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Gespräch als Prozess

2007
978-3-8233-7231-8
Gunter Narr Verlag 
Heiko Hausendorf

Die in diesem Band zusammengestellten Beiträge behandeln die Zeitlichkeit, Prozessualität und Flüchtigkeit des Gesprächs auf unterschiedlichen Beschreibungsebenen. Von der Prosodie und Syntax (Couper-Kuhlen, Auer, Günther) über die Gestik (Streek) bis hin zur Ebene unterschiedlicher konversationeller Aufgaben im Sinne des Formulierens (Duasendschön-Gay/Gülich/Krafft), des Fokussierens (Hausendorf), des Turn-Taking (Mondana), des Erzählens/Erklärens (Quasthoff/Kern) und des Beendens (Selting) wird gezeigt, welche Perspektiven die Prozessualitätsannahme für die Beschreibung sprachlich kommunikativer Phänomene eröffnet und welcher Art die Ergebnisse sind, die man auf dieser Grundlage erzielen kann. Zudem wird ebenenübergreifend ein besonders eng mit der Prozessionalität des Gesprächs verbundenes Merkmal in seiner methodologischen Relevanz hervorgehoben: die Flüchtigkeit gesprochener Sprache (Bergmann).

Heiko Hausendorf (Hrsg.) Gespräch als Prozess Linguistische Aspekte der Zeitlichkeit verbaler Interaktion Gunter Narr Verlag Tübingen Studien zur Deutschen Sprache F O R S C H U N G E N D E S I N S T I T U T S F Ü R D E U T S C H E S P R A C H E S T U D I E N Z U R D E U T S C H E N S P R A C H E 3 7 Studien zur Deutschen Sprache F O R S C H U N G E N D E S I N S T I T U T S F Ü R D E U T S C H E S P R A C H E Herausgegeben von Arnulf Deppermann, Ulrich Hermann Waßner und Stefan Engelberg Band 37 · 2007 Heiko Hausendorf (Hrsg.) Gespräch als Prozess Linguistische Aspekte der Zeitlichkeit verbaler Interaktion Gunter Narr Verlag Tübingen Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2007 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: Hohwieler/ Tröster, Mannheim Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 978-3-8233-6231-9 Inhalt Vorwort........................................................................................................... 7 I. Einführung in die Thematik Heiko Hausendorf: Die Prozessualität des Gesprächs als Dreh- und Angelpunkt der linguistischen Gesprächsforschung..................................... 11 Jörg Bergmann: Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit - Aufzeichnungen als Daten der interpretativen Soziologie...... 33 II. Prosodie und Syntax Elizabeth Couper-Kuhlen: Prosodische Prospektion und Retrospektion im Gespräch........................................................................... 69 Peter Auer: Syntax als Prozess ..................................................................... 95 Susanne Günthner: Zur Emergenz grammatischer Funktionen im Diskurs - wo-Konstruktionen in Alltagsinteraktionen ............................... 125 III. Gestik Jürgen Streeck: Geste und verstreichende Zeit: Innehalten und Bedeutungswandel der „bietenden Hand“ .................................................. 157 IV. Konversationelle Aufgaben Ulrich Dausendschön-Gay / Elisabeth Gülich / Ulrich Krafft: Vorgeformtheit als Ressource im konversationellen Formulierungs- und Verständigungsprozess............................................... 181 Heiko Hausendorf: ‘Was kommt als Nächstes? ’ Fokussierungen revisited....................................................................................................... 221 Lorenza Mondada: Turn taking in multimodalen und multiaktionalen Kontexten.................................................................................................... 247 Uta M. Quasthoff / Friederike Kern: Familiale Interaktionsmuster und kindliche Diskursfähigkeit: Mögliche Auswirkungen interaktiver Stile auf diskursive Praktiken und Kompetenzen bei Schulkindern ................... 277 Margret Selting: Beendigung(en) als interaktive Leistung ......................... 307 Vorwort Der vorliegende Sammelband geht auf die 9. Arbeitstagung zur Gesprächsforschung zurück, die vom 2. bis 4. April 2003 am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim stattgefunden hat und von Arnulf Deppermann, Reinhard Fiehler, Martin Hartung, Reinhold Schmitt und Thomas Spranz-Fogasy organisiert worden ist. Unter dem Rahmenthema Gespräch als Prozess haben auf dieser Tagung namhafte Vertreter der Gesprächs- und Konversationsanalyse Implikationen und Konsequenzen einer der grundlegenden Eigenschaften gesprochener Sprache sowohl in empirischer als auch theoretisch-methodologischer Hinsicht diskutiert. Aufgrund der mitwirkenden BeiträgerInnen und aufgrund des gewählten Rahmenthemas hat die Tagung einen so bislang kaum zugänglichen Einblick in den gegenwärtigen Stand der im weitesten Sinne konversationsanalytisch orientierten deutschsprachigen Gesprächsforschung erlaubt, der hiermit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll. Der Band enthält die überarbeiteten Fassungen der in Mannheim gehaltenen Vorträge - mit Ausnahme leider des Vortrags von Harrie Mazeland zu Eingefügten Klärungen und mit Ausnahme des Vortrags von Jörg Bergmann zu accounts, der aber im Einvernehmen mit dem Autor durch einen anderen, thematisch unmittelbar einschlägigen Beitrag des Autors zur Flüchtigkeit des Gesprächs ersetzt werden konnte. Ich danke den o.g. Veranstaltern der Tagung für den thematischen Impuls und die Initiative zur Herausgabe dieses Bandes. Den BeiträgerInnen danke ich für die gute Kooperation bei der Überarbeitung und Fertigstellung ihrer Beiträge in der vorliegenden Form. Dem Direktor des Instituts für Deutsche Sprache, Herrn Prof. Dr. Ludwig Eichinger, und den Herausgebern der Studien zur Deutschen Sprache, Frau Prof. Dr. Ulrike Haß-Zumkehr, Herrn Prof. Dr. Werner Kallmeyer und Herrn Dr. Ulrich Hermann Waßner, danke ich für die Aufnahme des Bandes in diese Reihe. Das Erscheinen dieses Bandes an diesem Ort versteht sich auch als ein dankender Hinweis auf den institutionellen Stellenwert, den die Gesprächslinguistik am Institut für Deutsche Sprache in den letzten Jahrzehnten gehabt hat und auf die vielen Impulse, die in diesen Jahren für die linguistische Gesprächsforschung von Mannheim ausgegangen sind. Vorwort 8 Hinweis zu den Transkriptionen Die Mehrzahl der in den Beiträgen wiedergegebenen Transkriptionen folgt dem Gesprächsanalytischen Transkriptionssystem (GAT). Davon abweichende Transkriptionskonventionen werden jeweils in den Beiträgen selbst erläutert. Bayreuth, im April 2005 Heiko Hausendorf I. Einführung in die Thematik Heiko Hausendorf Die Prozessualität des Gesprächs als Dreh- und Angelpunkt der linguistischen Gesprächsforschung Offenkundig sind Gespräche in einem elementaren Sinne Prozesse: es sind Ereignisse in der Zeit. Schon aus der Spezifik dieser Zeitbindung resultieren einige markante Besonderheiten, die für Sprache in Gesprächen, also für Gesprochen-Gehörtes gelten und z.B. nicht in gleicher Weise für Sprache in (schriftlich fixierten) Texten, also für Geschrieben-Gelesenes zutreffen. Zu diesen Besonderheiten zählen etwa die folgenden Charakteristika: 1 - Gespräche überdauern aufgrund der Medialität des gesprochenen Wortes nicht den Augenblick ihrer Entstehung; Gesprochen-Gehörtes ist flüchtig und besteht und vergeht im Moment der Erzeugung (Flüchtigkeit); - Gespräche sind aufgrund der Gleichzeitigkeit von Sprechen und (Zu)Hören irreversible Ereignisse, Gesprochen-Gehörtes kann einmal realisiert nicht wieder rückgängig gemacht werden (Irreversibilität); - Gespräche haben aufgrund der Bedingung der Anwesenheit der TeilnehmerInnen den Status kommunikativer Episoden, Gesprochen-Gehörtes hat als einmaliges Ereignis Anfang, Dauer und Ende (Episodenhaftigkeit). Schon wenn man diese drei, hier nur stichwortartig benannten Merkmale herausgreift, sieht man, dass die neuere Gesprächsforschung in den rund 30 Jahren ihres Bestehens die grundlegende Annahme von der Prozessualität des Gesprächs systematisch analytisch ‘ausgebeutet’ hat: die Episodenhaftigkeit etwa mit der Rekonstruktion der Eröffnung und Beendigung von Gesprächen (vgl. zur Beendigung Selting i.d. Bd.), die Irreversibiltät etwa mit der Analyse von Reparaturen und (Re-)Formulierungsaktivitäten (vgl. zu Formulierungsaktivitäten Dausendschön-Gay, Gülich und Krafft i.d. Bd.), 1 Die folgenden und andere Charakteristika werden zumeist nicht auf das Gespräch als Spezialfall der Kommunikation unter Anwesenden bezogen, sondern eher an medial bestimmten Gegensätzen wie dem von Mündlichkeit und Schriftlichkeit oder dem von Gesprochener und Geschriebener Sprache festgemacht (vgl. z.B. die einschlägigen Beiträge in Günther, Ludwig et al. 1994 und mit stärkerem Bezug auf die Gesprächsforschung auch den Überblick in Schwitalla 2003, S. 18ff. und die Beiträge in Fiehler/ Barden/ Elstermann/ Kraft 2004). Heiko Hausendorf 12 schließlich die Flüchtigkeit schon mit der Entwicklung und Differenzierung einer spezialisierten Methodik des Transkribierens, mit Hilfe derer dann die Rekonstruktion der sequenziellen Ordnung in Gesprächen möglich geworden ist (vgl. zur Flüchtigkeit und ihren methodologischen Konsequenzen Bergmann i.d. Bd.). Auf der Grundlage dieser und anderer Untersuchungen ist in den letzten Jahren mehr und mehr versucht worden, die aus der Gesprächsforschung hervorgegangenen Perspektiven und Ergebnisse auf traditionelle linguistische Beschreibungsebenen zu beziehen. Dabei hat sich herausgestellt, dass die Annahme der Prozessualität den Dreh- und Angelpunkt für solche Versuche darstellt. Beispielhaft zeigt sich das insbesondere an vielen neueren Untersuchungen zur Syntax gesprochener Sprache, die die Grammatik in erster Linie als eine systematisch in Anspruch genommene Ressource für Projektionen und Erwartbarkeiten zu bestimmen suchen (vgl. zur Syntax die Beiträge von Auer und Günthner i.d. Bd.). Gleiches ließe sich etwa auch für neuere Untersuchungen zur Prosodie und Intonation (vgl. zur Prosodie Couper-Kuhlen i.d. Bd.) oder zur Bedeutungskonstitution auf Wortebene (vgl. dazu z.B. die Beiträge in Deppermann/ Spranz-Fogasy 2002) feststellen. Im Mittelpunkt stehen Beschreibungen, die zeigen können, wie mit und in sprachlichen Strukturen die sich aus der Prozessualität der face-to-face- Interaktion ergebenden Ordnungsaufgaben bearbeitet und ‘gelöst’ werden (vgl. zu diesen Ordnungsaufgaben Hausendorf i.d. Bd.). Will man diese empirischen Beschreibungen für die Konzeptualisierung ‘sprachlicher Strukturen’ und damit letztlich für die Konzeptualisierung des Gegenstandsbereichs Sprache nutzen, drängt sich vor allem die Materialität der sprachlichen Erscheinungsformen in den Vordergrund. In Interaktion haben wir es mit Gesprochen-Gehörtem zu tun. 2 Wir kennen Sprache aber auch als Geschrieben-Gelesenes (um nur das Einfachste zu nennen) und schließlich auch jenseits sinnlicher Wahrnehmbarkeit als Gedachtes bzw. kognitive Realität. Lässt sich die Prozessualität, von der hier die Rede ist, überhaupt unabhängig von dieser material-medialen Konstituiertheit sprachlicher Erscheinungsformen denken? Ist, vereinfacht gefragt, Prozessualität des Gesprächs (was eine bestimmte mediale Erscheinungsform von Sprache impliziert) das Gleiche wie Prozessualität der Sprache? 2 Und, wenn man den Fall des Telefonierens einmal ausnimmt, auch mit Gezeigt-Gesehenem (vgl. speziell zu Gesten Streeck i.d. Bd.). Die Prozessualität des Gesprächs als Dreh- und Angelpunkt der Gesprächsforschung 13 Wie immer man dazu Stellung nehmen mag, aufschlussreich ist es, dass die moderne Linguistik ihren Begriff von Sprache dadurch gewonnen hat, dass sie von dieser material-medialen Konstituiertheit und damit auch von der Prozessualität sprachlicher Erscheinungsformen abstrahiert hat; dass sie, positiv gewendet, eine (die) Sprache (langue) sich vorzustellen erlaubt und ermöglicht hat, die jenseits aller möglichen Manifestationen (parole) als ‘fest’, ‘starr’ und ‘verlässlich’ vorausgesetzt (und analysiert) werden kann. Das 20. Jahrhundert hat gerade auch über die Linguistik hinaus in beeindruckender Weise die Erfolgsgeschichte dieser Vorstellung illustriert - auch wenn inzwischen mehr und mehr die Schattenseiten einer auf den Gegensatz von langue und parole aufgebauten Gegenstandskonzeption reflektiert werden (vgl. z.B. die Kritik daran in den Beiträgen von Auer und Couper-Kuhlen i.d. Bd.). 3 Schließlich kann man heute auch wissen, dass diese Dichotomie selbst und die Linguistik, die darauf aufbaut, ohne epochale mediale Errungenschaften wie die Alphabetschrift und den Buchdruck gar nicht denkbar gewesen wären: einer der blinden Flecke einer (strukturalistischen) Linguistik, die ihren Gegenstand medienunabhängig gedacht hat (vgl. dazu z.B. Giesecke 1992) und wohl auch nach wie vor medienunabhängig denkt. Aufschlussreich dafür ist z.B. die Polemik, mit der sich Bierwisch (2002, S. 164f.) dagegen wehrt, die „Sprache als das, was hinter dem Sprechen steckt, zum Produkt der Schriftlichkeit“ zu machen. Dabei geht verloren, dass der Verweis auf das Alphabet auf die Entstehung dieser spezifischen Form der Reflexion zielt, also auf die Abhängigkeit der Vorstellung ‘der’ Sprache hinter ihren Erscheinungsformen von der Errungenschaft des Alphabets - und nicht auf die Sache selbst. Sprache medienunabhängig zu denken, ist also - paradox formuliert - selbst eine Folge eines spezifischen Mediums (wenn man die Alphabetschrift als Medium versteht). Der Begriff dafür, Sprache medien-, prozess- und zeitlos zu denken und zu beschreiben, ist der Begriff der Struktur - entsprechend groß ist an dieser Stelle (zumal für SprachwissenschaftlerInnen) der Klärungsbedarf: die moderne Sprachwissenschaft verdankt ihre methodischen und methodologischen Grundlagen einem Gegenstands- und Strukturverständnis, das gerade die systematische Ausblendung der Prozessualität von Gesprochen-Gehörtem erlaubt und erzwingt! 3 Vgl. dazu aus sprachtheoretischer und -philosophischer Perspektive z.B. die Beiträge in Krämer und König (2002). Vgl. zur Kritik aus der Germanistischen Linguistik z.B. auch Titel und Beiträge in Linke/ Ortner/ Portmann-Tselikas (2003). Heiko Hausendorf 14 Da (auch) Gesprächs-Analysen letztlich auf die Rekonstruktion von (sprachlichen bzw. sprachlich mitkonstituierten) Strukturen abheben, stellt sich die Frage, welcher Art diese Strukturen sind, wenn sie offenkundig nicht daraus resultieren, dass von Prozessualität und Zeitlichkeit abstrahiert wird, sondern im Gegenteil Prozessualität für diese Strukturen konstitutiv sein soll. Die Aufgabe besteht dann darin, den Prozess selbst als Struktur zu erfassen und zu beschreiben. Dass Gespräche eine zeitliche Erstreckung, also Anfang, Dauer und Ende aufweisen, ist für sich genommen trivial. Aber dass dieser zeitliche Gesprächsablauf als ein geordneter, in der Reihenfolge seiner Ereignisse geregelter und strukturierter Prozess auftritt, wird bereits unmittelbar forschungsleitend, wenn man sich fragt, wie diese Ordnung in der Zeit zustande kommt und welchen Anteil daran die Sprache hat, d.h. das Sprechen und Zuhören der GesprächsteilnehmerInnen. Nichts anderes bedeutet es, den Gesprächsprozess selbst als Struktur zu rekonstruieren und nach dem Anteil des Gesprochen-Gehörten an dieser Strukturentstehung zu fragen. Es geht also darum, „dass beim Sprechen nicht nur Zeit vergeht, sondern dass diese Zeit genutzt wird, um eine Strukturiertheit in und mit der Zeit zu erzeugen“, wie es Elizabeth Couper-Kuhlen in ihrem Beitrag zu diesem Band pointiert formuliert. Die Konversationsanalyse hat für diesen Umgang mit Zeit den Begriff der Sequenzialität geprägt, der eben nicht nur auf eine zeitliche Sequenz, sondern vor allem auf die systematisch herbeigeführte Geordnetheit und Strukturiertheit dieser Sequenz abzielt (ausführlicher dazu Bergmann i.d. Bd.). Wir haben es insofern nicht nur mit einem Nacheinander in der Zeit zu tun, sondern mit der Organisation und Herstellung dieses Nacheinanders, also damit, dass Zeitlichkeit überhaupt als geregeltes ‘Nacheinander’ erlebt und behandelt werden kann. Die immer wieder postulierte ‘Sequenzanalyse’ konversationsanalytischer Provenienz zielt auf nichts anderes als die Sichtbarmachtung der Herstellung eines solchen Nacheinanders; sie ist, wie Jörg Bergmann in seinem Beitrag schreibt, „die Methodisierung der Idee einer sich im Interaktionsvollzug reproduzierenden sozialen Ordnung“. 4 Es scheint mir nicht übertrieben, wenn man sagt, dass es für diese „genuine Struktur 4 Die für Nicht-KonversationsanalytikerInnen oftmals uneinsichtige methodische Maxime, bei der Analyse eines konkreten Sprecherbeitrags nicht umstandslos Informationen über den weiteren Verlauf des Gesprächs einzubeziehen, versteht sich vor dem Hintergrund dieser Idee von Sequenzialität (explizit dazu Bergmann i.d. Bd.). Die Prozessualität des Gesprächs als Dreh- und Angelpunkt der Gesprächsforschung 15 (sprachlich vermittelter) Zeitlichkeit“ (Couper-Kuhlen) außerhalb der Gesprächs- und Interaktionsforschung weder Begriff noch Vorstellung, geschweige denn Methoden und empirische Evidenz gibt. 5 Innerhalb der Gesprächs- und Interaktionsforschung haben sich verschiedene Begriffe eingebürgert, mit denen wir operieren, um diese grundlegende Entdeckung auszudrücken und umzusetzen - etwa den der konditionellen Relevanz, der Projektion, Prospektion (und Retrospektion), der Erwartbarkeit und Erwartungserwartung, des (lokalen wie globalen) Zugzwangs - die allesamt davon leben, dass hier im Gegenstandsbereich selbst Reihenfolgeerwartungen dargestellt und aufgezeigt werden, also nicht nur Erwartungen darüber zum Ausdruck kommen, wie es weitergeht, sondern immer schon ihrerseits erwartbar gemachte Erwartungen (‘Erwartungserwartungen’; reflexivity of accounts). Der große Reiz dieses Verständnisses von Sequenzialität liegt darin, dass damit tatsächlich ein Prozess in der Zeit als solcher Strukturwert gewinnt. Dieser Strukturwert kann nicht anders als durch eine sequenzielle Analyse entwickelt werden. Eine andere Strukturebene als die der Sequenzialität steht der Gesprächsforschung deshalb aus prinzipiellen Gründen nicht zur Verfügung. Stets wird Gesprochen-Gehörtes ausgewertet im Hinblick auf die Sequenzialität der damit realisierten Interaktion. Hier setzen denn auch sämtliche Beiträge des vorliegenden Bandes an. Sie führen damit vor, worin der genuine Zugewinn der Gesprächsforschung für die Linguistik (und jede andere an Sprache interessierte Wissenschaft) liegt - und zwar auf deutlich unterschiedlichen Beschreibungsebenen, auf denen man Sprachliches (wie Nichtsprachliches) untersuchen kann, von der Prosodie und Syntax über konversationelle Aufgaben bis hin zur Gestik. Die dabei und damit rekonstruierten Strukturen sind Strukturen im Sinne der Sequenzialität der Interaktion. Die Konsequenzen, die man aus solchen Rekonstruktionen für unser Verständnis von ‘Sprache’ und ‘sprachlichen Strukturen’ ziehen kann, sind gegenwärtig keineswegs geklärt. Das Spektrum reicht hier von der Auffassung einer auf unterschiedlichen Gegenständen beruhenden Komplementarität verschiedener Blickwinkel und Gegenstandskonstitutionen (wofür z.B. Hausendorf mit Rekurs auf Luhmanns Systemtheorie argumentiert) bis hin zu einer stärker kompetitiv ausgerichteten Kritik am Sprach- und Strukturver- 5 Vgl. dazu z.B. auch die Beiträge in Fetzer/ Meierkord (2002). Heiko Hausendorf 16 ständnis der strukturalistischen Linguistik (wie sie z.B. in den Beiträgen von Auer, Couper-Kuhlen und Selting geäußert wird). Nicht zufällig kommt diese Kontroverse auf der Ebene der Syntax am deutlichsten zum Ausdruck, die für die Analyse sequenzieller Strukturen vergleichsweise durchlässig und ergiebig ist, auf der aber ebenfalls starke Strukturerwartungen ausgenutzt werden können, die nicht an die Materialität des Gesprochen-Gehörten gebunden sind, sondern in der Regel als ‘feste’, ‘geronnene’, ‘grammatikalisierte’ Eigenschaften einer Sprache wahrgenommen und behandelt werden (wie z.B. im Beitrag von Günthner beschrieben). Schließlich kann man sich fragen, ob nicht das Zustandekommen komplexer sequenzieller Strukturen, wie sie für Gespräche charakteristisch sind, geradezu davon abhängt, dass ‘zeitlose’ und entsprechend ‘erstarrte’ Strukturen im Sinne der Kopplung von Laut und Bedeutung im Sinne einer evolutionären Errungenschaft zur Verfügung stehen. Die hier angedeuteten Fragen sprach- und medientheorischer Art (etwa nach der Emergenz grammatischer Strukturen, nach dem Verhältnis von Struktur, Ereignis und Prozess, nach der Eigenleistung des Zeichensystems Sprache als Kommunikationsmedium) sind keineswegs geklärt, aber für eine Weiterentwicklung des Forschungsstandes von zentraler Bedeutung. Der vorliegende Sammelband möchte dazu einen Beitrag leisten. Er dokumentiert, wie die Annahme der Prozessualität ausgehend von jeweils unterschiedlichen Beschreibungsebenen linguistisch konzeptionalisiert und empirisch fruchtbar gemacht werden kann. Und er versteht sich als ein Versuch, die Ausgangsprämisse der Prozessualität von Gesprächen in ihrer (sprach)theoretischen Relevanz, in ihren methodischen und methodologischen Implikationen und in ihren unterschiedlichen thematischen Anwendungsbereichen neu zu profilieren. Die im vorliegenden Sammelband zusammengestellten Beiträge gehen von unterschiedlichen Beschreibungsebenen auf die Prozessualität des Gesprächs zu. Von der Prosodie und Syntax (Couper-Kuhlen, Auer, Günthner) über die Gestik (Streeck) bis hin zur Ebene unterschiedlicher konversationeller Aufgaben im Sinne des Formulierens (Dausenschön-Gay/ Gülich/ Krafft), des Fokussierens (Hausendorf), des Turn-Taking (Mondada), des Erzählens/ Erklärens (Quasthoff/ Kern) und des Beendens (Selting) wird gezeigt, welche Anforderungen die Prozessualitäts-Annahme für die Beschreibung stellt und welcher Art die Ergebnisse sind, die man anhand solcher Anforderungen erzielen kann. Ergänzend zu dieser Einleitung wird zudem ebenenübergrei- Die Prozessualität des Gesprächs als Dreh- und Angelpunkt der Gesprächsforschung 17 fend ein besonders eng mit der Prozessualität des Gesprächs verbundenes Merkmal in seiner methodologischen Relevanz hervorgehoben: die Flüchtigkeit gesprochener Sprache (Bergmann). Die empirische Erforschung verbaler Interaktion, die inzwischen in vielen Bereichen in der Linguistik und Soziologie eine selbstverständliche Praxis ist, hat eine vermeintlich ‘äußerlich-technische’ und vielleicht deshalb in der methodologischen Reflexion oft vernachlässigte Voraussetzung: eine audiovisuelle Aufzeichnungstechnik, die es erlaubt, ein im Augenblick seiner Emergenz vergehendes, flüchtiges Geschehen wiederholbar zu machen und auf diese Weise „registrierend“ zu fixieren. Hier setzt Jörg Bergmanns einleitender Beitrag Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit - Aufzeichnungen als Daten der interpretativen Soziologie an. Er geht der Frage nach, wie unser Verständnis von der Prozessualität der Interaktion durch den Einsatz audiovisueller Aufzeichnungstechniken geprägt und entwickelt worden ist. Dazu wird zunächst hervorgehoben, dass die Möglichkeit der technischen Aufzeichnung verbaler Interaktion auf einen gleichsam theoretisch vorbereiteten Boden fallen musste, damit sie für die Sozialwissenschaften überhaupt relevant werden konnte. Diese theoretische Vorbereitung sieht Bergmann in der im Anschluss an Simmel, Weber und Schütz postulierten „Entdeckung des Alltags“ in interaktionistischen und phänomenologischen Ansätzen, mit der nicht nur auf die empirische Relevanz der Erfahrungswelt des Alltagshandelns aufmerksam gemacht wurde, sondern auch auf die theoretische Annahme einer sozialen Hervorbringungspraxis alltäglicher Interaktion. Von dieser Idee einer sozialen Reproduktion der Wirklichkeit im Handeln führt also, wie Bergmann zeigt, ein direkter Weg zur audiovisuellen Reproduktion sozialer Vorgänge - und umgekehrt. Was die audiovisuellen Techniken dabei leisten, ist vor allem eine Vergegenwärtigung der zeitlichen Struktur sozialer Vorgänge, sie sind in diesem Sinne „Zeitmaschinen“ (Bergmann). Das unterscheidet die audiovisuelle „registrierende“ Konservierung sozialer Vorgänge grundsätzlich von anderen Möglichkeiten der Konservierung sozialer Vorgänge, wie sie durch Gedächtnisleistungen, aber auch durch spezielle kommunikative Verfahren der Nachbereitung (im Sinne „rekonstruktiver Gattungen“, Bergmann/ Luckmann) erbracht werden. Zu diesen letztgenannten „rekonstruierenden“ Verfahren gehören schließlich auch die gebräuchlichen Erhebungsverfahren der Heiko Hausendorf 18 Sozialforschung (numerisch-statistische Beschreibungen, Interviews, Beobachternotizen, …), deren Datengenerierung sich also grundlegend von der Datengenerierung durch audiovisuelle Techniken unterscheidet. 6 Wie das Potenzial „registrierender“ Datengenerierung ausgeschöpft werden kann, zeigt Bergmann im Rekurs auf die in genau diesem Punkt auf frappierende Weise übereinstimmenden Ansätze der Konversationsanalyse und der Objektiven Hermeneutik. Beide Ansätze stimmen, wie Bergmann vorführt, darin überein, auf durchaus radikale Weise eine prinzipielle Geordnetheit der registrierten Phänomene zu unterstellen („order at all points“, Sacks) und in Form der Sequenzanalyse methodisch einzulösen. Erst das konsequent sequenzanalytische Vorgehen, das für beide Ansätze geradezu konstitutiv ist und das besagt, bei der Analyse einer Äußerung gleichsam contra-intuitiv das Wissen um den tatsächlich realisierten nächsten Anschluss zunächst auszublenden, stellt sicher, dass der zeitliche Ablauf in seiner postulierten Geordnetheit selbst Strukturwert erlangt und als eine sequenzielle Struktur rekonstruierbar wird. Das vor allem ist, so Bergmann, die Entdeckung von Konversationsanalyse und Objektiver Hermeneutik, die die Prozessualitätsannahme auf eine empirisch nahezu einzigartige Weise zur Geltung bringt. Jörg Bergmanns Beitrag ist vor 20 Jahren zum ersten Mal publiziert worden, allerdings an einem für LingustInnen eher versteckten Ort. Er wird hier in einer leicht gekürzten und um ein Vorwort ergänzten Fassung noch einmal abgedruckt, weil er eine genuin soziologische Argumentation dafür bietet, Flüchtigkeit und Zeitlichkeit als Sequenzialität auszubuchstabieren. Er kann, wie der Autor selbst in seinem Vorwort formuliert, wie ein Popup-Fenster gelesen werden, dass auf jeder Seite dieses Bandes an die Prozessualität des Gesprächs als Ausgangssowie als Dreh- und Angelpunkt unserer Bemühungen erinnert. Elizabeth Couper-Kuhlen wendet sich in ihrem Beitrag Prosodische Prospektion und Retrospektion im Gespräch der Beschreibungsbene der Prosodie zu. Gerade mit Blick auf diese Beschreibungsebene ist die Atemporalität der Sprachforschung, d.h. die Ausblendung der Zeitlichkeit der Sprachproduktion, in der durch das Paradigma des Strukturalismus' geprägten Linguis- 6 Dass es sich in beiden Fällen um Datengenerierung handelt und mithin der Gegensatz von ‘rekonstruieren’ und ‘registrieren’ nicht mit einem naiven Gegenüberstellen von ‘konstruiert’ vs. ‘gegeben’ verwechselt werden darf, macht Bergmann vor allem zum Abschluss seines Beitrags deutlich. Die Prozessualität des Gesprächs als Dreh- und Angelpunkt der Gesprächsforschung 19 tik besonders auffällig - ist diese in ganz offenkundiger Weise durch Zeitlichkeit charakterisierte (‘suprasegmentale’) Beschreibungsebene doch lange Zeit entweder gleich ausgeblendet oder aber nur ganz unzureichend berücksichtigt worden, wie Couper-Kuhlen mit Blick etwa auf die Metrische und Intonatorische Phonologie hervorhebt. Ausgehend von der Prozessualität des „Teilnehmer-Jetzt“ wird im Beitrag von Couper-Kuhlen der zeitliche Ablauf der Turn-Produktion auf der Ebene der Turnkonstruktionseinheit, also auf der Ebene komplexer, durch eine übergeordnete Deklinationslinie definierter Tonhöhenbögen zum Thema gemacht. Dabei soll gezeigt werden, wie mit prosodischen Mitteln auf Späteres vor- und auf Früheres zurückgegriffen wird, wobei sich die Betrachtung auf ‘rein prosodische’ Formen beschränkt, mit denen sich Prosodisches auf Prosodisches bezieht (um es erwartbar zu machen bzw. um darauf zurückzugreifen). Die hier ansetzenden Begriffe von „Prospektion“ und „Retrospektion“, die vom Konzept her den Begriffen ‘Projektion’ (s.o.) und ‘trajectory’ nahe stehen, werden deshalb in zwei eigenen Kapiteln in ihrer Relevanz für die prosodische Analyse eingeführt und diskutiert. Dabei zeigt sich u.a., dass im Übergang von der Syntax zur Prosodie die Zeitausschnitte, mit denen ‘gearbeitet’ wird, noch einmal erheblich verkleinert werden bzw. die Bedeutung des lokalen Nah-Kontextes - für die Teilnehmer wie für die Beobachter - noch einmal erheblich zunimmt, wie Couper-Kuhlen am Beispiel der englischen tag-question demonstriert. Die Analyse ausgewählter englischsprachiger Beispiele bietet eine Zusammenstellung und einen Überblick zunächst über retrospektive und dann über prospektive prosodische Mechanismen. Retrospektive Mechanismen im Sinne der prosodischen „Fortführung“, „Modifikation“ und „Wiederholung“ vs. „Umkehrung“ werden vorgeführt am Beispiel der Fortführung nach (unterbrochenem) Turn, der fremdinitiierten Turn-Reparatur und von zweiten Teilen von Paarsequenzen. Prospektive Mechanismen im Sinne der „Suspendierung des Luftstroms“, der „Suspendierung“ und des „Beginns eines übergeordneten Tonhöhenbogens“ und der „Fortsetzung eines rhythmisch isochronen Takts“ werden am Beispiel der Beibehaltung des Rederechts, der Listenintonation und des sequenziellen bzw. thematischen Neubeginns vorgeführt. Abschließend werden beide Blickrichtungen noch einmal miteinander verglichen. Heiko Hausendorf 20 Gespräch als Prozess wird im Beitrag von Couper-Kuhlen primär dadurch operationalisiert, dass Prosodie als etwas im Gespräch prozesshaft Hergestelltes rekonstruiert und die verbreitete Produktentsprechend durch eine Prozessorientierung abgelöst wird. Die für viele Arbeiten der Gesprächsforschung charakteristische Teilnehmerorientierung wird dabei ausgelegt als eine Art Echt-Zeit-Maxime, derzufolge „Fertiges“ (aus der Vogelperspektive des Beobachters) als „Unfertiges“ (aus der Perspektive der ‘herstellenden’ Teilnehmer, aus dem „Teilnehmer-Jetzt“) zu betrachten ist. Das Ergebnis ist die Sichtbarmachung einer „genuinen Struktur der Zeitlichkeit“, wie sie nur die Gesprächsforschung erbringen kann. Peter Auer konzentriert sich in seinem Beitrag Syntax als Prozess auf die Anforderungen, die an syntaktische Beschreibungen aus der Sicht einer Sprachwissenschaft zu stellen sind, die Phänomene gesprochener Sprache möglichst ‘realitätsnah’ erfassen und abbilden möchte. Dazu wird die Besonderheit der mündlichen Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Sprache mithilfe von drei Merkmalen erfasst: mit der Linearität, der Synchronisiertheit und der Musterhaftigkeit von Sprachproduktion und -rezeption. Aus diesen Merkmalen erwachsen die beschreibungstheoretischen Anforderungen, denen eine „online-Syntax“ Auer zufolge gerecht zu werden hat: eine grammatische Beschreibung, die die Linearität des Sprechens und Zuhörens unter Echtzeitbedingungen erfassen will, muss „inkrementell“ sein, d.h. auf den Aspekt der Projizierbarkeit syntaktischer Einheiten und damit einhergehend auf Projektionsverfahren bezogen sein; eine grammatische Beschreibung, die die Synchronisiertheit von Sprecher- und Höreraktivitäten erfassen will, muss „dialogisch“ sein, d.h. auf den Aspekt der Ko-Konstruktion syntaktischer Einheiten bezogen sein; eine grammatische Beschreibung, die die Musterhaftigkeit der Sprachproduktion erfassen will, muss eine „Konstruktionsgrammatik“ sein, d.h. auf konkrete syntaktische Konstruktionen bezogen sein, die durch die Häufigkeit des Gebrauchs weit unterhalb allgemein beschreibbarer syntaktischer Regeln musterhaft verfestigt sind. Diese drei Beschreibungsanforderungen werden in den einzelnen Abschnitten des Beitrags anhand von Gesprächsausschnitten exemplarisch demonstriert und illustriert, wobei dem Aspekt der Konstruktionsgrammatik besonderes Gewicht zukommt. Die inkrementelle Syntax wird vor allem mit Bezug auf kontextabhängige syntaktische Projektionen veranschaulicht, (während die mehr oder weniger kontextfreien syntaktischen Projektionen einleitend mit sprachvergleichenden Bemerkungen illustriert werden), die Die Prozessualität des Gesprächs als Dreh- und Angelpunkt der Gesprächsforschung 21 dialogische Syntax vor allem mit Bezug auf kollaborative Satzkonstruktionen auch weitläufigerer Art. Schließlich wird die Konstruktionssyntax mit Bezug auf bestimmte Verwendungen des dt. so erläutert, bei denen so eine satzwertige Struktur im Folgesyntagma erwartbar macht. Im Gegensatz zu einer auf Abstraktion zielenden, vereinheitlichenden Beschreibung dieser Verwendungsweisen von so (wie sie z.B. für die Behandlung in der Textgrammatik Weinrichs 1993 typisch ist) geht es Auer gerade darum, ausgehend von einer korpusbasierten Untersuchung möglichst konkrete Konstruktionstypen zu erfassen, die als solche den Status musterhaft verfestigter Verwendungsweisen haben - und, so die These, auch als solche im Spracherwerb gelernt und in der Sprachverwendung erkannt werden. Gespräch als Prozess wird in diesem Beitrag primär operationalisiert als „Linearität“ der Sprachproduktion, die nur mit einer „inkrementellen“, auf Projektionen abzielenden Beschreibung zu erfassen ist. Neben einer so verstandenen Prozessualität rücken als weitere Mündlichkeitsmerkmale die „Synchronisiertheit“ und die „Musterhaftigkeit“ der Sprachproduktion in den Mittelpunkt, die beide eigene weitere Anforderungen an die Beschreibung stellen. Susanne Günthner beschäftigt sich in ihrem Beitrag Zur Emergenz grammatischer Funktionen im Diskurs - wo-Konstruktionen in Alltagsinteraktionen ähnlich wie Auer mit grammatischen Konstruktionen im Sinne einer construction grammar. Konstruktionen werden als Bindeglieder zwischen „sedimentierten Strukturen“ und „emergenten Produkten in der konkreten Interaktionssituation“ betrachtet. Gezeigt wird, dass und wie solche Konstruktionen in Alltagsinteraktionen aktualisiert und für die Bedeutungskonstitution genutzt werden. Als Beispiel werden solche Verwendungen von wo angeführt, die nach einem gängigen grammatischen Verständnis dazu dienen, untergeordnete ‘kausale’ oder ‘konzessive’ Sätze einzuleiten (wie in „das wird mir jetzt zu viel wo - na wo wir so im stress sind mit dem bau“). 7 Günthner bespricht zunächst verschiedene Realisierungen kausaler Verknüpfungen und dann Realisierungen konzessiver Verknüpfungen. Dabei unterscheidet sie jeweils zwischen initialen wo-Sätzen (Position vor dem Matrixsatz) und finalen wo-Sätzen (Position nach dem Matrixsatz). Es wird gezeigt, dass kausale initiale wo-Sätze typischerweise die Funktion der Kohärenzher- 7 Vereinfachte Wiedergabe eines der Beispiele, die in Günthners Beitrag jeweils in ihrem Kontext dokumentiert und besprochen werden. Heiko Hausendorf 22 stellung erfüllen, in dem sie den mit dem folgenden Matrixsatz verbundenen Themenwechsel einrahmen und begründen. Kausale finale wo-Sätze dienen stattdessen primär der Begründung und Stützung eigener Bewertungen und affektiv aufgeladener Meinungskundgaben, oftmals in nachweisbarer Abhängigkeit von lokal ausbleibenden Bestätigungen auf Hörerseite, so dass hier der inkrementelle, durch die Prozessualität der turn-Abfolge geprägte Aufbau solcher Konstruktionen besonders nachvollziehbar wird, wie Günthner an verschiedenen Beispielen zeigt. Die Beispiele für kausale und konzessive wo-Sätze zeigen zugleich, dass diese wo-Sätze im Gespräch keineswegs obligatorisch mit der Modalpartikel doch auftreten müssen, wie das in der Literatur vielfach behauptet wird. Eher zeigt sich auch an dieser Stelle, so Günthner, eine nach wie vor bestehende Schriftorientierung vieler grammatischer Darstellungen, insofern die Partikel doch in schriftlichen Texten in der Tat geradezu regelmäßig aufzutreten scheint - was man z.B. mit dem Wegfall der Möglichkeit prosodischer Markierungen in der Schrift erklären könnte. Schließlich wird am Beispiel so genannter ‘hybrider’ wo-Sätze gezeigt, dass die kausale und konzessive Bedeutung sich auch durchaus überlappen kann, so dass die Bedeutung von wo am ehesten mit einer Paraphrase wie „angesichts der Tatsache, dass“ erfasst zu werden vermag. In allen Fällen kann gezeigt werden, dass diese Verwendung von wo im Mündlichen häufig auch kollaborativ zustande kommt, dass also Matrixsatz und wo-Satz durch unterschiedliche Sprecher realisiert werden. Gespräch als Prozess wird auch in Günthners Beitrag primär mit dem Aspekt der schrittweise sich in der Zeit entfaltenden Realisierung grammatischer Strukturen operationalisiert. In den Fällen, in denen ein finaler wo-Satz auf eine nicht erfolgte, aber erwartbar gemachte Bestätigung des Hörers zu reagieren scheint, wird dieser sequenzielle Aufbau grammatischer Konstruktionen besonders evident. Jürgen Streeck richtet sein Augenmerk in seinem Beitrag Geste und verstreichende Zeit: Innehalten und Bedeutungswandel der „bietenden Hand“ auf die Zeitlichkeit spezifischer redebegleitender Handbewegungen. Dabei handelt es sich um Varianten eines Typs von Gesten, die in einer offenen Hand enden, wobei die Handfläche nach oben weist. Im Unterschied zu beschreibenden oder zeigenden Gesten verkörpern diese Gesten im weitesten Sinne Aspekte Die Prozessualität des Gesprächs als Dreh- und Angelpunkt der Gesprächsforschung 23 kommunikativer Handlungen. Der Autor nennt sie Gesten des ‘Bietens’, um darauf aufmerksam zu machen, dass diese Gesten in metaphorischer Ableitung vormals instrumenteller Handlungen dem Gesprächspartner Äußerungen, Meinungen, Fragen, das Rederecht, kurz: kommunikative Darstellungen welcher Art auch immer ‘anzubieten’ scheinen. Gesten des Bietens veranschaulichen insofern eine weit verbreitete Metaphorik des Kommunizierens im Sinne eines Austausches physikalischer Objekte (‘conduit metaphor’). Am Beispiel eines Gespräches zwischen zwei eng befreundeten amerikanischen Studentinnen werden dann verschiedene Vorkommen solcher Gesten analysiert. Dabei wird u.a. herausgestellt, - wie prosodische und Bewegungsakzente im Sinne einer ‘Selbstsynchronisierung’ des menschlichen Körpers zusammenfallen; - dass sich die Form redebegleitender Gesten nicht kontextunabhängig auf einen Nenner bringen lässt, sondern ihre materiale Spezifik gegenüber der Sprache wohl gerade in ihrer formalen Offenheit und Unabgeschlossenheit besteht; - dass sich auch die Funktionen bzw. Bedeutungen dieser in ihrer Form variablen Gestik je nach Äußerungskontext und begleitenden Körperbewegungen und -orientierungen unterscheiden (wie etwa am Beispiel eines komplexen Bewegungsablaufs vorgeführt wird, den wir im Dt. mit dem Begriff „Schulterzucken“ wiedergeben oder am Beispiel von Gesten des Bietens, die mit der Organisation des Sprecherwechsels zu tun haben). Die Zeitlichkeit der Gestik zeigt sich insbesondere dann, wenn die Gestaltung ihrer Dauer selbst von den Beteiligten systematisch genutzt wird. Streeck zeigt das am Beispiel des Übergangs von Gesten des Bietens zu solchen des Bittens, in denen das Timing der Rückkehr der Hand nach dem ‘stroke’, also das Halten der Hand und der Gestenabschluss selbst kommunikativ relevant werden. Allein durch die Gestaltung der Dauer der verstreichenden Zeit wird, wie der Autor in mehreren Beispielanalysen vorführt, aus einer Geste des Bietens eine des Bittens um eine konditionell relevante Folgeaktivität des Partners. Aus verstreichender, chronologischer Zeit wird so soziale, interpretierte Zeit im Sinne des ‘Wartens’ auf eine angemessene Folgeaktivität. Gespräch als Prozess bekommt mit Blick auf die Form- und Bedeutungsgenese solcher Übergänge eine kaum steigerbare Anschaulichkeit. „Die Zeit allein“, so Streeck, „zeichnet verantwortlich“. Viel spricht in Heiko Hausendorf 24 diesem Zusammenhang dafür, dass insbesondere die Gesten des Gebens und Nehmens, die ‘bietende’ und die ‘wartende Hand’, zu den ältesten überlieferten kulturellen Traditionen gehören, wie Streeck zum Abschluss seines Beitrages betont. Gespräch als Prozess wird in diesem Beitrag vor allem als eine nicht hintergehbare Zeitlichkeit kommunikativer Erscheinungsformen der empirischen Analyse zugänglich gemacht. Dabei werden drei Aspekte einer solchen Zeitlichkeit unterschieden: eine „innere Dauer“ bzw. „materiale Zeitlichkeit“ kommunikativer Erscheinungsformen, wie sie auf Hör- und Sichtbares als Resultat von Muskelbewegungen aufgefasst wird; dann eine „interaktive Zeitlichkeit“ kommunikativer Formen, die dadurch entsteht, dass die materiale Zeitlichkeit - etwa einer Geste oder eines sprachlichen Beitrags - selbst in Gegenwart anderer sich ereignet und damit in der Gestaltung ihrer Dauer stets ein Resultat von Interaktion ist; schließlich eine Zeitlichkeit der ‘Koordination zwischen verschiedenen Modalitäten’ der Interaktion, insofern sich die Interaktion von Angesicht zu Angesicht prinzipiell immer mehrerer Kanäle der Kommunikation bedient, die eben auch und gerade hinsichtlich ihrer Zeitlichkeit miteinander abgestimmt sind. Vor allem diese Koordination wird in Streecks Beitrag am Beispiel eines bestimmten Typs von Gesten eindringlich vorgeführt. Ulrich Dausendschön-Gay, Elisabeth Gülich und Ulrich Krafft greifen in ihrem Beitrag Vorgeformtheit als Ressource im konversationellen Formulierungs- und Verständigungsprozess einen Spezialfall von Formulierungsverfahren auf, den sie als „Orientierung am Modell“ bezeichnen. „Orientierung am Modell“ soll darauf aufmerksam machen, dass sich Sprecher an konventionalisierten Lösungen für wiederkehrende Formulierungsaufgaben orientieren und dass sie diese Orientierung auch als solche eigens anzeigen (können). Das umfasst insbesondere den Bereich des ‘Vorgeformten’ (Phraseologismen, formelhafte Wendungen), erschöpft sich aber nicht darin. Und auch der dezidiert prozessvs. produktorientierte Zugang unterscheidet den vorliegenden Beitrag von vielen im Kontext der Phraseologieforschung anzusiedelnden Untersuchungen, wie die Autoren in ihrem Rekurs auf den Stand der Forschung deutlich machen. Ähnlich wie in den Beiträgen von Auer und Günthner mit Bezug auf die Syntax (s.o.) wird hier also mit Bezug auf die Ebene der Formulierungsverfahren die Vorstellung von im alltäglichen Gebrauch routinehaft eingespiel- Die Prozessualität des Gesprächs als Dreh- und Angelpunkt der Gesprächsforschung 25 ten sprachlichen ‘Konstruktionen’ betont, die in der aktuellen Sprechsituation flexibel ein- und angepasst, also nicht einfach nur ‘re’produziert, sondern tatsächlich immer wieder interaktiv ‘geleistet’ werden. Genauer betrachtet werden dabei Formulierungslösungen mit geringer, lokaler Reichweite (also unterhalb der Ebene kommunikativer Gattungen). In Bezug auf die Modelle, die dabei orientierungsleitend sind, werden „individuelle“ und „konventionalisierte“ Modelle unterschieden. Individuell sind solche Modelle, die sprecherspezifisch sind, konventionalisiert sind solche, die in einer Diskursgemeinschaft geteilt sind. Der Charakter dieser Modelle wird selbst „interaktiv hervorgebracht“, wie die Autoren am Beispiel von metadiskursiven Wendungen wie „ich sag das jetzt mal mit meinen eigenen Worten“ vs. „auf deutsch gesagt“ 8 und ihrer Bestätigung durch den Gesprächspartner illustrieren. Zunächst werden Verfahren der Orientierung am individuellen Modell diskutiert, und es werden zwei Möglichkeiten der interaktiven Manifestierung dieser Verfahren vorgestellt: die „Wiederaufnahme früherer Formulierungen“ und „metadiskursive Kommentare zur eigenen Formulierungstätigkeit“. In beiden Fällen wird deutlich, dass sich die Sprecher bei ihren gewählten Formulierungen an einem Formulierungsmodell orientieren, auch wenn es sich dabei gerade nicht um wortwörtliche Wiederholungen handeln muss. Mit Blick auf die Orientierung am konventionalisierten Modell wird zunächst an einer Reihe von Beispielen die „Verwendung von Phraseologismen“ besprochen, wobei diese selbst konversationell auffällig oder unauffällig gemacht werden können. In einem zweiten Schritt wird dann gezeigt, dass auch im Falle von Phraseologismen nicht einfach nur fertige Versatzstücke eingefügt werden, sondern dass es auch in diesen Fällen angemessener ist, von einer Orientierung an Modellen zu sprechen. Dazu greifen die Autoren auf ein Beispiel zurück, in dem der fragliche Phraseologismus Ergebnis und Gegenstand von Aushandlungen zwischen den Interaktionspartnern ist. Abschließend wird dann ein Sonderfall besprochen, der sich dadurch auszeichnet, dass konventionalisierte Modelle als eine Folge „offizieller Sprachregelung“ angesehen werden können. Wie die Autoren hervorheben, ist ins- 8 Vereinfachte Wiedergabe von Beispielen, die im Beitrag jeweils in ihrem Kontext dokumentiert und besprochen werden. Heiko Hausendorf 26 besondere die Analyse solcher Modelle auf Zugangsweisen angewiesen, die die bekannte methodische Selbstbeschränkung der Konversationsanalyse auf die Oberfläche des Transkriptes unterlaufen. Gespräch als Prozess wird im Beitrag von Dausendschön-Gay, Gülich und Krafft vor allem durch die Fokussierung auf den Aspekt der konversationellen ‘Arbeit’ und der interaktiven ‘Hervorbringung’ operationalisiert. Eine Formulierung ist deshalb nicht als solche und für sich genommen interessant. Worauf die Rekonstruktion abzielt, sind vielmehr ihr Zustandekommen im Verlauf des Gesprächs und ihr Beitrag zur Bearbeitung eines konversationell irgendwie zu lösenden Problems. Beide Aspekte sind erst dann empirisch einlösbar, wenn anstelle einer Produkteine Prozessorientierung entwickelt wird. Heiko Hausendorf beschäftigt sich in seinem Beitrag ‘Was kommt als Nächstes? ’ Fokussierungen revisited mit der Frage, wie in Gesprächen Abstufungen von Relevanz vorgenommen werden. Diese Frage wird mit dem Hinweis auf die Etablierung von Anschluss- und Folgeerwartungen beantwortet: Fokussierungen dienen dazu, so die These, festzulegen, was ‘als Nächstes kommt’. Diese allgemeine Vorstellung wird dann mit Rückgriff auf das Konzept interaktionskonstitutiver Anforderungen bzw. ‘Aufgaben’ konkretisiert. Unter interaktionskonstitutiven Aufgaben versteht der Autor Problemstellungen, die immer irgendwie gelöst werden müssen, wenn Interaktion überhaupt zustande kommen soll. Das Spektrum solcher Aufgaben reicht von der Gesprächseröffnung und -beendigung und dem Sprecherwechsel über die Situierung und Kontextualisierung der laufenden Interaktion bis zur Darstellung von Selbst- und Fremdbildern, wie mit Blick auf Ergebnisse der Gesprächslinguistik gezeigt wird. Aufgaben wie diese werden immer und grundsätzlich bearbeitet und ‘erledigt’, wobei typischerweise die Erledigung weniger Aufgaben im interaktiven Vordergrund steht und die Miterledigung der anderen Aufgaben sich im interaktiven Hintergrund vollzieht. Ein solches Profil von Hinter- und Vordergrund zu erzeugen, wird als Leistung von Fokussierungen angesehen. Veranschaulicht wird dieses Konzept dann am Beispiel der sozialen Kategorisierung, die als ein mit der Selbst- und Fremddarstellung eng verbundener Aufgabenbereich eingeführt wird. An ausgewählten Beispielen erläutert werden Verfahren (‘Mittel’) des so genannten ‘Zuordnens’ von Personen zu sozialen Gruppen, mit denen das Zuordnen als interaktive Aufgabe stärker im Vordergrund oder stärker im Hintergrund bearbeitet werden kann. Die Prozessualität des Gesprächs als Dreh- und Angelpunkt der Gesprächsforschung 27 Gespräch als Prozess wird in Hausendorfs Beitrag vor allem als Frage nach der Sequenzialität der Interaktion operationalisiert, wobei Sequenzialität als die Herstellung von Reihenfolgeerwartungen und in diesem Sinn als eine Struktur sprachlich-interaktiv organisierter Zeitlichkeit verstanden wird. Sprachliche Strukturen tragen, so die These, wesentlich zum Aufbau dieser für Kommunikation charakteristischen Struktur der Sequenzialität bei. Lorenza Mondada wendet sich in ihrem Beitrag Turn taking in multimodalen und multiaktionalen Kontexten dem Aufgabenbereich des Sprecherwechsels und seiner Bearbeitung unter gewissermaßen ‘erschwerten Bedingungen’ zu. Untersucht werden Verfahren der Redeübergabe während eines chirurgischen Eingriffs, der zu Demonstrations- und Lehr-Lernzwecken per Videokonferenz anderen Teilnehmern (anderen ‘Experten’, einem Publikum fortgeschrittener Lerner) zugänglich gemacht wird, die zugleich die Möglichkeit der direkten Interaktion mit dem Operationsteam und anderen Anwesenden haben. Dabei erzeugt auch der Eingriff selbst, die Laparoskopie, Bilder, die allen Teilnehmenden ebenfalls zeitgleich zur Verfügung gestellt werden. Dass es Prozessualität in der Interaktion im Grunde genommen nur im Plural gibt (nämlich als Koordination verschiedener modaler und medialer, sprachlicher wie nichtsprachlicher Erscheinungsformen der Interaktion: s.o. den Beitrag von Streeck), wird in solchen technisch und organisatorisch komplexen Kommunikationsarrangements besonders augenfällig und von Mondada entsprechend hervorgehoben. Im einzelnen untersucht wird dann, wie es unter diesen Bedingungen möglich gemacht wird, die verschiedenen Zeitlichkeiten des praktischen Handelns, des Redens darüber und des Redens miteinander im Augenblick des Turn-taking erfolgreich zu koordinieren. Das fängt bereits damit an, überhaupt turntaking-relevante Augenblicke im Verlauf der Operation zu identifizieren. Dazu werden verschiedene Methoden rekonstruiert, die unterschiedliche Teilnehmer unter diesen Bedingungen verwenden, um eine solche Koordinierung zu lösen: Experten- und chirurgenseitige Frageangebote, aber auch Adressierungen an den Chirurgen, die im Erfolgsfall ein Aufforderungs-Antwort-Paar auslösen - und in ihrer Form und ihrem ‘Erfolg’ offenkundig auch vom Beteiligtenstatus der Sprecher und ihren interaktiven wie fachlichen Kompetenzen (‘Experte’ vs. ‘Zuschauer’) abhängen, die sie damit zugleich immer wieder lokal reproduzieren. Das wird im einzelnen zunächst an Fällen experteninitiierter Adressierungen gezeigt, die typischerweise den Vornamen des Chirurgen verwenden und in der Regel erfolgreich sind, und im Anschluss an Fäl- Heiko Hausendorf 28 len zuschauerinitiierter Adressierungen vorgeführt, die entweder schon durch eine Entschuldigung („excuse me“ oder „sorry“) eingeleitet oder aber im Anschluss vom Chirurgen z.B. als inadäquat platziert behandelt werden. Aufgrund unterschiedlicher professioneller Kompetenzen manifestiert sich im turn-taking so gesehen auch eine Asymmetrie der Beteiligungschancen der Teilnehmer, wie Mondada zum Abschluss ihres Beitrags verdeutlicht. Unter ‘erschwerten’ Bedingungen findet das turn-taking hier also nicht nur in situationsstruktureller Hinsicht (Multimodalität und -aktionalität), sondern auch in beteiligungsspezifischer Hinsicht statt (‘Experte’ vs. ‘Zuschauer’). Gespräch als Prozess wird im Beitrag von Mondada ausgehend von dem wohl klassischen Untersuchungsfall der Konversationsanalyse als Phänomen des ‘richtigen Augenblicks’ operationalisert: ‘Wie erkennen Sprecher den richtigen Moment, … sich als Sprecher zu etablieren? ’, wie Mondada zu Beginn ihres Beitrages fragt. Dass und wie der Sprecherwechsel fortwährend solche Augenblicksorientierungen ermöglicht und voraussetzt, gehört wohl zu den eindrucksvollsten sprachlich (mit)konstituierten Belegen, mit denen sich die Prozessualität der Interaktion analytisch fruchtbar machen lässt. Mondada führt das in ihrem Beitrag am Beispiel hochgradig technisierter Erscheinungsformen des Sprecherwechsels vor. Uta M. Quasthoff und Friederike Kern wenden sich in ihrem Beitrag Familiale Interaktionsmuster und kindliche Diskursfähigkeit: Mögliche Auswirkungen interaktiver Stile auf diskursive Praktiken und Kompetenzen bei Schulkindern, der über die Anlage und über Ergebnisse eines vor kurzem abgeschlossenen DFG-Projektes („DASS“) informiert, der Musterhaftigkeit familialer Interaktion und ihrem Einfluss auf die Entwicklung von Diskursfähigkeiten zu. Muster familialer Interaktion werden anhand von Kommunikationsroutinen wie „Gespräch bei Mahlzeiten“ oder „Hausaufgaben-Machen“ rekonstruiert, kindliche Diskursfähigkeiten am Beispiel von Erzähl- und Erklärstilen derselben Kinder in anderen Umgebungen zu erfassen versucht. Dabei zeichnet sich ab, dass entgegen früherer Untersuchungen zum Diskurserwerb nicht alle Interaktionsmuster der Erwachsenen-Kind-Interaktion gleichermaßen funktional für die Unterstützung der Entwicklung der kindlichen Diskursfähigkeiten sind. Dieser Befund wird im vorliegenden Beitrag auf exemplarisch-kontrastive Weise am Beispiel der Diskurserfahrungen und -aktivitäten zweier Kinder im Alter von 7 Jahren (Lea und Christian) dargestellt: Zunächst werden Die Prozessualität des Gesprächs als Dreh- und Angelpunkt der Gesprächsforschung 29 Gesprächsausschnitte aus dem familiären Kontext der beiden Kinder untersucht, in denen Spielerklärungen auftreten. Dabei wird den erwachsenen Zuhöreraktivitäten besondere Aufmerksamkeit geschenkt, weil diese Zuhöreraktivitäten sehr wesentlich die Spezifik der jeweiligen Interaktionsmuster prägen. Im Ergebnis zeigt sich diesbezüglich, dass Leas familiale Interaktionsmuster durch ‘fordernde und unterstützende’ Zugzwänge in Form von continuer, Nachfragen und Evaluationen bestimmt sind, die mit dem Wunsch nach dem Verstehen der Erklärung, also ‘inhaltlich’ motiviert erscheinen und dem Kind die Rolle des Diskursverantwortlichen überlassen. Dagegen erweisen sich Christians familiale Interaktionsmuster durch ‘übernehmende und reparierende’ Zugwänge bestimmt, wie sie im einzelnen anhand von Reformulierungen und lokalen Reparaturen aufgewiesen werden. Diese Aktivitäten erscheinen nicht wie im ersten Fall primär ‘inhaltlich’, sondern eher formal motiviert im Sinne des Bestrebens, eine vollständige und formal korrekte Erklärung zu erhalten. Entsprechend wird das Kind in diesem Fall aus der Rolle des Diskursverantwortlichen geradezu herausgedrängt. Anschließend werden dann die Besonderheiten der Erklärungsstile dieser beiden Kinder anhand von Daten aus gesprächsähnlichen Interviews mit Erwachsenen vorgeführt. Leas Erklärstil wird als ‘Explizieren’ beschrieben, womit ein verbal betontes, auf generalisierendes Regelwissen hin orientiertes Erklären verbunden ist. Demgegenüber zeichnet sich Christians Erklärstil durch ‘Detaillieren und Veranschaulichen’ aus, für das die Orientierung an einem konkreten Ablauf charakteristisch ist und bei dem die diskursstrukturellen Anforderungen einer Erklärung eher in den Hintergrund treten. Vor dem Hintergrund der zuvor rekonstruierten systematisch unterschiedlichen Interaktionserfahrungen drängt es sich auf, die gefundenen Unterschiede in den Diskursstilen auf die unterschiedlichen familialen Interaktionsmuster zu beziehen, wie die Autorinnen in ihrer Rückschau auf die Charakteristik der beteiligten Interaktionsmuster plausibel machen. Gespräch als Prozess wird in diesem Beitrag operationalisiert im Sinne einer sequenziellen Geordnetheit der sich vollziehenden Verständigung, wobei diese Geordnetheit die ‘blind’, d.h. in der Regel unbemerkt und unreflektiert, funktionierende Beteiligung von mindestens zwei Interagierenden erfordert. Die zeitgebundene Platzierung einer Äußerung als manifester Ausdruck der sequenziellen Geordnetheit wird dabei als eine wesentliche, für Interaktion charakteristische Verständigungsressource angesehen. Seine besondere Aus- Heiko Hausendorf 30 sagekraft gewinnt der Beitrag dadurch, dass diese Prozessualität der Interaktion für einen einzigartigen Einblick in die Prozessualität kindlicher Diskursentwicklung genutzt wird. Schließlich beschäftigt sich Margret Selting in ihrem Beitrag Beendigung(en) als interaktive Leistung mit der Frage, wie Beendigungen auf verschiedenen Ebenen der Gesprächsorganisation - von der Beendigung von Turnkonstruktionseinheiten bis zur Beendigung des gesamten Gespräches - durch das gemeinsame Zusammenwirken der Teilnehmer zustande gebracht werden. Als Einheiten gelten dabei in einem weiten Sinne alle Strukturen, die Annahmen bzw. Erwartungen über „Vollständigkeit“ implizieren. Im einzelnen untersucht werden dann Beendigungen mit Bezug auf Einheiten der Turnkonstruktion, der Sequenzorganisation, der Gattungen und der Gesamtorganisation des Gesprächs. Mit Bezug auf die in den letzten Jahren vermehrt untersuchten Turnkonstruktionseinheiten wird hervorgehoben und beispielhaft illustriert, dass diese als prinzipiell verlängerbare und damit flexibel anpassbare Konstruktionsschemata anzusehen sind. Mit Bezug auf die Sequenzorganisation werden Fälle diskutiert, in denen zweite Teile einer Paarsequenz im Hinblick auf den damit prinzipiell erreichten Abschluss dieser Struktur „problematisch“ sein können, z.B. wenn sie ohne account ganz ausfallen oder als zu kurz erachtet werden, wobei nach Selting generell der Übergang zu einer neuen stärker als der Abschluss der alten Einheit markiert wird. Dies gilt auch mit Bezug auf die Beendigung von Gattungen, wie am Beispiel einer Erzählung illustriert wird, deren Abschluss insofern problematisch wird, als die erste Pointe der Erzählerin als Pointe nicht ‘gewürdigt’ und insofern repariert und reformuliert werden muss, was als flexible Expansion der Beendigung der Erzählung angesehen wird. Schließlich wird auch mit Bezug auf die Einheit des Gesamtgespräches, anhand derer das Phänomen der Beendigung in der Konversationsanalyse bekanntlich entdeckt und profiliert worden ist, ein ‘problematischer’ Beispielfall herangezogen, in dem es zu einer Reihe von „Geprächsvorbeendigungsinitiativen“ kommt, bevor die „Gesprächsbeendigungsphase“ tatsächlich zustande kommt, die dann ihrerseits wieder durch Einschübe und Aufschübe gekennzeichnet ist. Auch dem in seiner ‘Mechanik’ und ‘Maschinerie’ in der Literatur inzwischen sehr genau beschriebenen Beenden von Gesprächen liegt also kein starrer Mechanismus zugrunde, sondern nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein flexibel gestaltbares Die Prozessualität des Gesprächs als Dreh- und Angelpunkt der Gesprächsforschung 31 Konstruktionsschema, an dem sich die Teilnehmerinnen des Gespräches zwar nachweisbar orientieren, das sie aber jederzeit auch für ihre gerade relevanten kommunikativen Zielsetzungen variieren, außer Kraft setzen und anpassen können, wie Selting zum Abschluss hervorhebt. Gespräch als Prozess wird in diesem Beitrag vor allem als Phänomen des zeitlichen Ablaufs mit Anfang, Mitte und Ende operationalisiert, wobei der Organisation des Endes, der Beendigung, besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Ergänzend zur Prozessualität wird vor allem das Merkmal der „Interaktivität“ in den Mittelpunkt gerückt. Damit soll das wechselseitige Reagieren der Interaktionsteilnehmer auf einander hervorgehoben werden, das ergänzend zur Prozessualität als notwendige Voraussetzung von Interaktion profiliert wird. Margret Seltings Beitrag zum Beenden beendet zugleich den vorliegenden Sammelband. Das in der Zusammenschau der Beiträge deutlich werdende breite Spektrum thematischer Aspekte, das von der Mikroebene einzelner prosodischer Einheiten bis zur Makroebene der Einheit einer gesamten Interaktionsepisode reicht, illustriert auf anschauliche Weise, welche empirischen Ergebnisse zu erwarten, welche methodischen Orientierungen maßgeblich und welche theoretischen Konsequenzen zu ziehen sind, wenn vom Gespräch als Prozess die Rede sein soll. Literatur Bierwisch, Manfred (2002): Erklären in der Linguistik - Aspekte und Kontroversen. In: Krämer, Sybille/ König, Ekkehard (Hg.): Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen? Frankfurt a.M. S. 151-189. Deppermann, Arnulf/ Spranz-Fogasy, Thomas (Hg.) (2002): be-deuten. Wie Bedeutung im Gespräch entsteht. Tübingen. Fetzer, Anita/ Meierkord, Christiane (Hg.) (2002): Rethinking Sequentiality: Linguistics Meets Conversational Interaction. Amsterdam/ Philadelphia. Fiehler, Reinhard/ Barden, Birgit/ Elstermann, Mechthild/ Kraft, Barbara (2004): Eigenschaften gesprochener Sprache. Tübingen. Giesecke, Michael (1992): Was kommt nach der ‘langue’? Eine informations- und medientheoretische Antwort auf de Saussure. In: Giesecke, Michael: Sinnenwandel Sprachwandel Kulturwandel. Studien zur Vorgeschichte der Informationsgesellschaft. Frankfurt a.M. S. 18-35. Günther, Hartmut/ Ludwig, Otto et al. (Hg.) (1994): Schrift und Schriftlichkeit. Berlin. Heiko Hausendorf 32 Krämer, Sybille/ König, Ekkehard (Hg.) (2002): Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen? Frankfurt a.M. Linke, Angelika/ Ortner, Hanspeter/ Portmann-Tselikas, Paul R. (Hg.) (2003): Sprache und mehr. Ansichten einer Linguistik der sprachlichen Praxis. Tübingen. Schwitalla, Johannes (2003): Gesprochenes Deutsch. Eine Einführung. 2. Aufl. Berlin. Weinrich, Harald (1993): Textgrammatik der deutschen Sprache. Mannheim. Jörg Bergmann Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit - Aufzeichnungen als Daten der interpretativen Soziologie * Fernand Léger, der französische Maler und Filmemacher, träumte von einem Riesenfilm, der das Leben eines Mannes und einer Frau während vierundzwanzig Stunden genau registrieren sollte; ihre Arbeit, ihr Schweigen, ihre Intimität. Nichts wäre auszulassen; noch dürften die beiden Protagonisten jemals von der Anwesenheit der Kamera wissen. Léger war sich im klaren darüber, daß die Bilder, die er vor Augen hatte, schockierende Ansichten bieten müßten, weil sie den normalerweise verborgenen Wirbel kruder Existenz zur Schau stellen. ‘Ich glaube’, bemerkte er, ‘dies wäre so schrecklich, daß die Leute entsetzt davon liefen und um Hilfe riefen, als sei eine Weltkatastrophe über sie hereingebrochen’. (Kracauer 1971, S. 106). Vorwort Bei dem nachstehenden Text handelt es sich um den leicht gekürzten Wiederabdruck eines Aufsatzes, der zum ersten Mal vor zwanzig Jahren publiziert wurde. 1 Weil der Text die Aufmerksamkeit auf einen zentralen Aspekt der Prozessqualität von sprachlicher Interaktion lenkt, damals jedoch an einem Ort erschienen war, der der Aufmerksamkeit gesprächsanalytisch Interessierter leicht entgehen konnte, entstand zwischen Herausgebern und Autor die Idee, ihn in diesen Band nochmals aufzunehmen, um ihn damit noch einmal in einen lebendigen Diskussionskontext zu stellen, denn auch Texte haben ihre Flüchtigkeit. (Die Nomos-Verlagsgesellschaft, 76520 Baden-Baden als Nachfolgerin des Otto Schwarz Verlags in Göttingen hat den Wiederabdruck freundlicherweise möglich gemacht.) * Mit Dank an Peter Gross und Wolfgang Bonß für Gespräche, Geduld und dosierte Ungeduld. 1 Original in: Bonß, Wolfgang/ Hartmann, Heinz (Hg.): Entzauberte Wissenschaft: Zur Relativität und Geltung soziologischer Forschung. (= Sonderband 3 der Zeitschrift „Soziale Welt“). Göttingen. (Schwarz 1985). S.299-320. Jörg Bergmann 34 In dem Text wird das Argument entwickelt, dass durch die Erfindung und Verbreitung audio-visueller Aufzeichnungstechnologien ganz neue Weisen des Zugangs zu den flüchtigen Prozessen der sozialen, sprachlichen und nichtsprachlichen Interaktion ermöglicht werden. Allerdings sind der epistemologische Status und die methodologischen Möglichkeiten wie Risiken dieser registrierenden Konservierungsverfahren für die Sozialwissenschaften noch weitgehend ungeklärt, da deren gesamte Methodenlehre von der Logik rekonstruierender Verfahren beherrscht wird. Die in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzende Entwicklung der Gesprächsanalyse und ihr penetrantes Beharren auf „natural data“ kann daher auch als Beginn einer zunächst unbegriffenen methodologischen Reflexionsgeschichte gelesen werden - einer Reflexionsgeschichte, die im Fall der Konversationsanalyse bis heute paradoxerweise in Gestalt ihrer oft kritisierten „empiristischen“ Haltung in Erscheinung tritt. Wer darauf insistiert, dass nur Ereignisdokumente als empirisches Material zulässig sein können, gerät eben leicht in den Verdacht von „tape fetishism“ oder Authentizitätsnostalgie (Ashmore et al. 2004), doch das Ausgangsmotiv dieser methodischen Entscheidung ist zunächst gerade nicht der naive Glaube an das natürlich „Gegebene“ (= Daten), sondern das dekonstruktivistische Manöver der Ethnomethodologie, „das Gegebene“ in Prozesse seiner lokalen, situativen Produktion aufzulösen. Und ein entscheidendes Merkmal der so konzipierten „Vollzugswirklichkeit“ ist ihr Prozesscharakter. An dieser Stelle tut sich ein Dilemma auf, das in dem hier wieder abgedruckten Aufsatz nur in Umrissen erkennbar wird. Einerseits ist, wie man bereits bei Dilthey (1957, S. 317) lernen kann, die Bannung eines flüchtigen Objekts eine wichtige Voraussetzung für seine Interpretation: Auch angestrengteste Aufmerksamkeit kann nur dann zu einem kunstmäßigen Vorgang werden, in welchem ein kontrollierbarer Grad von Objektivität erreicht wird, wenn die Lebensäußerung fixiert ist und wir immer wieder zu ihr zurückkehren können. Andererseits eliminiert natürlich die - mechanische oder anschließende schriftliche - „Fixierung“ die Flüchtigkeit, und damit ein entscheidendes Element jeder Lebensäußerung. Die Kunst der Interpretation muss also gerade darin bestehen, aus einer fixierten Lebensäußerung deren gebannte Prozessualität wieder zum Vorschein zu bringen. D.h., die Gesprächsanalyse darf gerade nicht zur Transkriptanalyse werden, vielmehr gilt es, erkennbar zu machen, wie ein Ordnungsmuster, das im Transkript zu identifizieren ist, sich erst in dem inkrementellen Prozess eines Gesprächs über die Zeit hin- Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit 35 weg entfaltet. Allerdings lässt sich beobachten, dass sich das Ziel, die im Transkript zunächst getilgte Prozessqualität eines lebendigen sozialen Geschehens immer wieder in die Analyse hineinzuholen, selbst nur allzu rasch verflüchtigt, sobald man einmal dessen schriftliche Repräsentation vor sich liegen hat. In diesem Sinn sollte der hier wieder abgedruckte Aufsatz als ein kleines Lesezeichen verstanden werden, das auf jeder Seite dieses Bandes ein Popup-Fenster öffnet mit einem Hinweis auf die Flüchtigkeit, die dem Gespräch als Prozess eigen ist. 1. Seit Mitte der siebziger Jahre eine Reihe „interpretativer“ Forschungsansätze in der deutschsprachigen Soziologie Wurzeln zu schlagen begann, ist es in Erscheinungsbild, Stil und Praxis der empirischen Sozialforschung zu merklichen Veränderungen gekommen. Forscher, die ins Feld ausschwirren, interessieren sich nicht mehr allein dafür, Interviewpartner für einen vorformulierten Fragebogen zu finden, sondern sind - oft mit der Begeisterung von Amateurornithologen - auf der Tonbandjagd nach ungestellten und scheinbar höchst banalen Alltagsgesprächen. Studenten mühen sich im Empiriepraktikum nicht mehr nur mit Problemen der Kodierung, der Itemanalyse und der Skalenkonstruktion, sondern verbringen immer häufiger Tage, ja ganze Wochen damit, ein einziges Gespräch minutiös vom Tonband zu transkribieren. Und wer heute durch ein soziologisches Institut wandert, muss darauf gefasst sein, dass manche der Arbeitsgruppen, die vor den Monitoren sitzen, nicht mit statistischer Datenauswertung beschäftigt sind, sondern Videoaufzeichnungen von sozialen Interaktionsabläufen in schier endloser Wiederholung auf dem Bildschirm betrachten. Es scheint fast so, als wären die neuen interpretativen Sozialforscher im Ernst angetreten, Légers Traum auf ihre Weise zu verwirklichen. Noch ist es keinem von ihnen gelungen, das Leben eines Paares oder einer Familie über einen vollen Tag hinweg kontinuierlich und unbemerkt in Bild und Ton festzuhalten: noch sind es nur die soziologischen Professionskollegen, die sich entsetzt abwenden und eine Katastrophe für das Fach hereinbrechen sehen, - doch es ist nicht zu übersehen: in ihrer Praxis kommen die interpretativen Sozialforscher schon recht nah an Légers Traum heran. Bild- und Tonaufzeichnungen von interaktiven Vorgängen sind der Gegenstand ihres Interesses, und kein Geschehen ist zu banal, kein Vorgang zu intim, um ihnen nicht als aufzeichnenswert zu erscheinen. Jörg Bergmann 36 Es ist heute - über alle Schulen, Richtungen und Verfahren hinweg - in der interpretativen Sozialforschung eine Selbstverständlichkeit, zur Gewinnung, Speicherung und Bearbeitung von sozialen Phänomenen audiovisuelle Aufzeichnungs- und Wiedergabegeräte einzusetzen sowie Transkriptionen dieser Aufzeichnungen anzufertigen. Das allein muss noch nicht viel bedeuten. Haben wir uns nicht auch mit größter Selbstverständlichkeit an die Benutzung von Diktaphon, elektrischer Schreibmaschine und Photokopiergerät gewöhnt, ohne dass diese technischen Ressourcen in der Soziologie besondere Veränderungen oder methodologische Vergewisserungsbemühungen hervorriefen? 2 Sollte den audiovisuellen Reproduktionsmedien in der Forschungspraxis der interpretativen Ansätze ein anderer Status zukommen als der von technischen Hilfsgeräten, die zwar, weil sie die Arbeit erleichtern, ganz angenehm sind, auf die aber auch - falls erforderlich - jederzeit wieder verzichtet werden könnte? Nehmen wir ein Beispiel: die Konversationsanalyse, die als eigenständige Forschungsrichtung aus der Ethnomethodologie hervorgegangen ist. Grundlegend für ihre Entwicklung in den frühen 60er-Jahren waren die Arbeiten von Harvey Sacks und Emanuel Schegloff über soziale Relationierungs- und Kategorisierungsmuster sowie über Sequenzierungsmechanismen der sozialen Interaktion. Für den Stil dieser Arbeiten war charakteristisch, dass sie sich in der Analyse strikt auf Tonbandaufzeichnungen von natürlichen, d.h. ungestellten Gesprächen (Telefonanrufen von Bürgern bei einem psychiatrischen Beratungszentrum bzw. bei der Polizei) beschränkten. 3 Erfundene Beispielsätze (wie etwa in der Sprechakttheorie) oder retrospektive Schilderungen von Gesprächsereignissen (wie sie etwa von Goffman häufig verwendet wurden) waren als Ausgangsmaterial für die Analyse nicht oder nur in Ausnahmefällen zugelassen. Bis heute ist die methodische Restriktion, die Untersuchung auf audiovisuelle Aufzeichnungen von real abgelaufenen Interaktionsvorgängen zu gründen, ein zentrales Element in der Forschungslogik der Konversationsanalyse geblieben. 4 2 Dass bislang noch kaum untersucht wurde, welche Auswirkungen der Photokopierer auf den Stil des wissenschaftlichen Arbeitens hatte, scheint mir allerdings ein Mangel. Vgl. aber als Versuch Giersch (1983). 3 Sacks (1972) und Schegloff (1968) enthalten Kurzfassungen der 1966 bzw. 1967 abgeschlossenen Dissertationen dieser beiden Autoren. 4 Eine Übersicht über die ethnomethodologische Konversationsanalyse mit einer kurzen Darstellung ihrer methodologischen Grundprinzipien findet sich in Bergmann (1981). Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit 37 Nicht anders stellt sich die Situation für einen anderen interpretativen Forschungsansatz, die Objektive Hermeneutik dar. Ihre Vertreter erheben und unterstreichen die methodische Forderung, dass die Herstellung von Beobachtungsprotokollen, die bei diesem Untersuchungsansatz als Ausgangsmaterial für die sinnexplizierende, fallrekonstruierende Interpretationsarbeit dienen, „möglichst ausführlich und möglichst wirklichkeitsgetreu, also mindestens auf dem Niveau von guten Tonbandaufnahmen durchgeführt werden sollte“ (Oevermann et al. 1979, S. 428). Und für die Methode des narrativen Interviews, die in den vergangenen Jahren vor allem in der Biografieforschung zahlreiche Anhänger gefunden hat, postuliert ihr Urheber lapidar: „Natürlich können derartige narrative Interviews nur dann mit dem nötigen Intensitäts- und Genauigkeitsgrad ausgewertet werden, wenn sie auf Tonband aufgezeichnet werden“ (Schütze 1977, S. 10). Soviel steht fest: Aufzeichnungsinstrumente sind für die neueren interpretativen Forschungsansätze eine unverzichtbare Arbeitsvoraussetzung. Aber wieso eigentlich? Welche neuen soziologischen Erkenntnismöglichkeiten tun sich mit den audiovisuellen Reproduktionsmedien auf? Und auf welche Weise wird der soziologische Untersuchungsgegenstand durch den Einsatz dieser Medien in seiner Beschaffenheit verändert? 2. Zunächst muss man sich vergegenwärtigen, dass die Verwendung von audiovisuellen Reproduktionsmedien in der empirischen Sozialforschung an sich keine revolutionäre Neuerung darstellt. Akustische und kinematografische Aufzeichnungen wurden bereits Ende des vorigen Jahrhunderts, wenige Jahre nach der Entwicklung ihrer technischen Grundformen, von Sprachwissenschaftlern und Anthropologen für ihre Forschungsziele eingesetzt. Freilich spielten sie in der weiteren Geschichte der empirischen Sozialforschung im Vergleich zu anderen methodischen Ressourcen immer nur eine marginale Rolle. Einen Nischenplatz behaupteten die Aufzeichnungstechniken etwa in der Entwicklungspsychologie und in der Ausdruckspsychologie, die später in den Strom der Forschungen zur nonverbalen Kommunikation einmündete. In der Anthropologie bildeten sich schon früh verschiedene Gattungsformen des ethnographischen Films aus, die darauf angelegt waren, fremde, untergehende Kulturen zu dokumentieren und zu rekonstruieren. Auch in der Soziologie gab es immer wieder mal Autoren, die - zumeist nur gedankenexperimentell - mit der Verwendung filmischer Verhaltensdoku- Jörg Bergmann 38 mente liebäugelten. 5 Das ändert jedoch nichts daran, dass bis auf vereinzelte Versuche, Fotografien und Dokumentarfilme als soziografische Techniken oder sozialkritische Medien einzusetzen, die audiovisuellen Reproduktionsinstrumente als methodische Ressourcen in der Soziologie bis in die 60er- Jahre völlig bedeutungslos blieben. 6 Mit Légers Traum hatten die frühen audiovisuellen Verhaltensdokumentationen im Übrigen wenig zu tun. Teils waren sie im Labor unter experimentell kontrollierten Bedingungen enstanden, teils beschränkten sie sich auf „interessante“ oder - wie im Fall der Humanethologie - auf im vorhinein theoretisch isolierte Phänomene. Oft wurden die Aufzeichnungen auch im Nachhinein nach wissenschaftlichen Ordnungskriterien ediert oder unter ästhetischen bzw. pädagogischen Gesichtspunkten zu einer Dokumentation mit einer spielfilmähnlichen Handlung montiert. Ganz offensichtlich wussten die Sozialwissenschaftler mit der „nackten“ audiovisuellreproduktiven Verdoppelung trivialer sozialer Erscheinungen nichts anzufangen. Erst ihre „Einkleidung“ durch kontrollierte Herstellungsbedingungen, theoretische Klammern und funktionale Gestaltung verschaffte den konservierten Bildern und Tönen ihre wissenschaftliche Dignität. Vor diesem Hintergrund hebt sich nun deutlich ein spezifisches und neuartiges Merkmal der interpretativen Forschungspraxis ab: Es ist gerade die rohe, desinteressierte, weder numerisch noch ästhetisch transformierte Bild- und Tonaufzeichnung alltäglicher Interaktionsvorgänge, die für sie das primäre Untersuchungsmaterial bildet. Diese naiv registrierende Handhabung der audiovisuellen Reproduktionstechniken war durchaus nicht selbstverständlich, bedeutete sie doch einen Verzicht auf die vertraute theorievermittelte Selektion und gestaltende Umformung des medialen Ob- 5 So etwa Cooley (1969, S. 314) mit seiner rhetorischen Frage: „What could be more precise, as a record of visible behavior, than a motion picture? “ oder Geiger (1960, S. 59), der für seinen selbst-soziografischen Versuch über die gesellige Lebenswelt des Menschen der Gegenwart am liebsten einen „Lautfilmapparat“ eingesetzt hätte. 6 Arbeiten zur Geschichte der audiovisuellen Reproduktionstechniken in den Sozialwissenschaften finden sich etwa in dem Sammelband zur Visuellen Anthropologie von Hockings (1975); in dem vorzüglichen Katalog zum ethnografischen Film von Friedrich et al. (1984); in dem Band von Wagner zum Thema „Photographie in den Sozialwissenschaften“ (1979) oder in dem von Grimshaw herausgegebenen Sonderheft der Zeitschrift „Sociological Methods & Research“ über Bild-Ton-Aufzeichnungen in der Interaktionsforschung (1982). Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit 39 jekts. Wie kam es zu dieser naiv-registrierenden Beobachtungshaltung und Aufzeichnungspraxis in der interpretativen Sozialforschung der vergangenen Jahre? Zunächst ist die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass die Entstehung des Interesses an rohen, ungestalteten dokumentarischen Materialien in einem Zusammenhang mit der weiteren technologischen Entwicklung der Reproduktionsmedien steht. Auffallend ist jedenfalls, dass die Anfänge der interpretativen Forschungsansätze in eine Zeit fallen, in der durch die Unterhaltungs- und Bürogeräteindustrie mit den tragbaren Kassetten- und Videorecordern zum ersten Mal handliche, unauffällige, strapazierfähige, netzunabhängige und dazu noch erschwingliche Aufzeichnungs- und Wiedergabegeräte auf den Markt kamen. Mit der raschen Verbreitung dieser Geräte wurde die direkte - und unauffällige - Registrierung menschlicher Verhaltensäußerungen in einem bislang ungeahnten Ausmaß zu einer Routineangelegenheit. Dass zu Beginn der 70er-Jahre der damalige amerikanische Präsident sämtliche in seinem Büro stattfindenden Gespräche und Unterhaltungen heimlich auf Tonband aufzeichnen ließ (und sich damit selbst ein Bein stellte), ist vielleicht das berühmteste Beispiel für die so entstandene Registriermentalität. 7 Es konnte eigentlich kaum ausbleiben, dass auch im wissenschaftlichen Bereich, auch in der empirischen Sozialforschung mit diesen neuen Aufzeichnungstechniken experimentiert wurde. Diese Versuche wurden - etwa im Fall der Entwicklung der Konversationsanalyse - dadurch erleichtert, dass es einigen Soziologen gelang, Zugang zu erhalten zu den Tonbandaufzeichnungen, die bereits damals bei der Polizei oder in verschiedenen Beratungszentren routinemäßig von allen eingehenden Telefonanrufen gemacht wurden. Doch wie wichtig auch immer die neuen Reproduktionsmedien für das aufkommende Interesse an einer direkten, ungestalteten Verhaltensdokumentation waren, ihre Bedeutung konnten sie nur in einem gedanklichen Bezugsrahmen gewinnen, der vorher bereits durch die Arbeiten von Simmel, Weber und Schütz und deren empirische Projektionen bei Goffman und Garfinkel geschaffen worden waren. Nur insofern, als der „Alltag“ bereits in der Theorie entdeckt worden war, konnte er auch ein Objekt der empirischen Neu- 7 Eine edierte Auswahl von Transkripten dieser „Nixon tapes“ wurde unter dem Titel „The presidential transcripts“ 1974 veröffentlicht und avancierte rasch zu einem Bestseller. Jörg Bergmann 40 gierde werden, - einer Neugierde, der die neuen, indiskreten Aufzeichnungsverfahren wie gerufen kamen. Mir scheint, dass die Entdeckung des Alltags, deren Geschichte hier natürlich nicht nachzuzeichnen ist, 8 für die Einführung von audiovisuellen Aufzeichnungstechniken als Ressourcen der interpretativen Sozialforschung vor allem in zweierlei Hinsicht von Bedeutung war. In einem topografischen Sinn verstanden, bezeichnet „Entdeckung des Alltags“ zunächst die (Wieder-)Erschließung einer Wirklichkeitsregion, die die Soziologen bei ihren theoretischen Höhenflügen und methodologischen Tiefbohrungen weitgehend aus dem Blick verloren hatten. Lange Zeit beschränkte sich die Konstruktion immer komplexerer Theoriegebäude in der Soziologie fast ganz auf den Um- und Ausbau älterer Theoriebauten; „empirische“ Baumaterialien waren dabei eher störend. Parallel zu dieser Autonomisierung der Theorieentwicklung verlief eine Hermetisierung der Methodologiediskussion, die sich immer tiefer ins Reich der Voraussetzungen verirrte und kaum mehr um die Aufrechterhaltung einer Verbindung zum Gegenstand der soziologischen Erkenntnis kümmerte. Weil dabei immer schon unterstellt wurde, dass man die Sache selbst sicher im Sack hatte, führten beide Entwicklungen zu einer - in jüngster Zeit auch in der deutschsprachigen Soziologie beklagten - Degradation und Verarmung des deskriptiven Wissens in den Sozialwissenschaften. 9 Die Überwindung dieses soziologischen Realitätsverlusts war eines der Ziele, das die in den 60er-Jahren neu aufkommenden interaktionistisch und phänomenologisch begründeten Forschungsansätze gemeinsam hatten. Ihr grundsätzliches Argument, dass die theoretischen Konstrukte der Sozialwissenschaften auf die Erfahrungswelt der Handelnden bezogen bleiben müssen, richtete sich gleichermaßen gegen den anämischen Zustand der Theorieentwicklung wie auch gegen die in Autismus verfallene Methodologiediskussion. Indem diese Forschungsansätze die auf der Strecke gebliebene Alltagswelt und deren deskriptiv typisierende Aneignung in den Mittelpunkt der soziologischen Aufmerksamkeit rückten, ebneten sie auch den Weg für eine Forschungsressource, die wie keine andere ein soziales Geschehen in seiner ursprünglichen Ereignisform bewahrt und so der Analyse auf ganz neue Weise zugänglich macht, - die audiovisuellen Reproduktionstechniken. 8 Vgl. aber Bergmann/ Srubar (1985). 9 So J. Matthes auf dem 21. Deutschen Soziologentag in Bamberg 1982 (1983, S. 22). Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit 41 Mehr noch als durch ihre thematische Umorientierung auf die Alltagswelt haben die interaktionistisch und phänomenologisch begründeten Forschungsansätze durch ein bestimmtes methodologisches Prinzip dafür gesorgt, dass Aufzeichnungsinstrumente zu einer unverzichtbaren Ressource der interpretativen Sozialforschung werden konnten. Dieses Prinzip besteht darin, nicht wie Durkheim (1961, S. 115ff.) die soziologischen Tatbestände wie Dinge der Außenwelt zu betrachten, sondern die objektive Gegebenheit sozialer Fakten als eine in den Interaktionen der Handelnden fortwährend erbrachte Leistung, als eine Hervorbringung, als ein prozessuales Geschehen, als eine Praxis zu konzeptualisieren. Eine der zentralen Forschungsmaximen der Ethnomethodologie besagt, in Garfinkels (1967, S. 33) Formulierung, dass „every feature of an activity's sense, facticity, objectivity, accountability, communality is to be treated as a contingent accomplishment of socially organized common practices“. Und Oevermann et al. (1979, S. 423) begründen das sequenzanalytische Vorgehen der Objektiven Hermeneutik mit dem Argument, „dass die Reproduktion der den Fall kennzeichnenden Struktur von Interaktionsabläufen und der von ihnen konstruierten latenten Sinnstrukturen ein permanenter, ständig in Operativität befindlicher Prozess ist“. Die Vorstellung einer sich in Prozessen und Handlungsvollzügen selbst reproduzierenden Wirklichkeit, die in der Soziologie an sich nicht neu ist (sie lässt sich ohne weiteres bis zu Simmel, Mead und Schütz zurückverfolgen), wird spätestens dann zu einem erheblichen Problem, wenn man sich die aus ihr sich ergebenden Konsequenzen für die empirische Forschungspraxis vergegenwärtigt. Wird nämlich nicht mehr nach dinghaften Merkmalen, sondern nach ereignishaften Geschehensabläufen gefragt, entsteht sofort die Schwierigkeit, wie diese immer in der Zeit sich realisierenden Prozesse in ihrer Momentan- und Ereignishaftigkeit festgehalten und damit der Analyse zugänglich gemacht werden können. Es ist an dieser Stelle interessant zu beobachten, wie sich bereits in Simmels theoretischen Überlegungen die Ahnung einschleicht, dass der gedanklichen Neubestimmung des soziologischen Gegenstandsbereichs eine neuartige instrumentelle Zugangsweise entspricht. Mittels der Analogie von Organismus und Gesellschaft entwickelt Simmel in seiner „Soziologie“ das Argument, dass sich die Gesellschaftswissenschaft bislang auf die „großen Organe und Systeme“ (Familienformen, Klassenbildung, Staaten etc.) beschränkte und die von ihm in den Mittelpunkt gerückten unscheinbaren, flüchtigen Formen der Vergesellschaftung übersah: Jörg Bergmann 42 Fortwährend knüpft sich und löst sich und knüpft sich von neuem die Vergesellschaftung unter den Menschen, ein ewiges Fließen und Pulsieren, das die Individuen verkettet, auch wo es nicht zu eigentlichen Organisationen aufsteigt. Hier handelt es sich gleichsam um die mikroskopisch-molekularen Vorgänge innerhalb des Menschenmaterials, die aber doch das wirkliche Geschehen sind, das sich zu jenen makroskopischen, festen Einheiten und Systemen erst zusammenkettet und hypostasiert. (Simmel 1908, S. 15). Und um die Tragweite seiner neuen Betrachtungsweise für die Soziologie deutlich zu machen, fährt Simmel wenige Zeilen später fort: „Vielleicht wird von dieser Erkenntnis aus für die Gesellschaftswissenschaft erreicht, was für die Wissenschaft vom organischen Leben der Beginn der Mikroskopie bedeutete“ (Simmel 1908, S. 16). Simmel hat die Erweiterung des wissenschaftlichen Erkenntnispotenzials durch die technische Entwicklung neuartiger Beobachtungsinstrumente nur analogisierend, nicht aber als reale Möglichkeit für die Soziologie in Betracht gezogen. Er hat jedoch damit begonnen, den Gegenstand der Soziologie so umzuformulieren, dass die technisch vermittelte Möglichkeit der Aufzeichnung, Speicherung und Vergegenwärtigung eines mit seiner Realisierung immer gleich auch entschwindenden sozialen Ereignisses über ihre archivarische Bedeutung hinaus zur vorrangigen empirischen Ressource einer sinnverstehenden Forschungsmethodologie werden konnte. Denn sobald man die ewig fließenden, flüchtigen Prozesse der Vergesellschaftung als das Grundthema der Gesellschaftswissenschaft konzipiert, tut sich für die Soziologie als einer empirisch verfahrenden Wissenschaft das Problem auf, wie man dieses transitorischen Geschehens habhaft werden kann. Von der Idee der sozialen Reproduktion der Wirklichkeit im Handeln führt somit ein direkter Weg zu den Techniken der audiovisuellen Reproduktion sozialer Vorgänge. Entgegen Simmels irreführender Mikroskopiemetapher ist jedoch bei der Analyse von Vergesellschaftungsprozessen nicht deren Größenordnung das entscheidende Problem, sondern deren Zeitlichkeitsstruktur. Die audiovisuellen Reproduktionsmedien fungieren demnach in der interpretativen Soziologie auch nicht als Vergrößerungsinstrumente, sondern als Zeitmaschinen. Sie gestatten es dem Sozialforscher, ein sich ereignendes soziales Geschehen in seinem realen zeitlichen Ablauf zu bewahren und gleichzeitig dessen Temporalstruktur in beliebiger und reversibler Weise zu manipulieren. Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit 43 3. Dass Ereignisse auftauchen und wieder entschwinden, ist eigentlich eine triviale Erkenntnis, - trivial deshalb, weil wir im Alltag immer schon mit der Vergänglichkeit eines Geschehens rechnen und immer schon über gesellschaftlich institutionalisierte Lösungen für dieses strukturelle Problem verfügen. Ein geschehendes Ereignis löst sich, nachdem es sich abgespielt hat, nicht einfach in nichts auf, sondern wird - zu einem geschehenen Ereignis. Wir wissen, dass Ereignisse vergänglich sind, wir wissen aber auch, dass vergangene Ereignisse im Gedächtnis behalten, benannt, thematisiert und im Gespräch vergegenwärtigt werden können. Für das menschliche Zusammenleben sind diese Konservierungstechniken von elementarer Bedeutung; es gibt keine uns bekannte ethnische Gruppe, in der sie nicht zu finden wären. 10 Im Gegensatz zu den audiovisuellen Reproduktionsmedien, die die registrierende Konservierung eines Ereignisses ermöglichen, ist die sprachliche Vergegenwärtigung eines abgelaufenen Geschehens immer eine rekonstruierende Konservierung. Zur Auffächerung dieser Gegenüberstellung sollen im Folgenden drei charakteristische Strukturdifferenzen beschrieben werden. 1) Die Fixierung eines sozialen Geschehens in Bild und Ton ist ein Vorgang, der ohne sinnhafte Erfassung und Bearbeitung dieses Geschehens auskommt und im Prinzip technisch automatisierbar ist. 11 Demgegenüber impliziert die retrospektive - sprachliche oder nichtsprachliche - Darstellung eines Ereignisses immer eine Deutung. Nachträgliche Thematisierungen bilden gegenüber dem primären Sinnzusammenhang des sich vollziehenden Geschehens einen sekundären Sinnzusammenhang, in dem das vergangene und seinem aktuellen Sinn nach abgeschlossene Geschehen interpretativ neu erschaffen, eben re-konstruiert wird. 12 Ohne eine solche deutende Aneignung wäre - entsprechende Gedächtnisleistungen vorausgesetzt - die Thematisierung eines vergangenen Geschehens nur in 10 Vgl. hierzu Schotts Arbeit über das Geschichtsbewusstsein schriftloser Völker (1968). 11 Eine ganz andere Frage ist, ob diese Automatisierung dem Sozialforscher in seiner Arbeit als wünschenswert erscheint. Vgl. hierzu den witzigen Disput zwischen M. Mead und G. Bateson über die Verwendung des Photoapparats in ihrer Studie über den balinesischen Charakter: For God's Sake, Margaret (1976, S. 39 ff.). 12 Vgl. Luckmann (1981, S. 518). Jörg Bergmann 44 Form einer verständnislosen, papageienhaften Wiederholung möglich. Sicher, auch die audiovisuelle Aufzeichnung eines Geschehens muss vom Betrachter deutend erschlossen werden, doch der entscheidende Punkt ist hier, dass die interpretative Transformation des Geschehens im einen Fall nach dessen registrierender Konservierung erfolgt und im anderen Fall mit dessen rekonstruierender Konservierung. 2) Für die rekonstruktive Aneignung, Vergegenwärtigung und Überlieferung von vergangenen Ereignissen haben sich in jeder Sprachgemeinschaft verschiedene kommunikative Formen herausgebildet. Es handelt sich dabei um die narrativen oder - wie wir stattdessen sagen - rekonstruktiven Gattungen, 13 die jeder, der in kompetenter Weise eine Geschichte erzählen, am Klatsch teilnehmen oder einen Bericht geben will, beachten und beherrschen muss. Die rekonstruktiven Gattungen bilden eine Teilmenge der kommunikativen Gattungen, die allgemein als historisch und kulturell spezifische, gesellschaftlich verfestigte Lösungsmuster für strukturelle „kommunikative Probleme“ angesehen werden können. Kommunikative Gattungen weisen typischerweise ein verhältnismäßig hohes Institutionalisierungsniveau und eine gegenüber situativen und kontextuellen Bedingungen relative Autonomie auf. Dieses Strukturmerkmal der relativen Autonomie begründet für die rekonstruktiven Gattungen insofern eine spezifische Problematik, als es die Möglichkeit einer „Rekonstruktion“ unabhängig von einem realen vorausgegangenen Geschehen, also die Möglichkeit fiktiver Geschichten eröffnet. - Während die rekonstruktive Konservierung eines sozialen Geschehens gebunden ist an vorgegebene gattungsspezifische Darstellungsprinzipien, unterliegt die registrierende Konservierung keinem derartigen Gestaltungszwang. Die audiovisuelle Fixierung ist im wesentlichen passiv; sie folgt einzig und allein dem Geschehen, nicht aber den Erfordernissen einer gelungenen Geschichte; anders als die Erzählung einer Geschichte konzentriert sie sich nicht auf „Wichtiges“ und übergeht „Unwichtiges“, sondern ist - im Idealfall - darum bemüht, ein soziales Geschehen kontinuierlich über einen genügend langen Zeitraum hinweg in seiner Ereignisfülle zu dokumentieren. Natürlich könnte eine solche Aufzeichnung - könnte Légers 24-Stunden-Film - im 13 Diese - manchem vielleicht etwas eigenwillig erscheinende - Verwendung des Begriffs „rekonstruktiv“ sowie das Konzept der „rekonstruktiven Gattungen“ werden in Luckmann/ Bergmann (1983) erläutert. Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit 45 Nachhinein mittels Schnitt und Montage zu einer Rekonstruktion mit einer narrativen Grundstruktur umgearbeitet werden. Doch dieser Prozess der Narrativierung hat zur Konsequenz, dass das abgelaufene soziale Geschehen bereits in dem frühen Stadium seiner Konservierung unentwirrbar mit den nachträglichen Deutungen anderer durchsetzt und überlagert wird. 3) Der Vorgang der audiovisuellen Fixierung eines sozialen Geschehens verläuft synchron mit dessen Vollzug; er ist beendet, sobald das Geschehen zu einem Abschluss gekommen ist und/ oder das Ende des Aufzeichnungsbandes erreicht wurde. Sobald das Geschehen vorbei ist, ist auch die Möglichkeit seiner registrierenden Konservierung ein für allemal erschöpft. Andere Aufzeichnungsversionen als die bis zu diesem Zeitpunkt vorliegende(n) sind nicht verfügbar. - Eine im gleichen Sinn definitiv abgeschlossene Konservierung ist im Fall der Rekonstruktion ex post nicht möglich. Für jedes abgelaufene Geschehen gibt es prinzipiell immer mehr als eine rekonstruktive Version; keine Rekonstruktion, die sich nicht erweitern ließe oder für die nicht eine Alternative denkbar wäre. Dass diese Unbegrenztheit von Rekonstruktionsmöglichkeiten im praktisch-alltäglichen Handeln nicht als notorisches, unlösbares Dilemma erfahren wird, liegt darin begründet, dass jede Rekonstruktion in einem - sei's auch nur vorgestellten - kommunikativen Kontext erfolgt, dessen Berücksichtigung die infinite Zahl möglicher Rekonstruktionsversionen drastisch beschränkt. Rekonstruiert wird immer nur für spezifische Rezipienten, im Hinblick auf spezifische Ziele, unter spezifischen - z.B. zeitlichen - Situationsbedingungen etc.; mit anderen Worten: jede Rekonstruktion ist auf ihren jeweiligen Relevanzkontext zugeschnitten und nimmt diese kontextuelle Orientierung unvermeidlich in sich auf. Das bedeutet aber, dass jede rekonstruierende Konservierung eines sozialen Geschehens insofern immer schon kontextualisiert ist, als die Umstände ihrer Produktion unvermeidlich in sie selbst eingehen. Die Gegenüberstellung von registrierender und rekonstruierender Konservierung ist nicht um ihrer selbst willen entwickelt worden. Ihr kommt eine spezifische argumentative Bedeutung zu, die sich offen zeigt, sobald sie mit der These verknüpft wird, dass die in der herkömmlichen Sozialforschung verarbeiteten empirischen Daten alle Merkmale einer rekonstruierenden Konservierung aufweisen. Meine Behauptung ist also, 1. dass diese Daten selbst (und nicht erst deren spätere Bearbeitung) das Ergebnis sekundärer Sinnbil- Jörg Bergmann 46 dungsprozesse sind, die den primären Sinnzusammenhang, wenn nicht getilgt, so doch undurchdringlich überlagert haben; 2. dass in diesen Daten das soziale Original - teilweise hochgradig kondensiert - in die Formstrukturen der rekonstruktiven Gattungen transformiert wurde und 3., dass diese Daten in all ihren deskriptiven Bestandteilen geprägt und abhängig sind von dem spezifischen Kontext ihrer Entstehung und Verwendung. Ein wesentliches Motiv für die Hinwendung der interpretativen Soziologie(n) zu den registrierenden Konservierungstechniken liegt nun darin, dass die Daten der herkömmlichen Sozialforschung aufgrund dieser für sie konstitutiven - und selbst weitgehend unerforschten - Transformationsprozesse es verwehren, ein soziales Geschehen in seiner genuinen Ablauf- und Sinnstruktur zu lokalisieren oder gar zu analysieren. Die „Daten“ schieben sich wie eine Wischblende über das, was sie zu repräsentieren vorgeben; das Ergebnis ist ein stark verschwommenes Bild, auf dem die Konturen des Objekts und die Wirkung des Filters nicht mehr auseinander zu halten sind. Diese Kritik lässt sich im Hinblick auf die gebräuchlichsten Datentypen, mit denen die traditionelle Sozialforschung operiert, folgendermaßen konkretisieren: - Ein Großteil der empirischen Sozialforschung arbeitet immer noch mit bereits vorliegenden rekonstruktiven Beschreibungen, wie sie in Gestalt der amtlichen und prozessproduzierten Daten verfügbar sind. Durkheims Suiziduntersuchung ist hierfür der paradigmatische Fall, mit dem sich denn auch in den vergangenen Jahren eine Reihe von Studien aus einer interpretativen Forschungsperspektive (so u.a. Douglas 1967; Atkinson 1978) kritisch auseinandergesetzt hat. Der gemeinsame Nenner dieser Studien ist, dass sie die Selbstmordstatistiken als das numerisch verdichtete und hochtransformierte Resultat eines gesellschaftlichen Deutungs- und Kategorisierungsprozesses betrachten, bei dem von den zuständigen amtlichen und medizinischen Vertretern plausible suizidale Vorgeschichten für tote menschliche Körper rekonstruiert worden sind. In den Statistiken selbst ist dieser Rekonstruktionsprozess stillschweigend vorausgesetzt, gleichzeitig aber auch vollständig ausgelöscht; Suizid erscheint in ihnen als blanke soziale Tatsache. Da aber in diesem gesellschaftlichen Rekonstruktions- und Deutungsprozess entschieden wird, was später in den Statistiken auftaucht und als „Datum“ prozessiert wird, dürfte die Soziologie diesen Prozess nicht gedankenlos übergehen, sondern müsste ihn - wie Sacks (1963, S. 8) in einem frühen programmatischen Aufsatz auch ausdrücklich fordert - zu ihrem genuinen Thema machen: Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit 47 An investigation of how it is that a decision that a sucide occurred is assembled, and an investigation of how an object must be conceived in order to talk of it as ‘committing suicide’, these are the preliminary problems for sociology. Having produced procedural descriptions of the assembly of a suicide classification it may turn out that it is the category and the methodology of applying it that constitutes the interesting sociological problems. Mehrere ethnomethodologische Arbeiten (u.a. von Garfinkel 1967, S. 11-18; Sacks 1972; Smith 1983) haben später mit einer Realisierung dieses Forschungsprogramms begonnen. - In der gleichen Weise wie die Selbstmordstatistiken unterliegen natürlich auch die Kriminal-, Krankheits-, Unfall- und andere Sozialstatistiken der ethnomethodologischen Kritik, die verallgemeinert lautet, dass die Konservierungsform dieser Datentypen die ihr zugrunde liegenden gesellschaftlichen Rekonstruktions- und Transformationsprozesse ebenso bedenkenlos benutzt wie spurenlos eliminiert. - Dort, wo die Sozialforschung nicht auf bereits vorliegende numerischstatistische Beschreibungen der sozialen Welt als Daten zurückgreifen kann, produziert sie sich diese selbst, - zumeist indem sie sich der Alltagsressource der Frage bedient. Es bedarf eigentlich keines weiteren Nachweises, dass auch das Interview als Instrument der Datengewinnung soziale Sachverhalte nur rekonstruierend erfassen kann. Was das Interview an Daten hervorbringt, sind typisierende Aussagen über soziale Vorgänge und Sachverhalte. Diese Aussagen sind eingebettet in einen - gegenüber dem thematisierten sozialen Geschehen - eigenen, reflektierenden Deutungszusammenhang, der je nach dem Grad der Offenheit und Standardisierung des Interviews eher vom Befragten (oder eher vom Interviewer) bestimmt und in seiner Kommunikationsstruktur mehr oder weniger explizit narrativ sein wird. Für die interpretativen Ansätze, die sich - wie die Konversationsanalyse und die Objektive Hermeneutik - ganz auf die Analyse sozialer Interaktionsabläufe und deren (primärer) Sinnstruktur konzentrieren, ist das Interview daher ein Erhebungsinstrument, das rekonstruktiv überformte und damit nur sehr begrenzt analysefähige Daten produziert. Für diese Ansätze ist, wie Oevermann (1983, S. 286) drastisch formuliert, „im Vergleich zur Sammlung und Analyse natürlicher Protokolle sozialer Abläufe die Methode der Befragung, zumindest in ihrer standardisierten Form, eben nicht der Königs-, sondern der Holzweg empirischer Sozialforschung.“ (Spätestens an dieser Stelle Jörg Bergmann 48 werden, wenn man sich an die Konzeption des narrativen Interviews erinnert, erhebliche Differenzen zwischen den verschiedenen interpretativen Forschungsansätzen sichtbar. Dazu gleich mehr.) - Mit einem dritten Typus von Daten hat der empirische Sozialforscher schließlich dann zu tun, wenn er die Methode der teilnehmenden Beobachtung anwendet. Hier sind es nicht seine Gesprächspartner, die ihm auf Befragen Aussagen über soziale Sachverhalte liefern, hier ist es er selbst, der wahrgenommene soziale Vorgänge in Sprache fasst und in Feldnotizen, Beobachtungs- und Gesprächsprotokollen festhält. Im Gegensatz zum Interview eröffnet diese Methode dem Sozialforscher die Möglichkeit, ein soziales Geschehen in seinem tatsächlichen Ablauf zu verfolgen, und nicht selten werden sich in seinen Beobachtungsprotokollen genaue Beschreibungen und wortwörtliche, transkriptartige Mitschriften von Interaktionsvorgängen finden. Diese registrierende Form der Protokollierung stößt freilich rasch an ihre Grenzen: wir haben nur eine sehr beschränkte Erinnerungs- und Wiedergabefähigkeit für die amorphe Ereignismasse eines aktuellen sozialen Geschehens. Dem teilnehmenden Beobachter bleibt also gar keine andere Wahl als die, die sozialen Vorgänge, deren Zeuge er war, zumeist in typisierender, resümierender, rekonstruierender Form zu notieren. Man muss sich damit abfinden, dass die Daten, mit denen die herkömmliche Sozialforschung operiert, bis auf ganz wenige Ausnahmen die sozialen Sachverhalte, die sie abbilden, in rekonstruierender Form konservieren. D.h., die Daten sind das Endresultat eines - in seinen Wirkmechanismen noch weitgehend unerforschten - Transformationsprozesses, mit dem ein in sich sinnhaft strukturiertes, in situ organisiertes soziales Geschehen durch eine typisierende, narrativierende, ihrerseits deutende Darstellung ex post substituiert wird. Der entscheidende Punkt dabei ist, dass die deutendrekonstruierende Verwandlung des Geschehens bereits in die Daten selbst eingewandert ist und der Forscher nicht die geringste Chance hat, diesen Prozess umzukehren: das Geschehen selbst ist entschwunden, als Datum ist ihm nur dessen Rekonstruktion verfügbar. In der Literaturwissenschaft wäre es völlig undenkbar, anstelle der literarischen Werke selbst die im Nachhinein zu diesen Werken produzierten Zusammenfassungen, Interpretationen und Meinungen zum hauptsächlichen Untersuchungsgegenstand zu machen. Der Soziologie war bislang der apos- Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit 49 teriorisch-rekonstruierende Charakter ihrer Daten eine problemlose Selbstverständlichkeit. Ich vermute, dass dieser Sachverhalt für die Soziologie deshalb nicht zum Problem wurde, weil die Abbildungsperspektive dieser soziologischen Daten genau der Perspektive entspricht, von der aus wir uns im alltäglichen Handeln auf soziale Vorgänge beziehen. Eine Bestätigung dieser Vermutung findet sich überraschenderweise dort, wo man gerade eine Alternative zum Typus der rekonstruierenden Daten erwarten würde - in der Verwendung von audiovisuellen Aufzeichnungstechniken in der interpretativen Sozialforschung. Von den technischen Reproduktionsmedien geht ja für die Sozialforschung deshalb eine Faszination aus, weil sie ihre Benutzer zum ersten Mal überhaupt in die Lage versetzen, ein soziales Geschehen statt im Nachhinein - mit den entsprechenden Transformationen - zu rekonstruieren, in seinem tatsächlichen, beobachtbaren Ablauf zu registrieren. Die so entstehenden „Daten“ entsprechen freilich nicht mehr dem rekonstruierenden Modus der Konservierung sozialer Vorgänge, der den Berufswie den alltäglichen Laiensoziologen so vertraut ist. 14 Damit stellt sich dem Benutzer der neuen Fixierungstechniken ein neuartiges methodisches Problem: Da alle gebräuchlichen methodischen Verfahrensweisen an und für Daten des rekonstruierenden Typs entwickelt worden waren, müssen nun Methoden für den Umgang mit registrierenden Aufzeichnungsdaten gefunden werden. Und bezeichnenderweise besteht die Lösung dieses Problems häufig gerade darin, die neuen technischen Reproduktionsmedien in den Dienst der vertrauten rekonstruierenden Konservierungspraxis zu stellen. Dazu im folgenden zwei Beispiele. Ein heute sehr beliebtes interpretatives Verfahren der Datengewinnung ist das offene - und spezifischer: das narrative - Interview, zu dessen wesentlichen Voraussetzungen gehört, dass das Gespräch mit dem Befragten auf Tonband aufgezeichnet wird. Was aufgezeichnet wird, sind Rekonstruktionen von Biografieverläufen, politischen Entscheidungsprozessen u.Ä., also Deutungen vergangener sozialer Ereignisse, die in dem sekundären Sinnzusammenhang des Interviews elizitiert wurden. Wäre nun das soziologische Interesse in erster Linie auf die Rekonstruktions- und Deutungs- 14 Die Wendung „lay and professional sociologists“ taucht regelmäßig in Garfinkels Arbeiten (1967) auf; sie ist leider häufig missverstanden worden als polemischer Versuch, jegliche Differenz zwischen Soziologen und Nicht-Soziologen einzuebnen. Jörg Bergmann 50 muster des Befragten und auf den genuinen Sinnzusammenhang der Interviewkommunikation gerichtet, dann würden die Tonbandaufzeichnungen tatsächlich eine nicht-rekonstruierende Datenbasis bilden. Da aber die Auswertung des narrativen Interviews sich in der Regel darauf konzentriert, durch die wechselnden rekonstruierenden Deutungen hindurch die faktischen Prozessabläufe des Lebens des Interviewten zu erfassen, 15 wird die Aufzeichnungsqualität der Daten voll und ganz ihrer Rekonstruktionsqualität untergeordnet. Die dem Alltagsverstand und der traditionellen Sozialforschung so vertraute rekonstruierende Form soziologischer Daten wird also im Fall des narrativen Interviews durch die Einführung technischer Reproduktionsmedien kaum angetastet. Und ich möchte behaupten, dass die Beliebtheit dieses Verfahrens - gerade bei Studenten - nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass in seinem Fall der Appeal der qualitativen Forschungsmethoden sich mit der beruhigenden Aussicht verbindet, dass die rekonstruierende Alltagsperspektive auf soziale Ereignisse nicht abgelegt zu werden braucht. Ein anderes Beispiel für den offensichtlich tief verwurzelten, hartnäckigen Drang, nur rekonstruierende Konserven von sozialen Ereignissen als soziologisch relevante Daten zu betrachten und zu behandeln, findet sich in der konversationsanalytischen Ausbildungspraxis. Dort ist eine immer wieder zu machende Erfahrung, dass die meisten Studenten große Schwierigkeiten dabei haben, die Aufzeichnung und das Transkript eines natürlichen Gesprächs als ein für sich zu analysierendes Untersuchungsobjekt anzuerkennen. Eine regelmäßig beobachtbare Praxis besteht darin, nach Beendigung der Transkriptionsarbeit zunächst eine Art paraphrasierende Nacherzählung des aufgezeichneten Geschehens anzufertigen und dann anstelle der transkribierten Aufzeichnung dessen Nacherzählung zum Gegenstand der weiteren analytischen Betrachtung zu machen. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Studenten diesen Zwischenschritt einlegen, erscheint mir durchaus symptomatisch - symptomatisch für die Scheu und das Unvermögen der traditionellen Sozialforschung, ein empirisches Objekt zum Gegenstand der Analyse zu machen, ehe nicht dessen registrierende Konservierung in die vertraute Form einer rekonstruierenden Konservierung transformiert, ehe nicht Légers Film in ein erzählendes Feature umgeschnitten wurde. Hinter dieser methodologischen Scheu verbirgt sich nichts 15 So dezidiert Schütze (1983, S. 284). Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit 51 anderes als der unartikulierte Widerstand dagegen, die vertraute Alltagspraxis der rekonstruierenden Aneignung und Konservierung sozialer Vorgänge zugunsten einer konstitutionsanalytischen Perspektive auf die im Handlungsvollzug sich reproduzierende soziale Wirklichkeit aufzugeben. 4. Es zeigt sich nun, dass die Einführung audiovisueller Reproduktionsmedien in der interpretativen Sozialforschung von zwei gegenläufigen, paradox anmutenden Bewegungsmomenten gekennzeichnet ist. Einerseits manifestiert sich in der Verwendung dieser Aufzeichnungstechniken eine Hinwendung zum Alltag insofern, als mit ihr die in der Sozialforschung für gewöhnlich übergangenen banalen, natürlichen Interaktionsvorgänge in ihrer Ereignishaftigkeit zum primären Untersuchungsthema avancieren. Andererseits provoziert der Einsatz dieser Reproduktionstechniken aber auch eine Abkehr vom Alltag, da deren registrierender Konservierungsmodus eine Analyseperspektive eröffnet, die der transformierenden Rekonstruktionspraxis der im Alltag Handelnden entgegengesetzt ist. Um Auskunft geben zu können, zu welchem Resultat diese beiden gegenläufigen Bewegungsmomente führen, ist es erforderlich, zunächst etwas genauer auf die Frage einzugehen, wie denn in der interpretativen Forschungspraxis mit den technischen Reproduktionsmedien umgegangen wird, wenn diese nicht in den Dienst der vertrauten Konservierungspraxis gestellt werden. In den vergangenen Jahren haben insbesondere zwei interpretative Forschungsansätze Konturen gewonnen, die sich in ihren Analysen weitgehend auf Aufzeichnungen und Transkriptionen von natürlichen Interaktionsabläufen beschränken, - die ethnomethodologische Konversationsanalyse und die Objektive Hermeneutik. Beide Richtungen werden in den raren Versuchen, Ordnung in die Vielfalt der interpretativen Methoden, Arbeitsstile und Forschergruppen zu bringen, eher als gegensätzliche Unternehmungen charakterisiert. 16 Die Verteter dieser beiden Forschungsansätze selbst haben bislang wenig Notiz voneinander genommen, - dazu sind wohl auch die jeweiligen Originalitätsansprüche zu hoch. 16 So etwa bei Soeffner (1982, S. 23). Jörg Bergmann 52 Ich meine nun, dass beide Ansätze trotz aller sich in den Vordergrund drängenden Differenzen eine Reihe von überraschenden und interessanten Gemeinsamkeiten aufweisen. Das beginnt damit, dass in beiden Fällen die jeweiligen methodologischen Prinzipien, so wie sie heute in teilweise schon kanonisierter Form gehandelt werden, das Resultat eines langwierigen und mühsamen Prozesses sind, in dessen Verlauf sich erst mit der interpretativen Arbeit an Gesprächsaufzeichnungen und Aufzeichnungsabschriften bestimmte methodische Formen des Umgangs mit derartigen Materialien bewährt und als Tradition herausgebildet haben. Beide Male bestand eine der Hauptschwierigkeiten darin, sich vom traditionellen - ich würde jetzt sagen: rekonstruierenden - Methoden- und Datenbewusstsein der Sozialwissenschaften zu befreien und Mittel und Wege zu finden, der neuartigen Qualität registrierender Konservierungsformen gerecht zu werden. Diese entwicklungsgeschichtliche Gemeinsamkeit ist deshalb von Interesse, weil sie Grund für die Vermutung gibt, dass die methodischen Parallelen möglicherweise durch die gleichartige instrumentalisierte Zugangsweise zur sozialen Wirklichkeit vermittelt sind. Die methodischen Übereinstimmungen von Konversationsanalyse und Objektiver Hermeneutik lassen sich jetzt nicht in aller Ausführlichkeit darstellen und diskutieren. Ich werde daher einige von ihnen nur erwähnen und dann zwei dieser Gemeinsamkeiten, die für meine nachfolgende Argumentation von besonderer Relevanz sind, sorgfältig behandeln. 17 - Beide Forschungsansätze gehen davon aus, dass das aufgezeichnete und transkribierte Geschehen selbst sinnhaft strukturiert ist, und dass ein wesentliches Ziel der Analyse darin besteht, diese in das Handeln eingebettete sinnhafte Struktur und Strukturierung zu bestimmen. - Ein dem Forscher möglicherweise zur Verfügung stehendes Wissen über den Kontext einer Interaktionsszene wird in der Analyse zunächst ausgeblendet. - Konversationsanalyse wie Objektive Hermeneutik lehnen es ab, den Sinn einer Äußerung durch Annahmen und Schlüsse über die Intentionen oder Wertorientierungen des Äußerungsproduzenten oder über das spezifische Verständnis des Rezipienten erschließen zu wollen. 17 Zugrunde liegen dem folgenden Vergleich einerseits Oevermann et al. (1979) und andererseits Garfinkel (1967); Sacks/ Schegloff/ Jefferson (1974); Bergmann (1981); Levinson (1983). Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit 53 - Beide Ansätze unterwerfen sich in ihrem Vorgehen einer „Sparsamkeitsregel“ insofern, als sie bei der Interpretation eines Transkriptionstextes so lange wie irgend möglich davon ausgehen, dass Äußerung und Äußerungsmotivierung eines Handelnden im Bereich des Normalen liegen. Zwei weitere methodologische Grundprinzipien, die für die Konversationsanalyse wie für die Objektive Hermeneutik von zentraler Bedeutung sind, sollen im Folgenden etwas genauer betrachtet werden. Beide Ansätze zeichnet - gegenüber allen anderen qualitativen wie quantitativen Richtungen - aus, dass sie in ihrem interpretativen Vorgehen grundsätzlich von einer Ordnungsprämisse geleitet werden, die besagt, dass kein in einem Interaktionstranskript auftauchendes Textelement als Zufallsprodukt betrachtet wird, sondern immer als Bestandteil einer sich im Handeln der Beteiligten reproduzierenden Ordnung. Harvey Sacks hat diese methodische Geordnetheitsunterstellung bereits in seinen früheren „Lectures“ (1966) formuliert und zur Erläuterung folgendes Bild entworfen: „Gesellschaft“ erscheint in den meisten soziologischen Theorien als eine Art Maschine mit einer Anzahl von Löchern; an der Vorderseite spuckt diese Maschine „interessante“, „gute“ Probleme aus, an der Rückseite nur Abfall. Das Augenmerk der Soziologen richtet sich nun üblicherweise ganz auf die großen, wichtigen Probleme; der Rest wird als ungeordnete Zufallserscheinung und daher als nicht untersuchenswert erachtet. Dagegen setzt Sacks nun als methodisches Postulat, nicht im vorhinein zu entscheiden, welche sozialen Erscheinungen sich als soziologische Untersuchungsobjekte eignen, sondern: „one may, alternatively, take it that there is order at all points“. 18 Mit diesem order at all points-Postulat wird der Soziologe freigesetzt von der Zwangsbindung an die „großen“ Themen, zugleich aber auch der strengen Forderung unterworfen, in seiner Untersuchung den Geordnetheitscharakter einer sozialen Erscheinung und damit deren soziologische Analysierbarkeit nachzuweisen. Das Äquivalent zu der konversationsanalytischen „Order at all points“- Prämisse findet sich in der Objektiven Hermeneutik in dem methodischen Grundsatz, 18 Die methodologischen Bemerkungen von Sacks, die sich verstreut in verschiedenen seiner „Lectures“ finden, wurden von Jefferson (1981, S. 1-8) zusammengestellt, ediert und als Vorwort abgedruckt. Jörg Bergmann 54 für jedes im Protokoll enthaltene Element des Textes eine Motivierung zu explizieren, Textelemente nie als Produkt des Zufalls anzusehen. Gerade in der Motivierung des scheinbar belanglosen Textelements entpuppt sich häufig ein Ansatz für eine später zentrale Interpretationslinie. Wenn man sich schon auf eine objektiv hermeneutische Textinterpretation einläßt, dann muß man den ausgewählten Textausschnitt auch vollständig, in seiner Totalität interpretieren. (Oevermann et al. 1979, S. 394). Im Grund ist die methodologische Ordnungsprämisse eine logische Implikation der Entscheidung, die registrierende Konservierung eines sozialen Geschehens zum primären Untersuchungsmaterial zu machen. Denn jede voranalytische Ausfällung „unwesentlicher“ Elemente würde ja das fixierte, in sich selbst sinnhaft strukturierte Geschehen auf unkontrollierte Weise mit einem Flechtwerk von sekundären Deutungen überziehen und damit gerade das verhüllen, was die registrierende Konservierungsform sichtbar zu machen verspricht. Im Bemühen, ein soziales Geschehen in seiner Ereignishaftigkeit zu bewahren, haben Konversationsanalyse und Objektive Hermeneutik es sich zur Regel gemacht, Bandaufzeichnungen von Interaktionsabläufen nicht bereits im Vorgang der Transkription von all dem zu reinigen, was auf den ersten Blick als irrelevant oder fehlerhaft erscheinen mag. So werden denn auch in den Transkripten alle Versprecher, Wiederholungen, Pausen etc. festgehalten, und zur Erfassung von Artikulationsbesonderheiten, Äußerungsüberlappungen, Blickverhalten u.Ä. wurde in der Konversationsanalyse ein recht differenziertes System von Transkriptionssymbolen entwickelt. 19 Die Geordnetheitsunterstellung zeigt sich nun nicht allein in der Erstellung und dem Genauigkeitsanspruch von Transkripten; sie manifestiert sich auch in der Art der Objekte, auf welche sich - ausgehend von den Aufzeichnungen und Transkripten - die analytische bzw. interpretative Aufmerksamkeit richtet. Ob es sich dabei um situative Variationen des Begrüßungsvorgangs, Selbstkorrekturen eines Sprechers, ein Husten, eine mit Lachpartien unterlegte Äußerung o.Ä. handelt, immer war es die methodische Ordnungsprämisse, die diesen Minimalobjekten überhaupt erst ihre Thematisierungswürdigkeit verschaffte. […] 19 Vgl. die Zusammenstellung der in der Konversationsanalyse gebräuchlichen Transkriptionssymbole im Anhang zu Sacks/ Schegloff/ Jefferson (1974, S. 731-734). Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit 55 Ein weiteres methodologisches Grundprinzip, das in der Konversationsanalyse wie in der Objektiven Hermeneutik von fundamentaler Bedeutung ist, besteht darin, dass beide sich in ihrem methodischen Vorgehen von dem Prinzip der Sequenzanalyse leiten lassen. Dieses Prinzip drückt zunächst nichts anderes als die Übertragung der Ordnungsprämisse auf die Temporalstruktur des Interaktionsgeschehens aus, d.h. vom Interpreten wird methodisch unterstellt, dass die Abfolge der einzelnen Äußerungen der Interaktionsteilnehmer eine eigene Ordnung konstituiert. Auch dieses Prinzip kommt an sich nicht überraschend, ist es doch zu verstehen als direkte Konsequenz der den interpretativen Ansätzen zugrunde liegenden Vorstellung einer sich im Vollzug sozialer Handlungen reproduzierenden Wirklichkeit. Ihren signifikanten Niederschlag findet diese Vorstellung in einer spezifischen Interpretationsrestriktion, der sich die Konversationsanalyse ebenso wie die Objektive Hermeneutik unterwirft. Beide verbieten sich, in ihrem Vorgehen von der durch Aufzeichnung und Transkript gegebenen Möglichkeit Gebrauch zu machen, Informationen über den späteren Interaktionsverlauf zur Interpretation einer vorausgehenden Äußerung zu verwenden. Wie sehr beide Ansätze in diesem Punkt übereinstimmen, mag daran deutlich werden, dass in beiden unabhängig voneinander und in fast gleichlautender Formulierung grundsätzliche Kritik an der bekannten Untersuchung des therapeutischen Diskurses von Labov/ Fanshel (1977) geübt wurde, weil in ihr zur Interpretation einer Äußerung bedenkenlos Informationen herangezogen werden, die erst an einer späteren Stelle in dem Interaktionstext auftauchen (vgl. Oevermann et al. 1979, S. 425 und Levinson 1983, S. 352). Die Sequenzanalyse ist die Methodisierung der Idee einer sich im Interaktionsvollzug reproduzierenden sozialen Ordnung. Ihr wesentlich ist die Verpflichtung des Interpreten, sich immer auf gleicher Höhe mit dem tatsächlichen Interaktionsgeschehen zu bewegen, und das heißt, die - so verführerische - Position eines allwissenden soziologischen Demiurgen preiszugeben. Gerade Bandaufzeichnungen und Transkripte gestatten es ja dem Benutzer, beliebig in der Zeit hin- und herzuspringen. Doch von diesen zeitmanipulativen Möglichkeiten macht das sequenzanalytische Vorgehen insofern nur sehr diszipliniert Gebrauch, als es die von den Interagierenden in ihrem Handeln hervorgebrachte soziale Ordnung in ihrer realen Prozesshaftigkeit zu bestimmen sucht und dafür aber die zeitliche Entwicklung des Interaktionsgeschehens intakt halten muss. Jörg Bergmann 56 In der Konversationsanalyse bezeichnet „Sequenzialität“ die von den jeweils partikularen Situationsbedingungen unabhängige Verkettung aufeinander folgender Äußerungen und Aktivitäten. Dieser Konzeption liegt die Beobachtung zugrunde, dass zwei zeitlich aufeinander folgende Äußerungen für die Interaktionsteilnehmer selbst nicht in einer bloß seriellen Beziehung, sondern in einem Bedingungszusammenhang stehen. Äußerungen verketten sich dadurch zu Sequenzen, dass eine initiierende Äußerung eine mehr oder weniger starke normative Erwartung im Hinblick auf die angemessene, vom Rezipienten zu wählende Nachfolgeäußerung erzeugt. Vermöge seiner vorgreifend-normierenden Qualität kann das Sequenzialitätsprinzip den Interagierenden aber auch als elementare Interpretationsressource dienen. Denn der sequenzielle Erwartungsrahmen, den eine Äußerung generiert, bildet einen sich fortwährend aktualisierenden, lokalen Interaktionskontext, in den die jeweils nachfolgende Äußerung eingebettet ist und mit dessen Hilfe sich deren Sinn und Handlungscharakter bestimmen lassen. Die sequenzielle Verkettung von Äußerungen ist damit für die Interagierenden ein unersetzbares Prinzip, um intersubjektive Verständigung zu erreichen und kontrollierbar zu halten. Da die Konversationsanalyse Sequenzialität in diesem Sinn als universelles Organisationsprinzip von Verständigung thematisiert, muss ihr Bemühen dahin gehen, aus den individuell und situativ bestimmten Besonderheiten eines Interaktionstextes einen fallunspezifischen sequenziellen Ordnungszusammenhang analytisch herauszulösen. Die zahlreichen konversationsanalytischen Studien zu Strukturmerkmalen einzelner interaktiver Sequenzformate (Gruß-Gegengruß, Frage-Antwort etc.), zu formalen Sequenzierungsmechanismen und zu Techniken der Sequenzmodellierung versuchen alle auf ihre Weise, das Programm einer kontextunabhängigen - aber dennoch kontextsensitiven - Bestimmung der sequenziellen Organisation von sozialer Interaktion zu realisieren. 20 […] Konversationsanalyse und Objektive Hermeneutik wurden hier im Hinblick auf einige ihrer methodologischen Grundprinzipien vergleichend diskutiert, weil sie die beiden einzigen interpretativen Ansätze sind, die ihre For- 20 Diese Doppelbestimmung von Kontextunabhängigkeit und Kontextsensitivität, die für ein Verständnis des konversationsanalytischen Forschungsansatzes grundlegend ist, wird eingeführt in Sacks/ Schegloff/ Jefferson (1974, S. 699f.): „There must be some formal apparatus which is itself context-free, in such ways that it can, in local instances of its operation, be sensitive to and exhibit its sensitivity to various parameters of social reality in a local context. Some aspects of the organization of conversation must be expected to have this context-free, context-sensitive status.” Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit 57 schungspraxis auf den Einsatz technischer Reproduktionsmedien gründen, ohne diese Registrierverfahren einfach als Hilfsmittel der rekonstruierenden Datenproduktion zu verwenden. Beide Ansätze haben ihre Methodologien unabhängig voneinander im Umgang mit diesem neuen Typus von Daten entwickelt. Dass sie trotz der beschriebenen durchgehenden Differenz ihrer Erkenntnisziele in vielen methodologischen Punkten übereinstimmen, ist nur zu verstehen aus der Parallelität ihrer Bemühungen, dem spezifischen Charakter des registrierenden Datentypus methodisch gerecht zu werden. Weiter oben wurde argumentiert, dass die technischen Reproduktionsmedien zwar den banalen Alltag ins Blickfeld rücken, sie jedoch paradoxerweise mit ihrem registrierenden Konservierungsmodus eine Analyseperspektive eröffnen, die der aus dem Alltag vertrauten rekonstruierenden Konservierungspraxis entgegengesetzt ist. Worin dieser Gegensatz besteht, lässt sich jetzt anhand der beiden dargestellten methodologischen Prinzipien genauer explizieren. Zum einen stehen Konversationsanalyse und Objektive Hermeneutik entsprechend der Ordnungsprämisse vor der Aufgabe, für jedes Textelement eines Transkripts einen Ordnungszusammenhang zu finden, in dem dieses als motiviert oder methodisch produziert, jedenfalls als nicht-zufällig gelten kann. Da in dieser Perspektive jedes Äußerungselement bedeutsam und analysefähig wird, findet eine explosionsartige Vermehrung des Untersuchungsmaterials statt, die der rekonstruierenden Perspektive fremdartig und abwegig erscheinen muss. Denn ein wesentliches Strukturmerkmal der rekonstruierenden Konservierung ist ihre Ökonomie, d.h. ihre Fähigkeit und ihre Notwendigkeit, über die unzähligen Details eines aktuellen Geschehens hinweg rasch eine bildhaft typisierende Beschreibung zu synthetisieren. Zum anderen unterläuft auch das sequenzanalytische Vorgehen von Konversationsanalyse und Objektiver Hermeneutik die Perspektive der rekonstruierenden Konservierungspraxis. Das Grundprinzip der Sequenzanalyse ist, einem registrierten sozialen Geschehen in seiner Stetigkeit und Sukzessivität zeitgleich zu folgen und aus dem Bewegungsverlauf die generativen Prinzipien bzw. die fallspezifische Selektivität zu fraktionieren, die dieses Geschehen in seiner Geordnetheit und Individualität hervorbringen. Ist jedoch ein Geschehen nicht in seiner emergierenden Verlaufsqualität verfügbar, bleibt nur die Möglichkeit seiner rekonstruierenden Aneignung, die immer schon eine „-Grafie“ impliziert und damit über die „Vollzugslogik“ des ursprünglichen Geschehens eine idealisierende, Konsistenzanforderungen unterworfene Jörg Bergmann 58 „Darstellungslogik“ legt. 21 Um eine in Vergessenheit - und in Verruf - geratene Unterscheidung aufzugreifen: Die Reproduktionstechniken ermöglichen der Konversationsanalyse und der Objektiven Hermeneutik, in neuer Weise nach der „logic-in-use“ eines sozialen Geschehens zu fragen, statt sich wie gehabt vertrauensvoll den verführerischen und beruhigenden Gewissheiten zu überlassen, die der „reconstructed logic“ retrospektiver Darstellungen eigen sind. 22 5. Die registrierende Fixierung flüchtiger Interaktionsabläufe, in denen sich soziale Wirklichkeit „verwirklicht“, führt, sofern sie nicht unverzüglich wieder in den Dienst einer rekonstruierenden Konservierungspraxis gestellt wird, zu neuartigen methodologischen Prinzipien, deren Implikationen bislang noch wenig reflektiert wurden. Ausgehend von den oben diskutierten methodologischen Gemeinsamkeiten von Konversationsanalyse und Objektiver Hermeneutik will ich zum Schluss meiner Überlegungen eine erkenntnistheoretische Problematik entwickeln, die mir für die mit Aufzeichnungen als Primärdaten operierende interpretative Soziologie allgemein bedeutsam zu sein scheint. Folgt man bei der Interpretation eines aufgezeichneten und transkribierten Interaktionsgeschehens den methodischen Postulaten der Sequenzanalyse und der Ordnungsprämisse, so wird man früher oder später mit einer Schwierigkeit konfrontiert, der in den bisherigen Diskussionen beharrlich ausgewichen wurde. Die Schwierigkeit besteht darin, dass der Interpret mit diesen methodischen Postulaten in einen Strudel der Detaillierung geraten kann, der ihn in den immer enger werdenden Trichter des inneren Sinnhorizonts einer Äußerung hinunterzieht. Die Forderung, sich in seiner Arbeit von der Maxime „Order at all points“ leiten zu lassen bzw. für „jedes Element des Textes“ eine Motivierungslinie zu explizieren, öffnet den Blick des Interpreten für die Details des registrierten Geschehens, ohne doch eine untere Detaillierungsgrenze festzuschreiben. So kann im Prinzip an jedem „Punkt“, an jedem Textelement der zergliedernde Blick erneut ansetzen, um auf einem bis dahin in der Interpretation übersprungenen, noch feineren Detaillierungsniveau die Suche nach 21 Vgl. hierzu die Beiträge und Diskussionen zu diesem Verhältnis von Ereignisbedeutung in eventu und narrativen Aussagen post eventum in dem Band von Koselleck/ Stempel (1973). 22 Vgl. Kaplan (1964, S. 8ff.). Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit 59 einer bislang verborgenen Geordnetheit bzw. Motivierungslinie aufzunehmen. Dieser Atomisierungstendenz scheint auf den ersten Blick das Prinzip der Sequenzanalyse entgegenzulaufen, da es hier ja nicht um den synchronen Aspekt der Motiviertheit von Einzelelementen, sondern um den diachronen Aspekt der zeitlichen Produktion von Ordnung im Ablauf eines sozialen Geschehens geht. Doch die Analyse der zeitlichen Ordnung eines sozialen Geschehens kann auf die gleiche Weise in einen Detaillierungssog geraten, da die Zeitstrecken, innerhalb derer die „local production“ (Garfinkel) bzw. die fallspezifische Selektivität eines sozialen Objekts verfolgt wird, immer weiter verkürzt, immer näher an einen Zeit-Punkt herangerückt werden können. Die Detaillierungsdynamik, die sich bei der wissenschaftlichen Interpretation fixierter sozialer Interaktionsvorgänge entwickelt, mag dem einzelnen Sozialforscher während seiner Tätigkeit nicht gegenwärtig sein; ihre Wirkung ist jedoch - verfolgt man die Geschichte der interpretativen Forschungsansätze - unverkennbar. Die Probleme, die diese Detaillierungsdynamik in sich birgt, lassen sich vielleicht anhand einer methodologischen Parallele eindrucksvoller deutlich machen. Georg Simmel (1957) hat in seinem Essay über „Das Problem der historischen Zeit“ einige der erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten behandelt, vor die sich jede Historiografie gestellt sieht. Ausgangspunkt seiner zentralen These ist die Gegenüberstellung von „Geschehen“ und „Geschichte“: Während das wirkliche, erlebte „Geschehen“ sich seiner Form nach durch Kontinuität und Stetigkeit auszeichnet, zerteilt die „Geschichte“ dieses Geschehen unvermeidlich in diskontinuierliche Teilbilder, die gleichsam um je einen zentralen Begriff herum geronnen sind. Das Merkwürdige ist nun, dass die historischen Inhalte, sobald sie unter einem solchen Begriff zusammengefasst sind und als jeweilige Einheit gelten (z.B. die „Schlacht von Zorndorf“), die Form der erlebten Wirklichkeit - Stetigkeit und Kontinuität - haben, und zwar „durch ein gleichsam darüber schwebendes apriorisches Wissen, vermittels des Hindurchlegens einer ideellen Linie“. Beginnt man jedoch, nach den Bestandteilen und dem wirklichen Ablauf des unter einer solchen begrifflichen Einheit zusammengefassten Geschehens zu fragen, beginnt damit auch die Stetigkeit dieses Geschehens sich aufzulösen: In dem Maße aber, in dem wir an jeder solchen Einheit die immer spezialisierendere, immer genauer sehende Funktion des Erkennens üben, zerfällt sie in lauter Diskontinuitäten, deren jede einzelne zunächst wieder als kontinuierliche Dauer gemeint ist, bis das fortschreitende Erkennen auch an ihr die gleiche Zerspaltung und damit die gleiche Entlebendigung vollzieht. (Simmel 1957, S. 55). Jörg Bergmann 60 Je weiter man nun diesen Prozess der Zertrümmerung treibt, d.h. je exakter man die Dinge, „wie sie wirklich gewesen sind“, zu bestimmen sucht, um so eher wird eine Schwelle der Zerkleinerung unterschritten, unterhalb derer die einzelnen Geschehensatome „ein zu geringes Quantum eigenen Sinnes“ (Simmel) haben und nicht mehr in den Gesamtverlauf eingefügt werden können: Es scheint ein allgemeines Prinzip zu bestehen, dass das Zerfallen einer Erscheinung in Elemente, als deren Summe sie dann wieder begriffen werden soll, bei einer bestimmten Stufe der Zerkleinerung die Individualität der Erscheinung aufhebt. (ebd., S. 56). Simmel sieht daher die geschichtliche Erkenntnis von einer tiefen Antinomie gekennzeichnet: Erfasst sie ein vergangenes Geschehen durch großflächige, einheitsstiftende Begriffe, so bildet deren ideelle Kontinuität zwar die Form des Geschehens nach, doch dessen wirklicher Verlauf bleibt in seinen einzelnen Elementen unerreichbar; werden dagegen die Ereignisse, wie sie wirklich gewesen sind, in realistischer Manier - bis zur „Muskelzuckung jedes Soldaten“ - nachgezeichnet, bleibt dabei die Kontinuität des realen Geschehens auf der Strecke. Mit scheint, dass Simmels Überlegungen für die methodologische Problematik einer interpretativen Soziologie, deren primäres Datenmaterial aus technischen Fixierungen von sozialen Interaktionsvorgängen besteht, direkt relevant sind. Audiovisuelle Aufzeichnungen registrieren ein soziales Geschehen, „wie es sich wirklich ereignet hat“, in einem für den rekonstruierenden Konservierungsmodus unerreichbaren Detaillierungsgrad. Diese These, die bislang keinen Zweifel an sich duldete, muss nun nach Simmels erkenntniskritischen Ausführungen in einem wesentlichen Punkt differenziert werden. Denn was heißt hier „wirklich“? Zur „Wirklichkeit“ eines sozialen Geschehens gehört ja gerade das, was seine methodische Fixierung für die soziologische Analyse notwendig macht - seine Flüchtigkeit. Aber eben mit seiner Fixierung büßt ein soziales Geschehen seine Flüchtigkeit ein. Demnach ist die audiovisuelle Aufzeichnung eines sozialen Geschehens keineswegs die rein de-skriptive Abbildung, als welche sie zunächst erscheinen mag; ihr ist vielmehr in ihrer zeitmanipulativen Struktur grundsätzlich ein kon-struktives Moment eigen. Eine einfache Überlegung mag diesen konstruktiven Charakter audiovisueller Aufzeichnungen deutlich machen: Betrachtet ein Sozialforscher die Videoaufzeichnung eines Geschehens „in real time“, also in der Sukzessivität und Ab- Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit 61 laufgeschwindigkeit des „wirklichen“ Vorgangs, so ist dies - da er sich ja das Geschehen auch als Standbild, in Einzelbildfortschaltung, Zeitlupe, Zeitraffer oder in veränderter Abfolgeordnung vor Augen führen könnte - prinzipiell eine vom Forscher und seiner Apparatur vorgenommene Herstellung. Dass auch die technische Fixierung sozialer Interaktionsabläufe ein konstruktives Moment enthält, macht natürlich die oben getroffene Unterscheidung zwischen einem registrierenden und einem rekonstruierenden Konservierungsmodus nicht hinfällig. Beide arbeiten mit verschiedenartigen Konstruktionsprinzipien, was dazu führt, dass Richtung, Länge und Verlauf der Strecken, die bei beiden zwischen sozialem Ereignis und soziologischem Datum liegen, sich nicht unerheblich unterscheiden. Allerdings muss die im Hinblick auf die rekonstruierende Konservierungspraxis der herkömmlichen Sozialforschung formulierte Kritik, sie kümmere sich zu wenig um die transformative Qualität ihrer Daten, nun erst recht für die registrierende Konservierungspraxis der interpretativen Soziologie gelten. Audiovisuelle Aufzeichnungen von sozialen Vorgängen haben für jeden Betrachter einen verführerischen Realismus; wird aber in der Analyse ignoriert, dass es sich dabei um einen konstruierten Realismus, um eine hergestellte Authentizität handelt, entsteht die Gefahr, dass die Fixierung ungeachtet ihrer zeitlichen Reorganisation als ein reines Abbild der Wirklichkeit erscheint und sich damit eine hemmungslose Detaillierungsdynamik entfaltet. Konversationsanalyse und Objektive Hermeneutik haben zwar diese methodologische Problematik bislang nicht systematisch reflektiert, in ihrer Forschungspraxis jedoch durchaus respektiert. Davon zeugt nicht nur die erwähnte Interpretationsrestriktion, der sich beide Ansätze in ihrem sequenzanalytischen Vorgehen unterwerfen, sondern auch ihr Bemühen, das Detaillierungspotenzial der Reproduktionsmedien durch die Beschränkung auf „intersubjectively accountable details“ (Lynch et al. 1983, S. 206) bzw. auf fallstrukturspezifische Textelemente (Oevermann) im Zaum zu halten. An diesem Punkt können im Übrigen die interpretativen Soziologen durchaus von den Naturwissenschaften lernen, denen ja die Einsicht, dass technisch vermittelte Repräsentationen der Wirklichkeit immer ein konstruktives Moment enthalten, keineswegs fremd ist. Gerade die Entwicklung der Elementarteilchenphysik und deren fortgesetzte Suche nach den - immer kleiner und immer kurzlebiger werdenden - letzten Bausteinen des physikalischen Universums sind hier lehrreich. Eine der Hauptschwierigkeiten dieser For- Jörg Bergmann 62 schungen scheint ja darin zu liegen, dass diese subatomaren Partikel in keiner Weise mehr die Eigenschaften von - winzig kleinen - Dingen besitzen, ihre interne Struktur vielmehr nur noch als Produkt von Wechselwirkungen beschrieben werden kann: What seems to be called for is a thorough revamping of the vocabulary of natural science in order to replace the thing-language of particles with the interaction language of atomic events. (...) For the central concept of microphysics is interaction, or better, to avoid the interaction between things, simply action. (Kisiel 1964, S. 60, 63). Mit dieser Erkenntnis werden aber die visuellen Modelle und Analogien, die das physikalische Denken jahrhundertelang beherrscht hatten, unbrauchbar, da sie eine zu statische, dinghafte Vorstellung der Wirklichkeit vermitteln, und an ihrer Stelle treten auditive Modelle, die dynamischer sind und immer schon eine Zeitstruktur implizieren. Mir scheint, dass eine ganz analoge Substitution von Erkenntnismetaphern auch für die interpretative Soziologie angebracht ist. In der methodologischen Diskussion der interpretativen Forschungsprogramme dominieren durchgehend visuelle Modelle, - das beginnt bei Simmels Mikroskopanalogie und reicht in jüngster Zeit bis zu Knorr-Cetinas (1983, S. 137) Charakterisierung der Ethnomethodologie als „methodological microscopism“. Aber gerade diese visuelle Erkenntnismetaphorik leistet bei der Analyse von audiovisuellen Aufzeichnungen einem naiven Empirismus Vorschub, da sie das entscheidende konstruktive Moment der zeitlichen Reorganisation eines flüchtigen sozialen Geschehens ausblendet. Stellen wir uns stattdessen das soziale Geschehen, dessen Aufzeichnung der interpretative Soziologe als Primärdatum benutzt, als eine polyphone Symphonie vor: In der Komposition laufen verschiedene - und verschiedenartig instrumentierte - Ordnungsebenen parallel nebeneinander, die jede für sich (in ihrer Verlaufsform, ihrem Rhythmus) und in ihren jeweiligen Beziehungen zueinander zu analysieren sind. Die letzten analytisch bestimmbaren Einheiten der Komposition (die einzelnen Töne) manifestieren sich immer als ein Geschehen in der Zeit. Als isolierte Einzelelemente haben sie aber „ein zu geringes Quantum eigenen Sinnes“, d.h.: interpretierbar werden sie erst in ihrer - melodischen - Abfolge. Der Interpret-als-Hörer mag sich außerdem zwischen zwei verschiedenen, komplementären Interpretationsrichtungen entscheiden: Er kann, ausgehend von der einzelnen Symphonie (in konversationsanalytischer Manier), nach allgemeinen Kompositionsprinzipien Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit 63 fragen, die in diesem wie in anderen Stücken angewandt wurden, oder er kann (in objektiv hermeneutischer Manier) sich dafür interessieren, zu bestimmen, was die Individualität und Einzigartigkeit dieser Komposition ausmacht. Welchen Nutzen es haben kann, die in der interpretativen Soziologie dominante visuelle Erkenntnismetapher durch eine auditive zu ersetzen, wage ich im Vorgriff nicht zu entscheiden. Einstweilen würde es ja genügen, wenn diese Substitution bei den interpretativen Soziologen die Vorsicht im Umgang mit audiovisuellen Aufzeichnungen erhöhen würde, also gleichsam wie ein Warnetikett auf den Tonband- und Videogeräten - „Der Forschungsminister: Aufzeichnungen gefährden Ihre geistige Gesundheit“ - wirken würde. Literatur Ashmore, Malcolm/ MacMillan, Katie/ Brown, Steven D. (2004): It's a Scream: Professional Hearing and Tape Fetishism. In: Journal of Pragmatics 36, S. 349-374 Atkinson, J. Maxwell (1978): Discovering Suicide: Studies in the Social Organization of Sudden Death. London. Bateson, Gregory/ Mead, Margaret (1976): „For God's Sake, Margaret! “ Conversation with Gregory Bateson and Margaret Mead. In: The CoEvolution Quarterly 10, S. 32-44. Bergmann, Jörg R. (1981): Ethnomethodologische Konversationsanalyse. In: Schröder, Peter/ Steger, Hugo (Hg.): Dialogforschung. (= Jahrbuch 1980 des Instituts für deutsche Sprache). Düsseldorf. S. 9-51. 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(1999, S. 6) feststellen, existiert das Instrument Sprache nicht ohne die Praxis, in der es eingesetzt wird, und diese Praxis entfaltet sich im zeitlichen Verlauf. 1 Mit anderen Worten zwingt uns der zeitliche Ablauf, in dem Sprache verwendet wird, dazu, dem Instrument Sprache in seiner Prozesshaftigkeit Rechnung zu tragen. Die Atemporalität der Sprachforschung fällt besonders krass auf, wenn es um die Prosodie geht. Lange Zeit hat der klassische Strukturalismus die Prosodie u.a. deswegen ausgeklammert, weil sich bei ihr die Temporalität am schwierigsten leugnen lässt. Jüngste Versuche z.B. in der Metrischen Phonologie (Selkirk 1984 u.v.m.), den sprachlichen Rhythmus abzubilden, gelingen nur auf Kosten der Zeitlichkeit. Wie atemporal Rhythmus dort gedacht wird, lässt sich u.a. daran erkennen, dass metrische Bäume und Gitter nur auf fertig gestellten syntaktischen Phrasen aufgebaut werden. Aber weder rhythmische Muster noch syntaktische Phrasen sind als fertige Produkte vorgegeben, sie werden stattdessen in der Zeit hergestellt - eine Tatsache, der die wenigsten linguistischen Modelle gerecht werden können. Auch hinsichtlich der Intonation bleibt der Online-Charakter der melodischen Gestaltung der Rede in der sprachwissenschaftlichen Forschung unberücksichtigt. Die Intonatorische Phonologie (z.B. Pierrehumbert 1980) postuliert zwar abstrakte Tonakzente, die zur Konfiguration einer Äußerung linear aneinander gereiht werden, aber diese bauen wiederum auf einer schon * Eine erste Version dieser Arbeit wurde 2003 auf der 9. Arbeitstagung zur Gesprächsforschung in Mannheim vorgestellt. Ich danke den ZuhörerInnen für wertvolle Hinweise sowie dem Herausgeber dieses Bandes für anregende Fragen - alle haben zur Verbesserung des Endergebnisses beigetragen. 1 „In the end ... the tool has no existence without the praxis in which it is used, and this praxis unfolds in time“ (Auer et al. 1999, S. 6). Elizabeth Couper-Kuhlen 70 fertig gestellten Syntax auf. Auch hier überwiegt der Produkt-Gedanke. Nehmen wir aber das Bild von Sprache als ein sich in der Praxis entwickelndes Instrument ernst, so gilt es, den Produkt-Gedanken in einen Prozess- Gedanken umzuwandeln, und nicht nur die Intonation, sondern die gesamte Prosodie als etwas prozesshaft Hergestelltes zu betrachten. 1. Zur Emergenz der Prosodie im Gespräch Mit der Gesprächsforschung hat die Sprache eine Chance, ihre Temporalität bzw. Prozessualität zurückzuerobern. Denn der Begriff der Teilnehmerperspektive bedeutet unter anderem, sprachliche Äußerungen in ihrer Emergenz zu betrachten. Auer (2000) führt uns die Konsequenzen dieser Sichtweise für die Syntax eindringlich vor Augen. Wenn wir es aber mit der Teilnehmerperspektive wirklich ernst meinen, so darf der emergente Aspekt der prosodischen Produktion und Interpretation im Gespräch auch nicht unberücksichtigt bleiben. Selbst wenn das Fertigprodukt des Gesprächs uns ForscherInnen schon vorliegt, darf weder seine syntaktische noch seine prosodische Gestalt aus der Vogelperspektive betrachtet werden, sondern es gilt, Fertiges als Unfertiges zu behandeln. Dabei ist es hilfreich, sich ein Teilnehmer-Jetzt vorzustellen, das durch das entstehende Gespräch hindurch mit der Zeit mitwandert. Von einem so konzipierten Jetzt-Punkt aus blicken TeilnehmerInnen (sowie GesprächsforscherInnen) vorwärts und rückwärts im Gespräch. In diesem Sinne soll hier von einem prosodischen Teilnehmer-Jetzt ausgegangen werden. Wie das Jetzt in Tempusanalysen kann das prosodische Teilnehmer-Jetzt relativ schmal oder relativ breit aufgefasst werden. Bei einem schmal aufgefassten Teilnehmer-Jetzt bewegen wir uns innerhalb von Turnkonstruktionseinheiten - etwa von Silbe zu Silbe - durch den zeitlichen Ablauf eines Turns hindurch. Bei einem etwas breiteren prosodischen Jetzt bewegen wir uns auf der Ebene der Intonationseinheit bzw. der Turnkonstruktionseinheit durch den zeitlichen Ablauf eines Turns bzw. einer Sequenz hindurch. In diesem Beitrag wird die breitere Perspektive eingenommen. 2 Es geht vor allem darum, auf Einheitenebene herauszuarbeiten, inwieweit das, was im prosodischen Jetzt passiert, andere prosodischen Ereignisse antizipieren lässt bzw. auf sie zurückgreift. Mit anderen Worten soll hier deutlich gemacht 2 Siehe aber Selting (2001), die prosodische ‘Fragmente’ im Gespräch in engerer Perspektive behandelt. Prosodische Prospektion und Retrospektion im Gespräch 71 werden, dass beim Sprechen nicht nur Zeit vergeht, sondern dass diese Zeit genutzt wird, um eine Strukturiertheit in und mit der Zeit zu erzeugen. Dazu benötigen wir zwei Begriffe, die für das Vorhaben zentral sein werden: Prospektion und Retrospektion, die in den nächsten Abschnitten eingeführt werden sollen. 2. Die zwei Gesichter der Prosodie in emergenter Perspektive Die Prosodie im Gespräch - wenn sie prozessual oder emergent aufgefasst wird - ist janusköpfig. Eines ihrer zwei Gesichter blickt nach vorne: 3 das wollen wir Prospektion nennen. Das andere blickt zurück: das nennen wir Retrospektion. Diese zwei Blickrichtungen sind jedoch keineswegs symmetrisch: es liegt in der Natur der Zeit, dass sich der vorwärts gerichtete prosodische Blick nur auf Vermutetes bzw. Projiziertes stützen kann: er ist somit ‘modal’. Der rückwärts gewandte prosodische Blick hingegen kann sich auf Wahrgenommenes stützen und ist somit ‘faktischer’. Wie sich herausstellt, übt dieser Unterschied einen entscheidenden Einfluss auf die bei der prosodischen Prospektion bzw. Retrospektion beteiligten Mechanismen aus. Der vermeintliche Vorteil des ‘faktischen’, rückwärts gerichteten prosodischen Blicks wird durch die Grenzen des Kurzzeitgedächtnisses relativiert. Wie wir wissen, ist das Gedächtnis für die prosodische Form einer Turnkonstruktionseinheit - Tonhöhe, Lautstärke, Sprechgeschwindigkeit, Rhythmus - wesentlich begrenzter als für den Inhalt der Äußerung oder Einheit. Das eingeschränkte Kurzzeitgedächtnis für die Form hat zur Konsequenz, dass der rückwärts gerichtete prosodische Blick - verglichen etwa mit dem syntaktischen - relativ lokal bleibt. Ein prägendes Beispiel hierfür liefert z.B. die ‘tag-question’ im Englischen. Die Wahl des Auxiliars bzw. des Pronomens in der englischen Anhängselfrage richtet sich bekanntlich nach dem Subjekt bzw. dem Operator des Vorgängersatzes und diese können relativ weit zurückliegen. Die Wahl des Tons der Anhängselfrage richtet sich dagegen nach dem unmittelbar benachbarten Ton, d.h. nach dem letzten Akzent der Vorgängereinheit (s. auch Bald 1980). Im folgenden Beispiel handelt es sich um das Tonabfolge-Muster [ ` ` ] : 3 Dass eine visuelle Metapher für ein lautliches Phänomen benutzt werden muss, ist bedauerlich, liegt aber an der größeren Ausgeprägtheit des visuellen Vokabulars. Elizabeth Couper-Kuhlen 72 (1) Survey of English Usage S.11.1.48 (nach GAT umtranskribiert) or `MISsus ´KAY, (--) < - Subjekt sIgned thee (.) `´DOCument, (-) < - Operator abOUt. ↑ `EIGHT ´mOnths, | After thee: `WILL; | had been `WITnessed; | by ↑ `HER. < - Ton | `DIDn't she - _| _| Die Unterscheidung zwischen den beiden prosodischen Blickrichtungen, Prospektion und Retrospektion, ist allerdings nur analytisch zu treffen. Weil die Zeit ständig weiter läuft, besagt jeder prosodische Vorblick etwas über Vergangenes. D.h., wenn ich in die (prosodische) Zukunft projiziere, tue ich das aufgrund eines Jetzt, das notgedrungen aus der (prosodischen) Vergangenheit herauswächst und im Verhältnis zu ihr steht. Ein prosodisches Zurückgreifen auf Vergangenes besagt eo ipso auch etwas über die unmittelbare (prosodische) Zukunft, da die Zeit immer weiter läuft: z.B. dass keine eigenständige Projektion als nächstes erfolgen wird. Konkrete Beispiele hierfür kommen gleich zur Sprache. 3. Vorüberlegungen zur prosodischen Prospektion bzw. Retrospektion Die prosodische Prospektion entspricht nach dem hier vertretenen Verständnis in etwa der (prosodischen) Projektion. Genau wie die syntaktische Projektion etwas über zukünftige syntaktische Lücken aussagt und wie sie gefüllt werden sollen (Auer 2000), so besagt die prosodische Projektion etwas über die zukünftige prosodische Gestaltung der Rede. Diese Auffassung von Projektion ist eng mit dem englischen Begriff des ‘trajectory’, hier ‘Bogen’, geknüpft. Es gibt in der Rede einfache Bögen für die Tonhöhe und die Lautstärke (vgl. z.B. Laver 1994), die ungefähr die Größe einer Intonationsphrase bzw. einer Turnkonstruktionseinheit haben. Einfache Tonhöhenbzw. Lautstärkenbögen fangen relativ hoch bzw. intensiv an und nehmen stets bis zum Ende der Einheit ab. Es gibt aber - zumindest für die Tonhöhe - auch zusammengesetzte Bögen, die durch eine einheitliche Deklinationslinie definiert werden (vgl. auch hier Laver 1994). Es handelt sich hier um Kaskaden von Bögen, die mehrere Intonationsphrasen bzw. Turnkonstruktionseinheiten umfassen und dabei ei- Prosodische Prospektion und Retrospektion im Gespräch 73 nen übergeordneten Bogen bilden. 4 Wiederum ist der übergeordnete Bogen maximal hoch am Anfang, danach ständig abnehmend bis zu einem (potenziell) maximalen Tiefpunkt am Ende. Alle Bögen, wenn sie noch nicht vollständig sind, erlauben eine Voraussage darüber, wie sie weitergeführt werden. Entsprechend dem hier gesetzten breiten Fokus beschränkt sich die folgende Diskussion - soweit die Sprachmelodie betroffen ist - auf komplexe, durch eine übergeordnete Deklinationslinie definierte Bögen. Die prosodische Retrospektion umfasst im hier vertretenen Verständnis mehr als das, was Auer (2000) Retraktion nennt. Für Auer ist Retraktion ein Zurückgreifen auf bzw. eine Reaktivierung einer schon bestehenden (syntaktischen) Struktur, „um sie zu ergänzen oder zu verändern“. Aber im vorliegenden Beitrag sollen nicht nur Fälle der (prosodischen) Ergänzung bzw. Reparatur einer vorausgehenden Struktur berücksichtigt werden, sondern auch Fälle, bei denen lediglich eine Orientierung hinsichtlich Vergangenem festgestellt werden kann. Aus diesem Grunde wird der weitere Begriff der Retrospektion für den Bereich der Prosodie gewählt. Bei der Betrachtung der Prospektion und Retrospektion im Gespräch beschränkt sich die vorliegende Diskussion auf Prosodisches, d.h. nur solche prosodischen Ereignisse werden berücksichtigt, die eine weitere prosodische Entwicklung erwartbar machen bzw. eine vorangegangene prosodische Konfiguration wieder aufgreifen. Dabei steht außer Debatte, dass die Prosodie immer im Dienste der durchzuführenden Handlungen und Handlungsabläufe steht. Z.B. hat die Prosodie eine prospektive Kontextualisierungsfunktion im Hinblick auf Handlungen, wenn sie zur Erwartbarmachung von Folgehandlungen beiträgt. 5 Sie hat eine retrospektive Kontextualisierungsfunktion im Hinblick auf Handlungen, wenn sie einen Rückbezug auf vergangene Handlungen nahelegt. 6 Im vorliegenden Beitrag sollen jedoch lediglich rein prosodische Formen der Prospektion und Retrospektion beleuchtet werden - Fälle, in denen die Prosodie eine bestimmte zukünftige Prosodie erwartbar macht bzw. auf eine bestimmte vergangene Prosodie zurückgreift. 4 Schuetze-Coburn et al. (1991) zeigen anhand einer empirischen Analyse englischer Gesprächsdaten, welche Strukturierungen komplexe Bögen im Gespräch herbeiführen können. 5 Ein Beispiel hierfür wäre die hochsteigende Intonation auf bestimmten Anhängseln im Englischen (huh? ) und Deutschen (ne? ), die ein Rezipientensignal als nächstes erwartbar machen. 6 Etwa bei der Selbstreparatur. Elizabeth Couper-Kuhlen 74 Um einen Eindruck über die Möglichkeiten der prosodischen Prospektion und Retrospektion zu bekommen, wird im Folgenden auf ausgewählte Beispiele aus der Literatur zur englischen Prosodie im Gespräch eingegangen. Es gilt, herauszuarbeiten, was die prosodische Prospektion/ Retrospektion genau ausmacht und mit welchen Mechanismen sie arbeitet bzw. welchen Prinzipien sie unterworfen ist. Zunächst soll ein Überblick über retrospektive prosodische Mechanismen (s.u. 4), danach über prospektive prosodische Mechanismen (s.u. 5) gewonnen werden. Zum Schluss werden beide Blickrichtungen und ihre Mechanismen bzw. Prinzipien miteinander verglichen (s.u. 6). 4. Formen der prosodischen Retrospektion Aus der Literatur lassen sich drei Fälle zur englischen Prosodie heranziehen, die die unterschiedlichen Möglichkeiten der prosodischen Retrospektion im Gespräch belegen. Sie werden hier in einer Systematik nach Gesprächsebene und -funktion aufgestellt, die allerdings keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. 7 4.1 Fortsetzung eines (unterbrochenen) Turns Nach selbst- oder fremdproduzierten Einschüben - so Local (1992) - sind SprecherInnen in der Lage ihre abgebrochene Rede auf zwei Arten fortzusetzen. Eine Möglichkeit wird im folgenden Beispiel ersichtlich: 8 (2) NB IV 11 4 1 -> a Emma: °p°t°hh well GLA: D [ YS i ] f yo- 2 Gladys: [ But ] thanks ever 3 so: an: d um 4 -> b Emma: IF you NEED US? ((Fortsetzung der Bögen aus Z. 1)) 5 or want uh WANT anything 6 you know we're right he: r [ e ↓ so: 7 Gladys: [ Well 7 Beiträge zur prosodischen Retrospektion im Deutschen werden nach Möglichkeit mitberücksichtigt. 8 Die nächsten zwei Beispiele, von Gail Jefferson transkribiert, werden nach Local (1992) zitiert; der besseren Lesbarkeit halber wird aber Jeffersons Schreibweise standardisiert. Prosodische Prospektion und Retrospektion im Gespräch 75 Beim a-Pfeil bricht Emma ihren angefangenen Turn well Gla: dys if yoab, um Platz zu machen für Gladys, die einen (verspäteten) Dank ihr gegenüber ausspricht. Bei der anschließenden Fortsetzung dieses Turns if you need us (b-Pfeil) nimmt Emma die unterbrochenen Tonhöhen- und Lautstärkenbögen von Z. 1 wieder auf und führt sie weiter. Die zweite Möglichkeit, einen unterbrochenen Turn prosodisch fortzusetzen, wird durch das folgende Beispiel belegt: (3) NB IV 13 22 1 Emma: You know and I'm a big ↓ m: eat eater 2 -> a Lo [ ttie. ] We: come ] do: wn ] 3 Lottie: [ I: kn ] ow it an ] d you know I n ] ever 4 ea: t me [ at 5 -> b Emma: [ °hh We come down here ((Neubeginn)) 6 and my God we buy- (0.4) 7 we'll eat about (.) three dollars 8 worth of stea: k. 9 The (b)two of us one ni: ght you know Wieder bricht Emma eine angefangene Turnkonstruktionseinheit ab (a- Pfeil), um Platz für einen konkurrierenden Beitrag von ihrer Gesprächspartnerin zu machen. Bei der Wiederaufnahme ihres abgebrochenen Turns (b-Pfeil) fängt Emma aber einen neuen Tonhöhenbzw. Lautstärkebogen an, statt die abgebrochenen Bögen aus Z. 2 wieder aufzunehmen. Nach Local signalisiert Emma im ersteren Fall (Beispiel 2), dass ihr Weiterreden als Fortsetzung des unterbrochenen Turns ( ‘ continuing’) aufzufassen ist, während im letzteren Fall (Beispiel 3) angezeigt wird, dass das Weiterreden als neuer Turn ( ‘ restarting’) zu verstehen ist. In (3) bleibt also die Rede vor der Unterbrechung als Fragment stehen; ihre prosodische Konfiguration/ Gestalt wird als abgebrochen empfunden. 9 Ähnliche Möglichkeiten haben SprecherInnen, wenn sie sich entschließen, nach einem vermeintlich abgeschlossenen Turn doch noch weiterzureden. Bei der Turnfortsetzung können sie die Tonhöhe, Lautstärke, Sprechgeschwindigkeit, Rhythmus bzw. Stimmqualität ihrer vorangegangenen Turn- 9 Diese abgebrochenen Bögen haben eine projizierende Kraft (s.u. 5.), denn sie machen ihre eigene Fortsetzung erwartbar und legen fest, wie diese Fortsetzung auszusehen hat. Im vorliegenden Fall bleibt die Projektion allerdings unrealisiert. Elizabeth Couper-Kuhlen 76 konstruktionseinheit fortführen oder aber deutlich davon abweichen und einen prosodischen Neuanfang initiieren. Diese Möglichkeiten werden von Walker (2001, 2004) für das Englische sowie von Auer (1996) für das Deutsche beschrieben. Es handelt sich bei der Fortführung abgebrochener bzw. abgeschlossener Redeeinheiten um eine Art prosodischer Retrospektion, weil in einer rückwärts gerichteten Bezugnahme auf die Prosodie eines vorhergehenden Fragments der schon initiierte Bogen der Tonhöhe bzw. Lautstärke entweder fortgesetzt oder abgebrochen wird. 10 Diese Leistung ist umso erstaunlicher, als der Anschluss oft nicht lokal, sondern über intervenierende Turnkonstruktionseinheiten - möglicherweise von anderen GesprächspartnerInnen - hinweg erfolgt. Es gibt sozusagen einen prosodischen ‘Popover’-Effekt, wie Fox (1987) ihn für Beziehungen zwischen einem anaphorischen Element und seinem Antezedenz im Gespräch beschreibt. 4.2 Status eines zu reparierenden Turns nach Fremdinitiierung Nach der Fremdinitiierung eines Reparaturvorgangs - z.B. mittels Huh? oder What? im Englischen - reparieren SprecherInnen manchmal durch eine (Teil-)Wiederholung des Wortlauts des vorangegangen Turns. Bei solchen Wiederholungen gibt es nach Curl (2002) zwei prosodische Möglichkeiten: zum einen kann ein deutlich größerer Tonbzw. Lautstärkeumfang benutzt und die jeweilige Silbendauer gegenüber dem Original erhöht werden. Folgendes Fragment belegt diese Möglichkeit: (4) Curl (2004: 278) (Sprecher A bedankt sich bei seiner Schwester B dafür, dass sie ihm etwas in Israel besorgt hat.) 1 A: all right (.) no b’I got it now thank you 2 very much I appreciate it 3 (0.4) 4 -> B: (eeoonh[kay) I’m sorry I]couldn’ ge’ny more! 5 A: [and al: so tha- ] 6 (.) 10 In den Beispielen (2) und (3) wird auch der Wortlaut des abgebrochenen Turns bei der Wiederaufnahme wiederholt. Prosodische Prospektion und Retrospektion im Gespräch 77 7 A: hmm? .h 8 => B: tch I’m sorry I couldn’t get any [m: ore! 9 A: [n: o- 10 certain things of those I didn’t I- (0.2) 11 I didn’t get anywhere else Wenn Sprecherin B ihre Turnkonstruktionseinheit in Z. 8 wiederholt, benutzt sie dabei einen wesentlich größeren Ton- und Lautstärkenumfang als in Z. 4; zudem werden einzelne Silben in der Wiederholung länger als im Original ausgesprochen. Curl nennt dieses Phänomen ‘prosodic upgrading’. Dagegen kann bei der Wiederholung eines zu reparierenden Turns annähernd das gleiche bzw. ein leicht zurückgenommenes Muster für Tonumfang, Lautstärke und Silbendauer gegenüber dem Original zur Verwendung kommen: (5) Curl (2004: 280) (Sprecherin A berichtet ihrem Bruder B von einer Auseinandersetzung, die sie mit den gemeinsamen Eltern hatte.) 1 A: „ yeryou know you said a lot of hurtful 2 things too “ well goddamn it 3 (1.8) 4 I'm sick of getting' trounced on 5 (0.7) 6-> B: you inna bathroom 7 A: huh 8=> B: you in the bathroo [ m 9 A: [ no. I' [ m just cookin' ] 10 B: [ inna kitchen ] 11 (.) 12 A: din [ ner ] 13 B: [ oh ] 14 A: .hhhhhhhhh s: o (.) anyway hhhhhh that's: 15 what's new here with: that (.) situation In Z. 8 verwendet Sprecher B bei seiner Wiederholung eine gegenüber dem Original in Z. 6 deutlich zurückgenommene Prosodie. Dies nennt Curl ‘prosodic non-upgrading’. Sie argumentiert, dass die unterschiedlichen prosodischen Konfigurationen der Turnwiederholung auf einen unterschiedlichen Elizabeth Couper-Kuhlen 78 Status des Reparandums innerhalb der sich im Gange befindlichen Sequenz hinweisen. Prosodisches ‘upgrading’ wird gewählt, wenn der zu reparierende Turn als sequenziell wohl platziert markiert werden soll (s. Beispiel 4). Mit zurückgenommener Prosodie wird der zu reparierende Turn als ‘an der falschen (sequenziellen) Stelle’ platziert behandelt (s. Beispiel 5). Auch hier haben wir es mit einer Art prosodischer Retrospektion zu tun, denn reparierende SprecherInnen nehmen in beiden Fällen Bezug auf die Prosodie des Reparandums: bei der (wiederholenden) Reparatur wird die vorangegangene Prosodie entweder erhöht oder zurückgenommen. 11 4.3 Affiliation/ Disaffiliation Innerhalb von Sequenzen führen zweite Paarteile in der Regel nicht nur die durch eine Ersthandlung erwartbar gemachte Handlung aus, sie legen auch eine affiliative bzw. disaffiliative Haltung nahe, die durch das Phänomen der ‘prosodischen Orientierung’ kontextualisiert werden kann (Szczepek 2002; 2003). Mit Orientierung ist gemeint, dass zweite SprecherInnen ihre Stimmlage, Intonation, Lautstärke, Sprechgeschwindigkeit bzw. Stimmqualität an die des Vorgängerturns anpassen bzw. deutlich davon absetzen und dies auch erkennbar machen. Szczepek (2002; 2003) belegt verschiedene Formen der prosodischen Orientierung, darunter das Verwenden in einem zweiten Paarteil ähnlicher (bzw. gezielt abweichender) Tonbewegungen, Tonsprünge, Lautstärkenextreme, Dehnungen und Stimmqualitäten, verglichen mit dem ersten Paarteil. Im folgenden Beispiel wird eine Orientierung durch das Stimmregister und die Intonationskontur erkennbar: (6) Who the heck (Szczepek 2003, S. 99) (MA, der Anrufer in diesem Rundfunk-Phone-in, hat gerade behauptet, dass der Nazigefangene im Spandauer Gefängnis nicht Rudolf Hess sei. DH ist der Moderator im Studio.) 1 DH: well - 2 YEAH; 3 AlRIGHT then. 4 let me ASK you. 11 Couper-Kuhlen (1996) behandelt einen ähnlich gelagerten Fall der prosodischen Wiederholung (hier des Registers) in einem medialisierten Gesprächskontext. Allerdings handelt es sich um eine Registerwiederholung durch GesprächspartnerInnen (s.u. auch 4.3). Prosodische Prospektion und Retrospektion im Gespräch 79 5 if it Isn't HESS, 6 -> <<h> ↑ who the `heck ↑ IS `it.> 7 => MA: <<h> ↑ i've `no ´I´ ↑ DE`A.> 8 (0.5) 9 MA: [ well you sEE- 10 DH: [ but I mean how HOW can you persuADE 11 somebody; 12 to spend dOnkey's years (.) in PRIson; Bei seiner Antwort auf DHs leicht ironisierte Frage in Z. 6 nimmt Sprecher MA in Z. 7 sowohl das hohe Register als auch die steigend-fallende Intonationskontur des Vorgängerturns wieder auf. Mit anderen Worten: Er orientiert sich erkennbar an der prosodischen Gestaltung seines Partners, ohne jedoch den Wortlaut dieses Turns zu wiederholen. Die Kontextualisierungsleistung der prosodischen Orientierung fällt je nach Sequenztyp unterschiedlich aus; allgemein lässt sie sich jedoch grob unter der Rubrik Affiliation/ Disaffiliation fassen. 12 In (6), obwohl die Sprecher unterschiedliche Standpunkte einnehmen hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit der von MA übermittelten ‘Nachricht’, legt die prosodische Orientierung von MAs Äußerung eine affliliative Haltung gegenüber DH nahe. Es handelt sich hier um eine besondere Art der prosodischen Retrospektion; denn anstatt die eigene Prosodie aufzugreifen, nehmen GesprächspartnerInnen prosodischen Bezug auf den Vorgängerturn anderer GesprächspartnerInnen, um bestimmte Merkmale aufzunehmen bzw. umzukehren. Wenn SprecherInnen mit unterschiedlichen Stimmen an der prosodischen Retrospektion beteiligt sind, ist die Feststellung nicht immer selbstverständlich, was als eine prosodische Wiederaufnahme zu gelten hat. Allein deswegen ist die prosodische Orientierung ein bemerkenswertes Phänomen. Zudem stellt sie eine besonders subtile Art der Retrospektion dar, weil dabei lediglich die Prosodie rückwärts gewandt ist. Die sequenzielle Ebene des Diskurses bleibt vorwärts gerichtet. Anders als bei z.B. Reparaturvorgängen findet kein Recycling auf der Handlungsebene statt. Das Phänomen der prosodischen Orientierung zeigt also, dass die Blickrichtungen der zwei Ebenen im Gespräch, verbaler Inhalt und Prosodie, unabhängig voneinander operieren können. 12 Für eine ähnliche Kontextualisierungsleistung durch den Sprachrhythmus innerhalb von Sequenzen vgl. Couper-Kuhlen (1993). Schegloff (1998) behandelt einen vergleichbaren Fall der Registerorientierung in Eröffnungsphasen von Telefongesprächen. Elizabeth Couper-Kuhlen 80 4.4 Zusammenfassung der retrospektiven Mittel Zusammenfassend lassen sich also drei Typen der retrospektiven prosodischen Bezugnahme im Gespräch identifizieren: - Fortsetzung eines unterbrochenen Tonhöhenbzw. Lautstärkebogens (z.B. Turnwiederaufnahme nach abgebrochenem Turn); - Modifikation eines vorangegangenen prosodischen Musters (z.B. ‘Upgrading’ bzw. ‘Downgrading’ bei wiederholender Selbstreparatur nach Fremdinitiierung); - Wiederholung bzw. Umkehrung eines vorangegangenen prosodischen Musters (z.B. ‘Orientierung’ bei Zweithandlungen in Aktivitätssequenzen). Hinter diesen Verfahren lassen sich altbekannte Gestaltprinzipien entdecken, z.B. Wohlgeformtheit, Vervollständigung, Ähnlichkeit, Modifikation. Diese Prinzipien finden in der Regel lokale Anwendung: Das, worauf Bezug genommen wird, liegt - mit Ausnahme des prosodischen ‘Popover’ (Local 1992) - meist unmittelbar vor dem prosodischen Jetzt, im Vorgängerturn und präferenziell an dessen Ende. Zudem sind retrospektive prosodische Verfahren im hohen Maße kontextsensitiv: Ihre kontextualisierende Wirkung hängt stark vom Turn-, Sequenz- und Aktivitätstyp ab. 5. Formen der prosodischen Prospektion Bei der prosodischen Prospektion fragen wir vom Teilnehmer-Jetzt aus gesehen: Welche prosodischen Ereignisse lassen zukünftige prosodische Ereignisse erwarten? Auch hier sollen Beispiele aus dem Englischen für unterschiedliche Typen der Prospektion herangezogen werden, wiederum nach Gesprächsfunktion systematisiert. 