sprichwort gesagt wirt/ daß ein mensch des andern Gott sei/ das ist/ daß eins beim andern trost [...] suchen/ auch empfinden/ vnnd also einer des andern not sich annemen sol/ vnd solchs von allen in gemein gesagt/ sol noch billicher [...] bei verwandten freunden statt haben. Narratio. Dieweil dann ich ietzunder einen [kauff] gethan [habe] welchen ich auß eygnem vermögen [...] nicht füglich weyß zu bekrefftigen vnd jr aber Got sei lob mir hierinn ein beistewr [...] thün könnet/ So bewegt mich die alte kundtschaft [...] mir [...] offtmals bewisen/ Daneben auch die [...] trewliche wilfarung/ in gantzer züuersicht an euch zuschreiben. Es folgen Petitio und Conclusio, gleichermaßen hypotaktisch gegliedert. Man braucht aber nur die Briefe von Stadtbürgern und -bürgerinnen des 16. Jahrhunderts zu lesen, um zu sehen, dass diese verordnete Umständlichkeit 386 Johannes Schwitalla nicht befolgt wurde (Briefe von und an Luther, Briefe von Jugendlichen, Bürgern und Bürgerinnen aus Nürnberg; besonders die Briefe der Magdalena Paumgartner an ihren Mann, vgl. Steinhausen 1889, S. 92f, 98f., 160f.). Metzler (1988, S. 62f.) stellt fest, dass Briefe, die an den Zwickauer Ratsschreiber Stephan Roth geschrieben wurden, durchschnittlich kürzere Sätze und geringere Hypotaxekoeffizienten aufweisen als die Briefmuster von Friedrich Riedrer und Fabian Frangk. Außerhalb der amtlichen Kommunikation verwendeten auch Gelehrte, Geistliche und (wenn auch selten) Frauen und männliche Laien die Kanzleisyntax für öffentliche Texte. Seit ca. 1505 entstand langsam, ab 1519 sprunghaft eine durch Flugschriften hergestellte Öffentlichkeit (Schwitalla 1999, S. 54ff). Viele Flugschriftenautoren bedienten sich nun des Kanzleistils, um damit öffentliche Aufmerksamkeit zu gewinnen. Gleich die erste Flugschrift in der ersten systematischen Flugschriftenkampagne in der Geschichte der deutschen Publizistik, Johannes Pfefferkorns Judenspiegel von 1507, beginnt mit einem Satzgefüge mit 16 Teilsätzen, mit komplexen Nominalphrasen, Synonymemeihen und insgesamt 240 Wortformen (der Text abgedruckt bei Hans Martin Kim, Das Bild vom Juden in Deutschland des frühen 16. Jahrhunderts, Tübingen 1989, S. 205ff). Pfefferkorns wohl auch gedruckter Aufruf an die Teilnehmer des Augsburger Reichstags von 1510 begann mit einem Satzgefüge der Formel Allen undjeglichen sei kund, dass ...; er enthielt sechs Teilsätze und wiederholte Synonymemeihen, das zweite Satzgefüge zehn Teilsätze (der Text bei Eduard Böcking, Hutteni Opera, Leipzig 1869, Supplementband II, S. 73f.). Damit war ein Muster für spätere Autoren vorgegeben, die für die Öffentlichkeit schrieben. Der erste Satz ihrer jeweiligen Schriften hatte oft eine Eigentümlichkeit des Kanzleistils, wenn es auch nur die Subjunktion wiewohl, dieweil oder nachdem war; der nachfolgende Text konnte dann in dem Stil geschrieben werden, welcher zur Textintention passte (Predigt, Traktat, Dialog). So begann der Augsburger Organist Bernhard Rem seinen offenen Brief an Tochter und Schwester mit einem Satzgefüge (wie wol wir ... so hab ich doch ...), danach schrieb er in predigthaftem Ton weiter (Text: Köhler et al. Nr. 632). Hans Hergots Utopie Von der neuen Wandlung 1526 macht im zweiten Abschnitt formelhafte und syntaktische Anleihen beim Kanzleistil, um die gesetzliche Autorität seiner neuen Gesellschaftsordnung zu erhöhen (Text in: Laube/ Seiffert S. 54ff.). Auch Informationstexte („glaubwürdige Berichte“) hatten kanzleistilistische Details, um öffentliche Relevanz zu signalisieren (z.B. der Bericht von der Himichtung Thomas Morus'; Kästner 1994, S. 156f). Luther formulierte zu Beginn seiner Briefe an hohe Geistliche und Adlige meist komplex hypotaktisch; z.B. an Kardinal Albrecht vom 1.12.21 (Brief Nr. 442) oder im veröffentlichten Brief an Papst Leo X. 1520 (nach dem ersten Gesamtsatz: 1. kausal, 2. konzessiv in einem langen Satzgefüge; WA 7, 3). Flugschriften begann er nur selten hypotaktisch (z.B. die Ant- Komplexe Kanzleisyntax als sozialer Stil 387 wort auf die Zettel, WA 6, S. 137), z.T. als Satire (Neue Zeitung vom Rhein, WA 53, S. 404). Nicht selten kam es vor, dass sich die Autoren bei der Adaption des Kanzleistils syntaktisch übernahmen und einen Anakoluth produzierten. Der Astrologe Georg Tannstetter veröffentlichte 1523 ein Tröstbüchleiner begann mit einem temporalen Nebensatz, der aber nach fünf Teilsätzen mit insgesamt 89 Wortformen nicht zum finiten Verb des Matrixsatzes führte, sondern plötzlich endete (Text in Schwitalla 1999, S. 37). Der Eilenburger Schuster Georg Schönichen begann 1523 seine Streitschrift gegen die Leipziger Theologen mit viermal einsetzenden Nebensätzen {Nach dem ...; Dieweyl...; die weyl...; vnd wiewol...); dann folgte aber nicht das längst erwartete Verb des Hauptsatzes, sondern ein neuer Satz (Text: Köhler Nr. 1883). Im ganzen 16. und 17. Jahrhundert wurde der Kanzleistil als unbezweifelt akzeptierte Form einer hohen und würdigen Diktion gepflegt, nicht nur in amtlichen Texten, sondern auch in wissenschaftlichen Abhandlungen, Flugschriften, Zeitungen, Lexika, ja sogar in Gedichten (Schwulst-Lyrik; v. Polenz 1994, Bd. 2, S. 307) und Liebesbriefen (Samuel Butschky: Venuskanzelei, 1644). Ihren Höhepunkt erreichte die sprachlich syntaktische Komplexität in der Barockzeit (Admoni 1980, S. 339ff.; v. Polenz 1994, S. 274f.). Damals kamen in Sachtexten übermäßig ausgedehnte Partizipialattribute und Auslassungen der finiten Hilfsverben in Nebensätzen hinzu, die das Verständnis zusätzlich erschwerten (Beispiele in v. Polenz 1994, S. 271, 278, 380f.; zum Kanzleistil in frühen Zeitungen: Korhonen 1988, S. 242). Im 18. Jahrhundert geriet der Kanzleistil immer mehr ins Visier der Sprach- und Stilkritiker (vgl. Abschnitt 4.). Im 19. Jahrhundert war er nur noch sprachlicher Flitter. Er prägte nicht mehr den Haupttext, sondern die Einleitungs- und Schlusssätze. 7 4. Kritik und Parodie Ernsthaft kritisiert wurde der Kanzleistil erst in der Aufkärung. Doch schon im 13. Jahrhundert spottete der Jurist Odofredus über Urkunden, die dem imperialen Stil nachempfunden waren: „volentes obscure loqui et in supremo stilo ut [...] faciebat Petrus de Vineis“ (zit. bei Kantorowicz 1909, S. 653; vgl. Quadlbauer 1962, S. 112f.). Der Verfasser des Formulare und deutsch Rheto- 1 Ein schönes Beispiel ist das bei Cherubim u.a. (1987, S. 150f.) zitierte Reglement für das Droschkenfuhrwesen von 1854 in Braunschweig. Der Einleitungssatz beginnt kanzleiartig mit: „Da das [...] 1850 bekannt gemachte Reglement [...] nicht angemessen erscheint, so wird [...] das nachfolgende [...] Reglement für das Droschkenfuhrwesen“. An dieser Stelle wird der Satz unterbrochen; es folgen 42 Paragraphen dieses Reglements ohne jegliche syntaktische Anbindung an den begonnenen Satz. Dieser wird aber zum Schluss aufgegriffen und zu Ende geführt: „nachdem dasselbe [...] genehmigt worden, hierdurch zur öffentlichen Kenntniß gebracht.“ 388 Johannes Schwitalla rica (1483) wandte sich gegen zu lange Synonymenreihen; man solle zwar Wörter „mutieren“ (d.h. synonymisch abwandeln), aber es sollten „nit zeuil gelycher Wörter in eyne artickel [Gedanken] geredt od[er] geschrybe“ werden. Leitendes Prinzip müsse die Verstehbarkeit von Texten sein, auch wenn man sie nur hören könne: „mit liepliche kurtze rechtgeordnete worte [...] die eine genem sint vffzeneme geredt od[er] geschribe“ (zit. bei Brandt 1988, S. 70). Ähnlich urteilte der Herausgeber über den von Niklas von Wyle geprägten Stil in Petermann Etterlins Chronik der Eidgenossenschaft von 1507. Er habe dieses „böse“ Deutsch „mit langen breiten unverstentlicher meinung vnd Worten vergriffen, mit vßteilung ungeteilter red“ korrigieren müssen, zum Nutzen für den „verstendigen zühörenden vnd lesenden“ (Joachimsohn 1896, S. 102). Aventin rügte in seiner Bayerischen Chronik 1566 die „Redner und Schreiber, voraus [so] auch latein künnen, biegen, krümpen unser Sprach [...] machens mit großen umschwaifen unverstendig“ (Josten 1976, S. 81; ebd., S. 158f. zwei Stimmen zur Unverständlichkeit: die Güstrower Schulordnung von 1662 und Philipp von Zesen von 1678). Auch in Parodien des Kanzleistils steckte je nach historischem Kontext unterschiedliche Kritik. Noch rein abbildend gebraucht der Autor des Fortunatas (1509) den Kanzleistil, wenn der Protagonist selbst oder eine Bürgerliche zu einem König sprechen (Kästner 1990, S. 225f.). Satirische Töne finden sich dagegen schon in der Flugschrift Unterredung des Papsts und seiner Kardinäle von 1524, wo der Papst in langer, umständlicher Rede (fünf Teilsätze vor dem finiten Verb, neun Teilsätze danach) seine Kardinäle bittet, ihm zu raten, was gegen die Reformation zu tun sei (Oskar Schade, Satiren und Pasquille aus der Reformationszeit, Hannover 1863, S. 75). Wie die reformatorischen Schriftsteller legten auch Sprachkritiker und Publizisten der Aufklärung Wert auf eine flüssige, verständliche Sprache. In der Nr. 2 der Hamburger Zeitschrift Der Patriot (1724) wurde ein unterwürfiger und dennoch impertinenter Bittbrief veröffentlicht, der pleonastische, schmeichlerische Anrede {Respective Hoch= und Wohlgebohrener, Hoch= und Wohlgelahrter, Hocherfahrener, Gestrenger Herr; Gnaediger und hochzuehrender Herr Patriot; besonders hochgeschaetzter Goenner! ) mit überquellender, nun als altertümlich empfundener Syntax verband {Der Patriot, hrsg. v. Wolfgang Martens, Berlin 1969, Bd. I, bes. S. 10, Z. 16ff; S. 12, Z. 7ff). Ebenfalls 1724 erschien in den Schriften für und gegen den Patrioten (Nr. 26) Der Mademoisellen Studentinnen Protestation und Declaration (Stadt- und UB Hamburg); darin beklagten sich diese in übertriebener kanzleistilistischer Manier über die Strafe des Tragens einer Narrenkappe. Der zwei Seiten lange Text besteht aus einem Satz mit insgesamt 25 Teilsätzen. Hier mischt sich der Spott gegen den Anspruch junger Frauen, studieren zu wollen, mit dem Spott über den als veraltet angesehenen Kanzleistil. Komplexe Kanzleisyntax als sozialer Stil 389 1755 werden Zeitungsschreiber kritisiert, dass sie „die Erzählung der geschehenen Sache, die Ursachen und Bewegungsgründe derselben, die Umstände, die dabey vergehen, in einen einzigen Satz“ zusammenbinden. Dies sei die „weitschweifige, dunkele und ermüdende [...] in den Canzleyen übliche Schreibart“ (zit. in v. Polenz 1994, S. 373). Mozart schrieb in einem Brief an seine Schwester (14.8.1773), die er scherzhaft meine königin apostrophiert, ein Satzgefüge, das sieben Teilsätze, Synonyme (dein und wem oder vielmehr zuweilen oder besser bisweilen oder noch besser qualche volta) und komplexe Nominalphrasen (den höchsten Grad der Gesundheit) enthielt. Ironisch fügte er hinzu: „hier hast du was gescheides“. Nur noch Spott war ein 1793 von einem Studenten verfasstes Gedicht gegen ein exorbitant kanzleistilistisches Manifest Kaiser Franz II. gegen die Mainzer Revolutionäre. Der Verfasser parodiert diesen Text, indem er zwei Strophen mit konditionalen Nebensätzen ausfüllt (Weil aber diesen Hochverrat ...; Weil Rheinbewohner länger nicht ...), denen dann die Entscheidung im Hauptsatz folgt (So wolle seine Majestät ...; beide Texte in Heinrich Scheel, Die Mainzer Republik. Protokolle des Jakobinerclubs, Berlin 1975, S. 664ff). Die nachhaltigste Kritik erfuhr der Kanzleistil in der Aufklärung (Nickisch 1991, S. 80ff.). Hier können nur einige Hinweise gegeben werden. Christian Weise polemisierte in seinem Politischen Redner von 1683 zwar nicht ausdrücklich gegen den überladenen Kanzleistil; ja, er lobte sogar ausdrücklich die Redepraxis an Höfen und bei politischen Versammlungen (S. 956), und er stellte gleich zu Beginn als generelle Regel auf: „Erstlich braucht man etliche Particulas [= Konjunktionen], welche meistentheils im Periode ein Colon machen“ (S. 8). Aber die Beispiele, die er aus ganz unterschiedlichen Textsorten und Medien zitiert und selbst formuliert (Briefe, politische Ansprachen, Reden aller Art), zeichnen sich dadurch aus, dass vorangestellte Nebensätze nur mittellang ausfallen (Beispiele S. 53, 54 mit Anakoluth, S. 137f, 210, bei politischen Reden: S. 963, 973f., 983f„ 1007) und selten über 50 Wörter hinausgehen (S. 146). Talander (August Bohse) monierte im Neu-Erleuterten Briefsteller von 1697, „daß man denen alten Notariis und ungelehrten Advocaten in ihren Ellen-langen Periodis unbedachtsam nachfolget“; vielmehr müsse „ein guter Brief-Verfasser seine Periodos nicht allzu lang machen, und gantze Seiten damit anfüllen, ehe das Schluß-Verbum kömmt [...] noch alle Umbstände einer Sache in einem Punct einzwängen wollen“ (zit. bei Nickisch 1969, S. 118). Kurz, verständlich und gesprochensprachlich sollten aber nicht nur geschriebene Texte sein, sondern auch die mündliche Rede. Bei Weise werden diese Prinzipien zwar selten explizit formuliert („verdrießliche Prolixität“, S. 206; „wie andere Leute sprechen“, S. 162; „aus freyer und ungezwungener Bewegung“, S. 186; „beruhet auf einem klaren und verständlichem Stylo“, S. 220); sie stehen aber hinter den Textbeispielen für Richtig und Falsch, im Extrem bei einem Gegensatzpaar von drei vs. über 300 Wörtern (S. 170f). 390 Johannes Schwitalla Weise steht noch in der Tradition der sozial abgestuften Dreistilebenenlehre; er kritisiert gestelzte Umständlichkeit und proklamiert bescheidene Kürze (z.B. ein Trinkspruch an einen Bräutigam: Monsieur, einen angenehmen Trunck auff seiner Liebsten Wohlergehen, im Gegensatz zu einer pedantischen Rede mit 137 Wörtern, beginnend mit Mein Herr, in Betrachtung dessen ungefärbter Affectation S. 162f.). Jedoch werben andere Mustertexte (Hochzeitseinladung, S. 179) und die Gestaltungen von Sprechakten des Bittens, Glückwünschens, Einladens, Widersprechens, Tadelns und Fragens für längere Formulierungen, im Gegensatz zu direkten und kurzen Aufforderungen {gebt mir doch das Glaß her; Kommet/ wir wollen gehen, S. 185). Christian Friedrich Hunold (Menantes) geißelt in der Manier, höflich und wohl zu reden und zu leben (1710, hier zitiert nach dem Hamburger Druck von 1738), ausufemde Satzperioden für die einfache Bitte um Protektion, die ein Sohn eines Amtmannes dem Minister in der Residenzstadt Vorbringen will; sie sei „mehr nach der Brabandischen als Frantzösischen Elle gemessen“. Das abschreckende Beispiel lautet: Ew. Excellence vortreffliche Humanität verspricht mir gnädigen Pardon, daß [ich] mir die Kühnheit genommen/ nachdem dero hohen Affaires mir sonsten das Glück nicht verstauen/ Ihnen allhier die unterthänige Reverence zu machen. Mein ehrerbietiges Verlangen ist/ daß da ich/ als des Amtmannes zu N. Sohn/ die hohe Ehre habe in Ew. Excell. Anverwandtschafft zu stehen/ ich die ehrerbietigste Begierde hege/ in Ew. Excellence gnädigen Wohlwollen mich auch zu recommendieren; Bitte also demüthig/ mein hoher Patron zu seyn; welches hohe Glück [ich] Lebenslang mit schuldigster Observance und verpflichtesten Hertzen ehren werde, (ebd., S. 27). Hunold bemerkt dazu, dass der Minister über eine so lange Rede verdrießlich werde, Weggehen könne und dem Sekretär auftrage, „zu vernehmen/ was der Kerl haben will“. Geschickter sei es, sein Anliegen „sonder viel Worte zu machen“ vorzutragen. Johann Christoph Gottsched bezeichnete in seiner Ausführlichen Redekunst (5. Aufl. 1759) die künstliche Art, Gedanken nach den immer gleichen Satzgefügen zu formulieren, „die alle ihre egene Leisten hatten, darnach sie zugeschnitten werden mußten“ als „kindische Kunstgriffe“, und er stellte die Maxime auf: „man [bemühe] sich doch, mehr einfache als zusammengesetzte Perioden zu machen. Man rede und schreibe nur, wie man im gemeinen Leben unter wohlgesitteten Leuten spricht“ (Ausgewählte Werke VII/ 1, S. 333L; vgl. S. 368). Das war auch das Prinzip von Christoph Fürchtegott Geliert. Er maß in seiner ungeheuer erfolgreichen Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen (1751) den Kanzeilstil an der Norm der höflichen ge- Komplexe Kanzleisyntax als sozialer Stil 391 sprochenen Rede. Sie sollte natürlich, individuell und spontan sein (Nickisch 1969, S. 161ff.). Geliert gibt ein Gegenbeispiel für den Anfang eines Empfehlungsschreibens: Gnädiger Herr, Nachdem ich in Erfahrung gebracht habe, daß Ew. Hochwohlgebohmen eines Sekretärs bedürftig sind, und ich mich zu sothaner Bedienung seit vielen verflossenen Jahren auf Schulen und Akademien bestmöglich geschickt gemacht habe etc. (Geliert, Die epistolographischen Schriften, S. 4) Geliert kommentiert: „Man redet nicht so“ und kritisiert auch an anderen Beispielen immer wieder die umständliche Syntax und den Zwang, alles Mitzuteilende in einen Satz zu bringen („in Einem Perioden“; „so pflegen wir im Affecte nicht zu reden“, S. 44; „zu einem einzigen ängstlichen Perioden“, S. 45). Ingesamt wird der Kanzleisprache Künstlichkeit und Verstellung vorgeworfen; ihr Stil sei zu „ausschweifend“, „übertreibend“, „strotzend“ (S. 5), „unnatürlich“ (S. 22), vergleichbar einem „prahlenden Putzzimmer“ (S. 11), „schwer und steif 1 (S. 71), „steif und ängstlich“ (S. 41) und zudem unverständlich: „diejenige Sprache, die im gemeinen Leben am wenigsten gehört, und beynahe gar nicht verstanden wird“ (S. 41). Für die Unverständlichkeit offizieller Schreiben bekam Geliert eine Bestätigung von allerhöchster Stelle. In einem Gespräch mit dem preußischen König Friedrich II. im Jahr 1761 beklagte sich dieser: „Es ist etwas Verteufeltes. Sie bringen mir ganze Bogen, und ich verstehe nichts davon“ (Nickisch 1971, S. 3*). 8 Die Kanzleisprache war aber für Geliert nicht nur ein ästhetisches Gräuel; sie drückte auch eine Unterwürfigkeit aus, die eines selbstbewussten Bürgers im 18. Jahrhundert nicht mehr angemessen war: „Man soll demüthig und ehrerbietig sprechen; und wie leicht kann diese Sprache kriechend und sklavisch werden“ (S. 71). Nach Geliert übernahmen schließlich auch Anleitungen für Geschäfts- und Amtsbriefe die Forderung nach Kürze. Johann Carl May {Versuch in Handlungs Briefen 1756): Amtsschreiben sollten „kurz und lebhaft“ sein (Nickisch 1969, S. 186); Joseph von Sormenfels {Versuch über die Grundsätze des Stils in Privat- und öffentlichen Geschäften 1782, 1. Theil, S. 10): „daß man ihn [den Period] etwelchemale durchlesen muß, bevor man ihn verstehen kann, indem man immer das vorhergehende vergißt“. Ähnlich Joseph II.: „Ob [...] insinuata, noten oder dergeleichen kanzleysprünge oder titulatur beobachtet, [...] muss für einen vernünftigen mann [...] ganz gleich und alles eins seyn“ (zit. bei Reiffenstein 1994, S. 185). 392 Johannes Schwitalla 5. Die soziale Symbolik Die Kanzleisyntax steht in der symbolischen Tradition des stilus sublimis: Der hohe Stil entspricht der Schreibart der höchsten sozialen Stände und der höchsten Gegenstände. 9 Der größeren Machtfulle entsprechen prächtige Wörter, die Vielzahl und Variation der rhetorischen Figuren und eben auch eine komplexere Syntax. Man könnte in den überkomplexen Sätzen auch eine Allegorie der feudalen Herrschaft sehen: Wie ein Fürst über alle Teile und Stände seines Landes regiert, so sind dem Subjekt des Hauptsatzes, das auf ihn referiert, und dem Prädikat, das seine Entscheidung mitteilt, alle Nebensätze untergeordnet. 10 Es scheint, dass im Mittelalter diese Parallele jedoch nicht explizit gezogen wurde, obwohl schon damals die Bestimmungen des Herrschers ‘unter’ (im Sinne der Textdeixis) seiner Person stehen sollten: „relacio precedet sub persona pape“; „post hoc sub persona inperatoris sequens locutio ponatur“ (Ars dicendi aus Orleans, Rockinger I, S. 11 If.). 11 Sprachliche (und nonverbale) Komplexität entspricht einem in vielen Kulturen geltenden Prinzip der Analogie zwischen sprachlichem (aktionalem) Mehraufwand und sozial gehobener Stellung (Beetz 1999, S. 145f, 150f.). Ein solches Prinzip formuliert Christian Friedrich Hunold (Menantes) in seinem Höflichkeitsbuch La civilite moderne oder die Höflichkeit der Heutigen Welt von 1724: Denn zum Exempel, wenn man gegen seines gleichen mit einer Freundschafts=Höflichkeit höflich seyn solle/ so muß mans noch mehr seyn gegen solche Personen/ so von etwas höherm Stande/ als wir sind/ [...] Und noch mehr gegen Fürsten/ so vorige Personen noch übertreffen: Und endlich noch mehr und genauer 9 Noch Kaiserin Maria Theresia verwendete Kanzleisyntax für die Constitutio Chminalis von 1769, während sie im normalen Briefverkehr mit der Verwaltung einfacher schrieb (Reiffenstein 1994, S. 191). 10 „Es gibt hier Nebensätze verschiedenen Grades, aber letzten Endes beziehen sich alle, mittelbar oder unmittelbar, strukturell auf einen Teilsatz, den Hauptsatz“ (Admoni 1980, S. 47). 11 Andere Eigenschaften der Kanzleisprache waren leichter auf soziale Herausgehobenheit zu beziehen als die Syntax, z.B. der Superlativ. Guido Faba (13. Jh.): „maxime persone sunt anthonomasice Pape et Imperator quia sicut sol et luna in synderibus sic ipsi omnibus Superlative preponuntur“ (Rockinger I, S. 452). Niklas von Wyle berichtet in der 18. Translatze als fremde Meinung, dass der Superlativ „in dem höchsten übertreffe allain ainem römschen kaiser oder römschen künge zu gelägt vnd geben werden“ solle. (Er selbst interpretiert den Superlativ als Elativ). Den direktesten Bezug zur sozialen Stufenleiter hatten die den einzelnen Ständen zukommenden Adjektive; diese und die Anreden waren die wichtigsten Bestandteile der Briefsteller und Formularbücher. Ärgert sich Wyle noch darüber, dass jeder Stand das ihm übergeordnete Adjektiv usurpieren will, so gibt Joseph von Sonnenfels 1782 den Rat: „Schreibt ein niederer an einen grösseren, so muß er ihm immer um eine Stufe mehr geben“ (S. 73f.). Komplexe Kanzleisyntax als sozialer Stil 393 gegen gecrönte Häupter und deren Angehörige/ so über andre Fürsten gehen (zit. bei Linke 1996, S. 81). Am längsten konnte sich der Kanzleistil in Süddeutschland und in Österreich halten (Reiffenstein 1992, S. 486ff.). Süddeutsche Gelehrte sprachen in bewusstem Gegensatz zur sächsischen Geschmacksdominanz dem Kanzleistil „Kraft“ und „Mannhaftigkeit“ zu. Der Münchener Pater Gelasius Hieber meinte, die Kanzleisyntax sei Ausdruck der „Teutschen Helden=Sprach“. Mit einer solch kraftvollen Sprache habe Gott geredet, „als er Adam mit dem feurigen Schwerdt auß dem Paradeyß gejagt“. Daher passe sie zum sozialen Bereich der „vornehmen Cantzleyen der Fürsten vnd Potentaten“. Ihr wird das „verzwickte vnd halb verschlungene Gewispei“ der Schlange im Paradies gegenübergestellt, dem wie den neumodischen, meißnischen Sprachlehren strenge Ordnung fehle. Ihre Autoren hüpften wie die Heuschrecken „bald hin bald her“ und sähen „in solcherley Lufft=Sprüngen jhr gröste Zierde“, anstatt Sätze planvoll mit „Adversativum, oder Expletivum, oder Caussale“ anzuordnen (alle Zitate bei Reiffenstein 1988, S. 29, 37). Noch 1755 warf der Gengenbacher Pater Augustin Domblüth Gottsched vor, seine Schreibart habe nichts „männliches oder emsthafftes; welches doch wenigist die Vorreden und Vorbericht erfordereten. Wegen seinem Französlen, kommt alles heraus, als wan er immer schertzete“ (zit. bei Eggers 1977, S. 83; vgl. v. Polenz 1994, S. 172). Im 19. Jahrhundert schlug diese Assoziation des Festen/ Starken in ihr Gegenteil um. Lange Sätze, nun auch mit äußerst komplexen Nominalphrasen, werden als „alt“, „schwerfällig“, „geduldig“, „mühevoll“ und „langsam“ empfunden (v. Polenz 1999, S. 298f.). Bei Jean Paul ist das schnelle Springen von Satz zu Satz positiv gemeint: „Einen, der mit seiner Sprache auf einmal heraus platzt, sehen sie [die deutschen Professoren] ganz verblüfft und erschrocken an; und fährt er gar fort und springt wieder von Bergspitze zu Bergspitze, ohne erst ordentlich hinab und hinauf zu schleichen: so verlieren sie den Gipfelspringer sogleich aus dem Gesichte und erholen sich lieber an ihrem Reichsanzeiger“ {Des Luftschiffers Giannozzos Seebuch, 1801, 12. Fahrt). Schopenhauer spricht von den „langen schwerfälligen Perioden [...], bei welchen das Gedächtnis ganz allein, fünf Minuten lang, geduldig die ihm auferlegte Lektion lernt, bis am Schluß der Periode [...] die Räthsel gelöst werden“ (zit. bei Schiewe 1998, S. 180), und vergleicht sie mit gebratenen Gänsen, die mit Äpfeln ausgestopft sind (Dieckmann 1989, S. 244). Carl Gustav Jochmann greift zur kühnen Metapher von der Sprache unter der Folter: „der armen Sprache [werden] auf den Marterbänken unsrer Kanzleien, den Arbeitstischen regierender Geschäftsleute, alle Gliedmaßen verstümmelt oder aus ihren Fugen gereckt, um sie bald in diktatorischer Kürze aufstampfen und bald in untertäniger Breite hinkriechen zu lassen“ {Politische Sprachkritik, S. 81). Theodor Mundt rekonkretisiert die verblasste Metapher „Satzgefüge“: „Der Deutsche schreibt nicht, um 394 Johannes Schwitalla zu sprechen, sondern man sieht immer, daß er sich eigens dazu an den Tisch setzt, um zu schreiben, wie ein Drechsler an die Hobelbank; man sieht ihn an seinen Sätzen zimmern im Schweiß seines Angesichtes, alles mögliche Bauholz herbeischleppen und ein Perioden-Magazin aufführen, in dem viele Ideen hausen können, das aber selber keine gestaltete Idee ist und wird“ (zit. bei Dieckmann 1989, S. 178). Schwerfälligkeit und Unverständlichkeit werden auch an wissenschaftlichen Texten kritisiert. Friedrich Nietzsche charakterisiert einen Satz von David Strauß mit sieben Teilsätzen durch die Metaphern „Schildkröten=Behendigkeit“ und „Leichenträger=Saumseligkeit“ (Nietzsche, Kritische Studienausgabe, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 1. München 1988, S. 224f.). Warum haben sich Menschen jahrhundertelang die Mühe gemacht, so komplizierte Satzstrukturen wie möglich zu schreiben? Offensichtlich versprach man sich davon einen sozialen Gewinn. Das grundlegende Prinzip hieß ‘Mehraufwand’ für hohe Personen und wichtige Gegenstände. Letzteres gilt bei vielen heute noch. Kaum war nämlich syntaktische Komplexität obsolet geworden, nahm sie im Bereich der Nominalphrasen zu (Nominalstil). Die Motive für den hypotaktischen Kanzleistil änderten sich von Epoche zu Epoche: Abbildung der feudalen Gesellschaft, barocke Selbstdarstellung und Huldigung, Protesthaltung der süddeutschen Katholiken gegen den protestantischen Norden. Wer etwas von einem Potentaten wollte, musste sich freilich immer dem herrschenden Stil anpassen. 12 Und dass unverständliche Schachtelsätze auch noch im 20. Jahrhundert zum Arsenal sprachlichen Imponierens gehören, dafür ist der Sprachbeobachter Kurt Tucholsky ein Zeuge. In seinen Ratschlägen für einen schlechten Redner schreibt er: Sprich mit langen, langen Sätzen solchen, bei denen du, der du dich zu Hause, wo du ja die Ruhe, deren du so sehr benötigst, deiner Kinder ungeachtet, hast, vorbereitest, genau weißt, wie das Ende ist, die Nebensätze schön ineinander geschachtelt, so daß der Hörer [...] auf das Ende solcher Periode wartet ... nun, ich habe dir eben ein Beispiel gegeben. (Gesammelte Werke, Bd. in, Reinbek bei Hamburg 1961, S. 161). 12 Noch Theodor Fontane tat dies in einer Bittschrift an König Friedrich Wilhelm IV. (13.3.1851). Komplexe Kanzleisyntax als sozialer Stil 395 6. Quellen und Siglen Formular/ Allerlai Schrifften/ Briefe/ vnd Instrumenten/ So in hohen Cantzleien der Kaiser/ Fürsten vnnd Herrn Höfe/ Auch anderer Stände vnd Stett Schreibereien vnd Consistorien gefertigt/ vnnd bestellt werden [...]. Frankfurt. 1557 (UB Würzburg, Sammlung Horn 704). Geliert, Christian Fürchtegott: Die epistolographischen Schriften. Faksimiledruck nach den Ausgaben von 1742 und 1751. Mit einem Nachwort von Reinhard M. G. Nickisch. Stuttgart. 1971. Gottsched, Johann Christoph: Ausführliche Redekunst. Erster, allgemeiner Theil. (5. Aufl. Leipzig 1759). In: Ausgewählte Werke. Hrsg. v. P. M. Mitchell. Band VII/ 1, bearb. v. Rosemary Scholl. Berlin/ New York. 1975. 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Zunächst nur Instrument des Aufstiegs für einen individuellen Politiker, wurde diese in der Folge dann, in Massenveranstaltungen und öffentlich inszenierten Redezeremoniellen zwischen ‘Führer’ und ‘Volk’, zu einer unabdingbaren Ressource für die endogene Entwicklung und Aufrechterhaltung des Faschismus. Neu am Faschismus und berüchtigt seit den ‘Brandreden’, die D'Annunzio, Mussolinis großes Vorbild, vom Balkon des Gouverneurspalastes in Fiume an die Bewohner der Stadt und die Elitetruppe der ‘Arditi’ gerichtet hatte, war sein Erfolg bei rhetorischen Großveranstaltungen: Der Faschismus konnte zeigen, und zwar zunächst vor allem auf diesem Wege der von Mussolini als Redner getragenen Versammlungen, dass er die Massen zu erreichen, zu durchdringen und zu begeistern vermochte. Die große Rolle der Rhetorik in diesen Ereignissen sollte ein guter Grund sein, um sich mit dem Blick auf die aus dieser Zeit heute gut verfügbaren audiovisuellen Materialien, 1 aber auch mit einem durch neue Entwicklungen in der Rhetorik geschärften Blick wieder - oder weiterhin zu befassen mit jener rhetorischen ‘Zauberkraft’, die dem auch ‘incantatore di folle’ genannten Duce allgemein zugesprochen wurde. So beschrieb etwa ein Bewunderer, Ugo Ojetti im ‘Corriere della Sera’, wie Mussolini auf einem faschistischen Parteitag 1921 in Rom zu den Delegierten sprach: 1 Vgl. hierzu insbes. die im Literaturverzeichnis ausgewiesene Dokumentation Balconi e cannoni- Tutti i discorsi fllmati di Mussolini. Für Hinweise hierauf danke ich Victor Sevillano und Hans-Rainer Beck. 400 Frank Ernst Miiller Er ist ein großer Redner und kann sich meisterhaft beherrschen. Vor seinem Publikum verwandelt er sich und spielt genau die Rolle, die jeweils am besten zur Erreichung seiner Ziele geeignet ist. Gesten gebraucht er spärlich, und wenn er die Bedeutung seiner Worte mit einer Handbewegung unterstreichen will, so gebraucht er nur immer die Rechte. Gelegentlich steckt er auch beide Hände in die Hosentaschen. Er verharrt dann unbeweglich wie ein Denkmal. (Zitiert nach Kirkpatrick 1997, S. 137) Impressionistische Beschreibungen solcher Art können zwar einzelne Beobachtungen von Interesse beisteuern. So etwa hier die auch von anderen Beobachtern wiederholt kommentierte Rechtshändigkeit des Duce in der manuellen Gestik; seine demonstrativ ‘antibourgeoisen’ und maskulinistischen Trotzposen (hier: Hände in den Hosentaschen) oder seine langen Redepausen. Beschreibungen solcher Art sind aber aus heutiger Sicht nur wenig brauchbar, wenn es um ein weiter reichendes empirisch orientiertes und beschreibendes Interesse an Prozessen der öffentlichen politischen Rede geht. Sie rekonstruieren lediglich aus der Erinnerung ein komplexes und sequenziell gegliedertes Ereignis, für das sie so wenig als verlässliches Datum herangezogen werden können, wie die bloße Erinnerung an ein Gespräch uns als verlässliches und valides Ablaufprotokoll dienen könnte (vgl. Bergmann 1985; Kallmeyer 1988). Eine weitere Einschränkung: In lediglich memorierten und rekonstruierten Zusammenhängen hat zumeist nur Cäsar die Schlacht geschlagen und analog werden rhetorische Prozesse, der klassischen Tradition der Rhetorik entsprechend, nur ‘monologisch’, als Fakten und Beobachtungen konzipiert, die nur die Produktion des Redners betreffen und die je erfolgende Interaktion zwischen Redner und Publikum als quantite negligeable behandeln und ausblenden. 2 Auf die Ausklammerung des Aspekts der Interaktion zwischen Redner und Publikum in der traditionellen Rhetorik verweist Kallmeyer (1996, S. 8): „(...) zusammengefaßt kann man sagen, daß die alte Rhetorik die funktionale Bestimmung Überzeugen/ Überreden mit einer Unterscheidung nach dem Kriterium monologisch/ dialogisch und zudem teilweise nach dem Publikum, verband: Die Rhetorik war auf die wirkungsvolle monologische - Rede in bestimmten Situationen wie der Gerichtsverhandlung und zu einem größeren Publikum festgtelegt und die Dialektik auf die dialogische Auseinandersetzung mit einem einzelnen.“ Ausführlicher zu der nur als passive Präsenz konzipierten Rolle des Hörers in der rhetorischen Tradition, vgl. Grimaldi (1990). Die monologische Tradition und Fixierung der Rhetorik auf den Redner alleine setzt sich auch noch in neuzeitlichen Praktiken der medialen Inszenierung fort: So erhält z.B. in den Filmdokumenten mit den Reden Mussolinis das Publikum auch bei längeren Beifallssequenzen nur selten einen Kameraschwenk. Meistens bleibt die Kamera auf dem Redner und zeigt nicht die Aktivität der Rezipienten, sondern den schweigenden Redner und sein Minenspiel beim Rezipieren der Rezeption. 401 Aspekte der Rhetorik von Benito Mussolini 2. Öffentliche Rede als Interaktion zwischen Redner und Publikum Im Zuge von Ethnomethodologie und Konversationsanalyse hat auch in der Beschreibung der öffentlichen Rede eine Entwicklung eingesetzt (vgl. Atkinson 1984, 1985, Heritage/ Greatbach 1986/ 87, Lerner 1993, Beck 1999), die den interaktiven Prozeduren zwischen Redner und Publikum eine empirische und vergleichbar detaillierte analytische Aufmerksamkeit zukommen lässt, wie dies bei der Entdeckung und Beschreibung von konversationeilen Prozeduren der Fall gewesen ist. Gewiss kann ein größeres, ‘in situ’ anwesendes Publikum nur in eingeschränkter Form auf den ‘monologisch’ fortgesetzten Vortrag des Redners antworten und ist der individuierenden Möglichkeiten des Sprechens in ‘turns’ beraubt. 3 Unterhalb des ‘tum-taking’ bleibt jedoch ein Spektrum von kollektiv abgestimmten Aktivitäten der Rezeption, die realzeitlich und sequenziell gebunden sind an die Orte ihrer jeweiligen sprachlichen Veranlassung im ‘tum’ des Redners, z.B. Schweigen (in je unterschiedlich konstituierten Redepausen), Applaus (in diversifizierten Stärkegraden, Längen und Formen), Lachen, Buh-Rufe, andere Zwischenrufe. 4 Mit solchen Reaktionen nimmt ein Publikum, für alle Teilnehmer ‘in situ’ erkennbar, zum je ablaufenden Redegeschehen eine Position ein, kooperiert mit dem Redner und ‘ratifiziert’ sein rhetorisches Vorgehen, lenkt es durch verstärkenden Applaus in bestimmte Richtungen oder missbilligt und desavouiert es. 5 Dabei mag die je vom Publikum hervorgebrachte Beeinflussung 3 Im Vergleich entfällt so eine ‘intrinsische’ Motivation zum Zuhören, die Sacks/ Schegloff/ Jefferson (1974) bei natürlicher Konversation darin sehen, dass potenzielle nächste Sprecher zunächst ein ablaufendes Redegeschehen analytisch in Bezug auf sich ergebende Vollständigkeits- und Sprecherwechselpunkte hin hören müssen. Öffentliche Redner müssen diesen Mangel überspielen, z.B. durch elaborierte rhetorische Gliederung (Gestaltung von Spannungsbögen, Fermaten, Höhepunkten, etc.). 4 Bei Mussolini existierten auch eingespielte längere Formen der Interaktion, so die „Eia, Eia, Aialä“-Rufe oder das chorische Antworten des Publikums („a noi’7„uns“ oder „con noi‘7„mit uns“) auf die vom Duce üblicherweise in drei Sequenzen formulierten „chi“- Fragen („A chi l'Italia? A chi Roma? A chi tutte le vittorie? ‘7„Wem gehört Italien? Wem gehört Rom? Wem gehören alle Siege? “). Die Fragen konnten auch diskursiv eingebettet und z.B. mit vokativischer Du-Ansprache des Publikums als Dialogpartner formuliert werden: „Und jetzt, Volk von Palermo, will ich zum Dialog mit dir kommen (...). Also, Volk von Palermo, wenn Italien Dich fragt und von Dir verlangt: die notwendige Disziplin, die uneigennützige Arbeit fürs Ganze, die Ergebenheit furs Vaterland, was antwortest Du? “ (Zitiert nach Leso 1978, S. 33, Übers. F. E. M.). Diese Rituale waren Schöpfungen der Fiume-Zeit (1919) und stammten aus der Interaktion von D'Annunzio mit den ‘Arditi’, vgl. dazu Gazzetti ( 2 1995, S. 1 lOff.). 5 In den Rezeptionsweisen eines Massenpublikums verbinden sich, nahezu untrennbar, aktive und passive Aspekte der Konstitution von spektakulären Ereignissen. Nicht zufällig ist gerade in Faschismus-Analysen, insbes. bei Walter Benjamin, auf die besondere Bedeutung und ambivalente Rolle des Massenpublikums verwiesen worden, das zugleich als Co-Autor wie als Opfer des Redners agiert. Vgl. hierzu die zusammenfassende Formulierung von Falasca-Zamponi (1997, S. 25): „The ‘masses’ were at the same time part of the 402 Frank Ernst Müller des Redefortgangs empirisch nicht leicht überprüfbar sein. Klar ist aber, dass der Redner im Fortgang seiner Rede, nicht anders als in konversationeller Interaktion, immer zugleich auch Hörer ist, der die ihm je gewährte Rezeption aufnimmt und im Prinzip ohne erkennbaren Zeitverzug darauf zu reagieren in der Lage ist. 6 Vor allem wenn ein Redner ‘frei’ spricht, werden die je manifestierten Reaktionen des Publikums den weiteren Fortgang seiner Rede beeinflussen. Öffentliche Rede und die Reaktion darauf wird so als eine besondere Art der ‘face-to-face’-Interaktion und als ‘Interaktionsgefuge’ (vgl. Beck 1999) betrachtet, der Ablauf einer Rede als prozedurales Geschehen mit interner sprachlicher Gliederung, z.B. mit spezifischen Phasen oder mit vom Redner eigens für das Elizitieren von Beifall konstruierten Höhepunkt- Formulierungen u.a.m. Da ein Publikum auf je differenzierte Aspekte der verbalen und prosodischen Struktur von emergenten Formulierungen des Redners reagieren kann, ergibt sich für eine Rhetorikforschung der genannten Art hieraus methodisch auch die Verpflichtung zu einer sprachlich— in Transkription wie Interpretation — dokumentarisch-genauen Arbeitsweise. Eine solche ist im deutschen Sprachraum und für den hier besonders interessierenden Zusammenhang des Faschismus ausgeführt worden von Beck (1999), der ein Corpus von Hitler-Reden (7 Std.) in Bezug auf die Interaktion von Redner und Publikum untersucht hat. Das folgende Transkript, als Beispiel hier angeführt für den genannten empirisch-linguistischen Zugang zur Rhetorik, zeigt einen Ausschnitt aus einer Hitler-Rede von 1942 in der Notation von Beck (1999, S. 15 und S. 30f). Die Interaktion von Redner und Publikum wird hier deutlich innerhalb einer rhetorisch effektvoll gegliederten längeren Periode (Sequenzen 13-15; längere Perioden mit dramatisch entwickelter Steigerung finden sich häufig auch bei Mussolini). Die Periode ist bereits früh als ein sich fortsetzender Spannungsbogen mit aufgeschobenem und zu erwartendem Höhepunkt erkennbar, wird gehalten, gesteigert und dramatisch ‘hochgezogen’. Ohne hier der von Beck (1999) ausgeführten Analyse im Detail nachgehen zu können, macht das Transkript u.a. die ‘Gefolgschaft’ des Publikums deutlich, zeigt, wie das Publikum über den ‘parcours’ der vom Redner als gleichläufig kenntlich gemachten und z.T. voneinander abgesetzten einzelnen Etappen der Periode hinweg ‘mitgeht’ bis zum Höhe- und Abschlusspunkt (über solches ‘Mitgehen’ wird u.U. auch der am Abschlusspunkt erreichte hohe Grad von Steigerung und Emphase mit hervorgebracht). In der wiedergegebenen Passage ironisiert und karikiert Hitler die Propaganda der Alliierten und die dort erfolfascist spectacle and fascism's spectatorship; they were acted upon and actors. Slogans, rallies, and images excited people's senses, though as an object of power people were also denied their senses.“ (Vgl. dazu auch detaillierte Analysen in Grunert et al., 1999). Zur Verschränkung von Produktion und Rezeption in konversationeller Interaktion vgl. Jefferson (1973), Schegloff (1982), sowie auch F. E. Müller (2002). Aspekte der Rhetorik von Benito Mussolini 403 gende Abwertung der deutschen bzw. die korrespondierende Aufwertung der alliierten Kriegsunternehmungen. Sequenz 13/ 942 01 denn was ]sind [dann schon [unlsere Dinge dagegen (,)(=hhh) [A] wenntlwir (.) [tau[send Kilo[me\.ter [vor[stoßen (.) [B] «cres> [dann ist das eben >«f> [nichts > (.) «p> [ein > (.) «f> [ausge[sprpchener [Miß[erfolg > 05 (Lachen in Sequenz 14: 2.0 Sek (siehe unten)) Sequenz 14/ 1942 01 (.) «g> wenn [wir [zum Beispiel in den [l_etz[en (.) [ah [paar hahahahahahahahahahahahahahahahahahahahahahaha [Molnaten: J.e5 [sind [nur ein [paar [Mp[nate die man in diesem [Land -^überhaupt (.) [mit Vertnunft [Kries [führen kam > (.) 05 [A] «f> zum [Don [vorstoßen [B] den [Dpn[ab[wärts endlich die [Wöllsa erreichen (.) [C] [Stallinsrad berennen > (.) «ffi* [[und [(.es Hauch [[nehmen werden > bravoooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooo (kollektiv) io iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiriiiiiiiiiiiiiiiiiiHiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiti «f> wo[ra(ha)uf(lachendes Sprechen) Sie sich ver[lassen können > ooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooo (evtl, auch heiüiiiiiiiüiiiüüiiüiiiiil) llllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllltlllllilllllllllllllillllllllllilllllllllllllllllllilllll 15 (Beifall 11.7 Sek) [Vorlauf zu Sequenz 15/ 1942] <</ > wenn wir zum Kaukasus vorstoßen (.) dann ist (.) das (.) auch nichts (.) wenn wir die Ukraine besetzen (.) wenn wi: r die Donezkohlen in unseren Besitz bringen das ist alles nichts wenn wir (.) fünfundsechzig oder siebzig Prozent des russischen Eisens bekommen (.) das ist gar nichts (.) überhaupt nichts (.) wenn wi: r das größte Getreidegebiet der Welt (.) dem deutschen: Volk und damit Europa praktisch erschließen (.) gar nichts (.) wenn wir uns die Ölquellen dort sichern (.) das ist auch nichts (.) (=? \ib\: .hoho) 404 Frank Ernst Müller Sequenz 15/ 1942 01 [A] Falles [das ist [nichts [B] aber [wem > (.) «ff> [ka^na^ische [ Vor[truppen mit einem [enellischen: [kleinen [Sckwänz[lein: als [An[hang (.) hahahahahahaha 05 {kollektiv) / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / (Lachen, Ansatz von Beifall 2.8) nach (.) [Dieppe [kommen (.) und sich [dort (.) [neun \StunIden > (.) hahah 10 «n> [ah man >«g> [kann [schon [sagen ><</ > [mühselig zu [hallten ver[mögen (.) [um (.) hahahaha {kollektiv) (Lachen 1.3) 15 dann [endgültig (.) [ver[nich[tet zu [werden > (.) hahahaha [C] «cres> [dann ist das ein ermutigendes >«ff> 1 [stau: nens\[wertes [[Zeichen (.) [der \[un\ er[[schöpfilichen [[sie[gerischen \[[Kraft (.) die dem [[britischen Im[[pe[rium zu [[ei[gen ist > 20 hahahahahahahahahahahahahahaha bravooooooooooooo / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / (Beifall inkl. Lachen 11.5) (Beck 1999) Der Ausschnitt belegt zugleich mehrere Arten von Publikumsreaktionen: Das Publikum ratifiziert so z.B. den ironischen Ansatzpunkt der Persiflage bei dessen erster Formulierung in Sequenz 13/ 01 [A]ff., die prosodisch und durch Diskrepanz der Aussagen {tausend Kilometer nichts ein ausgesprochener Mißerfolg) markiert ist, durch ausgedehntes Lachen. Die ironische Umkehr der Bewertungen 7 wird im Folgenden von Hitler beibehalten bzw. fortgesetzt 7 Zur Ironie vgl. Becks Kategorie der ‘semantischen Adversivität’. Ein zentraler Teil der Praxis politischer Rhetorik, besonders ausgeprägt im Faschismus, liegt darin, das Publikum durch negative Aussagen über den politischen Gegner zu gewinnen. Semantische Adversivität enthält außer Ironie noch ‘Drohung’, ‘Häme’ und Diffamierung’ und dient als Oberbegriff für die verbalen Attacken gegen politische Gegner. Alle vier Typen sind in den hier wiedergegebenen Sequenzen aufzufmden. Aspekte der Rhetorik von Benito Mussolini 405 und am End- und Höhepunkt der Passage noch durch zusätzliche Mittel ergänzt, u.a. Variation der Lautstärke, rhythmisches Skandieren zur emphatischen Steigerung der abschließenden Formulierung, 8 die als extremste Hochstufung im ironischen Bewertungsschema den ‘Gestaltschluss’ auch des erzählerischen Zusammenhangs bildet. Ansätze wie der von Beck (1999), sowie solche aus der Charisma-Forschung (vgl. insbes. Raab/ Tänzler 1999, Tänzler i. Vorb.) legen es nahe, den Begriff der ‘Gefolgschaft’ nicht nur i.S. einer bereits gegebenen und gesicherten charismatischen Anhängerschaft zu verstehen, sondern die Interaktion zwischen Redner und Publikum und das enthusiasmierte ‘Mitgehen’ über den ‘parcours’ der Rede als den Ort zu sehen, wo sie vor allem hervorgebracht wird. Dabei kommt der Dramatik der bis zu einem ekstatischen Höhepunkt hochgezogenen Steigerungspassagen besondere Bedeutung zu: „... sich reziprok antreibend, bewegen sich die Interaktionspartner in einer emotionalisierten Kommunikationsspirale, deren ununterbrochener Kreislauf mit forcierter Qualität fortlaufend neu beginnt, bis der gemeinsame Höhepunkt, der perfekte Gleichschritt, das berauschende Gemeinschaftserlebnis der Verschmelzung von Volk und Führer erreicht ist.“ (Raab/ Tänzler 1999, S. 71) 3. Aspekte der Medienpersönlichkeit Mussolinis Bevor detaillierter auf sprachlich-rhetorische Aspekte der Reden Mussolinis eingegangen wird, gilt es, sei es in aller Kürze, auf jene Art von Rhetorik einzugehen, die schon durch die medialen Makro-Bedingungen seinerzeit in Italien historisch und politisch konfiguriert war. Auch in Italien waren Entwicklung und Verbreitung der Medien insbes. Film, Funk und Fotografie mit Entwicklung und Verbreitung des Faschismus aufs Engste verkoppelt. 1924 wurde, ein Prototyp von ‘Propagandaministerium’, das Institut LUCE (it. ‘luce’ = ‘Licht’, aus: L'unione cinematografica educativä) gegründet und 1925 verstaatlicht. 9 Seine Aufgabe war die ‘Verbreitung volkstümlicher Kultur’ und es hatte ein Monopol der Herstellung von Dokumentarfilmen und von Wochenschauen, die von 1926-1940 obligatorisch, d.h. gesetzlich vorgeschrieben als Vorprogramm vor allen Spielfilmen im Kino zu laufen hatten. LUCE war systematisch befasst mit der Überhöhung und Mystifizierung des Duce und Schöpfer des ‘Mussolinismo’, dem Starkult um Mussolini, der zugleich Auftraggeber, Objekt, Nutznießer und Zensor der LUCE-Produktionen 8 Beim rhythmischen Skandieren nutzen Sprecher maximalistisch alle oder sehr viele der grammatisch möglichen Akzentpositionen für die faktisch erfolgende Akzentuierung und ordnen die Akzente in eine Reihe zumeist gleichabständiger (‘isochroner’) rhythmischer Schläge. Vgl. ausführlich dazu Auer/ Couper-Kuhlen/ Müller (1999, S. 152-171). 9 Zur Geschichte von LUCE sowie zu den Medienstrategien des italienischen Faschismus vgl. Kolb (1990), Spagnoletti (1995), Falasca-Zamponi (1997), Grunert et al. (1999). 406 Frank Ernst Muller war. Mussolini wirkte somit als Protagonist gewissermaßen auf beiden Seiten der Kamera: In der Veranlassung, Kontrolle, Produktion etc. von Filmen, und zugleich als ihr immer währender und konkurrenzloser Hauptdarsteller. Mussolini liebte es ferner (vgl. Ludwig 1932), sich selbst häufig auch ohne Arbeitszwang in den Medien-Produktionen zu betrachten. Das bedeutet vermutlich auch, dass vorliegende Produktionen, insbes. Filme von öffentlichen Auftritten und Reden, dem Duce etwa seit Mitte der 20er Jahre als Anschauungs- und Probematerial Vorlagen, die eine Grundlage bilden konnten für das Vorbereiten und Perfektionieren weiterer Auftritte. 1930 gab es in Italien ca. 2.500 staatliche Kinos, dazu 25 als fahrbare Kinos ausgestattete Ü-Wagen, die an jedem Ort Freilichtaufführungen veranstalten konnten. Für viele Italiener/ innen, v.a. im noch wenig alphabetisierten Süden, wo Zeitungen noch einer kleinen Elite Vorbehalten waren, hießen die ersten Kinoerfahrungen und vor allem der erste Filmstar Mussolini. Während der Faschismus seit Beginn der 30er Jahre auch den Rundfunk für sich besetzte, gehörte nicht zuletzt Mussolinis persönliche Präferenz dem audiovisuellen Medium und auch dem visuellen, der Fotografie. Die medienvermittelte Allgegenwart des Duce im öffentlichen und privaten Leben wurde durch Herstellung und Verbreitung einer großen Zahl von fotografischen Porträts gestützt, die den Duce in einer Vielzahl von Rollen und Kostümen und in idealtypischen Posen zeigen (z.B. als cäsarianischen Militärführer vor dem Kolosseum in Rom, als weitblickenden Admiral mit Fernglas auf Deck eines Schlachtschiffes, als Soldat mit Stahlhelm im Profil und trotzig-kantig-eisern vorgerecktem Kinn, gebräunt und mit nacktem Oberkörper bei der Emtearbeit für die ländliche und bäuerliche Bevölkerung etc.). 