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Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Fernsehen

1996
978-3-8233-3020-2
Gunter Narr Verlag 
Bernd Ulrich Biere
Rudolf Hoberg

Am Beispiel unterschiedlicher Fernsehgenres wird in neun Beiträgen das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in einem audio-visuellen Medium diskutiert. Gegenüber klassischen medienwissenschaftlichen Analyseansätzen werden hier linguistisch fundierte Analyseverfahren vorgestellt und an reichhaltigem empirischen Material exemplarisch veranschaulicht. Bei aller Vielfalt der theoretischen Ansätze wie Analysebeispiele sind die Autoren darin einig, dass "Fernseh-Mündlichkeit" anders als die primäre Oralität eine sekundäre oder "inszenierte" ist. In unterschiedlichen Genres nimmt diese Inszenierung unterschiedliche Formen an, die wiederum in unterschiedlicher Weise an Normen der Schriftlichkeit wie der Mündlichkeit orientiert sind.

Studien zur deutschen Sprache ioksciii\(ii: \ Di: s institi rs ri u m: i tsciii: si'kaciii: Bernd Ulrich Biere/ Rudolf Hoberg (Hrsg.) Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Fernsehen gfiW Gunter Narr Verlag Tübingen STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE 5 Studien zur deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRÄCHE Herausgegeben von Hartmut Günther, Reinhard Fiehler und Bruno Strecker Band 5-1996 Bernd Ulrich Biere/ Rudolf Hoberg (Hrsg.) Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Fernsehen gnw Gunter Narr Verlag Tübingen Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufmhme Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Fernsehen / Bernd Ulrich Biere; Rudolf Hoberg (Hrsg.). - Tübingen: Narr, 1996 (Studien zur deutschen Sprache; Bd. 5) ISBN 3-8233-5135-4 NE: Biere, Bernd Ulrich [Hrsg.]; GT © 1996 • Gunter Narr Verlag Tübingen Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das güt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Druck: Müller + Bass, Tübingen Verarbeitung: Braun + Lamparter, Reutlingen Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 3-8233-5135-4 INHALT Bernd Ulrich Biere/ Rudolf Hoberg Vorwort Uta Quasthoff Mündliche Kommunikation als körperliche Kommunikation: Beobachtungen zur direkten Interaktion und zum Fernsehen Werner Holly Mündlichkeit im Fernsehen Harald Burger Laien im Fernsehen Jörg Häusermann Im Dialog mit dem Akteur Wilfried Schütte Boulevardisierung von Information: Streitgespräche und Streitkultur im Fernsehen Michael Klemm Streiten „wie im wahren Leben”? Martin Jurga Zur narrativen Struktur von Fernsehen - Das Beispiel Lindenstraße Ulrich Puschel Mündlichkeit und Rezeption 81 101 135 163 181 Heinrich Löffler Oralität und Schriftlichkeit im Fernsehen 199 VORWORT Mit dem Thema „Oralität und Schriftlichkeit im Fernsehen” setzte die Kommission für Fragen der Sprachentwicklung am Institut für deutsche Sprache in einem zweitägigen Kolloquium am 1./ 2. Juli 1994 ihre Arbeit zu dem Rahmenthema „Sprachgebrauch und Sprachwandel unter den Bedingungen neuer Medien und Technologien fort. Während der 1993 erschienene Sammelband „Sprache in den Medien nach 1945” (hg. v. B.U. Biere und H. Henne, Tübingen) eher retrospektiv die Herausbildung neuer Textsorten, Sprach- und Kommunikationsformen in der Entwicklung der unterschiedlichen Medien (Presse, Rundfunk, Fernsehen) seit 1945 thematisierte und damit versuchte, Bausteine zur neueren Sprachgeschichtsschreibung des Deutschen zusammenzutragen, versteht sich die Kommissionsarbeit nunmehr eher prospektiv und zielt auf aktuelle Entwicklungstendenzen zunächst in den Massenmedien, dann aber auch in den neuen Medientechnologien von e-mail und mail-box-Kommunikation bis hin zur „Kommunikation” in nationalen und internationalen Datennetzen, deren zunehmende Eigendynamik in ihrem Einfluß auf Sprachgebrauch und Sprachwandel bislang kaum abgeschätzt werden kann. Die in diesem Band zusammengestellten Beiträge beschäftigen sich unter vielfältigen Aspekten mit dem Medium Fernsehen . Durchgängig wird dabei die eigentümliche Spannung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit fokussiert, die für ein Medium charakteristisch erscheint, das einerseits „Mündlichkeit als körperliche Kommunikation scheinbar authentisch in Ton und Bild zu repräsentieren vermag, das andererseits aber gerade dadurch, daß zwar „der Wahrnehmung körperliche Präsenz geboten wird, die Konsequenzen dieser Körperlichkeit aber ausgeschaltet sind (Quasthoff, S. 24), eine spezifische „Doppelbödigkeit” erzeugt. So werden die die mündliche Alltagskommunikation bestimmenden Merkmale der Privatheit, Interaktivität und Spontaneität zwar suggeriert, sind jedoch letztlich nicht einlösbar. Dementsprechend erscheint „Fernsehmündlichkeit unter den andersartigen kommunikativen Bedingungen des Mediums ebenso „sekundär”, wie unsere Präsenz in einem mit den Kommunikatoren vermeintlich gemeinsamen (Wahrnehmungs-)Raum nur eine Pseudopräsenz, die „Intimität” des Mediums nur eine „sekundäre”, ist (siehe Holly, S. 32). Dies gilt auch dann, wenn Laien in die Medienkommunikation einbezogen, dabei aber in einer Weise „vorgeführt” werden, die eher der Inszenierung von Authentizität dient, als daß sie die Diskrepanz zwischen den Strukturen alltäglicher und medialer mündlicher Kommunikation aufzuheben in der Lage wäre (siehe Burger, S. 56). So werden auch die verschiedenen Möglichkeiten der Integration von O-Tönen in den Text eines Fernsehbe- 8 nchts primär als Fundus „dramaturgische(r) Möglichkeiten des Mediums” (Häusermann, S. 98) genutzt. Als „Inszenierungen” sind insbesondere auch Fernsehgespräche zu beschreiben, die als Live-Sendungen scheinbar paradox - „die Realität kommunikativen Alltagsgeschehens unzensiert”, ohne Filter und Schnittmöglichkeiten, zu vermitteln beanspruchen (Schütte, S. 102). „Boulevardisierung , Personalisierung und Emotionalisierung sind die bestimmenden Faktoren derartiger Inszenierungen, in denen Information in Form von Unterhaltung geboten wird, in denen Verstöße gegen Normalformen von Alltagsgesprächen ebenso kalkuliert sind wie die „verbale Konfrontation stark polarisierter Akteure”: „Streitgespräche, typischerweisein privaten Konstellationen im Alltag situiert, werden fernsehgerecht inszeniert” (Klemm, S. 135). „Wie im richtigen Leben” soll es auch in den Handlungen der fiktionalnarrativen Fernsehserien (wie z.B. in der ‘Lindenstraße’) zugehen. Hier wird das Zusammenleben in einer Sozialgemeinschaft so inszeniert, daß es im Modus der Zeitgleichheit real erscheint. Damit dienen gerade die Endlosserien offenbar nicht der bloßen Unterhaltung, vielmehr bilden sie ein Medium der kontinuierlichen „symbolischen Verständigung der Gesellschaft über sich selbst , ermöglichen — vergleichbar einem Typ von Gesprächssendung, der Einblick in private Schicksale zu geben und damit „soziale Neugier” zu befriedigen versucht - „Einblicke in eine Vielzahl unterschiedlicher Gesellschaftsräume, Lebensweisen und kulturelle(r) Praktiken” (Jurga, S. 175). Schließlich ist zu fragen, wie die Vielfalt der Sendungstypen vom Infotainment bis zur fiktiv-narrativen Fernsehserie von den Rezipienten „verarbeitet wird bzw. welche methodischen Zugänge sich einer Rezeptionsforschung eröffnen, die die Kommunikation in den Medien auf der Basis einer Kommunikation über Medien aus Rezipientenperspektiven zu rekonstruieren versucht und damit wieder zur authentischen, wenn auch durch das Medienereignis induzierten, mündlichen Kommunikation zurückkehrt: nicht auf dem Bildschirm, sondern vor dem Bildschirm (Püschel, S. 182, 185, 191 u.ö.). Und genau hier ist möglicherweise der Ort, an dem sich eine neue „Kommunikationskultur als Mix aus Oralität und Schriftlichkeit”, als „Conditio humana moderna” (Löffler, S. 200) herausbildet. Bernd Ulrich Biere Rudolf Hoberg UTA M. QUASTHOFF Mündliche Kommunikation als körperliche Kommunikation Beobachtungen zur direkten Interaktion und zum Fernsehen Abstract Der Beitrag bemüht sich um eine Systematisierung des interdisziplinären und äußerst heterogenen Forschungsfeldes zur mündlichen Kommunikation, wobei er die besonderen Anteile der Anthroplogie, Psychologie und Linguistik herausstellt. Er rekonstruiert eine Konstanz in der Heterogenität der unterschiedlichen Forschungsansätze in Form des Konzepts von mündlicher Kommunikation als somatischer Kommunikation, das implizit oder explizit vielen der in der Literatur vorgeschlagenen Kriterien zur Charakteristik von Mündlichkeit zugrundeliegt. Am Beispiel der rahmensetzenden Kraft stimmlicher Ausdrucksmittel wird das Konzept der Körperlichkeit als Konstituens mündlicher Kommunikation auf der Basis von privaten und institutionellen Formen der direkten Interaktion konkretisiert. Schließlich wird das Konzept der somatischen Kommunikation in Ansätzen als Analysekategorie für die Charakteristik der sekundären Oralität des Fernsehens erprobt. 0. Vorbemerkung Durch die Geschichte der neueren Sprachwissenschaft hindurch gab es eine sich immer wieder wandelnde Orientierung entweder an der Schrift- oder der Lautsprache als dem meist unausgesprochenen - Bezugspunkt primären wissenschaftlichen Interesses. Im Augenblick stehen wir in einer Phase, in der das Interesse an Mündlichkeit auf einer neuen Basis wieder auflebt, nachdem ein Nachholbedarf an Schriftlichkeitsforschung in den 80er Jahren teilweise erfüllt wurde. Diese neue Basis ist darüber hinaus in hohem Maße geprägt von der methodischen Beeinflussung durch das Paradigma der ethnomethodologischen Konversationsanalyse. Innerhalb dieser beiden wesentlichen Koordinaten ordnen sich die folgenden Überlegungen ein. 1. Versuch eines Überblicks über das Forschungsfeld mündliche Kommunikation 1.1 Vielfältigkeiten Mündliche Kommunikation ist im Unterschied zur schriftlichen eine condition humaine. 10 Uia M. Quasthoff Entsprechend diesem zentralen Stellenwert mündlicher Kommunikation(-sfähigkeit) für die Humanwissenschaften präsentiert sich das Forschungsfeld in einer kaum zu überblickenden disziplinären, methodischen, empirischen und nicht zuletzt anwendungsorientierten Vielfältigkeit. Die Forschungen zur mündlichen Kommunikation lassen sich hinsichtlich des Gegenstandes mindestens in die folgenden Aspekte des Phänomens unterteilen: verbale, non-verbale „Kanäle” lautliche, syntaktische, semantische, pragmatische Analyseebenen verschiedene Sprachen und Kulturen. Die Aufteilung der Untersuchungen unter den verschiedenen Disziplinen schließt mindestens die folgenden ein: - Anthropologie/ Ethnographie - Linguistik - Literaturwissenschaft - Psychologie - Phonetik/ Phonologie - Rhetorik/ Sprechwissenschaft - Semiotik - Soziologie - Theaterwissenschaft. Angesichts dieser Heterogenität und Komplexität des Forschungsfeldes stellt sich die grundlegende Frage nach der Legitimität der Beschäftigung mit „mündlicher Kommunikation” überhaupt. Ist es im Sinne der mit wissenschaftlicher Analyse notwendig einhergehenden Reduktion des Gegenstandes zu rechtfertigen, sich ohne vorgängige Einschränkung mit dem gesamten Forschungsfeld anstatt mit jeweils einzelnen vorab isolierten Aspekten zu beschäftigen? Es gibt drei Gründe, aus denen heraus aus meiner Sicht die Beschäftigung mit Mündlichkeit in der Kommunikation nicht nur legitim, sondern vom gegenwärtigen Forschungsstand geradezu gefordert ist: (1) Gerade die Heterogenität des Forschungsfeldes macht eine Zusammenschau als eigene analytische Aktivität dringend notwendig. (2) Auch das Ergebnis rechtfertigt im Nachhinein die Frage: Der analytische und systematisierende Umgang mit der Vielfältigkeit des Feldes wird zur Entdeckung von zunächst verborgenen - Konstanten in der Vielzahl der Ansätze führen. (3) Aus der kontrastiven Außensicht anderer Forschungsfelder gilt es, die prototypischen Eigenschaften mündlicher Kommunikation auf einer globalen Analyseebene zu erfassen. Mündliche Kommunikation als körperliche Kommunikation 11 Forschungen zum spezifischen Charakter der medial vermittelten Kommunikationsformen im Fernsehen etwa, die den thematischen Rahmen dieses Bandes bilden, sind an einer Bestimmung des wesentlichen Kerns alltäglicher, nicht medial gebrochener mündlicher Kommunikation interessiert, um im Kontrast dazu einen Teil der Spezifität des eigenen Gegenstands zu ermitteln. 1.2 Systematisierungen Die Heterogenität des Feldes manifestiert sich u.a. in den folgenden Dimensionen möglicher Beschreibungsansätze, die in Beziehung stehen zu der oben aufgeführten Einteilung nach Aspekten des Gegenstands und nach Disziplinen: - Die theoretisch unterschiedlich motivierten Geyenstarad.skonstitutionen, die verschiedene Disziplinen und verschiedene Methoden gemäß ihrer jeweiligen Forschungstraditionen vornehmen (z.B. mündliche Kommunikation als bestimmter Typ von Informationsverarbeitungsprozeß gegenüber mündliche Kommunikation als Prozeß der sozialen Interaktion). - Die Erforschung unterschiedlicher empirischer Bereiche, in denen mündliche Kommunikation eine Rolle spielt (z.B. mündliche Kommunikation auf der Theaterbühne, im privaten Gespräch, im Fernsehen). - Die verschiedenen Typen und Konstitutionsformen von Daten, die den einzelnen Ansätzen soweit sie empirisch orientiert sind zugrunde liegen. Mein notgedrungen gedrängter und darüber hinaus subjektiver - Versuch zu einem Überblick wird in seinem Aufbau diesem systematisierenden Raster folgen. Zu der Vielzahl möglicher bzw. bereits bearbeiteter Daten werde ich aus Platzgründen hier allerdings nichts sagen. Unter den mit mündlicher Kommunikation befaßten Disziplinen, die sich entsprechend gemäß ihrer Gegenstandskonstitution, ihres empirischen Feldes und ihrer Datenbasis ordnen lassen, sind drei insofern als zentral anzusehen, als sie gemeinsam die wesentlichen Segmente dieser breiten Skala von Forschungsaktivitäten zur mündlichen Kommunikation abdecken. Das sind die Anthropologie, die Linguistik und die Psychologie. In prototypischer Vereinfachung läßt sich formulieren: Gemäß der anthropologischen Perspektive dient Oralität als basales Kriterium zur Abgrenzung und zur Charakterisierung von Gesellschaften. Linguistische Methodologie rekonstruiert demgegenüber Kommunikation als die Realisierung geordneter sprachlicher Strukturen unterschiedlichen Typs. Die Psychologie schließlich fokussiert auf der kognitiven Verarbeitung von bestimmten 12 Uta M. Quasthoff Typen von Wissen als der grundlegenden Funktion kommunikativer Prozesse. Diese grundlegend unterschiedlichen Orientierungen decken das Forschungsfeld der mündlichen Kommunikation in seiner Gesamtheit ab, insofern dieses aus Varianten der folgenden Konzeptionen besteht: - Oralität als kulturelles Kriterium, zeichenhafte Strukturen verschiedener Kommunikationsformen, mentale Repräsentationen als Bedingung der Funktionen verschiedener Kommunikationsformen. Die anthropologische Rekonstruktion von „Mündlicher Kommunikation” als ein mögliches Merkmal von Kulturen oder Gesellschaften scheint auf den ersten Blick unvereinbar mit der Sichtweise auf den einzelnen kommunikativen Akt, die die Gegenstandskonstitution von Linguistik und Psychologie eint. Es gibt jedoch ein konzeptionelles „missing link” zwischen diesen Sichtweisen: Die Kategorie des kommunikativen Haushaltes einer Gesellschaft von Luckmann (1990) kann als theoretisches Band dienen zwischen den kommunikativen Konventionen, die eine gesamte Gemeinschaft charakterisieren, und den einzelnen kommunikativen Akten. Diese einzelnen Akte sind ihrerseits in komplexeren Formaten gemäß den Bedürfnissen der Gemeinschaften organisiert, die hier Gattungen heißen (Luckmann 1989, Bergmann/ Luckmann 1995). 1 Alle kommunikativen Konventionen einer Gemeinschaft von den einzelnen Diskursmustern wie Alltagserzählungen oder -erklärungen bis zu mündlicher Literatur bzw. zu sprachlichen Registern in den elektronischen Medien, die Muster von Alltagsgesprächen oder Kindersprache oder baby talk bilden eine Art kommunikativer „Identität” einer Kultur. Auf diese Weise liefert das Konzept des kommunikativen Haushalts die Verbindung zwischen den Strukturen einzelner kommunikativer Akte und der kommunikativen Charakteristik einer gesamten Gesellschaft. Derartige Beziehungen zwischen verschiedenen Sichtweisen auf mündliche Kommunikation, die im Fall von Anthropologie auf der einen sowie Lin- 1 Diese strukturellen Formate haben das Interesse vieler unterschiedlicher Beschreibungsansätze innerhalb der Forschungen zur mündlichen Kommunikation erregt, wie sich exemplarisch an einem neuen Sammelband zur mündlichen Kommunikation (Quasthoff (ed.) 1995) ablesen läßt. Sie erscheinen außer unter dem Namen genres (z.B. Cook-Gumperz 1995, Kotthoff 1995) in entsprechender terminologischer Vielfalt als: Schemata (Herrmann/ Grabowski 1995), Macrosyntax (Gülich/ Kotschi 1995), communication patterns oder speech genres (Gutenberg 1995), patterns of dialogue (Gibbon 1995), types of discourse (Hartmann 1995) oder discourse patterns (Hausendorf 1995, Quasthoff 1995, Hausendorf/ Quasthoff 1995). Mündliche Kommunikation als körperliche Kommunikation 13 guistik und Psychologie auf der anderen Seite erst durch Hinzufügen eines Verbindungsstücks hergestellt werden müssen, liegen im Verhältnis von Linguistik und Psychologie geradezu auf der Hand. Hier geht es prototypisch um das Verhältnis von sprachlicher Oberfläche der Außerungsakte zu dem wissensbasierten Prozessieren dieser Äußerungen. Entsprechend fällt die scheinbare Heterogenität der Gegenstandskonstitutionen verschiedener Disziplinen in synoptischer Sicht teilweise in ein Muster wechselseitiger Ergänzung. In methodischer Hinsicht ist festzustellen, daß im Forschungsfeld der mündlichen Kommunikation wie in anderen Bereichen die Grenzen der Disziplinen und die der Methoden oft nicht zusammenfallen. Das mikrosoziologische Vorgehen der ethnomethodologischen Konversationsanalyse (Heritage 1995) bzw. der Ethnographie (Auer 1995) hat viele linguistische Forschungen zu einzelnen Phänomenen mündlicher Kommunikation geprägt (z.B. Gülich/ Kotschi 1995, Hausendorf 1995, Quasthoff 1995 sowie Kallmeyer (Hg.) 1994). Auf der anderen Seite ist die Argumentationsweise und die Beschreibungssprache vieler Anthropologen und Ethnographen zum Thema Mündlichkeit (Scollon/ Scollon 1995) bzw. zur empirischen Analyse mündlicher Kommunikationsformen (Gumperz 1982a) stark durch linguistische Methoden und Begrifflichkeit geprägt. Besonders disziplinenübergreifend und im Forschungsfeld der mündlichen Kommunikation einflußreich ist weiterhin die Semiotik, die z.B. sowohl theaterwissenschaftliche Rekonstruktionen des Verhältnisses von dramatischem Text zur Aufführung (Fischer-Lichte 1995) als auch psychologische Ansätze zu non-verbalen Formen des Kommunikationsverhaltens (Kappas/ Hess 1995; Walbott 1995) als auch phonologische Auseinandersetzungen mit Prosodie etwa (Gibbon 1995) inspiriert. Die besonderen methodischen Anforderungen, die die Bearbeitung des Feldes mündlicher Kommunikation über die Standardmethodologien der einzelnen Disziplinen hinaus stellt, lassen sich aufteilen in die beiden Aspekte Mündlichkeit und Kommunikation. Aus meiner Sicht sind es mit Bezug auf die Mündlichkeit die Methoden der Forschungen zu Prosodie und zu non-verbalem Verhalten (Mimik, Gestik, Proxemik), die im Hinblick auf die besonderen Erfordernisse des Feldes hin angewandt und (in qualitativer Richtung) ausgebaut werden müßten. Mit Bezug auf die kommunikativen Aspekte sind es die Methoden der Ethnographie und der ethnomethodologischen Konversationsanalyse, die auch oft in Kombination miteinander zu fruchtbaren neuen Sichtweisen auf das komplexe Phänomen führen. 14 Uta M. Quasthoff Aus der Vielzahl der Domänen empirischer Forschungen zur mündlichen Kommunikation greife ich ein aus meiner Sicht besonders interessantes Feld heraus, das man „mündliche Kulturen” nennen könnte. Unter „mündlicher Kultur” verstehe ich nicht nur „schriftlose” Kulturen oder solche, die noch durch die „vorschriftliche” Oralität charakterisierbar sind, wie z.B. die indianischen Traditionen in Alaska (Dauenhauer/ Dauenhauer 1995) oder mündliche Streitrituale in Georgien (Kotthoff 1995). Mündliche (Sub-)Kulturen gibt es auch in hochindustrialisierten und entsprechend hochgradig schriftlich geprägten Gesellschaften wie z.B. der deutschen (Hartmann 1995). In diesem Sinne kann man von Graden der „sekundären Oralität” sprechen, wie Ong (1982) mündliche kommunikative Praktiken innerhalb eines gesellschaftlichen Kontextes von Schriftlichkeit nennt. Selbst Praktiken, die typisch für die elektronischen Medien sind, können unter diesem Konzept beschrieben werden (s.u. 3; Holly, in diesem Band und 1995). Richard Dauenhauer und Nora Marks Dauenhauer (1995) geben einen ungewöhnlich persönlichen Bericht über das Leben in einer und das Forschen über eine sterbende/ n Sprache und Kultur. Einer der wesentlichsten Gesichtspunkte in ihrem Artikel ist die Tatsache, daß mündliche Literatur und eine eigentlich nur mündlich konstituierte Sprache „embodied” seien und daß auch deren Erforschung entsprechend „körperlichen Kontakt” involviere. Das Aussterben mündlicher Sprachen ist eben mit dem Sterben von Menschen verbunden und wird ebenso betrauert. Sprach- und Literaturwissenschaftlerlnnen, deren Gegenstand mündlich konstituiert ist, können sich nicht in die Studierstube zurückziehen, sondern müssen sich körperlich in die Nähe von Menschen begeben, die die jeweilige Sprache sprechen bzw. die Literatur vortragen. Die beiden Autoren schildern ausführlich die Effekte der „Entkörperlichung”, die durch das Aufschreiben und Veröffentlichen der Literatur etwa oder durch das Zurückweichen/ Zurückgedrängtwerden der traditionellen Sprach- und Kommunikationsformen in marginale Lebensbereiche bei den Sprechern ausgelöst werden. Wir sind hier durch den Aspekt des Sterbens in einer besonders deutlichen Weise mit der Körpergebundenheit mündlicher Kommunikation konfrontiert. Diese Körpergebundenheit wird durch die technisch ermöglichte Speicherung und Weitergabe des Gesprochenen gerade nicht aufgehoben, sondern in gewisser Weise durch die technologisch ermöglichte Trennung von Stimme und Körper z.B. noch betont (s.u. 3). Ich werde im folgenden zeigen, wie verschiedene Aspekte und Ausprägungen dieses körperlichen Charakters von Mündlichkeit ein konstantes Element in der ansonsten kaum übersehbaren Heterogenität des Forschungsfeldes ausmachen. Mündliche Kommunikation als körperliche Kommunikation 15 2. Konstanz in der Heterogenität 2.1 Das Konzept der „somatischen Kommunikation” Der Ausdruck somatische Kommunikation stammt von Scollon/ Scollon (1995), die ihn nach einer ausführlichen Diskussion der verschiedenen Vorurteile und irreführenden Konnotationen, die mit dem Begriff mündliche Kommunikation als Merkmal von Gesellschaften und Kulturen häufig verbunden sind, statt dieses Konzepts Vorschlägen: „By suggesting the word somatic [...] we mean to make reference to the human body as the foundation of communication. In this we are following the lead of a Navajo woman whose grandson wanted to tape-record and transcribe her stories. She said, „When you separate the word from the body, that’s death”.” (S. 27) Sie charakterisieren dann ihr Konzept gegenüber herkömmlichen Vorstellungen von mündlicher Kommunikation: „By using the word somatic we want to emphasize the multimodal or multisensory nature of communication between bodies, the inherent redundancy or resonance among these multiple modalities, the real-time rhythmic synchronies involved in such communication, and the essential co-presence of all participants to the communication.” (ebd.) Ich werde im folgenden fragen, wie sich die wichtigsten Bestimmungen mündlicher Kommunikation zu diesem Konzept der Körperlichkeit verhalten. Aus meiner Sicht lassen sich die wesentlichen Bestimmungsstücke mündlicher Kommunikation in ihrer prototypischen, d.h. ursprünglichen und nicht technisch oder elektronisch vermittelten Form, in der folgenden Weise benennen und ordnen: (1) Semantisches Kriterium: Hier-Jetzt-Ich-Origo (Bühler 1934) Schriftliche Äußerungen sind außerhalb des menschlichen Gedächtnisses gespeichert und erfordern entsprechend nicht die Gleichzeitigkeit und Gleichartigkeit von Produktion und Rezeption. Mündliche Akte sind im Unterschied dazu an die unmittelbaren zeitlichen, örtlichen und personalen Bezugspunkte der Außerungssituation gebunden: Wer spricht wann, wo, zu wem ist indexikalisch in die Bedeutung der Äußerung verwoben, braucht nicht - und kann nicht vollständig (Garfinkei 1967) versprachlicht zu werden. Das liegt an der ständigen physischen Verfügbarkeit dieser situationeilen Bedingungen. Natürlich bietet Sprache auch gerade die Mittel zum Überwinden der situationeilen Gebundenheit: Wir sprechen über „nicht jetzt” im Sinne von vergangenen und zukünftigen Ereignissen. Wir können auch so sprechen, als sprächen wir „nicht jetzt”. Man kann über andere Orte sprechen und sprechen, als spräche man an einem anderen Ort. Ich 16 Uta M. Quasthoff kann sogar so sprechen, als spräche nicht ich (Goffman 1974). Aber jeder sprachliche Aufbau einer Diskurswelt außerhalb der Hier-Jetzt-Ich- Gebundenheit, wie er prototypisch z.B. in einer erzählten Geschichte geschieht, ist sofort und ohne weiteren Übergang zerstört zugunsten der automatisch wieder gültigen Hier-Jetzt-Ich-Koordinaten, wenn z.B. jemand „Feuer” ruft. (2) Verarbeitungskriterium: Transitorischer Charakter Da die exakte Form einer mündlichen Äußerung nur unter den beschränkten Bedingungen des Arbeitsspeichers des Gedächtnisses bewahrt werden kann (Wessells 1984), kann sie vom Produzenten auch nur in sehr beschränkter Weise bearbeitet werden (Gülich/ Kotschi 1995, Herrmann/ Grabowski 1995). Dieser transitorische Charakter mündlicher Äußerungen erfordert ein gewisses Maß an Redundanz und struktureller Transparenz. Bestimmte Arten von Komplexität müssen reduziert sein im Vergleich zu schriftlichen Äußerungen, deren Form in Produktion und Rezeption der Bearbeitung zugänglich ist. (3) Formales Kriterium: „Mehr-Kanal” Kommunikation Im Unterschied zu Schreiben und Lesen benutzt das Sprechen und Zuhören mehrere visuelle und akustische Zeichensysteme gleichzeitig bei der Realisierung eines kommunikativen Aktes. M.a.W., die formale Gestalt einer jeden mündlichen Äußerung ist ein komplexes Gefüge auf vielen Manifestationsebenen (lautlich, mimisch, gestisch, proxemisch) und darf nicht auf die „sprachliche Form” reduziert werden. Obwohl es natürlich auch irritierende Fälle von Nicht-Übereinstimmung zwischen sprachlichen, parasprachlichen und mimischen „Botschaften” geben kann, ist der Normalfall in der Kommunikation zwischen Erwachsenen eine entsprechende Redundanz, die wiederum die Verarbeitung erleichtert. (4) Kommunikative Kriterien: Die ständige physische Verfügbarkeit des Hier-Jetzt-Ich (und Du) unter der Kommunikation, die in semantischer Hinsicht die besondere referentielle Gebundenheit mündlicher Kommunikation in der Sprechsituation konstituiert, etabliert auch bestimmte Eigenheiten des Sprechereignisses in kommunikativer Hinsicht. Recipient Design Die wechselseitig anerkannte Ko-Präsenz der Teilnehmerinnen einer Begegnung (Goffman 1971, Hausendorf 1995) führt dazu, daß jede(r) Teilnehmerin seine/ ihre Äußerungen spezifisch auf seinen/ ihren Zuhörerin zuschneidet. Die ethnomethodologische Konversationsanalyse hat diese wechselseitige Orientierung jeder Äußerung auf den jeweiligen aktuellen Rezipienten unter dem Terminus recipient design als eines der eie- Mündliche Kommunikation als körperliche Kommunikation 17 mentaren Prinzipien der Interaktion herausgearbeitet (Sacks/ Schegloff 1978). Wechselseitige Darstellung Die wechselseitige Vermittlung des Gemeinten unter den Teilnehmern in der direkten Interaktion verläuft über aufeinander zugeschnittene Hinweise (contextualization cues, Gumperz 1982c), die es auch in der Analyse zu entschlüsseln gilt. M.a.W., die Teilnehmer selbst liefern sich wechselseitig die Schlüssel zur eindeutigen Bestimmung dessen, was „der Sinn” ihres Sagens und Tuns ist, weil ohne eine derartige Eindeutigkeit die notwendige gemeinsame strukturelle Organisation des Gesprächs nicht vorgenommen werden könnte. Die Analyse hat die Aufgabe, diesen auf Teilnehmerebene ablaufenden Prozeß der wechselseitigen Darstellung zu rekonstruieren. Kontextualisierung Jedes kommunikative Ereignis konstituiert in seinem Verlauf seinen eigenen Rahmen (Goffman 1974). Verbale Interaktion findet also nicht „in” einer Situation statt, sondern schafft sich ihre „Situation” im Vollzug selbst. Im Fall mündlicher Kommunikation stellen die Teilnehmer sich auch diesen Rahmen wechselseitig dar, machen ihn auf diese Weise i.a. eindeutig, verändern ihn auch gemeinsam oder tragen Konflikte um seine Bestimmung aus (Quasthoff 1979). Interaktion als gemeinsame strukturelle Leistung der Teilnehmer Eine Konsequenz der wechselseitig anerkannten Ko-Präsenz und Orientierung der Teilnehmer an einer Interaktion aufeinander sowie der gemeinsamen Etablierung eines Rahmens ist die gemeinsame, arbeitsteilig verfahrende Herstellung der erzeugten Außerungsstrukturen. Nicht nur der jeweilige Sprecher ist also strukturell verantwortlich zu machen für seinen Redebeitrag, sondern auch der Zuhörer, der ihn vorbereitet, ausgelöst, zugelassen, nicht zurückgewiesen hat. Der wechselseitige Zuschnitt der Äußerungen aufeinander schließt das wechselseitige Bearbeiten ein. Es läßt sich für jedes dieser Kriterien ausbuchstabieren, in welcher Weise die Körperlichkeit der Kommunikationspartner nicht nur involviert, sondern Grundlage seiner Funktionsweise ist. Die Ko-Präsenz z.B. als Grundlage der kommunikativen Kriterien fungiert in der beschriebenen Weise, weil sie in der Form der Mehr-Kanaligkeit eine körperliche Verfügbarkeit darstellt, weil sie „face-to-face” ist, d.h., das Sich-Sehenund-Hören ermöglicht, dadurch das simultane Abstimmen auf visuellen und akustischen Kanälen fundiert. Goodwin (1995) hat in diesem Sinne etwa gezeigt, daß das Verändern des Blickkontaktes den Adressaten einer Äußerung verändert, worauf die Form der Äußerung i.S. des recipient design wiederum in ihrem Vollzug angepaßt wird. 18 Uta M. Quasthoff Der transitorische Charakter der mündlichen Kommunikation und seine strukturellen Konsequenzen gehen auf die Begrenztheit des Gedächtnisses und der Verarbeitungsmöglichkeiten des menschlichen Organismus zurück. Die Hier-Jetzt-Ich-Origo verweist auf die raum-zeitliche Begrenztheit des Körpers, aber auch auf seine indexikalischen Möglichkeiten im „Zeigfeld” (s.u. 2.2). 2.2 Der körperliche Aspekt in unterschiedlichen Forschungsansätzen zur mündlichen Kommunikation Ich werde im folgenden zur Illustrierung des zentralen Charakters dieses Konzepts der somatischen Kommunikation vorführen, in welcher Weise es implizit neueren Ansätzen zugrundeliegt, deren Anliegen gar nicht in der Propagierung eines entsprechenden Entwurfs liegt. Ein zentraler und spezifischer Aspekt mündlicher Kommunikation sind parasprachliche Signale und im weiten Sinne solche Informationen, die durch Eigenschaften der Stimme vermittelt werden. Kappas/ Hess (1995) beschreiben in diesem Zusammenhang aus psychologischer Sicht die Art, in der affektive Zustände des Sprechers über stimmliche Merkmale manifest werden. Die Autoren heben damit einen Aspekt von mündlicher Kommunikation heraus, der oft vernachlässigt wird: die Tatsache, daß psychophysische Zustände des/ der Redenden bei der mündlichen Äußerung im Unterschied zur schriftlichen in dem Maße nicht zu verbergen sind, in dem diese Zustände sich körperlich niederschlagen und damit auch den Sprechapparat affizieren (vgl. Eckert/ Laver 1994). In schriftlicher Kommunikation können die Textproduzenten sich weitgehend frei entschließen, bis zu welchem Grad sie die Emotionen, die sie beim Schreiben haben, kommunizieren, indem sie sie etwa in Worte fassen. Eine Ausnahme hierbei ist interessanterweise die körpergebundendste Art schriftlicher Äußerung, nämlich die / / andschrift. Ein handschriftliches Erzeugnis, das Spuren eines zu verbergenden physischen Zustandes trägt, läßt sich allerdings vernichten. In der mündlichen Kommunikation ist ein manifest gewordener emotionaler Zustand, der sich durch die korrespondierenden körperlichen Zustände von muskulärer Anspannung, Zittern oder schnellem Atmen „verraten” hat, nicht wieder ungeschehen zu machen. 2 Auf diese Weise liefert der Aspekt der parasprachlichen Merkmale und insbesondere der der über Stimmlichkeit manifest werdenden Affekte ein prototypisches Beispiel für den somatischen Charakter der mündlichen Kommunikation: Unsere Sprechwerkzeuge bzw. unser gesamter Stimmap- 2 Ein derartiger Zustand ist allerdings nicht nur rein physisch oder biologisch zu charakterisieren, sondern wird interaktiv dargestellt, mit Sinn versehen, nutzbar gemacht (vgl. Hausendorf/ Quasthoff 1995). Mündliche Kommunikation als körperliche Kommunikation 19 parat hatten in der Evolution primär andere Funktionen, wie z.B. Atmung und Nahrungsaufnahme. Es ist daher nicht verwunderlich, daß sich allgemein-menschliche Phänomene wie Angst, die sich beklemmend auf Brust und Atmung auswirkt, Ekel, der uns die Kehle zuschnürt, Wohligkeit, die entspannend wirkt auch in der Stimme ihren Ausdruck finden (Eckert/ Laver 1994, S. 163). In ganz anderer, nämlich semantischer Hinsicht ist die Deixis eine zentrale Domäne mündlicher Kommunikation. Heiko Hausendorf (1995) beschreibt in einem exemplarischen empirischen Feld, wie lokaldeiktische Ausdrücke (besonders hier und da) von Kindern und Erwachsenen im Verlauf von Spielerklärungen benutzt werden. Zu den interessantesten Ergebnissen gehört die folgende Beobachtung: Unter der Bedingung, daß sie nicht auf einen physisch anwesenden lokalen Referenzraum (z.B. das Spielbrett) verweisen konnten, weil das Spiel nicht vorhanden war, schufen Sprecher diesen Referenzrahmen gestisch und sprachlich, indem sie mit einer Geste ein imaginäres Viereck markierten: „Stell dir vor, hier wäre das Spielbrett”. Diese Beobachtung zeigt, daß der menschliche Körper in der mündlichen Kommunikation nicht nur selbst zeichenhaft als Symptom (Bühler) wirkt wie im Beispiel der stimmlichen Indikatoren sondern sich selbst transzendieren kann, indem er Referenzraum außerhalb von sich selbst schafft. Damit ist ein weiterer zentraler Baustein für die körperliche Involviertheit als essentielles Merkmal mündlicher Kommunikation geliefert. Wenn der beschriebene Zusammenhang zwischen Deixis und Körperlichkeit als ein prototypisches Beispiel für den Bereich der Semantik in der mündlichen Kommunikation gelten kann, so steht als nächstes die Frage nach der Rolle syntaktischer Strukturen in diesem Zusammenhang an. Bekanntermaßen konzipieren klassisch-linguistische Satzmodelle ihren Gegenstand i.a. im Sinne der grammatisch inspirierten Generierung oder des mehr kognitiv fundierten „Parsing” durch einen „Sprecher-Hörer”. Im Unterschied dazu ist die Konstruktion einer satzäquivalenten Äußerung in der mündlichen Interaktion aus der Sicht der Konversationsanalyse das Ergebnis der gemeinsamen strukturellen „Arbeit”, geleistet von mindestens zwei Teilnehmern an dem kommunikativen Austausch, nämlich dem gegenwärtigen Sprecher und seinem Adressaten bzw. Zuhörer (s.o. 2.1). Goodwin (1995) analysiert Sätze als „intrinsically mutable objects”, die im Verlauf ihrer Konstruktion „umgebaut” werden können, um sie der wechselnden Aufmerksamkeit des Adressaten anpassen bzw. sie auf einen neuen Adressaten zuschneiden zu können. In einem Gespräch mit mehreren Teilnehmern wird durch Blickkontakt des gegenwärtigen Sprechers oft ein Adressat unter den Zuhörern im wahrsten Sinne des Wortes „ausgeguckt”. Entzieht dieser sich der Adressatenrolle während des Redebeitrags seines 20 Uta AI. Quasthoff Gesprächspartners durch Aufkündigung des Blickkontaktes, so muß die schon „laufende” Äußerung im Sinne des recipient design inhaltlich und formal auf einen neuen Adressaten zugeschnitten werden. Z.B. muß der spezielle Informationsstand des neues Adressaten berücksichtigt werden. In diesem Fall würde ein Wechsel von einem informierten zu einem uninformierten Adressaten bzgl. eines bestimmten Themas einen Zusatz zu einem bereits konstruierten Satz oder eine Reformulierung erfordern. In diesem Sinne steuert also nicht nur der jeweilige Sprecher, sondern auch der Adressat bzw. Zuhörer die syntaktisch-lexikalische Gestalt einer Äußerung in der mündlichen Kommunikation ist sie gemeinsam hergestellt. Das wichtigste Mittel, über das Adressatenselektion bzw. Aufmerksamkeit dargestellt wird, ist Blickkontakt. M.a.W., wenn Goodwin rekonstruiert, in welcher Weise die Konstruktion eines Satzes dadurch beeinflußt wird, daß der Zuhörer den Sprecher ansieht oder nicht ansieht, rekonstruiert er gleichzeitig einen weiteren zentralen Aspekt der körperlichen Qualität mündlicher Kommunikation. Interessanterweise liegt der Fokus hier auf dem körperlichen Agieren des Zuhörers und nicht des Sprechers. Nachdem ich für den lautlichen, den semantischen und den syntaktischen Bereich der mündlichen Kommunikation beispielhaft herausgearbeitet habe, in welcher Weise entsprechende Forschungsansätze die konstitutive Rolle der Körperlichkeit implizieren, werde ich exemplarisch für einen weiteren Bereich andeuten, welche theoretischen und empirischen Vorteile der explizite Umgang mit dem Konzept der somatischen Kommunikation bringen kann. 2.3 Die Körperlichkeit der mündlichen Kommunikation am Beispiel der Kontextualisierungsverfahren Eine zentrale Fragestellung im Bereich der empirischen Forschungen zur Organisation von mündlicher Alltagskommunikation beschäftigt sich mit Kontextualisierungen, also mit den „Methoden” (im ethnomethodologischen Sinn), mit Hilfe derer Teilnehmer ihre Äußerungen aufeinander abgestimmt so gestalten, daß sie im Vollzug den Rahmen der Interaktion (Goffman 1974) festlegen bzw. eine entsprechende Festlegung anbieten (s.o. 2.1). Wenn man diesen Prozeß der Festlegung bzw. des Aushandelns des gemeinsamen Aktivitätsrahmens in der mündlichen Interaktion unter dem Aspekt der Körperlichkeit von Mündlichkeit betrachtet, so stellt sich heraus, daß stimmliche Ressourcen in diesem Zusammenhang eine ganz wesentliche und bisher selten beachtete Rolle spielen. Eine genaue Beobachtung des Anteils, den die Stimme in diesem Prozeß der Kontextualisierung kommunikativer Aktivitäten durch diese Aktivitäten selbst hat, hat unseren Blick auf den unterschiedlich großen Aus- Mündliche Kommunikation als körperliche Kommunikation 21 schnitt aus dem expressiven Potential stimmlicher Möglichkeiten gelenkt, der jeweils typisch ist für bestimmte Rahmungen. Damit ist nicht die häufig erwähnte Tatsache gemeint, daß mündliche Diskurse im Unterschied zur schriftlichen Kommunikation prosodische Mittel haben - und nutzen -, um Bedeutungen zu etablieren (Gumperz 1982b, Michaels/ Collins 1984, Couper-Kuhlen/ Selting, i.D.). Die Grundthese lautet vielmehr, daß Teilnehmer zumindest in der deutschen Kultur alltäglicher Diskurse unterschiedliche Grade stimmlicher nicht nur prosodischer - Variation einsetzen, um unterschiedliche Rahmensetzungen vorzunehmen. Wir haben Aufzeichnungen aus den folgenden Typen mündlicher Interaktion ausschließlich im Hinblick auf ihre lautliche Manifestation empirisch miteinander verglichen: Frontalunterrichtsgespräche und informellere Unterrichtsinteraktion in der Grundschule sowie Familiengespräche beim Essen unter Beteiligung zweier Grundschulkinder (für eine ausführlichere Darstellung vgl. Hausendorf/ Quasthoff 1995). Bereits bei flüchtigem, aber auf die lautliche Ebene fokussiertem Hören stellt man fest, daß diese Aktivitätstypen deutlich voneinander unterscheidbar sind allein aufgrund der Variabilität von Tönen und Geräuschen, die produziert werden, und der Art, in der lautliche Äußerungen ggf. lokal kontextualisert werden. Das frontal organisierte Unterrichtsgespräch als Rahmen läßt z.B. keinen Raum für eine große Bandbreite stimmlicher Mittel. Natürlich finden wir viele lokal operierende prosodische Markierungen wie etwa das Lauter- oder Leiserwerden in der Stimme der Lehrerin als Reaktion auf nicht autorisierte Schüleräußerungen oder Unruhe in der Klasse. Wir finden auch lokal operierende prosodische Mittel mit einer globalen, rahmenorientierten Relevanz, z.B. besondere, unterrichtsspezifische Artikulationsformen auf seiten der Grundschullehrerin. 3 Wir sind hier aber nicht an einzelnen prosodischen Hinweisen interessiert, sondern beschreiben das Phänomen, daß die unterschiedliche Variationsbreite realisierter stimmlicher Möglichkeiten in globaler Hinsicht unterschiedliche Typen von Aktivitäten oder Rahmensetzungen konstituiert. Im Vergleich zum Frontalunterricht als relativ formellem Rahmen fanden wir in einer anderen Unterrichtsstunde der gleichen Klasse eine sehr viel größere Vielfältigkeit der stimmlichen Äußerungsformen: starke laut-leise Kontraste, viele Überlappungen von Stimmen, Flüstern aufseiten der Kinder, Lachen von Lehrerin und Schülerinnen. Beim Anhören dieser Tonaufzeichnung stellt sich unmittelbar der Eindruck von „untypischer” Klassenzimmer-Interaktion ein, und zwar zunächst aus- 3 Wer-weiß-denn-Fv&gen etwa sind oft prosodisch speziell markiert, tief, sehr langsam, mit Wort-fiir-Wort-Betonung. 22 Uia M. Quasthoff schließlich auf Basis der lautlichen Charakteristik der Aktivitäten, ohne Berücksichtigung der Inhalte. 4 Erst in einem zweiten Verstehensschritt läßt sich dann unter Zuhilfenahme inhaltlicher und anderer Elemente feststellen, daß in der Tat die Lehrerin offensichtlich mit der Art der Unterrichtsinteraktion unzufrieden ist, daß sie versucht, den Rahmen zu ändern, indem sie gehäuft explizite rahmenrelevante Direktiven produziert: „M, sei bitte ruhig”, „Schschschsch”, „wer etwas sagen möchte, meldet sich bitte”. Verglichen mit dieser informelleren, aber noch institutionell gerahmten Interaktion gibt es in den vergleichend dazu analysierten privaten Familiengesprächen beim Essen eine große Zahl zusätzlicher stimmlicher Ausdrucksformen. Abgesehen von non-verbalen Geräuschen wie Kauen, Pusten (auf heißes Essen) oder den Geräuschen von Messer und Gabel, aus denen die Verflechtung von Reden und Essen hervorgeht, finden wir die folgenden Äußerungen des Artikulationsapparats: Blasen, Flüstern, Lufteinziehen, plötzliches Luftausstoßen (P-huh) „Würgen”, Lachen, Stöhnen, ironisches Jammern, Interjektionen (Boah, Ohhh), Singen, Lesen, reine Lautäußerungen ohne Bedeutung etc. Wenn wir diese Beobachtungen zusammennehmen mit der großen Variabilität in den Bereichen Lautstärke, Tonhöhe und anderer prosodischer Mittel wie markierte Intonation, Betonung, rhythmische Beschleunigung, sind wir in der informellsten Interaktionsaktivität konfrontiert mit einer extremen Reichhaltigkeit stimmlicher Mittel. Die formellste Interaktion in unserem Vergleich ist demgegenüber durch einen sehr viel gleichförmigeren Gebrauch einer geringeren Anzahl von stimmlichen Möglichkeiten bestimmt. Unter dem Gesichtspunkt, daß die Stimme Teil des menschlichen Körpers - oder zumindest Teil der physischen Manifestation eines Individuums ist, kann die größere Prominenz stimmlicher Ausdrucksmöglichkeiten im Sinne einer größeren Prominenz von Körperlichkeit in informellen Interaktionsformen interpretiert werden. Auf diese Weise formuliert, liefert unsere Beobachtung einen erklärenden Zusatz zu den zahlreichen Befunden in den Forschungen zur mündlichen und schriftlichen Kommunikation, die die Gebundenheit an das Hier-Jetzt- Ich (Bühler 1934) in den Mittelpunkt der Bestimmung von Mündlichkeit rücken. Merkmale wie: 4 Elisabeth Gülich (persönliche Mitteilung) liefert einen zwar anekdotischen, aber sehr überzeugenden Beleg für die entscheidende Funktion der reinen Lautebene bei der Markierung des Rahmens der Aktivitäten: Sie spielte Aufzeichnungen verschiedener Alltagsgespräche solchen Zuhörern vor, die die Sprache, in der die Gespräche geführt wurden, nicht verstanden, und bat die Zuhörer zu raten, um welche Arten von Unterhaltung es sich jeweils handelte. Sie stellte ein erstaunliches Maß an Treffsicherheit fest, mit der die Gespächsformen ohne Zuhilfenahme von inhaltlichen Hinweisen erkannt wurden. Mündliche Kommunikation als körperliche Kommunikation 23 - „detachment/ involvement” (Chafe/ Danielewicz 1985) oder - „Interactive vs. Edited Text”, - „Abstract vs. Situated Content”, - „Reported vs. Immediate Style” (Biber 1986) beziehen sich implizit auf die Bindung der mündlichen Äußerung an den jeweiligen Sprecher (und Zuhörer). Im Sinne eines wesentlichen Merkmals der mündlichen Kommunikation relevant ist dabei die Tatsache, daß die temporalen, lokalen und kommunikativen Beschränkungen und Möglichkeiten (Hier-Jetzt-Ich) Folgeerscheinungen der raum-zeitlichen Gebundenheit der Physis sind. Interaktanten in direkter mündlicher Interaktion nutzen also Grade von Nähe oder Distanz zu ihrer Körperlichkeit bzw. Grade von Kontrolle über ihre körperlichen Ausdrucksformen neben anderen rahmenrelevanten Aktivitäten als eine Art Markierung auf einer Skala zwischen den Polen „Informell orientiert” und „Formell orientiert”. Eine derartige Skala wäre auch übergreifend für mündliche und schriftliche Kommunikation denkbar: Handschriftliche Äußerungen sind körpergebundener als im Druck publizierte Texte — Handschiiit läßt sich u.U. — in gleicher Weise wie stimmliche Äußerungen — auch nur eingeschränkter Kontrolle unterziehen. Gemäß der Polarität von formell informell, die wir mit Bezug auf die mündliche Kommunikation herausgearbeitet haben, ist es in diesem Zusammenhang nicht erstaunlich, daß handschriftliche Mitteilungen im Bereich der Schriftlichkeit auch als informeller, privater gelten als getippte oder gar gedruckte, bei denen die Distanz von der eigenen Körperlichkeit des Produzenten der Äußerung am weitesten fortgeschritten ist. 3. Fazit: Überlegungen zur sekundären Oralität des Fernsehens Ich habe beispielhaft gezeigt, in welcher Weise das Konzept der somatischen Kommunikation in dem angedeuteten Facettenreichtum geeignet ist, die Heterogenität vorhandener Forschungsansätze zur mündlichen Kommunikation theoretisch zu bündeln. Ich habe weiterhin exemplarisch vorgeführt, in welcher Weise die Fokussierung auf Stimmlichkeit als körperliches Merkmal unser Wissen über die Funktionsweise mündlicher Kommunikation erweitern kann. Abschließend will ich andeuten, daß es sich aus meiner Sicht lohnt, mit dieser Kategorie der somatischen Kommunikation als Leitgedanken die besonderen Doppelbödigkeiten der „sekundären Oralität” des Fernsehens zu bearbeiten. Innerhalb des thematischen Kontextes „Fernsehen” könnte die Herausarbeitung der Körpergebundenheit prototypischer mündlicher Kommunikation im Alltag als implizite Kritik an jeder medial vermittelten Kommuni- 24 Uta M. Quasthoff kation verstanden werden, insofern ja hier die Trennung von Stimme (und Erscheinungsbild) vom Körper, den die zitierte indianische Sprecherin als „Tod” bezeichnete, zur Regel gemacht wird. Vor diesem Hintergrund ist zunächst festzustellen, daß die Charakterisierung wesentlicher Merkmale der direkten mündlichen Kommunikation ausschließlich dazu diente, Unterschiede zur Kommunikation im und über das Fernsehen deutlich zu machen. Eine Bewertung dieser Unterschiede — etwa im Sinne einer fundamentalistischen Haltung gegenüber Kommunikationsformen, die durch die moderne Technologie möglich geworden sind ist in keiner Weise impliziert. Eine solche Haltung wäre durch die deskriptiv orientierten Methoden der Linguistik im übrigen auch gar nicht abzudecken. Ich nenne im folgenden drei Konsequenzen, die die Fokussierung auf den Aspekt der Körperlichkeit bei der direkten mündlichen Kommunikation für die Analyse der Fernseh-Kommunikation nahelegt: (1) Gemäß dem Eindruck des Zuschauers ist die Somatizität der Kommunikation im Fernsehen weitgehend gewahrt, insofern er die agierenden Personen hören und sehen, also stimmliche und Merkmale der körperlichen Erscheinung wahrnehmen kann. In diesem Sinne ist übrigens sicherlich ein Teil der Faszination, die das Fernsehen für viele gegenüber dem gedruckten Buch z.B. hat, zu erklären. Wie beschrieben ist in der direkten mündlichen Kommunikation die Konfrontation mit Körperlichkeit fest verbunden nicht nur mit der Möglichkeit, den Grad der Kontrolle über die körperlichen Ausdrucksmittel situationsdefinierend zu variieren, sondern konsequenterweise auch damit, diese Kontrolle sogar zeitweise zu verlieren. Die körperliche Exponiertheit in der direkten Kommunikation impliziert die Möglichkeit auch des unerwünschten Einblicks in Befindlichkeiten. 5 Wie häufig beschrieben (z.B. Holly, in diesem Band) schließen die Produktionsbedingungen von Fernsehsendungen diese Möglichkeit weitgehend aus. Was spontan wirkt, ist vorfabriziert. 6 Eine Doppelbödigkeit entsteht dadurch, daß der Wahrnehmung körperliche Präsenz geboten wird, die Konsequenzen dieser Körperlichkeit aber ausgeschaltet sind. 7 5 Darauf gründet sich z.B. auch die verbreitete alltagsweltliche Unterstellung, die Glaubwürdigkeit einer Person könne aufgrund des direkten Kontaktes verläßlicher eingeschätzt werden. 6 In diesem Sinne spricht z.B. Gutenberg (1995) von „faked orality”. 7 Die seltenen Fälle, in denen ein Nachrichtensprecher etwa „sich das Lachen nicht verbeißen”, also körperliche Ausdrucksmittel nicht kontrollieren kann, machen ent- Mündliche Kommunikation als körperliche Kommunikation 25 (2) Die Bandbreite eingesetzter stimmlicher Mittel konstituiert auch im Fernsehen verschiedene Aktivitätstypen. Eine Nachrichtensprecherin z.B. setzt ihren Rahmen u.a., indem sie in sehr viel geringerem Maße von der Verschiedenheit stimmlicher Ausdrucksmittel Gebrauch macht, als die Teilnehmerinnen in einer „informellen” Talkshow etwa. Damit suggeriert das Fernsehen auch in diesem Bereich Nähe zur Alltagswelt, wiederum allerdings mit spezifischen Brechungen: Während in der alltagsweltlichen Kommunikation stimmliche Ausdrucksformen in informellen Rahmensetzungen tatsächlich weniger kontrolliert sind, ist dieses Merkmal beim Interagieren vor der Kamera nicht zu unterstellen, selbst wenn es sich nicht um vorfabrizierte Aufnahmen handelt. Erzeugt wird also auf sehr kontrollierte Weise der Eindruck von Unkontrolliertheit. In der entsprechend charakterisierten mündlichen Alltagskommunikation definiert die durch ein geringeres Maß an körperlicher Kontrolle dargestellte Nähe zur Körperlichkeit die Interaktion und die Beziehungen der Teilnehmer als eher private. Das dürfte in unseren westlich-industrialisierten Gesellschaften im Zusammenhang mit der allgemeinen sozialen Regel zu sehen sein, daß Grade von Körperlichkeit (Körperabstand, körperlicher Kontakt, Sexualität) Grade von Intimität konstituieren. Im Fernsehen kann demgegenüber auch diese Definition von Privatheit zumindest gegenüber dem Fernsehzuschauer nur eine vorgetäuschte sein. Gleichwohl wird diese Fiktion von Privatheit auch auf anderen Ebenen durchgehalten, indem z.B. in Sendungen des entsprechenden Typs einzelne mitspielende Zuschauer aus dem Saal mit Vornamen angeredet und geduzt werden. (3) Als letzter Gesichtspunkt ist die Rolle der Mehrkanaligkeit in der Fernsehkommunikation hervorzuheben. In der mündlichen Alltagskommunikation ist eine ganz wesentliche Funktion der gleichzeitigen wechselseitigen Darstellung von Sinn auf dem akustischen und dem visuellen „Kanal” die lokale Anpassung der Äußerungsstrukturen an die Erwartungen und Bedürfnisse des Gegenübers i.S. des recipient design (Goodwin 1995). Es ist trivial festzustellen, daß dieser wechselseitige Zuschnitt in der Kommunikation zwischen Aktant vor der Kamera und Fernsehzuschauer nicht bestehen kann trotz aller Versuche zu sogenanntem „interaktiven Fernsehen”. Es ist aber interessant, in Erinnerung zu rufen, daß das Fernsehen innerhalb dieser einseitigen kommunikativen sprechend auch Fernsehgeschichte. 26 Uta M. Quasthoff Struktur nicht (ausschließlich) dieselben Diskursformen benutzt, die die direkte Kommunikation für entsprechende Verhältnisse vorsieht (Vortrag, Rede, Deklamation). Das ist mit der anderen Art von Körperlichkeit zu erklären, die die Kamera im Vergleich zu „natürlichen” Situationen des einseitigen Redens ermöglicht bzw. suggeriert: Die Kamera konstituiert einen Grad von räumlicher Nähe, der zwischen Redendem und Auditorium in räumlicher Ko-Präsenz i.a. nicht bestehen kann. Durch diese Nähe werden aber gemäß der Muster alltäglicher Interaktion non-verbale Kommunikationsformen aufgerufen, die eher dem persönlichen Gespräch als dem Agieren vor großem Publikum entsprechen, z.B. Blickkontakt. Die Agierenden in der Fernsehaufnahme benutzen nun entsprechend in ihrer non-verbalen kommunikativen Orientierung die Kameras als Interaktionspartner. Sie stellen den Blickkontakt zur aufnehmenden Kamera her und wechseln entsprechend, wenn eine andere Kamera aufnimmt. So verhalten sie sich in ihrer non-verbalen Orientierung ähnlich wie die von Goodwin aufgezeichneten Alltagsinteraktanten, die durch Blickkontakt einen neuen Adressaten aussuchen, wenn der zunächst Angesprochene ihnen den Blickkontakt entzieht. Allerdings korreliert dieses non-verbale Verhalten im Fernsehen nicht mit dem entsprechenden von Goodwin rekonstruierten verbalen in der direkten Interaktion: Der Aktant vor der Kamera kann mit der non-verbalen Orientierung auf eine neue Kamera nicht den Zuschnitt seiner verbalen Äußerungen inhaltlich und formal an einen anderen Adressaten anpassen. Im Vergleich zum Alltag finden wir also eine systematische Diskrepanz zwischen non-verbalem und verbalem Verhalten. Ähnlich wie in der beschriebenen Weise Unkontrolliertheit und Privatheit suggeriert wird, wird in Teilbereichen des non-verbalen Verhaltens also Interaktivität und Intimität suggeriert, ohne daß sie einlösbar wären. Aus den angedeuteten Zusammenhängen ließen sich zwei verschiedene Arten von wertenden Schlußfolgerungen ziehen, denen ich entgegentreten möchte: (1) Die durch das Fernsehen konstituierten Kommunikationsformen sind verfälscht, täuschen etwas vor, sind deshalb abzulehnen. (2) Der Vergleich zwischen medial vermittelten und alltäglichen Kommunikationsformen ist illegitim, weil die Medien ihre ganz eigenen Formen entwickelt haben, die durch den Rückgriff auf prototypische mündliche Kommunikation nicht angemessen zu beschreiben sind. Mündliche Kommunikation als körperliche Kommunikation 27 Beide Einwände hängen miteinander zusammen: Der zweite Einwand verkennt die Tatsache, daß einerseits das moderne Fernsehen wie ich in Ansätzen gezeigt habe an Muster alltäglichen privaten Kommunizierens anknüpft und daß andererseits die Zuschauer ein stückweit diese Muster in ihrem Rezeptionsverhalten anlegen. Dem ersten Einwand läßt sich mit Verweis auf denselben Zusammenhang begegnen: Kommunikative Akte im Fernsehen sind nicht in dem Sinne täuschend, als sie etwa die Aufrichtigkeitsbedingungen (Searle 1972) verletzen. Der Eindruck des Vorgetäuschten liegt darin, daß Kommunikationsmuster aus kommunikativen Bereichen stilisiert übernommen werden, deren Bedingungen für das Medium nicht oder nur eingeschränkt gelten. Damit ist eine Variante des Illusionären etabliert, die zum Medium gehört und von vielen geschätzt wird. 4. Literatur Auer, Peter (1995): Ethnographie Methods in the Analysis of Oral Communication. Some Suggestions for Linguists. In: Quasthoff (ed.) (1995), S. 419-440. Bergmann, Jörg R./ Luckmann, Thomas (1995): Reconstructive Genres of Everday Communication. In: Quasthoff (ed.) (1995), S. 289-304. Biber, D. (1986): Spoken and written textual dimensions in English. In: Language 62, 2, S. 384-414. Biihler, K. (1934): Sprachtheorie. Jena. Chafe, W./ Danielewicz, J. 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WERNER HOLLY Mündlichkeit im Fernsehen Abstract Mündlichkeit im Fernsehen wird mit Walter Ong als „sekundäre Mündlichkeit” verstanden. Sie läßt sich bestimmen: 1. nach den kommunikativen Bedingungen, die für das Fernsehen vorliegen; 2. anhand der sprachlichen Ausdrucksstrukturen, die sich in Fernsehtexten finden lassen; 3. auf der Ebene der Sprachkultur, auf der sich zeigen läßt, daß Fernsehen stärker als die Schriftmedien Teil des Alltagslebens geworden ist. Dabei ist immer zu berücksichtigen, daß Mündlichkeit ein komplexer Begriff ist, insofern als man phonische Realisierung und gesprochensprachlichen Stil unterscheiden muß. Weitere Differenzierungen ergeben sich für Fernsehtexte und -teiltexte durch Faktoren wie Produktions- und Performanzarten. Die Analyse von Ausdrucksstrukturen kann ergeben, daß auch Mündlichkeit im Fernsehen inszeniert sein kann, zum Zwecke der größeren persuasiven Wirkung. 1. Mündlichkeit: Ein komplexer Begriff Mündlichkeit, gesprochene Sprache, als eigenständiges Forschungsgebiet hat in der germanistischen Sprachwissenschaft lange Zeit keine besondere Rolle gespielt. Nicht daß gesprochene Sprache gar kein Thema gewesen wäre; ich erinnere nur an Behaghels Vortrag über „Geschriebenes Deutsch und gesprochenes Deutsch” aus dem Jahre 1899 (Behaghel 1927) oder an die Dialektforschung; aber erst mit den technischen Aufzeichnungs- und den verbesserten Abspielmöglichkeiten kam die systematische Erforschung in Gang; zunächst der Strukturen gesprochener Sprache, vor allem in Kontrast zur geschriebenen (z.B. Leska 1965, die Arbeiten der Freiburger Außenstelle des IdS u.a. 1 ), dann aber der dialogischen Strukturen, stark beeinflußt von der amerikanischen und britischen Konversations- und Diskursanalyse. 2 Daneben hat das Thema „Mündlichkeit” in den letzten Jahren verstärkte Aufmerksamkeit in einem allgemeineren Rahmen gefunden: hier geht es um die großen Linien der historischen Entwicklung oraler und literaler Kulturen, um Traditions- und Erzählstrukturen, wie sie etwa in den Arbeiten von Walter J. Ong oder im Freiburger Sonderforschungsbereich „Übergänge und Spannungsfelder zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit” thematisiert wurden; dabei war auch die Rolle von Medien im Blick. In diesem Zusammmenhang machte Ong die Bemerkung, daß die modernen elektronischen Medien ein neues Zeitalter der Oralität hervorbrächten, und er fügte hinzu, daß diese Oralität „sekundär” sei, 1 Einen kurzen Überblick geben Schank/ Schwitalla (1980) und Schank/ Schoenthal (1976). 