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Polen und Deutsche im Gespräch

1997
978-3-8233-3014-1
Gunter Narr Verlag 
Reinhold Schmitt
Gerhard Stickel

Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen mit unterschiedlichen Methoden und Theorien (Gesprächsanalyse, Biographieanalyse, linguistische Textanalyse) der Frage nach, wie sich der aktuelle Kontakt zwischen Deutschen und Polen gestaltet und welche Rolle die problematische gemeinsame Geschichte dabei spielt. Auf der Grundlage authentischer Gespräche zwischen Deutschen und Polen werden die Rolle wechselseitiger Vorurteile, unterschiedlichen Wissens und der kulturspezifischen Annahmen für das wechselseitige Verständnis untersucht sowie die Möglichgkeiten und Fallstricke der Kulturvermittlung beschrieben. Biographie- und fotoanalytische Beiträge liefern Einblicke in die Probleme der biographischen Entwicklungen von Menschen, die im deutsch-polnischen Spannungsverhältnis der Kriegsjahre aufgewachsen oder durch diese geprägt worden sind. Sie geben wichtige Hintergrundinformationen für das Verständnis des Verhaltens in aktuellen Begegnungen.

Studien zur deutschen Sprache TORScin \(; i: \ Dins institi ts i't'R deutschi: spräche Reinhold Schmitt/ Gerhard Stickel (Hrsg.) Polen und Deutsche im Gespräch gn Gunter Narr Verlag Tübingen STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE 8 Studien zur deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Herausgegeben von Bruno Strecker, Reinhard Fiehler und Hartmut Günther Bands -1997 Reinhold Schmitt/ Gerhard Stickel (Hrsg.) Polen und Deutsche im Gespräch Gunter Narr Verlag Tübingen Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Polen und Deutsche im Gespräch / Reinhold Schmitt/ Gerhard Stickel (Hrsg.). - Tübingen : Narr, 1997 (Studien zur deutschen Sprache; Bd. 8) ISBN 3-8233-5138-9 NE: Schmitt, Reinhold [Hrsg.]; GT © 1997 • Gunter Narr Verlag Tübingen Dischingerweg 5 ■ D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner TeUe ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das güt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Redaktion: Daniela Heidtmann Druck: Müller + Bass, Tübingen Verarbeitung: Braun + Lamparter, Reutlingen Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 3-8233-5138-9 INHALT Gerhard Stickel: Vorwort VII Mechthild Elstermann, Inken Keim, Reinhold Schmitt, Ricarda Wolf: Einleitung 1 Reinhold Schmitt: „Ich werde Sie sehen lassen“ oder: Über Möglichkeiten und 26 Grenzen interaktiver Kulturvermittlung Ricarda Wolf: Dumm gelaufen: Strukturelle Gründe für das Schicksal einer 72 Gesprächsinitiative Ulrich Dausendschön-Gay: „und dann entstehen berge von problemen“. Didaktischer 116 Aufklärungsdiskurs und Kulturvermittlung Mechthild Elstermann: Distanz im Kontakt. Über den schwierigen Umgang mit 144 Störendem in deutsch-polnischen Begegnungen Bozena Choluj: Gemeinschaft durch Reduktion. Über die Rolle der Stereotype 169 bei interkulturellen Erstkontakten Jarochna Dqbrowska: Das Bild der Polen in der deutschen Presse. 180 Ein textlinguistischer Zugang Marek Czyzewski: ‘Repatriierte’ und Vertriebene: Wechselseitige Vorurteile in 209 autobiographischen Berichten Inken Keim: Eine Biographie im deutsch-polnischen Kontext: Marginalität, 253 kulturelle Uneindeutigkeit und Verfahren der Tabuisierung Miriam Yegane Arani: Verstohlene Blicke. 304 Fotografien aus der Zeit der nationalsozialistischen Besatzung 1939-1945 in Poznah/ Posen und Umgebung Anhang: Transkriptionssymbole 344 Vorwort Die meisten der in diesem Buch versammelten Aufsätze enthalten in verschiedenen Formulierungen die Feststellung, daß das Verhältnis zwischen Polen und Deutschen schwierig, in jedem Fall problembelastet ist. Für diesen unerfreulichen gegenwärtigen Zustand liefern mehrere Autoren plausible historische Erklärungen (bis hin zu fotografischen Belegen). Alle Beteiligten aber möchten sich mit den derzeitigen Verhältnissen nicht abfinden. Sie wollen als Wissenschaftler mit ihren Beobachtungen, Analysen und Folgerungen aufklärend wirken und damit zu einem besseren wechselseitigen Verstehen von Deutschen und Polen beitragen. Hierzu dienen besonders die Analysen von authentischen Gesprächen zwischen meist jungen Polen und Deutschen, Gesprächen, bei denen trotz positiver Grundeinstellung der Beteiligten hin und wieder etwas ‘schiefläuft’. Dabei geht es keineswegs um heftige verbale Konflikte mit fatalen Folgen, sondern um eher unauffällige ‘lokale’ Mißverständnisse und Fehlverläufe, die oft nur für einen der Gesprächspartner irritierend sind. Die Analysen dieser Gespräche suchen in erster Linie diagnostisch zu wirken. Folgerungen werden zwar angeschlossen, simple Verhaltensrezepte jedoch vermieden. Das Buch ist nicht Ergebnis eines von langer Hand detailliert geplanten Forschungsvorhabens. Es entstand aus einer relativ spontanen Initiative einiger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Institut für deutsche Sprache (IDS), die das Glück hatten, mit polnischen und deutschen Kollegen ähnlicher Interessen zusammenzutreffen. Als stimulierend erwies sich, daß es keine reinen Germanistentreffen waren, sondern auch Historiker und Soziologen beteiligt waren. Wie es zu der ersten und den folgenden Begegnungen einschließlich der Datenerhebung kam und welche forschungsleitenden Fragen sich dabei entwickelten, wird im einzelnen in der Einleitung dargestellt. Hier ist nur kurz noch zu erläutern, warum das Institut für deutsche Sprache das Projekt gefordert hat. Für das IDS als zentrale Einrichtung zur Erforschung und Dokumentation der Landessprache Deutsch liegt es auf den ersten Blick nicht nahe, sich mit Fragen der transnationalen Kommunikation zu befassen, wenn es nicht gerade um Sprachkontaktphänomene oder um Erscheinungen geht, die in mehreren deutschsprachigen Ländern zu beobachten sind. Das IDS hat sich jedoch in seiner mehr als dreißigjährigen Geschichte nie auf die deutsche Binnenperspektive beschränkt. Schon bald nach seiner Gründung 1964 bildete das Institut einen Wissenschaftlichen Rat, in den neben deutschen, österreichischen und schweizerischen Germanisten auch korrespondierende Mitglieder aus dem nichtdeutschsprachigen Ausland berufen wurden. Zu den ersten ausländischen Ratsmitgliedern gehörte der große polnische Germanist Ludwik Zabrocki von der Universität Posen, und dies noch zur Zeit des ‘kalten Krieges’, als Beziehungen zu westlichen Forschungseinrichtungen auch für polnische Wissen- VIII schaftler mit erheblichen Schwierigkeiten und Risiken verbunden waren. Zabrocki bemühte sich intensiv um eine Normalisierung der Zusammenarbeit über die damals nur schwer zu überbrückenden Grenzen hinweg und trug damit dazu bei, daß es schon Jahre vor der politischen ‘Wende’ in Mittel- und Osteuropa zu häufigen Begegnungen zwischen polnischen und westdeutschen Germanisten kommen konnte. Bezeichnenderweise gehören längst mehrere Schüler Zabrockis, die als Germanistikprofessoren an verschiedenen Universitäten in Polen tätig sind, dem Wissenschaftlichen Rat des IDS an. Seit mehreren Jahren arbeitet eine Forschungsgruppe aus polnischen und deutschen Germanisten unter Leitung des früheren IDS-Direktors Ulrich Engel an einer umfangreichen deutsch-polnischen kontrastiven Grammatik, die dem Deutschunterricht in Polen und dem Polnischunterricht in Deutschland als linguistisches Referenzwerk dienen soll. Unter den Gastwissenschaftlern, die längere Aufenthalte am IDS verbringen, sind fast immer auch polnische Germanisten, die in Mannheim an ihrem jeweiligen Forschungsthema arbeiten. Das bescheidene Projekt, dessen Ergebnisse hiermit vorgelegt werden, reiht sich also gut ein in eine mittlerweile langjährige Tradition wissenschaftlicher Kontakte zwischen dem IDS und der polnischen Germanistik. Im Anschluß an eine Tagung über „Vorurteile zwischen Deutschen und Polen“, die im Dezember 1992 in den Grenzstädten Görlitz und Zgorzelec stattfand, hat sich unter dem Namen „Görlitzer Kreis“ eine Vereinigung deutscher und polnischer Wissenschaftler gebildet, an deren jährlichen Treffen auch Mitarbeiter des IDS teilgenommen haben, die an dem vorliegenden Band beteiligt sind. Das Erkennen von Vorurteilen ist zweifellos eine wichtige Bedingung für besseres Verstehen und bessere Verständigung. Wie sich aus mehreren der folgenden Beiträge ergibt, sind in Gesprächen von Deutschen mit Polen neben Vorurteilen weitere Hindernisse zu überwinden, zu denen nicht zuletzt Defizite in der Kenntnis von der jeweils anderen Geschichte und Kultur und Mangel an Erfahrungen in interkulturellen Begegnungen gehören. Auch solche Erfahrungsmängel lassen sich beheben: indem mehr Polen und Deutsche trotz der in diesem Buch beschriebenen Schwierigkeiten oder auch gerade deswegen ins Gespräch kommen und im Gespräch bleiben. Gerhard Stickel Mechthild Elstermann, Inken Keim, Reinhold Schmitt, Ricarda Wolf Einleitung 1. Entstehung und Anliegen des Buches Daß das Verhältnis zwischen Polen und Deutschen problematisch sei, darüber ist viel geschrieben worden. Die historischen Ursachen sind mehr oder weniger bekannt wenn es auch für zukünftige geschichtswissenschaftliche Forschungsprojekte noch so manche Frage zu beantworten gibt. Die gegenwärtigen Konsequenzen und Entwicklungen auf politischer Ebene kann man zum Teil den täglichen Nachrichten entnehmen. Wie aber ist es, wenn Polen und Deutsche miteinander reden? Schlägt sich das auf der offiziellen politischen Ebene problematische Verhältnis im zwischenmenschlichen Kontakt unweigerlich in Form von Kommunikationsproblemen nieder? Oder wären mögliche Verständigungsprobleme auf der Ebene der „ganz normalen“ Schwierigkeiten zu verorten, die man gemeinhin für interkulturelle Kontakte annimmt? Welche Schlüsse sind aus den möglichen Antworten auf diese Fragen für die Organisation von Begegnungen zwischen Deutschen und Polen zu ziehen? Mit diesen und anderen Fragen beschäftigen sich die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes. Ins Gespräch darüber kamen wir die meisten der polnischen und deutschen Autorinnen und Autoren dieses Buches zunächst am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld. In den weitläufigen hellen Tagungsräumen des ZiF, auf den Wanderwegen des Teutoburger Waldes und in diversen westfälischen Gaststuben haben wir uns einander angenähert, gestritten und viel gelacht. Die Zeitpunkte, institutionellen Zusammenhänge und Beteiligungskonstellationen waren unterschiedlich: Im Februar 1991 gab es eine vierwöchige Veranstaltung zur Gesprächsanalyse, an der Soziologen und Linguisten aus Ost- und Westeuropa teilnahmen. Hier wurde die Idee zu dem Projekt „Nationale Selbst- und Fremdbilder in osteuropäischen Staaten - Manifestationen im Diskurs“ geboren, an dem in der ersten Hälfte des Jahres 1993 im ZiF eine ost-west-europäische Forschergruppe arbeitete. 1 Die Mehrzahl der Beiträger und Beiträgerinnen des vorliegenden Sammelbandes war mindestens an einem dieser Arbeitszusammenhänge beteiligt. Bei einem workshop im Rahmen des Selbst- und Fremdbilder-Projekts führte die Analyse eines Gespräches zwischen einer deutschen Studentin und einem polnischen Professor für Geschichte zu den ersten Zügen einer Projektidee: Wir hatten den Eindruck, daß das Gespräch zwischen der Deutschen und dem Polen in mehrfacher Hinsicht durch Vermeidungsstrategien und eine Tendenz zur Tabuisierung geprägt war. Der konkrete Auslöser war die kleine, aber interessante Beobachtung, daß der polnische Professor bei den Gesprächen über die ver- Die Ergebnisse dieses Projekts sind in Czyzewski et al. (Hg.) (1995) dokumentiert. i 2 Mechthild Elstennann, Inken Keim, Reinhold Schmitt, Ricarda Wolf schiedenen polnischen Teilungen jeweils die deutsche Seite als Teilungsmacht „vergaß“. Diese Beobachtung führte zu einer Diskussion über das polnischdeutsche Verhältnis und zu der Idee, die Chancen und Risiken des kommunikativen Austauschs zwischen Polen und Deutschen in einem eigenen kleinen Projekt genauer zu untersuchen. Wiederum im ZiF sprachen wir mit zukünftigen Kooperationspartnern über Möglichkeiten der Realisierung dieser Idee. Ein entsprechendes Projekt mit dem Titel „Polnisch-deutsche interkulturelle Kommunikation“, dessen Ergebnisse das vorliegende Buch beinhaltet, wurde dann am Institut für deutsche Sprache (IDS) in Mannheim etabliert und durchgefuhrt. Eine umfangreiche Materialbasis dafür verschafften wir uns durch die teilnehmende Beobachtung und Dokumentation eines der jährlich in Poznan stattfindenden Sommerkurse für polnische Sprache, Geschichte und Kultur (s.u.). Diese und andere Materialien analysierten wir bei verschiedenen Gelegenheiten sowohl mit unseren polnischen Kooperationspartnern (Marek Czyzewski und Andrzej Piotrowskif als auch mit anderen polnischen und deutschen Wissenschaftlern, von denen sich einige unserem Vorhaben anschlossen: Miriam Yegane Arani, Bozena Chohij, Jarochna Dqbrowska und Ulrich Dausendschön-Gay. Für das Erkennen von Chancen und Risiken im polnisch-deutschen Kontakt war ein Kolloquium zum Thema „Polnisch-deutsche Interkulturelle Kommunikation“, das in der Zeit vom 10.-12.04.1995 wiederum im Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld stattfand, ein wichtiger Schritt. Hier diskutierten polnische und deutsche Historiker, Soziologen, Psychologen sowie Sprach- und Literaturwissenschaftler drei Tage lang über wesentliche Aspekte des polnisch-deutschen Verhältnisses. Die Mannheimer Arbeitsgruppe nutzte diese Gelegenheit, um erste Ergebnisse ihrer Arbeit vorzustellen und die dokumentierten Gespräche aus dem Poznaher Sommerkurs gemeinsam mit den Tagungsteilnehmern zu besprechen. 3 Das Kolloquium bot einen fruchtbaren Rahmen, bei der Analyse interkultureller Kommunikation selbst eine temporäre interkulturelle Gemeinschaft zu bilden. Neben den inhaltlichen Diskussionen lebte es von einem beiderseitigen emotionalen Engagement, wie es für wissenschaftliche Tagungen nicht unbedingt erwartbar ist. Dabei erkannten wir wechselseitig die national geprägten Perspektiven beim Zugang zum Material und in den Annahmen darüber, was die wesentlichen Strukturaspekte des polnisch-deutschen Verhältnisses sind. Die gemeinsame Analyse der Materialien reicherte sich unweigerlich durch eine teils offene, teils implizite -Thematisierung des Kolloquiums selbst als interkultureller Situation und der kulturellen Bedingtheit unserer Wahrnehmung und Interpretationen als Analysie- 2 Im Febmar 1995 waren Marek Czyzewski und Andrzej Piotrowski eine Woche lang zur gemeinsamen Analyse der Poznaher Materialien Gäste des IDS. 3 Der Mannheimer Arbeitsgruppe gehörten Mechthild Elstermann, Inken Keim, Ricarda Wolf und Reinhold Schmitt an. Einleitung 3 rende an. Dabei produzierten wir gelegentlich dieselben Kommunikationsprobleme, die wir gerade an den Materialien beobachteten. Insgesamt bestätigte sich, daß ein beiderseitiges Bedürfnis an der Diskussion und Untersuchung polnisch-deutscher Themen vorhanden ist. Wir, die Mitglieder der Mannheimer Arbeitsgruppe, fuhren mit der Gewißheit nach Hause, mit dem Projekt einen längst fälligen Beitrag zur polnisch-deutschen Annäherung zu leisten. Dieser wäre allerdings nicht zustande gekommen das sei an dieser Stelle ausdrücklich betont ohne die ausgezeichnete deutschsprachige Kompetenz sowohl unserer polnischen Kollegen als auch der Poznaher Germanistikstudenten, die den Sommerkurs als Betreuer begleiteten. Der Titel des Buches „Polen und Deutsche im Gespräch“ ist bewußt mehrdeutig gewählt, um die unterschiedlichen Dimensionen unserer Arbeit widerzuspiegeln: „Im Gespräch“ waren polnische und deutsche Wissenschaftler sowohl über Gespräche zwischen Deutschen und Polen als auch über Gespräche und Texte, in denen Polen über Deutsche und Deutsche über Polen reden oder schreiben. In seiner ‘Offenheit’ spiegelt der Titel auch den Stand der sozial- und sprachwissenschaftlichen Beschäftigung mit polnisch-deutschen Kontakten wider: Es handelt sich um ein „weites Feld“, das noch weitgehend unbearbeitet ist. Es gibt zwar einige wenige Arbeiten zum deutsch-polnischen Verhältnis im Bereich der soziologischen und pädagogischen Jugendforschung 4 , einige linguistische Untersuchungen im Rahmen der kontrastiven Grammatik und Pragmatik 5 , sprachhistorische 6 und geschichts- und politikwissenschaftliche 7 Arbeiten sowie kulturpolitische und -historische 8 Studien zu den deutsch-polnischen Beziehungen. Es gibt aber bislang weder deutsche noch polnische Untersuchungen zum interkulturellen Kontakt auf der Grundlage von dokumentierten Gesprächsereignissen. Im Rahmen dieser ‘offenen’ Forschungsbedingungen und in Anbetracht der kurzen Zeit, die uns zur Verfügung stand, begreift sich das kleine IDS- Untemehmen als ein Sondierungsprojekt. Unser Anliegen war es, einen ersten Schritt auf dem Weg zur Erforschung polnisch-deutscher Kommunikation zu gehen und weitere Arbeiten anzuregen. Dem Status eines Sondierungsprojekts entspricht das Ergebnis: Eine Reihe interessanter Beobachtungen und Hypothesen ergibt in erster Linie ein Geflecht an Fragen für weitere Untersuchungen. In diesem Sinne verfolgt der vorliegende Sammelband auch keine stringente Bearbeitung einer einheitlichen Fragestellung. Er ist vielmehr darauf 4 Vgl. Kollan (1987) und Melzer/ Lukowski/ Schmidt (1991). 5 Vgl. Miemietz (1981); Prokop (im Druck); Miodek (1994). 6 Vgl. Glück (1979); Reiter (1960); Szarota (1984). 7 Vgl. Jacobson/ Tomalla (1991); Jacobson (1992); Ludwig (1991); Mampel/ Uschakow (1991); Schweizer/ Feger (1975); Juchler (1986, 1988 und 1994). 8 Vgl. Dönhoff (1991); Bingen (1989); Jarowski (1987); Szarota (1988); Ziemer (1991); von Zitzewitz (1993). 4 Mechthild Elstemann, Inken Keim, Reinhold Schmitt, Ricarda Wolf ausgerichtet, die facettenreiche Struktur polnisch-deutscher Gespräche anhand unterschiedlicher Fragestellungen und Methoden abzubilden. Der Band beinhaltet zum einen Analysen zum gegenwärtigen polnischdeutschen Verhältnis. Hierzu zählen die gesprächs- und konversationsanalytischen Beiträge aus dem unmittelbaren Projektkontext (Reinhold Schmitt, Ricarda Wolf, Ulrich Dausendschön-Gay, Mechthild Elstermann und als Kommentar zu den Beiträgen von Schmitt und Wolf der Aufsatz von Bozena Choluj). Die Analyse aktueller Zeugnisse wird durch den Beitrag von Jarochna Dabrowska ergänzt, die sich mit dem Bild der Polen in der deutschen Presse beschäftigt. Der zweite Schwerpunkt des Bandes besteht in Analysen zur historischen Dimension des polnisch-deutschen Verhältnisses. Hier finden sich die zwei biographieanalytischen Beiträge von Marek Czyzewski und Inken Keim. Den Abschluß bildet der fotographieanalytische Aufsatz von Miriam Yegane Arani. Für die meisten Beiträge ist die methodische Erweiterung durch ethnographische Recherchen konstitutiv. Bei aller Unterschiedlichkeit läßt sich die Mehrzahl der Beiträge in den Forschungsbereich der interkulturellen Kommunikation einordnen, einschließlich jenes Zweiges der Vorurteils- und Stereotypenforschung, der sich mit der diskursiven bzw. rhetorischen Funktion des verbalen Ausdrucks von Stereotypen beschäftigt. 9 Einige Beobachtungen an unseren Materialien fuhren zur Ergänzung und Ausdifferenzierung bisheriger Hypothesen in diesem Forschungsbereich. Über das Interesse an universellen Aspekten von interkultureller Kommunikation hinaus war es uns aber auch wichtig, die Spezifik des polnischdeutschen Kontakts zumindest ansatzweise herauszuarbeiten. Bevor wir die Ergebnisse unserer Arbeit vor dem Hintergrund der historisch gewachsenen polnisch-deutschen Beziehungen und des Forschungsbereichs der interkulturellen Kommunikation darstellen, soll der Sommerkurs in Poznan beschrieben werden, da er die Materialbasis der meisten Aufsätze in diesem Buch bildet. 2. Der Sommerkurs in Poznan Ein gutes Beobachtungsfeld für Gespräche zwischen Deutschen und Polen ist der jährlich in Poznan stattfindende Sommerkurs für polnische Sprache, Kultur und Geschichte, an dem wir im August/ September 1994 insgesamt drei Wochen lang teilnahmen. Dieses Feld bot für uns auch den entscheidenden Vorteil, Gespräche zwischen Polen und Deutschen in deutscher Sprache do- Im Unterschied zum psychodynamischen und zum kognitiven Ansatz der Stereotypen- und Vorurteilsforschung hat sich in den letzten zehn Jahren ein diskursiver bzw. „rhetorischer“ Ansatz etabliert, nach dem Stereotype und Vorurteile als bestimmte Diskursstrukturen aufzufassen sind, vgl. Billig et al. (1988); Billig (1991); van Dijk (1984, 1992, 1993); Wodak et al. (1990, 1994). Einen expliziten Anschluß an diesen Ansatz formuliert Marek Czyzewski in diesem Band. Einleitung 5 kumentieren zu können. Für die Mehrzahl der deutschen Autoren dieses Buches war das überhaupt die Voraussetzung, um an dem Projekt mitarbeiten zu können. 10 Bevor wir 1994 diesen Kurs dokumentierten, hatte er bereits zehn Mal in Poznan stattgefunden. Bei den etwa zwanzig Teilnehmern am 1994er Kurs handelte es sich zum überwiegenden Teil um Studenten im Alter von Anfang bis Mitte Zwanzig, die an einer nordwestdeutschen Universität studierten und die aufgrund eines Kooperationsvertrages dieser Universität mit der Adam- Mickiewicz-Universität in Poznan zu günstigen finanziellen Bedingungen die Gelegenheit hatten, vier Wochen in Polen zu verbringen. Daneben gab es einige Teilnehmer aus anderen Städten, die diesen Kurs außerhalb des Kooperationsvertrages gebucht hatten: Diesen Studenten ging es vor allem darum, Polnisch zu lernen bzw. ihr schon vorhandenes Polnisch zu verbessern, da sie berufliche Interessen damit verbanden und z.T. einen etwas längeren Aufenthalt in Polen planten. Der Kurs wurde betreut von einer ausgezeichnet deutsch sprechenden Polin, die als Assistentin am Institut für germanische Philologie der Universität angestellt war. Ihr oblag die gesamte organisatorische Leitung. In der Betreuungsarbeit wurde sie von vier polnischen Germanistikstudenten höherer Semester unterstützt. Der Tagesablauf der Studenten gestaltete sich in der Woche etwa wie folgt: Am Vormittag wurde Polnisch für Anfänger, am Nachmittag für Fortgeschrittene unterrichtet. Nach dem vormittäglichen Sprachunterricht stand meist ein landeskundlicher Vortrag mit anschließender Diskussion auf dem Programm. Die Thematik reichte von politisch orientierten Vorträgen („Das Parteiensystem in Polen“, „Kirche und Staat im demokratischen Polen“, „Die deutsche Minderheit in Polen“, „Polnisch-deutsche Beziehungen aus rechtswissenschaftlicher Sicht“) über ökonomische („Wirtschaft Polens fünf Jahre nach dem marktwirtschaftlichen Umbruch“) bis zu literatur- und kunstwissenschaftlichen Vorträgen (z.B. „Polnische Malerei des 19. Jahrhunderts und die Probleme der nationalen Identität“). An den Intensivkurs am Nachmittag schloß sich manchmal noch ein Filmbesuch oder der Besuch einer Einrichtung innerhalb Poznans an. Die Wochenenden waren größeren Exkursionen Vorbehalten. Insgesamt sind in der Zeit die nähere Umgebung Poznans mit Körnik, Koszuty und Rogalin, dann Gniezno, Wroclaw, Gdansk, Malbork, Tschqstochowa, Krakow und Oswiecim (Auschwitz) besucht worden. 10 An dieser Stelle möchten wir all denen danken, die uns den Zugang zu diesem Feld ermöglicht haben: unserer polnischen Kollegin Izabela Prokop, die uns gewissermaßen „die Tür geöffnet“ hat; der Leiterin des Instituts für Germanistik der Adam-Mickiewitcz- Universität, Edyta Pölczynska, die uns „den Zutritt gestattet“ hat; den Lehrkräften, Betreuern und Teilnehmern des Kurses, die uns als „Teilnehmer“ in ihrer Mitte aufgenommen und die permanente Präsenz von Videokamera und Mikrophonen akzeptiert haben. 6 Mechthild Elstermann, Inken Keim, Reinhold Schmitt, Ricarda Wolf Während unseres Aufenthaltes in Poznan haben wir den Ferienkurs auf der Grundlage teilnehmender Beobachtung und beobachtender Teilnahme in seinen konstitutiven Situationen dokumentiert. Unser deutschsprachiges Korpus besteht aus ca. 17 Stunden Videoaufzeichnungen von Interviews, Exkursionen, Vorträgen, dem Polnisch-Unterricht und anderen Kontaktsituationen, wie z.B. einem gemeinsamen Abendessen in einer polnischen Familie. Die auf Tonband dokumentierten Situationen sind wesentlich umfangreicher und auch hinsichtlich der Situationsspezifik facettenreicher. Hier liegen ca. 120 Stunden dokumentierte Gespräche vor: Exkursionen, Vorträge, drei Wochen Sprachkurs und eine große Anzahl von Pausen- und Zufallsgesprächen. Darin eingeschlossen sind die Interviews, die wir mit dem größten Teil der deutschen Studenten und polnischen Betreuer geführt haben. Für unsere eigenen Analysen und als Vorbereitung des ZiF-Kolloquiums (s.o.) konnte allerdings nur ein kleiner Ausschnitt dieses umfangreichen Gesamtkorpus verschriftlicht und analysiert werden. Die Fragen, die wir zunächst an die in Poznan dokumentierten Gespräche gestellt hatten, waren nicht unwesentlich von dem Wissen um die Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen und die gegenwärtige Entwicklung dieser Beziehungen auf politischer und ökonomischer Ebene beeinflußt. Deshalb geben wir zuerst einen kurzen Abriß der deutsch-polnischen Beziehungen in diesem Jahrhundert, bevor das Projekt und die einzelnen Beiträge in den Forschungsbereich der interkulturellen Kommunikation eingeordnet werden. 3. Deutsch-polnische Beziehungen in diesem Jahrhundert Bevor sich zum Ausgang des vorigen Jahrhunderts und vor allem in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts die Prozesse vollzogen, die die polnisch-deutschen Beziehungen noch heute so schwer belasten, schrieb Polen bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts eine leid- und wechselvolle Geschichte: Während Polen im 16. Jahrhundert eine wirtschaftliche, politisch-militärische und kulturelle Blütezeit erlebt hatte, konnte sich das „traditionalistische Reich, das vermehrt von den Interessen des Hochadels und dessen Rivalitäten gekennzeichnet war“ (Juchler 1994, S. 188) im 18. Jahrhundert nicht mehr halten. „Polen wurde zum Spielball der aufstrebenden absolutistischen Großmächte, des habsburgischen Österreichs, Preussens und Russlands“ (ebd.) und verlor bis zum zweiten Weltkrieg drei Mal seine staatliche Souveränität. Unter Bismarck führte der deutsche Herrschafts- und Überlegenheitsanspruch über das „untertänige Polentum“ (Broszat 1972, S. 129) zu Germanisierungsbestrebungen und um die Jahrhundertwende zu unverhüllter deutschnationaler Kampfpolitik. Ziel war die Verhinderung staatlicher Selbständigkeit Polens durch rasche Germanisierung des preußischen Polen, d.h. von Westpreußen und Posen. Der dabei geführte Sprach- und Kulturkampf richtete sich vor al- Einleitung 1 lern gegen Adel und Kirche. 11 In beiden sah Preußen Elemente der „Agitation gegen Preußen“ (a.a.O., S. 139), wogegen die polnische Bauern- und Landbevölkerung als gefügig und gutwillig eingeschätzt wurde. Um eine absolute deutsche Majorität zu gewinnen, wurden Polen aus den preußischen Gebieten ausgesiedelt und Deutsche angesiedelt. Wie schon in der Folge der vorangegangenen polnischen Teilungen wurde gegen diese Germanisierungsbestrebungen auf polnischer Seite mit Widerstand reagiert. Ziel war die „Zerschlagung der feindseligen deutschen Macht“, so Dmowski, einer der Anführer im polnischen Widerstandskampf 12 , und die Wiedererrichtung eines polnischen Reiches vor allem durch die Rückgewinnung der preußisch besetzten Gebiete. Förderlich für die Realisierung dieses Ziels war der Ausgang des ersten Weltkriegs, durch den die drei Dynastien, die 146 Jahre vorher Polen geteilt hatten, nicht mehr existierten. In diesem „Vakuum“ konnte sich 1918/ 19 die ‘nationalrevolutionäre Vereinigung des Polentums’ durchsetzen. Die Wiederherstellung Polens war auch das Kriegsziel der Alliierten, das 1918 mit der Gründung eines selbständigen polnischen Staates erreicht wurde. In der Folge wurden mit dem Versailler Vertrag vom Juni 1919 die deutschpolnischen Grenzen neu festgelegt: Polen erhielt für die an Rußland abgetretenen Ostgebiete Ersatz im Westen auf Kosten Deutschlands, das so die Provinz Posen und den größten Teil Westpreußens verlor. Danzig wurde zum Freistaat unter Völkerbundstatut erklärt. Über die endgültige Zugehörigkeit der überwiegend deutschen bzw. masurischen Bevölkerung ostpreußischer Bezirke und Oberschlesiens sollte ein Plebiszit entscheiden. Die ostpreußischen Bezirke entschieden sich für eine Zugehörigkeit zu Deutschland. Oberschlesien wurde zwischen Deutschland und Polen geteilt. Sowohl auf polnischer als auch auf deutscher Seite wurde der Versailler Vertrag nicht positiv angenommen. Polen empfand die Gebietsaufteilung in Bezug auf Danzig und Oberschlesien als Demütigung; ebenso die auferlegte Minderheitenschutzbestimmung, die allen Einwohnern Polens ohne Unterschied der Geburt, Nationalität, Sprache, Rasse und Religion, also auch den Deutschen, volle Freiheit und Gleichberechtigung garantierte. In Deutschland war die Annahme des Vertrages von öffentlichen Erklärungen begleitet, daß Deutschland sich mit dieser Gebietsaufteilung (vor allem der Abtrennung Ostpreußens vom übrigen Reichsgebiet) nie zufrieden geben werde, und daß „Polens Existenz unerträglich und unvereinbar mit den Lebensbedingungen Deutschlands“ sei (zitiert nach Broszat 1972, S. 218). Ziel der Politik in der Weimarer Zeit war die Wiederherstellung der Grenzen von 1914. Im Nationalsozialismus steigerten sich die deutsche Arroganz und die kulturelle Verachtung Polens zur physischen Vernichtung. Die Außenpolitik des Ein Mittel in diesem Sprach- und Kulturkampf war zum Beispiel die Konfrontation der polnischen Bevölkerung mit Deutsch als Unterrichtssprache. 12 Zitiert nach Broszat (1972, S. 179). 8 Mechthild Elstermann, Inken Keim, Reinhold Schmitt, Ricarda Wolf Dritten Reiches bedeutete „Raumpolitik“, d.h. eine enorme Ausweitung des Lebensraumes für das „deutsche“ Volk vor allem im Osten. Hitler versuchte dies zunächst auf politischem Weg: Da sein Ziel die Besetzung Rußlands war, schloß er mit Polen 1934 einen Nichtangriffspakt. Dadurch versuchte er, Polen, das Rußland fürchtete, in seine Pläne einzubinden und Polen von Frankreich zu isolieren. Doch 1938nach der Besetzung der sudetendeutschen Gebiete auf tschechischem Gebiet verschärfte sich der Ton der Deutschen gegenüber Polen: Hitler beabsichtigte, die deutsch-polnischen Gebietsunklarheiten, die aus der Sicht Deutschlands nach dem Versailler Vertrag bestanden, vertraglich zu bereinigen. Die polnische Regierung war jedoch nicht gesprächsbereit und suchte aus Furcht vor einem deutschen Übergriff in England und Frankreich Unterstützung, die sie auch erhielt. Das interpretierte Hitler als Aufkündigung des Nichtangriffspaktes und entschloß sich zum Einmarsch in Polen. Kurz vorher hatte er mit Rußland einen Nichtangriffspakt abgeschlossen und mit Stalin im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung die Aufteilung Polens vereinbart: Den Ostteil sollte Rußland erhalten, den Westteil Deutschland. Am Nachmittag des 31.08.1939 gab Hitler den Befehl zum Angriff auf Polen. Am 17.09. marschierte die russische Armee in Ostpolen ein, und am 28.09.1939 wurde im deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag eine Aufteilung Polens mit genauer Grenzfestlegung für die russischen und deutschen Gebiete festgelegt. Die Aufteilung entsprach in etwa der dritten polnischen Teilung aus dem Jahre 1795. Damit hatte Deutschland die Macht über das gesamte polnische Kemland mit Posen, Krakau, Radom, Lublin und Warschau. Das Gebiet zählte rund 20 Millionen Einwohner, 85% davon waren Polen. Im Oktober 1939 befahl Hitler, Westpolen dem deutschen Reich einzugliedem, im Generalgouvernement eine von der NSDAP geleitete Zivilregierung einzusetzen und das gesamte besetzte Territorium einer völkisch-nationalen „Flurbereinigung“ zu unterwerfen. Polen, das für Hitler im Anschluß an das preußische Vorurteil „nicht zu den kulturellen Nationen zählte“, müsse „hinweggefegt werden“. Außerdem bestehe das polnische Volk „aus fürchtbarem Material“, und die polnischen Juden seien „das grauenhafteste, was man sich überhaupt vorstellen kann“ (zitiert nach Broszat 1972, S. 277). Nach dem Einmarsch der Deutschen herrschte in den besetzten Gebieten, vor allem im Westen, ungezügelter Terror mit willkürlicher Gewalt und Grausamkeit. Große Teile der polnischen Bevölkerung wurden entweder vertrieben oder für die Befriedigung deutscher Bedürfnisse als Arbeiter versklavt, ausgebeutet und dann vernichtet. Die Vemichtungsaktionen richteten sich zunächst gegen die polnische Intelligenz und den Adel als Träger der polnischen Kultur und nationaler Ideen, dann gegen die katholische Kirche. Durch die Einsetzung der von der SS beherrschten Verwaltungs- und Polizeibehörden wurden der Terror und die Willkür in den besetzten Gebieten institutionalisiert und zur Normalität. Zwischen Deutschen und Polen herrschte eine strikte Trennung, es bestand ein generelles Verbot der polnischen Sprache wie von polnischem Unterricht, und die polnische Bevölkerung hatte keinen Einleitung 9 Rechtsschutz. Einen Einblick in den Alltag der polnischen Bevölkerung unter diesen Bedingungen gibt Yegane Arani anhand fotografischer Dokumente in diesem Band. Millionen von Polen wurden verhaftet, in Konzentrationslager gesteckt und entweder im Reich oder in den annektierten Gebieten als Arbeitssklaven eingesetzt. Weit über 5 Millionen polnischer Bürger, Juden und Christen, wurden zwischen 1939 und 1945 von den Deutschen ermordet. Mit dem Ende des zweiten Weltkrieges verlor Deutschland die deutschen Ostgebiete, und der wahnhafte Versuch Hitlers, auf polnischem Gebiet einen nationalsozialistischen Staat zu errichten, war gescheitert. Nach dem Krieg wurden die meisten Deutsche aus den nun polnischen Westgebieten zwangsausgesiedelt und vertrieben. Aus polnischer Sicht wurde die Vertreibung der Deutschen als Abrechnung betrachtet für die Greueltaten, die die Deutschen an Polen zwischen 1939-1945 begangen hatten. Durch die Verbrechen der Nazis war in Polen die Sicht weit verbreitet, das ganze deutsche Volk sei verbrecherisch und alles Deutsche müßte feindselig behandelt werden (Jacobsen 1992). Deutsche wurden vielfach als Zwangsarbeiter eingesetzt, viele wurden in „wilden“ Deportationen in die Sowjetunion gebracht. Offiziell war es zwar verboten, an den Deutschen nach 1945 Rache zu nehmen, doch inoffiziell waren individuelle Racheakte bekannt und wurden von den Behörden auch gedeckt. Deutsche wurden beraubt, vergewaltigt und getötet. Im Zeitraum 1945-1951 waren ca. 3,5 Millionen Deutsche von den Aussiedlungen betroffen, ca. 1,6 Millionen fanden dabei den Tod. Bei vielen Deutschen, die die Aussiedlungsaktionen überlebten, hat sich das Bild des Polen als eines „von bestialischem Haß erfüllten, grausamen Mörders und Diebes“ (Dmitrow 1992, S. 426) festgesetzt. Dafür waren in erster Linie die sogenannten „szabrownicy“ (Raubgesindel) verantwortlich, die den Konflikt um die Ressourcen des neuen bzw. alten Heimatgebietes für ihre persönliche Bereicherung ausnutzten, der im Rahmen der Ein- und Auswanderungsbewegungen (1945-1950) zwischen ‘Repatriierten’ und Vertriebenen entstanden war. Marek Czyzewski verweist in seinem Beitrag auf das Phänomen, daß die daraus resultierende negative Bewertung der „Schaberleute“ durch die Vertriebenen in stereotypisierender Weise auf alle ‘Repatriierten’ und sämtliche Polen übertragen wurde. Durch die Vertreibungen der Deutschen bis 1949/ 51 gab es einen fast einheitlichen polnischen Nationalstaat. Der nichtpolnische Bevölkerungsteil lag 1951 nach amtlichen Angaben bei ca. 1,5 Prozent. Von den etwa 1,7 Millionen Deutschen, die zu dieser Zeit noch in Polen lebten, wurden nur die in Niederschlesien, Pommern und Neumark Lebenden als Deutsche anerkannt. Die übrigen in Ostpreußen, Danzig, Posen-Westpreußen und in Oberschlesien wurden als Autochthone definiert, die in einem ursprünglich von polnischer Bevölkerung besiedelten Gebiet lebten. Sie durften nicht aussiedeln und wurden 1951 mittels einer Sammeleinbürgerung zu Polen gemacht (vgl Rautenberg 1992, S. 429). 10 Mechthild Elstermann, Inken Keim, Reinhold Schmitt, Ricarda Wolf 1954 gab es laut polnischem Innenministerium ca. 1,1 Millionen Autochthone, die auch nach der Aufnahme in die polnische Bevölkerung zahlreichen Diskriminierungen und Verfolgungen ausgesetzt waren. Das mit hohen Strafen belegte Verbot des Gebrauchs der deutschen Sprache war nur ein Beispiel für die in fast allen Lebensbereichen vorherrschende Benachteiligung. Ab 1956 setzte ein permanenter Abwanderungsprozeß nach Deutschland ein. Seit Beendigung der Aktion „Familienzusammenführung“ 1958 gab es nach offizieller Lesart in Polen keine Deutschen mehr. Die Hypothek aus der nationalsozialistischen Zeit hat das deutsch-polnische Verhältnis seit 1945 schwer belastet und das Denken und Handeln der Politiker auf beiden Seiten stark beeinflußt. 13 In fast allen offiziellen Erklärungen, Reden und Ansprachen fanden sich historische Reminiszenzen. Doch erst mit der Anerkennung der Schuld auf beiden Seiten auf deutscher für die Vertreibung und Ausrottung von Millionen Polen in der Zeit des Nationalsozialismus, auf polnischer Seite für die Vertreibung und Verfolgung der Deutschen in der Nachkriegszeit ist die Entwicklung einer auf Aussöhnung und Normalität hin ausgerichteten Politik zwischen beiden Ländern möglich. 1965 erkannten die polnischen Bischöfe und später auch Staat und Gesellschaft in Polen an, daß die Aussiedlung für die Deutschen eine Tragödie war. Ende der 60er Jahre bahnte sich mit der „neuen Ostpolitik“ unter der Regierung Brandt/ Scheel auf westdeutscher Seite eine neue Qualität in den Beziehungen zu Polen an. 1970 bestätigte die Bundesrepublik mit den Ostverträgen, die die Unverletzbarkeit der Grenzen und die Endgültigkeit der Oder-Neiße-Grenze festlegten, daß sie den Krieg verloren hatte. Und mit dem Kniefall vor dem Warschauer Ghetto erkannte Brandt symbolisch an, daß Deutschland mit dem systematischen Massenmord eine unermeßliche Schuld auf sich geladen hatte. Aber erst mit dem Grenzvertrag von 1990 und dem Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit von 1991 wurden die rechtlichen Voraussetzungen für eine friedliche Entwicklung der Beziehungen zwischen Polen und Deutschland geschaffen. Nach dem Ende des Sozialismus und dem Übergang zur Marktwirtschaft in den osteuropäischen Staaten haben sich die offiziellen deutsch-polnischen Beziehungen zwar erheblich verbessert. Dennoch wird eine weitere Annäherung, sowohl auf offizieller als auch auf privat-zwischenmenschlicher Ebene, durch ein in mehrerer Hinsicht existierendes Ungleichgewicht erschwert, in dem man teilweise die Fortsetzung der problematischen historischen Beziehung zwischen Deutschland und Polen sehen kann. In dem Interview mit einer jungen Polin, das Inken Keim in diesem Band untersucht, wird deutlich, wie diese Hypothek die Ausbildung der ethnisch-kulturellen Identität einer Person belastet, deren Mutter Deutsche und deren Vater Pole ist. Die biographischen Erfahrungen dieser Polin sind durch das Leiden unter einer Mehrkulturalität geprägt, bei der die beteiligten Kulturen eine durch Krieg, Vertreibung und Vernichtung besümmte gemeinsame Geschichte und eine äußerst problematische Beziehung zueinander haben. Einleitung 11 Es ist zunächst ein Ungleichgewicht, das noch ganz grundlegend von Ost- West-Sichtweisen geprägt wird, die auch nach der Auflösung des Warschauer Paktes und nach Ende des kalten Krieges zumindest die deutsche Wahrnehmung bestimmen ein Ungleichgewicht, das sich formulieren läßt in Begriffen von westlicher Hegemonie und westlichem Entwicklungsvorsprung. Eine Ungleichheit besteht damit auch in den wechselseitigen Orientierungen: Einer forcierten Annäherung Polens an den Westen mit Deutschland als hauptsächlichem Vermittler steht ein eher hinhaltendes Abwarten auf deutscher Seite gegenüber. Hier wird das ‘Versprechen’ Kohls, Polens Integration in die EU und die NATO bereits für das Jahr 2000 in Aussicht zu stellen, eher skeptisch und mit leichtem Unbehagen gesehen. Einer historisch gewachsenen starken Orientierung Polens nach Westen entpricht keine vergleichbare Orientierung der Deutschen nach Osten. Daß diese Struktur eine allgemeinere ostwest-geprägte Grundlage besitzt, zeigen auch die binationalen Diskussionen anläßlich der Aufarbeitung des tschechisch-deutschen Verhältnisses. Auch hier zeichnet sich eine vergleichbare Ost-West-Spannung ab: „Für uns seid Ihr mit Abstand der wichtigste Nachbar, Ihr interessiert Euch natürlich kaum für uns“, sagt Frantisek Cerny, der fünf Jahre tschechischer Konsul in Berlin war und inzwischen im Planungsstab des Außenministeriums in Prag tätig ist. 14 Ein weiterer Aspekt des Ungleichgewichts ist der unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklungsstand in Deutschland und Polen. Damit sind Gefühle von Überlegenheit auf der einen Seite und von Unterlegenheit auf der anderen Seite verbunden. Man muß darin nicht nur eine Weiterführung geschichtlicher Verhältnisse sehen. Dieser „Konflikt von morgen“ so der polnische Historiker Wlodzimierz Borodziej hänge nicht mehr an dem Begriff Auschwitz, sondern wird durch das Wirtschaftsgefälle und den Verteilungskampf um Arbeit bestimmt. 15 Dieses Gefälle findet gerade auch in der Anstrengung Polens seinen Ausdruck, sich als marktwirtschaftlicher Musterschüler dem Westen darzustellen und anzubieten. 16 Wenn polnische Wirtschaftswissenschaftler die ökonomische Entwicklung Polens in Begriffen von Produktions- und Verkaufszahlen von Farbfernsehgeräten definieren (so die Tendenz eines Vortrages im Rahmen des Poznaher Sommerkurses), sind sie im ökonomisch bestimmten Selbstdefmitionsmuster vieler Deutscher aussichtslos ‘hinten dran’. Und sie geben damit ungewollt dem Ökonomiebewußtsein vieler Deutscher Recht, das wiederum eine der wesentlichen Grundlagen für die Form aufdringlicher, monetärer Überheblichkeit ist, die das Bild des ‘häßlichen Deut- Zitiert nach Frankfurter Rundschau vom 31.01.1996. 15 Zitiert nach einem Hinweis von Muck-Raab (1995). 16 Siehe z.B. die mehrseitige Selbstpräsentation polnischer Anstrengungen zur wirtschaftlichen Konsolidierung in der Frankfurter Rundschau. Hier stellen sich unter dem Motto „Die Zukunft hat bereits begonnen“ die polnische Regierung und die wichtigsten Wirtschaftsvertreter und -branchen potentiellen deutschen Investoren auf breiter Ebene vor. Dies geschieht wie die Überschrift „Wir sind die große Chance für Europa“ zeigt mit einer Mischung aus Selbstbewußtsein und Suggestion. 12 Mechthild Elstenncmn, Inken Keim, Reinhold Schmitt, Ricarda Wolf sehen’ auch in Polen prägt. Der polnische Sprachhistoriker Orlowski sieht in diesem Gefälle „günstige“ Bedingungen für die Wiederbelebung des deutschen Stereotyps von der „polnischen Wirtschaft“ (vgl. Orlowski 1994, S. 131). In diesem Sinne könnte das Wirtschaftsgefälle vermittelt über das Medium des Stereotyps „polnische Wirtschaft“ als wechselseitige Antizipation und Ressource für die Interpretation von Äußerungen auch weiterhin eine Barriere in Gesprächen zwischen Deutschen und Polen darstellen. Zum Teil resultiert aus den dargestellten historischen Entwicklungen und ökonomischen Asymmetrien ein weiteres Phänomen, das gegenwärtig noch eine Orientierung von Deutschen nach Polen verhindert. Mit Polen sind aus deutscher bzw. westlicher Perspektive nicht die symbolischen Bedeutungen und Vorstellungen verbunden, die mindestens im Rahmen touristischer Unternehmungen interkulturelle Kontakte in Frankreich, Italien, Spanien, Griechenland usw. fördern. Diese Ebene der symbolischen Bedeutung liegt jenseits von ökonomischen, kulturellen und geologischen Gegebenheiten. Sie beherbergt all die positiv und negativ besetzten, historisch tradierten Klischees und Vorstellungen, die Deutsche einerseits von Frankreich und Italien zum Beispiel, andererseits von Polen haben. Hier spielen Paris und Rom nicht als konkrete Städte eine Rolle, sondern als symbolische Kristallisation von Kunst, Kultur, Mode und angemessener Lebensart. Eine vergleichbare Ebene symbolischer Bedeutung existiert bei den wenigsten Deutschen auch für Warschau oder eine andere polnische Stadt. Das aber ist ein wesentlicher Teil des Interesses und teilweise auch der Faszination, die Frankreich und Italien für viele Deutsche besitzen und die für regelmäßige Reisen in diese Länder und so für interkulturelle Kontakte verantwortlich sind. In welcher Weise können sich die dargestellten Probleme und Entwicklungen in den deutsch-polnischen Beziehungen nun in der Kommunikation zwischen Polen und Deutschen niederschlagen, und wie ordnen sich die beobachtbaren Phänomene in den Forschungsbereich der interkulturellen Kommunikation ein? 4. Gespräche zwischen Polen und Deutschen als interkulturelle Kommunikation Betrachtet man die Gespräche zwischen den Teilnehmern des Poznaner Sommerkurses und ihren Lehrern und Betreuern unter dem Gesichtspunkt, daß es Kommunikationsereignisse zwischen Deutschen und Polen sind, dann wird man sie wohl ohne weiteres unter das Konzept „interkulturelle Kommunikation“ subsumieren. Eine solche Sichtweise ist aber keineswegs selbstverständlich und zwingend. Ebenso könnte man einen Teil als Gespräche zwischen jungen Leuten verstehen, die gemeinsam ihren Urlaub verbringen, einen anderen Teil als Lehr-Lem-Diskurse etc. Damit sei angedeutet, daß der Status des Einleitung 13 Konzepts „interkulturelle Kommunikation“ je nach übergeordneten theoretischen und methodischen Ansätzen variiert 17 Oft wird darunter eine Kommunikation verstanden, die für die Beteiligten mit besonderen Schwierigkeiten verbunden ist und in der eine Verständigung nicht reibungslos gelingen will. Zumindest muß viel mehr als unter intrakulturellen Bedingungen investiert werden, damit sie erfolgreich ist. In dieser Vorstellung haftet interkulturellen Kontaktsituationen eine grundlegend problematische Qualität an. Das gilt besonders für diejenigen Ansätze, die man der auf den Anthropologen und Linguisten John Gumperz zurückgehenden Theorie der „kulturellen Kodes“ zuordnen kann. 18 Nach dieser Theorie wird das Auftreten von Unbehagen, Mißverständnissen und peinlichen Momenten vor allem auf die kulturell unterschiedliche Prägung der Gesprächspartner zurückgeführt, die sich den Beteiligten meist nicht bewußt in unterschiedlichen Kommunikationskodes niederschlägt. Hinter dem Begriff ‘Kommunikationskode’ verbirgt sich eine Reihe von Phänomenen und Verfahren, mit denen die Gesprächspartner wechselseitig ihre Äußerungen produzieren und interpretieren: Charakteristika von Sprachen und Subsprachen, Interaktionskonventionen, Kontextualisierungsmittel und -verfahren 19 . Normen des Ausdrucks von sozialer Distanz und Nähe, Ausdrucksformen für Expressivität etc. Grundlage dieser Theorie ist folgende Vorstellung von den zum wechselseitigen Verstehen führenden Interpretationsprozessen: Der sprachliche Austausch erfordert parallel zur lexikalisch-semantischen Interpretation von Propositionen einen kontextgebundenen Interpretationsprozeß. Das heißt, gleichzeitig mit der Verbalisierung von Gedankeninhalten zeigen sich die Beteiligten gegenseitig ihre kommunikative Absicht an sowie die Deutung bzw. Definition des sozialen Kontextes, vor dem sie ihre Äußerungen interpretieren. In diesem Interpretationsprozeß erkennen sie die anstehenden Interaktionsaufgaben als typische Fälle wieder, die als allgemeine Erwartungsstrukturen in ihrem sozio- 17 Einen guten Forschungsüberblick zur interkulturellen Kommunikation geben Günthner (1993) und Hinnenkamp (1994). Auch Streeck (1985) diskutiert verschiedene Theorien interkultureller Fehlschläge und skizziert, in welcher Weise man die verschiedenen Ansätze aufeinander beziehen kann; siehe auch Klein/ Dittmar (Hg.) (1994). 18 Diesem Ansatz folgen auch eine Reihe von Beiträgen in Rehbein (1985). Auch neuere Arbeiten beschäftigen sich v.a. mit Verständigungsproblemen, die auf die Unterschiedlichkeit kultureller Kodes zurückgeftihrt werden, vgl. z.B. die Beiträge in Murray (1991). 19 Unter Kontextualisierungshinweisen werden in dem auf Gumperz zurückgehenden Kontextualisierungsansatz zunächst alle verbalen und nonverbalen Zeichen verstanden, mit denen sich die Beteiligten an einer Interaktion die Kontexte bzw. das Hintergmndwissen anzeigen, das für die Interpretation ihrer Äußerungen notwendig ist. In der Weiterentwicklung dieses Ansatzes wurde der Begriff „Kontextualisierungshinweise“ (contextualization cues) aus forschungspraktischen Gründen auf nicht-referentielle, nichtlexikalische „cues“ beschränkt, also auf prosodische, gestische und mimische Signale sowie auf sprachliche Variation (einschließlich Sprechstile), vgl. Auer (1992, S. 24). Zu einer Kritik dieser Beschränkung vgl. Schmitt (1993, S. 346 f.). 14 Mechthild Elstermann, Inken Keim, Reinhold Schmitt, Ricarda Wolf kulturellen Wissen gespeichert sind. 20 Vor dem Hintergrund dieser Interpretationsfolie antizipieren sie den Verlauf der Interaktion, entwerfen Handlungspläne, ordnen Reaktionen der Partner ein und deuten deren Verhalten im Hinblick auf Distanz und Nähe. Die Kommunikation kann nun nachfolgend nur in dem Maße gelingen, wie die von den Beteiligten verwendeten Deutungsrahmen ähnlich sind oder im Verlauf der Kommunikation einander angenähert werden. Aufgrund der unterschiedlichen, durch die jeweilige Kultur geprägten Kommunikationskodes kann es aber passieren, daß sich die Beteiligten ohne sich dessen bewußt zu sein unterschiedliche Deutungsrahmen anzeigen. Das eröffnet ein weites Feld von Fehldeutungen und Mißverständnissen. So kann die Hebung oder Senkung der Stimme am Ende einer Äußerung kulturell unterschiedliche Implikationen für den Ausdruck von Freundlichkeit, Strenge, Nähe, Distanz usw. haben. Gerade solche intonatorischen Feinheiten gehören aber oft nicht zur fremdsprachlichen Kompetenz. Eines der klassischen Beispiele von Gumperz für daraus resultierende interkulturelle Mißverständnisse ist die folgende Situation in einem Londoner Bus, der von einem westindischen Fahrer gesteuert wird: Der Fahrer bittet die zusteigenden Fahrgäste mit „Exact change please“ um den genauen Betrag. Einer der Fahrgäste reagiert auf diese Bitte mit der Äußerung „Warum müssen diese Leute denn immer so unfreundlich sein? “. Offenbar hat der britische Fahrgast die Bitte des westindischen Busfahrers mißverstanden. Gumperz fuhrt dieses Mißverständnis darauf zurück, daß das „please“ akzentuiert und mit sinkendem Tonfall intoniert worden war. Diese Kontextualisierungshinweise signalisieren nach den britischen Kontextualisierungskonventionen Unfreundlichkeit. Gemessen an den westindischen Konventionen zur Kontextualisierung von Freundlichkeit entsprechen sie jedoch genau den Erwartungen (vgl. Gumperz 1982, S. 168f). Die im Rahmen dieser Theorie verorteten empirischen Phänomene kann man teilweise auch in unseren Materialien finden. So läßt sich das von Reinhold Schmitt rekonstruierte interkulturelle Mißverständnis zwischen einem polnischen Exkursionsleiter und den deutschen Kursteilnehmern darauf zurückfuhren, daß kulturreflexive Konzepte wie „das ewig Polnische“ und „die polnische slawische Seele“ sowie politisch-historische Konzepte wie „Nationalismus“ und „Patriotismus“ je unterschiedliche Wissenshintergründe und Bewertungen aufrufen. Insgesamt aber sind die an unserem Material verfolgten Fragestellungen und gewonnenen Beobachtungen nicht primär an die Theorie der kulturellen Kodes anzuschließen. Das hat folgende Gründe: Die Theorie der kulturellen Kodes hat mit anderen Theorien zur interkulturellen Kommunikation die eingangs wiedergegebene Vorstellung gemeinsam. 20 Vgl. Cook-Gumperz/ Gumperz (1984), Gumperz (1982, 1992). Einleitung 15 daß interkulturelle Kommunikation eine tendenziell problematische Qualität hat. Angesichts einer solchen Vorstellung, von der anfangs auch wir ausgegangen waren, mußten wir von unserem „Feld“ zunächst enttäuscht sein. Nicht nur, daß wir nur sehr wenige auf den ersten Blick problematische Situationen beobachten konnten; auch die Studenten wollten uns in den Interviews partout von keinen Schwierigkeiten erzählen. Sollten am Ende diejenigen Organisatoren des Kurses recht behalten, die uns anfangs darauf hingewiesen hatten, daß sich die „wirklichen“ Probleme anderswo als beim Sommerkurs abspielten? Oder erklärt der Topos von der jungen Generation, die polnisch-deutsche Begegnungen unbelasteter angeht, die beobachtete „Harmonie“? Oder war der Sommerkurs Ausdruck einer Normalität polnisch-deutscher Beziehungen, die inzwischen (auch) auf alltagsweltlicher Ebene erreicht worden war? Eine einfache Antwort auf diese Fragen wird es nicht geben. Eine Antwort läßt sich finden, wenn man der dargestellten Auffassung von interkultureller Kommunikation mit dem gesunden Mißtrauen gegenübertritt, das sozialwissenschaftliche „Laien“ in dieser Frage oft haben. Schließlich gibt es viele interkulturelle Kommunikationskonstellationen (wie bikulturelle Ehen und Freundschaften, multikulturelle Arbeitsteams und Wohngemeinschaften u.ä.), die über lange Zeiträume hinweg gut funktionieren. In solchen Konstellationen scheint es gelungen zu sein, die störenden Einflüsse quasi automatisch funktionierender unterschiedlicher Kodes zu überwinden oder zu ignorieren. Insofern ist es sinnvoll, sich eher solchen Beobachtungen und Überlegungen zur interkulturellen Kommunikation anzuschließen, nach denen der Einfluß kultureller Differenz steuerbar ist. So geht Barth (1969) in seiner „Theorie der ethnischen Grenzen“ davon aus, daß die Zuschreibung ethnischer Identität nur eine unter vielen Möglichkeiten der Identitätsdefmition ist. In anderen theoretischen Zusammenhängen haben Autoren wie Erickson/ Shultz (1982) und Moermann (1988) gezeigt, daß kulturelle Unterschiede je nach Kommunikationssituation und -konstellation von den Beteiligten als relevant oder als irrelevant betrachtet werden können. Das kann sogar innerhalb eines Gesprächs variieren. Nach den Untersuchungen von Erickson/ Shultz können Angehörige verschiedener Ethnien ihre ethnische Unterschiedlichkeit plötzlich als unbedeutend für die Verständigung behandeln, wenn sie eine Gemeinsamkeit entdecken und relevantsetzen, die nichts mit der ethnischen Zugehörigkeit zu tun hat. Solche Gemeinsamkeiten können z.B. eine Vorliebe für denselben Sport, Mitgliedschaft in demselben Verein u.ä. sein. Unter diesen Bedingungen haben die Autoren einen reibungsloseren Kommunikationsverlauf beobachtet. Daß im Gegensatz zu diesen Auffassungen viele der bisherigen Untersuchungen den grundlegend problematischen Charakter von interkultureller Kommunikation scheinbar empirisch belegen können, hängt nicht unwesentlich von einer entsprechenden theoretischen Annahme ab, die der Empirie vorausgeht. Solche theoretischen Vorannahmen können dazu fuhren, sowohl den Gegenstand der Untersuchung als auch die Materialien nur noch danach auszusu- 16 Mechthild Elstermann, Inken Keim, Reinhold Schmitt, Ricarda Wolf chen, inwieweit sie geeignet sind, das grundlegend Problematische und Schwierige in möglichst deutlicher Ausprägung zu zeigen. Ein „subsumtionslogisches“ Herangehen wie dieses kann zum einen verhindern, danach zu fragen, welche ihrer sozialen Identitäten die Beteiligten tatsächlich relevantsetzen und ob die in einer Situation zu beobachtenden Schwierigkeiten überhaupt auf die unterschiedliche kulturelle Zugehörigkeit der Gesprächspartner zurückzuftihren sind. 21 Zum anderen macht ein solcher Ansatz „blind“ ftir die Frage danach, welche Mechanismen die Beteiligten zur Verfügung haben, um mit Schwierigkeiten umzugehen, die sie selbst auf die interkulturelle Situation zurückfuhren. Gerade eine solche Frage drängt sich bei der Betrachtung unserer Materialien aus dem Sommerkurs auf, und sie scheint uns angesichts der zunehmenden organisierten Begegnungen zwischen polnischen und deutschen Jugendlichen auch praxisrelevant zu sein (s.u.). In diesem Sinne ist für eine Reihe der Autoren des vorliegenden Buches „interkulturelle Kommunikation“ ein voranalytisches, heuristisches Konzept (vgl. Schmitt/ Keim 1995). Als solches ist es zwar dadurch bestimmt, daß Mitglieder unterschiedlicher Kulturen miteinander kommunizieren. Das sagt aber noch nichts darüber aus, ob die unterschiedliche kulturelle Zugehörigkeit in dem jeweiligen Gespräch (ob in positiver oder negativer Hinsicht) überhaupt eine Rolle spielt. Das zu ermitteln ist bei einem solchen Ansatz die erste Aufgabe des Analytikers bzw. der Analytikerin, bevor weitergehende theoretische Schlüsse oder gar praktische Konsequenzen abgeleitet werden können. Die mögliche Irrelevanz kultureller Unterschiede ist aber nur eine Erklärung dafür, daß wir in unseren Materialien wenig offenkundige, klar verletzende Vorfälle mit expliziten negativen nationalen oder stereotypen Zuschreibungen finden konnten. Es gibt noch eine andere Erklärung, und die hängt mit der Spezifik der von uns untersuchten Situation zusammen: Man kann den Sommerkurs deutscher Studenten in Poznan als eine Art Modellfall des guten Willens zur Verständigung ansehen. Das bedeutet allerdings nicht unbedingt vollendete Harmonie. Die in vielen Momenten geradezu sichtbare Anstrengung, sich gut zu verstehen, sich bewußt nicht mit Vorurteilen zu begegnen, sich wechselseitig „nett“ zu finden und Störendes zu tabuisieren, birgt zwar vielleicht ein wichtiges Potential zur gegenseitigen Annäherung in sich, ist zugleich aber Ausdruck des dann doch nicht „bequemen“ Austauschs zwischen den jungen Leuten (siehe den Beitrag von Mechthild Elstermann). In einem solchen Kontext sind die Schwierigkeiten im Umgang miteinander nicht in offenkundigen lokalen Katastrophen zu finden, sondern in viel subtileren Phänomenen, die sich nicht so offensichtlich an der sprachlichen Oberfläche der Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit derartigen Herangehensweisen ist in Schmitt/ Keim (1995) nachzulesen. Mit dem Begriff „subsumtionslogisch“ wird dabei ein methodisches Vorgehen bezeichnet und problematisiert, bei dem man externe Kontextfaktoren wie z.B. die Interkulturalität der Situation als für die jeweilige Interaktion relevant betrachtet, ohne analytisch nachzuweisen, daß die Interagierenden selbst sich an diesen Faktoren bei ihrer Äußerungsproduktion und -interpretation orientieren. Einleitung 17 Äußerungen niederschlagen. Ihnen kommt man erst im Laufe einer detaillierten Analyse auf die Spur (s.u.). Wenn kulturelle Unterschiede in einem Gespräch nicht zwingend bedeutsam werden müssen bzw. wenn die Relevanz ethnisch-kultureller Identität erst ein Resultat interaktiver Herstellung ist, dann stellt sich natürlich gerade auch für einen auf Harmonie ausgerichteten Ferienkurs folgende Frage: Welches sind die Ursachen und Bedingungen dafür, daß kulturelle Differenzen in Kontaktsituationen bedeutsam werden? Mit einem Teil dieser Frage beschäftigt sich Barth (1969) in der schon erwähnten „Theorie der ethnischen Grenzen“. Danach sind solche Grenzziehungen konstitutiv für die Identität der Beteiligten als Mitglieder einer bestimmten Ethnie bzw. Kultur. Das bedeutet, daß der interkulturelle Kontakt ethnisch-kulturelle Grenzziehungen erst notwendig macht, wenn die Beteiligten ihre ethnische bzw. kulturelle Identität in der Kommunikation hervorheben bzw. hervorheben wollen. Eine makrosoziologische Erklärung dafür, die man wohl ohne weiteres geneigt ist, auch auf das polnisch-deutsche Verhältnis zu übertragen, bietet Streeck (1985) an: „‘Solide’ Gründe für die Beibehaltung gruppenspezifischer Kodes gibt es überall dort, wo das politische und ökonomische Verhältnis zwischen den Gruppen antagonistisch ist. Unter derartigen Bedingungen ist für die einzelne ethnische Gruppe ihr antagonistisches Verhältnis zu einer oder mehreren anderen Gruppen zugleich ein wichtiger Bestandteil ihrer Selbstdefinition: es ist die passiv erfahrene und zugleich aktiv nachvollzogene Ausgrenzung“ (S. 112), die den Definitionsrahmen für die Identität des Kollektivs wie des Individuums herstellt. Für viele Vorfälle scheint dies eine plausible Erklärung zu sein, etwa wenn in einer wissenschaftlichen Diskussion von polnischer Seite plötzlich vorwurfsvoll auf die ethnische Identität der Beteiligten referiert wird. Das kann für die deutschen Partner ziemlich irritierend sein, wenn sie sich selbst und ihre Gesprächspartner bis dahin in erster Linie als Wissenschaftler statt als Deutsche oder Polen „gerahmt“ hatten. Mit Streeck (s.o.) könnte man einen solchen Vorfall so erklären, daß sich Polen unter Umständen aufgrund der historischen und gegenwärtigen politischen und ökonomischen Entwicklung von Deutschland bzw. Westeuropa ausgegrenzt fühlt und daß dies zu einer verstärkten selbst vorgenommenen Abgrenzung führt. 22 Es scheint allerdings auch kein Zufall zu sein, daß in keinem der Beiträge dieses Bandes eine solche Erklärung ins Zentrum gerückt wird. Denn in den wenigsten Fällen legen die Materialien genau diese makrosoziologische Erklärung und keine andere nahe. Anders gesagt: Im Rahmen eines gesprächsanalytischen Vorgehens können solche Erklärungen nicht mehr als den Status von Vermutungen haben. Stattdessen besteht die Möglichkeit einer methodisch kontrollierten Gesprächsanalyse eher darin, interaktionsstrukturelle bzw. interaktionssoziologische Erklärungen interethnischer Grenzziehungen zu geben: Für den angedeuteten Vorfall bietet sich unter einer solchen Perspektive 22 Ein ähnliches Phänomen kann man in Gesprächen zwischen Ost- und Westdeutschen beobachten, vgl. Wolf (1995). 18 Mechthild Elstermann, Inken Keim, Reinhold Schmitt, Ricarda Wolf auch die Interpretation an, daß man Interkulturalität vorschnell im Sinne eines wohlfeilen Arguments einsetzen kann, wenn keine Bereitschaft oder Möglichkeit besteht, Meinungsverschiedenheiten auf solche Gründe zurückzufiihren, die im Rahmen des gerade verhandelten Gegenstandes näher liegen. Möglicherweise sind kulturelle Differenzen unter bestimmten Bedingungen aber auch eine so dominante Interpretationsressource, daß sie die „näherliegenden“ Erklärungen für auftretende Verständigungsschwierigkeiten blockieren (vgl. den Beitrag von Marek Czyzewski). Darüber hinaus ist es möglich, daß Beteiligte unabsichtlich ethnische Grenzziehungen relevant werden lassen. Eine in unseren Materialien häufiger auftretende Quelle derartiger Vorfälle sind Wissensasymmetrien über die jeweils andere Geschichte und Kultur. So trägt zu mehreren Mißverständnissen bei einer Exkursion in die nähere Umgebung von Poznan das oben unter dem Stichwort „fehlende symbolische Bedeutung“ beschriebene Phänomen bei (siehe vor allem den Beitrag von Reinhold Schmitt). So entstandene Grenzziehungen können sich verstärken und zu peinlichen Situationen fuhren, wenn entsprechende ungeschickte Äußerungen der Deutschen von den polnischen Gesprächspartnern als Ausdruck von Vorurteilen über Polen behandelt werden. Im Zusammenhang damit kann die interaktive Entstehung eines interkulturellen Vorfalls auch ein Emergenzphänomen sein. Das bedeutet, daß die Beteiligten aufgrund interaktiver Zwänge etwas (gegebenenfalls Problematisches) hervorbringen, das von niemandem beabsichtigt oder geplant war, und das von keinem der Beteiligten vorhergesehen werden konnte. 23 In diesem Zusammenhang kann man eine Beobachtung machen, die zu einer Weiterentwicklung der Vorstellung fuhrt, daß die Relevantsetzung kultureller Unterschiede im Verlaufe eines Gesprächs variieren kann: Diese Variation ist nicht nur entlang des Interaktionsverlaufs möglich, sondern auch quer zur Konstellation der Gesprächspartner. Die Bedeutung von Interkulturalität scheint eng mit dem Beteiligungsstatus verknüpft, den sich die jeweiligen Partner wechselseitig konstituiert haben. Haben zwei Beteiligte, die unterschiedlichen Ethnien angehören, im Laufe des Gesprächs einen problematischen interethnischen Interpretationsrahmen etabliert, so ist dieser nicht automatisch für alle anderen Angehörigen der jeweiligen Gruppen relevant. Daraus erwächst ein bisher noch nicht berücksichtigtes Potential zur Reparatur interkultureller Vorfälle gerade durch solche Beteiligte, die der gleichen Ethnie wie der Verursacher des Vorfalls angehören (siehe den Beitrag von Ricarda Wolf). 5. Ausblick: Die Untersuchung von Situationen polnisch-deutscher Kulturvermittlung Über diese allgemeinen Fragen zur interkulturellen Kommunikation hinaus beschäftigen sich die meisten Beiträge dieses Bandes, denen Analysen von Ma- 23 Das Konzept der Emergenz geht auf den symbolischen Interaktionismus zurück; siehe dazu Schütze (1987, S. 521). Einleitung 19 terialien aus dem Sommerkurs zugrunde liegen, mit Fragen der Vermittlung von Kultur. Das ist kein Zufall, denn eine solche Gegenstandskonstitution entspricht der zentralen Struktur der untersuchten Situation: Es handelt sich im weitesten Sinne um eine Form organisierter Kulturvermittlung. Als solche hat sie weitaus mehr mit der Realität polnisch-deutscher Beziehungen zu tun, als man auf den ersten Blick angesichts des Ausbleibens interkultureller Fehlschläge glaubt. Daraus beziehen die Untersuchungen einen großen Teil ihrer praktischen Relevanz, und uns scheint, daß man einen substantiellen gesprächsanalytischen Beitrag für die Reflexion der Voraussetzungen einer Annäherung zwischen Polen und Deutschen leisten kann, wenn man sich weiter mit genau solchen Situationen, gerade auch unter dem Aspekt der Kulturvermittlung, beschäftigt. Denn mit den verstärkten Bemühungen um Normalisierung des polnisch-deutschen Verhältnisses auf politischer Ebene geht eine Intensivierung des Jugendaustauschs zwischen beiden Ländern einher. Laut Jugendministerin Claudia Nolte habe sich zwischen 1993 und 1995 die Zahl der Teilnehmer am deutsch-polnischen Jugendaustausch verdoppelt. 1995 nahmen mehr als 77.000 junge Menschen an knapp 2000 Begegnungsprogrammen teil. 24 Es ist unschwer zu erkennen: Die deutschen Organisatoren der polnisch-deutschen Annäherung spielen die französische Karte. So wie sich die deutsch-französische Verständigung nicht von alleine, sondern durch massive staatliche Förderung in Gang setzte, so bedarf es auch bei der deutschpolnischen Annäherung dieser Förderung auf breiter Ebene. Das schließt eine Intensivierung und Institutionalisierung vergleichbarer Situationen der Kulturvermittlung ein, wie wir sie in Poznan im Rahmen des Ferienkurses beobachtet haben. Allerdings wird der vielerorts vorgenommene Vergleich zwischen der deutschfranzösischen und der deutsch-polnischen Annäherung auch mit Skepsis beobachtet und kommentiert. Nimmt man die dabei angeführten Argumente ernst, dann sind für die polnisch-deutsche Annäherung mit großer Wahrscheinlichkeit noch intensivere Anstrengungen notwendig, um mit dem östlichen Nachbarn auf eine vergleichbar selbstverständliche Ebene des zwischenstaatlichen Miteinanders und des zwischenmenschlichen Kontaktes zu kommen, wie dies inzwischen mit dem westlichen Nachbarn erreicht ist. Einige Gründe dafür haben wir bereits angedeutet: Im Unterschied zur polnisch-deutschen Annäherung geschah die französisch-deutsche Begegnung nicht im Kontext einer Ost-West-Barriere und eines ökonomischen Ungleichgewichts, das heute (noch) eine Orientierung von Deutschen nach Polen behindert. Der polnische Essayist Janusz Tycner sieht einen weiteren Grund dafür, daß Polen wohl „noch eine Weile ein Geheimtip für Kenner und Liebhaber bleiben“ wird, genau in dem Fehlen dessen, was wir oben unter ‘symbolischer Bedeutung’ beschrieben haben: 24 Zitiert nach Frankfurter Rundschau vom 27.02.1996. 20 Mechthild Elstermann, Inken Keim, Reinhold Schmitt, Ricarda Wolf „Sicher ist der Wandel der deutsch-französischen ‘Erbfeindschaft’ zur mustergültigen Nachbarschaft nachahmenswert, nur kann sich Polen, entgegen aller gutgemeinten deutschen Beteuerungen, mit Frankreich nicht messen. Die Faszination für die französische Sprache, Kultur, Küche, Mode, Lebensart hat wahrscheinlich weit mehr zur Aussöhnung der Deutschen mit der Grande Nation beigetragen, als alle Umarmungen de Gaulles mit Adenauer vermochten. Deutsche, die nach Frankreich reisen, fahren bekanntlich in ein Land, in dem selbst der liebe Gott Ferien zu machen pflegt. Polenreisende dagegen werden daheim mit der Frage konfrontiert: Was willst du denn in Polen? “ (Tycner 1995, S. 42.) Damit sind nur einige Gründe dafür angedeutet, daß vor allem junge Deutsche (als potentielle Träger der Verständigung) nicht in vergleichbar großer Zahl, wie sie z.B. Frankreich besuchen, von sich aus ihren Urlaub oder gar eine längere Zeit ihres Lebens in Polen verbringen werden. Polnisch-deutsche Begegnungen werden wahrscheinlich auf längere Zeit primär offiziell organisiert stattfinden, und sie werden dann immer einen Bestandteil bewußter Kulturvermittlung haben. Aus diesen Gründen besitzt der Ferienkurs, den wir in Poznan begleitet haben, für uns Modellcharakter. Und aus diesen Gründen wird es in Zukunft wichtig sein, gerade solche Situationen expliziter Kulturvermittlung und des bewußten Verstehenwollens systematisch zu untersuchen. Unsere Analysen und Beobachtungen zu den Materialien des Poznaner Kurses ergeben eine Bandbreite verschiedener Modelle interaktiver Kulturvermittlung, die von den Teilnehmern, Lehrkräften und Organisatoren realisiert wurden. Sie reicht von der maximalen Explizierung und Relevantsetzung bis zur Vermeidung der Thematisierung kultureller Unterschiede, wobei die letztere Tendenz dominierte. Diese Tendenz scheint uns mit einer grundlegenden Orientierung einherzugehen, die polnisch-deutschen Begegnungen in einem Rahmen bewußten Verstehenwollens zu ermöglichen und Vorurteile als Wahrnehmungs- und Interpretationsressourcen zu vermeiden. Wir haben den Eindruck, daß viele Organisatoren deutsch-polnischer Jugendbegegnungen dazu neigen, zukünftige Veranstaltungen nach einem vergleichbaren Modell auszurichten. 25 Das scheint sich nicht nur durch die oben genannten Untersuchungen von Erickson/ Shultz u.a. rechtfertigen zu lassen, sondern ist auch naheliegend in Anbetracht der Spezifik und Andersartigkeit des deutsch-polnischen Verhältnisses im Vergleich etwa zum französisch-deutschen. Den Vorteil eines solchen Konzepts könnte man darin vermuten, daß kulturelle Fremdheit dadurch zunächst ‘wertfrei’ erfahren und verstanden werden kann. Aber abgesehen davon, daß die Orientierung an einem solchen Modell die thematischen Ressourcen und Lösungsmöglichkeiten für die in einer solchen Begegnungssituation anstehenden Aufgaben beschneidet (siehe den Beitrag von Ricarda Wolf), kann eine solche Orientierung beinahe zu einer paradoxen Situation führen: Die Realisierung dieses Modells setzt eher Wissen über die Diesen Eindruck beziehen wir aus verschiedenen Gesprächen mit Organisatoren von Jugendbegegnungen, die wir im Laufe unserer Arbeit an dem Projekt geführt haben. An dieser Stelle möchten wir besonders Martina Müller und Andreas Groß danken, die einen Teil der Beiträge aus praktischer Sicht kritisch kommentiert haben. Einleitung 21 andere Kultur voraus, als daß es Kulturvermittlung fördert. Denn durch fehlendes oder „falsches“ Wissen über die andere Kultur kann man wie gesagt ungewollt kulturelle Unterschiede relevantsetzen, die dann einen negativen Effekt für die Annäherung haben können. Für derartige interkulturelle Mißgeschicke hält das „Tabuisierungs-Modell“ aber nur minimale Ressourcen zur Reparatur durch Kulturvermittlung bereit. Stattdessen retten sich die von einem solchen Vorfall Betroffenen zum Beispiel mit Verfahren über die Situation hinweg, wie sie etwa von einer polnischen Betreuerin in dem von Mechthild Elstermann untersuchten Interview umschrieben werden: „Wir lachen darüber.“ Insofern legen unsere Beobachtungen nahe, daß der Versuch, die Thematisierung kultureller Unterschiede zu vermeiden, die Berücksichtigung derselben zumindest als Heuristik in der Vorbereitung auf die Begegnungen voraussetzt. Das ist auch die Konsequenz, die Reinhold Schmitt aus seiner Analyse eines engagierten Kulturvermittlungsversuchs im Rahmen einer Exkursion zieht. Im Unterschied zu einer Tabuisierung kultureller Unterschiede macht es sich der Exkursionsleiter zwar zur Aufgabe, Kultur zu vermitteln. Er will den deutschen Studenten das „typisch Polnische“ zeigen. Dabei versäumt er es aber, genau das kulturspezifische Wissen bereitzustellen, das die Grundlage für die Realisierung seines „Lehrziels“ wäre. Der Lemeffekt auf der Seite der deutschen Studenten ist entsprechend gering; die Aktivitäten führen zu einem interkulturellen Mißverständnis und infolge dessen zu einer negativen Bewertung des Exkursionsleiters als Person. Das Kontrastmodell dazu wird in dem Beitrag von Ulrich Dausendschön-Gay anhand der Kulturvermittlungsaktivitäten einer Polnischlehrerin beschrieben. Die Lehrerin definiert es explizit als ihre Aufgabe, die tatsächlichen oder denkbaren Alltagserlebnisse der deutschen Studenten in Polen zu bearbeiten. Sie initiiert in verschiedenen Unterrichtssituationen bewußt Aufklärungsgespräche über kulturelle Wahrnehmungen. Im Unterschied zum Exkursionsleiter sichert sie die kulturspezifische Wissensbasis für ihre Kulturvermittlung ab, indem sie die Studenten mit deutschen Stereotypen über Polen konfrontiert, um deren Inhalte dann als mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmend zu identifizieren. Die Gefahr eines solchen Verfahrens ist offensichtlich: Die Studenten könnten sich durch diese Konfrontation provoziert fühlen; bei manchen werden damit vielleicht „offene Türen eingerannt“. Dausendschön-Gay beschreibt im einzelnen aber auch die Verfahren, mit denen die Polnisch-Lehrerin genau diesen Gefahren entgegenwirkt. Dazu gehört zum einen, daß sie sich den Studenten zunächst als Vermittlerin darstellt, die nicht nur Kompetenzen hinsichtlich der polnischen Kultur hat, sondern sich auch in der deutschen (Alltags-)Kultur zurechtfindet und spielerisch beide Perspektiven aufeinander beziehen kann. Zum anderen schafft sie eine ironisch-spaßige Interaktionsmodalität und beteiligt die Studenten sowohl an der Explizierung von Stereotypen über Polen als auch an deren Bearbeitung. 22 Mechthild Elstermann, Inken Keim, Reinhold Schmitt, Ricarda Wolf Es bleibt festzuhalten, daß die verschiedenen Modelle von Kulturvermittlung jeweils mit Vorteilen und Risiken verbunden sind. Aufgabe zukünftiger Untersuchungen zur Kulturvermittlung in interkulturellen Kontaktsituationen, insbesondere zum deutsch-polnischen Kontakt, dürfte es daher auch sein, Situationsbedingungen zu erfassen, die eine begründete Entscheidung für das eine oder das andere Modell ermöglichen. Unsere bisherigen Ausführungen könnten den Eindruck erwecken, als würden wir davon ausgehen, daß Kulturvermittlung in jeder Stunde des Ferienkurses relevant und von allen Beteiligten gefordert ist. Damit würden wir wichtige Ressourcen der polnisch-deutschen Annäherung gerade auf der Ebene des Jugendaustauschs vernachlässigen: Zuweilen waren die Studenten mehr damit beschäftigt, sich in Form von Flirts und auf freundschaftlicher Ebene einander anzunähem. Für die Untersuchung der Kulturvermittlung im Rahmen von Jugendbegegnungen wie dem Sommerkurs bleibt also auch noch die folgende Frage offen: Wann ist Kulturvermittlung überhaupt „angesagt“? In diesem Zusammenhang läßt sich vielleicht sogar eine strukturelle Paradoxie solcher Jugendbegegnungen aufdecken, die einen Anspruch an Kulturtransfer haben: Während mit Kulturvermittlung als einer Form des Lehr-Lem-Diskurses häufig eine asymmetrische Rollenverteilung bzw. Beziehung verbunden ist, erfordert die Herstellung von Freundschaften eher eine Begegnung auf gleicher Ebene. Sollen im Rahmen von Jugendbegegnungen die verschiedenen Ressourcen der Annäherung genutzt werden, so wären damit zumindest für bestimmte Kursteilnehmer bzw. -Organisatoren widersprüchliche Anforderungen an die Beziehungsgestaltung verbunden. Das könnte erklären, warum gerade die mit den deutschen Studenten etwa gleichaltrigen polnischen Betreuer Chancen zur Kulturvermittlung ungenutzt lassen oder sogar Wünsche danach nicht erfüllen, selbst wenn dadurch eine sogenannte unkomfortable interkulturelle Situation normalisiert werden könnte. 6. Literatur Auer, Peter (1992): Introduction: John Gumperz’ approach to contextualization. In: Auer, Peter/ di Luzio, Aldo (eds.): The contextualization of language. Amsterdam. S. 1-37. Barth, Frederik (1969): Introduction. In: Ders. (ed.): Ethnie groups and boundaries. Oslo. S. 9-38. Bender, Peter (1992): Deutsche Ostpolitik. In: Kobylihska, Ewa/ Lawaty, Andreas/ Stephan, Rüdiger (Hg.): S. 437-443. 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Es zeigt sich, daß für das Zustandekommen des interkulturellen Mißverständnisses unterschiedliche Aspekte eigenkultureller Befangenheit verantwortlich sind: Neben der fraglosen Typisierung fremdkultureller Phänomene mit eigenkultureller Begrifflichkeit und der kulturell geprägten Möglichkeiten des Redens über Kultur spielen auch unterschiedliche Traditionen des Erzählens von national bedeutsamen Ereignissen eine Rolle. Die Analyse führt zu einem Modell interaktiver Kulturvermittlung als gemeinschaftlicher Aufgabe für alle Beteiligten und zu einer Argumentation für eine Heuristik maximaler Kulturdifferenz: zum einen für den Umgang von Kulturvermittlern mit ihren Adressaten, zum anderen als Grundlage der interaktiven Mitarbeit der Adressaten. 1. Einleitung Ich beschäftige mich in diesem Beitrag mit den Möglichkeiten und Fallstricken der Vermittlung kulturspezifischer Inhalte unter den Bedingungen unmittelbarer sprachlicher Interaktion. Konkret geht es um die Untersuchung des Versuchs eines polnischen Exkursionsleiters, deutschen Studenten etwas für Polen Typisches zu vermitteln. Dieser Versuch ging nicht ganz glatt auf, sondern produzierte etwas, was man als „interkulturelles Mißverständnis“ bezeichnen kann. Dieser Beitrag ist ein Versuch, das Zustandekommen und die Entwicklung dieses Mißverständnisses zu rekonstruieren, wobei Materialien aus unterschiedlichen Situationen aufeinander bezogen werden. 2 Ich möchte mich ganz herzlich bei dem polnischen Exkursionsleiter dafür bedanken, daß er sich uns wie er es selbst halbironisch formulierte als Versuchskaninchen zur Verfügung gestellt hat. Ich hoffe, daß er seine Bereitschaft nachdem er das Manuskript gelesen hat nicht nachträglich bereut. Dadurch, daß er Videokamera, Tonband und Mikrophon an zwei Tagen geduldig ertragen hat, wurde diese Untersuchung überhaupt erst möglich. Serdeczne dziqki za wszystko\ Mein Dank gilt auch all den übrigen Teilnehmern des Ferienkurses, den polnischen Organisatoren und Betreuern und den deutschen Studenten, die mich auch mit Kamera und Mikrophon ‘akzeptiert’ haben. Insgesamt stehen mir Protokolle aus folgenden Situationen zur Verfügung: die explizite Formulierung der „interaktiven Kulturvermittlung“ als Absicht des polnischen Exkursionsleiters gleich zu Beginn der ersten Führung, die über zwei Tage verteilten Führungen des polnischen Exkursionsleiters, ein Interview im Nationalmuseum mit dem polnischen Exkursionsleiter, spontane „Gespräche“ während der Führung, in denen die Kursteilnehmer auf den polnischen Exkursionsleiter reagieren. „ Ich werde Sie sehen lassen “ 27 Der Beitrag startet mit der Analyse der vom polnischen Exkursionsleiter selbst formulierten Vermittlungsaufgabe. Ziel dieser Analyse ist die genaue Rekonstruktion der Aufgabendefinition und der damit verbundenen interaktiven Implikationen. Im Anschluß daran erfolgt die Analyse eines Ausschnitts aus seiner Führung. Hier bietet sich aus dem vielfältigen Material eine Anekdote als zentrales Dokument für die Realisierung seiner selbstgestellten Aufgabe an. Ich habe die Anekdote deshalb ausgewählt, weil der polnische Exkursionsleiter selbst in der einleitenden Rahmung der Anekdote auf ihren kulturspezifischen Gehalt verweist. Im Anschluß daran rückt die Rezipientenseite ins Blickfeld. Hier kann dann beobachtet werden, wie die Studenten den Kulturtransfer verstanden haben. Dabei werden Fragen relevant, die das Verhältnis von zugeschriebener Rolle (Kulturvermittler) und anderen sozialen und idiosynkratischen Merkmalen betreffen, die die zugeschriebene Rolle eventuell überlagern. Die wichtigsten Typisierungen aus der Rezipientenperspektive werden dann kontrastiert mit der Selbstsicht des polnischen Exkursionsleiters. Hier werden v.a. Ausschnitte aus einem Interview herangezogen, das wir im Nationalmuseum in Poznan mit ihm geführt haben. Dieses Interview enthält an verschiedenen Stellen explizite Hinweise darauf, was für den Exkursionsleiter das typisch Polnische ist. 3 Die Analysen werden von dem Erkenntnisinteresse geleitet, auf einer empirischen Grundlage zunächst fallspezifisch über Möglichkeiten, Unwägbarkeiten und Grenzen interaktiver Kulturvermittlung nachzudenken. Im weitergehenden Sinne sollen aus diesen Analysen Umrisse eines allgemeinen Modells des interaktiven Kulturtransfers erkennbar werden, das auch Rückwirkungen auf die konkrete Praxis der Kulturvermittlung zulassen soll. Aus einer voranalytischen Perspektive stellt sich die in der Fallspezifik meines Materials deutlich werdende - Grundstruktur eines solchen Modells und der darin enthaltenen einzelnen vermittlungsrelevanten Aspekte wie folgt dar: Eine Person schreibt sich in der erkennbaren Rolle eines vermittelnden Kulturangehörigen explizit die Aufgabe zu, Personen, die Angehörige einer anderen Kultur sind, durch die Art und Weise ihrer interaktiven Präsenz etwas über ihre eigene Kultur Typisches/ Charakteristisches zu vermitteln. Dies ist jedoch nur die eine Seite des Vermittlungsprozesses, die konzentriert ist auf den Vermittler und dessen erklärten Willen zur Kulturvermittlung. Zu diesem vermittlerbezogenen Modell ist also ein entsprechendes adressatenbe- - Interviewäußerungen der deutschen Kursteilnehmer und polnischen Betreuer über den polnischen Exkursionsleiter. Das Interview wurde von Ricarda Wolf und mir geführt; es ist spontan entstanden und liegt auch als Videoaufnahme vor. 28 Reinhold Schmitt zogenes Modell interaktiver Kulturvermittlung zu formulieren. Dessen Grundstruktur sieht wie folgt aus: Eine Gruppe, deren Mitglieder Angehörige einer spezifischen Kultur sind, wird mit einer Person konfrontiert, die in ihrem eigenen Land in einer erkennbaren formalen, von außen bestimmten Rolle, die ein gewisses Ausmaß an Asymmetrie beinhaltet, sich selbst die Aufgabe zuschreibt, ihnen durch die besondere Art und Weise ihrer interaktiven Präsenz etwas für ihre eigene Kultur Typisches/ Charakteristisches zu zeigen. Wie bei allen Prozessen interaktiver Bedeutungskonstitution, so unterliegt gerade auch bei dem anspruchsvollen Versuch der Kulturvermittlung unter den Bedingungen von Interkulturalität die Herausbildung der sozialen Bedeutung nur bedingt der Kontrolle des Sprechers. Seine Adressaten bestimmen zum Großteil mit darüber, was als sozial gültige Bedeutung akzeptiert und sich halten wird. Dies ist eine Konstellation, die nicht ganz unproblematisch ist. Aus einer beabsichtigten thematisch orientierten Kulturvermittlung (so wie sie dem vermittlerbezogenen Modell entspringt) kann nämlich (aufgrund bestimmter Aspekte des adressatenbezogenen Modells) schnell eine von den Adressaten als unangenehm und unangemessen bewertete Form der Selbstdarstellung werden. Dies kann schon leicht dadurch geschehen, daß aus dem Zusammenwirken von einseitig verteilten Möglichkeiten der Situationsgestaltung (hier ist der Vermittler eindeutig der Situationsmächtige) und der persönlichen Art und Weise, wie die Vermittlung relevanter Kultursachverhalte gestaltet wird, der Wissenstransfer in kultureller Hinsicht durch andere Faktoren überlagert wird. In Situationen, in denen die Gesprächsstruktur durch eine feststehende Rollenverteilung von ausschließlichem Sprecher und ausschließlichen Hörem bestimmt wird, kann die permanente Rezipientenrolle zu einer gewissen ‘Deformation’ des Wahmehmungs- und Interpretationsprozesses führen. Die aufgrund der Situationsstruktur von den Adressaten verlangte längerzeitige Passivität schafft sich um ein typisches Beispiel zu nehmen in der Schule einen Ausgleich: Schüler ziehen über ihren Lehrer her und machen sich über ihn lustig und die Unmöglichkeit der aktiven Beteiligung führt zu einer überscharfen kritischen Beobachtung. Um das wesentliche Ergebnis dieses Beitrags vorwegzunehmen: So etwas - oder doch zumindest so etwas ähnliches ist auch bei dem Vermittlungsversuch des polnischen Exkursionsleiters geschehen. Es kam zu einem wie ich meine kapitalen interkulturellen Mißverständnis. Die grundlegende Struktur des Mißverständnisses sieht wie folgt aus: Der polnische Exkursionsleiter will seinen Adressaten etwas für Polen Typisches vermitteln; dieses typisch Polnische ist für ihn untrennbar verbunden mit der Rolle des polnischen Adels in der polnischen Geschichte, Kultur und Gesellschaft. Die deutschen Studenten haben jedoch dieses kulturspezifische Wissen, daß der Adel in Polen so eine andere Rolle gespielt hat als in Deutschland, überhaupt nicht oder nur in sehr geringem Maße. Da dies seinerseits dem polnischen Exkursionsleiter nicht „Ich werde Sie sehen lassen " 29 oder nicht in hinreichender Weise klar ist, versäumt er es, diese besondere Bedeutung des polnischen Adels nicht nur in historischer Hinsicht, sondern gerade auch für seinen Versuch der Kulturvermittlung klarzumachen. Er verzichtet damit auf die explizite Thematisierung eines kulturellen Unterschiedes. Ergebnis: Die Studenten ziehen beim Stichwort Adel ihr Wissen über den deutschen Adel heran, in dem die Bedeutung einzelner adliger Familien und deren gesellschaftliche oder kulturelle Relevanz in der Gegenwart hauptsächlich über den bunten Blätterwald der Regenbogenpresse vermittelt wird. Sie können also das, was sie vermittelt bekommen, nicht als typisch polnisch einordnen oder erkennen. Sie sehen folglich in dem polnischen Exkursionsleiter keinen Vermittler des typisch Polnischen, sondern eine Person, die sich in auffälliger Weise an den Adel „anhängt“, von diesem schwärmt und sich mit ihm identifiziert. Dies jedoch lehnen die Studenten im Rahmen ihres deutschen Verständnisses von Adel als unangemessene Form der Selbstdarstellung und Weltffemdheit ab. Sie interpretieren den intendierten Akt der Kulturvermittlung in erster Linie als eine auffällige Form der Selbstdarstellung. Hier zeigt sich ein allgemeines Problem für die Kulturvermittlung. Der polnische Exkursionsleiter arbeitet mit einem Konzept, das die grundsätzliche Interkulturalität der Situation nicht hinreichend berücksichtigt. Er setzt zu viel als Gemeinsamkeit voraus und verzichtet auf die Hervorhebung kultureller Unterschiede. Dies wird noch zusätzlich durch sein didaktisches Konzept verstärkt, das bewußt auf die explizite Formulierung von Kulturalität (und damit auch der kulturellen Unterschiede und Grenzen, die jedoch für das Verständnis wichtig sind) verzichtet und seinen Adressaten dadurch ein Verständnis der zu vermittelnden Kultur erschwert. 2. Interaktive Kulturvermittlung als selbstzugeschriebene Aufgabe Als erstes werde ich die „Aufgabenstellung“ des polnischen Exkursionsleiters etwas genauer beschreiben und mich dabei auf zwei Punkte konzentrieren: Zum einen will ich das Programm bzw. das Konzept seiner Führung herausarbeiten, um zu sehen, was er machen will, und zum zweiten betrachte ich die konkrete Formulierung, mit der er sein Programm bzw. sein Konzept vorstellt, etwas genauer. 2.1 Die Vorstellung 4 Der nachfolgende Gesprächsausschnitt stammt aus einer Exkursion des Ferienkurses in die nähere Umgebung von Poznan. Nach der Anfahrt mit dem Bus versammelte sich der Kurs im Vorhof des Schlosses von Komik, und nach ei- 4 Ein Großteil der im folgenden beschriebenen Aspekte der Selbstpräsentation finden sich auch bei der Selbstpräsentation der Polnischlehrerin Jana im Beitrag von Ulrich Dausendschön-Gay. Sie sind dort jedoch Startpunkt zu einer Selbstverortung den deutschen Studenten gegenüber, die maximal mit der des polnischen Exkursionsleiters kontrastiert. 30 Reinhold Schmitt rügen kurzen organisatorischen Regelungen begann der polnische Exkursionsleiter (GR) mit seiner Führung. 5 GR: vielleicht werde ich anfangen * ich freue mich sehr * wieder deutsch sprechen zu können ich habe keine gelegenheit mehr ** oder keine gelegenheiten oder kaum gelegenheiten ** da ich seit * äh einem jahr auf dem land sitze ** wo ich ab und zu zu meinem hund etwas deutsch spreche ** aber sonst gar nichts *2* Es handelt sich um seine ersten Äußerungen den Kursteilnehmern gegenüber. Betrachtet man die Vorstellung des polnischen Exkursionsleiters, so wird folgende sequentielle Ordnung deutlich: Der Einleitungsfloskel vielleicht werde ich anfangen folgt eine expandierte Formulierung seiner Freude, wieder mit Deutschen in Kontakt zu kommen und wieder Deutsch sprechen zu können. 6 Im Anschluß folgt ein längerer Äußerungsteil, in dem er Angaben zu seinem Beruf macht, die er mit einer expliziten und auffälligen Bewertung seiner beiden Tätigkeiten verbindet. GR: ich bin germanist und kunsthistoriker ** von beruf * ich arbeite- * ich habe zwei stellen- ** die eine ist am nationalmuseum in Poznan und die andere * ist äh meine ** meine ** ja * meine * schö"nste * oder meine meine ** meine ja * meine * belie"bte * stelle * und zwar bin ich ** bin ich bevollmächtigt in Sachen eines land/ äh landgutes ** wir werden heute hinfahren- ** das ist das landgut Rogalin in der nähe * Auffällig in diesem Teil der „Berufsangabe“ ist die Darstellung der Arbeitsstelle auf dem Landgut. Wird seine Tätigkeit im Nationalmuseum schlicht und sachlich mitgeteilt, so wird der Hinweis auf seine Tätigkeit in Rogalin mit einigem Formulierungsaufwand regelrecht inszeniert. 7 Vor allem die Suche nach der für die Bedeutung der Arbeitsstelle angemessenen Formulierung springt ins Auge. Diese zweite Arbeitsstelle scheint etwas von besonderer Bedeutung zu sein, etwas, das sich nicht so ohne weiteres in eine einfache Formulierung bringen läßt. Betrachtet man jedoch das Formulierungsergebnis, so stehen die beiden betonten Bewertungen schö“mte und belie“bte in einem spannungs- 5 Die Erklärung der in diesem Band verwendeten Transkriptionszeichen findet sich im Anhang. 6 Bei einer Diskussion mit Studenten an der FU Berlin wies eine polnische Studentin gegen die Vermutung eines deutschen Studenten darauf hin, daß mit der „Hundesprache“ Deutsch keine Anspielung auf das Dritte Reich gemeint sei. Hier handle es sich um den ehrlichen Ausdruck eines auf dem Lande latent vereinsamten sprachinteressierten polnischen Germanisten. 7 Inszenieren wird hier als gesprächsanalytischer Terminus verwendet. Inszenieren ist eine bestimmte Form des Formulierens, in der der Vorgang des Formulierens selbst symbolische Bedeutung bekommt und in gewissem Sinne relativ unabhängig vom Inhalt der Äußerung interpretierbar ist. Zum Konzept des inszenierenden Sprechens vgl. Kallmeyer/ Schmitt (in Vorbereitung) und Schmitt (in Vorbereitung); vgl. auch die Vorstellung von ‘mise en scene’ bei Authier-Revuz (1985, S. 95 und 1993, S. 110). „Ich werde Sie sehen lassen “ 31 reichen Verhältnis zu dem Aufwand an Formulierungsarbeit, der nötig war, sie zu produzieren. Es scheint fast so, als wäre es für den Sprecher nicht so wichtig, die passende Formulierung zu finden, sondern sich an der durch das wiederholte Hinauszögem verlängerten sprachlichen Beschäftigung mit der Bedeutung dieser Arbeitsstelle zu erfreuen. Dieser Aspekt der Freude tritt in der Videoaufnahme gestisch-mimisch besonders deutlich hervor. Der Sprecher läßt keinen Zweifel daran, woran sein Herz hängt und was für ihn vorrangig Bedeutung besitzt. Diese explizite Hochstufüng der zweiten Stelle setzt er dann in der weiteren Formulierung fort. Die Stelle bzw. seine Tätigkeit auf dieser Stelle wird im Anschluß mit den Worten bin ich bevollmächtigt in Sachen eines land/ äh landgutes charakterisiert. Dies ist eine sehr formale, an einen juristischen Kontext erinnernde Redeweise, die der eigenen Position und Person durch die Qualität der Beziehung zum dargestellten Objekt Verantwortung und Würde, v.a. aber Gewicht zuweist, gleichzeitig aber unklar bleibt. Was bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Vorstellung des Exkursionsleiters deutlich wird, ist ein enger Zusammenhang von dargestelltem Sachverhalt (hier: das Landgut Rogalin, das über die Jahrhunderte hinweg eine bedeutende Rolle für Westpolen spielte) und der Selbstdarstellung seiner Person. Der Sprecher nutzt den kulturellen Sachverhalt, über den er spricht, um sich selbst zu diesem in Beziehung zu setzen, wobei offensichtlich ist, daß dies eine Beziehung fragloser Identifikation und deutlichen Stolzes ist. 8 Interessant ist weiterhin die Tatsache, daß der polnische Exkursionsleiter zwar sehr ausführlich über sich selbst und seine beiden Stellen spricht, jedoch darauf verzichtet, sich namentlich vorzustellen. Geht er davon aus, daß man weiß, wer er ist, oder ist es für ihn in seiner Rolle nicht wichtig, daß ihn die Exkursionsteilnehmer auch als Person, als Individuum kennen? Wenn man bedenkt, daß es sich um ein exponiertes Landgut handelt, wird der Hintergrand seines Stolzes etwas klarer. Das Landgut Rogalin ist über mehrere Jahrhunderte mit der Familie Raczynski verbunden, mit der der Exkursionsleiter selbst befreundet ist. Jan Raczynski kaufte das Gut im Jahre 1511, und im Laufe der Zeit wurde es mehrfach umgebaut. Vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Rogalin in der Zeit von Edward Raczynski (1786-1845) ein Mittelpunkt des politischen und kulturellen Lebens in Großpolen. Edward war auch für den bedeutendsten Umbau in den Jahren 1815- 1820 verantwortlich. Der Exkursionsleiter hat sich nach eigenen Angaben dafiir eingesetzt, das Gut vom Staat zu pachten und es schrittweise zu renovieren. Nach eigenen Aussagen haben die Kommunisten die Anlage total verkommen lassen: „Als ich zum ersten Mal die Pferdeställe betrat, konnte ich keine Fenster sehen“. Rogalin, mit der Schloßkapelle der Familie Raczynski, ist heute eines der wichtigsten kulturellen Denkmäler in Großpolen und von nationaler Bedeutung. Es besitzt den ältesten und größten Bestand an Eichen in Europa und verfugt über eine Gemäldegalerie, die eine der bedeutendsten Sammlungen polnischer Malerei zeigt. 32 Reinhold Schmitt 2.2 Das Programm Nachdem sich der polnische Exkursionsleiter vorgestellt hat, beginnt er einen programmatischen Teil, in dem er sein Konzept für die folgenden Führungen expliziert. Er macht dabei deutlich, daß die Teilnehmer etwas Besonderes, etwas, das ihren bisherigen Erfahrungen mit Exkursionen widerspricht, erleben werden. Dabei präsentiert er sich als Experte mit besonderen Qualifikationen, Fähigkeiten und ungewöhnlichen Vorstellungen. Beteiligt sind im folgenden Ausschnitt neben dem polnischen Exkursionsleiter (GR) die deutsche Kursteilnehmerin (IN) und der deutsche Kursteilnehmer (DE). GR: #<i"ch habe jedoch etwas ganz anderes vor als sie K #IN EINEM FLUSS GR: wahrscheinlich bisher erlebt haben hier in Polenl'># K # GR: ** #i"ch wi"ll ih"nen nämlich# ** ich werde K #MIT NACHDRUCK # GR: zumindest versuchen * ihnen das sogenannte ewig GR: polnische * zu zeigen * etwas was eine quintessenz IN: LACHT VERHALTEN GR: des polnischen der polnischen slawischen seele GR: sein kann! ' äh deswegen werde ich * IN: LACHT VERHALTEN LACHT VERHALTEN DE: ach du liebes bißchen GR: viel wenigere daten ** ähm daten: nennen * äh viel wenigere ** informationen geben * #ich werde sie sehen K #MIT NACHDRUCK lassen# ** und diese drei stellen diese Ortschaften die K # wir heute besuchen * sind * solche exampels * sind sind bei"spiele * die a"nregungen für sie schaffen sollen! ' Betrachtet man diesen monologischen Ausschnitt, so zeigen sich im programmatischen Teil Zeichen einer interaktionsdynamischen Bewegung: Eine Teilnehmerin (IN) lacht verhalten, und ein anderer Teilnehmer (DE) sagt mit etwas reduzierter Lautstärke, aber deutlich hörbar ach du liebes bißchen. Das erste verhaltene Lachen setzt ein in der Pause nach zu zeigen. Es ist plaziert an der Stelle, an der erstmalig der Kemsatz des Programms bzw. der zentrale Gegenstand der Kulturvermittlung das ewig Polnische vollständig formuliert ist. Mit anderen Worten: Die Formulierung das ewig polnische ist „Ich werde Sie sehen lassen “ 33 für die Kursteilnehmerin so merkwürdig, daß sie mit einem verhaltenen Lachen reagiert. 9 Die nächsten Reaktionen erfolgen an einer vergleichbaren Stelle. Zum einen handelt es sich um das erneute Lachen der gleichen Sprecherin (IN), zum anderen um den Kommentar ach du liebes bißchen des Kursteilnehmers (DE). Beide Reaktionen haben das gleiche Bezugselement in der Äußerung des polnischen Exkursionsleiters: die „polnische slawische Seele“. 10 Der Kommentar drückt ähnlich wie das verhaltene Lachen auch so etwas wie Ungläubigkeit und Erstaunen aus, ganz nach dem Motto: Das gibt es doch nicht! Was aber kann es aus der Sicht des deutschen Kursteilnehmers nicht geben, was doch für den polnischen Exkursionsleiter so völlig fraglos formulierbar ist? Von der Plazierung der Reaktion her gesehen, ist dies das „ewig Polnische“ und die „polnische slawische Seele“. Man kann sehen, daß der Exkursionsleiter fraglos und sicher formuliert. Er scheint sich seiner beiden „Gegenstände“ kultureller Vermittlung sehr sicher zu sein. Einige seiner deutschen Adressaten teilen diese Fraglosigkeit der Sachverhalte und deren spezifische Formulierung jedoch nicht. Mit anderen Worten: Die kulturreflexiven Konzepte 11 das „ewig Polnische“ und die „polnische slawische Seele“ sind im Hinblick auf den polnischen Exkursionsleiter und die deutschen Kursteilnehmer unterschiedlich kontextualisiert, d.h. sie rufen unterschiedliche Wissenshintergründe wach. 12 Diese unterschiedlichen Wissenshintergründe fallen mit einer je unterschiedlichen nationalen Geschichte und der unterschiedlichen Rolle zusammen, die solche oder Zur Bedeutung der konkreten Plazierung für die Erklärung der interaktiven Bedeutung von Äußerungen vgl. Bergmann (1982). Das Konzept der polnisch-slawischen Seele deutet auf einen spezifischen historischen Hintergrund. Polen verfugte nicht nur schon immer über eine starke westliche Orientierung, sondern zu bestimmten Zeiten auch über starke OstafFmitäten. Markanter Vertreter einer solchen panslawistischen Orientierung war z.B. Roman Dmowski, wichtigster Vertreter der bürgerlichen Nationaldemokraten. Dieser versuchte vor dem ersten Weltkrieg und noch bis 1915 mit einer auf Rußland konzentrierten, antideutschen und antijüdischen Politik die polnische Nationalstaatlichkeit wiederherzustellen. Eine zuweilen von ausschließlich westlich orientierten Polen vertretene Position, „das Slawische sei immer antipolnisch gewesen“ (so ein polnischer Diskussionsbeitrag im Rahmen des ZiF- Kolloquiums „Polnisch-Deutsche Interkulturelle Kommunikation“) wird dieser historischen Tatsache nicht ganz gerecht. Unter dem Begriff „kulturreflexive Konzepte“ verstehe ich die Art und Weise des kategorialen Sprechens über kulturelle Zusammenhänge und Sachverhalte. Hier geht es um Begriffe und Metaphern, die benutzt werden, um über die eigene oder eine fremde Kultur zu sprechen. 12 Zum Konzept der Kontextualisierung von Äußerungen siehe neben den Arbeiten von Gumperz (1982a und 1982b) den für die deutsche Rezeption wichtigen Beitrag von Auer (1986); speziell zum Verhältnis von Kontextualisierung und Konversationsanalyse Schmitt (1993); weiterhin die Sammelbände Duranti/ Goodwin (eds.) (1992) und Auer/ di Luzio (eds.) (1992). 34 Reinhold Schmitt strukturell vergleichbare Konzepte darin gespielt haben: Sie sind kulturspezifisch geprägt. Diese unterschiedlichen kulturspezifisehen Implikationen und die damit assoziierte Problematik kann man sich bewußtmachen, wenn man in die gleiche Äußerungsstruktur überall da, wo polnisch, Polen oder slawisch auftaucht, deutsch, Deutschland oder germanisch einsetzt. Mit dieser Ersetzung soll keinerlei Deutung der Äußerungsintention des polnischen Exkursionsleiters verbunden oder nahegelegt werden. Die Ersetzung hat rein analytischen und demonstrativen Charakter. 13 Sie soll folgendes verdeutlichen: Die Möglichkeiten, über die eigene Kultur zu sprechen, sind sehr unterschiedlich und selbst kulturspezifisch geprägt. Was in der einen Kultur an kulturreflexivem Sprechen gängig oder möglich ist, kann in der anderen Kultur vielleicht zwar nicht gänzlich unmöglich, aber doch hochgradig problematisch sein. Welches Potential an Assoziationen sich z.B. aus deutscher Perspektive mit der oben zitierten kulturreflexiven Redeweise verbinden kann, das - und nur das soll die Ersetzung zeigen: Ich will ihnen das sogenannte ewig Deutsche zeigen, das was eine Quintessenz des Deutschen, der deutschen-germanischen Seele sein kann. Das ist aus deutscher Perspektive eine Ausdrucksweise, die seit dem Nationalsozialismus obsolet ist und ohne eindeutige politische Konnotation heute von Deutschen nicht mehr benutzt werden kann. Für Polen hingegen ist das Konzept der polnischen (slawischen) Seele eine fraglose kulturreflexive Größe. Das zeigt z.B. der folgende Ausschnitt aus einem Interview mit Marek (MA), einem der jüngeren polnischen Kursbegleiter: MA: die polnische seele über die er [der polnische Exkursionsleiter] soviel gesprochen hat * also für mich polnische seele ist keine melancholia ist keine Schwermut * für mich ist das mehr * lebensfreude * äh gastfreundscha/ ga"stfreundlichkeit ** auch die * nei”gung zum feiern Zwar stimmt Marek mit den vom polnischen Exkursionsleiter formulierten Inhalten nicht überein, das Konzept als solches wird von ihm jedoch nicht in Frage gestellt. Auch er kann bei der Beschreibung der eigenen Geschichte und Kultur fraglos auf eine romantisch-idealistisch geprägte Begrifflichkeit zurückgreifen. In Deutschland ist der Rückgriff auf eine national bezogene romantisch-idealistische Sprache aufgrund des nationalsozialistischen Mißbrauchs solcher Begriffe nicht mehr möglich. Gleichwohl existiert auch in Deutschland als sprachhistorisches Faktum eine solche romantisch-idealistische Sprache nationaler Selbstreflexion. Was in diesem programmatischen Teil der Selbstpräsentation des polnischen Exkursionsleiters weiter auffällt, ist der Teil, in dem er beschreibt, wie er seinen Adressaten die kulturellen Sachverhalte vermitteln will. Hier setzt er auf 13 Ich danke Fritz Schütze, der mich auf die Gefahr eines solchen Mißverständnisses aufmerksam gemacht hat. Natürlich ist es nicht meine Absicht, den polnischen Exkursionsleiter zu verunglimpfen. „Ich werde Sie sehen lassen 35 eine Art selbstexplikative Qualität der zu vermittelnden kulturellen Sachverhalte. Daten und Informationen stehen dem Erleben und Erkennen der kulturellen Qualität dabei eher im Wege: „Ich werde Sie sehen lassen! “ Mit dieser Formulierung sind unmittelbare Auswirkungen auf die Beziehung der Beteiligten verbunden. So redet ein Lehrer zu seinen Schülern, der will, daß seine Schüler nicht nur Wissen anhäufen, sondern die eigene Erfahrung, das eigene Erleben (hier das Sehen) als Bestandteil des Wissens begreifen, das es zu vermitteln gilt. Damit ist für die Schüler eine gewisse Form der Anstrengung verbunden. Das Konzept „Ich werde Sie sehen lassen“ ist in dieser Hinsicht wesentlich voraussetzungsreicher, da es kategorial offener ist, als ein Konzept definitorischer Kulturvermittlung, das die relevanten Kategorien immer schon mitliefert. Die Schüler sehen sich hier mit einem Anspruch konfrontiert, der ihnen interpretative und kategorienbildende Eigenleistung abverlangt. Doch es werden nicht nur Rollen verteilt, sondern es wird indirekt auch der Anspruch formuliert, die Wahrnehmung der Adressaten zu steuern, denn diese sehen nicht selbst, sondern der Lehrer läßt sie sehen. Es liegt also an ihm und seiner Auswahl, was die Schüler erkennen können. Diese Formulierung erfolgt aus einer Position selbstzugeschriebener Autorität, die sich aus einer dramatisch einseitigen Verteilung des für die Situation relevanten Wissens herleitet. 14 All diese Aspekte bekommen ihre spezifische interaktive Bedeutung nun dadurch, daß der polnische Exkursionsleiter kein älterer, weißhaariger Herr mit Spazierstock ist: Er ist mit Anfang dreißig gerade zehn Jahre älter als seine studentischen Adressaten. Da diese ihn mehr oder weniger als gleichaltrig wahrnehmen, ist es für sie nicht einfach, neben den deutlichen Wissensunterschieden auch noch die Beziehungsimplikationen und die damit verbundenen Statusunterschiede anzuerkennen, die mit der Art und Weise verbunden sind, in der der polnische Exkursionsleiter seine Rolle projektierte und ausfüllte. 3. Die Führung Gemäß diesem anspruchsvollen und voraussetzungsreichen Konzept interaktiver Kulturvermittlung verzichtet der Exkursionsleiter während seiner Führung weitgehend darauf, explizit zu erklären, was die polnische Seele ist, sondern beschränkt sich darauf, die kulturellen Objektivationen zum Sprechen zu bringen. Es gibt aber in seiner Führung auch vereinzelt Hinweise darauf, daß er seine Schützlinge beim Sehen nicht gänzlich alleine läßt, sondern sie sanft bei der Hand nimmt. Das sind dann zwar immer noch keine Stellen definitorischer Kultursetzung, aber Momente, in denen durchscheint, was für ihn typisch polnisch ist und in welchen Aspekten sich die polnische Seele zeigt. Eine sol- 14 Im Verlaufe der Exkursion zeigte sich, daß der polnische Exkursionsleiter nicht nur über ein reichhaltiges historisches Wissen über Polen verfugte. Auch über Deutschland besaß er ein sehr detailliertes und breit gestreutes Wissen, das partiell weit über den Wissensstand der meisten deutschen Kursteilnehmer hinausging. 36 Reinhold Schmitt che Stelle will ich nun als nächstes betrachten. Es handelt sich um eine der zahlreichen Anekdoten, die der Exkursionsleiter in seine kunstgeschichtlichen und sozialgeschichtlichen Ausführungen einstreute. Die Analyse der Anekdote berücksichtigt verschiedene Punkte: Zum einen stellt sie die Frage, wie die Anekdote als kommunikative Gattung 15 in die Führung eingebaut wird und mit welchen unterschiedlichen Mitteln in der Erzählung Kultur relevantgesetzt und durch die Verhaltensweisen der zentralen Figuren im Rahmen des kulturellen Vermittlungskonzeptes verdeutlicht wird. Zum anderen ist es wichtig, danach zu fragen, wie sich der Exkursionsleiter durch die Art und Weise, in der er die Anekdote erzählt, selbst als kulturelle Person darstellt 16 und welche Beziehungsqualität er damit seinen Adressaten anbietet. Bei der Markierung von Kultur und der Selbstpräsentation als kulturelle Person geht es zumeist nicht um einfach auffindbare explizite Formulierungen. Wir bezeichnen uns nur in den seltensten Fällen ausdrücklich als Deutsche, Polen, Italiener, Franzosen etc. In der Regel drücken wir unsere kulturelle Identität vielmehr durch eine besondere Art der Gesprächsbeteiligung, der Formulierungsweise oder auch der Themenwahl und der impliziten und expliziten Bewertung bestimmter Sachverhalte aus. Wegen dieser eher impliziten Markierungsweisen ist es nötig, die Entwicklung ganzer Gesprächsprozesse sequentiell von Anfang an zu analysieren. 17 Sequenzanalytisch zu arbeiten bedeutet in meinem Fall, dem Gang der Anekdote Schritt für Schritt zu folgen und dabei zunächst auf äußere Kontextinformation zu verzichten. 18 Kulturalität wird erst dann als (Erklärungs-)Merkmal für die Interaktion relevant, wenn sie von den Beteiligten selbst als wichtiges Merkmal der Interaktion behandelt wird. 19 5 Zum Konzept der kommunikativen Gattung siehe Luckmann (1985 und 1986). 16 Hier wird der Punkt thematisiert, den Hadden/ Lester (1978) als „talking identity“ bezeichnet haben; oder mit den Worten von Kenneth Burke (1945, S. 24) formuliert; „(Sprachliches) Handeln ist nicht nur ein Mittel, etwas zu tun, sondern auch eine Weise, etwas zu sein.“ 17 Es gibt zwei Ansätze, die dezidiert sequenzanalytisch arbeiten: die Konversationsanalyse ethnomethodologischer Prägung (in ihrer soziologischen Variante, die z.B. von Bergmann vertreten wird und in ihrer stärker linguistischen Ausprägung, wie sie z.B. von Kallmeyer vertreten wird) und die objektive Hermeneutik. Zu den methodischen und theoretischen Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Konversationsanalyse und objektiver Hermeneutik siehe z.B. Bergmann (1985) und Schmitt (1992, S. 69-84). 18 Zum Konzept des inneren und äußeren Kontextes im Sinne der objektiven Hermeneutik siehe Oevermann (1986, S. 52fF). 19 Zur Gefahr der subsumtionslogischen Verkürzung bei der Analyse interkultureller Gespräche (d.h. der vorschnellen bzw. einseitigen Erklärung bestimmter Verhaltensweisen aufgrund der interkulturellen Situation) siehe Schmitt/ Keim (1995). „Ich werde Sie sehen lassen “ 37 4. Die Anekdote „Der Greiser“ Im folgenden Ausschnitt ist neben dem polnischen Exkursionsleiter (GR) eine deutsche Studentin (JU) beteiligt. GR: ich erzähle ihnen * eine anekdote die in der Zamoyski familie erzählt wird * die ist * sehr schön ich mag sie weil sie a: authentisch ist * äh zwe: / äh zweitens weil sie au"ch charakteristisch ist * mit verlaub * für die deutschen * äh * und zwar * hat der Greiser das der Greiser ich weiß nicht ob das für sie ein begriff ist * GR: das war der der gauleiter von Großpolen * er JU: gauleiter GR: hat einen eine seh"r schöne * residenz äh: für sich selbst gebaut * äh in der nähe auf der selben * geographischen höhe wie wir uns jetzt äh äh befinden ** äh für in einem sehr schönen wald hat er eine ty"pisch * naziresidenz gebaut * seh"r typisch * äh aber in einem sehr schönen ort * und zu dieser residenz suchte er möbel ich wei"ß von anderen quellen * ich weiß das zum beispiel von von von hier aus * daß er doch gewisse möbel genommen hat * für seine residenz in äh in in Nizowy * äh * in der familie Zamoyski wird jedoch eine anekdote erzählt * die * stimmen mu"ß * denke ich mir * äh und zwar hat es hier hat es hier ha"t * e"s * hie"r * einen alten majordomus gegeben * eines * wie das in im polnischen hieß marszalek sluzby und das heißt marschall der dienerschaft * das war ein herr Malrecki er war äh ein * adeliger * ein edelmann aus der oder #mit dem selben wappen# das heißt er K #IN EINEM FLUSS # gehörte * dem selben Wappengeschlecht wie die Zamoyskis * äh * er gehörte an dem wappengeschlecht die ritter * und deswegen * obwohl er ein klein*adeliger war * dachte er * er sei ein mitglieder der familie * und er wa"r doch einigermaßen mitglied der familie * weil er seit jahrzehnten hier in diesem hause gearbeitet hat ** e"r hat bis äh bis nach äh dem zweiten Weltkrieg gelebt * und schon äh ** oder nein äh und und in den in den vierziger jahren * ähm * in diesem haus eine gewisse funktion gehabt * ich weiß nicht welche * als das ähm damals ein lagerhaus hier war * und e"r führte den * Greiser den den den gauleiter hier durch diese * räume ** und der Greiser ist hierher gekommen wie gesagt um die mö"bel sich zu äh auszusuchen * und er hat e"twas wir wissen nicht was e"twas hat er im hause gezeigt * und sagte da"s da"s da"s da"s * bitte alles ** worauf * worauf der Malrecki sagte nei"n mein herr * der graf hat es verbo"ten * und der Greiser darauf wenn es so ist dann entschuldige * und ist weitergegangen * und hat diese diese * möbel hinterla"ssen 38 Reinhold Schmitt 4.1 Die rahmende Eröffnung Der Erzähler beginnt seine Anekdote mit einer rahmenden Eröffnung, deren expandierter Charakter und aufwendige Formulierungsarbeit auffallen. GR: ich erzähle ihnen * eine anekdote die in der Zamoyski familie erzählt wird * die ist * sehr schön ich mag sie weil sie a: authentisch ist * äh zwei: äh zweitens weil sie au"ch charakteristisch ist * mit verlaub * für die deutschen * Der Sprecher benutzt die Rahmung nicht nur zur einfachen Fokussierung, sondern gibt die Herkunft der Anekdote an {Zamoyski familie), charakterisiert anschließend die Anekdote {die ist * sehr schön), formuliert seine eigene Wertschätzung {ich mag sie) und begründet diese im folgenden auch noch doppelt (1. weil sie a: authentisch ist, 2. weil sie au“ch charakteristisch ist für die deutschen). In die zweite Begründung integriert er noch eine Äußerungsmodalisierung {mit verlaub). Hinsichtlich des Hinweises auf die Familie Zamoyski {die in der Zamoyski familie erzählt wird) kann man sich fragen, welche Rolle dieser Hinweis für die interaktiven Zwecke der Anekdotenerzählung spielt. Wird er vom Sprecher dazu benutzt, um sich selbst als Kenner der Adelsszene in Polen darzustellen; ist er also in erster Linie ein Aspekt der Selbstdarstellung? Oder wird er dazu benutzt, um über die Aktualisierung eines spezifischen Hintergrundwissens eine für das Verständnis der Anekdote wichtige Bedeutungsebene zu kontextualisieren? Ist er also primär ein interpretationsrelevanter Aspekt? Daß sich hinter dem Hinweis auf die Familie Zamoyski mehr versteckt, als nur der Versuch, durch die Angabe der Quelle für die Anekdote Authentizität zu beanspruchen, wird dadurch deutlich, daß für die Authentizitätskonstruktion anschließend eine eigene Äußerung realisiert wird. Mit dem Hinweis auf die Authentizität der Anekdote {weil sie a: authentisch ist) wird zusätzlich zur dargestellten Welt der Anekdote auch die reale Welt mitthematisiert. Es geht also nicht um irgendeine Story, sondern es geht um eine Story mit Wahrheitsbzw. Realitätsanspruch. Dieser Punkt wird dem Exkursionsleiter noch Schwierigkeiten machen. Durch die Modalisierung mit verlaub wird der Hinweis verzögert, daß nun etwas für die Deutschen Typisches kommt. Diese Modalisierung erhält je nach Adressaten eine spezifische interaktive Bedeutung. Sind die Adressaten z.B. Engländer, so ist sie schlichtweg unangemessen. Sind die Adressaten Deutsche, dann ‘entschuldigt’ sich der Sprecher prospektiv dafür, daß er seinen Zuhörern wahrscheinlich mit dem folgenden zu nahe treten wird, da er etwas für Deutsche Typisches und erwartbar Negatives erzählen wird. Es wird jedoch auch klar, daß der Sprecher die potentiellen Irritationen seiner deutschen Adressaten in Kauf nimmt. Die Relevanz, die Anekdote als auch typisch für die Deutschen zu erzählen, ist für den Sprecher größer als seine Orientierung, das Gesicht seiner Adressaten zu schützen. Oder anders formuliert: Er „Ich werde Sie sehen lassen 39 setzt die deutschen Adressaten dieser Anekdote aus, zwar in modalisierter Weise, aber dennoch. Ein zweiter interessanter Aspekt ist die Akzentuierung auf au “ch. Diese Akzentuierung impliziert eine zweiteilige Orientierung in dem Sinne, daß die Anekdote noch für jemand anderen charakteristisch ist. Dieser erste Teil der impliziten doppelten Charakterisierung wird jedoch nicht formuliert (dazu später mehr). Faßt man die Implikationen der Rahmung zusammen, dann wird deutlich, daß hier sehr unterschiedliche Relevanzen eingefuhrt werden, die für den Erzähler selbst zu einer Art implizitem Aufgabenprofil werden. Als wichtigste dieser Relevanzen sehe ich an: a) die Bedeutung der Familie Zamoyski, b) das Verhältnis von Fiktion und Faktizität und c) die doppelte kulturspezifische Orientierung. Man darf gespannt sein, welche dieser Aspekte - und in welcher Form im weiteren Verlauf der Anekdote zur Sprache kommen werden. 4.2 Startschuß und Einführung der zentralen Anekdotenperson GR: äh und zwar * hat der Greiser das der Greiser ich weiß nicht ob das für sie ein begriff ist * GR: das war der der gauleiter von Großpolen * JU: gauleiter Der Startschuß für die Anekdote wird durch und zwar gegeben. Als erster inhaltlicher Zug wird eine Person eingeführt „der Greiser“. Bevor jedoch etwas Genaueres über diese Person gesagt wird, wird die gemeinsame Wissensgrundlage hinsichtlich dieser Person thematisiert. Die Frage danach, ob „der Greiser“ für die deutschen Studenten ein Begriff ist, ist die Frage nach der historischen und nicht nach der Anekdotenperson. Diese explizite Nachfrage verdeutlicht folgendes: Zum einen liegt die Vermutung nahe, daß der Sprecher annimmt, daß seine Adressaten keinen Begriff von Greiser haben (sonst würde er nicht nachffagen). Zum zweiten macht sie klar, daß es ein Wissen über den Greiser gibt, das für das Verständnis der Anekdote wichtig zu sein scheint. Zum dritten verdeutlicht sie, daß der Greiser so bedeutend/ bedeutsam ist, daß man einen Begriff (d.h. eine Vorstellung) von ihm haben kann bzw. sollte. Der Exkursionsleiter startet zunächst selbst zu einer Erklärung das war der, führt jedoch seine Äußerung zunächst nicht weiter, so daß Judith eine deutsche Teilnehmerin in die entstehende Lücke hinein einen Hinweis auf die Identität Greisers geben kann: Greiser war Gauleiter. Der Exkursionsleiter wiederholt diese Information nochmals und spezifiziert sie durch den Zusatz gauleiter von Großpolen. Es ist interessant zu sehen, daß aus seiner Perspektive diese Information auszureichen scheint, damit dieser nun auch den deutschen Studenten ein Begriff ist. Nach dieser typisierenden Kurzcharakterisierung der eingeführten Anekdotenperson, die in ihrer Qualität ein ‘Seitensprung’ in die Welt der historischen Faktizität ist, wendet sich der Sprecher 40 Reinhold Schmitt wieder der Ebene der Anekdote zu. Nun wird dargestellt, was Greiser getan hat. GR: er hat einen eine seh"r schöne * residenz äh: für sich selbst gebaut * äh in der nähe auf der selben * geographischen höhe wie wir uns jetzt äh äh befinden ** äh für in einem sehr schönen wald hat er eine ty"pisch * naziresidenz gebaut * seh"r typisch * äh aber in einem sehr schönen ort * Der Exkursionsleiter erzählt von einer Residenz, die der Gauleiter für sich gebaut hat. Diese Residenz wird explizit und mit deutlicher Akzentuierung als seh"r schön bewertet. Als nächstes folgt ein Einschub, der für die Entwicklung der Anekdote eher hinderlich zu sein scheint. Der Erzähler beschreibt nämlich, wo sich die Residenz von Greiser befünden hatte: in der nähe aufder selben * geographischen höhe wie wir uns jetzt äh äh befinden. Der Hinweis spielt jedoch zum einen für die Bearbeitung der Authentizität der Anekdote eine Rolle, zum anderen hat der Lokalitätshinweis auch äußerungsstrukturelle Gründe. Im Sinne der thematischen Äußerungsentwicklung dient er als ‘Puffer’ für den nachfolgenden semantischen und evaluativen Umbau der voranstehenden Bewertung der Residenz. Bei genauerer Analyse wird nämlich deutlich, daß diese positive Bewertung in der folgenden Äußerungsentwicklung schrittweise und sehr implizit bearbeitet wird. Ergebnis dieser Bearbeitung ist, daß sie fast unmerklich in ihr Gegenteil verkehrt wird. Der Prozeß, in dem dies geschieht, sieht wie folgt aus: Der ersten positiven Bewertung folgt der Hinweis, daß sich die Residenz auf der gleichen geographischen Höhe befunden hat wie Körnik. Es folgt in deutlicher Parallelisierung zur ersten positiven Bewertung der Residenz die Äußerung in einem sehr schönen wald hat er eine typisch * naziresidenz gebaut. Das, was nunmehr explizit positiv bewertet wird, ist nicht mehr die Residenz, sondern der Wald. Das bewertete Objekt hat in verschiedener Hinsicht gewechselt. Es ist kein künstliches, vom Menschen geschaffenes Bauwerk mehr, sondern urwüchsige Natur, die schon vor dem Bauwerk da war. In dieser Eigenschaft schon vor der Residenz und damit vor dem Nazi dagewesen zu sein hat das Objekt der positiven Bewertung still und leise die Nationalität gewechselt: Es ist nicht mehr deutsch, sondern polnisch. Der Erzähler kommt nun auf die zuvor gelobte Residenz als ty “pisch naziresidenz und seh “r typisch zu sprechen. Dadurch, daß das Bauwerk mit naziresidenz näher beschrieben wird, ist nun neben dem Aspekt der Architektur eine weitere, nämlich historisch-politische Dimension im Spiel, die im Vergleich zur ersten positiven Bewertung auf dem Hintergrund des historischen Wissens ganz klar eine Herabstufung bewirkt. Für einen polnischen Kunsthistoriker mit Architektur als Arbeitsschwerpunkt ist eine typische Naziresidenz mit Sicherheit etwas ganz anderes als eine sehr schöne Residenz. „Ich werde Sie sehen lassen " 41 Ganz deutlich wird die Umbewertung durch das nachfolgende Segment aber in einem sehr schönen ort. Damit wird klar, daß die zuvor positiv bewertete Naziresidenz nur das Gegenstück von schön, nämlich häßlich sein kann. Der Erzähler fährt dann in der Entwicklung der Anekdote fort. Die Zuhörer erfahren nun, daß sich die Anekdote um „Einrichtungswünsche“ des Gauleiters dreht. GR: und zu dieser residenz suchte er möbel ich wei"ß von anderen quellen * ich weiß das zum beispiel von von von hier aus * daß er doch gewisse möbel genommen hat * für seine residenz in äh in in Nizowy Die Formulierung, daß der Gauleiter Möbel für seine Residenz suchte, ist eine sehr ‘neutrale’ Umschreibung dafür, daß Besatzer das, was sie glaubten zu brauchen, in der Regel einfach requirierten. Möglich wird diese metaphorische Redeweise durch den zuvor implizit vorgenommenen Rahmenwechsel: Der relevante Bezug ist nicht die historisch-faktische nationalsozialistische Besatzungszeit, in der Gauleiter gerade in Polen eine herausragende Rolle spielten, sondern eine alltägliche und historisch unspezifische Aktivität des Hausbaus: Ist das Haus erst gebaut, folgt logischerweise dessen Möblierung. Der inhaltliche Erzählfluß wird dann durch den Einschub ich wei “ß von anderen quellen * ich weiß das zum beispiel von von von hier aus * daß er doch gewisse möbel genommen hat * fiir seine residenz in äh in in Nizowy * gestört. Dies führt in der Folge dazu, daß die inhaltlichen Teile der Anekdote nicht alle in der eigentlichen „handlungslogischen“ Reihenfolge erzählt werden. Der Hinweis, daß der Gauleiter doch gewisse möbel genommen hat, weist eine auffällige Bezugslosigkeit zu den bisherigen Ausführungen auf. Der Erzähler hatte zuvor im unmittelbaren Nahkontext gesagt, daß der Greiser Möbel für seine Residenz suchte. Darauf kann sich der Hinweis, daß er doch Möbel genommen hat, nicht beziehen. Betrachtet man die logische Relation, die durch doch etabliert wird, dann kann das Bezugselement nur ein Sachverhalt sein, der in inhaltlicher Opposition hierzu steht. Dieses Bezugselement würde heißen: der Gauleiter hat keine Möbel genommen. Dieser Sachverhalt wurde jedoch in der zurückliegenden Darstellung nicht erwähnt. Hier wird deutlich, daß die Ebene der Erzählung durch die Authentizitätsrahmung zu Beginn implizit verwoben ist mit der Ebene historischer Faktizität. Und genau diesem Aspekt dient der Einschub: Die historische Faktizität drängt sich hier in die Anekdote hinein. Sie steht an einem völlig unsystematischen Platz, ist daher zunächst kaum verständlich. In der wiederum neutralen Sprache der Möbelsuche erfolgt der Hinweis auf die tatsächliche Verhaltensweise des deutschen Gauleiters: Er hat halt doch Möbel genommen. 