10 Das Einnehmen und Ausfüllen einer ganzen Zahl von solchen idealtypischen Posen, die in Gesichtsausdruck, Körperhaltung, Kostüm, Kulisse etc. perfekt zu stimmigen Genre-Bildern gestaltet sind, verweisen auf die theatralischpolitische, schau- und rollenspielerisch orientierte Grunddisposition Mussolinis, in all diesen Rollen als „ideale Gesamtverkörperung seines Volkes“ (Meyer/ Kampmann 1998, S. 82) in Erscheinung treten zu wollen. Häufig werden auf den Fotos körperliche, im Faschismus als staatstragend angesehene Tugenden des Duce wie männliche Kraft, Dynamik, Beweglich- 10 Sturani (1995, S. 104) notiert zu den für den privaten Konsum gekauften Führer-Postkarten (über 2000 verschiedene Karten mit einer Auflage von ca. 30 Millionen): „Die Leute kauften diese Karten nicht, um sie zu verschicken, sondern um sie wie Heiligenbilder zwischen dem Foto des gefallenen Sohnes und dem Christusbild aufzubewahren. Viele besonders weibliche - Jugendliche hatten das Mussolini-Bild unter dem Kopfkissen und küßten es vor dem Einschlafen.“ Aspekte der Rhetorik von Benito Mussolini 407 keit, Vitalität in Szene gesetzt und betont. 11 Umgekehrt wird dabei ein körperlicher Mangel seine kleine Statur regelhaft ausgeblendet und eskamotiert. Die dazu verwandten fotografischen Techniken der Inszenierung waren insbes. Cadrierung, d.h. Bestimmung des Bildausschnitts durch Heranrücken und Positionieren des Akteurs innerhalb der verfügbaren Bildfläche, sowie Perspektivierung, d.h. zumeist Aufnahme aus der Untersicht, die zu einer ‘Überhöhung’ führt und den von Natur aus kleinen Mann im Bild größer erscheinen lässt. Sie finden sich z.T. in ähnlicher Form auch auf Film-Ebene, nämlich in den dominanten Einstellungen, wie sie gewählt wurden, um Mussolini bei großen Redeauftritten zu filmen und auf seiner Lieblingsbühne, dem Balkon über der Piazza, in Szene zu setzen. Wirkt die Perspektive aus der Untersicht auf den Postkarten häufig artifiziell und kriecherisch, wo der Protagonist par terre aufgenommen wird und die Kamera sich vor ihm erniedrigen muss, um von dort zu ihm aufblicken zu können, so erscheint sie vergleichsweise natürlich auf den vielen Karten, wo dieser auf dem Balkon abgebildet wird und die Kamera zu ihm aufblicken kann wie ein Zuschauer von der Piazza. Der Balkon als Schauplatz ‘naturalisiert’ so die Perspektive aus der Untersicht. Abb. 1: Mussolini aufdem Balkon in Ancona (aus: Loiperdinger et al. (Hg.) 1995, S. 124) Cadrierung des Duce, der zumeist als Brustbild mit dem Balkongeländer am unterem Bildrand totalisierend die Leinwand ausfüllen kann wie eine Postkarte - und Perspektive aus der Untersicht sind dominante und wiederkehrende Weisen, wie Mussolini in den Filmdokumenten von Balconi e cannoni inszeniert wird. Grunert et al. (1999, S. 8) charakterisieren Effekte und Ziele, die sich mit diesen Techniken verbanden und dem Filmpublikum insbes. Gestik und Mimik des Duce en detail erschlossen, wie folgt: 11 Zur Inszenierung des ‘autotelischen Mannes’ und allgemein zum Männerbild des italienischen Faschismus vgl. Falasca-Zamponi (1997); vgl. ferner, zu der einflussreichen Vorgängerfigur von D'Annunzio, Gazzetti ( 2 1995). 408 Frank Ernst Müller ... die Kamera (verringert) die Distanz zu Mussolini und versetzt so das Filmpublikum in die Lage, zahlreiche visuelle Details in der Inszenierung des Redners wahrzunehmen, die den Anwesenden (...) aufgrund ihrer Position weit entfernt von Balkon und Redner mehrheitlich entgangen sein dürften. Die Kamera imitiert demzufolge nicht den Blick des real anwesenden Zuschauers, sondern nimmt einen kameraspezifischen Standpunkt ein, von wo aus die Rede quasi-dokumentarisch begleitet wird. In dieser sowohl optimierenden als auch dokumentarischen Funktion trägt sie Züge der objektiven Kamera. (...) Durch die Realisierung der leichten Untersicht aber bleibt neben der Bedeutungserhöhung des Duce die dem anwesenden Publikum nachempfundene - Teilhabe am originären Ereignis erhalten (...). Weiterhin verstärkt die im Vergleich zu seiner faktischen Erscheinung um ein vielfaches vergrößerte Abbildung auf der Leinwand sowohl den Effekt der Teilhabe als auch die Dominanz des Redners. Diese spezifische Kameraperspektive inszeniert Mussolini im Zentrum der Aufführung, die nun vom Filmpublikum unter optimalen Bedingungen miteriebt werden kann, (ebd.) Die Aufzeichnungen von Balconi e cannoni sind mithin weder als ‘authentische Rohdaten’ noch als bloß synthetisch gefertigtes Propagandamaterial aufzunehmen, sondern ‘optimierte’ Produktionen, die authentisch-dokumentarische Momente ebenso enthalten wie die kalkulierte ‘mise en scene’ des Duce. 4. Zur Rede von Ancona Im Folgenden soll auf einige sprachliche Merkmale der Rhetorik Mussolinis eingegangen werden am Beispiel eines kurzen zusammenhängenden Ausschnitts die letzten 3,5 Min. mit Höhe- und Schlusspunkt der Rede von Ancona, vgl. das Transkript im Anhang. 12 Die Rede wurde 1932 gehalten zum Zehnjahresdatum des (mystifizierten) Marsches der Schwarzhemden auf Rom, in opemhaft eindrucksvoller städtisch-historischer Kulisse, vom Balkon des Magistratsgebäudes an der ‘Piazza del Plebiscite’ aus und vor ca. 50.000 Zuhörern, wie ‘II Popolo d'Italia’ schätzt, der darüber ausführlich berichtet. 4.1 Phrasierung Wie meistens liest Mussolini auch in der vorliegenden Rede keinen vorbereiteten Text ab, sondern spricht frei und muss seinen Text ‘in situ’ formulieren. Ein Ablesen des Textes wäre auch schwer vorstellbar und schwer vereinbar mit seiner schauspielerisch-mimetischen Präsentationsweise (s.u.), die dazu bestimmt ist (‘recipient-designed’), auf das ‘Jetzt’ eines inspirierten Sprechers zu verweisen. Ein Vergleich mit den wenigen Reden, wo Mussolini abliest wie z.B. in Rom 1932 zur Einweihung eines Denkmals für Anita Zur Rede von Ancona vgl. auch die detaillierte und interpretativ reichhaltige Analyse von Grunert et al. (1999). Aspekte der Rhetorik von Benito Mussolini 409 Garibaldi zeigt, wie stark seine ‘oratoria di piazza’ (Leso 1973) auf das gesamte Ensemble von Darstellungsmöglichkeiten angewiesen ist, das mit spontaner Formulierung verbunden ist. Ein bemerkenswerter Aspekt des Redestils und vermutlich auch der rhetorischen Virtuosität Mussolinis liegt in der Phrasierung, d.h. der Gliederung in kleinere Formulierungseinheiten und je eigens gestaltete ‘partes orationis’, mit denen der Diskurs des Redners voranschreitet. Es sind dies bei Mussolini recht kleine, syntaktisch und semantisch relativ selbstständige Einheiten, die prosodisch zusammenhängend (‘Intonationsphrasen’) in einem Zuge artikuliert werden. Das Transkript zeigt hier eine erstaunliche Regularität: in der Länge bzw. Kürze dieser Einheiten sowie in der Regularität ihrer Abgrenzung durch Pausen. 13 Voneinander abgesetzt durch vergleichsweise lange Pausen, sind sie hingegen in ihrer internen Struktur so gut wie nie durch Pausen, Dehnungen, Verzögerungen oder andere hörbare Phänomene von lokal stattfmdender Formulierungsarbeit unterbrochen, sondern werden in einem Zuge ‘druckreif formuliert. Von den ca. 50 Intonationsphrasen unseres Redeausschnitts zeigt lediglich eine einzige, die von Zeile 39, einen Zuschnitt, der auf unabgeschlossene oder nicht gelungene Formulierungsarbeit verweist, wie sich an ihrer Pausenabgrenzung zeigt. Mussolinis Pausen (vgl. auch 4.2) wirken gehört wie gelesen von ihrer Positionierung her fast immer natürlich, da sie zumeist auf Grenzen zwischen größeren syntaktischen Konstituenten fallen. (Die auf diese Weise entstehenden ‘partes orationis’ des emergenten Redetextes stellen mithin gut ‘pausierbare’ sprachliche Sinneinheiten dar.) In Z. 39 hingegen trennt die Pause zusammengehörige Konstituenten und lässt keine an dieser Stelle im Diskurs provisorisch vollständige Sinneinheit entstehen: 13 In Untersuchungen zur Sprache von Mussolini vgl. die Übersichten bei Kolb (1990), Mengaldo (1994)werden einschlägige und analoge Beobachtungen allerdings oft missverständlich formuliert, d.h. ohne klaren Bezug auf die Einheiten gesprochener Sprache und ihre Emergenz und stattdessen mit Bezug auf die Syntax geschriebener Sätze, vgl. z.B. Cortelazzo (1978, S. 66): „Mussolinis Syntax ist fragmentiert, besteht aus kurzen Sätzen (die sich auf eine Nominalphrase beschränken können), nur spärlich miteinander verbunden sind (es fehlt nicht nur die Kennzeichnung der Unterordnung, sondern auch die der Beiordnung: die Sätze sind in Juxtaposition nebeneinander), mit häufigen Parenthesen, zahlreichen Frage- und Ausrufesätzen, mit Zweier- und Dreier-Strukturen“ (Übers. F. E. M.). Ähnlich die Beschreibung von Leso (1978), der zugleich einen zentralen Punkt trifft, wenn er sagt: „Die Parataxe dient Mussolini auf der einen Seite dazu, beim Publikum den Eindruck einer engen Verständigung zwischen Redner und Hörern herzustellen, auf der anderen Seite, um seine Rhetorik erscheinen zu lassen als eine essenzielle Rhetorik, die gezielt und bewusst fern ist von intellektualistischen Komplexitäten, und zugleich doch intelligent aufgebaut.“ (Leso 1978, S. 46; Übers. F. E. M.). 410 Frank Ernst Müller 37 «£>la conclusiOne; <£»(1.5) die schlussfolgerang 38 «f> che IO TRAGgo dinanzi a VOI; <f» (1.5) die ich hier vor euch ziehe 39 in questa-(1.0) an diesem 40 «f> giorNAta lumiNOsa di ! SO! le; <£»(0.5) tage strahlend von Sonnenlicht Die beschriebene Form der Phrasierung in bündige kleine Einheiten ist als unmarkierte ‘Normallage’ der Progression des Redners anzusehen, vor der sich markierte und variierte Formen stark abheben können. So wird etwa Sequenz 20/ 21, die längste Phrase im Abschnitt, vom Redner durch 20 «t> poiche NOI abbiAmo braCIAto i NOstri bastiMENti alle NOStre denn wir haben die brücken hinter uns abgebro= 21 SPALle. <t» (3.0) = chen eine silbiftzierende und rhythmisierte Sprechweise (und eine auf den Rhythmus bezogene Handgestik) rhetorisch noch länger gemacht und dramatisch gesteigert: Durch die Aufteilung in kleine Akzenteinheiten (unbetont/ stark betont/ unbetont/ stark betont etc), die parallel geordnet, in Reihe gesetzt und ohne kulminativen intonatorischen Satzhöhepunkt fortgesetzt und rhythmisch skandiert werden, entsteht ein zugleich langes und dynamisches Rekurrenzmuster. Auf diese Weise wird die in der idiomatischen Wendung verbal ausgedrückte Dramatik des ‘die Brücken hinter sich Abbrechens’, des riskanten und abenteuerlichen Neubeginns, ein Lieblingsthema von D'Annunzio und ein Topos des noch jungen, noch nicht in die Verfettung einer korrupten Polizeibürokratie degenerierten italienischen Faschismus, prosodisch inszeniert und poetisch-rhetorisch effektvoll zum Ausdruck gebracht. Die vorherrschend kleinräumige Phrasierung kann zugleich vielen Zwecken dienen, insbes. in einer Art ‘Freilicht-Bühnenstil’ - Leso (1973) spricht von der ‘oratoria di piazza’ Mussolinis — der deklamatorisch-pathetischen Bedeutungserhöhung und Feierlichkeit der Rede: Mikrofonverstärkt in das öffentliche Areal ihres Wirkungsraums geworfen, kann das je bündig als Sinneinheit Formulierte in der anschließenden Pause über dem Publikum aus- und nachschwingen, wird verständlich für ein großes, kopräsentes, aber z.T räumlich weit entferntes Publikum, seine Bedeutung wird aufgeladen, kann sich einprägen u.a.m. 15 Gesehen aus einer mehr pragmatischen Sicht, entspricht eine solche Präsentationsweise zugleich aber auch demagogischen Vgl. das in Anhang 3 wiedergegebene Rhythmustranskript dieser Passage. Vgl. dazu auch die von Leso (1978, S. 43) beschriebenen rhetorischen Techniken des „Wert und Gewicht von je einzelnen Ausdrücken ins Relief zu setzen“ (Übers. F. E. M.). Aspekte der Rhetorik von Benito Mussolini 411 und propagandistischen Zwecken der massenwirksam-verständlichen und einprägsamen Darstellung von politischen Leitideen. 4.2. Pausen Sieht man, wie oben kurz ausgeführt, in der Sichtweise von Ethnomethodologie und Konversationsanalyse, die öffentliche Rede als einen zwischen Redner und Publikum erfolgenden und fortgesetzten Prozess der ‘Aushandlung’ von Bedeutung und Konsensfähigkeit von Rede und Redner, der Zuordnung von ‘auctoritas’, so entsteht durch die vielen und relativ langen Pausen, wie sie im beschriebenen Redestil Mussolinis auftauchen, ein besonderes Problem: Wer hat die ‘Pausenhoheit’ und beherrscht oder besetzt in diesen ‘Auszeiten’ den ‘floor’, das laut ‘Popolo d'Italia’ mit ca. 50.000 Zuhörern und Zuschauern gefüllte Areal der Piazza? Die Pausenzeiten des Duce sind zumindest in einigen Fällen so ausgedehnt, dass sie als autoritäre Zumutungen des Stillhaltens und Abwartens, des Sich-Unterordnens unter ein ritualisiertes Zeremoniell zu deuten sind. Im behandelten Redeabschnitt sind mehrere Pausenräume umstritten, d.h. z.T. auch durch Lachen und feindliche oder spöttische Zwischenrufe ausgefüllt, die allerdings sogleich verebben, sobald der Redner wieder einsetzt. Eine solche Situation ist hörbar, wenngleich nur undeutlich, in der folgenden Passage am Ende von Sequenz 02, wo mehrere Zwischenrufer aufeinander zu reagieren scheinen und das Publikum auf diese interne Interaktion wiederum mit Lachen reagiert. Es zeichnet sich also für ca. 3 Sekunden eine Situation ab, wo die Kontrolle über das große Auditorium dem Redner zu entgleiten droht. 01 quando il fatale andare del TEmpo; (2.0) wenn der unaufhaltsame lauf der zeit 02 ci avrä allontanato da quest'eTÄ, ((1.5); dann Zwischenrufe; insg. (4.5)) uns entfernt haben wird von dieser epoche 03 «f> gli uomini verRANno; <f» (2.0) werden die menschen dazu kommen Mussolini, die Lippen bereits geöffnet zur Formulierung des Folgenden, reagiert darauf mimetisch, gestisch und prosodisch: Er wendet den Blick ins Publikum, vermutlich den Zwischenrufern zu und verächtlich gleich wieder ab, reckt sich energisch und schnell in die Höhe und nimmt für einen Moment eine dem faschistischen Gruß ähnliche militärische oder prophetische Herrscher-, Wegweiser- und Verkünderpose ein, mit hoch erhobenem und leicht nach vorne gerecktem Arm. Die Herrscher- und Verkünderpose, den Höhepunkt dieser gestischen Phrase, erreicht er punktgenau zugleich mit dem Hauptakzent der nächsten Intonationsphrase (vgl. Sequenz 03, ‘gli uomini 412 Frank Ernst Müller verRAnno7‘die Menschen werden kommen’), 16 die mit deutlich erhobener Lautstärke pathetisch-prophetisch im ‘Bühnenstil’ deklamiert wird und sich unvermittelt vom vorausgehenden ruhigen Duktus der Rede abhebt. Mussolini reagiert in dieser Weise effektvoll und effektiv auf die im Publikum entstehende Unruhe und Ablenkung von der fokussierten Interaktion mit dem Redner: Er setzt seine Rede fort, gewinnt aber, mit einem Wechsel der ‘Gangart’, mit einer einzigen prosodisch und gestisch forcierten Phrase, das Publikum zurück in seinen Bann. 4.3 Gestik Bereits oben wurde verwiesen auf ‘gestische Phrasen’ des Duce und dies bezog sich auf die Koordination zwischen gestischen Abläufen und den durch Pausen begrenzten prosodisch-syntaktischen Einheiten der Phrasierung. Koordination liegt hier vor u.a. in der zeitlichen Synchronisation und im Längenformat: Die gestischen Darstellungen begleiten und kontextualisieren die sprachlichen, und in den Pausenintervallen kehrt der Redner auch gestisch in eine Haltepose zurück, zumeist mit den Händen sich auf die Balustrade abstützend. Die Rückkehr in die Haltepose geschieht nicht ex abrupto oder automatenhaft und auch nicht ausnahmslos: So wird etwa das vehemente Kopfschütteln, das mit der Negation in Sequenz 15 beginnt, über das lange Pausenintervall von (2.5) 15 «ff» NON guardiamo piü al PRIma della guERra. «ff» (2.5) wir schauen nicht mehr auf das vor-dem-krieg 16 «ff> NON abbiamo nostalGIa per quel TEmpo; <ffi» (1.0) wir haben keine Sehnsucht nach dieser zeit hinweg in die Negation von Sequenz 16 hinein fortgesetzt (es entsteht hier auch der Eindruck, die Geste, das Kopfschütteln, illustriert nicht nur, sondern zieht die verbale Fortsetzung, die zweite verneinende Phrase nach sich). Nahezu ausnahmslos gilt aber in unserem Redeabschnitt: Jede Phrase erhält auch eine eigene gestische, also körperlich-visuell veranschaulichende Inszenierung des hier Gesagten. Der für den Duce charakteristische kleinräumige Modus der Progression in kurzen voneinander abgesetzten sprachlichen Phraseneinheiten hat somit eine visuelle Entsprechung, das ‘andamento sintattico estremamente semplificato’ (Leso 1978, S. 46) hat eine Seite der visuellen Bereicherung: die intensive und extensive körperliche Veranschaulichung der ‘partes orationis’, die durchgängig, d.h. Phrase per Phrase erfolgende gestisch-körperliche ‘mise en scene’ des Redetextes. Die Bedeutung von ‘venire’ nicht als volles lexikalisches Verb, sondern weniger pathetisch als Hilfsverb einer periphrastischen Konstruktion ‘venire a vedere’ wird erst retrospektiv, nach Vollendung der nächsten Phrase deutlich (vgl. Anhang 2, Sequenz 04 a ve- DEre- (1.0)). 16 Aspekte der Rhetorik von Benito Mussolini 413 Sprachliche und gestische Phrasierung sind miteinander verknüpft und feinkoordiniert, Akzentverläufe präzise auf Gesten, Gesten illustrativ auf die verbalen Gestaltungsmuster bezogen, wie sich an vielen Beispielen aus unserem Redeabschnitt belegen ließe. Im folgenden Beispiel etwa leitet Mussolini mit Sequenz 13 einen neuen und wichtigen Redeabschnitt ein. Er führt den Kontrast von zwei Zeitabschnitten ein, ‘vor dem Krieg’ und ‘nach dem Krieg’, ein Kontrast, der die dann folgende längere Periode, die als dramatisches ‘crescendo’ angelegt ist, bestimmen wird. 13 «£> c'e un PRIma e un DOpo. <f» (1.0) es gibt ein vorher und ein nachher 14 «f> c'e un PRIma della guerra=e=un DOpoguERra. <f» (2.0) es gibt ein vor-dem-krieg und ein nach-dem-krieg Gestisch führt der Redner zu Beginn von Sequenz 13, den gestreckten rechten Arm wie den Zeiger auf einem imaginären Ziffernblatt bewegend, rechts und in Schulterhöhe beginnend, eine halbkreisförmige Bewegung aus über den Kopf hinweg bis zur Schulterhöhe nach links. Dieser ‘Zeiger’ erreicht den linken ‘Extremwert’ zeitgenau mit der betonten Silbe auf ‘PRIma’. Er schwingt zurück und erreicht die rechte Extremposition genau über der betonten Silbe von ‘DOpo’. In Sequenz 14 wird die gleiche gestische ‘Phrase’, weniger ausladend und nicht mehr über dem Kopf, sondern vor dem Körper und etwa auf Augenhöhe, aber mit den gleichen zugeordneten ‘Extremwerten’links Vorkriegszeit, rechts Nachkriegszeit wiederholt. Hier und an anderer Stelle erscheinen die Gesten des Duce nicht als etwas Hinzu- oder Nachgefügtes, als Beiwerk, sondern es entsteht der von Grunert et al. (1999, S. 37) formulierte „Eindruck, daß der Redner durch die illustrierende Gestik (...) sich selbst ‘dirigiert’ und das von ihm Formulierte koordiniert, rhythmisiert und zusätzlich strukturiert.“ Charakteristisch an der beschriebenen Geste von Sequenz 13 und kennzeichnend darüber hinaus für die Gebärdensprache des Duce erscheint ferner die Osmose von spezifischen semiotischen Eigenschaften, von Pragmatik und Ästhetik: das Ausladende, Expansive der ausgeführten Gesten man denke an den ausgestreckten Zeigearm und seinen maximal ausgelegten Schwungradius dient in der Situation unzweifelhaft einem pragmatischen Zweck, nämlich einer auf die große Distanz eines öffentlichen Raums und für ein z.T. entferntes Publikum hin zu vermittelnden Sichtbarkeit, Verständlichkeit und Transparenz; im gleichen Zuge dienen die Überzeichnung, die Übertreibung, das Großsprecherische daran aber auch einer theatralisch-pathetischen Bedeutungserhöhung und Expressivität. Mussolini verfügt über ein reichhaltiges Repertoire, und im beobachteten Redeabschnitt gibt es z.B. keine Wiederholungen von Gesten, außer da, wo diese angebracht sind: Funktional parallele Phrasen, die bereits auf prosodi- 414 Frank Ernst Müller scher und auf verbaler Ebene parallel angelegt sind, erhalten darüber hinaus auch noch eine gestisch parallele ‘mise en scene’. So wird etwa jede der drei Nominalphrasen, die die Dreierliste von Sequenz 28-30 bilden, mit einer identischen gestischen Phrasierung vorgetragen. 17 28 di maNOvre diploMAtiche; (0.7) von diplomatischen manövem 29 di intRighi di goVERno; (0.7) von politischen intrigen 30 di bastiOni di minoRANze, (0.5) von machtkämpfen von minderheiten Nach jeder gestischen Phrase geht der Redner in die Ruhepose zurück, setzt dann neu ein, geht wieder zurück etc. So wird jeder einzelne der drei bereits im Längenformat, im syntaktischen und — mit je zwei Hauptaktzenten — auch im prosodischen Format aufeinander abgestimmten Konstituenten auch gestisch parallel in Szene gesetzt. Parallelstrukturen, v.a. Dreierlisten spielen in der Rhetorik des Duce eine große Rolle und sind im wiedergegebenen Redeabschnitt in großer Dichte vorhanden (vgl. die Übersicht im Anhang). 18 Sie erhalten über die Gestik eine zusätzliche Ausdrucksebene, die die bereits vorhandenen anderen unterstützen kann. Da im ‘vielkanaligen’ System gesprochener Sprache die verschiedenen Zeichenströme sich wechselseitig kontextualisieren, entsteht in entsprechenden Paradigmen ein ‘Netzwerk von reziproken Verweisen’. 19 Dabei entstehen ‘poetische Formulierungen’, d.h. rhetorisch effektvolle, gut wahr- 17 Im vorliegenden Fall ist dies eine in der Horizontalen ausgeführte kreisende Handgeste, wobei sich der Redner weit über die Brüstung hinauslehnt und symbolisiert, dass er gegen die feinen Herrschaften von damals, Vertraulichkeit und Intimität mit dem hier versammelten Publikum sucht. - Mit der Dreierliste ein Fall von ‘semantischer Adversivität’, vgl. oben bezieht sich Mussolini hier abschätzig auf den ‘trasformismo’, die durch häufige Kabinettsumbildungen, Unentschlossenheit, Kurswechsel u.a.m. geprägte Epoche vor dem Faschismus (vgl. Mantelli 1998, S. 28-30). Die kreisende Handgeste symbolisiert Handlungsunfähigkeit, sich im Kreise drehen, Klüngeln des damaligen, von der Bevölkerung stark abgeschotteten Regimes. Die Geste macht die ‘amplificatio’ der abschätzigen Bewertungen in der Dreierliste stärker sichtbar. Die Häufigkeit von Dreierlisten bei Mussolini ist in mehreren Beschreibungen festgehalten worden, vgl. insbes. Cortelazzo (1978, S. 67): „der Dreier-Rhythmus: er erscheint zunächst nur geringfügig über dem Signifikanz-Niveau (...), gewinnt dann aber quantitativ ein Gewicht und qualitativ eine Relevanz, die bemerkenswert sind und erscheint immer häufiger in abschlussbildenden Positionen, d.h. in Positionen, die rhetorisch bedeutungsvoll sind. Er wird zudem gebraucht in einem sehr breiten Spektrum von verschiedenen Formen und wird schließlich in den Jahren der Macht zu einem der markantesten Merkmale der Rhetorik Mussolinis.“ (Übers. F. E. M.). Zur Beschreibung von Dreierlisten vgl. auch Müller (1991). Jakobsons (1966, S. 428) Formulierung fuhrt Effekte des poetischen Parallelismus zurück auf das dabei entstehende „network of multifarious compelling affinities“. Aspekte der Rhetorik von Benito Mussolini 415 nehmbare gestaltförmige Muster mit ausgeprägtem Relief, die sich von ihrer in dieser Hinsicht weniger gestalteten sprachlichen Umgebung abheben. Auch in unserem Redeabschnitt werden Höhepunkte, die zu frenetischem Beifall führen, über Dreierlisten fomuliert. So der Gestaltschluss der längeren Steigerungspassage, wo die Liste eine metaphorische Kurzerzählung enthält, die ähnlich wie das bekannte faschistische Motto 20 mystische, militärische und religiöse Elemente verbindet, sowie der die Rede abschließende Topos der Einheit von Führer und Volk. Es mag kein Zufall sein, dass genau diese Formulierungen in der zusammenfassenden Schriftversion von ‘II Popolo d'Italia’ auch erscheinen: „E dal maggio 1915 che il popolo erompe nella scena politica, caccia i mestieranti dal tempio e diventa l'artefice del proprio destino (...). II Duce ha concluso dichiarando che il popolo italiano e il regime fascista sono oggi unünitä compatta, infrangibile, formidabile, che puo resistere e resistarä a tutte le prove.“ 5. Abschließende Bemerkungen - ‘High key’- und ‘Low key’-Rhetorik Die vorausgehende Beschreibung hat u.a. einige Beobachtungen gesammelt, die Mussolini in die historische, theatralisch inszenierte Rhetorik einordnen, eine ‘oratoria di piazza’, die auf die Fernwirkung auf großen öffentlichen Plätzen hin angelegt ist, mit einem ‘in situ’ vor dem Redner versammelten Massenpublikum, das unmittelbar auf den Redner reagieren kann und dessen Gefolgschaft der Redner im Vollzüge der Rede zu gewinnen, bzw. zu erhalten hat; mit einem Redner, der seinerseits unmittelbar auf die Reaktionen eines leiblich anwesenden Publikums reagieren und seine Rede zumindest in ‘Tuchfühlung’ mit dem anwesenden Publikum zu gestalten vermag. Eine solche Rhetorik im weithin und direkt sichtbaren ‘Großformat’ führt zu theaterähnlichen Formen- ‘Bühnenstil’, Deklamation, Pathos, anspruchsvolle körperliche Mimesis, bei Mussolini auch: Kostümierung der Darsteller oder legt solche doch nahe. Eine solche ‘high key’-Rhetorik (vgl. Atkinson 1984) hat vor der Ära des Fernsehens, mit seiner neuen, vergleichsweise intimen und gesprächsförmigen Tow-key’-Rhetorik, die das Massenpublikum elektronisch, d.h. in physischer Abwesenheit und in der Abgeschiedenheit privater Konsumsphären erreicht, die öffentliche politische Rede vermutlich überwiegend bestimmt. 20 ‘credere, obbedire, combattere’ glauben, gehorchen, kämpfen. 21 „Erst seit dem Mai 1915 bricht das italienische Volk durch auf die politische Bühne, verjagt die Händler aus dem Tempel und wird Herr seines eigenen Schicksals (...). Der Duce schloss ab, indem er erklärte, dass das italienische Volk und das faschistische Regime heute eine Einheit sind, kompakt, unzerbrechlich, gewaltig, die allen Herausforderungen widerstehen kann und widerstehen wird.“ (Zitiert nach Susmel/ Susmel 1957, S. 158, Übers. F. E. M.; die ‘Fehler’ in consecutio temporum und Modus hier entsprechen dem auch im It. fehlerhaften Stil des Journalisten und Autors der Zusammenfassung). 416 Frank Ernst Müller Im medialen Teil wurde u.a. dargestellt, dass der italienische Faschismus gewissermaßen die Medien Theater und Film kombinierte und für sich optimierte: Die auf den Piazzas rituell-theaterhaft inszenierten Ereignisse der Führer-Volk-Kommunikation, situierte Ereignisse, die vom Einmaligen und Außergewöhnlichen zehrten, wurden entsprechend bearbeitet und verfilmt und in jederzeit verfügbare und überall einsetzbare Propagandamittel verwandelt. 6. Literatur Atkinson, Maxwell (1984): Our masters' voices. The language and body language of politics. London. Atkinson, Maxwell (1985): Refusing invited applause; Preliminary observations from a case study of charismatic oratory. In: Dijk, Teun van (Hg.): Handbook of discourse analysis. Bd. 3: Discourse and dialogue. London. S. 161-181. 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ROM! pe ((Lachen im Publikum)) «t> <t» «h> «f> «ff> «all> «len> «cresc> «dim> «acc> «rall> <h» <f» <ff» <all» <len» <cresc» <dim» <acc» <rall» kurze Pausen längere Pausen Verschleifung Dehnung, je nach Dauer Großbuchstaben für Hauptakzent Ausrufezeichen für extra starken Akzent Fragezeichen für Tonhöhenbewegung am Ende der Einheit stark steigend Komma für mittel steigend Gedankenstrich für gleichbleibend Strichpunkt für mittel fallend Punkt für tief fallend Kommentar zu Ereignissen Sprung ins tiefe Tonhöhenregister mit Angabe der Reichweite Sprung ins hohe Tonhöhenregister forte, laut fortisssimo, sehr laut allegro, schnell lento, langsam crescendo, lauter werdend diminuendo, leiser werdend accelerando, schneller werdend rallentando, langsamer werdend 8. 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 Frank Ernst Müller Anhang 2: Letzter Teil der Rede von Ancona (1932) quando il fatale andare del TEmpo; (2.0) wenn der unaufhaltsame lauf der zeit ci avrä allontanato da quest'eTÄ, ((1.5); dann Zwischenrufe, insg. (4.5)) uns entfernt haben wird von dieser epoche «f> gli uomini verRANno; <f» (2.0) werden die menschen dazu kommen a veDEre- (1.0) zu sehen quello che noi abbiamo comPIUto. (3.0) was wir geschaffen haben in PAce e in GUERra. (1.0; dann Zwischenrufe, insg.3.0) im frieden und im krieg «£> ricorderANno il MIllenovecentoQUIdici; <f> (2.0) sie werden sich erinnern an das jahr neunzehnhundertflinfzehn «f> l'anno faTAle nella storia deH'umaniTÄ,(1.5) das schicksalsjahr in der geschichte der menschheit che pE: sa; (0.5) das so schwer wiegt come il quattroCEntosettantantaSEI; (.) wie die jahre vierhundertsechsundsiebzig il MILlequattroCENtonovantaDUe; (.) vierzehnhunderzweiundneunzig il MILleottocentoQUINdici. (2.0) achtzehnhunderftinfzehn «f> c'e un PRIma e un DOpo. <f» (1.0) es gibt ein vorher und ein nachher «f> c'e un PRIma della guerra=e=un DOpoguERra. <f» (2.0) es gibt ein vor-dem-krieg und ein nach-dem-krieg «ff» NON guardiamo piü al PRIma della guERra. «ff» (2.5) wir schauen nicht mehr auf das vor-dem-krieg «ff> NON abbiamo nostalGIa per quel TEmpo; <ff» (1.0) wir haben keine Sehnsucht nach dieser zeit «f> per quegli UOmini; <f» (.) nach diesen menschen «f> per quegli avveniMENti; <£»(.) nach diesen ereignissen «f> per quelle dottRIne; <f»(.) nach diesen denkweisen «t> poiche NOI abbiAmo bruCIAto i NOstri bastiMENti alle NOStre denn wir haben die brücken hinter uns abgebro= SPALle. <t» (3.0) = eben 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 Aspekte der Rhetorik von Benito Mussolini 421 e da=alLOra; (1.0) es ist erst von hier an che comincia la STOria d'ITAlia; (0.5) dass die geschichte Italiens anfängt la VE: ra STOria d'ITAlia- (0.5) die wahre geschichte Italiens perche se PRIma si poteva penSAre- (.) denn wenn man früher denken konnte che la STOria d’ITAlia, (.) die geschichte Italiens fosse il risultato piü o meno compliCAto; (1.0) sei das mehr oder weniger komplizierte ergebnis di maNOvre diploMAtiche; (0.7) von diplomatischen manövem di intRIghi di goVERno; (0.7) von politischen Intrigen di bastiOni di minoRANze, (0.5) von machtkämpfen von minderheiten «cresc> 6 SOlo coll'ANno MILlenovecentoQUINdici; <cresc»(0.5) so ist es erst jetzt mit dem jahr neunzehnhunderfunfzehn «f> col MAGgio radiOso del MILlenovecentoQUINdici; <f»(0.5) mit dem strahlenden mai von neunzehnhunderfunfzehn «ff> che il POpolo italiAno IR! ROM! PE sulla SCEna poLItica; <ff» (0.5) dass das italienische volk durchbricht auf die politische bühne «ff> CAccia i traffiCANti dal TEMpio, <ff» (0.5) die handler verjagt aus dem tempel «ff> e diVENta fmalMENte I'arTEfice del SUo desTIno. <ff» und endlich herr wird über sein eigenes Schicksal ((Beifall, kompakt, dann rhythmisiert, dann Zwischenrufe, dann ca. (7.0 ) Schweigepause von Redner und Publikum vor Neueinsatz, insges. ca. (15.0)) «f>la conclusiOne; <f»(1.5) die Schlussfolgerung «fi> che IO TRAGgo dinanzi a VOI; <f» (1.5) die ich hier vor euch ziehe in questa- (1.0) an diesem «fi> giorNAta lumiNOsa di ! SO! le; <f»(0.5) tage strahlend von Sonnenlicht e FERvida di speRANze, (0.5) und glühend von hoffhungen e QUESta. (2.0) ist die folgende «f> che OGgi,<f»(1.0) dass heute 422 Frank Ernst Muller 44 «f> il POpolo italiAno; <f» (0.5) das italienische volk 45 <<j> e il reGIme faSCISta <f>> (.) und die faschistische regierung 46 «ff> SOno: una uniTÄ; <ff» (.) sind eine Einheit die ist 47 «ff> comPATta; <ff» (.) kompakt 48 «ff> infranGIbile; <ff» (.) unzerbrechlich 49 «ff> formiDAbile; <fp» (.) gewaltig und 50 «ff> che puö sfiDAre come sFIda TUTti=i suoi NEmici <ff» (.) kann trotz bieten allen feinden 51 «d> e ANche 1'anDare del TEMpo. <d» und auch dem laufe der zeit 9. Anhang 3: Parallelstrukturen 9.1 Listenstrukturen (09)f che pesa come il quattrocentosettantasei il millequattrocentonovantadue il milleottocentoquindici (15)f non guardiamo piü al prima della guerra non abbiamo nostalgia per quel tempo per quegli uomini per quegli avvenimenti per quelle dottrine (27)f il risultato complicate di manovre diplomatiche di intrighi di govemo di bastioni di minoranze (33)f il popolo italiano irrompe sulla scena politica caccia i trafficanti del tempio e diventa finalmente l'artefice del suo destino (46)f sono (0.5) una=unitä (.) compatta inffangibile formidabile Aspekte der Rhetorik von Benito Mussolini 423 9.2 Isochron rhythmisierte Passagen (20)f poiche / noi abbi = / / = amo bru = / / = ciato i / / nostri basti = / (schneller) / = menti alle / / nostre / / spalle (31)f e / solo coli- / / anno / / millenove = / / = cento = / / = quindici / / (.) coli' / / marzo radi = / / = oso dell 1 / / millenove = / / = cento = / / = quindici (46)f sono (0.5) / una=uni= / / =tä (.) com = / / =patta (.) 'infran = / / =gibile (.) 'formi = / / =dabile Liisa Tiittula Der finnische Präsidentschaftsstil Beobachtungen zu Wahldiskussionen 1. Einleitung Anfang des neuen Jahrtausends fanden in Finnland Präsidentschaftswahlen statt. Das äußerst gleichauf abgelaufene Rennen endete mit einem knappen Sieg von Tarja Halonen. Obwohl die zwei Spitzenkandidaten, die sozialdemokratische Außenministerin Halonen und der Oppositionsführer, der Vorsitzende der konservativen Zentrumspartei Esko Aho, parteipolitisch auf verschiedenen Seiten stehen, blieben die politischen Unterschiede im Wahlkampf im Hintergrund: Beide wollten das ganze finnische Volk, damit auch politisch Andersgesinnte, ansprechen. In einer solchen Situation spielt das Image der Kandidaten eine zentrale Rolle: ihre Persönlichkeit und die Art und Weise, wie sie sich als kompetente Kandidaten stilisieren. Genauere Analysen der Gesprächsstile der beiden Kandidaten könnten interessante Unterschiede ergeben; in diesem Beitrag geht es jedoch nicht so sehr um Differenzen, sondern mehr um Gemeinsamkeiten. Den Ausgangspunkt bildet die allgemeine, u.a. in der Presse dargestellte Vorstellung, dass der Wahlkampf friedlich lief, ohne Unterschiede besonders hervorzuheben. Obwohl politische Diskussionen in Finnland z.B. im Vergleich zu Deutschland tendenziell weniger konfrontativ sind (Tiittula 2001), bilden Wahldebatten einen eigenen, von anderen Situationen abweichenden Diskussionstyp, in dem unterschiedliche Meinungen und verschärfte Auseinandersetzungen gerade erwartbar sind. Die Debatten vor den Präsidentschaftswahlen liefen jedoch anders: Die Kandidaten schienen bemüht zu sein, eine freundliche und kooperative Haltung zueinander aufrechtzuerhalten. Ziel des vorliegenden Beitrags ist zu beschreiben, auf welchen Elementen die stilistische Wirkung des friedlichen Umgangs miteinander basiert. Bei dem Stilbegriff lehne ich mich an das Konzept des kommunikativen sozialen Stils von Werner Kallmeyer und seiner Forschungsgruppe an, bei dem Stil auf Kultur und soziale Identität der Sprecher bezogen wird (s. Kallmeyer 1995, 2001 und Keim 2001). In diesem Aufsatz geht es darum, welche Mittel die Kandidaten in Wahldiskussionen für die Selbstpräsentation als potenzielle Präsidenten einsetzen. Dabei werde ich vor allem darauf eingehen, wie sie in 426 Liisa Tiittula strittigen Fragen miteinander umgehen. Vergleichsmöglichkeiten bieten zum einen gewöhnliche politische Fernsehdiskussionen, die in einem Projekt von Nuolijärvi/ Tiittula (2000) untersucht worden sind, zum anderen die Debatten, die ein Jahr vorher, vor den Parlamentswahlen, die im Frühjahr 1999 stattgefunden haben, geführt wurden und in denen Aho, auch damals Oppositionsführer, eine wichtige Rolle spielte. Damit stellt sich nicht nur die Frage nach Stilen in verschiedenen Situationen, sondern ebenfalls die Frage nach der Abgrenzung sozialer Gruppen: Was unterscheidet einen für das Präsidentenamt kandidierenden Politiker von einem potenziellen Parlamentsabgeordneten? Da es sich bei Wahldiskussionen um öffentliche Diskussionen handelt, ist der in dem Stilansatz vertretene Gedanke über den Stil als Ausdruck von Leitvorstellungen für das „richtige“ Verhalten besonders relevant. In diesem Fall sind es nicht nur Leitvorstellungen der Kandidaten, d.h. der Gruppe selbst, sondern ihre Vorstellungen über Erwartungen der Wähler: Über welche sozialen Eigenschaften muss ein Staatspräsident verfügen, um von der Mehrheit der Bevölkerung respektiert zu werden? 2. Material und Hintergrund 2.1 Präsidentschaftswahlen in Finnland In den Präsidentschaftswahlen Anfang 2000 wurde das Staatsoberhaupt zum zweiten Mal in direkter Volksabstimmung gewählt. Da keiner der Kandidaten beim ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erreichte, gingen zwei Spitzenkandidanten in eine Stichwahl. In der ersten Runde kandidierten vier Frauen und drei Männer. Die Dominanz der Frauen lag u.a. daran, dass schon bei den letzten Wahlen, die die ehemalige Verteidigungsministerin Elisabeth Rehn gegen Martti Ahtisaari knapp verlor, viele der Meinung waren, dass es endlich Zeit wäre, eine Frau in die höchste Position zu wählen. Ein anderer Grund dürfte die neue Verfassung gewesen sein, die zeitgleich mit dem Amtswechsel des Staatsoberhauptes in Kraft trat und die Vollmachten des Präsidenten deutlich beschnitt, seinen Einfluss schwächte und damit das Amt für führende Politiker (wie z.B. für den Ministerpräsidenten) weniger attraktiv machte. Bei der Stichwahl besiegte Tarja Halonen ihren Konkurrenten Esko Aho mit einer knappen Mehrheit von 51,6 % der abgegebenen Stimmen und wurde damit als erste Frau in der Landesgeschichte an die Staatsspitze gewählt. Trotz der parteipolitischen Unterschiede der Kandidaten - Halonen gilt als Vertreterin des linken Flügels der sozialdemokratischen Partei, Aho dagegen leitet die konservative Zentrumspartei waren zwischen ihnen keine tief Derfinnische Präsidentschaftsstil All greifenden politischen Differenzen zu finden. Die Entpolitisierung war ein deutliches Merkmal des Wahlkampfes. Wenn politische Unterschiede in den Hintergrund treten, wird an ihrer Stelle nach Unterschiedlichkeiten in der privaten Sphäre gesucht. Die Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit verwischt sich. Kurz vor den Wahlen wurde eine Untersuchung veröffentlicht, nach der über die Hälfte der Jugendlichen rechte Parteien von linken nicht mehr unterscheiden kann. Dies wurde darauf zurückgeführt, dass wichtige politische und wirtschaftliche Angelegenheiten kaum in der Öffentlichkeit behandelt werden, in der die Persönlichkeiten der Politiker in den Vordergrund treten (Helsingin Sanomat 3.2.2000). So standen das private Leben der Kandidaten, ihre Persönlichkeiten und Werte, im Mittelpunkt des Medieninteresses, in denen im Gegensatz zur Tagespolitik größere Unterschiede zu finden waren. Die 56-jährige Halonen ist allein erziehende Mutter, die mit ihrem Partner Pentti Arajärvi in nichtehelicher Lebensgemeinschaft lebt. Aus der lutheranischen Staatskirche, der fast 90 % der Finnen angehören, ist sie ausgetreten. Als ehemalige Vorsitzende des Verbandes der Homosexuellen Seta setzt sie sich auch heute explizit für Minderheiten und Menschenrechte ein. Halonen kommt aus einem Helsinkier Arbeiterviertel und war früher u.a. als Juristin des finnischen Arbeitnehmerverbandes SAK tätig. Die meisten Stimmen bekam sie in den Städten des Südens, in denen sie zahlreiche Anhänger insbesondere aus Gewerkschaftskreisen rekrutieren konnte. Unterstützt wurde sie auch parteipolitisch übergreifend von Frauen. Nach ihrem Sieg meinten viele (u.a. der sozialdemokratische Ministerpräsident Lipponen), dass die Frauen die Wahl entschieden hätten. Nach den Analysen soll sie ebenfalls viele Wähler unter Jugendlichen gewonnen haben. Halonens Gegenkandidat, der elf Jahre jüngere Esko Aho, kommt aus einem kleinen Ort an der Westküste. Als Vater von vier Kindern repräsentiert er traditionelle bürgerliche Werte und setzt, wie er selbst sagte, auf die Familie und den christlichen Glauben. Im Wahlkampf stand auf seiner Seite die hübsche Ehefrau Kirsti, die als überzeugte Hausfrau dargestellt wurde. Der jetzige Oppositionsführer war von 1991 bis 1995 jüngster Ministerpräsident des Landes und wäre jetzt der jüngste Staatspräsident geworden. Als Vorsitzender der Zentrumspartei, der ehemaligen Agrarpartei (‘finnische Landunion’) hatte er Anhänger vor allem in den ländlichen Gegenden Mittel- und Nordfmnlands. Er wollte sich auch als Vertreter der jüngeren Generation und einer neuen Denkweise profilieren, die das Individuum (statt des Sozialstaats) hervorhebt und solche Erfolgsgeschichten wie Nokia ermöglicht hat. Obwohl der private Bereich der Kandidaten stark in die Öffentlichkeit trat, lehnten die Konkurrenten selbst eine Gegenüberstellung ihrer Lebensformen ab. Halonen bestand auf jedermanns Recht zu persönlichen Entscheidungen, und Ahos Versuch, persönliche Werte in den Vordergrund zu stellen, schei- 428 Liisa Tiittula terte an der Erfindung des abwertenden Spitznamens „Handy-Pappa“, mit dem bezeichnet wurde, dass er für seine Kinder nur (wenn auch zu jeder Zeit) auf dem Mobiltelefon erreichbar ist. 1 Diskussion über Werte war jedoch ein wichtiger Bestandteil des Wahlkampfes. Die Entpolitisierung der Wahlen zeigte sich u.a. in der Zunahme verschiedener Unterhaltungsprogramme im Fernsehen, in denen die Kandidaten auftraten. In den eigentlichen Wahldiskussionen war sie in der Behandlung der Themen zu sehen. Politische Positionen wurden nur vage miteinander konfrontiert, brisante Fragen und kontroverse Themen (wie z.B. die Möglichkeit des Nato-Beitritts) wurden von beiden Kandidaten vermieden. Der politisch farblos verlaufene Wahlkampf bekam erst kurz vor der Stichwahl nach der Boykott-Drohung der EU-Staaten gegen Österreich wegen der Beteiligung der FPÖ an der Regierung etwas Wind. Während Halonen als amtierende Außenministerin die EU-Erklärung verteidigte, kritisierte Aho sie als Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines kleinen Landes. Seine Kritik fand Zustimmung bei vielen Finnen, die die Beziehungen zur ehemaligen Sowjetunion kritisch betrachten und Angst vor der Bevormundung kleinerer Staaten von Brüsseler Seite haben. Bis zur letzten Minute der Wahlen war ungewiss, inwieweit die Debatte den Ausgang der Abstimmung zu Gunsten von Aho mitbestimmen konnte. 2.2 Untersuchungsmaterial und -gegenständ Für diesen Beitrag wurden zwei Präsidentschaftswahldiskussionen genauer analysiert. Beide wurden nach dem ersten Wahlgang zwischen den Hauptkandidaten geführt, die erste zwei Wochen, die zweite drei Tage vor der Stichwahl im Februar 2000. Während die erste Diskussion in einem auffällig freundlichen und lockeren Ton geführt wurde, war die Stimmung in der zweiten Diskussion gespannter: Die Kandidaten hatten mehr als zwei anstrengende Wahlkampfwochen hinter sich, und die fast täglichen Meinungsumfragen versprachen mal für die eine mal für die andere Partei einen Wahlgewinn. Die Haider-Debatte sorgte ihrerseits für Spannung zwischen den Konkurrenten. Zum Vergleich wurde eine weitere Wahldiskussion herangezogen, die vor einem knappen Jahr, vor den Parlamentswahlen im März 1999 zwischen den Vorsitzenden der drei größten Parteien, der Sozialdemokratischen Partei, der konservativen Nationalen Sammlungspartei und der Zentrumspartei geführt wurde. Die politische Situation war dieselbe wie ein Jahr später: Die zwei Der Spitzname wurde von den Medien schlagwortartig verbreitet, nachdem Aho vom ehemaligen Kampagnenleiter des alten Präsidenten als Ehemann einer allein erziehenden Mutter dargestellt worden war. (Helsingin Sanomat 4.2.2000) Derfinnische Präsidentschaftsstil 429 Erstgenannten saßen in der Regierung, die Zentramspartei war in der Opposition. Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei war der Ministerpräsident Paavo Lipponen, Vorsitzender der Konservativen der Finanzminister Sauli Niinistö; beide haben ihre Funktionen behalten, so wie auch Esko Aho, der als Vorsitzender der Zentrumspartei an der Debatte teilnahm. Interessant in der Parlamentswahldebatte ist vor allem das Verhalten von Aho, der als Oppositionsführer den Vertretern der Koalition gegenübergestellt war. Sein Diskussionsstil ist schon in anderen politischen Diskussionen untersucht worden, die aus der Zeit stammen, in der er Ministerpräsident war. Dabei war festzustellen, dass er mit politischen Gegnern eine scheinbar kooperative Gesprächsstrategie verfolgte, indem er bei abweichenden Meinungen das Positive und Gemeinsame in den Vordergrund hob (Nuolijärvi/ Tiittula 2000). Über Halonen liegen keine ähnlichen Beobachtungen vor, und an den Wahldebatten vor den Parlamentswahlen nahm sie nicht teil. Sowohl Aho als auch Halonen gelten als erfahrene und kompetente Politiker. Das kommunikative Verhalten und Auftreten ist bei Imagewahlen, in denen politische Unterschiede nicht markant sind, von besonderer Bedeutung. Hierfür stellen die USA ein gutes Beispiel dar; von dort soll auch Ahos Imageberatung stammen. Der immer kooperative, wortgewandte und gut gelaunt aussehende Weltmann machte jedoch bei vielen Finnen einen Eindruck von Unechtheit und wurde boshaft „Teflongesicht“ genannt (an dem keine äußeren Einwirkungen zu merken sind). Für Halonen dagegen schien das stetige öffentliche Auftreten in den Medien zunächst nicht so vorteilhaft zu sein, denn auf Äußerlichkeiten legt sie wenig Wert und hat außerdem auffällige Sprachfehler. Was aber aus einer Sicht als Mangel erscheinen kann, kann andererseits als Signal für Echtheit empfunden werden. Ein weiterer Unterschied in den persönlichen Stilen der Kandidaten liegt in ihren Sprachvarietäten. Ahos Varietät ist der Standardsprache sehr nah und weist nur einige übliche und dadurch auch unauffällige umgangssprachliche Elemente (wie z.B. mä für minä ‘ich 1 ) auf (Nuolijärvi/ Tiittula 2000). Von Persönlichkeiten der Öffentlichkeit wird in Finnland im Allgemeinen „richtiges Sprechen“, d.h. Vermeiden von Umgangssprachlichkeiten, erwartet. Andererseits ist die finnische Standardsprache recht weit von den umgangssprachlichen Varietäten entfernt, deren Gebrauch sich auch in den Medien verbreitet hat. Einer, der in der spontanen Rede die standardsprachliche Varietät verwendet, wirkt somit leicht unnatürlich. Aho steht also nicht nur politisch im Zentrum, sondern auch mit seiner gemäßigten Sprechweise. Halonens Sprechweise weicht etwas mehr von der Standardsprache ab und enthält eine südfinnische Färbung, was in den großen Städten Südfinnlands, besonders in der Hauptstadtregion, wohl kaum auffällt, auf der anderen Seite aber als Merkmal für „(haupt)städtisch“ registriert werden kann. Der ge- 430 Lüsa Tiittula nannte Unterschied in der Sprechweise der Kandidaten kann ein Grund für die Einschätzung sein, dass Aho auf das Publikum etwas distanzierter wirkt als Halonen. Trotz der Differenzen in den persönlichen Stilen gab es Gemeinsamkeiten in den Diskussionsstilen, auf die ich im Folgenden genauer eingehen werde. 3. Konfrontation in Wahldebatten im Vergleich zu anderen politischen Diskussionen Konstitutiv für argumentative Diskussionen ist die Unterschiedlichkeit der Positionen, ln der Art und Weise, wie Argumentation aufgebaut und durchgeführt wird und wie Meinungsdifferenzen behandelt werden, lassen sich situations- und kulturbedingte Unterschiede feststellen, die u.a. damit Zusammenhängen, für wie gesichtsbedrohend konfrontative Handlungen gehalten werden. Finnische und deutsche öffentliche Diskussionen unterscheiden sich deutlich voneinander. Während in Finnland ein Streit für das Image der Beteiligten bedrohlich sein kann, sind deutsche Femsehdiskussionen oft durch einen konfrontativen Stil geprägt; Streit kann sogar einen Unterhaltungswert haben (u.a. Holly/ Kühn/ Püschel 1986, Holly 1993, Tiittula 1997). Die unterschiedlichen Einstellungen zum Streit kommen darin zum Ausdruck, wie manifest Gegensätze und damit verbundene Bewertungen geäußert werden. In deutschen Diskussionen wird der Streit u.a. durch explizite Widerlegung und Bewertung der Gegenposition, direkte Adressierungen an den Gegner sowie durch metakommunikative Äußerungen deutlich gemacht, in finnischen geschieht dies impliziter und indirekter für die Beteiligten oder die Zuschauer jedoch nicht unbedingt undurchschaubarer (s. genauer Tiittula 2001). Wahldebatten wurden jedoch in den bisherigen kontrastiven Untersuchungen zu deutschen und finnischen Fernsehdiskussionen ausgeklammert. Im Folgenden gehe ich auf die Behandlung von Meinungsdifferenzen in der Debatte vor den Parlamentswahlen ein. Wird Streit in gewöhnlichen (finnischen) Diskussionen dispräferiert, so ist das Äußern und Austragen von divergierenden Positionen ein wesentlicher Bestandteil von Wahldiskussionen. Allerdings kann sich ein als zu aggressiv empfundener Diskussionsstil auch hier für den Kandidaten im Hinblick auf die Wahlchance als nachteilig erweisen. Mit Face-Management hängt wohl zusammen, dass z.B. Vorwürfe in der analysierten Debatte vorwiegend an die Parteien bzw. an die Regierung oder an die Opposition, weniger an ihren Vertreter persönlich adressiert werden (z.B. Lipponen an Aho: „was die Zentrumspartei zur Gerechtigkeit der Besteuerung sagt ist nicht glaubhaft“). Vorwürfe werden darüber hinaus im Derfinnische Präsidentschaftsstil 431 Passiv formuliert (z.B. Aho: „ich find hier wird auch bei dieser Sache vergessen wenn über irgendwelche extra Räume der Kommunalbehörde diskutiert wird Indirektheit zeigt sich ebenfalls im Gebrauch der 3. Person Sg. (z.B. „Steuererleichterungen sind nicht ganz so gewesen wie der Finanzminister hier sagt“), wenn die genannte Person nicht der primäre Adressat der Äußerung ist (vgl. Beispiel 5 weiter unten). Andererseits weist diese Wahldiskussion mit deutschen politischen Diskussionen viele Ähnlichkeiten auf. So sind direkte Adressierungen üblicher als in anderen strittigen Auseinandersetzungen im finnischen Fernsehen. Beispiele hierfür sind Aufforderungen („antworten Sie bitte“) sowie in finnischen Diskussionen sonst selten vorkommende namentliche Anreden sowohl in der 3. Person (z.B. Aho: „hätte Niinistö ein bisschen Geduld um jetzt die Antwort zu hören“) als auch in der 2. Person (z.B. Lipponen: ,ja aber Vorsitzender Niinistö Sie weichen der eigentlichen Frage jetzt aus“; Aho: „denn Sauli Niinistö es ist nicht immer so dass ...