13 5.1 Beibehaltung des Rederechts In einem 1986 erschienenen Beitrag machen Local und Kelly auf zwei verschiedene Möglichkeiten aufmerksam, Pausen im Gespräch zu bewerkstelligen. SprecherInnen können z.B. den Luftstrom durch Glottalverschluss unterbrechen und anhalten, bis weitergeredet wird (‘holding silence’), oder aber sie können nach Unterbrechung der Phonation den Luftstrom durch 13 Auch die deutsche Intonationsbzw. Prosodieforschung im Hinblick auf Prospektion wird soweit wie möglich mit berücksichtigt. Prosodische Prospektion und Retrospektion im Gespräch 81 Ausatmung gleich wieder freigeben (‘trail-off silence’). Erstere Produktionsweise projiziert das eigene Weiterreden und ist insofern turnhaltend; letztere Produktionsweise ermöglicht das Hereinkommen anderer GesprächsteilnehmerInnen und gibt somit das Rederecht frei. Local und Kelly führen u.a. folgende Beispiele zur Illustration an (das Zeichen / / / steht für Glottalverschluss): 14 (7) NB IV: 10: R: 18 -> Lottie: S: o uh / (.) / I left / , and then I (0.2) *e: : u well I stopped on the way to ↓ ea: t °'n then° (8) NB IV: 3: R6 Lottie: Yeh I'll see what she says a ↓ bout it ↓ -> you kno: w and uh / (.) Emma: ↑ Yeah ↓ wear it for ↑ Christ ↓ mas again God you hate to just wear it once In (7) unterbricht Lottie die Phonation des Partikels uh durch einen Glottalverschluss, der über die Pause hindurch gehalten (s. Bogen) und erst mit dem nächsten Wort I gelöst wird. Dadurch behält sie den Turn für sich. In (8) dagegen, obwohl Lotties uh auch mit einem Glottalverschluss endet, wird die Luft gleich wieder freigelassen (kein Bogen), was einen geordneten Sprecherwechsel danach ermöglicht. Es handelt sich beim ‘holding silence’ (Beispiel 7) um prosodische Projektion, weil das Anhalten der Luft ein späteres Lösen des Glottalverschlusses erwartbar macht. Damit verbunden ist ein eigenes Weiterreden, das zwangsläufig weitere prosodische Ereignisse mit sich bringt. Jedoch werden keine spezifischen Voraussagen über die Art der zukünftigen Prosodie durch das Ereignis im prosodischen Jetzt ermöglicht. Selting (1995) identifiziert ein etwas anders geartetes prosodisches Turnhalte-Signal für das Deutsche, nämlich gleich bleibende Tonhöhenverläufe am Ende einer möglichen Turnkonstruktionseinheit. Solche Verläufe haben auch eine projektive Kraft, die der Erwartung entstammt, dass der angehaltene übergeordnete Bogen später zu Ende geführt wird. Sie sind also prosodisch projizierend, weil sie weitere Akzente voraussagbar machen. 14 Die von Jefferson transkribierten Beispiele werden in Standardorthografie wiedergegeben. Elizabeth Couper-Kuhlen 82 5.2 Listenintonation Bekanntlich werden konversationelle Listen aus mehreren syntaktisch und prosodisch ähnlichen Gliedern konstituiert (Jefferson 1990, Müller 1991, Lerner 1994, Couper-Kuhlen 1999, Selting 2004). In ihrer zeitlichen Emergenz betrachtet, sind Listen stark projizierend: Selting (2004) identifiziert eine vorausgehende ‘Projektionskomponente’, die die Handlung ‘Bildung einer Liste’ ankündigt. Was die Liste selbst angeht, projiziert schon das zweite Glied, welches Element benötigt wird, um die Liste fortzuführen bzw. zu beenden, und wie es erwartungsgemäß gestaltet sein muss (Lerner 1994). 15 In vielen Fällen sind aber Listen schon bei ihrem ersten Glied erkennbar und daher projektionsfähig, denn es gibt rekurrente prosodische Muster dafür, die auf die Bildung einer Liste schließen lassen. 16 Dazu gehören für das Englische so genannte ‘stilisierte’ Formen: gedehnte Silben, gleich bleibende Töne mit intervallähnlichen Sprüngen (Terz, Quart und Quint sind am häufigsten) und isochrone Rhythmisierungen. All diese Merkmale sind bei der entstehenden Liste im folgenden Beispiel zu beobachten: 17 (9) Deadly Diseases (Joanne, Ken und Lenore reden über beliebte und weniger beliebte Reiseziele, zuallerletzt über Nicaragua.) 1 Joanne: <<p> i’d rather go to MEXico though.> 2 heh heh heh heh 3 Lenore: not quite the SAME 4 Ken: [i’d kind of like to 5 <<glottalisiert>go to guateMAla. but,> 6 Joanne: [(i wanna go to mexico.) 7 Ken: [i don’t know. 8 Joanne: [i think MEXico’s like the place to 9 GO, 10 because it’s got EVerything. .hh 15 Listen benutzen also das Prinzip der (prosodischen) Retrospektion, denn jedes weitere Glied wird als ‘ eins wie das davor ’ konstruiert. 16 Selting (2004) beschreibt verschiedene rekurrente Listenkonturen, z.B. die „Treppe aufwärts mit hohem finalen Plateau“, „steigende Intonation“, „Treppe aufwärts mit leicht fallendem Plateau“, usw., die bei der Bildung von konversationellen Listen im standardnahen Deutschen vorkommen. 17 Das Gespräch entstammt dem Corpus of Spoken American English, Teil II. Die Transkriptionsweise ist an GAT (Selting et al. 1998) angepasst. Prosodische Prospektion und Retrospektion im Gespräch 83 11 -> it’s got HIStory, 12 -> it’s got [bIg CITies, 13 Ken: [yeah it’s got- 14 ->Joanne: [it’s got RU: ins, 15 =>Ken: [it’s got diSEASES 16 ->Joanne: [and it’s got- .hh 17 =>Ken: [that i keep CATCHing, 18 ->Joanne and it’s got reSO: RTS. 19 you know, 20 and <<behaucht>oh: : : GO: : : : D, 21 the CarriBEan is inCREdible.> Joanne kündigt eine Liste durch ihre Allaussage it's got everything in Z. 10 an. Danach werden exemplarische Belege für diese Aussage aufgeführt. Allein die intonatorische Gestaltung des ersten Glieds dieser Liste it's got HIStory lässt erkennen, dass eine Liste im Gange ist: Die Sprecherin macht einen Tonsprung von it's got zu HIStory - ein musikalisches Intervall von einer Sekunde, die Akzentsilbe HISwird gedehnt, Ton und Lautstärke werden auf der folgenden Silbe -t(o)ry gehalten. Das zweite Glied der Liste it's got bIg Cities, das dieselbe syntaktische Struktur aufweist und mit einer ähnlichen intonatorischen Kontur produziert wird, legt durch den regelmäßigen zeitlichen Abstand der Akzentsilbe bIg zum vorhergehenden Akzent HISdie Grundlage für eine isochrone rhythmische Struktur. Die rhythmische Struktur wird mit dem dritten, syntaktisch und intonatorisch ähnlichen Glied der Liste it's got RUins etabliert: 18 11 Joanne: it’s got / HIStory, it’s got / / bIg CITies, [ it’s got / / RU: ins, Zweifelsohne ist es die stark stilisierte Produktionsweise dieser Elemente, die es Joannes Gesprächspartner Ken jetzt ermöglicht, sich in die Liste einzuklinken und in Überlappung mit Joannes drittem Glied einen eigenen Beitrag zur Liste taktgerecht zu liefern: 15 Ken: [ it’s got di-/ / -SEASes that I keep / / CATCHing 18 Für eine Abhandlung des konversationellen Rhythmus sowie seiner Notation vgl. Auer et al. (1999). Elizabeth Couper-Kuhlen 84 Wir haben es bei solchen Listen mit zwei Arten prosodischer Projektion zu tun. Zum einen wird durch die Verwendung von schwebenden Akzenttönen auf jedem Listenelement ein übergeordneter Bogen angehalten und dessen Vervollständigung in die Zeit projiziert. 19 Diese Art Projektion beruht auf denselben Prinzipien wie die von Selting beschriebene Beibehaltung des Rederechts im Deutschen (s.o. 5.1). Zum anderen kann aber der isochrone Takt von Listen insofern als eine Art prosodischer Projektion betrachtet werden, als die Wiederholung von gleichmäßigen rhythmischen Schlägen die eigene Fortsetzung in der Zeit erwartbar macht. Das gestalttheoretische Prinzip, das hierfür verantwortlich ist, besagt, dass ein sich wiederholendes auditives Muster sich weiter wiederholt. Diese Art rhythmischer Projektion ist am Anfang relativ schwach, verstärkt sich aber bei jedem weiteren, die Struktur bestätigenden Schlag (Couper-Kuhlen 1993). 20 5.3 Sequenzieller bzw. thematischer Neubeginn Bei der letzten zu besprechenden Art der Projektion befindet sich das prosodisch projizierende Ereignis am Anfang statt am Ende der (emergenten) Turnkonstruktionseinheit (Couper-Kuhlen 2001; 2003; 2004). Es handelt sich um den so genannten Ansatz (‘Head’) einer Intonationsphrase bzw. um die eventuell vorgelagerten anakrustischen Silben (‘Pre-head’) in einer solchen Phrase. Die Tonhöhe am Anfang einer Konstruktionseinheit kann im Gespräch besonders relevant sein - z.B. an thematischen und sequenziellen Übergangstellen, wo bisher gültige Themen und Sequenzen zu einem potenziellen Abschluss kommen könnten. An solchen Stellen kommt es für die GesprächspartnerInnen darauf an, zu wissen, ob eine neue Einheit die abschlussreife Sequenz in der Tat beendet oder aber doch noch weiterführt. Schauen wir uns ein konkretes Beispiel an. Im folgenden Telefongespräch tauschen zwei befreundete College-Studentinnen Ava und Bee Erfahrungen über unbeliebte LehrerInnen an Avas College aus. Bee war selber früher Studentin dort. 21 19 Handlungsmäßig übersetzt verlangt die Liste nach einem Abschluss oder ‘ gestaltabschließendem Element’ (Selting 2004). 20 Gestalttheoretisch wird dieses Prinzip ‘ gute Fortsetzung ’ genannt (Couper-Kuhlen 1993, S. 68). 21 Für diese Daten bin ich Manny Schegloff zu Dank verpflichtet. Die Schreibweise ist standardisiert. Prosodische Prospektion und Retrospektion im Gespräch 85 (10) TG 1 Bee: Yeah I bet they got rid of all the one: : 2 Well one I had, t! .hhhh in the first term 3 there, 4 for the first term of English, 5 she die: : d hhuh-uhh [ .hhh 6 Ava: [ Oh: : . 7 Bee: She died in the middle of the te: rm? mhhm! = 8 Ava: =Oh that’s too ba: d hha ha! = 9 Bee: =Eh-ye: h, ih-a, 10 she ha-d a, (.hh) 11 she’s the on-. 12 She ha: d a southern accent too. 13 Ava: Oh: . 14 Bee: A: nd, she was very difficult to understand. 15 Ava: No, she ain’t there anymore, 16 Bee: No I mean she, 17 she’s gone a long t(h)ime (h)alrea(h) [ dy? hh 18 Ava: [ Mm, 19 [ hhmh! 20 Bee: [ .hhh 21 (0.2) 22 Bee: nYeah, .hh Im Zusammenhang mit dem Thema ‘Lehrerinnen, die nicht mehr am College sind’ erzählt Ava von einer ihrer damaligen Englischlehrerinnen, die mitten im Schuljahr gestorben war. Diese Geschichte quittiert Bee mit einer Beileidsbekundung oh that's too bad (Z. 8), leicht ironisiert durch zwei nachgestellte explosive Lachpartikel. Bee fügt der Geschichte hinzu, dass diese Lehrerin besonders schwer verständlich war, weil sie mit einem Südstaatenakzent sprach. Der erzählten Welt von Bee setzt Ava nun einen möglichen Schlusspunkt, indem sie zur Erzählsituation zurückkehrt und eine zusammenfassende Bewertung abgibt: she ain't there anymore (Z. 15). Bee stimmt überein, woraufhin die Gesprächspartnerinnen mehrere minimale Rezipientensignale bzw. Pausen austauschen (Z. 18-21). Damit signalisieren sie sich gegenseitig, dass das Thema bzw. die Sequenz jetzt beendet werden kann. 22 Mit Z. 22 ist also ein möglicher thematischer bzw. sequenzieller Abschlusspunkt erreicht: An dieser Stelle könnte etwas Neues anfangen. Das passiert auch hier, denn Bee führt fort: 22 Übrigens auch eine Art Projektion auf der Handlungsebene. Elizabeth Couper-Kuhlen 86 (10´) TG, Fortsetzung von (10) 23 Bee: This fellow I have- 24 (thi-) „ fellow “ ; 25 this ma: n (0.2) t! .hhh 26 He ha: : (s)uff-eh-who- 27 who I have for Linguistics [ is real ] ly too 28 Ava: [ Mh hm? 29 Bee: much, .hh ? [ h= 30 Ava: [ Mh hm, Mit This fellow wird ein neuer Referent eingeführt, der ─ nach der Selbstreparatur in Z. 24-25 - auch identifizierbar gemacht wird: who I have for Linguistics. Danach macht Bee eine vielversprechende, aber wenig präzise Aussage über den Referenten: is really too much (Z. 27/ 29), die an dieser Stelle und in dieser Form als ‘story preface’ zu hören ist. Sie kündigt damit eine spannende Geschichte an, die es als Nächstes zu erzählen gilt. Die intonatorische Gestaltung am Anfang von Bees Turn (Z. 23) ist in Abb. 1 dargestellt. Die erste Silbe This, obwohl unbetont, ist sehr hoch. In der Intonatorischen Phonologie würde sie als ein hoher (Anfangs-)Grenzton gelten. Aus Teilnehmerperspektive gilt diese Silbe als hoch, weil sie wesentlich höher als die vorhergehende Silbe Yeah (Z. 22, Fragment 10) ist. Bei der nächsten (betonten) Silbe felbeginnt eine stark steigende Kurve, die dann im Laufe der folgenden Silbe ihren Gipfel erreicht und wieder fällt. Das heißt, es wird hier ein hoher Ansatz produziert. Auch dieser Ton ist aus Teilnehmerperspektive hoch, weil er wesentlich höher als der Ton auf der Silbe davor ist. 23 Hinzu kommt die Tatsache, dass dieser Ton fast die obere Grenze des normalen Stimmumfangs der Sprecherin erreicht (s. die gestrichelten Linien in Abb. 1), einen Stimmumfang, den ihre Gesprächspartnerin nach dreiminütiger Gesprächszeit sicherlich schon ‘im Ohr’ hat. Die erhöhten Töne auf die erste akzentuierte Silbe felsowie auf das davor gelagerte This signalisieren einen prosodischen Neuanfang, der sich auf der Handlungsebene als der Beginn einer neuen Sequenz deuten lässt. 23 Das prosodische Jetzt verbietet es, das tonale Verhältnis zu den nachfolgenden Silben in Betracht zu ziehen, weil diese für die TeilnehmerInnen noch nicht geschehen sind. Prosodische Prospektion und Retrospektion im Gespräch 87 Nicht alle neuen Turns an möglichen Themen- und Sequenzabschlusspunkten sind jedoch sequenzinitiierend. Im folgenden Abschnitt aus demselben Gespräch wird beispielsweise mit Z. 5 auch ein Punkt erreicht, an dem ein neues Thema eingeführt werden könnte: 100 200 300 500 nYeeah, .hh This feller I have- (iv) “felluh” this ma: n Time (s) 0 3.66278 Abb. 1: Tonhöhenverlauf der themen- und sequenzinitiierenden Konstruktionseinheit in (10) (11) TG (Ava erzählt von ihrem Rhetorikkurs am College, wo Bee früher selbst Studentin war.) 1 Ava: You know I mean it’s really stupid 2 you go up there and just slop anything up 3 and anything from there could be an 4 impro: vement. 5 Yih [ know, it’s a real Mickey Mou: se thing. 6 Bee: [° Mmm. An dieser Stelle könnte die Sequenz zu Ende sein. Ava führt aber in ihrem nächsten Turn die Sequenz weiter: Elizabeth Couper-Kuhlen 88 (11´) TG, Fortsetzung von (11) 7 -> Ava: It’s really stupid. .hh 8 (0.4) Nach dem möglichen thematischen und sequenziellen Abschlusspunkt in Z. 5 liefert Ava mit ihrer Einheit in Z. 7 eine weitere Bewertung des Rhetorikkurses, die die Sequenz fortsetzt. Diese Einheit fängt im Vergleich zur Vorgängereinheit nicht mit hohem Ansatz an, sondern sie ist intonatorisch klar untergeordnet. 24 Zudem wird sie mit schnellem Anschluss geliefert. Sowohl vom Timing als auch von der Tonhöhenführung wird diese Einheit also als eine prosodische Fortführung des Vorangegangenen produziert und wahrgenommen (s. Abb. 2). 100 200 500 You know it’s a real Mickey Mou: se thing. It’s really stupid. Time (s) 0 2.5244 Abb. 2: Tonhöhenverlauf der themen- und sequenzfortsetzenden Einheit in (11) Das Ton- und Lautstärkeverhältnis zwischen den Anfangssilben einer Einheit im Vergleich zu Vorgängersilben ist also entscheidend dafür, ob ein nächster Turn an potenziellen thematischen Abschlusspunkten tatsächlich etwas Neues anfängt (hoher Grenzton + hoher Ansatz) oder aber die voran- 24 Der Gipfelakzent auf really wird infolgedessen als Emphaseakzent wahrgenommen. Prosodische Prospektion und Retrospektion im Gespräch 89 gegangene Sequenz mit ihrem Thema fortführt (Anfang nicht höher als Vorgängereinheit). Diese Deutung wird natürlich öfters auch durch den Wortlaut der Einheit mit transportiert - eine Redundanz, die uns GesprächsforscherInnen sogar hilft, die kontextualisierende Kraft der Prosodie einzuschätzen. So auch in (10´): die Verwendung des Demonstrativums this mit unbestimmter Referenz lässt leicht auf ein neues Thema schließen, wohingegen das Pronomen it in (11´) auf einen immer noch gültigen thematischen Rahmen hinweist. Interessant wird es freilich, wenn der Wortlaut einer Einheit ‘neutral’ ist und sowohl eine Deutung als Themen- und Sequenzneubeginn wie auch als Themen- und Sequenzfortsetzung zulässt. Das ist der Fall in (12), der Fortsetzung von (11´) oben. Wir erinnern uns, dass mit Z. 8 wieder ein möglicher thematischer bzw. sequenzieller Abschlusspunkt erreicht worden ist, wonach etwas Neues anfangen könnte. Bee führt nun im nächsten Turn so fort: (12) TG (Fortsetzung von 11´) 9 -> Bee: Eh-you have anybody: that uh: ? (1.2) 10 I would know from the English department 11 there? 12 Ava: Mm-mh. Tch! I don’t think so. 13 Bee: ° Oh, In Z. 9 wird an einer möglichen Sequenzbzw. Themengrenze ein neuer Referent angesprochen anybody, der durch einen spezifizierenden Relativsatz that I would know from the English department bestimmt wird. Diese thematisch neue Turnkonstruktionseinheit könnte mit einem prosodischen Neubeginn wie in (10) produziert werden. Jedoch wird sie von Bee prosodisch ohne hohen Grenzton und ohne hohen Ansatz gestaltet (s. Abb. 3). Bee fängt die turninitiierende Einheit in Z. 9 tief in ihrem Stimmumfang an. Während ein hoher Grenzton + hoher Ansatz hier den Beginn einer neuen Sequenz kontextualisiert hätte, signalisiert der prosodisch tief gelagerte Anfang im Gegensatz dazu, dass dieser Turn als eine Fortsetzung der bisherigen Handlungsabfolge zu gelten hat. Damit lässt sich die so kontextualisierte Einheit als eine Nachfrage zu Avas emergentem Bericht über ihren Schulalltag auffassen. Das Thema bleibt somit die Schule von Ava, und die Sequenz, die mit ihrem Bericht angefangen hat, bleibt offen. Elizabeth Couper-Kuhlen 90 100 200 300 500 Eh- yih have any buddy: thet uh: ? Time (s) 0 1.56451 Abb. 3: Tonhöhenverlauf der sequenzfortsetzenden Konstruktionseinheit in (12) Beide Ansatzhöhen von neuen Einheiten an potenziellen Themen- und Sequenzabschlusspunkten lassen also begründete Vermutungen über die nächste Zukunft im Gespräch zu. 25 Aber allein das Format hoher Grenzton + hoher Ansatz ist prosodisch projizierend. Dieses hängt mit dem anfangs geschilderten übergeordneten Bogen für Tonhöhe und Lautstärke zusammen: Längere kohärente Turns sowie wohlgeformte Sequenzen bilden in der Regel zusammengesetzte Bögen im Gespräch, die durch eine einzige Deklinationslinie zusammengehalten werden. Um Raum für die Deklination von mehreren Intonationseinheiten zuzulassen, muss eine übergeordnete Deklinationslinie relativ hoch anfangen. So projiziert der hohe Grenzton + hoher Ansatz, prosodisch gesehen, dass weitere Intonationseinheiten folgen werden. Diese können im Dienste der thematischen oder der sequenziellen Entwicklung stehen. Mit anderen Worten: damit kann signalisiert werden, dass der Spre- 25 Ähnliches stellt Goldberg (1978) im Hinblick auf Lautstärke fest. Prosodische Prospektion und Retrospektion im Gespräch 91 cher vorhat, selber länger zu reden, oder aber für eine längere Sequenz vorsorgt. Hingegen macht eine tief einsetzende Einheit an diesen Stellen im Gespräch keine derartige Projektion über die (prosodische) Zukunft. Dem hohen Grenzton kommt eine besonders wichtige Rolle an diesen Übergangsstellen im Gespräch zu. Ohne ihn würde der Hinweis auf den Status des nachfolgenden Turns allein durch den hohen Ansatzakzent geliefert werden und - im Falle einer oder mehrerer vorgelagerter unbetonter Silben - wäre dieses Signal zeitlich verzögert. Bei einem hohen Ton gleich am Anfang einer Intonationseinheit erfolgt dagegen das kontextualisierende Signal zusammen mit dem emergierenden Turn und erlaubt somit eine effizientere Projektion. Gleichzeitig verhindert der hohe Grenzton eine Verwechslung mit der Emphase. Auch bei emphatischen Turns kann ein hoher Ansatz vorkommen, aber - wie in Beispiel (14) ersichtlich - ist in diesen Fällen der hohe Grenzton systematisch abwesend. 5.4 Zusammenfassung der prospektiven Mittel Zusammenfassend konnten folgende Mechanismen für die prosodische Projektion identifiziert werden: - Suspendierung des Luftstroms und somit der Bereitschaft zur prosodischen Produktion (gehaltener Glottalverschluss bei Pausen als Turnhaltesignal) - Suspendierung eines übergeordneten Tonhöhenbogens (gleich bleibende Tonhöhenverläufe am TCU-Ende, z.B. als Turnhaltesignal oder bei Listen) - Beginn eines übergeordneten Tonhöhenbogens (hoher Grenzton/ hoher Ansatz an thematischen/ sequenziellen Übergängen) - Fortsetzung eines rhythmisch isochronen Takts (z.B. bei Listen) Damit wird klar, dass auch die prosodische Projektion mit Gestaltprinzipien arbeitet, vor allem mit dem Prinzip der Vervollständigung. Bei der Suspendierung des Luftstroms bzw. eines übergeordneten Bogens wird eine Spannung erzeugt, die nach späterer Lösung verlangt. Der Beginn eines übergeordneten Bogens macht seine Zuendeführung erwartbar. Das Prinzip der Wiederholung dagegen kommt nur im rhythmischen Bereich als ‘gute Fortsetzung’ vor - die Erwartbarkeit, dass ein etablierter Takt im Gespräch weitergeht. Das Prinzip der Modifikation scheint als prosodischer Projektionsmechanismus ganz zu fehlen. Elizabeth Couper-Kuhlen 92 6. Vergleich der Mechanismen und Prinzipien für prosodische Prospektion und Retrospektion Die teilweise unterschiedlichen Mechanismen der prosodischen Prospektion bzw. Retrospektion sind auf ihre unterschiedlichen Blickrichtungen in der Zeit zurückzuführen. Sie liefern somit einen weiteren Beleg für die Wichtigkeit des Teilnehmer-Jetzt. Retrospektive prosodische Verfahren können auf schon Entstandenes/ Produziertes bauen, es wiederholen, modifizieren usw. Sie benutzen nicht nur das Prinzip der Vervollständigung, sondern auch das Prinzip der Wiederholung und der Modifikation. Prospektive prosodische Verfahren sind jedoch hauptsächlich auf das Prinzip der Vervollständigung beschränkt. Bei der Suspendierung bzw. beim Beginn von Bögen gibt es noch keine vollständigen Strukturen, die wiederholt bzw. modifiziert werden könnten. Lediglich im Bereich des Rhythmus kommt das Prinzip der Wiederholung ins Spiel. Hier ist die damit verbundene Projektion allerdings schwächer als bei (unvollständigen) prosodischen Bögen, denn der Takt besitzt kein intrinsisches Ende. 7. Fazit Die vorliegende Studie will nicht nur zur Beschreibung der prosodischen Strukturiertheit im Gespräch, sondern auch zur Sensibilisierung für die Herstellung solcher Strukturen beitragen. Verfahren der prosodischen Prospektion und Retrospektion erzeugen während des Gesprächs eine genuine Struktur der Zeitlichkeit, die außerhalb der Gesprächsforschung kaum Beachtung findet. Als GesprächsforscherInnen sind wir aufgefordert, diese Zeitlichkeit ernst zu nehmen und sie auf allen Ebenen der Gesprächskonstitution - nicht nur der prosodischen - zum Fundament unserer Beschreibungsansätze und Theorien zu machen. 8. Literatur Auer, Peter (1996): On the prosody and syntax of turn-continuations. In: Couper- Kuhlen, Elizabeth/ Selting, Margret (Hg.): Prosody in Conversation: Interactional studies. Cambridge. S. 57-100. Auer, Peter (2000): On line-Syntax - Oder: was es bedeuten könnte, die Zeitlichkeit der mündlichen Sprache ernst zu nehmen. In: Sprache und Literatur 85, 31,1, S. 43-56. Auer, Peter/ Couper-Kuhlen, Elizabeth/ Müller, Frank (1999): Language in Time. The rhythm and tempo of spoken interaction. New York. Bald, Wolf-Dietrich (1980): English tag-questions and intonation. In: Schuhmann, Kuno (Hg.): Anglistentag 1979. Berlin. S. 263-291. 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Es wurde darüber diskutiert, ob mündliche und schriftliche Syntax zwei unterschiedliche Systeme darstellen, es wurden syntaktische Phänomene beschrieben, die nur oder präferenziell im einen oder anderen Modus vorkommen, und es wurden diese Phänomene aus den spezifischen Bedingungen des jeweiligen Mediums erklärt. Es ging also darum, ob die Gesprochene Sprache 1 eine eigene Syntax hat. Im Gegensatz dazu stellt sich der vorliegende Beitrag die Frage nach der Form der syntaktischen Beschreibung, zielt also auf eine Theorie der gesprochenen Syntax ab. Wie müsste eine syntaktische Theorie aussehen, die möglichst realitätsnah (‘realistisch’: Auer 2003) die vorgefundenen Phänomene der Mündlichkeit erfassen kann? Die Frage präsupponiert, dass die Erforschung der Gesprochenen Sprache eine spezifische grammatische Beschreibungstechnik braucht, die nicht immer schon in der ‘allgemeinen’ syntaktischen Theorie enthalten ist. Eine solche modalitätsspezifische Grammatiktheorie geht über die gängige Grammatikschreibung hinaus, die eine vom Realisierungsmodus unabhängige sprachlich-grammatische Kompetenz der Sprecher (quasi eine offline-Grammatik) im Auge hat. Ihre Modellierung, wie sie heute von fast allen Grammatikern, gleich welcher theoretischer Ausrichtung, angestrebt wird, ist für viele Zwecke ausreichend, auch wenn ihr der Vorwurf gemacht werden kann, in der Praxis doch eher an schrift- und daher standardsprachlichen als an mündlichen Strukturen orientiert zu sein. Sie reicht jedoch nicht * Mein Dank für zahlreiche Hinweise zu Abschnitt 4 geht an die Teilnehmer und Teilnehmerinnen eines Forschungsseminars zum Thema Construction Grammar, besonders an Karin Birkner, Christa Lenz, Göz Kaufmann, Dagmar Frohning und Fabian Overlach. Dem Herausgeber dieses Bands, Heiko Hausendorf, danke ich für zahlreiche Hinweise zum gesamten Text. 1 Die Großbuchstaben bei Gesprochene Sprache indizieren, dass es sich um das handelt, was oft auch mit ‘konzeptioneller Mündlichkeit’ bezeichnet wird. Peter Auer 96 aus, um die spezifische Differenz der mündlichen Realisierungsform von Sprache (wie übrigens auch nicht die spezifische Differenz schriftlicher Sprache) zu erfassen. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass eine modalitätsangemessene Syntaxbeschreibung der mündlichen Sprache entsprechend deren spezifischen Produktions- und Rezeptionsformen insbesondere drei Eigenschaften haben muss: - sie muss ‘inkrementell’ sein, d.h. den syntaktischen Strukturaufbau in der ‘Echtzeit’ erfassen; denn mündliche Sprache wird linear in der Zeit produziert und rezipiert (und unterscheidet sich damit von der Zweidimensionalität des geschriebenen Textes); - sie muss dialogisch orientiert sein, d.h. sie muss die Kooperation der Gesprächsteilnehmer bei der Ko-Konstruktion syntaktischer Einheiten berücksichtigen; denn mündliche Sprache in direkten Interaktionen ist durch maximale Synchronisiertheit von Produktion und Rezeption gekennzeichnet, die Rückkopplungen zwischen beiden nicht nur möglich macht, sondern immer schon impliziert; - sie muss der Tatsache Rechnung tragen, dass mündliches Kommunizieren auch unter hohem Zeit- und Handlungsdruck deshalb funktioniert, weil viele, auch scheinbar komplexe Syntaxstrukturen bereits mehr oder weniger stark musterhaft festgelegt sind. Statt sie kompositionell (‘generativ’) anhand relativ allgemeiner Regeln aufzubauen, muss eine realistische Beschreibung mündlicher Syntax dieser Verfestigung häufig gebrauchter syntaktischer Muster (im Sinne der Construction Grammar; s.u. 4.) Rechnung tragen. Die drei Anforderungen an die Modellierung mündlicher Syntaxstrukturen entsprechen also drei Merkmalen der prototypischen mündlichen Kommunikation: Linearität in der Zeit, Synchronisierung der Handlungsabläufe zwischen Sprecher und Hörer in der face-to-face-Interaktion und an Mustern (constructions) orientiertem Ablauf. Sie werden in den folgenden drei Kapiteln genauer behandelt. Besonders der inkrementelle, emergente Charakter mündlicher Syntaxkonstruktionen (online-Grammatik, vgl. Auer 2000) macht Syntax zu einem Prozess, der unter bestimmten kognitiven und interaktiven Bedingungen (in der Regel dialogisch) abläuft. Syntax als Prozess 97 2. Inkrementelle Syntax Inkrementelle Syntax beschreibt die fortlaufenden Projektionen über den weiteren Verlauf der emergenten syntaktischen Struktur, die es den Hörern erlauben, den entstehenden Redebeitrag ohne Verzögerung zu prozessieren. Syntaktische Projektionen bauen auf syntaktischen ‘Gestalten’ auf, die, sobald sie identifiziert sind, nach dem gestaltpsychologischen Prinzip der „guten Fortsetzung“ durch die Produktion einer mehr oder weniger präzise vorhersagbaren Abschlussstruktur geschlossen werden müssen. Syntaktische Projektionen sind für die Interaktion nicht zuletzt deshalb von großer Wichtigkeit, weil sie die Vorhersage von möglichen Redezug-Abschlusspunkten ermöglichen. Sie kommen aber auch innerhalb von Turnkonstruktionseinheiten zum Tragen. 2 Inkrementelle syntaktische Analyse impliziert die Abkehr von der reinen top-down-Analyse nach dem Modell der immediate constituents zugunsten einer Kombination von linearer und hierarchischer Beschreibung (vgl. dazu Kindt 2003). Die grundlegenden Eigenschaften von Projektionsverfahren (sowie die komplementären retraktiven syntaktischen Verfahren) sind bereits andernorts (Auer 2000, Auer 2005, Auer 1996; vgl. auch Stein 2003) ausführlich dargestellt worden (vgl. auch Couper-Kuhlen i.d. Bd.). Hier sollen lediglich einige sprachvergleichende Aspekte genannt werden. Syntaxen von Sprachen unterscheiden sich in ihrem Projektionspotenzial. Zum Beispiel gilt das Japanische als eine projektionsarme (vgl. Ford/ Fox/ Thompson 2003, S. 130f. mit weiteren Literaturhinweisen), das Deutsche als eine projektionsstarke Sprache. Bei einem solchen Sprachvergleich muss man allerdings berücksichtigen, dass Interaktionsteilnehmer neben syntaktischen über andere Möglichkeiten der Projektion (semantisch-pragmatische, prosodische und non-verbale) verfügen. Hat eine Sprache also weniger gute syntaktische Projektionsmöglichkeiten, so kann daraus nicht geschlossen werden, dass keinerlei Projektionen über den weiteren Verlauf von Äußerungen möglich sind − sonst wäre Interaktion gar nicht möglich. Sie können auch auf anderen sprachlichen Ressourcen aufbauen als den syntaktischen. 2 Psycholinguistische Evidenz für online-Prozessierung von Sprache, aber auch für deren projektiven Charakter, liefern indirekt Forschungen im Paradigma des shadowing, also des Mitsprechens während der spontanen Sprachproduktion eines Anderen (vgl. den klassischen Aufsatz von Marslen-Wilson 1985). Dies ist nur möglich, wenn fortlaufend Fortsetzungserwartungen aufgebaut und in der Regel auch eingelöst werden. Peter Auer 98 Für den Sprachvergleich spielen unter anderem die folgenden Parameter eine Rolle: - Das Ausmaß der Serialisierungsvorschriften (vgl. die Diskussion um den Unterschied zwischen sog. konfigurationellen und nicht-konfigurationellen Sprachen; vgl. z.B. Maracz/ Muysken 1989). Es ist unmittelbar einsichtig, dass eine Sprache mit rigiden Serialisierungsvorschriften präzisere syntaktische Projektionen erlaubt als eine mit freier Wortstellung. Dies betrifft vor allem Adjazenzprojektionen (s.u.) von einer syntaktischen Position zur nächsten. Im klassisches Latein lässt sich z.B. aus dem Konstruktionsbeginn Gallia ... keine Fortsetzungserwartung für die nächste Position ableiten ( Gallia est..., Gallia omnis ..., Gallia divisa...., Gallia in...); im Deutschen folgt hingegen auf den Konstruktionsbeginn Frankreich ... − sieht man von immer möglichen parenthetischen Erweiterungen und Prolepsen ab − mit großer Sicherheit ein finites Verb in der nächsten (d.h. der ersten Klammer-)Position. - ‘Links- und rechtsverzweigende’ Strukturen stehen für völlig unterschiedliche Produktions- und Rezeptionstechniken und sind deshalb ein wichtiger Parameter für den Sprachvergleich aus der Perspektive der online-Syntax. Er interagiert mit dem Parameter ‘head marking’ vs. ‘dependent marking’ (Nichols 1992). Dies lässt sich am Beispiel der Attribution zeigen. Für Sprachen mit Modifikatormarkierung (dependent marking) erlaubt die Serialisierung Modifikator vor Kopf die Projektion des Kopfs; etwa ermöglicht im Deutschen ein flektiertes Adjektiv die Vorhersage, dass (immer abgesehen von kontextuellen ‘Ellipsenlizenzen’) ein Nomen folgen wird. Rechtsverzweigende Strukturen, also die Serialisierung Kopf vor Modifikator (z.B. etwa im Deutschen Erweiterungen von Nominalphrasen durch Relativsätze), sind hingegen in Sprachen dieses Typs überhaupt nicht vorhersagbar, weil am Kopf die Attribution nicht markiert wird. (Dementsprechend ist dt. A + N: ein schönes → N neutr stärker projizierend als franz. N + A: un livre → ? ). Für kopfmarkierende Sprachen gilt hingegen das umgekehrte. Ein Sonderfall der Kopf/ Modifikator-Beziehung ist die Rektion. Voranstehende regierende Elemente ermöglichen die beste Vorhersage über nachfolgende regierte Elemente (deren Abstand vom regierenden Kopf und deren Reihenfolge − wenn es mehrere Ergänzungen gibt − natürlich variabel sein kann und dann nicht vorhersagbar ist). So ermöglichen im Syntax als Prozess 99 Deutschen verbinitiale Syntagmen (wiederum unter Berücksichtigung lokaler ‘Ellipsenlizenzen’) die Vorhersage des Kasus und der Anzahl nachfolgender nominaler Ergänzungen (kommt → ein Mann in einen Laden...), Präpositionen ermöglichen die Vorhersage von Anzahl und Kasus der folgenden Nominalphrasen (zwischen → Himmel und Erde), etc. Bei umgekehrter Serialisierungsrichtung ist die Vorhersage des Kopfes aus der Ergänzung nur unter bestimmten Bedingungen möglich ((dass) ein Mann in einen Laden → kommt), nämlich dann, wenn die Ergänzungen morphologisch markiert sind und so oder durch ihre Position ihre syntaktische Funktion erkennbar wird. Syntaxen unterscheiden sich aber in der Durchsichtigkeit der Abbildung der semantischen Rollen auf die morphologischen Kasus. Deshalb ist (dass) dem Linguisten die neue Grammatik → gefällt stärker projizierend als (dass) Fritz Maria ? → gefällt, liebt, .... Morphologisch reichere Sprachen sind also bei der Serialisierung ‘regiertes Element vor regierendem Element’ projektionsstärker als morphologisch ärmere. Man kann dies auch daran erkennen, dass sog. garden path sentences (vgl. z.B. Ferreira/ Henderson 1991 ) , bei denen die syntaktische online-Prozessierung besonders schwierig ist, im Englischen viel häufiger sind als im Deutschen. Die deutschen psycholinguistischen Lehrbücher greifen deshalb meist zu recht gekünstelten Beispielen wie ich glaube dass Fritz zugunsten von Maria nie etwas unternommen → worden wäre vs ich glaube dass Fritz/ zugunsten von Maria nie etwas unternommen → hätte um das Phänomen zu illustrieren. Wenn man im Beispielsatz die Eigennamen durch kasusmarkierte NPs ersetzt, lässt sich diese Sprachabhängigkeit sofort erkennen. - Wie sich schon am Beispiel der Verbalrektion zeigte, ergibt sich aus der hierarchischen Struktur von Syntax, dass sich Projektion nicht auf Übergangswahrscheinlichkeiten zwischen adjazenten Elementen reduzieren lässt. Vielmehr können auch nicht-adjazente Strukturen projiziert werden. Ein wichtiges Projektionsverfahren sind daher diskontinuierliche Konstituenten. Die deutsche Satzklammer, ein Distanzprojektionsverfah-ren par excellence, ist dafür allerdings nur dann geeignet, wenn das linke Klammerelement das rechte erwartbar macht. Deshalb sind zwar Strukturen wie Peter Auer 100 ich komme morgen um 8 Uhr am Hauptbahnhof → an wir werden zu spät → kommen projizierend, nicht aber ich will noch ein Brötchen → haben du hast Besuch → bekommen ich komme erst morgen → an. In der zweiten Beispielgruppe ist schon vor dem letzten Klammerelement ein möglicher syntaktischer Abgeschlossenheitspunkt erreicht. 3 - Adjazenzprojektionen beziehen sich auf den Übergang von einem syntaktischen Strukturelement zum nächsten, also von Wort zu Wort oder Phrase zu Phrase, Distanzprojektionen auf die Vorhersagbarkeit nicht nebeneinander stehender Elemente. Ein Sonderfall der Distanzprojektion ist die Endprojektion, d.h. die Vorhersage des Abschlusselementes einer selbstständigen syntaktischen Einheit von einem bestimmten Punkt an: adjazent: E 1 E 2 E 3 E n final: E 1 E 2 E 3 .... E n (für n ‘Ereignisse’, etwa Produktionen eines Wortes, die sich miteinander verknüpfen, bis die syntaktische Struktur/ Gestalt mit dem n-ten Ereignis abgeschlossen ist). Die kognitiven Prozessierungsbedingungen, die in der direkten Kommunikation relevant sind, sprechen gegen zu weit ausgreifende Projektionsbögen und für Projektionen, die relativ nah am Adjazenzpol liegen. Neue zu prozessierende Elemente werden im unmarkierten Fall als projektionseinlösend für die unmittelbaren Vorgängerelemente verstanden (vgl. Frazier/ Rayner 1982), wobei diese Adjazenz allerdings auf verschiedenen syntaktischen Hierarchieebenen definiert werden kann (z.B. auch auf Phrasenniveau). Größere (längere) Syntagmen werden in der Gesprochenen Sprache gern durch mehrfache lokale Übergänge hergestellt. Andererseits sprechen Gesichtspunkte der Gesprächsorganisation dafür, den Abschluss von Turnkonstrukti- 3 Selbstverständlich ist die Vorhersagbarkeit des rechten Klammerelements hier auch von den im Vor- und Mittelfeld stehenden Ergänzungen bestimmt. Syntax als Prozess 101 onseinheiten (TCUs) projizierbar zu machen. Dadurch lässt sich nicht nur das Rederecht für die Sprecherin langfristig sichern. Dem Hörer bleibt auch ausreichend Zeit, um den nächsten Redebeitrag zu planen und exakt zu platzieren. Interaktiven Vorteilen der Finalprojektion können also kognitive Prozessierungsnachteile gegenüberstehen. Dieser Konflikt erklärt, warum selbst Sprachen, in denen Finalprojektionen eine große Rolle spielen (etwa das Deutsche), für lange, z.B. satzwertige Konstruktionen wie Relativsätze dieses Verfahren aufgeben und stattdessen mehr lokal operierende Erweiterungen zulassen (cf. Antinucci/ Duranti/ Gerbert 1979). Strikte SOV-Sprachen, in denen dem finiten Verb in Endstellung keine Konstituenten mehr folgen können, benutzen dieses, um den Abschluss einer syntaktischen Gestalt zu markieren. Allerdings gilt das wohl für viele SOV- Sprachen nur tendenziell: auch im Türkischen (vgl. Auer 1990) oder Japanischen (Couper-Kuhlen/ Ono, i. Dr.) sind Erweiterungen über das Finitum hinaus gerade in der Gesprochenen Sprache möglich und üblich. Wie sieht nun das grammatische Wissen über Projektionen aus? Relativ leicht ist diese Frage für solche Konstruktionen einer Sprache zu beantworten, die bestimmte Konstituentenabfolgen kontextfrei erzwingen. Etwa sind die deutschen Artikelformen grundsätzlich projizierend (was ihrer Eigenschaft entspricht, ohne Ausnahme vor dem Bezugsnomen und außerdem vor allen anderen Modifikatoren des Nomens zu stehen). Dasselbe gilt für die nebenordnenden Konjunktionen des Deutschen, die nachfolgende satz- oder phrasenwertige koordinierte Strukturen projizieren, und für die subordinierende Konjunktionen, die nachfolgende Verbletztsyntagmen erwartbar machen. Dass solche Information kontextfrei gespeichert werden kann, schließt natürlich Ambiguitäten nicht aus; eine definite Artikelform kann sich im Laufe der online-Prozessierung auch als Relativpronomen oder rhematisches Personalpronomen entpuppen, die subordinierende Konjunktion weil als koordinierende, etc. Hier ändert sich die grammatische Kategorie und damit die syntaktische Funktion des Wortes. Andere Strukturen entfalten jedoch ihr Projektionspotenzial erst im syntaktischen Zusammenhang, d.h., die Abgeschlossenheit einer Konstruktion (und damit Syntax insgesamt) ist kontextabhängig. Vgl. dazu das folgende Beispiel: Peter Auer 102 (Big Brother, Zlatko und Jürgen) ((wenige Sekunden vorher hat eine andere Containerbewohnerin mit Zlatko darüber gesprochen, dass Kerstin bei den Männern übernachtet hat; alles fast flüsternd)) 01 Jrg: <<pp>die KERStin? 02 Zlt: <<pp>>ja,> 03 Jrg: <<pp, presto>wo WAR die denn; > 04 Zlt: <<pp>beim alex im BETT; > 05 Jrg: <<mp>quatsch; > 06 Zlt: <<spöttisch lachend> ha naTÜRlich; > 07 Jrg: → hab ich nicht geSEHN. 08 Zlt: <<spöttisch lachend> LOgo.> Die kontextfreie Valenzstruktur des Verbs gesehen in Z. 07 erfordert eine Objektergänzung, die der Sprecher nicht liefert. Dennoch bildet seine Äußerung im vorliegenden sequenziellen Zusammenhang zweifelsohne eine vollständige Turnkonstruktionseinheit, d.h., sie projiziert keine syntaktische Fortsetzung. Die syntaktische Gestalt ist abgeschlossen, nachdem das distanzprojizierte Abschlusselement (das Partizip gesehen in der ‘rechten’ Klammerposition) erreicht worden ist. Dies ist möglich, weil die Objektergänzung in der vorliegenden Konstruktion (verbinitiales Syntagma mit Personalpronomen in der zweiten Position) aus dem vorausgehenden Kontext inferiert werden kann. Ein anderer Ausschnitt aus ‘Big Brother’ beginnt wie folgt: (Big Brother) 01 Friseur: jetzt gehn ma mal zu jürgen, 02 Sbr: ((lacht los)) 03 → zu jürgen; Die bestätigende Wiederholung eines Teils der Äußerung des ersten Sprechers durch die zweite (zu jürgen) ist syntaktisch gesehen von dieser abhängig. Nur im gegebenen Kontext ist sie eine vollständige Turnkonstruktionseinheit. Stünde dieselbe Äußerung am Beginn einer Gesprächsepisode, würden sich die Projektionsverhältnisse sofort verändern: die Präpositionalphrase zu Jürgen würde dann weitere Äußerungsteile erwartbar machen. Hier - wie in der traditionelleren Forschung zur Gesprochenen Sprache - von Ellipsen zu sprechen, suggeriert fälschlicherweise, dass solche Äußerungen aus ihren vollständigen Pendants sozusagen durch Wegstreichen von Strukturelementen abgeleitet werden. Wesentlich sinnvoller ist eine andere Sicht- Syntax als Prozess 103 weise: syntaktische Strukturen bleiben nach ihrer Produktion/ Rezeption für eine gewisse Zeit verfügbar und halten für den nächsten (oder denselben) Sprecher ein ‘Angebot’ bereit, sie nach bestimmten Regeln für die Nachfolgeäußerung zu nutzen. Trotz der offensichtlichen Flüchtigkeit mündlicher Sprache ist das produzierte Syntagma also nicht schon im Augenblick seiner vollständigen Produktion irrelevant; es bleibt vielmehr zunächst noch strukturell (und natürlich auch inhaltlich) verfügbar. In diesem Sinn gehören im Beispiel die Äußerung des Friseurs in Z. 01 und die Sabrinas in Z. 03 zusammen zu einer syntaktischen Struktur. 4 Syntaktische Latenzen haben, wie alles in der gesprochenen Sprache, eine Zeitstruktur. Sie verlieren ihre Wirksamkeit rapide, wenn sie nicht unmittelbar nach dem Bezugssyntagma ausgenutzt werden. Dennoch sind auch weitläufigere Latenzen möglich. Betrachten wir die Äußerung 05 Adr: die uta au nich. Es ist klar, dass wir es hier trotz prosodischer Abgeschlossenheit syntaktisch gesehen mit einem Syntagma zu tun haben, das auf ein früheres zurückverweist und dessen noch latent vorhandene Syntax ausnutzt. Die unmittelbare Vorgängeräußerung ist jedoch: 04 Jrg: da werd=isch au fuchsteufelswild. 05 Adr: die uta au nich. Jürgens Äußerung kann nicht der Bezugspunkt für Andreas Äußerung sein, denn es gibt keine strukturelle Beziehung zwischen den beiden, was im vorliegenden Fall an der Negationspartikel im Zusammenhang mit dem Adverb au(ch) liegt. Geht man im Gesprächsausschnitt weiter zurück, so findet man jedoch einen solchen Bezugspunkt: (Big Brother, Sabrina und Jürgen) 01 Sbr: lebensmittel weg das is ne SÜNde. 5 02 Jrg: also das mag=isch au nisch. 03 Sbr: nee- 04 Jrg: da werd=isch au fuchsteufelswild. 05 Adr: die uta au nich. 4 Vgl. zu dieser Herangehensweise an sog. Ellipsen aus psycholinguistischer Sicht auch Kindt (2003). 5 Gemeint ist: ‘Lebensmittel wegzuwerfen ist eine Sünde.’ Peter Auer 104 Andreas Äußerung baut also auf der Struktur einer Äußerung Jürgens auf, die zumindest über zwei andere Äußerungen hinweg latent verfügbar bleibt. Projektionen sind die Basis der inkrementellen Syntax, die für die Gesprochene Sprache so zentral ist. Der Wechsel zwischen strukturaufbauenden (Projektionsbögen herstellenden) und strukturabarbeitenden (Projektionen einlösenden, Projektionsbögen abschließenden) Phasen konstituiert einen kognitiven Rhythmus, der die Prozessierung erleichtert, indem er in den strukturabarbeitenden Phasen Entlastungen für andere mentale und interaktive Aktivitäten schafft; zum Beispiel die Vorbereitung des nächsten Turns. Entsprechend ist die Möglichkeit syntaktischer (wie auch anderer) Projektionen in der Zeit grundsätzlich ein Vorteil; problematisch sind hingegen Strukturen, die lange Zeit ambig bleiben und keine Vorhersagen über den weiteren syntaktischen Verlauf ermöglichen. Ein Extremfall dafür sind die schon genannten garden path sentences. Man könnte einwenden, dass solche Projektionen ja auch in der schriftlichen Kommunikation, also beim Lesen und beim Schreiben, gelten. Bei sehr ungeübten Lesern und Leserinnen ist das in einem bestimmten Sinn richtig; Erstklässler arbeiten beim Lesen in einem Satz Wort für Wort bis zu dem Punkt ab, an dem sie seine grammatische Struktur erkennen und daher Projektionen über den weiteren syntaktischen Verlauf des Satzes machen können. Dies erkennt man oft daran, dass sie dann das bisher Gelesene mit anderer (passenderer) Intonation und rhythmisch integriert wiederholen. Geübte Leser prozessieren Texte hingegen nicht linear, sondern flächig, d.h., sie können in der Regel mindestens mehrere Wörter, wenn nicht mehrere Zeilen des Textes zugleich überschauen und relevante syntaktische Bezugspunkte erkennen. Die Prozessierung erfolgt nicht notwendigerweise linear in der Zeit, sondern kann mit großflächigen Vor- und Rückgriffen arbeiten. Für solche Leser ist Lesen deutlich schneller als Zuhören, und die Einheiten, die auf einmal prozessiert werden können, sind entsprechend größer. In diesem Fall werden also andere (zweidimensionale) Verarbeitungsverfahren wirksam. 3. Dialogische Syntax Schon im letzten Abschnitt wurde darauf hingewiesen, dass Projektionen nicht kontextfrei funktionieren. Vielmehr sind sie von der Syntax ihrer unmittelbaren oder mittelbaren Vorgängeräußerungen abhängig. Diese Äuße- Syntax als Prozess 105 rungen sind oft nicht vom selben Sprecher produziert worden. In der Produktion eines einzelnen Syntagmas fließen dann Strukturen ineinander, die von mehreren Teilnehmer/ innen ins Gespräch gebracht worden sind. Da aber in der Regel im Gespräch die Regeln des turn-taking herrschen (one speaker at a time), impliziert dialogische Syntax immer auch zeitliche Abfolge: nun nicht mehr im vorher diskutierten Sinn einer inkrementellen Prozessierung in der Zeit, sondern im Sinn einer sequenziellen Ordnung, die das (meist) geordnete Nacheinander von Sprecherbeiträgen regelt. Neben Strukturlatenzen gibt es zahlreiche andere syntaktische Beziehungen zwischen den Äußerungen verschiedener Sprecher/ innen, die die dialogische Emergenz von Syntax belegen. Gut untersucht sind sog. kollaborative Satzproduktionen, bei denen eine Sprecherin beginnt und ein anderer Sprecher die Struktur zu Ende oder weiterführt (vgl. dazu u.a. Falk 1979, Lerner 1991, Ferrara 1992, Szczepek 2000, Hayashi/ Mori/ Takagi 2002). Auch hier werden syntaktische Konstruktionen ko-konstruiert. Im folgenden Ausschnitt aus der bereits zitierten Diskussion über den Umgang mit Lebensmitteln produziert Andrea einen Konditionalsatz (wenn ich zu hause sehe ... was ich alles wegschmeiß), der eine folgende Apodosis projiziert. Diese Apodosis kommt jedoch nicht von derselben Sprecherin, sondern nach einer dreisekündigen Pause von Sabrina (das=s ne sünde): (Big Brother, Andrea und Jürgen) 01 Adr: =<<h; all>(-)ich bin da> wesentlich verSCHWENderischer.> 02 Jrg: das sind wir ALle. 02 Adr: wenn ich zu hause sehe; 03 IHR ja noch nich ma; 04 (was) ICH alles wegschmeiß, 05 (3.0) 06 Sbr: das=s ne SÜNde. Die zweite Sprecherin vervollständigt also die begonnene, aber unvollständige 6 Struktur der ersten. Anders im folgenden Beispiel: hier schließt sich 6 Dass Andrea nach dem wenn-Satz eine längere Pause entstehen lässt, legt nahe, dass sie selbst keine Fortsetzungsabsicht hatte. Solche Fälle von Aposiopese laden zur tatsächlichen oder ‘gedanklichen’ Fortsetzung der begonnenen Struktur durch die Rezipienten ein und können strategisch verwendet werden. Peter Auer 106 ein syntaktisch nicht selbständiger, kausaler Nebensatz Jürgens (weil de no nie in der situation warst) an eine schon abgeschlossene Konstruktion Andreas (auf son gedanken wär ich nie gekommen) an: (Big Brother) 01 Adr: <<h>da: nn (-) nimmt er sogar die früchte aus dem tee noch; > 02 IN sein müsli. 03 (-)<<stimmlos; all>sa ma auf so=n> gedanken[wär ich NIE: ] gekommen. 04 Sbr: [aus dem beutel]; 05 Adr: nee: , 06 frischer is das. 07 Jrg: ja; 08 wahrscheinlich weil de no nie in der situation warst 09 dass de sowas machen MUSStest. 10 Adr: ja Jürgens wahrscheinlich weil de no nie in der situation warst ist strukturell auf die Vorgängeräußerung auf son gedanken wär ich nie gekommen bezogen und wäre ohne sie nicht in der Lage, eine Turnkonstruktionseinheit zu bilden. Allerdings zeigt das Beispiel auch, dass vom Rezipienten ko-konstruierte syntaktische Konstruktionen nicht mit allein vom Sprecher konstruierten identisch sind: denn Jürgens Beitrag weist trotz aller Abhängigkeit von Andreas Äußerung strukturelle Merkmale auf, die ihn zu seiner eigenen ‘Stimme’ machen. Dazu gehört neben dem epistemisch-modalen Adverb wahrscheinlich, das nur aus der Perspektive des Anderen, nicht der Sprecherin sinnvoll ist, vor allem die pronominale Verschiebung ich → du (de). Dialogisch konstruierte Strukturen liefern oft gute Evidenz für die interaktionale Realität der im Abschnitt 2 beschriebenen Projektionsverfahren. Im folgenden Ausschnitt nutzt Manuela ein Zögern in Johns Redebeitrag, um ihn zu Ende zu führen. Simultan vervollständigt John selbst seinen Redebeitrag mit fast denselben Worten und der annähernd gleichen syntaktischen Struktur: Syntax als Prozess 107 (Big Brother) 01 Jhn: et jibt halt wirklich ooch missverständnisse; =ja 02 also WEESS ick nich 03 wenn de dir .h 04 mal irgendwie ne BRAvo kuckst 05 und da fragen halt heutzu[ta]ge IMmer noch jugendliche 06 Adr: [ja] 07 Jhn: kam=man sich beim ersten mal schon ANstecken 08 oder kann man beim (.) → beim beim [ersten geschlechtsverkehr] 09 → Man: [ersten mal SCHWANger werden] 10 Jhn: SCHWANger werden 11 weeß ICke wat .h Solche Kollaborationen sind nur möglich, weil die Rezipienten eng synchronisiert mit den Sprechern Projektionen über den weiteren Verlauf der emergenten Struktur vornehmen, die es ihnen ermöglichen, schnell und strukturell korrekt in diese Emergenz einzugreifen. Sogar ein schweigender Rezipient kann die emergente Syntax des Sprechers beeinflussen. Etwa hält der Rezipient im folgenden Beispiel in Z. 03 jedwede Reaktion auf die Äußerung des ersten Sprechers zurück: (Telefongespräch) 01 A: ja der muss früh wieder HEIM 02 weil der=hat abns terMIne ne, 03 → (o.7) 04 → mit em be BE da: Erwartbar wäre nach der Nachlaufpartikel ne in Z. 02 zumindest ein Rezipientensignal, das die Erklärung, warum ‘er’ nicht mitkommen kann, ratifiziert und dem augenblicklichen Sprecher A die Erlaubnis zum Weitersprechen gibt. K schweigt jedoch, und es entsteht eine 0.7-sekündige Pause. In solchen sequenziellen Positionen, also als Reaktion auf das Fehlen einer erwartbaren Folgehandlung des Anderen, produzieren erste Sprecher systematisch Elaborierungen oder Reparaturen ihrer bisherigen Äußerungen. Dies Peter Auer 108 geschieht auch im vorliegenden Fall in Z. 04, wo A seine bisherige, schon vollständige Äußerung syntaktisch im Format einer Ausklammerung erweitert. Man kann also mit Fug und Recht sagen, dass die erweiterte Struktur der letztendlich produzierten Äußerung von der Nicht-Handlung des Gesprächspartners - als Handlung! - (mit) gesteuert wird. 4. Konstruktionen (constructions) In generativer Denkweise sind viele Grammatiker gewohnt, unter alternativen grammatischen Beschreibungen derjenigen den Vorzug zu geben, die die stärksten Generalisierungen erlaubt. Die Struktur von Einzeläußerungen wird deshalb so weit wie möglich aus der Anwendung und Interaktion allgemeiner Strukturregelmäßigkeiten (‘Regeln’, ‘Beschränkungen’) erklärt. Aus der Sicht der Sprachproduktion und -rezeption unter den Bedingungen der direkten mündlichen Kommunikation ist jedoch eine solche, abstrakte Syntax wenig wahrscheinlich. Die oben skizzierte inkrementelle Herangehensweise baut hingegen auf sprachlichem Wissen über relativ detaillierte, oberflächennahe und redundante Konstruktionschemata auf. Je größer der Detailliertheitsgrad und damit auch die Anzahl solcher Konstruktionsschemata ist, um so leichter kann der Rezipient die entstehende Struktur einem solchen Schema zuordnen und ihren weiteren Verlauf vorhersagen. Eine Grammatiktheorie, die sich mit solchen Formen grammatischen Wissens systematisch beschäftigt, ist die construction grammar. Es gibt sie in zahlreichen Ausprägungen (Croft 2001, Deppermann 2004, Fillmore/ Kay/ O'Connor 1988, Goldberg 1995, Michaelis/ Lambrecht 1996), von denen diejenige für die Erforschung der Gesprochenen Sprache am attraktivsten ist, die Häufigkeiten mit einbezieht (z.B. Ford/ Fox/ Thompson 2003, Bybee 1998). Dahinter steckt die Idee, dass die Sprachbenutzer rekurrente Anwendungen allgemeinerer Regeln mit der Zeit getrennt speichern und direkt abrufen. Constructions sind also oft mehr oder weniger idiosynkratische Instantiierungen allgemeinerer syntaktischer Strukturen, die meist bestimmte interaktive Funktionen haben und die als solche im Erstspracherwerb noch vor den allgemeineren Strukturschemata gelernt werden (Tomasello 1998). Der Grad der Idiosynkrasie kann sehr unterschiedlich sein; manche Konstruktionen sind vollständig - auch lexikalisch - spezifiziert, andere lassen bestimmte Abänderungen zu oder enthalten Leerstellen und sind daher abstrakter. Per definitionem ist die Syntax und/ oder die Semantik einer Konstruktion nicht kompositionell aus ihren Teilen ableitbar. Die kategorische Trennung zwischen Syntax und Lexikon löst sich auf. Syntax als Prozess 109 Das Vorgehen der construction grammar, nämlich allgemeine Strukturbeschreibungen (Regeln) in stärker restringierte und dafür präziser in ihrer interaktionalen Funktion beschreibbare Einzelkonstruktionen aufzulösen, soll hier kurz an einem Beispiel vorgeführt werden, nämlich den projizierenden Konstruktionen mit so, einem der hochfrequenten Wörter des Gesprochenen Deutsch. Thurmair (2001, S. 27ff.) bezeichnet so in einer der wenigen einschlägigen Arbeiten als deiktisches Adverb, das auf Eigenschaften oder „Aspekte“ (Ehlich 1987) verweist. Weinrichs Textgrammatik widmet so immerhin einen ganzen Abschnitt und versucht, seine verschiedenen Vorkommensweisen unter den Begriff der Bedeutungsrahmung zu fassen (2003, S. 583ff.); darunter ist offenbar so etwas wie Hervorhebung gemeint (vgl.: „[...] wird jeweils ein bestimmter Bedeutungsinhalt [...] umrahmt und dadurch emphatisch hervorgehoben“, S. 584). Diese Beschreibungen resultieren ganz offensichtlich aus dem ehrenwerten, aber vielleicht von vorne herein zum Scheitern verurteilten Versuch, aus einer sehr heterogenen Gruppe von Verwendungskontexten eine möglichst allgemeine Beschreibung abzuleiten. Sie wird aber dadurch so abstrakt, dass sie an der Sprachrealität vorbei geht. Schaut man sich die Vorkommnisse von so in einem (hier: mündlichen) Corpus genauer an, so löst sich die allgemeine Beschreibung alsbald in eine Vielzahl von wesentlich spezifischeren Konstruktionsschemata auf, die eigene syntaktische, semantische und pragmatische Eigenschaften haben. Der Verweis auf Eigenschaften spielt bei vielen von ihnen keine Rolle; nicht einmal die deiktische Komponente von so bleibt immer erhalten. Auch eine allgemeine Rahmungsfunktion lässt sich nicht nachweisen. Im Folgenden gehe ich lediglich auf diejenigen Konstruktionen ein, in denen so eine satzwertige Struktur im Folgesyntagma projiziert. (Die zahlreichen Verwendungsformen als alleinstehende Partikel, als alleinstehendes Adverb, in Vergleichsstrukturen des Typs so ... wie, als fakultative Einleitung der Apodosis von Konditionalstrukturen sowie als modifizierendes Element vor einem einzelnen Wort werden also nicht berücksichtigt.) 7 Sodass sehe ich als eigenständige Konjunktion an. Darunter finden sich mindestens die folgenden: (a) Konsekutivkonstruktion: ... X ist so Y, dass S Semantik: Ein Prädikat trifft in einem solchen Maß auf ein Argument zu, dass daraus q folgt. Das Prädikat ist oft, aber nicht zwingend evaluativ. Ty- 7 Sie werden teilweise bei Thurmair (2001) sowie bei Ehlich (1987), Burkhardt (1987) und Sandig (1987) beschrieben. Peter Auer 110 pisch sind Beispiele ohne complementiser im Folgesyntagma. (Das projizierende so ist in den folgenden Ausschnitten durch Fettdruck hervorgehoben, die projizierte satzwertige Folgestruktur durch einen Pfeil links vor der Zeile.) (psychotherapeutische Gruppensitzung) 01 U: bei MIR ischs jetzt (-) etwa en jAhr HER 02 oder des jährt sich jetzt äh (1.0) 03 ja in ’ in der KLInik wa: r 04 und beim: psychiAter war: 05 und was weiss ICH wo war 06 .hh un: d dA GMERKT hab, 07 =ich bin: ich bin SO weit UNtn; 08 → ich KANN einfach gar nimmer weiter runter, (Big Brother) 01 Adr: =dann WUSST=ich nich; 02 dann hat er mir GEStern erzählt 03 da: nn hat er so=n FRÜCHtetee: , 04 .h ((schluckt))der is SO intensiv und stark, 05 → den kann er sich auch DREImal sogar AUFgießen? Die Beziehung zwischen den beiden in Folgerelation stehenden Syntagmen kann aber auch in Form eines dass-Satzes stärker grammatikalisiert sein: (psychotherapeutische Gruppensitzung) 01 TM: und (1.0) es KANN sein dass sie HILfestellung dafür BRAUch(en) 02 dass sie sich dem loch STELLN. 03 P: <<p>mhm.> (2.0) 04 TW: wenn der zweifel SO stark isch 05 → dass=se denken des bringt mich UM; 06 wenn ich des tue. (1.5) 07 P: <<p>mhm> (15.5) In dieser Verwendung ist so immer akzentuierbar. Syntaktisch modifiziert es ein Adjektiv/ Adverb. Semantisch bezieht es sich nicht auf die Art und Wei- Syntax als Prozess 111 se, in der etwas zutrifft, sondern auf den Grad, zu dem das Prädikat zutrifft. So wird hier also nicht modal, sondern skalar verwendet. Hieraus ergibt sich die konsekutive Interpretation. 8 Oft ist die Konstruktion emphatisch, was die Nähe zu der Evaluativkonstruktion ohne Folgesyntagma ausmacht (vgl. Alex aus Big Brother: hatte null bock, also konnten mich SO am arsch lecken). Die Konstruktion kommt in der gesprochenen Sprache häufig vor. (b) Konzessivkonstruktionen: so ADJ/ ADVB es/ das/ der (auch) V: S Semantik: Obwohl die in S ausgedrückte Proposition unter den Bedingungen des Vordersatzes erwartbar ist, trifft sie nicht zu. So ist in diesem Fall immer unbetont. Das Folgesyntagma ist immer satzwertig, es kann jedoch nicht durch dass angeschlossen werden. Diese Konstruktion kommt in meinem mündlichen Material nur einmal vor, allerdings in einer parenthetischen Variante (die Rahmung der Parenthese wird durch er is ... hier für mich die größte Herausforderung hergestellt): (Big Brother) 01 K: er is so blöd das (.) äh KLINGT, oder so .h, 02 aber von diesem (.) ehm (1.2) MENSCHlichen her 03 ↓ ehm; .h 04 wo du wirklich (.) AUStarieren musst und (0.8) und ne geFÜHL haben musst, 05 für eh wo is (.) die richtige weite; (.) 06 also wo is (.) der richtige punkt oder so? 07 .h (.).h (.) ehm 08 HIER für mich die GRÖSSte herausforderung. Die Konstruktion ist im heutigen Deutsch auf ein dem so folgendes Adjektiv oder Adverb beschränkt. Als konzessive Konjunktion (also satzeinleitend), ist die Verwendung von so...(auch) archaisch (so er auch klagte, es wurde ihm nicht geholfen). 8 Die in meinem Corpus nicht belegte Konstruktion mit Infinitiv (sind Sie so freundlich mich am Bahnhof abzuholen? bzw. mit identischer Funktion sind Sie so freundlich und holen mich am Bahnhof ab? ) hat damit nichts zu tun, wie neben der gänzlich anderen Funktion schon die Tatsache zeigt, dass in diesem Fall so nicht betonbar ist. Peter Auer 112 (c) katadeiktischer Verweis auf die Art und Weise eines Zustands, Sachverhalts oder einer Tätigkeit, der/ die im Folgesyntagma formuliert (expliziert) wird: .... V so, dass S Diese Konstruktion entspricht am ehesten der Beschreibung Thurmairs (2001). Sie kommt mit niedriger Frequenz vor. So tritt meist in der syntaktischen Funktion eines Satzglieds auf. Der Anschluss erfolgt immer durch einen dass-Satz. Wenn der Vordersatz überhaupt eine eigene Intonationsphrase bildet, liegt auf so der Fokusakzent (es sei denn, der Negator nicht zieht diesen, wie im folgenden Beispiel, auf sich): (Bewerbungsgespräch, Rollenspiel) 01 B: das kaRAte wird ja (-) .h NICHT so betrieben 02 → dass man (-)seinen partner TRIFFT, ((etc.)) (Big Brother) 01 Sbr: ich bin NICHT so 02 → dass ich=s hinter=m [RÜCken] mache 02 Alx: [gut so] So kann jedoch auch ein Nomen modifizieren und verschmilzt dann mit einer Artikelform. Diese verwandte, aber formal und pragmatisch nicht identische Konstruktion verweist auf einen selbständigen Nachsatz mit koreferentem Subjekt: X i ist son Y → S [Pron i ...] S Das finite Verb ist immer sein, das Folgesyntagma wird als Relativsatz asyndetisch in Hauptsatzform angeschlossen: (Big Brother) 01 Sbr: <<all>ich bin ja auch so=n mensch> 02 → ich verGESS ja NICHTS (.) ne? 03 das=s fUrchtbar (-) In einer Variante wird ich vergess ja nichts durch einen Relativsatz ... der nichts vergisst ersetzt. Hier kann das so fehlen. Schließlich kommt auch die wohl innovativste Variante Syntax als Prozess 113 X i ist n Y → S [Pron i ...] S vor: (Big Brother) 01 Adr: ich muss schon SAGN 02 ich trag GERne äh wäh äh (-) schöne KLEIdung .h (-) 03 aber oftmals ist mir das was mir [geFÄLLT einfach zu äh ] 04 Jrg: [warum MACHST=es dann nicht. ] 05 Adr: es ist (-) mir einfach zu TEUer. (0.75) 06 also=es kann ich mir dann nich das kann ich mir nicht [LEISten; 07 Jrg: [hm=hm 08 → Adr: .h <<all>aber ich BIN auch n=mensch → ich> kann in JEANS rumlaufen (-) 09 mit SWEATshirt, Die Pragmatik der Konstruktion (c) besteht darin, eine einfache Äußerung in zwei syntaktische, semantisch-pragmatische und teils auch prosodische Komponenten zu zerlegen. Die rhematische Komponente wird abgespalten und als soziale Typisierung ausformuliert; das Relevanzzentrum und oft auch das prosodische Zentrum liegen im Nachsatz. Auf diese Weise dient die Konstruktion der (Selbst-)Positionierung einer Person, in der Regel des Sprechers bzw. der Sprecherin. (d) Klassisches korrelierendes so mit wie als Einleitung des Folgesyntagmas kommt ebenfalls nur mit geringer Frequenz vor. Hier wird im Folgesyntagma ein Vergleich mit der durch so indizierten Eigenschaft ausgedrückt (er ist so (dumm), wie du ihn mir beschrieben hast). (psychotherapeutisches Gruppengespräch, eine der Klientinnen richtet sich an eine andere) 01 M: d̉ du beLEHRST hier grad ALle; 02 =dass es eigentlich SO is, 03 → <<schneller> wie DU des denkst.=> 04 und d gIbst eigentlich KEInem andern ne CHANCE, Peter Auer 114 Der Vordersatz kann auf das Adverb reduziert werden: (psychotherapeutische Gruppensitzung) 01 U: des war (da) immer so n ZWANG 02 wo i no=it net net RAUSkonnt 03 aso selber nix entSCHEI: dn und selber net .hh 04 (1.0) 05 immer so → wie die ANdren halt wolln. 06 au(ch) mit Andren net nur mit mein Eltern; Dieses eigenschaftenkorrelierende so kann auch als Modifikator eines Adverbs oder Adjektivs auftreten, so dass das allgemeine Konstruktionsschema (X V) SO (Adj/ Advb) wie S ist. (e) Sehr häufig ist so als Quotativ-Partikel, die eine oder mehrere nachfolgende, asyndetisch angeschlossene Turnkonstruktionseinheiten (die Redewiedergabe) projiziert. Der Vordersatz enthält in dieser Konstruktion oft kein Verbum dicendi, sondern lediglich ein Personalpronomen der 1. oder 3. Person (vgl. Golato 2000): (Big Brother, Erzählungen vom ‘ersten Mal’) 01 Man: LIEGST einfach nur schön; = ja, 02 und dann MEINte er im ERNST, (--) 03 warte mal. ich kann ja mal kurz 04 al(so)= seinen besten FREUND (-) ehm 05 ich ruf den kurz AN,= dass er uns kondome bring(h)t; 06 Ker: ((lacht)) (-) 07 Man: und ICH [so 08 Alx: [((lacht)) 09 Ker: [((lacht)) 10 → Man: [WIE: bitte: ] 11 Alx: [((lacht) ] 12 Ker: [((lacht))] 13 Man: dann meint ich so= 14 → nee. (--) Syntax als Prozess 115 15 → das meinste jetzt nicht ERNST; = ja, .h 16 ja DOCH, der WOHNT ja gleich in=ner straße WEI: ter 17 das geht ja SCHNELL und so; .h 18 ich so 19 → NEIN; des kannst=e verGESsen. .h 20 dann ist der WIRKlich raus gegangen, (--) zum telefoNIEren 21 in dEm moment hab ICH mich schon wieder ANgezogen, (1) 22 ja der ist gleich DA; (-) 23 ich so 24 → nee s=kannste ECHT vergEssen. (--) 25 WILL ich nicht Auch diese Konstruktion hat nur noch wenig mit der allgemeinen Beschreibung von so als deiktischem Adverb zu tun, das auf Eigenschaften oder „Aspekte“ verweist. Es ist immer unakzentuiert (f) es ist so, (dass) S Bei weitem am häufigsten ist jedoch ein anderer Typ von katadeiktischem so. So verweist hier auf einen folgenden Komplementsatz, der durch dass eingeführt werden kann, aber nicht muss. Es ist immer akzentuiert. Das syntaktische Format des Vordersatzes ist stark formelhaft, d.h. es kommt nur als es KOPULA so vor. Zunächst zwei Beispiele ohne dass-Anschluss: (Telefonat) 01 A: <<nach hinten zu Theo> theo geht der thomas zum WEINfest? > 02 (2.5) 03 B: weiß ers NEDde? = 04 A: =der theo meint er glaubt es NICHT bei dem wetter. 05 B: bei dem WETter 06 weil bei UNS isches SO : 07 → (-) wir ham doch n SCHIFFSnachbar.(-) 08 → und der hat uns jetzt beSTIMMT schon das ZEHNtemal zum ESsen eingeladen; Peter Auer 116 09 → [und IMmer hatten wir was ANdres vor; 10 A: [mHM 11 → B: jetz ham mir gsa(gd) mir gehn heut Abend mit DEM ä: (-) nach BEburg. (Telefonberatung in einer Radiosendung, A = Anruferin, B = Therapeutin; die Anruferin hat sich darüber beklagt, von ihrer Umwelt nicht ausreichend wahrgenommen und gewürdigt zu werden) 01 B unserem geSPRÄCH jetzt hier= 02 des dauert vielleicht jetzt so 03 fünf miNUten ungefähr 04 [hh ham sie ] doch AUCH das gefühl 05 A [ja wir (wa)] 06 B h dass ich sie nicht Ausreichend zu KENNTnis genommen habe; (-) 07 A ich ähm: : 08 (1.5) 09 wis[sen sie] 10 B [dass: ] zwischen uns das GLEIChe passiert ist; = 11 A =ja: , ja: , schon: auch weil ich ähm des äh ’ 12 na des kann ich ihnen jetzt nicht sagen was ich jetzt denke= 13 des möcht ich auch nicht unbedingt 14 aussprechen- [.hh 15 B [mhm,= 16 =aber es könnte genAu das GLEIChe sein was ihnen sonst h mit der Umwelt AUCH passiert; 17 A ja: wissen sie es ist einfach SO : , 18 → ich hab diese GRUNDsätzliche erFAHrung → hier gemacht (-) 19 ä: hm: tut mir leid wenn ich jetzt dieses wort HIER sagen muss= 20 =also damit meine ich diese geSELlschaft hier 21 → .hhh dass äh: die pluralität MEHR gilt → als: der EINzelne mensch; ((etc.)) Syntax als Prozess 117 Hier einige Beispiele für dieselbe Konstruktion mit dass-Anschluss: (Rollenspiel Bewerbungsgespräch; der Bewerber ist nach seinen Erfahrungen im Zertifizierungswesen gefragt worden) 01 IF: Isosystem (-) [isch ihnen ein beGRIFF. 02 B: [des Isosystem is mir auf jeden fall ein beGRIFF, 03 un ich hAb ja auch in meim ABschreiben geschrieben, 04 .h dass es für mich n NAheliegendes ziel is,= 05 =diesen de ge quu quu EM schein zu machen, [hh ehm 06 IF: [ja, 07 B: es is SO 08 → dass ich über meinen VAter der jahrelang (-) bei der i: be EM, 09 → als qualitätsSICherungsbeauftragter geARbeitet hat h , 10 → jetzt mittlerweile (-) .h selber AUditor is (-) von der dee quu ES, 11 → =also er (-) .h zErtifiziert als EXterner (-) ehm mittelständische u ’ unterNEHmen, 12 → hh hAb ich also (.) über mein vAter (-) EInige informationen über dieses (.) äh über diese Iso neunTAUsend eben AUCH erhalten, ((etc.)) (psychotherapeutische Gruppensitzung) 01 M : un dann DENK ich mir 02 wie ’ wie SOLL ich denn JEmals LEben, 03 wenn sich DES bei mir nich ändert; 04 .h wie SOLLn des SEIN; (0.5) 05 dann kann ich ja überhaupt nich mehr FRÖHlich sein; = 06 =wenn=ch wenn ich SOwas nich mal mehr schAFF, .h 07 wenn ich nich mal normAl LEben kann; Peter Auer 118 08 ((schnieft)) 09 (8.5) 10 TM: t .h dann is=es SO 11 → dass diese SCHEISSwOche, (1.0) 12 M: ((schneuz[t)) 13 TM: → [AU zu ihnen gehört; =mh? (2.0) 14 → so wie diese ANdere.(1.5) 15 → (worin sie: ) (0.5) 16 → und des wär ja n erschter SchRITT, 17 → sich sagn können des ghört au[ch zu mir. (1.5) 18 M: [((schluchzt)) 19 aber warum? 20 ((schluchzt)) Es scheint zunächst, als handele es sich hier nicht um eine eigene Konstruktion, sondern lediglich um einen lexikalisch restringierten Sonderfall des katadeiktischen ‘Grundschemas’ (Typ c). Dagegen spricht aber schon, dass die ‘gefrorene’ Konstruktion (f) wesentlich häufiger vorkommt als die Konstruktion, aus der sie in dieser Sicht ‘abgeleitet’ würde. Dies legt nahe, dass die häufigere Konstruktion als Ganzes gespeichert und prozessiert wird. Darüber hinaus gibt es auch semantische Gründe, Typ (f) nicht unter Typ (c) zu subsummieren. Im Gegensatz zu (etwa) das kaRAte wird ja (-) .h NICHT SO betrieben dass man (-)seinen partner TRIFFT, handelt es sich (etwa) in dann is=es SO dass diese SCHEISSwOche AU zu ihnen gehört aufgrund der semantischen Leere des grammatischen Subjekts (expletives es) und der Kopula (sein) nicht wirklich um eine korrelative Konstruktion: das Folgesyntagma erläutert nicht die Art und Weise, in der das Prädikat des ersten Syntagmas zutrifft. Thema und Rhema werden nicht auf Vordersatz und Nachsatz verteilt, sondern die gesamte Proposition ist im Nachsatz enthalten. Das lässt sich auch daran zeigen, dass nur in der ersten Konstruktion so durch ein explizit und eindeutig modales Adverbiale wie auf diese Weise, dergestalt oder ähnliche ersetzt werden kann. Syntax als Prozess 119 Während also die Semantik der Konstruktion es ist so, (dass) völlig entleert ist, hat sie doch andererseits eine einheitliche interaktive Funktion, die der Konstruktion (c) abgeht. Diese interaktive Funktion betrifft einerseits die Strukturierung des Redebeitrags: oft führt die Floskel komplexe Argumente ein (big packages), die nicht in einer Turnkonstruktionseinheit verpackt werden können und für die sich der Sprecher oder die Sprecherin projektiv das Rederecht sichern. Entsprechend ist die Turnkonstruktionseinheit, die dem es ist so unmittelbar folgt, nicht kohärent mit der dieser vorausgehenden Turnkonstruktionseinheit. Die Einleitung mit der Floskel signalisiert der Rezipientin, dass erst im weiteren Verlauf des Redebeitrags eine solche Kohärenz zu erwarten ist. Andererseits hat die Konstruktion (f) oft auch die Funktion, gesichtsbedrohende Äußerungen zu markieren. Im Telefonat über die Schiffsnachbarn besteht die Gesichtsbedrohung z.B. darin, dass die Anruferin ein schon arrangiertes Treffen mit ‘Thomas’ beim Weinfest für den heutigen Abend zugunsten eines Restaurantbesuchs mit ihrem Schiffsnachbarn absagen möchte. Das Radiotherapiegespräch hat vor dem durch die Floskel eingeleiteten Redebeitrag der Anruferin seinen kritischen Punkt erreicht, an dem die Therapeutin die Anruferin zu einer situierten Stellungnahme zwingt, indem sie deren allgemeine Klage über die Verständnislosigkeit der Welt auf die Therapiesituation selbst bezieht. Die Anruferin sucht dieser Stellungnahme auszuweichen, weil die offenbar zutreffende Antwort (nämlich dass sie auch das gerade laufende Gespräch als Evidenz für ihre Grundthese sieht) der Therapeutin gegenüber massiv gesichtsbedrohend wäre. Im Ausschnitt aus dem Bewerbungsgespräch führt der Bewerber die einschlägigen Kompetenzen seines Vaters im Zertifizierungswesen als Argument ein - ein äußerst riskantes Manöver. Schließlich ist in der Bulimie- Therapiesituation der Therapeut in der kritischen Situation, der Klientin erklären zu müssen, dass ihre psychischen Probleme Teil ihres Lebens bleiben werden. Es gibt Übergangsbeispiele, die zeigen, dass die formale Verfestigung der Konstruktion (Kopula und expletives Pronomen) allein nicht ausreicht, um die Konstruktion (f) von (c) zu unterscheiden, sondern dass dazu auch die genannten interaktiven und semantischen Gesichtspunkte berücksichtigt werden müssen. So handelt es sich im folgenden Ausschnitt zwar formal um eine Variante der gefrorenen Konstruktion es ist so, dass (hier im Konjunktiv II), die überdies der Anforderung an Konstruktion (f) entspricht, die gesamte Proposition in den Nachsatz zu verlagern. Jedoch ist sie weder seman- Peter Auer 120 tisch entleert (was man an der Austauschbarkeit mit einer modalen Vollform wie dergestalt erkennen kann), noch erfüllt sie eine ihrer typischen Funktionen (d.h., es wird kein komplexes Argument und auch keine gesichtsbedrohende Handlung eingeleitet): (Telefonat. Thema: Wetterbedingungen für den Flug mit einem Sportflugzeug) 01 A: ä: (-) du HÖR mal; 02 ich hab mal angerufen (n) ALtenbach,= 03 B: =ja, 04 A: ä: : hsch also s wäre SO 05 dass man rüberfliegen KÖNNte,= Hier wird also trotz formaler Ähnlichkeit mit (f) aus der Semantik und interaktiven Funktion deutlich, dass es sich um eine Instantiierung der Konstruktion (c) handelt. Zusammenfassend lassen sich mindestens die folgenden Konstruktionen (constructions) identifizieren, in denen so ein nachfolgendes satzwertiges Syntagma projiziert: (a) Konsekutivkonstruktion: ... X ist SO Y → (dass) S (b) Konzessivkonstruktion: so ADJ es/ das/ der auch V → S (c) katadeiktische korrelative dass-Konstruktion (Topikalisierung): .... V SO → dass ... S Sonderfall adnominale Verwendung: X i ist son Y → S[Pron i ...]S (d) katadeiktische korrelative wie-Konstruktion: (X V) SO (Adj/ Advb) → wie S (e) Quotativ-Konstruktion: (und) ich/ er so → S (f) es ist so-Konstruktion es ist SO → (dass) S Syntax als Prozess 121 Wie schon angedeutet, unterscheiden sich die einzelnen Konstruktionen sehr stark in ihrer Häufigkeit. Bei weitem am häufigsten sind die Konstruktionen (e) und (f), Konsekutivkonstruktionen (a) kommen weniger häufig vor, die übrigen Konstruktionen selten. Eine Beschreibung im Rahmen der construction grammar impliziert, dass die sechs Konstruktionen einzeln gespeichert und prozessiert werden, auch wenn zwischen ihnen beschreibbare Ähnlichkeiten bestehen. Die Verfügbarkeit einer Vielzahl solcher Konstruktionen ermöglicht es den Gesprächsteilnehmern, mit großer Geschwindigkeit und trotzdem großer Präzision Projektionen aufzubauen und Gestaltschlüsse vorherzusagen. Die hohe Relevanz, die verfestigte Syntaxkonstellationen für die mündliche Interaktion haben, steht nicht im Widerspruch zu der für diese postulierten on-line-Prozessierung und dialogischer Ko-Konstruktion. Im Gegenteil: gerade weil wir ein immenses Arsenal solcher Syntaxkonstellationen (mit der dazu gehörigen semantischen, pragmatischen und prosodischen Information) gespeichert haben, können wir unter den Bedingungen der inkrementellen Syntaxverarbeitung und des turn-taking in der direkten (face-to-face) Interaktionssituation effektiv kommunizieren. 4. Abschließende Bemerkungen In diesem Beitrag wurden drei Merkmale einer Syntaxtheorie dargestellt, die die online-Syntax der gesprochenen Sprache braucht, um deren spezifischen Produktions- und Rezeptionsbedingungen gerecht zu werden. Ausgangspunkt war die spezifische Zeitstruktur der gesprochenen Sprache. Sie erfordert die permanente Bearbeitung von Projektionen syntaktischer Art. Eine Syntax der gesprochenen Sprache muss das Projektionspotenzial syntaktischer Strukturen in die Beschreibung integrieren und die verschiedenen Projektionstypen bewerten. Zum Zweiten muss eine Theorie der Gesprochenen Syntax die interaktive Natur emergenter syntaktischer Strukturen berücksichtigen. Die Äußerungen (turn constructional units) eines Sprechers sind oft nicht autark, sondern von den Äußerungen der vorausgehenden Sprecherin syntaktisch abhängig. Umgekehrt stellen sie selbst Strukturlatenzen zur Verfügung, die nächste Sprecher für die Syntax ihrer Äußerungen nutzen können. Emergente syntaktische Strukturen werden oft kollaborativ hergestellt. Rezipientinnen beeinflussen überdies durch ihre (fehlenden oder produzierten) Rezipientensignale die syntaktische Form der emergenten Äußerung. Peter Auer 122 Zum Dritten wurde für die Integration des Konstruktionsbegriffs der construction grammar in die Syntax der Gesprochenen Sprache argumentiert, weil diese das Funktionieren von Projektionen in der face-to-face-Interaktion besser erklären kann als die üblichen, generalisierteren syntaktischen Beschreibungen. Ich habe in der Diskussion mehrfach auf die kognitiven und interaktiven Aspekte der Prozessierung von on-line-Syntax hingewiesen. In der Tat erscheint es mir kaum denkbar, dass eine adäquate modalitätsspezifische Grammatik des Mündlichen auf einen der beiden Aspekte verzichten könnte. Es gibt wohl auch keinen Grund, warum sie sich widersprechen müssten. Im Gegenteil: bis zum Beweis des Gegenteils erscheint es plausibel, dass unser Denken so funktioniert, dass es mit der fundamentalen Tatsache, dass Sprache ihren Ort in der Interaktion hat, optimal zurecht kommt; wie es auch umgekehrt plausibel ist, dass Interaktionsabläufe so strukturiert werden, dass die Interaktionsteilnehmer sie mit ihrer mitgebrachten kognitiven Ausstattung bewältigen können. 5. Literatur Antinucci, Francesco/ Duranti, Alessandro/ Gebert, Lucana (1979): Relative Clause Structure, Relative Clause Perception, and the Change from SOV to SVO . In: Cognition 7, S. 145-176. Auer, Peter (1990): Einige umgangssprachliche Phänomene der türkischen Syntax und Möglichkeiten ihrer Erklärung aus 'natürlichen' Prinzipien. In: Boretzky, Norbert/ Enninger, Werner/ Stolz, Thomas (Hg.): Spielarten der Natürlichkeit - Spielarten der Ökonomie. Beiträge zum 5. Essener Kolloquium. 2 Bde. 2. Halbbd. Bochum. S. 271-298. Auer, Peter (1996): On the Prosody and Syntax of Turn-Continuations. 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Einleitung: Konstruktionen in der kommunikativen Praxis Seit den 80er-Jahren ist ein gewisses Umdenken in der Sprachwissenschaft zu beobachten. Es zeichnet sich eine zunehmende Tendenz ab, Analysen syntaktischer Verfahren - in letzter Zeit auch semantischer Aspekte - nicht länger auf isolierten, monologischen Sätzen zu gründen, sondern tatsächliche Sprachdaten heranzuziehen. 2 Folglich kommen mehr und mehr Untersuchungen auf, die sprachliche Strukturen, grammatische Konstruktionen und Aspekte der Bedeutungskonstitution im kontextbezogenen Gebrauch, d.h. innerhalb „der lebendigen Praxis der sozialen Kommunikation“ (Vološinov 1929/ 75, S. 127-128), beschreiben. 3 Hierbei wird deutlich, dass sprachliche Strukturen eng mit ihrer emergenten, prozesshaften, kommunikativ-dialogischen Produktion verwoben sind, mit kognitiven Aspekten sowie mit den spezifischen kommunikativen Mustern und Gattungen, in denen sie auftreten und die sie mit konstituieren. Der Forschungsgegenstand einer solchen „an der kommunikativen Praxis orientierten Sprachwissenschaft“ (Günthner 2000; 2003; i. Dr.) zielt nicht länger auf die Re-Konstruktion eines ideali- 1 Ich danke Heiko Hausendorf für seine Kommentare zu diesem Beitrag. 2 Hierzu Günthner (2000; 2003). 3 Vgl. u.a. Auer (1999; 2000), Couper-Kuhlen/ Selting (2001), Deppermann/ Spranz-Fogasy (2002), Ford (1993), Ford/ Wagner (1996), Ford/ Fox/ Thompson (2001), Günthner (2000; 2003), Günthner/ Imo (i. Dr.), Ochs/ Schegloff/ Thompson (1996), Ono/ Thompson (1994), Schlobinski (1997), Schwitalla (1997), Selting/ Couper-Kuhlen (2001). Susanne Günthner 126 sierten, universellen Regelapparates, dessen separate Module aus allen seinen prozessualen, kommunikativ-dialogischen, funktionalen, medialen und soziokulturellen Vernetzungen herausgeschnitten wurden, sondern auf die Analyse sprachlicher Strukturen in ihrer tatsächlichen, sequenziellen, kontextbezogenen und lebensweltlich verankerten Verwendung. 4 Wie schon W. v. Humboldt betonte, ist Sprache keineswegs gleichzusetzen mit der Grammatik und dem Wörterbuch. Letztere stellen - so W. v. Humboldt - lediglich das „todte Gerippe“ der Sprache dar; ihr lebendiger Körper ist vielmehr „die verbundene Rede“. Daher kann auch „das Höchste und Feinste“, was Sprache eigentlich ist, nur im „Acte ihres wirklichen Hervorbringens“, d.h. im Prozess der „verbundenen Rede wahrgenommen oder geahndet werden“ (W. v. Humboldt 1903-36/ 1967, Bd. VII, S. 46). Statt also von Sprache als einem autonomen mentalen Organ auszugehen, das als zeitlich losgelöste Entität unabhängig vom Gebrauch und abgekoppelt von allen soziokulturellen, interaktionalen und kognitiven Aspekten - quasi im Reagenzglas des Labors - zu untersuchen ist, betrachtet der Ansatz der „kommunikativen Praxis“ grammatische Konstruktionen als eingebunden in kommunikative Prozesse der sozialen Interaktion (Günthner 2000; 2003). Dies impliziert zugleich, die Dialogizität und Prozesshaftigkeit der Aktualisierung sprachlicher Strukturen und Konstruktionen im sequenziellen Verlauf des Gesprächs ernst zu nehmen. Unter Konstruktionen verstehe ich in Anlehnung an die construction grammar (Fillmore 1988) sowie deren Anwendung in der Interaktionalen Linguistik (Thompson 2002) unterschiedlich komplexe, konventionalisierte, rekurrente Sequenzen von Formen, die Interagierenden zur Ausführung verschiedener interaktiver Funktionen zur Verfügung stehen. Sprachliche Konstruktionen bilden einen wesentlichen Teil des Inventars an symbolischen Ressourcen, über die Interagierende zur Erzeugung und Interpretation von Bedeutung verfügen (Günthner 2005a). Sie erleichtern insofern die Kommunikation, als sie die Indizierung und Interpretation mehr oder weniger vorbestimmter sprachlicher Muster in halbwegs verlässliche, bekannte und gewohnte Bahnen lenken. Konstruktionen sind somit als Bindeglieder zwischen sedimentierten Strukturen und emergenten Produkten in der konkreten Interaktionssituation zu betrachten. 4 Vgl. die Nähe zu der Forderung nach einer „realistischen Sprachwissenschaft“ (Hartmann 1979; Auer 2003; Günthner 2003). Zur Emergenz grammatischer Funktionen im Diskurs 127 Wenn nun - im Sinne des Ansatzes der „kommunikativen Praxis“ - Sprache, sprachliche Strukturen und Konstruktionen in kommunikative Prozesse eingebunden sind, dort erzeugt, sedimentiert und transformiert werden, so gilt es folglich auch, grammatische Konstruktionen, ihre Verwendungsweisen und Funktionen nicht aus ihrer „natürlichen“ Umgebung herauszuschälen und in dekontextualisierter Form zu studieren, sondern diese in der „kommunikativen Praxis“ der betreffenden Interaktionssituation, im Prozess ihrer Aktualisierung zu untersuchen. 5 Hierbei können einerseits die über längere Zeiträume hinweg sich erstreckenden Prozesse der Sedimentierung und Veränderung sprachlicher Konstruktionen und Strukturen analysiert werden. Denn grammatische Strukturen und Konstruktionen stellen - wie gerade auch die Grammatikalisierungsforschung zeigt - keine stabilen, zeitlosen, jenseits der Sprachverwendung existierenden Entitäten dar, sondern diese sind selbst in der sozialen Interaktion entstanden. Metaphorisch könnte man mit Haspelmath (2002, S. 270) sagen: „Grammatik ist geronnener Diskurs“. Grammatische Strukturen und Konstruktionen unterliegen also einem fortdauernden Wandelprozess und werden durch die konkrete Interaktion kontinuierlich von neuem geschaffen (Haspelmath 2002, S. 284; Günthner 2005b). 6 Zum anderen können grammatische Konstruktionen auch in ihrer aktuellen Realisierung in konkreten Diskurszusammenhängen betrachtet werden: Inwiefern orientieren sich TeilnehmerInnen im konkreten Interaktionsverlauf an sedimentierten Konstruktionstypen und damit an bereits verfestigten Strukturvorgaben? Auch hier treffen wir auf das Spannungsverhältnis von Sedimentierung und Emergenz im Prozess der Interaktion (bzw. sprachlichem Wissen und dessen Konkretisierung; Kompetenz und Performanz). Dabei stellt sich die Frage, wie Konstruktionen, die zum kommunikativen Repertoire der Interagierenden gehören, im sequenziellen Verlauf der Interaktion sowohl zur Produktion als auch zur Interpretation kommunikativer Bedeutung eingesetzt werden. Diese zweite Herangehensweise an die Verwendung grammatischer Konstruktionen und deren Funktionen im Diskurs steht im Zentrum des vorliegenden Beitrags. 