4.3 Fortführung / Neustart der Anekdote GR: äh * in der familie Zamoyski wird jedoch eine anekdote erzählt * die * stimmen mu"ß * denke ich mir * äh und zwar 42 Reinhold Schmitt hat es hier hat es hier ha"t * e"s * hie"r * einen alten majordomus gegeben * eines * wie das in im polnischen hieß marszalek sluzby und das heißt marschall der dienerschaft * das war ein herr Malrecki Mit dem Hinweis auf eine Anekdote, die in der Familie Zamoyski erzählt wird, kommt der Erzähler wieder auf die Weiterentwicklung der Anekdote zurück, wobei zunächst nicht klar ist, ob es sich um eine Fortführung oder um einen Neustart handelt. Zumindest schließen seine weiteren Ausführungen nicht bruchlos an die bereits begonnene Geschichte an. Die erneute Hinwendung zur Ebene der anekdotischen Darstellung und damit die Abwendung von dem historisch-faktischen Gehalt wird äußerungsstrukturell durch jedoch markiert. 4.4 Implikationen und Gültigkeit der einleitenden Rahmung Der markierte Neustart der Anekdote wird hauptsächlich durch das Mittel der Parallelisierung bewerkstelligt. Der Erzähler greift dabei einen Großteil der Ankündigungselemente seiner Rahmung nochmals auf und startet die inhaltliche Weitergestaltung der Anekdote zudem mit einem wörtlichen Zitat des ersten inhaltlichen Zuges unmittelbar nach der Rahmung. Konkret handelt es sich um die Wiederholung der Züge: Rahmung: Neustart: eine anekdote die in der Zamoyski in der Zamoyski familie familie erzählt wird wird jedoch eine anekdote erzählt weil sie a: authentisch ist * äh * und zwar die stimmen mu"ß denke ich mir * äh und zwar Das einzige Element, das nicht aufgegriffen wird, ist der Hinweis darauf, für wen die Anekdote charakteristisch ist. Man kann sich jetzt also fragen: Wird durch den Neustart die alte Rahmung mit ihrem Hinweis auf das typisch Deutsche außer Kraft gesetzt oder aber weiter aufrechterhalten? Mit der Beantwortung dieser Frage ist eine Festlegung der Qualität der Anekdote verbunden, national Typisches darzustellen. Im Falle der weiteren Gültigkeit steht die Anekdote insgesamt für die Darstellung einer typisch deutschen Qualität anhand des Verhaltens eines hohen Nazifünktionärs. Sieht man den Neustart jedoch auch als Neurahmung, dann wird dieser Aspekt relativiert, und das typisch Deutsche als mitbestimmendes Merkmal der Anekdote tritt zurück. Die durch die Eingangsrahmung implizierte Identifikation (Nazi und Studenten haben als Deutsche Teil an der noch darzustellenden nationalen „Ich werde Sie sehen lassen " 43 Eigenschaft) würde dadurch erheblich zurückgenommen. 20 Dies hätte Implikationen für die aktuelle Beziehung des polnischen Exkursionsleiters zu seinen deutschen Adressaten. 4.5 Charakterisierung der zentralen Person der Anekdote Der Erzähler fährt mit der Einführung und detaillierten Charakterisierung einer neuen Person fort, wobei zunächst unklar ist, in welchem Verhältnis diese Person zum Gauleiter steht. Dies wird erst nach der sehr ausführlichen Charakterisierung nachgeholt. Die weitere Entwicklung zeigt, daß der Exkursionsleiter erstaunlich viel Mühe und Formulierungsaufwand betreibt, um diese neue Person zu charakterisieren. GR: er war äh ein * adeliger * ein edelmann aus der oder #mit dem selben wappen# das heißt er gehörte * dem selben K #IN EINEM FLUSS # Wappengeschlecht wie die Zamoyskis * äh * er gehörte an dem wappengeschlecht die ritter * und deswegen * obwohl er ein klein*adeliger war * dachte er * er sei ein mitglieder der familie * und er wa"r doch einigermaßen mitglied der familie * weil er seit jahrzehnten hier in diesem hause gearbeitet hat ** e"r hat bis äh bis nach äh dem zweiten Weltkrieg gelebt * und schon äh ** oder nein äh und und in den in den vierziger jahren * ähm * in diesem haus eine gewisse funktion gehabt * ich weiß nicht welche * als das ähm damals ein lagerhaus hier war * Die erste Charakterisierung der neuen Person ist die seiner adeligen Herkunft. Diese Tatsache wird nicht einfach als Information gegeben, sondern weiter ausgearbeitet: Er war ein Edelmann, der wie die Zamoyskis dem Wappengeschlecht „Ritter“ angehörte. Der Bedienstete wird also durch seine Zugehörigkeit zum gleichen Wappengeschlecht zunächst mit seiner Herrschaft vergleichbar. Diese Vergleichbarkeit wird jedoch mit den nachfolgenden Charakterisierungen in einem ersten Schritt relativiert. Zunächst wird er als Kleinadeliger typisiert und dann in seiner Beziehung zu seinem herrschaftlichen Arbeitgeber dargestellt: deswegen * obwohl er ein klein*adeliger war * dachte er * er sei ein mitglied derfamilie. Der nächste Schritt führt zu einer erneuten Relativierung der Beziehung zwischen dem Kleinadeligen und seiner großadeligen Herrschaft. Die Formulierung und er war doch einigermaßen ein mitglied der familie macht nämlich eher die Randständigkeit des Marschalls der Dienerschaft klar und relativiert nunmehr deutlich die Bedeutung des gleichen Wappengeschlechts. 20 Die Frage nach der Tragfähigkeit und interpretationsleitenden Qualität solcher globaler Rahmungen setzt sich über die Grenze dieser einzelnen Anekdote fort, denn der Exkursionsleiter erzählt im unmittelbaren Anschluß eine weitere Anekdote über den Greiser. Hier kann man in Weiterführung danach fragen, ob auch noch diese zweite Anekdote im Lichte der ersten Rahmung zu verstehen ist. Immerhin handelt es sich um die gleiche Person und einen vergleichbaren thematischen Aspekt, der erzählt wird. 44 Reinhold Schmitt Die statusmäßige Herabstufung des Majordomus geht im nächsten Schritt weiter. Die folgende Begründung der inzwischen eher randständigen Bedeutung weil er seit Jahrzehnten hier in diesem hause gearbeitet hat verleiht ihm nun eher den Status eines altgedienten Butlers, der inzwischen (als Faktotum) zum Inventar des Schlosses gehört. Im weiteren Verlauf der Charakterisierung wird der Majordomus in der Zeit der deutschen Besatzung in den vierziger Jahren dann prosaisch zum Lagerverwalter mit einer gewissen Funktion, die jedoch nicht genauer bekannt ist. Der Majordomus erhält erst am Ende der sukkzessiven, statusrelativierenden Charakterisierung seinen eigentlichen Status. Er wird nicht gleich als subalterner Lagerverwalter - und damit vergleichbar typisierend wie der Gauleiter eingefuhrt. Es scheint für die Anekdote einerseits wichtig zu sein, den Majordomus nicht als adelige Person aus dem gleichen Wappengeschlecht wie dessen hochadelige Herrschaften stehen zu lassen, sondern schon den randständigen Status der Person als Lagerverwalter mit diffuser Funktion deutlich zu machen. Andererseits wird jedoch eine sofortige Typisierung verhindert, und die Person wird durch die schrittweise und sehr indirekte Charakterisierung geschützt. In Anlehnung an ein konversationsanalytisches Konzept der Äußerungskonstruktion kann man die Personenbeschreibung insgesamt als expandierte delay-Version beschreiben. 21 4.6 Die Vorbereitung der Pointe Der weitere Fortgang der Anekdote bringt beide Personen schließlich zusammen: Der alte, kleinadelige polnische Lagerverwalter trifft auf den mächtigen Gauleiter. Die Darstellung des konkreten Zusammenhangs, in dem dies geschieht, schließt in einem weiten Rückbezug wieder den Bogen zu der eingangs eröffheten Möbelsuche. GR: und e"r führte den * Greiser den den den gauleiter hier durch diese * räume ** und der Greiser ist hierher gekommen wie gesagt um die mö"bel sich zu äh auszusuchen * und er hat e"twas wir wissen nicht was e"twas hat er im hause gezeigt * und sagte da"s da"s da"s da"s * bitte alles ** worauf * worauf der Malrecki sagte nei"n mein herr * der graf hat es verbo"ten * Der Gauleiter geht also mit Herrn Malrecki durch das Schloß und macht sich an die Möblierung seiner Residenz: e “twas hat er im hause gezeigt * und sagte da “s da “s da “s da “s * bitte alles. Der polnische Bedienstete begegnet die- Damnter ist zu verstehen, daß für die Beteiligten heikle, unangenehme und kritische Sachverhalte in der Regel nicht glatt und zielstrebig formuliert werden, sondern verzögert: Pausen, Modalisierungen, Wortsuche und Reformulierungen etc. schieben die Äußerungsvollendung hinaus. Zum konversationsanalytischen Konzept der delay-Organisation als Ausdruck einer grundsätzlichen Präferenzorientierung siehe z.B. Pomerantz (1984) und zur Diskussion von dispreference markers Schegloff/ Jefferson/ Sacks (1977); allgemein zum Präferenzkonzept ist Bilmes (1988) eine gute Orientierung. „ Ich werde Sie sehen lassen " 45 sein Anliegen des Gauleiters mit einem freundlichen, aber nicht weniger entschiedenen nei “n mein herr * der graf hat es verbo “ten. Der polnische Bedienstete, ein alter Kleinadeliger und subalterner Lagerverwalter, verweigert dem deutschen Herrn über Leben und Tod den Gehorsam. Er bezieht sich dabei zwar explizit auf seine Herrschaft, ist also letztlich nur Sprachrohr des Grafen, aber dadurch nicht weniger gefährdet. Nicht nur in Polen, sondern auch in anderen Ländern sind in Kriegs- und Besatzungszeiten Menschen aus belangloseren Gründen gestorben. 4.7 Die Pointe Daß dem polnischen Kleinadeligen dieses Schicksal erspart blieb, zeigt die Pointe der Anekdote. GR: und der Greiser darauf wenn es so ist dann entschuldige * und ist weitergegangen * und hat diese diese * möbel hinterla"ssen * Der Gauleiter fugt sich ohne Diskussion dem vom Diener übermittelten Verbot des Grafen und läßt die Möbel Möbel sein. Er entschuldigt sich sogar bei dem Diener für sein unangebrachtes Anliegen und kehrt in seine immer noch unmöblierte Residenz zurück. Und jetzt wird auch klar, warum sich der Erzähler so viel Mühe gegeben hat, den polnischen Gegenspieler des deutschen Nazifunktionärs so zu charakterisieren, wie er es getan hat. Die Autoritätsgläubigkeit des Deutschen (denn die wird hier in der Anekdote dargestellt) erfährt gerade durch den kleinadeligen, subalternen Lagerverwalter ihre eigentliche Zuspitzung. Diese Person fühlt sich und ist trotz ihrer Randständigkeit durch den Namen des Grafen geschützt. Dieser steht als eine auch für den Nazi gültige Autorität hinter dem Majordomus. Der einzige Aspekt, in dem sich die objektive Überlegenheit des Nazifünktionärs noch zeigt, ist die Anrede als Manifestation der sozialen Beziehung. Der Gauleiter wird mit mein herr angesprochen, er seinerseits duzt sein Gegenüber (entschuldige). Das ändert jedoch nichts daran, daß er als Verlierer das Schloß verläßt. 5. Die Anekdote als Demonstration des typisch Polnischen Wenn wir uns an die Eingangsrahmung erinnern, dann sollte die Anekdote nicht ausschließlich oder in erster Linie für die Deutschen typisch sein, sondern vielmehr au “chfür die deutschen. In erster Linie jedoch ist die Anekdote typisch für die Polen. Für die Darstellung des typisch polnischen Charakters oder, wenn man so will, eines Aspektes polnischer Identität, dient der deutsche Gauleiter als maximale Kontrastfigur. Bereits der sprachliche Aufwand, mit dem Herr Malrecki eingeführt und charakterisiert wird, macht deutlich, daß der polnische Kleinadelige die eigentlich wichtige Person der Anekdote zu sein scheint. Er verkörpert den Widerstand gegen die Besatzer und eine fraglose pragmatische Überlegenheit. 46 Reinhold Schmitt Es gelingt ihm, durch den einfachen Verweis auf das gräfliche Veto zumindest situativ eine totale Umkehrung der objektiven Machtverhältnisse zu erreichen. Die kulturelle, d.h. nicht von machtpolitischen Zufällen abhängige Autorität des Grafen ist die Voraussetzung und Legitimation des situativen Triumphes des Lagerverwalters über den Nazifunktionär. Dieser Autorität muß sich auch der Nazi beugen. Nur dadurch, daß der Nazi die gleiche Autorität akzeptiert und sich nicht auf seine eigene Legitimation beruft, bzw. seine eigene deutsche der polnischen unterordnet, kann der Majordomus obsiegen. Hier zeigt sich bei dem Nazi und dem polnischen Kleinadligen die gleiche fraglose Orientierung an der Autorität des Grafen. Diese wird als quasi zeitlose Größe wirksam, die sich als solche auch gegenüber dem Nazifunktionär Geltung verschafft. Die Anekdote erhält ihre spezifische Bedeutung im Rahmen der selbstdefmierten Aufgabe des Exkursionsleiters, seinen deutschen Adressaten das „ewig Polnische, das typisch Polnische“, d.h. die polnische Identität zu zeigen. Im Kontext dieser Aufgabe dient die Anekdote der Stilisierung und Personifizierung dieser Identität. Was sich hier in der Anekdote u.a. manifestiert, ist der als nationales Stereotyp bekannte Topos vom „rebellischen Polen“. 22 Wichtiger als die Entdeckung dieses nationalen Stereotyps ist jedoch die Art und Weise seiner Gestaltung, die Verfahren seiner narrativen Konstruktion. Daß der Sprecher über dieses nationale Stereotyp auch in expliziter lexikalisierter Form verfugt, zeigt der Ausschnitt eines Interviews. In dem Interview, das wir mit dem Exkursionsleiter am folgenden Tag geführt haben, wird der Topos des „rebellischen Polen“ explizit formuliert. Auf unsere Bitte hin, doch einmal genauer den polnischen Nationalcharakter, das, was er selbst als die „polnische Seele“ bezeichnet, zu beschreiben, sagte er: GR: wahrscheinlich eine gewisse Sehnsucht ** eine nostalgie * wehmut ein streben nach der freiheit in vielen sinnen ** well in english I would say the poles are rebels ** das heißt wir rebellieren gegen alles im gründe genommen ** die polen können sich sehr leicht zusammenfassen und gemeinsam auftreten * wenn sie eine fremde bedrohung sehen Wenn man jetzt noch einen weiteren Schritt in der eingeschlagenen Richtung macht, dann kann man die in der Anekdote gestaltete Situation auch als historisch spezifische Abwandlung und Realisierung des für den polnischen Adel so typischen „liberum veto“ begreifen, d.h. des verbrieften Einspruchsrechts des einzelnen Adligen, das ganze Reichstage zum Scheitern bringen konnte. 23 22 Das Rebellentum des Majordomus gegenüber dem Nazifunktionär ist dabei das Resultat seiner Autoritätshörigkeit dem Grafen (dem Adel) gegenüber. 23 Nachdem bereits im 14. Jahrhundert der polnische Adel durch die Privilegien von Buda (1355) und Kaschau (1373/ 74) stark an Einfluß gewonnen hatte, stärkte die Entscheidung, nach dem Aussterben der Jagiellonen im Mannesstamm (1572) eine Wahlmonarchie einzurichten und den gesamten Adel zur Wahl zuzulassen, dessen Position erheblich. Der königliche Einfluß wurde geschwächt, der der Magnaten verfestigt, was zu der „Ich werde Sie sehen lassen " 47 Oder anders formuliert: Wer mit seinem verbrieften Einspruchsrecht ganze Reichstage zu Fall bringen konnte, der hat keinerlei Schwierigkeiten, einem Nazi auf Möbelsuche den Abtransport gräflicher Inneneinrichtung zu untersagen. Daß der Gauleiter diese symbolische Autorität über seine eigene, objektiv vorhandene machtpolitische stellt und sich dieser beugt, ist der zentrale Kern der Anekdote. Hierzu kann es jedoch nur kommen, weil der Gauleiter eine prinzipielle Orientierung zur herrschenden Klasse zumindest im kulturellen Sinne besitzt. Das kommt zum einen in der Bezeichnung „Residenz“ für das von ihm gebaute Haus zum Ausdruck. Bereits hierdurch wird der Nazi mit Begriffen aus dem Rahmen großadeliger Lebenswelt charakterisiert. Zum anderen requiriert er seine Möbel nicht bei den großbürgerlichen Städtern, sondern sucht sie gezielt beim Hochadel aus. In etwas metaphorischer Formulierung kann man auch sagen: So wie der Gauleiter in der Anekdote dargestellt wird, wird er zu einer Figur, die versucht, sich mit den Möbeln selbst ein Stück Kulturteilhabe für seine Residenz zu sichern. Dieser Aspekt der Bedeutung und impliziten Überlegenheit von Kultur über die reine Machtstruktur des Staates wird auch in anderen Materialien wie z.B. in dem folgenden Vergleich aus einem Interview deutlich: GR: ich glaube sie müssen bei Bismarck * äh nachschauen * äh in seinen * in seinen * parlamentarischen reden ** er war glaube ich die person die zum ersten mal gesagt hat * daß die deutschen * staatsstrebend sind die polen jedoch ein kulturvolk * ich glaube die kultur ist das * äh äh was uns * verbindet Kultur und damit auch der Adel als der Gesellschaftsstand, der in Polen der zentrale Kulturträger war, bekommt in diesem Zusammenhang die Bedeutung eines unabhängig von der jeweiligen Staatsform authentisch bleibenden nationalen Kerns. Die polnische Kultur hat nicht nur mehrere staatliche Teilungen überdauert, sondern über die Teilung hinweg die nationale Identität bewahrt. Sie ist unweigerlich mit dem Adel und folglich auch mit der Familie Zamoyski verbunden. 6. Die Anekdote und ihr Adressatenzuschnitt Wenn man sich die unterschiedlichen Aspekte, die in der zurückliegenden Analyse deutlich geworden sind, im Überblick noch einmal vergegenwärtigt, dann wird folgendes deutlich: Bei der Gestaltung der Anekdote kann man eine Reihe von Phänomenen beobachten, die einen gemeinsamen Bezugspunkt ha- Ausprägung einer adelsrepublikanischen Staatsform führte. Deutlichstes Zeichen dieser hervorragenden Stellung des polnischen Adels (der Schlachta) war das seit 1652 respektierte Recht jedes Adeligen, mit seinem Einspruch (libemm veto) den Reichstag beschlußunfähig zu machen. In der Zeit von 1652 bis 1704 wurden allein 48 Reichstage durch „libemm veto“ gesprengt, insgesamt kamen nur 7 zum Abschluß. 48 Reinhold Schmitt ben. Sie sind Ausdruck eines spezifischen recipient designs 24 , d.h. sie sind dem Bemühen um einen adressatenspezifischen Zuschnitt der Anekdote geschuldet. Und dieser Adressatenzuschnitt ist ein nationaler, d.h. die Anekdote wird deswegen so erzählt, wie sie erzählt wird, weil sie von einem Polen für deutsche Studenten erzählt wird. Der Adressatenzuschnitt zeigt insgesamt, daß für den Sprecher das Erzählen der Anekdote in dieser spezifischen interkulturellen Konstellation eine heikle Angelegenheit zu sein scheint. Die Frage danach, was ein heikles Thema ist, kann man aus unterschiedlicher Perspektive und mit sehr unterschiedlichen Vorannahmen stellen. Man kann zum einen von einer Art öffentlichem historisch-moralischen Diskurs ausgehen, in dem bestimmte thematische Aspekte aus einer bestimmten Sicht heraus die Qualität besitzen, heikel zu sein. In einem solchen Sinne kann man dann sagen, daß die gemeinsame Vergangenheit ein heikles Thema zwischen Deutschen und Polen ist. Dies ist jedoch eine Einschätzung, die einer historisch sensitiven und normativen Erwartung entspringt, die mit der tatsächlichen interaktiven Realität bestimmter Kontaktsituationen nichts zu tun haben muß. Die Wirksamkeit einer solchen normativen Erwartung für die Bedeutung und Behandlung „heikler Themen“ zeigte sich bei den polnischen Organisatoren und Begleitern des Sommerkurses in zweierlei Weise: Zum einen in einer latenten Enttäuschung und zum anderen in einer latenten Erleichterung darüber, daß die gemeinsame Vergangenheit in den Gesprächen und Diskussionen der Deutschen und Polen keine erkennbare Rolle gespielt hat. Erwartet wurde z.B., daß diese besondere brisante Qualität der gemeinsamen Begegnung in historischer Hinsicht in den Gesprächen oder Diskussionen in irgendeiner Form explizit formuliert wird. Das war nicht der Fall. Man kann jedoch auch von einer interaktionistischen Position ausgehen. Dann gibt es keine a priori heiklen Themen mehr, sondern die Qualität bestimmter thematischer Aspekte, heikel zu sein, wird als Ergebnis eines interaktiven Prozesses angesehen. Erst durch den Akt der Herstellung im Gesprächsprozeß wird die Qualität „heikel“ zur faktischen interaktiven Realität. Diese Herstellung hinterläßt an der sprachlichen Oberfläche Spuren, die darauf hinweisen, daß die Beteiligten Aspekte der aktuellen Kommunikation tatsächlich als heikel behandeln. Die Beteiligten zeigen sich an oder um es in der Terminologie 24 Unter recipient design ist der adressatenbezogene Zuschnitt einer Äußerung zu verstehen. Sprecher haben bestimmte Annahmen über ihre Adressaten und drücken diese Annahmen indirekt durch die Art und Weise, wie sie ihre Äußerungen formulieren, auch aus. Sacks/ Schegloff/ Jefferson (1974, S. 727) beschreiben dieses Konzept der partnerorientierten Formulierungsweise wie folgt: „By ‘recipient design’ we refer to a multitude of respects in which the talk by a party in conversation is constructed or designed in ways which display an orientation and sensitivity to the particular other(s) who are the co-participants. In our work, we have found recipient design to operate with regard to word selection, topic selection, admissibility and ordering of sequences, options and obligations for starting and terminating conversations ... Recipient design is a major basis for that variability of actual conversation glossed by the notion ‘contextsensitive’“; vgl. auch Sacks/ Schegloff (1979). „Ich werde Sie sehen lassen “ 49 der Ethnomethodologie zu formulieren machen ‘accountable’, daß etwas heikel ist. 25 Diese Position wird in der ethnomethodologischen Konversationsanalyse vertreten, z.B. von Heath (1989) und Bergmann (1992). 26 „By describing something with caution and discretion, this ‘something’ is turned into a matter which is in need of being formulated cautiously and discretely. Viewed sociologically, there is not first an embarrassing, delicate, morally dubious event ... instead the delicate ... character of an event is constituted by the very act of talking about it cautiously and discretely.“ Bergmann (1992, S. 154). Die interaktionistische Sichtweise auf „heikle Situationen“ verlagert den Schwerpunkt von der Konzentration auf die Thematisierung vergangener Ereignisse oder Zusammenhänge, die als Ergebnis eines meist langwierigen interpretativen und sozialisatorischen Prozesses im nationalen Bewußtsein als heikel „aufgehoben“ sind, auf die aktuelle Situation der Kommunikation. Im Vordergrund steht nun die Frage, ob die aktuelle Beziehung der Gesprächsteilnehmer eine heikle Dimension besitzt. Die Interaktionsqualität „heikel“ wird also letztlich zu einem Aspekt der Beziehungskonstitution. Dies hat es ermöglicht, in der Spezifik des recipient designs die Verfahren und Techniken zu identifizieren, die der polnische Exkursionsleiter benutzt, um zu verdeutlichen, daß die Situation für ihn heikel ist. Diese Aspekte sind im einzelnen: Auswahl der Gattung Bereits durch die Auswahl und Charakterisierung der Geschichte als Anekdote nutzt er die gattungsspezifischen Möglichkeiten dieser Form, um die für den Sprecher in der Situation relevanten Punkte nicht explizit formulieren zu müssen, sondern in szenisch-dialogisch komprimierter Form verpacken zu können. 25 Die account-Vorstellung der ethnomethodologischen Konversationsanalyse, die von der prinzipiellen Gleichzeitigkeit von Handlungsvollzug und Handlungsbeschreibung ausgeht, findet sich in der inzwischen klassischen Formulierung bei Garfinkei (1967, S. 1). Sie lautet: „The activities whereby members produce and manage settings of organized everyday affairs are identical with members’ procedures for making those settings account-able.“ Natürlich gibt es auch Fälle, in denen Handlungsvollzug und Handlungsbeschreibung sequentiell gestreckt werden. In solchen Fällen wird die Handlungsbeschreibung mit einem segmental eigenständigen Äußerungsteil realisiert. In ethnomethodologischer Begrilflichkeit spricht man dann von formulations oder descriptions. Formulations oder descriptions werden systematisch zur Verständigungssicherung eingesetzt und tauchen gewöhnlich dann auf, wenn etwas problematisch geworden ist oder als potentiell problematisch eingeschätzt wird. Dann erfolgen solche Aktivitäten praktisch als Stützungshandlungen für die impliziten accounts. Garfinkel/ Sacks (1970, S. 350): „A member may treat some part of the conversation as an occasion to describe that conversation, to explain it, or to characterize it, or furnish the gist of it, or take note of its accordance with rules, or remark on its departure from rules. That is to say, a member may use some part of the conversation as an occasion to formulate the conversation“: vgl. auch HeritageAVatson (1979). 26 Verfahren der Markierung und Bearbeitung heikler Punkte in Gesprächen sind aus konversationsanalytischer Sicht bislang im psychiatrischen Kontext oder der AIDS-Beratung durchgeführt worden; vgl. z.B. Bergmann (1992), Silverman (1994) und Peräkylä (1993). 50 Reinhold Schmitt Die Zuhörer müssen die relevanten Punkte selbst interpretativ erfassen und dabei die szenisch-dialogische Darstellung in eine kategoriale Qualität überfuhren. Vermeidung von Direktheit Bei der Realisierung der Anekdote setzt der Erzähler dann unterschiedliche sprachliche Gestaltungsmittel ein. Vorherrschendes Merkmal ist die Vermeidung von Direktheit auf unterschiedlichen Ebenen: Vermeidung präferierter Äußerungsformate Dies zeigt sich in der Art, wie er seine Äußerungen strukturiert. Er zögert die direkte Äußerungsvollendung durch Expansionen, Verzögerungen, Einschübe und durch andere Formen von Formulierungsarbeit hinaus, wenn es aus seiner Perspektive gesehen um Aspekte geht, die für die deutschen Adressaten latent bedrohlich erscheinen. Vermeidung offener Bewertungen Es zeigt sich in der Vermeidung offener Bewertungen, die aus seiner Perspektive gesehen für die deutschen Adressaten negativ sein könnten. Vermeidung offener Korrekturen Es zeigt sich in der Vermeidung direkter Korrekturen bei Sachverhalten, die aus seiner Perspektive gesehen — dazu führen, daß die Korrekturversion für die Deutschen negativer sein könnte als die korrigierte Version. Vermeidung positiver Selbstcharakterisierung Es zeigt sich bei der Vermeidung expliziter deutsch-polnischer Kontrastierungen bzw. in der Vermeidung der Formulierung expliziter positiver Selbstbilder und der entsprechenden negativen Fremdbilder. Vermeidung der belastenden Faktizität des realen geschichtlichen Hintergrundes Es zeigt sich, daß Ausflüge in die Welt der historischen Faktizität primär in bezug auf unproblematische Aspekte unternommen werden, wohingegen Hintergründe, die heikel und für die Beziehung zwischen Deutschen und Polen eher „bedrohlich“ sind, vermieden werden. All diese Aspekte sind Ausdruck einer Orientierung des Sprechers, das Gesicht seiner Adressaten zu schützen: Er formuliert sehr zurückhaltend und diskret und ist sehr darauf bedacht, seine Adressaten nicht zu ‘verletzen’. Gleichzeitig aber schafft der Exkursionsleiter mit dem, was er in seiner Anekdote erzählt, selbst die Voraussetzung, seine Adressaten vor der Anekdote schützen zu müssen. Zur Rekapitulation: Der Erzähler kündigt in seiner Rahmung jungen deutschen Zuhörern gegenüber eine Anekdote über einen Nazi als charakteristisch für die Deutschen an. Er stellt also ein gemeinsames Merkmal zwischen der historischen Anekdotenperson und seinen aktuellen Adressaten her: die deutsche Nationalität. Das Verhalten von Greiser wird nicht als charakte- „Ich werde Sie sehen lassen 51 ristisch für die Nazis angekündigt, sondern als charakteristisch für die Deutschen insgesamt. Wenn man diesen Sachverhalt unter Rückgriff auf die Vorstellungen von Sacks (1972) zur sozialen Kategorisierung reformuliert, dann zeigt sich folgendes: Der membership categorization device, d.h. die Zuordnung des Gauleiters (der Person Greiser) zu einer übergeordneten sozialen Kategorie, ist nicht das Naziregime, sondern die nationale Kategorie (die Deutschen). Es wird also eine Kategorie, die eigentlich einem sehr spezifischen Kategorienset angehört, das historisch geprägt ist (Gauleiter = Naziregime) einem anderen, wesentlich allgemeineren Kategorienset zugeordnet (= Nationalität). Durch diesen ‘Zuordnungsfehler’ gehören auch die Adressaten der Anekdote zur übergeordneten Kategorie (= Deutsche). Die Ebene der Narration und die Ebene der aktuellen Interaktionskonstitution werden somit ‘kategorial kurzgeschlossen’. Der Nazi und die jungen Studenten werden durch die Rahmung des Erzählers aufgrund ihrer nationalen Übereinstimmung als zusammengehörig behandelt. Auch wenn man sicherlich Zweifel an der Absichtlichkeit dieser kategorialen Verquickung anmelden und den Erzähler vom Vorwurf freisprechen muß, eine solche Parallelisierung tatsächlich beabsichtigt zu haben, bleibt auf der Ebene der latenten Sinnstruktur 27 doch folgender Eindruck: Der Anekdote liegt letztlich ein latentes Konzept eines deutschen Nationalcharakters zugrunde, der nicht nur für alte Nazis, sondern auch noch für junge deutsche Studenten gilt, die sich für Polen interessieren. Das für Deutsche Charakteristische, nämlich autoritätshörig zu sein, erscheint dabei als zeitlose, sich historisch nicht verändernde Konstante. Ist dies der Fall, so ist das ein schöner Beleg für die Resistenz und implizite Relevanz historisch gewachsener nationaler Stereotypen: Auch bei einem Polen, der als Germanist froh ist, wieder einmal Deutsch sprechen und sich unter Deutschen bewegen zu können. Zum einen entwirft er mit seiner Anekdote ein positives Selbstbild von Polen, wozu er als Kontrastfolie ein negatives Fremdbild der Deutschen benutzt. Zum anderen bearbeitet er die Tatsache, daß die Adressaten dieser Positiv-Ne- 27 Oevermann (1986, S. 22): „Unabhängig davon, um welche objekttheoretischen Fragestellungen es in einer konkreten soziologischen Untersuchung, in der mit den Verfahren der objektiven Hermeneutik gearbeitet wird, jeweils geht, bildet für die objektive Hermeneutik die objektive Bedeutungsstruktur einzelner Handlungen oder Äußerungen oder die latente Sinnstruktur einer Sequenz von Äußerungen oder Handlungen, so wie sie in den primären Daten dieser Methodologie: den Protokollen von Äußerungen und Handlungen vorliegen, immer den primären Gegenstand der methodischen Operation der Sinnauslegung.“ Diese Realität objektiver Bedeutung bzw. latenter Sinnstruktur wird als Realität sui generis angesehen. „Die objeküven Bedeutungsstrukturen ... sind Realität (und haben Bestand) analytisch (wenn auch nicht empirisch) unabhängig von der je konkreten intentionalen Repräsentanz der Interaktionsbedeutungen auf seiten der an der Interaktion beteiligten Subjekte“; Oevermann et al. (1979, S. 379). 52 Reinhold Schmitt gativ-Gegenüberstellung der nationalen Stereotypen ‘der rebellische Pole’ und der ‘autoritätshörige Deutsche’ deutsche Studenten sind. Die Analyse zeigt den Stellenwert der Anekdote in dem praktizierten Konzept interaktiver Kulturvermittlung. Die Anekdote scheint aufgrund ihrer gattungsspezifischen Strukturelemente besonders geeignet zu sein, das didaktische Vermittlungskonzept „Ich werde Sie sehen lassen“ zu realisieren. Sie ist im gewissen Sinne eine institutionalisierte interaktive Lösung 29 des Vermittlungsproblems. Die Analyse verdeutlicht jedoch auch die Fallstricke eines solchen Vermittlungsversuchs. Um bei der Metapher des Sehens zu bleiben, kann man zum einen sagen, daß Objekte dann besonders deutlich wahrnehmbar werden, wenn sie kontrastiv markiert sind. Hinsichtlich des kontrastiven Arrangements sozialer bzw. nationaler Eigenschaften unter den Bedingungen einer interkulturellen Situation spielt für das Gelingen natürlich auch der Bezug der Adressaten zu den kontrastierten Eigenschaften eine Rolle. Bei der oben analysierten Anekdote kommt dabei als kritisches Moment hinzu, daß die Adressaten der negativen Kontrasteigenschaft zugeordnet werden. Zum anderen bringt ein Konzept selbstexplikativer Kulturalität die Gefahr mit sich, daß die Adressaten überhaupt nicht wissen, auf was sie besonders achten müssen. Was von dem, was es zu sehen gibt, ist eine für das Verständnis des typisch Polnischen relevante Information? 7, Die Analyse kultursignifikanter (symbolischer) Bedeutung Hier stellt sich die Frage nach der eigen- und fremdkulturellen Relevanz der dargestellten Sachverhalte. Was von dem, was kulturspezifisch ist, wird als gemeinsames Wissen behandelt, und welche kulturspezifischen Sachverhalte werden als solche explizit thematisiert? Kulturvermittlung ist in diesem Sinne ganz zentral Wissenstransfer, d.h. ein für die praktischen Belange der Situation hinreichender Ausgleich bestehender Wissensunterschiede ist unbedingt notwendig. Im Falle der Anekdote spielen v.a. die Namen Zamoyski und Greiser eine Rolle, die für einen weitreichenden Hintergrund an kulturspezifischer, historisch-politischer Bedeutung stehen. Es zeigt sich, daß der fraglose und nichtkontextualisierte Umgang des polnischen Exkursionsleiters mit eigenkulturellen Relevanzen neben der ambivalenten Rahmung und dem kategorialen 28 Bestandteil dieses positiven Polenbildes ist aber die gleiche Autoritätshörigkeit des Majordomus gegenüber dem Adel (vgl. auch den Hinweis in Fußnote 22). Hier ergibt sich also eine Parallele zwischen Polen und Deutschen. Nur deswegen ‘verstehen’ sich beide Anekdotenpersonen und akzeptieren sich in ihren jeweiligen Handlungen, die der gleichen Autoritätshörigkeit entspringt. 29 Ich schließe mich hier an die Funktionsbestimmung kommunikativer Gattungen bei Luckmann (1986) an. „Ich werde Sie sehen lassen 53 Kurzschluß von Nazi und jungen Studenten als Deutsche zu einem weiteren Stolperstein auf dem Weg der Kulturvermittlung wird. Die einzige Stelle, an der der Exkursionsleiter explizit potentiell vorhandene Wissensunterschiede thematisiert, ist, als er den Gauleiter einfuhrt und zwar * hat der Greiser das der Greiser ich weiß nicht ob das für sie ein begriff ist. Kann der Exkursionsleiter aufgrund der Antwort von Judith, die ohne Spuren von Unsicherheit oder Zweifel und ohne Zögern Greiser als Gauleiter identifiziert, annehmen, daß die deutschen Studenten einen Begriff von diesem Gauleiter haben? Will man tatsächlich einen Begriff von Greiser haben, muß man sich diese Person schon etwas genauer ansehen. Dies wird jedoch vom polnischen Exkursionsleiter nicht getan. Ungeachtet der möglichen Gründe hierfür zeichnet sich eine interaktive Folge dieser ‘Unterlassung’ deutlich ab. Die hinter der Anekdote stehende Bedeutung der historischen Person Greiser wird nicht thematisiert: Das ist denn doch zu heikel! 30 Wer also war „der Greiser“, der dem polnischen Exkursionsleiter schon, den meisten deutschen Studenten abgesehen von Judith 31 jedoch kein Begriff ist? Artur Greiser war von 1939-1945 Gauleiter und Reichsstatthalter für den „Warthegau“ mit Standort in Posen. Er war einer der starken Männer, die auf der Grundlage der nationalsozialistischen Rassentheorie durch die systematische Vertreibung und Ermordung der ansässigen Bevölkerung für den ‘Lebensraum des deutschen Volkes im Osten die notwendigen Bedingungen 30 Der polnische Exkursionsleiter leitet zu Beginn der Führung in Komik mehrfach eigene Ausführungen zu Aspekten, von denen er annimmt, daß die deutschen Kursteilnehmer darüber keine Kenntnis haben, mit der Wendung „von etwas einen Begriff haben“ ein. Dabei geht es z.B. um die Herkunft und die ursprüngliche Bedeutung bestimmter Wörter. Beispiel 1: „Aufjeden Fall, die Stadt heißt Komik und ist eine ganz typische großpolnische Stadt. Großpolen ist das für Sie ein Begriff jetzt? Wissen Sie warum Großpolen Großpolen heißt? “ Es folgt eine detaillierte Erläuterung. Beispiel 2: “Woher der Name Polen? Ist das für Sie ein Begriff? “ Es folgt eine detaillierte Erläuterung. In allen Fällen wird mit der Wendung „Haben Sie einen Begriff von XT' vom Sprecher eine thematische Relevanz hinsichtlich des Aspektes X etabliert. Darüber hinaus wird deutlich, daß der Sprecher annimmt, daß seine Adressaten kein für die Verständigung in der aktuellen Situation hinreichendes - Wissen über den Aspekt X haben. Der Sprecher muß vielmehr selbst die notwendigen Ausführungen machen. Mit der oben zitierten Wendung wird also letztlich ein Verfahren der Wissensüberprüfimg und der Wissensübertragung angekündigt. Dieses Verfahren wird im Falle von Greiser extrem abgekürzt. Hier verzichtet der polnische Exkursionsleiter auf vergleichbar detaillierte Erläuterungen, die er in den beiden vorangegangenen Fällen bereitwillig gegeben hatte. Daß dem so ist, scheint mir kein Zufall zu sein: Die benutzte Wendung markiert die Notwendigkeit der Realisierung dieses Verfahrens, der Verzicht auf seine Realisierung markiert die heiklen thematischhistorischen Implikationen des Verfahrens und die interkulturelle Relevanz der augenblicklichen Situation. 31 Daß Judith Greiser kennt, liegt daran, daß sie sich im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Qualifikation mit der Geschichte Poznans gerade während der Besatzungszeit beschäftigt. Sie verfügt damit jedoch über ein Wissen, das bei den übrigen Teilnehmern nicht vorhanden ist. In diesem Sinne ist sie mit ihrer Antwort auch nicht Sprecherin der Groppe. Das wiederum weiß der polnische Exkursionsleiter nicht. 54 Reinhold Schmitt schufen’. 32 Greiser war einer der eifrigen nationalsozialistischen Hardliner, Aufsteiger und Karrieristen, 33 die sich wechselseitig in der Germanisierung der Ostgebiete und der Umsetzung von Himmlers Dogma der ‘Umvolkung’ zu überflügeln suchten. In seinem Gau (Wartheland) wurden allein bis zum Frühjahr 1941 etwa 760.000 Menschen (380.000 Juden und 380.000 Polen) deportiert. Das entspricht etwa 1/ 6 der Bevölkerung dieses Gebietes von 1939. 34 Der Exkursionsleiter vermeidet es, über die konkret-historische Bedeutung der Anekdotenfigur und damit auch über die von Deutschen insgesamt während der Besatzung begangenen Greueltaten zu sprechen. 35 Es ist wohl nicht zu vermessen, auch darin eine Form von recipient design zu sehen. 36 Es zeigt sich, daß der polnische Exkursionsleiter bei einem Wissensaspekt nachffagt, der zum deutschen Geschichtszusammenhang gehört und somit das Wissen der deutschen Studenten hinsichtlich ihrer eigenen Geschichte hinterfragt. 37 Die viel größere Wahrscheinlichkeit jedoch, daß die deutschen Studenten nicht über die polnische Geschichte (und damit z.B. über die Familie Zamoyski) Bescheid wissen, ist für ihn keine relevante Orientierung. Er setzt diesen polnischen Teil des relevanten Wissens als Ausdruck seiner monokulturellen Perspektive als geteiltes und damit unproblematisches Wissen voraus. Die Rolle des Adels in Polen und für die polnische Geschichte ist grundsätzlich nicht mit der des Adels in Deutschland vergleichbar. Der Adel in Deutschland, der nie eine vergleichbare nationale Rolle gespielt hat, stellt jedoch den Bezugsrahmen für die deutschen Studenten dar. Darüber hinaus ist das Wissen um die historische Bedeutung und der aktuellen Relevanz berühm- 32 Kernpunkte von Himmlers Vorstellung der ‘Umvolkung’ und damit Aufgabenstellung für die Gauleiter vor Ort, waren: 1. Assimilation ‘schwebenden Volkstums’ (d.h. z.B. der Kaschuben, Masuren und Oberschlesier sowie der deutsch-polnischen Mischbevölkerung). 2. Austreibung der rein polnischen Bevölkerung des Warthelandes (dem Zuständigkeitsbereich von Greiser) und weiten Teilen Westpreußens und Oberschlesiens. 3. Verhaftung, Deportation und Eliminierung der polnischen Intelligenz, aller Beamten, Politiker und Leiter genossenschaftlicher Verbände. 33 Wie aus einer anderen Erzählung des Exkursionsleiters zu erfahren ist, versuchte sich Greiser vor dem 2. Weltkrieg glücklos in unterschiedlichen Berufszweigen, so z.B. auch als Fremdenführer, der hochgestellten und zahlungskräftigen (u.a. auch adligen) Touristen Danzig vom Boot aus zeigte. 34 Einen plastischen Einblick in den Besatzungsalltag in Westpolen und Poznan bietet Miriam Yegane Arani in diesem Band. 35 Es geht dem Erzähler nicht um den historischen Greiser und der durch ihn symbolisierten Brutalität der Besatzungsmacht. Es geht hier um den Greiser aus der Anekdote, die in der Familie Zamoyski erzählt wird. Und es wird hierdurch auch deutlich, daß dem polnischen Exkursionsleiter tatsächlich nicht an einer intentionalen Identifikation der jungen deutschen Studenten mit dem Gauleiter gelegen ist. Ungeachtet dessen bleibt dieser Zusammenhang auf der Ebene des latenten Sinnes erhalten. 37 Kann man darin die Wirksamkeit einer latenten Annahme sehen, daß sich die Deutschen v.a. im problematischen Teil ihrer eigenen Geschichte zuweilen nicht so gut auskennen und etwas der Nachhilfe bedürfen? „Ich werde Sie sehen lassen " 55 ter Adelsfamilien wie die der Zamoyskis für das Selbstverständnis vieler Polen bei den Deutschen nicht vorhanden. 38 Die Familie Zamoyski wird damit mit einer Personengruppe identifiziert, die in Deutschland außer in der Regenbogenpresse keine wahrnehmbare gesellschaftliche Rolle mehr spielt. Was aber sagt der Name Zamoyski einem geschichts- und kulturbewußen Polen? Es handelt sich nicht um eine einfache Adelsfamilie, sondern um Magnaten, die als Besitzer hauptsächlich im östlichen Teil Polens gelegener großer Ländereien die Geschichte des Landes nicht nur in politischer, sondern v.a. in kultureller und nationaler Sicht vom Mittelalter bis in die zwei Weltkriege hinein ganz wesentlich mitbestimmt haben. 39 Aus polnischer Sicht wird mit den Zamoyskis für den Nazifünktionär ein Gegenspieler von nationaler Bedeutung eingeführt und dessen Autorität demonstriert. Der tatsächliche Kampf wird nicht zwischen dem Gauleiter und dem Majordomus, sondern zwischen dem Gauleiter und dem gräflichen Magnaten ausgetragen. Beide sind keine individuellen Figuren; sie stehen vielmehr für unterschiedliche Systeme und Konstituenten gesellschaftlicher Gebilde. Der Gauleiter repräsentiert dabei eine spezifische Ausprägung staatlicher Macht mit fragwürdiger historischer Legitimität. Der Graf Zamoyski hingegen steht für die historisch legitimierte und über Jahrhunderte gewachsene symbolische Macht, die sich v.a. aus der Rolle des Adels als Träger polnischer Kultur und des nationalen Gedankens speist. Das Wissen um diese symbolische Macht des Grafen ist jedoch bei den Studenten nicht vorhanden. Die Studenten haben, um bei den Worten des polnischen Exkursionsleiters zu bleiben, weder einen Begriff davon, wer der Graf Zamoyski, noch wer der Greiser war. Im Falle des Grafen ist dies eine schlichte monoperspektivische Unterlassung des polnischen Exkursionsleiters, im Falle von Greiser hängt dies mit einem Dilemma hinsichtlich seiner Adressatenorientierung zusammen. Die eigentlich notwendige Wissensvermittlung, wer der Greiser war, läuft seiner Orientierung, die Beziehung zu seinen Adressaten nicht zu gefährden, entgegen. Sich genauer über den Nazi auszulassen und dabei zwangsläufig auf die Besatzungspraxis der Deutschen zu sprechen zu kommen, könnte diese Beziehung belasten bzw. das Gesicht der Studenten bedrohen. Wieso erfolgt dieser Hinweis überhaupt? Der polnische Exkursionsleiter scheint bei aller Sympathie für die Deutschen doch auch einer historisch (und 38 Im Beitrag von Ricarda Wolf werden in ganz grundlegender Weise die Folgen des Fehlens einer symbolischen Bedeutung hinsichtlich Polens als Kultumation auf deutscher Seite sichtbar. 39 Die Linie der Zamoyskis geht zurück auf den Staatsmann Jan Zamoyski (1542-1605). Jan Zamoyski wurde 1565 Sekretär von König Sigismund II., 1576 Unterkanzler, 1578 Großkanzler, 1581 Kongreßfeldherr. Als einflußreicher Politiker wirkte er v.a. auf die verschiedenen Königswahlen ein. Jan Zamoyski gründete 1580 im Zentrum seines riesigen Landbesitzes im Südosten Polens die Stadt Zamosc, die bis 1772 im Besitz der Familie blieb. 56 Reinhold Schmitt stereotyp? ) geprägten Relevanz zu folgen, die so stark ist, daß er die jungen deutschen Studenten wenn auch moderat, so doch auf der Ebene der latenten Sinnstruktur und konkret auf der Ebene der sozialen bzw. nationalen Kategorisierung an die kurze Zeit ihrer „tausendjährigen Vergangenheit“ erinnert. Insgesamt zeigt sich, daß mit der Auswahl der Gattung „Anekdote“ als Medium des Kulturtransfers bestimmte Anforderungen hinsichtlich einer gemeinsamen Wissensgrundlage verbunden sind. Ist diese nicht vorhanden und wird sie nicht explizit hergestellt, muß die Anekdote zwangsläufig ins Leere laufen. Mehr noch: Aus deutscher Perspektive wird sie für den polnischen Exkursionsleiter zum Bumerang. Das Anekdotenerzählen kam bei den deutschen Teilnehmern primär als unangemessene Form der Selbstdarstellung und als ‘Anbiederung’ an den Adel an. 8. Die Sicht der Adressaten auf die interaktive Kulturvermittlung 8.1 Beschreibungen der Studenten Wie ist nun der Versuch der Kulturvermittlung des polnischen Exkursionsleiters bei den deutschen Kursteilnehmern angekommen? Zunächst ist es wichtig zu sehen, daß sich die Reaktionen nicht auf die Inhalte, sondern eindeutig auf die kommunikative Verhaltensweise des polnischen Exkursionsleiters bezogen. Nicht die Qualität der Führung wurde thematisiert, sondern primär individuelle Eigenschaften des Exkursionsleiters. Seine fachliche Kompetenz, sein fundiertes geschichtliches Wissen und auch sein Engagement wurden vielmehr übereinstimmend sehr positiv bewertet. Stellvertretend sei hierzu Torsten, einer der deutschen Studenten, zitiert: TO: erst mal war er mir persönlich ganz symphatisch also na gut eher zum/ * also ein bi"ßchen übertrieben vielleicht aber so er war sonst äh äh er hat auf mich=n sehr gepflegten eindruck gemacht also * nicht unsymphatisch und äh * ja fa"chlich hat er mich sehr beei"ndruckt weil er eben äh: =s * also dieses hi/ historisch schon dieses äh: äh mentalitäts/ äh diese mentalitätsfrage seh"r gut verknüpfen konnte und das mei"ner meinung nach wirklich sehr gu: t * rübergebracht hat * das fand ich wirklich beeindruckend also er hat mir sehr zugesagt aber nu: n muß ich auch sagen daß ich wirklich nicht besonders äh * äh u"nparteiisch in der frage bin weil er mir einfach von von/ * allein von seiner a"rbeit her ja also=s da als äh * äh als ku"nsthistoriker und germanist äh=s einen * ehemaligen äh gräflich gu"tsbetrieb wieder aufleben zu lassen also=s ** das=s für mich do"ch irgendwie fasziniert muß ich sagen * Bei den Reaktionen auf seine Person wurde weiterhin deutlich, daß der polnische Exkursionsleiter weder von den deutschen Teilnehmern, noch von den polnischen Kursbegleitem explizit als typisch polnisch beschrieben wurde, d.h. in ethnischen Kategorien, sondern durchweg als Person mit bestimmten indi- „Ich werde Sie sehen lassen “ 51 viduellen Eigenschaften. Es lassen sich in den ganzen Materialien keinerlei Hinweise darauf finden, daß die ihm zugeschriebenen Eigenschaften als kulturell aufgeladene sprich als polnische Eigenschaften verstanden werden sollen. Aber für das Gegenteil, d.h. für die manifeste Konstruktion der zugeschriebenen Eigenschaften als individuelle, lassen sich mehrere Hinweise finden. Hier sind vier kurze Ausschnitte aus Zufallsgesprächen und Interviews, die einen Überblick über typische Reaktionen der Kursteilnehmer geben: Marek, polnischer Kursbegleiter: MA: aus * soziologischem/ vom soziologischen gesichtspunkt * könnte man * hier vielleicht von irgendwelchen * mi"nderwertigkeitskomplexen sprechen * oder so etwas also ich * weiß ** aus der zweiten hand daß * er keine glückliche kindheit hatte * und keine regelmäßige * erziehung bekommen hatte Silke, deutsche Studentin: SI: was ich auch so en bißchen unangenehm finde ist sein ** also sein über/ ** des nationalbewußtsein * das er echt ständig so übermäßig mit einfließen läßt: das geht mir auf=s ohr ** also ich find ihn wirklich ziemlich anstrengend Jens, deutscher Student: JE: er ist so ziemlich äh nationa"Ibewußt würd ich sagen oder ** und irgendwie kann man das ja auch verstehen * aber ** so=n bißchen * trauert er vielleicht * so Zeiten nach * wo=s vielleicht noch dem adel noch gu"t ging * wo das natürlich auch schon u"r/ * u"rlange her is Anna, deutsche Studentin: AN: ein bi"ßchen fand ich äh=m * das nich so to"ll also das * is ich weiß nich inwieweit das jetzt i"n der führung mit äh rei"ngekommen is * ich saß ja dann * ne"ben ihm beim mittagstisch und da hat er dann so riesige * ausführungen über seine * familie also jetzt äh wo er denn he"rstammen wü"rde und welche a"deligen da in seiner fami"lie sind und auch so * s=ja daß er auch so * a"dlig wäre so=n bißchen Betrachtet man die Beschreibungen, die die deutschen Studenten zur Charakterisierung des Fremdenführers insgesamt benutzen, dann sind es neben Eigenschaften (wie selbstgefällig, arrogant, theatralisch veranlagt etc.) die immer wiederkehrenden Bezugspunkte Adel, Nationalismus und Romantizismus, die auffallen. Diese Bezugspunkte werden z.B. in folgenden Charakterisierungen deutlich: Adel: Graf, englischer Landadliger, Landgraf, adeligabhängig; Nationalismus: Nationalstolz, übertriebenes Nationalbewußtsein, Großpole; Romantizismus: weltfremd, Person des 19. Jahrhunderts, hängt feudalen Struktu- 58 Reinhold Schmitt ren nach. 40 Ich werde stellvertretend auf den Aspekt des „überzogenen“ Nationalismus eingehen, da dieser Aspekt bei fast allen deutschen Teilnehmern bei der Charakterisierung des Exkursionsleiters eine zentrale Rolle spielt. 8.2 „Übertriebener“ Nationalismus Judith, deutsche Studentin: JU: zum teil hat mir das richtig a"ngst gemacht mit seinem nationalismus ja LACHT also ähm ** weil * ich hatte den eindruck daß er das wieder ü"berstrapaziert * dann und da/ in de"r hinsicht bin ich dann relativ froh" daß da"s=n thema is mit dem man in Deutschland ** angefangen hat vorsichtiger umzugehen ja wo ich dann fast schon a"ngst bekomme daß möglicherweise äh äh ** naja äh * das hier dann auch in die i"rre gehen könnte n bißchen mit dem nationalismus weil ** eins was ich mit andern/ * n * in gesprächen mit a"ndern festgeste"11t hab * das hat mich denn do"ch=n bißchen irritie"rt * äh war * daß ich dann den eindruck gewonnen hab da halten sich in vielen punkten polen auch für exklusi"v obwohl sie=s gar nicht si"nd Hier wird als wesentliches Element der Vergleich zwischen Polen und Deutschland deutlich. Judith erkennt im Verhalten des polnischen Exkursionsleiters und vieler anderer Polen etwas, das sie mit dem Konzept „Nationalismus“ beschreibt und durch die Analogie mit Deutschland negativ bewertet bzw. sehr kritisch sieht. Sie benutzt zur Beschreibung des polnischen Verhaltens eine Begrifflichkeit, die in dem Sinne eine spezifisch deutsche ist, daß sie auf die deutsche Nationalgeschichte reagiert bzw. von dieser semantisch bestimmt wird. Das ist ein Hinweis auf ein ganz allgemeines Phänomen interkultureller Situationen, das den Kontakt mit dem Fremden zumindest in der Anfangsphase unweigerlich prägt: Die Wahrnehmung des Fremden ist zunächst nur im Rahmen der durch die eigenen Erfahrungen strukturierten Wahrnehmung möglich. Auch die sprachliche Typisierung des Wahrgenommenen kann zunächst nur in Konzepten erfolgen, die ich selbst mitbringe, die meine eigenen sind. Dabei kann ich aber nie sicher sein, ob meine mitgebrachten Konzepte dem, was ich sehe, strukturell oder inhaltlich gerecht werden. Das, was aus der Perspektive einer geschichtsbewußten deutschen Studentin wie Nationalismus aussieht, muß nicht dem entsprechen, was Polen für das gleiche Verhalten als adäquate Typisierung ansehen. Wie der unverkennbar deutsche Geschichtshintergrund und die historische Bedeutung des Nationalismus in Deutschland die Wahrnehmung des polnischen ‘Nationalismus’ beeinflußt, wird nicht nur in dem kurzen Zitat von Judith deutlich, sondern von Torsten in einem Interview klar formuliert. Er erklärt den Nationalismusvorwurfjedoch nicht so sehr aus 40 Vgl. auch die Zitate im Anhang, S. 70-71. „Ich werde Sie sehen lassen “ 59 dem Verhalten des Exkursionsleiters, sondern aus dem problematischen Verhältnis v.a. deutscher Intellektueller zum eigenen Nationalbewußtsein. Torsten, deutscher Student: TO: also er wa"r natü"rlich ganz kla"r nationalbewußt aber äh=f: ja davon ham die deutschen in der regel also vie"le deutsche gerade die intellektuellen deutsche ja eben ga"r nichts und deswegen empfi"nden sie das sobald sie auf etwas stoßen schon gleich auch häufig als aufdringlich das is meine meinung äh=f: * er ha"tte das aber er hatte nicht zu viel nein würd ich nich sagen ** es war auf keinen fall äh na/ negie"render nationalismus ne also er hat nicht anderes rau"sgedrängt ** er hat auch * immer wieder die fremden einflüsse sehr wohl beto"nt Diese Perspektive von Torsten, eine Fremdkategorisierung durch eine damit ausgedrückte implizite Selbstkategorisierung zu erklären und damit letztlich zwei unterschiedliche Konzepte von Nationalismus bzw. deren Bewertung zu kontrastieren, ist ein wichtiger Punkt. Er fuhrt nämlich zur Frage, ob das deutsche Konzept „Nationalismus als Fremdkategorisierung“ eine polnische Entsprechung als Selbstkategorisierung besitzt. Es gibt in den ganzen Materialien keine einzige Stelle, an der der polnische Exkursionsleiter den Begriff „Nationalismus“ zur Selbstkategorisierung benutzte. Es gibt aber wohl ein anderes (polnisches) Konzept, das in deutlich positiver Verwendung zur Selbstbeschreibung benutzt wird, nämlich Patriotismus. GR: ich kenne sehr große Patrioten äh die an und für sich auch * äh kosmopoliten sind ** die sind europäer die sind europäer die sind jedoch dabei ** große polen ** wirklich Patrioten Dieser kurze Ausschnitt zeigt deutlich, daß es keine Entsprechung der beiden Konzepte gibt: Der deutsche Nationalismus ist etwas anderes als der polnische Patriotismus. Wie die feinen Differenzierungen zeigen, ist für den polnischen Patriotismus aufgrund der Geschichte Polens mit seinen drei Teilungen keine engstirnige Vaterlandsliebe mit einer ausschließlichen Konzentration auf Polen charakteristisch, sondern es gibt Platz für Vaterlandtranszendenz in Form von Europa und noch allgemeiner einem Kosmopolitismus. Da die deutschen Teilnehmer nicht über ein vergleichbares Konzept verfügen, und der polnische Exkursionsleiter während seiner Führung auch keine explizite Selbstverortung als patriotischer Pole realisiert und gemäß seiner Maxime „Ich werde Sie sehen lassen“ Patriotismus auch nicht als etwas für Polen positiv Typisches darstellt, 41 bewerten sie sein Verhalten als Nationalismus. Hier schließt sich der Kreis zur anfänglich zitierten Aufgabenzuschreibung des Exkursionsleiters und den Reaktionen der deutschen Teilnehmer: So wie sein Verhalten aus seiner eigenen Perspektive Patriotismus und nicht Nationalis- 41 Dies geschieht ausschließlich im Interview, wo er durch unsere Fragen dazu gebracht wird. 60 Reinhold Schmitt mus ist, so sind die polnisch-slawische Seele und das ewig Polnische als kulturspezifische und kulturreflexive Konzepte auch nicht mit der deutschengermanischen Seele und dem ewig Deutschen vergleichbar. Es gibt in einem der Interviews einen interessanten Hinweis darauf, daß die individuellen Eigenschaften, die die Studenten als charakteristisch für den Exkursionsleiter wahrgenommen haben, nicht als solche, sondern speziell als Eigenschaften eines Polen zur Reaktion reizten. Karin, deutsche Studentin: KA: ja aber er war nun wirklich die große ausnahme also er war ja so" selbstgefällig und * bißchen arrogant so auf englischer landadel und er hat das auch so ei"nfließen lassen Der Hinweis der Studentin auf‘Selbstgefälligkeit’ und ein ‘bißchen Arroganz’ als erwartbare und letztlich tolerierbare Verhaltensbestandteile eines englischen Landadeligen kann zumindest so verstanden werden, daß das Verhalten des polnischen Exkursionsleiters als Engländer bei einer Führung in England nicht auffällig geworden wäre. Er hätte vielmehr den Erwartungen entsprochen und dann zu Reaktionen geführt, die eher im positiven Sinne die Schrulligkeit der Engländer und ihren zeitresistenten Hang zum englischen Königshaus thematisiert hätten. Mit anderen Worten: Das Verhalten des hypothetischen englischen Exkursionsleiters bei einer Exkursion in England wäre Bestandteil der symbolischen Bedeutung bzw. Erwartung der Studentin in bezug auf England und den englischen Adel gewesen und hätte demnach ihre Erwartungen im positiven Sinne bestätigt. Da es hinsichtlich Polen keine vergleichbare symbolische Bedeutung gibt, in der das Verhalten des Exkursionsleiters legitimerweise aufgehoben ist, dessen Verhalten aber in der Interviewsituation beschrieben werden „muß“, greift die Studentin auf das Repertoir ihrer symbolischen Bedeutung zurück, die sie über England zur Verfügung hat. Exkurs: Dieser Verweis auf den englischen Adel macht einen allgemeinen Aspekt der Orientierung von Beteiligten in interkulturellen Situationen deutlich. Man kann dieses Zitat als einen empirischen Beleg für einen alltagsweltlichen Erschließungsversuch des Fremden sehen. Daß das Fremde nur durch das Bekannte wahrnehmbar wird, ist eine allgemeine Struktur der Wahrnehmung. Hat man erst einmal eine solche Perspektive eingenommen, dann wird als nächstes deutlich, daß es neben den beiden Kategorien des Eigenen und des Fremden (das Verhalten eines Polen) auch noch eine Kategorie mit zwittrigem Status gibt, nämlich die des bekannten Fremden (hier: der englische Landadel). Letztere Kategorie dient als vermittelnder und normalisierender Bezugspunkt man kann in gewisser Weise von einer ‘interkulturellen Eselsbrücke’ sprechen dafür, das im Polnischen Fremde mit den richtigen Worten zu erfassen, um es dadurch zum bekannten Fremden zu machen. „Ich werde Sie sehen lassen“ 61 Dieses bekannte Fremde und die mit ihm verbundene symbolische Bedeutung dienen als Zwischenschritt bei der Annäherung an das ‘aktuelle’ Fremde, für das es noch keine eigenkulturellen Begriffe gibt. Wenn man dieses Bezugsdreieck aus Eigenem, Fremdem und bekanntem Fremden als eine allgemeine Struktur der Fremdheitserfahrung und kategorialen Verarbeitung sieht, dann muß man die bipolare Grundkonstellation dessen, was man bislang als interkulturelle Situation gefaßt hat, erweitern. Diese Situation wird nicht nur durch die beiden in der unmittelbaren Situation anwesenden Nationen(vertreter) definiert, sondern auch durch die für die Erfassung und Verarbeitung der Fremdheitserfahrung zur Verfügung stehenden bekannten Fremden und das Spektrum an symbolischer Bedeutung, das mit ihnen verbunden ist. Die bekannten Fremden sind als Stifter wichtiger symbolischer Bedeutung zu begreifen. Sie werden aktiviert und formuliert, wenn in der fremden Kultur Aspekte identifiziert werden und begrifflich gefaßt werden müssen, die in der eigenen Kultur nicht vorhanden sind. Der für faktische interkulturelle Erfahrung notwendige Vergleich des Fremden mit dem Eigenen (nach dem Motto: Das ist hier aber nicht so wie bei uns! ) kann mithilfe solcher kulturellen Mittler differenzierter gestaltet werden. 42 Der verstehende und vergleichende Bezugspunkt für das Fremde ist nicht das Eigene, sondern selbst wieder etwas Fremdes. Die Frage, inwieweit solche vermittelnde Fremde dazu beitragen können, die Struktur einer ethnozentristischen, nur auf das Eigene und seine Relevanzen bezogenen Sichtweise, aufzulösen, ist wohl eher positiv zu beantworten. Zumindest liegt durch den Bezug auf andere Fremde wenn man es kompliziert ausdrücken will ein aspektualisierter Ethnozentrismus vor. 43 (Exkurs Ende) Noch deutlicher wird der Aspekt der für Polen untypischen Eigenschaften - und damit der implizite Verweis auf das, was als typisch polnisch erwartet wurde in der nachfolgenden Äußerung der gleichen Studentin. Während das Verhalten des Exkursionsleiters durch den Rekurs auf den englischen Landadligen ‘normalisiert wurde’, findet hier eine explizite Problematisierung der durch ihn enttäuschten Erwartungen statt: Karin, deutsche Studentin: KA: man auch geme"rkt an * den polnischen lektoren daß e"r sich doch anders verhält als die andern polen also er mu"ß auch für po"len affektiert wirken nicht nur nationalbewußt * also es ist schon bißchen wohl zu überzogen 42 Vgl. zur scheinbaren Unentrinnbarkeit des nationalen Vergleiches als Grundlage der Fremdwahmehmung den Beitrag von Mechthild Elstermann in diesem Band. 43 Hier stellen sich natürlich weitergehende Fragen. Welche thematischen Aspekte und Sachverhalte können Auslöser dafür sein, daß auf bekannt-fremde Mittler rekurriert wird? Welche Stellvertreter können in Abhängigkeit von welchen Aspekten überhaupt als Mittler in Frage kommen? Welche Formen der Gewichtung können zwischen dem Eigenen, dem bekannten Fremden und dem aktuellen Fremden etabliert werden? Die Beantwortung auch nur einer dieser Fragen würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. 62 Reinhold Schmitt Der polnische Exkursionsleiter ist für die deutsche Studentin letztlich gemessen an ihren latenten Erwartungen einfach ‘unpolnisch’. Charakteristika der interaktiven Beteiligungsweise allein scheinen die negativen Reaktionen nicht zu Tage zu fördern. Es ist vielmehr die interaktive Beteiligungsweise unter einem von außen herangetragenen, unangemessenen bzw. nicht passenden national-stereotyp strukturierten Erwartungsrahmen. Das gleiche Verhalten ist unter einem anderen Erwartungsrahmen längst nicht in gleicher Weise auffällig und provokativ. Der zweite mißverständnisgenerierende Aspekt besteht also in der Nichterfüllung latenter national-stereotyper Erwartungen. Noch ein weiterer Punkt scheint mir für das Zustandekommen des interkulturellen Mißverständnisses und damit für die Reaktionen auf den polnischen Exkursionsleiter eine Rolle gespielt zu haben: Nämlich die Art und Weise und wahrscheinlich auch die Häufigkeit, in der speziell Anekdoten als Teil der nationalen Geschichte erzählt werden. Daß die Häufigkeit, in der der polnische Exkursionsleiter während seiner Führungen Anekdoten benutzte, für seine Wahrnehmung aus deutscher Perspektive eine wichtige Orientierung war, zeigt folgendes Zitat aus einem Interview: Silke, deutsche Studentin: SI: ich ke"nne in Deutschland niemand der * so" den a"del anbietet ** anbe"tet nicht anbietet oder die ganzen anekdö"tchen und * das is mir noch nie passiert daß ich so jemanden * ke"nnengelernt habe Das Zitat zeigt zweierlei: Erstens, daß die Charakterisierung des polnischen Exkursionsleiters aus einer kulturspezifischen bzw. eigentlich kulturdifferenzierenden Perspektive erfolgt, aus der heraus sein Verhalten als für Deutschland ungewöhnlich und fremd erscheint. Zweitens wird deutlich, daß dieser Eindruck hauptsächlich dadurch zustandekommt, daß der Exkursionsleiter sehr viel über den polnischen Adel redet und daß er dabei sehr viele Anekdoten erzählt. Beide Aspekte verstärken sich in ihrer Bedeutung. Neben der thematischen Relevanz des Adels wird auch der Rückgriff auf die kommunikative Gattung ‘Anekdote’ von den Deutschen kritisch gesehen. Das häufige Erzählen von Anekdoten, in denen das Verhalten berühmter Persönlichkeiten nationalen Charakters gestaltet und tradiert wird, stößt bei diesen auf Unverständnis und Befremden. Für den polnischen Exkursionsleiter hingegen besitzt das Leben mit Geschichten und Anekdoten einen anderen Stellenwert. Im Interview konzipiert er geradezu ein für seine eigene Entwicklung prägendes „narratives Familienmilieu“, in dem Erzählungen tradiert und vom Großvater an den Enkel weitergegeben werden: GR: ich weiß nicht wie das in Deutschland ist aber mein großvater zum beispiel * wurde von seinem * großvater erzogen * und meine äh * historische * äh ** memory I will say in english ** mein geschichtliches historisches bewußtsein das kommt oder reicht bis in die erste hälfte des * neunzehnten jahrhunderts ** und das ist eben das was „Ich werde Sie sehen lassen “ 63 ich auch zu hause hatte * mein großvater der mir * stundenlang erzählt Diese Konstellation der generationsübergreifenden Erzählgemeinschaft von Großvater und Enkel, in der für die nationale Geschichte relevante Ereignisse als Geschichten tradiert werden, ist kein Spezifikum der Herkunftsfamilie des Exkursionsleiters. Sie ist vielmehr Ausdruck einer besonders in gebildeten und intellektuellen Familien beobachtbaren und historisch gewachsenen Struktur. Hier ist die Familie der Ort, an dem die nationale Geschichte und die nationale Identität gerade während der Zeit der Teilungen und auch noch während der Zeit des Kommunismus ihre eigentliche Öffentlichkeit hat. In den Geschichten und Anekdoten, die in den Familien erzählt wurden, wird die Idee der polnischen Nation und der souveränen Nationalstaatlichkeit gepflegt und an die Jugend weitergegeben. Das Bild des erzählenden Großvaters und des zuhörenden Enkels ist geradezu ein Topos der polnischen Malerei, dessen Darstellung u.a. in der Gemäldesammlung des Schlosses Komik und auch im Nationalmuseum in Poznan zu sehen ist. Hierzu eine Beschreibung einer solchen bildnerischen Gestaltung dieses Topos durch den polnischen Exkursionsleiter während der Führung in Komik: GR: sie sehen hier einen nicht ganz alten mann ** aber doch mit kinderni- ** meistens ist das ein großvater't * das kommt drauf an- * wann das gemälde gemalt wurde-i *2* in diesem falle ist das ein mann- ** das sieht man auf den ersten blick- * daß das ein edelmann ist und ein krüppel'l [...] sie sehen diese geste und diese zwei knaben'i ** das sind wahrscheinlich die kinder des hauses- * und er trägt eine polnische mütze [... ] genannt rogatifka-i rog- * rüg ist ein horn ** also hornmütze- * weil die hörner habend ** also das ist eine typische mütze- * eine polnische mützel' * und sie sehen diese buben- ** diese buben hören sich eine geschichte anl* * das ist * wie man vermuten kann und wie jeder pole das wahrscheinlich deuten würde * sie hören die geschichte polens oder die geschichte der aufstände wahrscheinlich'! ** die erinnerungen- * die memoiren des alten mannes'! [.. . ] also die geschichte von den aufständen und lernen über die geschichte polens über die aufstände und so weiter'! ** und deswegen bekommen wir zu hause eine gewisse schule des Patriotismus'! Mit dem polnischen Exkursionsleiter und den deutschen Studenten stoßen also auch unterschiedliche Erzählkulturen sowohl inhaltlicher als auch formaler Natur aufeinander. Die Teilhabe an einer kulturspezifischen Weise des Erzählens von Ereignissen mit nationaler Bedeutung, die so in Deutschland nicht mehr existiert, wird zu einem zusätzlichen Aspekt, der zu dem interkulturellen Mißverständnis ein weiteres Mosaiksteinchen beiträgt. 44 Die polnische Erzähltradition, auf die im obigen Zitat verwiesen wird und aus der heraus der polni- 44 Den Hinweis auf die Bedeutung kulturspezifischer Formen und Traditionen des Erzählens für die Verfestigung des Mißverständnisses verdanke ich Jörg Bergmann. 64 Reinhold Schmitt sehe Exkursionsleiter handelt, und die darin aufgehobene Form der Vermittlung von relevantem Wissen mit nationaler Bedeutung ist sehr stark mit festgelegten Interaktionsrollen verbunden. Mit diesen Interaktionsrollen hängen die Asymmetrieaspekte zusammen, die sich in der Formulierung „Ich werde sie sehen lassen“ ausdrücken: In gewisser Weise reproduziert sich in der Rollenübemahme des polnischen Exkursionsleiters den deutschen Studenten gegenüber genau die Struktur des Verhältnisses von erzählendem Großvater und zuhörenden Enkeln. Insofern zeigt sich hier nicht nur eine kulturell geprägte Erzähltradition, die sich in der Verbindung bestimmter kommunikativer Gattungen und bestimmter Inhalte manifestiert, sondern auch eine kulturell geprägte Didaktik der Vermittlung, für die die Verteilung bzw. Zuweisung feststehender Beteiligungsbzw. Interaktionsrollen charakteristisch ist. Was diesen Aspekt für die konkrete interkulturelle Situation bedeutsam werden läßt, ist die Tatsache, daß beide Aspekte so in Deutschland, wenn sie überhaupt jemals in vergleichbarer Weise existiert haben, schon lange nicht mehr vorhanden sind. 9. Schlußgedanken Für die ‘deutsche’ Wahrnehmung des polnischen Kulturvermittlers und damit für das Zustandekommen des interkulturellen Mißverständnisses haben unterschiedliche Aspekte beigetragen. Die Reaktionen sind zum einen durch eine Wahrnehmungsstruktur geprägt, in der Fremdes nur in eigenen Begriffen formulierbar ist und nur so sinnstiftende Qualität bekommt. Dabei kann es zu einer Art phänomenologischem Kurzschluß kommen: Phänomene werden aufgrund ihrer scheinbaren Vergleichbarkeit mit Eigenem und Bekanntem durch die Art ihrer Kategorisierung zum Eigenen gemacht. Sie verlieren dadurch ihre spezifische kulturelle Qualität und motivieren zumindest in meinem Material eine sehr kritische Sichtweise dem Fremden gegenüber (siehe den Vorwurf des „überzogenen Nationalismus“). Dieser erste mißverständnisgenerierende Aspekt besteht also in der vorschnellen Identifikation und Klassifikation scheinbar bekannter eigener Strukturen im Fremden. Das gilt nicht nur für die bekannten als nationale Stereotypen den Polen zugeschriebenen Eigenschaften wie Fleiß, Ordnung, Nationalstolz, Chaos und Faulheit etc. (die in den traditionellen Umfragen immer wieder einmal erhoben und dadurch auch verfestigt werden), 45 sondern auch für scheinbar unbelastete und unverdächtige Kategorien wie den Adel. Zum anderen scheinen mir die deutschen Reaktionen auf den Kulturvermittler als Person mit folgendem Umstand zusammenzuhängen: Der polnische Exkursionsleiter widerspricht mit seiner interaktiven Präsenz weitgehend den latenten stereotypen Erwartungen der Deutschen über Polen. Seine aus der Perspektive der deutschen Studenten formulierte fraglose Selbstsicherheit, seine inszenierte Selbstgefälligkeit, seine Antiquiertheit und seine Orientierung 45 Vgl. z.B. die Umfrage in: Der Spiegel 36/ 1991, S. 48-57. „Ich werde Sie sehen lassen 65 am polnischen Adel entsprachen nicht den Erwartungen, die sie an einen nahezu gleichaltrigen Polen hatten. Die Tatsache, daß der Großteil der negativen Typisierungen der deutschen Teilnehmer trotz ihrer latenten national-stereotypen Motivierung auf den Kulturvermittler als Person und nicht als Polen oder gar als typischen Polen zielen, scheint mir nicht weiter überraschend. Sie sind wahrscheinlich eine prototypische Manifestation der Struktur des ‘aufgeklärten stereotypen Diskurses’ bzw. ein systematischer Versuch, den Anforderungen dieses Diskurses gerecht zu werden. Die reflexiv-selbstkritische Grundhaltung Mitgliedern einer anderen Nation gegenüber macht national-stereotype Aussagen und Urteile nur in spezifisch modalisierter Weise oder überhaupt nicht mehr formulierbar. Wenn sie aber trotzdem nach Thematisierung und Formulierung verlangen, dann gibt es die Möglichkeit, Nationalstereotypes in Individuelles zu verwandeln. Wenn eine potentiell negative stereotype Zuschreibung nicht möglich ist, dann kann man auf die Beschreibung negativer individueller Eigenschaften ausweichen. Eine ablehnende und abwertende Charakterisierung eines Individuums ist dabei über Konzepte wie Antipathie oder jemand nicht riechen können“ sozial ganz anders akzeptiert. Durch solche Konzepte ist der Sprecher moralisch entlastet und nicht gezwungen, sich zu rechtfertigen. Individuelle Charakterisierungen scheinen also in solchen Situationen relevantgesetzter Interkulturalität das Potential zu haben, latent wirksame negative national-stereotype Sichtweisen zu transportieren. Neben diesen beiden Aspekten sind als weitere Gründe für die heftigen Reaktionen auf den polnischen Kulturvermittler auch die Formen kulturreflexiven Sprechens deutlich geworden, d.h. die Art und Weise wie man über Kultur spricht und welche Konzepte dabei benutzt werden. Und letztlich hat sich gezeigt, daß auch kulturspezifische Traditionen der narrativen Tradierung von Ereignissen mit nationaler Bedeutsamkeit dazu beitragen, daß der Versuch des polnischen Exkursionsleiters, das aus seiner Sicht typisch Polnische zu vermitteln, letztlich nicht erfolgreich war. Erschwerend kam sicherlich noch hinzu, daß er mit dem polnischen Adel für die deutschen Studenten nicht nur eine ihnen fremde Welt aufschloß, sondern sich selbst durch die Art seiner interaktiven Präsenz und durch die unterschiedlichsten Formen der Selbstpräsentation als Teil dieses Adels darstellte. Dies war durchaus kein Unfall, sondern vielmehr Bestandteil seines Konzeptes. 46 Das, was bei den deutschen Studenten jedoch von dieser doppelten 46 Als ich ihm während des Interviews meine Interpretation seines Verhaltens mitteilte und dabei sagte, daß ich das Gefühl habe, daß er seinen Gegenstand v.a. auch durch sein eigenes Verhalten dargestellt hat, antwortete er: es hat mich gefreut daß sie das so gesehen haben * es ist jedoch sehr * äh ** äh ** meine güte es ist mit einer Verantwortung verbunden ** das heißt * ich versuche ihnen meine sicht Polens * äh zu zeigen 66 Reinhold Schmitt Darstellung bzw. Vermittlung des polnischen Adels angekommen ist, ist eine teils unverständliche, teils überzogene, teils zu selbstsichere, teils zu arrogante, teils anachronistische und für das Alter des Exkursionsleiters unangemessene Form der Selbstdarstellung. Diese Wahrnehmung fand bereits nach dem ersten gemeinsamen Vormittag noch während der Exkursion ihren Begriff: Bereits zu diesem Zeitpunkt hatte der polnische Exkursionsleiter einen Spitznamen weg: Er war jetzt selbst der ‘Graf. Für die schnelle Herausbildung und Etablierung dieses Spitznamens und zu der Bereitschaft, den polnischen Exkursionsleiter eher kritisch zu sehen, trug sicherlich auch eine gruppendynamische Komponente bei. Aufgrund der gleichen Generationszugehörigkeit war es für die deutschen Studenten nicht ganz einfach, die ungleichen Möglichkeiten der Situations- und Beziehungsdefinition fraglos zu akzeptieren. Zumal dann, wenn er sich selbst deutlich erkennbar die Rolle des ‘Meisters’ und ihnen die korrespondierende Rolle der Schüler zuweist: Ich werde Sie sehen lassen! Fragt man sich zum Abschluß, welche Punkte sich nun aus der Analyse für die Praxis ergeben, so werden meines Erachtens zumindest folgende erkennbar: Das polnisch-deutsche Verhältnis scheint ein besonderes zu sein. Diese Besonderheit, die sich aus der problematischen gemeinsamen Geschichte speist, läßt sich das zeigt das Material interaktiv nicht ohne weiteres ignorieren. Dafür ist die latente Relevanz der historisch geprägten nationalen Sichtweisen und Vorurteile scheinbar doch zu stark; auch wenn gerade jüngere Polen nicht müde werden, dies zu bestreiten. Bei dem Versuch der Kulturvermittlung sollte dieser Besonderheit offensiv Rechnung getragen werden. Dabei kann m.E. das Kapitel der deutschen Besatzung Polens während des Zweiten Weltkrieges nicht ausgespart werden. Diese Zeit ist nach wie vor eine wichtige interpretative Ressource, die bestimmte Verhaltensweisen verstehen hilft. Auch wenn man Kulturvermittlung in einem allgemeinen Sinne als Wissenstransfer historisch gewachsener Sachverhalte, Strukturen und Zusammenhänge begreift, scheint das polnisch-deutsche Verhältnis ein besonderes zu sein. Das geschichtliche Wissen auf beiden Seiten voneinander ist sehr unterschiedlich ausgeprägt und unterschiedlich strukturiert. Insbesondere kann man wohl von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen kein ausgeprägtes Wissen über die polnische Geschichte auf seiten der deutschen Studenten voraussetzen. Hier kann es wie das Material auch zeigt schnell zu einseitigen Unterstellungen kommen, die letztlich alle Beteiligten ‘überfordem’. Es wäre demnach falsch, kulturelle Unterschiede zu verniedlichen oder konzeptionell (z.B. durch defensive Austauschprogramme) auszuklammem. Ein und die gefahr ist daß es ihnen nicht gefällt * oder doch gefällt und daß das äh * trotzdem nicht authentisch ist weil das ist meine persönliche sicht „Ich werde Sie sehen lassen " 67 beiderseitiges Verständnis ist erst dann wirklich möglich, wenn die Unterschiede erkannt und als solche auch benannt werden. Erfolgversprechende Kulturvermittlung setzt bestimmte Bedingungen voraus. Es ist die interaktive Aufgabe aller Beteiligten, zu klären und sich wechselseitig anzuzeigen, inwieweit Voraussetzungen für Kulturvermittlung überhaupt gegeben sind. Dabei gibt es Aufgaben, die primär vom Vermittler zu bearbeiten sind, und solche, für die seine Adressaten zuständig sind. Der Vermittler kultureller Sachverhalte muß sein eigenes Wissen als kulturspezifisches behandeln und anfänglich von einer Heuristik maximaler kultureller Divergenz zu dem Wissen seiner Adressaten ausgehen. Dies bedeutet eine grundlegende Kontrastierung, Relativierung und Infragestellung des eigenen Wissens als für seine Adressaten prinzipiell verstehensproblematisch. 47 Konstitutiver Aspekt der tatsächlichen Vermittlungspraxis im Rahmen dieses Modells ist ein Prozeß der kontinuierlichen Prüfung und situationssensitiven Anpassung dieser Ausgangsvoraussetzungen. Die Aufgabe des Kulturvermittlers besteht darin, sein Wisssen kontinuierlich in rezipientenbezogener Weise auf seine Vermittelbarkeit und Verstehbarkeit hin zu prüfen und nach möglichen Anschlußstellen seines Wissens an die fremdkulturellen Wissensvoraussetzungen seiner Adressaten zu suchen. Nur durch die kontinuierliche Prüfüng im Rahmen der Heuristik maximaler kultureller Divergenz kann der Vermittler zu einer angemessenen Einschätzung über die adressatenseitige Verstehbarkeit der von ihm vermittelten kulturellen Sachverhalte gelangen. Die interaktive Mitarbeit der Adressaten setzt die grundlegende Bereitschaft zur Kulturaufhahme voraus und damit ein gewisses Maß an fremdkulturellem Interesse. Korrespondierend zum Aufgabenprofil des Vermittlers ist es die primäre Aufgabe der Adressaten, ihn bei der Prüfüng der Vermittlungsvoraussetzungen aktiv zu unterstützen. Im Idealfall bedeutet dies, daß auch die Adressaten eher von einem Konzept kultureller Divergenz ausgehen und die Ausführungen des Vermittlers kontrastiv hören. Wenn sich die Adressaten der Kulturvermittlung nicht aktiv an der Konstitution einer rezipientenbezogenen Vermittlungsgrundlage beteiligen, 48 muß der Kulturvermittlermehr oder weniger zu Recht davon ausgehen, daß günstige Vermittlungsbedingungen vorhanden sind: Der Kulturvermittler sollte sich sowohl in der eigenen wie in der Rezipientenkultur auskennen und die gegebenen Verstehensvoraussetzungen explizit prüfen. Wahrscheinlich ist es nicht ganz einfach, in der heuristischen Betonung 47 Wie produktiv sich ein solches Konzept im unmittelbaren Kontakt umsetzen läßt, zeigt Jana, die Polnischlehrerin, im Beitrag von Ulrich Dausendschön-Gay in diesem Band. Sie nutzt die explizite Thematisierung kultureller Distanz als Ausgangspunkt einer schrittweisen Distanzreduzierung, an der sie die deutschen Studenten mitarbeiten läßt. 48 Das heißt, wenn sie keine Explizierung ihrer Interpretationen dessen liefern, was der Vermittler ihnen nahebringt, z.B. dadurch, daß sie fremdkulturelle Sachverhalte explizit auf den eigenen kulturellen Rahmen beziehen und dies auch formulieren. 68 Reinhold Schmitt kultureller Divergenzen ein produktives Moment und eine der wesentlichen Voraussetzungen für interkulturelles Verständnis zu sehen. Zumindest deutet das Bemühen, Unterschiede in solchen Vermittlungssituationen nicht zu thematisieren, daraufhin. Die Vermittlungsrezipienten ihrerseits müssen auf die Kulturaufnahme vorbereitet werden bzw. sich selbst darauf vorbereiten. Auch für sie gilt die Heuristik maximaler Kulturdivergenz als produktive Voraussetzung, die fremde Kultur zwar mit eigenen Augen, jedoch nicht automatisch und fraglos mit den eigenen Wertvorstellungen und Konzepten zu sehen. Dabei ist die Einsicht in die eigene Teilhabe an national motivierten Stereotypen und Vorurteilen die zentrale Voraussetzung dafür, die Vermittlung fremdkultureller Sachverhalte und Orientierungen in reflektierter Weise überhaupt zulassen zu können. 10. Literatur Auer. Peter (1986): Kontextualisierung. In: Studium Linguistik 19, S. 22-47. Auer, Peter/ di Luzio, Aldo (eds.) (1992): The contextualization of language. Amsterdam. Authier-Revuz, J. (1985): La representation de la parole dans un debat radiophonique: figures de dialogue et de dialogisme. In: Langue Frangaise 65, S. 92-102. Authier-Revuz, J. 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Sie geben zusätzlich zu den im Text bereits zitierten Beschreibungen einen Überblick über die Aspekte, die bei der Charakterisierung des polnischen Exkursionsleiters eine Rolle gespielt haben. Aspekt: Adel und Romantizismus Marek (polnischer Betreuer): ich meinte das * das ist nicht mehr in solchem ma"ße nicht äh ** von dieser a"lten polnischen seele ist ** ich weiß nicht zwanzig prozent geblieben also ** er de"nkt für mich wie ein bißchen veraltert und * und diese seine geschichten über a"dligkei: t und daß daß er zu einer adligen familie gehört das finde ich irgendwie ** einfach * das sind für mich die ideen des: neunzehnten jahrhunderts Aspekt: Adel, Romantizismus, Nationalbewußtsein Dirk (deutscher Student): er schwä"rmt wohl ziemlich er ist so ziemlich äh nationa"Ibewußt würd ich sagen oder ** und irgendwie kann man das ja auch verstehen * aber ** so=n bißchen * trauert er vielleicht * so Zeiten nach * wo=s vielleicht noch dem adel noch gu"t ging * wo das natürlich auch schon u"r u"rlange her is Aspekt: Selbstdarstellung, Adel Beate (deutsche Studentin): also da hat er mich tota"l stark erinnert an so leute die sich * so für absolut kü"nstlerisch und intellektue"1 halten also so was hat er auch vermittelt aber ich meine er hat ja auch ku"nsthistorik studiert * und also ich fand er hat so dieses werfen mit dem scha”l und so gewisse ge"sten also auch mit der hand immer * das fand ich scho"n also es wirkte alles fü"rchterlich gut einstudiert um einen gewissen eindruck zu vermitteln * ich glaub er sieht sich ganz gerne in dieser rolle als der landgraf LACHT Aspekt: Adel (Pseudoadel) Jan (deutscher Student): was führer anbetrifft * da heim wir nun en breites Spektrum schon erlebt * also *2* wenn ich da nur allein an den gestern und heute äh mittag dader ein ** sehr nettes: * beispiel von adel gezeigt hat * also von pseudoadel gezeigt hat „Ich werde Sie sehen lassen " 71 Aspekt: Selbstdarstellung Karen (deutsche Studentin): sie si"nd sehr nationalbewußt das is auch etwas was ich total bewundernswert an den polen finde * sie sind i"mmer getei"lt * worden und zerstückelt worden und haben sich tro"tzdem dieses bewußtsein * ein volk ein Staat behalten obwohl sie es ga"nz lange zeit nicht warn [... ] das war in Deutschland überhaupt nicht so und gerade nach der * Vereinigung der beiden deutschen Staaten hat man das geme"rkt daß das in Deutschland gar nicht so is da sind zwei we"lten so" haarscharf aufeinandergeprallt * daß ich das an den polen total bewundernswert finde ** und die andern Stadtführer hatten auch/ also sie waren a"lle total sto''lz auf Polen aber sie haben=s * anders einfach vertre"ten also nich so au"fgesetzt Aspekt: Adel Maria (deutsche Studentin): ich saß ja dann * ne"ben ihm beim mittagstisch und da hat er dann so riesige * ausführungen über seine * familie also jetzt äh wo er denn he"rstammen wü"rde und welche a"deligen da in seiner fami"lie sind und auch so * s=ja das er auch so * a"dlig wäre so=n bißchen ** Aspekt: Einseitige Sichtweise Anna (polnische Betreuerin): ich glaube er betreibt oft äh ** schwarzwei"ßmalerei und das stö"rt mich ein ein bißchen Ricarda Wolf Dumm gelaufen: Strukturelle Gründe für das Schicksal einer Gesprächsinitiative Abstract: Dieser Beitrag rekonstruiert die interaktive Entstehung, Zuspitzung und Renormalisierung eines interkulturellen Vorfalls während einer Exkursion des Sommerkurses. Ausgangspunkt ist die Gesprächsinitiative eines deutschen Kursteilnehmers, die mit einer Bitte um Wissensvermittlung verbunden wird. Die angesprochene polnische Gesprächspartnerin hat offensichtlich Schwierigkeiten, auf diese Initiative zu reagieren. Das führt zu einer unglücklichen Reformulierung der Initiative durch den Deutschen. Infolgedessen verstricken sich beide Beteiligten schrittweise in einen interkulturellen Vorfall, aus dem nur die Vermittlung durch einen bisher unbeteiligten Dritten herausfuhrt. Die Entwicklung des Vorfalls wird u.a. auf eine Reihe interaktiver Zwänge zurückgeführt, denen allgemeine Regeln der Gesprächsorganisation zugrunde liegen. Damit wird auf der Basis eines ethnomethodologisch-konversationsanalytischen Herangehens eine Alternative zu einer alltagsweltlichen vorurteilsbezogenen Lesart dieses Vorfalls entwickelt. Die Analyse bringt interaktionsstrukturelle Gründe dafür hervor, einer vorschnellen subsumtionslogischen Interpretation interkultureller Situationen zu mißtrauen. Sie bestätigt nicht nur Beobachtungen aus früheren Untersuchungen, daß kulturelle Differenzen nicht unweigerlich und durchgängig in Gesprächen zwischen „Fremden" bedeutsam sind, sondern legt darüber hinaus nahe, daß die Relevantsetzung der ethnischen Identität eines Sprechers untrennbar mit dessen interaktiv hergestelltem Beteiligtenstatus verbunden ist. Das bedeutet, daß die Ethnizität anderer Teilnehmer an diesem Gespräch nicht automatisch ebenfalls relevant ist. Daraus erwächst ein nicht unerhebliches Reparaturpotential für interkulturelle Vorfälle in Gruppengesprächen. 1. Gegenstand und Ziel des Beitrages Es ist ein sonniger Spätsommertag. Junge Frauen und Männer spazieren durch den Schloßpark von Rogahn, nahe der großpolnischen 1 Stadt Poznan. Der Anlaß ist eine Exkursion in die nähere Umgebung von Poznan, die im Rahmen eines Sommerkurses für polnische Sprache, Kultur und Geschichte stattfindet. Die jungen Frauen und Männer sind Teilnehmer dieses Kurses deutsche Studentinnen und Studenten verschiedener Fachrichtungen, die polnisch lernen wollen, und polnische Germanistikstudenten, die sie dabei begleiten. Zu Beginn der Exkursion hatte ein charmanter junger Mann es handelt sich um den Exkursionsleiter angekündigt, die Studenten das „sogenannte ewig Polnische“ sehen zu lassen. 2 Die Studenten nutzen ganz offensichtlich die Gelegenheit, sich von den Strapazen des Sprach-Unterrichts der vergangenen Woche zu erholen. Denn heute ist Sonntag. Sie finden sich zu kleineren Gruppen zusammen; manche lachen, schwatzen und flirten miteinander, andere sind eher schweigsam und machen sich nur gelegentlich gegenseitig darauf aufmerksam. „Großpolen" ist eine Übersetzung der polnischen Bezeichnung „wielkopolska", was im Altpolnischen so viel wie „altes Polen“ hieß. Diese Exkursion wird in dem Beitrag von Reinhold Schmitt näher beschrieben. Dort findet man auch eine genauere Analyse des Kulturvermittlungsauftrages, den sich der Exkursionsleiter gestellt hatte. Dumm gelaufen 73 was sie sehen. Eine dieser Gruppen hole ich mir nun wie mit einem Teleobjektiv näher heran. Sie beansprucht fortan meine, unsere Aufmerksamkeit. Die Szene interessiert mich, weil sie prototypisch zu sein scheint für das, was man gemeinhin einen „interkulturellen Fehlschlag“ nennt. Die Hauptakteure sind Christof (CH) und Maria (MA). Christof ist ein deutscher Student, seine fachliche Spezialisierung liegt auf naturwissenschaftlich-technischem Gebiet. Maria ist eine polnische Germanistik- und Soziologiestudentin. Zugleich ist sie die Organisatorin des Sommerkurses. Die beiden Spaziergänger werden von Anna (AN), Reinhold (RE) 3 und Peter (PE) begleitet. Anna ist als polnische Germanistikstudentin mit der Aufgabe betraut, die deutschen Studenten während des Sommerkurses zu betreuen. Reinhold ist hier nicht nur als Wissenschaftler und Ethnograph anwesend, der die drei anderen „belauscht“, sondern er agiert durchaus auch als „Alltagsmensch“. Peter, der sich erst ganz zum Schluß aktiv beteiligt, ist wie Christof Student einer naturwissenschaftlichtechnischen Fachrichtung und Teilnehmer des Kurses. Die Fünfergruppe ist nach einem längeren Weg über die Allee, die direkt auf das Schloß fuhrt, gerade an dem Schloß vorbeigelaufen, als folgendes Gespräch stattfindet: 01 CH: weißt du was * ich hab das gefühl ** hie"r wird 02 CH: ge"ld bewegt! *1,5* hier hier hier wird im 03 MA: hm! (aha? t) 04 CH: mome"nt ge"ld bewegt! *1,5* kann das angehnt 05 MA: mhmT ** jalt 06 CH: *5* also für polnische Verhältnisse ist das sehr 07 CH: gepflegt! 08 MA: ja! mhmT *7* ja mome: "nt mal wie wie für 09 CH: nei''n also 10 MA: polnische * Verhältnisse wie #mei"nst du das! 11 K #LACHEND 12 RE: LACHT 13 CH: hier sind hier sind hier sind 14 MA: * ja mome: "nt=e=mal# 15 K # 16 CH: hier sind äh hier ist englischer ra: sen und so 17 CH: das is: t hier nicht so häu”fig aufgefallen! * 18 CH: bei privaten grundstücken! ** nee also * ->sagen 19 MA: mhm: t 3 Es handelt sich um Reinhold Schmitt. 74 Ricarda Wolf 20 CH: wir mal<auch neu gemäh: t und so ** 21 MA: #wszystko 22 K #AUF POLNISCH; 23 CH: +jat war das fälscht ne 24 MA: dobrzel# LACHT 25 K LEISE # 26 AN: #(...)# *4* 27 K #1 SEKUNDE# 28 CH: 29 CH: 30 CH: 31 MA: 32 RE: aber kuck dir doch das haus vo/ von de"r * fro"nt an das war ja * war ja sau"ber und (nobel be)ma: lt jetzt wird * hier wird gearbeitett mt ja hie"r ist 33 CH: na hie"r ni"chl das is ja 34 MA: ni"cht so sauber net von dieser sei"te I > 35 CH: auch nich die repräsentative sei'^ei 36 MA: die fassa"de ist ( ■ . . > 37 RE: es sind aber 38 MA: t. . .i jat 39 RE: neue fe"nster drin net zum tei"l zumindestl *4* 40 MA: 41 RE: ich glaube (d? s)ie haben nicht so vie"l RÄUSPERN 42 CH: nein nei"nl ** 43 MA: ge"Id um alles auf einmal zu machen ( ) 44 RE: mhmt 45 CH: 46 MA: 47 RE: 48 RE: 49 RE: aber hier tu"t sich wasl jajal ml ich glaub das ist aber relativ typisch für so * die restaurierung von so größeren * gebäuden daß das immer so in etappen 50 MA: mhm 51 RE: gehtl ich mein die in Heidelberg zum beispiel 52 RE: da bauen die schon seit ** ja so seit dreißig 53 RE: oder oder vierzig jahren immer jedes jahr da 54 RE: fang=n se an der einen ecke an da machen se=n 55 RE: kleines türmchen: * dann müssen se wieder gucken 56 RE: daß se geld reinkriegen und dann gibt=s wieder mal 57 RE: 58 PE: so=n schub ** wenn se: rundherum sind dann fang=n se Dumm gelaufen 75 59 RE: 60 K 61 PE: wieder von vorne anl #ja# im prinzip jal *12* #LACHANSATZ# 62 CH: ja der park is wirklich schönl 63 RE: mhmt *7* noch 64 CH: richtige natu"r hier! *16* das is nich so aggre/ 65 CH: aggressi: v äh * gepfle: gt worden wie bei uns im 66 CH: we"stenl net wo wi"rklich alles eben * schö"n 67 CH: sein muß auf den letzten * bis auf den letzten ha"Im 68 CH: und sol net Eine der ersten spontanen Lesarten des Geschehens sowohl im Kreise von Laien als auch unter Sozialwissenschaftlem 4 gestaltete sich ungefähr wie folgt: Spätestens in der Äußerung/ «r polnische Verhältnisse ist das sehr gepflegt^ manifestiere sich das deutsche Polenstereotyp „polnische Wirtschaft“ 5 als zumindest latente Orientierung von Christof. Es scheint nicht nur seine Wahrnehmung der Umgebung zu steuern, sondern auch die Art und Weise seiner Formulierungen. Und das kann für die polnischen Gesprächspartner sehr verletzend sein, wie man an den Reaktionen von Maria sehen könne. Diese vorurteilige Orientierung liege erst recht angesichts des Scheiterns seiner Erklärungsversuche nahe: Auf die Frage von Maria wie wie für polnische * Verhältnisse wie mei“nst du das4antwortet Christof im Grunde immer dasselbe: hier ist englischer ra.sen und so das is: t hier nicht so häu“fig aufgefallen^. Das Schloß von Rogalin gelte für ihn offensichtlich als die große Ausnahme „polnischer Verhältnisse“. Daß Maria darauf nur noch in polnischer Sprache antwortet und daß etwas später auch niemand mehr lacht, zeige, wie tief Christof in den Fettnapf getreten ist. Und daß ihm nun Reinhold heraushelfen muß er selbst ist dazu offensichtlich nicht in der Lage führe zu einer ziemlich eindeutigen Diagnose: Vorurteilige Orientierung. Mit Teilen einer solchen Interpretation sind aus der Perspektive einer linguistischen Gesprächsanalyse m.E. folgende Probleme verbunden: Auch wenn es plausibel erscheint, daß Vorurteile und Stereotypen Barrieren in der (interkulturellen) Kommunikation sein können, 6 so ist es doch nur in den wenigsten Fällen möglich zu beweisen, daß eine Kommunikation genau daran. Ich möchte mich bei allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des ZiF-Kolloquiums „Polnisch-deutsche interkulturelle Kommunikation“ vom 10.-12. April 1995 in Bielefeld für die vielen Anregungen bedanken, die ich bei der gemeinsamen Analyse dieses Gesprächs erhalten habe. Besonders danke ich Marek Czyzewski und Andrzej Piotrowski, die bei zusätzlichen gemeinsamen Analyse-Sitzungen in Mannheim meine Sensibilität und Erklärungsressourcen für polnisch-deutsche Kommunikationsfallen erweitert haben. 5 Nach Orlowski (1994, S. 516) hat die Redewendung „polnische Wirtschaft“, die je nach dem historischen Augenblick und je nach Gesprächssituation mal als Stereotyp, Vorurteil oder Feindbild füngiere, folgende historisch verankerte Konnotation: „unordentlicher, unsauberer Zustand, ineffektives, verschwenderisches Verhalten.“ 6 Vgl. z.B. Quasthoff (1985). 76 Ricarda Wolf und nicht an etwas anderem gescheitert ist. Ob und inwiefern das Verhalten einer Person auf Vorurteile gegenüber einer Personengruppe zurückgefuhrt werden muß, darüber läßt sich mittels gesprächsanalytischer Untersuchungen nur wenig aussagen. 7 Denn selbst Äußerungen, die prototypischen Verbalisierungen von Stereotypen oder Vorurteilen ähnlich sind, müssen nicht unbedingt auf ein Vorurteil oder Stereotyp als latente Orientierung des Sprechers verweisen. Es ist sogar möglich, ganz bewußt ein Stereotyp in spielerischer Absicht zu verbalisieren und als Mittel zur Aushandlung der sozialen Beziehung zum Gesprächspartner zu benutzen. Im Gegensatz zu der Frage danach, ob eine Äußerung auf ein Vorurteil des Sprechers verweist, kann eine linguistisch oder soziologisch orientierte Gesprächsanalyse eher zeigen, welche interaktiven Funktionen solche Äußerungen haben können und inwiefern Vorurteile und Stereotypen als Interpretationsressourcen das Gespräch steuern können. 8 Zu den Analyseaufgaben gehört es dabei, Hinweise darauf zu finden, daß für die Lesarten der Beteiligten solche Interpretationsressourcen eine Rolle spielen. Dazu muß der Analysefokus auf die Anzeigepraktiken der Beteiligten gerichtet werden, das heißt darauf, welche Lesarten sie sich auf welche Weise anzeigen und welche sozialen Informationen wiederum sie sich durch die gewählte Weise des Anzeigens übermitteln. Vor dem Hintergund einer vorurteilsbezogenen Lesart von Christofs Äußerungen würde vor allem Christof die „Schuld“ an dem Vorfall zugewiesen. Es mag ja sein, daß Christof es zunächst nicht so gemeint habe so würde man vielleicht argumentieren warum aber macht er immer wieder denselben Fehler? Spätestens seine Unfähigkeit oder mangelnde Bereitschaft zur Korrektur dürfte doch auf eine vorurteilige oder stark ethnozentrische Orientierung schließen lassen. Auf eine solche Interpretation muß man sich allerdings nur dann festlegen, wenn man die Äußerungen nicht als interaktiv hervorgebracht ansieht. Alternativ oder zumindest ergänzend zu einer solchen Interpretation liefere ich in diesem Beitrag eine interaktionsstrukturelle Beschreibung der Entstehung, Zuspitzung und Renormalisierung des Vorfalls. Dazu nehme ich gegenüber einer alltagsweltlichen eine verfremdende Perspektive auf das Gespräch ein und Nicht als Versuch eines „Gegenbeweises“, aber dennoch als relevante Hintergrundinformation sei an dieser Stelle etwas zu der Aufgabe gesagt, die Christof sich für seine Polen-Reise gestellt hatte: In einem Interview sagte er mir, daß er sich ganz bewußt vorgenommen hatte, stärker nach dem Gemeinsamen zu suchen. Dies auch als Reaktion auf die Vorurteile gegenüber Polen von Bekannten aus Königsberg, die noch einen Tag vor seiner Abreise zu Besuch waren. Beispiele für die vielfältigen interaktiven Funktionen der Verbalisierung von Stereotypen und Vorurteilen sind z.B. in den Beiträgen von Marek Czyzewski und Ulrich Dausendschön-Gay in diesem Band zu finden. Mit Vorurteilen und Stereotypen als Interpretationsressourcen beschäftigt sich Harvey Sacks, einer der „Klassiker“ der Konversaüonsanalyse, z.B. in den Lectures 6, 11 und 13 (vgl. Sacks 1992). Dumm gelaufen 77 bediene mich konversationsanalytischer und objektiv-hermeneutischer Analyseverfahren. 9 Für diese interaktionsstrukturelle Beschreibung sind folgende Aspekte wesentlich: Zu den Grundannahmen der ethnomethodologischen Konversationsanalyse gehört es, daß die in einem und durch ein Gespräch erzeugte soziale Wirklichkeit lokal und interaktiv hervorgebracht wird, das heißt durch wechselseitige Aushandlung der Gesprächspartner. In diesem Sinne läßt sich auch für das vorliegende Gespräch zeigen, daß der Vorfall von beiden Beteiligten, von Christof und Maria gemeinsam produziert wurde. Damit ist nicht gemeint, daß eine(r) der Beteiligten oder beide eine entsprechende Absicht gehabt hätte(n). Man kann die Joint production“ des Vorfalls zumindest teilweise im Sinne einer Emergenzlogik rekonstruieren. Unter Emergenz wird das Phänomen verstanden, daß interaktive Handlungsabläufe Neues („Emergentes“) hervorbringen, „das niemals absolut sicher erwartet und z.T. überhaupt nicht antizipiert werden kann. Die konkreten Ankündigungs-, Aushandlungs- und Durchfuhrungsprozesse der beteiligten Akteure unterliegen der Dynamik interaktiver Beeinflussung, Veränderung und Situierung.“ 10 Dazu tragen bestimmte Interaktionsmechanismen bei, die nach der klassischen Konversationsanalyse universell gültig sind und wie eine Art Maschine die wechselseitige Produktion und Interpretation von Äußerungen Schritt für Schritt lenken. Dazu gehören Regeln des Sprecherwechsels, Regeln über wechselseitige Reaktionsverpflichtungen und Präferenzen für bestimmte Reaktionen. Die lokale Orientierung an diesen Regeln ist eine Erklärung dafür, daß Maria Christof nicht helfen kann und daß Christof sich nicht selbst helfen kann. Die dadurch entstehenden Wiederholungsfehler führen zu einer problematischen interethnischen „Aufladung“ und Verengung der wechselseitigen Interpretationen. Die Analyse macht aber auch eine Art „Selbstheilungsbzw. Reparaturpotential“ erkennbar, das zum Teil aus den gleichen lokalen Interaktionsmechanismen resultiert wie die, die zur Entwicklung des Vorfalls beigetragen haben. Sowohl aus ethnomethodologisch-konversationsanalytischer als auch aus objektiv-hermeneutischer Sicht beruhen die wissenschaftlichen Interpretationen zwar auf den gleichen Regeln der Erzeugung von Sinnstrukturen wie die alltagspragmatischen Interpretationen. Das bedeutet aber nicht, daß die analytische Interpretationstätigkeit mit dem alltagsweltlichen Sinnverstehen übereinstimmt. Die analytische Rekonstruktionsperspektive suspendiert in systematischer Weise die „das praktische Handeln ökonomisierenden Faktoren“ (vgl. Oevermann et al. 1979, S. 386). Während „das Motivverstehen des Alltagshandelns unter praktischem Handlungsdruck darauf aus (ist, d.A.), möglichst treffsicher und möglichst schnell eine richtige Vermutung über die Absichten und Befindlichkeiten eines Interaktionsteilnehmers oder über den Sinn der zeichenhaften Objektivierung von Intentionen zu erhalten“ (ebd.), praktiziert die objektive Hermeneutik das analytische Prinzip der extensiven Auslegung des Sinns von Interaktionstexten. Die weitgehende Übereinstimmung von Konversationsanalyse und objektiver Hermeneutik hinsichtlich wesentlicher Analysegrundsätze zeigt Schmitt (1992, S. 70 ff.). 10 Das Konzept der „Emergenz“ gehört zu den forschungslogischen Grundsätzen des Symbolischen Interaktionismus; siehe dazu Schütze (1987, S. 521 ff.). 78 Ricarda Wolf Bevor ich mit der Darstellung meiner Analyse beginne, ist noch eine theoretisch und methodisch motivierte Vorbemerkung notwendig. Die ethnomethodologische Vorstellung, daß soziale Wirklichkeit lokal und interaktiv hervorgebracht wird, impliziert, daß auch die sozialen Identitäten der Beteiligten als möglicher Hintergrund für wechselseitige Interpretationen erst gemeinsam „hergestellt“ werden. Für die Analytikerin bedeutet das, daß sie ihr Wissen um die potentiellen sozialen Identitäten der Beteiligten nicht unkontrolliert zur Rekonstruktion dessen, was in dem Gespräch passiert, verwenden kann. Eine solche analytische Maxime wird allerdings oft mißverstanden als dogmatisches „Verbot“, jegliches Wissen über den interkulturellen Kontext bzw. die sozialen Identitäten der Beteiligten aus der Analyse herauszulassen. Das führt dann zu Skepsis gegenüber den Möglichkeiten der Konversationsanalyse bei der Untersuchung von interkultureller Kommunikation. Stattdessen verstehe ich diese Grundsätze so, daß die Analytikerin für ihre Überlegungen durchaus zu jeder Zeit eigenes Hintergrundwissen über den sozialen Kontext verwenden kann, daß aber der Status der dadurch erreichten Aussagen davon abhängig ist, ob und inwiefern die Aktivierung dieses Wissens jeweils von entsprechenden Aufzeigeverfahren der Beteiligten zur Rekonstruktion von deren Interpretationstätigkeit motiviert ist oder nicht. Für das hier untersuchte Gespräch bedeutet das, mein eigenes Wissen darüber, daß es sich bei den Gesprächspartnern um Deutsche und Polen handelt, erst dann zur Rekonstruktion der Interpretationstätigkeit der Beteiligten einzusetzen, wenn sie selbst entsprechendes Wissen als bedeutsam für ihre Interpretationen anzeigen. Für bestimmte Überlegungen ist es zwar aus heuristischen Gründen sinnvoll, dieses Wissen auch vorher oder an anderen Stellen einzusetzen. Dabei ist aber zu jedem Zeitpunkt zu reflektieren, inwieweit sich die dadurch angeregten Überlegungen noch im Rahmen des Untersuchungsgegenstandes bewegen, der ausgehend von der Interaktionsstruktur konstituiert wurde und sinnvoll an dem vorliegenden Material bearbeitet werden kann. Ansonsten kann die Arbeit zu Fragestellungen und Aussagen führen, die an dem Vorbeigehen, was in dem Gespräch vor sich geht. Eine solche bewußte methodische „Beschränkung“ muß m.E. kein Hindernis sein, etwas über die Spezifik interkultureller Kontakte auszusagen. Sie ermöglicht stattdessen, die Fallstricke solcher Kontaktsituationen genauer zu lokalisieren und Kompensationswie Reparaturpotentiale zu erkennen. 2. Analyse 2.1 Christof initiiert ein Gespräch Transkriptausschnitt I: 01 CH: weißt du was * ich hab das gefühl ** hie"r wird 02 CH: ge"ld bewegtl *1,5* hier hier hier wird im 03 MA: hmf (aha? t) mome"nt ge"Id bewegtl *1,5* kann das angehnt mhmt * * j alt 04 CH: 05 MA: Dumm gelaufen 79 Zur besseren Orientierung fasse ich vorab die Struktur zusammen, die sich nach meiner Analyse in diesem ersten Gesprächsausschnitt etabliert: Christof ermöglicht hinter beiden Formulierungsversuchen mit dem Inhalt hie “r wird ge “Id bewegt Jdie Übernahme der Sprecherrolle durch die von ihm angesprochene Person. In jedem Fall läßt Maria, die sich offenbar angesprochen fühlt, diese Möglichkeit passieren. In der jeweils nachfolgenden Äußerung bearbeitet Christof dieses „Schicksal“ seiner vorigen Äußerung. (Insofern ist bereits das Geschehen in Z. 1-5 von Christof und Maria gemeinsam hergestellt.) Durch die Art dieser Bearbeitung signalisiert Christof zugleich, daß er eine inhaltliche Reaktion auf seine Äußerung erwartet bzw. präferiert. Das Format der Äußerungen läßt darüber hinaus die Interpretation zu, daß Christof die adressierte Person als Experte/ -in anspricht und um Wissensvermittlung bittet. Dieser Bitte kommt Maria nicht nach. Das soll im folgenden etwas genauer ausgefuhrt werden: Die Formulierung weißt du was kann zunächst als ein recht aufwendiges Aufmerksamkeitssignal angesehen werden. Aufwendig ist es im Vergleich zu anderen möglichen Signalen wie prosodisch relativ selbständigem ja, und, naja, äh. n Dieses Signal ist mit einer spezifischen Adressierung verbunden: Es sieht so aus, als würde Christof ein bestimmtes Mitglied der Fünfergruppe ansprechen (du). Der Aufwand, der hier insgesamt betrieben wird, läßt sich darauf zurückfuhren, daß die Spaziergänger vorher eine Weile geschwiegen hatten. Christof geht offenbar davon aus, daß er nun einiges tun muß, um die anderen aus ihren Gedanken zu reißen und sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Das deutliche Aufmerksamkeitssignal spricht gegen die zunächst auch mögliche Interpretation, daß Christof nur für sich spricht. In diesem Sinne läßt sich auch die folgende Äußerungseinheit ich hab das gefiihl interpretieren. Denn sie kann die folgende Äußerung vorgreifend als Stellungnahme und (im Zusammenhang mit weißt du was) als Themeneinleiter kennzeichnen und damit nach den Regeln der Präferenzorganisation 12 einen entsprechenden nächsten turn „anfordern“. Die Formulierung der gesamten Einleitung macht hier sowohl Zustimmung als auch Widerspruch und Korrektur präferentiell erwartbar. Dyspräferiert wäre dagegen das Ausbleiben einer inhaltlichen Reaktion. Im Zusammenhang damit kann diese Einleitung in dem Maße, wie sie auch signalisiert, daß sich Christof des Gültigkeitsgrades seiner folgenden Äußerung nicht ganz sicher ist, als erstes kleines Signal eines Bedarfs an Wissensvermittlung interpretiert werden. Der Inhalt der Äußerung hie “r wird ge “Id bewegt 4läßt sich erst vor dem Hintergrund von Hypothesen über das Referenzobjekt von hie “r erschließen. 11 Prosodische Selbständigkeit kann z.B. durch eine (kurze) Pause nach der Partikel oder durch einen eigenen Akzent auf derselben erreicht werden, vgl. z.B. Selling (1995). 12 Nach dem konversationsanalytischen Konzept der Präferenzorganisation zeigt die Formulierung des ersten Teils einer Sequenz (einer Initiative), welche Art Reaktion vom Sprecher präferiert wird. 80 Ricarda Wolf Es liegt zunächst nahe, daß hie “r auf etwas verweist, das die fünf Spaziergänger unmittelbar wahmehmen können: auf das Schloß von Rogahn, an dem sie gerade Vorbeigehen oder auf etwas im umliegenden Park. Es ist aber auch möglich, daß hie"r auf etwas ganz anderes verweist. Bei einem wörtlichen Verständnis der Formel hie“r wird ge“ld bewegt^ könnte hie “r etwa auf einen gerade beobachtbaren Vorgang referieren, bei dem sich verschiedene Personen wechselseitig etwas zuschieben. Unsere Videoaufnahmen und Erinnerungen an diesen Spaziergang „wählen“ eine solche Lesart der Äußerung allerdings ab: denn es ist/ war keine solche Personengruppe zu sehen. Eine Formulierung wie hie“r wird ge“ld bewegt J. kann auch Metapher für Veränderungen sein. Aufgrund dieses Bedeutungspotentials könnte hie“r auf das Schloß verweisen. Möglicherweise ist die Thematisierung einer Veränderung zunächst durch den Unterschied zwischen der offensichtlich gerade restaurierten Vorderfront und der noch nicht restaurierten Rückfront des Schlosses motiviert. Auffällig ist die Emphase, mit der die Äußerung hie “r wird ge "Id bewegti gesprochen wird: Im Gegensatz zur Einleitung weißt du was * ich hab das gefühl ist das Sprechtempo etwas verlangsamt, und die Worte hie “r und ge ‘‘Id werden besonders betont. Über diese intonatorischen Merkmale signalisiert Christof, daß er seiner Äußerung in irgendeiner Hinsicht eine besondere Bedeutung beimißt. Auch damit bearbeitet er vielleicht noch das „Problem“, sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Nach dem letzten Element der ersten Äußerung {bewegt) zeigt Christof die Möglichkeit zur Übernahme der Sprecherrolle durch einen folgenden Sprecher (die von Christof adressierte Person) an. Dafür gibt es drei deutliche Hinweise: 1) Mit der finiten Verbform bewegt ist ein mögliches Ende des Satzes erreicht. Ein mögliches Satzende kann vom Hörer, falls der Sprecher keinen längeren Redebeitrag (turn) angekündigt hat, als Signal für die Beendigung des turns verstanden werden. 2) Die Identifizierung eines möglichen Tum- Endes wird in der Regel durch prosodische Signale unterstützt, was in der vorliegenden Äußerung durch die fallende Tonhöhenbewegung ab ge “Id geschieht. 3) Die kurze Pause nach bewegt ist ein weiterer Hinweis auf Christofs Wunsch zur Turn-Abgabe. 13 Vor diesem Hintergrund ist bemerkenswert, daß keiner der in Hörweite von Christof laufenden Spaziergänger sofort in irgendeiner Weise reagiert. Etwas später zeigt Maria eine Reaktion. Daß sie als erste oder nach der Verzögerung überhaupt noch reagiert, deutet möglicherweise darauf hin, daß sie sich als die von Christof adressierte Person ansieht. Maria bringt nacheinander zwei Si- Zum Zusammenwirken syntaktischer und prosodischer Parameter bei der Signalisierung eines Tum-Endes vgl. Auer (1993), von dem ich auch die Redeweise von „möglichen Satzenden“ („possible syntactic completion points“) übernommen habe. Dumm gelaufen 81 gnale hervor, die man zunächst ganz allgemein als „continuer“ bezeichnen kann. Damit zeigt sie an, daß sie selbst den Tum nicht übernehmen will; ein anderer Sprecher oder Christof soll (weiter)reden. Daraus können wir schließen, daß Maria die Äußerung von Christof zumindest gehört hat. Daß sie auf eine Turn-Übemahme bzw. auf eine inhaltliche Reaktion verzichtet, wird man vielleicht zunächst darauf zurückfuhren wollen, daß sie (als Nicht-Muttersprachlerin) den Inhalt des Satzes nicht verstanden hat. 15 Dagegen sprechen allerdings die möglichen spezifischeren Lesarten ihrer beiden Rückmeldesignale (hml und ahaf): 16 Das erste Signal hmi (mit fallender Intonation) klingt wie eines, mit dem man seinem Partner anzeigt, daß man zumindest eine Ahnung hat, was er sagen will. Danach wäre die Aussage zwar nicht unbedingt falsch, aber man weiß nicht recht, worauf der Sprecher hinaus will und wie man darauf reagieren soll. Das zweite Signal (ahaT) deutet noch stärker darauf hin, daß Maria eine bestimmte Deutung von Christofs Äußerung entwikkelt hat. Im Gegensatz zu dem ersten hm^ zeigt sie mit dem zweiten Rückmeldesignal an, daß sie Christofs Äußerung nun in irgendeiner Hinsicht für bedeutsam, interessant hält. In dem ahaf schwingt sogar ein etwas ironischer „Unterton“. Das Ausbleiben einer inhaltlichen Reaktion kann man dann so deuten, daß Maria ihre Interpretation erst noch bestätigt sehen will, ehe sie „antwortet“. Deshalb soll Christof weiter sprechen. Im gleichen Moment, da Maria ihre „continuer“ äußert, setzt Christof seinen Tum fort. Die Art der Fortsetzung deutet darauf hin, daß er nun das Ausbleiben einer inhaltlichen Reaktion auf seine erste Äußerung bearbeitet: Die Äußerung hier hier hier wird im mome “nt ge “Id bewegtl ist zunächst eine Reformulierung der ersten Äußerung. Reformulierungen können dadurch motiviert sein, daß der Sprecher das Verständnis seiner vorigen Äußerung nicht gesichert sieht. Entscheidend dafür, daß man in unserem Fall eine solche Motivierung vermuten kann, ist die Tatsache, daß Christof in der Reformulierung eine zeitliche Einschränkung (im mome “nt) hinzufügt. Dieser Zusatz macht im gegebenen Kontext am ehesten Sinn, wenn er als klärender Hinweis für den Referenzbereich von hier verstanden werden kann, etwa im Sinne folgender Paraphrase: ‘hier verweist auf das, was wir im Moment sehen’. Aus dem Zu- Damit folge ich der Argumentation von Schegloff (1983), nach der die allgemeinste Funktion solcher Rezipientensignale wie ‘mhm’, ‘hm’, ‘ja’, ‘ach so’ etc. darin besteht, dem gegenwärtigen Sprecher anzuzeigen, daß er weiter sprechen soll. Aus dieser allgemeinsten Funktionsbestimmung, die „universellen“ Regeln des Sprecherwechsels folgt, resultiert die Bezeichnung solcher Signale als „continuer“. Schegloff richtet sich damit gegen die in der amerikanischen Diskursanalyse vorherrschende Tendenz, die allgemeinste Funktion dieser Signale in der Signalisierung von Aufmerksamkeit oder Interesse zu sehen. Solche Funktionen, die nach Schegloff gegenüber der Funktion als „continuer“ spezifischer sind, lassen sich gegebenenfalls nur in bestimmten Interaktionskontexten rekonstruieren. Allerdings haben auch manche Muttersprachler Schwierigkeiten mit dieser Metapher. Spezifischer sind diese Lesarten gegenüber der allgemeinen Charakterisierung der Rückmeldesignale als „continuer“. 82 Ricarda Wolf satz könnte man also schließen, daß Christof die Pause nach bewegt1 als Ausbleiben einer von ihm präferierten (inhaltlichen) Reaktion interpretiert und dies auf Verstehensprobleme seiner Äußerung zurückfuhrt. 17 Wie in der ersten Äußerung signalisiert Christof auch jetzt mit dem potentiellen Satzende und der fallenden Intonation bei bewegtJseinen Wunsch nach Tum-Abgabe. Wiederum erfolgt lediglich ein continuer als Reaktion (mhmT). (Im Gegensatz zu dem ahaf klingt das mhmT weniger ironisch.) Christof wartet noch einen kleinen Moment, ehe er die Frage kann das angehn T anschließt. Diese Nachfrage kann dadurch motiviert sein, daß die präferierte inhaltliche Reaktion erneut ausgeblieben ist. Die Nachfrage hat im gegebenen Kontext das Potential, den Wunsch zur Tum-Abgabe noch deutlicher zu kennzeichnen, denn sie etabliert eine Antworterwartung und damit die Erwartung der Tum-Übemahme durch einen anderen Sprecher. Außerdem wird Maria damit ganz unmißverständlich der Status einer Expertin für den Inhalt von Christofs Äußerung zugewiesen. Christof bittet nun deutlich um Aufklärung. Nach einer kurzen Pause „antwortet“ Maria mit jait. Das ist aber wiederum keine inhaltliche Reaktion auf die zur Debatte gestellte Beobachtung hier wird geld bewegt. Angesichts des Aufwandes, den Christof betrieben hat, um diese Äußerung „an die Hörer“ zu bringen und dann die Sprecherrolle abzugeben, hat das yWf ebenfalls eher die Qualität eines „continuers“. Eine solche Interpretation wird unterstützt durch die erst fallende und dann steigende Tonhöhenbewegung auf dem ja+T. Damit läßt sich die spezifische Bedeutung dieser kurzen „Antwort“ etwa so paraphrasieren: ‘Ja, das kann man so sehen, aber wie meinst du das; was willst du damit sagen? Mach mal weiter! ’ Das erneute Ausbleiben einer inhaltlichen Reaktion ist auch angesichts des vorher signalisierten Interesses für Christofs Äußerung bemerkenswert. Überhaupt ist Marias Rückmeldeverhalten bis zu dieser Stelle recht widersprüchlich: Die Signalisierung von teils ironisch gefärbtem - Interesse steht einem abwartenden, passiven Verhalten gegenüber. Die eingangs dargestellte Struktur hat sich bis zu diesem Punkt also zwei Mal wiederholt. Die dritte Wiederholung führt zu der Äußerung alsofür polnische Verhältnisse ist das sehr gepflegtf die Maria später als Vorfall kennzeichnen wird. Aufgrund der aufgezeigten „Unterlassungen“ kann man sagen, daß auch Maria an der Entstehung dieses Vorfalls beteiligt ist. Bevor ich diesen Gedanken genauer ausführe, ist es sinnvoll, sich noch weiter mit den interakti- 17 Möglicherweise kann man sogar den dreifachen Start der Äußerung mit hier hier hier als Reaktion auf das Ausbleiben eines Sprecherwechsels nach seiner ersten Äußerung deuten: Christof könnte dadurch seine Reformulierung so lange hinauszögem, bis er davon ausgehen kann, daß Maria wirklich keine inhalüiche Reaktion auf seinen Beitrag liefern wird. Der dreifache Start kann aber auch als Zeichen einer gewissen Irritation angesichts der Schweigsamkeit der anderen gesehen werden. Dumm gelaufen 83 onsstrukturellen und sozialen Potentialen von Christofs Äußerungen zu beschäftigen. Christofs Geldbewegungsmetapher wirkt im Kontext des Schloßparks von Rogalin als Beschreibung von Restaurationsarbeiten etwas kurios, erst recht aufgrund der Emphase. 18 Denn zum einen scheint es nach meiner Beobachtung für die Thematisierung von Restaurationsarbeiten an einem kulturhistorischen Gebäude immer einen besonderen Grund zu geben: etwa daß der Haupteingang des Münsters in Bern wegen Bauarbeiten gegenwärtig nicht begehbar ist, oder daß man die Fassade des Domes in Lucca wegen Bauarbeiten zur Zeit nicht bewundern kann oder daß für die Restauration der Dorfkirche von Niederwald jetzt wohl endlich genug Geld da sei. Denn zumindest aus einer westeuropäischen Perspektive gehören ständige „kosmetische Behandlungen“ solcher Bauwerke zur Normalität, das heißt, sie sind nicht unbedingt der Rede wert. Zum anderen sehen viele deutsche Muttersprachler den typischen Kontext einer Äußerung wie hier wird geld bewegt im Bereich der Börse. Andere geben als typischen Kontext zumindest die Beobachtbarkeit von großen, bedeutsamen Veränderungen an, etwa in der Dimension einer modernen Industrieanlage, eines neuen Gebäudekomplexes o.ä. Eine solche Beschreibung erst recht, wenn sie durch emphatische Intonation unterstützt wird paßt nicht zu den am Schloß beobachtbaren Veränderungen. Denn die sind zumindest aus einem westeuropäischen Blickwinkel von eher unspektakulärem Umfang. Das scheint Ausdruck gerade dafür zu sein, daß von jeher sehr viel Wert auf die Erhaltung des Schlosses gelegt wurde (s.u.). Vielleicht hat Maria ja aufgrund dieser „Unpäßlichkeit“ der Formulierung im gegebenen Kontext Schwierigkeiten, angemessen zu reagieren. Wenn man nun das Wissen einsetzt, daß Christof ein Deutscher und Maria eine Polin ist, und wenn man zusätzlich alle wechselseitigen nationalen Stereotype aktiviert, dann wird man schnell dazu verführt, Christofs Äußerung nur als die typische Äußerung eines Deutschen anzusehen. (Denn die Deutschen denken „bekanntlich“ nur an Geld. Und außerdem haben sie die unangenehme Eigenschaft, immer und überall ihre Beurteilungskompetenz herauszustellen.) Den Grund für Christofs Beitrag zur Entstehung des Vorfalls wird man dann in erster Linie oder sogar ausschließlich in einer ethnozentrischen Wahrnehmung und Verhaltensweise sehen. Im Gegensatz dazu kann man die Produktion dieser Äußerung aber auch vor dem Hintergrund einer sozialen Situation verstehen, die durch folgende Merkmale gekennzeichnet ist: Die Rogalin-Spaziergänger verbindet im Grunde nicht viel mehr miteinander, als daß sie Teilnehmer eines Sommerkurses für 18 Das ist nicht nur ein persönlicher Eindruck der Analytikerin. Die Äußerung wurde bei verschiedenen Gelegenheiten sowohl von deutschen als auch von polnischen Analysierenden für erklärungsbedürftig gehalten. 