“). Aktivitäten, die von Kallmeyer/ Schmitt (1996) Forcieren genannt werden, sind für diese Wahldebatte charakteristisch. Hierzu gehört ein verschärfter Kampf um das Rederecht mit Unterbrechungen und längeren Simultanpassagen sowie irritierenden Einwürfen (z.B. „stimmt nicht“, „jetzt haben Sie sich entlarvt“). Stellenweise werden die Redebeiträge sehr kurz und enthalten nur die Ablehnung der Partneräußerung oder Wiederholung des eigenen Arguments, so dass die Auseinandersetzung zum Zank schrumpft. Weitere Beispiele für forcierende Aktivitäten sind Andeutungen der Inkompetenz und Unehrlichkeit des Gegners (z.B. Aho: „die Wahrheit ist dass Sie nicht mal bereit sind darüber zu diskutieren“) sowie insistierende Fragen und Versuche, den Partner auf das Gesagte festzunageln, wie im folgenden Beispiel, das das Ende einer Streitsequenz zwischen Lipponen und Aho wiedergibt. (1) Parlamentswählen 1 PL: siis te haluatte puuttua työeläkejärjestelmään Sie wollen also in das Arbeitsrentensystem eingreifen 2 sitä heikentavastif es verschlechternd^ 3 EA: niin me haluamme jakaa sen ja wir wollen verteilen 4 PL: nyt se tuli esille [että te haluatte heiken]tää jetzt stellte sich heraus [dass Sie verschlechtern wolljen 5 EA: [me haluamme jakaaf] [wir wollen verteilenf] 6 PL: työ[eläkejärjestelmääf das Arbeitsfrentensystemf 7 EA: [me haluamme jakaa sen kustannuksen [wir wollen die Kosten verteilen 8 oikeudenmukaisesti [niin että tällanen 432 Liisa Tüttula gerecht [so dass eine solche 9 PL: [kyllä4 kylläi [dochi dochi 10 EA: ikäsyrjintä johon te olette menneet .hh että se Altersdiskriminierung zu der Sie übergegangen sind .hh dass die 11 ikäsyrjintä loplpuu .hh koska (..)4 Altersdiskriminierung ein Ende [nimmt .hh weil (..)4 12 PL: [kaikki palkansaajat kuunnelkaa [alle Lohnempfänger hören Sie/ hört 13 Esko Aho nyt4 Esko Aho jetzt 4 14 EA: ei vaan kuunnelkaa * kuunnelkaa nein sondern hören Sie * hören Sie 15 oikeudenmukaisu[uden ääntä minister! auf die Stimme der Gerechtigkeit ((Herr)) Minister 16 PL: [kuunnelkaa palkansaajat [hören Sie/ hört Lohnempfänger 17 Esk[o Aho4 Esk[o Aho zui 18 EA: [pääministeri Lipponen4 [Ministerpräsident Lipponeni Lipponen fasst Ahos Antwort auf die Frage nach Änderungen im Rentensystem als Verschlechterung zusammen und insistiert trotz Ahos mehrmaligen Korrekturen auf seiner Interpretation. Aho seinerseits bewertet die Maßnahmen der Regierung polemisch als Altersdiskriminierung (Z. 10-11). Am Ende der Sequenz adressiert Lipponen seine Worte an die Zuschauer (Z. 12-13, 16- 17). Ahos Appell ist an Lipponen gerichtet (die finnische Form kuunnelkaa „hören Sie/ hört“ ist die 2. Person PI. und kann sowohl an mehrere Personen als auch als Höflichkeitsform an eine Person verstanden werden), enthält aber für die Zuschauer eine Andeutung von Lipponens Ungerechtigkeit. Mehrfachadressierungen mit expliziter Einbeziehung der Zuschauer kommen in deutschen politischen Diskussionen öfter vor, in finnischen Diskussionen sind sie dagegen selten. In der analysierten Wahldiskussion treten sie jedoch an mehreren Stellen auf und machen die Inszeniertheit der Wahldebatte besonders deutlich. Ein weiterer Punkt, in dem die Wahldebatte deutschen politischen Diskussionen ähnelt, ist der häufige Gebrauch in finnischen Diskussionen sonst weniger verwendeter metakommunikativer Äußerungen. Mit Metakommunikation werden u.a. die Regeln des Gesprächs expliziert. Sie kommt insbesondere bei verschärfter Konkurrenz um das Rederecht vor, z.B. durch die in allen drei analysierten Wahldebatten übliche Formulierung „darf ich weiterreden“. Das folgende Beispiel zeigt, wie die Metakommunikation dazu eingesetzt wird, das Gesprächsverhalten des Gegners zu bemängeln und seine Glaubwürdigkeit zu diskreditieren sowie die eigene Position aufzuwerten: Derfinnische Präsidentschaftsstil 433 (2) Parlamentswahlen 1 EA: 2 3 4 5 6 7 8 9 10 PL: 11 M: 12 PL: 13 14 15 EA: 16 17 PL: 18 19 EA: 20 21 PL: 22 23 24 EA: 25 PL: 26 niin minusta koko tämä keskustelu kulkee nyt ja also ich find diese ganze Diskussion bewegt sich jetzt detaljeissa jotka jotka ovat sinänsä ovat saattavat in Details die die an sich wichtig sind olla tärkeitä mutta .hh minusta peruskysymys on se että sein können aber .hh ich find die Kernfrage ist das dass 1. • •] mun tekisi mieli kysyä kun puhutaan siitä kuinka .hh ich würd gern fragen wenn davon gesprochen wird wie .hh leikkauslinja on ollut oikeudenmukainen ja tekisi mieli gerecht der Kürzungskurs gewesen ist und ich würde gern kysyä .hh kertokaa jokin sellainen leikkaus joka olisi fragen .hh nennen Sie eine solche Kürzung die kohdistunut pelkästään sellaisiin suomalaisiin joilla nur solche Finnen betroffen hätte die 1 . . . 1 saanko minä vastafta. darf ich antworten [no * tottakaiJ' [na * selbstverständlich! .hh niin Esko Aho te ette koskaan vastanneet siihen .hh ja Esko Aho Sie haben nie darauf geantwortet mistä .hh leikataan kaksikymmentä miljardia! wo .hh zwanzig Milliarden gekürzt werden sollen! .hh ei siihe/ ei se olisi ollut mahdollista puut[tua .hh darau/ es wäre nicht möglich gewesen einzugreifjen [mikä [was für vastaus tämä oli! eine Antwort war das! sosiaalietuisuuksiin! .hh ja kun te sanotte että in die sozialen Vergünstigungen! .hh und wenn Sie sagen teidän hallituksenne ei leikannut pienituloisilta [...] Ihre Regierung hat nicht bei den Kleinverdienern gekürzt [...] tämä ei kyllä ollut vastaus alkuunkaan siihen dies war aber überhaupt keine Antwort darauf mitä kysyin! was ich fragte! minä ölen vastannut tähän kysymykseen koska .hh ich habe auf diese Fragen geantwortet weil .hh keskusta * ei ole koskaan vastannut siihen miten die Zentrumspartei * nie darauf geantwortet hat wie valtiontalouden * tasapaino olisi parannettu [...] man das Gleichgewicht * im Staatshaushalt verbessert hätte [...] no [ensin]näkin en [saanut mitään] na [erstens] habe ich [keine [miten] [miten te aio]tte hoitaa [wie] [wie wollen] Sie [tämän asian! ] [diese Sache regeln]! 434 Liisa Tiittula 27 EA: [ensinnäkin en s]aanut vastausta kysymykseeni [erstens habe ich] keine Antwort auf meine Frage bekommen 28 enkä odottanutkaan koska ei sellasta esimerkkiä löydy sie aber auch nicht erwartet denn ein solches Beispiel findet man nicht 29 [...] 30 SN: on tietenkin näppärää keskustelutaktitaktiikkaa es ist natürlich eine geschickte Gesprächstaktitaktik 31 että leimaa muitten puheet nyansseiksi .hh ja Sitten dass man die Beiträge der anderen als Nuancen abstempelt .hh und dann 32 esittää niitä itse4 solche selbst vorbringt4 Zu Beginn versucht Aho das Gespräch umzufokussieren, indem er die von den anderen Beteiligten thematisierten Punkte als Detailfragen abwertet. Am Ende des Ausschnitts kritisiert Niinistö seinerseits Aho mit einer Retourkutsche und nennt sein Gesprächsverhalten „Gesprächstaktik“ und wertet seine Sprechhandlung als „Abstempeln“ ab (Z. 30-32). Da die beiden Redebeiträge weit auseinander liegen und Niinistös Kritik unpersönlich formuliert ist, ist sein Ziel jedoch nicht ganz deutlich. Der Streit zwischen Aho und Lipponen dazwischen hat forcierenden Charakter: Beide Kontrahenten versuchen zu bestimmen, wann die Äußerung des anderen als eine Antwort gilt, und deuten an, dass der andere keine ausreichende Antwort geben kann oder will. 4. Konstituierung des Präsidentschaftsstils 4.1 Konfrontation vs. Kooperation Die Präsidentschaftsdebatten unterscheiden sich von der Parlamentswahldebatte deutlich in der Art und Weise, wie die Kandidaten miteinander umgehen. Während die Beteiligten der Parlamentswahldebatte konfrontationsbereit diskutieren, sind die Präsidentschaftskandidaten trotz der Bemühungen der Moderatoren kaum gegeneinander aufzubringen. Die etwas gespanntere Stimmung der zweiten Präsidentschaftsdiskussion ist u.a. am steiferen und geringeren nonverbalen Verhalten von Aho erkennbar. Konkurrierende Tumübemahmen, Simultanpassagen, insistierende Fragen und Einwürfe sowie forcierende Aktivitäten überhaupt treten jedoch in den beiden Diskussionen in deutlich geringerem Ausmaß auf als in der Parlamentswahldebatte. Der Unterschied zwischen den beiden Wahlrunden wurde von Aho in der zweiten Präsidentendebatte wie folgt beschrieben: „Im Vergleich zu den Parlamentswahlen ist dies ein toller Wahlkampf gewesen. Jetzt wird nicht gegen jemanden gekämpft, sondern für den eigenen Kandidaten gearbeitet.“ Derfinnische Präsidentschaftsstil 435 Einmalig fand er auch, dass er jetzt als Individuum, statt von der Partei nur von sich, von seinen eigenen Zielen und Wünschen sprechen durfte. Dieser Unterschied zeigt sich in den Stilen der Wahldiskussionen. In der Parlamentswahldebatte wird die Gegenüberstellung zwischen Regierung und Opposition besonders hervorgehoben, in der Präsidentschaftsdiskussion dagegen im Hintergrund gehalten. In der Parlamentswahldiskussion stehen die Parteien im Mittelpunkt, in den Präsidentschaftsdiskussionen die einzelnen Kandidaten. Während die Vorsitzenden der Parteien von Verdiensten der eigenen Partei oder von Fehlem der anderen Seite reden (z.B. Aho: „als wir die Reform durchfuhrten“; „wir sind nicht der Meinung wie die Sammlungspartei“), heben die Präsidentschaftskandidaten ihre eigene Tätigkeit und Kompetenz hervor (z.B. Halonen: „auf der Initiative von Finnland und Schweden bei der ich also selbst die Verantwortungstragende war ...“). In Präsidentschaftsdebatten ist auf das persönliche Image der Kandidaten mehr zu achten als in Parlamentswahldebatten. Die Präsidentschaftskandidaten verwenden häufig die formelhaften Wendungen minusta oder minun mielestäni „ich bin der Meinung“/ „ich finde“/ „meiner Meinung nach“, um ihre eigene Position anzuzeigen. Den Redebeitrag einleitend können solche Äußerangen die Unterschiedlichkeit der Meinungen indizieren, markieren sie jedoch nicht unbedingt als kontrovers. Die Kandidaten antworten auf die Fragen der Moderatoren mit Statements, die oft keine explizite Bezugnahme auf die Äußerung des Konkurrenten, nicht einmal eine Kontrastmarkierung enthalten; sie bringen lediglich unterschiedliche Sichtweisen auf dasselbe Thema zum Ausdruck. Explizite Negationen können in langen Redebeiträgen so eingebettet sein, dass die Gegensätzlichkeit der Meinung nicht auffällt. Die zur Argumentation gehörende Widersprüchlichkeit bleibt also vielfach recht implizit. Argumentation kann sich auch auf Gemeinsamkeiten aufbauen. In den Präsidentschaftsdebatten wird die Übereinstimmung durch explizite Äußerungen deutlich gemacht. Insbesondere Halonen verwendet solche Bezüge (z.B. „ich bin ganz derselben Meinung“, „hierzu vertrete ich mit Aho dieselbe Position“, „Esko Aho hat da schon Recht“, „was Esko so schön sagte“). Sie knüpft ihre Äußerungen auch an anderen Stellen an die Redebeiträge ihres Gegenkandidaten an (z.B. „ich wollte noch dem Beitrag von Esko Aho hinzufügen“). Bei Aho sind ähnliche Bezugnahmen bedeutend seltener, obwohl er sich in der Parlamentswahldebatte als Einziger auf die Gegner im Positiven bezieht. Ein Aspekt der Kooperativität ist das Streben nach gemeinsamen Lösungen trotz Meinungsdifferenzen, was natürlich in politischen Fernsehdiskussionen selten der Fall ist. Das folgende Beispiel ist ein Auszug aus dem Ende einer Sequenz, in der die Kandidaten die Aufgabe bekamen, ihre Positionen zu 436 Liisa Tiittula Haiders Beteiligung an der österreichischen Regierung zu äußern und zu begründen sowie eine gemeinsame Stellungnahme dazu zu formulieren. (3) Präsident II 1 M: anteeksi ehdokkaat nyt tässä vaiheessa kysyisin teiltä Entschuldigung Kandidaten jetzt an dieser Stelle möchte ich Sie fragen 2 että että onko tu"lkintani oikea että * te ette pysty ob ob meine Interpretatio"n richtig ist dass * Sie nicht imstande sind 3 tässä muodostamaan * yhteistä vastaustaf hier eine gemeinsame Antwort zu formulierend 4 vai vai mikä mikä teidän [oma näkemys/ oder oder was was ist Ihre [eigene Vorstellung/ 5 EA: [me olemme olleet [wir haben 6 tästä asiasta vähän eri mieltäd minä ölet itse asiassa zu dieser Sache etwas unterschiedliche Meinungen gehabt! ich habe eigentlich 7 ollut samalla kannalla minkä mille kannalle dieselbe Position vertreten die 8 Euroopan parlamentti tänään asettui! das Europäische Parlament heute eingenommen hat! 9 TH: minä tuota yritin tässä sitkeästi dialogia mutta ich also habe versucht hier hartnäckig einen Dialog zu fuhren aber 10 myönnän suoraan että ei tässä kyllä jäänyt paljon aikaa ich gebe ehrlich zu dass hier nicht viel Zeit übrig blieb 11 mutta kyllä mä nyt sitkeesti koetin olla aber ich hab schon hartnäckig versucht 12 yhteistyökykyinen ja pyrin saamaan tässä jonkin näköstä kooperationsfähig zu sein und hab mich bemüht hier irgendeine 13 ratkasua aikaiseksi! Lösung zustande zu bringend Die Moderatorin hebt die Divergenz der Meinungen hervor, die Aho zugibt, allerdings mit Entschärfung der Nichtübereinstimmung {„etwas unterschiedliche Meinungen“). Halonen stellt ihre Gesprächsstragie als kooperativ dar. Dazu gehört, dass sie die Schuld am Scheitern des Dialogs nicht ihrem Gegenkandidaten zuschreibt, sondern dem vorgegebenen Zeitrahmen. Ein wichtiges Mittel bei der Konstituierung der sozialen Beziehungen sind die Anredeformen. In der Parlamentswahldebatte distanzieren sich die Beteiligten voneinander durch den Gebrauch der 3. Person Singular oder der 2. Person Plural {te ‘ihrV‘Sie’). Das im Finnischen auch in öffentlichen Diskussionen übliche Du kommt nicht vor, obwohl die Beteiligten sich wohl sonst duzen (einmal entschlüpft Niinistö die Du-Form in einem unauffälligen Possessivsuffix: olisiko tuo valinta+si ‘wäre das die Wahl+SUFF’ „wäre das deine Wahl“). Die Präsidentschaftskandidaten dagegen, die von den Moderatoren gesiezt werden, variieren von den distanzierteren Formen der 3. Person Sg. und der 2. Person PI. zur 2. Person Sg. Auf den Gesprächspartner wird gelegentlich auch mit dem Vornamen verwiesen. Mit den vertraulicheren Derfinnische Präsidentschaftsstil 437 Formen grenzen sich die Kandidaten von den anderen zu einer besonderen eigenen Gruppe ab. 4.2 Formulieren von Kritik und Nichtübereinstimmung In den Präsidentschaftsdebatten äußern die Kandidaten Kritik nur vorsichtig, auch wenn sie dazu aufgefordert werden, wie das folgende aus dem Anfang der zweiten Diskussion stammende Beispiel zeigt. Nachdem die Kandidaten ihre Präsidentschaft beschreiben sollten, bittet die Moderatorin sie, zum amtierenden Präsidenten Ahtisaari Stellung zu nehmen. (4) Präsident II 1 Ml: runsaasti kansaa tavannut ja julkisuudessa esiintynyt der häufig Begegnungen mit dem Volk gepflegt habende und in der Öffentlichkeit aufgetretene 2 * Ahtisaari * sai osakseen arvosteluaF hänen sanottiin * Ahtisaari * wurde kritisiert^ es wurde gesagt 3 arkipäiväistäneen presidenttiyden * liian usein er habe die Präsidentschaft alltäglich gemacht * zu oft 4 liian paljoni * mitä raieltä te olette * Esko Aho-f zu vielf * was meinen Sie * Esko Ahof 5 (0.3) 6 EA: .hh ky: llä presidentin tietysti täytyy * esiintyä .hh nun muss der Präsident natürlich schon * auftreten 7 hyvin harkiten ja puuttua asioihin * si"lloin kun hän sehr überlegt und sich einmischen * da"nn wenn er 8 uskoo että * on niin tärkeä asia kysymyksessä että meint dass * es sich um eine so wichtige Frage handelt dass 9 siihen on viisasta * ää puuttuaT tai sitten hän näkee es vernünftig ist da * äh einzugreifent oder wenn er sieht 10 että juuri tä"ssä tilanteessa hän voisi vaikuttaa dass er gerade in die"ser Situation Einflussmöglichkeiten 11 jonkin * asian * pua"lesta * ja sit kolmas asia on fii"r irgendeine * Sache hätte * und dann der dritte Punkt is 12 minusta se että kun presidentti näkee että jotakuta * meiner Meinung nach wenn der Präsident sieht dass irgendeine 13 väestöryhmää tai tai jotakin ihmisryhmää kohdellaan Bevölkerungsgruppe oder oder irgendeine Personengruppe 14 vää"rin4- * ni presidentin pitää uskaltaa sillon u"ngerecht behandelt wirdf * so muss der Präsident dann den Mut haben 15 tällasta ryhmää pualustaai vaikka se: ihmisjoukko eine solche Gruppe zu verteidigend auch wenn die: Personengruppe 16 sitten tai kansalaisryhmä muodostaisi pienen dann oder die Bevölkerungsgruppe nur eine kleine 17 vähemmistönkin ää kansalaisista jos mä aattelen Minderheit äh der Bevölkerung bilden würde wenn ich 18 tämänhetkistä keskustelua ni ni esimerkiks an die heutige Diskussion denke so so zum Beispiel vanhusväestön ja ja veteraaniasia on sellanen jossa die Frage der alten Bevölkerung und und der Veteranen ist eine solche in der es 19 438 Lüsa Tiittula 20 minusta olisi paikallaan nyt * ää meiner Meinung nach jetzt angebracht wäre * äh 21 tällasen puheenvuoron käyttäminenJsich dementsprechend zu äußeml 22 Ml: eli tulkitsenko teitä oikein että te teillä olisi also verstehe ich Sie richtig Sie würden 23 •<—pidättyväisempi linja kuin mitä presidentti <—eine zurückhaltendere Linie haben als was Präsident 24 Ahtisaarella on ollut'l Ahtisaari gehabt hat^ 25 EA: o"ma linja4 minusta jokaisen presidentin pitää luoda eine ei"gene Liniel ich finde jeder Präsident soll 26 ehdottomasti oma linjansa ja: ei voi ottaa mallia unbedingt eine eigene Linie finden und: man kann sich kein Beispiel 23 toisista vaikka vaikka valilla mieli tekisikin vaan an anderen nehmen auch wenn wenn man manchmal das gern tun würde sondern 28 täytyy tehdä se sillä tavalla * omintakeisella tavalla man muss es auf die Art und Weise * auf eine individuelle Weise tun 29 juuri sellaisella tavalla että se * on Sitten gerade auf eine solche Weise dass es * dann 30 Wskottava koska minusta tuntuu että tärkeintä on se glaubwürdig ist weil ich glaube dass das Wichtigste ist 31 että kun presidentti puhuu4 sitä kuunnellaan ja dass wenn der Präsident redet'! dass dem zugehört wird und 32 kuunnellaan sillä mielellä että dass dem zugehört wird in dem Sinn dass 33 se myös otetaan huomioon4 es auch berücksichtigt wirdi Eine zur Zeit des Wahlkampfes erschienene Biografie über Aho berichtet, dass seine Beziehung zu dem sozialdemokratischen Präsidenten Ahtisaari nicht immer unproblematisch war. Eine Kritik an Ahtisaari, der zur Zeit der Diskussion nicht nur der amtierende Präsident war, sondern dank seiner erfolgreichen Friedensbemühungen im Kosovo-Krieg eine größere Popularität genoss als je zuvor, hätte potenzielle Wähler ärgern können. Aho stimmt der kritischen Aussage der Moderatorin nicht direkt zu, bestreitet sie aber auch nicht, und die Formulierung in Z. 6-7 kann als ein Akzeptieren der Kritik interpretiert werden (vgl. „zu oft zu viel“ — „nun muss der Präsident natürlich schon * auftreten sehr überlegt“). Die Moderatorin fasst Ahos Äußerung so auf, dass er sich anders verhalten würde als Ahtisaari, und bittet ihn diese Interpretation zu bestätigen. Aho tut dies jedoch auch nicht, sondern gibt eine generalisierende Antwort: ,jeder Präsident soll unbedingt eine eigene Linie finden“. Eine weitere Auffälligkeit im obigen Ausschnitt ist die für Aho typische Strategie, das Thema in die eigene Richtung zu lenken und seine eigenen Angelegenheiten zur Sprache zu bringen (Z. 11-20). Nach Ahos Redebeitrag lobt Halonen ihren Parteifreund Ahtisaari, problematisiert das von der Moderatorin gebrauchte Wort arkipäiväistää ‘alltäglich machen’ und schließt sich dann explizit an Ahos Meinung an (Beispiel 5). Derfinnische Präsidentschaftsstil 439 Damit ist sie sowohl mit Ahtisaari als auch mit Aho einverstanden. Dadurch sowie durch die Formulierungsweise enthält die Äußerung jedoch eine kritische Nuance zu Ahtisaari (vgl. „kann auch eine positive Entwicklung sein aber .... mit einer solchen Überlegung dass man nicht immer zu jeder Zeit den Mund aufmacht so kann man dann auch vie"lleicht mehr Zuhörer gewinnen“). Die Formulierung „mehr Zuhörer“ bedeutet nicht unbedingt „mehr als Ahtisaari hat“, sondern kann sich anknüpfend an Aho auf seine Betonung der Zuhörerschaft (Beispiel 4, Z. 30-33) beziehen. (5) Präsident II 1 TH: ... mika on juhla ja mikä on arki niin saattaa olla ... was Feiertag und was Alltag ist das kann 2 myö"nteistäkin kehitystä l mutta mä ölen samaa mieltä auch eine po"sitive Entwicklung sein 4 aber da bin ich derselben Meinung 3 siinä että jokainen löytää Oman tyylinsä ja uskon dass jeder seinen eigenen Stil findet und ich glaube 4 että sellaisella harkinnalla ettei ole ihan aina * dass man mit einer solchen Überlegung dass man nicht immer zu jeder Zeit * 5 äänessä ni voi myöski sitte saada e"hkä den Mund aufmacht so kann man dann auch vie'jleicht 6 enemmän kuulijoitaf mehr Zuhörer gewinnen! - Der folgende Ausschnitt ist ein Beispiel für den vorsichtigen Umgang der Kandidaten miteinander, der insbesondere bei Wertfragen und unpolitischen Themen auffällig war. Das Beispiel verdeutlicht zugleich den finnischen Gebrauch der Anredeformen, der weiter oben schon angesprochen wurde. (6) Präsident I 1 M2: Aho Aho on sanonut että häntä omienkin on teititeltävä Aho Aho hat gesagt dass ihn auch die eigenen Leute siezen müssen 2 virallisissa yhteyksissäf oisko teillä sama linja bei offiziellen Gelegenheiten! hätten Sie dieselbe Linie 3 tämmönen e"täännyttävä presidentti! ein solcher auf Dista"nz gehender Präsident! - 4 TH: on kaks eri asiaa instituutio ja sitte on on niinkun es sind zwei verschiedene Dinge die Institution und dann is is also 5 Tarja Halonen et instituutiot kyllä teitittelevät Tarja Halonen und die Institutionen siezen sich schon 6 silloinkin kun ölen ulkoministeri mutta sitten auch dann wenn ich Außenministerin bin aber dann 7 puolestaan (..) työsuhteessa ni ei teititellä että nää wiederum (..) im Arbeitsverhältnis da wird nicht gesiezt so dass es 8 riippuu ihan tilanteesta ja siinä on vaan hyvä maku ganz von der Situation abhängt und da ist nur guter Geschmack 9 tarpeellinen että ei * ei siinä sen kummempaa am Platze also da is keine * keine besondere etäisyyttä * tarvita Distanz * nötig 10 440 Liisa Tiittula In Halonens Antwort bleibt unklar, inwieweit sie mit Aho einverstanden ist (vgl. „bei offiziellen Gelegenheiten“ - „die Institutionen siezen sich ... aber im Arbeitsverhältnis ... wird nicht gesiezt“): Warm handelt es sich beim Präsidentenamt um eine Institution, wann um ein Arbeitsverhältnis? Die Ablehnung in Z. 9-10 bezieht sich auf die Interpretation des Moderators, aber kann auch als Nichtübereinstimmung mit Ahos Anredeverhalten aufgefasst werden. Eine Möglichkeit, einer Konfrontation auszuweichen, ist die Vermeidung eines unmittelbaren Zwiegesprächs mit dem Kontrahenten. In der zweiten Diskussion waren jedoch Dialogphasen eingeplant, in denen die Konkurrenten ihre Statements wechselseitig opponieren sollten. In einer solchen Sequenz beginnt Halonen ihre Stellungnahme zu Ahos Äußerung wie folgt: (7) Präsident II 1 TH: no niin tää nyt on sitten/ {(lacht)) also das is jetzt/ ((lacht)) 2 pitää melkein sanoa katsojille man muss den Zuschauern eigentlich sagen 3 tää on Sitten opponointia dies is nun Opponieren 4 et täs ollaan jostain samaakin mieltä also über einige Dinge herrscht hier auch Übereinstimmung 5 mutta mutta koetan myös löytää erojaf aber aber ich versuche auch Unterschiede zu findend Mit einer an die Zuschauer explizit adressierten metakommunikativen Beschreibung ihrer Äußerung markiert Halonen die Modalität als gestellt polar und fremd initiiert und entschärft dadurch die Gegensätzlichkeit. Betrachten wir schließlich noch zwei Ausschnitte, in denen Meinungsdifferenzen erkennbar geäußert werden. In Beispiel (8) geht es um einen ewigen Streitpunkt zwischen der Zentrumspartei und den Regierungsparteien, um die finanzielle Situation der Gemeinden. Aho reagiert auf Halonens Redebeitrag, den er als Kritik an den Gemeinden auffasst. (8) Präsident I 1 EA: tässä minun täytyy kyllä sanoa että että hier muss ich nun sagen dass dass 2 kuntapäättäjien syyllistäminen joka vähän die Entscheidungsträger in Gemeinden zu beschuldigen was ein wenig 3 tuolta takaa kuuluu lävitse da durchschimmert 4 [että olisi kuntia jotka] tietoisesti tahallaan [dass es Gemeinden gäbe die] bewusst mit Absicht 5 TH: [ei ollenkaan vaan * ei] [nein überhaupt nicht sondern * nein] Derfinnische Präsidentschaftsstil 441 6 EA: jättävät hoitamatta hyvin koulun vernachlässigen sich um die Schule gut zu kümmern 7 ni en usko et sellaisia kuntia löytyy so glaube ich nicht dass es solche Gemeinden gibt 8 että siinä mielessä kyllä kaivetaan asiaa väärästä also in der Hinsicht wird die Sache doch am falschen 9 päästä jos kuvitellaan et ongelma ratkeaa sillä Ende angepackt wenn man sich einbildet dass sich das Problem dadurch löst Ahos Vorwurf ist auf der einen Seite zugespitzt („beschuldigen“, „Gemeinden ... die bewusst mit Absicht ...“), auf der anderen Seite aufgrund des fehlenden Agens abgeschwächt und indirekt, vgl. „was da ein wenig durchschimmert“ und die Passivformen („wird die Sache doch am falschen Ende angepackt ... wenn man sich einbildet“ [im Firm. Pass.]). Halonen versucht, den Vorwurf an der ersten möglichen Turnübergabestelle mit einer unmittelbaren Negation zurückzuweisen, was nach der allgemeinen Präferenzhierarchie erwartbar ist, denn Zurückweisungen und Rechtfertigungen gelten im Gegensatz zu Nichtübereinstimmungen als präferierte Aktivitäten (Heritage 1996, S. 265). Im letzten Beispiel handelt es sich um den größten Streitpunkt zwischen den Kandidaten, den EU-Boykottbeschluss gegen Österreich, den Aho kritisiert und Halonen verteidigt. (9) Präsident II 1 EA: mut minusta ää kuitenkin en tunne ko"vin aber ich finde äh jedoch ich kenne nicht se"hr 2 yksityiskohtaisesti tätä Haiderin puoluetta mutta genau diese Partei von Haider aber 3 ei ei nyt minusta sen rinnastaminen Hitlerin ää ich finde sie gleichzusetzen mit Hitlers äh 4 Saksan poliittiseen liikkeeseen ni ole kyllä deutscher politischer Bewegung das ist doch auch nicht 5 ooikein sekäänf et siinä nyt annetaan väärä kuva ririchtigf denn da wird jetzt ein falsches Bild gegeben 6 asioistaF sitä osaltaan kuvaa se että tästä von DingenF davon zeugt zum Teil das dass hier 7 tämän puolueen kanssa neuvotteluja hallitusyhteistyöstä mit dieser Partei über die Regierungskoalition Verhandlungen 8 kävivät myös sosialistitF auch von den Sozialisten geführt wurdenf 9 TH: minusta ei nyt kannata koettaa tätä tehdä niinkun/ ich finde es lohnt sich jetzt nicht hier zu versuchen/ 10 #minusta on pi"kkusen nyt semmonen tunne arvoisa Esko #ich habe jetzt ein bi"sschen son Gefühl werter Esko #LÄCHELND 11 Aho että te koetatte nyt ajaa niinkun suomala/ Aho dass Sie jetzt versuchen dies in die finni/ 12 ajaa tätä suomalaiseen tilanteeseen niinkun dies in die finnische Situation zu versetzen indem 442 Liisa Tiittula 13 syyllistämällä minua siitä että että on niitten kanssa Sie mich beschuldigen dass dass mit denen 14 varmaan so"sialistitkin keskustelleet että sicher auch die Soziali"sten gesprochen haben also 15 toivottavasti tässä ei nyt tapahdu itävaltalaistumista hoffentlich geschieht hier keine Österreichisierung 16 meidän vaalien osaltai# bei unseren Wahleni# 17 EA: ei vaan mä haluan sanoa vain sen että että kun nein sondern ich will nur sagen dass dass wenn 18 siihen vai"kuttavat monet tekijät mum muassa dazu viele Dinge bei"tragen unter anderem 19 Itävallan sisäinen tilanne ni silloin ei" pitäisi die innenpolitische Situation in Österreich so sollten 20 mui"den mai"den sekaantua sellaisiin asioihin sich a"ndere Lä"nder ni"cht einmischen in solche Angelegenheiten 21 valtavalla innostuksella4' eikä antaa mit riesiger Begeisterungi und es auch der Europäischen Union nicht erlauben 22 Euroopan unioninkaan tehdä sitäi dies zu tun4 Ahos Kritik wird in den beiden Redebeiträgen unpersönlich formuliert („gleichzusetzen“, „da wird ein ... falsches Bild gegeben“), bzw. als Handlungsträger werden die EU-Länder und die EU beschuldigt. Indirekt richtet sich die Kritik an Halonen, die als amtierende Außenministerin für den Beschluss mitverantwortlich gemacht werden kann. Eine Andeutung auf Halonen enthält ebenfalls der Hinweis auf „Sozialisten“ (Z. 7-8). Die Interpretation, dass Halonen indirekt das Objekt der Kritik ist, wird von ihr thematisiert. Anstatt sich mit Ahos Argumenten auseinanderzusetzen (lediglich die Gewissheit von Ahos Äußerung über die Verhandlungen der Sozialisten wird abgeschwächt, Z. 13-14), wehrt sie sich durch die Bloßlegung seiner Absichten und stellt Ahos Verhalten dadurch als unfair dar. Diese an sich faceschädigende Handlung wird durch Lächeln abgemildert und kann als ein (inszenierter) Versuch aufgefasst werden, die aufrichtige Modalität der Diskussion wieder herzustellen (vgl. auch die Anredeform „werter Esko Aho“). Aho weist die Beschuldigung dadurch zurück, dass er seinen Hinweis auf Sozialisten als ein Beispiel für die innenpolitische Situation in Österreich umdeutet. Er wiederholt aber den Punkt seiner Kritik, wobei sich „andere Länder“ als politische Handlungsträger u.a. auf Finnland und somit auf die finnischen Entscheidungsträger bezieht. Der Ausschnitt enthält also an mehreren Stellen Divergenzen, die mal expliziter mal recht implizit sind. Ein verdeutlichendes Beispiel für die implikationsreiche Redeweise ist schließlich das „Finnlandisierung“ andeutende „Österreichisierung“ (Z. 15-16). Derfinnische Präsidentschaftsstil 443 5. Fazit: kooperationsfähig und -willig Beteiligte an Wahldebatten müssen imstande sein, ihre Positionen vorzubringen und zu verteidigen. Sie müssen sich profilieren und sich von den anderen unterscheiden. Die Argumentationsweise und die Härte der Auseinandersetzung hängt u.a. davon ab, wie gefährdet das persönliche Face der Beteiligten ist. Die finnischen Präsidentschaftskandidaten stilisierten sich in den Wahldiskussionen als schlagfertig aber nicht streitlustig, sondern tolerant als „Präsident des ganzen Volkes“, wie Halonen es formulierte. Stil ist funktional und ein Mittel der Symbolisierung sozialer Identität. Durch ihre Beteilungs- und Sprechweise demonstrierten sie, dass sie über die Eigenschaften verfügen, die sie als wichtigste Eigenschaften eines guten Präsidenten propagierten. Für Aho hieß es, „verantwortungsbewusster und zuverlässiger Mitbürger“ und für Halonen: „kooperationsfähig und -willig“ zu sein. Ein konfrontativer Stil hätte die Kooperationsfähigkeit in Frage gestellt. Halonen pflegte einen kooperativeren Stil als Aho, der wiederum in der Parlamentswahldiskussion trotz seiner Rolle als Oppositionsführer kooperativer war als seine Gesprächspartner. Diskussionsstile und -Identitäten werden nicht unabhängig von den anderen Beteiligten konstituiert, und es fragt sich, inwieweit z.B. Ahos Stil von seinen jeweiligen Kontrahenten beeinflusst wurde. Eine weitere Frage ist, welche Rolle das Geschlecht bei den Stildifferenzen zwischen Aho und Halonen oder zwischen den zwei Wahlrunden spielte. Nach der konversationsanalytischen Denkweise werden solche Faktoren jedoch nur dann mitberücksichtigt, wenn die Beteiligten sie selbst relevant setzen, und in den analysierten Diskussionen war dies nur an ein paar Stellen der Fall. Beide Konkurrenten betonten, dass der Kompetentere gewählt werden soll. 6. Literatur Heritage, John (1996): Harold Garfmkel ja etnometodologia. Helsinki. (1984: Garfinkei and Ethnomethodology.) Holly, Werner (1993): Fernsehen und Streitkultur. In: Janota, Johannes (Hg.): Kultureller Wandel und die Germanistik in der Bundesrepublik. Vorträge des Augsburger Germanistentages 1991, Bd. 1. Vielfalt der kulturellen Systeme und Stile. Tübingen. S. 57-66 Holly, Wemer/ Kühn, Peter/ Püschel, Ulrich (1986): Politische Fernsehdiskussionen. 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Zur Analyse von Kooperationsformen im Gespräch, ln: Kallmeyer, Werner (Hg.): Rhetorische Verfahren im Gesprächsprozeß. (= Studien zur deutschen Sprache 4) Tübingen S. 19-118. Keim, Inken (2001): Die „Powergirls“. Aspekte des kommunikativen sozialen Stils einer Migrantinnengruppe in Mannheim. In: Jakobs, Eva/ Rothkegel, Annely (Hg.): Perspektiven auf Stil. Akten des Kolloquiums zum 60. Geburtstag von Barbara Sandig. (= Reihe germanistische Linguistik 226). Tübingen. S. 387-411. Nuolijärvi, Pirkko/ Tiittula, Liisa (2000): Televisiokeskustelun näyttämöllä. Televisioinstitutionaalisuus suomalaisessa ja saksalaisessa keskustelukulttuurissa. Helsinki. Tiittula, Liisa (1997): Stile der Konfliktbearbeitung in Fernsehdiskussionen. In: Selling, Margret/ Sandig, Barbara (Hg.): Sprech- und Gesprächsstile. Berlin/ New York S 371- 399. Tiittula, Liisa (2001): Argumentationsstile in deutschen und finnischen Fernsehdiskussionen. In: Jakobs, Eva/ Rothkegel, Annely (Hg.): Perspektiven auf Stil. Akten des Kolloquiums zum 60. Geburtstag von Barbara Sandig. (= Reihe germanistische Linguistik 226) Tübingen. S. 205-227. Helga Kotthoff Ironie in Privatgesprächen und Fernsehdiskussionen Zum Zusammenhang von Konversation, Kognition und Ethnografie Einleitung Ich möchte in diesem Beitrag einen vernachlässigten Bereich der Ironie- Forschung beleuchten, den der Reaktion auf Ironie im konversationeilen Kontext. Ich möchte zeigen, dass uns die in Folgeäußerungen auf das Ironische sichtbar werdende Rezeption derselben Aufschluss gibt über Prozesse der Ironieverarbeitung - und zwar situationsspezifisch unterschiedliche. Ich werfe einen kritischen Blick auf die kognitionsorientierte Ironie-Forschung, die mit in Labor-Settings gewonnenen Daten arbeitet. Der größte Unterschied zwischen Labor-Situationen und nicht-gestellten Gesprächssituationen liegt darin, dass die Ironie-Rezipienten in den erstgenannten Situationen von der Ironie nicht betroffen sind und auch keine Gelegenheit haben, die Interaktion weiterzuführen, somit mitzuprägen. Diese Faktoren wirken sich auf die kognitive Verarbeitung der Ironie aus. Ich beleuchte Ironisches in zwei unterschiedlichen Situationstypen: in Privatgesprächen unter guten Bekannten und in Femsehdiskussionen. Es zeigt sich, dass in Privatgesprächen mehr auf das in der Ironie Gesagte reagiert wird und in kontroversen Femsehgesprächen mehr auf das mit der Ironie Gemeinte. In der Ironie- Forschung wurde bislang unzureichend berücksichtigt, dass überhaupt auf das Gesagte (Diktum) reagiert werden kann. Die hier analysierten Daten zeigen, dass Reaktionen auf das Gesagte eine Frotzelsequenz erzeugen. Das heißt auch, dass die Kluft zwischen Gesagtem und Gemeintem in der Reaktion fortgesetzt wird. Auch die im Gesprächsmaterial gleichfalls vorhandenen Doppel-Reaktionen zeigen, dass beide Ebenen der ironischen Äußerung (Diktum und Implikatum) rezipiert werden können, was bestätigt, dass wir Ironie als einen Sonderfall der Kommunikation einer Kluft zwischen Gesagtem und Gemeintem sehen können. In der Ironie soll primär die Kluft zwischen kontrastiven Bewertungen und Perspektiven vermittelt werden. 1 Da Ironie mit Anspielung arbeitet, ist es für die Forscher/ innen unerlässlich, sich das entsprechende Hintergrundwissen der Gesprächsteilnehmer/ innen, Die Angabe der generischen Formen (sowohl maskulin als auch feminin) und der Splittingformen entspricht dem ausdrücklichen Wunsch der Autorin. 1 Diesen Ansatz habe ich in Kotthoff (1998b) ausführlich diskutiert. 446 Helga Kotthoff auf das angespielt wird, auch zugänglich zu machen (z.B. mittels ethnografischer Methoden). 1. Zur Geschichte der Ironie-Forschung Es sei zunächst ein flüchtiger Blick in die lange Geschichte der Beschäftigung mit Ironie geworfen. In der Antike werden Ironiker zum einen als Betrüger, Heuchler und Scheinheilige angesehen und zum anderen auch als Feinfühlige und Bescheidene, die mit Untertreibung arbeiten. Quintilian zählt in „Institutio Oratoria“ die Ironie zu den Tropen und zu den Gedankenfiguren. Zu der Art von Allegorie aber, in der das Gegenteil ausgedrückt ist, gehört die Ironie. Die Römer nennen sie ‘illusio’ (Verspottung). Diese erkennt man entweder am Ton, in dem sie gesprochen wird, oder an der betreffenden Person oder am Wesen der Sache; denn wenn etwas hiervon dem gesprochenen Wortlaut widerspricht, so ist es klar, daß die Rede etwas Verschiedenes besagen will. (VlI, 6, 54) Bei der Ironie, so hält Quintilian auf Ciceros Äußerung zu Ironie aufbauend fest, sagt der Sprecher das Gegenteil von dem, was er meint und liefert gleichzeitig Hinweise mit, dass die intendierte Botschaft nicht die geäußerte ist. Im weiteren Verlauf der Begriffsgeschichte trat das Moment der dissimulatio 2 stärker hervor (Lapp 1992, S. 22). Lapp resümiert die antike Ironieauffassung folgendermaßen (1992, S. 24): 1) Es wird das Gegenteil von dem gesagt, was man meint. 2) Man sagt etwas anderes, als man meint. 3) Tadeln durch falsches Lob, loben durch vorgeblichen Tadel. 4) Jede Art von Sichlustigmachen und Spott. Ich möchte festhalten, dass bei Quintilian Punkt 1 und 3 besonders stark gewichtet werden. 2 Simulatio - Vortäuschen, Heucheln, Sich-Stellen; dissimulatio = bewusstes Sich-Verstellen oder Sich-Dumm-Stellen, damit der Andere selbst auf einen Gedanken kommt. Ironie in Privatgesprächen und Fernsehdiskussionen 447 2. Aktuelle Fragen der Ironie-Forschung 2.1 Erkennbarkeit und Motive In der neueren Debatte ging es um Motive für die Ironie, um die Spezifik des in der Ironie ausgedrückten Kontrastes, um ihre Erkennbarkeit und um die Frage der Notwendigkeit von Ironiesignalen. Weinrich (1970) hatte letztere in „Linguistik der Lüge“ postuliert. Im Unterschied dazu geht das Gros der linguistischen Forscher und Forscherinnen jedoch nur davon aus, dass Hinweise prosodischer, mimetischer, kinetischer oder rein kontextueller Natur meist der Fall sind, die eine Ironisierung nahe legen. Ich sehe diese Hinweise als Kontextualisierungsverfahren im Sinne von Cook- Gumperz/ Gumperz (1976) und Gumperz (1994). Die heutige Ironieforschung betont aber, dass es keine Signale gibt, die ausschließlich auf Ironie hindeuten, sondern Distanzierungsverfahren, die u.a. Äußerungen als ironische ausweisen können (Haiman 1990, Schütte 1991, Hartung 1998, Kotthoff 1998a). Die Frage nach den Motiven wird sehr unterschiedlich beantwortet. Vielen Linguisten gilt Ironie als aggressive Form der Kommunikation (siehe dazu den Überblick von Lapp 1992). Brown/ Levinson (1987) und Barbe (1995) haben hingegen behauptet, dass ironische Kritik weniger gesichtsbedrohlich sei als direkte. Sie sehen somit Höflichkeit als einen Grund dafür, Ironie zu verwenden. Sowohl die Generalaussage, Ironie sei aggressiv, als auch die, sie sei höflich, halte ich für unbegründet (Kotthoff 1997, 1998a). Vor allem klären diese Behauptungen nicht, welche Leistungen Ironie primär kennzeichnen. Höflichkeit oder Aggression kann man schließlich auch mit anderen Mitteln ausdrücken. Ich möchte in diesem Aufsatz u.a. zeigen, dass das Ironiespezifische in der Kommunikation einer Bewertungskluft zwischen Gesagtem und Gemeintem liegt. Das Gesagte wird einer anderen Person oder Gruppe attribuiert, die anwesend oder abwesend sein kann. Der Sprecher will die Kluft zwischen zwei möglichen Perspektiven auf den Gegenstand sichtbar werden lassen. 3 Er distanziert sich von einer Position, die er verfremdend (meist übertrieben) wiedergibt. 2.2 Auf welcher Ebene liegt der ironiespezifische Gegensatz? Die Ansicht, dass es sich bei der Ironie um eine Gegensatzbeziehung handelt, ist alt und anerkannt. Die Frage ist aber, auf welcher Ebene der Gegensatz zu verorten ist. 3 Das Konzept der Perspektivierung findet sich in Kallmeyer/ Keim (1996). 448 Helga Kotthoff Neuerdings treten Positionen in Erscheinung, die die Relation zwischen Gesagtem und Gemeintem wesentlich als die einer Opposition zwischen positiver und negativer Wertung fassen (Elstermann 1991, Hartung 1998, Kotthoff 1998a). Sie betonen, dass sich das spezifisch Gegensätzliche nicht einfach auf der Ebene von Proposition oder Illokution findet, sondern auf der Ebene der Bewertung (die prinzipiell propositional oder illokutiv sein kann). Hartungs (1998) Konzept der Bewertung lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: 1. Eine Bewertung ist eine mentale Aktivität, bei der eine Person einem Objekt einen Wert auf einer kontinuierlichen Skala zwischen den Polen positiv und negativ zuordnet. Objekt kann jede beliebige Entität sein: Gegenstand, Handlung, Äußerung, Ereignis, Person usw. 2. Eine Bewertung wird unter einem Bewertungsaspekt vorgenommen, der bestimmte Eigenschaften bewertungsrelevant setzt und ihnen einen Sollwert vorgibt. Sie beruht daher auf einem Vergleich zwischen dem konkreten Objekt und einem mentalen Maßstab, der aus den relevanten Eigenschaften, ihrem Sollwert und ihrer Gewichtung besteht. 3. Zwischen den einzelnen Komponenten Objekt, Bewertungsaspekt und Maßstab bestehen konventionelle Zusammenhänge, die sich aus der Handlungspraxis entwickeln, in die das Objekt eingebunden ist. Ohne dieses Bewertungswissen wäre weder gemeinsames Handeln noch Kommunizieren möglich. Bewertungen können als Prädikat kommuniziert werden oder auch in Formulierungen stecken (Wortwahl, Prosodie, Mimik, Repetition, syntaktische Vollendung, Präsupposition, etc.). Hartung kommt zu dem Schluss, ironische Äußerungen würden in Gesprächen als negative Bewertungen rezipiert. Diese richte sich gegen eine Person, die mit dem Gegenstand der Bewertung verbunden sei. Ich komme zu einem etwas anderen Schluss, nämlich zu dem, dass in der Ironie primär die Kluft kommuniziert wird zwischen der Bewertung der ironischen Sprecherin und einer an andere delegierten Bewertung. Man kann durchaus mit Ironie auch positive Bewertungen ausdrücken, indem man sie negativ ausdrückt. So gibt es in meinem Abendessenskorpus (Kotthoff 1998a) bei einem komplizierten Menü die Bemerkung: „Schon wieder so was Einfaches aus der Dose.“ Alle lachen daraufhin. Die Gastgeberin hat die Angewohnheit, Bekannte zu „etwas ganz Einfachem“ einzuladen. Die Gastgeberin und Köchin antwortet: „Dosen aufmachen kann ich halt.“ Daraufhin wird wieder gelacht. Es ist allen Anwesenden vollkommen klar, dass sie keine Dose aufgemacht hat. Die ironische Äußerung greift eine Bewertung auf, die sich die Gastgeberin Ironie in Privatgesprächen und Fernsehdiskussionen 449 vorher selbst zuordnet hat und distanziert sich in der Ironie von dieser Bewertung. In ihrer Reaktion unterstreicht die Gastgeberin sozusagen ihre ursprüngliche Bewertung noch einmal (und ist sich mit dem Ironiker einig). Der ironische Kommentar wurde in der Interaktionsmodalität 4 des Humoristischen gesprochen; darin verbleibt die Gastgeberin mit ihrer selbstironischen Reaktion. Das Lachen kann als ein Indikator dafür gesehen werden, dass die Anwesenden die spielerische Modalität wahmehmen, somit auch erkennen konnten, dass der Ironiker ausdrücken wollte, wie weit das aufgetischte Essen von „Einfachem“ entfernt ist. Er hat deutlich gemacht, dass er das Essen würdigt. Beide, der Ironiker und die Gastgeberin, bleiben beim demonstrativen Herunterspielen der Leistung. So viel sei hier schon vorgreifend gesagt. 2.2 Ironie als Echo? Die erwähnte Sequenz ist ein Fall von Echo-Ironie im Sinne von Wilson und Sperber. Sperber/ Wilson (1981), Sperber (1984) und Wilson/ Sperber (1992) sehen die Ironie als den Prototypen von Rede an, welche die wörtliche Bedeutung nicht gebraucht, um eine Botschaft zu übermitteln, sondern um sie zu erwähnen (als Echo zu übermitteln) und gleichzeitig eine bestimmte Einstellung zu ihr auszudrücken. In der Ironie, die somit zu einem Sonderfall von uneingeleiteter Zitation erklärt wird, würde in der Erwähnung eine Umbewertung mitkommuniziert. Das leuchtet zunächst ein und passt auch auf den oben diskutierten Fall. Die Beschränkung von Ironie auf den Fall von Zitation sollte man aber von Wilson und Sperber nicht übernehmen. 1992 haben sie ihr Konzept von Echo und Erwähnung auch selbst so ausgedehnt, dass jetzt jede Attribution einer Position an jemanden (anwesend oder abwesend) darunter gefasst werden kann. 1981 waren sie noch davon ausgegangen, die ironische Äußerung „what a lovely party“, geäußert auf einer sehr langweiligen Party, spiele auf die geäußerte Erwartung eines Hörers an, der eine „lovely party“ in Aussicht gestellt habe, während der ironische Sprecher anzeigt, dass diese Erwartung nicht erfüllt wurde. 1992 genügt es den Autoren, dass irgendjemandem (z.B. auch der Allgemeinheit) die Meinung, es handle sich um eine „lovely party“, zugeordnet werden könne. 4 Kallmeyer hat 1979 Exaltation als eine Interaktionsmodalität diskutiert und damit im deutschsprachigen Raum erstmalig auf etwas aufmerksam gemacht, das in der Ethnografie der Kommunikation schon als „keying“ diskutiert wurde. Bislang ist der Unterschied zwischen Scherz und Emst im Bezug auf Interaktionsmodalitäten am besten ausgearbeitet. Verschiedene Beiträge des vierbändigen Werkes „Kommunikation in der Stadt,“ hrsg. von Kallmeyer (1994) beschäftigen sich mit dem Konzept, so z.B. derjenige von Streeck. In Kotthoff (1998a) diskutiere ich bisherige Beiträge zur spaßigen Interaktionsmodalität. 450 Helga Kotthoff Die Frage, warum man sich ironisch äußert, statt direkt, wird von Sperber/ Wilson (1981) so beantwortet, dass in der Ironie ein zusätzliches Mitgemeintes ausgedrückt werde. Stempel (1976) geht davon aus, dass die ironische Sprecherin das Gegensatzpotenzial der Ironie aus ihrer Partnerhypothese von ihrem Gegenüber beziehe. Viele Ironieanalytiker haben ein Drei- Personen-Interaktanten-Modell vorausgesetzt (Stempel 1976, Groeben/ Scheele 1984), das der freudschen Situation des Zotenerzählens entlehnt ist: Die erste Person (Sprecher) bezieht sich explizit in bestätigender Weise auf eine zweite Person (Adressat), die sie in Wirklichkeit aber durch ein implizites Dementi der Affirmation angreift und dadurch vor der dritten Person, der Zuhörerin, bloßstellt. Von Bloßstellung und Lächerlichmachen des Opfers ist im Falle der Ironie oft die Rede (Stempel 1976). Mit Ironie können aber sehr wohl auch freundliche Intentionen verfolgt werden. Nicht jede ironische Äußerung will jemanden bloßstellen. Die Setzung der Ironie als prototypischen Fall von Redeerwähnung (besser wäre es, von zitathafter Redeerwähnung zu sprechen) habe ich in Kotthoff (1998b) und Kotthoff (2000) zu widerlegen versucht: Doppelkodierung des Gesagten durch uneingeleitete Zitathaftigkeit, Echohaftigkeit des Gesagten und dadurch bedingte komplexe Inferenzanweisungen zu Partnerhypothesen sind auf Ironie nicht beschränkbar, sondern treten auch in vielen anderen Formen von polyphoner Scherzkommunikation auf, vor allem in der Parodie, die für die Redewiedergabe so typisch ist (Günthner 1997, Kotthoff 1998b, 2000, Clift 2000). 2.3 Verarbeiten wir in der Ironie-Rezeption nur das Gemeinte? Neben der Frage, auf welcher Ebene sich der ironiespezifische Gegensatz befindet, ist auch die von Belang, ob sowohl das Gesagte und das Gemeinte verstanden werden oder nur das Gemeinte. Für Wilson und Sperber (1992, S. 75) ist die ironische Rede eindeutig: „It is a variety of echoic interpretive use, in which the communicator dissociates herself from the opinion echoed with accompanying ridicule or scorn.