5 Vgl. hierzu auch die Konzeption der „Interaktionalen Linguistik“ (Selting/ Couper-Kuhlen 2001) sowie Günther/ Imo (i. Dr.). 6 Vgl. auch Hopper (1991; 1998) zur „Emergenz grammatischer Strukturen“. Susanne Günthner 128 2. wo-Konstruktionen in Alltagsinteraktionen Anhand einer Analyse von wo-Konstruktionen werde ich veranschaulichen, wie grammatische Konstruktionen und deren Funktionen im Prozess der Interaktion aktualisiert werden, und wie Interagierende im Kommunikationsprozess syntaktische Konstruktionen kollaborativ erzeugen. Hierbei geht es nicht etwa um die traditionellen Verwendungen von wo als Frageadverb zur Markierung einer Leerstelle für eine Lokalbestimmung („wo hast du das messer HINgehalten? “) bzw. von wo als Relativadverb, das u.a. eine lokale Beziehung („das haus wo er geBO: RN wurd“) einleiten kann. Auch die Verwendung von wo als Konnektor zur Einleitung eines temporalen Adverbialsatzes („er hat mich dann morgens angeRUFn, wo ich Überhaupt nich mit gerechnet hab; “) wird nur am Rande thematisiert. Vielmehr interessieren hier wo-Konstruktionen, die immer wieder als kausale bzw. konzessive wo- Sätze beschrieben werden. 7 Hierzu sollen einleitend zwei Transkriptausschnitte präsentiert werden. Das erste Beispiel entstammt der Talk Show Vera am Mittag vom 21.7.2003; Thema der Talk Show ist: „Meint mein Partner es wirklich ernst? “ Mandy befürchtet, dass ihr Freund Rüdiger sie gar nicht ernsthaft heiraten will, weil er den Hochzeitstermin immer wieder hinausschiebt: 8 (1) HOCHZEIT 9 01 Vera: ja mandy (.) das KANN ich schon verSTEHen= 02 =dass man da manchmal ins ZWEIfeln kommt; (-) 03 rüdiger (.) wie IST das denn nun, 04 ↑ WILLST du sie HEIraten=oder ↑ NICHT,= 05 =[mal EHR ]lich jetzt- 06 Rü: [ich WILL-] 07 ich WILL sie HEIraten. (-) 08 nur (-) das wird mir jetzt zuviel; → 09 [wo: ] <<all> na wo wir so> im STRESS sind 10 Vera: [a ↑ HA] 11 Rü: mit dem BAU: ; 7 Zur Behandlung dieser wo-Konstruktionen in Grammatiken sowie in der Forschungsliteratur vgl. Pasch (1999) sowie Günthner (2003). 8 Die Transkriptionskonventionen orientieren sich an GAT (hierzu Selting/ Auer et al. 1998). 9 Diesen Ausschnitt verdanke ich Sonja Trede. Zur Emergenz grammatischer Funktionen im Diskurs 129 Der folgende Ausschnitt entstammt einer E-Mail-Nachricht: (2) GENESUNG (E-MAIL) 10 das ist aber freundlich, dass du mir so schnell geantwortet → hast, wo du auch noch krank bist! ich wünsche dir schnelle genesung und freue mich von dir zu hören, wann immer du zeit hast. In beiden Ausschnitten leitet wo einen subordinierten Adverbialsatz ein. In (1) HOCHZEIT handelt es sich um eine „kausale“ wo-Konstruktion: Der durch wo eingeleitete Teilsatz liefert die Begründung, weshalb Rüdiger Mandy jetzt noch nicht heiraten will. In (2) GENESUNG verwendet die E-Mail-Verfasserin wo zur Einleitung einer Konzessivrelation, im Sinne von „wenn man krank ist, antwortet man normalerweise nicht so schnell“. Die Tatsache, dass wo-Konstruktionen sowohl kausale als auch konzessive Verknüpfungen herstellen können, ist zunächst einmal erstaunlich, da Kausalität und Konzessivität traditionell als Oppositionsrelationen betrachtet werden: Konzessivität impliziert die Negation einer möglichen kausalen Relation. 11 Die Fragen, die sich angesichts der Verwendung von wo-Konstruktionen in Alltagsinteraktionen aufdrängen, sind folglich: 1) In welchen Kontexten verwenden Interagierende wo-Konstruktionen zur Herstellung kausaler bzw. konzessiver Relationen? 2) Aufgrund welcher Kontextualisierungsverfahren kommen im Prozess der Interaktion die jeweiligen kausalen bzw. konzessiven Interpretationen zustande? 3) Welche Schlussfolgerungen ergeben sich bezüglich der prozessualen Herstellung interaktionaler Bedeutung? Die vorliegende Analyse von wo-Konstruktionen basiert auf informellen Face-to-face Interaktionen und Telefongesprächen im Familien- und Freundeskreis sowie auf institutionellen Interaktionen (verschiedene Typen von 10 An dieser Stelle möchte ich mich bei Jörg Bücker, Timo Gausling und Markus Thumm für die Bereitstellung von E-Mail-Daten bedanken. 11 Diese Gegensatzrelation kommt u.a. in den Bezeichnungen für Konzessivität als „Inkausativ“, „Gegengrund“, „Antikausativ“ etc. zum Ausdruck (vgl. König 1991 sowie König/ Siemund 2000). Susanne Günthner 130 Beratungsgesprächen), die in den Jahren 1992-2004 in Baden-Württemberg, Brandenburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Thüringen aufgezeichnet wurden. Insgesamt zeigen sich in diesem Material 32 Verwendungsweisen von wo-Konstruktionen, die kausal bzw. konzessiv zu interpretierende Verknüpfungen herstellen. Hinzu kommen noch 12 Beispiele von wo-Konstruktionen aus Gesprächsnotizen und informellen E-Mail-Interaktionen. 2.1 Kausale wo-Konstruktionen Abb. 1: ASTERIX -Beispiel I: Obelix GMBH & CO.KG (1976/ 2002, S. 28) Adverbialsätze gelten im Allgemeinen als bi-direktional; d.h., sie können sowohl vorhergegangene als auch folgende Aussagen modifizieren und daher sowohl dem Hauptsatz vorausgehen (initiale wo-Konstruktionen) als auch ihm folgen (finale wo-Konstruktionen). 12 2.1.1 Initial positionierte kausale wo-Konstruktionen Fritz, Bea und Anna unterhalten sich im Hauseingang eines Studentenwohnheims. Jutta, eine Kommilitonin, kommt dazu: (3) SILVESTERPLANUNG 77 Fritz: ich jedenfalls nich. 78 (2.0) → 79 Jutta: wo ihr grad alle hier steht,(.) 80 was macht ihr eigentlich silVESter? 12 Hierzu Günthner (2005a). Zur Emergenz grammatischer Funktionen im Diskurs 131 Mit dem wo-Teilsatz bezieht sich Jutta auf den aktuellen Gesprächskontext und liefert zugleich den Rahmen bzw. Hintergrund für ihre folgende Fragehandlung: „was macht ihr eigentlich silVESter? “. Initiale wo-Teilsätze sind insofern kohärenzbildend, als sie die diskursive Beziehung der Folgeäußerung zum Kontext verdeutlichen: Sie thematisieren den Grund bzw. den Anlass für die folgende Sprechhandlung. Der im wo- Teilsatz thematisierte Sachverhalt ist meist entweder (wie im Beispiel SIL- VESTERPLANUNG) situativ oder (wie im folgenden Ausschnitt SCHULDIS- KUSSION, in dem die Sprecherin im wo-Teilsatz auf das globale Gesprächsthema Bezug nimmt) kotextuell gegeben: (4) SCHULDISKUSSION 43 Eva: find ich EI: Ntlich auch. 44 (0.5) → 45 Ina: wo wir grad (mal) überseh über 46 EINschulung sprechen, 47 ähm wwie siehst DU des denn (.) 48 (zum) punkt ALter? ((Tassenklirren)) Der wo-Teilsatz trägt auch hier insofern zur diskursiven Orientierung bei, als er die Folgehandlung (d.h. die Frage nach dem Alter) rahmt. Häufig treten initiale wo-Konstruktionen in sequenziellen Kontexten auf, in denen SprecherInnen neue Themen initiieren oder eine thematische Verschiebung durchführen. Mit der wo-Äußerung wird dann der Grund bzw. Anlass für diesen thematischen Sprung expliziert, bzw. der Rahmen geliefert, in dem die Folgehandlung zu verorten ist. 13 Folglich kommen initial positionierte wo-Äußerungen „account“-Handlungen insofern nahe, als auch sie begründen, weshalb der Sprecher eine bestimmte Handlung auf eine gewisse Weise produziert, und somit eine Antwort auf die Frage „why that now? “ liefern. 14 2.1.2 Final positionierte kausale wo-Konstruktionen Der folgende Ausschnitt aus einem Familiengespräch enthält gleich zwei final positionierte wo-Konstruktionen: 13 Vgl. die Nähe dieser initialen wo-Konstruktionen zu initialen faktischen wenn-Sätzen („wenn du das wirklich willst, dann solltest du auch ...“). Hierzu Gohl (2002). 14 Hierzu Heritage (1988). Susanne Günthner 132 (5) DURCHDREHT 88 Anni: hasch des mitkriegt, 89 wo de hermann BRÄUninger schier DURCHdreht 90 hat; → 91 wo ich die KLOI gnomme hab un immer 92 HOCHgschmisse hab; 93 (1.0) 94 << ↑ , acc> du SCHMEISCH se doch an 95 d'DECKe-> 96 << ↑ , acc> du SCHMEISCH se doch an 97 d'DECKe-> Während der wo-Teilsatz in Z. 89 rein temporal zu interpretieren ist (im Sinne von als), ist der in Z. 91 („wo ich die KLOI gnomme hab un immer HOCHgschmisse hab; “) insofern ambig, als er einerseits den Moment, an dem Hermann Bräuniger schier durchgedreht ist, spezifiziert: als Anni „die KLOI (...) HOCHgschmisse“ hat. Zum anderen kann das Hochschmeißen als Ursache für das schiere Durchdrehen interpretiert werden. 15 Dieses Beispiel veranschaulicht somit den Übergang von einer temporalen zu einer kausalen Lesart. Wie auch die Grammatikalisierungsforschung verdeutlicht, ist die Entwicklung verschiedener Funktionen und Bedeutungen von Konjunktionen (temporal > kausal) ein gradueller Prozess. Das vorliegende Transkript verdeutlicht, wie im konkreten Interaktionsverlauf verschiedene, verwandte und überlappende Bedeutungen koexistieren können. In den folgenden final positionierten wo-Konstruktionen tritt die temporale Bedeutung schließlich zugunsten einer kausalen Interpretation zurück. Wir können hier beobachten, wie im Prozess der Interaktion eine bestimmte Bedeutung die „Oberhand“ gewinnt und sich letztendlich durchsetzt. Im Transkriptausschnitt ELA-INA berichtet Ina von einem Bewerbungsgespräch, an dem sie vor kurzem teilgenommen hat und das schlecht gelaufen ist. Sie kritisiert, dass die betreffende Institution 50 KandidatInnen eingeladen hat, obwohl nur 12 Stellen zu besetzen waren: 15 Kausale Inferenzen, die bei zeitlich überlappenden Sachverhalten auftreten, finden sich immer wieder in Zusammenhang mit der Entwicklung von Konnektoren (Abraham 1976; Traugott/ König 1991). In zahlreichen Sprachen existieren Konnektoren, die eine Entwicklung von temporaler zu kausaler Bedeutung durchgemacht haben, d.h., wo sich aus der Konstatierung einer zeitlichen Überlappung eine Grund-Folge-Relation entwickelt hat (z.B. weil, da, since). Zur Entwicklung von Temporalität zu Kausalität bei wo-Konstruktionen vgl. Günthner (2003). Zur Emergenz grammatischer Funktionen im Diskurs 133 (6) ELA-INA 16 55 Ina: daß se dann FÜNFzig für ZWÖLF stellen 56 antanzen lassen. 57 kann man des ja mit (gutachten) und=so 58 wirklich aus(-) sondern. 59 ja.[wer] kommt. 60 Ela: [hm ] 61 Ina: brauchen se nicht fünfzig leute EINladen. 62 al[so ] 63 Ela: [ja.] des stimmt. → 64 Ina: also EH wo mer so wenig geld ham. 65 i find des unGLAUB[lich. ] 66 Ela: [hihi ja] ja. 67 Ina: <<f, ↑> ich find des ↑↓ UN: : GLAUB[LICH Ela.] 68 Ela: [hihihi ] ja 69 hihihi ja hi 70 Ina: dies geld für mich hättet se sich oifach 71 sparen könne. In Z. 61 liefert Ina ihre entrüstete Konklusion, dass die betreffende Institution keine 50 Leute einladen sollte: „brauchen se nicht fünfzig leute EINladen.“ Nachdem keine sofortige Reaktion folgt, fährt Ina fort: Ihr „al[so]“ wird schließlich von Elas zurückhaltender Zustimmung überlappt: „[ja.] des stimmt.“. Ina hängt nun einen wo-Teilsatz als „post-completion extension“ (Ford 1993, S. 129) an und liefert mit dem Verweis auf einen evidenten Sachverhalt eine Begründung für ihre affektiv aufgeladene Beschwerde: „also EH wo mer so wenig geld ham.“ (Z. 64). Der inkrementelle wo- Teilsatz mit Verbendstellung wird somit rückwirkend in die vorausgehende bereits abgeschlossene Äußerung integriert. Dies veranschaulicht die Dynamik der Redezugkonstruktion. Das fokussierte „EH“ verstärkt den Evidenzcharakter der Information. Der kausale Bezug zwischen der wo-Äußerung („wo mer so wenig geld ham.“) und der vorausgegangenen Beschwerde („brauchen se nicht fünfzig leute EINladen.“) wird in Z. 70-71 nochmals bestätigt: „dies geld für mich hättet se sich oifach sparen könne.“. Während im Beispiel ELA-INA ein temporaler Bezug zwischen dem wo- Teilsatz und dem dazugehörigen Hauptsatz noch ansatzweise vorhanden ist, ist dieser im folgenden Ausschnitt zugunsten einer rein kausalen Interpretation endgültig verschwunden. 16 Hierzu auch Günthner (2002). Susanne Günthner 134 Kara und Ida unterhalten sich über eine gemeinsame Bekannte, eine allein erziehende Mutter, die ihrem musikalisch sehr begabten Kind keinen Klavierunterricht finanzieren kann: (7) KLAVIERSTUNDEN 87 Kara: verSTEHS net. 88 [ECHT.] 89 Ida: <<f> [aber ] wwie soll=en des gehen,> 90 <<f> wie kann se des MACHE; > (.) → 91 wo se koi: n PFENNig zum umdrehn hat. 92 [<<f> sag mir des mol.>] 93 Kara: [noh aaber do- ] dofür MUSS halt dann au mol- 94 MÜSSet dann au mol ihre ELtern einspringe. Idas affektiv aufgeladener Aussage „<<f> wie kann se des MACHE; > (.)“ folgt zunächst keine Rezipientenreaktion. Bleiben erwartbare Rezipientenreaktionen aus, so tendieren SprecherInnen häufig dazu, Begründungen für vorausgehende Handlungen nachzureichen (Ford 1993, S. 129). Wie in ELA- INA scheint auch hier die mangelnde Reaktion des Gegenübers der Auslöser für die folgende inkrementell ergänzte Begründung - in Form eines wo- Teilsatzes - zu sein. Mit der wo-Äußerung stützt Ida im Nachhinein ihre Entrüstung, indem sie auf den bekannten Sachverhalt verweist, dass die Mutter „koi: n PFENNig zum umdrehn hat.“ (Z. 91). Hier wird deutlich, wie der sequenziell-interaktive Kontext den Prozess sprachlicher Konstruktionsbildung bestimmt: Die (mangelnde) Rezipientenreaktion führt zum inkrementellen Ausbau einer Konstruktion. Eine sprachlich komplexe Struktur wird hier im zeitlichen Nacheinander interaktiv organisiert. Doch stützen SprecherInnen ihre Bewertungen und Meinungen nicht nur dann mit einer durch wo eingeleiteten Begründung, wenn eine erwartbare Reaktion des Gegenübers ausbleibt, sondern auch in Fällen, in denen eine affektiv aufgeladene Sequenz erweitert oder gar gesteigert werden soll. Im folgenden Ausschnitt empören sich Ute und Vera gemeinsam über die Tatsache, dass die lokale Grundschule keine adäquate Kinderbetreuung anbietet, wenn eine Lehrerin erkrankt: (8) KINDERBETREUUNG 22 Ute: s'GIBTS doch nich. 23 Vera: <<f> unver[SCHÄMT.]> 24 Ute: [ECHT. ] → 25 Vera: wo=s auch noch so ein erLASS gibt, 26 und wir den alle KENNen. Zur Emergenz grammatischer Funktionen im Diskurs 135 Zwischen Vera und Ute entsteht ein „Entrüstungsdialog“ (Günthner 1998). Die überlappend produzierten Entrüstungskundgaben „<<f> unver- [SCHÄMT.]>“ und „[ECHT.]“ bilden jeweils syntaktisch, semantisch und prosodisch abgeschlossene Einheiten. Der in Z. 25 folgende, postpositionierte wo-Teilsatz wird auch hier rückwirkend an die vorausgehende Äußerung angeschlossen und durch die Verbendstellung in diese syntaktisch integriert, und auch im vorliegenden Fall fungiert die inkrementelle wo-Äußerung als nachgeschobene Stütze der vorausgegangenen Bewertung. Mit dem Verweis auf einen „erLASS“, den „alle KENNen.“ untermauert Vera die kollaborative Entrüstung über die mangelnde Betreuung. Im Eingangsbeispiel HOCHZEIT wird ebenfalls mittels einer wo-Konstruktion eine Begründung für die vorausgehende Sprechhandlung nachgereicht: (1) HOCHZEIT 01 Vera: ja mandy (.) das KANN ich schon verSTEHen= 02 =dass man da manchmal ins ZWEIfeln 03 kommt; (-) 04 rüdiger (.) wie IST das denn nun, 05 ↑ WILLST du sie HEIraten=oder ↑ NICHT,= 06 =[mal EHR ]lich jetzt- 07 Rü: [ich WILL-] 08 ich WILL sie HEIraten. (-) 09 nur (-) das wird mir jetzt zuviel; → 10 [wo: ] <<all> na wo wir so> im STRESS sind 11 Vera: [a ↑ HA] 12 Rü: mit dem BAU: ; Hier liefert der Sprecher (Rüdiger) mittels einer wo-Konstruktion eine Begründung für die vorausgehende, heikle Aussage, dass er die Hochzeit - entgegen ursprünglicher Planung - verschieben will, und verweist auf die den Interagierenden bekannte Tatsache, dass er und seine Verlobte mit dem Bauen viel Stress haben. Die Transkriptausschnitte ELA-INA, KLAVIERSTUNDEN, KINDERBETREU- UNG und HOCHZEIT (ebenso wie das ASTERIX-Beispiel I) veranschaulichen insofern den prozessualen Charakter der interaktiven Verwendung grammatischer Konstruktionen, als hier SprecherInnen mittels Hinzufügens von wo- Teilsätzen an syntaktisch, semantisch und prosodisch bereits abgeschlossene Einheiten, diese als Matrixsätze eines komplexen Satzgefüges reanalysieren. Mit diesen inkrementellen, postpositionierten wo-Äußerungen stützen und Susanne Günthner 136 begründen SprecherInnen ihre vorausgehenden kommunikativen Handlungen. Doch was macht das Nachreichen von Begründungen überhaupt erforderlich? Wie die Datenbeispiele veranschaulichen, handelt es sich bei den vorausgehenden Sprechhandlungen immer wieder um (affektiv aufgeladene) Bewertungen, denen entweder keine erwartbare Rezipientenreaktion folgt (KLAVIERSTUNDEN; ELA-INA), oder die durch zusätzliche Informationen noch weiter ausgebaut werden (KINDERBETREUUNG), bzw. um gesichtsbedrohende, heikle Sprechhandlungen, die eine Begründung - im Sinne eines „accounts“ (Heritage 1988) - erforderlich machen (HOCHZEIT). In allen Fällen liefern die wo-Äußerungen durch den Verweis auf evidente bzw. vertraute Tatsachen Legitimationen für die vorausgehenden Handlungen: In HOCHZEIT thematisiert der Sprecher den bereits zuvor erwähnten, stressigen „Hausbau“, in ELA-INA referiert Ina auf die allgemein bekannte Tatsache, dass der Staat kein Geld hat, in KLAVIERSTUNDEN ist die Information, dass „se koi: n PFENNig zum umdrehn hat.“, eine den Teilnehmenden bekannte Information, und in KINDERBETREUUNG expliziert Anni, dass es „so ein erLASS gibt, und wir den alle KENNen.“. Im ASTERIX-Beispiel I legitimiert Methusalix seine Verwunderung („Unglaublich! “) durch den Hinweis auf die Tatsache, dass seine Frau „noch nie einen anderen Mann“ außer ihm „angesehen hat“. Hier wird ersichtlich, wie sequenzielle Strukturen (im Sinne konditionell relevanter Turnabfolgen), die als „Nacheinander in der Zeit“ konzeptualisiert sind, die Instantiierung grammatischer Konstruktionen mit prägen; d.h., die interaktive Emergenz bestimmter Konstruktionen kann durch konditionelle Erwartungen ausgelöst werden. Mit dem Verweis auf evidente, nicht fragliche Sachverhalte wird die vorausgehende (u.U. kritische, gesichtsbedrohende bzw. affektiv aufgeladene) Handlung als berechtigt und angemessen präsentiert. Bislang wurden lediglich wo-Konstruktionen vorgestellt, die von einem einzelnen Sprecher produziert wurden. In Alltagsinteraktionen werden wo- Konstruktionen aber auch als kollaborative Konstruktionen von mehreren Interagierenden produziert (Günthner 2005a). Der folgende Ausschnitt, in dem sich Kollegen vor Beginn eines Seminars über Bushs Irakpolitik unterhalten, verdeutlicht, wie Interagierende sich aktiv an der gemeinsamen Realisierung grammatischer Konstruktionen beteiligen: Zur Emergenz grammatischer Funktionen im Diskurs 137 (9) ACHSE DES BÖSEN 88 Arne: WIR gehören jetzt auch (.) 89 <<lachend> zur achse des BÖ: sen.> 90 (-) → 91 Carl: wo schon der kanzler seine zigarren aus <<f> haVANna> kriegt. 92 alle: HAHAHAHAHAHAHAHAHAHAHA Nachdem Arne lachend erklärt hat, dass Bush seit neuestem auch Deutschland zur „achse des BÖ: sen.“ zählt, fügt Carl nach einer kurzen Pause eine wo-Äußerung an: „wo schon der kanzler seine zigarren aus <<f> haVANna> kriegt.“. Durch die Anbindung seines wo-Teilsatzes an den bereits abgeschlossenen Turn des vorherigen Sprechers etabliert sich Carl als „co-teller“ (Ford 1993, S. 124ff.; Günthner 1996) und reanalysiert den vorausgehenden Satz als Matrixsatz für den folgenden subordinierten wo-Teilsatz. Mit seiner wo-Äußerung „wo schon der kanzler seine zigarren aus <<f> haVANna> kriegt.“ liefert Carl einerseits eine Begründung für Bushs Zuordnung Deutschlands zur „Achse des Bösen“; andererseits setzt er damit die bereits etablierte spielerisch-spaßhafte Interaktionsmodalität fort und gibt Bushs Einordnung der Lächerlichkeit preis. Die Reaktion - das gemeinsame Lachen aller Anwesenden - orientiert sich an dieser Modalität und honoriert Carls witzige Bemerkung. Dieses Beispiel einer kollaborativ erzeugten wo-Konstruktion veranschaulicht, wie ein zweiter Sprecher eine semantisch, syntaktisch, prosodisch und pragmatisch komplettierte Äußerung expandieren und damit die ursprüngliche Einheit als Teil einer komplexeren Konstruktion reaktualisieren kann. Die Tatsache, dass kausal zu interpretierende wo-Konstruktionen von zwei Teilnehmenden ko-konstruiert werden, verdeutlicht ferner, dass Interagierende über dieses Konstruktionsschema verfügen und sich im Interaktionsprozess daran orientieren (Ono/ Thompson 1994; Günthner 2005a); darüber hinaus dokumentiert das vorliegende Beispiel den prozessualen, dialogischen Aspekt syntaktischer Konstruktionen. 17 Einige der Grammatiken, die auf die kausale Verwendung von wo eingehen, betonen nun, dass kausales wo stets in Kombination mit der Modalpartikel doch aufzutreten habe (Heidolph et al. 1984, S. 801; Weinrich 2003, S. 763; Zifonun et al. 1997, S. 2299). 17 Hierzu auch Goodwin (1995). Susanne Günthner 138 Die vorliegenden Beispiele sowohl initialer als auch finaler kausaler wo- Konstruktionen verdeutlichen jedoch, dass in der tatsächlichen Sprachpraxis die Modalpartikel doch keineswegs obligatorisches Element kausaler wo- Konstruktionen darstellt: Weder ist doch im Kontext initialer wo- Konstruktionen notwendig: (3) SILVESTERPLANUNG → 79 Jutta: wo ihr grad alle hier steht,(.) (4) SCHULDISKUSSION → 45 Ina: wo wir grad (mal) überseh über EINschulung sprechen, noch in Zusammenhang mit finalen wo-Teilsätzen: (1) HOCHZEIT → 09 Rü: [wo: ] <<all> na wo wir so> im STRESS sind mit dem BAU: ; (5) DURCHDREHT → 90 Anni: wo ich die KLOI gnomme hab un immer HOCHgschmisse hab; (6) ELA-INA → 61 Ina: also EH wo mer so wenig geld ham. (7) KLAVIERSTUNDEN → 91 Ida: wo se koi: n PFENNig zum umdrehn hat. (8) KINDERBETREUUNG → 25 Vera: wo=s auch noch so ein erLASS gibt, und wir den alle KENNen. (9) ACHSE DES BÖSEN → 91 Carl: wo schon der kanzler seine zigarren aus <<f> haVANna> kriegt. ASTERIX-Beispiel I: → Methusalix: Unglaublich! Wo sie noch nie einen anderen Mann außer mir angesehen hat... Die Modalpartikel doch wird im vorliegenden Datenmaterial primär in E-Mail-Texten verwendet, wie im folgenden Beispiel: Zur Emergenz grammatischer Funktionen im Diskurs 139 (10) SCHOKI (E-MAIL) Nana, dass gegen Dich jemand integriert <mann, bin ich heut wieder witzisch>, das kann man sich ja kaum vorstellen, → wo Du doch so a Nette bist. ; -) Naja, however, wie sähe es denn aus wenn ich Donnerstag Nachmittag oder Freitag Lust auf Café und oder Schoki kriegen würde? ? ? Auch hier stützt der Verfasser seine Einschätzung „dass gegen Dich jemand integriert (...), das kann man sich ja kaum vorstellen,“ mittels eines durch wo eingeleiteten Verweises auf einen scheinbar evidenten Sachverhalt „wo Du doch so a Nette bist.“. Die Tatsache, dass die Modalpartikel doch primär und gehäuft in schriftlich fixierten Daten vorkommt, könnte u.U. mit dem Wegfall prosodischer Kontextualisierungshinweise in diesen Texten zusammenhängen, 18 und es könnte zugleich erklären, weshalb Grammatiken und linguistische Abhandlungen, die primär auf schriftsprachlichen Texten basieren, die Verwendung von doch bei kausalen wo-Konstruktionen als „obligatorisch“ postulieren. 19 Die Analyse des vorliegenden Gebrauchs von wo-Äußerungen verdeutlicht, dass SprecherInnen sowohl mittels initialer als auch postpositionierter wo- Konstruktionen auf evidente, nicht fragliche bzw. gegebene Tatbestände verweisen, die die folgende bzw. vorausgehende Handlung legitimieren. Während im vorliegenden Datenmaterial initiale wo-Konstruktionen zur diskursiven Orientierung beitragen, indem sie den Rahmen bzw. Hintergrund für die Folgeäußerung liefern, setzen SprecherInnen final positionierte wo- Konstruktionen zur Begründung für vorausgehende, häufig affektiv aufgeladene Bewertungen, Konklusionen, Beschwerden, Ratschläge, Fragen etc. ein. Zugleich wird gerade an den postpositionierten wo-Teilsätzen der dialo- 18 Auch in Texten sekundärer Mündlichkeit (d.h. in konstruierten Dialogen) werden kausale wo-Konstruktionen meist in Kombination mit der Modalpartikel doch verwendet, wie im folgenden Beispiel aus Ein Sams für Martin Taschenbier (Maar 1996/ 2000, S. 24). Martin und sein Freund Roland rätseln über den Taucheranzug auf dem Dachboden: „‘Verstehst du's nicht: Wie kann denn meine Mutter einen zwanzigjährigen Sohn haben, wo sie doch gerade ein paar Jahre älter als dreißig ist! ’, sagte Martin“. 19 Vgl. auch Oppenrieder (1989, S. 203), der ausführt, dass „nicht lokale“ wo-Sätze „fast immer die Modalpartikel doch enthalten“. Allerdings basieren auch seine Belege auf schriftsprachlichen Texten bzw. auf an der Schriftsprache orientierten, konstruierten Beispielsätzen. Susanne Günthner 140 gische und prozesshafte Charakter der Aktualisierung dieser Konstruktionen ersichtlich: SprecherInnen expandieren bereits abgeschlossene (eigene oder fremde) Äußerungen, indem sie (häufig in Abhängigkeit vom Rezipientenverhalten) weitere Informationen nachreichen, die die vorausgehenden Äußerungen stützen. 2.2 Konzessive wo-Konstruktionen Abb. 2: ASTERIX-Beispiel II: Der Kampf der Häuptlinge (1966/ 2001, S. 13) Neben kausal zu interpretierenden wo-Konstruktionen finden sich im vorliegenden Datenmaterial auch zahlreiche Fälle, in denen die wo-Konstruktion eine zur kausalen Interpretation in Opposition stehende Lesart nahe legt, nämlich eine konzessive. 2.2.1 Initial positionierte konzessive wo-Konstruktionen Im Gegensatz zu Aussagen einiger Grammatiken können konzessive wo- Teilsätze durchaus auch in initialer Position stehen, wie das folgende Beispiel zeigt: (11) REGNEN (Hörbeleg) 20 → 1 Ulla: jetzt wo=s REGnet (.) gehsch du LO: s! Mit der jetzt wo-Konstruktion konstatiert die Sprecherin im Sinne einer Konzessivrelation, dass die beiden Sachverhalte („es regnet“ und „du gehst los“), die im vorliegenden Fall zusammentreffen, normalerweise nicht kompatibel sind. König (1991) beschreibt die dem Konzessivverhältnis zugrunde liegende Dissonanz folgendermaßen: „wenn ‘p’, dann normalerweise - ‘q’“. 20 Hierzu auch Günthner (2002). Zur Emergenz grammatischer Funktionen im Diskurs 141 Bezogen auf das vorliegende Beispiel lässt sich das darin auftretende Konzessivverhältnis umformulieren als: „Wenn es regnet, geht man normalerweise nicht los“. Zugleich schimmert im Beispiel REGNEN noch die temporale Bedeutung durch, im Sinne von „just zu dem Zeitpunkt, zu dem es regnet, gehst du los“, auch wenn der Kontrast zwischen den Sachverhalten pragmatisch relevanter ist als deren zeitliche Überlappung. 21 Die im Vorfeld positionierte jetzt wo- Konstruktion wäre hier relativ problemlos durch eine konzessive obwohl-Konstruktion zu ersetzen: „obwohl es jetzt regnet, gehst du los“. Was die vorliegende wo-Konstruktion allerdings mit den initial positionierten kausalen wo-Konstruktionen verbindet, ist, dass im wo-Teilsatz der Rahmen bzw. Hintergrund für die folgende Handlung (das Erstaunen) geliefert wird, und dass auf einen situativ gegebenen Sachverhalt („es regnet“) Bezug genommen wird. 2.2.2 Final positionierte konzessive wo-Konstruktionen Zwei Beispiele für final positionierte, konzessive wo-Teilsätze wurden bereits angeführt: (2) GENESUNG (E-MAIL) das ist aber freundlich, dass du mir so schnell geantwortet → hast, wo du auch noch krank bist! ich wünsche dir schnelle genesung und freue mich von dir zu hören, wann immer du zeit hast. In dieser Mail bringt die Verfasserin ihre Dankbarkeit und zugleich Überraschung darüber zum Ausdruck, dass ihre Kollegin ihr trotz der Krankheit so schnell geantwortet hat. Sie präsentiert zwei Sachverhalte („krank sein“ und „schnell antworten“) als zusammen auftretend, die normalerweise „inkompatibel“ sind: „Wenn man krank ist, antwortet man normalerweise nicht so schnell“. Der Überraschungsmoment wird durch die Partikelkombination „auch noch“ sowie das Exklamationszeichen „! “ kontextualisiert. Auch im ASTERIX-Beispiel II („Kampf der Häuptlinge“) findet sich eine konzessiv zu interpretierende wo-Konstruktion: „Er sieht einen Dicken, wo's hier doch gar keinen gibt! “ Mit der wo-Konstruktion konstatiert Obelix, „daß 21 Ferner ist hier auch noch die Nähe zum Relativadverb wo erkennbar. Susanne Günthner 142 zwischen zwei Sachverhalten ein Verhältnis besteht, wie es ‘normalerweise’ oder ‘natürlicherweise’ gerade nicht besteht“ (Eisenberg 1999, S. 327); d.h. „wenn es keinen Dicken gibt, dann sieht man normalerweise auch keinen Dicken“. Aber auch in mündlichen Interaktionen verwenden SprecherInnen konzessiv zu interpretierende finale wo-Konstruktionen. Der folgende Transkriptausschnitt, der einem Gespräch unter StudentInnen entstammt, enthält ebenfalls einen postpositionierten, konzessiv zu interpretierenden wo-Teilsatz. Ulla, Meike und Lars unterhalten sich über das anstehende Examen. Meike berichtet, dass sie eine Kommilitonin momentan ständig „GANZ FLEIßig“ in der Bibliothek sieht: (12) EXAMENSSTRESS 22 O6 Meike: die ist schon ↑ VOLL am LERnen. 07 Ulla: ↑↓ WOW. 08 Meike: ich seh die da echt JEden tag. 09 (0.5) 10 nur (.) weißt du (.) das ist auch etwas überTRIEben- 11 JETZT schon (.) → 12 wo es noch MO: nate hin ist; 13 äh (.) ist noch etwas TEE da? Meike bringt zunächst ihre Verwunderung über die Kommilitonin, die „schon ↑ VOLL am LERnen.“ ist, zum Ausdruck, woraufhin Ulla verdeutlicht, dass sie diese Verwunderung teilt („ ↑↓ WOW.“). Meike fügt nun als Steigerung hinzu: „ich seh die da echt JEden tag.“. Nachdem auf diese hyperbolische Formulierung keine Rezipientenreaktion erfolgt, liefert Meike eine negative Bewertung dieses Lernverhaltens als „etwas überTRIEben“. Da eine Rezipientenreaktion noch immer ausbleibt, stützt sie ihre negative Bewertung durch die Angabe, dass es „noch MO: nate hin ist; “ (bis zum Examen). Hinsichtlich der sequenziellen Entwicklung dieser Passage sind die Parallelen zu postpositionierten, kausal zu interpretierenden wo-Konstruktionen offensichtlich: Auf affektiv aufgeladene Bewertungen, die von Seiten der GesprächspartnerInnen zweite Bewertungen erwartbar machen (Pomerantz 1984), bleiben Rezipientenreaktionen aus; folglich stützt die Sprecherin ihre Bewertung mittels einer inkrementellen wo-Äußerung, in der sie auf einen evidenten Sachverhalt Bezug nimmt. Der wo-Teilsatz leitet hier eine 22 Diesen Ausschnitt verdanke ich Sonja Trede. Zur Emergenz grammatischer Funktionen im Diskurs 143 konzessiv zu interpretierende Relation ein: Es werden zwei Sachverhalte („ich seh die da echt JEden tag.“ und „es [ist] noch MO: nate hin“) als zusammen auftretend präsentiert, die normalerweise als „inkompatibel“ bzw. „dissonant“ gelten, im Sinne von „wenn es noch Monate hin sind bis zum Examen, dann lernt man normalerweise nicht jeden Tag“. Die Markierung der Dissonanz wird durch die entrüstete Stimme, die zugleich eine Abweichung von den normativen Erwartungen kontextualisiert, untermauert. Konzessiv zu interpretierende wo-Äußerungen treten im vorliegenden Datenmaterial meist im Kontext von Aktivitäten auf, die Überraschung, Vorwürfe, Erstaunen, Entrüstung oder Beschwerden - und folglich Abweichungen von Erwartungen - kommunizieren. Die wo-Äußerung hat hierbei die Funktion, auf einen mit dem Verhalten des Gegenübers bzw. Antagonisten inkompatiblen, evidenten Sachverhalt zu verweisen - im Sinne von „aufgrund der Tatsache, dass“ (wie in GENESUNG darauf, dass das Gegenüber trotz Krankheit „so schnell geantwortet“ hat, bzw. in EXAMENSSTRESS darauf, dass die Kommilitonin „JEden tag.“ in der Bibliothek sitzt, obwohl „es noch MO: nate hin ist; “ bis zum Examen, und im ASTERIX-Beispiel II verweist Obelix auf die Inkompatibilität zwischen Miraculix' Wahrnehmung eines Dicken und der Tatsache, dass es „hier doch gar keinen gibt“). Die folgende Sequenz entstammt einem Radio-Phone-In zum Thema AUS- LÄNDER: (13) AUSLÄNDER (Radio-Phone-In) 23 120 H: wenn ich bei uns im sommer total VERMUMMde 121 (.) h' menschen- (-) 122 h' herUMlaufen sehe, 123 ich habe bewußt MENSCHen gesagt, 124 weil man ja nweil man nischt WEISS, 125 wer daRUNter STECKT, 126 kommt mir der geDANke, 127 mit wemit welschem RESCHT- 128 erLAUBT es ih: nen, 129 so herUM zu laufen; → 130 wo es ja bei uns ein verMUMMungsverbot gibt. 131 P: h' h' hi h' hi 132 H: aber genAU die: se LEUte (.) werden einem 133 mitteloeuroPÄer, 23 Hierzu auch Günthner (2002). Susanne Günthner 144 134 der sisch in ih: rem land SO kleidet wie er 135 es geWOHNT is, 136 vielleischt (.) verHAFten lassen. Der Anrufer zitiert den Gedanken, der ihm kommt, wenn er verschleierte Menschen in der Bundesrepublik sieht: „Mit welchem Recht laufen sie so herum, angesichts der Tatsache, dass es in der Bundesrepublik ein Vermummungsverbot gibt“. Diese (rhetorische) Frage hat insofern ein konzessives Element, als zwei scheinbar inkompatible Sachverhalte als kookkurrierend dargestellt werden: „sie laufen so herum“ und „es gibt ein Vermummungsverbot“; d.h. „wenn es ein Vermummungsverbot gibt, dann laufen die Leute normalerweise nicht verschleiert herum“. Durch die Modalpartikel ja in Z. 130 wird die präsentierte Information als „Teil des gemeinsamen Hintergrundwissens“ dargestellt (Thurmair 1989, S. 104ff.), was auch dadurch untermauert wird, dass die Äußerung prosodisch (in Bezug auf Lautstärke, Tonhöhenschwankungen und Akzentuierung) eher zurückgenommen ist. Auch konzessiv zu interpretierende wo-Konstruktionen können kollaborativ erzeugt werden. Im folgenden Ausschnitt berichtet Sonja von ihrem Zoobesuch und empört sich über den „unverschämt“ hohen Eintrittspreis, der dadurch gerechtfertigt wird, dass man auch das angeschlossene Pferdemuseum besichtigen kann: (14) PFERDEMUSEUM 22 Sonja: und dann solch- 23 <<f> LAUter solch ausgeSTOPFten ferde.> → 24 Uwe: wo=s hier auf jeder WIEse pferde gibt. 25 was soll DAS denn. Sonjas empörte Aussage über die „ausgeSTOPFten ferde.“ wird von Uwe mittels einer ko-indignativen wo-Äußerung expandiert, wodurch er die Entrüstungssequenz dialogisch fortsetzt. Mit dieser kollaborativ produzierten wo-Konstruktion wird somit konstatiert, dass „wenn es auf jeder Wiese Pferde gibt, man normalerweise keine ausgestopften Pferde im Museum braucht“. Die kollaborativ erzeugte wo-Konstruktion verweist auch hier auf den prozessualen, dialogischen Aspekt der Konstruktion syntaktischer Muster: Durch die inkrementelle Ergänzung des zweiten Sprechers wird die vorausgehende (bereits abgeschlossene) Äußerung der ersten Sprecherin rückwirkend als Matrixsatz reinterpretiert. Zur Emergenz grammatischer Funktionen im Diskurs 145 Die vorliegenden Beispiele verdeutlichen, dass - entgegen der Behauptung einiger Grammatiken (vgl. u.a. Weinrich 2003, S. 763) - die Verwendung der Modalpartikel doch auch in konzessiv zu interpretierenden wo-Konstruktionen keineswegs obligatorisch ist: 24 (11) REGNEN (Hörbeleg) → 1 Ulla: jetzt wo=s REGnet (.) gehsch du LO: s! (2) GENESUNG (E-MAIL) → wo du auch noch krank bist! (12) EXAMENSSTRESS → 12 Meike: wo es noch MO: nate hin ist; (13) AUSLÄNDER (Radio-Phone-In) → 129 H: wo es ja bei uns ein verMUMMungsverbot gibt. (14) PFERDEMUSEUM → 24 Uwe: wo=s hier auf jeder WIEse pferde gibt. Wiederum fällt auf, dass die Modalpartikel doch primär in den E-Mail- Texten (sowie im konstruierten ASTERIX-Dialog) verwendet wird: 25 24 Vgl. auch folgendes Beispiel aus Brechts: Mutter Courage und ihre Kinder (1989, S. 20), bei dem eine konzessive wo-Konstruktion ebenfalls ohne doch realisiert wird: „Ins Zelt treten der Feldhauptmann… DER KOCH : → Und dann bringt er sich noch Gäst mit, wo nix da is.“ 25 Bezeichnenderweise tritt auch das konzessive wo in schriftlichen Texten (in Kontexten sekundärer Mündlichkeit) immer wieder in Kombination mit der Modalpartikel doch auf (vgl. hierzu auch ASTERIX -Beispiel II). Das folgende Beispiel aus dem Kinderbuch (Maar: 1996/ 2000, S. 13-14): Ein Sams für Martin Taschenbier zeigt eine solche konzessive Verwendung von wo innerhalb einer Dialogsequenz: Martins Vater berichtet seinem Sohn, dass die Familie Mons mitsamt der Tochter Helga zu Besuch kommt, woraufhin Martin entgegnet, sie könnten Helga ruhig zu Hause lassen. Darauf reagiert der Vater folgendermaßen: „‘Na hör mal, Martin! ’, sagte sein Vater, ‘Wie redest du von Helga. Du hast sie doch immer recht nett gefunden.’ ‘Ist sie ja auch’, sagte Martin, ‘Aber sie ist noch so jung. Außerdem isst sie dauernd Marzipanschweinchen. Wo ich doch kein Marzipan mag! Und immer will sie nur Verstecken spielen, nichts als Verstecken.’“ Im folgenden Ausschnitt aus der deutschen Übersetzung von Astrid Lindgrens Kinderbuch: Michels Unfug Nummer 325 (1986, S. 13) findet sich ein konzessives wo in Kombination mit der Modalpartikel doch innerhalb einer erlebten Rede: „Auch ihre Mama guckte sich das an, aber sie sah kein bisschen vergnügt aus. Warum durfte denn nur sie keine Fliegenfänger haben, wo doch alle anderen Frauen in Lönneberga welche gekauft hatten? “. Susanne Günthner 146 (15) KRANK (E-MAIL) Moin, ich leeeeebe noch, aber nicht besonders. Irgendwie wird → das nicht besser, und das, wo ich doch gestern so brav war! Bin aber trotzdem hier an der Uni, weil ich nicht mehr krank sein will, und arbeite ein wenig. : -)) Konzessive wo-Konstruktionen werden im vorliegenden Datenmaterial vor allem im Umfeld bestimmter kommunikativer Aktivitäten wie Vorwürfen, Beschwerden, erstaunten Nachfragen, Entrüstungen etc. verwendet und somit im Kontext von Sprechhandlungen, in denen bestimmte Verhaltensweisen oder Sachverhalte hinterfragt werden, da sie von den „normalen“ Erwartungen abweichen. Folglich verwundert es auch nicht, dass diskordante wo-Konstruktionen häufig in emphatisch markierten Kontexten verwendet werden und immer wieder zusammen mit einer entrüsteten Stimme, prosodischen Emphasemarkierungen, hyperbolischen Ausdrücken, emotional aufgeladenen Partikeln und Lexemen, Intensivierungsmarkern, Emoticons etc. auftreten. Und auch hier wird in den wo-Teilsätzen auf Evidenzen Bezug genommen, die die vorausgehenden Vorwürfe, Überraschungskundgaben, Beschwerden etc. legitimieren. 2.3 „Hybride“ wo-Konstruktionen Wo-Konstruktionen können also sowohl kausal als auch konzessiv zu interpretierende Relationen einleiten. Folglich stellt sich die Frage: Hat der Konnektor wo selbst kausale bzw. konzessive Bedeutungspotenziale, oder ist die betreffende Interpretation rein emergent und damit nur vom situierten Gebrauch in der Interaktion abhängig? Gibt es gar Fälle, in denen die Interpretationen überlappen? Betrachtet man den Transkriptausschnitt AUSLÄNDER daraufhin nochmals, so erkennt man, dass neben der konzessiven Lesart durchaus auch eine kausale inferierbar ist: (13) AUSLÄNDER (Radio-Phone-In) 125 H: kommt mir der geDANke, 126 mit wemit welschem RESCHT- 127 erLAUBT es ih: nen, 128 so herUM zu laufen; → 129 wo es ja bei uns ein verMUMMungsverbot gibt. Zur Emergenz grammatischer Funktionen im Diskurs 147 Während die konzessive Interpretation auf der scheinbaren Inkompatibilität zwischen dem Verschleiert-Herumlaufen und dem Vermummungsgebot gründet, ist die kausale Interpretation auf der Ebene der Sprechhandlung angesiedelt: Sie liefert den Grund für die empört geäußerte rhetorische Frage, im Sinne von „weil es doch bei uns ein Vermummungsverbot gibt, kommt mir der Gedanke, mit welchem Recht diese Leute es sich erlauben, verschleiert herumzulaufen“. Die beiden Interpretationen beziehen sich somit auf verschiedene Ebenen: Die konzessive Interpretation zielt auf die grundlegende Inkompatibilität der genannten Sachverhalte ab, während sich die kausale Interpretation auf den Grund für die Verwunderung bezieht. 26 Auch das folgende Beispiel verweist darauf, dass die jeweilige Interpretation der wo-Äußerung kontextbezogen zu sehen ist: (16) WIRSING 76 Peter: [( )] 77 Paula: [wa-] warum hast du denn ↑ WIRsing mitgebracht. 78 (-) → 79 wo wir grad gestern A: bend wirsing 80 hat[ten.] 81 Peter: [es ] es GAB kaum noch was anderes (.) an ge[MÜSE.] 82 Paula: [kein ] ↑ BROkkoli. Paulas warum-Äußerung enthält starke Vorwurfsindikatoren (eine vorwurfsvolle Stimme 27 sowie die Modalpartikel denn) und signalisiert ein Erwartungsproblem in Zusammenhang mit Peters Handlung: Sein Mitbringen von Wirsing wird als deviant und konträr zu normalen Erwartungen eingestuft. 26 Im folgenden Beispiel (aus dem Datenkorpus des IDS) liegt ein vergleichbarer Fall vor, bei dem die wo-Konstruktion sowohl konzessiv als auch kausal zu interpretieren ist: PFE/ BRD .go23, Regensburg → Erzählen Sie uns also einmal, wie kommen Sie mit Ihrem großen Haushalt, wo Sie doch kein Hauspersonal haben, bei der heutigen Zeit zurande? Die konzessive Lesart legt eine Inkompatibilität zwischen den beiden Sachverhalten („Sie kommen mit Ihrem großen Haushalt in der heutigen Zeit zurande“ und „Sie haben kein Hauspersonal“) nahe und impliziert damit, „wenn man kein Hauspersonal hat, dann kommt man normalerweise nicht mit einem großen Haushalt zurande“. Bei der kausalen Lesart ist die Begründungsrelation auf der Sprechhandlungsebene angesiedelt: Der wo-Teilsatz liefert den Grund, weshalb sich der Sprecher wundert und folglich die Rezipientin zum Erzählen auffordert. 27 Zur prosodischen Kontextualisierung einer vorwurfsvollen Stimme vgl. Günthner (2000). Susanne Günthner 148 Nach Ausbleiben einer Reaktion (im Sinne einer Erklärung) von Peter produziert Paula in Z. 79 eine inkrementelle wo-Äußerung, die einerseits als Grund für ihre vorausgehende, entrüstete Nachfrage, und damit für den Vorwurf, zu interpretieren ist; zum anderen steht der als evident präsentierte Sachverhalt (sie hatten gestern Abend bereits Wirsing) in einer scheinbaren Inkompatibilitätsbeziehung zu Peters Verhalten, im Sinne von „wenn es gestern Abend bereits Wirsing gab, kauft man normalerweise nicht am folgenden Tag nochmals Wirsing“. Der Konnektor wo selbst scheint also weder eine kodierte kausale noch eine konzessive Bedeutung zu haben, 28 sondern er wird verwendet, um evidentes Material anzuführen, das als Stütze für die vorausgehende Handlung fungieren kann, im Sinne von „angesichts der Tatsache, dass...“. Sofern die Relation zwischen der vorausgehenden Handlung und dem im wo-Teilsatz präsentierten Sachverhalt als dissonant und somit als „normalen Erwartungen“ widersprechend präsentiert wird, erhält die wo-Äußerung eine konzessive Lesart. Auch im Falle „hybrider Relationszuordnungen“ finden sich kollaborativ produzierte wo-Konstruktionen. Im folgenden Ausschnitt unterhalten sich Anna und Otto über einen Deutschkurs für ausländische Studierende. Anna drückt ihren Ärger darüber aus, dass die Lehrerin einfach den Deutschkurs verlegt hat, ohne die TeilnehmerInnen zu fragen: (17)DEUTSCHKURS 34 Anna: und verschie: bt einfach den U: Nterricht. 35 hm. 36 UN.VER.SCHÄ: MT. → 37 Otto: wo die leut noch dafür beZAHLen. 38 s=das ist un ↑↑ GLAUBlich. Nachdem Anna ihre Entrüstung über die Verschiebung des Deutschkurses zum Ausdruck gebracht hat, fügt Otto den wo-Teilsatz an: „wo die leut noch dafür beZAHLen.“ und konstituiert sich damit als Ko-Produzent der komplexen Konstruktion. Indem er thematisiert, dass die TeilnehmerInnen für den Deutschkurs bezahlen, liefert er einen weiteren, gewichtigen Grund für das „unverschämte“ und „unglaubliche“ Verhalten der Deutschlehrerin und stützt damit Annas Entrüstung. Die Information im wo-Teilsatz wird auch hier als Faktum präsentiert. Einerseits könnte der wo-Teilsatz eine konzessive 28 Vgl. hierzu auch Pasch (1999), S. 153ff. Zur Emergenz grammatischer Funktionen im Diskurs 149 Interpretation auslösen, im Sinne von „sie verschiebt ihren Unterricht, ohne dies mit den TeilnehmerInnen abzustimmen, obwohl diese dafür bezahlen“ (was impliziert: „normalerweise ist es der Fall, dass, wenn TeilnehmerInnen für einen Kurs bezahlen, Verschiebungen mit ihnen abgesprochen werden müssen“). Andererseits könnte der wo-Teilsatz aber auch eine kausale Interpretation suggerieren, im Sinne von „es ist deshalb besonders unverschämt, weil die TeilnehmerInnen sogar dafür bezahlen“. Beide Interpretationen treffen sich in der wo-Konstruktion und damit im Hinweis auf die Evidenz eines bestimmten Sachverhalts, im Sinne von „angesichts der Tatsache, dass...“. Zugleich zeigt sich auch hier, dass die komplexe wo-Konstruktion und damit der Matrixsatz „und verschie: bt einfach den U: Nterricht“ mit dem folgenden subordinierten Teilsatz „wo die leut noch dafür beZAHLen.“ keineswegs als abgeschlossene Einheit konzipiert war, sondern die syntaktische Struktur prozessual und dialogisch im Verlauf der Zeit durch eine retrospektive Expansion entstanden ist. Solche Äußerungsexpansionen und die sich daraus ergebenden komplexen Konstruktionen lassen sich aus den Grundbedingungen dialogischer Sprache in ihrer Zeitlichkeit herleiten. 29 Bei sprachlich-kommunikativen Einheiten handelt es sich also nicht etwa um monolithisch produzierte Fakten, die ex post factum als quasi „fertige Produkte“ zu analysieren sind, sondern um prozessual-emergente, dialogische Phänomene, die sich im Verlauf der Zeit - d.h. von Moment zu Moment - entfalten. 3. Konklusion Die vorliegende Analyse verdeutlicht, dass der Konnektor wo zwar ein bestimmtes Verknüpfungspotential hat, doch eine kausale bzw. konzessive Funktion lässt sich nur im Kontext seiner Verwendung - und damit im Prozess seiner Aktualisierung in der Interaktion - erfassen. Interpretationen von wo-Konstruktionen sind also weniger auf inhärente kausale bzw. konzessive Bedeutungspotenziale von wo zurückzuführen, sondern sie sind eng mit dem Aspekt der Performativität verknüpft: Einerseits liefern prosodische Verfahren, lexikalische Mittel, Modalpartikeln etc. Hinweise auf eine mögliche Lesart des Zusammenhangs der präsentierten Ereignisse (als konkordant bzw. diskordant). Zum anderen legen die Sprechhandlungen, in denen die wo-Konstruktionen auftreten, bestimmte Interpretationen nahe. Darüber hinaus ist aber auch Weltwissen bzgl. der Kompatibilität von bestimmten Sachverhalten für die jeweilige Interpretation relevant. 29 Vgl. hierzu auch Auer (1991). Susanne Günthner 150 Statt kausale von konzessiven wo-Konstruktionen zu separieren, scheint es nahe liegender, die interaktiven Aufgaben von wo-Äußerungen im konkreten Diskurszusammenhang zu studieren: SprecherInnen setzen initiale wo- Konstruktionen zur Rahmung folgender Äußerungen bzw. Handlungen ein. Postpositionierte wo-Konstruktionen werden dann verwendet, wenn aufgrund sequenziell-interaktiver Erfordernisse (beispielsweise bei ausbleibender Rezipientenreaktion) die vorausgehende Äußerung gestützt werden soll. Mittels der inkrementellen wo-Äußerung nimmt die Sprecherin/ der Sprecher Bezug auf Evidenzen. Darüber hinaus wird durch die wo-Konstruktion rückwirkend eine enge Anbindung an die vorausgehende, bereits komplettierte Äußerung hergestellt, indem diese im Nachhinein als Matrixsatz für den folgenden subordinierten Teilsatz reinterpretiert wird. Die Prozesshaftigkeit von Sprache erweist sich somit als eng mit der Dialogizität sprachlicher Handlungen verwoben. Konditionelle Relevanzen und damit Erwartungen bzgl. des zeitlichen Nacheinander von kommunikativen Handlungen prägen die Instantiierung grammatischer Konstruktionen mit. Ferner verweisen auch gerade die kollaborativen Konstruktionen darauf, dass sprachliche Äußerungen, grammatische Konstruktionen und die Herstellung kommunikativer Bedeutungen keineswegs nur als Produkte der Kompetenz eines einzelnen Sprechers zu betrachten sind, sondern als dialogisch ausgerichtete Errungenschaften in der Zeit, die beim Vollzug von Sprechhandlungen während der Interaktion in Erscheinung treten. Auf die permanente Rückkoppelung zwischen Sprecher und Rezipient in der mündlichen Kommunikation hat bereits Philipp Wegener 1885 verwiesen: Ursprünglich wird der Redende erst während des Sprechens bemerken, dass er zur Erklärung gewisse Angaben hinzufügen müsse. Auch kann sich der Redende über das Mass dessen täuschen, was zur Exposition mitzuteilen ist, er kann zu viel geben und damit langweilig werden und als vorsichtiger Pedant erscheinen, er kann zu wenig geben, und unklar werden. Darüber belehrt ihn die Miene des Angeredeten, ist dieser zerstreut bei der Mitteilung und interesselos, so kann der Sprechende daraus einen Schluß auf seine Weitschweifigkeit ziehen, liest er auf dem Gesichte des Angeredeten das Befremden und die Züge des Verständnismangelns, oder hört er geradezu die Frage, so hat er damit den Hinweis erhalten, sich zu corrigieren und nachzuholen, was er übergangen hatte (Wegener 1885, S. 33). Zur Emergenz grammatischer Funktionen im Diskurs 151 4. Literatur Abraham, Werner (1976): Die Rolle von Trugschlüssen in der Diachronie der Satzkonnektoren. In: Pohl, Heinz Dieter/ Salnikow, Nikolai (Hg.): Opuscula Slavica et Linguistica. Klagenfurt. S. 11-72. Auer, Peter (1991): Vom Ende deutscher Sätze. 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(1997): Grammatik der deutschen Sprache. Bd. 1-3. Berlin/ New York. III. Gestik Jürgen Streeck Geste und verstreichende Zeit: Innehalten und Bedeutungswandel der „bietenden Hand“ 1. Was heißt Prozessualität des Gesprächs? Unter Prozessualität des Gesprächs können wir zunächst ganz einfach die Tatsache verstehen, dass Gespräche, wo und wie auch immer sie stattfinden, Geschehen in der Zeit sind: sie entfalten sich von Augenblick zu Augenblick, und jeder der Bausteine oder Einheiten, aus denen sie sich zusammensetzen, hat selbst Ereignischarakter. Anders ausgedrückt: wie sinnvoll und nützlich es auch von Fall zu Fall sein mag, sich bei der Beschreibung primärer kommunikativer Medien (wie z.B. menschlicher Sprachen) einer Dingsprache zu bedienen - so als seien Wörter kleine Gegenstände -, letzten Endes ist für ihre Materialität kennzeichnend, dass sie manifeste Realität nur während der kurzen Zeit ihrer Produktion besitzen und nur in sekundären Repräsentationen (z.B. Erinnerungen oder Protokollen) überdauern. Selbst wenn Teile des kommunikativen Geschehens dingliche und dauerhafte Form annehmen - wie Wörter in Briefen oder e-mail-messages - so ist die Verständigung doch auch hier ein Geschehen in der Zeit: Wir können in diesem Zusammenhang von der Zeitlichkeit kommunikativer Formen (Einheiten) sprechen. Man kann diesen Aspekt der Prozessualität kommunikativer Einheiten als Folge ihrer materialen Formeigenschaften auffassen: da menschliche Kommunikation in erster Linie aus Muskelbewegungen (und ihren hörbaren und sichtbaren Folgen) besteht, die in der Gegenwart ihrer Adressaten ausgeführt werden, muss offenbar die Dauer dieser Bewegungen - ihr Werden, ihre Entwicklung zum Abschluss, ihre Antizipierbarkeit - notwendig im Mittelpunkt der prozessualen Struktur und Organisation des Gesprächs stehen. Produktion und Rezeption - und damit der interaktive Prozess - sind von den „affordances and constraints“ (Gibson 1986) des materialen Mediums abhängig. Doch gehört zu diesen „affordances“ gerade die Gestaltbarkeit der Dauer selbst: Vokale (und damit Wörter, Phrasen, Sätze, Turns) lassen sich dehnen; syntaktische Konstruktionen lassen sich expandieren, Turns in Reparaturmaßnahmen unterbrechen, wiederholen, umgestalten, und Gesten verlangsamen, beschleunigen oder einfrieren - und dies alles mehr oder weniger Jürgen Streeck 158 jederzeit, ad hoc, so wie es der gegenwärtige Augenblick verlangt. Allerdings muss man, was Gesten - und Körperbewegungen ganz allgemein - anbetrifft, zwischen „ballistischen“ und „modifizierbaren“ unterscheiden: „ballistisch“ werden solche Bewegungen genannt, die, wenn sie einmal in Gang gesetzt sind, nicht mehr modifiziert werden können (Phillips 1986). Ebenso wichtig wie die materiale Zeitlichkeit oder „innere Dauer“ kommunikativer Formen, aber schwieriger darzustellen, ist deshalb, was man ihre „interaktive Zeitlichkeit“ nennen könnte, was aber auch mit dem Begriff „soziale Gegenwart“ umschrieben werden könnte, nämlich die Tatsache, dass sie in ihrer Dauer und Entfaltung dem Zugriff aller Interagierenden zugänglich sind, die mit ihren eigenen gleichzeitigen Beiträgen (z.B einem Gesichtsausdruck oder einer leisen Missfallenskundgebung), aber auch mit deren Verweigerung, die entstehende Struktur ebenso wie die Bedeutung einer kommunikativen Einheit beeinflussen können: das Ausbleiben einer Hörerreaktion an einer Stelle, wo diese zu erwarten ist, kann etwa Reformulierungen (oder syntaktische Expansionen: vgl. dazu den Beitrag von Günthner i.d. Bd.) nach sich ziehen. Ein dritter Aspekt der Zeitlichkeit des Gesprächs sind die zeitlichen Koordinationen zwischen verschiedenen Modalitäten, z.B. die Platzierung einer Geste im Hinblick auf die sich entfaltende Struktur einer gleichzeitigen sprachlichen Äußerung oder die Koordination der Blickrichtung des Zuhörers mit der Geste eines Sprechers. 2. Pragmatische Gesten In diesem Beitrag will ich mich mit Varianten eines Typs von Handgeste befassen, die ich hier vorläufig als Geste des Bietens bezeichnen will. Es sind dies einfache einhändige oder zweihändige Gesten, die in einer offenen Hand enden, wobei die Handfläche nach oben weist. Der Bewegungsablauf kann sehr unterschiedlich sein, je nachdem, in welcher Stellung die Hand sich gerade befindet: z.B. ein Nach-Oben-Drehen der Hand im Handgelenk oder eine Bewegung der Unterarme nach unten oder beides zusammen. Entscheidend ist allein die Handkonfiguration, die Müller einfach und zutreffend als „palm up/ open hand“ beschreibt (Müller 2003). Kendon (2004) beschreibt die Geste (bzw. ihre Varianten) als Mitglieder einer Gestenfamilie. Diese Geste oder Gestenfamilie könnte durchaus die häufigste redebegleitende Form von Gestik überhaupt sein, und zwar nicht nur in unserem euro- Geste und verstreichende Zeit 159 päisch-angloamerikanischen Kulturraum. Ich nenne sie aufgrund ihrer Bewegungsform und Handkonfiguration Geste des Bietens: mit ihr bietet man unter anderem Gegenstände, die sich in der Nähe befinden (u.a. Essbares), dem Gegenüber an. Die Geste des Bietens gehört zu einer funktionalen Klasse von Handgesten, die ich pragmatische Gesten nenne. Andere haben sie rhetorische oder interaktive Gesten genannt (Bavelas/ Chovil et al. 1992). Hierbei handelt es sich um Gesten, die weder etwas beschreiben (wie ikonisch-deskriptive Gesten) noch auf etwas deuten (wie Zeigegesten), sondern im weitesten Sinne Aspekte kommunikativen Handelns verkörpern. Dies kann die illokutive Rolle einer Äußerung oder ihre intendierte Struktur (z.B. die einer Liste), eine Rollenzuweisung an den Adressaten, aber auch eine propositional attitude des Sprechers sein (Streeck/ Hartge 1992; Kendon 1995). Pragmatisch-interaktivrhetorische Gesten sind seit der Antike Objekte präziser Beobachtung und Beschreibung, aber auch sozialer Normierung gewesen. Sie standen etwa im Mittelpunkt von Quintilian's normativer Theorie redebegleitender Gestik, als die Spielart, die - anders als ikonische oder pantomimische Gestik, welche nur dem Schauspieler zukommt - in der öffentlichen Rede zu bevorzugen ist. Ebenso spielen diese Gesten in der Kunstgeschichte eine sehr große Rolle, zum Beispiel als Vehikel, Gesprächszustände oder Sprechakte - etwa den der Verkündigung und ihrer demütigen Zurkenntnisnahme - mit statischen, visuellen Mitteln zu kommunizieren oder gar Bildern selbst illokutive Rollen zu geben - wie mit der in der Kunst des Mittelalters und der Renaissance endlos wiederholten Geste der benedictio, durch deren Betrachtung die Gläubigen sich gleichsam von Christus selbst segnen lassen konnten. Es ist in der Regel schwierig, redebegleitenden Gesten eindeutige interaktive Funktionen zuzuweisen, weil sie, im Unterschied zu sprachlichen Äußerungen, keine spezifischen Folgehandlungen seitens der Rezipienten zeitigen, diese vielmehr auf den Turn als ganzen reagieren, von dem die Geste nur ein Teil ist. Wir werden jedoch sehen, dass bei Gesten des Bietens deren interaktive Funktionen oft deutlicher sichtbar sind als dies normalerweise der Fall ist. Verschiedene Forscher - unter anderen de Jorio (2000/ 1832), Mallery (1978), McNeill (1992), Streeck/ Hartge (1992), Wundt (1975/ 1911) - haben auf den metaphorischen Charakter vieler pragmatischer Gesten hingewiesen. Sie sind metaphorisch insofern, als sie aus instrumentellen Handlungen abgeleitet zu sein scheinen und deren Sinn projektiv auf Gesprächssituationen beziehen. Dabei findet gewissermaßen eine Gleichsetzung zwischen den ma- Jürgen Streeck 160 teriellen Objekten statt, auf die die instrumentellen Urformen dieser Handlungen bezogen sind, und den symbolischen Objekten, mit denen in Gesprächen hantiert wird. Während man „eigentlich“ nur reale Gegenstände anbieten, geben und nehmen kann, kann man in abgeleiteter Weise sehr wohl auch Äußerungen, Meinungen, Fragen und Befehle anbieten, geben und annehmen; Gesten formulieren sozusagen diese metaphorische Gleichsetzung, indem sie symbolische Prozesse analog der Logik instrumenteller Prozesse gestalten, was Fauconnier (1997) als „blending of mental spaces“ beschreiben würde. Die hier vorgestellten Gesten artikulieren so betrachtet den Prozess des Gesprächs gemäß der von Reddy (1979) so genannten conduit metaphor der Kommunikation. Alle Beispiele stammen aus einem einzigen Gespräch zwischen zwei eng befreundeten amerikanischen Studentinnen, einer Afroamerikanerin, Bev (B), und einer Amerikanerin indischer Abstammung, Rani (R). Sie sprechen über Filme (die Trilogie „Drei Farben: Blau, Weiß, Rot“ des polnischen Regisseurs Krzysztof Kieslowski, „Four Weddings and a Funeral“ mit Andy McDowell und „Salmonberries“ mit k.d. laing) sowie gemeinsame Freunde. 1 3. Gesten des Bietens Im ersten unserer Beispiele ist eine einhändige Variante des Bietens auf gleichsam kanonische Weise mit „Informationsstücken“, die zugleich prosodische Einheiten (Tongruppen) sind, verbunden. Die Sprecherin produziert eine einhändige Variante der Geste dreimal hintereinander (sie erzählt hier die Story des ersten Films aus der Trilogie): (1) o B He marries this French woman, he moves to _ o Paris, o he opens a salon. 1 Aufgezeichnet wurde das Gespräch von Peggy Yang, die mit beiden Beteiligten befreundet ist. Geste und verstreichende Zeit 161 Im Transkript sind prosodische Akzente durch Fettdruck und der „Stroke“ einer Geste durch „o“ markiert; man sieht, dass prosodische und Bewegungsakzente zusammenfallen. Dies ist bei Gestik fast immer der Fall und lässt sich u.a. mit der Selbstsynchronisierung des menschlichen Körpers erklären. Würde man den Verlauf der Gesten genauer repräsentieren, könnte man auch im Transkript erkennen, dass bei der ersten Gesteneinheit die Hand nach dem Stroke bis kurz vor Ende des Teilsatzes (der Clause) gehalten wird („Hold“) und dass zwischen den Gesteneinheiten kurze Bewegungen der „recovery“ gemacht werden: die Hand wird in ihre Ausgangsstellung zurückgebracht, von der aus sie einen neuen Stroke ausführen kann. Dass eine Geste nach Ausführung des Stroke gehalten wird, zeigt, dass sie bis zum Ende der Clause relevant ist, d.h., dass sie mit der Clause als ganzer, nicht mit einem einzelnen Element (etwa einem Wort), gekoppelt ist. Mit Ausnahme des Haltens der ersten Geste ist die dreigliedrige Gestenphrase in diesem Beispiel eine durchlaufende, ununterbrochene Bewegung. Mit der Umschreibung „Bieten“ soll hier der wahrgenommene Sinn der Geste, gleichsam das Übergeben von Fakten oder Propositionen oder Assertionen an den Adressaten sichtbar zu machen, benannt werden. Solche Namengebung hat nur die Funktion, gemeinsame Referenz auf Gesten möglich zu machen und in ihrer Form verschiedene Gesten zu unterscheiden; keinesfalls soll damit jedoch eine kontextunabhängige Bedeutung der Form festgeschrieben oder gar suggeriert werden, die sprachliche Umschreibung spezifiziere den kommunizierten Sinn genauer als die Geste dies selber vermöchte. Vielmehr sind solche Umschreibungen in der Regel überdeterminiert: sie spezifizieren den Sinn der Geste in einer Weise, die der Offenheit oder Unabgeschlossenheit ihrer Form zuwiderläuft. Minimale Formunterschiede der Geste können in einem gegebenen Kontext jedoch Bedeutungs- oder Funktionsunterschiede markieren. Dies ist im vorliegenden Beispiel der Fall. Unmittelbar vor dem oben zitierten Segment macht Bev eine Randbemerkung, die die zeitliche Abfolge der Geschehnisse betrifft. Auch diese Bemerkung ist mit einer Geste der offenen Hand gekoppelt, die sogar raumgreifender ist als die folgenden Segmente; doch ist die Handfläche der Sprecherin selbst zugewandt, wodurch eine Wahrnehmung als Akt des Bietens oder Anbietens ausgeschlossen wird. In natürlichen Gesprächen werden Funktionsunterschiede oft von solchen minimalen Va- Jürgen Streeck 162 riationen - der Ausrichtung der Hand oder der Muskelspannung zum Beispiel - transportiert. Hier werden Nebenkommentar und Story durch die Ausrichtung der Hand voneinander geschieden. (2) o B This is like kind of prior to the movie. Im dritten Beispiel ist von zwei aufeinanderfolgenden Instanzen der Geste die zweite mit einem Schulterzucken verbunden; das gesamte „Enactment“ ist seinerseits mit einem Kommentar gekoppelt, der die indifferente oder unentschlossene Einstellung der Sprecherin - ihre propositional attitude - zum gerade Erzählten zum Ausdruck bringt: ihre Ratlosigkeit hinsichtlich der tieferen Bedeutung des Films. (3) Schulterzucken o o B I don’t know, it’s kind of bizarre. Während auch die Gesten in diesem Beispiel der Familie des „Bietens” zuzurechnen sind, markieren sie doch durch ihre Orientierung (nach oben bzw. zur Sprecherin selbst) bzw. durch ihre Verknüpfung mit dem Schulterzucken, eine andere Funktion, nämlich die Unfähigkeit der Sprecherin, zum Dargestellten eine eindeutige Haltung einzunehmen. Dies gilt auch für den folgenden Ausschnitt. Bev produziert zwei zweihändige Instanzen von „palm up/ open hand“ am Ende eines Turns; beide sind jeweils mit einem beidseitigen Schulterzucken gekoppelt. Bev zieht die Hände bei Abschluss der Phrase for, like, no reason that I can see kurz zurück, um dann im Verbund mit der abschließenden Clause and gives it to his wife die Geste zu wiederholen. Der Ausschnitt ist Teil der Filmnacherzählung, aber mit Bevs Kommentar gemischt. Bei Abschluss der Äußerung übernimmt Rani den Turn. Dass sie dies nicht bereits nach see tut, verdankt sich wohl der „Komma-Intonation“, mit der dieses Wort gesprochen wird und an der die Unabgeschlossenheit des Turns zu erkennen ist. (Beidhändige Strokes sind im Transkript mit „oo“ markiert.) Geste und verstreichende Zeit 163 (4) ___________oo___________" B For what? For, like, no reason that I can see, oo and gives it to his wife. Die Geste, die man im Deutschen „Schulterzucken” und im Englischen „shrug“ oder „shoulder shrug“ nennt, setzt sich in Wirklichkeit aus mehreren Komponenten zusammen, die einzeln, zusammen oder akkumulierend realisiert werden können. Zu ihnen gehört das Heben der Augenbrauen, das Heben einer oder beider Schultern, und fast immer auch „palm up/ open hand“, also das Präsentieren der leeren Hände. Shrugs finden sich häufig am Ende von Redebeiträgen als Teil des Ausdrucks einer indifferenten oder unentschiedenen Haltung gegenüber dem Inhalt der gerade abgeschlossenen eigenen Rede. Die genaue Platzierung des Shrug - oder seiner Komponenten - kann von der Hörerreaktion bestimmt sein: Schulterzucken wird zum Beispiel oft - als „recompletor“ - Äußerungen angehängt, auf die keine Hörerreaktion erfolgt; in diesem Fall kann es deutlich machen, dass auch der Sprecher selbst unschlüssig ist, welche Einstellung man gegenüber dem Berichteten einnehmen soll. 4. Gesten des Bietens und Sprecherwechsel Man kann sich durch Naturbeobachtung leicht überzeugen, dass Gesten des Bietens häufig am Ende von Turns ausgeführt werden und somit gewissermaßen nicht nur den Äußerungsinhalt, sondern auch das Rederecht an die Adressatin übergeben. Dies geschieht im folgenden Fall (s. Transkript 5). Interessanterweise wird diese Variante der Geste von Bev zweihändig ausgeführt. Es ergibt sich also eine situative Ordnung oder Logik - bzw. eine persönliche Konvention -, wonach Teile der Narration einhändig, der Turn (d.h. das Rederecht) aber zweihändig übergeben wird. Bev und Rani lachen gemeinsam über die „bizarre“ Geschichte, die der Film erzählt (Z. 4 und 5). Bev hat ihre linke Hand noch als „hold-over“ aus dem narrativen Segment (Z. 1 bis 3) in „palm up/ open hand“-Stellung. Dann bringt sie auch ihre linke Hand in diese Position (onset) und produziert dann eine zweihändige Geste des „Bietens“ oder „Übergebens“ (han- Jürgen Streeck 164 ding over), indem sie beide Hände kurz hebt und dann, die Handflächen leicht zur Zuhörerin geneigt, ruckartig senkt. Rani, die bis dahin Bevs Ausführungen nur mit Lachen begleitet hat, übernimmt ohne Verzögerung den Turn (Z. 8). (5) 1 B So he goes to Poland, in a suitcase, 2 gets lost. 3 Some guys beat him up. huh h(h)eh 4 H(h)eh h(h)eh [ 5 R ((laughter)) onset … .__|_____………… _____oo_______________ 6 B This is l(h)ike ( - ) the first fourth _______ 7 of the movie. 8 R I thinkyou know what we should call 9 movies? Im folgenden Beispiel (s. Transkript 6) berichtet Bev von ihrem Besuch bei einer gemeinsamen Freundin, die als Außendienstlerin für den Nahrungsmittelkonzern General Mills arbeitet. Sie zitiert dabei, was diese über ihre Besuche in Lebensmittelgeschäften im armen West Virginia gesagt hat, nämlich dass die Leute begeistert sind, dass sie ihre Läden mit neuer Ware füllt. Nach dem Zitat fasst Bev in eigenen Worten die Bedeutung dieses Zitates zusammen. Die erste Einheit ist von einhändigen Bietegesten begleitet, ohne dass jeweils die Hand zurückgezogen würde, die letzte, nach einem „Hold“ und einer vollen „recovery“, von einer „größeren“, zweihändigen. Unmittelbar nachdem Bev ihre Hände zurückzieht und damit die Gestenphrase (Kendon 1980) beendet, übernimmt Rani den Turn. Dies scheint für diese Sprecherin der „kanonische“ Fall zu sein: während sie mit einhändigen Bietegesten jeweils Propositionen „anbietet“, übergibt Bev mit beidhändigen Varianten der Geste ihrer Gesprächspartnerin den Turn, und diese übernimmt ihn. Geste und verstreichende Zeit 165 (6) _________________o___ 1 B She was like „People were so excited _____________o__________________________ 2 that I even came from General Mills like ____o_…………………………………………………………………………... 3 replenish their stores, m(h)a(h)n” [ 4 R Wo: : w. recovery " | 5 B They were like ( - - ) you know, recovery ___oo____" 6 so happy to see her. Fassen wir das bisher Dargestellte zusammen. An Beispielen, die von einer einzelnen Sprecherin in einem in den USA geführten Gespräch produziert wurden, haben wir funktionale und Stellungscharakteristika von Varianten einer einzelnen Geste - bzw. von Mitgliedern einer „Gestenfamilie“ (Kendon 2004; Müller 2003) - betrachtet, die gleichwohl zu den häufigsten Gesten überhaupt gehören dürfte: Gesten des Bietens oder Übergebens, die mit flacher Hand und nach oben weisender Handfläche ausgeführt werden und deren Sinn sich dergestalt umschreiben lässt, dass sie dem Adressaten Fakten oder Meinungen - oder was immer in der Äußerung ausgedrückt wird - oder aber das Rederecht anbieten oder übergeben. Die Unterscheidung zwischen diesen Funktionen - kann nach Abschluss der Geste der Turn übernommen werden oder nicht - kann durch persönliche habits (zum Beispiel einhändig vs. zweihändig) oder situative Konventionen, mehr noch aber durch andere Turnkonstruktionsmerkmale, etwa die prosodische Kontur der gleichzeitigen Rede, markiert werden. Wichtig ist allein, dass der Unterschied vom Adressaten wahrgenommen werden kann. Jürgen Streeck 166 Wichtig ist an beiden Varianten weiterhin, dass die Bewegungsrichtung der Geste vom Sprecher zum Hörer verläuft, wodurch ja die Übergabe von Inhalt oder Rederecht gerade sinnfällig gemacht wird. Damit steht die Geste im Einklang mit einer (nicht nur im Englischen oder Deutschen) weit verbreiteten Metapher, wonach sprachliche Kommunikation ein Austausch physikalischer Objekte ist (Reddys „conduit metaphor“). Wir hatten weiterhin festgestellt, dass Variationen der Geste (etwa in der spezifischen Orientierung der Handfläche) zwischen verschiedenen pragmatischen Bestandteilen der Rede unterscheiden (in unserem Beispiel zwischen Narration und Randbemerkung), aber auch unterschiedliche Einstellungen der Sprecherin zum Gesagten kommunizieren können; so demonstriert die nach oben weisende leere Handfläche im Kontext eines Shrug, dass die Sprecherin keine Meinung zum Gesagen hat. Welche Bedeutung die Adressatin im gegebenen Fall der Geste entnimmt, bestimmt sich letztlich nach Maßgabe ihrer genauen Platzierung und Dauer relativ zu der sprachlichen Äußerung oder Äußerungssequenz, zu der sie gehört. Gesten sind Erscheinungen in gemeinsam erlebter Dauer, in der sozialen Zeit. Diesen Aspekt wollen wir jetzt weiter verfolgen. 5. Das Verstreichen der Zeit und sein Einfluss auf die Bedeutung der Geste: Wie aus Bieten Bitten wird Bisher haben wir bietende Gesten als „ballistische“ Einheiten behandelt, die keiner weiteren inneren Organisation fähig sind und sich in einem Zug, ohne Unterbrechung entfalten. Doch wann sind sie zu Ende? Markiert das Ende des „Stroke“ auch das Ende der Geste? Oder ist diese dann zuende, wenn die Hand in ihre „home position“ (Schegloff/ Sacks 2002/ 1975) zurückkehrt? Man kann dies definitorisch entscheiden, indem man zwischen „Stroke“, „Hold“ und „Recovery“ (oder „Return“) unterscheidet. Aber damit ist ja nicht geklärt, ob das gestische Geschehen im Nachfeld des Stroke selbst signifikant ist, ob also nicht nur die Zeitpunkte von Onset und Stroke, sondern auch der Zeitpunkt der Rückkehr der Hand in ihre „home position“ - relativ zum Stroke - für das Verstehen der Geste von Bedeutung ist. Wir müssen also schauen, was in diesem Zeitraum zwischen dem Ende des Strokes und der Heimkehr der Hand passiert. Hierzu der folgende Ausschnitt, in dem sich zwei Instanzen „verzögerter Rückkehr“ finden. Geste und verstreichende Zeit 167 (7) 1 R It’s the story of this woman who’s 2 mistaken for like a boy ______ o……… 3 a lot of times. k.d. laing. " | 4 B Uh huh. 5 R Who grows up as a ( - - ) an orphan in 6 Alaska. _____________o….. 7 It’s set in Alaska ……………. 8 B Uh huh ……………………………………………………………. 9 R And her name is Kotzebue ……………………. ( - - - - ) ……………….. 10 B (smiles) ………………………………….. 11 R Kotzebue, yeah " | 12 B Cool name [ 13 R Because that’s the place where they 14 ( - - ) found her? Das erste Vorkommen einer Geste des Bietens findet sich in Z. 1. Rani offeriert hier vorgreifend eine Zusammenfassung des Films, den sie gleich erzählen wird. Der Stroke endet auf boy, doch wird die Hand dann offen gehalten. Jürgen Streeck 168 Der Name der Schauspielerin, k.d.laing, wird der anderweitig abschlossenen Äußerung als „recompletor“ nachgereicht (Lerner 1991), und gleichzeitig produziert die Sprecherin einen neuen Stroke der Bietegeste. Während Rani den Namen nennt, beginnt Bev zu nicken und quittiert den Turn bei Abschluss der Namensäußerung mit einem Hörersignal (uh huh). Gleichzeitig präpariert Rani ihre Hand für eine neue, andersgeartete Geste: sie dreht die Hand, so dass die Fläche nach unten weist, und unterstreicht dann das nächste Informationspaket (grows up as an orphan) mit einer nach unten gerichteten Bewegung. Wir erkennen an dieser Sequenz also, dass hier der Übergang von einer Geste zur nächsten Geste mit einem Signal koordiniert ist, mit dem die Adressatin die Annahme der Äußerung dokumentiert. Anders gesagt: die Geste wird dann (durch Vorbereitung einer neuen Geste) zum Abschluss gebracht, wenn die sprachliche Einheit, der sie zugeordnet ist, nicht etwa nur abgeschlossen, sondern auch bei der Empfängerin „angekommen“ ist. Diese Koordination ist in der zweiten Gestensequenz im gleichen Ausschnitt noch deutlicher zu erkennen. In Z. 7 teilt Rani mit, dass der Schauplatz des Films Alaska ist, und produziert dabei eine Bietegeste. Sie hält die Hand nach dem Stroke in exponierter Position, mit der offenen Handfläche nach oben, während sie die weitere Information übermittelt, dass der Name der von k.d.laing gespielten Hauptfigur „Kotzebue“ ist. Bev quittiert dies lediglich mit einem Lächeln. Rani wiederholt daraufhin die Nennung des Namens und unterstreicht dieses mit „yeah“. Bev antwortet darauf „cool name“, und Rani bringt ihre Hand nach Hause. Offensichtlich ist das Lächeln als Reaktion auf den für Amerikaner eigentümlichen Namen „Kotzebue“ nicht ausreichend, und dessen Wiederholung kann als Fremdinitiierung einer Reparatur betrachtet werden, wobei die Reparatur eine Hochstufung der Quittung - von bloßem Lächeln zu „cool name“ - darstellt, was Rani offenkundig für ausreichend hält. Erst in Reaktion auf diese für ausreichend erachtete Quittung beendet sie die Geste, indem sie wie zuvor die Hand für eine neue Gestensequenz (eine Serie von Zeigegesten) vorbereitet. Der „Hold“ der Geste - das Belassen der Hand in exponierter Position, mit offener Handfläche - markiert also, dass die von der Äußerung, zu der sie gehört, gesetzte konditionale Relevanz noch unerfüllt ist. Auf eine Formel gebracht: das „Halten“ einer Geste kann „unerfüllte konditionale Relevanz“ bedeuten. Nicht allein die Platzierung des Strokes, sondern auch das Timing der Rückkehr der Hand - des Gestenabschlusses - sind dann also sozial und kommunikativ relevant, und dieses Timing erhält hier seine spezifische Be- Geste und verstreichende Zeit 169 deutung nicht durch die Koordination der Bewegung mit der Äußerung der Sprecherin, sondern mit der Reaktion der Adressatin: es besitzt also interaktive Bedeutung. Dazu ein weiteres Segment aus dem gleichen Gesprächsabschnitt. Nach einer Serie von erst beschreibenden, dann symbolisch-deiktischen Gesten (sie zeigt mit einem oder zwei Zeigefingern nach unten, im Transkript mit einem Pfeil markiert), schließt die Sprecherin das Erzählsegment mit einer Geste des Bietens ab. (8) 14 R And uhm- ( - - - ) they found her in 15 like this little basket in the 16 wilderness in the co: ld oneone winter. 17 B (nickt) 18 R And- ( - ) there was a paper inside that 19 said Kotzebue. __ ⇓ ________________ ⇓⇓ ______ 20 And I guess that’s where they wanted the __ ⇓ __________o___ 21 baby to be headed. _____oo______________________o______ 22 But theyjust like whoever found her ___________________________o____ 23 just assumed that was her na: me? R "…… 24 B Uh huh. ____o__________ 25 R ‘nd so they called her Kotzebue. Jürgen Streeck 170 __________________o……………………………………………. 26 And she works in this miner miner ee- ………………………….. …………………………………………… 27 mining ( - - ) place or something like …. 28 that. ___p___ 29 Anyways Rani konfiguriert zunächst die linke Hand (zeitgleich mit headed) und kurz darauf, am Beginn ihres möglicherweise letzten Satzes in diesem Abschnitt (bei they), auch die andere Hand, zur Haltung des Bietens. Dann vollführt sie, zeitgleich mit that, einen Stroke, und die Hände werden über den Abschluss des Satzes hinaus bis zum Erfolgen der Zuhörerreaktion (uh huh, Z. 24) gehalten. Erst dann wird die Hand zurückgezogen; sie führt, weiter als Hand des Bietens konfiguriert, rasch einen weiteren Stroke aus, der die Abschlusskomponente ('nd so they called her Kotzebue) begleitet. Hier (in Z. 25) erkennen wir wieder die Koordination zwischen Gesten-Abschluss und Hörerreaktion. Rani produziert eine weitere Instanz der Geste im Verbund mit dem nächsten Satz (Z. 26) wobei der Stroke bei works erfolgt. Diesmal hält sie die Hand in exponierter Position, während sie ein Wortfindungsproblem (mining place) bearbeitet. Hier indiziert das Gehaltenwerden der Hand die Unabgeschlossenheit des Sprechaktes. Dann macht sie eine Geste mit der zur Zuhörerin offenen Hand - eine Art ‘Stop-Geste’ (markiert durch ‘p’) -, sagt anyways und wechselt damit das Thema. Soweit haben wir die Beendigung der Bietegesten nach einer Art Reiz- Reaktions-Modell beschrieben: erfolgt eine Reaktion auf die der Geste zugeordnete Äußerung, wird die Geste beendet. Obwohl dies natürlich keineswegs ein gesetzmäßiger Zusammenhang ist, so lässt sich doch eine derartige Koordination sehr häufig beobachten, und es kann kein Zweifel daran bestehen, dass das Timing eines Gestenabschlusses ein „member's phenomenon“ ist, das Gesprächsteilnehmer beachten und auf das sie reagieren. Das Verstreichen von Zeit allein kann also Bedeutung und interaktive Funktion einer Handbewegung oder Handhaltung verändern. Metaphorisch gesprochen (wobei ich es offenlasse, ob die Metaphorizität eine der Beschreibung oder Geste und verstreichende Zeit 171 der Geste selbst ist): wenn eine bietende Hand nach dem Stroke der Biete- Geste gehalten wird, dann kann sie sich langsam gleichsam in eine bittende Hand verwandeln - in eine Hand, die darauf wartet, dass etwas in sie hineingelegt wird. Wenn dies geschieht, zieht sie sich zurück. Damit allerdings ist das Reiz-Reaktions-Modell verlassen. Stattdessen wird behauptet, dass sich mit dem Verstreichen von Zeit der Kontext - genauer: der sequenzielle Kontext - der Handhaltung wandelt und damit auch deren Bedeutung, also die Bedeutung, die Interaktionsteilnehmer ihr entnehmen. Je weiter sich die gehaltene Hand sozusagen vom Äußerungsabschluss entfernt, desto dringlicher wird die in ihr inkarnierte Bitte um Reaktion, Quittung, Folgehandlung. So wird aus dem Halten der Geste nach dem Stroke ein Modellfall des Wartens, das ja ein Vorgang in sozialer, nicht chronologischer, Zeit ist. So verkehrt sich die Geste des Bietens in ihr Komplement. Im Rahmen dessen, was wir kommunikativen Austausch nennen, kann sich ein gestischer Akt, in seiner Dauer betrachtet, von einem Symbol des Gebens in ein Symbol des Nehmens verwandeln, eine gebende in eine empfangsbereite Hand, die darauf wartet, dass ihr etwas zurückgegeben wird. Der Austausch von Turns wird so auf subtile, sinnfällige und metaphorische Weise als Austausch von Dingen verkörpert. Eine Handhaltung verändert ihre Bedeutung, ohne dass sie selbst sich ändern müsste. Die Zeit allein zeichnet verantwortlich. 6. Zitierte Gesten und Gesten im Hier und Jetzt Dass die nach dem Bieten gehaltene Hand nicht nur auf eine Antwort wartet, sondern diese einfordern kann, wird am Ende des folgenden und letzten hier zu verhandelnden Gesprächssegmentes noch deutlicher. Dort reklamiert sie Zustimmung, „agreement with an assessment“ (dass Andy McDowell eine schrecklich schlechte Schauspielerin ist). Ich will diesen Ausschnitt jedoch umfassender beschreiben, da in ihm die Geste des Bietens nicht nur wiederholt gemacht, sondern auch in präziser, kaum merklicher Weise variiert wird, wobei diese Variationen damit zu tun haben, dass die Geste mal der Sprecherin selbst, dann aber auch den Figuren, deren Dialog sie wiedergibt und zu denen sie auch selbst gehört, zugeordnet ist. Rani zitiert hier einen Dialog zwischen zwei Frauen, den sie bei einem Kinobesuch mitgehört hat, und danach ihre eigene Reaktion „im Kopf“ darauf. Ihr Bericht ist ein kleines, kunstfertig nachgebautes Stück dialogischen Le- Jürgen Streeck 172 bens: sie sitzt im Kino auf der Toilette und wird zur Ohrenzeugin eines Gespräches zweier ihr unbekannter Frauen (nennen wir Sie Frau A und Frau B) über die Filmschauspielerin Andy McDowell, wobei unterschiedliche Auffassungen von deren schauspielerischen Fähigkeiten zur Sprache kommen. Die Bewegungen ihrer Hand markieren die Sprechakte dieser Frauen - und sind zugleich (und am Ende ausschließlich) Ereignisse in Ranis Interaktion mit Bev im „Hier und Jetzt”. Man kann sagen, dass die Gesten zitierte Sprechakte charakterisieren, wobei diese Charakterisierungen sowohl Mittel sein können, mit denen die Sprecherin selbst, also Rani, diese Sprechakte charakterisiert, als auch zitierte (oder vorgeblich zitierte) Gesten, mit denen die zitierten Sprecherinnen selbst ihre Sprechakte verkörpert haben könnten. Dieser Unterschied ist an ihrer Form nicht immer abzulesen. Rani verkörpert also fünf Personen: zwei fremde Frauen, Figuren in ihrer Erzählung; sich selbst als Figur in dieser Erzählung, auf der Toilette sitzend; sich selbst als Sprecherin in ihrem inneren Monolog; und sich selbst im Hier und Jetzt, in der Interaktion mit ihrer Freundin Bev. Unabhängig davon, wem ihre Gesten im Einzelfall „gehören“, sind sie durchweg präzise mit den Reaktionen Bevs koordiniert. Ranis Reinszenierung beginnt mit einem Zitat einer Äußerung von Frau A, die in der Damentoilette Frau B um Auskunft über den Film bittet, den sie und ihre Familie gleich sehen wollen. Oh ja, das sei der Film mit Andy Mc- Dowell, erhält sie zur Antwort, was ihr, der Auskunftheischenden, im Unterschied zur Auskunftgeberin nicht unbedingt ein Qualitätsmerkmal darzustellen scheint. Die Gesten von Frau A (oder sind es Ranis? ) werden mit nach oben geöffneter „Bietehand“ ausgeführt. Die Hand wird im Interaktionsraum gehalten, bis die Antwort von Frau B zitiert wird. Ranis gestikulierende Hand ist hier kaum eindeutig zuzuordnen; sie lässt sich als Geste sehen, mit der sie Bev ihre Erzählung „übergibt“, aber ebensogut als imaginierte Handgeste von Frau A. Als Rani dann jedoch die Antwort von Frau B zitiert, orientiert sie ihre Bietehand anders im Raum und modifiziert deren Bewegungsrhythmus: die Handfläche ist jetzt halb seitwärts gerichtet und die Bewegungen markieren die prosodische Struktur - die Akzentgipfel - einer „lebhafter“ gesprochenen Äußerung. Erst retrospektiv wird so eine eindeutige Zuordnung der gestikulierenden Hand zu Figuren in der erzählten (und, was das Körperliche angeht, ja nur imaginierten) Welt geleistet: Frau A gestikuliert anders als Frau B. Es ist, als akquiriere die Hand durch die Sequenz hindurch ihren Sinn nur sukzessive. Geste und verstreichende Zeit 173 (9.1) ______o………………………………………………………………________ 1 R Oh yea: h, have you seen this movie? I’m- __o………………………… 2 we’re about to see it [ 3 B Uh huh. ……………………………………………………………………………………………………… 4 R (then) it’s called Four Weddings and a ………………… 5 Funeral, …………_____________....__o__o___. ._______ 6 and the other one’s Oh yeah, that’s the _o___. .___o….……………… 7 one with Andy McDowell! 