2 Überblick z.B. bei Brinker/ Sager (1989). 30 Werner Holly weil sie auf Schriftlichkeit gegründet sei (Ong 1982, S. 135ff.). Viel mehr sagte er zu der neuen Fernsehmündlichkeit allerdings nicht, und ich will deshalb hier danach fragen, wie diese „sekundäre Mündlichkeit” eigentlich beschaffen ist. 3 Kein Zweifel, Radio und Fernsehen können nicht eine Rückkehr in die Zeiten primärer Mündlichkeit bedeuten, als es noch keine Schriftkultur gab. Daß die Situation anders ist, stimmt auf allen drei Ebenen, an denen ich hier ansetzen möchte: - Auf der Ebene der kommunikativen Bedingungen; wie unterscheiden sie sich für „direkte” und für „Fernsehmündlichkeit”? (Abschn. 2) - Auf der Ebene der sprachlichen Ausdrucksstrukturen; hier möchte ich vor allem zeigen, daß es im Fernsehen so etwas wie „inszenierte Mündlichkeit” gibt, auch wenn keine Drehbuchtexte gesprochen werden. (Abschn. 3) - Auf der Ebene der Sprachkultur, die ich zum Schluß nur kurz erwähne; hier ist die Parallele zur primären Oralität vielleicht am ehesten berechtigt, indem Fernsehen weitgehend die Strukturen und Funktionen von Folklore, von „popular culture” übernimmt. (Abschn. 4) Zunächst aber möchte ich noch etwas zur begrifflichen Klärung sagen. Es ist ja schon angeklungen, daß „Mündlichkeit” ein komplexer Begriff ist, den man mehrschichtig angehen muß. Die einfache Polarität von ‘gesprochen’ und ‘geschrieben’ wird den tatsächlichen Verhältnissen nicht gerecht. Deshalb greife ich hier eine Differenzierung von Ludwig Söll auf, die ein bekanntes Problem auf elegante Weise löst: Söll (1985) unterscheidet zwischen der ‘Realisierung’, die ‘graphisch’ oder ‘phonisch’ sein kann, und der ‘Konzeption’, deren Stil ‘gesprochensprachlich’ oder ‘geschriebensprachlich’ sein kann, und kommt zu vier Kombinationsmöglichkeiten: (1) phonisch und gesprochensprachlich (z.B. ein direktes Alltagsgespräch); (2) phonisch und geschriebensprachlich (z.B. eine Vorlesung); (3) graphisch und gesprochensprachlich (z.B. ein Interviewtranskript); (4) graphisch und geschriebensprachlich (z.B. ein Geschäftsbrief). 3 Dieser Beitrag ist eine verkürzte und vereinfachte deutsche Vortragsversion von Holly (1995); der (gesprochensprachliche) Vortragscharakter ist weitgehend beibehalten worden. Mündlichkeit im Fernsehen 31 ZWEI DIMENSIONEN VON MÜNDLICHKEIT/ SCHRIFTLICHKEIT (nach Söll 1985) Konzeptioi gesprochen phonisch Alltagsgespräch graphisch Transkript geschrieben Vorlesung Geschäftsbrief Koch/ Oesterreicher (1985) haben dieses Konzept weiterentwickelt zum Modell eines Kontinuums, das berücksichtigt, daß zumindest die stilistische Seite mehr oder weniger die entsprechenden Merkmale aufweisen kann, daß es also verschiedene Abstufungen zwischen den Polen gibt. 2. Kommunikative Bedingungen von Fernsehmündlichkeit Im folgenden werden Sachverhalte dargestellt, die eigentlich klar sind oder die man für trivial halten kann, die aber doch leicht aus dem Blick geraten, weil die Suggestion des Mediums beinhaltet, daß es einfach „wiedergibt”, wo es doch in Wirklichkeit sehr raffiniert „inszeniert”. Deshalb die folgenden Überlegungen zur Vergegenwärtigung der kommunikativen Bedingungen von Fernsehmündlichkeit. Medien ermöglichen bestimmte Kommunikationsformen. Diese Kommunikationsformen unterscheiden sich in vier Dimensionen, (1) je nachdem welche Kanäle zur Verfügung stehen, wie (2) Raum und (3) Zeit in der Kommunikation verändert werden und (4) ob wechselseitige Adressierung zwischen den Kommunikationsbeteiligten möglich ist. Alle vier Faktoren haben auch einen Einfluß darauf, ob es in dem betreffenden Medium Mündlichkeit gibt bzw. wie sie ausgestaltet wird. Fernsehen ist wie direkte Kommunikation mehrkanalig und aktuell. Darauf beruht wahrscheinlich sein unerhörter Erfolg. Anders als Printmedien erlaubt es auch phänische Realisierungen von Sprache, anders als der Rundfunk aber nicht ausschließlich. Auch Schrift ist möglich; sie kommt zwar nur in bescheidenem Umfang vor, aber sie steht immer dort zur Verfügung, wo man die Flüchtigkeit des gesprochenen Worts etwas aufhalten will, in Schlagzeilen, Grafiken mit komplizierten Informationen, Programmhinweisen usw. Wichtiger ist sonst die Kombination von Sprache mit Bildern und Tönen, was die expressive Wirkung verstärkt: Prosodisches und Parasprachliches spielen wieder eine Rolle. Außerdem kann ein Sprecher, soweit er im Bild ist, mit Haltung, Gestik und Mimik kommunizieren, mit Kleidung und Aufmachung. So weit die Parallelen zur direkten Kommunikation. 32 Werner Holly Er muß zugleich aber auch damit rechnen, daß er sehr genau beobachtet werden kann und daß Widersprüche zwischen den Inhalten auf den verschiedenen kommunikativen Kanälen sehr genau wahrgenommen werden können. Ist er nicht im Bild, muß er berücksichtigen, daß die Bilder das Gesagte vielfältig illustrieren, kommentieren, sogar widerlegen können. Bekannt geworden ist der Fall des amerikanischen Präsidenten Nixon: seine Hörfunk-Mündlichkeit war hervorragend, kamen die Bilder dazu, wirkte er unglaubwürdig, so daß man in seinem Wiederwahlkampf auch im Fernsehen nur Tonaufnahmen verwendete, die man mit Standfotos kombinierte. Und: Die Mehrkanaligkeit des Fernsehens ist nicht die natürliche direkter Begegnungen, die Kommunikate der verschiedenen Kanäle können unabhängig voneinander hergestellt und inszenatorisch manipuliert werden, was wir gewöhnlich nicht im Bewußtsein haben. Wer denkt schon daran, daß es bei Fernsehdiskussionen eine Bild- und Tonregie gibt oder daß in einem normalen Film jeder Satz und jedes Geräusch nachsynchronisiert sind? Dann der Raum. Zwei Partner, die sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, die denselben Raum teilen, müssen nicht erst verbal einen gemeinsamen Kontext aufbauen. Sie können ohne Mühe auf die gemeinsame Situation Bezug nehmen. Man hat deshalb Mündlichkeit auch als „Sprache der Nähe” bezeichnet, im Gegensatz zur „Distanzsprache” der Schriftlichkeit (Koch/ Oesterreicher 1985). Fernsehen der Name sagt es überspringt die Distanz und bringt uns den fernen Kommunikator nahe. Meyrowitz (1985) hat sogar davon gesprochen, daß es die soziale Bedeutung von Raum völlig verändert. Aber die Nähe und „Intimität” des Fernsehens ist nur bruchstückhaft, wir können nur sehen und hören, was man uns mit Kamera und Mikrofon auswählt, unsere Anwesenheit ist inszeniert, es ist nur eine Pseudopräsenz. Auch die Intimität der Medien ist, wie Habermas (1962) gesagt hat, „sekundär”. Das bedeutet: Die Sprachkommunikation muß sich auf Intimität einstellen und doch expliziter und kontextunabhängiger sein als in Face-to-face- Situationen. Und die Zeit! Das Entfernte wird uns im Fernsehen nicht nur nahe gebracht, sondern dies geschieht womöglich „zeitgleich”, wir sind „live” dabei, wie das Zauberwort heißt. Tatsächlich ist Fernsehen da am aufregendsten und wird seiner Medienspezifik am ehesten gerecht, wo es aktuell ist. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich nicht um die Spontaneität prä-literaler Kommunikation handelt. Das meiste, was wir im Fernsehen hören, ist längst fertig; es ist gar nicht mündlich konzipiert, sondern vorher geschrieben worden. Es gehört zum Inszenierungsrahmen des Fernsehens, daß es unmerklich die Produktion eines Texts von seiner Performanz und Rezeption lösen kann, soll heißen: Texte werden oft geschrieben, dann auswendig hergesagt oder (offen oder verdeckt) vorge- Mündlichkeit im Fernsehen 33 lesen, fast immer gesprochen. Selbst wenn jemand „frei” zu formulieren scheint, steht häufig etwas auf einem Spickzettel, oder ist vorher wenigstens in Stichworten konzipiert worden. Die deutlichste Abweichung der Fernsehmündlichkeit von der „echten” wird aber durch ihren schlimmsten Mangel bewirkt: durch die fehlende Wechselseitigkeit in der Kommunikation. Fernsehen ist Einwegkommunikation, das Medium ist gewissermaßen nur „semipermeabel”, es gibt keine unmittelbare Reaktion des Hörers. Der Fernsehkommunikator spricht ins Leere, an ein heterogenes und weitverstreutes Phantompublikum, von dem er wenn überhaupt nur dürre demoskopische oder zufällige individuelle Informationen hat; er kann gar nicht adressatenspezifisch Vorgehen, die Orientierung am „aptum” der klassischen Rhetorik, an dem, was situativ angemessen ist, kann nur sehr rudimentär sein. Damit ist viel von der Faszination von Mehrkanaligkeit, Nähe und Aktualität wieder dahin. Und diese Einseitigkeit ist mit dafür verantwortlich, daß im Fernsehen nicht einfach drauflos geredet werden kann, wie in direkter Interaktion. Eben weil der Rezipient selbst vom produktiven Part entlastet ist, hat er um so mehr Zeit, auf die Fehler und Ungereimtheiten spontaner Sprache zu achten. Wir warten geradezu darauf, daß einer patzt: gewissermaßen die Rache des Zwangsdauerrezipienten. Und doch will das Fernsehen auf die Annäherung an die Verhältnisse direkter Kommunikation nicht verzichten. So versucht es die Quadratur des Kreises, will die Spontaneität, die Nähe, die Wechselseitigkeit fingieren, um wenigstens „para-soziale Interaktion” zu bieten, wie es in dem berühmt gewordenen Aufsatz von Horton/ Wohl (1956) heißt, denn darin liegt seine größte Anziehungskraft, als Ersatz für direkte Interaktion zu gelten. Die Fernsehmündlichkeit trägt zu dieser Fiktion bei, mithilfe verschiedener Vorkehrungen: vor allem durch die vielen gesprächshaften Formen, wo man wenn schon nicht mit dem Rezipienten am Fernseher direkt dann doch mit einem Gesprächspartner im Fernsehen einfach „spricht”; weiterhin durch Stilmischungen, die ein möglichst großes Publikum erreichen sollen, insgesamt durch einen informellen, gesprochensprachlichen Stil. Nach all dem bisher Gesagten: Zur genauen Bestimmung der Mündlichkeit müssen wir im einzelnen schon von den Bedingungen her für jeden Fernsehtext oder -teiltext nach folgenden 6 Faktoren unterscheiden: (1) nach Produktionsarten: hier gibt es ein Kontinuum vom schriftlich konzipierten und wohlüberlegten Text zum spontan-gesprochensprachlichen. (2) nach Performanzarten: der Text kann offen verlesen werden, auswendig rezitiert, pseudo-spontan sein, d.h. von einem verborgenen Skript oder Teleprompter gelesen werden, halb-spontan, d.h. nach schriftlicher Vorbereitung improvisiert oder mit Hilfe von Stichwörtern, die von einem Spickzettel gelesen werden, und schließlich spontan. 34 Werner Holly (3) nach Teilnehmern: es gibt Monologe (mit dem Sprecher „im Bild” oder aus dem „Off’); Dialoge mit Sprechern/ Hörern „in” oder „aus” dem Bild, face-to-face oder vermittelt (Telefoninterviews), mit oder ohne Studiopublikum. (4) nach der Zeifrelation: „live”-Inszenierungen vs. aufgezeichnete, die mehr oder weniger bearbeitet sein können. (5) nach Authentizität: hier gibt es ein Kontinuum von Fiktionalem zu echter Dokumentation. (6) nach Formalität: ein Kontinuum von offiziellen zu informellen Situationen. 3. Sprachliche Ausdrucksstrukturen Am Anfang habe ich geschriebene/ graphische oder gesprochene/ phonische Realisierung von gesprochensprachlicher oder geschriebensprachlicher Konzeption (bzw. einem solchen Stil) unterschieden. Der Stil kann gesprochensprachlich sein, auch wenn die Realisierung (teilweise) schriftlich ist, wie etwa in modernen französischen Romanen wie Blank (1991) gezeigt hat - oder in wohlformulierten Texten von Nachrichtenmoderatoren der anchorman-Sendungen wie „Tagesthemen” oder „Heute-Journal”. Umgekehrt finden wir schriftsprachlichen Stil bei gesprochener Realisierung, sogar bei spontaner Formulierung, etwa wenn rhetorische Profis „druckreif’ sprechen. Letztlich entscheidet die Wahl bestimmter Ausdrucksstrukturen darüber, ob ein Text eher schriftsprachlich oder gesprochensprachlich erscheint. Es gibt eine ganze Reihe lexikalischer, syntaktischer und pragmatischtextlinguistischer Strukturen, die als typisch für gesprochene oder geschriebene Sprache gelten. Merkmale gesprochener Sprache sollen sein: kürzere, weniger komplexe Sätze, Parataxe, Ellipsen, Anakoluthe, Herausstellungen, Modalpartikeln, Sprechersignale, Referenzen auf die eigene Person, Einstellungsbekundungen, ein schmaleres Vokabular, Vagheit, direkte Rede, Verzögerungsphänomene, Selbstkorrekturen, weniger Kohärenz, aber mehr Personalisierung. ln geschriebener Sprache findet man dagegen: mehr Variation und Komplexität, hypotaktische und kompakte Strukturen, mehr Einbettungen in Nominalgruppen, abstrakte Formulierungen mit Passiv und Nominalisierung. Zusammenfassend ist der mündliche Stil mit den Begriffen „fragmentation” (Bruchstückhaftigkeit, Zerstückelung) und „involvement” (persönliches Engagement) (Chafe 1982) charakterisiert worden, der schriftliche Stil mit den Begriffen „integration” und „detachment” (Distanz). Ludwig (1986) verwendet die Begriffe ‘aggregation’ und ‘integration’. Halliday (1985) ordnet dem mündlichen Stil eine „dynamische” Perspektive zu, in der Phänomene Mündlichkeit im Fernsehen 35 eher als Geschehnisse verkommen, während der schriftliche Stil eine „synoptische” Perspektive einnehme, die dazu tendiere zu verdinglichen. Es gibt nun wie bei den kommunikativen Bedingungen keinen einheitlichen Stil im Fernsehen, sondern eine Vielfalt von Texten mit einer Vielfalt von Ausdrucksstrukturen, die man bestenfalls auf einer Skala von typisch mündlich bis typisch schriftlich lokalisieren kann. Eine ziemlich klare Trennung gibt es übrigens in der Schweiz, wo für Schriftsprachliches gewöhnlich die Standardsprache da ist, während als gesprochene Sprache der Dialekt verwendet wird (Burger 1984, S. 213-240). Es gibt allerdings auch hier Übergänge, z.B. geschriebene Versionen des Dialekts in regionalen Nachrichtensendungen. Normalerweise ist der Stil aber schwer vorhersagbar, weil er nicht nur von den erwähnten kommunikativen Bedingungen abhängt, sondern auch von den Strategien, die der jeweilige Autor oder Sprecher gerade verfolgt. Da man nicht vom bloßen Eindruck auf den tatsächlichen Produktionsprozeß schließen kann, weiß man als Rezipient nie genau, was geschrieben war und was nicht. Und: Den stilistischen Grad an Mündlichkeit kann man nicht objektiv messen (obwohl es dazu Ansätze gibt); in den meisten Arbeiten beschränkt man sich auf die Illustration durch kontrastreiche Extrembeispiele. Ich werde hier von jedem ein bißchen vorführen. Für die Analyse am interessantesten finde ich Fernsehtexte, in denen der mündliche Charakter mehr oder weniger fingiert ist. Mir fallen vor allem zwei typische Varianten auf: erstens die Fiktion von Mündlichkeit, die darauf zielt, daß ein geschriebener Text besser verständlich ist; zweitens der Versuch, auf diese Weise den Eindruck von Spontaneität zu erwecken, um ansprechender und überzeugender zu wirken, obwohl man eigentlich gewohnt ist, über den Gegenstand eher formell, d.h. geschriebensprachlich zu sprechen. Beispiele des ersten Typs sind die schon erwähnten modernen Nachrichtenpräsentationen durch einen sogenannten „anchorman” (z.B. in den „Tagesthemen” oder in „RTL-aktuell”). Sie sind unter anderem das Resultat jahrelanger Kritik an einer zu formellen, zu schriftsprachlichen Orientierung bei der Formulierung und Präsentation von Nachrichten; das gilt übrigens fast durchweg noch für Radionachrichten. Im Fernsehen versucht man heute in einer gesprächshaften Weise Elemente zwangloser Kommunikation in informative Gattungen einzubauen, um die Rezipienten besser zu erreichen. Früher stand der Korrespondent vor seiner Kulisse und sagte dem Zuschauer seinen Text auf; heute unterhält er sich mit dem Moderator, dem er auf einem Großbildschirm im Studio zugespielt wird. Trotzdem finden sich in Kommentar- und Korrespondententexten immer noch zu lange, zu komplexe Sätze; und die verlesenen Nachrichten enthalten immer noch eine beträchtliche Anzahl und Komplexität von Nominalisierungen, 36 Werner Holly zu viel lexikalische Variation und trotz einer Tendenz zur Cluster-Bildung (Puschel 1992) ein Festhalten am sogenannten „Leadprinzip”. 4 Der zweite Texttyp, von dem ich jetzt sprechen will, ist ganz anders, weil er nicht nur mündlich performiert, also vorgetragen ist, sondern auch mündlich produziert. Deshalb ist es etwas merkwürdig von mir zu behaupten, der gesprochensprachliche Charakter dieser Texte sei inszeniert. Dennoch will ich ein paar Argumente dafür anführen. Ich stütze mich dabei auf die recht detaillierte Analyse zweier Fernsehinterviews 5 mit dem ehemaligen WDR-Chefredakteur Fritz Pleitgen, eines hat er mit Helmut Kohl geführt, das zweite mit Egon Krenz. In den Äußerungen beider Politiker finden wir einen Mischstil 6 , der für Leute typisch zu sein scheint, die gewohnt sind, über politische Fragen eher geschriebensprachlich zu reden, die aber zugleich Anstrengungen machen, verständlich und lebendig zu bleiben. Faßt man zusammen, was herauskommt, wenn man sich auf die quantitative Auswertung bestimmter Ausdrucksstrukturen einläßt, so kann man ein paar Zahlen nennen, die ich kurz erläutern will: FERNSEHINTERVIEWS MIT CHAFE’S DATEN (Vorkommen pro 1000 Wörter) Kohl und 13,7 daß/ zu 14,7 Relativs. 10,4 Nominalis. 5,9 Nom.attr.v. 3,8 Phras.verb. 8,8 1. Pers. 48,7 Einst.bek. 6,7 Aufmerks. 14,8 Passiv 3,2 Parenthesen 7,8 Krenz gespr. geschr. (nach Chafe) 15.3 44,2 10,1 25.2 8,9 19,2 13.9 9,7 15,8 17,0 4,8 55,5 4.5 1,8 16,2 11.4 5,8 23,8 51.3 61,5 4,6 14.9 7,5 15.4 16,1 9.5 5,0 25,4 1.4 Es ergibt sich ein Bild, das man mit aller Vorsicht so deuten kann: der deutlichste Indikator einer fragmentarischen Syntax (die und -Verbindung zwischen Gedankeneinheiten) liegt bei den Politikern nur wenig über dem 4 Siehe Straßner (1982), Schmitz (1990); Überblick bei Brandt (1985). 5 Eine ausführliche diskursanalytische Beschreibung der Interviews in Holly (1992) und (1993). Zum Mischstil von Politikern siehe Holly (1989) und (1990). 6 Mündlichkeit im Fernsehen 37 Wert, den Chafe für geschriebene Sprache ermittelt, die Indikatoren einer integrativen Syntax, daß- und Infinitivsätze, Relativsätze, Nominalisierungen, die Verbindung von nominalen Attributen und Phrasenverbindungen, liegen dagegen über den Werten für gesprochene Sprache, jeweils bei Krenz deutlicher als bei Kohl. Fazit: beide sprechen „integrativer als sonst in spontan gesprochener Sprache. Auf der anderen Seite entsprechen die Indikatoren für einen personalisierten Stil, wie er in spontan gesprochener Sprache üblich ist, ziemlich genau diesen Werten, bei Kohl deutlicher als bei Krenz. Fazit: beide bemühen sich um die Personalisierung ihrer Rede, um mehr Anpassung an den intimen, den Nähe-Stil des Fernsehens. Kohl ist dabei allerdings routinierter als Krenz. Das mögen zwei Textpassagen belegen, die man vielleicht als typisch für beider Stil bezeichnen kann (Parenthesen in eckigen Klammern, Nachträge zwischen „+”): und das ist eine der fragen [das hat jetzt gar nichts mit mir zu tun] an unser system ob das richtig ist daß wir alle paar wochen wählen haben daß die handlungsfähigkeit der bundesregierung -(-der jeweiligen-)- [das hat mit mir wiederum nichts zu tun] immer daran gemessen wird wie die jeweilige kommunal- oder landtagswahl ausgeht [Kohl 65] aber zutreffend ist genauso daß sein satz man darf den Zeitpunkt nicht verpassen wenn man mit dem leben schritt halten will daß dieser satz mich persönlich sehr stark motiviert hat auch nach dem vierzigsten jahrestag probleme für das Politbüro aufzuwerfen und im Politbüro zu diskutieren die letztendlich zu den beschlössen der neunten tagung des Zentralkomitees geführt haben [Krenz 74] Bei beiden gibt es eine starke Tendenz zu einer integrativen Syntax, Kohl nutzt aber intensiver die Möglichkeiten, gleichzeitig eine dynamische Perspektive einzubringen. Seine Häufung von Parenthesen und Herausstellungen (im zitierten Beispiel ein Nachtrag) sie sind so etwas wie Spontaneitätsmarker erscheint mir wie eine Kompromißbildung angesichts widerstreitender Anforderungen: Komplexität der Inhalte, aber Berücksichtigung der gesprächhaften Situation. So wird Mündlichkeit gewissermaßen inszeniert, gegen die Tendenzen, die die thematisch gesteuerte Versuchung schriftlicher Formulierungsweise nahelegen. 4. Fernsehen und mündliche Sprachkultur Zum Schluß möchte ich noch sehr kurz, in Andeutungen, auf die dritte Ebene von Mündlichkeit im Fernsehen eingehen, die Sprachkulturelle. Fernsehen ist noch in einem anderen Sinne ein Medium der Mündlichkeit. Dafür mag der mehrschichtige Begriff der „Offenheit des Fernsehtexts ste- 38 Werner Holly hen, den besonders Fiske (1987) und die Arbeiten der „Cultural Studies” hervorgehoben haben. 7 Offen ist der Fernsehtext schon aufgrund seiner leichten Zugänglichkeit. Fernsehen kann jeder, es erfordert nicht wie die Printmedien die mühsam zu erwerbende Kulturtechnik des Lesens. Offen wird es auch durch seine durchgängige Orientierung am Unterhaltungsbedürfnis des großen Publikums. Dem kommt auch die sich verstärkende Tendenz zu immer kleineren Einheiten entgegen, sei es durch angebotene Abwechslung, sei es durch die selbstbesorgte des Umschaltens. 8 Das Fernsehprogramm, das der Rezipient sich mit seiner Fernbedienung zusammenstellt, wird ein Kaleidoskop, ein Mosaik von Bruchstücken, das keine kontinuierliche Zuwendung zu einem Text mehr erfordert. Es gleicht so immer mehr der Mündlichkeit in manchen Alltagsunterhaltungen mit ihren sprunghaften Themenwechseln und vielfältigen Bezügen. Offen sind Fernsehtexte auch dadurch, daß sie verschiedene Lesarten erlauben. Was Eco (1979) noch dem literarisch anspruchsvollen Text vorbehält, daß er nämlich durch Lücken, Mehrdeutigkeiten und Widersprüche einen mitgedachten „impliziten Leser” anreize, das schafft das Fernsehen mit trivialen Texten: mit Seifenopern, die durch Cliffhanger und Perspektivvielfalt den Rezipienten einbeziehen, aber auch durch die sogenannte „Ausgewogenheit” einer Berichterstattung, in der viele Stimmen zu Wort kommen, durch ein Überangebot an Information, aus dem sich jeder herauspicken kann, was er aufgrund seiner situativen und gruppenspezifischen Disposition gerade braucht. Dies geschieht übrigens oft in einem kommunikativen Prozeß der Aneignung von Fernsehinhalten, durch Sprechen über Fernsehen. Dabei kann man sehen, wie aktive Rezipienten den jeweiligen Text durch Ausfüllen, Auswählen und Umdeuten in ihre Alltagssituation integrieren. 9 Diese Dimensionen von Offenheit sind jedenfalls Anzeichen dafür, daß Fernsehen vielleicht mehr als je die Printmedien zu einem Teil der Alltagskultur geworden ist, nicht zuletzt weil es Züge von Mündlichkeit medial umsetzt. Aber diese Mündlichkeit ist eben nicht zu verwechseln mit der ursprünglichen primären; sie ist etwas Neues, unter den Bedingungen des Mediums, eben wie Ong sagte - „sekundäre” Mündlichkeit. 7 Zum Begriff der Offenheit siehe auch Holly (1995a). 8 Man unterscheidet heute „Zapping”, das Wegschalten von Werbung, von „Switching”, dem Durchschalten auf der Suche nach etwas Interessantem, von „Hopping”, wenn man mehrere Programme parallel verfolgt; vgl. Niemeyer/ Czycholl (1994). 9 Siehe dazu Holly/ Püschel (1993). Mündlichkeit im Fernsehen 39 5. Literatur Behaghel, Otto (1927): Geschriebenes Deutsch und gesprochenes Deutsch. In: Ders.: Von deutscher Sprache. Aufsätze, Vorträge und Plaudereien. Lahr. Blank, Andreas (1991): Literarisierung von Mündlichkeit. Louis-Ferdinand Celine und Raymond Queneau. Tübingen. Brandt, Wolfgang (1985): Hörfunk und Fernsehen in ihrer Bedeutung für die jüngste Geschichte des Deutschen. In: Besch, W./ Reichmann, O./ Sonderegger, St. (Hg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2. Berlin/ New York. S. 1669-1678. Brinker, Klaus/ Sager, Sven F. (1989): Linguistische Gesprächsanalyse. Eine Einführung. Berlin. Burger, Harald (1984): Sprache der Massenmedien. Berlin/ New York. Chafe Wallace L. (1982): Integration and Involvement in Speaking, Writing, and Oral Literature. In: Tannen, D. (ed.): Spoken and Written Language: Exploring Orality and Literacy. Norwood. S. 35-53. Eco, Umberto (1979): The Role of the Reader. Explorations in the Semiotics of Texts. Bloomington, London. Fiske, John (1987): Television Culture. London/ New York. 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Laien fungieren beispielsweise als Repräsentanten der außermedialen Welt, sie dürfen und sollen Gefühle zeigen, in ihrer emanzipiertesten Ausprägung sind sie gleichberechtigte, aber unberechenbare Akteure, die es unter Kontrolle zu halten gilt. Ihre Sprache zeigt eine große Bandbreite von Erscheinungsformen zwischen Spontaneität und Vorbereitetheit, zwischen „Echtheit” und Klischiertheit, zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Durch die Laien gelangen zudem vielfältige regionale Varietäten ins Medium. 1. Problemstellung Mit dem Begriff „Laie” möchte ich tentativ diejenigen Teilnehmer an Fernsehereignissen erfassen, die nicht professionell mit dem Medium zu tun haben. Genauer wäre also von „Fernseh-Laien” zu sprechen. Und auch das ist noch sehr unscharf. Eine Wörterbuch-Definition für „Laie” lautet etwa so: ’jmd., der auf einem bestimmten Gebiet keine Fachkenntnisse hat’ (Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache). In der Alltagswelt ist man also jeweils „relativer” Laie: relativ zu einem Sachgebiet und relativ zu anderen Personen. Jemand der in bezug auf das Medium Laie ist, kann in der Alltagswelt durchaus Fachfrau/ Fachmann sein. Und es wird immer üblicher, daß Fachleute wegen ihrer fachlichen Qualifikation im Medium erscheinen. Allerdings praktizieren sie im Medium nicht ihr Fach, sondern geben in der Regel zuhanden der Rezipienten Informationen über ihr Fach. Das ist ebenso trivial wie wichtig. Ein Wissenschaftler im Medium forscht nicht, sondern er gibt Auskunft über seine Forschungen, oder er gibt Ratschläge aufgrund seiner Forschungen usw. Bei den Fachleuten ist die Grenze zu den Medien-Profis fließend. Eine Ärztin wie Dr. Kühnemann beispielsweise wird sich in ihrer Funktion der Medizin-Journalistin durchaus als Profi verstehen. Ähnliches gilt für die breite Schicht von mediengeübten Politikern. Wenn ich im folgenden von Fernseh-Laien spreche, meine ich diejenige Gruppe von Personen, die in der Sendung selbst als Laien dastehen, die also nicht wegen einer spezifischen alltäglichen oder medialen - Qualifikation an der Sendung teilnehmen. Ihre alltagsweltlichen Qualifikationen werden sozusagen ausgeblendet. Ich habe andernorts 1 gezeigt, daß bei der Überführung alltagsweltlicher Eigenschaften ins Medium 1 Burger 1991, passim, zusammenfassend S. 410ff. 42 Harald Burger Transformationen stattfinden, die aus einer Person einen Repräsentanten einer bestimmten innermedial definierten Gruppe machen (der „Bürger”, der „Betroffenen”, eben auch der „Fachfrau” usw.). Daß jemand in der Sendung als Laie erscheint, heißt also, daß sie/ er innermedial auf bestimmte Weise in Szene gesetzt wird genauso wie die Fachfrau/ der Fachmann eine bestimmte mediale Phänomenologie hat. Wie das geschieht, soll hier gezeigt werden. Entscheidend ist somit nicht die Frage, wer in der außermedialen Welt tatsächlich Laie, wer Fachmann ist, sondern innerhalb des Mediums werden die einen zu Laien, die anderen zu Fachleuten profiliert. Auf diese Weise ergibt sich in vielen Sendungen, in denen Laien Vorkommen, ein funktionales Modell mit einer Dreiteilung der Rollen: Laie/ Fachfrau oder Fachmann/ Journalist. In der Sendung „Bitte melde dich” (Sat 1) werden die drei Rollen ganz klar nebeneinander konstituiert. Hier geht es jeweils darum, daß eine Person vermißt wird, seit kurzer oder auch schon seit sehr langer Zeit und daß die Angehörigen oder Freunde versuchen, die vermißte Person wiederzufinden bzw. sie dazu zu bewegen, daß sie sich wieder „meldet”. Normalerweise wird die Vorgeschichte durch eine Montage von Äußerungen der Angehörigen und erzählenden Passagen einer Off-Sprecherin/ eines Off- Sprechers mit Bildern von den Schauplätzen vermittelt. Dann gibt es Studio-Gespräche beispielsweise mit den Eltern. Schließlich befragt der Moderator eine Fachfrau, eine Psychologin, zu ihrer Einschätzung der Motive, die die vermißte Person für ihr Verschwinden gehabt haben mag, oder er bittet sie um eine Prognose der zu erwartenden Reaktionen der Person. Die Verteilung der Rollen ist ganz klar, schon durch das räumliche Setting: Während die Gespräche mit den Angehörigen im Hauptteil des Studioraumes, in einer bequemen Polstergruppe, abgehalten werden, finden die Gespräche mit der Psychologin in einer separaten Ecke des Studios statt, die mit zwei „sachlichen” kleineren Sesseln bestückt ist. Die Fachfrau ist (in den Sendungen, die ich gesehen habe) jeweils dieselbe wie der Moderator, aber natürlich im Gegensatz zu den wechselnden Laien-Gästen. Auch durch seine Formulierungen weist der Moderator den Personen ihre Rollen zu. Nachdem beispielsweise (in der Sendung vom 28.2.94) Vater und Mutter im Film über die näheren Umstände, wie der Sohn sie verließ, berichtet haben, gibt der Moderator dem Vermißten zunächst einen Hinweis, wie er sich „melden” kann, und bringt dann die Psychologin ins Gespräch: (1) M: Das Studio ist sicherlich eine gute Anlaufstation*, denn Ronnies Eltern sind heute abend hier bei uns zu erreichen. Und seine Schwester wünscht sich nichts mehr, als ihre Konfirmation im Mai mit Laien im Fernsehen 43 ihm zusammen leiern zu können. - Der Auslöser für das Verschwinden von Ronnie Richter war vermutlich seine Angst vor einer Klausur in der Schule, aber, er war ordentlich und anständig genug, nicht einfach abzuhauen". Sie haben das gesehen", im Gegenteil er ging sogar noch zum Rektor, um seine Bücher zurückzugeben. Nur mit seinen Eltern konnte er anscheinend nicht darüber reden. Claudia K., woran kann das liegen? Psychologin: Das ist erstmal äh ein ganz/ eine ganz normale Geschichte daß äh junge Leute - und schon mal gar wenn sie junge Erwachsene sind“, gerade volljährig geworden, äh ihre - Probleme, ihre Themen die sie interessieren", nicht mit den Eltern besprechen. Äh junge Leute suchen sich wie alle anderen Menschen auch ihre bevorzugten Gesprächspartner aus und das müssen nun mal nicht die Eltern sein und das heißt noch lange nicht daß es deshalb schlechte Eltern sind". Das ist ein ganz wesentlicher Gesichtspunkt den wir beachten sollten. Ähm was damn aber besonders schwierig war bei dem jungen Mann, war daß er offensichtlich gar keinen anderen Gesprächspartner hatte, den hat er sich am Tag seines Verschwindens möglicherweise äh bei dem/ also einf/ bei dem Rektor suchen wollen, diesen Gesprächspartner, aber diese ganze Aktion wurde unterbrochen. M: Dieses Wort, ich kann nicht mehr ich kann nicht mehr", dieses Zitat ist mir immer noch im Ohr. Kann das ein Indiz dafür sein, daß er sich so sehr unter Leistungsdruck gesetzt hat, daß er einfach überhaupt gar keinen anderen Weg mehr sah als wegzulaufen? Psychologin: In jedem Fall hat der junge Mann unter einem besonderen Druck gestanden, und diese schulische Situation, die wir kennen, ähm war zweifelsohne nur der Auslöser (...) Schließlich profiliert der Moderator noch seine eigene Rolle in diesem Setting als der, der den Einzelfall nun auf das allgemeinere Problem hin „generalisiert”: (2) M: Aber Schulstreß ist für mich auch das Stichwort um das Thema mal zu generalisieren". Es hat grade in den letzten Wochen Zeugnisse gegeben, und äh welche Empfehlungen würden Sie als Psychologin dann an diejenigen geben die halt in der Tat meinen sie könnten den Anforderungen nicht mehr standhalten? Oder der Moderator bittet die Fachfrau um Ihre Meinung zu seiner Vermutung, und schließlich „hält” er noch „fest”, was die Quintessenz ihres Statements ist: (3) M: Nach dem Verschwinden von Joachim Kübert kamen Gerüchte auf, daß vielleicht eine Liebesgeschichte der Grund für sein Ausreißen 44 Harald Burger gewesen sein könnte. In den letzten Monaten hatte er auch immer etwas mehr Geld von seinem Konto abgehoben als sonst üblich. Warum, das weiß aber niemand. Ich denke eigentlich immer wieder über diese Brieie nach liebe Zuschauer, oder den Brief, den Joachim Kübert in das Auto seiner Freundin gelegt hat. Alle seine Wertgegenstände wollte er verschenken, ein neues Leben wollte er beginnen, aber die ideAllen Werte zum Beispiel die Bilder die er gemalt hatte, die wollte er wohl für sich behalten. Claudia K., schönen Abend erstmal. In meinen Augen tut das doch eigentlich jemand, der wirklich aussteigt. Wie sehen Sie das? Psychologin: Es scheint es han/ als handle es sich bei Joachim Kübert um einen modernen Abenteurer, dem, erfüllt von dem Wunsch nach Weite, die Heimat zu eng geworden ist. Typisch für solche Menschen ist, äh, ein großzügiges Herz, ihre Hilfsbereitschaft, aber auch ihr fairer Umgang mit anderen, und ähm wenn wir uns das genau anschauen", hat er auch all diese Eigenschaften gezeigt", bevor er endgültig weggegangen ist aus seiner Heimat. Er hat die materiellen Dinge verschenkt, kurz zuvor dem Freund beim Umzug und nicht zuletzt einen Abschiedsbrief geschrieben der beruhigen sollte. Nun hät dieser Brief die Eltern nicht beruhigt, weil es ja auch nicht so einfach ist nachzuvollziehen, warum ein Mensch der in Sicherheit lebt, in äh alle Dinge hat, die ihn/ ihm Freude machen sollten, weggeht*, das ist ein sehr schwieriges Phänomen für Eltern so etwas zu verstehn, aber es ist eine Sehnsucht die in diesem Menschen lebt, und dieser Sehnsucht ist er nun mal nachgegangen. M: Also halten wir fest: So ein Mensch braucht Freiheit, die sollte man ihm vielleicht auch lassen, wenn aber so ein Abschiedsbrief seine Eltern nicht beruhigt, dann sollte er sich doch vielleicht zumindest einmal melden und äh ja es wäre schön wenn er es tut", danke Claudia K. (28. 2. 94) Es wäre eine eigene Studie wert zu untersuchen, wie sich der Moderator in bezug auf „seine” Laien und Fachleute einordnet. In der Regel versteht er sich als pfleglicher Hüter der Laien (dazu unten 2.3.) und als Mittler zwischen Fachleuten und Zuschauern. Das letztere wird besonders deutlich, wenn der Fachmann in seinen alltagsweltlichen Fachjargon verfällt und damit aus der Medien-Rolle herausfällt. 2 Ein Beispiel für viele aus Hans Meisers RTL-Sendung. Es geht um Geldanlagen, und ein Wirtschaftsfachmann - Journalist einer Wirtschaftszeitung der im Publikum sitzt, gibt Auskunft: 2 Verschiedenartige Belege dafür finden sich in Burger 1990, S. 261ff. und 1991, S. 276ff. Laien im Fernsehen 45 (4) M: Also was muß ich jetzt tun nochmal, ich habe 50’000 Mark, ich möchte dieses Geld gewinnbringend anbringen an/ anlegen und ich möcht auch noch Steuern sparen, zu wem geh ich dann überhaupt? + B: Sie sollten + M: Bera/ berät mich meine Bank richtig, vielleicht die mit dem grünen + B: wir brauchen über die deutsche + M: Bernd oder die mit dem blauen Streifen oder B: Bank kleingeschrieben deutsch sicher in dem Zusammenhang nich zu reden, die Dinge die in den letzten Tagen was äh Schneider AG angeht', aufgekommen sind*, die sind ein beredtes Beispiel dafür daß die Banken sicherlich nicht zu den besten Beratern in dem Bereich gehören*. Die Banken lind/ sind lizensiert mit dem Geld, mit ihrem Geld zu arbeiten, ähm da möcht ich Bertolt Brecht zitieren der gesagt hat, "Was ist ein Bankraub gegen die Gründung einer Bank? ", nur ich bin hier nicht da, um für die Banken Werbung oder Anti-Werbung zu machen*. [M wird zunehmend unruhig] Was wichtig ist*, um auf Ihre Frage Herr Heiser zurückzukommen", ist: wenn ich das Gefühl habe, Steuern sparen zu müssen*, dann drückt mich ja irgend eine Last. Dann muß ich mir, mit dem Steuerberater zusammen*, Gedanken darüber machen, wie groß denn der Anteil", denn das ist entscheidend, überhaupt ist", den ich einsparen kann. M: Mhm. B: Es nützt also nichts, wenn mich irgend jemand wildfremd am Abend aufsucht daheim in meinen Wohnräumen wo ich mich am wohlsten fühle, deshalb ist die Masche ja auch nicht daheim, oder Sie sorry - Sie + M: n bißchen einlullen — Gehirnwäsche auf ne besondere Art [unverst.] + B: zuhause zu besuchen bißchen [unverst.] B: das war ja der/ der Bereich der Ausbildung aber zurück auf Ihre Frage: Entscheidend ist ich muß mein Bedürfnis mein Finanz-Bedürfnis, verifizierend feststellen, wo denn überhaupt der Bereich ist wo ich sparen kann", und dann lassen Sie mich das bitte anschließen, Herr Heiser dann ist entscheidend daß ich Parallelen aufbaue*, daß ich mich also beraten lasse, nicht nur von einem der sympathisch erscheint", dessen blaue Augen M: Herr Brümm/ Herr Brümm/ B: mich vielleicht äh faszinieren M: Herr Brümmer, Sie/ Sie machen n bißchen so, daß ich kein/ f/ als wenn wir hier n Seminar machen, sagen Sie mir doch ganz einfach mal, ich hab doch keine Ahnung jetzt, und viele unserer Zuschauer, behaupt ich mal", ohne 46 Harald Burger B: Ja H: Sie zuhause beleidigen zu wollen", doch ich denke einfach mal". Sie haben zum Teil genauso wenig Ahnung wie ich", vielleicht haben Sie auch mehr, dann haben sie Glück gehabt. Wo geh ich denn hin", verdammt nochmal? (18.4.94) Der Moderator solidarisiert sich hier mit dem Publikum (im Saal und zu Hause am Bildschirm) gegen den Fachmann, der sich allzusehr fachlich gibt. Die saloppen Formulierungen und die schnoddrige Artikulation Meisers stehen in offenkundig beabsichtigtem Kontrast zur elaborierten Sprache des Fachmanns. „Laie” und „Fachfrau/ Fachmann” sind also Rollen, die Personen in Sendungen durch verbale und nonverbale Indikatoren zugewiesen werden. Laien lassen sich medial definieren zunächst über die Funktionen, die ihnen zugeschrieben werden. Sodann mindestens partiell auch über die Art und Weise, wie sie sprechen, und möglicherweise noch wichtiger wie man mit ihnen spricht. Zunächst will ich versuchen, für die Funktionen der Laien eine grobmaschige Systematik zu erstellen und die kommunikativen Ausprägungen dieser Funktionen zu zeigen, im Hinblick auf das verbale Verhalten der Laien wie auch der Moderatoren. In einem zweiten Schritt wird dann von den im engeren Sinne linguistischen Aspekten der Sprache der Laien die Rede sein. 2. Funktionen der Laien Den Laien sind im Laufe der Zeit verschiedene Dimensionen von Funktionen zugeordnet worden, die ich hier als Stufen bezeichne, wobei es sich mehr um eine systematische als eine chronologische Abfolge handeln soll, d.h., Funktionen der Stufe 1 kommen auch heute noch vor, aber sie sind wohl nicht (mehr) die dominanten. 2.1: Die erste auch im chronologischen Sinn -, die sozusagen klassische Form, wie Laien in die Medien kommen, findet sich heute noch in den Nachrichten. Laien erscheinen namenlos, als Masse, Sprecher von Massen, als Opfer von Unfällen, Verbrechen, kaum je als Dialogpartner (auch nicht bei den privaten Sendern). Im folgenden Beispiel wird der Laie mit einem Statement eingeblendet, das offensichtlich aus einem längeren Votum geschnitten wurde: Laien im Fernsehen 47 (5) M: Andere in der SPD-Führvmg sind jedoch kompromißbereit. Darüber kann Dreßler nur lächeln, und die Basis weiß, Harum die alte SPD auf neuen Wegen ist. XY [O-Bild/ Ton, ohne Einblendung des Hamens]: Wir, die SPD, als eigentlich alter Arbeiterpartei, wir haben in sämtlichen Parlamenten, die wir haben, zuviel Lehrer, Anwälte und Angestellte. (RTL „Aktuell”, 4.3.94) Als Gesprächspartner kommen sie vor allem in der reduzierten Dialog- Form der „Umfrage” vor, wie im folgenden Beispiel einer Straßenumfrage im Rahmen eines Inlandmagazins (Thema: Produktionsverlagerung bei der Firma Sandoz): (6) Sprecher [off, im Bild Straßenszene]: Bi de Lüüt uf dr Schtroß schtoost dr Entscheid vo dr Sandoz aber nid nur uf Ablehnig, sondern au uf Verschtändnis. Reporter [nicht sichtbar, Straßenszene]: Wi finde si das? [...] Frau 1 [on]: Ach luege Si", s chunnt no mängs anders. Chönne mir nid vil mache. Das sin Heere, di hänn s Gäld, mir müen joo sage hähä Mann 1 [on]: S wär besser wenn si do würde bliibe nid, ich meine au für d Schtatt Basel, schtüürtechnisch alles. Frau 2 [on]: Finds nüd eso fein aber wahrschiins isch bald nümme andersch mööglig, i weisses nid. [...] (Schweiz Aktuell 19.4.94) 3 2.2: Auf einer zweiten Stufe kommen Laien ins Fernsehen als Vertreter der Welt außerhalb der Medien, die für die (partielle und temporäre) Überwindung der Einbahnstraße funktionalisiert werden. Das kann auf verschiedene Arten geschehen: durch Übertragung des Radio-Phone-in’s 3 Hochdeutsche Uebersetzung: Sprecher [off, im Bild Straßenszene]: Bei den Leuten auf der Straße stößt der Entscheid der Sandoz aber nicht nur auf Ablehnung, sondern auch auf Verständnis. Reporter [nicht sichtbar, Straßenszene]: Wie finden Sie das? Frau 1 [on]: Ach schauen Sie, es kommt noch manch anderes dazu. Können wir nicht viel machen. Das sind Herren, die haben s Geld, wir müssen ja sagen. Mann 1 [on]: Es wäre besser, wenn sie hier bleiben würden nicht? ich meine auch für die Stadt Basel steuertechnisch ja. Frau 2 [on]: Finde es nicht so gut, aber wahrscheinlich ist es bald nicht mehr anders möglich, ich weiß es nicht. 48 Harald Burger aufs Fernsehen, durch ein mehr oder weniger aktives Studiopublikum, durch aktive Beteiligung von „Bürgern” an Diskussionssendungen im Studio usw. Auf dieser Stufe sind Laien nicht nur ein Instrument zur Behebung struktureller Probleme, sondern zugleich auch ein potentielles Risiko, eine unkalkulierbare Größe, die es im Griff zu halten gilt. Ich habe vom „domestizierten Rezipienten” gesprochen. 4 Diese Phänomene gibt es immer noch. Noch immer wird selektiert, die Schleusen sind nach wie vor wirksam, durch die Laien hindurch müssen, bevor sie ins Medium kommen. Als pervertierte Varianten der Rezipienten-Kontrolle kann man diejenigen Verhaltensweisen des Moderators werten, die den Laien diskriminieren: ironisches Heruntermachen, Nachäffen der Sprechweise des Laien, insbesondere der regionalen oder mundartlichen Elemente, oder seiner Unbeholfenheit gegenüber Fachsprachlichem. 5 Ein Beispiel mag hier genügen: (7) [L = Laie] C: Das war ein Werbespot. Das war ein Werbespot iür das neuseeländische Lotto. Und das war natürlich mit einem Trick gemacht he? , aber ham Sie kapiert machen mer ein kleiner Miniquiz, was für ein Trick war dabei? L: Tja, Bumble-Jumping. C: Wie? L: Bumble-Jumping C: Bö/ Bömbel Jumping? Ja. Nee, die Fischen*, die machen bömbömbömbömböm*, Sie meinen Bungee-Sprung? L: Ja s/ genau. C: Bungee-Sprung. Sie haben es wirklich erraten, sie haben den Film zurückgedreht, ja? Er is nämlich mit nem Fisch von der Brücke gesprungen, ja? Wir zeigen es Ihnen nun eben mal kurz. Ja? Hä? Hier kriegt er den Fisch, geht runter, springt runter da. Ja? Und da läßt er den Fisch frei, ’sch toll daß Sie das gleich hier entdeckt haben. Super. Sie haben den Quiz äh den Quiz gewonnen*. Sie kriegen ein Urlaub für eine Woche für zwei Personen im schönsten Urlaubsland", was ich kenne Deutschland! (Rudis Urlaubsshow, RTL, 24.4.94) 2.3: Auf einer dritten Stufe verändert sich das Verhältnis von Medium und außermedialer Welt tiefgreifend. Die Welt außerhalb der Medien wird 4 Burger 1989. 5 Beispiele dazu in Burger 1991, S. 357ff., und Burger 1995. Laien im Fernsehen 49 immer stärker dem Medium anverwandelt, in die Medienwelt transformiert. Dabei spielen die Laien nicht als Vertreter eines Publikums, sondern als Personen in ihrer Alltagsweltlichkeit eine zentrale Rolle. Die Alltagsweltlichkeit der Laien ist natürlich immer nur unter bestimmten Aspekten für das Medium interessant. Der in meinen Augen prominenteste Aspekt sind die Gefühle, denen Laien im Medium Ausdruck verleihen. Eine erste Spielart bieten Sendungen mit „Betroffenen”, z.B. die längere Zeit sehr beliebte Sendung „Veto” (BR). In erster Linie erzählen, berichten die Betroffenen über das vergangene Ereignis, wobei sie im narrativen Text ihre Emotionen einbringen sollen. Daneben haben sie auch die Möglichkeit, sich im aktuellen Streitgespräch zu engagieren, sich sichtbar „aufzuregen” . 6 Eine andere Spielart bekommt man in Sendungen mit Überraschungen zu sehen: Rudi Carreil, der Leute zu Hause aufsucht und in ihrer Fassungslosigkeit filmt und der im Studio dann das in der Realität Unmögliche möglich macht, oder der jemandem, der mehr oder weniger ahnungslos im Studiopublikum sitzt, einen lang gehegten und für unerfüllbar gehaltenen Wunsch erfüllt. 7 In verschiedenen derzeit aktuellen Sendungen wird kein Hehl daraus gemacht, daß die Laien geradezu die Aufgabe haben, in der Sendung ihre Gefühle zu zeigen. „Bitte melde dich” ist ein typisches Beispiel. In der Ausgabe vom 21.3.94 wird zunächst die Vorgeschichte eines Falls rekapituliert: (8) M: Es gab einmal ein "Bitte melde dich" im Frühling dazu, liebe Zuschauer, herzlich willkommen. Und am Anfang gleich was Erfreuliches. In der letzten Woche haben sich zwei Geschwister wiedergefunden, die fast eine Ewigkeit nichts voneinander gehört hatten. 35 Jahre lang suchte Siegrid Siegmann ihren Bruder Klaus Lange. Er war damals 1959 Knappe in einem Bergwerk in Weisum, dann verschwand er spurlos. Am letzten Montag kam die Erleichterung für Siegrid Siegmann. Nachdem sie Ihren Bruder hier bei uns über "Bitte melde dich" gesucht hatte, rief Ar sie bei uns in der Telefonzentrale an: [Ausschnitt aus dem Telefongespräch, nur die Stimme der angerufenen Frau S. ist zu hören: ] S: Ich freue mich — was die andern sich wohl freuen schön ist es vor allem, daß es dir gut geht und daß du lebst und daß du dich meldest bitte? mach ich./ Ich stell ihn mir erstmal fülliger 6 Beispiele von „Veto” sind analysiert in Burger 1991, S. 118ff. und 385ff. 7 Beispiele in Burger 1991, S. 57ff. 50 Harald Burger vor, graue Haare, denk ich mal, und äh vielleicht n kleinen Bart oder was. Dann wird die herzbewegende Szene eingespielt, in der sich Bruder und Schwester am Bahnhof umarmen: (9) [K = Klaus, I = Ilse] Sprecher [oti, Bahnhofszene]: Um 13 Uhr 15 war Klaus Lange angekonunen. Dann mußte er noch fast eine Stunde warten, bis auch seine Schwester aus dem Zug stieg. K: Tag Ilse, Tag Ilse I: Ah ist das schön freust du dich? K: Ja. I: Ich hätt dich aber nicht erkannt. K: Nee? I: muß ich mal erst kucken die Narbe ist noch da. K: Die ist noch da, die bleibt auch da. Schließlich begrüßt der Moderator die beiden im Studio. Der Moderator drängt sie dazu, sich die Gefühle, die sie beim Wiedersehen hatten, in Erinnerung zu rufen und sie zu verbalisieren, und er suggeriert ihnen geradezu, welche Gefühle sie gehabt haben müssen (Gefreut ist das eine ...): (10) M: Einen schönen guten Abend, Ihnen Frau Siegmann, einen schönen guten Abend, Herr Lange. Also Herr Lange, Ihre Schwester hat Sie nicht wiedererkannt. Wie ist es denn andersrum gewesen? Haben Sie Ihre Schwester erkannt? L: Den Moment noch nicht aber es kam dann. + M: Es kam dann im Laufe der Zeit ja? + L: [unverst.] M: Das war ja für mich auch etwas überraschend daß Sie gemutmaßt haben Frau Siegmann, daß äh Ihr Bruder son bißchen fülliger geworden is, vielleicht n Bart hat oder so etwas wie sind Sie darauf gekommen? S: Naja, mein Mann is im Laufe der Jahre auch n bißchen fülliger geworden *, die sind von einem Alter. + M: Ach Sie meinen, das liegt in der Natur der Sache und die Küche + S: Ja ja ja + M: zuhause - und sowas, ne? Und dann auch nich mehr ganz so oft + S: ja genau Laien im Fernsehen 51 M: Weggehen, ein bißchen ruhlicher/ äh ruhiger, betulicher, zuhause sein - und da nimmt man schon ein bißchen an Gewicht zu. Wie war denn bei Ihnen so überhaupt die Gefühlslage, wie war das gestern am Bahnhof? S: Bja, im Zug war ich schon mal sehr nervös - und wie ich dann ausgestiegen bin, ja dann hab ich mir mal gedacht du darfst nicht weinen du darfst nicht weinen, aber dann bin ich dann langsam losgegangen, irgendwie hab ich mich gefreut. M: Mhm. Gefreut ist das eine, auf der anderen Seite aber auch die Angst, daß die Vertrautheit gleich nich wieder da ist. S: Ja, das das natürlich auch. M: Und dann? S: Naja wir hatten ja nun schon telefoniert letzte Woche *, da wars eigentlich so *, als wenn er gar nicht wöggewesen is - und so kam mir das gestern auch vor. + M: Also gleich ne völlige Vertrautheit [unverst ] + S: ja j a J a g ar nich fremd M: Erzählen Se doch mal so n bißchen, was is da so in Ihnen vorgegangen, hamse gleich so über alte Zeiten gesprochen - oder hamSe erstmal noch n bißchen sich so langsam vorgetastet? L: Durch das Telefongespräch dann haben wir ja gleich da haben wir uns unsere Kinder vorgestellt. + H: - - - Und damn ging es sehr schnell ne? + L: Und dann ging das eigentlich ziemlich schnell. M: Da war man dann wieder mitten drin in der Familie. Wenn Laien die Funktion haben, Gefühle zu zeigen, dann muß man mit ihnen sorgsam umgehen. Man muß sie ermuntern, trösten je nach Affektlage. Nicht immer gelingt es ihnen, ihre Affekte flüssig zur Sprache zu bringen. Dann hat der Moderator die Funktion, ihnen auch sprachlichkommunikativ behilflich zu sein. Das ist gut zu beobachten in „Bitte melde dich”: (11) H: Zu Gast bei uns ist jetzt Lothar Budach aus Düsseldorf ", ich begrüße Sie ganz herzlich guten Abend. Sie sind auf der Suche nach Ihrem Vater, und ich möchte Herr Budach unseren Zuschauern zunächst schnell die Geschichte Ihres Vaters erzählen, Lothars Eltern, darum geht s sogar eigentlich *, sie trennten sich, als er noch ein kleines Kind war, und seitdem hat er nichts mehr von seinem Vater gehört. Aber, auch seine Mutter die vor 8 Jahren gestorben ist, hat mit ihm gemeinsam versucht, den Vater zu finden, 52 Harald Burger + und dann — was hat Ihre Mutier über Ihren Vater erzählt? + Ja Ja meine Mutter hat also nie irgend etwas über meinen Vater groß erzählt, bis kurz vor ihrem Tode. Sie hat immer n bißchen geschwärmt bis bis bis zum Schluß eigentlich, war ihre große Liebe gewesen und das war bis zum Schluß so. + M: Ja, lebenslustiger fröhlicher Mensch + B: Lebenslustiger fröhlicher Mann muß mein Vater gewesen sein, aber — [lange Pause] M: Also auf alle Fälle hat man da ja oder haben Sie auch gemerkt daß äh selbst nach der Trennung Ihre Mutter auf Ihren Vater nie was + hat kommen lassen + B: Nein nie ein schlechtes Vort. M: Ja. Warum denn Herr Budach meinen Sie hat er trotzdem nie wieder etwas von sich hören lassen? B: Ja er konnte sich vielleicht nich so äh wie soll ich sagen wohl äh — + M: So miiieilen ja + B: Mitteilen können ja gegenüber meinen Schwiegereltern und meiner Frau, und das wird wohl viel da an der Situation gelegen haben. + M: Das wird ne Rolle gespielt haben + B: Rolle gespielt haben (28.2.94) Der Moderator erzählt selbst die Vorgeschichte, stellt dem Gast dann die Frage nach dem entscheidenden Punkt der Geschichte, worauf der Gast die Formulierung der Frage teils wörtlich in die Antwort übernimmt. Im weiteren legt der Moderator dem Gast geradezu die Worte in den Mund, die er auch brav reproduziert, hilft ihm, als er gar nicht mehr weiter weiß (also auf alle Fälle ...), und schließlich re-formuliert er eine allzu vage Formulierung des Gastes (wird wohl viel da an der Situation gelegen haben), der Gast nimmt die Re-formulierung auf usw. In der Sendung „Nur die Liebe zählt” (RTL) werden Schwierigkeiten in der Beziehung von Mann und Frau innerhalb der Sendung bzw. durch die Vorbereitung der Sendung überwunden. Z.B. finden Iris und Miro (in der Sendung vom 12.3.94) zueinander, nachdem es lange nicht geklappt hat, durch Vermittlung des Moderators: „Ich hab hier ne Idee: Wir sind nicht umsonst beim Fernsehen. Beim Fernsehen ist fast alles möglich. Da kann man bestimmt auch was mit dir machen, damit Miro sein Herz in deine Hände legt.” Iris darf Miro in einer vermutlich fingierten - Ausgabe des RTL-Mittagsmagazins „Punkt 12” ganz persönlich ansprechen. Der Moderator: „Also haben wir Miro vor den Fernseher seines Freundes gelockt, und damit wir ihm/ im entscheidenden Augenblick keine Reaktion verpassen, hat unser Spezialistenteam das Wohnzimmer überall mit ver- Laien im Fernsehen 53 steckten Kameras gespickt.” Iris und der Moderator verstecken sich, und Miro bekommt die Sendung vorgespielt. (12) [I = Iris, Mi = Miro] Nachrichtensprecherin: Es gibt Nachrichten“, die können nicht bis abends warten: Deshalb gibt es Punkt 12. Da kriegen Sie mittags schon mit, was Sie dann abends nochmal sehen können. Aha. Ich sehe gerade *, es gibt auch Nachrichten, die können nich mal bis zum nächsten Mittag warten. So eine haben wer hier. I: Ja, lieber Miro, was immer auch auf dieser Welt passiert, seit ich dich gesehen habe, denk ich nur noch an eins. Und zwar: Mit dir zusammenzusein. Mein Herz ist dir sicher, aber ich will mehr als essen gehen und telefonieren. Wenn du auch mehr willst, dann dreh dich bitte jetzt um und nimm mich in deine Arme. [Sie kommt ins Zimmer] Mi: Nein! [unverst.] Hi! Find ich süss von dir. [sie umarmen sich] [unverst.] Ich dacht ich trau meinen Augen nicht [unverst.] Wie kommst denn auf so ne Idee? I: Ich kann jetzt nichts mehr sagen. [M kommt ins Zimmer, Mi wendet sich ihm zu] Mi: Hi. M: Hallo Miro. Mi: Ich bin baff. M: Was ist los? Mi: Ich bin ziemlich baff, sähr baff sogar. K: Eben noch im Fernsehen und jetzt in deinen Armen. - Tja, so schnell, ne? Auch hier kommt es auf den Moment an, in dem das arrangierte Zueinander-Finden gelingt. Iris und der Überraschte verbalisieren ihre Sprachlosigkeit, und später im Studio werden sie noch einmal dazu animiert, ihre Gefühle retrospektiv in Worte zu fassen: (13) M: Und hier sind sie*, hier sind Iris und Miro! [Applaus] Nehmt Platz. Da haben wir den Miro ja ganz schön aufs Glatteis gelockt ne? I: Allerdings ja. + M: Miro, wie haben sie dich denn überhaupt dahin gelockt oder wie + Ja ähm, das war n Freund von mir der Dominik der sitzt auch glaub ich heut im + Publikum ähm und der hat mich also angerufen und hat mich einfach + M: aha Mi: eingeladen, dass ich zu ihm komme", n bisschen Video kucken*- und hab mir natürlich nichts bei gedacht und bin dann gekommen. 54 Harald Burger M: Was hast du denn gedacht, als du Iris da plötzlich im Fernsehen gesehen hast? Mi: Ja ich sie ich eben schon gesagt habe in dem Film also ich war total baff, hab halt meinen Augen nicht getraut und ehm könnt’s gar nich fassen im ersten Moment es ging erst so nach anderthalb Stunden oder so ging’s — war die Mervosität dann weg. M: Mhm ich hab ja auch gesehen", dir haben ja richtig die Knie gezittert ne? Mi: Ja. Es war schon aufregend. M: hm. Wir haben ja den ganzen Tag überlegt: Was passiert", wie wird er reagieren, klappt das alles, so wie wir’s uns überlegt hatten? Und dann hat es alles geklappt. Und wir haben hinten gestanden und haben richtig Daumen gedrückt und gezittert. I: Allerdings, ja. M: Ja? Wie gings dir dann, als das dann wirklich alles geklappt hat und du hast gesehen", er ist völlig baff und hat dich dann in die Arme genommen. I: Ich war erlöst, also es ging mir wirklich dann besser und vorher war ich so nervös", es war die Hölle. Das wohl kaum mehr überbietbare Maximum an provozierter Emotionalität leistet „Traumhochzeit” (RTL). Die Einverleibung der außermedialen Realität geht hier noch einen Schritt weiter, insofern hier ein auch juristisch einschneidender Moment des Lebens die Eheschließung ins Medium transformiert wird. (Zumindest sieht das für den Zuschauer so aus, in Wirklichkeit ist die standesamtliche Trauung aus juristischen Gründen nur gespielt.) Die emotional „stärksten” Momente sind die Szene, in der die Braut eine dekorative Treppe hinunterwandelt, um dem Bräutigam ihr Brautkleid vorzuführen, und die eigentliche Trauung. In beiden Szenen zeigen die beiden ungehemmt ihre Gefühle, sie weinen, schluchzen, zittern usw., und vor allem in der ersten Szene nutzt die Moderatorin jeweils die Gelegenheit, die Emotionen zu benennen und zu thematisieren. (14) [Publikum tobt] M: So Thomas hallo T: hallo M: Wie steht’s mit den Nerven? T: Ziemlich runter. M: Ja? T: Ja. M: Is n bifichen besser schon. T: Na es geht jetzt. M: Aber die Blumen zittern doch wirklich ein bifichen, aber das hat natürlich damit zu tun daß Uschi gleich von der Treppe kommt Laien im Fernsehen 55 T: Ja. H: Ein wichtiger Moment in deinem Leben ne? T: Ja ein großer Moment. M: Ja. Ein altes Sprichwort sagt: guter Anfang ist die halbe Miete, und ich muß sagen die halbe Miete die hier neben mir steht, ist ein sehr, sehr guter Anfang von diesem Brautpaar. Du siehst klasse aus ne sehr schöne Farbe, ahm hast Du eine Ahnung wie wie Uschi aussehen wird oder hat sie nichts verraten? + T: H/ nein nichts verraten, aber ich ich glaube weiß - und toll, + M: Beiß + T: tolles Kleid und überhaupt so ein + H; toll und überhaupt toll [lacht schallend] Fast alle M: Männer sagen weiß und schön und wissen in diesem Moment überhaupt nichts mehr. Kann ich mir alles sehr gut vorstellen, is auch im Moment eigentlich keine wichtige Frage. Genieß es, vergiß uns, ich bin weg, hier ist deine Uschi. [Musik, Applaus, die Stimmen gehen im Applaus unter] U: Ich liebe Dich T: Ich Dich auch, Du siehst toll aus M: Ich sollte eigentlich anklopfen aber äh - Hm, Thomas geht's Schatz? Dreh Dich doch einmal um, kommst Du zu mir? Ich hab Taschentücher mitgebracht, das is für Dich. Ja, ein emotionelles Moment ne? Du siehst wahnsinnig schön aus Uschi muß ich sagen. U: Danke. M: Schön, und ich muß Thomas nicht mehr fragen ob er das auch findet. Sein Gesicht spricht Bände in dem Moment. Ne? T: Schon toll. M: Es geht? T: Ja, s geht M: Ja? ok äh, darf ich dann die Schuhe eben sehn? Darf ich eben? Oh, die sind auch schön, hast Du die eingelaufen? U: Weniger [lacht] M: Weniger? U: Ich hatte Angst daß er das sieht. + M: Ach, das wolltest Du nicht natürlich + U: [unverst.] M: Und die Bolero-Jacke hast Du auch nicht angezogen? U: Nee die wollt ich dann heute abend beim Fest oder im Standesamt. + M: Du bist so schön braun. Geht’s ja? So gerührt? + U: ja ja M: Äh, oh, ich hab die Ringe mitgebracht. Und die müssen wir noch eben anschauen. Sind das die richtigen? U: Ja. 56 Harald Burger M: Na? Klassisch gelbgold mit einem kleinen Brillanten für Dich drin. Wollen wir mal schauen Has da hinter dem Vorhang steht? Ja? Geht es noch, Thomas? Ja? es ist Has sehr Schönes, und ich bin mir ganz ganz sicher, daß es Euch gefallen nird. Es ist nämlich eine — Traumanlage von Bang und Olufsen 1 (9.1.94) Geradezu voyeuristisch thematisiert die Moderatorin das Gerührtsein der Protagonisten. Das Schluchzen, Weinen passiert nicht etwa, ist nicht wie im Alltag - Symptom tiefer Affekte, sondern es wird zum Thema und zur Hauptfunktion der Szene. Wenn die Moderatorin sagt Ich sollte eigentlich anklopfen und Genieß es, vergiß uns, ich hin weg, hier ist deine Uschi, so wirkt das auf den ersten Blick paradox. Denn die zwei bzw. drei haben es ja gerade auf uns, die Zuschauer, abgesehen, auf uns als Zeugen ihrer Intimität. Genauer betrachtet, haben aber solche Szenen ihre innere Logik: Hier wird Intimität durch das Medium hergestellt - und eben nicht nur aus dem außermedialen Bereich ins Medium hinübertransportiert. Bezeichnenderweise gehört die Formulierung vergiß uns zum in jeder Sendung (die ich gesehen habe) wiederkehrenden Formelinventar der Moderatorin, so daß die Zuschauer mit dieser Art von Intimität in der Öffentlichkeit zunehmend vertraut werden dürften. (Neben diesen für die Sendung zentralen Szenen gibt es in „Traumhochzeit” noch weitere Typen von Ereignissen mit hoher emotionaler Beteiligung. Vgl. unten die Texte 43 und 51.) Eine relativ krude Variante solcher Medienereignisse sind die sog. Reality- Shows, die auch bei den deutschen Privatsendern Einzug gehalten haben (z. B. „Notruf’ RTL), Sendungen also, in denen die Differenz von Medium und außermedialer Realität programmatisch aufgehoben oder auf ein Minimum reduziert sein soll. (Der harmlosere Fall: Ereignisse, die tatsächlich stattgefunden haben, werden mit den ursprünglich Beteiligten nachgespielt. Der Extremfall: jemand erschießt sich vor laufender Kamera.) Nur scheinbar wird hier Realität tale quale, untransformiert im Medium vorgeführt, in Wirklichkeit ist das Medium in hohem Maße an der Herstellung solcher Art Realität beteiligt. 