“ „What a lovely party! “ echoe eine spezifische oder imaginierte Meinung und gleichzeitig, dass diese Meinung absurd sei. Die Botschaft, dass eine solche Meinung absurd sei, wird als die relevante ausgegeben. Im Unterschied dazu gehen Giora (1995) und Giora/ Kotthoff (1998) davon aus, dass die Ironie die indirekt negierte Auffassung nicht löscht, sondern dass sie gerade den Unterschied zwischen Diktum und Implikatum als relevanteste Information kommuniziert. Wenn man in der Mitte einer langweiligen Party sage „What a lovely party“, wolle man zu verstehen geben, dass Erwartung und realer Zustand weit auseinander klaffen. Nur diese in der Ironie mögliche Doppelbotschaft kann unserer Meinung nach wirklich erklären, warum die Ironie dem geradeheraus Gesagten Ironie in Privatgesprächen und Fernsehdiskussionen 451 überlegen ist und warum man den hohen Prozessierungsaufwand, den Ironie mit sich bringt, in Kauf nimmt. Die besondere Leistung von Ironie sehe ich darin, eine Bewertungskluft anzuzeigen. Dem Adressaten oder einer dritten Person wird eine Haltung attribuiert, von der sich der Ironiker selbst kontrastiv distanziert. Wir werden die Frage verfolgen, ob uns Reaktionen auf Ironie zeigen, dass tatsächlich die Kluft zwischen Erwartbarem und Vorfindbarem vom Adressaten verstanden wurde. 2.4 Empirische Ironie-Forschung Ironie wurde bislang selten in Interaktionen untersucht. Der Großteil der in Lapp (1992) referierten Literatur arbeitet mit konstruierten Beispielen, noch dazu mit isolierten Einzelaktivitäten. Auch Barbe (1995) berücksichtigt Reaktionen auf Ironie nicht systematisch. Wir werden sehen, dass die Prozessierung der Ironie oft an der Reaktion darauf ablesbar ist, allerdings nicht immer. 5 Ironie-Prozessierung wurde meist in Labor-Settings so untersucht, dass man Probanden Dialoge zu lesen gab, wozu diese dann Fragen beantworten mussten (Gibbs 1986, Gibbs/ O'Brien 1991). In verschiedenen Lesezeit-Versuchen stellten Gibbs und Gibbs/ O'Brien fest, dass das „Standard-Pragmatic-Model“, worunter sie Grice und Searle verstehen, den Prozess der Bedeutungsgenerierung unzutreffend wiedergibt. Dort wird nämlich eine Drei-Schritt-Prozedur für das Verstehen von Ironie angenommen, die aus dem Verstehen der wörtlichen Bedeutung, dem Erkennen der Unangemessenheit im aktuellen Kontext und schließlich in der Generierung der angemessenen Bedeutung besteht. Sollte die Rezeption so ablaufen, müsste sie gegenüber der Verarbeitung wörtlicher Äußerungen mehr Zeit beanspruchen. Das ist aber in den Experimenten der Autoren nicht der Fall. Daraus zogen sie den Schluss, dass Ironie nicht über den Umweg der Prozessierung des Gesagten verstanden wird, sondern im jeweiligen Kontext direkt. Uns interessiert hier die Frage, ob tatsächlich immer nur das Gemeinte verstanden wird. Empirische Untersuchungen stammen u.a. von Engeier (1980), Groeben/ Scheele (1984), Groeben/ Seemann/ Drinkmann (1985), Groeben (1986), 5 Aus der Tatsache, dass Reaktionen keinesfalls immer Zugriff auf den Verarbeitungsprozess des Ironischen ermöglichen, ergeben sich besondere Forschungsprobleme. Da Ironie sowieso oft auf geteiltes Wissen anspielt, müssen in ihrer Erforschung Konversationsanalyse und Ethnografie verbunden werden, etwa so, wie es im Projekt „Kommunikation in der Stadt“ unter der Leitung von Werner Kallmeyer praktiziert wurde. 452 Helga Kotthoff Rundquist (1990), Schütte (1991), Barbe (1995), 6 Hartung (1998), Kotthoff (1998b) und Clift (2000). Nur Schütte, Hartung, Kotthoff und Clift beziehen systematisch Reaktionen des Ironie-Adressaten auf die Ironie mit ein und repräsentieren unter den genannten die einzigen Untersuchungen zu konversationeller Ironie-Rezeption im Kontext. Die Gruppe um Groeben hat sich beispielsweise auf psychische Äußerungsbedingungen von Ironie konzentriert. Sie haben einen sprechakttheoretischen Rahmen verwendet und diesen mit sprachpsychologischen Fragestellungen zu situationalen und personalen Bedingungen von Ironie verbunden. Im psycholinguistischen Teil ihrer Arbeit arbeiten sie Antezedenzbedingungen und Sukzedenzbedingungen ironischer Sprechakte heraus und überprüfen diese anhand von 27 Szenarien mit 180 Probanden. Im Bereich der situationalen Bedingungen und Wirkungen von Ironie unterschieden die Probanden folgende Ironietypen: sich wehrende, schützende Ironie, konstruktiv-kritische Ironie, liebevolle Ironie und arrogante Ironie. Auch diese Studie zeigt also, dass Ironie nicht immer dem Lächerlichmachen dient. Einige der diskutierten Beispiele zeigen das für den humoristischen Diskurs typische hohe Kreativitätspotenzial der Äußerung; interessanterweise sind die in der Literatur diskutierten natürlichen Beispiele kreativer als die erfundenen, die sich oft auf „schönes Wetter heute“, geäußert im Regen, beschränken; hier ein Bespiel aus natürlichem Kontext (Groeben/ Scheele 1984,8.36): Ein Lehrer ruft einen Schüler auf, der trotz Ermahnung weiter ‘geschwätzt’ hat, und fragt ihn etwas zu dem gerade Vorgetragenen; der Schüler mit ratlosem Gesicht: „Ja, ähh,“ ... Der Lehrer: „Bis hierhin schon ganz richtig“. Man kann dieses Beispiel wohl unter der Rubrik „konstruktiv-kritisch“ verbuchen. Solche Bemerkungen verlangen eine humortypische Bisoziation (es kann bis dorthin auch gar nicht falsch sein/ mehr Richtiges würde sowieso nicht kommen) (Kotthoff 1998a). Dann verlangen sie natürlich auch, zwischen Gesagtem und Gemeintem zu vermitteln. Wenn die Ironie kreativ oder gar witzig ist, nicht bedrohlich und der Kontext gemeinsames Gelächter zulässt, kann man von scherzhafter Ironie sprechen. In diesem Beispiel ist das vermutlich der Fall. In einer Rezension des Buches von Barbe habe ich mich auch kritisch mit Ansätzen auseinandergesetzt, die das Defmiens aufgeben, in der Ironie würde ein Kontrast übermittelt. Es werden dann zwangsläufig alle möglichen komischen und humoristischen Akte zu ironischen erklärt, Kotthoff (1997). Ironie in Privatgesprächen und Fernsehdiskussionen 453 Schütte (1991) behandelt Ironie grundsätzlich als Form der Scherzkommunikation. Im beruflichen Kontext unter Orchestermusikern stelle sie ein subversives Mittel dar, die dem Partner unterstellte Perspektive oder Erwartung zu denunzieren. Die Partnerperspektive werde dabei in der Regel überzeichnet. Durch Ironie könnten auch institutioneile Rollenverteilungen innerhalb des Orchesters unterlaufen werden, z.B. Rechte des Dirigenten indirekt angegriffen werden. Das Recht, sarkastische Äußerungen zu produzieren, stehe hingegen nur dem Dirigenten als Statushöchstem zu. Dieser bewerte manchmal Musikeraktivitäten mit sarkastischen Bemerkungen. Ironie und Sarkasmus sieht Schütte im beruflichen Kontext von ihrer sozialen Funktion her als Verfahren der Konfliktvermeidung und Kooperationssicherung bei divergenten Ansprüchen und Interaktionserwartungen. Schütte, Hartung (1998) und Kotthoff (1998a) konnten zeigen, dass Ironie sehr oft in komplexe Scherzkommunikation eingesponnen ist (was die Kognitionsforschung übersieht). 3. Ironie-Rezeption in Privatgesprächen und Fernsehdiskussionen 3.1 Zur Rezeption von Ironie in den Abendessensgesprächen In diesem Artikel lege ich ein besonderes Augenmerk darauf, zu zeigen, dass Reaktionen auf die Ironie die Spezifik der Gesprächssequenz mit definieren. Insofern versuche ich, der konversationsanalytischen Sequenzialitätsforderung gerecht zu werden. Bevor ich das Kreationspotenzial der Reaktionen anhand von Transkripten zeige, konstruiere ich ein Beispiel eines Dialogs zwischen A und B, das die Kontext kreierende Potenz der Reaktion veranschaulichen soll: A verteilt Gläser an die Gäste und gibt B ein kitschiges Glas mit rosa Fuß. 7 A sagt zu B: Du bekommst das schönste Glas. Bs mögliche Reaktionen 1 B: Zu mir bist Du immer so besonders nett. (Reaktion auf das Gesagte) 2 B: Das ist aber wirklich hässlich! (Reaktion auf das Gemeinte) 3 B: Ganz reizend. Igitt, kann man aus sowas Hässlichem trinken? (Gemischte Reaktion) 4 B: Danke. (Ambige Reaktion) 5 B: HAHAHA (Lachen) 7 Ein solches Beispiel findet sich in Hartung (1998). 454 Helga Kotthoff Reaktion 1 bezieht sich auf das mit dem ironischen Akt Gesagte. Das Positive wird als solches rezipiert. Man kann sich leicht Anschlüsse vorstellen, die die Ironie weiter ausbauen, z.B.: „Wir haben halt beide denselben exzellenten Geschmack.“ Es wird deutlich, dass Reaktionen auf das in der Ironie Gesagte die Potenz haben, in einen spielerischen Neck-Diskurs überzuleiten. In der Reaktion wird die spaßige Modalität bestätigt oder sogar einfach zugeordnet. Reaktion 2 bezieht sich auf das mit dem ironischen Akt Gemeinte. Das würde die Standard-Rezeption kennzeichnen. Reaktion 3 beinhaltet beides. Zuerst wird auf der Ebene des Gesagten die Interaktionsmodalität bestätigt, dann auf das Gemeinte reagiert. Bei Reaktion 4 ist nicht erkennbar, ob und wie die Ironie rezipiert wurde. Die Reaktion ist ambig. Sie kann sich schlicht auf den Akt des Reichens des Glases beziehen und könnte sich auch positiv auf die dabei gesprochenen Worte beziehen. Reaktion 5 rezipiert nur die der Ironie innewohnende Komik. 3.1.1 Reaktionen auf das Gesagte In Gesprächen mit mehreren Teilnehmern haben wir sehr oft gemischte und komplexe Reaktionen verschiedener Gesprächsteilnehmer/ innen, die längere Sequenzen ergeben. Datum 1 zeigt auch verschiedene Reaktionen, darunter einige auf das in der Ironie Gesagte (das Diktum). Die Aufnahmen stammen aus Gesprächen unter guten Bekannten. 8 Datum 1 (Gespräch 14 Episode 6) David (D), Emst (E), Inge (I), Johannes (J), Katharina (K), Maria (M), mehrere (m), Rudolph (R) 1 M: Du hasch grad son opulentes [Sozialleben. 2 R: [ (? ? ) 3 D: total, total was los grad, weil ich nämlich initiativ 4 geworden bin [jetzt. 5 M: [HAHAHAHAHAHA 6 K: [hab ich schoHn erzäHhlt. HAHA[HAHAHA 7 m: [HAHA= 8 m: HAHAHAHAHAHA [HAHAHAHA 9 E: [was sagt er, er freut sich schon auf 10 Weihnachten und Sylvester. In Kotthoff (1998a) wird das Korpus vorgestellt. Ironie in Privatgesprächen und Fernsehdiskussionen 455 11 a : HAHAHÄHAHAHAHÄHAHAHAHAHAHAHÄ [ HAHAHAHAHA 12 E: [munkelt man. munkelt man. 13 D: ich hab angeregt entweder, oder, hab ich angeregt. 14 m: HEHEHEHEHEHEHE 15 K: wenn nichts los sei, Weihnachten und Silvester, dann 16 würde er (-) verreisen, hat er gesagt, [dann fliegt er 17 D: [mhm dann flieg ich. 18 E: in die Karibik. Karibik. HEHEHE[HEHEHE 19 m: [HA[HAHAHAHAHAHAHAHA 20 M: [HEHEHEHEHE Das Essen, währenddessen Maria gegenüber David die ironische Bemerkung äußert, findet bei Katharina und David statt. Maria spricht David auf sein opulentes Sozialleben an. David lebt nämlich gern sehr zurückgezogen. In der letzten Zeit beteiligte er sich aber an zwei geselligen Ereignissen (Weihnachten und Silvester). Marias Formulierung ist markiert {opulent) und stark übertrieben. Dadurch wird Ironie kontextualisiert. Aber es wird auch auf geteiltes Wissen angespielt: Tatsache ist nämlich nur, dass David in der letzten Zeit überhaupt an einigen Abendessen teilgenommen hat, denen er sonst ferngeblieben ist. In der Ironie ordnet Maria David eine Perspektive zu, nach der er selbst sein Sozialleben opulent finden könnte. 9 Sie selbst distanziert sich implizit von dieser überspitzten Bewertung, kommuniziert also eine Kluft zwischen Davids und ihrer Perspektive. David reagiert auf das Diktum von Marias Ironie; er wird somit gleichfalls ironisch. Er bestätigt ihre Aussage auf eine besondere Weise (Z. 3/ 4). Zunächst halten wir noch einmal fest, dass David nicht auf das Implikatum der Ironie, sondern auf das Gesagte reagiert. Indem man auf das Gesagte reagiert, begibt man sich in den spielerischen Rahmen hinein, den freundliche Ironie erzeugen kann. Dies bedeutet, dass in einem Theaterrahmen agiert wird (Haiman 1990, Clift 2000). Die Hintergründe der Anspielung erhellen sich uns einzig über ethnografisch eingeholtes Wissen, das bei den in diesem Artikel erhobenen Daten informell mit eruiert wurde. Ich kenne selbst alle beteiligten Sprecher/ innen und die entsprechenden Interaktionszusammenhänge. Meine Interpretationen habe ich vor allem David und Maria nach der Aufnahme unterbreitet; sie wurde von ihnen bestätigt. Die konversationsanalytische Doxa, dass alles Relevante aus dem Datum selbst generiert werden muss (Schegloff 1987) ist bei stark anspielungshafter Kommunikation wenig sinnvoll. Ironie unter guten Bekannten benutzt die gemeinsame Interaktionsgeschichte als ständige Ressource für witzige und ironische Anspielungen. Damit wird ingroup konstituiert. In Kotthoff (1998a) gehe ich dem Eindruck nach, dass konversationsanalytische Arbeiten tatsächlich durch ihre Methodenbe- 9 Siehe zu Perspektivierung im Diskurs auch Graumarm (1989), Sandig (1996) und Kotthoff (1998b). 456 Helga Kotthoff schränkung nicht in der Lage sind, Anspielungspotenziale ihrer Daten voll auszuschöpfen. Was ist nun das Ironische an Davids Reaktion? Vor allem die Formulierung initiativ geworden ist dem Munde von Maria und seiner Freundin Katharina entlehnt, die auch sofort bestätigend darauf reagiert und lacht (Z. 6). Maria lacht ebenfalls, da ihr bekannt ist, wie das Thema Sozialleben zwischen Katharina und David verhandelt wird. Sie weiß, dass es Katharinas Sicht ist, dass David nicht initiativ genug ist (und teilt diese Sicht), jedoch absolut nicht seine eigene. Hier ist wieder evident, wie genau man die jeweilige Interaktionsgeschichte kennen muss, um Anspielungspotenziale zu erkennen. Davids Selbstironie bezieht also ihr Potenzial aus Marias und Katharinas Haltung. Man muss außerdem wissen, dass David überhaupt nicht initiativ geworden ist, da er sich nur seinem Schicksal gutwillig ergeben hatte. Die Einladungen kamen nämlich alle von seiner Freundin Katharina. Er konnte ihnen kaum entgehen, da er mit Katharina zusammenlebt. Die anderen Anwesenden wissen auch um diese Vorgeschichte und um diesen Konfliktpunkt zwischen David und Katharina. In Zeile 7/ 8 lachen mehrere. Davids Reaktion ist ein klassisches Beispiel für Echo-Ironie (Sperber/ Wilson 1981, Sperber 1984). 10 Emst spielt nun in den Zeilen 9 und 10 ironisch auf Weihnachten und Silvester an, was das Thema weiter zuspitzt. Der Hintergrund besteht darin, dass Katharina sowohl Weihnachten als auch Silvester viele Leute in die gemeinsame Wohnung eingeladen hatte, u.a. auch die Anwesenden, und dass David dies nach eigenem Bekunden deutlich missfallen hatte. Alle lachen über den ironischen Scherz, er freue sich schon auf Weihnachten und Silvester, was auch impliziert, dass es dann wieder größere Einladungen geben solle. Es ist nämlich zum Zeitpunkt von Gespräch 14 schon klar, dass es in diesem Jahr auf Davids ausdrücklichen Wunsch hin diese beiden Feiern nicht hintereinander geben wird. In Zeile 13 berichtet David ernsthaft, was er als seine Präferenz angegeben habe. Hier tritt er aus dem ironischen Rahmen. Es wird noch etwas weitergelacht. Ab Zeile 15 verbindet jetzt Katharina Davids Abneigung eines opulenten Soziallebens ironisch mit seiner gleichermaßen bekannten Reiseunlust. David steigt in die Neckerei selbstironisch auch mit ein (Z. 17). Fakt ist, dass David Flugreisen vehement ablehnt. Emst treibt dies jetzt weiter auf die Spitze, indem er ein Ziel {Karibik) anführt, über das David sich neulich sehr mokiert hatte, anlässlich eines Fluges von Emst in diese Gegend. Wieder entsteht Gelächter. David wird gefrotzelt und frotzelt zurück. In dieser komplexen Szene verschränken sich Ironie, Selbstironie und spaßiger Angriff. David, das Objekt der Ironie, beteiligt sich auch selbst daran, wie z.B. in Zeile 17. 10 Die Echo-Theorien des Ironischen besagen, wie bereits ausgeflihrt, dass in der Ironie immer eine bereits bestehende Position geechot werde. Ironie in Privatgesprächen und Fernsehdiskussionen 457 Über David wird in der dritten Person gesprochen, was für den Aktivitätstyp Frotzeln typisch ist (Straehle 1993, Günthner 1996). Es werden Eigenarten von ihm ironisiert, über die sich alle amüsieren. Man kommuniziert ein hohes Wissen übereinander und bestätigt sich als in-group. Vorhandene Differenzen können spielerisch angegangen und als solche markiert werden; sie erfahren dadurch aber auch Akzeptanz. Frotzeln kann helfen, Differenzen als solche sichtbar zu machen und trotzdem die Freundschaft zu bestätigen. 3.1.2 Kombinierte Reaktionen Kombinierte Reaktionen sind sowohl im Korpus der Abendessensunterhaltungen als auch in dem der Fernsehdiskussionen besonders häufig. Sie sind aber unterschiedlich, wie wir später sehen werden. Im Abendessenskorpus können viele Beispiele als Formen von freundlichspielerischer Ironie charakterisiert werden. So werden beispielsweise ironische Prädikate verwendet (z.B. „übersichtlich“ für eine noch kaum eingerichtete Wohnung oder „gesund“ für einen mitgebrachten Nachtisch), die zwar positiv bewerten, aber deutlich auch negative Konnotationen haben (zu wenig möbliert; möglicherweise nicht wohlschmeckend). Datum 2 zeigt eine Doppelreaktion. Datum 2 (Gespräch 12 Episode 2) Annette (A), Bernd (B), Friederike (F), Martin (M), Lars (L) Bernd führt seine Gäste in seiner neuen Wohnung herum. Ä: seHEhr übersichtlich, doch. schöHN üHÜbersichtlich. HE B: ja: : : HA so kann mans auch sagen, also bald steht hiern größerer Tisch... Annette prädiziert lachend etwas allgemein positiv Konnotiertes, das aber in diesem Kontext die positive Lesart nicht unbedingt hat. Im Sinne Stempels hat sie Bernd die Haltung zugeordnet, die relative Leere des Zimmers positiv zu bewerten, und sie kommuniziert in ihrer Ironie die Kluft mit, dass sie selbst das Zimmer zu leer findet. Das Lachen kontextualisiert den ironisch übertriebenen Kontrast, der in der Verwendung des Lexems steckt. Bernd versteht die Doppeldeutigkeit der Bewertung auch als solche; er akzeptiert die positive Ausdrucksweise (reagiert mit ja: : : HA auf das Gesagte) und erklärt dann, was in der Wohnung noch gemacht werden muss (reagiert auf das Gemeinte). Auch in seiner Reaktion schwingt ein Lachen mit. Übersichtlich ist intertextuell; es spielt auf eine Szene in einem Film von Loriot an. Loriot und seine Partnerin haben ein Gericht der Nouvelle Cuisi- 458 Helga Kotthoff ne bestellt und bekommen dann Teller mit einem Hauch von Fisch und zwei Erbsenschoten. 11 Daraufhin äußern sie den Kommentar „sehr übersichtlich.“ Annette arbeitet hier mit einem Quasi-Zitat (Echo). In der nächsten Episode äußert Sylvia gegenüber dem Gastgeber Fritz, dessen Wohnung sie gerade mit ihrem Freund zusammen betritt, einen sehr konkreten Getränkewunsch. Fritz hat das Getränk nicht vorrätig und reagiert ironisch auf ihren Wunsch. Diese Ironie müsste man nach Brown/ Levinson (1987) als „off-record“-Höflichkeit interpretieren. Die Ironie wird aber schrittweise verdeutlicht und damit aus dem Bereich des „off-record“ in den des „on-record“ überführt. Fritz gibt außerdem die Gesichtsbedrohung an Sylvia zurück. 3.1.3 Ambige Reaktionen Datum 3 zeigt eine ambige Reaktion. Datum 3 (Gespräch 9 Episode 3) Anton (A), Beate (B), Fritz (F), Helena (H), Kilian (K), Sylvia (S) 1 S: ich will, (-) en Orangensaft mit Mineralwasser. 2 K: obs hier Orangensaft gibt? 3 (2.0) 4 F: wie wärs mit Pfirs Pfirsich Maracuja? 5 K: aber ich trink doch [einen Wein. 6 F: [aus unserer reichhaltigen Bar. 7 S: sehr gut. 8 K: [HAHAHA 9 F: [HAHAHA ich glaub Du spinnst. 10 H: HAHAHA 11 S: (? ? ) 12 F: also, O-Saft hab ich noch, aber Mineralwasser, 13 S: dann mit Wasser gemischt, dann misch ich selber. Sylvia bringt sehr direkt ihren Wunsch nach einem bestimmten Getränk zum Ausdruck. Kilian, der ebenfalls eingeladene Freund, äußert schon Zweifel am Vorhandensein der Bestandteile des Getränks. Dann fragt der Gastgeber Fritz, ob auch ein noch ausgefalleneres Getränk (Pfirsich Maracuja) recht wäre. Kilian äußert unabhängig von diesem Dialog seinen Getränkewunsch und Fritz schickt noch eine Charakterisierung des Ortes nach, dem er das Getränk für Sylvia zu entnehmen gedenkt (reichhaltige Bar). Fritz lebt in einer studentischen Wohngemeinschaft, und es ist deshalb vollkommen klar, dass keine reichhaltige Bar vorhanden ist; an dieser 11 Die Beteiligten haben dieses Hintergrundwissen auch, wie ich durch nachträgliches Befragen herausfand. Ironie in Privatgesprächen und Fernsehdiskussionen 459 Stelle wird nachträglich deutlich, dass Fritz schon in Zeile 4 ironisch reagiert hat. Sylvia begrüßt den Vorschlag (Z. 7). Diesem sehr gut ist nicht zu entnehmen, ob sie ernsthaft die vorgeschlagene Getränkemischung begrüßt oder ob ihre Bewertung als spielerisch im Theaterrahmen anzusiedeln ist. Sie ist ambig. Kilian und Fritz lachen. Zumindest Kilian hat demnach die in Fritzens Worten liegende subtile Ironie erfasst, möglicherweise auch Sylvias Mitspielen im Theaterrahmen. Dies ist aber an der Textoberfläche nicht genau auszumachen. Als Fritz dann bei Sylvia lachend und hyperbolisch mentale Störungen vermutet {du spinnst), wird vollends klar, dass er auf ihren Wunsch ironisch reagiert hat und ihn damit implizit als überzogen definiert hat. Fritz selbst sorgt dafür, dass seine Ironie sukzessiv als solche kenntlich wird. Flelena lacht daraufhin auch. Dann sagt Fritz ganz ernsthaft, welches Getränk er im Haus hat und Sylvia akzeptiert eine andere Mischvariante, bevor er seinen Satz fertig formuliert hat. Indem Fritz in Zeile 4 eine im Kontext eines studentischen Haushalts exotische Kombination vorschlägt, unterstellt er Sylvias erstem Wunsch schon Exotik, nimmt somit eine implizite Bewertung vor. Er unterstellt ihr in der Ironie eine Perspektive, die er mit einem Minus (etwa: zu ausgefallen) versieht. Seine Abweisung von Sylvias Getränkewunsch ist zwar implizit, aber sicher nicht höflicher, als den Getränkewunsch geradeheraus zurückzuweisen. Als höflichste Art der Zurückweisung von Wünschen gilt diejenige mit starker Zerknirschung (ach, es tut mir furchtbar Leid, usw.). Auch Zeile 9 ist unhöflich. Fritzens einleitendes Lachen vor ich glaub Du spinnst sorgt dafür, dass diese Unhöflichkeit nicht feindselig interpretiert wird. Unter guten Freund(inn)en darf der Rahmen der Höflichkeit durchaus verlassen werden. Man symbolisiert damit, dass das Fundament der Beziehung fest genug ist, um kleine Frechheiten auszuhalten. Helena lacht als Reaktion mit. Im Kontext ist klar, dass Fritz sich in Zeile 9 erneut auf die Ausgefallenheit von Sylvias Wünschen bezieht. Betrachten wir noch eine letzte Szene aus dem Abendessenskorpus. 3.1.4 Lachen Datum 4 zeigt Lachen als Reaktion des Ironie-Opfers und ironisches Kontern auf das in der Ironie Gesagte durch eine andere Anwesende (Z. 47). Man muss wissen, dass hier eine Gruppe von Leuten nach dem Judo bei Speis und Trank zusammensitzt. Die Organisation der Getränke und des Essens rotiert in der Gruppe. Gisela war zuständig und hat u.a. Brezeln besorgt. Diese sind aber leider kaum gebuttert, wie es üblich wäre, was den Anlass für eine ironische Phantasiekonstruktion liefert. 460 Helga Kotthoff Datum 4 alle (a), Helmut (H), Gisela (G), Nadine (N) und weitere Leute 42 H: und für sechzig Butter gekauft hier. 43 G: HA[HAHAHA 44 H: [wo wir doch sowieso alle gesagt haben, wir 45 wolln nich soviel Butter. 46 a: HAHAHAHAHAHAHAHAHA 47 N: die is Dein Problem (? ? ) HEHE 48 G: HAHAHAHAHA 49 H: ha is doch wahr, [soviel Butter das is doch 50 wirklich nich gesund. Helmut phantasiert zunächst, Gisela hätte viel zu viel Butter gekauft, nämlich für sechzig Brezeln. Gisela lacht über diese Verkehrung der Tatsachen. Dann gibt Helmut vor, alle hätten gesagt, dass sie nicht so viel Butter wollen. Fakt ist im Gegenteil, dass auf den Brezeln kaum Butter ist und vor allem Helmut dies sehr missfallt. Gisela ist als Verantwortliche für die Brezeln und die Butter hier die Hauptadressatin von Helmuts Ironie. Sie lacht auch in Zeile 46 mit der Gruppe. Nadine reagiert dann ironisch und bezieht sich dabei auf die Ebene des in Helmuts Ironie Gesagten. Ihr die ist Dein Problem bedeutet in diesem Kontext: Du bist zu dick und hast deshalb mit der vielen Butter ein Problem. 12 Vor allem Gisela, das Ironie-Opfer, lacht auf Nadines sie verteidigende Reaktion hin. In Zeile 49/ 50 bestätigt Helmut wiederum die von ihm selbst vorgebrachte ironisch-phantastische Perspektive auf die Situation. Auch in der Reaktion auf Nadines ironisches Kontern bezieht er sich auf das Diktum in Nadines Ironie. So frotzeln sich die Mitglieder der Judo-Gruppe gegenseitig. Mit den Reaktionen auf das Diktum der Ironie bleibt die Kommunikation im spielerisch-angriffslustigen Rahmen. Frotzeln verbindet „bonding und biting“; es erlaubt die Kommunikation sozialer Differenzen bei gleichzeitiger Versicherung einer prinzipiell intakten Beziehung. 13 Quantifizierende Zusammenfassung der Reaktionen auf Ironie im Abendessenskorpus: 30 Stunden wurden auf Ironie hin ausgewertet. Es fanden sich 51 ironische Sequenzen. Diese weisen die folgende Struktur auf: So hat Nadine selbst in einem nachträglichen Gespräch diesen Ironieakt interpretiert. 13 Keim (1995), Schwitalla (1995), Günthner (1996) und Kotthoff (1998a) diskutieren Frotzeleien, Phantasie-Konstruktionen und angrenzende Scherzaktivitäten ausführlich, auch im Hinblick auf Gruppenkonstitution. Ironie in Privatgesprächen und Fernsehdiskussionen 461 - Reaktionen auf das Gesagte: 26 - Reaktionen auf das Gemeinte: 4 - Gemischte Reaktionen des Ironie-Opfers: 10 - Ambige Reaktionen: 5 - Nur Lachen: 6 Gut die Hälfte der Reaktionen bezieht sich in diesem Korpus auf die Ebene des Gesagten und setzt damit, wie wir gesehen haben, die Ironie und eine spielerische Modalität fort. Erstaunlich ist, wie schnell oft mit Gegenironie reagiert wird. Diese hohe Schlagfertigkeit hat vermutlich mit der positiven Gesamtatmosphäre zu tun, in der die Gespräche stattfmden. Diese erzeugt eine spielerische Stimmung (a playful set of mind), die schon Bateson (1954) als Voraussetzung von Scherzkommunikation erkannte. 14 3.2 Zur Rezeption von Ironie in den Femsehdiskussionen Ganz anders liegen die Verhältnisse in kontroversen Femsehdiskussionen. Ich habe 20 Stunden des österreichischen Club II auf Ironie hin durchgeforstet und 24 Beispiele gefunden. Die Diskussionen des Club II fanden bis vor etwa fünf Jahren wöchentlich dienstags abends statt, wurden live und mit offenem Ende in die Nacht hinein ausgestrahlt. Sie sind themenzentriert und als Kontroversen zu politischen, kulturellen und sozialen Themen angelegt. Interessant ist schon allein der Befund, dass in öffentlichen Debatten viel weniger Ironie zu finden ist als in privaten Unterhaltungen, wurde die Ironie doch traditionellerweise eher der öffentlichen Domäne zugeordnet. 3.2.1 Reaktionen auf das Implikatum Eine der Diskussionen dreht sich um die Freuden und Gefahren des Motorradfahrens. Es sind aktive Motorradfahrer anwesend, die den Sport in jeder Hinsicht verteidigen, und verschiedene Leute, die ihm aus Gründen der Lärmbelästigkeit und Gefährlichkeit Einschränkungen auferlegen möchten. Der Moderator Georg hat bereits zu erkennen gegeben, dass er eher auf der Seite der Kritiker steht und den Sport auch als gefährlich ansieht. Der aktive Motorrad-Sportler Theo ermuntert ihn, es doch einmal zu versuchen. 14 Ironie gehört aber nicht immer zur Scherzkommunikation, sondern hat mit dieser nur einen Überlappungsbereich. Freundliche Ironieformen finden aber oft in der Modalität des Scherzens statt. 462 Helga Kotthoff Datum 5 (TV-Diskussion v) Moderator Georg (G), mehrere (m), Theo (T) 1 T: ...fahrn Sie doch mal im Sommer, jetzt ist ja Sommerclub. 2 G: ich hab ja eh nicht vor die PeHnsiHon zu eHerleHEben. 3 m: HEHEHE[HE 4 T: [aber ich bitte Sie. schauns eh eh ich bin doch auch 5 kein Verrückter. In den zum Zeitpunkt der Diskussion stattfindenden Sommerclubs werden gemeinsame Ausfahrten veranstaltet. Theo schlägt Georg vor, dabei mitzumachen. Georg antwortet ihm ironisch, dass er ja eh seine Pension nicht erleben möchte. Das Implikatum lautet hier: Statt Freude erwartet mich beim Motorradfahren der tödliche Unfall. Einige lachen. Theo lacht nicht mit. Er verwendet zwei unabhängige Starter-Formeln, die im Österreichischen sehr populär sind {aber ich bitte Sie. schauns). Dann reagiert er auf das Implikatum, dass alle Motorradfahrer so verrückt fahren, dass sie ihre Pension nicht erleben werden. Nach zwei weiteren Hesitationssignalen setzt er sich gegen das Implikatum zur Wehr: ich bin doch auch kein Verrückter. Wenn auf das Implikatum reagiert wird, ist die Reaktion im Femsehkorpus entweder verzögert oder eine simple Umdrehung folgender Art: Die Pro-Motorrad-Fraktion hat den Sport als „erotisch“ hingestellt. Danach liefert Prof. Erich erschreckende Zahlen aus der Unfallstatistik. Psychologin Fiona sagt dazu ironisch: „Das ist ja das Erotische.“ Motorrad-Fahrer Theo: „Das ist nicht das Erotische.“ Solche Formen des Konterns kommen unmittelbar. Möglicherweise ist die schlichte Negation der ironischen Aussage am einfachsten zu bewältigen. Fionas Ironie ist ohne Probleme als solche erkennbar, da sie sich von Beginn an als Motorrad-Gegnerin identifiziert hatte. In einer Club-Diskussion um die fragliche Liberalität der von Jörg Haider geleiteten FPÖ werden von den Kritikern der FPÖ unliberale Aktivitäten von Haider und anderen FPÖ-Politikem berichtet. Der Politologe Reiderer kritisiert den Rückgriff der FPÖ auf unliberale Politiker wie Schober. Der FPÖ- Funktionär Mölzer hakt in Zeile 7/ 8 nach, ob Reiderer dem Herrn Schober den Liberalismus auch absprechen möchte. Reiderer holt dann zu ein paar Informationen über Schobers Rolle im Austrofaschismus aus, die auf das ironische Statement hinauslaufen: a schöner Liberaler, kann ich da nur sagn. Ironie in Privatgesprächen und Fernsehdiskussionen 463 Datum 6 (TV-Diskussion vi) Reiderer (R), Mölzer (M), andere Teilnehmer 1 R: als der Herr Steger an liberalen Ahnherrn suchen 2 wollte, 3 M: rtihm mhm 4 R: auf wen hat er zurückgegriffen? auf den alten Schober. 5 M: mhm 6 R: auf den alten [Schober, der autoritärer 7 M: [also dem sprechen Sie den Liberalismus 8 auch ab. 9 R: der autoritärer Bundespolizei eh Direktor in Wien war, 10 der kurzfristig eh im austro also unmittelbar in der 11 Überleitung zum Austrofaschismus Bundeskanzler war, 12 ('H) der also genau die Büttelarbeit für den 13 Austrofaschismus eigentlich geleistet hat. 14 a schöner Liberaler, kann ich da nur sagn. 15 M: also das sehn wir aus unserem Geschichtsverständnis 16 anders, da gilt Schober also schon als an sich DAS 17 Beispiel eines Nationalliberalen in [der 18 österreichischen Geschichte. Der FPÖ-Abgeordnete Mölzer reagiert mit also das sehn wir aus unserem Geschichtsverständnis anders auf das Implikatum. Eine Reaktion auf das Gesagte wäre eine Bestätigung gewesen im Sinne von: Ja, Schober war ein schöner Liberaler. Eine solche Bestätigung ist aber schon deshalb unwahrscheinlich, weil „ein schöner X“, vor allem mit dem Nachsatz „kann ich nur sagen“ eine hochkonventionelle Form der Ironie darstellt, die eben nicht wörtlich genommen wird. Im Femsehdiskussionen-Korpus finden sich 14 Reaktionen auf das Implikatum, also über die Hälfte. Diese scheinen dann besonders angemessen, wenn man die Reaktion als Kritik an der eigenen Position versteht. Interessanterweise finden sich auch viele unangemessene Reaktionen. Diese Reaktionen sind lokal wenig kohärent. Man hat als Außenstehende den Eindruck, dass dem Ironie-Opfer das Kontern schwerfiel. Die Rubrik „ambige Reaktionen“ ist in beiden Korpora unterschiedlich realisiert. Der „graded salience hypothesis“ von Giora folgend müsste es schwieriger sein, Ironie zu verstehen als direkte Botschaften. Wir haben im Abendessenskorpus aber gesehen, dass auf Ironie sehr schnell reagiert wird, sogar mit Ironie gekontert wird. Im Club-Il-Korpus zeigen sich aber in den Reaktionen auf Ironisches gewisse Holprigkeiten. Diese könnte man als Bestätigung für die Theorie der gradierbaren Salienz sehen. In Datum 5 haben wir gesehen, dass Theo Zeit zum Reagieren brauchte. Zuerst wurde gelacht, dann stieg er mit zwei starter-Formeln ein. All das ist ein Zeitgewinn. 464 Helga Kotthoff Dreimal haben wir in diesem Korpus eine Lachsequenz, bevor der Ironie- Adressat mit Worten reagiert. 3.2.2 Ambige oder inkohärente Reaktionen Ambige Reaktionen sind solche, denen wir keine spezifische Bedeutung zuordnen können. Es ist unklar, ob und auf welche Dimension der Vorgängeräußerung sie reagieren. Inkohärente Reaktionen, die thematisch wenig angebunden sind, zählen wir zu dieser Gruppe. Bei diesen Reaktionen zeigt sich nicht, ob und wie die Ironie verarbeitet wurde. Es zeigt sich aber, dass sogar die Kohärenzherstellung nicht mehr problemlos funktioniert. Das nächste Beispiel entstammt einer Diskussion über den inhaftierten Wiener Aktionskünstler Otto Mühl. Mühl hatte einer Kommune vorgestanden, in der u.a. sehr umstrittene soziale Experimente ausgetragen wurden. In der Club-Runde ist ein Kunstprofessor (Oswald Oberhuber) und eine Kunstkritikerin (Regina Wyrwoll), die Mühl verteidigen, ein Ethik-Professor (Robert Prantner) und drei ehemalige Kommune-Mitglieder (Nikolaus Helbich, Wencke Mühleisen und Nadja Reyne), die ihn vehement kritisieren. Prantners erster Redebeitrag ist sehr ironisch. Er äußert diesen, nachdem Wencke Mühleisen gerade einen sehr kritischen Bericht zum Leben in der Kommune abgegeben hatte. Datum 7 (TV-Diskussion vn) Frau Wencke Mühleisen hat mich jetzt davon eh davor bewahrt, doch in ihrer realistischen Erinnerung, in lyrischer Nostalgie und fast Reue zu schwelgen, nicht den gleichen Weg zu diesem vielleicht doch großen Otto gefunden zu haben, eh ich [verstehe [HEHEHEHEHE den Herrn Kollegen, der ein berühmter eine berühmte Persönlichkeit in der europäischen Kunstszene ist, aber sein Tiroler Herz vielleicht doch nicht ganz verleugnen kann, wenn er auch von zersetzenden Problemen oder Elementen bei Künstlern spricht, das spricht für Sie. HEHEHE ich verstehe aber weder Sie Herr Kollege Oberhuber, [noch viele andere [des hab ich jetzt net ganz gemeint, muss i dann antworten darauf. 1 P: 2 3 4 5 6 m: 7 P: 8 9 10 11 12 13 14 15 M: 16 P: 17 18 0: 19 Ironie in Privatgesprächen und Fernsehdiskussionen 465 Es ist völlig klar, dass Prof. Prantner auch ohne die Ausführungen von Frau Mühleisen niemals in Reue geschwelgt wäre darüber, den Weg zum großen Otto nicht gefunden zu haben. Er hält den großen Otto für einen Kriminellen. Interessanterweise reagieren die beiden Anwesenden, die für die Position der Anerkennung von Mühl hier stehen, gar nicht auf die kritische Ironie. Die drei Personen, die auch kritisch zu Mühl stehen, lachen in Zeile 6. Nachdem also die Ironie-Objekte nicht reagiert haben, spricht Prantler Prof. Oberhuber direkt an. Er sei eine berühmte Persönlichkeit, aber könne sein Tiroler Herz vielleicht nicht ganz verleugnen', das ist auch kritisch ironisch. Es wird ihm unterstellt, dies sei ein Gegensatz bei ihm. Berühmtheit mache herzlos. Oberhuber reagiert vage korrigierend (es ist ja klar, dass er selbst dies nicht gemeint hat) und fragt den Moderator, ob er antworten muss. Prantler fährt aber bereits fort und Oberhuber kann gar nicht mehr antworten. Hier wird erst sehr spät überhaupt reagiert und zwar unklar. Es ist ja verstehbar, dass Oberhuber hier unterstellt wird, Künstlertum und Herz stünden auch bei ihm im Widerspruch (ebenso wie bei seinem Freund Mühl). Es ist auch deutlich, dass er selbst auf diesen Widerspruch nicht abgezielt hat. Seine Reaktion ist insofern redundant, sie kommt widerwillig und es geht auch niemand darauf ein. Es scheint schwieriger zu sein, auf kritische Ironie zu reagieren als auf freundlich-frotzelnde. Nicht einmal auf die Ironie in Zeile 11 reagiert Oberhuber. Es ist klar durch Prantlers Ironie, dass er Oberhubers Position absolut nicht teilt. Das Lachen der Mühl-Kritiker kann man als Indiz dafür nehmen, dass diese seine Ironie verstanden haben. Oberhubers Verstehen wird in seiner Reaktion nicht deutlich. Auch andere Beispiele kritischer Ironie zeigen Reaktionen, die nicht wirklich zur Ironie passen. Sie liefern Indizien dafür, dass das Objekt die Ironie entweder nicht verstanden hat, bzw. nicht verstehen wollte oder nicht schnell genug eine adäquate Reaktion parat hat. Bei konversationeilen Daten kann man Verstehen nur an den Reaktionen ablesen. Diese sind oft inkohärent. So wird beispielsweise in einer Diskussion die These des anwesenden Buch-Autors Volker Elis Pilgrim debattiert, vaterlose und mütterlicherseits überbehütete Söhne würden später gefährlich, vor allem, wenn sie in Positionen der Macht gelangen (z.B. als Politiker). Alle anderen Gäste sind mit der These nicht einverstanden. Die anwesende Psychologin (Riess) fragt, was Mütter denn tun sollten, wenn kein Vater zur Verfügung steht. Der Anglist Christian Enzensberger antwortet ironisch, dass sie zuschauen sollen, dass ihre Söhne keine Politiker werden, sondern Poeten. 466 Helga Kotthoff Datum 8 (TV-Diskussion IX) 1 R: das würd also bedeuten, jetzt, ich bin auch Mutter, 2 dass Sie sagen, 3 P: ja? 4 R: würd ich Sie fragen, was sollte ich tun, 5 P: ja 6 R: ja jetzt nicht dies wir und man sollte tun, 7 P: ja 8 R: jetzt wir, die betroffenen Mütter,= 9 P: mhm 10 R: = die es ja so angeht, wa was = 11 P: mhm 12 R: = sollten die Mütter tu: n, damit sich was verändert. 13 E: wenn Sie ihn zu sehr eh eh unter Ihrer Fuchtel haben, dann = 14 R: ja: 14 E: = sollen Sie zu ihm sagen, werde Dichter und nicht 15 Politiker. [HÄHAHA HERE HEHEHEHEHEHEHEHEHEHEHE P: [NA: : IN HE Politiker is sehr was Wichtiges 17 und wir brauchen [positive Politiker. 18 E: [aber doch nicht diese Sorte HAHAHA Frau Riess wendet sich mit mehrfach reformulierten Fragen an Pilgrim. Er reagiert zunächst nur mit Rezeptionssignalen. Enzensberger präsentiert dann einen völlig unpraktikablen Vorschlag, der aber trotzdem Pilgrim attribuiert werden könnte, allerdings ist er stark übertrieben und karikiert. Pilgrim reagiert auf Enzensbergers Ironie unangemessen. Die Ironie liegt u.a. in der Unterstellung, es mache überhaupt Sinn, wenn eine Mutter, die in einer von Pilgrim so negativ gezeichneten Situation ist, ihrem Sohn solche Lebenswege rät. Er lacht selbst, andere schmunzeln. Wenn man Enzensbergers Aussage wörtlich nimmt, wäre nämlich Pilgrims gewagte Theorie hinfällig, nach der der Typus des Muttersöhnchens gefährlich wird, wenn er später im Leben Macht bekommt. Man müsste ihn dann lediglich besser beraten und Poet werden lassen (als ob das ginge! ). Unter dieser Bedingung ergibt Enzensbergers Rat einen ironischen Sinn. Pilgrims Reaktion in Z. 16 ist nicht voll kohärent, weil sie den Hintergrund des Ironischen ignoriert. Er selbst hatte bislang vertreten, positive Politiker hätten präsente Väter gehabt, die ihnen die Orientierung im Leben erleichtert hätten. Enzensberger korrigiert lachend Pilgrims Statement. Es stellt sich heraus, dass in Pro- und Kontra-TV-Diskussionen ein anderer Typ von Ironie vorherrscht als bei Treffen unter Freunden, nämlich der kritische. Auf diesen wird anders reagiert als auf den freundlichen Typus. Reagieren scheint unter diesen Situationsbedingungen insgesamt schwieriger zu sein. Ironie in Privatgesprächen und Fernsehdiskussionen 467 Die Quantifizierung der Reaktionen ergibt für das Fernseh-Korpus folgendes Bild: Fernsehdiskussionen: - 20 Std. Femsehdiskussion - 24 Ironiebeispiele - Reaktionen auf das Gesagte: 1 - Reaktionen auf das Gemeinte: 14 - Gemischte Reaktionen des Ironie-Opfers: 2 - Ambige Reaktionen: 5 - Nur Lachen: 2 4. Schluss: Interpretation der Unterschiede Betrachten wir die Unterschiede der Reaktionen auf Ironie in beiden Korpora vergleichend in Prozentzahlen: Nur Lachen Ambige Reaktionen Gemischte Reaktionen des Ironie-Opfers Reaktionen auf das Gemeinte Reaktionen auf das Gesagte 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 □ Abendessensunterhaltungen ■ Fernsehdiskussionen Abb. 1: Unterschiede der Reaktionen aufIronie in beiden Korpora Am auffälligsten ist im Korpusvergleich der Unterschied zwischen den Reaktionen auf das Gesagte und denen auf das Gemeinte. In geselligen Zusammenhängen unter Freund(inn)en scheint es präferiert zu werden, die scherzhafte Interaktionsmodalität in der Reaktion weiterzuführen. Das leisten auch noch die gemischten Reaktionen ansatzweise, da sie ja auf beide Ebenen implizit Bezug nehmen. Auch das Lachen bewirkt dies. 468 Helga Kotthoff Im Femsehkorpus wird die Ebene des Gesagten in der Rezeption kaum gewürdigt. Vermutlich liegt das daran, dass der gesamte Interaktionsrahmen auf Angriff und Verteidigung angelegt ist, Ironie also kritisch gehört wird, und mögliche humoristische Potenziale nicht aufgegriffen werden können. Unter Bedingungen öffentlichen Konkurrierens und Streitens ist das Reagieren auf Ironie anscheinend schwierig. Die Sprecher/ innen müssen vielen Aufgaben gleichzeitig gerecht werden, z.B. ihr eigenes Gesicht schützen, ihre Position übermitteln, diese kohärent gegen Angriffe verteidigen usw. In Mediendebatten ist der gesamte Handlungsdruck so groß, dass ein spontanes „playful set of mind“ wohl nicht mehr aufkommt. In dieser Studie zu konversationellen Reaktionen auf Ironie konnte vor allem eine Gmndaussage der Interaktionsforschung bestätigt werden, nämlich die, dass Zuhören im Gespräch immer mehr ist als Zuhören: man formt schon beim Hören die eigene Replik (Clark 1996). Ein anderes Grundtheorem der Kontextualisierungsforschung kann auch anhand der Daten bestätigt werden: konversationelles Inferieren ist ein ständig ablaufender Prozess, bei dem neue Informationen immer wieder adaptiert werden und sich auf weitere Erwartungen auswirken (Gumperz 1994). Ironische Äußerungen werden immer schon in dem Rahmen verstanden, in dem sie geäußert werden. Das spricht dafür, das Feld der Analyse von isolierten Einzeläußerungen zu verlassen. Vor allem die Gesprächsausschnitte aus den Abendessen unter guten Bekannten zeigen, dass es ganz unerlässlich ist, auch das Gruppenwissen zu erkunden. Insofern bestätigt diese Studie den vor allem von Werner Kallmeyer in vielen Arbeiten geförderten Ansatz der Verbindung von Konversationsanalyse und Ethnografie. Im vorliegenden Fall wurde allerdings die Ethnografie eher informell miterhoben, da ich mit den Kreisen, aus denen die Aufnahmen stammen, sehr vertraut bin. Die Daten zeigen auch, dass beide Ebenen des Ironischen generell prozessiert werden, die des Gesagten und die des Gemeinten. Prinzipiell kann sich der Rezipient an beides anschließen. Eine klare Hierarchie im Sinne von Gioras „graded salience hypothesis“, die besagt, dass zuerst das Gesagte verstanden wird und dann das Gemeinte, unterstützen die Daten nicht. Die Daten unterstützen eher eine völlig andere These, nämlich die, dass die Meta-Pragmatik der Interaktion von großer Bedeutung ist. 15 Diese Meta- Pragmatik steuert die Gesamtwahrnehmung der Situation, vor allem auch die Einschätzung der sozialen Beziehung. Es macht einen Unterschied für die Äußerungsinterpretation aus, ob ich jemanden als freundlich oder feindlich wahmehme. Beide Typen des Ironischen werden meist etwas exaltiert gesprochen. 15 Siehe dazu Verschueren (1995). Ironie in Privatgesprächen und Fernsehdiskussionen 469 Ironie drückt in den beiden verglichenen Kontexten jeweils etwas anderes aus. Sie kann „bonding and biting“ verbinden, d.h. ein positives Management von Differenz im Rahmen von Freundschaft betreiben. Aber sie kann auch einem jeweiligen Opponenten die Reaktion erschweren. Die Reaktionen auf die Ironie zeigen keine Hierarchie zwischen Diktum und Implikatum. Sie zeigen nur, dass generell beide Ebenen wahrgenommen werden und Anschlussmöglichkeiten bieten. 5. Literatur: Bakhtin, Michail M. (1981): The Dialogic Imagination. Hrsg. v. Emerson, Caryl/ Holquist, Michael. Austin, TX. Bateson, Gregory (1972/ 1954): A Theory of Play and Phantasy. In: Ders.: Steps to an Ecology of Mind. San Francisco. S. 177-193. (Dt. 1981: Ökologie des Geistes. Frankfurt a.M. S. 241-262.) Barbe, Katharina (1995): Irony in Context. Amsterdam/ Philadelphia. Brown, Penelope/ Levinson, Stephen (1987): Politeness. Some Universals in Language Usage. Cambridge, MA. Clark, Herbert (1996): Using Language. Cambridge, MA. Clift, Rebecca (2000): Irony in conversation. 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Die Erregungen schlagen Wellen und auf den Magen, Angriffe gehen unter die Gürtellinie und an die Nieren, die Kontrahenten werden laut und giften sich an, es verschlägt ihnen den Atem und die Sprache, die Nerven gehen durch und die Ohren zu. Die Haltung wird schroff und die Stimme schrill. Streitgespräche strotzen vor Vitalität des Sprechens und des Handelns. Betrachtet man jedoch linguistische Untersuchungen zum Thema „Konflikt“, gewinnt man den Eindruck, dass diese Vitalität entweder aufgrund der Datenqualität erst gar nicht zugelassen wird, durch die Analyse gerade zerredet oder um es etwas lebendiger zu sagen zerquasselt wird. Dieses Zerquasseln - oder Abtöten 1 erfolgt durch Analyse in zu kleinen Analyseeinheiten, die „unter“ den Kategorien alltagsweltlicher Wahrnehmung liegen, durch die Analyse in analytischen Kategorien, die unspezifisch für die Vitalität des Streitens sind, durch die Auswahl literarischer Texte als Datenmaterial oder durch die Reduktion des kommunikativen Geschehens auf den so genannten propositionalen Gehalt der Äußerungen bzw. Sprechakte. Bei der Betrachtung solcher Analysen fiel mir eine Formulierung von Petrarca ein, mit der dieser die Scholastiker und Logiker seiner Zeit brandmarkte; er bezeichnete sie als „grauhaarige Kinder, die Syllogismen spucken“ (S. 222). Ich will demgegenüber versuchen, in der wissenschaftlichen Beschäftigung diese Le- Vgl. zum Gedanken des Abtötens die Überlegungen zum „Abtötungsprinzip“ und genereller zum Prinzip der Komplementarität in Nothdurft (1998a). 474 Werner Nothdurft bendigkeit des Streitens zu bewahren, zu substantiieren und zu reflektieren. 2 Entscheidende Rolle wird das spielen, was ich den „poetischen Charakter alltäglichen Streitens“ nennen werde. Meine These lautet also, dass es sich bei alltäglichem Streiten (oft) um ein kommunikatives Phänomen handelt, das sich durch besondere poetische Qualitäten auszeichnet und dass die poetischen Qualitäten das ausmachen, was man in kommunikativer Erfahrung als Lebendigkeit des Streitens erlebt. 2. Ich habe die These von der poetischen Dimension alltäglichen Streitens in der gesprächsanalytischen Auseinandersetzung mit Schlichtungsgesprächen entwickelt, 3 mit Gesprächen also, in denen ein Dritter versucht, Konflikt und Streit zwischen Menschen zu schlichten zwischen Nachbarn, die sich als „Hure“, als „Arschloch, das vergast gehört“ oder als „Asozialer“ beschimpft hatten, zwischen Händlern und Käufern von Gebrauchtwagen, wo in einem Fall kurz nach dem Kauf die Achse abfiel, zwischen Handwerker und Auftraggeber einer Perücke, der die Haare ausfielen, zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, dem wegen Geschlechtsverkehr während der Arbeitszeit gekündigt worden war und zwischen Kindern, die sich darum stritten, wer als Nächstes auf die Schaukel darf. In den Gesprächen war es Aufgabe des Dritten, mit den Kontrahenten zusammen eine einvemehmliche Regelung zustande zu bringen, also eine, mit der sich beide Kontrahenten einverstanden erklären können. Schlichten zielt auf die Herstellung von Konsens ab. Die untersuchten Schlichtungsgespräche entsprechen allerdings kaum dem Bild rationaler Konfliktlösung oder Konsensverfahren, wie sie sich in justizpolitischen Texten, in denen für Schlichtung geworben wird, oder in philosophischen Köpfen, in denen kommunikatives Handeln bedacht wird, finden lassen. In Wirklichkeit wird in den Schlichtungsgesprächen beschwatzt und bestürmt, ermahnt und erpresst, geheuchelt und geschmeichelt. Das Streitverhalten der Kontrahenten selbst be- 2 Vgl. Zumthor, der in seiner Einführung in die mündliche Dichtung erklärt, er habe sich bemüht, in keinem der Kapitel „das Gefühl dafür unberücksichtigt zu lassen, was die menschliche Stimme darstellt und was sie beinhaltet: diese Unvereinbarkeit zwischen dem abstrakten Universum der Zeichen und den konkreten Determinationen der Materie; dieses Hervorbringen aus den Tiefen des Gedächtnisses, diesen Bruch der Logik, dieses Sichöffhen an der Nahtstelle des Seins und des Lebens ... dessen Geschichte man, ohne jede unkontrollierte Überspanntheit, auf rationale Begriffe zu bringen versuchen muß.