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Koordination

2007
978-3-8233-7293-6
Gunter Narr Verlag 
Reinhold Schmitt

Der Band präsentiert erstmals eine systematische Zusammenstellung von empirischen Analysen zu Koordination aus sprachwissenschaftlicher Sicht. Neben der gemeinsamen thematischen Fokussierung auf den bislang bei der Untersuchung authentischer Interaktion "übersehenen" Aspekt Koordination ist der zentrale theoretische Bezugsrahmen für alle Beiträge eine multimodale Konzeption von Interaktion. In einer systematischen Einleitung wird Koordination als neuer, eigenständiger Untersuchungsgegenstand der empirischen sprachwissenschaftlichen Interaktionsanalyse skizziert und hinsichtlich ihrer konstitutiven Aspekte, internen Differenzierungen sowie in ihrer kategorialen Differenz zu benachbarten Konzepten spezifiziert. Zwölf empirische Studien auf der Basis von Videoaufzeichnungen zeigen die formal strukturelle Varianz, die interaktive Funktionalität sowie die konstitutive Bedeutung von Koordination für die lokale Herstellung interaktiver Ordnungsstrukturen und für die Konstitution sozialer Bedeutung.

Reinhold Schmitt (Hrsg.) Koordination Analysen zur multimodalen Interaktion Gunter Narr Verlag Tübingen Studien zur Deutschen Sprache F O R S C H U N G E N D E S I N S T I T U T S F Ü R D E U T S C H E S P R A C H E S T U D I E N Z U R D E U T S C H E N S P R A C H E 3 8 Studien zur Deutschen Sprache F O R S C H U N G E N D E S I N S T I T U T S F Ü R D E U T S C H E S P R A C H E Herausgegeben von Arnulf Deppermann, Ulrich Hermann Waßner und Stefan Engelberg Band 38 · 2007 Reinhold Schmitt (Hrsg.) Koordination Analysen zur multimodalen Interaktion Gunter Narr Verlag Tübingen Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2007 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: Hohwieler/ Tröster, Mannheim Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 978-3-8233-6293-7 Inhalt Reinhold Schmitt: Einleitung.......................................................................... 7 Arnulf Deppermann / Reinhold Schmitt: Koordination. Zur Begründung eines neuen Forschungsgegenstandes................................ 15 Lorenza Mondada: Interaktionsraum und Koordinierung ............................ 55 Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann: Monitoring und Koordination als Voraussetzungen der multimodalen Konstitution von Interaktionsräumen ....................................................................................... 95 Cornelia Müller / Ulrike Bohle: Das Fundament fokussierter Interaktion. Zur Vorbereitung und Herstellung von Interaktionsräumen durch körperliche Koordination.................................................................. 129 Ulrich Krafft / Ulrich Dausendschön-Gay: Prozesse interpersoneller Koordination ............................................................................................... 167 Ingwer Paul: Intra- und interpersonelle Koordinierung am Unterrichtsanfang ....................................................................................... 195 Liisa Tiittula: Blickorganisation in der side-by-side-Positionierung am Beispiel eines Geschäftsgesprächs........................................................ 225 Daniela Heidtmann / Marie-Joan Föh: Verbale Abstinenz als Form interaktiver Beteiligung..................................................................... 263 Elisabeth Gülich / Elizabeth Couper-Kuhlen: Zur Entwicklung einer Differenzierung von Angstformen im Interaktionsverlauf: Verfahren der szenischen Darstellung ........................................................ 293 Wolfgang Kesselheim / Heiko Hausendorf: Die Multimodalität der Ausstellungskommunikation ................................................................ 339 Reinhold Schmitt / Reinhard Fiehler / Ulrich Reitemeier: Audiovisuelle Datenkonstitution und Koordinationsprozesse .................... 377 Karola Pitsch: Koordinierung von parallelen Aktivitäten: Zum Anfertigen von Mitschriften im Schulunterricht ................................ 411 Schmitt00-Inhalt_Fertig_29-11-06.doc hohwieler 23.01.2007 10: 27 Reinhold Schmitt Einleitung * Eine theoretische Konzeption von Interaktion als multimodal konstituiertes Ereignis, das hinsichtlich seiner faktischen Komplexität von gleichzeitig auf unterschiedlichen Ausdrucksebenen realisierten und miteinander koordinierten Verhaltensweisen nur ungenügend als verbaler Austausch analysiert und konzeptualisiert werden kann, ist nach wie vor ein zentrales Desiderat im konversations- und gesprächsanalytischen Forschungszusammenhang. Der hier vorgestellte Sammelband ist ein Schritt auf dem Weg zur Etablierung einer solchen multimodalen Konzeption von Interaktion und stellt mit dem thematischen Fokus auf Koordination das erste systematische Kompendium zu einem aus multimodaler Perspektive ebenso zentralen wie aspektreichen, bislang jedoch in Gesprächs- und Konversationsanalyse eher vernachlässigten konstitutiven Aspekt von Interaktion dar. Präsentiert werden Beiträge, die auf dem Arbeitskolloquium „Koordination. Analysen aus multimodaler Perspektive“ vorgestellt worden sind, das am 4. und 5. Oktober 2005 am IDS in Mannheim stattgefunden hat. 1 Das Kolloquium ist hervorgegangen aus einer ganzen Reihe von Kooperationen der beitragenden Forscherinnen und Forscher, die unter anderem auch mehrere „Arbeitstreffen zu Fragen multimodaler Kommunikation“ beinhalten, die seit 2003 halbjährlich im Institut für Deutsche Sprache stattfinden. Den in diesem Rahmen gemeinsam durchgeführten Videoanalysen und den sich daran entzündenden methodischen und theoretischen Diskussionen verdanken Kolloquium wie Sammelband die thematische Konzentration auf Koordination. Bis auf wenige Ausnahmen stellt das Buch Beiträge von Tandems vor, die sich aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit konversations- und gesprächsanalytischem Hintergrund zusammensetzen. Es ist das Ergebnis des Versuchs, an Fragen multimodaler Interaktion interessierte GesprächsforscherInnen auf einer Tagung zusammenzubringen und sich ganz auf die gemeinsame Analyse und Diskussion der zugrunde liegenden Videoausschnitte zu konzentrieren. Bei den gemeinsamen Analysen und in * Für ihre editorielle Unterstützung bei der Herstellung der Druckvorlage danke ich Andrea Scheinert und Fabian Hörack. 1 Die schriftlichen Versionen der Vorträge des Kolloquiums werden ergänzt durch einen Beitrag von Karola Pitsch. Reinhold Schmitt 8 der Abschlussdiskussion konnten erste konstitutive Aspekte und Grundstrukturen eines konversationsanalytischen Gegenstandes „Koordination“ herausgearbeitet und festgehalten werden, die in der theoretischen Rahmung von Arnulf Deppermann und Reinhold Schmitt systematisch ausgearbeitet worden sind. Ich werde nachfolgend die einzelnen Beiträge kurz im Hinblick auf die zugrunde liegenden Daten, das zentrale Erkenntnisinteresse sowie die wichtigsten Ergebnisse präsentieren. Die dabei eingehaltene Reihenfolge gibt die Chronologie der auf dem Kolloquium gehaltenen Vorträge wieder. Die Kurzdarstellung verfolgt das Ziel, LeserInnen für die Beiträge zu interessieren. Sie erfolgt aus der Perspektive des Herausgebers und ist mit einem werbenden Unterton geschrieben. Arnulf Deppermann/ Reinhold Schmitt: Koordination. Zur Begründung eines neuen Forschungsgegenstandes Der Beitrag der Autoren skizziert einerseits einen gemeinsamen theoretischen Rahmen für die unterschiedlichen Beiträge des Sammelbands, der die Breite und Unterschiedlichkeit der einzelnen Materialien, Fragestellungen und Erkenntnisinteressen integriert. Andererseits werden grundlegende Strukturen des - aus konversationsanalytischer Sicht - neuen Forschungsgegenstandes Koordination skizziert und in einem ersten Schritt relevante Aspekte, begriffliche Differenzierungen und theoretische und methodische Fragen seiner Gegenstandsdimensionierung verdeutlicht. Einer der zentralen begrifflich-kategorialen Vorschläge stellt die Differenzierung intra- und interpersoneller Koordinierung dar, die der empirischen Evidenz Rechnung trägt, dass es selbstbezogene Formen koordinativer Aktivitäten gibt, die als Bestandteil der Selbstorganisation von Interaktionsbeteiligten vollzogen werden, und interaktionsbezogene koordinative Aktivitäten, mit der Beteiligte ihr Verhalten in einer für die Interaktion relevanten Weise an dem Verhalten anderer ausrichten. Der Beitrag schlägt erste Klärungen und Differenzierungen vor, die sich aus dem Verhältnis von Koordination und Kooperation ergeben und beschäftigt sich mit der Frage nach dem Display- und Handlungscharakter koordinativer Aktivitäten. Lorenza Mondada: Interaktionsraum und Koordinierung Der Text von Lorenza Mondada ist einer von insgesamt drei Beiträgen, die sich bei unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen mit Fragen der Konstitu- Einleitung Schmitt01_Einleitung_Fertig_19-10-06.doc hohwieler 01/ 02/ 2007 10: 54 9 tion von Interaktionsräumen beschäftigen. Der Beitrag untersucht auf der Grundlage unterschiedlicher Videoaufzeichnungen (Stadtführung, Wegauskünfte, offene Operation, Arbeit von Architekten mit Plänen, gemeinsame Autofahrt) die Verfahren, Strukturen und Systematik des Konstitutionsprozesses der räumlichen Konfigurationen, die die Interaktionsbeteiligten für ihren sozialen Austausch herstellen, verändern und wieder auflösen. Ein zentrales Ergebnis ihrer Analysen der zugrunde gelegten Kollektion ist die Herausarbeitung eines sequenziell organisierten und aus vier Schritten bestehenden systematischen Verfahrens der Herstellung eines für die Interaktion angemessenen Interaktionsraumes. Als wichtiger Aspekt der konzeptuellen Klärung geht Mondada einleitend der Frage nach, welche Vorstellungen von Raum für die bisherige Analyse von Interaktion in der Linguistik und der Konversationsanalyse wesentlich sind und stellt dabei verwandte Konzepte wie „Kontext“, „Situation“ oder „Setting“ als wichtige Bezugspunkte heraus. Reinhold Schmitt/ Arnulf Deppermann: Monitoring und Koordination als Voraussetzungen der multimodalen Konstitution von Interaktionsräumen Auch Reinhold Schmitt und Arnulf Deppermann konzentrieren sich in ihrem Beitrag auf räumliche Aspekte der Koordination. Auf der Grundlage eines Videoausschnitts, der die Arbeit eines Filmteams zeigt, stellen sie die Frage nach der Relevanz und dem Zusammenhang von Monitoring und - primär interpersoneller - Koordination. In empirischer Hinsicht verdeutlichen ihre Analysen die zentrale Bedeutung kontinuierlicher Monitoring- Aktivitäten für die sprach- und reibungslose Organisation des vielschichtigen und komplexen Arbeitsablaufes am Set, an dem gleichzeitig immer mehrere Gruppen und Funktionsträger in unterschiedlich enger Abstimmung beteiligt sind. Die Autoren formulieren Konzepte wie „Fokusperson“ (d.h. Beteiligte, die Bezugspunkt permanenter Monitoring-Aktivitäten sind), „signifikante Objekte“ (wie Filmkameras oder Videomonitor, die koordinationsrelevante Implikationen aufweisen), „koordinative Relevanz“ (die sich aus dem Verhalten von Fokuspersonen für andere Setmitarbeiter situativ ergibt). Weiterhin verweisen sie auf den Zusammenhang von Monitoring-Aktivitäten (die auf Fokuspersonen bezogen sind) und „availability displays“ (die von den Fokuspersonen selbst produziert werden). Reinhold Schmitt 10 Cornelia Müller/ Ulrike Bohle: Das Fundament fokussierter Interaktion. Zur Vorbereitung und Herstellung von Interaktionsräumen durch körperliche Koordination Der Beitrag von Cornelia Müller und Ulrike Bohle rundet die Auseinandersetzung mit Fragen zur Konstitution von Interaktionsräumen ab. Auf der Grundlage von Videoaufzeichnungen von Tango-Instruktionen rekonstruieren die Autorinnen die unterschiedlichen, aufeinander bezogenen Phasen, die der fokussierten, problembezogenen und zielorientierten Instruktion des Tanzlehrers vorausgehen. Ihre Analysen zeigen eine rekurrente Abfolge fein koordinierter Anbahnungsleistungen, die sowohl vom Tanzlehrer als auch von dem tanzenden Paar erbracht werden. Die Systematik der sequenziellen Struktur von Beobachtung, Losgehen, Zugehen und Einrasten ist keineswegs fallspezifischer Natur, sondern besitzt durchaus generelle Gültigkeit für die interaktive Ordnung von Anbahnungsphasen insgesamt. Neben dem detaillierten Einblick in die Koordination der Anbahnung verdeutlichen die Autorinnen in einer Aufarbeitung relevanter Vorarbeiten Bezugspunkte, die bei der bisherigen Rezeption im Kontext der Interaktionsanalyse „vergessen“ bzw. nicht berücksichtigt wurden, die jedoch - bezogen auf die Relevanz räumlicher Aspekte - für die multimodale Sicht auf Interaktion bedeutsam sind. Ulrich Krafft/ Ulrich Dausendschön-Gay: Prozesse interpersoneller Koordination Ulrich Krafft und Ulrich Dausendschön-Gay arbeiten in ihrem Beitrag auf der Grundlage unterschiedlicher Videoausschnitte (gemeinsame Überarbeitung eines Textes, Zimmer einräumen) konstitutive Strukturmerkmale und Aktivitäten interpersoneller Koordination heraus. Die Autoren zeigen, dass interpersonelle Koordinierung primär durch solche Aktivitäten hergestellt wird, die der gemeinsamen Aufmerksamkeitsorientierung dienen, was unter anderem durch die interaktive Herstellung einer gemeinsamen Blickausrichtung gewährleistet wird. Die Analysen zeigen, dass es Stellen im Interaktionsverlauf gibt, an denen verstärkt Koordinierungsaktivitäten zu beobachten sind. Ein solch prototypischer Fall sind beispielsweise Transitionen, an denen die Teilnehmer den Übergang von einer laufenden Aktion zur nachfolgenden organisieren müssen. Die Autoren verdeutlichen auch, dass Koordinierung unter bestimmten Bedingungen problematisch sein kann und wie damit umgegangen wird: So werden beim Einräumen des Zimmers divergie- Einleitung Schmitt01_Einleitung_Fertig_19-10-06.doc hohwieler 24/ 01/ 2007 10: 26 11 rende Orientierungen deutlich („Schrank aufbauen“ versus „Geschirr spülen“ als nächste Aktion). Diese widerstreitenden Aktivitätsentwürfe spiegeln sich in einer „geteilten“ Koordinierung, d.h. einem Auseinanderfallen von intra- und interpersoneller Koordination wider. Ingwer Paul: Intra- und interpersonelle Koordinierung am Unterrichtsanfang Aus einem übergeordneten didaktisch-anwendungsbezogenen Interesse beschäftigt sich der Beitrag von Ingwer Paul mit koordinativen Aktivitäten im schulischen Kontext. Auf der Grundlage von Videoaufzeichnungen von authentischen Situationen und ausbildungsbezogenen Rollenspielen werden strukturell vorhandene koordinative Anforderungen am Unterrichtsbeginn untersucht. Die Analysen zeigen zum einen das spezifische koordinative Anforderungsprofil, das primär von den Lehrenden in der Eröffnungsphase als Voraussetzung einer auf Zweck orientierten Lehr-Lern-Interaktion zu bearbeiten ist. Zum anderen wird deutlich, dass es gerade die detaillierte Analyse der - bei der Bearbeitung des gleichen koordinativen Anforderungsprofils produzierten - Aktivitäten und die dabei erkennbaren Unterschiede beider Datenquellen (authentische Beispiele versus Rollenspiele) sind, die Ausgangspunkte für didaktische Überlegungen zur Ausbildung von LehrerstudentInnen eröffnen. So zeigt sich unter anderem, dass die Konzentration der Rollenspieler auf ihre inhaltliche Aufgabe kaum noch Ressourcen für die intrapersonelle, besonders jedoch für die auf Schüler bezogene interpersonelle Koordination lässt. Liisa Tiittula: Blickorganisation in der side-by-side-Positionierung am Beispiel eines Geschäftsgesprächs Liisa Tiittula geht auf der Grundlage eines Ausschnittes aus einem Messegespräch der Frage nach, wie die Beteiligten einer Dreierkonstellation ihr Blickverhalten organisieren. Diese Konstellation ist deswegen für Blickorganisation besonders interessant, da es sich nicht um eine „face-to-face“- Konstellation handelt, sondern um eine Formation, bei der die Beteiligten nebeneinander stehen. Einerseits zeigen die Analysen, dass Momente, in denen sich die Beteiligten wechselseitig und für den anderen erkennbar anblicken, ausgesprochen selten sind. Zum anderen wird deutlich, dass es notwendig ist, zu differenzieren, was unter Blickorganisation genau zu verstehen ist. Neben seltenen und sehr kurzen Phasen des tatsächlichen Reinhold Schmitt 12 Blickkontakts dominieren eher einseitige Formen des zeitversetzten Hinschauens und des sich aus den Augenwinkeln Wahrnehmens. Es wird deutlich, dass die Systematik der Blickorganisation in Abhängigkeit von der jeweils dominanten Kernaktivität erkennbar variiert: In geschäftsbezogenen Phasen sieht das anders aus als in Phasen, in denen der Austausch durch private oder persönliche Themen und Relevanzen bestimmt wird. Grundsätzlich scheint die Organisation des Blickkontaktes sensitiv dafür zu sein, wie nah die Beteiligten körperlich zusammenstehen. Daniela Heidtmann/ Marie-Joan Föh: Verbale Abstinenz als Form interaktiver Beteiligung Daniela Heidtmann und Marie-Joan Föh analysieren einen Aspekt interpersoneller Koordination, der nur aus einer konsequent multimodalen Perspektive als konstitutiver Aspekt der Interaktion ersichtlich wird. Auf der Grundlage eines Videoausschnittes aus einer Arbeitssitzung von Filmstudenten, die mit ihren Dozenten gemeinsam Filmideen entwickeln, stellen sie die Frage nach den Formen und Funktionen der interaktiven Beteiligung verbal abstinenter Gruppenmitglieder. Ihre Analysen zeigen, dass Teammitglieder, die phasenweise verbal abstinent sind, nicht einfach nur nichts sagen. Vielmehr verdeutlichen die Autorinnen, dass verbal abstinente Teilnehmer kontinuierlich, sehr systematisch und für die anderen deutlich wahrnehmbar anzeigen, dass sie der Interaktionsentwicklung folgen, dass sie diese Entwicklung kommentieren und ihre eigene Position zu wichtigen inhaltlichen Aspekten zum Ausdruck bringen. Der Beitrag von Daniela Heidtmann und Marie-Joan Föh zeigt die Notwendigkeit, bestehende Konzepte interaktiver Beteiligung aus multimodaler Perspektive zu erweitern, um der faktischen Komplexität von Interaktion gerecht zu werden. Elisabeth Gülich/ Elizabeth Couper-Kuhlen: Zur Entwicklung einer Differenzierung von Angstformen im Interaktionsverlauf: Verfahren der szenischen Darstellung Elisabeth Gülich und Elizabeth Couper-Kuhlen konzentrieren sich in ihrem Beitrag auf einen primär intrapersonellen Aspekt von Koordination. Sie untersuchen auf der Grundlage eines Videoausschnitts aus einem therapeutischen Arzt-Patient-Gespräch die von dem Patienten eingesetzten multimodalen Mittel, um im Verlaufe des Gesprächs zwei verschiedene Formen von Angst darzustellen und zu differenzieren. In dem analysierten Ausschnitt Einleitung Schmitt01_Einleitung_Fertig_19-10-06.doc hohwieler 01/ 02/ 2007 10: 59 13 geht es um die Unterscheidung einer „alltäglichen“ und einer „epileptischen“ Angst des Patienten. In detaillierten prosodischen und formulierungsdynamischen Analysen verdeutlichen die Autorinnen schrittweise, dass der Patient in systematischer Weise unterschiedliche lexikalische, stimmliche, prosodische und gestische Mittel koordiniert und damit im Laufe des Gesprächs die jeweilige Angstform typologisch eindeutig differenziert, ohne diese beiden Formen ein einziges Mal explizit kategorial zu benennen. Der Beitrag ist nicht nur ein überzeugendes Argument für die Relevanz der multimodalen Perspektive, sondern weist unmittelbar auf die Bedeutung des detaillierten, auf Koordination bezogenen Analyseverfahrens - und der damit produzierten Ergebnisse - für den praktischen medizinischen Bereich hin. Wolfgang Kesselheim/ Heiko Hausendorf: Multimodalität der Ausstellungskommunikation Der Ausstellungsraum eines Museums als physikalische Gegebenheit und materielle Bedingung für Interaktion steht im Mittelpunkt des Beitrags von Wolfgang Kesselheim und Heiko Hausendorf. Die Autoren begreifen Raum als kommunikative Ressource, auf die die Teilnehmer in ihrer Interaktion zurückgreifen können und die sie für ihre Interaktion nutzbar machen. Anhand von Fotos rekonstruieren die Autoren, wie die Interaktion in dem Ausstellungssaal durch die materiellen Gegebenheiten des Raums vorstrukturiert wird. Sie analysieren Raum als Lösung des grundsätzlichen kommunikativen Problems, wie Wissen über sinnliche Erfahrungen vermittelt werden kann und identifizieren dabei Unterprobleme wie: die „Markierung der äußeren Grenzen der Ausstellung“, die „Organisation der Bewegung und der Wahrnehmung“ und die „Vermittlung von propositionalen Gehalten“. Weiterhin rekonstruieren die Autoren im Raum enthaltene Koordinations-Angebote an den „idealen Besucher“ (das Pendant zu Ecos „idealem Leser“), bestimmte Verknüpfungen zwischen verschiedenen Modalitäten vorzunehmen. Dabei wird deutlich, dass die Verknüpfungen sehr unterschiedlicher Natur sein können: Sie reichen von einer gegenseitigen Ausdeutung bis hin zu Widersprüchen zwischen den beteiligten Modalitäten. Reinhold Schmitt/ Reinhard Fiehler/ Ulrich Reitemeier: Audiovisuelle Datenkonstitution und Koordinationsprozesse Die Autoren dieses Beitrags beschäftigen sich mit Koordination, ihrem Zustandekommen und den Formen, in denen sie bearbeitet werden, aus einer primär methodologischen Perspektive. Die Autoren nutzen die Tatsache, dass sich im Reinhold Schmitt 14 Rahmen einer dokumentierten Unterrichtsstunde ein Schüler kontrastiv zu den anderen, manifest und wiederholt auf die Kamera/ den Kameramann orientiert, für die grundsätzliche Frage nach dem Beitrag des Dokumentationsmediums Video für die Konstitution der Daten. Die Ausführungen der Autoren machen deutlich, dass die Videokamera ein reflexives Dokumentationsmedium ist, das nicht nur sich selbst auf letztlich nicht hintergehbare Weise in die Daten „hineinschreibt“, sondern auch situative Relevanzen etabliert, die für Beteiligte problematisch sein können. Dieses Problem wird dann unter anderem mittels koordinativer Aktivitäten bearbeitet (hier: Koordination der Orientierung auf den Unterricht und Orientierung auf die Videokamera/ den Kameramann). Ausgehend von der Fallspezifik plädieren die Autoren für eine systematische Reflexion der methodologischen Implikationen und Konsequenzen, welche die analytische Beschäftigung mit audio-visuellen Daten unweigerlich mit sich bringt. Karola Pitsch: Koordinierung von parallelen Aktivitäten: Zum Anfertigen von Mitschriften im Schulunterricht Karola Pitsch analysiert die Koordination paralleler Aktivitäten, d.h. unterschiedlicher, gleichzeitig existierender und durch jeweils eigene Relevanzen strukturierter Aktivitätszusammenhänge. Auf der Grundlage von Unterrichtsaufnahmen wählt sie hierfür prototypisch das Anfertigen von Mitschriften während des Unterrichtsverlaufs aus. Die Tatsache, dass Teile der Mitschriften sachlich falsche Informationen enthalten, macht deutlich, dass diese Koordinationsanforderung keinesfalls evident, sondern eine ernst zu nehmende und folgenreiche ist. Die Mitschriften werden anhand unterschiedlicher multimodaler Hinweise, die sich als Bearbeitung der Koordinationsanforderung verstehen lassen, organisiert. Solche Hinweise erfolgen entweder explizit durch den Lehrer: So kann ein spezifisches Beteiligungsformat „Kopieren“ relevant gesetzt werden, auf das nachfolgende Orientierungshinweise abgestimmt sind. Orientierungshinweise können aber auch von den Schülern erschlossen werden, indem sie multimodal gestaltete Gesprächsbeiträge des Lehrers hinsichtlich der Koordination ihrer Mitschriften mit dem Unterrichtsgeschehen interpretieren: Ein längeres Tippen auf die relevante materielle Struktur an der Tafel ermöglicht den Schülern, entsprechend ihres eigenen Kopier-Rhythmus zur Tafel zu blicken und dabei jeweils die relevanten - multimodal gestalteten - Informationen aufzunehmen. Arnulf Deppermann / Reinhold Schmitt Koordination. Zur Begründung eines neuen Forschungsgegenstandes 1 1. Einleitung Ziel dieser Einleitung ist ein Zweifaches: Zum einen soll für die in diesem Sammelband präsentierten, materialfundierten Untersuchungen von Koordination ein gemeinsamer Rahmen skizziert werden, der in der Lage ist, die Breite und Unterschiedlichkeit der einzelnen Materialien, Fragestellungen und Erkenntnisinteressen zu integrieren. Zum anderen sollen die Ausführungen Strukturen eines neuen Forschungsgegenstandes „Koordination“ skizzieren und in einem ersten Schritt relevante Aspekte, begriffliche Differenzierungen und theoretische und methodische Fragen einer Gegenstandsdimensionierung verdeutlichen. Damit verbindet sich das Ziel, Impulse für weitere koordinationsanalytische Untersuchungen zu geben. Das Interesse bzw. die Notwendigkeit, sich mit Fragen der Koordination im Zusammenhang mit der Analyse von Interaktion zu beschäftigen, hängt wesentlich mit Veränderungen im Bereich der empirischen Repräsentation derjenigen Situationen zusammen, die Gegenstand der Analyse sind. Die immer stärkere Ersetzung herkömmlicher Audioaufnahmen durch audio-visuelle Daten führt zu einer Neukonzeption des Gegenstandes. Damit werden neue Untersuchungsaspekte methodisch und theoretisch relevant, die im Kontext primär verbal definierter Erkenntnisinteressen eher randständig oder gänzlich bedeutungslos waren. „Koordination“ ist ein solcher Aspekt, der durch die Neukonstitution des Gegenstandes unmittelbare Relevanz bekommen hat. Für das Verständnis der folgenden grundsätzlichen Überlegungen zu Aspekten und Problemen von Koordination sind zwei Hinweise wichtig. Diese beziehen sich zum einen auf unsere gegenstandskonstitutive Perspektive, aus der heraus wir von „Koordination“ als einem neuen Forschungsgegenstand sprechen (Abschn. 1.1). Zum anderen betreffen sie unser multimodal basiertes Modell des interaktiven Handelns (Abschn. 1.2). 1 Die folgenden Überlegungen zu Koordination gehen auf die Abschlussdiskussion des Kolloquiums „Koordination“ vom 04./ 05. Oktober 2005 sowie auf Diskussionen des 3. „Arbeitstreffens zu Fragen multimodaler Kommunikation“ zurück, das am 22./ 23. Januar 2005 im Institut für Deutsche Sprache stattfand. Arnulf Deppermann / Reinhold Schmitt 16 1.1 Multimodalität als gegenstandskonstituierende Perspektive Unsere Überlegungen zu Koordination erfolgen aus einer interaktionistischen Position heraus. Sie stehen im Kontext des Diskussionszusammenhangs, der sich in der deutschsprachigen Linguistik unter dem Begriff „Multimodalität“ bzw. „multimodale Interaktion“ zu etablieren beginnt. 2 Für die Vorstellung von Interaktion als multimodaler Hervorbringung ist eine veränderte Sicht auf Kommunikation charakteristisch, die unmittelbar mit neuen Dokumentations- und Analysemedien zusammenhängt. Die Tatsache, dass Videoaufzeichnungen immer häufiger Tonaufnahmen als empirische Basis der Untersuchung ersetzen, führt zwangsläufig zur Notwendigkeit, auf die durch die audiovisuellen Medien sichtbar gemachte Komplexität sozialer Interaktion mit der Entwicklung neuer Analysemethoden zu reagieren. Für unser eigenes Verständnis sind zwei historische Wurzeln der multimodalen Perspektive auf Interaktion von zentraler Bedeutung. Es handelt sich zum einen um die von Sacks und Schegloff entwickelte Konversationsanalyse und zum anderen um Goffmans Konzeption von „interaction order“. Der Bezug auf Goffman (1983) und seine Vorstellung von „interaction order“ ist für uns der zentrale Bezugspunkt, um Interaktion als multimodal konstituierten Untersuchungsgegenstand in allgemeiner Weise zu charakterisieren. Sein Konzept der „face-to-face domain“ macht die Wichtigkeit des Sichtbaren deutlich. Sie darf hier nicht im Sinne einer faktischen räumlichen Konstellation von Interaktionsbeteiligten missverstanden werden. Die „face-to-face“-Konzeption hat eine „emische“, d.h. nicht physikalische Grundlage. Sie ist eine Metapher, die darauf hindeutet, dass alles, was in einer sozialen Situation von den Interaktionsbeteiligten wahrnehmbar ist, grundsätzlich unter einer Perspektive interaktiver Relevanz zu betrachten ist (siehe Abschn. 7.). 3 Goffmans 2 Das Institut für Deutsche Sprache hat bei der Organisation und thematischen Schwerpunktsetzung dieser neuen Richtung eine wichtige Rolle gespielt; vgl. beispielsweise die seit 2003 halbjährlich stattfindenden „Arbeitstreffen zu Fragen multimodaler Kommunikation“ (Schmitt 2004a). 3 Bei der konstitutionsanalytischen Arbeit mit Videoaufzeichnungen stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Perspektiven/ Relevanzen der Beteiligten und den Perspektiven/ Relevanzen der Analysierenden neu und in radikalisierter Weise. Die Notwendigkeit, sich mit diesem Verhältnis sowohl empirisch als auch theoretisch zu beschäftigen, zeigt sich schon allein in der Tatsache, dass - abhängig von der Position der Kamera - der Analysierende oftmals nicht den gleichen Blick auf das Interaktionsgeschehen hat wie die Beteiligten selbst. Dies ist ein Problem mit grundsätzlicher Relevanz für die Analyse Koordination. Zur Begründung eines neuen Forschungsgegenstandes 17 Verweis auf die Mikroanalyse als der bevorzugten Analysemethode dieses Gegenstandes bietet eine tragfähige Basis für die Integration der sequenziellen Analyse der Konversationsanalyse und des aus multimodaler Perspektive ebenfalls konstitutiven Strukturbildungsmechanismus der „Simultaneität“. Goffman hat mit seinen Untersuchungen nicht nur den Nachweis der Komplexität der interaktiven Ordnung geführt. Er hat auch die analytische Relevanz der sie konstituierenden zahlreichen multimodalen Aspekte überzeugend herausgearbeitet. Er selbst hat die generativen Mechanismen von Interaktion aber nie systematisch in ihrem tatsächlichen interaktiven Vollzug analysiert. Dies hat für den Bereich der Verbalität die Konversationsanalyse geleistet. Die hierfür notwendige strenge empirische Methode der Konversationsanalyse kann also als Orientierung für die mikroanalytische Auswertung des in Videodokumenten eingefangenen Prozesses der multimodalen Herstellung interaktiver Ordnung dienen. Wenn man die methodische Strenge der für die Analyse der verbalen Interaktionsanteile entwickelten Verfahren auch auf die anderen Modalitätsebenen überträgt, können die generativen Mechanismen in Aktion untersucht werden. Dies führt auf der einen Seite zu einer konsequenten Fokussierung auf den faktischen Vollzug der Herstellung interaktiver Ordnung im Rahmen von Goffmans „face-to-face“-Domäne im Sinne der Konversationsanalyse. Auf der anderen Seite wird damit die Priorisierung der verbalen Anteile der Konversationsanalyse zugunsten einer multimodalen Erweiterung von Interaktion im Sinne der „face-to-face“-Vorstellung Goffmans überwunden. Aus einer solchen „Zusammenführung“ resultiert also folgendes Erkenntnisinteresse: Es geht um die empirische Analyse des Vollzuges der „interaktiven Ordnung“, wie sie durch das Zusammenspiel aller Ausdrucksmittel, die den Interaktionsbeteiligten zur Verfügung stehen, konstituiert wird. „Interaktive Ordnung“ beschreibt dabei den Gesamtzusammenhang aller simultan realisierten, sequenziell strukturierten und aufeinander bezogenen interaktiven Beteiligungsweisen aller Teilnehmer. Wenn wir von „Koordination“ als neuem Forschungsgegenstand sprechen, ist das gewissermaßen eine Verkürzung. Neu ist „Koordination“ als Forschungsgegenstand einer konversationsanalytisch fundierten Vollzugsanalyse audio-visueller Daten insgesamt und nicht speziell für die Analyse von Koordination und kann an dieser Stelle von uns nicht behandelt werden. Arnulf Deppermann / Reinhold Schmitt 18 von Interaktion im Sinne von Goffmans Interaktionsordnung. Es wäre eine Verkennung der Forschungsgeschichte, würden wir behaupten, die Ersten zu sein, die etwas zu Koordination aussagen, oder den Anspruch erheben, erstmals auf die Wichtigkeit dieses Aspektes für das Zustandekommen von Interaktion hinzuweisen. Arbeiten aus dem Bereich der „context analysis“ - und hier vor allem Scheflen (1972) und Kendon (1990) - haben dies bereits vor längerer Zeit getan. 4 So betont Kendon (1990, S. 16) „the importance of an integrated approach to the study of interaction“ und „refuses to assume that any particular modality of communication is more salient than another“. 5 Die „context analysis“ rekurriert an vielen Stellen auf Konzepte Goffmans. Sie hat schon früh begonnen, seine Vorstellungen auf der Basis von multimodalen Videoanalysen empirisch zu substanziieren und sich damit naturalistisch den „ultimate behavioral materials“, die für Interaktionen konstitutiv sind (Kendon 1990, S. IX), zuzuwenden. Die „context analysis“ geht dabei jedoch in zwei grundlegenden Hinsichten anders vor als es die hier versammelten Beiträge tun: Sie bedient sich nicht der sequenzanalytischen Methode der Konversationsanalyse und sie interessiert sich zumeist nicht konstitutionsanalytisch für die Koordination unterschiedlicher Aktivitäten bei der Herstellung eines Handlungszusammenhangs. Im Vordergrund stehen in den Arbeiten der „context analysis“ vielmehr die spezifischen Funktionen einer bestimmten Modalität bzw. eines bestimmten multimodalen Verfahrens. Uns geht es jedoch nicht darum, den Nachweis zu führen, dass und in welchem Sinne einzelne koordinative Aspekte (wie etwa die Orientierung der Interaktionsbeteiligten zueinander und deren körperliche Distanz) als Ausdruck sozialer Strukturen im Sinne von Zugehörigkeit und Ausschluss fungieren. Diese grundlegende Funktionalität voraussetzend erfolgt unser Blick auf Koordination vielmehr aus einer konversationsanalytisch geprägten, vollzugsrekonstruktiven Perspektive. Diese besteht primär in der Frage nach dem lokal gebundenen Beitrag koordinativer Aktivitäten für die Konstitution der vorliegenden - zunächst fallspezifischen - Form interaktiver Ordnung. 4 Zur „context analysis“ siehe weiterhin Scheflen (1964) und Heilman (1979) sowie die Hinweise in Müller/ Bohle (i.d. Bd.). 5 Das Konzept „multimodale Kommunikation“ ist bereits in Scheflen (1972, S. 230) terminologisch vorgeprägt, der von Körperpositur als einer „modality of communication“ spricht. Von Bedeutung für unsere multimodale Perspektive ist weiterhin die Vorstellung der „context analysis“, dass das verbale Primat bei der Untersuchung von Kommunikation zu Gunsten eines integrierten Ansatzes aufgegeben werden muss, der alle Modalitätsebenen bei der Analyse und theoretischen Konzeption von Kommunikation berücksichtigt. Koordination. Zur Begründung eines neuen Forschungsgegenstandes 19 Wir argumentieren dabei dafür, dass der bislang nicht systematisch berücksichtigte Bereich koordinativer Aktivitäten gemeinsam mit den inhaltlichen Kooperationsbeiträgen der Interaktionsbeteiligten bei der Rekonstruktion der generativen Vollzugsmechanismen interaktiver Ordnung berücksichtigt werden muss. In diesem Sinne sehen wir die systematische Untersuchung von Koordination als eine notwendige Erweiterung der durch die konversationsanalytische Methodologie etablierten realzeitlichen Rekonstruktion des Vollzuges multimodal konstituierter interaktiver Ordnung. 6 Ein interessanter Hinweis aus der Frühphase der Konversationsanalyse, der den Status von Koordination als für die Konstitution von Interaktion relevantes Problem formuliert, findet sich in den „Lectures“ von Sacks (1992). 7 In Lecture 3, Herbst 1968 (Sacks 1992, S. 32f.) betont er im Zusammenhang mit der Kookkurrenz der zwei Muster „one party talks at a time“ und „speaker change occurs“: In particular, from the co-occurence of the two features, we can produce an initial problem which is clearly an interesting problem; clearly, if you like, a sociological problem. That is, it's a coordinational problem […] what we want to do is to find out what the achievement of a solution to that problem involves; what sorts of coordinative work are involved. [Hervorhebungen von uns, A.D./ R.S.]. Sacks fokussiert in diesem Zusammenhang gerade auch die aktuell nicht Sprechenden, indem er die - aus multimodaler Perspektive ausgesprochen interessante - Frage stellt: „How is it that the various current non-speakers coordinate their action at the transition point so that at the transition point some one of them talks, and only one of them talks“ (Sacks 1992, S. 33f., Hervorhebung von uns, A.D./ R.S). 8 6 Heath (1982, S. 85) hat explizit auf die Notwendigkeit hingewiesen, dass „social interaction requires participants to […] systematically coordinate their actions and activities with those of their fellow interactants“. Er hat jedoch die Tatsache der Koordinationsnotwendigkeit vorausgesetzt und gerade nicht explizit zum Gegenstand gemacht. Gleiches gilt auch für Schegloff (1987a), der an zwei Stellen die Notwendigkeit von „co-ordination“ für die „turn-taking“-Organisation betont, diese jedoch ebenfalls nicht zum Gegenstand der Reflexion macht. 7 Den Hinweis auf diese Stelle verdanken wir Lorenza Mondada. 8 O'Donnell-Trujillo/ Adams (1983, S. 176) haben diesen Aspekt reformuliert: „‘Coordination’ is a key element in any conversation. Conversational coordination is essentially an issue of how individual participants come to mutually conduct their interaction. This mutual conduct requires the interstructuring of talk such that the participants can take turns and understand each other - such that they can go on talking.“ Arnulf Deppermann / Reinhold Schmitt 20 Dieser von Sacks aufgeworfenen Frage empirisch nachzugehen bedeutet, Koordination als beobachtbares Verhalten der Interaktionsbeteiligten zum eigenwertigen Untersuchungsgegenstand zu machen. Dies kann jedoch nur auf der Grundlage von Videoaufzeichnungen geschehen, welche die multimodale Qualität solcher koordinativen Aktivitäten sichtbar machen. 9 Dann wird auch deutlich, dass es nicht nur aktuell Nicht-Sprechende sind, die an „transition places“ ihr Verhalten koordinieren, sondern dass Koordination eine kontinuierliche Anforderung für alle an der Interaktion Beteiligten ist. Als solche ist sie nicht nur - wie von Sacks formuliert - auf die Verteilung von Redegelegenheiten bezogen, sondern gilt ganz grundsätzlich für alle Aspekte der Konstitution interaktiver Ordnung. Dies führt jedoch konsequenterweise zu einer veränderten Sicht auf die für die Konstitution von Interaktion zentrale Handlungseinheit. 1.2 Die zentrale Handlungseinheit: Das Interaktionsensemble Bei der Untersuchung multimodaler Interaktion müssen die bislang für die Analyse verbaler Interaktion konstitutiven Basiskategorien „Sprecher“ und „Hörer“ aufgegeben werden. Zentraler Bezugspunkt bei allen unseren Überlegungen ist immer das gesamte Interaktionsensemble. 10 Dies gilt unabhängig davon, in welcher Beteiligungsweise und in welchen Ausdrucksmodi (siehe Abschn. 2.3) die einzelnen Interaktionsbeteiligten zu einem gegebenen Zeitpunkt gerade agieren: ob sie verbal aktiv sind, ob sie primär adressiert sind und das Geschehen daher mit besonderer Konzentration und Aufmerksamkeit verfolgen, ob sie als Nicht-Adressierte die Entwicklung eher beobachtend verfolgen oder ob sie anscheinend unbeteiligt anwesend sind. 9 Um die Spezifik des Erkenntnisinteresses an Koordination aus einer multimodalen Perspektive im Vergleich zu Sacks und Kendon zu verdeutlichen, kann man sagen: Sacks hat deutlich gemacht, dass koordiniert wird; Kendon hat exemplarisch herausgearbeitet, was koordiniert wird, und die Beiträge in diesem Band versuchen zu rekonstruieren, wie als Bestandteil der Interaktionskonstitution koordiniert wird. 10 Wir übernehmen diesen Begriff von Goffman (1959), da er betont, dass das Interaktionsgeschehen auf keinen Fall auf die Aktivitäten eines fokalen Akteurs zu reduzieren ist, sondern stets durch die aufeinander abgestimmten Aktivitäten aller Beteiligten in allen Ausdrucksmodalitäten konstituiert wird. Im Unterschied zu Goffman (1959) geht es uns jedoch nicht um die normativen und „face“-bezogenen Aspekte des Ensembles, sondern um die multimodale Koordination seiner Mitglieder als Grundlage der Interaktionskonstitution. Koordination. Zur Begründung eines neuen Forschungsgegenstandes 21 Wir verstehen also Interaktion als multimodale Hervorbringung aller Beteiligten und gehen davon aus, dass alle den Interaktionsbeteiligten zur Gestaltung der Interaktion zur Verfügung stehenden Modalitäten theoretisch zunächst einmal gleichwertig sind. Dies macht es notwendig, im Rahmen unserer theoretischen Überlegungen die an einen einzelnen Ausdrucksmodus gebundene Kategorialität und die damit implizit verbundene Relevanz primär monomodal konstituierter Kategorien (wie „SprecherIn“ und „HörerIn“) aufzugeben. An ihre Stelle tritt die Begrifflichkeit „Beteiligte“. Sie zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie nicht von vorneherein eine spezifische Ausdrucksmodalität als die für die Interaktion maßgebliche privilegiert, sondern keine Voraussetzungen hinsichtlich der Relevanz oder Präzedenz unterschiedlicher Modalitäten macht. Dies ist eine empirische, fallweise bzw. interaktionstypologisch zu entscheidende Frage. Sie sollte nicht begrifflich (und damit dann meist auch forschungsmethodologisch und -praktisch) präjudiziert werden. Eine multimodale Vorstellung von Interaktion macht es nötig, bei der konkreten Vollzugsanalyse (zumindest idealiter) immer gleichzeitig alle Beteiligten im Auge zu behalten und nach deren spezifischen Beiträgen für das Zustandekommen der Interaktionsordnung zu fragen. Hierfür sind jedoch neue methodische Zugänge für die Analyse nötig. 11 Sie muss sich vor allem mit den Möglichkeiten der methodisch kontrollierten Rekonstruktion des komplexen Geflechtes von gleichzeitigen und von mehreren Beteiligten realisierten interaktionsrelevanten Aktivitäten beschäftigen. Die theoretisch-kategoriale Egalität, die erreicht wird, indem man modalitätsgebundene Kategorien für die Basiseinheiten der Interaktion aufgibt, ist hierfür zwar nur ein erster, aber wichtiger Schritt. 2. Konstitutive Aspekte von Koordination Koordination drängt sich als Untersuchungsaspekt auf, wenn der Gegenstand der Analyse nicht mehr wie bisher primär (oder ausschließlich) verbal als „Gespräch“, „Konversation“ oder „talk-in-interaction“ 12 konzep- 11 Hier werden vor allem Verfahren notwendig, die sich von der Fixierung auf Verbalität als primärem Bezugspunkt lösen. Hierzu zählt beispielsweise die rein visuelle Analyse, die vorhandene Audioinformationen motiviert ausblendet, sowie Standbildanalysen, die durch einen motivierten Schnitt die primär durch verbale Beteiligungen nahe gelegten Beobachtungsrelevanzen systematisch aufheben und dadurch Beteiligungsweisen als analytisch relevant auszuweisen helfen, die mittels anderer Modalitäten realisiert werden. 12 „Talk-in-interaction“ ersetzt als zentrale Beschreibung des Gegenstandes der Konversationsanalyse den ursprünglichen, namensgebenden Begriff dieses Ansatzes „conversation“. Arnulf Deppermann / Reinhold Schmitt 22 tualisiert, sondern als ein auf unterschiedlichen Ausdrucksebenen hervorgebrachtes, von allen Beteiligten zu jedem Zeitpunkt gemeinsam konstituiertes und praxeologisch gerahmtes Ereignis begriffen wird. Dabei wird nicht nur das hörbare, sondern in gleicher methodischer und theoretischer Wertigkeit auch das sichtbare Verhalten der Beteiligten für das Zustandekommen und die Aufrechterhaltung von Interaktion fokussiert. Videoaufzeichnungen machen sichtbar, dass neben der von der Konversations- und Gesprächsanalyse bislang primär fokussierten verbalen Handlungsebene eine Vielzahl zumeist gleichzeitiger Aktivitäten ablaufen. Sie sind zwar auf die Handlungsebene bezogen und für diese funktional, können jedoch in ihrer interaktionskonstitutiven Bedeutung weder automatisch noch systematisch mit einer Handlungsanalyse erfasst werden. Diese Aktivitäten fassen wir mit dem Begriff der „Koordination“ und argumentieren aufgrund des Permanenzcharakters 13 dieser interaktionskonstitutiven Anforderung dafür, „Koordination“ als Untersuchungsgegenstand sui generis der Interaktionsanalyse zu fokussieren. Wir können an dieser Stelle keine allgemeingültige Definition von „Koordination“ liefern, sondern wollen einige zentrale Aspekte präsentieren, die in unserem Verständnis für Koordination konstitutiv sind. 2.1 Gegenstandsbestimmung und Geltungsbereich Wir begrenzen die Extension unseres Begriffs von „Koordination“ und „koordinativen Aktivitäten“ auf solche Verhaltensweisen und -aspekte, die im Zusammenhang und zeitgleich mit verbalen Kooperationsbeiträgen und Schegloff (1987b, S. 101) gibt folgende allgemeine Gegenstandsbeschreibung: „This paper has two primary goals. One goal is to display the mode of analysis to which the phenomena of talk in interaction may be subjected, one mode of analysis among several which have been developed within so-called ‘conversation analysis.’ In spite of its name, this analytic undertaking is concerned with the understanding of talk in interaction more generally“. Vergleiche auch Schegloff (1988), wo „talk-in-interaction“ als Substitut für „conversation“ im Titel erscheint. 13 Wenn wir vom „Permanenzcharakter koordinativer Anforderungen“ sprechen, so ist das zum jetzigen Zeitpunkt ein theoretisches Postulat, das durch systematische Untersuchungen empirisch gegründet werden muss. Es ist jedoch schwerlich vorstellbar, dass es in der Interaktion Phasen (und nicht nur kurze Momente, in denen man aufgrund der zu groben Hinsicht keine koordinativen Aktivitäten beobachten kann) gibt, in denen die für Interaktion notwendige Voraussetzung entfällt, die eigenen Aktivitäten mit denen anderer Beteiligter abzustimmen. Koordination. Zur Begründung eines neuen Forschungsgegenstandes 23 als deren Voraussetzung in den unterschiedlichen Modi körperlichen Ausdrucks realisiert werden, die jedoch selbst nicht als zielorientierte handlungsschematisch bezogene Beiträge angesehen werden. 14 Diese Beschreibung impliziert Abgrenzungen in zweierlei Richtung: Nicht zu „Koordination“ in unserem Verständnis gehören Formen expliziter verbaler Aushandlung, bei denen sich die Beteiligten hinsichtlich oder als Vorbereitung der Lösung einer gemeinsamen Aufgabe absprechen. Eine solche Vorstellung von Koordination vertritt beispielsweise Clark (2005). Nicht zum Gegenstand im engeren Sinne gehören auch Formen der Stilisierung und des Inszenierens 15 von Koordinierung, denen man beispielsweise die Funktion gesprächsrhetorischer Verfahren zuschreiben kann. Solche - empirisch durchaus existierende - Formen sind unserem Verständnis nach eher hinsichtlich ihrer Handlungscharakteristik beschreibbar. Solche empirischen Fälle sind jedoch willkommene Grenz- und Kontrastfälle, die das eigene Verständnis schärfen. Koordination ist eine interaktionskonstitutive Anforderung, die von Kooperation zu unterscheiden ist (vgl. Abschn. 7.). Im Gegensatz zu Kooperation zielen koordinative Aktivitäten von Beteiligten nicht auf die Herstellung eines gemeinsamen Produkts und haben in diesem Sinne auch keinen produktspezifischen Handlungscharakter. Es sind vielmehr Anforderungen, die als Voraussetzung inhaltlicher Kooperationsbeiträge bei der Analyse in den Blick kommen. 2.2 Konstitutive Aspekte von Koordination In unserem Verständnis beziehen sich koordinative Anforderungen auf unterschiedliche Aspekte, zu denen insbesondere Zeitlichkeit, Räumlichkeit, Multimodalität und Mehrpersonenorientierung gehören. Zeitlichkeit Zeitlichkeit spielt als konstitutiver Aspekt koordinativer Aktivitäten in zweierlei Hinsicht eine Rolle. Einerseits haben koordinative Aktivitäten eine zeitliche Spezifik in dem Sinne, dass sie zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt in der 14 Detaillierte Ausführungen zum Verhältnis von Koordination und Kooperation finden sich in Abschn. 7. 15 Im Rahmen der Gesprächsrhetorik (Kallmeyer 1996) wird Inszenieren als Verfahren konzipiert, das als spezifische Form der Bedeutungskonstitution unter bestimmten Kontextbedingungen und lokal begrenzt zur Lösung zumeist klar erkennbarer interaktiver Anforderungen eingesetzt wird. Zur detaillierten Darstellung von Inszenieren siehe Schmitt (2003). Arnulf Deppermann / Reinhold Schmitt 24 Interaktionsentwicklung entstehen und unter diesen besonderen lokalen und zeitlichen Bedingungen bearbeitet werden müssen. Zum anderen hat die Bearbeitung koordinativer Anforderungen selbst - zumindest in vielen Fällen - eine eigene zeitliche Erstreckung, die auch von den Beteiligten selbst in Rechnung gestellt werden muss, und sie kann als Verhaltensaktivität in ihrer Zeitlichkeit beobachtet und beschrieben werden. Räumlichkeit Mit der zeitlichen Koordinationsanforderung ist unweigerlich auch eine räumliche verbunden. Interaktionsbeteiligte befinden sich zu jedem gegebenen Zeitpunkt immer auch in einer räumlich bestimmten Umgebung, die von ihnen Aufmerksamkeit in verschiedener Hinsicht verlangt. Face-to-face- Interaktion ist ein unumgänglich räumliches Ereignis, und die Strukturen gegebener Räumlichkeit wirken über unterschiedlichste Implikationen auf die Interaktion ein. Andererseits bringen Interaktionsbeteiligte im Laufe ihrer Interaktion selbst immer räumliche Strukturen als Ergebnis koordinativer Leistungen hervor. Multimodalität Eine weitere Anforderung, die durch koordinative Aktivitäten bearbeitet wird, ist die der Multimodalität. Interaktionsbeteiligte müssen - um in angemessener und zielorientierter Weise an der Interaktion teilnehmen zu können - ihre eigene Präsenz und ihre Verhaltensweisen auf unterschiedlichen Ausdrucksebenen aufeinander abstimmen (vgl. Abschn. 2.3). Dieser Aspekt von Koordination wird vor allem in multiaktionalen Kontexten deutlich, wenn es darum geht, verschiedene Handlungskontexte, die Engagement verlangen, zu vereinbaren. Mehrpersonenorientierung Neben diesen primär selbstbezogenen koordinativen Anforderungen besteht die Notwendigkeit, sich zeitlich, räumlich und multiaktional mit den Handlungen anderer Interaktionsteilnehmer abzustimmen. Der Mehrpersonenbezug ist die komplexeste Koordinationsanforderung, die neben den beschriebenen personalen Aspekten auch die interaktive Abstimmung mit dem laufenden Interaktionsgeschehen voraussetzt. Monitoring-Aktivitäten 16 stellen hierfür eine 16 Monitoring-Aktivitäten haben bislang bei der Analyse von Interaktion keine zentrale Rolle gespielt. Zu den wenigen Arbeiten im konversationsanalytischen Kontext zählt Goodwin Koordination. Zur Begründung eines neuen Forschungsgegenstandes 25 zentrale Grundlage dar. Wer sich an einem projizierten „transition relevance place“ an der „turn“-Aushandlung beteiligen will, muss nicht nur das aktuelle Geschehen und das Verhalten der anderen sehr genau verfolgen, sondern sich selbst auch darauf vorbereiten, den Zeitpunkt nicht zu verpassen, um nicht seine Beteiligungschancen zu gefährden. Koordinative Aktivitäten reagieren zwar auf das interaktive Geschehen und sind konstitutiver Teil desselben. Sie werden jedoch in der Regel nicht als für die Interaktion relevant wahrnehmbar bzw. interpretierbar gemacht, etwa in Form von „accounts“ 17 für aktuelle Koordinationsanstrengungen. 2.3 Ausdrucksmodi/ Ressourcen Zur Bearbeitung dieser verschiedenen Aspekte von Koordination stehen den Interaktionsbeteiligten unterschiedliche Ausdrucksmodi zur Verfügung, die in der Regel als Ressourcenbündel eingesetzt werden. Zu diesen Ausdrucksmodi zählen: - Stimme - Lautstruktur - Gestikulation - Mimik - Blick - Körperhaltung - Körperorientierung - Position im Raum - Bewegungsarten: Gehen, Stehen, Sitzen etc. (1980). Zu Monitoring als mentalem, selbstbezogenem „Kontrollverfahren“ von Akteuren bei der Realisierung von Handlungsplänen siehe Rehbein (1977, S. 216-219) und Levelt (1983) bei Selbstkorrekturen während der Äußerungsproduktion. Einen interessanten Fall beschreibt Streeck (1993, S. 294f.): Eine Sprecherin korrigiert sich selbst, nachdem sie anhand ihrer eigenen Geste bemerkt hat, dass sie sich versprochen hat bzw. was sie eigentlich sagen wollte. 17 Siehe Garfinkel (1967) und Garfinkel/ Sacks (1970) zur grundlegenden Vorstellung von „accountability“ als kontinuierlicher Gleichzeitigkeit des Vollzugs sprachlicher Handlungen und deren Beschreibung im Vollzug. Zu „account“ als Qualität einzelner Äußerungen siehe beispielsweise Lyman/ Scott (1968), Coulter (1975), Heritage (1988) sowie Morris/ White/ Iltis (1994). Arnulf Deppermann / Reinhold Schmitt 26 Wie koordinative Anforderungen bearbeitet und welche Ressourcen dabei eingesetzt werden, ist von den lokal-spezifischen Bedingungen abhängig, unter denen die Interaktionsbeteiligten mit koordinativen Anforderungen konfrontiert werden. Diese Bedingungen sind - je nach Grundform der Koordination (siehe Abschn. 5.) - in unterschiedlicher Weise kontingent und unterliegen nur bedingt der Kontrolle der Beteiligten. Grundsätzlich ist für die Bearbeitung von Koordination Adaptivität in unterschiedlichem Ausmaß konstitutiv. Interaktionsbeteiligte müssen ihre Koordinationsressourcen in permanenter Abstimmung und in fortlaufender Abhängigkeit vom Interaktionsgeschehen einsetzen. Ihre aktuelle Beteiligungsweise (treiben sie die interaktive Kooperation mit substanziellen Beiträgen voran oder sind sie primär rezeptiv beteiligt) und ihre körperlich-räumliche Präsenz in der Interaktion (befinden sie sich in einem Bewegungsmodus oder sitzen sie, können sie von ihrer Position aus dem Geschehen problemlos folgen oder müssen sie hierfür erst einmal die Voraussetzungen schaffen etc.) sind nur zwei Aspekte, die jeweils den Einsatz unterschiedlicher Ressourcen nahe legen oder aber verunmöglichen. Dabei ist nach dem gegenwärtigen, noch sehr rudimentären Wissen über koordinative Prozesse davon auszugehen, dass die Funktionalität und die semiotischen Potenziale koordinativer Ressourcen überaus kontextgebunden und nur wenig konventionell sind. Sie verfügen kaum über kontextfreie, intrinsische Bedeutungen und Funktionsbindungen. Ihre pragmatischen Funktionen und semiotischen Implikationen hängen vielmehr hochgradig von ihrer spezifischen sequenziellen und simultanen Verknüpfung miteinander ab und von den verbalen und pragmatischen Kontexten, auf die sie bezogen sind. Koordinative Aktivitäten sind also oft indexikalisch und verhalten sich insofern in ihren semiotischen und pragmatischen Eigenschaften wie Kontextualisierungshinweise (vgl. Gumperz 1992a, 1992b; Auer/ Luzio 1992). Manche multimodalen Aktivitäten sind dagegen nicht zeichenhaft, sondern sie operieren kausal. So werden z.B. unterschiedlichste Körperbewegungen eingesetzt, um die Aufmerksamkeit eines Adressaten zu erregen. Dieses multimodale Verfahren nutzt also physiologische Organisationsprinzipien der visuellen Bewegungswahrnehmung zur Interaktionssteuerung. Der Blick auf koordinative Prozesse eröffnet ein in die Mikroskopie der auditiven und visuellen Simultaneität erweitertes Potenzial der Komplexität der Interaktionsbeschreibung und -analyse, das den bekannten konversationsanalytischen „Detaillierungssog“ (Bergmann 1985) weiter radikalisiert. Als For- Koordination. Zur Begründung eines neuen Forschungsgegenstandes 27 scher ist man somit gegenläufig zu einer vielleicht noch stärkeren methodischen Disziplinierung der Gegenstandskonstitution und der Bestimmung der analytischen Fragestellung sowie zur Aspektualisierung der Analyse gezwungen. Auf die angedeutete Komplexität bei der empirischen Analyse koordinativer Verhaltensweisen kann man mit unterschiedlichen Strategien der Gegenstandskonstitution, die zum Großteil in einer methodisch kontrollierten Komplexitätsreduktion bestehen, reagieren. Zum einen kann man sich auf bestimmte Beteiligungsweisen konzentrieren und sich bei der Auswahl an der statusspezifischen Komplexität koordinativer Anforderungen orientieren. Zum anderen kann man sich auf der Grundlage von „clear cases“ auf einzelne, erkennbar auf die Bearbeitung koordinativer Anforderungen bezogene Modi (z.B. Stimme, Blick, Körperbewegung etc.) konzentrieren. Man kann auf der Basis geeigneter „collections“ dann danach fragen, ob es systematische Zusammenhänge zwischen den eingesetzten Ressourcen und bestimmten koordinativen Anforderungsprofilen gibt. Umgekehrt kann man auch von bestimmten Koordinationsanforderungen ausgehen und danach fragen, welche Ressourcen unter welchen Bedingungen von den Beteiligten zu ihrer Bearbeitung eingesetzt werden. Die von unserer theoretischen Vorstellung her grundsätzlich zu postulierende Egalität der verschiedenen Ausdrucksmodi führt nicht zu einer Nivellierung oder zum Verlust der jeweils spezifischen Leistungen einzelner Ausdrucksmodi. Vielmehr soll eine solche Konzeption zum einen den Zugang zu den bislang noch nicht systematisch fokussierten Besonderheiten und der interaktiven Vielfalt des Einsatzes einzelner Modi eröffnen. Zum anderen soll gleichzeitig diese spezifische Leistung als Beitrag zu einem multimodalen Gesamtverhalten reflektiert werden, das aus unterschiedlichen simultan realisierten Aktivitäten besteht. Nur in einer solchen Gesamtschau, bei der einzelne Ausdrucksmodi ihren Beitrag zu einem Gesamtausdruck leisten, wird es möglich, koordinative Aktivitäten in ihrer multimodalen Komplexität und interaktionsstrukturellen Adaptivität angemessen zu erfassen. 3. Interaktion als multimodales Ereignis und Koordination Unter einer Konzeption, die Interaktion in ihrer multimodalen Qualität und damit immer als Gesamtheit auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Systemen realisierter Ausdrucksformen begreift, stellt sich die Frage nach dem durch Koordination hergestellten Zusammenhang dieser un- Arnulf Deppermann / Reinhold Schmitt 28 terschiedlichen Systeme zwangsläufig. Die Frage nach dem Zusammenhang ergibt sich, weil sich der multimodale Ausdruck interaktiven Verhaltens als Gesamtheit einzelner, an unterschiedlichen Orten vollzogener monomodaler Einzelaktivitäten konstituiert. Damit wird die relative (auch gerade räumliche) Eigenständigkeit verschiedener Ausdrucksformen sichtbar: Das Sprechen hat einen anderen Ort (oder besser: andere raumzeitliche und sinnliche Koordinaten) als die gleichzeitig ausgeführte oder ihm vorausgehende Geste, die zum gleichen Zeitpunkt vollzogene Kopfdrehung und die damit einhergehende Änderung der Blickrichtung, die simultan vollzogene Veränderung der Körperpositur sowie das Hochziehen der Augenbrauen bei gleichzeitiger Manipulation eines Gegenstandes. In der Konversationsanalyse hat Koordination als Konzept keine Rolle gespielt. Aufgrund ihrer Gegenstandskonstitution und der - zumindest forschungsfaktischen, wenn auch nicht theoretisch postulierten - Priorität der Verbalität, die genau diese Fragen der multimodalen Koordination ausblendet, stellt das Problem der Organisation der zeitlichen Abfolge von „turns“ die zentrale Frage bei der Untersuchung von „talk-in-interaction“ dar. Die für die Konversationsanalyse zentralen Konzepte wie „turn-taking“-Organisation und damit zusammenhängende Vorstellungen von „adjacency pair“, 18 konditioneller Relevanz, 19 „delay“-Organisation 20 - um nur einige zu nennen - lassen sich letztlich alle als Antwort auf das Problem der zeitlichen Orga- 18 Das Konzept von „adjacency pairs“ ist eine der zentralen interaktiven Konstruktionseinheiten der Konversationsanalyse; siehe beispielsweise Schegloff (1972). 