84 Ricarda Wolf polnische Sprache, Kultur und Geschichte sind und als solche bereits eine Woche lang gemeinsam Polnisch gelernt, Vorträge gehört, Filme gesehen und manchen polnischen Wodka am Abend zusammen getrunken haben. Sie sind einander relativ fremd. Daraus entsteht für die gemeinsamen Spaziergänge im Rahmen einer solchen Exkursion folgende Schwierigkeit (die noch nicht unbedingt etwas mit kulturellen Differenzen zu tun haben muß): Aufgrund der relativen Fremdheit wird der Spaziergang zu einer sogenannten „make-talk- Situation“. Man muß ab und zu etwas sagen, um nicht als unzugänglicher Typ „abgestempelt“ zu werden oder um zu verhindern, daß die Begleiter negative Schlüsse auf ihre eigene Wirkung ziehen. (Nur Liebende, Vetraute können längere Zeit schweigsam nebeneinander herlaufen, ohne daß es für den einen oder anderen irgendwann problematisch wird.) Zugleich beschneidet die relative Fremdheit aber die thematischen Ressourcen für ein Gespräch. Für die Bearbeitung derartiger Interaktionsprobleme gibt es eine Technik der Themengenerierung, die von der klassischen Konversationsanalyse als „setting talk“ beschrieben wurde. Diese Technik ist dadurch gekennzeichnet, daß die Gesprächspartner wahrnehmbare Aspekte der momentanen Situation zum Gegenstand ihrer Interaktion machen. Sie kann dazu dienen, Gesprächsflauten zu überbrücken oder ein Gespräch überhaupt in Gang zu bringen. Setting talk ist eine Ressource gerade für einander fremde Personen in „make-talk situations“, da er nicht von gemeinsamen biographischen Erfahrungen abhängt (vgl. Maynard/ Zimmermann 1984). In diesem Sinne kann man Christofs Äußerung gerade aufgrund ihrer Formulierungsspezifik als Versuch interpretieren, ein Gespräch zu eröffnen bzw. ein Thema „zu machen“. Einer solchen Interpretation entspricht der oben beobachtete Aufwand, den Christof betreibt, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Mir scheint allerdings, daß man in dem von Christof angewendeten Verfahren noch mehr als „setting talk“ sehen kann. Christof macht nämlich nicht irgendetwas aus der wahrnehmbaren Umgebung irgendwie zum Gegenstand der Interaktion, sondern in einer Weise, die man mit möglichen Aufgabendefmitionen deutscher Studenten im Rahmen eines Sommerkurses für polnische Sprache und Kultur in Beziehung setzen kann. Dazu komme ich noch einmal auf die Kuriosität von Christofs Eingangsäußerung zurück. Auffällig daran war ja zunächst, daß die durch die Metapher hier wird geld bewegt vorgenommene Beschreibung des Beobachtungsobjekts (große Veränderungen) nicht den Dimensionen des tatsächlich beobachtbaren Gegenstandes entspricht. Daher ist die Emphase, mit der Christof die Metapher versieht, erst recht interpretationsbedürftig. In einem gewissen Widerspruch steht die Bedeutung, die er seiner Beobachtung beimißt, zu dem einleitenden Ausdruck von Vermutung {ich hab das gefühl). In dem eben angedeuteten Interpretationsrahmen ließe sich diese Auffälligkeit auch folgendermaßen erklären: Christof vermutet, daß das Schloß aus der Perspektive der von ihm adressierten Person auf größere, und damit erwähnenswerte, Veränderungen hinweist. Diese Vermutung stellt er mittels der Einleitung ich hab das gefühl zur Debatte. Mit der mehrfachen Si- Dumm gelaufen 85 gnalisierung von Bedeutsamkeit könnte er zum einen seine Vermutung (als Deutscher bzw. Westeuropäer) ausdrücken, daß die Veränderungen für die angesprochene Person als Polin von besonderer Bedeutung sind, und zwar als eine Art Symbol für den wirtschaftlichen Aufschwung in Polen seit dem Übergang zur Marktwirtschaft. Zum anderen kann die Emphase auf hie“r wird ge “Id bewegt>1 auch anzeigen, daß Christof seine Beobachtung selbst für bedeutsam hält, und zwar als potentielle Erfüllung eines kulturellen Lemauftrages, die er nun bestätigt haben will. (Kulturelles Lernen war ja gerade erst zwei Stunden vorher vom Exkursionsleiter zur Aufgabe gemacht worden, s.o.) Nach dieser Interpretation ist es möglich, daß Christof „setting talk“ mit einem Aspekt der kulturellen Lemsituation als thematischer Ressource verbindet, das heißt mit gerade dem wichtigsten (und von Fall zu Fall vielleicht einzigen) Aspekt der sozialen Situation, über den die Spaziergänger hier etwas miteinander zu tun haben. 19 Darüber hinaus sind nach meinem Eindruck Spezifika von Kulturen auch für sich genommen eine häufig genutzte thematische Ressource in Erstkontakten zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen, die den Potentialen von setting talk wahrscheinlich in nichts nachsteht. Gesetzt den Fall, daß Maria sich durch diese Äußerung als Polin angesprochen fühlt worauf es im Transkript an dieser Stelle keine deutlichen Hinweise gibt dann hat die Äußerung allerdings auch ein verletzendes Potential. Denn sie könnte auf eine mögliche Annahme von Christof zurückgeführt werden, nach der erst die Einführung der Marktwirtschaft dazu geführt habe, daß man sich in Polen um die Restauration von kulturhistorisch bedeutsamen Gebäuden bemüht. Auch wenn man z.B. am Stadtbild von Poznan Aktivitäten wahrnehmen kann, die aus nicht-polnischer (vielleicht auch teilweise aus polnischer) Perspektive in dieser Richtung gedeutet werden, steht dieser Annahme die historische Tatsache entgegen, daß gerade in Polen zu allen Zeiten große Anstrengungen zur Erhaltung traditioneller Kulturgüter unternommen worden sind. Unter anderem darin drückt sich die Selbstdefinition vieler Polen als Kultumation aus. 20 19 Möglicherweise besteht in einer solchen Verbindung zwischen der Thematisierung physisch wahrnehmbarer Objekte der Situation mit sozialen Charakteristika des Kontextes nicht ein gegenüber „setting talk“ spezifisches Verfahren der Themengenerierung, sondern vielleicht ist gerade darin seine spezifische Qualität zu sehen. Während die Beschreibungen von Maynard/ Zimmermann (1984) eine solche Qualifizierung von „setting talk“ nicht ergeben, ist sie den vorgestellten Beispielen durchaus zu entnehmen: Auch hier reden die einander fremden Personen nicht über irgendetwas, was sie gerade sehen, sondern über die Dinge, die mit der gemeinsamen Aufgabe verbunden sind, nämlich in wenigen Minuten an einem Experiment teilzunehmen. 20 Auf dieses verletzende Potential weist auch die Äußerung eines polnischen Kollegen auf unserem Bielefelder Kolloquium hin: diesen schloßpark gibt es schon seit paarhundert jah “ren und eh eh we “nn dann und auch nach ßinfundvierzig war er immer gepflegt weil das ja dort äh gemä'jdesammtungen gibt es i"s nich also n richtiges schloß [...] inso “fern bin ich erstaunt * über christofs chri"stofjat wohe"r äh wohe"r kommt er auf 86 Ricarda Wolf Tatsächlich wird in Polen nicht selten eine verbreitete Unwissenheit von Deutschen gegenüber polnischer Kultur und Geschichte beklagt. Das ist erst recht verständlich angesichts der gründlichen Zerstörung polnischer Kultur im Rahmen von Dezivilisationsbestrebungen der Nazis (siehe den Beitrag von Miriam Yegane Arani in diesem Band). Diese „deutsche“ Unwissenheit könnte man sogar als Ausdruck dafür ansehen, daß hinsichtlich der Präsentation eines negativen Polen-Bildes, insbesondere im Deutschland der vierziger Jahre, gründliche Arbeit geleistet wurde und daß die Verdrängung dieser Taten aus den deutschen Geschichtslehrbüchem zum Fortbestehen dieses Bildes als latente Orientierung vieler Deutscher beiträgt. Auch bei dieser Interpretation zeigt Christof mit seiner Äußerung also eine zumindest nicht-polnische, vielleicht sogar eine westliche Perspektive an 21 , und zwar kurioserweise gerade dadurch, wie er sich um Adressatenspezifik bemüht. Vom Ende des Gesprächs her gesehen besteht Christofs erster und grundlegender Beitrag zu dem Vorfall in seiner westlich geprägten Sicht auf Polen als ehemals sozialistisches Land und in seinem Wissensdefizit über Polen als Kultumation. Zugleich ist aber zu berücksichtigen, daß er seine Aussage der Prüfung und Richtigstellung anheimstellt, daß er also (in einer Situation, in der Kulturvermittlung potentiell relevant ist) kulturelle Aufklärung als Gesprächsressource benutzt. Setzt man die Überlegungen zu Christofs Äußerung als Versuch der Themengenerierung in einer „make-talk-situation“ in Beziehung mit seinem Wissensdefizit über Polen, dann könnte man diesen Gesprächsanfang auch als prototypisch für die möglichen Schwierigkeiten in interkulturellen Erstkontaktsituationen ansehen. Wegen der widersprüchlichen Anforderungen an die Interaktion handelt es sich beinahe um eine paradoxe Situation: Auf der einen Seite liegt es aus verschiedenen Gründen nahe, die jeweils andere Kultur zum Thema zu machen. 22 Auf der anderen Seite wird die Art der Thematisierung zumindest dann, wenn die Gesprächspartner nicht ausgesprochene Kenner der jeweils anderen Kultur sind, die kulturspezifische Sozialisation verraten. Und das kann gegebenenfalls für die andere Seite einen problematischen Interpretationsrahmen aktivieren. Die widersprüchlichen Rückmeldesignale von Maria könnte man in einem interethnischen Interpretationsrahmen so deuten, daß den gedanken daß hier ge "Id bewegt wird ni/ der rasen den rasen muß man ja (. ) zweihundertJahre lang schneiden das weiß manl * äh dann ist er dann ist er also der ist höchstwahrscheinlich schon vor von vom von dem großpolnischen ade! * (al)so immer so: gepflegt worden und (da: nn) wei"ter noch i weil=sja ein museum ist 21 Westlich wäre diese Perspektive insofern, als sie einer typischen Orientierung vieler Westeuropäer nach dem Fall der Berliner Mauer entspricht: Die damaligen Ostblockländer interessieren zunächst noch nicht oder wenig aufgrund ihrer Kultur. Sie sind vielmehr als ehemals sozialistische Länder und als Beispiele für den abenteuerlich erscheinenden Übergang zu einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung interessant. 22 Zu diesem Gedanken bin ich auch durch eine Hypothese von Chohij (in diesem Band) angeregt worden, die sich dort allerdings auf die Funktion von Stereotypen in interkulturellen Erstkontakten bezieht. Dumm gelaufen 87 auch für sie als Adressatin einer solchen Gesprächsinitiative die Situation nicht einfach ist: Sicher ist Christofs Äußerung nicht ganz falsch. Aber sie ist auch nicht ganz richtig. Soll sie ihm diesen „kleinen Unterschied“ zwischen geputzten Fassaden im Stadtbild von Poznan als möglichem Symbol des wirtschaftlichen Aufschwunges und den zu beobachtenden Restaurationsarbeiten am Schloß als Symbol von nationalitätsstiftender Kontinuität erklären? Jetzt? Ist die Situation, die eher zu einem „small talk“ einlädt, dazu geeignet? Und so weiter. Es gibt allerdings wenn überhaupt nur einen ganz vagen Hinweis darauf, daß Maria für Christofs Äußerung einen interkulturellen Interpretationsrahmen relevant setzt. Das ist das ironisch klingende ahat in Z. 3. Die folgenden Rückmeldesignale legen dann nahe, daß sie sich später dazu entschieden hat, eine größere Offenheit ihrer Lesart anzuzeigen. Die Spaziergänger haben also noch nicht deutlich einen interkulturellen Interpretationsrahmen eröffnet. Insofern ist nicht sicher, ob man Christofs Themeninitiative tatsächlich mit einer potentiellen Interkulturalität dieser Erstkontaktsituation in Verbindung bringen kann oder muß. 2.2 Die Gesprächsinitiative führt zu einem Vorfall Die zu Beginn des vorigen Abschnittes vorgestellte Interaktionsstruktur wiederholt sich zunächst auch in dem folgenden Schritt: Transkriptausschnitt II: 04 CH: mome”nt ge"ld bewegti *1,5* kann das angehnt 05 MA: mhmT ** jatf 06 CH: *5* also für polnische Verhältnisse ist das sehr 07 CH: gepflegtl 08 MA: jal mhmt *7* ja mome: "nt mal wie wie für 09 CH: nei"n also 10 MA: polnische * Verhältnisse wie #mei"nst du dasl 11 K #LACHEND 12 RE: LACHT 13 CH: hier sind hier sind hier sind 14 MA: * ja mome: "nt=e=mal# 15 K # In der fünfsekündigen Pause nach Marias jaJ-t könnten zunächst folgende wechselseitige Interpretationsprozesse ablaufen: Christof wartet darauf, daß Maria nach dem jait eine inhaltliche Reaktion auf seine Äußerung bringt. Dann versucht er wiederum das Ausbleiben der Reaktion zu interpretieren: Vielleicht hat sie auch nach der Reformulierung noch nicht verstanden, was er (warum) sagen will. Maria ihrerseits erwartet eine Antwort auf ihr fragendes jaJ-t. Vielleicht ist es ihr aber auch egal, ob Christof weiter redet. 88 Ricarda Wolf Dann setzt Christof, der inzwischen wohl davon ausgehen muß, daß sein Versuch, den Turn abzugeben, erneut gescheitert ist, zu einer weiteren Äußerung an: alsofür polnische Verhältnisse ist das sehr gepflegtf Maria wird die Äußerung im nächsten Schritt als „Vorfall“ behandeln (s.u.). Aufgrund der bisher rekonstruierten Interaktionsstruktur kann man sagen, daß die Begleiter von Christof, insbesondere Maria, wegen der Spezifik ihrer Reaktionen auf Christofs Initiative einen wenn auch geringen - Anteil an der Entstehung dieses Vorfalls haben. 23 Denn daß Christof nach der viersekündigen Pause überhaupt weiterspricht, kann auf den Widerspruch zwischen dem wenn auch minimalen - Interesse, das Maria mit ihren Rückmeldem signalisiert, und dem Scheitern der bisherigen Tum-Abgabe-Versuche zurückgefuhrt werden. Eine solche Sichtweise kann auch durch die Berücksichtigung des Starts der Äußerung mit also gestützt werden. Denn eine mögliche Lesart des also im vorliegenden Kontext ist, daß Christof die folgende Äußerung als Reformulierung seiner vorherigen Äußerungen oder als Antwort auf Marias fragendes kennzeichnet. Diese formale interaktionsstrukturelle Interpretation sagt nichts über die Gründe für die nur minimalen Reaktionen aus (und birgt daher alles andere als moralische Schuldzuweisungen an irgendeinen der potentiellen Gesprächspartner in sich). Es ist einerseits möglich, daß die anderen bereits Christofs erste Äußerung für so unangemessen halten, daß sie lieber nichts dazu sagen. Es gibt allerdings keinen deutlichen Hinweis darauf. Aus den gleichen oder auch aus ganz anderen Gründen ist es möglich, daß Maria sich inzwischen dazu entschieden hat, zumindest formales Interesse an Christofs Äußerungen zu signalisieren. Das impliziert, daß sie vielleicht dem Inhalt nicht mehr so genau gefolgt ist. Letzteres wird durch Marias widersprüchliche Reaktion auf die Äußerung also für polnische Verhältnisse ist das sehr gepflegti nahegelegt: Zunächst äußert sie wiederum nur continuer (ja+ mhm 7), und zwar ohne zu zögern. Nach sieben Sekunden Pause aber zeigt sie sich ansatzweise empört: ja mome: “nt mal wie wie für polnische * Verhältnisse wie mei“nst du dasi * ja mome: “nt =e=mal. Sie vermittelt also zunächst den Eindruck, daß Christofs Äußerung für sie ganz unproblematisch ist. Eine Erklärung für diesen Widerspruch ist, daß sie entsprechend der oben angedeuteten Beteiligungsweise an dem „Gespräch“ (formales Interesse zu signalisieren) zunächst auch die Äußerung für polnische Verhältnisse „abgenickt“ und Christof erneut signalisiert hat, daß er weitersprechen kann oder soll. In den anschließenden sieben Sekunden voll Schweigen scheint sie sich dann des problematischen Bedeutungspotentials von Christofs Äußerung bewußt zu werden. Marias Anteil wird hier deshalb gegenüber dem der anderen Begleiter hervorgehoben, weil sie sich mittels ihrer Rückmeldesignale zumindest als die aktivste Zuhörerin und damit als potentielle Gesprächspartnerin dargestellt hat. Dumm gelaufen 89 Mit der Äußerung ja tnome: "nt mal wie wie für polnische * Verhältnisse wie mei"nst du das sh * ja mome: “nt=e=mal hinterfragt sie nicht einfach nur die in Christofs Äußerung ausgedrückte Kontrastrelation zwischen der positiven Bewertung des Schlosses und „polnischen Verhältnissen“ (s.u.). Sondern sie definiert Christofs Äußerung auch als Vorfall 24 auch wenn ihre Äußerung gleichzeitg unterschiedliche Signale aussendet: Auf der einen Seite ist das „Anhalten des bisherigen Interaktionsverlaufs“ {ja mome "nt mal) mit einem Ausdruck von Empörung verbunden: Dafür sind vor allem das sehr kurze (gleichsam „abgestoppte“) ja, der starke steigend-fallende Akzent auf der zweiten Silbe von mome "nt und die Dehnung dieser Silbe verantwortlich. Maria zeigt damit, daß sie Christofs Äußerung für mehr als nur in sachlicher Hinsicht problematisch hält. Auf der anderen Seite stellt sie mit ihrem Lachen (ab mei "nst) auch dar, daß sie auf die problematische Lesart (noch) nicht fixiert ist. Dagegen spricht nicht, daß Marias Lachen möglicherweise erst durch Reinholds Lachen veranlaßt wurde. 25 Der Effekt dieser gegenläufigen Kontextualisierungshinweise ist, daß Maria zumindest hypothetisch das Entstandensein eines „Vorfalls“ signalisiert. Sie macht Christof noch nicht unbedingt einen Vorwurf, sie zeigt nur, daß sie ihm einen Vorwurf machen müßte, falls sich die mögliche problematische Lesart bestätigt. Christof soll offenbar sehen, daß er eine Chance bekommt, die problematische Lesart auszuräumen. Dieser Eindruck entsteht vor allem durch die abschließende Wiederholung des Empörungsausdrucks ja mome“nt=e=mal. Während man dem ersten ja mome “nt 24 Ich schließe mich hier an Goffmans interaktionsanalytisches Konzept des korrektiven Austauschs an. Korrektives Handeln wird in Gang gesetzt, wenn das Verhalten eines Interaktantenvon ihm selbst und den Zeugen seines Verhaltensmit „schlimmstmöglichen Deutungen“ versehen wird, „das heißt Interpretationen der Handlung, die ein Höchstmaß an Kränkung für den anderen oder an beschämenden Implikationen für den Akteur selber unterstellen.“ (Goffman 1982, S. 156.) Die Handlung, mit der die schlimmstmögliche Deutung angezeigt wird, nennt Goffman „priming action“ (Veranlassung) oder „challenge“ (Herausforderung). Reinholds Lachen unterstützt m.E. die Definition des Geschehens als Vorfall, auch wenn er ihn als etwas Kurioses, Lustiges behandelt. Reinhold lacht hier wie jemand, der einen Fehler oder eine für ihn irgendwie kuriose Handlung seines Partners erwartet hat. Die Art seines Lachens und der Ort, an dem es einsetzt gleich nach Marias Ausdruck von Empörung verraten, daß er eine deutliche Vorstellung davon hat, wie Christofs Äußerung verstanden werden kann. Das zeigt zunächst, daß er die Szene bisher aufmerksam verfolgt hat. In dem späteren Interview mit Christof hat Reinhold seine spontane Lesart expliziert: Er habe den Eindruck gehabt, daß Christof ein typisches Vorurteil präsentiere. Nimmt man diese Explikation ernst, dann könnte man Reinholds Lachen als Hinweis darauf ansehen, daß unter den Bedingungen alltagspragmatischen Handelns in einem polnisch-deutschen Kontext sich eine vorurteilsbezogene Lesart von Christofs Äußerung aufdrängt. Zusätzlich könnte Reinholds Interpretation und sein frühes Lachen aus einer bestimmten Voreinstellung als Wissenschaftler, der sich mit interkultureller Kommunikation beschäftigt, resultieren. Denn in dieser Eigenschaft könnte er das Eintreffen derartiger heikler Vorfälle erwartet haben. Wenn Reinholds Lachen auf eine solche Voreinstellung zurückgefuhrt werden kann, hätten wir damit ein schönes Beispiel dafür, wie der Wissenschaftler bzw. Ethnograph an der Herstellung der Geschehnisse in seinem „Feld“ mitbeteiligt ist. 90 Ricarda Wolf mal noch eine ganz technische Aufgabe zuschreiben kann, nämlich den Interaktionsverlauf „anzuhalten“, läßt sich das zweite ja mome “nt=e=mal, vor allem das einleitendeja, nicht mehr dadurch motivieren. Dabei mischen sich Lachen und verstärkte intonatorische Signalisierung von Empörung (wiederum ist die zweite Silbe von mome “nt stark akzentuiert und etwas gedehnt) als gegenläufige Kontextualisierungshinweise. Die gesamte Äußerung erhält dadurch retrospektiv einen Ausdruck von gespielter Empörung. Unabhängig davon, ob Maria sich hier schon auf eine „schlimmstmögliche Deutung“ fixiert zeigt oder nicht, erzeugt ihre Äußerung (unterstützt durch Reinholds Lachen) fiir Christof starke Reaktionsverpflichtungen. Nach Coffman (1982) ist auf die Definition eines Geschehens als Vorfall zunächst eine Korrektur durch den Verursacher des Vorfalls erwartbar und dann eine Bewertung des Korrekturschritts durch den Initiator der Korrektur. 26 Blickt man vom Ende des Gesprächs zurück auf diese Stelle, dann ist klar, daß Christof hier vor einer Aufgabe steht, die fiir ihn nicht lösbar ist. Angesichts dessen könnte man fragen, ob Maria nicht spätestens an dieser Stelle Christofs früherer Bitte um Aufklärung hätte nachkommen können. Was eine solche Reaktion aber nicht gerade nahelegt, ist, daß die Äußerung also für polnische Verhältnisse ist das sehr gepflegt nun keine Signale mehr enthält, die sie als Bitte um Wissensvermittlung kontextualisieren und Aufklärung als lokale Reaktion erwartbar machen. Deshalb hätte eine Aufklärung an dieser sequentiellen Position das Potential einer Fremdkorrektur gehabt. Eine Fremdkorrektur wiederum wäre an dieser Stelle ebenfalls keine präferierte Reaktion gewesen, und zwar aufgrund der gesprächsorganisatorischen Regel der Präferenz von Selbstkorrektur vor Fremdkorrektur. 27 Außerdem enthält Christofs Äußerung also für polnische Verhältnisse ist das sehr gepflegtj unter den gegebenen situativen Bedingungen sozial problematische Bedeutungspotentiale, die Marias Definition der Äußerung als „Vorfall“ als beinahe zwingend erscheinen lassen. Diesen Bedeutungspotentialen gehe ich im folgenden genauer nach. 26 Die Funktion der korrektiven Tätigkeit besteht darin, die Bedeutung (der den Vorfall verursachenden) Handlung zu ändern, also „das, was als offensiv angesehen werden könnte, in etwas zu verwandeln, das als akzeptierbar angesehen werden kann.“ (Goffman 1982, S. 156) 27 Diese Regel ist Bestandteil des konversationsanalytischen Konzepts der Präferenzorganisation als einem der Interaktion inhärenten Mechanismus. Präferenz beschreibt keine individuellen Vorlieben, sondern ist als ein sozialer Mechanismus zu verstehen. In Bezug auf Korrekturen läßt sich folgende Präferenzordnung formulieren: Selbstkorrektur ist gegenüber Fremdkorrektur bevorzugt, und selbstinitiierte Korrekturen sind gegenüber fremdinitiierten Korrekturen bevorzugt. Im Zusammenhang damit regelt die Präferenzorganisation, wie Äußerungen konstruiert werden, je nachdem, ob es sich (an welcher Stelle) um Selbst- oder Fremdinitiativen zu Selbst- oder Fremdkorrekturen handelt; vgl. Schegloff/ Jefferson/ Sacks (1977) und Bilmes (1988). Dumm gelaufen 91 Hinsichtlich des Referenzobjektes von das wird mittels gepßegti eine positive Bewertung ausgedrückt. Diese positive Bewertung wird auf der Grundlage einer anderen (weniger positiven) Bewertung von polnischen Verhältnissen konturiert. Das geschieht mittels der Formel für polnische Verhältnisse aufgrund von folgendem semantischen Mechanismus: Eine Formel nach dem Muster „für X Verhältnisse“ projiziert in der Regel die lokale Zuordnung einer für die Kategorie X (z.B. Männer) als untypisch geltenden Eigenschaft Y (z.B. geschwätzig) zu einem Vertreter (Z) der Kategorie X. Aufgrund des Merkmals „untypisch für X“ impliziert die Äußerung eine kontrastierende Aussage über „das für X Typische“. Wenn in der expliziten Äußerung Bewertungsaspekte relevant sind, dann enthält die implizierte Aussage eine kontrastierende Bewertung. Die Formulierung für polnische Verhältnisse ist das sehr gepflegtf könnte zwei mögliche kontrastierende Aussagen implizieren: „In Polen ist es normalerweise nicht so gepflegt“ oder „Polnische Schlösser und Schloßparks sind normalerweise nicht so gepflegt“. Wenn Maria in ihrer Reaktion nach der Bedeutung von für polnische Verhältnisse fragt, dann könnte sie also zunächst prüfen wollen, ob Christof diese Implikation bestätigt und wenn ja, welche dieser Aussagen in Christofs Äußerung impliziert ist. 28 Marias Empörung läßt sich danach in erster Linie auf die mit der Generalisierung über Polen oder polnische Schlösser verbundenen negativen Bewertung zurückführen. Viele Interpreten dieser Äußerung werden Marias Äußerungya mome: “nt mal wie wie für polnische * Verhältnisse wie mei“nst du dasl wohl ohne Weiteres auch als Reaktion einer Polin ansehen, die ob der möglicherweise negativen Bewertung polnischer Verhältnisse verletzt ist. Das heißt, sie werden die Äußerung unter anderem so interpretieren, daß Maria hier ihre Identität als Polin relevantsetzt. Obwohl ich ebenfalls zu einer solchen Interpretation tendiere, möchte ich darauf hinweisen, daß auch ein Deutscher oder ein Vertreter einer anderen ethnischen oder nationalen Gruppe Christof in dieser Weise auf das problematische Bedeutungspotential seiner Äußerung hätte aufmerksam machen können. Das heißt, die Äußerung selbst setzt nicht ohne Weiteres die ethnische Identität des Sprechers relevant. Daß Maria hier ihre Identität als Polin ins Spiel bringt, darauf weisen folgende Merkmale ihrer Äußerung hin: Zum einen ist das die auffällige Darstellung von Empörung, die m.E. das Potential hat, ihre Betroffenheit von Christofs Äußerung zu vermitteln. Zum anderen ist das die Tatsache, daß Maria ausschließlich auf die negative Implikation von Christofs Äußerung „anspringt“; sie hätte ja auch zusätzlich Christofs positive Bewertung der wahrnehmbaren Objekte berücksichtigen können. Ob eine Äußerung als Ausdruck einer positi- 28 Aufgrund des generalisierenden Charakters dieser Implikationen hat die Äußerung Gemeinsamkeiten mit einem linguistisch definierten Stereotyp. Mit dieser Feststellung ist aber nichts über eine entsprechende kognitive Einstellung von Christof ausgesagt bzw. überhaupt auszusagen möglich. 92 Ricarda Wolf ven oder negativen Bewertung verstanden wird oder welche der kontrastierenden Bewertungen einer Äußerung ein Hörer „heraushört“, hängt sehr stark auch von den jeweiligen sozialen Identitäten der Beteiligten ab, die für den Hörer zum Zeitpunkt der Interpretation relevant sind. So scheint die Formulierung für polnische Verhältnisse ist das sehr gepflegt1 vor allem dann problematisch, wenn der Adressat der polnischen und der Sprecher einer anderen Ethnie oder Nationalität angehört, und wenn der Adressat/ Rezipient glaubt, daß der Sprecher seine eigene ethnische bzw. nationale Gruppe für zivilisatorisch überlegen hält. Diese Bedingungen gehören möglicherweise zu den wichtigsten Merkmalen eines prototypischen problematischen polnisch-deutschen Interpretationsrahmens. Unter diesen Bedingungen könnte die Bewertung sehr gepflegt^ einen Punkt berühren, von dem polnische Selbst- und Fremddefinitionen auf nationaler Ebene empfindlich betroffen sind. 29 Wenn Sprecher und Adressat bzw. Rezipient dagegen beide der polnischen Ethnie angehören würden, dann wäre es möglich, daß der Rezipient die Äußerung in erster Linie als Ausdruck einer positiven Bewertung des Gegenstandes der Äußerung (des Referenzobjekts von das) versteht. Das legt folgende „Entdeckung“ in unseren Tonband-Aufnahmen nahe: Der Exkursionsleiter informiert in der Einleitung zu seiner Führung die Teilnehmer darüber, daß die Anlage des Schlosses Komik (dieses Schloß hat die Gruppe besucht, bevor sie weiter nach Rogalin gefahren ist) eine für polnische Verhältnisse ziemlich typische Ordnung hat. Er formuliert wie folgt: die anlage ist charakteristisch * eine gewisse * ja es ist schwierig den deutschen so etwas zu sagenj aber doch * für polnische Verhältnisse ziemlich typische Ordnung die hier herrscht ist charakteristisch für das ganze großpolen i * die bäume die beschnitten werden das ist alles ganz normal hierf Die Bemerkung des Exkursionsleiters ja es ist schwierig den deutschen so etwas zu sagen impliziert, daß eine Formulierung wie für polnische Verhältnisse nicht unter allen Umständen eine problematische Lesart hervorbringen muß. Dafür ist offenbar ein solcher Rahmen verantwortlich, in dem das Wissen der Beteiligten um die deutsche und polnische Identität der Sprecher eine Rolle spielt. Die Tatsache, daß Maria in erster Linie auf die implizierte Bewertung polnischer Verhältnisse reagiert, läßt daher vermuten, daß ihre Interpretation von Christofs Äußerung vor dem Hintergrand eines interkulturellen Interpretationsrahmens erfolgt, zumindest eines solchen Rahmens, in dem ihre Identität als Polin und die des Gesprächspartners als Angehöriger einer wirtschaftlich überlegenen Nation relevant ist. Ob sie diesen Rahmen schon vorher eröffnet 29 Ein Ausdruck dieser nationalen Selbst- und Fremddefinition ist „polnische Wirtschaft“ als (polnisches) Auto- und (deutsches) Heterostereotyp. Nach Information einer polnischen Kollegin auf dem ZiF-Kolloquium werde durch die Verwendung der Formel ftir polnische Verhältnisse dieses Stereotyp bei polnischen Zuhörern aktiviert, denn die Formel sei im „polnischen lexikalischen Gedächtnis“ so etwas wie ein Synonym für „polnische Wirtschaft“. Dumm gelaufen 93 hatte oder ob er erst durch die Äußerung selbst aktiviert worden ist, darüber läßt uns das Transkript im Ungewissen. Es sind allerdings einige Faktoren denkbar, die die schnelle Aktivierung eines solchen Interpretationsrahmens fördern könnten: das prinzipiell vorhandene Wissen um die wechselseitigen Identitäten, erst recht die Tatsache, daß die Beteiligten darüber hinaus nicht viel voneinander wissen sowie die durch den Sommerkurs gestellte Aufgabe der Kulturvermittlung. Eine notwendige Bedingung für diese Aktivierung könnte das Potential der Formel für polnische Verhältnisse sein, auf Fremdes oder gegenüber Fremden auf Eigenes zu referieren und damit auch Fremdheit bzw. kulturelle Distanz herzustellen. Ein solches Potential schließe ich u.a. aus der Annahme, daß ein Pole gegenüber einem Angehörigen der eigenen Gruppe wahrscheinlich nicht ohne Weiteres die Formel für polnische Verhältnisse verwenden würde. 30 Wenn er ein unmittelbar wahrnehmbares Objekt im Kontrast zu generellen Verhältnissen in Polen positiv bewerten will, würde er wahrscheinlich die gemeinsame Zugehörigkeit zur polnischen Ethnie in der Formulierung andeuten, etwa „für unsere Verhältnisse in Polen“, „für unsere Verhältnisse“, „für unsere polnischen Verhältnisse“. Folgt man der eben begründeten Vermutung, daß Maria spätestens hier einen interkulturellen Interpretationsrahmen relevantsetzt, dann läßt sich ihre Reaktion auf Christofs Äußerung auch folgendermaßen beschreiben: Sie behandelt diese Äußerung hypothetisch als die eines Westeuropäers (noch nicht unbedingt als die eines typischen Deutschen), dessen Wahrnehmung von einer unangemessenen Vorstellung über Polen geprägt ist. Das bedeutet auch, daß Maria das Geschehen nicht nur als einen Vorfall schlechthin, sondern als einen interkulturellen Vorfall kontextualisiert. Damit meine ich, daß der Vorfall als auf ethnisch-nationale bzw. kulturelle Unterschiede zurückführbar angezeigt wird. Eine solche Interpretation ist aber wenn man dem Transkript folgtnicht zwingend. Das heißt, an dieser Stelle ist auch noch die Interpretation möglich, daß Maria aus ganz anderen Gründen so reagiert, wie sie reagiert. 2.3 Es wird immer schlimmer: Erklärungsversuche Christof steht nun also vor der Aufgabe, den Vorfall zu bearbeiten. Konkret heißt das hier, die Frage wie für polnische * Verhältnisse wie mei “nst du dasl zu beantworten bzw. die „schlimmstmögliche Deutung“ seiner Äußerung auszuräumen. Wie gleich zu sehen ist, erfüllt Christof diese Aufgabe nicht zu Marias Zufriedenheit. In den beiden Korrekturversuchen, die er unternimmt, bevor ihm Reinhold zu Hilfe kommt, sagt er im Grunde immer das Gleiche; er macht immer wieder den gleichen Fehler. Dies vermittelt den Eindruck, daß alles immer noch schlimmer wird. In den folgenden Abschnitten werde ich zeigen, welche interaktiven Mechanismen und Zwänge dazu beitragen. Es handelt sich dabei vor allem um den interaktiven Druck, dem Christof durch 30 Diese Annahme haben mir verschiedene polnische Muttersprachler bestätigt. An dieser Stelle möchte ich Jarochna D^browska besonders herzlich danken für viele wertvolle Hinweise in Besprechungen dieses Transkripts. 94 Ricarda Wolf die vorwurfsvolle Frage von Maria ausgesetzt ist. Dieser Druck läßt sich auf den Mechanismus der konditioneilen Relevanz 31 und die bei Goffman beschriebene Reaktionsverpflichtung im Rahmen eines Vorfalls zurückfuhren (s o ). Zugleich lassen sich auf das Prinzip der konditionellen Relevanz auch bestimmte Interpretationsprozeduren zurückfuhren, die dazu beitragen, daß die folgenden Erklärungsversuche von Christof die „schlimmstmögliche Deutung“ bestätigen statt ausräumen können. Die „Wiederholungsfehler“ fuhren dazu, daß Maria eine zunehmende Einschränkung ihrer Ressourcen zur positiven Interpretation von Christofs Äußerungen anzeigt. Dies wiederum führt zur Erhöhung des Drucks auf Christof. Insofern ist auch die Zuspitzung des Vorfalls eine interaktive Herstellung von beiden Beteiligten. Der erste Versuch: Transkriptausschnitt III: 13 CH: hier sind hier sind hier sind 14 MA: * ja mome: "nt=e=mal# 15 K # 16 CH: hier sind äh hier ist englischer ra: sen und so 17 CH: das is: t hier nicht so häu"fig aufgefallenl * 18 CH: bei privaten grundstückenl ** nee also * ->sagen 19 MA: mhm: t 20 CH: wir mal«auch neu gemäh: t und so ** 21 MA: #wszystko 22 K #AUF POLNISCH; 23 CH: 24 MA: dobrzel# 25 K LEISE # Der Inhalt dieser Antwort unterscheidet sich im Grunde wenig von der für Maria problematischen vorigen Äußerung: Auf der einen Seite läßt sich englischer ra: sen als Synonym für „gepflegten Rasen“ auffassen; das wird auch durch Christofs Nachtrag -»sagen wir mal»auch neu gemäh. t nahegelegt. 32 Auf der anderen Seite kann man den Nachtrag das is: t hier nicht so Dieses Prinzip besagt, daß auf eine bestimmte Aktivität (z.B. Frage; Gruß) eine bestimmte Folgeaktivität (z.B. Antwort; Gegengruß) erwartbar ist und daß sich der Adressat dieser initiierenden Aktivität mit dieser Erwartung zumindest beschäftigen muß bzw. daß seine Folgeaktivitäten als Beschäftigung mit dieser Erwartung interpretiert werden. Das heißt, daß der Initiator der Sequenz (z.B. der Fragende; der Grüßende) zunächst dazu tendieren wird, alles, was der Partner im folgenden tut oder nicht tut, als Reaktion auf seine Initiative zu interpretieren. Für den Fall, daß der Rezipient der initiierenden Aktivität, der jetzt als nächster Sprecher aufgerufen ist, schweigt, läßt sich dieser Interpretationsmechanismus am einfachsten durch die Redewendung „Keine Antwort ist auch eine Antwort“ umschreiben. 32 Es sieht auf den ersten Blick so aus, als sei der Hinweis auf den „englischen Rasen“ ein weiterer Beleg für das bei Schmitt (S. 60 ff. in diesem Band) beschriebene Phänomen, Dumm gelaufen 95 hau “fig aufgefalleni für eine Entsprechung der Generalisierung über Polen oder polnische Schlösser halten, die in der vorigen Äußerung durch die Formel/ wr polnische Verhältnisse implizit ausgedrückt worden war. Was Christof damit „objektiv“ tut, ist zu antworten: Ich meine es so, wie ich es gesagt habe: „Es ist hier sehr ordentlich, und das ist nach meiner Erfahrung untypisch für Polen.“ Damit hat er keinen Beitrag zur Bearbeitung der von Maria gestellten Aufgabe geleistet. 33 Eine solche Feststellung berücksichtigt allerdings nur die inhaltliche Ebene von Christofs Äußerung. Auf formulierungstechnischer Ebene weist die Äußerung eine Reihe von Signalen des Willens zur Reparatur auf: 1) Christofs nein kann im gegebenen Äußerungskontext als Zurückweisung von Marias Interpretation seiner eigenen Äußerung so wie er sie aus ihrer Reaktion rekonstruiert verstanden werden. Daß er diese Zurückweisung in Überlappung mit Marias Äußerung hervorbringt, könnte zeigen, daß sie ihm so wichtig ist, daß sie so früh wie möglich erfolgen muß. Möglicherweise ist ihm die implizierte negative Bewertung polnischer Verhältnisse als problematisches Bedeutungspotential seiner eigenen Äußerung schlagartig bewußt geworden, so daß es ihm nun darauf ankommt, so schnell wie möglich etwas dagegen zu unternehmen. 2) Christof geht nicht zuerst auf die von Maria hinterfragte Vormd für polnische Verhältnisse ein. Stattdessen tut er seine Beobachtung kund, daß es hier englischen ra.sen gibt. Durch und so deutet er an, daß er den englischen Rasen als Beispiel für etwas anführt (wahrscheinlich für die vorher mit gepflegt<1 attribuierte Umgebung). Damit kontextualisiert Christof seine Äußerung zunächst eher als Reformulierung seiner eigenen vorhergehenden Äußerung denn als Antwort auf Marias Frage. Der Hinweis auf den englischen Rasen kann als Versuch gesehen werden, dem Eindruck einer negativen Bewertung polnischer Verhältnisse durch die positive Bewertung der Umgebung entgegenzuwirken. Ein solcher Antwortbeginn hat im gegebenen Kontext zwei Potentiale: Zum einen kann er damit wiederum zeigen, daß er sich des problematischen Potentials seiner vorigen Äußerung bewußt ist und daß es ihm in erster Linie darum geht, dem eine positive Bewertung entgegenzusetzen. Zum anderen kann man den Antwortbeginn als daß für die Erschließung des Fremden nicht nur das „Eigene“, sondern auch das „bekannte Fremde“ von Bedeutung sein kann. Ob hier allerdings eine ähnliche Struktur wie bei der Referenz auf den „englischen Landadel“ in der von Schmitt zitierten Interviewäußerung vorliegt, ist zu bezweifeln. Dagegen spricht m.E. der idiomatische Charakter der Nominalphrase „englischer Rasen“. 33 Weiter oben wurde nicht ausgeschlossen, daß Christof annimmt, erst die Einführung der Marktwirtschaft würde in Polen die Restauration von kulturhistorisch bedeutsamen Stätten ermöglichen. Zu einer solchen Annahme paßt m.E. auch, daß er den Rasen als neu gemäht statt als „frisch gemäht“ beschreibt. 96 Ricarda Wolf Verzögerung der eigentlichen (noch folgenden) Antwort ansehen. Durch die Verzögerung zeigt er, daß er seine Antwort für dyspräferiert hält. 34 3) In dem Äußerungsteil das is: t hier nicht so häu“fig aufgefallenl sind Formulierungselemente vorhanden, mit denen Christof anzeigen könnte, daß er seinen „Fehler“ in einer zu starken und unbegründeten Generalisierung über Polen vermutet: Im Unterschied zur vorigen Äußerung ywr polnische Verhältnisse ist das sehr gepflegtl ermöglicht der Hinweis auf eigene Wahrnehmungen eine Erklärung für die vorgenommene Generalisierung und zugleich eine Abschwächung derselben. 35 Abschwächung wird auch mittels der Elemente nicht so häu “fig ausgedrückt. Weiter kann die Substitution von polnische Verhältnisse durch hier als Versuch angesehen werden, den generalisierenden Charakter der vorigen Äußerung zurückzunehmen. (Allerdings kann das deiktische Element hier ohne deutlichen Kontextwechsel nicht das Referenzobjekt („Polen“) wechseln, das ihm durch den voraufgehenden Kontext zugewiesen ist und vor dem es seine „Bedeutung“ erst entfalten kann. Insofern kann die Substitution wiederum nur als bescheidenes Signal des guten Willens verstanden werden.) 4) Auf Reparaturwillen weisen auch die beiden Nachträge bei privaten grundstückenl und -rsagen wir maUauch neu gemäh. t hin: Mit dem ersten Nachtrag schränkt Christof seine verallgemeinernden Äußerungen über Polen nun auf private Grundstücke ein. Dies kann durch den Versuch motiviert sein, der generalisierenden Qualität seiner Äußerung für polnische Verhältnisse etwas entgegenzusetzen. Aber abgesehen davon, daß der Einschränkungsversuch ins Leere gehen könnte, weil es sich bei Rogahn nicht um ein privates Grundstück handelt, könnte dieser Reparaturversuch zu einem neuen Problem führen. Denn gerade seit dem Übergang zur Marktwirtschaft wird sehr viel in „private“ Anlagen investiert; dieses potentielle Beispiel des wirtschaftlichen Aufschwunges in Polen würde Christof mit seiner Einschränkung negieren. Im Anschluß an den Nachtrag zieht er gleichsam einen Rahmen um den Antwortteil seines Redebeitrages, indem er die konkretisierende Beobachtung aus dem ersten Äußerungsteil hier [ ] ist englischer ra. sen noch einmal reformuliert: ->sagen wir mal*auch Über den sozialen Mechanismus der Präferenzorganisation ist auch geregelt, wie Äußerungen je nachdem, ob es sich um präferierte oder dyspräferierte Reaktionen handelt, konstmiert werden. Während präferierte Reaktionen ohne Pause und direkt auf initiative Züge folgen, sind dyspräferierte Antworten in der Regel durch Pausen verzögert und sehr aufwendig formuliert; vgl. Pomerantz (1984), Sacks (1987). Insofern kann man sagen, daß ein Sprecher durch Verzögerungen und aufwendige Formulierungen anzeigen kann, daß er seine Äußerung bzw. Antwort für dyspräferiert hält. Erklärungsbedürftig ist dann allerdings das Fehlen von „mir“. Mit einer Formulierung wie „das ist mir hier nicht so häufig aufgefallen“ etwa hätte er seine vorige Äußerung eindeutig auf eigene Erfahrungen in Polen zurückgefuhrt; so aber bleibt die Begründung seiner Generalisierung ambivalent ein Hinweis auf Unsicherheit, worin sein Fehler besteht? Dumm gelaufen 97 neu gemäh: t. Vor dem Hintergrund einer Präferenz für Kontiguität 36 hat dieser Nachtrag ein wichtiges rhetorisches Potential, nämlich daß Maria vorrangig auf die positive Bewertung reagiert. 37 In Anbetracht des sichtbaren Reparaturwillens wird man sich fragen, wie es überhaupt zu der „unglückseligen“ Äußerung das ist hier nicht so häu“fig aufgefallen Jkommen kann, warum Christof es nicht einfach bei dem Hinweis auf den englischen Rasen beläßt. Dafür kann man eine interaktionsstrukturelle Erklärung anführen: Nach dem Prinzip der konditioneilen Relevanz (s o.) muß sich Christof mit der Frage von Maria (und dem darin ausgedrückten Vorwurf) irgendwie beschäftigen. Das Ausbleiben einer Antwort würde der anderen Seite erst recht Interpretationen ermöglichen, die für Christof negativ wären. (Nach dem Motto: Keine Antwort ist auch eine Antwort.) Vor dem Hintergrund dieses Mechanismus hat der Hinweis auf den englischen Rasen ein widersprüchliches Potential: Auf der einen Seite könnte er in einer Weise als Antwort auf Marias Frage verstanden werden, die einem Reparaturversuch ebenfalls zuwiderlaufen würde. Denn er kann zwar als Beispiel für die Aussage „Das ist sehr gepflegt“ verstanden werden, zugleich aber auch als Bestätigung der negativen Bewertung polnischer Verhältnisse, die in der Äußerung für polnische Verhältnisse ist das sehr gepflegti potentiell impliziert ist. Zum anderen ist der Hinweis auf den englischen Rasen keine Antwort auf Marias Frage, wie das mit den „polnischen Verhältnissen“ gemeint sei. Das ist möglicherweise auch Christof klar, so daß die ihm von Maria auferlegte Antwortverpflichtung bestehenbleibt. Die Äußerung das is: t hier nicht so hau “fig aufgefallen i ist eine echte, wenn auch von ihm dyspräferierte und aus Marias Sicht wahrscheinlich katastrophale, Antwort auf Marias Frage. Marias Reaktion auf Christofs Antwort {wszystko dohrze J-) hat folgende Bedeutungspotentiale: Übersetzt heißt das, was sie sagt, „alles gut“. Das könnte entweder als ironische Bestätigung von Christofs positiven Bewertungsversuchen oder als Be- Wenn ein Redebeitrag durch mehrere Themen oder Fragen konstituiert wird, dann reagieren die folgenden Sprecher systematisch auf die zuletzt gestellte Frage bzw. auf das letztere Thema. Diese Beobachtung beschreibt Sacks (1987) unter dem Stichwort „preference for contiguity". Kallmeyer/ Schmitt (1996) weisen auf die rhetorischen Potentiale dieser Präferenz hin, so zum Beispiel, daß man über die inhaltlich-thematische Gliederung des eigenen Beitrages die Art des Anschlusses daran durch den folgenden Sprecher organisieren kann. 37 Die Expansion von Christofs Antwort durch die beiden Nachträge könnte durch ein erneutes Ausbleiben einer Reaktion von Maria mitproduziert worden sein. In Z. 17 ist nach aufgefallen ein erster Punkt erreicht, an dem Maria den Tum für eine Bewertung des Reparaturversuchs übernehmen könnte. Diesen Punkt läßt sie passieren. Das könnte zu Christofs folgender Einschränkung bei privaten grundstücken geführt haben. Nach diesem einschränkenden Nachtrag ist wiederum ein möglicher Tum-Übergabe-Punkt erreicht. Auch diesen läßt Maria passieren. Stattdessen „fordert“ sie Christof durch den continuer mhm dazu auf, weiterzureden. Das tut er dann auch, indem er den Hinweis auf den englischen Rasen vom Anfang paraphrasiert. 98 Ricarda Wolf endigungsinitiative verstanden werden. Beide Lesarten schließen zunächst eine übergeordnete Interpretation von „alles gut“ nicht aus, nach der Christofs „Korrektur“ ratifiziert wird. Das wird aber zweifelhaft, wenn man Marias Übergang zur polnischen Sprache dabei berücksichtigt. (Sie kann übrigens davon ausgehen, daß Christof diese Worte nach einer Woche Polnisch- Unterricht versteht.) Mit diesem „metaphorischen codeswitching“ 38 könnte sie andeuten, daß sie sich (spätestens jetzt, s.o.) als Polin angesprochen fühlt bzw. daß sie jetzt (nicht mehr nur als Möglichkeit) einen problematischen interkulturellen Kontext für ihre Interpretation von Christofs Äußerung(en) relevant setzt. Dadurch erhält ihre Äußerung beinahe das ambivalente Potential einer „double-bind“-Information: Auf der einen Seite signalisiert Maria positive Bewertung, Ratifizierung der Beendigung des möglichen Vorfalls, auf der anderen Seite wird Christofs letzte Äußerung (und retrospektiv auch die vorhergehende) nun wirklich als Vorfall definiert, und zwar als interkultureller im o.g. Sinne. Sie reagiert im Grunde genau im Sinne der Ambivalenz von Christofs Antwort, nämlich auf der einen Seite Reparaturwillen zu signalisieren und auf der anderen Seite genau das zu wiederholen oder zu verstärken, was für den jeweils anderen problematisch ist. Wenn man sich angesichts des weiteren Geschehens fragt, warum Christof weiter macht (so daß alles immer noch schlimmer wird), dann scheint mir eine Antwort genau in der Ambivalenz von Marias Reaktion zu liegen: Das metaphorische codeswitching hat den (möglicherweise ungewollten) Effekt, daß Christof aus der Reparaturverpflichtung noch nicht entlassen ist. Christof scheint das Signal genau in diesem Sinne zu verstehen. Ohne Pause folgt auf Marias polnische Bemerkung die Frage ja f war das fälscht. Interessant ist dabei der Start mit dem fragenden ja t als ob er sogar erwartet hätte, daß seine Antwort „falsch“ ist. 38 Gumperz hat in seinen Untersuchungen zum code-switching sehr früh die Beobachtung gemacht, daß es zwei verschiedene „Bedeutungen“ von code-switching gibt. Mit einem „situational codeswitching“, z.B. dem Übergang von einer dialektnahen zu einer standardnahen Sprechweise, können sich zwei Sprecher beispielsweise anzeigen, daß sie vom Reden über das wechselseitige Wohlergehen zur geplanten Geschäftsverhandlung übergehen. Dabei wird in Gumperz’ Forschungsansatz von der Annahme ausgegangen, daß die Durchführung bestimmter Aktivitäten mit der Wahl einer bestimmten Sprache bzw. Sprachvariante verbunden ist. Beim „metaphorical codeswitching“ dagegen wird diese konventionalisierte Verbindung von Sprache und Aktivitätstyp aufgebrochen. Die Wahl der Variante besitzt hier eine eigene „metaphorische“ interaktive Bedeutung. So kann die propositionale Seite einer Äußerung durch die Sprachvariation eine bestimmte Konnotation erhalten. Oder ein Sprecher kann sich dadurch zur Realisierung eines Gesprächsziels als Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe darstellen (vgl. Blom/ Gumperz 1972). Dumm gelaufen 99 Der zweite Versuch: Transkriptausschnitt IV: 20 CH: wir mal<auch neu gemäh: t und so ** 21 MA: #wszystko 22 K #AUF POLNISCH; 23 CH: 24 MA: 25 K 26 AN: 27 K +jat war das fälscht dobrzei# LACHT ne LEISE # #(...)# *4* #1 SEKUNDE# 28 CH: aber kuck dir doch das haus vo/ von de"r * fro"nt an 29 CH: das war ja * war ja sau"ber und (nobel be)ma: lt 30 CH: jetzt wird * hier wird gearbeitett 31 MA: ja hie"r ist 32 RE: mt 33 CH: na hie"r ni"chl das is ja 34 MA: ni"cht so sauber net von dieser sei"te I ) 35 CH: auch nich die repräsentative sei"tel 36 MA: die fassa"de ist f...1 37 RE: es sind aber 38 MA: ( . . . ) jat 39 RE: neue fe"nster drin net zum tei"l zumindest! *4* Christofs Frageja t war dasfalsch T ist nicht nur interessant als Zeichen seines Verständnisses, daß Maria den Reparaturversuch nicht ratifiziert hat, sondern auch als deutlicher Hilferuf. Interaktionsstrukturell gesehen hat dieser Hilferuf folgendes Potential: Geht man davon aus, daß die Präferenzorganisation im Hinblick auf Korrekturen (s o.) mit entsprechenden sequentiellen Implikationen verbunden ist, dann wäre nach dem Scheitern einer fremdinitiierten Selbstkorrektur eine Fremdkorrektur (durch den vorherigen Fremdinitiator der Selbstkorrektur) erwartbar oder zumindest möglich. Das würde bedeuten: Eine Fremdkorrektur durch Maria wäre schon unmittelbar nach Christofs Antwortversuch (statt oder nach wszystko dobrzeJ) möglich gewesen. Allerdings könnte der Erwartung einer Fremdkorrektur unmittelbar nach einer gescheiterten Selbstkorrektur ein anderes interaktives Prinzip entgegenstehen: das der Präferenz für Selbstvertretung. Darunter versteht Schmitt (1996, S. 15) folgendes: „Interaktionsbeteiligte gehen in der Regel davon aus - und werden auch daran gemessen, daß sie in Situationen, in denen sie anwesend sind, selbst für sich handeln und ihre Interessen selbst vertreten. Die Zuschreibung eines vollgültigen Beteiligtenstatus hängt ganz wesentlich damit zusammen, ob, in welcher Weise und wie weitreichend sich Beteiligte im Gespräch selbst vertreten und für sich sprechen. (...) Sowohl die Betroffenen als auch die Unterstützenden verdeutlichen durch unter- 100 Ricarda Wolf schiedliche Aspekte ihres Verhaltens bis hinein in die konkrete sprachliche Realisierung ihrer Äußerungen, daß sie sich an einer solchen Orientierung ausrichten.“ 39 Insofern könnte es der Fremdinitiator der Selbstkorrektur (also Maria) „im Interesse des Angeklagten“ durchaus für sinnvoll halten, einen zweiten Versuch der Selbstkorrektur zu ermöglichen. Und der Adressat der Korrekturaufforderung (also Christof) könnte dies antizipieren. Ein solcher Widerspruch zwischen der sequentiellen Abfolge von Selbstkorrektur und Fremdkorrektur einerseits und der Präferenz für Selbstvertretung andererseits könnte es notwendig machen, einen Verzicht auf eine zweite Korrekturrunde explizit anzuzeigen. Dadurch ist Christofs Frage jat war das fälscht möglicherweise motiviert. Zugleich spricht er damit was die sachliche Richtigkeit seiner vorigen Äußerung betrifft - Maria erneut als Expertin an, jetzt ganz explizit. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist Marias Lachen und die anschließende funfsekündige Pause sehr auffällig. Beides kann als Ausdruck dafür angesehen werden, daß sie zu der konditionell relevantgesetzten inhaltlichen Reaktion (nun) nicht (mehr) in der Lage oder nicht (mehr) bereit ist. Und weiter kann man das als Ausdruck einer gewissen Verengung ihres Handlungsspielraumes und/ oder einer Reduzierung ihrer Kooperationsbereitschaft ansehen als Reaktion auf Christofs Fehltritte. 40 Der Effekt von Marias Lachen und Unterlassung ist offenbar, daß die Korrekturverpflichtung wieder zurückgegeben (und vielleicht verschärft) wird bzw. daß Christof sie wieder für sich selbst geltend macht. Da Christof aber über seinen Fehler nicht aufgeklärt wurde, hat die erneute Korrekturverpflichtung zur Folge, daß er überspitzt gesagt gleichsam „vorgeführt“ wird: In dem zweiten Erklärungsversuch {ne aber kuck dir doch das haus vo/ von de “rfro “nt an das war ja sau “her und {nobel be)ma: lt jetzt wird * hier wird gearbeitet) sind die gleichen „Fehler“ enthalten wie bereits in der den Vorfall verursachenden Äußerung und dem ersten Reparaturversuch. 41 39 Auf eine solche Präferenz für Selbstvertretung fuhrt Schmitt eine Reihe von interaktiven Phänomenen zurück, die im Rahmen seiner Untersuchung von „Unterstützen“ als spezifischer Kooperationsform im Gespräch deutlich werden. Die Orientierung an interaktiver Selbstvertretung sei der Konvergenzpunkt, in dem alle relevanten strukturellen Aspekte des Unterstützens zusammenlaufen; vgl. ebd. 40 Interessant ist, daß Anna an dieser Stelle ihren bisherigen Beteiligtenstatus ändert. Auch wenn das Transkript den Wortlaut ihrer Äußerung nicht wiedergibt, kann man allein aus der Tatsache, daß sie ihren bisherigen Status als ausschließlich Zuhörende verändert, vermuten, daß sie sich jetzt ebenfalls betroffen von Christofs Äußerungen zeigt. Möglicherweise ist dies auch Ausdruck dafür, daß sie sich als zweitpräferierte Fremdkorrektorin angesprochen fühlt. 41 Daß Christof hier im Präteritum formuliert, ist darauf zurückzuführen, daß die Spaziergänger zum Zeitpunkt dieser Äußerung die Vorderfront des Schlosses, auf die referiert wird, bereits passiert haben. Dieses Präteritum konstruiert keinen Gegensatz zu dem jetzt in der folgenden Äußerungseinheitjetzt wird * hier wird gearbeitet. Der Zusammenhang zwischen der Äußerungseinheit das warja sau “her und jetzt wird * hier wird gearbeitet läßt sich nach meiner Lesart durch folgende Paraphrase verdeutlichen: ‘Daß die Vorderfront des Schlosses „sauber“ und „nobel bemalt“ ist, zeigt, daß jetzt/ hier gearbeitet wird. ’ Dumm gelaufen 101 Dafür sind auch die gleichen interaktiven und semantischen Mechanismen verantwortlich, die m.E. schon zum Scheitern des ersten Erklärungsversuchs geführt haben: Der Hinweis auf das „saubere Haus“ kann wiederum so aufgefaßt werden, daß Christof die unmittelbar wahrnehmbare Umgebung als Ausnahme-Beispiel für „polnische Verhältnisse“ konstruiert. Denn als den Kontext seiner Äußerung kann man die vorige Äußerung hier ist englischer ra. sen und so das is: t hier nicht so häu“fig aufgefalleni und darüber vermittelt die Äußerung/ wr polnische Verhältnisse ist das sehr gepflegti ansehen. Der Hinweis auf das „saubere Haus“ vermag ebenso wenig wie der Hinweis auf den englischen Rasen der potentiell negativen Bewertung von Polen etwas entgegenzusetzen bzw. diese in ihrer Relevanz zurückzustufen. Das heißt, der Hinweis auf das „saubere Haus“ (evtl, auch der Nachtrag hier wird gearbeitet) lassen sich wiederum unter die Implikation „In Polen ist es normalerweise nicht so gepflegt“ subsumieren. Allerdings birgt dieser zweite Erklärungsversuch wiederum ein bescheidenes wenn auch ambivalentes - Reparaturpotential in sich: Der Nachtrag hier wird gearbeitet t läßt sich zwar unter die Äußerung für polnische Verhältnisse ist das sehr gepflegt^ subsumieren, enthält aber eine andere Begründung dieser Äußerung als der Nachtrag in dem vorigen Erklärungsversuch das is: t hier nicht so häu“fig aufgefallen J-. Die positiven Bewertungen der wahrnehmbaren Objekte werden so nicht mehr als Ausnahmen gegenüber als unveränderlich angenommenen „polnischen Verhältnissen“ definiert, sondern als antizipierbares Ergebnis begonnener Veränderungen. Die Äußerung für polnische Verhältnisse ist das sehr gepflegti impliziert damit retrospektiv nicht mehr die Aussage „In Polen ist es normalerweise nicht so gepflegt“ oder „Polnische Schloßanlagen sind normalerweise nicht so gepflegt“, sondern „Früher/ bisher war es in Polen/ waren polnische Schloßanlagen nicht so gepflegt.“ (Eine solche Implikation legt erst recht der korrigierte Start mit jetzt wird nahe.) Unter bestimmten Bedingungen hat die letztere Implikation zumindest ein weniger verletzendes Potential als die zuerst genannte Implikation, etwa wenn für die Identitätsdefinition der Rezipientin als Polin wirtschaftliche Veränderungen nach dem Übergang zur Marktwirtschaft wichtiger sind als die jahrhundertelange kontinuierliche Pflege von Kulturgütern. Die eben vorgenommene Einschränkung „unter bestimmten Bedingungen“ deutet aber auch an, daß und unter welchen Bedingungen der Nachtragy'efe/ wird * hier wird gearbeitet ein nicht minder verletzendes Potential hat als die vorigen Äußerungen. Insofern ist das Reparaturpotential dieses Nachtrages ambivalent. Deshalb stellt sich auch jetzt wieder die Frage: Was veranlaßt ihn zu diesem Nachtrag? Es sind eine äußerungsexteme und eine äußerungsinteme Motivierung denkbar: 1) Christof steht weiterhin vor der Anforderung bzw. jetzt erst recht unter dem Druck, seine Äußerung für polnische Verhältnisse ist das sehr gepflegt zu erklären. Dazu genügt eine Beschreibung und positive Bewertung der wahrnehmbaren Objekte nicht, sondern er muß verdeutlichen, was er 102 Ricarda Wolf mit dieser Beschreibung im gegebenen Kontext eigentlich sagen will. Aufgrund der Parallelität der Formulierung hier wird gearbeitet zur Formulierung hie “r wird ge “Id bewegt Jhat der Nachtrag ein gewisses Potential, an die Eingangsäußerung hie “r wird ge “Id bewegti zu erinnern und zu erklären, was er ursprünglich hatte sagen wollen. Daß das nicht zum Erfolg fuhrt, läßt sich u.a. damit erklären, daß er mit diesem Nachtrag genau den von ihm offenbar nicht erkannten Fehler wiederholt. 2) Er bearbeitet mit dem Nachtrag ein Problem, das er sich durch den Anfang seiner Äußerung selbst geschaffen hatte: Dadurch, daß er für seine positive Bewertung auf die vordere Seite verweisen muß, die Spaziergänger aber im Moment nur die hintere Seite sehen können, könnte der Widerspruch zwischen dem Zustand der Vorderfront und dem der Rückfront ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Bei dem inzwischen etablierten Interpretationsrahmen dürfte eine solche Fokussierung nicht weniger gefährlich sein; sie könnte verstanden werden im Sinne von „Restauriert oder gepflegt wird nur das, was dem ersten oberflächlichen Blick ausgesetzt ist“. 42 (Eine solche Interpretation legt ja dann auch Marias Reaktion darauf nahe, s.u.) Der Nachtrag hier wird gearbeitet t hat das Potential, einer solchen Interpretation vorzubeugen oder etwas entgegenzusetzen. Aufjeden Fall kann die erneut heikle Äußerung hier wird gearbeitet T ebenfalls als Produkt interaktiver Zwänge angesehen werden. Was Maria im folgenden aufgreift, ist allerdings etwas anderes: die „nicht so saubere“ Rückseite {ja hie“r ist ni“cht so sauber net von dieser sei“te). Damit manifestiert sich spätestens an dieser Stelle (s o.) eine Verengung ihres Interpretationsspielraumes und/ oder eine Reduzierung ihrer Kooperationsbereitschaft. Denn sie greift nicht die thematischen Elemente auf, die Christof als konstitutiv für seine Botschaft angezeigt hatte (das „saubere Haus“ und „hier wird gearbeitet“). Sie stuft gerade das thematische Element aus Christofs Äußerung in seiner Relevanz hoch, dessen Fokussierung er selbst zu vermeiden versucht hatte (siehe Fußnote 42). Ihr Start mit ja und die erste Beendigung mit ne verstärken den Eindruck, daß es sich dabei nicht um eine Normalisierungsstrategie handelt, sondern eher um eine Provokation: Wie wird dieser Christof, für den die gerade restaurierte Fassade des Schlosses eine Ausnahme 42 Daß er einer solchen Gefahr vorzubeugen versucht, zeigen auch seine Akzentsetzungen: Die Plazierung sowohl eines Akzents auf de “r als auch auffro "nt ist angesichts der Regeln für die Akzentsetzung im Deutschen ungewöhnlich (vgl. z.B. Uhmann 1990). Ein einzelner Akzent auf de "r hätte den deutlichen Kontrast zwischen der gerade thematisierten vorderen Seite zur gerade sichtbaren Rückseite des Schlosses relevantgesetzt. Ein einzelner Akzent auffro“nt hätte ein ähnliches Potential gehabt, denn damit würde er die Vorderseite als Front bezeichnen, und für die Rückseite eine andere Bezeichnung erwartbar machen. Die ungewöhnliche Akzentuierung sowohl des Artikels de “r als auch des Nomens fro 'nt hat hier das Potential, daß sich die beiden Akzente in ihrer kontrastierenden Kraft wechselseitig behindern und abschwächen. Zum rhetorischen Potenüal solcher „Abweichungen“ von grammatischen (einschließlich phonologischen) Regeln in Äußerungen im Gespräch vgl. Kallmeyer/ Wolf (1996). Dumm gelaufen 103 von polnischen Verhältnissen ist, mit der Tatsache umgehen, daß die Rückseite „nicht so sauber“ ist? Maria zeigt damit eine Interpretation von Christofs Äußerung an, die weitaus negativer ist, als das durch die Äußerung selbst motiviert ist. Darin kann man beinahe Züge eines forcierenden Verfahrens sehen, das Kallmeyer/ Schmitt (1996) als „Fremdbestimmung der Äußerungsbedeutung“ beschrieben haben. Im Hintergrund einer solchen Verfahrensbestimmung steht u.a. die Annahme, daß man im Rahmen einer kooperativen Interaktionsmodalität potentiell facebedrohende Äußerungen (zunächst) zu normalisieren versucht bzw. daß man verschiedene Deutungen einer (solchen) Äußerung zuläßt und dem Sprecher keine negative Intention unterstellt. Insofern kann man Marias Reaktion als Ausdruck einer (weiteren) Reduzierung ihrer Kooperationsbereitschaft verstehen. 43 Es ist möglich, daß dies auch durch Christofs Bezeichnung des Schlosses als haus und des restaurierten Zustandes der Fassade als sauber provoziert worden ist. Mit dieser Formulierung stellt er sich einmal mehr als „Kulturbanause“ dar. 44 Es wäre verständlich, wenn Maria angesichts dessen eine Aufklärung von Christof wenig erfolgversprechend erschiene. Marias Fokussierung der Rückseite des Schlosses mittels Wiederholung des von Christof eingebrachten Lexems sauber hat in diesem Kontext das Potential, Christof genau damit zu konfrontieren, was durch Umfragen in Illustrierten als ein wesentlicher Unterschied zwischen Polen und Deutschen (re)konstruiert wird: „Die Deutschen achten extrem auf Ordnung und Sauberkeit; die Polen weniger“. Deutsche Vorurteile über Polen und polnische Vorurteile über Deutsche sowie wechselseitige Vorurteile über die Orientierung an solchen Vorurteilen sind um diese Vorstellung herum „organisiert“. Metaphorisch gesagt: Maria markiert eine polnisch-deutsche Grenze als Ergebnis des bisherigen Gesprächs. Sie behandelt Christofs letzte Äußerung als die typische Als „Forcieren“ bezeichnen Kallmeyer/ Schmitt (1996, S. 22) die „Beteiligungsweise einer erkennbar eingeschränkten Kooperativität mit dem Ziel, sich gegen den anderen im Gespräch durchzusetzen“. Allerdings liegt nach meiner Analyse hier eher eine Form des „unwillkürlichen Forcierens“ vor. Dies grenzen die Autoren von Forcieren als „gezieltem ‘Druck machen’“ ab. „Derartige Verhaltensweisen kommen aufgrund einer Fehleinschätzung der Situation und der mit dem kommunikativen Handeln zusammenhängenden Konsequenzen zustande oder auch aufgrund von „Perspektivenabschottung“, d.h. einer Beschränkung von Wahrnehmung und Handeln, in der die Akteure selber gefangen sind“ (S. 30). 44 Er wiederholt damit den Fehler vom Anfang, nämlich die kulturhistorische Relevanz dessen, was ihm als „typisch polnisch“ vorgeführt werden könnte, zu ignorieren. Mehr noch als die kuriose Eingangsäußerung ich hab das geföhl * hie “r wird ge "Id bewegt1 läßt sich die Wahl der lexikalischen Variante „sauberes Haus“ auf einen Mangel an symbolischer Bedeutung polnischer Kultur für Deutsche zurückführen. In der Einleitung zu diesem Band wird der Begriff der symbolischen Bedeutung erläutert. 104 Ricarda Wolf Redeweise eines Deutschen. Überspitzt formuliert: Sie „macht“ ihn zum „häßlichen Deutschen“. 45 Zwischenzusammenfassung: An dieser Stelle halte ich in der interaktionsstrukturellen Beschreibung fiir einen Moment innne, um über ihre Möglichkeiten und Grenzen für die Erklärung von Christofs Wiederholungsfehlem nachzudenken. Man kann sich eine Reihe von alternativen Reaktionsmöglichkeiten für Christof überlegen, die aufgrund der beschriebenen Mechanismen wahrscheinlich ebensowenig zum Erfolg geführt hätten. Genauso kann man sich aber erfolgversprechendere Verfahren vorstellen. Ist die Tatsache, daß er nicht anders reagiert, dann nicht doch ein Hinweis auf seine sehr eingeschränkte deutsche Perspektive? So könnte man nun wiederum fragen. Der Ausgangspunkt von Christofs Fehltritten liegt zunächst in seinem fehlenden Wissen über Polen, vielleicht zugleich auch in einer möglicherweise unbewußten - Überheblichkeit als Bürger eines wirtschaftlich überlegenen Staates. Letzteres kann spätestens aus dem Nachtrag jetzt wird * hier wird gearbeitet herausgehört oder -gelesen werden. Und darin zeigt sich freilich seine spezifische (deutsche/ westeuropäische) Sozialisation. Es ist aber die Frage, in welchem Maße man jemandem eine eingeschränkte Perspektive zuschreiben kann, der sein Nicht-Wissen ursprünglich der Prüfling ausgesetzt hatte. Ob sich in Christofs Wiederholungsfehlern eine verengte Perspektive als mehr oder weniger latente kognitive Orientierung manifestiert, darüber läßt sich mit den Mitteln der Gesprächsanalyse nichts aussagen. Was man aber durch Interaktionsanalyse zeigen kann, ist, daß bestimmte interaktive Zwänge, die durch allgemeine Mechanismen der Gesprächsorganisation bedingt sind, zu diesen Wiederholungsfehlem beitragen können. Infolge der dadurch beeinflußten und wechselseitig lokal aufeinander bezogenen Äußerungen zeigen beide Beteiligten in unserem Gespräch eine Schritt für Schritt größere Einschränkung ihrer Wahmehmungs- und Handlungsmöglichkeiten an: Maria zeigt wenn man ihre einzelnen Reaktionen als Züge in einem kontinuierlichen Prozeß betrachtet eine insgesamt und zunehmend einseitige Interpretationstätigkeit sowie Reduzierung ihrer Kooperationsbereitschaft. Zwar kann man noch ihre erste Reaktion wie für polnische * Verhältnisse wie mei“nst du dasl als Ausdruck einer kooperativen „reichen Interpretationstätigkeit“ ansehen. Aber auch hier wird schon signalisiert, daß nicht mehr viel fehlt, um zu einer ausschließlich negativen Interpretation zu tendieren. Und so passiert es ja dann auch. Im nächsten Schritt zeigt Maria durch ihr codeswitching an, daß sie jetzt auf eine negative Interpretation fixiert ist auch wenn sie durch die Bedeutung „alles gut“ zugleich zeigen könnte, daß sie ihre negative Interpretation nicht unbedingt deutlich machen will und daß sie den Vorfall nicht unbedingt weiter bearbeiten will. Und nach Christofs zweitem Repa- Das ist wiederum nicht als Schuldzuweisung an Maria zu lesen, sondern als Beschreibung ihrer Reaktion auf Christofs Fehltritte, die ihrerseits zumindest teilweise auf interaktive Zwänge zurückfuhrbar sind, wie in der bisherigen Darstellung gezeigt wurde. Dumm gelaufen 105 raturversuch stellt sie dann eine extrem negative Interpretation dar, die beinahe den Charakter eines forcierenden Interpretationsverfahrens hat. Bei Christof zeigt sich die Einschränkung seiner Handlungsmöglichkeiten spätestens im zweiten Erklärungsversuch darin, daß er seine Argumentation gegenüber dem ersten Versuch nicht ändert, obwohl schon der erste Versuch nicht ratifiziert worden war. Auch wenn Christof ein mangelhaftes Wissen über Polen hat, kann man diese „Einfallslosigkeit“ nicht darauf zurückfuhren, daß er überhaupt keine Ressourcen zur Erklärung seiner Wahrnehmung zur Verfügung hätte: Aus dem Interview mit ihm weiß ich, daß er vor diesem Sommerkurs schon andere Gebiete Polens kennengelernt hat. Damit hätte er seine Wahrnehmung, daß es in der Umgebung von Poznan im Vergleich zu anderen Gebieten sehr „gepflegt“ ist, erklären können. (Das entspricht ja auch einer „polnischen“ Bewertung, siehe die oben angeführte Äußerung des Exkursionsleiters.) Daß er diese Erklärung nicht anführt, könnte daraufhinweisen, daß er unter einem starken interaktiven Druck steht, der seine Handlungsmöglichkeiten einschränkt: Er muß so schnell wie möglich (denn das Ausbleiben oder die Verzögerung einer Antwort könnte negative Interpretationen hervorrufen) einen Fehler reparieren, den er nicht genau kennt. Möglicherweise ahnt er aber, daß für seine Äußerungen ein problematischer interkultureller Interpretationsrahmen relevantgesetzt wurde. Sind das nicht die besten Bedingungen dafür, um davon auszugehen, daß man ab jetzt nur noch alles falsch machen kann? (Siehe seine Frage ja t war das falsch T) Und diese Bedingungen verschärfen sich mit jeder weiteren Reaktion von Maria. Die Einschränkung von Handlungsmöglichkeiten läßt also nicht unbedingt auf verengte Perspektiven als latente psychische Orientierungen der Beteiligten schließen, sondern ist hier (auch) das Resultat interaktiver Herstellung. Damit läßt sich zum Teil auch erklären, daß Maria selbst dann nicht als Kulturvermittlerin handelt, wenn sie in diesem Sinne um Hilfe gebeten wird. Das wird erst recht auffällig, wenn man dieses Gespräch mit der Polnisch-Stunde („Wunschkonzert“) vergleicht, die Ulrich Dausendschön-Gay in diesem Band untersucht. In dieser Unterrichtsstunde bemüht sich Jana besonders intensiv um Kulturvermittlung, vor allem um die Bearbeitung von Vorurteilen über Polen. Wie Dausendschön-Gay zeigt, verwendet die Lehrerin viel Mühe darauf, die Vorurteile von Deutschen über Polen zunächst zu explizieren bzw. explizieren zu lassen. Damit verschafft sie sich eine Basis, „falsches Wissen“ über Polen zu korrigieren. Diese Basis bekommt Maria sozusagen „frei Haus“ geliefert. Daß sie das nicht nutzt, läßt die Beschreibung zu, daß sie hier nicht als Kulturvermittlerin agiert. Anfangs hatte sie möglicherweise kein Interesse daran, später gab es interaktionsstrukturelle bzw. interaktiv hergestellte Behinderungen. 46 Ende der Zwischenzusammenfassung. 46 •• Uber einen zusätzlichen Grund dafür, daß Maria von Anfang an nicht die ihr von Christof angebotene Rolle einer Kulturvermittlerin übernimmt, kann man ausgehend von den untersuchten Materialien nur spekulieren: Möglicherweise befindet sie sich auch in 106 Ricarda Wolf Marias Provokation (Ja hie “r ist ni “cht so sauber von dieser sei “te) hat für Christof offensichtlich auch einen positiven Effekt: Denn damit hat sie zumindest partiell eine neue Verpflichtung (konditionelle Relevanz) geschaffen: nämlich auf ihre Aussage über die Rückseite zu reagieren. Infolgedessen ist Christof nun weniger verpflichtet, immer noch die Frage nach den „polnischen Verhältnissen“ zu beantworten. Darauf läßt sich das erstmalige Fehlen eines zweiten generalisierenden Antwortteils nach dem Muster das is: t hier nicht so häu“fig aufgefallen l oder hier wird gearbeitet T zurückfuhren. Außerdem sieht es so aus, als könnte Christof auf diese Äußerung von Maria leichter reagieren: Hinweise auf Rechtfertigung (wie Start mit ne aber, nee also, Verzögerungen, Stottern) gibt es in der Äußerung na hie “r ni“chi das isja auch nich die repräsentative sei “tel nicht. Nur bei einem harten polnisch-deutschen Interpretationsrahmen läßt diese Äußerung eine negative Interpretation als Ausdruck negativer Einstellungen gegenüber Polen zu (etwa: In Polen wird nur das gepflegt, was der Repräsentation dient nach dem Motto „außen hui, innen pfui“). Ansonsten dürfte man die Äußerung eher als Hinweis darauf verstehen, daß Christof ein solches Verfahren, zuerst die Vorderfront und dann die Rückseite zu restaurieren, für normal hält. Für welche Interpretation sich Maria entscheidet, erfahren wir aus dem Transkript nicht. Denn sie verzichtet auf die Sprecherrolle, als Reinhold sich zu Wort meldet. Wenn man die Tatsache, daß Christofs Äußerung nun weniger Merkmale von „Unter-Druck-Formulieren“ aufweist, auf die mit Marias Provokation einhergehende Kontextveränderung zurückführt, dann könnte man einen Effekt dieser Provokation darin sehen, einen weiteren Schritt zur Selbstheilung des Problems beizutragen. Das würde bedeuten, daß ein Teil genau der Interaktionsmechanismen (wie lokale, sequentielle Herstellung von Äußerungskontexten und Reaktionsverpflichtungen), die zu Christofs unangenehmer Lage beigetragen haben, jetzt auch ein gewisses Heilungspotential der Situation begründen. Einen solchen Effekt von Marias Provokation sehe ich tatsächlich, auch wenn Reinholds Übernahme des Rederechts und sein folgender Vermittlungsversuch daraufhindeuten, daß er inzwischen davon ausgeht, daß Christof einem „Rollenkonflikt“. Da sie wie die Kursteilnehmer Studentin ist, liegt für sie möglicherweise eher eine symmetrische Beziehungsdefmition nahe. Das wäre auch eine wichtige Ressource für eine Annähemng zwischen den deutschen Kursteilnehmern und den polnischen Betreuern auf einer freundschaftlichen Ebene. Mit Kulturvermittlung, wenn sie in Form eines Lehr-Lem-Diskurses erfolgt, ist aber eher eine asymmetrische Beziehungsdefinition verbunden. Interessant wäre es, in weiteren Untersuchungen von Jugendbegegnungen mit organisierter Kulturvermittlung der Überlegung nachzugehen, ob mit solchen Rollenkonflikten etwa strukturelle Paradoxien solcher Begegnungen verbunden sind: Auf der einen Seite sind mit symmetrischen Beziehungsdefinitionen aufgrund gleichen Alters, eines ähnlichen Status als Studenten o.ä. günstige Bedingungen für eine Annähemng außerhalb der kulturellen Grenzen gegeben. Dies dürfte ein wichtiges Reparaturpotential für problematische ethnische Grenzziehungen sein, das bei der Organisation von Jugendbegegnungen sicher auch bewußt in Rechnung gestellt wird. Auf der anderen Seite ist Kulturvermittlung als Form der Annähemng auf ethnisch-kultureller Ebene mit asymmetrischen Beziehungsdefinitionen verbunden. Dumm gelaufen 107 sich nicht selbst helfen kann und daß es auch keine „Selbstheilung“ gibt. Und zwar sehe ich diesen Effekt darin, daß die allmähliche Rückstufung der Frage von Maria als Kontext auch eine Basis für Reinholds „Rettungsmanöver“ ist: 2.4 Die Rettung Transkriptausschnitt V: 35 CH: auch nich die repräsentative sei”te4' 36 MA: die fassa"de ist ( . . 37 RE: es sind aber 38 MA: ( > jat 39 RE: neue fe"nster drin net zum tei"l zumindesti *4* 40 MA: ich glaube (d? s)ie haben nicht so vie"l 41 RE: RÄUSPERN 42 CH: 43 MA: 44 RE: 45 CH: 46 MA: 47 RE: 48 RE: 49 RE: 50 MA: 51 RE: 52 RE: 53 RE: 54 RE: 55 RE: 56 RE: 57 RE: 58 PE: 59 RE: 60 K 61 PE: nein nei"nl ** ge"ld um alles auf einmal zu machen ( ) mhmt aber hier tu"t sich was! jajal mf ich glaub das ist aber relativ typisch für so * die restaurierung von so größeren * gebäuden daß das immer so in etappen mhm geht! ich mein die in Heidelberg zum beispiel da bauen die schon seit ** ja so seit dreißig oder oder vierzig jahren immer jedes jahr da fang=n se an der einen ecke an da machen se=n kleines türmchen: * dann müssen se wieder gucken daß se geld reinkriegen und dann gibt=s wieder mal so=n schub ** wenn se: rundherum sind dann fang=n se #ja# im prinzip jai *12* #LACHAN SAT Z # wieder von vorne an! 62 CH: ja der park is wirklich schönt noch 63 RE: mhmt *7* 64 CH: 65 CH: 66 CH: 67 CH: 68 CH: richtige natu"r hier! *16* das is nich so aggre/ aggressi: v äh * gepfle: gt worden wie bei uns im we"stenl net wo wi"rklich alles eben * schö"n sein muß auf den letzten * bis auf den letzten ha"Im und sot net 108 Ricarda Wolf Schon auf den ersten Blick wird deutlich, daß Reinholds Einstieg in das Gespräch eine Wende herbeifuhrt. Es gibt zwar kein „happy end“, denn das Gespräch kommt nicht (in der von Christof gewünschten Weise) zustande, und der Vorfall wird ihm gegenüber nicht deutlich beendet. Aber zumindest findet keine weitere Verhärtung statt, und Christof und Maria finden aus dem „interaktiven Gestrüpp“ wieder heraus. Dazu fuhren zwei Schritte: Zum einen ist das Reinholds Bemerkung über die neuen Fenster, zum anderen sein Hinweis, daß die Abfolge von Restaurationsarbeiten, wie sie hier zu beobachten ist, eine ganz normale sei. Als der entscheidende Schritt zur Renormalisierung erweist sich schon die Bemerkung über die neuen Fenster hier lenkt Maria bereits ein. In Anbetracht der vorher noch geradezu ausweglos erscheinenden Situation stellt sich die Frage, was das Schlichtungspotential von Reinholds Bemerkung über die neuen Fenster begründet. Der am meisten naheliegende Kontext für diese Bemerkung ist Marias Provokation ja hie“r ist ni“cht so sauber [...]. Sie hat zwar das Potential, der Provokation den Boden zu entziehen, denn sie schwächt den aufgebauten Widerspruch zwischen dem Zustand der Vorderfront und dem der Rückfront ab. Insofern hat die Fenster-Bemerkung auch die Möglichkeit, Christofs (ungewollte) Relevanzhochstufung des Widerspruchs zwischen Vorder- und Hinterfront zu korrigieren. Aber im Grunde unterscheidet sie sich in ihrer Qualität nicht deutlich von den Beobachtungen, die vorher Christof kundgetan hatte. Sie ließe sich ebensogut wie der Hinweis auf den englischen Rasen als Beispiel für hie “r wird ge “Id bewegtj oder für polnische Verhältnisse ist das sehr gepflegti oder hier wird gearbeitet T verstehen und damit negativ auslegen. Insofern ist Marias Reaktion darauf überraschend: Nach einem ersten vorsichtigen jat, das noch die Qualität eines continuers hat und vielleicht mit zu Reinholds Einschränkung zum tei“l zumindestj führt, sowie nach einer Pause von vier Sekunden entscheidet sie sich zu einem „Friedensangebot“. Ihre Äußerung ich glaube (d? sie) haben nich so vie “l ge “Id um alles auf einmal zu machen kann zunächst als Erklärung für den Unterschied zwischen der Vorder- und der Rückfront aufgefaßt werden. Da sie diesen Unterschied ja selbst zum Thema gemacht hatte, kann man ihre Äußerung sogar als Korrektur des eigenen Verhaltens ansehen. Wenn man nun bedenkt, daß vorher ein deutsch-polnischer Interpretationsrahmen relevantgesetzt wurde und daß Reinhold ein Deutscher ist, dann ist es bemerkenswert, daß seine Äußerung überhaupt zu einem Friedensangebot von Maria führen kann. Ich sehe dafür zwei (sich nicht ausschließende) Erklärungsmöglichkeiten: Zum einen war der Effekt von Marias Provokation (ja hie “r ist nicht so sauber [...]) ja eine allmähliche Relevanzrückstufüng der für die Bearbeitung des Vorfalls so problematischen Frage wie für polnische * Verhältnisse wie mei“nst du dasf. Aus diesem Grunde ist die Gefahr nicht ganz so groß, daß Dumm gelaufen 109 der Hinweis auf die neuen Fenster nur wieder als Beispiel für die Aussage für polnische Verhältnisse ist das sehr gepflegti verstanden werden kann. Außerdem kann Reinhold deshalb auf einen zweiten Antwortteil vom Typ das ist hier nicht so häufig aufgefallen oder hier wird gearbeitet verzichten. Das fuhrt dazu, daß Reinholds Formulierung im Gegensatz zu Christofs Äußerungen keinen Kontrast impliziert, der die neuen Fenster etwa zu einer „Ausnahme“ machen würde. Allerdings war der problematische Kontext auch schon vor der letzten Äußerung von Christof {das ist ja auch nicht die repräsentative sei“teJ) in seiner Relevanz nicht mehr so stark wie vorher, so daß eben auch für Christof ein anderer Typ von Antwort als vorher möglich wurde. Insofern stellt sich die Frage, warum Maria nicht schon als Reaktion auf Christofs Äußerung eingelenkt hatte. Das fuhrt zu dem Gedanken, den „Schlichtungserfolg“ zum anderen auf Reinholds Beteiligtenstatus (im Unterschied zu dem von Christof) zurückzufuhren: Zunächst ist Reinhold jemand, der sich an dem bisherigen Gespräch nur als aktiver Zuhörer beteiligt hatte. Durch sein Lachen in Z. 12 hat er früh gezeigt, daß er das Geschehen aufmerksam verfolgt und sich schnell Hypothesen über bestimmte Aspekte desselben gebildet hat (siehe Fußnote 25). Das könnte es Maria ermöglichen, sein Verhalten als das eines sensiblen und hinsichtlich des Gesprächsgegenstandes kompetenten Beteiligten zu verstehen und zu behandeln. Und das dürfte maximal zu dem Beteiligtenstatus von Christof kontrastieren. Dieser wurde durch die interaktive Dynamik mit einem problematischen polnisch-deutschen Interpretationsrahmen verknüpft und hat zur Konstitution der Identität eines „häßlichen Deutschen“ geführt. Es liegt nahe, daß dieser Interpretationsrahmen auch zu einer negativen Interpretation der Äußerung es sind aber neue fe “nster drin zum tei “l zumindest ■ / geführt hätte, wenn sie von Christof ausgesprochen worden wäre. 47 Dagegen ist es möglich, daß Reinhold aufgrund seines nicht vorbelasteten Beteiligtenstatus dazu beigetragen hat, diesen Interpretationsrahmen zurückzustufen. Auf Rückstufung dieses Rahmens weist ein Element in Marias Reaktion ich glaube {d? s)ie haben nicht so vie “I ge “Id ... hin: die Entscheidung für das Pronomen sie (bzw. die) statt wir. Letzteres hätte auf die polnische Ethnie verwiesen, das Pronomen sie kann dagegen auf die Verwalter des Schlosses verweisen und so eine nichtethnische Ebene relevantsetzen. Wenn Reinholds Äußerung tatsächlich zur Rückstufung des problematischen polnisch-deutschen Rahmens beigetragen hat, dann wäre dieser Beitrag aus verschiedenen Gründen interessant: Zum einen würde er einen Beleg dafür liefern, daß ein problematischer interethnischer Interpretationsrahmen inner- 47 Eine entsprechende Beobachtung macht Knoblauch (1995, S. 136). Er zeigt anhand von Streit-Gesprächen, wie die inhaltlichen Äußerungen eines Beteiligten im Laufe eines Gesprächs(abschnitts) reflexiv mit ihrem Beteiligtenstatus verknüpft werden können, so daß es schwer ist, den bisherigen Beteiligtenstatus zu ändern. Zur interaktiven Etablierung und Wirkung des Beteiligtenstatus von Interagierenden vgl. auch Spranz-Fogasy (1996). 110 Ricarda Wolf halb kürzester Zeit wieder zurückgestuft werden kann. Zum anderen zeigt das, daß von ethnisch oder kulturell motivierten interaktiven Abgrenzungen mit negativem Effekt auf das Gespräch nicht die gesamte Gruppe der Beteiligten betroffen sein muß. Es scheint eher so zu sein, daß eine solche Abgrenzung an die Herstellung des jeweiligen Beteiligtenstatus eines Sprechers gebunden ist. Das bedeutet allerdings nicht unbedingt, daß es für den Erfolg der „Schlichtung“ nicht wichtig ist, daß Reinhold ein Deutscher ist bzw. daß er derselben Gruppe angehört wie derjenige, der den Vorfall verursacht und sich zu einer Korrektur unfähig gezeigt hatte. Dies wäre auch nach der oben angenommenen Sequenzlogik von Korrekturpräferenzen plausibel: Zunächst besteht die Präferenz von Selbstkorrektur vor Fremdkorrektur. Wird die Selbstkorrektur nicht ratifiziert, kann der Verursacher des Vorfalls eine Fremdkorrektur initiieren. Wird diese nicht geleistet, dann stünde wieder die Selbstkorrektur zur Debatte. Wie der hier vorgeführte Fall zeigt, sind solche Runden aber nicht unendlich, und vor allem nicht ohne immer größeren Schaden für den Beteiligtenstatus der Akteure, die den Vorfall produziert haben, wiederholbar. Denn der durch wiederholt mißglückte Selbstkorrekturversuche beschädigte Beteiligtenstatus kann eine Selbstkorrektur in folgenden Runden erst recht unmöglich machen. Der unbelastete Status eines anderen Beteiligten einerseits und die Möglichkeit, ihn der gleichen Kategorie wie der des Verursachers zuzuordnen, andererseits, könnte dann genau das Problem bearbeiten, das sich in solchen Fällen ergibt. Die Anforderung der Selbstkorrektur kann stellvertretend erfüllt werden, wenn der Verursacher (aufgrund seines Beteiligtenstatus) dazu nicht (mehr) in der Lage ist. In einem solchen Erklärungsrahmen erscheint es nicht als Zufall, daß Anna (als weitere mögliche „unbeteiligte Dritte“) an dieser Stelle nicht mit Reinhold um die „Schlichterrolle“ konkurriert. Denn sie wäre nach diesem Modell nicht die an dieser Stelle präferierte Sprecherin bzw. Korrektantin. 48 Ob Reinholds Identität als Deutscher für die „Rettung“ eine Rolle spielt oder nicht, kann anhand dieses Einzelfalls nicht sicher gesagt werden. Was die Fallanalyse aber mit Sicherheit hervorbringt, ist eine solche Struktur, nach der ethnisch oder kulturell motivierte interaktive Abgrenzungen nicht nur entlang des Interaktionsverlaufs variieren, sondern mit der Konstitution des Beteiligtenstatus der Interaktionspartner einhergehen. Daraus können sogenannte unkomfortable interkulturelle Situationen ein nicht unwesentliches Reparaturpotential beziehen. 48 Diese Beobachtung ist nicht nur für den Forschungsbereich der interkulturellen Kommunikation interessant. Im Rahmen einer Theorie des Unterstützens wäre zu prüfen, ob in dem von Reinhold angewendeten Verfahren ein allgemeineres Unterstützungs- oder Schlichtungsverfahren besteht bzw. mit welchen spezifischen Kontexten es verbunden ist. Möglicherweise ist es auf solche Kontexte beschränkt, in denen der potentielle Schlichter überhaupt der gleichen Kategorie wie der des Verursachers zugeordnet werden kann. Dumm gelaufen 111 Betrachtet man den weiteren Interaktionsverlauf, dann wundert man sich wohl zumindest beim ersten Hinsehen darüber, daß Christof immer noch weiter macht. Auch dafür gibt es eine interaktionsstrukturelle Erklärung: Die schon oben erwähnte Präferenz zur Selbstvertretung drückt sich oft darin aus, daß der Unterstützte schon während der Unterstützungshandlung oder danach einen eigenen Beitrag zur Bearbeitung der anstehenden Interaktionsaufgabe leistet bzw. einen entsprechenden Wunsch dazu signalisiert. Allerdings erweckt Christofs Äußerung neinJ- ** aber hier tu“t sich wasJ. den Eindruck, als beginne das Spiel von vom. Unter interaktionsstrukturellem Aspekt ist das darauf zurückzuführen, daß seine Äußerung einen Bezug zu dem früheren problematischen Kontext herzustellen ermöglicht, und zwar aufgrund der Parallelität der Formulierung hier tu “t sich wasl was zu hie “r wird ge “Id bewegU und hier wird gearbeitet t. Damit bestätigt er potentiell auch seinen bisherigen Beteiligtenstatus. Daß Maria ihm mittels ja jal nur eine schwache Ratifizierung zugesteht, dafür dürfte aber außerdem die Tatsache verantwortlich sein, daß auch diese Äußerung den von Christof offenbar unerkannten Fehler reproduziert (so.). Möglicherweise ist Reinhold durch den erneuten Fehltritt zu dem nun folgenden zweiten Reparaturversuch veranlaßt worden. Er normalisiert den zuvor als bedeutsam behandelten Unterschied zwischen der restaurierten Fassade und der noch nicht restaurierten Rückfront des Schlosses durch die generalisierende Aussage, daß solche Restaurationsarbeiten immer in Etappen durchgeführt würden. Maria ratifiziert diesen zweiten Reparaturversuch nur mit einem mhm, was Reinhold vielleicht zu einer Exemplifizierung seiner Aussage veranlaßt: Auch die Restaurationsarbeiten am Heidelberger Schloß gingen in einem vergleichbaren Rhythmus vonstatten, und auch hier gäbe es monetäre Gründe für Unterbrechungen der Arbeiten. Wieder bleibt eine deutliche Ratifizierung durch Maria aus. Daß sie aber zumindest zu keiner weiteren Korrektur auffbrdert oder zu keinen erneut provozierenden Bemerkungen anhebt, kann als Schlichtungserfolg von Reinhold angesehen werden. Dennoch scheint die Situation zu verfahren zu sein, um jetzt einfach so über Schlösser zu reden oder gar kulturvergleichende Überlegungen unter „umgekehrtem Vorzeichen“ zu diskutieren. Letzteres wird deutlich, wenn man auf Christofs erneute Initiativen nach Peters scherzhaftem Beendigungsversuch (Z. 58-62) und einer zwölfsekündigen Schweigephase schaut. Zunächst versucht er es mit einer Form von „setting talk“, die ohne Thematisierung kultureller Unterschiede auskommt: ja der park is wirklich schön 4'. Daß er nun einfach seinen Gefallen an dem Park ausdrücken kann ohne einen Nachtrag nach dem Muster hier tu“t sich was4ist sicher ebenfalls auf Reinholds Schlichtungserfolg zurückzuführen. Dadurch ist nun endgültig die Frage nach den „polnischen Verhältnissen“ als problematischer Kontext irrelevant. Allerdings ringt er damit lediglich Reinhold ein mhm ab. So versucht er es nach wiederum acht Sekunden Schweigen erst vorsichtig, und dann nach sechzehn Sekunden deutlicher mit einer Art „kulturvergleichendem setting talk“. Als hätte er in diesen langen Schweigephasen fernab von unmittelbarem Reaktionsdruck über seinen 112 Ricarda Wolf Fehler erfolgreich nachdenken können, stellt er den erneuten „Kulturvergleich“ nun unter andere Vorzeichen: In der Äußerung das is nich so aggre/ aggressiv gepflegt worden wie bei uns im westen [...] erscheint der Westen nicht mehr als die „Norm“, von der Polen noch abweicht, sondern als etwas, das besser nicht das Ergebnis von Veränderungen in Polen sein sollte. Ich habe den Eindruck, daß Christof mit einer solchen Thematisierung kultureller Unterschiede die eingangs beschriebenen Anforderungen der sozialen Situation besser hätte bewältigen können. Nur eben zu Beginn. Jetzt, nach allem, was geschehen ist, kann das Verfahren offenbar nicht mehr zum Erfolg fuhren, wie das konsequente Schweigen seiner Begleiter zeigt. Nach der dargestellten Analyse scheint es mir plausibel, dies immer noch auf den beschädigten Beteiligtenstatus von Christof zurückzuflihren, der jetzt auch die positive Relevantsetzung eines interethnischen Interpretationsrahmens behindert. Wenn das so ist, dann zeigt der analysierte Fall auch, daß eine solche Beschädigung nicht einfach mittels eines verbalen Kontextwechsels durch einen unbeteiligten Dritten behoben werden kann. 3. Zusammenfassung Das analysierte Beispiel ist ein Beleg dafür, daß es gute nämlich interaktionsstrukturelle - Gründe dafür gibt, als Analytikerin einer vorschnellen subsumptionslogisehen Interpretation interkultureller Situationen zu mißtrauen; vgl. Schmitt/ Keim (1995, S. 413ff.). Die Tatsache, daß Angehörige zweier Ethnien miteinander kommunizieren, dominiert nicht unweigerlich von Anfang an, nicht durchgängig und nicht für alle Beteiligten in gleicher Weise die Möglichkeiten des interaktiven Umganges miteinander. 49 Interkulturalität als Bestandteil von Kommunikation wird aufgrund des konkreten Verhaltens bestimmter Beteiligter und daraus resultierender emergenter Entwicklungen für bestimmte andere aber nicht unbedingt alle - Beteiligte erst relevant gemacht. Interkulturalität muß also als interaktives Phänomen, d.h. als aus der Situation heraus entstehend und für die Beteiligten selbst wichtige Orientierung ernst genommen werden, nicht als externes, das ganze Geschehen dominierendes Kontextelement. Eine solche diskursive Sichtweise widerspricht nicht nur einer alltagspragmatischen Sicht auf interkulturelle Situationen, wie sie unter bestimmten Bedingungen erzeugt und zur dominanten Lesart wird, sondern konkurriert auch mit der immer noch weit verbreiteten wissenschaftlichen Annahme von der unausweichlichen Problemhaftigkeit interkultureller Kontakte. Eine solche Sichtweise ist aber eine Voraussetzung dafür, als Analytikerin selbst mit interkulturellen Situationen (als heuristischem Konstrukt) metho- 49 Das zeigt sich an dem hier analysierten Gespräch deutlicher als in dem von Schmitt/ Keim analysierten Beispiel, vor allem wegen der Tatsache, daß Reinhold (trotz oder wegen seiner Identität als Deutscher) zur Renormalisierung der Situation beitragen kann. Dumm gelaufen 113 disch kontrolliert umgehen zu können. 50 Sie ermöglicht, mit Vorurteilen und ethnisch begründeten Interpretationen wissenschaftlich produktiv und erkenntnisgenerierend umzugehen. Wie statisch und brüchig die Annahme einer unausweichlichen interkulturellen Problemhaltigkeit ist, zeigt sich ganz deutlich im Verhalten von Maria, der von dem Vorfall zentral Betroffenen. Sie ist durchaus in der Lage, den Vorfall trotz der für sie existierenden ethnischen Qualität als interaktiven zu behandeln. Als solcher kann er durch Mithilfe anderer Interaktionsbeteiligter, die der gleichen ethnischen Gruppe angehören wie der Verursacher des Vorfalls, normalisiert werden. Nicht die ethnische Kategorie ist also die zentrale Grundlage für das Interaktionsgeschehen, sondern die unterschiedlichen Beteiligungsweisen einzelner Gesprächspartner, die gegebenenfalls mit ihrer ethnischen Identität als interpretationsleitendem Element des Hintergrundwissens interaktiv verknüpft werden. Nur wenn man interkulturelle Kommunikation zunächst als Kommunikation ernst nimmt, die man z.B. mit den Mitteln der Konversationsanalyse auf ihre strukturelle Spezifik hin untersucht, und wenn man erst auf dieser Grundlage nach dem interkulturellen Anteil fragt, hat man überhaupt die Möglichkeit, sich selbst als Analytikerin aus den Fallstricken einer vorreflexiven und intuitiven Sicherheit der Wahrnehmung zu befreien, in denen Christof und Maria gefangen sind. 4. Literatur Auer, Peter (1993): On the prosody and syntax of turn-continuations. Arbeitspapier Nr. 25. Fachgruppe Sprachwissenschaft. Universität Konstanz. Bergmann, Jörg (1985): Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit. In: Bonß, Wolfgang/ Hartmann, Heinz (Hg.): Entzauberte Wissenschaft. Zur Relativität und Geltung soziologischer Forschung. Göttingen. S. 299-320. Bilmes, Jack (1988): The concept of preference in conversation analysis. In: Language in Society 17, S. 161-181. 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Eine der Polnischlehrerinnen der Sommerkursgruppe unterstellt zuerst kulturelle Distanz zur polnischen Alltagswelt als wesentliches Element der Wahrnehmungsmöglichkeiten ihrer Lemergruppe; dann bestimmt sie als eine der Aufgaben ihres Unterrichts, die Lernenden mit einer polnischen Perspektive auszustatten, die bei der Überwindung der Distanz und bei der Vermeidung von kulturellen Mißverständnissen hilfreich sein kann. Sie tut dies, indem sie mit gängigen Stereotypen über Polen spielerisch umgeht und die Lernenden an der Entdekkung von stereotypen Wahrnehmungen beteiligt. Im Vergleich mit anderen Projektmaterialien wird deutlich, daß die Lehrerin einen ganz spezifischen Beitrag zum Thema „Kulturvermittlung" leistet, indem sie über Aufgabendefinition, Interaktionsrollenverteilung und Beteiligtenstatus eine Art interkultureller Aufklärung betreibt. 1. Einleitung Im Material aus dem Projekt „polnisch-deutsche interkulturelle Kommunikation“ gibt es umfangreiche Video- und Audioaufzeichnungen von Schloßfuhrungen und ein Interview mit dem jungen Mann, der diese Führungen für die Sommerkursgruppe durchgeführt hat (die Gruppe hatte ihm übrigens als Reaktion auf seine Selbstkategorisierungen sehr schnell den Sptiznamen „der Graf 1 gegeben). Reinhold Schmitt hat in seinem Beitrag in diesem Band unter Rekurs auf diese Materialien und ihren Hauptprotagonisten unter anderem die interaktive Dimension des Konzepts der Kulturvermittlung herausgearbeitet; er hat die Genese eines kulturellen Mißverständnisses nachgezeichnet und dabei deutlich gemacht, daß die Bedingungen für das Gelingen oder Mißlingen der Vermittlungsarbeit an die Erfahrung der beteiligten Interaktanten ebenso gebunden sind wie an interaktionsemergente Eigenschaften des Ereignisses selbst. Ich möchte im folgenden einige Aspekte der Kulturvermittlung weiter verfolgen und dabei komplementär zu Schmitts Daten die Videoaufzeichnungen aus dem Polnischunterricht zu Rate ziehen, der für die Gruppe des Sommerkurses von einer exzellent deutschsprechenden Polnischlehrerin durchgeführt worden ist. 1 1 Mein Beitrag zu diesem Band hätte ohne die ausführlichen Diskussionen in der erweiterten Projektgruppe des IDS (siehe dazu im einzelnen die Einleitung zu diesem Buch) nicht entstehen können; wesentliche Impulse und vor allem kulturkompetente Beobachtungen am Material stammen von dort. Dafür habe ich ebenso zu danken, wie für die Lektüre und Diskussion einer ersten Version dieses Beitrages in der IDS-Projektgruppe sowie mit meinen Bielefelder Kolleginnen Elisabeth Gülich, Heiko Hausendorf und besonders Ulrich Kraffl. Allein zu verantworten habe ich somit nur etwaige Inkohärenzen der Darstellung und die Monoperspektivik meiner Interpretationsversuche. und dann entstehen berge von Problemen 117 Allgemein gilt mein Interesse dabei zunächst den Handlungen der Lehrerin, die ähnlich wie der Fremdenführer in den von Schmitt behandelten Materialien von sich aus eine Aufgabenstellung für die gemeinsame Arbeit mit der Sommerkursgruppe herbeiführt. Es wird also darum gehen, im Sinne der Ethnomethodologie den kommunikativen Prozeß der Herstellung eines sozialen Ereignisses zu rekonstruieren. Im Vergleich mit den Schloßführungen wird dabei auch deutlich werden, daß die Herstellung einer Unterrichtsinteraktion offenbar andere Arten von Interaktionsaufgaben stellt. Die relativ schmale Datenbasis der Videoaufzeichnungen einiger Unterrichtsstunden und meine eigene Unfähigkeit, die Materialien aus polnischer Perspektive zu verstehen, haben methodisch zur Folge, daß ich mich weitgehend auf die Interpretationsmöglichkeiten der sogenannten konversationsanalytischen Interaktionsanalyse beschränken muß. Weitergehende, die Analyse ethnographisch anreichemde Methodenschritte, wie sie in den meisten anderen Beiträgen dieses Bandes zu finden sind, bleiben mir verwehrt. 2 Ich werde also versuchen, die beobachtbaren Handlungsschritte im Interaktionsgeschehen des Unterrichts als „Aufzeigeaktivitäten mit sozial-symbolischer Bedeutung“ 3 zu verstehen. Bezogen auf die Situation des Polnischunterrichts gehe ich dabei insbesondere davon aus, daß unter den Bedingungen von „Fremdartigkeitswahmehmungen“ (d.h., daß die sozial-symbolischen Bedeutungspotentiale der Handlungen nicht oder nur schwer von denjenigen Interaktionsteilnehmern zu entschlüsseln sind, die selbst nicht Mitglied der Gemeinschaft sind, in der diese symbolischen Bedeutungen Gültigkeit haben) Probleme im Interaktionsgeschehen entstehen können, die die Beteiligten vor spezifische Aufgaben stellen. 4 2 Vgl. dazu stellvertretend für Publikationen Gülich (1991). Streeck (1989) hat die methodischen Möglichkeiten der Untersuchung von Materialien durch Beobachter, die selbst nicht Mitglieder der untersuchten Gruppe sind, eingehend diskutiert. Während er methodisch notwendige Prinzipien des Umgangs mit solchen fremdkulturellen Daten aufzeigt, liest sich die literarische Variante bei Günter Grass (in den „Unkenrufen“ im Kontext der Einweihung des ersten polnisch-deutschen Versöhnungsfriedhofes in Gdansk) so: „Man hat das nicht groß an die Glocke gehängt. Kaum Presse, kein Fernsehteam war anwesend, wohl aber hatte Reschke einer privaten Produktion den Auftrag erteilt, die Einsegnung des Friedhofs und aus gebotener Distanz die ersten Beerdigungen aufzuzeichnen. Eine Videokassette von immerhin halbstündiger Laufzeit gehört zum mir gelieferten Material. Nach mehrmaligem Abspielen der Kassette, die allerdings ohne Tonspur läuft, könnte ich sagen: Ich bin dabeigewesen.“ (Günter Grass: Unkenrufe. Göttingen. 1992. S. 134). 3 Diese Formulierung habe ich aus dem ausgezeichneten Aufsatz von Schütze (1994) montiert. Er führt im einzelnen aus: „Die Aufzeigeaktivitäten der Akteure beziehen sich im Kern darauf, was letztere miteinander in der nunmehr anstehenden oder bereits ablaufenden Interaktion zu tun gedenken bzw. wie sie das auffassen wollen, was der jeweils andere bereits vollzogen hat. [...] Das „etwas miteinander Tun“ findet stets im Rahmen komplexer, oft symbolisch mehrschichtiger, sich erst allmählich entfaltender Situationsdefinitionen statt.“ (S. 206). Vgl. dazu auch Schmitt (1993) und Dausendschön-Gay/ Krafft (1991a). Siehe dazu Schütze (1994, S. 204-205). 4 118 Ulrich Dausendschön-Gay Die Bedingungen der Fremdartigkeitswahrnehmung gelten dabei in doppelter Weise: solange die Lehrerin die einzelnen Individuen der Gruppe nicht näher kennt, wird sie die Gruppe als im Hinblick auf das Unterrichtsgeschehen homogen idealisieren; sie wird als konstitutive Merkmale z.B. „Herkunft aus der alten BRD“, „Studierende“, „keine oder wenig Erfahrung im polnischen Alltag“, „keine Sprachkenntnisse“, etc. unterstellen, also Eigenschaften, die sie als Lehrerin gerade nicht teilt und die sie davon ausgehen lassen, daß die Gruppe während des Aufenthaltes in Polen Erfahrungen machen wird, die mit dem ihr verfügbaren Wissenshintergrund nicht ausreichend erklärt werden können. Die Lehrerin kann aber auch nicht darüber hinwegsehen, daß die Gruppe zumindest teilweise soziale Ereignisse gemeinsam erlebt, an denen sie selbst nicht teilhat und für deren Bewältigung die Gruppenmitglieder auf einen gemeinsamen Erlebnishintergrund zurückgreifen können (sozusagen „deutsche Biographien“), den sie nicht in der gleichen Weise kennt; insofern ist die Lehrerin in Teilbereichen des gemeinsamen sozialen Lebens der Gruppe „Nicht- Mitglied“. Aus dieser Konstellation ergibt sich ein weiterer, speziellerer Gegenstand meines Beitrages, den ich eingangs mit dem Begriff der Kulturvermittlung belegt habe. Wir werden im Laufe der Unterrichtsanalysen sehen, daß die Lehrerin als eine der Aufgaben ihres Unterrichts explizit bestimmt, die tatsächlichen oder denkbaren Alltagserlebnisse der ihr Anvertrauten zu bearbeiten, wobei ihr die Rolle zukommt, die Wahrnehmungen der „Deutschen“ um ihre eigene Perspektive, die polnische, zu erweitern und sie damit als historisch-politischkulturell bedingt verstehbar zu machen. Wir werden also nicht nur Zeugen der Herstellung von Unterricht, sondern auch Zeugen der Einführung eines Aufklärungsdiskurses über kulturelle Wahrnehmungen. Wenn die Lehrerin denkbare Alltagserlebnisse und mögliche Wahrnehmungen der Lernenden antizipierend bearbeitet, ohne daß diese selbst von den Lernenden thematisiert worden sind, dann gibt sie bei dieser Gelegenheit auch implizit einige Auskünfte über das Bild, das sie bei den Teilnehmern des Sommerkurses als Stereotyp über Polen vermutet; und sie wird dabei gleichzeitig ihr Selbstbild als Gegenentwurf konstruieren. Die Unterrichtsmaterialien enthalten somit vielfältige Belege dafür, daß im Zusammenhang solcher Aktivitäten stereotype Kategorisierungen gemacht werden. Deren interaktive Entstehung, ihre flexible, teilweise spielerische Handhabung sowie ihre Bearbeitung durch die Interaktanten werden ein weiterer Gegenstand meines Beitrages sein. 5 Kallmeyer (1995, S. 397) weist zu recht daraufhin, daß die „grammatisch-rigide Formulierung der Kategorisierungsverfahren“ in den Vorlesungen Harvey Sacks’ durch eine dynamischere Sichtweise ersetzt werden muß: „Soziale Kategorisierung unter Rückgriff auf ausgebildete soziosemantische Systeme kann ein ungemein starkes Mittel der Festlegung von Identitäten und Beziehungen sein. Was soziale Kategorisierung jeweils impliziert, ist jedoch wesentlich eine Frage der Verwendungsweise und der Implikationen, welche diese wiedemm für die Bearbeitung des Systems hat.“ und dann entstehen berge von Problemen " 119 2. Die Herstellung der Situation Bevor ich im einzelnen auf diese Aspekte eingehe, will ich auf einige komplementäre Materialien verweisen, die im Projekt erhoben worden sind und die einige interessante situative Parallelen zum Polnischunterricht aufweisen. Eingangs hatte ich schon auf die Materialien mit „dem Grafen“ verwiesen; für sie gilt, daß der Fremdenführer nur einen Tag mit der Gruppe zusammen ist. Er soll ihr Schlösser zeigen und dabei eine kulturhistorische Führung anbieten, deren Stil und Orientierung, wie wir aus dem Interview mit ihm wissen, im wesentlichen keinen äußeren Vorgaben unterliegt. Seine anfänglichen Bemühungen um die Herstellung einer Aufgabendefinition für die Gruppe und für sich selbst (die sich in der von ihm gebrauchten Formel „Ich werde sie sehen lassen“ resümiert) sind auf diesem Hintergründe zu verstehen. Ein weiteres, in diesem Zusammenhang interessantes Dokument stammt aus der Tonaufzeichnung der Gruppenexkursion zur Marienburg, die ja aufgrund ihrer Historie durchaus Möglichkeiten zur Thematisierung polnisch-deutscher Geschichte und Probleme bieten könnte. Das Aufgabenkonzept der ausgesprochen freundlichen Fremdenführerin ist jedoch anders: sie spricht ihren auswendig gelernten Text an den dafür vorgesehenen Orten, sie adressiert die mit ihr gehende Gruppe nicht außerhalb dieses vorbereiteten Textes; folgerichtig haben wir in dem Tondokument vergeblich nach Interpretationen der als objektiv gegeben dargestellten historischen Fakten gesucht. Es handelt sich hier also um das extreme Gegenmodell zur „gräflichen“ Konzeption des „Ich werde sie sehen lassen“. Die Exkursionsteilnehmer können sich bei beiden Führungen im Rahmen der situativen Bedingungen durch Herumlaufen, Nebenkommunikation, völlige Trennung von der Gruppe, etc. jederzeit dem sozialen Ereignis entziehen oder sich von ihm distanzieren. Die Situation des Fremdsprachenunterrichts für Anfänger ist demgegenüber dadurch geprägt, daß an allen Werktagen vormittags Unterricht bei derselben Lehrerin stattfindet, und daß dafür ein Unterrichtsraum und -materialien von der ausrichtenden Institution zur Verfügung gestellt werden. Dieses Ereignis ist also latent auf Kontinuität und Sequentialität (eine Folge von strukturell gleichartigen Episoden für die Dauer des Sommerkurses vom 14.8. bis 11.9.), auf Progression (im Hinblick auf die Verkettung der Unterrichtsgegenstände) und auf Gruppenkonstanz (hinsichtlich der Zusammensetzung) angelegt. Ohne allzu viel Spekulation können wir davon ausgehen, daß es sich hierbei um allgemein gültige Rahmenbedingungen für institutionell geregelten Unterricht handelt; einige dieser Bedingungen sind beispielsweise in den Ankündigungen des Sommerkurses nachzulesen. Sie werden also in Kraft treten (wir könnten auch sagen: inferentiell aufgerufen) und bis auf Widerruf gültig sein, sobald interaktiv das Ereignis „Unterricht“ hergestellt worden ist. Um aber den Rahmen für dieses Ereignis überhaupt erst zu etablieren, müssen offenbar spezifische Aufgaben erledigt werden. Jedenfalls können wir einige Tätigkeiten Janas, wie wir die Lehrerin von nun an nennen wollen, zu Beginn 120 Ulrich Dausendschön-Gay der ersten Unterrichtsstunde am 16.8. als Beiträge zur Konstruktion von Interpretationsrahmen verstehen, die für die Dauer des gemeinsamen Unterrichts im Sommerkurs Gültigkeit haben sollen und die dabei auch Angebote für die Verteilung von Interaktionsrollen implizieren. 6 Ich will für die Bedingungen meiner späteren Argumentation aus der Gesamtheit der Tätigkeiten zwei mir wesentlich erscheinende Komplexe herausheben. 2.1 Jana stellt „Unterricht“ her Der Unterricht findet in einem Seminarraum der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznan statt; der Raum ist rechteckig, an einer der Längsseiten ist am Ende die Tür, gegenüber ist eine Fensterfront, darunter Heizkörper. An der Querseite zwischen Tür und Fenster hängt die Tafel, daneben eine weiße Leinwand, davor der Overheadprojektor und ein Doppeltisch mit einem Stuhl. Optisch ist dies der „Lehrerbereich“. Die Kamera ist „natürlich“ genau diagonal gegenüber in der anderen Ecke des Raumes installiert. Die Tische der Lernenden sind u-förmig an den drei übrigen Wänden des Raumes aufgestellt. In der Stunde am 16.8. sind 16 Teilnehmer anwesend, dies entspricht der maximalen Gruppengröße. Nun genügt die Raumkonstellation noch nicht, um eine Situation zu schaffen, in der die dort agierenden Personen auch Unterricht miteinander machen; dieses muß erst hergestellt, wechselseitig angezeigt und (zumindest implizit durch das Ausbleiben von Widerspruch) ratifiziert werden. Jana trägt dazu in verschiedener Weise bei: - Sie organisiert den Interaktionsraum indem sie den „Lehrertisch“ wählt und sich damit eine Position des Überblicks über die gesamte Gruppe sichert, in der Nähe des notwendigen Handwerkszeugs für ihre Tätigkeit des Unterrichtens und in der Nähe der Tür; mit ihrer Platzwahl korrespondiert die Tatsache, daß die Lernenden genau diesen Platz nicht wählen, alle anderen Plätze aber offenbar zur freien Verfügung stehen. - Der Beginn der Stunde hat Züge eines offenen Gesprächs; bei genauerer Analyse jedoch gibt es eindeutige gesprächsorganisatorische Maßnahmen Janas, die ihr eine Sonderrolle geben: sie verteilt für den offiziellen Teil des Gesprächs das Rederecht, indem sie den jeweils nächsten Sprecher auswählt und dies in der Regel durch einen „first tum“ vom Typ Frage oder Auffor- Zum Konzept der Interaktionsrolle, in Abgrenzung zu Status, Position und sozialer Rolle, siehe u.a. Abels/ Stenger (1989), Dausendschön-Gay/ Kraffl (1991b), Drescher/ Dausendschön-Gay (1995). Im zuletzt genannten Beitrag finden sich auch einige Hinweise auf die Relevanz der Unterscheidung von Erstbegegnung und Wiederholung. Nicht zufällig finden wir in allen drei genannten Situationen des Sommerkurses Aktivitäten, die mit Sacks (1992) als Beiträge zur Kategorisierung in den Basissets sozialer Systeme beschrieben werden können und zu denen sich dann noch die situationsbedingten spezifischen Aufgabendefinitionen gesellen. Erst wenn diese Leistungen explizit erbracht sind (oder durch institutioneile Vorentscheidung unausgehandelt geregelt worden sind) kann gemeinsames soziales Handeln stattfinden. „ und dann entstehen berge von problemen “ 121 deaing, der nach den Regeln der Präferenzstrukturen einen entsprechenden „second turn“ anfordert; der folgt in aller Regel auch, Abweichungen werden thematisiert, gerechtfertigt, etc.; sie wartet, meist geduldig, bis „inoffizielle Gespräche“ zwischen Lernenden beendet sind, dabei sind diese Sequenzen von den Handelnden selbst klar als Nebenkommunikationen gekennzeichnet; alle thematischen Initiativen (insbesondere auch die Definition des Endes einer Sequenz) gehen von Jana aus, und zwar auch in dem Sinne, daß sie darüber entscheidet, ob Lemendenäußerungen thematisch relevant sind oder nicht. - Jana thematisiert ihre Kompetenz als Lehrende explizit und fuhrt dadurch relevante Voraussetzungen für die Tätigkeit ein: durch generalisierende Formulierungen didaktischer Grundregeln (‘fragt lieber mich, die Fehler der Nachbarn prägen sich besonders stark ein’) verweist sie immer wieder auf ihre Lehrerfahrung; durch Verweis auf kontrastive Unterschiede zwischen dem Deutschen und dem Polnischen (zu Beginn besonders im Bereich der korrektiven Phonetik) zeigt sie ihre Sprachkompetenz und ihre Expertise als Fremdsprachenlehrerin. 7 - Schließlich formuliert sie ihr Konzept von Fremdsprachenunterricht auf drei Ebenen: sie fragt nach den Motivationsvoraussetzungen der Gruppe (‘warum seid ihr eigentlich hier’; dies wird uns gleich noch eingehender beschäftigen), sie fuhrt ausdrücklich landeskundliche Elemente als unverzichtbare Komponenten ein (und weist dabei die Aussage einer Teilnehmerin als unangemessen zurück, die einen „reinen Sprachkurs“ erwartet hatte) und sie gibt ihre Vorstellungen von Unterrichtskommunikation zu erkennen, wenn sie darauf hinweist, daß sie die Lernenden nie der Reihe nach „drannimmt“, so daß sie jederzeit darauf gefaßt sein müssen, aufgerufen zu werden. Bis hierhin läßt sich dies resümieren als die Etablierung eines lehrerzentrierten Unterrichtskonzepts, das die Interaktionsrolle „Lehrende“ und damit implizit die komplementäre Rolle „Lernende“ klar definiert, bei dem die Aufgabenstellungen für das gemeinsame Handeln abgegrenzt und die jeweiligen Handlungsvoraussetzungen thematisiert werden. Ganz ähnliche Tätigkeiten finden wir auch in der Eröffnungssequenz der Schloßführung: 8 Der „Graf 1 entwickelt sein Konzept, führt seine Expertise als Voraussetzung für erfolgreiches Han- Demonstrationen von Expertise finden sich noch häufiger bei Jana, sie stehen aber nicht in jedem Falle unmittelbar mit ihrer Tätigkeit im Fremdsprachenunterricht in Verbindung: Sie berichtet über ihre Dissertation über Stereotype und empfiehlt Literatur zum Thema; sie betont wiederholt ihre Kenntnisse über die Situation in der Bundesrepublik und unterstellt gleichzeitig bei ihren Lernenden Unkenntnisse über Polen. Die von Pomerantz (1978) eingehend beschriebenen Techniken im Umgang mit Selbstlob (downgrading, Relevanzrückstufimg, metadiskursive Rechtfertigung, etc.) werden dabei von ihr vielfältig eingesetzt. Insofern wird das von Jana hergestellte Bild der kompetenten Lehrerin generalisiert zu dem Bild der kompetent Handelnden. Diesen, wie eine ganze Reihe weiterer Querverweise auf die Schloßführungen verdanke ich Reinhold Schmitt. 122 Ulrich Dausendschön-Gay dein ein, stellt sein Programm vor und spart auch nicht mit Informationen über sich selbst, womit er sich als Person stark einbringt. Allerdings verzichtet er gänzlich darauf, sich mit den Motivationen, Voraussetzungen und Wünschen der Gruppe zu beschäftigen, so daß wir sagen können: Der Graf definiert die Gruppe als sein Publikum, Jana hingegen bemüht sich darum, den Lernenden ein Beteiligungskonzept für gemeinsames Handeln anzubieten, wobei sie aber die Interaktionsrollen asymmetrisch definiert; bei der Führung in der Marienburg schließlich scheint all dies keine Rolle zu spielen, denn die Fremdenführerin definiert sich selbst metaphorisch gesprochen als Lautsprecher. Kehren wir zum Polnischunterricht zurück: Wie in unterrichtlichen Situationen meistens, bringt Jana sich selbst und die Gruppe in eine doppelte Kommunikationskonstellation, denn sie richtet sich einerseits an die Gruppe (Adressierungen mit „ihr“ und offene Wahl des nächsten Sprechers, der dann eine Art Stellvertreterrolle übernimmt), andererseits adressiert sie Individuen direkt. Es würde zu weit führen, wenn ich die korrespondierenden Tätigkeiten der Lernenden im einzelnen nachzeichnete; jedenfalls können wir ihnen entnehmen, daß die Angebote Janas im Hinblick auf die Rollenverteilung im Unterrichtsgeschehen auf allen Ebenen, die oben angsprochen wurden, akzeptiert werden. Es fällt allerdings auch auf, daß Jana sich darum bemüht, ihre Äußerungen witzig zu formulieren. Durch die Gestaltung der Nebenkommunikation unter den Lernenden und teilweise auch durch die Art der Beantwortung von Janas Fragen und die Reaktion der Gruppe darauf wird die Modalität der Scherzkommunikation angeboten bzw. bestätigt; gemeinsames Lachen über Äußerungen, Angebote zur unemsthaften Bearbeitung von Unterrichtsgegenständen und vorübergehende thematische Digressionen werden auf diese Weise als angemessen definiert. Die relative Strenge des Unterrichtskonzepts wird somit teilweise kompensiert durch die Wahl der „auch zulässigen“ Kommunikationsmodalität. Einen aktiven Beitrag zum Klima leistet Jana übrigens ihrerseits auch dadurch, daß sie sich von Anfang an dämm bemüht, alle Teilnehmer bei ihren Vornamen zu nennen und sie persönlich anzusprechen. 9 Der Verlauf der anderen dokumentierten Unterrichtsstunden (bis zum 26.8.) bestätigt, daß weiterhin das am 16.8. von allen Beteiligten gemeinsam hergestellte Modell des Unterrichts wirksam ist: Jana tadelt Zuspätkommende, belobigt „fleißige Schüler“, kommentiert Verhaltensweisen als angemessen oder unangemessen, gleichzeitig gehen Initiativen zur Scherzkommunikation von ihr aus, sie ist freundlich und verständnisvoll. Teilnehmer des Sommerkurses haben berichtet leider liegen darüber keine weiteren ethnographischen Dokumente vor daß Jana sich bei einer allgemeinen Vorstellung aller Lehrenden für die gesamte Gruppe der Sommerkursteilnehmerinnen auf witzige und von den anderen Lehrenden abweichende Art und Weise eingeführt hat; sie hat bei dieser Gelegenheit auch betont, daß sie beabsichtigt, einen kommunikativen Sprachunterricht zu betreiben. „ und dann entstehen berge von problemen“ 123 2.2 Jana stellt kulturelle Distanz her Einige von Janas Aktivitäten, die mit der Darstellung ihrer Kompetenz für Unterricht auch ihr Modell für die Durchführung des Unterrichts aufzeigen, haben noch eine weitere symbolisierende Dimension: Sie führen Sichtweisen und Interpretationsressourcen der Beteiligten für Phänomene der kulturellen Wahrnehmung ein. Jana als Polin ist natürlich kompetent für die Interpretation ihrer polnischen Alltagswelt. Mit dem Hinweis auf ihre Kenntnisse über die Bundesrepublik, besonders ihren Besuch in Kiel (von wo die meisten der Studierenden kommen, die an dem Sommerkurs teilnehmen), weist sie gleichzeitig auf die bei ihr vorhandenen Voraussetzungen der kulturkontrastiven Sicht hin. Während die unterschiedlichen sprachlichen Voraussetzungen für den Unterricht (Anfänger versus Jana als zweisprachiges Individuum) schon durch die Anmeldung für den Kurs auf der Seite der deutschen Teilnehmerinnen konstitutiv für die Situation sind, wird die Unterschiedlichkeit der kulturellen Wahrnehmungen und der ihnen zugrundeliegenden Erfahrungen erst von Jana als ein wichtiger Faktor eingeführt. Sie bietet sich damit nicht nur als Lehrerin für die Fremdsprache Polnisch, sondern auch als potentielle Deuterin der fremdkulturellen Erlebnisse der deutschen Gruppe an, 10 wenn sie ihre bikulturelle Kompetenz als konstitutiv für die Interaktion einführt. Ich habe eingangs daraufhingewiesen, daß ich Tätigkeiten in Interaktionsprozessen als Anzeigeaktivitäten mit sozial-symbolischer Bedeutung verstehen will. Wenn wir den aktuellen Stand der Unterrichtskommunikation am 16.8. betrachten, so können wir feststellen, daß mit der Herstellung von Unterricht die Handlungen der Beteiligten zunächst einmal vorrangig für diesen Rahmen interpretiert werden sollen: Fragen der Lehrerin „bedeuten“ z.B. Vermutungen über Wissenslücken, sind also Angebote zu deren Beseitigung; Antworten von Lernenden „bedeuten“ Manifestationen von erfolgreichen Lernprozessen (Wissenstransfer, geleitete Anwendung, freie Verwendung) oder von Wissenslücken; Fragen und Antworten sind Aufforderungen zu Anschlußhandlungen, die im unterrichtlichen Kontext präferiert sind; solange das Konzept von Unterricht nicht generell in Frage gestellt wird, kann man davon ausgehen, daß Im Kontext der Professionalisierungsdebatte in der Soziologie (dort besonders mit Bezug auf Sozialarbeit) ist für diese Konstellation der Begriff der „stellvertretenden Deutung“ bzw. der „Vermittlung“ geprägt worden. Stichweh (1992, S. 44) schreibt beispielsweise: „Stellvertretende Deutung ist der Begriff, der im Kontext der von Ulrich Oevermann betriebenen Professionsstudien für diese Zentralität der Vermittlung im professionellen Handeln vorgeschlagen worden ist [...]. Der Begriff eignet sich, um das Moment zu bezeichnen, daß für den Klienten in spezifischen Hinsichten seine Lage undurchschaubar ist und er auf Deutungsangebote angewiesen ist - und er markiert die daraus resultierende Asymmetrie im Professionellen/ Klienten-Verhältnis. [...] Die Schwäche des Begriffs der stellvertretenden Deutung ist aber, daß er ein zweistelliges Verhältnis von Professionellem und Klient suggeriert, während 'Vermittlung’ die Dreistelligkeit der Beziehung und damit die intermediäre Position des Professionellen deutlicher hervortreten läßt. ‘Vermittlung’ betont den Gesichtspunkt der Repräsentation einer autonomen Sinnperspektive oder Sachthematik durch den Professionellen im Verhältnis zu seinem Klienten.“ Ich werde später auf diesen Gesichtspunkt noch näher eingehen. 124 Ulrich Dausendschön-Gay alle Beteiligten davon ausgehen, daß sie unterrichtliche Handlungen mit denselben symbolischen Bedeutungen versehen. Mit der Herstellung kultureller Distanz wird nun ein Rahmen eröffnet, der im Gegensatz zum zumindest als Idealisierung unterstellten eindeutigen Interpretationsrahmen des Unterrichtskonzepts grundsätzlich einen Unsicherheitsfaktor einfuhrt, weil die „Bedeutungen“ unter den Bedingungen der Fremdartigkeit eben gerade nicht mehr verläßlich ermittelt bzw. gewußt werden können. Die von Schmitt schon für das „gräfliche“ Konzept herausgearbeitete Heuristik der maximalen Distanz (d.h. die Unterstellung des grundsätzlichen Nicht-Verstehens in Situationen kultureller FremdWahrnehmung) findet auch hier ihre Anwendung und verschärft potentiell die Unsicherheit. Während jedoch der Schloßfuhrer die Unterschiedlichkeit kultureller Wahrnehmung weder thematisiert noch in Rechnung stellt, werden wir im weiteren Verlauf des Polnischunterrichts (siehe unten die Analyse des Beispiels „Reiseführer“) sehen, daß Jana mit dieser Heuristik konstruktiv im Interesse der Gruppe umzugehen versteht und damit der Gefahr der permanenten Verunsicherung vorbeugt; dies liegt nach meiner Einschätzung vorrangig an dem von ihr gewählten Beteiligungskonzept, bei dem die Gruppe in die Möglichkeiten der Perspektivenvielfalt eingeführt wird. Die eben angesprochene „Deutungskompetenz aus der Perspektive der Gruppe“ führt Jana auf eine auf den ersten Blick etwas verwirrende Art und Weise ein. Sie beginnt eine thematische Sequenz mit der Frage, warum die Sommerkursteilnehmer eigentlich nach Polen gekommen sind, wartet die Antworten aber im Grunde gar nicht richtig ab, sondern inszeniert eine Folge von Frage- Antwortversuch-Kommentar-Sequenzen, bei der Jana vor allem jene Kategorisierungsleistungen erbringt, von denen ich oben am Ende der Einleitung gesprochen habe. Ich gebe hier in gekürzter Version einige dieser Sequenzen wieder. 