2.4. Auf der vierten Stufe wird der Laie — bis zu einem gewissen Grade, d.h. soweit es die strukturellen Zwänge des Mediums überhaupt zulassen gleichberechtigter Akteur der Sendung. Man kann dies positiv als weitestgehende Form der Emanzipation betrachten, oder eher negativ als extreme Form der Einverleibung. In einem positiven Sinne kann man sagen, daß die Laien, die im Fernsehen auftreten, zunehmend selbstbewußter werden. Eine hübsche Pointe habe ich neulich in einer Schweizer Game-Show mitbekommen: Laien im Fernsehen 57 (15) M: Jetze d Monika, Muetter vo drei Kinder, Huuslrau und Lehrere. [eingespielte Statements von Verwandten und Bekannten: ] Sit 15 Jahr gseht si eilach immer gliich us. Si weis was si will Die Monika ist eine tolerante, offene Frau für Fremden Warner amigs fräch sind, tut si amigs nüd gad uusraschte Si hat sehr en offes Huus Si hat gärn Gescht Si sitzt eigentlich nie ines Auto und s Fernseh isch ire eigentlich au verpönt + M: Monika, äh si/ si verstön, das i frog, s Färnseh isch verpöönt + Mon: Ja + M: und jetzt sitze Si do, wi goht das zämme? + Mon: s glaubi Aso ehe das isch gad de Underschiid", Ferseh luege isch passiv*, das mach i nöd gern*, nu dasitze", aber mitmache, isch öppis Aktivs, das machi gern. M: Ja, perfäggt , also [unverst.], aber sich sälber luege*, das wär + denn doch nomol + Mon: Ja, das chamer dann ja nomal überlegge (Megaherz, DRS 18.4.94) 8 Beim Radio wurden Formen der vierten Stufe anfänglich erprobt in denjenigen Phone-ins bei Lokalsendern, die ohne Selektion und mit einem Minimum an Kontrolle stattfanden. (Inzwischen hat man das soweit ich sehe weitgehend wieder aufgegeben.) 8 Hochdeutsche Übersetzung: M: Jetzt Monika, Mutter von drei Kindern, Hausfrau und Lehrerin, [eingespielte Statements von Verwandten und Bekannten: ] Seit 15 Jahren sieht sie einfach immer gleich aus. Sie weiß was sie will Die Monika ist eine tolerante, offene Frau für Fremde - Wenn wir mal frech sind, rastet sie nicht gleich aus Sie hat ein sehr offenes Haus Sie hat gerne Gäste Sie sitzt eigentlich nie in ein Auto und das Fernsehen ist ihr eigentlich auch verpönt M: Monika, äh Sie verstehen daß ich frage, das Fernsehen ist verpönt Monika: Ja, das glaube ich M: und jetzt sitzen Sie da, wie geht das zusammen? Monika: Also eben, das ist grade der Unterschied, Fersehen ist passiv, das mache ich nicht gern, nur dasitzen. Aber mitmachen, das ist etwas Aktives, das mach ich gern. M: Ja, perfekt, also sich selber anschauen, das wäre denn doch nochmal [was anderes] Monika: Ja, das kann ich mir dann ja nochmal überlegen. (Megaherz, DRS 18.4.94) 58 Harald Burger Im deutschsprachigen Fernsehen ist hier die Phone-in-Sendung „Telefon- Thema” von RTL Vorreiter. 9 Der Moderator der knapp ISminütigen täglichen Sendung hat sich als Markenzeichen einen Golfschläger ausgesucht, mit dem er ständig herumfuchtelt. Im Studio ist ferner eine Assistentin (Heinke) anwesend, die vom Bildschirm den Namen der/ des nächsten Anrufenden abliest und im übrigen wie aus den Bemerkungen des Moderators immer wieder hervorgeht vor allem hübsch posieren soll. Zeitknappheit dominiert sämtliche Interaktionen. So kann es gar nicht zu ausführlicheren thematischen Gesprächssequenzen kommen, statt dessen dominiert weitgehend das Reden über die Beziehung Moderator - Anrufer/ in. Es entsteht etwas wie ein sich selbst bestätigender, oftmals sadomasochistischer Zirkel Moderator - Anrufer/ in. Laien und Moderator bewerten sich gegenseitig sehr drastisch und sehr persönlich, weit über die Grenzen des sonst aus Mediengesprächen Geläufigen hinaus. In extremer Polarisierung loben die Laien den Moderator über den grünen Klee - oder sie beschimpfen ihn. Er gibt entsprechend zurück. All das gehört offensichtlich zum Sendungskonzept. Im folgenden gebe ich einige Beispiele entsprechender Gesprächssequenzen (alle Sendungen von März/ April 1994; H = Heinke): Gegenseitige Beschimpfung, mit einer en-passant-Kollegenschelte : (16) H: Frau Tillraaim aus Köln. H: Frau Tillmann. T: Äh ja hallo ich ruie aus Köln am. M: Erzählen Sie doch mal von Ihren Flirt-Erfahrungen das find ich interessant. T: Tja ich sollte als Erstes ich finde daß das ganz gut zum Thema paßt, ich wollte ne Fräge stellen und zwar findest Du eigentlich Dein widerliches - Machogehabe cool? + M: Ja findest Du? + T: Das ist ekelhafteste Moderation + die ich jemals bisher gesehen habe. M: Schatzimausi das is aber komisch hast Du denn noch nie Max + Schautzer gesehen? ja? wo kommst Du denn her + T: Ey find ich ganz schön peinlich ja überlegs + M: mein kleines Häschen? warum sollte ich? + T: Dir mal mach Dir mal Gedanken drüber mach das mal + M: warum denn? + T: Tschüß M: Schade 9 Die Sendung ist inzwischen schon Geschichte. Nach Abschluß meines Manuskriptes wurde sie bereits wieder abgesetzt. Laien im Fernsehen 59 H: Tschüß + H: ja der Auseinandersetzung stellen sich diese jungen Menschen + 0. nein nein ich lands sehr + M: nich + H: mutig Beschimpfung, verbunden mit triefender selbstironischer Attitüde des Moderators: (17) H: Herr Casilli aus Bochum. M: Herr Casilli! C: Hallo? M: Ja? C: Ja ich wollt sagen die Männer heute Hirten so gut wie nie zuvor. M: Das/ der Meinung bin ich auch, ich werd gleich nach der Sendung ganz knallhart damit anfangen. C: Ja obwohl so arrogante wie du die können natürlich nich so gut flirten. M: Habense gar nicht nötig, Typen wie ich sitzen und da kommen die Weiber angeschissen; Mann, da kannst dich gar nich mehr + wehren dagegen + C: Bei so ne personifizierte Arroganz? M: [nachäffend] so ne personifizierte Arroganz? C: Ja ich kann das deshalb [unverst.] M: Ich bin nich der Meinung C: Ich aber doch M: Ah na danke H: und tschüß Das andere Extrem, überschwengliches Lob durch die Anruferin, gespieltbescheidene Verlegenheit des Moderators: (18) H: Frau Thomsen aus Stuttgart. M: Herr/ Frau Thomsen. T: Ja guten Abend M: Guten Abend T: Ich möcht Ihnen sagen was ich jetzt grad wieder gehört habe was man alles über Sie sagt ist eine Unverschämtheit. + M: Ach lassen Sie die Leute doch [unverst.] + T . Nein ich lasse sie nicht ich muß auch mal meine Meinung sagen. Ich finde Ihre Sendung so toll M: Hoho 60 Harald Burger T: Und Sie selber moderadieren [sic] d/ des alles so wahnsinnig schön - und ich möchte Ihnen wünschen daß Sie weiter so gut machen - und weiterhin so sympathisch und nett sind. H: Na, sympathisch da hat man/ kann ich die Leute manchmal verstehen wenn sie sagen jetzt hat der Bengel aber n bißchen über die Stränge + geschlagen, aber man muß es mit einem gewissen Humor tragen glaube + T: Nein das is nich wahr, ich finde, wie Sie reagieren, egal in welcher Situation, ganz ganz toll. M: Ich muß Ihnen ein Kompliment machen". Das is das erste Mal glaub ich in der 70. Sendung so ungefähr daß ich n bißchen verlegen + M: werde. Ich hab wenn man mich anpöbelt, daran hab ich mich ja + T: [lacht] + M: mittlerweile gewöhnt, Gottseidank krieg ich ja nichts mit ’m + T: [lacht] M: Knüppel über aber wenn man mir solche Komplimente macht T: Aber ich muß Ihnen sagen daß Sie das alles schlucken, Hut ab vor Ihnen. M: Ach mit/ ganz im Ernst: Glaum Sie das interessiert mich wenn da irgend so n Vogel anruft und mich anpöbelt T: Ja ich weiß nich ich glaub wenn Sie abends nach Hause geh’n M: Ach was das is mir wirklich völlig wurst, wo kommen wir denn hin wenn iirgend ein angetrunkener Prolet der hier anruft und mir Arschloch entgegenwirft wenn mir das was ausmachen würde + nein nein. + T: Das find ich ganz, ganz toll von Ihnen. M: Ich danke Ihnen. T: Und nochmals ga/ ganz kurz zu dem Thema Beide Gesprächspartner durchbrechen konversationeile Konventionen, insbesondere Konventionen des Mediengesprächs. Zu den allgemeinen Konventionen gehört es wohl, daß man keine unartikulierten oder gar unflätigen Geräusche von sich gibt: (19) M: Herr Weber aus Hamburg - Herr Weber! W: [grunzt etwas Unverständliches] M: Herr Weber Sie sind für mich eine der ganz großen Persönlichkeiten der Telefon- und Talk-TV-Shows und damit müssen wir das Gespräch leider fortsetzen [sic]. [Ende des Gesprächs! ] Von Seiten der Anrufer werden vor allem die Spielregeln verletzt, die den Moderator bevorrechtigen und den Anrufer in die gesprächsstrukturell inferiore Position verweisen: Laien im Fernsehen 61 Ein Hörer, der sich vom Moderator nicht gleich verstanden fühlt, kritisiert sofort dessen Kommunikationsverhalten, obendrein duzt er den Moderator: (20) A: Hallo? M: Na? A: Schönen guten Abend.. M: Gutn Abend. A: Ich denke man muß zu diesem Thema das Ganze sehen. Noch im vergangenen Jahr oder - Ende 92 äh hingen die Krankenkassen schner daneben, das heißt die Leistungsfähigkeit der Krankenkassen war in Frage gestellt, durch ein mit Brachialgewalt durchgezogenes + Konzept des Gesundheitsministers [unverst.] + M: Da muß aber auch mal ein + A: ja ja + M: Schlußstrich gezogen werden war das nich so was wie n Selbstbedienungsladen für Ärzte und Pharmakonzerne? + A: Das is ja die Gesundheitsreform von der ich rede mußt mal zuhören + M: ja + A: wurde eigentlich [unverst.] + H: Das tu ich auch, aber wenn Sie die Dinge so schildern daß man sie M: nich nachvollziehen kann, ergänze ich hin und wieder jetzt sind Sie wieder dran. A: Kannste Dir schenken. + H: Gut dann können wir uns auch das Gespräch schenken + A: Die Leistungsfähigkeit ist + M: [unverst ] mit diesem netten Herrn beenden. + A: eigentlich die Leistungs/ [Anruf wird abgebrochen] In einem Gespräch über Krankenkassen rät ein Hörer dem Moderator, er solle mal seine Ohren (wegen ihrer Form! ) behandeln lassen, dann duzt er den Moderator. Der reagiert mit Beendigung des Gesprächs: (21) A: Ich denke am Ende muß ich dann noch, also es laufen ja alle möglichen Leute wegen allen möglichen Krankheiten zum Arzt. M: Ja A: Und ich mein Sie könnten auch mal ne [unverst] Ohrenoperation + [unverst.] + M: Das kann ich Ihnen sagen, aber da/ die Verantwortung wollte kein Arzt übernehmen - und das wollte auch die ja die Krankenkasse 62 Harald Burger nicht. Psychiatrische Gutachten vorlegen lassen undsoweiter - Jetzt hab ich diesen Kopfhörer auf", dann sieht mein das nicht. A: Ja, das sieht man nich so, das ist Ihr Vorteil. M: Da spar ich auch im Sinne der Versichertengemeinschaft Geld - Tausende von Mark. + A: Ja, ich bin auch froh drum ich mein wenn ich dafür noch + M: Seh’n Sie? A: mitbezahlen sürde dann würd ich auswandern M: Da hätten wir auch bei unserm BundesauSenminister mal anfangen müssen. Den können Sie ausm ausm Heifiluftballon werfen", der kommt unten heil an", da passiert gar nix — Ehemaligen Außenminister. A: Ja aber Du bestimmt auch oder? M: Nun jetzt fangen/ werden Sie/ jetzt duzen Sie mich schon jetzt werden Sie mir zu kebig vielen Dank tschüß. Wenn die Bayern erstmal mit dem Duzen anfangen“, das is eine ganz ganz brenzlige Situation. Die Anrufer stellen dem Moderator Fragen. Er läßt sich aber, soweit ich beobachtet habe, nicht darauf ein, sondern blockt z. B. mit Blödeleien ab: (22) M: Hallo? A’in: Ja hallo ich wollte wissen was SiE als Idol betrachten + M: Heine Meinung is Meine Meinung is doch relativ + A’in: Sie selber M: wenig maßgeblich + A’in: Doch, gar nich, wir sind doch hier Ihre Fans und wollen wissen + M: Ich finde die Sexualität und solche Obszönitäten A’in: wie Sie selber denken Ja das muß ich aber leider für mich behalten. + A’in: [unverst.] + M: Ich halte von Sexualität gar nichts, man sollte lieber früher aufstehen und den Garten umgraben. Und die Rasenkante [unverst. Stimmen] die Rasenkante is auch ganz wichtig. Eine schöne grade Rasenkante das is was mich erregt ja? Aha Von/ aus meinem tiefsten Inneren [unverst. Stimmen] haben Sie das schon mal gesehen, so eine 100 Meter lange aber wirklich peinlich genaue Rasenkante? Ja, aber was sollen wir sagen mit der Rasenkante Es gibt es gibt es es gibt nichts Schöneres, was? nicht, glauben Sie mir. Und vielleicht höchstens noch ein peinlich genau gefaltetes Hemd [Gelächter] Tschüß A’in M: + A’in: + M: + A’in: + M: Laien im Fernsehen 63 Die Anruferinnen nehmen sich ungeniert das Recht, auch die Sprache des Moderators zu kritisieren. Nachdem die Assistentin den Namen des Anrufers mißverstanden hat (er heißt nicht Wagner, sondern Wiegner), spielt der Moderator sein übliches Spiel, indem er sie gespielt-flegelhaft zurechtweist. Die sexistischen Anpöbelungen gefallen dem Anrufer aber gar nicht: (23) H: Oliver Wagner aus Bremen. M: Herr Wagner, ne? W: Ja - Oliver Wiögner aus Bremen + M: Ja das is wieder, das is wieder ich re/ Ach ich will nichts + H: Da kann ich überhaupt nichts + M: mehr hören von dir ich kann nichts dafür Herr Wiegner Sie wissen + H: das steht hier M: ja wie die Weiber sind", wenn sie unseren Namen verschandeln + können sei es durch Heirat damn tun sie es + W: Nein, nich die Weiber, das Wort nehm ich gair nich in Hund ich sag normalerwei/ weise Damen Mädchen oder Frauen also Weiber sag ich gair nich. H: Sehr schön. W: Aber zum Thema Der Moderator hält sich vor allem nicht an die Grundregel, daß Anrufende höflich, ja pfleglich behandelt werden sollen. So treibt er einen etwas langsamen Anrufer, einen bedächtigen Schwaben, zur Eile an: (24) H: Herr B. aus Wangen. H: Herr B! + B: Ja, guten Abend + M: n Abend + B: Ich begrüße Sie aus Wangen - und zum Thema + H: Ja nun mal aber n bißchen zackzack B: hab ich folgendes zu sage: Heut im Zeitalter der Computertechnik find ich das vollkommen überflüssig, diese Tierversuche. Er kritisiert auch explizit die Sprache der Anrufer. Einen Anrufer, der sich ein bißchen langfädig ausdrückt, kanzelt er so ab: (25) A: Äh ja also ich persönlich äh für mich sind diese Tage ver/ ja äh erst je/ je/ jede anderen Tage auch also wird nich mit groß 64 Harald Burger geleiert bleibt in der Familie wir [unverst.] zusammen weil Feiertage jetzt halt sind. M: Alles klar, das äh Sie haben die Eigenschaft sehr lange Sätze zu bilden, das macht es mir sehr schwer zu unterbrechen was ja eine meine hervorstechendsten Eigenschaften ist. Auf jeden Fall dank ich Ihnen für Ihren Anruf und viel Spaß noch Ostern und nich soviel Schokolade putzen Mensch das is ja sagenhaft. Sehr symptomatisch für den Umgang des Moderators mit seinen Anrufern ist der Umgang mit den Namen. Es gehört zu seinen Eigenarten, die er in jeder Sendung kultiviert, die Namen der Anrufer in irgendeiner Weise zu verballhornen. Ein paar Beispiele: (26) H: Herr Zattali aus Schüßweiler M: Herr Zattali. Z: Einen schönen guten Abend + M: Ich dachte erst Sie wollen uns verscheißern, weil Schißweiler, + Z: bitte? + M: heißt das wirklich so? Schiffweiler! + Z: Das heißt Schiffweiler ja [unverst.] + M: Seh’n Sie das hat so Und die schreiben + Z: Schiffweiler ja wie Schiff und Weiler M: hier aufm Bildschirm Schißweiler. Z: Nein! M: Sagenhaft ist das. Z: Nee also ich würd gern äh also ich würds auch so/ find ich n Witz daß der Steinert rausgeworfen wurde (...) (...) M: Alles klar. Vielen Dank und schönen Gruß nach Schiffweiler. + Z: Ja danke, tschüß [lacht] okay ciao + M: Das wollt ich nochmal richtig aussprechen zum Ende des Telefonats, tschüß. (27) H: Klaus Zehnpfennig aus Soest. M: Herr Zehnpfennig. Z: Ja. M: Heißen Sie wirklich so? Z: Zehnpfennig ja wie der Groschen [lacht]. M: Gut Herr Groschen. Z: Ja, zum Thema also einmal... Laien im Fernsehen 65 (28) + M: + K: H: M: K: Herr Klopfel aus Mühlheim. Herr Klopfel! Ja Grüßgott Bei dem Nachnamen vermutet man ja Einiges, ne? Ja? Warum? M: Mit klopfein mit klopfein undsoueiter ich mein wenn man obszön ist denkt man da nich nur ein Einständige Dinge. K: Ja also das kann sein ich denke auch nich immer nur anständige Dinge. M: Hm, so hab ich Sie auch eingeschätzt. K: Gut, vielen Dank für die Blumen Sogar bei Namen, die auf Anhieb keinen ironischen Kommentar nahelegen, gelingt es ihm, durch affektierte Intonation oder nachäffende Artikulation (wie im folgenden Text bei Frau Meister aus Düsseldorf) eine Pointe zu erzielen: M: Von Frau Meister aus Düsseldorf. Me: Hallo M: [affektiert, nachäffend: ] Frau Meister Me: Hallo M: Ja Sie sind drauf + Me: Ja, ich bin Frau Meister aus Düsseldorf + M: [nachäffend: ] Ja, Frau Meister aus + Me: und ich bin im Tierschutzverein und ich bin dagegen daß die + M: Düsseldorf hm Me: souas machen. M: Ja auch bei Ratten und Mäusen? Me: Bitte? M: Auch bei Ratten und Mäusen? Me: Ja, das sowieso. M: Wo wollen Sie denn äh Shampoo ausprobieren? Me: Hören Sie mal Herr X., könnenSe bißken lauter sprechen? M: Ja gerne, wo wollen Sie denn die ganzen Medikamente ausprobieren? + Die am Menschen + Me: Ja wofür braucht man das überhaupt - das Ausprobieren + M: Wollen Sie denn wollen stellen Sie sich zur + Me: das is doch Quatsch oder? M: Verfügung wenn wenn wir mal n paar Tabletten haben wo wir nicht wissen wie sie funktionieren? Me: Ja, ha nee also ich bin trotzdem dagegen. M: Ja (29) 66 Harald Burger Me: Also radikal dagegen M: Meine Damen und Herren - das war Frau Meister aus Düsseldorf. + Me: Dankeschön wiederhören! + M: Tschüß! Frau Meister, Jungejungejunge du, so noch so eine von diesem Kaliber? H: Mein, jetzt kommt Herr H. aus Hamburg. Bei aller Gleichberechtigung von Moderator und Anrufenden, im Positiven wie Negativen, bleibt es offensichtlich das letztgültige und alleinige Recht des Moderators, Gespräche zu beenden. Von diesem Recht macht er ungeniert bei jeder sich anbahnenden Gesprächskrise Gebrauch, wie mehrere der obigen Texte demonstrieren. 3. Linguistische Merkmale der Laien-Sprache Ich will die Laien-Sprache unter ihren auffälligsten Aspekten betrachten: Zunächst stellt sich die Frage, wo dieses Sprechen in der Spannung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu situieren ist, im Zusammenhang damit dann auch die Frage, in welchem Maße Laien individuell zu formulieren imstande sind, und schließlich sollen einige lexikalisch auffallende Eigenheiten zur Sprache kommen. 3.1: Holly/ Püschel attestieren den Medienprofis eine „sekundäre Oralität”: „So bringt die sekundäre Oralität der Medien, wie die primäre, z.B. Spontaneität der Sprache hervor, aber diese Spontaneität auf der Grundlage der Erfahrung von Reflektiertheit (...) ist nicht mehr dieselbe; sie ist nicht wildwüchsig, sondern gewollt, kultiviert, kontrolliert. Das wird schon deutlich, wenn man den sogenannten ’spontanen’ Sprechstil der Medienprofis mit dem von Laien vergleicht.” 10 Daraus könnte man schließen, daß Laien „primär oral”, also wirklich spontan, echt oder dergleichen sprechen. Das ist natürlich nur in sehr begrenztem Maße der Fall. Zunächst einmal findet man natürlich Laien-Außerungen, die gerade nicht spontan wirken. Wenn jemand nicht gewöhnt ist, vor der Kamera zu sprechen, kann er Schwierigkeiten haben, sich auch nur einigermaßen flüssig auszudrücken. Ein Beispiel für diesen Fall bot Text (11) aus „Bitte melde dich”. Man würde erwarten, daß dies die häufigste Variante von Unspontaneität wäre. Nach meinen Beobachtungen und Aussagen von Medienprofis 11 ist dies aber nicht mehr in der Weise der Fall wie in den ersten Jahrzehnten des Fernsehens. Die Laien haben sich an den aktiven Umgang mit dem Medium weitgehend gewöhnt. Manche entwickeln gar eine Art 10 Holly/ Püschel 1993, S. 133. 11 Vgl. Burger 1991, S. 357ff. Laien im Fernsehen 67 von „routinierter” Vorbereitetheit, die derjenigen der Moderatoren komplementär ist und die schon in die Nähe einer sekundären Oralität kommt. Bei den großen Unterhaltungsshows wissen die Kandidaten meist genau, was sie erwartet, und verhalten sich dementsprechend „kompetent”, indem sie den eingefahrenen kommunikativen Spielregeln folgen und sogar in der Lage sind, die Reaktionen des Moderators zu antizipieren. 12 Aber auch wer es so weit nicht bringt, hat Möglichkeiten der Vorsorge. Wenn man sich seiner sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten nicht sicher ist, versucht man in der Regel, sich auf die zu erwartende Situation so einzustellen, daß man mindestens partiell auf Vorbedachtes und sogar Vorformuliertes zurückgreifen kann. Das ist phasenweise bei vielen Laien zu beobachten. (Daß jemand sich schriftlich vorbereitet und in der Sendung das Geschriebene vorliest, kam früher durchaus vor. In den neueren Sendungen habe ich diesen Fall nicht mehr gefunden.) Die Sendung „Bitte melde dich! ” (Sat 1) ist eine Fundgrube, wenn man die verbal-kommunikative Kompetenz von Laien in verschiedensten Spielarten studieren will. Man sieht und hört die Personen hier in unterschiedlichen Situationen: Sie erzählen die Geschichte, sie charakterisieren die Persönlichkeit der/ des Vermißten, sie reden in die Kamera, um die vermißte Person direkt anzusprechen, sie spielen Szenen aus der Vorgeschichte nach, und schließlich sprechen sie live mit dem Moderator im Studio. In der folgenden Szene finden wir dieselben Personen (Mutter und Vater) als Erzähler (2), die in einer nachgespielten Straßenszene den entscheidenden Moment der Geschichte wiedergeben, und unmittelbar darauf als Monolog-Sprecher (3), die sich mit Blick in die Kamera an den Sohn wenden. Die Mutter gibt dazwischen noch eine kurze Beurteilung (4) der Problematik, die den Sohn belastete. Davor und dazwischen hört man die professionelle (ablesende) Off-Sprecherin (1): (30) 1 Sprecherin: Vor der Schule trifit Ronnie auf die Eltern. 2 Mutter: Kurz nachdem wir aus der Bank gekommen sind, wir wollten ans Auto, da sagte doch plötzlich mein Mann, äh guck mal dort kommt der Ronnie. Er kommt ausm Tor, ich ging aufn druf zu, in der Hoffnung, wir könnten mit ihm reden, aber er war ja sowas von verstört, machte über die Straße, bog links ab und stieß dann auf mein Mann. 2 Vater: Nachdem meine Frau keinen Erfolg hatte mitm Ronnie zu sprechen, bin ich auf die andere Straßenseite, um nochmal ihn anzusprechen mit den Worten Ronnie, bleib bitte stehen", wir wollen uns nochmal 12 Vgl. Wilhelm (1995). 68 Harald Burger unterhalten, rannte er plötzlich davon und sagte', ich kann nicht mehr*, ich kann nicht mehr. 2 Sprecherin: Eine Suchmeldung in der Zeitung bringt keinen Erfolg. Seit über vier Wochen warten die Eltern nun schon auf ihren Sohn. 3 Vater: Hallo Ronnie, bitte melde dich. Ich als Vater mache mir um dich große Sorgen. Bitte melde dich. 3 Mutter: [weinend] Hallo Ronnie, solltest du uns jetzt hier sehen, bitte melde dich. Wir vermissen dich alle sehr. [Schnitt] 4 Mutter: Er hat sich eigentlich mir ooch anvertraut. Aber leider hat sich doch gezeigt, ich hab mich doch getäuscht. Wahrscheinlich mit den Problemen die ihn am meisten belastet harn, hat er sich doch nie offenbart. [Schnitt] 3 Mutter: Lieber Ronnie, hier ist die Mutti. Ich mach mir solche Sorgen um dich. Egal was/ was dich auch bewogen hat fortzugehen, gib wenigstens mal ein Lebenszeichen. Wenn du auch nicht mehr nach Hause zurückwillst, ich/ wir nehmen dir das nicht übel, aber gib ein Zeichen, wo du bist. Ich kann schon die Nacht nicht mehr schlafen. Bitte melde dich im Studio oder bei uns, irgendwie. Du kannst Tag und Nacht kommen', die Tür ist immer offen für dich. (28.2.94) Die narrative Passage der Mutter ist weit spontaner formuliert als die des Vaters, und auch ihr nonverbales Verhalten erscheint bedeutend ungezwungener. Beim Vater wirkt insbesondere das Zitat der Worte des Sohnes auswendiggelernt. Die sehr langsam gesprochenen Sätze in die Kamera sind bei beiden offensichtlich gänzlich vorbereitet, sie folgen den Formulierungsmustern, die sich in der Sendung herausgebildet haben, was dem starken emotionalen Engagement insbesondere der Mutter aber keinerlei Abbruch tut. (Ich wäre geneigt, die hier gezeigten Gefühle für „echter” zu halten als diejenigen in „Traumhochzeit”, wobei natürlich auch die Andersartigkeit der Situationen und der evozierten Gefühle selber in Rechnung zu stellen ist. Doch ist das vielleicht ein moralisierendes Vorurteil des skeptischen Wissenschaftlers.) In der stockend vorgebrachten reflektierenden Passage (4) hat die Mutter Formulierungsschwierigkeiten, die auch die unverkennbare Vorbereitetheit nicht zu überdecken vermag. In der folgenden Szene rekapituliert der Vater zunächst die Vorgeschichte und erzählt dann nach einer Passage des professionellen Off-Sprechers den Höhepunkt der Ereignisse. Schließlich spricht er noch seinen Monolog in die Kamera. Dabei ist die Erzählung der Vorgeschichte deutlich stärker vorbereitet und schriftnäher formuliert (zwar durchwegs parataktisch, aber syntaktisch völlig korrekt formuliert, wenn man von den Tempora absieht) als die Erzählung des Höhepunktes, die durch eine sehr lebhafte Reihung kürzester Sätze und den Umschlag vom Perfekt ins dramatisierende Präsens (und wieder zurück ins Perfekt) auffällt. Der Monolog Laien im Fernsehen 69 ist auch hier wohl völlig vorbereitet und mit klischierten Formulierungen versetzt [Dienst erfüllt - Traumziel gut harmoniert). (31) Vater: Unser Sohn war schon immer sehr korrekt, war anständig“, immer freundlich zu jedem. Er hatte niemandem was getan. Er wollt immer nur sei Ruh hab, seine Hobbies nachgehen, und des war schon von Kindheit her so bei ihm. Wir hatten noch niä Schwierigkeiten mit ihm ghabt. Er hat dann angfange die Wasserbaulehre und ist dann weiterbeschäftigt worden als Streckenunterhaltungsarbeiter. Sprecher: Hier am Main ist Joachim großgeworden. Hier hat er gelebt und seit mehr als 10 Jahren gearbeitet. Vier Tage vor seinem Verschwinden erfuhr Joachim, daß er bald Schichtleiter an der Schleuse Harbach werden kann. Joachim hatte hart für die Prüfung gelernt und als zweitbester abgeschlossen. Bald wäre er verantwortlich gewesen für die 40 Schiffe, die die Schleuse jeden Tag passieren. Eine halbe Stunde vor seinem Verschwinden war er noch hiergewesen, um nach dem rechten zu sehen. Vater: S bis 10 nach 8 Uhr is mei Sohn mitm Auto gekommen, läuft über’s Tor obn“, des is n Stück weg vom Steuerhaus“, ich war obn in meim Steuerstand, seh ihn, guck runder, er läuft rüber“, guckt rauf, da hat er so verschmitzt hat er dann gelächelt, wie er’s normal immer macht. Sprecher: Joachim war Motorrad-Fan. Er besaß zwei Maschinen. Eine für die Straße, die zweite für’s Gelände. In seinem Abschiedsbrief bat er die Familie, beide zu verschenken. Warum hat er kein Motorrad mitgenommen, als er am 28. November verschwand? Vater: Du warst am Sonntag früh noch oben und hast dein Dienst erfüllt, wie immer, pflichtgemäß. Denke dran, daß es dein Traumziel ist, einmal fest an einer Schleuse zu sein. Wenn möglich in Harbach. Es ist noch nichts verloren und ich wünsch mir auch, daß wir einmal Kollegen an der Schleuse werden. So, wie wir schon immer gut harmoniert: haben in aller Arbeit“, auch dienstmäßig. Bitte melde dich. (28.2.94) Wie es bereits bei ein und derselben Person unterschiedliche und weitgehend situativ bedingte Sprechstile gibt, so gibt es natürlich auch zwischen den Personen deutliche Unterschiede. Das zeigt sich besonders bei den Formen der Narrativität. Man vergleiche etwa die drei folgenden Texte unter diesem Aspekt: (32) ist deutlich an vor-schriftlicher Narrativität orientiert, wie sie für das Erzählen von Vorschulkindern charakteristisch ist, (33) erscheint elaborierter, weist eher schriftlich geprägte Formulierungsmuster auf, (34) schließlich ist ein statement-artiger Text eines Lehrers, 70 Harald Burger der offensichtlich gewohnt ist, sich in halb-öffentlichen oder öffentlichen Situationen wohlvorbereitet zu äußern: (32) Sprecherin [off]: 5. Januar 1994, ein ganz normaler Morgen für Mike und Katrin David. Mike verläßt das Haus in R. in der Eiiel, um zur Arbeit nach Heimersheim zu fahren. Katrin und ihr Sohn Steven ahnen nicht, daß Mike an diesem Abend nicht nach Hause zurückkehren wird. Ehefrau [on]: Wir kennen uns jetzt 9 Jahre, wir sind vor 4 Jahren hierhergezogen — dann kam unser Sohn zur Welt - und es war eine schwere Schwangerschaft und Geburt, - und der Mike hat immer zu mir gestanden - und auch alles mitgemacht so, er war auch ein wunderbarer Vater, er kümmerte sich immer um seinen Sohn, und seine Freizeit hat er nur mit seinem Sohn verbracht. Er hat sehr viel gearbeitet, weil wir haben uns ja alles neu aufgebaut, und finanziell hatten wir auch keine Probleme, auch privat war alles in Ordnung. (14.3.94) (33) M: Aber, Frau Göhler, sie ist nicht spurlos verschwunden, Sie können die Tage nachzeichnen nicht? G: Ja, wir haben, nachdem wer äh äh merkten", daß sie nicht nach Hause kam", den Donnerstag noch gewartet, dann in in unserem Bekannten- und Verwandtenkreis noch herumgefragt ob jemand was wüßte und dann, Freitag fahr ich damn zur Polizei die Vermißtenanzeige aufgeben und habn von da an intensiv recherchiert und versucht bei Freunden und Bekannten rauszufinden, wo sie sein könnte. Uns ist dann auch gelungen, im Prinzip von Mittwoch bis Sonnabend früh nachzuvollziehen wo sie sich aufgehalten hat. Leider haben wir immer/ sind wir zu spät gekommen, da war sie immer schon wieder von/ nicht mehr an diesem Ort, und am Sonnabend hat sie zuletzt noch mit dem Bruder einer Schulkameradin in einem nahegelegenen Dorf unserer Stadt gesprochen, und es war so fast das Letzte was wer von Ihr gehört haben. Nachdem eine Veröffentlichung in unserer Zeitung, die in unserem Gebiet vertrieben wird, ähm äh erfolgte, kam dann ein Anruf an unsere Polizeiwache in Wüttstock, daß dort ein Kraftfahrer sich gemeldet hätte, der sie/ mit ihr gesprochen haben will, und den sie gebeten hat", aus Königswesterhausen mitgenommen zu werden nach Potsdam. (28.2.94) Laien im Fernsehen 71 Der erste Teil-Satz weist bereits eine kurze, aber zweifach gestufte Hypotaxe auf (Ja ... gewartet), und hypotaktisch geht es auch weiter (bis aufgehalten hat)-, der letzte Satz ist gleichfalls stark hypotaktisch konstruiert. Dazwischen gibt es noch eine kurze, eher mündlich wirkende narrative Passage (Leider ... gehört haben). (34) Lehrer: Ich hatte früh Unterricht. Herr Reichel hat mich dann informiert, daß die Eltern dagewesen sind. Kurze Zeit später, vielleicht ne halbe Stunde, geht die Tür im Sekretariat auf und Ronnie kommt rein, für uns völlig überraschend, wirft seine Lehrbücher aufn Tisch und sagt, er möchte sich von der Schule abmelden. Ich hab ihn in Ruhe erst mal aufmerksam gemacht, daß das gar nicht möglich is, weil ja die Bank, die ihn ihn bei uns angemeldet hat, auch wieder abmelden muß, und daß eigentlich auch gar kein Grund besteht, sich bei uns abzumelden denn er hat ja relativ vernünftige Leistungen, und es gibt überhaupt äh keinen Grund, die Schule zu verlassen. Er war war aber nach wie vor der Auffassung, er möchte sich ein neues Leben aufbauen, so hat er mir das auch gesagt, und ich wollte ihn eigentlich nochmals kurz zu mir reinnehmen ins Zimmer, in dem Moment kam aber die Sekretärin und sagt, das is doch der Junge, wo die Eltern heut früh da warn", weil sie nicht wußte daß ich bereits informiert war. Und das war für ihn wie ein Startschuß, er drehte sich um", riß die Türe auf und rannte davon. (28.2.94) Der Text ist gemischt narrativ und argumentativ, wobei die narrativen Passagen eher oral und spontan wirken (mit Wechsel von Perfekt zu Präsens und wieder zurück am Anfang, mit einem Passus in direkter Rede gegen Ende: ... kam aber die Sekretärin und sagt ...), die argumentativen (ab Ich habe ihn in Ruhe ...) eher geplant und beinahe vorformuliert. Die Texte, die direkt in die Kamera gesprochen werden, sind stark durch die situative Konstellation geprägt, die eine stärkere Vorbereitetheit mit sich bringt. Manchmal werden die Monologe non-live eingespielt, manchmal sprechen die Personen live im Studio, wobei die Kamera, in die sie hineinsprechen sollen, gezeigt wird und der Moderator den Übergang vom Gespräch zum In-die-Kamera-Sprechen jeweils ausdrücklich thematisiert. Der Wechsel der Sprechsituation manifestiert sich in der Regel ganz deutlich (prototypisch dafür die Texte der Eltern in (30)). Trotz des uniformen und rigiden situativen Rahmens zeigen sich gleichwohl auch hier deutliche interindividuelle Unterschiede: 72 Harald Burger Manche Personen reden ohne Emotionen, wie auswendiggelernt oder abgelesen, mit dem Effekt schlechten Laientheaters. Das wirkt dann wie eine Orientierung an nicht beherrschter Schriftlichkeit. Andere insbesondere Frauen bewahren sich ihre starke Emotionalität, sprechen mit Stockungen, Versprechern, Pausen, Verzögerungen, Schluchzen und Weinen. Da sich die Unterschiede aber weniger in sprachstrukturellen Eigenschaften der Texte als in der paraverbalen Realisierung des Gesprochenen und dem nonverbalen Verhalten der Sprechenden zeigen, verzichte ich darauf, Beispiele zu geben. Zusammenhängende argumentative Texte von Laien finden sich eher in den Telefonaten bei RTL-Telefon, allerdings nur in beschränktem Ausmaß, da die Kürze der Zeit und das rüde Moderationsverhalten den Anrufenden meist nicht genügend Möglichkeiten geben, um in Ruhe ihre Gedanken entwickeln zu können. Das saloppe Setting der Sendung erlaubt den Laien aber - und das ist durchaus ungewöhnlich -, so zu reden, „wie ihnen der Schnabel gewachsen ist , also spontan und ungeplant drauflos zu reden — was viele offenbar ganz bewußt nutzen. Daraus resultieren gelegentlich wenn es einmal zu einem wirklichen Austausch von Argumenten kommt sehr alltagsnah formulierte Argumentationen der Anruferinnen, wie der folgende Ausschnitt zeigt: (35) H: Herr Metzmacher aus Essen. Me: Ja, hallöchen M: Guten Abend Me: Ja folgendes: Ich als strenggläubiger Atheist muß auch zum Osterfest sagen irgendwie äh — find ich aber besser irgendwie n bißchen Urlaub zu machen oder [unverst.] mal der ganze Konsum, irgendwie der ganze Hickhack, Osterhasen kaufen, Eier, Cholesterin-Spiegel M: Hahaha + Me: Ja is echt der Hit + M: Hee find ich gut, das hört sich/ ich lache weil ich Sie ganz witzig finde. Me: Nee, äh jetzt abgesehen davon, also äh die kirchliche Seite her gesehen is sowieso Mumpitz, da stört sich heut kein Mensch mehr dran, und äh Kirchensteuer sparen auße Kirche austreten, davon in Urlaub fahren, schönes Wochenende machen, also find ich effektiver, sagn wa mal so. M: Ja. Me: Weil jeder Arbeitgeber is froh äh Arbeitnehmer sach ich mal, der is froh, wenn er irgendwie mal so drei vier Tage äh so außer der Reihe mal dranhängen kann, so mit langen Wochenenden Laien im Fernsehen 73 + Karfreitach Ostennontach [unverst.] + jj. Sie linden also beides schlecht, sowohl die kirchliche Komponente des Osterlests als auch die Konsumkomponent e. Me: Ja Konsum ist eine Sache", Kirche ist die andere Sache, Kirche interessiert sich heute echt kein Mensch mehr lür äh Konsum irgendwie äh äh mit Eier kaulen und die Kinder mit Schokolade voll [unverst.] oder so is au nich der Sinn der Sache. Man sollte aber lieber in Ruhe äh was weis ich, mit der Familie wegfahren ne, n schönes Wochenende machen, als kiloweise Schokolade kaufen oder so ne, is meine Ansicht, sach ich mal so. + M: Gut, dann wollen wir uns nach Ihrer Ansicht richten, das is auch + Me: Gut! M: gut für den Cholesterinspiegel, hä? (März 94) Nach dem vorformulierten witzigen Einstieg (strenggläubiger Atheist) entwickelt der sehr schnell sprechende Anrufer seine These, daß Urlaub machen die beste Oster-Variante sei, gegen die Alternative Kirche vs. Konsum. Obwohl er sehr salopp und mit viel vagen Partikeln und Wendungen (irgendwie, der ganze Hickhack, die kirchliche Seite her gesehen ...) formuliert, gelingt es ihm, seine Position verständlich zu machen. Wenn man die zahlreichen Varianten dialogischen und monologischen Sprechens der Laien, wie ich Sie hier gezeigt habe, in der BegrifHichkeit von Oralität und Literalität einordnen wollte, müßte man eine ganze Skala von Zwischenstufen, von Überlagerungsformen usw. beschreiben und eine BegrifHichkeit dafür schaffen, die momentan noch fehlt. 3.2: Mit der primären Oralität kommen auch stark regionale bis dialektale Elemente ins Fernsehen. Wenn man in den älteren Zeiten der elektronischen Medien diese Varietäten vor allem in O-Tönen zu hören bekam, sind sie jetzt in Studiosendungen und auch sonst völlig gängig geworden. 13 Auf diese Weise bekommen die Rezipienten die Gelegenheit, eine wenn auch nur passive - Kenntnis der verschiedensten regionalen Varietäten zu erwerben, nach der Wiedervereinigung Deutschlands auch von Varietäten, die die Jüngeren allenfalls von gelegentlichen Kontakten her kannten. Ich denke, daß das Sprachbewußtsein der Deutschen seit der Wende auch auf diesem Sektor sensibilisiert wurde, daß sich vielleicht auch Einstellungen entwickelt haben, die es früher in dieser Form nicht geben konnte, weil die Erfahrungsbasis fehlte. In der RTL-Telefon-Sendung beispielsweise hört man in kürzester Zeit so viele verschiedene regionale Varietäten hintereinander, wie ich das aus kei- 13 Zu diesem Problembereich vgl. den Überblick bei Straßner 1983 sowie Holly/ Püschel 1993, S. 149f. 74 Harald Burger ner anderen Sendung kenne. In den zitierten Beispielen (Nr. 16ff. und 35ff.) soll die Transkription einige der auffallendsten phonetischen und morphologischen regionalen Besonderheiten andeuten. Genauere Beobachtungen müssen einer eigenen Studie Vorbehalten bleiben. Mit den Texten der Stufe 4 kommen des weiteren Stilregister ins Fernsehen, die bisher weitgehend tabuisiert waren. Derbes bis vulgäres Vokabular (und sonstige grobe Verbalinjurien) finden sich vor allem in der RTL- Telefon-Sendung, und zwar im Kontext der wechselseitigen Beschimpfungen, also sowohl von Seiten der Anrufer als auch beim Moderator. Hier eine kleine Blutenlese (März/ April 94): (36) A: (...) also äh ich seh es selber ab und zu streckenseise wenn man schon mal in ne Kneipe is oder so, da hängen echt drei Kerle Eine Theke sach ich mal und baggern wie die Blöden, jadadadiri und gibt an und hin und her und tralala, und die Frau sitzt da, guckt sich das ganze Spielchen an, das hat aber mit Flirt nix zu tun, im Endeffekt läuft die ganze Sache irgendwie nur äh äh auf Verarschen aus [unverst. ] (37) H: So, jetzt ham wir noch den Martin E. aus Keufra M: Herr E. E: Du arrogantes Arschloch M: Huhuuu! war ein intelligenter Anrufer endlich mal, ich bin so + H: So + M: dankbar! Er hat drei Wörter gesprochen (38) H: Klaus Krüger aus Westerland. M: Herr Krüger! + K: 0 Gott das is ja die größte Scheißsendung die ich + M: [pfeift ] der sitzt da oben und hat n biß chen viel Seeluft in seinen + H: dann nehmen wir die Helene Mertens + M: hohlen Schädel geblasen gekriegt. (39) H: Helene Mertens aus Kempel. M: Frau Mertens! Me: [pfeift] Deine Sendung is total bescheuert Du Pisser. M: Kuck mal die Helene Du, da hat sie sich mal ein Sätzchen zurechtgelegt und das abgelesen das muß aber aus einem St/ Laien im Fernsehen 75 H: Jochen Rambo aus Berlin M: [lacht, H lacht auch] och da ham jetzt so ne richtige Phase wo nur Kanonen in die Sendung reinkommen aber das muß ja auch mal sein (40) H: Frau Seidel aus Erkra. M: Frau Seidel! S: Ja hallo. M: Na? S: Äh ich lind Ostern is eigentlich ein Fest für Kinder. M: Ja. + S: Für Erwachsene also [unverst.] + M: Setzen Sie sich etwa Pelzohren aul und hüplen durch die Wohnstube? S: Nee, aber mein Sohn macht das ja. M: Der macht das? + S: Der macht das + M: oder hat er von Natur aus solche Löffel? M: Vom Vater geerbt? S: Nee aber der hat mit Sicherheit nich solche Löffel wie du du dummes Arschloch. + M: Das glaub ich auch, weil ich nämlich schöne Ohren hab. + g. aahaa [unverst.] M: Frau Seidel aus Erkra. (41) H: Holger Kieler aus Augsburg M: Herr Kieler, 10 Sekunden. R: Ja und zwar mein Gott also ich finde Dich also wirklich zum Kotzen ich versteh Dich selber nicht daß du glaubst daß Zuschauer [unverst.] M: Jaa, damit wollen wir in die Ostertage gehen. Danke für diese netten Worte, frohe Ostern, wir sehen uns wieder Osterdienstag, auch wenn es diesen Tag gar nich gibt (42) A: Guten Abend Herr Steinhöwel M: n Abend A: Ich möchte Ihnen erst zu Ihrer Sendung gratulieren. + M: Ich bin Ihnen sehr dankbar für diese aufmuntemden Worte + 4- Sie haben A: sich — zum arrogantesten Wichser im deutschen Fernsehen entwickelt. M: Das stimmt - und Sie zum dümmsten Arsch, das hier je angerufen hat. Bumm raus is er so schnell kann das manchmal gehen 76 Harald Burger 3.3: Wir haben gesehen, daß einer der wichtigen Funktionen von Laien darin besteht, nonverbal und verbal Gefühle zu zeigen. Nun ist Verbalisierung von Gefühlen, zumal in einer öffentlichen Situation, für jeden Menschen eine heikle Sache. Bei den Laien, die in Unterhaltungsshows oder in Sendungen wie „Bitte melde dich” auftreten, zeigt sich hier am ehesten ein Aspekt von „Restringiertheit” ihres Sprechens. Bei den „Überraschten” in der Rudi-Carrell-Show war zu beobachten, daß sie sich nach anfänglicher völliger Sprachlosigkeit in eine hochgradig reproduzierte Sprache flüchten, in immer dieselben halb oder ganz phraseologischen Ausdrücke wie dat darf nich wahr sein, ich kann das noch nicht fassen, dat gibt’s nicht, ich komm da noch nich drüber weg. 14 Das Arsenal der Formulierungen, die den Überraschten zur Verfügung stehen, ist offenbar sehr klein. In zahlreichen von mir untersuchten Sendungen wiederholen sich die immer-gleichen Wendungen. Auch in „Traumhochzeit” gibt es in ähnlicher Weise „Überraschte”. Hier sind es Filmausschnitte, die vor dem Spiel um die Traumhochzeit eingespielt werden: Szenen, in denen ein Er oder eine Sie die Partnerin/ den Partner zum Heiratsantrag provozieren. Diese Szenen werden in der Sendung selbst dann durch die Beteiligten retrospektiv kommentiert, und die Moderatorin fragt unvermeidlicherweise vor allem danach, wie sich das Paar im entscheidenden Augenblick gefühlt hat. Sonja sitzt in einem Konzert, und überraschenderweise tritt nicht der richtige Dirigent, sondern Jochen ans Dirigentenpult. Unter seiner „Leitung” spielt das Orchester ein Brautlied. Dann erfolgt der Heiratsantrag im Angesicht des begeisterten Konzertpublikums. Diese Szene wird in der Sendung dann so besprochen: (43) M: Endlich mal wieder ein Paar aus Österreich*, ich freu mich total*, und sö ein toller Heiratsantrag, und witzig auch*, denn Du warst überhaupt gar nicht übel als Dirigenten, aber ein Dirigent der sagt: "aus! aufhören! " das hab ich noch nie gesehen. + J: Ja des/ das war so, wir haben ausgemacht mit der Konzertmeisterin - + M: Ja J: äh sie nickt mir zu und ich mach das Auszeichen und das Konz/ äh das Orchester hört auf. M: Ja. + J: Und ich mach das Auszeichen - und die spielen weiter, - und ich + M: [lacht] + J: mach nochamal das Auszeichen, die spielen wieder weiter und + M: wieder weiter 14 Burger 1991, S. 60ff. Laien im Fernsehen 77 + J: dann is mir nur noch übriggeblieben abzubrechen und aus aus + M: [unverst.] ja das hat dann auch geklappt ja. J: Ja. H: Du hast ihn soiort erkannt na? Er hat noch versucht, so sein Gesicht zu verhüllen aber S: Ja ich hab die Schuhe gesehen und hab mir gedacht*, des is der Dirigent der noch eine Zugabe spielt H: Ja. S: Daß es aber. Jochen is", des hab ich dann sofort erkannt ja. M: Und was hast Du gedacht in dem Moment? S: Ich hab mich geschämt“, ich hab mir im ersten Augenblick gedacht*, das darf doch nicht wahr sein, was macht der da oben? + M: Nicht an eine/ an einen Heiratseintrag gedacht? + S: Nein nein Ich hab eher geglaubt daß es eine Entschuldigung is, weil er am Konzert nich dabei war*, so kurzfristig M: Ja ja. S: Aber mit/ beim Brautlied das merkt man demn eh. M: Daum hast Du/ hast Du damn auch gedacht*, das ist für die Traumhochzeit? S: Ja. (9.1.94) Ähnliches zeigt sich in „Bitte melde dich”. Zunächst in den narrativen Passagen, und dort besonders an besonders emotionalen Punkten der Geschichte, wie im folgenden Text die klischierte Wendung, mit der die Mutter die (befürchtete) Endgültigkeit des Ereignisses verbalisiert: (44) Mutter: (...) Der Donnerstag am dem der Ronnie fortgegamgen is, des war ein Morgen wie jeder andere. Er is kurz vor 7, zwischen 10 vor 7 und 7 ausm Haus und hatte plötzlich noch aufm Flur gerufen, tschüß ich mach jetzt Schluß, und das wars gewesen. Um 9 betret ich wieder das Haus und find den Zettel im Briefkasten, die Schlüssel dabei, er is - [schluchzend] für immer gegangen. (28.2.94) Vor allem aber zeigt es sich bei den in die Kamera gesprochenen Monologen. Man gewinnt den Eindruck, daß die Sprechenden ihr Arsenal an Formeln von Sendung zu Sendung tradieren, daß der Rückgriff auf bereits Bewährtes den situativ bedingten Streß zu mildern vermag. Text (30) enthält Sätze, die in leichten Abwandlungen auch von anderen Personen gesprochen werden: „Ich kann schon die Nächt nicht mehr 78 Harald Burger schlafen (...) die Tür ist immer offen für dich.” Man vergleiche dazu die Fortsetzung von Text (30): (45) Einen Monat später wurde ich informiert, daß man seine Brieftasche in einem Bus in Landau in der Pfalz gefunden hat. In der Brieftasche befanden sich Personalausweis, Führerschein, Fahrzeugpapiere usw., Mike, ich hoffe, daß du uns jetzt siehst, ich vermisse dich sehr - und Steven auch. Ich kann schon nachts nicht mehr schlafen, ich weiß auch nicht, warum du weggegangen bist, aber bitte melde dich mal, oder gib wenigstens ein Lebenszeichen, ruf an, bei mir oder bei Mutti oder Vati oder im Studio, aber bitte melde dich. (28.2.94) Weitere vergleichbare Belege: (46) Schwester: Hallo Horst, hier ist deine Schwester Maria. Ich hoffe, daß du mich noch kennst, unser Haus ist immer offen für dich und Mama und Papa, die würden sich sehr sehr freuen, wenn du nach Hause kommst. Bitte melde dich. (14.3.94) (47) Schwester: Joachim, ich möcht mich bei dir entschuldigen, daß ich dir nie gsacht hab, daß ich für dich da bin, daß du immer mit mir reden kannst wenn du irgendwelche Probleme hast - und ich bin immer für dich da, wenn du jetzt kommen willst, ich vermiß dich und ich möcht gern*, daß du wiederkommst*, der BUH vermißt dich nämlich auch sehr, also bitte melde dich. (28.2.94) (48) Schwester: Ich kann mich dran erinnern, daß wir als Kinder auch emal auf und davon wollten - und daß wir uns dabei im Wald verlaufen harn und nach längerem Suchen doch wieder heimgfunden ham. So möcht ich, daß du jetzt auch wieder den Weg heimfindest. (28.2.94) Dem entspricht auf der inhaltlichen Ebene vielfach ein Fehlen jeglichen Problembewußtseins. Die Angehörigen und Freunde verstehen meist nicht, warum die Person sie so plötzlich und unerwartet verlassen hat. In der Regel war für sie alles bestens in Ordnung, so wie es der Moderator beispielsweise formuliert: Laien im Fernsehen 79 (49) Denn sein Verschwinden liegt erst einen Monat zurück. 18 Jahre ist er alt und er wohnte bei seinen Eltern. Die wiederum verstehen nun nicht, warum er mit den Problemen, die er wohl gehabt haben muß, nicht zu ihnen gekommen ist. Denn eigentlich hatten sie ein gutes Verhältnis zu ihm. Ronnie Richter. (28.2.94) Auch sonst findet sich bei wenig sprachgewandten Sprecherinnen eine Tendenz zum sprachlichen Klischee: (50) M: Was war aber damn danach, Herr Lange. Also, Sie haben Ihre letzte Schicht gefahren - und dann? L: Zuvor, wo ich noch bei meiner Oma war, da sachte die immer zu mir, Junge, zieh in die Welt. M: Ähä, ne fortschrittliche Oma. L: Die war sehr fortschrittlich ja. Und das war ja auch unser unser bestes Stück nich? Kann man sagen. M: Und das haben Sie wahrgenommen? L: Das haben wir so wahrgenommen. (21.3.94) Auch in puncto Klischiertheit schießt „Traumhochzeit” den Vogel ab. Beispielsweise wird in einem eingespielten Filmausschnitt (s.o. 43) die Frau [Christina] im Brautkleid (! ) mittels eines Containers aus einem Ozeanschiff ausgeladen und dem Mann [Michael] zugeführt. Als sie ihm dann in die Arme sinkt, drückt er seine Fassungslosigkeit aus und sie hält schluchzend, aber offensichtlich wohlvorbereitet ihre „Ansprache” mit dem Resultat des „elizitierten” Heiratsantrages: (51) M: Wat machs n Du für Sachen [unverst.] Ch: Ich liebe dich Michi ich vermisse dich j/ jede Stunde jede Sekunde die Du nich bei mir bist alles was ich will bist Du. Wenn Du es möchtest komm ich zu Dir wo immer Du auch bist - und bleibe ein ganzes Leben. M: Ich will Dich Ch: Ich liebe Dich M: Ich dich auch, über alles auf der Welt Ch: Willst Du mich heiraten? M: Ja okay [sic! ] ja. (9.1.94) 80 Harald Burger 4. Zur Transkription der Dialoge - Simultanpassagen sind durch "+" am linken Rand gekennzeichnet. - Die Interpunktion ist nicht konsequent nach grammatischen Prinzipien, sondern um der Lesbarkeit willen gesetzt. Interpunktionszeichen bedeuten immer auch minimale Pausen. Wenn eine syntaktische Schnittstelle „überspielt” wird, wenn also keine Pause vorhanden ist, wird dies durch accent circonflex + Interpunktszeichen gekennzeichnet, z.B.: er behauptete daß ... - Sonstige Pausen werden je nach Länge durch einen oder mehrere Gedankenstriche wiedergegeben. - Besonders betonte Silben werden durch accent aigu markiert. - Phonetisch auffällige Erscheinungen werden, soweit möglich, durch das normale Alphabet wiedergegeben. 5. Literatur Burger, Harald (1989): Diskussion ohne Ritual oder: Der domestizierte Rezipient. In: Holly, W./ Kühn; P./ Piischel, U. (Hg.): Redeshows - Fernsehdiskussionen in der Diskussion. Tübingen, S. 116-141. Burger, Harald (1990): Sprache der Massenmedien. 2., erw. Aufl. Berlin/ New York. Burger, Harald (1991): Das Gespräch in den Massenmedien. Berlin. Burger, Harald (1995): Konversationelle Gewalt in Fernsehgesprächen. In: Hugger, P./ Stadler, U. (Hg.): Gewalt - Kulturelle Formen in Geschichte und Gegenwart. Zürich. S. 100-125. Holly, Werner/ Püschel, Ulrich (1993): Sprache und Fernsehen in der Bundesrepublik Deutschland. In: Biere, B.U./ Henne, H. (Hg.): Sprache in den Medien nach 1947. Tübingen. S. 128-157. Straßner, Erich (1983): Rolle und Ausmaß dialektalen Sprachgebrauchs in Massenmedien und in der Werbung. In: Besch, W. u.a. (Hg.): Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung. 2. Halbbd. Berlin. Sp. 1509-1525. Wilhelm, Reto (1995): Ohne Vorstellung keine Vorstellung: Das Vorstellungsgespräch in der Unterhaltungssendung „Traumpaar” des Schweizer Fernsehens DRS. (Zürcher Grammatische Studien 42) Bern. JÜRG HÄUSERMANN Im Dialog mit dem Akteur Journalistisches Zitieren im Fernsehbericht Abstract Wer in einem Fernsehbericht einen Originalton [soundbite) einbaut, zitiert aus einem Text, der meist speziell für den betreffenden Bericht hergestellt wurde und auf den der Zuschauer nicht zurückgreifen kann. Damit kommt der Einbettung des Zitats eine andere Bedeutung als in nichtjournalistischen Sachtexten zu. Mit der Art der Zitatverwendung stellt der journalistische Kommunikator seine Beziehung zum zitierten Akteur dar. Dieser tritt als mehr oder weniger autonom argumentierendes Subjekt auf. Meistens wird er nur als Lieferant von Belegen für Behauptungen des Journalisten eingesetzt. Andere Möglichkeiten existieren aber, in denen der Kommunikator eine selbständigere Rolle innehat; dabei trennen die Journalistinnen eigene und fremde Argumentation stärker und erzielen eine größere Transparenz ihrer Textproduktion. 0. Originalton und journalistisches Selbstverständnis In informierenden Fernsehberichten ist gewöhnlich nicht nur die Stimme des Kommunikators 1 zu hören, sondern auch die Stimme eines oder mehrerer Akteure. Deren Äußerungen, die in mündlicher Kommunikation entstanden sind, werden als O-Töne oder Soundbites in den durch Merkmale der Schriftlichkeit bestimmten Berichttext 2 eingebaut. Der Sprecher oder die Sprecherin ist dabei gewöhnlich im Bild zu sehen, oft durch ein Insert mit Namen und Funktion identifiziert. Ich werde im folgenden zeigen, wie sich solche O-Ton-Zitate in den Berichttext einfügen, und den Umgang mit ihnen am journalistischen Selbstverständnis messen, das sich aus der Vorstellung einer eigenständige Position des Kommunikators zwischen Rezipient und Akteur ergibt. 3 Mein Ziel ist, damit einen Ansatzpunkt für einen medienwissenschaftlich fundierten Umgang mit O-Tönen in der Aus- und Fortbildung zu finden, der die in den Lehrbüchern vorhandenen rudimentären Hinweise 4 sinnvoll ergänzt. 1 Für die an der journalistischen Kommunikation Beteiligten benutze ich folgende Begriffe: Kommunikator für die journalistische Institution und ihre Vertreter; Akteur für die in den dargestellten Ereignissen handelnden und betroffenen Personen und Gruppen; Rezipient für das Publikum. 2 So z.B. charakterisiert von Rossini Favretti (1988). 3 Eine detailliertes Schema der Abhängigkeiten journalistischer Produktion zeigt Mc- Quail (1987). 4 Z.B. in Schult/ Buchholz (1993, S. 133). 82 Jürg Häusermann 1. Ein produktionsbezogener Zugang Der Schwerpunkt soll damit in Bereichen gesetzt werden, die in der normativen Literatur meist vernachlässigt werden: (1) Journalistische Textproduktion basiert auf Informationen, die in Texten vorliegen; nur die wenigsten journalistischen Produkte entstehen noch aufgrund eigener Anschauung (viele Lehrbücher 5 aber sind von einer Vorstellung sprachlicher Kreativität bestimmt, die sich an freieren, künstlerischen Formen orientiert). (2) Die bisher in der Aus- und Fortbildung eingesetzten Sprachnormen sind einseitig auf den Rezipienten ausgerichtet 6 und brauchen eine Ergänzung, die weitere Aspekte des Selbstverständnisses des Kommunikators einbezieht. 1.1 Textbasiert Das Zitieren mittels O-Ton ist nur einer von vielen Aspekten der Textproduktion aufgrund von schriftlichen und mündlichen Quellen, die zum Teil bereits journalistischer Natur sind (z.B. Agenturtexte), zum Teil von den Akteuren selbst stammen (z.B. Communiques) und zu deren Verarbeitung das Verständnis sowohl von fachspezifischen Inhalten (zur allfälligen Umsetzung für den Rezipienten) als auch das Erkennen von Intentionen (zur allfälligen Abgrenzung im eigenen Text) nötig ist. Biere (1993) faßt es in die Formel: Textkonstitution als Textverarbeitung und Textbearbeitung und zeigt, daß im Endprodukt ein wesentliches Merkmal des ursprünglichen sprachlichen Ereignisses, nämlich sein Illokutionspotential, fehlen kann. 7 - Verschiedene Studien untersuchen, wie stark die Textlieferanten das journalistische Endprodukt bestimmen. 8 Wenig berücksichtigt wird dabei die Frage, wie aus dem Ausgangsmaterial zitiert wird. 9 Dies vielleicht deshalb, weil dabei das Fremdmaterial mit den Mitteln von direkter Rede, indirekter Rede und Redebericht kenntlich gemacht wird und das Problem scheinbar nicht besteht, daß „’Fremdanteile’ [...] für den Leser 5 Vgl. als typischen Vertreter Schneider (1984); zur Kritik: Sanders (1992) und Häusermann (1993). 6 Dies führt dazu, daß journalistische Sprache fast nur am stilistischen Schmuck und an der Verständlichkeit gemessen wird. Vgl. z.B. Pürer (1991, S. 259-278) oder Weischenberg (1990, S. 142-147). 7 Biere (1993, S. 83). 8 Vgl. zur Agenturabhängigkeit: Muckenhaupt (1990), zur Abhängigkeit von PR z.B. Grossenbacher (1989), kritisch dazu Saffarnia (1993). 9 Verändert und verfälscht in den von Muckenhaupt (1990) untersuchten Fällen. Im Dialog mit dem Akteur 83 im allgemeinen kaum mehr identifizierbar” 10 sind. Noch weniger spektakulär ist in dieser Hinsicht das für Radio und Fernsehen typische Vorgehen, Fremdmaterial als Originalton und für jeden ersichtlich einzubauen, obwohl es sich auch da in jedem Fall um mehr oder weniger stark bearbeitetes Material handelt: Zumindest Anfang und Schluß sind beschnitten. Schon dadurch kann eine Äußerung eine völlig neue Funktion bekommen (was z.B. im Interview Argument war, wird im Bericht zur These). Oft weist aber auch das einzelne Zitat Bild- und Ton-Schnitte auf. O-Ton- Zitate sind damit sämtlichen Arten der Manipulation zugänglich, wobei nicht einmal das Neuformulieren ausgenommen bleibt: Der Wortlaut wird oft dadurch verändert, daß schwer verständliche O-Töne mit Untertiteln versehen oder fremdsprachige deutsch übersprochen werden, wobei erhebliche Abweichungen von der ursprünglichen Gestalt Vorkommen. 11 1.2 Kommunikatororientiert Medientexte werden in der linguistischen Literatur gewöhnlich vom Publikum aus, also rezipientenorientiert diskutiert. In der Aus- und Fortbildung wird dementsprechend die Frage der Verständlichkeit stark betont, 12 während kommmunikatorbezogene Themen in viel geringerem Maße fruchtbar gemacht werden, also Themen, die sich aus der Position des Kommunikators ergeben, die im allgemeinen als von vielen Abhängikeiten bestimmt dargestellt wird. 13 Für unser Thema ist dabei besonders relevant, daß sich Journalistinnen und Journalisten in kritischem Gegensatz zu den von ihnen dargestellten Akteuren sehen. 14 Die sprachlichen Entscheidungen, die sie treffen, müssen mit diesem Rollenverständnis übereinstimmen. Dazu gehört sicher Rücksichtnahme 10 Biere (1993, S. 56). - Zur Problematik journalistischer Redewiedergabe vgl. Pfirter (1990). 