19 Das Konzept der „konditionellen Relevanz“ steht im engen Zusammenhang mit der Sequenzierungsvorstellung der Konversationsanalyse. Die Beziehung zwischen zwei Äußerungen (einer initiativen und einer reaktiven) wird durch eine Struktur charakterisiert, bei der die initiative Äußerung die Realisierung eines korrespondierenden Typs erwartbar macht (eine Antwort als Reaktion auf eine Frage). Das Prinzip der konditionellen Relevanz ist exemplarisch beschrieben in Schegloff (1972, S. 363f.): „By conditional relevance of one item on another we mean: given the first, the second is expectable; upon its occurrence it can be seen to be a second item to the first; upon its nonoccurrence it can be seen as officially absent - all this provided by the occurrence of the first item.“ 20 Heikle, unangenehme oder kritische Sachverhalte werden in der Regel nicht glatt und zielstrebig formuliert, sondern verzögert: Pausen, Modalisierungen, Wortsuche und Reformulierungen etc. schieben die Äußerungsvollendung hinaus. Unter „delay“-Organisation werden Äußerungsrealisierungen verstanden, die als gemeinsames formales Merkmal Aspekte von „dispreferred turn shapes“ besitzen, wie sie beispielsweise Pomerantz (1984) im Kontext ihrer Analysen zu „Zustimmung zu“ und „Zurückweisung von“ Bewertungen beschrieben hat. Koordination. Zur Begründung eines neuen Forschungsgegenstandes 29 nisation von Interaktion im Sinne eines motivierten Nacheinanders auf der Ebene der Verbalität verstehen. Dies rührt daher, dass sie aufgrund technischer Bedingungen traditionell die einzige Ebene der Repräsentation des Untersuchungsgegenstandes gewesen ist. Die Konversationsanalyse hat zwar „overlap“ als strukturelles Problem gesehen, das dadurch entsteht, dass es zu einer Gleichzeitigkeit von Aktivitäten unterschiedlicher Teilnehmer im gleichen Modus kommt. Dieses strukturelle Phänomen wurde jedoch als „systemkonforme“ Ausnahme konzeptualisiert. 21 Versteht man unter „overlap“ jedoch die permanente Gleichzeitigkeit multimodaler Aktivitäten, dann verschiebt sich sein Status von dem einer Ausnahme zu einem für Interaktion konstitutivem Faktum (vgl. Schmitt 2005). 4. Sequenzialität und Simultaneität Videoaufnahmen interaktiver Situationen machen deutlich, dass das Prinzip der Sequenzialität nur ein konstruktiver Mechanismus der Konstitution interaktiver Ordnung ist. Die geordnete Herstellung der komplexen, multimodalen Realität von Interaktion ist letztlich jedoch nur durch einen weiteren Mechanismus möglich, nämlich Simultaneität. Sprecher befinden sich in einem Bezugssystem der Zeitlichkeit und der Auditivität. Dieser temporale Bezugsrahmen sieht als generativen Strukturmechanismus und Normalfall die Nachzeitigkeit verbaler Äußerungen vor. Die durchaus vorkommende, jedoch zeitlich begrenzte Ausnahme hiervon, die Gleichzeitigkeit eigenständiger verbaler Beiträge („overlaps“), ist konstitutiver Bestandteil der „turn-taking“-Organisation. Interaktionsbeteiligte befinden sich hingegen immer in einem raum-zeitlichen Bezugssystem. Aufgrund der in der Räumlichkeit manifest sichtbaren positionalen Spezifik (es können nicht zwei Objekte oder Personen zur gleichen Zeit am gleichen Ort sein) ist Gleichzeitigkeit der konstitutive Normalfall. Diese Gleichzeitigkeit ist zu keinem Zeitpunkt aufhebbar und es gibt 21 In der konversationsanalytischen Vorstellung ist „overlap“ definiert als Zeitspanne, in der die grundlegende Orientierung „overwhelmingly, one party talks at a time“ (Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974, S. 706) zumeist nur kurz außer Kraft gesetzt ist, und zwei oder mehr Interaktionsbeteiligte gleichzeitig sprechen. „Overlaps“ sind konstitutiver Bestandteil der „turn-taking“-Organisation (vgl. Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974, S. 706ff. und Jefferson 1984). Schegloff hat sich später (2000, 2001) systematisch mit der interaktiven Struktur von „overlaps“ beschäftigt, um der Kritik zu begegnen, ihre Existenz sei ein Argument gegen die zentrale „turn-taking“-Annahme „one party talks at a time“. Arnulf Deppermann / Reinhold Schmitt 30 interaktionstheoretisch, aus einer multimodalen Perspektive betrachtet, zu keinem Zeitpunkt das Primat der reinen Nachzeitigkeit. Räumlichkeit ist mit Zeitlichkeit im multimodalen Bezugssystem untrennbar verbunden. Unter einer multimodalen Perspektive existiert das Interaktionsgeschehen grundsätzlich nur als permanente Gleichzeitigkeit koordinierter Verhaltensweisen. Reine Nachzeitigkeit gibt es folglich immer nur bezogen auf eine isolierte Modalität (etwa Verbalität) zusammen mit einer raumgebundenen Gleichzeitigkeit von Aktivitäten auf anderen Ausdrucksebenen (Blick, Körperbewegung, Gestikulation etc.). Wichtig ist dabei, dass sich unter einer Erkenntnisperspektive, die sich für die Koordination interaktiven Verhaltens interessiert, die Gleichzeitigkeit interaktiver Verhaltensaspekte - personal wie interpersonal - in eine Spezifik von Koordinaten in einem multilokalen Gesamtzusammenhang transformiert. Neben den basalen Aushandlungscharakter, der beispielsweise sowohl die Festlegung gültiger sozialer Bedeutungen und Beziehungen als auch die Verteilung grundlegender Beteiligungsmöglichkeiten betrifft (traditionell untersucht ist hier der Bereich des „turn taking“), 22 tritt also nunmehr in konstitutiver Weise Materialität von Interaktion als Anforderungsprofil für die Interaktionsbeteiligten hinzu. Materialität meint hier sowohl Körperlichkeit, Dinglichkeit und Räumlichkeit. Sequenzialität als zentraler Ordnungsmechanismus und Sequenzanalyse als methodischer Zugang zur Rekonstruktion von Interaktionsstrukturen verlieren im Rahmen einer multimodalen Betrachtungsweise den prioritären Status, den sie in der verbal definierten Gesprächs- und Konversationsanalyse haben. Im Rahmen des übergeordneten bzw. grundlegenden Prinzips der Raum-Zeitlichkeit von Interaktion treten Sequenzialität (Nachzeitigkeit), bisher restriktiv verstanden als Nacheinander verbaler Interaktionsbeiträge, und Simultaneität (Gleichzeitigkeit) gleichberechtigt nebeneinander. 22 „Turn-taking“-Organisation ist das Kernstück konversationsanalytischer Überlegungen bei der sequenziellen Rekonstruktion der verbal konstituierten Interaktionsordnung. „Turn taking is used for the ordering ... for talking in interviews, meetings, debates, ceremonies, conversations etc. - these last being members of the set we shall refer to as ‘speech exchange systems’“ (Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974, S. 696). Die „turn-taking“-Systematik wurde teilweise kritisiert, weil sie in ihrer ausschließlichen Konzentration auf das Verbale die Bedeutung anderer körperlicher Ausdrucksformen nicht genügend berücksichtige, so beispielsweise Power/ Martello (1986, S. 31); für Literatur siehe Denny (1985). Koordination. Zur Begründung eines neuen Forschungsgegenstandes 31 Materialität als wesentliche Bedingung von Interaktion ist bislang eher sporadisch untersucht worden: Mondada (2004, 2005) hat in unterschiedlichen praxeologischen Zusammenhängen nachgewiesen, wie weit reichend materielle Bedingungen für die Strukturierung von Interaktion und die Produktion von Äußerungen implikativ sind. Krafft (2005) hat sich mit der Rolle von Materialität für die Koordinierung und Organisation gemeinsamer Schreibinteraktion beschäftigt und Schmitt (2001) ist der Frage der interaktionsstrukturellen, funktionalen und symbolischen Bedeutung der Benutzung einer Tafel in Meetings von Software-Entwicklern nachgegangen. Streeck/ Kallmeyer (2001) haben untersucht, welche interaktionsstrukturierenden Funktionen Keks- und Gebäckschachteln haben können, die vor den Interaktionspartnern auf dem Tisch liegen. 23 Systematischere Untersuchungen gibt es für prosodisch-stimmliche (vgl. etwa Couper-Kuhlen/ Selting 1996; Auer et al. 1999) und gestische Prozesse bezüglich der Art und Weise, wie diese mit der verbalen Äußerungsproduktion koordiniert sind; beispielsweise bei Reparaturen (Fornel 1991), bei der Wortsuche (Goodwin/ Goodwin 1986), bei der Aushandlung des Teilnehmerstatus und des Sprecherwechsels (Goodwin 1986; Streeck/ Hartge 1992), im Zusammenhang mit Kontextualisierungshinweisen (Heath 1984) und bei der Konstitution narrativer Strukturen (Müller 2003). 24 Offensichtlich ist aber, dass beispielsweise der Umgang mit faktischen räumlichen Gegebenheiten für die verbale Äußerungsproduktion und für die Interaktionsstruktur Konsequenzen besitzt, die dazu führen, dass etablierte - auf der Basis der Untersuchung des verbalen Handlungscharakters erarbeitete - Sichtweisen auf strukturelle Phänomene modifiziert werden müssen. Wenn beispielsweise ein Interaktionsbeteiligter im Rahmen einer Arbeitssitzung die Produktion seiner Äußerung unterbricht, um zu einer Kollegin zu schauen, die gerade dabei ist, eine Seite in ihren Unterlagen umzublättern, die der wartende Äußerungsproduzent als Referenzpunkt seiner weiteren Ausführung benötigt, kann das aus der Konzentration auf das Verbale als ein Fall von „delay“-Organisation und damit als Anzeichen einer dispräferierten Aktivität aufgefasst werden. Aus einer koordinationsanalytischen Perspektive wird dagegen klar, dass sich der wartende Äußerungsproduzent mit den Aktivitäten seiner Kollegin koordiniert (vgl. Mondada i.d. Bd.). 23 Streeck (1996) hat darüber hinaus ganz grundsätzlich die Frage gestellt: „How to do things with things? “ 24 Siehe auch Schegloff (1984). Arnulf Deppermann / Reinhold Schmitt 32 Die Notwendigkeit des Umgangs der Interaktionsbeteiligten mit der Materialität der interaktiven Ausdrucksmodi und ihre Adaption an die Faktizität des Geschehens und der räumlichen Verhältnisse haben einerseits den Status von Bedingungen, denen sie mittels koordinativer Aktivitäten Rechnung tragen müssen. Die sozialsymbolischen, handlungsbezogenen Bedeutungen dieser Bedingungen sind zwar oft durchaus flexibel und aushandelbar. Doch sind (Nicht-)Sichtbarkeit, (Nicht-)Hörbarkeit, (Nicht-)Zugänglichkeit etc. objektive Bedingungen, die unabhängig von Aushandlungsprozessen Restriktionen, Anforderungen und Möglichkeiten für das Interaktionshandeln schaffen, die genutzt werden können und respektiert werden müssen. In ihrer physikalischen Beschaffenheit sind sie Determinanten symbolischer Prozesse, die als solche auf dem Wege symbolischer Aushandlung nicht hergestellt werden, wohl aber objektive Rahmenkoordinaten für diese setzen. Andererseits aber werden durch koordinative Aktivitäten selbst Rahmen für die gemeinsame interaktive Hervorbringung geschaffen. Das interaktiv Hervorgebrachte kann dabei seinerseits in der Folge den Interaktionsbeteiligten als Faktizität gegenübertreten. 5. Grundformen von Koordination Ausgehend von unserer grundsätzlichen theoretischen Annahme, dass Koordination eine permanente konstitutive Anforderung an die Interaktionsbeteiligten darstellt und daher als eigenständiger Untersuchungsgegenstand etabliert werden kann, wollen wir im Folgenden zwei Grundformen von Koordination unterscheiden, die bereits bei der Beschreibung konstitutiver Aspekte von Koordination ansatzweise deutlich geworden sind: intrapersonelle und interpersonelle Koordination. Beides wird teilweise mit den gleichen Aktivitäten bearbeitet, es handelt sich jedoch um analytisch zu trennende Konstitutionsaufgaben. 5.1 Intrapersonelle Koordination Unter intrapersoneller Koordination verstehen wir Aktivitäten, mit denen ein Interaktionsbeteiligter die unterschiedlichen Ausdrucksmodalitäten seines eigenen Verhaltens aufeinander abstimmt: Verbalität, Mimik, Blickorganisation, Gestik, Körperpositur, Raumorientierung etc. müssen koordiniert werden. Der intrapersonelle Aspekt besteht dabei in der „Selbstorganisation“ und nicht im Hinblick auf die interaktiven Bezüge und Implikationen, denen diese Selbstorganisation oftmals dient. Natürlich handelt es sich um eine Koordination. Zur Begründung eines neuen Forschungsgegenstandes 33 idealtypische analytische Differenzierung, deren konkrete empirische Gestalt im jeweiligen Einzelfall Probleme bereiten kann. Gleichwohl ist es nötig, im Rahmen eines grundsätzlichen Problemaufrisses auf der Relevanz dieser Unterscheidung zu bestehen. Dieser selbstbezogene Aspekt von Koordination wird vor allem in multiaktionalen Kontexten deutlich (vgl. Mondada i.d. Bd.): Der Fahrer eines Wagens muss nicht nur seinen Wagen den verkehrstechnischen Bedingungen angepasst ordnungsgemäß bewegen (was für sich genommen schon eine hochkomplexe koordinative Leistung darstellt), sondern unterhält sich gleichzeitig mit dem Beifahrer und rückt bei der Suche nach einem bestimmten Haus seine Sonnenbrille zurecht. Schon diese abgekürzte Beschreibung eines Multiaktivitätszusammenhangs macht deutlich, wie komplex solche Formen intrapersoneller Koordination sein können und wie folgenreich, wenn sie nicht gelingen. Intrapersonelle Koordinationsaufgaben stellen sich jedoch genauso dann, wenn ein Beteiligter zentral für den interaktiven Handlungsvollzug verantwortlich ist. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn ein Patient in einem offenen klinischen Interview vor der Aufgabe steht, unterschiedliche Ängste zu beschreiben und dazu systematisch verbale, stimmlich-prosodische, gestische und mimische Verfahren kombiniert (vgl. Gülich/ Couper-Kuhlen i.d. Bd.). Das Anforderungsprofil, dem Interaktionsbeteiligte bei intrapersoneller Koordination ausgesetzt sind, zeichnet sich durch Eigenschaften, Bedingungen und Relevanzen aus, die sich von den Anforderungen an interpersonelle Koordination erkennbar unterscheiden. Bei intrapersoneller Koordination haben die Beteiligten weiter gehende Gestaltungssicherheit hinsichtlich ihrer interaktiven Präsenz. Die Interaktionsbedingungen zeichnen sich durch eine relative Stabilität und Prognostizierbarkeit hinsichtlich konstitutiver Strukturaspekte aus: Der Beteiligte ist im Besitz des Rederechts, er kann als Handlungszentrum die thematische Entwicklung und den pragmatischen Interaktionsverlauf steuern. Für intrapersonelle Koordination sind Anforderungen konstitutiv, die sich durch weit(er) gehende Planbarkeit des eigenen Handelns bei gleichzeitiger Reduktion von Reaktionsverpflichtungen auf Verhalten anderer auszeichnen. Interaktionsbedingungen, die bestimmte Anschlussprojektionen erzeugen, werden vom Beteiligten selbst hergestellt; das Verhältnis zwischen eigener Handlung und eigener Folgehandlung ist vor allem durch die Relation der Projektivität gekennzeichnet. Arnulf Deppermann / Reinhold Schmitt 34 Im Falle intrapersoneller Koordination erzeugt ein Beteiligter A durch seine Aktivität für sich selbst also weitgehend selbst-kontrollierte Projektionen. A kann die von ihnen ausgehenden Koordinationsanforderungen und Koordinationsmöglichkeiten deshalb frühzeitig antizipieren, und zwar schon bevor sie durch seine eigenen Aktivitäten, mit denen sie öffentlich etabliert werden, interaktiv wirksam werden. Die Vorhersehbarkeit der Anforderung wiederum erlaubt es, interaktive Routinen, die konventionell oder intentional auf den Typ des jeweils lokal etablierten sequenziellen Kontexts zugeschnitten sind, einzusetzen. Intrapersonelle Koordination kann deshalb in hohem Maße kookkurrente Ausdrucksmittel mit Verfahrenscharakter verwenden, die z.B. der Erzeugung eines rhetorischen Effekts, der Konturierung einer Handlungsgestalt oder aber der nichtkategorialen Differenzierung relevanter Konzepte dienen. Letzteres wird beispielsweise im Fall des bereits zitierten Patienten deutlich, der seine verschiedenen Ängste darstellt. Die Analyse von Gülich/ Couper-Kuhlen (i.d. Bd.) zeigt sehr deutlich, dass die Differenzierung der zwei Angstformen im Laufe des Gespräches mit dem Arzt emergiert und dass die zur Differenzierung eingesetzten unterschiedlichen Mittel systematisch verwendet werden. Dies kann den Eindruck erwecken, der Patient verfüge - lässt man das schrittweise Entstehen der Differenzierung seiner Darstellung vorgängig außer Acht - bereits über diese Mittel und würde sie nicht erst in einem aktiven, zeitlich gestreckten Prozess intrapersoneller Koordination angsttypologisch selegieren und semantisieren. 5.2 Interpersonelle Koordination Neben den primär selbstbezogenen koordinativen Anforderungen gibt es eine ganze Reihe, die sich auf die zeitliche, räumliche und multimodale Abstimmung eigener Handlungen und Verhaltensweisen mit denen der anderen Beteiligten beziehen. Gegenüber dem intrapersonellen Anforderungsprofil ist der Anteil kontingenter Aspekte bei der interpersonellen Koordination wesentlich größer. Anforderungen interpersoneller Koordination lassen sich weitgehend durch die zentrale Relevanz von „Adaptivität“ als Grundbedingung charakterisieren. Die Koordinationsbedingungen werden für einen Beteiligten A weitgehend durch Verhaltensweisen anderer Beteiligter Bn bestimmt. Die Handlungen der Bn werden durch A nicht selbst erzeugt und kontrolliert. Sie sind deshalb für A nicht oder nur sehr schematisch, kaum einmal aber in ihrer konkreten Gestalt, vorherzusehen. A muss deshalb ad hoc auf prinzipiell nicht vorhersehbare Anforderungen adaptiv reagieren. Koordination. Zur Begründung eines neuen Forschungsgegenstandes 35 Diese Notwendigkeit adaptiven Reagierens auf von A aus gesehen kontingente Bedingungen verdankt sich nicht nur der allgemeinen Kontingenz des Handelns, sondern wird durch die multimodale Komplexität von Interaktion gravierend gesteigert. Diese umfasst nämlich mehrere simultan wirkende, jeweils Adaption fordernde Quellen permanent produzierter interaktiver Ereignisse: - Die Ko-Präsenz mehrerer Interaktionsbeteiligter Bn, mit denen sich A koordinieren muss, - die Multiplizität relevanter Ausdrucksmodi, die A bei Bn zu beachten hat und die A umgekehrt selbst adaptiv anpassen muss, sowie - die Vielfalt interaktiver Relevanzen (z.B.: thematische, aktionale, modalitäts- und beziehungsbezogene) und - gegebenenfalls mehrere, auch nicht-interaktive, objektbezogene Handlungsstränge, die simultan zu bearbeiten sind. So können sich Monitoring-Aktivitäten 25 beispielsweise nicht die ganze Zeit nur auf die Fokusperson 26 beziehen, sondern müssen auch andere Beteiligte mit einbeziehen, will man einen Überblick über die Gesamtstruktur des aktuellen Interaktionsgeschehens gewinnen und auf seiner Grundlage die eigene Beteiligungsweise koordinieren. Die auf Kontingenz reagierende Adaptivität interpersoneller koordinativer Prozesse wird weiterhin dadurch besonders deutlich, dass in mikroanalytischer Perspektive nachzuzeichnen ist, wie sich unterschiedliche Aspekte des Verhaltens, die oft von nur mikroskopischer Qualität sind, auf jeweils unterschiedliche Aspekte der interaktiven Anforderungsstruktur richten. Sie bilden deshalb im Gesamten keinen Gestaltcharakter aus, der für die Handlungskonstitution typisch wäre. So kann z.B. ein Vortragender simultan lauter Sprechen, um einen unaufmerksamen Adressaten zu erreichen, dabei zur Seite schauen, weil er eine Wortmeldung am Rand seines Gesichtsfelds wahrgenommen hat, und währenddessen eine verrutschte Overheadfolie zurechtrücken. Jede einzelne Aktivität ist funktional, das Gesamt dient aber nicht zur Symbolisierung einer konvergenten Bedeutung oder Handlung. 25 Unter „Monitoring“ verstehen wir hier solche Aktivitäten, bei denen Interaktionsbeteiligte aktuelle Verhaltensweisen anderer als für die Organisation ihrer eigenen Beteiligungsweise relevant wahrnehmen, verfolgen oder beobachten. 26 Der Begriff „Fokusperson“ kennzeichnet eine(n) Interaktionsbeteiligte(n), die/ der aufgrund von Status, Funktion oder Rolle in bestimmten Kontexten kontinuierlicher Bezugspunkt von Monitoring-Aktivitäten anderer Beteiligter ist. Arnulf Deppermann / Reinhold Schmitt 36 Unter solchen Bedingungen komplexer multimodaler Interaktionsstrukturen und angesichts der Notwendigkeit, sich auf der Grundlage reaktiver, multi-orientierter Aufmerksamkeitsausrichtung relativ zu Entwicklungen des Interaktionsgeschehens zu koordinieren, wird klar, dass solche Koordinationsprozesse nicht - wie häufig bei intrapersoneller Koordination - als lokal verdichtete, gleichzeitige Bündelung unterschiedlicher Ausdrucksmodi mit Verfahrenscharakter realisiert werden. Da sie teilweise antizipierend-vorgängig, oft aber eben nur adaptiv-nachgängig produziert werden können, verfügen sie „naturgemäß“ über eine deutliche sequenzielle Struktur und werden dadurch analytisch meist in dieser Vollzugscharakteristik manifest. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Anforderungen weisen intra- und interpersonelle Koordination tendenziell unterschiedliche Formen von Komplexität auf. Vor allem dann, wenn ein fokaler Interaktionsbeteiligter die Gelegenheit hat, die Interaktion über eine längere Strecke zu bestimmen (wie z.B. bei einer konversationellen Erzählung, einem Vortrag, als Protagonist in einem Theaterstück), steht er zugleich auch unter verstärkter Beobachtung. Er hat nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Verpflichtung zu einer aufwändigeren multimodalen Gestaltung seiner Interaktionsbeteiligung. Erforderlich ist dann eine intrapersonelle Koordination aller multimodalen Ausdrucksressourcen, die konzertiert auf bestimmte interaktive Effekte hin auszurichten sind. Die Komplexität besteht hier also im koordinierten Vollzug einer rhetorisch geschickten „performance“, die sich an ästhetischen, persuasiven oder dramaturgischen Kriterien messen lassen muss. Die Komplexität dieser intrapersonellen Koordination entsteht somit dadurch, dass der Akteur autonom interaktiven Gestaltungsraum zu füllen hat. Interpersonelle Koordination gewinnt dagegen ihre Komplexität gerade umgekehrt daher, dass der Akteur auf simultan gestellte heteronome Anforderungen, die sich aus den fortlaufenden Handlungen der anderen Beteiligten ergeben, reagieren muss. Diese reaktiv-adaptiven Koordinationsleistungen sind in ihrer eigenen Produktionsstruktur zumeist weniger komplex und elaboriert. Sie erfordern jedoch dafür umso mehr permanente Monitoring- Leistungen in verschiedenste Richtungen und Fähigkeiten zu unmittelbarer, genau „getimter“ adaptiver Reaktion. Koordination. Zur Begründung eines neuen Forschungsgegenstandes 37 5.3 Koordination als Ergebnis oder als Prozess? Wir gehen nicht davon aus, dass es exklusive Aktivitäts- und Ausdrucksformen für intra- und interpersonelle Koordinationsanforderung gibt. Wir gehen vielmehr von einer Gleichzeitigkeit beider Anforderungen aus und stellen dementsprechend auch in Rechnung, dass es bei der Analyse konkreter Einzelfälle durchaus schwierig sein kann, ein beobachtbares koordinatives Verhalten klar als Bearbeitung der einen oder anderen Anforderung zu rekonstruieren. Häufig ist es so, dass die intrapersonelle Koordination partnerorientiert gestaltet wird und somit auch interpersonelle Koordination involviert. Dieser Fall ist als Regelfall zu erwarten, da Koordination letzten Endes meist im Dienste der Ermöglichung interpersoneller Kooperation steht. Zudem erweckt intrapersonelle Koordination zuweilen den Eindruck, eher das Ergebnis einer Selektion und Kombination verschiedener Ausdrucksformen in Form kookkurrenter Bündelungen zu sein, als das Ergebnis kontextsensitiver, adaptiver Angleichung und Reaktion auf situative Kontingenzen. Dieser Eindruck kann vor allem dann entstehen, wenn die bei der Bearbeitung intrapersoneller koordinativer Anforderungen beteiligten Modalitäten (etwa Stimme, Mimik, Blickveränderung) keine manifesten Vollzugsspuren hinterlassen (beispielsweise als Bewegung mit einer zeitlichen Erstreckung und einer offensichtlichen Positionsveränderung bestimmter Gliedmaße oder Körperteile). Demgegenüber stellen sich interpersonelle Koordinierungsaktivitäten, die auf die Interaktionsentwicklung reagieren, oftmals eher als Phänomene dar, die deutliche Vollzugsqualität besitzen, d.h. eine konstitutive zeitliche Charakteristik aufweisen. 27 Grundsätzlich gehen wir davon aus, dass sowohl intraals auch interpersonelle Koordination eine prozessuale Betrachtungsweise nahe legt. Ob Koordination als (kookkurrentes) Ergebnis oder als Prozess erscheint, ist zudem immer auch eine Frage des Detaillierungsniveaus der Analyse und der Definition des Zeitfensters, das für die Rekonstruktion der sequenziellen Strukturen koordinativer Aktivitäten zugrunde gelegt wird. In fallanalytischer Perspektive steht also zunächst grundsätzlich Prozessualität im Vor- 27 Wir wollen damit nicht die Möglichkeit ausschließen, dass es personenspezifische Routinen geben kann, in denen sich bei der wiederholten Bearbeitung wiederkehrender koordinativer Anforderungen „Lösungen“ in Form kookkurrenter Bündelungen unterschiedlicher Modalitätsaspekte verfestigen können. Arnulf Deppermann / Reinhold Schmitt 38 dergrund: Der Fall konstituiert sich immer in einer temporalen Ordnung. Entsprechend wird etwa am Beispiel der von Gülich/ Couper-Kuhlen (i.d. Bd.) untersuchten Angstdarstellung die Koordinationsarbeit dann als prozessuales Geschehen sichtbar, wenn sich der Fokus auf die Rekonstruktion des sequenziellen Prozesses der Herausbildung der Angsttypologie richtet. 6. Unterschiedliche Auflösungsniveaus Die unterschiedlichen Formen von Koordination, die in diesem Band analysiert werden, zeigen, dass koordinative Prozesse in sehr unterschiedlichen Größenordnungen stattfinden und beschreibbar sind. Die Spannweite reicht von der mikroanalytischen Rekonstruktion koordinativer Aktivitäten, die aufgrund der an der Koordination beteiligten Modalitäten (Stimme, Blick) teilweise nicht unmittelbar in ihrer Vollzugsqualität identifizierbar sind (Gülich/ Couper-Kuhlen i.d. Bd.) bis hin zu komplexen, an Interaktionsräume gebundenen Formen, die eine manifeste Vollzugsqualität und eine sichtbare zeitliche Erstreckung und segmentierbare Struktur aufweisen (Deppermann/ Schmitt i.d. Bd.). Methodisch und theoretisch lassen sich zudem unterschiedliche Bezugsrahmen ausmachen, die verschiedenen Auflösungsniveaus sowie den unterschiedlichen Grundformen assoziiert sind. Eine mikrophänomenologische Perspektive, die die einzelnen Ausdrucksmodi spezifisch fokussiert, ist nötig, wenn es darum geht, Koordination als Ergebnis von Selektionsprozessen im Vollzug von Äußerungsproduktion und Verhaltensweisen zu rekonstruieren. Dies ist dann besonders wichtig, wenn Koordination nicht über einen manifesten eigenständigen Vollzugscharakter mit einer zeitlich-segmentalen Spezifik verfügt, sondern inkorporiert im Handlungsvollzug bearbeitet wird und ihre Systematik erst über die Kontrastierung bestimmter Ausdrucksmodi und Merkmale deutlich wird. Werden koordinative Aktivitäten dagegen im Kontext eines handlungsschematischen Zusammenhangs analysiert, dient das Wissen über kernaktivitätsspezifische Abläufe als zentraler Bezugspunkt, um Vorgänge im koordinativen Bereich, die handlungsschematisch nicht erfasst werden, zu identifizieren und in Bezug auf ihre handlungsschematisch bezogene Funktionalität zu beschreiben. In diesem Kontext handlungsschematischer Sicherheit lassen sich dann auch kleine und scheinbar unauffällige Koordinationsvorgänge identifizieren, in ihrer multimodalen Gestalt beschreiben und funktional ausdeuten. Koordination. Zur Begründung eines neuen Forschungsgegenstandes 39 Die Relevanz von handlungsschematischem Wissen für die Identifikation und funktionale Rekonstruktion koordinativer Aktivitäten wird an folgendem Beispiel deutlich: Während eines Gesprächs zwischen der Regisseurin und der Kamerafrau, bei dem es um die Frage geht, ob ein bestimmtes, noch fehlendes Detail gleich gedreht werden soll, bleibt der Aufnahmeleiter, der für die Organisation am Set verantwortlich ist, sowohl räumlich als auch interaktiv im Hintergrund. Er beteiligt sich nicht aktiv an der Interaktion, sondern positioniert sich in Hörweite von der Regisseurin und informiert sich aus der Distanz über das, was besprochen wird. Als er merkt, dass es für ihn und seine spezielle Zuständigkeit keine relevanten Informationen gibt (das Detail wird zunächst nicht gedreht), gibt er seine Orientierung auf die Regisseurin auf, wendet sich ab, bückt sich kurz und hebt zwei kleine Sandsäcke auf, die zuvor als Unterlage für die inzwischen abgebaute Rampe für die Kamerafrau benötigt worden waren. Nur wenn man über detaillierte Einblicke in die komplexe Struktur der ineinander greifenden Arbeitsabläufe und deren Relevanz für einzelne Funktionsrollen verfügt (wenn das Detail gleich gedreht wird, muss der Aufnahmeleiter hierfür am Set die Bedingungen schaffen), kann man den Zeitpunkt seiner Wegorientierung von der Regisseurin und das Aufheben und Wegtragen der kleinen Sandsäcke als Realisierung funktionsrollenspezifischer Koordinationsaktivitäten erkennen. Die handlungsschematischen Voraussetzungen für die Identifikation dieser Koordinationsaktivitäten betreffen dabei insbesondere die Rahmensetzungen durch die übergeordnete Funktionsrolle und die selbstständige Ausfüllung und Implementierung dieser Rahmen durch spezifische Funktionsrollen, das Wissen um und die Beachtung ihrer Konsequenzen für andere produktionsrelevante Sachverhalte und das Wissen über das temporale Zusammenspiel von Teilaufgaben. Ohne ein solches Wissen erscheint das Verhalten des Aufnahmeleiters als zeitlich kontingent, funktional ambivalent und hinsichtlich seiner koordinativen Implikationen nicht spezifizierbar. Wie wichtig klare handlungsschematische Grundlagen bzw. Rahmen für die Untersuchung von Koordination sind, zeigt sich auch gerade in solchen Fällen, in denen manifeste koordinative Aktivitäten beobachtbar sind, deren handlungsbezogener Status aufgrund einer fehlenden Rahmung aber nur schwer ausgemacht werden kann (Schmitt/ Fiehler/ Reitemeier i.d. Bd.). Den wohl größten und komplexesten Bezugsrahmen für die Untersuchung von Koordination stellt die „Konstitution von Interaktionsräumen“ (Deppermann/ Schmitt i.d. Bd.) als ein Fall schauplatzgebundenen, dynamisch strukturierten Arnulf Deppermann / Reinhold Schmitt 40 und mit permanenten Ortswechseln einhergehenden interaktiven Geschehens in sozialen Settings dar (vgl. Müller/ Bohle i.d. Bd.). Wird Koordination im Zusammenhang mit solchen Bezugsrahmen untersucht, potenziert sich das Problem der Relevanz notwendigen Wissens, das bereits im handlungsschematischen Zusammenhang deutlich wurde. Hier lassen sich koordinative Aktivitäten nur dann als solche erkennen und in ihren handlungsfunktionalen Bezügen erfassen, wenn man über vielschichtiges ethnografisches, organisationsstrukturelles und handlungsschematisches Wissen verfügt. Als methodisch implikativ erweisen sich die für Koordination charakteristischen Aspekte des fehlenden Gestaltcharakters (vgl. Abschn. 5.), der lokalen und situativen Spezifik von Koordination und der damit zusammenhängende kurz-getaktete Rhythmus unterschiedlicher koordinativer Anstrengungen. Bei fehlendem oder unzureichendem Wissen über den handlungsdefinierten Rahmen wird daher die Analyse von Koordination erschwert. Mit der Problematisierung der eigenständigen Erkennbarkeit von Koordination, die eine Voraussetzung für die Proklamation von Koordination als eigenwertigem Untersuchungsgegenstand darstellt, haben wir einen Problemkontext eröffnet, dem wir uns im folgenden Abschnitt zuwenden wollen: den interaktionstheoretischen Status von Koordination. 7. Koordination und Kooperation Wenn wir Koordination als sowohl interaktionskonstitutiven als auch gleichzeitig nichtthematischen Aspekt von Interaktion verstehen, ergeben sich Fragen nach ihrem interaktionstheoretischen Status. Wesentlich ist hier das Verhältnis von Koordination und Kooperation. Koordination fungiert als Voraussetzung für zielorientierte Kooperation, besitzt bei dieser funktionalen Adaption jedoch selbst keinen vollwertigen Handlungscharakter. Wir haben deshalb bei der Bearbeitung koordinativer Anforderungen immer von „Verhaltensweisen“ und „Aktivitäten“ gesprochen, den Begriff der „Handlung“ jedoch systematisch vermieden. Koordination lässt sich zunächst einmal vor allem durch ihre „Nicht-Handlungshaftigkeit“ und das damit zusammenhängende Fehlen von Aspekten, die für sprachliche Handlungen konstitutiv sind, beschreiben. Prototypische koordinative Aktivitäten - sind nicht ratifikationsbedürftig durch andere Beteiligte, insbesondere auch nicht durch den Akteur B, mit dem sich ein Akteur A koordiniert hat; - erzeugen keine Handlungsprojektionen, etwa im Sinne der Etablierung konditioneller Relevanzen; Koordination. Zur Begründung eines neuen Forschungsgegenstandes 41 - werden nicht durch explizite Thematisierungen vollzogen; - werden nicht angekündigt, (begleitend oder nachträglich) erklärt, begründet oder dargestellt im Sinne von „formulations“ 28 oder „accounts“; - es gibt für sie oft keine ethnokategorialen Bezeichnungen; - ihnen sind keine (vollwertigen) Illokutionen zuzuschreiben; - das Gesamt eines simultan und sequenziell koordinierten Aktivitätsvollzugs hat oft keinen Verfahrens- und Gestaltcharakter. Koordinative Aktivitäten sind also interaktiv relevant, ohne aber in der Regel zum Gegenstand von „displays“ zu werden. Als adaptive Reaktionen unterliegen sie einer interaktiven Sparsamkeitsregel, nach der adaptive Aktivitäten nur dann eigens behandelt werden, wenn sie erwartungsinkongruent sind bzw. eine modifizierende Initiative ins Interaktionsgeschehen einbringen (vgl. Clark/ Schaefer 1989). Weiterhin ist zu bedenken, dass einzelne multimodale Aktivitäten nur einen Aspekt eines komplexen Handlungsvollzugs ausmachen. Interaktionsteilnehmer reagieren jedoch auf integrale Deutungen des Handlungsvollzugs und oft nicht erkennbar selektiv auf einen einzelnen Aspekt seiner multimodalen Realisierung (z.B. eine prosodische Kontur, eine isolierbare Körperbewegung). Diese einzelnen Koordinationsaktivitäten sind also fraglos aus konstitutionstheoretischer Hinsicht interaktiv relevant, da sie zur Herstellung des Interaktionsereignisses beitragen; sie sind aber meist keine Gegenstände interaktiver Verhandlung und reziproker, erkennbar gemachter Deutung, sondern sie haben einen primär organisatorischen Charakter. Wichtig ist jedoch, dass koordinative Verhaltensweisen von den Interaktionsbeteiligten dennoch grundsätzlich als Handlungen vollzogen und gewertet werden können. Koordinationsaktivitäten können also reaktive Interpretationen hervorrufen, gegebenenfalls durch „accounts“ akzeptabel gemacht werden und Koordinations-„displays“ können erkennbar als solche produziert werden, wobei dann mit Dokumentation durch Stilisierung und Inszenierung zu rechnen ist. Zu denken ist hier beispielsweise an die Inszenierung des „konzentrierten Zuhörers“ durch einen Beteiligten, der ostentativ seine Koordination mit dem Sprecher demonstriert, während andere unaufmerksam zu sein scheinen. Umgekehrt kann z.B. Koordination von Beteiligten als inadäquat oder auch als „Unterlassungshandlung“ thematisiert werden, wenn für sie keine auf ihr aktuelles Verhalten beziehbare Aktivitäten anderer vollzogen werden: „du hörst mir mal wieder überhaupt nicht zu“. 28 Zu „formulation“ siehe beispielsweise Heritage/ Watson (1979) und Pomerantz (1986). Arnulf Deppermann / Reinhold Schmitt 42 Bei der Klärung des Verhältnisses von Koordination und Kooperation stellt sich zwangsläufig die Frage: Handelt es sich um zwei unterschiedliche Phänomenklassen mit eigenständiger Konstitutionslogik? Oder ergibt sich die Differenzierung erst in Folge von zwei Erkenntnisinteressen, die unterschiedliche Betrachtungsweisen auf die gleichen Interaktionsphänomene motivieren? Unseres Erachtens lässt sich diese Frage nicht eindeutig beantworten. In manchen Fällen geht es tatsächlich um die Differenzierung unterschiedlicher empirischer Ereignisse, in anderen dagegen haben wir es mit verschiedenen Betrachtungsweisen des gleichen Ereignisses zu tun. Betrachtet man „clear cases“, in denen koordinative Aktivitäten eine ausgrenzbare Klasse von Ereignissen ausmachen, die keine Handlungen sind, dann sind dies insbesondere Verhaltensweisen von Interaktionsbeteiligten, die aktuell nicht Träger der Handlungsstruktur sind, sondern als „verbal Abstinente“ ihre für die Herstellung des Interaktionsgeschehens konstitutive Beteiligungsweise ausgestalten. In solchen Fällen ist für die Beteiligten deutlich, dass es sich um nicht handlungsartige Aktivitäten handelt. Daher ist sowohl die aus einer analytischen Außenperspektive gestellte Frage nach ihrem pragmatischen Gehalt, nach Implikationen in Begriffen konditioneller Relevanz etc. ebenso wenig sinnvoll wie die Suche nach von den Beteiligten selbst produzierten Hinweisen auf ihre Interpretation bzw. Kategorisierung dieses Verhaltens in der Reaktion darauf. Koordinative Aktivitäten sind beim verbal abstinenten (oder bloß „rückmeldenden“) Beteiligungsstatus leichter zu identifizieren, zumal sie meist die Beiträge fokaler Handlungsträger und die allgemeine Interaktionsentwicklung (etwaige Modalitätswechsel oder thematische Entwicklungen etc.) zum Bezugspunkt haben. Dies ändert sich jedoch in dem Moment, in dem man sich analytisch dem zentralen Handlungsträger und dessen gesamtem Verhaltensspektrum zuwendet. Hier werden koordinative Verhaltensweisen vorbereitend und unterstützend mit auf die Kooperation bezogenen Handlungen realisiert, und die Handlungen selbst können analytisch in koordinative Aktivitäten dekomponiert werden, die als ihre Konstituenten auszuweisen sind (vgl. in Abschn. 5.1 die Bemerkungen zur Konstitution einer darstellerischen Dramaturgie durch die Koordination von Ausdrucksmodi). In solchen Fällen scheint es uns wiederum nicht sinnvoll zu sein, „Koordination“ als eigenwertigen Phänomenbereich von Handlungen empirisch abgrenzen zu wollen. Hier wird vielmehr der Gegenstandsbereich durch die erkenntnisorientierte Fokussierung der ana- Koordination. Zur Begründung eines neuen Forschungsgegenstandes 43 lytischen Perspektive eröffnet, die sich dann nicht um die Handlungsstrukturen kümmert, sondern um die für deren Vollzug notwendige Trägerstruktur und ihre prozessualen Voraussetzungen. Für diese Perspektive ist also der Verzicht auf handlungskategoriale Beschreibung ebenso konstitutiv wie eine - gemessen an der Handlungsrekonstruktion - wesentlich deskriptivere und detailliertere Beschreibung des in allen Modalitäten gleichzeitig ablaufenden Ausdrucksverhaltens. Koordination meint dann also ein höheres Auflösungsniveau der Beschreibung, eine stärkere Aspektualisierung, Detaillierung und analytische Isolierung unterschiedlicher Ausdrucksmodalitäten sowie eine Darstellung in beobachtungsnäheren, interpretativ und inferenziell weniger gehaltvollen Termini als das bei einer Handlungsanalyse der gleichen Interaktionsereignisse der Fall wäre. Die sowohl empirisch-analytische als auch interaktionstheoretische Bedeutung und Notwendigkeit der Integration von Koordination als relevante Forschungsperspektive bei der Rekonstruktion generativer Mechanismen der Hervorbringung interaktiver Ordnung lässt sich sehr schön am Beispiel von Konfliktdynamiken zeigen. Konflikt- oder Streitdynamiken haben ohne Zweifel eine klare Struktur aufeinander bezogener und auf Eskalation hinauslaufender Handlungen, die bei einer handlungsfokussierten Rekonstruktion etwa als interaktiver Dreischritt von Vorwurf-Gegenvorwurf/ Widersprechen-Insistieren deutlich werden (vgl. Deppermann 1997; Günthner 2000; Spranz-Fogasy 2005) und einen wichtigen Aspekt solcher Dynamiken erfassen können. Gerade aber in Situationen, die durch etablierte Perspektivendivergenzen, Beziehungsirritationen, große Emotionalität und die Verschärfung der Zuschreibung feindlicher, unlauterer etc. Absichten gekennzeichnet sind, spielt die Relevantsetzung koordinativer Aspekte als Ressource der Konfliktverschärfung eine wesentliche Rolle (beispielsweise: verschärfte Stimmmodulation durch Pressen, Blickkontakt vermeiden, rigidere Körperpositur, proxemische Distanzierung etc.). Dies wird aber nur dann deutlich, wenn man solche Dynamiken nicht als Handlungsdynamiken von Konflikt- oder Streitgesprächen, sondern als multimodal konstituierte Interaktionsereignisse analysiert. Die kriterialen Differenzen der einzelnen Aktivitäten, die hier die Konfliktdynamik ausmachen, lassen sich eben gerade nicht als Differenz zwischen Handlungstypen beschreiben. Sie entstehen vielmehr durch den gesamten Bereich der Feinzeichnung unterschiedlicher Ausdrucksmodi, die dabei in all ihrer Unterschiedlichkeit stets den gleichen Handlungstyp (z.B. Vorwurf) realisieren können. Arnulf Deppermann / Reinhold Schmitt 44 Gemessen an dem bisherigen Auflösungsgrad der strukturbezogenen Analyse und der primären handlungsschematischen Fokussierung setzt dies eine weitergehende Erweiterung des für das Interaktionsereignis konstitutiven Phänomenbereichs voraus. Die hierfür notwendige Integration des gesamten Bereichs koordinativer Interaktionsgrundlagen führt dabei zwangsläufig zu einer Reflexion der konzeptuellen Grundlagen handlungsschematischer Ansätze. Aufgrund dieser Tatsache sind Konflikt- und Streitdynamiken sicherlich ein prototypischer Kontext für die Untersuchung von interpretativen Zuschreibungen und Inszenierungen, in denen koordinative Aktivitäten als handlungsäquivalente Verhaltensweisen angenommen bzw. angeboten werden. Der rhetorische Vorteil dieses Einsatzes von koordinativem Verhalten besteht dabei gerade in seinen oben genannten Aspekten, in denen es sich idealtypisch von Handlungen unterscheidet (z.B. kein Gestaltcharakter, nicht verbal, nicht „accountable“ etc.). Der handlungs- und intentionsbezogene Geltungsstatus der lokalen, aktuellen koordinativen Aktivitäten ist zumeist vollkommen kontextabhängig, semiotisch diffus und vage und deshalb nur schwer zu explizieren und zu begründen. Entsprechende Zuschreibungen („Du schaust mich böse an“) sind daher leicht zurückzuweisen. Aus diesem Grund haben koordinative Aktivitäten ein besonderes strategisches Potenzial, um als negierbare und nicht sanktionierbare, aber gerade deshalb sehr wirksame Handlungsäquivalente funktionalisiert und zielsicher eingesetzt zu werden, ohne aber als Produzent entsprechend „accountable“ für die resultierenden Partnerinterpretationen zu sein. Ein weiterer interaktionstheoretisch interessanter Aspekt ist die Frage, ob man die von der Konversationsanalyse formulierte prinzipielle „Ordnungsprämisse“, 29 die auch von anderen sequenzanalytisch arbeitenden Ansätzen - wie etwa der objektiven Hermeneutik 30 - geteilt wird, auch sinnvollerweise auf Koordination anwenden kann. Hierbei handelt es sich um eine Vorstellung von „order at all points“, die grundsätzlich davon ausgeht, kein in der Interaktion auftauchendes Phänomen als Zufall, sondern als Ergebnis der Bearbeitung interaktiver Anforderungen zu betrachten. Antworten auf diese 29 Siehe etwa Bergmann (1985, S. 311) oder Heritage (1985, S. 2). 30 Siehe beispielsweise Oevermann et al. (1979, S. 394), die fordern, „für jedes im Protokoll enthaltene Element des Textes eine Motivierung zu explizieren, Textelemente nie als Produkt des Zufalls anzusehen“. Koordination. Zur Begründung eines neuen Forschungsgegenstandes 45 Frage hängen letztlich ebenso wie die fragliche „display“-Qualität von koordinativen Aktivitäten davon ab, wie die Frage nach der kognitiven Kapazität und der Wahrnehmungsbreite und -permanenz der Interaktionsbeteiligten selbst zu beantworten ist. Dies muss jedoch durch Analysen des faktischinteraktiven Umgangs der Interaktionsbeteiligten mit koordinativen Aktivitäten erst geklärt werden. 8. Gegenstandskonstitutive Folgen Die Produktivität eines Konzeptes, das einen (neuen) Forschungsgegenstand konstitutiert, muss nachgewiesen werden. Dies gelingt in unserem Falle nur, wenn deutlich wird, worin das Potenzial von Koordination als konstitutivem, eigenwertigem Gegenstand der Interaktionsanalyse im Hinblick auf neue Fragestellungen, die Entdeckung neuer Phänomene, die Entwicklung oder Modifikation methodischer Verfahren und hinsichtlich der Möglichkeit interaktionstheoretischer Neumodellierungen besteht. Wir konzentrieren uns dabei im Folgenden exemplarisch auf zwei Aspekte: die Konstitution bislang nicht untersuchter Gegenstände (Abschn. 8.1) und die Neukonstitution etablierter Gegenstände sowie die Reflexion etablierter, verbal definierter Konzepte (Abschn. 8.2). 8.1 Konstitution neuer Untersuchungsgegenstände Die mit den audio-visuellen Daten gegebene Möglichkeit, Koordination systematisch auf ihre interaktionskonstitutive Funktionalität hin zu untersuchen, rückt den bislang weitgehend vernachlässigten Bereich von Wahrnehmungs-, Verarbeitungs- und Beteiligungsleistungen derjenigen Interaktionsbeteiligten in den Blick, die sich phasenweise an der Interaktionsentwicklung nicht beteiligen, die also „verbal abstinent“ 31 sind. Dieser Aspekt lässt sich nicht nur in Situationen dokumentieren und untersuchen, in denen Beteiligte auf der Grundlage einer „ professional vision“ 32 das Interaktionsgeschehen systematisch beobachten und dabei über unterschiedliche „display“-Formen gleichzeitig ihre Verarbeitung des Beobachteten anzeigen. Auch in ganz alltäglichen Interaktionen beobachten und verfolgen die Interaktionsbeteiligten das Geschehen und zeigen durch koordinative Aktivitäten ihre damit verbundenen Interpretationen und Einschätzungen. 31 Siehe beispielsweise Heidtmann/ Föh (i.d. Bd.). 32 Goodwin (1994). Arnulf Deppermann / Reinhold Schmitt 46 Wahrnehmung, beispielsweise in Form von Monitoring, und die realzeitlichen Verarbeitungs- und Interpretationsleistungen der Beteiligten tauchen - dem grundsätzlichen verbalen Bias folgend - in den Transkripten bislang primär als Rückmeldeaktivitäten und damit als lokale verbale Reaktionen auf. Auf der Grundlage von Videoaufzeichnungen werden solche Aktivitäten nicht nur in ihren unterschiedlichen Formen und Funktionen als Teil kontinuierlicher Koordinationsleistungen der Beteiligten deutlich. Die klassische Sicht des Rückmeldeverhaltens wird somit dynamisiert und erscheint als kleiner lokaler und verbaler Teil komplexer und dauernder Wahrnehmungs- und Wahrnehmungs- „display“-Prozesse, die das Ergebnis kontinuierlicher Koordinationsleistungen sind. Der Blick auf Koordination macht damit letztlich die von Hausendorf (2001) für Interaktion theoretisch postulierte Struktur der Wahrnehmungswahrnehmung als konkreten empirischen Untersuchungsgegenstand zugänglich. Koordinative Aktivitäten verbal abstinenter Teilnehmer bekommen dabei den Status von Reaktionen, die sich auf die „accountability“ des Handlungsvollzugs beziehen und selbst auf Online-Interpretationen der Beteiligten beruhen. Noch ist nicht sehr viel bekannt über die Struktur, Funktionalität und Systematik, in der Interaktionsbeteiligte der sich entwickelnden Interaktion und beispielsweise der Organisation von „turn-taking“ mit ihren Blicken folgen (vgl. aber Goodwin 1981; Streeck/ Hartge 1992). Wenn man aber mit Garfinkel davon ausgeht, dass Handlungsvollzug und Handlungsbeschreibung untrennbare Aspekte sind, und wir weiterhin davon ausgehen, dass nicht nur die Handlungsqualität, sondern auch die interaktive Qualität basaler Beteiligungsweisen in Form von „displays“ kommuniziert werden, dann scheint es nur logisch zu sein, nach den Auswirkungen und Reaktionen dieser Aspekte bei den jeweiligen Adressaten und Zuschauern zu fragen. Diese kommen primär über die Analyse von Koordination in den Blick. 8.2 Neukonstitution von Gegenständen und Reflexion etablierter Konzepte Die Konzentration auf den Aspekt der Koordination sensibilisiert für die Wahrnehmung des bisher dominanten verbalen Bias bei der Analyse von Interaktion. Sie eröffnet somit neue Perspektiven, die die Reflexion der Reichweite und Tauglichkeit klassischer, verbal definierter Konzepte und Gegenstände betreffen, und sie führt zur Notwendigkeit, etablierte Konzepte auf ihre weitere Tauglichkeit im Rahmen einer multimodalen Konzeption von Interaktion hin zu befragen. Koordination. Zur Begründung eines neuen Forschungsgegenstandes 47 8.2.1 „Participation framework“ Videoaufzeichnungen ermöglichen die detaillierte Analyse der Art und Weise, wie Beteiligte „accountable“ machen, dass sie sich nicht als Sprecher etablieren wollen (vgl. Schmitt 2004b). Solche Vorgänge, die auf teilweise weit vor dem betreffenden „transition relevance place“ stattfindenden koordinativen Verhaltensweisen basieren, machen Folgendes deutlich: Nicht nur die Etablierung als Sprecher, die in der Regel mittels verbaler Aktivitäten erfolgt, ist eine Leistung, die in interaktiver Abstimmung mit den anderen Beteiligten und mittels sequenzieller Einpassung in die lokalen Interaktionsstrukturen realisiert werden muss. Auch die situationsangemessene, zeitlich eingepasste Darstellung des Verzichts, die Sprecherrolle zu übernehmen, ist eine interaktive Leistung, zu deren Realisierung bestimmte Koordinationsverfahren eingesetzt werden. Solche Verzicht-Techniken müssen zukünftig als konstitutiver Bestandteil der „turn-taking“-Organisation systematisch empirisch untersucht werden. Dieser Aspekt führt zu einem viel versprechenden Ansatzpunkt, die bestehende Systematik der Verteilung von Sprecher- und Hörerrollen (Goffman 1979; Levinson 1988) unter systematischer Integration koordinativer Relevanzen zu einer Systematik der Organisation von Beteiligungsweisen weiterzuentwickeln. Hierbei käme der empirischen Untersuchung, der kategorialen Ausarbeitung und typologischen Differenzierung gerade derjenigen Beteiligungsweisen Priorität zu, die auf einer Grundlage verbaler Abstinenz mittels multimodal realisierter Koordinationsleistungen vollzogen werden. 8.2.2 „Turn-taking“-Organisation Die Notwendigkeit, etablierte, auf den verbalen Austausch bezogene Konzepte und Modelle systematisch aus einer koordinationsanalytischen Perspektive zu reflektieren, macht auch vor dem Kernstück der Konversationsanalyse nicht Halt: der „turn-taking“-Organisation. 33 Die Konversationsanalyse hat dem „turn-taking“-Modell die Vorstellung zugrunde gelegt, wonach Redegelegenheiten in der Interaktion prinzipiell ein knappes Gut sind und im Normalfall mehr als einer sprechen will. In den meisten Situationen sind Redegelegenheiten der Schlüssel zum Handeln und 33 Zur Darstellung der Auswirkumgen auf die „turn-taking“-Organisation siehe beispielsweise Dausendschön/ Krafft (2002), Schmitt (2005) und Mondada (i. Dr.). Arnulf Deppermann / Reinhold Schmitt 48 zur sozialen Präsenz. Da es bei der „turn“-Organisation im Prinzip nicht um Rederecht als solches, sondern um qualifizierte Gelegenheiten für bestimmte Aktivitäten geht, ist der Status des legitimen Sprechers kontextsensitiv und auch davon abhängig, wie der Sprecher die qualifizierte Gelegenheit faktisch nutzt. Die Analyse des koordinativen Verhaltens verbal abstinenter Teilnehmer kann beispielsweise die Frage nach dem interaktiven Schicksal legitimer Sprecher und ihrer Darstellungsgelegenheiten stellen. Dabei wird man sich zwangsläufig einer Konzeption annähern, die nicht nur den „turn“ und dessen verbale Konstruktion, sondern auch den Status des legitimen Sprechers als „accomplishment“ aller Beteiligten begreift. Der grundsätzliche Aspekt, der bei solchen Analysen in den Mittelpunkt rückt, ist das Verhältnis der „turntaking-machinery“ 34 als formalem Regelungsmechanismus und der faktischen interaktiven Realität nach Zuteilung der Sprecherrolle und dem damit verbundenen Status eines legitimierten Sprechers als ein Aspekt dieser Realität. Eine interessante Forschungsfrage ist hier zum Beispiel: Wer entscheidet über den faktisch-interaktiven Status des legitimen Sprechers? Und welche unterschiedlichen Formen und „displays“ von Sprecherakzeptanz lassen sich bei den verbal nicht aktiven Interaktionsbeteiligten finden? Auf der Grundlage systematischer Analysen, die das koordinative Verhalten von Nichtsprechern im Hinblick auf gesprächsorganisatorisch relevante Implikationen fokussieren, wird es möglich, den faktischen Status des aktuellen Sprechers als Zuschreibung aller Beteiligten zu erfahren, nachdem er diesen Status unter Anwendung der „turn-taking-machinery“ legitimerweise bekommen hat. Dies würde letztlich zu einer Neubestimmung der Vorstellung von „Rederecht als kostbarem Gut“ führen. Man muss sich das Rederecht nicht nur in Abstimmung oder Konkurrenz mit anderen Interaktionsbeteiligten erwerben. Auch dann, wenn man sich als legitimer Sprecher etabliert hat und auch der einzige Beteiligte ist, der das Recht hat zu sprechen, kann man sich dieses Status nicht uneingeschränkt sicher sein, da dieses Gut nie wirklich sicher, sondern immer latent bedroht ist. 34 Die „machinery“-Metapher verweist in der konversationsanalytischen Vorstellung auf nicht hintergehbare Konstitutionsprinzipien der Interaktion, der die kommunizierenden Sprecher „ausgeliefert“ sind, zu denen sie sich zwangsweise verhalten müssen, und ohne die Interaktion nicht möglich ist. Hierzu zählen beispielsweise das „turn-taking“ oder die Präferenzorganisation. So charakterisiert Bilmes (1988, S. 172) Präferenzorganisation explizit als Eigenschaft des Interaktionssystems („the system“) und nicht als individuelle, sprecherseitige Entscheidung; siehe auch Schegloff/ Sacks (1973, S. 293). Koordination. Zur Begründung eines neuen Forschungsgegenstandes 49 9. Schlussbemerkung Grundsätzlich produziert ein auf Koordination fokussiertes Erkenntnisinteresse analytische Aufmerksamkeit für einen bislang vernachlässigten oder nicht gesehenen konstitutiven Bereich der komplexen Interaktionsordnung. Unter einer koordinationsanalytischen Perspektive werden beispielsweise Aspekte wie Wahrnehmung, Monitoring, Online-Interpretation und Situationsanbahnung als relevante Gegenstände sichtbar und verlangen die Entwicklung entsprechender Analysemethoden, die Reflexion methodologischer Implikationen und Probleme sowie den Entwurf gegenstandsadäquater Konzepte und die Theoretisierung fallspezifischer Ergebnisse. Diese Anforderungen wirken über ihre Gegenstandsspezifik auf die übergeordnete Konzeption von Interaktion als dem zentralen Gegenstand wissenschaftlich-interpretativer Beschäftigung zurück. Sie führen so zu einer, dem multimodalen Charakter von Interaktion angemessenen, Modellierung, die auf der Grundlage methodischer, theoretischer und methodologischer Gleichwertigkeit neben den bisher starken verbalen Fokus andere Ausdrucksmodi stellt. Durch eine Modellierung von Interaktion, die ganz wesentlich darin besteht, die koordinativen Konstitutionsleistungen neben den handlungsspezifischen zu berücksichtigen, wird auch der verbale Anteil präziser fassbar. Für eine angemessene Analyse des verbalen Teils von Interaktion können nunmehr in systematischer Weise die vielfältigen Abhängigkeiten und Interdependenzbeziehungen aufgezeigt werden, wodurch der bisher dominante verbale Bias als problematische Beschränkung deutlich wird. Auch wenn man weiterhin primär an „talk-in-interaction“ interessiert ist, muss man wesentlich mehr über „interaction“ und die koordinative Arbeit der Beteiligten wissen, die „talk“ als Teil von „interaction“ jenseits einer auf einen harten Strukturmechanismus reduzierten „machinery“-Metaphorik überhaupt erst möglich macht. 10. Literatur Auer, Peter/ Couper-Kuhlen, Elizabeth/ Müller, Frank (1999): Language in Time: The Rythm and Tempo of Spoken Interaction. Oxford. Auer, Peter/ Luzio, Aldo di (1992) (Hg.): The Contextualization of Language. Amsterdam/ Philadelphia. Arnulf Deppermann / Reinhold Schmitt 50 Bergmann, Jörg R. (1985): Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit. Aufzeichnungen als Daten der interpretativen Soziologie. In: Bonß, Wolfgang/ Hartmann, Heinz (Hg.): Entzauberte Wissenschaft. Zur Relativität und Geltung soziologischer Forschung. Göttingen. S. 299-320. Bilmes, Jack (1988): The Concept of Preference in Conversation Analysis. 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Während die sequenziellen Praktiken der Gesprächsteilnehmer in der Konversationsanalyse und der Interaktionslinguistik eingehend untersucht worden sind, wurden die simultan ablaufenden Aktivitäten der Teilnehmer - ihre Körperhaltungen, Bewegungen, Blicke, ihre Positionen im Raum, kurz: die multimodalen Ressourcen, die uns durch Videodaten zugänglich sind - bisher kaum beachtet. Da uns inzwischen die Technik zur Verfügung steht, um adäquate Videodaten zu produzieren, ist eine Analyse dieser Phänomene heute möglich und unerlässlich. Die Betrachtung des Interaktionsraums, d.h. der räumlichen Konfigurationen, die die Interaktanten im Verlauf ihrer Aktivitäten herstellen, ermöglicht eine genaue Analyse des Ineinandergreifens der Logiken von Simultanität und Sequenzialität: Das Konzept des Interaktionsraums lenkt die Aufmerksamkeit auf die räumlichen Arrangements der Körper der Interaktanten und ihre wechselseitige Ausrichtung und damit auf die Verfahren, mit denen sie sich im Hinblick auf ihr gemeinsames Handeln im Raum koordinieren. Ich werde zunächst einige Eckpunkte der Behandlung des Interaktionsraums in der linguistischen und konversationsanalytischen Literatur und ihre konzeptuellen Konsequenzen für die Analyse der Handlungskoordinierung skizzieren (Abschn. 2.). Anschließend stelle ich eine Sammlung von Fällen vor, anhand derer der Prozess der Herstellung und Einrichtung des Interaktionsraums systematisch analysiert werden kann und die Bedeutung einer der Koordinierung des Handelns angemessenen Anordnung (oder Umordnung) der Körper deutlich wird (Abschn. 3.). Auf dieser Basis wird es dann möglich, ein rekurrentes sequenzielles Muster der Herstellung von Interaktionsräumen zu identifizieren und zu systematisieren (Abschn. 4.). Abschließend skizziere * Ich danke Reinhold Schmitt und Arnulf Deppermann für ihre anregenden Kommentare während der Entstehung dieses Textes, Ingrid Furchner für die Übersetzung des Textes aus dem Französischen. Lorenza Mondada 56 ich einige Konsequenzen sowohl für das Studium der Deixis in der klassischen Linguistik als auch für die Untersuchung von Interaktionsraum in der interaktionalen Linguistik (Abschn. 5.). Mit der Analyse dieser Phänomene in ganz unterschiedlichen Situationen und sozialen Aktivitäten wird die Verbindung zwischen Interaktionsraum und Koordinierung des Handelns ebenso beleuchtet wie ihre Verschränkung mit der sequenziellen Organisation des Sprechens-in-Interaktion. Ich zeige insbesondere, wie die Koordinierung dadurch hervorgebracht wird, dass die Beteiligten einen der Aktivität angemessenen Raum aktiv herstellen. 2. Einleitung: Interaktionsraum und lokale Verankerung der Organisation der Interaktion Die Umgebung der Interaktion ist in der Literatur auf vielfältige Weise kategorisiert worden: „Kontext“, „Situation“, „context of situation“ (dieser Begriff stammt von Malinowski und Firth), „Setting“ und manchmal „Raum“, „Umgebung“, sogar „Ökologie“. Ich möchte hier nicht die Entwicklungsgeschichte dieser verschiedenen Begriffe und ihrer Verwendung nachvollziehen, sondern beschränke mich darauf, einige Eckpunkte zu skizzieren. 