11 Beispiel 1: wozu seid ihr gekommen JÜ: also: polen interessiert ich fand das JA: da"s sagen alle- * JÜ: interessant hier mal in polen # # JA: na ja * #so für einen# so K& / LACHEN # JA: billigen preis nicht wahrt JA: und dut von der uni geschickt und jat CO: ich gehöre (...) JA: oder ham sich freiwillige / gemeldetl# K& / LACHEN # 11 Die Transkriptionen haben mir die Kollegen des IDS Mannheim freundlicherweise zur Verfügung gestellt. und dann entstehen berge von Problemen “ 125 (TH möchte einen „reinen“ Sprachkurs machen, fürs Berufsleben) JA: was heißt dasf <-beru"fsiebente TH: ich möchte gerne was: TH: «-im deutschpolnischen bereich so: JA: -»ja Wirtschaftsbeziehungen TH: Wirtschaftsbeziehungen-^ JA: heißt harte mark net«- * #investieren oder (sanieren? )t# KSt ^LANGSAMES LACHEN # JA: Christian wozu brauchst du" polnischt CH: erstma der CH: gleiche aspekt ein bißchen wie hier * so abenteuer und- JA: abenteuert na * wilder #westen eh wilder osten# K£ #LAUTES LACHEN # In diesem Stil geht das noch eine Weile weiter und bei näherer Analyse der Aufnahme wird deutlich, daß das häufige begleitende Lachen nur im Falle der harten mark ein wenig verlegen ist, sonst werden Janas Kommentare durchaus als Beitrag zum lockeren Gesprächsklima verstanden, und von ihr auch explizit so definiert: ich übertrteib natürlich aber da“s is wohl kla.r. Gleichwohl hätte sie natürlich auch andere Kommentare abgeben können, mit denen das scherzhafte Reproduzieren von Stereotypen kenntlich gemacht worden wären; ihre Äußerungen müssen also als Wahl verstanden werden. Die vielleicht von Jana ursprünglich gar nicht beabsichtigten Relevantsetzungen geben der Gruppe das Profil von Reisenden, die aus Gründen der eigenen Vorteilssuche in das Land kommen (Jana hält sich lange damit auf, daß ein Teilnehmer ein Pflichtpraktikum durch den Aufenthalt absolviert und kommentiert: kriegst du das geld dafür zurück in deutschland), möglicherweise gar mit ausbeuterischen Absichten, denen aber offenbar keine Art von Integrationswille unterstellt werden kann: Jana weist sogar das Minimalmotiv ‘Interesse’ als Vorwand zurück. Somit konstruiert sie zunächst einmal das Bild der Fremden, 12 die aufgrund ihrer Erfahrungsvoraussetzungen und wegen der Motive ihres Aufenthaltes zur Übernahme einer Verstehensperspektive nicht bereit sind. Es gibt einige plausible Hypothesen, warum Jana sozusagen in einem ersten Schritt einer globaleren Strategie sich beeilt, diese stereotypisierenden Kategorisierungen vorzunehmen. Wie in der reichhaltigen Literatur zu diesem Thema hinlänglich betont, 13 impliziert zunächst einmal die abwertende Fremd- 2 Vgl. dazu die ausführlichen Darlegungen im Beitrag von Hahn (1994). 13 Statt einer langen Literaturliste verweise ich auf mehrere Beiträge in Hahn et al. (1995) und die verschiedenen Forschungsberichte in dem gerade erschienenen Buch von 126 Ulrich Dausendschön-Gay kategorisierung immer auch den Entwurf eines positiven Gegenbildes. Wir haben dies ja schon bei Janas Versuchen beobachtet, die vielfältigen Facetten ihrer Kompetenz herauszuarbeiten; sie fügt dem nun noch den Aspekt ihrer interkulturellen Kompetenz hinzu, der in Kontrast zur von ihr unterstellten kulturellen Monoperspektive der Kursteilnehmer steht. Sie konstituiert also Interkulturalität und d.h. die Unterschiedlichkeit der Perspektiven und Kompetenzen als interaktionsrelevanten Parameter 14 und nutzt die Thematisierung dieses Aspekts im Sinne des Konzepts der Aufzeigeaktivitäten zur Selbst- und Fremdkategorisierung. Wir sollten dem aber noch eine weitere Dimension für die Interpretation hinzufügen, die sich auf die teilweise etwas rüde Behandlung der Kursteilnehmer durch Janas Unterstellungen bezieht. Kallmeyer hat einen Gesprächsausschnitt näher analysiert, in dem ein in der alten BRD lebender junger türkischer Kurde seinen deutschen Gesprächspartnern häufig zu beobachtende diskriminierende Behandlungen von Ausländern durch Deutsche vor Augen führt und vorhält; er hat darauf hingewiesen, daß die von dem jungen Kurden eingesetzten rhetorischen Mittel der Provokation an die Gruppe der „anderen“ nicht nur der Betonung des Andersseins und der Akzentuierung des Diskriminierungsvorwurfes dienen, sondern auf dem Weg über das Angebot der interaktiven Aushandlung dieses Vorwurfes auch eine Manifestation von Suche nach Anerkennung darstellen: „Die sprachliche Manipulation, die für die dominanten anderen die eigene Sprache verfremdet, hat das rhetorische Potential, durch Provokation Aufmerksamkeit zu erzwingen. Das Ziel ist nicht Abgrenzung, sondern Anerkennung im gesellschaftlichen Rahmen.“ (Kallmeyer 1995, S. 399) Was Kallmeyer für die Provokation durch Sprachvariation 15 bemerkt, scheint mir auch für die Provokation auf der Ebene der Motivunterstellungen zu gelten: Einerseits bedient sich Jana des Mittels der Provokation, um einen thematischen Kontext für die Behandlung von Problemen der kulturellen Wahrnehmung überhaupt erst herzustellen; sie tut dies zudem auf spielerische Weise: das häufige Lachen der Gruppe am Ende der Sequenzen ist eine eindeutige Czyzewski et al. (1995), dort besonders auf das ausgezeichnete erste Kapitel von Czyzewski/ Drescher/ Gülich/ Hausendorf sowie auf die Beiträge von Hausendorf und Wolf im selben Band. 14 Mit dieser Darstellung folge ich den methodischen Anregungen, die Schmitt/ Keim (1995, S. 414) als Konzept eines „interaktionistischen und nicht-subsumtionslogischen Modells interkultureller Kommunikation“ so formulieren: „Die theoretische Annahme kultureller Differenzierung enthebt die Analyse nicht der Aufgabe, die empirische Bedeutung kulturell unterschiedlicher Konzepte zu belegen und in jedem konkreten Fall nach äußerungs- und interaktionsstrukturellen Hinweisen und nach Spuren der Sinnkonstitution im Gespräch zu suchen, die die faktische Relevanz kultureller Differenz bzw. von Interkulturalität anzeigen, ohne diese bereits vorauszusetzen.“ Siehe dazu auch die exzellente Demonstration dieses methodischen Grundprinzips in der Analyse von Ricarda Wolf in diesem Band. 15 Siehe dazu u.a. auch Keim (1995). .. und dann entstehen berge von Problemen " 127 Interpretationsreaktion auf die von Jana eingesetzte Technik der ironisierenden Übertreibung bei der Benutzung stereotyper Kategorisierungen (harte mark investieren, wilder westen) und das rhetorische Mittel der vorschnellen Unterbrechung (das sagen alle, von der uni geschickt). Andererseits müssen wir uns vergegenwärtigen, daß Jana sich in einer recht paradoxen Situation befindet: 16 Als Lehrerin etabliert sie ein Unterrichtskonzept, das nach ihrer Erfahrung die Gewähr für erfolgreichen Unterricht gibt, bei dem aber die Interaktionsrollen deutliche Unterschiede in den Rechten und Pflichten der Beteiligten implizieren, die tendenziell auf Asymmetrie angelegt sind; mit dem Bemühen, einen ungezwungenen Umgangston mit der Gruppe herzustellen, gibt sie gleichzeitig zu erkennen, daß ihr an persönlicher Anerkennung (und nicht nur an Respekt vor der Qualität ihrer Arbeit) und an Integration in die Gruppe gelegen ist; 17 die Kursteilnehmer werden von ihr als „Fremde in Polen“ kategorisiert, also als Minoritätengruppe, während sie zur Gruppe der Nicht-Fremden, also der Mehrheit zählt; gleichzeitig ist Jana aber innerhalb des Interaktionsraumes „Unterricht“ Minderheit. Wenn sie zu erkennen gibt, daß sie nicht nur die Perspektive der anderen kennt, sondern auch damit spielen kann, stellt sie Fähigkeiten dar, die sie als potentielles Mitglied der Gruppe ausweisen. 16 Zum Begriff der Paradoxie professionellen Handelns siehe z.B. Schütze (1992), dort (mit Blick auf die Bedingungen der Sozialarbeit) mit dem Akzent auf dem potentiell unausweichlichen Widerspruch zwischen gesellschaftlichem Auftrag des Professionellen, der ihm bestimmte Handlungen abverlangt, und der Orientierung an den individuellen Bedürfnissen und Erwartungen der Klienten. „Die Paradoxien professionellen Handelns rühren letztlich daher, daß der abgegrenzte höhersymbolische Orientierangsbereich, an dem sich der Berufsexperte ausrichtet, nicht problemlos mit der alltäglichen Existenzwelt seines faktischen Berufshandelns und der Lebensführung des Klienten vermittelbar ist.” (Schütze 1992, S. 137). Die Situation des Sommerkurses ist gegenüber den Bedingungen der Sozialarbeit vergleichsweise undramatisch; dennoch sehe ich strukturelle Parallelen insofern auch nebenamtliche Dozententätigkeit „höhersymbolischen Orientierungen” unterliegt (z.B. den allgemein akzeptierten Vorstellungen über den Bildungsauftrag des Ausländemnterrichts, den Normen eines guten Unterrichts, etc.), die in Konflikt mit den persönlichen Identifikationen der Dozentin oder mit den Bedürfnissen ihrer „Klienten” in Konflikt geraten können. Unter diesem Gesichtspunkt sind die diskursiven, also öffentlichen und expliziten Aushandlungen Janas über ihr Unterrichtskonzept, die Interaktionsrollen und die Unterrichtsgegenstände (wenn man einmal von ihren Unterstellungen über die Motivationen der Teilnehmerinnen absieht) als Versuche zu werten, das Konfliktpotential zu minimieren (siehe dazu Schützes Hinweis auf Verschleierungstendenzen in bezug auf die Paradoxien, die zu „fehlerhaften Abarbeitungen” führen können). 17 In den Kontext der spielerischen Provokation paßt auch ganz gut, daß Jana während der Motivationssequenz und der Vorstellung ihres Unterrichtskonzepts die halb spaßige, halb ernste Bemerkung macht: wenn ihr mich nicht mögt dann geh ich nach hause. Am 26.8. verabschiedet sie sich von der Gruppe, die am nächsten Tag eine ganztätige Exkursion machen wird, mit der Vermutung, daß die Gruppe sich freuen wird, sie einen Tag nicht zu sehen, und daß ihr das auch so geht, dann kann ich mich erholen-, aber sie fügt gleich hinzu: nein das stimmt nicht, ich mag euch. 128 Ulrich Dausendschön-Gay Jana hat mit all ihren verschiedenen Aktivitäten in der ersten Unterrichtstunde Bedingungen geschaffen, die ihr vielfältige Handlungsmöglichkeiten eröffnen. Wir werden nun bei der Analyse einiger Unterrichtssequenzen aus einer anderen Stunde nachvollziehen können, wie sie ihr Konzept der Kulturvermittlung verwirklicht. 3. Jana erklärt Polen Die Unterrichtsstunde am 25.8., also neun Tage nach der ersten Unterrichtsstunde, findet unter besonderen Bedingungen statt, denn einige Kursteilnehmer haben die Bigosparty des Vorabends nicht schadlos überstanden und fehlen daher. Jana bietet eine Umorganisation ihrer Unterrichtsplanung an; sie wird Lemgegenstände der vergangenen Stunden wiederholen (Zahlen von eins bis zwanzig, thematisches Vokabular, einige pragmatische Idiome), um wegen der Fehlenden nicht im Lektionsstoff fortzufahren (der übrigens in der folgenden Lektion einige Wiederholungen vorsieht). Am Ende des Unterrichts wird Jana diese Stunde als ein „Wunschkonzert” bezeichnen (sie nimmt damit ein rahmendes Element der Stundeneröffnung expliziter als dort wieder auf), und am nächsten Tag wird sie den Fehlenden dieser Stunde sagen, daß sie „etwas versäumt” haben, nämlich die Wiederholungen. Auf diese Weise wird die Stunde von Jana als außergewöhnlich, ungeplant und in besonderer Weise auf die Bedürfnisse der Lernenden zugeschnitten definiert. Ich werde im folgenden Abschnitt sowohl die thematische Einführung von Stereotypen über Polen, die im Kontext der Kulturvermittlungsaktivitäten zu sehen sind, als auch speziellere Aspekte der Formulierungstechniken im Zusammenhang ihrer Einführung herausarbeiten. 3.1 Unterricht als Aufklärung Bei der Analyse des Videomitschnitts vom 25.8. fällt vor allem auf, daß sich die Komponente „ungeplant” in vielfältigen thematischen Sprüngen und Digressionen, sowie in einer Vielzahl von assoziativen Bemerkungen von Janas Seite manifestiert, die sich teilweise thematisch verselbständigen und aus der Nebensequenz die Hauptaktivität werden lassen. Prototypisch dafür ist eine Folge von Sequenzen (ab ca. min. IQ.30), in denen Jana nach der Wiederholung der Zahlen und der Morphosyntax der folgenden Substantive das pragmatische Idiom „wieviel kostet? ...” als Kettenspiel machen läßt. Dies gibt Anlaß zu mehreren Nebenbemerkungen über die Einführung der neuen Währung ab 1.1.1995, bei der 10.000 alte zloty durch einen neuen ersetzt werden und bei der es auch zur Wiedereinführung des Münzgeldes kommen wird. Die thematische Grobstruktur ist die folgende: Beispiel 2: neues geld min. 10: 40: Unterrichtsgegenstand: ‘wieviel kostet...? ’; JA: und eh eh * ein zloty wird=s geben ab dem ersten januarl * so * werden wir zweihundert zloty verdienen! oder vierhundert! * und je: tzt * eh: * habm wir eh verdienen „ und dann entstehen berge von problemen 129 wir in milli"onen und ihr gib/ eh eh eh gebt millionen ausi jat * eh: in poleni min. 15.40: Unterrichtsgegenstand: Morphologie von zloty mit eins, zwei, drei, etc.; JA: versteht ihr a/ jeden * ztotyi * ztotyi * weil * das seit ab dem ersten * januar-1 jeden zlotyi * jat weil wir * eh: in die/ eh: : * am anfang eh: januar neues geld hier kriegeni jat min. 17: 40: Unterrichtsgegenstand: Pluralmorphologie von zloty, Einführung der Münzen; JA: viele beklagen sich darüberl net die/ dann wird der geldbeutel ewig schwer jat jeden z! o"ty und * dwa zlo"te Jana kommt also im Laufe der Zahlenwiederholung und der offenbar recht schwierigen Singular-Plural-Morphologie der Substantive immer wieder auf das Thema der neuen Währung zu sprechen, so daß in einer Art allmählicher Verdichtung dieser neue Gesprächsgegenstand etabliert wird. Im folgenden Transkriptionsausschnitt 18 , der unmittelbar auf die oben zitierten Passagen folgt, kann er, statt wie vorher in Nebensequenzen, nunmehr als Hauptthema behandelt und dabei natürlich auch erweitert werden. Interessant zu beobachten ist, daß jetzt die lexikalischen und grammatischen Fragen in eingestreuten Nebensequenzen nur noch sporadisch Vorkommen; Jana behandelt einen neuen Unterrichtsgegenstand. Beispiel 3: russische mafia JA: nach der * ein/ bei eins und zwei gibt=s unterschied! und sonst mit endung * [ig]! JA: jat a"djektivischl * jeden Kl: >gut alles klarl< hml JA: zto: tyl * jat und ich äh habt ihr auch vielleicht gehört bei unst * eh ist es auch jetzt praktischzum beispiel an der uni * eh: * da gibt=s eh eh <-bar: geldloses eh Zahlungsverkehr * eh bargeldlosen Zahlungsverkehr! -» also praktisch * hat jeder von uns ein konto und no"rmalerweise rennt man mi/ nichts mit so viel geld * in der tasche rum! * jat * -»also zum beispiel in der tschechoslowa"kei-<- * ehemaligen * und in der tsch/ eh eh tschech/ tschechischen republik hab ich gehört die: harn so was noch nich * überhaupt! also * die sind no"ch im vergleich zu vielen- [...] cvisakarten werden au"ch hier entgegengenommen> und andere * -»american express und so weiter*wenn jemand von euch das: * gebraucht! aber ich glaub nicht! ** bi * let 18 Ich benutze Teile einer ersten Transkriptversion der Stunde vom 25.8., die Pia Ruhfus für das ZiF-Kolloquium „Deutsch-polnische interkulturelle Kommunikation” (April 1995) angefertigt hat. 130 Ulrich Dausendschön-Gay kozstuje pi? c ztotych-l * dziesi^c ztotychi * <das müssen wir lernend und die/ ich hat» auch heute im fernsehen ge/ eh im fernsehen-l in den nachrichten im radio gehörtt * eh * wiederum deu"tsch * ru"ssische mafia bereitet sich auf diesen ersten januar vort <die fälschen schon die * geplanten polnischen #banknotent># * K #BETONT # um dannt an dem ersten januar so viel in umlauf zu setzenl das=is unerträglich^ jat * un: d=da hat/ is man schon eh praktisch auf/ eh eh eh der gruppe auf der spu: "r net * aber ** da/ * <ich lebe norma: 1 und dann denke ich üsberhaupt nichl ich lebe-> ah und wa"rte auch überhaupt nicht auf diesen ersten januart was/ >ma * kucken was es (? wird)l< jat aber* dann die" sind so schlau! * jat Ich will in wenigen Stichworten auf einige formulierungstechnische Aspekte aufmerksam machen, sie sollen hier aber nicht im Vordergrund des Interesses stehen: es gibt einige Hinweise auf sogenannte „ad-hoc-Sprechweisen” 19 , also ungeplante, eher assoziativ entstehende Produktionen; die thematische Entwicklung wird als logische Verknüpfung angeboten (und ich, also praktisch, also zum beispiel, und ich habe auch heute im fernsehen, aber ich lebe normal), die thematische Progression und argumentative Verkettung ist aber de facto nicht begründend, fortsetzend oder adversativ; die Beendigung thematischer Sequenzen ist häufig abrupt, besonders bei den Einschüben, in denen der Unterrichtsgegenstand weiterbehandelt wird; die relative Häufigkeit von Konstruktionsabbrüchen ist auffällig, zumal nicht alle auf das hohe Maß an Monitoring zuriickzufuhren sind, mit denen Jana ihre Produktion im Deutschen ständig auf grammatische und pragmatische Korrektheit überprüft; schubweises Formulieren, das prosodisch (mittels Lautstärke, Sprechgeschwindigkeit, einheitenbildender Intonationskontur) von der Umgebung abgesetzt wird, findet sich bei zentralen inhaltlichen Elementen von Janas Kommentaren: bargeldloser Zahlungsverkehr (die Korrektur betrifft allein die Morphologie), also zum beispiel in der tschechoslowakei, visakarten werden auch hier entgegengenommen, wiederum deutsch russische mafia bereitet sich aufdiesen erstenjanuar vor, 20 ich lebe normal; metadiskursive Kommentare vom Typ hab ich gehört oder Partikeln wie z.B. also praktisch stufen die Gültigkeit der Aussagen permanent zurück. 19 Zu diesen und anderen Sprechweisen hat sich für das Französische KrafTt (im Druck) unter dem Gesichtspunkt ihrer prosodischen Gestaltung ausführlich und mit reichhaltigen Belegen geäußert. 20 deutsch ist ein Versprecher Janas, der außerordentlich schnell korrigiert wird und mit Sicherheit auf die ständige polnisch-deutsche kontrastive Bearbeitung der sprachlichen Probleme zurückzuführen ist; deutsch ist permanent Thema des Unterrichts. „und dann entstehen berge von problernen" 131 und zwar gerade dort, wo die inhaltlich wichtigen Elemente geäußert werden; - Jana ist nicht nur ständig mit der sprachlichen Korrektheit ihrer Äußerungen beschäftigt, sie bemüht sich auch ausdrücklich um „politische” Korrektheit, wie wir an dem Beispiel tschechoslowakei ehemalige, tschechische repuhlik gut beobachten können. Unter dem eingangs angesprochenen Gesichtspunkt der Kulturvermittlung erscheint mir an dieser Passage besonders relevant, daß die ungeplante, assoziative Entwicklung der thematischen „Abweichungen” eine Reihe von Selbst- und Fremdbildem hervorbringen, die in gleicher Weise in den anderen Unterrichtstunden nicht zu beobachten sind. 21 So hatte beispielsweise Jana sich in der Stunde vom 16.8. auf dem Umweg über die scherzhaft unterstellten Motive für die Teilnahme am Sommerkurs vorrangig mit der von ihr vermuteten Sicht ihrer „Schüler“ auf das Land Polen und seine Bewohner beschäftigt. Sie hat dabei übrigens mit ihren Vermutungen, die aus der Sicht der Teilnehmerinnen durchaus als „Unterstellungen“ mißverstanden worden sein können, einen weiteren Beleg konversationsanalytisch erhoben für eins der stabileren polnischen Stereotype gegeben, auf die in der historischen Literatur häufiger verwiesen wird: die Formel vom Deutschen, der des Polen Bruder nicht sein kann (Wrzesihski 1994, S. 64) und damit zusammenhängend die Einschätzung, daß Deutsche Polen gegenüber keine großen Sympathien hegen. 22 Während also unter dem Druck der Erstbegegnung, in der eine längerfristige Beziehung zwischen Jana und der Gruppe etabliert werden muß, von Jana zunächst negativ zu bewertende Motive für die Reise nach Polen unterstellt werden, die ihrerseits auf ein ganzes Bündel gängiger Stereotype über Deutsche verweisen (und die, wie wir gesehen haben, von ihr als Mittel der Provokation genutzt werden), verfeinert sich nun im „Wunschkonzert“ die Strategie. In einem ersten Schritt führt Jana auf implizite Weise nach und nach verschiedene Varianten von in Polen wie auch in Deutschland u.a. mit Hilfe der Massenmedien weitverbreiteten Auto- und Hetero stereotypen ein: der Hinweis auf das neue Währungssystem, den bargeldlosen Zahlungsverkehr und die polni- 21 Ich werde im Rahmen dieses Beitrages auf die Problematik der Stereotype im einzelnen nicht eingehen; dazu sind in den verschiedenen Beiträgen der Veröffentlichung von Czyzewski et al. (1995) aus konversationsanalytischer Sicht die aktuell relevantesten Forschungsergebnisse versammelt. Darüberhinaus ist zu verweisen auf die Aufsätze von Quasthoff (1989) und Wintermantel (1994), in denen kognitions- und sozialpsychologische Aspekte überblickhaft dargestellt werden. 22 Ich zitiere aus Markiewicz (1995, S. 137), der auf verschiedene Umfragen in Polen verweist: „Während 1985 59,1% der Befragten behaupteten, die Bundesrepublik bedeutet für Polen die größte Bedrohung, waren es 1987 47%, 1988 35,4% und 1990 nur noch 32% der Befragten. Im Oktober vorigen Jahres antworteten auf die Frage, wer im Augenblick die größte Bedrohung für Polen bedeute, 31%, daß dieser Staat Rußland sei; nur 5% haben diese Rolle Deutschland zugeschrieben. [...] Gleichzeitig sind aber die Befragten davon überzeugt, daß die Deutschen und die Ukrainer am wenigsten Sympathie für die Polen haben.“ 132 Ulrich Dausendschön-Gay sehe Zentralbank setzt unterschwellig das Vorhandensein des Stereotyps der wirtschaftlichen und währungspolitischen Rückständigkeit voraus, das nach 1989 für eine ganze Weile eine neuerliche Hochkonjunktur erlebt hat, und das von Orlowski 23 sicherlich ohne Schwierigkeiten als weitere Variante des Bildes der „polnischen Wirtschaft“ identifiziert würde. In einem zweiten, äußerungsstrukturell parallelen Schritt fuhrt Jana das Stereotyp dann ad absurdum: praktisch alle Polen haben ein Bankkonto und laufen nicht mit Unmengen Geld herum (was dem beobachtbaren Abzählen von großen Banknotenbündeln beim Einkauf zumindest teilweise widerspricht), Kreditkarten werden überall akzeptiert, etc. Das heutige Polen ist also ein moderner Staat, für den die Errungenschaften des Westens nichts besonderes mehr sind. Wenn Jana im gleichen Atemzug andere Fremd-Stereotype zementiert, dann dient das einer weiteren Absicht ihrer Strategie: die Abgrenzung gegen die ehemalige Tschechoslowakei/ tschechische Republik, 24 deren angebliche Überheblichkeit zu realkommunistischen Zeiten in Polen nicht gerade gut gelitten war, und gegen die alte/ neue Bedrohung aus dem Osten {russische mafia bereitet sich auf diesen ersten Januar vor), rückt Polen gleichzeitig nicht nur geographisch, sondern auch unter dem Gesichtspunkt der „Modernität“ näher an das heutige Deutschland als den prototypischen Vertreter des Westens heran 25 . Jana hatte zunächst, mit der Definition der Lernenden als Fremde und der Herstellung kultureller Distanz, Wahmehmungsunterschiede, also Perspektivenverschiedenheit als konstitutives Element der Unterrichtssituation hergestellt. Nun arbeitet sie daran, Distanz abzubauen, indem sie ein möglicherweise falsches Bild über Polen zurechtrückt mit dem Ergebnis, daß die Unterschiede zwischen den modernen Staaten Polen und Deutschland geringer sind, als viele - und vielleicht auch die Teilnnehmer des Sommerkurses annehmen mögen. 26 Wir können hierin eine der von Jana selbstgewählten Aufga- Aus der Fülle seiner Publikationen zu diesem und verwandten Themen verweise ich stellvertretend auf die jüngste mir zugängliche Arbeit von 1994. Aus konversaüonsanalytischer Sicht äußert sich Wolf (in diesem Band) ausführlich zu der konversationellen Behandlung dieses Stereotyps und seiner Inferenzen. 24 Ob in dieser Korrektur neben dem Bemühen um „political correctness“ auch eine klammheimliche Freude über die als Mißerfolg zu bewertende Teilung der ehemaligen Musterindustrienation mitschwingt, während Polen zumindest diesmal dramatische politische Veränderungen ohne erneute Teilung und aus eigener Kraft als Vorreiter der gesamten Befreiungsbewegung bewältigt hat? 25 Siehe dazu den Parallelfall in Schmitts Beitrag: Während dort der englische Landadel den deutschen Studierenden als Normalisierungskonzept für die Auffälligkeiten des Grafen gilt (sein Verhalten wäre erklärbar gewesen, wenn er englischer Adliger wäre), findet hier die Normalisierung zwischen Polen und der BRD mittels der Betonung der abweichenden Zustände in der neugegründeten Tschechischen Republik statt. 26 Dies ist ein klares Kontrastprogramm zu dem Aufgabendesign, das der „Graf“ für seine Schloßführung wählt; während er seine Sicht der historischen Dimension polnischen Selbstverständnisses in die Gegenwart verlängert, agiert Jana ausdrücklich im Hinblick auf die Dimension „Modernität“ und die aktuellen Zustände; die historische Bedingtheit ihrer Sicht bleibt dabei ausgespart. Vgl. dazu auch die Bemerkungen in der Einleitung und dann entstehen berge von Problemen “ 133 benstellungen für den Unterrichtsgegenstand Kulturvermittlung sehen, denn in der Folge der Stunde wiederholen sich verschiedene Manifestationen dieser Strategie, bei der nach der sukzessiven thematischen Einführung ein Stereotyp zum Hauptgegenstand des Unterrichts wird; es wird dabei als bekannt vorausgesetzt, sein Inhalt als mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmend identifiziert. Inhaltlich, rhetorisch-argumentativ und formulierungstechnisch bedient sich Jana der Mittel eines Aufklärungsdiskurses, der aus der informierten, wissenden Innensicht die stereotyp verzerrte, unwissende Außensicht korrigiert. Da nicht die Lernenden, sondern Jana selbst die Themen des Diskurses einführt, gibt sie gleichzeitig Einblick in den Vorrat an Heterostereotypen, den sie bei den deutschen Teilnehmerinnen des Sommerkurses über Polen vermutet. Wir werden also über die „richtigen“ polnischen Verhältnisse aufgeklärt, aber eben auch über die stereotypen FremdWahrnehmungen, denen sich Polen offenbar ausgesetzt fühlen. Die Wissensvoraussetzungen, die Jana macht, betreffen tatsächlich eher die polnische Situation als die belegbaren Stereotype der Kursteilnehmer. Janas Handlungen haben somit symbolische Bedeutung für die Unterrichtssituation ebenso wie für ihre eigene Alltagssituation. Eine weitere Passage aus der Stunde vom 25.8. belegt die Innenperspektive Janas und ihre aufklärerischen Absichten noch einmal eindrucksvoll. Sie spricht wiederum von sich aus Stereotype an und „widerlegt“ sie, diesmal aber ausschließlich auf dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrung und Anschauung und ohne auf die aktuellen Erlebnisse der Kursteilnehmer rekurrieren zu können. Sie muß dabei, will ihre Strategie erfolgreich sein, auf das Vertrauen der Teilnehmer in ihre, Janas, richtige und das heißt aufgeklärte Wahrnehmung vertrauen. Da ist es wichtig, daß sie zu Beginn des Sommerkurses von ihrer Arbeit über Stereotype berichtet hat; so kann sie nun implizit auf ihre Expertise als Garantie für Beurteilungskompetenz referieren. Auch deshalb wird sie am Endes der Unterrichtsstunde noch einmal ihre Konzeption über die Entstehung und Bearbeitung/ Vermeidung von Klischees und Stereotypen explizieren: JA: also tatsächlich! also * äh das was man: durch ** äh solche bildet vermittelt bekommt"! * entsteht ein * ein klischeel * jat un: d da: s wird dann weiterproduziert durch geschichtliche * äh te/ äh u/ proble: me und=dann: ähähäh entstehen be"rge von Problemen die kaum: : zu überwinden sind! * wenn man die nicht richtig ** äh analysiert! * dieses Bandes über das Spannungsverhältnis zwischen der viele Bereiche betreffenden polnischen West- und Deutschlandorientierung und der höchstens aus wirtschaftlichen Interessen genährten, ansonsten aber fast gänzlich abwesenden westdeutschen Polenbzw. Ostorientierung. Wir können hier auf die zusätzliche Problematik nicht näher eingehen, die in den unterschiedlichen Beziehungen der BRD und der DDR zur Volksrepublik Polen und zur polnischen Bevölkemng steckt. 134 Ulrich Dausendschön-Gay Hier nun Janas Exkurs über polnische Überlebenskunst in schwierigen Zeiten: Beispiel 4: was denkt sich der pole dann? (min. 30: 15) JA: wann beginnt bei euch das Schuljahr! verschieden von bundeslandl nicht wahrt * und bei uns imma ** am e''rstn September! * am erstn September! * da meine nachbarinnen sind #schon äh todernst jetztt# und weinen fast K #KURZES LACHEN # fa"st * weil sie in die schule gehen sollen! äh #rei: ten jetzt vie: : 1t habm viel zei: : tt# * und * K #AUFZÄHLEND # dann * kommn sie immer zu mi"r und * ähäh versuchen sich JA: auszuweinen! äh die SU: wieso! wie lang sind denn die ferient JA: ferien bei uns sind sehr lang * zwei monatel ** aber wenn nun zwei/ * zwei * äh mo"nate freiheitt jat * und im dann habm wir in äh: : vor weihnachtnt ** äh praktisch zwei wochnt* weihnachtn plus neujahr! * zwei wochnt * dann habm wir im: * wintert noch zwei wochent * und=die oster-! ** JA: pfingstferien >gibt=s nich! < # # SU: gibt=s nich #(...)# K& #GEMURMEL# JA: (? hier gibt=s) sowas überhaupt >nicht! < ** und es gibt nu: : r ** auch die sogenanntn * kartoffelnferient oder was sonstt so was gibt=s nicht! * es gab frühert * tatsächlich! * ich ging noch zu dieser * äh: zu dieser anstalt der kommunistischn schulet * aber so kommunistisch war=s überhaupt nicht! * sonst würde=es hier nicht so * äh äh schnell gehen wie es alles * alles geh: tt * und äh äh * * in meinem lebm hab=ich keinen echtn so richtign * ri"chtich überzeug*tn polnischn kommunistn gesehen! * und ich lebe schon über dreißig jahre auf dieser weit! * s ist nicht vielt aber es ist au(ch) nicht wenig! * u: : nd * wir mußten * zur kartoffeinernte! * in die großn * äh äh äh kolchosn! * wir mußtn! * dann gab=s kartoffelnferien tatsächlich! das warn aber keine ferien! * das warn * äh das war äh äh obligatorisch! ** aber natürlich was ** ähä denkt sich der pole dann! * läßt sich krankschreibm! net JA: # # und=die kartoffeln bla/ * lesen sich selbst! * jat K& / LACHEN# JA: alleine! * ile kosz/ *sztuje gazetaJ In dieser kurzen Passage begegnet uns thematisch ein Bündel von positiven Selbstbildern, die teilweise direkt, teilweise über die negativen Gegenbilder „ und dann entstehen berge von problemen 135 evoziert werden: die Bilder vom Antikommunismus, 27 vom überlebenstüchtigen Polen und von der schnellen Anpassung an neue Bedingungen. Formulierungstechnisch fällt hier ganz besonders noch einmal auf, was auch schon an den anderen Sequenzen zu beobachten war, nämlich die spezielle Gestaltung der inhaltlich relevanten Komponenten. Sie sind als prosodische Einheiten formuliert, von der Umgebung abgesetzt, meist als verallgemeinerbare Erfahrungen {in meinem Leben) oder allgemein geteilte Wissenkomponenten {diese Anstalt) dargeboten. Die generalisierende Passage über den richtig überzeugten polnischen Kommunisten hat darüberhinaus noch eine Formulierungsdynamik der ständigen Steigerung, mit deren Hilfe der gesamte Ausdruck in seiner Gültigkeit inszeniert wird: 1) in meinem leben - und ich lebe schon über dreißigJahre aufdieser weit 2) hab ich keinen echten 3) so richtigen 4) richtig überzeugten polnischen kommunisten gesehen Inszenierendes Sprechen und Formelhaftigkeit 28 sind zwei weitere Merkmale der Formulierungsarbeit, die von Jana im Kontext der Stereotype und ihrer Bearbeitung im Aufklärungsdiskurs geleistet werden. 3.2 Unterricht als Entdeckungsprozedur Die „polnische Wirtschaft” und die Zurückweisung der negativen Implikationen des Stereotyps begegnen uns in der Stunde noch einmal. Die Teilnehmerinnen berichten, daß sie Schwierigkeiten hatten, eine Streifenkarte für die Straßenbahn zu bekommen (11 Fahrten für den Preis von zehn), die zwar offiziell eingeführt, aber als Gegenstand wohl nicht ohne weiteres käuflich zu erwerben ist. Einer der Kursteilnehmer (Klaus) hatte bei dem KaufVersuch wohl einige lustige Erlebnisse, die größtenteils auf Verständigungsprobleme wegen seiner mangelnden Sprachkenntnisse zurückzuführen waren. Jana erläutert den Sachverhalt noch einmal und schließt gleich eine generelle Problematik an; ich zitiere die folgende längere Passage ungekürzt, denn so wird die „Verkettungstechnik” Janas deutlich, die als eine weitere Variante des assoziativen Sprechens gelten kann, das uns schon im Beispiel 3 aufgefallen war. In dieser Passage treten Stereotype nun gehäuft auf und Jana erweitert ihre 27 Die Äußerung über diese anstatt der kommunistischen schule trägt alle Merkmale der „discriminatory speech acts“, so wie sie von GraumannAVintermantel (1989) eingehend beschrieben worden sind. Siehe dazu auch die Bemerkung Kobylinskas (1995, S. 63), die sie in ihrem sehr lesenswerten Beitrag über „das polnische Gedächmis und seine Symbole” macht: „Das heutige Polen scheint vom kollektiven Gedächtnisschwund befallen zu sein. Die Erinnerung an den Krieg wurde mißbraucht und degradiert, die polnischen Juden vergessen, viele sind der Meinung, an den Kommunismus zu erinnern lohne sich nicht.” 28 Siehe dazu u.a. Kallmeyer/ Schmitt (in Vorbereitung), Kallmeyer/ Keim (1994) und Keim (1995). 136 Ulrich Dausendschön-Gay Aufklärungsstrategie um eine neue, wichtige Komponente, denn sie beteiligt die Gruppe an der Entdeckung und Entlarvung der falschen Wahrnehmungen auf die aktuelle polnische Situation. Ich halte dies für einen entscheidenden Schritt bei dem Versuch, ihr Konzept der Kulturvermittlung erfolgreich in die Praxis zu setzen. Beispiel 5: wer hat einen reiseführer (min. 39.10) JA: es gibt äh: * für m: : anche Wörter * äh für * sowas zum beispielf * da kriegs du noch noch keine erklärungi ** da mußt=du das irgendwie umschreibmi * oder sagst du ein dziesi^c bileto * <wenn er die hatt> * die streifent dann gibt er diel wenn nicht dann gibt er: dir halt zehn * >fahrscheine ** und sonst nicht< ** jat* manchmal es gibt ähää * ä von: ähä * wer hat einen reiseführer von dumontt * hiert * polen * dort * äh * gil/ * äh letzte fassung wurde noch nicht revidiertt * äh * äh * un: d in der: letztn fassungt des reiseführerst s: teht es geschriebmt * man soll: te taschenlampm mit nach poln nehment * weil hier JA: besonders sehr oft * ström * ausfälltf * #und fü"rwahr# K& #LACHEN # JA: ** und vor zwei jahrn * kamn * gut ausgerüstete * äh JA: deutsche studentnf nach polent zu unst DE: alle mit JA: #<mit taschenlampmt> *2* aber# * das DE: taschenlampenl # # KS #LACHEN # JA: buch war alt natürlichl jat * es gab früh/ * äh äh viel stromausfallt ** aus politischen gründen auchl * es war eine: * gewisse artt die bevölkerung irgendwie zu JA: drangsalieren! jat * und dann muß man: die SU: ( • • • ) JA: taschenlampnl jat nach viele jahre nach dem Umbruch ich kann mich persönlich nich mehr erinnern- * so vor/ * glaub=ich vor ei/ vor siebm acht jahrn erlebte ich den * JA: äh äh * den letzten stromausfallt #und=dann kommn leute K& #LACHEN JA: mit taschn#lampml ** und dann * also immer wieder diese K£ # JA: kul/ in(? ter/ tra)kulturellen # # praktisch jat * K #LACHT# zusammnstößet und * ja: * deutsche taschnlampml * dennis du hast bestimmt keine! * oder du hast keinen reiseführer! und dann entstehen berge von Problemen “ 137 JA: K& SF: JA: JA: JA: KL: JÜ: JÜ: MO: KS JÜ: MO: MO: KA: MO: KL: KA: JÜ: JÜ: KL: KL: KL: RE: K& JA: JÜ: JÜ: JA: JÜ: JÜ: JA: JÜ: # # wer hat eine pol/ ähä reiseführer über polenl #LACHEN# >ich hab einen< jat * * findet ihr dort äh: auch: ä=das äh: stimmt das was: : äh im reiseführer steht * mit Wirklichkeit übereint >ich hab=s noch nich geleseni< nee" du wirst=es bestimmt erst <-na: ch der rückkehr * #zu hause lesen-l~># # # >das mit dem telefoniern stimmt nicht #LACHEN # * ahatt also hier steht drin (? man kann=nich) telefoniern von hier nach deutschlandi oder daß=es jednfalls nur genau stimmt! sehr aufwendich wäret also * zeitaufwendicht ehern das ist nicht von deutschland aus nach polen an zu rufen ist viel * schlimmer! * als umgekehrt! da braucht man wirklich * mehr zeit! * mir hat man au=noch gsagt daß: äh: : so im sommert für ein monat * da wird=des wasser abgedreht! also des des warme wasser auf jedn fall! daß=s kan warmes wasser gibtt * # # (...) # # #LACHEN# seht ihrt ** na dann: wozu denn: t ** eine bank hat mir auch gesagt ich sollte umbedingt eindollarscheine und wozut fünfmarkscheine mitnehmnt * und mit/ mit (...card) mit äh ecekartn käme man hier nicht weiter und * und=es wäre unmöglich! also zum beispiel mit=m ahat fünfzigmarkschein hier irgndwas zu wechseln! 138 Ulrich Dausendschön-Gay JÜ: man käme hier nur #mit eindollarscheinen ausi# KL: das war ne sparkassel wettent # # K& #LACHEN # JÜ: also * und Überweisungen nach polen seien unmöglichl * JA: bitte sehr # # KL: war das ne sparkasset # # JÜ: #das war ne Sparkasse jal# K& #LACHEN # JA: das nennt ma/ * äh: : * DO: (? war wohl) ne bausparkassel het JA: nach einigen wochen werdet ihr=s merknl jat wi: e * äh äh die Situation wirklich ist! also * warmes wasser habm JA: wirt * das ganze iahrt ? ? : LACHT KL: ja do: clvl DO: und auch kältest jat JA: ja: * * kaltes gibt=s aucht * * und überweisen ka=man auch JA: # # ja #(? wie bittejt# # # also K FLACHEND # #LACHT# JÜ: # # hab ich gesehnt jat K& #LACHEN# JA: tatsächlicht also * äh das was man: durch * * äh solche bilder vermittelt bekommtt * entsteht ein * ein klischeet * jat un: d da: s wird=dann weiterproduziert durch geschichtliche * äh te/ äh u/ proble: me und=dann: ähähäh entstehen be"rge von Problemen die kaum: : zu überwinden sindt * wenn man die nicht richtig * * äh analysiertt * nu"n üben wir die Wochentage! * jat heute ist der unterricht ein klein bißchen * äh anderst aber * ich kann nichts dafür daß der ret/ * rest noch * schön schläft! * poniedzialekt Auslöser für den folgenden Aufklärungsdiskurs ist die Beobachtung der Studierenden, daß eine Information zum polnischen Alltag (man kann Sammelfahrscheine lösen und dabei eine Fahrt sparen) mit der vorfmdlichen Wirklichkeit nicht übereinstimmt (die Sammelfahrscheine gibt es gar nicht). Der Einstieg in die Generalisierung des Problems {manchmal es gibt), die in ihrer Richtung noch nicht erkennbar ist, wird dann in die Eröffnung des Rahmens für die gesamte folgende Sequenz überführt: wer hat einen reiseführer von dumont hier, die steigende Intonationskontur ist auf Fortsetzung durch den aktuellen Sprecher angelegt, die Frage also redeeinleitend und nicht tumübergebend. Nach der ersten Stereotypensequenz wird die Rahmung wiederholt {wer hat eine pol/ ähä reiseführer über polen), diesmal mit fallender Intonation, mit der eine Beantwortung der Frage angefordert wird. Dazwischen hat „ und dann entstehen berge von Problemen " 139 Jana eine Art Modell vorgefuhrt, mit dem die Fehlinformationen über Polen behandelt werden können: in der letztenfassung des reiseführers steht geschrieben man sollte taschenlampen mit nach polen nehmen weil hier besonders sehr oft ström ausfällt vor zweiJahren kamen gut ausgerüstete deutsche Studenten es gab früher viel Stromausfall aus politischen gründen vor siebenJahren erlebte ich den letzten Stromausfall nach dem Umbruch ich kann mich persönlich nicht mehr erinnern also immer wieder diese interkulturellen Zusammenstöße deutsche taschenlampen Der argumentative Aufbau und die Erzähldynamik sind so angelegt, daß die Teilnehmer sich zunehmend an der Herstellung beteiligen können, zunächst als Lacher, dann als Mitformulierer (alle mit taschenlampen), und schließlich nach der Reformulierung des Rahmens mit eigenständigen Redebeiträgen, mit denen sie einen Teil der Aktivitäten Janas aus der Modellphase übernehmen: - MO fuhrt das Thema „telephonieren“ ein, Jana sagt, wie es wirklich ist - KL behandelt selbständig das Problem des warmen Wassers - JÜ kann etwas zu Zahlungsmöglichkeiten sagen und die Fehlinformation der Sparkasse entlarven; andere beteiligen sich lebhaft an der Inszenierung der Absurdität dieser Informationen. Zum Schluß kann Jana die von den Studierenden und von ihr selbst eingefuhrten Stereotype und ihre Zurückweisung noch einmal reformulieren und resümierend in die Darlegung ihres Konzeptes vom Umgang mit Stereotypen münden lassen, das sie in Bruchstücken bereits während der ganzen Passage angedeutet hatte (immer wieder diese interkulturellen Zusammenstöße, stimmt das was im reiseführer steht mit der Wirklichkeit überein). Im Gegensatz zu den ersten Beispielen des Aufklärungsdiskurses kommt hier, wie schon einleitend gesagt, ein neues gesprächsorganisatorisches Phänomen hinzu, denn Jana beteiligt die Gruppe intensiv an den Zurückweisungsaktivitäten. Sie wählt das Format des Unterrichtsgesprächs, also eines konversationellen Beteiligungsformats, das insofern auch sehr gut gelingt, als die Gruppe von sich aus Beiträge zum Thema einbringen kann, nachdem Jana das Modell eingefuhrt und vorgemacht hat. So entsteht eine neue Gruppenkonstellation, in der Lehrerin und Lernende gleichberechtigte und gleich kompetente Interaktionspartner für einen Teil des Unterrichtsgeschehens werden. Im Hinblick auf Janas „Theorie“ über die Entstehung von Klischees und Stereotypen, ist diese Beteiligung darüberhinaus ein didaktisches Präventivmittel: die Sommerkursteilnehmer können aus eigener Anschauung die Fehlinforma- 140 Ulrich Dausendschön-Gay tionen entkräften, die den Stereotypen über die „Zustände” in Polen zugrundeliegen. Janas Arbeit als Kulturvermittlerin besteht darin, den Lernenden in einer Art Entdeckungsprozedur die interkulturelle Perspektive auf ihre eigenen Wahrnehmungen zu vermitteln: sie sollen erkennen, daß das Vorhandensein von elektrischem Strom, warmem Wasser und Wechselstuben die Widerlegung eines Klischees ist, das nicht nur de facto in der BRD über Polen formuliert wird, sondern das auch in den Vermutungen polnischer Bürger über die Sicht der BRD auf Polen eine wichtige Rolle spielt. Wenn es also Jana gelingt, die Entwicklung dieser neuen Perspektive zu befördern, dann werden die Studierenden aus der Bundesrepublik Zeugen für die „wirklichen” (d.h. aus polnischer Sicht tatsächlich existierenden) Bedingungen im heutigen Polen. Dafür setzt Jana erfolgreich, wenn man die Beteiligungsaktivitäten der Kursteilnehmerinnen bedenkt das Mittel des didaktischen Aufklärungsdiskurses ein, das sie als Lehrerin offenbar gut beherrscht. 29 4. Grenzen Wir haben gesehen, daß Jana wichtige Grundbedingungen für den Unterricht mit der Sommerkursgruppe zu Beginn der ersten Unterrichtsstunde herstellt. Sie führt Interkulturalität und Kompetenzgefälle als konstitutive Elemente der Situation ein und schafft damit überhaupt erst die Handlungsmöglichkeiten, die sie braucht, um ihre Vorstellung von Kulturvermittlung im Unterricht zu verwirklichen: nachdem sie provozierend zunächst die Lernenden als Fremde ohne Integrationsbedürfnis definiert hat, kann sie ihnen dann mit den ihr dazu geeignet erscheinenden Mitteln (z.B. durch das Beteiligungsformat, das die Teilnehmer in die Lage versetzt, ihre Beobachtungen neu zu interpretieren) zu einer neuen Wahrnehmungsperspektive und Interpretationskompetenz verhelfen. Dies gelingt besonders dort, wo Jana mit den Komponenten von Stereotypen umgeht, die bei der Gruppe bekannt sind, die also im Unterricht gemeinsam bearbeitet werden können. Wir können Janas Arbeit an den Stereotypen unter zwei Gesichtspunkten betrachten: für die Lemergruppe wählt sie Formulierungstechniken (Formelhaftigkeit, Inszenierung, Dekontextualisierung, ad-hoc Sprechweise), Gegenstände und Beteiligungsformate, die einen „Lemeffekt“ im Sinne ihres Konzepts von Kulturvermittlung wahrscheinlich machen. Wenn wir aber aus der Perspektive der Analyse von Selbstkategorisierungen argumentieren, dann trägt Jana mit ihren Tätigkeiten besonders zur Herstellung eines aus der von ihr unterstellten Sicht der Kursteilnehmer positiven Bildes der aktuellen Le- 29 . Ricarda Wolf zeigt in ihrem Beitrag (in diesem Band), daß umgekehrt das Verweigern kooperativer Erklärungshandlungen als Beleg für die Abwesenheit von Kulturvermittlungsaktivität gewertet werden kann; sie zeigt aber auch, daß damit gleichzeitig ein Beitrag zu Konfliktverschärfung einer interkulturell problematischen Situation geleistet wird. „ und dann entstehen berge von Problemen “ 141 bensbedingungen in Polen bei. 30 Wir wissen nicht, ob Jana strategisch, in voller Absicht und bewußt so handelt; aber zumindest können wir festhalten, daß sie sich an der Konstruktion des neuen Polen beteiligt, das Kobylihska mit dem Begriffspaar „Normalität und Amnesie“ umschrieben hat. 31 Der Unterschied zur historisierenden Konzeption des Fremdenführers mit dem Spitznamen „der Graf 1 könnte nicht größer sein. Dieses positive Bild bemüht dabei allerdings auch historisch gewachsene gesellschaftliche Mythen, die von der Gruppe der Lernenden in ihrer Bedeutung für Jana nicht erkannt werden können. Die Kontextualisierungshinweise in der Umgebung der „polnischen Wirtschaft“ oder des Polen, der sich krank schreiben läßt, sind für sie ungleich schwerer zu entschlüsseln als der Hinweis auf die russische Mafia. Insofern handelt Jana auch im Hinblick auf ihre eigene Positionierung in der polnischen Gesellschaft, in der Gruppe, in der sie lebt, die aber in der Unterrichtssituation selbst nicht anwesend ist. Diese Dimension muß den Studierenden noch verschlossen bleiben. 5. Literatur Abels, Heinz/ Stenger. Hans (1989): Gesellschaft lernen. Einführung in die Soziologie. 2. durchges. Aufl. Opladen. Czyzewski et al. (Hg.) (1995) = Czyzewski, Marek/ Gülich, Elisabeth/ Hausendorf, Heiko/ Kastner, Maria (Hg ): Nationale Selbst- und Fremdbilder im Gespräch. Kommunikative Prozesse nach der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Systemwandel in Ostmitteleuropa. Opladen. Dausendschön-Gay, Ulrich/ Krafft, Ulrich (1991a): Täche conversationnelle et organisation du discours. 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Zwar arbeitet sie erfolgreich an den „Entstereotypisierungen“ gängiger Wahrnehmungen über Polen, sie zahlt dafür aber ganz unabsichtlich den Preis der Reformulierung von in Polen verbreiteten Stereotypen über Dritte; ihre Äußerungen über russische mafia, tschechoslowakei ehemalige, anstalt der kommunistischen schule oder auch über harte mark investieren sind bei aller spielerischen Distanzierung weit weniger von aufgeklärter Reflexion geprägt als die antizipierenden Zurückweisungen der Stereotype über Polen. 31 Sie schreibt über die Präsidentenwahlen des Herbstes 1990: „Tadeusz Mazowiecki, der Kandidat der demokraüschen Opposition, berief sich nicht auf das „martyrologische“ Gedächtnis, sondern auf die freie Marktwirtschaft und den Rechtsstaat. Seine Philosophie, auf das bekannte Muster zu verzichten und gleichzeitig mit den Rechnungen der Vergangenheit abzuschließen, hatte trotz aller guten Intentionen einen kontraproduktiven Charakter und trug unwillkürlich zu einer gesellschaftlichen Amnesie bei, die die Unterschiede verwischt. Man hat sich des künsüichen Begriffs der Normalität bedient, indem die Wünsche zum faktischen und schon erreichten Zustand wurden. Man hat die Schwierigkeiten der mentalen Übergänge und die Dauer der Lernprozesse unterschätzt.“ (1995, S. 63) 142 Ulrich Dausendschön-Gay Dewe, Bemd/ Ferchhoff, Wilfried/ Radtke, Frank-Olaf (Hg.) (1992): Erziehen als Profession. Zur Logik professionellen Handelns in pädagogischen Feldern. Opladen. Drescher, Martina/ Dausendschön-Gay, Ulrich (1995): ‘sin wer an son immobilien ehm makler da eh gekommen’. Zum Umgang mit sozialen Kategorien im Gespräch. In: Czyzewski et al. (Hg.) (1995): S. 85-119. 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Diese Verallgemeinerungen haben Schutzfünktionen insofern, als sie eine unmittelbare Auseinandersetzung mit den Erscheinungsformen des Störenden erübrigen und so vor möglichen Verletzungen schützen können. Sie verhindern aber einen offenen und gleichberechtigten Umgang miteinander und laufen so dem erklärten Ziel, Verständigung herzustellen, eher zuwider. Der Beitrag ist ein Plädoyer für mehr Offenheit und gegen eine „verordnete Harmonie“, die nur an der Oberfläche bleiben kann. 1. Einleitung Das deutsch-polnische Verhältnis wird in offiziellen Verlautbarungen beider Seiten meist als normal und gut eingeschätzt. Offene Grenzen, ein umfangreiches Vertragswerk über gute Nachbarschaft und friedliche Zusammenarbeit, Schüler- und Studentenaustausch, wirtschaftliche Beziehungen, Kontakte im kulturellen Bereich usw. sind Tatsachen, die dieses gute Verhältnis belegen sollen. Immer wieder aber stören Irritationen und Zwischenfälle das schöne Bild. Zwar werden sie in beiderseitigem Interesse meistens schnell beigelegt (wenn man z.B. an das Arrangement um die Nichteinladung des polnischen Staatspräsidenten zu den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Kriegsendes in Berlin denkt), zeigen aber auch, wie dünn das Eis immer noch ist, auf dem man sich bewegt; zum anderen hinterlassen sie auch Spuren bzw. geben alten Vorurteilen immer wieder neue Nahrung, wie die Kommentare in der polnischen Presse zur Razzia des Bundesgrenzschutzes in Frankfiirt/ Oder im Juni 1995 zeigen. Vor allem aber gibt es nach wie vor sehr viel Gleichgültigkeit, wenig oder kaum Verlangen, den jeweils anderen tatsächlich wahrzunehmen und kennenzulernen. Darüber kann auch die Vielzahl von Initiativen und Projekten, die in verschiedenen Bereichen angeschoben werden (und die oft schon in ihren Anfängen steckenbleiben), nicht hinwegtäuschen. In jüngster Zeit mehren sich die Stimmen, die auf die Diskrepanz zwischen der offiziell verkündeten Normalität der Beziehungen und deren tatsächlichem Stand verweisen. So schreibt der polnische Journalist J. Tycner: „Die unmittelbar Beteiligten reden nicht gern darüber, denn wie jede andere Unternehmung ist auch das deutsch-polnische „Verständigungsgeschäft“ auf Erfolg getrimmt. Aber Schönreden hilft nichts. Hinter den vielen gutgemeinten Gesten, den gegenseitigen Beteuerungen, wie wichtig Zusammenarbeit, gute Nachbar- Über den schwierigen Umgang 145 schaft, Freundschaft und Versöhnung seien, tut sich immer noch ein Abgrund aus Unkenntnis, Desinteresse, Ignoranz, Überheblichkeit, gegenseitiger Abneigung und Gleichgültigkeit auf.“ (Die Zeit Nr. 27, 30.6.1995). Einigkeit besteht trotzdem darüber, daß eine der Grundlagen für normale Beziehungen in zwischenmenschlichen Kontakten besteht und daß man daher im Bemühen, solche Kontakte herzustellen, nicht nachlassen sollte. So spricht man sich z.B. in verschiedenen Gremien für eine umfangreichere Ausstattung des deutsch-polnischen Jugendwerks aus (vgl. Dialog 1/ 1995, S. 71). Die eingangs erwähnten Austauschprogramme dienen im weitesten Sinne dazu, Bedingungen für solche zwischenmenschlichen Beziehungen zu schaffen, also Kontakte überhaupt zu ermöglichen, Gelegenheiten zu geben, sich ein Bild von dem anderen Land und den anderen Menschen zu machen und vorhandene Vorurteile abzubauen. In diesen Rahmen gehört auch der von uns beobachtete, 1994 zum 11. Mal durchgeführte (und damit eine beachtenswerte Kontinuität zeigende) Sommerkurs der Universität Poznan, an dem ca. zwanzig meist jüngere deutsche Studenten teilnahmen und vier Wochen lang die Möglichkeit hatten, sich intensiv mit Polen als Land, seinen Menschen und seiner Sprache zu beschäftigen. Uns interessierte, wie und mit welchen Mitteln in einer solchen deutschpolnischen Kontaktsituation kulturelle Differenzen thematisiert und bearbeitet oder auch ausgeblendet und vermieden werden. Mit anderen Worten: Werden in den Gesprächen überhaupt problematische Dinge besprochen, grenzt man sich voneinander ab, spielt die Vergangenheit eine Rolle, kann man über Ungleichheit reden etc. (zur genaueren Situierung des Kurses und zur Genese der Fragestellungen vgl. die Einleitung in diesem Band). Meist wird fraglos vorausgesetzt (und in entsprechenden Statements, z.B. von den Organisatoren solcher Begegnungsveranstaltungen, suggeriert), daß die Intensivierung von Kontakten quasi automatisch zum Abbau von Vorurteilen fuhrt. Manchmal werden auch Untersuchungen bzw. Befragungen darüber angestellt, welche Einstellungen vor der Begegnung da waren und inwieweit sich diese dann während der Begegnung verändert haben (vgl. Prokop 1993). Aber das Verhältnis zwischen Kontakten und Veränderung von Einstellungen ist ungleich vermittelter. Ein entscheidender Faktor ist die Individualisierung des Fremden, und dafür sind Kontakte eine Bedingung. Aber eben nur eine notwendige, keine hinreichende. Wenn das Augenmerk im weitesten Sinne auf die Thematisierung kultureller Unterschiede gelegt wird, so sind dabei folgende Tatsachen zu beachten: 1. Die Begegnungssituation im Rahmen dieses Sommerkurses dokumentiert einen Ausschnitt aus dem Spektrum der deutsch-polnischen Beziehungen, aber nicht zwangsläufig einen repräsentativen. Das gegenseitige Interesse ist schon Voraussetzung für die Begegnung, darüber hinaus sind polnische Germanistikstudenten in besonderer Weise an Kontakten zu Deutschen interessiert, da sich für sie über die erlernte Sprache auch Berufsfelder eröff- 146 Mechthild Elstermann nen. Ein kleiner Teil der deutschen Gruppe ist über das Interesse an Praktika und Studienaufenthalten in Polen zur Teilnahme an diesem Sommerkurs motiviert worden. 2. Die von uns aufgezeichneten Gespräche, Interviews, Diskussionen etc. stellen wiederum nur einen Teil der in diesen vier Wochen stattgehabten Interaktion dar. Es ist zu vermuten (und zu hoffen), daß die erwähnte Individualisierung wenigstens partiell zu einem besseren gegenseitigen Verständnis beigetragen hat. Das ließe sich u.a. an der Tatsache der Fortsetzung von Kontakten über den Kursrahmen hinaus festmachen, wäre aber ein anderer Untersuchungsgegenstand. 3. Es ist verschiedentlich auf die Gefahren der fortwährenden Wiederholung der bekannten gegenseitigen Vorurteile hingewiesen worden, in dem Sinne, daß sie somit auch immer wieder reproduziert würden. In dieser Diktion äußerte sich u.a. Franciszek Grucza zum Abschluß einer deutsch-polnischen Tagung über Vorurteile, wo er dafür plädierte, nicht mehr oder erst in zweiter Linie die Unterschiede zu untersuchen, sondern doch mehr die Gemeinsamkeiten, das Verbindende, zu betonen (Grucza 1994, S. 196ff). Die Erfahrung sieht aber so aus, daß die Leugnung der Unterschiede bzw. der Versuch, sie möglichst nicht zu thematisieren, der eigentlichen Absicht, nämlich Verständigung herzustellen, eher zuwiderläuft. So ist es wahrscheinlich kein Zufall, daß bei einigen Lesern, 1 die nicht am Kurs teilgenommen, aber Ausschnitte der Gesprächsmaterialien gesichtet hatten, der Eindruck entstanden ist, daß im Grunde nicht richtig miteinander geredet würde, daß man zwar gegenseitig seine Bereitschaft signalisiert, miteinander zu kommunizieren und die Gesprächssituation aufrechtzuerhalten, aber eigentlich vermeidet, sich selbst als Individuum, mit seinen persönlichen Erfahrungen und Überzeugungen, in das Gespräch einzubringen (vgl. dazu auch Bozena Chotuj in diesem Band). Die Gesprächsausschnitte, die im folgenden analysiert werden, sind zwei Interviews entnommen, die während des Kurses mit polnischen Germanistik- Studenten geführt wurden das zweite von der Autorin dieses Beitrages. In ihnen wird in unterschiedlicher Weise, aber jeweils explizit, nach dem deutschpolnischen Verhältnis gefragt. Im Mittelpunkt der Analyse stehen dabei die Äußerungen der polnischen Studenten. Die Art der Fragestellung durch den jeweiligen Interviewer (die Bezeichnung „Interviewer“ ist hier als Funktionsbezeichnung gemeint und verweist weder auf das natürliche Geschlecht noch auf ein- und dieselbe Person) ist für den Verlauf der Gespräche natürlich nicht unerheblich und wird an entsprechenden Stellen in die Analyse miteinbezogen, dem konversationsanalytischen Diktum gemäß, daß die Herstellung der situa- Bei diesen Lesern handelt es sich vor allem um polnische Teilnehmer des Kolloquiums „Polnisch-deutsche interkulturelle Kommunikation“, das im April 1995 in Bielefeld stattfand. Den Teilnehmern war vorher eine umfangreiche Sammlung von Gesprächsausschnitten aus den verschiedenen Kurssituationen zugegangen, auf die sie sich z.T. in Vorträgen, z.T. in den Diskussionen bezogen haben. Über den schwierigen Umgang 147 tiven Bedeutung in der Interaktion ein gemeinsamer Prozeß aller Beteiligten ist. Dies ist auch in dem Sinne von Bedeutung, daß in den Interviews ein Teil der zu untersuchenden deutsch-polnischen Interaktion mitproduziert wird. 2. Die Abgrenzung oder „es ist immer irgendwie eine Mauer zwischen uns“ Der im folgenden analysierte Ausschnitt 2 stammt aus dem letzten Drittel eines Interviews, das mit Rysiek, einem polnischen Studenten, geführt wurde und das sich an mehreren Stellen mit dem deutsch-polnischen Verhältnis beschäftigt. Rysiek ist einer der vier polnischen Germanistik-Studenten, die die Kursteilnehmer betreuen. Seine weiteren Kontakte mit Deutschen bestehen vor allem im Rahmen von Übersetzungs- und Dolmetscherdiensten, die er für Firmen mit wirtschaftlichen Beziehungen nach Deutschland leistet; in dieser Funktion war er auch schon öfter zu Kurzaufenthalten in der Bundesrepublik. Rysiek relativiert gleich am Anfang des Interviews die Repräsentativität seiner Aussagen zum deutsch-polnischen Verhältnis: Als polnischer Germanistikstudent mit einigen Kenntnissen über Deutschland und das Deutsche stellt er in Rechnung, daß seine Meinung nicht unbedingt mit der Meinung der Masse der polnischen Bevölkerung übereinstimmen muß. Ebenfalls zu einem noch frühen Zeitpunkt im Interview-Ablauf, als er nach der deutschen Mentalität befragt einiges an Eigenschaften aufzählt, macht er sofort danach die Ambivalenz solcher Zuschreibungen deutlich: aber das ist vielleicht auch so, daß wir schon irgendwelche Stereotype haben, und wahrscheinlich versuchen wir, diese Stereotypen in den Deutschen zufinden. D.h., er ist sich der Vorurteilsproblematik 3 durchaus bewußt und kann darüber reflektieren. Daß ihn das dennoch nicht davor bewahrt, an anderen Stellen in 2 Ich danke den Teilnehmern des Workshop 2 des Kolloqiums „Polnisch-deutsche interkulturelle Kommunikation“ in Bielefeld 1995 für wichtige Hinweise und Anregungen, die zum größeren Teil in die Analyse dieses Ausschnittes eingegangen sind. 3 Auf die umfangreiche Literatur zur Stereotypen- und Vorurteilsforschung wird hier nicht eingegangen, auch nicht auf die Unterschiede zwischen Stereotypen und Vorurteilen. Beide Begriffe werden in einem eher alltagssprachlichen Sinne verwendet, wobei unter Stereotypen die Zuschreibungen bestimmter Eigenschaften zu einer Gruppe von Menschen (in diesem Fall ethnisch zugeordnet: Deutsche - Polen) verstanden werden, unter Vorurteilen die Einstellung zu einer Gruppe von Menschen, die aus der Bewertung dieser zugeschriebenen Eigenschaften resultieren (vgl. dazu Wintermantel 1994). Nationale Stereotypen erfreuen sich wahrscheinlich einer besonderen Langlebigkeit und Stabilität. Auch, wer im Prinzip nichts von ihnen hält, kommt aus ihrem Bannkreis nicht immer heraus. Bei der Betrachtung des deutsch-polnischen Verhältnisses unter dem Aspekt der gegenseitigen Vorurteile darf man nicht ganz außer acht lassen, daß die Zuschreibungen der jeweiligen Eigenschaften für „die Deutschen“ und „die Polen“ nicht nur wechselseitig, sondern auch von vielen anderen Nationen vorgenommen werden. Wenn man sich nicht darauf einlassen will, daß eben die „deutsche“ und die „polnische“ Mentalität besonders schlecht zueinander passen, muß man bei der Beurteilung des Verhältnisses immer auch die beiderseitigen, oft genug in der Geschichte (und Gegenwart) konfligieren- 148 Mechthild Elstermann den Vorurteilsdiskurs hineinzugeraten, wird anhand der folgenden Verlaufsanalyse gezeigt; gleichzeitig ist zu fragen, welche Funktion sich möglicherweise dahinter verbirgt. Der zu analysierende Ausschnitt beginnt mit einer Frage des Interviewers, die explizit das Verhältnis zwischen den deutschen und den polnischen Studenten im Kurs thematisiert: (RY = Rysiek, IN = Interviewer) 01 IN: äh * ja wie wie würdest wie wie siehst du denn so die 02 IN: gespräche die ihr führt sind die für dich- * 03 RY: hm 04 IN: interessant gibtsja ist das ist das ne harmonische 05 IN: atmosphäre ** Die Realisierung der Frage erfolgt mit einigem Formulierungsaufwand. Man kann in ihm Hinweise auf die Brisanz, die das Thema für den Interviewer hat und die er damit auf den Befragten überträgt, vermuten. Zunächst erfolgt die Suche nach dem passenden Verb. Das erste, im Konjunktiv, wird verworfen: ja wie wie würdest, es folgt die direkte Frage im Indikativ: wie wie siehst du denn so die gespräche die ihr führt, diese Frage wird aspektualisiert, wobei es bei den Aspektualisierungen wieder Verzögerungen gibt, es wird nach dem passenden Adverb gesucht, wie die Progredienz und die Pause nach dich belegen. Da das Adverb interessant von seinem semantischen Gehalt offenbar als nicht ausreichend empfunden wird für das, was erfragt werden soll, wird ein weiterer Aspekt nachgeschoben, auch hier mit Abbruch nach dem zunächst gewählten Verb und Wiederholungen vor dem nächsten Aspekt: gibts-ja ist das ist das. Dieser nächste Aspekt, die harmonische atmosphäre, macht durch seine Endstellung die eigentliche Gewichtung der Frage aus, obwohl er ebenso wie interessant schwebend intoniert wird, so, als solle es in der Aufzählung noch weitergehen, als sei immer noch nicht genau das gesagt, worauf man eigentlich hinaus will. Es folgt eine etwas längere Pause, und Rysiek beginnt seine Antwort durch den Ansatz eines kurzen Lachens, das nach ganz kurzer Zeit manifest und dann vom Interviewer aufgenommen, damit bestätigt wird: 05 IN: KURZES LACHEN 06 RY: ANSATZ EINES LACHENS das hängt wieder von KURZES LACHEN 07 IN: hm 08 RY: äh: von von de"m ab mit we"m ich in die Stadt gehe 09 RY: das ist auch verschieden den Interessen beider Völker berücksichtigen: Nachbarn müssen sich von vornherein eher ins Verhältnis setzen als Leute, die weiter voneinander entfernt sind. Über den schwierigen Umgang 149 Bestätigt wird damit vor allem das beiderseitige Bewußtsein über das Diffizile der aufgeworfenen Frage: Man begibt sich jetzt gewissermaßen aufs Eis, arbeitet sich gemeinsam an ein schwieriges Thema heran, denn die Frage nach der harmonischen Atmosphäre präsupponiert, daß es genauso gut auch nicht harmonisch zugehen kann und daß es dann schwierig sein könnte, darüber zu reden. Schwierig in mehrfacher Hinsicht: Man ist möglicherweise gezwungen, über Personen und Ereignisse zu sprechen, die weder räumlich noch zeitlich weit genug entfernt sind, um in abgeklärter Weise über sie urteilen zu können (denn es gelten auch hier solche allgemeinen Maximen wie die, daß man über zeitweilig Abwesende nicht schlecht reden soll). Zum anderen kann die Rolle des Befragten mit seiner Gastgeberfiinktion kollidieren. Schließlich entsteht auch eine gewisse Paradoxie dadurch, daß man miteinander im Gespräch genau die Dinge mitproduziert, die man erfragen will. Das wieder bezieht sich auf eine Stelle im ersten Drittel des Interviews, als der Interviewer nachfragt, ob Rysiek bestimmte deutsche Eigenschaften auch in den Kursteilnehmern entdeckt und gleichzeitig das Heikle eben dieser Frage thematisiert, da man dann ja konkret werden müsse. Das Lachen unmittelbar danach signalisiert also auch den Wiedererkennungseffekt und somit wie zuvor gesagt die wechselseitige Bestätigung über das Bewußtsein der Brisanz. In der Aspektualisierung der Frage liegt eine doppelte Anforderung: Einerseits wird Rysiek persönlich gefragt sind die für dich- * interessant, andererseits wird er zu einer allgemeinen Beurteilung aufgefordert in einer Form, die an die Diplomatensprache {harmonische atmosphäre) erinnert und in diesem Kontext etwas steif wirkt. Rysiek versucht im folgenden, diese doppelte Anforderung in verschiedenen Stufen zu bearbeiten. Seine längere, durch Hörerrückmeldungen seitens des Interviewers begleitete Antwort, läßt sich in drei Blöcke einteilen. Im ersten Block agiert er als Individuum Rysiek, das persönliche Vorlieben beim Umgang mit den deutschen Studenten hat: Block 1: 05 IN: 06 RY: 07 IN: 08 RY: 09 RY: 10 RY: 11 RY: 12 IN: 13 RY: 14 IN: 15 RY: KURZES LACHEN ANSATZ EINES LACHENS das hänot wieder von KURZES LACHEN hm äh: von von de"m ab mit we"m ich in die Stadt gehe -»das ist auch verschieden (gehe ich)<ich sage das na ja mit die deutschen verständige ich mich gut oder verständige ich mich hm ja ia hm schlecht das sind auch bestimmte Präferenzen die hm ichich mag diesen und mag den anderen überhaupt 150 Mechthild Elstermann 16 IN: ja 17 RY: nicht * abert Zunächst wird die Möglichkeit, die Frage nach der Atmosphäre in den Gesprächen pauschal beantworten zu können, zurückgewiesen: Ob sie harmonisch sind oder nicht, hängt ganz von den jeweiligen Gesprächspartnern ab; persönliche Sympathien bzw. Antipathien werden in Rechnung gestellt: das sind auch bestimmte Präferenzen die ichich mag diesen und mag den anderen überhaupt nicht. Es ist der Normalfall im zwischenmenschlichen Umgang, daß man den einen mehr leiden kann, den anderen weniger und den dritten nicht, ohne daß man diese Sympathien und Antipathien in jedem Fall bis ins letzte erklären könnte oder müßte. Und auf der individuellen Ebene kann man es sich in Grenzen leisten, auch unbegründete, einfach emotional geprägte Klassifizierungen oder Zuschreibungen vorzunehmen. Allerdings kollidiert diese Antwort sowohl mit der Anforderung aus der Fragestellung nach einem überblicksartigen Statement als auch mit der Rolle, die Rysiek innerhalb des Kurses innehat und die ihm verbietet, bei dieser persönlichen Bekundung stehenzubleiben. Zudem hat er sich mit dem Bekenntnis, bestimmte Leute (auch wenn sie nicht genannt werden) überhaupt nicht zu mögen, ziemlich exponiert und ist nun bestrebt, den möglichen Eindruck von Problematik zu relativieren. Das abert, das der persönlichen Bekundung folgt, signalisiert den Wechsel auf eine andere Ebene. Im zweiten Block zieht sich Rysiek auf seine Funktion als Betreuer der deutschen Studentengruppe zurück: Block 2: 17 RY: * abert * wir haben eigentlich * finde ich keine 18 RY: Schwierigkeiten * um sich zu verständigen* daß ich 19 RY: auch (da wiederum) das ich schon gesagt habe 20 RY: daß wir (...) (...) die (...)uns eigentlich ziemlich 21 IN: hm 22 RY: gut deutsche realität kennen also wir können 23 RY: schon verstehen * äh worüber sie sprechen was für 24 IN: hm 25 RY: sie wichtig ist was was für sie unwichtig ist Auffällig sind zunächst die Verzögerungen durch die Pausen und das relativierende eigentlich und finde ich, auffällig ist aber vor allem der Wechsel vom ich zum wir. Während er vorher als Individuum Rysiek sprach, so spricht jetzt der Betreuer als Mitglied einer Betreuergruppe, der versichern will, daß es unabhängig von persönlichen Präferenzen insgesamt keine Probleme mit der Verständigung gibt. Anschließend wird die Begründung dafür, daß es mit der Verständigung doch eigentlich gut klappt, geliefert: Es liegt daran, daß sie, die polnischen Betreu- Über den schwierigen Umgang 151 er, ziemlich gut deutsche realität kennen. Das wird ausgefuhrt in Z. 22-25: also wir können schon verstehen * äh worüber sie sprechen wasfür sie wichtig ist was wasfür sie unwichtig ist. Fazit: Es gibt deshalb keine Verständigungsschwierigkeiten, weil die polnische Seite sich gut auf die deutsche Seite einstellen kann. Auch wenn sich dies zunächst auf die Gastgeberfunktion beziehen läßt in dem Sinne, daß der Gastgeber sich auf seinen Gast einstellt, so indiziert diese Äußerung doch eine Form von Asymmetrie in den Beziehungen: Nur eine Seite weiß, was für die andere wichtig oder unwichtig ist, von der anderen Seite wird das nicht erwartet oder zumindest nicht vorausgesetzt. Wirkliche Verständigung aber, wenn sie denn nicht nur im unmittelbar sprachlichen Sinne des Sich-Einander-Verständlich-Machens gemeint ist, erfordert wenigstens ein Mindestmaß an Gegenseitigkeit im Aufeinander-Eingehen. Im anschließenden 3. Block der Antwort (wiederum ein aber signalisiert den Wechsel) wird die zuvor eingenommene Ebene des quasi offiziellen Betreuerstatements partiell verlassen und eine persönliche Beobachtung eingebracht. Damit wird scheinbar die individuelle Sehweise aus dem 1. Block wieder aufgenommen und präzisiert, indem die persönlich bevorzugten Kontaktpersonen genauer benannt werden. Nicht individuelle Eigenschaften sind es jedoch, die die Präferenzen motivieren, sondern die Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit zu bestimmten ethnischen Gruppen: Block 3: 26 RY: (...) aberwas mir aufgefallen ist daß wir * viel 27 RY: leichter sich mit dem * äh mischformen ^irgendwie# 28 K #LACHEND # 29 RY: verständigen also mit li van mit mit äh jin also mit 30 IN: (ach das meinst 31 RY: diesen leuten die äh irgendwie eine mischuno von 32 IN: du) jetzt aha ja 33 RY: verschiedenen hmhm so eine mischung von 34 RY: verschiedenen (...) also mit anna die ist auch halb 35 IN: hmhm 36 RY: deutsche halb Italienerin (...) jin halb deutsche halb 37 IN: ja ja 38 RY: taiwanesin mit äh fenna halb deutsche halb i/ 39 IN: hm hm 40 RY: iranisch und ich finde es mit diesen leuten * ä 41 RY: verständigen wir uns besser also die * die 152 Mechthild Elstermann 42 RY: atmosphäre ist irgendwie lockerer ** weil ich das äh es 43 IN: hmhm 44 RY: ist sehr schwierig zu sagen waru"m aber man spürt 45 RY: sofort das wenn man mit den deutschen mit mei"sten 46 RY: deutschen auch wenn sie sehr nett sind und sehr 47 RY: freundlich es ist irgendwie immer eine * eine mauer 48 RY: zwischen uns Daß die Ebene des Betreuerstatements nur partiell verlassen wird, zeigt der Gebrauch des wir. Rysiek berichtet weiterhin über das Verhältnis zu den deutschen Studenten als Mitglied der polnischen Betreuergruppe, nicht als Individuum: aberwas mir aufgefallen ist daß wir * viel leichter sich mit dem * äh mischformen irgendwie verständigen. Die allgemeine Aussage des zweiten Blocks, nämlich, daß es keine Schwierigkeiten mit der Verständigung gibt, wird jetzt modifiziert: Verständigung ja, aber viel leichter geht das mit den „Mischformen“, den „Nicht-Ganz-Deutschen“. (Zur Erläuterung: Es gab im Kurs eine Taiwanesin, die für einige Jahre des Studiums in Deutschland lebt; die anderen, die in Z. 29-38 aufgezählt werden, sind Studenten, die in der Bundesrepublik aufgewachsen und sozialisiert sind, deren einer Eltemteil aber Nicht-Deutscher ist.) Bei der anschließenden Erklärung fallen wieder Formulierungsschwierigkeiten auf: ich finde es mit diesen leuten * ä verständigen wir uns besser also die * die atmosphäre ist irgendwie lockerer. Das Indefinitpronomen irgendwie weist auf die Schwierigkeit hin, diesen Tatbestand zu erklären. Nach der längeren Pause wird ein Begründungsansatz versucht, der aber abgebrochen wird: weil ich das äh. Die Schwierigkeit der Begründung wird dann auch metakommunikativ formuliert: es ist sehr schwierig zu sagen waru “m, dann wird mit aber man spürt sofort das das beinahe Naturgegebene dieses Tatbestandes konstatiert: Auch wenn man es nicht erklären kann, es ist da, und zwar nicht nur als individuelle oder kollektive Empfindung; statt ich oder wir wird jetzt man verwendet, was der Aussage einen zusätzlichen Allgemeinheitsgrad verleiht. Und man spürt es nicht einfach nur, sondern man spürt es sofort, das Temporaladverb verhindert die Möglichkeit, daß sich die Situation erst aufbaut und damit evtl, auch steuerbar wird, nein, sie ist einfach sofort da. Die Äußerungseinheit aber man spürt sofort das (Z. 44-45) ist eine Art Gelenkstelle. Retrospektiv verweist sie auf die lockerere Atmosphäre mit den Nicht-Ganz-Deutschen; ihre stärkere Kraft ist wohl aber prospektiv, es wird sofort angeschlossen: wenn man mit den deutschen (Rysiek bleibt bei dem verallgemeinernden man), dann erfolgt eine Einschränkung: mit mei“sten deutschen auch wenn sie sehr nett sind und sehrfreundlich. Es liegt nicht an den äußeren Umgangsformen, die man ja benennen, vielleicht auch kritisieren Über den schwierigen Umgang 153 könnte. Denn obwohl sie auch nett und freundlich sind, es ist - und das ist die Quintessenz es ist irgendwie immer eine * eine mauer zwischen uns* irgendwie und die Suche nach dem passenden Ausdruck verweisen nochmals auf die Schwierigkeit, das Problematische im Umgang miteinander genauer zu benennen. Implizit wird den Deutschen der größere Anteil an der nicht so lockeren Atmosphäre zugeschrieben. Es ist deshalb nicht so locker, weil offenbar bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen der Deutschen das verhindern. Darüber erfolgt aber keine Auseinandersetzung, auch kein Nachfragen seitens des Interviewers, der seinerseits eine andere Erklärung für das Problematische anbietet, indem er mögliche tabuisierte Themen in der polnisch-deutschen Interaktion vermutet, die es in der Kommunikation mit den „Nicht-Deutschen“ vielleicht nicht gibt: 49 IN: hm * habt ihr dann andere themen oder klammerst du dann 50 IN: mit deutschen bestimmte themen aus die du mit anderen 51 IN: besprichst oder ** Durch die Zuschreibung der aktiven Rolle bei der vermuteten Tabuisierung an Rysiek wird die Verantwortung für die Atmosphäre zum Teil wieder an die polnische Seite zurückgegeben. Auf dieses Erklärungsangebot geht Rysiek aber in der nun folgenden Antwort überhaupt nicht ein, sondern versucht, für die vorher aufgestellte Behauptung, daß da immer eine Mauer sei, Evidenzen zu finden. Das tut er in Form einer Belegerzählung (Z. 52-92). Das Allgemeine wird durch ein individuelles Erlebnis gestützt, die Situation beim Sprachunterricht mit einem Spanier beschrieben, in der das Lockere im Vergleich zum Nichtlockeren beim Deutschunterricht bewußt und erfahren wurde: 52 RY: 53 IN: 54 RY: 55 RY: 56 IN: 57 RY: 58 RY: 59 RY: ähmeigentlich ich habe mir eigentlich nicht hm gedanken gemacht woran liegt das weil das ist mir eigentlich erst damals aufgefallen als ich spanisch hm begonnen habe * als ich sofort nach dem deutschunterricht mit einem deutschen zu spanischunterricht mit einem Spanier gegangen bin Helenos Safia, ein Spanier, der seit 30 Jahren in Deutschland lebt, beschreibt diese Distanz mit beinahe den gleichen Worten: „Irgendein Hintergrund bleibt mir unzugänglich, unnahbar, und diese Distanz steht immer wie eine unsichtbare Mauer zwischen den Einheimischen und mir, wie eine Art terra incognita, die sich mir entzieht.“ (Safia 1992, S. 48) 154 Mechthild Elstermann 60 IN: hmhm 61 RY: und #es ist ganz anders hier# ich die atmosphäre 62 K #SZENISCHES SPRECHEN, BESCHWÖREND# 63 RY: ist ganz anders und äh die Leute sind ganz anders 64 RY: obwohl es ist schwierig zu sagen * welche unterschiede 65 IN: hm 66 RY: eigentlich sind sie sind genauso freundlich genauso 67 RY: nett aber ich würde sagen diemit Spanier würde ich 68 RY: schon nach dem ersten unterricht in die kneipe gehen am 69 IN: hm 70 RY: liebsten und brüder/ und brüderschaft trinken oder 71 RY: sowas und mit den deutschen (...) ziemlich lange dauern 72 IN: 73 RY: hm (ein bißchen) abwarten (zunächst) und so ** äh * 74 RY: eigentlich betrachten hm die an/ den anderen mit * 75 IN: hm 76 RY: #(ein bißchen? mit)# Vorsicht (sie sind) immer 77 K #LEICHT LACHEND # 78 IN: 79 RY: vorsichtig ähm * #zurückgezogent# hm ja: zurückhaltend 80 K 81 IN: #FRAGEND hmhm 82 RY: zurückhaltend ja zurückhaltend und es * es ist sehr 83 RY: schwierig die konkre"te unterschiede zu nennen das das 84 RY: ist irgendwie immer ein * gefühl es ist es ist 85 RY: irgendwie lockerer hier- und mit den deutschen ist 86 RY: es nicht so locker und- (echt) schwierig zu sagen warum 87 IN: hmhm 88 RY: weil sie auch #genauso-# so wir sprechen auch äh 89 K #LACHEND # 90 RY: wir diskutieren auch aber- ** mit den mit den leuten 91 IN: hmhm ** 92 RY: aus aus Süden ist es einfacher einfacher Auffällig ist, daß, sobald es um genauere Begründungen geht, wieder Zuflucht in Verallgemeinerungen genommen wird: mit Spanier würde ich schon nach dem ersten unterricht in die kneipe gehen am liebsten und brüder/ und brüderschaft trinken oder sowas und mit den deutschen (...) ziemlich lange dauern (ein bißchen) abwarten (zunächst) und so. Über den schwierigen Umgang 155 Die Erklärungsmöglichkeiten für das Lockere auf der einen Seite und das Nicht-So-Lockere mit den Deutschen werden wieder als schwer faßbar benannt, auch wenn sie in einem kleinen Punkt über das zuvor Gesagte hinausgehen, nämlich in Z. 73-79, wo eine Ursache für den Unterschied im vorsichtigen, zurückhaltenden Verhalten der Deutschen gesehen wird. D.h., die Verantwortung für die Situation wird einer Seite zugeschrieben, ohne in Rechnung zu stellen, daß die Herstellung einer Kommunikationssituation immer ein gemeinsamer Prozeß ist, an der alle Seiten beteiligt sind. Insofern läuft der Erklärungsversuch ins Leere, denn die vermeintlichen Unterschiede lassen sich nur erklären, indem man sich mit der konkreten Situation auseinandersetzt, die Erfahrung genau benennt und sie bearbeitet, nicht extemalisiert. Genau das aber wird nicht geleistet, und so erhält die Argumentation streckenweise vorurteilsbehaftete Elemente. Insgesamt kann man in Rysieks Antwort ein ständiges Schwanken zwischen Individualisierungen und Verallgemeinerungen beobachten, das z.T. das Dilemma in der Interview-Situation widerspiegelt: Das zeitlich limitierte und trotz aller Freundlichkeit doch offizielle Gespräch erfordert implizit zum einen eine Art von „political correctness“, die sich aus den Rollen ergibt und Individuelles von vornherein einordnet in ein übergeordnetes Schema. Gleichzeitig wird nach individuellen Wahrnehmungen gefragt, aber da die individuellen Erfahrungen nicht in das Schema passen, kann über sie wiederum nur in einem abstrakten Sinne gesprochen werden, was zu verallgemeinernden ethnischen Erklärungen führt und damit einen Vorurteilscharakter erhält. Man kann in der Antwort auch einiges über das komplizierte Verhältnis von Vorurteilen und eigenen Erfahrungen beobachten. Vorurteile sind, wenngleich vielfach tradiert und auf verschiedensten Wegen übernommen, trotzdem nicht immer nur abstrakt; sie sind oft verknüpft mit persönlichen Erfahrungen, und das Schwierige besteht genau darin, von diesen persönlichen Erfahrungen nicht wieder zurück in die Vorurteilsstruktur zu fallen, die es dann in neuen Situationen erschwert, andere persönliche Erfahrungen zu machen. Insofern sind Begegnungen zwischen Angehörigen verschiedener Nationen eben nicht per se und von vornherein ein Allheilmittel, um Vorurteile aufzubrechen. Sie müssen ermöglichen, daß über die Dinge, die die Vorurteile ausmachen, detailliert und im Ernstfall auch hart, aufjeden Fall aber offen gesprochen werden kann. Daß dies die Interview-Situation nicht hergibt, muß nicht heißen, daß es in anderen Kurssituationen ebenso wenig möglich war. Vorurteile und mit ihnen die Markierung von Distanz haben bestimmte Funktionen. Unter diesem Aspekt kann man im Aufbau der Antwort ein stufenweises, immer weiteres Sich-Zurückziehen feststellen: Zunächst die Antwort als Individuum, das sich noch verschiedene Empfindungen und Vorlieben gestattet; im nächsten Schritt der Rückzug auf die Funktion, von der ein positives Bild erwartet und auch gegeben wird; dann, da dieses positive Bild den eige- 156 Mechthild Elstermann nen Erfahrungen doch zu sehr widerspricht, die Trennung nach ethnischen Kategorien und schließlich die Verallgemeinerung auf hoher Stufe: Das ist einfach immer so. Interessanterweise wurde die Trennung nach ethnischen Kategorien (Deutsche vs. Nicht-Deutsche) bei der Beurteilung des Verhältnisses auch von einem anderen polnischen Betreuer in einer anderen Interview-Situation mit einem anderen Interviewer vorgenommen. Er sagte: oh ich ich muß zum Beispiel ehrlich sagen, daß ich mehr Kontakte zu den Nichtdeutschen geknüpft habe. So ich verstehe mich besser mit den Chinesinnen, mit der Italienerin haben wir uns auch sehr gut verstanden, aber sie ist nicht mehr da. Es bleibt offen, ob sich die polnischen Betreuer über dieses Phänomen verständigt haben, ebenso, wie bei dem eben erwähnten Betreuer offenbleibt, ob ihm erst im Nachhinein bewußt wurde, daß es zufällig die Nicht-so-Deutschen sind, zu denen der bessere Kontakt da ist. Warum erfolgt die Abgrenzung in dieser Form und mit dieser Vehemenz, ohne daß auf konkrete Begebenheiten Bezug genommen würde? Es ist offenbar so, daß der Rückzug auf Verallgemeinerungen oder Stereotype neben der allgemeinen Aufgabe der Erleichterung der sozialen Orientierung und der Entlastung von Denken und Wahrnehmung auch Schutzfunktionen haben kann. Schutzfunktionen in dem Sinne, daß das Konstatieren von Dingen als gegeben und unabänderlich eine konkrete Auseinandersetzung mit ihren negativen Erscheinungsformen überflüssig macht. So kann man sich vor Verletzungen schützen, sowohl intrapersonal als auch im interpersonalen Kontakt. (Ob dieses Motiv im Kurs eine Rolle spielte, kann natürlich für die konkrete Situation nicht sicher behauptet werden.) Die in diesem Abschnitt analysierte Form des Rückzugs auf Verallgemeinerungen als eine bestimmte Art des Umgangs mit Störendem läßt sich modifiziert auch an anderen Stellen des Materials belegen. Im folgenden soll es um das „Vergleichsverhalten“ der deutschen Studenten im Kurs und vor allem um die Reflexion und Bewertung dieses Verhaltens durch die polnischen Betreuer gehen. 3. Vergleiche oder „alles ist komisch“ Daß man, wird man mit Neuem konfrontiert (und insofern natürlich besonders bei Reisen in ein anderes Land), auch immer Vergleiche anstellt, das Gesehene und Erlebte zu den alten Erfahrungen in Beziehung setzt, ist zunächst ein normaler Vorgang, dem man nicht ausweichen kann. Und da bis zu einem gewissen Grad das Erfahren von Fremdem auch immer verbunden ist mit einem In-Frage-Stellen des persönlichen Erfahrungshorizonts, werden Vergleiche geradezu herausgefordert. Entscheidend ist, wie das Resultat des Vergleichs sich „entäußert“, d.h. in welcher Konstellation, in welchem Rahmen und mit welcher Bewertung verglichen wird. Vergleichen heißt nicht sofort auch bewerten, ist aber sehr oft Über den schwierigen Umgang 157 miteinander verknüpft. Daß es da in deutsch-polnischen Begegnungen oft problematisch wird, kommt in unseren Materialien an verschiedenen Stellen zum Ausdruck. Natürlich kann es nicht darum gehen, jegliches Vergleichen bzw. das Reden darüber von vornherein zu vermeiden, wenngleich möglicherweise es manchen Deutschen besonders schwerzufallen scheint, das Andere einfach als das Andere hinzunehmen. Gesprochen werden soll und muß auf jeden Fall darüber, wenn das Bedürfnis danach besteht und wenn man es mit dem Austausch ernst nehmen will. Offenbar ist es aber schwierig, dies auf eine Weise zu tun, die nicht verletzend ist (vgl. dazu auch Ricarda Wolf in diesem Band). Die in diesem Abschnitt analysierten Ausschnitte sind einem Interview entnommen, das mit zwei anderen der vier polnischen Betreuerstudenten (Janusz und Anita) geführt wurde. Es unterscheidet sich vom vorigen durch die personale Konstellation, die mit zwei Interviewten etwas mehr einen Gesprächscharakter erzeugt. Was die bisherigen Kontakte der beiden Studenten zu Deutschen betrifft, so waren beide in ihrer Schulzeit zu Ferienlageraufenthalten in der DDR (zuletzt im Sommer 1989). 5 Janusz war außerdem als Schüler für zwei Wochen in der Bundesrepublik, um einen Bekannten zu besuchen. Darüber hinaus leistet er ähnlich wie Rysiek - Übersetzer- und Dolmetscherdienste für Firmen mit Wirtschaftsbeziehungen nach Deutschland. Beide Studenten sehen die Bedeutung des Kurses vor allem darin, Kontakte zu knüpfen. Im Interview spielt das „Vergleichs-Verhalten“ der deutschen Studenten an mehreren Stellen eine Rolle. Zunächst wird auf das nach Meinung der Betreuer unangemessene „Gäste“-Verhalten der deutschen Studenten hingewiesen und auch explizit bewertet: 5 Organisierten Jugendaustausch hat es zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen seit den 60er Jahren auf verschiedenen Ebenen gegeben. Dieser Austausch wurde durch ein Regierungsabkommen, von Erich Honecker und Wojciech Jaruzelski im Jahr 1983 unterzeichnet, forciert, in dessen Folge jedes Jahr ca. 300.000 polnische Jugendliche in die DDR und etwa 100.000 Deutsche nach Polen fuhren. Inwieweit der Austausch (in Polen z.T. abschätzig als „Honecker-Hilfe“ bezeichnet) in dieser Phase der politischen Entwicklung noch zur gegenseitigen Verständigung beigetragen oder eher vorhandene Vorurteile bestärkt hat, läßt sich in dieser Verallgemeinerung nicht definitiv sagen; Tatsache ist, daß es hier ganz verschiedene individuelle Erfahrungen und Beurteilungen gegeben hat und die Erinnerungen des einzelnen an diese Begegnungen wiederum von sehr unterschiedlichen Faktoren abhängig waren. Interessant ist das Verhältnis des Austauschs (1: 3). Auch zu DDR-Zeiten galt der Tendenz nach, daß „die Jugend dem jeweils östlichen Nachbarn immer den Rücken weist“ (Hirsch. In: Dialog 1995, S. 38). Trotz erheblicher politischer Einschränkungen im Reiseverkehr war Polen für DDR-Bürger nie ein Touristik-Ziel größeren Ausmaßes (im Gegensatz zur Tschechoslowakei, Ungarn oder Bulgarien), sondern auch damals eher ein Geheimtip für Kenner und Liebhaber. 158 Mechthild Elstermann (AN = Anita, JA = Janusz, IN = Interviewer) JA: viele deutsche wissen sich einfach nicht zu benehmen zum IN: jal JA: beispiel in der Straßenbahn machen sie sich lustig über JA: die alten Straßenbahnen net und sie und viele polen IN: jai JA: verstehen deutsch und das ist äh nicht angebracht glaub JA: ich Die deutschen Studenten werden in ihrem „Vergleichsverhalten“ nachgeahmt: AN: ial JA: guck mal wie das au"sschaut (.••) bei uns ist das so IN: ja! AN: bei u"ns ist so und bei euch JA: und so iai bei uns iai hmhmi IN: jai Nach einigen thematischen Nebensequenzen wird die Vergleichs-Thematik wieder aufgenommen. Die Wiederaufnahme erfolgt nicht in einer Gesprächspause, sondern unterbricht beinahe die vorhergehenden Ausführungen des Interviewers. Entweder diese sollen abgebrochen werden, oder, was wahrscheinlicher ist: Es ist mit dem Vergleichen ein Thema angesprochen worden, das bewegt, dem man nachhängt und zu dem noch etwas gesagt werden soll. 01 AN: LACHT 02 JA: alles ist komisch #zum beispiel# die die * lautsprecher 03 K #LACHEND # 04 JA: an den Straßen #die sind hier so groß und bei uns sind 05 K #NACHAHMENDES, LEIERNDES SPRECHEN 06 AN: 07 JA: 08 K 09 IN: die LACHT so klein net# # ±a ja also das ständige vergleichen also 10 AN: ja: mhm mhm 11 JA: ja ja mhm mhm 12 IN: das ständige in bezug setzen also zu dem eigenen net 13 IN: also das nicht die Sachen als gegeben mal so hi"nnehmen 14 JA ja ja: es wird immer wieder verglichen 15 IN: das is- * hm hm 16 AN: # # aber das stört uns nicht * wir lachen darüber 17 IN: #*5,5*# 18 K& #TÜRENQUIETSCHEN# Ober den schwierigen Umgang 159 19 AN: LACHT 20 JA: LACHT na ia lachen- 21 IN: ihr kommt damit also ihr seid nicht ihr seid 22 AN: j a 23 JA: 3 a 24 IN: nicht betroffen jetzt ihr kommt schon schon damit äh 25 JA: 26 IN: zurecht net hm *6,5* es ist komisch daß man bei uns nein eigentlich nicht hm 27 AN: ja: LACHT 28 JA: in den discos in paaren tanzt nicht alleine wie in 29 JA: deutschland das ist schon aus der mode * 30 IN: 3 a aber d te 31 AN: # # iä ja 3 a 32 JA: # # ja lä 33 IN: mode bestimmen #sie" net# also es is es is- * 34 K& #LACHEN # 35 AN: aber die mode kommt manchmal #zurück# *2,7* 36 IN: # # aber ihr * 37 RS, #LACHEN# 38 IN: ihr könnt darüber lachen also es macht euch nicht 39 AN: hmhmi 40 JA: 41 IN: traurig in dem sinne odert 42 AN: das sch/ stört mich persönlich überhaupt nicht LACHT 43 AN: ** 44 JA: na wir sind auch daran gewöhnt weil wir * ziemlich 45 IN: und 46 JA: oft besuchet aus deutschland bekommen und * und wir 47 JA: hören immer wieder sowas also wissen wir * 48 IN: ^ha Der Ausschnitt beginnt mit einem Quasi-Zitat. Mit alles ist komisch wird das Vergleichsverhalten der deutschen Studenten zusammengefaßt. Gleichzeitig kommt an dieser Stelle partiell ein Wertungsaspekt hinein: Wenn etwas komisch ist, ist es zwar einerseits erheiternd und lustig, aber eben auch merkwürdig und eigenartig. Das Beispiel, das jetzt angeführt wird, fällt auf durch die Art seiner Auffüllung: zum beispiel die die * lautsprecher an den Straßen die sind hier so groß und bei uns sind die so klein. 160 Mechthild Elstermann Entscheidend ist hier nicht der objektive Sachverhalt es ist fraglich, ob die Lautsprecher überhaupt eine Entsprechung in den Gesprächen hatten, da sie gewöhnlicherweise weder in deutschen noch in polnischen Städten in den Straßen plaziert sind sondern die Konstruktion. Sie entspricht genau der in der oben erwähnten Nachahmungssequenz „bei uns ist es so und hier ist es so“ und ist beliebig auffiillbar. Gerade um die Beliebigkeit geht es: Entscheidend ist offenbar nicht, was verglichen wird, sondern daß überhaupt soviel verglichen wird. Der Bewertungsaspekt spielt an dieser Stelle nur eine vermittelte Rolle. „Groß“ und „klein“ sind zunächst sachliche Attribute bzw. Zuschreibungen und gewinnen erst in der Kombination mit Technik eine Bewertungskomponente in dem Sinne, daß in der Regel die „kleinere“ Technik dem höherentwickelten Stand entspricht. Insgesamt bleibt aber der Bewertungsaspekt der zentrale Punkt im Vergleichsverhalten, der latent immer vorhanden ist. Der Interviewer faßt im folgenden das Vergleichsverhalten zusammen und konnotiert es durch die Attribuierung mit „ständig“: also das ständige vergleichen also das ständige in bezug setzen also zu dem eigenen ne t. Eine Tätigkeit oder ein Verhalten mit dem Attribut „ständig“ zu versehen, bedeutet nicht in jedem Fall, aber oft eine Pejoration. Bewertet wird daran das Monotone, das Immer-Wiederkehrende. Und verstärkt wird die Bewertung durch den Ausdruck eines möglichen angemesseneren Verhaltens (in der Negation): also das nicht die Sachen als gegeben mal so hi “nnehmen. Diese Zusammenfassung des Interviewers wird durch mehrere Hörerrückmeldungssignale bestätigt (Z. 6-11). Interessant ist der letzte Teil der zusammenfassenden Äußerung des Interviewers: das ist- * hm. An der Stelle, wo der Rahmen für eine explizite Bewertung des Vergleichsverhaltens eröffnet wird, erfolgt ein Expansionsverzicht, d.h. das entsprechende Bewertungsadjektiv, das an dieser Stelle erwartbar gewesen wäre (unhöflich, taktlos etc.) wird nicht ausgesprochen. Daß dieser Rahmen aber aufgespannt bleibt, zeigt der Fortgang des Gesprächs. Janusz paraphrasiert die Äußerungen des Interviewers: es wird immer wieder verglichen. Der Ist-Zustand wird damit noch einmal festgestellt und durch ein Rückmeldesignal des Interviewers bestätigt (Z. 14-15). Nach einer längeren Pause (Z. 17) schließt Anita an die Konstatierung dieses Zustandes wie folgt an: aber das stört uns nicht * wir lachen darüber. Die vorher vorgenommenen, wenn auch nicht explizit ausgefuhrten Bewertungen der Tatsache, daß immer wieder verglichen wird, lassen offensichtlich eine bestimmte Art des Umgangs damit, des Betroffenseins davon, erwarten, d.h. man könnte annehmen, daß das Verhalten der deutschen Studenten in einer bestimmten Art Auswirkungen auf das Befinden der polnischen Studenten hat, ohne daß das bisher direkt thematisiert worden wäre. Über den schwierigen Umgang 161 Dieser Annahme beugt Anita mit aber das stört uns nicht prospektiv vor. Daß sie trotzdem bearbeitet wird, zeigt die kontextuelle Einbettung der Kernaussage das stört uns nicht. Zum einen ihre Anbindung mit aber. Dadurch erhält die Äußerung den Status des hochgestuften Fokus-Teils einer Zwar-aber-Struktur: es ist zwar so, daß ... und man könnte daher annehmen, daß ..., aber das ist nicht so. Zum anderen der Anschluß an die Kemaussage: wir lachen darüber. Das heißt, unsere Art des Umgangs mit dem Vergleichsverhalten besteht im Lachen darüber, egal, was man sonst vielleicht annehmen könnte. Das heißt aber auch, daß das Verhalten der Studenten in irgendeiner Art einen Umgang damit erforderlich macht, daß man nicht völlig unberührt davon sein kann. Durch den folgenden gleichzeitigen Einsatz von Janusz und dem Interviewer (Z. 20-21) geht der schwache Widerspruch zur Aussage von Anita, daß das Lachen darüber die gemeinsame Art des Umgangs mit dem Vergleichsverhalten ist, beinahe unter: na ja lachen-. Diese Aussage signalisiert implizit, daß das Lachen nicht die einzige und nicht die von allen polnischen Studenten geteilte Form der Reaktion auf das Vergleichsverhalten ist. In der an Anitas Äußerung anschließenden (und sie gewissermaßen reformulierende) Feststellung des Interviewers, die einigen Formulierungsaufwand (Abbruch, Wiederholung, Wortsuche) aufweist, wird die vorher nur angenommene, aber noch nicht ausgesprochene mögliche andere Auswirkung des Vergleichsverhaltens in der Negation verbalisiert: ihr kommt also ihr seid nicht ihr seid nicht betroffen jetzt ihr kommt schon schon damit äh zurecht. Diese Feststellung hat eine Parallelstruktur in Bezug auf die Äußerung von Anita und korrespondiert in ihren beiden Bestandteilen mit den Bestandteilen der Vorgängeräußerung (Anita: das stört uns nicht * wir lachen darüber, Interviewer: ihr seid nicht betroffen (...) ihr kommt damit zurecht). Das Nichtbetroffensein wird von beiden Studenten bestätigt (Z. 22-23). Daß die jeweils einzelnen ja eine ganz andere Qualität haben als die zustimmenden mehrfachen jas bei der vorhergehenden Intervieweräußerung und eher etwas erleichtert wirken, geht nicht aus dem Transkript hervor, sondern läßt sich nur als Höreindruck konstatieren. Die Tatsache, daß nach der längeren Pause das Vergleichsthema wieder aufgenommen wird, obwohl es eigentlich schon abgeschlossen war, kann in mindestens zwei Richtungen interpretiert werden: Zum einen, daß man, quasi als Pausenfuller etwas wieder aufnimmt, weil sich einfach nichts anderes gefunden hat und das letzte sowohl thematisch wie strukturell noch frisch und abrufbereit ist, zum anderen als Indiz dafür, daß das Thema vielleicht doch noch nicht erschöpfend behandelt worden war, daß irgendetwas offengeblieben ist. Die folgende „Disco-Sequenz“ bezieht sich auf den gemeinsamen Besuch einer Discothek zwei Abende zuvor. Wieder wird das gleiche Muster verwandt, der anfangs gesetzte Rahmen refokussiert: es ist komisch daß man bei uns in den 162 Mechthild Elstermann discos in paaren tanzt nicht alleine wie in deutschland das ist schon aus der mode. Diesmal ist der Bewertungsaspekt expliziter: In den Discos geht es nicht einfach anders zu, sondern rückschrittlicher und korrespondiert so mit anderen Bewertungskonstellationen, wie z.B. mit der oben erwähnten Straßenbahn- Sequenz. Die folgende Äußerung des Interviewers hat eine ähnliche Struktur wie seine Äußerung in Z. 9-14: ja aber die mode bestimmen sie “ net also es is es is-. Es wird wieder auf das Verhalten der Deutschen Bezug genommen, den eigenen Horizont zum Maß aller Dinge zu machen, und es wird die eigentliche Bewertung dieses Verhaltens (wie in Z. 15) wieder ausgespart. Auffällig ist hier der Fratemisierungsversuch (wir und sie), der aber zurückgewiesen wird. Mit ja aber die mode kommt manchmal zurück verweist Anita darauf, daß diese Form von Unterstützung für nicht nötig erachtet wird. Das vom Interviewer eingebrachte Konzept von Mode als einem Konzept, in dem konkrete Aktanten etwas durchsetzen wollen, wird umgewandelt zu einem aktantenunabhängigen Konzept, das keinem gehört und das jeden mal in den Genuß der Akteursrolle bringen kann. Ihre Formulierung erinnert etwas an solche Wendungen wie die von den Letzten, die die Ersten sein werden oder auch an den zuletzt Lachenden, der am besten lacht. Nachdem die Disco-Sequenz abgeschlossen ist, startet der Interviewer noch einmal eine Frage nach dem Betroffensein: aber ihr * ihr könnt darüber lachen also es macht euch nicht traurig in dem sinne odert. Wieder ist es die gleiche zweiteilige Konstruktion. Auch hier gilt möglicherweise das von der noch abrufbereiten Struktur bei der Themensuche. Anita antwortet zunächst mit einem verneinenden hmhm, darauf folgt Janusz mit dem relativierenden eigentlich nicht. Die Studentin wiederholt ihre Verneinung, nimmt dann möglicherweise auf das zögernde eigentlich ihres Kommilitonen Bezug, indem sie ihre nächste Äußerung als ihre persönliche Meinung deklariert: das stört mich persönlich überhaupt nicht. Nach einer Pause liefert Janusz eine Erklärung für das Nicht-Betroffensein, und diese besteht in der Vertrautheit mit diesen Verhaltensweisen: na wir sind auch daran gewöhnt weil wir * ziemlich oft besucher aus deutschland bekommen und * und wir hören immer wieder sowas also wissen wir. Interessant ist an dieser Äußerung der Abschluß. Er weist einen deutlichen Expansionsverzicht auf: An der Stelle, wo Janusz seine Bewertung formulieren könnte, wird die Äußerung abgebrochen. Hier findet ein resignatives Zurückziehen statt. Man gesteht sich die Verletzungen nicht ein, läßt sie nicht an sich herankommen, setzt sich nicht in der jeweiligen Situation mit den als unangemessen empfundenen Verhaltensweisen auseinander. Die anderen sind Über den schwierigen Umgang 163 eben so, also lassen wir sie machen: Rückzug auf Verallgemeinerungen als Schutz vor Betroffenheit. Hier werden Asymmetrien deutlich. Man kann sie zu einem guten Teil aus der Gastgeber-Rolle erklären. Sie lassen sich aber nicht darauf reduzieren. Darüber hinaus ist es nicht zu vermeiden, daß es in Begegnungssituationen von Menschen verschiedener Nationen immer auch zu Ärgernissen kommen kann, die eben weil sie in dieser Konstellation passieren - „ethnisch aufgeladen“ werden. D.h., ein unhöfliches Verhalten z.B. in der Rolle als Gast oder als Gastgeber wird dann in erster Linie in ethnischen Kategorien wahrgenommen (die Deutschen sind ... statt X und Y sind ...). Diese Wahrnehmung zeigt sich möglicherweise in folgendem Ausschnitt, auch wenn sie nicht direkt ausgesprochen wird. Er stammt aus dem letzten Teil des Interviews, schließt thematisch an die Aufzählungen des Vergleichsverhaltens an und ist in seiner Bewertung wieder ähnlich explizit wie das Straßenbahn-Beispiel am Anfang. 01 JA: und auch noch was das essen anbetrifft * da sind 02 JA: manche (unmöglich) wählerisch * sie sind hier zu gast 03 JA: und ich glaube sie sollen das akzeptieren was gegeben 04 AN: iai zuviel fleisch- 05 JA: wird ** zumal auch ja ja zu viel fleisch zu viel fett 06 JA: während in Deutschland auch sehr viel fleisch gegessen 07 JA: wird * das hab ich feststellen können Das und auch noch (Z. 1) stellt die Verbindung zum Vergleichsthema explizit her. Die Einschätzung von Janusz (Z. 1-5) wird von Anita durch ein ja (Z. 4) bestätigt. Während Janusz danach in seiner Argumentation fortfahren will, exemplifiziert Anita Januszs Aussagen, indem sie das als zu wählerisch bewertete Verhalten konkret benennt zuvielßeisch. Janusz greift diese Exemplifizierung auf (Z. 5) und baut sie in seine Argumentation über das Unangemessene des Verhaltens ein. Das Zusammenspiel der beiden polnischen Studenten bei dieser Argumentation läßt darauf schließen, daß sie die geschilderte Situation gemeinsam erlebt und/ oder ähnlich bewertet, sich möglicherweise auch schon vorher als Betreuer darüber verständigt haben. 4. Exkurs: Schwierigkeiten im Umgang mit der Vergangenheit Wenige andere Völker haben eine so lange und so facettenreiche gemeinsame Geschichte der Verstrickungen wie Polen und Deutsche, wobei der faschistische Überfall und die Ausrottungs- und Vemichtungspolitik in Polen in den Jahren 1939-1945 zweifellos den traurigen Höhepunkt darstellt. Daß diese gemeinsame problematische Vergangenheit die Kommunikation zwischen polnischen und deutschen Studenten auch in der Gegenwart beeinflussen würde, hatten wir zwar antizipiert, diesen Einfluß aber doch anders vermutet. Auf dem vielfältigen Exkursionsprogramm des Sommerkurses stand auch eine Besichtigung der Konzentrationslager von Auschwitz und Birkenau. In den Anfangsüberlegungen zu unserem Projekt waren wir davon ausgegangen, daß 164 Mechthild Elstermann der Auschwitz-Besuch eine Reihe von Diskussionen auslösen, quasi als karthatisches Ereignis wirken würde, so daß man, wenn nicht schon vorher, so doch spätestens danach über alles offen reden könne. Diese Annahme hat sich so nicht bestätigt. Polnische Kollegen berichteten von eher gegenteiligen Erfahrungen in anderen Kurssituationen, wo ein zunächst entspanntes und unkompliziertes Verhältnis zwischen polnischen und deutschen Jugendlichen nach dem Besuch eines KZ gestört und verkrampft wurde; ein Zeichen dafür, daß es offenbar immer noch schwierig ist, miteinander einen angemessenen Umgang mit diesem Thema zu finden. Was nun den Auschwitz-Besuch während des von uns untersuchten Sommerkurses betrifft, so führte er zwar nicht zu Kommunikationsstörungen im eben erwähnten Sinne, war aber auch nicht frei von Irritationen; er trug sowohl Elemente der Verweigerung in sich, als auch Enttäuschungen über diese Verweigerung und war also in jedem Fall ein problematisches Ereignis. Er war eingebettet in eine Drei-Tage-Exkursion nach Krakau; am dritten Tag ging es über Auschwitz zurück nach Poznan („Wenn man schon in Krakau ist, kann man auch Auschwitz besichtigen“ war ein gehörtes Argument seitens der Kursleitung). Während der ganzen Zeit der Exkursion und schon Tage vorher lag der geplante Auschwitzbesuch manchen der deutschen Teilnehmer wie ein Stein im Magen, war als ein unangenehmes Ereignis im Bewußtsein, das aber irgendwie absolviert werden müsse. Manche äußerten offen, daß sie da eigentlich nicht hinwollten. Vier der Teilnehmer (zwei andere hatten den Kurs schon vorher verlassen) kamen dann auch tatsächlich nicht mit, sondern zogen es vor, den Sonntag noch in Krakau zu verbringen. Die Begründungen reichten von „das will ich mir lieber mal allein ansehen oder mit Freunden mit denen ich hinterher darüber reden kann“ (die Gruppe des Kurses bot diesen Gesprächsrahmen offenbar nicht) über „ich wollte mir einfach noch ein bißchen Krakau angucken, wer weiß, wann man mal wieder herkommt“ bis zu der auf den ersten Blick vielleicht einleuchtenden, auf den zweiten jedoch auffälligen Erklärung „ich war schon mal da“. Dieses Argument wäre bei anderen Zielorten sicher nicht ohne weiteres hervorgebracht worden. Das Sich-Entziehen wurde vom größeren Teil der Gruppe, auch von den polnischen Teilnehmern, offenbar als normal empfunden und nicht kommentiert bzw. kritisiert. Für die polnische Kursleiterin, die so einen Besuch im Rahmen eines Sommerkurses schon zum dritten oder vierten Mal durchführte, war der Tag eine große Anstrengung. Sie erklärte auf eine entsprechende Frage, daß sie wenn sie das Kursprogramm zusammenzustellen hätte - Auschwitz aus dem Programm herausnähme. Und sie vermutet auch bei den deutschen Teilnehmern, denen am Ende des Kurses immer ein anonymisierter Fragebogen vorgelegt wird, wo auf die Frage, ob Auschwitz im Programm bleiben solle, stets mit Ja“ geantwortet wird, eine reine Form der Höflichkeit, den Druck, eine Antwort zu geben, die von ihnen erwartet wird, aber kein echtes Bedürfnis. Sie hält das In- Über den schwierigen Umgang 165 sistieren auf der Vergangenheit auch in anderen Kontexten für übertrieben und ist dagegen, daß damit wie sie meint den Deutschen ein schlechtes Gewissen eingeredet werde. In ähnlichem Sinne äußerte sich eine polnische studentische Betreuerin in einem Interview: ich mag nicht über die Vergangenheit sprechen [...] wir müssen an die zukunft denken. Volker v. Tome sagte vor fast einem Vierteljahrhundert, im Februar 1971, wenige Wochen nach der Unterzeichnung des Vertrages über die Normalisierung der Beziehungen zwischen der BRD und Polen auf einem Kongreß in Frankfürt am Main, „daß eine nur touristische deutsch-polnische Jugendbegegnung, die sich unter Vernachlässigung der historischen Schuldzusammenhänge in den deutsch-polnischen Beziehungen nur auf die Diskussion gegenwärtiger Probleme beschränkte, wahrscheinlich nicht der Verständigung dienen, sondern zu neuen Mißverständnissen führen, Klischeevorstellungen konservieren und geschichtlich bereits ad absurdum geführte Fehlhaltungen erneut hervorbringen würde“ (Tome 1981, S. 24). In jüngerer Zeit hört man eher andere Töne. So wird in einer Liste von Vorschlägen für den Ausbau der Begegnungen im deutsch-polnischen Grenzgebiet darauf verwiesen, „daß der historisch-moralische Zeigefinger in den Begegnungen vermieden werden muß, um die Attraktivität der Begegnungen für die deutschen wie die polnischen Jugendlichen zu vergrößern.“ (Dialog 95-1, S. 71). Auch Julian Bartoszewski als polnischer Außenminister äußerte sich in seiner Rede vor dem deutschen Bundestag (Mai 1995) in diesem Sinne, als er davon sprach, daß die historische Reflexion die deutsch-polnischen Beziehungen zwar begleiten solle, aber nicht die Hauptmotivation sein dürfe, sondern den Weg bereiten solle für die Gegenwart und für die Zukunft (vgl. Dialog 95-1, S. 28). Es besteht offensichtlich ein Widerspruch (oder eine Diskrepanz) zwischen der oft geäußerten Haltung, daß die Vergangenheit vorbei und vergessen sei, daß es auf die Gegenwart und Zukunft ankäme, und der doch latenten Präsenz dieser Vergangenheit. Auch wenn man sich Polen nur touristisch nähert, wird man ständig an die Vergangenheit erinnert, u.a. bei landeskundlichen Fühmngen (vgl. dazu z.B. Schmitt diesem Band). Wie präsent sie ist, zeigte sich auch in einigen Bezugnahmen der polnischen Presse auf den oben erwähnten Vorfall in Frankfürt („Auschwitz an der Oder“). Ob angemessen oder nicht sei dahingestellt; es beweist nur einmal mehr, daß man nicht so tun kann, als hätten die deutsch-polnischen Beziehungen erst 1989 angefangen. Offenbar ist es nach wie vor schwierig, die Balance zwischen einer angemessenen Bearbeitung der gemeinsamen schwierigen Vergangenheit und der Orientierung auf eine gemeinsame Zukunft im vereinten Europa zu finden. Zu vieles steht noch dazwischen. 5. Fazit Deutsch-polnische Begegnungen innerhalb eines offiziellen Kontextes so wie es der von uns untersuchte Kurs einer war stellen gleichermaßen einen Rah- 166 Mechthild Elstermann men dar für den Abbau vorhandener Vorurteile, den Aufbau neuer Vorurteile und die Bestätigung bereits vorhandener Vorurteile. Diese Prozesse können zudem, auch wenn es paradox klingt, in einer Person und nahezu gleichzeitig ablaufen. Entscheidend ist, daß Möglichkeiten für Individualisierungen geschaffen werden. Wie diese Möglichkeiten dann genutzt werden und welche Auswirkungen sie haben, hängt von verschiedensten, nicht vorhersehbaren und nicht bis ins Letzte beeinflußbaren Faktoren ab. Uta Quasthoff hat überzeugend dargelegt, daß es zwischen den sogenannten positiven oder harmlosen Stereotypen von der Art „Italiener sind musikalisch, Südländer sind lebensfroh, Frauen sind gefühlsbetont“ und den „gefährlichen“ Stereotypen keinen qualitativen, sondern nur einen graduellen Unterschied gibt, zumal die sogenannten positiven Stereotype schnell in negative Umschlagen können (lebensfroh vs. verantwortungslos) und zudem immer negative Stereotypen für andere Gruppen implizieren (vgl. Quasthoff 1988, S. 47f). Hubert Orlowski äußert sich in ähnlichem Sinne, wenn er in seiner umfassenden Analyse des Stereotyps von der polnischen Wirtschaft darauf hinweist, daß Fremdstereotype immer auch Spiegelbilder von Eigenstereotypen seien (Orlowski 1994). Stereotype Zuschreibungen werden sich eingedenk der vielfältigen Funktionen von Stereotypen (Informationsverarbeitung, Gruppenbildung etc.) nicht grundsätzlich verhindern lassen; wichtig ist es, sich ihrer bewußt zu sein. Daß einen auch das zeitweilig nicht davor bewahrt, in vorurteilsbehaftete Strukturen hineinzugeraten, hat die Analyse des Interviewausschnittes mit Rysiek gezeigt. Die Forderung bzw. der Appell, Verhaltensweisen im Positiven wie im Negativen als individuelle wahrzunehmen und sich nicht durch vorschnelle Stereotypisierungen die Sicht auf den anderen einzuschränken, kann allerdings nicht bedeuten, sich nun jeglichen nationalen Blickwinkels zu enthalten und so zu tun, als spiele es überhaupt keine Rolle, woher jemand kommt bzw. wo man sich gerade befindet. Das hieße, einen neuen Ethnozentrismus zu produzieren, der neue Enttäuschungen zur Folge haben kann. Als Beispiel hierfür sei die Erzählung eines deutschen Kursteilnehmers über einen gemeinsamen Segelurlaub deutscher und polnischer Jugendlicher angefügt, die belegt, daß es schnell zu Mißstimmungen kommen kann im Umgang miteinander und so den eigentlichen Absichten der Verständigung zuwiderläuft, wenn der nationale Hintergrund und die damit verbundenen sozialökonomischen Gegebenheiten, aus denen handfeste Interessengegensätze resultieren können, im gemeinsamen Umgang ignoriert werden: Wenn ich mal vom äh Segelurlaub den ich jetzt hatte an den masurischen Seen erzähle, da kannten die Polen natürlich äh die ganzen Häfen und so weiter und haben wirklich, also das hat uns zum Teil schon geärgert, um immer um die Häfen, wo man schön bequem liegen könnte, wo man was so einkaufen oder n Lokal in der Nähe hatte, immer regelrecht rumdirigiert, weil sie eben nicht das Ober den schwierigen Umgang 167 Geld ausgeben wollten ja und wir uns eben auch mal ins Lokal setzen wollten und so, oder mal vernünftig Lebensmittel einkaufen wollten. Von vornherein die eigenen Maßstäbe (und Möglichkeiten) als die selbstverständlichen vorauszusetzen, ist dabei ebenso falsch wie die Annahme, es würde sich alles schon von allein regeln. Hier sind Kompromisse gefordert, die nur über eine interaktive Aushandlung herzustellen sind. Das verlangt aber auch, daß die Dinge benannt und diskutiert werden. Derartige Irritationen hat es im Kurs vordergründig nicht gegeben, jedoch ist auch die Thematisierung von mit Geld zusammenhängenden Begebenheiten beobachtet worden. So hat jemand aus der polnischen Betreuergruppe verweigert, sich das Bier von einem deutschen Teilnehmer bezahlen zu lassen, weil unmittelbar zuvor über polnische Gehälter geredet worden war und da ganz bewußt kein Zusammenhang hergestellt werden sollte; diese Verweigerung rief dann wiederum Unverständnis und den heimlichen Vorwurf der Überempfindlichkeit auf der deutschen Seite hervor usw. Letztlich waren in diesen vier Wochen sehr verschiedene Menschen aus Kiel, Hannover, Berlin und anderswo in Poznan zu Gast und haben mit verschiedenen polnischen Studenten, Lehrkräften und anderen Leuten zu tun gehabt. Jeder von ihnen hat etwas anderes aus diesen Begegnungen mitgenommen und in Erinnerung behalten. Mit der Einschätzung von Janusz können sich vielleicht alle einverstanden erklären, sie soll auch das abschließende Fazit für Kurse dieser Art sein: obwohl nicht alles problemlos ist trägt das immerhin zur Verständigung bei. 6. Literatur Dialog. Deutsch-polnisches Magazin. Magazyn polsko-niemiekki. Nr. 1, Juni 1995. Grucza, Franciszek (Hg.) (1994): Vorurteile zwischen Deutschen und Polen. Materialien des deutsch-polnischen wissenschaftlichen Symposiums 9.-11. Dezember 1992, Görlitz - Zgorzelec. Warszawa. Grucza, Franciszek (1994): Über Stereotypen, ihre Einbindung in die Wissenschaft und über die Notwendigkeit einer neuen Sicht. In: Ders. (Hg ): Vorurteile zwischen Deutschen und Polen. Materialien des deutsch-polnischen wissenschaftlichen Symposiums 9.-11. Dezember 1992, Görlitz - Zgorzelec. Warszawa. S. 194-202. Ortowski, Hubert (1994): „Polnische Wirtschaft“: Zur Tiefenstruktur des deutschen Polenbildes. In: Harth, Dietrich (Hg.): Fiktion des Fremden. Erkundung kultureller Grenzen in Literatur und Publizistik. Frankfurt a.M. Prokop, Izabela (1993): Polenstereotyp Anno Domini 1991. In: Darski, Jozef/ Vetulani, Zygmunt (Hg.): Sprache- Kommunikation - Informatik. Akten des 26. Linguistischen Kolloquiums. Poznan 1991. Tübingen. Quasthoff, Uta (1988): Ethnozentrische Verarbeitung von Informationen: Zur Ambivalenz der Funktionen von Stereotypen in der interkulturellen Kommunikation. In: Matusche, Petra (Hg.): Wie verstehen wir Fremdes? Aspekte zur Klärung von Verstehensprozessen. Goethe-Institut. München. Safia, Helenos (1992): Die verklemmte Nation. Zur Seelenlage der Deutschen. Frankfurt a.M. 168 Mechthild Elstermann Tome, Volker von (1981): Zwischen Geschichte und Zukunft. Aufsätze, Reden, Gedichte. Berlin. Tycner, Janusz (1995): Alte Vorurteile rosten nicht. In: Die Zeit Nr. 27, 30.6.1995. Wintermantel, Margret (1994): Stereotype und Vorurteile aus sozialpsychologischer Sicht. In: Grucza, Franciszek (Hg.): Vorurteile zwischen Deutschen und Polen. Materialien des deutsch-polnischen wissenschaftlichen Symposiums 9.-11. Dezember 1992, Görlitz - Zgorzelec. Warszawa. S. 83-91. Bozena Chohij Gemeinschaft durch Reduktion. Über die Rolle der Stereotype bei interkulturellen Erstkontakten Abstract: Den Ausgangspunkt meiner Ausführungen bildet die These, daß Gemeinschaften sowohl eine konsolidierende als auch eine ausschließende Funktion erfüllen. Solche Gemeinschaften entstehen auch in Gesprächen zwischen den Vertretern unterschiedlicher Kulturen bei Erstkontakten. Sie werden mit Hilfe von Stereotypen aufgenommen, die sich auf Kulturen der Gesprächspartner als etwas Drittes beziehen. Das Einflechten von Stereotypen in Gesprächen dient auch in den kulturell relativ homogenen Gemeinschaften zur Erkundung von Grenzen der Vertrautheit, zur Bildung eines thematischen oder auch symbolischen Gesprächsraums. Die Berücksichtigung dieser gemeinschaftsbildenden Funktion der Stereotype bei Erstkontakten läßt die Gefahr vermeiden, sie bei der Kommunikationsanalyse zu reproduzieren. Sie eröffnet auch den Weg zur Analyse der Beständigkeit von Stereotypen trotz interkultureller Kontakte. Wir sind gewohnt, das Wort Gemeinschaft positiv zu verstehen. Seit Ferdinand Tönnies (1855-1936) wird sie im Gegensatz zu „Gesellschaft“ als eine Menschengruppe definiert, deren Zusammensetzung nicht zufällig ist. 1 Sie entsteht durch eine bewußte Wahl von Menschen gleicher Gesinnung, gleichen Glaubens oder sonst etwas, was sie in ihrer Gruppe pflegen wollen. Gemeinschaft scheint überhaupt einer ritualisierten Gemeinsamkeit zu dienen, was wir am direktesten in religiösen Kontexten bei Glaubensbzw. Konfessionsgemeinschaften beobachten können. In Anlehnung an Tönnies’ Auffassung setzt Franz Jung (1898-1964) in seiner Definition der Gemeinschaft den Hauptakzent auf die Aktivität ihrer Mitglieder. In seinen Essays „Die Technik des Glücks“ von 1921 und „Mehr Tempo! Mehr Glück! Mehr Macht! “ von 1923 schreibt er, daß Gemeinschaften automatisch durch die Aktivität einzelner Menschen entstehen und sich durch ihre Passivität auflösen können. 2 Nur diejenigen Menschen, die ihre Aktivitäten bewußt in eine Richtung entwickeln, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, seien gemeinschaftsfähig. Gustav Landauer (1870-1918) konzipiert die Gemeinschaft als eine positive Utopie, die von neuen Menschen verwirklicht werden kann, d.h. von solchen, die eine innere Verwandlung durchgemacht haben. Diese solle auf dem Wege zustande kommen, den Landauer „Durch Absonderung zur Gemeinschaft“ nennt. Auf Grund solch einer Selbsterfahrung gelangten die Menschen zur Entdeckung des Menschseins, das allen gemeinsam und dadurch die wichtigste Voraussetzung ftir die Begründung einer neuen sozialen Ordnung sei. 3 1 Tönnies (1887). 2 Vgl. Jung (1921, S. 85) und Jung (1923). 3 Vgl. Landauer (1977, S. 45). 170 Bozena Choluj Jede positive Auffassung von Gemeinschaft setzt einen Glauben an etwas voraus, was all ihren Mitgliedern gemeinsam ist, sie aktiviert und konfliktlos zusammenhält. Selten wird daraufhingewiesen, daß dieser Glaube eine Rolle bei der Abgrenzung von anderen Gruppen, anderen Gemeinschaften spielt, sie von ihnen absondert. Mit der Absonderung meine ich jetzt nicht den Landauerschen Begriff des In-sich-Hineingehens, sondern die Setzung von Grenzen durch Bestimmung dessen, was die Menschen voneinander unterscheidet bzw. unterscheiden soll. Somit kann das Gemeinsame zwar in einer Gemeinschaft (nach innen) konsolidierend wirken, jedoch auch eine Grundlage für Intoleranz den Außenstehenden gegenüber (nach außen) werden. Am Entstehungsprozeß einer interkulturellen Gesprächs- oder Kommunikationsgemeinschaft können wir verfolgen, wie diese Abgrenzung bei dem Erstkontakt reproduziert wird. Jede Gesprächssituation trennt die Miteinandersprechenden von anderen. Das Gespräch sondert sie von ihrer Umwelt, die sich daran nicht beteiligt, ab. „Schon in der kollektiven Wortbildung Gespräch (vgl. Ge-birge und Ge-müse) (...) ist eben durch das kollektivierende Präfix gedie Gemeinsamkeit der anredenden und erwidernden Gesprächspartner bezeichnet.“ 4 Durch ein Gespräch entsteht eine relativ abgeschlossene Gruppe, obwohl ihre Mitglieder sich nur zum Teil von ihren eigenen Lebenswelten, ja ihren Kulturen lösen, während sie eine Kommunikationsgemeinschaft anstreben. 5 Solche direkten Kontakte werden in letzter Zeit, nach dem Fall der Mauer, politisch gefordert, in der festen Überzeugung, daß die Menschen sich durch Begegnungen mit den Vertretern anderer Kulturen von der eigenen distanzieren, während sie die anderen kennenlemen und ihnen gegenüber Toleranz üben. Daher fordert man intensiv Sprachkenntnisse, wobei die einfachste Methode gewählt wird, bei der die Vermittlung von Kulturtraditionen vernachlässigt wird. Ein Beispiel dafür finden wir in dem Material, das uns beim ZiF- Kolloquium im April 1995 in Bielefeld vorgelegt worden ist. 6 In einem aufgenommenen Polnischunterricht werden z.B. nicht nur Vokabeln vermittelt, sondern auch Stereotype verfestigt, dadurch, daß die Lehrerin sie als Allgemeinwissen für eine thematische Grundlage der Sprachübungen wählt (siehe den Beitrag von Ulrich Dausendschön-Gay). Auch in anderen protokollierten Gesprächen haben wir es mit Verfestigungen von Stereotypen zu tun. Da hier nicht auf das ganze Material analytisch eingegangen werden kann, stütze ich mich nur auf ausgewählte Fälle. Am Rande sei jedoch erwähnt, daß das untersuchte Bielefelder Material sich in zwei Gesprächstypen einteilen 4 Henne/ Rehbock (1982, S. 12). Dux (1994) betont, daß der Mensch von Natur aus nicht sozial, sondern auf andere notwendigerweise angewiesen sei. Den ambivalenten Hang der Menschen zur Gemeinschaft mit dem Anderen und dazu, daß er sich von dem Anderen unterscheidet, wird bei Dux anthropologisch begründet. In Anlehnung an sein Erklärungsmodell könnte man von der gemeinschaftsbildenden Funktion der Stereotype in interkulturellen Kontakten sprechen. Vgl. dazu die Einleitung. Gemeinschaft durch Reduktion 171 läßt. In dem einen sprechen die Gesprächspartner gleich viel, in dem anderen erzählt vorwiegend nur eine Person, die andere spielt die Rolle eines Zuhörers, der entweder immer mit einem hm bzw. einem Satz reagiert, in dem das von dem Erzählenden Gesagte in einer abgewandelten Form bestätigt wird. In keinem von diesen Typen tritt eine Diskussion, eine Auseinandersetzung auf. Die Gesprächspartner vermeiden geradezu jeden Meinungsaustausch. Sie sind eher darum bemüht, eine gemeinsame Verständigungsbasis zu finden bzw. aufzubauen. In solch einem Gespräch im Rahmen eines Erstkontaktes, bei dem sich zwei Vertreter unterschiedlicher Kulturen miteinander unterhalten, wird die Gemeinsamkeit sehr oft auf dem kürzesten Weg der Stereotype erreicht. Diesen Weg beschreiten einige Gesprächspartner in den vorgelegten Fällen, indem sie gängige Meinungen über Kulturen und Nationen in das gemeinsame Gespräch einflechten. Dabei vermeiden sie Schilderungen eigener individueller Erfahrungen, all das, was dem anderen Gesprächspartner unbekannt, fremd Vorkommen könnte. Am deutlichsten können wir das in dem Gespräch „Der Bildhauer“ sehen. Es ist ein Gespräch des zweiten Typs, in dem ein Gesprächspartner, ein Pole, der Hauptredende ist und die anderen, Deutsche, hören ihm vor allem zu. Obwohl der polnische Bildhauer zum großen Teil von sich erzählt, ist er bemüht, auch auf allgemeinere Fragen einzugehen, wie z.B. auf die Toleranz: äh da ich mich als Pole fühle ... (ach) überhaupt mit der Nationalität (...), denn ich denke, das ist hier in Europa ... ziemlich schwer festzustellen, wie weit man ist Deutsche(r) wie weit ist man Slawe. (...) Ich freue mich, daß es endlich anfängt äh mehr Toleranz zu sein (...). Einige Zeilen weiter sagt er aber: ich habe keine ... Vorurteilung ... aber trotzdem ein Engländer ist ... ischt immer etwas steif. Eine negative Erfahrung mit der englischen Polizei, die er in seinen jungen Jahren gemacht hat, haben sein Verhältnis zu den Engländern bestimmt. Trotz des Erzählens der individuellen Lebensgeschichte wird das Individuelle immer wieder durch Stereotype ersetzt, die wiederum durch Bruchkonstruktionen der Aussage teilweise zurückgenommen werden. Die Vermeidungsstrategien, bei denen das Individuelle reduziert wird, scheinen für Gespräche bei Erstkontakten besonders charakteristisch zu sein. Sie dienen vor allem zur Reduktion des Unbekannten. Die Aufdeckung bzw. Entdeckung des Unbekannten, Fremden könnte nämlich zu Differenzen fuhren, die die Gesprächsgemeinschaft bedrohen, ja sie auflösen würden. Alle Gesprächspartner in den hier behandelten Fällen bemühen sich um die Aufrechterhaltung ihrer Gesprächssituation. Es ist erstens an den kleinen Partikeln zu erkennen wie: hm, a ja, na usw., die immer wieder die Bereitschaft, dem anderen zuzuhören, signalisieren. Zweitens sind das bestätigende Sätze, die nur eine Art Abwandlung des Vorhergesagten bilden und damit bezeugen, daß der Zuhörer das Gesagte versteht und genauso wie der Erzählende denkt. Und zum dritten sind das bewußt angewandte Stereotype, die zur Aufrechterhaltung des Gesprächs dienen, jedoch nicht zu seiner Entwicklung oder zu einer Auseinandersetzung. Sie bilden eine Art Verständigung mittels des Stereotypen. Sie betreffen meistens Merkmale der Nationen, aus denen die Gesprächs- 172 Bozena Choluj partner stammen. Sie werden aber nicht im Rahmen einer gegenseitigen Kritik, sondern als Wissen voneinander angeführt. Es entsteht damit eine besondere Situation. Die Sprechenden fühlen sich in ihr nicht beleidigt, denn das Gesagte scheint nicht sie, sondern andere, solche, die sich außerhalb der Gesprächssituation befinden, zu betreffen. Wir haben es hier mit einer klassischen Funktion der Stereotype zu tun, bei der die Relation ICH-WIR-SIE die Hauptrolle spielt. Durch die Absonderung von denen, über die gesprochen wird, entsteht eine Gemeinschaft der Gesprächspartner. Die anderen, von denen die Rede ist, auch wenn nur in Form von kurzen Bemerkungen, sind die nicht dazu Gehörenden. Durch offene Nennung der Stereotype, die als gängige Meinungen ihre Legitimation haben, entsteht eine sichere Vertrauensbasis. 