11 So enthält z.B. ein Bericht über einen von Deutschen mißhandelten Angolaner ein Statement, das sich folgendermaßen transkribieren läßt: Später in einer Woche da hat er mir gesagt so ich müsse etzt ar kräftig arbeite so. Ich müsse holzhacke^ hohle einlade abladen so. [...] Im Untertitel ist diese Passage so wiedergegeben: Später hat er mir gesagt: „Kraft ist Arbeit.’’ Ich mußte Holz hacken, Kohle etnladen, abladen. [...] (Spiegel-TV, Vox, 14.11.1994). 12 Vgl. dazu Burger (1990, S. 252). 13 McQuail (1987, S. 137-171). 14 In der Journalistenenquete Österreich stimmten jeweils über 70 Prozent der befragten Journalistinnen sowohl der Aussage: „Journalisten sollten Kritiker an Mißständen sein” als auch der Aussage: „Journalisten sollten neutrale Berichterstatter sein” zu, die beide eine Distanz zum Akteur signalisieren. Auch Weischenberg et al. (1994, S. 161) erzielten vergleichweise hohe Zustimmung für die journalistischen Aufgaben: „das Publikum möglichst neutral und präzise informieren” und: „Kritik an Mißständen üben”. 84 Jürg Häusermann auf die Bedürfnisse des Rezipienten. Aber es gehören noch weitere Gesichtspunkte dazu — in erster Linie die Abgrenzung der wiedergegebenen Meinungen der Akteure von der eigenen Meinung des Kommunikators. 15 2. Transformation eines Dialogs Die O-Töne, die im folgenden untersucht werden sollen, sind in Interviewform entstanden, also im Wechselgespräch von Journalist und Akteur. Die Ausschnitte, die für den Bericht gewählt werden, sind gewöhnlich Teile einzelner Antworten. Für eine kommunikatororientierte Betrachtungsweise 16 drängt es sich auf, den Berichttext, wenn auch unter völlig veränderten Vorzeichen, als Weiterführung des Dialogs zu sehen, der in der Recherchephase geführt worden ist (ähnlich wie bei rezipientenorientiertem Vorgehen der dialogische Kommunikationszusammenhang untersucht wird, in dem der Text auftritt). 17 Ein Beispiel soll diese Transformation des Dialogs dokumentieren. Am 8. November 1992 fand in Berlin die für Deutschland bis dahin größte Demonstration gegen Ausländerfeindlichkeit statt. Die auftretenden Politiker wurden mit drastischen Mitteln gestört. In der Nachrichtensendung vom gleichen Abend waren Ausschnitte aus einer Umfrage unter fünf Demonstrationsteilnehmern zu sehen. Einer von ihnen war gefragt worden: Was haben Sie denn mitbekommen von der Rede des Bundespräsidenten? Er hatte geantwortet: (1) Etwas habe ich mitbekommen; man kennt ja seine Meinung, die er dazu hat, und von den Wortfetzen, die hier ankamen, war eigentlich das wieder drin, was er eigentlich schon immer vertritt. Das hab ich mitbekommen. Für mich war interessant, wie eben so eine kleine Menge so eine Veranstaltung stören kann. Ich weiß ja nicht, wie das in der Welt ankommt, wie also die Medien das übertragen, ob sie nun mit der Kamera auch in diesem Gewühl hier drin sind oder. Wir waren unterwegs auf der Demonstration, äh, da haben wir Leute, die sind von der Kirche und Leute, die sich mit Behinderten befassen, das war friedlich, das war freundlich, da war eine Verständigung auch unter unterschiedlichen Leuten zu sehen, aber ich finde auch, die Medien, die spielen einiges zu hoch, daß Deutschland so ein schlechtes Ansehen hat. Ich bin gespannt, ob sie vielleicht 15 Die folgenden Beispiele werden vielleicht auch zeigen, daß die Rolle des Berichterstatters in den journalistischen Texten geklärt werden müßte, ähnlich wie das für die Rolle des Erzählers in literarischen Texten Erzähltheorien tun. - Vgl Püschel (1993, S. 275-277). 16 Die Relevanz für die Rezipienten untersuchen Gibson/ Zillmann (1993): Verschiedene Studien zeigen, daß Zitate in journalistischen Texten besondere Aufmerksamkeit erregen. Allerdings konnte die Untersuchung, die mit Print- und Radiotexten durchgeführt wurde, nur für den Printbereich signifikante Resultate liefern. Bucher (1994); vgl. auch den Beitrag von Ulrich Püschel in diesem Band. 17 Im Dialog mit dem Akteur 85 heute abend im ARD auch darüber was bringen, was wir unterwegs auf der Demonstration gesehen haben. Im „Tagesschau”-Bericht wurde ein Teil dieser Antwort verwendet, gegengeschnitten mit einem Ausschnitt aus der Antwort eines zweiten Befragten: (2) [Bericht: ] Viele Kundgebungsteilnehmer flüchteten entsetzt, auch Altere und Familien mit Kindern. Hier vorne war Weizsäckers Rede kaum zu hören. [O-Ton: ] (Mann 1) Von den Wortfetzen, die hier ankamen, war eigentlich das wieder drin, was er eigentlich schon immer vertritt. Das hab ich mitbekommen. Für mich <war interessant, wie eben so eine kleine Menge so eine Veranstaltung stören kann. Ich weiß ja nicht, wie das in der Welt ankommt> [O-Ton: ] (Mann 2) Oh mein Gott, nicht mal bei so einer Demo können die Leute jetzt noch miteinander reden oder zumindest zuhören. [Reporter: ] Hunderttausende waren gekommen, und es waren nur wenige hundert, die vor allem mit der Lautstärke das Gesamtbild beeinträchtigten. 18 Wer die Möglichkeit hat, „Original”-Umfrage und „Tagesschau”-Version zu vergleichen, bekommt den Eindruck, daß dem Befragten Unrecht getan wurde: Die Antwort wurde gerade um die medienkritische Komponente gekürzt. Der Satzanfang: Ich weiß ja nicht, wie das in der Welt ankommt ... wird dadurch zu einer sehr allgemeinen Mutmaßung über das Echo des Ereignisses, während er ursprünglich nur Einleitung zu einer medienkritischen Überlegung war, die selbst wieder Einleitung war für den Bericht über positive eigene Erfahrungen. - Der Anfang des Zitats bekam durch den Anschluß an den Berichttext eine neue Bedeutung: Der Einstieg Etwas habe ich mitbekommen ... war, aus Inhalt und Sprechweise zu urteilen, durchaus positiv gemeint: Ja, ich habe etwas mitbekommen, genug, um zu wissen, worüber Weizsäcker sprach. Im Berichttext bekam der O-Ton die Funktion, die Aussage des Journalisten Hier vorne war Weizsäckers Rede kaum zu hören zu bestätigen und zu wiederholen, was in der gesamten Berichterstattung immer wieder thematisiert wurde: Die Demonstration wurde gestört; das kann das Deutschlandbild im Ausland beeinträchtigen. Es liegt nahe, diese Textgestaltung als Verfälschung der ursprünglichen Sprecherintentionen zu werten. Eine solche Kritik ist aus der Sicht des Akteurs sicher berechtigt, der seine Hauptaussage im Bericht nicht wiederfindet. Aus der Sicht des Kommunikators sieht die Sache anders aus. Denn seine Aufgabe ist es nicht, die am Rand der Demonstration entstandene Umfrage darzustellen. Das Thema seines Berichts ist das Tagesereignis Demonstration. Er muß mit den Mitteln des Berichts (wozu auch die 0- 18 ARD Tagesschau, 8.11.1992. 86 Jürg Häusermann Töne gehören) seine Interpretation des Ereignisses darstellen. 19 Dies führt nicht unbedingt über eine Rekonstruktion des Umfrage-Statements, sondern über eine neue Kombination von eigener und fremder Aussage. - Zu beachten ist ja, daß in derartigen Fällen das ursprüngliche Rede-Ereignis ein von den Journalisten geschaffenes ist, das als Rohmaterial dient für die neue Wechselrede zwischen Kommunikator (als Autor des Berichttextes) und Akteur (als O-Ton-Sprecher), die der Berichttext konstruiert. O-Ton-Aussagen sind unter diesem Gesichtspunkt sehr weit entfernt vom „Anspruch, ein ’authentisches’ Dokument der Realität zu sein”. 20 Im neuen Text sind also die beiden Gesprächspartner aus der Interviewsituation noch immer präsent; aber der Autor hat ihr Verhältnis neu konstruiert: Der Journalist ist nicht mehr der ermittelnd Fragende, sondern das berichtende Subjekt des Offtextes, der das Ermittelte in eigenen Worten wiedergibt. Der Akteur ist nicht mehr der erklärende, Stellung beziehende, argumentierende Gesprächspartner, sondern der Sprecher einzelner Statements, die auf unterschiedlichste Weise im neuen Text stehen können mehr oder weniger nah an der ursprünglichen Interviewsituation. 21 3. Ein Script wird zitiert Den O-Tönen fehlt in der Regel das für die Redewiedergabe charakteristische Merkmal des Umformulierens, ja sogar Neuerfindens. Die Einbettung verzichtet größtenteils auf redekommentierende Verben. Dagegen sind thematische und deiktische Bezüge zwischen dem O-Ton und seinem Kontext zu finden oft direkter als es im ursprünglichen Interview der Fall war. Im folgenden Beispiel aus der Kulturberichterstattung wird z.B. mit der Partikel ja im O-Ton ein Zusammenhang suggeriert, der thematisch nur schwer zu erkennen ist: (3) [Bericht: ] Landschaft, Architektur und äußere Objekte werden durch die Geschwindigkeit der Fortbewegung zu neuen Bildern. Zeit als Bewegung von Einzel-Bildfolgen wird zum alles beherrschenden Metrum. Stellvertretend für den menschlichen Körper stehen die Autositze. Auf ihnen findet der Wettlauf der Augen mit den bewegten Bildern statt und deutet an, was die elektronischen Bildmedien möglich machen. Der Körper bleibt da, das Auge reist. [O-Ton: ] (Hans Müller, Computer- und Videokünstler) Zeit hat ja irgendwie heute sowieso die Tendenz, daß se des Primat hat über den 19 Vgl. z.B. Krippendorf (1994). 20 Hickethier (1993, S. 191). 21 Ohne daß diese Hinweise als Plädoyer für ein völliges Neuerfinden von Statements verstanden werden wollen, sei daran erinnert, daß wir es, wenn wir Mayes (1990) glauben, auch in der alltäglichen Redewiedergabe mit einem hohen Prozentsatz an erfundenen Zitaten zu tun haben. Im Dialog mit dem Akteur 87 Raum. Niemand fragt wie wie weit es nach New York is’. Wie lange brauch’ ich, bis ich dort bin. Und die Zeit is eigentlich des beherrschende Moment heute. 22 Als gemeinsames Merfcma/ haben die O-Töne mit der Redewiedergabe das Kontrastieren „eigenen” und „fremden” Materials und die Möglichkeit, durch unterschiedlichen Einbau unterschiedlich große „Distanz’ 23 herzustellen. Im übrigen erinnern sie in vieler Hinsicht an Erscheinungen der Intertextualität, in erster Linie des wissenschaftlichen Zitierens. 24 Die hauptsächlichen Unterschiede ergeben sich aber dadurch, daß der Prätext, aus dem zitiert wird, vom Kommunikator hergestellt wird und dem Rezipienten nicht zugänglich ist. Damit können O-Töne dem Pars-pro-toto- Anspruch nicht genügen, den der Rezipient an ein aussagekräftiges Zitat richtet. 25 Aber auch wenn quasi kein Intertext 26 da ist, auf den der 0- Ton verweist, setzt der O-Ton dennoch etwas als bekannt voraus: die journalistische Arbeitsweise. Die kurze Bild-Ton-Sequenz enthält auch ohne erklärende Worte noch genügend Merkmale der Interview- oder Umfragesituation. Zwar kann ihr konkreter Verlauf nicht als bekannt vorausgesetzt werden, wohl aber ihre allgemeinsten Züge. Das Zitathafte baut also nicht auf einem als bekannt vorausgesetzten Text auf, sondern auf einem typisierten Handlungsmuster, einem Script aus dem journalistischen Arbeitsalltag. 27 4. O-Ton und Sprecherrollen Wir sind davon ausgegangen, daß der Journalist sein Selbstverständnis stark in seiner Beziehung bzw. Abgrenzung zu anderen gesellschaftlichen Kräften und damit zu den Akteuren der dargestellten Ereignisse bestimmt. Wenn diese Akteure jetzt in seinen Berichttexten auftauchen, ist es interessant zu sehen, welche Dialogrollen er ihnen darin zuweist. Ich nehme als Indiz dafür die Position im Erzählbzw. Argumentationsablauf. Aus Kommunikatorsicht heißt die Frage: Grenzt der Journalist seine Argumentation und die der zitierten Person klar ab oder macht er sich (bewußt oder unbewußt) zu ihrem Sprecher? Oder aus der Sicht des Akteurs: Werden ihm abgeschlossene Statements zugebilligt oder nur solche, die eine vom Kommunikator begonnene Argumentationskette ergänzen? 22 SW 3, 4.8.1994. 23 Genette (1994). 24 Cronin (1984). 25 Plett (1988, S. 315); Broich (1985, S. 39). 26 Genette (1993,5. 11). 27 Im Sinne von Schank/ Abelson als fester Handlungsablauf. - Vgl. Häusermann (1989). 88 Jürg Häusermann Unter diesem Gesichtspunkt zeigt sich, daß die Sprecherrolle des Berichterstatters und des Akteurs praktisch zusammenfallen oder auch sich deutlich voneinander unterscheiden können. Ich gruppiere deshalb im folgenden absichtlich pointiert diejenigen Fälle, in denen die Äußerungen des Akteurs denjenigen des Kommunikators deutlich untergeordnet werden (4.1), und diejenigen, in denen sie sich als eigenständig abheben (4.2). 4.1 Der O-Ton-Sprecher in einer Hilfsfunktion Zunächst sollen Fälle gezeigt werden (in unserem Korpus 28 weitaus die Mehrzahl), in denen Berichterstatter und O-Ton-Sprecher aus der gleichen Position reden. Der Berichterstatter macht sich zum Sprecher für seinen Informanten oder, umgekehrt gesehen: er setzt ihn für seine eigenen Zwecke ein. Die zwei hauptsächlichen Fälle: 1. Im Berichttext wird erzählt, der O-Ton führt die Erzählung fort. 2. Berichttext und O-Ton steuern verschiedene Glieder zu ein und derselben Argumentationskette bei. Die Beziehung von O-Ton und einbettenden Textteilen ist subordinativ (die genannte These begründend) oder additiv (eine weitere Argumentationskette, Fortsetzung der Erzählung usw. liefernd), bei Beibehaltung des im Berichttext vorgegebenen Themas. (I) Gemeinsames Erzählen: Ein Bericht über tödliche Unglücksfälle in der Landwirtschaft. Im Berichttext werden einzelne Fälle geschildert, im Bild durch Aufnahmen der Unglücksstätten ergänzt. Die journalistische Erzählung geht an einzelnen Stellen über in den O-Ton von Augenzeugen (die dann im Bild zu sehen sind). [Bericht: ] Am 3. Juni will die 43jährige Gudrun Zeiner von der Agrargenossenschaft Katharinenau bei Rudolfstadt mit einem Kollegen einen Wasserwagen von einer Weide holen. Als sie die Koppel betritt und von einem Bullen bedrängt wird, betrachtet sie das zunächst als Spiel. [O-Ton: ] (Insert: Stefan Götze, Zeuge) Hat se n zweimal mit so‘ner ausgestreckten Hand zurückgewiesen, hat ihm aber wieder den Rücken gekehrt, ne, und da hat er‘s abgepaßt und sie gestoßen. Dadurch mußte sie ihren Schritt beschleunigen und das hat natürlich bei dem Bullen ’nen gewissen Anreiz ausgelöst und hat se dann verfolgt. Und dann is se um mein Maschine drumrum, also, wahrscheinlich damit se den Bullen trenne kann, ne, is se um die Maschine rum und der Bulle hat aber auch ziemlich beschleunigt auf das Gewicht hin denkt man das ja nicht, ne, ziemlicher Brocken schon gewesen, und hat se dann erwischt, also im Sprung, gleich mit den Hörnern niedergedrückt und auf die Koppel gestoßen. 28 18 Informationsmagazine aus dem Zeitraum zwischen 2.8. und 8.12.1994 auf den Sendern ARD, ZDF, SW 3, RTL, VOX mit insgesamt 242 O-Tönen. Im Dialog mit dem Akteur 89 [Bericht: ] Erst als die Frau außerhalb von der Koppel liegt, läßt der Bulle von ihr ab. Mit mehreren Rippenbrüchen sowie schwersten inneren Verletzungen kommt Gudrun Zeiner ins Krankenhaus, wo auch sie 3 Tage später stirbt. 29 Das Beispiel zeigt gut, welche Gründe zu einer solchen Lösung führen: Daß ein Augenzeuge den Hergang schildert, erhöht die Attraktivität. Daß man ihn aber nicht die ganze Geschichte erzählen läßt, liegt einerseits wohl an der starken dialektalen Färbung und an der Gefahr der Langfädigkeit, die die detaillierte Erzählweise mit sich bringt. Die Aufteilung der Erzählung unter Berichterstatter und Akteur erlaubt es, die Erzählung zu raffen. Damit ergibt sich auf der ästhetischen Ebene durchaus ein klarer Unterschied der beiden Sprecherrollen: unterschiedliche Sprachform (abgelesene Standardsprache / dialektal gefärbte, gesprochene Umgangssprache) und unterschiedliche erzählerische Distanz (weniger Details, Perspektive des Opfers / mehr Details, Perspektive des Beobachters). Was aber die argumentative Struktur betrifft, so fallen die beiden Rollen zusammen: Beide Sprecher erzählen die gleiche Geschichte, und jeder führt sie jeweils da weiter, wo der andere sie verlassen hat. Obschon also der O-Ton-Sprecher den Text des Journalisten mit der willkommenen Figur des Augenzeugen bereichert, ist sein Einsatz für die Informationsleistung nicht unbedingt nötig. Als Quellenangabe ist der O-Ton eines Augenzeugen überflüssig. 30 Er unterstreicht zwar die Glaubwürdigkeit der Geschichte; aber für das Informationsziel ist er unnötig was sich auch darin zeigt, daß es völlig beliebig bleibt, welcher Teil der Erzählung von wem wiedergegeben wird. 31 (II) Gemeinsames Argumentieren: Ganz ähnlich sind die Fälle einzustufen, in denen die O-Töne dazu dienen, eine im Bericht vertretene Meinung zu wiederholen oder mit einem weiteren Argument zu versehen. Berichttext und O-Ton bilden eine Argumentationskette - und auch hier ist es beliebig, welchen Teil davon der O-Ton-Sprecher übernimmt. Ihre Positionen unterscheiden sich nicht voneinander. Das Thema in Beispiel 5 ist der schwierige Wiederaufschwung eines ostdeutschen Kurortes. Die früheren Stammgäste kehren allmählich zurück. Es wird aber offenbar befürchtet, daß die Entwicklung nicht schnell genug vorangeht. In der folgenden Passage wird einer der Gründe genannt: 29 ARD, 2.8.1994. 30 Hier wäre es durchaus möglich, daß sich der Journalist nur auf den Polizeibericht stützt, und diesen nacherzählt; eine Quellenangabe ist unter derartig einfachen Recherchierverhältnissen nicht üblich. 31 „Häufig kommt es weniger darauf an, weis der Befragte gesagt hat, sondern daß auf diese Weise vermittelt wird, daß ein Reporter und damit der Sender ’vor Ort’ eines Geschehens ist.” (Hickethier 1993, S. 191). 90 Jürg Häusermann (5) [Bericht: ] Gerade Kleinunternehmer haben hohe Kredite aufgenommen und es ist die Frage, ob sie alle durchhalten. [O-Ton: ] (Uwe Fischer, Handwerker- und Gewerbeverein) Wir müssen sehen, daß wir nun äh die Kredite, die abgezahlt werden müssen, das geht ja jetzt erst los. Bis jetzt haben alle noch die Möglichkeit gehabt, über die Runden zu kommen. Aber in ein, zwei Jahren geht‘s knall hart zu, ne. [Bericht: ] Gleichwohl, wenn es nicht gerade regnet, bietet Kühlungsborn volles Programm: Segelschule, Bootsverleih und Tennis. Nach dem Sport Theater und Konzerte. Und ringsum viel, viel Natur. 32 Wieder läßt aus journalistischer Sicht die Verwendung des O-Tons keinen Informationsgewinn erkennen: Die Behauptung, die Kredite seien eventuell nicht zurückzuzahlen, was zum Ruin einzelner Firmen führen könnte, wird im O-Ton nicht gestützt, sondern nur wiederholt. - Allenfalls ist hier ein ähnlicher Dokumentarwert zu sehen wie im vorigen Beispiel; dadurch daß der Vertreter des ansässigen Handwerker- und Gewerbevereins die Behauptung unterstützt, wird eine Argumentation mit fehlender Prämisse durch ein argumentum ad auctoritatem gestützt: Der Sachverständige am Ort weiß es eventuell besser als der zugereiste Journalist. Die Frage ist dann aber: Warum formuliert der Journalist die Behauptung zuerst selbst als eigene Ansicht im Berichttext? Sollte er weniger kompetent sein als sein Gesprächspartner, so müßte er dessen Meinung nur präsentieren; sollte er gleich kompetent sein, könnte er auf dessen Unterstützung verzichten. Um deutlich zu machen, daß hier eine fremde Einschätzung wiedergegeben wird, würde eine Veränderung der Einleitung des O-Tons genügen. 4.2 Der O-Ton-Sprecher in einer eigenen Rolle In anderen Fällen setzen sich Berichttext und O-Ton stärker voneinander ab. Sie vertreten unterschiedliche Haltungen zum Ereignis zum Beispiel so, daß der Berichttext sich einer Wertung enthält, der O-Ton-Sprecher dafür das Ereignis aus seiner Sicht wertet, oder so, daß zwei unterschiedliche Wertungen einander gegenüberstehen. Generell haben auch diese Zitierweisen eine ähnliche Schmuck- und Dokumentarfunktion wie die oben genannten. Hinzu kommt aber, daß sich ein klarerer Rollenunterschied ergibt durch eine unterschiedliche Zuweisung der argumentativen Funktion: Während der Berichterstatter aus seiner Perspektive berichtet, nimmt der Akteur eine andere Position ein, indem er z.B. einen konkreten Vorfall erzählt oder argumentierend kommentiert. 32 ARD, 2.8.1994. Im Dialog mit dem Akteur 91 (III) BERICHT UND KOMMENTAR: In der aktuellen politischen Berichterstattung ist es Standard, daß zur neutralen Darstellung der Ereignisse Kommentare Beteiligter (z.B. politischer Parteien) eingeholt werden. Das Ergebnis sind Kurzberichte, in denen die Aufgaben klar verteilt sind: Der Berichttext skizziert das Ereignis, ein Akteur kommentiert es. - Im folgenden Beispiel etwa ist es ein Parteichef, der sich zu den Motiven äußert, die einem Abstimmungsverhalten angeblich zugrundelagen: (6) [Bericht: ] Anderthalb Stunden lang brauchte dann die FDP zur Beratung. Ergebnis: Die Kandidatur Hamm-Brüchers wird zurückgezogen und in einer Probe- Abstimmung entschied sich die FDP für Roman Herzog. [O-Ton: ] (Klaus Kinkel, Parteivorsitzender FDP) Ich glaube, daß nach unserer Koalitionsaussage es folgerichtig war und ist berechenbar, zuverlässig in dem zu erscheinen, was wir wollen. Wir wollen diese Koalition fortsetzen, wir wollen die Wahl gewinnen. Man darf nicht fackeln [? ]. 33 Häufig wird der O-Ton mit einem Fragesatz eingeleitet. Indem vorgegeben wird, die im Interview gestellte Frage zu wiederholen, wird der Rollenunterschied zwischen Berichterstatter und Akteur unterstrichen: (7) [Bericht: ] Seit dem 1. August, so steht's im Gesetz, dürfen auch private Vermittler den Millionen Arbeitslosen Jobs verschaffen. Kommerzielle Konkurrenz den Amtsstuben ein Grund zur Furcht? [1. O-Ton: ] (Olaf Köslin, Arbeitsamt Hamburg) Nein, wir fürchten sie nicht. Die Monopolstellung der Bundesanstalt ist nicht gegründet worden, um die Arbeitsämter zu schützen, sondern sie ist damals ins Leben gerufen worden, um Menschen vor mißbräuchlicher privater Vermittlung zu schützen. Und wenn man heute meint, man kann auf diesen Schutz verzichten, weil wir in einer anderen Zeit leben, in Ordnung, darum fürchten wir private Vermittler nicht. 34 Oft ist die im ursprünglichen Gespräch gestellte Frage im O-Ton noch zu hören: Der Autor zitiert sich selbst mit: (8) [Bericht: ] Eine liberale Ministerin verschwindet in der Dunkelheit. Was wird aus ihr werden? Wird sie wieder Apothekerin, Hausfrau? So viele Jahre umsonst gekämpft auf dem beschwerlichen Weg zum Gipfel im liberalen Jammertal. Was meint der Kanzler? [Frage im O-Ton: ] Herr Bundeskanzler, kam der Rücktritt der Ministerin sehr überraschend? [O-Ton: ] (Helmut Kohl, Bundeskanzler) 33 ARD, 23.5.1994. 34 ZDF, 4.8.1994. 92 Jürg Häusermann Was für ein Rücktritt der Ministerin? [Zwischenantwort im O-Ton: ] Frau Adam-Schwaetzer. [O-Ton: ] (Kohl) Das ist eine persönliche Entscheidung von ihr. Die ist zu respektieren. 35 Beispiele dieser Art, bei denen der Berichterstatter im O-Ton auftritt, machen den Verweis auf die journalistische Arbeitsweise deutlich, die diese Zitierweise charakterisiert. (IV) Konflikt: Noch deutlicher wird die eigene Rolle des O-Tons, wenn zwei miteinander im Widerspruch stehende Meinungsäußerungen unmittelbar aufeinander folgen. Dabei könnten zwei O-Töne hintereinander geschnitten werden: (9) [Bericht: ] Fleischgroßmarkt Hamburg: Hier ist nicht der Verdienst dünn, sondern die Personaldecke. Weil ausgebildete - und vor allem billige - Kräfte fehlen, werden 25 Prozent der Stellen von Leihfirmen besetzt. Künftig will man neues Personal ausschließlich über private Vermittler rekrutieren. Vom Arbeitsamt ist man enttäuscht. [O-Ton: ] (Hans Guthold, Fleischgroßmarkt Hamburg) Wir haben verschiedentlich mit dem Arbeitsamt zusammengearbeitet, und es war nicht immer einfach. Ich vermute mal, daß wir mit dem privaten Arbeitsvermittler eine wesentlich schnellere, effektivere Zusammenarbeit haben können, weil sich diese [sic! ] viel effektiver auf den Betrieb einstellen können. Weil sie die Situation im Betrieb kennen, vorort sind, aber auch der Bewerber selber sich bei diesen Arbeitsvermittlern als Kunde fühlt. [O-Ton: ] (Olaf Koglin, Arbeitsamt Hamburg) Dann laßt doch die privaten Vermittler kommen. Also das ist dann. Wir werden sehen, wer in zwei Jahren gewonnen hat. [Bericht: ] Alles dreht sich ums Business, um Arbeitskräfte, ums Geld. Conny Lorenz arbeitet in Sachen Engagements lieber mit doppeltem Boden. Einen Teil der Aufträge organisiert der Agent, den Rest der Künstlerdienst des Arbeitsamts. Und in der Kombination hat sie sich noch nie danebengesetzt. 36 Eine ähnliche Variante ist diejenige, wo der Berichterstatter selbst eine wertende Position einnimmt und damit seine Wertung mit derjenigen des Akteurs kontrastiert. Dies führt zwar zu der zumeist unerwünschten Vermischung von Bericht und Kommentar, und es kommt leicht zu Konstruktionen, in denen der Journalist das letzte Wort behält. Dennoch hebt sich in diesen Fällen die Rolle der dargestellten Person klar von der des Berichterstatters ab: Sie 35 VOX - Spiegel TV, 14.11.1994. 36 ZDF, 4.8.1994. Im Dialog mH dem Akteur 93 kann selbst eine Meinung vertreten und braucht nicht nur Argumente für die Meinung des Journalisten zu liefern. (10) Unter absoluter Geheimhaltung hat man zu Beginn dieses Jahres im Vatikan das Wojtyla-Projekt eingefädelt. Nicht mehr die Massen pilgern zum Papst, der Papst kommt seine Schafen medial jetzt ganz nah. Mit den irdischen Vernetzungen der Medien-Industrie soll am 20. Oktober dieses Jahres weltweit der Papst zu haben sein. Und so wurde der Deal eingefadelt: Der Vatikan gibt seinem Haus- und Ilofverlag Mondadori die Weltrechte zur Vermarktung frei, und dieser vermarket sie meistbietend in die ganze Welt. Nur wer fein und wirtschaftskräftig genug ist, hat in dem Rechtepoker überhaupt eine Chance. Erst seit wenigen Tagen stehen die Favoriten fest. Der „Papst als literarischer Superstar - Fragezeichen”, so titelt süffisant die Herald Tribune. Und bei diesem Geschäft hat wieder einmal der Medienzar und neu-italienische Ministerpräsident Berlusconi seine Aktien drin. Denn schließlich gehören Berlusconi 47 Prozent des Mondadori-Verlages. Kirche und Politik eine erfolgreiche Medienpartnerschaft. Zwei die wissen, wie man Botschaften unter das Volk bringt. Der Kommentar der New York Times: „Von den Meissen zum Massenmarkt” fragt, ob denn der Papst für seine Botschaften überhaupt Geld verlangen darf. Auch wenn es für einen guten Zweck ist. [O-Ton: ] (Alberto A. Vitale, englisch mit gesprochener deutscher Übersetzung) Wenn Sie sagen, der Papst nimmt Geld für sein Buch, dann ist das ein bißchen kraß formuliert. Natürlich dieses Buch ist ein noch nie dagewesenes Ereignis in der Verlagswelt. Natürlich ist es auch ein kommerzielles Unternehmen. Und natürlich wird auch der italienische Verlag Mondadori, der die Weltrechte hat, gut verdienen. Aber wenn wir Verlage weltweit große Summen einstreichen, warum soll es nicht auch der Papst tun? [...] 37 Den Fall, daß der Berichterstatter sich wertend äußert, fanden wir schon unter (II). Da ließ er sich aber seine Meinung nur vom O-Ton-Sprecher bestätigen. Hier setzt er sich mit dessen Meinung auseinander. 38 (V) Getrenntes Erzählen Auch wenn der Akteur im O-Ton erzählt, ist eine Rollentrennung möglich, ohne daß auch im Berichttext erzählt wird. Im folgenden Bericht über Probleme von Stotterern haben die Akteure als einzige die Erzählautorität: (.H) Uber die Ursachen streiten die Wissenschaftler. Fest steht nur: keine zwei stottern gleich, und es gibt kein Allheilmittel die Störung ein für allemal zu beheben. Die Therapien sind vielfältig. Atemtechniken helfen ebenso wie das Erlernen eines Rhythmusgefühls um wie auf einer Welle zu sprechen. Irgendwann im Alter zwischen zwei und acht Jahren hat sich das Stottern zur Störung entwickelt. Ob Veranlagung oder andere, zum Beispiel neuropsychologische, Ursachen der Versuch, bewußt gegen das Stottern anzugehen, führt häufig zu noch mehr Angst 37 ZDF, 12.8.1994. 38 Ein anderes Thema ist, daß auch hier Berichterstattung und Meinungsäußerung vermischt werden, was vom journalistischen Standpunkt wiederum unerwünscht sein kann. 94 Jürg Häusermann und zu noch mehr negativen Erfahrungen im Alltag. Einkäufen, Telefonieren, auf Ämtern vorsprechen, alles wird zur Qual. Aus Stottern wird Stummheit. Sich aus diesem Inseldasein wieder zu lösen ist schwer. Selbsthilfegruppen, in denen offen über das Tabu gesprochen wird, können helfen. Das Erlebnis der Solidarität, das Gruppengefühl lösen allmählich wieder die Zunge. Gemeinsames Sprechen hilft Hemmungen und sprachliche Auffälligkeiten abzubauen und damit neue Lebensqualität zu erfahren. [O-Ton: ] (Axel Weber, Selbsthilfegruppe Konstanz) Zuerst in der Hauptschule eben. Die Eltern haben auch gesagt, o wegen der Fremdsprachen geh’ auf die Hauptschule. Und ich bin dann auf eine Fachschule und dann aufs Technische Gymnasium. Auch eben mit dem Hintergedanken: Okay, er wird dann, er macht dann was mit Technik, wo er nicht sprechen muß. Aber ich hatte auch immer das innere Bedürfnis zu sprechen. Und ich habe dann kurioserweise dann Philosophie und Germanistik studiert, obwohl ich keinen Satz sprechen konnte. [3. O-Ton: ] (Dr. Ajit Reineking, Mikrobiologe) Es ist halt schon immer ein Auf und Ab hier gewesen. Man hatte erst mal, meint man ja, das ist es, das hilft mir jetzt. Es ließ aber wieder nach. [Bericht: ] Patente, für immer flüssig sprechen zu können, gibt es für Stotterer nicht. Um so mehr aber sind sie auf Toleranz und Verständnis angewiesen. 39 Aber sogar dann, wenn der Berichterstatter nicht darum herumkommt, einzelne Erzählpassagen zusammenzufassen, ist eine gewisse Trennung der Sprecherrollen möglich: Im folgenden Beispiel berichtet der O-Ton- Sprecher von seiner persönlichen Erfahrung. Da, wo der Berichttext auf diese subjektiven Informationen verweist, benutzt er indirekte Rede und andere Distanzierungsmerkmale: [Anmoderation: ] Ein Skandal in Berlin. Sie sind zwischen 10 und 16 Jahre alt, sprechen einige Worte Deutsch, sind getrennt von ihren Angehörigen und wohnen ganz unter sich in einem Asylbewerberheim. Angewiesen auf fremde Hilfe, bekommen sie ein Taschengeld. Hätten sie bekommen, muß man sagen. Aber da ist einer, der sich vorwerfen lassen muß, daß er 120.000 Mark unterschlagen hat. Wenn das stimmt: Wirklich ein Skandal in Berlin. [Bericht: ] Der friedliche Anblick von Tischtennis spielenden Jugendlichen scheint zu täuschen. Angeblich wurde vielen dieser 10 bis 16jährigen jungen Asylbewerber in Berlin übel mitgespielt. Zumindest wenn man den Aussagen einiger Jugendlicher und ehemaliger Betreuer glaubt. Sie sagen: In diesem Heim wurden die jungen Flüchtlinge geschlagen und beklaut, gelegentlich eingesperrt. Der Heimleiter, ein ehemaliger NVA-Offizier, soll einen jungen Vietnamesen mißhandelt haben. Es habe eine Atmosphäre wie in einer Kaserne geherrscht. Die Jugendlichen haben Angst vor der Kamera auszusagen. Ein Betreuer berichtet: [O-Ton: ] (Insert: Roman Nowak, ehemaliger Betreuer) Und wenn die Jugendlichen mit ihren Einkaufstüten kamen, mußten sie wie auf der Grenzkontrolle ihre sämtlichen äh Einkaufstüten auspacken. Das war für 39 ARD, 19.4.1994. Im Dialog mit dem Akteur 95 mich schon der erste Ansatzpunkt für eine eine menschenunwürdige Behandlung. 40 Zwar führt der O-Ton das Thema des Berichts weiter; aber die Sprechhandlungen unterscheiden sich. Während der O-Ton-Sprecher erzählt, beschränkt sich der Berichttext darauf, durch Redewiedergabe auf das Erzählte zu verweisen eine Trennung von eigener und fremder Rede, die so klar oft nicht durchgehalten wird. (Auch der vorliegende Bericht fährt nach dem zitierten O-Ton im Indikativ weiter: Wenn sich die Jugendlichen nicht schulmäßig verhielten, wurden sie bestraft. Von den 80 Mark Taschengeld wurde offenbar öfters mal was einbehalten. Ein Bangladeshi berichtet uns: ...). (V) COLLAGE: Während in den bisherigen Beispielen der Berichttext direkt auf den 0- Ton bezug nahm, gibt es auch Fälle, in denen der Zusammenhang lockerer ist. Der O-Ton kommentiert z.B. ein Thema, das erst später eingeführt wird, oder er steht völlig isoliert. Bezüge sind insofern erkennbar, als z.B. die Redner im Berichttext genannt werden oder einzelne Begriffe aus den verschiedenen Stücken eine Isotopie-Ebene bilden, wie im folgenden Bericht über die erste ostdeutsche Aufführung von Hochhuths Wessis in Weimar. (14) [Bericht: ] Was macht „Wessis in Weimar” so gefährlich für Intendanten? Der Inhalt des Stücks, könnte man vermuten. Die im Untertitel genannten „Szenen aus einem besetzten Land” werden durch die Anklage verklammert, daß es die Wirtschaftspolitik des Westens sei, den Ossis Boden und Bauten abzuluchsen. Treuhandpolitik und Profitgier sind auf der Bühne eins. Ob es nun um Bauern geht, die auf ein bloßes Subventionsgerücht hin ihre Apfelbäume abholzen, oder um Wessi-Immobilienhaie in Weimar: Der Unheilsstoff verkommt zur Polemik. [Atmo: ] (Ausschnitt aus Theaterstück, Bürger 1) Hätt’ doch ener mal den Mut. Helfen tät’s uns zwar och nischt mehr, laut zu sagen, dat immerhin nich’ der Honecker und seine Bonzen unsre blühenden Plantagen plattjemacht haben, sondern die verfluchten Wessis . [Atmo: ] (Ausschnitt aus Theaterstück, Bürger 2) Denen wir det nie heimzahlen können. [O-Ton: ] (Rolf Hochhuth) Ich finde, Gräben aufreißen ist die Aufgabe der Literatur. Sie soll nicht zuschütten, sie soll nicht beschönigen, dafür ham wir die Tagesschau. Ich habe äh mich ganz auf das Wort gestellt äh äh im Grunde glaube ich, daß die Dialoge sitzend [? ] genug sind, um die Leute drei Stunden zu unterhalten. Und vielleicht auch ein bißchen nachdenklich zu machen. [Bericht: ] Whisky-Flasche und Tabakspfeife: das muß genügen, um den Erzkapitalisten 40 ARD, 2.8.1994. 96 Jürg Häusermann zu charakterisieren, den Treuhandpräsidenten. Wie eine Sturzflut aus unendlich vielen zähen Zeilen ergießt sich der Zorn des Autors über die vermeintliche Ausplünderung der Ostdeutschen in den Zuschauerraum. 41 Auch jede Umfrage (vgl. Beispiel 1) kommt der Forderung nach, die Akteure selbständig auftreten zu lassen sowohl in bezug auf den ganzen Text (mehrere Meinungen) als auch in bezug auf den unmittelbaren Kontext. Aber sie zeigt auch, wie schwierig es ist, mit diesem Instrument umzugehen: eine derartige neue Einheit herstellen, das heißt oft, den Überblick nicht mehr haben, welches die Gesamtaussage der entstandenen Collage ist. Ein relativ klares Beispiel ist die trailerartige Vorwegnahme von O-Tönen am Anfang eines längeren Berichts wie beim folgenden Beispiel aus einer 45-minütigen Sendung über den Medienindustriellen Leo Kirch, in der Freunde und Feinde zu Wort kamen: (15) [Sprecher: ] [...] Deutschlands mächtigster Medienunternehmer, ein Pate auf dem Weg an die Macht. [O-Ton: ] Georg Kofler, Pro 7 Geschäftsführer, Ex-Kirch-Büroleiter: Ich sag’ sicher nichts Neues, wenn ich, wenn ich sage, daß Leo Kirch der tollste Bursche in der ganzen Branche ist. [O-Ton: ] (Bernd Eichinger, Produzent/ Kirch-Geschäftspartner) Leo Kirch, ich mein’ Leo nä, ich mein das is’ natürlich wieder mal nomen est omen, ich mein des is’ ’n großer Löwe, nä. [O-Ton: ] (Heinz Klaus Mertes, SAT 1) So ein elektrisierender Mann, äh so ein einfacher, wacher Mann, äh auf den man aber auch merkt, er hat, daß er ein genialischer Unternehmer ist. [O-Ton: ] (Gerhard Naeher, Ex-Springer/ SAT 1 Journalist) Er hat eben ein äh feingesponnenes Beziehungsgeflecht aufgebaut und ich würde mal äh sagen, er sitzt wie die Spinne im Netz und zieht die Fäden. [O-Ton: ] (August Everding, Theaterintendant) Ich freu’ mich, daß Sie mich gefragt haben, daß wenigstens einer positiv sagen kann, daß es ein treuer Mensch ist, ein lieber Mensch, den ich gern hab’. [O-Ton: ] (Helmut Thoma, RTL-Geschäftsführer) Er hat sich ein System von, von Freundschaften aufgebaut, die also durchaus italienische Verhältnisse erreichen, ja und nutzt des aber knallhart zur Durchsetzung seiner Ansprüche. [O-Ton: ] (Bernd Eichinger, Produzent/ Kirch-Geschäftspartner) Er hat ja alles, versteh’n Sie, er is’ ja wie ’n König, ja? Er ist ja nich’ wie ’n Firmeninhaber, sondern er is’ ja ein König. [Sprecher: ] 15.000 Spielfilme und 50.000 Stunden Fernsehprogramme, das Herzstück des Kirch-Imperiums. Stoff für alle Kanäle. Doch damit nicht genug: Die meisten beherrscht die Kirch-Familie gleich selber. [...] 42 Diese O-Töne werden dem Zuschauer im Lauf der Sendung wieder begegnen. Sie fügen sich zu einer übergeordneten Aussage, die durchaus 41 ZDF, 8.12.1994. 42 ARD, 21.12.1994. Im Dialog mit dem Akteur 97 vom Journalisten gewollt ist: Es wird gezeigt, daß die Urteile über die porträtierte Person diametral entgegengesetzt sein können. 43 4.3 Drei Idealtypen des Berichts Es wäre zu überlegen, ob nicht angesichts der „Textkonstitution als Textverarbeitung und Textbearbeitung” Berichttypen danach unterschieden werden sollten, wie in ihnen mit fremder Rede umgegangen wird und wie sich damit der Kommunikator im Berichttext darstellt. Was die Einbettung von O-Tönen betrifft, zeichnen sich zunächst zwei unterschiedliche Formen ab: 1. In der üblichsten Form wird der O-Ton instrumentalisiert. Der Journalist ordnet ihn der eigenen Berichtstrategie klar unter, er gibt vor, darzustellen, was ist. Eine einzige Position wird argumentativ vertreten. 2. In der freieren Form bekommt der O-Ton eine selbständigere Funktion. Er fügt sich nicht nur als Beleg in die Argumentation des Berichttexts ein, sondern kontrastiert mit ihm. Anstatt zu berichten, was ist, nutzt der Journalist die Möglichkeiten des Mediums Fernsehen, um zu gestalten, was er gefunden hat. Eine radikale Lösung in dieser Richtung bietet die Konstruktion von Collagen, „unmöglichen” Dialog-Situationen, deren Artifizialität sogleich erkennbar ist. Der Text wird offener, dialogischer aber auch in der Herstellung schwieriger. Ansatzweise ist in jedem Bericht auch eine 3. Form vorhanden, bei der die Möglichkeiten des Metajournalismus genutzt werden: Entstehung und ursprüngliche Funktion der O-Töne werden thematisiert. Zum Ereignis wird dann die journalistische Recherche; der Bericht wird zum Protokoll der journalistischen Arbeitsweise. Am nächsten kommt in unserem Korpus dieser Arbeitsweise ein Bericht über einen Erpressungsverdacht in der bayrischen Schweinemästerbranche: Beim bayrischen Bauernverband in München ging man den Hinweisen nach und bestätigte heute abend: [3. O-Ton: ] (Gerd Sonnleitner, Bauernverband Bayern) Zum Teil wurden Leute erpreßt und denen wurde wurden diese Speisereste direkt aufgedrängt ohne Erhitzung, ohne alles. [Bericht: ] Die Polizei in Dachau, so der Informant, sei schon vor längerer Zeit informiert worden, was diese bestreitet. Aufgrund unserer Recherche prüft nun noch die Staatsanwaltschaft die Erpressungsvorwürfe. 44 43 Hier deutet sich an, daß eine Untersuchung der intratextuellen Bezüge von O-Tönen auch den unterschiedlichen Einbau ein und desselben O-Tons berücksichtigen müßte. 44 ARD, 7.11.1994. 98 Jürg Häusermann Naturgemäß finden sich Ansätze zu diesem Typ vor allem dann, wenn bei der journalistischen Arbeit Unvorhergesehenes vorgefallen ist, wenn Abweichungen vom Script verzeichnet werden müssen. Am häufigsten sind metajournalistische Informationen da, wo das Fehlen eines O-Tons begründet wird, in der folgenden Art: (17) Und auch Doktor Eder steht uns zu einem Interview nicht zur Verfügung. Er sagt, er hätte keine Zeit. 45 Wenn in einem Bericht sämtliche O-Töne auf diese Weise eingeleitet würden, entstünde wohl ein Text, in dem die journalistische Arbeitsweise in ungewöhnlich hohem Maß transparent würde, der andererseits aber auch bald langweilig wirkte. Typ 2 dagegen stellt, wie wir gesehen haben (Bsp. 14, 15), hohe Anforderungen an die Komposition kohärenter, aussagekräftiger Texte. In der Praxis werden uns wohl weiter Mischformen begegnen, wobei ein Ziel sein kann, daß vermehrt Elemente der Typen 2 und 3 in den vorherrschenden Typ 1 einfließen. In der Aus- und Fortbildung wird zu Recht ein großes Gewicht auf die Gesprächsführung im Interview gelegt. Die Frage der Einbettung von Interviewteilen als O-Töne müßte als ebenso wichtiges Thema hinzukommen, ergänzt durch Anleitungen, wie die dramaturgischen Möglichkeiten des Mediums besser zu nutzen sind so daß ein Text entsteht, der dem Verständnis von der eigenen Position im Prozeß der öffentlichen Kommunikation entspricht. 5. Literatur Bachleiter, Helga et al. (1989): Journalistenenquete Österreich. Forschungsbericht eines Projekts des Instituts für Publizistik und KommunikationsWissenschaft/ Universität Wien. Wien. Bettetini, G.G. (1984): La conversazione audiovisiva. Milano. Biere, Bernd Ulrich (1993): Zur Konstitution von Pressetexten. In: Biere, Bernd Ulrich/ Henne, Helmut (Hg.): Sprache in den Medien nach 1945. (RGL 135). Tübingen. S. 56-86. Broich Ulrich (1985): Formen der Markierung von Intertextualität. In: Broich, Ulrich/ Pfister, Manfred/ Schulte-Middelich, Bernd (Hg.): Intertextualität. Formen Funktionen, angl. Fallstudien. Tübingen. S. 31-47. 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Für Streitgespräche zur medialen Präsentation von Konfliktpositionen gilt das Ideal der „Streitkultur”: Sie sollen reale gesellschaftliche Konflikte in geregelter Form kommunikativ abbilden, Möglichkeiten der Problemlösung aufzeigen und Mittel zur Konfliktreduzierung bereitstellen. „Boulevardisierung” findet dabei statt durch Personalisierung von Konflikten, Präsentation von Sensationen, Beschränkung auf Kleinformate und Sachverhaltsdarstellung, Appelle an stereotype Bewertungsmuster und kalkulierte Verstöße gegen Normalformen von Alltagsgesprächen. 1. Vorbemerkung Für die Beziehung zwischen Oralität und Schriftlichkeit im Fernsehen ist die Inszenierung von Gesprächen in Fernsehsendungen ein besonders relevanter Teilaspekt. Ich möchte dabei darstellen, wie Informationen in Fernsehgesprächen „boulevardisiert” werden. Dabei beschäftige ich mich mit folgenden Fragen: Wie ist der Bezug zwischen Sendungskonzepten und Realisierungsformen von Gesprächen zu beschreiben? Wie werden durch Sendungskonzepte Wirkungen der Sendung auf Zuschauer antizipiert? Hierbei ist der Begriff des „Konzepts” doppeldeutig: Gemeint sein können Sendereihen oder einzelne Sendungen. „Inszenierung” ist dabei nicht im Sinne einer Theateraufführung zu verstehen, also als einer möglichst weitgehenden Festlegung aller Äußerungen, ihrer Sequenzialität und ihrer Bühnenpräsentation, sondern als Konstruktion eines Rahmens, um Kommunikationsereignisse und deren Interpretation durch Beteiligte kontextualisieren zu können. 1 1 Gespräche im Fernsehen beschreibe ich als inszenierte direkte Kommunikation. Bei dem Begriff der Inszenierung ist zu unterscheiden zwischen dem für Mediengespräche konstitutiven Aspekt, daß sie vorbereitet, nicht-spontan, geplant und in einer für den Zuschauer nicht vollständig einsehbaren Weise gesteuert werden („Inszenierung” ist dann ein interaktiver Rahmen; vgl. u.a. Bausch 1993, Bayer 1975, Bucher 1993, Burger 1991, Dieckmann 1981, Hess-Lüttich 1993, Holly 1989, Holly/ Kühn/ Püschel 1986), und einer Inszenierung von besonderen interaktiven Techniken, mit denen Beteiligte ihre spezifische Orientierung demonstrieren und Konsequenzen aus der Inszeniertheit von Mediengesprächen im globalen Sinne für die ablaufende Interaktion suspendieren (z.B. bezogen auf „Natürlichkeit”: Faber 1993; „Ereignis”: Holly 1992; „Konfrontation”: Holly 1993; „Öffentlichkeit”: Janke 1976). Mitunter wird die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit des „Inszenierungs”-Konzepts als „Oxymoron” (Kalverkämper 1979) gefaßt, so als „inszenierte Spontaneität”. 102 Wilfried Schulte „Inszenierung” scheint ein paradoxer Begriff für Live-Sendungen zu sein: Live-Sendungen sind für Zuschauer attraktiver als aufgezeiebnete „Konserven”, weil sie unterstellen, daß den Produzenten (Regie, Redaktion, Sender) dann weniger Filter und Schnittmöglichkeiten zu Gebote stehen, die Sendung zu manipulieren, daß mithin die Realität kommunikativen Alltagsgeschehens unzensiert über den Schirm kommt. Tatsächlich aber werden sowohl die Interaktionsmöglichkeiten der Teilnehmer an einem Gespräch im Fernsehen als auch die Aufmerksamkeitsausrichtung der Zuschauer durch die Inszenierung in charakteristischer Weise determiniert. „Inszenierung” kann dabei wohlmeinend interpretiert werden als Versuch, das Gespräch von allen medienspezifischen Verzerrungen zu befreien eine kritischere Interpretation heißt: Ein kommunikatives Kunstprodukt wird mit Täuschungsabsicht als „normales” Alltagsgespräch präsentiert. „Inszenierung” manifestiert sich als redaktionelles Konzept zur Gesprächsvorbereitung und -Steuerung während der Sendung, u.a. in der Auswahl von Themen und Gästen, im szenischen Arrangement, in der Gesprächsatmosphäre und der Regelung des Rederechts: Dürfen nur geladene Diskussionsteilnehmer reden? Dürfen sie es nur nach Aufforderung durch den Moderator oder auch nach Selbstwahl? Darf sich das Studiopublikum aktiv beteiligen? Gibt es direkte oder indirekte Formen der Zuschauerbeteiligung? Ein Beispiel: Ganz unterschiedlich wird in Talkshows und Fernsehdiskussionen der Umgang mit dem Studiopublikum gehandhabt. Dieses ist ja nicht nur schmückendes Beiwerk, sondern tritt in doppelter Funktion auf: zum einen als Stellvertreter für die Fernsehzuschauer 2 , zum anderen als Feedback für die Protagonisten auf der Bühne. Mal sind die Zuschauer im Studio nur Klatschkulisse: Das Publikum soll Moderator und Gäste mit Beifall begrüßen und die Darstellung der Gesprächsteilnehmer ebenso kommentieren. Bei Sendungen zu Streitthemen sind auch andere kollektive Reaktionen erwünscht: Johlen, Buhrufe, Pfeifen. Schwieriger sind schon Zwischenrufe, die man meist nicht versteht, weil der Rufer kein Mikrofon zur Verfügung hat. Was passiert aber, wenn jemand aus dem Publikum sich am Gespräch beteiligen möchte? In einigen Sendungen gilt das als Störung und wird rigoros unterbunden. Mitunter wird es als Ausnahme zugelassen, wenn es das Gespräch belebt. Der dritte Fall: Es gehört zum Konzept der Sendung, daß der Moderator eine oder mehrere Gesprächsrunden mit dem Publikum führt zur Abwechslung und als Kor- 2 Darin liegt ein Identifikationsangebot: Das Studiopublikum führt die unmittelbare aktive Rezeption vor, die den Zuschauern vor den Bildschirmen nicht möglich ist. Sie wiederum können sich für ihre eigene Gesprächsrezeption damit auseinandersetzen, wie das Publikum im Studio auf das Gespräch reagiert; sie können z.B. mitlachen, wenn das Publikum lacht, sie können sich aber auch über unpassendes Gelächter ärgern. Boulevardisierung von Information 103 rektiv: Die Zuschauer sollen nicht mit einer ununterbrochenen Innenrunde von Hauptdarstellern gelangweilt werden, und, quasi als „demokratischer Akt”, müssen sich die Hauptdarsteller gefallen lassen, daß ihnen aus dem Publikum widersprochen wird das belebt das Gespräch. In der Rezeptionsforschung ist die zentrale Rolle des Moderators beschrieben worden: 3 Er ist Garant einer Trialogizität der Medienkommunikation, d.h. die Adressaten sind nicht nur die Gesprächsteilnehmer im Fernsehen, sondern ausdrücklich oder implizit auch immer das Publikum im Saal und vor den Fernsehern; andererseits nimmt der Moderator gegenüber den Diskussionsteilnehmern die Perspektive und die Interessen der Zuschauer wahr. 4 Der Moderator ist verantwortlich für die Gesprächsorganisation: führt in das Thema ein, stellt Fragen, verteilt das Rederecht, soll Dauerredner stoppen und eine Vielfalt thematischer Einzelaspekte garantieren. Seine Aufgabe ist vor allem, zu steuern, worüber in welcher Form geredet wird. Dazu gehört: Bleibt man bei einem Thema, soll ein Teilaspekt dieses Themas vertieft werden, oder geht man zu einem ganz anderen Thema über? Ich zitiere eine griffige Typologie von Moderationsstilen (nach „Hör zu” Nr. 39, 20.9.1991, S. 6-8): - „Die Selbstdarsteller” sind „Paradiesvögel”, „die mehr sich als die Sache präsentieren”; - „die Redlichen” sind „Könner ihres Fachs”, „denen man die Sache abnimmt, die sie vertreten”; - „die Zuchtmeister treten zwar nicht mit Peitsche auf, in ihren Gesprächsrunden dulden diese Moderatoren jedoch kaum ein Wenn und Aber. Da sagen sie mehr oder weniger geschickt letztlich doch immer, wo es langgehen soll”; - „die Mutigen” „packen heiße Eisen an, auf die Gefahr hin, sich daran zu verbrennen”; - „die Weichspüler” agieren nach dem „Motto: Allen wohl und niemand weh.” 3 So hat der Moderator „zu überprüfen, ob die technisch medialen, sendedramaturgischen oder institutioneilen Bedingungen innerhalb der ablaufenden Kommunikation vor Ort von den Gesprächspartnern eingehalten werden und muß notfalls auf Verstöße reagieren” (Troesser 1986, S. 4). 4 In neueren Arbeiten (z.B. Linke 1985, Mühlen 1985, Burger 1991) werden Gesprächssendungen im Fernsehen nicht mehr auf ein Genre von Alltagskommunikation verkürzt, das sich als leicht zugänglich und technisch gut aufbereitet für Gesprächsanalyse anbiete, sondern unter den spezifischen Medienbedingungen kategorisiert und analysiert: „Trialogizität” (Dieckmann 1981: Das Politische wird in zwei Realitätsebenen gebrochen, etwa als Nachricht und Deutung oder als Machtkampf und als Täuschung darüber; in der Folge ist öffentliche Kommunikation doppeladressiert, „trialogisch”); „Mehrfachadressierung” (Dieckmann 1983, Burger 1991, Hess-Lüttich 1993, Brinker 1986); „para-soziale Interaktion” (Horton/ Wohl 1956: die Suggestion intimer Kontakte mit fiktionalen oder realen Medienprotagonisten), „sekundäre Oralität” (Holly 1991). 104 Wilfried Schütte 2. „Streitkultur” Neuerdings gilt das Ideal der „Streitkultur” auch für Fernsehgespräche: 5 Sie sollen reale gesellschaftliche Konflikte in geregelter Form kommunikativ abbilden, Möglichkeiten der Problemlösung aufzeigen und Mittel zur Konfliktreduzierung bereitstellen. „Streitkultur” ist geradezu zu einem beliebten Topos geworden, um Formen und Normen der Streitaustragung in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft zu umschreiben, und bewegt sich dabei zwischen einem sozialwissenschaftlichen und einem alltagssprachlichen Terminus. Dazu ein Zitat aus einem „Hör zu”-Leitartikel: „Nein, wir haben keine Streit-Kultur. Zu wenig Freude an der sachlichen Auseinandersetzung, die nie persönlich wird, dem gescheiten Disput, dem brillanten Wortgefecht, dem humorvollen Wortgeplänkel. Wir haben meist zu wenig Respekt vor anderen Meinungen, kennen oft nur ein intolerantes, verbiestertes, missionarisches Beharren auf dem eigenen Standpunkt.” (Weiner 1990) Wenn sich Fernsehprogrammzeitschriften mit dem Begriff „Streitkultur” kritisch in eine medienpolitische Debatte einschalten, bieten sie ihren Lesern ein Rezeptionsmodell für deren Fernsehkonsum an; auf diese Weise popularisieren sie einen sozialwissenschaftlichen Fachterminus — „Boulevardisierung” von Information auf einer Metaebene. Die von Weiner vorgenommene Wertung impliziert: „Streitkultur” läßt sich beschreiben als ein Bündel kommunikationsethischer Normen, also als Regeln, wie Meinungsverschiedenheiten geregelt auszutragen sind. Auf der sprachlichen Seite gehören dazu etwa eine strikte Trennung zwischen Sachlichem und Persönlichem, ein Vertrauen in die Kraft rationaler Argumente, eine Hochschätzung für rhetorische Brillanz — man soll seine Argumente mit Spielformen wie Scherzen, Metaphern usw. würzen. Dazu kommen Einstellungsnormen wie Toleranz und Offenheit für andere und andersartige Standpunkte. Sozialwissenschaftlich gilt „Streitkultur” als Konsequenz eines für die Gesellschaftsform der Demokratie konstitutiven Prinzips: Ziel ist nicht die „Harmonisierung gesellschaftlicher Verhältnisse und widerstreitender Interessen , sondern der „geregelte Streitaustrag mit gemeinsam akzeptierter minimaler Konsensbasis”. Wesentlich für eine funktionale Definition von „Demokratie” ist dabei, „(...) daß es in der Demokratie nicht um die Harmonisierung gesellschaftlicher Verhältnisse und widerstreitender Interessen, nicht um einen Zustand andauernden Konsenses geht, sondern um den geregelten Streitaustrag auf einer allerdings gensam akzeptierten minimalen Konsensbasis.” (Sarcinelli 1990, S. 11) Sarcinelli orientiert sich dabei an der angelsächsischen begrifflichen Trennung zwischen „politics” und „policy” und will unter „Streitkultur” „das 5 Vgl. Holly 1992a, der sich mit institutionellen und technisch-ästhetischen Faktoren für Fernsehsendungen in einer Medienstreitkultur befaßt. Boulevardisierung von Information 105 Spannungsverhältnis zwischen den streitigen, durch Interessenkonkurrenz geprägten politischen Prozessen auf der einen Seite und unserer politischen Wertordnung, dem Normengefüge und dem politisch-institutionellen Regelungsinstrumentarium unserer Demokratie auf der anderen Seite” (Sarcinelli 1990, S. 30f.) fassen. „Streitkultur” ist so nach dem üblichen Verständnis ein ausgesprochen positiv besetzter Begriff. Dem stellt Cora Stephan in einer vor zwei Jahren im „Spiegel” erschienenen „Polemik” eine negative Umwertung von „Streitkultur” entgegen, indem sie mit diesem Begriff alle Formen unangemessener Stilwahl im Politischen assoziiert. „Die Masche der nachdenklichen Politiker mit den weichen Themen und dem Gefühlssprech, den sie auch noch Streitkultur nennen, ist nachgerade die Feminisierung der Politik. (...) Die Appelle an Moral, Gefühl und Wellenschlag entsprachen einem Land, in dem beständig die Verbesserung des Betriebsklimas vorangetrieben wurde, weil ansonsten nicht viel zur Entscheidung anstand. ’Streitkultur’ ersetzte klassische Strategien der Konfliktbearbeitung.” (Stephan 1993) Stephan wirft Politikern vor, in ihrer öffentlichen Selbstdarstellung unzulässigerweise zunehmend Kategorien des Privatlebens mit der Sphäre der Politik zu vermischen. Sie meint, es gebe eine neue, unausgesprochene Norm „wer sich auf Argumente und Sachverhalte verläßt, zeigt damit Gefühlskälte, oder er hat gar etwas Wichtiges zu verbergen”. Dagegen werde heute ein „Betroffenheitskult” verlangt, was Cora Stephan als Sentimentalisierung der Politik ärgerlich findet. Die Demokratie funktioniere ja gerade nicht, weil von den Bürgern erwartet werde, daß sie gute, ehrliche und unfehlbare Menschen sind. Wenn man das fordert, setzt man so Stephan das Moralische absolut und leistet einer Erziehungsdiktatur Vorschub. Demokratie dagegen funktioniert wegen ihrer eingebauten Regelsysteme und Kontrollmechanismen, die unabhängig von Charaktereigenschaften der Bürger sind und hier nur stichwortartig durch „Mehrheitsentscheidungen” und „Gewaltenteilung” umschrieben seien. Ich möchte noch einen Aspekt des Begriffs „Streitkultur” andeutungsweise problematisieren: Bedeutet „Kultur” Zähmung und dient eine wissenschaftliche Beschäftigung mit gesellschaftlichen Konflikten unter diesem Stichwort damit politischen Zwecken der Domestizierung? So referiert Burger 1989 im Rahmen einer Beschreibung von Verfahren, die einer Ritualisierung von Fernsehdiskussionen entgegenwirken sollen (z.B. Open-end, Öffnung und Individualisierung des Raums, thematische Öffnung und verschiedene Formen der Zuschauerbeteiligung) Erwartungen von Fernsehmachern, daß eine Rezipientenbeteiligung den Ertrag der Sendung verbessert; dabei gilt der „domestizierte”, d.h. durch Selektion und Moderation kontrollierte Rezipient als mediengerechtester Typ. 106 Wilfried Schütte 3. „Boulevard” Der Begriff des „Boulevard” wurde zunächst auf Zeitungen und Theater bezogen; dabei wird eine direkte Beziehung zwischen Vertriebsformen und sprachlicher Darstellungsform angenommen: „Mit Beginn des Jahrhunderts, für Deutschland etwa seit 1904, entwickelt sich mit ausgesprochenem Massencharakter die ’Zeitung im Direktverkauf’, die Straßenverkaufspresse, kurz ’Boulevardpresse’ genannt. Schon in der graphischen Aufmachung ist sie auf anpackende und lesewerbende Kraft angelegt, um Absatz zu finden. Sie bedarf knappster Information in einer kraß nach außen gekehrten Form. Bald überflügelt sie an Auflagenhöhe alle anderen Zeitungstypen.” (Dovifat/ Wilke 1976, S. 62) Kritisch werden dem Boulevardjournalismus zugrundeliegende Mechanismen einer Transformation von Inhalten gewertet: „Durch sein ausgedehntes Angebot an Intimisierung und Personalisierung gesellschaftlicher Vorgänge gelingt es dem Anpassungsjournalismus, alle gesellschaftlichen Probleme auf individualpsychische zu verkürzen und damit dem Leser vorzugaukeln, daß hinter allem politischen Geschehen eigentlich immer nur ’rein Menschliches’, die persönliche Vernunft oder Unvernunft, der persönliche Mut, die persönliche Laune, die persönliche Stärke oder Schwäche, die persönliche Leistung, das persönliche Versagen, die persönliche Problematik eben die Persönlichkeit von Menschen wie du und ich steht. Diese Verwandlung gesellschaftspolitischer Themen in individuelle Lebensprobleme kann zwar eine gewisse emotionale Bindung des Lesers an den politischen Gegenstand, eine kumpelhaft angebiederte Vertraulichkeit gegenüber den Trägern des personalisierten politischen Geschehens herstellen, sie kann damit aber nicht die von ihrer sozialstrukturellen Basis losgelösten - Probleme und Bedrohungen der Menschen ausreichend erklären.” (Arens 1973, S. 56f.) Hier einige Belege für eine Übertragung des „Boulevard”-Begriffs auf das Medium Fernsehen: „Für das Fernsehen ist der Boulevard-Begriff neu. Was wir bisher kennen, sind Boulevard-Zeitungen und Boulevard-Theater. Boulevard-Zeitungen sind Zeitungen für einen großen Leserkreis, sind die Blätter für jedermann. In den USA entstand diese Form der Massenpresse in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie war technisch vor allem mit der Einführung von Rotations- und Setzmaschine, der Industrialisierung sowie der damit verbundenen Entwicklung zu großen Städten verbunden. Während die alten Nachrichtenblätter überwiegend im Jahresabonnement bezogen wurden, begann in den Städten der Straßenverkauf. Daher der Name Boulevard. Da das Finanzierungsrisiko im freien Verkauf natürlich wesentlich höher war, mußte der Anzeigenteil erweitert werden. Das wiederum setzte höhere Verkaufsauflagen voraus. Und um die zu erreichen, um bei der Laufkundschaft schnelle Resonanz zu finden, war eine andere Form von Journalismus notwendig, eine andere Ansprache: knappe Schlagzeilen, Aufmacher, die ins Auge springen, Themen, die die Leute sofort fesseln, keine starre redaktionelle Aufteilung, Verwischung der Grenzen von Information und Unterhaltung, mehr sogenannte ’Human Touch’-Geschichten. In Deutschland war das erste Boulevardblatt die 1904 von Ullstein entwickelte BZ am Mittag.” (Schmidt 1992, S. 47) Boulevardisierung von Information 107 „Schon ein flüchtiger Blick in den Fragenkatalog macht klar: Der ’heiße Stuhl’ ist Fernsehen im Boulevardformat, Krawall als Unterhaltung. (...) Darf man denn wichtige und banale Themen auf die gleiche krawallige Art behandeln? Geht es an, über Familie, Prostitution, Kriminalität, Tierversuche und Volksmusik ein Spektakel zu veranstalten, als käme es darauf an, auf dem Wochenmarkt Gemüsehobel und Fleckenpaste zu verkaufen? Ich meine: Es geht nicht nur, es gehört sich so.” (Broder 1993) „Boulevardisierung des Fernsehens” heißt: Das Medium holt eine Entwicklung nach, die für die Massenpresse schon vor einem Jahrhundert gültig war es tut das freilich mit nur ihm eigenen Möglichkeiten, etwa der Dialogisierung in Nachrichtensendungen: Informationen werden etwa im Frühstücksfernsehen als inszeniertes Gespräch unter zwei Moderatoren vermittelt, Ankündigungen werden personalisiert, indem der Studiomoderator explizit die Perspektive des nachfolgenden Korrespondenten fokussiert oder bei der Redeübergabe als spielerische Form von „setting talk” die geschmackvolle Krawatte des Nachrichtensprechers lobt. „Boulevardisierung” (oder auch „Infotainment” 6 ) läßt sich generell umschreiben als Tendenz, Fernsehsendungen mit Stilmitteln der Bild-Zeitung zu konzipieren. Das bedeutet u.a. eine Personalisierung von Konflikten, die Präsentation von Sensationen, eine Beschränkung auf Kleinformate der Sachverhaltsdarstellung sowie Appelle an stereotype Bewertungsmuster. Prototypisch dafür sind Sendungen wie „Explosiv und „Der heiße Stuhl (RTL) sowie „Einspruch” (SAT 1). Die Fronten eines zu behandelnden Konfliktthemas werden durch redaktionelle Setzungen bis hin zum szenischen Arrangement vorgegeben; die Diskussionsteilnehmer müssen ihre inhaltlichen Divergenzen und daraus resultierende Beziehungen wie Streitkoalitionen und -Oppositionen nicht mehr interaktiv hersteilen, sondern nur noch nach den Vorgaben aktualisieren. Das hat ethische Implikationen: Werden in Sendungen wie „Einspruch” Akteure vorgeführt, ohne daß sie sich wehren können? Werden im Bemühen um „Tabubrüche” auf einem mittlerweile weitgehend tabufreien Gelände Themen als aktuell und brisant verkauft, die eigentlich nur pein- 6 Ich benutze die Begriffe hier synonym. Zu „Infotainment” vgl. Holly 1990, der darunter eine Vermischung von Präsentationsformen, Realitätsebenen und Bereichen wie Politik und Unterhaltung faßt. Göpfert 1992 formuliert zu diesem „Mix von Information und Unterhaltung” einen Katalog rezipientenorientierter journalistischer Arbeitsnormen („Die Themen müssen stimmen und gut recherchiert sein. Der Inhalt muß so aufbereitet werden, daß er die Menschen anspricht, daß er die Sorgen und Wünsche der Zuschauer formuliert. Informationen, die die Menschen erreichen sollen, müssen Fragen beantworten, die sich den Menschen auch tatsächlich stellen ). Gräber 1994 untersucht die Beziehung zwischen einer sensationellen Aufmachung von Routine-Nachrichtenstories und dem drohenden Informationsverlust; durch eine dramatisierende Rahmung würden die politikrelevanten Aspekte von Nachrichten oft durch Unterhaltungsmomente verdeckt. 