8 B (smiles) Zugleich bleiben Ranis ihren Figuren geliehene Handgesten jedoch auch in die gegenwärtige Interaktionswelt eingebunden, insofern sie mit Bevs Reaktionen koordiniert sind. Ranis erste, mit dem zitierten Dialog gekoppelte Bietegesten umfassen zwei Zyklen, deren Grenze jeweils mit einer Satzgrenze zusammenfällt, die zugleich einen Sprechaktwechsel markiert (von Frage zu Mitteilung). Der Stroke der zweiten Einheit (mit „o“ markiert) löst eine umfassende Hörerreaktion aus: Bev sagt „uh huh“, nickt zweimal mit Nachdruck, verlagert ihr Gewicht, nickt noch einmal. Auf die Abschlusseinheit der Gestenphrase, die Frau B charakterisiert, antwortet Bev mit breitem Grinsen. Die Bewegung von Ranis Hand ist in dieses jetzige Interaktionsgeschehen verwickelt, unabhängig davon, welchem Akteur sie „semantisch“ zuzuordnen ist. Jürgen Streeck 174 Die zitierte Sequenz setzt sich fort: (9.2) ____________o_________"__o_______o_ 9 And the first woman’s like Uhhm, Andy ___………… 10 McDowell? Geringfügige Veränderungen in der „anbietenden“ Konfiguration ihrer Hände markieren das Voranschreiten im sprachlichen Handeln. Den Rahmensatz and the first woman's like begleitet die gleiche Bietegeste, mit der Frau A zuvor eingeführt worden war. Man möchte diese Geste als pragmatischen „Operator“ Rani zuschreiben, zumal mit ihr keine Rede der zitierten Figur, Frau A, einhergeht. Aber dann, als das Zitat beginnt, spielt sie, Unentschlossenheit ausdrückend, mit den Fingern beider Hände (sie schließt und öffnet die Hand). Diese beidhändige Geste ist unzweifelhaft als kleine Variante eines Shrug zu erkennen - nicht eines indifferenten oder herablassenden, sondern eher eines fragenden shrug, der gleichsam die implizite Frage andeutet, „who is Andy McDowell“ oder „what about Andy McDowell? “, oder eher „was ist denn an Andy McDowell bemerkenswert? “ - in jedem Fall: „sage mir mehr über Andy McDowell“. Das Spiel der Finger drückt aus, dass die (zitierte) Sprecherin - also Frau A - nicht so recht etwas mit Andy McDowell bzw. der Begeisterung von Frau B über McDowell anzufangen weiß. Bei der Wiedergabe der Antwort von Frau B wiederholt Rani das gestische Spiel der offenen Hand, mit dem sie deren erste Äußerung begleitet hatte: die Handfläche eher zur Seite öffnend und in ihren Bewegungen die deutlich gesetzen Intonationsgipfel unterstreichend setzt sie insgesamt acht Strokes. Damit ist die kontrastierende Charakterisierung der Sprechakte der zwei Frauen und ihrer ungleichen Einstellungen zu Andy McDowell abgeschlossen. Doch auch hier belässt Rani am Ende der Bieteserie ihre offene Hand für einen Sekundenbruchteil in ihrer exponierten Position. Erst als auf Bevs Mund der Beginn eines offenen Lachens erscheint und während sich dieses in lautes Gelächter verwandelt, zieht sie ihre Hand zurück. Die Bietegeste wird in Vorbereitung von etwas Neuem beendet, zu dem Zeitpunkt, als das Gebotene honoriert wird. Als Nächstes verkörpert Rani dann ihr eigenes erzähltes Selbst (beginnend mit einem Körperhaltungswechsel bei Z. 17). Geste und verstreichende Zeit 175 (9.3) 11 The second woman’s like __o______________o______o_______o ─ __ 12 Yea: h, I always think of Andy McDowell ________o_____________o…………………………………………. 13 and I think of that mo: vie where she was ……………………_____o_________o___ 14 like this stone-faced woman __…………………………………………………. 15 that just couldn’t a: ct. ( - - - - - ) 16 B A(h)h(h)uh h(h)eh h(h)eh h(h)eh h(h)eh [ 17 R And I’m thinking ( - - ) and 18 B h(h)eh h(h)eh 19 R I’m thinking I’m thinking to myself 20 That’s every movie she’s ma: : de Während sie dreimal wiederholt „I'm thinking (to myself)“, verändert Rani ihre ganze Körperhaltung. Sie nimmt ihre Füße vom Sofa, schaut von Bev weg zum Boden, lehnt mit den Armen auf den Oberschenkeln - und stellt so mit ihrem Körper eine Person dar, die auf dem Klo sitzend denkt. Ihr Gedanke ist die Pointe ihrer Geschichte: während Frau B Andy McDowell als eine Schauspielerin erinnert, die eine Schauspielerin spielt, die nicht schauspielern kann, sieht Rani sie als eine Schauspielerin, die nichts anderes als schlechte Schauspielerinnen spielen könnte, weil sie selbst eine schlechte Schauspielerin ist. Nachdem sie sich wieder in ihre alte Haltung zurückgefaltet hat, verlangt sie abrupt Bevs Zustimmung zu ihrer Einschätzung von Andy McDowell. Dieses Verlangen wird jedoch nicht sprachlich, sondern durch eine nachdrück- Jürgen Streeck 176 lich vorgetragene Geste des Anbietens ausgedrückt, wobei die Hand auch hier exponiert bleibt, bis sie emphatische Zustimmung erhalten hat. Dann zieht Rani ihre Hand zurück. (9.4) ______o……………………………………………………………… 25 R I mean Andy McDowell is terrible. " | 26 B I agree. I totally agree. [ 27 R She’s just horrible. 28 B Yeah Hier wird die Geste des Bietens, die das Übergeben einer Meinung markiert, gewissermaßen mit der Geste, mit der eine Zustimmung eingefordert wird, identisch. Geben und Entgegennehmen werden eins. 7. Die wartende Hand In Augenblicken - die von Sekundenbruchteilen bis zu Sekunden andauern können - verwandelt sich also die Bedeutung der offenen Hand: was als Bieten beginnt, endet als Warten darauf, dass etwas zurückgegeben wird. Die uns offen entgegengehaltene Hand wartet auf unsere Antwort. Wir erfahren dieses Warten aufgrund einer Konvention. Wir haben gelernt, eine ausgestreckte, geöffnete Hand als „bittend“ oder „erwartend“ zu sehen, weil uns die Geste des Bettelns bekannt ist. „Uns“ bezeichnet hierbei vermutlich eine nahezu universale menschliche Gruppe, denn die Geste des Bettelns, das Hand-Aufhalten, stellt ja nichts anderes dar als eine Formalisierung der Handlung, die beim Entgegennehmen von Objekten „immer schon“ auszuführen ist. Es handelt sich um ein Symbol, das aus einer primären Handlung abgeleitet ist. Deshalb scheinen wir die Geste - einschließlich ihrer ganz und gar beiläufigen, wenig formalisierten Varianten, die im „transition space“ zwischen Äußerungen erscheinen, auch so leicht zu verstehen. Die Verkörperung des Gesprächs als Geben und Nehmen scheinen wir naturwüchsig zu begreifen, obwohl es sich natürlich auch hier um eine Konvention, also um Kultur handelt. Nichts spricht gegen die Annahme, dass derartige Gesten des Miteinandersprechens zu den ältesten überlieferten kulturellen Traditionen überhaupt gehören, die möglicherweise so alt sind wie das mündliche Gespräch selbst. Obwohl ich Geste und verstreichende Zeit 177 hier nur wenige Beispiele aus einem einzigen Gespräch, vor ein paar Jahren in den USA aufgezeichnet, vorgestellt habe, ist es ein Leichtes, sich von der Häufigkeit und der zeitlichen Organisation dieser Geste einfach dadurch zu überzeugen, dass man beliebige Gespräche beobachtet. 8. Literatur Bavelas, Janet/ Chovil, Nicole/ Lawrie, Douglas A./ Wade, Allan (1992): Interactive Gestures. In: Discourse Processes 15, S. 469-489. Fauconnier, Gilles (1997): Mappings in Thought and Language. Cambridge, UK . Jorio, Andrea de (2000 (1832)). Gesture in Naples and Gesture in Classical Antiquity. Bloomington. Kendon, Adam (1980): Gesticulation and Speech: Two Aspects of the Process of Utterance. 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Einleitung Neben vielen anderen Fragestellungen ist in den letzten Jahren in das klassische Programm der Konversationsanalyse zunehmend auch die Beschäftigung mit der Formulierungstätigkeit als einer interaktiv zu lösenden Aufgabe aufgenommen worden. Die Ergebnisse konversationsanalytischer Untersuchungen zu Formulierungsverfahren, 1 ebenso wie die offenkundig hergestellte Anschlussfähigkeit der Konversationsanalyse an Theorien „emergenter“ Grammatik 2 zeugen von der Dynamik dieses Bereichs innerhalb der Gesprächsforschung. Aber auch das Thema Sprachproduktion - bislang eher eine Domäne der kognitiven Linguistik - erhält damit einen weiteren, bislang eher vernachlässigten Fokus, denn die Beobachtungen zur Äußerungsherstellung beschäftigen sich nun intensiver mit den koordinierten Aktivitäten von Akteuren in Interaktionssystemen als mit den Vorgängen in den Köpfen (psychischen Systemen) von Individuen. Die Sprachproduktionsforschung gewinnt so eine neue, sozialwissenschaftlich fundierte Variante, die das gängige Forschungsparadigma mit Hilfe der Instrumentarien der Konversationsanalyse sozusagen vom Kopf auf die Füße stellt: Beabsichtigt wird eine Rekonstruktion der on-line-Prozesse auf der Grundlage der sprachlichen und nicht-sprachlichen Oberfläche authentischer Gesprächsdaten; und Äußerungen werden als Ergebnis einer gemeinsamen Formulierungsleistung der beteiligten Interaktanten beschrieben. Auf dem Hintergrund dieses Forschungsprogramms werden wir uns im folgenden Beitrag mit einem speziellen Verfahren beschäftigen, das darin besteht, dass Interaktanten ihre Formulierungen an konventionalisierten Lösungen für anstehende Aufgaben orientieren. Dies kann in gänzlich unauffälliger Weise geschehen, z.B. durch die bloße Verwendung eines idiomatischen Ausdrucks. Die Orientierung kann aber auch durch spezielle Markie- 1 Wir werden darauf und auf unsere Vorarbeiten zum Thema im ersten Kapitel näher eingehen. 2 S. dazu neben den üblichen Referenzen (Hopper, Traugott, Fox) die Beiträge von Auer, Günthner und Selting i.d. Bd. Ulrich Dausendschön-Gay / Elisabeth Gülich / Ulrich Krafft 182 rungstechniken auffällig gemacht werden. Solche Markierungen können die Form sprachlicher Ausdrücke haben („auf deutsch gesagt“, wie im folgenden Beispiel); sie können aber auch mit Hilfe prosodischer oder anderer Mittel erfolgen. Bei den so markierten Teilen von Äußerungen handelt es sich häufig um konventionalisierte Lösungen für rekurrente Formulierungsprobleme, 3 wie z.B. Phraseologismen, formelhafte Wendungen oder andere „vorgeformte Strukturen“; oft gehen sie aber auch auf individuelle Formulierungsroutinen zurück, die nicht zum Fundus verallgemeinerter Lösungen gehören. Unser Interesse gilt dabei aber nicht in erster Linie der strukturellen Beschreibung solcher segmentierbarer Teile von Äußerungen, sondern den interaktiven Formulierungsverfahren, die bei der Herstellung dieser Teile im Gespräch verwendet werden. 4 Deshalb sprechen wir von „Orientierung am Modell“ und nicht etwa von „Verweis auf vorgeformte Strukturen“. Wir möchten damit dem Missverständnis vorbeugen, es ginge um die Reproduktion einer beispielsweise in einem Lexikon der Phraseme verzeichneten komplexen Form; vielmehr handelt es sich um den Prozess der Herstellung einer Äußerung, in der es nicht auf die genaue Wörtlichkeit (also die Normgerechtheit) eines verwendeten, aus anderen Kontexten bekannten Teils ankommt. Es geht uns mehr um das Verfahren der Orientierung am Modell als um das Modell selbst. 5 3 Die mit dieser Formulierung implizierte Beziehung zum Konzept der kommunikativen Gattungen können wir hier nur evozieren, aber nicht näher ausführen. 4 Insofern ist der Terminus „Vorgeformtheit“ irreführend, weil er stärker den strukturellen als den prozessualen Aspekt in den Vordergrund stellt. 5 In Bezug auf vorgeformte Strukturen nehmen wir eine Perspektive ein, die sich am Beispiel semantischer Fragestellungen verdeutlichen lässt. Dort kann man bekanntlich das kontextfreie Bedeutungspotenzial sprachlicher Äußerungen fokussieren oder aber die situierte Verwendung sprachlicher Äußerungen zum Zwecke der Kategorisierung von Objekten oder Personen in konkreten Verwendungszusammenhängen. Die Frage ist dann nicht, welcher Kategorie von Gegenständen ein konkretes Objekt zugeordnet werden kann (also z.B. ein ‘Becher’), sondern welche Kategorisierung tatsächlich gewählt wird und welches die konversationellen Konsequenzen dieser Wahl sind (wenn also das Objekt als „das Dingsda“, „meiner“, „mein geliebtes Trinkgefäß“ oder als „die Tasse“ bezeichnet wird). Ähnlich verhält es sich mit komplexeren sprachlichen Ausdrücken, die immer das Resultat einer Wahl sind, die on-line und situiert produziert und nicht einfach aus dem mentalen Lexikon abgerufen werden, und deren Bedeutung sich nicht nach dem Schema „Grundbedeutung - abgeleitete Bedeutung“ beschreiben lässt. Vorgeformtheit als Ressource im Formulierungs- und Verständigungsprozess 183 1. Rekurs auf vorgeformte Strukturen und Orientierung am Modell Das erste Kapitel unseres Beitrags wird das Konzept der Orientierung am Modell näher erläutern und in den uns relevant erscheinenden Forschungskontext einbetten. Wir beginnen mit einem Beispiel: Eine Patientin in einer Klinik kommt zu einer psychotherapeutischen Sitzung. 6 Sie ist sehr aufgebracht, sagt einleitend, es ginge ihr „saudreckig“, und schildert eine Situation, in der sie „hätte explodieren können“. Sie beschreibt Gefühle von Wut und Gereiztheit gegenüber anderen Patienten, die sie stören, ohne dass ihr jedoch klar wäre, was diese Gefühle ausgelöst hat. Auf eine Nachfrage des Therapeuten fasst sie die Situation schließlich folgendermaßen zusammen: P: also ich hab für mich jetz gemerkt’ . . dass . . . dass mir das auch zu VIEL wird’ . . immer mit den andern zusammen und jeder erzählt sein scheiß auf deutsch jesa: cht . . ich sach . ich sach das jetz ma so mit MEI nen wortn . . T: hm P: und des wird mir einfach zuviel und denn . . und denn w/ weiss nich (...) Kurze Zeit später kommt sie auf das Problem zurück: P: also wenn die sich so unterhAlten und [und der eine dAs und T: [hmm P: das wird mir einfach zu viel T: hmm. das ist P: ALles hat mich angekotzt auf deutsch gesacht T: ah jaa Diese kurzen Gesprächsausschnitte scheinen uns geeignet zu illustrieren, worum es im Folgenden gehen soll. Den Ausgangspunkt unserer Überlegungen bilden empirisch erhobene konversationelle Daten, und zwar Gespräche aus professionellen Interaktionen. 7 Wir interessieren uns für Formulierungs- und Verständigungsprozesse unter den Bedingungen mündlicher Interaktion, d.h. - sehr allgemein gesagt - für die Verfahren, auf die Interaktionsbeteiligte rekurrieren, um Formulierungs- 6 Das Gespräch wurde uns freundlicherweise von Ulrich Streeck zur Verfügung gestellt. 7 Die hier zugrunde liegenden Korpora werden im Anhang vorgestellt. Ulrich Dausendschön-Gay / Elisabeth Gülich / Ulrich Krafft 184 und Verständigungsaufgaben zu lösen. Die Patientin in dem oben zitierten Beispiel, konfrontiert mit der Aufgabe, dem Therapeuten ihre von ihr selbst als diffus oder unklar wahrgenommenen Gefühle zu beschreiben, die durch die Mitpatienten in der Klinik ausgelöst werden, versieht die von ihr gebrauchten Ausdrücke „jeder erzählt sein scheiß“ und „ALles hat mich angekotzt“ mit dem vorgeformten metadiskursiven Kommentar: „auf deutsch gesacht“. Was auch immer mit diesem Kommentar inhaltlich genau gemeint ist, 8 er kennzeichnet auf jeden Fall diese Ausdrücke als in der Situation auffällig oder abweichend und lenkt damit die Aufmerksamkeit des Gesprächspartners auf sie. Der Kommentar im zweiten Beispiel bezieht sich auf einen ebenfalls vorgeformten Ausdruck: „ALles hat mich angekotzt“, während es sich im ersten Beispiel lediglich um eine übliche Redeweise („jeder erzählt sein scheiß“) handelt. Interessant ist nun im ersten Beispiel, dass die Aufmerksamkeitsausrichtung auf diesen Ausdruck noch durch einen zweiten Kommentar verstärkt wird: „ich sach das jetz ma so mit MEInen wortn“; dadurch weist die Sprecherin den durchaus gängigen Ausdruck eher als eine individuelle Formulierungsleistung bzw. einen Ausdruck, den sie sich zu Eigen macht, aus. Beide Aspekte, der konventionelle ebenso wie der individuelle, werden sich im Folgenden für die Rolle des Vorgeformten im Formulierungs- und Verständigungsprozess als relevant erweisen. Vorgeformte Ausdrücke wie Phraseologismen vom Typ „auf deutsch gesagt“ oder „das kotzt mich an“, ebenso aber auch andere vorgeformte Strukturen unabhängig davon, ob sie zu den ‘Phraseologismen’ gerechnet werden, verstehen wir als in Diskursgemeinschaften konventionalisierte Formen, die von den Interaktionspartnern als kompetenten Mitgliedern der Diskursgemeinschaft benutzt und als solche erkannt und verstanden werden. Wir betrachten sie aber nicht einfach als „Fertigteile“, die im Formulierungsprozess in „frei formulierten“ Text eingesetzt werden, sondern das Vorgeformte wird zu eigenen Worten, wie die oben zitierte Sprecherin sagt, d.h., auch diese Formen werden im Formulierungsprozess produziert und eben nicht reproduziert. Um deutlich zu machen, dass es gerade nicht darum geht, ein konventionelles Muster wörtlich oder strukturidentisch zu reproduzieren, 9 sondern dass 8 Der Duden „Redewendungen und sprichwörtliche Redeweisen“ gibt (s.v. „deutsch“) „unverblümt, ohne Beschönigung“ als Bedeutung an. 9 Vgl. dazu den Hinweis von Stein (1995, S. 249): „Die Verwendung vorgefertigter sprachlicher Versatzstücke oder reproduzierendes Verbalisieren wird man kaum als völlig auto- Vorgeformtheit als Ressource im Formulierungs- und Verständigungsprozess 185 der Rekurs auf vorgeformte Strukturen durchaus eine Formulierungs- und Verstehensleistung darstellt, beschreiben wir den Rekurs der Interaktionsteilnehmer auf solche Strukturen als ‘Orientierung am Modell’. Was diese Orientierung im Einzelnen auszeichnet, soll in diesem Beitrag anhand von Beispielanalysen dargelegt werden. Dabei arbeiten wir an Formulierungslösungen mit geringer (‘lokaler’) Reichweite (also nicht an Argumentationen, Narrationen oder ganzen Texten) und unterscheiden zwei Typen von Modellen: die individuellen („ich sach das jetz ma so mit MEInen worten“) und die in Diskursgemeinschaften konventionalisierten („auf deutsch jesa: cht“). Die Kenntnis der konventionalisierten Lösung eines Formulierungsproblems mittels einer vorgeformten Struktur kann eine Hilfe bei der Sprachproduktion sein; „festen Wortverbindungen“ wird oft „eine entlastende Funktion im Verbalisierungsprozess“ zugeschrieben (Stein 1995, S. 249). 10 Allerdings ist dies sicher nur ein Aspekt des Rekurses auf Vorgeformtes, denn gerade wegen der Bindung an ein konventionelles Muster kann die Notwendigkeit, vorgeformte Strukturen einzusetzen, um einer bestimmten Norm oder Konvention zu entsprechen, auch zu erheblichen Formulierungshemmungen führen. 11 Immer aber ist erkennbar, dass das bekannte Muster in ähnlicher Weise eine Ressource für anstehende Formulierungsaufgaben darstellt, wie das Lexikon, das Textsortenwissen oder die Valenz-, Rektions- und Stellungsregeln für verbregierte Phrasen. Ein wesentlicher Aspekt unserer Beschäftigung mit Vorgeformtheit liegt darin, die interaktive ‘Hervorbringung’ der vorgeformten Strukturen im Gesprächsprozess zu berücksichtigen. Zum Beispiel ratifiziert in dem einleitend angeführten Gesprächsausschnitt der Therapeut jeweils den metadiskursiven Kommentar durch ein zustimmendes Kopfnicken. Die Patientin als Produzentin des vorgeformten Ausdrucks zeigt, dass sie über das notwendige Formulierungswissen verfügt, bei seiner Anwendung sich der damit verbun- matisierten Ablauf verstehen können, da es immer nötig ist, formelhafte Textstücke, auch wenn sie formal unverändert bleiben, im Hinblick auf die Faktoren der Kommunikationssituation auszuwählen und in den Verbalisierunsprozeß einzupassen“. 10 Diesen Aspekt betont auch Tannen (unter Berufung auf neurolinguistische Forschungen): „Here I argue that the relative automaticity of repetition facilitates language production in conversation“ (1987, S. 581). 11 Das lässt sich etwa am Beispiel der Kommunikation zwischen Muttersprachlern und Nicht-Muttersprachlern sehr deutlich zeigen (vgl. Gülich/ Krafft 1992). Ulrich Dausendschön-Gay / Elisabeth Gülich / Ulrich Krafft 186 denen Kontextualisierungsleistungen (also z.B. auch der stilistischen Besonderheit der zuvor gebrauchten Ausdrücke „jeder erzählt sein scheiß“ und „ALles hat mich angekotzt“) bewusst ist, sie einzusetzen vermag und diese Kompetenzen beim Gesprächspartner, dem Therapeuten, gleichermaßen voraussetzt, was dieser non-verbal bestätigt. Die Patientin rekurriert nach den beiden ersten Beispielen, die eingangs zitiert wurden, im Laufe des psychotherapeutischen Gesprächs noch mehrfach auf Ausdrücke wie „son scheiß“ oder „alles kotzt mich an“. Sie markiert sie manchmal, aber nicht immer durch den vorgeformten Kommentar „auf deutsch gesagt“; markierte Verwendungen wechseln sich also mit unmarkierten ab. 12 Offensichtlich hat dieser Phraseologismus in dem Gespräch eine größere Reichweite als nur den Bezug auf den unmittelbar vorangehenden Ausdruck und gilt auch noch für nachfolgende Ausdrücke desselben Typs. Wenn wir das Produzieren vorgeformter Ausdrücke als Formulierungsverfahren bezeichnen, das eine Orientierung am Modell deutlich macht, dann qualifizieren wir damit die zu beobachtenden Aktivitäten (z.B. Markierung der Wörtlichkeit, metadiskursive Kommentierung, gemeinsame Arbeit an der Form, konversationelle Bearbeitung) als rekurrente Methoden, die bei der Lösung anstehender Formulierungsaufgaben eingesetzt werden. Es handelt sich demnach um einen weiteren Typ von Formulierungsverfahren neben anderen bereits beschriebenen wie etwa Verfahren der ‘Reformulierung’ und der ‘Redebewertung und -kommentierung’ (Gülich/ Kotschi 1996), rhetorische Verfahren wie z.B. ‘Forcieren’ (Kallmeyer/ Schmitt 1996) oder ‘Unterstützen’ (Schmitt 1997) oder auch einem so allgemeinen konversationellen und zugleich auch poetischen Verfahren wie der von Tannen (1987) ausführlich beschriebenen „repetition“, die eine besondere Nähe zu vorgeformten Strukturen aufweist. 13 Damit ordnen wir unsere Analyse vorgeformter Strukturen in einen anderen Forschungskontext ein als den der Phraseologie, 14 die traditionellerweise den Rahmen für die Beschreibung zumindest einiger Typen vorgeformter Ausdrücke abgibt. Zwar haben sich auch in diesem Gebiet Entwicklungen voll- 12 Darauf dass in Gesprächen ‘formelhafte Wendungen’ häufig durch einen Kommentar als solche markiert und damit als formelhaft definiert werden, hat bereits Quasthoff (1981) hingewiesen. 13 „Analysis of repetition in conversation supports a view of language as relatively prepatterned rather than generated“ (Tannen 1987, S. 576). 14 Für einen neueren Überblick über dieses Gebiet vgl. Burger (1998). Vorgeformtheit als Ressource im Formulierungs- und Verständigungsprozess 187 zogen, die zu Erweiterungen des Gegenstandsbereichs geführt haben: von phraseologischen Ausdrücken (des Typs „auf deutsch gesagt“, „den lieben Gott einen guten Mann sein lassen“ oder „alle Wege führen nach Rom“) über ‘Routineformeln’ (wie „gute Besserung“) bzw. ‘diskursive Routinen’ (wie „ich komme zum Schluss“) 15 bis zu ‘formelhaften Texten’ (wie Todesanzeigen, Danksagungen, Absagebriefen usw.); 16 ebenso hat das Interesse an den Funktionen vorgeformter Ausdrücke im Text und in der Kommunikation stark zugenommen. 17 Gleichwohl richtet sich die Aufmerksamkeit in der phraseologischen Forschung nach wie vor hauptsächlich auf Produkte verbaler Aktivitäten und nicht - oder nur ansatzweise - auf den Prozess 18 ihrer Produktion. Im Folgenden soll nun ganz bewusst der Produktionsprozess ins Zentrum des Interesses gestellt werden. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf den Prozess konversationeller Formulierungs- und Verständigungsarbeit und auf die Art und Weise, wie Vorgeformtheit in diesem Prozess zum Einsatz kommt. Es soll gezeigt werden, wie vorgeformte Strukturen interaktiv ‘hervorgebracht’ werden und wie die Interaktanten sich bei der Lösung von Formulierungs- und Verständigungsaufgaben an solchen ‘Modellen’ orientieren. In der konversationsanalytischen Forschung sind vorgeformte Strukturen zwar nie ein besonderer Schwerpunkt gewesen, aber wir können doch an einige Arbeiten anknüpfen, vor allem an Drew/ Holt (1988 und 1998), Kallmeyer/ Keim (1986 und 1994) und Quasthoff (1993), in denen sich die Aufmerksamkeit ausdrücklich - wenn auch unter Benutzung anderer Termini - auf den Rekurs auf vorgeformte Strukturen im Gespräch richtet. Drew/ Holt wählen zur Bezeichnung ihres Untersuchungsgegenstands traditionelle Termini wie „idiomatic expressions“ (1988) oder „figurative expressions“ (1998) und definieren sie als „formulaic constructions of more than one word“ (1988, S. 398); ihr Interesse gilt der Entdeckung von Ordnungsstrukturen beim Gebrauch dieser Ausdrücke, ihrer ‘methodischen’ Verwendung 15 Es ist das besondere Verdienst von Coulmas (vgl. z.B. 1981; 1985), die Aufmerksamkeit auf diesen Typ vorgeformter Strukturen gelenkt zu haben. 16 Vgl. Gülich (1988/ 97), Drescher (1994), Stein (1995) und (2001), Dausendschön-Gay/ Gülich/ Krafft (i. Dr.). 17 Diese Entwicklungen lassen sich in dem Anhang zur 2. Auflage von Fleischers Standardwerk gut nachvollziehen (vgl. Fleischer 1982 und 1997). 18 In Gülich (1988/ 97) wird das Interesse am Prozess nur angedeutet; Stein (1995) widmet den „Formulierungsroutinen bei der Textproduktion“ schon ein eigenes Kapitel (Kap. 6); Gülich/ Krafft (1998) beziehen sich ausdrücklich auf Textproduktionsprozesse. Ulrich Dausendschön-Gay / Elisabeth Gülich / Ulrich Krafft 188 und ihrer interaktiven Leistung. 19 Sie beschreiben die Rolle idiomatischer Ausdrücke bei der Beendigung von Themen und beim Übergang zu neuen Themen als „resource for managing certain interactional tasks in conversation“ (1998, S. 518); dabei wird sowohl die Formulierungsleistung 20 berücksichtigt als auch der Aspekt der gemeinsamen Orientierung der Gesprächsteilnehmer, wie z.B. in der folgenden Formulierung deutlich wird: „co-participants regularly and systematically orient to the summary and the closing implications of the figurative expression in the prior turn“ (Drew/ Holt 1998, S. 507, ähnlich: S. 519). Auch Ayaß (1996) beschreibt für die von ihr gefundenen „kategorischen Formulierungen“ („Wer-der-Formulierungen“) eine solche abschließende Funktion und zeigt eine gemeinsame Orientierung von Produzenten und Rezipienten an diesen Formulierungen auf. Diese Aspekte werden auch in unserem Beitrag im Vordergrund stehen. Kallmeyer/ Keim benutzen den Oberbegriff ‘formelhaftes Sprechen’ „für den gesamten Bereich der verfestigten Formulierungen von den Phraseologismen (...) bis hin zu Redensarten, Sprichwörtern und Routineformeln“ (1994, S. 251) - dem entspricht im Wesentlichen unser Konzept von ‘Vorgeformtheit’. Bei Kallmeyer/ Keim stehen „Formulierungsverfahren für formelhaftes Sprechen, d.h. für die Herstellung von formelhaften Ausdrücken und die Markierung des Sprechens als formelhaft“ im Vordergrund; Ziel ihrer Analyse ist es, die Bedeutung des formelhaften Sprechens „für die Symbolisierung der sozialen Identität“ herauszuarbeiten (ebd.). Dabei interessieren sie sich auch für „aktuelle Prozesse der Formelbildung“ (S. 253): „Nicht nur die mehr oder weniger mustergetreue Verwendung geprägter Formeln, sondern auch der fortgesetzte Prozeß der Formelprägung ist fester Bestandteil der alltäglichen Sprachpraxis“ (S. 257). Ähnliche Überlegungen haben uns veranlasst, auch die Orientierung an individuellen Modellen in unsere Analysen einzubeziehen. Anregungen hierzu finden wir auch bei Quasthoff (1993), die sich mit der Darstellung von „Vielfalt oder Konstanz“ in Erzählungen von Kindern einem Thema zuwendet, zu dem es - wie sie einleitend feststellt - kaum einschlägige deskriptive Untersuchungen gibt. Sie führt das darauf zurück, dass „die Vielfalt sprachlicher Formen in der Rede (...) ein Wert an sich zu sein 19 „In this study, we set out to find whether there is some discoverable orderliness to the occurrence of idioms. If there were such order, one could begin to account for the social interactional work idioms are methodically employed to manage” (Drew/ Holt 1988, S. 399). 20 Vgl. z.B. die Überschrift „the use of idioms to formulate complaints“ (1988, S. 400). Vorgeformtheit als Ressource im Formulierungs- und Verständigungsprozess 189 [scheint], die Wiederverwendung häufig benutzter Formen gilt es dementsprechend auszurotten, nicht zu erforschen“ (Quasthoff 1993, S. 45). Quasthoff zeigt nun, dass Kinder, die an drei aufeinanderfolgenden Tagen aus verschiedenen Anlässen dasselbe Ereignis erzählen, einmal gewählte Formulierungsvarianten beibehalten, z.B. syntaktische Konstruktionen, lexikalische Formen, als direkte Rede gerahmte Äußerungen - letztere weisen eine besondere Tendenz zur Invarianz auf (1993, S. 50). Dabei interpretiert sie „Konstanzen (...) nicht einfach und ausschließlich als eine Erinnerung an eine einmal gefundene Lösung eines Formulierungsproblems“, sondern sie meint, dass „innerhalb der jeweils spezifischen verbalen Planung eine Tendenz besteht, bei gleichen globalstrukturellen und semantischen Bedingungen dieselben oder ähnliche Formen zu wählen“ (Quasthoff 1993, S. 49). Solche Fälle - wir sprechen von Orientierung am individuellen Modell - wählen wir im Folgenden als ersten Analysegegenstand, bevor wir uns in einem zweiten Schritt mit der Orientierung an konventionalisierten Formen beschäftigen. 2. Orientierung am individuellen Modell Wir können an anderen ebenso wie an uns selbst in vielfältigen alltäglichen Kontexten beobachten, dass individuelle Formulierungsroutine eine wichtige Rolle bei der Bewältigung von Formulierungsaufgaben spielt: Sprecher machen sich häufig Formulierungserfahrungen aus früheren Kommunikationssituationen zunutze und greifen auf zuvor schon verwendete Formulierungen oder Strukturen zurück, ohne dass deshalb die Formulierungstätigkeit weniger spontan verliefe. Sie orientieren sich an individuellen Formen, die sie sich im Laufe der Zeit erarbeitet haben. So alltäglich und selbstverständlich diese Beobachtung auch sein mag, so wenig ist dieser Aspekt bei der Analyse von Formulierungsaktivitäten bisher systematisch berücksichtigt worden. 21 Und die Frage, woran eine solche Orientierung am individuellen Modell zu erkennen ist, scheint uns alles andere als trivial. Zwar läge es nahe, 21 Stein wirft (im Anschluss an Kallmeyer/ Keim 1994) immerhin die Frage auf, „ob sich die Verfestigung einer bestimmten Formulierung(sweise) nicht nur soziolektal, sondern auch idiolektal bei nur einem einzigen Sprecher vollziehen kann“, meint allerdings, dass bei einem solchen Verfestigungsprozess Sprecher sich bestimmte Formulierungen „als komplexe Einheiten einprägen“ und sie dann „als Versatzstücke abrufen“ können (Stein 1995, S. 253-255). Ulrich Dausendschön-Gay / Elisabeth Gülich / Ulrich Krafft 190 Formulierungsroutine mit ‘flüssigem’ Formulieren in Verbindung zu bringen; und ob ein Sprecher flüssig oder stockend formuliert, lässt sich an einer Vielzahl von Indikatoren zeigen. Aber ‘Orientierung am Modell’ ist weder mit ‘Formulierungsroutine’ noch mit ‘flüssigem Formulieren’ gleichzusetzen, auch wenn es sich hier zweifellos um verwandte Erscheinungen handelt. Im Folgenden sollen zwei Zugänge skizziert werden, die es erlauben, die Orientierung an einem Modell zu erkennen: die Wiederaufnahme von Strukturen in verschiedenen Äußerungen desselben Sprechers (2.1) und metadiskursive Kommentierungen zum Rekurs auf früher bereits benutzte Formulierungen (2.2). 2.1 Wiederaufnahme früherer Formulierungen Beispiel 1: „Wie eine Kamera“ Die erste dieser beiden Möglichkeiten bietet sich, wenn wir über solche Daten desselben Sprechers verfügen, die bei gleichbleibender oder ähnlicher Thematik aus verschiedenen Situationen und/ oder Interaktionen mit verschiedenen Partnern oder zumindest aus verschiedenen Gesprächssequenzen stammen. Im Corpus des Forschungsprojekts „Linguistische Differenzialtypologie epileptischer und anderer anfallsartiger Störungen“ 22 sind gelegentlich solche Fälle zu finden - zum einen weil manche Patienten im Laufe der Jahre mehrmals in dieselbe Klinik kommen und ihre Anfälle somit mehrmals beschreiben, zum anderen weil in einigen Fällen außer den Gesprächen mit Ärzten auch noch Gespräche mit anderen Partnern aufgezeichnet werden. Diese Patienten stehen insofern vor einer schwierigen Formulierungsaufgabe, als sie höchst subjektive, oft auch sehr ungewöhnliche, als „unnormal“ empfundene, in hohem Maße irritierende Wahrnehmungen und Empfindungen verbalisieren müssen, wenn sie aufgefordert werden, ihre ‘Auren’ oder Vorgefühle zu beschreiben. Der Patient in Beispiel 1 (mit dem Pseudonym Herr Vielfalt) rekurriert bei der Beschreibung seiner Sehstörungen auf das Bild der Kamera, das er durch die metadiskursive Einleitungsformel „wie soll ich das beschreiben“ als Verfahren zur Lösung eines Formulierungsproblems darstellt: 22 Das in Zusammenarbeit mit dem Epilepsie-Zentrum Bethel durchgeführte Projekt wurde von 1999-2001 von der DFG gefördert und zeitweise von der Universität Bielefeld unterstützt. Nähere Informationen s. unter www.uni-bielefeld.de/ lili/ projekte/ epiling . Vorgeformtheit als Ressource im Formulierungs- und Verständigungsprozess 191 Beispiel 1.1: Herr Vielfalt, Gespräch I (1995) (Corpus Epiling) 23 1 ich war geistig da’ ich hatte vielleicht ma ne SEH störung’ . das ist ne 2 (schneller) sehstörung, w(ie)=soll ich das beschreiben, + . . stellens(e)= 3 sich ne KAMERA vor die urplötzlich GANZ nah auf ein motiv DRAUF 4 geht’ . und ursprünglich wieder zurückgerissen wird, ne’ . . diesen effekt’ 5 son effekt hab ich bei: den SEH störungen, . . das geht dann so drei vier 6 mal’ . immer schnell hinternander, ne’ . . und dann so schwindelig (...) Das Bild wird adressatenorientiert als Mittel der Veranschaulichung eingeführt („stellnse sich...vor“); das entscheidende bildliche Element ist die schnelle Vor- und Zurück-Bewegung der Kamera. Als im weiteren Verlauf des Gesprächs in einer Frage des Arztes (A) noch einmal das Stichwort ‘Sehstörungen’ fällt, verwendet Herr Vielfalt (V) wiederum dieses Bild: Beispiel 1.2: Herr Vielfalt, Gespräch I (1995, aus einer späteren Gesprächsphase) (Corpus Epiling) 1 A eh: m hler is auch in früheren briefen etwas von . . sEHstörungen 2 geschrieben worden . 3 V ja . hatt ich grAd schon ma gesacht’ das is das wennse ne kAmera nehmen’. 4 und unwahrscheinlich schnell auf ein objekt draufzUfahren das ganz nAH 5 holen’ . und ruckzuck . ganz schnell wieder wechgehen, . auf weite 6 entfernung . dieses nAH’ und wEIt, . 7 A hm’ 8 V so: is das das geht npaar mal ganz schnell hinternander, . 9 A ja’ 10 V da kann ich keine entfernung mehr einordnen’ und dann: . (...) Der Sprecher kennzeichnet hier den Vergleich mit der Kamera ausdrücklich als Wiederaufnahme („hatt ich grad schon ma gesacht“); die schnelle Bewegung wird jetzt durch „ruckzuck“ charakterisiert. Wie beim ersten Mal wird der Aspekt, dass diese Bewegung einige Male schnell hintereinander erfolgt, abschließend noch einmal reformuliert. Dass es sich hier nicht einfach nur um eine ad-hoc-Metapher handelt, sondern um ein Modell, an dem sich der Sprecher bei der Beschreibung seiner Zustände orientiert, wird erst im Formulierungsprozess erkennbar, zum einen im Verlauf des Gesprächs, aus dem in 1.1 und 1.2 zitiert wurde, zum 23 Angaben zu den Transkriptionskonventionen und zu den Corpora, aus denen die jewieligen Transkripte stammen, finden sich im Anhang. Ulrich Dausendschön-Gay / Elisabeth Gülich / Ulrich Krafft 192 anderen im Verlauf der Beschreibungen über die Jahre hinweg (1.3). Als der Patient sich nämlich einige Jahre später wieder in der Klinik vorstellt und die Rede erneut auf die Sehstörungen kommt, verwendet er dasselbe Bild: Beispiel 1.3: Herr Vielfalt, Gespräch II (1999) (Corpus Epiling) 1 V: das sind die sehstörungen die wie ich inner visite auch schon sachte, . . is 2 das gefühl’ . man schaut irgendwo hin und kuckt inne gegend und auf und 3 auf einmal . wIE mit einer kamera, das is ganz schnell, . nahe ran’ und 4 wieder ganz schnell . weit wech, . und das ratz fatz, ratz fatz, . und das 5 etliche male hinternander’ innerhalb von n paar sekunden’ und dann is auf 6 einmal alles wieder gu: t, . und dann muss man . erstmal kucken . dass man 7 wieder n klaren blick kriegt, (...) und dann fehlt . stückchen, . . . das wärn so 8 die seh störungen, die ich ungefähr so beschreiben . beschreiben möchte 9 wie ich sie empfinde, . . also immer wie so, . wie so mitemtm zoom mit so 10 ner kamera, . .ran’/ (...) Die zentralen Elemente: die Kamera, die schnelle Hin- und Her-Bewegung, diesmal durch „ratz fatz“ verdeutlicht, und das mehrmalige Hintereinander dieser Bewegung werden auch diesmal aktiviert. Offensichtlich hat Herr Vielfalt sich ein ‘Modell’ erarbeitet, das als Formulierungsressource für die Beschreibung seiner Sehstörungen fungiert und das eben diese drei zentralen Komponenten aufweist: die Kamera als lexikalischen Kern, die schnelle Hin- und Her-Bewegung und die Wiederholung dieser Bewegung. Die Komponenten kommen in allen drei Gesprächsausschnitten vor, werden aber nicht jedes Mal in derselben Weise formuliert, sondern die genaue Formulierung ist in jedem Ausschnitt etwas anders. Herr Vielfalt greift also nicht auf ein Repertoire an vorgeformten Ausdrücken zurück, die er reproduziert, sondern er verfügt über ein metaphorisches Konzept 24 und ein Formulierungsmodell, an denen er sich orientiert. Dabei macht er im 2. und 3. Ausschnitt durch den Verweis auf frühere Kommunikationssituationen deutlich, dass er auf Vorformuliertes zurückgreift („hatt ich grad schon ma gesacht“ in 1.2, „wie ich inner visite auch schon sachte“ in 1.3). Trotz des metadiskursiven Kommentars „wie soll ich das beschreiben“, der bei vielen Patienten auf einen Beschreibungsnotstand hinweist, formuliert er seine Beschreibung sehr flüssig. Insofern kann man bei ihm - was bei chronisch kranken Patienten 24 ‘Metaphorisches Konzept’ ist im Sinne von Lakoff/ Johnson (1980/ 1998 und 1999) gemeint; für eine ausführliche Untersuchung der metaphorischen Konzeptualisierungen in Gesprächen mit AnfallspatientInnen vgl. Surmann (2002 und 2005). Vorgeformtheit als Ressource im Formulierungs- und Verständigungsprozess 193 zwar naheliegend, aber trotzdem keineswegs immer gegeben ist - eine gewisse Formulierungsroutine erkennen. Das ist aber nicht das Entscheidende, sondern uns kommt es auf die Orientierung an dem Kamera-Modell an und auf die Art und Weise, wie der Sprecher jeweils die Formulierung ausweist als eine, die dem gewählten Modell entspricht; das wird durch den metadiskursiven Kommentar und die Technik der Redewiedergabe - in diesem Fall des Selbstzitats - geleistet. Beispiel 2: „dann sacht sich die muskelzelle“ Das zweite Beispiel stammt aus einem anderen Corpus, nämlich aus Aufnahmen, die in einer Reha-Klinik von Seminaren und Vorträgen für PatientInnen mit Herzerkrankungen gemacht wurden. 25 Im vorliegenden Fall handelt es sich um Ausschnitte aus Vorträgen von Sporttherapeuten, die an unterschiedliche Adressatengruppen gerichtet sind, sich aber auf dasselbe Thema beziehen, nämlich den Einfluss von Ausdauersport auf den Fettstoffwechsel. Der Vortragende löst die Aufgabe, relativ komplexe physiologische Vorgänge einem Laienpublikum (das ist es in beiden Fällen) verständlich zu machen, durch die Wahl verschiedener Verfahren der Veranschaulichung. Zentral in diesen Ausschnitten ist das Bild der personifizierten Muskelzelle, 26 die hier als redendes Subjekt auftritt. Beispiel 2.1: „Fettstoffwechsel und Sport“: Seminar für Herzpatienten (Corpus „Herz“) 1 der . zweite große positive aff/ as/ äh effekt über den fettstoffwechsel is 2 folgender, . . nehm wer ma an es is montag nachmittag’ . . sie entscheiden 3 sich jetz ne halbe bis dreiviertel stunde entweder zu laufn zu schwimmen 4 zu wandern oder radzufahren, oder aufm ergometer aufm heimtrainer zu 5 sitzen’ . . äh ne halbe stunde’ . dann würde der fettstoffwechsel . 6 einigermaßen gut laufen, . . so jetz hörn sie auf . . komm wieder nach hause 7 oder beziehungsweise beendn nach ner halben stunde das training’ . . . dann 8 hört das aber hier nicht auf . . dann passiert nämlich folgendes . . die 25 Es handelt sich also um Fälle von Experten-Laien-Kommunikation: Die Experten (Ärzte, Sporttherapeuten, Psychologen) haben die Aufgabe, den Patienten das medizinische Wissen zu vermitteln, welches den Umgang mit einer chronischen Erkrankung erleichtert; zur Analyse solcher Kommunikation vgl. Brünner/ Gülich (2002), Gülich (2003). 26 Lakoff/ Johnson rechnen diesen Typ von Metaphern, „bei denen das physische Objekt näher spezifiziert wird in Gestalt einer Person“ (1998, S. 44) zur großen Gruppe der „ontologischen Metaphern“ und widmen ihm ein eigenes Kapitel (Kap. 7). Ulrich Dausendschön-Gay / Elisabeth Gülich / Ulrich Krafft 194 9 muskelzelle’ . . die sacht sich jetz folgendes, . . wenn der kerl morgen 10 nochma läuft’ . . <Lachen> fang ich jetz schon mal an . weiter triglyzeride 11 zu spaltn’ . und sie schon mal hier in die muskelzelle einzulagern’ damit ich 12 se morgn habe wenner nochma läuft, . . . das heißt es gibt bei dem 13 fettstoffwechsel eine sogenannte NACH brennerphase, und diese 14 nachbrennerphase läuft je nachdem was sie getan habn zwischen zwei und 15 acht stundn, . . . wenn sie also zwei stundn radfahrn' . . ham se sechs bis 16 acht stundn danach immer noch fettstoff wechselarbeit, . . . <es folgt das 17 Beispiel eines Marathonläufers> (...) <lauter> das heißt jetzt' . . so jetz is 18 dienstach’ . . von montach auf dienstach, . . jetz laufn se dienstag NICHT ' . 19 . dann sacht sich die muskelzelle’ okay ein tach geb=ich ihm noch, . . 20 <Lachen> laufen sie mittwoch wieder nicht' . . dann werden die triglyzeride 21 aus der muskelzelle wieder ins blut zurück ausgeschüttet, . . . In diesem Beispiel entwirft der Vortragende zur Veranschaulichung der Konsequenzen des Ausdauertrainings ein ‘Szenario’ 27 („nehm wer ma an...“), als dessen zentrales Element die Inszenierung von Selbstgesprächen der Muskelzelle im Verlauf mehrerer Tage fungiert („die muskelzelle’.. die sacht sich jetz folgendes“, vgl. Z. 8-12 und 18-19). Man sieht schon an diesem Ausschnitt, dass die Personifizierung der Muskelzelle keine Einzelmetapher ist, sondern dass sie als Modell fungiert, an dem sich die gesamte Beschreibung orientiert. Das bestätigt der zweite Ausschnitt aus einem anderen Vortrag, in dem es um dasselbe Phänomen geht, der sich aber nicht an Patienten, sondern an Studierende eines linguistischen Seminars richtet: Beispiel 2.2: Stressbewältigung durch Ausdauersport (Universität Bielefeld, 11/ 1995) (Corpus „Herz“) 1 . < EA > s also so’ . WE nn . äh . . jetzt sagn w(e) mal se sind von 17 bis 18 2 uhr gelaufen . gejoggt & haben sport getrieben . dann sacht sich jetzt die 3 muskelzelle . . . wenn er morgen nochmal läuft . . dann fang ich JET zt 4 schon mal an’ .blutfette weiter zu spalten und s(e) schon mal in die 5 muskulatur einzulagern < TMP +> damit ich s(e) morgen zur verfügung 6 habe wenn er nochmal läuft + . das nennt man trainingseffekt . . < TMP +> 7 nichts anderes ist körperliches training + . . < EA > LÄU ft man am nächsten 8 tag NICHT ’ . dann sacht sich die muskelzelle & okay einen tach geb ich 9 ihm noch + . . läuft man dann WIE der nicht’ . dann wird DAS was in der 27 Das ‘Szenario’ wird in Brünner/ Gülich (2002) als ein Veranschaulichungsverfahren unter anderen beschrieben; vgl. außerdem Gülich (2003), wo dieses Beispiel ausführlicher analysiert wird. Vorgeformtheit als Ressource im Formulierungs- und Verständigungsprozess 195 10 muskelzelle eingelagert is(t) wieder in die blutbahn ausgeschüttet . . das 11 heißt’ ich beginne . . mittwoch oder donnerstach wieder mit dem gleichen 12 fettwert wie . . montach um 17 uhr (...) Hier wird zwar nicht wie im vorigen Ausschnitt zu Beginn ausdrücklich ein Szenario entwickelt, das sich von Montag über Dienstag bis Mittwoch erstreckt, sondern dieses wird erst rückwirkend etabliert, aber auch hier orientiert sich die Beschreibung am Bild der sprechenden Muskelzelle im zeitlichen Verlauf (Z. 2-6 und Z. 8). Wörtliche Übereinstimmung ist dabei - wie schon oben im Fall von Herrn Vielfalt - nur zum Teil gegeben; eine genaue wörtliche Wiederaufnahme liegt nur bei „einen tach geb ich ihm noch“ vor. Die Selbstgespräche der Muskelzelle, jeweils gekennzeichnet durch Redeeinleitungen vom Typ „dann sacht sich die Muskelzelle“, weisen durchaus Varianten z.B. in der Reihenfolge oder im Vokabular auf, daneben aber auch ein hohes Maß an Konstanz in den Formulierungen. ‘Orientierung am Modell’ bedeutet - um die oben angeführten Überlegungen von Quasthoff (1993) wieder aufzunehmen - Konstanz und Variation: die Inszenierung bestimmt als konstante Struktur die ganze Erklärungssequenz, auch wenn sich in den einzelnen Formulierungen Varianten finden. Auch Quasthoff hat in ihrem Material die Wiederaufnahme der „wortwörtlich identischen Form“ nur in Ausnahmefällen gefunden und spricht von einer „Tendenz“ zur Wahl derselben oder ähnlicher Formen - das bedeutet lediglich eine Orientierung an einer einmal gefundenen Form, nicht eine Reproduktion (Quasthoff 1993, S. 49, s.o. Zitat in Abschn. 1). Das dritte Beispiel für die Orientierung am Modell der personalisierten Muskelzelle stammt von einem anderen Sporttherapeuten, der aber in derselben Reha-Klinik tätig ist wie der erste: Beispiel 2.3: „Herz und Sport“ (Vortrag in einer Rehaklinik) (Corpus „Herz“) 1 . ja’ + . sie müssn sich das sO vorstelln’ . dur: ch . das training . . erhält die 2 muskulatur einen rEIZ’ . ja’ . um mEhrarbeit zu lEIstn, . und jedes training 3 bewirkt glEIchzeitich so=ne zurückhaltung von energiereserven’ . . u: nd . 4 wenn sie jetz . ein tag NAch dem trAIning’ . keine . belastung folgen lassn’ 5 dann sacht sich der muskel’ . . ein tach gEb ich ihm jetz noch, . ja’ . wenn 6 sie dann am zweitn tach . AUCH nichts tun’ . dann sacht sich der muskel’ 7 & warum soll=ich die enregiereservn zurückhaltn’ & ich geb sie dem 8 körper widder, . ja’ . so dass . einklich . zWIschn den einzelnen 9 trAIningseinheiten nIE . zwei tage beziehungsweise drEI tage liegn solltn, . 10 ja’ . . . (...) Ulrich Dausendschön-Gay / Elisabeth Gülich / Ulrich Krafft 196 Auch dieser Sprecher beschreibt den physiologischen Trainingseffekt mit der Metapher der Selbstgespräche führenden Muskelzelle. Auch bei ihm sagt sich der Muskel „ein tach geb ich ihm noch“ (Z. 5), aber die Einbettung der Äußerung weicht von der des vorherigen Sprechers ab. Und ein deutlicher - und für unsere Fragestellung signifikanter - Unterschied liegt vor allem darin, dass dieser Sprecher die Muskelzelle auch in wörtlicher Rede den Fall kommentieren lässt, der eintritt, wenn auch am dritten Tag („Mittwoch“) keine neue Trainingseinheit folgt (Z.7/ 8: „warum soll ich die energiereserven zurückhalten...“). Für diesen Fall hatte der vorherige Sprecher lediglich die Konsequenzen beschrieben (Triglyzeride werden wieder ausgeschüttet, vgl. Z. 19-21 in Beispiel 2.1 und Z. 9-12 in Beispiel 2.2). Gerade dieser Unterschied macht besonders deutlich, dass sich beide nicht an bestimmten vorgeformten Ausdrücken, sondern an demselben Modell orientieren. Die wörtliche Übereinstimmung bei „ein tach geb ich ihm noch“ spielt dabei nur eine geringe Rolle. Im Vergleich zu dem Kamera-Bild des Herrn Vielfalt dürfte das Modell der personifizierten Muskelzelle eine größere Reichweite haben; es lässt sich vermutlich für mehr Aspekte der physiologischen Trainingseffekte nutzen als das Bild der Kamera für die Sehstörungen. Die beiden Beispiele zeigen, dass die Reichweite ein wichtiges Charakteristikum von Modellen ist. Mit dem letzten Beispiel haben wir uns von der Orientierung am individuellen Modell schon ein Stück entfernt, denn hier handelt es sich ja offensichtlich um ein überindividuelles Modell, das zumindest unter diesen beiden Sporttherapeuten, vielleicht auch darüber hinaus in der ‘Diskursgemeinschaft’ der Sporttherapeuten der Klinik, „geteilt“ ist. Darüber hinaus lässt sich die Personifikation der Muskelzelle in das konventionelle Metaphernsystem der „ontologischen Metaphern“ einordnen (Lakoff und Johnson 1980/ 1998, Kap. 6), mit dessen Hilfe sehr häufig physische Objekte und Erfahrungen - nicht zuletzt auch im Bereich von Krankheit und Gesundheit - konzeptualisiert werden (s.o. Anm.26): „Mit Hilfe dieser Metaphern können wir eine Fülle von Erfahrungen mit nichtpersonifizierten Entitäten begreifen, indem wir diesen Erfahrungen menschliche Motivationen, Merkmale und Tätigkeiten zugrunde legen“ (Lakoff/ Johnson 1998, S. 44). Das führt zu - mehr oder weniger - vorgeformten Ausdrücken wie „das Herz liebt Bewegung“, „der Schmerz kommt und geht“, „die Beine versagen den Dienst“ usw. (vgl. Brünner/ Gülich 2002, S. 30-32). Wenn die zitierten Sporttherapeuten die Muskelzelle als sprachlich handelnde Person auftreten las- Vorgeformtheit als Ressource im Formulierungs- und Verständigungsprozess 197 sen, orientieren sie sich also bei aller individuellen Formulierungsarbeit an dem wesentlich weiter reichenden, allerdings auch sehr abstrakten Modell ontologischer Metaphernsysteme, die die gemeinsame Grundlage für die Verständigung mit Hilfe solcher Metaphern bilden. Im Unterschied zu den hier besprochenen Modellen sind solche Systeme aber keine Formulierungsmodelle: Dass hier die Muskelzelle personifiziert wird und im Selbstgespräch mit direkter Rede auftritt, ist durch die Konzeptualisierung des physischen Objekts als Person nicht vorgegeben. 2.2 Metadiskursive Kommentare zur eigenen Formulierungstätigkeit Der zweite der beiden oben genannten Zugänge zur Orientierung am individuellen Modell neben der Wiederaufnahme eigener Lösungen von Formulierungsaufgaben liegt in der Analyse von metadiskursiven Kommentaren zur eigenen Formulierungstätigkeit, in denen der Sprecher auf die Orientierung an einem bereits existierenden Modell hinweist. Ein Beispiel bietet der folgende Ausschnitt aus einem Arzt-Patient-Gespräch, in dem es - wie oben in Beispiel 1 - um die Beschreibung von Anfällen geht: Beispiel 3: „ich überlege gerade wie ich das schon mal beschrIE: ben habe“ (Corpus Epiling) (L: Frau Lerens, A: Arzt) 1 L ich hab das gefÜhl dass . . (langsamer) etwas . dUrch mich: . gegangen Is: t, 2 wie + . ich wEIß nicht wie ein . elektrisches . ,ähm . strom oder etwas . . es 3 hat lAng nich lange gedauert’ einfach . sofOrt durch, 4 A sie zeigen so von rechts nach links, . und sie zeigen nich von oben nach 5 unten’ oder von unten nach oben sondern sie zeigens sO . 6 L (das) is sO lange her aber ich glAUbe dass ist . . . ja m/ sEItlich, [pfh: ] 7 A hm, hm’ hm, hm’ hm, hm’* . 8 L ich glAUbe jedenfalls,* ich mein wenn ich daran denken muss’ ich . . ja, 9 A wie ein elektrischer strom, 10 L irgendwie . sO: , . hm es war nIch ganz stArk’ und es hat AUch nich lange 11 gedauert, . . äh: m . . . mein gedächtnis is nich so gut so ich ich ich . über 12 lEge eigentlich wIE ich das schOnmal ges/ ge/ ähm, . äh: m, . beschrIE: ben 13 habe, . . und dA: nn . ,äh: m . ich war . ich war für zwei wochen im kranken 14 haus, . und dann wÄhrend . dIEser zeit’ (...) Frau Lerens - wie Herr Vielfalt (Beispiel 1) eine anfallskranke Patientin - steht vor derselben Formulierungsaufgabe wie er: Sie soll das Gefühl beschreiben, das sie bei bzw. vor einem Anfall empfindet. Die Beschreibung, Ulrich Dausendschön-Gay / Elisabeth Gülich / Ulrich Krafft 198 bei der sie sich des Vergleichs mit einem elektrischen Strom bedient, verläuft zögernd, ist durchsetzt mit Pausen, Wiederholungen, Selbstkorrekturen. Als der Arzt sie auf ihre begleitende Gestik anspricht, macht sie eine gewisse Unsicherheit deutlich, die sich noch verstärkt, als er das Bild des elektrischen Stroms wieder aufnimmt. An dieser Stelle thematisiert sie ausdrücklich das Bemühen, sich am Modell früherer Beschreibungen zu orientieren: „mein gedächtnis is nich so gut so ich ich ich . überlEge eigentlich wIE ich das schOnmal ges/ ge/ ähm, . äh: m, . beschrIE: ben habe,“. Eine große Anzahl von Verzögerungsindikatoren machen die Formulierungsarbeit deutlich, die mit dieser Orientierung verbunden ist. Ein solcher Kommentar ist in diesem Corpus kein Einzelfall. Manche Kommentare sind selbst vorgeformt, z.B. „sagen wir mal“, „ich sach mal“. Manche lassen erkennen, dass der Patient oder die Patientin eine Sprachregelung für bestimmte Anfallsphänomene gefunden und für sich etabliert hat. So antwortet z.B. eine Patientin („Frau Tell“) auf die Frage des Arztes nach dem Beginn ihrer Anfälle: „dann fängt dat an’ ich (? haben die jetz als so komisches sehen) in anführungsstrichen <lachend> bezeichnet“. In einem späteren Teil des Gesprächs nimmt sie den Ausdruck wieder auf und versieht ihn erneut mit einem Kommentar, der ausdrücklich auf eine vereinbarte Vorformulierung hinweist: „dann is das so=so stichartig dieses ja ‚komisches sehen ,nennen wir das ja immer . das is so<EA> . eben, ja wie soll ich das erklÄren,“ (Corpus Epiling). Solche Kommentare legen die Vermutung nahe, dass die immer wieder als besonders schwierig bewertete Formulierungsaufgabe, subjektive Anfalls- oder Aura-Empfindungen zu beschreiben, die als eigentlich unbeschreibbar dargestellt werden, 28 sich gegebenenfalls durch die Orientierung an einem einmal erarbeiteten Formulierungsmodell lösen lässt. Aber auch wenn die Orientierung am Modell die Lösung des anstehenden Formulierungsproblems erleichtert, verläuft die Arbeit daran doch nicht ohne Anstrengung. 3. Orientierung an der konventionalisierten Form Neben den individuellen Modellen gibt es konventionalisierte Formen, d.h. Modelle, über die im Prinzip alle Mitglieder einer Diskursgemeinschaft verfügen. Für eine gegebene Interaktion bedeutet dies, dass alle Beteiligten damit rechnen können, dass ihre Partner diese Formen kennen. Dazu gehö- 28 Zur ‘Unbeschreibbarkeit’ vgl. Gülich/ Furchner (2002) und Gülich (2005). Vorgeformtheit als Ressource im Formulierungs- und Verständigungsprozess 199 ren z.B. Textmuster zur Herstellung „formelhafter Texte“ (Gülich 1988/ 97), pragmatische Idiome, wie vielen Dank oder ich komme zum dritten Punkt. (Coulmas 1985), idiomatische Ausdrücke, sogenannte „Phraseologismen“: Gemeinplätze wie Ende gut, alles gut, Ausdrücke wie bei jemandem einen Stein im Brett haben oder der blinde Passagier. Im Folgenden geht es um so genannte „idiomatische Phraseologismen“, 29 und zwar insbesondere um bildhafte Ausdrücke. 3.1 Unauffällige und auffällige Verwendung von Phraseologismen - Phraseologismen und Textstruktur Zunächst eine allgemeine Beobachtung: Es ist nicht leicht, idiomatische Phraseologismen (also vom Typ „jemandes Herz stehlen“) im Gespräch zu untersuchen, weil sie nämlich in Transkripten nur selten auftauchen, und dann oft ganz unauffällig gebraucht werden, wie im folgenden Beispiel 4, Z. 5-6: weil ich WIE aus heiterm himmel von den dingen überrascht wurde. „Unauffällig“ meint zweierlei: Der Ausdruck entspricht inhaltlich und formal den Erwartungen, und er wird „wie ein Wort“ (Burger) gebraucht, in diesem Fall: als adverbiale Bestimmung der Art und Weise mit der Bedeutung „völlig unerwartet“. Das zweite Vorkommen desselben Ausdrucks (16) dagegen ist zwar phraseologisch weiterhin unauffällig, indem es in Form und Bedeutung allen Erwartungen entspricht; konversationell aber ist es interesssant, weil der Sprecher den Ausdruck prosodisch (Rhythmus, Akzentuierung, „betroffene“ Stimme) hervorhebt und somit der Aufmerksamkeit seines Partners anempfiehlt: Beispiel 4: „WIE aus heiterm himmel“ (Corpus KardioReha) Aus einem Interview mit einem Herzpatienten: Auf die Frage des Interviewers (= I) nach der Entscheidung für einen Aufenthalt in einer Rehaklinik hat der Patient (= P) geantwortet, dass seine Dienststelle diesen in die Wege geleitet hat. 29 Ein Ausdruck wird dann „idiomatisch“ genannt, wenn „die Komponenten eine durch die syntaktischen und semantischen Regularitäten der Verknüpfung nicht voll erklärbare Einheit bilden“ (Burger 1998, S. 15). Ulrich Dausendschön-Gay / Elisabeth Gülich / Ulrich Krafft 200 1 I ach so die ham schon gesacht äh . hier der sozialdienst bei der . 2 bundes post . . dass man (? dass das) 3 P ich hatte überhaupt über nichts nachgedacht weil: ich WIE aus 4 heiterm himmel von den dingen überrascht <I: ja> 5 wurde, aber <I: ja> da wurde das schon alles äh äh über meine 6 frau im grund genommen schon äh n bisschen gefädelt 7 I & ah so das heißt sie sind ja aufm arbeitsplatz auch umgekippt’ 8 und es passierte 9 P & AM arbeitsplatz passiert, morgens hingefahren mit . genauso . 10 fröhlich wie immer und . . <<betont, rhythmisch> WIE aus 11 heiterm himmel, > 12 I hm (4 Sek.) ja und dann hattn sie auch gar nich äh äh überlegt ob 13 [Ort] oder woanders (...) Der Patient spricht zunächst über die Planung des Klinikaufenthaltes. Er konnte nicht planen (3), weil er von den dingen überrascht wurde (4). Der phraseologische Ausdruck „wie aus heiterem Himmel“ bezeichnet im Verlauf der Darstellung (3-4) ein Merkmal des Ereignisses, nämlich seine Unvorhersehbarkeit. Nun wechselt der Fokus: Der Interviewer fragt nach dem Hergang des Infarkts (7-8). Der Patient geht bestätigend und detaillierend (9- 10) auf die Frage ein und schließt nun mit dem Ausdruck WIE aus heiterm himmel (10-11), den er diesmal prosodisch durch Akzentuierung, Rhythmisierung und „betroffene“ Stimme herausstellt. I reagiert ratifizierend mit hm (12). Es folgen 4 Sekunden Pause, dann kommt I auf das Thema der Planung zurück. Mit der prosodischen Hervorhebung, der Pause und dem Themenwechsel geben I und P dem Ausdruck „wie aus heiterem Himmel“ den Status eines Schlussworts, das die vorausgegangene Darstellung (genauso fröhlich wie immer, 9-10) abschließt - das ist sein textstruktureller Wert 30 - und darüber hinaus interpretiert: Die Unvorhersehbarkeit scheint für P ein äußerst wichtiges Merkmal seiner Erkrankung zu sein. Damit erhält der Ausdruck hier den Wert eines Fazits. 31 Ähnliche Beobachtungen lassen sich an Beispiel 5 anstellen. Hier antwortet ein Infarktpatient auf die Frage, ob es ein leichter oder ein schwerer Infarkt war (1-2): 30 Phraseologische Ausdrücke in der Funktion eines Schlusswortes werden ausführlich von Drew/ Holt (1988, S. 198) analysiert. 31 Plötzlichkeit und Unvorhersehbarkeit scheinen für Infarktpatienten oft sehr wichtige Merkmale ihrer Erkrankung zu sein. Jedenfalls findet sich der Ausdruck „(wie ein Blitz) aus heiterem Himmel“ auffällig häufig in Infarktschilderungen. Vorgeformtheit als Ressource im Formulierungs- und Verständigungsprozess 201 Beispiel 5: „quasi dem tod vonner schippe gesprungen“ 32 (Corpus Kardio- Reha) I = Interviewer, P = Patient 1 I (...) ist es denn n ’schWErer oder n lEIchter & oder & 2 mittelschwerer herzinfarkt 3 P wie is ’ja ich mein ähm pf es & soll n schWErer gewesen sein, 4 inSOfern weil äh ich wohl auch ’Im krankenhaus . 5 ’WIEDerbelebt werden musste’ <I: ‚ja> mit also mit 6 elektroschocks nehm ich an hat mans . [ge]mAcht ,ja <I: hm> . . 7 also von ’DAher denk ich schon wars nicht so ’EInfach ne’ es war 8 n ’VORderwandinfarkt . . <I: hm> woBEI äh bei im Nachhinein 9 . äh nach dieser kaTHEteruntersuchung . eben sich herausstellte 10 es sind zwar zwei gefäße ’ANgegriffen <I: ja> brauchen aber 11 wEder mit nem ballon beziehungsweise . mit BYpässen . <I: 12 mhm> . operiert zu werden oder so ne . . also von ’dAher . . äh 13 ’auch jEtzt die WErte es soll also wirklich alles ’TOP sein 14 <I: hm> ich werd dienstag entLAssen <I: hm> ich ’FÜhl 13 mich also auch ganz gut und von daher ja 14 I ja . . SInd sie quasi dem tod vonner ’schippe gesprungen, kann 15 man so sagen ne’ 16 P ja 17 I im WAHrsten sinne des WORtes 18 P im ’wahrsten sinne des ,wortes ja 19 I (? meine güte...) 20 P hm ja wie gesagt & is für mich schwer NACHzuvollziehen weil 21 ich hab . die ANzeichen (...) Auch hier schließt die Darstellung mit einem phraseologischen Ausdruck (dem tod vonner schippe gesprungen, 14), der wieder formal und inhaltlich ganz unauffällig ist. Allerdings wird der Ausdruck in diesem Fall vom Adressaten der Darstellung angeboten, der ihn konversationell auffällig macht, indem er ihn stark bearbeitet: 14 I ja . . SInd sie quasi dem tod vonner ’schippe gesprungen, kann 15 man so sagen ne’ 32 Aus einem Interview (E/ 10) im Rahmen des Projekts „Kardiologische Rehabilitation“ von B. Badura, G. Grande, T. Schott, Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld; Transkription: O. Jäger 5/ 2002. Ulrich Dausendschön-Gay / Elisabeth Gülich / Ulrich Krafft 202 Quasi ist ein „Heckenausdruck“, mit dem die folgende Formulierung als vorläufig oder nur annähernd passend gekennzeichnet wird. Kann man so sagen ne' (mit steigender Intonation) antwortet dem quasi, indem es den Partner zu bestätigen bittet, dass die angebotene Formulierung angemessen ist. Diese Vorsichtsmaßnahmen sind insofern angebracht, als der Interviewer hier die Frage, die er eingangs dem Patienten gestellt hatte (ist es denn n ’schWErer oder n lEIchter & oder & mittelschwerer herzinfarkt, 1-2) selbst beantwortet und dessen Erzählung bilanziert. Der Patient bestätigt mit ja die Angemessenheit des Fazits, und daraufhin wird die Formel bekräftigt; das tun beide mit einem weiteren idiomatischen Ausdruck: 17 I im WAHrsten sinne des WORtes 18 P im ’wahrsten sinne des ,wortes ja Auch hier bietet der Interviewer den Ausdruck an, und P bestätigt wiederum, indem er den Ausdruck wörtlich wiederaufnimmt und mit ja ratifiziert. Ein ganz ähnlicher Befund zeigt sich schließlich in Beispiel 6. Herr Mander, der an einer Epilepsie leidet, berichtet nach einer indirekten Aufforderung des Arztes (7-9) detailliert von seinem ersten großen Anfall. Er ist vor einer Telefonzelle zusammengebrochen und im Krankenhaus wieder zu sich gekommen. Wie in Beispiel 4 bietet sein Partner eine Formel an, die den Vorgang angemessen resümieren soll (16): Beispiel 6: „das kam aus heiterem himmel“ (Corpus Epiling) M = Herr Mander, A = Arzt 1 M und das is für mich sowieso nproblem . weil ich . . . dA . schwierigkeiten 2 hab mit umzugehen . . den . unterschied zwischen . und was ich 3 jetzt sElber empfinde <A: ja> oder empfunden hAb' . ,also is: . 4 was jetz wirklich richtig oder was <A: hmhm'> gewesen is' <A: 5 ja> oder . äh: . was jetz Anderes leute oder . zum beispiel meine 6 mutter in dem fall . gesEhn hat 7 A . wobei sie durchaus manchmal selbst auch anfallsartige 8 ereignisse mitkriegen' aber andere . wenn ich sie richtig richtig 9 verstehe' <M: ja> [ eher mitbekommen] 10 M [swar so ] ich hab also . 11 äh=einen . den Ersten grOßen anfall gehabt’ das war im: . 12 sechsundachtzig’ . den hab das/ da bin ich: vor ner telefonzelle Vorgeformtheit als Ressource im Formulierungs- und Verständigungsprozess 203 13 umgekippt das war eindeutig das <A: (lacht kurz)> das war also nich: 14 irgen(d)wie: . . . das konnt=ich/ da war ich/ dann hab ich mich halt in 15 einem krankenhaus wiedergefunden, das war dann eindeutig, 16 A da ham sie gar nichts gemerkt davor’ das kam aus heiterem himmel, . 17 oder 18 M das kam . aus hEIterem himmel, das heißt . ich hab mich da zu 19 der zeit auf mein . theologieexamen vorbereitet’ . und war halt 20 ziemlich: äh [m . ] im strEss oder druck’ un: (d) . najA, . dann 21 zAck auf einma(l) fiel ich um’ und . fand mich im krankenhaus 22 wieder, Herr Mander greift die vom Arzt angebotene Formel auf und bewertet sie damit als angemessen (18); sie resümiert einen wichtigen Aspekt des Berichts über den ersten Anfall. Herr Mander hat sich mit fallender Intonation geäußert. Er könnte nun zu einem anderen Thema übergehen oder mit einer Pause dem Arzt die Initiative überlassen, und dann würde der bildhafte Phraseologismus auch hier einen Abschluss markieren. Herr Mander entscheidet aber anders: Er fährt mit einer Korrektur fort (das heißt, 18), mit der er das Fazit, das die Unvorhersehbarkeit des Anfalls betonte, wieder in Frage stellt; denn das kommende Examen setzte ihn doch sehr unter Druck: ich hab mich da zu der zeit auf mein . theologieexamen vorbereitet’ . und war halt ziemlich: äh [m . ] im strEss oder druck’ un: (d) . najA, . dann zAck auf einma(l) fiel ich um’ (18-21). Hier wird ein direkter Zusammenhang zwischen Stress und Anfall suggeriert, der die Unvorhersehbarkeit des Anfalls doch relativiert. Wir aber halten fest, dass eine Formel wie „aus heiterem Himmel“ nicht einen Abschluss markiert, sondern eine der Ressourcen ist, mit denen die Partner einen Abschluss anbieten und zusammen herstellen können. Das auffällige Äußern eines Phraseologismus bildet nicht von sich aus einen Abschluss, sondern ist eine der Strukturierungsaktivitäten (im Sinne von Gülich 1999), mit denen die Partner einen Abschluss herstellen können. Soweit eine erste Beispielserie, in der wir ausschließlich semantisch und syntaktisch unauffällige idiomatische Phraseologismen gesehen haben. Wir wollen dazu folgende Punkte festhalten: - Man kann idiomatische, besonders bildhafte phraseologische Ausdrücke konversationell unauffällig („wie ein Wort“) oder auffällig gebrauchen; - auffällig werden die Ausdrücke, wenn der Sprecher sie auffällig macht, also z.B. durch die Prosodie oder Kommentierungen die Aufmerksamkeit auf sie lenkt; Ulrich Dausendschön-Gay / Elisabeth Gülich / Ulrich Krafft 204 - mit auffällig gemachten Ausdrücken markiert der Sprecher in unseren Beispielen wichtige Stellen, in allen drei Beispielen den Schluss einer Sachverhaltsdarstellung. Dies geschieht in der Weise, dass mit dem Ausdruck die vorangegangene Darstellung bilanziert oder das Dargestellte evaluiert wird; - dieses Beenden einer Sachverhaltsdarstellung ist eine der Strukturierungsaktivitäten, mit der die Interaktanten gemeinsam einen Einschnitt im Gespräch herstellen können. Idiomatische Ausdrücke wie „dem Tod von der Schippe springen“ oder „(wie ein Blitz) aus heiterem Himmel“ sind also Ressourcen, die kompetente Gesprächspartner nutzen können, um eine Darstellung abzuschließen. Damit bestätigen unsere Beobachtungen weitgehend die Ergebnisse von Drew/ Holt. Sie haben den Gebrauch von idiomatischen Phraseologismen in Darstellungen von Leiden oder in Beschwerden (Drew/ Holt 1988) und allgemeiner in Erzählungen (1998) untersucht. Sie stellen vor allem fest, dass die auffälligen Phraseologismen, die sie in Berichten oder Erzählungen gefunden haben, - bildhaft oder metaphorisch sind; vgl. „dem Tod von der Schippe springen“ und „wie aus heiterem Himmel“; - „clause“-Format haben; für „dem Tod von der Schippe springen“ trifft das zu, für „(wie) aus heiterem Himmel“ nicht; - zum Resümieren der voraufgehenden Darstellung gebraucht werden, wobei von den konkreten Einzelheiten der Darstellung abgesehen wird; das trifft für die Beispiele 4-6 und die folgenden Beispiele 7 und 8 zu; - als resümierende Formulierungen auch den Abschluss der Darstellung indizieren bzw. dem Partner anbieten. Eines der Merkmale von Drew/ Holt trifft dagegen für unser Material nicht zu: Sie heben hervor, dass phraseologische Resümees ausschließlich vom Erzähler/ Berichtenden kommen (1998, S. 502). In den Beispielen 5 und 6 sehen wir aber, dass phraseologisches Resümieren auch dem Partner zusteht. Vielleicht spiegelt sich in diesem Unterschied eine Verschiedenheit der Korpora. Drew und Holt untersuchen Alltagssituationen, in denen private (Leidens-)Geschichten erzählt werden. Für diese Geschichten gibt es jeweils einen Experten, nämlich den Erzähler, der die Deutungshoheit hat und sie ausübt, wenn er in einem bildhaften phraseologischen Resümee seine Ge- Vorgeformtheit als Ressource im Formulierungs- und Verständigungsprozess 205 schichte „auf den Punkt“ bringt. Unsere Beispiele stammen dagegen aus institutionell gerahmten Situationen. Diese Beschwerdenschilderungen in der Klinik richten sich an Experten, denen es möglicherweise eher zusteht, das Wesentliche herauszuarbeiten. In unseren Aufnahmen tun sie dies mittels phraseologischer Resümees. Eine letzte Bemerkung zur Verwendung von Phraseologismen bei der Herstellung von Schlüssen: Glaubt man der Stimme und der Prosodie der Sprecher, so ist dieses Verfahren durchaus beliebt: Der Ausdruck wird positiv bewertet, als gelungene Formulierung präsentiert. Das ist nicht selbstverständlich. Denn diese Formulierung ist ja gerade nicht auf den besprochenen Einzelfall zugeschnitten, sondern für beide Partner vorgegeben. Offenbar ist diese soziale Gültigkeit eine positive Eigenschaft, sogar wichtiger als Präzision im Einzelfall, vielleicht weil sie erlaubt, den Einzelfall als Vorkommen eines bekannten Musters zu begreifen (hierin gleicht die Verwendung des phraseologischen Ausdrucks der eines Sprichworts). Gerade weil die Form (oder die Formel) sozial vorgegeben und sanktioniert ist, wird sie als besonders treffend, genau, stark, gelungen aufgefasst. 33 3.2 Zur Produktion von Phraseologismen: Bestandteile des Modells und „Orientierung“ Wir haben gesehen, dass es Phraseologismen gibt, in der Regel sind sie bildhaft, die als Ressource zur Verfügung stehen, um Textstrukturen herzustellen. Nun sind die Phraseologismen selbst - auch das dürfte schon deutlich geworden sein - keine fertigen Formulierungen, die einfach abgerufen oder „reproduziert“ werden. 34 Man beschreibt lexikalisierte Phraseologismen besser als sozial zur Verfügung stehende Formulierungsmodelle, an denen sich die Kommunikationspartner bei der Textproduktion und bei der Textrezeption, also im Verständigungsprozess, orientieren können. Der aktuelle Sprecher kann dabei eine Standardform produzieren, wie sie etwa in Lexika verzeichnet ist; das haben wir in den Beispielen 4-6 gesehen. Sehr häufig geschieht dies nicht. Solche in den Lexika als Varianten oder auch gar nicht 33 Ein weiterer Beleg für die positive Bewertung von vorgeformten Formulierungen wären Zitate aus Politikeräußerungen in den Medien: Wenn ein Politiker verlangt, dass nun endlich „Ross und Reiter“ genannt würden oder daran erinnert, dass die „Bäume nicht in den Himmel wachsen“, dann kann man erwarten, dass er genau mit diesen Formulierungen in den Medien zitiert wird. 34 Natürlich sind Phraseologismen reproduzierbar: Man kann jeden Text zitieren. Ulrich Dausendschön-Gay / Elisabeth Gülich / Ulrich Krafft 206 verzeichneten Produktionen werden im Allgemeinen als Abweichungen oder Fehler verzeichnet, obwohl die Abweichungen von der Standardform den Kommunikationsprozess meist nicht stören. Wir schlagen vor, Varianten, bevor man sie bewertet, als mögliche Ergebnisse einer Formulierungsarbeit zu betrachten, die sich an einem Modell orientiert. Im Folgenden soll versucht werden, zwei Phraseologismen als „Modelle“ zu beschreiben und exemplarisch zu zeigen, wie man sich beim Formulieren und Verstehen an solchen Modellen „orientieren“ kann. Um diese Fragen zu untersuchen, ziehen wir Beispiele heran, in denen die Phraseologismen in auffälliger Weise gebraucht werden, und zwar diesmal formal auffällig, also anders, als die Lexika dies vorsehen. Im ersten Beispiel fordert der Arzt Frau Rosch auf, über Symptome zu berichten, und Frau Rosch versucht, diese Symptome zwar zu beschreiben, ihre Bedeutung aber möglichst herunterzuspielen. Dies wiederum lässt der Arzt nicht zu: Er bohrt nach und benutzt dazu Frau Roschs eigene Formulierung. Frau Rosch antwortet mit Reparaturen. Beispiel 7: „den Faden verlieren“ (Corpus Epiling) A = Arzt, R = Frau Rosch 1 A aber man sieht ja hier doch AUch dass wir noch nicht ganz . in 2 sIcherheit sind’ 3 R . ja Ich sach Ich würd sagen’ das is normAl wenn man mal son 4 bisschen fAhrig is’ oder so’ . ANdere sehn das vielleicht ANders 5 ne’ . ich sEh das nich <<leichtes Lachen> so, > . swar ja kein son 6 ANfall so wie ichs . dEn hab ich . ja nun seit juni nich mehr 7 gehabt’ ne 8 A bisschen fAhrig’ 9 R . . ja so dass ich so sprEche und den faden verliere so’ ne’ 10 A . hm’ 11 R ham sie das nIch mal’ (lacht) + 12 A . doch andAUernd’ aber . . ehm (...) 35 R haarausfall hab ich AUch nich <<lacht> . nichts’ > 36 A . da hab ich ja glÜck gehabt (3 sec.) <<Lachen>> 37 R <<Lachen>. . tja,> (5 sec.) 38 A faden, . . reißt mal <<schneller> wissen sie noch das lEtzte’ das 39 war am: > . . fünfzehnten’ . was da so (? ...) war 40 R . . . also während des gesprächs’ wie gesagt ich unterhALte mich’ Vorgeformtheit als Ressource im Formulierungs- und Verständigungsprozess 207 41 und dann auf einmal’ . hör ich auf’ . ,u: nd <<sich selbst 42 imitierend> was wollt ich jetz sagen’> . ,ja und dann muss man 43 mir so weiterhelfen das is . dA und dAvon’ gek/ Ach’ja, und denn 44 <A: . mh’> geht’s so weiter ne’ 45 A . . das war auf der arbeit’ oder, 46 R . nEE’ das wA: r . . nEE das war so privat, irgen(d)wie (...) Dieses Beispiel unterscheidet sich in zweifacher Hinsicht von den bisher besprochenen. Erstens taucht hier ein phraseologischer Ausdruck: „den Faden verlieren“ in zwei Formen auf (den faden verliere, 9; faden reißt, 38), ohne dass dies die Verständigung störte. Zweitens wird der Phraseologismus nicht einfach von einem der Interaktanten angeboten und von seinem Partner zur Kenntnis genommen oder mehr oder weniger emphatisch bestätigt. Vielmehr wird er von beiden entwickelt und gemeinsam bearbeitet, wobei der Arzt offenbar durch mehrfaches Nachfragen versucht, hinter den phraseologischen Formulierungen auf konkrete Beschreibungen zu kommen: A's Frage nach Unsicherheiten (1-2) beantwortet R mit son bisschen fahrig (3-4); A bittet um Detaillierung (bisschen fahrig’, 8); R reformuliert mit einem phraseologischen Ausdruck: ja so dass ich so spreche und den faden verliere so’ ne’ (9); etwas später bohrt A wieder nach, diesmal, indem er explizit nach einer ganz bestimmten Situation fragt: faden, . . reißt mal <<schneller> wissen sie noch das lEtzte’ das war am: > . . fünfzehnten’ . was da so (? ...) war (38-39), und nun wird das dem Ausdruck zugrunde liegende Szenario mit einer szenischen Darstellung expliziert (40-44). Dass R den phraseologischen Ausdruck überhaupt gebraucht und vor allem dass sie ihn expliziert, ist Ergebnis von A's Nachfragen. Die phraseologische Formulierung ist zunächst Ergebnis, dann Gegenstand von Aushandlungen. Wir können diese Beobachtungen für die - sehr hypothetische - Beschreibung eines exemplarischen „Modells“ auswerten. Das Modell beinhaltet ein Szenario, das R zunächst kurz (dass ich so spreche und den faden verliere, 9), dann ausführlich expliziert (40-44). Mit dem Szenario fest verknüpft ist offenbar eine Wortmarke, nämlich „Faden“. Ob man den Faden nun „verliert“ oder ob er „reißt“, darauf scheint es weniger anzukommen, obwohl sich mit dieser Alternative syntaktische Struktur und textsyntaktische Gebrauchsbedingungen des Ausdrucks völlig ändern. Man kann vermuten, dass der Faden genauso unauffällig „abhanden kommen“ oder „verloren gehen“ könnte. Wir halten das fest, indem wir sagen, dass zum Modell das Wort Ulrich Dausendschön-Gay / Elisabeth Gülich / Ulrich Krafft 208 „Faden“ und ein Verb mit dem Merkmal „weg“ gehören (auch „Faden weg“, oder auch „Faden + Geste“ würden in einem entsprechenden Kontext verstanden). Diese Elemente genügen, um das Szenario aufzurufen. Damit ist auch gesagt, was es heißt, sich am Modell zu orientieren: Der Sprecher formt seine Äußerung so, dass er für die Beteiligten ein bestimmtes Szenario aufruft. Dazu muss er - in diesem Fall - die Wortmarke „Faden“ und ein Verb mit dem Merkmal „weg“ benutzen. Weitergehende Gebrauchsbedingungen scheint es für diesen Phraseologismus nicht zu geben. Im letzten Beispiel dieser Serie, Beispiel 8, fragt der Arzt die Patientin, ob die Angst vor einem Anfall lähmend sein könne (1-10). Die Patientin entwickelt ihre Antwort ab Z. 11: Beispiel 8: „son bisschen wie n kaninchen“ (Corpus Epiling) A = Arzt, B = Frau Bernig, Patientin 1 A gibt es auch momente wo sie . ,ähm gewissermaßen ANgst vor 2 der angst haben’ . also dass sie . plötzlich einfach angst 3 empfinden weil sie denken jetz: t . wenn jEtzt eine käm, das wäre 4 B ja: 5 A . saublöd 6 B ja: . 7 A äh: m . Ohne . <P: (? ...)> dass da die aura überhaupt einsetzt’ 8 B ja’ . . 9 A und das lähmt sie dann auch’ oder da könnse dann ähm etwas . 10 lEIchter mit umgehen, 11 B . nö das das . lähmt nich in dem mAße aber äh . . son bisschen 12 wie n kaninchen komm ich mir dann schon’ vor, ne’ 13 [das so vorm abschuss steht] 14 A [(? ...) schlange der . in der luft] liegenden aura, <P: hm> . . . aber 15 es hindert sie ja nich, sie können . ihre dinge tun . (...) Wie in Beispiel 7 („den Faden verlieren“) ist die phraseologische Formulierung („wie das Kaninchen vor der Schlange“) Gegenstand der Aushandlung. Hier geht es allerdings nicht um das Explizieren des Ausdrucks, sondern um seine allmähliche interaktive Hervorbringung. Ausgangspunkt ist die Beschreibung des Arztes, der die Patientin nach der möglichen Angst vor einer Aura befragt: angst vor der angst (1-2), einfach angst empfinden (2-3), und das lähmt sie dann auch (9). Frau Bernig nimmt diesen letzten Punkt auf und widerspricht zunächst (nö das das . lähmt nicht Vorgeformtheit als Ressource im Formulierungs- und Verständigungsprozess 209 in dem mAße, 11), schließt jedoch mit aber eine Korrektur an, in der sie die Beschreibung „lähmende Angst“ dann doch bestätigt: aber äh . . son bisschen wie n kaninchen komm ich mir dann schon’ vor, ne’ (11-12). Der Arzt setzt bei kaninchen an und vervollständigt zu einem bekannten Phraseologismus, den er allerdings ziemlich kühn der aktuellen Situation anpasst: schlange der . in der luft liegenden aura (14). Die Patientin selbst setzt anders fort: das Kaninchen das vorm abschuss steht (13). Der Arzt versteht wie n kaninchen als Verweis auf den Phraseologismus „wie das Kaninchen vor der Schlange“. Tatsächlich kann man „wie ein Kaninchen“ im Zusammenhang „lähmende Angst“ kaum anders verstehen als auf dem Hintergrund des konventionellen Szenarios, das der Phraseologismus festhält: Das Kaninchen ist einer lähmenden Gefahr ausgesetzt, und die wird traditionell mit einer „Schlange“ besetzt. Die Wortmarke „Kaninchen“ ruft für den Arzt das Szenario auf, und er vervollständigt, wie es üblich ist. Die Patientin dagegen wählt als Fortsetzung „vor dem Abschuss stehen“. Wie es dazu kommt, wissen wir nicht. Aber wir können feststellen, dass sie das Szenario nicht verlässt; denn der völlig unübliche „Abschuss“ ist als „lähmende Gefahr“ unmittelbar einsichtig. Insofern kann man das „Kaninchen, das vor dem Abschuss steht“ als ad-hoc-Variante vom „Kaninchen vor der Schlange“ verstehen. So geschieht es in dieser Situation; jedenfalls gibt es keinerlei Protest, beide Gesprächspartner betrachten die Verständigung offenbar als gelungen. Sich beim Formulieren „am Modell orientieren“ heißt also: Sich sprachlich so verhalten, dass der Partner auf das Modell verwiesen wird. Was man dazu unternehmen muss, ist sehr stark vom text so far und der Gesprächssituation abhängig. In der Regel wird man das zentrale Element (wie „Kaninchen“ oder „Faden“) benutzen müssen. Sobald das Modell aufgerufen ist, ist die Formulierungsaufgabe im Wesentlichen gelöst. Der Sprecher könnte dann abbrechen (das geschieht häufig bei Sprichwörtern; Günter Grass führt dieses Verfahren des Öfteren vor). Üblicher ist es, den Ausdruck zuende zu führen. Das Modell stellt dabei Anforderungen (der „Faden“ muss irgendwie „weg“ kommen, das „Kaninchen“ einer lähmenden Gefahr ausgesetzt werden), es bietet aber auch Hilfestellung in Form von prototypischen Wortfolgen (den Faden verlieren) und Anschlussmöglichkeiten, die man nutzen kann: mit einer Ergänzung (die schlange der . in der luft liegenden aura), mit Varianten: „Faden“ + „verlieren“ oder + „reißen“, „Kaninchen“ kombiniert mit „Schlange“ oder „Abschuss“. Ulrich Dausendschön-Gay / Elisabeth Gülich / Ulrich Krafft 210 In den Beispielen, die wir zuletzt gesehen haben, lassen sich also - zusammenfassend gesagt - folgende Komponenten des Modells erkennen: - eine Bedeutung, die sich als Szenario explizieren lässt; - eine sprachliche Form, in der es prominente Bestandteile gibt (Kaninchen, Faden) und andere, die variabel gebraucht werden und offenbar in der Wortform weniger verpflichtend vorgegeben sind. Im geeigneten Kontext genügt das prominente Wort, um ein Szenario aufzurufen; - eine wörtliche „Normalform“ oder prototypische Form. An diesen Komponenten orientieren sich die Gesprächspartner im Prozess der konversationellen Interaktion bei der Formulierungsebenso wie bei der Verständigungsarbeit. 4. Konventionalisierung durch offizielle Sprachregelung In den bisherigen Beispielanalysen haben wir gezeigt, dass mit dem Formulierungsverfahren der Orientierung am Modell Kontextualisierungsleistungen verbunden sind, die in spezifischer Weise für kommunikative Anschlüsse genutzt werden können. Wir haben versucht deutlich zu machen, dass mit diesem Verfahren eine Formulierungsleistung in kommunikativen Interaktionen erbracht wird, an denen die an dem Austausch Beteiligten in verschiedener Weise mitwirken. Sprecherinnen und Sprecher machen die Orientierung mit verschiedenen Mitteln als solche erkennbar: mittels metadiskursiver Kommentare oder erkennbarer Wiederaufnahme bei vielen der individuell routinisierten Lösungen, mit Hilfe prosodischer oder metadiskursiver Hervorhebungstechniken und durch die Platzierung an der für die Verwendung bevorzugten Stelle des sequenziellen Ablaufs im Falle der Phraseologismen. Im letzteren Fall konnten wir ferner zeigen, dass die Orientierung am Modell auch dann für kompetente Mitglieder der Diskursgemeinschaft erkennbar wird, wenn auf eine im Lexikon verzeichnete „Normalform“ des verwendeten Ausdrucks verzichtet wird. Unter dem Gesichtspunkt der konversationellen Aufmerksamkeitserzeugung und der Wörtlichkeit bilden die folgenden, unseren Beitrag abschließenden Beispiele eine Sondergruppe sozial konventionalisierter Lösungen für Formulierungsaufgaben, denn an ihnen ist die formulierungstechnische Unauffälligkeit besonders auffällig, mit der eine Orientierung am Modell geleistet wird. Sie stammen aus Radiosendungen der DDR vor 1989 und sind uns von Steffen Vorgeformtheit als Ressource im Formulierungs- und Verständigungsprozess 211 Pappert freundlicherweise zur Verfügung gestellt worden. 35 In der folgenden Passage fragt eine Rundfunkjournalistin den Leiter der Webmaschinenabteilung eines Kombinats nach seinen Wünschen für das nächste Jahr. Beispiel 9: Langue de bois 1: „Absäger“ Aufnahme 7.1.81, Transkription: Pappert 2/ 2000. Inhalt: Stellungnahme zur Verantwortung (der Webmaschinenbauer. SprecherInnen: I = Interviewerin, KT = Klaus T. - Anm. d. Transkribenten: KT spricht obersächs. region. Umgangssprache.) 