“ (1989, S. 9f.). 3 Die Ergebnisse sind in Buchform erschienen in: Nothdurft (1995, 1997, 1998a). Die Betrachtungsweise von Gesprächen, wie ich sie hier entwickele, wurde entscheidend angeregt durch einen mehrmonatigen Forschungsaufenthalt am Dept, of Anthropology, University of California in Berkeley. Die poetische Dimension alltäglichen Streitens 475 inhaltet all das, was unter Bildungsbürgerinnen und -bürgern seit der Aufklärung als „unmanierlich“ gebrandmarkt worden ist, die Lust am Streiten, die persönliche Verletzung, die Vermischung von Logischem, Absurdem und Phantastischem, das Karnevalisieren von Sprechweisen und Tönen, die lautliche Expressivität, die Pantomime, die Wut. 4 3. Erste Beobachtungen, Eindrücke und Vermutungen zu Streitsequenzen in den untersuchten Schlichtungsgesprächen führen zu folgenden Aussagen: - Das Streiten ist oft lustvoll und irgendwie artistisch. - Das Artistische könnte in der Art und Weise liegen, in der man mit dem Gegner und seiner Version des Konflikts, mit sprachlichen Versatzstücken und mit dem Kontext umgeht, insbesondere könnte das Artistische in der Art und Weise liegen, in der abgestritten wird. - Handlungsziel der Beteiligten ist offenbar nicht oder jedenfalls nur in begrenztem Maße, Verständnis zu ermöglichen oder Verstehen zu befördern, Sinn zu repräsentieren oder auf Sachverhalte zu referieren. 5 - Viele Aktivitäten erscheinen sinnlos oder absurd. 4 Mit diesen Attributen brandmarkt Goeze Lessings polemischen Stil der Auseinandersetzung (vgl. Oesterle 1986); sie eignen sich verblüffend gut auch zur Charakterisierung der untersuchten Gespräche. Das kommunikative Geschehen in diesen Schlichtungsgesprächen entspricht also nicht dem gängigen kommunikationstheoretischen Modell, demzufolge es Ziel der Beteiligten ist, sich in verständlicher Weise wechselseitig Informationen zu vermitteln. Alltägliche Kommunikation entspricht nicht der Normalform-Vorstellung von Verstehen, Bedeutung, Inhalt, etc., wie sie sich auch in vielen wissenschaftlichen Betrachtungen niedergeschlagen hat. „Merleau-Ponty schreibt: „Der Wille zu sprechen ist ein und dasselbe wie der Wille verstanden zu werden.“ Aber während unser Satz wohl für sich selbst als Aussage eines Philosophen zutrifft, ist der Wille zu Sprechen in den Alltagssituationen von Interaktion manchmal der Wille zu verblüffen, zu verwirren, zu täuschen oder mißverstanden zu werden.“ (Giddens 1984, S. 126f.). Briggs weist daraufhin, dass Worte die Vergangenheit nicht beschreiben, sondern sie zitieren (1988, S. 1). Zumthor weist auf den Paradigmenwechsel der Betrachtung mündlicher Kommunikation durch die Ethnografie hin: „... den Vorrang des Rhythmus, die Unterordnung des Sprechens unter das Atmen, der Wiedergabe unter die Handlung, des Begriffs unter die Haltung, der Bewegung des Gedankens unter die des Körpers. Die Arbeiten der Gräzisten bis zu Havelock und Vemant bereicherten diese Beobachtungen und leiteten die Theoriebildung ein. Ihre Forschungen und die von Parry und Lord hatten das große Verdienst, dem bis dahin eher leeren Begriff der „oralen Literatur“ einen Sinn zu geben; sie bewiesen, daß sich die Begriffe Stimme und Schrift keineswegs entsprechen und die zwischen ihnen festgestellten Unterschiede nicht gleichermaßen zutreffen. Die Oralität wird ebensowenig durch Weglassen bestimmter Merkmale der Schrift definiert, wie diese sich auf eine Übertragung jener reduzieren läßt.“ (1989, S. 30f). 476 Werner Nothdurft 4. Versucht man, diese Momente des Streitens begrifflich-analytisch zu erfassen, sieht man sich vor erhebliche Schwierigkeiten gestellt. Mit herkömmlichen gesprächsanalytischen Konzepten ist dieser Artistik bzw. Lebendigkeit nicht beizukommen. Dies liegt v.a. daran, dass die Sichtweise gesprächsanalytisch-linguistischer Beschäftigung mit dem Streiten bzw. mit Konflikt- Kommunikation in mehrfacher Hinsicht beschränkt ist: Die Sichtweise ist fixiert auf schriftliche, in Form von Transkripten vorliegende Daten. 6 Die Daten selbst bestehen häufig aus ausgedachten Sprechhandlungen, 7 denen wesentliche Qualitäten tatsächlichen Sprechens abgehen; die Untersuchungen konzentrieren sich meist auf die Analyse des propositionalen Gehalts unter Absehung der interaktiv-pragmatischen Ausgestaltung des Sprechens von Streitparteien. 8 Ich vermute, dass in solchen Untersuchungen implizit ein normatives Modell von Streit und Konflikt erkenntnisleitend ist, in dem die sachlich-rationale Auseinandersetzung im Vordergrund steht, ein Modell, daswenn man Devereaux (1967) folgt für den Forscher v.a. die Funktion hat, ihn vor irrationalen, dunklen, Angst erzeugenden Anteilen des untersuchten Dialogs zu schützen. Eine der wenigen linguistischen Studien mithalbwegsauthentischen Sprachaufnahmen in Konflikt-Situationen ist die Untersuchung Labovs (1978) zu rituellen Beschimpfungen in New Yorker Peer-Gruppen. Diese Studie führt in beispielhafter Weise den Zuschnitt linguistischer Untersuchungen mündlicher Kommunikation vor. Labov beschreibt die rituellen Beschimpfungen, als wären sie nach linguistischen Prinzipien generiert, im Vokabular systemlinguistischer Analysekategorien (Angabe von Generierungsregeln, Mustern und Variationen, Angabe von Variationsbedingungen). Vgl. zur Textfixierung in der Betrachtung mündlicher Kommunikation die kritischen Bemerkungen in Franck (1989), Krämer (1998) und Zumthor (1989, S. 10f.). 7 Dies gilt insbes. für die so genannte „Dialoganalyse“. Als Beispiel Klein (1981), der Argumentation nur unter kognitiven Gesichtspunkten analysiert: Klein bemüht sich um die Entwicklung eines analytischen Instrumentariums zur Rekonstruktion argumentativer Zusammnenhänge. Die Äußerungen eines Gesprächsteilnehmers lassen sich so Kleins Auffassung unter Absehung ihrer jeweiligen pragmatischen Funktion inhaltlich abstrahieren und als Menge von Aussagen analytisch reformulieren. Diese Aussagen sind „[...] in einer bestimmten („logischen“) Weise miteinander verbunden“ (S. 226). Klein erhält auf diese Weise ein Aussagengefüge, das das „Argument“ des Gesprächsteilnehmers darstellt. Die interaktive Ausgestaltung die Argumentation charakterisiert Klein konsequenterweise als gleichsam „armen Verwandten“: „[...] eine Argumentation (ist) der oft durch Fehlschläge, Irrwege, Positionskämpfe bestimmte Versuch, eine solche Struktur zu entwickeln.“ (ebd.). Die poetische Dimension alltäglichen Streitens All Gleichwohl gibt es bei ihm vereinzelt Hinweise auf Aspekte des Mündlichen in ihrer Bedeutung für die Beschimpfungen: Angabe von Stimmqualitäten (falsetto, Schlürfgeräusche, ebd., S. 22), Schlagfertigkeit (ebd., S. 26), die intonatorische Markierung von Bewertungen (ebd., S. 29). Dafür zwei Beispiele: Bei einer der Beleidigungen, dem sog. „sound“, vermerkt Labov ein „falsetto“: „Jl: Willies Mutter stinkt. Sie steht an der 128. Straße zwischen 7. und 8. Avenue und winkt mit ihrem weißen Taschentuch: <falsett> „Komm', Liebling, nur einen Nickel“.“ (ebd., S. 23). An anderer Stelle spricht Labov von einem „geheimnisvolle(n) poetische(n) sound“, den Eddie von den ‘Cobras’ verwendet: „Deine Mutter geht aus mit der Mittemachtsmaus.“ („Your mother plays dice with the midnight mice“) (ebd., S. 23). Solche Beobachtungen haben in Labovs Analyse-Design indes keinen systematischen Ort. Für ein vertieftes Verständnis der kommunikativen Charakteristika von Streit ist es aber erforderlich, die Qualitäten herauszuarbeiten, die Streiten als Phänomen mündlicher Kommunikation aufweist. 9 „Der rasche Rhythmus der Rede“, so schreibt Roman Jakobson, „verlangt vom Hörer, daß er wenn schon nicht alle, so doch den überwiegenden Teil der Elemente erfaßt, um die Aussage verstehen zu können. Bewußt werden die Wörter dem Hörer erst dann, wenn die Einheiten, aus denen sie sich zusammensetzen, schon ausgesprochen worden sind. Und ebenso nimmt er erst nachträglich die Sätze auf, wenn die Wörter, aus denen sie gebildet worden sind, bereits zurückliegen. Er muß seine Aufmerksamkeit auf den Redefluß richten und ihm im selben Augenblick die für das Verständnis des Ganzen unentbehrlichen Elemente entnehmen. Vor genau hundert Jahren hat dies der russische Neurologe und Psychologe I.M. Secenov [...] als ‘simultane Synthese’ bezeichnet. Dabei werden die Elemente, die der unmittelbaren Wahrnehmung schon nicht mehr zugänglich sind, [...] zu immer größeren Einheiten verbunden die Laute zu Wörtern, die Wörter zu Sätzen und die Sätze zu ganzen Aussagen.“ (Jakobson/ Pomorska 1982, S. 65). Aber solche „simultanen Synthesen“ führen dazu, dass in die Kontextualisierungen und Vervollständigungen viel an eigenen Interpretationsanteilen eingeht nicht gerade günstig in Situationen, in denen es um das Verstehen des Anderen ohnehin nicht zum Besten bestellt ist, oder sie führen gar dazu, dass unter Bedingungen aufgeheizter Kommunikation die Synthese ganz unterbleibt und die Streitparteien nur noch auf Hieb-, Stich- und Reizworte reagie- 9 Vgl. zu den Charakteristika mündlicher Kommunikation generell meine Auffassung verbaler Interaktion in Nothdurft (1996, 1998b, 2000). 478 Werner Nothdurft ren, die ohne Kontextualisierungsanstrengungen für bare Münze genommen werden. Solche Phänomene liegen wahrscheinlich an jenen Gesprächsstellen vor, an denen man den Eindruck gewinnt, die Kontrahenten würden wie auf Signale, gleichsam konditioniert, reagieren. Nimmt man die spezifischen Charakteristika des Sprechens und die besonderen Verstehensbedingungen mündlicher Kommunikation ernst, kommt man zu einem Bild vom Kommunikation, das sich von einer text-orientierten Darstellung erheblich unterscheidet. Im Vordergrund stehen jetzt Aspekte der lautlichen Realisierung, der „Musikalität des Sprechens“, der Ausbildung von Rhythmen, der Akzentuierung des Sprechens, der Dramatisierung der Darstellung, der Vorführung - Aspekte, die Zumthor zur Charakterisierung der „Poetik“ des Sprechens herangezogen hat: „Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer besonderen Beredsamkeit, einer Leichtigkeit der Diktion und des Satzes, einer Suggestivkraft: eines allgemeinen Vorherrschens der Rhythmen. Der Zuhörer folgt dem Faden, eine Rückkehr ist nicht möglich: die Botschaft muß (egal, welche Wirkung sie zu erzielen sucht) auf Anhieb zünden.“ (1989, S. 114). 10 Diese Charakterisierung des Sprechens lässt sich belegen und untermauern durch zwei Traditionen der Sprachforschung/ Kommunikationsforschung, die die Mündlichkeit des Sprechens ganz entschieden zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen machen, die sog. „Ethnopoetik“ und die Untersuchungen zur „performance“ von Sprechereignissen. Die Darstellung deren analytischer Mentalität und empirischer Ergebnisse bildet den Hintergrund, auf dem dann die These von der poetischen Qualität des Streitens erläutert werden soll. In der Ethnopoetik betrachtet man Genres mündlichen Redens einer Gemeinschaft wie Märchen, Sagen, Lieder, Unterweisungen etc. unter dem Gesichtspunkt ihrer poetischen Qualität (und darüber hinaus ihrer soziokulturellen Einbettung). Aufgegriffen wurden die Studien von Parry und Lord einerseits und die Arbeiten Jakobsons zur Poetik volkstümlicher mündlicher Dichtung andererseits. Die Form des Sprechens selbst dies ist die zentrale Beobachtung steht im Fokus des Sprechvorgangs und bildet ein wesentliches Charakterstikum des Sprechakts selbst, derart, dass die Bedeutung der Äußerung außerhalb der durch die Rede geschaffenen Form unvorstellbar ist. Darin liegt nach Jakobson (1960, S. 356) und Finnegan (1977, S. 178ff.) die poetische Qualität des Sprechens. Zumthor erklärt kurz und bündig: „Das Vgl. auch Zumthor (1988), S. 708: „Für den Vortragenden besteht die ‘poetische’ Kunst gerade darin, jene Unmittelbarkeit zu verkörpern, sie in der Form seines Wortes zum Ausdruck zu bringen. Daher bedarf es auch bei der bloßen lauten Lektüre eines geschriebenen Textes einer besonderen Beredsamkeit, einer Mühelosigkeit der sprachlichen Gestaltung, einer eindringlichen Suggestivkraft und einer durchweg herrschenden Rhythmisierung. Dem folgt der Hörer; Zurückbleiben kann er nicht. Die Botschaft muß unmittelbar wirken, was immer ihr angestrebter Effekt ist.“ Die poetische Dimension alltäglichen Streitens 479 durch die Stimme ausgesprochene Wort [schafft] das, was es sagt. Das ist es, was wir „Dichtung“ nennen“ (1989, S. 57). Vorrangig untersucht wurden Phänomene der Rhythmisierung (tempo, density, rhythmic ensemble) (Scollon 1982), der Wiederholung und der Variation in der Wiederholung (Tannen 1989) und der Versbildung (Hymes 1981). 11 Das Augenmerk liegt auf der poetischen Qualität grammatischer Strukturen, insbes. aber auf der poetischen Qualität der lautlichen, klanglichen Merkmale des Vortragens, der „Dramatisierung der Stimme“. 12 Tedlock (1983) spricht von „dramatic poetry“. Für ihn liegt der Schlüssel im poetischen Charakter des Erzählens in Indianersprachen in den sprachlichen Oberflächenmerkmalen wie Lautstärke, Stimmqualität, Kadenz und anderen parasprachlichen Merkmalen. Die Arbeiten Hymes, der die Strukturierung mündlicher Indianer-Erzählungen in Vers, Stanza und Line herausgearbeitet hat, haben einen besonders wesentlichen Beitrag zur Ausbildung dieser Forschungsrichtung geleistet. Rather than isolating particular linguistic features and assessing their poetic function, Hymes is concerned with hierarchic patterns of recurrence which are manifested in form or in content (or both) and which thus satisfy a formalistic (Jakobsonian) definition of poetics.“ (Woodbury 1985, S. 167) Lautstärke, Timbre, Tonhöhe, Betonungen, Tempo und Musikalität des Sprechens, Rhythmus des Sprechens, Pausen und Schweigen gehören zu den vorrangigen Untersuchungsbereichen. Sherzer charakterisiert die Poetik mündlicher Vorführungen als „the interplay of sound and silence, of words and pauses, of loudness and softness, of fast speech and low speech, the stylized imitations of voices and noises, the tightenings, loosenings, and vibrations of the vocal apparatus, and the patterned repetitions and variations of grammatical elements, words and phrases.“ (1990,8.29). 11 Die Relevanz von Rhythmus und klanglich-musikalischer Qualität des Sprechens für die Suggestivkraft der mündlichen Rede als auch für die Synchronizität des interaktiven Zusammenspiels der Interaktionsbeteiligten kann als unbestritten gelten. Tannen führt diese Wirksamkeit darauf zurück, dass musikalisch-rhythmisches Erleben eine der grundlegenden menschlichen Erlebnisweisen überhaupt ist (1989, S. 16). 12 Auch Zumthor betont die „Dramatisierung des Diskurses“ als Moment der poetischen Strukturierung, das gegenüber Verfahren der Grammatikalisierung beim Sprechen zurücktritt (1989, S. 72). 13 Neben den bereits genannten Arbeiten sind insbesondere die von Abrahams hervorzuheben, z.B. (1982, 1983, 1986). 480 Werner Nothdurft Der zweite Forschungszusammenhang, den ich mit dem Stichwort performance gekennzeichnet habe, zeichnet sich durch seine Sensibilität für den Akt des Aufführens und für Prozess-Phänomene sprachlicher Vorführungen oder Flandlungen aus, für Phänomene des Hervorbringens von Sprechen und des Zustandekommens von Sprechhandlungen. 14 Der Ausdruck ‘performance’ [...] bezeichnet [...] ein gesellschaftliches Ereignis von schöpferischer Kraft, das nicht einzig und allein auf seine Bestandteile zu reduzieren ist, sondern besondere Eigenschaften hervorbringt, während es abläuft. (Zumthor 1989, S. 133) Bauman grenzt den Ansatz der Performance gegenüber dem der traditionellen Betrachtungsweise mündlicher Literatur mit folgender Formel ab: „[...] oral literature has been conceived of as stuff 1 (1986, S. 2, m.H.) und fährt fort: „But this view is an abstraction, founded on memories or recordings of songs as sung, tales as told, spells as chanted.“ (ebd.). Das Hauptinteresse des Performance-Ansatzes gilt demgegenüber dem Vorführen, dem In-Szene- Setzen von Sprache und der Inszenierung des Sprechens, dem Auftritt des Sprechers und seiner Unterstützung durch das Publikum und dem gemeinsamen interaktiven Hervorbringen der Vorführung (vgl. auch den Begriff der ,Joint production“ bei Tannen (1989, S. 12) sowie den Begriff der „collusion“ (vgl. McDermott/ Tyler 1983). Interaktionsereignisse mit Performance-Charakter zeichnen sich durch folgende Merkmale aus: responsibility, d.h. Verantwortlichkeit für die Schaffung einer gemeinsam geteilten emotionalen Befindlichkeit unter allen Beteiligten (vgl. z.B. Brenneis 1987) wie Heiterkeit, Trauer, Bestürzung, Empörung etc. oder z.B. die Kreierung der Anwesenheit von Geistern (vgl. Schieffelin 1985); stylistic pattem, d.h. Einsatz bestimmter sprachlicher Register (z.B. sog. „wasteful words“, vgl. Brenneis 1984); repetition, d.h. Wiederholung von Wörtern, Formulierungen oder Handlungseinheiten (vgl. Tannen 1989) enhancement of experience (vgl. Schieffelin 1985, Brenneis 1987). Entscheidend fur „performances“ ist, dass die Zuschauer bzw. Zuhörer in ihr mitspielen. Ausdrucksorientierte Darstellungen eines Sachverhalts, z.B. eines Streits oder eines Problems, erfordern, wenn durch sie der Sachverhalt Wirklichkeitsstatus erhalten soll, eine interaktive Beteiligungsweise der Zuhörer, 14 Briggs weist in seiner Darstellung besonders auf die Leistung von Parry und Lord hin: „They suggested that verbal art forms are composed in the course of their performance by the application of recurrent formulas in specifiable formal and thematic environments “ (1988,8.6). Die poetische Dimension alltäglichen Streitens 481 die durch emphatisches Aufgreifen der Inszenierungen gekennzeichnet ist, durch Reaktionen des Erstaunens, der Entrüstung, des Bedauerns, der Empörung, ungläubiges Kopfschütteln, etc. sowie durch emphatische Kommentare. Nicht eine inhaltliche, am propositionalen Gehalt orientierte Auseinandersetzung ist relevant, sondern der interaktive Vollzug aufeinander abgestimmter korrespondierender Aktivitäten, durch deren Zusammenspiel eine Situation kollektiven Handelns entsteht, die ein Klima von gemeinsam gerichtetem Empfinden erzeugt. Schieffelin (1985) zeigt, wie im Rahmen solcher Inszenierungen die Erscheinung eines Geistes von der Interaktionsgemeinschaft eines Stammes kollektiv hergestellt und wechselseitig bestätigt wird. Geißlinger (1992) beschreibt ähnliche Prozesse in westdeutschen Jugendgruppen. Ein gesprächsanalytisch markantes Merkmal solcher Inszenierungen ist, dass die üblichen Regeln des Sprecherwechsels („einer nach dem anderen“) außer Kraft gesetzt sind. Wichtiger als das Ausreden-Lassen und Zuhören sind Unterbrechungen, in denen die Zuhörer die Äußerungen des Sprechers vorgreifend komplettieren, sowie Fälle simultanen, gleich lautenden Sprechens, die den Beteiligten das Gefühl vermitteln, „auf der gleichen Wellenlänge zu sein“, sowie Fälle des Durcheinanderredens, in denen man zwar kaum noch den anderen verstehen kann, die den Teilnehmern aber das Gefühl vermitteln, zusammen zu sein. Solche Fälle sprachlicher Interaktion haben mehr Ähnlichkeiten mit Situationen gemeinsamen Singens und Tanzens als mit dem Prototyp herkömmlicher Kommunikationsvorstellungen, der monologischen Informationsübermittlung. 15 Empirischer Ausgangspunkt und Bezugspunkt dieses Forschungszusammenhangs sind naturgemäß öffentliche Vorführungen von Sprechereignissen, Rituale, Beschwörungen, etc. in ihrer kontextuellen Eingebundenheit. Als analytische Leitkategorie kommt je nach Bezugstheorie das (ethnomethodologische) Konzept des „accomplishment“, das (interaktionstheoretische) Konzept der „contextualization“ oder das (ereignistheoretische) Konzept der „emergence“ in Betracht. Es sei betont, dass die analytische Arbeit mit dem Performance-Konzept nur in solchen Fällen von Reden Sinn macht, in denen durch Kontext, Interpretationsrahmen oder durch das Reden selbst Interaktionsbeteiligten die Rolle von Zuschauern oder -hörem zugeschrieben wird, denen die Aufgabe zukommt, die Aufführung des Redens, die Art und Weise und die Form, in der sprachlich gehandelt wird, zu begutachten und zu schätzen. In Schlichtungsgesprächen mit ihrer 3-Personen-Konstellation ist die Möglichkeit zur Etablierung dieses Vorführen-Zuschauen-Zusammenhangs in der Tat strukturell gegeben. Durch das Handeln mindestens eines der Beteiligten im vorliegenden Gespräch wird der Schlichter in der Tat in die Rolle eines Zuschauers gedrängt. 15 Vgl. zu diesem Gedanken ausführlicher Nothdurft/ Schwitalla (1995). 482 Werner Nothdurft Die analytische Mentalität, die diesen beiden Forschungszusammenhängen zugrunde liegt, vermag m.E. Dimensionen alltäglichen Streitens aufzuhellen und zu entschlüsseln, die einer texttheoretisch orientierten analytischen Sensibilität verborgen bleiben. Der Grund, warum die poetischen Qualitäten so wesentlich zur rhetorischen Wirksamkeit von Sprechen beitragen, liegt darin, dass sie erfahrungsbezogen und nicht wissensbezogen sind, d.h. eine Verstehensschicht beim Hörer ansprechen, die unmittelbar und wenig reflektiert wirksam wird. Die sprachliche Inszenierung und lautmalerische Ausgestaltung in der Ereignisbeschreibung bietet dem Zuhörer ein Bild, das er mit seiner eigenen Phantasie auffüllen und an dem er seine Phantasie weiterentwickeln kann (vgl. Davidson 1990). Rhythmus, Wiederholung und Klangzauber des Sprechens schaffen eine musikalische Sphäre, die beim Zuhörer unmittelbar verfangt. Bauman beschreibt diese Wirksamkeit als „[...] enhancement of experience, through the present appreciation of the intrinsic qualities of the act of expression itself.“ (1986, S. 3). Sinn wird erfahren und nicht nur „transportiert“. In der Darstellung wird eine Lebendigkeit der Dinge selbst simuliert, sodass die Dinge im Akt des Sprechens und durch den Akt des Sprechens überzeugend präsent sind. Was wir heutzutage geprägt von einer literaturwissenschaftlich dominierten Sichtweise — als stilistische Momente des Sprechens verstehen, hat wesentlich mehr mit der Informationsstruktur der gesprochenen Aussagen zu tun, als wir uns gemeinhin vorstellen. Die Trennung in „Stil“ und „Aussage“ wird der Charakteristik mündlichen Sprechens gerade nicht gerecht. 6. Es gibt einige wenige Versuche im deutschen Sprachraum, die diese Konzepte für die Analyse von Gesprächen aufgreifen und sich mit ihnen auseinander setzen. Dazu gehören neben anderen 16 Stempels „Die Alltagserzählung als Kunst-Stück“ (1987) und Kallmeyers „Gestaltungsorientiertheit in Alltagserzählungen (1981). Ich diskutiere diese beiden Versuche im Folgenden etwas ausführlicher, um einige konzeptuelle Probleme bei der Arbeit mit den skizzierten Ansätzen zu veranschaulichen. Stempel nimmt als Ausgangspunkt seiner Betrachtung ein Exemplar einer besonders gut gelungenen Alltagserzählung. Stempel fragt sich, wodurch diese Wirksamkeit der Erzählung zustande kommt und führt eine ganze Reihe von sprachlichen Merkmalen auf, die offenbar dazu beitragen, dass die Erzählung bei den Zuhörern so gut ankommt: 16 Bange (1986), Müller (1989). Die poetische Dimension alltäglichen Streitens 483 — Einsatz bestimmter Zeitformen, durch die die erzählte Geschichte aktuell präsenter und lebendiger wird — lautmalerische Bilder und Expression von Wahrnehmungserlebnissen, die die Unmittelbarkeit des Ereignisablaufs suggerieren — emphatisch direkte Rede ohne Redeeinleitung, durch die die Protagonisten präsent gemacht werden, mit Imitation der Protagonistenstimme — sprachliche Mittel des Spannungsaufbaus und der Ausschmückung von Szenen — Anspielungen, witzige Bemerkungen, Übertreibungen. Beobachtungen dieser Art, so Stempel, wären in den letzten Jahren häufig formuliert worden und einige Autoren hätten daraus den Schluss gezogen, die Grenze zwischen alltagsweltlichen Erzählungen („praktische Kommunikation“) und literarischer Erzählung („poetische Kommunikation“) aufheben zu müssen. Dagegen nun spricht Stempel sich entschieden aus. Seine zwei Argumente sind: Alltagsweltliches Erzählen und literarische Erzählung können nicht miteinander verglichen werden, da beide unterschiedliche Beurteilungsstandards erfordern: Alltagserzählungen die Standards generalisierender linguistischer Beschreibung, literarische Erzählungen die Standards literaturwissenschaftlicher, auf den Einzelfall bezogener, Interpretation. Mir scheint, dass Stempel an dieser Stelle das Problem der Abgrenzung verschiebt von einer Bestimmung am Gegenstand zu dem der Bestimmung wissenschaftlicher Fachdisziplinen. Das macht seine Position allerdings schwach, denn weder entspricht die Linguistik, so wie Stempel sie bestimmt, der Heterogenität tatsächlichen linguistischen Arbeitens, noch ist gewiss, wie linguistisches Arbeiten sich in der Zukunft verändern wird und ob es nicht zu einer Konvergenz linguistischen Arbeitens mit literaturwissenschaftlichem kommt. Aber Stempel hat auch ein Argument in der Sache: „Die Sprache literarischer Texte“ stellt deren Kunstcharakter zur Schau (S. 115). Die Sprachzeichen haben sich zu ästhetischen Zeichen gewandelt. Alltagsweltliches Erzählen hat nach Stempel den Status eines rhetorischen Produkts, nicht den eines ästhetischen. Zwar sei die von ihm bewunderte alltagsweltliche Erzählung ein Kunststück in dem Sinne, dass sie „durch die Erzeugung vielfältig angelegter Reizqualitäten des als-ob, wie sie in den Verfahren der Vergegenwärtigung und der Perspektivik beschlossen liegen, durch qualitative Zubereitungen erhöhter Singularität, durch Modalisierungen u.ä. das anstrebt, was in der Kunst selbst schon Vorgabe ist“ (S. 119), aber Erzählen ist rhetorisch, weil es auf ein praktisches Handlungsziel bezogen ist: „Die Verfahren und Mittel, 484 Werner Nothdurft von denen bei der Analyse unseres Textes die Rede war, sind zwar zumindest teilweise materiell identisch mit entsprechenden Erscheinungen, die auch in der Literatursprache begegnen können, aber sie sind rhetorischer Bestimmung unterworfen, insofern sie insgesamt darauf abzielen, [...] eine vorteilhafte soziale Beurteilung des Sprechers zu erwirken.“ (S. 120f). Dies gerade gelte für literarische Produkte nicht, daher seien die Phänomene nicht poetischer Natur. Eine solche Haltung kann man einnehmen. Ich befürchte allerdings, dass Stempel zu sehr an entkontextualisierte Literaturprodukte denkt und nicht sieht, in welchem Umfang literarisch-ästhetische Produkte eingebunden in soziale Kontexte erfolgen; Stempel wird sich bei seiner Haltung fragen lassen müssen, ob seine Auffassung nicht zu einem zu restriktiven Literaturbeeriff führt. 17 Kallmeyer hingegen spricht sich deutlich dafür aus, die literarisch-ästhetische Qualität von Phänomenen alltäglicher Kommunikation zu würdigen. 18 Er will in seinem Beitrag „Gestaltungsorientiertheit in Alltagserzählungen“ zeigen, dass „bestimmte ‘kunsthafte’ Formen, die starke Strukturähnlichkeiten mit Formen des explizit literarischen Erzählens haben, zur alltagsweltlichen Erzählroutine gehören.“ (S. 409). Er sieht solche kunsthaften Momente v.a. im Phänomenbereich dessen, was er „Interaktionsmodalität“ nennt (Ernst, Spaß, Spiel). Er weist auf folgende Phänomene literarischen Erzählens in Alltagserzählungen hin: - Aufbau von Spannung - Spannungslösung in Pointe als Darstellungsprofil - Vergegenwärtigung als Darstellungsprofil (Auskosten von Darstellungselementen) - Differenzierung von Darstellungsperspektiven (Ereignisvs. Erzähl-Perspektive, Erzähler vs. Zuhörer, verschiedene Formen des Involviertseins) - Präsenz des Erzählers: Hier macht Kallmeyer aufmerksam auf folgende Phänomene. Inszenierungen von Formulierungen (die man gleichsam „auf der Zunge zergehen lässt“), 19 Insistieren und Steigern von Formulierungen Stempels Begriff von Rhetorik - und damit in seinem Sinne gerade nicht: Literatur ist is ^ a ^ tlsc ^ Uentisch mit seinem Begriff von sozialem Kontext. Kallmeyer vermutet, dass unser Blick auf poetische Phänomene in alltäglicher Kommunikation durch die gesellschaftlich herrschende Definition von Literatur und Poetik als Ausnahmeerscheinungen verstellt ist. Er weist in dem Zusammenhang auf den bemerkenswerten Tatbestand hin, dass im Rahmen dieser herrschenden Definition „zwar eine alltägliche Ulfintmrezeption durchaus möglich erscheint, nicht jedoch eine alltägliche Literatarproduktion.“ (S. 410) (m.H.). Vgl. dazu auch die Analysen zur interaktiven Bedeutungskonstitution in Nothdurft (1996, Die poetische Dimension alltäglichen Streitens 485 (illustriert an folgendem Gesprächsausschnitt: „an der Hand son son son überdimensional großen Hund und er selbst son ganz irrsinnig wilder Typ mit som Bart und som offenen Hemd behaarter Brust“ (S. 419) und „gestaltete Sprachlosigkeit“ (S. 419), d.h. die inszenatorische Vorführung momentaner Unfähigkeit, etwas darzustellen oder auszudrücken.) Insbesondere diese Phänomene der „Präsenz des Erzählers“ sind deutliche Beispiele für das, was oben als performance beschrieben worden ist. Kallmeyer plädiert mit diesem Beitrag überzeugend dafür, die „Gestaltungsorientiertheit“ im Sinne von Literarizität sprechsprachlicher Erzählungen zu würdigen, untersucht diese allerdings weitgehend in Begriffen schriftsprachlicher Literarizität und an Phänomenen, die gerade nicht spezifisch für mündliche Kommunikation sind, sondern die auch in Schriftprodukten (Texten) Vorkommen können. 20 Sein Fokus ist die Literarizität, nicht die mündliche Poetik. Für eine Analyse des Streitens erscheint mir aber gerade eine Betrachtung der poetischen Qualitäten alltäglichen Streitens fruchtbar und erhellend. Gleichwohl hielte ich es für verhängnisvoll, gleichsam in einer Gegenbewegung zu einer texttheoretischen Betrachtungsweise Konzepte der Ethnopoetik und Performance für die allein selig machenden zu halten und damit die in texttheoretischer Betrachtungsweise gemachten Fehler zu reproduzieren. Wir sind erst am Anfang damit, das Phänomen des Sprechens zu begreifen und in diesem Stadium ist es wichtig, die analytischen Konzepte im Zaum zu halten. 21 7. Erste Ergebnisse zur poetischen Qualität des Streitens in Schlichtungsgesprächen will ich im Folgenden vorstellen. Ich illustriere die poetischen Qualitäten mit einem Segment aus einem Schlichtungsgespräch. Bei dem Segment handelt es sich um einen Ausschnitt aus einem Schlichtungsgespräch vor dem Schiedsmann, einer vorgerichtlichen Instanz, in der ein Schlichter Nachbarschaftsstreitigkeiten gütlich beizulegen versucht (vgl. Klein 1995). Der Ausschnitt stammt aus einem Gespräch, in dem eine junge Frau, Frau Lange- Bohnert (A), ein Ehepaar aus dem gleichen Haus namens Blanehauf (B1, B2) 20 Ausnahmen sind Hinweise auf die Parallelisierung von Erzählsträngen durch Rhythmisierung (1981, S. 415) und auf Lachen als Moment der Bewertungsmarkierung (ebd., S. 418). 21 Es gilt das Diktum Zumthors: „Ein Punkt zumindest steht fest: nur indem wir das mündliche Werk in seiner diskursiven Existenz wahmehmen - und analysieren werden wir seine textuelle Existenz und darüber hinaus seine syntaktische Realität in der Gewalt haben.“ (1989, S. 114). 486 Werner Nothdurft einer Vielzahl von Vergehen beschuldigt. Das Segment beginnt damit, dass der Schiedsmann (C) eine der Anschuldigungen verliest: 1179 CC: 1180 K auch hat mich herr blanehauf LIEST VOR 1181 CC: vo”r*her mehrfach bedroht er würde uns meinen bruder 1182 K 1183 AA 1184 Bl 1185 CC 1186 K und mich alle machend ** han=isch dat jesagtT 1 a 1187 AA: natü''rlich ham | sie das gesagt^ 1188 Bl: |-.ja wann han=i”sch dat denn 1189 AA: | >ja- * wann ham |sie das gesagt-< | 1190 Bl: jesachtT] |-><war isch da wieder! 1191 AA: |als wir am 1 1192 Bl: besoffen |wie isch all/ | all/ alle viere wieder 1193 AA: |natürliches/ | |sie waren | jeden abend 1194 Bl: |die treppe | ruffgekomme |oder wat4><-| 1195 AA: besoffen^ |ja natürlicht I 1196 Bl: je''den abendt 1197 B2 : I >ach du lieber jott'l'<| 1198 AA: sie haben uns fe”rtiggemacht- * sie haben uns 1199 AA: beschi"mpft und angebrüllti * |jat| 1200 Bl: |hab| isch dat 1201 AA: | immeri'| 1202 Bl: gemachtT * |je"den| abendt rt * weil wir am 1203 AA: renovieren warent * wenn sie das bei si"ch machen 1204 AA: würden- * da sollte mal jemand |(...)4| 1205 Bl: |je"den| abend war 1206 AA: |natü”rlicht | * 1207 Bl: ich besoffen und bin dann immer |äh irgendwiet| 1208 AA: sie waren i''mmer betrunken^ jat 1209 Bl: lieber gott nä: 4 -.da 1210 AA: >j a da 1211 Bl: darf isch ja gar kene tankwage fahre-.- ** 1212 AA: liegt schon (...) |(...)<| sie 1213 Bl: (wissen! sie warum dannt 1214 AA: verstehn-! . Die poetische Dimension alltäglichen Streitens 487 1215 Bl: 1216 AR: 1217 Bl: 1218 AA: 1219 Bl: 1220 AA: 1221 AA: 1222 Bl: 1223 Bl: 1224 AA: 1225 Bl: 1226 AA: 1227 AA: 1228 AA: 1229 Bl: 1230 AA: 1231 AA: 1232 Bl: 1233 AA: 1234 AA: 1235 Bl: 1236 AA: 1237 Bl: 1238 AA: 1239 AA: 1240 AA: 1241 AA: 1242 AA: 1243 Bl: 1244 CC: 1245 CC: überlegen sie mal wenn isch de tankwagen das spielt ja keine rollet * I es fahre dann net Inä geht darum daß sie mich (...) _ I bedroh”t da da trink=isch net das ganze! öl aust habent * und- * daß sie meinen brudert * im flur jat daß sie den fastt * geschlagen hättent jat jat o: ht —weil o/ weil die zwe: uff misch zujejange sindt— wie bittet ich kam raus da nä: isch heiße karlt waren sie dem am- * am- * anbrüllen und waren auf ihn zu- * am zugehn und wollten ihn schlagent * jat * Ida hab ich zu I ihnen gesagt |-(dat laß ich mir net sagen)t<-| lassen sie meinen bruder in ruhet * was fällt ihnen eint * da kam ihre frau runtert |kreisch! (...) ■ •(. ..)<••: kreisch kreischt * is ja ihre artt * jat * un da wollt ich zur polizeit * un |(...t)| |un | da hat ihr jat * damit bruder sie noch zurückgehalten dafürt ich äh er hat gesagt so ein klei"ner wu"rm wie sie: "t ** den kann man gar nicht ernst nehmen ich soll nicht zur polizei ich meine heute sitz=ich hieri ** aber es kann auch noch weiter gehn net * wenn sie so I weiter machent| Ijat I I—ja das mein | ich aucht— so un |jetzI kommt die po"st drant * wie war dat mit der postt * 488 Werner Nothdurft 8. Zumthor hatte für die Kunst des Sprechens vier Qualitäten formuliert: Beredsamkeit, Mühelosigkeit, Suggestivkraft und Rhythmisierung (s. Fußnote 9). Die ethnopoetischen und Performance-Beobachtungen zum sozial situierten Sprechen geben Antworten auf die Frage, wodurch diese Qualitäten realisiert werden. Es handelt sich um Phänomene auf den folgenden Ebenen verbaler Interaktion: die Inszenierung der Begegnung und die Einstellung gegenüber dem Konflikt Hier ist insbesondere wichtig, dass der Schlichter zum Zuschauer gemacht werden kann, vor dem man sich selbst in Szene setzt und vor dem man den Gegner vorführen kann die Inszenierung der Situation als Schauplatz also. Im Beispielfall geht es den Beteiligten primär nicht um eine ernsthafte Auseinandersetzung um die Sache, sondern um die Diskreditierung des Gegners bzw. das Lächerlich-Machen des Gegners. Das Gesprächsverhalten der Anschuldigenden insgesamt zielt auf eine Bloßstellung ihres Streitgegners vor dem Schlichter ab und darauf, ihn vor diesem zu entlarven. Sehr deutlich wird diese Haltung in ihren vielen ironischen Bemerkungen ihrem Gegner gegenüber {aber sie sind immer leise, 792; sie lügen nie, 571), die ihre Bedeutung als ironisch nur auf der Grundlage einer stabilen sozialen Typisierung entfalten können, die angibt, wie Bemerkungen zu verstehen sind. Zum Beispiel: Nur weil die Anschuldigende für klar hält, dass ihr Gegner ein lautstarker, lärmender Bursche ist, kann die Bedeutung ihrer Bemerkung aber sie sind immer leise (792) als ironisch entschlüsselt werden. Für die Anschuldigende ist die Situation also Bühne, um den Gegner in seinen verwerflichen Eigenschaften vorzuführen. Ihrem Gegner, Herrn Blanehauf, scheint es demgegenüber darauf anzukommen, in besonders übersteigerter, karikierender Weise mit den Anschuldigungen fertig zu werden, sie in besonders witziger und kunstvoller Weise abzustreiten und seine Gegnerin durch inkohärente Reaktionen zu irritieren. Er inszeniert in der Gesprächssituation ein Verwirrspiel für den Schlichter. Beide Situationskonzeptionen haben sicher mit dem institutioneilen Rahmen der Schlichtungsverhandlung zu tun: Der Anschuldigenden kommt die Rolle zu, ihre Anklagen offensiv zu vertreten und deutlich zu machen, der Angeschuldigte dagegen ist strukturell in einer defensiven Position, sodass er sich zum Ziel setzt, sich möglichst geschickt zu verteidigen. Die Inszenierung eines Verwirrspiels vermag nicht nur das unmittelbare Handlungsziel, die Die poetische Dimension alltäglichen Streitens 489 Anschuldigungen abzuwehren, zu erfüllen, sondern möglicherweise außerdem noch das Prestige und die Reputation des Sprechers als kommunikativ kompetentes Mitglied seiner Subkultur zu erhöhen. Könnte es nicht sein, dass es auch in unserer Gesellschaft gleichsam unterhalb der offiziellen, deklarierten Streitideologie der rationalen, verstehensorientierten Auseinandersetzung subkulturelle Wert- und Beurteilungsstandards gibt, nach denen Streitbeteiligte durch öffentlichen kunstvollen, witzigen, karikierenden, expressiv orientierten Umgang mit einer Anschuldigung ein hohes Maß an Reputation in ihrer Gemeinschaft erlangen können? 22 Ein Blick in die Rechtsanthropologie zeigt jedenfalls, dass die kulturellen Standards im Umgang mit Konflikten eine hohe Varianz aufweisen: 23 Es gibt Kulturen, in denen bereits das kleinste Zerwürfnis zwischen Gemeinschaftsmitgliedem oder ein lautes Wort als unerträglich empfunden wird. Hierzu gehören die Zuni-Indianer Nordamerikas und die Mbuti in Zaire. In solchen Ethnien ist selbst das Reden über einen Konflikt unmöglich oder extrem risikoreich (Roberts 1981, S. 71). Bei den nomadisierenden Hazdas in Afrika reichen bereits geringe Spannungen, um einen Ortswechsel auszulösen (ebd., S. 87). Bei den IKung-Buschmännem plaudert man unentwegt, um Streitigkeiten zuvorzukommen oder um sie einzudämmen. Heiklen Fragen geht man aus dem Weg (ebd., S. 91). „Jede Äußerung, die Uneinigkeit verrät (‘schlimme Worte’), verursacht ihnen Unbehagen.“ (Marshall, zit. in Roberts 1981, S. 94). In anderen Kulturen „herrscht ständiges Schreien und ein Radau, und die Leute scheinen entzückt, wenn es Ärger gibt.“ (ebd., S. 55), z.B. bei einer Reihe von Stämmen in Neu- Guinea, bei den Arusha in Afrika oder den Ndembu (ebd., S. 34). Kurzum: „Eine Reaktion, die in der einen Gesellschaft das Minimum dessen darstellt, was die „Ehre“ verlangt, gilt in der anderen als unvorstellbare Überreaktion.“ (ebd., S. 56). die Verlaufsdynamik des Dialogs 24 Hier spielen v.a. dynamische Muster der Auseinandersetzung eine Rolle, wie hin-und-her, Steigerung bzw. Eskalation, Blockaden und die mit ihnen typischerweise verknüpften Botschaften „es wird immer schlimmer“, „er hört nicht zu es hat keinen Zweck“, „er will einfach nicht“ und was immer sonst man als Streitteilnehmer an trostlosen Schlüssen aus der Verlaufsdynamik 22 Vgl. auch Brenneis (1987a, S. 502): „‘reputation’ is made among one's peers, largely through artful nonsense.“ In Brenneis (1987b) fuhrt der Autor weiter aus, dass zum Verständnis der Funktion kommunikativer Handlungen für den Statusgewinn der Handelnden ethnografisch erkannt werden muss, was Brenneis „social aesthetics“ nennt: „it fuses intellectual, sense-making activity with local aestetic criteria for coherence and beauty [...] and with ethnopsychological notions of personhood, emotion, expression, and experience ^ [...]“ (S. 237). Vgl. als Übersicht: Roberts (1981), speziell in Hinblick auf Streit-Schlichten Nothdurft/ Spranz-Fogasy (1986). 24 Vgl. Nothdurft (1997), Kap. 5. 490 Werner Nothdurft des Gesprächs zieht und zur Grundlage des eigenen weiteren Handelns macht. Im vorgestellten Ausschnitt findet sich das Muster der „Verschleppung“: 25 Über einen Streitpunkt wird eine Weile ergebnislos gestritten, irgendwann erfolgt dann eine Fokusverschiebung zu einem anderen Streitpunkt, bis die Auseinandersetzung schließlich in einer „Flaute“ endet. Das Muster der Verschleppung weist zwei Botschaften auf: (1) der Inhalt unseres Streits ist beliebig wir können's überall (gleich) gut. (2) Wir kommen nicht raus. Mir scheint, dass sich in diesen Botschaften die Substanz des Streits gerade reproduziert und in diesem Sinne zwischen dem Streit und der Dynamik seiner Austragung ein poetisches Verhältnis besteht. die Körperlichkeit des nichtsprachlichen Handelns Proxemik mit dem Effekt von Synchronizität, Asynchronizität und Rhythmisierung (Kendon 1990) Gestik, Imitationen des Gegners, Drohgebärden, abwehrende oder abschätzige Handbewegungen, Verkörperungen von Haltungen. die Improvisation der Wechselrede die Art und Weise, wie man in die Rede des Anderen eingreift, diese aufgreift, sich selbst ins Spiel bringt und eigene Themen durchhält. Hier spielen Gesichtspunkte der Sequenzialität, der Wiederholung und der Unterbrechung eine Rolle. Im vorgestellten Ausschnitt kommt es zu wechselseitigen Unterbrechungen. Diese führen aber bemerkenswerterweise gerade nicht zu einem Wort- Gemenge von Redebeiträgen, sondern dazu, dass die Beteiligten sich in die Rede des Anderen unmittelbar „einhaken“, sodass es zu einem orchestrierten und kontrapunktischen Wechselspiel von Redebeiträgen kommt. In den Redebeiträgen von Frau Lange-Bohnert bewirkt die dadurch zustande kommende Rythmisierung eine Verstärkung ihrer Botschaft, permanent von Hem Blanehauf belästigt zu werden. Durch die Wiederholungen im Intonationsmuster ihres Beitrags wird diese Permanenz materiell verkörpert. 26 Die Wiederholung des Satzmusters und die Wiederholung des sie tragen ebenfalls dazu bei: 25 Vgl. Nothdurft (1997), Kap. 5. 26 Ähnlich beobachtete Tannen bei listenartigen Aufzählungen: „The meaning of the Statement lies not in the meaning of the words but in the prepattemed rhythm: the listing intonation“ (1989, S. 68). Zu „Listing Intonation“ vgl. auch Erickson (1991). Die poetische Dimension alltäglichen Streitens 491 ja natu‘dich ham sie das gesagt (1183-1187) sie warenjeden abend besoffen (1193-1195) sie haben uns fe'Ytiggemacht (1198) sie haben uns beschV'mpft und angebrüllt { \ 198-1199) immer... i"mmer... sie waren i"mmer betrunken (\20\-\20&) In den Beiträgen von Herrn Blanehauf dienen die Wiederholungen dazu, gegen die Interventionen seiner Gegnerin, seine Redefigur im Gespräch gegen die Flüchtigkeit des Sprechens präsent zu halten, wiedererkennbar zu machen und auszubauen. 27 Auch in dieser Passage materialisiert sich die Botschaft des Beitrags in der sprachgestalterischen Inszenierung: Durch die „lallenden“ Wiederholungen des all all alle viere (1192) gelingt es Herrn Blanehauf, jenen Zustand der Besoffenheit lautlich vorzuführen, den er in seinem Beitrag in strategischer Absicht gerade beschwören will. die Ästhetik der Beitragsgestaltung Hier sind zu nennen: Lautliche Ausgestaltung des Redebeitrags (Lautstärke, Tempo, Akzent, Timbre, Prosodie, Geschwindigkeit, etc.). Müller (1986, S. 65) spricht treffend vom „Klangzauber“. Spitznamen, also treffende, prägnante, witzige Typisierungen insbes. des Gegners (vgl. Briggs 1988). Zitate, d.h. lexikalische und intonatorische Formen der „Andeutung fremder Identität“ (Stempel 1987, S. 107), Karikierungen, Mimikri, mit der Wirkung der Dramatisierung des Streitgeschehens und der Diskreditierung des Streitgegners, vgl. im obigen Transkript das situative Präsentmachen der Streitgegnerin durch Frau Lange-Bohnert in ihrem kreisch kreisch kreisch, in dem nicht nur eine diskreditierende Stilisierung der Gegnerin erfolgt, sondern auch die Skizzierung eines stereotypen Szenarios, das der Zuhörer mit der Sprecherin wird teilen können. Expressionen wie Lachen, Schreien, Johlen, Seufzen, Stöhnen mit ihren jeweiligen kontextbestimmten Bedeutungen. Im Kontext des Streitens sind v.a. 27 Vgl. Tannens Analyse der auf Wortwiederholungen beruhenden Kohärenz eines Gesprächs (1989, S. 66f.)gegen die Flüchtigkeit des Sprechens wird ein Wort durch Wiederholungen gleichsam auf Dauer gestellt. 492 Werner Nothdurft sog. „Partisanenausdrücke“ 28 von Relevanz, d.h. Interjektionen, die insbesondere dank ihrer klanglichen Ausgestaltung in besonders effektiver Weise Anschuldigungen abwehren; vgl. in obigem Transkript den expressiven Kommentar ach du lieberjott (1197), der sich im Kontext als von erheblicher Wirksamkeit erweist; dergleichen die Reaktion o: h (1222) auf die Anschuldigung, die zwar keine Stellungnahme darstellt, sehr wohl aber im Gesprächskontext einen Angriff zum Stehen bringen kann. Sprachwitz, der auf besonderen Präsuppositionsgefügen beruht, auf der verqueren Anwendung von Logik, auf der Herstellung von Nonsens, oder auf der Überzeichnung von Positionen und Sachverhalten insgesamt mit dem Effekt der Entwertung von Gegnerbeiträgen oder dem Lächerlich-Machen des Gegners. Als Beispiel hierfür die Tankwagen-Episode im Transkript: Herr Blanehauf nutzt die selbstgestellte Frage ja wann han i“sch dat denn jesacht (1188-1190), um ein Szenario seines Verhaltens einzuführen, dessen Formulierung in hohem Maße mit sich selbst spielt und das einen bemerkenswert schillernden Status aufweist (im folgenden Transkriptausschnitt hervorgehoben): 1190 Bl: jesachtTl |-><war isch da wieder| 1191 AA: |als wir am (,..)-| 1192 Bl: besoffen |wie isch all/ | all/ alle viere wieder 1193 AA: I natürliches/ 1 I sie waren | jeden abend 1194 Bl: |die treppe | ruffgekomme |oder watf><-1 1195 AA: besoffeni |ja natürlichT | * 1196 Bl: je"den abendt 1197 B2: |>ach du lieber jottfc] 1198 AA: sie haben uns fe''rtiggemacht- * sie haben uns 1199 AA: beschi''mpft und angebrülltf * ljat| 1200 Bl: |hab| isch dat 1201 AA: | immerf | i''mmer4' * weil wir am 1202 Bl: gemachtT * |je"den| abendT 1203 AA: renovieren warenf * wenn sie das bei si”ch machen 1204 AA: würden- * da sollte mal jemand |{...)4| 1205 Bl: |je"den| abend war 1207 Bl: ich besoffen und bin dann immer |äh irgendwieT| 1206 AA: Inatü"rlichT | * 1208 AA: sie waren i”mmer betrunkenf 1209 Bl: 28 Vgl. Nothdurft (1997), S. 45f. Die poetische Dimension alltäglichen Streitens 493 1210 AA: >ja da 1211 Bl: darf isch ja gar kene tankwage fahre-«- ** 1212 AA: liegt schon (...) ! (...)<I sie 1213 Bl: |wissen| sie warum dannT 1214 AA: verstehni 1215 Bl: überlegen sie mal wenn isch de tankwagen 1216 AA: das spielt ja keine rollet * I es 1217 Bl: fahre dann net Inä 1218 AA: geht darum daß sie mich (...)-| bedroh''t 1219 Bl: da da trink=isch net das ganze| öl aust Es ist klar, dass dieser Beitrag nicht den Status einer „Erinnerung an eigenes Verhalten“ hat, wie er eigentlich in dem Slot auf die Frage nach dem Zeitpunkt sequenziell relevant gewesen wäre. Vielmehr wird dieser sequenziell relevante Status spielerisch ausgenutzt - und es passiert etwas ganz anderes. Eigentlich nämlich spricht in diesem Beitrag die Anschuldigende, genauer: Herr Blanehauf tut so als spräche sie. Es ist klar, dass Herr Blanehauf selbst sich so nie beschreiben würde (jedenfalls nicht in diesem Kontext). Gleichzeitig ist die Beschreibung selbst aber so überzeichnet, dass sie karikierend, unsachlich, übertrieben und damit unglaubwürdig ist. Diese Karikierung ist in bemerkenswerter Weise auch formal bzw. in der Beitragsinszenierung durchgehalten: man kann den Wortabbruch all/ all/ alle viere (1192) nach war isch da wieder besoffen (1190-1192) durchaus so verstehen, dass Herr Blanehauf sich als stammelnder Besoffener selbst vorführt. Frau Lange- Bohnert greift seine Vorlage tatsächlich auf und formuliert sie um: sie waren jeden abend besoffen (1193-1195) und gerät ihm auf den Leim, denn nun werden ihre Beiträge zum Spielball seines Witzes. Herr Blanehauf stürzt sich begierig auf ihre Bestätigung: je "den abend, assistiert durch seine Frau ach du lieber gott (1196-1197); diese Bemerkungen sind doppelt funktional: zum einen fungieren sie als Angriffe auf die Sprechhandlung der Behauptung seiner Gegnerin nach dem Motto „Wie kann man so etwas Übertriebenes etc. nur sagen? “ und damit als Angriff auf ihre Glaubwürdigkeit. Zum anderen bauen die Bemerkungen auf der Sachverhaltsebene einen Kontext auf, auf den Herr Blanehauf dann mit da darfisch ja gar keine tankwage fahre (1222) in einer überraschenden Wendung referieren kann. Für den Aufbau dieses Kontextes spielen die Wiederholungen bereits eingeführter Formulierungen die wesentliche Rolle, denn in mündlicher Rede gelingt es über Wiederholungen, Kohärenz und Kontinuität gegen die Zeit - und den Partnerherzustellen. Durch die Tankwagen-Wendung definiert Herr Blanehauf die ganze Sequenz rückwirkend zu der einer zunehmenden Einsicht und Erkenntnis aus einem Stadium ungläubigen Staunens heraus aber natürlich nur in der Modalität uneigentlichen, spielerischen Sprechens und inszenierten Staunens. Der Gesprächskontext hat sich mittlerweile vollends zu dem eines fröhlichen Rätselratens entwickelt, was spätestens klar wird, als Herr Blane- 494 Werner Nothdurft häuf seine Gegnerin fragt wissen sie warum dann, und da Herr Blanehauf nicht erwarten kann, dass seine Gegnerin in diesem Spiel wirklich mitspielt - oder die Antwort weiß, gibt er diese gleich selbst: da da trink=isch net das ganze öl aus. Hätte Frau Lange-Bohnert dieser kunstvollen Nonsens-Konstruktion zugehört, hätte es ihr wohl die Sprache verschlagen. Aber sie hört offensichtlich nicht zu, sondern ist nur damit beschäftigt, ihre eigene Position gegen das Gerede ihres Gegners in Geltung zu bringen beim Streiten ist man im Wesentlichen mit sich selbst beschäftigt. 