108 Wilfried Schütte lieh sind (wie bei „Einspruch” eine Neigung zur detaillierten Thematisierung von Sexualpraktiken)? Diese Überlegungen stehen im Zusammenhang mit generellen Problemen des Privatfernsehens: Eine Orientierung auf Einschaltquoten ist dominant, „Zapping” durch den Zuschauer (Weiterschalten per Fernbedienung in spannungsarmen Momenten) muß verhindert werden. Die Folgen sind eine „Kurzatmigkeit” die Sendung als rasche Aufeinanderfolge von Höhepunkten; Phasen, die für Zuschauer schwierig oder wenig attraktiv sind (Ruhe, argumentative Vertiefung usw.), werden systematisch verhindert. Sendungen wie „Einspruch” haben mit kalkulierten Verstößen gegen Normalformen von Alltagsgesprächen operiert: So gilt zeitweises Nicht- Ausreden-Lassen und Durcheinanderreden, das vom Moderator nicht unterbunden, sondern gefördert wird, als Beleg für die Brisanz des Themas. Die sekundäre Adressierung von Äußerungen an das Studiopublikum (das stellvertretend für die Fernsehzuschauer schlechthin präsentiert wird) wird forciert: Man versucht nicht, den Gesprächspartner zu überreden, gar zu überzeugen, zumindest aber gegenüber Dritten sich von ihm zu distanzieren, sondern beim Publikum Punkte zu sammeln es johlt und klatscht bei jeder Pointe, bei jedem Treffer. Hendrik Schmidt vertritt die These, daß „ebenso wie Boulevard-Zeitungen und Boulevard-Theater das allein werbefinanzierte Fernsehen seine Zuschauer immer erst gewinnen, sie also ’dort abholen müsse, wo sie sind’.” (Schmidt 1992, S. 47) Er knüpft daran die optimistische Prognose, daß die „Entwicklung zum Boulevard-Fernsehen in der Bundesrepublik Ausdruck einer Normalisierung unserer Medien-Kultur ist”, „Ausdruck unserer zunehmenden Fähigkeit, mit dem Fernsehen als einem Massenmedium umzugehen” und „es nicht ständig mit pädagogischen und kulturellen Ansprüchen zu überfrachten” (Schmidt 1992, S. 47). Typisch ist in derartigen feuilletonistischen Texten beim Thema „Boulevardfernsehen” der rasche Übergang von Beschreibungen zu Bewertungen, denn diese Beschreibungen sind meist aus interessengeleiteter Perspektive geschrieben. Abgesehen von historischen Sachverhaltsdarstellungen (zur Entwicklung der Boulevardzeitung und zum Zusammenhang zwischen ökonomischen Bedingungen und Textgestaltung) geht es entweder um eine Legitimation des neuen Boulevard-Typs im Fernsehen (sei es von Leuten, die wie Hendrik Schmidt als Pressesprecher einer privaten Fernsehanstalt einer solchen positiven Wertung verpflichtet sind, sei es von Kritikern wie Broder, die sich vom kulturkritischen „Mainstream” distanzieren wollen) oder um eine kulturkritische Verdammung. Ein Mittel der Boulevardisierung von Information sind Streitgespräche als Mittel zur Medien Präsentation von Konfliktpositionen. Notwendige Fol- Boulevardisierung von Information 109 gen sind dabei eine Reduktion von Komplexität und ein Verzicht auf die Erarbeitung und Präsentation von Lösungen. Erwünscht ist andererseits, daß Beteiligte ihre authentische Problemsicht und eigene Verstrickung präsentieren, aber nicht professionell und vertretungsweise über Positionen von abwesenden Dritten reden. 5. Zum Konzept von „Streit im Schloß” Wie ein solches Sendungskonzept konkret aussieht, möchte ich belegen durch Ausschnitte aus einem Interview, das ich 1990 mit Dietmar Zimmermann, einem Redakteur der Gesprächssendung „Streit im Schloß” des Saarländischen Rundfunks (im dritten Fernsehprogramm Südwest 3), geführt habe. Ziel meiner Interviews war, eine andere Perspektive auf die Sendung als die eigene alltagsweltliche oder linguistische zu gewinnen. Generell ist das Ziel einer derartigen ethnographischen Arbeit die Rekonstruktion von Beteiligtenperspektiven; folglich waren Interviews nicht nur mit Moderatoren und Redakteuren als den „Agenten” der Institution Fernsehen, sondern auch mit Talkshow-Gästen als den „Klienten” zu führen, um ihr Beteiligungskonzept und ihre retrospektive Interpretation kennenzulernen. 7 Damit ging es mir also zum einen generalisierend um Darstellungen von Sendungskonzepten und um den Vergleich mit anderen Sendungen auf dem „Markt”, insbesondere um die Leitidee, den präferierten Interaktionsstil und die Zusammensetzung der Gesprächsrunden; zum anderen konkret und lokal um Retrospektiven: Ich veranlaßte den Moderator oder Redakteur zu Interpretationen von Episoden abgelaufener Sendungen: Wurden sie als geglückt im Sinne des Konzepts, als abweichend vom Konzept, aber dennoch interessant oder als mißlungen gesehen? Meine Vermutung dabei war, daß in solchen Retrospektiven Interaktionswissen, insbesondere Bewertungen aufgrund von Kommunikationsnormen, zum einen zwar indirekter, vermittelter und handlungsschematisch eingebettet, zum anderen aber authentischer und glaubwürdiger manifest würde als bei einer direkten Aufforderung, das Sendungskonzept darzustellen. Auf meine Frage nach dem Konzept der Sendung legitimiert Zimmermann ein neues Konzept über seine innovative Qualität als Angebot auf einem allerdings gut gefüllten Markt von Gesprächssendungen im Fernsehen: „Wir haben ja ne ganze Reihe von Talkshows in den dritten Programmen und eben auch im S3-Programm, und wenn man dann schon etwas Zusätzliches einführt, dann sollte es zumindest auch ne echte Alternative sein zu dem, was ansonsten läuft.” 7 Die Begriffe „Agent” (d.h. das Personal) und „Klient” (d.h. die eine Institution in Anspruch nehmen oder von ihr in Anspruch genommen werden) übernehme ich von Ehlich/ Rehbein (1980), die beiden weitgehend regulierte und durch die Institution als Handlungsraum determinierte Handlungsmöglichkeiten zuschreiben, über die institutionenspezifisches Wissen ausgebildet ist. 110 Wilfried Schütte Eine neue Sendereihe wird hier also legitimiert durch ihre konzeptionelle Unterscheidbarkeit. Das Konzept nun lautet summarisch: „Wir haben gemeint, daß man so etwas aufgreifen könnte, das mit einem Schlagwort so ’Streitkultur’ genannt werden könnte, also von der wir also annehmen, daß diese Streitkultur grade im deutschen Fernsehen nicht besonders gut entwickelt ist; und deswegen haben wir auch so einen etwas provokanten Titel dann zunächst mal uns ausgedacht.” Was versteht die Redaktion nun unter einem fernsehgerechten Streit? Zimmermann führt dazu aus: „Dann haben wir gedacht, Streit sollte man nicht vom Zaune brechen, wenn es keinen Streit gibt, das war ja relativ einfach, so dramaturgisch Leute aufeinander zu hetzen, das wird ja auch gemacht bei RTL teilweise und in dieser Sendung ’Explosiv’, wo man einfach mal versucht, so Leute bißchen in Rage zu bringen das hatten wir an sich nicht vor, sondern wir wollten mehr mal fragen: ’Wo gibt es in der Gesellschaft Streit? Wo ist Streit überhaupt da? ’ und dann versuchen, diesen Streit aus gesellschaftlichen Rahmen rauszunehmen, aus der großen Makrostruktur Gesellschaft rauszunehmen und in so einen Saal reinzupacken, indem man einfach sagt: ’Welche Kontrahenten sind es denn da, die sich da bestreiten oder die zumindest in irgendeiner Form als Streithähne da in dieser gesellschaftlichen Streitecke eben fungieren? ’ Und dann kann man zu bestimmten Themen eben auch sehr leicht Leute ausmachen, die an diesem Streit beteiligt sind, die also unterschiedliche Meinungen, unterschiedliche Interessen und auch unterschiedliche Arten haben, sich zu artikulieren, eine Sache zu akzeptieren oder auch nicht, auch unterschiedliche Toleranzen vielleicht haben mögen. Und das war so die Grundidee, daß wir gesagt haben: ’Wir wollen keinen Streit vom Zaun brechen, wir wollen aber da, wo es in der Gesellschaft eben Streit gibt, da wollen wir nicht kneifen, wollen sagen: Das wollen wir eben versuchen, in diesen Raum hineinzubringen, indem wir die Kontrahenten, die Beteiligten eben zusammenbringen, alle auf einen Haufen’. Und das Wort ’Haufen’ hat da also die Bedeutung, daß es eben nicht wenige sind, sondern möglichst viele sind und auch in jeder Weise Betroffene sind.” Zimmermann grenzt sich ab von den 1990 neuen Streitshows der Privatsender: Dort sei Streit ein inszeniertes Kunstprodukt. Bei seiner Sendung dagegen solle ein gesellschaftlich existentes Streitthema nicht medial hergestellt, sondern aufgegriffen werden. Angestrebt war ein Bürgerforum, besetzt mit Vertretern für möglichst alle Positionen, die für ein strittiges und aktuelles Thema als relevant anzusehen sind: die Transformation eines komplexen sozialen Konflikts in den Rahmen einer Fernsehsendung, wobei die Teilnehmer relevante gesellschaftliche Gruppen vertreten. Die Sendereihe wurde als Pilotsendung nach einer Aufzeichnung vom 20.12.1989 erstmals am 23.12.1989 gesendet. Die Gesprächsform war ein Forum von 40 Gesprächsteilnehmern mit prinzipiell gleichem Rederecht; dadurch unterschied sich diese Sendung von Talkshows und Panel- Diskussionen, bei denen eine bevorrechtigte Innenrunde einem mehr oder weniger passiven Publikum gegenübersitzt. In diesem Bürgerforum sollten Vertreter aller zum Thema relevanten Interessengruppen sitzen; in dieser Boulevardisierung von Information 111 Sendung waren es unter dem polarisierenden Titel „Mitbürger oder Absahner? ” Aussiedler, DDR-Ubersiedler, sozial deklassierte Menschen aus Westdeutschland, Vertreter des Bundesbauministeriums und der Bundesanstalt für Arbeit, Vertreter von Mieterschutzbünden usw. Schwierig bei einer so großen Teilnehmerzahl war die Organisation des Sprecherwechsels: Die Teilnehmer bekamen bei Wortmeldungen das Mikro per Angel gereicht und wurden dann mit Einblendung vorgestellt. Das Thema der Sendung betraf ein damals aktuelles politisch-gesellschaftliches Konfliktthema: die dramatisch schwankende Einstellung der Westdeutschen zu Menschen aus Osteuropa und der DDR, die hierher kamen eine Einstellung, die zwischen Solidarität, wenn nicht gar Bewunderung, und schroffer Ablehnung aufgrund von Sozialneid und von Ängsten schwankt, die Aus- und Ubersiedler würden das Sozialgefüge der BRD zerstören. In der Ansage wird von einer Aufzeichnung gesprochen, in Programmzeitschriften wird die Sendung mit dem Untertitel „Live zu einem heißen Thema” angekündigt. Es handelt sich um eine „Quasi-Live-Sendung”, also eine unter Live-Bedingungen aufgezeichnete und zeitversetzt ohne Kürzungen und Eingriffe gesendete Diskussion. Hier ein Ausschnitt: 8 8 Transkriptionszeichen: (a) Intonation: / \vo M ll girnge (b) Pausen: * ** *** *2* (c) Sonstiges: +ich au| ob=eh K K # # < > Fortsetzung, Stimme nach oben Stimme in der Schwebe Schlußintonation, Stimme nach unten Betonung Dehnung ganz kurzes Absetzen, Gliederungssignal kurze Pause mittellange Pause längere Pause von 2 Sekunden auffällig schneller Anschluß Formulierungsabbruch Verschleifung Kommentarzeile (zu einer Sprecherzeile) globaler Kommentar Gültigkeitsbereich eines Kommentars lauter leiser schneller langsamer 112 Wilfried Schütle 588 BG: 589 BG: 590 BG: 591 BG: 592 BG: 593 BG: 594 BG: 595 BG: 596 BG: 597 BG: 598 BG: 599 BG: 600 BG: 601 K (0: 42.09) also ich möchte mal was äh ** zu den arbeitsplätzen sagen\ wir sind hier rübergekommen mit ** ganz wenig erwartungen erstensw/ ** wir haben haben gedacht es wird noch viel schli"mmer kommen\ ** wir sind überrascht gewesen von der herzlichkeit und ireundlichkeit der menschen/ die uns entgegentraten\ ** ähich habe ei"nen monat nach meiner/ *1,5* nach dem * aulenthalt hier/ habe ich angelangen zu arbeiten\ auch nicht in dem berul den ich gelernt habe/ ** ich habe erstens leinblechner gelernt und zweitens war ich sekretä"rin in der ddr/ ich habe da kei"ne arbeit bekommen aber ich bin llexibel ich bin in nen la"ger arbeiten gegangen\ und wer arbeiten wi"ll/ beko"mmt auch arbeit\ * ich habe cviele angebote\ #*3*# ich habe viele «KURZER BEIFALL IH 602 BG: 603 HHü: 604 K 605 PH: 606 BG: 607 BG: 608 HMü: 609 K angebote noch im nachhinein bekommen\ SAAL# #(das arbeitslosengeld? )# «OHNE HIKRO # also- ** mal machen wir mal weil a| ia da stau"n ichwieso is| wieso sind so sehr viele arbeitsplätzel ** hier da #(...) ungeheuerlich aber-# wie können sie so etwas «OHNE MIKRO # 610 HMü: sagen sie wissen doch das problem der arbeitslosigkeit ist 611 BG: STÖHNT moment- <moment\ 612 HMü: so gro"6 in diesem land und wird immer größerweil 613 KB: wo 614 BG: über di| moment jetzt muß ich sagen 615 HMü: sie eine arbeit gelunden haben warum vera"llgemeinern sie 616 KB: denn wo denn\ 617 BG: * wir haben nicht über die arbeitsvermittlung die arbeit 618 HMü: dann\ >das ist ia ungeheuerlich 619 BG: bekommen wir haben sie uns se"lbst gesucht- und da muß ieder 620 X: also Boulevardisierung von Information 113 621 BG: 622 HMü: 623 X: 624 BG: 625 HMÜ: 626 HMü: 627 K 628 HMü: 629 BG: 630 K 631 HMü: 632 BG: 633 HMü: 634 X: 635 BG: 636 HMü: 637 BG: 638 HMü: 639 BG: 640 HMü: 641 BG: 642 HMü: 643 JT: 644 K 645 HD: selbst suchen hierdas macht das problem i"mmer noch nicht anders\ wi| also aber wieso haben wir alle arbeit bekommenaber wie derder junge mann gesagt hat erihm ist #das und das und das und das# gelungenah «AUFZÄHLEND # dann haben sie vielleicht auch noch n bißchen glück gehabt «glück/ # «EMPÖRT# dann haben vielleicht auch noch Zufälle das eine oder das wir haben die gelben seiten gewälztmöglich gemachtdamn haben sie- >äh alsoalso wissen siewir sind losgefahren wir dann her| sind immer noch Zufälle im spielhaben unswir haben äh vom schwestemwohnheim außerdem hat das mit dem was Unterstützung bekommen der=ähder: herr dahinten sagt überhaupt nichts zu tun * do"ch ( ■■■ ) war das problemV nicht- «ganze menge# #0HNE MIKRO # doch eine ganze menge * find ich auch\ In dieser Passage etwa 40 Minuten nach Beginn der Sendung stellt sich die DDR-Ubersiedlerin Brigitta Günzel (BG) mit ihrer persönlichen Geschichte in Widerspruch zu der gängigen Darstellung, daß Ubersiedler im Westen große Probleme mit der Wohnungs- und Arbeitsbeschaffung hätten sie bekundet, daß sie als Ubersiedlerin keine Probleme gehabt habe, in Westdeutschland Arbeit zu finden und bewertet die Verhältnisse hier positiv. Sie stützt ihre persönlichen Erfahrungen ab mit der Maxime „Wer arbeiten will, bekommt auch Arbeit” (PH ist der Moderator Peter Huemer). Die aus Rumänien stammende deutschsprachige Autorin Herta Müller (HMü), die 1987 in den Westen kam, hält diese Darstellung für „ungeheuerlich”: Sie wirft der DDR-Übersiedlerin vor, ihre persönliche 114 Wilfried Schitle Geschichte zu verallgemeinern und so die reale Arbeitslosigkeit in Deutschland zu verharmlosen. Implizit ist damit für sie Personalisierung hier ein untaugliches Prinzip zur Darstellung von Mißständen. Kann man das Frau Günzel wirklich vorwerfen? Sie hat doch nur genau dem entsprochen, was die Macher der Sendung von ihr erwarteten: daß sie zum einen ihre persönliche Sichtweise des Problems, ihre Erfahrungen, Einstellungen und Erwartungen artikuliert, daß das aber zum anderen nicht ganz persönlich, sondern für eine Gruppe von Betroffenen typisch ist. 890 PH: meine Herrenvir können uns bei dl 891 HHü: ") aber doch gar nicht- 892 HP: sie müssen 893 PH: darf| 894 HHü: gas ist das für eine sendung\ das möchte ich mal 895 HP: doch zahlen akzeptieren\ gir haben hundert- 896 PH: darf ich sie überschreien- 897 HHü: sagen 898 HP: siebenundvierzigtausend arbeitslose genigerals zur gleichen 899 PH: bitte- 900 HMü: ich möchte mal fragen gas ist das für eine 901 HP: zeit des voriahres\ das ist ein faktum\ 902 HMü: Sendung/ gas hat das für einen sinn daß man hier- * fünfzig 903 HHü: leute hinsetzt/ gie marionetten/ ich fühle=ch mich mißbrau"cht\ 904 PH: mhm/ 905 HHü: in diesem rahmen #zu diskutieren/ # und genn ich gegußt 906 K& #EINZELHER BEIFALL# 907 HMü: hätte daß das so etgas läuft gäre ich nicht gekommennicht 908 HMü: gegen den meinungensondern gegen der art und geise des 909 HMü: vorgehens\ und ich finde daß es abstru"s ist und eine- * eine 910 HMü: hinterhältige kalkulation/ eines spektakels\ * und dafür hat 911 HMü: main leute hierher gesetzt- 912 KB: 913 K #ja * ist richtig# <der meinung bin «OHNE MIKRO # 914 PH: a| ja 915 HMü: ich meine entgeder sie gollten mit leuten reden/ und 916 KB: ich auch\ 917 HMü: dann hätten sie einen gegissen kreis von leuten eingeladen/ ein Boulevardisierung von Information 115 918 HMü: 919 PH: 920 HMü: 921 PH: 922 HMü: 923 K 924 KB: 925 PH: 926 HMü: 927 K 928 KB: 929 PH: 930 HMü: 931 KB: 932 HMü: 933 KB: 934 PH: 935 HMü: 936 KB: 937 PH: 938 HMü: 939 KB: 940 XV: 941 PH: 941 HMü: paar person +aber fünfzig leute/ * das wird nur hinquil quer naia aber wir bemühen uns ja jeweils bei einem und * hin und her geschrien und und thema zu bleiben natürlich springts gelegentlich\ äh/ #da ist dieses ding das ist wie ein opferstock/ #ÜBER DIE MIKROFONANGEL das hätten bitte das wird mir vor den mund gehalten/ # # sie doch von vornherein wissen müssen dafi sie über ja und ich meine es istdas mit eine solche * themenfülle gar nicht re"den können das ist dem schloß und mit dem äh alsospuk oder streit oder wasich doch unmöglich die ganze Sendung ist völligm: finde das auchfühleich fühle mich richtig mißbraucht\ völlig verfl a a ich muß an| das is is * wirkliches hat kein ja richtig entschuldigung frau klier konzept und nichts weiß und weiß nicht we"r da was wollte ich- Etwa eine Viertelstunde später steigert Herta Müller die bislang schon vorgebrachte Sendungskritik: „Ich fühle mich mißbraucht”. Sie kritisiert das Sendungskonzept als einen inhumanen Ansatz („eine hinterhältige Kalkulation eines Spektakels”). Die aus Ostberlin stammende Regisseurin und Bürgerrechtlerin Freya Klier (FK) pflichtet Herta Müller bei: 943 PH 944 FK 945 PH 946 FK 947 FK 948 FK 949 FK frau klier sie wollten dazu auchja ich muß mich ja einfach anschließen jj. es geht- * äh äh die problems sind hier auf dem tisch und ich finde es es sehr interessant die erregung steigtja es betrifft sehr viele\ und erstaunlicherweise natürlich nicht die poli"tiker sondern die drunter lei"den 116 Wilfried Schütte 950 FK: 951 FK: 952 FK: 953 FK: 954 FK: 955 FK: 956 BG: 957 K 958 FK: 959 FK: 960 K müssen alle problems werden angerissen und dann wird * ra"sch drübergegangen mit slogans/ mit Stammtischäh äh parolen/ ohne daß irgendwie in die tie"fe gegangen wird ich möchte wi"ssen zum beispiel von den leuten aus der ddr/ mit welcher Unverfrorenheit sie sich über ein la"nd äußern/ ** das sie vielleicht seit einem oder zwei monaten bewohnen und #wer hat sich geäußert über dieses land# #0HNE MIKRO # nicht ke"nnen\ na sie rei"chlich jasie behaupten #also das und da"s gibt es nicht- #AUFZÄHLEND 961 FK: wer arbeit sucht der krie"gt ne arbeit-# ich finde das 962 K # 963 FK: bedrückend jaich komm ooch aus der ddr ich schä"me mich für 964 BG: ich hab nichtI 965 FK: sie\ sie haben nicht * einen moment lassen sie mich 966 FK: bitte ausreden sie em sie haben nicht die temperatur für 967 FK: dieses thema ja/ *2* 968 BG: oh das war aber sta"rksie äh sie fangen jetzt an irgendwie 969 BG: hart zu werden hierich möchte jetzt eins sagenich habe 970 BG: mich nicht über das la"nd geäußertich habe mei"ne eindrücke 971 BG: geschildertwie es von a"nfang an gewesen istdaß wir nicht 972 BG: mal mit diesen erwa"rtungen gekommen sinddie wir hier 973 BG: getroffen habenoh nein\ 974 FK: das ist eine (...) (...) sie lassens- 975 BG: das il 976 FK: *2* «natürlich sind die po"len benachteiligtsind die tü"rken 977 FK: benachteiligt und zwar in jeder hi"nsicht- und es gibt einen 978 FK: Chauvinismus der sich breitmacht ja/ wer deutscher ist- ** das 979 FK: geht ja untereinander schon losist I also ich finde das 980 FK: bedrü"ckend- Boulevardisierung von Information 117 Die Vertiefung von Themen, die sie möchte, bedeutet aber für sie nicht unbedingt argumentative Verständigung, sondern die Möglichkeit, solchen Sachverhaltsdarstellungen scharf zu widersprechen, die sie für illegitim hält. Freya Klier kritisiert in diesem Zusammenhang Brigitta Günzel; sie wird persönlich und spricht ihr die Qualifikation ab, zum Thema „Chancen und Probleme von Ubersiedlern” sich kompetent zu äußern, weil sie Westdeutschland nicht hinreichend kenne. In diesem Vorwurf schwingt die eigene Leidensgeschichte von Freya Klier mit, die als Bürgerrechtlerin und Dissidentin 1988 unter entwürdigenden Umständen aus der DDR hinausgeworfen wurde, dann aber im Westen auch nicht als Regisseurin erfolgreich war. So entwickelt sie eine Solidaritätshaltung mit „Opfern” und findet eine Haltung, bei ausreichender Flexibilität komme man im Westen gut zurecht, unverfroren. 990 RH 991 RD 992 RH 993 RD 994 RH 995 RH 996 RH 997 RH 998 RH 999 RH 1000 RH 1001 RH 1002 RH 1003 RH 1004 RH 1005 RH 1006 RH 1007 RH 1008 RH 1009 RH 1010 RH wollen wirl [...] die ddr ist nicht janei"n\ ich ich möchte ja auch nil besser als die brd das hat ja auch niemand behauptetich au"ch nicht- und da es jetzt meinungsireiheit gi"bt/ wird jetzt alles andere ho"chkommen/ was im deutschen Volke lebt\ was bisher mit harter faust unterdrückt wurde aber dennoch ist es doch si"nnvoll daß wir uns über die"se probleme- ** Chauvinismus nannten sie jetztsachlich unterhalten\ ich wohne in einem grenzbezirk frankfurt o"der ich weiß sehr woh"l- ** daß man die Vorurteile/ gegenüber den polnischen nachbarn/ viele jahre/ hart unterdrückt hatjetzt kommen sie ho"ch aber * damit müssen wirzumindest müssen wir den versu"ch machen uns * sa"chlich auseinanderzusetzen/ und i"ch für meinen teilmöchte ** genau so wie ich jetzt nach westen fahren kann >also nach Westberlin und ** <hierhermöchte ich natürlich au"ch wieder * zu den polnischen nachbarn fahren dürfenich finde * es * steht uns gu"t an als deutschewenn wir gerade diese themendenn im moment haben ja so manche nachbarn auch wieder angst * vor unswenn wir die ** sachlich behandeln würden und damit will ich ni"cht sagendaß die ddr per se"- 118 Wilfried Schütte 1011 RH 1012 RH 1013 RH 1014 RH 1015 RH besser sei als die brd +würde ich mir nie" anmaßen daß die Verhältnisse dort besser sind <wir wissen aber im moment/ auf welchem moralischen trümmerhaulen wir dort sitzen- >das wissen wir- ** und das sollte man mit ernst behandelndas ganze thema finde ich Rolf Henrich (RH) vom „Neuen Forum”, einer Bürgerrechtler-Partei, die in der Zeit der Wende 1989 in der DDR entstand, versucht, den sich bedenklich spaltenden Rahmen des Gesprächs zu klammern: Er hält ein Plädoyer für ein offenes Gespräch über nationale Ressentiments öffentliche Kommunikation als Mittel, die „Büchse der Pandora” in den Griff zu bekommen, die in der DDR geöffnet wurde nationalistische Ressentiments wurden von der Staatsführung und vom Sicherheitsapparat bislang unterdrückt und melden sich nun umso heftiger zu Wort. 1020 PH: neinbittesehr- 1021 VK: ich wollte ei"ne bemerkung mal loslassen zu der Sendung 1022 VK: auch es ist offensichtlich so daß hier derjenige der hier am 1023 VK: lautesten schreit/ und die unverschämtesten dinge am 1024 VK: lau"testen rausschreit/ offensichtlich auch die meiste 1025 VK: redezeit eingeräumt bekommt/ ** äh: ich hab dann auch 1026 VK: vermie"den auf bestimmte ** nach meinem empfinden=ähm 1027 VK: unangenehme äußerungen auch ** äh >m< ** verlängert laut ** 1028 VK: zurückzurufen/ ** also wenn davon geredet wird es gebe 1029 VK: beispielsweise keine Wohnungsnot/ RÄUSPERT SICH und es gebe 1030 VK: keine * klassifizie"rungen innerhalb der bundesdeutschen 1031 VK: Wohnbevölkerung von der müssen wir ja wohl mal reden und nicht 1032 VK: nur von denen/ *2* äh die eben einen solchen paß habenalso 1033 VK: ich finds ** a schlicht und ergreifend zum kotzen/ wenn hier 1034 VK: von von schei"nasylanten geredet wird und ne gute freundin von 1035 VK: mir ** sucht die lebt seit acht jahren in der bundesrepublik/ 1036 VK: arbeitet seit acht jahren als krankenschwester/ *2,5* und=äh 1037 VK: beziehungsweise im kindergarten entschuldigung/ ** <und wol 1038 VK: sucht ne Wohnung und kommt überhaupt nicht über den satz raus Boulevardisierung von Information 119 1039 VK: 1040 VK: 1041 VK: 1042 VK: 1043 VK: 1044 VK: 1045 VK: 1046 VK: 1047 VK: 1048 VK: 1049 VK: 1050 VK: 1051 VK: 1052 VK: 1053 VK: 1054 VK: 1055 PH: 1056 VK: 1057 VK: 1058 VK: 1059 VK: 1060 VK: 1061 VK: 1062 VK: 1063 VK: 1064 VK: 1065 VK: 1066 VK: 1067 VK: und wird wird gleich nach ihrer hautiarbe gefragt/ ** wer dann so tut als gä"be es ** keine proble"me- und dann gleichzeitig davon redet/ es handele sich dabei um um unerwünschte leute uml wie das zum teil im begriff zwar ni"cht aber intendiert offensichtlich auf arbeitsscheue/ und so weiter und so weiter del das sind diejenigen die- ** versuchen/ ganz offensichtlich ne * tei"lung herzustellen und diese teilung ist ja auch hier erkennbar wir haben nen ** nen ausländischen mitbürger hier/ wir haben ne polnische spä"taussiedlerin hier/ und wir haben äh- ** deutsche aus der ddr und wir haben da sehr sehr unterschiedliche erfah"rungsberichte es soll mir doch niemand erklären es liege daran daß die leute n unterschiedliches naturell haben sondern auf beschl unterschiedliche Voraussetzungen hier sto"ßen/ und auf unterschiedliche behandlungsmuster und darüber müssen wir reden und den begriff der solidaritä"t/ ** wieder verstärkt einbringen in m: die diskussion auch ganz in dem sinne wie klaus boiling das gesagt hat- Solidarität innerhalb der bundesrepublik und Solidarität aber auch gegenüber der ddr ** zum beispiel aber au"ch bitteschön gegenüber den ländern Osteuropas die diese entwicklung in der ddr zum beispiel mit möglich gemacht haben und wenn wir alle draufschauen auf die ddr erinnert euch bitte daß es die po"len warendie über acht oder neun jahre unverdrossen und viel länger- und viel mehr gelitten haben in ihrer geschichte über die jahrhunderte hinwegdie da" n ganz gewaltiges stück dran teilhaben und wir kucken nur noch ** nach dresden und freuen uns offensichtlich begeistert an den schwarz-rot-goldenen fahnen und vergessen die"/ die im prinzip 120 Wilfried Schütte 1068 VK: da mitgeholfen haben daß es so weit kommen könne daß wir uns 1069 VK: freuen könnte daß aml können am heiligen abend machte er die- 1070 VK: ** brandenburger tor auf da hat die solidarnosc 1071 VK: beispielsweise- und das ganze polnische volk was unter den 1072 VK: deutschen so viel gelitten hat n ga"nz gewaltiges stück ** 1073 VK: dran tei M lgehabt und daran sollten wir bitteschön auch mal 1074 VK: denken wenn wir Weihnachten uns übers brandenburger tor freuen Volker Klemm (VK), ein Studentenfunktionär, übt Sendungskritik: Die Sendung fördere den systematischen Verstoß gegen Gesprächsregeln (Wer laut schreit, setzt sich durch), man müsse sich dem eigendynamischen Sog dieses Sendungskonzeptes entziehen, zudem verniedliche die Sendung systematisch strukturelle Probleme, indem sie sie als Probleme eines „unterschiedlichen Naturells” unzulässig personalisiere (etwa die Wohnungsnot, wobei für VK die Perspektive von nicht am „Bürgerforum” Beteiligten, nämlich von ausländischen Studenten in Deutschland, die relevante Problemsicht ist). Auffällig: An jede metakommunikative Kritik wird eine argumentative Fortsetzung der eigenen Positionsdarstellung angehängt, Sendungskritik wird als rederechtssichernder Joker funktionalisiert. Unmittelbar darauf folgt eine Metakommunikation über Vorwürfe zum Sendungskonzept: Der Moderator PH wehrt sich dagegen, daß er und die Redaktion der Sendung für Kontroversen und das Gesprächsverhalten von Teilnehmern verantwortlich gemacht werden in einer Situation, die „kontroversiell” sei. Kann man also sagen, hier sieht man, wie ein Sendungskonzept scheitert? Ist die Sendung, wie hier einige Diskussionsteilnehmer behaupten, mißlungen? Interessant ist die nachträgliche Interpretation dieser Szene durch den Redakteur der Sendung: Auf meine Frage, ob die unterschiedliche rhetorische Geschicklichkeit von medienerfahrenen und -unerfahrenen Teilnehmern ein konzeptuelles Problem für eine solche „Bürgerforums”- Sendung sei, sieht er die Sendung als Beleg für „(...) Sprachbarrieren, die da sind, also Kommunikationsbarrieren, daß die Leute, die gewohnt sind, Dinge intellektualistisch zu sehen und auch entsprechend in einer metasprachlichen Ebene über die Dinge zu reflektieren diese Leute tun sich sehr schwer, mit dem Mann auf der Straße, mit dem Mann aus dem Volke oder mit den Bürgern da tatsächlich klarzukommen. Das hat sich ja doch in sehr deutlicher Form auch in dieser Sendung gezeigt, und das fand ich, das waren auch die Highlights dieser Sendung. Ich denke da beispielsweise an den Dialog zwischen der Freya Klier und so einer Ubersiedlerin aus der DDR, wo also diese Frau, die nun wirklich aus der DDR, die also wirklich doch eine sehr bewußte und und auch eine überlegte Frau war, die auch was geäußert hat, eine Meinung, die weit verbreitet ist sicherlich; also sie hatte ja gesagt, daß der, der Boulevardisierung von Information 121 hier sich bemüht und so weiter erstens Arbeit findet, und man muß n bißchen flexibel sein und nicht immer nur auf seinen beruflichen Qualifikationen bestehen, und dann kann man auch hier einsteigen in das System, und da muß man eben fleißig sein, und dann hat man auch sehr schnell das, was man sich an sich davon erwartet, und das fände sie, also das müßte man hier ganz deutlich sagen; und da sagte eben die Freya Klier, bestritt ihr überhaupt die Berechtigung, dieses zu sagen, und sagt: ’Sie beleidigen alle andern Frauen, die also jetzt nicht so gut dran sind wie Sie’, und sah das eben tatsächlich aus so einer Ebene heraus, die mit der Erfahrung vor Ort relativ wenig zu tun hatte; und dann war die Frau so geschockt von dieser Frau Klier, die also dann sehr eloquent dann sie da zurückgewiesen hat, daß sie nur noch sagen konnte: ’Das ist aber stark’, und mehr fiel ihr dazu nicht ein, es war aber genau diese Situation, die man ja auch gesehen hat, wenn der Herr Bölling also sehr geschliffen und so weiter über bestimmte Dinge geredet hat und wenn da Leute dann gesagt haben, ja so richtig haben sie es eigentlich nicht verstanden, was er gemeint hat, oder sie haben ihm dann gleich vorgeworfen: ’Ja, Sie leben da im goldenen Käfig und können da gut reden, aber für uns ist das, was Sie Realität nennen, etwas, was uns wesentlich näher ist als Ihnen offensichtlich’. Das sind aber Dinge, ich glaub, das muß dabei rauskommen. Alles andere, wenn dieses nicht mehr deutlich wird, daß die Leute auch Schwierigkeiten haben, miteinander zujeden, dann ist auch dieses Prinzip des Bürgerforums eben nicht mehr tragend.” Der Redakteur sieht mithin diese Szene gar nicht als Indiz eines Scheiterns der Sendung relativ zu ihren Ansprüchen. Positiv ist für ihn, wenn die Sendung eine in der realen Welt vorhandene Unfähigkeit zur Kommunikation und zum Dialog abbildet. Dies hat freilich etwas von einem Immunisierungsargument an sich: Die Sendung kann gar nicht scheitern entweder lernen Zuschauer relevante Konfliktpositionen kennen oder die Unfähigkeit der Beteiligten zur Kommunikation. Fazit: Die Sendeform scheint demokratisch, schafft freilich auch Probleme: Der Widerspruch zwischen geordneter Abfolge von Redebeiträgen nach Rednerliste und dem erwünschten Medienereignis spontaner Konfrontation führte zu massiv geäußerter metakommunikativer Kritik in der Sendung an der als „zynisch” oder „dümmlich” empfundenen provokanten Themenformulierung und der Diskussionsleitung durch den Moderator. 5. Zum Konzept von „Ulrich Meyer: Einspruch” „Zwei Diskussionsgruppen mit gegensätzlichen Meinungen stehen sich in der ’Einspruch’-Arena gegenüber. Ganz normale Durchschnittsburger kommen hier zu Wort, aber auch die Symbolfiguren für einen Mißstand, die Kleinen gegen die Großen, gegen diejenigen, die Verantwortung tragen. Keine Chance allerdings, bei ’Einspruch! ’ dabeizusein, haben die professionellen Talkshow-Jetter, diejenigen also, denen es in erster Linie darauf ankommt, sich selber oder ihr Produkt publikumswirksam zu vermarkten, die Pendler zwischen den TV-Stationen. Unverbrauchte Gesichter und ungewöhnliche Ansichten das ist ein Markenzeichen von ’Einspruch! ”’ In diesem redaktionellen PR-Text für die SATl-Sendung „Einspruch” (die Ende 1994 eingestellt wurde), der zugleich wohl potentielle Werbekunden 122 Wilfried Schütte ansprechen sollte, finden sich oppositive Bewertungen für zwei Kategorien von Gesprächspartnern: positiv betroffene „kleine Leute”, mit denen sich Fernsehzuschauer identifizieren können, und Verantwortungsträger negativ „professionelle Talkshow-Jetter”, die sich oder ihr Produkt darstellen wollen. Interessant ist, daß der mit „Infotainment” oder „Unterhaltung” in assoziativer Verbindung stehende Begriff „Talkshow” nur an dieser negativ besetzten Textstelle vorkommt, während „Einspruch! ” dezidiert als „kontroverse Diskussion” vorgestellt wird. Die unterhaltsamen Aspekte dieser inszenierten, durch szenisches und dramaturgisches Arrangement auf die Spitze getriebenen Kontroverse werden damit hier unterschlagen. Meine Vermutung: „Einspruch! ” sollte als seriöse Sendung dargestellt werden, die legitime gesellschaftliche Bedürfnisse bediene. Fraglich ist dabei freilich, ob die Sendung in ihrer wöchentlichen Abfolge den Anspruch des Innovativen in Bezug auf Gäste- und Themenwahl (stets) einlösen kann; ich erinnere an die gängige Darstellung des „Wanderzirkus” von Talkshow- Gasten; und an die Konkurrenz bei der Behandlung aktueller Themen. Auch in dieser werbenden Darstellung für „Einspruch” spielt der Moderator eine herausgehobene Rolle: „Ulrich Meyer greift als Moderator stärker in die kontroverse Diskussion ein, als sonst in Deutschland üblich. Er führt die Auseinandersetzung. Seine Aufgabe ist es, die beiden Seiten aufeinander auszurichten, Argumente herauszulocken, die unterschiedlichen Standpunkte klar herauszuarbeiten: der Moderator als Präparator.” Gegen die gängige Zuschreibung (Meyer als Dompteur) wird hier positiv der „Präparator” gesetzt, damit werden seine starken Eingriffe als Gesprächsleiter gerechtfertigt. Wenn es gar heißt: „Stets aber vertritt Ulrich Meyer die Schwachen, die Leisen, die ungerecht Behandelten diejenigen, die keine Lobby haben, häufig die schweigende Mehrheit. Gegen jene, die sonst das große Wort führen, die Verlogenen, die Schuldigen”, wird der Moderator gar zum Medien-Robin Hood hochstilisiert. Dazu einige analytische Anmerkungen zur Sendung vom 3.5.1994 mit dem autoreflexiven Titel „Talkshow hirnlos, schamlos, für Millionen”: 178 UM: ist ein argument * weniger\ was bleibt denn von ihrer 179 UM: pauschalkritik noch übrig >bitte sehr- 180 JI,: erstens ist es keine 181 JH: pauschalkritik/ zweitens gibts gute themen# und es gibt 182 Kft #IHSERT "JOSEF 183 JN: schlechte themen/ * und man kann gute themen schlecht 184 Kft NYARY/ TV-Kritiker, Bild" Boulevardisierung von Information 123 185 JN: 186 Kft 187 JH: 188 UM: 189 UM: 190 JH: 191 JH: 192 JH: 193 JH: 194 JH: 195 JH: 196 JN: 197 Kft 198 JH: 199 Kft verkaufenmain kann auch schlechte themen# gu"t verkaufen IHSERT * beides muß stimmen das thema und die verkaufe\ wunderbar was sti"nkt ihnen denn beso"nderswenn sie so- ** ins land schauen\ ** äh: es ist so" äh früher gabs in den deutschen talkshows das prä/ das Phänomen/ ** es waren immer dieselben na"sen die da auftraten äh: eine la"bermafia die wie eine karawane von Sendung zu Sendung gezogen ist * heu"te kommt erschwerend * dazu— die re'^en auch noch über dieselben #the"men alle nacheinander/ also man kann heute drei »INSERT "JOSEF NYARY/ ’Immer dieselben Pappnasen! ’" ♦ Sendungen nacheinander# ankucken- und überall wird INSERT # 200 JN: das thema/ selbe thema von denselben leuten erörtert\ 201 JN: 202 UM: 203 JN: 204 UM: 205 JN: 206 OK: das find ich langweilig\ feine unterschiede spüren sie do"chscho"nöh aber die sind=ähda nicht so raus\ aber das nei"ndas reicht einfach ni"cht\ reicht ihnen nicht\ 207 UM: björn nimmt man=äh diese damen und herren e"rnst in irgendeiner form die kritiker/ 208 UM: 209 BS: 210 UM: 211 BS: 212 UM: 213 BS: 214 UM: 215 BS: 216 K 217 UM: ja sicherlich klarecht sagen wir m mo/ montags morgens mußt du doch auch was neben dem Sportteil wenn du damit zu lesen haben/ und: durch bist meinst du\ #we=ja dann kommt die kritik\ #SCHAUT ZU UM #ja- 124 Wilfried Schütte 218 BS: # oder * zwischendurchgehört einfach dazuis=äh# 219 Kt #IHSERT "BJÖRN HERGEN SCHIMPF/ 'Schimpf - 19717', ARD"# 220 BS: manchmal n bißchen schwierig glaub ichmanchmal 221 BS: n bißchen schwierig für die herrschaften kritiker- 222 BS: weil=äh * s ist ganz einfach\ die haben irgendwann 223 BS: mal richtig gut studiert\ germanistik und=äh: literatur\ 224 UM: sags ihnen doch direkt also die stehen noch länger hier 225 BS: »richtig genau/ # ja\ richtig äh- 226 Kt »WENDET SICH ZU DEN FERNSEHKRITIKERN# 227 UM: >m- 228 BS: germanistik literatur studiert ja/ und die stille 229 BS: Hoffnung i"rgendwann mal * Ulysses gelesenvierzig 230 K [uli’sis] 231 BR: LACHT 232 BS: seiten mehr nicht- und dann »die stille Hoffnung 233 K »LACHER IM PUBLIKUM 234 BS: einmal- ** zadek-# * ne Inszenierung ** ja/ * sehen 235 K # 236 BS: zu dürfen ->drüber schreiben zu dürfen<- und dann kommt 237 BS: dall oder schimpfich mein das muß weh" tun >das muß 238 BS: weh tun< und da kann ich verstehen »daß die also da 239 K4 »PUBLIKUMSBEIFALL 240 BS: probleme habenaber ansonsten- * des ichs ge"rne- *2*# 241 Kt # Generalisierungen und Bestreiten von Voraussetzungen: Der Kritiker Josef Nyary (JN) expliziert seine Kritik an der heutigen Talkshow-Schwemme im Fernsehen: Talkshows seien langweilig wegen des immer gleichen Personals und der immer gleichen Themen. Der Moderator Björn Hergen Schimpf (BS), hier Diskussionsteilnehmer auf der Gegenseite, geht auf diese Kritik inhaltlich nicht ein, sondern unterstellt Voraussetzungen dieser Kritik, um sie abwerten zu können: Moderatoren orientierten sich an einem unangemessenen Hochkultur-Konzept für Talkshows, auf das sie aufgrund ihrer Sozialisation und professionellen Deformation fixiert seien. 292 UM: weiterhin\ +frau rust sind die ** jüngste in unserer 293 K* PUBLIKUM KLATSCHT Boulevardisierung von Information 125 294 UM: 295 Kft 296 UM: 297 Kft runde hier/ und sie machen eine lo"rm die eigentlich noch nicht so sicherer# in sich in deutschland # 298 UM: du"rchgesetzt hat\ beschreiben sie die mal kurz\ 299 BR: 300 Kft 301 BR: 302 Kft 303 JH: 304 BR: 305 Kft ja das ist eine call-i"n-sendung und herr #schimpi #IHSERT macht=äh * dasselbe eigentlich wir machens nur "BETTINA RUST - ’0137 nighttalk’, PREMIERE" so ein zu"fallauf verschiedenen- <sendern# ja nicht wah"r sie # 306 BR: schreiben ja auch alle ->also si| ich denke daß sie 307 JH: 308 BR: 309 BR: 310 BS: 311 K 312 Kft 313 BR: 314 BS: 315 K 316 Kft wir schreiben aber nicht dasselbe ja alle schreiben k/ aber sie kö"nnen schreiben- #** egal- #wir sprechen auch nicht »BLICKT ZU JH »UNRUHE, BEIFALL IM PUBLIKUM ** jedenTalls dasselbe wir spre"chen auch nicht dasselbe# # # 317 BR: können=äh leute anrufen es gibt kein bestimmtes thema 318 BR: und * jeder kann * kostenfrei anrufen und >äh< ** zu 319 JH: 320 BR: 321 UM: 322 JH: 323 BR: 324 UM: 325 BR: kostenfrei ganz genau demja kostenfrei ich red n ganz kurz herr hauschild sie auch das ist C ) aus und damn können wir so richtig schönkein problem ma"chen sies ruhig maläh: : m anrufen und 326 BR: die jeweiligen themen also selbst bestimmen das heißt 327 BR: äh * interessierte leute können zuhören interessierte 328 BR: leute können auch selbst themen einbringen und ich 126 Wilfried Schütte 329 BR: denke näher kann man am volksgeschmack nicht <#sei"n 330 Kft #IHSERT 332 BR: nicht wsihr/ 333 K& "BETTINA RUST - ’Kritiker spinnen doch! ’"# Zwang zu knappen Darstellungsformaten und zur Demonstration von Kompetenz, Störungen schlagfertig abwehren zu können: Bettina Rust (BR) als Diskussionsgast will auf eine explizite Anforderung des Moderators Ulrich Meyer (UM) hin ihr Sendungskonzept darstellen. Mit dieser Anforderung verweist Meyer implizit auf seine Annahmen, welches Hintergrundwissen bei den Fernsehzuschauern vorausgesetzt werden darf (z.B. die Konzepte der anderen hier vertretenen Sendungen). Bei dem Versuch, die konditionelle Relevanz einzulösen, wird die Moderatorin wiederholt durch ironische Bemerkungen der Kritikers Joachim Hauschild (JH) gestört. Sie wehrt sich, indem sie auf dem ihr eingeräumten Rederecht insistiert. Sie wird vom Moderator darin unterstützt, wobei er das Problematische dieses Rederechtskampfes als aktuell nicht behandlungswürdig in der Relevanz zurückstuft. Die „Premiere”-Moderatorin rahmt das „knappe” Format ihrer Sachverhaltsdarstellung und ratifiziert damit das Sendungsprinzip hektischer Kleinschrittigkeit, und zwar rahmt sie durch eine Ankündigung („kurz”) und durch eine auffällige Betonung in einer „tag question” am Schluß, mit der sie spielerisch zu einer Ratifizierung auffordert (was verbal paraphrasiert werden könnte mit „Ich habe mein Versprechen zur Kürze gehalten! ”). 357 UM: sie verknallen ein klischee nach 359 UM: dem anderen die junge kollegin/ 360 ja das ist ja ein schma"rren ich wei/ 361 JH: ich hab das glück daß ich äh oder pa/ #ich will nicht 362 K4 #IHSERT "JOACHIM 363 JH: unhöflich sein ich kann premiere nicht sehen weil 364 Kft HAUSCHILD - Freier TV-Kritiker" 365 JH: 366 OK: 367 Kft ich nicht verkabelt bin\ also kann ich über diese ach komm das funktioniert 368 JH: Sendung# nicht ** reden/ also- 369 BR: sie hätten sich ja informieren 370 OK: zwar aber 371 Kft # 372 JH: 373 BR: also * da müssen kö"nnen es gibt ja ** Möglichkeiten Boulevardisierung von Information 127 374 JH: sie mir jetzt ei"ne kritik verhalten müssen sie sagen hier ist ein klischee/ hier ist das nächste klischee 375 JH: 376 JH: 377 OK: 378 OK: 379 JH: 380 BK: 381 K 382 OK: 383 UM: 384 JH: 385 K& 386 UM: 387 JH: 388 UM: 389 JH: 390 OK: da"nn können wir weiterreden\ so/ herr hauschild ein 1ernsehkritiker der nicht verka"belt ist kann ich mir do"ch ich bi"nssie #huch# «EXPRESSIV# nicht vorstellen\ das heißt das engt natürlich ihrseh"n mich PUBLIKUM KLATSCHT * Betätigungsfeld gewaltig ein wenn sie das erste ja- und zweite vielleicht noch über die dritten schreiben ja gottseidank gottseidank da 391 BS: er weiß auch schon was er schreiben soll über erstes wie le"ben sie sokommen sie gut 392 UM: 393 OK: 394 Kt #und zweites *1,5*# «PUBLIKUM KLATSCHT# 395 UM: * klar mit den wenigen Programmen die sie so 396 UM: 397 JH: 398 UM: 399 JH: 400 UM: 401 JH: 402 UM: 403 JH: 404 UM: 405 JH: 406 UM: 407 JH: beschreiben können/ ja es sind ja ne ganze menge in münchen ja- ->och ja das ist ja * <-aber viel tvneun programmetv weißblau und so weiter lokale senderne in das lohnt sich mansch kaufen sie sich n ka"beldie ganze nicht\ weit liegt ihnen zu fü"ßen herr deteringdie post will nicht bei mir am/ ** wir werden ihnen helfen ich das ist das problem\ 128 Wilfried Schütle glaube ganz ( ■ . .) welch ein versprechen m\ (...) schüssel komm wir zum honora"rzum honorar legen zusammen er kriegt (...) dann lassen wir beide uns beschreiben von ihnenherr da legen wir beide zusammen hauschild würden sies machen hätte ich nicht von ihnen gedacht herr kracht jasehen sie entwickelt sich überhau"pt nicht sie schätzen mich falsch ei"n LACHT Umdefinition struktureller Probleme zu persönlichen: Der Fernsehkritiker verzichtet auf eine Beschäftigung mit der Mehrzahl der privaten Programme, weil er nicht verkabelt ist. Das tut er zum einen gezwungenermaßen, weil er abgelegen wohnt, zum anderen aber auch bewußt, weil es ihm eine Orientierung auf die für ihn wesentlichen Programme ermöglicht. Zudem möchte er so seine Souveränität im Umgang mit Programmen und Vorhaltungen von Moderatoren demonstrieren: Er entscheidet, womit er sich beschäftigt. Die Opponenten behandeln diese Perspektive als Manifestation von Unprofessionalität, eines Nicht-auf-der-Höhe-der-Zeit- Seins, eines Mankos, das ihn als ernstzunehmenden Kritiker entwertet. Auf diese Weise wird eine Thematisierung von Qualitätsunterschieden zwischen öffentlich-rechtlichem und privatem Fernsehen oder der Konvergenz- These 9 unterlaufen. Mittel dazu ist die Modalisierung durch Frotzelei und das angedeutete Spiel einer karitativen Unterstützungs-Aktion für den notleidenden Fernsehkritiker, damit er sich auch einen Kabelanschluß leisten kann. 421 UM: herr detering * in diesen kritiken ist doch meh: "r 422 UM: negatives als positives zu lesenich hab selber mal 423 UM: femsehkritiken geschrieben hab mit großer begeisterung 424 JH: #was# ^25 K »GESPIELT ERSTAUNT# 426 UM: draufgehauennein mit großem erfolg 427 JH: ohne erfolg offenbar 9 Nach Merten 1994 nähern sich die öffentlich-rechtlichen Programme, ursprünglich eher elitär, sowohl von der inhaltlichen Struktur als auch von der Plazierung den eher populären Programmen der privaten Sender an. 408 UM: 409 JH: 410 OK: 411 JH: 412 OK: 413 UM: 414 OK: 415 UM: 416 JH: 417 OK: 418 UM: 419 JH: 420 OK: Boulevardisierung von Information 129 428 UM: ich bin zum fernsehen gewechselt der insgeheime träum 429 UM: er hat sich erfülltkeine trage# ** #herr detering- 430 BR: «FINGERGESTE: VERWEIS 431 Kft «PUBLIKUM LACHT UND 432 UM: *3* «kann man denn fernsehen überhaupt noch ertra"gen# 433 BR: AUF UM's POINTE# 434 K& KLATSCHT, JOHLEN # 435 UM: eigentlich\ Punkten anstelle argumentativer Auseinandersetzung: Der Moderator verweist auf seine eigene Berufserfahrung als Fernsehkritiker. Die Frotzelei, das habe nichts genützt, also die theoretische Beschäftigung habe nicht zu einer Verbesserung der professionellen Praxis geführt, kontert er mit einer impliziten Umwertung: Er habe das erreicht, wovon Fernsehkritiker oft zeitlebens vergeblich träumen. Er verbindet so eine positive Modellierung des eigenen Images (lokal schlagfertig, langfristig als Herr der eigenen Lebensplanung) mit einer Abwertung der Kritikerseite. Der Moderator wird hier zur Partei, den Kritikern wird der Expertenstatus abgesprochen. Seine Replik wird von Bettina Rust gestisch als Pointe ratifiziert. Zugleich dürfen diese Formen subversiver Themenbehandlung für die Sendung nicht dominant werden, sondern müssen lokal als Nebensequenzen, also sozusagen als Parenthesen, behandelt werden. Zusammen führen sie freilich zu einer gleitenden Umfokussierung: Nicht mehr die Kritik an Talkshows und ihre inhaltliche Berechtigung sind Thema, sondern die Mentalität von Kritikern, ihre Desorientierung, ihre Phobien und Kompensationsbedürfnisse so wird ein strukturelles Problem personalisiert und aus der Sicht der Moderatoren eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Bedingungen und Möglichkeiten der eigenen Arbeit erfolgreich abgewehrt. „Inserts” sind zum einen Orientierungshilfe für die Zuschauer: Sie erleichtern es ihnen im Fortgang der Sendung, einen Teilnehmer wiederzuerkennen; sie fungieren dabei als Verweisform auf ausgebaute Formen einer Vorstellung (z.B. monologisch als Selbstvorstellung bzw. als Vorstellung durch den Moderator oder dialogisch in der Eröffnungsphase der Sendung oder durch einen Zuspielfilm (MAZ)). Unproblematisch ist sicher eine Identifizierung über Namen, Beruf, Funktion und ähnlich selektions- und wertungsarme Referenzialisierungen (Beispiele: „JOSEF NYARY - TV-Kritiker, Bild”; „BETTINA RUST - ’0137 nighttalk’, PREMIERE”; „JOACHIM HAUSCHILD - Freier TV-Kritiker”). Wenn aber ein Diskussionsteilnehmer durch ein Insert der Kurzfassung seiner Position vorgestellt wird (Beispiele: „JOACHIM HAUSCHILD - ’Einschaltquoten sind mir egal’”; „BETTINA RUST - ’Kritiker spinnen doch’; „JOCHEN DETERING - ’Die Leute glotzen alles’”), kann dieses schlagzeilenartige Verfahren ma- 130 Wilfried Schütte nipulativ, eventuell gar kontraproduktiv zum Sendungskonzept werden: Zuschauer orientieren sich dominant an den optischen Eindrücken, die Diskussion wird so in der Zuschauerrezeption systematisch an einer Fortentwicklung der Ausgangsstandpunkte gehindert, Teilnehmer werden auf ihre vorab festgelegten Positionen verpflichtet, auch darauf, sie unter allen Umständen durchzuhalten und mit allen zu Gebote stehenden Mitteln Punkte für die Eigenposition zu sammeln. Ein anderes Mittel freilich sind die zeitweise in der Bremer Talkshow „3 nach 9” praktizierten spontan formulierten redaktionellen Kommentare, die einen neuen Kommunikationskanal öffneten und darauf verwiesen, daß auch hinter den Kulissen Fernsehleute saßen, die etwas zu sagen hatten. 6. Ausblick In Boulevardsendungen müssen alle Themen, um Zuschauer anzulocken oder am Weiterschalten zu hindern, als interessant, spannend und dramatisch hochgepeppt werden. Das verstellt den Blick auf echte Katastrophen und tatsächlich schwerwiegende soziale Konflikte und führt beim Zuschauer in der Art eines Teufelskreises zum Überdruß und zu Desinteresse an dieser Art medialer Konfliktpräsentation. Als Bestandteile des Konzeptes gibt es typische Abweichungen von üblichen Gesprächsregeln: - Ausreden lassen gilt nicht als Tugend: Es gehört nicht zu den Pflichten des Moderators, Teilnehmer vor anderen Teilnehmern zu schützen; - Koalitionen sind vordefiniert; - Ziel ist nicht Klärung von Divergenzen (das müßte nicht unbedingt im Sinne von Konvergenz der Standpunkte und Harmonisierung geschehen, wohl aber einer Verständigungssicherung argumentativer Positionen), sondern durch Provokationen Punkte zu sammeln; kalkulierte redaktionelle Offenheit in der selbstreferentiellen Retrospektiven-Sendungen fungiert als Imagearbeit, um dem Zuschauer Souveränität im Umgang auch mit fundamentaler Negativ-Kritik vorzuführen: Sie wird nicht tabuisiert, in ihrer Präsentation wird das Polarisierungs-Konzept der Sendung fortgesetzt. Ein Fazit: Sendungskonzepte sind einer ständigen Erfolgskontrolle unterworfen und damit relativ kurzlebig. Je mehr Sendungen bei immer mehr Sendern miteinander konkurrieren, desto stärker wird Unterscheidbarkeit für Zuschauer und eigenständiges Profil zu einem praktischen Problem. Wenn sich Sendungsmacher dabei aber zunehmend an Konzepten orientieren, die die Zuschauermehrheit als „Mätzchen” verachtet, kommt das Genre „Fernsehgespräch” insgesamt nicht umhin, sich mit Zuschreibungen wie „ausgelaugt” (vgl. „Spiegel” vom 1.2.1993) auseinandersetzen. Besonders deutlich wird dieses Problem bei neuen Talkshowtypen des angeheizten Streits als Unterhaltungsgegenstand oder systematischer Ausbeutung bislang für öffentliches Reden tabuisierter Bereiche (etwa intime Beichten). Boulevardisierung von Information 131 Die zunehmende Konkurrenz zwingt dazu, Verhaltensweisen, die bislang als Verstoß gegen Kommunikationsnormen oder als Zeichen von Kommunikationsverweigerung negativ bewertet und verpönt waren, für Sendungskonzepte bewußt zu heranzuziehen und zu benutzen. Z.B. ist der Gesprächsabbruch einer verläßt die Talkshow während der Sendung dann nicht mehr das ultimative Mittel, die Kommunikation aufzukündigen und somit die ärgste Panne, die den Sendungsverantwortlichen passieren kann, sondern wird zunehmend „normal”, also zur sozial akzeptierten Reaktion auf Zumutungen, die für das Sendungskonzept konstitutiv sind. Das Kommunikationsverhalten der Gesprächsteilnehmer in solchen Sendungen kann nicht schlicht als Beleg für Verhaltensmuster in Alltagssituationen genommen werden; wo etwa in einem alltäglichen Streitgespräch nach dem üblichen Verlaufsmodell eine Phase zu erwarten ist, in der Mittel zur Konfliktreduzierung (vgl. Schwitalla 1987) eingesetzt werden, zwingt die Dramaturgie des Fernsehgesprächs zu einer weiteren Verschärfung des Streits, damit die Zuschauer „am Ball bleiben”; die Beilegung des Konflikts ist kein relevantes Ziel für die Fernsehsendung. 7. Literatur Arens, Karlpeter (1973): Manipulation. 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Strategien der Moderatoren und Gäste herausgearbeitet, die primär durch eine spezifische Rollenkonstellation erklärbar sind. Das Resultat des konfrontativen Konzepts ist nicht, wie von den Machern proklamiert, ein spontanes und inhaltlich begründetes Streitgespräch, sondern vielmehr ‘Confrontainment’, ein aggressives und mediengerechtes Kommunikationsbeispiel, das prototypisch zahlreiche Merkmale moderner Fernsehgenres vereint. Auch wenn ‘Der heiße Stuhl’ und Einspruch! mittlerweile abgesetzt wurden, haben die beiden konfrontativen Diskussionssendungen somit doch ihre Spuren in der Programmgeschichte des deutschen Fernsehens hinterlassen. 0. Vorbemerkung Diskussionssendungen im deutschen Fernsehen wurden lange Zeit fast sakral inszeniert und waren doch selten mehr als parteiübergreifende Pressekonferenzen, bestritten von einem „Kartell” aus Top-Journalisten und Spitzen-Politikern, ritualisiert bis zum Proporz der Redezeiten (vgl. Holly/ Kühn/ Püschel 1986). Mit der Etablierung von ‘Explosiv - Der heiße Stuhl’ (Januar 1989 bis Juni 1994 in RTL) und ‘Ulrich Meyer: Einspruch! ’ (April 1992 bis Dezember 1994 in SATT) hat sich dieses Bild drastisch verändert. Ein neuer „Kommunikationsstil” hielt Einzug, da die Macher dieser schnell als „Brüllshows” abqualifizierten Sendungen statt auf einen beschaulichen Diskurs auf die verbale Konfrontation stark polarisierter Akteure setzten. Aus linguistischer Perspektive kann man vieles zu diesem neuen Mediengenre anmerken. 1 So läßt sich an diesem Beispiel ein Aspekt von Oralität im Fernsehen detailliert beschreiben: Streitgespräche, typischerweise in privaten Konstellationen im Alltag situiert, werden fernsehgerecht inszeniert. Daß von spontanem und authentischem Streit kaum die Rede sein kann, wurde bereits an anderer Stelle gezeigt (Holly/ Schwitalla 1995, Klemm 1995). Ich möchte mich in diesem Beitrag auf einen anderen Aspekt konzentrieren: An den konfrontativen Diskussionen kann man 1 Ausführlich behandele ich die Thematik in meiner Magisterarbeit (Klemm 1993). 136 Michael Klemm den aktuellen Programm- und Textsortenwandel im deutschen Fernsehen exemplarisch untersuchen. Personalisierung, Emotionalisierung, Boulevardisierung und Realitätsorientierung sind zunächst einmal Schlagwörter in der Diskussion um kommerzielle Sender, die aber durch die pragmalinguistische Gesprächsanalyse mit Inhalt gefüllt werden können. Wie manifestieren sich diese Programmstrategien auf der sprachlichen Ebene? Spezieller: Wie wird Emotionalisierung initiiert und realisiert, insbesondere von Seiten der Moderatoren? Welche neuen Rollen bilden sich dabei heraus? Welche Erwartungen verbinden die Redaktionen mit diesem konfrontativen Konzept? Werden die proklamierten Ziele erreicht? ‘Der heiße Stuhl’ und ‘Einspruch! ’ wurden mittlerweile eingestellt die Halbwertzeiten für Programminnovationen scheinen rapide kürzer zu werden. Allerdings haben diese Sendungen so soll die folgende Analyse verdeutlichen einige Programmtendenzen gefördert, wenn nicht erst initiiert, die weiterhin Bestand haben und die momentane Fernsehlandschaft prägen. ! • ‘Der heiße Stuhl’ und ‘Einspruch! ’ — Konzept und Selbstcharakteristik Ausgangspunkt der konzeptionellen Entwicklung von ‘Der heiße Stuhl’ war, so zumindest Moderator Olaf Kracht (OK) in einem Brief an den Verfasser, 2 die Unzufriedenheit mit dem „ziellosen, unverbindlichen Herumtalken” im deutschen Fernsehen. „Unsere Lösung ging dahin, die Gesprächssituation in eine Art Streit münden zu lassen, da wie im wahren Leben der Streit die tatsächlichen Überzeugungen am besten zutage treten läßt. [...] Dadurch erreichen wir unseres Erachtens ein hohes Maß an Spontaneität, an Ehrlichkeit, die aus der Notwendigkeit der einzelnen Teilnehmer erwächst, auf Vorwürfe und Provokationen inhaltlich statt mit auswendig gelernten Sprüchlein zu antworten.” Es ging den Machern also um „echten” Streit wie im Alltag, um Spontaneität, Authentizität, Emotionalität, Ehrlichkeit, inhaltliche Antworten statt vorgefertigter Sprüche. 