21 I das jahr hat wie gesagt <<hustet>> 22 grade eben erst begonn’n . mit welchn ((1,2)) erwartungn ((1,5)) gehen 23 sie denn ä/ r sind sie denn in dieses jahr . gegangn mit welchn ansprüchn 24 . oda/ mit welchn wünschn ((1,8)) 25 KT ich würde sachn GRUNDvoraussetzung dazu . und MEIN wunsch is es 26 auch . dasis uns weida gelingn wird . ein WEIderes jahr den friedn zu 27 erhaldn ((1,5)) das is meines erachtens das grundanliegn unserer gesamdn 28 . polidik ((1,6)) in verbindung mit der sowjetunion un den anderen sozia 29 listischn staadn . un das is MEInes erachtens für MICH auch das haupt 30 anliegn ((1)) umde/ ((1,5)) UND natürlich auch äh/ für mich jetzt gesehn 31 als äh/ ((1)) meister in meinem bereich . oder in meinem betrieb . das 32 unser betrieb ((1)) <<Schnipsen>> seine Planaufgabn unter den erschwertn 33 bedingung’n <<stockend> die es dieses jahr ohne weiteres > gibt da neue 34 investitionen bei uns wirksam werdn un wir trotzdem usnern plan WEIter 35 erhöht habm . dass wir unser ziel erREICHn werdn . un natürlich/ 36 voraussetzung dass wir auch zum . zehntn parteitag die verpflichtung 37 gegenüber unserm ersten sekretär des zentralkommitees erich honecker 38 ABrechnen können . dass wir sagn können . die webstuhlbauer habm den 39 erstn Tag plAnvorsprung zum zehntn parteitag erreicht 35 Steffen Pappert selbst hat sie in seiner Dissertation als Belege für den Zusammenhang zwischen kommunikativer Praxis und politischer Herrschaft eingehend analysiert. In Pappert (2003b) geht er auch auf das Konzept der Vorgeformtheit ein und wendet es auf seine Materialien an. Er kann auf einer breiten Materialbasis zeigen, dass „konventionalisierte Formulierungsmodelle für Formulierungsprobleme im öffentlichen Kommunikationsbereich“ der DDR vor 1989 hochfrequent anzutreffen sind (ebd.). Diese Arbeiten sind im größeren Zusammenhang einer Reihe von Untersuchungen zu sehen, die sich mit Sprachgebrauch und Sprachwandel unter den Bedingungen einer totalitär verordneten Sprachverwendung beschäftigen, so z.B. Fix (1992) und weitere Beiträge in dem Sammelband von Lerchner. Vgl. dazu auch mit weiteren Perspektiven die Beiträge in Auer und Hausendorf (2000). Ulrich Dausendschön-Gay / Elisabeth Gülich / Ulrich Krafft 212 Kandidaten für Modellorientierung finden wir hier auf zwei Ebenen. Einmal im Hinblick auf die Reihe der vorzubringenden Wünsche, die durch Neujahrsansprachen und offizielle Verlautbarungen kommunikativ vorgegeben sind, nämlich die Friedenssicherung und die Erfüllung der Planaufgaben, die eine persönliche Verpflichtung des Kollektivs gegenüber dem Ersten Sekretär sind; das gehört in die Kategorie der formelhaften Texte, die wir in unserem Beitrag nicht weiter thematisiert haben. Auf lokaler Formulierungsebene sind die wiederzuerkennenden Lösungen für die Mitglieder der Diskursgemeinschaft leicht auszumachen. Wir finden - frieden erhalten als grundanliegen unserer gesamten politik - in verbindung mit der sowjetunion und den anderen sozialistischen staaten - seine planaufgaben erhöhen - unter den erschwerten bedingungen die es dieses jahr gibt - dass wir unser ziel erreichen werden - die verpflichtung gegenüber unserem ersten sekretär des zentralkommitees erich honecker - dass wir sagen können die webstuhlbauer haben den ersten tag planvorsprung zum zehnten parteitag erreicht Bei diesen Kernstücken der Äußerung geht es um Wörtlichkeit, die bei allen öffentlichen Anlässen ständig in identischer Weise reproduziert wird. Offenbar erfüllen die Formulierungen der langue de bois, wie wir sie hier genannt haben, viele der Kriterien, die im vorigen Kapitel für die vorgeformten Phraseme herausgearbeitet wurden, eben gerade nicht: sie bringen nichts an prominenter Stelle auf den Punkt, sie haben keine stark konnotative Bedeutung und sie evozieren kein Szenario, sie eröffnen nur die Anschlussmöglichkeiten, die im festgelegten Kanon an Elementen vorgesehen sind. Und ferner: sie haben eine feste sprachliche Form, die anders als die Phraseme im Gebrauch keine Verkürzung auf die zentrale Komponente erlaubt. Sie können nur vollständig gebraucht werden, die Reduktion auf ein erstes evozierendes Element wäre unangemessen und würde vermutlich als Karikierung verstanden und sanktioniert. Hier geht es also tatsächlich um Reproduktion, und zwar um die Reproduktion einer normierten Formulierungsroutine im Kontext hochsymbolischer sozialer Rituale, die wörtlich und verfahrenstechnisch möglichst unauffällig zu sein hat. Ulla Fix hat dies völlig zu Recht Vorgeformtheit als Ressource im Formulierungs- und Verständigungsprozess 213 als Elemente ritueller Kommunikation identifiziert, denn mit dem Zwang zur Wörtlichkeit geht die Minderung des semantischen Gehalts und die Funktionalisierung im Kontext der expressiven Ordnung der Gesellschaft einher. 36 Was die Beispiele für den Zusammenhang unserer Überlegungen interessant macht, sind die offenkundigen Spuren der individuellen Bearbeitung der Versatzstücke, die in unserem Sinne als Belege für die Orientierung am Modell gelten können. Dazu gehören die signifikanten Pausen in den Z. 27 und 28 vor den Äußerungsteilen zum grundanliegen und zur verbindung mit der sowjetunion. Auffällig ist außerdem der mehrfache Verweis auf den Sprecher, der die vorgeformten Äußerungsteile rahmt und damit oberflächlich zu eigenen Formulierungen stilisiert (MEIN wunsch is es auch (25-26), meines erachtens (27, 29), für mich jetzt gesehen (30ff.), mit dem bemerkenswerten Wechsel von der Ich-Perspektive zum kollektiven Wir im Abschlussteil. Schließlich fallen einige Selbstkorrekturen und Unterbrechungen ab Z. 30 ins Auge, die dafür verantwortlich sind, dass diese weniger ritualisierte Passage über den eigenen Betrieb, also den eigenen Lebensbereich, deutlich unflüssiger formuliert wird, bevor dann ab Z. 35 wieder die Orientierung am reproduzierten wörtlichen Modell an der flüssigen Produktion ablesbar ist. Die schon erwähnten Untersuchungen von Fix und Pappert warten mit einer Fülle von weiteren Parallelbelegen auf; wir wollen daher hier nur noch aus einem weiteren Rundfunkmitschnitt unkommentiert zitieren, um deutlich zu machen, dass es sich bei den beschriebenen Phänomenen nicht um einen Einzelfall oder die Formulierungsidiosynkrasie eines Betriebsleiters handelt. Beispiel 10: Langue de bois 2: „IX. Parteitag“ (Aufnahme 20.5.76, Transkription: Pappert 2/ 2000. Inhalt: B. Radke über seine Eindrücke und Ziele auf dem IX. Parteitag. SprecherInnen: I = Interviewerin, BR = Benno Radke.) 1 I schönen guten morgen genosse radke 2 BR gutn morgn 3 I was gehört denn zu den stärksten eindrücken 36 „Angepaßtes sprachliches Verhalten war ein geforderter und von der Mehrheit lange Zeit akzeptierter und erbrachter Nachweis für Integration in das System und für Bestätigung des Systems durch den einzelnen. [...] Ein Ausbrechen aus den vorgegebenen kommunikativen Mustern in der DDR bedeutete - wie sicher in allen totalitären Staaten - ein Sich- Versagen im Bereich des Ideologischen. Nicht-Anpassen war gleichbedeutend damit, Abtrünniger zu sein“ (Fix 1992, S. 9). Ulrich Dausendschön-Gay / Elisabeth Gülich / Ulrich Krafft 214 4 BR da ich das erste mal am/ ein/ ssolchn parteitag teilnehme ((1,1)) über 5 wälte mich die gefühle etwas . 6 I hm=hm 7 BR die große internationalität unsrer Partei <<lauter> das große ansehen unsrer 8 partei .> kam gestern . durch die rede und ansprache/ GRU? ansprache des 9 jenossen suslov zum ausdruck . der mit EINfachen worten zu HERzen 10 gehend ((1)) den DANK an die deutsche demokratische republik und an 11 ihrer parTEI ausgedrückt hat ((1,2)) und uns gesagt hat welchn h/ 12 historischen beitrag auch die deutsche demokratische republik und die 13 werktätjen unsres volkes UND AUCH der berliner da möchte ik beTON’ 14 auch beige tragen habm 15 I ja 16 BR das hat mich sehr beeindruckt . 17 I ja 18 BR die diskussion . der rechenschaftsbericht unsres ersten sekretärs . 19 I hm=hm 20 BR sind s/ so beeindruckend . . und . s: ZEICHT uns die weitere perschpektive 21 für den aufbau unsrer deutschen . demokratischen repuBLIK Von methodischem Interesse ist für die Analyse der letzten Beispiele, dass für die Interpretation ihrer rituellen Dimension auf das Interpretationswissen von Mitgliedern der Diskursgemeinschaft rekurriert werden muss. Die dazu notwendigen Methoden stammen nicht ausschließlich aus dem klassischen Repertoire der Gesprächsanalyse, wenn wir z.B. an Introspektionsmethoden, Rekonstruktionen von Interpretationswissen in Interviews, Retrospektionen oder die Ermittlung intertextueller oder historischer Dimensionen in narrativen Interviews oder Textanalysen denken. Hier befinden wir uns offenkundig an einer Nahtstelle z.B. zur Kritischen Diskursanalyse, die sich nicht zu Unrecht auf Foucault, Bourdieu und die Sprechtätigkeitstheorie Leontevs beruft. 5. Literatur Auer, Peter/ Hausendorf, Heiko (Hg.) (2000): Kommunikation in gesellschaftlichen Umbruchsituationen. Aspekte des sprachlichen und gesellschaftlichen Wandels in den Neuen Bundesländern. Tübingen. Ayaß, Ruth (1996): „Wer das verschweigt, handelt eigentlich in böser Absicht“. Zu Form und Funktion kategorischer Formulierungen. In: Linguistische Berichte 162, S. 137-160. Vorgeformtheit als Ressource im Formulierungs- und Verständigungsprozess 215 Badura, Bernhard/ Grande, Gesine/ Schott, Thomas (1996): Langfristige Wirkungen kardiologischer Rehabilitation. Neue Ergebnisse aus der BKK -Vergleichsstudie stationärer und ambulanter Rehabilitation. Modellprojekt Kardiologische Rehabilitation. Bielefeld. Brünner, Gisela/ Gülich, Elisabeth (Hg.) (2002): Krankheit verstehen. Interdisziplinäre Beiträge zur Sprache in Krankheitsdarstellungen. Bielefeld. Brünner, Gisela/ Gülich, Elisabeth (2002): Veranschaulichungsverfahren in der Experten-Laien-Kommunikation. In: Brünner/ Gülich (Hg.), S. 15-92. Burger, Harald (1998): Phraseologie. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen. Berlin. Coulmas, Florian (1981): Routine im Gespräch. Zur pragmatischen Fundierung der Idiomatik. Wiesbaden. Coulmas, Florian (1985): Diskursive Routine im Fremdsprachenerwerb. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 16, S. 47-66. 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Surmann, Volker (2005): Anfallsbilder. Metaphorische Konzepte im Sprechen anfallskranker Menschen. Würzburg. Tannen, Deborah (1987): Repetition in Conversation: Toward a Poetics of Talk. In: Language 63, S. 574-605. 6. Anhang 6.1 Transkriptionskonventionen [bin ich jetzt* gleichzeitiges Sprechen: der Beginn ist durch eckige Klammern in [ja: * übereinander stehenden Zeilen gekennzeichnet, das Ende ggf. durch * / hörbarer Abbruch ohne Pause . kurzes Absetzen innerhalb einer Äußerung oder zwischen zwei Äußerungen . . kurze Pause . . . mittlere Pause Ulrich Dausendschön-Gay / Elisabeth Gülich / Ulrich Krafft 218 (x sec) Pause von x Sekunden Dauer & auffällig schneller Anschluss = auffällige Bindung <EA> Einatmen <AA> Ausatmen nich’ ‘doch steigende Intonationskurve; hoher Einsatz nicht, ,er fallende Intonationskurve; tiefer Einsatz jA FRAge dynamische Hervorhebung eines Wortes, einer Silbe, eines Lautes ja: ach so: : Dehnung einer Silbe, eines Lautes (? ersmal) unsichere Transkription (? .....) unverständliche Passage <lachend> + Kommentar; geht dem entsprechenden Segment voraus und gilt bis + 6.2 Angaben zu den zugrunde liegenden Corpora Die zitierten Gesprächsausschnitte stammen aus folgenden Corpora: - „Epiling“ (Beispiele 1.1, 1.2, 1.3, 3, 6a, 6b, 7, 8): Corpus des Forschungsprojekts „Linguistische Differenzialtypologie epileptischer und anderer anfallsartiger Störungen. Diagnostische und therapeutische Aspekte“; das Projekt wurde von 1999-2001 von der DFG gefördert; der Aufbau und die Aufbereitung des Corpus wurden in den Jahren 1996-1998 durch Forschungsmittel der Universität Bielefeld ermöglicht. Das Corpus umfasst rund 120 Ton-, z.T. auch Video-Aufnahmen von Gesprächen unterschiedlicher Dauer (10 - 60 Minuten) zwischen Ärzten und stationär oder ambulant behandelten Patienten. Genauere Angaben finden sich unter der in Anm. 22 genannten Internetadresse. Die Daten wurden anonymisiert, die verwendeten Eigennamen sind Pseudonyme. - „Herz“ (Beispiele 2.1, 2.2, 2.3): Corpus von Tonaufnahmen aus einer Rehaklinik, die von Elisabeth Gülich in den Jahren 1993-1997 erhoben wurden; es handelt sich um Seminare und Vorträge für HerzpatientInnen, denen das notwendige Wissen zum Umgang mit Herzerkrankungen vermittelt werden soll. Beispiel 2.2 stammt aus einem Seminarvortrag für Studierende. - „KardioReha“ (Beispiele 4 und 5): Corpus von Interviews mit HerzpatientInnen aus dem „Modellprojekt Kardiologische Rehabilitation“, das an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld Vorgeformtheit als Ressource im Formulierungs- und Verständigungsprozess 219 durchgeführt wurde; vgl. dazu: Badura/ Grande/ Schott (1996). Ein Teil dieser Interviews wurde uns als Tonaufnahmen freundlicherweise von Bernhard Badura zur Verfügung gestellt. - Corpus Pappert (Beispiele 9 und 10): Corpus der Dissertation von Steffen Pappert (vgl. dazu Anm. 35), bestehend aus Sendungen, die im DDR- Rundfunk in den Jahren 1971-1985 ausgestrahlt worden sind. (Näheres s. Pappert 2003a, S. 99-102). Heiko Hausendorf ‘Was kommt als Nächstes? ’ Fokussierungen revisited 1. Einführung Was kommt als Nächstes? (bzw. wer kommt als Nächste/ r dran? ) - man könnte sich vorstellen, dass alles, was interaktiv geschieht, nur dazu dient, diese Frage zu beantworten. Oder etwas weniger zugespitzt formuliert: dass alles, was in und mit Interaktion geschieht, unter diesem ‘Was-kommt-alsnächstes-Problem’ steht und deshalb auch und gerade unter diesem Aspekt untersucht werden kann und muss. Viel spricht dafür, dass das die Grund- und Ausgangsidee ist, der die kalifornische Konversationsanalyse ihre besondere Attraktivität verdankt. Jedenfalls liefert diese Idee den Bezug, unter dem ich mich in dem vorliegenden Beitrag mit der Prozessualität von Gesprächen beschäftigen möchte. Was kommt als Nächstes? lautet zugleich die Frage, auf die ich in diesem Beitrag das Thema der Fokussierung beziehen werde. Die These lautet, dass Fokussierungen die Bedingung der Möglichkeit dafür sind, dass sich in einer Interaktion überhaupt Erwartungen an Reihenfolge und Nacheinander sukzessive herausbilden können. So verstandene Fokussierungen sind kein Spezial- oder Randphänomen, sondern eine conditio sine qua non der Interaktion. Jedenfalls sollen sie als solche in diesem Beitrag profiliert werden. Diese interaktionstheoretische Perspektive auf Fokussierungen greift ein konversationsanalytisches Forschungsinteresse auf, das in Deutschland vor allem mit den Arbeiten von Kallmeyer/ Schütze (1976, 1977) verbunden ist und darauf abzielt, Aspekte der sprachlichen Formgebung systematisch auf „interaktionslogisch begründete Anforderungen“ zu beziehen. In diesem Zusammenhang sind Fokussierungen schon bald als ein für die „Interaktionskonstitution“ zentrales Phänomen erkannt und (ausschnitthaft) auch behandelt worden (Kallmeyer 1978). Die interaktionstheoretische Programmatik, die hinter diesem Forschungsinteresse steht, scheint dann aber in der Weiterentwicklung der linguistischen Gesprächsforschung und Pragmatik (auch außerhalb der Konversationsanalyse) in den Hintergrund geraten zu sein; 1 1 Indizien dafür liefert z.B. das Handbuch „Gesprächslinguistik“ (Brinker/ Antos/ Heinemann/ Sager (Hg.) 2001), das der „Gesprächskonstitution“ gleich vier Kapitel mit insgesamt fast 30 Artikeln widmet, ohne dass dabei die interaktionstheoretische Programmatik in einem Heiko Hausendorf 222 zumindest wird sie kaum noch mit dem Interesse an Fokussierungen verknüpft. 2 Mit dem vorliegenden Beitrag soll dazu vor dem Hintergrund der inzwischen vorliegenden Befunde und Ergebnisse der Gesprächsforschung ein neuer Anlauf genommen werden. Dabei sollen drei Aspekte genauer behandelt werden: - Was ist gemeint, wenn wir vom Gespräch als einem „Prozess“ reden? Die Beantwortung dieser Frage läuft auf das Konzept der Sequenzialität hinaus (s.u. 2.). - Sequenzialität ist zugleich das Stichwort, um dann in einem zweiten Schritt auf Fokussierungen zu sprechen zu kommen. Ohne ein Konzept von Sequenzialität kann man Fokussierungen interaktionsanalytisch nicht angemessen begreifen (s.u. 3.). - Damit bin ich bei dem angelangt, was man empirisch zumindest illustrieren kann: die Idee, dass Fokussierungen darauf bezogen werden können, ob die Erledigung einer bestimmten konversationellen Arbeit, genauer gesagt: einer bestimmten konversationellen Aufgabe, im interaktiven Vorder- oder Hintergrund stattfindet (s.u. 4.). Der vorliegende Beitrag wird sich in empirischer Hinsicht auf einen Aufgabenbereich konzentrieren, in dem ich auf Daten und Ergebnisse aus früheren Untersuchungen zurückgreifen kann. Es wird das der Bereich der Selbst- und Fremddarstellung sein (s.u. 5.). eigenen Artikel als solche repräsentiert wäre (wenn man auch immer wieder Verweise auf die o.g. Aspekte der Interaktionskonstitution findet, die aber eben nicht weiter entwickelt, sondern zugunsten anderer Konzepte dann doch wieder mehr oder weniger ausblendet werden (z.B. in den thematisch einschlägigen Beiträgen von Liedtke 2001 und Brinker/ Hagemann 2001); eine Ausnahme von dieser Regel stellt aber z.B. der Beitrag von Quasthoff 2001 dar). 2 ‘Fokussierung’ ist nicht zu einem Schlüsselbegriff der Gesprächslinguistik geworden, wie ein Blick in die entsprechenden Einträge im Register des bereits genannten Handbuches (s. Anm. 1) zeigt. Entsprechend unverbunden stehen die genannten konversationsanalytischen Arbeiten zu Fokussierungen und stärker grammatisch orientierte Überlegungen zur Fokus- Hintergrund-Differenzierung (‘Hervorhebung’, ‘Gewichtung’) bis heute nebeneinander (vgl. dazu und mit Hinweisen zum linguistischen Hintergrund der Thematik Hausendorf 2001). ‘Was kommt als Nächstes? ’ Fokussierungen revisited 223 2. Gespräch als Prozess Anders als im Ausdruck „Interaktion“ sind im deutschen Wort „Gespräch“ die Sprache und das Sprechen hörbar gegenwärtig. Gleichwohl zielt das Wort „Gespräch“ nicht nur und nicht primär auf Gesprochenes, sondern abstrakter auf eine Einheit des Gesprochen-Gehörten, auf einen Austausch gesprochen-gehörter Worte unter Anwesenden. 3 Wenn man diesen Austausch interaktionssoziologisch in der Tradition Goffmans und Luhmanns als faceto-face Interaktion bzw. als Interaktionssystem begreift, wird schnell deutlich, dass der Bezug auf Sprache dafür nicht konstitutiv ist, so oft und so dominant Sprache auch immer als Medium der Interaktion in Anspruch genommen wird: „Note then that the natural home of speech is one in which speech is not always present“, wie Goffman sagt (1964, S. 135). Interaktion und Sprache fallen deshalb nicht automatisch zusammen, auch wenn interaktive Strukturen sehr oft und sehr dominant in sprachlichen Erscheinungsformen manifest werden. Es könnte wichtig sein, sich diesen Unterschied vor Augen zu halten, wenn wir danach fragen, was mit der Prozessualität des Gespräches gemeint sein soll und welche Konsequenzen das für die linguistische Beobachtung von Sprache in Gesprächen hat. ‘Gespräch als Prozess’ meint zunächst eine charakteristische Art der Zeitbindung, der die Gesprächsforschung viele Analysen verdankt und die mit Stichworten wie Episodenhaftigkeit, Irreversibilität und Flüchtigkeit verdeutlicht werden kann (s. dazu die Einleitung zu diesem Sammelband). Zeit erscheint dabei im Grunde genommen als eine Art äußerliches Merkmal, von dem Interaktion nicht abstrahieren kann: Interaktion hat Anfang und Ende, sie ist einmal in die Welt gesetzt nicht wieder rückgängig zu machen und sie ‘vergeht’ im Moment ihrer Aktualisierung und Wahrnehmung durch die Anwesenden. All das unterscheidet Kommunikation unter Anwesenden grundlegend von modernen Formen der Fernkommunikation, die auf Schrift und weiteren Technisierungen des gesprochenen Wortes beruhen und Anwesenheit mehr und mehr durch Erreichbarkeit ersetzen - mit weit reichenden Folgen nicht nur für die Kommunikation, sondern auch für unser Nachden- 3 Mit dem Begriff Gespräch ist deshalb oft die Vorstellung einer gegenüber Sprecher und Hörer selbstständigen sozialen Wirklichkeit verbunden, nicht selten auch die Betonung der Vorrangigkeit dieses Geschehens gegenüber dem an Personen gebundenen Meinen und Verstehen - wie z.B. ein Seitenblick auf die Verwendung des Begriffes in der philosophischen Hermeneutik Gadamers sehr anschaulich illustriert (vgl. Gadamer 1975, S. 350ff., S. 361 und als Kommentar Hausendorf 1992, S. 97). Heiko Hausendorf 224 ken über Sprache (vgl. Ehlich 1994). Zwar ist Kommunikation niemals ‘zeitlos’, aber die Entbindung der Kommunikation von der im Gespräch geltenden Gleichzeitigkeit des Sprechens und Hörens verändert das Verhältnis von Kommunikation und Zeit grundlegend. Man kann sich das von der Seite der Interaktion aus klar machen, indem man verdeutlicht, dass Zeit für Interaktion nicht nur ein äußerliches Merkmal, nicht nur „chronlogische Zeit“ (Streeck i.d. Bd.) ist, sondern in und mit Interaktion auf eine systematische Weise als Nacheinander von Redebeiträgen, somit als „interaktive Zeit“ (Streeck) organisiert wird: aus dem zeitlichen Ablauf der Dinge wird in und mit Interaktion eine erwartbare Reihenfolge, ein hergestelltes Nacheinander, bezüglich dessen Erwartungen und Verpflichtungen etabliert und ihrerseits erwartet werden können. Nichts anderes ist Sequenzialität, und die sequenzielle Ordnung ist die interaktiv organisierte Reihenfolge der Gesprächsbeiträge (was kommt als Nächstes? ). 4 Wenn man es so sieht, ist Sequenzialität viel mehr und anderes als ein mögliches Thema, mit dem sich die Gesprächsforschung neben anderen Themen beschäftigen kann. Es ist letztlich der Begriff dafür, dass ein Prozess als Struktur beobachtbar und beschreibbar wird. Deshalb ist Sequenzialität die genuine Strukturebene der Interaktion schlechthin. In den ‘klassischen’ Phänomenen der frühen konversationsanalytischen Studien wie den sogenannten „Paarsequenzen“ tritt diese Strukturebene ganz deutlich hervor; impliziert ist sie aber grundsätzlich, wenn Gesprochen-Gehörtes als Interaktion beobachtet und beschrieben werden soll. Prozessualität des Gesprächs meint also über Aspekte der Zeitbindung hinaus mit dem Verweis auf Sequenzialität, dass im Falle des Gesprächs der ablaufende Prozess selbst als soziale Sinnstruktur rekonstruiert werden kann und muss. Dafür ‘benutzt’ die Interaktion Sprache, die als Kommunikationsmedium in besonderer Weise diese Art von prozessbezogener Strukturbildung unterstützt, erleichtert und steigert. Dass Gesprochen-Gehörtes im Interaktionsprozess maßgeblich dazu beiträgt, Sequenzialität herzustellen, heißt aber nicht, dass Sprache selber nur sequenziell bzw. prozessual zu konzeptualisieren wäre. Zum einen fallen, wie oben schon notiert, Interaktion und Sprache nicht zusammen, zum anderen ist Sprache nicht nur ein Kom- 4 In der neueren soziologischen Systemtheorie wird das, was hier mit Sequenzialität bezeichnet wurde, bereits mit dem Prozess-Begriff verbunden (vgl. dazu Baraldi/ Corsi/ Esposito 1997, Stichwort „Prozeß“). ‘Was kommt als Nächstes? ’ Fokussierungen revisited 225 munikationsmedium (sondern z.B. auch ein Medium für kognitive Festlegungen, die nicht an sinnlich-wahrnehmbare Manifestationen gebunden sind). Diese Vorstellung von Sprache als einem Kommunikations- und Kognitionsmedium, das in sozialen Systemen, aber eben auch in psychischen Systemen zum Aufbau jeweils genuin kommunikativer und/ oder genuin kognitiver Strukturen genutzt und verwendet wird, folgt der Luhmannschen Systemtheorie. ‘Sprache’ erscheint dort entsprechend selbst nicht als ‘System’, jedenfalls nicht in dem Sinne, in dem sich eben soziale, psychische und z.B. biologische Systeme im Sinne von Kommunikation, Bewusstsein und Leben durch eigen- und selbstständige Operationsweisen auszeichnen. Für sich genommen kann ‘die’ Sprache weder kommunizieren noch denken, geschweige denn ‘leben’; wenn Sprache eine kommunikative oder kognitive Realität haben soll, ist sie dazu auf soziale und psychische Systeme angewiesen. Dem widerspricht natürlich nicht, dass Kommunikation und Kognition in vielen uns geläufigen Erscheinungsformen ihrerseits gar nicht sprach‘los’ vorstellbar sind und mit Sprache eine evolutionär besonders anspruchsvolle Struktur der Bedeutungskodierung zum Aufbau ihrer eigenen kommunikativen bzw. kognitiven Strukturen nutzen. 5 Der Bezugspunkt für Gespräch als Prozess wäre im Sinne dieser Gegenstandsbestimmung Kommunikation im Sinne eines sozialen Systems - und sämtliche Annahmen, die wir mit diesem Ausgangspunkt verbinden (vgl. die Einleitung zu diesem Band), könnte man dann nicht umstandslos mit ‘Sprache’ gleichsetzen. Diese Blickweise hat zwei Implikationen, die oft, zumal wenn es um Fachpolitisches geht, übersehen werden: Zum einen ändert diese Fokusverschiebung auf soziale Systeme nichts daran, dass die Sprachwissenschaft aus vielen Gründen ein disziplinär konstitutives Interesse daran haben muss, Sprache als Kommunikationsmedium zu beschreiben und dass es sachlich überhaupt keinen Grund gibt, dieses Interesse an die ‘Peripherie’ (aber umgekehrt auch nicht: in das ‘Zentrum’) der Disziplin zu rücken. Es ist eine der Möglichkeiten, Sprachliches zu entdecken, die ansonsten verschenkt würde. Zum anderen ändert diese Fokusverschiebung auf soziale Systeme 5 Man sollte deshalb weder sprachliche mit kommunikativen oder kognitiven Strukturen gleichsetzen noch die eine/ n gegen die andere/ n ausspielen - wie das manche Anleihen bei Luhmann nahe legen (vgl. exemplarisch dazu die Bemerkungen in Krämer 2002, S. 117f. und Bierwisch 2002, S. 151, Anm. 2). Heiko Hausendorf 226 m.E. aber auch nichts daran, die Struktur des Kommunikationsmediums selbst und ‘für sich genommen’ zu thematisieren (solange diese Struktur wiederum nicht mit sozialen oder kognitiven Strukturen gleichgesetzt wird). Sachlich gibt es allerdings keinen Grund, diese Art von Strukturinteresse in das ‘Zentrum’ (aber umgekehrt auch nicht: an die ‘Peripherie’) der Sprachwissenschaft zu rücken. Es ist eine der Möglichkeiten, Sprachliches zu entdecken, die ansonsten verschenkt bliebe. Der strukturelle Eigenwert des Kommunikationsmediums ‘Sprache’ wird sofort (über)deutlich, wenn man Sprache mit anderen Kommunikationsmedien vergleicht, die nicht auf der Wahrnehmung von Lauten, sondern z.B. auf der Wahrnehmung von Bewegungen beruhen (im Bereich etwa der Gestik, Mimik oder des Blickkontakts: vgl. dazu auch den Beitrag von Streeck i.d. Bd.). Wohl kein anderes Kommunikationsmedium kodiert und konstruiert Wahrnehmung so systematisch wie die Sprache, mittels derer wir mithilfe von Lauten Bedeutungen unterscheiden. Jedes gesprochen-gehörte Wort ist schon von daher ein so unwahrscheinliches Ereignis, dass es als Erscheinungsform eines wie auch immer gearteten kommunikativen Zuges, auf den man sich irgendwie einstellen muss, gar nicht überhört werden kann - und zwar selbst dann, wenn wir die Sprache, in der gesprochen-gehört wurde, gar nicht beherrschen! Mit dem Strukturalismus Saussurescher Prägung ist diese Unwahrscheinlichkeit für die Sprachwissenschaft disziplinbildend geworden. Und es ist instruktiv zu sehen, dass Sprache für diese Schule genau dadurch beobachtbar und beschreibbar geworden ist, dass sie von der Prozessualität der sprachlichen Erscheinungsformen konsequent abstrahiert hat zugunsten einer Hypostasierung der Sprache ‘hinter’ solchen Erscheinungsformen (langue). Was immer man davon heutzutage auch halten mag, da man nicht nur die Erfolge, sondern auch die Schattenseiten dieser Gegenstandsbestimmung sieht (s. dazu die Einleitung zu diesem Band; vgl. kritisch z.B. Ehlich 1996, Giesecke 1992, Jäger 2003), scheint es doch evident zu sein, dass die Sprache ihre Funktionalität für die Interaktion nicht zuletzt daraus gewinnt, dass sie als Medium gerade durch die Ablösung von Prozessualität und Sequenzialität Strukturwert erlangt, dass anders gesagt das unvergleichliche evolutionäre Potenzial der Sprache gerade in dieser Struktur‘verselbstständigung’ liegen könnte - mit sehr weitreichenden Folgen für die Phylo- und Ontogenese der Kommunikation (vgl. dazu Luhmann 1997, S. 205ff.). ‘Was kommt als Nächstes? ’ Fokussierungen revisited 227 Es ist dieser Strukturwert der Sprache, der dann in und mit Interaktion ausgebeutet und ausgenutzt werden kann: Je differenzierter die Struktur der sprachlichen Formen, desto reichhaltiger die Möglichkeiten der sequenziellen Ordnung in und mit Interaktion. Die moderne Linguistik seit de Saussure hat sich bekanntlich so gut wie ausschließlich darauf konzentriert, diese Struktur zeitlos gedachter Formen zu untersuchen, und sie hat mit der Gegenüberstellung von langue und parole eine Dichotomie geschaffen, die genau das ermöglicht 6 - dafür allerdings auch alles ausblenden müssen, was man im Hinblick auf den Beitrag der Sprache zur Herstellung kommunikativer Strukturen beobachten und beschreiben kann (s.o.). Der Gegenstand der linguistischen Gesprächsforschung kann nicht die bloße Aktualisierung einer im Prinzip unabhängig von ihren Erscheinungsformen gedachten ‘Sprache’ sein; er muss außerhalb der Dichotomie von langue und parole gedacht werden und auf den Gegenstand ‘Gespräch’/ ‘Interaktion’ bezogen werden. Nur auf diese Weise lässt sich Gesprochen-Gehörtes als Beitrag zur Herstellung von Sequenzialität beobachten und beschreiben. Und nur dann können die Potenziale genutzt werden, die darin liegen, Sprache im Gespräch zu thematisieren. 7 Das soll im Folgenden am Beispiel von Fokussierungen weiter erläutert werden. 3. Sequenzialität und Fokussierung In der Interaktion geschieht alles, was überhaupt geschehen kann, unter der Bedingung der Wahrnehmungswahrnehmung, vereinfacht gesagt: der Bedingung wechselseitig geteilter Aufmerksamkeit. Wenn man dieses für Interaktion unabdingbare Minimum wechselseitig geteilter Aufmerksamkeit Interaktionsfokus nennt, ist alles, was dazu beiträgt, diesen Interaktionsfokus zu etablieren, zu verschieben oder sonst wie zu verändern, Ausdruck von Fokussierung. In diesem weiten Sinn ist Fokussierung eine konstitutive Dau- 6 Luhmann (1997, S. 195) schlägt an dieser Stelle die Unterscheidung von „Medium“ vs. „Form“ vor. Vgl. dazu auch die Bemerkungen von Krämer (2002, S. 117f.). 7 Es scheint mir daher wenig sinnvoll, eine an Sprache in Gesprächen orientierte Beschreibung und Beobachtung gegen eine an Sprache als Struktur orientierte Beschreibung und Beobachtung auszuspielen. Diese Gegenüberstellung ist nicht nur ‘schief ’, sondern verkennt auch, dass es sich dabei sprachtheoretisch gesehen nicht um konkurrierende, sondern komplementäre Gegenstandsbereiche mit komplementären Beschreibungs- und Beobachtungschancen handelt. Unumstritten ist diese Sichtweise freilich nicht (s. dazu die Einleitung zu diesem Band). Heiko Hausendorf 228 eranforderung der Interaktion, die immer ‘anfällt’ und immer irgendwie ‘gelöst’ werden muss. Sobald Interaktion über eine flüchtige, gleich wieder aufgelöste Begegnung hinausgeht, entsteht ein Interaktionsprofil, das zwischen einem Minimum und einem Maximum Unterscheidungen von Dringlichkeit ausdrückt. Das, was in der Interaktion am dringlichsten zu erledigen ist, steht im auffälligen Vordergrund, das was am wenigsten dringlich ist, im unauffälligen Hintergrund der Interaktion. Fokussierungen dienen dazu, dieses Profil von Vorder- und Hintergrund zu entwickeln, aufrecht zu erhalten und zu modifizieren. Das ist die allgemeine Vorstellung, die im Folgenden anhand von drei Fragen näher ausgeführt werden soll: - Wozu wird fokussiert? - Wie wird fokussiert? - Was wird fokussiert? Dabei führt die letzte dieser Fragen bereits auf die Vielfalt der Aufgaben, die in und mit Interaktion gleichzeitig bearbeitet werden (s.u. 4.). 3.1 Wozu wird fokussiert? In Anlehnung an Kallmeyers Überlegungen zu Fokussierungen (s.o. 1.) beziehe ich die Etablierung von interaktivem Vorder- und Hintergrund strikt auf das Problem der Interaktionsfortsetzung: Fokussierungen sind notwendig, damit Anschlussbedingungen für nächste Züge wirksam werden können und das Nacheinander von Redebeiträgen als organisierte Reihenfolge erlebt und behandelt werden kann (s.o. 2.; vgl. dazu auch Hausendorf 2001). Nur nebenbei sei bemerkt, dass es zu dieser, an genuin interaktiven Anforderungen der Interaktionsfortsetzung ausgerichteten Bestimmung Alternativen gibt, die in der Regel auf genuin kognitive Anforderungen z.B. der Informationsverarbeitung ausgerichtet sind, was dann dazu führt, Fokussierungen vornehmlich auf die Informationsstruktur von Äußerungen und Texten, also auf propositionale Gehalte zu beziehen (so z.B. bei Weinrich 1993, S. 25f.). 3.2 Wie wird fokussiert? Bindet man Fokussierungen stattdessen wie hier vorgeschlagen an Probleme der Interaktionsfortsetzung, rücken im Hinblick auf das Wie der Fokussierung sofort konditionelle Relevanzen in den Blickpunkt: interaktive Zugzwänge, in und mit denen Erwartungserwartungen etabliert werden. Alles, was dazu beiträgt, konditionelle Relevanzen zu etablieren, trägt so gesehen ‘Was kommt als Nächstes? ’ Fokussierungen revisited 229 zur Fokussierung bei: Das, was durch ein Maximum an konditionellen Relevanzen als maximal dringlich signalisiert wird, ist zugleich das, was im auffälligen Vordergrund der Interaktion steht, das, was als minimal dringlich signalisiert wird, ist zugleich das, was im unauffälligen Hintergrund der Interaktion steht. Das Paradebeispiel für maximale Dringlichkeit sind lokale Zugzwänge, wie sie innerhalb der viel beschriebenen Paarsequenzen auftreten: Man denke daran, wie durch einen verbalen Gruß etwa ein vielleicht noch labiler, unsicherer Wahrnehmungsfokus durch die Etablierung einer Erwartbarkeit der Erwartung des Zurückgrüßens stabilisiert wird. Das, was als dringlich und vordergründig gelten soll, muss also durch starke konditionelle Relevanzen ausgestattet werden, die starke Reihenfolgeerwartbarkeiten etablieren helfen. Konditionelle Relevanzen sind nach dieser Auffassung der genuin interaktive Ausdruck von Fokussierungen - auch wenn dieser Zusammenhang in der Interaktion nicht immer so klar und deutlich hervortreten muss wie im Falle von Paarsequenzen. Die analytische Aufgabe (und Herausforderung) erwächst dann daraus zu zeigen, wie alles, was gesprochen und gehört wird, grundsätzlich dazu beiträgt, solche Erwartungserwartungen an das Nächste zu manifestieren. Offenkundig wirken dabei ganz unterschiedliche Mittel auf ganz unterschiedliche Weise zusammen. Die linguistische Gesprächsforschung hat jedenfalls in den letzten Jahren viel Wissen zusammengetragen, wie Sprachliches und Nichtsprachliches ebenenübergreifend konditionelle Relevanzen in verschiedene Richtungen etablieren und ausprägen kann (vgl. dazu mit vielen weiter führenden Literaturhinweisen die Beiträge zu diesem Band). 3.3 Was wird fokussiert? Fokussierung heißt also, dass Interaktionsfortsetzung über den Mechanismus konditioneller Relevanzen immer wieder global wie lokal organisiert wird. Aber was ist es letztlich, was dann im Vordergrund als dringlich eingestuft wird? Worauf beziehen sich solche Erwartungserwartungen? In jeder xbeliebigen Interaktion, die über eine flüchtige Begegnung hinausgeht, werden Erwartungserwartungen in ganz unterschiedlichen Richtungen und Dimensionen ausgebildet. Um diese unterschiedlichen Richtungen und Dimensionen zu erfassen, ist es sinnvoll, von unterschiedlichen interaktiven bzw. kommunikativen Aufgaben oder Problemen zu sprechen, die in und mit Interaktion gleichzeitig bearbeitet und gelöst werden müssen (vgl. dazu Kallmeyer/ Schütze 1976, s.u.). Fokussierungen lassen sich dann darauf beziehen, Heiko Hausendorf 230 welche dieser Aufgabenbearbeitungen gerade im Vorderbzw. Hintergrund stehen. Um diese Vorstellung plausibel zu machen, muss man kurz in Erinnerung rufen, um was für Aufgaben und Probleme es geht und warum diese Aufgaben und Probleme in Interaktion stets gleichzeitig bearbeitet werden müssen. 4. Konversationelle Arbeit als multi-tasking Wenn die Ergebnisse der linguistischen Gesprächsforschung der letzten rund 30 Jahre auf eines aufmerksam machen, dann ist es die Vielfalt der in und mit Interaktion gelösten Probleme bzw. Aufgaben, die Vielfalt dessen, was in der Konversationsanalyse als konversationelle Arbeit gilt. Dabei ist es leicht zu sehen (aber schwer konzeptionell zu erfassen), dass in und mit Interaktion immer mehr als nur ein Problem gelöst, immer mehr als nur eine Aufgabe bearbeitet wird. Ohne viel Mühe lassen sich im Rekurs auf die Themenstellungen und die Befunde gesprächsanalytischer Arbeiten eine Reihe von grundlegenden Aufgabenbereichen skizzieren, die für Interaktion konstitutiv sind - Aufgabenbereiche, die also immer irgendwie ‘erledigt’ werden müssen, wenn überhaupt Interaktion über eine flüchtige Begegnung hinaus in der Form anlaufen soll, wie wir sie kennen. Dabei kommt es nicht auf die konkreten Benennungen an, sondern auf den Problem- und Aufgabenbereich, der jeweils dahinter steht: - Gesprächseröffnung und -beendigung, - Sprecherwechsel, - Organisation von Themen und Beiträgen, - Kontextualisierung: Rahmen, Zweck und Anlass, - Situierung: Verankerung im Hier und Jetzt, - Selbst- und Fremddarstellung/ face work. Diese Liste ist nicht unbedingt vollständig, aber sie erfasst wohl die grundlegenden Interaktionsaufgaben, von denen man sagen kann, dass sie grundsätzlich bewältigt und bearbeitet werden, unabhängig davon, wie, wo, wie lange und unter welchen Umständen Interaktion auch immer zustande kommen mag. Die soziale Typik einer konkreten Interaktionsepisode ergibt sich dann daraus, so könnte man folgern, welche/ r dieser Aufgabenbereiche im Vorder- und welche im Hintergrund stehen. ‘Was kommt als Nächstes? ’ Fokussierungen revisited 231 Gesprächseröffnung und -beendigung stehen für die Herstellung, Aufrechterhaltung und Auflösung von Anwesenheit. Die hier anzusetzenden Aufgaben der Sicherstellung und Organisation von Wahrnehmungswahrnehmung 8 bilden gewissermaßen die Grundlage für alle weiteren Aufgabenbereiche und werden entsprechend häufig auf selbstverständlich-unauffällige Weise im Hintergrund der Interaktion miterledigt. Typische Mittel dafür sind Blickkontakt und Körperzuwendung, aber auch die Hörbarkeit der Stimme beim Sprechen. Häufig rücken diese Aufgaben überhaupt nur am ‘Rande’ der Interaktion, also bei Eröffnung und Beendigung, kurzzeitig in den Vordergrund. Konditionelle Relevanz wird dabei typischerweise durch Paarsequenzen wie Gruß-Gegengruß-Paare oder den von Sacks und Schegloff so genannten „terminal exchange“ etabliert (Schegloff/ Sacks 1973), der sich aber selbst bei eröffneter Beendigung von Fall zu Fall ausgesprochen lange hinauszögern kann, so dass das Beenden als Aufgabe auch über längere Zeit vordergründig bleiben kann (vgl. dazu das von Selting i.d. Bd. besprochene Beispiel einer ‘schwierigen’ Gesprächsbeendigung). Der Grenzfall der ‘flüchtigen Begegnung’ - z.B. unter Passanten - in dem die Interaktion über einen Grußaustausch nicht hinauskommt, verdankt seine soziale Typik der vollständigen und exklusiven Fokussierung auf die Erledigung dieser Aufgaben. Schon in dem Moment, in dem eine flüchtige Begegnung über einen längeren Blickkontakt hinaus durch ein Gruß-Gegengruß-Paar stabilisiert wird, sind Aufgaben mit im Spiel, die die Organisation der Reihenfolge der Sprecher betreffen. Auf diese Aufgaben verweist das Stichwort Sprecherwechsel. Die Organisation des Sich-Abwechselns der Sprecher kann kleinräumiglokal erfolgen wie im Falle der Paarsequenzen, aber auch großräumig-global geschehen wie im Falle so genannter Diskurseinheiten wie Erzählungen oder Erklärungen (vgl. dazu Kallmeyer/ Schütze 1977 und den Beitrag von Quasthoff/ Kern i.d. Bd.). Auch die auf die Organisation des Sprecherwechsels bezogenen Aufgaben werden häufig hintergründig-unauffällig miterledigt, und sie können sogar fast vollständig ‘heruntergefahren’ werden, wenn und in dem Maße, in dem Rederecht und Zuhörverpflichtung vorausgreifend für einen längeren Zeitpunkt für bestimmte Personen reserviert werden und diese Reservierung zudem durch Situation und Kontext (s.u.) gestützt wird 8 ‘Anwesenheit’ („co-presence“) ist schon bei Goffman das Kürzel für Wahrnehmung der Wahrnehmung oder, wie es bei Luhmann heißt, das Kürzel dafür, dass „wahrgenommen werden kann, dass wahrgenommen wird“ (Goffman 1964, S. 135; Luhmann 1984, S. 560). Heiko Hausendorf 232 (wie im Falle etwa des Vortrags). Umgekehrt treten diese Aufgaben in den Vordergrund, wenn und in dem Maße, in dem die Redezeit ein knappes und kostbares Gut ist, dessen Verteilung der Organisation unter den Anwesenden zur Verfügung steht (wie z.B. häufig in massenmedial inszenierten Gesprächssendungen mit ‘ModeratorInnen’ und ‘Gästen’) oder aber umgekehrt aufgrund medialer und modaler Spezialbedingungen durch besondere Verfahren erst eigens ermöglicht werden muss (wie sie etwa im Beitrag von Mondada i.d. Bd. erläutert werden). Unmittelbar mit dem Sprecherwechsel ist die Organisation von Themen und Beiträgen verknüpft: Sobald die Interaktion über ein Gruß-Gegengruß-Paar hinaus geht, müssen Aufgaben vermehrt erledigt werden, die damit zu tun haben, dass Beiträge zu Themen verknüpft werden und auf diese Weise eine Art konversationeller Kohärenz entsteht, mit der Themenelaborierungen und -expandierungen, Themenabschluss und Themenwechsel erwartbar gemacht werden (vgl. dazu schon früh die Überlegungen zum „pre-closing“ in Schegloff/ Sacks 1973). Es ist dieser Aufgabenbereich der Themenorganisation, auf den die Thematik der Fokussierung in der Regel bezogen worden ist (Kallmeyer 1978) und zu dessen Beschreibung auf die in der Linguistik zahlreich vorliegenden Untersuchungen zur Informationsstruktur von Sätzen, Texten und Äußerungen am ehesten zurück gegriffen werden kann (s.o. 1.). Fokussierungen werden in diesem Bereich in dem Maße relevant und greifbar, in dem die Dringlichkeit einer bestimmten thematischen Progression durch den Einsatz konditioneller Relevanzen (z.B. in Form von Unterbrechungen oder Frage-Antwort-Zugzwängen) etabliert wird, weil dabei die Erledigung der auf die Themenorganisation bezogenen Aufgaben stärker in den Vordergrund tritt. Charakteristisch für die soziale Typik von Interaktionsereignissen, in denen diese Aufgaben dominieren, sind Interaktionen in Organisationen wie Arbeitsbesprechungen oder Konferenzen, in denen die Dringlichkeit der auf Themenorganisation bezogenen Aufgaben häufig sogar zusätzlich durch schriftliche, vorab verschickte Dokumente (Tagungsordnung) manifestiert wird. Wann immer Interaktion anläuft, etabliert und verweist sie auf die für sie gerade (‘lokal’) bedeutsamen Aspekte des Kontextes im Sinne des Anlasses, des Rahmen oder des Zwecks des gerade laufenden Geschehens. Man kann die auf diese Art von Rahmung („framing“ i.S. von Goffman 1974) bezogenen Aufgaben unter dem Stichwort Kontextualisierung erfassen. Auch wenn nicht sämtliche der im Anschluss an Gumperz (1982) untersuchten „Kontex- ‘Was kommt als Nächstes? ’ Fokussierungen revisited 233 tualisierungshinweise“ ausschließlich auf Rahmung im oben eingeführten Sinn zu beziehen sind (vgl. die Überblicksdarstellung bei Schmitt 1993), scheint dieser Ausdruck gut geeignet, weil er die Dynamik von Kontextbindung und Kontexterzeugung durch Interaktion auf den Begriff bringt (vgl. dazu auch die Beiträge in Auer/ di Luzio (Hg.) 1992). Gerade die Forschungen zu den oftmals sehr unscheinbar-subtil eingesetzten Kontextualisierungshinweisen haben gezeigt, dass sich die Erledigung der hier relevanten Aufgaben in vielen Fällen im Hintergrund der Interaktion vollzieht - in einem Maße, dass die gerade bedeutsamen Zwecksetzungen der Interaktion den Gesprächsteilnehmern in der Regel im Sinne eines vorgegebenen Kontextes erscheinen, der schon ‘da’ ist, wenn die Interaktion beginnt und der nicht ‘erzeugt’ werden kann. Umgekehrt tritt die Erledigung von Kontextualisierungsaufgaben typischerweise dann in den Vordergrund, wenn und in dem Maße, in dem die laufende Interaktion gewissermaßen ganz in ihrem Rahmen aufgeht, d.h., sich als Vollzug einer übergeordneten Ordnung inszeniert und im wahrsten Sinne des Wortes ‘feiert’ - wie es etwa in stark zeremoniell und formell geprägten Interaktionsritualen der Fall ist, in denen dieser besondere Charakter zudem durch Aspekte der Wahrnehmung der Umgebung (also etwa der Raum- und Kleiderordnung) gestützt wird (wie etwa im Gottesdienst). Über die soeben angesprochene Wahrnehmung der Umgebung der Anwesenden wird Interaktion situativ verankert. Diese situative Verankerung, auf die hier das Stichwort Situierung verweisen soll, beginnt im Grunde genommen mit der Herstellung eines wechselseitig geteilten Aufmerksamkeitsfokus im Hier, Wir und Jetzt der Beteiligten, mit dem - wie oben erläutert - Interaktion eröffnet wird. Gesprächseröffnung und Situierung fallen also zwangsläufig zusammen, und die Erledigung der Aufgaben der Situierung kann sich in vielen Fällen darauf beschränken, ein Minimum wechselseitig geteilter Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten. Dass hier ein eigenständiger Aufgabenbereich anzusetzen ist, wird erst offenbar, wenn und in dem Maße, in dem dieses Minimum wechselseitig geteilter Aufmerksamkeit, das schon für die Aufrechterhaltung von Anwesenheit notwendig ist, im Hinblick auf anspruchsvollere Nutzungen der Situation überschritten werden soll. Wenn die (Sprech-)Situation ein Kürzel für all das ist, was den Beteiligten sinnlich wahrnehmbar zugänglich ist, dann heißt Situierung nicht mehr und nicht weniger als die Herstellung dieser Situation im Medium der sinnlichen Wahrnehmung. Schon die verlässliche interaktive Etablierung der gemeinsamen Heiko Hausendorf 234 Wahrnehmung eines Gegenstandes im Blickfeld der Anwesenden überschreitet jenes Minimum wechselseitiger Aufmerksamkeit, indem sie mehr als nur die Anwesenheit der Beteiligten relevant macht: in diesem Fall die Gegenwart von Objekten und Gegenständen. Typischerweise gehen mit einer solchen Situierung auf der Seite der Interaktionsteilnehmer Zeigehandlungen einher: gestische wie sprachliche (Was ist denn das? ). Die Deixis, die hier ins Spiel kommt, gehört zu den charakteristischen Mitteln und Formen, die zur Erledigung der Aufgaben der Situierung in Anspruch genommen werden (vgl. dazu Hausendorf 2003). Je dringlicher die Erledigung der Aufgaben der Situierung in einer Interaktion wird, desto mehr und desto stärker darf man folglich mit dem Einsatz deiktischer Mittel und Formen rechnen. Und ohne weiteres kann man sich Interaktionsereignisse vorstellen, die ganz auf solchen Zeigehandlungen beruhen und in denen die Erledigung der Situierung alle anderen Aufgabenbereiche in den Hintergrund rücken lässt (vgl. dazu z.B. Analysen von Interaktionen, in denen die Wahrnehmung praktischer Handlungen wie z.B. die Handhabung von Objekten im Mittelpunkt steht, etwa bei Instruktionen (Brünner 1987; Ehlich/ Noack/ Scheiter (Hg.) 1994) oder Spielerklärungen (Hausendorf 1995; Kern 2003). Umgekehrt dürfte die Situierung im Falle nicht zeigender, redebegleitender Gesten eher unauffällig-hintergründig bleiben, zumal wenn sie sich auf den Bereich der Themenorganisation beziehen lassen (vgl. dazu die Besprechung von Gesten des Bietens im Beitrag von Streeck i.d. Bd.). Als letzter Aufgabenbereich sei hier der Komplex der Selbst- und Fremddarstellung angesprochen. Damit ist gemeint, dass mit jedem Sprechen und Zuhören unweigerlich die Anwesenden nicht nur in ihrer physischen, sondern auch in ihrer sozialen Präsenz relevant werden, dass, anders gesagt, mit der Gesprächseröffnung immer auch all das miteinfließt, mitgesehen und -gehört wird, was schon mit der Anwesenheit der fraglichen Personen gewissermaßen zur Verfügung gestellt wird. Selbst- und Fremddarstellung ist also - anders als die an Vorsatz, Strategie und vielleicht auch an Rhetorik erinnernde Terminologie suggerieren mag - ein Begriff für einen gar nicht zu verhindernden Sachverhalt, der außerhalb der Disposition der Beteiligten steht. Natürlich schließt das nicht aus, dass bei der Erledigung der hierhin gehörenden Aufgaben auch Mittel und Formen zum Einsatz kommen, die genau eine solche Sprecherintention manifestieren. Wenn und in dem Maße, in dem das geschieht, wird die Erledigung der Aufgaben der Selbst- und Fremddarstellung vordergründig-auffällig, und es drängen sich Begriffe wie ‘Was kommt als Nächstes? ’ Fokussierungen revisited 235 face work (Goffman 1955), Typisierung (Berger/ Luckmann 1969), Kategorisierung (im Sinne der Konversationsanalyse: Sacks 1967) oder Positionierung (Davies/ Harré 1990) auf, um diese Art der Aufgabenerledigung zu rekonstruieren (s.u. 5.). Wie oben schon notiert, sind weder die genannte Liste noch die skizzierte Beschreibung allgemeiner Aufgabenbereiche der Interaktion vollständig und abschließend gemeint. Aber man sieht vielleicht, wie sich Ergebnisse der Gesprächsforschung anhand dieser Aufgabenbereiche ohne viel Mühe systematisieren lassen. Und bekanntlich ist das Grundkonzept der Vorstellung solcher sich überlappender Aufgabenbereiche auf unterschiedlichen Ordnungsebenen der Interaktion alles andere als neu, wenn man an die Rezeption der Konversationsanalyse bei Kallmeyer und Schütze denkt (vgl. Kallmeyer/ Schütze 1976) - aber auch von Beginn an nicht unumstritten geblieben, wenn man z.B. an die Kritik von Bergmann (1981) denkt. Vielleicht wäre es nunmehr nach Jahrzehnten erfolgreicher konversations- und gesprächsanalytischer Forschungspraxis an der Zeit, diesen Ansatz auf dem Hintergrund der vorliegenden empirischen Befunde und Ergebnisse in jedem der genannten Aufgabenbereiche und auf dem Hintergrund der Weiterentwicklung interaktionstheoretischer Ansätze wieder aufzunehmen. Wichtig für den hier in Rede stehenden Zusammenhang der Fokussierung ist die These, dass sich die Erledigung dieser Aufgaben tatsächlich danach unterscheiden lässt, ob sie im auffälligen Vordergrund oder im unauffälligen Hintergrund der Interaktion geschieht. Diese Überlegung soll im Folgenden am Beispiel des Aufgabenbereichs der Selbst- und Fremddarstellung, speziell der sozialen Kategorisierung illustriert werden. 5. Interaktiver Vorder- und Hintergrund bei der Selbst- und Fremddarstellung Im Folgenden soll am Beispiel eines Aufgabenbereiches gezeigt werden, wie Fokussierungen im Sinne der Etablierung konditioneller Relevanzen dazu beitragen, die Erledigung kommunikativer Aufgaben im interaktiven Vorder- und Hintergrund zu etablieren. Nach der im vorangehenden Abschnitt angestrebten Breite und Grobheit der Darstellung muss die folgende Darstellung notwendig sehr viel enger werden, was den Phänomenbereich betrifft. Sie kann dafür aber auch feiner werden, was die empirischen Befunde betrifft. Heiko Hausendorf 236 Der erste Schritt zur Eingrenzung des Phänomenbereichs besteht darin, den Aufgabenbereich der Selbst- und Fremddarstellung im Sinne der Kommunikation sozialer Zugehörigkeit zu bestimmen, wie sie sich durch Bezugnahmen auf gesellschaftsweit kommunizierte soziale Kategorien in vielen Fällen im wahrsten Sinne des Wortes ‘auf den Begriff bringen’ lässt. Offenkundig ist das nur ein Ausschnitt von dem, was unter Selbst- und Fremddarstellung interaktiv möglich ist - aber ein gerade für gesellschaftliche Gruppenkonstitutionen aller Art offenkundig zentraler Ausschnitt (das haben für die Konversationsanalyse vor allem die Arbeiten von H. Sacks zur Mitgliedschaftskategorisierung gezeigt: Sacks 1992). Der nächste Schritt zur Eingrenzung des Phänomenbereichs besteht darin, die in vielfacher Hinsicht grundlegende Aufgabe im Kontext sozialer Kategorisierungen herauszugreifen: nämlich die Aufgabe, die darin besteht, die relevante soziale Zugehörigkeit in irgendeiner Form darzustellen, d.h. deutlich zu machen, welcher Aspekt von Zugehörigkeit zu was für einer sozialen Gruppe für die Interaktion relevant sein soll. Ich nenne diese Aufgabe „Zuordnen“ (vgl. dazu Hausendorf 2000). Ich verstehe das Zuordnen (von Personen zu sozialen Gruppen) als eine der Aufgaben im Bereich der Selbst- und Fremddarstellung, mit der wir in der Interaktion alltäglich umgehen und deren Erledigung niemals ganz wegfällt, so extrem hintergründig und unauffällig sie auch immer ausfallen mag. Ich bin damit bereits bei dem, was ich im Folgenden zeigen und illustrieren möchte: wie das Zuordnen sowohl im interaktiven Hintergrund als auch im interaktiven Vordergrund erledigt werden kann. 9 Wenn man sich die Dimensionen von interaktivem Hinter- und Vordergrund als eine bipolare Skala mit einem Minimum an Dringlichkeit und einem Maximum an Dringlichkeit vorstellt und versucht, verschiedene Möglichkeiten der Erledigung des Zuordnens (technischer gesprochen: verschiedene Mittel des Zuordnens) auf einer solchen Skala einzuordnen, findet sich am unteren Ende der Skala mit dem Maximum an Hintergrund die Wahrnehmung von Zugehörigkeit: Die wohl hintergründigste Art des Zuordnens ergibt sich daraus, dass Zugehörigkeit (zu was für einer sozialen Gruppe auch immer) wahrgenommen wird und diese Wahrnehmung selbst unter den Anwesenden er- 9 Ich greife dazu auf ein Beschreibungsmodell von Aufgaben, Mitteln und Formen zurück und auf die Ergebnisse einer Studie zur sozialen Kategorisierung am Beispiel von ‘ Ost-’‚ und ‘ West-Zugehörigkeit’ im wiedervereinigten Deutschland (Hausendorf 2000). ‘Was kommt als Nächstes? ’ Fokussierungen revisited 237 wartbar wahrnehmbar ist - ohne dass dazu sprachliche oder andere semiotisch beschreibbare Erscheinungsformen zu verzeichnen sind. Es ist wichtig zu sehen, dass der Übergang zur Kommunikation von Zugehörigkeit und damit die Erledigung des Zuordnens als einer kommunikativen Aufgabe von der Wahrnehmungswahrnehmung von Zugehörigkeit abhängt, und dafür nicht schon das weite und ganz unspezifizierte Spektrum dessen, was unter Anwesenden wahrnehmbar ist, für sich genommen ausreichen kann. Die Wahrnehmung selbst muss verlässlich wahrnehmbar sein - was die ausschließlich in der Interaktion erzeugten Erwartbarkeiten typischerweise überfordert: etwa wenn in einer „weißen“ Mittelschichtfamilie die Tochter mit einem „schwarzen“ Bräutigam nach Hause kommt und eine an Hautfarbe anschließbare Zugehörigkeit schon mit dem Zusammentreffen der Personen als kommunikativ relevant erachtet werden muss (wie es z.B. 1967 in dem Film „Guess Who's Coming to Dinner“ erfolgreich in Szene gesetzt und dramatisiert worden ist). So erwartbar derartige Wahrnehmungswahrnehmungen von Zugehörigkeit in entsprechend kontextualisierten und situierten Fällen auch immer sein mögen, kann man sich doch vorstellen, dass ein nur auf Wahrnehmungswahrnehmungen beruhendes Zuordnen auf Dauer kaum stabile Erwartungserwartungen mit starken Zugzwängen zur Fortsetzung des Zuordnens etablieren kann. In vielen Fällen bleibt das Zuordnen bei diesem Mittel entsprechend hintergründig-unauffällig und auch zweifelhaft, für den Beobachter, aber auch für die Teilnehmer selbst. Das reicht bis zu einem Nullpunkt sozialer Kategorisierungen, an dem das, was noch nicht in die kommunikative Zone ragt, doch wohl jederzeit davon erfasst werden kann - vielleicht schon, wenn man etwas zu lange hinschaut (‘hinstarrt’). Wir sind hier an einem Grenzbereich zwischen Kognition und Interaktion, der als solcher für die empirische Analyse, zumal sprachwissenschaftlicher Natur, im engeren Sinne kaum zugänglich ist. Ganz anders sieht es aus, wenn wir an das andere Ende der Skala gehen: nämlich dahin, wo mit dem Erledigen des Zuordnens starke konditionelle Relevanzen etabliert werden und das Zuordnen als eine gerade relevante Aufgabe unübersehbar und vor allem auch unüberhörbar wird: Ich nenne den Prototyp dieser am Pol der interaktiven Dringlichkeit angesiedelten Mittel Klärung von Zugehörigkeit. Anders als die Wahrnehmung von Zugehörigkeit, ist die Klärung von Zugehörigkeit auf sprachliche Formen angewiesen. Welcher Art diese Formen sind und wie sie dazu beitragen, das Zuordnen im Vordergrund der Interaktion zu etablieren, soll im Folgenden an drei Bei- Heiko Hausendorf 238 spielen veranschaulicht werden. Diese Beispiele sind so gewählt, dass sie zugleich verdeutlichen, wie auch die Klärung von Zugehörigkeit mit Wahrnehmung von Zugehörigkeit zusammenhängt, wie anders gesagt vorhandene Wahrnehmungsevidenz genutzt bzw. nicht vorhandene Wahrnehmungsevidenz gleichsam kompensiert werden kann: Das erste Beispiel (bücherstand) illustriert Zuordnen mit zu wenig Wahrnehmungsevidenz, das zweite (chatroom) Zuordnen ohne und das dritte (wohnheim) Zuordnen mit zu viel Wahrnehmungsevidenz. Das erste Beispiel zeigt einen Ausschnitt aus einer Kunde-Verkäufer- Interaktion an einem Bücherstand: 10 (1) am bücherstand K(unde) fragt nach Büchern von Nietzsche, V(erkäufer) berichtet über Interesse von ausländern an Nietzsche: V: <<zögernd> eh: sie . > meinen wohl über NIEtzsche (.) durch NIEtzsche was über (.) die (.) DEUtschen (.) zu erfahrn: . oder (so ne)? K: JA → V: <<zögernd>SIN: D eh: SIE (.) eh > DEUTscher? → V: [(Oder? ja? ) → K: [ja ja. hm V: also (.) ne ((lacht)) AUSnahme. K: ((lacht)) Auch ohne in die Details zu gehen, sieht man, dass in diesem Fall ein auf eine bestimmte (hier: national definierte) Zugehörigkeit bezogenes Wissensgefälle zwischen den Teilnehmern besteht, das als Klärungsbedarf kommuniziert wird. Das passiert in der ausgebauten Standardvariante mit Frage und Antwort (sind Sie Deutscher? jaja), die die Dringlichkeit, die das Zuordnen in diesem Fall an dieser Stelle der Interaktion besitzt, sehr klar zum Ausdruck bringt. Entsprechend charakteristisch ist das Format der Paarsequenz für die Klärung von Zugehörigkeit: 11 das Zuordnungsproblem tritt hier als ein unbedingt zu lösendes so dringlich hervor, weil es in einer der stärksten Formen der Etablie- 10 Wiedergabe vereinfacht, Transkription in Anlehnung an das Gesprächsanalytische Transkriptionssystem (Selting et al. 1998). Dieses Datum wird in Hausendorf (2000) vorgestellt und besprochen. 11 Ich komme darauf und auf die beteiligten sprachlichen Formen nach der Beispielbesprechung noch zurück. ‘Was kommt als Nächstes? ’ Fokussierungen revisited 239 rung von konditioneller Relevanz, nämlich in einer Frage-Antwort-Paarsequenz, manifestiert wird. Damit wird die Erledigung des Zuordnens unmittelbar mit der Erledigung von Sprecherwechsel-Aufgaben verknüpft - eine Verknüpfung, wie sie wohl gerade zu Beginn der Interaktion unter Unbekannten typisch ist, insofern hier auch bereits, wie Sacks gezeigt hat (which-typequestions), Aufgaben der Themen- und Beitragsorganisation miterledigt werden. Auf diese Weise entsteht als kontextualisierender Nebeneffekt der Rahmen eines ‘Kennen-Lern-Gespräches’ unter Unbekannten. Zudem kann man festhalten, dass in diesem Fall - wie sicher in vielen anderen vergleichbaren Fällen auch - die vorhandene Wahrnehmungsevidenz für das Zuordnen im Bereich des gerade relevanten Kategoriensets (hier: Nationalität) offenbar nicht ausreicht (man hört und sieht nicht, dass der Andere auch Deutscher ist, und schon gar nicht wäre eine solche Wahrnehmung selber verlässlich wahrnehmbar). Gleichwohl kann die Klärung von Zugehörigkeit an vorausgehende Wahrnehmungsevidenz anschließen, was sich im Beispiel u.a. an der Formulierung der Frage zeigt. Das nächste Beispiel ist dagegen eines, in dem auf Wahrnehmungsevidenz vollständig verzichtet werden muss. Wir überschreiten mit diesem Beispiel kurz das Spektrum der Interaktion unter Anwesenden zugunsten elektronisch vermittelter Fernkommunikation: (2) im chatroom 12 Es handelt sich um eine Gemeinschaft von TeilnehmerInnen, die sich einer bestimmten jugendkulturellen Szene zugehörig fühlen (‘Goth’). Die Person <O>, mit deren Beitrag der Ausschnitt beginnt, ist gerade neu ‘eingetreten’: 03: 13 <O> scheisse kompliziert is dassssssss 03: 13 <A> was denn? 03: 13 <O> alles … 03: 15 <K> sprich dich aus O! 03: 15 <A> ohjo sag sag sag 03: 15 <O> *ggggg* … 03: 17 <K> ; -)> 03: 17 <A> ned so schüchtern O! → 03: 18 <E> O: A/ S/ L? 12 Die Daten und Hintergrundinformationen verdanke ich einer Seminararbeit von P. Grosz und N. Dorostkar, Universität Wien, Wintersemester 2001. Heiko Hausendorf 240 Ohne hier auf die medialen Besonderheiten näher einzugehen, kann man vielleicht sagen, dass es sich um ein Medium handelt, in dem ausgesprochen zeitnah getippt und gelesen wird, ohne dass dabei auf Wahrnehmungsevidenz in irgendeiner Form zurückgegriffen werden kann. Das Beispiel zeigt (neben den viel kommentierten ‘Tastaturspielereien’ getippt-gesendeter Kommunikation), wie hier z.T. Zugehörigkeiten Gegenstand der Klärung werden, die von Angesicht zu Angesicht wohl zu jenem taken-for-granted-Bereich von Wahrnehmungswahrnehmung gehören, der in der Regel gerade nicht versprachlicht und geklärt werden muss: Age, Sex und Location (hier formelhaft abgekürzt: „A/ S/ L“). Unter diesen medialen Bedingungen wird etwas zu einer alltäglich erfahrbaren und ‘benutzbaren’ Teilnehmerrealität, was in Bezug auf Interaktion von Angesicht zu Angesicht den Status einer zunächst kontraintuitiven Hypothese hat: dass auch Geschlechts- und Alterszugehörigkeit ‘dargestellt’ werden müssen, d.h., etwas plakativer gesagt: als ‘Verhandlungssache’ gelten können. Es sei aber mitnotiert, dass sich damit gleichwohl der Status der auf diese Art kommunizierten Zugehörigkeit wandelt: die explizit erfragte Zugehörigkeit verliert nicht nur ihre prima facie Evidenz, sondern auch ihre Relevanz. Klärungssequenzen wie die hier dokumentierte verweisen entsprechend unabhängig von ihrem ‘Ergebnis’ (der Antwort) auf die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, in der es üblich ist, auf diese Weise Chatkommunikation zu bestreiten und die bei dieser Klärung als solche gerade nicht zur Debatte steht. Wie dem auch sei, auch in diesem Fall gerät das Zuordnen durch die Etablierung starker Folgezugerwartungen in den auffälligen Vordergrund der Kommunikation. Das gilt auch für das letzte Beispiel für eine Klärungssequenz, in der weder ein Zuwenig noch ein gänzlicher Mangel an Wahrnehmungsevidenz zugrunde liegt, sondern umgekehrt ein Zuviel an Wahrnehmungsevidenz. Zumindest für eine der Teilnehmerinnen dieser Interaktion gibt es eine nicht übergehbare Wahrnehmungsevidenz, die mit dem Mittel der Klärung von Zugehörigkeit sozusagen ‘abgearbeitet’ wird. (3) im wohnheim 13 Es handelt sich um den Beginn eines Kennenlerngesprächs zwischen einer türkischen (A) und einer französischen Studentin (B), das in einem Wiener Studentenwohnheim spielt. 13 Die Daten und Hintergrundinformation verdanke ich einer Seminararbeit von M. Galicz, W. Sarny, S. Schmidl und E. Striedinger, Universität Wien, Wintersemester 2001. ‘Was kommt als Nächstes? ’ Fokussierungen revisited 241 A: und wie heißt DU? B: florance A: wie? ich kann es nicht AUSsprechen B: (betont) flo rons A: (spricht nach) flo rons B: ja → A: woher KOMMST du? → B: frankreich A: natürlich . aber WO in frankreich? B: aus Paris Schweigen (ca. 3 Sek.) → A: aber deine . HAUTfarbe? B: hm? → A: deine HAUTfarbedu bist- B: ah ja . jaja → A: wo kommen deine ELtern her? → B: ja. aus guadeloupe . WEIßT du wo es ist? → A: hmsie sind- B: ja . hm Schweigen (ca. 5 Sek.) A: (schnell) aber es ist SUper du brauchst kein SONnenstudio du bist immer so schöngebräunt B: ja Gemeinsames Lachen In diesem Fall wird die Klärungssequenz mit einer Frage nach dem Wohnort eingeleitet (woher kommst Du? ), und offensichtlich - das soll uns hier interessieren - deckt die realisierte Antwort (frankreich) nicht den für A entstandenen und kommunizierten Klärungsbedarf ab. Dieser bezieht sich, wie an ihrer adversativ eingeleiteten Nachfrage abzulesen ist, auf die wahrgenommene Hautfarbe von B: Aufgrund einer mitgeteilt-versprachlichten Wahrnehmungsevidenz gelangt ein bestimmter Zuordnungsbereich auf diese Weise in den Vordergrund der Interaktion. Die nationale (auf frankreich bezogene) Zugehörigkeit wird durch eine ethnische (auf hautfarbe beziehbare) Zugehörigkeit auf eine, wie sich im weiteren Verlauf der Interaktion zeigt, geradezu hartnäckige Weise verdrängt. Und der ‘kritische Moment’ dieser Interaktion erwächst wohl auch genau daraus, dass eine der Sprecherinnen (A) diese ethnisch orientierte Zugehörigkeit als die relevante, ‘zählende’ Zugehörigkeit in den Mittelpunkt stellt. Daraus erwachsen dann Irritationen und Implikationen, die A zum Schluss mit einer witzig gemeinten Heiko Hausendorf 242 Bemerkung (aber es ist super du brauchst kein Sonnenstudio) wieder zu relativieren versucht - allerdings ohne Erfolg, wie der weitere, hier nicht wiedergegebene Interaktionsverlauf zeigt. Dieses Beispiel verdeutlich abschließend noch einmal den Status der Wahrnehmung von Zugehörigkeit: Solange Hautfarbe als relevanter Indikator für Zugehörigkeit welcher Art auch immer lediglich auf der Basis von Wahrnehmung ‘ausgewertet’, d.h. gesehen und ‘ verstanden’ wird, sind die konversationellen Folgelasten für das Zuordnen gering bis nicht vorhanden - aber sobald eine solche Wahrnehmung versprachlicht und zudem für die Etablierung konditioneller Relevanzen genutzt wird (aber deine Hautfarbe), ist das Zuordnen auf vordergründige und irreversible Weise im Vordergrund der Interaktion angelaufen - darüber kann dann auch ein nachträglicher Modalitätswechsel nicht mehr hinweg täuschen. Mit Abstand zu den Besonderheiten der drei Beispiele lassen sich die sprachlichen Formen, die für die Klärung von Zugehörigkeit als einem Mittel des Zuordnens charakteristisch sind, ohne weiteres verallgemeinern. Damit und mit einem Seitenblick auf die Formen der anderen Mittel des Zuordnens soll der Beitrag abgeschlossen werden. 6. Fazit Die Klärung von Zugehörigkeit wird immer wieder in ähnlichen sprachlichen Formen realisiert. Dazu zählen in erster Linie: - die selbst- und fremdinitiierte Etablierung lokaler konditioneller Relevanzen in Frage-Antwort-Paaren, - die Verwendung von Gattungsprädikaten mit Personengruppennamen aller Art (‘Ethnonyme’) sowie - die Verwendung von Herkunftsprädikaten mit Länder-, Staats-, Regionen-, Städte- und Stadtteilnamen aller Art (‘Toponyme’). Gerade an der Verwendung von Gattungs- und Herkunftsprädikaten kann man sehen, wie die Vordergründigkeit der Erledigung der interaktiven Aufgabe hier auch satzsemantisch bzw. grammatisch manifest wird: Als Prädikat bzw. im Format der Prädikation erlangen die fraglichen Herkunfts- und Gattungsangaben den Status einer expliziten Feststellung (Weinrich 1993, Kap. 2.5.1), die nicht nebenbei und zwischen den Zeilen mitgeteilt wird, sondern im Mittelpunkt der Aussage selbst steht (v. Polenz 1988). ‘Was kommt als Nächstes? ’ Fokussierungen revisited 243 Diesen Formen diametral gegenüber steht das Mittel der Wahrnehmung von Zugehörigkeit, das selbst per definitionem nicht durch sprachliche Formen realisiert werden kann (s.o.). Ist das Zuordnen in dem einen Fall vordergründig und vordringlich, geschieht es in dem anderen Fall hintergründig und eher nebenbei. Als die skalaren Pole markieren diese beiden Mittel des Zuordnens die Extrempunkte des Zuordnens, zwischen denen es viele Abstufungen gibt. Darunter finden sich zum einen das Anzeigen von Zugehörigkeit, das näher am interaktiven Hintergrundpol liegt und zum anderen die Hervorhebung von Zugehörigkeit, die näher am interaktiven Vordergrundpol zu verorten ist. Die folgende Graphik bringt diesen Sachverhalt zum Ausdruck: Zuordnen im Vordergrund ↑ . Klärung von Zugehörigkeit . Hervorhebung von Zugehörigkeit . . . . . Anzeigen von Zugehörigkeit ↓ Zuordnen im Hintergrund Wahrnehmung von Zugehörigkeit Abb. 1: Zuordnen im Vorder- und Hintergrund Typisch für das Anzeigen von Zugehörigkeit sind personale, temporale und lokale Pronomina, die als Indikatoren für Zugehörigkeit gelten können; typisch für die Hervorhebung von Zugehörigkeit sind Phänomene der Gewichtung (im engeren grammatischen Sinne) und Verfahren wie Gegenüberstellungen, Verallgemeinerungen oder Vergleiche (dazu ausführlicher Hausendorf 2000, Kap. 6.3). Auch ohne hier in die Details der Mittel und Formen zu gehen, sollte deutlich geworden sein, wie man das Phänomen des Fokussierens auf in und mit Interaktion zu bearbeitende Aufgaben beziehen kann, und wie die Mittel und die Formen dieser Aufgaben dazu beitragen, die Aufgabenerledigung selbst im Hinter- oder Vordergrund der Interaktion zu platzieren. Auch wenn das Heiko Hausendorf 244 im vorliegenden Beitrag nur auf exemplarische Weise gezeigt werden konnte, verspricht ein solcher Versuch vielleicht genügend Einblicke und Zugewinn, um Ähnliches auch für die anderen Aufgabenbereiche der Interaktion in Angriff zu nehmen. 7. Literatur Auer, Peter/ di Luzio, Aldo (Hg.) (1992): The Contextualization of Language. Amsterdam. Baraldi, Claudio/ Corsi, Giancarlo/ Esposito, Elena (1997): GLU . Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt a.M. Berger, Peter/ Luckmann, Thomas (1969): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a.M. Bergmann, Jörg R. (1981): Ethnomethodologische Konversationsanalyse. In: Schröder, Peter/ Steger, Hugo (Hg.), Dialogforschung. Jahrbuch 1980 des Insituts für deutsche Sprache. Düsseldorf, S. 9-51. Bierwisch, Manfred (2002): Erklären in der Linguistik - Aspekte und Kontroversen. 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Im turn taking und den damit zusammenhängenden Fragen kommt die Bedeutung von Zeitlichkeit für das Verständnis von talk-ininteraction und allgemein von Sprache als einem dynamischen, vorwärts schreitenden (inkrementalen), emergierenden Phänomen als spezifisches Konzept von Prozessualität zum Ausdruck. Hier greife ich diese klassische Frage auf und stelle sie in einen Kontext, in dem die relevante sequenzielle Platzierung einer Redeübernahme nicht nur die Prozessualität von talk-in-interaction berücksichtigen muss, sondern auch die Prozessualität multimodaler Aktivitäten, bei denen die Beteiligten neben verbalen Ressourcen auch Objekte und komplizierte Technologien einsetzen. Die Rekonstruktion der Systematik adäquater Plätze für die Turnübernahme erfolgt in der Literatur hauptsächlich auf der Grundlage syntaktischer, pragmatischer und prosodischer Kriterien. Wenn Multimodalität überhaupt berücksichtigt wird, dann geschieht dies hauptsächlich auf der Basis von faceto-face-Interaktionen: Hierbei stehen die Beteiligten wechselseitig füreinander zur Verfügung und sind hauptsächlich mit konversationellen Aktivitäten beschäftigt. Goodwins Arbeiten (1979, 1980, 1986, 2000) beispielsweise zeigen sehr klar, wie dabei Blick und Gesten aktiv dazu beitragen, die Wechselseitigkeit und Sichtbarkeit der Beteiligten zu ermöglichen. Lorenza Mondada 248 Viele Situationen weisen jedoch andere sequenzielle und kontextuelle Bedingungen und Beschränkungen für die Organisation der Beteiligungsgelegenheiten auf, die sowohl multimodaler als auch multiaktionaler Natur sind: In vielen modernen Arbeitsplätzen können Menschen im selben Raum verteilt sein und sich in derselben visuellen Welt bewegen (dank Kommunikationstechnologien wie „digital walls“ oder Video-Konferenz-Technik) oder in komplex strukturierten Umgebungen, die territorial ausdifferenziert sind und gleichzeitig mit parallelen Aktivitäten beschäftigt sein, die nicht notwendiger Weise talk-in-interaction beinhalten. Dies ist beispielsweise in Kontrollräumen oder Großraumbüros der Fall (Goodwin 1996; Heath/ Luff 1992b, 1996; Suchman 1993, 1996). In solchen Arbeitsplätzen sind die Menschen zwar ko-präsent und prinzipiell wechselseitig zugänglich, aber nicht automatisch auch wechselseitig verfügbar. Sie arbeiten zusammen, können zusammen interagieren, arbeiten aber auch allein, konzentriert auf ihre besonderen Aufgaben. Solche Situationen, die einerseits durch komplexe räumliche Bedingungen und eine Fülle von Artefakten und Technologien, andererseits durch vielfach parallele verbale und nonverbale Aktivitäten charakterisiert sind, stellen an die Übernahme von Redegelegenheiten mitunter recht schwierige Anforderungen. In solchen Kontexten müssen die Beteiligten mit unterschiedlichen Prozessualitäten umgehen, d.h. mit verschiedenen gleichzeitig ablaufenden Handlungssträngen. Diese haben jeweils spezifische Implikationen, weisen unterschiedlich geartete zeitliche Beschränkungen auf und fordern in unterschiedlichem Ausmaß Aufmerksamkeit und verlangen und ermöglichen unterschiedliche Beteiligungsweisen. Bezogen auf solche Situationen stellt sich die Frage nach der Beziehung der sequenziellen Organisation der Gespräche und der Organisation von anderen - nicht primär verbalen Aktivitäten. Dabei wird einerseits die Beziehung der Zeitlichkeiten verbaler und nichtverbaler Aktivitäten thematisch, andererseits rückt die Frage nach den Möglichkeiten der Koordination beider Aspekte in den Vordergrund. In den Fokus treten dabei auch die Methoden, die die Beteiligten unter solchen Bedingungen anwenden, um sich als Sprecher zu etablieren, sich wechselseitig aufeinander zu beziehen und sich gemeinsam in abgestimmter Weise auf die gleichen interaktiven Aktivitäten zu orientieren und so einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus zu etablieren. Die Analyse von turn-taking-Aktivitäten unter solchen Bedingungen kann unser bisheriges Verständnis in unterschiedlicher Hinsicht erweitern: beispielsweise hinsichtlich der lokalen Abhängigkeit der Turn taking in multimodalen und multiaktionalen Kontexten 249 Sprecheretablierung und der Art und Weise, wie Äußerungseinheiten konstruiert und erkannt werden. Darüber hinaus rückt sie unterschiedliche multimodale Ressourcen - sprachlicher, gestischer und räumlicher Art - in den Blickpunkt, die genutzt werden, um unter jeweils spezifischen Bedingungen Äußerungseinheiten im Verlaufe der Zeit zu konstruieren (Mondada, i. Dr. b). In diesem Erkenntniszusammenhang sind die „Workplace Studies“ von besonderer Bedeutung, speziell die Arbeiten von Christian Heath und seinem Team zu komplexen realen und virtuellen Arbeitsplätzen (Heath/ Luff 2000). Diese Arbeiten zeigen, dass und wie die Koordination der wechselseitige Aufmerksamkeit auf ein Objekt, ein Bild oder eine Aufgabe als im gleichen Teilnehmerahmen verortet von den Beteiligten aktiv und lokal produziert wird. Solche gemeinsamen Fokussierungen stellen zusätzlich an die Beteiligten besondere Anforderungen, da diese Arbeitsaktivitäten mit Videokommunikationstechnologien durchgeführt werden (Heath/ Luff 1992b; Meier 1997, 1998a, 1998; Mondada 2002, 2003a, i. Dr. a). Das Erkenntnisinteresse dieses Aufsatzes zielt letztlich darauf, grundlegende Prinzipien des turn taking zu formulieren, die unter Bedingungen und Einschränkungen gelten, die durch Multimodalität, Multiaktionalität und technologische Rahmungen von Handlungen und Interaktionen bestimmt werden. 1.2 Ein Fallbeispiel: Interaktion im Operationssaal Im Rahmen einer längeren ethnografischen Studie habe ich Videoaufnahmen eines telemedizinischen Projektes gesammelt, das in der chirurgischen Abteilung eines großen französischen Krankenhauses durchgeführt wird. In diesem Projekt diskutieren Chirurgen während der Operation eines Patienten im Operationssaal mit Experten, die Online-Hinweise geben und bei denen ein internationales Publikum, bestehend aus fortgeschrittenen Trainees, Fragen zum chirurgischen Verfahren stellen kann. Diese Situation ist deswegen interessant, weil wir es mit einer hochgradig komplexen Umgebung zu tun haben, die aus interaktiven Aktivitäten innerhalb einer professionellen Praxis - des Operierens - besteht, die selbst nicht primär verbal konstituiert wird (Mondada 2004): − Der Chirurg ist im Operationssaal und operiert mit Hilfe seines Teams einen Patienten und koordiniert den gemeinsamen Handlungsfokus. Die Operation wird als Laparoskopie durchgeführt, mit einer endoskopischen Kamera und mit Instrumenten, die durch kleine Kanäle in den Körper des Patienten eingeführt werden. Lorenza Mondada 250 − Die Zuschauer (die fortgeschrittenen Trainees) sitzen in einem Vorlesungssaal mit aufsteigenden Sitzreihen, wo das endoskopische Bild, nach dem der Chirurg operiert, auf einen Großbildschirm übertragen wird. − Die Experten befinden sich zwar im gleichen Raum wie die Zuschauer, sitzen jedoch in einer Reihe an einem Tisch, vor den Zuschauern mit dem Großbildschirm in ihrem Rücken und blicken auf kleine Monitore, die in den Tisch eingelassen sind. Auf diese Weise überlagern sich unterschiedliche Beteiligungsrahmen: Der Chirurg operiert, diskutiert jedoch gleichzeitig mit den Experten und lehrt. Die Experten geben dem Chirurgen Hinweise, liefern aber auch gleichzeitig Erklärungen für die Zuschauer und ermöglichen deren Beteiligung, indem sie als chairmen fungieren. Alle Beteiligten sind über Mikrophone miteinander verbunden (jeder Zuschauer hat sein eigenes Mikro) und können die Aufnahmen der Operation in unterschiedlichen Räumen verfolgen. Obwohl die Technik die Kommunikation zwischen den Beteiligten ermöglicht, besteht doch deren primäre Aufgabe in der Wiedergabe der Operation durch die endoskopische Kamera und die externe Kamera, die den relevanten Teil des Körpers des Patienten zeigt. Dieses Setting wird also durch eine Vielzahl sich überlappender Aktivitätszusammenhänge charakterisiert, mit deren jeweils eigenständiger Organisation und deren Koordination eine Vielzahl organisatorischer und interaktiver Probleme zusammenhängt (Mondada 2002, 2003b, 2004). In diesem Beitrag werde ich mich auf ein spezifisches Problem konzentrieren, auf das die Beteiligten stoßen und das sie durch eine spezifische, lokal sensitive Praxis lösen: die sequenziell adäquate Platzierung als Sprecher. Obwohl das Gesamtereignis grundsätzlich so strukturiert ist, dass es die Kommunikation zwischen unterschiedlichen Beteiligten (dem Chirurgen, den Experten und den Zuschauern) erlaubt, stellen sich bei genauerem Hinsehen folgende Fragen: − Mit welchen Methoden und unter Rückgriff auf welche multimodalen Ressourcen etablieren sich unterschiedliche Beteiligte als Sprecher und wie/ wozu nutzen sie ihre Redegelegenheiten? − Wie bringen sie es zu Stande, den richtigen Zeitpunkt für die Interaktion mit dem operierenden Chirurgen zu finden? Inwiefern berücksichtigen sie dabei die spezifische Prozessualität der Operation als kollektive Arbeit und nicht nur die dabei stattfindende verbale Interaktion? − Wie reagieren andere Beteiligte auf solche Etablierungsversuche und wann und wie intervenieren sie in Fällen inadäquater Platzierung? Turn taking in multimodalen und multiaktionalen Kontexten 251 Auf der einen Seite müssen unterschiedliche Beteiligte zur gleichen Zeit interaktive Anforderungen bearbeiten wie „Erklären, was gerade vor sich geht“ und technische Aktivitäten wie „Operieren“ ausführen. Beide Aktivitäten besitzen ihre jeweils spezifische zeitliche Organisation, die an manchen Punkten übereinstimmen kann (das sind in der Regel lokal organisierte unproblematische Momente); sie können sich aber auch relevanzgewichtet wechselseitig ausschließen (dies ist dann in „riskanten“ oder „schwierigen“ Momenten der Fall). Auf der anderen Seite orientieren sich die Beteiligten an diesen unterschiedlichen Prozessualitäten, um den weiteren Verlauf der Aktivität und damit den Punkt zu antizipieren, an dem sie sich als Sprecher etablieren und an der Interaktion teilnehmen können. Diese Antizipation und deren Projektion durch den Chirurgen ist abhängig von einer kompetenten Einschätzung der Aktivität. Diese Kompetenz beinhaltet unter anderem professionelles anatomisches Wissen, Kenntnisse hinsichtlich der chirurgischen Prozeduren, die auf einem professionellen Blick („professional vision“), der es ihm ermöglicht, die notwendigen Schlüsse aus den sachlichen und gestischen Details zu ziehen, die die endoskopische Kamera liefert. Diese Aspekte werden noch zusätzlich durch eine doppelte Asymmetrie verkompliziert: Zum einen interagieren die Zuschauer „aus der Ferne“ und haben daher nicht den gleichen Zugang zum chirurgischen Kontext. Zum anderen tun sie dies auf der Grundlage wechselseitig bekannter, unterschiedlicher Expertisen: Sie sind Experten und fortgeschrittene Lernende. 2. Die Entdeckung des Phänomens Die videovermittelte Operation wird durch Momente charakterisiert, in denen der Chirurg beschreibt, was er gerade tut. Daneben gibt es Momente, in denen er sich unterhält oder aber mit den Experten und den Zuschauern diskutiert und andere, in denen er still und konzentriert mit dem Körper des Patienten beschäftigt ist. Die Unterhaltung ist eingebettet in den Operationsprozess, dessen Rhythmus den Stress und das Risiko ebenso verdeutlicht wie den erwartbaren und normalen Operationsverlauf. Für die unterschiedlichen Beteiligten ist die Analyse dieser Einbettung ein praktisches Problem: Sie müssen wissen, ob der Chirurg für eine Unterhaltung zur Verfügung steht oder nicht, ob er beschäftigt oder angespannt ist. Davon hängt ganz wesentlich ab, ob die Selbstwahl eines Zuschauers adäquat ist - und damit Aussicht auf Erfolgt hat - oder nicht. Lorenza Mondada 252 Dieses praktische Problem wird beobachtbar, wenn man sich die unterschiedlichen Methoden anschaut, die die Experten und die Zuschauer einsetzen, um sich als Sprecher zu etablieren. Beim wiederholten Ansehen der Videos fällt ein wiederkehrendes Muster auf, das für die Art und Weise charakteristisch ist, wie sich die Experten als Sprecher etablieren. Es handelt sich um Adressierungen des Chirurgen, die im Erfolgsfalle Aufforderung- Antwort-Paare (summons/ answer pairs) (Schegloff 1972) konstituieren. Solche paarinitiierenden Adressierungen lassen sich in meinem Korpus sehr häufig finden: (1) (k2d1/ 30'30/ liver retractor ) → 1 SED yves/ → 2 REV yes/ (2) (30'27/ balloon) → 1 SED euh pierre-alexan: d[re/ → 2 DAC [yes/ (3) (22'55/ pierre-alex ) → 1 LEL pierre-alex/ → 2 DAC oui/ (4) (24'22/ bipolar) → 1 PHI pierre-alexandre/ → 2 DAC oui Hinsichtlich der von den Zuschauern unternommenen Etablierungsversuche wurde ich auf Adressierungen aufmerksam, die zum einen ein erkennbar anderes Format haben und die sich zum anderen dadurch auszeichneten, dass die Versuche der Sprecheretablierung regelmäßig misslangen. Ich werde mir im Folgenden diese beiden Formen und Stellen von - an den Chirurgen adressierten - Ansprachen etwas genauer ansehen. Dabei werde ich nach den unterschiedlichen Äußerungsformaten, Ausrichtungen und Beteiligungsrahmen, den durch sie initiierten Verläufen und den mit ihnen verbundenen unterschiedlichen sequenziellen Implikationen fragen. Diese Aspekte sind wichtig um zu klären, ob die an den Beteiligtenstatus gebundenen unterschiedlichen Adressierungen des Chirurgen kontextsensitiver und kontextreflexiver Ausdruck spezifischer Beteiligungsmöglichkeiten sind. Die beobachtbaren Unterschiede können auf unterschiedliche Möglichkeiten verweisen, die den Beteiligten zur Verfügung stehen, angemessene Turn taking in multimodalen und multiaktionalen Kontexten 253 sequenzielle Positionen für Aufforderungen zu finden und zu nutzen. Da das „Lesen“ des aktuellen Ereignisses und der dabei produzierten und projektierten Übernahme-Stellen nicht einfach durch die Organisation der Gespräche, sondern auch durch die Organisation des chirurgischen Eingriffs bestimmt wird, können die Unterschiede insgesamt auf unterschiedliche interaktive und medizinische Kompetenzen hindeuten. Diese unterschiedlichen Kompetenzen stellen eventuell die zentrale Ressource dar für die Hervorbringung spezifischer Beteiligungskategorien und für die Festlegung der damit verbundenen spezifischen Rechte und Pflichten zur Partizipation. Sie werden zusätzlich durch unterschiedliche Formen von code-switching angezeigt, auf die ich jedoch hier nicht eingehen werde (siehe hierzu Mondada 2002). Allgemeiner formuliert kann die Analyse der verschiedenen Adressierungen zur Identifikation verbaler und situationsstruktureller Bedingungen beitragen, die die Übernahme der Sprecherrechte leichter oder schwieriger machen und die letztlich zur Definition unterschiedlicher Möglichkeiten wechselseitiger Zugänglichkeit und gemeinsamer Fokussierung der Beteiligten führen. 