29 9. Die Erforschung poetischer Qualitäten alltäglicher Kommunikation steht v.a. im deutschsprachigen Forschungsraum noch am Anfang. Ich hoffe, gezeigt zu haben, dass ein solches Forschungsprogramm von seinen theoretischen Leitlinien her fundiert ist und für die empirische Betrachtung von Streitgesprächen und ein vertieftes Verständnis von Streiten erhellend ist. Uber die Analyse von Einzelbeispielen hinaus ginge es jetzt auch um Systematisierungsversuche. Dazu mache ich abschließend einen Vorschlag für die Systematisierung des Zusammenhangs von Aspekten mündlicher Kommunikation bzw. verbaler Interaktion mit den Qualitäten der poetischen Kunst des Sprechens im Sinne Zumthors und einen ersten Versuch der Auffüllung der Systematisierung mit Phänomenen des Streitens. 29 Vgl. dazu ausführlich Nothdurft (1998a). Die poetische Dimension alltäglichen Streitens 495 Qualitäten der poetischen Kunst des Sprechens Aspekte verbaler Interaktion 1. Ästhetik der Beitragsgestaltung Klanggestaltung des Sprechens Sprachwitz Responsivität Typisierungen Redewiedergabe Expressionen besondere Beredsamkeit Wortneuschöpfüngen Präsuppositionsgeflige Schlagfertigkeit Spitznamen Imitationen Mühelosigkeit der sprachlichen Gestaltung Flüssigkeit des Sprechens eindringliche Suggestivkraft Ausdruck von Empörung Szenarios Karikierung Partisanenausdrücke, diskreditierende Geräusche durchweg herrschende Rhythmisierung listenartige Sprechweise 2. Improvisation der Wechselrede Sequenzialität Wiederholungen Orchestrierung Retourkutsche „einhämmernde“ Sprechweise Verkörperung von Botschaften „patterns of tl 30 recurrence Unterbrechungen 3. nicht-sprachliches Handeln Proxemik Gestik auf Distanz gehen Verkörperung von Haltungen Synchronizität 4. Verlaufsdynamik Steigerung in Beschimpfungswettkämpfen, Trinkspruchrituale einander übertrumpfen Mitschwingen 5. Inszenierung der Begegnung u. Einstellung gegenüber Konflikt Streitgegner „fertig machen“, „vorführen‘ Tabelle 1: Exemplarische Gesprächsphänomene für die Poetik des Sprechens aufden verschiedenen Ebenen verbaler Interaktion 30 Vgl. Woodbury (1985), Hymes (1981). 496 Werner Nothdurft Literatur Abrahams, Roger (1982): Storytelling events: wake amusements and the structure of nonsense on St. Vincent. In: Journal of American Folklore 95, S. 389-414. Abrahams, Roger (1983): The man-of-words in the West Indies: performance and the emergence of Creole culture. Baltimore. 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Auch wenn die (noch) Nichtalten, die diese Einstellungen zu einem wesentlichen Teil prägen, wissen, dass auch sie dem Alter nicht entgehen können, erbringen sie doch erhebliche Verdrängungsleistungen, um sich mit diesem Faktum nicht ernsthaft auseinander setzen zu müssen. Diese Verdrängung findet nicht nur alltagsweltlich, sondern auch im wissenschaftlichen Bereich statt. Sprache und Kommunikation im Alter war und ist für die Sprachwissenschaft zumindest in der Bundesrepublik kein Thema, während es dagegen doch erhebliche Bemühungen gibt, sich mit der Sprache und dem Kommunikationsverhalten der Jugend zu befassen. Und wenn sich jemand linguistisch mit dem Alter beschäftigt, kann er oder sie sich merkwürdiger Reaktionen sicher sein von der Irritation über ironische Bemerkungen und Unverständnis bis hin zur wie auch immer rationalisierten - Ablehnung. Festschriften sind eine wissenschaftliche Institution zur Ehrung des wissenschaftlichen Lebenswerks eines Lebenswerks, das nur durch Altern und das Erreichen eines bestimmten Alters zustande gebracht werden konnte. Sie sind eine der wenigen Einrichtungen dieser Gesellschaft, bei der Alter gebunden an markante numerische Geburtstage als Voraussetzung zur Erbringung von Leistungen gewürdigt wird. Festschriften haben so einen ambivalenten Charakter: Sie würdigen das Lebenswerk, verweisen aber zugleich darauf, dass die geehrte Person ein bestimmtes Alter erreicht hat und das Ende der wissenschaftlichen Berufstätigkeit 3 in die Nähe gerückt ist. Im Rahmen einer Für fruchtbare konzeptionelle Anregungen danke ich meinen Kollegen Reinhold Schmitt und Thomas Spranz-Fogasy. 2 Die bisher einzige größere sprachwissenschaftliche Veröffentlichung zu diesem Thema ist Fiehler/ Thimm (1998). 3 In der gesellschaftlichen Wahrnehmung ist Berufstätigkeit ein wesentliches Merkmal für das Nichtaltsein. Während früher jedoch die Berufstätigkeit so lange währte, wie die 500 Reinhard Fiehler Festschrift also die Frage aufzuwerfen, ob es einen oder verschiedene Stil/ e des Alters gibt, ist mithin nicht unproblematisch, werden doch dadurch unter Umständen Überlegungen angestoßen, ob die vorgestellten Ausführungen auch auf den Geehrten zu beziehen und anzuwenden sind. Dies aber käme unter den skizzierten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einer Face-Verletzung nahe. Weniger problematisch wäre es, wenn mit Stil des Alters ein besonderer individueller Schreibstil gemeint wäre. Das Konzept des Altersstils, wie es vor allem im Zusammenhang mit ‘großen’ literarischen Autoren diskutiert und untersucht worden ist (vgl. Chembim/ FIilgendorf 1998, S. 235-238), ist wiederum positiv konnotiert. Was hier aber mit Stil des Alters gemeint ist, ist die Frage, ob ältere Menschen in ihrem Sprechen und Kommunikationsverhalten im Vergleich zu jüngeren Besonderheiten aufweisen, die die Annahme eines kollektiven Alterssprechstils rechtfertigen. Um diese Frage beantworten zu können, wird es notwendig sein, über mögliche Ursachen des Altersstils oder von Altersstilen nachzudenken und Modellvorstellungen zu entwickeln, wie er/ sie theoretisch gefasst werden kann/ können. 2. Modelle des Spracherwerbs und der Entwicklung von Kommunikationsfähigkeiten Dass Menschen die Fähigkeit, miteinander zu kommunizieren und zu sprechen, in einem langwierigen Prozess erst erwerben, ist evident. Linguistische Versuche, diesen Spracherwerb im Kindesalter zu beschreiben und zu erklären, füllen Bibliotheken. Weniger evident ist die Antwort auf die Frage, ob dieser Spracherwerb einen Endbzw. Sättigungspunkt die Beherrschung der Sprache erreicht oder ob es sich dabei eher um einen kontinuierlichen Prozess des Erwerbs und der Veränderung handelt, der zu keinem Abschluss kommt. Diese unterschiedlichen Auffassungen lassen sich als Plateaumodell oder als Permanenzmodell des Spracherwerbs charakterisieren. Welches dieser Modelle man favorisiert, hängt dabei entscheidend von dem zugrunde gelegten Verständnis von Sprache und Kommunikation ab. Versteht man unter Sprache einen Wortschatz und ein System von grammatischen Regeln, die angeben, wie diese Wörter aufeinander zu beziehen und miteinander zu verknüpfen sind, wird man zwar nicht unbedingt für den Wortschatz, aber auf jeden Fall für das System der grammatischen Regeln zu der Auffassung kommen, dass der Spracherwerb weitgehend zu einem Abschluss kommt. Personen fähig waren, den Beruf auszuüben, wird sie im letzten Jahrhundert ungeachtet der Fähigkeiten zunehmend an feste numerische Altersgrenzen gebunden. Dies gilt neben z.B. Ärzten auch für den berufsmäßigen Wissenschaftler, der in den letzten zwanzig Jahren dieser numerischen Begrenzung unterworfen worden ist. Ausnahmen sind hier u.a. neben dem Papst auch noch Politiker, Künstler und selbstständige Unternehmer. Der Stil des Alters 501 Versteht man unter Sprachbeherrschung hingegen die Gesamtheit der Regeln, die notwendig sind, um partner- und situationsgerecht kommunizieren zu können, 4 wird man eher zu der Auffassung neigen, dass der Spracherwerb ein lebenslanger, zu keinem Zeitpunkt abgeschlossener Prozess ist. Nun ist die erstgenannte Sprachauffassung unbestreitbar die linguistisch vorherrschende, was u.a. zur Folge hatte und hat, dass man Entwicklungsprozessen der sprachlichen und kommunikativen Fähigkeiten im Erwachsenenalter - und entsprechend auch im Alter kaum Beachtung geschenkt hat: Wenn der Erwerbsprozess einen Abschluss hat, ist das Folgende nicht Entwicklung, sondern es handelt sich nur um unterschiedliche Formen der Performanz, für die sich das Plateaumodell nicht weiter interessiert. Auf der Basis der zweiten Sprachauffassung möchte ich hingegen dafür plädieren, Spracherwerb und -entwicklung als einen permanenten Prozess zu verstehen: Sprachliche und kommunikative Fähigkeiten entwickeln und verändern sich über die gesamte Lebensspanne. Der Ausbau dieser Fähigkeiten besitzt in der sprachlich-kommunikativen Sozialisation des Kleinkindes, in der Schule und in der beruflichen Sozialisation und Praxis eine besondere Dynamik, Veränderungen erfolgen aber auch in allen anderen Lebensphasen auch im Alter. 3. Ursachen der Veränderung sprachlich-kommunikativer Fähigkeiten Fragt man nach den Ursachen, die Veränderungen der sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten im Erwachsenenalter bewirken, so sind zwei große Komplexe zu unterscheiden: zum einen biologisch basierte Ursachen und zum anderen sozial fundierte Ursachen (Fiehler 1998b). Ich werde mich im Folgenden nur mit sozialen Ursachen befassen. Mit dieser Festlegung wähle ich wiederum den Minderheitenweg, sind doch Veränderungen der sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten im Alter bisher ganz überwiegend als Folge biologischer Veränderungen betrachtet worden. Biologische Erklärungen für Veränderungen der sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten rekurrieren auf die menschliche Physis. Die physischen Veränderungen werden dabei in normale und außergewöhnliche differenziert. Die normalen Veränderungen sind häufig auf ein Stadienmodell (Entfaltung, Reife, Abbau) bezogen, so dass Veränderungen im Alter vor allem mit physi- 4 Aus dieser Perspektive besteht Spracherwerb nicht nur im Erwerb lexikalischer und grammatischer Regeln, sondern ebenso wesentlich auch im Erwerb der Regeln, um bestimmte sprachliche Handlungen, verschiedene kommunikative Muster und die Vielzahl der verschiedenen Gesprächsformen und Textsorten ausfuhren zu können. Vgl. Fiehler (1995) für eine genauere Differenzierung der Regeln, die Sprachbeherrschung ausmachen. 502 Reinhard Fiehler sehen Abbauprozessen in Verbindung gebracht werden. Außergewöhnliche Veränderungen können durch Krankheit, krankhaft beschleunigte Abbauprozesse (z.B. Alzheimer-Demenz), Verletzungen etc. verursacht sein. Die wesentlichen physischen Bereiche, die zur Erklärung sprachlich-kommunikativer Veränderungen herangezogen werden, sind die Organe der Stimmerzeugung (z.B. zittrige, brüchige Stimme) und das Gehör (Schwerhörigkeit mit ihren kommunikativen Folgen) sowie das Gehirn mit seinen kognitiven und affektiven Funktionen, wobei insbesondere Veränderungen der Gedächtnisleistungen (die z.B. zu Wiederholungen und Redundanz führen können) und kognitive Prozesse der Sprachproduktion und -rezeption (z.B. Wortfindungsstörungen) eine wichtige Rolle spielen. Was aber heißt es nun, soziale Ursachen für die Veränderung sprachlichkommunikativer Fähigkeiten in Betracht zu ziehen? Bei einer solchen Sichtweise geht es darum, bestimmte sprachlich-kommunikative Veränderungen mit den strukturellen Veränderungen der sozialen Lebenssituation im Alter, mit den Veränderungen der sozialen Beziehungen und alterstypischen Erfahrungen zusammenzubringen und sie aus ihnen herzuleiten. 5 Mit dem Altem (verstanden als Anwachsen des numerischen Lebensalters) gehen in jeder Kultur für das Individuum bestimmte typische soziale Veränderungen und Erfahrungen einher, so in unserer Kultur z.B. das Ende der Berufstätigkeit, der Übergang aus der Elternin die Großelternrolle, das Anwachsen der Lebenserfahrung oder auch die zunehmende Erfahrung mit dem Tod nahe stehender Menschen. Mit diesen Veränderungen und Erfahrungen können die Betroffenen sehr unterschiedlich umgehen. Es sollte aber deutlich sein, dass sie kommunikative Folgen haben und dass ihre Be- und Verarbeitung zu einem erheblichen Maß kommunikativ geschieht. Die genannten Veränderungen und Erfahrungen lassen sich als Anforderungen verstehen, auf die die Betroffenen kommunikativ reagieren. Sie beeinflussen das Kommunikationsverhalten und führen zur Ausbildung von sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten (sofern die vorhandenen nicht ausreichen), um mit ihnen umzugehen. Der Wandel der LebensVerhältnisse über die Lebensspanne samt seinen kommunikativen Auswirkungen betrifft nicht nur ältere Menschen, aber er betrifft sie in einem besonderen Ausmaß. Betrachtet man nicht die individuelle, sondern gesellschaftliche Entwicklung, so induziert gesellschaftlicher Wandel generell sprachlich-kommunikative Erwerbsprozesse als sprachlich-kommunikative Anpassung an die sozialen Biologische Erklärungen stimmen dabei insoweit mit soziologischen Erklärungen überein, dass beide den Zusammenhang zwischen physischen bzw. sozialen Phänomenen auf der einen Seite und sprachlich-kommunikativen Veränderungen auf der anderen Seite als Korrelation, als Beziehung zwischen unabhängigen und abhängigen Variablen konzeptualisieren (vgl. Fiehler 1998b). Der Stil des Alters 503 Veränderungen. Um nur drei wichtige Beispiele zu nennen: Prozesse der Technisierung (wie die Einführung des Computers und der neuen Kommunikationstechnologien) machen die Beherrschung neuer kommunikativer Praktiken erforderlich (wie z.B. das Besprechen von Anrufbeantwortern oder die Durchführung von Videokonferenzen), was auch den Erwerb einer entsprechenden Terminologie einschließt. Die wirtschaftliche Globalisierung erfordert und trägt in einem erheblichen Maß zur Ausbildung interkultureller Gesprächskompetenz bei. Gesellschaftliche Umbrüche (wie z.B. die Wiedervereinigung von BRD und DDR) verlangen den Betroffenen große sprachlichkommunikative Anpassungsleistungen ab. Solche weit reichenden Prozesse gesellschaftlichen Wandels betreffen jeweils unterschiedlich viele Individuen, und sie unterliegen ihnen unterschiedlich stark wie auch zu verschiedenen Zeitpunkten und in verschiedenen Phasen ihrer Biografie. Sie betreffen zusätzlich zu den oben angesprochenen Veränderungen der individuellen Lebenssituation durch das Altem natürlich auch ältere Menschen. 4. Typische soziale Veränderungen und Erfahrungen im Alter Was bedeutet Altem in unserer Kultur? Was widerfährt Menschen typischerweise, wenn sie altern? Diese Fragen zu stellen bedeutet, davon auszugehen, dass es bei aller Varianz individueller Entwicklung doch auch eine grundlegende Gleichartigkeit der Veränderungen und der Erfahrungen gibt: Es sind zwar nie alle Personen von ihnen betroffen, aber jeweils durchaus relevante Anteile. Im Folgenden möchte ich kursorisch einige dieser typischen Veränderungen und Erfahrungen zusammenstellen, die im Alter häufig eintreten bzw. die häufig gemacht werden. Ich werde dabei vier Bereiche unterscheiden: Typische Veränderungen der sozialen Situation, typische Veränderungen der sozialen Beziehungen, typische Erfahrungen in der Interaktion und typische Erfahrungen, die die Beteiligten mit sich selbst machen. Typische Veränderungen der sozialen Situation entstehen z.B. durch das Ende der Berufstätigkeit. Dies erfordert eine Umstellung auf das ‘Rentnerdasein’, ermöglicht andererseits aber auch die Erschließung alternativer Tätigkeitsfelder. Mit dem Ende der Berufstätigkeit ist eine Veränderung der finanziellen Situation verbunden, die sich in der Regel verschlechtert. Dies kann bis zur Armut und zum sozialen Abstieg reichen. Auf der anderen Seite ist aber auch ein Alter im Wohlstand möglich. Dieses Merkmal differenziert die Gruppe der Alten sehr weitgehend. Eine weitere Verändemng ist der Übergang aus der Elternin die Großeltemrolle und damit der Übergang aus der Gestalterrolle in eine Unterstützungsrolle. Diese Generationsablösung bedeutet zugleich einen Dominanzwechsel. Der Übergang in die Großelternrolle und das Ende der Berufstätigkeit bringen auf der anderen Seite aber auch eine Zunahme an Freiheit mit sich, weil zentrale Verpflichtungen entfallen. Die 504 Reinhard Fiehler Zunahme an Freizeit eröffnet im Prinzip vielfältige Entwicklungsmöglichkeiten. Typische Veränderungen der sozialen Beziehungen ergeben sich aus dem Tod von Ehegatten, Verwandten und Bekannten. Zusammen mit einer abnehmenden Mobilität kann dies generell zu einer Verringerung der sozialen Kontakte (und der Kontaktfähigkeit) führen. Umgekehrt können aufgrund der Zunahme an Freiheit aber auch neue Kontakte geknüpft werden. Zu nennen sind hier auch Veränderungen bzw. der Abbau der Sexualität. Typische Erfahrungen in der {intergenerationellen) Interaktion sind z.B., dass zunehmend Alter zugeschrieben wird. D.h., es entsteht die Notwendigkeit des Umgangs mit Altersattribuierungen und mit der ganzen Palette der herangetragenen Altersstereotype. Zu diesen Erfahrungen gehört häufig auch, nicht mehr für voll genommen zu werden. Typische Erfahrungen mit sich selbst bestehen in der Regel darin, dass physische, mentale und psychische Beeinträchtigungen bzw. Krankheiten zunehmen, bis hin zu dem Punkt, dass man sich selbst nicht mehr versorgen kann und von anderen abhängig wird. Damit einher geht eine Verringerung der aktuellen Welterfahrung. Umgekehrt kann das Bewusstsein großer eigener sozialer Erfahrung bestehen (die u.U. aber nicht gefragt ist). Eine weitere Erfahrung ist, dass Fähigkeiten nachlassen, so z.B., dass die Lernfähigkeit (und Lernbereitschaft) abnimmt oder dass relevante Kulturtechniken zunehmend nicht oder nicht mehr beherrscht werden (Auto fahren, Automaten-/ Computerbedienung). Dies kumuliert häufig in der Erfahrung, dass Entwicklungen über einen hinweggehen. Ein relevanter Teil der alten Menschen macht auch die Erfahrung, dass Spontaneität und Flexibilität nachlassen und Verhaltensroutinen einen immer größeren Platz einnehmen. Dies kann einhergehen mit wachsender Intoleranz, während umgekehrt auch eine mit dem Alter zunehmende Toleranz möglich ist. Eine gravierende Erfahrung ist ferner, sich mit dem eigenen Tod zu beschäftigen. So weit eine kurze Zusammenstellung der Veränderungen und Erfahrungen im Alter, die ein Szenario des typischen Altems in unserer Kultur umreißen. Dabei ist wichtig, im Auge zu behalten, dass diese Veränderungen und Erfahrungen nicht alle alten Personen gleichermaßen betreffen, sondern dass dies individuell sowohl in Hinblick auf die Auswahl, den Zeitpunkt und die persönliche Bedeutsamkeit sehr variabel sein kann. Deutlich geworden ist auch, dass in Bezug auf einzelne Punkte völlig gegensätzliche Erfahrungen gemacht werden können. Zudem können die Betroffenen, selbst wenn sie die ‘gleichen’ Veränderungen erleben und Erfahrungen machen, sie unterschiedlich gewichten und auch auf höchst unterschiedliche Weise akzeptierend oder opponierend, dramatisierend oder bagatellisierend, aufarbeitend oder verdrängend etc. — damit umgehen. Dennoch charakterisieren die skizzierten Der Stil des Alters 505 Bedingungen einen Weg des Altems, von dem man hier oder da abweichen, dem man aber nicht völlig entgehen kann: Ein Altem in dieser Kultur, das von diesen Veränderungen und Erfahrungen gänzlich verschont bliebe, ist nur schwer, wenn überhaupt vorstellbar. 5. Folgen für das Kommunikationsverhalten Mit dem Altern verändern sich also die Lebenssituation und die Erfahrungen, die gemacht werden. Die alternden Menschen registrieren diese Veränderungen und neuen Erfahrungen und reagieren auf sie. Wie schon beschrieben gibt es dabei sehr unterschiedliche Möglichkeiten des Umgangs. Die Verarbeitung dieser Verändemngen und Erfahrungen erfolgt nun nicht nur mental, sondern ganz wesentlich auch kommunikativ: Die Veränderungen und Erfahrungen und die Prozesse ihrer kommunikativen Be- und Verarbeitung strukturieren das sprachlich-kommunikative Verhalten vor und prägen es. Damit stellt sich die Frage, wie und in welcher spezifischen Weise sich die einzelnen Verändemngen und Erfahrungen auf das Kommunikationsverhalten auswirken. Um dies an zwei Beispielen anzudeuten: Wird z.B. als Folge zunehmender Immobilität oder eines wachsenden Desinteresses die aktuelle Welterfahrung geringer, so bedeutet dies kommunikativ, dass zunehmend auf vergangene Erfahrungen zurückgegriffen werden muss, weil neue nicht zur Verfügung stehen. D.h., der Anteil autobiografischer Erzählungen wird zunehmen. Sind aktuelle Fragen und Themen Gegenstand des Gesprächs, so kann darauf je nach Verarbeitungsstrategie unterschiedlich reagiert werden: Bei Interesse z.B. mit intensivem Nachfragen, um diese Erfahrungen ‘nachzuholen’, wobei das Gespräch Züge der Wissensvermittlung oder des Belehrens annehmen kann. Besteht hingegen kein Interesse, so kann dies bedeuten, dass der alte Mensch sich aus dem Gespräch ausblendet, oder aber, dass er versucht, das Thema in seinem Sinne zu beeinflussen (wie das z.B. ‘zu seiner Zeit’ war). Die zentrale Kompensationsstrategie für den Verlust aktueller Welterfahrung besteht in der Medienrezeption, so dass Berichte und Erzählungen über Sendungen zu einem Bestandteil des Kommunikationsaufkommens werden. Auch der mit der Generationsablösung verbundene Macht- und Dominanzverlust wirkt sich in spezifischer Weise auf das sprachlich-kommunikative Verhalten aus. Wichtig ist hier zunächst, ob der Dominanzverlust akzeptiert und hingenommen wird oder ob gegen ihn opponiert wird. Die unterschiedlichen Verarbeitungsstrategien bringen natürlich unterschiedliche kommunikative Folgen mit sich. Für den Fall des Opponierens habe ich in einer ersten empirischen Analyse drei Gesprächsstrategien festgestellt: das Nutzen von Erfahrungen und Erinnerungen als Ressource zur Reaktualisierung der eigenen Überlegenheit/ Dominanz, die kommunikative Emigration in die Vergan- 506 Reinhard Fiehler genheit (als Zeit der eigenen Überlegenheit) und das Abgeben und Schenken als Kompensation des Dominanzverlustes (vgl. Fiehler 1998a, S. 309-315). Auch hier lassen sich sicherlich weitere typische kommunikative Auswirkungen und Folgen benennen. Diese kurzen Skizzen sollen verdeutlichen, dass die oben aufgelisteten typischen Veränderungen und Erfahrungen jeweils mit spezifischen Veränderungen des Kommunikationsverhaltens verbunden sind. Diese Veränderungen gilt es auf empirischer Basis im Detail zu erfassen und zu beschreiben. Dabei ist klar, dass alterstypische Sprache und Kommunikation nicht Folge der Veränderung eines Faktors sind. Alle erlebten Veränderungen und Erfahrungen wirken, wenn sie eintreten, zusammen, und ihre jeweiligen kommunikativen Folgen interferieren. Auf der Ursachenseite sind also in der Regel Bündel von Faktoren anzusetzen, wobei diese Faktoren bei der einzelnen Person bzw. bei Personengruppen in je individuellen Konstellationen auftreten und Zusammenwirken und zudem jeweils unterschiedliches Gewicht besitzen können. Die beschriebenen kommunikativen Auswirkungen sind natürlich nicht auf das Alter beschränkt, d.h., sie sind nicht altersexklusiv. Auch bei jüngeren Menschen finden sich autobiografische Erzählungen, Klatsch und das Hinzufiigen einer Vergangenheitsperspektive, aber in anderer Frequenz und z.T. auch anderer Qualität. Das Alter zeichnet sich dadurch aus, dass diese kommunikativen Folgen aufgrund der Bündelung der Veränderungen und Erfahrungen kumulieren. Insgesamt kann man davon ausgehen, dass die typischen Veränderungen und Erfahrungen, die mit dem Alter einhergehen, den kommunikativen Haushalt der alternden Menschen in quantitativer wie qualitativer Hinsicht umstmkturieren. Quantitative Veränderungen können in der Zunahme (Verbosität, vgl. Ryan/ Kwong See 1998, S. 59-61), aber auch in der Abnahme des Kommunikationsaufkommens bestehen. Die qualitativen Veränderungen liegen zum einen auf der thematischen Ebene in dem Sinn, dass die typischen sozialen Veränderungen und Erfahrungen häufig Gegenstand von Gesprächen sind. Sie betreffen aber auch Vorkommen und Quantität bestimmter Gesprächsformen (z.B. (autobiografisches) Erzählen, Klatsch), bestimmter kommunikativer Muster (z.B. empathische Realisierungen des Musters der Bewertungsteilung (vgl. Fiehler 1990, S. 221-225)) und kommunikativer Strategien (z.B. Stilisierung als ‘alt’, Einbringen einer Vergangenheitsperspektive). Sie berühren ferner äußerungsstrukturelle und gesprächsorganisatorische Aspekte wie den Partnerzuschnitt von Äußerungen, die Bezugnahme auf Vorgängeräußerungen oder die Gestaltung thematischer Kohärenz (z.B. assoziative Anschlüsse). Die Umstrukturierung des kommunikativen Haushalts bleibt dabei auch nicht ohne Auswirkungen auf die Ebene der sprachlichen Mittel. Der Stil des Alters 507 Die Betroffenen gehen aber nicht nur mit den genannten sozialen Veränderungen und Erfahrungen um und verarbeiten sie kommunikativ, sie gehen im Kontext von Alterszuschreibungen, aber auch unabhängig davon mit der Kategorie ‘Alter’ um und verhalten sich dazu. Auch hier sind verschiedene Formen des Umgangs möglich, die von der (punktuellen oder dauerhaften) Identifizierung mit bzw. Akzeptanz von Alter bis zur Distanzierung bzw. Verdrängung von Alter reichen. Kommunikativ kann sich die Akzeptanz von Alter in häufigen Thematisierungen äußern, eine ambivalente Haltung zum Alter in Strategien wie dem Kokettieren mit Alter und eine Distanzierung von Alter darin, dass Alter nur anderen zugeschrieben wird, oder darin, dass versucht wird, ‘Alter’ in der konkreten Interaktion nicht relevant werden zu lassen. Dies kann z.B. dadurch geschehen, dass die oben beschriebenen Formen des kommunikativen Umgangs mit den typischen Veränderungen und Erfahrungen vermieden werden (zu verschiedenen Formen der interaktiven Relevantsetzung von Alter vgl. Fiehler 1998a, S. 305-308). 6. Alter und Stil Die typischen Veränderungen und Erfahrungen im Alter definieren in ihren kommunikativen Auswirkungen und Folgen eine Spannbreite, die den Stil des Alters ausmacht. Diese Spannbreite ist groß, aber dennoch konturiert sie ein erkennbares, abgegrenztes Potenzial von Kommunikationsweisen und besitzt damit stilkonstitutive Kraft. Ergänzt wird dieses Potenzial sozial induzierten Kommunikationsverhaltens durch Phänomene, die biologische Ursachen haben (s.o.). Stil ist diesen Kommunikationsweisen inhärent, er wird aber keineswegs immer wahrgenommen. Stil ist in erkenntnistheoretischer Perspektive ein relationales und damit ein analytisches Phänomen. Stil als Kategorie emergiert immer dann, wenn eine vergleichende Betrachtungsweise eingenommen wird, wenn etwas auf der Folie oder vor dem Hintergrund alternativer Realisierungsmöglichkeiten wahrgenommen wird (vgl. Fiehler 1997). Diese Sichtweise muss nicht notwendig immer eingenommen werden: Man kann etwas für sich betrachten, sprachlich-kommunikatives Verhalten als solches wahrnehmen. Dann ist Stil keine relevante Kategorie. In diesem Sinne folge ich Sandig (1995, S. 28), wenn sie feststellt: „es kann jede Sprachverwendung zum Gegenstand stilistischer Untersuchung gemacht werden“. Ich möchte aber ihre Aussage: „Jede Äußerung und jeder Text hat Stil“ (ebd.) in der beschriebenen Hinsicht relativieren, weil sie zumindest die Gefahr einer verdinglichenden Sichtweise auf Stil beinhaltet. Der Stil des Alters ist also Resultat der Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen, er entsteht als Reaktion auf die soziostrukturellen Bedingungen des Alterns und des Alters. Er umfasst die vielfältigen Formen der kommuni- 508 Reinhard Fiehler kativen Auseinandersetzung mit diesen Bedingungen. Es handelt sich um ein umfängliches Konglomerat sprachlich-kommunikativer Erscheinungsformen, an dem einzelne Personen oder Gruppen nur partiell teilhaben. Dennoch ist er als Ganzes konturiert und erkennbar, nämlich gerade im Kontrast zum kommunikativen Stil des (berufstätigen) Erwachsenenalters, wo die soziostrukturellen Bedingungen des Alters mit ihren spezifischen kommunikativen Auswirkungen und Folgen eben (noch) nicht gegeben sind. Gleichwohl können einzelne Elemente dieses Stils auch schon früher auftreten, sofern auch die betreffenden Veränderungen früher eintreten und entsprechende Erfahrungen früher gemacht werden. Der Stil des Alters ist also weder exklusiv auf einen Personenkreis ab einem bestimmten numerischen Alter beschränkt, noch ist er homogen, sondern er umfasst durchaus gegensätzliche Erscheinungsformen. Seine Grenzen können wegen der Vielfalt der Veränderungen, Erfahrungen und Verarbeitungsweisen nicht anders als unscharf sein, wenngleich es auch prototypische Erscheinungsformen gibt. Der Stil des Alters ist keinesfalls nur ein Defizienzstil. In dem Maße, wie ein positiver Umgang mit den sozialen Veränderungen und Erfahrungen und eine konstruktive Verarbeitung von Alter gelingt, ist er Ausdruck einer eigenständigen, andersartigen Lebensphase, die ‘eigentümlichen’ Bedingungen unterliegt. Der Stil des Alters wird erworben in dem Maße, wie die typischen Veränderungen eintreten und die entsprechenden Erfahrungen gemacht werden. Er ist dabei, sich zu entwickeln, wenn z.B. immer häufiger eine Vergangenheitsperspektive eingeflochten wird. Sich stetig deutlicher ausbildend durchzieht er immer weitere Bereiche des Kommunikationsverhaltens. Alte Menschen sprechen diesen Stil, gleichwohl ist es kein Personal- oder Gruppenstil. Er ist wie gesagt am besten als Konglomerat von kommunikativen Verhaltensweisen zu charakterisieren, denen man die Veränderungen und Erfahrungen des Alters anhört. Zu unterscheiden vom Stil des Alters sind Stile des Alters, wie sie für einzelne Personen, Gruppen oder Milieus charakteristisch sind. Sie sind das Resultat je konkreter erlebter Veränderungen und Erfahrungen und eines je konkreten Umgangs mit ihnen. Die oben aufgelisteten typischen Veränderungen und Erfahrungen im Alter werden nicht von allen Personen gleichermaßen gemacht. Individuen unterscheiden sich darin, welche Veränderungen und Erfahrungen sie erleben, welche Bedeutung sie für sie haben, wann sie sie erleben, in welcher Kombination sie ihnen begegnen und letztlich auch darin, wie sie sie verarbeiten. Diese Unterschiede konstituieren zusammenhängende oder disperse Gruppen im Gesamtbereich der älteren Menschen, deren Kommunikationsverhalten aufgrund der gleichen Veränderungen, Erfahrungen und Verarbeitungsformen eine gewisse Homogenität besitzt. Dies möchte ich als Gruppenstile ansprechen. Im Gegensatz zum abstrakten Stil des Alters sind dies konkrete Sprech- und Schreibstile von Gruppen, die sich aus einem ähnlichen gemeinsamen ‘Hintergrund’ ergeben. Diese Gruppen- Der Stil des Alters 509 stile machen die interne Differenzierung der Alterskommunikation aus. Die Doppelung von abstraktem Stil des Alters auf der einen Seite und von konkreten Gruppenstilen auf der anderen Seite ermöglicht es also, zu erfassen und theoretisch zu modellieren, dass Alterskommunikation zwar in gewisser Weise einheitlich erscheint, zugleich aber auch eine sehr große Bandbreite aufweist. Dieser Erklärungsansatz ist dadurch in der Lage, die beobachtbare breite Varianz im Kommunikationsverhalten älterer Menschen abzubilden. Altengruppen dieser Art existieren als Interaktionsgruppen, bei denen die Gruppenmitglieder in Kontakt miteinander stehen und gemeinschaftlich handeln (Wandergruppen, Bastelgruppen etc.). Während das numerisch charakterisierte Alter keine Wahlgruppe ist, der man sich freiwillig anschließt, sondern eine ‘Schicksalsgemeinschaft’, ist auf der Ebene dieser Altengruppen durchaus Gruppenwahl möglich. Altengruppen konstituieren sich äußerlich betrachtet auf der Grundlage des numerischen Alters einerseits und gemeinsamer Interessen andererseits, es ist aber häufig festzustellen, dass als weiteres Konstitutionskriterium Gemeinsamkeiten der Lebenssituation und gleichartige Erfahrungen hinzukommen. Altengruppen existieren aber auch als disperse Gruppen, bei denen die Mitglieder keine oder keine dauerhaften Kontakte zueinander haben. Sie verbinden Gemeinsamkeiten der Lebensumstände, gleichartige Erfahrungen und Formen des Umgangs mit Alter. Solche Gruppen möchte ich als Milieus ansprechen. Die Stile dieser Gruppen und Milieus besitzen jeder für sich eine gewisse Homogenität. Sie ist Resultat der Tatsache, dass die Gruppenmitglieder vergleichbare Veränderungen erlebt und Erfahrungen gemacht haben und/ oder dass sie in vergleichbarer Weise mit Alter umgehen. Als zweite Komponente der Stilbildung kommt neben dem gemeinsamen Hintergrund hinzu, dass sie sich gegenüber anderen Altersgruppen wie auch gegenüber den Nichtalten konturieren wollen und müssen. An dieser Stelle kommt das Konzept des ‘kommunikativen sozialen Stils’ zum Tragen, wie es von Kallmeyer (1995a, 1995b) und Keim (1995) im Rahmen des Projekts ‘Kommunikation in der Stadt 4 für die Analyse bestimmter Gruppen der Stadtbevölkerung entwickelt wurde. Gruppenstile dieser Art dienen der Signalisierung des Selbstverständnisses und der Identität sowie der sozialen Positionierung. Durch kontrastive Analysen kann die soziostilistische Bedeutung solcher gruppenbzw. milieuspezifischer Stile charakterisiert werden. Zu fragen ist dabei, welche spezifischen kommunikativen Verfahren und sprachlichen Mittel jeweils verwendet werden, um in den Gruppen bzw. Milieus vorherrschende Alterskonzepte und Leitvorstellungen (z.B. ehrwürdiges Alter, zwiespältiges Alter, renitentes Alter (z.B. Graue Panther) etc.) bzw. spezifische Formen des Umgangs und der Verarbeitung von Alter zu signalisieren. Auf diese Weise werden gruppenspezifische Unterschiede in Hinblick auf die Symbolisierung von Alterskonzepten und -Identität und hinsichtlich der Positionierung der eigenen Gruppe im gesellschaftlichen Rahmen erfasst. 510 Reinhard Fiehler Untersuchungen des Stils des Alters wie auch der Altersstile haben ein gemeinsames zentrales methodisches Dilemma in Rechnung zu stellen, das abschließend zumindest benannt werden soll: Stil ist ein Gestaltphänomen, das sich aus dem Zusammenspiel sehr unterschiedlicher stilkonstitutiver Phänomene in verschiedenen Kontexten zusammensetzt. Stil ist daher kein lokales Phänomen, die Gesamtheit der für eine Gruppe stilbildenden Aspekte lässt sich nie in einer einzigen Situation beobachten. Gleichwohl ist Stil empirisch nur über die Beschreibung einzelner lokal realisierter stilkonstitutiver Merkmale erfassbar. (Schmitt i.d.Bd.) Fasst man den Gang der Argumentation zusammen, so habe ich zunächst dafür plädiert, dass die Sprachentwicklung ein Prozess ist, der zu keinem Abschluss kommt, sondern dass von einer lebenslangen Sprachentwicklung und so auch von einer Veränderung der sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten im Alter ausgegangen werden muss. Ich habe versucht, die Veränderungen im Kommunikationsverhalten und in den sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten im Alter konsequent auf dem Hintergrund sozialer Veränderungen und sozialer Erfahrungen zu verstehen (und damit nicht wie üblicherweise auf einem biologischen Hintergrund). Diese typischen Veränderungen und Erfahrungen wirken sich in spezifischer Weise auf das Kommunikationsverhalten aus. Sie strukturieren den kommunikativen Haushalt um und konturieren so etwas, was ich als Stil des Alters bezeichnet habe. Er ist Resultat der kommunikativen Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen im Alter. Es handelt sich dabei um ein soziostrukturell-funktionales Konzept von Stil. Zu unterscheiden davon sind Altersstile, die für bestimmte Altengruppen oder Milieus charakteristisch sind. Bei ihnen wird das Stilkonzept durch eine identitätstheoretische Komponente erweitert. Durch die Dualität der theoretischen Konzepte Stil des Alters und Altersstile ist es möglich, sowohl die Einheitlichkeit des sprachlich-kommunikativen Verhaltens im Alter wie auch seine Varianz und Vielfältigkeit zu modellieren. 7. Literatur Cherubim, Dieter/ Hilgendorf, Suzanne (1998): Sprachverhalten im Alter. Beobachtungen und Diskussionen zum Begriff des Altersstils. In: Fiehler/ Thimm (Hg.), S. 230-256. Fiehler, Reinhard (1990): Kommunikation und Emotion. Theoretische und empirische Untersuchungen zur Rolle von Emotionen in der verbalen Interaktion. Berlin/ New York. Fiehler, Reinhard (1995): Weichenstellungen der Sprachwissenschaft und ihre Folgen oder: Zum Verhältnis von Grammatik und Pragmatik. In: Kertesz, Andräs (Hg.): Sprache als Kognition - Sprache als Interaktion. Studien zum Grammatik-Pragmatik-Verhältnis. Frankfurt a.M. S. 19-58. Der Stil des Alters 511 Fiehler, Reinhard (1997): Kommunikation im Alter und ihre sprachwissenschaftliche Analyse. Gibt es einen Kommunikationsstil des Alters? In: Selling, Margret/ Sandig, Barbara (Hg.): Sprech- und Gesprächsstile. Berlin/ New York. S. 345-370. Fiehler, Reinhard (1998a): Kommunikation im Alter. Drei Zugänge zur Analyse altersspezifischen Kommunikationsverhaltens. In: Reiher, Ruth/ Kramer, Undine (Hg.): Sprache als Mittel von Identifikation und Distanzierung. Frankfurt a.M. S. 299-317. Fiehler, Reinhard (1998b): Modelle zur Beschreibung und Erklärung altersspezifischer Sprache und Kommunikation, ln: Fiehler/ Thimm (Hg.), S. 38-56. Fiehler, Reinhard/ Thimm, Caja (Hg.) (1998): Sprache und Kommunikation im Alter. Opladen/ Wiesbaden. Kallmeyer, Werner (1995a): Zur Darstellung von kommunikativen sozialen Stilen in soziolinguistischen Gruppenportraits. ln: Keim (1995), S. 1-25. Kallmeyer, Werner (1995b): Der kommunikative soziale Stil der „kleinen Leute“ in der Mannheimer Innenstadt. In: Keim, Inken (1995), S. 506-523. Keim, Inken (1995): Kommunikation in der Stadt. Teil 3: Kommunikative Stilistik einer sozialen Welt „kleiner Leute“ in der Mannheimer Innenstadt. Mit zwei Beiträgen von Werner Kallmeyer. Berlin/ New York. (= Schriften des Instituts für deutsche Sprache 4.3). Ryan, Ellen B./ Kwong See, Sheree T. (1998): Sprache, Kommunikation und Altem. In: Fiehler/ Thimm (Hg.), S. 57-71. Sandig, Barbara (1995): Tendenzen der linguistischen Stilforschung. In: Stickel, Gerhard (Hg.): Stilffagen. (= Jahrbuch 1994 des Instituts für deutsche Sprache). Berlin/ New York. S. 27-61. Carmen Spiegel Identitätskonzepte - Individualitätskonturierungen Zur schrittweisen Herausbildung von Identität bei Jugendlichen in der institutioneilen Interaktionssituation ‘Deutschunterricht’ 1. Phänomenbeschreibung In einer 10. Schulklasse sitzen ca. 20 bis 25 junge Menschen mit Gesichtern, die sich ähneln, in Kleidern, die vom gleichen Hersteller zu sein scheinen. Wenige fallen durch ihr Aussehen auf. Im Verlauf einer Unterrichtsstunde verändert sich dieser Eindruck für Beobachtende: Aus der relativ gleichförmig scheinenden Gruppe gibt es (zunächst) einige wenige, die in der und durch die Unterrichtsinteraktion eine individuelle Kontur bekommen. Ähnliche Phänomene kennen viele aus Gruppenkonstitutionsprozessen z.B. im Rahmen eines Workshops, in Hochschulseminaren. Nach und nach erhält der eine oder die andere ein Profil, bekommt Individualität, einige relativ rasch und plakativ, andere nur recht spärlich, bleiben blass. 1 Schulische Kommunikation ist geprägt durch institutionelle Zwänge, 2 die, ähnlich den Zwängen und Verhaltenskonventionen in anderen Situationen, die Möglichkeiten der Individualisierungskonturierungen der Beteiligten außerhalb der sozialen Rolle ‘Schüler/ Schülerin’ bzw. ‘Lehrer/ Lehrerin’ eingrenzen; andererseits finden sich in verbalen Interaktionen interaktionsdynamische Prozesse, die intensiv an einer Profilbildung der Beteiligten in Bezug auf ihre Interaktionsrollen, den sog. Interaktionsprofilen, 3 teilhaben. 1 Die Frage ist natürlich, inwieweit sie nicht nur der Autorin, sondern in der Interaktion auch für andere auffallen. Individualitätskonturierung wird interaktiv hergestellt, d.h., das Interaktionsverhalten der anderen trägt wesentlich zur Individualisierung bei: durch Zuteilung des Expertenstatus, Bestätigung und Würdigung, Gefolgschaftsverhalten, aber auch durch besondere Aggressivität, Ausgrenzung etc. 2 Zu den institutioneilen Zwängen des Bereichs ‘Schule’ gehören neben den inhaltlichen die durch Curricula: Zeitstundenbegrenzung, feste Rollenzuweisungen und -erwartungen für Lehrende, Schülerinnen und Schüler, Hierarchien und Asymmetrien, Schulklassen als Zwangsgemeinschaften, das Bewertungssystem, in welchem Lehrende und Lernende eingebunden sind etc.; siehe u.a. Ehlich/ Rehbein (1986), Weingarten/ Pansegrau (1993), Vogt (2000). 3 Zur Definition des Terminus TnteraktionsprofiT: „Mit diesem Ausdruck bezeichne ich die spezifische, interaktiv und prozessual konstituierte, komplexe Handlungskonfiguration ei- 514 Carmen Spiegel Mich beschäftigt die Frage, wie die jugendlichen Schülerinnen und Schüler 4 es schaffen, in einer für alle Beteiligten institutionell stark vorstrukturierten Interaktionssituation, wie in der Schule dargestellt, Individualitätsanteile einzuflechten: Welche Formen der Individualitätskonturiemng kommen vor, was geschieht da, wie geschieht das und mit welchen Mitteln? Identitäten, soziale Kategorisierungen und Typisierungen, Stereotype 5 , Selbst- und Fremdstilisierungen und -darstellungen sind Phänomene, die in der (verstehenden) Soziologie bereits seit Schütz sowie in der Konversationsanalyse 6 entsprechende Beachtung gefunden haben. Im Fokus solcher Untersuchungen steht meist die Frage, wie und mit welchen Folgen wechselseitige typisierende Zuschreibungen der Gesprächsbeteiligten interaktiv zustande kommen und wie sie als holistisches Ganzes Identitäten und letztendlich soziale Welten (ab-)bilden. 7 Das geschieht u.a. durch Rückgriff auf das Inventar, das die jeweiligen Typisierungen und sozialen Kategorien ausmacht. Dies kann in einfacher und komplexer Form geschehen, so beispielsweise durch Rückgriff auf eine oder mehrere verschiedene soziale Typisierungen und spezifische Interaktionsmodalitäten. Einfache Formen der Fremd- und Selbststilisierung schaffen so etwas wie ‘kollektive bzw. partizipative Identitäten’, komplexere Formen der Fremd- und Selbststilisierungen oder -typisierungen gehen über die schlichte Bündelung sozial vorgefertigter Muster hinaus und entsprechen dem, was in Willems/ Hahn (1999, S. 18) als ‘personale Identitäten’ bezeichnet wird, die von ersteren zu unterscheiden sind. Bei den partizipativen Identitäten geht es darum, „jenseits aller Differenz einen Ankerpunkt für Identität zu finden, in dem, was alle gemeinsam haben oder, wie man wohl besser sagen müsste: sich entschließen können, als >gemeinsam< kontrafaktisch zu unterstellen.“ (ebd., S. 17). Die partizipativen Identines individuellen Gesprächsteilnehmers - und seiner Interaktionspartner in Bezug auf ihn in einer Interaktion (Spranz-Fogasy 1997, S. 16). 4 Der Untersuchung liegt das Korpus des Forschungsprojekts ‘Argumentationsfähigkeit von Jugendlichen der Sekundarstufe’, Pädagogische Hochschule Heidelberg, zugrunde, das aus ca. 36 Aufnahmen von ca. 18 Schulklassen (10. Kl. Realschule, 10. und 13. Kl. Gymnasium) besteht, in welchen Schülerinnen und Schüler insbes. die Themen ‘Soll man Moden und Trends mitmachen’ und ‘Ist die Gleichberechtigung von Mann und Frau bereits verwirklicht’ diskutieren. Aus methodischen Gründen wurde hier ausschließlich Material aus den 10. Klassen (Thema: ‘Mode und Trends’) verwendet, jedes Fallbeispiel stammt aus einer anderen Schulklasse. Stereotype werden hier ‘wertneutral’ als Beschreibungsbegriff im Sinne von bestimmten Formen von Typisierungen und sozialen Kategorisierungen verstanden und nicht im Sinne von Quasthoff als vorgefertigte, bewertende Zuschreibungen (hierzu u.a. Quasthoff 1998). So insbes. in dem von Kallmeyer in den 80er Jahren geleiteten Stadtsprachenprojekt des Instituts für Deutsche Sprache, Mannheim, Hinnenkamp/ Selting (1989), Selting/ Sandig (1997) u.a.m. 7 Vgl. Selting/ Hinnenkamp (1989) in: Hinnenkamp/ Selting (1989), auch Keim in diesem Band. Identitätskonzepte - Individualitätskonturierungen 515 täten entsprechen Goffmans Konzept der ‘sozialen Identität’ (Goffman 1967/ 1990, S. 10), die ‘personalen Identitäten’ sind mit Goffmans Begriff der ‘persönlichen Identität’ vergleichbar. Die ‘persönliche Identität’ zielt auf die Ausgestaltung des Individuums als einer einmaligen Konstellation: „Persönliche Identität hat folglich mit der Annahme zu tun, daß das Individuum von allen anderen differenziert werden kann und daß rings um dies Mittel der Differenzierung eine einzige kontinuierliche Liste sozialer Fakten festgemacht werden kann, herumgewickelt wie Zuckerwatte, was dann die klebrige Substanz ergibt, an der noch andere biographische Fakten festgemacht werden können. Schwierig einzuschätzen ist, daß persönliche Identität eine strukturierte, routinemäßige, standardisierte Rohe in sozialer Organisation spielen kann und auch spielt, gerade wegen ihrer Qualität, Jemand-von-einer-Art zu bedeuten.“ (Goffman 1967/ 1990, S. 74). 8 Hier möchte ich den Begriff der persönlichen Identität mit dem Ausdruck ‘Individualität’ synonymisieren: Es geht mir darum, Konturierungen der Individualität, insofern sie im Interaktionsverlauf sukzessive deutlich werden oder vielleicht auch erst zustande kommen, aufzuspüren: Wie und womit erreichen es einige Gesprächsbeteiligte, nicht nur als Schülerin oder Schüler unter anderen wahrgenommen zu werden, sondern darüber hinaus auch als unverwechselbare Individuen, oder, nach Goffman, wie erhalten sie eine persönliche Identität und eben nicht nur eine soziale Identität im Sinne von Vertreterinnen und Vertretern bestimmter sozialer Rollen? Die persönliche Identität kann in ihrer Gesamtheit in der Realität nicht erfasst werden, erst recht nicht in einem zur Analyse vorliegenden einstündigen Gespräch. Insofern geht es hier darum, Spuren nachzugehen, die auf so etwas wie persönliche Identität bzw. Individualität hinweisen, die über die soziale Identität hinausgehen und eben auf das Spezifische eines Gesprächsbeteiligten verweisen im Vergleich zu den anderen Gesprächsbeteiligten und im Kontext der Gesprächssituation ‘Deutschunterricht’. Im Zusammenhang mit sozialer und persönlicher Identität stehen auch verschiedene Ausprägungen von Konturierungen, einfache und komplexe Formen, wobei die Übergänge fließend sind: Neben der sozialen Identität und der persönlichen Identität findet sich bei Goffman noch der Begriff der Ich-Identität. Während die beiden vorangegangenen Begriffe aus der Perspektive des Außenstehenden Eigenschaften von Individuen charakterisieren, bezeichnet der Terminus Tch-Identität’ dasjenige, das aus der Binnen-Perspektive des Subjekts als Selbst an- oder wahrgenommen wird, „das subjektive Empfinden seiner eigenen Situation und seiner eigenen Kontinuität und Eigenart, das ein Individuum allmählich als ein Resultat seiner verschiedenen sozialen Erfahrungen erwirbt.