2.1 Zum Kontext der Interaktion Vorab ist interessant anzumerken, dass die sehr zahlreichen Diskussionen über die Definition des „Kontextes“ der Interaktion in der Konversationsanalyse selten auf dessen räumlichen Ausdruck oder das räumliche Arrangement der Körper der Beteiligten Bezug genommen haben. Der Beitrag der Konversationsanalyse zur Erfassung des Kontextes bezieht sich vor allem auf die Kategorien, die von den Interaktanten lokal relevant gesetzt werden, um die Teilnehmer selbst, die Aktivität und den Kontext zu beschreiben. Es gab - und gibt - zahlreiche Kontroversen über den Zugang der Konversationsanalyse zum Kontext (vgl. z.B. die Diskussion zwischen Billig und Schegloff 1999). In der Frage, mit welchen Kategorien der Kontext angemessen zu beschreiben ist, steht meist ein „endogener“ Ansatz (der die besondere „analytische Mentalität“ kennzeichnet) einem „exogenen“ Ansatz gegenüber. Nach dem ersten Ansatz sind die Kategorien zu berücksichtigen, auf die die Teilnehmer selbst sich nachweislich und in einer für die Organisation der Interaktion und des Sprechens-in-Interaktion folgenreichen Weise („procedurally consequential“, Schegloff 1992a, 1992b) orientieren, so dass ein enger Interaktionsraum und Koordinierung 57 Zusammenhang zwischen kategorialer und sequenzieller Organisation der Interaktion etabliert werden kann. Im zweiten Ansatz spielen vor allem Kategorien, die aus theoretischen oder statischen Modellen stammen, eine Rolle. Der Beitrag der Konversationsanalyse in diesem Rahmen verkörpert sich vor allem in zwei Forschungsrichtungen: a) in der von Sacks (1972) seit dem Ende der 1960er Jahre angeregten Erforschung der Möglichkeiten der Kategorisierung von Personen („membership categorization devices“). Wenngleich mit diesem Ansatz grundsätzlich alle Arten von Kategorien behandelt werden können und die Analyse nicht auf Personen beschränkt ist, wurde dieser Bereich bei weitem bevorzugt. Die räumlichen Kategorien wurden hingegen kaum untersucht - mit Ausnahme von Schegloff (1972a), der die Wahl der Formulierungen räumlicher Kategorien in der Interaktion analysiert; b) in der Untersuchung der Eigenschaften, die die „Institutionalität“ (Drew/ Heritage 1992; für eine Diskussion siehe Psathas 1995) oder „Förmlichkeit“ (Atkinson 1982) einer Handlung ausmachen, vor allem in Analysen des institutionellen „talk-in-interaction“. Diese bezogen sich jedoch nicht auf den materiellen und räumlichen Kontext der Interaktionen, sondern vor allem auf ihre spezifischen sequenziellen Formate, die als eine Spezialform der im Alltagsgespräch möglichen Formate verstanden wurden. Der Raum hat in diesen Arbeiten also keine große konzeptuelle Rolle gespielt. Gelegentlich dienen Angaben zum Raum als „Beleg“ für die Institutionalität der Interaktion. Beispielsweise kann die Erwähnung des Umstands, dass eine Interaktion in einem Krankenhaus, einem Operationssaal oder dem Sprechzimmer einer Arztpraxis stattfindet, die Kategorisierung einer Aktivität als einer „im medizinischen Kontext“ stützen; doch ist dies nur dann relevant, wenn es sich auf die Interaktion und ihre spezifische sequenzielle Organisation konkret auswirkt. Allgemeine Angaben zu dem Ort, an dem sich die Interaktion abspielt, finden sich vor allem in den informellen ethnografischen Beschreibungen, die dem analysierten Ausschnitt meist voran gestellt sind. Diese Beschreibungen haben einen hybriden Status, selbst in Texten von Konversationsanalytikern: Sie resultieren nicht aus einer Analyse der Orientierung der Teilnehmer, beeinflussen aber nichtsdestoweniger die Lektüre der Ausschnitte, denen sie vorausgehen. Die Angabe des Raums in diesen Beschreibungen gibt einen Rahmen für die Interaktion an, ohne jedoch seine Struktur, seine Anordnung, seine Transformationen, seine Nutzung im Handeln als Objekt zu analysieren (siehe Mondada 2000 für eine Vertiefung dieser Unterscheidung). Lorenza Mondada 58 2.2 Vom beschriebenen Raum zum Raum als Ort der Handlung In Bezug auf Untersuchungen des Raumes selbst ist die Situation komplexer und differenzierter - vor allem weil sie aus ganz unterschiedlichen Disziplinen stammen. Das Interesse der Linguistik an Räumlichkeit förderte zunächst Ansätze der Bezugnahme auf den Raum, die tendenziell voraussetzen, dass ein Raum - dem Sprechen vorgängig - „out there“ existiert, den das Sprechen übernimmt, benennt, kategorisiert, eventuell je nach Sprache und Kultur unterschiedlich konzeptualisiert. Die Arbeiten, die sich mit der Beschreibung des Raums als verkörperter Aktivität befassen (z.B. Goodwin 2000, Haviland 1996), haben jedoch gezeigt, dass diese nicht nur eine Beziehung zum Referenten bzw. zum Adressaten dieser Beschreibung impliziert, sondern auch eine Positionierung im umgebenden Raum. So setzt Goodwin (2003) bei einem Team von Archäologen die Verfahren der räumlichen Bezugnahme zu der wechselseitigen Körperorientierung und Aufmerksamkeit der Teilnehmer in Beziehung: Der dadurch entstehende komplexe Raum konstituiert eine „domain of scrutinity“, die die Beteiligten aufmerksam betrachten, um die Punkte auszumachen, auf die der Sprecher verweist und deutet. Ähnlich zeigt Haviland (1993, 1996, 2000), dass die Zeigegesten von Auskunftgebern auf einer präzisen Analyse der lokalen Verankerung der Interaktion in einem sehr viel größeren Raum beruhen, in dem Richtungen und Koordinaten manchmal auf sehr große Entfernungen bestimmt werden (siehe auch Levinson 1996, 2003 zum System räumlicher Koordinaten). Das Interesse an Gesten hat Ansätze gefördert, die räumliche Referenz als „verkörperte Aktivität“ („embodied activity“) verstehen, welche den ganzen Körper des Sprechers und des Adressaten betrifft (Haviland 2000, Hanks 1990). Es förderte auch Untersuchungen dazu, wie der Raum durch Gesten erzeugt wird und wie nicht-räumliche Referenten räumlich beschrieben werden können. Beispielsweise beschreibt Enfield (2003), wie laotische Sprecher mit ihren Gesten Diagramme zeichnen, um Verwandtschaftsverhältnisse zu erklären (vgl. auch die Arbeiten von Liddell (1998) zur Gebärdensprache). Das Interesse am Raum förderte auch die Entwicklung räumlicher Metaphern wie der des „common ground“ (Clark et al. 1983, Clark 1996), die Räumlichkeit abstrakt und konzeptuell fassen, ohne ihre Auswirkungen und materiellen Bedingungen für das Handeln zu berücksichtigen. Interaktionsraum und Koordinierung 59 Der Interaktionsraum wurde also einerseits intensiv behandelt und andererseits stark vernachlässigt. So wurde er beispielsweise als Territorium beschrieben (Scheflen/ Ashcraft 1976), das vom menschlichen Handeln besetzt, geformt und begrenzt wird. 1 Er wurde jedoch selten im Zusammenhang mit den Aktivitäten behandelt, die tatsächlich in ihm ablaufen, sondern eher verallgemeinernd hinsichtlich typischer, erwartbarer oder sogar vorbestimmter Handlungen. Andere Ansätze zu einer Behandlung des Interaktionsraums finden sich bei Autoren, die die Multimodalität der Interaktion behandeln. Hier sind Goffman (1961) mit „Asylums, Behavior in Public Places“ (1963) und dem Begriff der „territories of the self“ (1971) und Kendon (1990) mit dem Begriff der „F-formation“ wohl die beiden Autoren, die sich am intensivsten mit der Verschränkung von Handlungsorganisationen und ihrer Verankerung im Raum befasst haben, sowohl im Hinblick auf die Beschränkungen des Handelns durch den Raum als auch im Hinblick auf dessen Hervorbringung durch das Handeln. Beide betonen, dass die körperliche Anordnung der Beteiligten in „formations“ ein - wenn auch punktuelles und veränderliches - abgegrenztes Territorium mit Zugangsbeschränkungen und Kontrolle seiner Grenzen erzeugt (siehe auch Müller/ Bohle i.d. Bd.). Innerhalb dieses Territoriums interagieren die Beteiligten auf der Grundlage des wechselseitigen Zugangs zu den lautlichen und visuellen Merkmalen des Handelns der jeweils anderen. Goffmans Untersuchung solcher Arrangements führte u.a. zum Begriff des „participation framework“ (1981) und der „fokussierten“ Interaktion („focused gatherings“, 1963). Conein (1998, S. 185) hebt diesen grundlegenden Beitrag Goffmans hervor: Pour Goffman la forme du contact attentionel devient [...] un critère d'identification de l'interaction sociale: „L'interaction sociale se manifesterait par une modification de la co-présence physique, et donc des relations de proximité propres au face-à-face: orientation des corps, des visages et des regards qui manifeste un contact attentionnel partagé. Elle contraste avec les formes de co-présence sans coordination de l'attention (unfocused interaction).“ Kendon nimmt den Gedanken der Aufmerksamkeitsorganisation in der Interaktion auf und arbeitet ihn in seinen Begriffen der F-formation und des „transactional segment“ weiter aus. Er betrachtet räumliche Positionierung 1 Zu erwähnen ist auch die soziologische, anthropologische und geografische Literatur zum Raum oder vielmehr zum „Territorium“ als einem vom menschlichen Handeln und für dieses strukturierten Ausschnitt des Raums. Lorenza Mondada 60 und Körperausrichtung als Ressource der Teilnehmer zur Bildung eines Arrangements, das für einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus und den Eintritt in eine als solche anerkannte gemeinsame Aktivität geeignet ist. Dieses Arrangement verändert sich oder löst sich auf, wenn die Aktivität sich ändert oder beendet wird. Das transactional segment ist der räumliche Bereich, auf den sich das Engagement und die Beteiligung eines Individuums an einer Aktivität bezieht. Die Interaktionssegmente (transactional segments) der Beteiligten können sich gegenseitig einschließen oder ausschließen; sie bilden ein Arrangement im Hinblick auf eine fokussierte Interaktion, d.h. eine „F-formation“ (Kendon 1990, S. 248f.). Die „F-formation“ kann unterschiedliche Formen haben; die „face-to-face“-Form ist die am besten untersuchte, doch sind auch L-Form oder Seite-an-Seite möglich. Kendon betont, dass einerseits die Anordnung der Körper im Raum den Interpretationsrahmen anzeigt, den die Teilnehmer anbieten und teilen, und dass dieser sich andererseits strukturierend auf den Interaktionstyp auswirkt, der in diesem Rahmen stattfindet: „there is a systematic relationship between spatial arrangement and mode of interaction“ (1990, S. 251). In einer stark von Scheflen und Kendon beeinflussten Analyse zeigen LeBaron und Streeck (1997), wie der Raum eines Verhörzimmers im Verlauf der Befragung eines Verdächtigen durch zwei Polizeibeamte sowohl als Begrenzung als auch als Ressource genutzt wird: Die Teilnehmer platzieren sich in gleichen Abständen um einen runden Tisch, ihre Stühle unterscheiden sich aber in der Farbe und in ihrer Position zum Ausgang. Im Verlauf der Befragung geht die Verschiebung des Stuhls eines Polizeibeamten - näher zum Verdächtigen hin - einher mit der Elizitierung von dessen Geständnis und rahmt so die Aktivität und die sozialen Beziehungen zwischen den Teilnehmern neu. 2.3 Vom Teilnahme-Rahmen zum Teilnahme-Raum Goffmans Arbeiten zu den Teilnahme-Rahmen (1981) wurden in der Literatur unterschiedlich aufgenommen. Während Levinson (1988) sie ausgehend von den Indikatoren für Äußerungsprozess und Polyphonie, die die partizipative Rolle in und mit der Sprache festschreiben, sprachlich systematisiert, verstehen andere Autoren Teilnahme eher so, dass sie auch Körperausrichtung, Gesten, Blicke und die Objekte in der Umgebung umfasst. So verweisen Goodwin/ Goodwin (2004) nicht nur auf die multimodalen Ressourcen, mit denen die Teilnahme hergestellt wird (besonders die Blicke), sondern auch auf die räumliche Verteilung dieser Ressourcen, wobei der Körper eine Interaktionsraum und Koordinierung 61 grundlegende Rolle spielt. So materialisiert sich beispielsweise beim Kinder- Hüpfspiel „Himmel und Hölle“ die Teilnahme im Raum, und die Positionierung der Körper darin ist für das Spiel gleichzeitig konstitutiv und normativ. Goodwin analysiert eine Uneinigkeit zwischen den Spielerinnen - die von einer Spielerin ausgeführte Bewegung wird von der Mitspielerin als Anzielen des falschen Kästchens und damit als Regelübertretung gewertet - und entwickelt daraus die Begriffe „participation framework“, „contextual configuration“ und „semiotic field“ (Goodwin 2000). Bei allen dreien ist nach Goodwin ihre Materialisierung in der Umgebung entscheidend: Die Teilnahme hängt wesentlich von der visuellen Verfügbarkeit der Teilnehmer, ihrer wechselseitigen Aufmerksamkeit und ihrer konvergenten Aufmerksamkeit auf ein Objekt ab - die kontinuierlich hergestellt, aufrecht erhalten und abgestimmt wird und nie sicher ist (2000, S. 1500). Die „contextual configuration“ resultiert aus der aktiven Verbindung verschiedener Ressourcen: Im Fall der analysierten Uneinigkeit im Himmelund-Hölle-Spiel sind diese Ressourcen vor allem die Sprache, die Gesten, die Körperposition und die Gitterzeichnung auf der Erde. Als die eine Spielerin ihr Nichteinverständnis zum Ausdruck bringt, wechselt sie von der Formulierung „el quarto“ oder „el cinco“, mit der sie sprachlich auf die aufgemalten Felder verweist, zum deiktischen Ausdruck „este“. Damit transformiert sie die relevante kontextuelle Konfiguration, indem sie dem Gitter und der konvergenten Ausrichtung der Blicke eine Rolle zuschreibt, die sie im ersten Fall nicht hatten (da eine nicht-deiktische Formulierung auch ohne Konvergenz der Blicke verstanden werden kann). In diesem Zusammenhang verwendet Goodwin die Metapher des „field“ und bezeichnet die Gitterzeichnung auf der Erde als „semiotic field“ oder auch als „graphic field“ (2000, S. 1505). Die Umgebung allein bewirkt nichts: Der Vollzug der koordinierten Handlung ist das Ergebnis einer reflexiv aufeinander abgestimmten Mobilisierung der Körper, des Raums der Gitterzeichnung, der Blicke und des Sprechens (siehe Mondada 2005 für eine vergleichbare Analyse zur Herstellung der Sichtbarkeit des kartografischen Raums). Goodwins Betrachtungen führten zu einer konzeptuellen Weiterentwicklung nicht nur des Begriffs des Interaktionsraums - der als solcher ungenannt bleibt - sondern auch und vielleicht vor allem in Bezug darauf, wie dieser in empirischen Daten analytisch erfasst werden kann. Unter diesem Gesichtspunkt bilden die „workplace studies“ methodologisch wie substanziell einen weiteren wichtigen Eckpunkt. Lorenza Mondada 62 2.4 „Workplaces“: Artefakte im Interaktionsraum Die zunehmende - und bei einigen Autoren wie Kendon sehr frühe - Beachtung des Interaktionsraums in der Literatur hängt grundlegend mit den technischen Möglichkeiten der Datenerfassung zusammen: Solange Interaktionen anhand von Audiodaten analysiert wurden, war der „umgebende“ Raum nicht dokumentierbar und damit der Analyse nicht zugänglich, außer wenn er von den Beteiligten explizit thematisiert wurde. Von dem Moment an, wo eine handhabbare Technologie die Video-Dokumentation natürlicher Interaktion ermöglichte, stellte sich zentral die Frage der Verteilung der Teilnehmer im Raum ebenso wie die der Artefakte (Gegenstände und Dokumente, Instrumente und technische Vorrichtungen), die sich in diesen Räumen befinden und sie strukturieren. Solche Aspekte wurden beispielhaft in den „workplace studies“ behandelt (Luff/ Hindmarsh/ Heath 2000; Heath/ Luff 2000; Goodwin 1996). Diese befassen sich mit interaktiven Handlungen, in deren Gestaltung technische Vorrichtungen eine wichtige Rolle spielen. So rückten komplexe Arbeitszusammenhänge, in denen kopräsente und räumlich entfernte Personen zusammenarbeiten, ins Zentrum der Aufmerksamkeit; theoretische Grundlagen wurden vor allem von Suchman (1993, S. 114; 1996) entwickelt. Suchman spricht von „Koordinationszentren“, um die Leistung einer Handlungskoordinierung sowohl innerhalb des lokalen Raums als auch über zwei getrennte Orte hinweg zu unterstreichen. Im Rahmen der „workplace studies“, die mehr oder weniger direkt von der Konversationsanalyse und der Ethnomethodologie beeinflusst sind, wurden verschiedene Phänomene untersucht, die unmittelbar mit der Frage der Koordinierung der Teilnehmer im Raum zusammenhängen: - die technologische Vermittlung der Interaktion (Heath/ Luff 1992); - die Manipulation von Gegenständen in der Interaktion und die Anordnung der Gegenstände im Raum im Hinblick auf eine bestimmte Aktivität, die sich dieser Aktivität anpasst und sie gleichzeitig beschränkt und bestimmt (Conein/ Jacopin 1993, Kirsh 1995); - die Koordinierung der Aufmerksamkeit der Beteiligten (Heath 1986, Conein 1998, Suchman 1996, Goodwin/ Goodwin 1996, Schmitt/ Deppermann i.d. Bd.); - die Betrachtung des Raums mit einem professionellen Blick, der ihn interpretiert, prüft, kategorisiert (Heath et al. 2002, Büscher i. Dr.). Interaktionsraum und Koordinierung 63 Interessant wird es, wenn man diese Beobachtungen nicht als auf hoch spezialisierte Arbeitsbereiche beschränkt betrachtet, sondern als auf andere Arten von Räumen übertragbar, vor allem auf den des alltäglichen Gesprächs: Auch bei diesem lässt sich anhand von Videoaufnahmen im Detail beobachten, wie das Gespräch parallel zu anderen Aktivitäten (wie essen, Auto fahren, fernsehen usw.) stattfindet und wie dabei Gegenstände und Verfahren der Organisation von Aufmerksamkeit und Kopräsenz mobilisiert werden, die manchmal erheblich komplexer sind, als man aufgrund von Audio-Daten vermuten würde. Dies umschreibt der Begriff der Multiaktivität (Goodwin 1996, Mondada i.V.a, Filliettaz i. Dr.), der dazu zwingt, Ko-okkurenz, Verschränkung, mehrere mehr oder weniger autonome parallele Handlungsstränge und ihre endogenen Arten der Kategorisierung zu berücksichtigen. Trotz all dieser Beiträge muss ein praxeologischer Ansatz des Raums noch vertieft werden. Er muss sich explizit mit den Beschränkungen durch den Raum sowie mit dessen Rolle als Ressource für die Interaktion befassen und so seine Verbindungen zum Handeln aufzeigen. Ein solch reflexiver Ansatz (im ethnomethodologischen Sinne des Wortes) muss vermeiden, den Raum als determinierend für die Interaktion zu behandeln; er muss die Materialität und die Formbarkeit des Raums berücksichtigen, welcher sowohl der Interaktion äußerlich ist als auch von ihr gestaltet wird. 2.5 Interaktionsraum und Koordinierung des Handelns Der Begriff des Interaktionsraums ermöglicht, Koordinierung eher als verkörperte Aktivität zu fassen. Bei der Koordinierung kommen Beziehungen von Simultanität und nicht nur von Sequenzialität ins Spiel; sie trägt also den verschiedenen Dimensionen Rechnung, die bei der Organisation des Sprechens und Handelns zum Tragen kommen. Der Begriff der Koordinierung verweist hier also auf die Praktiken der Konstitution von Ordnung durch gleichzeitige Abstimmung verschiedener Bewegungen und Körper im Raum 2 (vgl. auch Schmitt/ Deppermann i.d. Bd.). 2 Der Begriff der Koordinierung wird in der konversationsanalytischen Literatur als Fachbegriff kaum verwendet. Er findet sich vor allem bei Kendon (1990), Clark (1996) und besonders in den „workplace studies“ (vgl. Suchman 1996, Goodwin 1996). Heath erwähnt ihn im Zusammenhang mit der Koordination der Aufmerksamkeit; siehe jedoch die Einleitung von Depperman/ Schmitt (i.d. Bd.). Lorenza Mondada 64 Die Analysen der Sequenzialität haben gezeigt, wie die Teilnehmer sich sowohl prospektiv - durch die Projektion von Zugzwängen für den Folgezug - als auch retrospektiv abstimmen, indem sie im zweiten Zug ihr Verständnis der Vorgängeräußerung und eine adäquate Reaktion darauf entfalten. Die Analyse der Koordinierung macht nun eine Abstimmung sichtbar, die sich nicht sukzessive, sondern simultan vollzieht, durch eine Anordnung der Körper und der Gesten, die im Hinblick auf konkrete sequenzielle Punkte synchron sind. So kann die Herstellung einer bestimmten körperlichen Konfiguration eine gewisse Zeit beanspruchen, parallel zu anderen Handlungen ablaufen, aber beendet sein, wenn sie für die nachfolgende Handlung erforderlich ist. 3 Im Folgenden werde ich die räumliche Dimension der Koordinierung herausarbeiten, auf die der Begriff des Interaktionsraums verweist. Sie ist grundlegend sowohl in der Verbindung von Körperbewegungen und Gesten mit dem Sprechen als auch in der synchronen Abstimmung zwischen verschiedenen Beteiligten. Dabei ist also auch die zeitliche Dimension zu berücksichtigen, d.h. die sequenzielle Organisation der Aktivität und ihre Anbindung an die vorausgehende. 3. Verfahren der Herstellung des Interaktionsraums Im Folgenden werde ich mich mit der Verbindung von Interaktionsraum und Handlungskoordinierung befassen und ihren systematischen und exemplarischen Charakter herausarbeiten; dabei werde ich insbesondere die Konstitution des Interaktionsraums sowohl als Bedingung als auch als Ergebnis der emergenten Koordinierung beleuchten. Ich werde zunächst meine Perspektive auf das Phänomen anhand eines ersten Falles einführen (Abschn. 3.1). Anschließend werde ich in unterschiedlichen Videocorpora ein Verfahren untersuchen, das in verschiedenen Handlungskontexten beobachtbar ist, nämlich die Anordnung der Körper im Raum (Abschn. 3.2) beziehungsweise die Neuordnung des Raums (Abschn. 3.3) für die jeweiligen Zwecke der Aktivität. Dies kann in verschiedenen sequenziellen Positionen im Verlauf der Interaktion erfolgen, aber es ist vor allem charak- 3 Koordinationsphänomene sind nicht nur im Hinblick auf die Beziehung zwischen körperlichen Bewegungen erhellend, sondern auch hinsichtlich der Parallelaktivitäten oder Multiaktivitäten (für ein Beispiel siehe Relieu/ Licoppe 2005). Interaktionsraum und Koordinierung 65 teristisch für die Eröffnung. 4 Deren sequenzielle Mechanismen werde ich unter dem Aspekt der Etablierung des Interaktionsraums neu betrachten (Abschn. 4.). 3.1 Konfiguration des Interaktionsraums: Verfahren der körperlichen Anordnung des Raums Im Gegensatz zu einer Konzeption, nach der der Raum der Handlung vorgängig und bereits vorhanden ist und in dem die Handlung einfach stattfindet, betrachtet eine praxeologische Konzeption des Raums diesen als emergent 4 Aus Platzgründen konnte die Eröffnung - der Moment, in dem die Interaktanten in Kontakt treten und ihre wechselseitige Verfügbarkeit körperlich herstellen - hier nicht detailliert untersucht werden (siehe jedoch Mondada/ Schmitt i.V.). Es ist interessant zu sehen, dass die Untersuchung von Eröffnungen sich primär auf Telefongespräche beschränkte (Schegloff 1972b, 1986), d.h. auf rein verbale und akustische Phänomene. Im Fall des fest installierten Telefons beschränkt sich der Interaktionsraum auf den Bereich um den Apparat - allerdings zeigt Schegloff (1986) selbst, dass der Wohnraum des Angerufenen hier eine Rolle spielen kann, beispielsweise wenn dieser verzögert antwortet und der Anrufer Hypothesen darüber aufstellt, wo der Anruf den anderen überrascht hat (im Garten, unter der Dusche usw., d.h. an einem Ort, der entweder weit vom Telefon entfernt oder mit stark in Anspruch nehmenden Beschäftigungen verbunden ist). Im Fall des Mobiltelefons wird in der Eröffnungssequenz - vor dem bzw. anstelle des Grunds für den Anruf - regelmäßig danach gefragt, wo sich der Gesprächspartner befindet (Relieu 2002, S. 35). Dies dient dazu, seine Verfügbarkeit zu klären, und wirkt sich somit auf die Art des Engagements und die weitere thematische Entwicklung aus. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Eröffnung und Interaktionsraum ist also zentral, unabhängig davon, ob es sich um direkte oder um technisch vermittelte Interaktion handelt. Die Wegbeschreibungen (siehe Abschn. 3.2) sind ein gutes Beispiel für face-to-face-Interaktionen, in denen die räumliche Verbindung der Beteiligten im Zusammenspiel von Bewegung (Änderung der Laufrichtung auf denjenigen zu, der als zukünftiger Gesprächspartner emergiert), Kategorisierung (Einordnung des anderen als legitimen Gesprächspartner im Hinblick auf eine erkennbare soziale Aktivität, vgl. Mondada 2002b), sequenzieller Organisation und Sprechen hergestellt wird. Es gibt also eine Phase der Vororientierung der Körper im Raum, bevor die Eröffnung überhaupt stattfinden kann. Daraus ergibt sich im Übrigen das Problem, wie der Beginn einer Aktivität zu definieren ist, denn dieser ist selbst eine praktische Hervorbringung, die Zeit beansprucht und zu einer eigenen Aktivität werden kann (z.B. wenn jemand eine Gelegenheit abwartet, um sich einer anderen Person zu nähern, die sich in einem Gespräch befindet). Wenn der Vollzug der Eröffnung, wie Schegloff ihn für Telefongespräche beschreibt, entscheidend ist für die wechselseitige Anpassung der Beteiligten und damit die Bedingung für ihre Koordinierung, so ist die körperliche Orientierung auf die Eröffnung eine erste Koordinationsleistung, um das Gespräch zu ermöglichen. Koordinierung der Beteiligten und Eintritt in die Interaktion konfigurieren sich also wechselseitig. Lorenza Mondada 66 und als sich im Verlauf der Handlung (re)konfigurierend. Die Form des Raums wird durch die Konstellationen der Beteiligten, durch ihre Körperpositionen bearbeitet. Seine strukturellen und materiellen Eigenschaften werden ebenfalls durch das Handeln geformt und transformiert. Sie bilden Ressourcen für dieses Handeln, und die Art und Weise, in der sie genutzt werden, trägt reflexiv zu ihrer (Re-)Konfiguration bei. So kann eine Bank auf einem Platz ebenso für die Anwohner ein Ort sein, um dort zu sitzen und zu plaudern, wie für Skater ein Sprunghindernis, an dem sie trainieren können. Die wiederholte Nutzung des Raums in bestimmter Weise (plaudern, skaten) transformiert dessen Form und Materialität (sie vermindert oder erhöht die Eignung der Bank als Sitzmöbel oder als Übungshindernis für Skateboardsprünge). Unabhängig davon, ob der Raum nur wenig Beschränkungen bietet oder ob er durch seine Ausstattung materiell strukturiert ist, wirkt die Art und Weise, wie die Teilnehmer sich im Raum einrichten und verteilen, ihn in Besitz nehmen, strukturierend. Abgesehen davon, dass sie den Raum reflexiv und plastisch strukturieren, sind diese Anordnungen der Beteiligten auf die Herstellung einer räumlichen Konfiguration ausgerichtet, die für die Interaktion geeignet ist. Der Vollzug der Handlung beruht auf einer wechselseitigen Positionierung im Raum, die je nach Handlung mehr oder weniger komplex ist und mehr oder weniger neu etabliert werden muss. Verfolgt man den Ablauf einer geführten Stadtbesichtigung, so beobachtet man Folgendes: Sie findet im städtischen Raum statt, verläuft von einem Ort zum nächsten; der Führer entscheidet, vor diesem oder jenem bemerkenswerten Objekt stehen zu bleiben, um es zu beschreiben oder zu erklären. Dabei beachtet er den Zusammenhang zwischen der beabsichtigten Aktivität (wie der Kommentierung eines architektonischen Details) und der dafür erforderlichen räumlichen Positionierung (einer Anordnung der Beteiligten, bei der das anvisierte Detail sichtbar und zugänglich ist, aber die Gruppe weder den Verkehr behindert noch von ihm gestört wird). Die räumliche Anordnung der Gruppe während der Besichtigung ist also grundlegend für die Koordinierung der Teilnehmer im Hinblick auf die Aktivität. Der folgende Ausschnitt zeigt den Beginn der vorletzten Etappe einer Tour durch das Zentrum von Lyon, die auf dem Place des Terraux enden wird. Auf diesen ist die Gruppe ausgerichtet, während sie sich noch auf dem Place Louis Pradel befindet. Interaktionsraum und Koordinierung 67 (1) (TourLy plTerr b40’) Die Teilnehmer kommen nacheinander auf dem Platz an, steigen einige Treppenstufen hinauf, verteilen sich um den Führer (GUI). Abb. 1-6 1 GUI bien/ gut 2 (0.6) 3 GUI nous voilà pratiquement à: : hier sind wir praktisch am 4 (0.6) 5 GUI au bout d’notre ballade/ on va finir sur la place des Terraux/ am Ende unserer Tour die auf dem Place des Terraux enden wird 6 (1.4) 7 GUI où (c’est) bien sûr/ c’est bien le COEUr/ (.) politique/ wo (das ist) natürlich das ist also das politische Zentrum 8 de tous les pouvoirs à Lyon/ der Macht in Lyon 9 (0.7) 10 GUI mais on va quand même pa: r euh: : du côté de l'opéra/ aber wir gehen trotzdem über äh die Oper 11 (1.2) 12 GUI et c’est la place PRAdel\ und das ist der Place Pradel 13 (1.5) 14 GUI <la place louis pradel/ ((plus rapide))> der Place Louis Pradel ((schneller)) 15 (0.5) 16 GUI du nom du maire de Lyon ((continue)) nach dem Bürgermeister von Lyon ((geht weiter)) Lorenza Mondada 68 Der Äußerungsort wird vom Führer indexikalisch formuliert mit einer deiktischen Bezugnahme, die dem Anteil der Gruppe an der Herstellung der aktuellen Konfiguration Rechnung trägt („nous voilà“, Z. 3). Der Ort wird mit einer Selbstreparatur deskriptiv reformuliert („à: : . au bout d'notre ballade“, Z. 3, 5). Es ist anzunehmen, dass der Führer nach der Präposition zunächst zu einer Ortsbezeichnung ansetzt, dann aber den Zielort zum einen im Hinblick auf die Linearität des Rundgangs, zum anderen auf dessen Endpunkt reformuliert. Dieser Ort wird zunächst beschrieben („le COEUr politique“ etc., Z. 7). Der Place Pradel, auf dem sich die Gruppe befindet, wird hingegen erst in zweiter Position, am Ende, eingeführt und so als zweitrangig dargestellt, eher als Ort der Annäherung an den folgenden denn als ein Ort, dem als solchem Bedeutung zukommt. Diese Art der räumlichen Beschreibung ist auf die Herstellung einer Perspektivierung ausgerichtet, die durch die Anordnung der Teilnehmer faktisch bereits vollzogen ist: Unmittelbar vor dem Beginn des Ausschnitts kommen die Teilnehmer nacheinander auf dem Platz an, und der Führer beginnt mit seinen Ausführungen erst, als alle sich um ihn herum versammelt haben, in dieselbe Richtung schauen wie er, den Blick zur Oper und zum Place des Terraux gerichtet, größtenteils mit dem Rücken zum Place Pradel. Diese Anordnung der Körper und des Interaktionsraums vollzieht sich stillschweigend; sie ist das Resultat einer interaktiven Leistung: Der Führer positioniert sich angemessen im Raum, und die Teilnehmer verteilen sich im Halbkreis um ihn herum, womit sie ihn gleichzeitig als den Sprecher anerkennen, der als nächster das Wort ergreifen wird, und sich auf den Ort hin orientieren, auf den sich seine Ausführungen beziehen und die Blicke richten werden. Die Position der Videokamera trägt zur Konstitution dieses bestimmten Raums bei: Zunächst passt sich die Bildeinstellung der entstehenden räumlichen Konfiguration an (Abb. 7), indem die Kamera sich hinter den Führer begibt und in seine Blickrichtung filmt (Abb. 8); dann, als sich der Halbkreis um ihn gebildet hat, wechselt sie den Platz, um ihn frontal aufzunehmen (Abb. 9). Die Bedienung der Kamera stellt zum einen für uns - Forscher und Leser - einen verständlichen visuellen Zugang zum Geschehen her, indem sie den Bildausschnitt auf ein Objekt der Aufmerksamkeit einstellt. Zum anderen vermittelt sie den Teilnehmern selbst eine bestimmte Orientierung dieser Szene, indem sie die beginnende Anordnung der Körper verstärkt. Interaktionsraum und Koordinierung 69 Abb. 7: Ankunft der Teilnehmer Abb. 8: „bien/ “ (Z. 1) Abb. 9: . . „maire de lyon“ (Z. 16) Hier zeigt sich also ein enger Zusammenhang zwischen der Anordnung der Körper im Raum, dem Beginn der Erklärungssequenz und der reflexiven Auswirkung der Kamera auf die Konfiguration des Interaktionsraums, die vom Führer zur praktischen Durchführung seiner Aktivität organisiert wird. In den folgenden Analysen werden wir genauer beobachten, wie die Teilnehmer sich im Hinblick auf die praktischen Zwecke der anstehenden Aktivität im Raum anordnen. Doch während im obigen Beispiel die räumliche Konstellation hergestellt wird, bevor der Kommentar des Führers beginnt, vollzieht sich in den folgenden Fällen die Herstellung des Interaktionsraums, während die Teilnehmer sich bereits in Aktion und in Interaktion befinden. Wir werden uns mit einem spezifischen Phänomen befassen, dessen Rekurrenz in sehr unterschiedlichen Aktivitäten festzustellen ist: der Verzögerung oder Suspension einer bestimmten Aktivität, um den Interaktionsraum im Hinblick auf deren Fortsetzung angemessen zu reorganisieren. Ich werde dieses Phänomen anhand von vier sehr unterschiedlichen Corpora beschreiben: Wegbeschreibungen, einer Arbeitsbesprechung, bei der mit Karten gearbeitet wird, einer chirurgischen Operation und einer Unterhaltung im Auto. Die Untersuchung des Phänomens in sehr unterschiedlichen Kontexten mit entsprechend unterschiedlichen Handlungsökologien dient dazu, seinen Querschnitt und seine Systematik herauszuarbeiten. Es geht darum, wie ein Interaktionsraum von den Teilnehmern durch ihr Handeln und die Anordnung ihrer Körper im Raum (Abschn. 3.2) oder durch die Umordnung von Gegenständen (Abschn. 3.3) praktisch angelegt, gestaltet, hervorgebracht und transformiert wird. Ich werde die systematischen Züge des Phänomens herausarbeiten, die in den vorliegenden Fällen sichtbar werden (Abschn. 3.4). Lorenza Mondada 70 3.2 Anordnung der Körper im Raum im Hinblick auf das Handeln Anhand von Interaktionen, die parallel zu Bewegungen durch den Raum stattfinden, kann die Herstellung eines der laufenden Aktivität angemessenen Interaktionsraums exemplarisch beobachtet werden. Wegbeschreibungen sind dafür ein gutes Beispiel: Sie erfordern eine Koordinierung des Handelns zunächst im Hinblick auf die Kontaktaufnahme, dann im Hinblick auf die zweifache Definition von Äußerungsraum und bezeichnetem Raum. Ich werde diese Praxis anhand einer Kollektion von Eröffnungen von Wegbeschreibungen untersuchen. Das Corpus, aus dem diese Daten stammen, wurde von zwei Frauen (E und F) aufgenommen, die sich als Touristinnen ausgaben und PassantInnen (P) ansprachen. 5 Eine erste allgemeine Beobachtung betrifft die Organisation des Gehens der Passanten: 6 Die Kontaktaufnahme bewirkt, dass die Passanten oder Gruppen sich aufeinander einstellen, indem sie ihre Laufrichtung neu orientieren, um anzuhalten und sich einander zuzuwenden. Diese Konvergenz wird in der Regel von denen, die nach dem Weg fragen, dadurch initiiert, dass sie sich auf die Passanten zu bewegen, die sie als mögliche Auskunftgeber identifiziert haben. Die Angesprochenen reagieren mit einer Anpas- 5 Für weitere Analysen dieses Corpus siehe Barbéris/ Manes-Gallo (demn.); für eine ausführlichere Analyse siehe Mondada (i.V.b). 6 Das Gehen der Passanten wirft interessante Koordinationsprobleme auf. In diesem Zusammenhang wurden jedoch eher die Organisation des Fußgängerstroms und die höfliche gegenseitige Nichtbeachtung der Passanten untersucht als ihre Stops und Begegnungen (Sudnow 1972, Quéré/ Brezger 1992). Mit Blick und Körperhaltung geben die Passanten sich gegenseitig zu erkennen, welche Art der Kopräsenz sie etablieren, und organisieren ihr jeweiliges Verhalten entsprechend. Die Kopräsenz wird also auf einer Ebene unterhalb von Beziehung organisiert, denn die Aktanten befinden sich nicht in fokussierter Interaktion, sondern sie koordinieren ihr wechselseitiges Handeln, ohne in eine gemeinsame Handlung einzutreten. Das bedeutet nicht, dass sie sich nicht wahrnehmen: Die höfliche Nichtbeachtung ist eine Form der Kopräsenz, sie beruht auf einer gewissen Form von Aufmerksamkeit, von Wahrnehmung des Anderen, was einen koordinierten Vollzug, die gemeinsame Herstellung von Ordnung und dafür die Kompetenz eines Mitglieds der sozialen Gruppe erfordert. Die Laufbahnen der Passanten und ihre Überschneidungen im öffentlichen Raum transformieren diesen in eine Bühne der Sichtbarkeit, und so behandeln ihn die Aktanten; sie sind „kulturell kompetente Betrachter“ dieses Raums (Lee/ Watson 1992, Relieu 1994). Dieser Raum ist keineswegs leer: Er ist angefüllt mit verschiedensten Kategorien, räumlichen Positionierungen, projizierten Laufbahnen, „von allen gesehenen“ Objekten. Kopräsenz und Koorientierung werden visuell hergestellt, in der Selbstorganisation eines Kontextes, der durch Blickrichtung und Laufrichtung und deren mögliche Verläufe reflexiv hergestellt wird. Interaktionsraum und Koordinierung 71 sung an diese Bewegung (die Alternative wäre, dass sie den Schritt beschleunigen, um ihr auszuweichen). Diese erste Koordinierung der Körper noch vor dem „summons“ (bestehend aus „pardon“, „excusez-moi“ und einer Anrede) bildet die Eröffnung der Interaktion, markiert durch eine Angleichung sowohl der Körper als auch der Kategorien (die relevanten Kategorien für eine solche Begegnung zwischen Unbekannten sind „Passant“/ „Passant“ und nicht beispielsweise „Straßenhändler“ oder „Bettler“/ „Kunde“) (Mondada 2002b). 7 Nach der Kontaktaufnahme richtet sich die Interaktion unmittelbar auf deren Grund: (2) (MTP-E11, 33’45’’) 1 E excusez-moi madame/ l'église saint-roch s'il vous plaît\ Entschuldigung Madame die Kirche Saint-Roch bitte 2 P saint-roch c'est pas là/ Saint-Roch das ist nicht hier 3 (0.6) 4 P *ça c'e φ st saintan[toi*ne] das da ist Saint-Antoine *zeigt------------------*Arm weiterhin erhoben, ändert Richtg-> e φ sieht zum bezeichn. Obj.---> 5 E [ben oui c'est: (.)] *oui\ φ °on s: : -°= [nun ja das ist ] *ja man ( ) ------> φ p *beginnt vorzugehen----> 6 P -> =alors saint-roch/ *il faut que * vous preniez/ * =also Saint-Roch da müssen Sie nehmen ----->*zeigt vor sich*lässt Arm sinken* 7 -> *(2.0)* *gehen vorw* 8 P -> *la petite rue/ *là* die kleine Straße da *hebt Arm-------*streckt Arm aus* 9 *(0.5)* *E stellt sich neben P* 10 E oui: : ja 7 In einer anderen Analyse dieses Ausschnitts (Mondada 2002b) befasse ich mich mit der kategorialen Angleichung, die erforderlich ist, damit die Interaktion stattfinden kann; hier geht es vor allem um die körperliche Anpassung. Lorenza Mondada 72 Abb. 10: „#antoine“ (Z. 4) Abb. 11: „alors #saint-roch“ (Z. 6) Abb. 12: „là“ (Z. 8) (3) (MTP-E13, 01 00’28’’) 1 E pardon madame/ l'église saint-roch/ Entschuldigung Madame die Kirche Saint-Roch 2 (1.2) 3 P *ah\ l' é*glise τ (saint roch) c'est pas *du tout τ là ah die Kirche Saint-Roch das ist überhaupt nicht hier *Bl.n.vorn*Bl. n. links-----------------*geht zurück--> τ fasst sich ans Kinn-----------τ 4 (0.5) 5 E non/ # nein Bi # Abb.13 6 P °non°\ *l'église saint-roch i faut nein die Kirche Saint-Roch da müssen Sie -----> *geht weiter zur. u. zeigt m. Handfl. n. vorn---> 7 que: (.) vvous traversie: z/ * là* dort überqueren ---->*blickt zur.* 8 * # vouvous avez vous avez la: (0.4) vous avla xx-* Si- Sie haben Sie haben die Sie ha- die xx *zwei Schritte zur., sieht E u. F an u. zeigt m. Finger* Bi # Abb.14 9 *vous avez la grand-rue: / = # * Sie haben die große Straße Bi # Abb.15 *zeigt, nach vo. blickend, E u. F sind hinter ihr* 10 E =oui: ja 11 P vous remontez légèrement/ (.) euh: la rue [là\ voyez [(là) Sie gehen ein Stück hoch äh die Straße da sehen Sie (da) 12 E [oui [oui [ja [ja Interaktionsraum und Koordinierung 73 Abb. 13: „#non“ (Z. 5) Abb. 14: „#vouvous avez“ (Z. 8) Abb. 15: „grand-rue#“ (Z. 9) (4) (MTP 01.05.20.17) 1 E τ pardon monsieur/ la rue euh m tks τ l’église saint-roch Verzeihung Monsieur die Straße äh ( ) die Kirche Saint-Roch τ geht-----------------------------τ wird langsamer---> 2 (0.6) 3 P -> euh *voilà/ *vous pouvez prendre cette rue*-là/ äh hier Sie können diese Straße da nehmen *.......*zeigt"--> --->geht vor---> 4 -> (0.8)*(0.2) -->*.....---> 5 P -> qui* va τ (sur; c’est) la rue jean moulin/ die (auf das ist) die Straße Jean Moulin ->*zeigt----->> -----> τ 6 E ehoui ähja In allen diesen Fällen ist zu beobachten, dass die Beteiligten sich schon vor Beginn der eigentlichen Wegbeschreibung auf Initiative der Auskunftgeberin P angemessen im Raum positionieren, indem sie einen Ausgangspunkt für den Start der folgenden Beschreibung suchen. Diese Positionierung der Körper im Raum braucht Zeit, sie führt zu Umstellungen und erfordert eine Koordinierungsanstrengung der Beteiligten. Es ist zu beobachten, dass die körperlichen Aktivitäten den Rhythmus und die Zeitlichkeit des Sprechens vorgeben und damit die Form der Redebeiträge strukturieren. In Ausschnitt 2 hat der „turn“ eine besondere Form: Er ist so organisiert, dass die räumliche Referenz verzögert wird (Z. 6-7). P beginnt sich vorwärts zu bewegen (Z. 4), als ihre erste (negative) Beschreibung von E noch nicht vollständig ratifiziert wurde. Ihre Äußerung (Z. 6) beginnt mit einem Kon- Lorenza Mondada 74 nektor, gefolgt von einer Linksversetzung des Zielortes und dem Verbalkern. Das Argument des Verbs - der Ausgangspunkt der Wegbeschreibung - wird erst 2 Sekunden später geäußert (Z. 8), nachdem die Umstellung vollzogen und damit eine Synchronisierung mit der Zeigegeste möglich ist. Auch in Ausschnitt 3 beginnt die Positionierung im Raum während der ersten negativen Beschreibung (Z. 3). P initiiert eine komplexe Umstellung, indem sie selbst immer weiter rückwärts gehend eine geeignete Position einnimmt und dann durch Blicke ihre Gesprächspartnerinnen zu ihren Seiten etwas hinter sich positioniert. In der Entfaltung ihrer Äußerung zögert sie ebenfalls die Nennung des ersten Bezugspunktes hinaus, indem auch sie zunächst in einem linksversetzten Syntagma den gesuchten Ort benennt („l'église saint-roch“, Z. 6). Dann beginnt sie, verzögert und am Ende gedehnt, eine erste Verbalphrase (Z. 6-7), gefolgt von einer neuen Verbform („vous avez“, Z. 8) mit zahlreichen Selbstreparaturen, die das Auftreten des Arguments verzögern. Eine Wiederaufnahme der gesamten Äußerung, synchronisiert mit der Zeigegeste, erfolgt erst, als die Körper angemessen im Raum platziert sind („vous avez la grand-rue: / “, Z. 9). In Ausschnitt 4 hält der Passant nicht an, er verlangsamt lediglich seinen Schritt und wendet sich den beiden Frauen zu. Er bewegt sich vorwärts, während er gleichzeitig ein erstes Mal zeigt, dann den Arm wieder sinken lässt (am Ende von Z. 3, gleichzeitig mit „là“). Er beginnt ein zweites Mal zu zeigen, als die passende Position erreicht ist. Sein Beitrag besteht aus einer redeeinleitenden Partikel („euh voilà“, Z. 3), gefolgt vom Verb und seinem Argument („vous pouvez prendre cette rue-là“, Z. 2). Obgleich die Äußerung am Ende von Z. 3 syntaktisch vollständig ist, projiziert P eine Fortsetzung durch steigende Intonation, und nach einer Pause (Z. 3) - nachdem die Gesprächspartnerin sich genähert hat - fügt er einen Relativsatz an (Z. 5). Die Gehbewegung prägt die Formatierung des Redezugs also entscheidend. 8 Diese drei Beispiele zeigen also, wie die Form der Äußerung sich in unterschiedlicher Weise der Bewegung anpasst: Während der Bewegung wird die Äußerung suspendiert (Ausschnitt 2) oder sie ist von Selbstreparaturen durchsetzt (Ausschnitt 3, 4). In allen Fällen wird die sprachliche Aktivität verlangsamt, bis die Positionierung beendet ist. In zwei Fällen verzögert die Linksversetzung des Zielortes am Anfang der Äußerung (Ausschnitt 2, Z. 6, 8 Vgl. Relieu (1999) dazu, wie die Organisation des Redebeitrags sich der Organisation der Bewegung anpasst. Interaktionsraum und Koordinierung 75 Ausschnitt 3, Z. 6) den eigentlichen Beginn der Beschreibung - die auf diese Weise aber dennoch verankert und angekündigt wird - um zunächst die körperliche Konfiguration herzustellen, in der sie effektiv durchgeführt werden kann. Die Herstellung dieser neuen, dem Zweck der anstehenden Wegbeschreibung angepassten Konfiguration setzt in koordinierter Weise eine spezifische Formatierung des „turns“ und der sukzessiven Bewegungen der Gruppe im Raum in Gang; zugleich wird sie auch dadurch bewirkt, dass die Blicke im Wechsel auf die Gesprächspartner und das ferne Ziel gerichtet sind - die Blickrichtung trägt zur Ausrichtung der Körper bei. Der Beginn der Beschreibung erfordert also viel mehr als die richtige Wahl des Äußerungsbeginns, nämlich die - vor allem auf der Neupositionierung der Körper beruhende - Organisation eines Wahrnehmungs- und Teilnahmeraums, in dem der entstehende Redebeitrag für die Teilnehmer verständlich ist. Die Voraussetzungen der Sinnzuschreibung sind also nicht einfach vom Kontext gegeben, sondern sie werden von den Beteiligten aktiv hergestellt - durch die koordinierte Konstitution ihres Interaktionsraums. 3.3 Umgestaltung des Raums für das Handeln In den obigen Ausschnitten wird die Koordinierung der Beteiligten durch die interaktiv organisierte körperliche Anordnung im Raum vollzogen. Das beschriebene Phänomen - die Herstellung eines geeigneten Raums für die Zwecke der Aktivität während einer Verzögerung oder Unterbrechung der Äußerung - ist interessanter Weise auch in anderen Handlungskontexten zu beobachten, in denen der Raum nicht durch die Bewegung der Körper, sondern durch andere Vorrichtungen neu angeordnet wird. Wir werden dies an drei Ausschnitten aus ganz unterschiedlichen Corpora sehen: einer chirurgischen Operation, einer Arbeitssitzung von Agronomen und einem Gespräch im Auto. 3.3.1 Herstellung eines für die Handlung geeigneten Raums durch die Kamera Der erste Ausschnitt entstammt der Aufnahme einer chirurgischen Operation per Laparoskopie. Der Chefchirurg operiert mit Hilfe einer endoskopischen Kamera, mit der er auf die Anatomie des Patienten zugreifen kann, ohne den Körper öffnen zu müssen (Mondada 2003, 2004b). Im vorliegenden Fall Lorenza Mondada 76 dient die Kamera nicht nur dem Chirurgen bei der Operation; durch Echtzeitübertragung des endoskopischen Bildes kann gleichzeitig eine Gruppe von Ärzten in Weiterbildung die Prozedur in einem Hörsaal verfolgen. Die Operation wird gelegentlich für eine anatomische Demonstration unterbrochen, bei der der Bereich für den nächsten Schritt der Operation gezeigt wird. Der folgende Ausschnitt stammt aus einer solchen Beschreibung: Im Verlauf der Operation hält Dr. Daccard einen Augenblick inne, um die für das Folgende relevanten anatomischen Details zu nennen: (5.1) (3’/ p15-587 / k1d1 45’40 left pillar) (Erste Transkription) 1 DAC OKE you see here/ (3) you see/ (1) michelle/ (2) the 2 upper part of the spleen/ (2) the left (1) pillar/ (2) 3 and the phreno-gastric ligament here (1) very 4 short\ (1) and i create a window here/ 5 (4) 6 SED and the thirty degree angle optic helps you very well . here 7 DAC thathat's correct 8 SED with a zero degree it's always difficult to do down\ Die anatomische Beschreibung beinhaltet räumliche Indikatoren („here“, Z. 1, 3), außerdem eine Auflistung von Bezugspunkten in definiter Form (Z. 1-3). Sie setzt den „professionellen Blick“ (Goodwin 1994) der Zuhörer voraus: Von denen wird erwartet, dass sie die betreffenden anatomischen Details erkennen. Die Beschreibung stützt sich aber zusätzlich auf Zeigegesten, mit denen die Sichtbarkeit, die Evidenz dieser Bezugspunkte hergestellt wird. Der professionelle Blick beruht also nicht allein auf kompetentem Sehen, sondern auch auf einer technologischen Wahl, wie die Diskussion über Optik (Z. 6-8) deutlich macht. In diesem Ausschnitt interessiert uns wiederum die Abstimmung der Organisation zwischen der Beschreibung und den Gesten. Es handelt sich um zwei Arten von Bewegung: die der Kamera, die von Dr. Daccards Assistentin Michelle bedient wird, und die des Hakens, den Dr. Daccard selbst handhabt. Für diese Analyse ist eine detailliertere Transkription desselben Ausschnitts erforderlich: (5.2) (3’/ p15-587 / k1d1 45’40 left pillar) (Zweite Transkription) 1 (1.9) 2 DAC # oké\ you see he: ∆ re/ # Kam ∆ Zoom vorw.--> Bi # Abb.16 # Abb.17 Interaktionsraum und Koordinierung 77 3 (1.0) ∆ (2.0) # ∆ Kam ---> ∆ Zoom rückw. ∆ Bi # Abb.18 4 DAC you ∆ see: (1.0) <°michelle°/ ((schneller))> (2.0) ∆ the: Kam ∆ langs. Zoom---------------------------------- ∆ 5 DAC upper part of the s*plee: n/ * *zeigt mit d. Haken* 6 (2.0) 7 DAC the lef*t (1.0) pillar/ * *zeigt----------* 8 *(1.9)* dac "* 8 DAC *and the phreno/ (.) gastric/ ligament he*re\ *zeigt" 9 (1.0) 10 DAC *very short* *führt Zange ins Operationsfeld ein* 11 *(1.0)* dac *greift das Band mit der Zange* Wie beim ersten Ausschnitt in diesem Beitrag gibt die Transkription nicht nur die Aktivitäten der Teilnehmer im Interaktionsraum wieder, sondern auch die Bewegungen der Kamera, die sie aufzeichnet. Während es in Ausschnitt 1 die Kamera der Forscherin war, die zur Formierung der Gruppe als kollektive Zuhörerschaft beiträgt, handelt es sich hier um Aufnahmen der Teilnehmer selbst: Die Herstellung eines geeigneten Bildes, das zur Einrichtung eines neuen Interaktionsraums beiträgt, ist Teil ihrer Aktivitäten. Die Beschreibung der von der Kamera sichtbar gemachten Anatomie wird mit einer Bezugnahme auf die visuelle Wahrnehmung eingeführt („you see here/ “, Z. 2) - ein für die Einführung eines neuen Referenten häufig gebrauchtes Verfahren (vgl. Mondada 2004b). Die sprachliche Realisierung des deiktischen Ausdrucks erfolgt gleichzeitig mit einer Bewegung der endoskopischen Kamera, die sich dem angegebenen Bereich nähert. Zoomeffekt und deiktischer Ausdruck spielen also zusammen: Ersterer etabliert den relevanten Raum für Letzteren, indem er den entsprechenden Bereich umgrenzt und rahmt. Diese Bewegung wird aber von Dr. Daccard als problematisch behandelt: „you see here/ “ (Z. 2) projiziert eine längere Ausführung, doch anschließend folgt zunächst eine Pause (Z. 3), dann eine Wiederaufnahme des einleitenden deiktischen Ausdrucks „you see“ (Z. 4), diesmal gefolgt von einer Aufzäh- Lorenza Mondada 78 lung von Objekten. Die Wiederaufnahme wird begleitet von einer Korrektur der Kamerabewegung, die mit einem Zoom rückwärts zum ursprünglichen Bildausschnitt zurückkehrt (Z. 3), gefolgt von einem langsameren Zoom vorwärts (Z. 4). Abb. 16: „#oké“ (Z. 2) Abb. 17: Zoom vorwärts „he: re#“ (Z. 3) Abb. 18: Zoom rückwärts „(3.0) #“ (Z. 3) In dem Moment, als die Kamera bei der angemessenen Bildeinstellung stoppt (am Ende von Z. 4), beginnt die Aufzählung - als warte Dr. Daccard die richtige Einstellung ab, bevor er fortfährt. Von diesem Moment an wird die Aufzählung, bestehend aus einer Reihe definiter Nominalsyntagmen, vom Zeigen auf die jeweiligen Referenten begleitet. Die Anpassung des ursprünglichen Zooms ist also die notwendige Bedingung dafür, dass die aus sprachlicher Beschreibung und Zeigen bestehende Demonstration stattfinden kann. Sie richtet den Raum so ein, dass „here“ einen Referenten hat und die Fortsetzung erfolgen kann. 3.3.2 Umordnung von Gegenständen für die Fortsetzung des „turns“ Der Raum wird so gestaltet, dass der Interaktionsraum, in dem sich die Beteiligten bewegen und auf den sie verweisen, einen Sinn hat und für ihre deskriptiven Aktivitäten verfügbar ist. Er wird von der Art der laufenden Aktivität in spezifischer Weise begrenzt und definiert. Der Raum, mit dem wir es im folgenden Beispiel zu tun haben, besteht aus einem mit Dokumenten beladenen Tisch. 9 Ein interdisziplinäres Team aus Agronomen und Informatikern ist dabei, Karten zu betrachten und zu diskutieren. In diesem Ausschnitt erörtern die Teilnehmer anhand einer Karte verschiedene Möglichkeiten der landwirtschaftlichen Nutzung eines bestimmten Territoriums: 9 Für vergleichbare Analysen der Manipulation von Dokumenten in Arbeitssitzungen siehe die Arbeiten von Luff/ Heath/ Greatbatch (1992) sowie Hindmarsh/ Heath (2000). Interaktionsraum und Koordinierung 79 (6.1) (e9/ agro1-47.00) (Erste Transkription) 1 PAL ben suivant le cas euh: ben on traon est là que pour nun je nachdem äh nun wir ( ) wir nutzen nur 2 le champ/ et puis à d'autres moments: / ben on va das Feld und in anderen Fällen nun da wird es 3 échouer/ . comme pâturage\ .h sur l'assemblage sans hinauslaufen auf eine Weide bei Zusammenlegung ohne 4 parcours/ .h je pense que dans le cas du gaec du pradou/ Strecke ich denke im Fall des [Ortsbezeichnung] 5 .h c'est tout l'un/ tout l'autre\ ist es das eine oder das andere 6 VIV .hh oui\ parce que: i m'sem<ble: eh iici ((pointe))> ja weil mir scheint äh hhier ((zeigt))> 7 c'était s: : ce qui: ce que ça voulait représenter/ war es ( ) das was das was das darstellen sollte 8 [c'était [das war 9 LAU [c'est les am<andes ça\ ((pointe))> [das sind die Mandeln* ((zeigt))> * Mit dem Begriff „amande“ bezeichnen die Sprecher hier eine bestimmte territoriale Gestalt (in Form einer Mandel). In diesem Ausschnitt interessiert uns vor allem der Moment, in dem Viviane im Anschluss an Pierre-Alain (Z. 6) das Wort ergreift. Vivianes „turn“ enthält einen deiktischen Ausdruck, „ici“, der von einer Zeigegeste mit dem Stift begleitet wird. Anhand dieser Transkription ist lediglich festzustellen, dass das Zeigen kurz vor dem Aussprechen des deiktischen Ausdrucks beginnt, diesen also vorweg nimmt - ebenso wie das von Laurence einige Zeilen später („ça“ begleitet von Zeigen, Z. 9). Diese Beschreibung wird der Leistung jedoch nicht gerecht, die Viviane vollbringt, damit ihr „ici“ vollständig referieren kann. Sie erklärt auch nicht die kurze Verzögerung, die dieser Form vorausgeht („eh iici“, Z. 6). Um diese Leistung präziser zu beschreiben, ist eine verfeinerte Transkription erforderlich, die weitere relevante Elemente berücksichtigt, auf welche sich die Beteiligten orientieren und mit denen sie den Interaktionsraum im Hinblick auf die praktischen Zwecke der laufenden Aktivität konstituieren: (6.2) (e9/ agro1-47.00) (Zweite Transkription) 4 .h je pense que dans le cas du gaec du pradou/ ich denke im Fall des [Ortsbezeichnung] 5 .h c'est tout l'un/ tout l'autre\ ist das entweder oder Lorenza Mondada 80 6 VIV +.hh# oui\ parce# que: im'*sem+ble: eh i*ici# ja weil mir scheint äh hhier +.............................+zeigt m. Stift--->> lau *öffnet Heft* Bi #Abb.19 #Abb.20 #Abb.21 7 c'était s: : ce qui: ce que ça voulait représenter/ war es ( ) das was das was das darstellen sollte 8 [*c'était [das war 9 LAU [*c'est les am*andes ça\ [das sind die Mandeln *............*zeigt m. Finger->> Zu Beginn von Vivianes „turn“ ist Laurence noch dabei, sich Notizen zu machen. In der linken Hand hält sie ein halb geöffnetes Heft, in welchem sich das Objekt befindet, auf das Viviane sich bezieht. Als Viviane zu sprechen beginnt, bewegt sie ihren Arm und die vom Stift verlängerte Hand immer weiter auf das halb geöffnete Dokument zu, das Laurence in der Hand hält. Diese Bewegung bewirkt, dass Laurence das Heft öffnet. Erst als es vollständig geöffnet und der Referent somit sichtbar ist, spricht Viviane den deiktischen Ausdruck „ici“ vollständig und in einem Zug aus. Abb. 19: .hh # Abb. 20: parce# que : i Abb. 21: eh iici# Vivianes „turn“ und ihre Handbewegung sind also genau aufeinander und auch auf Laurences Bewegungen abgestimmt. Die Zeitlichkeit dieser verschiedenen Dynamiken wird so koordiniert, dass „ici“ in einem Kontext geäußert werden kann, in dem der Referent sichtbar und zugänglich ist. Durch die Störung in Vivianes Äußerung („eh iici“, Z. 6) wird der deiktische Ausdruck so lange verzögert, bis die angemessene Szene hergestellt ist. In diesem Sinne ist die Verzögerung weniger eine Störung als eine Methode Vivianes, ihre Bewegung mit der von Laurence zu synchronisieren - vergleichbar der Verlangsamung, die wir schon bei den Wegbeschreibungen Interaktionsraum und Koordinierung 81 und der anatomischen Erklärung beobachtet haben. Die Gesten stellen also gemeinsam den sichtbaren Raum so her, dass der Verweis möglich ist (siehe auch Mondada 2004a). Dieser Ausschnitt macht sichtbar, wie der Arbeitsraum in einer den Details der laufenden Aktivität angepassten Weise eingerichtet wird: Der Tisch mit den Dokumenten, an denen die Gruppe arbeitet, ist nicht vorab fest angeordnet und organisiert, sondern er ist ein äußerst flexibler Raum, der von den Teilnehmern funktional und kontingent im Hinblick auf ihr Handeln oder nachfolgende Züge laufend neu gestaltet wird. In diesem Sinne hängt die Gestaltung des Interaktionsraums eng mit der Formatierung der entstehenden Äußerung zusammen. 3.3.3 Anpassung der Äußerung an einen sich bewegenden Raum Während in den vorangegangenen Ausschnitten der Interaktionsraum durch die Bewegungen der Beteiligten angeordnet wurde, haben wir es im nächsten Beispiel mit einem Raum zu tun, der die darin befindlichen Teilnehmer in ihren Bewegungen stark einschränkt, während er selbst mobil ist. Es handelt sich um die Videoaufnahme einer Autofahrt von zwei Freundinnen. Der Fahrgastraum eines Autos ist ein sehr spezifischer Raum: Er zwingt die Beteiligten zu einer bestimmten Körperhaltung und weitgehender Unbeweglichkeit. Gleichzeitig ist er selbst mobil: Er bewegt sich im umgebenden Raum. Im folgenden Ausschnitt ist die Beifahrerin Lisa dabei, von ihrem Wochenende in den Bergen zu erzählen: (7) (1507AR2.50) 1 (2.4) ((Anfahren vor Ampel, die auf Grün schaltet)) 2 LIS et là-bas donc la journée euh: / und dort war es also tagsüber äh 3 (0.8) 4 LIS on MOUrrait d'chaud\ man kam um vor Hitze 5 (.) 6 LIS après # euh l'avantage/ # aber äh der Vorteil Bi # Abb.22 # Abb.23 7 (1.6) 8 LIS -> °c' # est: / (0.2) tout droit\° # (das) ist geradeaus Bi # Abb.24 # Abb.25 Lorenza Mondada 82 9 (1.8) 10 LIS eh l'avantage c'est qu'dans la maison/ äh der Vorteil ist dass im Haus 11 comme c'est des grosses pierres/ da das dicke Steinwände sind 12 (0.7) 13 LIS il fait assez frais en fait ist es doch ziemlich kühl Lisa beginnt eine Geschichte, die sie bereits versucht hat zu erzählen, als das Auto vor einer roten Ampel stand. Dieser Beginn wurde durch einen Einschub suspendiert: eine Frage Rosines nach dem genauen Ort des Wochenendaufenthalts, die weitere thematische Expansionen nach sich zog. Nun nimmt Lisa also den Anfang der zuvor begonnenen Geschichte wieder auf (Z. 2-4). Dieser neue Anlauf fällt mit einer Bewegung des Autos - dem Anfahren an der grünen Ampel - zusammen. Als Lisa zu einem neuen Teil ihrer Geschichte übergeht (Z. 6), fährt Rosine gerade in eine Kurve, und das Auto befindet sich an einer Kreuzung - also einem Entscheidungspunkt. Diese Entscheidung formuliert Lisa mit einem deiktischen räumlichen Indikator, „tout droit“ (Z. 8), den sie in ihre Erzählung einschiebt. Nun kann der deiktische Ausdruck „tout droit“ je nachdem, in welche Richtung er geäußert wird, sehr unterschiedliche Richtungen bedeuten. Damit stellt sich die Frage: Woher bezieht er in diesem Kontext seine exakte Bedeutung? Betrachten wir die Form und das genaue Timing dieses Einschubs: Lisa äußert zuerst „c'est: / “ mit Dehnung und steigender Intonation, womit sie eine Fortsetzung projiziert. Dann macht sie eine kurze Pause und sagt schließlich „tout droit\“. Mit anderen Worten: Sie gestaltet ihre Äußerung so, dass - diese an die vorhergehende Äußerung angebunden ist („l'avantage - c'est“), womit sie den Bruch zum Vorausgehenden minimiert (ein Versuch, ihre Geschichte zu „retten“); - in dem Moment, als sie (nach Verzögerungen) „tout droit“ ausspricht, das Auto sich in der richtigen Position befindet, um dem deiktischen Ausdruck den beabsichtigten Sinn zu geben. In den folgenden Bildern sieht man in der Kurve das Stadtbild vorbeiziehen: Als Lisa „c'“ ausspricht (Abb. 24), sind die Schilder noch rechts von der Symmetrieachse des Autos, bei „tout droit“ befinden sie sich genau vor der Sprecherin (Abb. 25). Interaktionsraum und Koordinierung 83 Abb. 22: après # Abb. 23: l'avantage # Abb. 24: c'#est Abb. 25: tout droit # In diesem Fall ordnen die Teilnehmer also nicht ihre Körper im Raum neu an - sie sind durch den Raum eingeschränkt, unbeweglich im Inneren des Autos, sondern sie setzen die Zeit ein, um ihren Beitrag so zu formatieren, dass die Koordination zwischen der Äußerung und der Position des Autos im Raum gewährleistet ist. Wir haben es hier also mit einem Fall von Raum zu tun, der sowohl beweglich als auch unbeweglich ist. Analog zu den vorherigen Fällen beobachten wir eine Pause vor der Realisierung des deiktischen Ausdrucks, während derer sich die Umgebung umstrukturiert, womit die Voraussetzung für eine sinnvolle Äußerung des deiktischen Ausdrucks „tout droit“ geschaffen wird. Dieser wird geäußert, als die Umgebung so umstrukturiert ist, dass sie zu dieser Beschreibung passt. Lorenza Mondada 84 4. Einheitliche Beschreibung eines systematischen Verfahrens Nachdem wir das Phänomen in dieser Kollektion von Fällen aus ganz unterschiedlichen Corpora untersucht haben, können wir es nun sowohl allgemeiner als auch systematischer beschreiben. Wir haben es mit einer sequenziellen Struktur zu tun, die sich in folgender Weise organisiert: 1) Der Sprecher kündigt eine beschreibende Aktivität an oder beginnt sie. In diesem Stadium wird die Fortsetzung deutlich projiziert und somit für die Interaktionspartner - die sie teilweise angefordert haben - erkennbar und erwartbar gemacht. 