7 Die Stereotype haben hier eine kommunikative Funktion, als ob wir es mit einer Gemeinschaft zu tun hätten, die keine interkulturellen Züge trägt. Kulturen, die von den Gesprächspartnern vertreten werden, erscheinen im Gespräch wie das SIE aus dem Trippei ICH-WIR-SIE. Das Einflechten von Stereotypen in Gespräche dient auch in kulturell relativ homogenen Gemeinschaften zur Erkundung der Grenzen der Vertrautheit, zur Bildung eines thematischen oder auch symbolischen Gesprächsraumes. Das geschieht auf eine risikolose Art und Weise, denn das Gesagte gilt nicht als eine individuelle Meinung, die vor dem Gesprächspartner verantwortet werden müßte, sondern ist allgemein und ist dadurch legitimiert, abgesichert. Die so im Gespräch entstehende Gemeinschaft verfestigt jene Stereotype, die aus den Kulturen der Gesprächspartner stammen. Die erste persönliche Kommunikationserfahrung zwischen Vertretern unterschiedlicher Kulturen trägt daher nicht zur Auflösung der Stereotype bei. Der Mechanismus der Gemeinschaftsbildung durch die Anwendung von Stereotypen erklärt die Beständigkeit dieser Stereotype. Stereotype werden sogar von denen reproduziert, die mit den Vertretern anderer Kulturen in einen engeren Kontakt getreten sind. Dabei kommt es nur zum Wechsel des Bereiches, aus dem sie stammen. Das läßt sich an dem Gespräch zwischen deutschen Kursteilnehmern beobachten, das vor einer der aufgenommenen Unterrichtsstunden geführt worden ist. Der eine ist ein Deutscher, der seit einer gewissen Zeit in Polen arbeitet, die anderen sind zu dem Sprachkurs direkt aus Deutschland gekommen. Der Bekanntschaftsgrad zwischen ihnen ist größer als beim Erstkontakt. Die kulturbezogenen Stereotype spielen in ihrem Gespräch fast keine Rolle mehr. Bei der Verständigung wird jedoch auch eine Vertrautheit aufgebaut, nur nicht auf Grund von ethnischen, sondern von solchen Stereotypen, die sich auf den Arbeitsplatz beziehen. H., der deutsche Kursteilnehmer, der in Polen arbeitet, erklärt, daß er sich für eine Chlewinski (1992, S. 18) zeigt, daß das Individuum durch Stereotype sich vor allem das Gefühl der Sicherheit, Vorhersehbarkeit der Verhaltensweise von anderen verschafft. Diese Funktion scheinen die Stereotype auch in der Interaktion zwischen mehreren Individuen zu spielen, indem sie aktiv eingesetzt und nicht nur mental realisiert werden. Gemeinschaß durch Reduktion 173 Exkursion von der Firma nicht beurlauben lassen darf, weil der Oberboß aus Deutschland kommt. Darauf reagiert sein Gesprächspartner mit einer stereotypen Bemerkung aus dem Berufsleben: Na da ist vielleicht geschickter, irgendwie man ist vor Ort, wenn der herumläuft. Obwohl dieser Satz nicht vielsagend ist, wird er von H. als Zeichen für Bestätigung, ja Verständnis wahrgenommen und sogar ergänzt: Das muß schon drin sein, wenn du hier schon leben sollst. Darauf folgt ein Gespräch über seine Schwierigkeiten mit der polnischen Sprache und über die Firma, in der er arbeitet. Für jede Meinung und Bemerkung über Polen werden Erklärungen in der Geschichte Polens gesucht. Sie werden nicht mehr als Stereotype zur Aufrechterhaltung des Gesprächs wiederholt, sondern dienen zum Verständnis dessen, was Polen von der Bundesrepublik Deutschland unterscheidet. Gesprächs-, Erstkontaktsituationen, in denen Kommunikationsgemeinschaften durch Reduktion des Individuellen, Unbekannten (auch im Sinne des kulturgebundenen Andersseins) entstehen, können, wie wir gesehen haben, kaum eine Erkenntnisfunktion erfüllen. Sie drücken vorwiegend nur die Bereitschaft zur Kommunikation aus. Die Vertrautheit, die durch Geste und Erkundung des thematischen Gesprächsraumes mittels der Stereotype aufgebaut wird, schließt die Auseinandersetzung mit diesen aus. Sie dienen zwar zur gegenseitigen Verständigung, es ist aber eine Verständigung über die sogenannten Dritten (Außenstehenden) (manchmal sind das z.B. die Bürger der ehemaligen DDR oder Engländer in Gesprächen zwischen Polen und Deutschen). 8 Die Gesprächspartner verstehen sich dabei als eine Art Ausnahme. 9 Zwischen ihnen scheint ein stilles, unausgesprochenes, jedoch beide Seiten verpflichtendes Abkommen zu existieren: Keiner möge nachfragen, wie der andere zu dem Gesagten persönlich steht. Diese Gespräche bei den Erstkontakten, die man allzuschnell „interkulturelle“ Kommunikationsgemeinschaften nennen möchte, weisen eine ähnliche Struktur wie alle intrakulturellen Erstgespräche auf, unabhängig davon, ob es Erstgespräche zwischen zwei Unbekannten oder Erstgespräche zwischen Bekannten sind, die sich zu einem Thema zum ersten Mal unterhalten. Ihr Ausgangspunkt ist im zweiten Fall das Alltagswissen (d.h. automatisiertes, gängiges Wissen, das sogenannte selbstverständliche, nicht hinterfragte Wissen, also auch Stereotype). Zwei Analysen solcher Erstkontaktgespräche möchte ich im Hinblick auf meine Eingangsthese nachfolgend kommentieren. 8 Ähnlich verläuft die Kommunikation, die auf Grund von Witzen über andere ethnische, nationale oder geschlechtliche Gruppen entsteht. 9 Über die Funktion der Ausnahme bei der Anwendung der Stereotype schreibt Quasthoff (1989). Außer der Ausnahme, die in der Verhaltensweise eines Vertreters der anderen Ethnie festgestellt wird, von der Quasthoff spricht, gibt es auch Ausnahmen, die von den Vertretern unterschiedlicher Kulturen in der Gesprächssituation aktiv hergestellt werden. Um diesen Aspekt handelt es sich bei der Entstehung einer Gesprächsgemeinschaft, bei der der andere mitwirkt. 174 Bozena Choluj Kommentar zu Ricarda Wolf: Dumm gelaufen: Strukturelle Gründe für das Schicksal einer Gesprächsinitiative Die Kontaktaufnahme durch Stereotype verläuft, wie wir an dem Gespräch, das Ricarda Wolf in ihrem Beitrag „Dumm gelaufen: Strukturelle Gründe für das Schicksal einer Gesprächsinitiative“ detailliert analysiert, sehen können, nicht immer spannungslos. Es ist ein Gespräch zwischen Personen, deren Bekanntschaftsgrad auch größer als beim Erstkontakt ist, die Rollen der Gesprächspartner sind dagegen recht ungleich. Die Ungleichheit beruht darauf, daß drei Gesprächspartner: Reinhold, Anna und Maria die Position der Betreuer bzw. der Organisatoren haben, während Christof als deutscher Student deijenige ist, der betreut wird und als Kursteilnehmer im gewissen Sinne von den Organisatoren abhängig ist. Der Ausflug nach Rogalin und der Spaziergang durch den Schloßpark am Sonntag bieten sich als eine Gelegenheit an, die Grenzen zwischen den Rollen aufzuweichen. Ricarda Wolf verweist sogar auf die besondere Atmosphäre, in der die Studenten miteinander „lachen, schwatzen und flirten“. Laut ihrer Beschreibung der Vierergruppe startet Christof Maria gegenüber der polnischen Organisatorin des Sommerkurses eine Gesprächsinitiative. Reinhold und Anna bleiben bis zu einem gewissen Moment, der später erwähnt wird, im Hintergrund. Christof wendet sich ganz gezielt an Maria: weißt du was und tut es sehr vorsichtig, indem er seine eigene Person mit ich hab das gefühl ins Spiel bringt, während er bemerkt: hier wirdgeld bewegt. Er wiederholt nachdrücklich: hier hier hier wird im moment geld bewegt, woran zu erkennen ist, daß er das Gespräch fortsetzen will. Mit der Unsicherheit ich hab das gefühl räumt er der polnischen Organisatorin, die Germanistik- und Soziologiestudentin ist, viel Platz für Berichtigungen ein. Er überläßt ihr die Rolle der Organisatorin, die über die Gegend mehr als er weiß. Seine Bemerkung ist zwar als eine Vermutung formuliert, ist aber eher als Frage gemeint, die jede Antwort zuläßt. Da Marias Reaktion nur kurz und unbestimmt ist, formuliert er das Vorhergesagte eindeutiger als Frage nach der Möglichkeit, ob hier Geld wirklich bewegt werden könne. Bis Maria seine Frage mit einem ja beantwortet, vergehen fünf Sekunden, was für jemanden, der sich um ein Gespräch bemüht, eine sehr lange Pause bedeuten kann. Marias Kurzbündigkeit bei der Antwort verspricht auch keine Fortsetzung des Gesprächs. Um diese muß sich weiterhin Christof kümmern. Erst nach dem langen Anlauf fallt seine Bemerkung also für polnische Verhältnisse ist das sehr gepflegt. Darauf reagiert Maria, die nicht besonders gesprächig zu sein scheint, wieder mit einem ja, mhm und es vergehen weitere sieben Sekunden, bis sie auf Christofs Satz plötzlich wie auf einen Sprengstoff mit ja moment mal wie wie für polnische Verhältnisse reagiert. Christof überrascht die Heftigkeit ihrer Reaktion, die durch Reinholds Lachen einen zusätzlichen Zündstoff bekommt, was an ihrer Wiederholung zu erkennen ist: wie meinst du das, ja moment ma. Das Stereotyp „polnische Verhältnisse“ erfüllt trotz der negativen Wirkung seine Funktion, Maria fühlt sich angesprochen, wenn auch nicht persönlich, so wenigstens als Organisatorin eines Kurses für deutsche Gemeinschaft durch Reduktion 175 Studenten, eine polnische Organisatorin und Soziologiestudentin, muß man betonen. 10 Der Wille zu einem gemeinsamen Gespräch ist geweckt und soll nur noch aufrechterhalten werden. Da sein Verlauf durch Marias negative Wahrnehmung bestimmt wird, braucht Christof etwas Zeit, um sich umzustellen. Damit hängt sein stotternder Anlauf nein also hier sind hier sind hier sind hier sind zusammen, bis er auf die Idee mit dem „englischen Rasen“ kommt. Seine Verlegenheit ist nicht nur am Stottern, sondern auch am Wechsel der Verbform von „sind“ zu „ist“ deutlich zu erkennen. Obwohl er sich dessen bewußt zu sein scheint, daß er mit seinen Vergleichen falsch liegt, versucht er sich auf diesem Wege weiter zu behaupten, denn an der heftigen Reaktion von Maria merkt er, daß seine Initiative bei ihr endlich angekommen ist. Nach dem polnischen Einwurf wszystko dobrze (alles gut) und Marias mhm gesteht er kurz: falsch, womit er andeutet: er wisse, seine Bemerkungen seien nicht richtig. Er setzt sie aber fort. Ricarda Wolf betrachtet das als ein weiteres Versinken im Fettnapf. Christof tut es aber nicht ungewollt, denn nur so kann er erreichen, daß Maria lacht und zusammen mit ihm das Schloß zu betrachten beginnt. Aber auch hier kann sie sich von ihrer Rolle nicht distanzieren: Sie fühlt sich geradezu verpflichtet, die unvollständige Restauration des Schlosses mit Geldmangel zu erklären. 11 Ihre Erklärung versucht Christof ins weitere Gespräch aufzunehmen, indem er zu seiner ersten Bemerkung zurückkehrt. Diese kann jetzt aber nicht mehr den Charakter einer offenen Frage haben. Sie klingt eher als ein Trost, dessen Ton Reinhold aufnimmt, als wollte er dem Gespräch einen Anstoß zur positiven Wende geben. Deswegen löst er den Bereich der nationalen Stereotype durch einen anderen ab: Er greift auf das Typische in der Renovier- und Baukunst zurück und sagt ich glaub das ist aber relativ typisch für so die restauherung von so größeren gebäuden, daß das immer so in etappen geht. Sein Monolog über die langjährigen Restaurationsbemühungen am Heidelberger Schloß zerstört die von Christof mühsam aufgebaute, wenn auch spannungsvolle Gesprächsgemeinschaft. Er versucht zwar auf der positiven Gesprächslinie noch eine Weile zu bleiben, indem er auf den Park zu sprechen kommt. Das Thema wird von Maria jedoch nicht mehr aufgenommen und das Gespräch wird nicht fortgesetzt. Der Analyse von Ricarda Wolf liegt eine ähnliche Bewertung des Geschehens zugrunde, wie wir sie an Reinholds Verhaltensweise beim Gespräch ablesen können. Beide scheinen den Vorfall als etwas nur Negatives anzusehen, das man interaktionsstrukturell erklären bzw. reparieren muß. Und das bedeutet: 10 Maria ist sich ihrer nationalen Zugehörigkeit als Organisatorin eines Sommerkurses für deutsche Studenten von Anfang an bewußt. Dieses Bewußtsein braucht in ihr nicht erst durch Christofs Satz über polnische Verhältnisse geweckt zu werden. Die Tatsache, daß sie auf diesen Satz so heftig reagiert, zeigt, wie rollengebunden sie sich verhält. Dazu fühlt sie sich zusätzlich durch Reinholds Lachen als Soziologiestudentin verpflichtet. 11 Diese erklärende Haltung der Polen den westlichen Touristen oder Gästen gegenüber ist bis heute oft zu treffen. 176 Bozena Choluj Beide scheinen nach einem Weg zur positiven, d.h. konfliktlosen Verständigung zwischen Deutschen und Polen zu suchen. Deswegen versucht Reinhold, den Verlauf des Gespräches zwischen Maria und Christof durch einen Themawechsel zu entspannen. Ricarda Wolf vermeidet mit ihrem Konzept konsequent die Dynamik, die sich in den deutsch-polnischen Begegnungen auch auf Grund von Fehlleistungen entwickeln kann. Im Gegensatz zu ihr und Reinhold riskiert Christof eine Spannung im Gespräch, das wahrscheinlich ohne den negativen Anstoß durch ein Stereotyp nicht zustande gekommen wäre. Diese Spannung unterscheidet sich von deijenigen, die in dem nächsten Fall beschrieben wird, dadurch, daß der Gesprächspartner sich selbst und seiner Gesprächspartnerin gleiche Rechte auf Widerspruch zuerkennt. Kommentar zu Reinhold Schmitt: ‘Ich werde Sie sehen lassen’ oder: Über die Möglichkeiten interaktiver Kulturvermittlung Wenn die oben beschriebenen Regeln der Anwendung von Stereotypen überhaupt nicht eingehalten werden, kommt es zu Störungen, die wir in dem Gespräch beobachten können, das Reinhold Schmitt in seinem Beitrag „‘Ich werde Sie sehen lassen’ oder: Über die Möglichkeiten interaktiver Kulturvermittlung“ analysiert. Die Beteiligung zweier Parteien an diesem Gespräch verläuft im Rahmen von Rollen, die bei der touristischen Besichtigung mit einem Exkursionsleiter relativ eindeutig definiert sind: Es ist einerseits die Rolle des Sprechers und andererseits die der Zuhörer. Diese Rollen sind wie wir aus der Analyse des aufgenommenen Materials erfahren ungleich. Die Zuhörer sind in ihren Reaktionen auf das, was der Exkursionsleiter erzählt, doppelt eingeschränkt: durch die Rolle der Zuhörer selbst und durch den Exkursionsleiter, der seiner Gruppe gegenüber eine lehrerhafte Haltung einnimmt. Mit der Wendung „Ich werde Sie sehen lassen“ bestimmt er, was ihre Mitglieder von ihm erfahren sollen und somit bestimmt er den Raum für ihre eigene Wahrnehmung. Daß er diese bestimmende Haltung der Gruppe gegenüber konsequent vertritt, ist u.a. dem Satz über die Daten zu entnehmen: äh deswegen werde ich viel wenigere daten ähm daten (...) nennen, sowie der Tatsache, daß er auf den Zwischenruf von DE und das verhaltene Lachen von IN verbal nicht eingeht, sondern seinen belehrenden Sprechduktus, den die deutschen Besucher nicht mehr gewohnt sind, und der in Polen immer noch üblich ist, verstärkt, indem er hinzufügt: äh viel wenigere informationen gehen und „mit Nachdruck“ wiederholt ich werde sie sehen lassen. Das verhaltene Lachen und der Zwischenruf wären daher nicht nur auf das Mißverständnis im Zusammenhang mit dem ewig Polnischen und der slawischen Seele, sondern auch auf die lehrerhafte, ja autoritäre Verhaltensweise des Exkursionsleiters zurückzuführen. Die Einseitigkeit des Kontaktes, die dadurch verstärkt wird, wird vom Exkursionsleiter übrigens gleich am Anfang hergestellt, als er bei der Vorstellung seine eigene Person in den Vordergrund stellt. Er versucht, eine Art Vertrautheit zu inszenieren, tut das aber, indem er nicht auf das Allgemeine, sondern Gemeinschaft durch Reduktion 177 auf das Individuelle zu sprechen kommt, ja das Persönliche betont, was gegen die Spielregeln des Erstkontaktes läuft. Er erzählt über seine überaus große Freude, wieder deutsch sprechen zu können. Ebenso expressiv spricht er von seiner Lieblingsarbeitsstelle. Auf eine umständliche Art und Weise bemüht er sich um eine persönliche Note seiner Führung, ohne jedoch auf sein Gegenüber, die deutschen Besucher und ihre Erwartungen, einzugehen. Somit läßt er eine Grenze zwischen sich und ihnen entstehen, die den Zuhörern den Einstieg in die Interaktion versperrt. So greifen sie auf das Bekannte zurück, ohne sich auf das andere, Fremde überhaupt einzulassen. Sie konzentrieren sich auf den Exkursionsleiter als eine Person, die sich gerade dazu anbietet, und versuchen, ihn in das Netz ihrer eigenen Begriffe als pathetischen Nationalisten einzuordnen. Da der Exkursionsleiter die Rolle eines Kulturvermittlers in erster Linie sprachlich formuliert, statt sie direkt zu spielen, scheint das die einzige interaktive Bedeutungskonstitution zu sein, an der sie sich aktiv trotz der vorgegebenen Einschränkungen beteiligen. Sie werden vom Exkursionsleiter nicht als Mitspieler in die Interaktion der Kulturvermittlung eingeschlossen. Er läßt nicht zu, daß seine Rolle sich aus der Interaktion selbst ergibt. Infolgedessen entsteht eine Ausgangssituation, die für die Kulturvermittlung durchaus ungünstig ist. Sie beeinflußt die deutschen Besucher so stark, daß die Anekdote vom Greiser bei ihnen nicht gut ankommt, obwohl sie vom Exkursionsleiter nach den Prinzipien des Erstkontaktes, wie ich sie oben beschrieben habe, erzählt wird. Das Thema der Geschichte zeigt, daß der Exkursionsleiter sich an der ethnischen Zugehörigkeit seiner Gruppe ausrichtet. Es ist eine Geschichte aus der Nazizeit und handelt von einem deutschen Nazi. Im Gegensatz zu Schmitt glaube ich nicht, daß den Zuhörern der Begriff „Gauleiter“ fremd war. Da er von einer Frau aus der Gruppe genannt wird, kann auch der Exkursionsleiter diese Kenntnis bei der ganzen Gruppe voraussetzen. Außerdem erzählt er die Anekdote sehr vorsichtig, als wäre er auf die Nähe zur Gruppe bedacht, was Schmitt als expandierte delay-Version bezeichnet. Nur so kann erklärt werden, warum er nähere Informationen über Greisers Unmenschlichkeit ausklammert. Seine Erzähltaktik ermöglicht ihm eine gewisse Relativierung des „bösen“ Deutschen. Um Greiser in einem besseren Licht darzustellen, betont er, daß seine Naziresidenz schön gewesen sei. An der Art, wie er erzählt, ist zu erkennen, daß es unangebracht ist, von der Nazibaukunst nur positiv zu sprechen, und er verschiebt in einer Ergänzung die Kategorie der Schönheit auf die Umgebung. Von positiver Konnotation geht er aber nicht ab, denn im Weiteren spricht er von der Hochachtung, mit der Greiser auf das Verbot des polnischen Adligen Zamoyski reagiert hatte. Bei der Charakterisierung des Majordomus verfährt er ähnlich, nur in die umgekehrte Richtung. Herr Matrecki ist nicht nur ein Kleinadliger, ein treuer Diener der Zamoyski-Familie und ein rebellischer Pole, was in der Anekdote nur positiv besetzt ist, sondern auch Lagerverwalter. Er hat also eine Position unter der Besatzungsmacht, was seine rebellische Haltung etwas in Frage stellt. Er ist nämlich einer, der mit der Besatzungsmacht zusammenarbeitet. Sein Satz über das Verbot des 178 Bozena Choluj Grafen Zamoyski, dessen Möbel mitzunehmen, impliziert die Vermutung: die Möbel von anderen Polen dürfen mitgenommen werden. Keiner von den beiden Protagonisten der Geschichte wird also nur positiv oder nur negativ dargestellt. Die Konzessionen, die der Exkursionsleiter in seiner Überzeugung zu Gunsten seiner deutschen Zuhörer zu machen bemüht ist, kommen jedoch nicht an. „Der ethisch-ethnische Adressatenzuschnitt“ der Anekdote funktioniert kaum. Die Folge davon ist, daß der Exkursionsleiter von den deutschen Studenten den Spitznamen „Graf 1 bekommt. Daher würde ich nicht eindeutig wie Reinhold Schmitt von einem „kulturellen Mißverständnis“ sprechen, sondern eher auf das Mißlingen des Erstkontaktes hinweisen. Und der Grund dafür ist die Tatsache, daß das, was sich beim Erstkontakt zwischen zwei Gesprächsparteien abspielen soll, nur von einer von ihnen realisiert wird. Wenn wir die Anekdote im Kontext des Erstkontaktes wahmehmen, laufen wir nicht mehr Gefahr, bei unserer Fallanalyse die Stereotypen „des rebellischen Polen“ und „autoritätshörigen Deutschen“ zu reproduzieren. Das tun wir, wenn wir Greisers Verhaltensweise in Kategorien der Autorität und des Gehorsams auffassen. Dann können wirsinngemäß wie Schmitt sagen: Das historisch und kulturell legitimierte polnische Adelssystem (...) triumphiert über den deutschen Staats- und Machtapparat der Nazis. 12 Wenn wir diese Kategorien nicht als Grundkategorien unserer Interpretation der Anekdote annehmen, sondern die Bemühung des Erzählenden, die Verhaltensweisen beider Figuren zu relativieren, im Auge behalten, sehen wir, daß mit dieser Anekdote nichts weiter gesagt wird, als daß sich sogar in politisch schlimmen Zeiten Vertreter der polnischen und der deutschen Kultur verständigen konnten. Diese Beobachtung kann in enge Verbindung mit dem erzählenden Exkursionsleiter gebracht werden, der die Aufmerksamkeit seiner Gruppe von Anfang an auf sich zu lenken versucht. Mit dieser Anekdote will er seine Toleranz bezeugen. Er selbst scheint sich sogar als neuer Verwalter eines Landgutes mit Herrn Malrecki zu identifizieren. Und als Vertreter der in seinem Sinne hohen Kultur spielt er jetzt die Rolle des „Lagerverwalters“, indem er bestimmt, was die deutschen Kursteilnehmer aus der „Führung“ mitnehmen dürfen. Sein Verhalten hat eine ähnliche Stereotypenstruktur wie sein Erzählen. So werden die Stereotype nicht nur beim Erzählen der Anekdote, sondern auch bei der Exkursionsleitung reproduziert. Literatur Chkwinski, Zdzislaw (1992): Stereotypy: struktura, fimkcje, geneza. Analiza interdyscyplinama. In: Kolokwia Psychologiczne. Stereotypy i uprzedzenia. Warszawa. Bd. 1. Dux, Günter (1994): Geschlecht und Gesellschaft. Warum wir lieben. Die romantische Liebe nach dem Verlust der Welt. Frankfurt a.M. Henne Helmut/ Rehbock, Helmut (1982): Einführung in die Gesprächsanalyse. Berlin/ New York. 12 Siehe hierzu Kap. 7: Die Analyse kultursignifikanter (symbolischer) Bedeutung. Gemeinschaft durch Reduktion 179 Jung, Franz (1921): Die Technik des Glücks. Berlin. Jung, Franz (1923): Mehr Tempo! Mehr Glück! Mehr Macht! Berlin. Landauer, Gustav (1977): Vom Weg des Sozialismus. In: Ders. (Hg ): Aufsätze über Sozialismus. Wetzlar. Quasthoff, Uta M. (1989): Ethnozentrische Verarbeitung von Informationen: Zur Ambivalenz der Funktionen von Stereotypen in der interkulturellen Kommunikation. In: Matusche, Petra (Hg.): Wie verstehen wir Fremdes? Aspekte zur Klärung von Verstehensprozessen. Dokumentation eines Werkstattgesprächs des Goethe-Institutes München vom 24.-26. November 1988. München. Tönnies, Ferdinand (1887): Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Sozialismus als empirischer Kulturformen. Leipzig. Jarochna D^browska Das Bild der Polen in der deutschen Presse. Ein textlinguistischer Zugang Abstract: Der Beitrag analysiert einen Artikel aus der „Süddeutschen Zeitung“ aus dem Jahre 1980, anhand dessen die in der westdeutschen Presse vorkommenden Stereotype über Polen dargestellt werden. Die Autorin geht auf zwei Seiten des Stereotyps ein. Sie versucht zum einen aufzuzeigen, was Stereotype ausdrücken, und zum anderen, wie sie sprachlich realisiert werden. Dabei wird ein textlinguistischer Ansatz verfolgt. Die Inhaltsseite der Stereotype wird in diesem Beitrag mit Hilfe von Prädikationen, die das jeweilige Stereotyp in der explizitesten Form zum Ausdruck bringen, dargestellt. Zur Analyse der sprachlichen Realisierung von Stereotypen wurde eine Reihe von Kriterien angewendet, durch die die Funktion des Stereotyps im Textganzen herausgearbeitet wird. Die Aufdeckung der Stereotype im analysierten Zeitungstext soll zeigen, wie Stereotype in der Presse funktionalisiert werden und welche Rolle sie in politischen Argumentationen spielen können. 1. Einleitung Anhand der exemplarischen Analyse eines Artikels aus der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) vom 23724. August 1980 möchte ich zeigen, wie Stereotype über Polen in Texten konstituiert und verbreitet werden. Die Untersuchung beruht auf meiner in Vorbereitung befindlichen Dissertation: „Stereotype und ihr sprachlicher Ausdruck im Polenbild der deutschen Presse. Eine textlinguistische Untersuchung“. Der Zeitungstext stammt aus einem über 300 Texte umfassenden Korpus, das sich aus Artikeln der Tageszeitungen „Frankfurter Allgemeine“ (FAZ), „Frankfurter Rundschau“ (FR), „Süddeutsche Zeitung“ (SZ) und „Neues Deutschland“ (ND) im Hinblick auf die politische Umbruchssituation in Polen im Jahr 1980 zusammensetzt. Das für die SZ typische Feature (Seite 3) zum Thema Streiks in Danzig trägt die Überschrift „Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns 1 ' (siehe Anhang S. 202). An diesen Text werden folgende Fragen gestellt: - Welche Stereotype sind enthalten? - Mit welchen sprachlichen Mitteln werden die Stereotype realisiert? - Welche Funktion haben die Stereotype im Text? Es handelt sich hier also um den Versuch eines textlinguistischen und semantischen Zugangs zum interkulturellen Phänomen des Stereotyps, der aber auch die kommunikativpsychologischen sowie die historischen Probleme im Verhältnis zwischen Deutschen und Polen berücksichtigt. Diese eher außersprachlichen Aspekte lassen sich auf der Basis einer kommunikationsorientierten Linguistik theoretisch legitimieren und praktisch integrieren. 2. Was ist ein Stereotyp? Als mentale Struktur sind Stereotype oder Vorurteile bei jedem Menschen vorhanden. August von Kotzebue sah den Kampf der Aufklärung gegen Vor- Das Bild der Polen in der deutschen Presse 181 urteile skeptisch: „Daß irgendein Mensch auf Erden ohne Vorurteil sein könne, ist das größte Vorurteil.“ (Lesser 1993, S. 10). 200 Jahre später lesen wir bei dem Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich: „Vorurteile sind das Allerhaltbarste, was es in der menschlichen Seele gibt.“ (Lesser 1990, S. 6). Beide Zitate verweisen deutlich auf die Reichweite und die Unvermeidbarkeit der Vorurteile. Anders als der umgangssprachlich negativ wertende Ausdruck ‘Vorurteil’ soll der Fachausdruck ‘Stereotyp’ sowohl negative als auch positive und neutral wertende Vorstellungen umfassen. Nach Lew Zybatow wurde der Fachausdruck ‘Stereotyp’ „im Laufe der Entwicklung in der Sozialforschung auf das Typische und Auffällige von Gruppen von Menschen verschiedener Herkunft, die miteinander [...] in Interaktion treten“ ‘beschränkt’ (Zybatow 1993, S. 4). Walter Lippmann, der „Vater“ der Stereotypenforschung, faßt ‘Stereotyp’ in seinem zuerst 1922 erschienen Buch „Public Opinion“ (s. Lippmann 1990) viel weiter, und zwar als ein Konzept, das Menschen die Orientierung dadurch vereinfacht, daß es die Komplexität der vorhandenen Informationen reduziert. Für Lippmann stellen Stereotype Denkmuster bzw. Interpretationsschablonen dar: „Meistens schauen wir nicht zuerst und definieren dann, wir definieren erst und schauen dann. In dem großen blühenden, summenden Durcheinander der äußeren Welt wählen wir aus, was unsere Kultur bereits für uns definiert hat, und wir neigen dazu, nur das wahrzunehmen, was wir in der Gestalt ausgewählt haben, die unsere Kultur für uns stereotypisiert hat“ (Lippmann 1990, S. 63). Auf diese Weise stellen Stereotype ein allgemeines und notwendiges Prinzip der alltäglichen menschlichen Orientierung im sprachlichen und nicht-sprachlichen Handeln dar. Peter Schröder geht einen Schritt weiter und bestimmt Stereotype als typisierte Erfahrungen, „die als ‘Urteile’ oder ‘soziales Regelwissen’ so fester Bestandteil des Alltagswissens der Allgemeinheit oder von Gruppen in der Gesellschaft geworden sind, daß sie durch Erfahrung nicht mehr veränderbar sind, sondern vielmehr selbst (obwohl ursprünglich Produkt von Erfahrung) Erfahrung strukturieren, ja determinieren können“ (Schröder 1987, S. 670). Wenn Stereotype Erfahrung strukturieren und determinieren, dann können Stereotype auch Texte determinieren. Sie sind Phänomene, die einerseits zum kollektiven Wissen gehören, andererseits immer wieder in Texten hergestellt werden und auf diese Weise insofern es sich um öffentliche Kommunikation handelt tradiert werden. Als solche existieren sie in Form verfestigter Urteile, die im Text explizit oder auch implizit zum Ausdruck gebracht werden. Die Interpretation der implizit ausgedrückten Stereotype darf sich jedoch nicht nur auf die Satzebene beschränken, weil ihre Identifizierung das Einbeziehen textueller Faktoren und außersprachlichen Hintergrundwissens benötigt. Quasthoff betont: „Die interessantesten [Stereotype, d.A ] sind die unausgesprochenen. Sie kommen mit großer Wahrscheinlichkeit am häufigsten vor, und die verschiedenen Arten der Implizitheit zu untersuchen, in der stereotype Urteile dennoch kommuniziert 182 Jarochna Dqbrowska werden, dürfte nicht nur der Analyse des Stereotyps, sondern zugleich der Frage nach der Art kommunikativer Strukturen lohnenden Aufschluß geben. Es ist zu vermuten, daß diese Stereotype [...], gegenüber den offen ausgesprochenen einen hervorragenden Platz in der Massenkommunikation haben, wo offen vorurteilsvolle Äußerungen z.T. einen Normenverstoß darstellen.“ (vgl. Quasthoff 1973, S. 274). An der Implizitheit (von Vorstellungen) macht Christine Teichmann ihre Bestimmung von Präsupposition fest. Teichmann definiert Präsuppositionen als stillschweigende Annahmen, als „bestimmte ‘selbstverständliche Voraussetzungen’“, die „ein Sprecher mit einer Äußerung macht: sie werden nicht ausdrücklich behauptet, vielmehr als Annahmen über den vorausgesetzten Hintergrund der Kommunikation mit in die Äußerung eingebracht und müssen vom Hörer als solche erschließbar sein. Die Präsuppositionen sind ein Teil der Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eine Äußerung in einem gegebenen Kontext angemessen sein kann.“ (vgl. Teichmann 1985, S. 8). Es handelt sich bei Präsuppositionen also um eine noch elementarere und generell implizite Form des gemeinsamen Wissens von Sprecher und Hörer. Stereotype gehören nicht zu den konstitutiven Bedingungen eines Textes; sie können auch explizit gemacht, thematisiert und diskutiert werden. Auf der sprachlichen Ebene kann das kollektive Wissen der Stereotype auf unterschiedlichste Weise realisiert werden. Ein Autor kann zum Beispiel ein Stereotyp leitmotivisch verwenden; er kann Generalisierungen zur Bewertung von Individuen benutzen, ohne sich dabei bewußt zu sein, daß er ein Stereotyp verwendet; er kann durch evaluativ-appellative Formulierungen auf mehr oder weniger explizite Weise das vorausgesetzte stereotype Wissen der Leser bestätigen oder auch entkräften (s. Punkt 5). Um Aufschlüsse über all diese Realisierungs- und Funktionsweisen von Stereotypen zu erhalten, muß nicht nur der Text selbst, sondern auch der weitere Diskurs im Interaktionsrahmen, d.h. der gesamte Kontext einer Analyse unterzogen werden, damit der ganze Wirkungszusammenhang des Textes aufgezeigt wird. Der Journalist beschreibt mit seinem Artikel jeweils einen Ausschnitt des Bildes, das er von sich und der ihn umgebenden Welt hat. Dieses Bild entsteht durch Reduktion von Sinneseindrücken mit Hilfe von Vorurteilen, Stereotypen, Vereinfachungen, Generalisierungen etc. Der Journalist präsentiert dem Leser mit seinem Text also eine reduzierte Weitsicht, wobei er selbst festlegt, welche Aspekte relevant sind und welche nicht. Auch der Leser kann das ihm auf diese Weise vermittelte Bild noch einmal reduzieren. Er vergleicht nämlich, ob die vom Journalisten erhaltene, reduzierte Information mit seiner eigenen, d.h. mit seinen Vorurteilen, Stereotypen, Vereinfachungen usw. übereinstimmt. Die Übereinstimmungen bewirken beim Leser eine Bestätigung des stereotypen Wissens, die je impliziter das Stereotyp vermittelt wird den Charakter von „Insider-Wissen“ annehmen kann. Ist das vom Journalisten vermittelte Stereotyp beim Leser jedoch nicht vorhanden, kann es falls explizit vermittelt - „erlernt“ werden, oder falls implizit zu einem partiellen Mißverständnis fuhren. Das Bild der Polen in der deutschen Presse 183 Zusammengefaßt sei hier, was in meinem Beitrag unter dem Fachausdruck ‘Stereotyp’ verstanden wird. Die Stereotypdefinition der vorliegenden Arbeit beruht auf zwei wesentlichen Punkten: a) Stereotype existieren auf der mentalen bzw. vor-sprachlichen und auf der sprachlichen Ebene, wobei die beiden Ebenen sich wechselseitig bedingen. So können sowohl neue Realitätserfahrungen als auch das öffentliche Sprechen und Schreiben vor allem in der Presse Stereotype perpetuieren und ihre weitere Verbreitung ermöglichen. b) Stereotype sind explizit oder implizit sprachlich realisiert und lassen sich deshalb auf den verschiedenen Sprachebenen, nämlich im Wortschatz, in der Syntax und in der Textstruktur mit Hilfe linguistischer Methoden ablesen. 3. Zur Methode Auch für die Person des oder der Analysierenden gilt, daß ihr Weltwissen Stereotype beinhaltet. Es ist daher nicht auszuschließen, daß die von mir verwendeten Formulierungen zur Beschreibung vermeintlich objektiver Sachverhalte selbst Stereotype und Wertungen enthalten können. Andererseits verfugt die Analysierende, als Polin, über eine andere Art zu verstehen als ein deutscher Bürger, die es ihr ermöglicht, das Verhältnis zwischen der dargestellten Welt und dem Text in Differenz und Übereinstimmung zu erkennen und zu interpretieren. Der Text wird nicht „frei“ interpretiert, sondern anhand einer Reihe definierter linguistischer Analysekriterien bearbeitet. Dabei kristallisieren sich Textsegmente heraus, die den impliziten oder expliziten Ausdruck eines Stereotyps in besonderer Weise belegen. Unabhängig davon, ob ein Stereotyp im Text implizit oder explizit realisiert wird, kann man jedes Stereotyp in Form einer einfachen, expliziten Prädikation nach dem Muster ‘Die Polen sind p’ bzw. ‘Polen ist p’ explizieren. In die kontrollierte Interpretation dieser Stereotypenbelege wird wiederum die sinnrekonstruierende Analyse des jeweiligen Kontextes einbezogen, damit sowohl die lexikalisch-syntaktische Realisierung des Stereotyps, als auch dessen Funktionszusammenhang im Textganzen erkennbar wird. In der Kommunikation treten Stereotype generell in mannigfaltigen Formen auf, was unter anderem von der Art des verwendeten Mediums, d.h. von Mündlichkeit oder Schriftlichkeit eines Textes, abhängt. In meinem Fall stellt die geschriebene Sprache in Form von Zeitungstexten das Kommunikationsmedium dar Aus dieser Prämisse ergeben sich wichtige, auch methodisch relevante Unterschiede zur Analyse gesprochener Sprache. So tritt in der prototypischen Face-to-face-Situation des Gesprächs keine räumlich-zeitliche Trennung von Textproduktion und Textrezeption auf. In der geschriebenen Sprache existiert hingegen keine direkte Rückkopplung zwischen den Interaktanten, was dazu fuhrt, daß kaum dynamische Prozesse zwischen Sprechern und Rezipienten stattfinden bzw. bei der Analyse zu berücksichtigen wären. Das 184 Jarochna Dqbrowska Methodeninventar, das nachfolgend erläutert werden soll, ist also auf die Analyse geschriebener Texte, genauer von Pressetexten, zugeschnitten. Bei der Interpretation eines Stereotyps gilt es zunächst zu entscheiden, an welchen Textstellen ein Stereotyp realisiert ist; hierzu gibt es mit Bezug auf einen einzelnen Text die folgenden Möglichkeiten (bei einem umfangreicheren Textkorpus gibt es weitere methodische Verfahren, auf die hier aber nicht eingegangen werden soll): a) Substitution Durch die Verwendung der Substitutionsprobe, die auf dem Austauschen bestimmter Lexeme im Text selbst und damit auf der versuchsweisen Übertragung der Prädikation auf eine andere ethnisch-politische Gruppe basiert, kann aufgezeigt werden, ob die journalistische Deutung eines Ereignisses oder einer Situation ausschließlich nur mit Bezug auf Polen gelten kann, oder ob sie national indifferent ist. Die Verwendung dieser Methode hilft vor allem bei der Herausarbeitung der impliziten Stereotype. b) Rekonstruktion der journalistischen Vertextungsverfahren beim Ausdruck von Stereotypen Die grundlegende Vorgehensweise prüft anhand einer Reihe nachfolgend erläuterter Analysekriterien, wie Stereotype in Zeitungsartikeln versprachlicht und mit der historisch-politischen Situation verknüpft werden. 4. Die Analysekriterien - Nationbezogenheit oder Ideologiebezogenheit eines Stereotyps - Tabuisiertheit oderNicht-Tabuisiertheit eines Stereotyps typische oder atypische Darstellung einer Situation in Hinblick auf ein Stereotyp - Explizitheit/ Implizitheit des Ausdrucks eines Stereotyps - Rolle eines Stereotyps im Text als zentrales Textthema oder als peripheres Textthema zwecks Bestätigung/ Entkräftung eines Stereotyps - Polarisierung mittels eines Stereotyps Die Kriterien Nationbezogenheit und Ideologiebezogenheit sind die einzigen, die beim Inhalt eines Stereotyps ansetzen. Es gibt zwei Klassen von Referenzobjekten, auf die ethnische Stereotype bezogen werden können; entweder auf „die Polen“, d.h. das Volk, die Nation bzw. die polnische Bevölkerung, oder auf das kommunistische System und seine Ideologie, für die „das Polen“ des Jahres 1980 nur ein Beispiel ist. Die nationbezogenen Stereotype sagen somit etwas über die ethnische Eigenart der Polen aus und sind unabhängig von der zu einem historischen Zeitpunkt herrschenden Ideologie; sie behalten ihre Das Bild der Polen in der deutschen Presse 185 Gültigkeit auch dann, wenn sich die politisch-ideologischen Prämissen verändern. Die ideologiebezogenen Stereotype könnten außer auf Polen auch auf andere Staaten mit demselben politischen System bezogen werden; sie können ihre Geltung also verlieren, wenn die jeweilige Ideologie wechselt. Die Trennung der Analysekriterien ‘nationbezogen’ und ‘ideologiebezogen’ ist zwar möglich und auch sinnvoll; aber beide Referenzobjekte werden in Pressetexten oft sehr eng verknüpft oder aufeinander projiziert. Als Beispiel sei hier einerseits das nationalbezogene Stereotyp von der „polnischen Wirtschaft“ (Prädikation: ‘Die Polen sind unordentlich’) angeführt, dessen Geschichte ins 18. Jahrhundert zurückreicht, und andererseits das ideologiebezogene Stereotyp von der „Mißwirtschaft im Kommunismus“ (Prädikation: Tm kommunistischen Polen herrscht Mißwirtschaft’), das erst nach dem 2. Weltkrieg auf Polen bezogen werden konnte. Die Verknüpfung beider Stereotype wird von Kurt Reimann in einer Karikatur veranschaulicht, die aus der „Frankfurter Allgemeinen. Zeitung für Deutschland“ vom 27.08.1980 entnommen ist: Die beiden möglichen Prädikationen überschneiden und ergänzen sich, weil ihre Prädikate vage sind. Werden diese Stereotype explizit ausgedrückt, kann man sie meist leicht einer der beiden Klassen zuordnen. Werden sie implizit verwendet, ist meist nicht mehr klar, ob es sich um nationbezogene oder ideologiebezogene Stereotype handelt. Ein Blick auf die historische Genese eines Stereotyps hilft hier allerdings oft weiter. Die Analysekriterien der Tabuisiertheit und Nicht-Tabuisiertheit beziehen sich auf die historische Situation der Berichterstattung und darauf, daß die Wertung des jeweiligen Stereotyps keinen Verstoß gegen gesellschaftliche Normen oder allgemeinen Konsens darstellt. Es läßt sich eine häufige Verknüpfüng der Nicht- Tabuisiertheit mit der Explizitheit feststellen. Stereotype können zur journalistischen Darstellung sowohl erwarteter wie nicht erwarteter Ereignisse und Situationen eingesetzt werden. Im folgenden wird zwischen der Darstellung eines Sachverhalts, die von einem Stereotyp abweicht, und der Darstellung eines Sachverhalts, die einem Stereotyp zu entsprechen scheint, unterschieden. Beides wird nachfolgend abgekürzt als atypische bzw. typische Darstellung einer Situation in Hinblick auf ein Stereotyp bezeichnet. Es ist ohne weiteres einleuchtend, daß zum Beispiel der ständige Hinweis auf das Nichtzutreffen einer Eigenschaft von Angehörigen einer bestimmten ethnischen Gruppe das Vorhandensein einer stereotypen Vorstellung dennoch nachdrücklich stützt, weil es das Stereotyp ständig evoziert. Dem analysierten Text läßt sich entnehmen, daß Stereotype sowohl dann formuliert 186 Jarochna Dqbrowska werden, wenn eine Situation, ein Ereignis oder ein Repräsentant Polens dem schon vorhandenen Stereotyp genau entspricht und es dadurch bestätigt, aber auch, wenn sie stark von ihm abweichen und eine diesbezügliche Verwunderung artikuliert wird. Unter der typischen Darstellung einer Situation in Hinblick auf ein Stereotyp verstehe ich also die Darstellung erwartbarer bzw. ‘typischer’ Sachverhalte, wie sie der Journalist aufgrund seines Weltwissens erwartet, also eine Sichtweise von Ereignissen und Situationen, die im Einklang mit dem vorhandenen stereotypen Konzept steht. Mit der atypischen Darstellung einer Situation in Hinblick auf ein Stereotyp bezeichne ich dagegen eine Darstellung von Ereignissen und Situationen, die von der Erwartung abweichen und insofern dem stereotypen Konzept widersprechen. Die atypische Darstellung einer Situation in Hinblick auf das Stereotyp wird stets vor dem Hintergrund des (stereotypen) Wissens wahrgenommen. Auf diese Weise aktiviert auch die atypische Verwendung beim Leser das stereotype Wissen, denn das Typische wird als Wissenshintergrund aktualisiert und das Atypische als Differenz vor diesem Hintergrund beschrieben. Die Markierung als atypisch macht also den stereotypen Hintergrund transparent. Die strikte Trennung zwischen Explizitheit und Implizitheit von Stereotypen ist schwierig durchzufuhren, weil die Grenze zwischen beiden fließend ist. Es existieren jedoch einige Indikatoren, die das Erkennen von Implizitheit und Explizitheit vereinfachen. Aufgrund empirischer Analysen lassen sich folgende Fälle spezifizieren, in denen ein Stereotyp implizit ausgedrückt wird: - Der Journalist baut eine Paradoxie auf, ohne diese zu lösen, weil er das stereotype Wissen, mittels dessen diese Paradoxie aufgelöst werden kann, beim Leser voraussetzt. - Der Journalist nennt Ereignisse und Situationen, die im Weltwissen des Lesers selbstverständlich sind, im Sinne der Konversationsmaxime von Grice „be relevant“ und somit (scheinbar) der Konversationsmaxime widersprechen (vgl. Althaus/ Henne/ Wiegand 1980, S. 702-703). Dieses läßt den Leser annehmen, daß es sich eben doch um eine wichtige Bemerkung handelt. Wie auch bei den Kriterien von Typik/ Atypik werden hier Annahmen über Erwartetes und Unerwartetes implizit vermittelt. - Der Journalist drückt ein tabuisiertes Stereotyp aus, dessen explizite Nennung einen Verstoß gegen aktuelle gesellschaftliche Normen darstellt. Ein unterstützender Faktor für die explizite Verwendung von Stereotypen ist ihre Untabuisiertheit, zumindest im Kreise der erwarteten Leserschaft. Ein expliziter Ausdruck eines Stereotyps liegt dann vor, wenn alle Elemente der Prädikation syntaktisch realisiert werden, d.h. wenn beim Ausdruck eines Stereotyps sowohl das Referenzobjekt als auch das Prädikat durch Lexeme repräsentiert sind. Beide Elemente der Prädikation müssen nicht durch ganz bestimmte Lexeme ausgedrückt sein, aber die verwendeten Lexeme müssen sich je einem paradigmatischen Feld bedeutungsverwandter Wörter zuordnen lassen. Das Bild der Polen in der deutschen Presse 187 Man kann Explizitheit eventuell auch als Intendiertheit aufFassen, obwohl die linguistische Erschließbarkeit von Intentionen des Schreibers umstritten ist und hier nicht diskutiert werden soll (vgl. Busse 1992, S. 18ff.). Implizite Verwendung von Stereotypen soll heißen, daß ein Stereotyp im Text realisiert ist, ohne daß Referenzobjekt und Prädikat unmittelbar syntaktisch realisiert sind. Ein auf implizite Weise verwendetes Stereotyp kann vom Leser nur erkannt werden, wenn er bezüglich des Stereotyps über ein Vorwissen verfugt, d.h. es wiedererkennt, oder im Text weitere Indikatoren findet, die das Verstehen des Stereotyps ermöglichen und damit das implizite Stereotyp im Prozeß der Rezeption expliziter werden lassen. Zu solchen Indikatoren gehört die atypische Charakterisierung tabuisierter Stereotype. Analog zur Explizitheit kann man die Implizitheit entsprechend als Nicht-Intendiertheit auffassen. Nicht-Intendiertheit soll hier aber nicht den Status eines Analysekriteriums erhalten. Bezogen auf das Textganze läßt sich auch die Rolle des Stereotyps im Text festlegen. Das Stereotyp kann entweder leitmotivisch als zentrales Textthema oder als peripheres Textthema zum Ausdruck gebracht werden, das dem zentralen Textthema nachgeordnet ist und als atmosphärisch und dekorativ angeführt wird. Die leitmotivische Verwendung des Stereotyps läßt sich nicht anhand einzelner Belege, sondern nur mit dem Blick auf das Textganze erkennen. Das Stereotyp bezieht sich auf das zentrale Textthema und wird häufig schon in einer und zwar meistens expliziten Überschrift ausgedrückt. Das Stereotyp wird dann zum peripheren Thema, wenn es für die Argumentation des Autors weniger zentral ist. Unter Polarisierung wird in dieser Untersuchung ein journalistisches Vertextungsverfahren der Gegenüberstellung und Antonymisierung von Konzepten verstanden. Sie werden von Journalisten als extreme Pole nach einem vereinfachenden Negativ-Positiv-Schema bewertet und präsentiert. Die im untersuchten Korpus am häufigsten polarisierten Konzepte sind einerseits das negativ bewertete kommunistische Regime, d.h. die polnische Regierung und andererseits „die polnische Bevölkerung“, die positiv bewertet wird. Beide Konzepte werden vom Journalisten als vollkommen different und einander antagonistisch entgegengesetzt dargestellt. Der negative Pol, die sozialistische Regierung, wird nach dem ‘Freund-Feind-Schema’ als ‘Feind’ und nach dem ‘Opfer-Täter-Schema’ als ‘Täter’ und ‘Schuldiger’ eingeordnet. Das polnische Volk wird meistens mit den Streikenden gleichgesetzt. In den genannten Schemata repräsentiert es den Pol des ‘Freundes’ und zugleich den des ‘Opfers’. Diese Charakterisierung der Polen kann bei den Lesern Mitgefühl wekken, und sie können das polnische Volk als Opfer einer falschen Politik von Sozialisten bedauern. Das nationale Konzept „die Polen“ beschränkt sich dabei nur auf die gegen das Regime Protestierenden und Revoltierenden. Die polnische Nationalität der Sozialisten in der Regierung wird gar nicht thematisiert, ganz im Gegenteil, der Kommunismus wird geographisch anderswo verortet und als eine Ideologie gesehen, die aus dem Osten zwangsimportiert wurde. 188 Jarochna Dqbrowska Polarisierung ist hier ein Mittel, die polnische Nation antikommunistisch erscheinen zu lassen. Als Analysekriterium eignet sich Polarisierung deshalb, weil die Schreiber zur Charakterisierung der Antagonisten auf vereinfachende und generalisierende Urteile wie Stereotype angewiesen sind. 5. Exemplarische Textanalyse Gegenstand der folgenden Analyse ist der erwähnte und im Anhang wiedergegebene Artikel aus der Süddeutschen Zeitung. Das Hauptthema des Erlebnisberichtes des Korrespondenten der Streik der polnischen Arbeiter in Danzig wird in der Dachzeile des Textes fokussiert: Streiks in Danzig ohne die Arbeiter geht nichts mehr. Daneben werden in den weiteren Schlagzeilen zwei andere Subthemen des Textes hervorgehoben, und zwar: die Religiosität der Streikenden - Hauptüberschrift - „Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns.“ die Disziplin der Streikenden - Unterzeile - Die Werftbesetzer beharren mit ungewöhnlicher Disziplin auf der Anerkennung des Streikkomitees als Verhandlungspartner. Alle drei Überschriften weisen auf die wesentlichen Schwerpunkte des Textes hin, wobei ihre Gewichtung die Relevanz der jeweiligen Aspekte im Text erkennen läßt. Als Hauptelement der Dialektik von Typik/ Atypik im analysierten Text fungiert der Streik, der für ein sozialistisches Land im konkreten Fall für Polen eine atypische Situation darstellt. Der Streik wird als atypischer Zustand für das Land behandelt, wobei die in Polen herrschende Situation mit Merkmalen, die sowohl als typisch (z.B. Religiosität) wie als atypisch (z.B. Disziplin) für Polen eingeordnet werden, beschrieben wird. In seinem Erlebnisbericht bedient sich der Autor einer sukzessiven Einengung des Referenzraums, die an die sog. Zoomtechnik erinnert. Dem Rezipienten wird das Thema allmählich näher gebracht, indem er über eine hierarchische Kette herangeführt wird. Die Strukturglieder oder Subreferenzobjekte in dieser Kette sind räumliche Stationen, und zwar das Land Polen - Danzig als Streikzentrum der Danziger Flughafen - Danziger Straßen das Eingangstor zur Lenin-Werft das Werftgelände. Anhand dieser allmählichen Konstitution der thematischen Struktur des Textes vollzieht der Leser die Reisegeschichte des Journalisten schrittweise nach und folgt dabei Subtexten, die zusammengenommen einige markante Züge des in der westdeutschen Presse verbreiteten Polenbildes besitzen. Bestandteile dieses Polenbildes sind u.a. im Text ausgedrückte Stereotype, die nachfolgend, wie oben erläutert, in Form einfacher Prädikationen dargestellt werden. Die Belegstellen werden nach dem beigefügten Originaltext anhand eines Schlüssels zitiert, in dem z.B. [203/ 2/ 3] bedeutet: Seite 203, zweiter Absatz, Das Bild der Polen in der deutschen Presse 189 dritte Zeile. Der Zeitungsartikel kann aus technischen Gründen nicht im Originallayout zur Verfügung gestellt werden. Das Material wird im Originalwortlaut und mit zugehörigen Bildern präsentiert. Im folgenden werde ich die im Text enthaltenen Stereotype einzeln behandeln. Das Stereotyp mit der Prädikation: ‘Polen sind streng katholisch’ ist in der folgenden Belegstelle ausgedrückt: Woher kommt diese Kraft in Polen, immer wieder? „ Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns! “ Das sagt die kleine Frau, das sagen bärenstarke Junge und graue Alte. [204/ 6/ 4] Diese Stelle ist im Text folgendermaßen eingebettet: - Ein Original-Zitat wird als Antwort auf eine vom Journalisten selbst formulierte Frage eingefuhrt. Diese Frage beantwortet er ausschließlich mit dem oben genannten Zitat „ Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“, das stringente Verhältnis zwischen Antwort und Frage wird quasi zum Beweis für das Vorliegen des Stereotyps des ‘streng katholischen Polen’. - Mit der Wortgruppe immer wieder wird betont, daß es sich hier nicht um einen einmaligen Vorgang handelt, sondern daß die Aussage einen allgemeingültigen Charakter haben soll. - Dem Stereotyp wird ferner Allgemeingültigkeit dadurch verliehen, daß ein und dieselbe Aussage unterschiedlichsten Sprechern zugeordnet wird: die kleine Frau, bärenstarke Junge und graue Alte. Die Auswahl der Zitierten ist soziologisch typisierend und gleichbedeutend mit ‘die ganze Gesellschaft’. Frauen und Männer, Junge und Alte, Starke und Schwache repräsentieren alle, d.h. die gesamte polnische Bevölkerung. Die Typisierung wird nach Geschlecht, Alter und Tatkraft vorgenommen. Die Eigenschaftszuschreibung ‘Polen sind streng katholisch’ wird als typisches ethnisches Merkmal und explizit mittels einer zitierten Äußerung angeführt. Das Personalisierungsprinzip läßt Journalisten oft zu Zitaten als Mittel der Personalisierung greifen (vgl. Homberg 1990, S. llOf). Die Präsentation als Antwort auf eine Frage verstärkt die appellative Wirkung des Stereotyps. Der Wahrheitsgehalt der Aussage soll durch die Verwendung der Zitatform mit Angabe der Sprecher bekräftigt werden. Das Stereotyp wird in weiteren Textstellen implizit ausgedrückt, wodurch seine Existenz bestätigt und untermauert wird. Es wird jedoch nicht weiter entwickelt, sondern dient eher als typische Hintergrundfolie, die eine Bestätigung des stereotypen Wissens über die Polen leisten soll. Das Stereotyp wird im Text leitmotivisch verwendet. Die zentrale Rolle des Stereotyps für den Bericht spiegelt sich in der Hauptschlagzeile „Wir glauben an Gott und Gott ist mit uns“, die sich durch eine besondere Schriftgröße von den anderen Überschriften hervorhebt. Die Hauptüberschrift bringt das, was im Text selbst über die Religiosität der Polen geäußert wird, auf einen Nenner. Auch die gesamte Perspektive, aus der das 190 Jarochna Dqbrowska Werftgelände und die Streikenden dargestellt werden, hebt das religiöse Engagement der Polen hervor. Der Autor bedient sich generalisierender Aussagen, die das Ausmaß der polnischen Religiosität hervorheben sollen. Der Leser soll annehmen, daß der Glaube an Gott die Triebfeder der Polen ist. Dieser Glaube wird an mehreren Stellen im Text thematisiert, z.B. in der Erwähnung der ‘überzeugenden Messen’, die auf dem Werftgelände stattfinden, in den Parolen der Streikenden ,ßis zum Erfolg und „Gott ist mit uns“ [205/ 4/ 2] und in der Nennung religiöser Symbole (Kreuz [203/ 2/ 6], Bilder vom Papst [203/ 3/ 2]). Dem Text ist ein Foto beigefugt, das streikende Arbeiter der Lenin-Werft in Danzig zeigt, die zum Gebet niederknien. Das Foto fungiert hier als direkte Illustration der Hauptüberschrift. Montierte man dieses Foto in einen Bericht über deutsche Streiks, würde das vermutlich ungewöhnlich, unverständlich, anormal, frappierend, irritierend oder möglicherweise paradox auf den deutschen Leser wirken. Die Eigenart des Bildes „Beten im Streik“ resultiert aus einer für Deutsche ungewöhnlichen Verknüpfung von ‘Gebet + Streik’. Auch dem Foto liegt also das Stereotyp vom ‘streng katholischen Polen’ zugrunde. Besonders auffällig wirkt in diesem Zusammenhang die Erwähnung eines Kruzifix am Kühler eines Lebensmittelwagens, die sogar zum Untertitel des Textes gemacht wird [203/ Untertitel]. Das Kruzifix am Kühler eines Wagens dient in der Werft, so heißt es, als ein Erkennungszeichen für Lebensmitteltransporte, die die Werft versorgen [203/ 3/ 5], Zu den religiösen Symbolen gehören auch das im weiteren Kontext genannte drei Meter hohe Kreuz aus frischem Holz, das mit vielen Nelken und Fähnchen in Polens Nationalfarben Weiß-Rot [203/ 2/ 6] behängt ist. Auf die Symbole konzentriert sich auch die Beschreibung des Haupttores der Lenin-Werft, das mit Nelken, Rosen, Gladiolen und Bildern vom polnischen Papst Johannes Paul II. [203/ 3/ 2] geschmückt ist. In der Werft werden auch Bildchen von der Mutter Gottes, der ‘Königin Polens’, die mit einer solidarischen Widmung versehen sind, verteilt [204/ 3/ 4], Erklärt wird dies mit einem Auftrag des Prälaten Jastak, der in Gdingen eine Messe auf dem Werftgelände zelebriert hatte. Außerdem wird thematisiert, daß die Streikenden eine Medaille tragen eine Nickelmünze, die ein Geschenk des Danziger Bischofs Kaczmarek ist [204/ 3/ 5], Auf der einen Seite dieser Medaille befindet sich das Bild der Jungfrau von Tschenstochau, auf der anderen Seite der Kopf von Johannes Paul II., dem Papst. Der Autor hebt in diesem Fall das stolze Tragen dieser Medaille durch die Streikenden hervor [204/ 3/ 5], Es läßt sich also gut belegen, daß Textkonstitution und Formulierungen im einzelnen so angelegt sind, daß Religiosität sehr plastisch und bildhaft als ethnisches Merkmal hervortritt. Sie unterstützen das Stereotyp ‘Polen sind streng katholisch’. Das Stereotyp mit der Prädikation: ‘Polen sind disziplinlos’ tritt in folgendem Textzusammenhang auf: Das Bild der Polen in der deutschen Presse 191 Die Disziplin dieser 18 000, oft genug als polnisch-disziplinlos beschimpft, ist eisern. [203/ 4/ 11] Der Autor verwendet hier explizit das Stereotyp vom ‘disziplinlosen Polen’. Er kennt das Stereotyp offensichtlich, denn er beruft sich direkt darauf und stuft es als weit verbreitet ein (oft genug) Das Stereotyp wird dem Leser explizit vermittelt, aber zugleich als eine beim Leser vorausgesetzte Einstellung behandelt. Durch die Darstellung bleibt offen, wer es nach Meinung des Autors hat und verbreitet, und von wem sich der Autor möglicherweise durch die Wortwahl beschimpft distanzieren möchte. Aber es ist auch möglich, daß der Autor das Stereotyp teilt und in dieser Form äußert, damit er für sein eigenes Stereotyp keine Verantwortung übernehmen muß. Die Realität enttäuscht in diesem Fall die Erwartung des Autors und das Stereotyp wird deshalb als atypisch klassifiziert. Der Autor bewertet das Prädikat polnisch-disziplinlos in der aktuellen Situation als ungerechtfertigt, und er korrigiert das Stereotyp vom ‘disziplinlosen Polen’, mit dem Hinweis auf die ‘eiserne’ Disziplin der 18 000. Damit versucht er vermutlich, das von ihm bei den Lesern vorausgesetzte Stereotyp zu entkräften. Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang die Verwendung der beiden Adverbien oft und genug. Das temporale Adverb oft drückt nämlich deutlich aus, daß die Verknüpfung des ‘Schimpfwortes’ disziplinlos mit der Nationalitätskennzeichnung polnisch schon lange existiert und verwendet wird. Durch das Adverb genug drückt der Autor seine Mißbilligung der stereotypen Verknüpfung und deren Dauer aus. Die Funktion des Stereotyps besteht darin, dem Leser zu verdeutlichen, daß das herrschende Stereotyp von der ‘polnischen Disziplinlosigkeit’ ein ungerechtfertigtes Vorurteil, zumindest für den Zeitpunkt der Berichterstattung, darstellt. Das Stereotyp gehört zu den zentralen Textthemen; man könnte sagen, es wird leitmotivisch verwendet. Im Text wird es an dieser Stelle zwar das einzige Mal explizit, mit dem Ziel der Aufklärung der Rezipienten, geäußert, aber an anderen Stellen wird implizit darauf angespielt. Dies könnte man als Indiz dafür nehmen, daß dieses Stereotyp im Orientierungswissen des Journalisten selbst eine wichtige Rolle spielt. In folgenden Textstellen wird implizit auf das Stereotyp des ‘disziplinlosen Polen’ angespielt: „Keinen Tropfen Alkohol! “ lautete der erste Beschluß der Streikleitung. Und alle halten sich daran. Streikpolizei mit weiß-roten Armbinden hält auf Ordnung. Sie ist überflüssig. Alle wissen, worum es geht. [203/ 4/ 12]’ Die Werftbesetzer beharren mit ungewöhnlicher Disziplin auf der Anerkennung des Streikkomitees als Verhandlungspartner. [Unterzeile] Die thematische Fokussierung und vor allem die Vervendung des Attributs ungewöhnlich in bezug auf das Signalwort Disziplin im zweiten Zitat zeigen, daß ‘Disziplin’ als atypisch für Polen eingeordnet wird. Diese Atypik verdeut- 192 Jarochna Dqbrowska licht der Autor ferner durch das Syntagma auf Ordnung halten sowie durch die Relation zwischen Beschluß und sich daran halten. Dadurch wird das Unerwartete thematisiert. Das in diesem Textsegment auftretende Stereotyp betrifft die Disziplin der Streikenden, die mit dem Adjektiv ungewöhnlich versehen ist. Das Adjektiv ungewöhnlich kann hier auf zweierlei Weise interpretiert werden. Entweder bedeutet es vom Üblichen, Gewohnten, Erwarteten abweichend’ oder ‘das gewohnte Maß übersteigend’. Um zwischen beiden Möglichkeiten zu entscheiden, muß man sich der kontextuellen Belege bedienen. Vor deren Hintergrund läßt sich schließen, daß das Adjektiv ungewöhnlich hier in seiner ersten Bedeutung, als vom Üblichen, Gewohnten, Erwarteten abweichend’ verwendet wird. Bestätigt wird das durch den Kontextbeleg, der das Adjektiv poltusch-disziplinlos enthält. Man kann in den Textstellen [203/ 4/ 11], [203/ 4/ 12] und in der [Unterzeile] konkurrierende sprachliche Indikatoren bezüglich der Einstellung des Autors über die vermeintliche oder tatsächliche Disziplinlosigkeit der Polen erkennen. Einerseits drückt beschimpfen kritische Distanz aus, wobei offen bleibt, wer wen oft genug als polnisch-disziplinlos beschimpft hat, weil die Agensangabe fehlt. Alle Textstellen zum Thema Disziplin kontextualisieren sich gegenseitig und vermitteln das Bild einer von der Erwartung abweichenden ungewöhnlichen Disziplin und einer Streikpolizei, die überflüssig sei, weil sich alle an die Beschlüsse halten. Man könnte aufgrund aller Kontextindikatoren annehmen, daß der Journalist das Stereotyp ursprünglich geteilt hat, aber es jetzt, aufgrund seiner Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Streik, in Frage stellt. Die Gegenüberstellung von polnisch-disziplinlos und eiserner Disziplin belegt die Anwendung eines deutschen Autostereotyps auf die Situation der Polen. Das Lexem eisern wird oft zur Attribuierung des Militärischen und Deutschen oder Preußischen verwendet (vgl. z.B. der eiserne Kanzler Bismarck). In bezug auf Polen unterstreicht es das Ausmaß der Verwunderung über das Ungewöhnliche der ganzen Situation. Eine der sich wechselseitig kontextualisierenden Textstellen ist sogar als Unterzeile hervorgehoben. In Verbindung mit dem Stereotyp vom ‘disziplinlosen Polen’ kommt das Stereotyp des ‘trinkfreudigen Polen’ vor. Das Stereotyp mit der Prädikation: ‘Polen sind trinkfreudig’ ist in folgender Textstelle ausgedrückt: „Keinen Tropfen Alkohol! " lautete der erste Beschluß der Streikleitung. Und alle halten sich daran. Streikpolizei mit weiß-roten Armbinden hält auf Ordnung. Sie ist überflüssig. Alle wissen, worum es geht [203/ 4/ 12] Die Information, in der der Autor auf den ersten Beschluß der Streikleitung eingeht, bringt das Stereotyp über ‘den trinkenden Polen’ implizit zum Aus- Das Bild der Polen in der deutschen Presse 193 druck. Um dieses Stereotyp zu erschließen, bediene ich mich folgender gedanklicher Schritte: - Das Verbot „Keinen Tropfen Alkohol! “ stellt an und für sich eine wertneutrale Aufforderung dar; nur das Lexem ‘Tropfen’ verschärft das ausgedrückte Verbot. - Die anschließende Formulierung lautete der erste Beschluß der Streikleitung stuft durch die Verwendung des Zahladjektivs erste den Beschluß als extrem wichtig ein. Mit dem Hinweis auf die Priorität des Beschlusses weist der Journalist nicht nur auf seine Wichtigkeit, sondern auch auf die Notwendigkeit in der Einschätzung der polnischen Streikleitung hin, ihn zu fassen. Er läßt den Leser dadurch einiges über das Selbstbild der Polen erschließen. - Auffällig ist, daß der oben genannte Beschluß als einziger von allen Beschlüssen überhaupt explizit genannt wird, was ebenfalls auf die Relevantsetzung durch den Autor schließen läßt. - Der Satz Und alle halten sich daran zeigt die Atypik. Wenn man diesen Satz in einen anderen Kontext montierte, z.B. „Die IG Metall beschließt den Streik, und alle Mitglieder halten sich daran“ würde sich die Überflüssigkeit der genannten Zusatzinformation zeigen; deutsche Gewerkschafter würden selbstverständlich den Beschlüssen Folge leisten. Berichtet würde nur über solche Mitglieder, die sich nicht an den Streikbeschluß halten das heißt über diejenigen, die sich atypisch verhalten. Daraus folgt, daß in der vorliegenden Textstelle beim Autor eine andere Erwartungshaltung vorliegen muß, und zwar die vom normalerweise ‘trinkenden Polen’. Es läßt sich zeigen, daß diese Erwartung und ihre ‘Enttäuschung’ dem Autor besonders wichtig ist. Er spricht sie nämlich auch an einer anderen Textstelle an: Kommt jemand mit einer Tasche, wird sie durchsucht. Wodka-Flaschen werden ausgeschüttet [203/ 4/ 10], Dieses Textsegment bestätigt die stereotype Vorstellung vom ‘trinkfreudigen Polen’, der gerne dem Wodka zuspricht, aber jetzt ‘in der Ausnahmesituation’ dem Alkohol gegenüber Enthaltsamkeit üben muß. Die Sachverhalte Durchsuchen von Taschen und Ausschütten von Wodka-Flaschen werden hier vor dem Hintergrund des Typischen mit Wodka zur Werft kommen als atypisch vermittelt. Die atypische Darstellung der Lage in Hinblick auf das Stereotyp wird vom Journalisten an den beschriebenen unerwarteten Verhaltensweisen der Streikenden, wie z.B. ‘Polen sind diszipliniert’, ‘trinken keinen Tropfen Alkohol’, sogar ‘die Streikpolizei ist überflüssig’ festgemacht. Erkennbar wird das Atypische wiederum, wenn man mehrere Textstellen zum gleichen Thema miteinander vergleicht. In allen wird die Dialektik von Typik/ Atypik hergestellt und genutzt (vgl. polnisch-disziplinlos). Durch die abschließende Äußerung des Autors: Alle wissen, worum es geht wird die atypische Charakterisierung noch gesteigert. Hier wird ein neues Bild von der polnischen Bevölkerung etabliert, und zwar: Polen halten ungeheuer 194 Jarochna Dqbrowska diszipliniert zusammen und sind bereit, auf vieles zu verzichten, wenn es um Entscheidendes geht. Das Stereotyp mit der Prädikation: „Polen ‘organisieren’ Waren auf unkonventionelle Weise“ ist in folgender Textstelle ausgedrückt: Die Lebensmittel werden ordentlich gekauft. [203/ 3/ 6] Als Thematisierung einer Selbstverständlichkeit erhält dieses Textsegment innerhalb des gesamten Zeitungsartikels eine Relevanzhochstufung, die beim Leser eine besondere Aufmerksamkeit hervorruft. Für ihn stellt sich nämlich die Frage, warum etwas Selbstverständliches für den Autor erwähnenswert ist und in einem Zeitungsartikel auftaucht, zu dessen Textsortencharakteristik es gehört, daß gerade hier konventionellerweise Informationen über neue, dem Leser noch nicht bekannte Sachverhalte vermittelt werden. Zwar scheint der deskriptive Satz auf der Ausdrucksebene keine stereotypen Inhalte zu vermitteln, und man könnte sogar meinen, daß unter dem ‘ordentlich Kaufen’ in umgangssprachlicher Bedeutung ‘große Mengen von Lebensmitteln kaufen’ verstanden wird, aber dann müßte der Satz erstens folgende Topologie aufweisen: ‘Es werden ordentlich Lebensmittel gekauft’. Zweitens schließt die Verwendung des bestimmten Artikels (die Lebensmittel) eine Interpretation im Sinne der idiomatischen Verbindung ordentlich (ein)kaufen im Sinne von ‘viel (ein)kaufen’ aus. Aus diesen Gründen bedeutet das ‘ordentliche Kaufen’ in diesem Text eindeutig ‘korrektes Erwerben von Waren mittels Geld’; dafür spricht auch der weitere Kontext. Das zugrundeliegende Stereotyp weist Parallelen zum Stereotyp der polnischen Disziplinlosigkeit auf. Der Autor bedient sich des gleichen Präsentationsschemas; sowohl die ‘Disziplin der Polen’ als auch ‘ordentliches Kaufen von Lebensmitteln’ scheinen unter den gegebenen Umständen als etwas Neues, Berichtenswertes, Atypisches zu gelten. Die Thematisierung als etwas Selbstverständliches weist wieder auf die typisch-atypische Kontrastierung vor dem Hintergrund der vom Autor konstatierten Abweichung von der Erwartung über die ‘organisierenden Polen’ hin. Dabei wird das ‘Organisieren’ als Euphemismus für das Tauschen von Waren, für Einkäufe unter dem Ladentisch, für das Beschaffen über Beziehungen, für das ‘Abzweigen’, d.h. aus der staatlichen Produktion in private Kanäle umlenken oder für das Stehlen verwendet. Das Vorhandensein der stereotypen Inhalte kann durch folgende Ableitung illustriert werden: i) Bl Die Lebensmittel werden ordentlich gekauft ist eine Aussage über faktische Verhältnisse im Streik. ii) Implizit enthält Bl eine Aussage B2 über faktische Verhältnisse außerhalb der Streiksituation bzw. die normal erwartbare Streiksituation, B2 lautet „Normalerweise werden die Lebensmittel nicht ordentlich gekauft“. Das Bild der Polen in der deutschen Presse 195 Man kann die Aussage versuchsweise in einen anderen Kontext übertragen. Man stelle sich z.B. vor, es werde über einen Streik etwa bei den Londoner Verkehrsbetrieben berichtet und geschrieben, daß die Streikenden „die Lebensmittel ordentlich kaufen“. Dann macht der Kontext „London“ deutlich, daß es hierfür keinen Erwartungshintergrund gibt, der den Satz B1 informativ macht. Bl impliziert B2, ohne daß B2 syntaktisch und lexikalisch realisiert ist. Mit der Aussage Die Lebensmittel werden ordentlich gekauft betont der Journalist die Ordnung und die tadellose Disziplin der Streikenden. Die Analyse zeigt, daß es sich hier um das Stereotyp des ‘unter Umständen auch illegal organisierenden Polen’ handelt, das der Autor aber nur implizit ausdrückt. Diese ‘Implizitheit’ läßt sich auch aufzeigen, wenn man die Textstellen vergleicht, in denen Stereotype explizit ausgedrückt werden, z.B.: Die Disziplin dieser 18 000, oft genug als polnisch-disziplinlos beschimpft, ist eisern. [203/ 4/ 11] Woher kommt diese Kraft in Polen, immer wieder? „ Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns! “ Das sagt die kleine Frau, das sagen bärenstarke Junge und graue Alte. [204/ 6/ 4] In diesen Textstellen kann man den expliziten Ausdruck des Stereotyps an der verwendeten Lexik erkennen, nicht jedoch im Beispiel über das ‘ordentliche Kaufen der Lebensmittel’. Allgemein ist festzustellen, daß Journalisten die expliziten Stereotype mittels bestimmter Lexeme markieren oder sie aus dem Kontext entwickeln. Das Stereotyp über das „ordentliche Kaufen“ wird hier implizit verwendet. Im Wort ordentlich ist die implizite Bedeutung ‘Die Polen stehlen’ enthalten. Ob es sich deshalb um ein unfreiwilliges Unterlaufen des Stereotyps handelt, kann aber mit linguistischen Mitteln nicht entschieden werden. Das Stereotyp mit der Prädikation: ‘Polen sind russenfeindlich’ ist in folgenden Textstellen ausgedrückt. Öffentliche Verkehrsmittelfahren nicht. Auch die Taxis stehen still. Nur Ausländer werden chauffiert. Der einzige Taxifahrer am Flughafen, schon wortlos bereit, den Ankommenden aufzunehmen, schlägt abrupt wieder die Tür zu, als er sich von mir, gerade aus Moskau kommend, gedankenlos russisch angeredet hört. Als ich sage, ich sei Deutscher, fragt er auf deutsch nur: „Bundes? “ Ich nicke, er strahlt, öffnet die Wagentür wieder und erklärt: „Reden Sie ja nicht russisch. Wir wollen nichts von den Russen wissen. “ Bereitwilligfährt er zum Danziger Hafen, der Lenin-Werft entgegen. [202/ 2/ 3] Wir wollen nichts von den Russen wissen. [203/ 1/ 3] Der Autor bedient sich hier des Zitats eines polnischen Taxifahrers. Das kollektive Wir signalisiert, daß es sich um die typische Einstellung aller Polen handelt. Der Autor läßt den Polen selbst sprechen, weil es authentischer klingt 196 Jarochna Dqbrowska als ein bloßes Berichten über Gehörtes. Das Zitat personalisiert eine Aussage, die als allgemeingültig dargestellt wird. Das Stereotyp bezüglich der negativen Einstellung der Polen gegenüber den Russen wird folgendermaßen ausgedrückt: durch Thematisierung der Symptomfunktion der russischen Sprache (russisch angeredet hört) mit einer negativen Reaktion durch die kategorische Äußerung wir wollen nichts von den Russen wissen, die sehr explizit, eindeutig und unmißverständlich ist durch die nonverbale Reaktion des Taxifahrers auf den vermeintlichen Russen: er schlägt abrupt die Tür zu. Dieses Verhalten wird vom Journalisten eindeutig negativ eingeordnet und der Pole als aggressiv dargestellt. Die Aggressivität gegenüber dem vermeintlichen Russen drückt die Verwendung des Verbs zuschlagen aus. Das Verb betont nämlich nicht nur die Unhöflichkeit und Animosität des Polen gegenüber dem Russen, die beispielsweise mit schwächeren Verben wie ‘schließen’ oder ‘zumachen’ auszudrücken wäre, sondern beinhaltet die zusätzliche Komponente der Streitbarkeit des Polen. Das modale Adverb gradueller Art abrupt verstärkt diese Streitbarkeit. Das generische Urteil des Typs ‘Polen sind russenfeindlich’ läßt sich auch aus weiteren Formulierungen des Autors erschließen. Zuerst bedient sich der Autor einer Exemplifikation: Nur Ausländer werden chauffiert, um im weiteren eine Kontrastrelation herzustellen, indem er unter den Ausländern zwei Gruppen spezifiziert; es gibt nämlich die einen Ausländer, die chauffiert werden, und die anderen, die nicht chauffiert werden. Dabei wird deutlich, daß ein Russe zu der Kategorie von Ausländern gehört, die nicht befördert worden wäre. Dieses Stereotyp wird explizit ausgedrückt, aber durch die Verwendung eines direkten Zitats muß der Autor keine Verantwortung für das Urteil übernehmen. Geradezu polarisierend wirkt die Darstellung der Sympathie den westdeutschen Bürgern gegenüber, der man entnehmen kann, daß der Journalist ein Stereotyp mit der Prädikation: ‘Polen mögen die Deutschen’ zu vermitteln sucht; hierzu folgende Textstelle: B: Als ich sage, ich sei Deutscher, fragt er auf deutsch nur: „Bundes? “ Ich nicke, er strahlt, öffnet die Wagentür wieder und erklärt: „Reden Sie ja nicht russisch. Wir wollen nichts von den Russen wissen. “ Bereitwillig fährt er zum Danziger Hafen, der Lenin-Werft entgegen. [203/ 1/ 1] Inwieweit letztlich auch noch ein konkurrierendes, historisch weiter zurückreichendes Stereotyp ‘Polen mögen die Deutschen nicht’ anzunehmen ist, läßt sich diesem Text nicht entnehmen. Diese Frage ist interessant, weil es wahrscheinlich Stereotype gibt, die sich widersprechen, das heißt, daß Stereotype Das Bild der Polen in der deutschen Presse 197 kein in sich stimmiges System bilden müssen. Jedenfalls enthält die Geschichte des deutsch-polnischen Verhältnisses genügend Beispiele für beide Stereotype: die „Deutschfreundlichkeit“ und die „Deutschfeindlichkeit“. In einem größeren Korpus wäre die Frage zu prüfen, in welchem Zusammenhang welches der beiden Stereotype aktualisiert wird. In dem hier untersuchten Text benehmen sich die Polen durchweg deutschfreundlich. Interessant ist auch, daß der Journalist die positiven Reaktionen der Polen auf die Westdeutschen reduziert. Die polnische Sympathie den Deutschen gegenüber wird ausschließlich in bezug auf Westdeutsche dargestellt und zwar mittels des mangelnde Sprachbeherrschung signalisierenden Wortfragments Bundes-, die DDR-Bürger werden nicht erwähnt. Dieses Auslassen der DDR- Bürger in der Darstellung des Journalisten läßt darauf schließen, daß er oder der polnische Taxifahrer einen Unterschied zwischen den beiden deutschen Staaten hinsichtlich ihrer Beliebtheit machen. Die Polen werden im Kontakt mit den Westdeutschen hauptsächlich mit Verben und Adjektiven charakterisiert, die positivwertend sind: strahlen, erklären, bereitwillig, herzlich. Positive Zuschreibungen stellen auch solche Formulierungen dar wie: die Wagentür öffnen, oder laute Freude, die im weiteren Kontext erscheinen. Als ich meinen deutschen Paß zeige, herzliche, laute Freude: „Njemetz? [Niemiec d.A ] - Deutsch? “ [203/ 3/ 6] Daß es sich auch hier um die ausschließliche Zuwendung den Westdeutschen gegenüber handelt, signalisiert das ‘Paß-Vorzeigen’ sehr deutlich, durch das sich der Autor als ein bundesdeutscher Bürger ausweist. Der Journalist spricht einerseits von Zuwendung zu den Deutschen generell; man könnte annehmen, daß er die DDR einbezieht. Andererseits grenzt er sich jedoch ganz stark von der Annahme ab, daß es sich hier um die Sympathie der Polen gegenüber den West- und Ostdeutschen gemeinsam handelt, denn er wählt ein Element den Paß aus, an dem die Differenzierung zwischen DDR und Bundesrepublik ganz scharf hervortritt. Das Stereotyp mit der Prädikation: ‘Kommunismus ist rückständig = Polen ist ein kommunistischer Staat = Polen ist rückständig’ ist im folgenden Textbeleg ausgedrückt: Das Fehlen von Bussen und Straßenbahnen, den Merkmalen kommunistischer Hauptverkehrszeit, fällt auf [203/ 1/ 5] Der Journalist bringt an dieser Stelle eine Annahme zum Ausdruck, die er offensichtlich für verbrieftes, gesichertes und allgemein anerkanntes Wissen über Polen als kommunistisches Land hält, und zwar das Stereotyp der rush-hour im Sozialismus, die sich nicht durch PKW, sondern durch Busse und Straßenbahnen auszeichnet. Das für den Kommunismus im Verständnis des Autors Typische, nämlich Busse und Straßenbahnen, wird zum Anlaß genommen, um atypisch ihr Fehlen in der aktuellen Streiksituation zu betonen. 198 Jarochna Dqbrowska Das Textsegment enthält folgende Aussagen: 1) Busse und Straßenbahnen sind die Merkmale der kommunistischen Hauptverkehrszeit. 2) Das Fehlen von Bussen und Straßenbahnen in Danzig fällt als etwas Ungewöhnliches auf. Das Stereotyp ist in der Aussage (1) enthalten. Die Kopplung des Attributs kommunistisch und des Kompositums Hauptverkehrszeit ist stilistisch durch Ungewöhnlichkeit markiert. Die üblichen Kollokationen beider Ausdrücke, also das Paradigma erwartbarer Lesarten (vgl. Steyer 1994) von ‘kommunistische’ einerseits und ‘Hauptverkehrszeit’ andererseits weichen von den im Text präsentierten ab. Das Lexem kommunistisch wird eher mit ideologierelevanten Wörtern verknüpft; das Lexem Hauptverkehrszeit gehört hingegen zum Wortschatz der Alltagssprache und wird mit kapitalistischem Individualverkehr und mit anderen Alltagsbegriffen verbunden. Das Stereotyp wird also durch eine Wortgruppe ausgedrückt, die aus zwei ideologisch konträren Signalwörtern besteht. Die Verwendung des bestimmten Artikels den mit Bezug auf die Merkmale kommunistischer Hauptverkehrszeit erweckt den Eindruck scheinbarer Objektivität, mit der der Autor den Kommunismus zu beurteilen weiß. Dem Leser wird vermittelt, daß Busse und Straßenbahnen während der Hauptverkehrszeit in den sogenannten kommunistischen Staaten die vorrangigen Beförderungsmittel sind. Der Autor behandelt dieses Urteil als einen Konsens unter seiner Leserschaft, d.h. er geht davon aus, daß seine Leser es teilen. Er thematisiert dieses Urteil nicht, sondern beläßt es bei den impliziten Aussagen. Auch wenn linguistische Analysen grundsätzlich keine psychologischen Erkenntnisse erlauben, liegt die Vermutung nahe, daß das diesem Textsegment implizite Stereotyp dem Autor nicht bewußt ist. Versucht man, die ganze Äußerung in einen anderen Kontext zu montieren, d.h. die Substitutionsprobe zu machen, und zwar in ein dem Leser vertrautes System, z.B. ‘Das Fehlen von Bussen und Straßenbahnen, den Merkmalen kapitalistischer Hauptverkehrszeit, fällt auf, kommt man zu dem Schluß, daß eine solche Äußerung nur schwer verständlich wäre, weil der Rezipient das Bild der rush-hour im Kapitalismus von vornherein eher mit dem Individualverkehr, d.h. mit PKW-Kolonnen, verbindet. Mit der verdeckten Gegenüberstellung von kommunistischer und kapitalistischer Hauptverkehrszeit erweckt der Autor bei seinen westdeutschen Lesern ein Bild der Rückständigkeit des Kommunismus generell, der Jahrzehnte hinter dem Westen herhinkt. Dieses Bild entspricht einem weiteren Stereotyp, dem von der Rückständigkeit des Kommunismus, das im gesamten Text an mehreren Stellen mehr oder weniger implizit zum Ausdruck kommt. Im Text wird dieses Stereotyp nicht explizit thematisiert; es befindet sich außerhalb der zentralen Textthematik. Das Bild der Polen in der deutschen Presse 199 Daß es dem Autor darum geht, die negativen Seiten des Kommunismus hervorzuheben, belegen auch andere kontextuell hinzuzuziehende Textstellen. Eine Passage [202/ 1/ 1] vergleicht die polnische Regierung mit der Führungsmannschaft des durch einen Eisberg versenkten Luxusschiffs ‘Titanic’. An einer anderen Textstelle wird die polnische Regierung als realitätsfremd beschrieben: Während die Fi'thningsmannschafl sich entschließt, über ihre sonstigen Verhältnisse hinaus offen zum Volk zu sein, und die Gefahr beim Namen nennt, plötzlich sogar „Strajk“ zu etwas sagt, das es eigentlich immer noch nicht geben dürfte, auch von eigenem unglaublichen Bekennermut zur eigenen Fehlerhaftigkeit befallen wird... [202/ 1/ 6] Der Leser kann daraus folgern, daß die Regierung bis jetzt die eigenen Fehler unter den Tisch gekehrt hat und nicht ehrlich zum Volk war. Im Zusammenhang damit steht das im Text angeführte Zitat „35 Jahre haben sie uns angelogen. Jetzt ist es genug.“ [207/ 2/ 6], das die Unzufriedenheit der polnischen Bevölkerung und ihre ablehnende Haltung den polnischen Funktionären gegenüber widerspiegelt. Noch deutlicher wird die negative Meinung des Autors über den Kommunismus, wenn man seine Aussagen über die Streikenden einer kritischen Bewertung unterzieht. Man kann hier das Phänomen der Polarisierung erkennen, die sich in der Etablierung eines scharfen Gegensatzes zwischen der kommunistischen Regierung einerseits und den Streikenden andererseits äußert, z.B.: Seit sieben Tagen läuft das polnische Staatsschiff einer Erhebung entgegen, die unter der Oberfläche des Alltags ungeahnte Ausmaße hat. [202/ 1/ 4] Den Gegenpol stellt etwa die Darstellung, der Durchorganisiertheit der Streikbewegung und des tadellosen Funktionierens ihrer Aktivitäten dar: Alles wartet auf den täglichen Lagebericht, während hinten in der Ecke Mädchen Butterbrote schmieren, Käse-, Wurstbrote richten, junge Burschen Wannen, gefüllt mit Tomaten hereintragen, oder Kisten mit Mineralwasser und Limonade. [204/ 1/ 8] Ähnlich positiv ist auch die Charakterisierung der Arbeiter: Entschlossen, von kalter Wut beseelt sind die Arbeiter. [202/ 2/ 2] Die Formulierung von kalter Wut beseelt stellt eine ungewöhnliche Kombination dar. Die kalte Wut kann als eine rational kontrollierte Wut verstanden werden. Das Lexem beseelen wird in bezug auf das Vorantreiben, Animieren, auf das Verleiten und Veranlassen von Aktivitäten verwendet. Daraus kann der Leser eine besondere Haltung der polnischen Arbeiter, die ihren Niederschlag in einem ‘existentiellen Engagement’ findet, ableiten. Die Formulierung 200 Jarochna Dqbrowska mit der die polnischen Arbeiter charakterisiert werden, könnte man also als Summe von Wut, Kontrolle und konstruktiver Haltung beschreiben. 6. Zusammenfassung Dem analysierten Text sind mindestens die sieben erläuterten Stereotype zu entnehmen. Die in Abschnitt 2 vorgenommene Bestimmung von Stereotyp wird durch die empirische Textanalyse bestätigt, d.h. die Stereotype erweisen sich in der Analyse als Inhaltselemente, die ausdrucksseitig realisiert und demzufolge linguistisch herausgearbeitet werden können. Es lassen sich dabei verschiedene Möglichkeiten des Ausdrucks von Stereotypen in der Presse feststellen, die auf einer Skala von ganz explizit bis sehr implizit angesiedelt sind. Die Untersuchung eines größeren Textkorpus ergibt zusätzlich, daß die ausgedrückten Stereotype sich ihrer Frequenz nach sehr unterscheiden. Hierfür gibt es zwei Gründe, die darauf beruhen, daß die Stereotype einerseits ein unterschiedliches Gewicht innerhalb des Orientierungswissens einzelner Individuen besitzen, andererseits sind die Stereotype von der aktuellen Situation abhängig. Der Autor beschreibt, was ihm auffällt, aber auch das, was er über Polen weiß und zu wissen glaubt. Die Herausarbeitung vor allem der implizit realisierten Stereotype erfordert differenzierte linguistische Analysemethoden, zu denen die Substitution, die Beachtung von Antonymie und Negation, die Verteilung von Typik und Atypik, die Polarisierung, sowie die kontextuelle Bedeutungsrekonstruktion wertender Wörter (s.o. ordentlich) gehören. Die Strukturierung des Textganzen, einschließlich Fotos und Überschriften, d.h. die Auswahl von Informationen, die dem Leser angeboten werden, sowie die Thematisierung und Fokussierung bestimmter Aspekte, trägt dazu bei. Stereotype zu vermitteln, die die Leser als Bestandteile ihres eigenen Orientierungswissens wiedererkennen, aber auch neu lernen können. Die Analyse hat gezeigt, daß zumindest bestimmte Stereotype durch die Art und Weise ihrer Verwendung in der Presse bestätigt und tradiert werden können. Im analysierten Text trifft dies für alle dargestellten Stereotype zu. Offensichtlich gibt es in einer aufgeklärten und freien Presse jedoch auch eine entgegengesetzte Tendenz, die es dem Journalisten erlaubt. Stereotype explizit aufzugreifen, um sie angesichts neuer Erfahrungen zurückzuweisen und so an den Leser zu appellieren, sie aufzugeben. Man kann annehmen, daß gerade der behandelte Text einen Relativierungsversuch hinsichtlich der negativen Stereotype über Polen darstellt mit dem Ziel, einen Beitrag zur Verbesserung der deutsch-polnischen Beziehungen zu leisten. Aber es stellt sich die Frage, ob solch eine Anhäufung von positiven Urteilen nicht gerade die Atypik der aktuellen Lage verstärkt etwa in dem Sinne: Ein so außergewöhnliches Verhalten der Polen kann sich auch schnell wieder ändern. Was die einzelnen Leser aus dieser Mischung einerseits bestätigter und andererseits relativierter Stereotype machen, entzieht sich freilich einer linguistischen Analyse. Das Bild der Polen in der deutschen Presse 201 7. Textgrundlage Neumaier, Eduard (1980): „Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns“. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 194, vom 23724. August 1980, S. 3. 8. Literatur Althaus, Hans-Peter/ Henne, Helmut/ Wiegand, Herbert-Emst (1980): Lexikon der Germanistischen Linguistik. 2.. vollst. neu bearb. und env. Aufl. Tübingen. Busse, Dietrich (1992): Textinterpretation: Sprachtheoretische Grundlagen einer explikativen Semantik. Opladen. Homberg, Walter (1990): Das verspätete Ressort. Die Situation des Wissenschaftsjoumalismus. In: Ronneberger, Franz/ Bringmann, Karl (Hg.): Journalismus. Bd 29. Konstanz. Lesser, Peter (1990): Das aktuelle Zitathandbuch von A bis Z. Ein praktischer Soforthelfer mit Zitaten, Anekdoten. Aphorismen und Redensarten für aktuelle, öffentliche und private Anlässe. Bd 7, Teil 5. S. 6. Lesser, Peter (1993): Das aktuelle Zitathandbuch von A bis Z. Ein praktischer Soforthelfer mit Zitaten, Anekdoten, Aphorismen und Redensarten für aktuelle, öffentliche und private Anlässe. Bd 7, Teil 5. S. 10. Lippmann, Walter (1990): Die öffentliche Meinung. Reprint des Publizistik-Klassikers. [Originaltitel: „Public opinion“ (1922)). In: Bochumer Studien zur Publizistik und Kommunikationswissenschaft. Bd 63. Bochum. Quasthoff, Uta M. (1973): Soziales Vorurteil und Kommunikation. Eine sprachwissenschaftliche Analyse des Stcreotyps. Frankfurt a.M. Schröder, Peter (1987): Sprachliches Funktionieren und interaktive Funktion von Stereotypen. In: Röhl, F. (Hg.): Das Güteverfahren vor dem Schiedsmann. Soziologische und kommunikationswissenschaftliche Untersuchungen. Köln/ Berlin/ Bonn/ München. Steyer, Kathrin (1994): Reformulierungen. Zur Vernetzung von Äußerungen im öffentlichen Diskurs. Mannheim. Teichmann, Christine (1985): Präsuppositionen in der Linguistik und ihre Bedeutung in der manipulativen Kommunikation. Berlin. Zybatow, Lew (1993): Die Veränderung der Sprache und die Sprache der Veränderung. Untersuchungen zum semantischen und pragmatischen Wandel im Gegenwartsrussischen. Habilitationsschrift zur Erlangung der Venia legendi für das Fach Slavische Sprachwissenschaft. Berlin. Manuskript. 202 Jarochna Dqbrowska 9. Anhang Streiks in Danzig ohne die Arbeiter geht nichts mehr ’’Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns" Die Werftbesetzer beharren mit ungewöhnlicher Disziplin auf der Anerkennung des Streikkomitees als Verhandlungspartner Von unserem Korrespondenten Eduard Neumaier „DER SIEG, das ist die moralische Genugtuung": Streikende Arbeiter der Lenin-Werfi in Danzig knien zum Gebet nieder. Danzig, 22. August Wie auf der Titanic beim Ruf „Eisberg voraus" die hoffartigen Passagiere nach kurzem Erschrecken weiterfeierten, geht Polens Hauptstadt Warschau scheinbar gelassen über die Mitteilung hinweg: In Danzig keine Einigung. Es ist der Abend des siebten Tages; vor einer Woche hat der Streik in Danzig begonnen. Seit sieben Tagen läuft das polnische Staatsschiff einer Erhebung entgegen, die unter der Oberfläche des Alltags ungeahnte Ausmaße hat. Während die Führungsmannschaft sich entschließt, über ihre Verhältnisse hinaus offen zum Volk zu sein, und die Gefahr beim Namen nennt, plötzlich sogar „Strajk" zu etwas sagt, das es eigentlich immer noch nicht geben dürfte, auch von einem unglaublichen Bekennennut zur eigenen Fehlerhaftigkeit befallen wird, gleicht die Anteilnahme der versammelten Nation einer fast sportlichen Neugier: Stoßen Regierung und Streikende zusammen. oder gelingt noch ein kühnes Ausweichmanöver? Danzig ist das Streikzentrum. Und das Zentrum im Zentrum ist die Lenin-Werft vor den alten Toren der Stadt. Die Stimmung ist hier anders als in Warschau. Entschlossen, von kalter Wut beseelt sind die Arbeiter. Öffentliche Verkehrsmittel fahren nicht. Auch die Taxis stehen still. Nur Ausländer werden chauffiert. Der einzige Taxifahrer am Flughafen, schon wortlos bereit, den Ankommenden aufzunehmen, schlägt abrupt wieder die Tür zu. Das Bild der Polen in der deutschen Presse 203 als er sich von mir, gerade aus Moskau kommend, gedankenlos russisch angeredet hört. Als ich sage, ich sei Deutscher, fragt er auf deutsch nur: „Bundes? " Ich nicke, er strahlt, öffnet die Wagentür wieder und erklärt: „Reden Sie ja nicht russisch. Wir wollen nichts von den Russen wissen." Bereitwillig fährt er zum Danziger Hafen, der Lenin-Werft entgegen. Die Straßen sind fast sonntäglich leer. Das Fehlen von Bussen und Straßenbahnen, den Merkmalen kommunistischer Hauptverkehrszeit, fallt auf. Autos sind kaum zu sehen, die Benzinversorgung der Stadt ist eingestellt. Die Raffinerie streikt. Am Straßenrand sieht man einzelne Gruppen von Männern. Am Kühler ein Kruzifix Allmählich wechselt die Szene. Je näher das Ziel kommt, desto mehr Polizisten tauchen auf. Hundert Meter von der Werft entfernt plötzlich keine Uniformen mehr. Dafür aber lebhaftes Getümmel. In kleinen Trauben gestikulieren und diskutieren Männer in blauer Montur oder in legerem Zivil. Zweihundert, dreihundert mögen es um 8 Uhr morgens sein. Neben der Zufahrtsstraße, links vom Haupttor, sind Löcher in Form von Gräbern ausgehoben. Daneben steht ein drei Meter hohes Kreuz aus frischem Holz, behängt mit vielen Nelken und Fähnchen in Polens Nationalfarben Weiß-Rot. Das Kreuz markiert die Stelle, an der demnächst ein ertrotztes Denkmal für die 49 beim blutigen Streik im Dezember 1970 umgebrachten Arbeiter der Werft stehen wird. Rechts vom Tor, auf der Decke eines halbfertigen Schuppens, wacht unter einer Zeltplane ein halbes Dutzend Männer. Rund um das gigantische Werftgelände, im Abstand von 100 Metern, stehen solche Wachquartiere. Auf Dächern der Werftgebäude dazwischen halten weitere Männer aus. Keiner soll eindringen dürfen. Hinein kommt man nur durch das Haupttor. Über und über ist es behängt mit Nelken, Rosen, Gladiolen und Bildern vom polnischen Papst Johannes Paul II. Es wird dicht von Männern und Frauen belagert. Ein Auto schiebt sich hindurch. Ein Kontrolleur von kräftiger Statur prüft die Ausweise der Insassen. Dahinter kommt ein Lieferwagen, am Kühler ein Kruzifix das Erkennungszeichen für Lebensmitteltransporte, die die Werft versorgen. Die Lebensmittel werden ordentlich gekauft. Als ich meinen deutschen Paß zeige, herzliche. laute Freude: „Njemetz? - Deutsch? “ Schon bin ich durch und eingekeilt. Beifall prasselt auf, fünfzig, hundert Männer umringen mich. Übermüdete, unrasierte Gesichter, dicht an dicht, schauen interessiert. Die Männer gehören zu fast 18 000 Arbeitern der Werft, 2000 davon sind Parteigenossen. Alle streiken, alle, „nur nicht der Erste Sekretär der Partei und der Direktor des Betriebes", erklärt ein Alter, der dazugekommen ist, weil er von dem Deutschen gehört hat. Der alte Danziger macht hier den Dolmetscher. Die Hälfte dieser 18 000 hat die Werft seit sieben Tagen und zwei Stunden nicht verlassen. Die andere Hälfte geht und kommt wie üblich. Die im Werk schlafen ohne Decken dort, wo sie sonst an den Maschinen stehen: auf ölverschmierten Holzrosten, auf dem nackten Boden, auf Stühlen, wenige in Sesseln vor dem großen Versammlungssaal. Musik spielt über den Hof. Gruppen schlendern. Ein Mädchen ruft durch ein Megaphon Namen auf. Die Aufgerufenen bewegen sich zum Tor. Dort stehen Ehefrauen. Manche schimpfen, bringen aber trotzdem Rasierzeug, Wäsche, Tee, Brote. Andere, die keine Verwandten unter den Arbeitern haben, bringen Geld und, was genauso wichtig ist, Solidarität. Eine Frau weint, überwältigt vom Ereignis, daß die Männer genug haben und sich wehren: „Es ist so wichtig. Diesmal muß es gelingen, es muß! " Kommt jemand mit einer Tasche, wird sie durchsucht. Wodka-Flaschen werden ausgeschiittet. Die Disziplin dieser 18 000, oft genug als polnischdisziplinlos beschimpft, ist eisern. „Keinen Tropfen Alkohol! " lautete der erste Beschluß der Streikleitung. Und alle halten sich daran. Streikpolizei mit weiß-roten Armbinden hält auf Ordnung. Sie ist überflüssig. Alle wissen, worum es geht. Gleich soll die tägliche Sitzung des Streikkomitees beginnen. Morgens und abends treffen sich die Komiteemitglieder in der Aula. Zuerst versammelten sich in dem Saal nur die Delegierten der Lenin-Werft. Dann verlangten Komitees anderer streikender Betriebe, an den Sitzungen teilzunehmen. Seither sind es jeden Tag mehr geworden. An diesem achten Tag 204 Jarochna Dqbrowska sind es 600 Delegierte von 300 streikenden Betrieben allein aus der sogenannten Drei- Stadt. wie die räumliche Einheit Danzig-Gdingen-Zoppot genannt wird. Sie vertreten, vorsichtig geschätzt. 150 000 Streikende. Seltsame „Dienstwagen“ rollen an: Lieferwagen. Pritschenwagen, Lastwagen. Privatautos, hinter der Windschutzscheibe ein handgemaltes Schild mit den Initialen ihres Betriebes. Jedes Mitglied des „überbetrieblichen Streikkomitees. mit dem die Warschauer Führung nicht verhandeln will, ist gewählt von der jeweiligen Belegschaft. Ein paar Delegationen kommen nicht. Es heißt. Miliz habe sie daran gehindert. Alles wartet auf den täglichen Lagebericht, während hinten in der Ecke Mädchen Butterbrote schmieren, Käse-, Wurstbrote richten, junge Burschen Wannen, gefüllt mit Tomaten hereintragen oder Kisten mit Mineralwasser und Limonade. Verlesen wird, wer neu zu den Streikenden gestoßen ist. Beifall. Einer berichtet, in Zeitungen und im Rundfunk werde behauptet, die Regierung verhandele mit den Streikenden. Seine Stimme wird lauter: „Sie lügen. Alle lügen sie. Seit 35 Jahren lügen sie.“ Denn: „Mit uns hat niemand verhandelt. Wir warten. Sie müssen zu uns kommen." Tatsächlich verbreitet Warschau, es verhandele. Aber mit wem? Ein wildes Getümmel bricht aus. Dreißig, vierzig junge Männer drängen sich unter dem polnischen Adler um das Podium. Neuigkeiten? Nein, im Aufträge des Prälaten Jastak, der am Vortage auf der Werft in Gdingen eine Messe gefeiert hat. werden Bildchen von der Muttergottes, der Königin Polens, versehen mit einer solidarischen Widmung, verteilt. Ein harter Bursche zieht stolz eine kleine Medaille aus dem Hemd: Der Danziger Bischof Kaczmarek hat Streikenden eine Nickelmünze verehrt auf der einen Seite das Bild der Jungfrau von Tschenstochau. auf der Rückseite der Kopf von Jan-Pawel, dem Papst. Plötzlich jubelnde Freude. Die Regiening habe einen neuen Kopf in ihrer Kommission in Danzig entsandt: das Politbüromitglied und den Ersten Vizepremier Mieczyslaw Jagielski. Er hat vor einem Monat den Streik in Lublin geschlichtet. Hier muß er sich mehr anstrengen. Danzig ist ein anderes Kaliber. Es ist das Zentrum und Schlüssel für alles. Danzig und Streiks das klingt für die Führung unter Edward Gierek nach schrillem Alarm. Denn die Arbeiter dieser Stadt haben sich im Dezember 1970 zwar blutige Köpfe geholt, als sie spontan und im Zorn unbedacht die Macht herausgefordert hatten, aber durch das Opfer von ungefähr 300 Menschen auch Gomulkas Sturz geschafft und Gierek in den Stuhl gehoben. Aber warum wieder Danzig? Ein Spätzünder schien es zunächst, die Welle von Streiks, die im Juni durch Polen lief, war fast schon vorbei. Warschau hatte bereits Entwarnung gegeben; Gierek glaubte, ruhig nach Hamburg fahren zu können. Er hatte den Namen Anna Walentinowicz vergessen; hochgemuter Eigensinn kam an ihr ins Stolpern. Die Arbeiterin steht im 60. Lebensjahr, sie ist 159 Zentimeter klein, schmal, hat kurzes aschblondes Haar und klare Augen. Am 7. August, ein halbes Jahr vor der sowieso fälligen Pensionierung, hat der Direktor ihr einfach den 32 Jahre lang eingenommenen Platz als Kranführerin gekündigt und ihr einen anderen, schlechteren, in der benachbarten Werft zugewiesen. Sie sei von der Belegschaft isoliert. Aber sie ist nicht einfach irgendein altes Möbel, das man verrücken kann. Sie ist ein Symbol für Danzigs Arbeiter, eine Veteranin des Arbeitskampfes. 1970 war sie Mitglied jener Delegation, die in der Nacht des 25. Januar 1971 im Haus des Betriebsrates auf der Lenin- Werft mit einem besonderen Mann zusammengetroffen war, mit Edward Gierek, dem neuen, aus Oberschlesien gekommenen Parteichef. Demütig beschwor er damals „seine Arbeiter“ , ihm zu helfen, es sei eine historische Frage. So sprach er. Sie mochten ihn, sagt die Frau, die da jetzt im Sessel kauert, klagend und bitter. Jetzt wird sie ihm helfen. Plötzlich tauchten in Danzig und vor der Werft gedruckte Flugblätter auf, die die Willkür der Werftherren anprangerten. Und am 14. August. Schlag 6 Uhr, weigerten sich die Werftarbeiter zu arbeiten. Sie lärmten nicht. Sie gingen nicht auf die Straße, sie blieben auf dem Gelände. Sie besetzten die Werft. Unheimlich ruhig, ganz selbstverständlich. Woher kommt diese Kraft in Polen, immer wieder? „Wir glauben an Gott, und Gott ist mit uns! “ Das sagt die kleine Frau, das sagen bärenstarke Junge und graue Alte. Das Bilii der Polen in der deutschen Presse 205 Vor allen anderen erklärt dies auch schlicht ein kleiner Mann, ohne den der Streik nicht solche Ausmaße angenommen hätte. Der Held von Danzig ist ungefähr 35 Jahre alt, 160 Zentimeter groß, schlank, trägt einen kessen Moustache und sein Haar sauber gescheitelt. Lech (Leszek) Walenca heißt er. Ein Demagoge? Ein charismatischer Führer? Bis 1976 war er in dieser Werft Elektromechaniker. Als Rädelsführer der Streiks von 1976, unbedeutende Nadelstiche gegenüber dem jetzigen, wurde er vor vier Jahren entlassen. Er fand andere Arbeit und machte sich welche: Er betrieb die Gründung einer freien Gewerkschaft. Frau Walentinowicz übrigens auch. Manchen hat man über dieses Unterfangen lächeln sehen. Was, außer vergeblichem Streben, kann das in einem kommunistischen Lande schon sein! „Leider kamen die Ereignisse ein Jahr zu früh“, erklärt er, „wir waren noch nicht so weit“. Der Apfel aber fällt, wenn er reif ist. Taktik der Regierung durchkreuzt Mit dem ersten Begehren der Streikenden wird seine Wiedereinstellung verlangt. Und bewilligt. Er kommt und ist der Chef. „Wir lieben ihn“, sagen Arbeiter und begegnen ihm respektvoll-scheu. Wie ein General dirigiert er, oben auf dem Podium stehend, seine Truppen. Ruhig ist er, gescheit, gewitzt und flink, er setzt alles auf eine Karte. Er besorgt die Wendung, indem er aus einer unter anderen Arbeitsniederlegungen das zentrale Ereignis macht. Um 14.17 Uhr am dritten Streiktag das Datum haben sich seine Gegner auf der anderen Seite genau gemerkt setzt eine Werftkommission ihre Unterschrift unter ein Papier der Betriebsleitung, die ein paar Wünsche zu erfüllen verspricht. Unversehens kommt Walenca dazu, sagt: „Entschuldigung. Neue Lage, die Komitees der anderen Unternehmen wollen einbezogen werden. Keine Separatvereinbarungen mehr." Ende. Walenca durchkreuzt die Taktik der Warschauer Führung, durch viele Einzelverhandlungen dem Streik die explosive Kraft zu nehmen. Er wird als Vorsitzender gewählt von den Komiteemitgliedern. Seither muß der Streik als organisiert gelten. Er hat Wucht, ist überlegt, hat einen Kopf, derweil die Warschauer Führung ratlos ist. „Bis zum Erfolg" und „Gott ist mit uns“ das ist die Losung. Walenca verspricht: „Wenn wir verlieren, gehe ich als erster hinaus durchs Tor. Wenn wir siegen als letzter." Der Sieg, das ist nicht der Erfolg im einzelnen, das ist die moralische Genugtuung. Aber Walenca sagt auch, und er sagt es immer wieder: „Wir stellen keine politischen Forderungen." Und dann fügt er hinzu: „Die Russen kommen nicht." Das glauben alle. Aber wenn: „Wir sind nicht die Tschechoslowaken! " 206 Jarochna Dqbrowska DIE GRÜNDUNG einer freien Gewerkschaft betreiben: Lech Walenca (mit Mikrophon) ist der Held von Danzig Worum es geht, ist erst am achten Tag klargestellt. Über der Werfteinfahrt sind 21 Forderungen angebracht, auf Matrizenabzügen werden sie unters Volk gebracht. Ihre Gliederung spiegelt den Zustand der verletzten polnischen Seele wider. Die ersten fünf Forderungen zum Punkt „freie Gewerkschaft'" ein immens politisches Begehren haben nichts mit dem Fleisch zu tun. von dem allein der Pole nicht lebt. Bei den wirtschaftlichen Forderungen geht es um Geld, das in Polen nichts wert ist. „Schaum im Glas", hat ein polnischer Funktionär hellsichtig gesagt, es gibt nichts zu kaufen dafür. 2000 Zloty monatlich mehr wollen die Danziger Arbeiter, ein Drittel ihres bisherigen Lohnes. Die dritte Gruppe der Forderungen fallt unter die Kategorie des verletzten Stolzes. Keine polnischen Waren für Devisenläden. Da wird, was Volkes Hände geschaffen haben. Volkes Genuß oft genug entzogen und durch den „inneren Export“ Ausländem und anderen Devisenbesitzerh zugeführt. Wohnungen sollen nicht mehr gegen Devisen käuflich sein. Und schließlich: Keine Privilegien für die Sicherheitskräfte. Hinter den Forderungen steht eine bittere Realität: Wartezeit für Wohnungen in Danzig gewöhnlich zehn Jahre: Privilegien der Ordnungskräfte ein Polizist, ein Geheimdienstmann oder ein Offizier erhält Zulagen von 1000 Zloty (rund 65 Mark) für seine Ehefrau und 500 Zloty (etwa 32,59 Mark) für jedes Kind: ein Arbeiter bekommt pro Kind 70 Zloty, für die Frau 40 Zloty den Preis einer Packung Lizenzzigaretten Marke Marlboro oder eines Kilo Schweinefleisches, wenn es welches gibt. Einen Inflationsausgleich gab es bisher nicht, sondern nur alle zwei Jahre eine Lohnerhöhung. Die letzte Erhöhung am 1. Januar 1979 betnig 3,9 Prozent. Die Inflationsrate in den Jahren 1977 und 1978 belief sich auf 13 Prozent. Anders gesagt, das Einkommen verminderte sich um 9,1 Prozent. Wie keine andere Stadt ist gerade Danzig geeignet, alle Übel der polnischen Wirtschaft und alle Unfähigkeit der staatlichen Planbürokratie vorzuführen. Das ehrgeizige Programm Giereks für sein Land wies Danzig eine Sonderrolle zu. Schiffbau sollte für den Staat zum Aushängeschild technologischer Gleichwertigkeit mit dem Westen werden. Tatsächlich ist Polen heute eine führende Schiffbaunation. Die „Drei-Stadt“, an der Danziger Bucht verfügt über fünf Werften, für die insgesamt 1700 Zulieferfirmen im Lande arbeiten. In Gdin- Das Bild der Polen in der deutschen Presse 207 gen auf dem Trockendock können 400 000-Tonner auf Kiel gelegt werden. Etliche der Zulieferfirmen wurden in Danzig angesiedelt. Die Stadt. 1970 noch 320 000 Einwohner zählend, wuchs jährlich um über 10 000 Menschen. Davon waren 6500 junge Arbeiter. Daß die Jungen auch einmal heiraten und Kinder haben würden keiner hat es bedacht und für Wohnungen gesorgt. Von jetzt 454 000 Einwohnern sind 105 000 Schulkinder. Das Durchschnittsalter der Danziger liegt bei 26 Jahren ein junges Volk, das die restaurierte Altstadt mit quickem, keckem Element belebt. LEBENSMITTEL werden ordentlich gekauft: Milchlieferung Jur die Streikenden Überwiegend jung sind auch die Gesichter auf dem Werftgelände. Sie repräsentieren, was ein kluger Mann aus Warschau, der Chefredakteur der Wochenzeitung Politika, Mieczyslaw Rakowski. einmal stolz die neue Elite Volkspolens genannt hat, selbstbewußt und stolz, Kinder der ersten Nachkriegsgeneration, die gleichwohl mit der Muttermilch den Stolz ihrer Ahnen, die Erfahrungen und Demütigungen ihrer Väter und die Abneigung gegen die Macht eingesogen haben. „35 Jahre haben sie uns angelogen. Jetzt ist es genug." Das Wort in der Versammlungshalle drückt aus. was alle meinen. Ausgetrickst sollen sie werden, so meinen sie und finden Belege für das alte Doppelspiel der Machthaber: daß man ihnen die Kommunikation mit den benachbarten Städten abschneidet; daß verbreitet wird, Streiks seien beendet worden, obwohl das Gegenteil wahr ist nur um endlich nichtsahnende Belegschaften wieder zur Arbeit zu bringen. Es gelingt ein paar Tage lang sogar. Tausende von Arbeitern der benachbarten Reparaturwerft und der Nordwerft davon zu überzeugen, daß die Lenin-Werft ihren Streik beendet habe bis am siebten Tag der Schwindel aufftiegt. Von da an streiken alle drei Werften und die Leute halten einen gemeinsamen Bittgottesdienst auf dem Werksgelände ab. Mißtrauisch stehen die Streikenden deshalb dem Verhandlungsangebot der Regierung gegenüber. Denn wie verhandelt die für Danzig bestellte Regierungskommission, die zunächst von dem wenig gerühmten Vizepremier Tadeusz Pyka geführt wird? Über das lokale Fern- 208 Jarochna Dqbrowska sehen sendet sie die Standzeile, wer verhandeln wolle, solle die Kommission anrufen. Aus 49 Betrieben sollen Bereitschaftserklärungen und sogar Delegationen gekommen sein. Vorübergehend nehmen tatsächlich auch einzelne Belegschaften die Arbeit wieder auf. Doch die meisten weigern sich. Am Donnerstagabend, am Abend des achten Tages, erntet Pyka Unzufriedenheit in Warschau. Mieczyslaw Jagielski muß an seiner Statt antreten. Warschau gibt erstmals, wenn auch sehr gewunden, zu erkennen, daß es wohl über kurz oder lang mit dem „überbetrieblichen Streikkomitee” verhandeln wird, der selbstbewußten und ersten freien Vertretung polnischer Arbeiter. Bis zu diesem Tag wird gestreikt. So wollen es die polnischen Arbeiter. Nichts geht mehr ohne sie. Marek Czyzewski ‘Repatriierte’ und Vertriebene: Wechselseitige Vorurteile in autobiographischen Berichten 1 Abstract: Das untersuchte Textmaterial ist einem narrativen Interview mit einer Polin entnommen, die von den Kriegsereignissen unmittelbar betroffen wurde. Die Erzählerin, Frau S., kam 1945 im Rahmen der ‘Repatriierung’ der polnischen Bevölkerung aus den früheren polnischen Ostgebieten aus Wilna in die Masuren und hat dort die Vertreibung der Deutschen unmittelbar miterlebt. Da das Textmaterial starke Bezüge zu historischen und makropolitischen Sachverhalten aufweist, wird auch die geschichtliche und makropolitische Situierung der autobiographischen Aussagen in die Analyse des Textmaterials mit einbezogen. Die zentrale Fragestellung richtet sich auf die Inkonsistenz zwischen zwei vorurteilshaften Interviewpassagen über die masurischen Frauen einerseits und dem im Interview dokumentierten Wissen der Erzählerin über die historisch bedingte Notsituation von 1945 andererseits. Mittels einer am biographieanalytischen Ansatz von Schütze orientierten Vorgehensweise und unter Hinzunahme weiterer theoretischer Konzepte wird der Frage nachgegangen, warum das eigentlich zu erwartende Mitleid an einer bestimmten Stelle der Rekonstruktion der Erfahrungen von Frau S. ausbleibt. Die Ergebnisse der Untersuchung hängen mit der Ausarbeitung und der Diskussion hypothetischer Antworten auf die Frage nach den Grenzen des Mitleids zusammen. Es werden vier komplementäre Erklärungsversuche erörtert, die die diskursive „Motivierung" der vorurteilshaften Äußerungen über die masurischen Frauen und somit die Inkonsistenz im Interview mit Frau S. erläutern könnten. 1. Der geschichtliche Rahmen In der Folge des 2. Weltkrieges sind mehrere ethnische Gruppen gezwungen worden, ihre jeweilige Heimat zu verlassen und auf einem anderen Gebiet ein neues Leben anzufangen. Auf der makropolitischen Ebene hat 1945-50 insbesondere in Osteuropa eine Kette von Aus- und Einwanderungswellen stattgefunden. Die autobiographischen Materialien, die ich im weiteren mikroanalytisch untersuchen werde, hängen mit einem wesentlichen Bestandteil dieser makropolitischen Ereigniskette zusammen, und zwar mit einer durch die Aliierten koordinierten Westverschiebung Nachkriegspolens (der Verschie- Dieser Aufsatz ist eine überarbeitete und erweiterte Version des Aufsatzes, der 1995 unter gleichem Titel auf Polnisch in „Kultura i Spoteczenstwo“ erschienen ist (Czyzewski 1995d). Der Ausgangspunkt beider Aufsätze war ein Fragment meines Forschungsberichtes „Trajektoria i uprzedzenie" (Verlaufskurve und Vorarteil), der 1995 im Rahmen des KBN Projekts „Biographie und nationale Identität" unter der Leitung von Prof. Dr. Zbigniew Bokszahski am Lehrstuhl für Kultursoziologie der Universität Lodz entstanden ist. Der Bericht untersuchte verschiedene Formen der Beziehung zwischen Verlaufskurve des Erleidens und Vorurteil in polnischen Kriegserfahrungen (Czyzewski 1995a). Für kritische bzw. ergänzende Bemerkungen zu einer früheren Version dieses Aufsatzes danke ich Kaja Kazmierska sowie Eckhard Dittrich, Mechthild Elstermann, Reinhard Fiehler, Lena Inowlocki, Inken Keim, Utta Müller-Handl, Alicja Rokuszewska-Pawelek, Reinhold Schmitt und Ricarda Wolf. Peter Straus und Thomas Reim bin ich für wichtige Hinweise und sprachliche Korrekturen in der letzten Phase der Überarbeitung dankbar. Gerhard Stickel und Fritz Schütze haben bei der Erstellung der Endfassung mitgewirkt. 210 Marek Czyzewski bung der deutsch-polnischen und der polnisch-sowjetischen Grenzen nach Westen). Auf dringenden Wunsch Stalins, dem die Aliierten übrigens trotz des Widerstandes der polnischen Exilregierung in London entgegenkamen, wurden Westweißrußland und die Westukraine die vor dem Krieg zu Polen gehörten der Sowjetunion zugeteilt, zusammen mit dem Wilnaer Gebiet, das schon während des Krieges durch die Sowjetunion der Litauischen Sowjetrepublik angegliedert wurde. Die auf diese Art entstandenen erheblichen territorialen Verluste des polnischen Staates sollten auf Kosten des besiegten Deutschlands entschädigt werden, durch die Zuteilung Ostpreußens 2 an Polen, sowie die deutsch-polnische Grenzziehung entlang der Oder-Neiße-Linie. Diesem Paket makropolitischer Entscheidungen lag nicht nur die sowjetische expansionistische ‘Politik der vollendeten Tatsachen’ zugrunde sowie die von den Aliierten wahrgenommene politische Notwendigkeit, die entscheidende Rolle der Sowjetunion bei der Zerschlagung des Dritten Reiches und die damit verbundenen enormen Opfer der Sowjetarmee auf eine politische Weise auszugleichen, sondern auch die von Churchill vertretene Ansicht, der künftige Frieden in Mittelosteuropa könne nur dann gewährleistet werden, wenn die internen interethnischen Spannungen innerhalb der Staaten dieser Region reduziert würden. Dies sollte, nach Auffassung Churchills, durch die ethnische Homogenisierung auf staatlicher Ebene bewerkstelligt werden, die mittels des ‘Transfers’, d.h., der Verlagerung der ethnischen Minderheiten zu ihren jeweiligen Herkunftsländern vollzogen werden müßte. Ein Gedanke, der dem heutigen, umstrittenen Konzept der ‘ethnischen Säuberung’ sehr wohl verwandt ist. Nach offiziellen polnischen Angaben waren es ca. 1,25 Millionen polnischer Staatsbürger, die 1945-48 ihre lokale Heimat in den bisherigen polnischen Ostgebieten (poln. „Kresy“, dt. etwa „Grenzländer“) verließen und ‘nach Polen’ gingen. Menschen, die sich zuvor beispielsweise in Wilna (poln. Wilno) oder Lemberg (poln. Lwow) zu Hause gefühlt hatten, entschieden sich mehrheitlich für eine Übersiedlung ‘nach Polen’, weil sie nicht unter unmittelbarer sowjetischer Herrschaft leben wollten. Die traumatischen Erfahrungen während der sowjetischen Besatzung (die in den „Kresy“-Gebieten von 1939 bis 1941 andauerte), wie z.B. Enteignung, Deportation nach Siberien oder das Schicksal der Gulag-Gefangenen machten diese Entscheidung sicherlich einfacher. Nach der durch die politische Führung des Nachkriegspolens geprägten, euphemistischen Terminologie, die auch in den allgemeinen polnischen Sprachgebrauch übernommen wurde, bezeichnete man die Übersiedlung der polnischen Bevölkerung aus den „Kresy“-Gebieten als ‘Repatriierung’ (poln. „repatriacja“, dt. „Heimkehr“) und die einzelnen Personen als ‘Repatriierte’ (poln. „repatrianci“, dt. „Heimgekehrte“). Die politisch gesteuerte Ansiedlung der ‘Repatriierten’ fand in den Gebieten statt, die vor dem Krieg als damalige deutsche ‘Ostgebiete’ zu Deutschland gehörten, und die jetzt durch den 2 Polnische Bezeichnung: Masuren (poln. orig. „Mazury“) bzw. Ermland und Masuren (poln. orig. „Warmia i Mazury“). 'Repatriierte' und Vertriebene 211 polnischen Staat als ‘Wiedergewonnene Gebiete’ bezeichnet wurden (damit waren jeweils Ostpreußen (poln. Masuren), Pommern, Großpolen und Schlesien gemeint). Zur Ansiedlung von Polen in den ‘Wiedergewonnenen Gebieten’ gehörte auch die von etwa 2 Millionen Menschen, die 1945-1950 aus verschiedenen Regionen Zentralpolens einwanderten. Im gleichen Zeitraum fand die Vertreibung der Deutschen statt, die aus dem gesamten mittelosteuropäischen Raum zu großem Teil unter extrem schwierigen Bedingungen nach Deutschland ausgewiesen wurden. Den jüngst revidierten deutschen Quellen zufolge soll die Gesamtzahl der in Deutschland 1944-1950 aufgenommenen deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen 12 Millionen überschritten haben. Die genauen Zahlen sind umstritten, auch deshalb, weil zu dem Gesamtbild nicht nur die Vertreibung im Zeitraum von Mitte 1945 bis 1950 gehört, sondern auch die frühere Phase der Evakuierung und Flucht (von 1944 bis Mitte 1945) sowie die spätere Phase der Aussiedlung. Für den Zeitraum von 1945-1950 wird die Zahl der Vertriebenen aus den ‘Wiedergewonnenen Gebieten’ (d.h., aus den ehemaligen deutschen ‘Ostgebieten’, die nach dem Krieg Polen zufielen) auf 3,5 Millionen Menschen geschätzt. Die Vertriebenen aus den ‘Wiedergewonnenen Gebieten’ waren zwar vor 1945 deutsche Staatsbürger, nicht alle von ihnen haben sich aber damals eindeutig mit der deutschen Kultur identifiziert, viele wie z.B. Masuren oder Schlesier fühlten sich eher an lokale ‘Zwischenkulturen’ gebunden. Im Zuge der eindeutigen Fremddefinition dieser Menschen als Deutsche seitens der Sowjetischen Armee, der polnischen Behörden und Teilen der polnischen Bevölkerung sowie unter dem Einfluß des sowjetischen Vergeltungsterrors und der polnischen Repressionsmaßnahmen und Schikanen gegenüber der gesamten, als deutsch definierten Zivilbevölkerung haben sich Mitglieder dieser ‘Zwischenkulturen’ zunehmend als Deutsche verstanden und sind nach Deutschland geflohen oder ausgewandert. Beide Themenbereiche - ‘Repatriierung’ und Vertreibung waren im öffentlichen Diskurs der Volksrepublik Polen lange Zeit politische Tabus und somit weitgehend verschwiegen bzw. marginalisiert oder verzerrt dargestellt. Nach der polnischen Wende 1989 hat sich zunächst das Thema der ‘Repatriierung’ - und generell das Schicksal der von der sowjetischen Herrschaft und Verfolgung betroffenen Polen schnell zu einem etablierten Gegenstandsbereich im öffentlichen Diskurs Polens entwickelt. Zahlreiche Bücher, Dokumentationen und Femseh- und Radiosendungen zu dieser Thematik haben diese Entwicklung gekennzeichnet. Das Thema Vertreibung hingegen brauchte mehr Zeit, um sich im öffentlichen Diskurs in Polen zu etablieren, vielleicht deshalb, weil dieses Thema nicht mit kollektivem polnischem Leid, sondern mit kollektiver polnischer Verantwortung oder auch Schuld - und zwar gegenüber Deutschen verbunden ist. Erst 1995, aus Anlaß des 50. Jahrestages des Kriegsendes hat eine breitere Auseinandersetzung mit der Vertreibung im öffentlichen Diskurs Polens begonnen. Ende 1995, anläßlich des 212 Marek Czyzewski 30. Jahrestages des Briefes der polnischen Bischöfe an die deutschen Bischöfe 3 , kam es zu einer zusätzlichen Intensivierung dieser Auseinandersetzung. Das verstärkte allgemeine Interesse der Polen an der Vertreibung der Deutschen ist seitdem in Polen bestehen geblieben. Dies scheint verständlich, weil das polnische kollektive Gedächtnis ja immer noch vieles in dieser Hinsicht nachzuholen hat. 4 In diesem allgemeinen Kontext könnte der vorliegende Aufsatz als ein Beitrag zur deutsch-polnischen Aussöhnung verstanden werden. Viel mehr liegt es mir aber daran, einer allgemeinen Forderung zu folgen, die Beziehungen zwischen ethnischen Gruppen kritisch zu betrachten, was auch heißt, zu versuchen, über die für die eigene Gruppe charakteristischen, in der Sprache verkörperten Schemata der Wahrnehmung der Geschichte hinauszugelangen. 5 2. Der empirische Ausgangspunkt Ich verlasse jetzt zeitweilig die Makroebene des geschichtlichen Rahmens, um mich einleitend meinen empirischen Materialien zuzuwenden. Das in diesem Aufsatz mikroanalytisch untersuchte Textmaterial ist einem narrativen Interview mit einer Polin, Frau S., entnommen, die den 2. Weltkrieg als Mädchen in Wilna miterlebt hat. 6 Mein besonderes Augenmerk richtet sich auf die Interviewpassagen, die von der ersten Phase des Aufenthaltes der Erzählerin in Masuren (dt. Ostpreußen) handeln, wohin die Erzählerin 1945 in Folge der ‘Repatriierung’ kam. Im November 1965 haben die polnischen katholischen Bischöfe einen Brief an die deutschen katholischen Bischöfe gerichtet, der als Botschaft zur deutsch-polnischen Versöhnung intendiert war. Die Versöhnungsgeste der polnischen Bischöfe gegenüber den Deutschen sowie der bekannteste Satz dieses Briefes - „Wir verzeihen und bitten um Verzeihung“ haben in Polen heftige Kritik seitens der damaligen kommunistischen Machtelite und ambivalente Reaktionen in der Bevölkerung ausgelöst. Auf deutscher Seite hat der Brief größtenteils eine relativ schwache Resonanz gefunden. Verschiedentlich wurde er in diesen Stellungnahmen als eine unzureichende Geste wahrgenommen, u.a. aus dem Grund, daß die Bezeichnung „Vertriebene“ im Brief nicht verwendet wurde. In diesem Zusammenhang sollte man hinzufugen, daß das Wort „Vertreibung“ (poln. „wyp^dzenie“) als Bezeichnung einer Aussiedlung oder Deportation einer Bevölkerungsgruppe einschließlich der polnischen und der jüdischen Bevölkerung im Polnischen nicht gebräuchlich ist, insbesondere weil diese Bezeichnung nach polnischem Sprachgefühl generell unpassend erscheint. Die vorstehenden Bemerkungen zur historischen Problematik der ‘Repatriierung’ und Vertreibung sind lediglich als eine Markierung des geschichtlichen Rahmens für die hier vorgenommene biographieanalytische Untersuchung gedacht. Einen umfassenden Überblick über die Problematik der Vertreibung findet man in Benz (1995). ln der inzwischen recht umfangreichen polnischen Literatur zum Thema ‘Repatriierung’ fehlt bis jetzt eine ähnlich konzipierte, umfassende Überblicksveröffentlichung. Ich folge hier dem Ansatz von Fritz Schütze, der die Anforderungen qualitativer Textanalyse mit der kritischen Analyse kollektiver Identität der eigenen ethnischen Gruppe zu verbinden versucht (vgl. Schütze 1989, 1992, 1995). Das Interview stammt aus dem Corpus von Kaja Kazmierska, der ich zu Dank verpflichtet bin. 'Repatriierte' und Vertriebene 213 Eine allgemeine methodische Vorbemerkung ist hier am Platze. Die formalmikroanalytisch angelegte Untersuchung autobiographischer Materialien zielt auf die in den autobiographischen Texten verwendeten Erzähl- und Argumentationsstrukturen ab. Für eine mikroanalytische Untersuchung von Textmaterialien, die starke Bezüge zu historischen und/ oder makropolitischen Sachverhalten aufweisen, scheint es allerdings dringend notwendig, die geschichtliche und makropolitische Situierung der autobiographischen Aussagen in die Analyse miteinzubeziehen. 