“ (Goffman 1967/ 1990, S. 132) 516 Carmen Spiegel Einfache Formen der Konturierungen sind auf der Ebene der sozialen Identitäten angesiedelt, sie werden als Selbstpräsentationen oder interaktiv realisiert durch Rückgriff auf ‘Inventare’, die auf einzelne Typisierungen verweisen, so z.B. durch Rückgriff auf das sprachliche Inventar bestimmter gesellschaftlicher Gruppen wie ‘Ökos’, ‘HipHopper’, ‘Intellektuelle’; sie bilden für mich einfache Typisierungen bzw. stellen einfache ‘Identitätskonzepte’ dar. Komplexere Formen von Konturierungen entsprechen eher den persönlichen Identitäten, sie entstehen interaktiv durch die Kombination mehrerer sozialer Typisierungen innerhalb eines Interaktionsgeschehens, sie bilden sich im Interaktionsverlauf schrittweise heraus und sind meist mit einer variierenden Interaktionsmodalität verbunden. Diese stellen für mich Individualitätskonturierungen dar. 9 2. Einfache Typisierungen bzw. Identitätskonzepte Einfache Typisierungen können mit Hilfe bestimmter Sprechstile erfolgen, die gruppenspezifisch sein können, mit Hilfe bestimmter Verhaltensformen, die Bestandteil des Verhaltenscodex einer Gruppe sein können, aber auch durch die Präsentation bestimmter Argumente und Topoi, die dem Diskurs einer bestimmten ideologischen oder gesellschaftspolitischen Gruppe angehören. Zwei Beispiele sollen diese Art der Typisierung illustrieren: Martin äußert sich im Unterrichtsverlauf fast ausschließlich, um Kritik an dem Moderationsstil der Lehrerin und am Diskussionsverlauf zu üben oder um selbst die Moderation zu übernehmen — er agiert als Störer. Das zweite Beispiel zeigt eine kurze, aber typische argumentative Sequenz eines Schülers einer anderen Klasse, der relativ konsistent über die gesamte Unterrichtsstunde hinweg die Argumentation der sog. ‘Ökos’ vertritt und dabei einen bestimmten Sprechstil realisiert. 10 Es sei hier noch einmal darauf hingewiesen, dass es um Individualitätskonturierungen geht, die in relativ kurzer Zeit entstehen: im Rahmen einer ca. einstündigen Videoaufnahme. Von verschiedenen Schulklassen haben wir bis zu drei einstündige Aufnahmen. Es ließ sich beobachten, dass einzelne Personen nicht in jeder Aufnahme Präsentationen ihrer Selbst lieferten bzw. besondere Berücksichtigung durch ihre Schulklassen erhielten. Das Auftreten von Identitätskonzepten und Individualitätskonturierungen ist nach dem ersten Augenschein von verschiedenen Faktoren abhängig wie ‘thematische Betroffenheit’, ‘persönliche Gestimmtheit’, ‘Aktualität gruppenspezifischer Vorkommnisse’ etc. 10 Zu Argumentation und Sprechstil der ‘Ökos’ siehe Spiegel (1996) und (1997). Identitätskonzepte ~ Individualitätskonturierungen 517 2.1 Der Störer: Matthias In einer Unterrichtsstunde zur Argumentationseinübung versucht Matthias wiederholt mit provozierenden Bemerkungen die Moderation der Lehrerin zu beeinflussen. Dabei agiert er kaum inhaltlich er präsentiert wenig Argumente und begründet auch nicht sein Tun. In den ersten 30 Minuten fallt er durch häufige verbale Präsenz in Form von Infragestellen der Beiträge der anderen Gesprächsbeteiligten auf: Er wiederholt das Äußerungsende des vorangegangenen Beitrags mit einer fragenden Intonation. Sein Sprechstil ist auffällig: Martin spricht zwar syntaktisch und grammatikalisch unauffällig, intonatorisch und prosodisch jedoch zeichnet sich seine Sprechweise durch eine gewisse Stakkatohaffigkeit aus: Rhythmus und Pausen werden gegenläufig zum natürlichen Rhythmus gesetzt, es fehlen Verschleifungen zwischen den Ausdrücken. Der Wechsel von Sprechpausen manchmal vor jedem Wort - und recht rasch gesprochenen Wörtern erinnert an Wortfmdungsprobleme; eine spezifische, am Wort- und Satzende schwebende, leicht nach oben gehende Intonation, gelegentliche stimmhafte ‘s’ z.B. bei ‘sagen', u rollend ausgesprochene ‘r’ z.B. bei "trend', die aber eher an die englische Aussprache erinnern als an die südländische Variante, Aspiration von Plosiva wie in "gib’, Frikativlängung z.B. in ' vergessten' sowie stark elliptische Formen imitieren die Sprachverwendung von Personen, die Deutsch nicht als Muttersprache haben. dieses habe ich ** / verges: 'sen\.... äch-sö/ ....äch-sö/ Alle Silben werden ausgesprochen, beim Ausdruck "vergessen' wird jede Silbe stark betont; die Intonationskurve "achso' verläuft in mittlerer Tonhöhe bei der ersten Silbe (-), während die zweite Silbe mit hoher Tonhöhe ausläuft (/ ), beide Vokale (a, o) werden verkürzt ausgesprochen. Etliche männliche Jugendliche in der Klasse imitieren Matthias' Sprechweise, bei einem Schüler ist im Unterrichtsverlauf eine Übernahme dieser Art des Sprechens zu beobachten: Zu Beginn der Interaktion spricht er eher legato, nach und nach wird sein Sprechen zunehmend Stakkatohafter. Die Sprechweise der Schüler dieser Klasse ist als Stilisierung zu sehen, die sich vom Sprechen anderer Jugendlicher mit jugendsprachlichem Slang unterscheidet: Sowohl HipHopper, die ihre eigene Art des Sprechens gerne als ‘Türken- 11 In der Standardvariante des Rhein-Neckar-Raumes werden im Allgemeinen keine stimmhaften ‘s’ verwendet. 12 O bedeutet: Betonung 518 Carmen Spiegel deutsch’ bezeichnen, als auch Jugendliche nicht-deutscher Herkunft verwenden andere prosodische und intonatorische Merkmale. 13 Der nachfolgende Ausschnitt zeigt typische Elemente seines Verhaltens. Die Klasse verständigt sich seit ca. 15 Minuten darüber, welche Trends es überhaupt gibt. 14 01 AN: aber die frage ist ja soll man die trends mitmachen (und 02 LE: ah Vorsicht * nicht 03 AN: nicht) was die trends sind im moment 04 LE: so schnell * ich denke dass wir noch zu der frage 05 LE: kommen * dass wir diese frage noch beantworten 06 LE: #oder seht ihr da * # etwa schwarz oder Probleme * 07 MA: # (zu zentrale frage)# 08 XX: # ( ) # 09 K #DURCHEINANDER # 10 MA: machen wir jetzt ne freie diskussion oder ne zentrale 11 MA: Plandiskussion # # ja sie haben gesagt 12 K #LACHEN VIELER# 13 MA: dazu kommen wir noch aber * erst wollen wir das andere 14 MA: besprechen wir * lassen wir jetzt nicht/ die diskussion 15 LE: (wir machen das wie in einer normalen 16 MA: frei entfalten 17 LE: stunde) ich bin jetzt hier Vorsitzende es tut mir leid 18 MA: ach so 19 LE: hast du das jetzt verstanden und deswegen 20 MA: ach so dieses hab ich ** #ver*qes*sen/ # 21 K #STARK INTONIERT# 22 LE: muss ich=s jetzt ein bisschen planen damit wir mit 23 LE: der zeit hinkommen 24 MA: # yeah # 25 K #KERNIG GESPROCHEN# Bereits in Zeile 7 formuliert Matthias einen in Teilen unverständlichen Einwurf, während die Lehrerin Andreas 1 Aktivitätsrückfuhrungsversuch (‘aber die frage istja Z. 1/ 3) bearbeitet. Andreas' Äußerung ist nicht als Kritik zu verstehen — er selbst hatte gerade über ‘verschiedene trends' geredet — sondern als Teil einer thematischen Rückführung. Die Lehrerin, die noch beim Thema ‘verschiedene Bereiche’ bleiben möchte, das sie zuvor als Fokus angekündigt und aufgrund einer Intervention von Matthias ausführlich gerechtfertigt hat, unterbricht die Initiative von Andy und reagiert mögli- Zum Sprechen der HipHopper siehe hier das Kapitel zu Tobias; zum Sprechen Jugendlicher nicht-deutscher Herkunft siehe Keim (2001) 14 10. Kl. Gymnasium, Teilnehmende: LE = Lehrerin, AN = Andy, MA = Matthias Identitätskonzepte - Individualitätskonturierungen 519 cherweise aufgrund des verbalen Eingreifens von Matthias Zeile 7, das hier bereits zum wiederholten Mal erfolgt recht spöttisch mit ‘seht ihr da * etwa schwarz oder probleme’ (Z. 6). Matthias übernimmt zum nächstmöglichen Zeitpunkt den Turn, um in Form einer Frage Kritik an der Diskussionsleitung der Lehrerin zu üben; er platziert die Moderationstätigkeit der Lehrenden im Kontext einer Polarisierung: Der mit der Assoziation an diktatorische Systeme belastete Ausdruck ‘zentrale Plandiskussion’’ wird dem demokratischen Modell der ‘freien diskussion’’ gegenübergestellt (Z. 10-11), die Implikation der Restriktion paraphrasiert Matthias mit der Formulierung ‘lassen wir jetzt nicht die diskussion frei entfalten' (Z. 14/ 16). Darauf reagiert die Lehrerin mit einer Rechtfertigung ihrer Aktivität, indem sie sich auf die Rolle der Vorsitzenden beruft. Matthias begleitet ihren Beitrag mit Zuhöreraktivitäten und versucht ihn mit seinem Einwurf ‘dieses habe ich vergessen’ (Z. 20) vorzeitig zu beenden. Beendigungsinitiativen bezüglich der Aktivitäten anderer erfolgen mehrfach durch Matthias, insbesondere der Lehrerin gegenüber, wobei er das Rederecht der Lehrerin und anderer, bereits vorgemerkter Nachfolgeredner/ innen ignoriert. 15 Die meisten Aktivitäten von Matthias entsprechen diesem Format: Häufig in Form von Unterbrechungen und nachfolgenden Wortwiederholungen in fragender Intonation stellt er Inhalte und Aktivitäten von Vorredner(inne)n in Frage und evoziert Rechtfertigungen und damit verbundene FokusVerschiebungen. Darüber hinaus versucht er wiederholt, selbst zu moderieren, indem er Rederechte zuweist, nachfragt und Definitionsbedarf reklamiert, ohne selbst inhaltlich dazu Stellung zu beziehen, und mehrfach die Sinnhaftigkeit der von der Lehrerin initiierten Aktivitäten in Frage stellt. Die meisten seiner Aktivitäten können als Formen der Interaktionsbzw. Diskussionsbehinderung interpretiert werden, die gleichzeitig ein In-Frage-Stellen der Rolle der Lehrenden und deren Autorität beinhalten, insofern sie deren Rechte als Moderationsleitung zu beschneiden versuchen sie können als krisenhaft bezeichnet werden. Die Lehrerin bearbeitet Matthias' Interventionen, indem sie diese nicht als Störungen behandelt, sondern als Verstehensprobleme von Matthias, die sie bearbeitet, oder als Ergänzungen, die sie, wenn auch nur minimal, honoriert. Die anderen Schülerinnen und Schüler reagieren auf Matthias entweder durch Bearbeiten seiner Nachfragen oder durch Ignorieren. Nur einmal ‘platzf einem Schüler der Kragen und er verlangt lautstark 15 Durchgängig in allen Diskussionen mit Lehrerbeteiligung übernehmen die Lehrenden die Rolle der Moderationsleitung mit den dazugehörigen Rechten/ Pflichten der Rederechtszuweisung und Diskussionsstrukturierung. Die Anerkennung der Lehrenden als Situationsmächtige durch die Schülerinnen und Schüler erfolgt i.d.R. durch die Akzeptanz der Moderationsleitung und Berücksichtigungen des Rederechts, d.h., es finden sich kaum Überlagerungen am Turnende bei den Beiträgen der Lehrenden durch verbale Aktivitäten der Schüler und Schülerinnen, es sei denn, die Lehrenden signalisieren bereits die Möglichkeit zur nachfolgenden Tumübemahme. Matthias 1 verbales Verhalten ist insofern auffällig. 520 Carmen Spiegel gegenüber Matthias, ausreden zu können, woraufhin die Lehrerin dies zum Anlass nimmt, auf die Rederechte anderer Schülerinnen und Schüler hinzuweisen. Doch insgesamt fängt insbesondere die Lehrende Matthias' Störungen auf, indem sie diese gerade nicht als solche behandelt, sondern darauf mit Rechtfertigungen ihres Tuns und mit ausholenden inhaltlichen Explikationen reagiert. So werden Matthias' Verhalten oder Person zu keinem Zeitpunkt problematisiert oder gar bearbeitet. 2.2 Rollenstereotype und typische Argumentationsweisen: Harald In einer Realschulklasse fällt Harald durch seine Art der Argumentation auf: Wann immer es die Thematik erlaubt, präsentiert Harald Argumente, die als Topoi der Umweltdiskussion in den 80er und 90er Jahren den öffentlichen Diskurs bestimmten. Im folgenden Diskussionsausschnitt ging es gerade darum, dass man, um modisch zu sein, ständig seine Garderobe erneuern muss. 16 01 LE: das hat natürlich auch * das hat natürlich 02 MA: vom äußerlichen {....) 03 LE auch nachteileX nä: / 04 MA: ja natürlich also ich mein das * wird 05 MA: halt ähm sehr viel kleidung ähm dafür also sozusagen 06 LE: da müssen wir mal 07 MA: verbraucht/ * für Stoffe auch 08 HD: eben ich mein * also ich mein dadurch werden ja 09 HD: massenhaft rohstoffe vergeudet wenn man=s mal so 10 HD: sieht\ und ich mein das is ja eigentlich * nich/ so 11 HD: der sinn der sache\ * nur dass * man hat halt neue 12 HD: * tolle klamotten und so und dafür verbraucht man 13 HD: halt * man (ah man holzt ja jetzt so) * ungefähr die 14 LE: mhm- * sven/ * 15 HD: Wälder/ ab so in etwa\ * Harald unterbricht den Lehrer in Zeile 8, um, an den Beitrag von Markus anschließend, sein Argument der ‘Vergeudung von Rohstoffen’ zu formulieren. Dieses Argument reiht sich in Haralds vorangegangene Argumentation nahtlos ein: Bis zu diesem Zeitpunkt hat er den Überfluss und die Verschwendung in der Konsumgesellschaft kritisiert, die Wegwerfgesellschaft und ihre Gleichgültigkeit ‘dem material gegenüber' thematisiert und seine Gleichgültigkeit gegenüber dem ‘Trendy-Sein’ formuliert. In den Zeilen 8-15 verknüpft er zwei Argumente aus dem ökologischen Diskurs, indem er einen Zusammenhang herstellt zwischen hohem Kleiderverbrauch (Rohstoff- 16 10. Kl. Realschule, Teilnehmende: LE = Lehrer, MA = Markus, HD = Harald Identitätskonzepte - Individualitätskonturierungen 521 Vergeudung, Überfluss) und dem Abholzen der Wälder, der logisch nicht ganz stimmig ist und einen schiefen Anschluss darstellt. Mit diesen Argumenten präsentiert er feste Redewendungen und Topoi aus der Umweltdiskussion und damit ein bestimmtes Argumentations-Repertoire des ökologischen Diskurses, das er axiomatisch setzt: Mit seinem Eintreten für einen schonenden Umgang mit den Ressourcen stilisiert er sich als dessen Vertreter, als so genannter ‘Öko’. Sowohl seine Sprechweise als auch sein optisches Erscheinungsbild ergänzen diese Stilisierung: Er trägt einen dicken Strickpullover und weite Baumwollkleidung, die an ökologische Kleidung erinnern, und er ist der einzige Langhaarige in seiner Klasse. 17 Seine Sprechweise ist geprägt von vielen Vagheitsausdrücken, Satzabbrüchen, Meinungsmarkierungen wie ‘ich mein’’ und häufigem Partikelgebrauch. Insgesamt vermittelt Harald durch seine Sprechweise und Körpergestik den Eindruck von Zerstreutheit und Fahrigkeit und inszeniert zugleich eine spezifische Form des ‘Locker-Seins’, die an die stereotypen Rollen des ökologischen Softie der 80er Jahre anknüpft. So zeigt er im Gesprächverlauf für viele Klassenkamerad(inn)en Verständnis, auch denjenigen gegenüber, die sich explizit von seinem Kleiderstil abgrenzen und ihn als ‘natürlichen Stil’ und gleichzeitig als ‘altmodisch’’ und damit als auffällig bezeichnen: ‘so wie der haraid rennt keiner mehr rum'. Sowohl Matthias als auch Harald halten die eben beschriebenen Verhaltensmuster bzw. Argumentationsweisen über den gesamten Unterrichtsverlauf konsequent und ohne größere Variationen durch, die anderen Gesprächsbeteiligten ratifizieren sie, indem sie diese tolerieren oder gar stützen. 18 Ähnlich wie Matthias und Harald stilisieren sich andere Schülerinnen und Schüler durch spezifische Gesprächsstile, Verhaltensweisen oder Darstellungsformen, die sich nicht immer an den sozialen Typisierungen bestimmter Gruppen, sondern auch an anderen klassifizierenden Typisierungen orientieren, so z.B. als provozierende Problematisierende, als zynische Gesellschaftskritikerin, als Geschichtenerzählerin etc. Charakteristisch für diese Formen der Typisierungen ist, dass sie sich auf zwei Ebenen manifestieren: durch einen individuellen Sprechstil und durch eine ‘zusätzliche Eigenheit’ der jeweiligen Personen, eine bestimmte Rolle: einmal ist es die Interaktionsrolle des Störenden, zum anderen diejenige des sozialen Stereotyps ‘ökologisch Orientierter der 80er bzw. 90er Jahre’. Diese einfachen Formen der Typisierungen bleiben im Interaktionsverlauf und für die Dauer der Interaktionssituation stabil, sie werden als konstante Darstel- 17 Aus Nebenkommunikationen, die z.T. Bestandteil unseres Korpus sind, wissen wir, dass die Schülerinnen und Schüler männliche Langhaarige als altmodisch ansehen. 18 Harald, seine Kleidung und sein propagierter Lebensstil als ‘am Trend Desinteressierter’ werden im Unterrichtsverlauf von einigen Schülern und Schülerinnen als entsprechendes Beispiel genannt und mit ‘Modischem’ kontrastiert. 522 Carmen Spiegel lungsformen, -Inhalte oder Verhaltensweisen eingebracht und wiederholt reproduziert. Sie sind weder für die Akteure selbst noch für die anderen Gesprächsbeteiligten strittig, sie sind nicht oder nur unwesentlich Gegenstand der Interaktion und sie werden demzufolge auch nicht durch Bearbeitungen im Gesprächsverlauf verändert. 3. Komplexe Individualitätskonturierungen Im Vergleich zu den bisher behandelten Typisierungen zeichnen sich die Aktivitäten in diesem Kapitel dadurch aus, dass sie nicht so glatt verlaufen: Es ergeben sich Individualitätskonturierungen, die durch Aktivitäten auf verschiedenen Ebenen zustande kommen, im Gesprächsverlauf interaktiv bearbeitet, verändert und dadurch wesentlich komplexer werden. Daran haben verschiedene Elemente ihren Anteil: - Einerseits entstehen wie in den vorangegangenen Darstellungen die Individualitätskonturierungen durch Rückgriff auf Typisierungen z.B. durch Stilisierungen. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Beispielen werden diese jedoch im Interaktionsverlauf zu einem bestimmten Zeitpunkt zum Gegenstand der verbalen Interaktion der Beteiligten: Sie werden thematisiert und bearbeitet. - Durch die Bearbeitung während des Interaktionsgeschehens bekommen die jeweiligen Akteure ein Interaktionsprofil, das sich im Interaktionsverlauf herausbildet. - Darüber hinaus finden sich perspektivenspezifische Darstellungsformen und Äußerungsinhalte, die aufgrund ihrer Perspektivierungen Rückschlüsse auf die dahinter stehenden Konzeptualisierungen der Beteiligten, über ihre individuellen (? ) - Beteiligungsweisen, Einsichten, Meinungen und Vorstellungen erlauben. Das eine oder andere fand sich bereits in den vorangegangenen Beispielen; typisch für die nachfolgenden Fälle ist, dass alle drei Phänomene - ‘Typisierung’, Tnteraktionsprofil’ und ‘perspektivische Darstellungsformen’ auftreten mit dem Ergebnis, dass die Individualitätskonturierungen der folgenden Fallbeispiele wesentlich reicher und komplexer sind als die vorangegangenen Typisierungen. Die beiden Interaktanten Norbert und Tobias, deren Verhaltensweisen nachfolgend untersucht werden, unterscheiden sich von den zuvor behandelten dahingehend, 1) dass ihren Äußerungen insgesamt ein Bekennungscharakter eigen ist: Sie haben eine Vorliebe, präferieren etwas, für das sie in irgend einer Weise Identitätskonzepte - Individualitätskonturierungen 523 einstehen. Sie tun dies aber nicht in unproblematischer Weise, sondern sie stellen ihr an sich positives Verhältnis zu etwas in gebrochener Form dar; 2) dass sie im Gesprächsverlauf ein Interaktionsprofil entwickeln; 3) dass sie irgendwann im Gesprächverlauf in eine Außenseiterposition geraten bzw. dass ihre Außenseiterposition im Gesprächsverlauf deutlich wird. Dabei werden sie von den anderen Gesprächsbeteiligten in besonderer Weise und zwar von den verschiedenen Gesprächsbeteiligten in unterschiedlicher Weise behandelt: Es gibt einige, die ‘den Einen’ oder ‘die Eine’ angreifen, verteidigen oder auch in Schutz nehmen. Das heißt, die Gesprächsbeteiligten beziehen im Verlauf der Interaktion eine Position in Bezug auf diese Person. 3.1 Technikfan und Opfer: Norbert Mit Blick auf den Bekennungscharakter lässt sich über Norbert sagen, dass er sich als jemand stilisiert, der eine persönliche Vorliebe zu technischen Neuerungen hat und über entsprechendes Detailwissen verfügt. Diese Vorliebe, die sich im Gesprächsverlauf u.a. an Handys, Videokameras und Computern manifestiert, konkretisiert sich in dem Wunsch, alle diese Gegenstände auch besitzen zu wollen, wobei er zugleich auch die Sinnhaftigkeit solcher Besitztümer problematisiert: 10 NO: aber handys sind auch nimmer jetzt so: in/ ** wie=s 11 NO: mal war/ ** ich mein * am anfang/ * da: * wollt jeder 12 NO: so=n ding * weil=s halt cool war * wenn man mit so=m 13 NO: handy durch die stadt läuft * dann klingelt=s * man 14 NO: nimmt=s raus * und telefoniert/ * glaub ich * mir 15 NO: würd das auch gefallen * natürlich! aber * da ham 16 NO: dann natürlich auch die kosten * ne=rolle gespielt 17 NO: * ich mein n=handy * hundertfuffzig mark/ * dann * 16 NO: fuffzig mark im monat/ * und die einheit * was weiß 17 NO: ich * zwo mark fuffzig/ oder so was ** un * das hat 18 NO: sich * dann nur die geschäftsleute halt leisten können 19 NO: ** und jetzt is=ses halt so/ dadurch dass die preise 20 NO: runtergegangen sind * und so ** is=ses zwar jetzt * 21 NO: erschwinglicher geworden * aber trotzdem/ werden lang 22 NO: nicht mehr so viele gekauft wie=s früher war! * weil 23 NO: man ja einfach jetzt des nimmer cool findet durch die 24 NO: stadt zu laufen * mit so=m handy\ * weil sich jeder 25 NO: umdreht und sagt * ei kuck dir den wieder an da den 26 NO: angeber! * un das is halt auch * schon abgeklungen 27 NO: so is=ses mit jedem trend eigentlich! ‘mir würd das auch gefallen * natürlichV (Z. 14-15) damit bekundet Norbert seinen Wunsch nach einem Handy. Es sind die Kosten, die die Wunschrealisierung verhindern und weil man ‘einfach jetzt des nimmer cool findet’ 524 Carmen Spiegel (Z. 23). 19 Norbert demonstriert Detailwissen bezüglich der genaueren Kosten des Handy. An sprachlichen Mitteln finden sich Verallgemeinerungen und Verabsolutierungen ‘am anfang ... wolltjeder so ein ding' (Z. 11-12) ‘weil sich jeder umdreht und sagt' (Z. 24-25) ‘so is=sses mit jedem trend’’ (Z. 27) und Formen, welche die Faktizität, Gültigkeit und Selbstverständlichkeit seiner Aussagen unterstreichen: so mit der Modalisierung ‘x ist/ sind/ war', unterstützt mit den entsprechenden Partikeln ‘natürlich' (Z. 15, 16) und ‘half (Z. 12, 18, 19, 26), sowie Zuschreibungen von Positiv-Negativ-Bewertungen, die die Verhaltensweisen bestimmen: ‘weils halt cool war' (Z. 12), ‘weil man .... jetzt des nimmer cool findet' (Z. 22-23), ‘ei kuck dir den wieder an da den angeber' (Z. 25-26). Sein Sprechen ist einerseits durch wiederholtes Schwärmen für die technischen Neuheiten und entsprechende Begehrlichkeiten gekennzeichnet: 120KU: ich wollt noch nie: ne Videokamera haben eigentlich * 121NO: doch * doch * schon 122JÜ: der mol Widder 123XM: # mm # 124 K »VERNEINEND# 125LE: aber für was beispielsweise * 126NO: #ja: * ist ja gu: t# 127 K #LACHEN # 128NO: für was/ * also ich find ne Videokamera is wesentlich 129NO: besser wie=n foto\ * aber sicher ** 130XM: #mhm\ * # 131K »VERNEINEND# Seine Beziehung zur Technik evoziert unter den Klassenkameraden und -kameradinnen auch Kritik, wie sich in der Zeile 122 zeigt, wo Jürgen Norberts technischen Eifer negativ vermerkt. Andererseits formuliert Norbert auch Gegenargumente zur Verwendung technischer Neuheiten: 30 NO: ne * aber ich mein * jetzt hier mit fünfzehn * sechzehn 31 NO: n=handy * des is ja krampf # # * wofür brauch/ 32 K »LACHEN# 33 NO: man des- * ich mein * wenn mich jemand erreichen will/ 34 NO: * dann soll er ** von mir aus * wenn ich daheim bin * 35 NO: mich ** anrufen oder * 36 MA: aber des is doch genauso (...) Die Videoaufhahme entstand 1996, als Handys noch nicht so gebräuchlich wie Armbanduhren waren. Identitätskonzepte - Individualitätskonturierungen 525 37 NO: n=brief schreiben * ich mein * des tut=s doch genauso\ 38 MA: aber das is genauso mit dein=n * ähm * computerspielen 39 MA: * du hast ja auch immer das neuste computerspiel/ * 40 SA: #und des was de eben 41 MA: ja was brauchsten des/ # 42 NO: ja des is: # 43 K »STIMMENGEWIRR 44 SA: gesagt hast# 45 MA: # wenn er=s will dann will er des 46 NO: # ja gut 47 K 4 SEK. # 48 MA: und dann kann er=s auch holen 49 SA: und was de vorhin gesagt 50 SA: hast oh jetzt werd ich diesen monat * schon wieder 51 SA: tausend mark los für=n computer #* # des is auch 52 NO: #LACHT# 53 SA: n=bissel krank 54 NO: ne: Weihnachten * Weihnachten 56 NO: gut * ein hobby kann 57 KU: ja: * ich mein ** manche leute 58 NO: man haben * da gibt man halt so viel geld aus * ich mein 59 NO: manche stecken=s in ihr auto un=die andern wieder * 60 NO: in=n mountnbike/ *2* also manche sparen=s 61 SA: ich versteh=s net 62 NO: natürlich das is immer die beste lösung *1* aber- 63 LE: kurt du wolltest auch noch was sagen 64 KU: haja weil: der 65 KU: norbert hat ja al also * der kauft sich ja nur Sachen 66 KU: für=n computer * und ansonsten weniger halt * wenn er 67 KU: sich halt nur auf computer konzentriert dann geht es 68 KU: das eigentlich ** Norbert verurteilt Handys für Jugendliche. Als ihm Maria daraufhin seine Ausgaben für Computerspiele entgegenhält (Z. 36, 38-39) und in der Folge jugendliche Handybesitzer verteidigt, rechtfertigt er sich zwar unter Bezug auf nur ein Hobby, verweist aber auch auf die Maxime, dass Sparen immer die beste Lösung sei (Z. 62). Kurt versucht zu intervenieren (Z. 57) und bekommt vom Lehrer das Rederecht (Z. 63). Er nimmt Norbert in der Folge in Schutz (ab Z. 64). Norbert fordert aufgrund seiner Darstellungsinhalte eine ambivalente Haltung zu technischen Gütern, die durch Begehrlichkeit und wertende Ablehnung gekennzeichnet ist - und seines Sprechstils (pauschalisierende Widersprüche gegenüber anderen, Wertungen, Verabsolutierungen) zunächst bei 526 Carmen Spiegel einigen Widerspruch heraus, andere verteidigen ihn, bis Norbert aufgrund wiederholtem Widersprechen und Verallgemeinerungen gegenüber anderen in eine konfliktäre Situation gerät: 70 NO: es geht ja überhaupt * prinzipiell um die trends * wir 71 NO: werden ja so durch die Werbung und durch die medien 72 NO: überhaupt so hochgeputscht * dass sie ja so verkauft 73 NO: werden #und dann # KA: #ja * ich glaub# * jeder kauft sich nur des * was 75 K #STIMMENGEWIRR # 76 KA: er auch will oder was ihm gefällt 77 MA: ja eben * und nich * 78 MA: weil=s 7 9 NO: 80 XJ: 81 K andere haben ihr wollt mich nur kritisiern # (...) # #LACHEN 82 NO: ja klar/ natürlich/ # 83 XJ: deine # 84 K UND STIMMENGEWIRR 5 SEK.# aber ich möcht meinung vertreten 85 NO: nich wissen * wer hier schon sich Sachen gekauft hat * 86 NO: die ihm eigentlich nich gefallen * nur damit er=s hat\ * 87 NO: ja: : \ * natürlich (ihr seid alle 88 JÜ: also ich/ net\ * 89 NO: unschuldisch) es gibt keinen * der des noch nich 90 NO: gemacht hat * das is doch ganz normal * Norberts stark pauschalisierte Darstellung der Manipulation durch die Werbung stößt bei den Mitschüler(inne)n auf Widerspruch (Z. 74-78), den Norbert zunächst persönlich nimmt (‘ihr wollt mich nur kritisiern', Z. 79). Im Anschluss verbalisiert er die Folgen aus seiner Behauptung (Z. 82/ 85-86), insistiert auf der Unterstellung, alle hätten sich Sachen gekauft, ‘die ihm eigentlich nich gefallen' (Z. 86) und postuliert für solche Handlungen den Charakter der Normalität (Z. 89-90). Norbert formuliert pauschalisierend und generalisierend. Auf Widersprechen der Mitschülerinnen und Mitschüler reagiert er durch Persönlich-Nehmen (Z. 79) und Persönlich-Werden in Form von Retourkutschen und Unterstellungen (Z. 82/ 85-86, 87/ 89-90). Die spezifische Interaktionsrolle ‘der Außenseiter' bzw. ‘das Opfer' ■ . Norbert versucht wiederholt, sein eigenes Verhalten als ‘ganz normales Verhalten’ zu vermitteln. Das misslingt, und am Ende folgt eine Opferstilisierung Norberts (Z. 79) als Reaktion auf das gescheiterte Etablieren von Normalität, wobei gerade das letztere auf das Spezifische von Norbert verweist: Norbert verbalisiert Wünsche, Verhaltensweisen und Wertungen als allgemein gültige, die als solche von den anderen nicht akzeptiert werden. Dies kulminiert in Norberts Behauptung, alle hätten sich bereits einmal Dinge gekauft, die sie eigentlich gar nicht haben wollten. Die Rolle des Schwärmerischen und zu- Identitätskonzepte - Individualitätskonturierungen 521 gleich inhaltlich Provozierenden und aggressiv Reagierenden, die im Interaktionsverlauf schrittweise stärker hervortritt bis hin zu dieser kritischen Situation mit Norbert als krisenhaftem Mittelpunkt, ist es, die sein Interaktionsprofil bestimmen. Danach diskutieren die Schülerinnen und Schüler mit Norbert nicht mehr inhaltlich, sondern sie initiieren eine Gesprächsphase, die Elemente des Therapeuten-Diskurses’ aufweist: 20 Sie formulieren Fragen, die seine Motive für den Kauf von Überflüssigem zu ergründen versuchen, was ihm sichtlich peinlich ist, und sie unterstellen ihm mangelndes Selbstbewusstsein, was Norbert vehement bestreitet. lOORO: wenn de kaufscht was dir gar net gefallt dann is ja 101RO: klar dann dann kefschst halt fü die annere irgendwie 102AN: #vielleicht hast du nicht genug# Selbstbewusstsein dass 103K # STIMMENGEMURME L # 104AN: du (selbstbewusst sagen kannst) 105NO: ich/ * ich bestimmt nicht Norberts Versuche, seine Einzelerfahrungen als kollektive darzustellen, scheitern. Wird eine Einzelerfahrung als gemeinsame unterstellt und verallgemeinert, von der Gruppe aber diese Verallgemeinerung aus welchen Gründen auch immer abgelehnt, so ist das krisenhaft und kann zu Außenseiterpositionen führen. 3.2 Ex-HipHopper und Experte: Tobias Eine Lehrerin startet die Diskussion um ‘Moden und Trends’, indem sie die Schülerinnen und Schüler auffordert, einen ‘modernen, perfekten Menschen’ zu schildern, wie er zurzeit für die Jugendlichen absolut ‘in’ ist. Nachdem einige Schülerinnen und Schüler auf Aufforderung der Lehrerin das äußerliche Erscheinungsbild beschrieben haben (Basketballstiefel, weite Hosen, Daunenjacke, Cappy, Zigarette, Walkman, Skateboard, angetrunken wirken), kommt die Lehrerin auf die Verhaltensweisen des ‘modeboys’ zu sprechen und bittet den Schüler Tobias um Ergänzungen. 01 LE: wir sind schon bei den verhal/ tensweisen ja/ *1* wenn 02 LE: wir uns mit diesem fabelhaften * äh * fabelhaft modischen 03 LE: * menschen/ unterhalten/ *1* tobiasX * wie gibt der sich 04 LE: so: \ # # ja/ * jetz * erzähl mal 05 K #KLASSE LACHT 4 SEK.# 06 TO: wie gibt der sich so\ * ich weiß nich/ wie der sich so 07 TO: gibt ** weil ich hab * ich kann dazu nur sagen * ich 20 Zum therapeutischen Gespräch siehe u.a. Ehlich (1990). 528 Carmen Spiegel 08 TO: hab die kleider jetz auch/ an weil man so: lacht/ aber 09 TO: ich hab * ich hab sie länger an als es im trend/ liegt- 10 TO: so: - * ich hab sie echt nich deswegen an * ich weiß/ 11 TO: nich was man macht * man muss sich * man muss hiphop 12 LE: ja: / * 13 TO: hörn\ (er sollte hiphop hörn/ ) 14 K LE MACHT EINE BEMERKUNG ZUR GERÄUSCHKULISSE 15 TO: was tolles/ is * wenn man breaken kann ** breaken das 16 TO: is ein\ tanz * ich weiß nich ob sie das wissen 17 LE: danke- * # # wenn * wenn ich=s nicht weiß * sag ich=s 18 K GELÄCHTER#3 SEK# 19 TO. man muss sich schla: / gen sobald einer einen blöd ankuckt- 20 TO: * man darf nich vorbeilaufenman muss sich dann hauen- 21 TO: * um sich zu profiliern * halt macht man so: 22 LE: # # unc j die spräche/ ** T0: # die driftet so: 24 K #GELÄCHTER 5 SEK.# 25 TO: ins ausländische * # # du wollen 26 K »GELÄCHTER 4 SEK.# 27 TO: sigaretten haben/ * kann ich mal=n kippe haben von dir 28 TO: leihen/ * so: * so läuft das dann ab Tobias fällt bereits bei seinem ersten Beitrag auf: Er startet, unterbricht sich kurz danach, um das Lachen der Klasse, das er auf sich bezieht, zu kommentieren und sein Aussehen zu rechtfertigen, bevor er den ‘fabelhaften modischen Menschen’ mit weiteren Attributen versieht. Die Interaktionsrolle ‘der Experte': Tobias stellt über die Kleidung eine Verbindung zwischen sich und dem ‘fabelhaften modernen Menschen’, dem HipHopper her, die er zunächst dementiert (ich hab sie echt nich deswegen an * ich weiß/ nich was man macht Z. 10-11), aber im Anschluss aufgrund seines Insiderwissens indirekt bestätigt: Er formuliert eine Fülle von Kennzeichen des HipHoppers bezüglich Verhaltenscodex und Sprache, von denen hier und in nachfolgenden Transkriptausschnitten nur einige erwähnt sind. Tobias erhält im Interaktionsverlauf einen Expertenstatus: Aufgrund seines Insiderwissens und der nachfolgenden Behandlung durch die Lehrerin, die ihn direkt ausfragt (s.u. Z. 40-41, 53/ 56-57), wird Tobias als Experte bezüglich HipHop behandelt, und er enaktiert auch diesen Expertenstatus, denn neben der Präsentation des entsprechenden Detailwissens kommentiert er nun auch die Äußerungen anderer. 30 LE: Zukunft/ das heißt/ * also wie drückt sich das aus/ * äh 31 LE: was Verhaltensweisen angeht/ *4* ja/ * 32 NA: ja: * keine lust/ Identitätskonzepte - Individualitätskonturierungen 529 33 LE: 34 NA: * also 35 K null bockja null bock/ # GELACHTER #3 # ja also lust auf SEK.# 36 NA: ga: r nichts also * irgendwie: 37 TO: es is coo: l/ keinen bock 38 TO: zu haben * Bekenmngscharakter: Tobias stellt sich selbst als Ex-HipHopper dar, wobei die Frage ist, inwieweit er sich nicht doch zugehörig fühlt: 40 LE: also gibt=s trendsetter/ * das sind die Leute die: 41 LE: * die das initiieren/ * und dann folgt alles\ oder wie 42 TO: 4 3 TO: 4 4 TO: 45 TO: 4 6 TO: 4 7 TO: 4 8 TO: 4 9 TO: 50 TO: 51 TO: 52 TO: ja schon/ und das is auch ** denk ich ** nich schlimm/ * jetzt weil auch weil die weil die nadine meinte des war so=n proble: m mit * mit wenn man nicht ange angesehn würde ich sag wie der bernd dann auch sagt wenn man da gar nicht angesehn sein will/ * dann äh * ähm ** interessiert=s/ die auch nichalso ich hab den=n * in diesem ganzen * persönlichen da auch schon ** äh * früher mit den=n zu tun gehabt und mittlerweile will ich auch nich mehr/ und das is den=n egal ob ich jetz trotzdem so: / rumrenn * äh * oder nich/ * und das is ** ja 53 LE: #(aber ein Vorschlag...) 54 TO: (ne halt #doch...) 55 K # GELÄCHTER 3 *# ich muss jetz ## 56 LE: trotzdem/ fragen- * äh * also ich denk * ähm * 57 LE: gu: / t * das geht auch um musik/ * oder nich/ 58 LE: mach es mal ganz/ kurz * 59 TO: es geht- * eigentlich/ 60 TO: das sag/ ich ja\ * es geht es gibt leute * die harn 61 TO: das schon immer gehört/ * die wissen noch die ganze 62 TO: geschichte * und die musik und das ganze drumherum 63 TO: * das is ja=n ganzer kult/ * hiphop an sich und die * 64 LE: also geht es nich/ allein um musik/ 65 TO: diese ganzen ne: / * es 66 TO: geht um * es geht auch * es gibt drei sa/ chen beim 67 TO: beim beim * bei diesem ganzen zeuges is es is die 68 TO: musik an sich/ es gibt/ dieses ma: \len das sprayen/ 69 TO: und es gibt/ das tanzen/ * und vielleicht noch das 70 TO: de: / jeying * und und * das is ne ganze * ne ganze 71 TO: * ne auch das is eigentlich/ ne lebensein/ stellung 72 LE: (ein ganz feindliches reden...) 73 TO: das ganze * und die ganzen (klei/ nen von denen wir jetzt! 74 TO: re/ den * die wissen des gar nich\ die denken sich * 75 TO: heidelberg/ * hier rennen leute halt so rum/ also ziehn 76 TO: wir das an/ * 530 Carmen Spiegel In Zeile 48-51 erwähnt Tobias seine frühere Zugehörigkeit bzw. Verbundenheit zu anderen HipHoppem - und seine aktuelle Distanz zu ihnen. Aufschlussreich sind im Zusammenhang mit Zugehörigkeiten die jeweiligen Perspektiven, die die Sprechenden realisieren. So verweist Tobias einerseits auf seine Rolle "denen gegenüber' (Z. 48-52), mit denen er jetzt nichts mehr zu tun habe. Die Verwendung des Personalpronomens "denen' verweist auf die Sprecherperspektive eines Außenstehenden. Hingegen verwendet Tobias bei der vorangegangenen Beschreibung des Verhaltenscodexes (Z. 19ff.) Handlungsanleitungen in der Form "man muss x-en', die auf eine Darstellung aus der Binnenperspektive schließen lassen; im Gegensatz dazu beschreiben seine Mitschüler/ innen Aussehen und Verhalten des ‘Modeboys’ aus der Außenperspektive und vermitteln Distanz zum Beschreibungsgegenstand durch Formulierungen wie "die machen x'. Auch Tobias' Sprechhandlungen signalisieren Beteiligung: Mehrfach übernimmt er die Rolle des Rechtfertigenden, den HipHop in Schutz Nehmenden, indem er die Relevanz des HipHop als Kult betont und die strikte Trennung zwischen den ‘Echten’ und den ‘Nachahmern’ fokussiert (das sind die, "die keine ahnung haben über die hintergründe', wie er an anderer Stelle formuliert). Tobias' Zwiespältigkeit bezüglich der Zugehörigkeit zur Gruppe der Hip- Hopper zeigt sich an den Modalisierungen: In den Äußerungsteilen, in welchen er die ‘Echten’ und deren Kult beschreibt, dominiert die Modalität ernsthaft . Bei der Beschreibungsweise des "fabelhaften menschen' verwendet er eine ironische Modalität. Diese Ironie kann polyfunktional sein: Einerseits mag sie als Distanzmarker zum ‘notwendigen Tun’ eines HipHoppers und insofern auch zur entsprechenden sozialen Rolle dienen, zugleich scheint Tobias die in seinen Beschreibungen enthaltenen Provokationen gegenüber der Lehrerin, die er im ersten Transkriptausschnitt formuliert (Z. 15-21) zu genießen^ 1 insofern reproduziert er wiederum den Gruppenstil der HipHopper, wo es gilt, Nicht-Gruppenzugehörige zu provozieren, wie aus Tobias' Beschreibungen deutlich wird. Darüber hinaus verweisen sowohl Kleidung, Gesten als auch Sprechstil (kurze Sätze mit einfachen syntaktischen Formen, provokative Züge, entsprechende Prosodie) auf eine mögliche HipHopper- Identität. So entspricht seine Sprechweise derjenigen der HipHopper, wie sie im Rap-Beat wiederzufmden ist. Keim (2001) bezeichnet diese Sprechweise Im Gesprächsverlauf formuliert Tobias noch weitere HipHop-Verhaltensmaximen, wobei er durch schrittweisen Ausbau zunehmend provoziert, die Lehrerin dabei leicht lächelnd anschauend: „es ist in: / dass * solche Sachen also keine lust hat auch so\ undsich mit den eitern/ streiten * is auch sehr gu: t\ *2* also wenn man dieses perfek/ tebild/ verkörpern will sollte man schon/ streit haben zuhause\ * am besten die Schwester noch mal manchmal ohrfeigen wenn sie frech wird * vor den freun/ den am besten noch dass man sich so richtig * gro: ß rausstellen kann *“ Identitätskonzepte - Individualitätskonturierungen 531 aufgrund des durchgängigen Wechsels von Hebungen und Senkungen als stampfendes Sprechen: was tolles is/ wenn man * breaken kann/ * breaken das ist ein tanz- * ich weiß/ nicht ob sie das wi 'ssen/ Durch das stimmhafte Aussprechen von harten Frikativen entsteht der Eindruck eines weichen Sprechens. Auch bei ihm finden sich Aspirationen von Plosiva, während das Stakkatohafte von Matthias' Sprechweise sich hier nicht wiederfindet. Besonders typisch für den Rap ist Tobias' Gestik: Aus dem Handgelenk heraus bewegt sich die geöffnete Hand rhythmisch zum Unterkörper hin und von ihm weg. Außenseiterstatus: Tobias identifiziert sich in weiten Teilen mit dem HipHop oder hat es zumindest einmal getan. In dieser Hinsicht ist er der Einzige in seiner Klasse. Einige Schülerinnen und Schüler stehen Tobias positiv gegenüber, andere kritisieren sehr scharf den Verhaltenscodex der HipHopper und sie kritisieren implizit auch Tobias. Er selbst äußert erst gegen Ende der Stunde seinen Außenseiterstatus: Er ist ein Neuer und erst seit einigen Wochen in der Klasse des ‘Böll-Gymnasiums’. 80 TO: ich weiß/ ich merk das am heuss/ * weil man- ** total 81 TO: wenn man ** diese * kleider anhatte * und am böll is 82 TO: man eher * is man eher einer von den schli/ mm=n wenn man 83 TO: solche kleider anhat\ ** wobei/ ich deswegen meine 84 TO: kleider * äh meine meine kleider nich wech/ seln würde 85 TO: aber * man is halt einer von den *1* also ich find 86 TO: ich/ * von den * von den frem/ den * ich bin am böll 87 TO: eher n=fremder als am heuss * weil am heuss warn mehr/ 88 TO: so: leute * die halt ** diese kleider anhatten * oder 89 TO: die die musik gehört haben * 4. Ergebnisse aus den Analysen Es ging mir darum, einmal zu beschreiben, welche Phänomene und Aktivitäten es sind, die bewirken, dass eine Person aus einer anonymen Gruppe von Menschen hervortritt und als Individuum von dieser unterscheidbar wird. Gerade im institutionellen Interaktionsraum ‘Unterrichtskommunikation’ sind die jeweiligen Rollenvorgaben als ‘Schüler/ in’ oder ‘Lehrende’ relativ weit festgelegt; die Möglichkeiten, Persönlichkeit einzubringen, scheinen gering. Alle hier vorgestellten Analysen zeichnen Fälle auf, in denen ein Mitglied einer Klasse im Interaktionsverlauf einer Unterrichtsstunde die stereotype Rolle, Schülerin oder Schüler zu sein, ergänzt oder gar aus ihr heraustritt und eine individuelle Kontur bekommt: Er oder sie fällt als Individuum mit eigener Identität auf, d.h., er oder sie legt im weitesten Sinn Verhaltensweisen an den Tag, die sich von denen der anderen unterscheiden. Als auffällig und da- 532 Carmen Spiegel durch individuell erscheint, was die Normalität des jeweiligen Kontextes 22 sprengt: bezüglich des Verhaltens im weitesten Sinne und im Hinblick auf Bewertungen. Dies kann ausgehend vom Interaktanten aktiv als Abgrenzung geschehen, wie es bei Matthias, Harald, Tobias und etlichen anderen, die hier nicht erwähnt wurden, geschah, es kann aber auch von Seiten der Gruppenmitglieder als Ausgrenzung vollzogen werden, wie es bei Norbert der Fall war. Insofern geht es hier auch um Abgrenzungen, ausgehend vom Individuum oder auch einer Gruppe gegenüber einer anderen Gruppe, 23 und Ausgrenzungen, ausgehend von einer Gruppe gegenüber einem Individuum: gegenüber gruppenkonformen Verhaltensweisen (Matthias, Tobias) gegenüber gesellschaftlichen Werturteilen (Harald) gegenüber der (Wunsch-)Gruppe (Norbert). „Individualität kann sich nur als Abweichung vom Erwarteten thematisieren“ formuliert Willems (1999, S. 64), Erwartungen einer bestimmten Gruppe, möchte ich hinzuftigen. Insofern entstehen Individualitätskonturierungen durch Erwartungs-Enttäuschungen, aus Handlungen oder Verhaltensweisen, die kontrastierend zur Standard-Handlungsdurchführung der Umgebung auffallen und dadurch zur Ausbzw. Abgrenzung führen. Insofern entstehen Individualisierungskonturierungen im Vergleich zum Verhalten der anderen innerhalb der jeweiligen Interaktionssituation als Kontrastierung, sie sind abhängig vom jeweiligen Kontext. Hinzu kommt die Interaktionsgeschichte, d.h. die Entwicklung im Verlauf des Interaktionsgeschehens des jeweiligen Ereignisses: Ab- und Ausgrenzungen passieren nicht einfach, sie werden interaktiv vollzogen - oder möglicherweise auch verweigert durch das Verhalten der Interaktionsbeteiligten: So versucht Matthias im ersten Fallbeispiel eine Abgrenzung durch sein Interaktionsverhalten, als Ausgrenzung wird sie ihm von der Gruppe und der Lehrerin verweigert. Welche Möglichkeiten der Identitätsbildung und Individualitätskonturierung haben die Schülerinnen und Schüler in der institutionell vorstrukturierten In- Eine Hypothese ist, dass im Kontext ‘Schule’ die Verbalisierung von Empfindungen und Emotionen den Rahmen des Erwartbaren sprengt und dadurch wesentlich zur Individualitätskonturierung beiträgt. Erwartbar ist die Verbalisierung von Empfindungen und Emotionen in anderen z.B. gruppentherapeutischen Kontexten oder in stark ritualisierter Form in besonderen Lebenssituationen wie Tod, Geburt oder Beginn neuer Lebensabschnitte. Eine vergleichende Untersuchung der Verbalisierung von Emotionen und Empfindungen in unterschiedlichen sozialen Kontexten und deren jeweiligen Zusammenhängen mit den Individualitätskonturierungen Einzelner wäre verlockend. So haben sich in einer anderen Schulklasse einige Realschüler/ innen verbal zusammengeschlossen und sich im Interaktionsverlauf von der öffentlichen Meinung über Realschüler abgegrenzt. Identitätskonzepte - Individualitätskonturierungen 533 teraktionssituation ‘Deutschunterricht’? Es gibt eine ganze Reihe von Nischen, in welchen die Schülerinnen und Schüler ‘persönliche Anteile’ einbringen können. Neben der Kleidung, dem Sprechstil, der Gestik und Mimik ist es die Auswahl der Darstellungsformen und -Inhalte, 24 die spezifisch sein kann. Auch die Verhaltensweisen den Lehrenden gegenüber wie auch den Mitschüler(inne)n sind variantenreich und können im Vergleich zur Umgebung ‘einmalig’ sein. Schülerinnen und Schüler bringen den Sachverhalten entsprechende Anteilnahme entgegen, sie verteidigen Bereiche oder verurteilen diese, sie zeigen ihre emotionale Betroffenheit oder ihr Involviertsein, kurz: Sie beziehen Position und vermitteln damit ihre Verortung in ihrer Lebenswelt. Das kann explizit geschehen, so z.B. durch Bekenntnisse wie ‘ich bin x’ oder ‘ich bewundere, brauche y\ aber auch mit Hilfe von Gesprächsaktivitäten auf den verschiedenen Interaktionsebenen, die durchaus miteinander kombiniert werden können: durch Übernahme, aber auch durch Bearbeiten und Umbewerten der Argumente eines bestimmten gesellschaftlichen Diskurses, durch die Präsentation bestimmter Formen der Sachverhaltsdarstellung wie Erklären, Informieren, Erzählen, durch Modalisierungen wie Ironie und kontrastierend dazu Ernsthaftigkeit, durch Aktivitäten auf der Ebene der Gesprächsorganisation wie Übernahme von Moderatorentätigkeiten, aber auch durch die Realisierung spezifischer Handlungsschemata wie beispielsweise das des Experten in einer Beratungssituation. Die Klasse und die Lehrenden reagieren darauf: komplementär, indem sie das Interaktionsverhalten und den daraus resultierenden Status bestätigen, oder kompetitiv, indem sie durch ihre Verhaltensweisen neue bzw. andere Interpretationen der Identität der jeweiligen Person evozieren. 5. Transkriptionszeichen nirwana/ sehen\ natür/ lich sindso: si=s + ★ ^ ★ steigende Intonation fallende Intonation die zweite Silbe wird mit steigender Intonation gesprochen schwebende Intonation lang gesprochen Verschleifungen zwischen zwei Lexemen Minipause etwas längere Minipause Pause + Angabe in Sekunden, hier 1 Sekunde 24 So werden gerade Beispiele genutzt, um durch sie Ausschnitte aus der eigenen (hypothetischen) Lebenswelt zu präsentieren, s. hierzu Spiegel (i. Vorb.). 534 Carmen Spiegel (jetzt so) #man ( ■■■ )# #aber ( ■■■ )# K GELÄCHTER vermuteter Wortlaut unverständlich wird gleichzeitig gesprochen Kommentarzeile, hier mit Kommentar GELÄCHTER 6. 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In a little more than two decades it has transformed itself from block-party entertainment to an international sonic and visual language. It mutates faster than any other cultural form, going through a generation within months (...) while transforming the English language. (Pareles 2000) Die Hip-Hop-Nation 2 ist eine Kommunikationsgemeinschaft par excellence: zusammengehalten durch ein sich ständig wandelndes und weitendes Geflecht sprachlicher Praktiken, die sich, kaum sind sie Konvention geworden, weiter multiplizieren. Die Angehörigen der Nation begrüßen sich mit der Formel „Word! “ (oder „Word Up! “) und bewohnen eine Wittgenstein'sche Altstadt aus Sprachspielen, die sich in ständigem Umbau befindet, wobei sich die rappenden bricoleurs und ihre Producer beliebiger Fundstücke bedienen, einschließlich der Bemerkungen, die Touristen bei ihrem Gang durch die Altstadt fallen lassen: was Outsider über Hip-Hop sagen, findet sich häufig in dessen Texten wieder. Rap ist wie eine Sprache innerhalb von Sprachen, eine organische Recycling-Maschine, 1 Brand Nubian (1991): Onefor All. Elektra. 2 „Hip-Hop“ bezeichnet die „Kultur“, das Ensemble aus Graffiti-Writing, B-Boying (Break- Dancing), Rapping (M.C.ing), und „Tumtablism“ (die Arbeit der D.J.s: Scratching, Cutting, Sampling). Rap meint also im engeren Sinne das sprachliche (mündliche) Genre. Neben zahlreichen Büchern für Fans gibt es inzwischen auch wissenschaftliche Literatur; vgl. vor allem Potter (1995), Rose (1994). 538 Jürgen Streeck die alte Sprache in ihre Bestandteile zerlegt, deren kulturelle Referenzen registriert und sie neu zusammensetzt auf CDs mit Titeln wie A Book of Human Language. 