3. Relevante Stellen für die turn-Übernahme Sich in einem komplexen, technologisch vermittelten kommunikativen Raum und in einem anspruchsvollen professionellen Aktivitätszusammenhang als Sprecher zu etablieren, ist zuweilen nicht ganz einfach. Die nachfolgenden Ausführungen machen deutlich, dass es hierfür bestimmte - von den Beteiligten hergestellte und ausgewiesene - sequenzielle Positionen und bestimmte Prozeduren gibt, die für eine Sprecheretablierung besonders gut geeignet oder relevant sind. Sie machen zudem deutlich, dass die hierfür notwendigen Kompetenzen in Abhängigkeit vom jeweiligen Beteiligungsstatus unterschiedlich sind. 3.1 Frageangebote an das Publikum Der Experte und der Chirurg können abwechselnd dem Publikum die Möglichkeit eröffnen, Fragen zu stellen - und eventuell Kommentare zu formulieren - indem sie diese Gelegenheiten explizit als solche kategorisieren. 3.1.1 Expertenseitige Frageangebote Diese Möglichkeit zeigen die beiden folgenden Ausschnitte: Lorenza Mondada 254 (5) (TC27038V/ k1d1/ 9'25 q from buda) 1 (1.5) → 2 WAR are there any questions from budapest/ 3 BUD eh ya we have eh one questions\ how can you deci: de 4 eh: (.) that you perform that laparoscopically/ (6) (23'40) 1 (10) → 2 SED there is a question in the audience/ 3 AUD yeah you said you prefer the operation that is 4 euh reversible/ (.) completely reversible\ (.) how often 5 do you have to reoperate this patients/ In beiden Fällen ermöglicht der Experte (Warren in Ausschnitt 5; Sedaine in Ausschnitt 6) die Gelegenheit für eine Frage. Indem er das tut, agiert er als „Chairman“ (eine Kategorie, die von den Beteiligten im Wechsel mit „Experte“ benutzt wird). Eine solche Gelegenheit kann in der Weise genutzt werden, wie es beide Fälle zeigen. In solchen Fällen ist die Sprecheretablierung für die Zuschauer unproblematisch. 3.1.2 Chirurgenseitige Frageangebote Diese Möglichkeit wird in den folgenden Ausschnitten deutlich. (7) (k1d1/ 12'30/ q about disp) 1 DAC okay\ (.) euhm (.) a five milimeter trocar/ (.) on the 2 right subcostral area/ (1.5) °°(c'est bon/ )°° 3 (14) ((introduces the trocar)) 4 DAC okay/ and now i ask (.) euh to the anesthesist to put 5 the patient in a SIMIli lateral rotation to the 6 right side of the patient\ like this\ 7 X <°xxxx° ((in DAC's headphones))> 8 DAC yes/ 9 X <°xxxx° ((in DAC's headphones))> → 10 DAC okay\ °très bien\° (.) .hh okay any question about 11 the disposition (.) of the trocar/ 12 (2.2) 13 DAC okay\ (.) the next step is/ thethe instrumentation/ 14 (.) we put a retractor of the liver/ (.) in the 15 subcostal area (8) (k1d2/ 7'25/ they agree) 1 DAC SO/ you see here the upper part of the stomach/ 2 (1.5) Turn taking in multimodalen und multiaktionalen Kontexten 255 3 euh fifteen cc/ 4 (0.8) 5 and euh the distal part of the stomach\ 6 (1.3) 7 euh: zoom arrière\ 8 (1.5) → 9 any question/ (0.4) about that/ 10 (2.7) 11 DAC [okay ] 12 SED ever[ybody] agree that the balloon IS in the stomach 13 and not in the oesophagus/ 14 (4) 15 SED okay\ (.) they agree 16 DAC okay\ (.) now the problem is to avoid the the slipping 17 . of the: (.) of the band/ (.) and in order to avoid 18 that/ we will put three stitches anteriorly 19 (4) (9) (k2d1/ 41'30/ any questions) → 1 REV are there any questions in the: : 2 (5) 3 SED no que[stion/ ] 4 REV [no/ ] no question/ = 5 SED =and i can assure you that they are not sleeping 6 REV ah yes In diesen drei Ausschnitten eröffnet der Chirurg (Daccard in Ausschnitt 7, Z. 1 und Ausschnitt 8, Z. 9; Revmeer in Ausschnitt 9, Z. 1) jeweils explizit für die Zuschauer die Möglichkeit, eine Frage zu stellen. Diese Gelegenheit wird aber in keinem der Fälle von den Zuschauern tatsächlich genutzt. Vielmehr folgt der Einladung des Chirurgen eine Pause. Dies zeigt, dass einerseits ein nächster turn seitens der Zuschauer erwartet wird, andererseits markiert sie die Abwesenheit der ermöglichten Frage. Diese Abwesenheit kann vom Chirurgen und Experten als Zustimmung oder als eine Abwesenheit von Widerspruch interpretiert werden (Ausschnitt 8). Oder sie kann explizit mit einem account kommentiert werden (Ausschnitt 9): Beide Möglichkeiten interpretieren die wahrnehmbare Abwesenheit der Frage in jeweils spezifischer Weise. Fragt man danach, wo diese Gelegenheiten zeitlich und ‘praxeologisch’ platziert sind, wird Folgendes deutlich. In systematischer Weise befinden sie sich unmittelbar vor der Orientierung auf das, was im Rahmen des Operationsablaufes als Nächstes folgt („what's next“). Dies wird verdeutlicht durch Lorenza Mondada 256 das „okay“ zu Beginn des folgenden turns nach der Pause (Ausschnitt 7, Z. 10; Ausschnitt 8, Z. 11) und durch die Initiierung des nächsten Schritts der Operation (Ausschnitt 7, 13 „okay the next step is“; vgl. Ausschnitt 8, 16: „now the problem is“). Darüber hinaus sind die Frage-Einladungen an relevanten Positionen innerhalb der chirurgischen Aktivität platziert, die normalerweise als Übergangsphasen von einem Operationsschritt zum nächsten gekennzeichnet sind. In dieser Hinsicht verdeutlichen sie sowohl die Strukturierung des chirurgischen Eingriffs in unterschiedliche Schlüsselmomente als auch deren jeweilige Grenzen. 3.2 Etablierung des Experten nach Angeboten des Chirurgen Die Orientierung der Chirurgen und der Experten auf relevante Stellen im Operationsverlauf, an denen eine Frage gestellt werden kann, konstituiert signifikante Momente im Ablauf: Es werden retrospektive Fragen vor dem nächsten Schritt ermöglicht; dem Chirurgen wird die Gelegenheit für die Reflexion oder Beschreibung des gerade abgeschlossenen Schritts und/ oder die Ankündigung des nächsten eröffnet (des nächsten „item of business“: Button/ Casey 1988/ 89). Wenn der Chirurg zu einer Frage einlädt, finden wir zuweilen Fälle, in denen der Experte (und nicht die Zuschauer) die Gelegenheit nutzt, eine Frage zu stellen oder einen Kommentar zu formulieren. Dies zeigt erneut die Wichtigkeit solcher signifikanten Momente für die Bearbeitung und Organisation bestimmter interaktiver Anforderungen und Aktivitäten (wie beispielsweise: den vorherigen Schritt zu erläutern, eine gewählte Lösung zu verteidigen oder über seine Bedeutung zu diskutieren etc.). Ein solcher Fall ist der folgende: (10) k1d1/ 53'41/ not necessary 1 (14) 2 DAC *okay now i grasp (4.5)* the triangular (1.3) *tries to catch lig w plier*helps w other plier-> 3 ligament/ 4 (1.4) 5 SED do*n't forget this little (.) step\ .©. or you will ->* cam ©zoom back ---> 6 have surprise© (.) [(with the articulator)] he he]© cam ------->© zoom forth and adjustment ---------© → 7 DAC [no question/ ] 8 [(1.7)] Turn taking in multimodalen und multiaktionalen Kontexten 257 9 DAC you see (1.1) this is probably the z line/ (2.0) two 10 centimeter below (2.4) i make (.) the retro- (.) gastric 11 channel/ (.) and here this is in fact the angle of 12 (heath)/ (.) and this is where i (.) pull out (.) euh 13 my device\ 14 (0.8) → 15 LEL pierre-alexandre/ → 16 DAC yes 17 LEL eh eh it it looks li: ke/ if your dissection of the 18 left si: de/ (.) was not useful for the last euh step 19 of your operation\ Zu Beginn des Ausschnitts ist der Chirurg, Daccard, mit einem sensiblen Schritt der Operation beschäftigt: Er muss ein anatomisches Detail, das Ligament, in einer besonderen Weise halten. Diese professionelle Geste wird von Sedaine, dem Experten, kommentiert (5-6). Das Ende dieser Geste wird durch die Kamerabewegung deutlich, die den bisherigen Fokus auf diesen schwierigen Schritt auflöst. In diesem Moment (7) zeigt der Chirurg in einer überlappenden Äußerung mit dem Ende von Sedaines Erklärung, dass nun die Möglichkeit für eine Frage besteht. Nach einer Pause von 1.7 Sekunden beschreibt Daccard die Anatomie hinsichtlich der nächsten wichtigen chirurgischen Aktion, die er unternehmen wird (9-13). Diese Beschreibung fungiert also als Ankündigung des nächsten Schritts. Während der Beschreibung fährt der Chirurg damit fort, auf die Anatomie zu verweisen und wartet mit dem nächsten Schritt noch ab. Das Ende der Beschreibung verdeutlicht also einen Übergang im Ablauf der Operation, der von Lelacq, einem Experten, zu einer Adressierung des Chirurgen benutzt wird (15). Obwohl also für die Zuschauer eine Fragemöglichkeit eröffnet wurde, kann diese sequenzielle Position auch für andere Übergangsaktivitäten benutzt werden. Ein ähnlicher Fall ist im nächsten Beispiel zu beobachten: (11) (14'57/ nice case) 1 (1.0) 2 DAC oKay/ 3 (1.1) → 4 DAC ‘no question about the dis‘position of the trocar scr ‘ext.view + inset int.view‘ int. view --> 5 and about the: (.) the instrumenta‘tion\ scr ----------> ‘int.v.+inset ext.v.-> 6 (1.2) 7 DAC okay/ we can start the dissect*ion/ *introduces retractor -> Lorenza Mondada 258 8 (1)* -->* 9 DAC *first step/ is the exposure *retracts the liver ---> 10 (1.7) 11 DAC of the gastro-oesophagial junction\ 12 (1,8) 13 DAC in order to do that/ (0.5) we use the retractor/ 14 (5.3)* --->* → 15 LEL *pierre-alexandre/ dac *gives the retractor to the assistant -> → 16 DAC yes* -->* 17 LEL it's a nice case for the first case/ (0.3) bu[t w- & 18 DAC [yes 18 & wait for the second 19 SED ((laughs)) ‘ scr ---> ‘ Der Chirurg fragt, ob es irgendwelche Fragen gibt und wartet auf mögliche Zuschauerreaktionen (6). Er selbst verweist auf den thematischen Kern einer möglichen Frage (das Arrangement des „trocar“, ein kleines Röhrchen, durch das die Geräte in den Körper eingeführt werden) und die Instrumentenausstattung). Die Regie begleitet ihn dabei und bietet dazu ein Bild der Ausstattung an, wodurch der zurückliegende Schritt visuell noch einmal fokussiert wird. Auch wenn es keine Fragen gibt, führt die Orientierung auf sie zu einer retrospektiven Zusammenfassung des zurückliegenden Operationsschritts. Nach der Pause erfolgt der Übergang zum nächsten Schritt mit der Äußerung „okay/ we can start the dissection“ (7, vgl. Ausschnitt 8, 9), mit der Einführung eines neuen Instrumentes und mit der Tatsache, dass die „Nummerierung“ des nächsten Schritts wieder bei eins beginnt („first step/ is the exposure“, 9). Die Platzierung des „Retractors“ beansprucht einiges an Zeit (5,3 Sekunden) und mit dem Ende der Geste realisiert Lelacq, der Experte, eine Adressierung des Chirurgen, die einen Kommentar beinhaltet. Dies ist genau der Zeitpunkt, zu dem die Platzierung des „Retractors“ erreicht ist und das Instrument an den Assistenten weiter gegeben wird. Obwohl Lelacqs Etablierung in Relation zum Übernahmeplatz spät erfolgt, ist er adäquat am Ende einer zentral relevanten professionellen Geste platziert. Diese Geste ist selbst wieder eine Vorbereitung für den nächsten Schritt, das Sezieren. Turn taking in multimodalen und multiaktionalen Kontexten 259 In den letzten beiden Ausschnitten konnten wir sehen, wie der Experte sich als Sprecher etablieren kann. Die Etablierung erfolgte in einer Umgebung, in der der Chirurg und der Experte auf mögliche Fragen aus dem Publikum orientiert sind. Dies zeigt, dass es signifikante Momente in der Operation gibt, die für interaktive Aktivitäten angemessener sind als andere und dass bestimmte Beteiligte wie der Chirurg und der Experte auf solche signifikanten Momente orientiert sind und diese für die Zuschauer als solche ausweisen. 4. Experteninitiativen: Namentliche Adressierung des Chirurgen Wie die letzten beiden Beispiele gezeigt haben, benutzen die Experten ein spezielles Format, um sich als Sprecher zu etablieren: Es ist ein Adressierungs-Format, bei der der initiierende Sprecher (hier der Experte) den Vornamen des Chirurgen benutzt. In der Regel führen solche Initiativen zum gewünschten Erfolg und die Adressierung des Experten wird durch eine Antwort des Chirurgen sequenziell komplettiert. Solche Paare sind in meinem Korpus häufig zu finden und zwar nicht nur an Stellen, an denen der Chirurg selbst zu einer Frage oder einem Kommentar einlädt. Die Adressierung des Chirurgen durch den Experten wird vielmehr immer unter Benutzung des Vornamens realisiert, wie die folgende Sammlung von Ausschnitten zeigt: (12) (k2d1/ 30'30/ liver retractor) 1 REV °zoom avant° → 2 SED yves/ → 3 REV yes/ 4 SED don't you think the liver retractor could be (.) 5 a LIttle more to the left/ so that it can help you/ 6 REV yes/ yes/ yes (.) [maybe (13) (k2d1/ 34'25/ space) 1 REV zoom avant/ zoom avant/ (.) pierre-alex essaye de 2 nous montrer (.) oui/ 3 (1) → 4 SED yves/ → 5 REV yes 6 SED you open the spaineuh the space between spleen and 7 left cro[ss right/ 8 REV [yes/ i have not so lot of choice/ Lorenza Mondada 260 (14) (30'27/ balloon) 1 (14) → 2 SED euh pierre-alexan: d[re/ → 3 DAC [yes/ 4 SED is the balloon deflated now/ 5 DAC yes 6 SED okay\ 7 (15) (15) (46'23/ show us) → 1 SED =eh pierre-alexandre/ → 2 DAC yes/ 3 SED could you show us the FIRST short gastric vessel/ 4 [so that the audience [can (.) imagine/ 5 DAC [yes [yes yes 6 sure\ je suis très collé à la rate\ i create the 7 window (.) here/ and the first short vessels is here\ 8 .. ((shows)) you see/ (16) (22'55/ pierre-alex ) → 1 LEL pierre-alex/ → 2 DAC oui/ 3 LEL tu (.) tu continues quand même à parler s'il y en a (.) 4 parce qu'il y en a des qui vont rester hein/ (.) merci 5 DAC oui (.) très très bien (.) t'as vu t'as vu qu'elle a 6 des ganglions partout cette femme (.) georges/ (17) (24'22/ bipolar) 1 (6) → 2 PHIL pierre-alexandre/ → 3 DAC oui 4 PHIL do you use somesometime euh (.) bi-polar coagulation 5 DAC sorry/ 6 LEL xxx est-ce que tu utilises la BI-polaire 7 DAC yes/ (.) sometimes but (.) extremely [rarely] Dieses Adressierungs-Format scheint für die selbstgewählten Sprecheretablierungen der Experten in besonderer Weise effizient zu sein. Es handelt sich um eine Methode zur Bearbeitung des folgenden praktischen Problems: Wie beteiligt man sich an einer Gesprächsaktivität, die bereits zuvor initiiert wurde, die jedoch zu Gunsten einer anderen Aktivität (der Operation) mit anderen Beteiligten unterbrochen worden ist? Um sich an dem Gespräch zu beteiligen, benutzen sie das Adressierungs-Format, dessen Form mit dem initiativen Teil und den Implikationen des von Schegloff beschriebenen Turn taking in multimodalen und multiaktionalen Kontexten 261 summons/ answer adjacency pairs (1972) übereinstimmt. Anders als die summons-Initiativen ist das Adressierungs-Format nicht am Beginn der Interaktion platziert, sondern nach einer Gesprächsunterbrechung in einer parallelen Aktivität (Szymanski 1999 beschreibt andere Methoden, mit diesem Problem umzugehen). − „summons items may have a distinctive rising terminal juncture, araising of the voice pitch in a quasi-interrogative fashion“ (1972, S. 358). − Antworten sind in der Regel kurz und bestehen aus „yes“ (oder „oui“), sie erfolgen mit einer „fragenden Stimme“ und machen klar, dass es eine nachfolgende Interaktion geben wird. − Die Paarformen „are preambles, preliminaries, or prefaces to somefurther conversational or bodily activity“ (1972, S. 359): Nach dem Paar wird erwartet, dass der Aufforderer weiterspricht: „further talk is conditionally relevant on a completed SA sequence“ (1972, S. 364). Das Adressierungs-Format funktioniert also als Möglichkeit, die Aufmerksamkeit eines Angesprochenen zu gewinnen (attention-getting-device), es richtet zwei Personen als Ko-Beteiligte darauf aus, dass noch weitere Interaktion folgen wird. Oder wie Schegloff es formuliert: The initial problem of coordination in a two-party activity is the problem of availability: that is, a person who seeks to engage in an activity that requires the collaborative work of two parties must first establish, via some interactional procedure, that another party is available to collaborate. It is clear that a treatment of members' solutions to the problem of availability might, at the same time, stand as a description of how coordinated entry into an interactive course of action is accomplished. Our task is to show that SA sequences are, indeed, germane to the problem both of availability and coordinated entry, and how they provide solutions to both these problems simultaneously. (1972, S. 372f.). Diese Möglichkeit ist von besonderem Interesse in einer Situation wie der vorliegenden, in der sich die Beteiligten in einem einleitenden Gesprächsstatus befinden und sich gleichzeitig in verschiedenen Handlungszusammenhängen engagieren und nicht unbedingt für einander wechselseitig zur gleichen Zeit zugänglich sind. Die Rekurrenz des Adressierungs-Formats während der Operation zeigt, dass das Problem in diesem Setting ein permanentes ist und nicht ein für alle Mal - etwa gleich zu Beginn - gelöst werden kann. Lorenza Mondada 262 Bestandteil des Adressierungs-Formats der Experten ist ein besonderer „recognition“-Aspekt: Sie benutzen den Vornamen des Chirurgen. Die Präferenz hierfür folgt auch der Präferenz für Minimalisierung, indem nicht nur der Vorname, sondern Abkürzungsformen benutzt werden („pierre-alex“). Diese Form verdeutlicht auch, wer spricht, was nicht nur an Hand der Stimme erkennbar ist, sondern auch auf Grund der Tatsache, dass der Vorname benutzt wird (im Unterschied zum vollen Namen, eventuell mit Titel wie bei „Dr. Daccard“). Daher ist die besondere Ausrichtung, die mit einer solchen Adressierung produziert wird, nicht nur die zwischen Ko-Beteiligten, sondern zwischen Beteiligten, die eine spezifische Beziehung ausdrücken und erkennen. Daher fungieren Adressierungen nicht nur als attention-getting devices, sie sind vielmehr klar beziehungsimplikativ und signalisieren, welche Art von Beteiligung sich nach dem Format entwickeln wird. In dieser Hinsicht wird die Kategorie des „Experten“ als Kollege oder Freund im Kontrast zu anderen möglichen Kategorien etabliert (beispielsweise als Mitglied des Publikums). 5. Schwierige Bedingungen für die Zuschauer Es ist interessant zu sehen, dass Adressierungen seitens der Zuschauer ein anderes Format haben und sich daher erkennbar von denen der Experten unterscheiden. Fälle, in denen die Zuschauer ein „recognitional“ verwenden, sind selten. Sie benutzen eher ein „excuse-me“- oder ein „sorry“-Format. Wenn wir uns solchen Fällen zuwenden, sehen wir, dass Zuschauer, die mit ihren Initiativen nicht den Einladungen der Experten folgen, (beispielsweise 2.1) oftmals Schwierigkeiten haben, überhaupt die Aufmerksamkeit des Chirurgen zu erlangen oder wahrgenommen zu werden. Das lädt dazu ein, die Platzierung solcher Zuschauer-Initiativen zu analysieren, sich ihr Format anzusehen und die Art und Weise, in der auftretende Etablierungs- Schwierigkeiten (mit Hilfe der Experten) gelöst werden. Daher wollen wir uns jetzt einige schwierige Fälle ansehen und uns dabei mit einer Reihe von Problemen beschäftigen, mit denen die Zuschauer konfrontiert sind. Wir werden uns dabei auf die Platzierung und den nachfolgenden sequenziellen Verlauf der Zuschauerinitiativen konzentrieren. Bei dieser Gelegenheit werden wir kontrastiv die Effektivität des Adressierungs- Formats der Experten thematisieren, die den Zuschauern dabei helfen, letztlich doch noch ihre Frage zu stellen. Turn taking in multimodalen und multiaktionalen Kontexten 263 5.1 Inadäquat platzierte Frageeinladungen angenommen Im ersten Fall hängen die Etablierungsschwierigkeiten des Zuschauers damit zusammen, dass die Einladung, eine Frage zu stellen, seitens des Experten bereits inadäquat platziert war. Aus Sicht der Zuschauer betrachtet liegt hier also letztlich ein „Vererbungsproblem“ vor. (18) (20'21/ size of first tr) 1 REV SO/ (.) well/ (.) h let's start/ (.) °écarteur de foie/ ° 2 (1.2) 3 REV °parfait/ ° (.) [xxxx → 4 SED [okay no question about that/ 5 REV °non\ celui-ci celui-ci ceoui oui (.) réducteur/ 6 et (.) non il faut pas de ré[ducteur xxx° ] → 7 SED [position/ (.)] pressure/ 8 size of [the trocar/ everything is clear\] 9 REV [so we're going to put ] away a little bit 10 the fat= → 11 AUD =what size is the first tro[car/ (.) what size is the 12 first trocar/ 13 REV [<xx vincent\ (.) vincent 14 et nathalie/ xxx 15 X xxxxxxx ((in the operating room))> → 16 SED euh yves/ 17 (0.9) → 18 REV yes/ → 19 SED a question from the audience/ what size is the FIrst 20 trocar/ could you [euh remind us 21 REV [the first trocar/ (.) so the first 22 trocar here is so a a TEN milimeter trocar for my 23 optical system/ Dieser Ausschnitt ist interessant, weil er potenzielle Probleme inadäquater Platzierung zeigt. Der Experte lädt die Zuschauer ein, eine Frage zu stellen (4). Aber diese Einladung ist bereits - bezogen auf die gleichzeitig stattfindenden operativen Aktivitäten und der damit einhergehenden sequenziellen Organisation der Erklärung des Chirurgen - inadäquat platziert. Dies führt dazu, dass die Frageeinladung in Überlappung mit dem turn des Chirurgen, Revmeer, formuliert wird, der schon begonnen hat sich mit dem nächsten chirurgischen Schritt zu beschäftigen (1). Zu diesem Zeitpunkt ist er auf die Zusammenarbeit mit seinem Operationsteam orientiert, das er auf Französisch adressiert (5-6). Er zeigt mit seiner abgesenkten Stimme, dass er für die anderen Beteiligten (auch für den Experten) augenblicklich nicht erreichbar (nicht available) ist. Lorenza Mondada 264 Während der Chirurg also schon mit dem nächsten Operationsschritt beschäftigt ist, orientiert sich der Experte in Überlappung und in Form einer Liste von vorangegangenen Aspekten retrospektiv auf den zurückliegenden Schritt. Die Zuschauerfrage bezieht sich auf ein Detail, das noch weiter zurückliegt und thematisiert den ersten „trocar“ in einer Reihe von insgesamt vier. Dies ist eine Rückorientierung, die durch die Reformulierung des Experten hervorgehoben wird, die sich mit der Funktion der Frage beschäftigt als etwas Wichtigem, an das erinnert werden sollte (20). Die Zuschauerfrage (11) erfolgt in Überlappung mit der Adressierung durch den Chirurgen, der sich an sein Team im Operationssaal wendet. Obwohl die Frage wiederholt wird, reagiert der Chirurg nicht. Das Problem wird durch den Experten gelöst, der das Adressierungs-Format benutzt, um die Aufmerksamkeit des Chirurgen zu erlangen. Die Verzögerung (17) in der Antwort des Chirurgen zeigt erneut die falsche Platzierung der Frage. Es ist also letztlich der Experte, der der Zuschauerfrage Ausdruck verschafft; dies jedoch auch erst im zweiten Anlauf. 5.2 Chirurgenseitige accounts für inadäquat platzierte Fragen Einige Zuschauerfragen werden vom Chirurgen selbst als inadäquat platziert behandelt. Dies geschieht zum einen mittels eines expliziten Kommentars, zum anderen drückt sich das in Problemen in der sequenziellen Organisation aus. (19) (TC27038/ K1D1/ 39'/ midline) 1 scr external view 2 MIL okay\ (1.5) and you probably can’t see it/ (1.0) since 3 the eh (1.0) the external camera is a little bit (1.9) 4 at the patient’s FEEt\ (1.3) but we have to carry 5 down an incision un: til we see/ the anterior rectus 6 sheet (0.7) which i see right now\ i’ll try to show it 7 to you (0.6) with (.) the endoscope\ (2.0) °°xx (essayer 8 de faire par ici)°° excusez: -moi/ (.) hh °okay° i’ll try 9 to show you the white shiny aspe[ct → 10 AUD [doctor Miller/ → 11 MIL yes/ 12 AUD why is it necessary to stay out of the midline/ 13 (0.6) 14 MIL cause if you: (.) wait let me just try to give you 15 (0.4) you have an can i have an internal view y- Turn taking in multimodalen und multiaktionalen Kontexten 265 16 you see it/ the ‘ anterior rectus sheet/ if you scr ‘ endoscopic view --> 17 have an internal view/ 18 (3) 19 MIL e-[eh 20 EXP [yes we have a good view\ than-= 21 MIL =okay good ‘ <that’s the anterior sheet\ ((fast))> scr ----> ‘ external view --->> 22 hh (.) if you stay on the midline/ (0.8) you know that 23 on the midline (.) the eh (0.4) eh peritoneum is 24 very much stuck/ (1) to the eh posterior aspect of 25 the of the rectus and and to on on the midline/ so: ((cont.)) In diesem Auschnitt stellt ein Zuschauer eine Frage (10), wobei das Adressierungs-Format mit dem Namen des Chirurgen benutzt wird. Dieser Fall zeigt, dass auch dann, wenn die Aufforderung formal effizient und erfolgreich ist, um die Aufmerksamkeit des Chirurgen zu erlangen, dies nicht ausreicht, wenn die sequenzielle Position inadäquat ist. Dr. Miller ist mit einem Handlungszusammenhang beschäftigt, bei dem er auf die Zuschauer orientiert ist: Er versucht ihnen das „anterior rectus sheet“ zu zeigen. Dabei handelt es sich um eine Stelle, die wichtig ist, um das Ende des durchgeführten Schnittes zu identifizieren, der gleichzeitig auch das Ende des aktuellen chirurgischen Schritts darstellt. Um aber das „rectus sheet“ zeigen zu können, sind eine Reihe vorbereitender Maßnamen erforderlich: Ein Re-Arrangement des chirurgischen Feldes wird nötig und ein besonderer Kameraeinsatz sowie der Übergang vom externen Blick zur internen endoskopischen Perspektive. Dieser Vorgang soll den Rezipienten den gleichen Blick ermöglichen, den der Chirurg hat. Der Chirurg ist nicht nur mit seiner Erklärung beschäftigt, sondern auch mit einer rezipientenbezogenen Videoaufzeichnung seiner Arbeit. All das braucht Zeit, was mit einem „prospectiven Indexikal“ (Goodwin 1996) implizit angekündigt und projiziert wird („i'll try to show it to you (.) with the endoscope“ 6-7) und durch den Gebrauch der Futurform. Das beschreibende Äußerungsformat ist ausgerichtet auf das spezifische Timing, das durch die Aktion bestimmt wird. Die Wiederholung „I'll try“ (6, 8), der Einschub in Französisch (7-8) und das Recycling der Ankündigung verdeutlicht die hierfür notwendigen Vorbereitungen: Sie sind äußerungsstruktureller Ausdruck der Vorbereitung. Lorenza Mondada 266 Visuell scheint auf dem Monitor nichts zu passieren, außer der Organisation des Operationsfeldes durch den Chirurgen, der versucht die Endoskopkamera zu erreichen und sie in einer nicht-kanonischen Weise zu benutzen (anstatt sie im Körperinneren zu benutzen, wird sie zur Vergrößerung eines externen Details eingesetzt). Folglich wird der Bildschirm gänzlich beherrscht durch den Positionswechsel der Kamera und den Wechsel der Position der Teamhände, die die Kamera und die Instrumente halten. Zu diesem Zeitpunkt stellt ein Zuschauer eine Frage (10-12): Obwohl das Re-Arrangement notwendig ist, um die angekündigte Aktion und den zweiten angekündigten Teil der anatomischen Demonstration durchführen zu können, sieht es so aus, als würde dies von den Zuschauern als eine Pause im Verlauf interpretiert. Dies kann der Grund für die Platzierung der Frage sein. Darüber hinaus fokussiert die Frage eine Stelle, die in der aktuell sich entwickelnden Beschreibung des Chirurgen keine Rolle spielt. Sie bezieht sich vielmehr auf eine Stelle, die vom Chirurgen für den vorhergehenden Schritt als relevant charakterisiert wurde. Die Antwort des Chirurgen auf die Frage verdeutlicht ihre inadäquate Platzierung: Der Chirurg beginnt zunächst zu antworten, bricht seine Äußerung dann jedoch ab und schiebt sie explizit („wait“) hinter das Ende der angekündigten Demonstration und der Überprüfung des relevanten Bildes mit den Experten hinaus. Die Frage wird erst nach Abschluss der Geste beantwortet, mit der das „anterior sheet“ gezeigt wird. Dieser Fall zeigt einerseits die Effektivität der Aufforderung als attentiongetting-device, aber sie zeigt andererseits auch, wie wichtig die Platzierung der nachfolgenden Frage dafür ist, dass man vom Chirurgen auch tatsächlich berücksichtigt wird. 5.3 Problemorientierte Zuschauerinitiativen: „excuse me“- und „sorry“-Format Die zuschauerspezifischen Beteiligungsmöglichkeiten bzw. -schwierigkeiten, die sich beispielsweise in inadäquat platzierten Etablierungsversuchen zeigen, werden als inadäquate Initiativen zuweilen retrospektiv verdeutlicht durch die Art und Weise, wie sie vom Chirurgen behandelt werden. Doch nicht nur der Chirurg thematisiert mittels impliziter oder expliziter accounts retrospektiv die für die Zuschauer spezifischen (letztlich im Vergleich zu den Experten „eingeschränkten“) Beteiligungsmöglichkeiten. Auch die Zu- Turn taking in multimodalen und multiaktionalen Kontexten 267 schauer selbst produzieren Formate bei ihren Etablierungsinitiativen, die als äußerungsstrukturelle Hinweise auf diese Bedingungen zu verstehen sind. Zuschauer bringen die potenzielle Gefährdung oder Irritation, die mit ihren Fragen aus ihrer Perspektive für den aktuellen Arbeitszusammenhang des Chirurgen verbunden sein können, durch prospektive Entschuldigungen zum Ausdruck: Sie produzieren „excuse me“- und „sorry“-Formate im Kontext ihrer Etablierungsversuche. Diese äußerungsstrukturelle Variante, eine als potenzielle Störung oder eine inadäquate Platzierung vorgreifend zu thematisieren, wird von den Zuschauern sehr oft benutzt. Wie die nächsten Beispiele zeigen, wird ein solches Format von den Zuschauern an sehr unterschiedlichen Stellen eingesetzt. (20) (k2d1/ 11'32/ deflexed legs) 1 REV so all the fat is in the abdomen\ (.) so we have some 2 problems to rea: ch the patient/ so i have to (.) euh .h 3 ask euh a trot[toir/ euh because euh= 4 SED [.hh =you are too small 5 REV yes i am a little small= 6 SED =no he is too high h h h 7 REV SO\ (.) ehm there is a little more oxygen at this 8 altitude/ but i try to do my best\ .h okay\ → 9 AUD (°excuse-me°) 10 REV external view/ [so i put some [landmarks/ ] 11 you see here/ → 12 LEL [yes/ a quea question [in the: ] → 13 ? [a question] → 14 SED there is [a q- [ (.) [PUsh (.) on/ the button 15 REV [the [xiphois [a- (.) xiphoid appendix → 16 LEL [non\ push on the: button mic/ 17 (1.4) → 18 REV yes/ 19 (1) → 20 AUD eh .h (.) pardon me is the patient in a xxxal (.) 21 position/ with the deflexed eh (.) legs/ 22 (0.5) 23 AUD [or the leg are standed 24 SED [yes 25 (1.0) 26 REV i i i i don't didn't he- [hear the question 27 LEL [comment comment 28 euh sont posées les les jam: bes/ est-ce 29 qu'[il y a une flexion des jambes ou est-ce& 30 SED [elles sont droites/ ou pas\ Lorenza Mondada 268 31 LEL &qu'elles sont droites/ en extension/ [ecartées/ 32 REV [yes/ the the 33 legs in fact are in extension here/ but you can put them 34 in flexion there is no problem/ (21) (26'58/ from espain) 1 (13.6) 2 DAC <.h you cokay (.) you can pull out the: (1.5) the 3 naso-gastric tube ((lower voice))> 4 (0.4) → 5 AUD °sorr°[°°y°° [xx] 6 DAC [you see the [di]ssection/ → 7 LEL (could; can) you geeh please introdu: ce yourself when 8 you speak so eh pierre-alexandre can know (it) 9 (0.6) → 10 AUD okay\ eh: it's a question from NN from espain in madrid/ 11 (1.2) eh: : is there any reason eh: : becau: se eh why do 12 you uyou don't use a clip in this vessel/ (.) .h do 13 you prefer: to use the coagulation\ 14 (0.8) 15 AUD i think it's [tmore dangerous to have an hae- (.) 16 haemorage 17 DAC [(no i th- 18 DAC °oui on peut le retirer\° no i think euh: (.) the 19 coagulating hook here is is very nice (.) device/ (22) (d1k1/ 10'16/ excuse me) 1 DAC okay\ (.) the: (.) the (.) four(th) trocar is just BElow 2 the xyphoïd appendix/ (.) and first ah i appreciate (.) 3 [the size the left euh liver it's [xxxxxxxx& 4 SED [eh if you want to put (.) xx better[/ yes → 5 AUD [excuse-me 6 DAC &xx[thosis the sickness of the left (.) eh liver is not → 7 SED [there is a question/ il y a une question dans 8 l'audience mais comme pierre-alex[andre xxxx → 9 LEL [<pierre-alexandre/ 10 pierre-alexandre / ((loud))> (.) therthere is a 11 question for you/ okay/ → 12 DAC okay/ → 13 AUD excuse me do you employ the open technique for 14 laparoscopy/ or: do you employ the (varress) needle/ 15 DAC if if euh we inform the patient that it's possible to: 16 to convert in laparotomy/ (.) that- 17 SED [xxx Turn taking in multimodalen und multiaktionalen Kontexten 269 18 LEL [NON/ est-ce que tu as utilest-ce que tu utilises 19 l'OPEN laparoscopie [ou le needle optiqu[e/ (.) enfin & 20 DAC [non [okay okay 21 LEL & ou le (needle) euh (.) [xxx\ 22 DAC [i understand\ (.) visiport or 23 something like this/ (.) no i euhm (.) i never use the 24 open (.) euh laparoscopic access\ Wenn man diese Fälle und ihr allgemeines sequenzielles Muster zusammenfasst, wird Folgendes deutlich: 1) Die Zuschauer versuchen zunächst die Aufmerksamkeit des Chirurgen mit einer „excuse-me“- oder „sorry-Initiative“ zu bekommen. 2) Dieser Initiative folgt keine Antwort des Chirurgen. Entweder wird sie überlappt und/ oder die aktuelle Aktion des Chirurgen geht weiter. Es erfolgt also überhaupt keine Antwort. 3) Einer oder zwei Experten initiieren dann die Reparatur dieses Fehlschlages: Entweder geben sie den Zuschauern Anweisungen, wie sie das Mikrophon bedienen sollen und wie sie ihr Äußerungsformat gestalten sollen. Oder sie selbst gewinnen die Aufmerksamkeit des Chirurgen für die Zuschauer. 4) Nun antwortet der Chirurg, indem er die Intervention des Experten als eine Aufforderung behandelt (zumindest in Ausschnitt 20 und 22). 5) Die Zuschauer stellen jetzt ihre Fragen. 6) Der Chirurg reagiert auf die Fragen, eventuell jedoch mit einigen zusätzlichen Irritationen (angezeigt als Problem, die Frage nicht zu hören oder zu verstehen). Dieser Verlauf ist über die unterschiedlichen Beispiele hinweg recht konsistent, obwohl die Platzierung der Zuschauerversuche sehr verschieden ist. Im ersten Ausschnitt wird die Aufforderung am Ende der Sequenz zwischen dem Ende eines Witzes (Z. 8) und dem Beginn eines neuen Schrittes platziert (Z. 10). Dies ist jedoch eine Stelle, wo es für den Chirurgen wichtig ist, den nächsten Schritt zu initiieren, der sich dann mit der Zuschauerfrage überlappt. Diese wird dann nicht gehört. Auch im zweiten Fall wird die Aufforderung im gleichen Moment realisiert, in dem der Chirurg eine neue Beschreibung initiiert. Sie ist zwar in einer Übergangsphase platziert, aber bereits in Überlappung mit dem nachfolgen- Lorenza Mondada 270 den Schritt. Diese beiden Fälle zeigen eine detaillierte online-Analyse der Zuschauer, die sich auf die Sequenzialität der Aktivität bezieht. Gleichwohl reicht das - als Voraussetzung zur Sprecheretablierung - nicht aus, um mit der Analyse mithalten zu können, die der Chirurg erreicht und reflexiv verkörpert. Im Unterschied dazu erfolgt im dritten Fall die Etablierungsinitiative des Zuschauers (Z. 7) in Überlappung mit der Formulierung und Projektion der nächsten relevanten chirurgischen Aktion, der anatomischen Demonstration. Aus Sicht des Chirurgen ist also auch sie inadäquat platziert (und in diesem Fall ist die Reparatur und die Stellvertreteraktivität des Experten am prominentesten und direkt an den Chirurgen adressiert). Schwierigkeiten bei der Sprecheretablierung können also bezogen werden auf: − das Format der Adressierung, − die Platzierung der Sequenz, nämlich entweder auf die gleichzeitigen, konkurrierenden oder überlappenden online-praktischen und praxeologischen Analysen des Chirurgen und des Zuschauers, oder auf die verspätete turn-Übergabe des Zuschauers und auf − technische Probleme, die beispielsweise mit der Handhabung des Mikrophons zusammen hängen können. Interessanterweise zeigt Ausschnitt 20 eine andere Form von turn taking, bei der der Experte zusammen mit dem Chirurgen eine kollaborative Äußerung produziert, ohne vorher in irgendeiner initiierenden Form aktiv zu werden oder eine namentliche Adressierung zu realisieren. Ich habe in diesem Beitrag solche Formen von Expertenbeteiligung nicht analysiert, aber sie tauchen sehr häufig in meinem Korpus auf. Auf Seiten der Zuschauer ist ein solches Verhalten nicht zu beobachten. Dies verstärkt die Annahme, dass für Zuschauer und Experten deutlich unterschiedliche Partizipationsmöglichkeiten bestehen, die kollaborative Gesprächsaktivitäten von Zuschauern und Chirurgen ausschließen. 6. Zusammenfassung In diesem Beitrag habe ich versucht, die systematische Ordnung unterschiedlicher Formen zu rekonstruieren, sich in einer räumlich und praxeologisch komplexen Umgebung als Sprecher zu etablieren. Turn taking in multimodalen und multiaktionalen Kontexten 271 Für die unterschiedlichen Teilnehmer besteht das Problem darin, unter den gegebenen komplexen Bedingungen eine relevante Stelle für die eigene Beteiligung zu finden. Dies ist ein klassisches Problem, mit dem sich bereits Sacks/ Schegloff/ Jefferson (1974) in den ersten Komponenten ihrer turntaking-machinery beschäftigt haben. In den Fällen, die ich hier vorgestellt habe, hängt die Identifikation möglicher Übernahmestellen nicht nur von der sequenziellen Analyse des aktuellen Gesprächsprozesses ab, sondern auch - und wahrscheinlich sogar primär - von der kontinuierlichen Interpretation des gesamten aktuellen Handlungsstroms. Diese online-Analyse der Teilnehmer basiert einerseits auf sprachlichen Ressourcen in einem breiteren Verständnis (wie beispielsweise der Projektion des aktuellen Redebeitrags oder des gegenwärtigen Äußerungsformates oder der Identifikation von Pausen innerhalb des Gesprächs). Sie basiert andererseits aber auch auf den visuellen Ressourcen der Videoaufnahme der laufenden chirurgischen Aktion: Sowohl die Zuschauer als auch die Experten sehen die Operation, indem sie auf ihren Monitoren verfolgen, was die endoskopische Kamera und manchmal auch die externe Kamera ihnen zeigen. Die Interpretation der visuellen Informationen verlangt eine professionelle Kompetenz, bestehend aus einer medizinischen Kompetenz und einer „professionellen Vision“ (Goodwin 1994), die in der Lage ist, kontinuierlich die einzelnen Schritte im Operationsverlauf zu identifizieren, das anatomische Bild zu „lesen“ und die Aktivitäten - so wie sie auf dem Monitor zu sehen sind - zu den Aktivitäten in Beziehung zu setzen, die tatsächlich im Operationssaal ausgeführt werden. Die hier geschilderten Befunde, dass a) die Zuschauer normalerweise die vom Chirurgen angebotene Fragegelegenheit nicht wahrnehmen, b) die Experten diese Gelegenheit manchmal benutzen, c) Verzögerungen in der Reaktion auf das Chirurgenangebot - auch bei den Experten - regelmäßig beobachtbar sind, d) inadäquate Platzierungen von Selbstetablierungen der Zuschauer häufig sind und auch bei den Experteninitiativen vorkommen, zeigen Folgendes: Lorenza Mondada 272 Die Beteiligungsbedingungen an dieser spezifischen Form von talk-ininteraction sind - hinsichtlich der adäquaten Einschätzung des Operationsverlaufs als zentraler Bedingung - asymmetrisch verteilt. Die Asymmetrie hängt mit der unterschiedlichen Wiedergabe der endoskopischen Bilder zusammen, die für die Teilnehmer unterschiedlich sind, mit dem nur für die Chirurgen - nicht jedoch für die Experten und Zuschauer - gegebenen taktilen Zugang zum Operationssaal und - genereller betrachtet - mit den für die verschiedenen Beteiligten jeweils unterschiedlichen Erfahrungen betreffend Anatomie und Operationstechnik. Die Asymmetrie hängt letztlich auch mit unterschiedlichen Kompetenzen zusammen, die sich in der interaktiven Konstitution unterschiedlicher Kategorien (Experte versus Nicht-Experte) und in unterschiedlichen Beteiligungsweisen niederschlägt. Wenn man hier von einem „turn taking unter erschwerten Bedingungen“ sprechen wollte, müsste man dabei also letztlich auf zwei unterschiedliche Aspekte verweisen: einen situationsstrukturellen und einen beteiligungsspezifischen. In situationsstruktureller Hinsicht geht es um Erschwernisse, die durch das komplexe Gefüge von talk (der primär verbal konstituierte Teil) und interaction (der Gesamtzusammenhang aller für die kollektive Zielorientierung notwendigen Aktivitäten) als Zusammenspiel von verbalen, chirurgischen und medienspezifischen Aspekten konstituiert werden. In beteiligungsspezifischer Hinsicht geht es zudem um Erschwernisse, die dadurch zu Stande kommen, dass im Kontext der grundsätzlich für alle beteiligten Beobachter (des chirurgischen Eingriffs) geltenden situationsstrukturellen Bedingungen erkennbare Unterschiede bestehen hinsichtlich der „gesprächsorganisatorischen“ Kompetenz, mögliche und passende Stellen zur Sprecheretablierung zu identifizieren. Vor allem die Zuschauer tragen diesen - für sie in doppelter Hinsicht existierenden - erschwerten Bedingungen durch einen äußerungsstrukturellen account (das sorrybzw. excuse-me- Format) präventiv Rechnung und markieren damit ihren spezifischen Beteiligungsstatus. 7. Literatur Button, Graham/ Casey, Neil (1988/ 89): Topic Initiation: Business at Hand. In: Research on Language and Social Interaction 22, S. 61-92. Ford, Cecilia E./ Fox, Barbara/ Thompson, Sandra A. (1996): Practice in the Construction of Turns: the „ TCU “ Revisited. Pragmatics 6, 3, S. 427-454. Turn taking in multimodalen und multiaktionalen Kontexten 273 Goodwin, Charles (1979): The Interactive Construction of a Sentence in Natural Conversation. In: Psathas, George (Hg.): Everyday Language: Studies in Ethnomethodology. New York. S. 97-121. Goodwin, Charles (1980): Restarts, Pauses, and the Achievement of Mutual Gaze at Turn-Beginning. In: Sociological Inquiry 50, S. 272-302. 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Mikropause (2.3) Länge der Pause in Sekunden xxx nicht verstehbares Segment / \ steigende und fallende Intonation exTRA betontes Segment ((laugh)) Kommentar : Dehnung (see) vermuteter Wortlaut (see; clear) Multitranskription par- Wortabbruch < > Abgrenzung von Phänomenen notiert zwischen (( )) & Weiterführung des gegenwärtigen turns = schneller Anschluss .h Einatmen °okay° tiefe Stimme © © Anfang und Ende der Kamerabewegung (als cam in der Randnotation) ‘ ‘ Beginn und Ende eines besonderen Bildschirms (intern oder extern) (als scr in der Randnotation) * * Beginn und Ende einer Aktivität eines Beteiligten Lorenza Mondada 276 9. Danksagung Ohne die Hilfe und Unterstützung des IRCAD (Institut de Recherche pour le Cancer de l'Appareil Digestif) des Hôpital Civil von Straßburg wären weder die Feldarbeit noch die Dokumentation und die Analysen der Daten möglich gewesen. Mein herzlicher Dank gilt Jacques Marescaux, Didier Mutter und Michel Vix. Sie haben mir die Türe ihrer Labore und Operationsräume geöffnet. Reinhold Schmitt danke ich dafür, dass er meinen Text ins Deutsche übersetzt, bearbeitet und kommentiert hat. Uta M. Quasthoff / Friederike Kern Familiale Interaktionsmuster und kindliche Diskursfähigkeit: Mögliche Auswirkungen interaktiver Stile auf diskursive Praktiken und Kompetenzen bei Schulkindern 1. Prozessualität und Diskursentwicklung 1.1 Einleitung Das Ziel konversationsanalytischer Rekonstruktionen von talk-in-interaction ist bekanntermaßen die Explikation der Methoden, die Alltagshandelnde anwenden, um „Ordnung“ herzustellen, eine Ordnung u.a. in der Organisation und sequenziellen Anordnung von Redebeiträgen, die Verständigung erst möglich macht. Bemerkenswert ist dabei, dass die Beteiligten nicht wissen, welche Methoden sie anwenden - ja, sie wissen nicht einmal, dass sie einen hochkomplexen Apparat konversationeller Ordnung instantiieren, wenn sie scheinbar ungeordnet einfach nur „miteinander klönen, plaudern, labern, quatschen, sich was erzählen“ - bzw. wie in unseren Daten Alltagsroutinen wie „zu Mittag essen“ oder „Hausaufgaben machen“ vollziehen. Prozessualität ist diesem Konzept inhärent und bezieht sich auf die sequenzielle Geordnetheit der sich vollziehenden Verständigung in der zeitlichen Erstreckung und damit auf die Verständigungsressource, die in der kontext- und auch zeitgebundenen Platzierung jeder Äußerung liegt. Gleichzeitig bezieht sich Prozessualität somit auf die Dynamik in der globalen Progression von Diskurseinheiten, Themen und Aktivitätsformen. Ganz wesentlich ist für dieses Konzept der Prozessualität, dass es durch seine Geordnetheit die blind funktionierende Beteiligung von grundsätzlich mehr als einem Agierenden ermöglicht: Interaktive Prozessualität ist in konkreten kontextualisierten Prozessen in seiner Progression nie vorhersehbar, schon gar nicht abzusprechen oder in seiner mikrostrukturellen Funktionsweise zu planen, und dennoch arbeiten alle Beteiligten zusammen am Zustandekommen genau dieser jeweiligen Progression. Sie tun dies als unwissentlich Teilnehmende und Ausagierende gerade der prozessualen Gesetzmäßigkeiten, deren Funktionieren sie nicht durchschauen. Ob also eine Begegnung unter Fremden als harmonisch erlebter Austausch oder als brüsker Streit endet, ist nicht vorherseh- und planbar. Beides wird jedoch gemeinsam ausagiert - „Harmonie“ wie „Streit“ wird gemäß geteilter interak- Uta M. Quasthoff / Friederike Kern 278 tiver Gesetzmäßigkeiten gemeinsam hergestellt sowie bereits die Begegnung als eine Begegnung „unter Fremden“ unter Rückgriff auf entsprechende Gesetzmäßigkeiten als solche von beiden vollzogen. Interaktion als Prozess fokussiert also immer auf das Zusammenspiel zwischen mindestens zwei Beteiligten am geordneten Zustandekommen dieses Prozesses und erfordert damit eine eigene Beschreibungsebene der Interpersonalität. Der Prozessgedanke spielt eine ebenso zentrale, wenn auch zunächst ganz anders zu entwerfende Rolle bei der Entwicklung von Individuen. Das Interesse an Entwicklung muss dabei folgerichtig auf den Einzelnen und nicht auf das Zusammenspiel einer Dyade etwa gerichtet sein. Auch wenn dem Alltagsverständnis nach das allmähliche Ausprägen eines kompetenten, mit charakteristischen Eigenschaften versehenen Mitglieds der Gesellschaft vom Kind zum Erwachsenen durchaus als ein Prozess erscheint, so blendet die Wissenschaft in der Erfassung dieses Vorgangs doch notgedrungen die Dynamik dieses beim Menschen langwierigen Vorgangs aus zugunsten des Vergleichs von Altersgruppen oder auch von Beobachtungszeitpunkten im Längsschnitt. Obwohl die Prozessualität der Interaktion und der Entwicklung in den Konzepten der Sozialisation bzw. der Enkulturation miteinander verbunden sind, ist auch für diese Verbindung festzustellen, dass in der wissenschaftlichen Modellbildung gegenwärtig gerade das Zusammenspiel von interaktiver und entwicklungsbezogener Prozessualität ausgeblendet wird. In dem Bestreben, mess- und dann in ihrer Kovariation quantifizierbare Items zu erhalten, muss dekontextualisiert werden. Dekontextualisierung bedeutet aber gleichzeitig Lösung aus der Prozessualität. Deshalb haben wir in der Anlage der GENE- SIS-Studie 1 Entwicklung (im Querschnittsvergleich und in der mikrolongitudinalen Betrachtung über drei Tage hinweg) systematisch in Zusammenhang mit der erwerbssupportiven Funktion der Erwachsenen-Kind-Interaktionen rekonstruiert (vgl. Hausendorf/ Quasthoff 1996). Gegenüber unserem früheren Blick auf das dialogische Unterstützungssystem, der die Gleichförmigkeit des Mechanismus rekonstruierte (Hausendorf/ Quasthoff 1996), wollen wir in diesem Beitrag jedoch auf die Unterschiede zwischen den Kindern und zwischen den interaktiven Erwerbskontexten schauen und uns damit ein Stück weit lösen von der Unterstellung interin- 1 Von der DFG gefördertes Projekt (1985-1991) „Generierung von Erzählungen in natürlichen und experimentellen Settings: Interaktion und Sprachentwicklung“. Familiale Interaktionsmuster und kindliche Diskursfähigkeit 279 dividueller Konstanz in der Entwicklungstheorie. Auch empirisch werden die früheren Befunde zu den erwerbssupportiven Mustern der Erwachsenen-Kind-Interaktion wesentlich ergänzt, insofern hier familiale Erwachsenen-Kind-Dyaden betrachtet werden. Der langfristig sozialisatorische Effekt, der aus der Habitualität dieser Interaktionsmuster mit Bezug auf das einzelne Kind abzuleiten ist, konnte mit den Beobachtungen zur erwerbsunterstützenden Funktion der Dialoge zwischen Kindern und fremden Erwachsenen noch nicht in derselben Weise verbunden werden. 2 1.2 Diskursentwicklung und familiale Interaktionen Hinsichtlich der empirischen Frage, wie familiale Interaktionsmuster mit Sprachentwicklung zusammenhängen, gibt es noch viele Unklarheiten. Zwar ist gesichert, dass bestimmte kodierbare Merkmale von interaktivem Verhalten in Familien überzufällige Zusammenhänge mit der Diskursentwicklung aufweisen (vgl. z.B. McCabe/ Peterson 1991); aber wir wissen nicht genau, wie diese wirken und ob die gemessenen Merkmale wirklich diejenigen sind, die für den Zusammenhang verantwortlich sind. Es geht also in dieser Herangehensweise eher um den statischen Vergleich als um das Nachzeichnen der jeweiligen Prozesse. Hier setzen wir mit unserer Frage an: Mit der Rekonstruktion von familialen Erwachsenen-Kind-Interaktionen in ihrer kontextualisierten, aktualgenetischen Prozessualität wollen wir in kleinen Ausschnitten den Prozess der Wirksamkeit familialer Interaktion auf Sprachentwicklung exemplarisch modellieren. Die interaktive Prozessualität in immer wiederkehrenden Mustern kommunikativer Routinen in der Familie setzen wir in Beziehung zu dem je spezifischen sprachlich-kommunikativen Profil des beteiligten Kindes, das wiederum in anders gearteten Interaktionen ermittelt wird. Wir betrachten also die alltäglichen interaktiven Erfahrungen des Kindes als Teil der routinisierten Kommunikationen zwischen familialer Bezugsperson und Kind in kleinen Ausschnitten im konversationsanalytischen „Mikroskop“, das uns den Prozess der wechselseitigen Konstitution einer bestimmten Ausprägung dieses Musters in der Vergrößerung vor Augen führt. Wir sehen die Besonderheiten dieses selben Kindes andererseits als Teil von Erwachsenen- Kind-Interaktionen außerhalb der Familie, in denen das Kind seine Fähigkeiten und seinen besonderen Stil beim Erzählen und Erklären zeigt. 2 Zur Datenerhebung und genaueren Beschreibung des Settings s. Kap. 2. Uta M. Quasthoff / Friederike Kern 280 Im Vergleich mit hochgradig vergleichbaren Familieninteraktionen anderer Kinder liefert uns dieser mikroskopische Blick zunächst einen genauen Zugang zu den jeweiligen mikrostrukturellen Besonderheiten, also genau dem, was die jeweils Beteiligten in ihrer Kontextualisierung allgemeiner interaktiver Aktivitätsrahmen vom Typ „Gespräch bei Mahlzeiten“ oder „Hausaufgaben-Machen“ je spezifisch ausagieren. Diese Interaktionen sind es, die in anderer Aggregierung letztlich die Konstrukte ‘Sozialisation’ oder in gewisser Weise auch ‘Erziehung’ ausmachen. Aus dem oben Gesagten ist jedoch abzuleiten, dass es uns dabei nicht primär auf die bewusstseinsfähigen Handlungsstrategien besonders der erwachsenen Gesprächsbeteiligten ankommt, über die sie auch bei Befragung Auskunft geben könnten. Im Sinne der ethnomethodologischen Erkenntnisse über die prinzipielle Ausblendung der Verfahrensweisen des Funktionierens der alltäglichen Interaktionen aus der Wahrnehmung der Handelnden richten wir den Blick gerade auf die Mechanismen alltäglicher Routinen, die den Interaktionsbeteiligten selbst nicht zugänglich sind, und fragen nach dem möglichen Zusammenhang solcher Routinen mit der sprachlichen Entwicklung einzelner Kinder. Im Anschluss an das GENESIS-Projekt mit seiner Fokussierung auf interindividueller Konstanz nehmen wir hier nicht nur die Unterschiedlichkeiten zwischen den Kindern, sondern auch die zwischen den interaktiven und konversationellen Routinen von Erwachsenen in den Blick. Dabei wird sich zeigen, dass offensichtlich nicht alle Routinen der Erwachsenen-Kind- Interaktion - wie in GENESIS noch unterstellt - gleichermaßen funktional für die Unterstützung des Erwerbs kindlicher Diskurskompetenzen sind. Während also in den früheren Arbeiten die Orientierung auf die interindividuelle Konstanz mit der Entdeckung eines interaktiv fundierten Entwicklungsmechanismus i.S. einer sozialkonstruktivistischen Erwerbstheorie einher ging (vgl. Hausendorf/ Quasthoff 1996), steht nun mit dem Interesse an der Verschiedenheit ein Beitrag zur mikrostrukturellen Sozialisationstheorie im Mittelpunkt. Über die interindividuelle Verschiedenheit zwischen den Fähigkeiten und Stilen einzelner Kindern und die Verschiedenheit in den typischen Mustern prägender familialer Interaktion lässt sich die Frage nach dem Zusammenwirken im Prozess neu und schärfer stellen. Die tatsächliche Wirksamkeit der familialen Interaktionsmuster mit dem Kind als dem sprachlich und interaktiv noch schwächeren „Juniorpartner“ als Teil des langfristigen Erwerbsprozesses von Diskursfähigkeiten durch Familiale Interaktionsmuster und kindliche Diskursfähigkeit 281 das Kind kann natürlich auch in unserem Ansatz nicht im strikten Sinne empirisch „bewiesen“ werden. Da die exemplarische Welt unseres empirischen Modells allerdings Erwachsenen-Kind-Interaktionen zur Ermittlung der Fähigkeiten des Kindes über eine erhebliche Altersspanne (von Einschulung bis zum Beginn des 4. Schuljahrs) und mit hochgradiger Vergleichbarkeit enthält, sind wir in der Lage, interaktive und Erwerbsprozesse tatsächlich in Ausschnitten aufeinander abzubilden. Dabei sollte deutlich geworden sein, dass wir in einem Mikrokosmos entdecken und beschreiben wollen, wie der Zusammenhang funktionieren könnte. Für den Nachweis, dass er so und nicht anders funktioniert, sind die hier gemachten „Entdeckungen“ in quantitativ generalisierenden Nachfolgeuntersuchungen zu nutzen. 2. Theoretische Einbettung und empirischer Kontext Die zu berichtenden Beobachtungen gehören in einen längerfristigen Forschungszusammenhang DASS , 3 in dem 1) die individuellen Unterschiede in den mündlichen Diskursfähigkeiten von 38 Schulanfängern exemplarisch im Bereich der Fähigkeit zur Strukturierung übersatzmäßiger Einheiten in Gesprächen anhand von für die Zwecke der Analyse erhobenen Erwachsenen-Kind-Interaktionen empirisch ermittelt wurden (vgl. Kern/ Quasthoff 2005); 2) im Zusammenhang damit ein Instrument zur Erhebung und Analyse dieser Varianz entwickelt wurde, das gleichzeitig Unterschiede im Entwicklungsniveau und individuell unterschiedliche stilistische Präferenzen einschließt („Diskursstrukturelles Profil“, im folgenden kurz: DSP) (vgl. Kern 2003a); 3) die beobachtete Varianz durch die Rekonstruktion von authentischen familialen Interaktionsmustern einiger exemplarisch ausgewählter Kinder sozialisatorisch eingebettet wird. Wir knüpfen dabei an ein beschreibungssprachliches Format an (GLOBE, 4 vgl. Hausendorf/ Quasthoff 1996, 2005), das es erlaubt, die Entwicklungsdy- 3 Diskursfähigkeiten als sprachliche Sozialisation: Individuelle Unterschiede in den Diskursfähigkeiten und -praktiken von Schulanfängern unter ontogenetischen, interaktiven und institutionellen Aspekten, Kennwort DASS , gefördert von der DFG von 2000 bis 2003. 4 Das entwickelte Beschreibungsformat GLOBE (Globalität und Lokalität in der Organisation beidseitig-konstruierter Einheiten) expliziert die sequenzielle Struktur globaler konversationeller Einheiten in Gesprächen in drei Analysedimensionen: dem Zusammenspiel Uta M. Quasthoff / Friederike Kern 282 namik von Kindern prozessual zu beschreiben und gleichzeitig die kindlichen Äußerungen als Teil einer von der Erwachsenen-Kind-Dyade gemeinsam hervorgebrachten Leistung zu rekonstruieren. 2.1 Die Daten und ihre analytischen Potenziale Für unsere Beobachtungen und Rekonstruktionen stützen wir uns auf zwei unterschiedliche Arten von Daten, die im DASS-Projekt erhoben wurden. Sie bestehen zum einen aus Ton- und Videoaufnahmen zweier unterschiedlicher Interaktionskonstellationen mit je einer Erwachsenen und einem oder zwei Kindern, in denen die Kinder verschiedene Erklärungen und Erzählungen produzierten (DSP-Daten). Diese gesprächsähnlichen Interviews, die hochgradig vergleichbar sind, fanden in den Schulen am Anfang des ersten und zweiten Schuljahres statt. Anhand dieser Daten wurde von jedem Kind (n=38) ein sogenanntes diskursstrukturelles Profil (DSP) erstellt, in denen erwerbstypische Eigenschaften und stilistische Präferenzen des Kindes in Bezug auf die unterschiedlichen Diskurseinheiten ‘Erklären’ und ‘Erzählen’ integrierend erfasst wurden. Aufgrund der Verschiedenheit und Typizität ihrer diskursstrukturellen Profile wurden im weiteren Verlauf sechs Kinder ausgewählt, über deren spezifischen Erwerbskontext mehr in Erfahrung gebracht werden sollte. Für einen Zeitraum von zwei Wochen wurden den jeweiligen Familien Aufnahmegeräte zur Verfügung gestellt mit der Bitte, zwei familiäre Routinen (gemeinsame Mahlzeiten und Hausaufgabenmachen) aufzuzeichnen. Im Folgenden geben wir einen kurzen Überblick über die Datenkonstellation. 1) DSP-Daten: Erwachsenen-Kind-Diskurse (Erklären und Erzählen) zur Ermittlung des diskursstrukturellen Profils (DSP) und der Diskursentwicklung (insges. ca 38 Stunden Ton- und Videoaufzeichnungen) DSP 1 Anfang der 1. Klasse, N= 38 DSP 2 Anfang der 2. Klasse, N= 39 von invarianten strukturellen Aufgaben für beide (alle) Interaktionspartner, jeweils angewandten handlungspragmatisch definierten Mitteln und sprachlich-formal definierten Formen zur Lösung der diskursorganisatorischen Aufgaben. (Hausendorf/ Quasthoff 1996, Kap. 7). Familiale Interaktionsmuster und kindliche Diskursfähigkeit 283 2) Familienaufnahmen bei ausgewählten „prototypischen“ Kindern (N= 6) Tonbandaufzeichnungen zweier Alltagsroutinen 1. „Mittag essen“ 2. „Hausaufgaben machen“ Unseren folgenden Beobachtungen liegen Analysen der sprachlichen Daten von sechs der 38 Kinder zugrunde, die als prototypisch für bestimmte Entwicklungsniveaus und diskursstrukturelle Stile ermittelt wurden (vgl. auch Quasthoff 2002, Kern 2003a und b, Kern/ Quasthoff 2005) und die deshalb exemplarisch besonders intensiv beobachtet wurden. Zu dieser Intensivbeobachtung gehörten die aufwändigen Familienerhebungen, bei denen die Familien gebeten wurden, über einen Zeitraum von zwei Wochen die Gespräche beim Mittagessen nach Rückkehr des Kindes aus der Schule und die Hausaufgabenbetreuung auf Tonband aufzuzeichnen. 5 Wir haben also bei diesen sechs Kindern die Möglichkeit, - das Kind jeweils in unterschiedlichen interaktiven Kontexten zu beobachten und daraus Aufschlüsse über die jeweils situativen Kontextualisierungen gegenüber den stabileren sprachlich-kommunikativen Präferenzen zu gewinnen, - das jeweilige Kind im Rahmen der familialen Routinen zu beobachten, die in ihrer musterhaften Verfestigung über den Erwerbsprozess hinweg die sozialisatorischen Erfahrungen ausmachen, - im Vergleich der familialen Muster Hinweise über die Unterschiedlichkeit der Erwerbskontexte und damit über die Varianz der in GENESIS gefundenen dialogischen Unterstützungssysteme für den Diskurserwerb zu rekonstruieren. 3. Empirische Beobachtungen und Rekonstruktionen: Familiale Interaktionsmuster und diskursive Praktiken Wir werden uns in diesem Beitrag auf die Diskurseinheit ‘Spielerklärung’ konzentrieren, die auch in den Familiendaten repräsentiert ist. 6 Dazu werden 5 Zwar waren Projektmitglieder bei den Aufzeichnungen selbst nicht anwesend, um den Eingriff in den Familienalltag möglichst gering zu halten; dennoch war die Betreuung der Familien hinsichtlich der technischen und organisatorischen Anforderungen außerordentlich zeitintensiv. 6 Zu unterschiedlichen Stilen bei der Durchführung von Spielerklärungen vgl. Kern (2003a und b), zu unterschiedlichen Erzählstilen sowohl in verschiedenen narrativen Genres als Uta M. Quasthoff / Friederike Kern 284 wir als erstes Familiengespräche zu Spielerklärungen von zwei Kindern im Vergleich präsentieren und dabei besondere Aufmerksamkeit auf die unterschiedlichen Zuhöraktivitäten der erwachsenen Bezugspersonen richten (Kap. 3.2). Zweitens werden die diskursstrukturellen Profile dieser beiden Kinder, wie sie aus den DSP-Daten empirisch ermittelt wurden, vergleichend in Bezug auf ihr Entwicklungsniveau und ihre stilistischen Präferenzen diskutiert (Kap. 3.3) Drittens wird am Beispiel der Spielerklärungen dieser beiden Kinder ein möglicher Zusammenhang zwischen den ausgewählten familialen Interaktionsmustern und kindlichen diskursstrukturellen Kompetenzen und Präferenzen exemplarisch rekonstruiert (Kap. 3.4). 3.1 Die Rolle von Zuhöraktivitäten beim Diskurserwerb Wie das GENESIS-Projekt gezeigt hat, sind im Rahmen von Erwachsenen- Kind-Dyaden die Zuhöraktivitäten der Erwachsenen strikt als Bestandteile jenes interaktiven Prozesses der gemeinsamen Herstellung von Sinn zu verstehen, der in der dyadischen Erwachsenen-Kind-Interaktion als erwerbswirksam erkannt wurde (Discourse Acquisition Support System, vgl. Hausendorf/ Quasthoff 1996). Auch in diesem Beitrag geht es nicht um die isolierte Betrachtung der Beiträge der Erwachsenen, sondern um die Rekonstruktion der von Kind und Erwachsenem ausagierten Muster mit Fokus auf der Art der Steuerung durch die erwachsenen Gesprächsbeteiligten. Somit kommt den Zuhöraktivitäten der Erwachsenen, mit denen sie die Kinder zu Folgezügen ermutigen oder entmutigen, ihnen Gesprächsraum zugestehen oder entziehen, im Erwerbsprozess der Kinder eine besonders wichtige Rolle zu. In unserem Beitrag stehen zwei Gesichtspunkte bei der Beschreibung von Zuhöraktivitäten im Mittelpunkt. Anhand von Gesprächsausschnitten aus familialen Alltagsroutinen möchten wir erstens rekonstruieren, wie unterschiedliche Zuhöraktivitäten im Rahmen des Discourse Acquisition Support System wirken. Zweitens werden wir zeigen, dass sich der Gebrauch bestimmter Zuhöraktivitäten als eine spezifische Art der Zuhörbeteiligung beschreiben lässt, durch die sich die erwachsenen Bezugspersonen auf bestimmte Weise ihren Kindern gegenüber präsentieren. auch im Mündlichen und Schriftlichen vgl. Quasthoff (2002,) Kern/ Quasthoff (2005) und Ohlhus (2005). Familiale Interaktionsmuster und kindliche Diskursfähigkeit 285 Wie mehrfach erwähnt, stehen hier nicht die Gleichförmigkeit des Unterstützungssystems im Mittelpunkt des Interesses, sondern gerade die Unterschiede zwischen den Dyaden, die möglicherweise sowohl Einfluss auf die Diskursentwicklung des Kindes als auch auf die Ausbildung stilistischer Präferenzen haben. Gleichzeitig rückt damit wieder das Prozesshafte von Gesprächen unter spracherwerbstheoretischer Perspektive in den Mittelpunkt des Interesses. Dass sich die besondere Form der Zeitlichkeit, die Gesprächen zukommt, als strukturelle Ordnung rekonstruieren lässt, die die Beteiligten miteinander und aufeinander bezogen herstellen, ist für Konversationsanalytiker und Konversationsanalytikerinnen eine grundlegende Erkenntnis. An diese Grundannahme anschließend ist für uns zum einen die Frage interessant, inwieweit diese strukturelle Ordnung von den Erwachsenen als den im herkömmlichen Sinn kompetenteren Gesprächsbeteiligten durch Mehrarbeit (vgl. das Bild der Wippe, Hausendorf/ Quasthoff 1996) hergestellt wird. Zum anderen stellt sich die wichtige Frage, inwieweit durch bestimmte Stile bei dieser Mehrarbeit der Erwachsenen zur Herstellung dieser strukturellen Ordnung musterhafte Interaktionen zwischen den Kindern und ihren erwachsenen Bezugspersonen entstehen, die dann möglicherweise zur Ausbildung jeweils typischer Gesprächsstile der Kinder führen, die wir bei ihren Produktionen der Diskurseinheiten ‘Erzählung’ und ‘Spielerklärung’ gefunden haben. Prozessualität im interaktiven und im Erwerbssinne ist für unser Vorgehen somit grundlegend und aufeinander bezogen. 3.2 Zuhöraktivitäten in familialen Interaktionen Obwohl Diskurseinheiten von einem „primären Sprecher“ bzw. einer „primären Sprecherin“ produziert werden (vgl. Wald 1978), erhalten die Aktivitäten der Zuhörer und Zuhörerinnen der Diskurseinheit einen besonderen Stellenwert: Sie ‘begleiten’ die jeweilige Diskurseinheit an strukturell festgelegten Stellen, indem sie Verständnis signalisieren, den Sprecher bzw. die Sprecherin zum Weiterreden ermutigen oder klärende Nachfragen stellen. Um „Zuhör“-Aktivitäten handelt es sich deshalb, weil sie nicht um die Übernahme der primären Sprecherrolle konkurrieren. Unter ‘Zuhöraktivitäten’ fassen wir also lokal platzierte, aber im Rahmen der Diskurseinheit global relevante Aktivitäten (in unserem Fall erwachsener) Gesprächsbeteiligter in den (von Kindern produzierten) Diskurseinheiten. Uta M. Quasthoff / Friederike Kern 286 Auf Grundlage des vorliegenden Datenmaterials wurden dabei folgende Zuhöraktivitäten als besonders relevant ermittelt: „Continuers“ wie hm oder hm=hm (vgl. Schegloff 1982), Nach- und Verständnisfragen sowie Reformulierungen und Reparaturen. Es handelt sich dabei also um Aktivitäten, die neben ihren verständnisanzeigenden bzw. -sichernden Funktionen eine wesentliche Rolle bei der Zuweisung bzw. Entziehung von Gesprächs- und damit - erwerbsorientiert gesprochen - Übungsraum für die Kinder spielen. Darüber hinaus gibt es global wirksame Aktivitäten der Zuhörer und Zuhörerinnen, durch die sie beispielsweise einen Zugzwang zum Erzählen etablieren oder beim Schließen und Überleiten nach einer Diskurseinheit mitarbeiten. Solche Aktivitäten spielen im erwähnten Discourse Aquisition Support System eine wesentliche Rolle; hier stehen sie allerdings weniger im Fokus der Aufmerksamkeit (vgl. stattdessen Hausendorf/ Quasthoff 1996, Kap. 10). 3.2.1 Leas Familieninteraktion Im Folgenden präsentieren wir einen Ausschnitt aus einem Gespräch, das zwischen Lea (LE, zum Zeitpunkt der Aufnahme 7; 1 Jahre alt), ihrer Mutter (MU) und ihrem älteren Bruder (TO, 9; 9 Jahre alt) während eines Mittagessens stattfand. Im Rahmen dieses Ausschnittes produziert Lea eine Spielerklärung zu einem Spiel, das sie offensichtlich an diesem Morgen in der Schule unter Anweisung der Lehrerin mit ihren Klassenkameraden gespielt hat. Die Sequenz beginnt mit der Frage der Mutter nach eben jenem Spiel. Durch ihre Formulierungsweise setzt die Mutter nicht nur deutlich den globalen Zugzwang für Lea, eine Spielerklärung zu produzieren, sondern sie präsentiert sich auch in besonderer Weise als inhaltlich an dem Spiel interessiert. So produziert sie vorweg sowohl eine Erklärung für die potenzielle Relevanz der Spielerklärung (Z. 04-05) als auch - nachdem Lea zögert - eine stark positive Evaluation hinsichtlich des mutmaßlichen Unterhaltungswertes der Spielerklärung (Z. 12). Beispiel (1) Lea/ Familiengespräch 7 01 MU lEa sag mal das ! SPIEL! was du jetzt gesAgt hast was ihr da NEU gemAcht habt; (1.0) (hm) vielLEICHT kann der toBIas das ja in 7 Die Transkription folgt den GAT -Konventionen (vgl. Selting et al. 1998). Familiale Interaktionsmuster und kindliche Diskursfähigkeit 287 05 sEIner klAsse ! AUCH! machen; (-) wie GEHT das denn; (-) ((...)) MU war das auch was mit PINguinen, oder- LE <<genervt> ja: : : ein [klEiner PINguin; > 10 MU [erZÄHL mal; MU jA erZÄHL doch mal; (-) das wird beSTIMMT SPANnend; LE ALso; = =EIN (-) pIngu‘ (-) 15 EIner ist ein PINguin; (-) EIner ist der [EISbär? MU [ein KIND aus=der KLASse; oder- LE ja; MU hm: =hm, (--) 20 LE EIner ist der EISbär? MU hm=HM? (1.5) TO <<p> ach ! DAS! (.) ich KENN das; > LE dann geht man im KREI: S- (--) 25 und DANN sucht sich jeder ein ! AN! dern pinguin; = LE [=und (-) MU [JA: =a, LE wenn=s <<f> ↑ ! ACHT! > gewesen SI=IND, 30 DANN- (-) kOmmt der EISbär; MU [<<erschrocken,f> huch> TO [das ist das- LE [<<cresc> dann muss der sich Einen FA: Ngen; > 35 TO da ist ( ) <<undeutlich> das ist was wir> auch schon im KINdergarten gespIelt haben; MU ich KENN das nicht du; TO das ist mit dem PINguin das; [da wo [(man)(-) <<ff> da wo=er sich zwisch’-> 40 MU [( ) LE [<<singend> EI: : N klEiner PINguin (--) geht einsam auf dem EIS; > TO mhm MU SAGT mir jetzt im moment nIchts, (-) 45 ja (.) gut,= =und dann,= =dann muss der EISbär sich einen PINguin FAngen? LE ja; MU [muss man dann auch so WAKkeln wie=n pinguin Uta M. Quasthoff / Friederike Kern 288 50 dabei? > TO [( ) LE ’hm’HM; MU ACH so; (-) ich DACHte; 55 (1.0) MU UND? (2.0) LE das LIED geht so; <<singend> ein klEiner PINguin geht Einsam auf 60 dem Eis; ((singt das Lied)) Anhand der kurzen Sequenz wird schnell deutlich, dass die Mutter ihre Zuhöraktivitäten relativ genau an Leas Spielerklärung im Verlauf des Gespräches anpasst. Dabei unterstützt sie Lea in ihrem Rederecht als ‘primäre Sprecherin’ durch ihre Zuhöraktivitäten und sorgt auch dafür, dass Lea das Rederecht zurückerhält (Z. 46-47), nachdem der Bruder versucht, es für sich in Anspruch zu nehmen (Z. 33ff.). Im Folgenden geben wir einen kurzen Überblick über die verschiedenen Zuhöraktivitäten. Continuer Die Mutter produziert im Laufe der Erklärung Continuer (hm=HM mit final mittelbzw. hochsteigender Intonation, Z. 19, 21 oder JA=a, mit final mittelsteigender Intonation, Z. 28), mit denen sie anzeigt, dass sie der Erklärung noch folgt und Lea weiter das Rederecht überlässt. Das Lexem ja=a zeigt dabei in seiner Funktion als Continuer ein stärker thematisch orientiertes Verstehen an und signalisiert damit expliziteres Verständnis. Bei der Platzierung der Continuer spielt die prosodische Strukturierung von Leas Vorgängeräußerung eine wesentliche Rolle. So macht eine mittelsteigende Tonhöhenbewegung am Ende der vorhergehenden Äußerungseinheit offensichtlich lediglich eine wenig aufwändige Zuhöraktivität strukturell erforderlich (Z. 21). Diese zeigt dann Verständnis an und fordert gleichzeitig zum Weitersprechen auf. 8 Andererseits schafft eine finale mittelfallende Tonhöhenbewegung am Ende der Vorgängeräußerungsheinheit offensichtlich Raum für elaboriertere Zu- 8 Zur Verwendung unterschiedlicher prosodischer Muster in Spielerklärungen und ihrer interaktiven Bedeutung für die Turnkonstruktion und die Strukturierung von Zuhöreraktivitäten vgl. Kern (i. Dr.). Familiale Interaktionsmuster und kindliche Diskursfähigkeit 289 höraktivitäten, die beispielsweise expliziteres Verständnis anzeigen können (ja=a, Z. 28). Die Sprecherin versichert sich an diesem Punkt also, dass die Zuhörerin bislang alles verstanden hat und weiter zu folgen in der Lage ist. Nachfragen Weitere mögliche Zuhöraktivitäten an solchen Strukturstellen, die durch final mittelfallende Tonhöhenbewegungen angezeigt werden, sind Nachfragen, wie sie auch Leas Mutter im vorliegenden Ausschnitt einige Male produziert. Nachfragen bieten die Möglichkeit, Unklarheiten anzusprechen oder zu versuchen, sie aus dem Weg zu räumen. Leas Mutter produziert an mehreren Stellen Nachfragen, um aktive Verständnissicherung zu betreiben (vgl. Z. 17, 47, 49) bzw. Lea zum Weitererzählen aufzufordern (und? , Z. 56). Sie werden von Lea jedes Mal bearbeitet. Damit wird die von der Mutter initiierte Verständnissicherung von Lea retrospektiv durch ihre nachfolgenden Aktivitäten ratifiziert. An einer Stelle nutzt die Mutter sogar die Möglichkeit der Nachfrage, um eine deutlich globalere Aufgabe zu übernehmen. So greift sie ein, um eine vom Bruder initiierte Sequenz zu beenden, die einem möglichen Schließungsangebot von Lea folgt (Z. 34: dann muss der sich EInen FA: Ngen). Anstatt die Beendigung der Spielerklärung zu ratifizieren, führt die Mutter durch eine weitere Nachfrage in die Hauptsequenz der Spielerklärung zurück; in diesem Fall weist sie Lea so wieder das Rederecht zu (Z. 47: und dann, dann muss der EISbär sich einen PINguin FAngen? ). Lea nimmt die Wiederzuweisung des Rederechts allerdings nicht wahr, um die Spielerklärung weiter zu führen, obwohl sie die Nachfrage der Mutter beantwortet. Stattdessen beginnt sie nach weiteren Nachfragen der Mutter (Z. 49: muss man dann auch so WAKkeln wie=n pinguin dabei, Z. 56: und? ), von denen die letztere vor allem zum Weitererzählen auffordert, das zu dem Spiel dazugehörige Lied zu singen (Z. 58). Evaluationen An einer Stelle produziert die Mutter eine stark evaluative Äußerung in Form eines Ausrufs (huch, Z. 32). Bei dem von Lea vorher beschriebenen Spielschritt - dass ein Eisbär in das Zimmer kommt, in dem sich die ‘Pinguine’ aufhalten - handelt es sich um ein Überraschungsmoment, das einen großen Reiz des Spieles ausmacht. Die Mutter quittiert dieses Überra- Uta M. Quasthoff / Friederike Kern 290 schungsmoment durch ihre Zuhöraktivität, indem sie Erschrecken und Verblüffung signalisiert. Mit dieser eher narrativen Zuhöreraktivität signalisiert sie also ihr emphatisches Dabeisein und nimmt gleichzeitig wiederum einen strukturell markanten Punkt der Spielerklärung auf. 9 3.2.2 Der Fall Lea: Familiales Interaktionsmuster „Fordern und Unterstützen“ Die genannten Aktivitäten der Mutter operieren als lokale, Rederecht zuweisende, verständnisanzeigende und verständnissichernde Mittel; sie signalisieren also, dass die Mutter Leas Spielerklärung auch inhaltlich folgt. Gleichzeitig wirken sie global, indem sie die von Lea produzierte strukturelle Organisation der Spielerklärung mit herstellen und ratifizieren. Somit nehmen sie - ähnlich wie es Zuhöraktivitäten in Erzählungen tun (vgl. Quasthoff 1981, 1986) - die globale Struktur der Erklärungen auf, indem sie bevorzugt an bestimmten Strukturstellen geäußert werden, nämlich nach (Sinn-)Abschnitten, in denen einzelne Spielschritte erklärt wurden (Z. 28, 32), zur Beendigung einer Nebensequenz, die durch Nachfragen ausgelöst wurden (Continuer Z. 19, Nachfrage Z. 56), und nach einer kurzen Unterbrechung, die von Leas Bruder Tobias initiiert wurde (Nachfrage Z. 47). Diese doppelte Funktion der Zuhöraktivitäten wird besonders deutlich an den Nachfragen der Mutter: Sie operieren ebenfalls einerseits lokal und geben Lea damit Signale im Hinblick auf die zu optimierende Aufgabenerfüllung im Rahmen von Spielerklärungen. Dazu gehören die Herstellung von referenzieller Eindeutigkeit und lokaler Kohärenz. Andererseits wirken aber auch sie durch ihre Platzierung am Ende von Sinneinheiten als eine Art Bestätigung der globalen Struktur, die das Kind produziert. Dies gilt für die Zuhöraktivitäten, die explizit Verständnis signalisieren (ja=a), emphatisches Dabeisein anzeigen (huch) oder Verständnissicherung qua Nachfrage betreiben. Vor allem aber zeigt der vorliegende Ausschnitt aus den Familiengesprächen, dass Lea von der Mutter stark gesteuert wird, längere Diskurseinheiten selbstständig zu produzieren. Im obigen Fall wird eine solche Diskurseinheit durch die spezifischen Formulierungen der Mutter schon prospektiv als inhaltlich relevant dargestellt. Auch im weiteren Verlauf der Spielerklärung präsentiert die Mutter sich durch ihre besondere Beteiligungsweise als ‘inte- 9 Solche evaluativen Äußerungen als Hörersignale in Erzählungen sind ausführlich beschrieben worden, vgl. beispielsweise Quasthoff (1980). Familiale Interaktionsmuster und kindliche Diskursfähigkeit 291 ressierte Zuhörerin’, die mit diskursstrukturell synchron geschalteten Zuhöraktivitäten unterstützend eingreift oder aktiv Verständnisarbeit betreibt, indem sie beispielsweise durch Nachfragen zusätzliche Detaillierungen auslöst. Damit signalisiert sie Lea die Rezeptionsbereitschaft, die Lea für die Durchführung ihrer komplexen Diskurseinheit braucht. Lea erhält also nicht nur genügend Raum, ihre eigenen Diskursfähigkeiten zu erproben, sondern sie wird auch bei deren Durchführung durch die Zuhöraktivitäten der Mutter unterstützt, indem diese Aktivitäten die globale Struktur ratifizieren und damit auch mit produzieren. Durch ihre spezielle sequenzielle Platzierung dienen die Zuhöraktivitäten damit der (Mit-)Herstellung der strukturellen Ordnung der Diskurseinheit. Insofern arbeitet die Mutter aktiv an Leas Spielerklärungsproduktion mit, ohne ihr die Arbeit der Strukturierung und Gestaltung abzunehmen. In einigen Aspekten (den klärenden Nachfragen, der strukturellen Hilfe bei der Schließung der Nebensequenz) manifestiert sich hier auch der Mechanismus eines interaktiv fundierten Systems des Diskurserwerbs, der dafür sorgt, dass die kompetentere Sprecherin mit ihren Beiträgen die noch eingeschränkte Kompetenz ihres Gegenübers ausgleicht, wodurch die Niveaus allmählich angeglichen werden. Insgesamt agiert diese Dyade prototypisch i.S. des Discourse Acquisition Support Systems, wie es systematisch in feldexperimentellen Settings (Hausendorf/ Quasthoff 1996) beobachtet wurde. 10 3.2.3 Christian: Familieninteraktionen Christians Familieninteraktionen unterscheiden sich in einigen wesentlichen Punkten von denen Leas. So zeigt sich hier, dass im Zusammenspiel zwischen Kind und Erwachsenem auch Formen eines dialogischen Systems rekonstruiert werden können, die möglicherweise etwas beschränkter erwerbsfördernd wirken. Dies wird besonders deutlich an der Beteiligungsweise von Christians Mutter, die im Rahmen ihrer Zuhöraktivitäten im Folgenden an einer Sequenz beispielhaft diskutiert wird. 10 Der Eindruck einer gewissen „Beflissenheit“ im zugewandten Agieren von Leas Mutter ändert nichts an dem Befund der strukturellen Anforderung und Unterstützung, die ihre Zuhöreraktivitäten im konversationstechnischen Sinne zeigen. Er ist wohl im Zusammenhang mit der Tatsache zu sehen, dass Lea in dieser Interaktion ersichtlich den Steuerungen nicht besonders bereitwillig folgt. An der beschriebenen Unterstützungsfunktion im Hinblick auf Leas Diskurseinheit ändert dies aber nichts. Uta M. Quasthoff / Friederike Kern 292 Der Ausschnitt stammt aus einem Gespräch am Mittagstisch, das zwischen Christian (CH, 7; 1 Jahre alt), seiner Mutter (MU) und seinem jüngeren Bruder (BE, 4 Jahre alt) stattgefunden hat. Die Sequenz beginnt mit der Aufforderung der Mutter, über den heutigen Schultag zu berichten. In diesem Zusammenhang bemüht sich Christian dann ebenfalls ein Spiel zu erklären, das er am Morgen offensichtlich im Unterricht unter Anleitung der Lehrerin gespielt hat. Beispiel (2) 01 MU <<essend> was habte denn heute geMACHT; > (-) Ch hm; (2.0)( GANZ tolle sachen; 05 MU <<lachend>hm=hm; > ((...)) Ch ERST ham we (-) <<p>dingsbums; > (3.0) BE <<h> HAUSaufgaben, 10 oder was; => Ch =NEI: N; erst ham we (3.0) erZÄHLT, (-) 15 MU HM; (3.0) Ch DANN ham we- (2.0) EIne runde (--) äh (-) 20 mein rechter rechter PLATZ ist frei gespielt? MU hm=HM; Ch mit TIEren, (3.0) MU mit WAS, (-) 25 Ch n: a; (4.0) hm: : : MU hm=hm=hm=[hm: ] BE [mit] TIEren, (-) 30 Ch hm=HM; MU ach mit <<akzentuiert> ↑ TIE: : ren>; (-) da musste jeder ein TIER sein? und dann sagt man ich wünsche mir den eleFANten herbei; = 35 =oder WIE; (1.0) Familiale Interaktionsmuster und kindliche Diskursfähigkeit 293 Ch der der .h ha das ↑ IST der‘; h und (.) der das ge ↑ SAGT hat - (-) DER soll sich auch für <<gestoßen> ! DEN! >- 40 ein TIER au (.) aussu[chen. MU [a: : h dann (.)