7 Ohne den ‘größeren Rahmen’ zu berücksichtigen, könnte die Mikroanalyse solcher Texte in Gefahr geraten, ins Niemandsland der formalen Strukturen abzugleiten und käme in Hinblick auf den Erkenntnisgewinn zu kurz. Um dieser Gefahr entgegenzusteuem, werden in diesem Aufsatz Versuche unternommen, die wechselseitigen historischen und aktuellen - Bezüge zwischen der Mikroebene des Textes und der Makroebene der geschichtlichen und der politischen Prozesse zu analysieren. Diesem Umstand zufolge wechselt der Aufsatz von Kapitel zu Kapitel zwischen der Makro- und Mikroebene. Der empirische Ausgangspunkt der Mikroanalyse sind zwei kurze, stark negativ konnotierte Äußerungen von Frau S. über masurische Frauen. Die masurischen Frauen (allerdings bezeichnet als „Deutsche“ im weiteren komme ich darauf zurück) werden dort folgendermaßen dargestellt: Und darüber hinaus nun/ deutsche Frauen 8 machten auf mich einen sehr e: einen solchen merkwürdigen Eindruck. Sie waren so demütig, es reichte, daß man mit dem Fuß aufstampfte. Sie war eigentlich geneigt, sichjedem Wunsch unterzuordnen (poln. No poza tym cöz/ Niemki na mnie robify bardzoy: takie dziwne wrazenie. One byly takie pokorne, wystarczylo tupnqc nogq. Ona wlasciwie sklonna bylapodporzqdkowac siq kazdemu zyczeniu.) (19: 29-32) 9 Und dort zum Beispiel alle diese UB-Männer 10 , also jeder von ihnen, sie hatten zu Hause/ sie führten ihnen diese diese Haushalte. Aber nicht nur das, weil sie einfach allen Zwecken dienten. So, daß es, es auch so sehr e: unangenehm war (poln. / tarn na przyklad wszyscy ci ubowcy, to kazdy z nich, oni Diese Position wurde u.a. in der biographischen Methode von Fritz Schütze sowie im ‘diskurs-historischen’ Ansatz von Ruth Wodak ausgearbeitet (vgl. Wodak et al. 1990; Wodak et al. 1994). g Im Original Niemki (wörtlich Deutsche, pl. fern.). 9 Die Zahlen in Klammem stellen der Folge nach die Seite und die Zeile des polnischen Originaltextes des Interviews dar. denen ein entsprechendes Zitat oder eine besprochene Sequenz entnommen wurde. Ein umfangreicher Interviewausschnitt über die Situation der Masuren (17: 25-20: 1) ist seinem sequentiellen Ablauf nach und in der interlinearen Übersetzung im Anhang enthalten (siehe: Anhang, S. 245-252). Die an dieser Stelle zitierten Passagen befinden sich am Ende des im Anhang vorliegenden Interviewausschnittes. Weitere Ausschnitte des im Anhang enthaltenen, größeren Interviewausschnittes analysiere ich in Kapitel 7: Die Fallanalyse. 10 Im Original ubowcy, Funktionäre der polnischen Sicherheitspolizei UB (Urz^d Bezpieczenstwa, Sicherheitsamt). 214 Marek Czyiewski mieli w domu/ prowadzily im te te gospodarstwa. Ale nie tylko, bo one po prostu sluzyfy wszelkim celom. Tak, ze to, to bylo tez takie bardzo y: przykre) (19: 34-20: 1) In den zitierten Passagen sind zahlreiche textuelle Merkmale der Stereotypisierung festzumachen: Die Anwendung des Plurals in bezug auf entsprechende Kategorisierungen und Aktivitäten sowie auch Verallgemeinerungen alle und jeder. Im Rahmen des generalisierten Bildes der Beziehung zwischen den masurischen Frauen und den UB-Männem tritt zwar eine Formulierung im Singular auf (Sie war eigentlich geneigt, sich jedem Wunsch unterzuordnen), diese bezieht sich aber auf die Vorstellung einer prototypischen Repräsentantin der dargestellten Gruppe und funktioniert dadurch als eine günstige Plattform für die Konstruktion eines Stereotyps. 11 In den angeführten Passagen sind noch weitere Bedeutungsebenen vorhanden, und zwar eine Ethnisierung und Politisierung sozialer Kategorien. Die Männer sind UB-Männer, Repräsentanten der prosowjetischen kommunistischen Macht. Die Frauen sind masurische Frauen, Repräsentantinnen der lokalen (oder der deutschen) Bevölkerung. Die Ethnisierung des Diskurses stellt eine starke Markierung der stereotypisierten Ausdrucksformen dar. Auffallend ist zudem eine Auslassung, und gleichzeitig eine kategoriale Spannung: Die UB-Männer, die die masurischen Frauen zu Hause hatten, waren was nicht gesagt wird - Polen. In der zitierten Passage werden im Unterschied zu manchen anderen Interviewsequenzen die UB-Männer nicht in ethnischen Kategorien, sondern ausschließlich als Repräsentanten der kommunistischen Macht dargestellt. Darüber hinaus beinhalten die zitierten Passagen eine eindeutige, vorurteilshafte Herabsetzung masurischer (deutscher) Frauen: Diese Frauen zeichneten sich durch eine sexuelle Unterwürfigkeit aus, die in den Augen der Informantin nicht gerechtfertigt war. Die Formulierung dieses implizit moralisch untermauerten Einwandes ist verschleiert (demütig; eigentlich geneigt, sich jedem Wunsch unterzuordnen). Der sexuelle Charakter der Unterwürfigkeit wird aber offensichtlich, weil das Bild der Unterwürfigkeit einer Dienstflau gegenüber ihrem Herrn durch das Bild der Unterwürfigkeit einer Frau gegenüber einem Mann ergänzt wird: Die Männer hatten die Frauen zu Hause, die Frauen führten ihnen diese Haushalte und dienten allen Zwecken. 3. Verlaufskurve und Vorurteil Bevor ich auf die bereits zitierten Passagen sowie auf andere Interviewsequenzen zurückkomme, soll auf die theoretischen Hintergründe eingegangen werden, die für die hier unternommene Fallanalyse tragend sind. Die eingangs zitierten Interviewpassagen beziehen sich auf das Problem der wechselseitigen Relation zwischen Verlaufskurve und Vorurteil. Die Verlaufsn Zum Verhältnis von Prototyp und Stereotyp vgl. Wejland (1991). ‘Repatriierte’ und Vertriebene 215 kurve stellt nach Fritz Schütze eine der grundlegenden Strukturen biographischer Prozesse dar. Eine Verlaufskurve weist die beiden folgenden Merkmale auf: a) „Die Betroffenen vermögen nicht mehr aktiv zu handeln, sondern sie sind durch als übermächtig erlebte Ereignisse und deren Rahmenbedingungen getrieben und zu rein reaktiven Verhaltensweisen gezwungen“ (Schütze 1995, S. 126); als Beispiele lassen sich etwa Verfolgung, Verhaftung, Deportation und Krankheit nennen (hier unterliegen die Betroffenen stärker äußeren, von ihrem Handeln unabhängigen Umständen) oder etwa Alkoholismus- und Suchtverlaufskurven (hier unterliegen die Betroffenen zwar weniger solchen objektiven Umständen, sie erfahren aber ihre Lebenssituation gleichermaßen als extern bedingt); und b) die Erfahrung, den als übermächtig erlebten, lebensgeschichtlichen Ereignissen ausgeliefert zu sein, ist mit Leiden verbunden. Das Leiden der Betroffenen folgt nicht nur aus den konkreten negativen Erlebnissen (wie z.B. Schmerz, Hunger, Erschöpfung, Angst u.a ), sondern auch daraus, daß die Betroffenen keine Möglichkeiten sehen, die als übermächtig erlebten Umstände zu verändern (vgl. Schütze 1981, 1982, 1989, 1992, 1995). Die Verlaufskurve wird hier vorrangig als eine Diskursform betrachtet, d.h., ich interessiere mich in erster Linie dafür, wie Menschen ihr Leben in Kategorien einer Verlaufskurve erzählen. Mit einer solchen „diskursiven“ Einschränkung des Verlaufskurvenkonzeptes möchte ich weder die Aufrichtigkeit von Erzählern noch die Legitimation des narrativen Interviews als der Forschungstechnik in Frage stellen, die in der Regel den Zugang zu den realen, „damaligen“ biographischen Erfahrungen verschafft. Die „diskursive“ Einschränkung entspricht eher der methodischen Präferenz, den spezifischen Charakter der Sprache insbesondere der Erzähl- und Argumentationsstrukturen als sozialer Formen der Vermittlung von biographischen Erfahrungen in den Vordergrund zu stellen. Ähnlich wird hier auch das Vorurteil vorrangig als eine Diskursform aufgefaßt. Diese Bemerkung bedarf einer zusätzlichen Erläuterung. In der umfangreichen und mannigfaltigen Tradition der Stereotypen- und Vorurteilsforschung haben sich zwei grundlegende Ansätze etabliert. Der psychodynamische Ansatz hat das Vorurteil als eine sozialisatorisch bedingte, negative emotionale Einstellung definiert (Adorno et al. 1950, Allport 1954). Der kognitive Ansatz hat das Vorurteil als ein änderungsresistentes kognitives Schema bezeichnet und geht davon aus, Vorurteile seien unvermeidlich sowohl innerhalb individueller kognitiver Prozesse als auch auf der gesellschaftlichen Ebene (in Hinsicht auf die Formierung der Gruppenidentität und auf die soziale Gestaltung von Gruppenkonflikten; vgl. Tajfel 1982, und auch zu großem Teil Bar-Tal et al. 1989). In den letzten 10 Jahren bildete sich ein dritter Ansatz zur Stereotypen- und Vorurteilsforschung heraus, demgemäß Stereotype und Vorurteile als bestimmte Diskursformen, und insbesondere als spezifische Erzähl- und Argumentationsstrukturen aufzufassen seien (vgl. Billig et al. 1988; Billig 1991; 216 Marek Czyzewski van Dijk 1984, 1992, 1993; Wodak et al. 1990; Wodak et al. 1994). Diesem Ansatz zufolge, stellt die „Sprache“ der Stereotypen und Vorurteile eine Verzerrung potentieller Möglichkeiten menschlicher Kommunikation dar. Sie bedürfe nicht nur einer Analyse, sondern auch einer Kritik. Der vorliegende Aufsatz steht unter dem Einfluß dieser Forschungsperspektive, die ich im weiteren als ‘rhetorischen’ Ansatz bezeichnen werde. Auf der empirischen Ebene läßt sich feststellen, daß „typische“ Stereotype und Vorurteile über andere ethnische Gruppen einschließlich der Stereotype und Vorurteile in polnischen Kriegserfahrungen regelmäßig mit dem individuellen oder kollektiven verlaufskurvenhaften Erfahrungszusammenhang verbunden sind, der als das aus der Tätigkeit anderer, feindlicher ethnischer Gruppen folgende Leiden wahrgenommen wird (vgl. z.B. polnische Stereotype und Vorurteile über Russen und Deutsche). Diese Beobachtung läßt sich folgendermaßen diskursanalytisch fassen: Die „typischen“ Stereotype und Vorurteile sind diskursiv „motiviert“, d.h., es bieten sich in solchen Fällen plausible Hypothesen an, die erklären können, welchem Zweck ein bestimmtes Stereotyp oder Vorurteil im Rahmen des kommunikativen Orientierungssystems einer Person oder einer Gruppe dienen könnte. Die polnischen vorurteilshaften Bilder von Deutschen und von Russen als verbrecherischen Nationen z.B. dienten sicherlich einer Festigung der polnischen nationalen Identität in der Situation der jeweiligen Kriegsgefahrdung. In diesem Zusammenhang sei angemerkt, daß sich das im Interview mit Frau S. stark manifestierende antirussische und antisowjetische Ressentiment als ein „typisches“ Vorurteil auslegen läßt, weil es in Verbindung mit der eigenen individuellen und kollektiven - Verlaufskurve der Erzählerin steht. Meine Analyse behandelt in erster Linie nicht die psychischen Funktionen oder Dysfunktionen, wie einleuchtend sie auch aus der Perspektive des Alltagswissens erscheinen mögen, was das Beispiel des vermeintlichen, alltäglich nachvollziehbaren psychischen Bedürfnisses „Gleiches mit Gleichem zu vergelten“ illustrieren kann. Vielmehr geht es hier um die internen diskursiven Funktionen oder Dysfunktionen, d.h., um die Funktionen oder Dysfunktionen innerhalb des eigenen Orientierungssystems, wie etwa die Herstellung der Definition einer interethnischen oder interkulturellen Situation mittels des Deutungsmusters „Gleiches mit Gleichem zu vergelten“. Die internen diskursiven Funktionen können in solchen Fällen beispielsweise mit der Herstellung der individuellen und kulturellen Identitäten Zusammenhängen, und die internen diskursiven Dysfunktionen mit der Verletzung der Grundregel der kommunikativen Reziprozität. Auf die externe, soziale und politische Ordnung hingegen wirkt sich ein vorurteilshaftes Orientierungssystem in der Regel dysfünktional aus (m.a.W. das Vorurteil ist meistens extern dysfunktional), als ein fehlerhaftes oder konflikterzeugendes Orientierungssystem mit Ausnahme mancher Situationen des Krieges und der Gefährdung, bei denen Vorurteile der Verteidigungsmobilisation dienen können. 'Repatriierte' und Vertriebene 217 Die vorhin zitierten Äußerungen von Frau S. könnten den Eindruck eines unmotivierten Vorurteils erwecken. Das Vorurteil erscheint hier als anscheinend unmotiviert, weil es auf den ersten Blick schwierig ist, die Funktion oder die Dysfunktion innerhalb des kommunikativen Orientierungssystems der Erzählerin zu erschließen, die durch das antimasurische Vorurteil erfüllt werden könnte. Polen meinen doch nicht, sie hätten im 2. Weltkrieg unter Masuren gelitten. Masuren waren zwar Staatsbürger des Dritten Reichs, aber in den Augen von vielen Polen stellten sie vorrangig eine lokale Kultur dar. Darüber hinaus: Die individuelle und die kollektive Verlaufskurve der Erzählerin als ‘Repatriierte’ weisen weder eine reale noch eine diskursive Verbindung mit der Tätigkeit von Masuren aufsie hängen hingegen mit dem Verlust des Wilnaer Heimatlandes zugunsten der Sowjetunion zusammen. 1945-50 bestanden aber spezifische historische Bedingungen, die die polnischen ‘Repatriierten’ und die Masuren (sowie andere Gruppen der Vertriebenen) zur wechselseitigen Abneigung drängen konnten. 4. ‘Repatriierte’ und Vertriebene: Historische Bedingungen der Abneigung Ich kehre jetzt auf die Makroebene der geschichtlichen und politischen Prozesse zurück. Beide Gruppen - ‘Repatriierte’ und Vertriebene waren zwar füreinander keine Kriegsparteien, sie befanden sich aber in Folge des Krieges in der Situation eines unvermeidlichen Konfliktes um das Land, den Wohnsitz und um die Habe. Ein Gruppenkonflikt führt oft zur Entstehung und Verstärkung wechselseitiger Stereotype und Vorurteile. Dieser Mechanismus wird durch die sog. Konflikttheorien der Stereotype und Vorurteile beschrieben (vgl. Stroebe/ Insko 1989, S. 14-15). Im Falle von ‘Repatriierten’ und Vertriebenen kann man von einer Konkurrenz um die materiellen und die nichtmateriellen Ressourcen sprechen in den Augen der Vertriebenen nahmen ihnen die polnischen ‘Repatriierten’ ihr Heimatland weg. Durch die aus Zentralpolen ankommenden sog. Schaberleute 12 nahm der Konflikt oft die Gestalt einer verbrecherischen Bedrohung und Demütigung an. Das negative Bild der Schaberleute aus der Sicht Vertriebener unterlag einer stereotypisierenden Generalisierung und umfaßte nicht selten pauschal alle ‘Repatriierten’ und sämtliche Polen. Die in Deutschland nach dem Krieg erhobenen Berichte der Vertriebenen beinhalten Zeugnisse dieses Phänomens. 13 12 Poln. „szabrownicy“, polnische Bezeichnung der Polen, die aus Zentralpolen in die ehemaligen deutschen Ostgebiete fuhren und sich dort gleichsam „beruflich“ mit dem Plündern der Habe der Vertriebenen beschäftigen. Schaberleute siedelten sich in der Regel nicht in den ‘Wiedergewonnenen Gebieten’ an. sondern kehrten regelmäßig mit ihrer Beute nach Zentralpolen zurück. Vgl. umfangreiche deutsche Dokumentationen zum Thema der Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Gebieten östlich der Oder-Neiße, insbesondere die biographischen Berichte (Die Vertreibung ... 1984; Vertreibung ... 1989). 218 Marek Czyzcwski Die zahlreichen Vorurteilsvorstellungskeme, die die Sprache der genannten deutschen Dokumentationen prägen, ordnen sich in ein charakteristisches Muster ein: Die Polen kommen mit leeren Händen an, sie sind zivilisatorisch unterlegen, sie nehmen uns unsere Güter, das lebende Inventar, die Habe und die Häuser weg, sie verwüsten die Resultate unserer Arbeit. Man kann sich kaum des Eindrucks erwehren, daß dieses historische Bild dem gegenwärtigen Bild asylsuchender Einwanderer in Deutschland ähnlich ist und folglichdaß das historische Bild wahrscheinlich auch zu einem gewissen Maß eine relevante interpretative Ressource für das gegenwärtige Bild ausmacht. Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Bildern stellt ein bis dahin ausgelassener Topos dar: Die Vertriebenen erinnern sich mit Entrüstung daran, daß Polen sie zu schwerer Sklavenarbeit zwangen und können sich nicht damit abfinden, daß die als zivilisatorisch unterlegen wahrgenommene Gruppe ihnen gegenüber eine dominierende Position einnahm. Eine interessante Inkohärenz betrifft das Bild der Russen und das Bild der Polen in den Augen von Vertriebenen. Russen sind Soldaten der Roten Armee, die unmittelbare Bedrohung und grausamen Terror mit sich bringen (u.a. in Form massenhafter Vergewaltigungen der Frauen im weiteren komme ich auf dieses Thema zurück), aber sie sind trotzdem nicht der Gegenstand eines solchen Hasses, wie er den Polen entgegengebracht wird. Russen werden zwar ähnlich wie Polen als zivilisatorisch unterlegene Menschen wahrgenommen (in bezug auf die sowjetischen Soldaten hängt dies mit dem Topos einer zügellosen Wildheit zusammen), aber auf einer anderen wichtigen Ebene sind die Russen und die deutsche Bevölkerung einander gleich: Beide Gruppen haben sich wechselseitig als Repräsentanten des jeweiligen Kriegsfeindes wahrgenommen. Zum Bild eines Kriegsfeindes gehört eine gewisse Symmetrie der Beziehung: Im Krieg kann potentiell jede Partei Gewinner (wie die Deutschen während des Überfalls auf die Sowjetunion) oder Verlierer (wie die Deutschen am Ende des Krieges) werden. Darüber hinaus gehört zum verbreiteten Bild eines Krieges auch ein Register unvermeidlicher Leiden, einschließlich des Terrors gegenüber der Zivilbevölkerung. Man sollte hierzu anmerken, daß in der Perspektive der Vertriebenen - und in der deutschen Perspektive generell - Polen sehr selten in diesem Sinne als eine gleichartige Gegenpartei wahrgenommen worden sind und immer noch kaum werden weder bezüglich des 2. Weltkrieges noch des Verlaufs der langen und durchaus konflikthaften deutsch-polnischen Geschichte. In dieser Hinsicht erscheint die polnische Perspektive auf die Geschichte dramatisch anders. Der einseitigen deutschen- Verweigerung einer wahrgenommenen ‘Gleichberechtigung unter Erzfeinden’ gegenüber Polen wohnt übrigens eine starke Tendenz inne, sich auf andere durchaus friedliche politische, kulturelle und ökonomische Angelegenheiten zu überlagern. Hier werden auch gegenwärtige polnische Vorstellungen in Hinblick auf die Gestaltung der deutsch-polnischen Beziehungen als immerhin Nachbarkulturen weitgehend durch die deutsche Seite nicht erwidert bzw. deutlich abgelehnt. Die Unterschiede in der wechselseitigen Wahrnehmung kamen im öffentlichen Diskurs beider Länder beispielsweise 'Repatriierte' und Vertriebene 219 1995 zum Ausdruck, innerhalb der Kontroverse über die verhinderte polnische Teilnahme an der Gedenkfeier zum 50. Jahrestag des Kriegsendes in Berlin. Angesichts der historischen Bedingungen erscheinen die Vorurteile der Vertriebenen Polen gegenüber verständlich, was nicht heißen soll, daß sie als den historischen Gegebenheiten angemessene Diskursformen geltend gemacht werden dürften. Ein besonders wirkungsvoller Faktor der Verstärkung der vorurteilshaften Diskursformen war in diesem Fall eine oft berechtigte- Selbstwahrnehmung in Kategorien des Opfers eines Konfliktes, in Kategorien der individuellen und der kollektiven Verlaufskurve also. Folglich kann das antipolnische Ressentiment auf Seiten der Vertriebenen als ein „typisches“, erwartbares Vorurteil bezeichnet werden. Ein weiterer Verstärkungsfaktor bestand wohl darin, daß die Erhebung der in den deutschen Dokumentationen enthaltenen biographischen Berichte durch das Bundesministerium für Vertriebene angeregt worden ist. Die Vermutung liegt nahe, daß der Zugang zu den Informanten über den institutioneilen Rahmen der Vertriebenen-Verbände arrangiert wurde, was einerseits das Meinungsspektrum der Informanten von vorne herein eingeschränkt haben dürfte. Andererseits dürfte der institutionelle Rahmen der Erhebung als ein Erwartungshorizont hinsichtlich der biographischen Rekonstruktionen von den Informanten wahrgenommen worden sein. Im Vergleich zu der Breite und der Intensität der vorurteilshaften Diskursformen in den Berichten Vertriebener machen die relativ selten vorkommenden vorurteilshaften Äußerungen von ‘Repatriierten’ über Vertriebene hier meine ich auch die Äußerungen von Frau S. über masurische Frauen eher den Eindruck belangloser Sprachentgleisungen. Gleichwohl ist es angebracht, sich ausführlich mit solchen Aussagen zu beschäftigen. Zum einen, weil sich dieses Phänomen durch die direkte, diskursiv aufgebaute Verbindung mit einer Verlaufskurve nicht erklären läßt, zum anderen, weil auch die oben erwähnten Konflikttheorien hierzu keine ausreichende Erklärung bieten. Die Anzeichen der Abneigung von ‘Repatriierten’ gegenüber Vertriebenen wie relativ schwach sie auch im Kontext dominierender Züge der Gleichgültigkeit oder des eher rezessiv vorkommenden Mitleids zum Vorschein kommen mögen lassen sich auch nur partiell durch die kommunikative Funktion oder Dysfünktion der Rechtfertigung eigenen Verhaltens (oder des Verhaltens der eigenen ethnischen Gruppe) im Gruppenkonflikt erklären. Folglich stellt sich die Frage nach anderen, die vorurteilshaften Diskursformen „motivierenden“ Mechanismen, d.h., nach den Mechanismen, die für das Erscheinen von Elementen vorurteilshafter Diskursformen in konkreten Aussagen verantwortlich sind. Wohl gemerkt, eine kritische, diskursanalytische Forschung über Stereotype und Vorurteile hat keinen personenbezogenen Charakter (sie zielt nicht auf die Bewertung der jeweiligen Informanten ab), weil sie nicht die vermeintlichen individuellen (psychologischen) Eigenschaften zum Gegenstand hat, sondern die in den autobiographischen Berichten zum Ausdruck kommenden, anonymen Mechanismen, die ihrem Wesen nach dem kollektiv-symbolischen Eigentum einer sozialen Eigengruppe angehören oder mit grundlegenden Kommunikationsregeln Zusammenhängen. 220 Marek Czyzewski 5. Grenzen des Mitleids Die Ebene, auf der die zitierten Aussagen von Frau S. über masurische Frauen für mich ein Rätsel waren, bezieht sich auf den Kontrast zwischen diesen Äußerungen und dem Wissen über die historischen Umstände von 1945, insbesondere über den von Soldaten der Roten Armee gegen die deutsche Zivilbevölkerung verübten Terror. Ein wesentlicher Teil dieses Terrors waren massenhafte, oft äußerst bestialische Vergewaltigungen deutscher Frauen. Alleine im Hinblick auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete wird die Zahl der Opfer dieser Vergewaltigungswelle auf mindestens 2 Millionen geschätzt, wobei viele Frauen mehrfach vergewaltigt wurden. Die Vergewaltigungen waren oft mit Folter, Verstümmelung oder auch Tötung der Opfer verbunden. Sowohl Historiker als auch Geschichtszeugen betonen, daß auch junge Mädchen, schwangere Frauen und ältere Frauen zur sexuellen Beute wurden. 14 Ein zusätzliches Rätsel stellte für mich eine interne Inkonsistenz im Interview mit Frau S. dar. Frau S. spricht von den genannten historischen Ereignissen an manchen anderen Stellen im Interview (u.a. auch in einigen Sequenzen des im Anhang abgedruckten Interviewausschnittes). Das unzweifelhafte Wissen der Erzählerin vom Schicksal der deutschen Zivilbevölkerung und das an anderen Interviewstellen eindeutig ausgedrückte Mitleid mit den masurischen (deutschen) Opfern hindert sie aber nicht daran, das eingangs zitierte, vorurteilshafte Bild masurischer (deutscher) Frauen zu vermitteln. Die Frage liegt nahe: Warum bleibt das Mitleid gerade an dieser Stelle der autobiographischen Rekonstruktion ihrer Erfahrungen aus? Eine plausible Antwort auf diese Frage bietet das rhetorische Konzept des Vorurteils. Aus der ‘rhetorischen’ Sicht widersprechen derartige textinteme Inkonsistenzen, wie sie im Interview von Frau S. zu finden sind, sowie die dadurch entstehenden Widersprüche und Ambivalenzen in den Bildern anderer Gruppen dem Konzept des Vorurteils nicht, sondern sie sind im Gegenteil für vorurteilshafte Diskursformen durchaus charakteristisch. Dem ‘rhetorischen’ Ansatz zufolge sind Vorurteile eben keine festen psychischen Strukturen eines Individuums, die sich mechanisch, kontextunabhängig in seinen Aussagen niederschlagen würden. Vorurteile sind aus dieser Sicht vielmehr als Diskursformen anzusehen, die in bestimmten sozialen, biographischen und interaktiven Situationen innerhalb von Aussagen unterschiedlicher Personen erscheinen können, auch solcher, die wirzu Recht bereit wären, für ‘sonst’ oder ‘im Prinzip’ frei von psychologisch aufgefaßter, verfestigter Abneigung gegenüber anderen ethnischen Gruppen zu halten. Über das situative Erscheinen von Elementen einer ‘vergifteten Sprache’ an bestimmten Stellen einer Aussage in einer bestimmten Situation - und 14 Auskunft über die Massenvergewaltigungen an deutschen Frauen enthalten zwei deutsche Dokumentationen (Die Vertreibung ... 1984; Vertreibung ... 1989), ebenso Duerr (1993, S. 413-427). Man sollte hinzulügen, daß u.a. gerade die angesprochenen historischen Ereignisse zum wesentlichen Argument in der vom Ethnologen und Kulturtheoretiker Hans Peter Duerr entwickelten Kritik des Konzeptes des zivilisatorischen Fortschritts wurden. 'Repatriierte' und Vertriebene 221 über die dadurch entstehenden logischen Widersprüche und psychologischen Ambivalenzen auf der Persönlichkeitsebene entscheiden anonyme Mechanismen, die den diskursanalytischen, soziologischen und interaktionstheoretischen Erklärungsversuchen zugänglich sind. Im weiteren werde ich versuchen, auf derartige Mechanismen hinzuweisen, die die erwähnte Inkonsistenz im Interview mit Frau S. erklären und somit die Frage nach den Grenzen des Mitleids beantworten könnten. 6. Der politische Kontext: Die Nachkriegszeit und die Gegenwart Über Jahre hinweg wurde die Erinnerung an den sowjetischen Terror gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung und an die „dunkle“ Seite der polnischen Handlungsweise den Vertriebenen gegenüber v.a. in den Vertriebenen-Verbänden in Deutschland kultiviert und nicht selten durch starke antirussische und antipolnische Ressentiments untermauert. Im Rahmen dieser einseitigen Version der Geschichte hat u.a. die Berücksichtigung eines wichtigen Umstandes gefehlt: Der zweifellose Terror und das Unrecht, die auf die deutsche Zivilbevölkerung am Ende des Krieges zukamen, waren mindestens zum Teil eine unkontrollierte Reaktion sowjetischer Soldaten, polnischer Behörden und Teile der polnischen Bevölkerung auf die Verbrechen Hitlers gegen die beiden besetzten Gesellschaften. Auf der anderen Seite hat die kommunistische Propaganda und die Geschichtslehre des Realsozialismus die „dunkle“ Seite der sowjetischen Offensive verschwiegen und gleichzeitig den unumstrittenen Heroismus der Roten Armee und die Last ihrer Verluste betont, mit denen der Sieg erkauft wurde. In Polen war bis vor kurzem die kriminelle Tätigkeit von Schaberleuten ein Tabu, insbesondere hinsichtlich ihrer Verflechtung mit dem polnischen Staatsapparat in den ‘Wiedergewonnenen Gebieten’. Die Spuren dieser einseitigen Versionen der Geschichte reichen bis in die heutigen Vorstellungen hinein, was u.a. die jüngsten Kontroversen um die Bedeutung des Kriegsendes für Deutschland (Befreiung oder Niederlage) beweisen, die aus Anlaß des 50. Jahrestages des Kriegsendes ausgetragen worden sind. Gerade der sowjetische Terror gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung diente dabei manchen rechten Gruppierungen in Deutschland als wichtiges Argument gegen die Auffassung des Kriegsendes als Befreiung. Man sollte unterstreichen, daß es sich in solchen Fällen um die Ablehnung der offiziellen Stellungnahme der deutschen Regierung handelte, derzufolge das Kriegsende die militärische Niederlage des Dritten Reiches und somit die Befreiung Deutschlands vom Faschismus mit sich brachte die notwendigen Voraussetzungen für die Gründung eines demokratischen deutschen Staates. Auf der anderen Seite meinte der russische Botschafter in Deutschland in einer Rundfünkaussage aus Anlaß des Gedenktages, es gäbe in Rußland kein Verständnis für den deutschen Streit um den 8. Mai: „Es scheint uns kristallklar, daß die Zerschlagung des Faschismus die Deutschen von der schrecklichsten Unterdrückung befreit hat“ (Frankfürter Rundschau, 6.5.1995). Zu der „dunklen“ Seite der sowjetischen Offensive nahm er keine Stellung. Seit der Gedenkfeier im Mai 1995 werden in der polnischen Presse immer wieder Artikel veröffent- 222 Marek Czyzewski licht, die das idealisierte Bild des polnischen Umgangs mit Vertriebenen revidieren. Auf der analytischen Ebene könnte man darauf hinweisen, daß sich die Auseinandersetzungen mit der Bedeutung des Kriegsendes für die Analyse des öffentlichen Diskurses in Kategorien der Relevanzverschiebungen eignen würden. Damit ist eine Untersuchung darüber gemeint, was (welche thematischen Bereiche) wie (mit welchen kommunikativen Mitteln) im öffentlichen Diskurs relevant bzw. irrelevant gemacht wird. 15 7. Die Fallanalyse Die zugänglichen Materialien zur Frage der wechselseitigen Wahrnehmung von ‘Repatriierten’ und Vertriebenen sind nur begrenzt vergleichbar. Das Bild von Polen (und auch von ‘Repatriierten’) in den Augen der Vertriebenen stellt eines der wichtigsten Themen umfangreicher deutscher Dokumentationen dar (Die Vertreibung ... 1984; Vertreibung ... 1989). Auf der polnischen Seite fehlt ein vergleichbares Material-Corpus. Kriegserfahrungen der ‘Repatriierten’ wurden in der Volksrepublik Polen zum Teil massiv durch die Zensur kontrolliert. In der allgemeinen Vorstellung dominierte ein idyllisch-humoristisches Bild von zwei Filmhelden, Kargul und Pawlak. 16 Erst in letzter Zeit hat man angefangen, diese Lücke im kollektiven Gedächtnis der Polen nach und nach aufzufullen. Eine wichtige Rolle in diesem Unternehmen kommt u.a. den narrativen Interviews zu, die im Rahmen des 1995 abgeschlossenen KBN Projektes „Biographie und nationale Identität“ unter der Leitung von Zbigniew Bokszahski erhoben wurden (wobei ‘Repatriierte’ einen großen Teil der gesamten Probe ausmachten), sowie dem Daten-Corpus von Kaja Kazmierska (Materialien für ihre Dissertation über biographische Erfahrungen der polnischen Wilnaer). Das Bild der Vertriebenen kommt in biographischen Berichten ‘Repatriierter’ selten vor und ist relativ dürftig. Alleine das scheint schon eine aufschlußreiche Information zu sein, die vom großen Grad der Ausblendung 17 der Sphäre von Kontakten mit Vertriebenen in der polnischen biographischen Erfahrung zeugen könnte. Die Analyse des Interviews mit Frau S. kann somit nur als ein erster, partieller Beitrag zur diskursanalytischen und interpretativ-soziologischen Reflexion über das Verhältnis von ‘Repatriierten’ zu Vertriebenen verstanden werden. Die analytische Begrifllichkeit der Relevanzverschiebungen sowie die empirische Vorgehensweise zu diesem Thema wurden in bezug auf den öffentlichen Diskurs in Polen und Deutschland entwickelt; vgl. Czyzewski/ Dunin/ Piotrowski (Hg.) (1991), Czyzewski/ Piotrowski (1995a) und Czyzewski (1995b). Es handelt sich hier um die Hauptgestalten der populären polnischen Filmkomödie „Sami swoi“ („Nur die Unsrigen“). 17 Ausblendung ist eine analytische Kategorie von Fritz Schütze. Sie bezeichnet verschiedene Formen des Wegschauens, des Vergessens oder der Relevanzminimierung wichtiger biographischer Erfahmngen (vgl. Schütze 1989). ‘Repatriierte' und Vertriebene 223 Ich komme jetzt auf die Analyse der anfangs zitierten Passagen aus dem Interview mit Frau S. zurück, wobei ich in drei Schritten die textuelle Umgebung dieser Passagen berücksichtigen werde. Die Analyse soll die gesamte Erzählung von Frau S. über die Situation der Masuren umfassen (17: 25-20: 1). In einem rückwärts ausgerichteten Überblick läßt sich die Struktur dieser Erzählung folgendermaßen zusammenfassen: (1) Das pejorative Bild von masurischen Frauen (die Passagen 19: 29-32 und 19: 34-20: 1) ist Bestandteil eines theoretischen Kommentars über allgemeine Eigenschaften dieser Gruppe (19: 25-20: 1), der die gesamte Erzählung von Frau S. über die Situation der Masuren beendet. (2) Der Kommentar über masurische Frauen insgesamt (19: 25-20: 1) folgt auf ein Erzählstück über den Besuch von Frau S. beim Arzt (18: 22-19: 25) und stellt eine eigentheoretische Bearbeitung 18 dieses Erzählstücks seitens der Erzählerin dar. Die narrative Darstellung über den Besuch beim Arzt (18: 22- 19: 25) und der damit verbundene Kommentar über masurische Frauen (19: 25- 20: 1) bilden zusammen ein komplexes Erzählsegment (18: 22-20: 1). (3) Diesem Erzählsegment (18: 22-20: 1) geht ein anderes voraus (17: 25- 18: 22), das zwei hintereinanderfolgende Erzählstücke beinhaltet: (3.1) ein Erzählstück über Ereignisse am Bahnhof (17: 25-18: 9) und (3.2) ein Erzählstück über eine Straßenszene (18: 9-18: 22). Eine methodisch naheliegende und durch die Tradition der sequentiellen Analyse legitimierte Option wäre, bei der Mikroanalyse des gesamten Interviewausschnittes (17: 25-20: 1) konsequent sequentiell vorzugehen, d.h., die im Ausschnitt enthaltenen Erzähl Segmente und -stücke ihrer Folge nach zu analysieren. Der oben formulierten Fragestellung bezüglich der Grenzen des Mitleids in den pejorativen Passagen 19: 29-32 und 19: 34-20: 1 kommt aber eher eine andere Vorgehensweise entgegen. Zunächst soll hier die unmittelbare textuelle Umgebung der für diese Analyse zentralen, pejorativen Passagen ins Auge gefaßt werden, d.h., der abschließende Kommentar über masurische Frauen (19: 25-20: 1). Erst dann soll auf die restlichen Sequenzen der Erzählung von Frau S. über die Situation der Masuren eingegangen werden, die allerdings im Ablauf des Interviews dem Kommentar über masurische Frauen vorausgehen. Die Tatsache, daß die im Mittelpunkt der Analyse stehenden pejorativen Passagen innerhalb des den ge- 18 Mit der „eigentheoretischen Bearbeitung“ sind nach Fritz Schütze argumentative Stellungnahmen im Erzählduktus gemeint, die die theoretische und evaluative Haltung des Erzählers bzw. der Erzählerin zum berichteten Ereignisablauf und zu den damit verbundenen Erlebnissen zum Ausdruck bringen. Diese argumentativen Stellungnahmen entwickeln sich oft zu gesonderten Teilen der autobiographischen Rekonstruktion und werden dann als „theoretische Kommentare“ bezeichnet. Typischerweise sind theoretische Kommentare am Schluß größerer Erzählstücke positioniert (vgl. Schütze 1987, S. 138ff. und 153ff.). 224 Marek Czyzewski samten Interviewausschnitt abschließenden Kommentars stehen, legt die forschungspragmatische Entscheidung nahe, die restlichen Teilstücke der Erzählung Schritt für Schritt in der umgekehrten Reihenfolge (also rückwärts) zu analysieren. Dadurch soll der Frage nach den Bezügen zwischen den pejorativen Passagen und den restlichen, vorausgegangenen Teilstücken der Erzählung nachgegangen werden, wobei sich mein Augenmerk auf mögliche Bestätigungen, Ergänzungen, Widersprüche und Ambivalenzen richten wird. Intern aber werden die jeweiligen Teilstücke der Erzählung wiederum sequentiell untersucht, um somit die Rekonstruktion des internen Aufbaus der einzelnen Teilstücke zu ermöglichen. Zahlreiche textuelle Merkmale werden bei der Analyse außer acht gelassen, zum einen, um die durch die zentrale Fragestellung nach den Grenzen des Mitleids lokalisierte analytische Fokussierung auffechtzuerhalten, und zum anderen, um die Analyse nachvollziehbar darzustellen. 7.1 Analyse des Kommentars über masurische Frauen (19: 25-20: 1) Der Kommentar über masurische Frauen (19: 25-20: 1) bildet die unmittelbare textuelle Umgebung der eingangs zitierten pejorativen Passagen 19: 29-32 und 19: 34-20: 1. Auffallend ist zunächst der erste Satz des Kommentars: Und diese deutsch/ diese masurischen und deutschen Frauen/ 19 also weil es gerade so schwierig war m: nicht wahr e: / sie haben sich eigentlich eindeutig nicht erklärt e. (poln. / te Niem/ te Mazurki i Niemki/ no bo to wlasnie tak trudno bylo m: prawda y: / one wiasciwie siq jednoznacznie nie opowiadaly j.) (19: 25-27) Der Satz beinhaltet drei Konstruktionsabbrüche. Zunächst wird die Kategorisierung „deutsche Frauen“ unterbrochen {diese deutsch/ , poln. te Niem/ ). Im nächsten Schritt kommt es zu einer Selbstkorrektur: Die Kategorisierung wird um diese masurischen (poln. te Mazurki) ergänzt und als eine zweiteilige Struktur ausgesprochen {diese masurischen und deutschen Frauen/ , poln. te Mazurki i Niemki/ ). Die Satzkonstruktion wird nun erneut abgebrochen, die an dieser Stelle erwartbare Darstellung einer Tätigkeit oder der gemeinsamen Situation von masurischen und deutschen Frauen tritt nicht auf. Stattdessen thematisiert Frau S. im dritten Schritt die damals allgemein bestehenden Kategorisierungsschwierigkeiten bezüglich masurischer Frauen als situative Erklärung für beide vorausgegangenen Konstruktionsabbrüche {also weil es gerade so schwierig war m: nicht wahr e: / \ poln. no bo to wlasnie tak trudno bylo m: prawda y: / ). Nach dem erneuten Konstruktionsabbruch liefert Frau S. eine Erklärung für diese Kategorisierungsschwierigkeiten: Die Schwierigkeiten seien Folge der unklaren Selbstidentifizierung masurischer Frauen {sie haben sich eigentlich eindeutig nicht erklärt e.; poln. one wiasciwie siq jednoznacznie nie opowiadaly y ). 19 Im Original Mazurki, Niemki (pl. fern.). ‘Repatriierte' und Vertriebene 225 Auf diese indirekte Art und Weise wird das Thema der unklaren ethnischen Identifizierung masurischer Frauen eingefuhrt. Die den masurischen Frauen zugeschriebene Unentschlossenheit wird hier neutral dargestellt sie wird von der Erzählerin nicht bewertet. Die entstandene Verschmelzung beider Kategorisierungen (deutsche und masurische Frauen) stellt aber die Ressource dafür dar, daß die im weiteren Verlauf des Kommentars formulierten negativen Eigenschaften (in den pejorativen Passagen 19: 29-32 und 19: 34-20: 1) auf der sprachlichen Oberfläche den deutschen Frauen zugeschrieben werden: Und darüber hinaus nun/ deutsche Frauen machten auf mich einen sehr e: einen solchen merkwürdigen Eindruck ... (pola Nopoza tym cöz/ Niemki na mnie robily bardzoy: takie dzrwne wrazenie ...) (19: 29 und folgende). Die partielle Identifizierung masurischer Frauen mit deutschen Frauen kann möglicherweise auf eine implizite Verbindung dieser Äußerung mit der Problematik der kollektiven Verlaufskurve der Polen als Opfer der deutschen Aggression und Besatzung hinweisen. Andererseits kann alleine schon die Bezeichnung von masurischen Frauen als deutsche Frauen im Kontext polnischer Kriegserfahrungen eine Herabsetzung bedeuten. Insofern läßt sich die Hypothese formulieren, daß die dargestellten Kategorisierungsschwierigkeiten von einer wenn auch schwachen diskursiven „Motivierung“ der im weiteren Verlauf des Kommentars folgenden vorurteilshaften Passagen über masurische Frauen zeugen können sie verweisen nämlich auf einen möglichen Zusammenhang zwischen diesen Passagen und einer bestimmten internen Funktion oder Dysfunktion im kommunikativen Orientierungssystem der Erzählerin (es handelt sich um eine indirekte Bestätigung des antideutschen Ressentiments, das in anderen Ausschnitten des Interviews deutlich zum Ausdruck kommt). Im darauffolgenden Teil des Kommentars kommt Frau S. auf den Zustand der Rechtlosigkeit zu sprechen. In bezug auf die Zeit direkt nach dem Krieg stellt die Erzählerin fest: Darüber hinaus es kam ja nicht ein solches Polen, sondern die Rechtlosigkeitfing an. (pola Poza tym to nie przyszla taka Polska, zaczqlo siq bezprawie.) (19: 27). Der Inhalt des Satzes läßt sich folgendermaßen auslegen. Die siegreiche sowjetische Armee und ihre Repräsentanten (der UB-Apparat) standen über dem Recht. Die neue Wirklichkeit entsprach somit nicht der von der Erzählerin vertretenen normativen Vorstellung des ‘eigentlichen’ Polens. Die Rechtlosigkeit durch die kommunistische Macht sei auch so Frau S. die Ursache dafür gewesen, daß die zunächst unentschlossenen Masuren sich nicht für Polen entschieden und aus Polen nach Deutschland auswanderten: Und eben haben wir seh.r viele Leute verloren, (poln. / wlasnie stracilismy bar.dzo duzo ludzi.) (19: 27-28). 20 Im nächsten Schritt folgt eine 20 Auf dieses Thema kommt die Erzählerin erneut am Ende des Interviews zu sprechen: Die Volksrepublik Polen hat geholfen, die Masuren sowie die Schlesier zu verlieren. (poln. Polska Ludowapomogla stracic i Mazuröw i Slqzakdw.) 226 Marek Czyzewski Erklärung des geschilderten Prozeßablaufes durch den Verweis auf die internen positiven Eigenschaften der Masuren (Deutschen): Weil es Menschen sind, bei denen die RechtsbeStimmungen fast genetisch kodiert sind. (poln. Dlatego, ze to sq ludzie, ktörzy majq przepisy prawne zakodowane prawie genetycznie) (19: 28-29)wodurch ein Teilbestand des bekannten positiven polnischen Stereotyps über Deutsche mobilisiert wird. Die den Deutschen (Masuren) zugeschriebene, positiv bewertete Neigung zur Ordnung wird im Anschluß mit dem Bild der nicht beim Namen genannten, negativ bewerteten, damaligen polnischen Realität kontrastiert: Und hier gab es hingegen gerade keine Rechtsbeachtung, (pola Natomiast tutaj wlasnie nie bylo poszanowania prawa.) (19: 29). Gerade im unmittelbaren Kontext der unklaren Kategorisierung der masurischen Frauen und des Themas der Unentschlossenheit von Masuren bezüglich ihrer ethnischen Identität wird die negative Charakterisierung der sexuellen Unterwürfigkeit masurischer Frauen formuliert, die in den eingangs zitierten pejorativen Passagen zum Ausdruck kommt (19: 29-32 und 19: 34-20: 1). Die interne Analyse dieser Passagen wurde am Anfang des Aufsatzes dargestellt (siehe oben, Kapitel 2: Der empirische Ausgangspunkt). Anhand der unmittelbaren textuellen Umgebung läßt sich jetzt hinzufugen, daß die von Frau S. hinsichtlich der ethnischen Identifizierung der Masuren neutral angesehene Eigenschaft der Unentschlossenheit erst in bezug auf die Vorstellung der vermeintlichen sexuellen Unterwürfigkeit der masurischen Frauen eine negative Konnotation gewinnt. Zwischen den beiden pejorativen Passagen über masurische Frauen (19: 30-32 und 19: 33-20: 1) steht im Interview eine wichtige, bis jetzt nicht besprochene Sequenz, in der als Kontrastierung die positive Bezeichnung der eigenen Gruppenidentität in Kategorien moralischer Eindeutigkeit und der Ablehnung sexueller Unterwürfigkeit formuliert wird: Und e: nun einfach/ also ich weiß nicht also polnische Frauen 21 waren stolz, polnische Frauen waren ha“rt. Also ich spreche jedenfalls von meiner Generation. Und ich habe mir also solche Sachen nicht vo"rstellen können, (poln. A y: topoprostu/ no nie wiem no Polki byfy harde, Polki byfy twa“rde. No w kazdym razie möwiq o swoim pokoleniu. To ja sobie no nie wyobraza“lam takich rzeczy.) (19: 32-33). Auffallend ist die dreiteilige, synergetische Charakterisierung der eigenen Gruppenidentität, in der die Komponenten der Nationalität, des Geschlechts und der Generation verschmolzen sind. Gerade die Kontrastierung der polnischen und masurischen Frauen zeugt vom vorurteilshaften Charakter dieser Äußerung: Die positiv bewertete Differenzierung der eigenen Gruppe von einer anderen wird im ‘rhetorischen’ Ansatz als eine der grundlegenden potentiellen Eigenschaften der Vorurteilssprache interpretiert (vgl. entsprechende Konzepte und Untersuchungen zum „Wir- 21 Im Original Polki (pl. fern.). 'Repatriierte' und Vertriebene 227 Diskurs“ in Wodak et al. 1990 sowie zur „positiven Selbstdarstellung“ in van Dijk 1993). Darüber hinaus soll darauf hingewiesen werden, daß die als ungerechtfertigt angesehene sexuelle Unterwürfigkeit einen Widerspruch zu der moralischen „Respektabilität“ darstellt um den Begriff von George Messe (1987) zu verwenden d.h. zu den Normen, die die bürgerliche Sittlichkeit bestimmen. Nach Mosse macht der zugeschriebene Mangel an bürgerlicher Respektabilität die konstitutive Ebene rassistischer und antisemitischer Vorurteile in der europäischen Tradition aus. Ergänzend könnte man hinzufugen, daß die Zuschreibung dieses Mangels gleichzeitig als ein wesentliches Kriterium der Ausschließung aus der moralischen Gemeinschaft fungiert. Die Zuschreibung einer Verletzung der bürgerlichen Normen der sexuellen Sittlichkeit ist nach Mosse die geradezu paradigmatische Weise, die Prinzipien der Respektabilität als gebrochen anzusehen und somit auch ein deutlicher Bestandteil eines Vorurteils. Der normative Aspekt der pejorativen Äußerungen von Frau S. über masurische Frauen könnte somit auf die Möglichkeit einer starken sozialkulturellen „Motivierung“ der sich in diesen Äußerungen manifestierenden vorurteilshaften Diskursform hinweisen. 7.2 Analyse des Erzählstücks über den Besuch beim Arzt (18: 22-19: 25) Das dem Kommentar unmittelbar vorausgehende Erzählstück (18: 22-19: 25) handelt hauptsächlich (bis auf die einleitenden Bemerkungen 18: 22-30, auf die ich hier nicht eingehen werde) von einer ärztlichen Untersuchung, die die Erzählerin beim Antritt einer neuen Stelle hat durchfuhren lassen müssen. Dort im Warteraum des Arztes sieht die Erzählerin viele masurische Frauen unterschiedlichen Alters. Frau S. macht deutlich, sie habe vorgehabt, die normative Ordnung des Schlange-Stehens - und somit einen Bestandteil der Respektabilität zu achten {Also ich gut erzogen wie ich war, habe ich mich am Ende angestellt und ich warte, bis die Reihe an mich kommt, daß ich untersucht werde, poln. Wiqc ja dobrze wyehowana stanqlam na na koheu kolejki i czekam, azprzyjdzie moja kolej zeby mnie przebadano) (19: 3-4). Ein zufällig vorbeikommender Kollege ist überrascht, die Erzählerin im Warteraum zu sehen und macht ihr zu ihrer Überraschung klar, die masurischen Frauen seien venerisch krank: ,JDas sind a“lle diese venerisch kranken masurischen Frauen, die so grausam/ weil sie a “Ile vergewaltigt haben, die alten und die jungen und die klei/ und die kleinen Mädchen und das sind alles venerisch kranke Frauen zum Arzt, die einfach Schlange stehen um sich behandeln zu lassen ...“ (pola „7b sq wszy“stkie te Mazurki chore wenerycznie, ktöre tak straszliwie/ bo przeciez gwalcili wszy “stkie i stare i mlode i ma/ i dziewezynki male i to sq wszystko do lekarza wenerycznie chore kobiety ktöre stojq po prostu w kolejce zeby siq leczyc ...“) (19: 6-9). Die vorausgegangene Bemerkung von Frau S. erscheint im nachhinein als ein selbstironischer Hinweis auf die eigene situative Unaufmerksamkeit. 228 Marek Czyzewski Die Ursache der Erkrankung der masurischen Frauen wird nach dem ersten Konstruktionsabbruch (die so grausam! ) in einem Einschub formuliert (weil sie a “Ile vergewaltigt haben, die alten und die jungen und die klei/ und die kleinen Mädchen), nach dem die Erzählerin die vorangegangene Konstruktion wieder aufgreift (und das sind alles venerisch kranke Frauen zum Arzt). Die Erzählerin hat also an dieser Stelle die Wiedergabe der Äußerung ihres Kollegen unterbrochen, um dem Zuhörer (bzw. der Interviewerin) gegenüber den angesprochenen Sachverhalt zu plausibilisieren. Mit Fritz Schütze (1982) kann man sagen, daß der Einschub dem Zugzwang der Detaillierung entgegenkommt: Ohne die im Einschub angegebene Information wäre die Erzählung nicht verständlich. Im Einschub fehlt allerdings eine explizite Auskunft darüber, wer die masurischen Frauen vergewaltigt hat: Auf die Täter wird nur mit dem stark distanzierenden Personalpronomen sie (poln. oni) verwiesen. Nachdem die Erzählerin die Wiedergabe des Gesprächs mit dem Bekannten zu Ende geführt hat, unterbricht sie die Erzählung und setzt die Hintergrundserklärung in einem erneuten Einschub fort: Wissen Sie, es geschahen dort schreckliche Sachen, schre“ckliche, die Ruscy 22 vergewaltigten absolu“t alle. 23 (poln. Proszq pani, straszne rzeczy tarn siq dziafy, stra “szne, Ruscy gwalcili absolu“tnie wszystkie.) (19: 10). Auffallend ist, daß das zuvor verwendete Personalpronomen (sie) jetzt mit einer ethnischen Kategorisierung aufgefullt und auf der Ebene der sprachlichen Realisierung durch eine pejorative Bezeichnung für Russen (Ruscy) ersetzt wird. Beide Einschübe erfüllen gleichzeitig noch eine weitere Funktion sie bieten der Erzählerin einen Anlaß, das Bild der Rücksichtslosigkeit sowjetischer Soldaten zu vermitteln. Eben in dieser Hinsicht fallen klare Merkmale der vorurteilshaften Sprache auf (der pejorative Ausdruck Ruscy und die hervorgehobene Verallgemeinerung absolu“t alle). Das mobilisierte feste Bild der rücksichtslosen sexuellen Gewalt seitens sowjetischer Soldaten verselbständigt sich insofern, als es als Interpretationsfolie im anschließenden erneuten argumentativen Einschub füngiert: Frau S. überlegt, warum es keine analogen Massenvergewaltigungen im Gebiet von Wilna gegeben hat und wie diesbezüglich die Situation in Zentralpolen aussah (19: 10-15). In der wiederaufgenommenen Erzählung (Und: e: dieser Kollege [...]; pola I: y: ten kolega [...]; 19: 15) stellt sich heraus, daß der Kollege Frau S. da sie offenbar die einzige Patientin ist, die einer anderen sozialen Kategorie angehört zum Arzt hineinführt ohne, daß sie weiter Schlange stehen muß. Es ist anzumerken, daß Frau S. indem sie der von ihrem Kollegen ergriffenen Handlungsinitiative folgt und sich den masurischen Frauen gegenüber situativ 22 Ruscy (pl.) polnische pejorative Bezeichnung für Russen, die allerdings auf der originalen - und ursprünglich neutralen russischen Eigenbezeichnung (sing, „russkij“, pl. „russkije“) beruht. Nach ähnlichem Muster entstanden u.a. die deutsche Bezeichnung „Polacke“ und die amerikanische Bezeichnung „Polack“: Beide stammen aus der polnischen, ursprünglich neutralen Eigenbezeichnung „Polak“. 23 Im Original wszystkie (pl. fern.). ‘Repatriierte' und Vertriebene 229 privilegieren läßt die normative Ordnung des Schlange-Stehens ignoriert und damit offensichtlich gegen einen Bestandteil der Respektabilität verstößt. Direkt spricht Frau S. diesen Sachverhalt nicht an, sie schildert hingegen ausführlich die Handlungsinitiative ihres Kollegen, wodurch sie deutlich macht, es sei ihr Kollege gewesen, der ihre situative Privilegierung arrangiert habe (19: 15-17). Ironische Scherze des Arztes bringen die verunsicherte Frau S. aus der Fassung. Sie berichtet, der Arzt habe ihr gesagt: „Warum sind Sie so beunruhigt? “ [. . .] ,JVein, das betrifft Sie nicht'' (poln. „Czemu siq pani tak niepokoi? “ [...] „Nie, to pani nie dotyczy“) (19: 20 und 23)es handelt sich um einen eventuellen Verdacht, die Erzählerin sei auch venerisch krank, was ein starkes Stigmasymbol im Sinne Goffmans (1963) gewesen wäre. Im unmittelbaren Anschluß an das eben geschilderte Erzählstück als dessen eigentheoretische Bearbeitungformuliert die Erzählerin den pejorativen Kommentar über masurische Frauen und deren vermeintliche sexuelle Unterwürfigkeit. Das negativ bewertete Verhalten einer anderen Gruppe (die sexuelle Unterwürfigkeit masurischer Frauen) wird aber im Rahmen des Kommentars wie vorhin bereits festgestellt zumindest zum Teil durch interne Eigenschaften dieser anderen Gruppe und nicht wie es nahegelegen hätte durch externe, zwangsläufige Umstände erklärt. Das zentrale Prinzip der Attributionstheorie findet hier Bestätigung: Stereotype und Vorurteile machen es möglich, das negativ bewertete Verhalten einer anderen Gruppe durch Zuschreibung negativ bewerteter interner Dispositionen zu erklären (Hewstone/ Klink 1994). Auffallend ist, daß die im Erzählstück über den Besuch beim Arzt (in den beiden Einschüben 19: 6-8 und 19: 10) dargestellten äußeren Umstände massenhafte Vergewaltigungen und damit Herabwürdigung und Erniedrigung der masurischen Frauen bei der späteren Erklärung ihrer vermeintlichen sexuellen Unterwürfigkeit im Rahmen des Kommentars über masurische Frauen nicht berücksichtigt werden. M.a.W. im Kommentar wird nicht berücksichtigt, daß sexuelle Unterwürfigkeit keinesfalls notwendigerweise eine interne Eigenschaft hätte sein müssen, sondern gerade hier Resultat negativer externer Umstände (der massenhaften Vergewaltigungen) hätte sein können, sowie auch ein Versuch, weiteren Vergewaltigungen durch die Verschaffung eines Schutzes zu entkommen. Ein solcher rechtfertigender Gedankengang hätte das Erscheinen des auf der internen, negativen Attribution gestützten Vorurteils verhindern können. Der Attributionstheorie zufolge beruht die Erklärung eines negativ bewerteten Verhaltens der eigenen Gruppe in der Regel eben auf dem Verweis auf die äußeren Umstände (Hewstone/ Klink 1994). Es sollte hinzugefugt werden, daß in den Berichten der Vertriebenen wenngleich selten- Bemerkungen Vorkommen, denen entnommen werden kann, daß die Rolle einer Schneiderin oder einer Haushälterin bei sowjetischen Offizieren den deutschen Frauen Sicherheit gewährt habe. In diesen Berichten ist aber keine Rede von sexuellen Diensten zugunsten sowjetischer Offiziere oder polnischer UB- 230 Marek Czyzewski Männer was Ausdruck einer Ausblendung biographischer Erfahrungen sein könnte. Im Rahmen des Erzählsegmentes, welches das narrative Teilstück über den Besuch beim Arzt und den Kommentar über die masurischen Frauen umfaßt (die Grenzen des Segmentes - 18: 22-20: 1) fällt wie bereits angedeutet das Fehlen des Herstellens des naheliegenden logischen Zusammenhangs zwischen zwei Sachverhalten auf: Zwischen den massenhaften Vergewaltigungen masurischer Frauen und ihrer sexuellen Unterwürfigkeit. Eine solche Lücke im argumentativen Duktus kann als wesentliche Eigenschaft einer vorurteilshaften Äußerung gedeutet werden. 24 Argumentationstheoretisch läßt sich diese Lükke folgendermaßen beschreiben: Während die bereits besprochenen Einschübe im Rahmen des Erzählstücks über den Besuch beim Arzt einem der Zugzwänge der narrativen Organisation entgegenkommen (dem des Detaillierungszwanges), zeugt das Ausbleiben eines Verweises auf die in den Einschüben dargestellten Ereignisse (massenhafte Vergewaltigungen) im Rahmen des anschließenden Kommentars über masurische Frauen davon, daß einer der Zugzwänge der argumentativen Organisation (der des Berücksichtigens und des Abwägens) gerade nicht berücksichtigt wurde. 25 In Hinblick auf die Gesamtstruktur des Erzählsegmentes 18: 22-20: 1 läßt sich auf zwei weitere Mechanismen hinweisen, die das Erscheinen vorurteilshafter Diskursformen „motivieren“ könnten: - Während der Kommentar über masurische Frauen von einer ganzheitlich aufgefaßten Gruppe handelt (das Problem des allgemein bekannten Stigmas, des Stigmas auf der Ebene der gruppenbezogenen „sozialen Identität“ im Sinne Goffmans 1963), betrifft das Erzählstück über den Besuch beim Arzt hingegen bis auf die Einschübe die persönlichen Erfahrungen der Erzählerin. Frau S. erzählt dort, wie es dazu kam, daß sie persönlich gerade nicht als eine stigmatisierte Person wahrgenommen wurde (das Problem der persönlichen Identifikation, der Stigmatisierung auf der Ebene der „persönlichen Identität“ im Sinne Goffmans 1963). Die Tatsache, daß Frau S. sich in dem Erzählstück über den Besuch beim Arzt vor allem mit der Gefahr beschäftigt, durch eine potentiell naheliegende Identifizierung mit der fremden stigmatisierten Gruppe persönlich stigmatisiert zu werden, könnte dazu beitragen, daß sie die fremde Gruppe (masurische Frauen) im unmittelbar anschließenden Kommentar besonders stark stigmatisiert. - Ein weiterer Verstärkungsfaktor der durch die ethnische Distribuierung der sexuellen Respektabilität konstruierten vorurteilshaften Diskursformen im Kommentar über masurische Frauen könnte darin bestehen, daß Frau S. im Erzählstück über den Besuch beim Arzt selbst den masurischen Frauen ge- 24 Ich beziehe mich hier auf ein imveröffentlichtes Konzept von Fritz Schütze zur argumentativen Struktur des Vorurteils. 25 Kategorien der Zugzwänge der narrativen und der argumentativen Organisation werden in der biographischen Methode von Fritz Schütze verwendet. 'Repatriierte' und Vertriebene 231 genüber gegen einen Bestandteil der Respektabilität verstoßen hat (sie hat die Reihenfolge im Warteraum ignoriert) und sie sich somit hinsichtlich der eigenen Respektabilität unter Rechtfertigungsdruck befindet. 7.3 Analyse des Erzählsegmentes 17: 25-18: 22 Abschließend wende ich mich nun dem sequentiell gesehen ersten Teil des Interviewausschnitts über die Situation der Masuren zu, d.h., dem Erzählsegment 17: 25-18: 22. Dieses komplexe Erzählsegment beinhaltet zwei narrative Teilstücke, die im folgenden ihrem Ablauf nach untersucht werden. 7.3.1 Analyse des Erzählstücks über die Ereignisse am Bahnhof (17: 25-18: 9) Diese narrative Sequenz wird mit einer Bemerkung eingeleitet, die eindeutig Mitleid gegenüber Masuren zum Ausdruck bringt: Un: d mei“ne Eindrücke aus der A-Stadt, meine Eindrücke von der schrecklichen Situation, die auf Masuren und Ermländer zukam. (pola L mo “je wrazenia z A-Stadt, moje wrazenia z tej straszliwej sytuacji, jaka spotkala Mazuröw i Warmiaköw.) (17: 25-26). Die Erzählung über dramatische Ereignisse am Bahnhof in A-Stadt wird durch mehrfache Einschübe unterbrochen. Gleich am Anfang, noch bevor es zur Darstellung der Ereignisse kommt, fugt Frau S. einen Einschub über eine polnische Frau (Frau P.) ein, die bemüht gewesen sei, Masuren zu helfen (17: 27- 29). Auffallend ist, daß die ethnische Zugehörigkeit von Frau P. als polnischer Frau dadurch vermittelt wird, daß sie als Ehefrau eines polnischen Aktivisten und Schriftstellers (sprich: eines polnischen Patrioten und Mitglieds der polnischen Intelligenz) bezeichnet wird. In der Gestalt von Frau P. vereinigen sich zwei positive Eigenschaften: Einerseits vertritt Frau P. das ‘eigentliche’ Polen und andererseits tut sie den Masuren kein Unrecht an im Gegenteil, sie leistet ihnen Hilfe. Im weiteren erzählt Frau S. von der brutalen Behandlung der Masuren durch sowjetische Soldaten (pejorativ bezeichnet als Ruscy) und polnische UB- Männer am Bahnhof in A-Stadt. Eben in diesem Zusammenhang werden die UB-Männer allerdings indirekt ethnisch eingeordnet: Die Erzählerin verwendet hier den Ausdruck unser UB (poln. nasze UB) (17: 36), wodurch die Kategorie Polen vermieden werden kann. Das Bild der brutalen Behandlung der in einen Zug nach Deutschland einsteigenden Masuren wird im komplexen Verlauf der Erzählung abwechselnd in zwei Dimensionen aufgebaut, die hier in einem strukturellen Überblick dargestellt werden. a) Die erste Dimension betrifft den Kontrast zwischen der direkten Handhabung der Macht und dem Machtmißbrauch seitens sowjetischer Soldaten und polnischer UB-Männer einerseits und der Wehrlosigkeit sowie der verletzten Ordnungsliebe auf Seiten der Masuren andererseits. Die Masuren 232 Marek Czyzewski werden am Bahnhof hinter einem Drahtzaun (wie Kaninchen) zusammengepfercht. Das Gepäck wird ihnen aus der Hand gerissen (17: 32-33). Die Masuren sind in der Darstellung von Frau S. alt und ihr bescheidenes Handgepäck ist sorgfältig eingepackt (17: 37 und 18: 2). In einem eingefugten theoretischen Kommentar, 26 der die sorgfältige Art erklären soll, in der die Masuren ihr Gepäck reisefertig gemacht haben, wird eine Facette der Respektabilität in Form eines positiven Stereotyps über die Masuren (Deutschen) ethnisch distribuiert: Sie hatten/ e: Deutsche/ im allgemeinen Deutsche und alle die e die nicht wahr unter ihrer e: Herrschaft waren, sie waren eine solche Geordnetheit, eine Ordnung gewohnt (pola Oni mieli/ y: Niemcy/ w ogöle Niemcy i ci wszyscy y ktörzy prawda pod ich e: rzqdami byli, byliprzyzwyczajeni do takiego ladu, do porzqdku) (17: 37-18: 2). Diese Passage ähnelt dem Einschub im Rahmen des zuvor besprochenen Kommentars über masurische Frauen, in dem die Rede von Menschen war, bei denen die Rechtsbestimmungen fast genetisch kodiert sind (19: 28-29). Auffallend ist, daß sich in beiden Fällen das positive Bild auf ganzheitlich aufgefaßte Gruppen bezieht, wobei die polnische sprachliche Realisierung des männlichen Geschlechts bedarf (sie-, poln. oni). Die im Anschluß an den theoretischen Kommentar wiederaufgenommene Erzählung über die Ereignisse am Bahnhof (Und das, das wurde ihnen weggenommen, 18: 2-3, es handelt sich um das Gepäck von Masuren) wird gleich wieder unterbrochen, weil Frau S. in einem erneuten, ergänzenden Einschub (18: 3-7)hinsichtlich des Raubes an den Masuren thematisch zwar relevant, sprachlich jedoch unvermittelt auf die Schaberleute zu sprechen kommt: Es gab eine Me “nge von polnischen Schaberleuten, entse “tzliche Hyä “neu die aus Zentralpolen ankamen, (pola Bylo mnö “stwo polskich szabrowniköw, obrzydli“we hie“ny, ktöre z centralnej Polski przyjezdzaly.) (18: 3-4). Dem von Frau S. geschilderten, deutlich pejorativen Bild der Schaberleute kann man entnehmen, daß die Schaberleute den Prinzipien der Respektabilität zweifelsohne widersprachen: sie fuhren hin und dort eben e: begingen sie einfach gewöhnliche Diebstähle, Raubüberfälle un: d ur.nd und bestimmt noch schlimmere Sachen (pola jechali i tarn wlasnie e: dokonywali po prostu zwyczajnych kradziezy, rabunköw i: i: : i jeszcze gorszych rzeczy zapewne) (18: 6-7). Die Erzählerin unterstreicht dabei, die Schaberleute seien keine ‘Repatriierten’ gewesen, sie seien aus Zentralpolen gekommen und ein Gesindel (poln. element) (18: 5) gewesen. b) Die zweite Dimension der brutalen Behandlung der Masuren am Bahnhof bezieht sich auf ein besonders drastisches Ereignis: Ein totes Baby wird durch das Fenster aus dem Zug herausgeworfen. Frau S. thematisiert dieses Ereignis zunächst als eine aufgrund eigener Erfahrung verallgemeinerte und im Passiv formulierte - Regelmäßigkeit: Wenn ein Kind gestorben 26 Vgl. Fußnote 18. 'Repatriierte' und Vertriebene 233 war, dann wurde es rausgeworfen, auch solche kleinen Kinder, es war, es war unerträ“g/ es war ein fu“rchtbarer Anblick, wissen Sie. (pola Jezeli dziecko zmarlo, to bylo wyrzucane, takie male dzieci tez, to bylo, to bylo nie do zn“ie/ to byl widok nieprawdopodo“bny proszq pani.) (17: 34-35). Im nächsten Schritt wird das kollektive Handlungssubjekt genannt. Aber das machten UB-Männer und Ruscy (pola Ale to robili ubowcy i Ruscy) (17: 35-36), wobei mittels der „aber“-Konstruktion eine starke Distanzierung gegenüber der geschilderten Handlung bzw. den Akteuren signalisiert wird. Erst am Ende des narrativen Teilstücks über die Ereignisse am Bahnhofim direkten Anschluß an den Einschub über die Schaberleute berichtet Frau S. über den Vorfall, den sie mit eigenen Augen gesehen hat: Und das eben habe ich gesehen, habe ich gesehen, es war ein sehr/ sehr häßlicher Anblick, ich habe gesehen wie eben ein solches, solches Kind einfach rausgeworfen wurde, (pola Wiqc to wlasnie widzialam, widzialam bardzo/ to byl bardzo brzydki widok, widzialam wlasnie jak takie, takie dziecko zostalo po prostu wyrzucone.) (18: 7-9). Auch an dieser Stelle verwendet Frau S. das Passiv und macht keine genaueren Angaben zum Handlungssubjekt. Darüber hinaus liegt die Hypothese nahe, die im sequentiellen Ablauf verzögerte Darstellung der eigenen Erfahrung könnte darauf verweisen, daß es sich in diesem Falle um die für das gesamte narrative Teilstück (17: 25-18: 9) zentrale Schlüsselerfahrung handelt. Der für diese Dimension tragende Kontrast wird aufgespannt zwischen der Gegebenheit des drastischen Ereignisses (sei es als Regelmäßigkeit oder als mit eigenen Augen gesehener Vorfall) einerseits und eigenem Entsetzen sowie eigener Hilflosigkeit der Informantin als passiver Zuschauerin andererseits. In beiden Passagen (über die Regelmäßigkeit und über den konkreten Vorfall) befinden sich jeweils diesbezügliche selbstkommentierende Bemerkungen: es war, es war unerträ“g/ es war ein fu “rchtbarer Anblick, wissen Sie. (poln. to bylo nie do zn“ie/ to byl widok nieprawdopodo“bny proszqpani.) (17: 34-35); es war ein sehr/ sehr häßlicher Anblick (poln. bardzo/ to byl bardzo brzydki widok) (18: 8). Zwar sind die Schaberleute sowie die UB-Männer der ethnischen Zugehörigkeit nach - Polen gewesen, sie haben aber das ‘eigentliche’ Polen aus der Sicht von Frau S. nicht repräsentiert, wie etwa Frau P. (17: 27-29) oder die an anderer Stelle der Erzählung genannten Wilnaer (18: 24-29). Mittels der abgrenzenden Distanzierung den UB-Männem und den Schaberleuten gegenüber einerseits sowie der sympathisierenden Identifizierung mit Frau P. andererseits kann die positive Wahrnehmung der eigenen nationalen Identität aufrechterhalten werden. Der besondere Aufwand jedoch, mit dem sich Frau S. innerhalb der Erzählung über die Ereignisse am Bahnhof bemüht, das positive Bild der Polen darzustellen bzw. aufrechtzuerhalten, zeugt gleichwohl davon, daß ihre positive Wahrnehmung der eigenen nationalen Identität durch das Wissen um die Tätigkeit der UB-Männer und der Schaberleute einschneidend gestört wird. 234 Marek Czyzewski Abschließend bleibt festzustellen, daß im Erzählstück über die Ereignisse am Bahnhofim Unterschied zum Kommentar über masurische Frauen keine vorurteilshafte Diskursform bezüglich der Masuren produziert wird. Verschiedene Erklärungsversuche dieses Phänomens werden im weiteren diskutiert (siehe Kapitel 6.4: Theoretische Abstrahierung der Fallanalyse). 7.3.2 Analyse des Erzählstücks über die Straßenszene (18: 9-18: 22) Direkt nach dem narrativen Teilstück über die Ereignisse am Bahnhof liefert Frau S. eine kurze Erzählung über eine drastische Straßenszene in A-Stadt. Diese Erzählung macht den Kern des narrativen Teilstücks (18: 9-18: 22) aus. Der Übergang zwischen beiden Erzählstücken wird durch das im gesamten Erzählsegment 17: 25-18: 22 aufrechterhaltene Erzählvorhaben hergestellt: Frau S. berichtet davon, was sie in der A-Stadt als passive Zuschauerin gesehen hat. Das zuvor besprochene Erzählstück über den Besuch beim Arzt sowie das Erzählsegment 18: 22-20: 1 insgesamt beruht hingegen auf einem anderen Erzählvorhaben: Frau S. berichtet dort über einen Vorfall (18: 23 und 20: 1), in den sie persönlich als Patientin, als Frau und als eine unter Stigmatisierungsgefahr stehende Person involviert war. Auf die Struktur und die Inhalte der narrativen Sequenz über die Straßenszene wird hier nicht ausführlich eingegangen, weil dieses Erzählstück keine Bilder der Masuren bzw. der Deutschen beinhaltet und insofern für die zentrale Problematik dieses Aufsatzes lediglich als Kontrastmaterial ausgewertet werden kann. Im Mittelpunkt der Erzählung über die Straßenszene steht ein pejoratives Bild der sowjetischen Soldaten, was auf die Bezüge zur Erzählung über die Ereignisse am Bahnhof schließen läßt. Der Ausgangspunkt der Erzählung über die Straßenszene ist das Bild des unkontrollierten und gefährlichen Verhaltens der Fahrer sowjetischer Armeelastwagen. Zwar bezieht sich dieses Bild auf eine konkrete Szene in A-Stadt 1945; Frau S. fügt aber auch eine aktualisierende Analogie mit dem Verhalten sowjetischer Soldaten in L-Stadt ein. L-Stadt war im Nachkriegspolen als sowjetische - und dann russische - Gamisonsstadt bekannt (18: 9-12). Der Ablauf der Straßenszene wird von Frau S. in drei Schritten rekonstruiert. Im ersten Schritt wird die Ausgangslage vermittelt: Ein polnischer Zivilist geht die Straße entlang und zieht einen kleinen Handwagen mit Holz oder Kohle hinter sich her (18: 12-14), Eine unausgesprochene aber deutliche Parallele zum Bild der Masuren am Bahnhof drängt sich auf. Im zweiten Schritt wird das Bild des dramatischen Schlüsselereignisses vermittelt: Ein russischer Armeelastwagen fährt schnell und unvorsichtig vorbei, hakt sich an der Kleidung des Zivilisten an und schleppt ihn mit sich (18: 14-15). An dieser Stelle bietet sich die implizite Parallele zum Verhalten sowjetischer Soldaten und polnischer UB-Männer am Bahnhof an. Im Unterschied zur Erzählung über die Ereignisse am Bahnhof, wo sich keine entgegengesetzte Handlungsinitiative der Masuren entfalten konnte und wo auch Frau S. in ihrem eigenen Entsetzen hilflos blieb, kommt es im Rahmen der Erzählung über die Straßenszene im ‘Repatriierte’ und Vertriebene 235 dritten Schritt zu einer kathartischen ‘Lösung’ der dramatischen Verwicklung. Die wütende Menge polnischer Passanten verprügelt und malträtiert den sowjetischen Soldaten, bezeichnet als Ruski (18: 16), der den Lastwagen gefahren hat, bis die polnische Kommandantur vor Ort erscheint (18: 15-22). Auffallend ist, daß Frau S. einerseits unterstreicht, sie habe als Frau an der Prügelei nicht teilgenommen (dies hätte im übrigen den Regeln der Respektabilität widersprochen), sie andererseits aber das Vorgehen der Menge in einer scherzhaften Modalität als eine Art Ersatzrache an der ganzen Sowjetunion rechtfertigt (18: 20-22). Die Erzählung über die Straßenszene scheint folgende Funktionen zu erfüllen: a) Sie schildert die polnische Zivilbevölkerung (verkörpert in der Gestalt des Passanten mit dem Handwagen) als Opfer ‘wilder’ Gewalt der sowjetischen Soldaten. b) Sie stellt im Hinblick auf die Erzählung über die Ereignisse am Bahnhofeine Analogie zwischen der damaligen Situation der Masuren (Deutschen) und der der Polen her. c) Sie gibt einen geeigneten Anlaß, ein vorurteilshaftes Bild sowjetischer Soldaten fortzusetzendies insbesondere im Kontext der durch die UB- Männer gefährdeten positiven Darstellung der eigenen nationalen Identität. d) Sie ermöglicht, das Gesamt-Segment über die in A-Stadt passiv gesehenen drastischen Ereignisse (17: 25-18: 22) mit einem kathartischen Abschluß zu beenden und somit insbesondere das Bild der eigenen Hilflosigkeit am Bahnhof auszugleichen. 7.4 Theoretische Abstrahierung der Fallanalyse Die Fallanalyse schließe ich mit einem Versuch, die theoretischen Dimensionen zu formulieren und zu systematisieren, die dem für die vorgelegte Analyse zentralen Vergleich zwischen dem Masurenbild im Rahmen des Kommentars über masurische Frauen einerseits und denen im Rahmen des Erzählstücks über die Ereignisse am Bahnhof und des Erzählstücks über den Besuch beim Arzt andererseits zugrundeliegen und die Unterschiede zwischen den jeweiligen Interviewsequenzen erklären könnten. Als erstes soll auf einige Feststellungen eingegangen werden, die die Konzepte über die kognitiven, die Artikulation von Vorurteilen verhindernden oder begünstigenden Faktoren zu bestätigen scheinen. a) Nach der Attributionstheorie beruht wie bereits erwähnt die eigentheoretische Erklärung des negativ bewerteten Verhaltens einer anderen Gruppe (z.B. die vermeintliche sexuelle Unterwürfigkeit masurischer Frauen) in der Regel auf einer stereotypisierenden und vorurteilshaften Zuschreibung negativ bewerteter interner Dispositionen (Hewstone/ Klink 1994; s o., Kapitel 7.2). 236 Marek Czyzewski b) In Anlehnung an das Konzept der ‘ICH’- und ‘WIR’-Schemata von Jarymowicz (1992) kann die These formuliert werden, daß eine Aktualisierung des ‘WIR’-Schemas (z.B. im Rahmen des Kommentars über masurische Frauen etwa ‘WIR-jungen polnischen Frauen’) in der Regel zu verstärkter Stereotypisierung in der Wahrnehmung von Gruppen fuhrt so, daß die eigene Gruppe favorisiert (z.B. das positiv bewertete Selbstbild polnischer Frauen) und die andere Gruppe disfavorisiert (z.B. das negativ bewertete Bild masurischer Frauen) wird. c) In Anlehnung an das von Trzebinska (1992) entwickelte Konzept zum Einfluß der gestörten Wahrnehmung der eigenen nationalen Identität auf das Bild von Minderheiten kann behauptet werden, daß die durch eine dem positiven Selbstbild widersprechende Information verursachte Störung in der Wahrnehmung der eigenen nationalen Identität (z.B. im Rahmen des Erzählstücks über die Ereignisse am Bahnhof sind unser UB und polnische Schaberleute Subjekte der eine Minderheit diskriminierenden Tätigkeit) in der Regel zu einer stärker positiven Einstellung gegenüber Repräsentanten dieser Minderheit fuhrt (z.B. im angesprochenen Fall kommt Mitleid gegenüber der diskriminierten Minderheit zum Ausdruck) als eine ungestörte, gleichsam monolithische Wahrnehmung der eigenen nationalen Identität (z.B. innerhalb des Erzählstücks über den Besuch beim Arzt samt des Kommentars über masurische Frauen). Ohne die genannten situativen Kohärenzen zwischen den kognitiven Prozessen (‘ICH’- und ‘WIR’-Schemata; gestörte und ungestörte Formen der Wahrnehmung der eigenen nationalen Identität) einerseits und dem Erscheinen von Gruppenvorurteilen andererseits bestreiten zu wollen, soll die generelle Frage gestellt werden, ob kognitive Faktoren im Hinblick auf Vorurteile als eine kausale, unabhängige Variable auch im Sinne eines allgemeinen kausalen Zusammenhanges fungieren, wie es die kognitiv orientierte Sozialpsychologie behauptet. In dieser Hinsicht scheinen vier andere sich wechselseitig ergänzende allgemeine Gesichtspunkte überzeugender, die auf die vorurteilskonstitutiven Mechanismen hinweisen, mit denen kognitive Faktoren sekundär korrelieren können: a) Im ‘rhetorischen’, diskurs-kritischen Ansatz zur Vorurteilsproblematik (Wodak et al. 1990, van Dijk 1993) wird behauptet, die positive Selbstdarstellung der eigenen Gruppe sei generell als eine besonders günstige Plattform für vorurteilshafte Diskursformen gegenüber anderen Gruppen anzusehen. b) Aus der interpretativ-soziologischen Sicht erscheint das Konzept der Respektabilität (Mosse 1987) einleuchtend, demgemäß die kulturelle Tradition und dazugehörende normative Verhaltensmuster (etwa das normative Muster der Respektabilität) als Faktoren aufgefaßt werden sollten, die vorurteilshafte Diskursformen aufbauen und ihre Anwesenheit innerhalb zugänglicher interpretativer Ressourcen auffechterhalten. 'Repatriierte' und Vertriebene 237 c) Aus der interpretativ-soziologischen Sicht läßt sich auch das Stigma- Konzept von Goffman (1963) auf die Problematik der stereotypengesteuerten und vorurteilshaften Diskursformen übertragen. Sowohl die soziale Situation, in der ein Stigma einer Gruppe zugeschrieben wird, als auch die Situation, in der eine Person sich bemüht, einer potentiellen Stigmatisierung (im Sinne einer Fremdzuschreibung der eigenen stigmatisierenden persönlichen Identität) zu entkommen, begünstigen das Auftreten von stereotypengesteuerten und vorurteilshaften Diskursformen, wobei die letzte Situation in die erste übergehen kann. d) Interaktionstheoretisch im Hinblick auf die grundlegenden Kommunikationsregeln weist Fritz Schütze auf den prinzipiellen Zusammenhang zwischen der Regel des Perspektivenwechsels im Sinne von Schütz (1979) und dem Erscheinen von Stereotypen und Vorurteilen hin. Die Verletzung der Regel des Perspektivenwechsels stellt eine der konstitutiven Eigenschaften der stereotypengesteuerten und vorurteilshaften Diskursformen dar, die im Falle der Vorurteile eine wenn auch vorläufige - Ausschließung aus der moralischen Gemeinschaft miteinbeziehen. Der praktizierte Perspektivenwechsel hingegen kann das Auftreten von Stereotypen und Vorurteilen verhindern oder sie dekonstruieren. 27 Für den hier analysierten gravierenden Unterschied zwischen dem Masurenbild im Rahmen des Kommentars über masurische Frauen einerseits und denen im Rahmen der narrativen Sequenz über die Ereignisse am Bahnhof und der narrativen Sequenz über den Besuch beim Arzt andererseits bieten die soeben aufgelisteten Gesichtspunkte komplementäre Erklärungen an: ad a) Aus ‘rhetorischer’, diskurs-kritischer Sicht kann man zusammenfassend feststellen, daß die positive Darstellung der eigenen Gruppe im Rahmen des Kommentars über masurische Frauen vordergründig einer positiven Abgrenzung gegenüber masurischen Frauen, im Rahmen der narrativen Sequenz über die Ereignisse am Bahnhof hingegen einer positiven Abgrenzung gegenüber Schaberleuten und sowjetischen Soldaten - und nicht etwa gegenüber Masuren dient. Die Komponenten vorurteilshafter Sprache (pauschale Verallgemeinerungen, pejorative Ausdrücke) werden somit in bezug aufjeweils unterschiedliche Objekte mobilisiert. ad b) In einer interpretativ-soziologischen Auslegung des Respektabilitäts- Konzeptes kann folgende Erläuterung entwickelt werden: Im Verlauf der gesamten Erzählung über die Situation der Masuren steht die Verletzung verschiedener Bestandteile der Respektabilität im Vordergrund des konsequent negativen Bildes der sowjetischen Soldaten und der polnischen UB-Männer, hinsichtlich der Masuren hingegen wirkt der Mechanismus der Respektabilität nicht gruppenspezifisch, sondern dezidiert zweipolig. Im Rahmen der Erzählung über die Ereignisse am 27 Ich beziehe mich hier auf ein unveröffentlichtes Konzept von Fritz Schütze zur argumentativen Struktur des Vorurteils. 238 Marek Czyzewski Bahnhof erscheinen Masuren nicht als Subjekte, die die Prinzipien der Respektabilität verletzen würden, sondern im Gegenteil sie werden als Opfer einer solchen Verletzung durch sowjetische Soldaten und UB- Männer dargestellt. Im Rahmen des Kommentars über masurische Frauen wird die Verletzung der Respektabilitätgeschlechtsspezifisch den masurischen Frauen, und nicht der gesamten masurischen Bevölkerung zugeschrieben, wobei über UB-Männer ein analoges negatives Urteil stillschweigend abgegeben wird. M.a.W. hinsichtlich der Masuren erweist sich der Mechanismus der Respektabilität als eine Art ‘zweischneidiges Schwert’: Im Erzählstück über die Ereignisse am Bahnhof etwa nimmt der Respektabilitätsmechanismus Masuren ‘in Schutz’ und findet seine Anwendung bezüglich anderer Gruppen (sowjetische Soldaten, UB-Männer). Im Kommentar über masurische Frauen hingegen wird die Verletzung des nach Georg Mosse signifikantesten, auf sexuelle Sittlichkeit bezogenen Bestandteils der Respektabilität ‘gegen’ masurische Frauen von Frau S. als polnischer Frau als Konstitutionsmerkmal der von ihr aufgegriffenen vorurteilshaften Diskursform mobilisiert, wobei die analoge moralische Herabsetzung der UB-Männer als eine Selbstverständlichkeit und als der die Erzählerin als Frau direkt nicht involvierender Bezugsrahmen nicht ausgesprochen werden muß. ad c) Aus der interpretativ-soziologischen Sicht bezüglich des Stigma- Konzeptes kann die Hypothese aufgestellt werden, daß die Fokussierung der Erzählerin auf die eigene potentielle Stigmatisierung dargestellt im Rahmen des Erzählstücks über den Besuch beim Arzt das anschließende Erscheinen vorurteilshafter Diskursformen über masurische Frauen begünstigen konnte. ad d) Der interaktionstheoretische Gesichtspunkt legt die Hypothese nahe, daß der durch die Beschäftigung der Erzählerin mit der eigenen potentiellen Stigmatisierung blockierte Perspektivenwechsel die grundlegende, reziproke Kommunikationsbefähigung im Rahmen der Rekonstruktion der biographischen Erfahrungen situativ aufgehoben hat, anstelle deren die vorurteilshaften Diskursformen über masurische Frauen darstellungsorientierend werden konnten. Als Zusammenfassung und als eine vorläufige Integration einiger bereits eingefuhrter analytischer Dimensionen (und sogleich als Antwort auf die Frage nach den Grenzen des Mitleids) kann die folgende kompakte, theoretische Formel vorgeschlagen werden: Die vielschichtige diskursive Motivierung des von Frau S. kommunizierten Vorurteils gegenüber masurischen Frauen hängt mit der durch die Beschäftigung mit der eigenen potentiellen Stigmatisierung und durch die damit zusammenhängende Aufhebung des Perspektivenwechsels begünstigten positiven Abgrenzung der eigenen Person sowie der eigenen ethnisch- und generationsbezogenen Gruppe (als Subjekte, die die Aufforderungen der sexuellen Respektabilität erfüllen) gegenüber der pejorativ 'Repatriierte' und Vertriebene 239 definierten anderen ethnisch- und generationsbezogenen Gruppe zusammen, die aufgrund der zugeschriebenen Abweichung von der sexuellen Respektabilität aus der moralischen Gemeinschaft ausgeschlossen wird. Das scheinbar schwach motivierte Vorurteil erweist sich somit sowohl auf der individuellen als auch auf der Gruppenebene als vielseitig motiviert. Es sollte nochmals hervorgehoben werden, daß im Zentrum der vorgelegten Analyse nicht die allerdings ohne weiteres plausible damalige unbewußte, psychologische Motivation der Erzählerin als junger, traditionell erzogener und sexuell unerfahrener Frau steht, sondern eher die vielschichtige diskursive Motivierung vorurteilshafter Äußerungen, d.h., die der interpretativen Mikroanalyse zugänglichen Textzusammenhänge sowie diskursspezifische, soziologische und interaktionsspezifische Mechanismen, die über das situative Erscheinen der vorurteilshaften Diskursformen entscheiden. Auf der Basis des gesamten Interviews mit Frau S. sollte man aber auf gesamtbiographische Bedingungen hinweisen, die ihr Masurenbild verzerren konnten. Die Erzählerin war ‘damals’ eine junge, mit der eigenen Kultur Vorkriegspolens insbesondere mit der polnischen Wilnaer Heimat verbundene Person. Die durch die äußeren Umstände erzwungene ‘Repatriierung’ war für sie zweifellos die erste tiefgehende - und gleichzeitig traumatische interkulturelle Erfahrung. Die Begegnung mit der neuen Wirklichkeit wurde wahrscheinlich in hohem Maß durch die Ebene des Vergleichens der neuen Erfahrungen mit dem positiv bewerteten Bild der verlorenen Welt bestimmt. Ergänzend sollte auch darauf verwiesen werden, daß die vorurteilshaften Komponenten des Masurenbildes im Interview mit Frau S. dem allgemeinen polnischen Bild der Deutschen in den Nachkriegsjahren nicht widersprechen. Zu diesem Bild gehörten u.a. solche Eigenschaften wie Fügsamkeit oder sogar Servilität von Deutschen in den sog. ‘Wiedergewonnenen Gebieten’ und Prostituierung deutscher Frauen in Deutschland - Eigenschaften, die von Polen in der Nachkriegszeit mit besonderem Sarkasmus wahrgenommen wurden (vgl. Dmitröw 1991, S.198). 8. Schlußbemerkung Zum Schluß möchte ich eine Hypothese formulieren, die den interaktionstheoretischen Gesichtspunkt in Hinblick auf den Perspektivenwechsel zu ergänzen versucht. Zwar ‘immunisiert’ der Perspektivenwechsel generell gegen Vorurteile. Die Sensibilisierung für die Perspektive derjenigen anderen, die uns fremd sind, ist aber nicht fraglos gegeben und bedarf besonderer Impulse. Für diese Impulse scheinen biographisch-existentielle Erfahrungen unentbehrlich. Für die Annäherung an die Perspektive eines bzw. einer Fremden reicht die ‘bloße’ Kenntnis der Lage anderer (im Sinne einer Kognition) nicht aus, wie es auch das Interview mit Frau S. beweist. Das ‘bloße’ Wissen von der Lage der masurischen Frauen, belegt dadurch, daß Frau S. über entsprechende Sachverhalte (Massenvergewaltigungen) im Erzählstück über den Besuch beim Arzt erzählt, führt nicht dazu, daß sie diese Sachverhalte in dem unmit- 240 Marek Czyzcwski telbar angeschlossenen Kommentar über masurische Frauen argumentativ berücksichtigen muß und es verhindert nicht, daß sie in die vorurteilshaften Diskursformen hineingerät. Dafür dürfte Frau S. in diesen Interviewsequenzen — auf der biographisch-existentiellen Ebene zu sehr mit sich selbst (mit der eigenen potentiellen Stigmatisierung) beschäftigt gewesen sein. Erst die Unterordnung der eigenen Perspektive einer fremden Perspektive gegenüber kann die emphatische manchmal sogar schockartige- Wahrnehmung ermöglichen, daß die andere, uns fremde Gruppe wie im hier analysierten Beispiel - Opfer von Gewalt ist, und zu verschiedenen Formen der (An-)Teilnahme an der Verlaufskurve anderer führen. M.a.W. die asymmetrische Unterordnung der eigenen Perspektive erweist sich als notwendige Bedingung, die den den uns fremden anderen gegenüber oft blockierten - Perspektivenwechsel veranlassen und somit das Auftreten von Vorurteilen verhindern kann. 28 Eine solche Unterordnung der eigenen Perspektive und die daraus resultierende Perspektivenübemahme geschieht in dem Erzählstück über die Ereignisse am Bahnhof, wo Frau S. Zeugin desaströser Ereignisse ist, die einen systematischen verlaufskurvenhaften Erfahrungszusammenhang anderer manifestieren und wo Frau S. mit den Betroffenen eine Gemeinschaft in der Hilflosigkeit teilt. Die Zeugenschaft von den Verlaufskurvenereignissen, von denen andere betroffen sind, wirkt aber nicht automatisch: Wenn die anonymen, das Auftreten der Vorurteile begünstigenden Mechanismen stark genug entgegenwirken, kann auch die Erfahrung der Zeugenschaft ausgeblendet werden. Andererseits: Um sich der biographisch-existentiellen Erfahrung der tiefgehenden Erleidenszusammenhänge anderer aussetzen zu können, ist es nicht notwendig, ein Augenzeuge solcher Erleidenszusammenhänge anderer zu sein und die Hilflosigkeit der Betroffenen mitzuerleben. Diese Erfahrung kann auch dadurch Zustandekommen, daß man mit den verlaufskurvenhaften Folgen des systematischen Erleidenszusammenhangs anderer persönlich konfrontiert wird oder in die Handlungsinitiativen persönlich hineingezogen wird, die den Dynamiken der Erleidensverlaufskurve anderer entgegenwirken (d.h., diese kontrollieren oder gar aufheben wollen). Die biographisch-existentielle Erfahrung des tiefgehenden Erleidenszusammenhangs anderer erscheint als wirksamer Faktor, der die anonymen diskursspezifischen, soziologischen und interaktionsspezifischen - Mechanismen der vielschichtigen diskursiven Motivierung der Vorurteile zumindest vorläufig außer Kraft setzen kann. Für die anonymen Mechanismen der diskursiven Motivierung der Vorurteile ist jedoch eine Art Trägheitskraft charakteristisch, die den langfristigen Einfluß einer biographisch-existentiellen Erfahrung erheblich einschränken kann. Die situative Wirkung der biographisch- 28 An dieser Stelle beziehe ich mich auf das philosophische Konzept des Anderen von Emmanuel Levinas. Levinas (1987) zufolge erscheint der in der interpretativen Soziologie als basale Kommunikationsregel angesehene reziproke Perspektivenwechsel in einer symmetrischen Beziehung als sekundär hinsichtlich der grundlegenden asymmetrischen Unterordnung dem leidenden Anderen gegenüber. Ich knüpfe hier auch an ein unveröffentlichtes Konzept von Fritz Schütze zur Entstereotypisierung an. 'Repatriierte'' und Vertriebene 241 existentiellen Erfahrung wird im sequentiellen Ablauf des Interviews mit Frau S. ersichtlich: Die vorurteilshaften Passagen im Rahmen des Kommentars über masurische Frauen beenden die gesamte Erzählung über die Situation der Masuren, die gerade mit der Rekonstruktion der biographisch-existentiellen Erfahrung von Frau S. und ihrer Anteilnahme am verlaufskurvenhaften Erfahrungszusammenhang der Masuren im Rahmen des Erzählstücks über die Ereignisse am Bahnhof angefangen hat. Eine weitere Bestätigung der situativen Verbindung zwischen verschiedenen Varianten der (An-)Teilnahme am verlaufskurvenhaften Erfahrungszusammenhang anderer und dem Ausbleiben der sonst vorkommenden - Vorurteile konnte in anderen narrativen Interviews mit polnischen Kriegsteilnehmern festgestellt werden, die ich im eingangs erwähnten Forschungsbericht „Verlaufskurve und Vorurteil“ untersucht habe (Czyzewski 1995a). Die analytische Berücksichtigung des biographisch-existentiellen Faktors und somit eine biographisch-existentielle Brechung der wissenschaftlich-anonymisierenden Vorgehensweise folgt keiner kontingenten bzw. willkürlichen Entscheidung, sondern eher einem Plädoyer für die konsequente Erweiterung der interpretativen Sozialforschung. Denn die interpretative Analyse der sozialen Realität ist nur dadurch möglich, daß sie sich als eine systematisierende und kritische - Rekonstruktion bzw. Reanalyse der Interpretationsprozesse versteht, die durch die sozialen Akteure vorgenommen werden. Wenn aber diese Interpretationsprozesse offensichtlich einer biographisch-existentiellen Brechung unterliegen, so besteht die Aufgabe einer konsequent interpretativen Vorgehensweise gerade darin, diese Brechung auf der analytischen Ebene zu rekonstruieren. 29 Noch einmal soll daran erinnert werden, daß im autobiographischen Bericht von Frau S. keine vollständige Ausblendung des verlaufskurvenhaften Erfahrungszusammenhangs anderer stattfindet. Die Erzählerin nimmt vielmehr durchaus den tiefgehenden kollektiven Erleidenszusammenhang der Masuren (Deutschen) in der Zeit direkt nach dem Krieg wahr und bringt sogar ihr Mitleid zum Ausdruck trotzdem kommuniziert sie auch ein Vorurteil. Dadurch wird erneut die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs Vorurteil bestätigt: Das Vorurteil hat wenig mit der eigenen, auf eine andere Gruppe bezogenen biographischen Erfahrung zu tun, weil ein Vorurteil der konkreten Erfahrung vorausgeht. 29 In einer konversationsanalytisch angelegten Studie zu Interaktionsstrukturen professionellen Handelns wurde in Hinblick auf das Verhalten gesprächsorientierter Psychotherapeuten gegenüber Leidenserscheinungen ihrer Patienten ein Versuch unternommen, die biographisch-existentielle Brechungmittels der Einbeziehung des Levinasschen Konzeptes der asymmetrischen Unterordnung analytisch zu rekonstmieren (Czyzewski 1995c). 242 Marek Czyzcwski 9. Literatur Adorno et al. (1950) = Adorno, Theodor W./ Frenkel-Brunswik, Else/ Levinson, Daniel J./ Sanford, R. Nevitt (1950): The authoritarian personality. New York. Allport, Gordon W. (1954): The nature of prejudice. Garden City. Bar-Tal et al. (eds.) 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Der Auschnitt handelt von Erfahrungen von Frau S. in A-Stadt in Masuren (dt. Ostpreußen) im Winter 1945/ 46. Der Auschnitt wird als interlineare Übersetzung wiedergegeben. S Frau S. K Interviewerin Seite 17, Zeilen: 25 S: S: I: mo“je wrazenia Un: d mei“ne Eindrücke 26 z A-Stadt, moje wrazenia z tej straszliwej sytuacji, jaka spotkata Mazuröw i Warmiaköw. aus der A-Stadt, meine Eindrücke von der schrecklichen Situation, die auf Masuren und Ermländer zukam. 27 Bo mo“glam to zobaczyc. Tak<t osob% mijzem zaufania tych ludzi byla wtedy pani P., Weil ich das sehen ko“nnte. Eine Person, eine Vertrauensperson für diese Menschen war damals Frau P., 28 zona tego wtasnie dziatacza polskiego i pisarza, pana P„ byla pani P., do ktörej Mazurki die Frau von diesem eben polnischen Aktivisten und Schriftsteller, Herrn P., war Frau P., bei der die masurischen Frauen 29 wlaSnie udawaly si? po pomoc i: i: ona tarn w mia“r? mozliwosci to, co mogta to robila. eben Hilfe suchten und: und: sie dann nach Möglichkeit das machte, was sie konnte. 30 Otöz prosz? pani, ml y: bylam Swiadkiem na dworcu w A-Stadt takiej sytuacji kiedy/ Also wissen Sie, m/ e: ich konnte die Situation am Bahnhof in A-Stadt sehen wo/ 31 Mazurzy niektörzy zdecydowali si? na wyjazd do Niemiec, wielu z nich. Ci, ktörzy ewiden/ Einige Masuren haben sich entschieden, nach Deutschland auszureisen, viele von ihnen. Die, die sich ofienkün/ 32 uwazali si? za Niemcow. Wobec tego na tym dworcu, prosz? pani, otoczeni sialktyak kröliki für Deutsche hielten. Woraufhin an diesem Bahnhof, wissen Sie, umstellt durch einen Drahtzaun, wie Kaninchen 33 stloczeni tarn. 1 wpuszczano ich i wyrywano im z rcjki m: ich bagaz. Tak ze y: to byly y dort zusammengedrängt. Und sie wurden reingelassen und m: ihr Gepäck wurde ihnen aus der Hand rausgerissen. So daß e: es waren e 246 Marek Czyzewski 34 sprawy stra“szne. Jezeli dziecko zmarto, to byto wyrzucane, takie male dzieci tez, to bylo, to schreckliche Sachen. Wenn ein Kind gestorben war, dann wurde es rausgeworfen, auch solche kleine Kinder, es war, es 35 bylo nie do zn“ie/ to by! widok nieprawdopodo“bny prosz? pani. Ale to robili ubowcy i Ruscy, war unerträ“g/ es war ein fu“rchtbarer Anblick, wissen Sie. Aber das machten UB-Männer 3 “ und Ruscy*', 36 bo to przeciez juz nasze UB bylo i tarn ba“r: dzo bylo mocne. I prosz? pani m i: / To widziatam weil es ja schon unser UB gab und dort war es se: “hr stark. Und wissen Sie m und: / Das habe ich gesehen 37 wtainie tych ludzi, takich starych, z tymi wözeczkami. Oni mieli/ y: Niemcy/ w ogöle Niemcy i eben diese Menschen, solche alte Menschen, mit diesen kleinen Handwagen. Sie hatten/ e: Deutsche/ im allgemeinen Deutsche und Seite 18, Zeilen. 1 ci wszyscy y ktorzy prawda pod ich e: rz^dami byli, byli przyzwyczajeni do takiego ladu, do alle die e die nicht wahr unter ihrer e: Herrschaft waren, sie waren eine solche Geordnetheit, 2 porz^dku, wi$c to wszystko bylo skromniutkie ale jakies tak popakowane m/ To, to, to im eine Ordnung gewohnt, es war also alles sehr bescheiden aber irgendwie so eingepackt m/ Und das, das wurde ihnen 3 zabierano. Bylo mn6“stwo polskich szabrowniköw, obrzydli“we hie“ny, ktöre z centralnej Polski weggenommen. Es gab eine Me“nge von polnischen Schaberleuten, entse“tzliche Hyä“nen, die aus Zentralpolen 4 przyjezdzaly. To podwarszawskie micjscowosci, C-Stadt, M-Stadt. To tarn möwilo sie ankamen. Es waren Ortschaften in der Nähe von Warszawa, C-Stadt, M-Stadt. Man sagte 5 przed wojn^ o tym, ze tarn jest bardzo nieciekawie, taki element. Wi^c oni tarn wlasnie e do schon vor dem Krieg, daß es dort sehr unerquicklich sei, so ein Gesindel. Also die da fuhren eben e nach 6 tych Prus Wschodnich tak zwanych y: jechali i tarn wlaSnie e: dokonywali po prostu diesem Ostpreußen so zu sagen e: sie fiihren hin und dort eben e: begingen sie einfach 30 31 Siehe Fußnote 10. Siehe Fußnote 22. ‘Repatriierte' und Vertriebene 247 7 zwyczajnych kradziezy, rabunkow i: i: : i jeszcze gorszych rzeczy zapewne. Wi$c to wtasnie gewöhnliche Diebstähle, Raubüberfälle u: nd u: : nd und bestimmt noch schlimmere Sachen. Und das eben 8 widzialam, widzialam bardzo/ to byl bardzo brzydki widok, widzialam wtasnie jak takie, takie habe ich gesehen, habe ich gesehen, es war ein sehr/ sehr häßlicher Anblick, ich habe gesehen wie eben ein solches, solches 9 dziecko zostalo po prostu wyrzucone. Nieludzko tak potraktowane. Widzialam röwniez inn^ Kind einfach rausgeworfen wurde. So unmenschlich behandelt. Ich habe auch noch etwas anderes 10 rzecz y: Rosjanie jezdzq/ i teraz zreszt^ tak samo, nie, nie szanuj^ przepisöw drogowych e: gesehen e: die Russen fahren/ übrigens jetzt genauso, sie respektieren keine Verkehrsordnung e: 11 zadnego pahstwa. Wiem, ze w L-Stadt teraz s^ takie tez, ze, ze oni jczdz^ i wiele in keinem Land. Ich weiß, daß jetzt in L-Stadt ähnliches vorkommt, daß, daß sie fahren und 12 wypadköw powoduj^. A wtedy to nie bylo w o“g61e nie Swi^tego, byli tylko oni. Otöz szedl/ viele Unfälle verursachen. Und damals da gab es überhaupt kein Heiligtum, es gab nur sie. Also ging mal ein/ 13 szli jacyV czy cztowiek jeden szedl i ci^gn^l y wözeczek i w tym wözku czy bylo drzewo czy gingen einige/ oder ging ein Mann und zog einen e kleinen Handwagen hinter sich und in diesem Handwagen war Holz oder 14 wfgiel, juz nie pami^tam i ros/ jechalo e: ci? zaröwka rosyjska jechala. I jechal ta“k gwaltownie Kohle, ich weiß es nicht mehr und russ/ fuhr e: ein russischer Lastwagen fuhr vorbei. Und er fuhr s“o heftig 15 i ta“k szybko, ze zaczepil za ubranie tego czlowieka i w! 6“kl go przez iles tarn metröw. I und s“o e: schnell, daß er sich an der Kleidung dieses Mannes anhakte und ihn viele Meter mit sich schle“ppte. Und 16 wtedy mySlatam, ze Polacy dokonaj^ tarn samos^du. Bo jak dor: wa“no tego Ruskiego to go juz dann dachte ich, daß die Polen ihn gleich lynchen würden. Weil als dieser Ruski dann gesch: na“ppt wurde, hat man ihn auch 17 tarn stra“sznie zbito. Przyjechala komendant/ komendantura polska oczywiscie, odstawiono go schrecklich verprügelt. Die Kommandant/ selbstverständlich die polnische Kommandantur kam an, er wurde zugestellt. 18 gdzie to ja nie wiem. W kazdym razie wtedy widzialam n: te/ ten zolnierz to tarn wohin weiß ich nicht. Jedenfalls habe ich damals gesehen also: die/ dieser Soldat wurde ja dort 248 Marek Czyzewski 19 rzeczywiscie zostal zmaltretowany przez tlum rozwscieczonych przechodniow m: . Co siq stato wirklich malträtiert durch die Menge der wutentbrannten Passanten m: . Was mit diesem Mann 20 z tym cztowiekiem to ja nie wiem. No ludzie si$ nim napewno zaopiekowali, ja bylam tylko na geschah weiß ich nicht. Also Leute haben für ihn bestimmt gesorgt, ich warja nur ein 21 ulicy przechodniem ale to m^zczyini brali wtedy odwet na calym Zwi^zku Radzieckim za ten Passant auf der Straße aber die Männer nahmen damals Rache an der ganzen Sowjetunion für diesen 22 wta&nie (lacht)/ na tym, na tym zotnierzu jak go y dorwali tarn y: . To to widziatam eben (lacht)/ an diesem, an diesem Soldaten als sie ihn e da geschnappt haben e: . Und das habe 23 z A-Stadt no i wlasnie no ijeszcze jeden taki y: przypadek, otoz prosz; pani e: po spotkaniu in A-Stadt gesehen und nun eben und nun noch einen solchen e: Vorfall, also wissen Sie e: nachdem ich 24 tego pana, o ktörym möwilam [przed wywiadem] tego/ to byl inzynier diesen Herrn getroffen habe, von dem ich [vor dem Interview] sprach, diesen/ er war Ingenieur 25 nie, K. byl tez/ ale to byl, on siq inaczej nazywal. No nie pami^tam, moze przypomm; nein, K. war auch/ aber das war, er hieß anders. Also ich kann mich nicht, nicht erinnern, vielleicht fällt es mir noch ein. 26 Bo: wiele mu zawdziqczam i: to byl taki wspanialy czlowiek .. i: y: poszlam do pracy Wei: l ich ihm viel verdanke und: es war eben ein wunderbarer Mensch .. und: e: ich fing an zu arbeiten 27 w Wydziale w dzie/ w Urzqdzie Wojewödzkim A-Stadt, w Wydziale Komunikacyjnym. in der Abteilung, in der Abt/ am Wojewodschaflsamt der A-Stadt, in der Verkehrsabteilung. 28 Jego na/ naczelnikiem byl naczelnik mojego ojca z Wilna, pan inzynier Z. I w o“g61e ca“ly ten Deren Lei/ Leiter war der Leiter meines Vaters in Wilna, Herr Ingenieur Z. Und überhaupt die ga“nze 29 Wydzial Komunikacyjny to byli sami wilnianie. I ja pracowalam y w kancelarii, bo ja przeciez Verkehrsabteilung das waren lauter Wilnaer. Und ich arbeitete e im Dienstraum, weil ich ja 30 jeszcze nie nie umiatam, no pisac tak (lacht) ale Swiezo po maturze to. damals noch nichts konnte, also schreiben konnte ich (lacht) aber frisch nach dem Abitur so. 31 Wi^c pracowalam tarn. Ale zeby mnie przyjijto do pracy to musialam zdobyd Swiadectwo Also ich arbeitete dort. Aber um für die Arbeit angenommen zu werden mußte ich ein ‘Repatriierte ’ und Vertriebene 249 32 moralnosci, wtasnie to, ktöre pani pokazywalam [przed wywiadem] Sittenzeugnis bekommen, eben das, was ich Ihnen [vor dem Interview] zeigte 33 K: mhm K: mhm 34S: I musiatam przejSd badania lekarskie poniewaz m: m: przy y: / to jeszcze byty zasady S: Und ich mußte mich ärztlich untersuchen lassen weil m: m: bei e: / man hat noch die 35 stosowane sprzcd y: / z II Rzeczypospolitej, prawda, sprzed wojny, ze kazdy pracownik Vorschriften verwendet von der Vor/ von der Zweiten Republik, nicht wahr, von der Vorkriegszeit, daß jeder staa“tliche 36 pahstwo“wy musiat miec Swiadectwo zdrowia. I w podziemiach tego piqknego Urzqdu Beamte eine Gesundheitsbescheinigung haben mußte. Und im Kellergeschoß dieses schönen Wojewodschaftsamtes 37 Wojewödzkiego w A-Stadt byl y: byl y: gabinet lekarski, by! gabinet lekarski ale tarn byl in A-Stadt gab es e: gab es e: ein Arztzimmer, gab es ein Arztzimmer aber dort war Seite 19, Zeilen: 1 lekarz .. tylko ginekolog. Nigdy w zyciu nie bylam u takiego specjalisty. Wobec tego ein Arzt.. nur ein Gynäkologe. Nie in meinem Leben bin ich zuvor bei einem solchen Spezialisten gewesen. Daher 2 wpadtam w poploch. Ale jak przyszlam to stala dhiga kolejka. I staly same Mazurki, prosz? pani bin ich in Panik geraten. Aber als ich hinkam da gab es eine lange Schlange. Und es standen nur masurische Frauen, wissen Sie, 3 i staruszki i w Srednim wieku i ma“le dziewczynki. Wi$c ja dobrze wychowana stamjlam na Greisinnen und Frauen im mittleren Alter und klei“ne Mädchen. Also ich gut erzogen wie ich war, habe ich mich 4 na koncu kolejki i czekam, az przyjdzie moja kolej zeby mnie przebadano. Ale przechodzit ktörys am Ende angestellt und ich warte, bis die Reihe an mich kommt, daß ich untersucht werde. Nun ging einer 5 z kolegow z Wydziahi, möwi „Co ty tu robisz? “. Ja möwi? „No co robiq, czekam na moj^ von den Kollegen aus der Abteilung vorbei, er sagt „Was machst du hier? “. Ich sage „Na was mache ich, ich warte, bis die Reihe 250 Marek Czyzewski 6 kolejk? “. On möwi „To ty n“ie zonentowalas Ja möwi? „Nie“. Mowi „To wszy“stkie te an mich kommt“. Er sagt „Hast du ni“cht eingesehen? “. Ich sage „Nein“. Er sagt „Das sind a“lle diese 7 Mazurki chore wenerycznie, ktöre tak straszliwie/ bo przeciez gwalcili wszy“stkie i stare i venerisch kranken masurischen Frauen, die so grausam/ weil sie a“Ue vergewaltigt haben, die alten 8 mlode i ma/ i dziewczynki mate i to s^ wszystko do lekarza wenetycznie chore kobiety ktöre und die jungen und die klei/ und die kleinen Mädchen und das sind alles venerisch kranke Frauen zum Arzt, die 9 stoj^ po prostu w kolejce zeby sii; leczyc. 1 dlatego zdziwitem si? i zapytalem co ty tu robisz“. einfach Schlange stehen, um sich behandeln zu lassen. Und deshalb habe ich mich gewundert und fragte, was du hier machst“. 10 Prosz? pani, straszne rzeczy tarn si«; dzialy, stra“szne, Ruscy gwalcili absolu“tnie wszystkie. Nie Wissen Sie, es geschahen dort schreckliche Sachen, schreckliche, die Ruscy vergewaltigten absolu“t alle. Ich weiß nicht 11 wiem y nie bylo tego w Wilnie moze dlatego, ze oni uwazali te tereny za wlasne, ze to b^dzie e das hat es in Wilna nicht gegeben vielleicht deshalb, weil sie diese Gebiete für eigene hielten, daß es schon 12 juz ta 'rodina' a tutaj oni nie oddawali na/ zreszt^ w ogöle tak bylo, w ogöle tak chyba oni ihre 'rodina' 32 sein wird und hier haben sie nicht abgegeben fu/ übrigens es war überhaupt so, überhaupt haben sie wohl überall 13 post^powali wsz^dzie, nie wiem, moze tutaj na tych terenach tez tak samo robili, trudno mi so gehandelt, ich weiß nicht, vielleicht hier auf diesen Gebieten haben sie es genauso gemacht, das kann ich schwer 14 powiedziec, nie pytalam nigdy. Ale tarn prosz? pani, to doslownie wszy“stkie, doslownie sagen, ich fragte danach nie. Aber dort wissen Sie, es waren a'Tle, buchstäblich 15 wszy“stkie. I: y: ten kolega wszedl do gabinetu lekarskiego i powiedzial, ze ja tutaj czekam na a'Tle. Und: e: dieser Kollege ging in das Arztzimmer rein und sagte, daß ich hier auf Untersuchung 16 badame, prawda, poniewaz ja mam podj^c pracq, ze pracuj; i ze musz; miec zaswiadczenie o warte, nicht wahr, weil ich die Arbeit aufnehmen sollte, daß ich arbeite und die Gesündheitsbescheinigung 32 Russisch im Original (dt. Heimat). ‘Repatriierte ’ und Vertriebene 251 17 zdrowiu. No to zostatam poproszona wczeSniej y: juz bez/ poza kolejnosci^. Wchodz? i tarn haben müßte. Also ich wurde früher aufgerufen e: schon ohne/ außer der Reihe. Ich gehe rein und dort 18 jest taki, taki wlasnie/ na na pierwszym czotowym miejscu stoi ten o: lbrzymi fotel ist so ein, ein solcher eben/ im im allerersten Vordergrund steht dieser rie: sige gynäkologische 19 ginekologiczny, no i ja znowu stremowana. I ten mlody lekarz zacz%l si$ ämiac i powiada Behandlungsstuhl, und ich kriege wieder einen Schrecken. Und dieser junge Arzt fing an zu lachen und er sagt 20 „Czemu si? pani tak niepokoi? “ i zacz^t mnie badac „Ale serce wci^z ma pani przyspieszone“ „Warum sind sie so beunruhigt? “ und fing an mich zu untersuchen „Aber der Herzschlag ist bei ihnen immer noch beschleunigt“ 21 (lacht) (lacht) 22 K: mhm K: mhm 23 S: Wise ja powiadam/ on mowi „Nie, to pani^ nie dotyczy“. No dobrze ale on sobie troszks S: Und ich sage/ er sagt „Nein, das betrifft Sie nicht“. Na gut aber er hat sich schon etwas 24 uzywal, pozwolil sis mnie trochs podenerwowac y: nie mowit/ po prostu tak sobie troszks herausgenommen, er ließ mich ein bißchen nervös werden e: er sagte nicht/ er hat so ein bißchen 25 zazartowal. No wyst/ otrzymalam to zaswiadezenie i proszs pani.. I te Niem/ te Mazurki i gescherzt. Also erstell/ bekam ich die Bescheinigung und wissen Sie .. Und diese deutsch/ diese masurischen und 26 Niemki/ no bo to wlasnie tak trudno bylo m: prawda y: / one wtaseiwie sis jednoznacznie nie deutschen Frauen/ also weil es gerade so schwierig war m: nicht wahr e: / sie haben sich eigentlich eindeutig nicht 27 opowiadaly y. Poza tym to nie przyszla taka Polska, zacz? lo siq bezprawie. I wlasnie erklärt e. Darüber hinaus es kam ja nicht ein solches Polen, sondern die Rechtlosigkeit fing an. Und eben 28 stracilismy bandzo duzo ludzi. Dlatego, ze to s^ ludzie, ktörzy maj% przepisy prawne haben wir seh: r viele Leute verloren. Weil es Menschen sind, bei denen die Rechtsbestimmungen 252 Marek Czyzewski 29 zakodowane prawie genetycznie. Natomiast tutaj wlasnie nie byto poszanowania prawa. No poza fast genetisch kodiert sind. Und hier gab es hingegen gerade keine Rechtsbeachtung. Und 30 tym cöz/ Niemki na mnie robity bardzo y: takie dziwne wrazenie. One byty takie pokome, darüber hinaus nun/ deutsche Frauen machten auf mich einen sehr e: einen solchen merkwürdigen Eindruck. Sie waren so demütig. 31 wystarczyto tupn^c nog%. Ona wlasciwie sktonna byia podporz^dkowac si? kazdemu es reichte, daß man mit dem Fuß aufstampite. Sie war eigentlich geneigt, sich jedem 32 zyczeniu. A y: to po prostu/ no nie wiem no Polki byly harde, Polki byly twa“rde. No w Wunsch unterzuordnen. Und e: nun einfach/ also ich weiß nicht also polnische Frauen waren stolz, polnische Frauen waren ha“rt. Also 33 kazdym razie möwie o swoim pokoleniu. To ja sobie no nie wyobraza'Tam takich rzeczy. ich spreche jedenfalls von meiner Generation. Und ich habe mir also solche Sachen nicht vo“rstellen können. 34 I tarn na przyklad wszyscy ci ubowcy, to kazdy z nich, oni mieli w domu/ prowadzily im Und dort zum Beispiel alle diese UB-Männer, also jeder von ihnen, sie hatten zu Hause/ sie führten ihnen 35 te te gospodarstwa. diese diese Haushalte. 36 K: mhm K: mhm 37 S: Ale nie tylko, bo one po prostu stuzyly wszelkim celom. Tak, ze to, to byio tez takie bardzo S: Aber nicht nur das, weil sie einfach allen Zwecken dienten. So, daß es, es auch so sehr Seite 20, Zeilen: 1 y: przykre i ja, prosze pani, y: moja/ y: to by! taki, taki, taki no przypadek y: . e: unangenehm war und ich, wissen Sie, e: meine/ e: es war ein solcher, ein solcher, also ein solcher Vorfall e: . Inken Keim Eine Biographie im deutsch-polnischen Kontext: Marginalität, kulturelle Uneindeutigkeit und Verfahren der Tabuisierung Abstract: Materialgrundlage dieses Beitrags ist ein Gespräch mit einer jungen Polin deutsch-polnischer Herkunft über ihre biographischen Erfahrungen in Polen. Diese Erfahrungen sind geprägt durch das Leiden unter einer Mehrkulturalität, bei der die beteiligten Kulturen eine durch Krieg, Vertreibung und Vernichtung bestimmte gemeinsame Geschichte und aufgrund der Verbrechen der NS-Zeit und der Verfolgung der Deutschen im Polen der Nachkriegszeit (vgl. Einleitung) eine von Haß und Feindseligkeit geprägte Beziehung zueinander entwickelt haben. Bei der Darstellung ihrer biographischen Entwicklung zeigt die Informantin in exemplarischer Weise die Probleme auf, die mit der Ausbildung einer ethnisch-kulturellen Identität unter solchen Bedingungen verbunden sind und die eine eindeutige kulturelle Selbstdefmition verhindern. Über ihre problembelastete Erfahrung und die daraus entwickelte ambivalente Haltung den Deutschen gegenüber spricht die Informantin über weite Strecken nicht direkt und explizit, sondern andeutungsweise und ‘verschleiernd’. Ziel der Analyse ist es, die komplexe Selbstverortung der Informantin zu rekonstruieren und die Formulierungsverfahren zu beschreiben, die sie verwendet, um einerseits die Bedeutung der ‘versteckten’ Hintergründe für ihre biographische Entwicklung plausibel zu machen und um andererseits beide Gesprächspartnerinnen vor einer „Face“-bedrohenden Aktivierung des problematischen interkulturellen Potentials zu schützen. Der Fall ist ein gutes Beispiel dafür, wie man über belastende Erfahrungen sprechen kann unter Gesprächsbedingungen, für die ein Aspekt dieser Erfahrungen konstitutiv ist. 1. Gegenstand und Ziel Grundlage der folgenden Analyse ist ein ca. 40minütiges Gespräch zwischen mir und einer Polin deutsch-polnischer Herkunft. Ania lebt in Polen, ist 32 Jahre alt, promovierte Germanistin und spricht ausgezeichnet Deutsch. Sie hat Deutsch von ihrer deutschsprachigen Mutter gelernt. Ich lerne Ania als Lehrerin deutscher Studenten in Zentralpolen kennen und ich erlebe, daß sie ihnen gegenüber unverhältnismäßig hart und aggressiv sein kann. Da sie mich interessiert, bitte ich sie um ein Gespräch über ihre Erfahrungen aufgrund ihrer deutsch-polnischen Herkunft, die ich als Zeitzeugenaussagen für deutschpolnische Probleme verwenden könnte. Ania weiß von mir, daß ich sehr wenig Polnisch kann und nur sehr geringe Kenntnisse über das Leben in Polen und die polnische Zeitgeschichte habe. Das Gespräch ist für uns die erste Gelegenheit für ein näheres Kennenlemen. 1 1 Mein erster Aufenthalt in Polen 1988 war mit der Erwartung verknüpft, daß ich auf Zurückhaltung, Vorbehalte, vielleicht auch Ablehnung mir gegenüber als einer Deutschen stoßen würde. Ich war überrascht, daß meine ersten Kontakte mit Polen sehr freundlich verliefen, und daß für meine Gesprächspartner in erster Linie wichtig war, ob ich West- oder Ostdeutsche war. Ressentiments schienen eher auf Ostdeutsche bezogen zu sein; als Westdeutsche hatte ich den Eindruck, willkommen zu sein. Wenn die deutsch-polnische Vergangenheit in Gesprächen überhaupt behandelt wurde, dann sehr vorsichtig, fast verständnisvoll. Bei meiner zweiten Reise 1994 erlebte ich von polnischer Seite wiederam 254 Inken Keim Auf meine Gesprächsvorgabe geht Ania nur z.T. ein; sie präsentiert zunächst biographische Details aus dem Leben ihrer Mutter, zu ihrer Herkunft und zu ihrem Leben in Polen. Dann stellt Ania eigene biographische Erfahrungen dar, die zeigen, daß ihr mehr-kultureller Hintergrund für sie bereits in der Kindheit zum traumatischen Erlebnis wurde. Es sind einerseits Erfahrungen des Ausgeschlossenseins und der Marginalität aufgrund des deutschsprachigen Hintergrundes im polnischen Umfeld; andererseits Erfahrungen, die mit ihrer Mutter zu tun haben und deren Leiden unter den barbarischen Verbrechen der Nazi- Deutschen. Das Gespräch mit Ania beeindruckte mich sehr: ihre Erfahrung des Ausgeschlossenseins, ihr Vermeiden einer eindeutigen ethnisch-kulturellen Selbsteinordnung in gängige Kategorien und die Ungewöhnlichkeit ihrer Darstellungsweise. Während des Gesprächs hatte ich den Eindruck, daß sie für das Verständnis ihrer Darstellung wesentliche Informationen nur andeutete oder ausblendete. Ich wagte jedoch nur wenige Male nachzufragen, zum einen um ihre an zentralen Stellen offensichtliche Darstellungsanstrengung nicht zu unterbrechen; zum anderen erschwerten ihre besondere interaktive Präsenz und das zeigt die folgende Analyse die von ihr verwendeten Formulierungs- und Darstellungsverfahren Unterbrechungen und Nachfragen. Ania machte mir überaus deutlich, daß sie die Kontrolle über das, was sie preisgab, durchgängig behalten wollte. Gegen Ende des Gesprächs, als sich ein Dialog zwischen uns zu entwickeln begann, brach sie abrupt und ohne vorbereitende Sequenz ab mit den Worten: -das ist alles was ich zu sagen hatte praktisch*sonst würd ich mich wiederho “leni * und das/ das mag ich nichts. Ich diskutierte das Material mit polnischen Kollegen, um die polnische Perspektive darauf einzuholen, 2 beschaffte mir Hintergrundinformationen 3 und bat Ania brieflich um Klärung einer Reihe biographischer Hintergründe. In die Analyse des Gesprächs werde ich die nachträglich eingeholten Informationen Freundlichkeit und ich hatte den Eindruck, daß das Ausklammem problematischer Sachverhalte und der Wille zur Verständigung vorrangig waren. Nur bei Ania, die ich kurzfristig mit deutschen Studenten erlebte, hatte ich den Eindruck, daß sie zeigte, daß sie Probleme mit Deutschen hatte. Daß Ania zu dem Gespräch mit mir bereit war, freute mich sehr. Zu Beginn des Gesprächs war sie etwas „kurz angebunden“, und ich versuchte sehr vorsichtig mit ihr umzugehen. Das ist mit ein Grund für meine Zurückhaltung und für das Unterlassen „neugieriger“ Fragen; ich wollte Ania keinen Anlaß geben, gereizt zu werden und das Gespräch vorzeitig abzubrechen. Meine Zurückhaltung ist also konstitutiv für die Herstellung genau dieses Gesprächs, dessen Charakteristik die Tabuisierung wesentlicher biographischer Hintergründe ist. Das Gespräch war unsere letzte direkte Kommunikationsmöglichkeit; danach war mein Aufenthalt in Polen zu Ende. Für wertvolle Analysehinweise danke ich v.a. Andrzej Piotrowski, Marek Czyzewski und den polnischen Teilnehmern des Kolloquiums „Polnisch-Deutsche interkulturelle Kommunikation“, vom 10.-12.4.1995 im Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiFj, Bielefeld. A. Piotrowski hat mir seine analytischen Hinweise brieflich zukommen lassen. Darauf beziehe ich mich im folgenden. Interviews mit Polen zu zeitgeschichtlichen Hintergründen und Lebensbedingungen; Literatur zur polnischen Zeitgeschichte, vgl. u.a. Broszat (1972) und Engel (1995). Eine Biographie im deutsch-polnischen Kontext 255 einbeziehen und auch die Perspektive polnischer Kollegen an den Stellen darstellen, die keine einfache Deutung zulassen. Die Perspektiventriangulation 4 ermöglicht eine höhere analytische Komplexität und Tiefe. 5 Anias Biographie stellt eine der Entwicklungsmöglichkeiten dar für ein Kind aus einer deutsch-polnischen Familie in Polen in den 60er-90er Jahren. Das Kind litt unter einer Mehrkulturalität, deren Spezifik es ist, daß die beteiligten Kulturen eine durch Krieg, Massenvertreibung und -Vernichtung geprägte, äußerst problematische Geschichte haben, und der Alltag des Kindes sowohl in der Familie als auch im polnischen Umfeld durch die Kriegsfolgen geprägt ist. Wesentliche Einflüsse in Anias Entwicklung sind einerseits eine manifest monokulturell orientierte polnische Umwelt mit feindlicher Flaltung dem Deutschen gegenüber; andererseits eine deutschsprachige Mutter, zu der Ania eine sehr enge Beziehung hat, die ihr die Liebe zur deutschen Sprache, gleichzeitig aber auch eine zutiefst ablehnende Haltung gegenüber den Deutschen vermittelt hat. Mit dem „deutschen Teil“ ist für Ania eine Problematik verbunden, die in die NS-Zeit zurückreicht und mit den Greueltaten der Deutschen anderen Ethnien und ethnischen Minderheiten gegenüber zu tun hat. Die Spezifik dieser biographischen Situation macht es dem Kind schwer, eine positive Haltung zu einer der beteiligten Kulturen zu entwickeln und eine problemlose kulturelle Identität auszubilden. Nachdem Ania einem Gespräch mit mir zugestimmt hatte, stellten sich für sie — aus meiner Perspektive heute in der damaligen Gesprächssituation zumindest folgende kommunikative Aufgaben. Ihre Gesprächspartnerin ist eine Angehörige der Nation, die für sie äußerst problematisch ist. Ihr will sie wesentliche biographische Erfahrungen darstellen, die die Voraussetzung bilden für ihre zutiefst ambivalente Haltung den Deutschen gegenüber und für ihre komplexe Selbstsicht. So muß sie z.B. plausibel machen, daß sie trotz ihrer Ablehnung der Deutschen den Beruf der Germanistin gewählt hat, der ja eine lebenslange Beschäftigung mit dem Deutschen bedeutet. Vor allem jedoch muß sie aus Gründen des Selbst- und des Partnerschutzes in hohem Maße „face-work“ (vgl. dazu Goffman 1975) betreiben, d.h. sie muß ihr Kommunikationsverhalten so gestalten, daß sie sich selbst und die Partnerin vor dem unkontrollierten Ausbruch negativer Gefühle schützt. Sie muß alle für ihre Entwicklung und für ihre Selbstverortung relevanten Erfahrungen präsentieren 4 Das Konzept der „Triangulation“ beinhaltet Beobachtungen von unterschiedlichen Standpunkten aus. Der Begriff stammt aus der Trigonometrie. In der Soziologie bedeutet „Triangulation“ die Kombination unterschiedlicher Meßverfahren und Methoden, bzw. den Vergleich von Beobachtungen und Messungen, die mit unterschiedlichen Methoden und von verschiedenen Standpunkten aus gemacht werden. Denzin (1970) unterscheidet verschiedene Arten der Triangulation. Daten-Triangulation (Vergleich unterschiedlicher Datenquellen), Forscher-Triangulation (unterschiedliche Beobachter und ihre Perspektiven auf das „Objekt“) und Theorien- und Methoden-Triangulation. Zur Triangulation in der ethnographischen Forschung vgl. Kallmeyer (1995). 3 Ich unterrichtete Ania über mein Analyseinteresse; sie erklärte sich damit einverstanden und gab das Gespräch in anonymisierter Form frei. Ania kennt meine Analyse. 256 Inken Keim und zwar in einer Weise, daß einerseits für die Partnerin die Bedeutung dieser Erfahrung verstehbar wird, und daß andererseits sie sich selbst davor schützt, zuviel schmerzhafte Hintergründe offenzulegen und damit Gefahr zu laufen,’ die emotionale Kontrolle zu verlieren. Zur Bewältigung dieser Aufgaben verwendet Ania die in der folgenden Analyse dargestellten Techniken und Formulierungsverfahren für Tabuisierung. Bei der kulturellen Selbsteinordnung genügen ihr sprachliche und ethnischkulturelle Standardkategorien nicht, um die Komplexität ihrer Erfahrung zu erfassen. Die Darstellung und Bewertung wesentlicher biographischer Erfahrung erfolgt aus der Perspektive einer spezifischen Erlebenskategorie, und zwar aus der Perspektive eines Menschen, der sich mit den Opfern der NS- Barbarei identifiziert. Aruas Kommunikationsverhalten ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie man in einer komplizierten Gesprächskonstellation über problematische Erfahrungen sprechen und das Ausmaß ihrer Bedeutung für das eigene Leben verdeutlichen kann und wie man dabei gleichzeitig den Kern des Problems und seine Hintergründe verschweigen und damit sich selbst und die Partnerin vor der Offenlegung des eigenen Schmerzes schützen kann. Ziel der folgenden Analyse ist es, mit gesprächsanalytischen und linguistischen Mitteln Anias komplexe Selbstsicht zu rekonstruieren. Dabei ist es wichtig, das im Zusammenhang mit der Darstellung wesentlicher biographischer Erfahrung Ausgesparte festzustellen, und die Merkmale zu beschreiben, die darauf hinweisen, daß etwas ausgespart wurde. Vor allem aber werden die Verfahren und Mittel beschrieben, mit denen Ania die rhetorische Aufgabe bewältigt, einerseits Hintergründe, Erfahrungen, Motive, über die sie nicht reden will, auszusparen und andererseits auf die Relevanz des Ausgesparten aufmerksam zu machen. Ich benutze das gesprächsanalytische Instrumentarium für eine strukturelle Analyse von Anias Kommunikationsverhalten und nicht, um etwas aufzudecken, das Ania im Gespräch nicht preisgeben wollte. Mich’interessieren die rhetorischen Verfahren, die Ania verwendet, um in der aktuellen Situation verschiedene und z.T. gegenläufige Anforderungen zu bewältigen. Für die Analyse sind folgende Fragen interessant: - Welche biographischen Erfahrungen aus der deutsch-polnischen Familiensituation werden als relevant präsentiert und wie ist ihre Auswahl in bezug auf die Selbsteinordnung motiviert? — Mit welchen sprachlichen Mitteln und Verfahren werden die ausgewählten biographischen Bereiche dargestellt; was wird wie thematisiert und wie strukturiert; und an welchen Stellen wird ausgeblendet? 2. Aus der Biographie der Mutter Beim Einstieg in das Gespräch entwirft Ania zunächst ein einheitliches Familienbild, in dem es keinen Hinweis auf eine Mehrkulturalität oder auf kulturelle Probleme gibt. Die Herkunft der Familie wird ausschließlich regional-lokal charakterisiert; alle Orts- und Provinznamen der Herkunftsorte sind deutsche Eine Biographie im deutsch-polnischen Kontext 257 Bezeichnungen. Die Familie wohnte u.a. auch in „Hinterpommem“ und in „Ostpommem“. 6 Mit der Bezeichnung „Pommern“ als der Region, in der Ania einen wesentlichen Teil ihrer Kindheit verbrachte, wird gleich zu Beginn des Gesprächs ein mehrkultureller und spannungsreicher Kontext eröffnet, den Ania jedoch nicht thematisiert: Pommern war bis zum Zweiten Weltkrieg deutsches Gebiet, und nach Kriegsende 1945 kam Vorpommern zu Mecklenburg, Hinterpommern unter polnische Verwaltung. Direkt nach Kriegsende wurden große Teile der deutschen Bevölkerung aus Hinterpommem vertrieben und in den entvölkerten Gebiete wurden Ostpolen aus den Gebieten, die an Rußland gefallen waren, angesiedelt, und auch polnische Juden, die den Krieg in Rußland überlebt hatten. Der deutsche Bevölkerungsanteil, der in den jetzt polnischen Gebieten Pommerns blieb, mußte die polnische Staatsangehörigkeit annehmen. Zwischen dem deutschen, jüdischen und polnischen Bevölkerungsteil kam es in der Nachkriegszeit zu schweren Auseinandersetzungen, die auch Verfolgung und Tötung einschlossen. 