2) Der sprachliche Ablauf der Beschreibung wird suspendiert. Dem folgt häufig eine Unterbrechung der beginnenden Geste, die in gewisser Weise repariert wird (beispielsweise wird die Zeigegeste häufig zunächst angedeutet, dann fallen gelassen, schließlich wieder aufgenommen, wenn die Umordnung vollzogen ist). 3) In der Zeitspanne, die durch diese Suspension entsteht und eröffnet wird, ordnen die Teilnehmer den Raum in einer bestimmten Weise an, gestalten den Interaktionsraum durch eine bestimmte Anordnung der Körper oder der relevanten Gegenstände so, dass er der Fortsetzung der Aktivität angemessen ist, und machen diese damit erst möglich. 4) Sobald diese Anordnung vollzogen ist, wird die unterbrochene Aktivität des Beschreibens wieder aufgenommen. Die Gestaltung des Raums, die die Fortsetzung der begonnenen Aktivität ermöglicht, findet also in einer sequenziellen Position statt, die wie ein Einschub funktioniert. Während dieses Einschubs wird die Aktivität in den Hintergrund verlegt, entweder völlig ausgesetzt oder verlangsamt. Der Ablauf dieser Sequenz ist über die verschiedenen Kontexte hinweg hinreichend systematisch, um signifikant zu sein. Er macht deutlich, dass sich die Teilnehmer auf den Interaktionsraum als etwas orientieren, das nicht einfach existent, gegeben, bereits vorhanden ist, sondern von ihnen aktiv hergestellt werden muss. Er zeigt die Orientierung der Teilnehmer auf die Hervorbringung eines der laufenden Aktivität angemessenen Interaktionsraums, der sich in dem Maße verändert, in dem diese Aktivität sich sequenziell entfaltet. In den analysierten Beispielen haben wir gesehen, dass der Interaktionsraum variabel definiert wird. Er betrifft nicht unbedingt die Gesamtheit der Körper, sondern definiert sich entsprechend den lokalen Relevanzen der laufen- Interaktionsraum und Koordinierung 85 den Handlung: Im Fall der Wegbeschreibung oder der geführten Stadtbesichtigung besteht die Bewegung darin, dass sich die Körper in die für die Erklärung erforderliche Richtung orientieren. Bei der chirurgischen Operation hebt die Kamera durch eine bestimmte Zoombewegung den relevanten Bereich der Anatomie hervor. In der Arbeitssitzung ist der relevante Raum, der im Handeln umgestaltet wird, der Tisch mit den Dokumenten, auf die die Aufmerksamkeit der Beteiligten gerichtet ist. Bei der Unterhaltung im Auto wird die Äußerung auf das sich verändernde Bild der Umgebung vor der Scheibe abgestimmt. Der Interaktionsraum, der im Handeln hervorgebracht wird, ist also hochgradig variabel - die Verfahren, mit denen die Beteiligten ihn relevant setzen, sind hingegen systematisch. Bei diesen Verfahren spielt die zeitliche Dimension eine große Rolle: Die Organisation der Entfaltung der Äußerung und der Sequenz ist eng verbunden mit der Zeitlichkeit der Bewegungen, die den Interaktionsraum hervorbringen. 5. Fazit Das beschriebene Phänomen belegt eine enge Verbindung und eine feine Abstimmung zwischen der Organisation des Sprechens und der Einrichtung des Interaktionsraums. Letzterer ist offenbar die Voraussetzung, die geschaffen werden muss, damit die Äußerung vervollständigt werden kann, indem sie sich auf diesen Raum stützt (wie bei der räumlichen Beschreibung) und darauf die Koordinierung der Aufmerksamkeit der Teilnehmer gründet. 5.1 Konsequenzen für eine interaktive Konzeption der Deixis Dieses Phänomen kann ein klassisches linguistisches Phänomen näher beleuchten: die Deixis. Deixis ist die linguistische Ressource par excellence, die Sprechen und Kontext verbindet und die - im Fall der lokalen Deixis - Äußerungs- (oder Interaktions-)Raum und bezeichneten Raum vereint. In der Behandlung dieses in der Linguistik klassischen Begriffs wurde oft auf seine „kontextuelle Abhängigkeit“ verwiesen, ohne aber den betreffenden Kontext als ein der Analyse würdiges Objekt zu betrachten. So ist für Fillmore „deixis [...] the name given to uses of items and categories of lexicon and grammar that are controlled by certain details of the interactional situation in which the utterances are produced“ (Fillmore 1982, S. 35). Das Verdienst Lorenza Mondada 86 einer solchen Beschreibung ist, dass sie die Situiertheit der Grammatik und ihres Gebrauchs anerkennt. Andererseits aber betrachtet sie den Raum als präexistent, gegeben, eindeutig strukturiert, als etwas, das man nur zur Kenntnis nehmen muss, um die Funktionsweise von Deixis zu erklären - ohne der Frage nachzugehen, wie sich dieser Kontext im Detail für die Sprecher manifestiert, wie er sich um bestimmte Bezugspunkte herum und durch koordiniertes Handeln konfiguriert, wie diese Bezugspunkte relevant und für und durch die referenziellen Verfahren der Beteiligten identifizierbar werden. So kam in der Literatur eine zweite Konzeption auf, die Deixis versteht als ein Ensemble von Ressourcen, die den Kontext produzieren und sich ihm ihrerseits anpassen (vgl. z.B. Hanks 1992, S. 70: „verbal deixis is a central aspect of the social matrix of orientation and perception through which speakers produce context“). Danach ist Deixis nicht mehr eine besondere linguistische Kategorie, die als solche zu beschreiben ist, sondern eine Ressource unter anderen in einem System von - nicht nur sprachlichen - Interaktionsaktivitäten zur Herstellung sowohl der Referenz als auch des Kontextes, aus dem sie ihre Bedeutung erhält. In dieser Perspektive ist die Frage der deiktischen Referenz als praktischer Hervorbringung, die von den verschiedenen Teilnehmern durch die Mobilisierung komplexer multimodaler Ressourcen gemeinsam geleistet wird, eng mit dem Interaktionsraum verbunden. Dieser ist kein Raum, der vor allem durch die Position des Sprechers gegeben und damit evident ist, sondern ein sozialer Raum, der von den Teilnehmern in einer interaktiven Koordinationsleistung aktiv hergestellt und gestaltet wird. Die Elemente des Kontextes - mit Bezug auf Bühler (1934) 10 meist als Origo bezeichnet - werden im Handeln und im Sprechen-in-Interaktion hervorgebracht (vgl. Hanks 1990, 1992; siehe auch Mondada 2002a, Fricke 2002). Auch in diesem Sinne hängt die Interpretation von deiktischen Ausdrücken nicht einfach von der Situation ab, sondern diese gestalten die Situation (Hausendorf 1995). 10 In Anlehnung an Bühler (1934) gilt die Origo als das Grundsystem der Referenz (entsprechend dem „Ich-Hier-Jetzt“, welches das Zeigfeld definiert, 1934, Kap. 7), auf das die anderen deiktischen Formen bezogen werden. Diese Definition des deiktischen Feldes ist auf die Position des Sprechers zentriert, wenngleich Bühler zufolge die Origo auch auf andere Teilnehmer übertragen werden kann (womit eine „sekundäre Origo“ gebildet wird). Interaktionsraum und Koordinierung 87 5.2 Konsequenzen für eine Konzeptualisierung des Interaktionsraumes In diesem Beitrag habe ich herausgearbeitet, mit welchen Verfahren die Teilnehmer den Interaktionsraum im Hier und Jetzt der Interaktion konstituieren, wobei sie auf multimodale Ressourcen zur Organisation des entstehenden „turns“ und der Aktivität zurückgreifen. Der Interaktionsraum ist weder vom umgebenden Raum vorgegeben noch ein für alle Mal festgelegt. Er ist eine praktische Hervorbringung der Interaktanten, eine Konfiguration, die im gemeinsamen Handeln emergiert und auf dessen praktische Zwecke zugeschnitten ist. Ich habe mich mit zwei Dimensionen der Emergenz des Interaktionsraums befasst: a) dem sequenziellen Muster der allmählichen Herausbildung eines der laufenden Aktivität angemessenen Raums, entweder durch eine neue körperliche Anordnung der Beteiligten oder durch eine Bewegung oder Positionsveränderung in diesem Raum, während der der aktuelle „turn“ verzögert oder suspendiert wird, um seine Zeitlichkeit mit der der Bewegung im Raum zu synchronisieren; b) einer bevorzugten sequenziellen Position, nämlich der Eröffnung der Interaktion, in der die Beteiligten ihre körperliche Konvergenz zum ersten Mal organisieren müssen. Wenngleich das sequenzielle Muster in verschiedenen Positionen im Verlauf der Interaktion auftreten kann, spielt der Moment der Eröffnung bei der Herstellung des Interaktionsraums eine grundlegende Rolle. Ich habe den ersten Aspekt in Form einer systematischen Analyse einer Kollektion von Fällen behandelt, den zweiten in Form einer „single case analysis“. Das Ziel solcher Analysen ist es, zu einer Neudefinition der Zusammenhänge zwischen Raum, Sprache und Interaktion beizutragen: Der Raum ist nicht einfach ein Referent oder ein Diskursobjekt, sondern auch - und vielleicht in erster Linie - ein Interaktionsraum. Die Analyse zeigt, dass die Eigenschaften des Raums von den Teilnehmern relevant gesetzt und für die Organisation ihres Handelns genutzt werden - in einer Weise, die diesen Eigenschaften angepasst ist und sie gleichzeitig aktiv gestaltet. Der Interaktionsraum steht im Zentrum der Koordinierung der Teilnehmer: Die Koordinierung vollzieht sich sowohl in der Zeit - sie richtet sich an der Zeitlichkeit der entstehenden „turns“ aus, um adäquat zu sein - als auch im Raum - in der Verbindung von Eigenschaften des Raums und Anordnung der Körper. Lorenza Mondada 88 Die Konstitution eines Interaktionsraums ist die Vorbedingung dafür, dass Interaktion stattfinden kann: Es ist der Interaktionsraum, der die wechselseitige Verfügbarkeit der Beteiligten garantiert, sich den laufenden Aktivitäten anpasst und damit den Gesten, den Redebeiträgen, den Blicken einen Sinn verleiht, sie „accountable“ macht, weil sie wechselseitig aufeinander ausgerichtet und geordnet sind. 6. Transkriptionskonventionen [ Überlappungen . .. ... geschätzte Pausen (.) Mikropause (2.3) gemessene Pausen xxx unverständliches Segment / \ Intonation steigend/ bzw. fallend\ extra betontes Segment ((lacht)) beschriebene, nicht präzise transkribierte Phänomene : Dehnung < > Abgrenzung der Phänomene zwischen (( )) par- Abbruch & Fortsetzung der Äußerung = schneller Anschluss ^ lautliche Bindung .h Einatmen (il va) unsichere Transkription °bon° gemurmelt * * Anfang u. Ende e. Geste oder e. Blicks, die in der nachfolgenden Zeile + + in Kursivschrift beschrieben sind (ein Symbol für jeden Teilnehmer: φ , τ , ∆ , etc.) .... Entfaltung, Vorbereitung einer Geste " Zurückziehen der Geste ------> Fortsetzung der Geste über die folgenden Zeilen ------> > Fortsetzung der Geste über das Ende des Fragments hinaus # Abb.3 situiert das Video-Bild genau in Bezug zum transkribierten Sprechen (Bi = „Bild“ wird am Rand angezeigt) Die Analysen beziehen sich auf den französischen Wortlaut. Die deutsche Übersetzung gibt die Äußerungen nur ungefähr wieder; sie dient lediglich der inhaltlichen Verständlichkeit. Interaktionsraum und Koordinierung 89 7. Literatur Atkinson, John M. (1982): Understanding Formality: Notes on the Categorization and Production of „Formal“ Interaction. In: British Journal of Sociology, 33, 1, S. 86-117. Barbéris, Jeanne-Marie/ Manes-Gallo, Maria Caterina (Hg.) (demn.): Verbalisation de l'espace et cognition située: la description d'itinéraires piétons. 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Einleitung In unserem Beitrag beschäftigen wir uns auf der Grundlage eines Videoausschnitts aus einem Korpus von Aufnahmen am Filmset 1 mit dem konstitutiven Zusammenhang von Monitoring-Aktivitäten und Koordination für die Herstellung von Interaktionsräumen als relevanten Handlungseinheiten der Kooperation am Filmset. Zu Beginn werden wir in Abschn. 2. unser Verständnis der für die Analyse zentralen Begriffe „Interaktionsraum“ und „Koordination“ explizieren. In Abschn. 3. und 4. stellen wir den in der Videoaufnahme festgehaltenen Ausschnitt in seinen situativen, strukturellen und kontextuellen Besonderheiten vor. Wir werden dann Monitoring- und Koordinierungsaktivitäten bei der Auflösung eines bestehenden Interaktionsraumes („Monitorraum“) in Abschn. 5. und der Konstitution eines neuen („Kameraraum“) in Abschn. 6. beschreiben. In Abschn. 7. fassen wir unsere Analyseergebnisse unter dem Stichwort „Monitoring am Set“ zunächst fallbezogen zusammen. In Abschn. 8. reflektieren wir die Rolle von Monitoring und „availability displays“ in ihrer allgemeinen Bedeutung für die Zugänglichkeit zu Interaktionsräumen. Wir beschließen unseren Beitrag in Abschn. 9. mit der Skizzierung der generellen Relevanz dieser Konzepte für die Analyse multimodaler Koordination. 2. Begriffsklärung: Interaktionsraum und Koordination 2.1 Interaktionsraum Der Gültigkeitsbereich unserer Vorstellung von Interaktionsraum ist ein gegenstandsbzw. fallspezifischer. Wir haben das Konzept in Auseinanderset- 1 Der Ausschnitt stammt aus dem Hamburger Film-Korpus, einer umfangreichen Sammlung von Videoaufzeichnungen, die zwei unterschiedliche Situationen aus der „Welt des Filme- Machens“ dokumentiert. Zum einen sind das Arbeitssitzungen (so genannte „Pitching“- Sitzungen), in denen Gruppen von Filmstudenten gemeinsam mit ihren Dozenten Filmideen entwickeln (Schmitt 2004, 2005, Heidtmann/ Föh i.d. Bd.). Zum anderen beinhaltet es Aufnahmen, welche die Arbeit dreier Filmteams an unterschiedlichen Drehorten zeigen (so genannte „Set“-Aufnahmen). Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 96 zung mit unseren Daten entwickelt und wollen seine Angemessenheit und Gültigkeit zunächst auf das Material beschränken, bei dessen Analyse es entstanden ist. Interaktionsräume werden konstituiert durch das Zusammenspiel von einerseits physikalischen Gegebenheiten, die auf Grund ihrer Beschaffenheit bestimmte Implikationen für die Strukturierung von Interaktion haben, und andererseits interaktiven Herstellungsleistungen, bei denen Beteiligte diese Gegebenheiten für ihre situative, thematisch-pragmatisch spezifizierte Praxis als Ressource nutzen. 2 Interaktionsräume sind zudem mit bestimmten Relevanzstrukturen verbunden, die beispielsweise in der Symbolisierung von Inklusivität und Exklusivität zum Ausdruck kommen. Das Konzept „Interaktionsraum“ beschreibt dynamische, sich stetig verändernde Konstellationen, die teilweise klare räumliche Konturen aufweisen. 3 Das Konzept verweist jedoch nicht auf statische, gegenständlich-territoriale Gebilde, obwohl das vielleicht durch die dem Begriff inhärente physikalisch-territoriale Metaphorik nahe gelegt wird. 2.2 Koordination 4 Koordination ist eine interaktionskonstitutive Anforderung, die für jeden einzelnen Interaktionsbeteiligten gilt. Im Gegensatz zu Kooperation zielen die koordinativen Aktivitäten der Beteiligten nicht auf die Herstellung eines gemeinsamen Produkts und haben in diesem Sinne auch keinen produktspezifischen Handlungscharakter. Koordination ist in dieser Hinsicht konzeptionell von Kooperation zu unterscheiden. Der Begriff „Koordination“ fokussiert vielmehr Anforderungen, die als Voraussetzung für inhaltliche und zielbezogene Kooperationsbeiträge bei der Analyse in den Blick kommen. Koordinative Anforderungen beziehen sich auf unterschiedliche Aspekte, zu denen u.a. Zeitlichkeit, Räumlichkeit, Multiaktivität und Mehrpersonenorientierung gehören. Koordinative Aktivitäten reagieren auf das interaktive Geschehen und sind konstitutiver Teil desselben. Sie werden jedoch in der Re- 2 Siehe hierzu die Ausführungen zu „signifikanten Objekten“ und deren Strukturierungsimplikationen. 3 Zur Diskussion vorgängiger und verwandter Konzepte von „Interaktionsraum“ siehe Mondada (i.d. Bd.). 4 Vergleiche dazu die detaillierte Einleitung von Deppermann/ Schmitt (i.d. Bd.): „Koordination. Zur Etablierung eines neuen Forschungsgegenstandes“. Monitoring und Koordination als Voraussetzungen der multimodalen Konstitution 97 gel nicht als für das Verständnis des laufenden Interaktionsgeschehens relevant wahrnehmbar bzw. interpretierbar gemacht, etwa in Form von „accounts“ für aktuelle Koordinationsanstrengungen. 3. Strukturen des Filmsets Damit ein Film entstehen kann, müssen die Inhaber vieler unterschiedlicher Funktionsrollen auf dem Set zusammenarbeiten. 5 Die Set-Aufnahmen dokumentieren dieses territorial gebundene, arbeitsteilig und hierarchisch strukturierte Zusammenspiel einer Vielzahl unterschiedlicher Rollen. Hierzu zählen beispielsweise: Regie, Regieassistenz, Continuity, 6 Kamera, Kameraassistenz, Schauspieler, Aufnahmeleiter, Assistenz der Aufnahmeleitung, Maske und Requisite, Tontechnik, Assistenz der Tontechnik, Beleuchtung und eine Menge weiterer Helfer. Als Voraussetzung für diese Zusammenarbeit müssen sich kontinuierlich temporäre Arbeitsteams herausbilden und für eine gewisse Zeit für ihre gemeinsame Arbeit relevante Interaktionsräume konstituieren und aufrechterhalten. In dem von uns analysierten Videoausschnitt wird von unterschiedlichen Beteiligten ein existierender Interaktionsraum aufgelöst und ein neuer konstituiert, für eine Weile aufrechterhalten und wieder aufgelöst. Es handelt sich - in der Sequenzialität ihrer Konstitution - um Interaktionsräume, die um die signifikanten Setobjekte „Videomonitor“ und „Kamera“ herum existieren bzw. entstehen. Diese Interaktionsräume in ihrer Sequenzialität zu betrachten ist insofern wichtig, als sich zeigen wird, dass die jeweils den Raum mitstrukturierenden signifikanten Objekte auch strukturimplikativ sind für den jeweils nachfolgend etablierten Raum. 4. Der Videoausschnitt Sabine (Regie) schaut sich eine kurz zuvor gedrehte Einstellung auf dem Videomonitor an. Es handelt sich um Walters „pov“ („perspective of view“), 5 Siehe hierzu Schmitt (i.Vorb.). 6 Das „Continuity-Girl“ oder der „Continuity-Man“ trägt Sorge dafür, dass in den einander folgenden Aufnahmen eines Films alle Details - Szenenbild, Kostüm, Haltung, Licht usw. - gleich bleiben. Da die Aufnahmen in der Regel nicht in der gleichen Reihenfolge, in der sie aufgenommen werden, montiert werden, ist es wichtig, die Details der Aufnahme genau zu protokollieren, um den Eindruck der Kontinuität aufrecht zu erhalten. Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 98 bei der die Szene so gedreht wurde, dass der Zuschauer alles mit den Augen des Schauspielers sieht. Um die Regisseurin herum stehen am Videomonitor ihre Assistentin, das „Continuity-Girl“ und der Aufnahmeleiter. 7 Die Regisseurin ist mit dem, was ihr das Video zeigt, nicht zufrieden und kommentiert dies mit den Worten: viel zu langsam, die sie mehrmals wiederholt. Sabine wendet sich schließlich vom Video ab und geht zu Ulla, der Kamerafrau, die mit ihren Assistenten in der Nähe der Kamera steht, und das Geschehen vor dem Video verfolgt und auch verbal kommentiert hat (ist nicht richtig und zu langsam). Zwischen Regie und Kamera entsteht eine Klärungsdiskussion darüber, wie die Einstellung zu drehen ist. Für die Konstitution beider Interaktionsräume spielen - wie bereits angedeutet - jeweils die Namen gebenden Objekte eine wesentliche Rolle. Ihre Relevanz für die Konstitution der Interaktionsräume und die Koordinationsleistungen der Beteiligten zeigen die folgenden Analysen. 5. Der Monitorraum Wenden wir uns also zunächst dem Monitorraum zu, so wie er von der Kamera dokumentiert worden ist. Wir tun dies auf der Grundlage des ersten Standbildes in der methodischen Absicht, die bereits „bestehenden“ Koordinationsstrukturen in „eingefrorener“ Weise zu rekonstruieren. Wir hoffen, durch die Statik für unser Erkenntnisinteresse relevante Aspekte zu entdecken, die in der Flüchtigkeit der audiovisuellen Dynamik verloren gehen oder schwerer zu entdecken wären. 5.1 Strukturimplikationen des signifikanten Objekts „Videomonitor“ Der Beginn des Videoausschnitts zeigt als Vierergruppe die Regisseurin, ihre Assistentin, die Continuity und den Aufnahmeleiter auf das Video in einem Rollkasten orientiert (Abb. 1). Die Kamera erfasst bei dieser Einstellung nicht den gesamten Schauplatz, sondern fokussiert die Regisseurin und folgt auch im Weiteren ihren Bewegungen auf dem Set. Sie ist über ein Ansteckmikrofon verkabelt, das sie während der zweitägigen Aufnahmen mit sich trägt. 7 Der Aufnahmeleiter ist für die tägliche Durchführung des Drehs zuständig und verantwortlich. Hierzu zählen das Erstellen der Tagesdispositionen, die Organisation des Transports, der Mahlzeiten für Crew und Schauspieler sowie Absperrungen und Sicherheitsfragen, Gewerkschaftsfragen usw. Monitoring und Koordination als Voraussetzungen der multimodalen Konstitution 99 Abb. 1: Die Gruppe vor dem Monitor Betrachtet man den Kameraausschnitt genau, wird Folgendes deutlich: Die Mitglieder der Vierergruppe sind sowohl in ihrer Körperausrichtung als auch in ihrer Blickorganisation auf das Videogerät orientiert, das allen als gemeinsamer Bezugspunkt dient. Bezüglich der Körperorientierung der Gruppe untereinander kann man von einer Kombination von zwei „side-by-side“- und zwei „face-to-back“-Konstellationen 8 sprechen: Es ist klar, dass niemand auf einen anderen aus der Gruppe körperlich bezogen ist. Die Orientierung, die vom Videomonitor ausgeht und die Gruppe in ihrer körperlichen und blicklichen Koordination auf einen außerhalb liegenden Bezugspunkt vereint, stiftet ein wesentliches Strukturelement: Es entsteht ein Raum, der gebildet wird durch den Monitor als signifikantes Objekt mit weiterreichenden Implikationen für die Strukturierung des Raumes. Interessant ist dabei, dass dieses strukturierende Potenzial sehr eng mit der Spezifik des Objektes „Videomonitor“ verbunden ist. Das Videogerät ist ein semiotisches Objekt, das eine Ausrichtung des Blicks erfordert, außerdem ein prozessuales Objekt mit eigenen Zeitzyklen, die zwar manipulierbar sind, aber auch eigenständige Relevanzen schaffen (z.B. die Inanspruchnahme von Aufmerksamkeit). Beides zusammen produziert die Kombination aus „side-by-side“- und „face-to-back“-Formation. 9 „Face-to-face“-Konstellationen der Betrachter hingegen werden durch die Spezifik des Videomonitors nicht nahe gelegt. 8 Zu verschiedenen Personenkonstellationen in der Interaktion siehe grundlegend Kendon (1990), der von „F-formations“ spricht; weiterführend hierzu auch Müller/ Bohle (i.d. Bd.). 9 Vgl. hierzu auch die Untersuchung solcher Konstellationen beispielsweise beim Autofahren von Mondada (i.d. Bd.). Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 100 Als eine weitere Konsequenz produziert das Videogerät einen Kern- und einen Peripheriebereich, der sich aus der Wahrnehmbarkeit der durch das Video vermittelten visuellen Informationen ergibt. Die Gruppe hat sich im Kernbereich etabliert, der durch den optimalen Blickwinkel auf den Monitor konstituiert wird. Je weiter man sich von diesem Punkt aus nach links oder rechts bewegt, desto stärker nähert man sich der - bezogen auf die semiotischen Informationen des Gerätes - Peripherie, von der aus der Blickwinkel für die Wahrnehmung immer ungünstiger wird. Betrachtet man, wie die vier BetrachterInnen vor dem Videomonitor stehen, wird deutlich, dass es eine erste und eine zweite Reihe gibt. In der ersten stehen die Regisseurin und ihre Assistentin, in der zweiten Continuity und Aufnahmeleiter. Mit diesen beiden Reihen sind unterschiedliche Implikationen hinsichtlich der Aspekte „Beweglichkeit“ und „territoriale Flexibilität“ verbunden. Die erste Reihe kann sich unmittelbar und ohne Hindernisse bzw. ohne sich mit anderen aus der Gruppe koordinieren zu müssen, frei bewegen. Dies ist für die zweite Reihe nicht der Fall, die durch die erste Reihe in ihren Bewegungsmöglichkeiten tangiert wird. Die erste Reihe ist auch privilegiert, da sie über die bessere Sicht verfügt. Das Recht auf die (relativ zu anderen Mitzuschauern) beste Sicht kann zur Enaktierung aufgabenlegitimierter Hierarchie 10 genutzt werden: Die Funktionsrolle (Regie), von deren Beurteilung des im Video Gezeigten weitere Entscheidungen abhängen, die auch für die anderen Setmitglieder konsequenziell sind, ist in der ersten Reihe platziert. So weit zu den für die Konstitution des Interaktionsraums strukturierenden Implikationen des Videomonitors. Obwohl signifikante Objekte und deren Spezifik für die Strukturierung von Interaktionsräumen eine wesentliche Rolle spielen, konstituieren sich Interaktionsräume jedoch erst durch das Zusammenspiel mit Handlungen wichtiger Personen im Zusammenhang mit diesen Objekten als für die aktuelle Interaktion relevante Handlungsrahmen. Wie diese interaktive Relevanzsetzung im Kontext des Monitorraumes aussieht, welche Monitoring- und Koordinierungsaktivitäten damit zusammenhängen, darum geht es im nächsten Analyseschritt. 10 An dieser Stelle wird manifest, dass die Beschäftigung mit Fragen der Bedeutung und Konstitution von Hierarchie in der Interaktion (Schmitt/ Heidtmann 2002) die ganze Breite des multimodalen Ausdrucks berücksichtigen muss und somit letztlich nur auf der Basis von Videoaufzeichnungen realisiert werden kann. Zumindest dann, wenn es darum geht, nicht nur Grundstrukturen, sondern die tatsächliche Vielfalt und das Varianzspektrum zu erfassen, in der Hierarchie als relevanter Aspekt der Interaktion in situ hergestellt wird. Monitoring und Koordination als Voraussetzungen der multimodalen Konstitution 101 5.2 Interaktive Relevanzsetzung Nachdem wir uns anhand der Standbildanalyse die zu dem dokumentierten Zeitpunkt bereits bestehenden, von den Beteiligten hervorgebrachten Koordinationsstrukturen primär als Folge deren Reaktion auf die Strukturierungsimplikationen des signifikanten Objekts „Videomonitor“ verdeutlicht haben, wenden wir uns nun dem interaktiven Geschehen im Monitorraum zu. Wir konzentrieren uns dabei auf die Gesamtheit der multimodalen Informationen, die in diesem Ausschnitt relevant sind. Dabei kommt das verbale Geschehen im Monitorraum genauso in den Blick wie das körperliche Verhalten der Gruppenmitglieder und dessen simultane und sequenzielle Struktur. 5.2.1 Unterschiedliche koordinative Relevanzen Von der auf den Videomonitor orientierten Gruppe beginnt zunächst die Continuity (CO) zu sprechen. Ihre Äußerung reagiert auf die visuellen Informationen, die der Monitor in Form der zuvor gedrehten Einstellung zur Verfügung stellt. CO: ** und das nur das schild konnte er erst CO: sehen als er den hochgenommen |hat und SA: |>viel CO: da müssen | wer en detail mit seinen SA: zu langsam<| CO: |händen machen | SA: |>s=is vi“el zu| langsam< * Mit dem Hinweis da müssen wer en detail mit seinen händen machen thematisiert sie eine relativ zu ihrer funktionsrollenspezifischen Zuständigkeit wichtige Beobachtung, die sich auf ein Detail in der zuvor gedrehten Einstellung bezieht. In dieser Einstellung kommt der Schauspieler aus dem Haus, geht auf ein auf dem Vorplatz stehendes Fahrrad zu, nimmt den auf dem Gepäckträger platzierten Ranzen, hebt ihn hoch und liest dann den Text vor, der auf dem Adressschild steht. Zusätzlich zu dieser Einstellung fehlt - laut Drehplan - noch eine kurze Einstellung (das Detail), bei dem nur die Hände des Schauspielers und der Ranzen zu sehen sind. Ihr Beitrag wird gegen Ende von verbalen Aktivitäten der Regisseurin überlappt, die nun ebenfalls zu sprechen beginnt. Sie sagt insgesamt zwei Mal viel zu Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 102 langsam, wobei beide Male die Lautstärke reduziert ist und die Äußerung behaucht, tonlos und mit viel subglottalem Druck gesprochen wird. Sie macht damit Dringlichkeit und Emphase ihrer Beurteilung deutlich, ohne das Video zu übertönen. Simultan zur verbalen Negation schüttelt die Regisseurin den Kopf und realisiert damit in einer anderen Modalität ebenfalls eine negative Evaluation. Die Regisseurin verstärkt jedoch nicht einfach ihre Negation oder kontextualisiert diese im Verständnis von Gumperz (1992) in redundanter Weise. Vielmehr sind die jeweils spezifischen Möglichkeiten der eingesetzten Modalitäten hier für die arbeitsplatzspezifische Funktionalität ihrer Reaktion von wesentlicher Bedeutung. Die leise gesprochene, wiederholte Äußerung kann sicherstellen, dass die unmittelbar neben und hinter ihr Stehenden hören, was sie sagt. Das Schütteln des Kopfes hingegen kann auf wesentlich größere Distanz auch von denjenigen wahrgenommen werden, die aufgrund der geringen Lautstärke nicht hören können, was gesagt worden ist. Verbalität und Kinesik fungieren hier also als unterschiedliche Medien, mit denen die Regisseurin auf sich aufmerksam machen kann: Verbalität wird hier als Nähe-, Kinesik als Distanzmedium eingesetzt. Die Koordinierung beider Modalitäten ermöglicht in dieser Situation einen größeren Wirkungsgrad bei dem Versuch der Regisseurin, sich selbst als Aufmerksamkeitsfokus für diejenigen Setmitarbeiter zu etablieren, die für die aktuellen Arbeitsbelange relevant sind. In diesem kurzen Ausschnitt reagieren also zwei Beteiligte aus funktionsrollenspezifischer Perspektive - in den Worten von Goodwin (1994) - auf der Grundlage einer je spezifischen „professional vision“ auf die Videoinformationen. Dabei bezieht sich der überlappende Beitrag der Regisseurin nicht auf die Äußerung der Continuity, sondern ist eine eigenständige Reaktion auf das Gesehene und etabliert einen neuen Fokus. Für beide Äußerungen gilt, dass sie nicht erkennbar adressiert sind und sich somit die Frage stellt, für wen sie gesprochen worden sind. Der Videoausschnitt zeigt, dass die beiden Äußerungen in sehr unterschiedlicher Weise interaktiv und koordinativ folgenreich sind: Auf die Beschreibung und die Schlussfolgerung der Continuity (das müssen (…)) erfolgt keine Reaktion seitens der anderen VideobetrachterInnen. Demgegenüber löst die zweifache, leise gesprochene Evaluation der Regisseurin (viel zu langsam und s=is vi“el zu langsam) bei verschiedenen Beteiligten Reaktionen Monitoring und Koordination als Voraussetzungen der multimodalen Konstitution 103 aus. Regieassistentin, Kamerafrau und Aufnahmeleiter reagieren auf das Verhalten der Regisseurin. Als erste wendet sich die Assistentin Sabine zu und blickt sie an, als diese nach ihrem ersten viel zu langsam in der kurzen Pause einatmet. Abb. 2: Assistentin Blick auf Monitor Abb. 3: Assistentin Blick auf Regie Die zweite Reaktion erfolgt durch den Aufnahmeleiter, der unmittelbar nach Ende der Wiederholung s=is vi“el zu langsam in Richtung Kamerafrau blickt. Abb. 4: Aufnahmeleiter Blick Kamerafrau Er ist mit seinem Blick bereits bei Ulla, als diese als Dritte nun verbal reagiert und Sabine mit >is nicht richtig< eine Ratifikationsfrage stellt, auf die diese mit der zweiten, ebenfalls leise gesprochenen Wiederholung >s=is vie“l zu langsam< antwortet. Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 104 SA: >s=is viel zu langsam< UL: >is nicht richtig< Die Kamerafrau zeigt mit ihrer Frage, dass sie Sabines Beurteilung als Formulierung eines Problems verstanden hat und deren Einschätzung weitere, auch für sie selbst relevante Handlungskonsequenzen (Szene noch mal drehen, Veränderungen des Settings etc.) nach sich ziehen kann, deren Erwartung sie mit der Frage andeutet und zugleich elizitiert. Zum einen sehen wir ein ganzes Geflecht unterschiedlicher Funktionsrollen auf die Bewertung der Regisseurin reagieren, obwohl keine der Rollen in irgendeiner erkennbaren Weise adressiert worden ist. Zum anderen reagieren die drei RolleninhaberInnen relativ zu den mit ihrer Funktion verbundenen Implikationen. Die Regieassistentin orientiert sich an ihrer Chefin, um zu sehen, was sich aus der Evaluation für sie als Nächstes ergibt. Der Aufnahmeleiter blickt antizipatorisch in Richtung Kamerafrau und damit genau auf die Person, für die die Negativevaluation unmittelbare Folgen haben wird (nochmaliger Dreh). Die Kamerafrau reagiert als von der Negativevaluation unmittelbar Betroffene verbal auf die Regisseurin und „bestätigt“ dadurch die Richtigkeit der antizipatorischen Orientierung des Aufnahmeleiters. Der Blick des Aufnahmeleiters zur Kamerafrau verdeutlicht die Primärimplikation der leise gesprochenen Äußerung der Regisseurin, indem er sich derjenigen zuwendet, für die die Evaluation unmittelbare arbeitsplatzrelevante Folgen haben wird. Dies geschieht, ohne dass die Kamerafrau adressiert worden ist, die Regisseurin ihr konkrete Anweisungen gegeben hat oder referenzieller Fokus einer Äußerung war. Der Aufnahmeleiter verdeutlicht damit auch, dass er Evaluationen der Regie unmittelbar auf Handlungsimplikationen hin abhört und nicht als bloße Meinungskundgaben versteht. Eventuell erwartet er an dieser Stelle bereits eine Reaktion der Kamerafrau. Aber auch für den Aufnahmeleiter sind mit der Bewertung der Videoaufnahme Sekundärimplikationen verbunden. Diese etablieren eine Vororientierung, die sich unmittelbar auf die Arbeitsorganisation des Aufnahmeleiters auswirkt. Wenn sein Blick eine Verdeutlichung der arbeitsorganisatorischen Relevanz der Äußerung der Regisseurin ist und er folglich davon ausgehen kann, dass die Einstellung noch einmal gedreht werden wird, dann kann er im Rahmen der schauplatzspezifischen Arbeitsteilung sich selbst schon mittelfristig auf diesen nochmaligen Dreh organisieren. Monitoring und Koordination als Voraussetzungen der multimodalen Konstitution 105 Die Organisation der Kooperation und die Koordination der verschiedenen Funktionsrollen untereinander laufen ganz wesentlich über die zentrale Position der Regisseurin. Von ihrem Verhalten gehen koordinative Relevanzen für andere aus, die diese jedoch nur registrieren können, wenn sie kontinuierlich Monitoring betreiben und die Regisseurin in ihrem Fokus behalten: Die Regisseurin hat also im Hinblick auf notwendige Monitoring- und Koordinierungsaktivitäten den Status einer „Fokusperson“. Wie die Reaktionen der Funktionsrollen zeigen, ist der Erfolg einer Adressierung am Set nicht unbedingt abhängig von der Spezifik und Deutlichkeit, in der sie realisiert wird. Es scheint so zu sein, dass es weniger Aufgabe der Regisseurin ist, selbst für die Adressierung der jeweiligen Funktionsrollen zu sorgen. Hier findet eher ein Organisationsprinzip Anwendung, bei dem sich die Funktionsrollen auf der Basis kontinuierlicher Monitoring-Aktivitäten und auf der Grundlage ihres professionellen Wissens um situative Implikationen (wie etwa: Regisseurin macht negative Evaluation vor dem Videomonitor) sowie der daraus ableitbaren wahrscheinlichen nächsten Schritte selbst als spezifisch Adressierte auswählen und die Konsequenzen für die eigene Handlungsorganisation ausdeuten. 5.2.2 Organisationsstrukturelle Voraussetzungen Diese gleichermaßen „sprachlose“ wie effektive Form der Kooperation und Koordination entsteht nicht naturwüchsig, sondern bedarf gewisser Voraussetzungen, die den Interpretationsrahmen der Beteiligten überschaubar halten, ob etwas Gegenstand von Aushandlung, verbaler Ausdruck von Selbstorganisation oder aber die Kundgabe einer Entscheidung und damit die implizite Ankündigung der nächsten Arbeitsschritte ist. Zu diesen Voraussetzungen zählt das gemeinsame Wissen der Setmitarbeiter um: a) den Status einzelner Funktionsrollen, b) die hierarchische Struktur der Funktionsrollen, c) ihre Zuständigkeiten, d) die Arbeitsteilung und e) die zeitliche Abfolge bestimmter Arbeitsschritte sowie f) die Abhängigkeit der eigenen Arbeitsorganisation von vorgängigen Abläufen. Diese stabile, weder aushandelbare noch veränderbare Trägerstruktur garantiert die reibungslose - und weitgehend von der Notwendigkeit expliziter verbaler Bearbeitung befreite - Koordination und Kooperation auf dem Set. Auf der Grundlage dieser Trägerstruktur bilden die Betroffenen situative Hypothesen darüber, wer AdressatIn einer Äußerung, gesprochen von der Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 106 zentralen Fokusperson, in einem bestimmten Arbeitszusammenhang, ist und welche Implikationen diese Äußerung für die jeweiligen Adressaten in Begriffen eigenrelevanter Arbeitsorganisation besitzt. Nur wenn die Mitarbeiter wissen, dass etwas kein Gegenstand von Aushandlung ist, haben sie überhaupt die Möglichkeit, sich antizipatorisch zu orientieren und dadurch im Zusammenspiel mit allen anderen Betroffenen und Mitadressierten die für die Produkterstellung unter Zeitdruck notwendige Reibungslosigkeit und Ökonomie zu gewährleisten. In Reaktion auf die Antwort der Regisseurin auf ihre Ratifikationsfrage wiederholt nun die Kamerafrau ihrerseits den zentralen Kritikpunkt mit zu langsam selbst noch einmal. Die Regisseurin wiederholt ebenfalls noch einmal, nunmehr jedoch wesentlich lauter gesprochen, ihre Bewertung <vie“l zu langsam> und wendet sich gleichzeitig von der Gruppe der VideobetrachterInnen ab und der Kamerafrau zu, mit der sie nun auch erstmals Blickkontakt aufnimmt. Dies ist der Moment, in dem die Fokusperson aus dem bislang stabilen Monitorraum heraustritt, diesen dadurch für sich und - wie sich noch zeigen wird - auch für die anderen als relevanten Interaktionszusammenhang auflöst. 11 Die Auflösung und den Übergang zum nächsten Interaktionsraum markiert sie, indem sie nun die Kamerafrau durch Blickkontakt adressiert, lauter spricht und sich von den „Bewohnern“ des von ihr aufgegebenen Interaktionsraumes abwendet. Wie verhalten sich die übrigen drei Personen des Monitorraumes beim Weggang der bislang strukturbestimmenden Fokusperson? Schauen wir uns zur Beantwortung dieser Frage zunächst einmal den Aufnahmeleiter an: Der Aufnahmeleiter bleibt unverändert in seiner lockeren Standposition stehen (linke Schulter an die Wand gelehnt, rechtes Standbein und linkes, leicht angewinkeltes Spielbein mit linkem Fuß teilweise auf dem rechten aufgestellt). Als die Regisseurin ihre Orientierung auf den Monitor auflöst und sich nach links dreht und der Aufnahmeleiter nunmehr ihr Profil erkennen kann, löst er den Blick von der Kamerafrau und schaut kurz die Regisseurin an (Abb. 5), ehe er wieder zurück zur Kamerafrau blickt. 11 Auch wenn man den Videomonitor nicht sehen kann, ist davon auszugehen, dass die Regisseurin den Videoraum erst nach Ablauf der gedrehten Einstellung verlässt. Monitoring und Koordination als Voraussetzungen der multimodalen Konstitution 107 Abb. 5: Aufnahmeleiter Blick zur Regisseurin Der Aufnahmeleiter vergewissert sich durch Beobachtung, ob bzw. wo etwas geschieht, das ihn betrifft, erkennt aber, dass im Augenblick noch keine Entscheidungen gefallen sind, die für ihn selbst eine hinreichende Handlungsorientierungsgrundlage geben und wartet deshalb ab. Seine Körperhaltung zeigt keinerlei Anzeichen von Anspannung oder Vororientierung darauf, dass er sich - vergleichbar der Regisseurin - jetzt gleich in Bewegung setzen wird. Er verweilt vielmehr an dem Platz, an dem er sich vorher „locker eingerichtet“ hatte. Die Tatsache, dass er dabei genüsslich Kaugummi kaut, verstärkt sein Körper-Display, das erkennbar Entspannung signalisiert. Die Regieassistentin löst ihren Blick von der Regisseurin, als diese beginnt, sich auf die Kamerafrau zu orientieren. Sie dreht ihren Kopf nach rechts, blickt dabei einmal etwas nach unten auf den Videomonitor (Abb. 6), hebt den Kopf weiter an, dreht ihn weiter nach rechts und richtet ihren Blick in die Ferne (Abb. 7). Wie der Aufnahmeleiter verändert auch die Regieassistentin dabei ihre Standposition in keiner erkennbaren Weise. Ihr Blick in die Ferne signalisiert - vergleichbar dem Anlehnen des Aufnahmeleiters - keine direkte Aktion oder erkennbare Orientierung auf etwas, das von ihr unmittelbar bevorstehend ein Eingreifen erwarten ließe. Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 108 Abb. 6: Assistentin Blick auf Monitor Abb. 7: Assistentin Blick in die Ferne Da die Continuity weitgehend von der Kameraassistentin verdeckt ist, kann man nur erkennen, dass sie ihren Kopf einmal kurz bewegt und dabei auch anhebt. Weder wird jemand der Übriggebliebenen verbal aktiv, noch realisiert jemand irgendwelche kinesischen Hinweise auf Handlungsprojektion (Körperanspannung, Neuorientierung, Startvorbereitung etc.). Die Zurückgebliebenen verweilen vielmehr - während sich die Regisseurin auf den Weg zur Kamerafrau macht - in ihren vorherigen Körperpositionen und verändern auch nicht die Konstellation zueinander. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass sie nach Weggang der Regisseurin untereinander einen neuen Interaktionszusammenhang konstituieren. Durch den Weggang der Regisseurin verliert der Monitorraum ganz offensichtlich mit der Fokusperson seine zentrale interaktive Strukturierungsressource und die mit der Präsenz und dem Verhalten der Fokusperson für die anderen zusammenhängende koordinative Relevanz. Durch die Wegorientierung der Regisseurin verliert auch der Videomonitor, dessen funktionaler Status ursprünglich zu ihrer Negativbewertung viel zu langsam geführt hatte, seine Relevanz nicht nur für die Regisseurin, sondern auch für die drei Zurückgebliebenen. Keine/ r der drei schaut - nachdem sich die Regisseurin zur Kamerafrau orientiert hat - noch auf den Schirm. Der Monitoring und Koordination als Voraussetzungen der multimodalen Konstitution 109 Monitor hat mit der Realisierung seiner Handlungsfunktionalität (die Überprüfung der zuvor gedrehten Einstellung zu ermöglichen und dadurch die weitere Arbeit zu organisieren) seine Bedeutung für die aktuelle Situation verloren. Dies ist ein deutlicher Hinweis auf die strukturell temporäre Relevanz vergleichbarer signifikanter Objekte. 5.3 Resümee und erste kategoriale Entwicklung Die zurückliegende Analyse zeigt neben interessanten fallspezifischen Einsichten auch wesentliche Strukturelemente, die für die Konstitution, Aufrechterhaltung und Auflösung von Interaktionsräumen grundlegend sind. Es wurde deutlich, dass wesentliche Charakteristika von Interaktionsräumen ihr transitorischer Charakter, ihre territoriale Beschaffenheit sowie ihre Abhängigkeit von strukturimplikativen signifikanten Objekten und dem interaktiven Verhalten signifikanter Personen sind. Die Analyse machte weiterhin deutlich, dass wir es bei dem Monitorraum mit einem Fall von Konstitution und Auflösung eines relevanten Interaktionsraumes zu tun haben, der auf der einen Seite ganz offensichtlich als „accomplishment“ aller Beteiligten zu verstehen ist. Auf der anderen Seite wird er jedoch ebenso eindeutig durch das Verhalten der Fokusperson aktiv strukturiert. Die Herstellungsbeiträge der Beteiligten sind also sehr unterschiedlich gewichtet. Die Beiträge der anderen Beteiligten sind im Kontext des wechselseitigen Wissens um die ordnungsstrukturellen Grundlagen der Kooperation am Set nachrangig, bzw. deren Relevanz ist davon abhängig, ob und wie die Fokusperson auf sie reagiert. Wie in dem Transkriptausschnitt zu sehen ist, gelingt es der Continuity beispielsweise nicht, sich mit ihrem Hinweis interaktiv Geltung und damit für die weitere Arbeitsorganisation Wirkung zu verschaffen. Wir werden im Folgenden die bei der fallspezifischen Analyse entstandenen zentralen Konzepte und Kategorien in allgemeiner, den Einzelfall transzendierender Weise entwickeln. Es handelt sich dabei um die Begriffe „Fokusperson“, „koordinative Relevanz“ und „signifikantes Objekt“. 5.3.1 Fokusperson Die zurückliegende Analyse verdeutlichte die herausragende Position der Regisseurin für die Koordination auf dem Set. Sie steht im Zentrum der Monitoring-Aktivitäten: Alle Mitarbeiter am Set müssen beobachten, in Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 110 welchen Arbeitszusammenhang die Regisseurin gerade involviert ist, um ihre eigene Arbeit möglichst antizipatorisch strukturieren und „timen“ zu können. In diesem Sinne bezeichnen wir die Regisseurin als Fokusperson, um deutlich zu machen, dass es neben dem jeweils spezifischen Fokus, den die arbeitsteilig organisierte Zuständigkeit für die einzelnen Mitarbeiter mit sich bringt, einen personalen Fokus gibt, der Gegenstand kontinuierlicher Monitoring-Aktivitäten ist. In methodischer Hinsicht reflektiert der Begriff die Tatsache, dass die Regisseurin auch durch die Mikrofonverkabelung und durch die Kamera zum Fokus des dokumentierten Geschehens wird. 5.3.2 Koordinative Relevanz In dem analysierten Ausschnitt ist es Sabine, die Regisseurin, die durch ihre Bewegungen auf dem Set sich selbst und andere koordiniert. Im Hinblick auf diese Implikationen kann man von der koordinativen Relevanz der Fokusperson sprechen. Damit ist gemeint, dass die Anwesenheit der Fokusperson zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort und unter bestimmten Konstellationen der Arbeitsorganisation für andere Mitarbeiter bedeutet, dass sie sich (für eine gewisse Zeit) auf sie orientieren müssen. Die Aktivitäten der Mitarbeiter hängen von denen der Fokusperson ab, und sie müssen ihre eigene Handlungsorientierung darauf gründen bzw. damit koordinieren, dass sie das Handeln der Fokusperson kontinuierlich auf potenzielle Implikationen für ihr eigenes Handeln beobachten und ausdeuten. Diese Koordinationsanforderung betrifft zum einen die Benutzer signifikanter Objekte (wie beispielsweise die Filmkamera), zum anderen die Inhaber bestimmter Funktionsrollen. Bei unserer zurückliegenden Analyse hatten wir es nur mit objektunabhängigen Funktionsrollen zu tun. Während die Benutzer signifikanter Objekte ihre Orientierung primär auf die Objekte bzw. die für die Bedienung der Geräte primär Zuständigen hin organisieren, strukturieren geräteunabhängige Funktionsrollen ihre Koordination stärker auf Sabine bezogen. Man kann also hinsichtlich der für die Art der Koordination konstitutiven Grundlagen grundsätzlich zwischen folgenden Set-Mitarbeitern unterscheiden: solchen, die an (durchaus dynamische, ihren jeweiligen Standort wechselnde) Territorien gebunden sind (wie die Kamerafrau), deren Kern signifikante Objekte darstellen, und solchen, die prinzipiell territorial ungebunden und kontinuierlicher auf die Regisseurin orientiert sind (beispielsweise die Regieassistentin, der Aufnahmeleiter und die Continuity). Monitoring und Koordination als Voraussetzungen der multimodalen Konstitution 111 Während die ersten relativ stationär orientiert sind, sind letztere mobil orientiert. Dies in dem Sinne, dass für sie die Notwendigkeit größer ist und kontinuierlicher besteht, den Bewegungen der Regisseurin und ihr selbst auf dem Set zu folgen. 5.3.3 Signifikante Objekte Unter signifikanten Objekten verstehen wir Gegenstände (wie beispielsweise Videomonitor und Filmkamera), um die herum und unter Bezug auf diese sich durch Interaktion zwischen verschiedenen Beteiligten temporär eine räumliche Struktur mit einem zumeist klaren Kern- und einem eher unklaren Peripheriebereich etabliert. 12 Signifikante Objekte sind gegenständliche Mitkonstituenten von Interaktionsräumen, deren Zentrum und koordinativen Bezugspunkt sie bilden. 13 Sie besitzen auf Grund ihrer eigenen Spezifik ein Potenzial von Koordinationsimplikationen (der Videomonitor impliziert auf Grund seines semiotischen Status eine gewisse Orientierung derjenigen, die das laufende Video betrachten wollen und eine gewisse Positionierung zu dem Objekt). Signifikante Objekte erhalten ihre Relevanz jedoch erst auf Grund der Rolle, die sie für bestimmte Funktionsrollen, zu einem gegebenen Zeitpunkt und im Kontext einer bestimmten Arbeitsphase für die Realisierung einer bestimmten Kernaktivität besitzen. 6. Der Kameraraum Wir haben bereits beschrieben, wie die Regisseurin den Monitorraum verlässt und beginnt, sich auf die in der Nähe der Kamera platzierte Kamerafrau hin zu orientieren und zu bewegen. Im Folgenden geht es nun darum, welche Interaktion sich zwischen Regie und Kamera entwickelt und welche Form von Interaktionsraum dabei von den Beteiligten konstituiert wird. 12 Die Unklarheit der Peripheriegrenzen entsteht allein schon dadurch, dass die für die Beteiligten relevanten Raumgrenzen unterschiedlich zu ziehen sind, je nachdem, wie laut sie sprechen, ob sie mit Nähe- (Stimme) oder Fernemedien (Gesten, Blickkontakt) kommunizieren, wie sie sich körperlich zueinander positionieren etc. Die Variabilität der Grenzen interaktiver Räume ist also nicht ihrer dinglich-objektiven Natur (z.B. signifikante Objekte), sondern ihrer personal-aktionalen Konstitution geschuldet. 13 In dieser Hinsicht unterscheidet sich unser Verständnis signifikanter Objekte von Situationen, in denen Gegenstände ohne vergleichbare strukturimplikative Potenziale temporär und zumeist klar lokal bezogen für die Realisierung von Handlungen Bedeutung erlangen; beispielsweise Keksschachteln im Rahmen einer Geschäftsverhandlung wie bei Kallmeyer/ Streeck (2001); siehe auch Streeck (1996). Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 112 6.1 Konstitution des Kameraraums Simultan zur Bewegung der Regisseurin auf die Kamera hin geht auch die Kamerafrau, die etwas entfernt vom Kamerawagen steht, auf diesen zu, steigt auf ihn, wobei sie sich von der Regisseurin weg- und dieser ihren Rücken zudreht (Abb. 8), und greift mit der rechten Hand an den Bügel der Kameraführung. Abb. 8: Kamerafrau mit Rücken zur Regisseurin An diesem hält sie sich eine ganze Zeit lang fest. Dadurch, dass sie nicht auf die auf sie zukommende Regisseurin wartet, sondern sich aktiv ihrem Arbeitsgerät zuwendet, koordiniert sie nicht nur sich selbst in Bezug auf ihr Arbeitsgerät. Will sich die Regisseurin nicht mit dem Rücken ihrer Kamerafrau zufrieden geben, muss sie um den Kamerawagen herumgehen und sich neben diesen stellen. Das hat zur Konsequenz, dass sich Kamerafrau und Regisseurin nicht gegenüberstehen, sondern sich in einer „side-by-side“- und „up-down“-Konstellation positionieren (Abb. 9). Doch nicht nur diese körperliche Grundkonstellation wird durch die Orientierung der Kamerafrau auf ihr Arbeitsgerät hin (und von der Regisseurin weg) impliziert. Auch die Blickrichtung wird - ähnlich wie im Monitorraum durch den Monitor - durch die Kamera als neues signifikantes Objekt vorstrukturiert. Die Kamera mit der ihr inhärenten Blickrichtung und der Orientierung auf die zuvor gefilmte und danach von der Regisseurin im Videomonitor gesehene und evaluierte Szene (der Gang des Schauspielers zu einem Fahrrad) „führt“ sowohl den Blick der Kamerafrau als auch den der Regisseurin. Sie folgt der Kamerafrau und positioniert sich in einer Linie mit der Blickachse der Kamera: Beide stehen nun nebeneinander und schauen zum zuvor gefilmten Fahrrad. Monitoring und Koordination als Voraussetzungen der multimodalen Konstitution 113 Abb. 9: „side by side“- und „up-down“-Position Wir haben es zu Beginn der Konstitution des Kameraraumes mit zwei gegenläufigen Orientierungen von Regisseurin und Kamerafrau zu tun: Einerseits tritt die Regisseurin in das Kamera- und damit das Heimterritorium 14 der Kamerafrau ein, weil sie mit ihr die Folgen aus der zurückliegenden Betrachtung des Videomitschnitts besprechen will. Die Kamerafrau kann auf Grund der mehrfachen negativen Evaluation antizipieren, was nun als Nächstes passieren wird: Sie wird sich mit der kritischen Bewertung und den daraus resultierenden arbeitsorganisatorischen Konsequenzen der zuvor gedrehten Szene auseinandersetzen müssen, die die Regisseurin auf ihrem Weg zur Kamera noch einmal mit der schleicht daher wie eine schildkröte in Worte fasst. Die thematischen Vorgaben und die pragmatischen Implikationen dessen, was als Nächstes kommen wird, werden von der Regisseurin aus dem Monitorraum in den Kameraraum mitgebracht. 14 Wir benutzen den Begriff „Territorium“ in Anlehnung an Goffman (1974, S. 54ff.), um damit auf den mit bestimmten Funktionsrollen assoziierten Raum zu referieren, der interaktionsvorgängig, d.h., organisationsstrukturell auf Grund der Arbeitsteilung und der damit zusammenhängenden Zuständigkeiten und Aufteilungen von Rechten und Pflichten besteht. Zwar geht es - anders als bei Goffman - hier weniger um temporären Besitz und Intimitätsräume, aber doch auch um den Zusammenhang zwischen Raum, Position einer Person in selbigem und den damit verbundenen Rechten und Prioritäten gegenüber anderen. Es ist darüber hinaus zu vermuten, dass auch bei den arbeitsorganisatorischen Territorien ganz ähnliche Höflichkeitsregeln gelten wie bei den persönlichen. Der Zusammenhang zwischen den „Territorien des Selbst“, den arbeitsorganisatorischen Territorien und Interaktionsräumen ist aber theoretisch noch weiter auszuarbeiten. Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 114 Andererseits sehen wir die Kamerafrau, die durch ihre Orientierung auf ihr Arbeitsinstrument nicht passiv abwartet, bis sich die Regisseurin bei der Kamera etabliert hat und sich beide gegenüberstehen, sondern aktiv zur Strukturierung der räumlich-körperlichen Grundkonstellation und der Blickfokussierung der beiden Funktionsrollen beiträgt. Die Beiträge zur inhaltlich-thematischen und zur proxemischen Strukturierung des Interaktionsgeschehens um die Kamera fallen in dieser Situation also auseinander. 6.2 Die Kamera als signifikantes Objekt Da zur Strukturierung des neu entstehenden Interaktionsraums um die Kamera herum ganz wesentlich die Implikationen der Kamera selbst beitragen, dieses signifikante Objekt gleichzeitig ausschließlich von der Kamerafrau manipuliert wird, werden wir uns bei unseren weiteren Ausführungen unter anderem auf die mit der Kameramanipulation verbundenen Implikationen konzentrieren. Die strukturierende Relevanz als signifikantes Objekt hat die Kamera mit dem Videomonitor gemeinsam. Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Objekten besteht jedoch darin, dass die Kamera als Arbeitsinstrument der Kamerafrau zugehörig ist. Im Unterschied zum Videomonitor, der keinen Besitzer mit erkennbaren oder gar exklusiven Benutzungsrechten hat, etabliert die Kamera interaktionsvorgängig (d.h. als arbeitsorganisatorisches Faktum) ein Territorium, in dem neben der Kamerafrau noch drei AssistentInnen auf ihre Anweisung hin arbeiten. In diesem Sinne betritt die Regisseurin einen im Vergleich zum Territorium um den Videomonitor bereits vorstrukturierten Raum mit Zuständigkeiten, Befugnissen und Anweisungs- und Abhängigkeitsstrukturen. Die Kamerafrau tritt als Folge einer eigenständigen und gegenläufigen Orientierung zu der auf sie zukommenden Regisseurin in das Zentrum ihres Zuständigkeits- und Arbeitsbereiches und positioniert sich zudem - dadurch, dass sie den Kamerawagen besteigt und die Kamera mit der rechten Hand am Führungshebel packt - in leicht erhöhter Arbeitsposition und -haltung. Neben dieser Positionierung bei und auf ihrem Arbeitsgerät verstärkt sich der Aspekt der Symbolisierung von „doing being ready for work“ dadurch, dass sie, parallel zu den kritischen Ausführungen der Regisseurin, die Kamera einmal nach vorne zur vollen Extension und dann in einer langsameren Bewegung wieder zurück bewegt (Abb. 10, 11). Welche Implikationen stecken in dieser Manipulation ihres Arbeitsgerätes? Monitoring und Koordination als Voraussetzungen der multimodalen Konstitution 115 Abb. 10: Kamera in Ruheposition Abb. 11: Kamera volle Extension Auf diese Frage lassen sich unterschiedliche Antworten geben: 1) Wenn sie sich auf ihr Arbeitsgerät orientiert, hat die Kamerafrau etwas, an dem sie „sich festhalten“ 15 kann. 2) Die Kamera bietet - wie gesehen - die Möglichkeit, die neu entstehende Situation aktiv mitzugestalten. 3) Die Kamera bietet ihr einen gewissen Schutz vor der zu erwartenden Auseinandersetzung mit der unzufriedenen Regisseurin. 4) Die Bewegung der Kamera verdeutlicht die Vororientierung der Kamerafrau. 5) Die Bewegung illustriert die imaginäre Korrektur der vorherigen, zu langsamen Bewegung (wie die Korrektur einer verschlagenen Rückhand, die vom Tennisspieler ohne Ball ausgeführt wird). 6) Die Kamerabewegung greift das zuvor Verbalisierte (viel zu langsam) auf und stellt es quasi in einem anderen Ausdrucksmedium selbst noch einmal dar. 15 „Festhalten“ hat hier durchaus pragmatische Implikationen im Sinn von „Halt suchen“, „die eigene Position stabilisieren oder festigen“. Dies ist ein instruktives Beispiel für die pragmatisch-gesprächsrhetorischen Implikationen der deskriptiven Metaphorik, die sich hinter der Beschreibung körperlichen Verhaltens versteckt. Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 116 7) Die Kamerafrau zeigt das Bewegungsspektrum der Kamera und damit ihren Handlungsspielraum für die Aufnahme der Szene. Insbesondere demonstriert sie, mit welcher maximalen Geschwindigkeit sie die Kamerabewegung realisieren kann. Sie führt hier also ein modellhaftes Probehandeln mit quasi-argumentativem Charakter vor. Ohne Not, sich exklusiv für eine der Lesarten entscheiden zu müssen, können wir in allen Varianten einen gemeinsamen Konvergenzpunkt entdecken: Die Kamerafrau nutzt nicht nur ihre Positionierung bei der Kamera, sondern auch deren Manipulation dazu, die Situation erwartbarer Kritik selbst zu gestalten. Sie reagiert dabei auf den hierarchisch legitimierten und für die Arbeitsorganisation funktionalen Aspekt der thematisch-pragmatischen Fremdbestimmung mit selbst bestimmtem körperlichen und proxemischen Verhalten, mit dem sie relevante Strukturimplikationen für die Konstitution des Interaktionsraumes „Kamera“ realisiert. Es scheint dabei durchaus kein Zufall zu sein, dass die beschriebene Form der Orientierungsdivergenz sich gleich zu Beginn des Eintritts der Regisseurin in den Bereich der Kamera und damit in das „natürliche“ Territorium der Kamerafrau und ihrer Crew manifestiert: Die Kamerafrau gestaltet kinesisch-proxemisch die Situation, bevor sich interaktiv Strukturen etablieren, die ihren Heimvorteil konterkarieren. Sie verschafft sich also unter den Bedingungen thematischpragmatischer Vorstrukturierung bzw. Erwartbarkeit durch körperliche Aktivitäten und durch die Manipulation des signifikanten Objektes einen gesprächsrhetorischen 16 Vorteil. 6.3 Thematisch-pragmatische Strukturen Schauen wir uns nun die Entwicklung des thematisch-pragmatischen Aspektes an, den die Regisseurin in den Kameraraum importiert hat und mit dem sie zentral die fehlende Dynamik der gedrehten Einstellung kritisiert. 