<<all> sag ich mein rechter rechter PLATZ ist frei,>= =<<len> ich wÜnsche mir> die lEa herbEI? und dann MUSS ich noch SAgen,= 45 =die LEa soll KOMmen wie eine KATze; (--) und dann MUSS die LAUfen wie eine KATze; = =oder WIE; (-) MU [hab] ich das so RICHtig verstanden? (.) Ch [HM ] 50 Ch UND (-) n das PASsende (--) (HER: ) sagen; (.) MU also MUsse auch miAU machen; ? he (---) MU so; = Ch =aber nicht IMmer; (--) 55 BE NICHT IMmer; (3.0) Ch und DANN: ham we geSPIELT,= =wir müssen (-) ei: n (.) TIER VORmachen? = MU =hm=HM; (-) 60 Ch und DIE müssen RAten was das WAR. Ähnlich wie Leas Mutter setzt Christians Mutter am Anfang der präsentierten Sequenz einen globalen Zugzwang durch die als Frage formulierte Aufforderung an Christian, über den Tag in der Schule zu berichten. Dadurch bekommt Christian das Rederecht für eine globale Einheit zugewiesen, das er auch dazu nutzt (Z. 7). Im Laufe des Gesprächs erwähnt Christian den Namen eines Spiel (mein rechter, rechter Platz ist frei) und eine Besonderheit der in der Schule gespielten Variante (mit tieren). Im Unterschied zu Leas Familieninteraktion wird Christian im weiteren Verlauf der Sequenz jedoch kaum als primärer Sprecher etabliert. Tatsächlich zeichnet sich die Beteiligungsform der Mutter vor allem durch elaborierte Reformulierungen der von Christian formulierten Spielerklärung aus. Lokal platzierte, aber global wirksame Zuhöraktivitäten wie Nachfragen und Continuer, wie sie Leas Mutter häufig produzierte, fehlen fast völlig. Lediglich eine Nachfrage wird produziert, die sich auf einen speziellen Aspekt des Spieles (mit tieren, Z. 29) bezieht. Christian produziert darauf lediglich ein zustimmendes hm. Die Mutter übernimmt und präsentiert im Anschluss mehrere aufwändige Reformulierungen. Uta M. Quasthoff / Friederike Kern 294 Reformulierungen Die erste Reformulierung des Spieles durch die Mutter (Z. 31-34) führt die bisher angesprochenen Aspekte in einem Erklärungsversuch zusammen. Im Anschluss an die mütterliche Frage nach der Richtigkeit ihrer Erklärung (Z. 35: oder WIE) formuliert Christian etwas umständlich eine weitere Regel des Spieles (Z. 37ff.). Noch bevor er seine Äußerung ganz beenden kann, beginnt die Mutter mit ihrer zweiten Reformulierung (Z. 41-45), deren Richtigkeit sie wiederum von Christian bestätigt wissen will (Z. 46). Der fügt einen weiteren Aspekt des Spieles hinzu (Z. 50: UND (-) n das PASsende (--) (HER: ) sagen), den die Mutter wiederum reformuliert und auf ihr konkretes Beispiel (Lea als Katze) zuschneidet (Z. 51: also MUsse auch miAU machen). Eine weitere Äußerung Christians, die sowohl inhaltlich als auch sequenziell Nachfragen nach sich ziehen könnte, bleibt von der Mutter unberücksichtigt (Z. 53: aber nicht IMmer). Nach einer Bemerkung des Bruders und einer längeren Pause fährt Christian mit seinem Bericht über den Schultag fort. Reformulierungen als Reparaturen Durch ihre sequenziellen Platzierungen werden die Reformulierungen der Mutter zu Reparaturen der ursprünglich von Christian initiierten Spielerklärung. Auffällig ist dabei die Tatsache, dass nicht einzelne Teile der Spielerklärung bearbeitet werden und Christian dabei ein weiteres Male zum Zuge kommt, sondern dass die Erwachsene versucht, vollständige Erklärungen zu produzieren, die die einzelnen bereits angesprochenen Aspekte zusammenführen. Da Christian jedoch der ‘Experte’ ist, muss er zumindest die Richtigkeit der Erklärungsversuche bestätigen. Tatsächlich besteht Christians Aufgabe im Anschluss an die Erklärung vor allem darin, ihre Vollständigkeit und Richtigkeit zu bestätigen. Besonders bemerkenswert ist die Formulierung der Mutter, als sie fragt, ob sie das (Spiel) richtig verstanden hätte (Z. 48). Dabei hatte Christian doch kaum die Chance, wirklich zu erklären und somit die Mutter auch kaum die Gelegenheit ‘zu verstehen’. In diesem Falle überdreht die Mutter sozusagen die „So-tun-als-ob“-Schraube - die ja laut dem Vorgängerprojekt GENESIS durchaus zu den funktionierenden Strategien zählen kann - bis sie keinen Sinn mehr macht, weil bereits im Vorfeld zu viel abgenommen und übernommen wurde. Familiale Interaktionsmuster und kindliche Diskursfähigkeit 295 3.2.4 Der Fall Christian: Familiales Interaktionsmuster „Übernehmen und Reparieren“ Obwohl sich auch hier die Mutter am Anfang der Sequenz als interessierte Zuhörerin präsentiert, verläuft die Sequenz grundsätzlich anders als bei Lea. Christian erhält kaum die Möglichkeit, die von ihm initiierte Spielerklärung (Z. 17ff.), die uns hier besonders interessiert, unter Rückgriff auf Zuhöraktivitäten der Mutter strukturell und inhaltlich zu bearbeiten. Mit ihrer spezifischen Beteiligungsweise offeriert die Mutter Christian das vollständige Modell einer Erklärung und nimmt ihm gleichzeitig die Möglichkeit (und den Raum), seine eigene Erklärung unter Rückgriff auf Zuhöraktivitäten strukturell und inhaltlich zu bearbeiten und auszubauen. Es fehlt an unterstützenden Aktivitäten der Mutter, durch die Christian Gesprächsraum und damit auch Übungsraum erhält, um seine Erklärung zu vervollständigen. Stattdessen erhält er nur Gelegenheit, die Richtigkeit der mütterlichen Erklärung zu bestätigen. Tatsächlich zeichnen sich die uns vorliegenden Ausschnitte aus den Familiengesprächen zwischen Christian und seiner Mutter häufig dadurch aus, dass die Mutter sich durch ihren spezifischen Interaktionsstil zwar durchaus als eine am Inhalt interessierte Zuhörerin präsentiert, sie aber gleichzeitig offensichtliches Interesse an formaler Korrektheit und Vollständigkeit zeigt. So stellen die mütterlichen Reformulierungen Modelle der Spielerklärungen dar, die sowohl relevante globale Strukturen als auch syntaktisch und lexikalisch komplexe Formulierungen enthalten. Jedoch wird nicht gemeinsam an der Diskurseinheit gearbeitet. So können weder die globalen Strukturen und potenziellen Störungen, die beispielsweise durch zu starkes oder zu geringes Detaillieren auftreten, gemeinsam bearbeitet werden, noch erhält Christian die Gelegenheit, mögliche Verfahrensweisen zu überprüfen. Hinzu kommt, dass die Aktivitäten der Mutter Christian auch eine bestimmte Rolle in der Interaktion zuschreiben: Ein selbstständig von ihm zu füllender Gesprächsraum wird ihm eher nicht zugestanden, seine Kompetenz also als kommunikativ nicht zweckdienlich markiert; damit wird ihm „Nicht-Können“ attribuiert, was in den Daten des Vorgängerprojekts nur bei 5-jährigen Gesprächspartnern geschah, die sich deutlich verweigerten (vgl. Hausendorf/ Quasthoff 1996). Eine kommunikativ-funktionale Notwendigkeit für ein derart kompensatorisches Vorgehen, die in einer interaktiv manifesten Ver- Uta M. Quasthoff / Friederike Kern 296 weigerung oder Unfähigkeit von Christian liegen könnte, ist in den vorliegenden Gesprächsausschnitten allenfalls in den eher lokal dimensionierten Aktivitäten von Christian (Z. 4-30) zu finden. Das Gesprächsverhalten von Christians Mutter ähnelt also einem Unterstützungsverfahren, das im Vorgängerprojekt GENESIS nur als ultima ratio der Verständigung gefunden wurde: Die Erwachsene übernimmt dort die Diskursaufgaben des Kindes im Gespräch, um Verständigung zu ermöglichen, weil das Kind sich verweigert oder offensichtlich nicht in der Lage ist, die gesetzten Zugzwänge im Gespräch selbst zu erfüllen. Mit der Übernahme der Gesprächsanteile wird zwar vom Erwachsenen ein Modell dessen geliefert, was das Kind hätte äußern sollen, aber - wie gezeigt wurde - eine unterstützte Aktivität des Kindes selbst wird verhindert. 3.3 Diskursstrukturelle Profile der Kinder Lea und Christian Im folgenden sollen nun die diskursstrukturellen Profile beider Kinder einander gegenüber gestellt werden, um mögliche Zusammenhänge zwischen den familialen Interaktionsmustern und diskursiven Kompetenzen und Stilen der Kinder zu diskutieren, beziehungsweise nachzufragen, wie die familialen Interaktionsmuster auf die diskursstrukturellen Präferenzen der Kinder zu beziehen sind, die aus den DSP-Daten empirisch ermittelt wurden. Besonders relevant ist dabei die Frage, ob Unterschiede zwischen den Kindern hinsichtlich ihrer Stile und Kompetenzen bei der Durchführung von Erzählungen und Spielerklärungen mikrostrukturell mit den musterhaften interaktiven Erfahrungen in Zusammenhang zu bringen sind, die die Kinder in ihren Familien machen. Es kann dabei gegenwärtig nur um erste Entdeckungen gehen; es kommt uns - wie oben erwähnt - nicht etwa bereits auf den fallbezogenen Nachweis entsprechender Zusammenhänge an, sondern auf das Vorführen und Erproben einer rekonstruktiven Methodik, die mikrostrukturelle Wirkmechanismen in ihrer tatsächlichen interaktiven Kontextualisierung untersucht und mit der Unterschiedlichkeit kindlicher Diskursproduktionen in Verbindung bringt. 3.3.1 Leas diskursstrukturelles Profil: Explizieren Wie bereits erwähnt, wurden die diskursstrukturellen Profile auf Basis der interviewähnlichen Gespräche zwischen einem Erwachsenen und einem oder zwei Kindern erstellt, die am Anfang des Schuljahres in einem Raum der Familiale Interaktionsmuster und kindliche Diskursfähigkeit 297 Schule stattfanden. In diesen Gesprächen wurden die Kinder dazu ermuntert, sich eine Fantasiegeschichte auszudenken, eine Erlebnisgeschichte zu produzieren und mehrere Spiele (Memory, Topfschlagen, Reise nach Jerusalem ...) zu erklären. Leas Spielerklärung aus der DSP-Situation unmittelbar nach Einschulung zeigt, dass sie diskurstrukturell relativ weit entwickelt ist und eine Präferenz für einen verbal betonten Diskursstil hat, den wir an anderer Stelle explizierenden Stil genannt haben (vgl. Kern 2003a). Schon am Anfang der Spielerklärung versucht Lea, den Hauptgedanken des Spieles in einer Art Abstract zu formulieren. Des Weiteren lässt sie sich bei der Produktion ihrer Spielerklärung nur bedingt vom tatsächlichen Spielablauf leiten - eine Vorgehensweise, die sie von anderen Kindern unterscheidet. Beispiel (3) 01 E <<f>und<<h> DIE hat gesAgt,>>= =ich soll mit den kindern MEmory spielen; (1.5) LE <<pp>hm? >(--) 05 E ((schnalzt)) ich weiß aber gAr nicht wie das GEHT; (--) LE <<p> Also.> ((schnalzt)) (--) hm=[da legt man so KARten hin? (.) [(( bewegt die Arme über den Tisch )) 10 E hm=HM, (.) LE <<h, tiefer werdend> man MUSS versUchen [das sind‘ (-) [ ((dreht Hände übereinander)) [zum BEIspiel jetzt so=ne KUgeln; = 15 LE [(( verbindet Daumen und Zeigerfinger der li Hand zu runder Öffnung )) = mit bunten(--)<<dim> PUNKten dran.>> [ ((wedelt mit der linken Hand in der Luft )) [.h da ist NOCH [ne ] kugel. 20 [(( verbindet Daumen und Zeigerfinger der re Hand zu runder Öffnung )) E [hm=hm]; K [.h <<f> dAnn hat man ein PÄRchen,> (-) [(( dreht die Arme übereinander )) Uta M. Quasthoff / Friederike Kern 298 25 und dann darf man NO: CH mal; = =<<acc, t> und dann darf man die behalten,> (.) [<<acc> wenn man WIEder ein pärchen hat; = [(( dreht die Arme schnell übereinander )) =so WEIter und so WEIter,> (--) 30 .h wenn man Aber <<ff,h> ! NICHT! >, (-) <<h> wenn das jetzt ein <<f> FISCH> ist; >(--) [(( hält die linke Hand auf den Tisch )) E hm=HM? (--) K [<<h> UND so=n MOND; > 35 [(( hält die rechte Hand auf den Tisch )) dann ähm (.) ist der ANdere dran; (-) E ah=SO; hm=HM; (1.0) Wie an dem Beispiel deutlich wird, zeichnet sich der von Lea bevorzugte Stil zur Durchführung einer Spielerklärung dadurch aus, dass die einzelnen Spielhandlungen hauptsächlich als Regeln präsentiert werden. Dies wird vor allem durch generische Formulierungen wie man muss oder Konditionalkonstruktionen (vgl. Kern 2003a, Ohlhus/ Stude 2004) realisiert. Im Unterschied zu anderen Gesprächsstilen werden Gesten kaum zur Unterstützung der Darstellung gebraucht. Lea löst damit ihre Verbalisierung der Spielhandlungen weitgehend von den konkreten Handlungsabläufen des Spiels; eine Strategie, die sie von anderen Kindern unterscheidet. Zwar produziert Lea auch Äußerungen, in denen sie die formulierten Spielregeln beispielhaft veranschaulicht. Eine solche Konkretisierung am Beispiel zeichnet sich durch entsprechende Formulierungen (da sind zum beispiel, Z. 14) aus, die mit ikonischen Gesten (vgl. Schegloff 1984) koordiniert werden (Z. 15, 20). Jedoch sind solche ‘exemplifizierenden Äußerungen’ (vgl. Kern 2003a) für den Kontext ‘Spielerklärung’ im explizierenden Modus offensichtlich hochgradig funktional: Die abstrakten Regeln werden mit Beispielen illustriert und somit leichter verständlich. 3.3.2 Christians diskursstrukturelles Profil: Detaillieren und Veranschaulichen Christians Stil, wie er aus den ersten DSP-Aufnahmen bekannt ist, kann besonders in den Spielerklärungen als ausgeprägt detaillierend, konkretistisch und stark veranschaulichend beschrieben werden. So löst er sich Familiale Interaktionsmuster und kindliche Diskursfähigkeit 299 sprachlich kaum vom konkreten Ablauf der einzelnen Spielhandlungen. Am folgenden Ausschnitt wird deutlich, dass es fast scheint, als würde er Wort für Wort eine vor seinem inneren Auge ablaufende Szene ‘Memory spielen’ beschreiben. Beispiel (4) 01 CH alsodann mischt man ERSTmal; = =h h holt man (.) ERSTmal; macht man die SCHACHtel auf, 05 kippste u: m; E hmm; CH und (.) die; und das: da drunter unter den KÄRTchen; das (--) von der an´ von der SCHACHtel; 10 muss DRINbleiben; aber nur die KÄRTchen sollen raus. E hm=hm CH und dann macht man die schachtel ZU; = =legt sie we: g; Dieser Ausschnitt enthält eine sehr detailreiche Erklärung über das Bereitstellen des Spielmaterials und den Aufbau der Karten. In ihm zeigt sich deutlich Christians Verfahren, die Erklärung möglichst nahe an den einzelnen Handlungen zu verbalisieren, ohne dass er die Relevanz der Handlungen für die Erklärung des Spieles berücksichtigt. So manifestiert sich die Orientierung an der eigenen Anschauung vor allem in der Verbalisierung jener Spielhandlungen, die zur Erklärung des Spieles nicht notwendig sind, aber im tatsächlichen Spielablauf enthalten sind. Diese Vorgehensweise konstituiert somit einen Stil, der sich aufgrund zu starker Detailtreue durch einen eher unvollkommenen Rezipientenzuschnitt auszeichnet. Damit werden auch die strukturellen Erfordernisse der Diskurseinheit - nämlich eine kohärente Erklärung zu produzieren, die handlungs- und (spiel-)orientiert ist und globale Relevanzsetzungen berücksichtigt - auf eine besondere Art nicht erfüllt. 11 11 Nach Piagets Entwicklungspsychologie würde es sich um das kognitive Entwicklungsstadium der konkreten Operationen in seiner Orientierung am Anschaulichen handeln (vgl. Piaget/ Inhelder 1977). Eine von Christian produzierte Erzählung legt jedoch nahe, dass es sich bei der detaillierenden Darstellungsweise tatsächlich um ein Stilelement und damit um Uta M. Quasthoff / Friederike Kern 300 3.4 Familiale Interaktionsmuster und kindliche Diskurspraxis: Die Fälle Lea und Christian Setzt man das Diskursverhalten von Leas Mutter mit Leas Stil in Beziehung, so ergibt sich folgendes Bild: Leas Mutter repräsentiert - wie erwähnt - in ihrem Diskursverhalten geradezu prototypisch die Funktionsweise des Discourse Aquisition Support System, so wie es in der vorangegangenen Diskurserwerbsstudie GENESIS (Hausendorf/ Quasthoff 1996) systematisch als erwerbsfördernd rekonstruiert wurde. Lea wird nicht nur zur Produktion längerer Diskurseinheiten ermutigt; ihre Gesprächspartnerin unterstützt sie im Prozess der Durchführung der Diskurseinheit durch die Platzierung spezifischer Zuhöraktivitäten bei der Herstellung der strukturellen Ordnung. Lea macht also Interaktionserfahrungen in den Gesprächsroutinen mit ihrer Mutter im Rahmen eines Interaktionsmusters, das strukturelle Erwerbshilfen bereitstellt und gleichzeitig das Kind als ernst genommene Kommunikationspartnerin zulässt, indem ihm genügend Raum zur eigenen Produktion gelassen wird. Es entspricht daher vollständig den Erwartungen, die man aus unseren früheren Befunden und der daraus entwickelten Erwerbstheorie ableiten kann, dass Lea auf Grund dieser Interaktionserfahrungen zwischen Anforderung und Hilfe diskursstrukturell relativ weit entwickelt ist. Das bedeutet u.a., dass sie in den DSP-Daten eine Form der Spielerklärung präferiert, die sich vergleichsweise stark auf verbale und weniger auf körpergebundene, der nicht-sprachlichen Anschauung verhaftetete Ausdrucksformen verlässt, wie es andere Kinder tun. Hinsichtlich dieser Präferenz soll natürlich keine kausale Rückführung auf das Interaktionsverhalten der Mutter unterstellt werden. Allerdings könnte es sich sehr wohl herausstellen, dass das gezeigte fine-tuning eine gewisse Affinität zum explizierenden Diskursstil aufweist, weil die lineare Form eher sprachlich orientierter Repräsentationen einen hohen Grad an sequenzieller Abstimmung im Prozess des Gespräches erfordert. Eine stärker vorführende, veranschaulichende und damit über mehrere Kanäle simultan operierende Präsentationsform (unter anderem mit ihrem Rückgriff auf nonverbale Kommunikation) kann hingegen eher als eine „One-man/ woman-show“ ohne Unterstützung des Gesprächspartners organisiert werden, da sie sich eng am tatsächlichen zu beschreibenden Handlungsablauf (in diesem Falle der Spiele) orientiert und damit in geringerem Maß eine fein abgestimmte Interaktionsform erfordert. eine Präferenz zur Gestaltung der Diskurseinheit ‘Spielerklärung’ handelt, und nicht (nur) um einen möglicherweise kognitiv bedingten Entwicklungsstand. Familiale Interaktionsmuster und kindliche Diskursfähigkeit 301 Christian dagegen, so ist deutlich geworden, erhält in seinen Familiengesprächen grundsätzlich andere interaktive Unterstützungsverfahren als Lea. So macht er Interaktionserfahrungen, die ihn kaum als potenziell kompetenten Interaktionspartner würdigen, weil ihm nur kleine Räume zur eigenen diskursiven Gestaltung zugestanden werden. Angesichts dieser Erfahrungen ist es geradezu erwartbar, dass Christian am Anfang des ersten Schuljahres diskursstrukturell vergleichsweise wenig weit entwickelt ist. Möglicherweise bekommt er zu wenig Gesprächsraum zugewiesen, um eigene Kompetenzen zu erproben und auszubauen. Möglicherweise aus demselben Grund - nämlich aufgrund seiner Interaktionserfahrungen zwischen Übernehmen und Reparieren - präferiert Christian in den DSP-Daten einen detaillierenden Stil, der stark in der Veranschaulichung verhaftet bleibt: In den Familieninteraktionen erhält er zu wenig Möglichkeiten, die Verständlichkeit und Angemessenheit seiner Spielerklärung unter Rückgriff auf spezifische Aktivitäten von Zuhörenden (wie Continuer, Nachfragen etc.) zu überprüfen und selbst zu bearbeiten. 4. Fazit Hinsichtlich ihrer Darstellungsweisen in den familialen Interaktionen, die uns vorliegen, unterscheiden sich die beiden Mütter ganz wesentlich. Leas Mutter produziert unterschiedliche unterstützende Zuhöraktivitäten wie verständnisanzeigende Signale und Nachfragen, die Lea das Rederecht nicht streitig machen, sondern sie als „primäre Sprecherin“ bestätigen. Die Mutter präsentiert sich also als ‘interessierte Zuhörerin’, die zusammen mit Lea im Sinne eines fine-tuning an ihrer Diskurseinheit arbeitet. Somit funktioniert bei Leas Mutter der Mechanismus eines interaktiv fundierten Systems zum Erwerb von Diskurskompetenz. Das Bild der Wippe lässt sich hier zur Veranschaulichung auf den Interaktionsprozess zwischen Mutter und Kind ohne Einschränkung anwenden: durch ihre Beiträge gleicht die Mutter die unterschiedlichen Kompetenzniveaus zwischen ihr und Lea aus und vermittelt gleichzeitig im Prozess des Gesprächs, d.h. lokal, die gobalen Relevanzen der Diskurseinheit ‘Spielerklärung’ mit ihren typischen Strukturen und Detaillierungszwängen. Die „Mehrarbeit“ der Mutter beim Wippen ist gerade so bemessen, dass die gemeinsame Aktivität trotz des „Gewichtunterschiedes“ gelingt. Uta M. Quasthoff / Friederike Kern 302 Christians Mutter präsentiert sich aufgrund ihres elaborierten Reformulierungs- und Reparaturverhaltens als auf eine besondere Weise zugewandt. Sie konstituiert eine Interaktion mit einer oft für Belehrungen typischen Zielgerichtheit, die nicht nur auf das Glücken der gemeinsamen Aktivität mit dem Kind gerichtet ist, sondern auch auf ein von ihr bestimmtes Niveau der expliziten Verständigung. Der Mechanismus des interaktiven Ausgleichs von Kompetenzgefälle (Wippe! ) ist also insofern gestört, als die Mutter „freiwillige Mehrarbeit“ übernimmt. Damit erspart sie dem Kind die eigene Anstrengung in der Interaktion; sie nimmt ihm aber auch die Gelegenheit, die diskursive Aufgabe mit ihrer Unterstützung selbst (in immer zunehmendem Maße) zu vollziehen, indem sie sich zeitweilig selbst als „primäre Sprecherin“ etabliert. Auch Christians Mutter wendet intuitiv Verfahrensweisen des erwerbsfördernden Mechanismus an, der in der Erwachsenen-Kind-Interaktion gefunden wurde, indem sie übernimmt und damit Modelle liefert (Hausendorf/ Quasthoff 1996, Kap. 13, 15). Das fine-tuning des Discourse Acquisition Support Systems funktioniert aber weniger, da hier die Produktion einer korrekten Spielerklärung den Zielen einer ‘normalen’ Interaktion - in der das Kind von einem Spiel erzählt, das es in der Schule gemacht hat - übergeordnet wird. Gegenüber den früheren Untersuchungen zum dialogischen Unterstützungssystem des Diskurserwerbs ist also bereits auf der Basis der geschilderten Beobachtungen zweierlei festzuhalten: (1) Beobachtete Zuhöraktivitäten beider Mütter entsprechen prinzipiell den in GENESIS gefundenen Verfahrensweisen. (2) Dennoch sind die Befunde von GENESIS entscheidend zu differenzieren: Das Discourse Acquisition Support System in allen seinen interaktiven und erwerbsfördernden Wirksamkeiten, das ja auch nicht auf der Basis von Mutter-Kind-Dyaden rekonstruiert wurde, beschreibt offenbar keineswegs die sozialisatorischen Erfahrungen aller Kinder. Unsere übergeordnete Forschungsfrage, ob sich mit Unterschiedlichkeiten in diesen interaktiven Erfahrungen Unterschiedlichkeiten in den Diskursentwicklungsniveaus und -stilen erklären lassen, ist also mit größerer empirischer Berechtigung zu stellen. In den interviewähnlichen Gesprächen (DSP), die mit den Kindern geführt wurden, repräsentieren die beiden beschriebenen Kinder unterschiedliche diskursstrukturelle Kompetenzniveaus mit Lea als derjenigen, die deutlich weiter entwickelt ist im Hinblick auf den Erwerb globaler Diskursfähigkei- Familiale Interaktionsmuster und kindliche Diskursfähigkeit 303 ten. Diese Unterschiede lassen sich fallbezogen in Zusammenhang mit den gezeigten Unterschieden in den familialen Interaktionsmustern und den erwiesenen Mechanismen des Discourse Acquisition Support System bringen: Dort, wo der erwerbsförderliche Mechanismus in der interaktiven Feinabstimmung wirkt, wird globale Kompetenz unter lokalem Rückgriff auf unterstützende Aktivitäten der kompetenteren erwachsenen Gesprächsbeteiligten erworben. Wenn diese jedoch freiwillige Mehrarbeit übernehmen, besteht weniger Möglichkeit, Gesprächsraum und passende (oder passend gemachte) Unterstützung zum Kompetenzerwerb zu unterhalten. 12 Zusätzlich ist festzuhalten, dass beide Kinder unterschiedliche Stile repräsentieren, mit denen sie ihre Diskurseinheiten gestalten. Hier sind mögliche Zusammenhänge schwieriger plausibel zu machen. Dennoch entspricht auch Christians Erklärungsstil unserer entdeckten Spur: Sein stark an der eigenen Anschauung verhafteter, hochgradig lokalisierender Präsentationsstil, der in auffälliger Weise recipient design vermissen lässt, wird plausibel angesichts von Interaktionserfahrungen, in denen er kaum Gelegenheit hat, die Angemessenheit und Verständlichkeit seiner Diskurseinheiten anhand der Aktivitäten seine/ r Zuhörer/ innen im Vollzug abzuprüfen. Wie mehrfach erwähnt würde eine empirisch verlässliche Aussage die Generalisierungsmöglichkeit erfordern, für die wir mit unseren Fallstudien Hypothesen liefern können. Hier ging es zunächst um das exemplarische Vorführen einer mikrostrukturellen Ebene, auf der entsprechende Zusammenhänge zwischen individuellen Kompetenzen und Stilen und interaktiven Wirkmechanismen rekonstruiert werden können. Wir hoffen also in unseren Analysen gezeigt zu haben, in welcher Weise thematisch vergleichbare Gespräche im Prozess der Interaktion systematisch unterschiedlich gestaltet werden und auf welche Weise Gespräche in ihrer unterschiedlichen interaktiven Prozessualität den kindlichen Erwerbs- und Sozialisationsprozess - betrieben durch beide Beteiligte - jeweils unterschiedlich steuern können. 12 Aufgrund der Datenlage können wir keine Aussage darüber machen, ob die kindliche Kompetenzentwicklung das „Ergebnis“ dieses mütterlichen Verhaltens ist, oder ob die mütterlichen Gesprächsroutinen jeweils verfestigte Anpassungen an das (frühere) kindliche Kompetenzniveau darstellen. Entscheidend für unser Vorgehen ist zu zeigen, in welcher Weise unterschiedliche Fähigkeiten und Stile der Kinder abzubilden sind auf unterschiedliche interaktive Erfahrungen in interaktiven Alltagsroutinen. Uta M. Quasthoff / Friederike Kern 304 5. Literatur Hausendorf, Heiko/ Quasthoff, Uta M. 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Denn zeitliche Dynamik und Prozessualität ist zwar eine notwendige, keineswegs aber eine hinreichende Bedingung für Interaktion. Interaktion jedoch, als Grundlage der Interaktivität von Einheiten, Aktivitäten, Gesprächen als Ganzen, hat die Prozessualität des Aufeinander-Reagierens der Interaktionsteilnehmer zur notwendigen Voraussetzung. Ich möchte hervorheben, dass sowohl ganze Gespräche als auch Phasen in Gesprächen, Sequenzen von Handlungen, einzelne sprachliche Handlungen, bis hin zu Einzeläußerungen immer das Resultat interaktiver Leistung sind. Unter der Perspektive der Prozessualität werden Gespräche als Ganze wie auch kleinere Einheiten innerhalb von Gesprächen üblicherweise als Handlungen beschrieben, die einen zeitlichen Verlauf haben: Beginn, Mitte und Ende. Ich möchte im Folgenden Praktiken und Aktivitäten der ‘Beendigung’ untersuchen und damit anhand dieser Aktivitäten zeigen, dass sie auf vielen Ebenen zugleich und immerwährend hergestellt werden müssen. ‘Beendigungen’ sind in Gesprächen auf vielen verschiedenen Ebenen ständig relevant. Sie sind rekurrent und omnipräsent, weil auf vielen verschiedenen Ebenen ständig Übergänge interpretierbar gemacht und interpretiert werden müssen, um den prozessualen Fortgang der Interaktion zu ermöglichen. Ich greife hier nur ein paar offensichtliche Ebenen heraus, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: (1.) Wir müssen unsere Mitteilungen in interpretierbare sprachliche und interaktive ‘Einheiten’ verpacken: in der Linguistik reden wir von möglichen Sätzen und Äußerungen, in der Konversationsanalyse von Turnkonstruktionseinheiten (Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974; Selting 2000). Diese Turnkonstruktionseinheiten werden konstruiert, um damit (2.) Turns und Sequenzen zu organisieren, mit denen wir sequenziell geordnete Aktivitäten in Gesprächen interpretierbar machen: Wir produzieren Fragen und Antworten, erste Bewertungen und Folge-Bewertungen, Komplimente und Reaktionen darauf, Einladungen und daraufhin Annahmen oder Ablehungen; wir signalisieren Verstehens- Margret Selting 308 probleme und bearbeiten sie in Reparatursequenzen, usw. Diese Aktivitäten und Sequenzen werden wiederum meist im Rahmen (3.) größerer Aktivitäten und kommunikativer Gattungen produziert: Wir plaudern miteinander, erzählen den Anderen von unseren Erlebnissen und Sorgen, beschreiben Sachverhalte, klatschen über Nachbarn und Kollegen, wir streiten uns, gestalten Sprechstunden und Seminare, führen Beratungs- und Bewerbungsgespräche durch, usw. Schließlich (4.) führen wir solche Gespräche neben und im Rahmen anderer alltäglicher oder institutioneller Aktivitäten, z.B. vor oder nach dem Seminar, beim Essen, am Telefon oder Handy usw. Außer den einzelnen Turnkonstruktionseinheiten müssen dabei offenbar u.a. auch Turns, also Gesprächsbeiträge, aber auch Aktivitäten im Rahmen von Paarsequenzen und kommunikativen Gattungen, und schließlich ganze Gesprächsphasen und Gespräche irgendwie erkennbar, und genau dafür geordnet, beendet werden, bevor geordnet zu etwas Nächstem übergegangen werden kann. Geordnete Durchführung von Interaktionen setzt voraus, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erkennen können, was sie gerade miteinander tun (vgl. Auer 1986). Hierfür müssen von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern Aktivitäten und deren Teilkomponenten „segmentiert“ werden, in erkennbaren Abschnitten und Phasen organisiert und zeitlich geordnet vollzogen werden. Wenn hierfür etwas beendet werden muss, bevor geordnet zu etwas Nächstem weitergegangen werden kann, dann impliziert dies, dass das Beendete als Teil einer als irgendwie vollständig interpretierbaren Struktur angesehen wird. In diesem Sinne spreche ich hier von ‘Einheit’. ‘Einheiten’ sind also Strukturen, die irgendwie mit möglicher Vollständigkeit in Verbindung gebracht werden. Das bedeutet weder, dass sie immer vollständig produziert werden oder sich nicht auch verschachteln und überlagern könnten, noch dass deren Vollständigkeit mit statischen Strukturen und Enden verbunden sein muss. Einheiten müssen - und zwar auf allen Ebenen - von den Teilnehmern gemeinsam hergestellt werden. Um dies zu ermöglichen, müssen Einheiten als flexible und den lokalen Erfordernissen der Interaktion anpassbare Strukturen rekonstruiert werden (vgl. z.B. Selting 1995b). Hieraus wird hinreichend deutlich, dass meine Perspektive bei der Analyse von ‘Einheiten’ und deren Abgrenzungen voneinander eine rekonstruktive sein wird. Aufgabe des Forschers ist es dann, aus der Teilnehmerperspektive die Praktiken und Verfahren zu rekonstruieren, mit denen Teilnehmer in Gesprächen es zuwege bringen, ihre ‘Einheiten’ zu konstruieren und für den Rezipienten erkennbar zu machen. Beendigung(en) als interaktive Leistung 309 Im Folgenden möchte ich exemplarisch einige Beendigungen auf unterschiedlichen Ebenen der Gesprächsorganisation untersuchen. a) Beendigung auf der Ebene der Bildung und Abgrenzung von Turnkonstruktionseinheiten; b) Beendigung auf der Ebene der Sequenzorganisation; c) Beendigung auf der Ebene der Gattungen, hier am Beispiel einer Erzählung; d) Beendigung auf der Ebene der Gesamtorganisation des Gesprächs. Ich möchte anhand von Beendigungen illustrieren, (a) dass Beendigung auf allen diesen Ebenen potenziell problematisch und daher immer eine interaktive Leistung der Interaktionspartner ist. Diese Analysen zeigen, (b) dass Einheiten und Strukturen im Gespräch generell auf flexibel zu konzeptualisierende Konstruktionsschemata bezogen sind, deren konkrete Realisierungen/ Instantiierungen/ Gestaltungen aus dem Interaktionsprozess heraus entstehen und auf diesen Prozess wiederum kontextspezifisch zugeschnitten sind. Das Verhältnis von kognitiver Sedimentierung in Form von Konstruktionsschemata auf verschiedenen Ebenen und lokaler Emergenz und rezipientenspezifischem Zuschnitt ist ein Produkt der Interaktion im sequenziellen und situativen Kontext. Dabei ist die Flexibilität der Handhabung von Konstruktionsschemata reflexiv mit dem Handlungskontext verbunden: in ritualisierten und bestimmten institutionellen Kontexten ist weniger Flexibilität erwartbar als in der so genannten Alltagskommunikation (vgl. hierzu auch Dausendschön/ Gülich/ Krafft i.d. Bd., mit ihrer Vorstellung einer ‘Orientierung am Modell’ als Formulierungsverfahren). 2. Beendigungen als potenziell problematische interaktive Leistung Mein Korpus besteht aus informellen Alltagsgesprächen und Telefongesprächen, letztere zumeist private Alltagskonversationen, aber auch einige Radio-Anruf-Sendungen. Die Daten sind nach GAT (Selting u.a. 1998) transkribiert. Margret Selting 310 2.1 Beendigung auf der Ebene der Bildung und Abgrenzung von Turnkonstruktionseinheiten Zum Problem der Beendigung von Turnkonstruktionseinheiten liegen mittlerweile etliche Arbeiten vor, die ich hier nur erwähnen will: Schegloff (1979); Auer (1991, 1996); Selting (1995a und b, 1996, 2000, 2001, 2005); Schegloff (2000); Walker (2001); Ford/ Fox/ Thompson (2002). Unter dem Begriff ‘Expansionen’ oder ‘Verlängerung’ von Einheiten bzw. ‘increments’ befassen sich dabei Schegloff sowie Ford/ Fox/ Thompson vor allem mit der syntaktischen Struktur und kohäsiven Verbindung zwischen Sätzen bzw. möglichen Sätzen und deren Fortsetzungen nach möglichen Satzendepunkten - allerdings nur von Einheiten an möglichen Turnenden, während Auer, Selting und Walker das Zusammenspiel zwischen Syntax und Prosodie für die Signalisierung der Turnbeendigung betrachten; Selting weist dabei auch auf parallele Strukturen bei der Einheiten- und Turnbeendigung hin. Da dieses Phänomen also schon relativ gut erforscht ist, genügt hier ein einziges Beispiel zur Illustration: (1) K0: 731 ff. (Laufnr. Uher 297 ff.) (Gespräch zwischen drei Freundinnen beim Kaffeetrinken nach dem Mittagessen an der Uni Oldenburg, das aus aufnahmetechnischen Gründen aus der Cafeteria ins Tonstudion verlegt wurde.) ((Im Anschluß an das Thema ‘Schwimmen am Morgen’)) 01 Mia: SIEHse,= 02 =bisse DOCH wasserscheu; 03 (1.33) 04 Eli: aber NICH sEhr; 05 ((räuspert [ sich)) 06 Mia: [bis du eigendlich in 07 willemshaven (0.21) ins ´MEER -> 08 gegangen, (0.58) zum baden? 09 (0.87) 10 Eli: `EIN `MAL. 11 (1.64) 12 Eli: und zwar hab ich da: in wil[lemsHAven 13 Mia: [`EIN `EINziges [<h [<f> <f> [<tense voice> 14 ´MA[L nur? h> Beendigung(en) als interaktive Leistung 311 15 Eli: [JAA, 16 (0.66) 17 Eli: da hab ich in willemshaven in som ca ↑ `FE 18 ge´Arbeitet,= 19 <<len> =am `STRA: ND; > (0.24) 20 `SCHW(h)ALben¯nEst- (.) 21 Dor: hm; In Z. 6-8 beginnt Mia eine Turnkonstruktionseinheit, eine Frage, die das erste Mal nach ins MEER gegangen beendet sein könnte. Sowohl eine mögliche syntaktische als auch eine mögliche prosodische Einheit sind hier beendet. Nachdem aber die Reaktion der Rezipientin Eli ausbleibt, verlängert Mia ihre Frage, indem sie die vorherige Einheit sowohl syntaktisch als auch prosodisch kohäsiv einfach fortsetzt. Dies ist auch bei der akustischen Analyse dieser Äußerung, die mit dem Programm PRAAT (< www.praat.com >) (s. folgende Seite) erstellt wurde, gut zu sehen: Die Grundfrequenz (F0) der Verlängerung zum baden beginnt und endet mit ähnlicher Höhe, wie die Einheit vor der Pause mit gegangen geendet hatte. Die angehängte Verlängerung hat außerdem ähnliche Intensität wie das letzte Wort der Äußerung vor der Pause und die Verlängerung hat keinen eigenen Akzent. Mit all diesen prosodischen Verfahren wird die Verlängerung als Verlängerung kenntlich gemacht, nicht als eigenständige neue Einheit. (Vgl. Abb. 1.) Nach meinen eigenen Analysen können projektierte Einheiten auch nach ihren möglichen Endpunkten prinzipiell immer durch Anfügen weiterer syntaktischer Elemente, wie z.B. Nominal- und Präpositionalphrasen, in prosodisch kohäsiver Form, z.B. durch Fortsetzung der Intonationskontur mit gleichbleibenden oder noch etwas weiter fallenden oder steigenden Tonhöhenverläufen, verlängert werden. Erst der Beginn einer neuen Einheit mit dem erkennbaren Beginn einer neuen syntaktischen Einheit und/ oder ein prosodischer Neuansatz mit einem Tonhöhensprung nach oben oder unten und/ oder einem Geschwindigkeitswechsel in Relation zum Ende der Vorgängereinheit läßt erkennen, dass die Vorgängereinheit (endgültig) abgeschlossen (oder auch abgebrochen) ist. Kurz: „Da [...] Turnkonstruktionseinheiten prinzipiell lokal verlängerbar sind, kann das Ende einer vorherigen Einheit mit letztendlicher Sicherheit nur retrospektiv aus dem Beginn einer neuen Einheit inferiert werden“ (Selting 1995a, S. 53; zur Signalisierung/ Projektierung von Turnenden genauer s. ebd., S. 192f., S. 206f.; zu den Signalen für den Beginn bzw. Neustart einer neuen Einheit s. ebd., S. 67, genauer S. 85, 91). Margret Selting 312 Abb. 1 Beendigung(en) als interaktive Leistung 313 Aus der Sichtweise der Interaktionalen Linguistik ergibt sich hieraus, dass Kategorien und Einheiten, zumindest im Bereich der Syntax und Prosodie, aber daraus folgend eben auch Einheiten wie Turnkonstruktionseinheiten und Turns, als verlängerbare, flexible, aushandelbare Konstruktionsschemata beschrieben werden müssen, die im Vollzug den lokalen Gegebenheiten der Interaktion angepasst werden können. 2.2 Beendigung auf der Ebene der Sequenzorganisation Paarsequenzen, mit ihrer auf zwei Sprecher verteilten Produktion erster und zweiter Paarteile, scheinen mit Bezug auf ihre Beendigung ziemlich fest organisiert zu sein. Beendigung als potenzielles Problem tritt in meinem Korpus in folgender Form auf: a) Die flexible Beendigung eines Paarteils kann natürlich Probleme bei der Durchführung der Paarsequenz als Ganzer nach sich ziehen; das haben wir im Beispiel (1) schon gesehen mit Bezug auf einen verlängerten ersten Paarteil. Diese Fälle sollen hier nicht weiter behandelt werden. b) Zweite Paarteile können in mehrerer Hinsicht flexibel mit Bezug auf ihre Beendigung sein: ba) Bei zweiten Paarteilen, z.B. Antworten auf Fragen, kann z.B. unklar sein, ob mehrere Turnkonstruktionseinheiten im Antwortslot der Sequenz noch Teile der Antwort darstellen oder bereits andere Aktivitäten durchführen, wie z.B. Erläuterungen oder Begründungen. Dies würde vielleicht in manchen Kontexten als zu lang, als unangemessene ‘Weitschweifigkeit’ der Antwort o.Ä. behandelt. In meinem Korpus von Alltagsgesprächen habe ich kein Beispiel für ein solches Problem bei der Beendigung einer Paarsequenz gefunden. bb) Zweite Paarteile können ausbleiben oder zu kurz ausfallen, auch ohne account. Solche Fälle kommen in meinem Korpus nur in Gesprächen in Anrufsendungen vor, nicht in Alltagsgesprächen. Vgl. das Beispiel (2). (2) Anrufsendung ‘Blue Moon’, Anruf von Kathrin, S. 18: Z. 194-226 194 Kat: ja; 195 <<all> naja is> ooch ganz ↑ `LUStig mit dem 196 fri ↑ `SIERsa´lon: gleich äh: f: in dem 197 ↓ ´EInen buch? 198 .h 199 Mod: `´hm, Margret Selting 314 200 (1.32) 201 Kat: wo se: : wo se[: zu dem fri`SEU: : Rsalon 202 Mod: [im `SUperweib; 203 ´geht,= 204 Kat: =und so ´WEIter,= 205 =und die ´DÄMchen dort, 206 .hh das ´fAnd ich `SCHON ganz lustig; = 207 =ich [meine man hat ↑ `vIeles irgendwo 208 Mod: [<p>hm 209 Kat: ↑ `WIEdergesehen; = 210 Kat: =auch: hier: ↑ `vIeles aus m ↓ ´FERNsehen 211 halt, 212 .hh abe: r (1.45) `WEEß ich nich; 213 fan: ds (0.81) ↑ `GANZ toll; 214 (0.68) -> 215 Mod: ↑ `KATHrin; =ich wünsch dir viel ´frEude mit 216 dem ähm noch ↓ ´UNgelesenen buch? ne, 217 Kat: ´`jou(h); 218 Mod: <mit der ↓ ´ZAUberfrau: ? > <mit getrilltem r in frau> 219 Kat: `´j[aa, 220 Mod: [ich `hAbs (.) übrigens (.) 221 äh selber ´AU noch nich gelesen, 222 Kat: Aha; 223 Mod: bin ´AU ma gespannt drauf, 224 u: : nd <<all> wÜnsch dir noch n schönen 225 ↑ `ABEND; > 226 Kat: ´`jaa; 227 Mod: - SA-lü- 228 Kat: <<p>`DIR auch; > 229 Kat: TSCHÜ: ß- In Z. 213 formuliert die Anruferin Kathrin eine Bewertung: fan: ds (--) GANZ toll; . Nach einer kurzen Pause reagiert der Moderator aber nicht mit einer zweiten Bewertung, sondern mit einer Themenbeendigung, der er nach einigen weiteren Bemerkungen die Gesprächsbeendigung folgen läßt. Der Übergang vom thematisch kohärenten Gespräch zur Beendigungsphase des Gesprächs wird dabei durch die namentliche Anrede der Anruferin durch den Moderator deutlich angezeigt. Während eine solche Bewertung wie in Z. 213 in einem Alltagsgespräch eine zweite Bewertung relevant machen würde, bei Vermeidung oder Unterbrechung der Interaktion zumindest ein Account des Rezipienten der ersten Be- Beendigung(en) als interaktive Leistung 315 wertung erwartbar wäre (vgl. Pomerantz 1984; Auer/ Uhmann 1982), scheint im Kontext der Anrufsendung die Verweigerung einer zweiten Bewertung durch den Moderator der Sendung und stattdessen der Übergang zur Gesprächsbeendigung von der Anruferin akzeptiert zu werden. Ein derartiges Gesprächsmanagement ist offenbar durch die Rolle des Moderators legitimiert, der verschiedene nacheinander eingehende Anrufe ggf. so moderieren kann, dass Reaktionen auf erste Paarteile sogar in einem Folgeanruf durch einen anderen Anrufer noch gegeben werden können. Die Sequenzorganisation steht also hier im Dienste einer höheren Ebene der Gesprächsorganisation, nämlich des Gesprächsmanagements zwischen aufeinander folgenden Anruferinnen und Anrufern in ganzen Anrufsendungen. Die Rezipientin Kathrin scheint das zu verstehen, denn sie ratifiziert die Gesprächsbeendigung (Z. 217) und stellt in den folgenden Sequenzen die Gesprächsbeendigung mit her, obwohl die Bewertungssequenz unbeendet blieb. Ein ähnlicher Fall in einem Alltagsgespräch, allerdings in einer weniger fest organisierten Argumentationssequenz, findet sich in einem Telefongespräch zwischen der ca. 25-jährigen Dolli und ihrer Oma (T1-2 Oma-Dolli.ca: Z. 593-622). Nachdem die Oma über ihre Befürchtungen zur Nazizeit geredet hat, nämlich dass sie sich als Ausländerin in Berlin sicherer gefühlt habe als in Leipzig und deshalb nicht für eine Ausbildung nach Leipzig gezogen sei, äußert Dolli Dissens: in Leipzig hätten vergleichbare Sicherheitsbedingungen geherrscht wie in Berlin. Oma reagiert hierauf nur kurz mit einem leisen naja und daraufhin beendet Dolli das Thema mit: naja auf jeden fall biste nich da HINgegangen; . Auch hier wird also die begonnene Dissens- Sequenz von beiden Teilnehmerinnen sehr schnell wieder beendet. Beendigungen auf der Ebene der Sequenzorganisation zeigen sich also ebenfalls als flexibel; allerdings kann eine ‘zu knappe’ Durchführung eines nachfolgenden Sequenzteils Anlass zu Inferenzen mit Bezug auf den institutionellen Kontext oder die Beziehung zwischen den Gesprächspartnern geben. Auch hier scheint der Übergang zu einer neuen Phase und/ oder Aktivität deutlicher angezeigt zu werden als die Beendigung der vorhergegangenen. 2.3 Beendigung auf der Ebene der Gattungen, hier am Beispiel einer Erzählung Das folgende Beispiel zeigt, dass auch die Beendigung größerer und komplexerer Aktivitäten in Gesprächen, die ich den Gattungen zuordne, wie z.B. Erzählungen, flexibel ist und interaktiv hergestellt werden muss. Margret Selting 316 (3) „der widerliche kerl“ (aus: Selting et al. 1998, S. 118-119) (Gespräch zwischen zwei Studentinnen und einem Studenten beim Kaffeetrinken nach dem Mittagessen an der Uni Oldenburg, das aus aufnahmetechnischen Gründen aus der Cafeteria ins Tonstudion verlegt wurde.) 01 S1: ja: ; (.) die ↑ `VIERziger genera`tiOn so; = 02 =das=s: ↑ `! WA: HN! sinnig viele die sich da 03 ham [ ↑ `SCHEIden lasse[n.= 04 S2 [ ja; [ˇhm, 05 S1: =<<dim> oder ¯schEiden lassen ↑ `ÜBERhaupt.> 06 S2: ˇhm, 07 (--) 08 S1: <<pp> heute noch- > 09 (2.1) 10 <<p> s=is der ↑ `UMbruch.> 11 S2: n besonders ↑ `GUtes beispiel das warn mal unsere 12 ↑ `NACHbarn. 13 (1.0) 14 ähm (1.0) 15 ↑ `DREIßig jahre ver´hEiratet, (--) 16 das letzte kind (.) `Endlich aus m ´HAUS, 17 zum stu´DIERN, (--) 18 ´WEGgegangen,=´ne, .h 19 nach ber´LIN, (--) 20 und (.) die `Ältere tochter is ´AUCH in berlin 21 gewesen? .hh 22 und (.) der ´`´KE: : RL, 23 <<t> das war aber ein pene> ↑ `TRANter: 24 ´`! W: I! derling.=also .hh 25 der hat (.) äh sein ↑ `GARten wie (.) ↑ `! PIK! `AS 26 (--) geˇPFLEGT,=´ne, 27 ↑ `! KEIN! `BLÄTT´chen,= 28 =und ´NICHTS,= 29 =`Englischer ´RAsen, .hh 30 un: dh: bei <<all> ↑ `! JE! der ge`lEgen´heit hat er 31 die poli ↑ `ZEI ge´rUfen,> 32 <<all> und sich mit den ↑ `NACHbarn 33 ange[´legt,=´ne,> (1.2) 34 S1: [<<pp>phhh hohoho> 35 S2: un `wEnn da: `Einmal: `jEmand zum `Abschied 36 ge ↑ `HUPT ´hat, 37 da `wAr der in <<all> `NULL komma nix> 38 `drAußen; Beendigung(en) als interaktive Leistung 317 39 und hat da `RUMgeschrien; = 40 =ich hol die poli ↑ ¯ZEI: und [so- 41 S1: [<<p> das ↑ `GIBS 42 doch wohl nich.> 43 S2: ja; ↑ `V: OLLkommen `WIderlich.=´ne, .h 44 un: dh: (--) dann `hAtte er do son (.) son 45 ´`KLEInen ´`´BA: RT hier,=´ne, (.) 46 <<all> und ham wir immer gesagt> `HIT[ler; =´ne, 47 S1: [`HITler; 48 S1: ˇh[m, 49 S2: [ˇhm, 50 S1: [((lacht verstohlen, ca. 1.2 Sekunden lang)) 51 S2: [((lacht verstohlen, ca. 1.2 Sekunden lang)) 52 S2: ja und ´dAnn ↑ `PLÖTZlich (0.6) is seine `FRAU 53 abgehaun; =´ne,= 54 =von ↑ `HEUT auf `MORgen. (1.2) 55 `WEG; = 56 =nach ber`LIN; = 57 =zu den ´KINdern, (.) 58 und ¯dA: (.) n ¯nEues ↑ ¯LEben <<all> praktisch 59 angefangn->= 60 =nach ↑ `DREIßig `jAhrn.=´ne, 61 S1: ´`´hm, 62 S2: und ´ER al´LEIne, (1.1) 63 `kOnnte das ´HAUS nich mehr (.) ´hAlten, 64 mußte das ver ↑ `! KAU! fen ´glaub ich, .h (.) 65 <<all> daß er das ver ↑ `KAUFT hat; > (.) 66 <<all> ↑ `GLAUB ich ´wohl,> .h 67 und is <<len> ↑ `SEI: T´de: m,> 68 <<len> to`TA: L `zEr`FALlen.>= 69 =<<all> irgendwie so richtig> ↑ `FÖRMlich 70 `zEr: `FALlen.=´ne, 71 .hh 72 der hats über ↑ `HAUPT nich: (.) vk (.) 73 von al ↑ `LEIne <<all> wär er `nIe wieder auf e 74 `bEine gekommen; =´ne,> .h 75 ´jEtz wohnt er <<all> nämlich mit seiner> 76 ↑ `SCHW: ESter zusam[men. 77 S1: [hehehe 78 S1: he [he 79 S2: [und die ↑ `LAUfen: (.) ↑ `RUM wie n ↑ `URaltes 80 `Ehe[paar.=´ne, 81 S1: [he he 82 S1: he ho [ho Margret Selting 318 83 S2: [ ↑ `OUH `mAnn. (.) heh 84 S1: und aber a was aus der `FRAU geworden is `wEißt 85 du nich.=´ne, 86 S2: `NEE: ; 87 nich ge ↑ `NAU; 88 aber die is nach ber ↑ `LIN gegang[en; 89 S1: [ˇhm, 90 S2: und da hat die ihre ↑ `KINder und- 91 S1: ˇhm, 92 S2: ↑ `GANZ neues ↑ `LEben wahrscheinli[ch; =´ne, 93 S1: [ˇhm, 94 (1.8) 95 S1: <<pp> tja; > 96 (3.0) 97 hehe 98 (3.0) Erzählerin S2 liefert hier eine Belegerzählung für (a) die zuvor aufgestellte These, dass Frauen nach Scheidungen besser zurecht kommen als Männer (hier nicht wiedergegeben) und (b) die These der S1, dass sich aus der vierziger Generation viele Paare haben scheiden lassen (Z. 01-10). Die Erzählung wird in Z. 11f. angekündigt, und ab Z. 14 wird die Geschichte erzählt. Auf die interne Struktur der Erzählung und deren Kontextualisierung will ich nicht im Detail eingehen, nur einen kurzen Überblick über eine mögliche Segmentierung geben (vgl. dazu auch Selting 1995c; zur Analyse von Erzählungen generell vgl. auch Quasthoff 2001; zur Einbettung von Belegerzählungen in Argumentationen vgl. Gülich 1980 und Müller/ Luzio 1995): Segmentierung der Erzählung ‘der widerliche kerl’ Z. 11f. Ankündigung der Erzählung Z. 14-51 Darstellung des Ereignisträgers und der Ereigniskette: Z. 14-21 Hintergrund, Vorgeschichte Z. 22ff. Fokussierung des ‘Kerls’ und Bewertung 1 + Belege Z. 41f. Reaktion durch die Rezipientin S1 Z. 43 Wiederholung und Bekräftigung der Bewertung 1 Z. 44-51 Einschub Z. 52-60 Darstellung der Ereignissituation Z. 62ff. Darstellung der Nachgeschichte nach der Ereignissituation Z. 67-68 „Höhepunkt“/ „Pointe der Erz.“ 1 + Reformulierungen Z. 79-83 „Höhepunkt“/ „Pointe der Erz.“ 2 + Reaktionen der Rez. Beendigung(en) als interaktive Leistung 319 Z. 84ff. Nachfrage zur Nachgeschichte Z. 94ff. endgültige Beendigung des Erzählens Was mich interessiert, ist die Darstellung der Nachgeschichte nach der Ereignissituation, d.h. der Trennung des Paares (Z. 62ff.). Hier finden sich zwei „Pointen“, von denen die zweite erst durch die problematische Aufnahme der ersten Pointe durch die Rezipientin relevant geworden zu sein scheint. Schauen wir uns das etwas genauer an. Nachdem die Erzählerin in den Z. 62-66 ein wichtiges Resultat der Ereignissituation zum Einstieg in die Nachgeschichte dargestellt hat, kontextualisiert sie die erste Pointe in den Z. 67-68 sowohl mit hyperbolischer Lexik (total) als auch mit prosodischen Mitteln: Aufspaltung des syntaktischen Syntagmas in zwei prosodische Einheiten, auffällige Dehnungen und eine dichte Akzentuierung in rhythmischen Intervallen bei der Formulierung und is SEI: Tde: m, toTA: L zerFALlen. (für die Rhythmusnotation s. Selting 1995c, S. 239). Hiermit soll ganz offensichtlich die Pointe der Geschichte erkennbar gemacht werden. Sie passt ja auch gut zu der vorher aufgestellten These, dass Frauen nach Scheidungen besser zurecht kommen, denn in dieser Geschichte kommt der Mann schlechter zurecht. Allerdings wird diese Pointe von der Rezipientin S1 nicht als solche behandelt. Weder nach der Formulierung der Pointe in den Z. 67-68, noch nach deren Reformulierung in den Z. 69-70 erfolgt eine der Pointe angemessene Reaktion. Dies führt offenbar zunächst zu Produktionsproblemen bei der Erzählerin: Nach der Pause in Z. 71 beginnt sie eine Turnkonstruktionseinheit, die sie dann aber nach kurzen Lücken und der Lautkombination vk abbricht. Auch nach der nächsten vollständigen Einheit von alLEIne <<all> wär er `nIe wieder auf e `bEine gekommen; =´ne,> erfolgt keine Reaktion der Rezipientin. Nun geht die Erzählerin zur Schilderung der Gegenwart über, was sie gleich am Anfang der Turnkonstruktionseinheit in Z. 75f. durch das ins Vorfeld des Satzes gestellte jetz signalisiert. Gegen Ende dieser Einheit erfolgt nun endlich eine Reaktion der Rezipientin: Lachen (Z. 77- 78). Auch die nun folgende zweite Formulierung einer Pointe durch die Erzählerin in Z. 79f., und die LAUfen: (.) RUM wie n URaltes Ehepaar.=ne, wird wiederum mit hyperbolischer Lexik (uralt) und prosodisch kontextualisiert: wiederum finden wir eine dichte Akzentuierung und rhythmische Intervalle zwischen den Akzenten (für eine genaue Darstellung s. Selting 1995c, S. 239f.). Gegen Ende der Formulierung dieser Pointe signalisiert die Margret Selting 320 Rezipientin S1 endgültig durch ihr Lachen ihr Verstehen der Pointe und reagiert damit angemessen und erwartbar auf eine Erzählung wie die von S1 dargebotene. Daraufhin kann die Erzählerin mit einer abschließenden Bewertung der Ereignisse mit OUH mann. reagieren und auch selbst lachen (Z. 83). Es ist natürlich müßig, darüber zu spekulieren, wie die Erzählung ausgegangen wäre, wenn die Rezipientin schon die erste Pointe als Pointe aufgenommen hätte. Was dieses Beispiel aber zeigt, ist Folgendes: Nachdem die erste Pointe nicht als Pointe behandelt worden ist, erfolgen Reformulierungen, die man als Versuch der Behandlung und Reparatur des zugeschriebenen Aufnahmeproblems seitens der Rezipientin ansehen kann. Sie implizieren, dass die vorherige Pointe als Pointe der Erzählung gescheitert ist. In dieser Erzählung führt das zu einer zweiten Pointe, auf die dann von der Rezipientin erwartungsgemäß reagiert wird. Zum einen impliziert dies, dass auch Beendigungen von Gattungen wie Erzählungen flexibel gehandhabt werden müssen: bei Problemen bei der Produktion und Rezeption von relevanten Strukturkomponenten der Gattung müssen diese repariert und erneut durchgeführt werden. Zum anderen zeigt dieses Beispiel auch deutlich, dass erst die gemeinsame Konstitution der Pointe, hier eben erst der zweiten Pointe, zu einer raschen und unproblematischen Beendigung der Erzählung führt. Und auch hier ist wieder der Beginn einer neuen Aktivität, die Nachfrage zur Nachgeschichte in Z. 84f., viel deutlicher und klarer signalisiert als die vorherige Beendigung der Erzählung. Diese neue Aktivität in Z. 84f. wird gleich zu Beginn der Einheit doppelt angebunden: und signalisiert und projektiert eine kohäsive, das Vorhergegangene weiterführende Einheit; aber hingegen ein inhaltliches Absetzen des damit Projektierten vom Vorhergegangenen. Diese Projektierung entspricht auch genau dem, was S1 nun tut: sie knüpft an die Erzählung an, fokussiert jedoch nun die Frau und deren Nachgeschichte. 2.4 Beendigung auf der Ebene der Gesamtorganisation des Gesprächs Wie seit Schegloff und Sacks (1973) bekannt, sind Gesprächsbeendigungen hoch sensible und streng geordnete Phasen eines Gesprächs, die als Durcharbeiten durch verschiedene Sequenzen der Vorbeendigung und Beendigung von den Gesprächsteilnehmern gemeinsam hergestellt werden müssen. Spiegel/ Spranz-Fogasy (2001, S. 1248) fassen die Ergebnisse der bisherigen Forschung wie folgt zusammen: Beendigung(en) als interaktive Leistung 321 Schegloff/ Sacks (1973) unterscheiden verschiedene Arten von Beendigungsinitiativen: Resümee des Gesprächs, Terminabsprachen, Dank, Austausch von guten Wünschen, Grußaufträge, Abschiedsfloskeln etc. Linke/ Nussbaumer/ Portmann (1996) ergänzen diese Liste um ‘Ausblicke auf zukünftige Handlungen der Gesprächspartner’ und ‘Wertungen der Gesprächsereignisse’, wobei bis auf die Grußformeln die meisten Handlungen fakultativ sind. Levinson (1990) weist darauf hin, dass bei der Gesprächsbeendigung gerne Aspekte der Gesprächseröffnung (z.B. thematische Wiederaufnahme der persönlichen Befindlichkeit, Entschuldigung für die Störung) oder des Gesprächsverlaufs insgesamt aufgegriffen werden, wie es bei der Wertung der Gesprächsereignisse der Fall ist. (Spiegel/ Spranz-Fogasy 2001, S. 1248). Levinson (1983, S. 317) formuliert das folgende generelle Schema für die Beendigungsphase von Telefongesprächen: a) a closing down of some topic, typically a closing implicative topic; where closing implicative topics include the making of arrangements, the first topic in monotopical calls, the giving of regards to the other's family members, etc. b) one or more pairs of passing turns with pre-closing items, like Okay, All right, So: : , etc. c) if appropriate, a typing of the call as e.g. a favour requested and done (hence Thank you), or as a checking up on recipient's state of health (Well I just wanted to know how you were), etc., followed by a further exchange of pre-closing items d) a final exchange of terminal elements: Bye, Righteo, Cheers, etc. The technical and social problems that closings raise are thus initially dealt with by providing that the closing section as a whole is placed in a location that is interactively achieved: a pre-closing offer to close is issued in the form of Okay, Right, etc., and only if taken up do closings proceed. (Levinson 1983, S. 317f.). Button (1987) beschreibt verschiedene Sequenztypen, die in archetypischen Beendigungsphasen verwendet werden können: „Arrangements, back-references, topic-initial elicitors, in-conversation objects, solicitudes, reason-forcalls, appreciations“ (ebd., S. 104). Die dadurch bewerkstelligten ‘movements out of closing’ können minimal oder drastisch sein. Nach der ersten Beendigungsinitiative können systematische Gelegenheitsräume (‘opportunity spaces’) unterschieden werden, in denen Interaktionsteilnehmer mit den genannten Sequenztypen aus der Beendigung aussteigen können, bevor die Beendigung als gemeinsame hergestellt und abgeschlossen wird. Bestimmte Sequenztypen sind auf bestimmte Gelegenheitsräume zugeschnitten. Gene- Margret Selting 322 rell erfolgen Ausstiege eher nach Beendigungsinitiativen bzw. nach einem ersten Teil einer Vorbeendigung als nach dem ersten Teil einer terminalen Sequenz, d.h. der Verabschiedung. Drastische Ausstiege aus der Beendigungsphase werden eher vom zweiten Sprecher vollzogen, d.h. dem Rezipienten einer Beendigungsinitiative, minimale Ausstiege eher vom ersten Sprecher, der auch die erste Beendigungsinitiative formuliert hat. Obwohl sich die Forschung also einig ist, dass das Beenden von Gesprächen eine potenziell sehr sensible und störanfällige Phase ist, zeigen die meisten Beispiele in der Literatur dennoch relativ kurze und unproblematische Beendigungsphasen, in denen die genannten Phasen relativ schnell abgehandelt werden. Dennoch kann aber natürlich auch die Beendigung des Gesprächs als solchem zu einem schwierigeren Problem werden. In meinem Korpus finden sich zwei interessante Fälle. Der eine ist der Extremfall eines Privatanrufs einer Enkelin bei ihrer Oma, „um sich wieder mal zu melden“ (T1-2 Oma-D.ca), in dem nach einer Weile, ab ca. Z. 499 des Gesprächs, Dolli offensichtlich das Gespräch beenden möchte, Oma aber immer wieder neue Themen und Anknüpfungspunkte findet, um das Gespräch fortzusetzen. Die endgültige Gesprächsbeendigung ist erst bei ca. Z. 757 erreicht. Der Hinweis auf die Transkriptzeilen soll hier andeuten, das die Gesprächsbeendigung sich über einen langen Zeitraum erstreckt, der 258 Transkriptzeilen füllt. Eine demgegenüber normalere, aber dennoch sich länger hinziehende Beendigungsphase möchte ich hier als Beispiel genauer analysieren. Die Beendigungsphase eines Gesprächs zwischen Mutter und Tochter: (4) OSE Nr. 21.ca: Z. 591-756 (A=Anruferin, Tochter; M=Mutti) (Telefongespräch zwischen Mutter und Tochter; aus einer Reihe von Telefongesprächen, die die Tochter für mich aufgezeichnet hat; die Mutter war über die Aufnahmesituation informiert, das Gespräch fand aber nicht extra für Aufnahmezwecke statt.) 591 M: letzt´End[lich gehts au den tomaten 592 A: [ja 593 ge¯NAUso- 594 M: die werden nich größer als n 595 zwee¯MARKstück- 596 <<lachend> haste ja schon ge´SEHN,> 597 A: `´hm, 598 M: die bohnen sind ¯OOCH ganz pappich- Beendigung(en) als interaktive Leistung 323 599 und et c`Etera pe ↓ `PE. 600 (1.02) -> 601 A: `JU: T. 602 M: -E: ¯CE: ¯trA-RA hätte fred gesagt. 603 A: -E: ¯CE: ¯trA-RA- 604 M: ¯E: `CE trara. 605 A: `´hmhm, 606 M: das ist alles `STEINstark. -> 607 A: `MENSCH ey. -> 608 wir: quatschen hier `SO: lange- -> 609 so n langes gesprÄch kann man `GAR nicht 610 analysieren; 611 (0.64) 612 hihihi 613 M: ((stöhnt)) 614 A: wenn das `GUT wird .h soll das auch no: ch 615 (1.42) ↑ `JA ´Analy ↑ `SIERT werden wie 616 gesagt; = 617 =nicht ´WAHR? 618 M: na `BITte; =[dann: (.) ´mAch ma ne 619 A: [(hm=hm) 620 `ANneliese. 621 (bin) ´trAnskri`BIERT; (0.73) -> 622 jaa: =aber `NAja; = -> 623 =so lang kann (.) ↑ `dArf das nicht 624 `WERden mutti; = -> 625 =wir `mÜssen dem gespräch ein `ENde 626 ma[chen. 627 M: [`JA: ; =nichts desto 628 `trOtz kannste dir demnächst mal n paar 629 `JEANS aussuchen; 630 A: <<stöhnend, p> `MACH ich; > 631 M: hehe 632 `EHRlich; = 633 =jetzt mal `OHne mist; 634 A: ich wÜnsch mir eine (0.28) ge´RAde jeans? 635 M: so [was 636 A: [mit ge`rAdem ´BEIN? 637 M: `´JAA,=das ist sowas wie `TRIne jetzt 638 ´hat,= 639 A: =`Und die uff der `HÜFte sitzt. 640 M: `´hm, 641 da müßteste ma adriennes `ANprobieren; 642 A: sitzt die ´OOCH [uff der hüfte? Margret Selting 324 643 M: [die liegt hier im 644 `SCHRANK. 645 die sieht (0.53) `SAU`STARK aus. (0.49) 646 im (0.41) so am (0.39) ↑ `KORpus. 647 A: am `KORpus; 648 A: [`´hm, 649 M: [jaa; ohne de`LIC´ti, 650 A: `´hm, 651 M: aber immerhin am `kOrpus sieht die `GUT aus. -> 652 A: ↑ `JUT; -> 653 das ↑ `MACH ich ma; 654 M: `´hm, 655 das is eine sOgenannte `rEgulär (0.27) 656 ¯FIT (0.36) `hose; 657 vom vom `SCHNITT her heißt die so. 658 A: `REgulär `FIT; 659 M: `´hm, 660 A: (aga) 661 M: die ganzen (0.60) äh .hh äh (0.61) 662 `mÖglichkeiten und `stIlvariationen von 663 (0.23) `jEans (0.33) `schnItten sind 664 nämlich in dem `nEuen katalog mal so 665 immer `DRANgeschrieben; = 666 =´wEeßte? 667 A: =hm, `STIMMT; 668 geRAde- und [ENG- 669 M: [´jA,=ge`NAU; und: 670 A: STRETCH- 671 M: die ist ´WIRKlich: 672 also es sitzt `SEHR gut; 673 A: `´hm, 674 M: `MÜSSteste mal `gUcken; (0.52) 675 `OB das was für dich `wÄr; -> 676 A: `OKI doki; 677 M: `´hm: ,= 678 =`MIT knöpfen; 679 A: `MIT knöpfen; 680 (0.95) 681 `FIND ich `gUt; = 682 =´SIEHT man die knöpfe auch? = 683 M: =`´NEIN, 684 `NEIN; 685 (0.60) Beendigung(en) als interaktive Leistung 325 686 A: `´hm, (0.60) 687 ´BLAU? ´SCHWARZ? ´G[RÜN? 688 M: [´BLAU, 689 M: [´BLAU, 690 A: [¯BLAU- 691 M: so (0.13) `MITtel; (0.09) 692 nich ganz ¯HELL¯ 693 nich ¯DUNkel¯ 694 also s sieht `GUT aus; 695 A: `Ich möchte gern eine ↓ `SCHWARze. 696 M: selbstver ↑ `STÄNDlich; = 697 =die gabs ooch `Irgendwie s' gabs sowas 698 in `SCHWARZ. 699 [`MACH: : was du dEnk]st. 700 A: [und wie ´TEUer war die? ] 701 M: `NEUNund`sEchzig. 702 A: `nAja das `GE: HT für ne jeans. 703 M: `JA: is `SCHNITT. 704 A: `´hm, -> 705 `A: Lso; = -> 706 =`JETZ aber `schlUss; =nicht wahr? 707 M: `ACH jetzt singt diese `dOofe schon 708 wieder weil ich n `MÄDchen bin. 709 (.) 710 A: `´hm, 711 M: ((stöhnt)) 712 von mir aus `SO: : LL: se s doch `SEI: : N; 713 A: <<sächselnd> `SEI dole`rAnt; > 714 M: isch `BIN dolerant.>= 715 =wie ver`RÜCKT; 716 A: `´hm, -> 717 [`SO mutti; -> 718 M: [aber ich `kAnns langsam nit mehr `HÖren; -> 719 A: `jEtz krieg ich aber n `LALleohr; -> 720 hier klemmt `LAUfend das mikro: (0.30) -> 721 zwischen ohr und `hÖrer; -> 722 weeßte wie das ´DRÜCKT? 723 M: `´ja[a, 724 A: [hihihi 725 M: na`JA; 726 so `stAnd ich `gEstern in der `kÜche am 727 `hErd und hab mein `GYros gerührt 728 [(h)`wÄ(h)rend w(h)ir t(h)eleph(h)o`NIERT 729 A: [´SIEHSte, Margret Selting 326 730 M: haben; -> 731 A: Okey.= -> 732 = ↑ `JETZ aber wIrklich. -> 733 ↑ `DREI `vIer mutti. 734 M: `GEHT seinen `gAng mein schatz. 735 A: ´NE? (0.34) 736 A: [man `SIEHT sich denn. 737 M: [((Kussgeräusch)) 738 A: `ICH komm `Auch noch mal vorbei. 739 M: `NAja; 740 'ich' (0.16) möchte doch ´Arg drum 741 ↑ `BITten; = 742 A: =`´hm, 743 M: heute ist ja erst ↑ `DONnerstag; =ne, 744 A: ´`´JAA, 745 `STIMMT, 746 M: ´SIEHSte `wOhl; 747 A: `JA. (0.73) 748 ↑ `MACHS gut; = 749 =ich `MELD mich. 750 M: `TSCHÜSS mein schatzi. 751 A: ¯TSCHÜ: -Ü: : -= 751 M: =`DREI `vIer. 752 A: `DREI `vIer. [hihi 753 M: [grüß `MARlon; 754 A: `MACH ich. 755 M: `´hm[: , und `wÜnschen tu ich jetz guten 756 A: [bye; 757 ↑ ¯FLU: : G¯ 758 A: `´JA: , `´JA: , -> 759 M: (h) `mI(h)r f(h)ällt `IM(h)mer noch(h) 760 was ein.= -> 761 =oh `GOTT oh `GOTT [oh `GOTT. 762 A: [das `MACHT nichts; = -> 763 =`JETZ aber `wIrklich; 764 M: ¯JA¯ `NICHTS desto `trOtz; 765 ((Kussgeräusch)) `TSCHÜSS; 766 A: (nIchts) desto ¯TROTZ¯ 767 auf=aus der `NAse ´lÄuft, (0.51) 768 M: `KEIN `rOtwein. 769 A: `KEIN `rOtwein; hihi 770 ¯TSCHÜ: -Ü: SS- 771 M: `TSCHÜSS mein hase. 772 ((Kussgeräusche)) Beendigung(en) als interaktive Leistung 327 Erste Themenbeendigungs- und Gesprächsvorbeendigungsinitiative: Die Mutter hat der Anruferin, ihrer Tochter, von den Folgen der Trockenheit für ihren Garten erzählt. In Z. 591ff. geht es um die Tomaten, in Z. 598 um die Bohnen. Danach produziert die Mutter die Generalisierungsformel und et cEtera pe PE. Die Anruferin interpretiert dies offenbar als Nahelegung einer Themenbeendigung und bestätigt diese nach einer Pause in Z. 601 mit dem Gliederungssignal bzw. Diskursmarker JU: T., der das Vorausgegangene abschließt und einen Übergang zu etwas Neuem signalisiert. Die Mutter setzt das vorherige Thema fort, und zwar mit einem Wort-/ Sprachspiel mit Bezug auf den zuletzt von ihr verwendeten Ausdruck. Nach Schegloff/ Sacks (1974, S. 246) handelt es sich hierbei um eine Themenbeendigung, die zugleich den möglichen Einstieg in die Phase der Vorbeendigung des Gesprächs nahe legt, eine erste ‘possible pre-closing’, nach der allerdings durchaus vom Rezipienten ein weiteres neues Thema eingebracht werden kann. Nach Button (1987, S. 142) steigt hier die Mutter nach der Beendigungsinitiative der Anruferin durch die Thematisierung von ‘inconversation objects’ wieder aus der Beendigungsphase aus; sie verweigert den geordneten Einsteig in die Beendigungsphase des Gesprächs. Zweite Gesprächsvorbeendigungsinitiative: Nach dem Austausch formelhafter Wendungen in den Z. 602-606 produziert die Anruferin in Z. 607 den Appell MENSCH ey. als Diskursmarker und thematisiert dann metakommunikativ explizit die Länge des Gesprächs: wir: quatschen hier SO: lange-. In der Folgezeile sagt sie, dass diese Länge ein Problem für die spätere Analyse des Gesprächs werden wird. Die Formulierung der Themenbeendigungsinitiative in Z. 608, wir: quatschen hier SO: langelegt dabei deutlich nahe, dass die Anruferin nicht nur die Beendigung des gerade besprochenen Themas meint, sondern die Themenbeendigung zugleich auch zur Gesprächsbeendigung führen soll. Gegenüber der ersten Gesprächsvorbeendigungsinitiative JU: T. in Z. 601 ist die metakommunikativ explizite Thematisierung der Länge des Gesprächs in Z. 608ff. schon eine stärkere „caller's technique for inviting the initiation of closing sections“ (Schegloff/ Sacks 1974, S. 249). Dennoch wird das angesprochene Thema ‘Analyse des Gesprächs’ von der Anruferin selbst und dann auch ihrer Mutter in den Z. 612-621 noch etwas weiter fortgeführt. Margret Selting 328 Dritte Gesprächsvorbeendigungsinitiative: In Z. 622 finden sich zum Abschluss des Themas ‘Analyse des Gesprächs’ die weiteren Diskursmarker jaa: =aber `NAja; und darauf folgend die metakommunikativ explizite Formulierung einer nächsten Gesprächsvorbeendigungsinitiative mit so lang kann (.) dArf das nicht WERden mutti; =wir mÜssen dem gespräch ein ENde machen. Hier wird nun nicht nur die Länge des Gesprächs thematisiert, sondern noch expliziter und direkter als mit der vorherigen Beendigungsinitiative regelrecht gefordert, das Gespräch zu beenden. Ein neues Thema soll damit verhindert werden (vgl. Schegloff/ Sacks 1974). Die Mutter stimmt zwar zunächst mit JA: ; zu, beginnt dann aber unmittelbar darauf ein neues Thema: nichts desto trOtz kannste dir demnächst mal n paar JEANS aussuchen; . Die Anruferin reagiert knapp mit einem leise stöhnenden MACH ich; ., das aufgrund seiner Knappheit und seines Zukunftsverweises als Verweigerung der thematischen Fortsetzung und statt dessen Nahelegung einer Beendigung interpretiert werden könnte. Wie die Folgezeilen 631ff. zeigen, setzt aber die Mutter ihrerseits das Thema fort, in das dann die Tochter einsteigt. Weitere Gesprächsvorbeendigungsinitiativen: Die nächste Themenbeendigungsinitiative findet sich dann in Z. 652, wo die Anruferin wiederum mit dem Diskursmarker JUT; und dem Zukunftsverweis das MACH ich ma; eine Themenbeendigung und damit den Einstieg in die Gesprächsvorbeendigungsphase nahe legt. Die Mutter ignoriert diese Initiative und setzt das Thema einfach fort. In Z. 674f. formuliert dann die Mutter einen Zukunftsverweis: MÜSSteste mal gUcken; (-) OB das was für dich wÄr; , auf den die Anruferin mit dem weiteren Diskursmarker OKI doki; reagiert. Auch dieser Diskursmarker, eine Variante des Diskursmarkers okey o.Ä., wird hier verwendet, um etwas Vorhergegangenes abzuschließen und zu etwas Neuem überzugehen, mithin eine neue Themen- und Gesprächsvorbeendigungsinitiative der Tochter. Die Mutter reagiert aber wiederum mit einer Fortsetzung des Themas und auch die Tochter steigt wieder in das Thema ein. Eine wieder explizitere Gesprächsvorbeendigungsinitiative wird von der Tochter in Z. 705f. formuliert. Wieder wird zunächst mit dem Diskursmarker A: Lso; = eine Zäsur im Gespräch konstituiert, bevor mit JETZ aber schlUss; =nicht wahr? metakommunikativ explizit eine Themenbeendigung Beendigung(en) als interaktive Leistung 329 und der Einstieg in die Gesprächsvorbeendigung vorgeschlagen wird. Die Mutter beginnt daraufhin ein ganz neues Thema, in das die Tochter sich wiederum hineinziehen lässt. Die nächste, noch exlizitere Initiative der Tochter zur Themenbeendigung und zum Einstieg in die Gesprächsvorbeendigung findet sich kurz später, in Z. 717ff. Wieder formuliert die Tochter zuerst einen Diskursmarker, SO, dem unmittelbar die direkte Anrede mutti folgt. Daraufhin wartet sie das Ende der überlappend begonnen Klage der Mutter in Z. 718 ab, und beschreibt nun ihre eigene Situation am Telefon als Klage, die eine Gesprächsbeendigung erforderlich macht: jEtz krieg ich aber n LALleohr; hier klemmt LAUfend das mikro: (-) zwischen ohr und hÖrer; weeßte wie das DRÜCKT? Dieses Mal reagiert die Mutter, indem sie auf die Klage der Tochter inhaltlichthematisch eingeht - so sei es ihr gestern nämlich auch gegangen, anstatt die von der Tochter nahe gelegte Beendigungsinitiative zu ratifizieren und die Beendigung geordnet weiterzuführen. Der bisherige Verlauf dieses Gesprächsausschnitts hat gezeigt, dass insgesamt sieben Initiativen der Anruferin zur Themenbeendigung und zum Einstieg in die Phase der Vorbeendigung des Gesprächs von der Mutter nicht ratifiziert wurden. Und noch eine Gespächsvorbeendigungsinitiative: Nach einer Empathieaufforderung in Z. 729 produziert die Tochter sofort im Anschluss an die Bemerkung der Mutter in den Z. 731-733 eine weitere Vorbeendigungsinitiative, wiederum mit zuerst einem Diskursmarker, Okey.=, dann der metakommunikativ expliziten Formulierung =JETZ aber wIrklich., einer Abwandlung und Zuspitzung des zuvor schon verwendeten JETZ aber schlUss (Z. 706), und schließlich der Formulierung DREI vIer mutti. Diese letzte Formulierung scheint, wie auch die Wiederholung der Formel in den Z. 751 und 752 nahe legt, als Teil einer Vor-Beendigungspaarsequenz zwischen Mutter und Tochter verwendet zu werden. Gesprächsbeendigungsphase: Die Reaktion der Mutter in Z. 734, GEHT seinen gAng mein schatz., legt nahe, dass sie die Gesprächsvorbeendigungsinitiative der Tochter nun ratifiziert und in die Gesprächsbeendigung übergehen will. Margret Selting 330 In den dann folgenden Beiträgen stellen Mutter und Tochter gemeinsam eine „extended closing section“ (Schegloff/ Sacks 1974, S. 256; Button 1987, S. 137ff.) her, in der beide Teilnehmerinnen die sich systematisch bietenden Gelegenheiten nutzen, die Gesprächsbeendigung auszuweiten und die tatsächliche Gesprächsbeendigung, d.h. die Verabschiedung, noch etwas weiter hinauszuschieben. Nachdem die Mutter die Vorbeendigungsinitiative der Tochter in Z. 734 ratifiziert hat, produziert die Tochter zunächst ein verspätetes Frageanhängsel, ein akzentuiertes NE? als ‘post-response pursuit of response’ (Jefferson 1981), bevor sie mit der Äußerung man SIEHT sich denn. eine Sequenz initiiert, die Button (1987, S. 104ff.) als ‘arrangements sequence’ bezeichnet. Die hier schon simultan produzierten Küsse der Mutter legen, da solche Küsse normalerweise am Gesprächsende produziert werden, Abschiedsküsse und damit das unmittelbar bevorstehende Gesprächsende nahe. Die Küsse der Mutter realisieren also bereits eine Vor-Verabschiedung, der nun noch die Verabschiedung mit den Abschiedsgrüßen folgen müsste. Die zuvor überlappend mit den Abschiedsküssen der Mutter produzierte Initiierung der ‘arrangements sequence’ wird von der Tochter in Z. 738 noch einmal konkretisiert: ICH komm Auch noch mal vorbei. Statt einer erwartbaren minimalen Reaktion der Mutter, wie z.B. okay, reagiert die Mutter ausführlich und entwickelt wiederum eine kurze thematische Sequenz in den Z. 739-747. Nach dieser Einschubsequenz geht die Anruferin mit MACHS gut; =ich MELD mich. in den Z. 748-749 wieder zurück in die ‘arrangements sequence’ und führt diese damit weiter. Eine erste Verabschiedung: Die Mutter reagiert in Z. 750 mit der Produktion eines ersten Paarteils einer Verabschiedungssequenz plus Anrede mit Kosenamen, nämlich TSCHÜSS mein schatzi., womit sie zugleich die Beendigung der ‘arrangements sequence’ und die Ratifizierung des Fortgangs in der Gesprächsbeendigung nahe legt. Die Tochter reagiert mit dem zweiten Paarteil der Verabschiedungssequenz: TSCHÜ: Ü: : in Z. 751. Damit hätte das Gespräch geordnet durch das Auflegen der Hörer endgültig beendet werden können (vgl. die „terminal sequence“, Schegloff/ Sacks 1974, S. 257). Nach Button (1987, S. 147) sind ‘movings out of closings’ nach einem ersten oder gar zweiten Teil der Verabschiedungssequenz, der ‘terminal sequence’, eher selten und dann oft als fehlplatziert (‘misplaced’) gekennzeichnet. Beendigung(en) als interaktive Leistung 331 Nach-Verabschiedungen: In unserem Gesprächsausschnitt folgt nach der Verabschiedung zunächst die gemeinsame Formulierung einer Sequenz aus der initiierten und wiederholten Formulierung DREI vIer. durch zuerst Mutter und dann Tochter, offenbar als Privat-Verabschiedungsformel und -paarsequenz o.Ä. verwendet (Z. 751f.). Hierauf folgt in den Z. 753-754 eine erste Sequenz mit Bitte um Ausrichtung von Grüßen und deren Akzeptierung (vgl. die ‘solicitudes’ bei Button 1987, S. 118ff.). Während dann in Z. 755 die Mutter noch ein Rezeptionssignal produziert, formuliert die Tochter erneut den ersten Teil einer Verabschiedungssequenz mit bye; in Z. 756. Statt des hier nun konditionell relevanten zweiten Paarteils der Verabschiedungssequenz steigt die Mutter erneut aus der Beendigung aus und formuliert einen weiteren guten Wunsch: und wÜnschen tu ich jetz guten FLU: : G-, was die Tochter mit zwei sehr deutlich gedehnten fallend-steigend intonierten Signalen JA: " die offenbar die Interpretation ‘geduldiges Abwarten’ nahe legen sollen, aufnimmt. Einschubsequenz + erneute Beendigungsinitiative: Nun formuliert die Mutter in Z. 759-761 mit lachender Stimme ihre eigene Situation explizit: (h) mI(h)r f(h)ällt IM(h)mer noch(h) was ein.=oh GOTT oh GOTT [oh GOTT. Dies wird von der Tochter als Entschuldigung aufgefasst und beantwortet mit der Bagatellisierung [das `MACHT nichts; . Die Formulierung der Mutter macht jedoch deutlich, dass ihr selbst ihr Gesprächsverhalten als auffällig und damit kommentierungs- oder erklärungsbedürftig (‘accountable’) erscheint. Ebenso wie nach der Einschubsequenz in den Z. 739-748 wird auch nach dieser Einschubsequenz, sofort nach der Bagatellisierung, von der Anruferin die Gesprächsbeendigung re-initiiert mit der Wiederholung der Beendigungsinitiative =JETZ aber wIrklich; . die auch bereits in Z. 732 von ihr verwendet worden war. Verabschiedung: Die Mutter reagiert mit der Bestätigung JA NICHTS desto trOtz, erneuten Verabschiedungs-Küssen und der erneuten Produktion des ersten Paarteils einer Verabschiedungssequenz, TSCHÜSS; (Z. 765). Die Tochter wiederholt in Z. 766 die Formulierung (nIchts) desto TROTZ- und initiiert daran an- Margret Selting 332 schließend einen weiteren, Mutter und Tochter offenbar bekannten und erheiternden Austausch als zweiteilige Sequenz mit Routineformeln: aus der NAse lÄuft, (--) KEIN rOtwein. Nach der Wiederholung des zweiten Teils der Routineformel und Lachen (Z. 769) initiiert dann schließlich die Tochter in Z. 770 mit TSCHÜ: Ü: SSerneut die Verabschiedungssequenz, die die Mutter dann mit TSCHÜSS mein hase. und nochmaligen Küssen beendet, bevor beide ihre Hörer auflegen. Dieses Beispiel einer langen Beendigungsphase eines Gesprächs zeigt, dass a) noch vor dem Einstieg in die Vor-Beendigungsphase des Gesprächs eine der Teilnehmerinnen systematisch die Gesprächsvorbeendigungsinitiativen der anderen nicht ratifizierte und somit den Eintritt in die Phase der Gesprächsvorbeendigung verhinderte und hinauszögerte; und b) nach dem Eintritt in die Beendigungsphase des Gesprächs, als also die Entwicklung zur endgültigen Gesprächsbeendigung, der Verabschiedung, anstand, beide Teilnehmerinnen weiterhin jede systematisch sich bietende Gelegenheit nutzten, um das Gespräch gemeinsam zu verlängern und die endgültige Verabschiedung durch die gemeinsame Herstellung z.T. sogar privater Ritual-Sequenzen hinauszuzögern. Obwohl an der Verlängerung der (Vor-)Beendigungsphase beide Teilnehmerinnen aktiv mitwirken, scheint insgesamt die Beendigung dieses Gesprächs ein für die Interaktionspartner selbst sich stellendes Problem zu sein, das sie mit vielfältigen Ressourcen bearbeiten. Man sieht deutlich, dass auch die Beendigung ganzer Gespräche als ‘Einheiten’ problematisch sein kann und von den Interaktionsteilnehmern gemeinsam und flexibel gehandhabt werden muss. Die Interaktionsteilnehmerinnen orientieren sich erkennbar, z.T. sogar metakommunikativ explizit gemacht, an ihrer Kenntnis über die geordnete Durchführung von Gesprächsbeendigungen, nutzen diese aber aus, indem sie Initiativen der Gesprächspartnerin ignorieren, nächste erwartbare Aktivitäten hinauszögern usw. Bei all dem handeln sie geordnet innerhalb der für die jeweilige Phase des Gesprächs systematisch sich bietenden Möglichkeiten, nutzen diese für ihre eigenen Interessen aus. Das allgemeine Konstruktionsschema für die Beendigungsphase von Gesprächen wird also auch hier flexibel gehandhabt und der konkrete Verlauf der Gesprächsbeendigung zwischen den Interaktionspartnerinnen ausgehandelt. Beendigung(en) als interaktive Leistung 333 3. Fazit Ich habe Beendigungen auf einigen ausgewählten Ebenen der Gesprächsorganisation untersucht: a) auf der Ebene der Bildung und Abgrenzung von Turnkonstruktionseinheiten, b) auf der Ebene der Sequenzorganisation, c) auf der Ebene der Gattungen, hier am Beispiel einer Erzählung, d) auf der Ebene der Gesamtorganisation des Gesprächs. Die Analyse von Beendigungen sollte dazu dienen, zweierlei zu zeigen: (a) Beendigungen können potenziell immer problematisch sein. Sie müssen in jedem Fall als interaktiv herzustellende Leistungen beschrieben werden. Die beschriebenen Verfahren des Umgangs mit Beendigungen, ob für einen der Teilnehmer problematisch oder nicht, sind die ganz normalen Routineverfahren der Herstellung und Aushandlung von Beendigungen, die den Interaktionspartnern zur Verfügung stehen. (b) Durch die Analyse des Umgangs der Interaktionsteilnehmer mit eher problematischen Fällen konnte rekonstruiert werden, dass die beendeten ‘Einheiten’ generell als Anwendung/ Instantiierung/ Realisierung flexibler und den lokalen Erfordernissen der Interaktion anpassbarer Konstruktionsschemata beschrieben werden müssen. Ich habe zu zeigen versucht, dass Beendigungen als interaktive Leistung nicht nur auf einzelnen Ebenen der Interaktion, wie z.B. beschrieben für das Ende von Turnkonstruktionseinheiten oder für das Ende von Gesprächen, relevant wird, sondern dass sie omnipräsent sind und auf mehreren/ vielen Ebenen der Interaktion zugleich rekurrent bewältigt und ausgehandelt werden müssen. Beendigungspraktiken auf unterschiedlichen Ebenen überlagern und verschränken sich; aus analytischen Gründen wurden sie hier für einzelne Ebenen getrennt aufgezeigt. Das Ende von Einheiten stellte sich auf allen betrachteten Ebenen als flexibel dar, auch über projektierte bzw. erwartbare mögliche Enden hinaus verlängerbar, den Erfordernissen der Interaktionsorganisation lokal anpassbar, zwischen den Interaktionspartnern aushandelbar. Gegenüber den flexiblen Enden scheint der Beginn neuer Folge-Einheiten viel klarer und deutlicher signalisiert zu werden. Aus dem Beginn einer neuen Einheit bzw. Aktivität ist oft erst retrospektiv inferierbar, dass die vorherige Einheit tatsächlich als beendet behandelt wird. Margret Selting 334 Zugleich zeigte sich, dass der institutionelle Kontext, hier der einer Radio- Anrufsendung, eine besondere Handhabung von Sequenzen und deren Beendigung bedingen kann: die Flexibilität von Beendigungen kann kontextspezifisch weiter erweitert werden, indem zweite Paarteile z.B. nicht vom Moderator als Rezipienten geliefert, sondern nächsten Anrufern überlassen werden. In anderen institutionellen Kontexten, insbesondere bei ritualisierter Kommunikation, ist dagegen eher eine kontextspezifische Einschränkung der im Alltag normalen Flexibilität von Konstruktionsschemata zu erwarten. Daraus folgt, dass die Analyse von ‘Einheiten’ eine ‘rekonstruktive’ Herangehensweise erfordert, wie sie Konversationsanalyse und Interaktionale Linguistik verfolgen. Aktivitäten oder Gattungen und deren Phasen können nicht vorab definiert oder deren Verläufe vorhergesagt werden. Sie können nur retrospektiv als geordnete und ausgehandelte Interaktion zwischen den Teilnehmern rekonstruiert werden. Für die Beschreibung von ‘Einheiten’ und deren Beendigung auf allen Beschreibungsebenen bestätigt sich damit erneut, dass man sich die Schemata der Interaktion, an denen sich die Interaktionsteilnehmer/ innen orientieren (vgl. z.B. Kallmeyer/ Schütze 1976; 1977; Auer 1986) als prinzipiell flexible Konstruktionsschemata, Handlungsschemata, Interaktionsschemata etc. vorstellen muss. Das Verhältnis zwischen kognitiver Sedimentierung in Konstruktionsschemata (Turnkonstruktionsschemata, Handlungsschemata, Interaktionsschemata etc.) und der Emergenz dieser Schemata im Rahmen der lokalen Organisation des Gesprächs ist reflexiv: Die konkrete Struktur bzw. Aktivität ist einerseits das Produkt der durch die Sozialisation erworbenen Schemata und der damit verbundenen Erwartungen und Erwartungserwartungen sowie der Interaktion im sequenziellen und situativen Kontext. Und sie stellt andererseits den konkreten Kontext wie auch die Orientierung an den relevanten und nahe gelegten Konstruktionsschemata erst her. Für die Herstellung interaktiver Schemata der Turnkonstruktion, der Handlungsorganisation und der Interaktionsorganisation nehmen wir dabei sprachliche Strukturen „in Dienst“, die ebenso wie interaktive Schemata einerseits als durch Sozialisation und Praxis erworbene Schemata kognitiv sedimentiert und „verinnerlicht“ sind, andererseits aber ebenso flexibel in der konkreten Interaktionssituation gehandhabt werden (müssen). Die Eigenschaften und Charakteristika der Interaktion (v.a. Interaktivität, Kontextspezifik, lokale Emergenz, Flexibilität) erfordern also daran angepasste und dar- Beendigung(en) als interaktive Leistung 335 auf zugeschnittene sprachliche Strukturen als Konstruktionsmittel bzw. „Werkzeuge“. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Interaktionsstruktur und Sprachstruktur Parallelen der Organisation zeigen. Obwohl auch die Produktion von Sprache dabei als Prozess gesehen werden muss, ist dieser Prozess dennoch kein Selbstzweck, sondern immer auf die Organisation der Interaktion bezogen. Im Unterschied zu vielen anderen linguistischen Ansätzen, die Sprachstrukturen aus anderen Perspektiven beschreiben, hebt die Interaktionale Linguistik hervor, wie Interaktionspartner in Gesprächen linguistische Strukturen lokal den Zwecken und Erfordernissen der Interaktion angepasst anwenden und nutzen, ggf. ausnutzen, und sie in diesem Sinne lokal und in situ immer wieder neu erzeugen. Diese lokale Emergenz von Sprachstrukturen erfolgt freilich ebenso wenig voraussetzungslos wie die lokale Emergenz interaktiver Schemata: Interaktionspartner verfügen als sprachlich und interaktiv kompetente Mitglieder der Gesellschaft und Kultur, in der sie leben, natürlich über intuitives Wissen (tacit knowledge) über die Verwendbarkeit und Wirkung von Sprache in der Interaktion. Obwohl dieses intuitive Wissen nicht einfach erfragbar - und deshalb auch nicht über introspektive Methoden erforschbar - ist, ist es doch höchst wirksam: Wir wissen, dass wir für die für den Rezipienten erkennbare/ verstehbare Herstellung von Aktivitäten Sprache kontextualisieren müssen, i.d.R. mit Hilfe von Bündeln von Kontextualisierungshinweisen (vgl. Selting 1995a, c). Größere sprachstrukturelle Einheiten, wie syntaktische und prosodische Konstruktionsschemata, werden dabei für die Konfiguration von Turnkonstruktionseinheiten eingesetzt; kleinere sprachstrukturelle Einheiten, wie z.B. spezifische prosodische Parameter, spezifische morpho-syntaktische Strukturen, phonetische und phonologische Strukturen, werden vermutlich eher in Merkmalsbündeln für andere Aufgaben verwendet: einerseits für die Organisation des Sprecherwechsels, für die Signalisierung von Aktivitäten (z.B. Fragetypen, Antworten, Einladungen, Vorwürfen usw.), Modalitäten (z.B. Erstaunen, Emphase, emotionale Beteiligung) und Stilen in der Interaktion. Trotz unseres intuitiven Wissens, das unsere Sprechhandlungs- und Interaktionskompetenz ausmacht, erfordert dennoch konkretes sprachliches Handeln in der Interaktion die genaue intuitive Analyse der Situation und die lokal angepasste, auf den Rezipienten zugeschnittene und dessen Reaktionen flexibel berücksichtigende Reaktion des Sprechers auf den Interaktionspartner und die einmaligen Erfordernisse genau dieser hier und jetzt von uns hergestellten Interaktion. In diesem Sinne sind in konkreten natürlichen In- Margret Selting 336 teraktionssituationen erhobene Daten Zeugnisse der Emergenz von Sprachstrukturen und von Interaktionsstrukturen. Beendigungen sind nur ein Beispiel für Interaktionsaufgaben, bei denen dieser Zusammenhang gut sichtbar wird. 4. Literatur Auer, Peter (1986): Kontextualisierung. In: Studium Linguistik 19, S. 22-47. Auer, Peter (1991): Vom Ende deutscher Sätze. 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Von der Prosodie und Syntax (Couper- Kuhlen, Auer, Günthner) über die Gestik (Streeck) bis hin zur Ebene unterschiedlicher konversationeller Aufgaben im Sinne des Formulierens (Dausendschön-Gay/ Gülich/ Krafft), des Fokussierens (Hausendorf), des Turn-Taking (Mondada), des Erzählens/ Erklärens (Quasthoff/ Kern) und des Beendens (Selting) wird gezeigt, welche Perspektiven die Prozessualitätsannahme für die Beschreibung sprachlich-kommunikativer Phänomene eröffnet und welcher Art die Ergebnisse sind, die man auf dieser Grundlage erzielen kann. Zudem wird ebenenübergreifend ein besonders eng mit der Prozessualität des Gesprächs verbundenes Merkmal in seiner methodologischen Relevanz hervorgehoben: die Flüchtigkeit gesprochener Sprache (Bergmann). ISBN 978-3-8233-6231-9