7 Von diesen sozialpolitischen Hintergründen muß zumindest Anias Mutter, eine deutschsprechende Ausländerin, betroffen gewesen sein; Hinweise darauf gibt Ania an dieser Stelle nicht. Gleich nach der Darstellung der regionalen Herkunft der Familie folgt die Darstellung des Lebens der Mutter, die kurz zusammengefaßt folgendes enthält: Die Mutter stammt aus Berlin, ist deutschsprachig und lernt den Vater, einen Polen, auf einer Messe in Poznan kennen. Sie heiratet ihn Anfang der 50er Jahre; mit der Heirat ist die Entscheidung für ein Leben in Polen verbunden. Das Paar hat zwei Töchter, die ältere wird Mitte der 50er Jahre gebo- Die regionalen Präzisierungen hinterpommem und ostpommem enthalten durch die deiktischen Elemente eindeutige Indikatoren für das Sprechen aus einer westlichen bzw. deutschen Perspektive. Aus der polnischen Perspektive wird die Region „Hinterpommem“ mit „Pomorze Zachodnie“ bezeichnet (wörtlich: „Westpommem“) und „Ostpommem“ mit „Wal Pomorski“ (wörtlich übersetzt „Pommemwall“). Diese Perspektivierung kann als Ausdrucksform eines recipient design verstanden werden, d.h. Ania verwendet der deutschen Gesprächspartnerin gegenüber ihr bekannte Bezeichnungen. Es kann aber auch sein, daß die deutschen Bezeichnungen die für Ania selbstverständlichen sind; das wäre ein Indiz für eine „deutsche Perspektive“. Zu „recipient design“ vgl. Sacks/ Schegloff/ Jefferson (1974). Zur Situation der Deutschen im Nachkriegspolen vgl. u.a. Broszat (1972, S. 31 Iff.): „Die rund neun Millionen Deutschen aus den westpolnischen Gebieten (...) hatten gleichsam stellvertretend die Last der Vergeltung zu tragen, die (...) im Osten die weitaus schwersten und nachteiligsten Folgen hatte. Es erwies sich dabei, daß die ca. 4 bis 5 Millionen Ostdeutschen, die (...) flohen oder evakuiert wurden (...), trotz erheblicher Verluste noch immer den besseren Teil erwählt hatten. Die volle Wucht sowjetischer und polnischer „Abrechnung“ traf die Zurückgebliebenen“. Das bedeutete Zwangsarbeit, Verfolgung, Tötung oder auch Zwangspolonisierung. Aus Angst versuchten viele Deutsche ihre ethnische Herkunft zu verheimlichen. Zur Situation im Nachkriegspolen vgl. auch die Beiträge in Kobylinska et al. (Hg.) (1992), Kap. V; vgl. auch die Einleitung zu diesem Band und den Beitrag von Marek Czyzewski in diesem Band. Zur Situation der Juden im Polen der Nachkriegszeit vgl. Spiewak (1992) und Engel (1995); es gab schwere Ausschreitungen gegen Juden, in denen bis zu 15.000 Juden starben. 258 Inken Keim ren, Ania Anfang der 60er Jahre. In den Anfangsjahren der Ehe reist die Mutter oft nach Deutschland und während der Unruhen in Polen 1968 will sie mit den Kindern dorthin emigrieren. Da jedoch der Mann Polen nicht verlassen darf, kehrt sie zurück und integriert sich in Polen. Über das Leben der Mutter spricht Ania über weite Strecken in flüssigem und grammatikalisch einwandfreiem Deutsch; an einigen Stellen jedoch hat sie manifeste Formulierungsprobleme. Ihre Schwierigkeiten sind m.E. nicht einfach mit Problemen des Deutschsprechens zu erklären (solche Probleme mögen in Einzelfällen auch eine Rolle spielen), sondern die Struktur ihrer Formulierungen läßt vermuten, daß es vor allem die Inhalte sind, die ihr Probleme bereiten: An solchen Stellen deutet Ania verschiedene biographische Hintergründe der Mutter an, bricht sofort wieder ab und fuhrt die angedeuteten Hintergründe nicht weiter aus. Das ist vor allem an den Stellen der Fall, die mit der Herkunft der Mutter Zusammenhängen: bei der Darstellung des nationalen Hintergrunds der Mutter (Kap. 2.1) bei der Andeutung eines russischsprachigen Hintergrunds (Kap. 2.2) - und bei der Schilderung ihres Emigrationsversuchs, der u.a. auch die Deutungsmöglichkeit eines jüdischen Hintergrunds eröffnet (Kap. 2.3). Die angeführten Stellen vermitteln den Eindruck, daß mit der Herkunft der Mutter komplexe Erfahrungen verbunden sind. Auffallend ist, daß Ania eine eindeutige ethnisch-kulturelle Zuordnung ihrer Mutter vermeidet. Charakteristisch für die Formulierungen, die an diesen Stellen verwendet werden, ist eine Häufüng von aufwendigen Selbstkorrekturen 8 , bestehend aus mehrfachem Anakoluth, Umbau der syntaktischen Struktur, Pausen, Dehnungen und Verzögerungssignalen bis dann eine gültige Formulierung in einem Schub präsentiert wird, z.B.: sie wohnte äh im/ sie war da“durch daß äh *3* daß sie vielleicht ein klein bißch/ sie hat sichfür ^-sprachen interessiert T. Bei diesen Selbstkorrekturen wird ein Fragment entweder durch ein neues Fragment ersetzt oder durch eine neue und vollständige Struktur. Dadurch werden Formulierungsplanungen ansatzweise sichtbar; durch eine Neuformulierung werden sie jedoch sofort wieder getilgt. Diese Korrekturen sind erste Hinweise auf Darstellungsbzw. Formulierungsschwierigkeiten, die m.E. damit zu Es gibt außerdem Typen von Selbstkorrekturen, bei denen m.E. kein Hinweis auf Verdecken oder Tabuisieren vorliegt; sie enthalten keine auffallenden Dehnungen am Wortende und keine gefüllten Pausen. Zum einen eine Art Stottern; das Lexem ist geplant, aber noch nicht voll artikulatorisch verfügbar; Teile des Lexems bzw. des Syntagmas werden vorformuliert und dann ohne Pause in einem Schub vollständig produziert: zum Beispiel hoch/ ho"chdeutschf (Z. 34-35); das ist eine fam/ eine familie (Z. 22-24). Dieser Typ hat mit Wortsuche bzw. mit Aitikulationsproblemen zu tun; er kommt auch in Kontexten vor, in denen Ania glatt und syntaktisch klar durchstrukturiert komplexe Satzkonstruktionen präsentiert. Zum anderen die Selbstkorrektur ohne Anakoluth, d.h. ein Lexem bzw. ein Syntagma wird durch ein anderes ersetzt, ohne daß sich die grammatische Struktur der Satzplanung verändert; die Korrekturversion und die korrigierte Version sind klar erkennbar, z.B.: und die/ meine mutter hat sich entschie “den. Eine Biographie im deutsch-polnischen Kontext 259 tun haben, daß Ania die explizite Thematisierung des kurzzeitig sichtbar gewordenen Hintergrunds vermeiden will. Ausgehend von diesen ersten oberflächennahen Hinweisen zeigen viele Gesprächsstellen noch eine Reihe weiterer Eigenschaften, die m.E. mit Tabuisieren Zusammenhängen und die in den folgenden Kapiteln beschrieben werden. Exkurs: Ein Blick in die linguistische Forschung zu „Tabuisieren und Verschleiern“ zeigt folgendes: Es gibt nur wenige linguistische Arbeiten zu Tabuisieren; das sind meist wortsemantische Analysen mit folgenden Ergebnissen: In klinischen Gesprächen z.B. verwenden Patienten für schwere Krankheiten semantisch leere Ausdrücke wie „das“, „das Ganze“, „sowas“; oder die richtige Bezeichnung kommt nur in zitierter Rede vor. Die Mystifizierung von Krankheiten wird als Hinweis auf Tabuisieren betrachtet. In der ethnologischen Literatur gilt das Mystifizieren als traditionelles Verfahren des Tabuisierens. Hartmann (1990) unterscheidet zwischen Sach- und Sprachtabu; Sachtabu bezieht sich auf die Vermeidung von Dingen und Personen, in Gesprächen auf die Vermeidung von Themen. Tabuisieren ist ein habituelles Verhalten und bedeutet bewußtes oder unbewußtes Schweigen über Sachverhalte. Sprachtabu bezieht sich auf die Vermeidung von Wörtern und Namen, z.B. Krankheitsbezeichnungen wie „Krebs“ und „Aids“, auf Vermeidung von Sprechakten z.B. Fluchen. Die Unterscheidung zwischen beiden ist nur analytisch möglich; empirisch hängt z.B. die Vermeidung von bestimmten Wörtern zusammen mit bestimmten Einstellungen den so bezeichneten Sachverhalten gegenüber. Bergmann (1992) beschreibt eine Möglichkeit, mit heiklen Themen in der Psychotherapie umzugehen: Der Betroffene schwächt ab (mitigation) oder verwendet Euphemismen oder Litotes zur Bescheibung des für ihn Heiklen. Der Rezipient bzw. der Arzt „korrigiert“ diese Darstellung und gibt seine Version des Sachverhalts, die dann für den Arzt Handlungsbasis ist. D.h., der Betroffene deutet das problematische Potential nur an und überläßt es dem Rezipienten, das Heikle zu benennen. Das setzt ein gemeinsames Hintergrundwissen voraus. Silverman (1994) beschreibt, daß es bei einer HIV-Beratung in der ersten Untersuchung schwierig für den Patienten ist, über sein sexuelles Verhalten zu reden, da Aids mit ausschweifendem sexuellem Verhalten assoziiert wird. Der Patient arbeitet dagegen, indem er sich als normal, moralisch verantwortungsvoll u.ä. darstellt; er beginnt mit einer positiven Selbstdarstellung und zögert das Peinliche, die Beschreibung seines Sexualverhaltens hinaus. (Exkurs Ende) Die Forschungsergebnisse bezogen auf Anias Darstellungsverhalten, wie es sich das sei vorausgreifend gesagt im gesamten Gespräch darstellt: Ania behandelt ihr biographisches Problem, das mit der Erfahrung der Mutter zusammenhängt, als Sprachtabu; d.h., sie gibt eine Reihe von Hinweisen auf die Qualität und die Relevanz ihres Problems, nennt aber dessen Ursachen 260 Inken Keim nicht. Sie zeigt mit sehr unterschiedlichen Verfahren das problematische Potential. An vielen Stellen gibt es auch Hinweise auf ein Sachtabu, d.h., auf Themen bzw. Informationen, die nicht gegeben, aber zum Verständnis vorausgesetzt werden. An einigen Stellen im Gespräch überläßt es Ania mir, an der Explizierung des Gemeinten mitzuarbeiten, d.h., hier verwendet sie ein Verfahren, wie es auch Bergmann beschreibt. 2.1 Herkunft der Mutter Bei den Ausführungen zur Herkunft der Mutter werden ausgelöst durch meine überraschte Nachfrage zum ersten Mal Formulierungsschwierigkeiten offenkundig, die als Schlüssel für mögliche, weitreichende Deutungskontexte betrachtet werden können: 20 AN: jat und eh * «-meine mutter stammt aus Berli: "nl-> 21 IN: -+ahso 22 AN: das war deu"tsche/ das ist 23 IN: die is wirklich deu"tschl«- 24 AN: eine fam/ eine familie die ihre ** ->da kann man die 25 AN: Vorfahren bis in das n/ sechs/ eh bis=n da/ «in das 26 AN: achtzehnte * jahrhundertt hineinverfolgenl 27 IN: also sie is 28 AN: -»ja natü"rlich waschechtl«- 29 IN: urständig berlinerinl ja 30 AN: hundertprozentigf und sie hat 31 IN: spricht auch berlin/ berlinischt 32 AN: -»ja sie spra"ch berlinisch«jat die ist * 33 AN: zweiundneunzig verstorbent * sie sprach berli"nisch 34 AN: aber sprach natürlich korrekt und einwandfrei hoch/ 35 AN: ho"chdeutscht * «-sie war äh Die Herkunftsbeschreibung der Mutter ist zunächst nur lokal bzw. regional. Erst mit meiner Nachfrage -xihso die is wirklich deu “tschJ-<- (Z. 21-23) wird die Nationalität der Mutter thematisiert und in ihrer Relevanz hochgestuft. Ania antwortet aufwendig. Die Feststellung das war deu “tsche/ (Z. 22) wird abgebrochen, und es folgt eine mehrfach korrigierte genealogische Ausführung, die dem Nachweis des „Deutsch-Seins“ der Mutter dient: das ist eine fam/ einefamilie die ihre ** -xla kann man die Vorfahren bis in das n/ sechs/ eh bis=n da/ *in das achtzehnte *jahrhundertt hineinverfolgenl (Z. 24-26). Die genealogische Ausführung ist auffallend; 9 auf meine Vergewisserungsfra- Bei einer unproblematischen und selbstverständlichen ethnischen Zugehörigkeit ist es nach meiner Erfahrung unter heutigen Bedingungen ungewöhnlich, eine genealogische Auskunft zu geben. Wer außer interessierten Ahnenforschem möglicherweise könnte auch auf eine Vergewisserungsfrage nach der ethnischen Zugehörigkeit eine genealogi- Eine Biographie im deutsch-polnischen Kontext 261 ge hätte Ania auch mit einer nachdrücklichen Bestätigung reagieren können, 10 z.B. ,ja natürlich ist sie eine Deutsche“. Daß sie das nicht tut, zeigt, daß ihr eine einfache, klar formulierbare Verortung im Fall der Mutter nicht möglich ist oder daß sie ihr nicht genügt. Im Gegensatz dazu ist die Auskunft zu ihrem Vater an späterer Stelle eindeutig: Meine Vermutung, daß der Vater Russe sei, korrigiert Ania durch die einfache Nennung der nationalen Kategorie: mein vater ist pole. Sie greift auch hier erst auf meine Nachfrage hin auf eine nationale Kategorie zurück, unternimmt aber keine Anstrengung, die polnische Zugehörigkeit des Vaters zu belegen. Der Verweis auf einen Familienstammbaum im Fall der Mutter, der einige Jahrhunderte (Ania korrigiert vom 16. Jahrhundert zum 18. Jahrhundert) zurückverfolgt werden kann, erinnert an Verwendungskontexte, in denen nicht selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, daß die Herkunft unproblematisch ist. Daß Ania den Familienstammbaum aus eigener Initiative präsentiert, eröffnet zumindest die folgenden Deutungsmöglichkeiten: Zum einen erinnert der genealogische Nachweis an Praktiken in Deutschland während der NS- Zeit, in der sehr viele Familien ihre „arische“ Herkunft belegen mußten. 11 In diesem Deutungskontext würde die Formulierung auf eine deutsche Perspektive verweisen, und zwar auf die Perspektive der Mutter bzw. der Großeltern mütterlicherseits, die auf Fragen nach der Herkunft oder beim Verdacht nichtdeutscher Hintergründe bzw. bei der Antizipation eines solchen Verdachtes ihre Familiengeschichte präsentierten, um sich als „Deutsche“ auszuweisen. Auf einen weiteren Deutungskontext machten die polnischen Kollegen aufmerksam: Im gegenwärtigen Polen gebe es einen sehr starken, versteckten, manchmal auch offenen Antisemitismus. Für viele polnische Juden sei es ein Tabu, sich zum Judentum zu bekennen. Um dem Verdacht auf einen jüdischen Hintergrund entgegenzuarbeiten, sei es bereits ein Topos, auf eine lange polnische Familiengeschichte hinzuweisen. 12 In diesem Deutungskontext könnte Anias Formulierung auf eine polnische Perspektive verweisen; d.h. Ania würsche Auskunft überhaupt geben? M.E. ist Anias selbstverständliches Verfugen über eine solche Information ein Hinweis auf ganz bestimmte Verwendungskontexte, in denen die erfragte Zugehörigkeit problematisch geworden ist und/ oder nur in der vorgefuhrten Weise belegbar ist. 10 Ania realisiert einen solchen Zug direkt im Anschluß: Meine reformulierende Feststellung bestätigt sie mit schnellem Anschluß und nachdrücklich; vgl. Z. 28-30. 11 Das galt vor allem für öffentlich Bedienstete, Militärangehörige, Personen des öffentlichen Lebens und auch für Personen, die mit Juden bzw. mit Partnern jüdischer Herkunft verheiratet waren. Für den sogenannten arischen Nachweis genügte der Beleg bis in die dritte Generation; Ania verweist hier auf eine vierbzw. zweihundertjährige Familiengeschichte. 12 M. Czyzewski berichtete von einem prominenten Beispiel aus jüngster Zeit: Ein Bischof bestätigte öffentlich einem Poliüker, der in den Verdacht des Judentums geraten war, daß seine Familie sich als polnische Familie bis ins 15. Jahrhundert hineinverfolgen ließe; zum Antisemitismus in Polen vgl. auch Spiewak (1992), speziell zu diesem Vorfall a.a.O., S. 311. 262 ]nken Keim de das polnische Darstellungsmuster auf die Situation ihrer deutschen Mutter übertragen und einen möglichen Verdacht, ihre Mutter sei jüdischer Herkunft, durch die Ausbreitung einer langen Familientradition in Deutschland auszuräumen versuchen. Beiden Deutungsmöglichkeiten gemeinsam ist, daß mit der gewählten Formulierung dem Verdacht entgegengearbeitet werden kann, einer problematischen ethnisch-kulturellen Gruppe anzugehören. Im Gegensatz zu den Formulierungsproblemen bei der Darstellung der Herkunft der Mutter sind die Angaben zu ihrer Sprache klar und eindeutig. Ania bestätigt nachdrücklich meine Vermutung zur sprachlichen Kompetenz der Mutter und nutzt sie zur Symbolisierung ihres sozialen Status; die Mutter sprach nicht nur berlinisch, sondern in selbstverständlicher Weise korrekt und einwandfrei ho“chdeutscht(Z. 34-35), d.h. sie stammt nicht aus einem nur- Dialekt-sprechenden sozialen Milieu. Zusammenfassend: Die Formulierung des lokalen (Berlin) und deutschsprachigen Hintergrunds der Mutter (Berlinisch, Hochdeutsch) ist glatt, und es kann angenommen werden, daß die lokale und sprachliche Einordnung für Ania unproblematisch ist. Die eindeutige Festlegung hier hebt die Aufwendigkeit im Falle der nationalen bzw. ethnischen Zuordnung hervor und zeigt, wie schwierig sie für Ania ist. Damit wird gleich zu Beginn des Gesprächs eines von Anias Problemen deutlich, das mit der Herkunft der Mutter zusammenhängt, und im Zusammenhang damit werden Deutungsmöglichkeiten eröffnet, die als Hinweise auf spezifische Erfahrungen der Mutter gelesen werden können: Erfahrungen aus der NS-Zeit und/ oder Erfahrungen im Umgang mit einer problematischen ethnisch-kulturellen Zugehörigkeit. 2.2 Der „russische“ Hintergrund der Mutter Im Zusammenhang mit der Schilderung, daß sich die Eltern auf einer Messe in Poznan kennenlemten, fuhrt Ania auch an, daß die Mutter damals im DDR- Außenhandelsministerium gearbeitet hat. Nach meiner Bemerkung, daß sie dann ja in Ostberlin war, beginnt Ania mit Hintergrundinformationen, die ihr ganz offensichtliche Formulierungsprobleme bereiten. In mehreren Anakoluthen werden verschiedene Aspekte ansatzweise sichtbar, dann aber durch die gültige Formulierung, daß die Mutter Russischkenntnisse hatte, ersetzt. Aufgrund der sequentiellen Position fungieren die Russischkenntnisse als Plausibilisierung für die Arbeit der Mutter im DDR-Außenhandelsministerium. 42 AN: 43 AN: 44 IN: 45 AN: 46 IN: 47 AN: 48 AN: 49 AN: sie hatte ei"nmal im außenhandelsministe"rium der DDR gearbeitet! noch vor der/ ach sie hat/ war=n Berlin Ost <ja vor dem mauerbaui> sie wohnte äh noch vor der mauer ja äh im/ sie war da"durch daß äh *3* daß sie vielleicht ein klein bißch/ sie hat sich <-für spra”chen interessiertt und sprach ein klein bißchen Eine Biographie im deutsch-polnischen Kontext 263 50 AN: ru"ssisch4 sie lernte da"s vor dem krieg nochl-> 51 IN: hm 52 AN: ein klein bißchenl und danngab/ äh galt sie 53 IN: mhin hm 54 AN: als dolmetscherin in der besatzungszeitT und 55 IN: hm mhm 56 AN: arbeitetet äh * dann in diesem han/ 57 AN: außenhandelsministerium Die abgebrochene Information über den Wohnort: sie wohnte äh im/ (Z. 45- 47) wird ersetzt durch: sie war da“durch daß äh *3* (Z. 47), eine Charakterisierung der Mutter mit begründendem Charakter, die ebenfalls abgebrochen wird. Ania startet nach einer längeren Pause den daß-Satz neu daß sie vielleicht ein klein bißch/ (Z. 47-48) und bricht wieder ab. Die abgebrochene Äußerung wird dann ersetzt durch die in einem Schub produzierte Formulierung: sie hat sich spra“chen interessiertT (Z. 48-49). Diese Formulierung fungiert als sehr allgemeine Begründung für die nachfolgende Information, daß die Mutter ein klein bißchen ru “ssisch sprach (Z. 49-50). Die lange Pause nach den ersten Anakoluthen ist ein Hinweis darauf, daß die „Russischkenntnisse“ mit der Begründung „Interesse für Sprachen“ nach den Abbrüchen als die Informationen gewählt werden, die am besten geeignet sind, die Tätigkeit der Mutter im DDR-Außenhandelsministerium zu plausibilisieren. Die Folgeäußerung mit einer Information dazu, wann die Mutter Russisch lernte (sie lernte da“s vor dem krieg nochJ—r, Z. 50), impliziert, daß die Mutter zur Zeit des Russischlemens noch ein Kind war (sie ist 1926 oder 1927 geboren). Das macht die Russischkenntnisse der Mutter auffällig und erklärungsbedürftig: Da Russisch (in der Grund- und Mittelstufe) im Vorkriegsdeutschland kein allgemeines Schulfach war, stellt sich die Frage, wo und ggfs, in welchem sozialen Umfeld Anias Mutter im Vorkriegsberlin Russisch gelernt hat. 13 Ich frage jedoch nicht nach, und Ania fährt in ihrer Erläuterung fort. 13 Unter den Diskutanten beim ZiF-Kolloquium bestand Konsens darüber, daß die Mutter Russisch nicht in einer deutschen Schule der Vorkriegszeit in Berlin (Volksschule oder Unterstufe einer höheren Schule) gelernt haben kann und daß sie es in ihrem sozialen Milieu bzw. in ihrem Wohnumfeld erworben haben muß. Einige der polnischen Kollegen werteten die Russischkenntnisse als Hinweis auf einen ostjüdischen Hintergmnd der Mutter. In den 20er und 30er Jahren lebten in Berlin viele Juden und vor allem auch russische Juden; eines der Wohngebiete war das „Scheunenviertel“. Außerdem lebten in den 20er und 30er Jahren ca. 300.000 Russen in Berlin; im Volksmund hieß z.B. Charlottenburg „Charlottengrad“, weil dort besonders viele Russen wohnten (vgl. Fernsehsendung ZDF, vom 4.11.95, 20.15 Uhr). Außerdem gab es, so erfuhr ich später, in Berlin ein Gymnasium, das zusätzlich zum Normalunterricht auch Unterricht in slawischen Sprachen anbot. Es gab für Anias Mutter also viele Möglichkeiten, in Berlin Russisch zu lernen und zu praktizieren, mit denen u.a. auch verschiedene kulturelle Milieus verbunden sein konnten. 264 Inken Keim In der nachfolgenden Äußerung und danngab/ äh galt sie als dolmetscherin in der beSatzungszeit T (Z. 52-54) ergibt sich durch die Bezeichnung dolmetscherint eine Diskrepanz zur vorherigen Behauptung, daß die Mutter nur ein klein bißchen ru “ssisch könne. Der sequentiell reihende Anschluß läßt außerdem die Deutung zu, daß die Fähigkeit zum Dolmetschen die handlungslogische Voraussetzung ist für die Arbeit im Außenhandelsministerium der DDR. Geht man von einem solchen Zusammenhang aus, erscheinen die Russischkenntnisse der Mutter jetzt in einem ganz anderen Licht; sie müssen gut bzw. sehr gut gewesen sein, vor allem auch deswegen, weil die Mutter als Mitarbeiterin des Ministeriums auf der internationalen Messe in Poznan war (mit Russisch als Verkehrssprache vermutlich). Der Verzicht auf die Herstellung einer Voraussetzungsbeziehung zwischen den Russischkenntnissen und der Arbeit im Ministerium hat relevanzrückstufende Qualität; d.h. Ania stuft durch die Strukturierung der Darstellung die Bedeutung und die Qualität der Russischkenntnisse der Mutter herab. Daß Ania die Russischkenntnisse der Mutter überhaupt anfuhrt (sie hätte gar keine Erklärung gebraucht oder eine andere für die Arbeit im Ministerium geben können), bedeutet, daß sie sie für die adäquate Charakterisierung der Mutter für relevant hält. Daß sie eine Plausibilisierung für die Russischkenntnisse liefert, zeigt, daß sie sie selbst für erklärungsbedürftig einschätzt. Auffallend ist sowohl die erhebliche Formulierungsanstrengung beim Versuch einer Erklärung, als auch die dann präsentierte, sehr allgemeine und unspezifische Erklärung (Interesse für Sprachen). Das deutet darauf hin, daß Ania auf Hintergründe für die Russischkenntnisse nicht eingehen will und sich alle Mühe gibt, nachdem sie sie genannt hat, sie in ihrer Bedeutung herabzustufen und die russischsprachige Fähigkeit der Mutter zu minimalisieren. 2.3 Emigrationsversuch und die Vermeidung der Kategorie „Jude“ Nach der Heirat behält die Mutter die deutsche Staatsangehörigkeit und kann bis zur Schließung der Mauer 1961 nach Westberlin zu Verwandten und Freunden reisen. 14 Sie tut dies vor allem in den politischen Krisenzeiten in Polen und unternimmt 1968 einen Emigrationsversuch. Das Sprechen über den Emigrationsversuch bereitet Ania ganz offensichtlich Schwierigkeiten. 86 AN: hingefahrent auch in den kri"sen- Situationen zum 87 IN: hm hm 88 AN: beispielt wir/ * <ei n nmal * in achtundsechzigt 89 IN: hm In ihrem Brief schreibt Ania, daß die Mutter den Reichsdeutschen Paß behielt. Das Leben der Mutter war bis 1970, bis zu ihrer Entscheidung, die polnische Staatsbürgerschaft anzunehmen, äußerst problematisch in Polen. Die Beantragung einer Reisebewilligung war jedes Mal mit Schikanen der polnischen Behörden, mit Verhören und Drohungen verbunden. Da die Mutter immer wieder zurückkehrte, konnten die polnischen Behörden jedoch nichts gegen sie unternehmen. Eine Biographie im deutsch-polnischen Kontext 265 90 AN: waren wir au"ch in einem ü"bergangslager nach 91 AN: Deu"tschlandl> * meine mutter wo"llte äh in der 92 AN: politischen hetze emigrie"renl gegen die ausländer! * 93 IN: hm 94 AN: und dann sind wir äh -»das war in der nähe von 95 AN: Osnabrück<- und das äh äh * da harn wir alle Sachen 96 IN: hm 97 AN: gepackt! ♦ -und äh wir harn nur drauf gewartet/ -» 98 IN: hm 99 AN: wir sind äh äh nach Deutschland gefahrn! * alle 100 AN: formalitäten erledigt! *<<-a"ber * der vater wurde 101 AN: nicht rein/ -»> rau”sgelassen aus Polenl 102 IN: aus Polen! 103 AN: -»und dann hat sich die mutter entschiedene no"ch 104 AN: einmal nach Polen zurü"ckzukehrenl Die Darstellung wirkt zerrissen und ist z.T. schwer verständlich. Es fehlen viele Informationen und klare Zeitbezüge. So wird beispielsweise erst bei der Schilderung der Komplikation < <~a “her * der vater wurde nicht rein/ -K> rau“sgelassen aus Polen J* (Z. 100-101) klar, daß an dem Emigrationsversuch nur die Mutter, Ania und ihre Schwester beteiligt waren und der Vater in Polen zurückgeblieben war. Die Probleme des Vaters lagen nicht auf der deutschen Seite, sondern bei den polnischen Behörden, die ihn nicht „rausließen“ (vgl. die Selbstkorrektur von rein/ ->> zu rau “5). 15 Die Orientierungssequenz enthält die Zeitangabe 1968, und dann folgt eine Angabe zu dem Motiv für den Aufenthalt in einem Übergangslager: meine mutter wo “Ute äh in der politischen hetze emigrie “reni * gegen die ausländer T (Z. 91-92). Bei dieser Formulierung fällt der Nachtrag des Attributs gegen die ausländert nach der Schließung des Satzrahmens auf, der auch into- 15 Die Gründe dafür, daß der Vater nicht ausreisen durfte, sind unklar. Wenn die Emigration in Polen vorbereitet worden war und wenn das Ausreisekriterium die Nationalität war, wie es die Bezeichnung „Hetze gegen Ausländer“ nahelegt, dann erhebt sich die Frage, wieso die Kinder ausreisen durften und der Vater nicht, da vermutlich die Kinder ebenso wie der Vater polnische Staatsangehörige waren. Kinder aus national gemischten Ehen werden, wenn ein Partner Pole ist, automatisch polnische Staatsbürger, außer es wird ein Antrag auf eine andere Staatsbürgerschaft gestellt; Ania hat die polnische Staatsangehörigkeit. Das Ausreisekriterium müßte eines gewesen sein, das die Mutter und die Kinder erfüllten, der Vater jedoch nicht. Wenn die Emigration jedoch behördlich nicht vorbereitet war, und die Mutter mit den Kindern offiziell nur „zu Besuch“ in Deutschland war, dann wurde der Vater als „Pfand“ in Polen zurückgehalten, um die Rückkehr zu erzwingen, so einige polnische Informanten. Vermutlich war das letztere der Fall. 266 Inken Keim natorisch als abgeschlossen gekennzeichnet ist (fallende Schlußkadenz). Eine solche Herauslösung kann auf eine Antizipation von Rezipientenproblemen hinweisen (vgl. Auer 1991, S. 152ff ); das würde im vorliegenden Fall bedeuten, daß das nachgetragene Attribut eine nachgelieferte Plausibilisierung für den Emigrationswunsch der Mutter ist; das nachgelieferte Element fungiert als Begründung für eine antizipierte Nachfrage nach den Hintergründen für die Emigration. Die Angabe „Hetze gegen Ausländer“ als politischer Hintergrund für den Emigrationsversuch entspricht so jedoch nicht den zeitgeschichtlichen Verhältnissen: 16 1968 gab es in Polen politische Unruhen gegen das etablierte System, die von Universitäten, von Studenten und Teilen des Lehrkörpers ausgingen. Einige der Professoren, die einen modifizierten Marasmus propagierten, waren jüdischer Herkunft. Sie wurden antisozialistischer und konterrevolutionärer Aktivitäten bezichtigt und aus ihren Positionen entlassen. Der nationalistisch orientierte Teil der Arbeiterpartei in Polen nahm die Unruhen zum Anlaß, um mehr Einfluß zu erreichen; die Propaganda richtete sich zunächst gegen hohe StaatsofFiziere jüdischer Herkunft, weitete sich dann aber zu einer allgemeinen Hetze gegen Juden in allen Lebensbereichen aus. Aus Angst vor Verfolgung emigrierten viele Juden in dieser Zeit. Interessant ist, daß Ania mir gegenüber diese Hintergründe nicht nennt und daß sie es vermeidet, die historisch relevante ethnische Kategorie „Jude“ zu thematisieren. Historisch betrachtet ist „Ausländer“ eine Ersatzkategorie, mit der Ania mir gegenüber das Motiv zur Emigration plausibel machen kann. Nach Meinung der polnischen Kollegen hätte sie einem polnischen Gesprächspartner gegenüber die Situation 1968 nie als hetze gegen ausländer bezeichnen können, da aus polnischer Perspektive diese Zeit vor allem durch die Verfolgung von Juden charakterisiert ist. Daß Ania mir gegenüber auf die Ersatzkategorie „Ausländer“ ausweicht, kann zweifach motiviert sein: Zum einen kann es sein, daß sie einer Deutschen gegenüber das Thema „Jude“ vermeiden will. Zum anderen kann es sein, daß sie vermeiden will, daß der Emigrationsversuch der Mutter in einem Kontext gerahmt wird, der sie als Jüdin hätte erscheinen lassen. Das Vermeiden historisch adäquater Hintergrundangaben kann eventuell als Hinweis auf einen jüdischen Hintergrund der Mutter gedeutet werden, den Ania verschweigen will. Diese Deutung vertraten eine Reihe polnischer Kollegen. Andere wiesen daraufhin, daß sich in der damaligen, politisch aufgeheizten Zeit in Polen auch Ausländer bedroht fühlen konnten. Es gab auch De- Die folgenden Auslührungen folgen A. Piotrowski; vgl. dazu auch Spiewak (1992), der die Unruhen 1968 als antisemitisch bezeichnet, wobei „man auf radikalste Vorbilder zurück(griff)“ (ebd., S. 311). Eine Biographie im deutsch-polnischen Kontext 267 nunziationen, und es mußte jemand nur als Jude bezeichnet werden, um ohne Überprüfung verfolgt zu werden. 17 Nachdem der Vater nicht aus Polen ausreisen durfte, reiste die Mutter nach Polen zurück. In der Formulierung -rund dann hat sich die mutter entschieden*no“ch einmal nach Polen zurü“ckzukehren (Z. 103-104) impliziert die Fokussierung von no“ch einmal zurü“ckzukehren, daß die Mutter bereits einmal zurückgekehrt ist, d.h., daß dies nicht der erste und einzige Versuch der Mutter war, Polen zu verlassen. Auch die Pluralformulierung in kri “sen- Situationen (Z. 86) deutet darauf hin, daß die Erzählung vom Übergangslager sich auf eine dieser Krisensituationen bezieht, und daß es noch andere gab. Darüber berichtet Ania in ihrem Brief: Bereits 1957 hatte die Mutter einen Emigrationsversuch unternommen. Auch damals gab es in Polen antisemitische Kampagnen und eine große Auswanderungswelle polnischer Juden; d.h., auch der erste Emigrationsversuch fand im Zusammenhang mit der Verfolgung von Juden in Polen statt. Zusammenfassend: Durch die politischen Unruhen und durch antisemitische Kampagnen in Polen Mitte der 50er bis Ende der 60er Jahre fühlte sich Anias Mutter existentiell bedroht. Die für die Beschreibung der historischen Hintergründe relevante Kategorie „Jude“ wird bei der Darstellung der Familienproblematik nicht thematisiert. Die Motivierung für die Vermeidung der Kategorie ist nicht eindeutig interpretierbar und die Frage bleibt offen, ob die problematische Kategorie „Jude“ hier aus Gründen des Selbst- und Familienschutzes vermieden wird, oder ob für die Familie in der damals aufgeheizten Zeit die Kategorie „Ausländer“, der die Mutter ja erkennbar angehörte, die einzig relevante Kategorie war. Im Zusammenhang mit der Darstellung der Biographie der Mutter fallen vor allem folgende Verfahren auf, die auf Tabuisierung hinweisen: - Ania vermeidet, soziale und politische Hintergründe auszubreiten, von denen die Familie betroffen war (bei der Beschreibung der familiären Herkunft, die fehlende Information zum Umfeld für das Russischlernen) und sie vermeidet eine unkomplizierte ethnische Festlegung ihrer Mutter; wenn sie Hintergründe andeutet, dann gibt sie sich entweder Mühe, sie in ihrer Relevanz zurückzustufen (Herabstufüng der Bedeutung der Russischkenntnisse durch Verzicht auf kausale oder konsekutive Verknüpfung von Propositionen) oder sie vermeidet wie im Fall der Emigrationsschilderung die historisch relevante ethnische Kategorie und präsentiert eine Ersatzkategorie. 17 Ania selbst berichtet brieflich von solchen Fällen und hebt hervor, daß nicht nur Juden, sondern auch andere in dieser Zeit aus Polen emigrierten. Aus der Sicht ihrer Mutter habe die Kampagne gegen Juden die Form einer Hetze gegen Ausländer angenommen, und ihre Mutter habe sich sehr unsicher gefühlt. Vgl. auch Spiewak (1992), der feststellt, daß der Antisemitismus dazu führte, daß viele Nicht-Juden als Juden denunziert und politisch erledigt wurden (ebd., S. 313). 268 Inken Keim Fehlende Hintergrundinformationen, bruchstückhaftes Andeuten von komplexen Zusammenhängen und das Vermeiden eindeutiger Zuschreibungen eröffnen vielfältige Deutungsmöglichkeiten und machen gleichzeitig darauf aufmerksam, daß die Herkunft der Mutter für Ania problemhaltig war. Im Anschluß stellt Ania die Konsequenzen dar, die die Familienmitglieder aus der leidvollen Erfahrung der familiären Mehrkulturalität ziehen: die Schwester polonisiert sich, und auch die Mutter unternimmt große Anstrengungen, sich in die polnische Kultur zu integrieren. Beide Entscheidungen sind wiederum mit leidvollen Erfahrungen verbunden, die Ania entweder erkennbar tabuisiert (Kap. 2.4) oder nur sehr versteckt andeutet (Kap. 2.5). 2.4 Polonisierung der Schwester Als erste Konsequenz der endgültigen Entscheidung für ein Leben in Polen wählt Anias Schwester eine monokulturelle Orientierung auf Kosten des deutschen Anteils. Die monokulturelle Lösung ist die äußerlich ‘glatte Lösung’, deren Problemseiten Ania klar erkennbar als Tabu behandelt. Dabei zeigt sie, daß es ein tiefgreifendes Problem gibt, daß sie darüber aber nicht sprechen will oder kann. 109 AN: <-wir sind praktisch in Polen gebliebent * und äh-> * 110 AN: meine Schwester hat dann inzwischen sich völlig 111 AN: polonisiertt die 112 IN: hm! -»kann die kein deutsch mehr oderf<- 113 AN: ka"nn deutscht * a"ber- #>die gebraucht es nicht die 114 K #SEHR SCHNELL, TIEFER 115 AN: wi"ll es nicht gebrauchen sie=s/ sie will es nicht 116 K 117 AN: sprechen# ich weiß nicht waru"mf aber das ist 118 K # 119 IN: ah hm 120 AN: wohl: äh äh etwas äh #>ganz andres das sind ihre 121 K #SEHR SCHNELL, TIEFER 122 AN: persönlichen gründetich ke"nne die nicht! die/ sie 123 K 124 IN: hm ja ja 125 AN: will normal nicht sprechent# und mein <va"ter äh 126 K # 127 IN: ja ja"ja 128 AN: ka"nn Die Formulierung meine Schwester hat sich völlig polonisiert (Z. 110-111) impliziert die aktiv vollzogene Abwendung von dem deutschen Anteil. Auf Eine Biographie im deutsch-polnischen Kontext 269 meine Nachfrage -»kann die kein deutsch mehr odert<- (Z. 112) macht Ania klar, daß sie über die Hintergünde der Entscheidung der Schwester nicht sprechen kann bzw. will. Dafür verwendet sie folgendes Verfahren: Sie stuft die ‘Verweigerung der Schwester Deutsch zu sprechen’ und die ‘Respektierung dieser Tatsache, ohne nach Gründen zu fragen’ auf verschiedenen sprachlichen Ebenen hoch; prosodisch durch Kontrastakzentuierung auf deutsch und wi“Il es nicht gebrauchen (Z. 113-115); strukturell durch die Verwendung eines Formativs mit Fokus-Opposition, in dem im strukturell hervorgehobenen zweiten Teil die Weigerung der Schwester Deutsch zu sprechen mehrfach reformuliert wird: die gebraucht es nicht die wi“ll es nicht gebrauchen sie=s/ sie will es nicht sprechen (Z. 113-117). 18 Dann folgt die Offenlegung, daß Ania die Motive der Schwester nicht kennt (ich weiß nicht waru“mf, Z. 117) verbunden mit einer formelhaften Formulierung für die Respektierung des Privatbereichs der Schwester das sind ihre persönlichen gründe l ich ke “nne die nicht J- (Z. 120-122). Mit der starken Hochstufung der Respektierung des Privatbereichs der Schwester ist gleichzeitig ein indirekter Hinweis an mich verbunden, diesen Privatbereich ebenfalls zu respektieren und nicht nachzuffagen. 19 Die Tabuisierung der Hintergründe für die äußerlich glatte, monokulturelle Lösung deutet darauf hin, daß sie mit erheblichen innerfamiliären Problemen und Auseinandersetzungen verbunden war und möglicherweise immer noch ist. 2.5 Die Integrationsbemühung der Mutter aus verschiedenen Perspektiven Die zweite familiäre Konsequenz, die intensive Anstrengung der Mutter, sich in die polnische Kultur zu integrieren, stellt Ania aus mehrfach wechselnden Außenperspektiven dar. Die Darstellung erfolgt zunächst aus einer nur beschreibenden Beobachterperspektive: Die Mutter besuchte mit Ania zusammen jahrelang die polnische Schule bis zum Abitur. Sie lernte mit Ania Polnisch, und Ania lernte von ihr Deutsch. Da nur die Mutter im Zusammenhang mit der Schul- und Sprachausbildung des Kindes genannt wird der Vater spielt als Familien- oder Erziehungsinstanz keine Rolle 20 -, kann angenommen 18 Die besondere Hervorhebung des 1. Fokus im Zwar-Teil durch starken Akzent die Schwester kann Deutsch projiziert eine zusätzliche Hochstufung des unter Fokus 2 im Aber-Teil dazu in Opposition dargestellten Sachverhalts: Die Schwester weigert sich. Deutsch zu sprechen; zu Fokus-Oppositionen vgl. Kallmeyer/ Schmitt (Manuskript). 19 Ania hat Erfolg mit ihrem indirekten Aufforderungsverhalten; Ich zeige mein Verständnis durch mehrfache Zustimmung, wobei die Zustimmung nicht zur Proposition von Anias Äußerung erfolgt, sondern zur indirekten Aufforderung, das Familienproblem als Tabu zu behandeln. Indizien dafür sind die nicht systematische Plazierung des Rückmelders ja (Z. 127), noch bevor die Proposition erkennbar ist und ein sehr schneller Anschluß mit akzentuiertem und dann abfallendemja“jal(Z. 127). 20 In ihrem Brief schreibt Ania, daß der Vater, beruflich bedingt, sehr viel außer Haus war, und vor allem die Mutter für die Erziehung der Kinder verantwortlich war. Mit Ania sprach die Mutter meist Deutsch, weil es Ania Spaß machte. Mit der sehr viel älteren Schwester, mit der die Mutter Polnisch sprach, hatte Ania wenig Kontakt. 270 Inken Keim werden, daß Ania die volle Sprachkompetenz nur im Deutschen erwerben konnte und Polnisch erst in der Schule richtig lernte. Darauf gibt es an dieser Stelle jedoch keinerlei Hinweise. Dann folgt die Darstellung und Bewertung der Anstrengung der Mutter aus der Perspektive der polnischen Umwelt: Für sie ist die Mutter, die durch den Schulbesuch für alle erkennbar Polnisch lernt und gleichzeitig auch privat Deutschunterricht gibt, eine Ausnahmeerscheinung, die in doppelter Weise ethnisch begründet wird: sie war beka“nnt * weil das eine deu “tsche wa: r die polnisch ka: “nnf. Durch die Kontrastakzente auf deu“tsche (Deutsch im Kontrast zu anderen nationalen oder ethnischen Kategorien im Sinne von ‘ausgerechnet eine Deutsche’) und ka: “nn {kann im Sinne von ‘beherrscht’ im Kontrast zu ‘radebrecht’) wird die Mutter als. besondere Deutsche charakterisiert, die es zu einer ungewöhnlichen Kompetenz im Polnischen gebracht hat. Der soziale Erfolg der Mutter wird gleichsam gekrönt dadurch, daß sie bei offiziellen Besuchen von DDR-Vertretem in Polen, d.h. auf protokollarisch offizieller Ebene, als Dolmetscherin eingesetzt wird. Bei der Darstellung der Integrationsbemühungen der Mutter und ihres sozialen Erfolgs fällt auf, daß Ania an keiner Stelle aus der Innensicht des Kindes spricht; und es ist erstaunlich, daß sie den offensichtlichen Erfolg der Mutter in einem sozialen Umfeld, das für sie so problematisch war, daß sie einige Zeit vorher emigrieren wollte, an keiner Stelle anerkennend kommentiert. Wegen des Verzichts auf die Innenperspektive des Kindes und auf Positivbewertungen aus dieser Perspektive kann vermutet werden, daß die Besonderheit und Auffälligkeit der Mutter in der deutschfeindlichen polnischen Umgebung für das Kind auch problematische Aspekte hatte, über die Ania nicht sprechen will. 21 Direkt nach der Darstellung des sozialen Erfolgs der Mutter wechselt Ania die Perspektive. Jetzt spricht sie kurzzeitig aus der Rückschau der erwachsenen Tochter {es war mir immer bewußt) und ordnet die Mutter in einer abschließenden Beurteilung einer „Sonderkategorie“ zu (mit Merkmalen des inszenierten Nachdenkens: also als Indikator für eine Fazit-Formulierung, Pausen, Verzögerungssignal, Selbstkorrektur): 169 AN: also * äh * <ich war/ es war mir immer bewußt daß ich 170 AN: eine a"ndere mutter habet weil sie dieses ro: llende 171 IN: hm 21 Daß eine deutschsprachige Mutter, die sich offen zu ihrer Herkunftssprache bekannte, im Polen der 60er und 70er Jahre für das Kind problematisch war, scheint wahrscheinlich. Viele Deutschstämmige in Polen verleugneten ihre deutsche Herkunft. Deutschsprechen war in der Öffentlichkeit und so einige Informanten z.T. auch in der Familie verboten. Im Zusammenhang mit der politischen Absicht ihrer sprachlichen Anerkennung argumentieren heute Deutschstämmige in Polen, daß in den vergangenen 40 Jahren die deutsche Sprache in Polen verboten war. Eine Biographie im deutsch-polnischen Kontext 271 172 AN: r immer hatte: t * was nicht normal im polnischen 173 AN: vorkommtT * und daß sie viele fehler tro: tz aller 174 AN: bemühungen * äh daß sie diese deklinationsfehler 175 AN: machtet obwohl sie- * schriftlich viel besser war als 176 AN: die meisten polent in der Orthographie zum 177 IN: mhm 178 AN: beispiel aberdie machte trotzdem 179 IN: >-»grammatische«-< 180 AN: vie"le fehl/ -»grammatische fehler vor allen in der 181 AN: substantivdeklinationi das äh is wohl klart«- 182 IN: ja Mit der Charakterisierung daß ich eine a“ndere mutter habet (Z. 169-170) setzt sich die Tochter in Relation zu anderen Kindern, und der Vergleich zu deren Müttern fuhrt zur Sonderkategorisierung der eigenen Mutter. Das impliziert auch eine Auffälligkeit der Tochter (aufgrund der Auffälligkeit der Mutter), die jedoch nicht formuliert wird. Ania wechselt sofort wieder die Perspektive und fuhrt weg von der Sicht der Tochter, mit der sie nahe an eine Darstellung aus der Innensicht herangekommen ist. Die Begründung für den Sonderstatus der Mutter erfolgt jetzt aus der professionellen Perspektive der Linguistin: Die polnischsprachige Auffälligkeit der Mutter bezieht sich auf eine Auffälligkeit im phonetischen (rollendes r; Ania demonstriert das „Zäpfchen“-r, Z. 170-172) und im grammatischen Bereich (Nichtbeherrschung der polnischen Substantivdeklination, Z. 180-181); damit charakterisiert Ania die Mutter als „Nicht-Polin“. Mit der Hervorhebung des defizitären Polnisch relativiert Ania jetzt ganz erheblich die vorherige Einschätzung der Mutter aus der Perspektive der polnischen Umwelt. Was aus deren Perspektive im positiven Sinne auffällig war, die polnischen Sprachfertigkeiten einer Deutschen, erhält aus der Perspektive der Tochter einen ganz anderen Stellenwert, den der Andersartigkeit und des Nicht-dazu-Gehörens zur polnischen Umwelt. Bei der Verknüpfung der Definition der Mutter als „Sonderkategorie“ und der Begründung (defizitäres Polnisch) dafür, fällt der Subjunktor weil auf. Anias bisherige Verknüpfüngspraxis ist charakterisiert durch die einfache temporale Reihung, in der die Aufeinanderfolge der Propositionen die Abfolge der Handlungs-ZEreignisschritte wiedergibt. Verknüpfüngsoperatoren kommen nur sehr selten vor. 22 Auf diesem Hintergrund erhält die Verknüpfung durch weil besondere Qualität und hebt den Begründungscharakter der eingeleiteten Sequenz hervor, in der die sprachliche Auffälligkeit der Mutter beschrieben wird. 22 Explizite Verknüpfungen durch Operatoren werden nur an den Stellen verwendet, an denen eine komplexe und für die Betroffenen ganz wesentliche Relation zwischen zwei Propositionen ausgedrückt wird. Das war bisher im Zusammenhang mit der Entscheidung der Mutter für ein Leben in Polen der Fall und bei der Begründung für die Anerkennung der Mutter durch die polnische Umwelt, vgl. o. S. 138. 272 Inken Keim Das läßt vermuten, daß deren defizitäres Polnisch für das Kind große Bedeutung hatte: Es hat ihm die Ausbildung einer selbstverständlichen Sprachkompetenz im Polnischen erschwert, und mit mangelnden Polnischkenntnissen war das Kind in der polnischen Umgebung auffällig. 23 Durch die mehrfach wechselnde Perspektivierung gelingt es Ania die unterschiedlichen Aspekte der Auffälligkeit der Mutter in den Blick zu bringen und ihren sozialen Erfolg ausreichend deutlich zu machen. Daß mit der deutschsprachigen Mutter für das Kind Probleme verbunden waren, die Konsequenzen für seine Entwicklung hatten, wird nicht gesagt; das muß erschlossen werden. Den Schlüssel dazu liefert die bei der aufwendigen Perspektivenarbeit auffallende Aussparung der Perspektive der existenziell Betroffenen, des unter der Besonderheit und Auffälligkeit der Mutter leidenden Kindes Ania. Über die Kategorisierung der Mutter als „Sonderkategorie“ und als „Nicht- Polin“ aufgrund ihres defizitären Polnisch lassen sich die Probleme des Kindes genauer bestimmen. Bereits vorher hatte Ania die Mutter im Zusammenhang mit dem Emigrationsversuch unter die „Ausländer“-Kategorie gefaßt. Dort war „Ausländer“ die Ersatzkategorie für Minderheiten in Polen, vor allem Juden, die sich in der Zeit der politischen Unruhen bedroht und verfolgt fühlten. Zusammen mit der jetzt unter sprachlichem Aspekt vorgenommenen Kategorisierung als „Nicht-Polin“ erhält die Kategorie „Ausländer“ eine ganz besondere Spezifik und umfaßt folgende Erfahrungsbereiche, die Anias Leben ganz erheblich prägten: den sprachlichen Erfahrungsbereich: Das von der Mutter erworbene Deutsch stigmatisierte das Kind in dem polnischen Umfeld, und das defizitäre Polnisch der Mutter wirkte sich nachhaltig auf die Polnischentwicklung des Kindes aus und machte es auffällig. Beides erschwerte oder verhinderte die selbstverständliche Entwicklung einer sprachlichen, möglicherweise auch einer kulturellen Identität; den sozialen Erfahrungsbereich: Er umfaßt zum einen die Erfahrung der sozialen Andersartigkeit, der Marginalität und der akuten Bedrohung und zum anderen die Erfahrung, daß eine übermäßige Anstrengung notwendig ist, wenn man in einer kulturell neuen (und vermutlich abweisenden) Umwelt respektiert werden und eine Rolle finden will, in der auch die Andersartigkeit akzeptiert wird. Diese Integrationsanstrengung ist für die unmittelbar davon Betroffene, das Kind Ania, gleichzeitig mit einer neuen Art von Auffälligkeit verbunden. In ihrem Brief schreibt Ania, daß sie zu Schulbeginn „Polnisch mit deutschem Akzent“ sprach und ihn „möglichst schnell loswerden wollte“. Im polnischen Sprachunterricht fiel mir auf, daß Ania grammatische Nachfragen der deutschen Schüler sehr schnell als Angriff auf ihre polnische Sprachkompetenz deutete; diese besondere Empfindlichkeit kann ein Indiz für eine tiefsitzende, als Kind erfahrene Unsicherheit in bezug auf die polnische Sprachkompetenz sein. Eine Biographie im deutsch-polnischen Kontext 273 3. Eigene Biographie und kulturelle Identität Den Hauptteil des Gesprächs bildet die Darstellung eigener biographischer Erfahrung. Ania schildert ihre Erfahrungen vom Kleinkind bis zur Erwachsenen als ständige Auseinandersetzung mit ihrem mehrkulturellen Lebenskontext. Sie präsentiert drei Stadien ihrer Entwicklung; zunächst ihre Erfahrung als Außenseiterin in der polnischen Umwelt aufgrund ihrer deutschsprachigen Herkunft (Kap. 3.1); dann das plötzliche Erkennen der eigentlichen „Berufung“ und ihre berufliche Entscheidung für Deutsch (Kap. 3.2); im Anschluß daran nimmt sie eine Selbsteinordnung außerhalb gängiger ethnisch-kultureller Kategorien vor (Kap. 3.3). Die Darstellung dieser Entwicklung hat Strukturmerkmale einer Konversionserzählung. Die Gesamtstruktur ist dreigliedrig; es wird die ‘Zeit vor der Wende’, dann der ‘Wendepunkt selbst’ und dann die ‘Zeit danach’ dargestellt. Dieser zeitlichen Strukturierung entspricht die Darstellung unterschiedlicher Erlebensweisen, charakterisierbar als beschränkte Erkenntnisfähigkeit in der Zeit des Außenseiter-Daseins, plötzliche Erleuchtung und biographische Neuorientierung und dann die kulturelle Neudefinition. Die Spezifik von Anias Konversion ist, daß sie sich für etwas entscheidet für eine lebenslange Beschäftigung mit dem Deutschen -, zu dem sie eine tiefe Haß-Liebe entwickelt hat. Über die Hintergründe dafür spricht sie nur andeutend und verschlüsselt; sie haben einerseits mit der Herkunft ihrer Mutter und mit deren Erfahrungen im Zusammenhang mit den Greueltaten der NS-Diktatur zu tun und andererseits mit der eigenen Kindheitserfahrung im Polen der 60er und 70er Jahre. Die Tabuisierungsanforderungen haben in diesem Teil des Gesprächs eine andere Qualität als beim Sprechen über das Leben der Mutter. Ania hat hier andere Aufgaben zu bewältigen: Sie spricht über weite Strecken aus der Innenperspektive, d.h., aus der Perspektive der existentiell Betroffenen; sie muß hinreichend verständlich machen, daß bestimmte Erfahrungen weitreichende Konsequenzen für ihr Leben hatten, und dabei gleichzeitig die Spezifik der Erfahrung, über die sie nicht sprechen will, schützen. 3.1 Erleben als Außenseiterin Mit Beginn der Schulzeit erlebt Ania den Ausschluß aus ihrer Altersgruppe. Die Ursachen für die Ablehnung nennt sie nicht bzw. sie macht deutlich, daß sie darüber nicht sprechen kann oder will. 181 AN: wohl klart<- und * ich habt * also bis drei hab ich 182 IN: hm 183 AN: fließend deutsch gesprochen und dann wurde ich von/ in 184 AN: der klasse <«-abgelehnt'l'->> <ja” das 185 IN: so Sachen ( . . . 186 AN: wollt/ ich ich wurde abgelehntt von der klasset * 187 AN: aber- ** ->ich weiß/ ich kann mich nicht so richtig 274 Inken Keim 188 AN: eri"nnerrw- <-waru”m ich abgelehnt wurde! ob das: * 189 IN: hm 190 AN: meine mu"tter wart-» aber ich glaube nicht weil * 191 AN: später viele kinder die- * mit mir e/ e/ zur schule 192 AN: gingen au"ch mit meiner mu"tterl * äh deutsch gelernt 193 AN: harn und bei ihr/ aber * das weiß ich nicht! ich 194 IN: hm 195 AN: kann mich nur eri"nnernt * eine blockade im <-ko: pf! -) 196 AN: -»und nach so vieln jah: rn Die Biographie beginnt sprachbiographisch; Ania zeigt ihre deutschsprachige Orientierung als Kleinkind, Polnisch kommt nicht vor. Brieflich liefert Ania folgende Informationen nach: Die Mutter war fest in einer deutschstämmigen Gruppe am Wohnort der Familie engagiert. Die sprachlichen Einflüsse des Klein- und Vorschulkindes waren also primär deutsch. Polnisch spielte nur eine marginale Rolle; außerdem sprachen die Deutschstämmigen nur gebrochen Polnisch. Direkt im Anschluß thematisiert Ania das „Abgelehntwerden von Anfang an“ und ihre Reaktion darauf. 24 Die beiden Propositionen zu „Deutschsprechen“ und „Abgelehntwerden“ sind nur locker miteinander verknüpft; doch die sequentielle Anordnung und temporale Reihung legt eine ‘innere’ Verknüpfung im Sinne einer kausalen oder konsekutiven Relation nahe. Meine schnell einsetzende Reaktion unterbricht Ania sofort; sie besetzt das Rederecht (lauteres und stark akzentuiertes Sprechen, Wiederholung) und verschafft sich (mit dem Fortfiihrungsindikator aber-, langer Pause, einem Neustart, Abbruch und nochmaligem Neustart) Raum zum Formulieren. Sie stellt dann mehrfach abgeschwächt {nicht so richtig) fest, daß sie sich an den Grund der Ablehnung nicht erinnern kann, nimmt damit eine antizipierbare Nachfrage meinerseits vorweg und beantwortet sie. In ihrer Antwort (Z. 187-195) verwendet Ania ein Tabuisierungsverfahren, das Ähnlichkeit hat mit dem oben (Kap. 2.4) praktizierten Verfahren des für den Partner ‘klar erkennbaren Tabuisierens’; sie zeigt offen, daß es etwas ‘Verborgenes’ gibt, über das zu sprechen sie nicht fähig ist. Damit immunisiert sie sich gegen Nachfragen. Das Verfahren besteht aus folgenden Schritten: Das Auszublendende wird als außerhalb des eigenen Bewußtseins stehend deklariert {ich kann mich nicht so richtig eri “nnern <-waru “m ich abgelehnt 24 Die Darstellung der Schulerfahrung ist äußerst selektiv. Auf der Basis des bisher präsentierten biographischen Materials fallen folgende ‘Lücken’ in der Schulzeitdarstellung auf: Ein Zeitsprung vom dritten bis zum siebten Lebensjahr, keine Ausführungen zu den polnischen Kenntnissen zu Beginn der Schulzeit; keine Hinweise auf die Beziehungsentwicklung zwischen Ania und ihren Mitschülern; keine Hinweise zur Reaktion der Klasse auf die Anwesenheit der Mutter während der gesamten Schulzeit. Daß auf dem Hintergrund dieses Themenpotentials nur das Abgelehntwerden thematisiert wird, hebt dessen Bedeutung besonders hervor. Eine Biographie im deutsch-polnischen Kontext 275 wurdet, Z. 187-188) und gleichzeitig wird eine ernsthafte Auseinandersetzung init dem Problem demonstriert in Form einer inneren Argumentation, in der auch ein plausibler Ablehungsgrund in Erwägung gezogen wird: ob das: * meine mu“tter wart-* (Z. 189-190). Die Mutter wird als mögliche Problemursache präsent gemacht, dann aber sofort geschützt (die Schulkameraden akzeptierten sie als Lehrerin). 25 Ania fuhrt vor, wie sehr sie mit dem Problem befaßt ist, und daß sie es nicht lösen kann. Mit diesem Verfahren macht sie deutlich, daß es keinen Sinn hat nachzufragen, und sie behält gleichzeitig die Kontrolle über ihre Darstellung bzw. darüber, wieweit sie sich öffnen will. Dann folgt die hervorgehobene Darstellung dessen, woran sich Ania erinnern kann: eine blockade im <-ko: pfl-> (Z. 195), d.h. sie kann sich an die Konsequenzen, die die Ablehnung für ihre psychische Konstitution hatte, erinnern und formuliert sie metaphorisch als „Blockade im Kopf‘. Offen bleibt, was blockiert war. Blockade ist eine Metapher für das Ergebnis eines traumatischen Erlebens. Derart starke Reaktionen werden in der Psychologie als Folge schrecklicher und für die Person nicht zu bewältigender Erlebnisse beschrieben. Es besteht also eine ganz offensichtliche Beschreibungsdiskrepanz zwischen „Ablehnung in der Klasse“ und der äußerst starken Reaktion darauf, der „Blockade im Kopf 1 ; „abgelehnt“ ist die semantisch schwache, euphemistische Bezeichnung dafür, was Ania erlebt haben muß, um mit einer „Blockade“ zu reagieren. Die Beschreibungsdiskrepanz ist ein Hinweis auf ein in der Darstellung ausgeblendetes Erleben. Aus Anias Brief wird klar, daß sie direkt nach dem Emigrationsversuch der Mutter 1968 in Polen eingeschult wurde. Für die polnische Umwelt war das Kind nach der Rückkehr aus Deutschland „deutsch“ markiert und damit stark auffällig. Ihrem Brief ist zu entnehmen, daß sie sich stigmatisiert fühlte, möglichst schnell den „deutschen Akzent“ loswerden wollte und sich „von der deutschen Sprache für ewig verabschiedete“. Diese Kindheitserfahrung der Stigmatisierung ist Mitursache ihrer tiefsitzenden Ambivalenz dem „Deutschen“ gegenüber. Sie verdrängte Deutsch und versuchte, „polnisch“ zu werden. Für die Schulzeit charakterisiert sich Ania als Außenseiterin und begründet den Außenseiterstatus mit dem, worüber sie nicht sprechen will/ kann. Dabei hat sie folgende rhetorische Aufgaben zu bewältigen: Sie muß der Partnerin die Außenseiterrolle ausreichend verständlich machen (vgl. Grice 1975, vor allem die Maximen der Qualität und der Relevanz) bei gleichzeitigem Schutz ihres Tabus. Sie muß verhindern, Anlässe und konditionelle Relevanzen zu schaffen, die es der Partnerin ermöglichen, nachzuffagen und nachzubohren. Dazu verwendet sie folgende Verfahren: 25 Daß die Mutter als erste Wahl bei der Problemerörterung erscheint wenn die Überlegung auch gleich wieder verworfen wird — gibt einen weiteren Hinweis darauf, daß die Mutter aus der Kinderperspektive im polnischen Umfeld als problematisch erlebt wurde. 276 Inken Keim - Semantisch und logisch relational stark abgeschwächte Beschreibung des Auslösers für den Außenseiter-Status (schwache Verknüpfung zwischen „Abgelehntwerden“ und „Deutschsprechen“); - Immunisierungsverfahren: Tabuisieren des Grunds für die Ablehnung und Inszenierung der Mühe des Nachdenkens darüber; das erhöht die Glaubwürdigkeit ihrer Feststellung, daß sie nichts weiß, und bremst neugierige Nachfragen der Partnerin; - Die Bezeichnung für die äußerst starke Reaktion auf die Außenseitererfahrung erfolgt am Höhepunkt der Darstellung. „Blockade“ impliziert, daß die zugrundeliegende Erfahrung stark verletzende und traumatische Qualität hatte. Der Auslöser wird verschwiegen und nur die Konsequenz, die Blokkade, genannt. Von der Bedeutung der Konsequenz kann auf die Bedeutung des Auslösers geschlossen werden; diesen Schluß zu ziehen, wird der Partnerin überlassen. Die erzählstrukturelle Position (Erzählhöhepunkt) einerseits und der nur implizite Verweis auf das traumatische Erleben andererseits zeigen, daß das Erlebte außerordentliche Bedeutung hatte und gleichzeitig, daß Ania darüber nicht offen sprechen kann oder will. Das hemmt Nachfragen auf Seiten der Partnerin; hier greifen die Mechanismen des wechselseitigen Face-Schutzes (vgl. Goffman 1975, S. 70fT). 3.2 Erkennen der eigenen Besonderheit und Aufbrechen von sprachlichen und kulturellen Standardkategorien Nach der Schule steht die Studienentscheidung an; Ania entscheidet sich für ein Außenhandelsstudium in Ungarn (sie wählt also einen ähnlichen Beruf wie die Mutter) und besteht die Aufhahmeprüfüng. Während der Aufnahmeprüfüng fallen einem der Prüfer ihre ausgezeichneten Deutschkenntnisse auf und er rät ihr zu einem Germanistikstudium. Diese Empfehlung erlebt Ania als erstes Rütteln an ihrer Blockade und weist sie weit von sich. Es folgt dann ein zweiter Anstoß von außen. Jetzt öffnet sich Ania und erkennt ihre wahre „Berufüng“; sie wählt Deutsch, von dem sie sich als Kind „auf ewig verabschiedet hatte“ als Studienfach und als Beruf. Diese Bewußtwerdung wird schicksalhaft erlebt; sie ist der Wendepunkt in ihrem Leben. 3.2.1 Die Entscheidung für Deutsch Der entscheidende Anstoß von außen kommt durch einen deutschen Spielfilm; er führt zum Erkennen der eigenen „Berufüng“: 234 AN: * dann sah ich ein film im fe"rnsehn einen 235 AN: film und zwar die Lotte vo/ äh äh von Weimart * in 236 AN: Weimar oder vonl ich weiß nich mehrl Lo"tte in 237 IN: hm in Weimar 238 AN: Weimar natü"rlicht * und dann hab ich mir gedacht 239 AN: <-me: nschl-+ * deine beru"fung ist ga''nz a"ndersl * du 240 AN: sollst germani"stik studierenl nach einem filmt- Eine Biographie im deutsch-polnischen Kontext 277 Auffallend an der kurzen Erzählung ist die verbal aufwendige Orientierungssequenz und die äußerst knappe Evaluierung. In der Orientierungssequenz wird die Tatsache, daß ein bestimmter Film, „Lotte in Weimar“, der Anlaß für das außergewöhnliche Ereignis war, fokussiert durch die aufwendige Suche nach dem exakten Titel des Films (Z. 235-238). Das Bemühen um Exaktheit erhöht die Authentizität und Glaubwürdigkeit des Dargestellten. 26 Das Ereignis findet im Inneren der Erzählerin statt. Die Ereignisschilderung besteht aus einem inneren Monolog, in dem Ania ihr plötzliches Erkennen als religiöses Erlebnis darstellt: und dann hab ich mir gedacht <-me: nschJ—> * deine beru“fung ist ga“nz a“ndersJ- * du sollst germani“stik studieren J- (Z. 238-240). Ania beginnt die Wiedergabe innerer Rede mit einer Interjektion für Überraschung <-me: nschi-> und setzt dann das plötzlich Erkannte in scharfen Kontrast (ga“nz a“nders) zur bisherigen Lebensorientierung. Die Charakterisierung des Erkannten durch deine beru “fung, eine Bezeichnung für die in religiösen Kategorien erlebte schicksalhafte Bestimmung, und die Aufforderungskonstruktion mit Modalverb du sollst [...] studierend vermitteln den Eindruck einer außerhalb der Rationalität erkannten Unausweichlichkeit. Die Evaluation des Erlebten erfolgt dann in einem Kurzkommentar nach einem filmd (Z. 240), der in knapper Form die Zufälligkeit des Anlasses einerseits (ein deutschsprachiger Film) und die Tiefe der plötzlichen Erkenntnis andererseits beleuchtet. Es gibt keinen Hinweis auf einen Zweifel an dem Erlebten und an der Tragfähigkeit des plötzlich Erkannten. Die Beschreibungssprache hat religiösen Charakter und verleiht dem Erlebnis die Qualität einer ‘Erleuchtung’. Wie einschneidend tief dieses Erlebnis war, wird durch die nachfolgende Schilderung der Konsequenzen deutlich; es folgt die totale biographische Neuorientierung: 240 AN: germani"stik studieren-l nach einem filmi dann hab ich 241 IN: mhm 242 AN: alles auf=s spiel gesetztT ich sagte * das/ den 243 IN: mhm 244 AN: Studienplatz <abt> obwohl ich * gar nicht wußte ob ich 245 AN: ->au"fgenommen werde für die germani”stik«da muß 246 IN: ja ja 247 AN: man jetzt neben deu"tscht auch eine prüfung in der 248 AN: polnischen literatur und kultu''rgeschichte ablegen * 249 AN: das is eine schwierige prüfungt und auch * 250 IN: ja 26 Die Suche nach dem Titel ist nicht durch Sprachprobleme motiviert; die Wahl der Präposition von oder in ist semantisch-syntaktisch unerheblich, beide sind grammatikalisch richtig. 278 Inken Keim 251 AN: -»polnische grammatik undsoweiter-U- * das hab ich das 252 AN: <a: lles> in sechs wochen gele: rntt * >das ganze 253 AN: polnisch was ich brau"chtet< *ich war <immer gu"t in 254 AN: in fremdsprachent und auch in meiner muttersprachet> 255 IN: ja Die Formulierung dam hab ich alles auf=s spiel gesetzt t (Z. 240-242) beschreibt, daß alles bisher Gültige, Wichtige und Erreichte zur Disposition gestellt und aufgegeben wird; Ania sagt den Studienplatz ab, ohne sich Sicherheit verschafft zu haben, ob das Neue für sie auch machbar ist. 27 Die Darstellung des religiösen Erlebens und der darauf folgenden Bedingungslosigkeit in der Neuorientierung erinnern an literarische oder biblische und auch alltagssprachliche Darstellungen von Konversionen. 28 Anias Konversion besteht in ihrer Entscheidung, Deutsch nicht länger zu verdrängen, sondern es zu ihrem Beruf zu machen. Bei der Schilderung von Schwierigkeiten, die mit der Aufnahme für ein Germanistikstudium verbunden sind, wird zum ersten Mal deutlich, daß Ania Schwierigkeiten hat, die Sprachkategorien „Fremdsprache“ und „Muttersprache“ auf ihre biographische Situation anzuwenden. Ania hebt nur die Anforderungen für den polnischen Prüfungsteil hervor; das Deutsche, das Ziel der Prüfling, wird nicht erwähnt, bzw. es füngiert nur als Kontrastgröße (neben deu“tschf, Z. 247), um die besondere Schwierigkeit hervorzuheben, die mit dem Polnischen verbunden ist. Das Meistern des Lempensums für Polnisch in kürzester Zeit (Z. 251-252) begründet sie dann folgendermaßen: ich war <immmer gu“t in in fremdsprachent(Z. 253-254). Die sequentielle Position der Bezeichnung „Fremdsprache“ im Anschluß an polnisch (Z. 253) deutet darauf hin, daß Ania Polnisch im konzeptionellen Rahmen einer Fremdsprache verortet. Dies kann zweierlei bedeuten: Entweder sie bereitete sich auf „Polnisch als Fremdsprache“ vor oder Polnisch war für sie eine Fremdsprache. Beide Deutungen machen an dieser Stelle Sinn. Bei der Vorbereitung auf die Polnischprüfung im Rahmen des Germanistikstudiums kann es sein, daß sich ein polnischer Muttersprachler auf das Fach „Polnisch als Fremdsprache“ vorbereiten muß, d.h., die Formulierung könnte die verkürzte Beschreibung einer realen Prüfungsanforderung sein. In der zweiten Deutung käme Anias Distanz zum Polnischen zum Ausdruck, das biographisch betrachtet ja ihre Zweitsprache ist. Je nach Deutung der Referenz für „Fremdsprache“ fällt die Deutung in 27 Kommentar einer polnischen Informantin zu Anias plötzlicher Wende: Die Absage eines Studienplatzes in Ungarn Anfang der 80er Jahre bedeutete eine sehr weitreichende Entscheidung, und nicht viele Studenten hätten sie getroffen. In Polen herrschte zu dieser Zeit Kriegszustand und eine große Versorgungsnotlage. Ein Studienplatz in Ungarn damals wäre einem Lotto-Gewinn gleichzusetzen gewesen. Daß Ania diese Chance aufgab, zeigt, wie einschneidend das Erlebnis war und wie groß ihre Handlungssicherheit. 28 Z.B. die Wandlung vom Saulus zum Paulus o.ä., mit der totalen Absage an das vorherige Leben und dem totalen Sicheinlassen auf das Neue; zu Konversionserzählungen vgl. Ulmer (1988). Eine Biographie im deutsch-polnischen Kontext 279 der Formulierungsfortfiihrung aus: und auch in meiner mutterspräche 4> (Z. 254). Geht man von der Deutung „Polnisch als Fremdsprache“ aus, beziehen sich beide Bezeichnungen, „Fremd- und Muttersprache“, auf das Polnische und auf unterschiedliche Betrachtungsweisen, auf das „Polnische als Fremdsprache“ und das „Polnische als Muttersprache“. Geht man von der zweiten Deutung aus („Polnisch ist eine Fremdsprache“), bezieht sich „Muttersprache“ auf das Deutsche. Die nicht-eindeutige Referenz darauf, welche Sprache Muttersprache und welche Fremdsprache ist, gibt einen Einblick in Schwierigkeiten, die mit der Verwendung vorgegebener Sprachkategorien verbunden sind. 3.2.2 Kulturelle Uneindeutigkeit und Eindeutigkeit der Erlebenskategorie Im Anschluß wird Anias Uneindeutigkeit in der sprachlichen und kulturellen Orientierung manifest. Auf meine Nachfrage, welche Sprache ihre Muttersprache sei (Z. 256-258), gibt es für sie keine selbstverständliche und problemlose Antwort: 253 AN: ich war <immer gu"t in in fremdsprachent und auch 254 IN: ja 255 AN: in meiner muttersprachet und deshalb-> 2 56 IN: >->was ist deine 257 AN: meine muttersprachet * ich glaube 2 58 IN: muttersprachet<- < 259 AN: po'^nischf das ist wohl klarf *-obwoh"l * jetzt * 260 IN: ja ja 261 AN: 262 AN: 263 AN: 264 AN: zei"tlich * geseh"en * äh und meh"r aufwand und meh"r * arbeite ich mit deutsch als fremdsprache allgemein-» * und -»mit deu/ mei/ promoviert/ «promotion habe ich auch äh äh in deutsch geschrie"bni * jat * das ist bei 265 AN: uns pflichti jat deshalb * und * -»naja meine 266 IN: >ja ja< 267 AN: muttersprache ist gerade diejenige mit der ich mich 268 AN: beschäftige! * so kann ich es wohl <sa"genl<- > 269 IN: <ia also ja mhm> 270 AN: eh ich fühle mich genausogut in dem * <-äh äh: 271 AN: kulturkreis als äh: -» in dem anderent * «-wobei ich 272 IN: mhm 273 AN: auch die mä"ngel der einzelnent * erkennen kannt-» die 274 AN: stereotype und die unterschiede und mei"stens 275 IN: mhm 280 Inken Keim 276 AN: identifiziere ich mich mit der gesellschaft * äh «-des 277 AN: landes wo ich gerade bi"n4'-> entweder in Deu"tschlandt 278 IN: <jat> 279 AN: oder in Po”lenl Ania wiederholt das Frageobjekt „Muttersprache“, und nach einer Pause folgt die modalisierte Aussage ich glaube po “Inischl zusammen mit der Bestätigungsformel das ist wohl klari (Z. 257-259); d.h. Ania zeigt, daß sie nachdenkt und abwägt, bevor sie sich zunächst mit Anzeichen von Unsicherheit {ich glaube), dann aber mit Nachdruck auf Polnisch als Muttersprache festlegt. Daß überhaupt ein Abwägungsprozeß stattfindet, zeigt, daß sie keine sichere erste Wahl treffen kann, daß es für sie nicht in selbstverständlicher Weise eine Muttersprache gibt, wie das bei Monolingualen der Fall ist. Anias Sprachbiographie zeichnet sich jetzt folgendermaßen ab: Deutsch war ihre Erstsprache. In der Zeit der „Blockade“, von Beginn bis zum Ende der Schulzeit, war Deutsch stigmatisiert und die vorrangige und in der Öffentlichkeit verwendete Sprache Polnisch. Deutsch war auf den familiären Bereich beschränkt; bei der Schilderung der Aufnahmeprüfung für ein Außenhandelsstudium hat sie Deutsch selbstverständlich zur Verfügung. Mit der biographischen Wende wird die Opposition Deutsch-Polnisch manifest etabliert, der polnische Teil als der vorbereitungsbedürftige hochgestuft und Deutsch als selbstverständlich verfügbar impliziert. Beim Versuch der bewußten Klärung, welche Sprache die Muttersprache ist, wird die Uneindeutigkeit der Orientierung im Rahmen vorgegebener Sprachkategorien offenkundig. Nach der Festlegung von „Polnisch als Muttersprache“ folgt sofort die Hochstufüng von Deutsch, und damit der Versuch, die Balance zu wahren in der Bedeutung, die beide Sprachen heute für sie haben: Deutsch ist die im Arbeitsleben primär verwendete Sprache; d.h., die Funktion von Deutsch hat sich grundlegend geändert, es ist jetzt ihre „Arbeitssprache“ und damit offiziell legitimiert. Mit dieser Perspektive auf Deutsch, die ganz anders orientiert ist, als die, auf der die allgemeinen Sprachkategorien „Muttersprache“ und „Fremdsprache“ basieren, zeigt Ania, daß die Kategorie „Muttersprache“ und damit die Festlegung auf eine Ausgangssprache, in Relation zu der dann „Fremdsprache“ definiert ist, zur Erfassung ihrer spezifischen biographischen Situation inadäquat ist. Sie definiert dann „Muttersprache“ neu und zugespitzt auf ihre besondere Situation: -maja meine muttersprache ist gerade diejenige mit der ich mich beschäftiget * so kann ich es wohl <sa“gen>t<- (Z. 265-268). Hier hat der Ausdruck „Muttersprache“ die traditionelle Bedeutung verloren und ist zur Bezeichnung für Sprachkompetenz geworden. Ania beschreibt sich als in beiden Sprachen gleich kompetent, vergleichbar der Kompetenz, unter der man im Normalfall die Kompetenz des Muttersprachlers versteht. So wie eine sprachliche Zuordnung zu traditionellen Kategorien bei ihr nicht möglich ist, kann sie sich auch kulturell nicht eindeutig zuordnen. Sie beginnt zunächst mit einer Darstellung, in der beide Kulturen gleiche Bedeutung für Eine Biographie im deutsch-polnischen Kontext 281 sie haben: eh ichfühle mich genauso gut in dem * <-äh: äh: kulturkreis als äh -Mn dem anderen T (Z. 270-271). Doch gleichzeitig lebt sie zu beiden Kulturkreisen in einer inneren Distanz: Auf beide hat sie den kritischen Blick von ‘außen’ in Verbindung mit der intimen Kenntnis von ‘innen’ (Z. 270-274). Ania vermeidet eine eindeutige kulturelle Gewichtung; sie ist weder primär Deutsch noch primär Polnisch. Sie ist aber auch nicht halb Deutsch und halb Polnisch, denn ihr gelingt, in Abhängigkeit von ihrem jeweiligen Aufenthaltsort, die wechselnde kulturelle Identifizierung: und mei“stens identifiziere ich mich mit der gesellschafi * äh <-des landes wo ich gerade bi “n—r entweder in Deu“tschlandToder in Po“lent (Z. 214-219)', d.h., in Deutschland fühlt sie sich als Deutsche, in Polen als Polin. Nach dieser ausbalancierten Darstellung ihrer Fähigkeit, sich wechselnd in zwei Kulturen und Gesellschaften ‘zu Hause zu fühlen’, erfolgt sofort die Problematisierung dieser Selbstdefinition: 279 AN: ja aber ich kann/ am be"sten fühle 280 IN: bist so flexi"belt 281 AN: ich mich in dem spra"chigen rau"mt * -»also im 282 AN: deutschen * sprachraumt * zum beispiel»aber nicht in 283 AN: Deu"tschland * zum beispiel in der Schweiz oder in 284 AN: Österreich! * da fällt es mir am leichtesten! 285 IN: >aha das 286 AN: ja aber äh * weil * ich/ ich/ do"rt 287 IN: ist interessant! < 288 AN: werde ich äh * sowoh”! als po"lin als auch äh- * als 289 AN: deu"tsche aufgefaßt! * das heißt de"nen macht das 290 AN: nichts aus! äh äh aus welchem kulturkreis ich 291 IN: ja ja 292 AN: sta"mmet ich bin halt ne au"sländerin! 293 IN: ja Das ist eine ganz wesentliche Korrektur des oben entworfenen Bildes. Die Hervorhebung, daß sie sich in einem deutschsprachigen Land, aber nicht in Deutschland, am wohlsten fühlt, hat mehrere Implikationen. Zum einen zeigt es jetzt die Priorität des deutschen Sprachraumes vor dem polnischen. Zum anderen zeigt es die Dispräferenz für Deutschland, seine Kultur und Gesellschaft; d.h., in Deutschland zu leben, ist für sie im Vergleich zu einem anderen deutschsprachigen Land (Schweiz oder Österreich) problematisch. Hier scheint etwas durch, was in der vorherigen, kulturell ausbalancierten Präsentation ausgeblendet war: Für Ania besteht m.E. eine erhebliche Diskrepanz zwischen ihrer Selbstdefmition „als Deutsche in Deutschland“ bzw. „als Polin in Polen“ und der Fremddefinition durch Deutsche bzw. Polen: In Deutschland wird sie das vermute ich aufgrund ihres „polnischen Akzents“ bzw. auf- 282 Inken Keim grund von sprachlichen Merkmalen, die ein deutscher Muttersprachler nicht hat, als Nicht-Deutsche (Polin, Osteuropäerin) wahrgenommen und in Polen war sie zumindest in den 60er und 70er Jahren stigmatisiert wegen ihres „deutschen Akzents“; d.h., in beiden Ländern wird ihr Identifizierungsversuch mit der jeweiligen Sprache und Kultur gestört durch eine gegenläufige Fremdwahmehmung, in der der kulturfremde Anteil in besonderer Weise abgelehnt wird. Dadurch können ihre Kontakte mit Deutschen oder mit Polen immer auch deutsch-polnisch oder polnisch-deutsch gerahmt werden und damit ein spezifisches, in der historisch-politisch problematischen Beziehung zwischen beiden Ländern begründetes Problempotential entfalten. Ania zeigt dann, daß ihr Wohlbefinden in einem deutschsprachigen, aber nichtdeutschen Land zusammenhängt mit der nicht-problemhaltigen kulturellen Definition durch Einheimische: ja aber äh * weil * ich/ ich do“rt werde ich sowo“hl als po“Un als auch äh- * als deu“tsche aufgefaßt * das heißt de “neu macht das nichts ausi * äh äh aus welchem kulturkreis ich sta “mme t ich bin halt ne au “sländerinJ- (Z. 286-292). Aus der Perspektive von Schweizern oder Österreichern kann Ania beiden Kulturen, Polen oder Deutschland, zugeordnet werden. Aus dieser Perspektive wird sie primär als nichteinheimisch und damit als „Ausländerin“ identifiziert und für die Einheimischen ist keines ihrer möglichen Herkunftsländer problematisch. Die Kontakte mit Einheimischen sind damit frei von dem für sie so bedrückenden Konfliktpotential in den beiden anderen Ländern. Die Hervorhebung von „denen“ in de “nen macht das nichts aus impliziert, daß es den anderen, also Deutschen und Polen „was ausmacht“, woher sie kommt, und daß es für Ania eine problemlose Kategorie „Ausländerin“ weder in Deutschland noch in Polen gibt. „Ausländerin“ in einem für sie neutralen und deutschsprachigen Land ist ein positives Selbstkonzept und die von ihr präferierte Fremdkategorie: Die Verwendung des Deutschen ist für sie hier unproblematisch, und als „Ausländerin“ muß sie keine Anstrengung des Dazugehörens unternehmen, was ihr in den beiden anderen Ländern (Polen und Deutschland) aus jeweils unterschiedlichen Gründen nicht völlig zu gelingen scheint. Außerdem muß sie keine Seite ihrer kulturellen Herkunft verbergen. 29 Das folgende ist zentral für Anias Selbstsicht: Es ist ihre Absage an die ethnische Kategorie „deutsch“ und ihre Identifikation mit der Kategorie der Opfer des NS-Regimes. 294 AN: jat und ich kann mich ich ich * beschäftigte mich * 295 IN: ia ja 296 AN: ->mit meiner promotion zum beispiel nu"r mit 297 AN: Österreich^- *äh weil ich * m: it e/ Deutschland ä/ 298 AN: über Deutschland kann ich nicht so >objektiv 29 Die Kategorie „Ausländer“ hat hier ganz andere Bedeutungsdimensionen als die für die Mutter verwendete Kategorie „Ausländer“, mit der für das Kind vor allem leidvolle Erfahrungen verbunden waren. Eine Biographie im deutsch-polnischen Kontext 283 299 AN: schreibend 300 IN: ->was hast du was ist was ist*dein 301 AN: cdeutsche verga"ngenheit die 302 IN: problem da so äh: ich (. . ■ ) 303 AN: ganze n s zeit> ich kann das nicht <ertra"gen> 304 IN: ja ja 305 AN: ich kann den deutschen ganz einfach nicht * verge"ben 306 AN: was sie an unserem Volk getan habent * ich <ka: nn 307 IN: ja ja 308 AN: das> nicht vergeben und * ich kann das nicht 309 AN: versteh"en * Im Zusammenhang mit der Darstellung von Ausbildungsschwerpunkten deutet Ania mit Anzeichen manifester Formulierungsarbeit (Formulierungsabbruch, gefüllte Pausen, Neustarts) nur an, daß sie ein Problem mit Deutschland hat (leiseres Sprechen, Litotes, Metonymie in nicht so >objektiv schreibend) und überläßt es mir, nach weiteren Hintergründen zu fragen und das Problem zu präzisieren. Sie gibt die Entscheidung, ein Thema zu vertiefen, das für sie problematisch ist und mich als Deutsche betriffl, an mich. Sie verwendet hier ein Verfahren zum Schutz sowohl des eigenen Face als auch des ihrer Partnerin: Das Sprechen über ein für beide schwieriges thematisches Potential wird zwischen beiden ausgehandelt, und die Verantwortung dafür tragen beide. Ihre Abneigung gegen Deutschland begründet sie zunächst historisch, sie hängt mit der NS-Zeit zusammen (Z. 301-303). Auffallend ist aber die Formulierung ganz persönlicher Betroffenheit: ich kann das nicht <ertra “gen> * ich kann den deutschen ganz einfach nicht * verge “ben was sie an unserem volk getan haben t * ich <ka: nn das> nicht vergeben und * ich kann das nicht versteh“en (Z. 303-309). Mit dem Verb „vergeben“ wird eine Täter-Opfer- Relation etabliert, in der der Täter eine (meist schwere) Schuld auf sich geladen hat, die von dem Opfer nachgesehen werden kann, wenn sie von dem Schuldigen bereut wird. Den Deutschen eine Schuld nicht vergeben können, bedeutet, daß die Schuld der Deutschen entweder derart groß ist, daß sie nicht vergebbar ist, oder daß die Reue der Deutschen nicht glaubwürdig ist, und sie es dem Opfer nicht erlaubt, die Schuld zu vergeben. Ania spricht hier aus der Perspektive von Opfern des NS-Regimes. Sie definiert die Kategorie der Täter nicht historisch-politisch (z.B. Systemträger des NS-Regimes), sondern generalisiert zu „den Deutschen“. Sie etabliert eine Opfer-Täter-Relation zwischen „ich“ und „den Deutschen“ und ordnet sich einer ethnisch definierten „wir“-Kategorie zu, unserem volk, das Opfer ist, und dem die Deutschen (schwere) Schuld zugefügt haben. Durch die ethnische Definition der Opfer-Kategorie erhält auch die Täter-Kategorie („die Deutschen“) ethnische Qualität, die in Opposition zur Ethnie der Opfer steht. Das ist die einzige Stelle im gesamten Gespräch, an der Ania sich ethnisch verortet 284 Inken Keim und zwar als unter den Deutschen und den von ihnen begangenen Greueltaten ‘leidend’. Primäres Merkmal der Kategorie für die Selbstverortung ist also die Erlebensdimension ‘Leid’; sekundäres Merkmal ist eine ethnische Zugehörigkeit, die Voraussetzung war für ein Leiden unter der NS-Diktatur. Die ethnisch definierte Opferkategorie wird nicht explizit bezeichnet, und die Referenzgröße für volk bleibt unklar. Als erste Deutungsmöglichkeit bietet sich „Polen“ an; Ania hat die polnische Staatsangehörigkeit. Doch sie hat sich im gesamten Gespräch nicht als Polin definiert und bisher sehr deutlich gemacht, daß für sie eine ethnisch-kulturelle Zuordnung in Standardkategorien kompliziert und problematisch ist. Umso auffallender ist, daß die von der Formulierungsdynamik her glatte und unproblematische Selbstdefinition nur im Rahmen einer übergeordneten Erlebenskategorie möglich ist. Mit dem Leid von Menschen, die ausschließlich aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit von den NS-Deutschen verfolgt, gequält und getötet wurden, identifiziert sie sich. Aus der Identifikation mit dem Leid der Opfer folgt jedoch nicht zwangsläufig der Schluß, daß Anias Mutter dieser Kategorie real angehörte. Wesentlich für das Verständnis von Anias Problem ist nur, daß sie an dieser Stelle die Opferperspektive übernimmt; und aus dieser Perspektive, wie sie sie für sich definiert, sind die Greueltaten der Deutschen unbegreifbar, ihre Schuld unermeßlich und nicht vergebbar. Der Kern von Anias Problem besteht also aus dem tiefen und unüberbrückbaren Widerspruch zwischen dieser Opferperspektive und der damit verbundenen emotionalen Abwehr der Deutschen einerseits und dem über die Liebe zur Mutter positiv besetzten deutschsprachigen Anteil in ihr andererseits. 3.3 Freiräume der Sonderkategorie und ihre darstellerische Bewältigung Mit der Selbstdefinition außerhalb gängiger sprachlicher und kultureller Kategorien entsteht ein neuer Freiraum für die Einordnung und Deutung biographischer Erfahrungen, die im Rahmen von Standardkategorien als Widersprüchlichkeiten, Brüche oder nicht-motivierbare Wechsel erscheinen. Nach der Offenlegung der abgrundtiefen Ablehnung der Deutschen wird jetzt retrospektiv deutlich, welche Funktion die religiöse Überhöhung des Entscheidungsprozesses für ein Germanistikstudium hat: Sie dient der Plausibilisierung dieser widersprüchlichen und rational nicht nachvollziehbaren Entscheidung. Auch bei der weiteren Schilderung biographischer Erfahrung bleibt Ania im „Schema der mystischen Überhöhung“, das mit der Erleuchtungs-Episode manifest wurde und mit dem Erleben eines Wunders seinen Höhepunkt erreicht. 3.3.1 Mystifizierung der Aufnahmeprüfung Die Aufnahmeprüfung für das Germanistikstudium wird zum Auslöser für das Erleben eines Wunders. Die mit dem Beginn der Schulzeit erfahrene Blockade bricht auf, und Ania erlebt, daß sie über bisher unbekannte Fähigkeiten verfügt: Eine Biographie im deutsch-polnischen Kontext 285 325 AN: und iche/ e/ *4* -»-ich wollte nun etwas sa"gen ich hab 326 AN: mich für diese aufnahmeprüfung für germanistik 327 AN: überhaupt nicht vo"rbereitetl<seit sieb/ also 328 IN: 3 a 329 AN: praktisch vierzehn jahret habe ich * ke^'n deutsch so 330 AN: richtig gespro"chenl und dann bin ich zur prüfung e/ 331 IN: ja 332 AN: * «-erschie: "nent so zu sagen und dann * hat man mich 333 AN: gefra"gtf-» und dann war die blockade wegi 334 IN: >sagenhaft< 335 AN: #ja in einer <minu"te-t kann/ # ich sa”ge da/ <ich sage 336 K #HOCH # 337 AN: das war <-vorseh"ung go"ttesi->> ich bin- 338 IN: du bist 339 AN: <<-ich bin chri"stlicht und ich kann 340 IN: christlich 341 AN: sa"genl in de"m moment öffnete e"rt-»> * es war/ * 342 AN: also ich hab mich persönlich ü"berhaupt nicht 343 AN: draufhin eingestellt * jat es gab #<-kei: ne * größeren 344 K #TIEFER, RHYTHMISCH 345 AN: * Vorbereitungen undsoweiter-» und im Stoff * 346 K 347 AN: irgendwelchen grammatischen Stoff zu wiederholen 348 K 349 AN: ich war/ # * ich ^beschäftigte mich*- * mit dem 350 K # 351 AN: po"lnischen und dann war die blockade weg-l- 352 IN: 3 a 353 AN: da war der * pol/ po"sitive stre: ß sozusagent 354 IN: ja 355 AN: und ich «-konnte-* über/ -»ich kann mich noch ganz gut 356 AN: erinnernt«- * ich wurde über die * e/ e/ man/ * ich 357 AN: wurde nach der rollet-* * äh der <-*kernenergie- * 358 AN: gefragt! «- > und dann <->ko"nnte ich müh"elos/ <-> wo 359 IN: mm 286 Inken Keim 360 AN: überhaupt das herkommt * kann ich bis heu"te nicht 361 AN: na”chvollziehent/ über/ dann konnte ich über die 362 AN: ura"nspaltungt * im deu''tsch * auf deutsch * etwas 363 AN: <erzä"hlen> 364 IN: ->das hast du noch nie gemacht vorher«- 365 AN: #->das harn wir nie gemacht*-# also * ich weiß nicht 366 K #STIMME HOCH # 367 AN: wo kommt das herl * vo"rsehung gottes * bestimmt 368 AN: ±a also #ich kann das sagen soviel# eigentlich 369 K #STIMME HOCH # 370 IN: LACHT ja Das gesamte Ereignis findet in Anias Innenwelt statt; die äußeren Faktoren der Situation sind marginal. 30 Die Aufnahmeprüfung wird „mystifiziert“, d.h. mystisch-religiös überhöht, und als Erleben eines Wunders dargestellt. Für die Gestaltung der Wunder-Erzählung werden folgende Techniken verwendet, die der Überhöhung des Ereignisses dienen. Maximierung des Kontrasts zwischen Prüfungsvoraussetzung und -leistung: Zunächst hebt Ania hervor, daß sie sich für Deutsch überhau “pt nicht vo“rbereitet±<- (Z. 327) hatte 31 und außerdem seit sieb/ also praktisch vierzehn jahret habe ich * kei “n deutsch so richtig gespro “chenk (Z. 327-330), Sie stellt also einen maximalen Kontrast her zwischen dem, was sie in die Prüfung mitbringt, und dem was sie in der Prüfung leistet. Damit schafft sie die Voraussetzungen für das Wirken des Wunders: Die plötzliche Schließung der erheblichen Lücke zwischen Prüfungsvoraussetzung und tatsächlicher Prüfungsleistung ist rational nicht verstehbar, sie ist nur als Wunder möglich. Interessant ist das Korrekturelement seit sieb/ als Angabe des Zeitraums, in dem sie wenig Deutsch gesprochen hat. Wenn als Zeitangabe „seit sieben Jahren“ intendiert war, hätte Ania mit elf Jahren aufgehört, Deutsch zu sprechen (bei der Aufnahmeprüfung ist sie 18 Jahre). Das ist das Alter, in dem das Auschwitz-Erlebnis stattfand (vgl. unten). Wenn als Zeitangabe „seit sieben“ (im Alter von sieben) intendiert war, würde das auf den Schulbeginn verweisen. Mit beiden Daten sind für Ania traumatische Erlebnisse verbunden. Den Hinweis darauf drängt sie an dieser Stelle zurück und korrigiert zu also praktisch vierzehn jahre, das schließt an ihre vorherige Darstellung an, daß sie bis zum dritten Lebensjahr Deutsch gesprochen hat. Die korrigierte Version hebt die 30 Vgl. die Depersonalisiemng der Prüfer durch das Pronomen „man“; es gibt sonst keine Informationen zu äußeren Faktoren der Priifungssituation. Die Einschränkung, daß sie Deutsch „nicht so richtig gesprochen hat“ impliziert, daß sie Deutsch zumindest etwas gesprochen hat. Die Einschränkung ist unbetont gesprochen und eingerahmt durch das stark fokussierte kei “n deutsch und gespro "chen. Eine Biographie im deutsch-polnischen Kontext 287 mangelnden Prüfungsvoraussetzungen (sie hat seit 14 Jahren kaum Deutsch gesprochen) noch wesentlich stärker hervor. Außergewöhnliches Erleben und religiöse Deutung: Mit der ersten Prüfungsfrage erlebt Ania das Aufbrechen der „Blockade“: und dann war die blockade weg'lja in einer <minu“te-f (Z. 333-335). Die Wiederaufnahme der Blockade-Metapher stellt den biographischen Zusammenhang zu dem traumatischen Erleben zu Beginn der Schulzeit her. Die nachgestellte, syntaktisch ausgeklammerte und prosodisch stark markierte Zeitangabe in einer <minu“te-T hebt das Unerklärbare, das in kürzester Zeit passiert, noch zusätzlich hervor. Die Deutung des Erlebten erfolgt in biblisch-religiösen Bildern <ich sage das war +-vorseh “ung go“ttesJ—r> (Z. 335-337) und ich kann sa gen-l in de m moment öffnete e“rt+- (Z. 339-341). Das ist die Ausdrucksweise für menschlich nicht Erfaßbares: Ania verfugt plötzlich über ein ungeahntes Wissen in Deutsch und sie kann über schwierige technische Sachverhalte, über Kernenergie und Uranspaltung problemlos sprechen, über die sie vorher nie gesprochen hatte. Sprachliche Mittel zur Verdeutlichung von Unfaßbarkeit: Die Schilderung der Prüfungsszene (Z. 356-363), die Prüfungsfrage und die Antwort darauf, sind charakterisiert durch häufige Abbrüche, Neustarts, Pausen, Einschübe und starke prosodische Wechsel. Das sind hier keine Anzeichen für Ausweichen oder Tabuisieren die jeweiligen Korrekturversionen eröffnen keinen neuen Kontext, sie bleiben in der ersten syntaktischen Struktur -, sondern sind Mittel für die Inszenierung von Erregung und für die Verdeutlichung, daß das Unfaßbare schwer in Worten darzustellen ist. 32 Außerdem ist der Kern der Wundererzählung die Schilderung der Antwort auf die Prüfüngsfrage gerahmt durch den Topos für Unerklärbarkeit „ich weiß nicht wo das herkommt“ (Z. 358-361; 365-367). Mit dem Abschluß der Wunderdarstellung durch so- Ania beginnt die Prüfungsszene durch eine das Ergebnis vorwegnehmende Formulierung und ich konnte-* über/ (Z. 355), bricht ab und formuliert dann in einem Einschub mit einer Vergegenwärtigungsformel, daß sie sich an die Szene noch gut erinnern kann. Es folgt dann die passivisch formulierte Prüfüngsfrage: <-ich wurde über die * e/ e/ man/ * . Der Abbruch vor dem Hauptveit, die Verzögerungssignale, der Neustart mit einer Variante der passivischen Formulierung und neuerlichem Abbruch schieben die glatte Formulierung zum Thema der Prüfungsfrage „Kernenergie“ weit zum Ende der Formulierungssequenz und heben es dadurch besonders stark hervor: ich wurde nach der rolle t*- * äh der <-dcernenergie- * gefragt/ *-- . Nach dem Beginn der Formulierung <-rko“nnte ich müh“elos/ <-> (Z. 358) folgt als Einschub der Topos der Unerklärbarkeit: wo wo überhaupt das herkommt * kann ich bis heu"te nicht na' chvollziehenf/ (Z. 358- 361). Nach dem Einschub fuhrt Ania die abgebrochene Struktur mit der syntaktisch richtigen Präposition fort, d.h. nach längerem Einschub wird die Struktur des Matrixsatzes fortgeführt: über/ dann konnte ich über die ura“nspaltungt * im deu“tsch * auf deutsch * etwas <erzäh‘‘len> (Z. 361-363). Die Einschübe sind systematisch vor dem Rhemateil plaziert; dadurch wird zusammmen mit der prosodischen Hervorhebung (hohe Stimme, ‘hämmernde’ Akzentuierung) die Spannung für die wichügste Information der Äußerung erhöht. 288 Inken Keim viel eigentlich (Z. 368) verzichtet Ania auf jeden Versuch einer rationalen Erklärung, und das Ereignis bleibt als Wunder stehen. Mit der Wundererzählung wird klar, daß „Blockade“ sich auf das Deutschsprechen bezog. Das Aufbrechen der Blockade hängt mit der Entscheidung für das Germanistikstudium zusammen, das so zum Therapeutikum für das Leid und das traumatische Erleben wird, das die Blockade auslöste. Das Studium der Germanistik bedeutet eine lebenslange und professionelle Beschäftigung und Auseinandersetzung mit der deutschen Sprache, der deutschen Kultur und mit „den Deutschen , die Ania für ihre tiefsitzenden Probleme verantwortlich macht. Die Mystifizierung im Sinne einer mystischen, religiösen Überhöhung von Erfahrung ist eines der wirkungsvollsten Tabuisierungsverfahren; damit können gleichzeitig die Tiefe und das Ausmaß der Erfahrung angezeigt und die Erfahrung selbst vor neugierigen Fragen geschützt werden. Daß das Aufbrechen der Blockade derart außergewöhnlich erlebt wird, läßt den Schluß auf die Außergewöhnlichkeit des Traumas zu, das die Blockade bewirkte, d.h. die ungewöhnliche Qualität dessen, was tabuisiert wird, wird gezeigt und das Tabu selbst geschützt. Die Bedingungen für Rationalität werden durch die religiöse Überhöhung weitgehend außer Kraft gesetzt, und für die Erzählerin besteht keine Notwendigkeit zur rational nachvollziehbaren Plausibilisierung des Erlebten. Außerdem blockiert der Respekt vor dem religiösen Erleben Nachfragen oder Zweifelsbekundungen ebenso wie den Wechsel der Interaktionsmodalität ins Spielerische oder Ironische. Die Mystifizierung des Erlebten beginnt bereits mit der Herstellung von Voraussetzungen für die Wunderdarstellung. Für das Gesamtverfahren, das „Mystifizierungsschema , das Strukturkomponenten einer Konversionserzählung hat, ist die Darstellung folgender Erlebensphasen konstitutiv: - Die Zeit vor dem einschneidenden Erleben: Das Leben in der Blockade führt zur beruflichen Fehlentscheidung (Außenhandelsstudium). Die ersten Anstöße kommen von außen und werden abgewehrt. - Das plötzliche Erkennen der eigenen „Berufüng“ führt zur biographischen Wende und zur totalen Neuorientierung. - Mt der Entscheidung für ein neues Leben und in der Eingangsprüfüng dafür wird das Wunder erlebt und die Blockade bricht auf. Mit der Anwendung des Mystifizierungsschemas auf die eigene Biographie erfolgt die Selbstdefmition als in besonderer Weise berufen. Das ist für Ania die Möglichkeit der retrospektiven Sinngebung für das bereits in der Kindheit erfahrene Leid; d.h., das Leid erhält jetzt seinen Sinn als notwendige Voraussetzung für das besondere Berufüngserleben bzw. das besondere Erleben ist nur möglich aufgrund der langen leidvollen Erfahrung. Außerdem gelingt ihr durch das Mystifizierungsschema eine Plausibilisierung ihrer Entscheidung für ein Studium der Germanistik trotz ihrer tiefgreifenden Probleme mit den Deutschen. Eine nach Rationalitätsgesichtspunkten widersinnig erscheinende Ent- Eine Biographie im deutsch-polnischen Kontext 289 Scheidung ist durch die Transposition ins Religiöse nur jenseits rationaler Kriterien erfaßbar; die religiöse Qualität macht gleichzeitig die Unausweichlichkeit der Entscheidung begreiflich. 3.3.2 Verschlüsselte Erklärung für das Entstehen der Blockade Im Anschluß an die Prüfungserzählung thematisiere ich Anias „Blockade“ und versuche vorsichtig, Ania auf eine Erklärung dafür hinzulenken. Beim Versuch der Erklärung führt sie zunächst die abstrakten Konzepte „Therapie“ und „Interkulturalität“ ein und kommt dann wieder zurück zur eigenen Erfahrung. Als sie einen Zusammenhang zwischen „Blockade“, „Therapie“ und „Interkulturalität“ herzustellen versucht, fällt die äußerst komplizierte Darstellungsstruktur auf: Formulierungsvorgänge werden sehr deutlich gemacht durch schubweise Produktion, mehrfachen Anakoluth, gefüllte Pausen, Neustarts, bevor dann in einem Formulierungsschub eine vollständige Äußerung produziert wird. Es werden viele Operatoren eingeführt, die eine enge logischsyntaktische Verknüpfüng der Formulierungsteile projizieren, die dann aber nicht oder nicht sofort eingelöst wird. Diese komplizierte Darstellungsstruktur ist m.E. ein deutlicher Hinweis auf die Komplexität des zugrundeliegenden Problems. Das Leiden unter einer besonderen Art von Interkulturalität, in der die biographisch angelegte Präferenz für eine der Kulturen einschneidend gestört ist durch eine tiefe emotionale Ablehnung dieser Kultur. 370 AN: soviel# eigentlich 371 K # 372 IN: ja ehm wie ist das mit/ du sagst mit 373 IN: der blocka"de/ wie er/ also kannst du das erklä"ren 374 IN: also als kind in der schule bist du abgelehnt 375 AN: <ia: "> #die blocka"de# ich hab 376 K #HOCH # 377 IN: worden un hast dann/ 378 AN: das <-nie irgendwie: eh therapeutisch 379 AN: und so oder sowas-> ich halte e/ e/ zum beispiel 380 IN: ja 381 AN: ich * äh * äh * ->da"mals gab=s noch sowas nicht! 382 AN: ne diese therapie"n verschie"dene psychologische/ <- 383 IN: ja ja 384 AN: und das würd ich auch nicht gerne ma"chensonst/ 385 IN: ja 386 AN: e/ e/ es gab auch <-we"nig sinn da"mals wie auch 387 AN: wie"derum heu"te-> für interkulturalitä"t zum 290 Inken Keim 388 AN: beispieli jat desha: lb also -»all diese 389 IN: hm hm 390 AN: äh diese pha"se der interkulturalität der 391 AN: deutschen gesellschaft ist glaube ich vorbei: " weil 392 AN: deutsche jetzt ihren/ mit ihrem nationalstaat 393 AN: beschäftigt sind-W- * desha: lb finde ich * äh äh * 394 AN: also ich würde solche therap/ eine solche therapie 395 AN: ni"cht machen um mir meine blocka"de bewußt zu werdend 396 AN: * wenn/ äh der * <de"rart ps/ e/ e/ -»psychische 397 AN: Vorgänge die in mir geschehn werde ich mir* äh * ega"l 398 AN: nach e/ e/ welchem zeitabstand immer bewu: "ßt 399 IN: mhm 400 AN: und die kann ich irgendwie selbst analysiernl Ich führe zurück auf den vermuteten Beginn der Blockade, zur Erfahrung, daß sie „in der Schule abgelehnt“ wurde. Ania unterbricht mich, nimmt den ersten Fokus meiner Frage auf und macht „Blockade“ zum Thema ihrer Äußerung. Sie zeigt, daß sie „Blockade“ weiterhin zu thematisieren bereit ist, daß die Ablehnung in der Schule jedoch, die vermutete Ursache für die Blockade, für sie kein Thema ist. Sie eröffnet dann einen abstrakten psychotherapeutischen Kontext für die Einordnung von „Blockade“ und zeigt damit, daß Blockade für sie die Qualität ‘therapiebedürftig’ hat. Gleichzeitig lehnt sie für sich selbst jedoch eine Therapie ab. Bei der Begründung für die Ablehnung einer Therapie erfolgt zunächst ein Rückblick auf den Stand der psychologischen Therapien zu einem früheren Zeitpunkt, vermutlich der Zeit, als Anias Blockade akut wurde: ->da “mals gab=s noch sowas nichti ne diese therapie“n verschie“dene psychologische! <- (Z. 381-382). Der Kontrastakzent auf dem Temporaladverb da“mals macht einen zeitlichen Kontrast zu „heute“ auf; doch die Situation psychologischer Therapien „heute“ wird nicht ausformuliert. Ania nennt dann ihre Einstellung zur Therapie „heute und in Zukunft“ durch und das würd ich auch nicht gerne ma“chensonst/ (Z. 384). Dies ist keine generelle Absage an eine Therapie, sondern nur eine Präferenzaussage im Sinne von ‘eine Therapie ist für mich nicht das bevorzugte Mittel zur Behandlung meiner Blockade’. Die mit „sonst“ eingeleitete Weiterführung projiziert eine Begründung für die Ablehnung, die aber sofort abgebrochen wird. Dann folgt als zweites Argument gegen eine Therapie e/ e/ es gab auch <-wenig sinn da “mals wie auch wiederum heu “te -rfür interkulturalitä“t zum beispieli {L. 386-388). Mit „Interkulturalität“ führt Ania ein neues, sozialwissenschaftliches Konzept ein, das sie in keinen direkten Bezug zu ihrer individuellen Situation stellt; mit dem abstrakten Konzept führt sie weg von ihrem persönlichen Erleben. Es besteht jedoch eine argumentative und sequentielle Relation zwischen den Konzepten „Therapie“ und „Interkulturalität“ im Sinne von: ‘die eigentlich therapiebedürftige Blockade Anias hängt mit dem spezifischen Problem ihrer Interkulturalität zusammen, für das es jedoch weder da- Eine Biographie im deutsch-polnischen Kontext 291 mals noch heute eine geeignete Therapie gab bzw. gibt’. Aus dieser Sachlage zieht sie dann den Schluß desha.lb also/ (Z. 388), bricht ab und bringt den Einschub: -rail diese äh diese pha“se der interkulturalität der deutschen gesellschaß ist glaube ich vorbei: “ weil deutsche jetzt ihren/ mit ihrem nationalstaat beschäftigt sirid/ r- (Z. 388-393). Daß in Deutschland die Phase der Interkulturalität vorbei ist, impliziert, daß es in Deutschland einmal eine Phase gab, in der Probleme der Interkulturalität reflektiert und therapeutisch bearbeitet werden konnten. Das war in der Zeit vor der deutschen Wiedervereinigung. Da die Situationsbeschreibung für Deutschland mit der vorangehenden kontrastiert, impliziert das, daß jene auf Polen referiert und daß es in Polen für Interkulturalität kein Verständnis gab und keines gibt. Ania kann also in keinem ihrer Bezugsländer, weder in Deutschland noch in Polen, Verständnis oder therapeutische Gesprächspartner für ihr „interkulturelles“ Problem erhoffen. Sie formuliert jetzt eine klare Absage an eine Therapie 33 (Z. 394-395) und zieht den Schluß, daß für sie nur eine Selbsttherapie in Frage kommt: äh der * <de “rart ps/ e/ e/ -»psychische Vorgänge die in mir gescheht! werde ich mir * äh * ega “1 nach e/ e/ welchem zeitabstand immer bewu: “ßt und die kann ich irgendwie selbst analysiert! i (Z. 396-400). Sie charakterisiert hier eine Situation des Alleinseins mit ihrem Problem und der Aussichtslosigkeit, Hilfe von außen zu finden; es ist eine Situation des totalen Auf-sich-selbst-zurückgeworfen-seins, des „nowhere to turn to“, aus dem sie sich nur selbst befreien kann. Ania setzt sich dann mit der Therapiesituation in Polen auseinander; dabei drückt sie ihre Distanz zur ethnischen Kategorie „Pole“ aus: 400 AN: irgendwie selbst analysiernl weil- * ein pole der/ 401 IN: mhm 402 AN: * >->eine psychologin die würde wahrscheinlich 403 AN: irgendwelche komplexe<-< * in mir finden und dann die * 404 AN: äh äh eine rückblende auf diee/ e/ «-auf die 405 AN: verga"ngenheit-> In der begründenden Formulierung weil- * ein pole der/ (Z. 400) steht die ethnische Kategorie ein pole im Kontrast zu dem interkulturell geprägten Agens ich des Matrixsatzes; d.h., Ania nimmt sich an dieser Stelle manifest aus der ethnisch eindeutigen Kategorie „Pole“ aus. Das Segment ein pole der/ wird dann korrigiert zu eine psychologin die und damit die ethnische Kategorie zu einer (Berufs-)Rollenkategorie. Das ich des Matrixsatzes steht jetzt in 33 Durch den Kontrastakzent auf der Negationspartikel ni"cht und dem Nomen blocka‘‘de wird eine adversative Weiterfuhrung projiziert im Sinne von: „Ich würde keine Therapie machen, um meine Blockade zu heilen sondern nur, um etwas anderes zu heilen“. Doch auch diese Projektion wird nicht eingelöst. Die Formulierung zeigt Spuren verschiedener Perspektivierungen, so als habe Ania sich mit dem Thema Therapie intensiv auseinandergesetzt und abgewogen, wofür eine Therapie hilfreich sein kann und wofür nicht. 292 Inken Keim Opposition zu einer polnischen Psychologin, von der Ania nicht erwartet, daß sie ihr Problem therapeutisch angehen kann. Das Therapiekonzept einer polnischen Psychologin, das durch eine „Rückblende in die Vergangenheit“ und das Auffinden von irgendwelchen komplexen (vgl. Z. 403) angelegt ist, ist das wird als Schluß impliziert nicht geeignet, Anias besonderes interkulturelles Problem zu erfassen. Diese Kritik an der monokulturell ausgerichteten Psychotherapie in Polen ist die Motivierung für den mit „weil“ eingeleiteten Satz; d.h., die Schlußfolgerung ist ausgespart, und nur die Schlußvoraussetzungen sind explizit bzw. implizit formuliert. Mit der folgenden Beispielerzählung fuhrt Ania vor, wie sie selbst ihr Problem angeht: Auch sie blendet in die Vergangenheit zurück und zwar auf Einstellungen und Haltungen, die sie von ihren Eltern in bezug auf zwei Kulturen und deren Sprache erworben hat. In diesem Zusammenhang präsentiert sie dann ein wesentliches Ergebnis ihrer Selbstanalyse. 406 AN: äh mein/ zum beispiel * <«-mei"n vater war in 407 IN: ja 408 AN: russischer gefangenschafti-> eh -»nicht in russischer 409 AN: gefangenschaft sondern»er war/ er war ein politischer 410 AN: häftling ganz einfach! jat> * äh: »-sein vater war-» 411 IN: ja 412 AN: ** m: ziemlich reicht in Polent und er wurde ganz 413 IN: mhm 414 AN: einfach als sogenannte * #<-kula: ket# erkorn-» 415 K #KULAK=GROßBAUER# 416 AN: derjenige der * äh einen großen bauernhof besaß der 417 IN: mhm 418 AN: wurdeäh nach >sibi"rien verschleppt! * das ginge! < * 419 AN: <und ich hab/ mein vater: hat »-mir nie: ” zum 420 AN: beispiel-» * dies/ ei/ irgendwelchen haß gegen die 421 AN: ru"ssen sozusagen eingeimpft! der mag/ der sagtet 422 IN: mhm 423 AN: * die russen seien ein to"llest volkt 424 IN: mhm 425 AN: die ham ihm einige male das leben gerettett 426 AN: aber das syste"m war schlecht! * und ich hab nie" 427 IN: mhm 428 AN: so eine blockade geha"btt bei/ im fall von russisch 429 IN: mhm Eine Biographie im deutsch-polnischen Kontext 293 430 AN: etwat als im fall des deu"tschen> * wenn ich eh/ als Das Ergebnis der Selbstanalyse wird verschlüsselt dargestellt in zwei Kontrasterzählungen zu zentralen Opfer-Erfahrungen ihrer Eltern, der eben vorgestellten, den Vater betreffenden und einer folgenden über die Mutter. Die beiden Erzählungen sind in einer Analogierelation zueinander organisiert. Beide Erzählungen zusammen ergeben die Schlüsselstelle für das Verständnis dessen, was in der bisherigen biographischen Darstellung ausgeblendet war: Über Anias totale Identifizierung mit dem Erleben und der Erfahrung ihrer Mutter wird jetzt auch ihre starke persönliche Involviertheit im Zusammenhang mit der Vemichtungsmaschinerie der Nazis verständlich, die Ania aufgrund ihres Alters persönlich nicht erlebt haben kann. 34 In der zuerst präsentierten Vatererzählung fuhrt sie einschneidende Erfahrungen des Vaters vor: Er wurde von den Russen nach Sibirien verschleppt, da sein Vater Großgrundbesitzer war. Eine Reihe von Informationen zur Situation des Vaters, die in der Erzählung ausgeblendet sind, lieferte Ania schriftlich nach: Der Vater stammt aus Ostpolen, einem Gebiet, das durch den Rippentrop-Molotow-Pakt unter sowjetische Verwaltung kam. 1941 wurde die Familie des Vaters als Zwangsarbeiter nach Sibirien gebracht. Die Familie war dort sieben Jahre. Als Anias Vater, der damals gerade 14 Jahre alt war, aus Hunger Nahrungsmittel stahl, wurde ihm der Prozeß gemacht und er kam ins russische Gefängnis. Die katastrophalen Verhältnisse in den Gefängnissen führten damals zum Tod vieler Häftlinge. Anias Vater hatte das Glück, russische Freunde zu finden; dank ihrer Hilfe konnte er überleben. Ania schildert aus der Kinderperspektive, wie der Vater seine Erfahrungen aus der Gefangenschaft an sie als Kind weitergab. In einem bewertenden Satz formuliert sie zunächst, was der Vater nicht tat: mein voter: hat <-mir nie: “ zum beispiel-* * dies/ ei/ irgendwelchen haß gegen die ru “ssen sozusagen eingeimpft J- (Z. 419-421). Die Hervorhebung dessen, was der Vater nicht tat, impliziert, daß jemand anderes vermutlich die Mutter genau das tat, was für den Vater negiert wird: dem Kind „Haß“ gegen Angehörige der Ethnie beigebracht zu haben, durch die sie Leid erlebt hat. Hier spricht Ania zum ersten Mal offen von einer sehr starken negativen Emotion gegen Angehörige einer Ethnie aufgrund leidvoller Erfahrung, eine Emotion, die der Vater jedoch gerade nicht entwickelt hat. In der Redewiedergabe des Vaters der mag/ der sagte T * die russen seien ein to “lies t volk t die ham ihm einige male das leben gerettet T aber das syste “m war schlechtk (Z. 421-426) wird die ethnische Kategorie explizit positiv beurteilt (to“lies volkf) und die positive Charaterisierung begründet (ihm ... das leben gerettet 1). Hier wird eine deutliche Trennung zwischen der ethnischen Kategorie einerseits, dem russischen Volk, und der politischen Kategorie an- 34 M. Czyzewski berichtete von seinen biographischen Interviews mit Opfern der NS- Diktatur: Die Kinder der Opfer, die die NS-Zeit selbst nicht erlebt haben, zeigten oft eine krassere und unerbittlichere Ablehnung der Deutschen als die Opfer selbst. 294 Inken Keim dererseits, dem „Stalinistischen System“ gemacht. Zwischen Volk und System besteht eine deutliche Diskrepanz: Der Vater erlebte die freundschaftliche Koalition zwischen Angehörigen zweier Ethnien, die sich auf der politischen Ebene als Feinde gegenüberstanden. Die Hervorhebung dieser positiven Erfahrung im Land des politischen Feindes deutet an, daß eine solche Erfahrung im bisher implizit angelegten Kontrastfall nicht gemacht werden konnte. Die Vater-Erzählung abschließend charakterisiert Ania ihre Haltung gegenüber dem Russischen durch einen Vergleich mit ihrer Haltung gegenüber dem Deutschen: und ich hab nie" so eine blockade geha‘‘btt bei/ im fall von russisch etwa tals im fall des deu "tschen> (Z. 426-430). Das Fehlen einer Blokkade in bezug auf das Russische hängt also mit den positiven Erlebnissen des Vaters als „Opfer“ zusammen, mit seinen positiven Erlebnissen mit dem „russischen Volk“. Auf der Basis der im Fazit angelegten Analogie zwischen einerseits: - Der Vater hat Ania keinen Haß gegen Russen eingeimpft - Ania hat keine Blockade in bezug auf Russisch und andererseits der Feststellung: - Ania hat eine Blockade in bezug auf Deutsch kann das zweite Argument in dem zweiten Analogieteil erschlossen werden: „Die Mutter hat Ania einen Haß gegen das Deutsche eingeimpft“. Die Analogierelation erlaubt noch weitere Inferenzen zu Erfahrungen der Mutter: Wie der Vater, so gehört auch die Mutter entweder selbst zur Kategorie „Opfer eines Unrechtsystems“ des nationalsozialistischen - oder sie identifiziert sich aufgrund einschneidender Erfahrung sehr stark mit dieser Opfer-Kategorie; außerdem ist es der Mutter entweder aufgrund eigener Opfererfahrungen oder aufgrund ihrer Identifikation mit dem Leid von NS-Opfem nicht möglich, zwischen „guten Deutschen“ und „schlechtem System“ zu differenzieren; ihre negative Haltung gilt allen Deutschen gegenüber. Die in dem Vergleich dargestellte Kontrastrelation projiziert also eine Mutter- Erzählung, die Anias Haltung dem Deutschen gegenüber ‘erklärt’. Der Vergleich ist eine Gelenkstelle zwischen den sehr unterschiedlichen Erfahrungen von Vater und Mutter mit den entsprechenden Konsequenzen für die Tochter. Die Vater-Erzählung hat die argumentative Funktion, eine Relation zwischen der Haltung des Vaters gegenüber den Tätern und Anias Haltung gegenüber der Sprache der Täter herzustellen und eine solche Relation auch im Fall der Mutter zu projizieren, die sie dann nicht explizieren muß. eine Relation zwischen der Abwehrhaltung der Mutter gegenüber den Deutschen und ihrer eigenen Blockade in bezug auf das Deutsche. Eine solche Relation ist als Kontrastrelation auf der Basis der Vater-Erzählung sowohl logisch-semantisch (Vergleichsrelation) als auch prosodisch (Kontrastakzente auf den kontrastierenden Elementen) angezeigt. Eine Biographie im deutsch-polnischen Kontext 295 Direkt im Anschluß folgt eine Erzählung, die das Erleben von Mutter und Tochter präsentiert: 430 AN: etwat als im fall des deu"tschen> wenn ich eh/ 431 IN: mhm mhm 432 AN: als ich * äh äh mit meiner muttert * Auschwitz zum 433 AN: ersten mal besichtigtel * ich war elft e/ e/ es 434 IN: mhm * 435 AN: wurde nicht erlau: ”bt daß kinder rei"ngehnl aber meine 436 AN: mutter konnte nichts mit mir machen ich war mi/ sie 437 IN: mhm 438 AN: war nur mit mir allei"ne in Auschwitzt * und dann sind 439 IN: hm 440 AN: wir eh mit einer exkursio"n * durch diesen/ durch 441 AN: dieses lager gegangent und dann/ <->dann fiel die 442 AN: mutter in ohnmachtt<- > jawoll die ge/ in 443 IN: >ach gott< 444 AN: Ra"vensbrück ist sie auch in Ohnmacht gefallenl 445 IN: -»das 446 AN: <ja_natü: "rlich 447 IN: heißt es hat sie so beeindruckt ( ) 448 AN: normalerweisei sie wollte nicht meh"r- * sie fiel in 449 IN: l ) 450 AN: Ohnmacht und ich fi/ neben ih"r au"ch in Ohnmacht jat> 451 AN: das ist meine * reaktion wir warn immert* wie äh 452 IN: mhm 453 AN: * praktisch wie gef/ verbundene gefäßel 454 IN: hm 455 AN: e/ e/ ich ja seh"rl sehrl 456 IN: -»du hast ne sehr enge beziehung zur mutter gehabt 457 AN: >und deshalb also-< *4* ->die"se probleme<- 458 AN: #den deu"tschen konnte ich das nicht verzeihnl# 459 K #HART # Die Auschwitz-Erzählung erfolgt aus der Perspektive des Kindes, das die Schrecken und Grauen der Anlage noch nicht kennt; das Ereignis wird von außen geschildert ohne Blick in das Erleben der beteiligten Personen. Nach 296 Inken Keim der Orientierungssequenz - Ania besuchte als elfjähriges Kind mit der Mutter zum erstenmal Auschwitz - und einer Begründung, wieso sie als Kind Zugang zu dem Konzentrationslager erhielt (Z. 433-438), folgt die Ereignisschilderung. Sie beginnt mit der Beschreibung der Besichtigung und dam sind wir eh mit einer exkursio“n * durch diesen/ durch dieses lager gegangen t (Z 438- 441). Nur die Korrektur von durch diesen/ durch dieses lager könnte ein Hinweis darauf sein, daß Ania hier bewußt die harmlose Kinderperspektive beibehält, um eine möglicherweise präzisere Angabe des Ortes zu vermeiden, der die Ohnmacht der Mutter auslöste. 35 Mit temporal-reihendem Anschluß folgt dann der erste Höhepunkt der Erzählung: und dann/ <-Miann fiel die mutter in ohnmächtig- ' (Z. 441-442); aus der Kinderperspektive wird eine für das Kind unerwartete Reaktion der Mutter beschrieben. Auf meine Reaktion erfolgt sofort als eine Art Normalisierung der extremen Reaktion der Mutter die Information, daß sie in einem anderen Konzentrationslager, in Ravensbrück, dieselbe Reaktion zeigte. Diese Expansion offenbart eine Verhaltensauffälligkeit: Die Mutter setzt sich ein zweites Mal Schrecken aus, die sie nicht ertragen kann. Meine vorsichtige Deutung des Verhaltens der Mutter -xlas heißt es hat sie so beeindruckt (...)^- (Z. 445-447) unterbricht Ania und fokussiert jetzt mehrfach hochgestuft die Normalität einer solchen Reaktion an einem Ort wie Auschwitz <ja natu: “rlich normalerweisel sie wollte nicht meh“r- (Z. 446-448). Ania reformuliert das Inohnmachtfallen der Mutter und markiert prosodisch, daß sie jetzt das für das Kind zentrale Erlebnis präsentiert: und ich fl/ neben ih“r au“ch in ohnmacht jaf> (Z. 450). Das heißt, das Kind reagiert ausschließlich auf die Mutter, identifiziert sich so stark mit der Mutter, daß es, ohne den Anlaß zu kennen, die gleiche Reaktion wie die Mutter produziert. In dem anschließenden Kommentar wird die äußerst starke Verbundenheit zwischen Mutter und Tochter thematisiert und durch die Metapher wie verbundene gefäße l (Z. 453) charakterisiert, die an das Bild der „kommunizierenden Röhren“ erinnert. Ania zeigt hier, daß sie als Kind und durch die generalisierende Formulierung auch als Erwachsene dem Erleben der Mutter ausgeliefert ist und synchron reagiert, selbst ohne das Motiv, den inneren Kontext zu kennen. 36 In ihrem Brief präzisiert Ania, daß die Mutter „vor dem Berg menschlicher Haare“ in Ohnmacht fiel. Jüdische Informanten meinten zu der Auschwitzerzählung übereinstimmend: Die Ohnmacht der Mutter in Auschwitz, dem Symbol für die Vernichtung der Juden durch die Nazis, weise sehr stark auf einen jüdischen Hintergrund der Mutter hin. Vermutlich habe die Mutter, wie viele Juden in Polen, ihre jüdische Herkunft ihren Kindern gegenüber verborgen gehalten. Eine Informanün sagte, daß sie selbst erst 1968, als 15jährige, von der jüdischen Herkunft ihres Vaters, eines Deutschen in Polen, erfahren habe, weil er aus seiner Stelle entlassen worden war. Die Informanten vermuten weiterhin, daß für das Kind Ania die Ohnmacht der Mutter im Konzentrationslager der erste Hinweis auf den jüdischen Hintergrund der Mutter war, und daß das Kind von da an allmählich erfaßte, was das bedeutete. Einige Kollegen des Bielefelder Kolloquiums dagegen meinten, daß Eine Biographie im deutsch-polnischen Kontext 297 Die Evaluation des Auschwitz-Erlebnisses erfolgt dann aus der Perspektive der erwachsenen Ania; mit dem Erlebnis begründet sie ihre Probleme: >und deshalb also-< *4* -xhe “se problerne <den deu “tschen konnte ich das nicht verzeihn4(7j. 457-458). Die Evaluation bezieht sich aufgrund des Verbtempus auf die Erlebens-Zeit und ist damit lokal bezogen auf die Auschwitz-Situation. Die Proform das kann, bezogen auf die damalige Situation, entweder auf die „Verbrechen von Auschwitz“ referieren, die die Ohnmacht der Mutter auslösten; es kann aber auch, bezogen auf die Mutter, bedeuten: „das was die Deutschen der Mutter angetan haben“. Mit der generalisierenden Bezeichnung <-den deu"tschen wird eingelöst, was vorher projiziert war: Es gibt keine Differenzierung zwischen den Deutschen als Volk und dem politischen Unrechtssystem, wie das in der Vater-Erzählung in bezug auf die Russen der Fall war; die Mutter erlebte den normalen Deutschen als ebenso schrecklich, grausam u.ä. wie den Systemträger. In der Auschwitzerzählung gibt es mehrere Hinweise darauf, daß die Mutter sich mit der Kategorie „Opfer des Unrechtssystems der Nazis“ identifiziert. Da ist zum einen ihre extreme Reaktion (Ohnmacht), die auf eine Übernahme der Opferperspektive deutet. Dann folgt Anias Evaluation des Auschwitz-Erlebnisses („den Deutschen konnte ich das nicht verzeihen“) aus der Perspektive der Opfer, die sie in Reaktion auf das Erleben der Mutter übernimmt. Vergleicht man die Formulierung hier mit der oben im Zusammenhang mit Anias Selbstverortung vorgenommenen Formulierung ich kann den deutschen ganz einfach nicht * verge“ben was sie an unserem volk getan haben (vgl. oben Z. 305-306) fällt folgendes auf: - Die Parallelität durch die semantisch synonymen Verben „vergeben“ und „verzeihen“, die dieselbe syntaktische Struktur erfordern; das Sprechen aus der Perspektive der Opfer; die Täter sind jeweils „die Deutschen“; für die Akkusativergänzung mit der Angabe der Opfer als unser volk in der ersten Formulierung gibt es in der zweiten Formulierung die Proform das („ich konnte das nicht verzeihen“); legt man die kontextuell möglichen Deutungen für die Äußerung zugrunde, nämlich „ich konnte den Deutschen die Verbrechen von Auschwitz nicht verzeihen“ bzw. „das, was sie meiner Mutter angetan haben“, besetzen „die Verbrechen von Auschwitz“ bzw. „meine Mutter“ die strukturelle Position der ethnischen Kategorie unser volk, der Ania sich vorher selbst zugeordnet hatte (vgl. Analyse oben Kap. 3.2.2). Die Opfer-Kategorien der parallel strukturierten Formulierungen wären dann „ethnisch definierte Opfer der NS-Barbarei“. die starke Reaktion der Mutter nicht zwangsläufig auf eine jüdische Herkunft hinweist. Fritz Schütze führte als Beispiel folgenden Fall an: Eine seiner Studentinnen arbeitete sehr lange über die Verfolgung der Juden in der NS-Zeit. Sie identifizierte sich in ihrer Arbeit derart stark mit deren Leid, daß es schwer war zu glauben, daß sie nicht-jüdisch war. 298 Inken Keim Die Auschwitzerzählung ist über die Analogie zur Vatererzählung eine sehr verschlüsselte Darstellung der Erklärung für Anias Blockade dem Deutschen gegenüber. Das Ausmaß des Erlebens der Mutter wird nur über das Ausmaß ihrer extremen Reaktion, ihrer Ohnmacht, angezeigt, und das Motiv für das Erleben wird ausgeblendet. 37 Über die Analogie zur Vatererzählung sind jedoch Inferenzen möglich, die eine genauere Bestimmung des Erlebens der Mutter und eine Charakterisierung der Kategorie ermöglichen, mit deren Erleben die Mutter sich identifiziert. Außerdem wird deutlich, daß Ania Vater und Mutter unterschiedlichen Opferkategorien zuordnet, und mit diesen Kategorien unterschiedliche emotionale (positive und extrem negative) Haltungen gegenüber Angehörigen der Ethnie verbunden sind, aus der die Täter kamen. Der weitere Gesprächsverlauf bestätigt im wesentlichen die bisherigen Beobachtungen und Feststellungen: - Ania arbeitet auch heute noch an ihrer Haß-Liebe gegenüber dem Deutschen: Deutsch ist die Sprache ihrer Mutter; ohne die deutsche Mutter hätte sie nie germcmistik studiert. Deutsch ist aber auch die Sprache der „Täter“; wenn sie z.B. einen grausamen Kriegsfilm sieht (Deutsche müssen dabei nicht involviert sein), ist sie unfähig Deutsch zu sprechen (kne “g ich keinen deu“tschen sa“tz zusammen), d.h. sie leidet dann wieder unter einer „Blockade“. - Es gibt für sie keinen problemlosen Umgang mit Deutschen, auch im Kontakt mit jungen Deutschen schiebt sich immer wieder die deutsche NS- Vergangenheit und der damit zusammenhängende Haß auf Deutsche dazwischen, was ihr das leben erheblich erschwert. - Die tiefe Ambivalenz dem Deutschen gegenüber erlebt sie immer noch als innere Zerrissenheit und bezeichnet sie als wunde. - Die Erfahrung der Marginalität und des Alleinseins ist immer noch vorherrschend: so“lche menschen (wie mich) würdest du wahrscheinlich nicht viele in Polen treffen. 3.4 Zusammenfassung: Komplexe Selbstdefinition und Verfahren des Tabuisierens In der Gesprächssituation stellt sich für Ania folgende Aufgabe: Sie will einer relativ fremden Deutschen gegenüber also einer Angehörigen der für sie problematischen ethnischen Kategorie verständlich machen, was ihr biographisch-kategorielles Problem ist, ohne ihre tiefen emotionalen Erfahrungen 37 Der Auslöser wird brieflich zwar präzisiert, das Motiv für die überaus starke Reaktion bleibt weiterhin unerklärt. Mir geht es bei der Analyse auch nicht um das Aufdecken des Motivs, ob Anias Mutter also eigene reale Opfererfahrungen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit gemacht hat und ob sie jüdischer Herkunft ist oder nicht. Wesenüich für das Verständnis von Anias Darstellung ist für mich nur, daß sie und ihre Mutter die Konfrontation mit deutschen Verbrechen der NS-Zeit aus der Opfer-Perspektive erleben und die Deutschen aus dieser Perspektive beurteilen. Eine Biographie im deutsch-polnischen Kontext 299 und deren Hintergründe ausbreiten zu müssen. Daß sie über ihre biographische Erfahrung und ihre kulturelle Uneindeutigkeit sprechen will, zeigt sie ganz deutlich dadurch, daß sie auf meine Eingangsfrage nur z.T. reagiert und selbstinitiiert mit der biographischen Schilderung beginnt. Um einerseits nur andeutend auf ihr biographisches Problem hinweisen zu müssen und andererseits aber dessen Relevanz für ihren Werdegang verdeutlichen zu können, verwendet sie eine Reihe von Tabuisierungsverfahren, die Problematisches verstecken und gleichzeitig darauf aufmerksam machen. Sie verwendet zwei tendenziell gegenläufige Verfahren, die sehr unterschiedliche Komplexität haben: a) Verfahren, die der Rückstufung des zugrundeliegenden problematischen Sachverhalts dienen, die verbergen, daß es einen problematischen Hintergrund gibt, oder ihn nur andeuten, die aber die Aufmerksamkeit der Partnerin erregen; der innere Zusammenhang und die Relevanz des Dargestellten sind erst retrospektiv erkennbar. b) Verfahren, die die Relevanz des Ausgeblendeten und seine Konsequenzen für die Sprecherin stark hochstufen und gleichzeitig das Tabu schützen. Zu a): Aufgefallen sind vor allem folgende rückstufende Verfahren, die Ania mir gegenüber erfolgreich einsetzt, d.h., ohne daß das Tabu gefährdende Nachfragen erfolgen: - Ausblendung brisanter sozialhistorischer Hintergründe und Vermeidung eindeutiger ethnischer Zuschreibungen. - Verzicht auf logisch-semantische Verknüpfungen bei kausal oder konsekutiv aufeinander beziehbaren Handlungs- und Ereignisschritten. Das bedeutet eine Relevanzrückstufung der einzelnen Propositionen und ihrer Beziehung untereinander. - Darstellung aus einer Beobachterperspektive auch bei Ereignissen, durch die die Sprecherin existentiell betroffen ist; Verzicht auf eine Betroffenenperspektive. - Abschwächung der Problemhaltigkeit durch semantische Abschwächung; Verwendung wenig spezifischer, semantisch ‘leerer’ oder sehr abstakter Begrifflichkeit. - Vermeidung eindeutiger ethnischer Zuschreibungen. - Ersetzen einer ethnisch-kulturell definierten Kategorie („Jude“) durch eine ethnisch -kulturell unspezifische („Ausländer“). Zu b): Bei Verfahren, die den problematischen Sachverhalt hochstufen, sind folgende Aufgaben zu bewältigen: Die Sprecherin muß in einer solchen Weise auf das Problematische aufmerksam machen, daß für die Partnerin der dargestellte Zusammenhang verstehbar und plausibel erscheint und die Relevanz des Ausgeblendeten deutlich wird; außerdem muß die Sprecherin vermeiden. 