6.3.1 Transkript: Negativevaluation (viel zu langsam) SA: <vie“l zu langsam> * der schleicht UL: zu langsam SA: daher wie eine |schildkröte also das UL: |ja gut das krieg ich 16 Zur Konzeption der Gesprächsrhetorik siehe Kallmeyer (1996). Monitoring und Koordination als Voraussetzungen der multimodalen Konstitution 117 SA: is | ne: * |ich hab gedachtdas UL: nicht| so gut |das krieg ich halt nich SA: ist | handkamera einfach ↓ UL: schneller| okay ↓ Zu Beginn der Aushandlung zwischen Regisseurin und Kamerafrau geht es darum, dass die Langsamkeit der im Video aufgezeichneten Szene kritisiert wird. Wie gesehen betont die Regisseurin diesen Aspekt noch einmal mit ihrer Formulierung der schleicht daher wie eine schildkröte, worauf die Kamerafrau - teilweise überlappend - mit ja gut das krieg ich nicht so gut reagiert. In einer zweiten Formulierung rechtfertigt sie dann, dass sie die gewünschte Schnelligkeit nicht produzieren kann: das krieg ich halt nicht schneller. Ihre gegenständliche Demonstration der Kamerabewegung dient als Beleg. Soweit geht es also ausschließlich darum, dass in der gedrehten Einstellung der Schauspieler viel zu langsam geht, wobei zwischen Regie und Kamera klar ist, dass dies kein Problem des Schauspielers, sondern des spezifischen Einsatzes der Kamera ist. Simultan zur Kamerafrau hat auch die Regisseurin weiter gesprochen. Ihre Äußerung ich hab gedachtdas ist handkamera einfach ↓ überlappt sich in großen Teilen mit der Äußerung der Kamerafrau. Erst als sie mit handkamera einfach ↓ einen neuen Aspekt einbringt, der von der Dynamik zu einem gänzlich anderen Einsatz der Kamera wechselt, ist sie alleinige Sprecherin. Sie zieht also aus dem Geschehen auf dem Videomonitor die Konsequenz, dass die Einstellung besser mit einer Handkamera gedreht werden sollte. 17 Damit geht es nicht mehr um eine Bewertung des Gesehenen, sondern um eine Instruktion mit konkreten arbeitsorganisatorischen Implikationen. Diesen stimmt die Kamerafrau mit okay ↓ zu. Dies bedeutet hier also: Wir drehen die Szene noch einmal mit einer Handkamera. 6.3.2 Transkript: „Entscheidung Handkamera“ SA: ne: * |es ist so | gehen UL: |gut dann äh| dann gehen wir auf hand ↓ 17 Die Tempuswahl ihrer Äußerung (Perfekt: „ich hab gedacht“) legt dabei die Vermutung nahe, dass es einen vorgängigen Kontext gibt, bei dem die Frage, wie die Kamera bei diesem Dreh einzusetzen ist, bereits thematisch war und die Regisseurin sich in diesem vorgängigen Kontext bereits für den Einsatz einer Handkamera ausgesprochen hatte. Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 118 SA: wir |auf hand- und zit | UL: |ich mach| den einen AL: |>wir bauen um auf |hand|kamera< | Parallel zum Ende des Beitrags der Regisseurin formuliert nunmehr auch die Kamerafrau explizit die Entscheidung, die Einstellung noch einmal mit der Handkamera zu drehen. Mit gut dann äh dann gehen wir auf hand ↓ beendet sie die Ausführungen der Regisseurin, indem sie den darin enthaltenen Implikationen nun expressis verbis zustimmt (was sie zuvor mit dem knappen okay bereits getan hatte). Die Regisseurin ratifiziert ihrerseits durch die Wiederholung der Äußerung gehen wir auf hand, wodurch nunmehr beide wörtlich identisch diese Entscheidung formuliert haben. Der Abschluss und zit ist eine Formel, die von der Regisseurin häufiger in Situationen benutzt wird, in denen sie das zu Geschehende schnell machen oder Aushandlungen beenden will. Es ist ein deutlicher Verweis auf das für das Set-Geschehen typische ökonomische Miteinander, für das Phasen der expliziten und verbal aufwändigen Aushandlung eher unüblich sind. Doch nicht nur Kamera und Regie vollziehen den Wechsel von der Aushandlung der angemessenen kameratechnischen Realisierung der Einstellung hin zur Arbeitsorganisation. Auch der Aufnahmeleiter wird relativ zu seinen Aufgaben nun wieder aktiv. Seine großteils simultan realisierte Äußerung wir bauen um auf handkamera kommuniziert die zwischen Kamera und Regie getroffene Entscheidung hinaus in die Öffentlichkeit des Sets. Ohne spezifische Adressierung informiert er all diejenigen, die von dem nochmaligen Dreh der Einstellung betroffen sind. Jeder kann nun für sich die für seinen Beitrag zu dem erneuten Dreh notwendigen Vorbereitungen treffen und sich auf diesen nächsten Schritt orientieren. Wir werden nun auf einen Aspekt eingehen, der sich in den zitierten Transkriptausschnitten nicht abbildet, aber für die Rekonstruktion der arbeitsteiligen Strukturen sowie der damit verbundenen Zuständigkeiten und Abhängigkeiten und für die Einschätzung der wiederum daraus resultierenden Koordinierungs- und Monitoring-Leistungen bestimmter Mitarbeiter (hier: der KameraassistentInnen) von großer Bedeutung ist. 6.3.3 Kameraassistenz: „doing being available“ Die Videoaufnahme zeigt, dass nicht nur die Kamerafrau, sondern auch deren AssistentInnen auf den Eintritt der Regisseurin in ihr Territorium reagie- Monitoring und Koordination als Voraussetzungen der multimodalen Konstitution 119 ren. Eine erste Reaktion zeigt der Assistent, der der herannahenden Regisseurin am Nächsten ist. Er steht links neben dem Kamerawagen und ist mit der Führung des Videokabels beschäftigt. Als die Regisseurin an ihm vorbeigeht, blickt er sie kurz an. Diese Reaktion - wie die Reaktionen der KameraassistentInnen auf die Regisseurin insgesamt - kann man als vermittelte koordinative Relevanz bezeichnen. Die AssistentInnen sind primär auf die Kamerafrau orientiert, die ihre Chefin ist und daher auch das Zentrum ihrer Monitoring-Aktivitäten darstellt. Sie werden durch die Präsenz der Regisseurin in ihrem Territorium quasi in Bereitschaft versetzt und orientieren sich, obwohl es für sie im Moment dort nichts zu tun gibt, auf die Kamera zu und positionieren sich im Peripheriebereich 18 dieses signifikanten Objektes. Sie signalisieren so - für alle Fälle - „availability“. 19 Abb. 12: Peripherie 18 Für ihre funktionale periphere Positionierung ist Bedingung, dass Hör- und Sichtweite gegeben sein muss, damit einerseits hinreichendes Monitoring möglich ist, andererseits zentrierte Interaktion nicht behindert wird. Insbesondere können Peripheriebewohner mithören und -sehen, ohne sich selbst als Mit-Sehende und Mit-Hörende zu positionieren. Im Grenzfall können sie sogar so tun, als sähen und hörten sie nicht, auch wenn sie es tun, da sie es nicht sichtbar tun. 19 Die Verfahren, mit denen Interaktionsbeteiligte anzeigen, dass sie für die Aufnahme bzw. Weiterführung von Interaktion bereit sind, wurden von Heath (1982a) als „availability displays“ konzeptualisiert. Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 120 Die Orientierung der Kamera-Assistenten erfolgt sozusagen antizipatorisch, d.h., im Hinblick auf die Möglichkeit, dass sich aus dem Gespräch zwischen Regie und Kamera für ihre Assistententätigkeit relevante Informationen ergeben. Und tatsächlich ist dies auch der Fall: Nach dem Stichwort handkamera der Kamerafrau, ihrer Chefin, setzen sich die AssistentInnen ohne die geringste Absprache oder irgendeine Form von Anweisung wie auf ein geheimes Zeichen hin in Bewegung. Die AssistentInnen reagieren also zunächst auf die Relevanz, die dadurch entstanden ist, dass die Regisseurin in das Kamera-Territorium eingetreten ist. Die zweite Reaktion der AssistentInnen erfolgt dann aber nicht auf die Regisseurin, sondern erst, als die Kamerafrau handkamera entscheidet. Dies ist für sie das Stichwort, das ihre folgende Arbeit strukturiert, die sie dann eigenständig erledigen. Dies ist jedoch nicht immer so. Es gibt durchaus Fälle, in denen die KameraassistentInnen von Regie oder Kamera direkte Anweisungen bekommen (beispielsweise eine bestimmte Einstellung vorzubereiten). Der Unterschied zwischen beiden Situationen besteht im Folgenden: Das Stichwort handkamera bedeutet im aktuellen Kontext eine Veränderung der Kamera, nicht jedoch auch eine Veränderung des Drehortes. Es ist klar, dass die Einstellung, die vorher gedreht worden war und deren Arrangement noch existiert, noch einmal mit der Handkamera gedreht werden soll. Die AssistentInnen wissen also genau, was zu tun ist: Sie müssen die montierte Kamera vom Wagen herunternehmen und für das Tragen präparieren. Im Kontext der unter den AssistentInnen gegebenen Arbeitsteilung weiß also jeder, was als Nächstes zu tun ist und was seine spezifische Aufgabe dabei ist. Bei der Vorbereitung einer bestimmten Einstellung ist die Situation etwas anders. Die Anweisung, dass einer der Assistenten bereits den nachfolgenden Schuss vorbereiten soll, ist eine Entscheidung, die den festgelegten Drehablauf tangiert und die Assistentencrew für eine gewisse Zeit aufspaltet. Eine solche Entscheidung und die aus ihr resultierende Aufspaltung können die AssistentInnen nicht von sich aus treffen. Dazu bedarf es der konkreten Anweisung ihrer Chefin, der Kamerafrau. 7. Monitoring am Set Monitoring ist eine der zentralen Voraussetzungen für die reibungslose Zusammenarbeit der vielen unterschiedlichen Funktionsrollen. Nur über kontinuierliches Monitoring ist Koordination als organisationsstrukturelle Bedin- Monitoring und Koordination als Voraussetzungen der multimodalen Konstitution 121 gung der für das Set spezifischen Zusammenarbeit ohne explizite Verbalisierung der zu organisierenden Abläufe und Zusammenhänge möglich. 20 Gerade in der Fraglosigkeit wechselseitiger Abstimmung und dem weitgehenden Fehlen expliziter Thematisierungen kontinuierlich zu leistender organisatorischer Belange zeigt sich die Professionalität der verschiedenen Funktionsrollen und deren Koordination im Großen wie im Kleinen. Bei der Rekonstruktion relevanter Interaktionsräume ist es wichtig, ihren faktischen „accomplishment“-Charakter zu sehen. Auch unter der durch die Set- Hierarchie gegebenen Ausnahmestellung der Regisseurin als zentraler Fokusperson bleibt die Herstellung relevanter Handlungs- und Interaktionsräume stets eine Leistung aller Beteiligten. Erst durch respondierende oder antizipierende Verhaltensweisen untergeordneter Funktionsträger, die die koordinative Relevanz der übergeordneten Funktionsrolle ratifizieren, werden in unserem Beispiel interaktive Räume konstituiert. Die Anwesenheit übergeordneter Funktionsrollen produziert jedoch nicht zu allen Zeiten und an allen Orten für alle Mitarbeiter die Notwendigkeit von Monitoring und daraus resultierenden koordinativen Aktivitäten. Die koordinative Relevanz entsteht vielmehr aus einem kontinuierlichen Abgleich aktueller Konstellationen und Vorgänge mit dem vorgängigen professionellen Wissen hinsichtlich allgemeiner Abläufe, der sequenziellen Logik von Arbeitsschritten und der notwendigen Beteiligung bestimmter Funktionsrollen an ihr. Teil dieser allgemeinen Ablaufvorstellung ist auch die Zusammenarbeit und Hierarchie bestimmter Funktionsrollen bei bestimmten Arbeitsschritten und die relative Eigenständigkeit einzelner Funktionsrollen bei anderen. Konkret bedeutet dies beispielsweise für die Kameracrew: Auf Grund des Drehplanes, bei dem die einzelnen Kamerapositionen und Kameraeinsätze (starre Einstellung, Kamerafahrt, Handkamera etc.) ebenso aufgelistet sind wie die Art der Einstellungen („master“, Schuss, Gegenschuss oder „top shot“), wissen die KameraassistentInnen relativ genau, welche Vorbereitung für den Dreh der Einstellungen notwendig ist, und wer dabei welche konkreten Aufgaben zu übernehmen hat. In der Vorbereitung für den Dreh einer 20 Monitoring wird in der Literatur in zweierlei Hinsichten beschrieben: Zum einen als Selbstbeobachtung oder Selbstkontrolle mit dem Ziel der Koordination des eigenen Verhaltens (beispielsweise bei Rehbein 1977 und Levelt 1983). Zum anderen wird Monitoring als Bestandteil einer interaktiv konstituierten Struktur verstanden im Sinne einer Fremdwahrnehmung/ -beobachtung (Goodwin 1980). Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 122 solchen Einstellung können sie dann im Rahmen der verabredeten Arbeitsteilung relativ autonom arbeiten. Sie sind in der Phase - wie grundsätzlich - auf die Kamerafrau orientiert, müssen sich jedoch nicht darum kümmern, was zu der Zeit die Regisseurin macht. Dies ändert sich jedoch dann, wenn sich aus den konkreten Dreharbeiten Alternativen entwickeln, Probleme entstehen oder nicht antizipierbare technische Hindernisse auftauchen. Dies ist im untersuchten Datum der Fall. Hier bekommt die Konversation zwischen Regie und Kamera für die AssistentInnen potenzielle handlungsimplikative Relevanz. Die AssistentInnen koordinieren ihren eigenen, arbeitsteilig organisierten Arbeitskontext übereinstimmend und ohne Absprache in Abhängigkeit von der lokalen Kooperation zwischen Regie und Kamera. Die lokale Kooperation der beiden Funktionsrollen etabliert also nicht per se koordinative Relevanz. Diese entwickelt sich für die Kamera-AssistentInnen in Abhängigkeit von ihrer spezifischen Platzierung im übergeordneten Arbeitskontext. Der Zusammenhang der Hierarchie der Funktionsrollen mit einer isomorphen Hierarchie zwischen konzeptionellen Tätigkeiten (Regie), primär implementierenden (Kamera) und unterstützenden Tätigkeiten (Kamera-Assistenz) wird in solchen Situationen der Abweichung von der Routine in seiner generativen Strukturierungskraft besonders deutlich: Hier werden die entsprechenden sachlichen und hierarchiestrukturell institutionalisierten Abhängigkeitsverhältnisse unmittelbar als lokale, kreative und adaptative Koordinierungsleistungen realisiert. 8. Monitoring und „availability displays“ 21 bei der Konstitution von Zugänglichkeit zu Interaktionsräumen Es scheint unterschiedliche Konstitutionstypen von Interaktionsräumen zu geben: solche, die von Beteiligten etabliert und wieder aufgelöst werden, und solche, die von Beteiligten etabliert und durch andere Beteiligte, die hinzutreten, modifiziert werden. Und es scheint so zu sein, dass die Veränderbarkeit von Interaktionsräumen a) von der interaktiven Gestaltung der etablierenden Beteiligten abhängt, die signalisieren, ob ihr Interaktionsraum für andere zugänglich ist oder nicht, und b) von den Implikationen des inter- 21 In der Konversationsanalyse spielt die „display“-Vorstellung als empirische Manifestation der von Garfinkel (1967) theoretisch formulierten „accountability“-Vorstellung bei der konkreten Analyse von Interaktion eine wichtige Rolle; siehe neben Goodwin (1981) und Heath (1982a) auch Clayman (1988), Maynard (1989) und Atkinson (1992). Monitoring und Koordination als Voraussetzungen der multimodalen Konstitution 123 aktiven Geschehens für die Arbeitsorganisation (z.B. Priorität, Relevanz und Dringlichkeit interaktiver Initiativen für anstehende Arbeitsaufgaben sowie Unterbrechungstoleranz des aktuellen Arbeitsablaufs). Wie aber wird die Frage der Zugänglichkeit konkret interaktiv geregelt? Sie erfolgt auf der Grundlage zweier Orientierungen, die dem Verhalten unterschiedlicher Funktionsrollen zu Grunde liegen. Untergeordnete Funktionsrollen betreiben kontinuierlich Monitoring, um Hinweise zu erhalten, ob ihre Anwesenheit zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem existierenden Interaktionsraum für die (eigene) Arbeitsorganisation erforderlich ist, oder ob ihre Partizipation für die Konstitution eines neuen Interaktionsraumes notwendig ist. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass die zentralen Personen konstituierter Interaktionsräume Zugänglichkeit zum Interaktionsraum indizieren (oder Exklusivität anzeigen) bzw. bei der Neukonstitution von Interaktionsräumen die Notwendigkeit zur Partizipation signalisieren. Nicht nur untergeordnete Funktionsrollen müssen zuweilen „availability“ demonstrieren. Auch Fokuspersonen müssen anzeigen, ob sie für untergeordnete Funktionsrollen „available“ sind oder nicht. Zwischen Monitoring und der Produktion von „availability displays“ zeigt sich folgende Beziehung: Während Monitoring am Set primär eine Leistung untergeordneter Funktionsrollen ist, scheint die Produktion von „availability displays“ eher eine allgemeine, rollenunspezifische Anforderung zu sein. Das Verhältnis von „availability displays“ und Monitoring ist seinerseits gegründet in dem professionellen Wissen der Beteiligten über typische Ablaufstrukturen und Organisationszusammenhänge der Arbeit am Set. 9. Monitoring und „availability“ als Basiskonzepte der Analyse multimodaler Koordination Eine multimodale Analyse von Monitoring-Prozessen hat konzeptionell und interaktionstheoretisch weit reichende Implikationen. Eine solche Untersuchung führt zum einen zu einer Neubestimmung bislang vorliegender Konzepte von „Gesprächsbeteiligung“. 22 Zum anderen sind solche Analysen eine wichtige Vorarbeit für die empirische Erschließung des Bereiches der Wahr- 22 Zur bisherigen Differenzierung unterschiedlicher Beteiligungsrollen in der Interaktion siehe Goffman (1979) und Levinson (1988); zur Analyse von Verfahren des Anzeigens von „participation“ siehe beispielsweise Heath (1982b und 1986). Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 124 nehmung als neuem Untersuchungsgegenstand empirischer Interaktionsanalysen. 23 Monitoring-Analysen bringen dabei eine Dynamisierung bislang punktuell-lokal konzeptualisierter Interaktionsphänomene wie Rückmeldeverhalten mit sich. Monitoring und seine Demonstration als intersubjektiv erkennbare Leistung, auf der koordinativ aufgebaut werden kann, wird als ständig relevante Aufgabe für alle Interaktionsbeteiligten deutlich. Der enge Zusammenhang von Monitoring und Koordination ist insbesondere ein zeitlicher: Neben dem genauen Timing gibt es immer auch ein „zu spät“ und oft auch ein „zu früh“. Der Aspekt des Timings, d.h., der Realisierung bestimmter Handlungsvollzüge zu einem - relativ zur laufenden Interaktion - präzise bestimmbaren Zeitpunkt ist nicht nur unmittelbar für die empirische Untersuchung von Koordination, sondern auch mittelbar für Monitoring- Prozesse von Belang. 24 Obwohl es Fälle gibt, in denen sich Monitoring als beobachtbares Verhalten abbildet und - wie schwierig das im konkreten Einzelfall auch sein mag - sich dadurch unmittelbar analysieren lässt, wird Monitoring nur in den wenigsten Fällen als eigenständige und für die Interaktion relevante Aktivität sichtbar. Dies liegt weniger daran, dass es keine phänomenologische Gestalt hätte. Es sind eher aufnahmetechnische und -perspektivische Gründe, die die alltagsweltliche Orientierung auf den Fokus des aktiven Handelns reproduzieren. Demgegenüber verbleiben die eher rezeptiven, vorbereitenden und flankierenden Aktivitäten des Monitorings im unthematischen Hintergrund der Aufmerksamkeit. Dies führt jedoch tendenziell dazu zu verkennen, welch konstitutive Rolle sie für den reibungslosen Vollzug der auf ihnen aufbauenden fokalen Koordinationen spielen. Oft wird daher erst über den Vollzug zeitlich nachgeordneter Verhaltens- und Handlungsweisen deutlich, dass Monitoring stattgefunden haben muss, worauf es sich bezogen hat und wie das Beobachtete gedeutet wurde. Genau an diesem Punkt spielt der Aspekt der Zeitlichkeit, das Timing der auf Monitoring beruhenden Handlungsvollzüge, eine wesentliche Rolle. 23 Siehe hierzu den Beitrag von Heidtmann/ Föh (i.d. Bd.) und Schmitt (2005) zur Analyse einer lang gestreckten kinesischen „turn“-Beanspruchung, die auf der Basis kontinuierlichen Monitorings der Aktivitäten des aktuellen legitimen Sprechers erfolgt. 24 Dieser Zusammenhang wird z.B. deutlich, wenn die Regieassistentin sich zu spät auf einen relevanten Raum orientiert hat und somit nicht mehr in die Interaktion integriert werden kann. Monitoring und Koordination als Voraussetzungen der multimodalen Konstitution 125 Monitoring und „availability“ sind zwei Konzepte, die in der Handlungsorientierung der Interaktanten systematisch aufeinander bezogen sind. „Availability“ meint nämlich keine bloß faktische Verfügbarkeit, sondern ist als performativer Zustand etwas, was dargestellt und verdeutlicht werden muss für andere, die Monitoring betreiben. „Availability displays“ setzen also konzeptlogisch wie in ihrer konkreten empirischen Ausgestaltung Wahrnehmungswahrnehmungen (Hausendorf 2001) voraus, sie stellen systematisch die Bedingungen ihrer Wahrnehmbarkeit in Rechnung. „Availability“ ist nicht nur wahrnehmbar, sie reagiert in ihrer Gestaltung selbst auf die Situation des Wahrgenommen-Werdens oder wenigstens des Wahrgenommen-Werden-Könnens. „Availability“ wird dadurch tendenziell zu einem Gegenstand von Stilisierung und Ritualisierung. Dies gilt besonders für Fokuspersonen. Bei ihnen ist „availability“ eine besonders knappe Ressource, deren reibungslose und zeitlich ökonomische Allokation durch stilisierende Routinen der Symbolisierung sicherzustellen ist. Weil Fokuspersonen in besonders hohem Maße permanent damit rechnen müssen, unter Monitoring zu stehen (und dies für die erfolgreiche Performanz ihrer Rolle auch benötigen), stehen sie in besonderem Maße in „availability display“- Pflichten. Umgekehrt ist Monitoring auch, wie wir an verschiedenen Stellen unserer Analyse sehen konnten, kein rein subjektiver Wahrnehmungsvorgang, der sich nur gewissermaßen zufällig interaktiv bemerkbar machte. Sicher nicht alle, aber viele Monitoring-Aktivitäten folgen ihrerseits auch der Logik interaktiver Wahrnehmungswahrnehmungen, d.h., sie werden in einer Weise verdeutlicht, die darauf angelegt ist, selbst von denen, die beobachtet werden, wahrgenommen zu werden (vgl. Deppermann/ Mondada/ Schmitt i.Vorb.). Monitoring richtet sich also nicht nur auf „availability“, es ist selbst oft so angelegt, dass für denjenigen, der „(non-)availability“ darzustellen hat, erkennbar wird, wem und wie er diese anzeigen muss. Monitoring wird deshalb häufig in einer Weise dargestellt, dass zumindest sein Gegenstand, wenn nicht gar die Interpretation des Beobachters dem Beobachteten angezeigt wird. Oder es wird ebenso ostentativ demonstriert, dass kein inhaltliches Monitoring eines Verhaltens oder einer Interaktion stattfindet, was aber gerade öffentlich das Bewusstsein anzeigt, dass ein exklusiver bzw. intimer Prozess wahrgenommen wird, den man als solchen respektiert. Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 126 10. Anhang Liste der verwendeten Transkriptionszeichen SA: Sigle zur Sprecherkennzeichnung K Sigle für einen sprecherbezogenen Kommentar |ja aber| simultan gesprochene Äußerungen stehen untereinander |nei"n | * kurze Pause ** etwas längere Pause (bis max. 1 Sekunde) *3,5* längere Pause mit Zeitangabe in Sekunden = Verschleifung eines Lautes oder mehrerer Laute zwischen Wörtern (z.B. sa=mer für sagen wir ) ↓ fallende Intonation (z.B. jetzt stimmt es ↓ ) schwebende Intonation (z.B. ich sehe hier- ) “ auffällige Betonung (z.B. aber ge“rn ) : auffällige Dehnung (z.B. ich war so: fertig ) >…< leise gesprochen <…> laut gesprochen 11. Literatur Atkinson, Maxwell J. (1992): Displaying Neutrality: Formal Aspects of Informal Court Proceedings. In: Drew, Paul/ Heritage, John (Hg.): Talk at Work. Interaction in Informal Settings. Cambridge, UK . S. 199-211. Clayman, Steven E. (1988): Displaying Neutrality in Television News Interviews. In: Social Problems 35, 4, S. 474-492. 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Bd.): Interaktionsraum und Koordinierung. Reinhold Schmitt / Arnulf Deppermann 128 Müller, Cornelia/ Bohle, Ulrike (i.d. Bd.): Das Fundament fokussierter Interaktion. Zur Vorbereitung und Herstellung von Interaktionsräumen durch körperliche Koordination. Rehbein, Jochen (1977): Komplexes Handeln: Elemente zur Handlungstheorie der Sprache. Stuttgart. Schmitt, Reinhold (2004): Die Gesprächspause: „Verbale Auszeiten“ aus multimodaler Perspektive. In: Deutsche Sprache 32, 1, S. 56-84. Schmitt, Reinhold (2005). Zur multimodalen Struktur von turn-taking. In: Gesprächsforschung 6, S. 17-61. Internet: www.gespraechsforschung-ozs.de (Stand: Mai 2006). Schmitt, Reinhold (i. Vorb.): Das Filmset als Arbeitsplatz. Multimodale Grundlagen einer komplexen Kooperationsform. In: Piitulainen, Maria-Leena/ Reuter, Ewald/ Tiittula, Liisa (Hg.): Professionelles Handeln als Kooperation. Tübingen. Schmitt, Reinhold/ Heidtmann, Daniela (2002): Die interaktive Konstitution von Hierarchie in Arbeitsgruppen. 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Erst wenn Menschen so nah beieinander stehen, dass sie sich lautlich verständigen können, beginnt im Normalfall der „eigentliche“ kommunikative Austausch, beginnt fokussierte Interaktion. 1 Erst dann haben sich die Beteiligten in der Regel auf einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus verständigt und der Interaktionsraum ist gleichermaßen Vollzug und Ausdruck dieses Arbeitskonsenses. 2 Was aber sind die Eigenschaften dieses Raums, wo genau beginnt er und wie ist er beschaffen? Offenbar kann es allein um die Möglichkeit zu lautlicher Verständigung nicht gehen, denn damit ergäbe sich eine Variationsbreite von Interaktionsräumen, die von Rufweite bis zum Flüsterton reicht. Nun ist es offensichtlich, dass kommunikativer Austausch im Normalfall weder laut rufend über mehrere Meter hinweg noch von Mund zu Ohr im Flüsterton stattfindet, sondern in einem wohl bemessenen Abstand und in charakteristi- * Wir danken Reinhold Schmitt für wertvolle Anregungen und Kritik und Karin Becker für die grafische Gestaltung. Wir danken den Tangotänzern und -tänzerinnen in Berlin und Amsterdam für die Bereitschaft sich bei ihrer „Arbeit“ beobachten, filmen und analysieren zu lassen. 1 Wir übernehmen den Begriff von Kendon (1984, 1990). Kendon unterscheidet mit Bezug auf Goffmans Konzept der „focused gatherings“ (Goffman 1963) zwischen (auf einen gemeinsamen Fokus) gerichteten und ungerichteten Interaktionen. Wir verwenden in Anlehnung an die englische Terminologie („focused“ vs. „non-focused encounters“) die Begriffe „fokussierte“ und „nicht-fokussierte“ Interaktion. 2 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Mondada (i.d. Bd.), in dem sie koordinative Aktivitäten untersucht, die der Etablierung von geteilten Interaktionsräumen dienen. Cornelia Müller / Ulrike Bohle 130 schen räumlichen Konfigurationen. Menschen stehen sich meist frontal oder in einem weit geöffneten Winkel gegenüber, wenn sie zu zweit miteinander sprechen; sind sie jedoch zu dritt, so bilden sie in der Regel ein Dreieck; kommen weitere Personen hinzu, formen sie einen Kreis. Durch diese verschieden geformten Konfigurationen kommen unterschiedliche Arten von Interaktionsräumen zustande, die nicht bloßer Ausdruck der Bereitschaft zu fokussierter Interaktion, sondern Produkt koordinativer Aktivitäten der Beteiligten sind. Interaktionsräume werden gemeinsam hergestellt, und zwar durch eine je spezifische Koordination von Körperorientierung und Position im Raum. 3 Dieser Herstellungscharakter zeigt sich besonders deutlich in der Phase der Vorbereitung und Etablierung und hierauf werden wir uns in unserem Beitrag konzentrieren. Wir rekonstruieren dabei mikroanalytisch die spezifischen Koordinationsleistungen mit denen Interaktionsräume in Instruktionssituationen im Tango- Unterricht hergestellt werden. Allerdings möchten wir gleich zu Beginn darauf hinweisen, dass wir davon ausgehen, dass die Form der Vorbereitung, die wir in diesem institutionell stark vorstrukturierten Kontext beobachtet haben, nicht tangospezifisch ist. Wir beobachten hier lediglich besonders prägnant herausgearbeitete Formen koordinativer Aktivitäten, die sich immer ergeben, wenn zwei Stehende miteinander im Gespräch sind und sich eine dritte Person in die bereits bestehende Interaktionseinheit hineinbewegt. Im Zentrum unserer Beobachtungen stehen die Koordinationsleistungen des Tanzlehrers, dem hier die institutionelle Aufgabe obliegt, die Initiative zu einer fokussierten Interaktion mit einem von ihm ausgewählten Tanzpaar herzustellen. Wir untersuchen Sequenzen, in denen der Tanzlehrer einzelne Paare beim Üben beobachtet, unterbricht und korrigiert. Diese Sequenzen sind deshalb unter dem Gesichtspunkt koordinativer Aktivitäten interessant, weil der Lehrer sich lokal auf das jeweilige Paar, auf die Musik und auf die ko-präsenten anderen Paare einstellen muss, die sich gleichzeitig im Raum 3 Eine ähnliche Zielrichtung verfolgt Mondada in ihrem Beitrag (i.d. Bd.), wenn sie zeigt, dass der Interaktionsraum im Hinblick auf die Anordnung der Körper zueinander Resultat kooperativen Handelns der Teilnehmer sowie Konsequenz eines reflexiven Prozesses zwischen der Kamera(perspektive) und den Aktivitäten der Beteiligten ist. Grundlegend sind die frühen Arbeiten Kendons. Die Mehrzahl seiner Artikel, auf die wir Bezug nehmen, ist in den Siebzigerjahren erschienen und wurde 1990 in einem Sammelband „Conducting Interaction“ nachgedruckt. Die bibliografischen Angaben dokumentieren das Jahr der Ersterscheinung und das des Nachdrucks. Das Fundament fokussierter Interaktion 131 bewegen (wir nennen dies: lokale Koordination). 4 Dem Tanzlehrer kommt nun die institutionelle Aufgabe zu, die Initiative zur Herstellung eines Interaktionsraums zu übernehmen - er entscheidet, welches Paar er beobachtet und dann auch korrigiert; der Interaktionsraum selbst wird etabliert und sobald dies geschehen ist, ist auch der Rahmen für das gemeinsame „Geschäft“ hergestellt und die Instruktion beginnt. Der Interaktionsraum kommt in erster Linie durch Position und Orientierung des Beckens und der Füße zustande, die Teilnehmer wenden sich einander zu und positionieren sich so, dass zwischen ihnen ein mehr oder minder abgeschlossener Raum entsteht, zu dem alle gleichermaßen Zugang haben. Wir sprechen also in doppeltem Sinne vom Fundament der Interaktion: Es wird durch das Fundament des Körpers (Becken und Füße) erzeugt und bildet die Grundlage fokussierter Interaktion. 5 Wir konzentrieren uns in diesem Beitrag auf die körperliche Vorbereitung und Herstellung von Interaktionsräumen und werden in einer mikroanalytischen Rekonstruktion zeigen, wie Interaktionsräume in einer offenen Übungsstunde zum argentinischen Tango (kurz: Tangopractica) schrittweise vorbereitet und hergestellt werden. Wir werden die spezifische Verlaufsstruktur solcher Eröffnungsphasen anhand dreier Sequenzen herausarbeiten und verdeutlichen, dass sowohl die Struktur der Eröffnung als auch die spezifische Konfiguration des Interaktionsraums keineswegs tangospezifisch sind. Im Anschluss werden wir uns mit der inhärenten räumlichen und sozialen Struktur von Interaktionsräumen eingehender befassen. Wir werden in diesem Zusammenhang auf einen grundlegenden sozial-organisatorischen Aspekt von Interaktionsräumen näher eingehen: die sozio-strukturellen Eigenschaften von Interaktionsräumen („F-formations“). 6 4 Gleichzeitig muss er die lokalen Anforderungen mit seinen Unterrichtszielen abstimmen (großräumige Koordination). Lokale Koordination umfasst die räumliche, musikalische (rhythmische) und motorische Einstimmung auf das zu instruierende Paar; großräumige Koordination erfordert einen Perspektivenwechsel von der lokalen auf die Strukturierung der gesamten Unterrichtseinheit. Wir beschränken uns in unseren Analysen auf Formen der lokalen Koordination. 5 Vgl. hierzu Kendon (1970 [1990]). Wir werden im weiteren Verlauf noch genauer auf die Hierarchisierung von Körperbewegungen als verkörperte Formen der Strukturbildung und Rahmung eingehen. 6 Auf weitere grundlegende Aspekte der Konstitution von Interaktionsräumen können wir im vorliegenden Beitrag nicht eingehen. Wir möchten an dieser Stelle aber zumindest auf Cornelia Müller / Ulrike Bohle 132 Abschließend werden wir zwei wichtige theoretische Implikationen diskutieren, die sich aus unserer Analyse für das Rahmenthema des vorliegenden Bandes „Koordination und Multimodalität“ ergeben: die Frage des Zusammenhangs bzw. der Abgrenzung von Koordination und Kooperation sowie das Phänomen des „opening up focused interaction“ als Strukturprinzip sozialer Interaktion. 1. Empirische und methodologische Grundlagen Unsere Analyse zeichnet sich durch einen spezifischen Zugang zum Material aus: Eine der beiden Autorinnen ist kompetentes Mitglied der urbanen Welt des Tango, die andere nicht. Diesen doppelten Blick auf das Material haben wir bei unserer Analyse systematisch genutzt und die essenzielle Fremdheit des Gegenstands ethnografischer Untersuchung wenn nötig mit Insider- Wissen unterfüttert. Grundlage unserer Studie sind Aufzeichnungen von zwei Tangopracticas (s.u.), die vom selben Lehrer durchgeführt wurden. Die Autorinnen waren teilnehmende Beobachterinnen. Darüber hinaus wurden die Practicas mit einer bewegten Videokamera aufgezeichnet. Für die Analyse haben wir die Ausschnitte wiederholt im normalen Tempo sowie in „slow motion“ und im „frame-by-frame“-Modus angeschaut. Da mit Ausnahme der Laban-Notation für Körperbewegungen beim Tanz bislang keine überzeugenden Formen der Verschriftlichung körperlicher Bewegung im Raum gefunden wurden, haben wir uns dazu entschieden, unsere Analysen anhand von Standbildern zu illustrieren, womit natürlich eine erhebliche Reduktion des Phänomens einhergeht, der wir durch systematische mikroanalytische Dokumentation der fließenden Veränderungen im Blickverhalten, in der Positionierung und Orientierung des Körpers im Raum begegnen. Wir stellen insgesamt drei Sequenzen aus einer Tangopractica vor. Eine Practica ist eine offene Tanzstunde im argentinischen Tango, in der Tänzer aller Niveaus üben können. Die Practica findet in einem weitgehend leeren, nur wenig durch Objekte vorstrukturierten Raum statt (am Rand stehen wenige Stehtische); vorgegeben ist lediglich die Tanzrichtung - getanzt wird in einem möglichst weit außen liegenden Oval gegen den Uhrzeigersinn. Bei den Practicas ist ein Tanzlehrer anwesend, der bei individuellen Fragen konsultiert die Bedeutung der Verschränkung von Interaktionsraum und interpersonellen Distanzbereichen (Proxemik), der Herstellung multipler Orientierungen im Interaktionsraum durch Interaktionsachsen sowie der Rolle der Interaktionssynchronie bei der Vorbereitung, Herstellung und Aufrechterhaltung von Interaktionsräumen hinweisen. Das Fundament fokussierter Interaktion 133 werden kann und der jeweils eine neue Figur oder Schrittfolge - im vorliegenden Material den so genannten „Sonntagsschritt“ - zeigt. Nachdem der Sonntagsschritt vom Lehrer eingeführt ist, haben die Tanzpaare die Gelegenheit, ihn selbst auszuprobieren. In dieser Phase ist es die Aufgabe des Lehrers, die Paare beim Üben zu beobachten, Probleme zu identifizieren und zu korrigieren. Aus dieser Phase der Practica stammen die drei Instruktionssequenzen, mit denen wir uns im Folgenden eingehender beschäftigen werden. Unser Augenmerk liegt dabei auf den koordinativen Aktivitäten, die zur Herstellung der fokussierten Interaktion vom Typ Instruktion führen. Wir betrachten diese spezifische Form der Interaktion als eine Form fokussierter Interaktion unter vielen möglichen. Es geht uns in erster Linie um die Verfahren, mit denen ein gemeinsamer Interaktionsraum zwischen Personen hergestellt wird, die zumindest in ihren Grundzügen, so unsere These, nicht spezifisch für Instruktionen sind. Obwohl in diesen Sequenzen klare Teilnehmerrollen vorgegeben sind, gehen wir davon aus, dass die Formen der Herstellung und Auflösung eines gemeinsamen geteilten Interaktionsraums nicht situationsspezifisch sind. Das interaktive Problem, vor dem der Lehrer steht, ist grundlegender Natur: Wie verschaffe ich mir Zutritt zu einem bereits bestehenden Interaktionsraum zwischen zwei Personen in einer „vis-a-vis“-Orientierung? Methodisch verbinden wir ethnografisches Vorgehen mit struktur- und musterbezogenen Analysen des „context analysis“- und des „natural history“-Ansatzes 7 mit strenger sequenzanalytisch orientierten Ansätzen der Anthropologie und Konversationsanalyse. 8 Alle diese Ansätze sind wesentlich inspiriert 7 Die beiden Ansätze finden sich in vorbildlicher Form dargestellt und exemplifiziert in Kendons frühen Arbeiten zur Herstellung von Ordnung in der sozialen Interaktion. Seine Untersuchungen widmen sich seit den Sechzigerjahren der empirisch fundierten Analyse des sichtbaren Verhaltens in der Interaktion (heute würden diese Arbeiten alle unter dem Label der „multimodalen Interaktion“ firmieren). Klassische Aufsätze thematisieren: Blickorganisation im Gespräch (1967 [1990]), Gesichtsausdruck und Kussverhalten eines Paares (1974 [1990]), die Struktur von Begrüßungen (Kendon/ Ferber 1973 [1990]), Bewegungsverhalten und Koordination („Interaktionsachse“ und „Interaktionssynchronie“, Hierarchisierung von Körperbewegungen) (1970 [1990]), Eigenschaften von Interaktionsräumen („F-formations“) (1977), sowie die Etablierung von Handlungsrahmen durch sichtbares Verhalten („frame attunement“) (1985 [1990]). Den historischen Kontext der beiden Ansätze erörtert Kendon differenziert in seinem Einführungskapitel zur erneuten Herausgabe der Aufsätze: „Some context for context analysis“ (Kendon 1990). 8 Wir verweisen auf einige klassische Publikationen: Sacks/ Schegloff/ Jefferson (1974) zur Organisation des „turn-taking“; Atkinson/ Heritage (1984) versammeln verschiedene Auf- Cornelia Müller / Ulrike Bohle 134 durch die Arbeiten Erving Goffmans, der in unzähligen Varianten die Herstellung sozialer Ordnung durch die beteiligten Individuen aufgezeigt hat (Goffman 1963, 1967, 1974, 1979, 1983). Das Individuum in der sozialen Interaktion als Keimzelle sozialer Struktur und Ordnung - darum geht es allen oben erwähnten Autoren und darum geht es auch uns in diesem Beitrag. Wir schließen uns Kendon an, der in seiner Einführung zur erneuten Publikation seiner klassischen Aufsätze (s. Anm. 3) die Rolle von Goffman wie folgt skizziert: The papers reprinted in this book may be seen as responses to Erving Goffman's (1967, 1-3) call for a study of the „ultimate behavioral materials“ of interaction. These papers deal, in some detail, with what he referred to as the „small behaviors“ of interaction. That is, they deal with „the glances, gestures, positionings and verbal statements“ that constitute the stuff of face-to-face encounters. Goffman believed that their study would make possible both a description of „natural units of interaction“ and an understanding of the „normative order prevailing within and between these units.“ He argued that, in order to understand how people routinely achieve order in their interactions with one another, „we need to identify the countless patterns and natural sequences of behavior occurring whenever persons come into one another's immediate presence.“ It is just this that is attempted by five of the papers republished here […]. (Kendon 1990, S. IX). Goffmans Arbeiten basieren wesentlich auf Alltagsbeobachtungen, systematische, empirisch fundierte Analysen natürlicher Interaktionen hat er nicht durchgeführt, dies ändert sich mit den Arbeiten der in Anm. 7 und 8 genannten Autoren. Ab Mitte der Fünfzigerjahre nutzt die Forschung zur Herstellung sozialer Ordnung in der Kommunikation von Angesicht zu Angesicht Film- und Tonbandaufnahmen. Es ist wohl kaum ein historischer Zufall, dass die Arbeiten der Pioniere der empirisch fundierten Interaktionsanalyse erst in jüngster Zeit und zwar im Zusammenhang mit dem Interesse an Multimodalität und multimodaler Interaktion aktuellen Anschluss finden. 9 Es sätze zu Strukturen sozialen Handelns; Schegloff/ Sacks (1973) zum „opening up closings“ und Goodwins Monografie zur Organisation von Blickverhalten und Gesprächsorganisation (1981). 9 Wir denken hier vor allem an die Forschungen von Scheflen (1975, 1976) zur Körpersprache und sozialen Ordnung, an Birdwhistell (1970) und seine Formulierung eines Forschungsfeldes „Kinesik und Kontext“, an die Arbeiten von Condon zu Bewegungsrhythmus, Sprache und Interaktion (Condon 1982, Condon/ Ogston 1966), an Davies' (1982) Sammelband zu Interaktion und Rhythmus, an Halls klassische Arbeiten zur Proxemik (1959, 1966, 1968) sowie an Ericksons Arbeit zu Proxemik und Interaktion (1975). Vgl. Das Fundament fokussierter Interaktion 135 würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, die historischen Zusammenhänge im Einzelnen aufzuführen, nur soviel sei angemerkt: Die Konversationsanalyse konzentriert sich seit ihren frühen Arbeiten zu Telefongesprächen fast ausschließlich auf die Prinzipien und Regeln verbaler Herstellung von sozialer Ordnung. 10 Die ebenfalls aus der Ethnomethodologie hervorgegangenen „studies of work“ hingegen haben sich nicht in dieser Weise auf die sprachliche Interaktion beschränkt. Sie untersuchen grundsätzlich alles, was sich im Arbeitsprozess ereignet, somit auch den Umgang mit Instrumenten, die räumliche Organisation und Manipulation von Objekten sowie im Arbeitsablauf entstehende Bild- und Schriftdokumente. 11 Die Psychologie fokussiert wiederum den Ausdruck von Affekt und Emotion im Gesicht (Ekman 1988) und erst die „Kognitive Wende“ in den Geistes- und Naturwissenschaften hat eine Erweiterung des beschränkten Fokus auf einzelne Modalitäten zur Folge. Vor allem die sprachpsychologischen Arbeiten von McNeill (1985, 1987, 1989, 1992, 2000) wecken ein breites Interesse an der Verschränkung von lautlichen und sichtbaren Formen der Kommunikation, das dann in den Neunzigerjahren in die Etablierung eines neuen Forschungsfeldes - der Gestenforschung - mündet. 12 Die neuere Forschung zur Multimodalität nimmt diese historischen Fäden meist nicht auf. Zu Unrecht, wie wir im weiteren Verlauf des Beitrags noch zeigen werden. Interaktionsräume sind multimodal konstituiert und etablieren den Rahmen fokussierter Interaktion. Darauf hat Kendon bereits vor langem hingewiesen. Wie spezifische Interaktionsrahmen etabliert werden hat er im Zusammenhang mit dem „opening up“ von Begrüßungen gezeigt. Wir auch den Sammelband von Kendon/ Harris/ Key (1975) zur Organisation von Verhalten in der Interaktion von Angesicht zu Angesicht. 10 In jüngster Zeit kommt dazu ein Interesse an Grammatik und Interaktion. Vgl. Ochs/ Schegloff/ Thompsons (1996) Band zu diesem Thema sowie Selting/ Couper-Kuhlen zu „Prosodie im Gespräch“ (1996), Hakulinen/ Seltings Band zur Syntax und Lexis (2005), sowie Selting/ Couper-Kuhlens Sammelband „Studies in Interactional Linguistics“ (2002). 11 Vgl. hierzu unter anderem den von Drew/ Heritage (1992) herausgegebenen Sammelband „Talk at Work. Interaction in Institutional Settings“. 12 Vgl. hierzu die Sammelbände und Sonderhefte: Noll/ Schmauser (1998), McNeill (2000), Poggi/ Rector/ Trigo (2003), Müller/ Posner (2004), Müller/ Liebal (2005) sowie die folgende Auswahl an Publikationen: Kendon (1972, 1980, 1983, 1986, 1995, 2004), Müller (1998a, b; 2003a, b; 2005), sowie Müller/ Haferland (1997), Müller/ Paul (1999). Müller (2002a und b) gibt einen Überblick über die Kulturgeschichte der Gestenforschung sowie über die Hintergründe der neu gegründeten Gesellschaft für Gestenforschung „International Society for Gesture Studies“ ( ISGS ) ( www.gesturestudies.com ). Cornelia Müller / Ulrike Bohle 136 knüpfen an diese Befunde an, zeigen ihre Aktualität und führen sie im Hinblick auf die besondere Bedeutung koordinativer Aktivitäten für die Herstellung von Interaktionsräumen fort. Methodisch bedeutet dies, dass wir die „ultimate behavioral materials“ mit denen der geordnete Ablauf der Eröffnung der Instruktionssituation hergestellt wird, präzise in ihrer zeitlichen Abfolge beschreiben und zwar bezogen auf die intra- und interpersonelle Koordination der beteiligten körperlichen Modalitäten; wir nehmen darüber hinaus eine sequenzanalytische Perspektive ein, indem wir den Charakter der Aktivität, der sich mit der jeweiligen Verhaltensform verbindet, rekonstruieren. Beginnen wir mit dem „Problem“ des Tanzlehrers: Es besteht darin, dass er ein noch viel innigeres Band auflösen muss, als es etwa zwischen Sprecher und primärem Adressat besteht, die sich an irgendeinem öffentlichen Ort stehend miteinander unterhalten. Denn er hat die Aufgabe, ein Paar, das sich in Tanzhaltung befindet, d.h. in einer stabilen Zweier-Konfiguration, dazu zu bewegen, diese aufzugeben und sich mit ihm in eine Dreier-Konfiguration zu begeben. Diese Aufgabe wird noch dadurch erschwert, dass das Paar sich im Tango oft in einer sehr engen Umarmung befindet und der Tanzlehrer in diesen Bereich intimer Distanz eindringen muss oder das Paar dazu bewegen muss diesen aufzulösen. Wie ihm das gelingt, werden wir im Folgenden im Einzelnen rekonstruieren. 2. Die Verlaufsstruktur als Koordinationsleistung: „opening up focused interaction“ Wir wollen uns zu Beginn noch einmal die Situation als ganze vergegenwärtigen: Der Tanzlehrer hat einen Sonntagsschritt, also eine kleine Schrittfolge oder Figur erklärt, die das Figurenrepertoire des Führenden um ein Element ergänzen wird, und die Paare üben nun dieses Element so lange, bis sie es korrekt ausführen und schließlich so weit verinnerlichen, dass sie den Sonntagsschritt beiläufig in ihren Tanz integrieren können. 2.1 Das Beobachten Der Tanzlehrer hat seine Erläuterung des Schrittes mit einer Aufforderung zu „probieren“ verbunden und damit die Phase des Übens eröffnet. Er verlässt die Mitte des Raumes, legt Musik auf und die Paare fangen an zu tanzen. Er wartet einen Augenblick ab und beginnt dann die Paare zu beobachten. Dazu sucht er sich gezielt ein Paar aus, läuft zu ihm hin und stellt sich in einer deutlich als Zuschauen oder Beobachten markierten Haltung in der Nähe des Paares auf. Hier setzt unsere Mikroanalyse ein und genau diesen Moment zeigt die Abb. 1. Das Fundament fokussierter Interaktion 137 Abb. 1: Der Tanzlehrer hat ein Paar zur „Beobachtung“ ausgewählt Wir bezeichnen diese Haltung als markiert, da sie deutlich Nicht-Aktivität symbolisiert: Die Arme sind hinter dem Oberkörper verschränkt oder liegen dicht am Oberkörper an oder stützen den Kopf: alles Haltungen, die sich durch Nicht- Bewegung auszeichnen. 13 Diese Körperhaltung verbindet sich in der Phase des Beobachtens mit der Ausrichtung des Blicks auf die Füße der Paare. Die drei Standbilder (Abb. 2-4) zeigen, wie diese Phase bei drei verschiedenen Paaren aussieht. In allen Ausschnitten ist die Phase des Beobachtens deutlich zu erkennen. Sie weist die folgenden Merkmale körperlichen Verhaltens auf: 1. der Tanzlehrer richtet seinen Blick auf die Füße des Paares, 2. er nimmt eine geschlossene und ruhige Körperhaltung ein, 3. seine Körperorientierung ist nicht auf die Position des Paares im Raum orientiert und 4. seine Position im Raum ist deutlich von der des Paares distanziert. Allein die Haltung der Arme variiert, jedoch ruhen die Arme und Hände immer am Körper. In dieser Phase tanzen alle Paare weiter, ein Paar wendet bereits jetzt seinen Blick dem Lehrer zu. In allen Fällen erstrecken sich die interpersonellen koordinativen Aktivitäten seitens des Lehrers auf die Bereiche Blickrichtung und Positionierung in einer „Umlaufbahn“ um das Paar. Es ist zu beobachten, dass das Paar unmittelbar vor der Initiierung eines Interaktionsraums durch den Lehrer den Sonntagsschritt zu Ende tanzt. Dies könnte auf eine Koordination des Paares mit der Aktivität des Beobachtens hindeuten (im Sinne eines „Vortanzens“). Das Paar ist in jedem Fall mit dem Rhythmus der Musik und mit der zu übenden Schrittfolge koordiniert. In dieser Phase ist der Übergang zur Vorbereitung eines gemeinsamen Interaktionsraumes möglich, aber nicht zwingend. Es gibt durchaus Fälle, in denen der Lehrer beobachtet und dann zum nächsten Paar geht, dann sieht er offenbar keinen Anlass zur Korrektur. 13 Vgl. hierzu auch die Unterscheidung von prototypischen Hörer- und prototypischen Sprechergesten (Müller 1998b). Cornelia Müller / Ulrike Bohle 138 Das Beobachten: (Sequenz 1) Abb. 2 L steht ruhig, Blick auf Füße des Paares (Kopf nach unten geneigt), geschlossene Körperhaltung, Arme hinter dem Körper verschränkt, Körperorientierung nicht mit dem Paar synchronisiert, deutliche Distanz vom Paar; Paar tanzt Figur weiter. L koordiniert seinen Blick mit den Schritten des Paares. Paar ist mit Musik und Tanzfigur koordiniert. (Sequenz 2) Abb. 3 L steht, Blick auf Füße des Paares (Kopf nach unten geneigt), geschlossene Körperhaltung, keine Bewegung, Arme seitlich am Körper, Körperorientierung nicht mit dem Paar synchronisiert, deutliche Distanz zum Paar; Paar tanzt Figur weiter, beide wenden ihren Kopf zu L. L koordiniert seinen Blick mit den Schritten des Paares. Paar ist mit Musik und Tanzfigur koordiniert, Blicke des Paares sind mit Ls Kopf koordiniert. (Sequenz 3) Abb. 4 L steht, Blick auf Füße des Paares (Kopf nach unten geneigt), geschlossene Körperhaltung, keine Bewegung, linker Ellenbogen in rechter Hand aufgestützt, linke Hand am Mund, Körperorientierung nicht mit dem Paar synchronisiert, deutliche Distanz zum Paar; Paar tanzt Figur weiter. L koordiniert seinen Blick mit den Schritten des Paares. Paar ist mit Musik und Tanzfigur koordiniert. Abb. 2-4: Die Phase des Beobachtens: Hier ist die Vorbereitung eines Interaktionsraums zur fokussierten Interaktion möglich, aber nicht zwingend Das Fundament fokussierter Interaktion 139 2.2 Das Losgehen Entscheidet sich der Lehrer jedoch dafür, eine Instruktion anzubringen, dann wird er zu irgendeinem Zeitpunkt auf das Paar zugehen und es beim Üben unterbrechen. Bei genauerer Analyse zeigt sich, dass der Zeitpunkt des Übergangs vom Beobachten zur weiteren Vorbereitung eines Interaktionsraums nicht willkürlich gewählt ist. Es ist kein beliebiger Augenblick, in dem der Tanzlehrer seinen ersten Schritt in Richtung auf das tanzende Paar macht und damit aktiv die Vorbereitung eines Interaktionsraumes initiiert. Mit anderen Worten, er platzt nicht zu irgendeinem Zeitpunkt in den Tanz des Paares hinein, sondern koordiniert sich zeitlich mit der Abschlussphase einer getanzten Schrittsequenz. Er wartet so lange, bis das Paar eine Schrittfolge fast durchgetanzt hat und geht dann los. Er koordiniert seinen Start also mit dem nahenden Ende des zu übenden Schrittes. Dieses Abwarten bis die Figur fast durchgetanzt ist ähnelt in der Qualität dem Abpassen eines „transition relevance place“ im Redefluss. Es geht um den projizierbaren Abschluss einer Einheit, an deren Ende eine neue Rede- oder hier „Interaktionskonstellation“ etabliert werden kann, aber nicht muss. 14 Die Aktivität des Losgehens ist zeitlich abgestimmt auf die Sequenzierung der Schrittfolge des Paares und damit auf das gemeinsame (tänzerische) Handeln des Paares. Auf diese Weise ist das Losgehen mit dem Paar koordiniert und erhält nicht den Charakter einer Unterbrechung. Die Aktivität des Losgehens unterscheidet sich, was die körperlichen Modi betrifft, vom Beobachten nur hinsichtlich zweier Parameter: zum einen des Wechsels vom Stehen zum Gehen und zum anderen des Wechsels hin zu einer Orientierung des Körpers auf das Paar (vgl. Abb. 5-7). Daraus ergibt sich eine Laufrichtung auf das Paar, die in ihrer deiktischen Orientierung bereits deutlich symbolischen Charakter hat. Das Losgehen markiert durch das Lösen aus einer statischen Position eines beobachtenden Zuschauers den Beginn einer neuen Aktivität, die durch Bewegung eines aktiven Teilnehmers gekennzeichnet ist. Die Komplexität koordinativer Aktivitäten nimmt in dieser Phase deutlich zu: Das Tanzpaar tanzt die Figur vor, der Tanzlehrer wartet mit dem Beginn seiner Initiative auf die Endphase der Figur, und während das Paar die Figur zu Ende tanzt, startet er und orientiert seine Laufrichtung und Körperorientierung mit der Position des Paares im Raum. Damit haben sich beide Parteien koordinativ auf den Charakter der nun folgenden Aktivitätsschritte verständigt. 14 Vgl. hierzu auch Kendon (1974) im Kontext seiner Analysen zum Kussverhalten und das Phänomen des „foreshadowing of next activity“ sowie Schegloff/ Sacks (1973) zu Präsequenzen von Beendigungen in Gesprächen, den „opening up closings“. Cornelia Müller / Ulrike Bohle 140 Das Losgehen: (Sequenz 1) Abb. 5 L geht gegen Ende einer Tanzfigur los, Blick weiter auf Füße des Paares, Körperhaltung bleibt geschlossen, Arme sind hinter dem Körper verschränkt, Körperorientierung und Laufrichtung sind auf das Paar ausgerichtet, L übernimmt Laufrhythmus des Paares, das mit der Musik koordiniert ist. L koordiniert Blick mit der Position der Füße des Paares, Laufrichtung und Körperorientierung mit der Position des Paares, seinen Bewegungsrhythmus mit dem des Paares und mit der Musik. Paar ist mit Musik und Tanzfigur koordiniert. (Sequenz 2) Abb. 6 L geht gegen Ende einer Tanzfigur los, Blick weiter auf Füße des Paares, Körperhaltung geschlossen, Arme seitlich am Körper, Körperorientierung und Laufrichtung sind auf das Paar ausgerichtet; Paar ist in der Endphase der Figur. L koordiniert Blick mit der Position der Füße des Paares, Laufrichtung und Körperorientierung mit der Position des Paares, seinen Bewegungsrhythmus mit dem des Paares und mit der Musik. Paar ist mit Musik und Tanzfigur koordiniert, Blicke des Paares sind mit Ls Kopf koordiniert. (Sequenz 3) Abb. 7 Blick auf Füße des Paares (Kopf nach unten geneigt), geschlossene Körperhaltung, linker Ellenbogen auf rechter Hand aufgestützt, linke Hand am Mund, Körperorientierung und Laufrichtung auf das Paar ausgerichtet; L geht im Takt der Musik um das Paar herum; Paar tanzt Schrittfolge mehrere Male weiter. L koordiniert Blick mit der Position der Füße des Paares, Laufrichtung und Körperorientierung mit der Position des Paares, seinen Bewegungsrhythmus mit dem des Paares und mit der Musik. Paar ist mit Musik und Tanzfigur koordiniert. Abb. 5-7: Die Phase des Losgehens: Erste verbindliche Ankündigung fokussierter Interaktion Das Fundament fokussierter Interaktion 141 2.3 Das Zugehen Der Lehrer wartet, bis die Tänzer sich einem „natürlichen“ Ende nähern und beginnt dann seine Annäherung. Der Wechsel von der Phase des Losgehens zur Phase des Zugehens ist durch das Heben des Blicks auf Kopfhöhe des Paares gekennzeichnet. In der Phase des Zugehens behält der Tanzlehrer die während des Beobachtens eingenommene Körperhaltung bei. In zwei Ausschnitten tanzen die Paare jeweils weiter. Das Paar, das dem Lehrer bereits während des Beobachtens den Blick zugewendet hatte, löst sich während des Zugehens aus der Tanzhaltung. Bei einem Paar erfolgt der Wechsel vom Losgehen zum Zugehen in dem Moment, in dem der Lehrer, der hinter dem Rücken des Mannes um das Paar herumgeht, ins Blickfeld des Mannes gerät, der ihm den Blick zuwendet und auch eine Blickzuwendung durch den Tanzlehrer erhält (vgl. Abb. 8-10). Der Lehrer setzt seine Vorbereitung zur Etablierung eines gemeinsamen Interaktionsraumes im Takt der Musik fort und bewegt sich dadurch weiter in rhythmischer Synchronie mit dem tanzenden Paar. Verbindlicher wird die Ankündigung der Instruktion durch das Heben des Blickes auf Kopfhöhe. Das Datenmaterial erlaubt keine differenzierte Analyse des Blickverhaltens, doch das Heben des Kopfes auf Augenhöhe des tanzenden Paares ist deutlich zu sehen. Verbindlicher als Ankündigung ist diese Phase durch die räumliche Annäherung an das Paar, denn was im Moment des Losgehens noch deiktische Orientierung des Körpers auf das Paar war, ist jetzt eingelöst in Form der tatsächlich erfolgenden Laufbewegung in Richtung auf das Paar. Damit ist der Tanzlehrer kurz vor dem kritischen Moment in dem er den etablierten Interaktionsraum des Paares berührt und damit die vis-à-vis- Orientierung des Paares zu einer Dreieckskonfiguration wird. Dies geschieht in der nächsten Phase; es ist der Moment des Einrastens. Er markiert die Schnittstelle zwischen Vorbereitung und tatsächlichem Beginn fokussierter Interaktion (vgl. Abb. 11-12). Cornelia Müller / Ulrike Bohle 142 Das Zugehen: (Sequenz 1) Abb. 8 L geht auf das Paar zu und hebt den Blick auf Schulterhöhe des Paares, Körperorientierung/ Laufrichtung bleiben auf das Paar ausgerichtet, weiterhin geschlossene Körperhaltung, Arme hinter dem Körper verschränkt, L behält Laufrhythmus des Paares bei; Paar ist in der Endphase der Figur (Seitenschritt). L koordiniert Blick mit Schulterhöhe des Paares, Laufrichtung und Körperorientierung mit Position des Paares, Laufrhythmus mit der Musik Paar ist mit Musik und Tanzfigur koordiniert. L und P koordinieren weiterhin Laufrhythmus. (Sequenz 2) Abb. 9 L geht auf das Paar zu und hebt den Blick, Körperorientierung/ Laufrichtung bleiben auf das Paar ausgerichtet, weiterhin geschlossene Körperhaltung, Arme seitlich am Körper; Paar löst sich einseitig aus der Tanzhaltung und orientiert Körper und Blick auf L; Paar wartet im Seitenschritt bis L die Dreiecksposition erreicht und vollzieht Abschlussschritt (Schließen der Füße). L koordiniert Blick mit Kopfhöhe, Laufrichtung und Körperorientierung mit der Position des Paares, Laufrhythmus mit der Musik. Paar ist mit Musik und Tanzfigur und mit Ls Zugehen koordiniert. L und P koordinieren weiterhin Laufrhythmus. (Sequenz 3) Abb. 10 L geht auf das Paar zu und hebt den Blick, Körperorientierung/ Laufrichtung bleiben auf das Paar ausgerichtet, weiterhin geschlossene Körperhaltung, linker Ellenbogen in rechte Hand gestützt, linke Hand am Mund; Paar hat Schrittfolge zu Ende getanzt, vollzieht aber nicht das abschließende Schließen der Füße. L koordiniert Blick mit Kopfhöhe, Laufrichtung und Körperorientierung mit der Position des Paares, Laufrhythmus mit der Musik. Paar ist mit Musik und Tanzfigur und mit Ls Zugehen koordiniert. Ob L und P rhythmisch koordiniert sind, ist nicht erkennbar. Abb. 8-10: Die Phase des Zugehens: Zweite verbindliche Ankündigung fokussierter Interaktion Das Fundament fokussierter Interaktion 143 2.4 Das Einrasten Das Einrasten beschreibt den ersten Moment, in dem der Tanzlehrer die Interaktionskonfiguration „Dreieck“ herstellt und damit mit dem Paar einen gemeinsamen Raum umschließt: Damit ist der Interaktionsraum hergestellt (wir gehen später noch im Einzelnen auf seine Eigenschaften ein). Das Einrasten geschieht dadurch, dass der Lehrer soweit auf das Paar zugeht, bis ein nahezu gleichschenkliges Dreieck entsteht, dann hält er für einen kurzen Moment inne und sein Körper kommt für einen Augenblick ganz zur Ruhe. Sein Blick orientiert sich weiter auf die Augenhöhe des Paares und seine Körperhaltung bleibt geschlossen. Das zweite Paar hört im Moment des Einrastens auf zu tanzen und wendet seine Köpfe in Richtung Lehrer; gleichzeitig gibt es die Tanzhaltung auf. Mit der Dreieckskonfiguration bildet sich ein geschlossener Raum, den die drei Teilnehmer mit ihren Körpern nach außen begrenzen. Der Interaktionsraum hat eine dreigliedrige Struktur: den Innenraum, der sich zwischen den Beteiligten erstreckt, den Positionsraum, der sich aus der Position der Körper ergibt und den Rückenraum, der im Rücken der Teilnehmer liegt. 