3 2 Das Zitat stammt wie die folgenden aus einem Brief Olaf Krachts vom 11. November 1992. Die Äußerungen Ulrich Meyers stammen aus einem Telefonat vom 7. September 1992. 3 Noch pointierter wird dies in einer Imagebroschüre formuliert: „‘Der heiße Stuhl’das ist Fernsehstreit. Meinungen prallen aufeinander, wie im richtigen Leben. Ehrlichkeit, keine Sprechblasen, kein abgekartetes Spiel. [...] Selbstdarsteller und Blender werden gnadenlos entlarvt. [...] ‘Der heiße Stuhl’ das ist Provokation, aber auch Anregung und Widerspiegelung gesellschaftlicher Diskussionen.” ‘Der heiße Stuhl’ sei „ein Synonym für Streitkultur im deutschen Fernsehen”. Streiten „wie im wahren Leben”? 137 Das Konzept der RTL-Diskussion, von amerikanischen Vorbildern inspiriert, 4 war recht einfach: ein Provokateur wagt sich mit einer strittigen These auf den „Heißen Stuhl” und verteidigt seine Meinung gegen fünf bis sechs Kontrahenten am sogenannten „Gegenpanel”, die ebenfalls Thesen formuliert haben. Diese Grundkonstellation wird ergänzt durch Experten und Betroffene, die unter den Zuschauern sitzen, und eingerahmt durch ein partizipierendes Studiopublikum, welches möglichst jeweils zur Hälfte eine der Streitparteien lautstark unterstützen soll. 5 Bei der von dem früheren ‘Explosiv’-Moderator Ulrich Meyer (UM) moderierten ‘Einspruch! ’-Sendung war die Konstellation etwas anders, da sich je drei Kontrahenten gegenüberstanden. Das Prinzip beider Diskussionen war, ein strittiges, aktuelles Thema auf prägnante konträre Thesen zu reduzieren und durch Kontrahenten zu personalisieren. Der antithetische Aufbau sorgte für eine permanente Polarisierung mit einer phasenweisen Eskalation bis zum offenen Streit. Die folgende Analyse bezieht sich im wesentlichen auf jeweils eine Ausgabe beider Sendungen. 6 Beim ‘Heißen Stuhl’ ist dies die Diskussion vom 8. September 1992 über das etwas skurrile Thema „Aidszwangstest für Soldaten, Junggesellen und Asylbewerber”. Auf dem „Heißen Stuhl” sitzt der CDU-Politiker Heinrich Lummer (HL), der in geradezu prototypischer Weise den streitbaren, polarisierenden, populistischen und rhetorisch begabten Provokateur verkörpert, welcher für das Sendungskonzept ideal ist. Im Falle von ‘Einspruch! ’ handelt es sich um die Sendung „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein” vom 12. November 1992. 7 4 Allerdings handelte es sich um eine erheblich zivilisiertere Adaption der seit 1987 in den USA ausgestrahlten (und mittlerweile ebenfalls im Rückgang befindlichen) ‘Combat-TV-Shows’ (andere treffende Bezeichnungen sind ‘Terror-Talk’, ‘Nuts-and- Sluts-Shows’ oder ‘Trash-TV’, vgl. dazu Briller 1989, S. 74). Diese Talk-Shows hatten wiederum ihre Vorbilder im ‘Shock-Radio’ der 60er Jahre (vgl. dazu Foltin 1990, Steinbrecher/ Weiske 1992). Daß amerikanische Vorbilder nicht ohne Modifikationen ins deutsche Fernsehen übertragbar sind, zeigte das klägliche Scheitern der RTL- Combat-Talkshow ‘A.T.’, die, als Kopie der ‘Morton-Downey-Jr.-Show’ angelegt, 1989 nach nur vier Ausgaben mangels Zuschauerinteresse eingestellt wurde. 5 Wie das Publikum auf seine Rolle eingeschworen wird, konnte ich am 23. März 1993 bei einem Blick hinter die Kulissen von ‘Der heiße Stuhl’ beobachten. Dies wird auch von Holly/ Schwitalla (1995, S. 78ff.) ausführlich beschrieben. 6 Das gesamte Korpus der Analyse umfaßt 22 Ausgaben (15 ‘Der heiße Stuhl - und sieben ‘Einspruchl’-Sendungen) im Zeitraum von 1990 bis 1993. 7 Die anderen ‘Explosiv’-Teilnehmer waren: Moderator Elmar Hörig (EH), die HIV-positive Mutter Regina Teuber (RT), Bundesanwalt Manfred Bruns (MB), der Geschäftsführer der deutschen Aidshilfe Hans-Peter Hauschild (HPH), die Rocksängerin Jule Neigel (JN), der SPD-Abgeordnete Freimut Duve (FD) sowie (im Publikum) die Prostituierte Frau Czajka (FC). Diskutanten bei ‘Einspruch! ’ waren: der Journalist Günter Wallraff (GW), der Sprecher der Roma-und-Sinti- Union Rudko Kawczynski (RK), der Unternehmer Peter Adenauer (PA), die FDP- 138 Michael Klemm 2. Konstitutive Sprachhandlungsmuster und Strategien 2.1 (Frage-)Strategien der Moderatoren Eine zentrale Aufgabe der Moderatoren ist es, das Streitgespräch zu initiieren und zu forcieren, indem sie ständig Konfliktpotential liefern und die Diskussion PERSONALISIEREN, POLARISIEREN und EMOTIONALISIEREN. Wichtigstes Steuerungsinstrument sind dabei die Fragestrategien. 8 Ein kritisches Fragemuster ist z.B. das häufige UNTERBRECHEN durch NACHHAKEN, das in kooperativer Absicht der Präzisierung dient, in konfrontativer - und dies überwiegt als INSISTIEREN den Adressaten zur Rechtfertigung zwingt: wo hat der herr Lummer wo hat der herr Lummer jetzt was gesagt daß er keine ahnung hat was werfen sie ihm konkret vor was ist sein fehler® (OK92) 9 Insistierend wirken auch „Fragebatterien”, also die Kombination mehrerer Fragen kurz hintereinander (was würden sie denn jetzt tun wieviel geld würden sie raustun und wer soils bezahlen (OK297)). Das letzte Beispiel zeigt bereits, daß viele Fragen und Kommentare auf die Person des Diskutanten gerichtet sind. Eine Variante des PERSONALI- SIERENS ist das KONKRETISIEREN: sie haben gerade von persönlichen Verhaltensweisen geredet frau Neigel was tun sie denn (OK62) aber wie gehn sie persönlich damit um (UM30) warum speziell in ihrem fall (UM206) PERSONALISIEREN wird auch zur ELIZITIERUNG VON EMOTIONEN eingesetzt, um das Gesprächs auf eine „emotionale Schiene” zu bringen: frau Teuber was ist denn damit hat sich bei ihnen was geändert im leben als sie wußten ich bin positiv [...] (OK194) [...] bei ihnen persönlich (OK196) können sie sich an die gefühle erinnern die sie hatten als sie dieses dokument ausgehändigt bekamen (UM52) Politikerin Carola von Braun (CvB) und Ex-Terrorist Michael „Bommi” Baumann (MB). 8 Daß es gemeinsame Strategien gibt, soll nicht die Unterschiede zwischen den beiden Sendungen verwischen. ‘Der heiße Stuhl’ ist z.B. eher als Streitshow konzipiert und besitzt mehr Eigendynamik im Sendungsablauf, ‘Einspruch! ’ hingegen entspricht stärker einem „Gruppeninterview” mit dem Moderator als zentraler Schaltstation, wodurch es die Tendenz zur Personality-Show hatte (vgl. dazu ausf. Klemm 1993). 9 Bei der Transkription wurde auf die Notierung prosodischer Merkmale verzichtet (Transkriptionszeichen: kurze Pause; | Sprecher wird unterbrochen). Die nachgestellten Ziffern beziehen sich auf die durchlaufend numerierten Turns während der Sendungen. Die kompletten und detaillierteren Transkripte sind bei Klemm (1993, S. 206-258) aufgeführt. Streiten „wie im wahren Leben”? 139 Zur Personalisierungsstrategie passen auch intime Fragen, wie sie Olaf Kracht gerne einsetzt (waren sie immer vorsichtig haben safer sex betrieben und so (0K6)). Zu den Provokationstechniken beider Moderatoren gehört das KONFRON- TIEREN der Gäste mit Aussagen der Gegner, mit Sachverhalten oder auch eigenen Äußerungen: rnh frau Teuber im gründe hört sich das doch vernünftig an der herr Lummer möchte eine krankheit stoppen aids stoppen was das bedeutet diese krankheit kennen sie am eigenen leib — ähm da müßten sie doch ihn eigentlich unterstützen (OKIO) also herrn Lummer erinnern diese plakate an margarinewerbung hat er mal irgendwo gesagt (OK260) Diese Strategie erlaubt, Kritik zu üben, ohne selbst als Person in Erscheinung zu treten. Der Moderator kann „kritische Muster anbringen, mit denen er sich zwar identifiziert, deren rituelle Konsequenzen er aber nicht tragen möchte” (Holly 1979, S. 175). Kracht und Meyer IMMUNISIEREN ihre Provokationen auch, indem sie Imageangriffe in Frageform kleiden (das hat doch nicht richtig geholfen oder (OK 261); verdanken sie dem land also etwas (UM57)). „Echte” Informationsfragen (vgl. Petter-Zimmer 1990, S. 245ff.) sind wie in allen Mediengesprächen selten, es dominieren Begründungs- und Bewertungsfragen. Der weitaus größte Teil der gesprächssteuernden Fragen und Kommentare ist „geladen” (vgl. dazu Bucher 1993, Bucher 1994, S. 487), impliziert also offen oder verdeckt Bewertungen, die der Adressat zuerst zurückweisen muß, bevor er sich dem eigentlichen Kern der Frage oder des Kommentars widmen kann. Die Moderatoren verwenden dabei unterschiedliche Provokationstechniken. Kracht bevorzugt z.B. ironische und polemische Fragen oder Kommentare: ist der ton in der armee nach dem kalten krieg so freundschaftlich geworden daß man sich da jetzt gedanken machen muß oder woran liegts (OK8) sagen sie mir zweitausendfünfhundert neuinfizierungen im jahr da sind sie stolz drauf (OK22) verschläft die SPD mal wieder die mehrheitsmeinung (OK89) also sehen sie mal herr Lummer sie brauchen nur ein bißchen zu warten dann erledigt sich das von selbst im gründe genommen (OK277) Solche Äußerungen dienen nicht nur der Provokation der Diskutanten, sondern auch der positiven Selbstdarstellung des Moderators: er präsentiert sich als respektlos, bissig und witzig. Kracht scheut auch nicht davor zurück, das Image des Gastes anzugreifen, z.B. indem er über dessen Arbeit SPOTTET (also gute worte und laue spots das haben sie ja auch gemacht (OK255)) und sie ABWERTET (na also so richtig toll was hat das 140 Michael Klemm ja nich gebracht (OK257)), dessen GLAUBWÜRDIGKEIT und INTEGRITÄT ANZWEIFELT na gut dann lassen wirs da mal so hingestellt sein (OK8) das glaube ich daß sie das von sich selbst denken (OK21) glauben sie denn wirklich im ernst daß jemand rumläuft und freiwillig oder mit absicht leute ansteckt (OK152) gut das glauben wir ihm sogar (OK292) oder Fragen mit negativer Konnotation stellt: herr Lummer ich hab gehört sie haben heute das ergebnis ihres aids testes bekommen es ist negativ sind sie erleichtert (OK2) ne rocksängerin kommt viel rum weis machen sie so als verantwortungsbewußte frau um sich zu schützen (OK62) Mit diesen geladenen Fragen DEUTET Kracht wenn auch stets in ironischem Ton unterschwellig AN, daß die Angesprochen einen „unsoliden” Lebenswandel führen. Alle diese provokativen Muster entspringen laut Kracht allerdings nicht seiner persönlichen Überzeugung, sondern der Rolle als Provokateur. 10 Wie ein ‘advocatus diaboli’ greift Kracht die Kontrahenten wechselweise an und ergreift mal für, mal gegen den Protagonisten Lummer Partei. Während Kracht also trotz alternierender Parteinahme in seiner Funktion als Gesprächsleiter letztlich neutral bleibt, bezieht Meyer recht eindeutig Stellung zugunsten der Nationalstolz-Befürworter. Zwar provoziert er auch diese mit impliziten VORWÜRFEN [kleistern sie was zu oder was machen sie da (UM30)) und kritischem NACHHAKEN [trotzdem können sie sagen ich bin stolz auf dieses land wie paßt das zusammen (UM27)), aber ihre Kontrahenten attackiert er weitaus häufiger und härter, z.B. in Form von Fangfragen [verdanken sie dem land also etwas (UM57)), negativen Attribuierungen (er ist journalist und Schriftsteller mit gewaltigen auflagen und umstrittenen methoden (UM22)), abwertenden Frageformuliereungen(was richtet das in euren köpfen an (UM253)) oder durch NACHKARTEN, bei dem er eine Aussage oder die Person eines Diskutanten im Anschluß an dessen Äußerung negativ bewertet, ohne diesem die Chance zur Rechtfertigung zu geben [ja es sprach trotzdem der begründer mitgründer der bewegung Zweiter Juni das muß man hier noch mal deutlich sagen (UM 10 Kracht erklärt seine Strategie folgendermaßen: „Auch wenn es manchmal schwerfallt: Ich sollte keine Position beziehen, die sich gleich durch die Sendung zieht. Das bedeutet, ich kann während der Diskussion durchaus auf der Seite des ‘Heißen Stuhl’- Gastes und im weiteren Verlauf auch auf der Seite der fünf Kontrahenten sein. Dies ist keine Frage meiner persönlichen Überzeugung, sondern allein Gesprächstaktik, um die Diskussion für die Zuschauer möglichst interessant und abwechslungsreich zu halten.” Streiten „wie im wahren Leben”? 141 27)). Noch deutlicher weicht er vom Neutralitätspostulat eines Diskussionsleiters ab, wenn er sein persönliches Gefühl des Stolzes während einer Demonstration schildert (UM97) oder (als letzter Redner! ) explizit STEL- LUNG BEZIEHT (ich denke man sollte es einfach sagen können stolz ein deutscher zu sein (UM320)). Bei Meyer wird deutlich, daß er die Diskussion in eine ihm genehme Richtung lenken möchte, was sich in der Vielzahl von gesprächssteuernden Suggestivfragen niederschlägt (besteht ihre arbeit nicht vielleicht auch darin dieses land so zu machen daß sie sagen können das ist meins da will ich auch stolz drauf sein (UM83)). Die Vielzahl geladener Fragen bzw. Kommentare zeigt, daß die Moderatoren in konfrontativen Diskussionen mehr oder weniger offenkundig eine neutrale Rolle ablehnen. Es dominieren deutlich konfrontative Muster, die die Auseinandersetzung forcieren sollen (vgl. Klemm 1993, S. 162). Diese tragen nicht viel zur Klärung von Problemen bei, wie noch an anderer Stelle gezeigt werden wird, aber sie wirken respektlos und kritisch. Sie dienen damit ungemein der „Inszenierung von Kritik und Authentizität” (Holly/ Schwitalla 1995, S. 68). Mitunter streuen die Moderatoren auch „weiche” und kooperative Strategien ein, z.B. Stichwortfragen: Herr Brenner können sie mir erzählen was passierte danach (OK121) wie würden sie den begriff denn ersetzen machen sie doch main angebot (UM87) Aber auch kooperative Muster können der Polarisierungsstrategie dienen, wie besonders das „THEMATISCHE ZUARBEITEN” durch Fragen zeigt, die einerseits dem Adressaten regelrecht in die Farbe spielen und Gelegenheit zu vorteilhaften Statements geben, andererseits zur Polarisierung der Positionen beitragen: hat frau Teuber da was falsch verstanden herr Lummer (OK14) herr Kawczynski ist das ein mann der das negiert was Vergangenheit auch dem deutschen volk an absolut üblem beschert hat glauben sie er ist einer von dem man sagen kann der darf den satz nicht sagen (UM91) Die Konfrontation unter den Diskutanten wird damit indirekt geschürt, da sich die Moderatoren sicher sein können, daß die Kontrahenten den Antwortenden anschließend widersprechen werden. Ist der Streit einmal in Gang gebracht, können sich Kracht und Meyer darauf beschränken, ab und zu mit geladenen Fragen wieder für etwas mehr Schwung zu sorgen. Nur bei allzu persönlichen und langen Disputen „wird gewissermaßen der Brandstifter zum Feuerwehrmann” (Holly/ Schwitalla 1995, S. 60) und beschwichtigt den selbst provozierten Konflikt. 142 Michael Klemm 2.2 Strategien der Diskutanten Das konfrontative Szenario und die Fragestrategien der Moderatoren haben natürlich Einfluß auf das Sprachhandeln der Diskutanten. Es dominieren deutlich VORWURF-RECHTFERTIGUNGs-Sequenzen, was Auswirkungen auf den Argumentationsstil hat, 11 wie das folgende Textbeispiel zeigt: HPH [...] und die ganzen Studien die wir haben über die relevanz von tests die CDC hat fünfzig große Studien über sieben jahre gemacht belegen daß es keinerlei äh korrelation gibt herr Lummer und das ist der springende punkt zwischen dem was sie vorschlagen und dem verhalten deswegen verwirren sie vollkommen zu unrecht und zerstören das klima des Vertrauens man muß ihnen da einfach das wort entziehen [...] darüber hinaus is ja sehr spannend wer das in Europa alles macht Le Pen zum beispiel hat genau die gleichen argumente es muß einfach (LACHEN) es muß Schluß sein damit [...] wer soviel braunen dreck am stecken hat wie herr Lummer gehört weder in ein pariament noch in eine solche fernsehsendung der gehört an irgendeinen Stammtisch (KLATSCHEN, JOHLEN) er gehört an einen Stammtisch wo er seine nazi parolen vertreten kann Hans-Peter Hauschild (HPH), Geschäftsführer der deutschen Aidshilfe, BEGRÜNDET seine Ablehnung der Forderungen Lummers zunächst sachlich, indem er auf Experten und das Ergebnis einer Studie verweist: es gebe keinerlei Korrelation zwischen dem von Lummer vorgeschlagenen Zwangstest und der Ausbreitung von Aids. Er BEWERTET die Relevanz dieses Sachverhaltes (das ist der springende punkt), bevor er einen personenbezogenen VORWURF und Imageangriff auf Lummer [verwirren sie vollkommen zu unrecht und zerstören das klima des Vertrauens) als SCHLUSSFOL- GERUNG formuliert. Das Umschalten auf die Beziehungsebene gipfelt im DISKREDITIEREN und DISQUALIFIZIEREN Lummers als Gesprächspartner [man muß ihnen da einfach das wort entziehen). Nach einer kurzen Pause VERGLEICHT er Lummer mit dem Rechtsextremen Le Pen und attackiert ihn anschließend noch massiver, indem er ihn als Nazi DIFFAMIERT. Dieses Bündel aus BEGRÜNDEN, BEWERTEN, VORWERFEN und ABQUA- LIFIZIEREN ist typisch für die Argumentationsweise beim ‘Heißen Stuhl’ und zumindest über weite Phasen auch bei ‘Einspruch! ’. Hauschild verwendet den Themenbereich Nationalsozialismus quasi als „Themenjoker”, der auch von seinen Mitstreitern mehrmals aufgegriffen wird: Die Etikettierung Lummers als Nazi steht in keiner unmittelbaren Kohärenz zur Diskussion, ist aber ein wirksames Mittel, um Lummer zu DISKREDITIEREN. Daß Hauschild ihn nicht aus der Situation heraus, also als „Gegenschlag” auf Angriffe Lummers, sondern wohlvorbereitet zu Beginn der Sendung einsetzt, zeigt, daß er von Anfang an nicht auf eine Diskussion um Sachprobleme, sondern auf die DIFFAMIERUNG des Gegners aus ist. Dies ist typisch für die Sendungen: Die Bewertungen erfolgen in der Regel zur 11 „Da bei ‘RECHTFERTIGUNGs’handlungen stärker das Moment der subjektiven Verantwortlichkeit im Vordergrund steht, scheint hier auch leichter eine Emotionalisierung möglich als bei ‘BEGRÜNDUNGs’handlungen.” (Herbig 1993, S. 63) Streiten „wie im wahren Leben”? 143 Person des Kontrahenten, nicht zu dessen Position oder dem Sachverhalt. Dadurch entsteht ein Schuldzuweisungs- und Schuldbestreitungsspiel unter den Akteuren. Aus dem zugrundeliegenden Sachkonflikt entwickelt sich so ein Meinungs- und letztlich ein Beziehungskonflikt. Die Palette der primär auf der Beziehungsebene anzusiedelnden konfrontativen Muster und Strategien der Diskutanten reicht von eher subtilen Techniken wie dem Sprechen über Anwesende in der dritten Person {wenn der schon von aidstest redet (MB36)) bis zu massiven Imageangriflen, mit denen die Gegner gezielt DIFFAMIERT werden sollen. Typische konfrontative Muster sind z.B. ZURECHTWEISEN {ja nun quatschen se doch nicht immer dazwischen (HL184)), KOMPETENZ ABSPRECHEN {der herr Lummer versteht auch nichts von der suche (MB34)), UNTERSTELLUNGEN MACHEN {möchten sie daß das die kranken bezahlen den zwangstest bestimmt oder (JN159)), die PERSON DES GEGNERS ABWERTEN {ja wir haben zwei schwarze kondome für herrn Lummer für ganz besonders traurige fälle (EH381)), den GEGNER MARGINALISIEREN {sie stehen doch wirklich allein (MB185)), DISKREDITIEREN {sie sind doch künde von prostituierten (FC337)) oder als Diskussionsteilnehmer DISQUALIFIZIEREN {und deshalb darf er nicht zu gehör kommen (HPH55)). Eine spezielle Form der Personalisierungsstrategie ist, daß die Teilnehmer häufig „dramatisierend zu Handlungsmächtigen umgedeutet” (Holly/ Schwitalla 1995, S. 70) werden, als ob sie an den Hebeln der Macht säßen; der Diskussion wird ein Realitätsgehalt zugesprochen, der in keiner Relation zu den wirklichen Gegebenheiten steht: ich möchte gerne wissen wieviel geld der Staat dafür ausgeben möchte daß er sechzig millionen menschen zwangstesten lassen möchte und das alle drei monate wie wollen sie das machen wie bitteschön (JN 157) Typisch sind polarisierende POSITIONSMARKIERUNGEN durch explizite Statements {ich sage was ich will [...] (HL154)) oder das Verdeutlichen von Gegensätzen. Die Diskutanten WIDERSPRECHEN ihren Kontrahenten durch Störmanöver wie adversative Formeln {nein ganz im gegenteil mein herr (PA233)), BESTREITEN {ich kleister überhaupt nichts zu (CvB32)), KONFRONTATIVE EINWÜRFE {aber mitnichten (HL294)) oder noch schematischer durch ritualisiertes PROTESTIEREN {oah einspruch (CvB61)). Andere typische Dissensmarkierungen sind das Verdeutlichen der Konfrontationslinie {nee also äh die meinung von herrn Lummer kann ick also nich mit vertreten tut mir leid (RT11); wir haben was dagegen und sie vertreten es irgendwie (JvW194)) oder das sehr emotionale ZURÜCKWEISEN einer konträren Meinung {da bin ich total anderer meinung (HL344); nein ich ich ich äh wehre mich entschieden dagegen daß uns unterstellt wird daß wir andere dominieren wollen (CvB314)). Polarisierend und emotionalisierend wirken auch äußerungsbegleitende Phänomene wie ein überhebliches Lächeln oder eine 144 Michael Klemm abfällige Handbewegung. Alle diese „Polarisierungsjoker” (Kühn 1988, S. 171) sorgen natürlich für Konfrontation unter den Diskutanten, zumal sie meist mit personalisierten BEWERTUNGEN und VORWÜRFEN kombiniert sind (das macht doch keiner das sind doch Unterstellungen [...] umgekehrt machen sie eine Schönfärberei eine Schönrednerei (GW297)), und reduzieren die Handlungsalternativen der Diskussionsteilnehmer durch komplementäre Rollenzuweisungen auf Angriffs- und Verteidigungsmechanismen mit entsprechenden offensiven oder defensiven Strategien (vgl. Abschnitt 4). 12 Diese Grundkonstellation führt geradezu zu einem „Konfrontationszwang”. Man erkennt dies, wenn die Kontrahenten (scheinbar) besonders freundlich miteinander umgehen. So leitet Lummer seinen Konterangriff auf eine akute Imagebedrohung (sie sind doch künde von prostituierten (FC 337)) mit einer geradezu antiquierten Höflichkeitsfloskel ein (jetzt stell ich ihnen mal eine frage wenn ich mit verlaut das tun darf (HL341)). Solche fast devoten Muster führen zu einem Bruch der normativen Verhaltenserwartungen an Teilnehmer von konfrontativen Fernsehdiskussionen. An einer Stelle nützt Kracht diese offenkundige Diskrepanz deshalb auch für einen Gag (verehrter herr moderator darf ich mal eine frage an herrn Lummer stellen (FD176) / natürlich dürfen sie herr Duve dazu sind sie doch hier (OK177)). Die scheinbar kooperativen Muster werden meist uneigentlich gebraucht und zum Zwecke der Polarisierung instrumentalisiert: Die Teilnehmer können sich durch einen betont höflichen Umgangsstil von ihren Kontrahenten distanzieren und sich zu aufgeschlossenen Diskutanten stilisieren. Die Konfrontation wird somit auf subtilere Art als Kooperation inszeniert, wie das folgende Beispiel andeutet: dankeschön herr Lummer ich würde gerne zu ende reden vielen dank (JN69) aber das ist doch gar nicht meine gnade daß sie zu ende reden dürfen aber immer (HL 70) dann möcht ich sie bitte darum bitten daß sie diskussionsfähig bleiben und andere menschen ausreden lassen okay dankeschön (JN 71) Formale Höflichkeit dient auch zur Immunisierung von Imageangriffen. Die Moderatoren verwenden meist korrekte Anreden, kleiden ihre Provokationen häufig in höfliche FRAGEN und BITTEN oder ENTSCHULDIGEN sich förmlich, wenn sie den Sprecher „ABWÜRGEN” möchten (wenn ich ihre aufmerksamkeit noch mal in diese richtung lenken darf (OK283)). Diese übertriebene Höflichkeit ist ein „Mittel der Distanzierung und Disziplinierung” (Holly/ Schwitalla 1995, S. 68) und dient zur „Kompensation” 12 Eine ausführliche Übersicht über relevante Sprachhandlungsmuster und Strategien der Akteure gibt Klemm (1993, S. 178-204). Streiten „wie im wahren Leben”? 145 oder Verschleierung von Imageangriffen, wirkt aber in diesem Kontext unglaubwürdig im Kontrast zu der Vielzahl an Imageverletzungen. 2.3 Zwischenfazit: PERSONALISIEREN, POLARISIEREN und EMOTIONALISIEREN als zentrale Strategien Wie der Überblick über typische Sprachhandlungsmuster gezeigt hat, kann man PERSONALISIEREN, POLARISIEREN und EMOTIONALISIEREN als zentrale Strategien aller Akteure betrachten. Die Dominanz konfrontativer und personenbezogener Muster führt zur Emotionalisierung des Gesprächs. Gefördert wird dieser Effekt zudem durch den Rahmen der Inszenierung. Personalisiert wird wie in jeder Talkshow — bereits durch die Gästestruktur (vgl. Klemm 1993, S. 48f.). Auch die im Sendungstrailer zitierten und größtenteils als Vorwürfe formulierten Thesen, auf die immer wieder referiert wird, personalisieren die Auseinandersetzung als Streit zwischen bestimmten Personen. Die Thesen polarisieren natürlich auch die Diskussion, zumal die Redaktion sie gegebenenfalls zuspitzen kann. 13 Polarisiert wird schon während der Sendungsvorbereitung beim getrennten „Briefing” der Teilnehmer: die Redaktion achtet akribisch darauf, daß sich die Kontrahenten nicht bereits vor der Sendung begegnen, weil dort sonst der „Dampf heraus sein könnte. Das räumliche Arrangement, ein integraler Bestandteil des konfrontativen Konzepts, 14 sorgt ebenfalls für eine Polarisierung der Streitparteien. Interessant ist dabei die Proxemik der Teilnehmer: die extreme Distanz zwischen den Gegnern korreliert mit der extremen Nähe zu den „Mitstreitern”. Beide Sendungen setzen auf Stehpulte bzw. Stahlschranken für Gäste und Moderatoren nur der Provokateur beim ‘Heißen Stuhl’ darf sitzen. Das Stehen soll eine aktivere und angespanntere Haltung der Diskutanten bewirken. Die Moderatoren befinden sich in der Mitte und pendeln - Kracht häufiger als Meyer zwischen den Kontrahenten hin und her und unterstreichen damit die Dynamik des Geschehens. Emotionalisiert wird bereits durch die Themenauswahl. Neben der Aktualität und Attraktivität für die Masse der Zuschauer müssen die Themen auch ein hohes „Emotionspotential” besitzen, z.B. indem sie Tabu-Themen 13 So forderte ein Verkehrsexperte zum Beispiel, man solle den Individualverkehr auf ein Minimum beschränken. In der ‘Explosiv’-Sendung hieß die These: „Schafft das Auto ab”. Dies zeigt einerseits, wie plakativ die Diskussion angelegt ist, zum anderen, daß sogar die Thesen der Gäste für die Inszenierung noch verfälscht werden von Authentizität kann man da wohl kaum sprechen. 14 Auf das räumliche Arrangement sowie weitere Aspekte der nonverbalen Ebene kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden (vgl. dazu Klemm 1993, S. 107- 115), obwohl sich auch auf dieser Ebene deutliche Differenzen zu konventionellen Talkshows nachweisen lassen. 146 Michael Klemm punktuell aufbrechen (vgl. Klemm 1993, S. 64ff.). Zudem müssen sich die Themen gut personalisieren lassen. 15 Die bisher beschriebenen Strategien und Inszenierungsaspekte sorgen dafür, daß die Auseinandersetzung emotionalisiert wird. Es bleibt allerdings die Frage, ob mit diesem Konzept die von Kracht angeführten redaktionellen Erwartungen erfüllt werden können. 2.4 Effekte der Konfrontationsstrategien: Parolengefechte Der sichtbarste Effekt der Emotionalisierung ist die „Verschärfung” der Gesprächsatmosphäre. Das aggressive Konfrontieren eskaliert häufig in lautstarken und emotionsgeladenen Disputen mit Unterbrechungsversuchen, Rederechtskämpfen, Simultanphasen und Gesprächs-Splittings in mehrere konkurrierende Kommunikationskreise. Solche Tumultsequenzen (vgl. Holly/ Schwitalla 1995, S. 70ff.) sind durchaus gewollt, ja imageprägend für die konfrontativen Diskussionen und beweisen nur, daß das Konzept der polarisierten Rollenverteilung wieder aufgegangen ist. Die Präsentation einer Diskussion als Streitgespräch ist nicht ungewöhnlich für Fernsehdiskussionen. Allerdings findet hier eine recht radikale Verschiebung des Fokus von der Themenauf die Beziehungsebene statt, die, so zeigt es die Analyse, für die Ziele einer Diskussion eher kontraproduktiv ist. Das konfrontative Szenario und das aggressive Gesprächsverhalten von Moderatoren und Gästen führen nämlich weder zum Verzicht auf vorgefertigte Phrasen, 16 noch verhindern sie das Ausweichen der Angegriffenen. Dies zeigt z.B. die folgende typische Streitsequenz, auf die ich einmal näher eingehen möchte: OK [...] der anteil der heterosexuellen unter den infizierten steigt (zu RPH) stimmen sie zu ne steigt äh da scheint doch irgendwas nicht zu stimmen wenn grade diese gruppe | JN das ist ganz einfach jeder mensch ab nem gewissen alter betreibt sex das ist genauso wie wenn man in die sonne geht oder man muß sich den ganzen tag vor der sonne schützen und man kann nich kommen und sagen wenn du in die sonne gehst dann mußt du nen zwangstest machen das ist völliger bullshit und unter anderem frag ich sie sie sind in einer partei die die christen unterstützt wie stehen sie dazu daß ein papst verbietet in Afrika wo sehr starke aids (KLATSCHEN) 15 Olaf Kracht sah in der polarisierten Konzeption und im „Aufpeppen” der Themen durch emotionale Diskussionen eine Möglichkeit, „auch ein sprödes und dadurch unattraktives Thema an den Zuschauer zu bringen”. 16 Diese vorgefertigten Sequenzen entstehen nicht unbedingt bewußt im Sinne einer strategischen Vorausplanung der Sendung. Holly/ Schwitalla (1995, S. 75-78) weisen nach, daß beim ‘Heißen Stuhl’ auch Argumente, die im informellen Gespräch der Panel-Diskutanten vor der Sendung ausgetauscht werden, sich fast wortwörtlich in der Diskussion wiederholen. Auch dies spricht gegen die von den Redaktionen versprochene „Spontaneität” des Streitgesprächs. Streiten „wie im wahren Leben”? 147 unter also wirklich da von den leuten unterstützt wird wie stehn sie dazu daß dieser mann Sekunde moment wie stehen sie zu solchen argumenten daß dieser mann behauptet es dürfen keine kondome benutzt werden auf der anderen Seite möchten sie einen häufen geld dafür benutzen daß man zwangstests macht wie gesagt was nie durchführbar ist das wissen sie genau und wenn es jemanden kostet ja dann kostets den Steuerzahler und das wissen sie auch ganz genau ich glaube hier gehts nur um reine promotion - und sonst gar nix (ANHALTENDER BEIFALL) HL also ich kann ihnen in aller Offenheit sagen ich will ihnen in aller Offenheit sagen daß ich nicht immer der auffassung des papstes bin [...] Die Rocksängerin Jule Neigel, die auch sonst für einen temperamentvollen Gesprächsstil steht, wartet die Frageformulierung nicht erst ab, sondern UNTERBRICHT Kracht, der sie MIT einem für ihre Position unangenehmen SACHVERHALT KONFRONTIERT. Sie SPIELT die Bedeutung des Problems HERUNTER (das ist ganz einfach), indem sie die Ursache GENERALISIERT (jeder mensch ab nem gewissen alter betreibt sex) und eine PARALLELE zu einem normalen Alltagshandeln ZIEHT (das ist genauso wie wenn man in die sonne geht). Dieser Vergleich liegt allerdings argumentativ etwas schief und mag ein Indiz dafür sein, daß sie die antizipierte Frage des Moderators nur KURZ ABARBEITEN will, um auf „ihr” THEMA zu WECHSELN. Jule Neigel ist vor diesem Turn längere Zeit nicht zu Wort gekommen und befürchtet wahrscheinlich, ihre vorbereiteten Angriffe auf Lummer nicht mehr plazieren zu können. Sie schwenkt jedenfalls nach dieser sachbezogenen „ERKLÄRUNG” sofort auf die Beziehungsebene. Als Umschaltstellen dienen das explizite und drastische ABQUALIFIZIEREN von Lummers Forderung (das ist völliger bullshit), ein Kohärenzjoker (und unter anderem) sowie das PERSONALISIEREN der Auseinandersetzung (frage ich sie). Neigel kann nun „ihr” THEMA ‘Parteizugehörigkeit’ EINFÜHREN (sie sind in einer partei die die christen unterstützt), das aber nur als Vorbereitung auf ihr Hauptanliegen dient. Sie FORDERT eine PERSÖNLICHE STELLUNG- NAHME Lummers zur Verhütungspolitik des Papstes, einem Komplex, der wenig kohärent zur Thematik der Diskussion ist, beim Publikum aber Beifall provoziert. Durch eine kurze ‘side-sequence’ zwischen Kracht und Lummer ist sie gezwungen, ihr REDERECHT zu VERTEIDIGEN (sekunde moment) und ihre FRAGE zu REFORMULIEREN. Dabei THEMATISIERT sie ausdrücklich den DISKUSSIONSCHARAKTER der Sendung (wie stehen sie zu solchen argumenten) und inszeniert ihren impliziten VORWURF sie macht Lummer als CDU-Politiker für die Politik des Papstes verantwortlich als Argument. Mit einem weiteren Kohärenzjoker (auf der anderen Seite möchten sie) führt sie anschließend eine erneute Themenverschiebung durch und thematisiert die Finanzierung von Zwangstests. Sie KLAGT Lummer AN (möchten sie einen häufen geld dafür benutzen) und WERTET die Relevanz seines Vorschlags AB (was nie durchführbar ist), kombiniert mit dem ANZWEIFELN der Integrität und Aufrichtigkeit (das wissen sie genau). Danach macht sich Neigel zum Anwalt der Bürger 148 Michael Klemm (wenns jemand kostet dann kostets den Steuerzahler) und BEKRÄFTIGT ihren INTEGRITÄTSANGRIFF (und das wissen sie auch ganz genau). Ihre Expliziten VORWÜRFE gipfeln unter dem Beifall des Studiopublikums im UNTERSTELLEN von unlauteren Motiven und dem AUFDECKEN von Lummers vermeintlicher Strategie (ich glaube hier gehts nur um promotion und sonst gar nix). Dieser geballte Angriff auf die Person Lummers gibt diesem allerdings die Gelegenheit, selektiv den Aspekt herauszugreifen, den er am leichtesten ENTKRÄFTEN kann: seine angebliche „Mitschuld” an der Politik des Papstes. Die Konfrontationsstrategie Neigeis verpufft folgenlos. Lummer muß von seiner Position nicht abweichen und zu einem Schlagabtausch wird er auch nicht gezwungen. Auch nach anderen massiven Imageangriffen durch die Moderatoren oder Diskutanten zeigt sich, daß diese Angriffe durchaus selektive Gegenstrategien erlauben und als Gesprächssteuerungsmittel uneffektiv sind. Die beschriebene Sequenz ist in der Konzentration der Muster vielleicht ungewöhnlich, sie zeigt aber typische Strategien der Kontrahenten: THEMA KURZ ABARBEITEN und auf ein vorbereitetes THEMA WECHSELN, PERSONALISIEREN, EMOTIONALI- SIEREN, SCHULDZUWEISEN als Angriffsstrategien sowie SELEKTIV oder NONRESPONSIV ANTWORTEN als Abwehrstrategien. Der Stuhlgast Lummer verfolgt von Beginn an eine defensive Strategie, vielleicht aus dem Bewußtsein der Schwäche seiner Position und seiner Argumente heraus. Diese Verteidigungstaktik zeigt sich zum Beispiel im mehrmaligen MODIFIZIEREN und RELATIVIEREN seiner These. Lummer MACHT ZUGESTÄNDNISSE und BIETET KONSENS AN, jedoch nicht im Sinne eines Abgehens von seiner vordefinierten Position, sondern im Rahmen einer „Koexistenzstrategie”, die ihm als vermeintlich Schwächerem in der Diskussion das Beibehalten seiner Meinung erlaubt (das ist ja eine formel auf die wir uns wirklich einigen können (HL66)). Noch stärker tritt die Instrumentalisierung kooperativer und vorgeblich konsensorientierter Muster bei „ja/ aber-Konstruktionen” zu Tage, die als TEILKONSENS formuliert sind: (grinst) also [...] jetzt muß ich wieder mal freimütig was einräumen sie haben mich fast überzeugt wir sollten die bundestagsabgeordneten auch einbeziehen aber ansonsten ist die richtung richtig (HL150). Verstärkt wird dies noch, wenn Lummer sogar eigene SCHWÄCHEN EINGE- STEHT, seine POSITION ABSCHWÄCHT oder dem Gegner explizit RECHT GIBT, bevor er seine POSITION erneut BEKRÄFTIGT, z.B. indem er auf das „Neutralisationsthema” (Kühn 1988, S. 172) ‘Asyl’ AUSWEICHT: ich habe einerseits die frage die frage verstanden und die frage ist auch berechtigt überhaupt gar keine frage die experten sind äh der meinung die hier geschildert worden ist das heißt ich stehe relativ allein [...] ich habe ich will das mal in deutlichkeit sagen vor zehn Jahren auch alleine gestanden als ich die änderung des grundgesetzes wegen asyl gefordert habe (HL184) Streiten „wie im wahren Leben”? 149 Solche „Argumentationsresiduen” in Form von typischen Diskussionsmustern wie KONSENS ANBIETEN dienen der „Inszenierung von Kooperativität” (Fiehler 1993, S. 164) und der Selbststilisierung zum aufgeschlossenen Diskutanten; zu einer aufrichtigen Reflexion der eigenen Position tragen sie nicht bei. Auch im konfrontativen Szenario kann man also nicht verhindern, daß „Themen aufgegriffen, entfaltet oder übergangen werden, je nachdem, ob sie dem eigenen Image nützen oder dem Image des anderen vor dem Publikum schaden” (Petter-Zimmer 1990, S. 24). Gelegentlich wechselt Lummer auch zu offensiven Schritten über, zum WIDERSPRECHEN, GEGENFRAGEN STELLEN, SCHLUSSFOLGERUNGEN BE- STREITEN, den GEGNER LÄCHERLICH MACHEN (in deutschland ist das soziale elend der grund für die seuche na das glauben se doch wohl selber nicht hören se mal det glauben sie doch wohl selber nicht (HL266) [...] is doch keine märchenstunde hier (HL269)) oder dessen BEHAUPTUNGEN ABQUALIFIZIEREN (und mit blabla ist das nicht zu erreichen das ist doch die Wahrheit (HL40)). Die Argumentation erschöpft sich letztlich bei beiden Sendungen in „iterierenden Positionskonfrontationen” (Fiehler 1993, S. 160). Die Argumente sind schnell ausgetauscht, thematisch bewegt sich nicht mehr viel, da nur noch wiederholende Formeln eingebracht werden. Allerdings geht es hier auch nicht um ein Argumentieren im kooperativen Sinne, sondern um die Abgrenzung und Durchsetzung von Positionen, welche bereits vorab durch die divergierenden Thesen manifestiert und im Rahmen des Sendungskonzepts ohne Gesichtsverlust kaum zu modifizieren sind. Konsensbereitschaft wird auch nicht erwartet. Im Gegenteil: Konsens wäre für die Sendungen eine Katastrophe. Positionskonfrontationen haben allenfalls einen schwach argumentativen Charakter. Sie tragen nur zur Verdeutlichung, Zuspitzung und Zementierung von Problemen bei, nicht zu deren Lösung. Die Diskussion wird auf diese Weise auf ein „Parolengefecht” reduziert. Die Dominanz scharfer Imageangriffe in anderen Sendungen des Korpus teilweise noch drastischer ausgeprägt 17 legt nun nahe, in konfrontativen Diskussionen einen verbissenen „echten” Streit erleben zu können. Daß dem zumindest in der Regel nicht so ist, liegt daran, daß es neben PERSONALISIEREN, POLARISIEREN und EMOTIONALISIEREN eine vierte für beide Sendungen konstitutive Strategie gibt. 17 Die drastischste Beleidigungssequenz im gesamten Korpus ergab sich in „Nacktbaden gehört verboten” (18.8.1992), als der TV-Regisseur Pit Weyrich dem Stuhlgast Hans Eppendorfer Prügel androhte: (PW) herr Eppendorfer ich darf ihnen in aller ruhe sage ich finde sie sind en armes schwein j (HE) also für mich sind sie nurn idiot mehr nich / (PW) also wenn sie jetzt mit den ausländem anfangen dann treffen wer uns hinterher [...]. 150 Michael Klemm 3. Der Primat der Unterhaltsamkeit: Vom Streitgespräch zum ‘Confrontainment’ Um einem Mißverständnis vorzubeugen: es geht hier nicht vordergründig um eine Kritik an der Unterhaltungsorientierung von vorgeblich informativen Sendungen, 18 sondern lediglich um die Feststellung, daß Streitgespräche ihre Qualität verändern, wenn sie dem ehernen Mediengesetz der Unterhaltsamkeit unterworfen werden. Der Zuschauer mag glauben, daß er einem „echten” Streit beiwohnt, symbolisiert durch wild gestikulierende Streithähne mit erhitzten Gesichtern in Großaufnahme, er scheint hautnah dabei zu sein, wenn Prominente sich spektakulär in die Haare kriegen, und doch ist diese Intimität eine sekundäre, nur auf das Medienereignis hin funktionalisiert und für den Rezipienten arrangiert. Ohne Kameras fände kein Streit statt, und mit dem Ende der Inszenierung ist auch der „Streit” vorbei. Nichts zeigt dies besser als die Beobachtung im Studio: als die Werbepause begann, verstummten die Disputanten schlagartig. Es kehrte Ruhe ein, bis die Kameras wieder auf „on” waren. Auch beim gemeinsamen Büffet war nichts (mehr) von Feindseligkeiten zu spüren. Daß der Streit selten ernsthafte Qualität erlangt (soweit man dies beurteilen kann), liegt an mehreren Faktoren (vgl. Klemm 1993, S. 79-83; Klemm 1995). So verändern allein schon die Spezifika des medialen Rahmens (vorgegebenes Thema, vorbereitete Thesen, Moderation, fixierte Sendezeit, Werbepause, massenmediale Kommunikationssituation) konstitutive Faktoren eines alltäglichen Streits wie Spontaneität und Intimität. Die Diskutanten haben nur selten einen emotionalen Bezug zum Thema, sie kennen sich auch untereinander nicht näher, so daß korrektive Sequenzen zur Streitdeeskalation ausbleiben können, da die Beziehung der Teilnehmer nicht über den Ausgang des Streits definiert wird. Ein Beispiel dafür, wie wenig ernsthaft die Beteiligten deshalb mit dem Konflikt umgehen können, ist das „Happening” am Ende der ‘Explosiv’- 18 Bereits der Unterhaltungsbegriff ist problematisch. Für Zuschauer sind Unterhaltung und Information zunächst nur wenig relevante „abstrakte Funktionen des Programms” (Rölz 1979, S. 219), keine Dichotomien. Dehrn (1984, S. 631) definiert Fernsehunterhaltung im Anschluß an eine empirische Untersuchung als „Kommunikationsvergnügen in einer parasozialen Interaktionssituation”. Ob und wie Fernsehsendungen genutzt werden, ob als unterhaltend oder informierend, bestimmt der Rezipient, denn Unterhaltung ist ein „aktiver Prozeß” (vgl. Hallenberger 1993, S. 26), über den wir bisher nur wenig empirisch Gesichertes wissen. Deshalb ist es ein Desiderat der Medienkommunikationsforschung, die Produktdurch Rezeptionsanalysen zu ergänzen und zum Beispiel die kommunikative Aneignung von Fernsehtexten in empirischen Situationen zu betrachten. In diese Richtung zielt das DFG-Forschungsprojekt „Über Fernsehen sprechen”, das seit April 1995 unter der Leitung von Werner Holly, Ulrich Püschel und Jörg R. Bergmann in Chemnitz, Trier und Gießen durchgeführt wird. Streiten „wie im wahren Leben”? 151 Sendung: Jule Neigel überreicht Lummer ein paar schwarze Kondome von der ‘Jungen Union’ mit der Bemerkung braune gabs leider nicht, und die Problematik geht im allgemeinen Gelächter unter. Auf eine wirklich Betroffene wie die HIV-positive Diskutantin Regina Teuber muß ein solches Spektakel wohl zynisch wirken. So ernst, daß nicht doch noch ein Gag, eine Anekdote oder eine sonstige Unterhaltungseinlage eingebaut werden kann, soll der „Streit” wohl doch nicht werden. Die Streitenden befinden sich in einem Kooperations-Konfrontations- Dilemma 19 . Alle Beteiligten handeln implizit kooperativ, da ihnen an einem temperamentvollen und abwechslungsreichen Streit gelegen ist. Die Kontrahenten können sich nur als Kämpfer profilieren, wenn der Opponent dagegenhält auf diese Weise entsteht ein wechselseitiges Interesse an Streitpassagen und eine „Kooperation in der Polemik (Eggs 1990, S. 121), da alle im wörtlichen Sinne - „Streitpartner” von diesem Spiel profitieren. Man sollte deshalb Imageverletzungen ebensowenig überbewerten wie Höflichkeitsfloskeln. Sie erlangen hier eine andere Qualität. Wenn immer polemisiert und gepöbelt wird, geht die Relevanz des einzelnen Imageangriffs verloren. Der kompetitive Stil trägt wenig zum Diskussionsfortschritt, aber viel zur positiven Selbstdarstellung bei. Die Akteure wissen, was auf sie zukommt, sie nehmen freiwillig teil, kassieren sogar Gage dafür. Zudem bieten die konfrontativen Diskussionen als mediengerechte Kampfspiele inszeniert ein ausgezeichnetes Forum für Image- und Produktwerbung jeglicher Art (vgl. Klemm 1993, S. lOOff.), wenn man die Regeln des Spiels durchschaut und seine Eigeninteressen argumentativ verpackt. Für Unterhaltsamkeit sorgen auch die Moderatoren, die je nach Thema natürlich unterschiedlich stark und Kracht noch mehr als Meyer — unter dem Zwang zu stehen scheinen, möglichst häufig Gags und Pointen zu produzieren oder zu provozieren. Vor allem Kracht bemüht sich um ein Image als humorvoller Gastgeber, sei es durch vorbereitete polemische Fragen und Kommentare oder durch schlagfertige Repliken (herr Duve ich ich danke ihnen für diese Erklärung ich werde das heut nacht sicherlich bedenken (OK311)). Typisch für Kracht ist das AUFGREIFEN VON GAGS (warum nicht die deutschen ehemänner die in den bumsbombern herumfliegen wie herr Hörig sagt (OK216)), besonders wenn es sich um SEXUELLE ANSPIELUNGEN handelt. Gelegentlich gehen Krachts Witze auch auf Kosten der Gäste. 20 Wie wichtig beim Heißen Stuhl Gags sind, 19 Die Bezeichnung wurde in Anlehnung an Buchers Terminus ‘Konkurrenz-Kooperations-Dilemma’ ausgewählt, der die wechselseitige Abhängigkeit von Interviewern und Politikern beschreibt (vgl. Bucher 1994, S. 487). 20 Ein eindrückliches Beispiel ist die Art, wie er in „Wahre Liebe gibt es nicht” (1.9.1992) mit dem Fotomodell Nicole Meißner umging, die als Erpresserin von Peter 152 Michael Klemm zeigen geradezu rituelle Unterhaltungselemente wie die Eröffnungsfrage an den Stuhlgast (s.u.), (zeitweise) die Überleitung zur Werbepause und die Schlußmoderation, 21 in denen der Moderator regelmäßig und vorbereitet seinen Wortwitz unter Beweis stellen kann. 22 Zusammenfassend kann man konstatieren, daß auch in diesem Konzept Streitgespräche allein aufgrund des prinzipiellen Inszenierungscharakters des Mediums Fernsehen nie etwas anderes sind und sein können als für das Publikum inszenierte Schaukonflikte. Was dabei herauskommt ist weder eine Diskussion, noch ein Streitgespräch „wie im wahren Leben”, sondern ‘Confrontainment’, verbale Konfrontation zur Unterhaltung der Zuschauer. Dies soll nicht heißen, daß es in solchen konfrontativen Diskussionen nie zu authentischem Streit kommen kann. Es gab in beiden Sendungen — immer abhängig von Thema und Gästen — sicherlich Passagen, in denen der Konflikt eine ernsthafte Qualität erreichte. Man kann vielleicht zwei Faustregeln aufstellen: je weniger prominent und medienerfahren die Diskutanten, desto authentischer wurde oder wirkte zumindest der Streit.- 3 Je näher sich die Kontrahenten auch privat kannten, desto ernsthafter wurde die Auseinandersetzung, wie Beispiele aus beiden Sendun- Graf Schlagzeilen machte: „frau Meißner ähm daß der herr Thust nicht grade der erste mann in ihrem leben ist ist ein offenes geheimnis / frau Meißner [...] was liebt herr Thust an ihnen außer daß sie zwanzig jahre jünger sind” 21 So leitet Meyer in seiner Zeit bei ‘Explosiv’ in der Sendung „Politiker lügen aus Prinzip” (5.3.1991) folgendermaßen zur Werbepause über: „das was jetzt kommt ist garantiert die reine Wahrheit das haben uns die damen und herren versichert die gegen ein kleines entgeh uns die folgenden filme zur Verfügung gestellt haben.” Kracht beendet z.B. die Sendung „Schafft das Auto ab” (25.8.1992) folgendermaßen: „das waren fünfundvierzig minuten Vollgas rund ums auio der heiße Stuhl eben äh bet uns gibts kein tempohmit da können sie sich am nächsten dienstag wieder von überzeugen heiße themen heiße eisen keine heiße luft wir sehen uns bis dann”. 22 Die beiden Moderatoren bewerteten den Unterhaltungsaspekt in ihren Sendungen allerdings unterschiedlich. Kracht bezieht ihn in sein Konzept explizit mit ein: „‘Der heiße Stuhl ist tatsächlich ein Grenzgänger. In einer emotional aufgeladenen Atmosphäre läßt sich selbstverständlich - und deshalb tun wir dies - Information transportieren, eine klare, reine Informationsstruktur ist das jedoch sicherlich nicht. [...] ‘Der heiße Stuhl’ will anders sein und möchte den unterhaltenden Aspekt in solche Auseinandersetzungen mit einbeziehen.” Meyer sieht in seiner Sendung hingegen primär eine Form des anwaltschaftlichen Journalismus, für den die unterhaltenden Elemente der Konfrontation lediglich das Mittel zum Zweck seien, um in der heutigen Zeit den Zuschauer zu erreichen. 23 Man muß ‘Einspruch! ’ zugute halten, daß es die lange Zeit „sakrale” Textsorte ‘Fernsehdiskussion’ für Teilnehmer aus der Mittel- und Unterschicht geöffnet hat, so daß auch Bürger zu Wort kamen, die die geschliffenen Rituale der Medienprofis (noch) nicht so beherrschten und deren Auftritt deshalb sicherlich mit einem höheren Risiko für die Macher verbunden war (z.B. Stadtstreicher). Streiten „wie im wahren Leben”? 153 gen zeigen. 24 Das aggressive Gesprächsverhalten war ansonsten aber weniger in persönlichen Differenzen als in der Übernahme komplementärer Confrontainment-Rollen begründet. 4. Rollenstruktur und Rollenmuster im ‘Confrontainment’ Rollenzuschreibungen existieren natürlich auch in konventionellen Fernsehdiskussionen und beeinflussen maßgeblich die Gästeauswahl (vgl. Gruber 1992, Kotthoff 1993). 25 Auch dort sollen sich die Beteiligten als Experten profilieren, als Exoten auffallen, als Betroffene den Zuschauer fesseln, als Prominente aus ihrem Leben plaudern. Spezifisch für ‘Confrontainment’ ist, daß hier relationelle Rollen bereits als stabilisierte und komplementäre Typisierungen konzeptualisiert sind, wobei der soziale Status der Akteure nur eine untergeordnete Rolle spielt. Ob Minister oder Stadtstreicher, das ‘Confrontainment’-Schema sorgt für weitgehend identische Rollenzuschreibungen, auch wenn der Grad der Polarisation je nach Seriosität des Themas und je nach Persönlichkeit und Intention der Diskutanten variiert. Die Analyse zeigt, daß Moderatoren, Diskutanten und Publikum im ‘Confrontainment’-Szenario aus Sicht der Redaktion klar umrissene Rollenerwartungen zu erfüllen haben und dabei in ihrem Sprachhandeln auf standardisierte Rollenmuster zurückgreifen können (vgl. ausf. Klemm 1993, S. 83-100). Das Personalisierungskonzept macht auch vor dem Moderator selbst nicht halt. Aus dem zurückhaltenden Diskussionsleiter wird die zentrale Figur der Sendung, ein Showmaster und „Anchorman”, aus der Diskussion wird phasenweise (und insbesondere bei ‘Einspruch! ’) eine Personality-Show. 26 24 In der ‘Einspruchl-Sendung mit dem Thema „Rostock brennt” eskalierte der Streit innerhalb des emotional aufgewühlten Studiopublikums so sehr, daß der Moderator Mühe hatte, die Wogen zu glätten. In einer anderen ‘Einspruchl’-Sendung wurde ein Politiker der Grünen durch eine von der Redaktion eingeladene Person derart angegriffen und diffamiert, daß er eine Verleumdungsklage gegen die Redaktion einreichte. Solche Tendenzen zum „Tele-Tribunal” mit öffentlicher Vorverurteilung unterstreichen aber nur, wie inszeniert der Fernsehstreit war. Sie waren auch zumindest in Deutschland gottseidank möchte man sagen - (noch) die Ausnahme. 25 In einer Kontextanalyse zum österreichischen ‘Club2’ beobachtete Kotthoff, „daß in den Redaktionen der Fernsehsender sehr häufig und sehr extensiv über die an den Fernsehgesprächen teilnehmenden Leute gesprochen wird. Alle Eingeladenen stehen für bestimmte Positionen und situative Rollen. [...] Diese [Eingeladenen, M.K.] sind weniger als Personen von Interesse, sondern als Typen. [...] Die Moderation [...] hat zu gewährleisten, daß die Eingeladenen genau in den situativen Rollen und Identitäten agieren, die auch für die Einladung relevant sind.” (Kotthoff 1993, S. 75) 26 Ein Indiz dafür ist die Vielzahl an Selbstthematisierungen. In 60 Prozent seiner Beiträge referiert Meyer auf sich selbst oder verwendet ein inklusives wir, nicht nur in selbstpersonalisierenden Fragemustern (dazu möcht ich doch mal eins wissen (UM101)), sondern in umfangreicheren Thematisierungen seiner Person oder expliziten Stellungnahmen zum Thema. Besonders deutlich wird dies (wenn auch 154 Michael Klemm Die Moderatoren übernehmen im wesentlichen vier Rollen: sie agieren als ‘Organisator’, ‘Provokateur’, ‘Präsentator’ und ‘Unterhalter’. Vor allem, wie sie diese Funktionen wahrnehmen, macht die Differenz zu konventionellen Runden aus. Die von ihnen selbst angeheizte Atmosphäre verlangt von den Moderatoren besonderes Durchsetzungsvermögen, so daß schon bei der Organisation konfrontative Muster überwiegen, wie das häufige REDERECHT ENTZIEHEN und das UNTERBRECHEN der Diskutanten verdeutlicht. Die Vielzahl der Imageangriffe macht die Moderatoren aber auch selbst angreifbar. Meyer und Kracht müssen sich offensiver Gegenstrategien der Gäste erwehren, z.B. der expliziten PROBLEMATISIERUNG DER MODERA- TORENROLLE, wie der Angriff Freimut Duves auf Kracht zeigt: 27 sie müssen nicht so tüddelig werden passen sie mal auf sie haben sie haben sie haben als journalist auch ne sehr wichtige Verantwortung auch als moderator - und sie haben nicht nur die Verantwortung daß sie immer hier schnelle Sprüche klopfen sondern sie sind sozusagen auch mit in diesem thema sie haben diese Sendung gemacht [...] (FD 308) Die Häufung von Rollen führt also zu Rollenkonflikten, z.B. zwischen dem (neutralen) ‘Organisator’ und dem ‘Provokateur’, zwischen dem ‘Präsentator’ ernsthafter Themen und dem ‘Unterhalter’. Phasenweise gelingt es den Moderatoren auch, alle Rollen geschickt miteinander zu verknüpfen. Dies zeigt sich in der Anfangssequenz vom ‘Heißen Stuhl’: Kracht provoziert Lummer, indem er ihn mit persönlichen Konsequenzen aus seiner These konfrontiert 28 (ich hab gehört sie haben das ergebnis ihres aidstests bekommen es ist negativ sind sie erleichtert (OK2)). Diese wohlvorbereitete Überfallfrage kombiniert er kurz darauf mit einer ironiironisiert) in der ‘Explosiv-Sendung’ „Männer sind unförmig, hirnlos und primitiv” (19.2.1991): „arbeit in einer beziehung interessiert mich persönlich sagen wer mal so / kommen wer nochmal zurück auf den mann der Zukunft das interessiert mich wirklich wahnsinnig mal schaun was so auf uns noch zukommt’. Bei Kracht gibt es zwar auch in 51 Prozent seiner Äußerungen Selbstreferentialität (z.B. das muß ich noch wissen (OK42)), jedoch nicht in Form von persönlichen Meinungsäußerungen. Immerhin verfügt auch er über die meisten Redebeiträge und einen hohen Redezeitanteil (vgl. Klemm 1993, S. 150). 27 Es tritt der gleiche Effekt ein, wie ihn Holly für konfrontative Politikerinterviews festgestellt hat. „Wenn der Interviewer den Neutralitätsanspruch nicht aufrechterhalten kann, gibt es keinen Grund mehr, ihn in der Frage der Gesprächsführung zu privilegieren. Er ist eine von zwei Parteien, die nach den Regeln eines Streitgesprächs ums Wort und um die bessere Position kämpfen.” (Holly 1993, S. 189) 28 Diese Strategie verwendet Kracht in vielen Eröffnungsfragen. In „Schafft das Auto ab” fragt er den Stuhlgast Wolf „wie kamen sie heute abend hier her", in „Die Deutschen haben keine Ahnung vom Sex” die Provokateurin Senger „an wievielen deutschen herren haben sie ihre these denn ausprobiert”, in „Nacktbaden gehört verboten” den übergewichtigen Hans Eppendorfer „erklären sie uns zu beginn warum ausgerechnet sie für die körperästhetik kämpfen". Streiten „wie im wahren Leben”? 155 sehen Frage (waren sie immer sehr vorsichtig haben safer sex betrieben und so (0K6)), und quittiert Lummers Antwort mit einem leichten Integritätsangriff (na gut dann lassen wirs mal so dahingestellt sein) sowie einem vorbereiteten GAG (ist der ton in der armee nach dem kalten krieg so freundschaftlich geworden daß man sich da jetzt äh gedanken machen muß oder woran liegts (OK8)). Auf diese Weise organisiert Kracht den Einstieg in die Diskussion und kann sich selbst als mutigen, witzigen und provokativen Frager darstellen. Die neuen Rollen der Moderatoren hängen teilweise auch mit den ökonomischen Zwängen zusammen, in denen sich die Macher befinden. Meyers Produktionsfirma ‘META productions’ war von Beginn an für ‘Einspruch! ’ zuständig. Seit Januar 1993 produzierte auch Kracht als Teilhaber der Firma ‘creatv’ den ‘Heißen Stuhl’ im Auftrag von RTL selbst. Diese Personalunion von Moderator und Produzent liegt ganz im Interesse der Privatsender, die immer mehr Sendungen aus der eigenen Produktion auskoppeln und damit ihr Risiko auf selbständige Produktionsfirmen abwälzen wollen; auch dies ist signifikant für die momentane Fernsehlandschaft. 29 Der Moderator wird somit im wörtlichen Sinne zum Verkäufer der Sendung, 30 der die „rating commitments”, also die vom Sender und der Werbewirtschaft vorgegebenen Marktanteile, erfüllen muß und dessen Popularität über Erfolg oder Scheitern entscheidet. 31 Hinzu kommt der größer werdende Konkurrenzdruck durch neue kommerzielle Sender und das veränderte Rezeptionsverhalten der Zuschauer. Zapping wird zum plebiszitären Druckmittel, also müssen die Macher alles unternehmen, um im Programmkontinuum aufzufallen und den Rezipienten beim Umschalten aufzuhalten. Emotionen, Lautstärke, populäre und skurrile Gäste, peppige Themen, all dies kann dazu beitragen, daß der „homo zappens” zumindest für einige Minuten innehält. Vor allem deshalb werden Talkshows zu 29 Zur Auskoppelungsstrategie von RTL vgl. Schnibben (1993, S. 164): „Wie kleine Unternehmer sollen sich die RTL-Angestellten fühlen, so verantwortlich und so bedroht. Ganze Redaktionen erfolgreicher Sendungen dürfen sich selbständig machen, eigene Unternehmen gründen und RTL mit Bildschirmware beliefern. Noch 150 seiner 700 Beschäftigten will Thoma auf diese Weise entlassen.” 30 Wie moderatorenzentriert das Konzept ist, zeigt sich vor allem bei den sog. „Teasern”, kurz vor der Sendung produzierten Hinweisspots, die allein von den Moderatoren gestaltet und in Form eines Verkaufsgesprächs geführt werden (vgl. Klemm 1993, S. 92L). 31 Das „Lebenselixier” Werbung stürzt die kommerziellen Sender zudem in ein Dilemma: Wenn mitten in einem Disput zu Werbezwecken unterbrochen werden muß, zeigt dieser Stilbruch in entlarvender Weise die Inszeniertheit des Streitgesprächs und zwingt die Moderatoren zu umfangreichen Reparaturversuchen (vgl. Klemm 1993, S. 55). 156 Michael Klemm Ereignissen dramatisiert. Und was wirkt authentischer, fesselnder als die Offenlegung von Emotionen im Streit? 32 Die Diskutanten werden wie bereits gezeigt zu ‘Angreifern’ und ‘Verteidigern’ und, wenn sie um die Angreiferrolle konkurrieren, zu ‘Kämpfern’. 33 In ‘Explosiv’ sind die Rollen zunächst klar verteilt: Lummer muß sich gegen die Angriffe der anderen verteidigen und favorisiert eine Defensivstrategie, während seine Gegner ihn fast pausenlos attackieren. In ‘Einspruch! ’ unterliegt die Rollenverteilung einer größeren Flexibilität. Es kommt in beiden Sendungen auch zu Rollenwechseln, wenn der Verteidiger zu einer offensiven Strategie wechselt oder ein Angreifer plötzlich in die Defensive gedrängt wird. Letzteres geschieht zwangsläufig durch die (wechselseitigen) Provokationen der Moderatoren (vgl. dazu Klemm 1993, S. 96f.). Die Bedeutung der Rollenmuster für die sprachlichen Aktivitäten wird noch verstärkt, wenn die Kontrahenten ihre Rollen kollektiv übernehmen. Beim ‘Heißen Stuhl’ kommt es häufig zu einer Mannschaftsbildung, da die Sendung auf einen Provokateur zentriert ist und so ein gemeinsames „Feindbild” geschaffen wird, während ‘Einspruch! ’ mit der Konstellation „Drei gegen Drei” heterogenere „Koalitionen” auch über „Team”-Grenzen hinweg erlaubt. „Solidarisierungsmarker” sind z.B. das REFERIEREN auf Aussagen der „Mitstreiter” (das ist für mich in Verlängerung von herrn Duve der eigentliche skandal (HPH 116), das VERTEIDIGEN kollektiver Einstellungen (das können wir nicht hinnehmen (CvB240)), aber auch gegenseitige expressive Bestätigungen. Im ‘Confrontainment’-Konzept erhält auch das Saalpublikum eine aktivere Rolle und dient als ‘Blickfang und Geräuschkulisse’, als Tmagebarometer’, als ‘Volkes Stimme’ sowie manchmal als ‘Mitdiskutant’. Hauptaufgabe bleibt es, durch positive und negative Signale wie Klatschen und Buhen 32 Diese Programmstrategie findet auch die Unterstützung von RTL-Chef Helmut Thoma: „Bei diesen Sendungen steht man immer wieder vor einer Grundsatzfrage: Will man einen leisen, der Form nach höflichen Austausch von Argumenten und nimmt in Kauf, daß relativ wenige zuschauen, oder macht man es für viel mehr Seher etwas greller, etwas bunter und etwas lauter, wie das wirkliche Leben? [...] Das ist ja gewünscht, daß die Argumente holzschnittartig kommen. Das geht zu wie beim Fechten. Es gibt das Florett. Wir sind die Säbelabteilung.” (Helmut Thoma in Der Spiegel 1992, S. 63). Allerdings hält der Zyniker Thoma „Action” nicht immer für quotenfordernd: „Wenn Bosnien den Bedarf an Action deckt, brauchen wir in den Serien mehr Gefühl als Gewalt” (Thoma nach Schnibben 1993, S. 170). 