300 Inken Keim konditionelle Relevanzen zu eröffnen, die der Partnerin Nachfragen in bezug auf das Ausgeblendete erlauben. Folgende Verfahren werden von Ania erfolgreich verwendet: - Aufmerksam machen auf Strukturierungsbemühungen. Zeigen, daß man sich bemüht, einen komplexen Sachverhalt darzustellen, eine problemlose Strukturierung jedoch nicht erzeugen kann, weil sich verschiedene Erfahrungssegmente immer wieder dazwischenschieben. Das erschwert zwar das Verstehen bei der Partnerin; doch die offenkundige Formulierungsmühe der Sprecherin löst Mechanismen des Face-Schutzes aus, hier speziell der Rücksichtnahme, die verhindern, daß die Darstellungsschwäche relevant gesetzt wird und für die Sprecherin eine peinliche Situation entsteht („ehrerbietige Vermeidungsstrategie“; sie betrifft Handlungen, die zu unterlassen sind, damit das Recht des anderen auf Distanz nicht verletzt wird; vgl. Goffman 1975, S. 73). - Klar erkennbare Tabuisierung. Offenlegen, daß es ein tiefsitzendes Problem gibt und gleichzeitig feststellen, daß man den Hintergrund nicht kennt und auch nicht kennenlemen will. - Immunisierung. Dabei definiert die Sprecherin den Zugriff auf das Tabuisierte als außerhalb ihres Bewußtseins stehend und inszeniert gleichzeitig ein angestrengtes Nachdenken darüber, wie das, was ausgeblendet ist, zustande kam. Die inszenierte Bemühung um Erkenntnis auch wenn sie nicht erreicht werden kann macht die Sprecherin immun gegenüber Nachfragen u.ä. - Mystifizierung. Dabei rahmt die Sprecherin Erfahrungen in einem mystischreligiösen Kontext, und die Rekonstruktion biographischer Erfahrung folgt dem „Mystifizierungsschema“: falsche Lebensplanung im Stadium vor der biographischen Wende; Erfahrung der plötzlichen Erleuchtung und totale Neuorientierung; Erleben eines Wunders und Lösung des zentralen Problems, das vor der Wende bestand. Die religiöse Rahmung macht die Relevanz des Erlebten deutlich und schützt die Sprecherin vor Nachfragen (Respekt vor der religiösen Erfahrung der Sprecherin). - Verschlüsselte Darstellung des Tabuisierten auf der Basis der Ursache- Wirkung-Relation. Dabei wird nur die Wirkung des Tabuisierten dargestellt und über die relationale Verknüpfung ist der Schluß auf die Qualität der Ursache möglich, die tabuisiert wird. - Verschlüsselte Darstellung auf der Basis einer Analogierelation. Die Analogie enthält einen unproblematischen Teil (Vatererzählung), in dem offen dargestellt wird und einen problematischen (Muttererzählung), in dem das Tabuisierte ‘verpackt’ ist. Im unproblematischen Teil wird der für das Erkennen des Tabus wesentliche Sachverhaltszusammenhang ausgedrückt und über die Analogierelation kann für den problematischen Teil die Qualität des Ausgesparten erschlossen werden. Eine Biographie im deutsch-polnischen Kontext 301 Die von Ania verwendeten Verfahren sind m.E. ganz allgemeine Verfahren, um über schwierige Sachverhalte und deren Bedeutung sprechen zu können, ohne sie im Detail aufblättem zu müssen. Ihre Verwendung variiert nach der jeweiligen Situationsspezifik und der Qualität des zu schützenden Tabus. So wird wahrscheinlich das hier beschriebene Mystifizierungsschema vor allem bei der Darstellung einschneidender und biographisch langfristig wirksamer Erfahrungen, wie sie z.B. auch Gegenstand von Konversionserzählungen sind, eine Rolle spielen, während einige der unter a) aufgefiihrten Verfahren mir auch aus Alltagssituationen bekannt sind, wenn man ausweichen will, nicht in voller Breite über Dinge sprechen oder als brisant antizipierte Themen, Zuschreibungen u.ä. umgehen will. Daß im Gespräch mit Ania ein derart weites Spektrum an Tabuisierungsverfahren vorliegt, hat zum einen mit der Spezifik der Situation und zum anderen mit der Komplexität von Anias Problem zu tun. Das Gespräch mit Ania ist m.E. beispielhaft für den Umgang mit sprachlichen und kulturellen Standardkategorien, die zur Erfassung komplexer, mehrkultureller Situationen ungeeignet sind. Ania vermeidet für die Mutter, besonders aber für sich selbst eine klare ethnische Zuordnung; eindeutige Formulierungen finden sich nur, wenn sie sich aus einer der in Frage kommenden Ethnien ausnimmt. Eindeutige Zuordnungen gibt es für die Mutter in bezug auf die Sprache (deutsch) und die Nationalität (sie hatte den deutschen Paß, später erwarb sie die polnische Staatsbürgerschaft), für Ania selbst nur in bezug auf die Nationalität (Polen). Einige Stellen in der biographischen Darstellung der Mutter können auch als Hinweise auf einen russischen und/ oder jüdischen Hintergrund gedeutet werden. Eine eindeutige Lesart dieser Stellen ist jedoch nicht möglich. Um Anias Selbstdefinition zu verstehen, ist eine eindeutige Lesart auch nicht notwendig, und die Aufdeckung dessen, worüber Ania nicht sprechen wollte, war nicht Ziel dieser Analyse. Entscheidend ist nur, daß Ania an Schlüsselstellen aus der Perspektive von NS-Opfem darstellt, sich mit ihrem Leid identifiziert, und aus einer ihnen unterstellten Perspektive, wonach die Schuld der Deutschen nicht vergebbar ist, die Deutschen zutiefst ablehnt. Aus dem Leben der Mutter in Polen ist für Ania vor allem die Erfahrung der Andersartigkeit und des Verfolgtseins aufgrund der Herkunft prägend. Aus der eigenen Biographie sind sowohl die über die Mutter früh angelegte Liebe zur deutschen Sprache, als auch die Erfahrungen der Stigmatisierung und des Ausgeschlossenseins aufgrund des deutschsprachigen Hintergrunds entscheidend, die eine problemlose Identifizierung mit den beteiligten Kulturen verhindern und eine Zuordnung zu ethnisch-kulturellen Standardkategorien unmöglich machen. In der biographischen Darstellung organisiert Ania ihre Selbstdefinition in Auseinandersetzung mit ihren Erfahrungen, die sie durch den Versuch, sich in Standardkategorien einzupassen, macht. Sie wurde abgelehnt, weil sie nicht „polnisch“ war; sie versuchte „polnisch“ zu werden, indem sie einen wesentlichen Teil ihres Selbst verleugnete. Die kategoriell auferlegte Selbstbeschnei- 302 Inken Keim dung wird durch ein emotional tiefgreifendes Erlebnis (Auschwitz) weiter zementiert und fuhrt zu beruflichen Fehlentscheidungen. Erst das Erkennen und Akzeptieren der eigenen Besonderheit fuhrt dann zu einer Selbstdefinition im Rahmen einer Erlebenskategorie, in der Sprache einerseits und Kultur und Gesellschaft andererseits getrennt sind und in der ihre tiefe Ambivalenz der deutschen Gesellschaft gegenüber aufgehoben ist. Sie identifiziert sich wie ihre Mutter mit dem Leid der „ethnisch verfolgten Opfer der Deutschen in der NS- Zeit“ und über die Liebe zur Mutter ist ihr der Zugang zur deutschen Sprache möglich; sie macht Deutsch, die Muttersprache ihrer Mutter, zu ihrem Beruf bei gleichzeitiger Ablehnung der deutschen Gesellschaft, der die Täter angehörten. Anias biographische Erfahrung ist m.E. auch beispielhaft für ein lebenslanges Leiden unter einer Mehrkulturalität, die in der jüngeren deutschen Geschichte gründet, in der von der NS-Herrschaft ausgelösten Kriegs- und Verfolgungsgeschichte in Mitteleuropa, und speziell in der deutsch-polnischen (möglicherweise auch der deutsch-jüdischen bzw. polnisch-jüdischen) Geschichte. Anias Kindheitserfahrung ist geprägt vom Haß und der Ablehnung ihrer polnischen Umwelt gegenüber Angehörigen des Volkes, das verantwortlich war für jahrelang erlittene Gewaltherrschaft, für Verfolgung, Zerstörung und Tod eines Volkes, dessen Sprache ihre Mutter spricht und zu dem sie sich als Kind ebenfalls zugehörig fühlen mußte. Ihre spezielle biographische Leistung besteht darin, daß ihr die produktive Wendung ihrer inneren Zerrissenheit gelingt, die positive Bewertung der deutschen Sprache bei gleichzeitiger Kanalisierung ihrer tiefsitzenden negativen Emotionen. 4. 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Im Zentrum der Beschreibungen steht das rassistische Verhalten der deutschen Besatzer in den okkupierten westpolnischen Gebieten, die weitreichende Zerstörung polnischer Kultur und der sich auch in den Fotos manifestierende Widerstand der Polen gegen den Versuch der Dezivilisierung ihrer Nation. Es wird Einblick gewährt in die Systematik der Entpolonisierung. die den Alltag der polnischen Bevölkerung grundlegend bestimmte: Alles, was an die politische oder kulturelle Existenz und Geschichte der polnischen Nation erinnern konnte, wurde von den deutschen Besatzern in der ihnen eigenen Schnelligkeit und Gründlichkeit eliminiert. Den neuangesiedelten Deutschen und Deutschstämmigen wurde so vorgespielt, daß sie sich zu Recht in deutschem Stammesgebiet niedergelassen hätten. Für sie sollte der Eindruck erweckt werden, das Gebiet sei zu jeder Zeit vom Deutschtum kulturell bestimmt gewesen und sie selbst würden daher ein legitimes Erbe antreten. Anhand von privaten Fotografien von Deutschen und Polen wird der von der rassistischen deutschen Gewaltherrschaft geprägte Alltag unter verschiedenen Aspekten dargestellt, wobei der Leser für die Selektivität und Perspektivität der bildlichen Darstellungen sensibilisiert wird. 1. Einleitung Neben der sprachlichen Kommunikation, die ein wichtiges Element menschlichen Zusammenlebens und sozialer Gedächtnisbildung darstellt, existieren zahlreiche Formen nonverbaler Kommunikation, die als Einflußgrößen sowohl in unserer Selbst- und Weltwahrnehmung als auch in unserem Geschichtsbewußtsein wirksam werden. Visuelle Artefakte, welche die deutsch-polnischen Beziehungen reflektieren und über dieses Verhältnis in jeweils gattungsspezifischer Form Auskunft geben könnten, werden selten als historische Quellen befragt. Daher möchte ich im folgenden einige Fotografien zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen vorstellen und so auch zum Nachdenken über einige ausgewählte Aspekte der nationalsozialistischen Kulturpolitik im Westen Polens anregen. Medienwissenschaftliche Forschungen beziehen sich primär auf Film, Fernsehen, Rundfunk und auf das gedruckte Wort. Doch Werbeplakate, Zeitungen, Illustrierte, Bildbände und private Fotosammlungen in Alben, Kästen und Koffern weisen auch die Fotografie als ein quantitativ bedeutsames, populäres und öffentlichkeitswirksames visuelles Medium in modernen Industriegesellschaften aus. Man kann annehmen, daß in der Ausbildung von Selbst- und Fremdbildern auch visuelle Elemente wirksam werden und einer gewissen Verstohlene Blicke 305 Tradierung unterliegen. Der Zweite Weltkrieg und die nationalsozialistische Besatzungszeit in Polen zählen zweifellos zu den schmerzhaftesten Erfahrungen in der Geschichte deutsch-polnischer Beziehungen. 1 Dabei unterlag die visuelle Gedächtnisbildung nach dem Krieg in Deutschland und Polen unterschiedlichen Bedingungen, die bisher nicht erforscht wurden und hier auch nur angerissen werden können. Die visuelle Vermittlung der mit der nationalsozialistischen Besatzung Polens verbundenen historischen Ereignisfelder ist meinen bisherigen Recherchen zufolge durch die Tendenz zur wiederholten Publikation bestimmter jeweils am „leichtesten“ zugänglichen - Fotografien in jeweils unterschiedlichen Stereotypen erstarrt. Aufgrund dessen ist vor allem für die Zukunft ein kritischerer und stärker reflektierter Umgang mit historischen Bildquellen erforderlich. Die Besonderheiten der Fotografie im Vergleich zu anderen Bildgattungen wurden und werden zwar noch oft in der Naturtreue der Abbildung und in der Demokratisierung des Bildbesitzes gesehen. 2 Doch parallel zur Popularisierung der Fotografie vermehrten sich auch die Bestrebungen der Staatsregierungen, das neue Medium zur Meinungsbeeinflussung in ihrem Sinne einzusetzen (vgl. Daniel/ Siemann 1994, S. 10-19). Gerade im nationalsozialistischen Propagandaapparat wurde der Pressefotografie und Bildpublizistik neben anderen Formen moderner Massenkommunikation aufgrund ihrer Anschaulichkeit eine meinungsbildende Funktion zugeschrieben (vgl. Kerbs/ Uka/ Walz- Richter 1983); dies zeigt sich auch an der Bildberichterstattung über Polen. Problematisch hinsichtlich des westdeutschen Geschichtsbewußtseins ist, daß für die Illustration von Geschichtsdarstellungen noch häufig unreflektiert auf diese Bildbestände zurückgegriffen und somit die Selbststilisierung des nationalsozialistischen Regimes bis in die Gegenwart fortgesetzt wird (Herbert 1983). Die innerhalb eines kontrollierten Propagandaapparates entstandenen deutschen Pressefotografien können nur wenig Verläßliches über die histori- 1 Abgesehen von den Bemühungen der deutsch-polnischen Schulbuchkommission zeigte die westdeutsche Geschichtsforschung kein ausgeprägtes Interesse an der deutschen Besatzungspolitik in Polen. Bei dem „Historikerstreit“ spielten die deutschen Verbrechen an nichtjüdischen Polen keine Rolle. Vgl. eine mit dem sarkastischen Titel „Genozid auch an Polen? Kein Thema für einen >Historikerstreit<„ versehene Skizze der Forschungsdiskussion zu den Zielen nationalsozialistischer Polenpolitik von Eitel (1990/ 91), die die maßgebliche Literatur verschiedener Länder zu diesem Themenzusammenhang auflistet. Demgegenüber war dieser Zeitabschnitt seit Kriegsende einer der bevorzugten Forschungsbereiche der polnischen Geschichtswissenschaft, wobei allerdings im Zusammenhang mit der herrschenden politischen Ideologie bestimmte „weiße Flecken“ gepflegt wurden. Insbesondere hinsichtlich der Ereignisse zu Beginn des Krieges und der Ziele nationalsozialistischer Polenpolitik existieren Meinungsunterschiede in der Forschung beider Länder. Zur Besatzungspolitik in Polen mit Unterscheidung der politischen Ziele und Praxis in den verschiedenen Verwaltungseinheiten: Majer (1981), Madajczyk (1988), Röhr (1989) und (1995), Kleßmann (1989a), Luczak (1990) und (1993). 2 Durch die Fotografie wurde auch den weniger Vermögenden die Möglichkeit eröffnet, ein Porträt von sich zu besitzen, was lange Zeit nur den höheren Gesellschaftsschichten Vorbehalten war. 306 Miriam Yegane Arani sehen Ereignisse aussagen. In Polen sind nach dem Krieg andere Auswahlkriterien wirksam geworden. Hier wurden und werden oft nur diejenigen Fotografien veröffentlicht, die den physischen Terror der deutschen Besatzer beweisen und den heldenhaften Widerstand des polnisches Volkes dokumentieren. Der polnische Historiker Czeslaw Madajczyk hat hervorgehoben, wie sehr einige der „dramatischen Bilder von Grausamkeit und Terror“ das Bewußtsein der Polen von dieser Geschichtsperiode geprägt haben und relativiert deren historische Repräsentativität (Madajczyk 1988, S. IX). 3 Weder die eine noch die andere Akzentsetzung in der Auswahl von historischen Bildquellen vermittelt einen Eindruck von den alltagsbestimmenden Elementen im besetzten Polen, in diesem Fall: in den annektierten Teilen im Westen Polens. Ich habe versucht, während der nationalsozialistischen Besatzungszeit in Posen/ Poznan und Umgebung entstandene Fotografien auszuwählen, die einerseits von der Bildpropaganda mehr oder minder abweichende Akzentsetzungen und Perspektiven repräsentieren, andererseits Alltagsphänomene im annektierten „Reichsgau Wartheland“ und seiner „Gauhauptstadt Posen“ reflektieren. Im folgenden werden nur Fotografien vorgestellt, deren Produktion und Distribution keiner regierungsamtlichen Kontrolle unterlag wie die damalige deutsche Pressefotografie. Von der Vorstellung, Fotografien aus der nationalsozialistischen Besatzungszeit vorfinden zu können, die „den Alltag“ dokumentieren, muß man allerdings Abstand nehmen, da in jedem Fall eine Auswahl getroffen wurde, was als besonders fotografierenswert galt. 4 Ich möchte hier einem deutschen Publikum vor allem in polnischem Besitz befindliche Fotografien vorstellen, die bisher nicht in der Bundesrepublik Deutschland publiziert wurden, 5 und die historischen Hintergründe ihrer Entstehung erläutern. Ich verbinde damit auch die Hoffnung, für die Probleme im Umgang 3 „Die unzähligen ins Auge fallenden dramatischen Bilder von Grausamkeit und Terror haben zu Recht alle, die die Okkupationszeit erforschen, zutiefst beeindruckt, zugleich aber vielen von ihnen den Blick für bestimmte, nicht sofort erkennbare Raffinessen im Vorgehen der Besatzungsorgane getrübt.“ (ebd.) 4 Innerhalb der hundertiünfzigjährigen Geschichte der Fotografie hat sich gezeigt, daß „der Alltag“ in der Regel nicht fotografiert wird. Potentiell ist es zwar möglich, die meisten der sichtbaren Erscheinungen fotografisch im Bilde festzuhalten, doch in der Realität wird nur fotografiert, was als „bildwürdig“ gilt, und damit kommen Auswahlkriterien zur Wirkung, die von Mensch zu Mensch, Gruppe zu Gruppe und von Zeit zu Zeit variieren können. Diese Auswahlkriterien sind in übergeordnete Wertsysteme verschiedener Interessengruppen eingebunden, die mitbestimmen, was als „bildwürdig“ gilt. Jede Fotografie (wie auch die Veröffentlichung einer Fotografie) ist also das Ergebnis einer Wahl so unterschiedlich die Ziele der jeweiligen Interessengruppen und die hineinspielenden Selektionskriterien auch sein mögen. 5 Fotografische Bildquellen, die sich auf die Zeit der nationalsozialistischen Besatzung in Polen beziehen, sind nicht als geschlossener Quellenbestand überliefert, sondern verstreut in verschiedenen Archiven Polens und der Bundesrepublik gelagert. Hinzu kommen zahlreiche Fotografien in Privatbesitz, die schwer zugänglich sind, da ihre Existenz in keinerlei Findbüchem verzeichnet ist. Zu Problemen der Bildquellenforschung vgl. Kerbs (1990). Verstohlene Blicke 307 mit historischen Bildquellen sensibilisieren zu können. Die hier besprochenen fotografischen Aufnahmen vermitteln in erster Linie Elemente der Besatzungsherrschaft, die in der Zeit von 1939 bis einschließlich 1941 prägend waren; nach Beginn des Krieges gegen die UdSSR veränderten sich die Beziehungen zwischen Deutschen und Polen noch einmal graduell. Ein Leitgedanke bei der Auswahl der hier vorgestellten Fotografien war, daß die häufig nur auf die monströsen Verbrechen im Nationalsozialismus fixierte Diskussion leicht die Vielzahl ‘kleinerer’ Terrorakte und die Vielfalt der Diskriminierungsformen vergessen läßt, von der vor allem die polnische Bevölkerung in den annektierten Gebieten Westpolens, insbesondere im „nationalsozialistischen Mustergau“ Wartheland betroffen war. In diesem Verwaltungsbereich war die Kontrolle durch die deutsche Besatzungsmacht stärker ausgeprägt als in anderen administrativen Einheiten des besetzten Polens, wo der bewaffnete Widerstand eine größere Rolle spielte. Im Warthegau artikulierte sich sowohl die Terrorisierung und Diskriminierung wie auch der Widerstand der polnischen Bevölkerung vor allem im Bereich des Kulturellen. 2. Die neuen Herrscher Abb. 1: Deutsche Familie in Uniformen. Kosten/ Koscian (Reichsgau Wartheland). Ca. 1939-1942. Aufnahme: Ignacy Maciejak. Staatsarchiv Poznan- Fotosammlung Ignacy Maciejak H-15/ 2. 6 Ich verdanke diesen Hinweis auf die Chronologie Herrn Dr. Armin Ziegler. 308 Miriam Yegane Arani Das hier abgebildete Porträt einer deutschen Familie aus Kosten, einer kleinen Stadt in der Nähe von Posen, zeigt alle Familienmitglieder in Uniformen. Die Familie ging in ein Fotoatelier, um ein Gruppenporträt anfertigen zu lassen, das privaten Zwecken dienen und die Familie möglichst positiv darstellen sollte. Der Vater präsentiert sich in seiner Uniform als Polizist, der jüngere Sohn rechts hinter ihm als Kameradschaftsfuhrer der Hitleijugend und der ältere Sohn am rechten Bildrand als Soldat der Waffen-SS. Sogar die zwischen ihren Söhnen thronende Mutter stellt sich mittels ihrer Kleidung selbstbewußt in ihrer außerfamiliären Rolle als Rot-Kreuz-Schwester dar. Die zentrale Positionierung der Mutter auf diesem Bild wie auch die über die Kontur ihres Körpers hinaus strahlende Helligkeit weisen sie von der fotografischen Gestaltung her als Zentrum dieser Familie aus. 7 Innerhalb des nationalsozialistischen Wertesystems hatte sie auch allen Grund, stolz auf ihre Leistung nämlich ihre in NS-Organisationen eingebundenen und für den „Volkstumskampf im Osten“ gerüsteten Söhne zu sein. Aus dem sog. „Volk ohne Raum“ war durch den deutschen Überfall auf Polen 1939 ein „Volk mit Raum“ geworden. Die industriell und landwirtschaftlich entwickelteren Gebiete im Westen wurden am 26. Oktober annektiert und in diesem Zusammenhang auch der „Reichsgau Posen“ (ab dem 29.1.1940 „Reichsgau Wartheland“) gebildet. 8 Der nationalsozialistischen Ideologie zufolge gab es für „Fremdvölkische“ wie „Polen und Juden“ keinen Raum in den von Deutschen annektierten polnischen Westgebieten. Das einzige neue Verwaltungsgebilde, das aus zuvor ausschließlich polnischen Gebieten entstand, war der „Reichsgau Wartheland“. Gerade hier sollte der „Volkstumskampf 1 gegen die Polen „mit aller Härte“ geführt werden. Der in der „Gauhauptstadt Posen“ residierende Gauleiter und Reichsstatthalter Arthur Greiser 9 war sich dessen durchaus bewußt, daß er in einem polnischen Territorium tätig war, dessen Bewohner wiederholt den polnischen Nationalgedanken gegen deutsche Machtansprüche durchgesetzt hatten (vgl. Madajczyk 1988, S. 513). Er beschrieb die Situation im ihm unterstellten Reichsgau Wartheland folgendermaßen: Von der gleichen Familie liegt ein weiteres Gruppenbildnis vor, welches die stolze Mutter allein von ihren Söhnen eingerahmt zeigt (Staatsarchiv Poznan, Fotosammlung Ignacy Maciejak H-15-4). Unter den überlieferten Beständen des Fotoateliers ist die Uniformierung der Mutter eine Ausnahme: Während die deutschen Männer in der Regel alle in Uniform fotografiert worden sind, sind es unter den Frauen für gewöhnlich nur die Mädchen, welche BDM-Uniformen tragen; die anderen Frauen sind in Zivilkleidung (mit uniformierten Männern) porträtiert. Im Rahmen dieser territorialen Neuordnung wurde Ostpreußen um zuvor polnische Gebiete erweitert, Teile Danzigs und Westpreußens mit der ehemaligen polnischen Wojewodschaft Pommerellen zum neuen „Reichsgau Danzig-Westpreußen“ vereinigt und Schlesien um zuvor polnisches Gebiet vergrößert. Der Rest des polnischen Territoriums wurde zum „Generalgouvernement (für die besetzten polnischen Gebiete)“ erklärt; vgl. z.B. Jacobmeyer (1989, S. 22). Vgl. dazu auch den Beitrag von Reinhold Schmitt in diesem Band. 9 Verstohlene Blicke 309 „Dieses Land hat zunächst noch ein Gesicht, das vielen deutschen Menschen in keiner Weise angenehm ist, ja ihnen sogar widerstrebt. Darum ist es ebenso selbstverständlich, daß zunächst nur eine kleine Auslese deutscher Männer und Frauen als Idealisten, als Pioniere dorthin geht, um ein Leben der Härte und des Kampfes zu beginnen, in dem es materielle Güter zunächst nicht zu erringen gibt, in dem Versprechungen kaum zu erfüllen sind und nur eins vorhanden ist: der Kampf nach allen Seiten. Und darum sind es auch jetzt wieder die aktivsten und die besten, die (...) in diesen Raum gehen, um ihn so zu gestalten, daß es einmal ihre Kinder und Kindeskinder dort besser haben sollen.“ (Greiser 1942, S. 6) Man kann annehmen, daß das Selbstverständnis der Familie, die auf der hier abgebildeten Fotografie zu sehen ist, weitgehend deckungsgleich war mit der offiziellen Darstellung der „Reichsdeutschen“, die sich im Warthegau ansiedelten: unerschrockene deutsche Pioniere im ‘wilden Osten’. Der beschworene „Volkstumskampf 1 bildete aber für die Deutschen aus dem „Reich“ wahrscheinlich nur in Einzelfällen einen Anreiz, sich im Warthegau niederzulassen. Viel häufiger lag die Motivation für die sich neu Ansiedelnden wohl in den materiellen Vorteilen (vgl. Broszat 1961, S. 90; Madajczyk 1988, S. 178f). Die fotografische Aufnahme entstand als ein privates Gruppenbildnis, das die deutsche Familie möglichst ideal im Hinblick auf das derzeit im NS-Staat aktuelle Wertesystem darstellen sollte. In welchem Spannungsverhältnis dieses idealisierende Bildnis zu den historischen Fakten steht, wird am Beispiel des Vaters dieser Familie am deutlichsten. Als Figur ist er auf diesem privaten Familienporträt unscheinbar am Rande positioniert, obwohl seine Berufsgruppe zu den wichtigsten Säulen der Besatzungsmacht in Polen zählte. 10 Faktisch war der Warthegau ein modellhaftes Experimentierfeld der NS-Rasseideologen, 11 in dem hunderttausende Menschen aus- und angesiedelt, das erste jüdische Getto (1940: Lodz/ Litzmannstadt) eingerichtet und das erste Vernichtungslager (1941: Chelmno nad Nerem/ Kulmhof) in Betrieb genommen wurden (vgl. Röhr 1989, S. 26). Wahrscheinlich war auch dieser Familienvaterwie viele andere 12 streng und zu unbedingtem Gehorsam erzogen worden, 10 Die polizeiliche Exekutive nahm im besetzten Polen zuweilen den Charakter eines eigenständigen Territorialregimes an und ihr Aufgabenbereich war im Warthegau viel weiter gefaßt als im sog. Altreich. Die Ordnungspolizei beispielsweise wurde nicht nur zur Überwachung der öffentlichen Ordnung, sondern auch zu halbmilitärischen Einsätzen und bevölkerungspolitischen Sonderaufträgen herangezogen; sie war zuständig für die Aussiedlung von Polen, die Begleitung entsprechender Transporte und die Bewachung jüdischer Gettos (Broszat 1961, S. 59-62). Vgl. auch Staatsarchiv Poznan, Befehlshaber der Ordnungspolizei, Sign. 7, Blatt 17. 11 In bezug auf die Polen wurde wahrscheinlich anders als im Fall der Juden nicht so sehr mit „rassischen“ Unterschieden argumentiert, sondern vor allem deren „völkische“ Minderwertigkeit in den Vordergrund gestellt. Auf diesen Unterschied hat mich Dr. Armin Ziegler aufmerksam gemacht. 12 Inwiefern das Verhältnis der im Warthegau wohnhaften Deutschen und Deutschstämmigen gegenüber der polnischen Bevölkerung in der Praxis tatsächlich vom nationalsozialistischen „Volkstumskampf 1 geprägt war, muß dahingestellt bleiben. Zum einen sind Differenzen zwischen einzelnen Gruppen und Personen vorauszusetzen, und zum anderen ergeben sich auch qualitative Veränderungen im Laufe der Besatzungszeit. Weiter- 310 Miriam Yegane Arani trennte die private Moral sorgfältig von der öffentlichen und erlaubte sich der polnischen Bevölkerung des Warthegaus gegenüber mit dem Gefühl, „nur“ seine „Pflicht“ als Polizist zu erfüllen, keine „Weichherzigkeit“ oder „Gefühlsduselei“ (vgl. Madajczyk 1988, S. 623-627). Die Angehörigen der polnischen Bevölkerung wurden von der deutschen Polizei schon allein aufgrund ihrer Nationalität als potentielle Verbrecher behandelt (Madajczyk 1988, S. 170). 13 Nicht zuletzt sollte das „Polentum“ ja längerfristig durch Abschiebung beseitigt werden, damit das Gebiet endgültig in den deutschen Staatenverband einverleibt werden konnte (Majer 1981, S. 335). Das Familienbildnis wurde in dem Atelier des polnischen Fotografen Ignacy Maciejak in Kosten/ Koscian aufgenommen. Ignacy Maciejak lebte in Deutschland, bis er sich in der Zwischenkriegszeit in Koscian ansiedelte. Nach der Besetzung Polens durch die Deutschen wurde das Atelier von Oskar Fissel einem SS-Mann aus dem Inneren des Deutschen Reiches als Treuhänder 14 übernommen. Der ehemalige Besitzer arbeitete in seinem nun von der deutschen Besatzungsmacht beschlagnahmten Unternehmen weiter. 15 Der neue deutsche Chef des Fotoateliers konnte in der Gamisonsstadt Kosten mit einem sicheren Kundenstamm unter den Militärangehörigen rechnen. Doch die hier abgebildete Fotografie ist typisch für einen anderen Kundenkreis des Fotoateliers, der durch die erhaltenen Fotografien quantitativ ebenso stark repräsentiert ist wie der Kundenstamm unter den Militärangehörigen: Deutsche, die für private Zwecke ein Porträt in paramilitärischer Uniform in Auftrag gaben. Die Mehrzahl der aus der Besatzungszeit überlieferten Porträts dieses Ateliers zeigt Deutsche in Uniformen. Betrachtet man das hier abgebildete Gruppenhin ist eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Altersgruppen (z.B. Teilnehmer des 1. Weltkriegs oder Jugendliche), vor allem im Falle der sog. Reichsdeutschen, sinnvoll. Vgl. dazu die Statistiken in den Jahresberichten der Polizei: Staatsarchiv Posen, Befehlshaber der Ordnungspolizei, Sign. 7. Die Behandlung der Polen als Verbrecher wurde gerechtfertigt mit einem Erklärungsmuster, das zu Kriegsbeginn propagandistisch verbreitet wurde: die Polen hätten auf „bestialische“ Art und Weise Tausende wehrloser Deutscher blutrünstig ermordet (sog. „Septembermorde“ bzw. „Bromberger Blutsonntag“). Das historische Geschehen in Bromberg/ Bydgoszcz ist in der Forschung umstritten, doch es besteht Übereinstimmung darüber, daß die Ereignisse für Propagandazwecke instrumentalisiert und vergrößert wurden. In der regionalen Tageszeitung („Ostdeutscher Beobachter“, Posen 1939-1945) linden die Polen im Wartheland nur im Zusammenhang mit Vergehen und Verbrechen Erwähnung. Die Enteignung polnischen Staats- und Privatvermögens und dessen Überführung an deutsche Treuhänder bzw. Verwalter begann sofort nach der Besetzung und betraf auch Fotoateliers. Zum Teil war die Konfiszierung polnischer Unternehmen abhängig von der Ankunft deutscher Interessenten, für die durch die Übergabe eines solchen Unternehmens besonders günstige Bedingungen geschaffen wurden (vgl. Greiser 1942, S. 13; Majer 1981, S. 395ff; Madajczyk 1988, S. 548ff, 566; Röhr 1989, S. 41ff.; Matelski 1994, S. 123ff). Die Beschlagnahme polnischen Eigentums wurde nachträglich durch die „Verordnung über die Behandlung von Vermögen des ehemaligen polnischen Staates“ vom 17. September 1940 ‘legalisiert’ (Madajczyk 1988, S. 40). Ich verdanke diese Informationen Frau Miedzianowska, Staatsarchiv Poznan, die diese Fotosammlung archivarisch aufbereitet hat. Verstohlene Blicke 311 bildnis, spielen die Uniformen für die individuelle Selbstdarstellung vor dem Fotografen allerdings keine ausschlaggebende Rolle, 16 sie erscheinen eher als ein Teil der Normalität. Und in der Tat war diese Form der äußerlichen Kennzeichnung im Warthegau ein Element des Alltags: Der spätere Reichsstatthalter und Gauleiter des Reichsgau Wartheland hatte noch während der Militärverwaltung am 21. September 1939 in Posen das zukünftige Verhältnis zwischen Deutschen und Polen definiert: Im nationalsozialistischen „Mustergau“ sollten die Deutschen die Herren und die Polen ihre Knechte sein (vgl. Nawrocki 1995, S. 8; Matelski 1994, S. 106; Madajczyk 1988, S. 172). Unter ständigem Rückbezug auf den Propaganda-Mythos, daß die Polen 60.000 wehrlose Angehörige der deutschen Minderheit in Polen hinterhältig und bestialisch ermordet hätten, war die polnische Bevölkerung zum Todfeind der Deutschen erklärt und im Warthegau jeder Kontakt mit ihnen außerhalb dienstlicher oder geschäftlicher Angelegenheiten unter Androhung von Gefängnisstrafe oder Konzentrationslagerhaft strengstens untersagt worden (Madajczyk 1988, S. 168; Majer 1981, S. 357). Die Besatzungsverwaltung zielte darauf, unüberwindliche Schranken zwischen der deutschen und polnischen Bevölkerung aufzubauen und eine vollkommene Trennung von Polen und Deutschen herbeizufiihren. Innerhalb dieses Zusammenhanges übernahmen Uniformen eine über die Selbstinszenierung einzelner Personen und Gruppen hinausgehende Funktion in einer weitreichenden Segregationspolitik: Uniformen und Parteiabzeichen wurden zu einer allgemein verordneten Form symbolischer Kommunikation im Alltag, da man sonst Deutsche und Polen im Unterschied zu dem, was manche Rassenkunde nahelegtenicht hätte voneinander unterscheiden können. Während der einheimischen polnischen Bevölkerung das Tragen von Uniformen und Abzeichen gänzlich verboten wurde, 17 legte die Besatzungsverwaltung den Deutschen im Warthe- 16 Man könnte annehmen, daß die Bekleidung mit einer paramilitärischen Uniform für eine fotografische Aufnahme als ein konventionelles Mittel galt, sich selbst für eine Porträtaufnahme so ideal wie möglich herzurichten und durch die Selbstinszenierung als Uniformträger vom Prestige der Militärs zu profitieren. In einem solchen Fall würden die Dargestellten sich wahrscheinlich wie in der wilhelminischen Zeit so positionieren, daß alle Zeichen, die ihren militärischen Rang symbolisieren, genau zu sehen sind und auch die körperliche Haltung die Schulung durch militärischen Drill vermittelt. Solche Selbstdarstellungsbedürfnisse wurden in den vorangegangenen Jahrzehnten bildlich umgesetzt mit ganzfigurigen Darstellungen stramm stehender Männer, bei welchen der mit militärischen Zeichen dekorierte Oberkörper ins Zentrum gerückt wird. Doch das Paramilitärische vermittelt sich beim hier besprochenen Foto allein durch die Kleidung und wird nicht in den Haltungen oder Posen der Porträtierten wirksam. So haben auch alle hier abgebildeten Mitglieder dieser allem Anschein nach gesellschaftlich aufstrebenden Familie „Haltung“ angenommen, aber gestisch und mimisch präsentieren sie sich dem Fotografen abgesehen von der Mutter nicht außerordentlich stolz in ihrer Uniform; sie stellen die Uniform durch ihre Posen nicht so deutlich heraus, wie es möglich gewesen wäre. Dies gilt vor allem für die beiden Söhne, deren Oberkörper mit den Zeichen ihres Ranges zum Teil verschaltet und zurückgenommen sind. 17 Z.B. Polizeiverordnung betr. das Tragen von Abzeichen durch Polen (angeordnet vom Regierungspräsidenten in Posen am 4.9.1940): „§ 1 - Polen ist das Tragen von Abzeichen 312 Miriam Yegane Arani gau das Tragen von Uniformen und Parteiabzeichen ständig und dringend nahe (vgl. Majer 1981, S. 359f). Hinter diesem Streben nach Schaffung deutlich sichtbarer Unterschiede zwischen den Deutschen und den einheimischen „Fremdvölkischen“ stand der bereits angesprochene Grundgedanke, die gemischte Bevölkerung des annektierten Gebiets aufgrund ihrer Nationalität in „Über-“ und „Untermenschen“, „Herren“ und „Knechte“ aufzuteilen. Von Bedeutung war dabei auch der in der deutschen Ideenwelt noch immer lebendige Kolonialgedanke (vgl. Majer 1981, S. 317fF), der in „eingegliederten Ostgebieten“, insbesondere dem Warthegau wirksam wurde. 18 Dies geht besonders deutlich aus dem Fragment eines Berichts des Oberlandesgerichts Posen von 1940 hervor: „Die Ostgebiete sind in gewissem Sinne Kolonialgebiet, in dem der kleinste Beamte eine Machtstellung und ein persönliches Ansehen genießt, wie er es niemals im Altreich erwarten könnte.“ (nach Luczak 1990, S. 350) Die Möglichkeit zur alltäglichen Diskriminierung einerseits und Privilegierung andererseits eröffhete erst die visuelle Unterscheidbarkeit beider Nationen im öffentlichen oder halböffentlichen Raum. In den Genuß der Privilegien, die für Deutsche als die „Herren“ in diesem Gau vorgesehen waren, sollten nur diejenigen kommen, die sich an die Richtlinien äußerlicher Kennzeichnung hielten und Uniform oder Parteiabzeichen trugen. 19 Wer diese sichtbaren Zeichen der Zugehörigkeit zur Besatzungsmacht nicht trug, galt als Pole. 20 So sollten beispielsweise in Einzelhandelsgeschäften oder in den Postämtern diejenigen, die durch Uniform oder Abzeichen als Deutsche identifizierbar waren, bevorzugt bedient werden (Luczak 1990, S. 299, 364). Die Demütigung der Polen, die mit diesen äußerlichen Unterscheidungsmerkmalen verbunden wurde, kommt am deutlichsten am Beispiel der „Grußpflicht“ zum Ausdruck. Von mehreren Dienststellen der Besatzungsverwaltung im Warthegau wurde angeordnet, daß jeder Pole die Pflicht habe, auf der Straße durch Uniform oder Abzeichen gekennzeichnete Deutsche durch Abnehmen der Kopfbedeckung oder durch jeglicher Art verboten. Ausgenommen sind nur solche Abzeichen, die auf Anordnung der Vorgesetzten Behörde zur Berufskleidung getragen werden.“ Staatsarchiv Poznan, Gen- |(j darmerie Schrimm, Bl. 26. Vgl. auch Luczak (1990, S. 349). In diesem Sinne wurde auch die Prügelstrafe als geeignetes Mittel angesehen, „aufsässigen und frechen“ Polen deutsches „Herrentum“ zu demonstrieren, wobei deren Einsatz dem „volkspolitischen Empfinden“ der einzelnen Deutschen überlassen wurde (Luczak 1990, S. 185; Madajczyk 1988, S. 261f; Majer 1981, S. 339; Focke/ Reimer 1980 S. 210). 19 So wurden beispielsweise auch die öffentlichen Lokale eingeteilt in solche, in denen nur Deutsche Zutritt hatten und solche, die für Polen zugelassen waren. Neben der sichtbaren Kennzeichnung der Gaststätten mit entsprechenden Verbots- und Gebotsschildem (vgl. Luczak 1990, S. 180) wurde auch in diesem Fall das Tragen einer Uniform oder eines entsprechenden Abzeichens zum visuellen Kennzeichen des Deutschen; wer sich nicht auf diese Weise symbolisch als Deutscher auswies, wurde zur Legitimierung aufgefordert (vgl. Luczak 1990, S. 179). 20 T-, - . Dies geht aus einer Anordnung hervor, die noch zur Zeit der Militärverwaltung herausgegeben wurde (vgl. Luczak 1990, S. 346f.). Verstohlene Blicke 313 Verbeugung zu grüßen, gegebenenfalls auch vor Deutschen vom Bürgersteig auf die Fahrbahn auszuweichen (Luczak 1990, S. 100, 346f, 349f, 357f, 365F; Madajczyk 1988, S. 261; Majer 1981, S. 360ff). 21 Die Uniformierung der Deutschen auf den überlieferten Bildnissen des Fotoateliers in Kosten ist also im Kontext eines nationalsozialistischen Kolonialgedankens zu verstehen, der auf eine Privilegierung der Deutschen und Diskriminierung der Polen zielte und u.a. mittels einer äußerlichen Kennzeichnung der Deutschen in Form von Uniformen und Abzeichen durchgesetzt wurde. 3. Ein Blick auf ein Judenarbeitslager in Posen Für die polnische Bevölkerung war der Krieg nach offiziellem Abschluß der militärischen Kampfhandlungen im Flerbst 1939 keineswegs beendet: Die deutsche Besatzungsverwaltung lieferte unter dem Anschein der Rechtmäßigkeit und der Behauptung einer metaphysischen Verpflichtung zur Herrschaft jüdische und nichtjüdische Polen den amtlich geduldeten und geforderten „völkischen“ Vorurteilen und dem Sadismus von Angehörigen der Besatzungsmacht aus. Die deutsche Zivilverwaltung im Warthegau profilierte sich hinsichtlich der Polen- und Judenpolitik durch ihre Offenheit gegenüber schnellen und unbürokratischen Möglichkeiten der industriellen Massenvernichtung. 22 Außer dem Verhältnis zum „polnischen Volkstum“ sollte hier „sehr schnell“ auch das Verhältnis zu den Juden „spezifiziert“ werden (Greiser 1942, S. 9). Reichsstatthalter Greiser gab an, daß er ein Gebiet mit anfangs mehr als 400.000 Juden übernommen habe 2 ' und rühmte sich während seines Vortrags über „Den Aufbau im Osten“ am Kieler Institut für Weltwirtschaft damit: „ ... die Judenfrage in einer Form gelöst zu haben, wie man sich das vorher im Judentum selbst, aber wahrscheinlich auch im deutschen Volk nicht vorgestellt hat. Man sieht durchaus, daß es möglich ist, fremdvölkische Arbeitskräfte dem deutschen Volk nutzbar zu machen, wenn man unkompliziert und unbürokratisch an die Dinge herangeht.“ (ebd.) 21 In den größeren Städten gab es wohl einige Schwierigkeiten bei der Umsetzung dieser Anordnung in die Praxis (vgl. Luczak 1990, S. 365f), und auch in den kleineren Städten konnte diese Anordnung offenbar zunächst nur durch sofortige Bestrafung der Polen, die sich nicht daran hielten, durchgesetzt werden (vgl. Luczak 1990, S. 3). Im Verlauf der Besatzungszeit, etwa ab 1941, spielte die Grußpflicht in Posen keine so große Rolle mehr; diesen Hinweis verdanke ich Dr. Armin Ziegler. Mündlichen Aussagen von Zeitzeugen zufolge hatte in Posen das Grüßen von deutschen Fahnen eine größere Bedeutung, als es aus den veröffentlichten schriftlichen Dokumenten hervorgeht. Diese Aussage bezieht sich auf die bereits erwähnten Vergasungen ab 1941 in Kulmhof als auch auf Greisers Plan, sich tuberkulosekranker Polen auf diese Art und Weise zu entledigen (siehe Luczak 1990, Dok. 1-43, S. 40-46). 23 Abgesehen von der Stadt Lodz, wo der größte Teil der polnischen Juden lebte, waren sie vor allem in den östlichen Gebieten des Warthelandes ansässig. 314 Miriam Yegane Arani Auch in Poznan lebten zu Kriegsbeginn Juden, die ca. 1-2% der Einwohnerschaft stellten. 24 Sie waren in einigen Straßen der Innenstadt durch ihre Geschäfte besonders präsent, unterschieden sich äußerlich aber abgesehen von einigen Besonderheiten im Sprachgebrauch nicht von den anderen Menschen in der Stadt. Da sie darüber hinaus nicht nur die polnische, sondern auch die deutsche Sprache sehr gut beherrschten, handelte es sich wahrscheinlich um in preußischer Zeit assimilierte Juden, die nach der Wiedererstehung des polnischen Staats in Poznan geblieben waren und die polnische Staatsangehörigkeit angenommen hatten. 25 Sie wurden bereits ab November 1939, verstärkt ab Dezember bis zum Februar 1940 im Zusammenhang mit den auch die nichtjüdischen Polen betreffenden Aussiedlungsaktionen aus der Stadt deportiert (vgl. Pakentreger 1977, S. 38). In den Straßen, in denen sich die jüdischen Einwohner konzentrierten, fuhren abends Deutsche mit Lastwagen vor und holten die Menschen aus ihren Wohnungen; zum Packen blieben ihnen nur wenige Minuten. 26 Die polnischen Juden im Warthegau wurden daraufhin in einigen größeren Orten konzentriert. Außer dem großen Getto in Lodz richtete man einen sonst unbekannten Typus von ländlichen Gettos beispielsweise in den Kreisen Kolo, Konin und Turek ein, deren Einwohner als erste der Vernichtung anheimfielen. Das westliche Gebiet dieses Reichsgaus galt aufgrund dieser sofort durchgefuhrten Aussiedlungen bereits 1940 als weitestgehend Judenrein“ (vgl. Broszat 1961, S. 67f; Pakentreger 1977; Madajczyk 1988, S. 258f., 372; Nawrocki 1995, S. 8). Allerdings bedeutet dies nicht, daß ab 1940 im Warthegau gar keine Juden mehr außerhalb der Gettos zu sehen gewesen wären: Da sie ihrer Rechte gänzlich beraubt der SS und Polizei als „Arbeitshäftlinge“ unterstanden, wurden an verschiedenen Orten von den deutschen Besatzern zeitweilig sog. Judenarbeitslager errichtet, deren Insassen in der Regel zu schweren körperlichen Arbeiten gezwungen wurden (Broszat 1961, S. 68; Ziegler 1994, S. 9ff.). Seit dem Frühjahr 1941 wurden Juden aus dem Getto in Litzmannstadt/ Lodz auch in einigen solcher Arbeitslager in Posen untergebracht und mußten die Erdarbeiten beim Bau zweier künstlicher Seen in Posen ausfuhren. Das größte Judenarbeitslager in Posen (Abb. 2) war ein Sportstadion zwischen der Stadtmitte und dem Stadtteil Wilda, in dem durchschnittlich 900 polnische und deutsche Juden gleichzeitig untergebracht waren. Es handelte sich um ein sog. Stammlager mit zahlreichen wechselnden Außenlagem an 24 Diese Angabe verdanke ich Prof. Dr. Czeslaw Luczak. 25 Diese Informationen verdanke ich Mieczystaw Knapski, der schon vor dem Kriegsausbruch in Poznan wohnte und mir freundlicherweise auf alle meine Fragen diesbezüglich, die von der wissenschaftlichen Literatur nicht beantwortet wurden, soweit es ihm möglich war, geantwortet hat. Zur jüdischen Bevölkerung im preußischen Posen und im Poznan der Zwischenkriegszeit vgl. Kowalski (1992), Trzeciakowski (1992), Sttjszewska-Leszczynska (1992), sowie den in Vorbereitung befindlichen Tagungsband „Emst Kantorowicz (1895-1963). Soziales Milieu und wissenschaftliche Bedeutung“. Tagung des Historischen Instituts der Adam-Mickiewicz-Universität 23724. November 1995. Die die Stadt Poznan betreffenden Informationen verdanke ich Mieczystaw Knapski. Verstohlene Blicke 315 Baustellen. Die Existenzbedingungen im Stadion waren außerordentlich schlecht, und schwere Krankheiten griffen schnell um sich. Die Insassen des Lagers wurden wegen kleinster Delikte zur Abschreckung vor den Augen der anderen und hinzugeholter deutscher Funktionsträger aufgehängt. Frühmorgens, zwischen 5 und 6 Uhr, wurden sie jeden Tag zur Arbeit geführt. Das konnte man hören, da es auf den Straßen zu dieser Zeit noch ganz still war und sie Holzschuhe trugen, deren charakteristisches Klappern man weit hören konnte. Das Judenarbeitslager Stadion existierte etwa bis zum Frühjahr des Jahres 1943; dann wurde es wieder aufgelöst. 27 Abb. 2: Judenarbeitslager Stadion. Posen/ Poznan. Ca. 1941-1943. Aufnahme: Mieczyslaw Knapski. Privatbesitz. Das hier abgebildete Foto wurde von dem ehemaligen polnischen Pfadfinder Mieczyslaw Knapski aufgenommen. 28 Er fotografierte auch eine der zwei jüdischen Synagogen in Posen während ihres Umbaus in ein öffentliches Schwimmbad (Abb. in Luczak 1993, S. 67). 29 Das deutsche Arbeitsamt hatte den sechzehnjährigen Gymnasiasten zur Schichtarbeit als Dreher gezwungen. 27 Glöwna Komisja (1979, S. 402); Ziegler (1994, S. 10-12); Nawrocki (1995, S. 19). Weitere Informationen verdanke ich Mieczyslaw Knapski (morgendliche Gänge der Juden zu den Arbeitsstellen). 28 Interview mit Mieczyslaw Knapski am 7.12.1994 und am 12.2.1995. 29 In Posen standen zwei Synagogen (St^szewska-Leszczynska 1992). Die kleinere der beiden wurde während der nationalsozialistischen Besatzungszeit abgerissen, und die größere wurde in ein Schwimmbad (für Deutsche) umgebaut, weil es in Posen derzeit kein überdachtes Schwimmbecken gab. Der Umbau der großen Synagoge fand ca. 1941 statt. 316 Miriam Yegane A rani doch während seiner freien Zeit machte er gelegentlich Abstecher in die verschiedenen Viertel der Stadt und fotografierte Objekte und Ereignisse von politischem oder historischem Interesse. Mit Ausbruch des Krieges bekam sein Schüler-Hobby eine neue Funktion, da von der Kommandantur der Pfadfinder die Anweisung gegeben wurde, die Verbrechen der Besatzungsmacht zu dokumentieren wenn möglich, auch fotografisch. Da nun die Fotogeschäfte in Posen i.d.R. von deutschen Treuhändern geführt wurden, konnte er seine Filme nicht mehr einfach zum Entwickeln dort abgeben. Unter deutlich erschwerten Bedingungen lernte er während der Besatzungszeit vieles über die weitere Bearbeitung von Filmen. Dabei half ihm ein Freund, der als Zwangsarbeiter im größten Fotogeschäft Posens (Foto-Stewner) arbeitete. Unter der Vorgabe, Deutscher zu sein, kaufte Knapski sich einen Fotoapparat der Marke Sida, der sehr billig (ca. 2 Reichsmark) war und den man leicht in eine Tasche stecken konnte. Mit diesem kleinen, unauffälligen Apparat machte er auch das abgebildete Foto. Für Außenaufnahmen wie die vom Judenarbeitslager traf er die größtmöglichen Sicherheitsvorkehrungen: So fotografierte er nach Möglichkeit nur zu den Zeiten, zu denen wenig Menschen auf der Straße waren, vor allem Sonntag mittags. An dem hier abgebildeten Foto kann man erkennen, daß er die Aufnahme aus einer sehr sicheren Entfernung zum Wachpersonal des Stadions machte, das nur undeutlich in der Feme zu erkennen ist. Wenn in der Öffentlichkeit unbekannte Personen in seiner Nähe waren, deckten ihn in der Regel zwei Freunde nach den Seiten hin, so daß man nicht sehen konnte, wenn er zwischen ihnen die Kamera einrichtete und auslöste. Die Filme entwickelte Mieczyslaw Knapski danach allein und bewahrte sie bis zum Kriegsende in einem Versteck unter dem Fußboden seines Zimmers auf. Während der Besatzungszeit selbst machte er nur sehr wenige Papierabzüge von den Negativen, u.a. um sie mit einem Kurier an die Pfadfinder-Kommandantur im Generalgouvernement zu senden. Angesichts der Aufnahme des Judenarbeitslagers erwartet man kaum, daß Knapski beim Fotografieren so viele Sicherheitsmaßnahmen ergriffen hat, da diese Aufnahme den verbrecherischen Tatbestand kaum hinreichend zu beweisen vermag. Seine Vorkehrungen waren aber vor allem dadurch motiviert, das eigene Leben und das der Angehörigen seiner Familie und seiner konspirativen Organisation nicht in Gefahr zu bringen. Nicht nur die jüdischen, auch die anderen Polen im Warthegau wurden „sonderrechtlich“ behandelt, d.h. sie waren faktisch rechtlos (vgl. Madajczyk 1988, S. 367; Majer 1981, S. 327f, 358, 373ff) und hatten bei dem kleinsten Vergehen mit dem höchsten Strafmaß (Lagerhaft oder Todesstrafe) zu rechnen. Der Besitz und Gebrauch von Fotoapparaten und -materialien war den polnischen Einwohnern des Warthegaus im Sommer 1941 grundsätzlich verboten worden (vgl. Luczak 1990, S. 284f; Majer 1981, S. 452f.). 30 30 Zwei Freunde von Mieczyslaw Knapski wurden wegen Besitz eines Fotoapparates in ein KZ eingewiesen. Anweisungen des Regierungspräsidenten in Posen an untergeordnete Behörden bezüglich des Fotoverbots mit Hinweis auf die Veröffentlichung der entspre- Verstohlene Blicke 317 4. Die „Entpolonisierung“ und „Eindeutschung“ des Stadtbildes Während Adolf Hitler sich nach der Besetzung Frankreichs sofort um eine Besichtigung der Kulturgüter in Paris bemühte und der „Illustrierte Beobachter“ darüber berichtete, daß die deutschen Besatzer die französischen Kulturdenkmäler in vorbildlicher Weise bewahren würden, wurde die Existenz polnischer Kultur generell bestritten: Man behauptete, daß Polen die Bezeichnung „Kultumation“ nicht verdiene, da alle nennenswerten Leistungen auf kulturellem Gebiet deutschen Ursprungs seien (vgl. Madajczyk 1988, S. 333). Diese Behauptung entsprach in Grundzügen Hitlers rassistischen Vorstellungen von Kultur, die er in „Mein Kampf* formuliert hatte. Demzufolge war allein die arische Rasse eine „kulturschöpferische“, die da in ihrem Schaffen zur Blüte gelange, wo sie es verstände, niedere Völker ihrem Willen untertan zu machen. In einem Artikel über „Das deutsche Dorf im Wartheland“, der 1940 in einer Sonderausgabe der in Posen herausgegeben Tageszeitung „Ostdeutscher Beobachter“ erschien, wiederholte Schriftleiter Eugen Petrull das für die neuankommenden Deutschen im Warthegau maßgebliche Kulturgeschichtsbild (vgl. Hansen 1989, S. 56): „Im Westen des Gaues ist fast alles auf deutschen Ursprung, auf deutschen Gestaltungswillen und deutschen Schönheitssinn zurückzuführen. In den zwanzig Jahren ihrer Herrschaft haben es die Polen nicht vermocht, diesen deutschen Charakter zu verwischen oder gar zu beseitigen. Aber sie haben es verstanden, vieles Stilwidrige und Unschöne in die Landschaft zu stellen und vor allem das verkommen und verfallen zu lassen, was sie damals in gutem Zustand von Deutschland übernommen haben.“ (Petrull nach Hansen 1989. S. 55) „Kultur“ war in der nationalsozialistischen Ideenwelt ein diffuser Begriff, der nur in einigen Punkten von den NS-Funktionären gemeinsam verfolgte Ziele hervorbrachte, die für die politische Praxis im besetzten Polen Bedeutung gewannen (Kleßmann 1989b, S. 117). Die ideologische Grundlage war die aus konservativen Traditionen übernommene Entgegensetzung von „Kultur“ und „Zivilisation“ in Verbindung mit der nationalsozialistischen Rassen- und Volkstums-, Blut- und Bodenideologie, deren antielitäre, populistische Komponente in der Praxis auf ein tendenziell bildungsbürgerlich bestimmtes Verständnis von Kultur hinauslief (Kleßmann 1989b, S. 117). So wurde für die Deutschen im sog. Warthegau neben Institutionen populärer Massenkultur (Kino) vor allem ein an bürgerlichen Traditionen orientierter, aufwendiger „deutscher“ Kulturbetrieb mit Kunstausstellungen, Theaterauffuhrungen und Konzerten installiert (vgl. Matelski 1994, S. 117; Kleßmann 1989b, S. 118). Die eigentliche politische Brisanz lag in dem rassenideologisch bestimmten Kulturkonzept, das im besetzten Polen verwirklicht wurde: Die nationalsozialistische Kulturpolitik zielte hier nicht nur darauf ab, „deutsche“ Kultur zur chenden Polizeiverordnung am 7.7.1941 im Ostdeutschen Beobachter: Staatsarchiv Poznan, Landrat Grätz, Sign. 22, Bl. 31, 33 und Landrat Schrimm, Sign. 73, Bl. 234, 24 lf. 318 Miriam Yegane Arani Legitimation von Eroberung und Herrschaft in Polen zu fördern 31 , sondern auch mit allen Mitteln die Kultur der unterworfenen Nation zu vernichten (Kleßmann 1989b, S. 117f ). Vergleicht man die nationalsozialistische Besatzungspolitik in verschiedenen Ländern, so ist die Destruktion nationaler kultureller Institutionen und Traditionen nirgendwo so radikal betrieben worden wie in Polen. Gleichzeitig wird aber auch der Widerstand im kulturellen Bereich als einzigartig beurteilt (Kleßmann 1989b, S. 118; s.u. Text zu Abb. 9). 32 Die deutschen Besatzer stießen in Polen selbstverständlich auf viele Kulturgüter nichtdeutschen Ursprungs und halfen der Wahrheit mit allen verfügbaren Kräften nach: Sie nahmen die auffindbaren Kulturgüter in Beschlag und verleibten sie sich ein. Sofort nach dem Einmarsch der Wehrmacht wurden „Erfassungskommandos“ im Auftrag der SS-Institution „Ahnenerbe“ und die neugebildete „Haupttreuhandstelle Ost“ tätig und beschlagnahmten beispielsweise die Kunstgegenstände in den Schlössern Rogahn 33 und Körnik bei Poznan (Kater 1974, S. 153; Madajczyk 1988, S. 334; Luczak 1990, S. 187, 216f; vgl. insbes. Rutowska 1984). In den zeitgenössischen deutschen Publikationen wurden Argumente verbreitet, die die Besetzung Westpolens historisch legitimieren sollten; demzufolge handelte es sich um eine Wiedereingliederung alten deutschen Kulturbodens. Diese historischen Legitimationsversuche erfüllten u.a. die Funktion, der neuangesiedelten Bevölkerung aus dem Inneren des Reichs wie auch den deutschstämmigen Umsiedlern aus den baltischen Staaten, Wolhynien, Bessa- Kleßmann zufolge boten dabei historische Stereotype vom „West-Ost-Gefalle“ und der deutschen „Kulturträger“-Rolle den Nationalsozialisten bequeme Anknüpfungspunkte, um nationalistische Traditionen mit rassistischen Zielvorstellungen zu verschmelzen. Von zentraler Bedeutung für die historische Legitimation des deutschen Herrschaftsanspruchs war die ständige Suche nach und ostentative Herausstellung von Spuren deutschen Wirkens in Polen (vgl. Kleßmann 1989, S. 117f.). In Abhängigkeit vom jeweils vorausgesetzten Kulturbegriff wurden von polnischen und deutschen Geschichtswissenschaftlern verschiedene Dimensionen der Vernichtung polnischer Kultur herausgearbeitet. Schwerpunkte der wissenschaftlichen Auseinandersetzung sind die Zerstörung und der Raub von Kulturgütern wie auch die Vernichtung von kulturellen Institutionen. Die in der wissenschaftlichen Literatur vorausgesetzten Kulturbegriffe divergieren und werden in der Regel nicht oder nur ungenügend definiert. Kultur wird in den geschichtswissenschaftlichen Publikationen oft auf die Bereiche „Kunst“ und „Wissen“ reduziert. Am deutlichsten wird das Problem des implizierten Kulturbegriffes in der Behandlung des religiösen Lebens: es wird in der Regel aus dem Bereich Kultur ausgeklammert, unverbunden neben das kulturelle Leben gestellt oder sporadisch ohne weitere Begründung in eine Behandlung desselben miteinbezogen. Ein weiter gefaßter, sozialwissenschaftlich orientierter Kulturbegriff, der sowohl das soziale Erbe (bestehend aus dem Wissen, den Glaubensvorstellungen, den Sitten und Gebräuchen wie auch den von einem Mitglied einer Gesellschaft erlernten Fertigkeiten) als auch die materiellen Hinterlassenschaften und Produkte der Populärkultur und der kulturellen Eliten umfaßt, bietet im hier behandelten Zusammenhang den Vorteil, diverse Gegenstandsbereiche und Entwicklungen in einem Strukturmodell mittlerer Reichweite zu integrieren. 33 Der bei Kater (1974, S. 153) angegebene Ort „Eichenhain“ hieß vor und nach der deutschen Besatzung Rogalin. Verstohlene Blicke 319 rabien usw. zu suggerieren, sie befänden sich in einem traditionell deutschen Siedlungsgebiet (Hansen 1989, S. 55). Insbesondere die Stadt Poznan sollte schnell ein „deutsches Aussehen“ annehmen. (Nawrocki 1995, S. 8). Wie zeitgenössische Poststempel belegen, 34 sollte diese Stadt eine Funktion als „Brücke und Bastion zwischen Reich und Osten“ übernehmen. Da zum Zeitpunkt des deutschen Überfalls auf Polen weder Poznan noch die anderen Orte im zukünftigen Warthegau einen so „urdeutschen“ Charakter hatten wie behauptet, 35 wurden sofort nach der Besetzung entsprechende Maßnahmen zur Eindeutschung der Orts- und Straßennamen und des Stadtbildes ergriffen. Noch vor der Kapitulation Warschaus wurde in Poznan mit der Beseitigung der sichtbaren polnischen Inschriften an den Häusern begonnen; sie sollten so schnell wie möglich durch deutsche ersetzt werden (Hansen 1989, S. 64; Luczak 1990, S. 347f, Abb. S. 375). Orts- und Straßennamen wurden „eingedeutscht“. Wichtige Verkehrsadern wurden vorzugsweise nach Hitler und Göring benannt, und Städte und Dörfer nach „deutschen Größen“ des Ersten Weltkriegs wie Litzmann oder auch nach Protagonisten deutscher Kolonialgeschichte wie beispielsweise Lüderitz (vgl. Hansen 1989, S. 57-61). Während der von den deutschen Besatzern verübte Kunstraub den Augen der Öffentlichkeit weitgehend entzogen war, vollzog sich der Austausch der öffentlichen Aufschriften, aber auch die Zerstörung der polnischen Denkmäler zu Beginn der Besatzungszeit in Posen deutlich sichtbar für die polnischen Einwohner. Alle Denkmäler von nationalgeschichtlicher Bedeutung im öffentlichen Raum (z.B. Standbilder von polnischen Künstlern oder von Personen, die sich für die Unabhängigkeit des polnischen Staats eingesetzt hatten) wurden von den deutschen Besatzern demontiert und vernichtet (vgl. Madajczyk 1988, S. 336; Rutowska 1984, S. 71). Im „Posener Tageblatt“ wurde am 19. Oktober 1939 auf Seite 4 verkündet: „Posen wird schöner. Wie wir erfahren, wird bereits in diesen Tagen mit der Umgestaltung des Posener Stadtbildes begonnen werden. Es handelt sich zunächst dämm, einige störende Bauwerke zu beseitigen und damit die vorhandenen schönen Anlagen und Gebäude besser zur Geltung zu bringen. Im Zuge dieser Aktion werden auch einige in der polnischen Zeit aufgestellten Denkmäler verschwinden.“ Im polnischen Untergrund wurde schon zu Kriegsbeginn die Anweisung gegeben, Zerstörungen von Kulturgut durch die Besatzer nach Möglichkeit zu do- 34 Ein Beispiel hierfür ist die Postkarte „Posen. Reichsuniversität“ Muzeum Narodowe Poznania Inv.Nr. D 2967. 35 Daß selbst die deutschstämmigen Enklaven in diesem Gebiet einer Polonisierung unterlagen, wurde schon vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs beklagt, vgl. z.B. Viktor Kauder (Hg.): Das Deutschtum in Polen. Ein Bildband. In Verbindung mit A. Breyer, A. Karasek, W. Kuhn, A. Lattermann, L. Schneider. Schriftenreihe „Deutsche Gaue im Osten“ hrsg. v. Viktor Kauder, Kattowitz, Bd. 8. Leipzig 1939. Daß sowohl die polnischen „Volksdeutschen“ wie auch die angesiedelten Deutschstämmigen aus anderen Gebieten oft kein oder nur unzureichendes Deutsch sprachen, geht sowohl aus Tagebüchern und Autobiographien (Hohenstein 1963; Hermand 1993; Maschmann 1963) wie auch aus amtlichen Dokumenten hervor. 320 Miriam Yegane Arani kumentieren. 36 Diese Direktive wurde auch unter den jungen polnischen Pfadfindern verbreitet, die sich nach der Besetzung Poznans durch die Deutschen in der Stadt konspirativ organisierten. 37 Eine im West-Institut Poznan befindliche und hier abgebildete Aufnahme ist mit größter Wahrscheinlichkeit ebenfalls in diesem Zusammenhang entstanden. 38 Abb. 3: Demontage des Kosciuszko- Denkmals. Posen/ Poznan. Herbst 1939. Aufnahme: Karol Grzeskowiak (? ). West-Institut Poznan Dok. IV-24/ 2. Polnische Untergrundbehörden versuchten u.a. die Zerstörungen von Kulturwerten zu registrieren, um sie dann im Ausland zu publizieren (Madajczyk 1988, S. 338). Der Plan, entsprechende Dokumente nach dem Krieg zu veröffentlichen, konnte dann unter den repressiven politischen Bedingungen der Nachkriegszeit nicht durchgeflihrt werden. Daher sind die Fotografien der polnischen Pfadfinder in Wielkopolska bis zum heutigen Tag nicht in entsprechendem Maße publiziert und wissenschaftlich erschlossen. Diese Information verdanke ich der mündlichen Auskunft von Mieczyslaw Knapski und Frau mgr. Aleksandra Bielerzewska (Vorsitzende der ehern, polnischen Pfadfinder), vgl. auch Mlynarz 1989, S. 20 (Kasten). Obwohl der Autor einer Gruppe von im West-Institut Poznan unter der Signatur Dok.IV- 24 inventarisierten Fotografien dort nicht identifiziert ist, kann man aufgrand des Vergleichs mit einer größeren Zahl von Originalen und Reproduktionen der Aufnahmen von Karol Grzeskowiak im Besitz von ehemaligen polnischen Pfadfindern (Originalaufnahmen von Grzeskowiak waren bei der Ausstellung „Szary Szeregi Wielkopolskie w ocalalych dokumentach“ 1995 u.a. in Poznan und Oströw Wlkp. zu sehen; Reproduktionen einiger Aufnahmen befinden sich im Besitz von M. Knapski) mit größter möglicher Sicherheit davon ausgehen, daß die im West-Institut (Dok. IV-24) überlieferten Fotografien von Grzeskowiak stammen; vor allem die identischen Darstellungsgegenstände (Abriß von Denkmälern, deutsche Aufschriften und Schilder), aber auch fototechnische und stilistische Merkmale lassen diesen Schluß zu. Verstohlene Blicke 321 Das unscharfe Foto zeigt die Demontage des Standbildes Tadeusz Kosciuszkos, das 1930 also in der Zwischenkriegszeit vor dem Hauptportal des Posener Messegeländes errichtet worden war (vgl. Dworecki 1994, S. 450; Rutowska 1984, S. 71). Über eine gepflasterte Straße hinweg ist vor der Fassade eines hellen, langgestreckten Gebäudes ein Platz zu sehen, auf dem sich ein kantiger hoher Sockel mit einem Standbild befindet. Auf der linken Seite des Bildes ist die Holzrampe zum Abbau des Denkmals zu erkennen. Ein kleiner, voll belaubter Baum am rechten Bildrand ist ein Hinweis darauf, daß die Aufnahme im Sommer oder Herbst gemacht wurde. Das Foto ist bis auf einen kleinen Bereich in der unteren Bildhälfte unscharf, insbesondere die Ecken und Ränder des Bildes. Die mangelnde Schärfe hängt mit der mangelnden Planlage des Films in der Kamera und dem primitiven Objektiv zusammen, was ein Hinweis auf einen billigeren Kameratyp ist. 39 Möglich ist weiterhin auch eine nicht ganz korrekte Einstellung der Kamera. Man muß sich vorstellen, daß zu dieser Zeit anders als heute bei einem Fotoapparat alles manuell eingestellt werden mußte. Für die Einrichtung des Apparats waren ein gewisses Maß an Erfahrung, Ruhe und Zeit erforderlich, über das der Fotografierende möglicherweise nicht verfugte. Auf der Straße und dem Platz sind keine Menschen zu sehen, obwohl es heller Tag ist. Das ist ungewöhnlich an einem Ort in der Stadtmitte. Da andere Aufnahmen von Grzeskowiak auch derart ‘menschenleer’ sind, darf man annehmen, daß er aus Vorsicht nur dann fotografiert hat, wenn er sich allein, unbeobachtet und sicher fühlte. Daß das Fotoverbot für Polen im Warthegau erst 1941 offiziell in Kraft trat, heißt keinesfalls, daß es nicht schon vorher für Polen Gründe gegeben haben könnte, mit dem Fotografieren vorsichtig zu sein: Nach der Besetzung war durch die öffentlich durchgeführten und plakatierten Exekutionen von Polen im Herbst 1939 bereits das Ausmaß des Terrors durch die nationalsozialistische Besatzungsmacht zu erkennen. Daher läßt sich die Angst und große Vorsicht des polnischen Fotografen bei der Aufnahme von zerstörerischen Aktivitäten der neuen deutschen Herrscher nachvollziehen. Diese wiederum behaupteten völlig unverfroren in einem zeitgenössischen Text über „Die polnischen Denkmäler“ in Posen, der wahrscheinlich aus einem Fremdenführer für die Stadt Posen stammt, 40 daß die Stadt nach Beseitigung der deutschen Standbilder 1919 „denkmalsarm“ gewesen wäre und daß das Kosciuszko- 39 Diesen Hinweise verdanke ich Jan Brüning. 40 Die polnischen Denkmäler. Zeitgenössischer Text unbekannter Herkunft (wahrscheinlich ein Kapitel aus einem Fremdenführer für Posen, eine Seite ohne Seitenangabe, ca. 1940- 1944). Kopie im Besitz der Autorin. Die genaue Herkunft des Textes ist nicht bekannt. Daß es sich um einen zeitgenössischen Text handelt, kann in diesem Fall mit größter Sicherheit vorausgesetzt werden, da er durch andere Quellen gesicherte Informationen im Sprachstil und mit den Argumentationformeln der zeitgenössischen Druckwerke wiedergibt. 322 Miriam Yegane Arani Denkmal, weil es aus Gips gewesen sei, den Witterungseinflüssen nur wenige Jahre hätte widerstehen können. In demselben Text über „Die polnischen Denkmäler“ in Posen wurde auch das größte polnische Denkmal der Stadt, das Herz-Jesu-Denkmal, erwähnt. Da die polnische katholische Kirche besonders vom Terror der deutschen Besatzungsmacht heimgesucht und im Reichsgau Wartheland generell eine außerordentlich kirchenfeindliche Politik verfolgt wurde, fielen dort auch die religiösen Denkmäler und Figuren der Vernichtung anheim (vgl. Madajczyk 1988, S. 336; Rutowska 1984, S. 72). Im Fall des Posener Herz-Jesu-Denkmals behauptete der unbekannte deutsche Autor nicht, daß das Denkmal aufgrund mangelnder Solidität nicht mehr existiere; angesichts seiner Monumentalität wäre die Unglaubwürdigkeit einer solchen Behauptung wohl zu offenkundig gewesen. Diesmal sollte den deutschen Neuankömmlingen in der Stadt der Hinweis darauf genügen, daß das Herz-Jesu-Denkmal „in seiner Verquickung von religiösen und nationalen Motiven die geistige Haltung des Polentums bezeichnend wiedergab“. Die hier abgebildete Fotografie zeigt über einen breiten, steinernen Fenstersims im Vordergrund hinweg fotografiert - Überreste dieses Denkmals hinter einem Holzzaun, dessen Grenzziehung durch Masten mit Hakenkreuz-Flaggen symbolisch verstärkt wird. Dort, wo auf der Fotografie hinter dem Zaun ein kleiner Steinbruch erkennbar zu sein scheint, hatte zuvor das sakral-patriotische Monument in Form eines großen Triumphbogens mit einem überle- Verstohlene Blicke 323 bensgroßen Christus-Standbild gestanden. Im Oktober 1932 war es an dem Platz, wo bis 1919 ein Bismarck-Denkmal gestanden hatte, unter Führung des polnischen Klerus feierlich enthüllt worden. Das Denkmal sollte ein Ausdruck der Dankbarkeit für das Wiedererstehen eines unabhängigen Polens sein. Seine Errichtung war die Erfüllung eines Schwurs, der auf der ersten katholischen Tagung in Poznan im Jahre 1921 im Namen der „ganzen“ polnischen Nation geleistet worden war (Ilustracja Polska 45/ 1932, S. If; Dworecki 1994, S. 448; Osi^glowski 1995, S. 52f.). Die sowohl von der katholischen Kirche als auch von den deutschen Besatzern (aus unterschiedlichen Motiven heraus) propagierte Auffassung, das Denkmal repräsentiere allumfassend die polnische Identität, darf in Frage gestellt werden, da im Zusammenhang mit seiner Errichtung auch von polnischer Seite mehr oder weniger schwerwiegende Einwände geltend gemacht worden waren (vgl. Dworecki 1994, S. 448f; Osiqglowski 1995, S. 53f.). 41 In jedem Fall aber war das Herz-Jesu-Denkmal ein sehr populäres Monument; davon zeugen auch die zahlreichen Postkarten, die von diesem „Dankbarkeitsdenkmal“ erhalten sind. Mitte Oktober 1939 begannen die deutschen Besatzer mit der Zerstörung des monumentalen Bauwerks: Auf den Straßen Posens gefangen genommene Polen mußten die Jesus-Figur unter Aufsicht der deutschen Besatzer in Teile zerlegen und die abgesprengten Sandstein- und Granitblöcke wegschaffen (vgl. Bura 1981, S. 1; Osi^glowski 1995, S. 52ff). Wenn man genau hinsieht, kann man zwischen den hellen Steintrümmem dunkel gekleidete Figuren erkennen. Da polnische Passanten weiterhin an dem Denkmal bzw. dessen Resten niederknien oder dort Blumen ablegen wollten, was die deutsche Besatzungsverwaltung verhindern wollte, wurde die Baustelle eingezäunt und der ‘Geist’ des Ortes mit „Symbolen der Bewegung“ umgedeutet: Das Gelände wurde später zu einem Aufmarschplatz der Nationalsozialisten. Mieczyslaw Knapski fotografierte die verschiedenen Stadien der Zerstörung des Herz-Jesu-Denkmals durch die Deutschen (Abb. bei Mlynarz 1989). Sein Vater hatte als Heizer eine im Parterre liegende Dienstwohnung in einem schräg gegenüber stehenden großen Gebäude, in dem inzwischen Abteilungen der Besatzungsverwaltung, darunter auch Greiser, ihre Büros eingerichtet hatten und vier deutsche Familien eingezogen waren. Wenn die in dem Gebäude arbeitenden Deutschen von der Arbeit nach Hause gegangen waren, suchte Mieczyslaw Knapski heimlich in den oberen Stockwerken des Gebäudes ein Zimmer, aus dessen Fenster er schnell ein Foto wie das hier abgebildete machen konnte. Über diese heimlich gemachten Fotografien berichtete er 41 In der Zwischenkriegszeit hatte der Katholizismus nicht die gleiche Bedeutung wie in der Kriegs- und Nachkriegszeit; es gab daneben durchaus wichtige laizistische Strömungen einmal ganz abgesehen von den „kämpferischen Atheisten“. 42 Während Bura (1981, S. 1) die dem Denkmal huldigenden polnischen Passanten und die Einzäunung des Geländes getrennt voneinander erwähnt, hat ein Gespräch mit Mieczyslaw Knapski ergeben, daß zwischen beiden Handlungen ein Kausalzusammenhang bestand. 324 Miriam Yegane Arani noch nicht einmal seiner eigenen Familie, da dieses Wissen sie in Gefahr hätte bringen können. 43 Auch in das Foto hat sich die Angst vor dem Entdecktwerden eingeschrieben: Der Horizont ist schief und der Bildgegenstand wird verdeckt von dem breiten Fenstersims, der dem Fotografen Deckung vor gefürchteten Beobachtern bietet. Die Maßnahmen zur „Eindeutschung“ des Stadtbildes wie die Demontage von Denkmälern und der Austausch von Inschriften wirken im Vergleich zu vielen anderen Verbrechen der deutschen Besatzungsmacht im annektierten Warthegau zunächst eher harmlos. Doch sie hatten im Zusammenspiel mit den Exekutionen von Angehörigen der polnischen Führungsschicht zu Beginn der Besatzungszeit und der Vertreibung und Aussiedlung der polnischen Bevölkerung einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die Menschen in diesem Gebiet: Die polnische Bevölkerung wurde durch die Brutalität und Rücksichtslosigkeit der neuen Herrscher schockiert und in große Angst versetzt, während die Deutschen und Deutschstämmigen, die im Warthegau angesiedelt wurden, darin bestätigt wurden, keinerlei Unrechtsbewußtsein zu entwickeln. Das Stadtbild wurde beherrscht von deutschen Inschriften und deutschklingenden Namen: im Straßenbild, im Telefonbuch, in kulturellen Einrichtungen wie Museum, Theater und Kino wie auch dort, wo man Zeitungen, Zeitschriften und Bücher kaufen konnte. Den deutschen Neubürgern im Wartheland wurde suggeriert, daß sie sich in einer angestammten deutschen Umgebung befanden; die Spuren davon, daß es sich um ein kriegerisch erobertes Gebiet handelte, wurden sofort nach der Besetzung getilgt (vgl. Hansen 1989, S. 65). Solche Fotos, wie die von Knapski oder Grzeskowiak, die die Zerstörungen durch die Deutschen dokumentieren, wurden den ankommenden Deutschen selbstverständlich in den weltanschaulich kontrollierten deutschen Publikationen und Ausstellungen nicht präsentiert. Die nach der Zerstörung der polnischen Denkmäler leeren Plätze in der Stadt unterstützten die von der deutschen Propaganda verbreitete Behauptung polnischer Kulturlosigkeit. Die ehemalige BDM-Führerin und HJ-Pressereferentin Melita Maschmann erinnerte sich, daß alles, was sie in Polen sah, die nationalsozialistischen Theorien zu bestätigen schien (Maschmann 1963, S. 71). Sie beschreibt ihre damalige Selbstwahmehmung als Deutsche und wie selektiv verzerrt sie die Situation im Warthegau durch ein verfestigtes Interpretationsmuster vom „Deutschen als Kulturträger im Osten“ interpretierte; während sie deutsche Rückständigkeiten stillschweigend ausgeklammerte, dienten polnische als Anlaß für deutsche Überheblichkeit. 44 „Meine Gefährten und ich empfanden es als Auszeichnung, daß wir mithelfen durften, dieses Gebiet (Reichsgau Wartheland, d.A.) für unser Volk und für die deutsche 43 Interviews mit Mieczyslaw Knapski am 7.12.1994 und 12.2.1995 (vgl. Bura 1981, S. If.; Mlynarz 1989, S. 19f.). Diese selektive und mit zweierlei Maßstäben interpretierende Wahrnehmung von Polen und Deutschstämmigen ist auch an anderer Stelle von Maschmann beschrieben (siehe Maschmann 1963, S. 121). Verstohlene Blicke 325 Kultur zu ‘erobern’. Wir hatten durchaus den hochmütigen Elan des ‘Kulturbringers’. (...) Im Wartheland, das angeblich nur durch seine ‘Verpolung’ so rückständig war, konnte man das Bewußtsein, eine kulturelle Mission zu haben, in vollen Zügen genießen.“ (Maschmann 1963, S. 76) Sie verband diese Idee einer „Kulturmission“ nicht nur mit dem Stereotyp vom Deutschen als Kulturträger im Osten, sondern darüber hinaus explizit mit einem imperialistischen Kolonialgedanken: „Wir hatten gelernt, wie England sich ein Weltreich eroberte, wie Franzosen Kolonie um Kolonie erwarben. Und wir glaubten, daß nun auch Deutschlands geschichtliche Stunde gekommen sei. Daß der Traum von seiner Größe zu unserer Lebzeit Wirklichkeit würde.“ (Maschmann 1963, S. 77) 5. Die Ausgrenzung der polnischen Bevölkerung: Eintritt „Für Polen verboten“ Die vom Reichsstatthalter des Warthegaus und den ihm untergeordneten Behörden ergriffenen Maßnahmen wie auch das besonders ambitionierte Engagement von SS und Polizei trieben die polnische Bevölkerung in eine Situation faktischer Rechtlosigkeit. Das Ziel der Besatzungspolitik war die maximale Befriedigung deutscher Bedürfnisse auf Kosten der Polen. Dabei wurden an den jüdischen Polen die monströsesten Verbrechen verübt, deren volles Ausmaß aber vor der Öffentlichkeit verborgen wurde (vgl. Röhr 1995). Das sichtbare öffentliche Leben im Warthegau wurde geprägt von der Diskriminierung und Ausgrenzung der Polen generell. Die Besatzungsbehörden im „nationalsozialistischen Mustergau“ Wartheland gaben auf allen Verwaltungsebenen detaillierte Vorschriften heraus, die den Lebensspielraum der Polen einschnürten und in alle Einzelheiten des Alltagslebens eindrangen. In den Geschäften wurden spezielle Einkaufsstunden für Polen festgelegt, wobei grundsätzlich auch in diesen Stunden Deutsche den Vortritt hatten bzw. diesen einforderten (Nawrocki 1995, S. 14; vgl. Luczak 1990, S. 238ff, 352f). Darüber hinaus war es verboten, Polen besonders vitamin- und nährstoffhaltige Lebensmittel wie Obst, bestimmte Gemüsesorten und Kuchen sowie Genußmittel zu verkaufen. (Nawrocki 1995, S. 12; Luczak 1990, S. 285ff, 289). Die Bewegungsfreiheit der polnischen Bevölkerung wurde drastisch eingeschränkt durch die Konfiszierung der Individualverkehrsmittel 45 und die strenge Restriktion der Möglichkeiten zur Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel im Stadt-, Regional- und Fernverkehr. 46 Hinzu kam die Abschnürung von Informations- 45 Die Autos, Motorräder und Fahrräder wurden beschlagnahmt (vgl. Luczak 1990, S. 100, 192, 202). Wenn Polen ein Fahrrad benutzen wollten, war dafür das polizeiliche Einverständnis erforderlich, das nicht leicht zu erhalten war; das von einem Polen benutzte Fahrrad mußte speziell gekennzeichnet sein (Nawrocki 1995, S. 15; vgl. Luczak 1990, S. 300f„ 310f„ 345). 46 In der Straßenbahn war der erste Wagen den Deutschen Vorbehalten, in den Stoßzeiten oder wenn es keinen zweiten Wagen gab, war den Polen das Straßenbahnfahren in Posen gänzlich verboten (Focke/ Reimer 1980, S. 217; Luczak 1990, S. 297ff.). Im Unterschied zum Straßenbahnfahren war das Reisen mit dem Zug Polen nur mit polizeilicher Erlaubnis gestattet (Luczak 1990, S. 301f). 326 Miriam Yegane Arani quellen wie Zeitungen und Rundfunk (Majer 1981, S. 337) und Kommunikationsmitteln wie beispielsweise öffentlichen Fernsprechern (Majer 1981, S. 451; Luczak 1990, S. 303, 305f, 307). Nicht zu Unrecht ist der Warthegau auch als „großes Gefängnis“ bezeichnet worden, das auch bezüglich des Informationsflusses zum Reichsgebiet hin abgeschnürt wurde (vgl. Majer 1981, S. 371, 439f). Obwohl es sich um eines der in das Deutsche Reich „eingegliederten“ Gebiete handelte, blieb der Warthegau paßrechtlich Ausland (Broszat 1961, S. 41). In einer vorwiegend auf amtliche Dokumente und die großen politischen Ereignisse bezogenen Geschichtsschreibung bleiben zahlreiche Erfahrungen von Diskriminierung unerwähnt, die den Alltag der Polen im Warthegau bestimmten. Das Leben der nach weitreichenden Aussiedlungsaktionen noch ortsansässigen polnischen Bevölkerung wurde geprägt durch eine umfassende Segregationspolitik, die die Polen einem „Sonderrecht“ unterstellte, das deutliche Parallelen zur Judengesetzgebung im Reich hatte (Majer 1981, S. 337). Die Trennung der Polen von den Deutschen und ihre Diskriminierung wurde im „Reichsgau Wartheland“ im Vergleich zu Oberschlesien und Danzig- Westpreußen am nachhaltigsten und rigorosesten praktiziert. So waren hier auch alle Formen psychologischer Demütigung der Polen besonders ausgeprägt. Diskriminierende Verbots- und Gebotsschilder, die in der Bundesrepublik vor allem mit der Segregation der Juden im NS-Staat assoziiert werden, sind für die Stadt Posen nur mit prodeutschen oder antipolnischen Aufschriften überliefert worden. Abb. 5: „Kein Zutritt für Polen“. Posen/ Poznan. 1940-1944. Aufnahme: Karol Grzeskowiak (? ). West-Institut Poznan Dok. IV-24/ 4. Verstohlene Blicke 327 Die hier abgebildete Fotografie wurde von dem polnischen Historiker Czeslaw Luczak sowohl als fotografisches Dokument (Luczak 1990, S. 373) wie auch als Illustration (Luczak 1993, S. 84) für seine Darstellungen der Besatzungspolitik im Reichsgau Wartheland ausgewählt. Das Foto repräsentiert diesen Typus der vielfältigen alltäglichen Diskriminierungen der polnischen Bevölkerung im Warthegau, es vermittelt darüber hinaus aber auch etwas von der emotionalen Qualität der Demütigungen, die alle Polen außerhalb deijenigen vier Wände, in denen sie sich noch zuhause fühlen konnten, erlebten. Der inzwischen verstorbene Karol Grzeskowiak hat die zahlreichen Verbots- und Gebotsschilder heimlich im Bild festzuhalten versucht. Er fotografierte in der Straßenbahn: „Hier wird nur Deutsch gesprochen“ 47 , öffentliche Sitzbänke: „Nur für Deutsche“, eine Kirche: „Nach Anordnung der Regierung dürfen die Gottesdienste in der Franziskanerkirche nur von Deutschen besucht werden“, oder „Spielplatz nur für deutsche Kinder“ (Abb. in Luczak 1990, S. 374) und auch „Kein Zutritt für Polen“, ein Schild am Eingang des Botanischen Gartens (Wilson-Park) in der Mitte Posens. Auch diesmal sind keine Menschen abgebildet, doch das Foto zeigt in der Menschenleere eine Spur, die andere Menschen hinterlassen haben, eine überdeutliche Grenzmarkierung: Menschen wie Du sind hier nicht erwünscht! Solche Schilder wurden ab dem Frühjahr 1940 überall angebracht. 48 Eine damals im Verlag Heinrich Hoffmann (Hitlers Leibfotograf) erschienene Fotopostkarte stellte den Botanischen Garten in Posen 49 selbstverständlich aus einer ganz anderen Perspektive und unter völlig anderen Gesichtspunkten dar: Man sieht ordentliche moderne Gewächshäuser und gepflegt gekleidete, sittsame junge Frauen auf Parkbänken. In der Bilderwelt der zeitgenössischen Postkarten ist der von den Nazis in Gang gesetzte „Volkstumskampf“ schon längst zugunsten der Deutschen entschieden und die Idealvorstellung des polenfreien Warthelandes bereits realisiert. Durch die Fotografie von Grzeskowiak wird über eine nüchterne Information hinaus auch ein Stimmungsgehalt vermittelt, der möglicherweise repräsentativ für ein von der polnischen Bevölkerung empfundenes atmosphärisches Element während der deutschen Besatzungszeit ist: Hinter einem Tor ein blühender Garten, ein Geschenk der Natur; doch am Eingang zu diesem wunderbaren Park hängt eine Schild, das die Polen von diesem irdischen Paradies ausschließt: „Für Polen verboten“. Diese Fotografie kann auch als Sinnbild für den Ausschluß der Polen aus all den Bereichen der Stadt betrachtet werden, die Erholung, Steigerung der Lebensfreude und Genuß ermöglichen. Polen durften in Posen keine Parkanlagen betreten, keine Theater oder Museen be- 47 Die Anwendung der polnischen Sprache war in den Posener Straßenbahnen verboten. In den Straßenbahnwagen hingen seit September 1940 Schilder mit der genannten Aufschrift (Luczak 1990, S. 323-325). 48 Diese Information verdanke ich Mieczystaw Knapski. 49 „Posen. Palmen- und Gewächshäuser im Stadtpark.“ (Pos. Nr. 27) Verlag Heinrich Hoffmann, Posen. Universitätsbibliothek Poznan, ohne Inventamummer. 328 Miriam Yegane Arani suchen; das war allein Deutschen Vorbehalten. Solche Verbote erstreckten sich sogar auf Badestrände. Das polnische Kulturleben einschließlich aller kulturellen Vereinigungen wurde ausgeschaltet. Auch Kinobesuche wurden der polnischen Bevölkerung nicht erlaubt, insofern es sich nicht um Filme handelte, deren Wirkung auf polnische Zuschauer von seiten der Besatzungsverwaltung erwünscht war: z.B. deutsche Wochenschauen über den siegreichen Vormarsch der Wehrmacht an den Fronten oder Spielfilme wie „Jud Süß“ (Nawrocki 1995, S. 14f; vgl. Luczak 1990, S. 336, 350; Madajczyk 1988, 5. 333; Focke/ Reimer 1980, S. 206). Diese im Vergleich zu dem physischen Terror gegenüber der polnische Bevölkerung zunächst als verhältnismäßig „harmlos“ erscheinenden Formen der Diskriminierung beeinträchtigten durch ihre Kumulation das Alltagsleben der Polen derart, daß ein Überleben ohne Übertretung irgendeiner deutschen Vorschrift kaum mehr möglich war. Ein großer Teil dieser alltäglich verabreichten Demütigungen betraf den kulturellen Bereich und zielte darauf ab, die Stadt Posen auch auf diese Weise „einzudeutschen“ und die polnische Bevölkerung zu Fremden in ihrer eigenen Heimat zu machen. Den einheimischen Polen wurde mit Schildern wie dem hier abgebildeten Tag für Tag eindringlich vor Augen geführt, daß sie von den Deutschen lediglich geduldet und als billige Arbeitskräfte erträglich seien. 6. Das ‘kalte’ und das ‘warme’ Abbild eines polnischen Fremdarbeiters im „Großdeutschen Reich“ Nachdem 1939 Versuche der deutschen Führung, die Arbeitsbelastung der deutschen Bevölkerung zu erhöhen, zu steigender Mißstimmung geführt hatten und auch die verstärkte Heranziehung von deutschen Frauen zur Arbeit nicht weiter verfolgt wurde, entschieden sich die Regierenden endgültig für den massenhaften Einsatz von Ausländem in der deutschen Wirtschaft. Bereits mit den einmarschierenden Wehrmachtseinheiten kamen deutsche Arbeitsverwaltungsbehörden nach Polen, um die dortige Bevölkerung zu erfassen und so wirtschaftliche Interessen der Deutschen zu sichern. Zivile polnische Arbeitskräfte sollten den deutschen Betrieben als billige, aber leistungsfähige Arbeitskräfte zur Verfügung gestellt werden (Herbert 1986, S. 124fF). Da traditionelle Methoden der Anwerbung von Arbeitskräften in diesem Fall versagten, wurden die Polen in der Regel durch Zwang und Terror der Arbeitsämter im besetzten Gebiet zur Arbeit für die Deutschen gebracht. Ab dem Frühjahr 1940 konnte den vom Deutschen Reich geforderten Kontingenten an Arbeitskräften in den einzelnen Kreisen des Reichsgaus Wartheland nur noch durch Polizeieinsätze nachgekommen werden. Oft kam es zu brutalen Einschüchterungsversuchen und zu Razzien auf den Straßen und zu Umstellungen von Schulen, Kinos und Kirchen, wo viele Polen zu erwarten waren (Herbert 1986, S. 126; Madajczyk 1988, S. 216ff.; Röhr 1989, S. 54; Nawrocki 1995, S. 10; Röhr 1995, S. 32). Diejenigen Polen, die in ihrem Heimatort einen für die deutschen Arbeitsämter akzeptablen Arbeitsplatz bei deutschen Arbeitge- Verstohlene Bücke 329 bem nachweisen konnten, wurden in der Regel verschont von den Transporten ins Reichsgebiet, von denen die anderen Polen im arbeitsfähigen Alter ständig bedroht waren. Der Arbeitsschutz für Jugendliche wurde im Falle der mindetjährigen Polen oft nicht berücksichtigt und später sogar formal außer Kraft gesetzt. Die ins Reichsinnere verschleppten Polen arbeiteten vor allem in der Industrie, wo sie in nahegelegenen Arbeitslagern kaserniert wurden, oder in der Landwirtschaft, wo ihre Lebensbedingungen in stärkerem Maße dem Ermessensspielraum der einzelnen Arbeitgeber unterlagen (vgl. Nawrocki 1995, S. 12f; Madajczyk 1988, S. 275; Röhr 1989, S. 54). Einer derjenigen Polen aus dem Reichsgau Wartheland, der bereits mit den ersten Transporten von „Fremdarbeitern“ ins Reichsinnere gelangte, war Antoni Brylihski 50 aus W^growiec (während der Besatzungszeit: Wongrowitz bzw. später: Eichenbrück). Er hatte vor dem Krieg als Verkäufer in einer Getreidehandlung gearbeitet und konnte der Registrierung durch das deutsche Arbeitsamt zunächst durch inoffizielle Mithilfe bei der Kartoffelernte auf polnischen Bauernhöfen entgehen. Im Winter 1939/ 40 war ihm dies nicht mehr möglich, und er wurde vom Arbeitsamt zunächst zum Schneeschippen und dann zum Wegräumen von Schutt und Trümmern eingesetzt. Während dieser Aufräumarbeiten wurde er für den 6. Mai 1940 frühmorgens vor das Arbeitsamt in Wongrowitz bestellt, wo sich etwa 100 Polen in einer Reihe aufstellen mußten. Dann schritt der Leiter des deutschen Arbeitsamtes, der bis 1939 Lehrer in Lodz gewesen war, die Reihe ab und suchte sechs bis sieben Personen nach Augenschein heraus. In einem zweiten Durchgang, bei dem er sich die Zähne der Polen hatte zeigen lassen, fiel seine Wahl auch auf Antoni Brylinski. Die Personalien der Herausgesuchten wurden aufgenommen und ihnen wurde mitgeteilt, daß sie sich am nächsten Morgen am Bahnhof einzufinden hätten, von wo aus sie als Saisonarbeiter nach Deutschland fahren würden. Brylinski nahm wie die anderen nur das mit, was in einen Rucksack paßte vor allem alte Kleidung, für die erwartete Form der Arbeit. Er war der älteste in der ersten Gruppe von zehn Polen, die am 7. Mai 1940 aus Wongrowitz in das Reichsinnere transportiert wurden. Wohin genau sie fahren würden, war ihnen nicht gesagt worden. Am Bahnhof von Rehfelde in der Nähe von Berlin wartete bereits ein Gutsbesitzer auf sie, der sein Landgut wahrscheinlich durch die Enteignung eines Juden erhalten hatte. Auf diesem Gut in Rehfelde arbeitete Antoni Brylinski vom 7.5.1940 bis zum 31.8.1944. Die polnischen „Fremdarbeiter“ wurden nun in Gruppen von jeweils fünf Personen in zwei Räumen untergebracht und arbeiteten unter Einhaltung der vorgeschriebenen Pausen in der Saison von sechs Uhr morgens bis sieben Uhr abends. Darüber hinaus mußten sie unter stark erschwerten Bedingungen das Essen selber kochen und ihre Wäsche waschen; Kleiderkarten erhielten sie keine. Geschlafen wurde auf Strohsäcken. Bald nach seiner Ankunft 50 Die folgenden Angaben bemhen auf zwei Interviews mit Antoni Brylinski vom 3.3.1995 und 21.11.1995. Brylinski hat seine Erinnerungen an die Zeit als Zwangsarbeiter unter dem Titel „Rehfelde“ auch in dem Sammelband „Z liters „F“‘ (1976) veröffentlicht. 330 Miriam Yegane Arani in Rehfelde, am 25. Mai, starb Antoni Brylihskis Vater in Wongrowitz, und es wurde ihm erlaubt, zu dessen Begräbnis zu fahren. Kurz nach seiner Rückkehr nach Rehfelde im Juni 1940 wurde das hier abgebildete Foto von Antoni Brylihski aufgenommen. Offenbar hatte der Gutsverwalter einen Fotografen beauftragt, die für die Anmeldung der „Fremdarbeiter“ beim örtlichen Amtsvorsteher notwendigen Ausweisfotos anzufertigen. Zu diesem Zweck kam ein Berufsfotograf aus dem etwa zehn Kilometer entfernten Ort Strausberg auf das Gut in Rehfelde. Er forderte die Polen auf, sich einzeln vor die Außenwand ihrer Unterkunft zu stellen und lichtete sie dann zügig im Sinne seines Auftraggebers ab: Fotografisches Registrieren der für den Zweck wesentlichen Äußerlichkeiten, d.h. der individuellen Physiognomie in leichter Seitenansicht linkes Ohr sichtbar. Auch das die polnischen Arbeitskräfte im Reichsinnem sichtbar kennzeichnende „P“ ist rechts unten am Revers erkennbar. Dieses Zeichen bekamen sie nach ihrer Ankunft in Rehfelde und mußten es von nun an deutlich sichtbar tragen, damit sie von den Deutschen in allen Lebenslagen nach „rassischen Gesichtspunkten“ behandelt werden konnten. Abb. 6: Ausweisfoto von Antoni Brylinski. Rehfelde. Juni 1940. Aufnahme: Foto-Atelier Fritz Ebenbrecht, Strausberg. Privatbesitz. Das auf dem hier abgebildeten Foto nur am Rande erkennbare „P“-Zeichen war das Pendant zur äußerlichen Kennzeichnung der Deutschen im Reichsgau Wartheland. Da anders als im annektierten Gebiet im Reichsinneren die Deutschen die Mehrheit bildeten, entschied man sich hier für die äußere Kenn- Verstohlene Blicke 331 Zeichnung der Polen, um die angestrebte „Rassentrennung“ zwischen ihnen und den Deutschen zu realisieren. Mit den sog. Polenerlassen wurde die rechtliche Ungleichheit zwischen Deutschen und Polen zementiert und das Leben der polnischen Zivilarbeiter in drastischer Weise reglementiert. Madajczyk (1988) hat zu Recht daraufhingewiesen, daß die Behandlung der polnischen Zivilarbeiter im Inneren des Deutschen Reichs zahlreiche Parallelen zu der der Polen im Warthegau aufweist: auch im Reichsinneren wurde ihnen verboten, Fahrräder oder öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen und Badeanstalten zu besuchen usw. Ihre rechtliche Sonderstellung sollte durch das „P“-Zeichen auch äußerlich kenntlich werden, um so die Kosten für ihre Überwachung möglichst niedrig zu halten (Herbert 1986, S. 127ff.). 51 Wie aus dem vorangegangen ex negative zu schließen ist, hatte der Fotograf offensichtlich wenig Interesse an einer möglichst vorteilhaften Darstellung der Menschen, die er fotografieren sollte und legte daher auch wenig Wert auf die Zuhilfenahme von Mitteln der Bildgestaltung, die zu einer ‘Verschönerung’ der Person Brylihskis hätten beitragen können: Er bemühte sich nicht um eine nachträgliche Retusche oder um eine möglichst schmeichelnde Beleuchtung, die die Unebenheiten des Gesichts hätten unterdrücken können. Der Fotograf arbeitete mit dem vorhandenen Tageslicht, ohne beispielsweise Rücksicht auf die Verschattung der Augen zu nehmen. Bereits eine leichte Verschattung der Augenpartie trägt gestalterisch zur ‘Verfinsterung’ jedes menschlichen Gesichts bei. Vermutlich versuchte er auch nicht, sein zu fotografierendes Gegenüber durch ein Gespräch zu einem freundlicheren Gesichtsausdruck zu ermuntern. Brylinski wurde in diesem Fall fotografisch „mit aller Härte“ behandelt und zum Gegenstand eines ‘kalten’ Blicks des Fotografen. Zu der wenig schmeichelhaften Aufnahme haben zweifellos auch die Lebensumstände der polnischen Zwangsarbeiter beigetragen. In verschiedenen Lebensbereichen wurden spezifische Rahmenbedingungen erst durch die deutschen Aggressoren geschaffen und führten zwangsläufig zu einer Verwahrlosung der äußeren Erscheinung, die dann wiederum als empirische Bestätigung der rassistischen Ideologie ausgelegt wurde (vgl. Röhr 1995, S. 48 u. Anm. 63). Als ein bei den örtlichen Behörden und bei der Gutsverwaltung gelagertes sowie auf Brylihskis Arbeitskarte verwendetes Paßfoto eignete sich diese „harte“ und überaus unvorteilhafte fotografische Aufnahme hervorragend zur Bestätigung der von der NS-Propaganda unterstützten deutschen Vorurteile. Mit einer entsprechenden sprachlichen Kommentierung einer derartigen Fotografie können Vorurteile vom kulturell und „völkisch“ minderwertigen Polen bei einem Bildbetrachter durchaus bestätigt werden. Doch die ‘Vorgeschichte’ und die Rahmenbedingungen der abgebildeten äußeren Erscheinung bleiben verborgen. Folgerichtig wurde auch den polnischen Zivilarbeitern im Reich der Besitz und Gebrauch von Fotoapparaten untersagt. Entsprechende deutsche Verbote sind in den Dokumenteneditionen von Luczak (1975, S. 146f., 245, 250, Dok. 174) und Konieczny/ Szurgacz (1976, S. 47, 61, 69) publiziert. 332 Miriam Yegane Arani Als Antoni Brylinski und die anderen polnischen Zivilarbeiter aus Wongrowitz später jeweils einen Abzug ihrer Ausweisfotos erhielten, versuchten sie, den Widerspruch zwischen ihrem inneren Selbstbild und den harten Verbrecher- Physiognomien, die der deutsche Fotograf erzeugt hatte, spielerisch aufzulösen: Sie bängten die Fotos in ihrem Zimmer auf und versuchten, sich mit ihnen in Form von Witzen auseinanderzusetzen, etwa durch Kommentare wie „Das sind die zehn Banditen aus Wongrowitz“. Und in der Tat sind von deutscher Seite aus auch solche Schauermärchen über die fremden Arbeiter verbreitet worden, um die Kontaktaufhahme zwischen Deutschen und Polen zu unterbinden. 52 ■ Abb. 7: Gruppenporträt von Antoni Brylinski und Zygmunt Czamecki. Wongrowitz bzw. Eichenbrück/ W^growiec (Reichsgau Wartheland). Januar 1943. Aufnahme: Franz Anders. Eichenbrück. Privatbesitz. Es existiert ein anderes Porträt von Antoni Brylinski, das ebenfalls während des Zweiten Weltkriegs angefertigt wurde und drastisch verdeutlicht, wie groß die Spannweite der fotografischen Darstellungsmöglichkeiten einer Person und der Einfluß äußerer Faktoren ist. Die Aufnahme ist ein Gruppenporträt von Antoni Brylinski und seinem Freund Zygmunt Czarnecki, der ebenfalls auf dem Gut in Rehfelde arbeitete. Brylinski ist der junge Mann mit Schnurrbart in der linken Bildhälfte. Dieses Foto wurde unter anderen Bedingungen und mit einer anderen Zielsetzung hergestellt als das zuvor besprochene. Man darf an- 52 Brylinski erfuhr dies erst später zufällig durch ein Gespräch mit deutschen Soldaten, die während ihrer Rekonvaleszenszeit auf dem Gut einige Wochen als Erntehelfer arbeiteten. Nachdem einer der Soldaten Brylinski während einer Essenspause auf dem Feld auf Deutsch angesprochen hatte und dieser in der gleichen Sprache antwortete, entwickelte sich ein Gespräch, in dem der Soldat fragte, wer sie seien und nach Brylihskis Antwort erklärte, daß man ihm erzählt habe, bei den fremden Arbeitern handele es sich um polnische Banditen. Dieses Gespräch hatte zur Folge, daß die Soldaten den Polen von ihrem Essen abgaben und die Gutsverwaltung die strikte Trennung zwischen beiden Gruppen nicht mehr durchzusetzen vermochte. Verstohlene Blicke 333 nehmen, daß die beiden Porträtierten sich in diesem Fall zumal sie sich den Fotografen diesmal selbst ausgesucht und das Foto selbst in Auftrag gegeben haben als angemessen dargestellt wahrgenommen haben. Wie viele andere Leute zu dieser Zeit wollten auch sie ohne konkreten Anlaß einmal ein Porträt von sich machen lassen, das als Andenken an bestimmte Lebensphasen oder Freunde dienen und bei Gelegenheit auch verschenkt oder gegen das Porträt anderer getauscht werden konnte. Zu Beginn der deutschen Besatzungsherrschaft in Polen wurden auch solche, in Ateliers hergestellte Einzelbildnisse bei den Besatzungsbehörden für Ausweise eingereicht. In Rehfelde dagegen hatten Antoni Biylihski und seine polnischen Freunde und Kollegen aufgrund der hohen Arbeitsbelastung in der Regel keine Zeit, zu einem Fotografen zu gehen. Darüber hinaus wußten sie nicht, ob es in dem Ort überhaupt ein Fotoatelier gab und fürchteten vor allem auch, von einem deutschen Fotografen abgewiesen oder bei der Polizei gemeldet zu werden. Daß solche Spekulationen nicht völlig unberechtigt waren, zeigt eine Ende 1941 vom Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei, Heinrich Himmler, herausgegebene Aufforderung an die deutschen Fachgruppen, keine Fotoarbeiten für polnische Zivilarbeiter durchzuführen. 53 Erst bei einem einwöchigen Urlaub in ihrem Heimatort im Januar 1943 ergab sich eine gute Gelegenheit für Antoni und Zygmunt, zwangslos ein Porträt von sich anfertigen zu lassen. Sie gingen in das Atelier von Franz Anders, der sein Fotoatelier bereits vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Wongrowitz führte. Er hatte Antoni Brylihski bereits als Kind anläßlich seiner Kommunion fotografiert und die meisten großen Anlässe im Leben von Brylinskis Familie in Bildern festgehalten. Für Antoni Brylinski hieß der Fotograf nicht Franz, sondern Franciszek Anders und war ein Pole, weil er polnisch sprach, schon vor dem Krieg ortsansässig und mit der Geschichte der Familie verbunden war. Es handelte sich um einen kleinen Betrieb, in dem Anders offenbar die ganze Zeit über allein arbeitete und in dem sich Antoni Brylinski und Zygmunt Czamecki sicher fühlten. Darüber hinaus konnten die beiden jungen Männer bei ihren Familien auch wieder bessere Kleidung hervorsuchen und den Äußerlichkeiten mehr Aufmerksamkeit widmen. Der vertraute Fotograf setzte sie höchst vorteilhaft und emphatisch ins Bild: Er richtete die Beleuchtung so ein, daß einerseits die Köpfe der jungen Männer plastisch modelliert werden und andererseits unvorteilhaft erscheinende Unebenheiten (durch das Licht und spätere Retusche) verschwinden. Statt einer Verschattung der Augenhöhlen wie beim vorhergehenden Foto sind bei dieser Aufnahme die Augenpartien sorgsam ausgeleuchtet und in den Augen blitzen hier kleine Lichtreflexe. Der Glanz der Haare ist betont und die Krawatten sind ordentlich gelegt. Auch der entspannte Gesichtsausdruck der bei- Ergänzung der Richtlinien über die Behandlung der polnischen Arbeiter im Reich (Konieczny/ Szurgacz 1976, S. 47). Inwiefern die Fachgruppen der Aufforderung gefolgt sind, ist nicht bekannt. 334 Miriam Yegane Arani den Porträtierten trägt zu dem Gesamteindruck bei, daß es sich hier um zwei kultivierte und sympathische junge Männer handelte. Antoni Brylihski und Zygmunt Czamecki sind am 31. August 1944 morgens um halb sechs auf dem Gut in Rehfelde von der Gestapo verhaftet worden, weil sie englische „Feindsender“ im Radio gehört hatten und in das Konzentrationslager Dachau eingewiesen worden. Antoni Brylinski hat überlebt; Zygmunt Czamecki ist unter unbekannten Umständen verstorben. 7. Die Vernichtung polnischer Schriften und Druckerzeugnisse Bereits während der Kampfhandlungen im September hatten die deutschen Besatzer Maßnahmen zur Verhinderung und Vernichtung polnischer Druckerzeugnisse eingeleitet. Im weiteren Verlauf der Besatzungszeit wurden im annektierten Teil Polens alle polnischen Bibliotheken und Buchhandlungen geschlossen und deren Bestände konfisziert. Bücher, die in Bibliotheken, Buchhandlungen, Schulen und in den für deutsche Neuankömmlinge beschlagnahmten Privatwohnungen vorgefunden und als ungeeignet für die Bedürfnisse der Deutschen klassifiziert worden waren, wurden ausgesondert und verbrannt oder wanderten als Altpapier in den Reißwolf der Papierfabriken. Einen ähnlichen Weg nahmen in Archiven eingelagerte Akten. Da der neue deutsche Leiter der Posener Staats- und Universitätsbibliothek Dr. Lattermann in erster Linie konservatorische Ziele verfolgte, wurde die dort befindliche Zwischenkriegsliteratur vor der Zerstörung bewahrt. Von den Beständen der bereits am 13. September 1939 konfiszierten Bibliothek der Poznanskie Towarzystwo Przyjaciöl Nauk (Posener Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften) dagegen blieben kaum zehn Prozent erhalten (Rutowska 1984, S. 56-64; Madajczyk 1988, S. 336; Luczak 1990, S. 187, 216f„ 202f, 206, 323, 344f.; Matelski 1994, S. 116, 119; Nawrocki 1995, S. 8; vgl. Maschmann 1963, S. 78). Die folgende Fotografie (Abb. 8) zeigt eine Sammelstelle für polnische Bücher in Posen, die von der deutschen Besatzungsverwaltung in der umfünktionierten Sw. Michala-Kirche eingerichtet worden war. Sie war eine der vier Kirchen in Posen, in der während der Besatzungszeit polnische Bücher und Akten aus dem ganzen Warthegau gesammelt wurden (Rutowska 1984, S. 58, 61, 69). Insgesamt wurden in den Posener Buchsammelstellen während der gesamten Zeit etwa 3 Millionen Bücher angehäuft (Rutowska 1984, S. 62). Von einem erhöhten Standpunkt überblickt man einen großen, sehr hohen Raum, der eng mit Reihen von Bücherregalen gefüllt ist. Oben rechts im Bild kann man eine Wand mit Fenstereinlässen erkennen, die aufgrund ihrer Form als Kirchenfenster identifizierbar sind. In der Mitte des Raumes und rechts an der Wand sind aufgeschüttete große Bücherhaufen zu sehen. Auf der Rückseite des großformatigen Papierabzugs der hier abgebildeten Fotografie wurde handschriftlich mit einem Bleistift vermerkt: „Buchsammelstelle Posen, Hauptraum, 1942“. Die fotografische Aufnahme wurde wahrscheinlich mit einer Kleinbildkamera unter Nutzung der bereits vorhandenen Raumbeleuchtung mit Verstohlene Blicke 335 Abb. 8: „Buchsammelstelle Posen. Hauptraum. Zustand 1942.“ (Sw. Michata-Kirche Posen/ Poznah). Aufnahme: Unbekannter deutscher Fotograf. Format: Höhe 21,5 cm, Breite 29,8 cm. West-Institut Poznan Dok. IV-135/ 1. einer langen Belichtungszeit gemacht (zur Zeit des Zweiten Weltkriegs waren die Filme nicht so empfindlich und die Kameraobjektive nicht so lichtstark wie heute). Allem Anschein nach hatte der Fotograf die Möglichkeit, sich in der Kirche einen geeigneten Standpunkt auszuwählen und in aller Ruhe seine Aufnahme zu machen. Sowohl aufgrund des Standorts des Fotografen wie auch aufgrund der äußeren Merkmale des fotografischen Abzugs, insbesondere wegen des außergewöhnlich großen Formats, darf man annehmen, daß das Bild von einem semiprofessionellen oder professionellen Fotografen für einen offiziellen Verwendungszweck angefertigt wurde, vielleicht für eine Ausstellung oder eine verwaltungsinteme Dokumentation. Die für die rückwärtige Beschriftung des Fotos gewählte Bezeichnung „Hauptraum“ läßt vermuten, daß es noch „Nebenräume“ gab. Eine weitere Fotografie ohne Beschriftung, die sich ebenfalls im Besitz des West-Instituts in Poznan befindet, zeigt tatsächlich einen zweiten Raum mit einer niedrigen und tonnenförmig gewölbten Decke, in welchem sich ebenfalls mit polnischen Büchern gefüllte Regale befinden. 54 Wahrscheinlich dienten auch die unterirdischen Räume der Kirche als Lagerräume für Bücher. Im Frühjahr 1944 schlug während eines der seltenen alliierten Fliegerangriffe auf die Stadt Posen eine 54 West-Institut Poznan, Dok. IV-135/ 2. 336 Miriam Yegane Arani Bombe in die Kirche ein (Nawrocki 1995, S. 14/ 15), wodurch der dortige Buchbestand vernichtet wurde. Die Konfiszierung polnischer Bücher und Bibliotheken stand im Zusammenhang mit der rassenideologisch begründeten Kulturpolitik der nationalsozialistischen Besatzer, die auf eine nachhaltige Destruktion des polnischen Bildungswesens zielte, um Polen langfristig seiner nationalen Substanz zu berauben, die Menschen zu dezivilisieren und zu einem „führerlosen Arbeitsvolk“ zu machen versuchte (vgl. Madajczyk 1988, S. 333; Kleßmann 1989b, S. 119ff ). Die Universität in Poznan beispielsweise wurde noch im September 1939 geschlossen, und die polnischen Professoren wurden ausgesiedelt oder auch erschossen. 1941 wurde an ihrer Stelle die „Reichsuniversität Posen“ eröffnet (vgl. Madajczyk 1988, S. 343; Matelski 1994, S. 117). Obwohl unter den Kriegsbedingungen der Neugründung wissenschaftlicher Institutionen gewisse Grenzen gesetzt waren, gelang es den deutschen Besatzern in Warthegau, noch mehrere Forschungseinrichtungen ins Leben zu rufen: die „Reichsstiftung für deutsche Ostforschung“ (Madajczyk 1988, S. 343), die „Landeskundliche Forschungsstelle im Reichsgau Wartheland“ und das „Ostinstitut für Volksbildung“ (Matelski 1994, S. 118). Während das Netz bereits vor dem Krieg existierender deutscher Schulen weiter ausgebaut wurde, veranlaßte Reichsstatthalter Greiser noch im September 1939 eine nahezu vollständige Einstellung des Schulwesens für polnische Kinder und Jugendliche. Mit den in bescheidenem Maß neu eröffheten „Polenschulen“ wurde ein rassenideologisch verstümmelter Lehrplan für Polen eingeführt, der sich im Warthegau außerordentlich genau an Heinrich Himmlers „Gedanken über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten“ orientierte (Kleßmann 1989b, S. 120; Luczak 1990, S. 239, 252, 322f, 329-333; Matelski 1994, S. 119): „Für die nichtdeutsche Bevölkerung des Ostens darf es keine höhere Schule geben als die vierklassige Volksschule. Das Ziel dieser Volksschule hat lediglich zu sein: einfaches Rechnen bis höchstens 500, Schreiben des Namens, eine Lehre, daß es ein göttliches Gebot ist, den Deutschen gehorsam zu sein und ehrlich, fleißig und brav zu sein. Lesen halte ich für nicht erforderlich.“ (Himmler nach Kleßmann 1989b S. 120) 8. Konspirative Selbstausbildung gegen die systematische Verdummung durch die Besatzungsmacht Im polnischen Untergrund bemühte man sich um eine Ausbildung der Kinder und Jugendlichen und den Aufbau eines illegalen Bildungswesens, um den durch die Zerstörung des polnischen Bildungswesens angerichteten Schaden so gering wie möglich zu halten und den verheerenden gesellschaftlichen Auswirkungen der nationalsozialistischen Kultur- und Bildungspolitik entgegenzuwirken (Madajczyk 1988, S. 352; Kleßmann 1989a, S. 12 ). Verstohlene Blicke 337 Abb. 9: Geheime autodidaktische Lemgruppe. Posen/ Poznan. Ca. 1943. Aufnahme: Mieczyslaw Knapski. Privatbesitz. Auf den ersten Blick erscheint das Foto (Abb. 9) wie eine Aufnahme von einem Treffen ordentlich gekleideter Jugendlicher städtischer Mittelschichten, die warten, bis endlich der Auslöser gedrückt wird, damit sie mit ihrem Gespräch oder anderen Tätigkeiten fortfahren können. Etwas irritierend ist das Spannungsverhältnis zwischen dem betont gepflegten Äußeren der Personen und dem außerordentlich kargen Ambiente, beispielsweise der bescheidenen Tischdecke, die man eher in einer Küche erwarten würde. Das Fehlen jeglicher NS-Insignien, aber auch jeglicher Gegenstände, die als Attribute deutscher Selbstdarstellung denkbar wären, ist ein vager Hinweis darauf, daß auf diesem Foto möglicherweise keine Deutschen zu sehen sind. Die gesamte Gruppe ist zum Fotoapparat hin ausgerichtet und sichtlich bemüht, eine verhältnismäßig vorteilhafte Haltung für das erwartete Auslösen der Kamera einzunehmen: Das Mädchen im Zentrum des Bildes und ein zweites in der linken Bildhälfte lächeln betont charmant, die drei jungen Männer blicken wie eingefroren in die Kamera. Deren Anwesenheit verändert die Situation erkennbar: Die Mädchen bemühen sich um ein vorteilhaftes ‘Fotogesicht’. Im Verhalten der Gruppe angesichts der Kamera bleiben die beiden jungen Frauen mit den weißen Kragen und strengeren Frisuren am linken Bildrand und in der rechten Bildhälfte rätselhaft. Das Mädchen links blickt auf die Seiten eines aufgeschlagenen dünnen Heftes und das rechts sitzende studiert mit höchster Konzentration ein Buch. Beide richten ihren Blick demonstrativ von der Kamera ab und wenden ihn einer Lektüre zu. Mit diesem Verhalten scheinen sie zunächst am stärksten von der sichtbar angestrebten positiven Selbstdarstellung der Gruppe für die fotografische Aufnahme abzuweichen. Doch gerade sie sind diejenigen, die 338 Miriam Yegane Arani durch ihre Selbstinszenierung einen fremden Betrachter auf den Sinn des Treffens verweisen: das Lernen anhand von Büchern und schriftlichen Aufzeichnungen. Das Foto wurde mit einem (damals sehr modernen) Selbstauslöser gemacht und Mieczyslaw Knapski, der Besitzer des Fotoapparats, sitzt zwischen den zwei lächelnden Mädchen in der linken Bildhälfte. Mit der Aufnahme sollten die Mitglieder einer Gruppe polnischer Pfadfinder, der auch Knapski angehörte, beim geheimen Unterricht im Bild festgehalten werden. Innerhalb des im Untergrund tätigen polnischen Pfadfinderverbands wurde neben anderen Aktivitäten (z.B. charitative Hilfeleistungen, Kriegsspionage) auch versucht, innerhalb kleiner Lemgruppen die verbotenen Bildungsinhalte zu vermitteln, 55 um so polnische Traditionen und ein nationales Bewußtsein aufrechtzuerhalten (vgl. Kleßmann 1989b, S. 124f; Nawrocki 1995, S. 17). Geheime Lemgruppen wie die hier gezeigte trafen sich unter den gebotenen Sicherheitsvorkehrungen in wechselnden Privatwohnungen in Poznan. Die polnischen Kinder und deren Eltern nahmen für die illegale Bildung im Untergrund große Risiken auf sich, da ein aufgedeckter Verstoß gegen die deutschen Vorschriften mit größtmöglicher Härte bestraft wurde (Nawrocki 1995, S. 15). Der auf dem Bild im Hintergrund sichtbare helle Vorhang ist ein Versuch, das Zimmer ansprechend einzurichten angesichts der Verdunkelungspflicht und der Notwendigkeit, Blicke in die von Diensträumen der NS-Funktionäre umgebene Parterre-Wohnung zu verhindern. Der konspirativen Organisation geheimen Unterrichts waren im Warthegau engere Grenzen gesetzt als in den anderen annektieren und besetzten Gebieten, da das Leben der Polen hier einer weitaus stärkeren Kontrolle unterlag und es aufgrund der vorausgegangenen „politischen Flurbereinigung“ und den Aussiedlungen an polnischen Lehrkräften mangelte. Daher erreichte die Ausbildung im Untergrund auch keinen so großen Umfang wie in anderen Gebieten 56 ; am stärksten entwickelte sich der geheime Unterricht noch im Raum Po- Die Qualität des geheimen Unterrichts und der abgelegten Prüfungen läßt sich aufgrund der mit Verhaftungen und KZ drohenden politischen Verhältnisse nicht mit den heute üblichen Kriterien beurteilen, zumal auch die allgemeinen Lebensumstände der polnischen Bevölkerung den Bildungswillen nicht gerade stärkten. Doch bei denen, die sich auf das Risiko des illegalen Unterrichts einließen, war durchweg eine hohe Motivation festzustellen, und in diesem Sektor des polnischen Widerstands waren Fälle von Denunziation außerordentlich gering (Kleßmann 1989b, S. 126ff.). Da im Warthegau aufgrund der politischen Bedingungen praktisch keine Möglichkeit zur Organisation von geheimen Universitätskursen bestanden, gründeten die aus Posen ausgesiedelten polnischen Lehrkräfte und Studenten 1940 in Warschau im Einvernehmen mit den polnischen Untergrundbehörden die geheime Uniwersytet Ziem Zachodnich (Universität der Westgebiete) (Madajczyk 1988, S. 352; Kleßmann 1989b, S. 128; Nawrocki 1995, S. 18). Charakteristisch für die polnischen illegalen Universitäten unter deutscher Besatzungsherrschaftvon welchen es im Generalgouvernement mehrere gab war die starke Betonung der Geisteswissenschaften, insbesondere der juristischen, philosophischen und historisch-literarischen Fächer (Kleßmann 1989b, S. 129). Verstohlene Blicke 339 sen, wo er einige tausend Kinder und Jugendliche erfaßte (vgl. Madajczyk 1988, S. 347, 349; Kleßmann 1989b, S. 123). Für diejenigen, die wie Mieczyslaw Knapski vor dem Krieg ein Gymnasium besucht hatten, zerstörte die Besatzungspolitik alle Möglichkeiten, ihre schulische Ausbildung in angemessener Form abzuschließen. Der bei Kriegsausbruch sechzehnjährige war zu dem Zeitpunkt, als die hier gezeigte Aufnahme gemacht wurde, bereits zwanzig Jahre alt. Bei den auf dem Foto abgebildeten Personen handelt es sich um die Mitglieder einer Gruppe für Selbstbildung (samokszahcenie), in der die jungen Polen sich selbständig Kenntnisse über polnische Literatur, Mathematik und Fremdsprachen wie Englisch aneigneten. Nacheinander bereitete jeder an dieser Gruppe Teilnehmende ein Thema für ein Treffen vor und referierte den anderen darüber. Allerdings waren die Möglichkeiten dieser autodidaktischen Lemgruppen begrenzt, da ihnen keine geeigneten Lehrbücher zur Verfügung standen. Da die Gruppe nur ein einziges Buch hatte wie man auch auf dem Foto sehen kann konnte immer nur eine Person aus der Gruppe mit dem Buch arbeiten. Die Beschaffung der für die geheimen Lemgruppen erforderlichen Bücher war ein Problem, das nur unter Aufbietung aller Möglichkeiten konspirativer Organisation gelöst werden konnte. Man bemühte sich vor allem darum, polnische Bücher vor der Konfiszierung und der Vernichtung mit dem Reißwolf zu retten. Darüber hinaus versuchten die Pfadfinder, eine kleine, geheime Bibliothek aufzubauen. 58 Die älteren Jugendlichen versuchten nicht nur, selber weiterzulemen, sondern unterrichteten auch jeweils ein bis zwei polnische Kinder, die nicht auf die deutschen „Polenschulen“ gingen, in der polnischen Sprache, weil diese sonst Analphabeten geworden wären. 5<1 Das im Untergrund organisierte geheime Bildungswesen war einer der wichtigsten und charakteristischsten Bereiche des polnischen Widerstands. Das konspirative Bildungssystem war vor allem im Generalgouvernement hochentwickelt, reichte aber bis in den Warthegau hinein und bildete hier neben geheimen Theater- und Musikveranstaltungen als auch illegal begangenen Nationalfeiertagen die Basis der kulturellen Selbstbehauptung der polnischen Nation (vgl. Kleßmann 1989b, S. 134). Auf den Fotografien, die von diesen Veranstaltungen erhalten sind, sieht man immer wieder junge Polinnen und Polen in ausgewählter Feiertagskleidung, hingebungsvoll lächelnd für ein schönes 57 So benachrichtigten beispielsweise Polen, die in den Altpapier-Sammelstellen der Papierfabrik arbeiteten, wenn sie Bücher fanden, die sich für den illegalen Unterricht eignen könnten, andere, die dann kamen, um sich die Bücher zuwerfen zu lassen. Unter den erschwerten Bedingungen der Besatzungszeit war die Organisation eines solchen Transfers allerdings nicht so einfach. Diese Information verdanke ich Mieczylaw Knapski und Aleksandra Bielerzewska. Die Informationen über die autodidaktische Lemgruppe habe ich von Mieczyslaw Knapski erhalten. 58 Ich verdanke diese Information Frau mgr. Aleksandra Bielerzewska. 59 Diese Information verdanke ich Mieczyslaw Knapski. Miriam Yegane Arani Foto, das sie die Leiden der Zeit vergessen machen und das Positive in Erinnerung behalten lassen soll. In Diskussionen mit denjenigen Menschen, die mir solche Fotografien gezeigt und überlassen haben, wurde häufig die Befürchtung geäußert, daß kenntnislose Betrachter meinen könnten, „den Polen“ sei es in dieser Zeit doch gut gegangen. Doch es würde bisher gewonnenen Erkenntnissen über die Geschichte der privaten Fotografie widersprechen, daß Menschen Bilder ihres persönlichen Leidens oder des Leidens ihrer Nächsten in ihre private Bilderwelt aufnehmen (vgl. Starl 1995). Das hier abgebildete Foto hat keine vorrangig dokumentarische Funktion, sondern bildet vielmehr einen Bestandteil der privaten Bilderwelt der polnischen Pfadfinder, in welcher ihnen diese fotografische Aufnahme als sichtbare Spur ihrer Selbstbehauptung diente. Gesteht man ihr eine gruppeninteme psychologische Bedeutung zu, dann wird das betont Schöne, Ordentliche, die ideale Selbststilisierung verständlich als kulturelle Form der Selbstvergewisserung und Identitätsbildung gegen die Unterdrükkung und Zwangsverwahrlosung durch die deutschen Besatzer. 9. Schlußbemerkung Gleichgültig, ob man die Fotografie nun als Medium moderner Massenkommunikation, als Bestandteil der populären Massenkultur oder als Kunstgattung verstand bzw. versteht, war das generelle Fotografierverbot für Polen im Reichsgau Wartheland zunächst einmal nur eine unter zahlreichen anderen Einschränkungen ihrer Partizipation am kulturellen Leben und den Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten moderner Gesellschaften. Wie hier gezeigt wurde, haben einige Polen trotz aller Verbote und Strafandrohungen mit mehr oder weniger dokumentarischen Intentionen Ausschnitte des Geschehens unter deutscher Besatzungsherrschaft in Bildern festgehalten. Darüber hinaus haben sie die von den deutschen Machthabern niemals explizit ausgeschlossene Möglichkeit, in ein Fotoatelier zu gehen und ein Porträt von sich machen zu lassen, gelegentlich wahrgenommen. Es existieren zahlreiche historische Bildquellen, die über verschiedene Aspekte des historischen Ereignisfelds Auskunft zu geben vermögen, die von der nationalsozialistischen Bildpublizistik bewußt und systematisch unterschlagen wurden. Diese wurde im gegebenen Rahmen nicht behandelt. Letztendlich ist es in bezug auf die Gegenwart und die Zukunft auch viel interessanter zu fragen, welche Fotos nach der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen im Jahr 1945 von wem warum veröffentlicht wurden und welche nicht. Der Warthegau war paßrechtlich gesehen Ausland und der Informationsfluß zwischen diesem Gebiet und dem sog. Altreich weitestgehend eingeschränkt. Die Informationsdefizite wurden nach dem Krieg unter den neuen politischen Vorzeichen nur zum Teil behoben, in anderer Hinsicht aber auch weiter ausgebaut. Die Funktion, die dabei die wiederholte Publikation jeweils bestimmter Gruppen von Fotografien und die Nicht-Publikation durchaus zugänglicher Bildquellen übernommen hat, ist bisher nicht systematisch erforscht worden. Verstohlene Bücke 341 Ich habe bei der Auswahl der hier abgebildeten Fotografien versucht, deutschen Leserinnen und Lesern die Besatzungszeit im Warthegau auch aus einer visuellen Perspektive zu zeigen, die der von Polen entsprechen könnte, die mit der physischen Gewalt der Besatzungsmacht nur mittelbar konfrontiert wurden und deren Leben und Selbstverständnis weder in Märtyrertum noch in einer totalen Politisierung aufging. Im Unterschied zu den zeitgenössischen deutschen Pressefotos und den Aufnahmen vom physischen Terror der Deutschen wie dem heldenhaften Widerstand der Polen schloß sowohl die private Bilderwelt der Polen wie auch die der Deutschen die politische Ereignisgeschichte oft aus ihrem Bildgedächtnis aus. Dabei muß dieser Form der „Verdrängung“ im Falle der Polen und der Deutschen eine jeweils andere Funktion zugeschrieben werden. Gerade der fließende Übergang von unter politischem Gesichtspunkt extremen äußeren Bedingungen und Geschehnissen in scheinbar davon unberührte private Welten, der anhand der fotografischen Hinterlassenschaften möglicherweise deutlicher wird als anhand amtlicher Schriftstükke, stellt Fragen an die Geschichtswissenschaft, die bisher sowohl von deutscher als auch von polnischer Seite nur unzureichend beantwortet wurden. Ich hoffe, damit zu einer differenzierteren Vermittlung historischer Hinterlassenschaften und dem Aufkommen weiterer Fragen beigetragen zu haben. Ganz besonders möchte ich allen denjenigen danken, die mir die diesem Aufsatz zugrunde liegende Materialsammlung ermöglicht haben, allen voran der Deutsch-Polnischen Akademischen Gesellschaft in Krakau, die mir die Materialsammlung in Polen und das Erlernen der polnischen Sprache ermöglicht hat, den Zeitzeugen aus beiden Ländern, die sich mir für die erforderlichen Gespräche zur Verfügung gestellt haben sowie Ryszard Rau und Jan Brüning, die für das Gelingen der fotografischen Reproduktionen mitverantwortlich sind. 10. Literatur und gedruckte Quellen Bura, Leonard (1981): Chrystus i Swastyki. In. Przewodnik Katolicki. 8/ 1981. S. If. Broszat, Martin (1961): Nationalsozialistische Polenpolitik 1939-1945. Stuttgart. Brylinski, Antoni (1976): Rehfelde. In: Z liter^ „P“, Polacy na robotach przymusowych w hitlerowskiej Rzeszy 1939-1945. Wspomnienia. Wybör i opracowanie R. Dylinski, M. Flejsierowicz, St. Kubiak. Wst^p Cz. Luczak. Poznan. S. 68-78. Daniel, Ute/ Siemann Wolfram (Hg.) 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(war) (gunst? kunst) * 4 «-immer ich-» -»immerhin«- >vielleicht< <manchmal> unmittelbarer Anschluß bei Sprecherwechsel kurze Pause etwas längere Pause (bis max. 1 Sekunde) längere Pause mit Zeitangabe in Sekunden Verschleifüng eines Lautes oder mehrerer Laute zwischen Wörtern (z.B. sa=mer für sagen wir) Wort- oder Konstruktionsabbruch unverständliche Sequenz vermuteter Wortlaut Altemativlautungen steigende Intonation (z.B. kommst du mitt) fallende Intonation (z.B. jetzt stimmt est') schwebende Intonation (z.B. ich sehe hier-) auffällige Betonung (z.B. aber ge"rn) auffällige Dehnung (z.B. ich war so: fertig) langsamer (relativ zum Kontext) schneller (relativ zum Kontext) leiser (relativ zum Kontext) lauter (relativ zum Kontext) Anhang: Transkriptionssymbole 345 LACHT * * AA: #ach so: # K #IRONISCH# [•••] Wiedergabe nichtmorphemisierter Äußerungen auf der Sprecherzeile (im Gegensatz zu z.B.: ha ha ha) Extensionszeichen für den Kommentarbereich (auf Sprecher- und Kommentarzeile) Kommentar zur Äußerung (auf der Kommentarzeile) Auslassung in Transkripten (ggf. mit näheren Angaben zum Umfang o.ä.) Zitate aus den Transkripten werden im Text kursiv wiedergegeben. Studien zur deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Die nächsten Bände: Andreas Paul Müller ‘Reden ist Chefsache’ Linguistische Studien zu sprachlichen Formen sozialer ‘Kontrolle’ in innerbetrieblichen Arbeitsbesprechungen Kathrin Steyer Reformulierungen Sprachliche Relationen zwischen Äußerungen und Texten im öffentlichen Diskurs Franz-Josef Berens / Rainer Wimmer (Hrsg.) Wortbildung und Phraseologie Gabriele Hoppe Das Lehnpräfix ex- Mit einer Einleitung zu grundsätzlichen Fragen der Lehnwortbildung. Beiträge zur Lehnwortbildung I Isolde Nortmeyer Die Lehnpräfixe inter- und trans- Beiträge zur Lehnwortbildung II Michael Kinne Die Lehnpräfixe prä- und post- Beiträge zur Lehnwortbildung III Daniel Bresson / Jacqueline Kubczak (Hrsg.) Abstrakte Nomina Untersuchungen zu ihrer syntagmatischen Erfassung in Wörterbüchern Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen mit unterschiedlichen Methoden (Gesprächsanalyse, Biographieanalyse, linguistische Textanalyse) der Frage nach, wie sich der aktuelle Kontakt zwischen Deutschen und Polen gestaltet und welche Rolle die problematische gemeinsame Geschichte dabei spielt. Auf der Grundlage authentischer Gespräche zwischen Deutschen und Polen werden die Rolle nationaler Vorurteile, unterschiedüchen Wissens und kulturspezifischer Annahmen für das wechselseitige Verständnis untersucht sowie die Möglichkeiten und Fallstricke der Kulturvermittlung beschrieben. Biographie- und fotoanalytische Beiträge liefern Einblicke in die Probleme der biographischen Entwicklungen von Menschen, die im deutsch-polnischen Spannungsverhältnis der Kriegsjahre aufgewachsen oder durch diese geprägt worden sind. Sie geben wichtige Hintergrundinformationen für das Verständnis des Verhaltens in aktuellen Begegnungen. ISBN 3-8233-5138-9