15 Der Beginn des „offiziellen“ Teils der Interaktion zu dritt ist dadurch gekennzeichnet, dass sich der Lehrer nach dem Einrasten wieder bewegt. Er beginnt zu sprechen und zu gestikulieren und führt gegebenenfalls die Schrittfolge selbst noch einmal vor. Während er jedoch zuvor im Takt der Musik um die Paare herumbzw. auf sie zugegangen ist, erfolgen seine Bewegungen nun weitgehend ungeachtet des Rhythmus. Auch die Paare bewegen sich während der Instruktion nicht mehr im Takt der Musik, sondern unabhängig voneinander und vom Rhythmus der Musik. Damit hat sich für die Instruktionssituation ein neuer Bewegungsrhythmus - der Interaktionsrhythmus - etabliert, und die Suspendierung der rhythmischen Koordinierung auf der Grundlage der Musik erzeugt einen neuen Konsens. Paar und Tanzlehrer verständigen sich auf einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus, und nun kann die Instruktion beginnen. Wir können also festhalten, dass das Einrasten die Schnittstelle zwischen Vorbereitung zur Etablierung eines gemeinsamen Interaktionsraumes und einer fokussierten Interaktion darstellt. Dies alles geschieht bevor der Tanzlehrer zu sprechen beginnt und es markiert einen gemeinschaftlich erzielten 15 Mit dieser Konzeption des Interaktionsraums folgen wir der Analyse Kendons für „ F-formations “ . Wir werden Kendons Konzept im weiteren Verlauf noch im Detail erörtern. Cornelia Müller / Ulrike Bohle 144 Arbeitskonsens, auf den sich die Beteiligten mit Hilfe koordinativer Aktivitäten beiläufig verständigt haben. Das Fundament für eine fokussierte Interaktion ist damit gelegt. Das Einrasten: 16 (Sequenz 1) Abb. 11 L bleibt stehen und friert seine Haltung ein, Körperhaltung bleibt geschlossen, Körper ist auf das Paar orientiert; Paar führt letzten Schritt aus (Füße in Parallelstellung bringen) und bleibt ebenfalls stehen, Blickrichtung (soweit sichtbar) wechselseitig auf Kopfhöhe; Becken und Füße von L und P bilden eine Dreieckskonfiguration, sie umschließen jetzt einen gemeinsamen Interaktionsraum: Das Fundament für den Beginn fokussierter Interaktion ist hergestellt. L und P koordinieren ihre Position im Raum und bilden mit Becken und Füßen eine Interaktionskonfiguration „Dreieck“, dadurch entsteht ein gemeinsamer Interaktionsraum. Blickrichtungen sind aufeinander ausgerichtet. (Sequenz 2) Abb. 12 L bleibt stehen und friert seine Haltung ein, Körperhaltung bleibt geschlossen, Körper ist auf das Paar orientiert; Paar führt letzten Schritt aus (Füße in Parallelstellung bringen) und bleibt ebenfalls stehen, löst gleichzeitig Tanzhaltung auf, Blickrichtung von M auf Ls Füße, Blick von L in Höhe der Köpfe, Becken und Füße von L und P bilden eine Dreieckskonfiguration, sie umschließen jetzt einen gemeinsamen Interaktionsraum: Das Fundament für den Beginn fokussierter Interaktion ist hergestellt. L und P koordinieren ihre Position im Raum und bilden mit Becken und Füßen eine Interaktionskonfiguration „Dreieck“, dadurch entsteht ein gemeinsamer Interaktionsraum. Blickrichtungen sind aufeinander ausgerichtet. Abb. 11, 12: Die Phase des Einrastens: Das Fundament für den Beginn fokussierter Interaktion ist hergestellt 16 In der dritten Sequenz ist dieser Moment auf einem Standbild nicht deutlich erkennbar. Das Fundament fokussierter Interaktion 145 2.5 Das Arbeiten im Interaktionsraum Dass die Teilnehmer den gemeinsam hergestellten Interaktionsraum tatsächlich als Fundament für eine gemeinschaftliche Arbeit nutzen, zeigen abschließend die drei Beispiele verschiedener Formen des Arbeitens in der Interaktionskonfiguration „Dreieck“ (vgl. Abb. 13-15). Das Arbeiten in der Interaktionskonfiguration bildet - darauf haben wir mehrfach hingewiesen - den offiziellen Teil der Interaktion, hier haben die Teilnehmer einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus etabliert und hier wird die Instruktion durchgeführt. Die Arbeitsphase ist dadurch gekennzeichnet, dass im Rahmen dieser je verschieden konfigurierten Interaktionsräume die Instruktion durchgeführt wird. 17 Im ersten Beispiel positioniert der Tanzlehrer Füße und Becken annähernd parallel zum Tänzer, orientiert sich aber gleichzeitig mit dem Oberkörper in Richtung auf die Tänzerin. Das Paar hat seine vis-à-vis-Orientierung aufgegeben und sich in Richtung Tanzlehrer geöffnet; es steht in einem offenen Winkel zum Tanzlehrer und Seite an Seite zueinander; zu dritt bilden sie ein rechtwinkliges Dreieck. Im Hinblick auf ihre koordinativen Aktivitäten heißt dies: Die drei Beteiligten haben ihre Position von Becken und Füßen so aufeinander abgestimmt, dass sich als Interaktionskonfiguration ein rechtwinkliges Dreieck ergibt. Zusätzlich werden aus der Sicht des Lehrers zwei Interaktionsachsen aufgebaut. So orientiert der Lehrer seinen Oberkörper einerseits parallel zum Tänzer (mit dem er arbeitet) und andererseits vis-à-vis zur Tänzerin. Auch für das Paar ergibt sich eine zweite Ebene der Koordinierung: Es positioniert sich im Dreieck so, dass es Seite-an-Seite in einem offenen Winkel zueinander und seitlich bzw. vis-à-vis zum Lehrer orientiert ist. Mit diesen verschiedenen körperlichen Koordinierungen ergeben sich Suborientierungen - sozusagen lokale Fokussierungen, mit denen primäre und sekundäre Adressaten unterschieden werden. 18 17 In Mondadas Sequenzanalysen ist dies die Phase nach der Suspendierung der Aktivitäten, die genau diesen Zweck erfüllt: das Herstellen der Bedingungen für gemeinsame Aktivitäten in einem geteilten Interaktionsraum. 18 Kendon (1970 [1990]) beobachtet ähnliche Formen hierarchischer Organisation von Orientierung und Bewegung in einer Interaktion zwischen Gästen, die in einer Hotellobby in verschiedenen zum Teil weit voneinander entfernt stehenden Sesseln und Sofas sitzen. Cornelia Müller / Ulrike Bohle 146 Ähnlich verhält es sich in den beiden anderen Ausschnitten. Zwar bilden die Beteiligten ein mehr oder minder gleichschenkliges Dreieck, aber auch hier überlagern sich jeweils zwei Orientierungen: die Orientierung auf die Gruppe als ganze und die Einzelorientierungen innerhalb der Gruppe. Die Gruppenorientierung wird durch die Position und Orientierung von Füßen und Becken hergestellt, damit entsteht der gemeinsame Interaktionsraum - das Fundament, die Einzelorientierungen werden durch Orientierung des Oberkörpers und/ oder des Kopfes sowie durch die deiktischen Orientierungen der Fußspitzen realisiert. Im Einzelnen ergeben sich für beide Sequenzen dadurch die folgenden Orientierungen: Der Tänzer richtet in beiden Fällen seinen linken Fuß auf den Lehrer und seinen rechten Fuß auf die Partnerin aus, der Lehrer besetzt in frontaler Orientierung die Spitze des Dreiecks. Die Position von Becken und Füßen wird insgesamt so koordiniert, dass sich als Interaktionsraum in beiden Beispielen ein gleichschenkliges Dreieck ergibt. Zusätzlich werden zwei Interaktionsachsen etabliert: eine Seite-an-Seite-Orientierung des Tänzers mit der Tänzerin (rechter Fuß) und eine vis-à-vis-Orientierung des Tänzers mit dem Lehrer (sein linker Fuß, Oberkörper und Kopf sind auf den Lehrer ausgerichtet). Das Fundament der Interaktion wird schließlich für die gesamte Dauer der fokussierten Interaktion aufrecht erhalten; selbst wenn es notwendig wird, das Dreieck zu verlassen, weil etwa eine Schrittfolge vorgetanzt werden muss, kehrt der Lehrer anschließend in seine alte Position zurück. Bemerkenswert ist ferner, dass die drei Beteiligten für den Zeitraum der Instruktion einen Bewegungsrhythmus aufrechterhalten und damit einen Interaktionsrhythmus etablieren, der unabhängig von der Musik ist. Selbst wenn der Lehrer Tanzschritte demonstriert, und dies im Rhythmus der Musik tut, gibt er diesen anschließend wieder auf. Es zeigt sich mithin, dass auch während des gemeinsamen Arbeitens Lehrer und Paar fortwährend ihre Position und Körperorientierung so koordinieren, dass ein klar erkennbarer Rahmen für ihr gemeinsames Tun geschaffen wird. Das körperlich hergestellte Fundament erzeugt und stabilisiert diesen Konsens. Auf diese Weise rahmen die Beteiligten wechselseitig die Situation als fokussiert - das Fokussieren auf einen gemeinsamen Gegenstand wird durch den geteilten gemeinsamen Raum, der sich zwischen ihren Körpern erstreckt, symbolisiert. Gleichzeitig wird dieser Rahmen so flexibel gehandhabt, dass durch kleine Abweichungen (Ausrichtung der Füße, des Oberkörpers, des Kopfes) Sub-Fokussierungen zwischen einzelnen Mitgliedern hergestellt werden, ohne dass dabei der Arbeitskonsens aufgelöst wird. Das Fundament fokussierter Interaktion 147 Das Arbeiten im Interaktionsraum: (Sequenz 1) Abb. 13 Rechtwinkliges Dreieck: L positioniert Füße und Becken fast parallel mit dem Tänzer, orientiert gleichzeitig den Oberkörper in Richtung F, Blick ist auf die eigenen Füße gerichtet; Paar löst vis-à-vis-Orientierung auf, stellt sich in offenem Winkel Seite-an-Seite. Position von Becken und Füßen wird so koordiniert, dass sich als Interaktionsraum ein rechtwinkliges Dreieck ergibt. Zusätzlich werden von L zwei Interaktionsachsen etabliert (Oberkörper): Seite-an-Seite mit M und vis-à-vis mit F sowie eine neue für P (Seite-an-Seite). (Sequenz 2) Abb. 14 Gleichschenkliges Dreieck: Position der Füße, Orientierung von Becken und Oberkörper bilden ein (fast) gleichschenkliges Dreieck; Paar löst Zweierachse auf, beide wenden sich L zu, M dreht linken Fuß und Becken zu L, behält aber mit rechtem Fuß Orientierung in Richtung F bei, L besetzt in frontaler Orientierung die Spitze des Dreiecks. Position von Becken und Füßen wird so koordiniert, dass sich als Interaktionsraum ein gleichschenkliges Dreieck ergibt. Zusätzlich werden von M zwei Interaktionsachsen etabliert: Seite-an-Seite mit F (rechter Fuß) und vis-à-vis mit L (linker Fuß, Oberkörper, Kopf). (Sequenz 3) Abb. 15 Gleichschenkliges Dreieck: Position der Füße, Orientierung von Becken und Oberkörper bilden ein (fast) gleichschenkliges Dreieck; Paar löst Zweierachse auf, beide wenden sich L zu, M dreht den linken Fuß zu L, behält aber mit dem rechten Fuß die Orientierung in Richtung F bei, F richtet den linken Fuß auf M, den rechten auf L, L besetzt in frontaler Orientierung die Spitze des Dreiecks. Position von Becken und Füßen wird so koordiniert, dass sich als Interaktionsraum ein gleichschenkliges Dreieck ergibt. Zusätzlich werden von M zwei Interaktionsachsen etabliert: Seite-an-Seite mit F (rechter Fuß) und vis-à-vis mit L (linker Fuß, Oberkörper, Kopf). Abb. 13-15: Arbeiten im Interaktionsraum „Dreieck“: der Arbeitskonsens wird durch Beibehalten der Dreieckskonfiguration abgesichert Cornelia Müller / Ulrike Bohle 148 2.6 Vorbereitung und Herstellung von Interaktionsräumen: Zusammenfassung und Vergleich Die mikroanalytische Rekonstruktion der einzelnen Verlaufsstrukturen hat gezeigt, dass alle untersuchten Sequenzen die Phasen des Beobachtens (Blick auf Füße), Losgehens (ohne Blick zum Paar), Zugehens auf das Paar (mit Blick zum Paar) und des Einrastens in eine Interaktionskonfiguration aufweisen. Die eigentliche Instruktion findet entweder in einem gleichschenkligen oder rechtwinkligen Dreieck statt. Die einzelnen Elemente der Verlaufsstruktur zeigen die folgenden Abbildungen (Abb. 16-20) noch einmal im Zusammenhang: Beobachten Abb. 16 L steht ruhig, Blick auf die Füße des Paares (Kopf nach unten geneigt), geschlossene Körperhaltung, Arme hinter dem Körper verschränkt, Körperorientierung nicht mit dem Paar synchronisiert, deutliche Distanz vom Paar; Paar tanzt Figur weiter. L koordiniert seinen Blick mit den Schritten des Paares. Paar ist mit Musik und Tanzfigur koordiniert. Losgehen Abb. 17 L geht gegen Ende einer Tanzfigur los, Blick weiter auf die Füße des Paares, Körperhaltung bleibt geschlossen, Arme sind hinter dem Körper verschränkt, Körperorientierung und Laufrichtung sind auf das Paar ausgerichtet, L übernimmt den Laufrhythmus des Paares, das mit der Musik koordiniert ist. L koordiniert seinen Blick mit der Position der Füße des Paares, Laufrichtung und Körperorientierung mit der Position des Paares, seinen Bewegungsrhythmus mit dem des Paares und mit der Musik. Paar ist mit Musik und Tanzfigur koordiniert. Das Fundament fokussierter Interaktion 149 Zugehen Abb. 18 L geht auf das Paar zu und hebt seinen Blick auf die Schulterhöhe des Paares, Körperorientierung/ Laufrichtung bleiben auf das Paar ausgerichtet, weiterhin geschlossene Körperhaltung, Arme hinter dem Körper verschränkt, L behält den Laufrhythmus des Paares bei, das mit der Musik koordiniert ist; Paar ist in der Endphase der Figur (Seitenschritt). L koordiniert seinen Blick mit der Schulterhöhe von P, Laufrichtung und Körperorientierung mit der Position von P, Laufrhythmus mit der Musik. P ist mit Musik und Tanzfigur koordiniert. L und P koordinieren weiter Laufrhythmus. Einrasten Abb. 19 L bleibt stehen und friert seine Haltung ein, Körperhaltung bleibt geschlossen, Körper ist auf das Paar orientiert; das Paar führt den letzten Schritt aus (Füße in Parallelstellung bringen) und bleibt ebenfalls stehen, Blickrichtung (soweit sichtbar) wechselseitig auf Kopfhöhe; Becken u. Füße von L und P bilden eine Dreieckskonfiguration; sie umschließen jetzt einen gemeinsamen Interaktionsraum: Das Fundament für den Beginn fokussierter Interaktion ist hergestellt. L und P koordinieren ihre Position im Raum und bilden mit Becken und Füßen eine Interaktionskonfiguration „Dreieck“; dadurch entsteht ein gemeinsamer Interaktionsraum. Blickrichtungen sind aufeinander ausgerichtet. Fokussierte Interaktion Abb. 20 L positioniert seine Füße und das Becken fast parallel mit dem Tänzer, orientiert gleichzeitig den Oberkörper in Richtung F, sein Blick ist auf die eigenen Füße gerichtet; das Paar löst vis-à-vis-Orientierung auf, stellt sich in offenem Winkel Seite-an-Seite. Die Position von Becken und Füßen von L und P wird so koordiniert, dass sich als Interaktionsraum ein rechtwinkliges Dreieck ergibt. Zusätzlich werden von L zwei Interaktionsachsen etabliert (Oberkörper): Seitean-Seite mit M und vis-à-vis mit F sowie eine neue für P (Seite-an-Seite). Abb. 16-20: Verlaufsstruktur: Vorbereitung (Beobachten, Losgehen, Zugehen), Herstellung (Einrasten) und Arbeiten im Interaktionsraum (Fokussierte Interaktion) Cornelia Müller / Ulrike Bohle 150 Wir beobachten eine sukzessive Herstellung eines gemeinsamen Interaktionsraumes durch multimodale Koordination. Die Annäherung des Tanzlehrers an das Paar umfasst immer mehr Elemente seines körperlichen Verhaltens: Zunächst richtet er allein seinen Blick auf die Schritte des Paares (Beobachten); dann orientiert er zusätzlich zur Blickrichtung auch seine Laufrichtung und Körperorientierung auf die Position des Paares (Losgehen); sodann hebt er den Blick von den Füßen der Tanzenden und richtet ihn auf die Höhe ihrer Oberkörper aus (Zugehen); sobald er in der Dreieckskonfiguration angekommen ist, hält er in dieser Position - Orientierung, Ausrichtung des Blicks - einen kurzen Augenblick inne (Einrasten); schließlich beginnt die gemeinsame „offizielle“ Arbeit im nunmehr hergestellten Interaktionsraum (gleichschenkliges oder rechtwinkliges Dreieck). Zusätzlich zu dieser „einseitigen“ Form der Koordination seitens des Tanzlehrers liegt eine gemeinsame rhythmische Koordination vor, die durch den gemeinsamen Bezug auf die Musik als „verbindendes Glied“ realisiert wird; d.h., beide, sowohl Tanzlehrer als auch Tanzpaar, koordinieren sich mit dem Rhythmus der Musik. Dadurch, dass sich der Tanzlehrer bei seiner Annäherung auf das Paar in den Rhythmus der Musik begibt, stellt er rhythmische Synchronie her. Der Tanzlehrer „taktet“ sich in den Bewegungsrhythmus des Paares ein und stellt damit Gemeinsamkeit her. Das Tanzpaar koordiniert sich seinerseits mit der Aktivität des Beobachtens des Tanzlehrers durch das „Vortanzen“ des zu übenden Sonntagsschrittes. Für beide Parteien werden durch die Sequenzierung der Tanzschritte mögliche Abschlusspunkte des Paares projizierbar. Immer am Ende einer Schrittfolge und beim Schließen der Füße zur Grundhaltung ergibt sich eine ereignisstrukturell motivierte Segmentierung einer Interaktionseinheit (die Figur ist zu Ende getanzt) und Raum für einen Wechsel der Aktivitätsform. Der Lehrer stimmt den Beginn seiner Vorbereitungsphase auf die vorhersehbare Beendigung der Figur ab, er beginnt in dem Moment loszugehen, in dem das Paar sich in der Endphase der Figur befindet. Dann setzt eine feingliedrige körperliche Koordination von L und dem Paar ein; die Interaktion wird stufenweise vorbereitet, der Beginn der Interaktion selbst wird durch das Einnehmen einer Interaktionskonfiguration (Dreieck) deutlich markiert. Eine Interaktionskonfiguration zeichnet sich mithin dadurch aus, dass ein klar abgegrenzter Raum zwischen den Beteiligten geschaffen Das Fundament fokussierter Interaktion 151 wird. Dieser Interaktionsraum stellt einen koordinativ erzeugten Arbeitskonsens aller Beteiligten dar, der die Instruktion als gemeinsames Tun rahmt. 19 Die Verlaufsstruktur der Vorbereitungsphase basiert auf einseitigen und wechselseitigen Koordinationsleistungen der Teilnehmer, an deren Endpunkt die gemeinsame Herstellung eines Interaktionsraumes steht; beide zusammen fungieren als Eröffnung der fokussierten Interaktion und können somit als „opening up focused interaction“ charakterisiert werden. 3. Vorbereitung und Herstellung von Interaktionsräumen in alltäglichen Situationen Einiges deutet darauf hin, dass die oben beschriebenen Strukturmerkmale nicht nur charakteristisch für die spezifische Unterrichtssituation in einer Tangopractica sind. So hat etwa Kendon eine ähnliche Verlaufsstruktur für die Vorbereitung und Durchführung von Begrüßungen beobachtet. Wichtig ist, dass Kendon Begrüßungen ebenfalls zwischen stehenden Personen in einem offenen unstrukturierten Raum (auf einer Feier im Garten und am Strand) analysiert hat. Kendon stellt fest, dass die Begrüßungen nach folgendem Ablaufmuster verlaufen: 1) Initiierung der Annäherung durch Erblicken, Orientierungsausrichtung und Bewegungssynchronie; 2) Begrüßung aus der Ferne durch Kopfnicken, Kopfheben, Kopfsenken, Winken; 3) Kopfsenken; 4) Weitere Annäherung, dann wechselseitige Blickorientierung, dann Abbruch unmittelbar vor der Begrüßung aus der Nähe (mitunter Hände vor dem Körper gekreuzt, oder auch „grooming“); 5) Abschluss der Annäherung (Lächeln, Kopfposition wird verändert, Hand wird ausgestreckt); 6) Begrüßung aus der Nähe in frontaler Orientierung (Oberkörper und Gesicht). Durchführung: nur sprachlich, mit Handschütteln oder auch mit Umarmung. 19 Vgl. hierzu auch das Konzept des „frame attunement“, das Kendon (1985 [1990]) in Anlehnung an Goffmans Rahmenanalyse (Goffman 1974) entwickelt. Cornelia Müller / Ulrike Bohle 152 Die von Kendon aufgezeigten Verlaufsstrukturen bei Begrüßungen ähneln in verblüffender Weise denen der Vorbereitung und Herstellung von Interaktionsräumen in einer Tangopractica: Die Initiierung entspricht dem Losgehen: Hier wird durch deiktische Orientierung des Körpers der ausgewählte Interaktionspartner „angezeigt“, so dass für alle Umstehenden und für die Adressaten selbst klar ist, wer gemeint ist. In der Phase des Zugehens finden wir Phänomene, die Kendon unter 1 und 4 nennt: Bewegungssynchronie und die Blickzuwendung in der Annäherungsphase. Schließlich betont auch Kendon die Bedeutung des Stehenbleibens als markantes Schwellensignal für den Beginn fokussierter Interaktion: hier der Begrüßung aus der Nähe. Regardless of the actual form of the ritual, there are certain characteristics that are associated with all the close salutations we have observed. First, both partners to the greeting come to a halt as they perform the salutation. Sometimes this halt is very brief, and key elements of the close salutation may be begun before it starts, or continued after one or both of the participants have begun to move again. But coming to a halt is always observed. (Kendon/ Ferber 1973 [1990], S. 192; Hervorhebung C.M. u. U.B.). „Coming to a halt“ markiert in unserem Fall den Übergang zur fokussierten Interaktion, dies ist der Moment, den wir als Einrasten bezeichnet haben. Für die Vorbereitung und Herstellung von Interaktionsräumen im Stehen scheint dieser Übergang vom Gehen zum Stehen der markanteste Augenblick zu sein - er fungiert als Schnittstelle zwischen Vorbereitung und Durchführung einer fokussierten Interaktion. Mit dem Stehenbleiben ist die Interaktionskonfiguration etabliert, die bei drei Beteiligten häufig die Form eines Dreiecks hat und die sich bei vier Beteiligten mehr zu einer Kreisform entwickelt. Diese Formen ergeben sich aus der sozialen Logik von Interaktionsräumen (auf die wir später noch differenzierter zurückkommen werden); zunächst möchten wir darauf hinweisen, dass sie nicht tangospezifisch sind, sondern charakteristisch für fokussierte Interaktionen, die sich immer dann ergeben, wenn Menschen in einem wenig strukturierten Raum stehend miteinander interagieren. Beispiele für solche Interaktionskonfigurationen in öffentlichen Räumen zeigen die Abbildungen auf der nächsten Seite (Abb. 21-23). 4. Sozio-strukturelle Eigenschaften von Interaktionsräumen Wir haben im Zusammenhang mit unserer Analyse bereits eine ganze Reihe grundlegender und verallgemeinerbarer Eigenschaften und Strukturierungsprinzipien von Interaktionsräumen angesprochen und möchten uns nun mit Das Fundament fokussierter Interaktion 153 den sozio-strukturellen Eigenschaften von Interaktionsräumen (und insbesondere dem Kendonschen Konzept der „F-formations“) eingehender befassen. Abb. 21-23: Interaktionsräume im öffentlichen Raum: Drei- und Vierecke, das Viereck wird zum Dreieck, sobald ein Mitglied die Gruppe verlässt 4.1 Kendons Konzept der „F-formations“ und das Fundament der Interaktion Wir haben uns in unserer Analyse auf Interaktionsräume konzentriert, die in relativ schwach strukturierten räumlichen Umgebungen im Stehen etabliert werden. Damit haben wir uns auf jene Aspekte von Räumlichkeit beschränkt, die in der Interaktion von den Beteiligten selbst konstituiert werden. In diesem Zusammenhang lässt sich unterscheiden zwischen Aspekten des Raumes, die der Interaktion vorgängig sind und solchen, die erst in der Interaktion selbst als relevante Aspekte hervorgebracht werden (vgl. Auer 1992). Beispielsweise legt eine bestimmte Anordnung von Stühlen um einen Tisch bereits nahe, wer welchen Platz einnehmen wird. Der Platz am Kopfende gebührt dem Oberhaupt, eine kreisförmige Anordnung hingegen ermöglicht durch die wechselseitige und ausgeglichene Sichtbarkeit aller Beteiligter eine tendenziell gleichberechtigte Teilnahme am Geschehen. Befinden sich Cornelia Müller / Ulrike Bohle 154 Gegenstände im Raum, so können diese in unterschiedlichem Ausmaß die Aufmerksamkeit der Beteiligten vorstrukturieren. Sei es, dass sie eine bestimmte Handhabung erfordern und so nur von Einzelnen zu bedienen sind, sei es, dass sie aufgrund ihrer intrinsischen Orientierung nur für Einzelne sichtbar sind oder aber bestimmte Aufenthaltsorte im Raum vorgeben und damit nur Einzelnen zugänglich sind. In dem Maße, wie die Interagierenden diese Gegenstände manipulieren, ihnen ihre Aufmerksamkeit zuwenden (und damit vom Gegenüber abwenden), wechselt der Gegenstand von einem der Interaktion vorgängigen bloßen Gegenstand zum signifikanten Objekt (vgl. Deppermann/ Schmitt i.d. Bd.). Wie unsere Beispiele aus der Welt des Paartanzes gezeigt haben, kann auch Musik den Raum so vorstrukturieren, dass sich Anwesende in einem vorgegebenen Rhythmus bewegen (und dabei mehr oder minder konventionalisierte Schrittfolgen einhalten). Am anderen Ende des Kontinuums finden sich lokal relevant gesetzte Aspekte des Raumes wie beispielsweise die räumliche Anordnung zweier oder mehrerer „frei“, d.h. ohne spezifische Aufgabe und ohne Objektbezug miteinander Interagierender. Eine ähnliche Unterscheidung findet sich bereits bei Goffman (1982, S. 56): Die feste Anordnung von Sitzen und anderen Einrichtungsgegenständen kann zu einer einschränkenden Strukturierung des dem Individuum zur Verfügung stehenden Raumes in einer bestimmten Dimension führen, wie es zum Beispiel bei der Anordnung von Reihen oder Kolonnen der Fall ist. Wenn zwei Individuen allein auf einem Schauplatz sind, konzentriert sich das Interesse am persönlichen Raum auf [den Bereich, der sich] zwischen beiden [erstreckt]. (Einfügungen C.M. u. U.B.). Wir müssen also differenzieren zwischen Räumen, die durch signifikante Objekte vorstrukturiert werden, und solchen, die durch Menschen in Interaktionen frei strukturiert werden. 20 Zwei solche von einem signifikanten Objekt vorstrukturierte Interaktionsräume untersuchen etwa Schmitt/ Deppermann (i.d. Bd.). 21 20 Weitere schöne Beispiele dafür, wie private und öffentliche Räume durch Objekte interaktiv vorstrukturiert werden, finden sich bei Ruesch/ Kees (1956) in ihrem Kapitel „Furniture and Interaction Control“. 21 Die Sozialpsychologie hat sich mit der „Psychologie der Räume und Raumstrukturen“ seit Ende der Fünzigerjahre beschäftigt. Als Beispiel seien hier die Arbeiten von Mehrabian (1976) und Ruesch/ Kees (1956) angeführt. So untersuchte etwa Mehrabian die interaktiven Implikationen von Raumstrukturen am Beispiel der Formen der Anordnung von Sitz- und Stehgelegenheiten in öffentlichen Räumen. Das Fundament fokussierter Interaktion 155 Mit der Formulierung des Konzepts der „F-formations“ versucht Kendon nun systematisch Grundprinzipien räumlicher Konfigurationen von Interagierenden zu erfassen. 22 Dabei unterscheidet er Konfigurationen, die durch materialisierte Anforderungen räumlich vorstrukturiert sind - etwa durch Objekte die eine bestimmte Blickrichtung verlangen: Kino, Theater, Bildschirme, Gemälde, Käfige im Zoo, Anzeigetafeln in Bahnhöfen/ Flughäfen - von Konfigurationen, die sich allein durch die Bewegungen der Teilnehmer ergeben - zum Beispiel auf öffentlichen Plätzen, in Theaterfoyers, auf Stehparties, auf Kaffeepausen bei wissenschaftlichen Konferenzen. Er weist darauf hin, dass größere Ansammlungen von Menschen dazu neigen, sich zu verschiedenen räumlichen Mustern, beispielsweise zu Kreisen, Linien (Schlangen) oder losen Verbünden zu gruppieren. Werden solche Muster über einen gewissen Zeitraum aufrechterhalten, dann nennt Kendon sie „formations“. Für unseren Beitrag sind insbesondere so genannte „Fformations“ relevant: An F-formation arises whenever two or more people sustain a spatial and orientational relationship in which the space between them is one to which they have equal, direct, and exclusive access. (Kendon 1990, S. 209). „F-formations“ zeichnen sich im Gegensatz zu anderen räumlichen Mustern dadurch aus, dass durch die Orientierung und Position der Körper zueinander ein klar begrenzter Raum zwischen den Beteiligten entsteht. Dadurch unterscheiden sie sich z.B. von so genannten Seite-an-Seite- Konfigurationen, bei denen dies nicht der Fall ist (Kendon 1990). Kendon unterscheidet zwischen dem Inhalt und den äußeren Rahmenbedingungen von Interaktionen. Das Einnehmen einer mehr oder minder stabilen Formation markiert den Beginn fokussierter Interaktion. Kendon - ähnlich auch Streeck und Knapp 23 - charakterisiert dies als Rahmenbedingung von 22 Kendon gibt den Begriff der „configuration“ zugunsten des Terminus „formation“ auf, da seiner Auffassung nach „formation“ die Dynamik und den Herstellungscharakter dieser räumlichen Anordnungen besser zum Ausdruck bringt. Wir behalten den Begriff der „Konfiguration“ bei, betonen jedoch, dass Konfigurationen permant aufrechterhalten werden müssen, fließend wechselnden situativen Anforderungen angepasst werden und in diesem Sinne Produkte dynamischer interaktiver Arbeit darstellen. 23 Streeck/ Knapp (1992) unterscheiden zwischen symbolischer Kommunikation, der Übertragung von Bedeutung mittels sinnlich wahrnehmbaren Verhaltens und der Herstellung der Bedingungen, unter denen diese sich vollzieht: der Organisation sozialer Kopräsenz, der Cornelia Müller / Ulrike Bohle 156 sprachlicher Interaktion, die notwendige Voraussetzung für einen Austausch von Information ist: Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß die Konfiguration den Rahmen für den Prozeß des Zusammentreffens bildet. In jedem Zusammentreffen gibt es eine anfängliche Phase, während der die Teilnehmer versuchen, gegenseitig akzeptable Steh- oder Sitzplätze zu finden; es ist unsere Vermutung, daß erst nach der Bildung der Konfiguration mit dem offiziellen Teil des Zusammentreffens begonnen werden kann. (Kendon 1984, S. 221; Hervorhebung C.M. u. U.B.). Diese vor bzw. zu Beginn der fokussierten Interaktion einzunehmende Konfiguration betrachten wir als das Fundament der Interaktion. Wir haben gezeigt, dass dieses Fundament durch die Orientierung der Füße und des Beckens hergestellt wird. Das heißt, mit dem Fundament des Körpers wird das Fundament der Interaktion, wird gemeinsam der Interaktionsraum hergestellt. Mit dem gemeinsamen Herstellen einer solchen Konfiguration treten wir im wahrsten Sinne des Wortes in Kontakt miteinander und versichern uns wechselseitig über unsere Bereitschaft zur Kommunikation. Es ist vielleicht kein Zufall, dass Goffman (1979) sein Konzept der Beteiligungsweisen als „footing“ bezeichnet hat. Wie eingangs bereits erwähnt, fokussierte Kendon bei seiner Analyse von Interaktionsräumen bereits etablierte Räume - sog. „F-formations“ - sowie die Verhaltenssysteme „F-formation systems“, mit deren Hilfe diese Konfigurationen von den Beteiligten aktiv aufrechterhalten werden. Wir haben uns dagegen darauf konzentriert, wie diese Interaktionsräume sukzessiv körperlich vorbereitet und hergestellt werden. Dabei wird deutlich, dass die verschiedenen körperlichen Modalitäten nicht nur hochgradig strukturiert eingesetzt werden, sondern dass sich die Veränderung einzelner körperlicher Parameter jeweils mit neuen Aktivitäten verbindet. So markiert, wie wir gesehen haben, das Abwenden des Blicks von den Füßen des Paares auf die Höhe des Oberkörpers den Wechsel der Aktivität vom Losgehen Herstellung und Aufrechterhaltung einer gemeinsamen Aufmerksamkeitsausrichtung und Ähnlichem. Die Autoren heben hervor, dass diese Unterscheidung lediglich heuristischen Zwecken dient, denn kein Verhalten kann zweifelsfrei der einen oder anderen Funktion zugeordnet werden. Damit grenzen sie sich ab von Watzlawicks (u.a. 1996) dichotomischer Unterscheidung zwischen sprachlicher Inhaltsvermittlung und körperlicher Beziehungsregulierung. Das Fundament fokussierter Interaktion 157 zum Zugehen, während das kurze Innehalten in der Dreiecksposition, d.h. das Einrasten in die Interaktionskonfiguration, den Beginn der fokussierten Interaktion sichtbar macht. Die Koordination des Tanzlehrers mit dem Paar lässt sich mithin als strukturierte Form der multimodalen Herstellung eines Interaktionsraums charakterisieren, in dem nun das „offizielle Geschäft“ beginnen kann. Wir haben bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass die von uns beobachteten Phänomene nicht tangospezifisch sind. Auch in alltäglichen Interaktionen kann man feststellen, dass mit dem Interaktionsraum ein exklusiver Raum hergestellt wird, der von den an einer fokussierten Interaktion Beteiligten gegen Nichtteilnehmer verteidigt und von diesen respektiert wird: Die räumliche Anordnung der Teilnehmer hat zur Folge, daß ein Bereich zum Interaktionsterritorium erhoben und gemeinsam gegen das Eindringen von Nichtteilnehmern verteidigt wird [...], und dementsprechend auch von Nichtteilnehmern als solches respektiert wird. (Kendon 1984, S. 209). Tanzlehrer und Paar stellen einen Raum für ihr Miteinander her, der von den anderen Tanzpaaren insofern respektiert wird, als sie nicht zwischen dem beobachtenden Lehrer und dem beobachteten Paar hindurchtanzen. Das Einrasten in den Interaktionsraum geschieht dabei nicht zu jedem beliebigen Zeitpunkt; wie wir gesehen haben wartet der Tanzlehrer das Ende einer Figur ab. Hier haben wir es mit einer Abwandlung des von Goffman (1982) beschriebenen Gesprächsreservats zu tun, das Zugangsrechte bzw. die Kontrolle darüber umfasst, wer wann an das Paar herantreten darf. Den Tanz zu unterbrechen und das Instruieren zu beginnen ist erst nach Beendigung einer Figur/ Schrittfolge möglich. Wir verwenden das Konzept des Interaktionsraums im Sinne von Kendons „F-formation“. Kendon zeigt, dass sich „F-formations“ wesentlich durch eine dreigliedrige Struktur auszeichnen, deren Hauptmerkmal darin besteht, dass sie gemeinsam hergestellt und geteilt sind. Sie bestehen aus einem Innenraum („o-space“), einem Positionsraum („p-space“), einem Rückenraum („r-space“). 24 24 Bei den Buchstabenkennungen der Räume handelt es sich nicht um Abkürzungen; Kendon hat sie im Stil mathematischer Variablen eingesetzt (pers. Mitteilung). Cornelia Müller / Ulrike Bohle 158 Abb. 24: Zur Struktur von Interaktionsräumen „F-formations“ (Abb. Kendon, pers. Eigentum) Die Dreiergliederung folgt der Logik der Körperstruktur und ihren Implikationen für kommunikative Prozesse. Der Innenraum entsteht durch eine Überlappung der Handlungsräume („transactional spaces“) der Beteiligten; Handlungsräume sind Projektionen der Vorderseite des menschlichen Körpers, sie sind Produkte seiner frontalen Ausrichtung (Blick, Arm- und Beinbewegungen gehen von der Vorderseite des Körpers aus). Wenden sich etwa zwei Personen den Rücken zu, so sind auch ihre Handlungsräume einander diametral entgegengesetzt; wenden sie sich einander zu, dann verbinden sich ihre jeweiligen Handlungsräume zunehmend zu einem einzigen geteilten Raum, zu dem sie beide einen exklusiven Zugang (und Zugangsrechte) besitzen. Abb. 25: Individuelle und geteilte Handlungsräume als Projektionen der frontalen Körperorientierung des menschlichen Wahrnehmungs- und Bewegungsapparates. Mit der Zuwendung der Vorderseite des Körpers zueinander entsteht ein gemeinsamer Handlungsraum Das Fundament fokussierter Interaktion 159 Der Positionsraum entsteht durch die Positionierung der Beteiligten zueinander. Es ist der Raum, den sie gemeinsam „besetzen“ und aus dem sich in freier Interaktion typischerweise die folgenden verschiedenen Anordnungsmuster ergeben: Kreise, Linien, Seite-an-Seite, L-Konfigurationen oder visà-vis-Arrangements (Kendon 1990, S. 213). Der Rückenraum entsteht als Projektion der Rücken der Beteiligten, auch er hat interaktive Implikationen, z.B. im Hinblick darauf, in welchem räumlichen Abstand zum Rücken der Interagierenden ein potenzieller weiterer Teilnehmer Position beziehen und um „Einlass“ ersuchen kann oder im Hinblick auf den Abstand, in dem sich andere Interaktionseinheiten, andere Gesprächsgruppen platzieren können. Kendon (1984) macht ferner darauf aufmerksam, dass die je spezifischen Formen und Muster der Konfigurationen, die sich aus den Positionen und Orientierungen der Beteiligten ergeben, Aspekte eines „Arbeitskonsenses“ reflektieren: Unsere Hypothese ist, daß eine solche Konfiguration als Ausdruck des „Arbeitskonsenses“ der Begegnung angesehen werden kann. Eine Person demonstriert ihren Teilnehmerstatus, indem sie eine bestimmte Haltung, Orientierung und räumliche Position einnimmt. Die jeweils spezielle Form der Konfiguration reflektiert die Art des Ereignisses und die Rollenbeziehungen, die in der Versammlung vorherrschen. (Kendon 1984, S. 221). Solche mehr oder weniger stabilen Arrangements und Haltungen, die Gesprächspartner über einen Großteil des Gesprächs hinweg beibehalten, bilden den Rahmen für den Ablauf eines Gesprächs; Instabilität der Haltungen und Orientierung verweist auf eine Instabilität des „Arbeitskonsenses“. Für unseren Fall bedeutet dies, dass Tanzlehrer und übendes Paar einen bestehenden Arbeitskonsens auflösen und einen neuen etablieren müssen. Die Situation insgesamt ist zwar hierarchisch strukturiert, denn der Tanzlehrer entscheidet, ob und wann er auf das Paar zugeht. Andererseits koordiniert er den präzisen Moment des Losgehens mit dem Ende der Figur des Paares und taktet sich in den Rhythmus der Musik ein, dem auch das Paar folgt. Der Übergang zu einem neuen Handlungsrahmen wird dadurch letztlich doch gemeinschaftlich hergestellt. Der Interaktionsraum etabliert somit einen - auch nach außen hin sichtbaren - Rahmen für die Durchführung „einer gemeinsamen Arbeit“. So wird für Teilnehmer und für Außenstehende sichtbar, wer sich wem - im wörtlichen und im metaphorischen Sinn - zugewendet hat. Der Interaktionsraum Cornelia Müller / Ulrike Bohle 160 zeigt, wer sich in einem Miteinander, wer sich in einer fokussierten Interaktion befindet. 25 Die Herstellung eines Interaktionsraums etabliert damit einen Arbeitskonsens und ist in diesem Sinn als Fundament der Interaktion zu verstehen. 5. Fazit: Überlegungen zum Verhältnis von Koordination und Kooperation in der multimodalen Interaktion Die markante soziale Funktion der Vorbereitung und Herstellung von Interaktionsräumen besteht genau in dem interaktiv organisierten Übergang von primär koordinativen zu primär kooperativen Aktivitäten. Wenn die Vorbereitung abgeschlossen und der Interaktionsraum hergestellt ist, haben sich die Teilnehmer auf den Beginn einer fokussierten Interaktion verständigt. Das „opening up interaction“ ist gelungen. Das heißt, dass in dem Moment, in dem kooperative Aktivitäten beginnen, die Eröffnung beendet ist und auch das eigentliche Geschäft - die Instruktion - beginnt. Geht man von dem von Schmitt/ Deppermann (i.d. Bd.) und Deppermann/ Schmitt (i.d. Bd.) vorgeschlagenen Begriff der Koordination als Anpassungsleistung eines Individuums an vielfältige situative Erfordernisse aus (Zeitlichkeit, Raum, Multiaktivität, Mehrpersonenorientierung, Sequenzialität und Simultaneität), dann ist Koordination der Kooperation als Anforderung vorgeordnet. Koordinative Aktivitäten sind typischerweise beiläufig, sie werden von Teilnehmern eher nicht kategoriell erfasst, sie sind in der Regel nicht „einklagbar“, nicht „accountable“ und auch nicht ratifikationsbedürftig (vgl. Deppermann/ Schmitt i.d. Bd.). Koordination kann, muss aber nicht wechselseitig erfolgen. Ein Beispiel für eine einseitige Form der Koordination ist die räumliche und visuelle Abstimmung des Tanzlehrers auf die sich verändernde Position des Tanzpaares. Er folgt der Bewegung des Paares mit dem Blick und passt seine räumliche Position der fortwährend wechselnden Position des Paares an. Weitere Formen körperlicher Koordination des Tanzlehrers betreffen die Musik und die anderen Paare, wobei letztere sich ihrerseits mit der Position des „arbeitenden“ Tanzlehrers koordinie- 25 Der Unterschied zwischen einer fokussierten und einer nicht fokussierten Interaktion lässt sich u.a. an der Körperorientierung der Beteiligten ablesen. Teilnehmer einer gerichteten Interaktion wahren einen bestimmten Abstand zueinander und sie orientieren sich so zueinander, dass der Winkel zwischen der Sagittalebene des Körpers und der Stellung des Kopfes, die für die direkte Zuwendung zu anderen Teilnehmern notwendig ist, kleiner als 90 Grad ist (Kendon 1984, S. 208). Das Fundament fokussierter Interaktion 161 ren. Interessant ist, dass der Takt der Musik als „externes“ Metrum vom Lehrer genutzt wird, um sich in der Vorbereitungsphase in den Bewegungsrhythmus des Paares „einzutakten“. Paar und Lehrer koordinieren sich mit einem von außen vorgegebenen Rhythmus, und der Lehrer stellt darüber Gemeinsamkeit her - obwohl er ja nur auf das Paar zugeht und nicht etwa zu tanzen beginnt. Der Rhythmus der Musik stellt somit für die Bearbeitung der koordinativen Anforderungen des Lehrers eine Ressource zur Herstellung von Gemeinsamkeit dar. Im Gegensatz dazu stellt das Einschwingen auf einen Bewegungsrhythmus im etablierten Interaktionsraum eine wechselseitige Koordinationsleistung dar. Hier etablieren die Beteiligten gemeinsam einen Interaktionsrhythmus, der unabhängig von der Musik funktioniert. Koordinative Aktivitäten zeichnen sich durch einen eher impliziten Charakter aus. Kooperation fassen wir als explizite Form des gemeinsamen Arbeitens auf. Sie kann eingeklagt werden - in unserem Fall wäre das die tatsächliche Durchführung einer Instruktion nachdem der Tanzlehrer das Paar in seinem Tanzfluss unterbrochen hat oder die Beachtung der Instruktion durch das Paar, indem es z.B. seine Blickrichtung auf etwaige Schrittfolgen richtet, die der Lehrer „erklärend vorführt“. Kooperation betrifft somit zentral die Durchführung eines gemeinsamen „Geschäfts“, koordinative Aktivitäten werden nicht durch kooperative abgelöst, sondern sie sichern weiterhin das Fundament der Interaktion (Interaktionsraum, „F-formation“) und regeln Formen der Beteiligung (multiple Orientierungen, Distanzbereiche, Interaktionssynchronie). Koordinative Aktivitäten bilden die Grundlage und den Rahmen fokussierter Interaktionen. Koordination ist Anpassung und Einstellung des Individuums auf die räumlichen, strukturellen, akustischen und körperlichen Rahmenbedingungen der Interaktion und auf die anderen Individuen. Koordination ist aber auch Abstimmung verschiedener Modalitäten aufeinander und ihre strukturierte Verwendung als Mittel der Kommunikation. 26 Koordination betrifft damit intra- und interpersonelle Phänomene, die grundlegend für die Vorbereitung, Herstellung und Aufrechterhaltung von Interaktionsräumen sind: Das Fundament fokussierter Interaktion beruht wesentlich auf körperlicher Koordination. 26 Vgl. hierzu auch den Beitrag „Interaktionsraum und Koordination“ von Mondada (i.d. Bd.). Cornelia Müller / Ulrike Bohle 162 6. Literatur Atkinson, Maxwell/ Heritage, John (Hg.) (1984): Structures of Social Action. Studies in Conversation Analysis. Cambridge, UK . Auer, Peter (1992): Introduction: John Gumperz' Approach to Contextualization. In: Auer, Peter/ Luzio, Aldo di (Hg.): The Contextualization of Language. Amsterdam. S. 1-37. Birdwhistell, Ray L. (1970): Kinesics and Context. Essays on Body Motion Communication. Philadelphia. Condon, William (1982): Cultural Microrhythms. 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Dies gilt insbesondere für die vorgeschlagene Unterscheidung zwischen intra- und interpersoneller Koordinierung, die von Beginn an geradezu selbstverständlich für die Beschäftigung mit unseren Gesprächsdaten konstitutiv war. Selbstverständlich deshalb, weil die Gesprächsdaten, an denen wir Sinngebungsprozesse nachvollziehen wollen, vor allem danach ausgewählt wurden, dass die Gesprächsbeteiligten während des Kommunizierens manuelle Tätigkeiten durchführen und dass dabei präsente Objekte oder Artefakte bzw. so genannte intermediäre Objekte genutzt werden, die zum Zwecke der erfolgreichen Kommunikation hergestellt werden. Wir haben uns auf ein Korpus von drei Videoaufnahmen („Umzug“ und zwei Schreibinteraktionen) konzentriert. Unter den Bedingungen dieser speziellen Interaktionsformen können grundsätzlich zwei Arten von Koordinierung beobachtet werden: 1) Ein Individuum koordiniert zwei verschiedene Aktivitäten, die es gleichzeitig ausführt (intrapersonelle Koordinierung; siehe Deppermann/ Schmitt i.d. Bd.). Beispiele: Sprechen + Staubsauger Wegstellen; Sprechen + Gläser Auspacken; jemandem Geld in die Hand Zählen; Selbstdiktat beim Schreiben. Wir beschreiben diese Koordinierung, indem wir beschreiben, wie die beteiligten Aktivitäten strukturiert sind und wie diese Strukturen sich gegenseitig beeinflussen. Dies kann als Destrukturierung einer Aktivität zugunsten der anderen geschehen (destrukturiertes 1 Dausendschön-Gay/ Krafft (2000, 2001, 2002), Krafft/ Dausendschön-Gay (2003), Krafft (2005, 2006). Ulrich Krafft / Ulrich Dausendschön-Gay 168 Sprechen beim Selbstdiktat), bis hin zum zeitweiligen Unterbrechen einer der Aktivitäten. Möglich ist umgekehrt, dass Strukturen sich gegenseitig verstärken, wenn z.B. das flüssige Wegstellen eines Staubsaugers an der Strukturierung einer flüssig vorgebrachten Äußerung beteiligt ist. 2) Von der intrapersonellen Koordinierung, der Koordinierung „im“ einzelnen Handelnden, grundsätzlich verschieden ist die interpersonelle Koordinierung, die Koordinierung zwischen Interaktanten. Hier geht es darum, dass die Interaktanten sich abstimmen, so dass sie, bildlich gesprochen, sich gleichzeitig am selben Ort befinden (siehe Schmitt/ Deppermann i.d. Bd., Abschn. 2.2). Dies kann wiederum auf zwei Arten geschehen, nämlich in Form einer direkten Koordinierung, wenn die Partner sich einander zuwenden, und als Koordinierung über Objekte, wenn die Partner eine gemeinsame Orientierung der Aufmerksamkeit herstellen. Unser Beitrag beschäftigt sich mit Formen der interpersonellen Koordinierung. Wir werden mit einem ersten Beispiel („Umzug“) die beiden Typen interpersoneller Koordinierung, direkte Koordinierung und Koordinierung über Objekte, vorstellen (Abschn. 2.). Im Folgenden liegt der Akzent dann auf der Koordinierung über Objekte. 2 Im Abschn. 3. wird die Rolle der Koordinierung in offenen Übergangssituationen thematisiert, wenn für die Fortführung der Interaktion keine inhaltlichen Präferenzen erkennbar sind und auch nicht klar ist, welcher der Beteiligten die Verantwortung für die Fortführung übernehmen soll. In solchen Situationen muss eine neue „konversationelle Aufgabe“ (Dausendschön-Gay/ Krafft 1991) formuliert werden. Daran lässt sich die grundlegende Unterscheidung zwischen Koordinierung und Koorperation besonders deutlich zeigen (Abschn. 4.). In einem weiteren Beispiel aus der Schreibinteraktion in einer Dreiergruppe wird der Mechanismus der Verschiebung der Aufmerksamkeit von einem Objekt zu einem anderen beschrieben (Abschn. 5.). Im zusammenfassenden Abschn. 6. versuchen wir uns darüber Rechenschaft abzulegen, welchen Erkenntnisgewinn man von einer Untersuchung der interpersonellen Koordinierung über Objekte erwarten kann. 2. Direkte Koordinierung und Koordinierung über Objekte 2.1 Korpus „Umzug“: Situation und Situationsmerkmale Tanja (= T) zieht in eine neue Wohnung ein. Die Küche steht voller Kartons. Tanjas Mutter (= M) und Britta (= B), eine Freundin der Familie, hel- 2 „Direkte Koordinierung“ wird im Beitrag von Müller/ Bohle (i.d. Bd.) untersucht. Prozesse interpersoneller Koordination 169 fen beim Auspacken. Zu Beginn der Aufnahme ist Tanja nicht zu sehen, weil sie die Kamera einrichtet; 3 sie wird von vorne links ins Bild treten. Britta beschäftigt sich hinten links mit dem Kühlschrank; soweit wir sehen können, spielt sie in der folgenden Szene keine Rolle. Tanjas Mutter steht zwischen der Spüle an der hinteren Wand und einem Korb, der auf dem Boden steht und aus dem sie Gläser nimmt, die sie dann auswickelt und in die Spüle stellt. Die Tür hinten links führt ins Schlafzimmer. Nun spielt sich folgende kleine Szene ab: Tanja kommt ins Bild und geht auf ihre Mutter zu. Im Vorbeigehen greift sie vom Tisch einen Kaffeebecher (Abb. 1), schwenkt dann links um den Tisch Richtung Schlafzimmertür, bleibt stehen und dreht sich zu ihrer Mutter zurück, wobei sie zum Schlafzimmer zeigt (Abb. 2). Dabei kündigt Tanja an, dass sie im Schlafzimmer den Schrank einrichten will. Tanjas Mutter schlägt ihr vor, zuerst Geschirr abzutrocknen. Tanja ist einverstanden und nimmt einen Schluck Kaffee. Die ganze Szene, von Tanjas Auftauchen bis zum Kaffee, dauert 15 Sekunden. Abb. 1 Abb. 2 Für diese Situation kennzeichnend sind folgende Merkmale: - Zwischen den beiden agierenden Personen findet zu Beginn der Aufnahme kein Gespräch statt; 4 es muss wieder in Gang gesetzt werden. - Die Personen sitzen nicht an einem Tisch, sondern bewegen sich im Raum, Tanjas Mutter (und Britta) in jeweils eigenen Arbeitsbereichen, Tanja auf dem Weg zu einem dritten Bereich. 3 Es wird also offen von einem Stativ gefilmt. Doch Tanjas Mutter und Britta glauben, die Kamera sei ausgeschaltet. 4 Zumindest bleiben die 26 Sekunden vom Einschalten der Kamera bis zum Auftreten von Tanja stumm. Ulrich Krafft / Ulrich Dausendschön-Gay 170 - Die Räume, in denen sich die Personen arbeitend (oder auf dem Weg zur Arbeit) bewegen, haben Eigenschaften, die bestimmte Haltungen und Bewegungsabläufe nahe legen oder erzwingen (Britta verschwindet im Kühlschrank, Tanjas Mutter muss sich zum Korb bücken, Tanja kann zwischen Kisten und Möbeln nur bestimmte Wege gehen). - Die Personen sind mit verschiedenen Aktivitäten beschäftigt (Kaffee trinkend ins Schlafzimmer gehen, um den Schrank aufzubauen; Gläser auspacken und spülen; den Kühlschrank säubern), die nichts unmittelbar miteinander zu tun haben. - Die Gegenstände, mit denen hantiert wird (Glas, Papier, Kaffeebecher), sind weder Objekt noch Instrument gemeinsamer Arbeit. 2.2 Tanja trägt ein Arbeitsvorhaben vor: Direkte Koordinierung und Koordinierung über Objekte Zu Beginn der Aufnahme kehrt Tanja in das Umzugsgeschehen zurück, aus dem sie ausgeschieden war, um die Kamera einzustellen. Tanjas Mutter hat in der Zeit das Geschirr- und Gläserauspacken fortgesetzt. a) Als Tanja ins Bild kommt, hat ihre Mutter gerade ein Glas in die Spüle gestellt. Sie dreht sich zum Korb zurück, beugt sich vor und greift das nächste Glas. Währenddessen geht Tanja auf sie zu, am Tisch vorbei, auf dem sie den Becher aufnimmt (Abb. 1). Dabei schaut sie zunächst auf den Tisch und auf den Becher. 5 b) In dem Augenblick, in dem Tanja den Becher greift, dreht sie den Kopf zu ihrer Mutter. Sie ist nun völlig auf ihre Mutter orientiert: Körper, Bewegungsrichtung, Orientierung des Kopfes, vermutlich auch Blickrichtung (Abb. 3). Im Weitergehen nimmt sie den Becher vor die Brust und greift ihn mit der rechten Hand. Sie schwenkt leicht nach links zur Schlafzimmertür, 6 wobei aber Kopf und Oberkörper auf ihre Mutter ausgerichtet bleiben. Währendessen beugt sich Tanjas Mutter zum Korb, greift mit beiden Händen ein Glas und beginnt, sich wieder aufzurichten. Als sie ungefähr halb aufgerichtet ist, beginnt Tanja mit äh: zu sprechen (Abb. 4). 7 5 Wir sehen Tanja meist von hinten. Angaben zur Blickrichtung sind aus der Kopfstellung abgeleitet, streng genommen also bloße Hypothesen. 6 Die Küche ist so vollgestellt, dass sie, wenn sie weitergeht, keine Alternative hat. Sie könnte aber auch stehen bleiben. 7 Die Audio-Transkription folgt den GAT- Konventionen. Prozesse interpersoneller Koordination 171 Abb. 3 Abb. 4: äh: 1 T äh ich bau ma: l 2 .h IM (-) schrank 3 die regale da ein 4 im kleiderschrank 5 (<<dim>? xxxx>) c) Während des ersten Formulierungsschubs (äh ich bau ma: l) macht Tanja zwei Schritte, in denen sie ganz nach links Richtung Schlafzimmertür schwenkt. Auf bau beginnt sie, auch den Kopf zur Schlafzimmertür zu drehen, dann hebt sie die linke Hand und zeigt zur Tür. Am Ende des lang gedehnten ma: l ist Tanja völlig zur Tür orientiert: Kopf, Körper, Bewegungsrichtung, Zeigegeste bilden eine komplexe gestische Gestalt. In diesem Augenblick ist Tanjas Mutter schon fast aufgerichtet, und es sieht so aus, als schaue sie schon zu Tanja (Abb. 5). d) Nun bleibt Tanja auf dem linken Bein stehen und wendet sich schnell zurück zu ihrer Mutter, die sie ihrerseits voll anschaut. Bereits auf schrank ist Tanja mit dem ganzen Körper zu ihrer Mutter orientiert; dabei hält sie die Zeigegeste zum Schlafzimmer fest. Aber Tanjas Mutter folgt dieser Geste weder hier noch danach mit den Augen (Abb. 6). Abb. 5: ich bau ma: l Abb. 6: IM (-) schrank Ulrich Krafft / Ulrich Dausendschön-Gay 172 e) Tanja hält die Zeigegeste fest, korrigiert noch eine Spur die Orientierung auf ihre Mutter, zieht das rechte Bein heran und nimmt sozusagen eine Hab-Acht-Positur ein, die sie genau auf ein am Ende des zweiten Formulierungsschubs erreicht, anders gesagt: genau in dem Augenblick, in dem sie ihr Vorhaben fertig formuliert hat (Abb. 7). f) Tanjas Mutter hat einen Augenblick früher, auf das re von regale, den Kopf auf das Glas gesenkt, das sie gerade auswickelt. Sie kontrolliert ihre Arbeit, bis sie mit der rechten Hand auf das ausgewickelte Glas zugreifen kann. Auf im (Z. 4) hebt sie wieder den Kopf, nach kleiderschrank unterbricht sie ihre Tochter, die gerade ihre Zeigegeste zurücknimmt, mit ja (Abb. 8). Wegen der Überlappung (Z. 5-6) versteht man nicht, wie Tanja ihre Äußerung fortsetzt, zumal sie immer leiser spricht und schließlich verstummt. Während der folgenden Äußerung der Mutter tritt Tanja einen Schritt zurück und hebt den Becher an den Mund. Abb. 7: die regale da ein Abb. 8: im kleiderschrank In dieser Gesprächseröffnung sehen wir beide Typen interpersonaler Koordinierungsaktivitäten: - Tanja bietet direkte Koordinierung an, wenn sie sich zu ihrer Mutter hin orientiert, zunächst auf ihrem Gang durch die Küche (Abb. 3, 4), dann indem sie sich aus der Bewegungsrichtung zurückwendet (Abb. 6) und sich genau auf die Mutter ausrichtet (Abb. 7, 8). Dabei spricht sie ihre Mutter an, und man kann das eröffnende äh durchaus als Koordinierungsangebot verstehen. Auf den ersten Blick weniger offensichtlich: Es scheint, als warte Tanja, um ihre Mutter anzusprechen, auf den Augenblick, in dem die Mutter nach dem Griff in den Korb bereits wieder in der Aufwärtsbewegung ist, so dass der Blickkontakt sofort möglich wird (Abb. 3, 4). Prozesse interpersoneller Koordination 173 - Tanja bietet Koordinierung über Objekte an, wenn sie zunächst mit der Änderung ihrer Bewegungsrichtung, dann mit ihrem ganzen Körper (Abb. 5), schließlich mit einer gehaltenen Geste der linken Hand (Abb. 6, 7) auf den Arbeitsbereich Schlafzimmer deutet, wo der Kleiderschrank steht, den sie aufbauen will, und dann diese deiktischen Gesten sprachlich durch Ortsbezeichnungen aufnimmt (Z. 2: IM (-) schrank, Z. 4: im kleiderschrank). Damit fordert sie ihre Mutter auf, ihre Aufmerksamkeit auf das Objekt zu richten, auf das sie zunächst gestisch, dann auch sprachlich weist: Wie schon bei der Arbeit an der direkten Koordinierung gehen Blick und Geste der verbalen Aktivität voraus. 8 Tanjas Mutter antwortet auf das direkte Koordinierungsangebot, indem sie zu Tanja aufschaut (Abb. 5, 6, 8). Sie stellt den Blickkontakt allerdings mit leichter Verzögerung her, und sie unterbricht ihn, um auf das Glas hinunterzublicken, das sie gerade auswickelt; denn sie setzt ihre Arbeit des Auspackens fort. Die Antwort auf das Koordinierungsangebot über das Objekt Schlafzimmer/ Kleiderschrank ist komplexer: Trotz Tanjas aufwändiger deiktischer Arbeit schaut ihre Mutter in keinem Augenblick in die Richtung, in die Tanja weist. Wir sehen aber, dass sie Tanjas Gesten sieht (Abb. 5, 6), und natürlich hat sie Tanja genau verstanden; das belegt auch ihre Reaktion. Aber diese gestische Zurückhaltung oder Weigerung scheint schon den kommenden Einspruch vorwegzunehmen. 8 Zu vermerken ist schließlich die außerordentlich präzise intrapersonelle Koordinierung, und zwar insbesondere der physischen Bewegungen mit der verbalen Äußerung. Tanja richtet es so ein, dass ihre sichtbaren Aktivitäten zur Strukturierung der verbalen Äußerung beitragen: Die komplexe deiktische Gestalt, mit der sie auf das Schlafzimmer weist, erreicht sie genau mit der Beendigung des ersten Formulierungsschubs ( ich bau ma: l, Abb. 5); das Ende der Rechtsdrehung zur Mutter fällt mit dem zentralen Lexem schrank zusammen ( IM schrank , Abb. 6); die Hab-Acht-Stellung markiert das Ende des zweiten Formulierungsschubs, womit sie auch ihren Vorschlag vollständig formuliert hat ( die regale da ein, Abb. 7). Diese Strukturierungsleistung der Gesten zeigt, dass intrapersonelle Koordinierung nicht nur eine private Anforderung an die kognitiven Fähigkeiten der Interaktanten, sondern auch und wesentlich ein interaktives Phänomen ist. Dies gilt auch, wenn die Koordinierung nicht so mühelos funktioniert, wie man es hier sehen kann. - Zur Abstimmung und Vorbereitung von Koordinierung und Handlungsvollzug siehe auch Mondada (i.d. Bd.). Ulrich Krafft / Ulrich Dausendschön-Gay 174 2.3 Tanjas Mutter macht einen Gegenvorschlag: Koordinierung und Bearbeitung sozialer Beziehungen 4 im kleiderschrank 5 (<<dim>? xxxx>) 6 M ja (.) pass mal auf; 7 willste das (.) vielleich ersma abtrocknen, 8 <<ritardando> dass (-)dasn da: ; > 9 (-) reinkriegt, g) Tanjas Mutter unterbricht Tanja mit ja (.) pass mal auf (Z. 6). Das ja ist trotz Mikropause prosodisch als Beginn des pass mal auf ausgewiesen, und das Ganze hört man als Einspruch. 9 Gleichzeitig dreht sich Tanjas Mutter nach rechts zum Ablaufbrett, auf das sie bei auf mit einem Kopfnicken hinweist (Abb. 9). Sie dreht sich weiter zum Ablaufbrett; auf das (Z. 7) zeigt sie mit beiden Händen (die noch immer das Glas halten), einem weiteren Nicken und einem angedeuteten Schritt ein zweites Mal auf das nasse Geschirr (Abb. 10). Diese deiktische Geste, die in ihrer Komplexität und Deutlichkeit mit Tanjas Hinweisen auf Schlafzimmer und Schrank zu vergleichen ist, hält Tanjas Mutter über das vielleich (Z. 7). Abb. 9: pass mal auf; Abb. 10: willste das (.) vielleich ersma h) Nach ersma wendet sich Tanjas Mutter wieder dem Glas zu (Abb. 11), das sie nun fertig auspackt. Das letzte Papier wird in der Pause (Z. 8) ent- 9 Die Formel ja pass mal auf kündigt einen „second turn“ an, und was auch immer darauf folgen mag, es wird keine schlichte Zustimmung zu dem sein, was im „first turn“ angekündigt wurde. Prozesse interpersoneller Koordination 175 fernt. Sie hält das Glas bei dasn in der Hand und zeigt bei da: ; (Z. 8) mit dem Glas und mit einem weiteren Nicken auf Britta und den Kühlschrank (Abb. 12). 10 Abb. 11: ersma abtrocknen, Abb. 12: dasn da: ; i) Nach dieser letzten Zeigegeste geht das Auspacken rasch und routiniert zu Ende: Tanjas Mutter dreht sich nach rechts, bei reinkriegt legt sie bereits das Papier ab, dann dreht sie sich schnell weiter zur Spüle und stellt das Glas hinein. j) Tanja reagiert auf den Gegenvorschlag der Mutter positiv, aber zögerlich: Das ja is gut; (Z. 10) kommt erst nach einer Pause von fast einer Sekunde. In dieser Zeit hat Tanja den Kopf, der bisher auf ihre Mutter orientiert war, zu Britta/ dem Kühlschrank oder zu den abzutrocknenden Gegenständen gedreht (Abb. 13: ja). Nach is gut; schaut sie wieder nach vorne, und zwar auf ihre Tasse (Abb. 14: mach), aus der sie dann gleich einen Schluck nehmen wird. Sie verabschiedet sich damit auch gestisch aus der Aushandlung. Abb. 13: ja is gut; Abb. 14: mach ich 10 Abzutrocknen sind die Fächer des Kühlschranks, der gerade von Britta gesäubert wird. Ulrich Krafft / Ulrich Dausendschön-Gay 176 10 T (---) ja is gut; 11 (-) [mach ich Tanjas Mutter konkretisiert ihren verbalen Einspruch (ja pass mal auf; Z. 6) in einem Gegenvorschlag, der gestisch eingeführt wird, nämlich mit deiktischen Gesten, und die verweisen auf einen anderen als den von Tanja vorgeschlagenen Arbeitsbereich (Abb. 9, 10). Man könnte auch sagen, dass die Mutter Tanjas Koordinierungsangebot, dem sie selbst gestisch nicht entsprochen hatte, einen eigenen Vorschlag (Koordinierung über das Objekt „abzutrocknende Kühlschrankfächer“) entgegensetzt, dem Tanja nach kurzem Zögern gestisch folgt und verbal zustimmt (Abb. 13). Diese Interpretation deutet an, dass die Partnerinnen hier über Koordinierungsangebote, die akzeptiert oder abgelehnt werden, auch soziale Beziehungen verhandeln. Dies beginnt bereits, als Tanja auf ihre Mutter zugeht und wartet, bis die Mutter eine Positur erreicht hat, aus der heraus sie Tanja anschauen kann; setzt sich fort, als Tanja, um ihr Vorhaben vorzubringen, sich zu ihrer Mutter zurückwendet und schließlich in einer Art Achtungspositur auf die Reaktion ihrer Mutter wartet. Ihre Äußerung (ich bau ma: l .h IM (-) schrank die regale da ein) könnte vom Wortlaut her eine Mitteilung sein; dadurch, dass Tanja diese auffälligen Koordinierungsanstrengungen unternimmt, wird es ein Vorschlag, über den die Mutter entscheidet. Und tatsächlich wartet Tanja auf die Entscheidung ohne sich abzuwenden. Tanjas Mutter dagegen reagiert auf Tanjas Angebot ziemlich sparsam. Sie schaut relativ spät hoch, unterbricht den Blickkontakt und wendet sich schließlich wieder zur Spüle, ohne Tanjas Reaktion abzuwarten. Im Bereich der „Koordinierung über Objekte“ geht sie auf Tanjas Angebot gestisch überhaupt nicht, verbal nur ganz indirekt ein (willste ersma). Ihren Widerspruch formuliert sie als höflichen Vorschlag (willste (.) das vielleich ersma abtrocknen,), den sie überdies noch begründet (dass (-) dasn da: ; (-) reinkriegt,). Andererseits stellt sie ihren Wunsch gestisch so entschieden dar (Koordinierung über Objekte) und unterbricht die Zuwendung zu Tanja so frühzeitig (direkte Koordinierung), dass man hier durchaus mehr als einen Gegenvorschlag sehen kann, nämlich die Entscheidung, auf die Tanja zu warten schien. Nun wird dieses etwas kurz angebundene und sehr entschiedene Verhalten dadurch motiviert, dass Tanjas Mutter das Gläserauspacken nicht unterbricht und dadurch wenig Spielraum hat, auf Tanjas Koordinierungsangebote ein- Prozesse interpersoneller Koordination 177 zugehen. Aber gerade darin liegt eine Wahl: sie konnte ihre Tätigkeit so lange unterbrechen oder zumindest verlangsamen, bis dass Tanja auf ihren Vorschlag reagiert hätte. Und dass die Mutter auf Tanjas überdeutliche Zeigegeste nicht reagiert, kann durch das Gläserauspacken allein nicht begründet werden. Über die Koordinierung werden hier, wenn man es etwas dramatisch ausdrückt, auch Machtverhältnisse verhandelt. 