33 Natürlich können die Rollenzuweisung durch den Moderator und die subjektive Rollenerwartung der Teilnehmer divergieren. Es gab durchaus Kontrahenten, die sich nicht gegenseitig attackieren wollten und vielleicht sogar einen Konsens anstrebten. Dies war aber eine seltene Ausnahme und entsprach nicht den Anforderungen des Konzepts. Daß die Diskutanten in den Korpussendungen eine Vielzahl standardisierter Muster verwendeten, soll auch nicht heißen, daß ihr Sprachhandeln völlig schematisiert war. Auch hier waren unterschiedliche Rollenstile möglich, muß man „role-taking” und „role-making” unterscheiden. Streiten „wie im wahren Leben”? 157 auf den Sendungsverlauf einzuwirken und dadurch als „lebende Kulisse” den Live-Effekt und die Authentizität der Inszenierung zu „visualisieren” bzw. zu verstärken. Zudem soll das Publikum eigens von engagierten Agenturen rekrutiert im Idealfall je zur Hälfte den Kontrahenten zugeneigt sein und diese lautstark unterstützen. Die Diskussionsteilnehmer sind schon durch das räumliche Arrangement extrem polarisiert, aggressiv und lautstark; die Präsenz von partizipierenden und gleichfalls polarisierten Zuschauern verstärkt den aggressiven Stil der Diskutanten nachhaltig. Sie fördert die Tendenz zur Emotionalisierung und Mehrfachadressierung der Gesprächsbeiträge enorm, zumal die Diskutanten an der Reaktion des Publikums ihren Sympathiewert ablesen können. Die Zuschauer im Studio haben auch eine Stellvertreterfunktion für das anonyme, disperse Publikum an den Bildschirmen und stellen so etwas wie eine direkt sichtbare „Legitimierungsinstanz” für die Diskussion dar: das Publikum ist der eigentliche Adressat und der wahre Grund der Inszenierung. Die direkte Beteiligigung an der Diskussion bleibt rudimentär und von den Moderatoren gesteuert (z.B. durch kurze Interviews). Gelegentlich entwickelt sich aber eine vom Moderator wohl ungewollte Eigendynamik, wenn Gäste nur noch mit dem Publikum oder gar dieses untereinander lautstark streitet (vgl. Klemm 1993, S. 100). 5. ‘Confrontainment’ im Kontext des aktuellen Programmwandels ‘Confrontainment’ lebt von verschiedenen Faktoren. Im einzelnen sind zu nennen: eine dominante Moderatorpersönlichkeit, standhafte Kämpfer als Gäste, ein emotionalisiertes und partizipierendes Publikum, ein konfliktträchtiges, möglichst tabubrechendes Thema, ein Arrangement, das bereits die Polarisation der gesamten Textsorte symbolisiert, eine serielle, möglichst häufige Erscheinungsweise, ein institutioneller Rahmen, der nicht nur Quoten verlangt, sondern auch Freiheiten läßt, und manches mehr, was in dieser Analyse deutlich geworden sein sollte (vgl. auch Foltin 1991). ‘Confrontainment’ basiert auf einem hochgradig ritualisierten Konzept. Die Akteure übernehmen in erster Linie Rollen und wirken so mit an der Transformation der ‘Diskussion’ in ein emotionalisiertes, personalisiertes und mediengerechtes Kampfspiel. Die Ziele, die sich die Macher von ‘Confrontainment’ (zumindest nach eigenen Angaben) gesetzt haben, werden dabei aber weitgehend verfehlt. Statt eines spontanen Streits, in dem authentische Überzeugungen zutage treten, verfangen sich die Akteure in Positionskonfrontationen und Rollenkämpfen, so daß man dem Urteil von Holly/ Schwitalla zustimmen kann: „Spontaneität und Ehrlichkeit werden nicht gefördert, sondern inszeniert; tieferliegende Überzeugungen, Differenzierungen von Meinungen, Relativierungen der eigenen Position kommen nicht zum Ausdruck, ein Diskussionsfortschritt wird geradezu verhindert. Stattdessen finden wir einen hochritualisierten, 158 Michael Klemm stereotypen, vorab strukturierten Austausch von ziemlich festen Positionen.” (Holly/ Schwitalla 1995, S. 60). Die Möglichkeit, mit einem konfrontativen Diskussionskonzept vielleicht wirklich einmal Betroffene und Verantwortliche an einen Tisch zu bekommen und offen reden zu lassen, wird weitgehend verspielt zugunsten bloßer Effekthascherei. Damit stellen die beschriebenen Sendungen allerdings Prototypen moderner Fernsehkommunikation dar. Die aktuelle Fernsehlandschaft ist geprägt von einer zunehmenden Kommerzialisierung und einem sich verschärfenden Konkurrenzkampf, der zum permanenten Experimentieren mit neuen Formen und einer Veränderung, Vermischung und „Verschärfung” von Textsorten geführt hat. Das Fernsehen entwickelt sich immer stärker zum durchgehend geöffneten Kaufhaus, zum sozialen „Sinnmarkt” (Winter/ Eckert 1990, S. 14) mit ausdifferenzierten Angeboten. ‘Confrontainment’ partizipiert an vier momentan erfolgreichen Programmstrategien: den Trends zum ‘Infotainment’, zum ‘Boulevardfernsehen’, zum so will ich es einmal bezeichnen - ‘Emotainment’ sowie zum ‘Reality- TV’. ‘Confrontainment’ liegt ganz auf der Linie der Auflösung traditioneller Programmkategorien. Die dabei verfolgte Tnfotainment’-Strategie war erfolgreich. ‘Der heiße Stuhl’ lief fünf Jahre und rund 160 Ausgaben lang, ‘Einspruch! ’ brachte es im wöchentlichen Rhythmus ausgestrahlt auf rund 130 Sendungen. Die RTL-Diskussion erreichte dienstags abends um 22 Uhr bis zu sechs Millionen Zuschauer und beachtliche Markanteile über 30 Prozent, (vgl. Klemm 1993, S. 141ff.). In der Zeit, als ‘Der heiße Stuhl’ und ‘Einspruch! ’ parallel liefen, sahen zeitweise mehr als 40 Prozent der Zuschauer einer ‘Confrontainment’-Sendung zu die Resonanz legt also einen Bedarf an solchen Sendungen nahe und führte dazu, daß das ‘Confrontainment’-Konzept von zahlreichen Sendern übernommen wurde (vgl. Klemm 1993, S. 33f.). 34 ‘Der heiße Stuhl’ und ‘Einspruch! ’ hatten auch alle Voraussetzungen für eine erfolgreiche Serie: einen wöchentlichen Senderhythmus und festen Sendeplatz, eine weitgehend gleiche, für den Rezipienten nachvollziehbare Dramaturgie, stets denselben ‘Hauptdarstel- 34 Foltin (1991, S. 51) begründet den Erfolg des Konzepts folgendermaßen: „Man kann die Ausbreitung von Infotainment und auch speziell Confrontainment auf zwei Faktoren zurückführen: auf die weltweit und regional zunehmende Konkurrenz kommerziell determinierter Mediensysteme und auf die zunehmende Reizüberflutung der überwiegenden Mehrheit der Rezipienten, deren Lebenssituation offenbar einen hohen Bedarf an emotionaler Stimulierung begründet. Im Aufbrechen von Tabus, etwa im Bereich der Sexualität, und im Hochspielen oder gar der künstlichen Inszenierung von Konflikten werden Chancen zur Profilierung im Kampf um Leserzahlen und Einschaltquoten gesehen.” Streiten „wie im wahren Leben”? 159 ler’, relativ austauschbare Themen sowie Gäste, die hauptsächlich Rollen spielen. ‘Confrontainment’ ist wie viele andere moderne Mediengenres eine Mischtextsorte. Es integriert Interview-, Talkshow- und Diskussionselemente, man findet hier Showeinlagen 35 und Wettkampfformen, ja zum Teil sogar „Verkaufsgespräche” (s. Anm. 30). Zudem ist ‘Confrontainment’ nicht auf die Diskussionsform begrenzt, sondern läßt sich mit graduellen Unterschieden zu ‘Explosiv’ und ‘Einspruch! ’ z.B. auch als ‘Interview’ inszenieren (vgl. Holly 1994). ‘Confrontainment’ ist ein Beispiel für die Variabilität und Historizität medialer Textsorten, die durch sich verändernde institutioneile oder auch soziale und kulturelle Rahmenbedingungen ständig im Wandel begriffen sind. An der Infotainment-Strategie der Sender ist prinzipiell nichts Verwerfliches: Bei entsprechenden Themen und Protagonisten konnte sich aus dem konfrontativen Szenario durchaus eine unterhaltsame Sendung entwickeln, mit Wortwitz und Situationskomik nicht mehr, aber auch nicht weniger. Im Gegenteil: Bedenklich wurde es gerade dann, wenn der unterhaltende Aspekt wegfiel und das Spektakel sich zur ernstgemeinten inquisitorischen „Verfolgungsjagd” auswuchs, wie dies in ‘Einspruch! ’ zuweilen vorkam (vgl. Anm. 24). Das ‘Confrontainment’-Konzept besitzt ein großes Realisierungsspektrum von der klamaukartigen „Streitshow” bis zum „Medientribunal” mit öffentlicher Vorverurteilung. ‘Confrontainment’ ist in mehrerlei Hinsicht ein Stück Boulevardfernsehen. Zum einen hat es die ehedem „heiligen” Diskussionsrunden für alle Bevölkerungsschichten geöffnet, zum anderen hat sich das Sendungskonzept einer Kommunikationsform des Alltags, dem Streit, scheinbar angenähert, zum dritten hat es das antagonistische Denken und den Sprachstil der Boulevardpresse ins Fernsehen importiert: kürzer, drastischer, plakativer. Wie sich die Boulevardisierung sprachlich auswirkt, läßt sich am Vorspann der ‘Heißen Stuhl’-Sendung explizieren: der kuß des todes jeden kann es treffen jederzeit aids immunschwäche unheilbar einhunderttausend deutsche werden daran bis zum jahr zweitausend sterben manner trauen und kinder sie erkranken weil hiv positive das virus weitergeben mutwillig oder unbewußt brave aufklärungsbroschüren und kondomverteilen haben die seuche nicht gestoppt - Schluß mit der weichen linie jetzt müssen harte maßnahmen her - [...] Der Sendungstrailer ist geprägt von markigen Worten, unterlegt von einem aufrüttelnden Rhythmus und illustriert durch eine schnelle Abfolge drastischer Bilder. All dies dient eher der Dramatisierung der Sendung als einer problembewußten Themeneinführung, bleibt in seiner antagonistischen 35 Bei ‘Einspruch! ’ in Form von Vorführungen und Zeremonien, wie z.B. der Trauung eines lesbischen Paares in „Trauschein für Homosexuelle? ” (20.8.1992) oder die Befragung eines „Mediums” in „Sind wir alle unsterblich? Wiedergeburt” (26.11.1992). 160 Michael Klemm Grundstruktur reißerisch, populistisch, plakativ. Diese Oberflächlichkeit setzt sich bei der Themenbehandlung in der Sendung fort (vgl. Klemm 1993, S. 64-74) und simplifiziert die Komplexität der zugrundeliegenden Probleme auf Monokausalität oder ein binäres Ja/ Nein-Denken, verfestigt Dichotomien, statt praktische Kompromisse zu fördern. Jedes Thema, ob bedeutsam oder banal, wird nach der gleichen personalisierten und emotionalisierten Prozedur behandelt. Themen und Personen werden dadurch nivelliert, andererseits Konflikte künstlich aufgebaut oder Lappalien zu Skandalen aufgeblasen: im Schematismus solcher Sendungen müssen Differenzierungen zwangsläufig untergehen. Mit „Emotainment” könnte man die Tendenz bezeichnen, Unterhaltung durch die Offenlegung von Gefühlen zu erreichen, seien es Liebes- und Glücksgefühle wie in ‘Traumhochzeit’, Reuegefühle wie in ‘Ich bekenne’ oder ‘Verzeih mir’ (vgl. Keppler 1994), sowie Publikumsbeschimpfungen wie in der RTL-Sendung ‘18.30’. Eine andere Form des ‘Emotainments’ zeigt sich beim sogenannten ‘Confessional-Talk’, bekenntnisheischenden Shows ä la ‘Fliege’, ‘Hans Meiser’ oder ‘Ilona Christen’. Boulevardfernsehen und ‘Emotainment’ wirken immer dann am besten, wenn Exhibitionismus auf Voyeurismus trifft auch beim ‘Heißen Stuhl’ oder ‘Einspruch! ’ ließen sich diese Haltungen nicht verleugnen. Die konfrontativen Diskussionssendungen haben ein Stück ‘Reality-TV’ in die Fernsehgesprächsrunden gebracht mit allen Vor- und Nachteilen, die daraus erwachsen. Beide Sendungen boten wie die prototypischen Vertreter des Realitätsfernsehens ein „Konzentrat an Emotionen mit der zusätzlichen Garantie des Realen” (Wegener 1994, S. 47). 36 Die Tendenz zum „performativen Realitätsfernsehen” (Keppler 1994, S. 8) war besonders stark, wenn nicht Prominente, sondern „Menschen wie du und ich”, die sich näher kannten, ihre Konflikte auf der „Bühne der Alltäglichkeit” (Keppler 1994, S. 40) (mit realen Konsequenzen? ) austrugen. 37 Was bleibt nun vom ‘Confrontainment’-Konzept, nachdem die beiden Hauptvertreter vom Bildschirm verschwunden sind? Sicherlich haben die konfrontativen Diskussionen Tabus gebrochen und den Gesprächsstil auch anderer Talk-Shows nachhaltig verändert. Zudem könnte es sein, daß konfrontative Elemente die moderne Form der Politikdarstellung prägen werden. Der nicht zu leugnende Glaubwürdigkeits- und Imageverlust der Parteien hat auch dazu geführt, die Präsentationsformen der Politik zu überdenken und deren überkommene Rituale zumindest durch neue Ri- 36 Man könnte die konfrontativen Diskussionen in der Typologie von Wegener als „Reality-Shows” einordnen (vgl. Wegener 1994, S. 12), da sie die konstitutiven Kriterien Personalisierung, Dramatisierung und Stereotypisierung erfüllen. 37 So stand sich z.B. in ‘Einspruch! ’ in einer Sendung zum Thema „Männer sind Paschas” ein Ehepaar gegenüber, das seine privaten Konflikte vor einem Millionenpublikum austrug. Streiten „wie im wahren Leben”? 161 tuale z.B. des Streitens zu ersetzen (vgl. z.B. Holly 1993). Im ‘Confrontainment’ zeigt man nicht den spröden Politbürokraten, sondern den mutigen Menschen, der für seine Überzeugungen einsteht und kämpft, der Gefühl zeigt und der Konfrontation nicht ausweicht. Dieses aggressive Kommunikationsspiel ist publikumswirksamer, mediengerechter und auch erfrischender als die konventionelle Fernsehdiskussion und folgt dem Trend zur Personalisierung, Emotionalisierung und Dramatisierung des Programms. Manches spricht dafür, daß ‘Confrontainment’ im Sinne konfrontativer und unterhaltsamer Politikpräsentation mehr ist als eine kurzlebige Zwischenstufe. „Die Emotionalisierung von Ereignissen, die Erhöhung des Tempos, Reduktion von Komplexität und Dramatisierung sind ein allgemeiner Trend der Präsentation von Information” (Wegener 1994, S. 147). Sicherlich wird zur Politikdarstellung der Zukunft auch das mediengerechte Kommunikations- und Kampfspiel gehören - „[...] die unterhaltsame, spektakuläre, d.h. sichtbar kämpferische Aufbereitung des Gesprächs, die von Anfang an den Fokus des Interesses aller Beteiligten auf das Schuldzuweisungsspiel und damit auf die Beziehungskommunikation verschiebt, nach dem Motto: wer wen? Andernfalls droht der reizverwöhnte Zuschauer mit Ab- und Umschalten.” (Holly 1993, S. 194). 6. Literatur Briller, Bert (1989): A New Television Battleground. In: Television Quarterly 24, S. 67-77. Bucher, Hans-Jürgen (1993): Geladene Fragen. Zur Dialogdynamik in Fernsehinterviews mit Politikern. In: Löffler, Heinrich/ Weigand, Edda (Hg ): Dialoganalyse IV. Referate der 4. Arbeitstagung in Basel 1992 Band 2. Tübingen. S. 97-107. Bucher, Hans-Jürgen (1994): Dialoganalyse und Medienkommunikation. In: Fritz, Gerd/ Hundsnurscher, Franz (Hg.): Handbuch der Dialoganalyse. Tübingen. S. 471-491. Dehm, Ursula (1984): Fernsehunterhaltung aus Sicht der Zuschauer. In: Media- Perspektiven 8/ 1984, S. 630-643. Eggs, Ekkehard (1990): Die Inszenierung von Politik. Debatten mit Politikern im französischen Fernsehen 1980-1990. Rheinfelden/ Berlin. Fiehler, Reinhard (1993): Grenzfälle des Argumentierens. ‘Emotionalität statt Argumentation’ oder ‘emotionales Argumentieren’. 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Historisch haben sie sich aus literarischen, filmischen und Hörfunk-Genres herausgebildet und wurden fernsehspezifisch umgeformt. In Deutschland ist vorwiegend das Genre der Familienserie bekannt, welches bereits in den fünfziger Jahren auftrat, aber erst in den achtziger Jahren zur eigentlichen Blüte gelangte. Die Vorbilder der deutschen Fernsehserien sind häufig angloamerikanischen, australischen oder englischen Ursprungs. Die Serien erzeugen durch Variation und Neukombination standardisierter Produktmuster einen ’gewaltigen Metatext’, der erst in der Zusammenschau der einzelnen Folgen und deren semantischen Bezügen untereinander entsteht. Die Endlosserie als besondere Form der Fernsehserie (z.B. Lindenstraße) weist gegenüber anderen fiktiven Fernsehtextsorten eine höhere Anzahl potentieller Protagonisten, mehrere Handlungsstränge und eine unabgeschlossene Handlungsführung auf. In den Dialogen werden unterschiedliche Perspektiven und Einstellungen der Protagonisten zu den thematisierten Problemen deutlich, wodurch Seifenopern den Status des Fernsehens als ’kulturelles Forum’, das der Selbstvergewisserung der gesellschaftlichen Individuen durch pluralistische Sinnbildungsangebote dient, bestätigen. 1. Erzähltraditionen und Vorbilder fiktiv-serieller Fernsehtexte Fernsehserien als populäre Medientexte, die zum festen Bestandteil des Fernsehprogramms geworden sind, kann man sich aus der deutschen Medienlandschaft kaum noch wegdenken. Die Vielzahl der unterschiedlichen Serien ist mittlerweile kaum noch zu überblicken. Sie werden von fast allen Sendern ausgestrahlt und nehmen einen großen Teil der zur Verfügung stehenden Sendezeit in Anspruch. Ein Blick in die Programmzeitschrift verdeutlicht, daß es mittlerweile möglich ist, nahezu rund um die Uhr Fernsehserien zu sehen. Untersucht man das Fernsehprogramm eines beliebigen Tages (es handelt sich in diesem Fall um Donnerstag, den 22.09.1994) im Hinblick auf die ausgestrahlten Serien, wird deutlich, welchen Stellenwert fiktiv-narrative Fernsehtexte im Gesamtprogramm innehaben. Auf 17 Sendern wurden über 150 (einhundertundfünfzig) Serien ausgestrahlt. 1 Es handelt sich dabei sowohl um eigenproduzierte, also in Deutschland hergestellte, wie auch um sog. Kaufserien, die zum größten Teil aus den 1 Darunter fallen auch Wiederholungen von tagsüber gezeigten Serienfolgen im Nachtprogramm, insbesondere bei privaten Anbietern. Quelle war die Fernsehzeitschrift TV - Hören und Sehen Nr. 38, 1994. Vgl. auch Krüger (1992, S. 532ff.) und Prugger (1994, S. 91), die eine Ausweitung des Anteiles von Serien am Gesamtprogramm bestätigen. 164 Martin Jurga USA stammen. Populäre Vertreter dieser Kaufserien sind die Erfolgsserien Dallas oder Dynasty, die in Deutschland unter dem Namen Denver-Clan ausgestrahlt wurde. Inzwischen werden aber auch vermehrt Serien aus anderen Ländern, wie beispielsweise Australien, eingekauft. Hier wären Die Fliegenden Ärzte (orig. Flying Doctors) oder Nachbarn (orig. Neighbors) zu nennen. Die sog. Telenovela, eine brasilianische Serienvariante, ist hierzulande auch keine Unbekannte mehr. Man denke nur an Die Sklavin Isaura (orig. Escrava Isaura) (vgl. Klagsbrunn 1987, S. 39f. und Campedelli 1985, S. 18fF.). Die Sujets der Serien reichen von Geschichten in einem Krankenhaus, einem Hotel, einer Arztpraxis bis hin zu dem Leben in einer Straße oder einer Stadt. In den Handlungen der Serien wird das Zusammenleben innerhalb einer Personengruppe inszeniert, die durch einen Rahmen zu einer Sozialgemeinschaft verbunden ist. Dies können Familien, Freundeskreise, Arbeitskollegen oder die Einwohner ganzer Straßen und Städte sein. Ein häufig benutztes Thema sind dabei Beziehungsgeschichten 2 , die auf ideale Weise der Darstellung von Emotionen dienen. Liebe, Leid und Herzensnot, aber auch Probleme des täglichen Lebens sind daher wichtige Themen in Serien, insbesondere in der sog. Familienserie, die bereits eine lange Tradition im deutschen Fernsehen hat. 3 Das „Erzählen in Raten (Hickethier IQSQ) 4 und die Bildung von seriellen Texten ist keine Erfindung des Fernsehens, sondern ist zuvor bereits in anderen Medien angewendet worden. Diese Erzählweise trat jedoch im wesentlichen erst mit dem Erscheinen von periodischen Massenmedien auf. Zeitungen druckten Fortsetzungsromane ab, die Merkmale vorwegnahmen, die auch in bestimmten Fernsehserien zu finden sind. So werden beispielsweise in Charles Dickens Romanen und Eugene Sues’ Geheimnisse von Paris Erzähltechniken verwendet, die man auch bei zwei besonderen Fernsehserientypen, den sogenannten Mehrteilern und Endlosserien, findet. „Aus Stoffnot, vielleicht auch aus tieferer Einsicht in die Bedürfnisse des lesehungrigen Publikums baute er (gemeint ist Eugene Sue, M.J.) zahlreiche Aktualitäten ein, entwickelte Nebenlinien, Seitenstränge, die sich bald verselbständigten, sich verhedderten und nur durch Unwahrscheinlichkeiten und harte Schnitte wieder zu einem Abschluß gebracht wurden.” 2 Nach Krüger (1988) thematisieren über 50% der fiktionalen Sendungen des Fernsehens vorwiegend zwischenmenschliche Beziehungen. 3 Man denke nur an die Hesselbachs , den Forellenhof etc. Vgl. zum Begriff ‘Familienserie’ Mikos (1994, S. 138ff.). 4 Thorburn (1976) spricht auch von der Technik des „serial installment” (82). Vgl. auch Stedman (1971). Zur narrativen Struktur von Fernsehserien 165 (Hickethier 1994, S. 55) 5 . Neben diesen Merkmalen ist hier die Technik des Spannungsanstiegs am Ende einer Erzähleinheit zu nennen. Diese Technik wird ebenfalls in einem besonderen Serientyp, der sogenannten Endlosserie, verwendet und heißt dort Cliffhanger. Dabei befindet sich eine Figur in einer psychologisch konfliktträchtigen Situation. Im Moment der höchsten Spannung wird das Bild eingefroren und die Neugier des Zuschauers auf den Weitergang der Erzählung geweckt. Gleichzeitig werden die Zuschauer animiert, sich über den weiteren Handlungsverlauf Gedanken zu machen und, bewirkt durch das beim Cliffhanger bis zur Großaufnahme gezoomte Gesicht der Figur, deren Gefühle und Gedanken zu erahnen. Eugene Sues’ Figuren in den Geheimnissen von Paris zeichnen sich durch ein enges Beziehungsnetz aus, das im Verlauf der Erzählung immer enger wird und insbesondere seinen Helden, Rudolf von Gerolstein, mit immer neuen Figuren zusammenbringt und damit eine abenteuerliche Episode an die andere reiht. Die Figuren stehen in vielfältigen Beziehungen zueinander und sind erst in ihrer Position in diesem komplexen Netz zu verstehen. Serielle Erzähltexte im Fernsehen dürfen in diachronischer Sichtweise nicht losgelöst von der allgemeinen Tradition seriellen Erzählens betrachtet werden (vgl. Hickethier 1991). Eine Beschränkung auf rein televisuelle Vorbilder würde den Blick für Vorbilder aus anderen Medien verstellen. Es könnte sonst der Eindruck entstehen, als handele es sich beim Fernsehen um ein hermetisch abgeschlossenes Medium, das nur aus sich selbst schöpft und nicht in einer, wenn auch medienspezifisch weitergeführten, Tradition des Erzählens steht. Verallgemeinernd läßt sich sagen, daß eine große Zahl von Erzählmustern bereits in anderen Medien verwendet wurde. Sie wurden und werden dem Fernsehen angepaßt und fernsehspezifisch transformiert. 6 Weiterhin ist für das Verständnis bundesdeutscher Serienproduktionen die Tatsache wichtig, daß ihre Vorbilder häufig aus dem anglo-amerikanischen Ausland kommen. Sie stehen also in einer internationalen Tradition. Dies ist um so mehr der Fall, je mehr das Mediensystem internationalisiert wurde. Serien haben den Vorteil, mit Hilfe eines einmal etablierten Produktionskonzeptes eine kontinuierliche Versorgung des textverschlingenden Fernsehens zu gewährleisten. Kaufserien werden ausgestrahlt, weil sie 5 Vgl. zum frz. Feuilletonroman Neuschäfer/ Fritz-El Ahmad/ Walter 1986. 6 Müller (1994) fordert eine intermediate Forschungsperspektive, die „auf die medialen Dynamiken und Fusionen innerhalb einzelner Medientexte und zwischen verschiedenen Medientexten sowie auf deren historische Entwicklung zielt.” (S. 128). (Vgl. auch Prümm 1987). Zu Transformationsprozessen siehe Hess-Lüttich (1987). Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive stellt Faulstich (1994) serielle Fernsehtexte in den weiteren Rahmen der Serie als „Wahrnehmungs- und Ordnungsprinzip des Menschen” (S. 51). Fernsehserien sind hier nur Ausprägung einer allgemeineren kulturellen Kategorie. 166 Martin Jurga eine relativ kostengünstige, aber dennoch attraktive Möglichkeit darstellen, das Programm, gerade auch außerhalb der Prime-Time, zu füllen (vgl. Mikos 1987, S. 14). Daher haben wir seit der Deregulierung des Mediensystem Mitte der achtziger Jahre auch einen enormen Zuwachs im Bereich der Kaufserien zu verzeichnen. Aber auch die Zahl der in Deutschland produzierten Serien stieg kontinuierlich an, und dieser Trend scheint weiter anzuhalten. Für eine große Zahl deutscher Serien gilt wie gesagt daß ihre Vorbilder anglo-amerikanischen und neuerdings auch australischen Ursprungs sind. 7 Teilweise werden die Konzepte der Serien im großen und ganzen übernommen und den spezifisch deutschen kulturellen Verhältnissen angepaßt. Am Beispiel der Lindenstraße wird dies deutlich. Ihr Vorbild war die britische Coronation Street, die zu den „sozial-realistischen (...) Alltagsserien” (Frey-Vor/ Svennevig 1990, S. 569) zu zählen ist. Während Coronation Street aber im Arbeitermilieu spielt, sind die Figuren der Lindenstraße mit geringen Ausnahmen im Mittelstand angesiedelt. Dies ist wahrscheinlich bedingt durch die in Deutschland nur schwach ausgeprägte Tradition in der Darstellung von Arbeiterkultur, die in Großbritannien einen ganz anderen Stellenwert hat. Das inszenatorische Grundkonzept ist aber weitgehend identisch geblieben, so daß die Lindenstraße in nicht unerheblichem Maß in der Tradition britischer Serien steht. Etwas ähnliches kennen wir von der Serie Das Erbe der Guldenburgs und Rivalen der Rennbahn, die sich an Dallas und Denver-Clan anlehnten. Es werden aber nicht nur die Konzepte übernommen, die dann von deutschen Autoren den bundesdeutschen Verhältnissen angepaßt werden. Im Produzentenjargon spricht man vom sog. ‘Cannabalizing’, „bei dem sich die Autoren die besten Stücke aus vorhandenen Serien herausschneiden, sie eindeutschen und neu zusammensetzen.” (Heimlich/ Thomsen 1994). Die Internationalisierung geht so weit, daß man erfolgreiche Autoren und Regisseure aus dem Ausland für die Produktion deutscher Serien zu Rate zieht. Dies ist bei der neuen ARD Daily-Soap Verbotene Liebe der Fall. Hier haben australische Autoren die Drehbücher entwickelt. Sie übertragen damit natürlich die Tradition australischer Serien auf deutsche Medienproduktionen. 8 7 Fast alle Ende 1994/ Anfang 1995 gestarteten ‘deutschen’ Daily-Soaps beruhen auf australischen Vorbildern und bedienen sich bewährter Produktionstechniken (vgl. Heimlich/ Thomsen 1994). Überhaupt setzen sich australische Serien international immer mehr durch. Tunstall (1993, S. 96) stellt das beispielsweise für Großbritannien fest. 8 Bei der ZDF Daily-Soap Macht der Leidenschaft, die im Dezember 1994 startete, wird in Zusammenarbeit mit einem kanadischen Privatsender in Toronto mit deutsch-kanadischer Mischbesetzung produziert. Zur narrativen Struktur von Fernsehserien 167 2. Seriendefinition Die alltägliche Verwendungsweise des Begriffes Fernsehserie bezeichnet eine Anzahl heterogener Textformen, die bei genauerem Hinsehen differenziert werden müssen. Es sind zwei gemeinsame Merkmale, die diese verschiedenen Textformen auszeichnen und eine Familie ähnlicher Texte begründen. Das ist zum einen ihr serieller und zum anderen ihr fiktionalnarrativer Charakter. Mit dem Attribut ‘seriell’ soll der Tatsache Rechnung getragen werden, daß es sich nicht um Solosendungen handelt. Serien haben keinen einmaligen Charakter und werden niemals als Ganzes ausgestrahlt. Es handelt sich immer um Texte, die unterbrochen, bzw. segmentiert werden. ‘Fiktional-narrativ’ besagt, daß es sich um erzählerische Texte handelt, deren Handlung erfunden ist. Es werden keine realen Ereignisse nacherzählt oder berichtet. Das unterscheidet sie beispielsweise von Nachrichten- und Magazinsendungen, die unter formalem Aspekt ebenfalls seriell sind (vgl. Hickethier 1991). 9 Gravierend sind die Unterschiede innerhalb dieser Textfamilie. Grundsätzlich besteht ein Unterschied in der Art und Weise, wie die Geschichten erzählt werden. Mikos (1987, S. 8) hat daher in Anlehnung an Geraghty (1981) drei verschiedene Idealtypen seriell-fiktiven Erzählens im Fernsehen unterschieden. Es besteht zum einen die Möglichkeit, eine Geschichte mit einer nahezu identischen Ausgangssituation anfangen zu lassen und innerhalb einer Folge zu Ende zu erzählen. Diese Erzählform fängt mit einem Gleichgewichtszustand an, der dann infolge eines Ereignisses gestört wird. Am Ende einer Episode wird letzlich ein neuer Gleichgewichtszustand wiederhergestellt (vgl. Porter 1982, S. 124). Die einzelne Erzählung wird also innerhalb einer Folge abgeschlossen. Diese Texte verfügen in der Regel über eine kleine Zahl von zentralen Figuren, die immer wieder auftreten. Um sie herum ist die Geschichte aufgebaut und sie spielen eine für den Fortgang der Handlung wichtige Rolle. Beispielhaft für diese Form des Erzählens sind Kriminalerzählungen, wie Derrik, Der Alte und Der Kommissar. Hier tritt ein Team von Ermittlern auf, das einen festen Figurenstamm bildet. Hinzu kommen jeweils neue Figuren, die für den zu lösenden Fall wichtig sind. Die Protagonisten sind in der Regel stark typisiert, da sie vorrangig als Funktionsträger in dem Kriminalfall betrachtet werden müssen. Die einzelnen Episoden bilden eine Reihe von ähnlichen Erzählungen, bei denen die narrativen Grundmuster zwar variiert werden, 9 Man könnte zusätzlich auch das Attribut ‘unterhaltend’ zu Hilfe nehmen. Dies ist aber in Hinblick auf die Abgrenzung zu sog. informierenden Textsorten problematisch, da gerade unter dem Gesichtspunkt der Rezeption diese Unterscheidung letztlich hinfällig wird. Denn was dem einen Information, ist dem anderen Unterhaltung und umgekehrt. 168 Martin Jurga im wesentlichen aber gleich bleiben. Man spricht hier von einer Sendereihe. Eine zweite Möglichkeit besteht in der Zerstückelung einer zusammenhängenden Erzählung in mehrere jeweils gleichlange Teile, die, wenn sie aneinandergereiht würden, eine kontinuierliche Erzählung ergäben. Man spricht hier von einem Mehrteiler, dessen Erzählstruktur in der Regel final angelegt ist. Der Mehrteiler ist von Anfang an auf eine bestimmte Anzahl von Sendeterminen festgelegt, und kann, wenn seine Geschichte erzählt ist, nicht weitergeführt werden. Man denke hier an Holocaust, Heimat oder die bekannten Fernsehweihnachtserzählungen wie Timm Taler oder Der Seewolf, die häufig eine literarische Vorlage adaptieren. Sie werden meistens innerhalb von 4, 6, 8, oder 12 Folgen zu Ende erzählt. Ein weitere Möglichkeit des seriellen Erzählens im Fernsehen stellt die eingangs bereits erwähnte Endlosserie dar, die ihr Name verrät es bereits so angelegt ist, daß sie endlos weitererzählt werden kann. Im Gegensatz zur Sendereihe bilden die einzelnen Folgen der Endlosserie keine abgeschlossenen Erzählungen. Vielmehr wird die Handlung, oder besser werden die verschiedenen Handlungen, die in unterschiedlichen Handlungssträngen erzählt wird/ werden, über die Grenzen einzelner Folgen hinaus weitergeführt. In der Regel existieren immer mehrere Handlungsstränge, die nebeneinander erzählt werden. Meistens sind es drei. Um die unbegrenzte Perpetuierung der Endlosserie zu ermöglichen, trägt einer der drei Handlungsstränge die Haupthandlung. Er nimmt den größten Teil der Erzählzeit in Anspruch. Ein zweiter Handlungsstrang führt meistens ein neues Thema ein und der dritte Handlungsstrang zeigt schließlich ein Thema, das seinen Höhepunkt bereits überschritten hat und nun noch zu Ende geführt wird (vgl. Geißendörfer 1995). Wenn man den Rahmen der einzelnen Folgen verläßt und die Endlosserie in ihrer Gesamtheit betrachtet, dann kann man sich diese Kombination von verschiedenen Handlungssträngen bildhaft in Form dreier sich überlagernder Wellen vorstellen, wobei eine Welle gerade den Wellenberg erreicht, während die zweite anfängt, sich aufzutürmen, und die andere bereits sanft ausrollt. Dieses Bild ist als ein Idealtypus zu verstehen, dessen Muster in der Praxis der Produzenten variiert werden, um zu verhindern, was das Ende für jede serielle Unterhaltungsproduktion bedeuten würde: nämlich Langeweile durch fehlende Abwechslung in der Darbietungsweise. 10 Die Länge der verschiedenen Handlungsstränge ist innerhalb einer Serie variabel und bestimmt das Erzähltempo. Dieses ist bei Serien unterschiedlich und kann daher zur Unterscheidung verschiedener Endlosserien herangezogen werden. 10 Abwechslung ist eine wichtige Eigenschaft unterhaltender Programme. So stellt Dehrn in ihrer Untersuchung zur Unterhaltung im Fernsehen fest, daß die Zuschauer zu 83% dem Begriff ‘Unterhaltung’ und zu 59% dem Begriff ‘Unterhaltungssendungen im Fernsehen’ die Eigenschaft ‘abwechslungsreich’ zuordnen (vgl. Dehrn 1984 S. 634). Zur narrativen Struktur von Fernsehserien 169 Zu den Endlosserien zählen die im Auftrag der ARD produzierten Lindenstraße und Marienhof sowie die für RTL produzierte Gute Zeiten — Schlechte Zeiten. Die Lindenstraße mit ihrer zehnjährigen ununterbrochenen Laufzeit ist dabei der Veteran dieser Textsorte. Im internationalen Vergleich ist sie allerdings noch eine relativ junge Serie. Ihr Vorbild, die in Großbritannien produzierte Coronation Street, hat längst ihren 35. Geburtstag gefeiert, und erfreut sich nach wie großer Beliebtheit (Sendebeginn 1960, Independent Television). 11 Anhand der Fernsehserie Lindenstraße sollen die in Endlosserien verwendeten Erzählmuster genauer dargestellt werden. Dazu wurden vier Folgen im Hinblick auf die Darstellung von Zeit, auf die Handlungsstränge, auf die Figuren, auf die vorkommenden Themen und die serientypischen Cliffhanger untersucht. Es handelt sich um die Folgen I: ‘Wer einmal lügt (218), II: ‘Die Besucher’ (219), III: ‘Familienbande’ (220) und IV: ‘Nervensache’ (221) aus dem Monat Februar 1990. 3. Narrative Strukturen der Endlosserie Lindenstraße 3.1 Die Zeit Die Lindenstraße spielt immer an einem Donnerstag und wird am darauffolgenden Sonntag um 18.40 Uhr in der ARD ausgestrahlt. 12 Eine Folge dauert 28 Minuten und setzt sich aus ca. 15 - 20 Szenen zusammen. Daher ergibt sich eine durchschnittliche Szenenlänge von 1,5 bis 2 Minuten, was in Kombination mit den ständigen Wechseln der Handlungsstränge eine hohe Segmentierung des Erzähltextes bewirkt. Weil „die Lindenstraße (...) von ihrer dramatischen Konstruktion her viel eher einem Realismus (...) verpflichtet (ist)” (Hercher 1995, S. 24), kommen Traumsequenzen oder Visionen nicht vor. Es werden auch keine Rückblenden oder Vorausschauen verwendet. Ein besonderes Charakteristikum dieses Serientyps ist die Parrallelität zwischen der fiktiven Zeit in der Serie und der realen Zeit der Zuschauer. Dies wird bei der Lindenstraße besonders deutlich, bei der ganz bewußt aktuelle, reale Ereignisse in die Handlung eingebaut werden, um die Gleichzeitigkeitssimulation der Serie zu verstärken. Die Erwähnung von tagesaktuellen Ereignissen wie Wahlergebnissen oder die Nennung anderer gerade aktueller Themen binden die Serie an die Lebenswelt der Zuschauer (vgl. Mehle 1995). Es gibt permanent Anspielungen auf aktuelle politische Entwicklungen und Entscheidungen. Nach dem Mauerfall dauerte es bei- 11 Zur Coronation Street siehe Frey-Vor (1991) und Dyer u.a. (1981). 12 Die Lindenstraße ist eine Gemeinschaftsproduktion der Geißendörfer Film und Fernsehen Gesellschaft (GFF) und des Westdeutschen Rundfunks (WDR). Sie wird auf einem Produktionsgelände des WDR in Köln-Bocklemünd hergestellt und seit dem 08.12.1985 ununterbrochen jeden Sonntag ausgestrahlt. 170 Martin Jurga spielsweise nicht lange und zwei Bewohner aus der DDR kamen zu Besuch in die Lindenstraße. Dies sind Mittel, die letzlich den fiktiven Charakter der Serie aufheben sollen und eine Distanzminderung zum Zuschauer beabsichtigen. Es soll der Eindruck entstehen, als lebten die Beimers, die Sarikakis und die Zenkers, allesamt Figuren der Lindenstraße, tatsächlich in München. Und es ist uns vergönnt, an ihrem Leben teilzuhaben. Die Endlosserie strebt potentiell einen täglichen Ausstrahlungsrhythmus an. Wird die Lindenstraße einmal wöchentlich ausgestrahlt geplant waren zwei Termine in der Woche -, so geschieht es beim Marienhof zweimal und bei Gute Zeiten - Schlechte Zeiten fünfmal in der Woche, wodurch sie die erste gleichsam vollausgebaute Endlosserie in Deutschland ist. Hier haben die Zuschauer die Möglichkeit, täglich mit Ausnahme des Wochenendes ihre Medienfreunde oder -feinde zu erleben (vgl. Meyrowitz 1987, S. 94ff.). Die erzählte Zeit in der Lindenstraße schreitet immer fort. Eine Folge stellt jeweils einen Tagesablauf dar. Dabei wird niemals zeitlich parallel erzählt, so daß zwei Szenen eines Handlungsstranges niemals direkt aneinander anschließen. Es treten immer Lücken auf. So kann in einer Szene eine Familie beim Essen gezeigt werden und in der anschließenden Szene desselben Handlungsstranges beim Abwasch. Dazwischen werden Szenen aus anderen Handlungssträngen geschaltet. Für das Ende der Folge gilt, daß bis zur nächsten Folge eine Woche in der Welt der Zuschauer wie in der Lindenstraße verstreicht. Daher kann eine Figur, wenn sie beispielsweise am Ende einer Folge im Fahrstuhl stecken geblieben ist, nicht zu Beginn der nächsten Folge immer noch im Fahrstuhl sein. Es sei denn, sie wurde darin vergessen. Die Zeit schreitet innerhalb einer Folge und innerhalb der Serie sukzessiv weiter. Was während einer Woche in der Lindenstraße passiert ist, kann nur andeutungsweise und rudimentär den Gesprächen der Figuren entnommen werden, und bleibt der interpolierenden Vorstellungskraft der Zuschauer überlassen. Die Lindenstraße operiert im Modus der Zeitgleichheit. Sie besitzt die für diese Medienprodukte typische Eigenschaft der „nowness” (Fiske 1989, S. 68) und „liveness” (Feuer 1983, S. 13ff.), die die erzählten Geschichten immer so erscheinen lassen, als ob ihre Weitergänge noch nicht geschrieben und daher offen sind geradezu wie im richtigen Leben. 3.2 Die Handlungsstränge In den untersuchten vier Folgen gibt es insgesamt sieben Handlungsstränge, die nach Figurengruppen und dargestellter Thematik sowie in Haupt- und Nebenhandlungssträngen unterschieden werden können, (siehe die Überblicke im Anhang). Zur narrativen Struktur von Fernsehserien 171 Ein Handlungsstrang kann abwechselnd sowohl Hauptals auch Nebenhandlungsstrang sein. Das hängt von der Art und Weise ab, wie er im Serienverlauf ausgearbeitet und weiterentwickelt wird. Er kann zurückgestellt werden und anderen Handlungssträngen Platz machen, um später wieder aktiviert zu werden. So könnte man die Handlungsstränge E und F in der Folge „Die Besucher” als Haupthandlungsstränge bezeichnen, weil sie einen großen Teil der Sendezeit dieser Folge in Anspruch nehmen. Im Rahmen der vier Folgen spielen sie aber keine dominierende Rolle. Sie sind erstens überlagert von dem dominierenden, in allen Folgen auftretenden Handlungsstrang A, der den Ehekrach der Beimers eine zentrale Familie in der Lindenstraße thematisiert, zweitens von dem Handlungsstrang B, der die Spielsucht eines älteren Mannes (Hubert Koch) behandelt und auf seinen erzählerischen Höhepunkt zusteuert, und drittens vom Handlungsstrang C, der aufgrund der neuen Figuren (die Zenkers), die in ihm behandelt werden, besonders wichtig ist. Die Handlungsstränge sind nicht gleichmäßig über die einzelnen Folgen verteilt. Lediglich der Handlungsstrang A tritt in allen Folgen auf. Er nimmt allein 32 der 71 Szenen in Anspruch. Die Wichtigkeit eines Handlungsstranges kann man proportional zu seinem Anteil an der Sendezeit und dem Anteil seiner Szenen an der Gesamtszenenzahl messen. Nicht alle Szenen können eindeutig ausschließlich einem Handlungsstrang zugeordnet werden. Vielmehr ist es so, daß einige Szenen einen Mischcharakter aufweisen. Sie haben die Funktion Handlungsstränge zu verbinden, wobei sie das Beziehungsnetz der Figuren erweitern. Außerdem erzeugen sie Textkohärenz, indem sie fließende Übergänge von einem Handlungsstrang zum anderen ermöglichen. Dabei treten zwei Varianten auf (vgl. die Abbildung im Anhang): 1. Mischszenen, die mit einem Handlungsstrang beginnen und dann zu einem anderen übergehen, wobei die Handlung nicht verknüpft wird. Dies ist der Fall, wenn ein Handlungsstrang den anderen innerhalb einer Szene ablöst. Dies geschieht beispielsweise in den Szenen 1/ 6, 11/ 15, III/ 7 U nd IV/ 19. Diese Mischszenen bieten den Vorteil, die Übergänge zwischen den Handlungssträngen fließend zu gestalten. Man verhindert dadurch Monotonie in der Schnittechnik, die durch die einseitige Verwendung abrupter Szenenwechsel entstehen könnte. Hier kommt das für die Konstruktion von Serientexten wesentliche Prinzip der Variation zum Tragen (vgl. Eco 1991, S. 168f.). Beispiel: Szene 1/ 6. Hier wird gezeigt wie der Hausverwalter Hülsch und ein Wohnungsinteressent die Treppe des Hauses Lindenstraße 3 herunterkommen und dabei an Anna Ziegler und Hans Beimer, die sich ebenfalls im Treppenhaus aufhal- 172 Martin Jurga ten, Vorbeigehen. Hülsch und der Wohnungsinteressent verlassen das Haus und die Kamera bleibt nun bei Anna Ziegler und Hans Beimer stehen, die die Szene mit einem Dialog fortsetzen. Hier geht also der Handlungsstrang G in den Handlungstrang A über, ohne das ein Szenenwechsel bzw. Schnitt erfolgt. Es kommt nur zu einem Wechsel der Figuren, während Ort und Zeit gleich bleiben. Der Übergang zu Handlungsstrang A erfolgt somit nur über die Figuren. 2. Mischszenen, in denen Handlungen zusammengeführt und verknüpft werden. Zu dieser Variante zählen die Szenen 1/ 17, II/ 8, 11/ 17, III/ 9 und IV/ 17. Sie dienen dazu die Handlungen von verschiedenen Handlungssträngen miteinander zu verbinden, wobei das Beziehungsnetz der Figuren vergrößert wird. 1. Beispiel: Szene 1/ 17 In dieser Szene werden Handlungsstrang B und D zusammengeführt. Zwar interagieren die Figuren aus den verschiedenen Handlungssträngen nicht unmittelbar miteinander, aber dem Gespräch der Sarikakis ist zu entnehmen, daß Hubert Koch Schulden bei ihnen hat. Dieser wird am Anfang der Szene vor einem Geldautomaten stehend und während des Dialoges der Sarikakis im Bildhintergrund gezeigt. Der Zusammenhang wird also durch die Bild- und Sprachebene hergestellt. 2. Beispiel: Szene 11/ 17: Diese Szene führt die Handlungsstränge E und G zusammen. Die Figuren sind durch verwandtschaftliche Beziehungen miteinander verbunden. Die Szene thematisiert sowohl die Wohnungssuche Carsten Flöters als auch die Probleme Dr. Dresslers. Daneben wird auch noch die Beziehung zwischen Beate Sarikakis und ihrem Mann thematisiert. Außerdem wird der Handlungsstrang C vorbereitet, weil erstmals der Name der neuen Mieter, die Familie Zenker, fällt. Diese Szenen dienen wie gesagt der Erweiterung des Beziehungsnetzes und ermöglichen neue Figurenkonstellationen in der Sozialwelt Lindenstraße. So werden die Lindensträßler zu dem, was Paech (1971, S. 30) als „Familien-Familie” bezeichnet hat. 3.3 Die Figuren Die Lindenstraße umfaßt ein breites Figurenspektrum (siehe den Überblick im Anhang). Es gibt cirka 35 Stammfiguren, die bis auf wenige Ausnahmen der unteren bis mittleren Mittelschicht angehören (vgl. Paetow 1989). Es gibt keine reichen Familien-Clans, Dynastien oder Konzernbosse. Dies entspricht der Intention der Serienproduzenten, die versuchen, in einem kleinbürgerlichem Milieu die Probleme und Konflikte des Alltagslebens von Durchschnittspersonen in einer ‘ganz normalen’ deutschen Straße darzustellen. Der Drehbuchautorin Barbara Piazza zufolge soll die Lin- Zur narrativen Struktur von Fernsehserien 173 denstraße „ein Spiegel des normalen alltäglichen Lebens in diesem Lande sein.” (Piazza 1987, S. 33b). Sie steht ja wie eingangs gesagt in der Tradition der britischen sozial-realistischen Alltagserie. Bemerkenswert sind die in der Lindenstraße dargestellten Vertreter von Minderheitengruppen. Es kommen Punks, Ausländer wie der Asiate Gung, die Griechen Sarikakis, der Italiener Pavarotti und Homosexuelle wie Carsten Plöter mit seinem Freund Kurt, sowie Neonazis und andere vor. Das Alter der Figuren reicht vom dreimonatigen Säugling Tom Ziegler bis zur betagten Frau Lydia Nolte von 81 Jahren. Hauptsächlich repräsentiert sind aber Jugendliche und Erwachsene, da sie potentiell in vielfältiger Weise miteinander in Beziehung treten können und insbesondere für emotionsreiche Liebesbeziehungen in Betracht kommen. Die Figuren sind durch vielfältige Beziehungen miteinander verbunden. Es gibt keine Figur, die völlig isoliert von den anderen existiert. Dies darf auch nicht der Fall sein, da sie sonst nicht untereinander in Kontakt treten und an den für Serien typischen intimen Gesprächen teilnehmen können (vgl. Fine 1981, S. 98). Die Figuren sind nicht statisch angelegt, sondern machen eine Entwicklung durch. Sie können sich daher im Verlauf der Serie verändern. So wird der Sozialarbeiter Hans Beimer nach der Trennung von seiner Frau zum Hotelmanager. Er mutiert quasi vom ‘Softie’ zum erfolgreichen Geschäftsmann mit all den damit verbunden Charaktereigenschaften. Seine Ehefrau Helga Beimer veränderte sich nach ihrer Scheidung von der umsorgenden ausschließlich auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter festgelegten Frau zur geschäftstüchtigen Reisebüroleiterin. Die Figuren sind prinzipiell nicht auf wenige unveränderliche Charakterzüge festgelegt, sondern offenbaren den Zuschauern im Fortschreiten der Serie neue, manchmal auch verblüffende, Facetten ihrer Persönlichkeit. Für die Figuren gilt, was Hans Geißendörfer der Produzent der Lindenstraße einmal über die Figur der Helga Beimer geäußert hat: „Auch in Helga Beimer schlummert (...) irgendwo das abgrundtief Böse.” (Geißendörfer 1990, S. 53). Potentiell kann jede Figur zur Hauptfigur werden. Das hängt mit der Pluralisierung der Handlungsstränge und dem ständigen Fortentwickeln der Erzählung zusammen. In der Erzählung wird gleichsam der Fokus der Aufmerksamkeit auf jeweils unterschiedliche Figuren gelegt, so daß letztlich jede Figur einmal im Mittelpunkt der Erzählung steht. 3.4 Die Themen Endlosserien sind potentiell für alle denkbaren Themen offen, so fern sie an die fiktive Sozialwelt der Serie angeschlossen werden können. Für Barbara Piazza eine Drehbuchautorin der frühen Lindenstraße ist die thematische Vielfalt ein wichtiges Konstruktionsprinzip. Sie weist darauf hin, daß 174 Martin Jurga bei der Konzeption der Serie „kein Thema, das im Bereich der alltäglichen Erfahrung liegt” (Piazza 1987, S. 37) ausgeschlossen werden sollte. Das bedeutet, daß alle möglichen Probleme und Konflikte inszeniert werden können, so daß „die Zuschauer aus diesem Supermarkt der Gefühle aussuchen, was sie betrifft, was sie kennen und erkennen.” (Mikos/ Moeller 1986, S. 135f.). Allein in den vier Folgen werden u. a. folgende Problembereiche thematisiert: Homosexualität, eine Wohnungssuche, eine Spielsucht, eine alleinerziehende Mutter, ein alleinerziehender Vater, ein Ehekrach mit all seinen Begleitproblemen, wirtschaftliche Probleme mit einer Gaststätte, die Rehabilitation eines Behinderten und dessen Rückkehr in den Arztberuf, die Bettlägerigkeit einer alten Frau und die daraus resultierende soziale Isolation, Trennungsprobleme eines Ehepaares und der Einzug von neuen Mietern mit den sich daraus ergebenden Folgen für die anderen Mieter. Diese Aufzählung beinhaltet nur die gerade aktuellen Probleme. Hinzukommen aber auch noch latent vorhandene Probleme, die sich aus dem Beziehungsnetz der Figuren und deren Serienbiographien ergeben (vgl. Frey-Vor 1990). Denn die Figuren sind gleichsam mit den Bedeutungen, die sie im Laufe der Seriengeschichte erhalten haben, aufgeladen, so daß beim Aufeinandertreffen zweier Figuren nicht nur das aktuelle Geschehen von Bedeutung ist, sondern auch ihre Beziehung aus der SerienVergangenheit (vgl. Allen 1985). Die Vielfalt der Themen hat aber nicht nur eine quantitative Seite, es gibt hier also nicht nur eine Vermehrung von Themen gegenüber anderen seriellen Erzählformen. Ein weiterer, qualitativer Aspekt stellt die Multiperspektivität in bezug auf jeweilige Themen dar. Diese Multiperspektivität zeigt sich in den Dialogen der Figuren, die aus unterschiedlichen Perspektiven ihre häufig gegensätzlichen Meinungen äußern. So läßt sich beispielsweise beim Ehekrach der Beimers feststellen, daß letztlich alle Betroffenen zu Worte kommen und ihre Meinung zu dem Geschehen äußern (vgl. Jurga 1992, S. 72ff.). 3.5 Die Cliffhanger Ein dramaturgisch besonders interessantes und für die Endlosserie charakteristisches erzähltechnisches Mittel ist die Verwendung von sogenannten Cliffhangern am Ende einer Folge und die Verwendung von Minicliffs am Ende einzelner Szenen. Beide Mittel haben den Zweck, die Aufmerksamkeit für einen Handlungsstrang aufrechtzuerhalten und Spannung aufzubauen. Dies soll die Zuschauer animieren, die Serie weiterzuschauen. Zur narrativen Struktur von Fernsehserien 175 Cliffhanger sind Handlungsabbrüche an einem besonders spannenden Punkt. Der Protagonist befindet sich in einer (zumeist) psychologisch konfliktträchtigen Situation und das Gesicht der Figur wird bis zur Großaufnahme herangezoomt. Diese Emotionalisierungsstrategie der Produzenten bewirkt bei den Rezipienten, die Gefühle, Gedanken und inneren Befindlichkeiten der Figur zu ergründen. Gleichzeitig hat der Cliffhanger die Funktion, die Neugier der Zuschauer auf den weiteren Verlauf der Handlung zwischen den einzelnen Folgen aufrechtzuerhalten. Der Minicliff hat die Aufgabe, dasselbe intraepisodal zu erreichen. Die Minicliffs, die die letzten Szenen einer Folge beenden, können darüberhinaus aber auch wie die Cliffhanger auf den erzählerischen Fortgang in der nächsten Folge verweisen. Mit der Verwendung von Cliffhangern verfolgen die Produzenten die Doppelstrategie der emotionalen Einbindung der Zuschauer an das Seriengeschehen und der Aufrechterhaltung des Zuschauerinteresses durch Prolongierung von Spannung über das Ende einer Folge hinaus. In der Lindenstraße lassen sich präsentativ-tonale von diskursiv-präsentativtonalen Cliffhangern unterscheiden. Erstere arbeiten nur mit der Bildebene und der typischen spannungssteigernden Musik am Ende der Folge. Letztere arbeiten zusätzlich mit offenen unbeantworteten Fragen, die an die in der psychologisch konfliktträchtigen Situation befindliche Figur gerichtet werden. Sie geben gleichsam eine Richtung für die von den Rezipienten anzustellenden Überlegungen vor. 13 4. Serien als kulturelles Forum Unter funktionalem Gesichtspunkt dienen Endlosserien nicht nur der Unterhaltung, sondern konstituieren etwas, das als ‘kulturelles Forum’ bezeichnet wurde. Newcomb/ Hirsch (1986) haben dieses Konzept vorgeschlagen und verstehen darunter, daß das Fernsehen die Funktion hat, plurale Sinnangebote auf einem zentralen Sinnmarkt zu machen (vgl. Sahlins 1981). Auf diesem Forum werden unterschiedliche gesellschaftliche Werte, Einstellungen und Weltsichten thematisiert. Das Fernsehen dient daher der symbolischen Verständigung der Gesellschaft über sich selbst (vgl. Leach 1976 und Mikos 1994, S. 55). Die Zuschauer erhalten Einblicke in eine Vielzahl unterschiedlicher Gesellschaftsräume, Lebensweisen und kulturelle Praktiken, die ihnen sonst verborgen blieben. Was für das Fernsehen als Ganzes gilt, ist im Kleinen auch auf der Ebene der Endlosserie zu beobachten. Denn die Pluralisierung von sozialen Gruppen und insbesondere auch die Darstellung von Rand- und Minderheitengruppen sowie die Multiperspektivität in der Darstellung von einer 13 Bei anderen Serien werden darüberhinaus nach dem Ende einer Folge im Abspann aus dem Off Fragen über den weiteren Verlauf der Handlung und die psychologischen Befindlichkeiten der Figuren gestellt. Es wird natürlich nicht vergessen, daraufhinzuweisen, daß die nächste Folge Aufklärung darüber geben wird. 176 Martin Jurga Vielzahl von Problemen und Interessen ermöglicht es, einem heterogenen Publikum unterschiedliche Sinnangebote zu machen (vgl. Jurga 1995a). Endlosserien folgen dem durchgängigen Prinzip der Vervielfachung. Die Serie stellt daher so etwas wie einen medialen Supermarkt dar, in dem jeder dank der großen Warenpalette etwas für sich findet. Sie ist die erfolgreiche Programmform, die der Heterogenität entwickelter Gesellschaften Rechnung trägt. 5. Literatur Allen, Robert C. (1985): Speaking of Soap Operas. Chapel Hill. Campedelli, Samira Youssef (1985): A Telenovela. Sao Paulo. Dehm, Ursula (1984): Fernsehunterhaltung aus der Sicht der Zuschauer. In: Media Perspektiven 8, S. 630-643. Dyer, Richard/ Geraghty, Christine/ Jordan, Marion/ Lovell, Terry/ Paterson, Richard/ Stewart, John (1981): Coronation Street. (BFI Television Monograph, No. 13). London. Eco, Umberto (1991): Die Innovation im Seriellen. In: Ders.: Über Spiegel und andere Phänomene. München. S. 155-180. Faulstich, Werner (1994): Serialität aus kulturwissenschaftlicher Sicht. In: Giesenfeld, G. (Hg.) 1994, S. 46-54. Feuer, Jane (1983): The Concept of Live Television: Ontology as Ideology. 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(32 / I/ II/ III/ IV). / Spielsucht des Hubert Koch. (7 / I/ III/ IV). / Einzug in Wohnung (neue Figuren). (9 / III/ IV). / wirtschaftliche Probleme mit Lokal. (5 / I/ III/ IV). / Invalidität und Reintegration von Dr. Dressier. (5 / II). / soziale Isolation aufgrund von Bettlägerigkeit. (4 / II). / Wohnungsräumung und -suche. (5 / I/ II/ III). (in Klammern die Anzahl der Szenen von den insgesamt 71 Szenen der vier Folgen, sowie die Folgen, in denen die Handlungsstränge Vorkommen) Außerdem gibt es noch vier Szenen, die diesen Handlungssträngen nicht eindeutig zugeordnet werden können. In der 3. und 5. Szene der Folge „Familienbande” werden Beate Sarikakis und deren Arbeitgeberin Isolde Panowak-Pavarotti im Frisörsalon und auf der Straße gezeigt. Thematisiert werden hier die Probleme von Isolde Panowak-Pavarotti bei der Suche für eine Nachfolgerin für Beate, die zu ihrem Mann Vasily nach Griechenland ziehen möchte, und die Beziehungen beider Frauen zu ihren Ehemännern. In der 15. Szene der Folge „Nervensache” werden zwei Besucher aus der DDR gezeigt, die im Hausflur auf Egon Kling und Hubert Koch tref- Zur narrativen Struktur von Fernsehserien 179 fen. In der 14. Szene der Folge „Wer einmal lügt” wird gezeigt, wie Else Kling den Streit der Beimers an der Wohnungstür belauscht und dabei von Carsten Plöter und Beate Sarikakis ‘erwischt’ wird. Die Handlungsstränge sind nicht gleichmäßig über die einzelnen Folgen verteilt. Wie die obige Aufzählung der Handlungsstränge zeigt, tritt lediglich der Handlungsstrang A in allen vier Folgen auf. Er nimmt allein 32 von insgesamt 71 Szenen in Anspruch. 6.2 Verteilung der Handlungsstränge auf die Szenen der vier Folgen: Folge: II III IV Szenen: 1. A 4. G F A G-A C-A E+F B-G F G+C II III IV Szenen: 10. B-A 11. 12. 13. 14. * 15. G E-A D 16. 17. B+D E+G B+D 18. 19. D-B * = Szene, die nicht bestimmten Handlungssträngen zugeordnet werden kann. _>= Mischszene, die mit einem Handlungsstrang beginnt, dann zu anderem Handlungsstrang übergeht, ohne daß die Handlungen verknüpft werden. + = Mischszene, in der zwei Handlungstränge zusammengeführt werden. Unterstrichene Buchstaben geben die in den Mischszenen dominanten Handlungsstränge an.] 180 Martin Jurga Überblick über die Figuren, die in den vier Folgen auftreten (in Klammern das Alter der Figuren): A: Familie Beimer: Vater Hans (46), Mutter Helga (49), Tochter Marion (20), Söhne Benny (18) und Klausi (11). Au-pair Mädchen Dominique Mourrait (19). Familie Ziegler: Mutter Anna (30), Tochter Sarah (2) und Sohn Tom (3 Monate). B: Ehepaar Koch: Hubert (64) und Rosi (62). C: Familie Zenker: Vater Andreas (Andy), die Söhne Josua (Jo) und Timotheus (Timo), die Töchter Iphigenie (Iffi) und Valeria (Walze). D: Familie Sarikakis: Vater Panaiotis (52), Mutter Elena (50), Sohn Vasily (26) (zur Zeit in Griechenland) und Schwiegertochter Beate (geb. Flöter) (19) E: Ehepaar Dressier: Dr. Ludwig Dressier (56), Elisabeth (45) (Mutter von Beate Sarikakis und Carsten Flöter). F: Lydia Nolte (81), Tochter Berta Griese (48), Amelie von der Marwitz. G: Carsten Flöter (23), Freund Kurt. Außerdem treten auf: Ehepaar Enrico (53) und Isolde Panowak-Pavarotti (53), Ehepaar Else (62) und Egon Kling (64), Gung Pham Kien (31), Kornelia Harnisch (18), Manoel Griese (8), Hausverwalter Hülsch, Wohnungsinteressent Kolb, ein Ehepaar aus der DDR und einige Statisten im ‘Akropolis’ und auf der Straße. ULRICH PUSCHEL Mündlichkeit und Rezeption Abstract Gegen die kulturpessimistische Behauptung, das Fernsehen zerstöre vor allem das Gespräch in der Familie, spricht die unbestreitbare Alltagserfahrung, daß wir beim gemeinsamen Fernsehen vielfältige verbale Aktivitäten entfalten. Im folgenden werden einige spezifische Besonderheiten des Sprechens beim Fernsehen vorgestellt, wobei davon ausgegangen wird, daß das gemeinsame Fernsehen eine Form des geselligen Beisammenseins ist. Dann werden zwei Funktionen dieser verbalen Aktivitäten thematisiert: die wechselseitige Unterstützung der Rezipienten beim Verstehen des Fernsehtextes und die Nutzung des Fernsehtextes als symbolisches Material für die Entwicklung und Bestätigung gruppeneigener Werte. Am Ende steht noch der Hinweis, daß das Fernsehen eine unausschöpfbare thematische Ressource für Alltagsgespräche bildet. 