3 Rap entstand zum Teil aus den Neuinterpretationen traditioneller Praktiken afroamerikanischer Sprachkultur. Pareles nennt „gospel preaching, ribald partyrecord comedy, the rhyming insults called ‘the dozens’, the pimp and gangster stereotypes of blaxploitation movies and the Jamaican tradition of dance hall D.J.'s toasting, or rhyming, over records“ (Pareles 2000). Ständig werden Old School-Praktiken verdrängt, um als Zitat wieder aufzutauchen, kanonisiert und zugleich rekontextualisiert: mit den Methoden des scratching, cutting und sampling werden vielschichtige textuelle und tonale Palimpseste geschaffen, deren Schichten einander interpretieren - und man kann die Generationen von Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaflern förmlich vor sich sehen, die sich dereinst über diese Texte beugen werden, von Nachschlagewerken über die Popkultur des späten 20. Jahrhunderts umstellt. Etwas strenger und enger könnte man Rap auch als eine evolvierende Diskursinstitution fassen, als Familie von Sprechakten, deren Beherrschung einem gestattet, an kulturellen (Re-)Konstruktionen von Wirklichkeit teilzuhaben. Rap ist das Ganze der Sprachspiele, mit denen sich eine spezifische, aber offene Gemeinschaft organisiert hat und gemeinsame Wirklichkeiten geteiltes Bewusstsein erzeugt. An Hip-Hop kann man nachvollziehen, wie sich eine Kommunikationsgemeinschaft durch die Entwicklung neuer und die transformierende Neuaneignung alter kommunikativer Praktiken selbst erzeugt - und sich zugleich gegen sprachliche Enteignung und kulturelle Entfremdung zur Wehr setzt. Das ganze Genre des Rap erscheint wie ein großes, vielstimmiges Gedicht über die Entstehung von Sprache, Bewusstsein und Gemeinschaft. Unter den vielfältigen sprachlichen Methoden im Rap will ich im Folgenden einige darstellen, mit denen in der Hip-Hop-Nation Identitäten hergestellt werden. Dies berührt ein Thema, das für die Soziolinguistik, zumal für Werner Kallmeyers Arbeiten, zentral ist, nämlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen sozialen Stilen des Sprechens, Gemeinschaft und Individuierung. Im Rap sind „postmoderne“ Methoden der Identitäten-Montage mit einem „vormodemen“ Identitätsmodell verbunden, das persönliche Identität von sozialer Zugehörigkeit (Ortsgebundenheit) und der authentischen Beherrschung von Körpertechniken abhängig macht. Individuierung wird durch styles geleistet, durch idiosynkratische Techniken sprachlicher Improvisation, die man als eine Art von Jazz charakteri- 3 Aceyalone (1998): A Book ofHuman Language. Project Blowed Recordings. Hip-Hop-ldentität 539 sieren könnte und die das Individuum immer wieder an die 1 radition zurückbinden, während es diese zugleich vorwärts treibt. Sprachliche Individuierung ist jedoch nicht dasselbe wie die sprachliche Konstituierung des Selbst; beim einen geht es um die Auszeichnung des Einzelnen innerhalb einer Gruppe, beim anderen um den Dialog des Einzelnen mit sich selbst. Dieser Dialog des Einzelnen mit sich selbst im Medium des Rap stellt zugleich einen Bildungsprozess dar, und deshalb will ich mich abschließend der Frage widmen, wie Individuen rappend zur Sprache kommen und sich dabei der sprachlichen Determinationen ihres Selbst innewerden. Namen Dass wir persönliche Identität besitzen, also als Einzelne identifizierbar sind, verdanken wir vor allem unseren Eigennamen. M.C.s („Masters of Ceremony“) entkleiden sich dieser lebenslänglichen Identität, indem sie sich neue Eigennamen verleihen. Sie kreieren mit ihren Selbsttaufen neue, öffentliche, singuläre Personen, identifizierbare Stimmen im Diskurs der Nation. Viele Namen sind nach einfachen, produktiven Methoden gebildet, z.B. Epitheta (Kool Here, Notorious B.I.G., Large Professor); Titel (Queen Latifah, Grandmaster Flash, D.J. Seif); Akronyme (E.P.M.D.: Eric and Parish Making Dollars, L.L. Cool J.: Ladies Love Cool James); und Bezeichnungen des Ortes, den die Gruppe repräsentiert (504 Boyz, 5th Ward Boyz). Oft wird von einer von Graffiti-Writem ins Leben gerufenen Rechtschreibreform Gebrauch gemacht, die sich z.T. des Rebus-Prinzips bedient oder die Grapheme afro-amerikanischer Phonologie näher bringt (2nd II None, Boyz 2 Men, Crooked Lettaz, Yeshua Da PoEd) bzw. das Englische durch gräzisierte Schreibweisen eigentümlich distanziert (Pharcyde). Viele Namen kodieren eine Programmatik (A Tribe Called Quest, Insane Poetry, Haiku D'Etat). Akronyme vor allem sind oft in Wortspiele gekleidete programmatische Gesten oder Posen, die sich erst im double take oder triple take erschließen: N.W.A. hieß schon immer eine Fluggesellschaft, jetzt ist es auch das Kürzel für „Niggas with Attitude“; P.E. steht für Public Enemy, aber auch, wie jedes amerikanische Schulkind weiß, für Sportunterricht; Sister Soldier verkörpert Militanz, aber Soldier schreibt sich Soul Jah, enthält also zwei weitere Grundbegriffe der afrikanischen Diaspora, eben „soul“ und den afro-christlichen Gott Jah (Javeh). Namen können also janusköpfig sein: der Außenseite wenden sie manchmal ein drohendes (oder unschuldiges), der Innenseite ein grinsendes (oder herausforderndes) Gesicht zu. Der Außenseiter, der solche Namen hin- und 540 Jürgen Streeck herwendet, wird auf seinen eigenen Standort zurückgewiesen, der zugleich ins Rutschen gerät: was ist meine Rolle in (oder außerhalb) dieser Interpretations- und Erfahrungsgemeinschaft, wieviel weiß ich und woher? Zum Beispiel: was sagt mir der muslimische Rapper, der sich The One Ifir nennt; „who is the one / fear? “ So werden Namen zu Anlässen für Reflexionsprozesse. Dies gilt mehr noch für Namen, die auf politische, kulturelle und ethnische Stereotype Bezug nehmen; sie sind Figuren in Vexierspielen, in denen die eigene, fremd zugeschriebene Identität aufgegriffen und spiegelverkehrt zurückgespiegelt wird: Intelligent Hoodlum, No ID. So kommt zum Ausdruck, dass „Identität“ für Afro-Amerikaner selten eine Angelegenheit eigener Wahl, vielmehr ein Oktroy war, aus dem sich erst durch symbolische Konversionen eine „positive“ Identität konstituieren lässt. Mit dieser Namensgebung formulieren die Rapper zugleich die Rezeptionsbedingungen ihrer Musik: egal, was er zu sagen hat, ein junger Schwarzer muss immer damit rechnen, zunächst als „hoodlum“als Gangster - oder als Feind der öffentlichen Ordnung gebrandmarkt zu werden; Autonomie, so sagen sie, verlangt die Auseinandersetzung mit diesen Rollen. Obwohl Hip-Hop eine Weltsprache geworden ist, sind viele seiner Praktiken afro-amerikanischen Ursprungs. Auch die symbolische Praxis der neuen Namensgebung ist eine afro-amerikanische Tradition, deren ursprünglicher manifester Sinn die Zurückweisung der symbolischen Kastration in der Sklaverei war, als Afrikaner ihres afrikanischen Namens beraubt und mit einem weißen Namen gebrandmarkt wurden. Die symbolische Praxis der Auslöschung dieser Markierung fand in Cassius Clays Verwandlung in Muhammed Ali ihren spektakulärsten Ausdruck und in der Neugeburt von Malcolm Liddle, genannt Red, als Malcolm X ihre semiotische Radikalisierung: das Zeichen „X“ ist ein Ikon der Ausstreichung und repräsentiert zugleich das unberechenbare Unbekannte, die Variable, die andere mit eigenen Projektionen belegen werden. Verfolgen wir dieses indexikalische Zeichen „X“, geraten wir in Bezirke, in der Weiße sich nicht mehr zurechtfmden. Wir finden uns in einer okkulten Welt der Numerologie wieder, der cyphers und 5%ers, der Welt der Sekten des afroamerikanischen Islam, die im Hip-Hop reinkamiert wird. Das „X“ im Namen von Derek X (später Sadat X) von der Gruppe Brand Nubian verweist zum Beispiel nicht, wie man vermuten würde, auf Malcolm X, sondern auf Clarence 13X, der eine eigene Spielart des Islam begründet hat, die sogenannten Five Percenters. Als Chiffre, die sich nur Insidern erschließt, geistert das Zeichen durch Brand Nubians Musik, etwa wenn die Amerikanern vertraute Stimme des Talkmasters Ed Sullivan ertönt: Hip-Hop-Identität 541 Well, good evening my Nubian brothers and sisters, tonight we got a really big show really big show! Conducting his Concierto in X-minor we have the Brother Derek X. Uh his theme tonight will be on racism in uh New York. Brother Derek X! 4 Die Namen (ebenso wie die Texte) mancher Hip-Hop-Künstler bilden Anlässe zu Bildungsprozessen: ihre Dekodierung verlangt die Vergegenwärtigung versunkener Wissensbestände im Gespräch der Interpretationsgemeinschaft. Hip-Hop wurde so zur politischen Avantgarde, Verkörperung und Netzwerk eines vielstimmigen, rehistorisierten schwarzen Bewusstseins. In den boasts, mit denen sie in die battle ziehen, arbeiten M.C.s die Bedeutungen ihrer Namen in anspielungsreichen Hyperbeln aus. Big Daddy Kane evoziert mit seinem Namen und seiner öffentlichen Personazumal dem Accessoire des Handstocks das „blaxploitation“-Stereotyp des schwarzen Ladies' Man. In seinen Texten elaboriert er dieses Stereotyp zum Prince of Darkness und zitiert eine ganze Batterie von Popstars, als deren schwarze Variante er sich präsentiert; auch Filmtitel dienen als Spielmaterial für seine Identitätenmontage: I trick up like Hoodini the original Yeah, that's right. To be blunt and lay my cards on the table: You'll be gone with the wind for messing with Dark Gable. In comes the era of the chocolate types like your Bobby Brown, Aron Hall and Wesley Snipes. Including myself in the hypes, the Big Daddy Kane is a part of it, a.k.a. your Prince of Darkness. 5 Kane ist Zauberkünstler (Hoodini), schwarzer Frauenschwarm (Dark Gable) und Popstar (Wesley Snipes). Dann figuriert er sich als Vampir Blackula. Check the Prince of Darkness, hear y'all: Four times for your mind the poetically inclined, genuine and divine (...) When it comes to girls, they know the program because when I get through they feel silence of the lamb. 4 Brand Nubian (1991): Onefor All. Elektra. 5 Big Daddy Kane (1991): Prince ofDarkness. Cold Chillin' Records. 542 Jürgen Streeck So Ladies grab a hand and join the caravan. So don't miss the breath of my kiss of death. And A-plus in lust while your boyfriend is an F. I come telling you tales from the darkside. Im symbolischen Spiel um sexuelle Potenz wird nebenbei an weiße Ängste vor schwarzer Sexualität und schwarzer Nacht erinnert: die Frau, die dem schwarzen Liebhaber anheim fällt, ist für den weißen Mann verloren. All dies sind vertraute primitivistische Stereotype. In Kane's Prince of Darkness- Identität ist jedoch noch ein weiterer Mythos der afrikanischen Diaspora kodiert, Baron Samedi, der, mit dem Handstock als Zeichen seines Adels, nachts in Haiti unterwegs ist und die Menschen in Angst und Schrecken versetzt. In viele sprachliche Formen, die im Hip-Hop zirkulieren, sind verschiedene Bedeutungsschichten und symbolische Bezüge verpackt, die sich verschiedenen Sektoren des Publikums in unterschiedlichem Maße eröffnen. Namen sind Rätsel; ihr Sinn erschließt sich erst im Rückgriff auf Geschichte und Mythologie der afrikanischen Diaspora, die so erneut zu Bewusstsein gebracht wird. Mit den Namen, die sie sich geben, und den Personae, die sie fabrizieren, indizieren Rapper also auch Orte in einem verzweigten Netz kultureller Verweisungen, und Singularität wird mit Kommunalität verwoben. Kommunalität: representing, dedication Kommunalität wird mehr noch von solchen Praktiken erzeugt, mit denen der M.C. sich unmittelbarer einer spezifischen Gemeinschaft zuordnet; dazu gehören vor allem zwei Sprechakte, representing und dedication. Representing bedeutet, dass der M.C. sich als Repräsentant eines Ortes ausweist, dem seine Loyalität gilt. So hört man auf der CD der kubanischen Gruppe Orishas auf Englisch „represent represent“ und dann auf Spanisch „Cuba! Orishas son de donde? La Habana! “ Dieser Identitätsbestandteil die lokale Zugehörigkeit ist im Hip-Hop fast unverzichtbar; Authentizität wird auch dem Star letztlich aufgrund seiner dauerhaften Verwurzelung in einer realen, lokalen Gemeinschaft und ihrer Erfahrungen zuerkannt. Jeder muss mit der Frage rechnen, welchen Ort er repräsentiert; kann er keinen nennen kann er also keine Gemeinschaft anführen, die für ihn bürgt -, dann bleiben auch seine Geltungsansprüche unverbürgt. Merkwürdige Traditionalismen sind hier am Werk: das Kriterium für keeping it real, den kommunikationsethischen Wertmaßstab der globalen Hip-Hop Nation, ist die Zugehörigkeit zu einer lokalen Face-to-Face-Gesellschaft. Hip-Hop-Identität 543 Doch ist die Hip-Hop Nation selbst natürlich keine Face-to-Face-Gesellschaft. Sie existiert dank der Medialisiemng durch elektronische und digitale Technologien, in einem Medienmarkt. Im Unterschied zu den Selbstidentifizierungspraktiken der Stars anderer Genres von Popmusik und Popkultur mit denen aus Biografie eine zwar symbolisch aufgeladene, aber autonome Persona erzeugt wird (vgl. Madonna) markieren viele Rapper ihren Ort in einem Netzwerk realer, miteinander kommunizierender und voneinander lernender Bürger. Sie benennen ihre Vorbilder und die Bundesgenossen in dem spezifischen Genre, dem sie sich zuordnen, und sie betreiben zugleich boundary work: sie verhandeln den Status umstrittener oder peripherer Mitglieder. Dies geschieht im Sprechakt der dedication. Before I get this rec I like to take a sec to say that this jam here is dedicated to some of my favorites. I like to dedicate this to P.E. I like to dedicate this to B.D.P. I like to dedicate this to the X-Clan I like to dedicate this to Heavy D. Just because I'm a rapper doesn't mean I'm not a fan. My favorite Rakim, Big Daddy, Cool G. and L.L. who always keep the girls tinglin come on honey-dip, you can jingle along too. You're cool too! 6 So weit erscheint Identität in der Hip-Hop-Nation als eine ganz und gar postmoderne Angelegenheit, als eine autonome, „konstruktivistische“ und changierende Montage aus Bruchstücken, die in kulturellen und popkulturellen Diskursen zirkulieren. Aber ebenso konstitutiv für Hip-Hop ist ein Umgang mit Identität, den man „vormodem“ nennen müsste. battle Die Urform der Interaktion zwischen Rappern, der Kontext, in dem Rap entstanden ist und sich entwickelt hat, und bis heute der maßgebliche Rahmen, in dem Könnerschaft zu beweisen ist, ist der linguistische Kampf Mann gegen Mann, lyrical combat, die Institution der battle. Die battle ist eine Neuadaptation des Spiels der dozens, des öffentlichen poetischen Kampfes Mann gegen Mann, in dem es darum geht, seinen Gegner durch witzigere boasts und treffenderen Sar- 6 Brand Nubian (1991): One for All. Electra. 544 Jürgen Streeck kasmus sprachlos zu machen und zugleich in technischer Hinsicht auszustechen. Battles bestehen im Wesentlichen nur aus zwei Sprechakten, dem hyperbolischen boasting mit der eigenen verbalen (und/ oder sexuellen) Potenz und dem korrespondierenden dissing (disrespecting) des Gegners. Die Ironie, die diesen Sprechakten innewohnt, ist eine Variante der afro-amerikanischen Tradition des signifying. Rakim boastet: I rip shows, stay focused, and split cheese with soldiers While you hit trees and coast I spit flows that be ferocious And with these explosives, I split seas for Moses Shine permanently only my mind's concerning me Fire bums in me eternally time’s eternity Followers turn on me they'll be in a mental infirmary Determinately advance technology better than Germany 7 Und Queen Latifah: Well-well-well-ifs the L-A, the T-I The F-A-H, you see why. The Q double E N. Is the reason I must be myself What else? Well fame hasn't got me Souped up, sellin' out, sloppy your puffy. There's so much to live for Fear for, here's more from a woman (...) The overblown homegrown not known fools Who never show proof Let alone own. Unlock the props Over hip-hop, pop-chart notch. On your clock that's my spot now. Why you, little played out flat shoe 8 I'm allergic to wack crews. signifying Dozens und battle sind öffentliche Wettkämpfe im signifying, einer kulturell hoch bewerteten Art des Umgangs mit Worten und ihren Bedeutungen, die im Rakim (1997): The 18th Letter. Universal Records. Queen Latifah (1990): Nature ofa Sista. Tommy Boy Music. Hip-Hop-Identität 545 Jazz eine musikalische Entsprechung hat. „Signifying“ bezeichnet alle möglichen Praktiken der Anspielung. The term signifying refers to the playful, humorous indirection or innuendo, the talking around an implied meaning, the situated, noncommittal metaphor, the invective that only works if the opponent lacks humor and responds in a literal fashion. Signifying is an attitude toward language, fostering its transformation into art, but it is also a social gambit: signifying enables the man and the woman of words to challenge and criticize without becoming committed to any particular claim or meaning: for only the response will tell. Someone who signifies is not accountable: he or she only provides for a tentative reading. Only the victim is stubborn enough to commit to a single interpretation. In the words of Luther Campbell of 2 Live Crew, ‘Whoever fit the shoes, wear it! ’ 9 (Streeck 1992, S. 28) Ein Grund für das Gewicht, das die vielfältigen Formen des signifying in der alltäglichen Kommunikationspraxis von Afro-Amerikanern und in ihren mündlichen Kunstgenres haben, ist die Kommunikationsgeschichte der Sklaverei: signifying heißt, in der oktroyierten Sprache des Masters so zu kommunizieren, dass dieser nicht versteht, sie als Medium für subversive Botschaften zu nutzen. H.L.Gates Jr. schreibt: For centuries, African Americans have been forced to develop coded ways of communicating to protect them from danger. Allegories and double meanings, words redefined to mean their opposites (...) even neologisms have enabled blacks to share messages only the initiated understood. 10 Der Rapper D-Knowledge veranschaulicht die Praxis mit folgenden Worten: Have you ever noticed that black folks have a way of taking words that mean one thing and turning them around so they mean another? Like when a brother's talkin bout a beautiful sister and he says that this sister is PHAT but not fat like overweight or obese! Cuz this girl's tight and not tight like uptight or still! Cuz this girl's DOPE and not dope like the stuff some of us smoke! 11 9 The Village Voice, Nov. 6, 1990. 10 The New York Times, June 19, 1990. 11 D-Knowledge (1995): All that and a Bag of Words. Qvest Records. 546 Jürgen Streeck Egal, ob es der Konfrontation (im dissing) oder der ironischen Überhöhung des eigenen Selbst (im boasting) dient, signifying impliziert immer ein Verhältnis von Inklusion und Exklusion: nur wer Insiderwissen besitzt, kann die zweite Bedeutungsebene dekodieren. Signifying ist deshalb dann am wirksamsten, wenn das Opfer meint, eine Äußerung in konventioneller Weise verstehen zu können und andere Bedeutungsschichten nicht erkennt. Signifying ist sogar schon ein Bestandteil der deutschen Szene geworden. Das Rödelheim Hartreim Projekt veranstaltet das deutsche Äquivalent eines Yo Momma-Jokes; sie dissen die Stuttgarter Fantastischen Vier - und adaptieren das amerikanische West Coast-East Coast Territorialmodell für die gerade entstehende deutsche Hip-Hop-Szene-, indem sie die Fantastische Mutter ins Aufnahme-Studio holen. Sie wird um eine Mikrofonprobe gebeten, und in breitestem Schwäbisch fragt sie und wird immer wohliger erregt: Soll I jetz amol des mit dem Schtail sage, Herr Haas? Des mit dem Schtail? Uuuh, Dein Schtaiil ist so geil, uuuhuu, Dein Schtail ist so geil! 12 Man weiß nicht, wohin die Geilheit der Fantastischen Mutter angesichts der styles der Gegner ihrer Söhne noch geführt haben mag; aber im Spiel der dozens ist die Andeutung, man habe es mit der Mutter des Gegners getrieben, der effektivste Zug. skills Die battle ist die Arena für die Identitätsbildung junger Rapper (oder M.C.s, wie Rapper sich nennen). Ein wesentliches Merkmal dieser Interaktionsform ist, dass mit Sprache improvisiert wird (freestyling)'. da man nicht wissen kann, mit welchen Worten man angegriffen werden wird, kann man auch seinen Gegenangriff nicht planen; man kann keine auswendig gelernten Texte mitbringen und hoffen, damit in einer battle zu bestehen; gefragt ist vielmehr die Fähigkeit, spontan, aber kunstvoll auf unvorhersehbare sprachliche Stimuli zu reagieren. Dazu ist es erforderlich, dass der M.C. über ein Repertoire von Versatzstücken metrisierten Sätzen oder Satzfragmenten — sowie über Listen sich reimender Wörter verfügt, aus denen sich im Gefecht rasch Verse montieren lassen, die sowohl zur Situation wie in die entstehenden metrischen Strukturen passen. Diese skills gleichen dem „Homerischen State of Mind“, den Havelock (1963) den „Rappern“ der Ilias und Odyssee zugeschrieben hat. Mousike nannten ihn 12 Rödelheim Hartreim Projekt (1996): Zurück nach Rödelheim. MCA. Hip-Hop-1dentität 547 die Griechen. Seine Basis sind die aus der Wiederholung von Phrasen entstehenden Rhythmen, die nicht nur Bewegungsrhythmen und prosodische Rhythmen, sondern auch kognitive Rhythmen sind. Simply to repeat [a] statement is to set up a rhythm. But rhythms which repeat a group of words over again will not allow a fresh statement. So the main onus of sheer repetition, which the memory needs as its prop, is transferred to the meaningless metrical pattern which is retained tenaciously in the memory, and the fresh statements are then so expressed as to fit acoustically into the pattern. (...) The requirements of memory are met in a fundamental fashion through practising a strict economy of reflexes. (...) The reflexes are bodily actions; they are a form of doing (...) Automatic behaviour in one part of the body (the voice organs) is then strengthened by parallel behaviour of the body (ears and limbs). The entire nervous system, in short, is geared to the task of memorisation. (Havelock 1963, S. 148f., 151) Natürlich lastet auf zeitgenössischen Rappern nicht die Verantwortung, kollektives Gedächtnis, das andernfalls verloren ginge, zu bewahren: mündliche Texte lassen sich elektronisch bewahren. Dennoch suchen auch freestylende M.C.s diesen Zustand, in dem sich das Gedächtnis dem Rhythmus öffnet; sie nennen ihn zone. Im Freestyling dient der beat als Matrix für sprachliche Improvisationen; was der M.C. beherrschen muss, ist die Passung von erinnerten, rhythmisch formatierten Sprachfragmenten und den slots, die der beat Stück für Stück eröffnet. Doch auch dies gleicht der composition-in-performance des homerischen Barden. Finnegan schreibt: The poet had a store of ready-made diction already tailored to suit the metrical constraints of the hexameter line. By manipulating formulaic elements from his story the ‘building blocks’ he could construct a poem based on traditional material which was still his own unique and personal. The poet had at his disposal this series of traditional patterns built up over the years (...), but he was not passively dominated by them: he used them to create his own poems as he performed them. (Finnegan 1977, S. 60) Auf oral poetry insgesamt gemünzt, beschreibt dies auch die formulaischen freestyling-Techniken des M.C. ebenso wie die des Jazz-Musikers (Berliner 1994; Havelock 1963, S. 147): die unablässige Neuaneignung und situative Transformation tradierter, von anderen vorkomponierter Fragmente. Freestyling verlangt eine besondere Organisation sprachlichen Wissens: lexikalische Einheiten, Idiome, Phraseologismen werden nicht oder erst in zweiter Linie nach Bedeutungen gruppiert, in erster Linie aber nach rhythmischen und lautlichen Äquivalenzen, als Reimlexikon. Skills sind der wichtigste, authentische Identitätsbestandteil des M.C.; sein Prestige wächst mit seiner Fähigkeit, mög- 548 Jürgen Streeck liehst viele Silben in einem beat unterzubringen, das Sprechtempo zu variieren, den beat mit der Stimme zu synkopieren, und so fort. Skills machen die verkörperte Identität des M.C. aus, sie sind Engramme ständigen Trainings und nicht zu simulieren. Rapper üben diese Fähigkeiten nicht zuletzt dadurch, dass sie rappend denken: sie rhythmisieren und reimen ihren inneren Monolog. styles In dieser Hinsicht ähnelt die verkörperte Identität des Rappers der des Jazz- Musikers; beide reflektieren die besondere Logik der expressiven Kultur Afro- Amerikas, dass nämlich der einzelne Künstler an einem unverkennbaren Stil, einer unverwechselbaren Art, mit seinem Instrument und mit dem tradierten Vokabular umzugehen, an einer Signatur in der Improvisation erkennbar ist. Diese Identität wird in zwei Schritten erworben: durch die praktische Aneignung der Tradition, dann durch idiosynkratische Abweichungen vom tradierten Idiom. Dieser Individuierung hegt ein Ethos musikalischer Indirektheit zugrunde, dessen sprachliches Gegenstück signifying ist. Bomeman (1959) schreibt es der afrikanischen Tradition zu. Im Jazz manifestiert es sich vor allem in der Art und Weise, wie der Musiker mit der einzelnen Note umgeht indem er die Note nicht einfach spielt, sondern sich an sie heranspielt - und im ständigen Anspielen auf das Thema in der Improvisation. Bomeman schreibt: While the whole European tradition strives for regularity (...) the African tradition aims at circumlocution. (...) The direct statement is considered crude and unimaginative: the veiling of all contents in ever-changing paraphrases is considered the criterion of intelligence and personality. (...) No note is attacked straight; the voice or instrument always approaches it from above or below, plays around the implied pitch without ever remaining any length of time, and departs from it without ever having committed itself to a single meaning (Bomeman 1959, S. 13) Als Musiker haben die M.C.s vom Jazz das Ethos ererbt, dass Identität durch die Ausbildung eines einzigartigen Stils im Spiel mit den zur Konvention gewordenen Regeln erworben werden muss: jemand zu sein bedeutet, wiedererkermbar zu sein, nur mit sich selbst identisch, unverwechselbar (und dennoch verständlich) zu sein. Da Rap kein Gesang, sondern Gespräch ist, spielt das Spiel mit der Melodie kaum eine Rolle; entscheidend ist der Umgang mit den beats. Ein individualisiertes Muster dieses Umgangs nennt man styles. Während skills Raffinesse im Rappen als körperlicher Praxis bezeichnen, markieren styles den Übergang von Technik in Kunst, die aus dem reflektierenden, analysierenden Spiel mit den Strukturen des Mediums entsteht. Hip-Hop-Identität 549 Auffallend am Identitäten-Jazz der Hip-Hop-Nation ist also, dass ein postmodernes Modell - Identität als kontextuelle Montage aus kulturellen Versatzstücken immer wieder an vormodeme Praktiken zurückgebunden wird: die Authentizitätsnorm keep it real verlangt nicht nur die von anderen verbürgte reale Zugehörigkeit zu einem set und einer hood, sondern auch die außerordentlich trainingsbedürftige und ganz und gar nicht simulierbare körperliche Beherrschung des Idioms (vielleicht ist es diese kommunale Rückbindung von Performanz und indexikalischem Zeichen, die Rap zu einem erfolgreichen postmodernen Kommunikationsgenre gemacht hat). Doch wird ein derartiges Identitätsmanagement leicht problematisch: wenn Text und Lebenswirklichkeit immer mehr auseinander klaffen, aber mehr noch, wenn sich Außenseiter des Idioms bedienen, die zu der afro-amerikanischen Erfahrungswelt, der es entstammt und die es zunächst artikuliert hat, nur vermittelten Zugang haben und, indem sie sich in diesem fremden Idiom auszudrücken beginnen, ihre eigene lokale Bindung und kulturelle Zugehörigkeit in Frage stellen (am überzeugendsten ist dies zunächst solchen M.C.s gelungen, die schon im Vorhinein marginalisiert waren, z.B. der deutsch-türkischen Gruppe Cartel). Das Problematische dieses Verhältnisses thematisiert die deutsche Gruppe Die Pilzen: And they're talkin' about to keep it real, das geht zu lange schon, zu oft und viel zu viel. Du sprichst ne andere Sprache in deinem eigenen Land, und am Ende zweifeln alle anderen an deinem Verstand. 13 Und wenn die Wirklichkeit dich überholt (...) Mit seiner Ausbreitung schien Hip-Hop also ein wachsendes Marginalisierungsrisiko zu bergen. 3rd Bass, ein frühes weißes New Yorker Rap-Duo, das ein Album mit dem Titel Derelicts of Dialect (Dialektrenegaten) herausgebracht hat, bringen dies dadurch zum Ausdruck, sich von Louis Armstrong, der archetypischen Stimme des schwarzen Amerika, prophezeien zu lassen, dass sie dereinst nur für Weiße rappen werden, die (wie sie selbst) glauben, schwarz zu sein. Hooooh, Mr. Soul, Kevin, when you grow up, 14 gonna work for a lot of white people who think they're black! 13 Cartel (1997): Auf dem Sampler Reimattacke '97. Polymedia. 14 3rd Bass (1989): 77! e Cactus Album. Def Jam Records. 550 Jürgen Streeck Und D-Knowledge erklärt, nachdem er dem Publikum die Regeln afro-amerikanischer Slang-Produktion erklärt hat, dass sein allegorisches Liebesobjekt Sister/ Language „uns gehört“, also den schwarzen Amerikanern: This sister is all of that and a BAG OF WORDS but not just any of bag of words but a bag of OUR words with OUR meanings. That's what she is! Das Idiom hat sich freilich ohne Rücksicht auf diese Warnungen und Vorbehalte in der Welt ausgebreitet. Selbstkonstruktion Es ist der Hip-Hop Nation also mithilfe einer Handvoll von Sprachgebrauchspraktiken, die teils der afro-amerikanischen Alltagstradition entlehnt, teils genuin neu sind, gelungen, eine symbolische Diskurswelt zu erzeugen, innerhalb derer Sprecher, die sich mittels verschiedener indexikalischer Techniken in der wirklichen Gesellschaft und ihrer Geschichte situieren, über brennende Themen kommunizieren und ihr Publikum in eine lernende Interpretationsgemeinschaft verwandeln können. M.C.s wie Brand Nubian, Public Enemy, X-Clan und andere haben sich programmatisch auf Positionen in der Geschichte des afro-amerikanischen Befreiungskampfes bezogen: den Afrozentrismus von Marcus Garvey, die Nation of Islam (Black Muslims), die Black Panther Party, die Rastafari. Durch die Evokation der Geschichte wird die Gegenwart transparent gemacht. Hip-Hop hat, zumindest eine Zeitlang, das kollektive Gedächtnis des schwarzen Amerika sehr revitalisiert. Doch fragt sich, ob aus diesem Bild nicht allzu viel Enthusiasmus spricht. Denn der Schar prominenter knowledge rappers und den Idealisten des Underground steht eine viel größere, auffälligere und kommerziell erfolgreichere Anzahl von Stars gegenüber, die entweder Popstars und sonst gar nichts sind oder, wie nicht selten im Gangsta Rap, die ständige, stillschweigende Androhung von Gewalt als normale Geschäftspraktik betrachten und den Habitus reich gewordener, militanter Kampfhundebesitzer pflegen. Das Kleidungs-Idiom des Hip-Hop, zunächst mit impliziten kulturellen Verweisen ausgestattet, ist zum universellen Zeichen angepasster Anpassungsverweigerung unter Jugendlichen geworden, und der Slang dient sogar in ihrer Haltung gegenüber Afro-Amerikanern sonst eher reaktionären weißen frat boys (Verbindungsstudenten) als Beweis dafür, dass auch sie eine wilde Seite besitzen. John Hoberman hat die Auffassung vertreten, dass ihre Erfolge als Sportler und Entertainer Afro-Amerikanern noch nie politische Hip-Hop-ldentität 551 Emanzipation und kommunalen ökonomischen Fortschritt gebracht haben, sondern immer nur Mechanismen der Machterhaltung und kulturellen Ausgrenzung waren (Hoberman 1997). Sport und Entertainment im Hip-Hop vor allem der Gangsta Rap haben primitivistische Stereotype befestigt: im Gangsta Rap repräsentieren sich schwarze Männer in Varianten der rassistischen Figur des affektgeladenen, gefährlichen, sexuell hyperpotenten, mit der Nacht assozierten bad nigger. Die Ironie und Gebrochenheit dieser Repräsentationen wird vielen Konsumenten uneinsichtig oder gleichgültig sein. So betrachtet reflektiert das idealisierende Bild des Genres als Bildungsinstitution wohl eher die Perspektive dessen, der es zeichnet: des nicht-partizipierenden Beobachters aus der Außenwelt, dessen Neid sich in enthusiastischen Überzeichnungen der positiven Aspekte des Neidobjekts manifestiert. 15 Obwohl Hip-Hop als Bewegung also kaum eine politische Avantgarde ist, der es endlich gelungen ist, Popkultur als Vehikel der Emanzipation der Community nutzbar zu machen, so bleibt doch das Potenzial, das dieses Idiom seiner Logik nach für individuelle Bildungsprozesse birgt. Denn das Medium ist hier ja nicht in erster Linie der Körper oder die Musik, sondern die Sprache die empirisch in der Gesellschaft Vorgefundene, variantenreiche und modifizierbare Sprache. Die Frage ist deshalb, welches Bildungspotenzial man der Sprache selbst bzw. der methodischen Auseinandersetzung mit ihr zuspricht. Rapper kommen rappend ja nicht nur zur Sprache, sondern auch zu sich selbst: die Formanalyse sprachlichen Materials, die Rap ihnen abverlangt, ermöglicht Einsichten in die sprachlichen Determinationen des eigenen Selbst. Rap ist, so betrachtet, ein Medium der Selbstverständigung des Individuums und eine Methode, sich die poetischen und sozialen Eigenschaften von Sprache bewusst zu machen. Die Selbst-Objektivation des sprechenden Subjekts in den poetischen Strukturen des Rap macht es möglich, sich Identität und Sprache neu anzueignen und der sprachlichen Methoden habhaft zu werden (und sie zu dekonstruieren), mit denen seine Identitäten bisher von anderen, die mit ihm und über es sprachen, montiert und zugewiesen wurden. Die Methodik des Rap führt zuerst zu den poetischen Eigenschaften der Sprache. Koch (1998) hat poetische Sprache als eine „Sprache in einer Sprache“ beschrieben, eine Weise, eine natürliche Sprache so zu gebrauchen, dass ihre musikalischen Eigenschaften an die Oberfläche treten. „Poetic language (...) [is] a language in which the sound of the words is raised to an importance equal to that of their meaning“. Rap ist ein junges poetisches Genre, und immer wieder stößt man auf Szenen, die sich wie Augenblicke einer ursprünglichen poetischen Anis Vgl. Streeck (1981). 552 Jürgen Streeck eignung anhören: man glaubt den Augenblick mitzuerleben, in dem sich der M.C. poetischer Gestaltungsmöglichkeiten erstmalig innewird. Es sind Vignetten, die jemanden darstellen, der sich in einer durch Laute und Stimmen charakterisierten Situation befindet und auf diese mit poetischen Mitteln reagiert. Man erlebt mit, wie die Person an ihren eigenen Äußerungen deren poetische Strukturen entdeckt und dann mit ihnen zu spielen beginnt. Slick Rick, ein Old School Rapper, der Jahre im Gefängnis war, beschreibt den Augenblick seiner Entlassung: man hört, wie sich Gefängnistore öffnen und der Wärter ihm in aller Form erklärt, dass er fortan ein freier Mann ist. Slick Rick beginnt leise, in einem Singsang, aus dem rasch ein oder zwei markante Vokale hervorperlen, seinen Anspruch auf Teilnahme am allgemeinen Rapperwettstreit anzumelden. Stimme 10-8-91 -8-4968, pack your stuff, your free to go. Rick Excuse me! I'm tryin' to earn a million buck or two a solid rapper coming. And who the fuck are you - Around this part of town, with diamonds, millions, girls and fur? I'm tryin' to enter in this rap contest you're havin', Sir. Stimme You're kind of late (,..) 16 Auf der CD hört sich dies so an, als ob Slick Rick einen imaginären Dialog vor sich hin spricht, in Vorbereitung auf das, was vor ihm liegt. Als einer, der dem Hip-Hop neue poetische Möglichkeiten erschlossen hat, gilt Rakim. Als er sich nach Jahren der Stille wieder zu Wort meldete, tat er dies mit einer Antwort auf die Frage, was er der Community gegeben habe: skills antwortet er und führt dann vor, wie er der Sprache ihre Musik ablauscht und mit dieser zu spielen beginnt: er flicht eine Perlenkette aus dem Vokal Ae/ . Just when things seemed the same, and the whole scene is lame I come and reign with the unexplained for the brains till things change They strain to slang sling, I'm trained to bring game History that I arranged been regained by King James Go to practice, with tactics, when the track hits, theatrics' 7 Rakim hat die community gelehrt, dass Endreime auf die Dauer nicht ausreichen werden, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu binden; was der Rappergenau wie der von Havelock beschriebene homerische Barde braucht, ist viel- Slick Rick (1999): The Art ofStorytelling. Def Jam Records. Rakim (1997): The 18th Letter. Universal Records. Hip-Hop-Identität 553 mehr ein sprachliches Gedächtnis, eine Datenbank, die lange und offene Listen gleichlautender Wörter umfasst und die man rasch nach ihren rhythmischen Eigenschaften gruppieren kann, sodass alle möglichen Varianten von Binnen- und Stabreimen etc. entstehen können all dies unter dem Zeitdruck der battle, des freestyling: das ist Meisterschaft. Im Spiel mit dem beat entstehen neue Möglichkeiten des parsing: die Gruppe Brand Nubian („Marke Nubier“, ein afrozentrischer Verweis auf das Volk der Nubier, das sowohl im Herzen Afrikas wie an der Quelle der ägyptischgriechischen Tradition angesiedelt wird) offeriert das folgende Argument: brand new brand new Brand Nubian brand new - Being 18 Eine ganze Programmatik ist hier untergebracht: das Erscheinen einer neuen Gattung Mensch, die Verheißung einer neuen Existenz: wirst du dir bewusst, dass du ein Nubier bist, heißt dies, wird sich dir ein neues Leben eröffnen. Die poetischen Techniken des Rap arbeiten jedoch nicht nur mit der Musik der gesprochenen Sprache, sondern auch mit deren Bildhaftigkeit. Dropping metaphors (Metaphern fallen lassen) ist zu einer verbreiteten Metapher für Rappen geworden. A Tribe Called Quest benutzt Rhythmus als eine Metonymie für eine kollektive Bewegung zum Licht It's a new decade the native tongues are about to precede with the usual lingo the usual rhythm. The rhythm's happenin' and it's movin' up. The chap's been in a hole for much too long don't fear the rhythm because it's strong. I'm a Nubian y'all, look what we did: took the quest away from the Third Eye-lid. 19 18 Brand Nubian (1991): Allfor One. Elektra. 19 A Tribe Called Quest: Paths of Rhythm. 554 Jürgen Streeck Common Sense entdeckt die Allegorie als Möglichkeit, seine Enttäuschung über die Korrumpierung des Hip-Hop zu artikulieren: er erzählt vom Verlust der Unschuld seiner Jugendliebe: I met this girl when I was ten years old And what I loved most she had so much soul She was old school, when I was just a shorty Never knew throughout my life she would be there for me (...) Now periodically I would see ol girl at the clubs, and at the house parties. She didn't have a body but she started gettin thick quick Did a couple of videos and became affocentric About my people she was teachin me By not preachin to me but speakin to me in a method that was leisurely, so easily I approached. She dug my rap, that's how we got close (...) Always smokin blunts and gettin drunk Tellin me sad stories, now she only flicks with the funk Stressin how hardcore and real she is She was really the realest, before she got into showbiz (...) But fma take her back hopin that the shit stop Cause who I’m talkin bout y’all is hip-hop 20 L.L. Cool J. sieht sich von Metaphern umzingelt; er bricht aus, indem er nonchalant eine neue Quelle bildhafter Vergleiche ausprobiert: was immer sich sagen lässt, lässt sich mit den Worten eines Filmtitels sagen. Anders als Common Sense reibt sich L.L. am immer artifizielleren Charakter des Rap. Sein Idiom ist das der Straße, und im Refrain wird gefragt, ob dem Hip-Hop der Marsch von Hollis (einer neighborhood von Queens/ New York) nach Hollywood bekommen ist. Yeah, you know it be buggin 1 me out, you know what I'm sayin' that rap, how everybody like is using metaphors and all that it seems like everybody's some kind of metaphor freak some kind of metaphorical freak or somethin' man, 20 Common Sense (1994): Resurrection. Relativity Records. Hip-Hop-ldentität 555 you know what I'm sayin', word up! So, You know what I'm sayin, you know brother's wanna make a movie and all that you know how I mean, so I figured you know what I'm sayin' I'd just make a little movie, with a chickenball Check it If you saw the movie Wall Street I guess you know The way ya stack chips and regulate wild dough But ain't no G-funk and far from my era Tales from the hood your boyz will feel terror MC's contaminatin' tracks with feces You think of pussy until a flick like Species Hi tech ya my pen got velocity Jumpin' out the SSL like Virtuosity And never question what I'm doin' to ya girl She let me dive deep like her panties is Waterworld But all metaphors the only thing in rap You brothers need to stop with that I'm goin' from Hollis to Hollywood Stimme: But is he good? Hollis to Hollywood 21 Stimme: But is he good? Soziolinguistisches Sprachbewusstsein konstituiert sich zum Beispiel in der Montage von Vorgefundenen Stilen, in denen andere über das Subjekt reden, und in der Befragung dieser Stile auf die in ihnen verborgenen Perspektiven, gesellschaftlichen Standorte und Interessen. So zum Beispiel die Stimme des weißen Oberschichten-Liberalismus in „First Impression“ von Ice-T: Upon initial contact with Ice-T's music, I had envisioned him to be an ill-mannered and psychologically unstable man with an extremely uneducated and barbaric frame of mind, whose raps displayed nothing but ridiculous jargon, shocking sexual audacity and repulsive images of the ghetto. However, after further analysis of his music, I can deduce that he is the epitome of antidisestablishmentarianism who embodies the entire 22 spectrum of the urban experience and struggle. 21 L.L. Cool J.: Mister Smith. 22 Ice-T. (1992): O.G. Sire Records. 556 Jürgen Streeck In einer ironischen Brechung von Stimme und Wortschatz lässt Prince Paul (in „Just another day“) seine Mutter im Hintergrund keifen, dass er endlich etwas aus sich machen soll wobei sie Hip-Hop-Slang spricht und Hip-Hop-Werte vertritt. So ist dies mit den Idealen: irgendwann fangen sie an zu nerven. Und auch die sprachliche Grenze wird irgendwann porös, und man verliert seine kulturelle Immunität. Mutter Yo Don! You better represent, stop baggin' up chickens and get in the know. Don Damn! Monday morning, same bullshit, different date. My dukes don't understand the hustle! Ever since I graduated five years ago, she been on my case about everything. Gettin 1 a better job, gettin 1 out of this neighborhood, keepin 1 an eye on my sister. 23 Die Gruppe X-Clan schließlich bestimmt ihre Identität inmitten eines polyphonen Diskurses darüber, wer X-Clan ist; jede zitierte Stimme kann einem Typus von Gesellschaftsmitgliedem und einer Perspektive zugeordnet werden. Musikkritiker: Headliners X -Clan who lead a mission they call Blackwatch carried Affocentricity and rap pedagogy to their limits, that’s well into boredom and beyond. There were good words in inaccessible form; if X-Clan have a lesson to teach or, more likely, three hundred and sixty degrees worth of lessons this was no way to get anyone to listen. I get the feeling I'm not the target audience for this product. Schwarzer Feminist: Yo! 1 have a question I wanna ask: How come all the girls in your videos are light-skinned with long hair. Wha's up? You got a problem with real black women? And speakin' about women: Are the women in the Blackwatch movement leaders, or a bunch of groupies, dominated by your macho attitudes? Möchtegern-Insider: Yo! Them niggars ain't real. They s'posed to be righteous. I was backstage at the concert, and all they's tryin' to do was hit some skins. Man, they was surrounded by girlies! 23 Prince Paul (1999): Prince of Thieves. Tommy Boy Music. Hip-Hop-ldentität 557 Streber: X-Clan. Man that's Semitic I tell ya for God's Sake. That white activist Sony Carson. I seen 'em. I seen 'em in Crown Heights. They're trouble-makers. Louis Farrakhan (Leader der Nation of Islam): But are you willing to get behind the man today who is the leader of the real X-Clan. The leader of the REAL X-Clan is the honorable minister Louis Farrakhan. Beginn des offiziellen Programms: Thanks! I am Professor Epo the overseer. Blessings and all greetings in every language of brightness. You beyond a doubt have realized that you are one of the original sons 24 or daughters of God. This must not be taken lightly. Dies ist eine Hip-Hop-Variante soziolinguistischer Analyse, eine andere Art, sich über die Phänomene Auskunft zu geben, die mit den Mitteln der Soziolinguistik der Grandmaster of Urban Styles beschreibt, dem dieser Essay gewidmet ist: beide erzählen uns von den mikroskopischen symbolischen Bausteinen, aus denen wir und die anderen unsere Identitäten zusammensetzen, und von den sprachlichen Determinanten und der Plastizität unseres sozialen Selbst. Es ist erstaunlich, dass diese Analyse im Rahmen von Tanzmusik durchgeführt wird was Hip-Hop unter anderem ja auch ist. Am Ende eines Jahrhunderts, das oft und zurecht als ein „visuelles“ Zeitalter bezeichnet wurde, hat Rap eine Renaissance der gesprochenen Sprache bewirkt 26 und tausende von Jugendlichen zu Poeten gemacht, die mit den Mitteln der Poesie und elektronischer und digitaler Medien die Mechanismen sprachlicher Bedeutungskonstitution untersuchen und sich damit in die Lage versetzen, als aktive und bewusste Subjekte linguistische Politik zu betreiben. 24 X-Clan (1992): Xodus. Polygram. 25 Siehe vor allem Kallmeyer (1994). 26 Siehe Streeck (1998). 558 Jürgen Streeck Literatur: Berliner, Paul F. (1994): Thinking in Jazz. Chicago. Bomeman, Emest (1959): The roots ofjazz. In: Henthoff, Nat/ McCarthy, A. J. (Hg.): Jazz. New York. Finnegan, Ruth (1977): Oral Poetry. Bloomington. Havelock, Eric A. (1963): Preface to Plato. Cambridge, ma. Hoberman, John (1997): Darwin's Athletes. New York. Kallmeyer, Werner (Hg.) (1994): Kommunikation in der Stadt. Bd. 1. 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(= Schriften des Instituts für deutsche Sprache 4.3). S. 506-523. (1995e) Vorwort. In: Schwitalla, Johannes: Kommunikation in der Stadt. Teil 4: Kommunikative Stilistik zweier sozialer Welten in Mannheim-Vogelstang. Berlin/ New York. (= Schriften des Instituts für deutsche Sprache 4.4). S. xi-xiii. (1995f) Zur Kontextualisierung von sozialen Kategorien und Stereotypen in der sprachlichen Interaktion. In: Czyzewski, Marek/ Gülich, Elisabeth/ Hausendorf, Heiko/ Kastner, Maria (Hg.): Nationale Selbst- und Fremdbilder im Gespräch. Kommunikative Prozesse nach der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Systemwandel in Ostmitteleuropa. Opladen. S. 396-401. (1996a) (Hg.) Gesprächsrhetorik. Rhetorische Verfahren im Gesprächsprozeß. Tübingen. (= Studien zur deutschen Sprache 4). (1996b) Einleitung: Was ist Gesprächshetorik? . In: 1996a, S. 7-18. (1996c) (Zusammen mit Reinhold Schmitt): Forcieren oder: Die verschärfte Gangart. Zur Analyse von Kooperationsformen im Gespräch. In: 1996a, S. 19-118. 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Studien zur deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Marcel Schilling Reden und Spielen Die Kommunikation zwischen Trainern und Spielern im gehobenen Amateurfußball Studien zur deutschen Sprache 23, 2001,447 Seiten, € 84,-/ SFr 151,- ISBN 3-8233-5153-2 Nach dem Spiel ist vor dem Spiel sowohl für Gewinner wie Verlierer. Die einen müssen ihre Fehler erkennen und bearbeiten, um nicht erneut zu verlieren, die anderen müssen ihre erfolgreichen Verfahren perfektionieren, um nicht auf einmal zu den Verlierern zu zählen. Die Bearbeitung des Vergangenen und die Orientierung aufdas Neue: all das geschieht im Training - und vor allem geschieht es verbal. Dieser Band analysiert die Kommunikation zwischen Trainern und Spielern im Amateurfußball. Die Sprache der Fußballer wird erst dann verständlich, wenn man die Strukturen der Fußball-Welt kennt: Wo und wie begegnen sich Trainer und Spieler, wer hat was zu leisten, welche sozialen Regeln sind einzuhalten, was und wer kann die Interaktion beeinflussen? Vor dem Hintergrund dieser sozialen Strukturen werden dann auch die rhetorischen Strategien der Trainer erklärbar: als funktionale, individuell geprägte kommunikative Verfahren, um die Spieler möglichst effektiv aufdas nächste Spiel einzustellen. Gisela Harras (Hrsg.) Kommunikationsverben Konzeptuelle Ordnung und semantische Repräsentation Studien zur deutschen Sprache 24, 2001, 229 Seiten, € 39,-/ SFr 74,- ISBN 3-8233-5154-0 Kommunikations- und speziell Sprechaktverben sind in den letzten 20 Jahren kaum systematisch bearbeitet worden. Dies ist umso erstaunlicher, als dieser Bereich einen nicht unbeträchtlichen Bestandteil des Verbwortschatzes aller indoeuropäischen Sprachen ausmacht. Die Vernachlässigung ist aber auch aus qualitativen Gründen unverständlich, denn schließlich sind Kommunikationsverben der Indikator für die Konzeptualisierung des kommunikativen Verhaltens innerhalb einer Sprach- und Kulturgemeinschaft. Mit diesem Band wird ein erster Versuch unternommen, diese Lücke zu schließen. Er enthält Beiträge zu Fragen der Performativität, Ereignisstruktur, semantischen Dekomposition, Lexikalisierung und Synonymik. Gunter Narr Verlag Tübingen ISBN 3-8233-5152-4