3. Koordinierung in Übergängen Tanja schlägt vor, mit ihrer Mutter zu reden. Da aber beide gleichzeitig einer anderen Beschäftigung nachgehen (Gläserauspacken, Kaffeetrinken), müssen sie diese mit den Anforderungen des kommunikativen Austausches abstimmen. Im gerade untersuchten Beispiel entsteht ein Teil des Koordinierungsproblems, weil die Mutter und Tanja zunächst nicht miteinander in einer sozialen Interaktion befasst sind. Im nächsten Fallbeispiel wird deutlich werden, dass interpersonelle Koordinierung eine Daueranforderung an jede Interaktion ist; diese Anforderung ergibt sich aber besonders in Phasen des Übergangs zwischen der Erledigung verschiedener kommunikativer Aufgaben und damit verbundenen offenen Rederechtsituationen. Wir steigen bei min. 19: 55 in ein Gespräch zwischen dem Leiter des Studierendensekretariats (L, als juristischer und verwaltungstechnischer Experte) und zwei Studierenden (SN, eine Studentin, und ST, ein Student, als Experten für die Erfahrung mit der Einschreibung) ein. Das Gespräch ist entstanden im Rahmen einer Textoptimierungsstudie, bei der der „Antrag auf Einschreibung“ (das Einschreibeformular) der Universität Bielefeld benutzerfreundlicher gestaltet werden sollte. 11 Die Studierenden haben zunächst das Formular einzeln ausgefüllt und dabei ihre Schwierigkeiten formuliert; nun nehmen sie mit dem Leiter an einer weiteren Phase der Studie teil, in der in Schreibteams auf der Grundlage der Ergebnisse des ersten Durchlaufs ein Optimierungsvorschlag für die Gestaltung des Formulars und die gewählten 11 Bei der Studie handelt es sich nicht um eine Simulation; das Studierenden-Sekretariat hat sich tatsächlich aus eigenem Interesse an der Dissertation Kerstin Grönerts (Bielefelder Graduiertenkolleg „Aufgabenorientierte Kommunikation“) zur Entwicklung einer dialogischen Optimierungsmethode beteiligt. Diese Untersuchung wurde 2004 abgeschlossen. Zu den Details siehe Grönert (2004). Die Aufnahme ist mit stationärer VHS -Videokamera in einem Raum des Graduiertenkollegs gemacht worden; sie dauerte insgesamt 75 Minuten und beginnt nach dem Verlesen der Instruktion durch die Versuchsleiterin, die dann den Raum verlässt. Ulrich Krafft / Ulrich Dausendschön-Gay 178 Formulierungen und Hinweise auf Begleitmaterialien erarbeitet werden soll. Die drei Beteiligten sind damit beschäftigt, eine Einschreibung „durchzuspielen“ und die dabei auftretenden Probleme zu bearbeiten. Eine erste Veränderung des Formulars hat es bereits auf Vorschlag der beiden Studierenden gegeben; der Leiter des Studierendensekretariats hat von sich aus die Veränderung in sein Exemplar eingetragen; damit ist eine Art Arbeitsmodus etabliert, der in der folgenden Szene erneut bestätigt wird. Der zum Eintragen der Veränderungen notwendige Stift befindet sich seit Beginn der Aufnahme in der Hand des Leiters; er dient ihm abwechselnd als Zeige-, Schreib- oder Spielinstrument. Im jetzigen Stadium haben alle Beteiligten jeweils ein Einschreibeformular und ein Begleitheft mit weiteren Hinweisen und der Liste der für die verschiedenen Fragen relevanten Codenummern (Studienfächer, Bundesland, angestrebte Abschlüsse, etc.) vor sich liegen. Der Leiter hat außerdem eine weitere Broschüre mitgebracht, die auf dem Tisch zwischen den Beteiligten liegt. Ferner befinden sich in seiner Umgebung noch andere Unterlagen, die allen Studienbewerbern mit den Einschreibepapieren zugeschickt werden, die den beiden Studierenden aber während des ersten Durchlaufs der Studie nicht vorlagen. 3.1 Der Einstieg in den Übergang Die Übergangssituation entsteht in dem Moment, in dem der Student nach einer Begründung für das Vorhandensein eines separaten Codenummernverzeichnisses für Studienfächer gefragt und der Leiter dafür eine Reihe von Gründen angeführt hat, die er mit den Worten abschließt: 12 1 L: das heißt irgendwie sone art ÜBERsicht L > Fo ST > L SN > L 2 denk ich mir [is vielleicht nich ganz [SN > Fo 3 ,unwichtig (.) [überhaupt zu haben; [L <> ST 12 L = Leiter des Studentensekretariats; ST = Student; SN = Studentin; > = blickt auf; Fo = Formular. Angaben zu visuell wahrnehmbarem Verhalten sind kursiv gesetzt und werden über eckige Klammern dem Audio-Transkript zugeordnet. Prozesse interpersoneller Koordination 179 In dieser Sequenz schauen der Student und die Studentin den Leiter an, der seinerseits zunächst auf die Unterlagen schaut, die Gegenstand seiner Ausführungen sind, um dann das mögliche Turnende zu signalisieren: der Text ist abgeschlossen, die prosodischen Aktivitäten, ebenso wie der Blickkontakt mit dem Student und ein ostentatives Mundschließen (hinter den beiden Händen, die der Leiter vor dem Mund geschlossen hält) bilden eine Abschlussgestalt, gleichzeitig wird die Körperpositur eingefroren. Die Studentin sitzt leicht zurückgelehnt, gleichsam in einer Beobachterpositur; sie folgt dem Geschehen durch Veränderung der Blickrichtung zwischen dem Leiter und ihrem Antragsformular; als der Leiter das Ende seiner Erklärung ankündigt (Z. 2), verweilt sie in ihrer Körperhaltung und schaut länger auf ihr Formular; sie meldet sich damit offenkundig nicht als nächste Sprecherin an. Der Student ist der Erklärung des Leiters mit vorgebeugter Positur gefolgt, den rechten Arm auf den Tisch aufgestützt und damit in offener Position in Richtung des Leiters, der linke Arm liegt auf dem Tisch vor seinem Formular (Abb. 15). Abb. 15 Abb. 16 3.2 Die offene Situation An der übergaberelevanten Stelle am Ende von Z. 3 übernimmt der Student, nach der kurzen Bestätigung durch mh, relativ zügig den „turn“, schaut kurz in sein Formular und markiert darin mit der linken Hand die Stelle, auf die sich seine nun folgende Äußerung bezieht (Abb. 16). Die Studentin folgt seiner linken Hand mit dem Blick, bleibt aber körperlich weiter in Beobachterpositur; der Leiter verbleibt in seiner Abschlusspositur, weiterhin beide Hände vor dem Mund; auch sein Blick geht in das Formular des Studenten. Mit dem Ende der Ausführungen des Leiters in Z. 3 ist gesprächsorganisatorisch eine offene Rederechtssituation gegeben, denn er hat keine Präferenz für den nächsten Sprecher zu erkennen gegeben. Aber auch auf der Ebene Ulrich Krafft / Ulrich Dausendschön-Gay 180 der thematischen Progression ist die Fortsetzung nicht durch deutliche Präferenzstrukturen nahe gelegt; ein Anschluss an seine Erläuterungen (z.B. die Problematisierung seiner Begründungen) ist ebenso möglich wie die Rückkehr zum Thema der Codenummernlisten, das ja den Anlass für seine allgemeinen Erklärungen geliefert hatte. Es geht also darum, ob eine thematische Sequenz geschlossen oder fortgeführt wird; die abwartenden (eingefrorenen) Körperhaltungen bei dem Leiter und der Studentin weisen auf die Abwesenheit von spezifischen Fortsetzungserwartungen ihrerseits hin. An dieser Stelle (also am Übergang von Z. 3 zu Z. 4) ergibt sich somit ein Problem der Aufgabenstellung, das in der Folge von den Interaktanten kleinschrittig gelöst wird. 3 L: ,unwichtig (.) [überhaupt zu haben; [L <> ST 4 ST: (o.6) mh, (0.6) [vielleicht könnte man ja [ST > Fo, L > Fo ST 5 hier (-) [also ich weiß nich also [ST Blick und l-Hand > Fo L ~~~ [L liest in seinen Papieren 6 wenn man sagt <L: ja> mit den nummern, ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ 7 <<piano, all> noch mal zu den nummern,> ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Abgesehen davon, dass wir im Übergang zwischen Z. 3 und 4 einmal mehr die Bestätigung für die Relevanz einer multimodalen und holistischen Darstellung der Sprecherwechselmechanismen finden, 13 ist diese Sequenz unter Koordinierungsgesichtspunkten sehr interessant. Wir sind in einer Situation, in der es um die Fixierung einer neuen Aufgabe für die nächste Phase des Interaktionsgeschehens geht. Der Leiter spricht aus einer relativ stabilen, im Wechsel auf die vor ihm liegenden Papiere und auf den Studenten (mit Blickkontakt) ausgerichteten Körperpositur heraus, der Student und die Studentin folgen in ihren aktuellen Interaktionsrollen seinen Ausführungen: Der Student aus der Position des ersten Adressaten (körperliche Zuwendung zum Leiter, ständige Blickrichtung zu ihm), denn er hat die Frage gestellt, auf die der Leiter nun die erläuternde Antwort gibt; die Studentin aus der Position der Zuhörerin und sekundären Adressatin. Ihren 13 Siehe dazu Näheres in Dausendschön-Gay/ Krafft (2001 und 2002). Prozesse interpersoneller Koordination 181 Beteiligungsstatus erkennen wir u.a. auch daran, dass sie in die Blickkontaktorganisation zwischen dem Studenten und dem Leiter nicht einbezogen wird. Der von dem Studenten gewählte Einstieg im Moment der Turnübernahme löst das angesprochene Problem des thematischen Anschlusses noch nicht eindeutig. Er verweist zwar gestisch auf eine Stelle in seinem Formular, die sprachlichen Teile seiner Aktivität sind aber offenbar nicht deutlich genug, denn der Leiter begibt sich in Z. 5 in eine neue Körperpositur, aus der heraus er beginnt, in seinen Papieren zu blättern; wir können als externe Beobachter zwar erkennen, dass er weiterhin in dem Faltblatt mit den Codenummerlisten liest, interaktionsstrukturell ist sein Verhalten aber mit abwartend zu beschreiben, denn er ist nicht erkennbar mit dem Studenten koordiniert. Dieser beginnt (als Reaktion? ) in Z. 5 damit, sich auf das Formular des Leiters hin zu orientieren und ihm dort die Stelle anzuzeigen, die er in seinem eigenen Dokument in Z. 4 mit der Hand markiert hatte (Abb. 17). Abb. 17 Abb. 18 Der Student gibt dafür seine Körperpositur auf, wendet sich dem Leiter zu und benutzt dabei den linken Arm, zunächst mit ausgestreckter Hand (Abb. 17), dann (ab Z. 9) mit markierendem Zeigefinger als Zeigestock im Formular des Leiters. Seine rechte Hand stützt nicht mehr den Kopf, sondern nimmt mit erhobenem Zeigefinger eine Art Parallelhaltung zur linken Hand ein; die körperliche Gestalt ist orientierend, Aufmerksamkeit herstellend (Abb. 18). Erst in Z. 7, mit der schnell und leise gesprochenen Parenthese, ist endgültig deutlich, dass der Student den Anschluss an das Thema Codenummern herstellt, also nicht weiter auf die allgemeinen Erläuterungen des Leiters eingehen will. Dies war schon an seinen deiktischen Körperaktivitäten ab Z. 5 zu erkennen, aber damit war sein präferierter Anschluss eben noch nicht deutlich erkennbar gemacht. Ulrich Krafft / Ulrich Dausendschön-Gay 182 3.3 Hergestellte Koordinierung und Kooperation 7 <<piano, all> noch mal zu den nummern,> ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ 8 [also das war ja <L: mmh,> [dasselbe [L > Fo [SN > ST [SN > Fo ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ 9 [mir mit den nummern [auch passiert ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~[ST > L, holding [L legt Codenummerliste weg [SN beugt sich nach vorn 10 dadurch dass ich das hauptfach ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ SN > Fo L 11 eingetragen hab ~~~~~~~~~~~~~~~ 12 L: [das stimmt; (-) ja stimmt; du hast recht ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ [L l-Hand an Stirn, liest [SN > Fo Der Leiter gibt in Z. 8 mit mmh eine kurze Bestätigung dafür, dass er die eingeschobene Parenthese des Studenten mitvollzieht und legt unmittelbar darauf die Broschüre mit den Codenummernlisten zur Seite. Er ist jetzt insoweit koordiniert, als er in das von dem Studenten fokussierte Antragsformular schaut, und zwar an die Stelle, die vom Studenten mit der „holding gestalt“ ab Z. 5 markiert wird (siehe oben Abb. 17). Den Blick des Studenten, der ihn ab Z. 9 unter Beibehaltung der Zeigepositur anschaut, erwidert er allerdings nicht. Mit der Blickorientierung auf sein Antragsformular verändert der Leiter nun auch seine Körperhaltung: die linke Hand stützt den Kopf und streicht dabei die Haare glatt; die rechte Hand, in der während der gesamten Sequenz der Schreibstift gehalten wird, ist nicht mehr am Gesicht, sondern folgt den deiktischen Hinweisen des Studenten und markiert die fragliche Stelle in seinem eigenen Exemplar. Der Leiter hat den von dem Studenten hergestellten Anschluss mitvollzogen und stellt körperlich „Mitdenken“ dar; auf der Grundlage der Koordinierungsaktivitäten kooperiert er nunmehr. Die Studentin ihrerseits gibt in Z. 11 ihre Beobachterposition auf und beugt sich „interessiert“ nach vorne, um genauer in ihr Exemplar zu schauen (Abb. 19). Prozesse interpersoneller Koordination 183 Sprachlich gibt der Leiter die Bestätigung für seine Koorientierung in Z. 12, bei gleichbleibender Haltung. Die Studentin folgt dem Geschehen weiterhin vorgebeugt, mit abwechselndem Blick zwischen dem Studenten und dessen Formular, dem Formular des Leiters und ihrem eigenen, das weiterhin vor ihr auf dem Tisch liegt; sprachlich wird sie zwar nicht aktiv, ihre Beteiligungsinszenierung ist aber erkennbar ostentativer als in der vorangehenden Phase. Abb. 19 In dieser Episode steigt das Schreibteam in eine neue Interaktionssequenz ein, für die eine konversationelle Aufgabe definiert werden muss. Die präferenzstrukturell offene Frage des thematischen Anschlusses an die abgeschlossene vorangehende Sequenz und das Problem der Auswahl des nächsten Sprechers werden über eine Reihe von Koordinierungsaktivitäten gelöst. Nach einer unklaren Übergangsphase (Z. 4-6) geben sich die beiden Hauptprotagonisten, Student und Leiter, auf der sprachlichen Ebene wechselseitig zu verstehen, dass sie den gleichen thematischen Fokus haben und dass sie wissen, worum es als nächstes gehen soll. In ihrer Körperorientierung geben sich alle Beteiligten zu verstehen, dass sie den gleichen räumlichen Fokus haben und sie zeigen an, welches ihr Teilnehmerstatus für das Folgende sein soll: Der Student hat einen längeren „turn“ angefangen, zu dem es bislang lediglich eine orientierende Einleitung gibt; der Leiter ist aufmerksamer Zuhörer, der gleichzeitig mitdenkt; die Studentin verfolgt das Geschehen zwischen den Hauptprotagonisten und vollzieht alle Schritte mit. Die Koordinierungsaktivitäten setzen die Interaktanten in die Lage, eine neue konversationelle Aufgabe zu formulieren. 4. Koordinierung und Kooperation Eine „konversationelle Aufgabe“ ist eine (explizite oder implizite) Vereinbarung zwischen den Interaktanten, in der sie Gegenstand und Ziel der Interaktion (bzw. eines Teils der Interaktion) festlegen, dazu oft auch „Ausführungsbestimmun- Ulrich Krafft / Ulrich Dausendschön-Gay 184 gen“ wie Modalität, in Betracht kommende Instrumente oder Argumente, usw. Die Vereinbarung bleibt so lange in Kraft, bis sie aufgelöst wird (z.B. weil das Ziel erreicht ist). Die vereinbarte konversationelle Aufgabe leistet eine Globalsteuerung der folgenden Interaktion, indem sie eine bestimmte Selektion der Aktivitäten fordert (Abweichungen werden gekennzeichnet, oft begründet, sonst sanktioniert) und auch für alle Aktivitäten den Interpretationsrahmen bildet. 14 Diese Globalsteuerung erfolgt also über den Sinn der Aktivitäten und gehört damit in den Bereich der Kooperation, der von der Koordination zu unterscheiden ist (siehe Deppermann/ Schmitt i.d. Bd., Abschn. 7.). Wie berechtigt diese Unterscheidung ist, wird dort sinnfällig, wo Koordination und Kooperation auseinander fallen. Einen solchen Fall kann man in unserem dritten Korpus, „Birgit“, beobachten. Drei Studentinnen, Anja (= A), Birgit (= B), Claudia (= C), korrigieren und revidieren einen offiziellen Brief. 15 Die Studentinnen sitzen an einem Tisch und arbeiten an und mit folgenden Gegenständen: - der Brief, der bearbeitet wird (Vo = Vorlage). Er liegt vor Birgit (B), die zwischen Anja (A) und Claudia (C) sitzt; - das Blatt, auf dem Claudia die neuen Formulierungen festhält (Ms = Manuskript); - diverse Stifte (= St), mit denen in Vorlage und Manuskript gezeigt, geschrieben und gestrichen wird. Anja, Birgit und Claudia haben gerade eine Teilaufgabe abgeschlossen, nämlich den vorletzten Satz des Briefs revidiert. Während Claudia die Neufassung aufschreibt, müssen Anja und Birgit den Fortgang der Arbeit organisieren und insbesondere eine neue konversationelle Aufgabe beschließen. Nach zwei kurzen Paarsequenzen, die in gemeinsames Lachen münden, über- 14 Genaueres zur „konversationellen Aufgabe“ in Dausendschön-Gay/ Krafft (1991). 15 Bearbeitet wird ein Formbrief, den das Auslandsamt an ausländische Studierende verschickt, deren Antrag auf Einschreibung an der Universität wegen mangelhafter Deutschkenntnisse abgelehnt wird. Die Studentinnen finden manche Formulierungen wegen komplexer Konstruktionen, unklarer Definitionen, amtlicher Terminologie etc. unverständlich. Mindestens ebenso wichtig und unangenehm ist ihnen der Ton des Briefs, den sie insgesamt als harsch, abweisend, entmutigend empfinden. Diese beiden Gesichtspunkte ziehen sich durch die ganze Revisionsarbeit. Prozesse interpersoneller Koordination 185 nimmt Birgit die Initiative, schaltet ihr Lachen gleichsam aus und formuliert eine neue Aufgabe, nämlich die Revision des letzten Satzes 16 (Z. 4-11, fettgedruckt). 3 B [aso (-) [wenn [man sich das <<dim> genauer B [Blick>A [>Vorlage A [A>Vorlage 4 B anguckt [aso> [(--) sofern (-) B [gibt Augen frei und schaut in Vo B [l-Hand an Kinn, Ende Lachen A beendet Lachen progressiv A [beugt sich vor, Kopf schräg 5 B <<mf> äh was heißtn der letzte satz 6 B überhaupt> <<liest p, all> [sofern B Für-sich-Lesen-Prosodie [~~~ 7 B unterlagen hier eingereicht werden gebe ich B ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ 8 B sie hiermit zurück>] B ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~] 9 B [(-[--)] [B>A, fragend] [A Grimasse] 10 B <<p> [also [B>Vorlage 11 B das versteh ich nicht> Gegenstand der Arbeit, so Birgits Vorschlag, soll der letzte Satz sein, der revidiert werden muss, weil er unverständlich ist. Linguistisch gesehen ist dieser Vorschlag eine Thematisierung. Unter dem Gesichtspunkt der Koordination kann man ihn aber auch als eine Reihe von Koordinierungsaktivitäten lesen: Aus dem gemeinsamen Lachen heraus blickt Birgit in die Vorlage, Anja folgt sofort (Z. 3); Birgit beginnt zu zitieren (sofern, Z. 4) und unterbricht sich, um verbal ausdrücklich auf den Satz zu verweisen (Z. 5-6); sie liest ihn dann „für sich“, aber so laut und verständlich, dass sie damit gleichsam den Gegenstand vorzeigt (Z. 6-8); Anja und Birgit verständigen sich per Blick (von Birgit) und darauf antwortender Grimasse (von Anja) darüber, 16 Wortlaut in der Vorlage: „Sofern Unterlagen hier eingereicht werden, gebe ich Sie hiermit zurück“. Die Gruppe stößt sich am Tempus, das „Sie“ bleibt unbemerkt. Ulrich Krafft / Ulrich Dausendschön-Gay 186 dass der Satz merkwürdig ist (Z. 9); Birgit wiederholt verbal, dass sie das nicht versteht (Z. 10-11). Damit ist die Aufgabe formuliert, wobei besonders Birgit durch eine Vielzahl integrierter Koordinierungsaktivitäten dafür gesorgt hat, dass beide ihre Aufmerksamkeit auf den gleichen „Ort“ richten. Anja akzeptiert den Vorschlag implizit, indem sie sogleich mit der Bearbeitung beginnt (Z. 12). Noch während Birgit feststellt, dass sie den Satz nicht versteht, zeigt Anja mit dem Stift in die Vorlage und schlägt eine Korrektur vor (äh worden SIND ne,), die sie während der Äußerung durch unterstreichende Bewegungen dem zu korrigierenden „werden“ zuordnet. 17 11 B das ver[steh [ich nicht]> 12 A [äh [worden] SIND ne, [A unterstreicht Birgit reagiert nicht, und Anja wiederholt ihren Korrekturvorschlag, wobei sie diesmal den Kontext des ganzen Nebensatzes unterstreicht und zitiert: 13 A (--) sofern unterlagen A: St folgt Textverlauf 14 A eingereicht worden SIND, ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Wieder reagiert Birgit zunächst nicht, dann mit einem leichten Kopfschütteln. Nun setzt Anja zu einem Kommentar an. Man versteht nur den Anfang dieser Äußerung (äh ich mein [jetz] parallel zeitgleich), weil Birgit laut dazwischenredet. Aber Anja zeigt, dass sie von der Arbeit an der Formulierung zum Kommentar übergeht, indem sie den Stift aus der Vorlage nimmt und beginnt, beidhändig zu gestikulieren. 15 A äh ich mein [jetz] A „unterstreicht“ 2x] 16 A parallel zeitgleich A beidhändige Gestikulation 17 A [(xxxxxxxxxxxxxx) 18 B <<f> [ja]ich verSTEH den satz nich> [B zeigt Vo l-Hand] Birgit wiederum leitet nach dem Kopfschütteln ihr lautes ja ich verSTEH den satz nich mit einer Handbewegung zur Vorlage ein. Diese schnelle und 17 Dass sie tatsächlich nicht unterstreicht, wissen wir, weil die Unterlagen erhalten sind. Prozesse interpersoneller Koordination 187 mit dem wenig präzisen Zeigeinstrument „ganze Hand“ ausgeführte Bewegung kann, anders als Anjas Zeigen mit dem Stift, kein bestimmtes Segment bezeichnen und herausgreifen. Birgit schlägt vielmehr gestisch und verbal eine neue Orientierung vor, nämlich die Rückkehr zum ganzen Satz. Anja hat sich sehr um Orientierung bemüht (sie unterstreicht jeweils das Segment, das sie bearbeitet), und man kann sich schwer vorstellen, dass Birgit der Orientierung nicht folgt, dass also keine Koordinierung zustande kommt. Trotzdem kommt es zu keiner Verständigung. Die Gründe dafür kennen wir nicht; wir können allenfalls vermuten, dass es um die inhaltliche Bearbeitung geht. Anja formuliert zum ersten Teil des Satzes eine Oberflächenkorrektur, die voraussetzt, dass sie die Inkohärenz des Satzes analysiert und als Folge eines formalen Fehlers (falsches Tempus) verstanden hat. 18 Birgit dagegen hängt noch der inhaltlichen Widersprüchlichkeit des Ganzen nach 19 und sieht vielleicht deswegen nicht, dass Anjas Korrektur das Problem behebt. Hier genügt die dichte und sorgfältige Koordinationsarbeit offenbar nicht, um eine erfolgreiche Kooperation in Gang zu setzen. 5. Koordinierung als ständige Aufgabe Unsere bisherigen Beobachtungen stützen die Hypothese, wonach Koordinierung in der Interaktion eine basale Aufgabe ist, indem sie zeigen, dass die Interaktanten fast in jedem Augenblick der Interaktion an der Koordinierung ihrer Aktivitäten arbeiten. Dabei spielten in unseren Beispielen die Aktivitäten zur direkten Koordinierung eine relativ geringe Rolle, was natürlich an den von uns gewählten Beispielen lag. Was nun die Koordinierung über Objekte betrifft, so scheinen die Mittel, die dazu verwendet werden, nicht sehr zahlreich zu sein; es sind Zeigegesten, die verbal (Nennen, Zitieren, Deixis im engeren Sinn) und körperlich (Zeigen, Hinschauen, sich zu etwas Hinwenden) ausgeführt werden. Dieses insbesondere im physischen Bereich sehr überschaubare Instrumentarium ist aber außerordentlich leistungsfähig, weil es sehr flexibel eingesetzt wird. Wenn wir bei 18 Anja verwendet in der traditionellen Grammatik übliche Begriffe (parallel zeitgleich). Als die Schreibgruppe später auf das Problem zurückkommt, ergänzt Anja ihre Analyse: es kann ja nicht zeitgleich funktionieren, also es muss ja schon vorzeitig gewesen sein. 19 Birgit kommentiert gleich anschließend: gebe ich sie hiermit zurück also muss was da sein (Z. 20, 22). Ulrich Krafft / Ulrich Dausendschön-Gay 188 den körperlichen Aktivitäten bleiben, so haben wir die plakativen, langen, mit dem ganzen Körper ausgeführten Zeigegestalten bei Tanja und ihrer Mutter (Abschn. 2.) und bei dem Studenten (Abschn. 3.) gesehen, aber auch die zahlreichen, schnellen und kleinräumigen Gesten von Anja und Birgit (Abschn. 4.). Eine weitere Dimension der Variierung war die der Präzision: Tanja und ihre Mutter verweisen auf großräumige Arbeitsbereiche (Schlafzimmer und Ablaufbrett), der Student auf einen präzisen Punkt im Formular, Anja und Birgit wechseln in schneller Folge vom ganzen Satz zu einem Wort, einem Halbsatz und wieder zurück zum ganzen Satz, der durch eine vergleichsweise unpräzise Geste wieder zum Objekt der Aufmerksamkeit gemacht wird (Abschn. 4.). Im Folgenden soll nun eine dritte Dimension der Koordinierungsarbeit über Objekte vorgeführt werden, nämlich die gemeinsame Verschiebung oder Verlagerung der Aufmerksamkeit. Betrachtet wird weiterhin die Schreibinteraktion zwischen Anja, Birgit und Claudia, und zwar die unmittelbare Fortführung der Diskussion zwischen Anja und Birgit zum letzten Satz. Noch während Birgit ihr Unverständnis kundtut (Z. 18) meldet sich Claudia, die bis dahin geschrieben hatte, zu Wort. Sie beginnt mit äh: , (Z. 19) und fragt dann nach einem Formulierungsdetail (Z. 21), in Überlappung mit Birgit, die ihre Äußerung zu Ende führt (Z. 20, 22): 18 B <<f> [ja]ich verSTEH den satz nich]> 19 C äh[: ] 20 B [ge]be ich [sie hiermit zurück] 21 C [würde uns eine weitere] 22 B also muss was da sein; Zu Beginn dieses Ausschnitts blicken Birgit und Anja in die Vorlage, während Claudia noch schreibt (Z. 18). Claudia hört zu schreiben auf, hebt den Stift und wendet sich mit äh: zunächst nur verbal zu Anja und Birgit (Z. 19, Abb. 20). Gleich darauf schaut sie auf zu Anja und Birgit (die genaue Blickrichtung ist nicht zu erkennen), während die argumentierende Birgit zu Anja aufblickt, 20 die ihrerseits weiter in die Vorlage schaut: Weder Anja noch Birgit stehen zur Verfügung (hiermit, Z. 20, Abb. 21). 20 Ebenso hatte Anja zu Birgit hochgeblickt, als sie vom Korrekturvorschlag zu einer Erläuterung überging (Abschn. 4., zu Z. 16). Prozesse interpersoneller Koordination 189 Abb. 20: C: äh: Abb. 21: B: hiermit zurück Abb. 22: B: also muss was Abb. 23: B: also muss was da sein oder Birgit zitiert den ihr unverständlichen Satz (Z. 20) und kommentiert dessen Inkohärenz (Z. 22). Zu Beginn dieses Kommentars, auf also (Z. 22) wendet sich Anja zu Claudia und antwortet damit auf deren Koordinierungsangebot (direkte Koordinierung), während Birgit weiter zu Anja blickt (Abb. 22: also). Birgit folgt dieser Bewegung fast sofort: Schon auf da (Z. 22) wendet sie sich ihrerseits zu Claudia, blickt aber nicht Claudia an, sondern hinunter ins Manuskript (Abb. 23). Diese Initiative nimmt Claudia unmittelbar auf: Sie wiederholt ihre Frage (Z. 24) und senkt bei weitere (Z. 24) ebenfalls den Blick ins Manuskript. Gleichzeitig reckt sich Anja hoch, lehnt sich vor, stützt das Kinn auf die linke Hand und blickt ebenfalls ins Manuskript. Die Kette von Orientierungsangeboten hat zu einer Orientierung der ganzen Gruppe auf die problematische Stelle im Manuskript geführt (Abb. 24: weitere). Anja zeigt sich kooperationsbereit (vorgereckt, Blick ins Manuskript); dass sie das Kinn in die Hand stützt und damit eine für das Sprechen ungünstige Haltung einnimmt, deutet darauf hin, dass sie nicht plant, verbal einzugreifen: 21 21 Vgl. in Abschn. 3. die Haltung der Studentin, die ihren Status als interessierte Zuhörerin kennzeichnet. Ulrich Krafft / Ulrich Dausendschön-Gay 190 22 B also muss was da sein; 23 C über eine weitere, oder erneute; 24 C bewerbung freuen Birgit beantwortet die Frage sofort (Z. 25) und schließt dann einen längeren Kommentar zur Formulierung an (Z. 26-32). 25 B erneut; (-) oder, 26 B <<dim> das müsste [eigentlich> (--) 27 C [hm: , 28 B <<p> zu verstehen (--) 29 B über eine erneute (-) 30 B bewerbung wieder freuen> (--) 31 B <<mf> meine güte (-) 32 B da wird man ja echt äh: Gleich zu Beginn des Kommentars, auf eigentlich (Z. 26), ziehen sich Anja und Claudia zurück: Claudia setzt das Schreiben fort, Anja wendet sich wieder zur Vorlage und nimmt dabei ihre erste, entspanntere Sitzhaltung ein (Abb. 25). Beide lassen wissen, dass sie den Zustand des Koordiniertseins, den sie bis dahin aufrecht erhalten hatten, aufgegeben und sich wieder ihrem jeweiligen Objekt, besser: ihrem Arbeitsbereich zugewandt haben. Die Objekte sind nämlich nicht einfach nur Orte im Interaktionsraum, sondern „semiotische Felder“ im Sinne von Goodwin (2000) und Gegenstand der Arbeit. So ist vermutlich auch zu verstehen, dass Birgit sich auf Claudias Anfrage hin nicht Claudia zuwendet, sondern dem Manuskript (Z. 22, Abb. 23). Abb. 24: über eine weitere Abb. 25: B: das müsste eigentlich 6. Fazit und Perspektiven Die wesentliche selbst gestellte Aufgabe der Konversationsanalyse und ihrer jüngeren Spielarten, für die sich der Sammelbegriff Gesprächsforschung eingebürgert hat, besteht darin, die Rekonstruktion von Sinngebungsprozessen in Prozesse interpersoneller Koordination 191 sozialer Interaktion zu leisten. Leitendes methodisches Prinzip ist dabei, die Prozesse so zu beschreiben, dass nachvollziehbar wird, wie der interaktive Sinn der Aktivitäten von den Gesprächsbeteiligten erstens in ihren Handlungen selbst erkennbar gemacht wird (man könnte von Orientierungen sprechen), und zweitens durch die interpretative Leistung der nachfolgenden Handlungen nach dem Prinzip der sequenziellen Verkettung herstellt wird. In unserem Beitrag haben wir versucht, dieses methodische Vorgehen in der Weise zu befolgen, dass unsere Analysen in einem ersten Schritt die Ebene des Wahrnehmbaren rekonstruiert haben, wir also mit deskriptiven Kategorien erster Ordnung gearbeitet haben. Wenn wir in Bezug auf diese „Phänomene“ von Koordinierung sprechen, dann ist dies ein Versuch, eine adäquate Kategorie zweiter Ordnung einzuführen, die der Konversationsanalyse die Möglichkeit gibt, Beobachtungen zu systematisieren und in einen neuen Interpretationszusammenhang zu stellen. In diesem Sinne ist im einleitenden Beitrag von Schmitt/ Deppermann Koordinierung im Kontext eines multimodalen Zugangs zu Kommunikationsereignissen als ein neuer Gegenstandsbereich konzeptualisiert worden, zu dessen Etablierung wir einen Beitrag zu leisten versuchen. Unsere Analysen scheinen die Hypothese zu stützen, dass interpersonelle Koordinierung tatsächlich eine basale Aufgabe jeder Interaktion ist, die eine Voraussetzung für kooperatives Handeln herstellt. Mit der Konzentration auf Gesprächsdaten, in denen Objekte konstitutive Bedingungen der Interaktion sind, haben wir zudem deutlich machen wollen, dass eine Unterscheidung zwischen direkter Koordination (Zuwendung wenn möglich des ganzen Körpers, sonst des Oberkörpers, des Kopfes, zumindest Blickkontakt) und Koordination über Objekte (mit der Koorientierung auf interaktionsrelevante Objekte oder Teile von ihnen hergestellt wird) den beobachtbaren Phänomenen angemessen ist. Wie die anderen basalen Aufgaben in Interaktionen auch (wie z.B. Situationsdefinition, Beziehungsarbeit, Sprecherwechselorganisation, Kontextualisierung), ist Koordinierung eine Daueraufgabe. Die Gesprächsbeteiligten geben ständig darauf acht, ob die Koordinierung zwischen ihnen zur Erledigung der anstehenden Aufgabe hinreichend gewährleistet ist oder nicht. Diese ständige Aufmerksamkeit können wir aber als Nicht-Gesprächsbeteiligte nicht ständig beobachten, weil sie sich nicht permanent auf der Gesprächsoberfläche sichtbar oder hörbar manifestiert. Wir haben daher aus heuristischen Gründen unsere exemplarischen Analysen an solchen Korpusaus- Ulrich Krafft / Ulrich Dausendschön-Gay 192 schnitten vorgestellt, in denen Koordinierungsaktivitäten besonders gut beobachtbar waren, also bei der Festlegung eines nächsten Schrittes in einer globalen Aufgabe, bei der Umorganisation anlässlich einer Unterbrechung, im Übergang von einer allgemeinen Gesprächsphase zu einer konkreten Formulierungsaufgabe, am (Wieder-)Beginn einer Interaktion. Man kann vermuten, dass je nach Gesprächssituation von den Beteiligten unterschiedlicher Koordinierungsbedarf festgestellt und durch entsprechende Initiativen angezeigt wird. Umgekehrt kann durch ein Mehr oder Weniger an erkennbar gemachter Koordinierungsanstrengung der Beteiligungsstatus eines Gesprächsbeteiligten verdeutlicht werden. Dies wiederum können die Beteiligten als Grundlage für die Bearbeitung sozialer Beziehungen nutzen. Unsere Analysen belegen durchgängig, dass in „face-to-face“-Konstellationen nur eine multimodale Beschreibung die Koordinierungsaktivitäten adäquat erfasst; denn neben der verbalen Sprache (vor allem Deixis, Thematisierung, Diskursmarker) werden die körperlichen Aktivitäten der Beteiligten (Mimik, Gestik, Positur, Blick) und die benutzten und hergestellten Objekte und Artefakte für die Koordinierung über Objekte genutzt. In anderen Konstellationen, z.B. am Telefon ohne Blickkontakt, wird Koordinierung mit einem reduzierten Instrumentarium - verbale und prosodische Mittel - geleistet. Aber auch in diesen Fällen erscheint es uns angemessen, Koordinierung als eine „embodied practice“ zu verstehen. Vordringlich zu leisten wäre nun die Untersuchung des Verhältnisses oder des Zusammenspiels von inter- und intrapersoneller Koordinierung, wobei die Frage nach der interaktiven Leistung der intrapersonellen Koordinierung ein aussichtsreicher Ansatzpunkt wäre. 22 Die Beschäftigung mit dem Thema Koordinierung kann so als ein Beitrag zur Weiterentwicklung der Konversationsanalyse und ihrer Befreiung aus der Fixierung auf verbale Aspekte der Kommunikation verstanden werden. Unsere Korpora eröffnen darüber hinaus aber eine Perspektive auf die Welt der Objekte, 23 die auf die Herstellung der Bedeutung von Objekten für interaktive Zwecke, auf die Konstruktion von intermediären Objekten und auf die symbolische Bedeutung von kulturellen Artefakten verweist. Untersuchungen mit dieser Perspektive haben Konsequenzen für unser Verständnis für Sinngebungsprozesse in sozialer Interaktion; sie sind aber auch folgenreich für die Ermittlung von Verständigungsproblemen in beruflichen Handlungsfeldern. 22 Vgl. dazu die Diskussion in Deppermann/ Schmitt (i.d. Bd.), Abschn. 5.3. 23 Siehe dazu die richtungweisenden Arbeiten von Goodwin (2000) und Schmitt (2001). Prozesse interpersoneller Koordination 193 7. Literatur Dausendschön-Gay, Ulrich/ Krafft, Ulrich (1991): Tâche conversationnelle et organisation du discours. In: Dausendschön-Gay, Ulrich/ Gülich, Elisabeth/ Krafft, Ulrich (Hg.): Linguistische Interaktionsanalysen. Beiträge zum 20. Romanistentag 1987. Tübingen. S. 131-154. Dausendschön-Gay, Ulrich/ Krafft, Ulrich (2000): On-line-Hilfe für den Hörer: Verfahren zur Orientierung der Interpretationstätigkeit. In: Wehr, Barbara/ Thomaßen, Helga (Hg.): Diskursanalyse. Untersuchungen zum gesprochenen Französisch. Frankfurt a.M. S. 17-55. Dausendschön-Gay, Ulrich/ Krafft, Ulrich (2001): La multidimensionnalité de l'interaction. Textes, gestes et le sens des actions sociales. In: Marges Linguistiques, Revue Internet, No 2, S. 120-139. Internet: http: / / marges.linguistiques. free.fr/ bdd _ ml/ archives _ pres/ doc0086presentation.htm (Stand Oktober 2006). Dausendschön-Gay, Ulrich/ Krafft, Ulrich (2002): Text und Körpergesten. Beobachtungen zur holistischen Organisation der Kommunikation. In: Psychotherapie und Sozialwissenschaft 1, 4, S. 30-60. Deppermann, Arnulf/ Schmitt, Reinhold (i.d. Bd.): Koordination. Zur Begründung eines neuen Forschungsgegenstandes. Goodwin, Charles (2000): Action and Embodiment in Situated Human Interaction. In: Journal of Pragmatics 32, S. 1489-1522. Grönert, Kerstin (2004): Verständigung und Akzeptanz in der Kommunikation zwischen Bürger und Verwaltung. Diss. Bielefeld. Kendon, Adam (2004). Gesture. Visible Action as Utterance. Cambridge, UK . Krafft, Ulrich (2005): La matérialité de la production écrite: les objets intermédiaires dans la rédaction coopérative de Paulo et Maité. In: Bouchard, Robert/ Mondada, Lorenza (Hg.): Les processus de la rédaction collaborative. Paris. S. 55-90. Krafft, Ulrich (2006): Marqueurs discursifs et gestualité: Observations sur l'organisation du discours et de la communication. In: Drescher, Martina/ Job, Barbara (Hg.): Les marqueurs discursifs dans les langues romanes. Approches théoriques et méthodologiques. Frankfurt a.M. S. 37-55. Krafft, Ulrich/ Dausendschön-Gay, Ulrich (2003): Verfahren multimodaler Einheitenbildung und kommunikative Gestalten. In : Mondada, Lorenza/ Pekarek Doehler, Simona (Hg.): Plurilinguisme, Mehrsprachigkeit, Plurilingualism. Enjeux identitaires, socio-culturels et éducatifs. Festschrift pour Georges Lüdi. Tübingen. S. 261-276. Mondada, Lorenza (i.d. Bd.): Interaktionsraum und Koordinierung. Ulrich Krafft / Ulrich Dausendschön-Gay 194 Müller, Cornelia/ Bohle, Ulrike (i.d. Bd.): Das Fundament fokussierter Interaktion. Zur Vorbereitung und Herstellung von Interaktionsräumen durch körperliche Koordination. Schmitt, Reinhold (2001): Die Tafel als Arbeitsinstrument und Statusrequisite. In: Iványi, Zsuzsanna/ Kertész, András (Hg.): Gesprächsforschung. Tendenzen und Perspektiven. Frankfurt a.M. S. 221-242. Schmitt, Reinhold/ Deppermann, Arnulf (i.d. Bd.): Monitoring und Koordination als Voraussetzungen der multimodalen Konstitution von Interaktionsräumen. Streeck, Jürgen (2002): A Body and its Gestures. In: Gesture 2, S. 19-44. Ingwer Paul Intra- und interpersonelle Koordinierung am Unterrichtsanfang 1. Fragestellung In diesem Beitrag werden intra- und interpersonelle Koordinierungsaktivitäten am Unterrichtsanfang fokussiert. Der Anlass zur detaillierten Rekonstruktion multimodaler Ausdrucksmodi in diesem Setting war und ist die praktische Arbeit mit zukünftigen Lehrern in fachdidaktischen Seminaren zur Gesprächsführung im Unterricht. Die Datengrundlage bilden Videoaufnahmen authentischer und gespielter Unterrichtsanfänge. Die aufgezeichneten Sequenzen sollen zeigen, wie die Teilnehmer im Einzelfall den Übergang in eine zweckorientierte Interaktion organisieren. Nicht zuletzt, weil am Unterrichtsanfang die Weichen für den weiteren Verlauf der Unterrichtskommunikation gestellt werden, sind die Beispiele relevant für die Analyse kontexttypischer Koordinierungsaktivitäten. 1.1 Intra- und interpersonelle Koordinierung Grundsätzlich umfasst das rekonstruierte Anforderungsprofil die Etablierung und Aufrechterhaltung einer den institutionell definierten Zwecken angepassten fokussierten Interaktion. Die Konzepte der intra- und der interpersonellen Koordinierung akzentuieren zwei Seiten eines Anforderungsprofils: 1 Das Konzept der intrapersonellen Koordinierung bezeichnet Leistungen eines Individuums zur Herstellung und Aufrechterhaltung eines komplexen Ablaufs, in unserem Fall einer fokussierten Interaktion. Diese begriffliche Entscheidung geht zurück auf die analytische Perspektive bei der Auswertung der aufgezeichneten Rollenspiele: das Setting betont aus didaktischen Gründen die Leistungen der rollenspielenden Lehrer. Beispielhaft für diese Sicht auf die Koordinierungsleistungen eines Individuums ist die Situation eines Autofahrers, der mehrere Aufgaben gleichzeitig bearbeiten muss (Kendon 1990, S. 4): 1 Zur analytischen Unterscheidung von intra- und interpersoneller Koordinierung vgl. auch Deppermann/ Schmitt (i.d. Bd.). Ingwer Paul 196 The analysis offered in these papers suggested to me that the individual, when engaged in face-to-face interaction, could be regarded as if engaged in a skilled performance, analogous to the way in which the driver of a car or the pilot of an airplane is engaged in a skilled performance, in which the operator must continuously organize his behavior so that it is patterned to meet the complex demands of the situation and still keep the car on the road or the plane on course. Das Konzept der interpersonellen Koordinierung versucht dagegen dem Umstand gerecht zu werden, dass die Etablierung und Aufrechterhaltung eines Arbeitskonsenses eine wechselseitige Anpassungsleistung ist, die also nicht von einem Teilnehmer allein bewerkstelligt werden kann. Die Fokussierung der Lehrerrolle aus methodischen oder didaktischen Gründen ändert nichts am faktischen Status der interpersonellen Koordinierung. Natürlich kann man auch diesen Aspekt aus der Sicht eines Teilnehmers darstellen (Kendon 1990, S. 4): In a face to face encounter the participant is faced with the necessity of sustaining a complex organization of his behavior which can meet the fluctuations of the situation and maintain him as a fully incorporated participant. He has to mount a performance which can match the standards set by the jointly negotiated working consensus of the encounter. 1.2 Erkenntnisinteresse Mit der Beschreibung von Koordinierungsaktivitäten am Unterrichtsanfang werden zwei weiter reichende Ziele verfolgt: Zum einen geht es um die Frage, welchen Beitrag die feinkörnige Rekonstruktion multimodaler Aktivitäten im Prozess des Erwerbs entsprechender praktisch-rhetorischer Kompetenzen leisten kann: Wie müssen die Analyseergebnisse aufbereitet werden, um an die Reflexions- und Lernmöglichkeiten der Rollenspieler anschlussfähig zu sein? Welche Formen des Wissens und Könnens müssen im Training etabliert werden, um den Ergebnissen der Mikroanalyse gerecht zu werden? Zum anderen geht es perspektivisch um die Erkundung von Ergänzungen und Alternativen zu psychologischen Trainingsprogrammen oder solchen, die sich vorwiegend auf mechanistische Anwendungsregeln der Praktischen Rhetorik in Verbindung mit subjektiven Theorien der Lernenden stützen. Intra- und interpersonelle Koordinierung am Unterrichtsanfang 197 2. Methode 2.1 Voraussetzungen Intra- und interpersonelle Koordinierungsaktivitäten sind als permanent zu erledigende Aufgaben der Beteiligten unverzichtbar für das Zustandekommen von Kooperation bzw. von fokussierter Interaktion. Sie werden in der Regel beiläufig erledigt und werden von den Kommunikationspartnern nur in markierten Fällen präsentiert, inszeniert oder „accountable“ gemacht. Als solche haben die einzelnen Koordinierungsaktivitäten keinen Handlungsstatus. 2.2 Reflexion von Routineaktivitäten aus didaktischen Gründen Da Koordinierungsaktivitäten in der Regel selbst nicht thematisch sind und da sie selbst keine Handlungsprojektionen erzeugen, gibt es für sie konsequenterweise (bisher) auch keine verfügbaren ethnokategorialen Bezeichnungen. 2 Die gemeinsame Analyse von authentischen und gespielten Unterrichtsszenen im Seminar lenkt die Aufmerksamkeit der Teilnehmer aus didaktischen Gründen künstlich auf Aktivitäten, die in der laufenden Interaktion so nicht wahrgenommen werden. Dabei steht nicht die Kategorisierung im wissenschaftlichen Sinne im Vordergrund, sondern die Isolation konstitutiver Bestandteile des Interaktionsgeschehens, z.B. durch den Vergleich von systematisch auftretenden Varianten. Was die Reflektierbarkeit und Lernbarkeit rhetorischer Kompetenzen angeht, zeichnet sich nach der Konzeptualisierung von Deppermann und Schmitt ein qualitativer Unterschied der involvierten Koordinierungsaktivitäten hinsichtlich ihrer jeweiligen Planbarkeit ab: Intrapersonelle Koordinierung ist zwar nicht weniger komplex als interpersonelle Koordinierung; erstere lässt sich aber in stärkerem Maße antizipieren und reflektieren, da es im Falle der intrapersonellen Koordinierung Sache des jeweiligen Akteurs ist, seinen interaktiven Gestaltungsraum autonom zu gestalten. 3 Bei der interpersonellen Koordinierung hingegen ist die Autonomie des Ego prinzipiell begrenzt durch das kontingente Verhalten des Alters. Die Rollenspieler beispielsweise sind auf die Koordinierungsaktivitäten ihrer Mitspieler angewiesen, ohne deren Teilnahme keine fokussierte Interaktion entstehen kann. 2 Vgl. Deppermann/ Schmitt (i.d. Bd.). 3 Vgl. hierzu Deppermann/ Schmitt (i.d. Bd.). Ingwer Paul 198 2.3 Methodische Entscheidungen Das Lernen von professionellen rhetorischen Kompetenzen ist ein komplexer, dynamischer und vor allem ein lang anhaltender Prozess. Die Beschreibungen und Analysen idealisieren diesen Prozess in der Gegenüberstellung von erfahrenen Lehrern (authentische Unterrichtssituationen) und Rollenspielern (Unterrichtslabor). Um einen vorschnellen evaluativen Vergleich mit dem authentischen Unterricht zu vermeiden, muss die spezifische Konstitutionslogik der Rollenspiele sowohl in methodologischer als auch in didaktischer Hinsicht berücksichtigt werden (zur Rollenspielproblematik vgl. Abschn. 4.). Die Darstellung folgt im Großen und Ganzen der Vorgehensweise im Seminar: Nach vorbereitenden Überlegungen zu Fragen der Unterrichtskonstitution analysiert die Gruppe authentische Unterrichtsanfänge. Danach werden typische Szenen in Kleingruppen vorbereitet, aus denen die Rollenspiele entstehen. Es folgt die gemeinsame Rekonstruktion relevanter Aktivitäten und eine Auswertung, die wiederum in die Vorbereitung neuer Rollenspiele einfließt. Mit dieser Vorgehensweise soll auch ein Beitrag zur Beantwortung der grundsätzlichen Frage geleistet werden, ob und inwieweit sich die Ergebnisse mikrostruktureller Interaktionsanalysen für die Steuerung von Lernprozessen verwerten lassen. 4 3. Authentische Unterrichtssituationen Ausgangssituation 1: Der gewählte Ausschnitt in Beispiel 1 dauert 30 Sekunden. Er setzt in der kurzen Pause zwischen zwei Unterrichtsstunden ein und endet mit der Begrüßungphase. Man sieht im Mittelgrund den Lehrertisch, auf den der Lehrer bereits seine Tasche abgestellt hat. Zu sehen sind typische Aktivitäten: Ein Schüler wischt im Hintergrund die Tafel, vorne unterhalten sich ein halbes Dutzend Schülerinnen und Schüler einer Gymnasialklasse (5. Schuljahr) in mehreren Gruppen. Der Auftritt: Der Lehrer verlässt den Raum (Abb. 1), tritt danach wieder ein und schaltet das Licht ein. 4 Vgl. z.B. Dittmann (1979, S. 11), wonach „als erster, allgemeinster Zweck [der Konversationsanalyse] die verbesserung menschlicher kommunikationspraxis genannt [sei]“. Intra- und interpersonelle Koordinierung am Unterrichtsanfang 199 Abb. 1: (00: 01) Während er die sieben Schritte von der Tür zum Lehrertisch zurücklegt, spricht er - für den Transkribenten unverständlich und ohne dass durch körperliche Zuwendung bzw. durch die Aufnahme von Blickkontakt ein klarer Adressat erkennbar wäre. Obwohl der Lehrer keine sichtbaren Signale zur Kontaktaufnahme mit der Gruppe produziert, darf man unterstellen, dass der gesamte Auftritt von den Schülern nicht unbemerkt bleibt. Auf dem Weg zum Lehrertisch entnimmt der Lehrer seiner Jackentasche ein gefaltetes Blatt Papier (vermutlich eine Entschuldigung), das er, sobald er die entsprechende Position erreicht hat, mit der rechten Hand auf einer bereitliegenden Arbeitsmappe (die Mappe enthält die Arbeitsmaterialien für die Stunde) rechts neben seiner Aktentasche ablegt. Die linke Hand greift im selben Moment nach der Tasche, um sie auf den Boden zu setzen (Abb. 2). Diese Aktivität ist verbunden mit einer deutlichen Änderung der Körperhaltung und des Blickverhaltens. Die selbst organisierende, den Arbeitsablauf sichernde Aktivität koinzidiert mit einem wahrnehmbaren Wechsel der Ansprache: Zeitgleich mit dem Absetzen der Aktentasche setzt der Lehrer ein verbales Gliederungssignal (so). Der Blick des Lehrers folgt zunächst der Tasche, wendet sich dann den Schülern zu (Abb. 2; 00: 11). Der Lehrer richtet sich auf, verschränkt seine Hände hinter dem Rücken und hebt leicht den Kopf (Abb. 3). Abb. 2: (00: 11) Abb. 3: (00: 12) Ingwer Paul 200 Transkript: [1] vL: so (3.0) pos L: stabile P, fr Plenum (bücken) K nickt gaz L: o fr PL lr ges L: beide A auf Rücken req L: lH nimmt Tasche und lässt sie auf Boden fallen SIT: mittlerweile stehen alle Schüler [2] vL: tja (2.5) pos L: dreht sich zu Tür, zu PL fr gaz L: li zu PL fr [3] vL: guten mOrgen setzen pos L: fr PL, K nickt rechts K nickt links, L bewegt sich rechts ans Pult gaz L: fr PL re li uPult ges L: lH an Stuhllehne PL: mo: : rge: n SIT: Schüler setzen sich nach und nach Von Seiten der Schüler ist zu diesem Zeitpunkt und in den folgenden vier bis fünf Sekunden keine sichtbare Koordinierungsaktivität erkennbar. Der Lehrer ratifiziert aber durch Kopfnicken nach rechts und nach links den Gegengruß der Klasse. Etwa sechs Sekunden nach dem erwähnten Gliederungssignal (so) erfolgt mit deutlicher Unterstützung durch Kopfnicken der verbale Gruß (guten mOrgen), den die Schüler kollektiv und in deutlicher Dehnung erwidern. Der Gegengruß wird vom Lehrer abgenickt, wobei das Kopfnicken für die Schüler zugleich als Steuerungssignal zum Hinsetzen dient. Der Lehrer nimmt ebenfalls seinen Platz ein. Im Hinsetzen greift er nach seinen Unterlagen, schlägt die Unterrichtsmappe auf und reibt sich mehrfach mit dem rechten Zeigefinger unter der Nase (Abb. 4). Abb. 4: (00: 23) Intra- und interpersonelle Koordinierung am Unterrichtsanfang 201 Sein Blick fokussiert dann eine Gruppe von Schülern links vorne. Die Bewegung verbindet Elemente intra- und interpersoneller Koordinierung: Der Lehrer konzentriert sich auf das Unterrichtskonzept. Dann wendet er sich der Klasse zu (nicht transkribiert). Zusammenfassung: Die Eröffnung einer aufgabenorientierten Interaktion wird durch folgende intra- und interpersonelle Koordinierungsaktivitäten unterstützt: die Steuerung der wechselseitigen Wahrnehmung vor der Begrüßung, den nochmaligen Auftritt, das Einschalten des Lichtes und durch hörbare, aber unspezifisch adressierte Äußerungen. Die verbale Ankündigung des Grußes ist, zusammen mit einer stabilen Positionierung und einer signifikanten Änderung der Körperhaltung (Aufrichten, Fixieren der Hände, Heben des Kopfes) im Vorfeld der Begrüßung, von entscheidender Bedeutung für die interpersonelle Koordinierung, weil sie die notwendige kollektive Aktivität gewährleistet, selbst wenn ein großer Teil der Schüler kein Monitoring praktiziert. Der Einstieg in die aufgabenorientierte Interaktion ist allem Anschein nach eingeübt: Die Ritualisierung dieses Ablaufes bedingt - so die Annahme - eine zuverlässige Projizierbarkeit des nächsten Schrittes und damit die problemlose Koordinierung von Lehrer- und Schüleraktivitäten. 5 Ausgangssituation 2: Die Lehrerin in Beispiel 2 befindet sich beim Start der Videoaufnahme bereits in der Klasse (7. Klasse Gymnasium). Vor der offiziellen Begrüßung ist sie im Gespräch mit einer Schülerin. Sie steht hinter dem Lehrertisch, liest die Entschuldigung der Schülerin durch und gibt eine - nicht klassenöffentliche - Erklärung dazu ab (Abb. 5). Abb. 5: (00: 11) 5 Zum Konzept der „projection“ vgl. Streeck (1995, S. 87): „Projections prefigure the next moment allowing the participants to negotiate joint courses of action until, finally, a communication problem is solved collaboratively.“ Ingwer Paul 202 Die Schülerin dreht sich daraufhin zu ihrem Platz (gleichzeitig Richtung Kamera). Die Lehrerin geht zur Tür, schließt diese und geht zurück in ihre Ausgangsposition. Intra- und interpersonelle Koordinierung: Die Lehrerin nimmt noch einmal Blickkontakt zu der Schülerin auf, die ihr zuvor die Entschuldigung gegeben hat, legt ihr nach kurzer Unterhaltung die Hand auf die Schulter. Sie lässt den Blick lächelnd über die Klasse gleiten, winkt eine Schülerunterhaltung ab und produziert dann ein verbales Gliederungssignal (so: (? ... jetzt mal ...)). Zugleich ändert sie signifikant ihre Körperhaltung und nimmt, indem sie ihre Hände fixiert - darin dem Lehrer in Beispiel 1 vergleichbar - eine stabile Haltung ein. Fest positioniert, aufrecht und den Kopf leicht nach oben geneigt lässt sie den Blick durch die Klasse gleiten. Auf individuelle Schüleräußerungen reagiert sie jeweils mit Heben des Kopfes und mehrfach mit pscht (Abb. 6). [1] vL: (? ...............................) posL: dreht sich zu S, dann fr zum PL, wandert in mittlere P vors PL gazL: PL, S, PL miL: : -] : -] : -] : -] : -] usw. gesL: rA o, berührt S an rSchulter, u [2] vL: so: (? .... jetzt mal ....) (2.5) posL: stabil Kopf u o SX gazL: * / lr u o SX SX: sie ham bestimmt aufgaben für englisch oder' [3] vL: pscht pscht pscht posL: stabil, Position lr vorm PL, bei "pscht" Kopf o, L dreht sich während „pscht“ nach re gazL: immer *, ins PL oder auf einzelne S miL: : -) : -) gesL: beide H an Hüfte, Ellbogen nach hinten (Grundhaltung) Abb. 6: (00: 39) Intra- und interpersonelle Koordinierung am Unterrichtsanfang 203 Verbale Kommentare der Schüler (z.B. ey wir müssen auf englisch begrüßen) werden nicht verbal, sondern vor allem mimisch bearbeitet. Eine zu spät kommende Schülerin wird dagegen individuell angesprochen und mit der linken Hand herein gewinkt (komm schnell rein) (Abb. 7). Danach kehrt die Lehrerin sofort wieder in ihre Grundhaltung (Abb. 8) zurück. Abb. 7: (00: 49) Abb. 8: (01: 02) [4] vL: ach so posL: stabil Kopf o gazL: von re auf SX miL: Mund auf, Augen zu auf : -) gesL: beide H an Hüfte, Ellbogen nach hinten SX: ey (-) wir müssen auf englisch begrüßen [5] vL: (? ....) komm schnell rein, Der verbalen Begrüßung ( guten morgen) geht eine intensive Interaktion zwischen der Lehrerin und den Schülern voraus: Blickkontakt, Lächeln und Lachen über individuelle Schüleraktivitäten, mehrfaches „pscht“ und eine verbale Ankündigung (so wir: wir fangn jetzt an). Der Gegengruß ist sehr schleppend vorgetragen. Dieser Umstand wird von der Lehrerin mimisch kommentiert. Es folgt ein zweiter Gruß, ebenfalls mit Ankündigung (also wir wir machens noch mal (.) good mo: rning boys and girls') (nicht mehr transkribiert). Zusammenfassung: Intra- und interpersonelle Koordinierung lassen sich in diesem Beispiel nicht im selben Maße analytisch trennen wie in Beispiel 1. Die Lehrerin gestaltet im Vergleich zu Beispiel 1 einen offeneren und gleitenderen Einstieg, indem sie in der Eingangsphase permanent auf individuelle Schüleraktivitäten reagiert. Dabei differenziert sie sehr genau: Die Ingwer Paul 204 schriftliche Entschuldigung der Schülerin wird nicht nur entgegengenommen, sondern - sogar mehrfach - durch Zuspruch und Körperkontakt bearbeitet. Die Fragen und Zurufe aus dem Plenum werden zwar auch durch Lächeln und Aufnahme von Blickkontakt individuell bearbeitet. Das beruhigende pscht ist aber an alle Schüler adressiert. Ähnliches gilt für die ad hoc auftretende Störung durch die zu spät kommende Schülerin: Die Lehrerin gibt ihre Körperposition nur zum Teil auf, die Aufforderung komm schnell rein ist primär individuell adressiert, aber genauso funktional im Sinne einer interpersonellen Koordinierung mit dem Plenum. Auffällige Übereinstimmungen mit dem vorangegangenen Beispiel gibt es im Hinblick auf die entscheidende Nahtstelle zur aufgabenorientierten Interaktion: Auch im Beispiel 2 wird die kollektive Grußsequenz angekündigt, bevor sie vollzogen wird. 4. Das Unterrichtslabor 4.1 Das Seminar Die Rollenspiele werden in einem fachdidaktischen Seminar zur Lehrerausbildung mit dem Schwerpunkt Gesprächsführung im Unterricht durchgeführt. Die Grundidee der Veranstaltung besteht darin, dass die Teilnehmer in einem relativ handlungsentlasteten Rahmen ohne den unmittelbaren Bewertungsdruck der zweiten Phase der Lehrerausbildung 6 lernen sollen, welche Techniken und Verfahren der Präsentation, der Impulsgebung, der Gesprächsmoderation usw. für ihre spätere berufliche Tätigkeit wichtig sind. Das Vorgehen im Seminar ist weder rein erfahrungsorientiert, noch rein distanziert bzw. akademisch, vielmehr ergänzt das Unterrichtslabor vorhandene Formen der Kompetenzvermittlung um einen wichtigen Zwischenschritt. Im Idealfall ergänzen sich in der Vorbereitung, Durchführung und Analyse der Rollenspiele mehrere Reflexions- und Lernformen, wobei grundsätzlich alle Lernschritte einschließlich der Analyse von den Teilnehmern gemeinsam durchgeführt werden: beiläufiges Lernen durch Erprobung („learning by doing“), Lernen durch bewusste Anpassung („reflection in action“) und Lernen durch Rückmeldung und distanzierte Reflexion („reflection on action“). 7 6 Zum Reflexionsdilemma in der zweiten Phase der Lehrerausbildung vgl. Ulf Mühlhausen, in BAK (2004, S. 69). 7 Vgl. Schön (1987, S. 22ff.). Intra- und interpersonelle Koordinierung am Unterrichtsanfang 205 Die praktischen Übungen haben im Kontext der Vor- und Nachbereitungen im Unterrichtslabor den Charakter eines „forschenden Lernens“, 8 bei dem mit fortschreitender Erfahrung in der Analyse und Reflexion des gezeigten Materials zugleich Kompetenzen im wissenschaftlichen Fallverstehen entwickelt werden. 9 Methodisch-didaktisch steht die experimentelle Erprobung der Lehrerrolle, so wie wir sie im Unterrichtslabor betreiben, in der Tradition des Microteaching. Der Schlüssel zur Erlangung von Professionalität liegt hierbei in einer allmählichen Steigerung der Komplexität des simulierten Unterrichts (Heidemann 1983, S. 41): Unter Microteaching versteht man ein Verfahren, bei dem man berufliche Fertigkeiten erwirbt, indem man sie tatsächlich praktiziert. Der Unterschied zum normalen Unterricht besteht nur in der Verringerung der Komplexität des Unterrichts, um auf diese Weise freie Valenzen und dadurch die Voraussetzung für trainingswirksame unterrichtliche Verhaltensweisen zu schaffen. Der Übungsteil hat in der Durchführung, aber auch in der Vor- und Nachbereitung der praktischen Aufgaben im Vergleich zu anderen Lernarrangements 10 stark experimentellen und reflexiven Charakter, d.h., die Studierenden setzen selbst Schwerpunkte in der Anlage des Rollenspiels, in der Präzisierung der Aufgaben für den rollenspielenden Lehrer, in der Formulierung von Beobachtungsaufgaben usw. Grundsätzlich werden alle Übungen von den Studierenden mit einer Videokamera dokumentiert. Die Teilnahme an den Übungen ist freiwillig, jeder Rollenspieler kann entscheiden, ob seine Aufnahme gezeigt wird oder nicht. 4.2 Zur Problematik der Rollenspiele in methodischer und didaktischer Hinsicht Der Einsatz von Rollenspielen geht auf die Annahme zurück, dass wichtige Teilkompetenzen des professionellen Lehrerverhaltens nicht durch situationsentbundene Problematisierung, Reflexion oder Bewusstmachung erworben werden. Rollenspiele bieten die Gelegenheit, sich selbst und andere in einer nachgestellten Situation zu erleben. Zugleich bietet die Videoaufzeichnung die Voraussetzung dafür, die subjektive Wahrnehmung des Rollenspielers mit seiner eigenen Außenwahrnehmung und mit der Wahrneh- 8 Vgl. Krammer/ Reusser (2004, S. 91). 