0. Zur Fragestellung Wenn in diesem Beitrag von „Mündlichkeit und Rezeption” gehandelt wird, dann bewegt sich das etwas am Rand der Themenstellung, der dieser Sammelband gewidmet ist. Denn es geht jetzt nicht um die Qualitäten von Mündlichkeit im Fernsehen, auch nicht um die Interferenzen von Oralität und Schriftlichkeit im Fernsehtext; davon handelt eine Reihe von Beiträgen in diesem Band. Ebensowenig geht es darum, wie die verschiedenen Ausprägungen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit die Rezeption des Fernsehtextes beeinflussen; dazu müßten sich Verständlichkeitsexperten äußern. Stattdessen soll der Frage nachgegangen werden, wie sich das Fernsehen auf unsere alltägliche Mündlichkeit auswirkt. Allerdings ist mit diesen Auswirkungen nicht gemeint, wie der Sprachgebrauch im Fernsehen auf unsere Alltagssprache Einfluß nimmt, wie er auf sie abfärbt und sie verändert. Zwar ist es keine kühne These, daß es diesen Einfluß gibt, aber wie er genau aussieht, darüber wissen wir herzlich wenig. Deshalb spricht Wolfgang Brandt in seinem Überblick über die Bedeutung von Hörfunk und Fernsehen für die jüngste Geschichte des Deutschen notgedrungen davon, lediglich Impressionen geben zu können (Brandt 1985; vgl. auch Holly/ Püschel 1993, S. 148ff.). Ich werde stattdessen einen anderen Aspekt aufgreiferi, wie nämlich das Fernsehen in unsere alltägliche Kommunikation eingreift, welche Rolle es in unserem kommunikativen Alltag spielt oder etwas gewählter formuliert welchen Einfluß das Fernsehen auf die Gesprächskultur ausübt. Für Kulturpessimisten, die dem populären Massenkommunikationsmittel ‘Fernsehen’ alle möglichen, aber jedenfalls immer negative Wirkungen auf unsere Gesellschaft und Kultur zuschreiben (vgl. Holly/ Püschel 1993, S. 151f.), ist der Fall ziemlich klar: Das Fernsehen gefährdet die private 182 Ulrich Puschel Kommunikation, vor allem in der Familie. Als bloßer „Kommunikationsverhinderungsapparat” reduziert es seine Konsumenten zu Fast-Monaden, die sich ausschließlich zum Bildschirm hin öffnen, ansonsten aber sprachlos nebeneinanderher vegetieren. Solche und andere Vorurteile gegen das Fernsehen haben einen besonderen Charme, der sie so anziehend macht: Wer sich zu ihnen bekennt, der darf sich zur auserwählten Schar derjenigen rechnen, die sich dem Sog des Fernsehens offensichtlich entziehen können und zudem die Kultur gegen ihren Bedroher verteidigen. Doch wie steht es nun um die empirische Untermauerung solcher Aussagen? Diese - und das soll jetzt die letzte polemische Bemerkung sein diese ist zumindest umgekehrt proportional der Charmeentfaltung solcher kulturpessimistischer Positionen: Je attraktiver das Vorurteil, desto unbekannter die Fakten. Gerhard Maletzke hat sich in seiner Studie über den „Kulturverfall durch Fernsehen? ” ausführlich mit diesem Problem auseinandergesetzt (Maletzke 1988). Allerdings, was nun die Zerstörung - oder etwas milder ausgedrückt: die Behinderung privater und familiärer Kommunikation durch das Fernsehen angeht, so glaubte Peter Hunziker in den siebziger Jahren, diese empirisch belegt zu haben. Hier kann jetzt nicht die Auseinandersetzung mit Hunzikers Thesen nachgezeichnet werden. Ich beschränke mich deshalb auf den pauschalen Hinweis, daß Hunzikers Ergebnissen sofort und vehement widersprochen wurde, so zum Beispiel von Wilhelm Teichert, der darauf verwies, daß Fernsehen eine komplexe Angelegenheit sei, mit der eine Vielfalt von Aktivitäten verbunden ist. Dehalb müsse untersucht werden, auf welche Weise das Fernsehen in die private und familiäre Interaktion eingebunden sei und welche Funktionen es für private, familiäre Kommunikationsverläufe habe (Teichert 1977, S. 287). Mittlerweile liegen dazu eine Reihe von Untersuchungen vor,wie beispielsweise von Angela Fritz (1984), Heinz Bonfadelli (1986), Hans Matthias Kepplinger und Verena Martin (1986) oder Bettina Hurrelmann (1989). Gewirkt haben unter anderem auch amerikanische Studien wie die Arbeiten von Sandia R. Greenberg (1975), Jennifer Bryce (1980), James Lull (1981) oder Paul Messaris (1983). Im übrigen gibt Bettina Hurrelmann (1994) einen sehr instruktiven Überblick. Wie auch immer die Ergbenisse solcher familienpädagogischer, soziologischer, kommunikationswissenschaftlicher oder psychologischer Studien im einzelnen aussehen mögen, eines machen sie alle klar: Fernsehen behindert nicht Alltagskommunikation, auch nicht Familienkommunikation, sondern es beeinflußt sie; es kann sie verändern und sogar bereichern. Und darüber hinaus: Fernsehen ist eine unerschöpfliche Ressource für kommunikative Aktivitäten. Genau diesen Punkt werde ich im weiteren etwas näher beleuchten. Dabei knüpfe ich an Überlegungen an, die in ein DFG-Projekt eingemündet sind, das den Titel „Über Fernsehen sprechen” trägt (vgl. Holly 1993; Püschel 1993). 1 1 In diesem Projekt bildet die Tatsache, daß Zuschauer beim Fernsehen und nach dem Mündlichkeit und Rezeption 183 1. Primäre und sekundäre Thematisierungen Den Ausgangspunkt dieses Projektes bildet die mittlerweile nicht mehr ganz unbekannte Aulfassung, daß Fernsehrezipienten nicht einfach passive Opfer des Mediums sind, sondern aktiv mit dem Fernsehen umgehen (vgl. den Überlick bei Ayaß 1993), indem sie sich die Fernsehtexte nach ihren jeweiligen Bedürfnissen aneignen und weiterverarbeiten. Die Frage stellt sich dann: Wie läßt sich Einblick in diesen Aneignungs- und Weiterverarbeitungsprozeß gewinnen, wie läßt er sich rekonstruieren? Die Antwort aus der Sicht der linguistischen Gesprächsanalyse darauf lautet: Indem wir untersuchen, wie die Rezipienten über Fernsehen sprechen, wie sie Fernsehereignisse thematisieren, und welche Funktionen ihr Sprechen über Fernsehen hat. Das heißt, wir können das Faktum nutzen, daß Fernsehen gerade nicht Kommunikation tötet, sondern kommunikative Aktivitäten erzeugt und in sie eingebunden ist. Um nun in das weite Feld des alltäglichen Sprechens über Fernsehen eine erste, gewiß noch sehr grobe Ordnung zu bringen, läßt sich zwischen primären und sekundären Thematisierungen unterscheiden. Mit primären Thematisierungen sind solche verbalen Aktivitäten gemeint, die während der gemeinsamen Fernsehrezeption hervorgebracht werden. Mit sekundären Thematisierungen ist dagegen ein Sprechen über Fernsehen gemeint, das ex post, also nach der Rezeption stattfindet und unabhängig von ihr. Solche sekundären Thematisierungen nehmen wie Bernd Ulmer und Jörg Bergmann (1993) festgestellt haben in unseren Alltagsgesprächen einen breiten Raum ein. Damit erweist sich das Medium „Fernsehen” als eine wichtige kommunikative Ressource, die zudem einen besonderen Status hat, wie Angela Keppler in ihrer Studie über „Tischgespräche” hervorhebt (Keppler 1994). Danach ist das Fernsehen nicht bloß eine zusätzliche Quelle für Gesprächsthemen neben Berufswelt, Familiengeschichten oder Haustieren, sondern es hebt sich von diesen ab, da es sich bei den Fernsehthemen nicht um private, sondern um allgemein bekannte oder zumindest allgemein zugängliche Gegenstände handelt. Das bedeutet aber, daß sich am „Beispiel medial vermittelten Wissens und seiner Thematisierung [...] vorzüglich die private Aneignung öffentlicher Verhaltensweisen und Wissensbestände studieren läßt.” (Keppler 1994, S. 212) Wenn ich mich im weiteren vor allem mit primären Thematisierungen auseinandersetze, dann verfolge ich in der Hauptsache zwei Gesichtspunkte. Zum einen werde ich einige Grundmuster verbaler Aktivitäten vorstellen, die bei der gemeinsamen Fernsehrezeption anzutreffen sind. Zum andern werde ich typische Anknüpfungspunkte für solche verbalen Aktivitäten Fernsehen über den „Fernsehtext” reden, den Ausgangspunkt. Es soll untersucht werden, nach welchen Bedürfnissen und Mustern sich die Zuschauer den Fernsehtext aneignen und ihn weiterverarbeiten. 184 Ulrich Puschel behandeln. Abschließend gehe ich dann noch kurz auf die sekundären Thematisierungen ein. 2 2. Gemeinsame Fernsehrezeption: Eine Form des geselligen Beisammenseins Das gemeinsame Fernsehen ist eine zwitterhafte Situation, und zwar insofern als sie in gewisser Weise dem gemeinsamen Kinobesuch vergleichbar ist, aber nicht im öffentlichen, sondern im privaten Raum angesiedelt ist. Für den Kinobesuch ist charakteristisch, daß die Zuschauer ihre Aufmerksamkeit prinzipiell auf die Leinwand richten und dem Filmgeschehen schweigend folgen, zumal sie die Anwesenheit vieler anderer, die zugleich Fremde sind, zur gegenseitigen Rücksichtnahme zwingt; das heißt, Getuschel hat zu unterbleiben, der Austausch über das Gesehene kann erst im Nachhinein stattfinden. Ausnahmen bestätigen dabei die Regel, wenn beispielsweise ein kundiges Publikum gelungene Szenen mit Gelächter oder Szenenapplaus quittiert oder den schon häufig gesehenen Kultfilm mit vielfältigen verbalen Aktivitäten begleitet. Anders dagegen das gemeinsame Fernsehen, bei dem es den Beteiligten im Prinzip gestattet ist, sich unmittelbar zu den Fernsehereignissen zu äußeren es sei denn, einer der Anwesenden besteht auf absoluter Ruhe. Diese Lizenz zum Sprechen resultiert zuerst einmal aus der Privatheit der Fernsehrezeption. Doch die Abwesenheit von Fremden, auf die Rücksicht zu nehmen ist, erklärt noch nicht zureichend die Besonderheiten der Situation. Denn gemeinsames Fernsehen ist mehr als nur ins Wohnzimmer verlegtes Kino; es ist vielmehr eine Form des geselligen Beisammenseins. Geselligkeit zeichnet sich nach Georg Simmel aber dadurch aus, daß sie „in ihren reinen Gestaltungen keinen sachlichen Zweck hat, keinen Inhalt und kein Resultat, das sozusagen außerhalb des geselligen Augenblicks als solchem läge [...].” (Simmel 1984, S. 53) Genau dies trifft auf die fernsehenden Gruppen zu, aus denen die primären Thematisierungen stammen, aus denen im folgenden zitiert wird. Diese Gruppen sind zusammengesetzt aus miteinander vertrauten Personen wie Familienmitgliedern, WG-Mitgliedern, Freunden oder Bekannten, die sich Das Material, das ich dabei heranziehe, ist im Rahmen von Seminaren erhoben worden, die Werner Holly und ich zur Vorbereitung des DFG-Projektes an der Universität Trier durchgefiihrt haben. Studierende haben in Form der teilnehmenden Beobachtung Fernsehabende von Gruppen dokumentiert. Probleme des Zugangs haben sich nicht ergeben, da sich die Aufnehmenden in vertrauten Milieus bewegt haben (Familie, Wohngemeinschaft oder Freundeskreis). Auf diese Weise wurde auch das Beobachterparadoxon minimalisiert, wenn nicht ausgeschaltet. Die Vorteile dieser „registrierenden” Datenerhebung gegenüber den „rekonstruierenden Konservierungsmodi” (Bergmann 1994, S. 9) sind so erheblich, daß die Tatsache, daß vor der Aufnahme das Einverständnis der betroffenen Personen eingeholt werden muß, vernachlässigenswert erscheint. Mündlichkeit und Rezeption 185 zufällig, gewohnheitsmäßig oder auch auf Verabredung vor dem Fernseher getroffen haben, um einen Teil ihrer Zeit miteinander zu verbringen, ohne damit weitergehende Zielsetzungen zu verfolgen. 3 Die höchste Form der Geselligkeit besteht nun in der geselligen Unterhaltung, in der um noch einmal Simmel zu zitieren - „das Reden zum Selbstzweck wird” (ebd. S. 61). So gehört das Reden zum geselligen Beisammensein vor dem Bildschirm, auch wenn dieses Reden nicht unbedingt im Sinne Simmels „der Kunst des Sich-Unterhaltens, mit deren eigenen artistischen Gesetzen” (ebd.) zuzurechnen ist. Neben der Selbstzweckhaftigkeit besitzt die gesellige Unterhaltung noch eine weitere Eigenschaft: Die Versammelten sind dazu verpflichtet, das Gespräch kontinuierlich zu führen. Es besteht wie wir sagen können eine prinzipielle Kommunikationsverpflichtung (vgl. Brunner 1987, S. 55). Beim gemeinsamen Fernsehen trifft nun zweierlei zusammen: Zum einen richten die Beteiligten ihre Aufmerksamkeit wie im Kino auf das Mediengeschehen und folgen ihm schweigend; zum anderen unterliegen sie der Kommunikationsverpflichtung, die an das gesellige Beisammensein geknüpft ist. Dieses Zusammentreffen könnte nun zu einem Konflikt führen, was jedoch nicht der Fall ist. Stattdessen haben wir es mit einer besonderen kommunikativen Situation zu tun, die Erving Goffman als „open state of talk” bezeichnet hat (Goffman 1981, S. 134f.). Damit sind solche Situationen gemeint, in denen die Kommunikationsverpflichtung teils außer Kraft gesetzt, teils modifiziert wird: Die Versammelten haben das Recht zu schweigen und zugleich das Recht zu sprechen. Dieser „open state of talk” gilt auch für bestimmte Formen des geselligen Beisammenseins wie beispielsweise das gemeinsame Fernsehen; denn hier dürfen die Versammelten schweigen, wenn sie tatsächlich oder auch nur scheinbar ihre Aufmerksamkeit dem Bildschirmgeschehen widmen. Sie dürfen aber auch sprechen. Wem oder was sie aber dabei ihre Aufmerksamkeit schenken können, wenn sie sprechen, das soll jetzt genauer betrachtet werden. Wie schon ein oberflächlicher Blick in die Transkripte von primären Thematisierungen zeigt, lassen sich keineswegs alle verbalen Aktivitäten als Teile von Gesprächen charakterisieren. Das zeigt sich am deutlichsten in den Fällen, in denen die „dialogischen Ausrichtung” (Brinker/ Sager 1989, S. 11) fehlt. Das bedeutet, wir haben es vielfach mit isoliert stehenden Äußerungen zu tun, die sich nicht als Gesprächsschritte beschreiben lassen. Dazu ein Beispiel, in dem vier Studenten einen Bericht des „Spiegel 3 Allerdings zeigt sich beim genaueren Hinsehen, daß an ein geselliges Beisammensein sehr wohl Zielsetzungen geknüpft sein können, die über dieses hinausweisen. So führt Marlene Faber (1995) vor, wie eine Gruppe junger Leute das gemeinsame Anschauen der „Lindenstraße” unter anderem dazu benutzt, den Sonntag Abend zu strukturieren. 186 Ulrich Püschel TV” (RTL, 04.07.1993) über den Tod von Wolfgang Grams in Bad Kleinen anschauen: 1 33 sec Schweigen 2 A poh — da ist dat ja auch noch wahrscheinlich datn 3 A querschläger mal — ne 4 44 sec Schweigen 5 A ach so 6 S sec Schweigen 7 A ach du schände 8 31 sec Schweigen Natürlich lassen sich solche verbalen Aktivitäten nur als isoliert und zusammenhangslos beschreiben, wenn wir als Folie das kontinuierlich geführte Gesprächs benutzen. Unter anderen Gesichtspunkten stehen sie dagegen sehr wohl in einem Zusammenhang, wobei sich als erstes nennen läßt, daß sie als Züge in einer parasozialen Interaktion verstanden werden können. 3. Parasoziale Interaktion Mit parasozialer Interaktion ein Begriff, der auf Donald Horton und Richard Wohl (1956) zurückgeht ist zuerst einmal gemeint, daß Personen aus dem Fernseher heraus unmittelbar die Zuschauer ansprechen und mit diesen in eine simulierte Beziehung eintreten. Dem korrespondiert, daß auch Zuschauer einen Kontakt mit Fernsehakteuren etablieren können. Aus dieser Konstellation resultiert die Anekdote von den alten Leutchen, die den Gruß des Nachrichtensprechers laut erwidern, weil sie glauben, er begrüße sie persönlich und er könne sie zudem hören. Der Begriff der parasozialen Interaktion ist jedoch keineswegs daran gebunden, daß Zuschauer tatsächlich glauben, sie würden in einen Austausch mit Personen auf dem Bildschirm stehen. Vielmehr reicht es aus, daß sie so tun, als ob. Außerdem können die Zuschauer eine parasoziale Beziehung auch herstellen, wenn sich die Fernsehakteure nicht direkt an sie wenden, wie das folgende Beispiel zeigt. Hier schauen vier Frauen „Lindenstraße”, und zwar die Fortsetzung, in der Franz Schildknecht von Hans Beimer erfroren aufgefunden wird (ARD, 03.01.1993). Hans Beimer eilt zu Dr. Dressier, um ihn zu Hilfe zu rufen. Die Zuschauerin S kommentiert das Verhalten Beimers: ach gott is hansemann aufgeregt sei doch froh daß er weg is. Im ersten Teil der Äußerung nimmt S auf Beimer mit dem Kosenamen Hansemann in der 3. Person Bezug; sie redet über Beimer. Dann ändert sie aber die Perspektive und redet Beimer direkt an, indem sie ihn im Imperativ auffordert. S tut also, als ob ihre guten Ratschläge Beimer erreichen könnten. Nicht um gute Ratschläge, aber um Ermunterung oder gar Anstachelung Hans Beimers geht es dann wenige Sekunden später. Hans Beimer sagt zu Dr. Dressier: franz schildknecht Hegt unten im hof - Mündlichkeit und Rezeption 187 halb eingeschneit ja bewegt sich nicht mehr ich fürchte er is/ er ist. In dem Moment, in dem Beimer zögert, das Wort tot auszusprechen, äußert die Zuschauerin S ja sag’s, und die Zuschauerin M schließt sich an mit nu komm. Zusätzlich wird noch mit der Zunge geschnalzt und in die Hände geklatscht. S und M tun so, als ob sie gewissermaßen als Mitspielerinnen den Fortgang des Bildschirmgeschehens lenken und beschleunigen könnten. Diese direkte Anrede Beimers zeugt von Engagement und Mitgehen, wie wir es beispielsweise vom Fußballplatz oder Boxring her kennen. Insofern ist es kaum überraschend, daß sich Parasoziales gehäuft bei Fußballübertragungen findet, so beispielsweise im Europameisterschaftsspiel Schottland-Deutschland (ZDF, 15.06.1992), wenn der Zuschauer N Häßler anfeuert (K = der Reporter Dieter Kürten): 1 K der kleine häßler — gegen den langen mcperson 2 N ((sehr laut)) los häßler In dem gleichen Transkript finden sich noch andere Formen parasozialer Interaktion wie beispielsweise in dem folgenden Ausschnitt: 1 K die ecken von links schlägt last immer garry 2 K mcallister auch er ein sehr schneller — kampfstarker 3 K mann 4 0 ach so das ist der mit dem hut In den Zeilen 1 bis 3 erklärt Kürten, daß McAllister bei den Schotten die Eckbälle von links schlägt, und er bewertet diesen Spieler. Der Zuschauer 0 bestätigt in der Zeile 4, daß er den von Kürten gemeinten Spieler identifiziert hat. Auf die Frage, wem er das denn bestätigt, ist eine mögliche Antwort: dem Reporter Kürten. Diese Passage läßt sich verstehen, als ob Kürten seine Erklärung genau für 0 gemacht hätte, der dann Kürten zu erkennen gibt, daß er ihm folgt. Die Äußerung von 0 wäre in dieser Deutung als parasoziale Höreraktivität einzuordnen. Anders verhält es sich dagegen mit der Äußerung von N, der im Anschluß an Kürtens Bemerkung auch er ein sehr schneller kampfstarker mann äußert: ja das sind die ganzen macs. N bestätigt das Urteil Kürtens und dehnt es zugleich auf die gesamte schottische Mannschaft aus. N präsentiert sich damit als Experte, der das Stichwort, das ihm Kürten gewissermaßen zuspielt, aufnehmen kann. Diesem Fall vergleichbar ist die Bemerkung von F im folgenden Ausschnitt: 1 K richtig das wird er ihnen gesagt haben berti vogts 2 K — vor allem auch matthias sammer schießt einfach mal 3 F jetzt traun se sich wenigstens mal was 4 K aus zwanzig fünfundzwanzig metern 188 Ulrich Puschel Wenn Kürten in Zeile 1 auszuführen beginnt, was Vogts den Spielern gesagt habe, dann setzt F das nahtlos fort, indem er Kürten gleichsam das Wort aus dem Munde nimmt. Dieser Fortsetzungscharakter wird noch dadurch verdeutlicht, daß Kürten sich gleichzeitig in die gleiche Richtung gehend äußert. Parasoziale Interaktion das kann natürlich von den eingangs angesprochenen Kulturpessimisten als Wasser auf ihre Mühlen verstanden werden: Ist denn die parasoziale Interaktion so könnten sie fragen nicht ein Beweis dafür, daß das Fernsehen die Kommunikation kaputt macht? Denn mit dem Fernseher kommunizieren zu wollen, kann doch nur eine perverse Verzerrung von Kommunikation sein. Es ist sicherlich einzuräumen, daß es solche Verzerrungen gibt, daß tatsächlich der scheinbare Austausch mit dem Fernseher als Kommunikationsersatz funktionieren kann. Aber in den primären Thematisierungen haben die parasozialen Interaktionen zumeist gerade nicht die Funktion des Kommunikationsersatzes, sondern sie sind Teil der Kommunikation, was daran liegt, daß bei den zitierten verbalen Aktivitäten dritte Personen anwesend sind. Diese aber können gar nicht umhin, die als parasozial eingestuften Äußerungen mitzuhören, und das wissen natürlich auch die Sprechenden. Bei dieser Lage der Dinge können wir letztlich gar nicht entscheiden, ob sich die Sprechenden mit ihren Äußerungen ausschließlich an den Fernseher wenden. Umgekehrt läßt sich nämlich sehr gut zeigen, daß und wie als parasozial eingeschätzte Äußerungen sich gleichermaßen als Züge in der Interaktion der Rezipienten verstehen lassen. So ist die schon behandelte Äußerung der Zuschauerin S ach gott is hansemann aufgeregt sei doch froh daß er weg is Teil einer Sequenz, in der die zuschauenden Frauen das Bildschirmgeschehen wechselseitig kommentieren und sich gegenseitig auf bestimmte Dinge aufmerksam machen; sie tauschen sich eindeutig aus. Es wäre nun sicherlich möglich zu sagen, daß S mit dem Wechsel vom Sprechen über Hans Beimer zur direkten Anrede dieser Person diesen Austausch unterbrechen würde. Das ist aber keineswegs zwingend, da sich ebenso gut sagen läßt, S setze ihre Kommentierung fort, indem sie eine „als-ob-Umadressierung” weg von den Mitzuschauerinnen und hin zu Hans Beimer vornimmt. Auf noch andere Weise verdeutlichen die Äußerungen von S und M ja sags und nu komm, wie Parasoziales als in den Austausch der Rezipientinnen eingebunden betrachtet werden kann. Die Zuschauerinnen S und M agieren hier nicht jede für sich und nur zufällig fast gleichzeitig parasozial, indem jede Hans Beimer anfeuert, sondern sie tun es gemeinsam. Ohne jetzt weiter in interpretatorische Details zu gehen, läßt sich ganz pauschal sagen, daß diese anfeuernde Hinwendung zu Hans Beimer Ausdruck des Rezeptionserlebnisses ist und daß S und M sich auf diese Weise gegenseitig daran Anteil haben lassen. Mündlichkeit und Rezeption 189 Insofern unterscheidet sich dieses Beispiel nicht von anderen Fällen, in denen die verbalen Aktivitäten ebenfalls als Ausdruck für ein gemeinsames Rezeptionserlebnis verstanden werden können, bei denen jedoch nicht von parasozialer Interaktion gesprochen werden sollte. Auch dazu eine Kurzillustration aus dem „Lindenstraßen”-Transkript. Ab dem Zeitpunkt, zu dem Hans Beimer den toten Franz Schildknecht aufgefunden hat, werfen die vier Zuschauerinnen mehrfach die Frage auf, ob Schildknecht denn wirklich tot sei oder ob die „Lindenstraßen”-Dramaturgie ihn wieder auferstehen lasse; dabei lassen sie keinen Zweifel daran, daß sie ihn gerne tot sehen würden. An der Stelle nun, an der der Sargdeckel über Schildknecht geschlossen wird, bestätigt A ausdrücklich, daß Schildknecht tot ist: siehst du er ist tot. Vermutlich wendet sich A mit dieser Äußerung an S. S bricht in Jubel aus, dem sich die anderen Zuschauerinnen mit Lachen und Klatschen anschließen: er ist tot iuhu ((lacht; jubelt)). Helmut Geißendörfer, dem ein Student von diesem Verhalten erzählte, war über die Zuschauerinnen-Reaktion entsetzt. Wie könne man so mit dem Tod eines Menschen umgehen, zumal es bei den Dreharbeiten große Mühe gekostet habe, den Schauspieler des Franz Schildknecht dazu zu bewegen, sich in den Sarg zu legen? Geißendörfer ließe sich erwidern, daß die vier Frauen sich so ähnlich wie Kinder im Kasperletheater verhalten, die auch über den Tod der Hexe jubeln dürfen: Eine als unangenehm empfundene Serienfigur tritt ab, und die Befürchtungen, sie könnte wieder zum Leben erwachen, haben sich als unbegründet erwiesen. Außerdem freuen sich die Zuschauerinnen nicht einfach über den Tod eines Menschen, sondern auch über die Art und Weise, wie dieser inszeniert ist. S, die den Jubel anstimmt, fährt nämlich fort: super gute idee ((2 sec)) schön gemacht die beerdigung will ich noch nicht mal sehen. 4. Blurtings Es ist noch einmal auf den Gesichtspunkt zurückzukommen, daß manche verbalen Aktivitäten in der gemeinsamen Fernsehrezeption isoliert stehend erscheinen, zumindest auf der Folie des kontinuierlich geführten Gesprächs. Hierher gehören neben den parasozialen noch solche Äußerungen, die Erving Goffman „blurtings” genannt hat. „Blurtings” sind nach Goffman selbstgesprächshafte Äußerungen, die typischerweise in Anwesenheit von Dritten gemacht werden, beispielsweise wenn wir auf einer Bananenschale ausrutschen und Huch rufen oder uns Tomatensoße aufs Hemd spritzen und Mist sagen. Mit solchen „response cries” nehmen wir die Aufmerksamkeit der anwesenden Personen in Anspruch und zwar für unsere eigenen Belange, allerdings nur für eine begrenzte Zeit; vor allem zielen wir mit ihnen nicht darauf, mit den Anwesenden ein Gespräch anzuknüpfen (Goffman 1981, S. 121). Stattdessen beschränken wir uns mit dem Huch beispielsweise darauf, den anderen zu 190 Ulrich Puschel zeigen, daß unsere merkwürdigen Bewegungen nicht einfach mangelnder Kontrolle zuzuschreiben sind, sondern einer äußeren Einwirkung, und mit Mist zeigen wir an, daß die Tomatenspritzer aus einer Ungeschicklichkeit resultieren und nicht unserem Verständnis von Tischsitten entsprechen. Viele der verbalen Aktivitäten beim gemeinsamen Fernsehen lassen sich nun als solche selbstgesprächshaften Äußerungen verstehen. So beispielsweise die Bemerkungen von A in dem eingangs zitierten Beispiel aus dem Transkript „Spiegel TV”: poh - [...], ach so oder ach du schände, mit denen so etwas wie Verblüffung, Erstaunen und Überraschung ausgedrückt wird. Dem ach so entspricht im übrigen genau die Äußerung von 0 im Fußball- Beispiel ach so das ist der mit dem hut, die schon als Höreraktivität in der parasozialen Interaktion charakterisiert wurde. Wie sich jetzt zeigt, läßt sie sich auch als „blurting” verstehen und damit als an die anderen gerichtete Äußerung. Eine mögliche Lesart wäre dann, daß O beispielsweise seinen Mitzuschauern zu verstehen gibt, daß er bis jetzt nicht wußte, welcher Spieler Garry Mac Allister ist, es aber jetzt weiß. Aber auch andere Lesarten sind möglich. So kann die Äußerung auch als potentielle Aufforderung von O an die Mitzuschauer verstanden werden, ihn für den Fall zu korrigieren, daß er sich bei der Identifizierung des Spielers geirrt haben sollte. In diesem Fall wäre die Äußerung die Intitiative für einen Austausch. Ob eine isoliert stehende Äußerung ein Zug in der parasozialen Interaktion ist, ob sie selbstgesprächshaften Charakter hat oder ob sie eine potentielle Initiative zu einem Austausch ist, das läßt sich im konkreten Fall oft gar nicht sicher entscheiden; ja, sie kann im konkreten Fall alles zugleich sein. Prinzipiell zeigt sich aber, daß beim Sprechen während des gemeinsamen Fernsehens mit ganz verschiedenen Typen verbaler Aktivitäten zu rechnen ist noch nicht gerechnet die Gesprächspassagen im gesprächslinguistischen Sinne, auf die jetzt noch einzugehen ist. 5. Wechselseitige Unterstützung beim Verstehen Wenn es nun um die mehr oder minder umfangreichen Gesprächspassagen geht, dann wäre es sicherlich von größtem Interesse zu erfahren, ob es typische thematische Aspekte sind, die für die Fernsehenden zum Gesprächsanlaß werden. Doch leider läßt sich bei der gegenwärtigen Materiallage darüber noch keine Auskunft geben. Bisher sieht es so aus, als ob alles zum Thema gemacht werden kann und nichts zum Thema gemacht werden muß. Vielleicht ist das sogar schon das endgültige Ergebnis. 4 Dennoch gibt es typische Anlässe, einen Austausch zu initiieren, die allerdings nicht thematischer Natur sind. So finden sich praktisch in allen Transkripten Beispiele dafür, daß Beteiligte um Verständnishilfe bitten und diese 4 Begründete Aussagen darüber werden sich vermutlich erst machen lassen, wenn ein relativ umfassendes Datenkorpus vorliegt, in dem die Fernsehgespräche der einzelnen Gruppen über einen längeren Zeitraum erfaßt sind. Mündlichkeit und Rezeption 191 auch erhalten. Die gemeinsam Fernsehenden unterstützen sich also wechselseitig beim Verstehen des Fernsehtexts ein Beleg dafür, daß Fernsehen Austausch nicht nur nicht beeinträchtigt, sondern sogar provoziert. Dabei geht es zuerst einmal um Aufmerksamkeits- und Wissenslücken, die zu Fragen führen wie: Wer ist das? Was ist das? Wo ist das? Wann war das? Als Beispiel drei Studentinnen, die den „Weltspiegel” (ARD, 17.01.1993) anschauen: 1 C das ist zum totlachen seht 2 B pst ((2 sec)) guck Bill Clinton der 3 B spielt Saxophon ((4 sec)) 4 A das hab ich nicht verstanden 5 C golanhöhen 6 B wie lang is Bush noch ((1 sec)) 7 A das ist jetzt diese woche 8 A läuft das aus 9 C mittwoch mittwoch is die Übergabe 10 A ah ja Neben solchen elementaren Verstehensproblemen, die aus Unaufmerksamkeit oder Wissensdefiziten resultieren, finden sich auch Verstehensprobleme, die auf Eigenschaften des Fernsehtexts beruhen, auf Vagheiten, Mehrdeutigkeiten und auch Lücken im Text. Beim gemeinsamen Fernsehen helfen sich Gruppenmitglieder immer wieder, auftretende Vagheit zu konkretisieren, Mehrdeutigkeiten aufzulösen und Lücken zu schließen. Dazu wieder ein Beispiel. Vier Studierende schauen „Bouelvard Bio” (1 plus, 05.12.1992), jedoch nicht von Beginn an, so daß sie nicht wissen, wer alles auftreten wird. Biolek verabschiedet seinen ersten Gast Peter Scholl-Latour und bereitet dann den Auftritt des nächsten Studiogastes vor: „das nächste gespräch muß ich leider in englisch führen denn mein griechisch ist nicht so gut aber es wird übersetzt werden ich hoffe daß es nicht zu sehr mindert” Im Anschluß an diese Äußerung fallen die Zuschauer S und F mit ihren Tips ein, mit denen sie natürlich spielerisch die Lücke schließen: Costa Cordalis und Milva. Tatsächlich tritt keine der genannten Personen auf, auch nicht Merlina Mercouri, sondern das griechische Königspaar. Eine dritte Möglichkeit besteht schließlich darin, daß sich die Gruppenmitglieder ihre Verständnisse wechelseitig mitteilen, um sie abzugleichen. Treten dabei Divergenzen auf, werden gemeinsame Deutungen ausgehandelt. Auch dazu ein kleines Beispiel. Eine Studentin (T) und ein Student (M) schauen zusammen mit der Mutter des Studenten (C) „Beverly Hills 90210”, eine Vorabendserie in RTL plus: 192 Ulrich Püschel [Im Vorspann werden die Schauspielerinnen und Schauspieler mit Porträtaufnahmen gezeigt; die Darstellerin der Figur ‘Donna’ ist zu sehen] 1 T die donna is irgendwie immer so ne füllfigur ((2 sec)) 2 M nee im moment aber nich mehr — also ich find ich find 3 T ja aber war se bis vor kur- 4 M jaalso in den alten folgen auf jeden fall 5 T zem 6 C ((husten)) 7 M ja — 8 T ja ich find se ist (ft) also na gut wenn es heute 9 T um sie hier geht ((3 sec)) 10 M ja auch schon wie die in frankreich waren — da hat sie 11 M auch schon zeitweise (6) also — mit ihrem filmfoto — mit 12 M ihren fototerminen 13 T jat gut dat stimmt schon ((12 sec)) 14 M aber sie ist keiner von diesen — Charakteren — wie die 15 M anderen alle sofern sie welche richtig sind also 16 M ich meine 17 T ist ein flat character einer der sich nicht 18 T entwickelt — Auch ohne diesen Gesprächsausschnitt im einzelnen zu beschreiben, ist leicht zu erkennen, wie T und M ihren Dissens über die Figur der Donna nach einigen Umwegen dadurch auflösen, daß sie sich auf deren Einschätzung als „flat character” einigen. 6. Entwicklung und Bestätigung gruppeneigener Werte Doch nicht nur Verständnisprobleme können Anlaß zum Austausch werden, sondern auch das Bedürfnis, den anderen die eigene Sichtweise kund zu tun und von diesen möglichst bestätigt zu bekommen. Auf diese Weise entwickeln die Gruppenmitglieder gruppeneigene Werte beziehungsweise bestätigen sich diese. Sie nutzen zu diesem Zweck die Fernsehereignisse als symbolisches Material, das sich ja dadurch auszeichnet, daß es nicht unmittelbar Teil der Lebenswirklichkeit der Zuschauer ist und deshalb relativ „unpersönlich” bleibt, die Zuschauer also nicht direkt persönlich betroffen sind. Zugleich ist dieses Material aber auch nicht völlig belanglos, so daß es für die Zuschauer genügend Relevanz und Anschlußmöglichkeiten besitzt und gewissermaßen zum Katalysator für gemeinsame Deutungen werden kann. In dem bisher vorliegenden Material geschieht diese gegenseitige Bestätigung von Sichtweisen sehr häufig in Form von Lästerkommunikationen, also in Form von abwertend-kritischen, ein wenig boshaften Bemerkungen über das, was da auf dem Bildschirm zu sehen ist. Dazu ein Beispiel, in Mündlichkeit und Rezeption 193 dem drei Studentinnen „Das TraumschifF’ (ZDF, 09.05.1993) angeschaut haben: [(Tanzparty an Deck des „Traumschiffs”; Tanzmusik] 1 A stell dir mal vor son alptraum auf so nem schiff und zu 2 A so ner musik tanzen — das ist doch eigentlich das 3 C 4 A peinliche da bezahlste wer weiß was für 5 C und dann noch das zeug anzuziehen 6 C das finde ich ja auch ganz furchtbar ((3 sec)) und das 7 C cunbiente ist ja auch entsetzlich 8 A ja — bei den alten bestimmt 9 C ((3 sec)) ich find das (ftftft) 10 B wie großzügig — ein mann hat — 11 B seiner frau gestattet zu tanzen An dieser Lästerei zeigt sich, daß und wie sich die drei Studentinnen von bestimmten Verhaltensweisen und Werten, die im „Traumschiff” vorgeführt werden, distanzieren und sich ihre Distanz gegenseitig bestätigen. Natürlich bilden sich solche Einstellungen und Bewertungen, die sich Fernsehrezipienten wechselseitig bestätigen, in der Regel nicht ad hoc, sondern es sind solche Einstellungen und Bewertungen, über die die Rezipient(inn)en schon verfügen und die sie jetzt stimuliert durch den gemeinsam rezipierten Fernsehtext artikulieren und damit vergemeinschaften. Daß dem so ist, zeigt sich besonders deutlich an solchen Stellen, an denen Zuschauerinnen und Zuschauer das Fernsehereignis mit ihrer eigenen Lebenswirklichkeit, mit der eigenen Situation und eigenen Erfahrungen verknüpfen. Ein schöner Beleg ist die folgende Episode aus dem „Traumschiff’-Transkript, in der gleich zwei Studentinnen ihre Erlebnisse erzählen, wobei ihre gemeinsam geteilte Bewertung des Fernsehgeschehens den Anknüpfungspunkt bietet: (10) [zwei Männer produzieren sich voreinander beim Tontaubenschießen] 1 A das ist ja so oooberflächlich 2 B son typisches männergehabe also - C neieieieiein 4 B als ich da/ äh s praktikum gemacht habe bei tückmantel SB ne — da hatte da draußen so einer falsch geparkt und dann 6 B kam ne anlieferung — und der Ikw fahrer obwohl die sind 7 B ja auch nich zimperlich — da kam dann der fahrer an da 8 B sagt der Ikw fahrer — so von wegen der sollte Weggehen — 9 B da fing der an zu motzen der pkw fahrer ja ich bin doch 10 B hier künde da standen sie wirklich sich so gegenüber — 11 B dieses — bauchvorschieben und diese haltung — wie hääähne 12 C ja ((lacht)) 13 A ((lacht)) 194 Ulrich Puschel 14 A ja das paß/ das ist mir jetzt auch im bus 15 C imponiergehabe ((lacht)) 16 B ja 17 A wieder passiert als der busfahrer last mit som autolahrer 18 A zusammengestoßen ist — wie die sich da an — schreien 19 B manner sind in diesem punkt direkt (ft&ft) 20 C manner mit Verantwortung sind noch viel schlimmer 21 A die duzen sich dann ja auch gleich immer — möglichst 22 A assig halt 7. „Medienverweis” und „Medienrekonstruktion” Abschließend noch einige Bemerkungen zu den sekundären Thematisierungen. Diese lassen sich nach einem Vorschlag von Bernd Ulmer und Jörg Bergmann in zwei strukturell verschiedenen „Thematisierungsformate” einteilen, nämlich den „Medienverweis” und die „Medienrekonstruktion” (1993, S. 84). Der Medienverweis dient als eine Art kommunikativer Kleinstform, mit der eine Sprecherin einerseits Informationen und Neuigkeiten in ein Gespräch einbringt und andererseits markiert, daß diese aus einer externen Wissensquelle stammen. Mit dem Verweischarakter hängt weiter zusammen, daß lediglich ausgewählte Aspekte des Medienereignisses angeführt werden, die der Sprecher für seine Zwecke als relevant erachtet. Medienverweise lassen sich auf vielfältige und flexible Art einsetzen; so kann man sich zum Beispiel auf das Fernsehen als Autorität berufen, deren Gewicht aus der öffentlich vorgetragenen Meinung resultiert. Im Gegensatz zum Medienverweis fällt die Medienrekonstruktion in der Regel umfangreicher aus, was dazu führt, daß sie für einen bestimmten Zeitraum das Thema in einem Gespräch bildet. Ulmer und Bergmann haben nun festgestellt, daß Medienrekonstruktionen recht häufig an Stellen initiiert werden, an denen das Gespräch stockt und noch nicht abzusehen ist, wie es sich thematisch weiter entwickeln wird. Das Fernsehen also wie schon oben kurz erwähnt als thematische Ressource. Zwei Gründe sind dafür maßgebend: Zum einen bietet das Fernsehen ein Themenspektrum an, das äußerst vielfältig und breit gefächtert ist. Das ermöglicht es den Gesprächsteilnehmern je nach Bedarf aus dem Themenvorrat auszuwählen. Zum anderen sind die Fernsehthemen wie ja schon angesprochen öffentlich. Da diese öffentlichen Themen zumindest potentiell für jedermann zugänglich sind, besitzen sie auch einen hohen Bekanntheitsgrad. Wer also ein Fernsehthema im Gespräch aufbringt, der kann mit hoher Wahrscheinlichkeit damit rechnen, daß die anderen mit dem Thema schon vertraut sind, so daß es gemeinsam im Gespräch bearbeitet werden kann, und zwar in Form der sogenannten kommemorativen Medienrekonstruktion. Dabei vergegenwärtigen sich die Gesprächsteilnehmer nochmals das Fernsehereignis und machen es damit zu einem gemeinsamen Erlebnis, Mündlichkett und Rezeption 195 zu einem Bestandteil der gemeinsamen Erfahrungswelt. Dazu Ulmer und Bergmann: „Dadurch, daß sie ihre je individuellen Medienerfahrungen dem anderen nicht bloß mitteilen, sondern feststellen, daß sie diese Erfahrungen mit dem anderen teilen, bilden sie eine situative Re-Inszenierungsgemeinschaft, die gerade für Familien und Freundeskreise von hoher Bedeutung sein kann.” (Ulmer/ Bergmann 1993, S. 99) Also auch hier der Gesichtspunkt, daß das Fernsehen als gruppenintegrierender Faktor wirkt und gerade nicht als gruppenzerstörender. Das gilt natürlich auch für solche kommemorativen Medienrekonstruktionen, in denen gemeinsame Fernseherlebnisse thematisiert werden. Dort brauchen die Erfahrungen nicht erst vergemeinschaftet zu werden, sondern es wird lediglich gemeinsam an sie erinnert; an der integrierenden Funktion ändert sich dadurch jedoch nichts. Dazu ein letztes kleines Beispiel aus dem „Lindenstraßen”-Transkript, das noch eine Besonderheit aufweist. Es handelt sich nämlich um eine kurze sekundäre Thematisierung, die in eine primäre Thematisierung eingebettet ist. Die Lindenstraßen-Bewohner feiern im „Akropolis” Silvester. In Zeile 1 macht A die anderen Zuschauerinnen auf zwei Frauen aufmerksam, die an einem Tisch sitzend gezeigt werden. A und S nehmen dann in den Zeilen 7, 10, 11 und 12 die Rekonstruktion vor: 1 A da guck mal die zwei — und hat’s gaby schon gesehen 2 M sag mal 3 S gaby und sie — die könnten wat anfangen — d’sind 4 S eh meine liebsten frauen — die sind klasse ne — wie SA ja genau 6 S heißt die nochmal 7 A ach jetzt wird se ja eh die haben doch 8 M ja diiee beiden — die sind in dem buch(ftft&&&&S: &&ftft&&& 9 E ehm [bestätigend; zu A] 10 A den anderen da schon tätowiert und so 11 S ja in den arsch tätowiert genau JA - 12 S war gut ((lacht)) 8. Ausblick Mit diesen Bemerkungen und Beispielen ist es mir hoffentlich gelungen, überzeugende Belege dafür zu liefern, daß die gemeinsame Fernsehrezeption verstanden als geselliges Beisammensein den Rahmen für vielfältige verbale Aktivitäten abgibt. Gemeinsames Fernsehen behindert nicht Mündlichkeit, sondern verlangt und fördert sie. Wie der „open state of talk” mit seinem Wechsel von Sprechen und Schweigen zeigt, weisen die primären Thematisierungen sogar eine spezifisches Muster auf, das in seinen konkreten Ausformungen noch weiter mit den Mitteln der lingu- 196 Ulrich Püschel istischen Gesprächsanalyse zu untersuchen ist. Die verbalen Aktivitäten beim gemeinsamen Fernsehen resultieren aus spezifischen Bedürfnissen und Anforderungen, von denen zwei exemplarisch angesprochen wurden. Die wechselseitige Unterstützung beim Verstehen des Fernsehtextes ist Ausfluß der Flüchtigkeit des Mediums, der Bruchstückhaftigkeit seiner Texte sowie seiner Vielfalt an Themen, die bedingt, daß niemand sämtliche Zusammenhänge und Hintergründe kennen kann. Für die Entwicklung und Bestätigung gruppeneigener Werte schließlich bietet das Fernsehen allgemein zugängliches symbolisches Material, das sich den Zuschauenden meist leicht erschließt und sich von ihnen vielfach ebenso leicht mit ihrer Lebenswirklichkeit verknüpfen läßt. 9. 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Das Fernsehen kann mit der Möglichkeit der „Re-Inszenierung” einen neuen gruppemntegrativen Faktor bilden und Wirklichkeit verändern (Püschel). Dies zeigt auch das Modell am Schluß (Löffler). Versuch eines Resumes Das Tagungsthema mochte auf den ersten Blick banal erscheinen. Spontanes Sprechen (Oralität) versus Sprechen nach Vorlage (Schriftlichkeit) im Fernsehen, live, zeitgleich oder übertragen, Verhältnisse also, mit denen wir täglich umgehen. Auch meinen wir, in unserem Alltagswissen ebenso wie in unserem kommunikativen Fachwissen einen rechten Begriff von Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu haben. Nimmt man das Fernsehen hinzu, so verbindet man dieses Medium spontan mit der Oralität. Schriftlichkeit hingegen ist die Domäne der Printmedien, und das Radio steht in seiner Entwicklungsgeschichte von den abgelesenen Nachrichten und Hörspielen (Schriftlichkeit) zur spontanen Musikmoderation, den Plaudereien, Gesprächen, Interviews (Mündlichkeit) irgendwie dazwischen. So mußte man angesichts des Tagungsprogramms „Oralität und Schriftlichkeit im Fernsehen” befürchten, linguistisch-kommunikativ umformulierte Selbstverständlichkeiten diskutieren zu müssen. Gleich das erste Referat, und alle anderen danach wußten indessen eines besseren zu belehren. Die folgende „documentation raisonnee” ist keine bloße Zusammenfassung der Referate, sie bezieht die jeweiligen Diskussionen und ein paar eigene Gedanken mit ein und versucht die durchgehenden Linien in einer Schlußgraphik zusammenzuführen. 200 Heinrich Löffler Uta M. Quasthoff, Mündliche Kommunikation als somatische Kommunikation Mit Oralität bezeichnet man die direkte, unmittelbare Kommunikation, die nicht auf körperfremde Hilfsmittel angewiesen ist. Sich mit der eigenen Stimme vernehmen lassen zu können, gehört zur elementaren, unvermittelten Körperlichkeit des Menschen. „When you separate the word from the body, that s the death , soll eine Navajo-Indianerfrau gesagt haben. Mündlichkeit ist die „somatische” und damit menschlichste Form der Kommunikation. Sie findet in der Simultaneität oder im Hic et Nunc (real time) der Face-to-Face-Konstellation statt. Sie ist mehrkanalig, auf Hören, Sehen und Fühlen aufgebaut. Sie kann auf natürliche Weise nicht gespeichert werden, es sei denn selektiv im menschlichen Gedächtnis. Sie hat eher transitorischen Charakter. „Ursprünglich” kann die mündliche Kommunikation noch aus einem anderen Grund genannt werden. Sie bezieht einen Partner, das Gegenüber, in die Simultaneität mit ein. Oralität kann somit als CONDITIO HUMANA gelten. Sie ist Gegenstand verschiedener Disziplinen oder Oralitäts-Wissenschaften: der Philosophie und Anthropologie, der Linguistik, Psychologie, Ethnologie, Phonetik, Rhetorik, Theaterwissenschaften u.a.m. Schriftlichkeit hingegen ist so gesehen keine elementare conditio humana, sondern eine entwickeltere Kulturtechnik, abgelöst von der Körperlichkeit des Menschen und der Face-to-face-Konstellation. Sie bedeutet die Überwindung von Raum und Zeit durch Zeichen, deren physische Natur körperunabhängig und nicht an die Vergänglichkeit ihrer Urheber gebunden ist. Die kommunikative Wirklichkeit ist eine Verschränkung von Oralität und Schriftlichkeit, wobei es breite Übergangsbereiche zwischen mündlicher Schriftlichkeit und verschrifteter Mündlichkeit oder zwischen schriftloser Literatur und strukturierter Mündlichkeit gibt. Unterschieden werden müssen die eigentlichen schriftlosen (oralen) Kulturen, die gar keine Schrift kennen, von solchen Kulturen, bei denen die Oralität neben der verschrifteten Kommunikation eine konstitutive Möglichkeit darstellt. Das Fernsehen als jüngste Stufe der medialen Vermittlung kann vor allem diese erste „somatische Form der Kommunikation zeitgleich übermitteln und somit den Kommunikationsradius erheblich erweitern, zunächst um die Reichweite eines beschränkten terrestrischen Sendernetzes; dank der Satellitentechnik sind der globalen Reichweite des Fernsehens jedoch keine Grenzen mehr gesetzt. Das Fernsehen überträgt die Oralität weltweit und eröffnet damit der conditio humana neue Dimensionen. Oraiität und Schriftlichkeit 201 Werner Holly, Sekundäre Oraiität im Fernsehen Die Medien waren in den Anfängen auf Schriftlichkeit gegründet. Die mit der Erfindung der Schrift möglich gewordene Zeitdifferenz zwischen dem Mitteilungsakt und dessen Rezeption wurde durch die Tages-, Wochen- oder Monatsblätter der Printmedien institutionalisiert. Die Reichweite der Tagespresse ist im Unterschied zur eher beliebigen Verbreitung von Büchern oder der individuell-variablen Distanz bei der Briefkommunikation ziemlich genau umgrenzt, weil auf einen festen Kreis von Kommunikanten (Abonnenten, Käufer) ausgerichtet. Obwohl das Radio auf dem akustischen Kanal aufgebaut und für das Geschriebene daher Medium zweiten Grades ist, hat es in den Anfängen doch eher Schriftlichkeit verbreitet. Die ersten Nachrichtensprecher des Reichsrundfunks sollen stehend in Frack und Zylinder abgelesen haben, um so in Tonfall und Befinden die Förmlichkeit der geschriebenen Meldungen besser treffen zu können. Das Fernsehen hingegen ist auf Mündlichkeit gegründet: es kann Oraiität akustisch und visuell übertragen oder selbst inszenieren. Bedingung hierfür ist die Mehrkanaligkeit mit Ton und Bild, so daß Sprache, Musik und begleitende Geräusche auf dem akustischen Kanal und Gestik, Mimik, Bewegung, Räume, Landschaften, Situationen im visuellen Kanal übertragen werden können. Durch die Möglichkeit der Zwischenspeicherung und Bearbeitung (Schnitt, Überblendung, Montage) kann das Fernsehen neben der direkten Übermittlung die Ereignisse auch bearbeitet und zeitversetzt ausstrahlen, oder gar eigens inszeniert als fingierte Mündlichkeit. Die inszenierte Mündlichkeit kann instrumentell zur Bekräftigung der Authentizität eines berichteten Ereignisses verwendet werden. Wie bei der Reportage die eingestreute direkte Rede (O-Ton) als Beglaubigungs- Ritual fungiert, so tut dies bei Fernseh-Nachrichten der „anchor-man” vor Ort, selbst wenn sein „Ort” mehr als 1000 km vom „real event” entfernt ist. Manchmal genügt die Anwesenheit im selben Erdteil, um mit dem mündlichen, d.h. simultanen Bericht die Glaubhaftigkeit zu verstärken. Am 12. Januar 1995 berichtete innerhalb der Morgennachrichten ein Radiokorrespondent aus Buenos Aires „vor Ort” über ein Flugzeugunglück, das sich im 3500 km entfernten Kolumbien ereignet hatte. Eindrücklicher und „idealer” ist natürlich der anchor-man, der die live hinter und neben ihm einschlagenden Raketen, Bomben und Granaten kommentiert, wie das beim Golfkrieg der Fall war und im Januar 95 noch täglich im Bosnien- oder Tschetschenien-Krieg beobachtet werden konnte. Diese eher makabre „Mündlichkeit”, die eigentlich abschreckend wirken sollte, könnte künftig als medialer Authentizitätsbeweis notwendiger Bestandteil moderner Kriegführung sein. Unmittelbare Mündlichkeit gilt somit, auch wenn sie inszeniert ist, als Beglaubigungs-Kategorie. Hier kommt die alte Hierarchie wieder zum 202 Heinrich Löffler Vorschein, nach der ‘mündlich’ („mit eigenen Ohren gehört”) in der Glaubwürdigkeitsskala höher steht als ‘schriftlich’ („lügen wie gedruckt”). Die inszenierte Mündlichkeit mit ihren technischen Möglichkeiten erzeugt auf der Rezipientenseite neue Erwartungen und neue Verhaltensmuster. Die Technik des „zapping” (mit der Fernbedienung durch die Programme ziehen) oder „hopping” (zwischen einigen Programmen hin und her switchen und diese so zur gleichen Zeit konsumieren) verschafft dem Rezipienten eine zusätzliche Dimension des Aufnehmens und des Mitdabeiseins. „Hopping” gar erinnert an die im Mittelalter nur von heiligmäßigen Menschen berichtete Gnade der Bi-Lokation, nämlich der Fähigkeit, sich auf wundersame Weise zur gleichen Zeit an zwei oder mehreren Orten aufhalten zu können. Jürg Häusermann, Ausbildung zur Mündlichkeit Die verschiedenen Produktions- und Ubertragungsmöglichkeiten von der unmittelbaren, ungeschnittenen Wiedergabe zur unterbrochenen, bearbeiteten, geschnittenen, zeitversetzten, montierten Übertragung, Nachricht, Bericht oder „Sendung” erfordert unterschiedliche Gestaltungsprinzipien und unterschiedliche Verwendungsweisen auch der Sprache. Durch ständige Entwicklungen im technischen Bereich verändern sich Anteil und Funktion der Sprache wie auch der übrigen Komponenten des Ubertragungsereignisses laufend. In der Journalistenausbildung hat deswegen die Ausbildung zur Mündlichkeit eine wichtige Stellung inne. So muß u.a. die O-Sprache (Originalsprache) vom Off-Ton des Berichterstatters oder Kommentators unterschieden werden. Die „Regeln” sind bei weitem noch nicht schulgerecht aufbereitet und kodifiziert. Harald Burger, „Laien” im Fernsehen — wie sie sprechen, wie man mit ihnen spricht Im Zusammenhang der (Massen-)Medien ist oft vom Laien die Rede. Außerhalb des Medienkontextes ist der Laie jemand, der kein spezielles Fachwissen hat, eine Figur, die angesichts der vielschichtigen Ausbildungsmöglichkeiten und Verfachlichung auch des alltäglichen Lebens zunehmend seltener wird. Für die Massenmedien ist der (Medien-)Laie der potentielle Rezipient überhaupt. Laien sitzen auf der anderen Seite des Kanals, repräsentieren den wirklichen, nicht medialen Alltag, sie stehen für die außermediale (Sprach-)Wirklichkeit. Der Laie ist aber nicht nur Kunde der Medien und des Fernsehens, er ist zunehmend auch Programmteil. Er kommt selbst als Thema in den Nachrichten vor oder als Figur im Samstagnachmittag-Fernsehspiel. Er wird eingeladen, an Gesprächen teilzunehmen und dabei die „Welt draußen” zu vertreten. Wenn noch ein Experte „von draußen” mit dabei ist, dann ist der Laie eben der Vertreter der Nicht-Experten, der eigentlichen Alltagswelt. Laien wer- Oralität und Schriftlichkeit 203 den auch eingeladen, um als gleichberechtigte Partner teilzunehmen, um so das kommunikative Gefälle oder die Einseitigkeit der Kommunikation etwas auszugleichen und die medienbedingt nicht vorhandene Symmetrie zu simulieren. Laien können spontan (per Telefon) oder per Einladung an einer Sendung teilnehmen. Sie haben durch Vorgespräche oder Proben die Möglichkeit der speziellen Vorbereitung. Das Leben des kleinen Mannes kann im Fernsehen allerdings auch inszeniert werden. Die Rolle des Laien wird dann wie ein Prototyp der commedia dell’arte gespielt. Hier entwickeln sich neue Präsentations- und Rezeptionsmuster. Laien-Oralität, von Natur aus eine nicht gerade medienkonforme oder telegene Angelegenheit, wird stilisiert. Schlagfertigkeit und Spontaneität des Mannes von der Straße werden eingeübt und gespielt - und den Zuschauern als neue Ideale und Muster der Alltäglichkeit und der Laien-Kommunikation vor Augen gestellt. Wilfried Schütte, Boulevardisierung von Information (im Fernsehen). Spätestens seit die privaten Fernsehprogramme ihre Kosten durch Werbung decken und die Werbetarife von Einschaltquoten abhängen, ist es Ziel der Programmgestalter, die Einschaltquoten zu erhöhen, die Rezipienten also mit Ankündigungen, Schlagzeilen, Musik und Farbe und anderen reißerischen oder appellativen Methoden bei einem bestimmten Programm zu halten. Hier sieht sich das Fernsehprogramm in derselben Situation wie eine Boulevardzeitung, die ihre Käufer täglich neu auf dem Boulevard oder am Kiosk zum Kauf anlocken oder die schon vorhandene Kaufgewohnheit täglich bestärken und bestätigen muß. Auch das Fernsehen entwickelt verschiedene Methoden der Marktschreierei, zumal der Rezipient bei der kleinsten Trübung oder Unterbrechung „zappen” oder „switchen” kann und dann auf der Stelle kein Kunde mehr ist. Neben den traditionell attraktiven Direktübertragungen, Sport- und anderen weltweit bewegenden Ereignissen wie dem Golfkrieg oder dem Segen des Papstes urbi et orbi zu Weihnachten und Ostern, sind es zunehmend kommunikative Kunstprodukte, die als reißerisch genug gelten, die Zuschauer beim Programm halten zu können. Nicht mehr die mitternächtlich-beschaulichen Zweiergespräche wie „Zeugen des Jahrhunderts” oder Interviews mit Nobelpreisträgern, sondern eine neue Streitkultur, inszenierte Kräche — von Bundestagsdebatten bis zu „Meiers Einspruch” — werden ins Haus gebracht. Diese verfälschte, überzeichnete oder karikierte Sprach- und Kommunikationswirklichkeit erzeugt neue Erwartungen, Verhaltensmuster und Ideale, denen man nacheifern möchte. Die Talkshows mit ihren Unterarten stellen eine Art von Rummelplatzkommunikation dar („Infotainment”; man könnte auch von „Tivolisierung reden) und ähneln der Anbiederung des witzelnden, leutseligen, dem 204 Heinrich Löffler Menschlich-allzu-Menschlichen wohl vertrauten Gemüseraspel-Verkäufer in seiner Jahrmarktbude. Mit Hilfe der Kameraeinstellung kann der Zuschauer überdies mit in eine Talk-Runde hineingenommen - oder gar in eine unverhoffte, inzwischen schon zur lieben Gewohnheit gewordenen Intim-Distanz (Nähe) gebracht werden. Hierzu hat Dürrenmatt in seinen Bemerkungen zum Theater und Film bereits im Jahre 1955 geschrieben: „Die Beliebtheit der Filmhelden liegt nur darin, daß jeder, der sie auf der Leinwand sah, auch das Gefühl hat, schon mit ihnen geschlafen zu haben, so gut werden sie photographiert” (Friedrich Dürrenmatt, Theaterprobleme, Zürich 1955, S. 17). Ulrich Puschel, Mündlichkeit und Rezeption In konsequenter Fortführung des bisher Gesagten kann man schließlich von einer Oralität der Rezeption sprechen als direkte Folge der Fernseh- Kommunikation. Das Fernsehen erzeugt nicht nur neue Verhaltensmuster und Erwartungen an das Programm. Es erzeugt auch neue kommunikative Verhaltensweisen. Eine landläufige Kritik am Fernsehen geht dahin, daß es heißt, es zerstöre die private Kommunikation in den Familien, stelle somit einen Kulturzerfall dar. Das Gegenteil trifft wohl zu: Das Fernsehprogramm bietet Gesprächsstoff schon im Vorfeld des Rezipierens, beim Aushandeln des mangels mehrerer Geräte notgedrungen gemeinsam zu konsumierenden Abendprogrammes, dann (in zeitlicher Folge) das kommentierende gemeinsame Sehen, daran anschließend das Sprechen über das Gesehene. Der einzelne oder eine Gruppe können sich in die Interaktion am Bildschirm miteinbeziehen („parasoziale Interaktion”). Man kann auch allein, durch lautes Selbstreden (blurtings), das Gesehene kommentieren, Betroffenheit oder Faszination äußern. Man kann sich beim Verstehen gegenseitig behilflich sein, wenn bei einem Mitkonsumenten der (Film-)Zusammenhang gerissen ist, oder Eltern ihren Kindern (und umgekehrt) eine Bilderfolge erklären. Man kann auf gemeinsam Gesehenes Bezug nehmen („Medienverweis”, „Medienrekonstruktion”) und somit die Zugehörigkeit zu einer Seher-Gemeinde zum Ausdruck bringen durch Verweis auf gemeinsam, aber an verschiedenen Orten Gesehenes (von „Wetten daß? ” oder dem Neujahrs-Skispringen bis zu „Mainz bleibt Mainz”). Man bildet eine situative Re-Inszenierungsgemeinschaft. Fernsehen ist somit das Gegenteil von Kulturzerfall, ja man kann geradezu von einem gruppenintegrativen Faktor sprechen. Schließlich muß man sich fragen, ob dem Fernsehen mit seinen Möglichkeiten der Übertragung, Inszenierung, Fiktionalisierung, Montage und anderen Verfremdungsmöglichkeiten der Status eines Kulturfaktors im weiteren Sinn, vergleichbar der Literatur, zukommt. Dadurch, daß Oralität wie auch Literalität in gleicher Weise integriert sind, darf das Fernsehen in seiner Mimesis-Funktion der traditionellen Literatur als mindestens gleichwertig beigesellt werden. Durch die besondere Nutzung der „somatischen”, Oralitäi und Schriftlichkeit 205 und damit der ursprünglichen Komponente der Kommunikation (Oralität) könnte das Fernsehen sowohl nach der Art und Qualität als auch nach Quantität (räumliche Reichweite, Zahl der Einbezogenen) die konventionelle Literatur, die Theaterkultur inbegriffen, sogar um einiges übertreffen. Die folgende Graphik gibt das Tafelbild wieder, das am Ende der Tagung aus Zeitmangel anstelle eines längeren Resumes spontan entworfen wurde. ORALITÄT UND SCHRIFTLICHKEIT IM FERNSEHEN Reale Welt Virtuelle Welt Der realen Welt mit der Oralität als conditio humana steht die virtuelle oder gebrochene Welt des Fernsehens gegenüber. Der Zuschauer (Laie) bekommt ein Spiegel- oder Zerrbild von seiner Alltagswelt geboten. Vom bloßen Abbild bis zur artifiziellen Inszenierung ist alles möglich. Das Fernsehen überträgt nicht nur, es schafft auch eine neue Kultur. Seine Mimesis- 206 Heinrich Löffler Funktion ist mit derjenigen der Literatur vergleichbar. Folgen davon sind neue Erwartungen, Verhaltensmuster, Vorbilder, ja eine neue Kommunikationskultur, die die Alltagswelt verändert, die dann erneut Gegenstand von Reflexion und Inszenierung durch das Fernsehen sein kann. Vielleicht ist diese im wörtlichen Sinne „tele-gene” (= durch das Fernsehen entstandene) Kommunikationskultur als Mix aus Oralität und Schriftlichkeit die CONDITIO HUMANA MODERNA. Mit ihr muß man nicht einfach notgedrungen leben, sie stellt vielmehr eine qualitative Steigerung nicht nur der Kommunikation, sondern der Kultur überhaupt dar. Hiervon müssen aber all jene erst überzeugt werden, die immer noch damit kokettieren, nie fernzusehen - oder nur ganz gelegentlich sonntags bei der Schwiegermutter. Studien zur deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Die nächsten Bände: Andreas Paul Müller ‘Reden ist Chefsache’ Linguistische Studien zu sprachlichen Formen sozialer ‘Kontrolle’ in innerbetrieblichen Arbeitsbesprechungen Kathrin Steyer Reformulierungen Sprachliche Relationen zwischen Äußerungen und Texten im öffentlichen Diskurs Reinhold Schmitt / Gerhard Stickel (Hrsg.) Polen und Deutsche im Gespräch Franz-Josef Berens / Rainer Wimmer (Hrsg.) Wortbildung und Phraseologie Gabriele Hoppe Das Lehnpräfix ex- Mit einer Einleitung zu grundsätzlichen Fragen der Lehnwortbildung. Beiträge zur Lehnwortbildung I Isolde Nortmeyer Die Lehnpräfixe inter- und trans- Beiträge zur Lehnwortbildung II Michael Kinne Die Lehnpräfixe prä- und post- Beiträge zur Lehnwortbildung III Daniel Bresson / Jacqueline Kubczak (Hrsg.) Abstrakte Nomina Untersuchungen zu ihrer syntagmatischen Erfassung in Wörterbüchern Am Beispiel unterschiedlicher Fernsehgenres wird in neun Beiträgen das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftüchkeit in einem audio-visuellen Medium diskutiert. Gegenüber klassischen medienwissenschaftlichen Analyseansätzen werden hier linguistisch fundierte Analyseverfahren vorgestellt und an reichhaltigem empirischen Material exemplarisch veranschaulicht. Bei aller Vielfalt der theoretischen Ansätze wie Analysebeispiele sind sich die Autoren darin einig, daß “Femseh-Mündlichkeit” anders als die primäre Oralität eine sekundäre oder “inszenierte” ist. In unterschiedlichen Genres nimmt diese Inszenierung unterschiedliche Formen an, die wiederum in unterschiedlicher Weise an Normen der Schriftlichkeit wie der Mündlichkeit orientiert sind. ISBN 3-8233-5135-4