9 Vgl. die Empfehlungen des Wissenschaftsrates zur zukünftigen Struktur der Lehrerausbildung, nach Altrichter/ Mayr (2004, S. 168). 10 Vgl. Mutzek/ Pallasch (1983). Ingwer Paul 206 mung der anderen Teilnehmer abzugleichen. Eine anspruchsvolle, den Einzelfall übergreifende Auseinandersetzung mit den involvierten Koordinierungsaktivitäten wäre ohne die mehrfache Wiederholung des Ereignisstroms und die problemorientierte Betrachtung der aufgezeichneten Sequenzen nicht realisierbar. Der Vergleich des Erlebten mit dem distanziert Beobachteten führt zu einer reflexiven Einsicht in die Ordnung des Geschehens und zu einer Rückkopplung bei der Wahrnehmung der laufenden Interaktion („reflection in action“ bzw. „Online-Reflexion“). Aus methodischen wie aus didaktischen Gründen ist zu berücksichtigen, dass Rollenspiel und authentische Unterrichtssituation Kommunikationsereignisse sind, die sich in mehrfacher Hinsicht deutlich voneinander unterscheiden. 11 Im Folgenden werden einige wesentliche Unterschiede beschrieben, die bei der Analyse in Rechnung gestellt werden müssen. Reflexivität: Weil die Rollenspieler wissen, dass ihr Verhalten reflektiert werden soll, haben sie eine andere Zielperspektive vor Augen als ein Akteur in einer vergleichbaren natürlichen Situation und es ist davon auszugehen, dass sie ihr Verhalten in anderer Weise kontrollieren und beobachten - ein Effekt, der im Sinne der Online-Reflexion durchaus erwünscht ist. Beispiel: Ein Rollenspieler gab an, dass er bewusst nach einem Requisit gesucht habe, um seine Hände besser einsetzen zu können. Verschiebung von Form und Inhalt: Der Akzent wird im Rollenspiel vom inhaltlichen Lernen verschoben auf das methodische Lernen am eigenen Verhalten. Soziale Relevanz: Die Anforderung, eine Arbeitsbeziehung zwischen Lehrer und Schülergruppe herzustellen, ist in beiden Situationen formal analog, aber im Rollenspiel hat das soziale Verhalten der Akteure andere Konsequenzen als in der natürlichen Situation. Dies ist vor allem im Hinblick auf institutionell abgesicherte Verfahren und Sanktionsmöglichkeiten relevant. Beispiel: Der Rollenspieler kann keine Noten verteilen, keine Einträge ins Klassenbuch vornehmen, keine Hausaufgaben verteilen usw. Künstlichkeit: Die Begrüßung im Rollenspiel kann z.B. von den Mitspielern als redundant wahrgenommen werden. Sie hat nur dann Aussicht auf eine reziproke Erwiderung, wenn die Mitspieler die Situation entsprechend definieren. 11 Vgl. Becker-Mrotzek/ Brünner (2002) und Schmitt (2002). Intra- und interpersonelle Koordinierung am Unterrichtsanfang 207 Routine: Im Unterschied zu den authentischen Unterrichtssituationen können sich die Rollenspieler nicht auf der Grundlage existierender Routinen verhalten. Beispiel: Wenn es in einer Klasse üblich ist, dass ein Schüler vor Beginn des Unterrichts die Tafel wischt, wird der Lehrer dieses Verhalten als Hintergrundaktivität wahrnehmen und sich auf den Hauptdiskurs konzentrieren. Anders in der Rollenspielsituation, wo das Tafelwischen als Spielidee interpretiert wird, die vom Lehrer besonders bearbeitet werden muss: Der Rollenspieler im linken Bild (Abb. 9) zögert nach dem Eintritt in die Klasse, weil ein Mitspieler unerwartet die Tafel wischt. Der Lehrer im rechten Bild (Abb. 10) konzentriert sich auf seine Vorbereitungsroutine (vgl. Beispiel 1). Abb. 9: Tafeldienst als Störung Abb. 10: Tafeldienst als Teil der Routine Probehandeln: Da die Rollenspieler in der Regel kaum Unterrichtserfahrung haben, probieren sie in ihrem Verhalten Lösungen für strukturell erwartbare Aufgaben aus. Dabei kommt es z.B. zu relativ schnellen Positionswechseln, die vom Beobachter als Ausdruck für „Unsicherheit“ wahrgenommen werden. Beispiel: Ein Rollenspieler sucht nach einer stabilen Grundposition, um die Mitspieler anzusprechen. Er schwankt dabei zwischen zwei Varianten, die beide adäquat sind (s.u. Abschn. 5. „Einnehmen einer Position im Raum“). In Anlehnung an das Modell „Simulation authentischer Fälle“ (Becker- Mrotzek/ Brünner 2002) werden im beschriebenen Unterrichtslabor einige offensichtliche Probleme bei der Planung, Durchführung und Analyse von Rollenspielen in Grenzen gehalten: Zum einen wird das Problembewusstsein der Seminargruppe für die spezifische Konstitutionslogik des Rollenspiels durch die vorgängige Analyse authentischer Fälle geschärft. Zum anderen werden überflüssige Artefakte dadurch vermieden, dass die Rollenspieler sich bereits in einer Lehr-Lernsituation befinden, die sie lediglich übernehmen müssen, wobei die Lerninhalte der Gruppe angepasst werden können. Ingwer Paul 208 4.3 Distinkte Formen des Reflektierens, Wissens und Lernens Es liegt auf der Hand, dass der gleiche Ereignisstrom im Rahmen des Unterrichtslabors aus unterschiedlichen Perspektiven, mit unterschiedlichen Interessen und schließlich auch mit unterschiedlichen Ergebnissen reflektiert wird. Die unmittelbare Rückkopplung in der Spielsituation liegt auf einer anderen Reflexionsebene als die analytische Rekonstruktion ohne Rückkopplungseffekt. Wenn die Reflexion der Rollenspiele im Lernprozess der angehenden Lehrer eine konstruktive Rolle spielen soll, müssen handlungsentlastete und praktische Reflexion anschlussfähig sein. 12 Bei der Bearbeitung der Rollenspiele muss also klar sein, dass die Isolierung einzelner Aktivitäten im Ensemble der geleisteten Koordinierungsaufgaben im Prinzip eine analytische und keine praktische Perspektive darstellt. Trotzdem ist dieser Zwischenschritt die einzige Möglichkeit im Sinne des forschenden Lernens sowohl intersubjektiv nachvollziehbare Aussagen über den Einsatz unterschiedlicher Ausdrucksmodalitäten zu bekommen als auch eine realistische Übungsmöglichkeit jenseits intuitiver Trainingsverfahren zu bieten. 4.4 Online-Reflexion und Forschendes Lernen Die Rollenspieler sollen die Online-Reflexion mit der nachträglichen Analyse in einer Weise verbinden, die es ihnen später in der beruflichen Praxis erlaubt, bei „laufendem Motor“ ad hoc und reflektiert auf emergente Entwicklungen der natürlichen Situation einzugehen. Im Unterrichtslabor soll auf diese Weise zum einen die blinde Reproduktion vorgegebener Aufgaben vermieden werden, zum anderen zielt die Konzentration auf die Online-Reflexion auf eine mögliche Kontrolle subjektiver Theorien, die von den Seminarteilnehmern insbesondere in Form von Projektionen und Rationalisierungen eingebracht werden. Die subjektiven Theorien der Seminarteilnehmer bilden gleichwohl eine wichtige Ressource für die gemeinsame Reflexion der Rollenspiele. Im Interesse eines selbst gesteuerten Lernprozesses sind die subjektiven Theorien der Teilnehmer als ein nicht zufällig oder willkürlich entstandenes Wissen ernst zu nehmen, auch wenn viele Annahmen nicht durch die genaue Beobachtung der Daten gestützt werden können. In der Reflexionsphase sollten 12 Vgl. Paul (1999). Intra- und interpersonelle Koordinierung am Unterrichtsanfang 209 die subjektiven Annahmen vor dem Hintergrund einer handlungsentlasteten Analyse auf ihre Entstehung, auf ihre Plausibilität und auf ihre Handlungsrelevanz hin befragt werden. Dabei können systematisch auftretende Perspektivendivergenzen für die Entwicklung eines entsprechenden Problembewusstseins hilfreich sein. 13 4.5 Erwartungen der Studierenden Die Seminarteilnehmer wurden in einer Fragebogenaktion zu ihren Erwartungen befragt. Besonders häufig finden wir in den Antworten die Bedeutung des Unterrichtsanfangs bestätigt, speziell die Aufgabe der Positionierung („wie baue ich mir meinen Platz vor der Klasse“) und die Aufgabe, eine aufgabenorientierte Interaktion zu etablieren („was zieht die Aufmerksamkeit der Klasse an bzw. wie ziehe ich die Aufmerksamkeit der Schüler auf mich“). Neben eher technisch methodischen Lernzielen (z.B. Fragearten, Tafelanschrieb und Einsatz von weiteren Medien) nehmen Fragen der Außendarstellung großen Raum ein. Dies betrifft sowohl Fragen nach dem Selbstbewusstsein („selbstbewusstes Auftreten“, „wie kann ich optimal wirken“) als auch nach der Motivierbarkeit der Schüler. Ein weiterer zentraler Punkt ist aus der Sicht der Seminarteilnehmer schließlich das Konfliktmanagement und die Aufrechterhaltung von „Ruhe und Ordnung“ ohne Gesichtsverlust. 4.6 Anschlussfähiges Wissen und Praktische Rhetorik Welche Art der Wissensvermittlung die Studierenden zum Erwerb kommunikativer Kompetenzen präferieren, lässt sich nicht pauschal beantworten. Es fällt aber auf, dass eine starke Affinität in der Konzeptualisierung ihrer Selbstwahrnehmung - sowohl in den Rollenspielen selbst als auch in der Reflexion danach - zu Ansätzen der praktischen Rhetorik besteht. Stellvertretend für einen bestimmten Typ der Regelformulierung sei daher eine einschlägige Stelle aus einem Trainingsprogramm zum Lehrerverhalten zitiert, das sich bei den Studierenden großer Beliebtheit erfreut. Die Passage ist unmittelbar einschlägig für die analysierten Beispiele, weil sie das Verhalten des Lehrers am Unterrichtsbeginn aus der Sicht eines Novizen thematisiert (Heidemann 1983, S. 74f.): 13 Zu den subjektiven Theorien von Rollenspielteilnehmern vgl. auch Krammer/ Reusser (2004, S. 83) und Schmitt (2002, S. 92). Ingwer Paul 210 Der junge Kollege vor der Klasse fühlt sich durch die vielen ihn anstarrenden Blicke der Schüler unweigerlich bedroht und blickt weg, entweder in die Luft oder auf die vor ihm liegenden Notizen. Früher galt deshalb die Empfehlung, auf der gegenüberliegenden Seite irgendeinen Punkt an der Wand zu fixieren. Ein erfahrener Sprecher vor Gruppen weiß jedoch, dass dies eine schlechte Technik ist. Denn für jeden einzelnen Zuhörer ist er gewissermaßen Einzelpartner. Blickt er nicht gelegentlich auf das Publikum, dann fühlt es sich von ihm ignoriert. Entweder überträgt sich die Nervosität auf die Gruppe, oder der fehlende Blickkontakt wird als vermeintliche Arroganz des Redners falsch ‘entschlüsselt’ [...]. Deshalb: Bevor Sie den ersten Satz zu Beginn des Unterrichts sprechen, lassen sie Ihren Blick im Raum langsam schweifen. Sammeln Sie regelrecht die Blicke der Schüler auf. Sprechen Sie auf keinen Fall schon beim Betreten des Klassenzimmers oder in den Anfangslärm der Klasse hinein. Das zeigt nur Ihre Nervosität und fördert Disziplinprobleme, weil Sie auf relativ hohem Lärmpegel einsteigen, von dem Sie die Klasse kaum noch herunterbringen. Das Trainingsprogramm, das hier schlaglichtartig skizziert wird, setzt auf Strategien, die immer wieder zur Kontrolle des Interaktionsverlaufs eingesetzt werden können. Die klare Wenn-dann-Struktur der Regelbeschreibung macht für die Studierenden vermutlich den Reiz des Verfahrens aus. Die Herausforderung des Unterrichtslabors liegt angesichts der Voraussetzungen der Studierenden und der Komplexität des zu vermittelnden Wissens und Könnens darin, ein Kontext übergreifendes Reflexionspotenzial zu generieren, dass an den Erfahrungen der Rollenspieler - einschließlich ihrer subjektiven Theorien - ansetzt, aber nicht nach dem Baukastenprinzip oder nach dem Ursache-Wirkungsprinzip funktioniert. Dabei besteht das didaktischmethodische Problem, das aus der Rekonstruktion der involvierten Koordinierungsaktivitäten resultiert, darin, dass ein großer Teil des Wissens und Könnens, den die unerfahrenen Lehrer noch nicht haben (können), von ihnen ebenfalls genau nach diesem Modell konzeptualisiert wird. Die Studierenden erwarten u.a., dass ihr kommunikatives Verhalten bis ins Detail durch bewusste Einsicht optimierbar ist, ungefähr so, als würde man einen Schalter umlegen oder auf den richtigen Knopf drücken. Dieser Erwartung entspricht ein theoretisches Konzept nonverbaler Kommunikation, in dem isolierbare und kontextfrei beschreibbare Elemente multimodaler Kommunikation eine klare Zeichenfunktion bekommen (ein Exponent der monofunktionalen Beschreibung von Körpersprache ist Molcho 1998. Zur Kritik an der praktischen Rhetorik vgl. bereits Kallmeyer 1985). Intra- und interpersonelle Koordinierung am Unterrichtsanfang 211 5. Koordinierungsaktivitäten am Unterrichtsanfang Die Beschreibung konstitutiver Koordinierungsaktivitäten am Unterrichtsanfang erfolgt in drei Schritten: (1) Systematische Auswertung der authentischen Unterrichtsanfänge, (2) Darstellung erwartbarer Koordinierungsaktivitäten am Anfang der Rollenspiele in Form eines „Ethogramms“ und (3) fallanalytische Beschreibung eines Rollenspiels. 5.1 Systematische Auswertung der authentischen Unterrichtsanfänge Die beiden Lehrer in Beispiel 1 und 2 haben es zwar mit unterschiedlichen Klassen und unterschiedlichen kontextuellen Voraussetzungen zu tun (die Lehrerin im Beispiel 2 leitet z.B. eine Vertretungsstunde) und sie haben beide aufgrund ihrer Erfahrungen einen eigenen Stil herausgebildet. Trotzdem zeichnen sich im Vergleich der beiden Beispiele einige strukturell erwartbare Koordinierungsaktivitäten jenseits der Fallspezifik ab: Intrapersonelle Koordinierung: - Planung des Auftritts (z.B. Verlassen des Raums und sichtbares bzw. hörbares Schließen der Tür von innen); - Organisation der technischen Voraussetzungen (Licht einschalten, Unterrichtsmappe, Ablage der schriftlichen Entschuldigung, Platzierung der Aktentasche); - Positionierung im Raum; - Körperhaltung (spannungsarme oder neutrale Körperhaltung vs. Spannungsaufbau in der Begrüßungsphase); - Rhetorische Gestaltung der Begrüßung und der Impulsgebung. Interpersonelle Koordinierung: - Körperorientierung (als Mittel der Adressierung z.B. bei der Bearbeitung von Störungen); - Gestikulation (Fixieren der Hände vs. Rede begleitende bzw. freie Gestikulation); - Blickkontakt (Vermeiden des Blicks beim Eintreten vs. Aufnahme des Blickkontaktes in der Begrüßungsphase, Blickkontakt als Mittel der Ratifizierung und Steuerung von Schülerverhalten). Ingwer Paul 212 5.1.1 Erwartbare Koordinierungsaktivitäten am Anfang des Rollenspiels Nach der induktiven Analyse einer größeren Zahl von Rollenspielen kristallisiert sich für die Einstiegsphase eine naturwüchsige Abfolge von Koordinierungsaufgaben heraus. Die Bearbeitung einiger dieser Aufgaben ist im Prinzip unvermeidbar. Es gibt aber für jeden dieser Schritte auch Handlungsalternativen, d.h., die Rollenspieler müssen die strukturellen Vorgaben interpretieren, indem sie eine Variante an- oder abwählen. Im Folgenden werden einige typische Lösungsvorschläge für strukturell erwartbare Aufgaben gezeigt. Die analytische Reflexion im Seminar dient der Wahrnehmung dieser Aufgaben, der Beschreibung von kontextspezifischen Mustern und der kontextübergreifenden Einschätzung möglicher Konsequenzen für die Etablierung einer aufgabenorientierten Interaktion. Die bildliche Darstellung von Alternativen greift eine Anregung von Kendon (1973, S. 69f.) auf. Der Lehrer steht am Unterrichtsanfang vor der Aufgabe, verschiedene Anforderungen zu koordinieren: Kontaktaufnahme, Begrüßung, Ruhe herstellen, Festlegung der Beteiligungsweisen. Für diese Aufgaben ist eine situationsadäquate Lösung zu finden (Größe des Raums, Verhalten der Schülergruppe etc.). In natürlicher Reihenfolge treten zu Beginn der Rollenspiele diese Aufgaben auf: Eintreten, Einnehmen einer Position im Raum, Kontaktaufnahme/ Begrüßung und Einstieg in die aufgabenorientierte Interaktion. Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang die Platzierung des Grußes, da der Gruß zugleich als Einstieg in die Unterrichtskommunikation fungiert (s.o. Beispiel 1 und 2). Eintreten: Der Rollenspieler wird erstmals für die Gruppe sichtbar. Er muss seinen Auftritt gestalten. Mit dem Eintreten in den Raum beginnt die wechselseitige Wahrnehmung von Spieler und Gruppe. Eine Kontaktaufnahme durch Blick, Körperposition usw. ist möglich, kann aber zu diesem Zeitpunkt auch vermieden werden (Abb. 11 und Abb. 12). Abb. 11: Der Rollenspieler wendet Abb. 12: Der Rollenspieler wendet sich zu sich ab Intra- und interpersonelle Koordinierung am Unterrichtsanfang 213 Einnehmen einer Position im Raum: Diese Aufgabe stellt sich unvermeidbar. In ihren Anforderungen ist sie einerseits klar definiert, denn der Aufbau einer Arbeitsbeziehung ist am ehesten möglich, wenn der Lehrer die Schüler frontal anspricht, d.h., wenn er durch Blickkontakt und Körperhaltung eine stabile Interaktionsachse 14 hält. Selbstverständlich kann aber die Positionierung im Raum stark variieren. Eine systematische Alternative zur gezeigten Position wäre z.B. das Stehen oder Sitzen hinter dem Lehrertisch (Abb. 13 und Abb. 14. vgl. Beispiel 1 und 2). Abb. 13: Positionierung ohne Abb. 14: Positionierung mit Bodenberührung Bodenberührung Die Positionierung des Rollenspielers definiert unvermeidlich einen Abstand zur Klasse. Einige Positionen (Lehrertisch oder -pult, Raum zwischen Tafel und „Hufeisen“, Lehrerstuhl) definieren eine mittlere Distanz, andere Positionen hingegen greifen in den Aktionsraum der Schüler ein (zwischen den Reihen, am Fenster). Die Position des Rollenspielers beeinflusst seine Wahrnehmung durch die Gruppe: Ein Spieler, der hinter dem Tisch sitzt oder steht, wird anders wahrgenommen als ein Spieler, der sich vor oder neben den Tisch stellt. 15 Der Einsatz von Requisiten beeinflusst die Positionierung der Rollenspieler. In der folgenden Bildserie (Abb. 15-18) ist der Rollenspieler in typi- 14 Die Verwendung des Begriffs erfolgt in Anlehnung an Kendon (1973, S. 37), der einen Zusammenhang zwischen dem räumlichen Arrangement der Teilnehmer, der Stabilität der ausgehandelten Konfiguration und dem etablierten Arbeitskonsensus sieht: „If the configuration is fluid or unstable, this reflects a fluidity or instability in the ‘working consensus’ of the occasion.“ Insbesondere für formelle oder institutionelle Treffen gilt, dass die Kommunikation in der Regel erst beginnt, wenn eine stabile Konfiguration etabliert wurde (vgl. ebd., S. 51). 15 Zu Formen des räumlichen Arrangements einschließlich situationsadäquater Distanz vgl. Kendon (1973, S. 40ff.). Ingwer Paul 214 scher Weise mit der Koordinierung mehrerer Aufgaben beschäftigt: Organisation seiner Arbeitsmaterialien (Konzeptpapier, Folie) und Aufrechterhaltung einer fokussierten Interaktion mit seinen Mitspielern. Beide Aufgaben stehen z.T. in Konkurrenz zueinander: So erschwert der Blick auf die Projektionsfläche aus der eingenommenen Position die Kontaktaufnahme zur Gruppe. Abb.15: Blick zur Klasse Abb. 16: Blick auf das Material Abb. 17: Blick zur Klasse Abb. 18: Blick zur Projektionsfläche Eingenommene Positionierungen können hinsichtlich ihrer Stabilität sehr unterschiedlich sein. Relevante Aspekte sind: Verlagerung bzw. Verlagerbarkeit des Körperschwerpunkts, Tänzeln auf einer Stelle oder Fixierung durch beide Beine; Fixieren der Hände vs. freie Gestikulation; Stehen vs. Sitzen, verschiedene Haltungen beim Sitzen. Beim Versuch eine stabile Position einzunehmen, wechselt der Spieler (Abb. 19 und 20) zwischen zwei funktionalen Optionen. Die Tatsache, dass er wechselt, wird später von den Mitspielern als Unsicherheit gedeutet: Intra- und interpersonelle Koordinierung am Unterrichtsanfang 215 Abb. 19: Hände auf den Tisch fixiert Abb. 20: Hände hinter dem Rücken fixiert Kontaktaufnahme/ Begrüßung: Bei der Platzierung des Grußes lassen sich insbesondere zwei Optionen strukturell unterscheiden: Die Rollenspieler begrüßen die Mitspieler entweder ohne jede Vorbereitung beim Betreten der Klasse (Abb. 21) oder sie organisieren die Voraussetzungen für einen kollektiven Gruß (Abb. 22); letzteres findet in der Regel nach dem Einnehmen einer frontalen Position statt (vgl. auch Beispiel 1 und 2). Abb. 21: Gruß ohne Vorbereitung Abb. 22: Grußvorbereitung durch Klopfen Einstieg in die aufgabenorientierte Interaktion: Stärker als bei den anderen Aufgaben werden bei der Konstituierung der Arbeitsbeziehung alle sprachlichen und körpersprachlichen Aktivitäten des Rollenspielers relevant: das verbalsprachliche Format (Verwendung von Partikeln, Frageformat, Anredeform, Pausen), die Artikulation (laut, schnell, langsam), der Sprechrhythmus (verlangsamt, beschleunigt, Pausen), der Blickkontakt, die Körperhaltung (frontal, aufrecht, ruhig, in Bewegung), die Gestikulation (natürlich, auf Distanz eingestellt, unterdrückt). Ingwer Paul 216 5.1.2 Fallanalytische Beschreibung eines Rollenspiels Vorbemerkung: Im Gegensatz zu Beispiel 1 und Beispiel 2 haben wir es hier in Beispiel 3 nicht mit einer authentischen Unterrichtssituation, sondern mit einem Rollenspiel zu tun. Es gibt daher keine gemeinsame Interaktionsgeschichte einschließlich eingespielter Regeln, wie sie vor allem für die interpersonelle Koordinierung im Beispiel 1 eine entscheidende Rolle spielen. Dort kennen die Schüler allem Anschein nach den Ablauf der Einstiegsphase genau, sie erwarten die gewohnten Signale und orientieren sich daran. Spätestens wenn seine Mitschüler Platz nehmen, ist auch für den unkoordinierten Schüler klar, dass der Unterricht angefangen hat. Der Eindruck, der sich beim Ansehen von Beispiel 3 für einen distanzierten Beobachter aufdrängen mag, nämlich dass es sich um die Parodie eines autoritären Lehrers handelt, kann aus der Sicht der unmittelbar Beteiligten nicht bestätigt werden. Festzuhalten ist, dass es im Rollenspiel zu einer Eskalation der Situation kommt, die letztlich zu einer Kooperationsverweigerung der Mitspieler führt. Ausgangssituation: Das Rollenspiel war folgendermaßen angelegt: Das Seminar (ca. 25 Teilnehmer) wurde vom Seminarleiter als Lehrerzimmer in der großen Pause definiert. Die Teilnehmer bekamen aktuelle Tageszeitungen und sollten sich anhand der Lektüre auf eine Vertretungsstunde vorbereiten. Das Rollenspiel selbst umfasste den Einstieg in die Vertretungsstunde und den Übergang in die aufgabenorientierte Interaktion. Die bewegliche Kamera folgte dem rollenspielenden Lehrer aus der Perspektive der Gruppe. Transkript [1] Abb. 23 pos L: betritt R mit Gesicht zur Klasse, dreht sich beim Schließen zur Tür, zum Plenum gaz L: * (erst zur Klasse, dann zur Tür, zurück zur Klasse) ges L: lH rH zus. vorm Bauch req L: öffnet T mit lH, wechselt hinterm Rücken, schließt T mit lH nv S2: setzt sich auf den Tisch PL: <<anhaltende leise Unterhaltung> [2] Abb. 24, Abb. 25 vL: moin' (---) mein name is herr kriecher' (2.5) pos L: geht mit 5 Schritten bis zum Pult und positioniert sich fr davor gaz L: * zum PL ges L: H lösen sich, Arme hängen seitlich herunter nv S2: setzt sich auf seinen Stuhl Intra- und interpersonelle Koordinierung am Unterrichtsanfang 217 [3] Abb. 26 vL: alles hinsetzen und ruhe hier' pos L: fr vorm Pult (bückt sich zum Schlagen) gaz L: * ges L: rA o zeigt PL u req L: schlägt 3x mit flacher rH auf Pult PL: > ((Lachen) [4] vL: ich halte hier heute den vertretungsunterricht für herrn schMITZ' pos L: stabil gaz L: * ges L: beide A hängen seitlich herunter PL: ) Intra- und interpersonelle Koordinierung: Bevor der Rollenspieler den Klassenraum betritt, findet in der Gruppe eine intensive Unterhaltung statt. Keiner der Mitspieler achtet besonders auf den Eintritt des „Lehrers.“ Abb. 23: (00: 01) Abb. 24: (00: 04) Der Rollenspieler öffnet die Tür des Seminarraums, zeitgleich setzt sich ein Schüler am rechten Bildrand seitlich auf seinen Tisch (vgl. Abb. 23). Der rollenspielende Lehrer nickt der Gruppe kurz zu, dreht sich zur Tür und schließt diese. Der Mitspieler behauptet seine Position, während der „Lehrer“, noch bevor er sich auf den Weg zu seiner endgültigen Position vor der Gruppe macht, seinen Gruß beginnt (vgl. Abb. 24): moin' (---). Aus Sicht des Mitspielers könnte es sich bei dem auffälligen Positionswechsel um den Versuch gehandelt haben, eine authentische Unterrichtssituation zu simulieren. Darauf deutet hin, dass derselbe Mitspieler zu einem späteren Zeitpunkt vergleichbare Initiativen ergreift. Das Spielangebot (Bearbeitung einer Störung o.Ä.) wird von dem rollenspielenden Lehrer nicht sichtbar bearbeitet. Nach der angefügten Vorstellung (mein name is herr kriecher' (2.5)) setzt sich der Mitspieler wieder hin und rückt seinen Stuhl zurecht. Ingwer Paul 218 Beim Eintreten wendet sich der Rollenspieler der Gruppe seitlich zu, Oberkörper und Arme sind in (pendelnder) Bewegung. Nur der Kopf wird zur Gruppe gedreht. Eine gemeinsame Reaktion der Mitspieler ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht erwartbar, da der Rollenspieler sich noch nicht vor der Gruppe positioniert hat und nicht von allen wahrgenommen wird. Am Ende der Vorstellung ist der Lehrer der Klasse schließlich frontal zugewandt, seine Arme hängen seitlich in leicht schwingender Bewegung herab. Die Körperhaltung ist insgesamt spannungsarm und instabil. Das Verhalten der Mitspieler entspricht in dieser Phase nach meinen Beobachtungen grundsätzlich dem Verhalten authentischer Schülergruppen: Man ist mit sich selbst beschäftigt, flüstert dem Nachbarn etwas zu. Nur wenige Mitspieler nehmen in der Begrüßungsphase Blickkontakt zum „Lehrer“ auf oder reagieren erkennbar auf sein Erscheinen (vgl. Abb. 25). Abb. 25: (00: 08) Abb. 26: (00: 09) Mit der nächsten Aktivität inszeniert der Rollenspieler sich selbst als autoritären Lehrer: Er schlägt dreimal mit der flachen Hand auf den Tisch (Abb. 26) und ruft die Mitspieler mit stark erhobener Stimme zur Disziplin auf (alles hinsetzen und ruhe hier'). Er bleibt im Folgenden in der lauten Tonlage, auch als die Gruppe zur Ruhe gekommen ist. Die Einstiegssequenz wird fortgesetzt (ich halte hier heute den vertretungsunterricht für herrn schmitz'). Vergleicht man Beispiel 3 - mit allen Vorbehalten, unter denen so ein Vergleich stehen muss, und in Erinnerung daran, dass die Analyse aus didaktischen Gründen den rollenspielenden Lehrer fokussiert (vgl. Abschn. 4.) - mit den beiden authentischen Unterrichtsanfängen, dann lassen sich einige allgemeine und fallspezifische Faktoren benennen, die zur Eskalation der Situation beigetragen haben können. Intra- und interpersonelle Koordinierung am Unterrichtsanfang 219 Weil den Rollenspielern eine gemeinsame Interaktionsgeschichte fehlt, werden die Koordinierungsaktivitäten des „Lehrers“ nicht ohne weiteres als solche erkannt. Das gilt schon für scheinbar triviale Dinge wie das Eintreten: Da die authentischen Lehrer, bevor sie die Tür schließen, bereits als Lehrer in der Klasse präsent waren, wird durch den Gang zur Tür ein anderer Erwartungshorizont aufgerufen als bei dem Rollenspieler und seinen Mitspielern, die es mit einer neuen, nicht eingespielten Situation zu tun haben. Umso mehr ist der Rollenspieler auf die Kooperation seiner Mitspieler angewiesen. Die intrapersonelle Koordinierung wird dadurch erschwert, dass der Rollenspieler im Vergleich mit den Lehrern keine kontexttypischen Requisiten zur Verfügung hat (Klassenbuch, Entschuldigungsschreiben, Unterrichtsmappe usw.). Der Auftritt einschließlich Begrüßung, Vorstellung und Positionierung wird vom Rollenspieler so gestaltet, dass eine interpersonelle Koordinierung eher erschwert wird. Auffällig ist die fehlende Sondierung der Bereitschaft zur Aufnahme einer aufgabenorientierten Interaktion, sei es durch die Ankündigung einer Grußsequenz (vgl. Beispiel 1), durch die gezielte Aufnahme von Blickkontakt (vgl. Beispiel 2), durch die individuelle Ansprache einzelner Schüler (vgl. Beispiel 2), durch eine explizite Rückfrage (z.B. seid ihr soweit? ) oder auch durch das Aufgreifen des Spielangebots seines Mitspielers. Darüber hinaus verzichtet der Rollenspieler bei seinem Auftritt auf den Einsatz einiger Ausdrucksmodi: Die verbale Begrüßung wird z.B. nicht durch einen Wechsel der Körperspannung, durch eine feste Positionierung oder durch eine kontrollierte oder konturierte Gestikulation unterstrichen. Der Druck, den er durch seine Tonlage und durch seine inszenatorisch ausgestellten Disziplinierungsversuche erzeugt, wird von den Mitspielern in adäquater Symmetrie mit übertriebenen Inszenierungen möglicher Schülerreaktionen beantwortet (Werfen einer Schwalbe, Heiterkeit und Nebendiskurse). 6. Auswertung Rollenspieler und Lehrer bearbeiten die Koordinierungsanforderungen der jeweiligen Situationen unter unterschiedlichen Voraussetzungen, mit unterschiedlichen Handlungszielen und mit anderen Konsequenzen. Der Vergleich der beiden Konstellationen erfolgt - mit allen notwendigen methodischen Vorbehalten - aus der Perspektive des Unterrichtslabors mit dem Ziel einer Rückkopplung des rekonstruierten Aufgabenprofils an die Online- Reflexion der Rollenspieler. Ingwer Paul 220 Erfahrene Lehrer sind nach meinen bisherigen Beobachtungen eher in der Lage, die Entwicklung der Situation permanent und beiläufig mit ihrem Erwartungsfahrplan abzugleichen. Ihr Erfahrungswissen erlaubt es ihnen, das emergente Interaktionsgeschehen bei „laufendem Motor“ zu lesen und aktiv zu steuern. Im Vergleich der Aktivitätsprofile erscheinen die Rollenspieler stärker auf sich selbst bezogen, ihr körpersprachliches Verhalten wirkt weniger konturiert und stabil; zugleich führt die gesteigerte Wahrnehmungswahrnehmung - insbesondere beim bewussten Ausprobieren von Handlungsalternativen - auch zu deutlichen Übertreibungen (vgl. Beispiel 3). Im Vergleich von authentischen Unterrichtssituationen und Rollenspielen bestätigt sich die Vermutung, dass die intrapersonelle Koordinierung gegenüber der interpersonellen Koordinierung besser planbar ist. Die mangelnde Erfahrung der Rollenspieler zeigt sich insbesondere im Umgang mit kontingenten Aufgaben, die im Bereich der interpersonellen Koordinierung verstärkt auftreten. Die Rollenspieler koordinieren ihr Verhalten in Ermangelung eines entsprechenden Routinewissens, indem sie ihr je verfügbares Konzept von Unterricht aktivieren, an dem sie tendenziell auch dann festhalten, wenn sie mit kontingenten Ereignissen konfrontiert sind. 16 Dabei produzieren sie in stärkerem Maße Displays, die im professionellen Verhalten des geübten Lehrers lediglich „mitschwingen“, dort aber nicht „accountable“ werden. Mit Bezug auf die Reflexions- und Lernformen, die im Rollenspiel konstruktiv miteinander verbunden werden sollen, ergeben sich nach diesem Befund vor allem Desiderate im Bereich der Online-Reflexion, wobei die didaktische Herausforderung darin liegt, dass sich der Erwerb entsprechender Kompetenzen im Arbeitsalltag eher auf dem Wege einer beiläufigen Anpassung an emergente Situationen zu vollziehen scheint als auf dem Wege einer bewussten, reflektierten Auseinandersetzung. Dafür spricht zumindest, dass erfahrene Praktiker nur selten - jenseits subjektiver Theorien - Angaben über die ihrem Verhalten zugrunde liegenden Regeln machen können. 16 Nach dem Vergleich von authentischer Unterrichtssituation und Rollenspiel könnte man mit Luhmann (1984, S. 437) das Verhalten der Rollenspieler mit einem normativen, das der Lehrer dagegen mit einem kognitiven Erwartungsstil erklären. Intra- und interpersonelle Koordinierung am Unterrichtsanfang 221 Wie man die Komplexität der Anforderungen - einschließlich der Integration unterschiedlicher Reflexionsformen - in origineller Weise auch spielerisch bearbeiten kann, zeigt ein Beispiel aus einem anderen Kontext: Kürzlich ergab sich die Gelegenheit, einige Jungen beim Fußballspielen auf dem Bolzplatz zu beobachten. Bei näherem Hinsehen fiel das Theatralische auf: Fußball wurde zugleich gespielt und inszeniert. Rund um das Spielfeld hatten die Spieler Wimpel von ihren Clubs aufgebaut. Die Kleidung war bewusst gewählt. Ein besonders auffälliger Spieler trug das Trikot von Oliver Kahn. Ihm reichte es nicht aus, den Ball nur zu parieren, sondern er tat sichtlich mehr als notwendig gewesen wäre, um seine Aufgabe als Torwart zu lösen. Nach einem Hechtsprung rollte er z.B. noch einmal aus oder er probierte den Hechtsprung auch ohne Ball. Indem sie die entsprechenden Bewegungsabläufe trainierten, sahen sich die Fußballer gleichzeitig beim Spielen zu. Sie probierten einzelne Gesten aus und eigneten sie sich dadurch teilweise an, ohne ganz in ihnen aufzugehen. Diese Fähigkeit zur Distanzierung im Vollzug beweist, dass es möglich ist, teilweise automatisierte Abläufe, in denen die Feinabstimmung mit den Mitspielern eine große Rolle spielt, im Spiel sowohl auszuagieren als auch zu testen und zu reflektieren. Der explizit „accountable“ gemachte Vollzug von Koordinierungsaktivitäten kann in der Spielsituation für alle Beteiligten zunächst irritierend wirken, weil damit gezielt Handlungsalternativen „ausgestellt“ werden, was von den Beobachtern gewöhnlich als Zeichen von Unsicherheit wahrgenommen wird, weil die Rollenspieler eben nicht auf Anhieb den richtigen Ton, die stabile Position oder die adäquate Geste treffen. Andererseits könnte hier ein Ansatzpunkt für das forschende Lernen im Labor liegen, denn die explizite Botschaft „Dies ist ein Spiel“ (Bateson) erhöht zum einen die Reflexivität der Situation, was einem Lernstil entgegen steuert, der das Lehrerverhalten nach dem Ursache-Wirkungsprinzip konzeptualisiert; zum anderen schützt die Ausstellung des Spielbzw. Versuchscharakters vor einer vorschnellen normativen Evaluation des Erlebten. 7. Transkriptionskonventionen Der verbalsprachliche Anteil wird weitestgehend nach GAT-Konvention dargestellt. Für eine bessere Übersichtlichkeit wird jedoch die Partiturschreibweise gewählt, da einzelnen Sprechern bis zu fünf Beschreibungsebenen zugeordnet werden müssen. Ingwer Paul 222 Partiturzeilen gaz Blickverhalten, Blickrichtung ges Gestikulation mi Mimik pos Position im Raum, Körperhaltung PL Plenum, die Klasse req Umgang mit Requisiten und Objekten S1, S2 einzelne Schüler SIT Beschreibung der Situation vL verbal Lehrer (oder Rollenspieler) Besondere Transkriptionszeichen und Abkürzungen P Position im Raum, Haltung im weitesten Sinne (Positur) stabile P die vorher beschriebene Position wird beibehalten T Tür rH/ lH rechte Hand/ linke Hand rA/ lA rechter Arm/ linker Arm fr frontal lr Blick schweift im Raum (kurz für: links-rechts) re/ li (nach) rechts/ links u/ o (nach) unten/ oben uX/ oX nach unten zu X, nach oben zu X : -) Lächeln : -] auffälliges Lächeln * Blickrichtung horizontal in Kopf-/ Körper-/ Laufrichtung = horizontale Armbewegung (in nonverbalen Zeilen) 8. Literatur Altrichter, Herbert/ Mayr, Johannes (2004): Forschung in der Lehrerbildung. In: Blömeke u.a. (Hg.), S. 164-184. 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Wenn sich Interaktionsbeteiligte anblicken, bedeutet dies nicht einfach nur Sehen und wechselseitiges Wahrnehmen, sondern es handelt sich dabei um eine soziale Aktivität, die für das Zustandekommen und die Aufrechterhaltung von Interaktion eine konstitutive Rolle spielt (Goffman 1963). Zur Blickorganisation in Interaktion liegen umfangreiche und ausführliche Untersuchungen vor (u.a. Argyle/ Cook 1976 und Kendon [1967] 1990). Es gibt jedoch wenige Arbeiten, in denen das Zusammenspiel und die Koordination der unterschiedlichen Formen des „Blickens“ mit anderen Ausdrucksebenen im Gespräch systematisch analysiert werden. Im folgenden kurzen Überblick gehe ich auf einige wichtige Beobachtungen und Ergebnisse ein, die in diesem Bereich im Rahmen der „conversation analysis“ (CA) gewonnen wurden. Am intensivsten ist Blickorganisation und deren Bedeutung für die Koordination der Sprecher-Hörer-Rolle untersucht worden. Als eines der zentralen Ergebnisse wurde dabei deutlich, dass Beteiligte die Interaktionsentwicklung und die Äußerungsentwicklung des aktuellen Sprechers verfolgen und beobachten, um sich gegebenenfalls an einer der nächsten übergangsrelevanten Stellen selbst als Sprecher etablieren zu können. Auch für die Wahl des nächsten durch den aktuellen Sprecher ist die Blickorganisation (beispielsweise als „vorgreifende Adressierung“ des Folgesprechers durch den momentanen Sprecher) von wesentlicher Bedeutung (Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974). 3 1 Ich danke Reinhold Schmitt für gemeinsame Analysen sowie für Anregungen und kritische Hinweise zu diesem Beitrag. 2 Zum Verhältnis der Begriffe siehe u.a. Siegfried (2005). 3 Auch Kendon ([1967] 1990) hat in seiner Untersuchung die Bedeutung der Blickorganisation im Zusammenhang mit Monitoring und der Organisation der Redeverteilung hervor- Liisa Tiittula 226 Durch ihre jeweilige Blickorganisation können verbal aktuell nicht aktive Beteiligte unterschiedliche Formen von Zuhörerschaft und Engagement anzeigen; der Sprecher wiederum kann mit seinem Blickverhalten signalisieren, dass er seine Äußerung(en) an einen bestimmten Beteiligten adressiert (Goodwin 1981, S. 9). Für das Blickverhalten im Zusammenhang mit der Organisation der Sprecher-Hörer-Konstellation hat Goodwin (1980, 1981, 1984) folgende grundlegende Einsichten formuliert: Es existiert seitens der aktuellen Sprecher eine deutliche Orientierung, die man als „Blick-Responsivität“ beschreiben kann: Sprecher gehen davon aus, dass Hörer auf ihre Initiativen zum Blickkontakt reagieren. Reagieren Adressaten aktueller Sprecher nicht im Sinne dieser Orientierung, hinterlässt die ausbleibende Blick- Responsivität in der Äußerungsentwicklung aktueller Sprecher häufig Spuren. Diese reagieren dann mit Unterbrechungen, Pausen und Neuanfängen, die in diesem Zusammenhang nicht mit Wortsuche oder anderen Aspekten wie delay-Organisation zu tun haben. Die äußerungsstrukturellen Aspekte stehen vielmehr im Dienste der Organisation der Sprecher-Hörer-Beziehung: Die Koordination des Blickverhaltens von Sprecher und Hörer ist ein wichtiges Element bei der Etablierung einer gemeinsamen Orientierung. Die von den Sprechern auf der Ebene der Äußerungskonstitution produzierten Hinweise besitzen - was die Reaktionen der Hörer hierauf zeigen - unmittelbar appellative Implikationen im Hinblick auf die Konstitution einer gemeinsamen Orientierung. Goodwin hat gezeigt, dass Hörer in Reaktion auf diese äußerungsstrukturellen Hinweise im Sinne der Blick-Responsivität aktiv werden. Die Reihenfolge‚ wonach zuerst der Sprecher den Adressaten anblickt, dann der Adressat den Sprecher, stellt nach Goodwin (1980, 1984) die präferierte Orientierung für die Blickorganisation am „turn“-Anfang dar. Nun kann die Etablierung einer gemeinsamen Orientierung natürlich nicht nur mittels Blickorganisation bewerkstelligt werden oder muss nicht genau in dieser Reihenfolge realisiert werden. Wenn beispielsweise Adressaten mit anderen Aktivitäten beschäftigt sind, die es ihnen lokal nicht erlaubt, den Sprecher anzublicken, kann ein Nicken oder ein anderes körperliches Verhalten - wie Gestikulation oder Mimik - den Blick ersetzen (Goodwin gehoben; Sprecher blicken zu Beginn ihres „turns“ weg, aber sie orientieren ihren Blick auf den Hörer, wenn der „turn“ zu Ende geht. Zur Rolle des Blicks beim Sprecherwechsel siehe auch Wiemann/ Knapp (1975), Beattie (1981), Tiittula (1987). Blickorganisation in der side-by-side-Positionierung 227 1984, S. 232). Die von Goodwin rekonstruierte „Systematik“ der Blickorganisation stimmt mit den Ergebnissen vieler anderer Untersuchungen überein, nach denen der Hörer den Sprecher häufiger ansieht als umgekehrt (u.a. Kendon [1967] 1990). 4 Blickorganisation ist ein wichtiges Mittel, mit dem Interaktanten ihre Beteiligungsweise („participation framework“) symbolisieren und aushandeln (Goodwin 1981). Durch die Blickorientierung und Körperausrichtung können die Interaktanten ihre aktuelle Aufmerksamkeit und Verfügbarkeit („availability“) sowie das Ausmaß und die Qualität ihrer Beteiligung an den Aktivitäten des Partners anzeigen (Goodwin 1981). 5 In Interaktionssituationen, in denen die Beteiligten nicht nur mit verbaler Kommunikation, sondern mit der Realisierung praktischer Tätigkeiten beschäftigt sind (Schreiben, Dinge auspacken oder Waren präsentieren), ist ihre Aufmerksamkeit nicht nur aufeinander, sondern auch auf die verschiedensten Objekte (z.B. auf vor ihnen liegende Papiere) gerichtet. In diesem Falle müssen also nicht nur die Sprecher-Hörer-Rolle mittels Blickorganisation sowie andere multimodalen Ausdrucksmittel organisiert werden; vielmehr muss die verbale Kommunikation mit den unterschiedlichsten Aktivitätszusammenhängen koordiniert werden. Diese Anforderung muss beispielsweise in der Arzt-Patienten-Interaktion von den Beteiligten bearbeitet werden. Zur Arzt-Patienten-Interaktion liegen auch mehrere Untersuchungen im Hinblick darauf vor, wie die Beteiligten ihre Interaktion durch Blick- und Körperausrichtung organisieren (u.a. Heath 1982, 1984; Robinson 1998, Ruusuvuori 2000). Heath (1982, 1984) hat gezeigt, wie Sprecher den Blick und damit die Aufmerksamkeit ihrer Adressaten durch vokale Mittel und Gestik auf sich oder eine bestimmte Aktivität lenken (siehe auch Psathas 1990). Die körperlichen Ausdrucksweisen der Sprecher sind dabei mit den verbalen Äußerungen der Beteiligten in spezifischer Weise koordiniert: Gestikulation beispielsweise wird in einer nicht-expressiven und unauffälligen Weise realisiert, so 4 Weitere Untersuchungen zum Zusammenhang von Blick und „turn“-Organisation wurden u.a. von Psathas (1990) Ford/ Fox/ Thompson (1996), Lerner (2003) sowie insbesondere aus einer dezidiert multimodalen Perspektive von Bolden (2003) und Schmitt (2005) durchgeführt. 5 Vgl. hierzu auch die detaillierte Analyse von Heidtmann/ Föh (i.d. Bd.). Liisa Tiittula 228 dass sie nicht zum Fokus der Aufmerksamkeit wird, sondern die Kernaktivität unterstützt. Gesten, die in diesem Kontext realisiert werden, werden zwar gesehen, aber nicht bemerkt („seen but unnoticed“, Heath 1982, S. 96). 6 Die Analyse von Videoaufzeichnungen aus einer multimodalen Perspektive gestattet es, unterschiedliche körperliche Orientierungsmöglichkeiten zu rekonstruieren. Die dominante Orientierung („frame of dominant orientation“, Robinson 1998), 7 kommuniziert den Ort der langfristigen, dominanten Aktivitäten; bei divergierenden Orientierungen eines Interaktanten signalisieren die unteren Körperteile (Beine und Rumpf) stärker die dominante Orientierung als Kopf und Augen. Wenn beispielsweise der Arzt seinen Blick dem Patienten zuwendet, sein Körper aber weiterhin nach vorn zum Tisch gerichtet ist, zeigt er dadurch die kurzfristige Relevanz seines Verhaltens und die baldige Rückkehr zu Aktivitäten im Rahmen der dominanten Orientierung (Robinson 1998, S. 104). Die unterschiedlichen Ausrichtungen des Blicks und des Körpers oder auch der Gesten können deutlich machen, dass die Beteiligten mit verschiedenen Aktivitäten gleichzeitig beschäftigt sind (siehe auch Bolden 2003). Robinsons Untersuchung zur Anfangsphase der medizinischen Beratung (1998) demonstriert, wie die Blick- und Körperorientierung des Arztes und des Patienten sowohl zueinander als auch zu den durchzuführenden Handlungen in Beziehung stehen. Durch die Blickrichtung können die Sprecher die Aufmerksamkeit des Gesprächspartners auf wichtige Gesten lenken. Streeck (1993) hat gezeigt, wie Sprecher ihren Blick vom Adressaten auf ihre Hände richten und damit signalisieren, dass die kommende Geste für das Verstehen ihrer Äußerung besonders relevant und bedeutungsvoll ist. Solche Blickbewegungen haben eine zeigende Funktion; sie ziehen den Blick des Partners auf eine bestimmte Stelle und tragen so zur Etablierung des Orientierungspunkts bei. Zwischendurch kann der Sprecher seinen Blick zum Gesprächspartner wenden, um zu sehen, wie die Geste von ihm beachtet und behandelt wird. 8 6 Goodwin (1986) beschreibt das Zusammenspiel von Gestikulation und Blickverhalten bei der Organisierung gemeinsamer Orientierung in Alltagsgesprächen; Kangasharju (1996) behandelt die Rolle des Blicks bei der Bildung von Teams in Meetings. 7 Siehe auch Goodwin (1981), Kendon ([1985] 1990) sowie Schegloff (1998). 8 Siehe auch Hayashi (2005), der die koordinierende Funktion von Blicken hervorhebt. Blickorganisation in der side-by-side-Positionierung 229 Schließlich kann der Blick dazu eingesetzt werden, den Gesprächspartner bei der Wortsuche zur Äußerungsproduktion einzuladen oder davon abzuhalten (Goodwin/ Goodwin 1986, Hayashi 2003). Besonders wichtig ist diese Funktion in der Kommunikation mit Beteiligten, deren sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten beschränkt sind, wie z.B. mit Aphasikern (Laakso/ Lehtola 2003). Dies ist ein Forschungsbereich, in dem sich die Notwendigkeit zeigt, konversationsanalytische Untersuchungen durch eine multimodale Perspektive zu erweitern (siehe u.a. Laakso 1997 und den von Goodwin 2003 herausgegebenen Sammelband). Mit der zunehmenden Beschäftigung mit Videoaufzeichnungen ist das Blickverhalten auch in den Analysen anderer Interaktionssituationen stärker fokussiert worden. Systematische Untersuchungen, die auf die Rekonstruktion des gesamten Spektrums interaktionskonstitutiver Implikationen der Blickorganisation abzielen und die vielfältigen Unterschiede, die sich unter dem Oberbegriff „Blickorganisation“ verbergen (sich anschauen, kurzen Blickkontakt haben, für einen Moment aufblicken, aus den Augenwinkeln bemerken, den Kopf wenden etc.) gibt es jedoch kaum. In den meisten Untersuchungen zur Blickorganisation geht man zudem von einer „face-to-face“-Konstellation der Beteiligten aus. Die analysierten Situationen sind typischerweise Zweierkonstellationen. 9 Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich hingegen mit einer Situation, in der die Beteiligten nicht nur vornehmlich nebeneinander stehen, sondern zudem auf vor ihnen liegende Objekte orientiert sind. 10 Bei dem der Analyse zugrunde liegenden Videoausschnitt handelt es sich um ein Messegespräch zwischen der Vertreterin einer finnischen Firma und zwei deutschen Kunden; das Gespräch dient also zum Durchführen bestimmter institutioneller Aufgaben (im Sinne von Drew/ Heritage 1992). Die Beteiligten blicken immer wieder zu dem/ der InteraktionspartnerIn, die gemeinsamen Blickkontakte sind jedoch sehr kurz (was mit den Ergebnissen von Kendon 1967 übereinstimmt). Es gibt auch kurze Phasen, in denen sie sich ganz einander zuwenden. Die Interkulturalität ist im Folgenden kein Analysegegenstand, sie spielt eventuell nur insofern eine Rolle, als es sich um ein Gespräch zwischen zwei Muttersprachlern und einer Nichtmuttersprachlerin handelt; die Interlingualität wird von den Beteiligten im Verlauf des Gesprächs auch relevant gesetzt. 9 Vergleiche jedoch Goodwin (1981, 1986) und Hayashi/ Mori/ Takagi (2002). 10 Der Zusammenhang von Körperpositur und Aktivitäten wird schon von Scheflen ([1964] 1972) behandelt, der zwei Typen von Körperorientierung unterscheidet: vis-à-vis und parallel. Liisa Tiittula 230 2. Datengrundlage Das Material stammt aus einem Korpus von deutsch-finnischen Messegesprächen, die 2003-2004 auf einer internationalen Messe in Deutschland im Rahmen des Projektes „Soziale Stile und institutionelle Interaktion in interkulturellen Kontaktsituationen“ 11 aufgenommen wurden. Es handelt sich um Fachmessen; die Aussteller sind Produzenten verschiedener Designartikel, die Kunden häufig Besitzer kleiner Boutiquen, aber auch Einkäufer, Vertreter von Kaufhäusern usw. Die Gespräche finden also zwischen Professionellen statt, die in ihren beruflichen Rollen agieren. Die Kunden besuchen die Messe, um neue Verkaufsartikel zu finden und ihre Auswahl zu ergänzen. Die Präsentation von Waren ist eine zentrale Aufgabe der Firmenvertreter, und sie fungieren dementsprechend in den Gesprächen als Fokusobjekte, d.h., die meiste Zeit über ist die gesamte Aufmerksamkeit der Beteiligten auf die Waren gerichtet und diese Objekte stehen im Fokus der gesamten multimodalen Orientierung: Über sie wird gesprochen, sie werden präsentiert, betrachtet, angefasst, geprüft und auf sie wird gezeigt, sie werden hin und her gereicht; ihnen wendet man sich zu, zu ihnen beugt man sich hinunter etc. Auf der Messe wird oft eine ganze Palette von Artikeln, aber probeweise in kleinen Mengen bestellt; verkauft sich die Ware gut, kann eine Nachbestellung erfolgen. Bei der Erteilung und Entgegennahme von Bestellungen spielen Kataloge und auszufüllende Bestellformulare eine wichtige Rolle. Das ganze Gespräch dauert ca. 26 Minuten. Es findet zwischen der Vertreterin einer finnischen Firma und zwei deutschen Altkunden, Besitzern eines kleinen Designgeschäfts, statt. Die Kunden, ein älteres Ehepaar, sind der Vertreterin bekannt; sie haben jedoch seit längerer Zeit mit der Firma keine Geschäfte getätigt, und die Beziehung muss reetabliert werden. Vor Beginn des Mitschnitts hat sich der Kontakt zwischen den Beteiligten schon angebahnt. Die Aufnahme beginnt bei der Etablierung des relevanten Kontextes für die geschäftliche Transaktion: Notwendige Unterlagen werden hergeholt, auf einen Tisch gelegt, auf dem auch einige Produkte liegen. Die Beteiligten platzieren sich dicht nebeneinander an den schmalen Tisch und richten ihre Aufmerksamkeit auf die vor ihnen liegenden Objekte. Der zur Verfügung stehende Raum ist eng; für die Verkaufsgespräche sind größere Tische vorgesehen, die in dem Moment jedoch nicht frei sind. 11 Siehe genauer: www.uta.fi/ ~liisa.tiittula/ style/ index_de.htm (Stand: Dezember 2006) . Blickorganisation in der side-by-side-Positionierung 231 Das Geschäft wird in erster Linie zwischen der Vertreterin und der Kundin abgewickelt, während der Mann lediglich zur Unterstützung dabei steht. Eine aktive Rolle übernimmt er vor allem dann, wenn die Interaktionsmodalität vom Ernsthaften zum Humor wechselt, sowie in Phasen expliziter Beziehungskonstitution. Es handelt sich also um eine Dreierkonstellation, die sich vorwiegend als eine Interaktionsdyade etabliert, zeitweise aber zur Dreierkonstellation expandiert. Die geschäftliche Transaktion enthält verschiedene Handlungen: z.B. werden Produkte präsentiert, Meinungen und Informationen eingeholt, Vorschläge gemacht, Bestellungen aufgegeben und entgegengenommen. Bei der Aufnahme der Bestellungen werden Formulare mit Warenkodes und Mengenangaben ausgefüllt; diese Phasen laufen zum großen Teil routinemäßig ab. Diese Routine zeigt sich beispielsweise in der Kürze der Formulierungen und in der Suspendierung der Präferenz für Zustimmung vor Ablehnung. Neben den rein geschäftlichen Aufgaben wird Beziehungsarbeit geleistet und gescherzt. 3. Fragestellungen und Aufbau des Beitrags Um die verschiedenen Formen der Blickorganisation anhand des Beispielfalls zu rekonstruieren, wird folgenden Fragen nachgegangen: - Welche unterschiedlichen Formen der blickbasierten Zuwendung auf den/ die anderen kommen vor? - Wie ist die wechselseitige Wahrnehmung organisiert? Dies ist eine wichtige Frage, da die Beteiligten die meiste Zeit nebeneinander stehen, wobei ihre Grundorientierung auf die vor ihnen liegenden Waren (die Fokusobjekte) gerichtet ist. - In welchen Handlungszusammenhängen erfolgt welche Blickorganisation? Welche Relation besteht zwischen der Blickausrichtung, den Körperbewegungen und den jeweiligen Kernaktivitäten? Dies ist ein wichtiger Aspekt, da sich die Positionierung zueinander phasenweise ändert und die Beteiligten sich dann aufeinander orientieren. - Welche Rolle spielt der Blick bei der Herstellung der unterschiedlichen Beteiligungsweisen? Wie entsteht aus einer Dreierkonstellation ein Interaktionsmodus von zwei Personen? Wie wird diese Interaktionsform zustande gebracht und wieder aufgelöst? Liisa Tiittula 232 Obwohl die Blickorganisation im Fokus steht, müssen natürlich der ganze Interaktionsvorgang und die verschiedenen Modalitäten in ihrer Relation zueinander einbezogen werden (vgl. Schmitt 2005). Berücksichtigt werden folgende Koordinationsaufgaben: - intrapersonelle Koordination: 12 die Koordination des Blicks mit dem Verbalen und anderen modalen Ausdrucksformen, insbesondere mit der Körperpositur einzelner Beteiligter; - interpersonelle Koordination: die Koordination mit den Aktivitäten der anderen jeweils relevanten Interaktionspartner. Im Folgenden wird zuerst ein kurzer Ausschnitt vom Beginn des Gesprächs analysiert, der sich handlungsschematisch in sechs Phasen gliedern lässt: (1) Zunächst wird der relevante Kontext etabliert, (2) dann der Gegenstand der Warenpräsentation eingeführt. (3) Die Geschäftsbeziehung wird noch verdeutlicht, bevor der eigentliche Businesstalk beginnt. (4) Er wird mit einer Frage nach den Preisen eingeleitet und (6) mit der Präsentation eines Katalogs fortgesetzt. Zwischen den beiden letzten Segmenten wird (5) eine Nebensequenz konstituiert, die nicht arbeitsbezogen ist und sich dadurch von den anderen Phasen unterscheidet. Nach der Analyse dieser sechs Phasen folgt ein Fazit der Ergebnisse. Um die Besonderheiten der Phasen der Kernaktivität, d.h. der geschäftlichen Transaktion, zu verdeutlichen, wird zum Kontrast eine arbeitsentlastete Phase analysiert, in der die deutschen Kunden der finnischen Messevertreterin ein deutsches Wort „beibringen“. Abschließend werden die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst und einige Implikationen für die weitere Forschung behandelt. 4. Analyse In diesem Abschnitt werden ca. zwei Minuten vom Anfang des Gesprächs im Detail analysiert. Die Analyse beginnt mit dem Moment, in dem die finnische Messevertreterin aus einer Kabine für die geschäftliche Transaktion wichtige Unterlagen holt und zu den wartenden Kunden zurückkommt. Der Anfang ist interessant, weil die Beteiligten sich hier positionieren und ihre grundlegenden Beteiligungsweisen etablieren. 12 Zu den Begriffen „intra-“ und „interpersonelle Koordination“ siehe Deppermann/ Schmitt (i.d. Bd.). Blickorganisation in der side-by-side-Positionierung 233 4.1 Etablierung des relevanten Kontextes Zu Beginn der Aufzeichnung stehen alle drei Beteiligten zusammen, bevor die finnische Messevertreterin Minna die Kunden für einen Moment verlässt und nach hinten geht. Die beiden Kunden sind zunächst auf sich orientiert, blicken zwischendurch in die Kamera und drehen sich dann weg zu etwas, was ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht. Von hinten kommt Minna mit einem dicken Katalog und einem Bündel Bestellformulare zurück. Sie trägt diese Objekte fast wie ein Tablett auf ihrem linken Arm. Mit der rechten Hand, in der ein Stift steckt, hält sie sie von oben fest, so dass nur die ausgestreckten Finger die Papiere berühren, als ob sie auf etwas zeigen würde (Abb. 1). Abb. 1: Präsentieren des signifikanten Objekts Minnas Blick ist auf die Papiere gerichtet, und in ihrem Gesicht ist ein strahlendes Lächeln. Der Katalog wird auf eine präsentative Art herangetragen; der Auftritt wäre ganz anders, hätte sie den Katalog beispielsweise unter einen ihrer Arme geklemmt. Die beiden Kunden sind auf Minna ausgerichtet und folgen dem von ihr „dargebotenen“ Katalog erwartungsvoll mit ihren Blicken. In der Art und Weise wie die Blickorganisation hier stattfindet, spiegelt sich die Qualität und Spezifik der Beziehungen wider: Die Interaktion ist objektbezogen, es handelt sich um Arbeitskontakt. Die Orientierung der Beteiligten ist auf den präsentierten Katalog gerichtet; er ist ein „signifikantes Objekt“ (Schmitt/ Deppermann i.d. Bd.), das die Ausrichtung der Beteiligten anzieht und die Interaktion insgesamt mitstrukturiert. Minnas Auftritt ist für die weitere Konstitution der Interaktion von Bedeutung. Die Art und Weise wie eine Person den Schauplatz betritt, beinhaltet vieles: Wer sie ist, was sie macht und was für eine Beziehung sie zu den an- Liisa Tiittula 234 deren hat. Minna zeigt, dass sie etwas anzubieten hat, und ihre Gesprächspartner folgen ihr; sie hat die Initiative und strukturiert weitgehend die Situation. Ihr strahlendes Lächeln, das mit der räumlichen Annäherung zusammenfällt, scheint die anderen anzustecken. Die durch ihr Lächeln initiierte Interaktionsmodalität wird im weiteren Verlauf des Gesprächs aufrechterhalten und prägt die Atmosphäre als freundlich. Minna geht an den Kunden vorbei. Sie entschuldigt sich beim Gehen (dass sie die Kunden hat warten lassen), und das Lächeln löst sich auf. Sie blickt nach vorne auf die Stelle, wo die Transaktion stattfinden soll, und will die Unterlagen ablegen. Ausschnitt 1 01 Minna: entschuldigung. 02 noch die- 03 (1.6) (leg) das nun da- Sie hält die Unterlagen jetzt in beiden Händen, dreht sich Platz suchend um, blickt dann in die vor ihr stehende Kamera; die Kamerafrau ist die unmittelbare Adressatin der folgenden Äußerung. 04 (1.8) ich glaube ich komme hier, ((lacht)) Der Blickkontakt zur Kamera erfolgt bei ich glaube ich. Danach richtet sie den Blick nach unten, macht bei hier eine zeigende Nickbewegung zu der Stelle, wohin sie die Papiere gleich legen wird, und hebt ein bisschen die Augenbrauen, so dass das Ende der Äußerung neben der prosodischen Betonung auch eine gestische bekommt. An die Kamerafrau stellt die Äußerung ich komme hier eine Aufforderung dar, die impliziert „und du gehst da weg“: Das Geschäftliche hat Vorrang und darf nicht durch die Aufnahme gestört werden. Der daran angehängte Lachansatz indiziert, dass das Äußern einer Aufforderung (eventuell verbunden mit Kritik) delikat ist (vgl. Haakana 1999). Außer in dieser Anfangsphase, in der der Platz für die Warenpräsentation hergerichtet wird, scheint die Kamera für die Beteiligten keine besondere Relevanz zu besitzen. Obwohl die Kamera (und die Kamerafrau) ganz nah an dem Geschehen dran ist, wird sie weitgehend ignoriert. Die Beteiligten sind aufgabenorientiert und setzen die Kamera vor allem dann relevant, wenn sie sie an ihrer Arbeit hindert. Außerhalb der Kernaktivität, vor und nach dem eigentlichen Geschäftsgespräch, nehmen die Beteiligten die Ka- Blickorganisation in der side-by-side-Positionierung 235 mera zur Kenntnis. So wird die Kamerafrau zur Lösung eines sprachlichen Problems zu Rate gezogen, was zeigt, dass sich die Beteiligten ihrer Anwesenheit durchaus bewusst sind. 13 Minna legt die Unterlagen auf einen schmalen Tisch, auf dem auch einige Produkte liegen. Dann beginnt sie eine Begründung ihrer vorangegangenen Äußerung ich komme hier. 05 (1.8) weil- 06 SL: oh entschuldigung. 07 NN: no Im Transkript sieht es so aus, als würde Minna von SL unterbrochen. Nach dem sie die Papiere auf den Tisch gelegt hat, beginnt sie sie einzuordnen. Sie ist nach unten gebeugt und mit dem Ordnen beschäftigt, als sie das Wort weil äußert. Ihre Äußerung ist nicht nur in einen nicht sprachlichen Aktivitätszusammenhang eingebettet, sondern scheint diesem auch untergeordnet zu sein und ihre Hauptaufmerksamkeit zu binden. Die Äußerungen in Z. 06- 07 werden zwischen Personen gewechselt, die nicht zu den unmittelbar Beteiligten gehören. SL ist eine Beobachterin, die sich gleich wieder aus dem Interaktionsraum entfernen wird. NN ist entweder eine vorbei gehende Person oder die Kamerafrau. Hier wird also die Grenze deutlich zwischen dem eigentlichen Interaktionsraum und der Peripherie (Schmitt/ Deppermann i.d. Bd.), die durch die Abwendung der finnischen Vertreterin von der Kamera und das Zurückziehen der Beobachterinnen konstituiert wird. Die Kunden organisieren sich jetzt neu: Die Kundin, die am Ende des Tisches schräg gegenüber von Minna steht, nimmt die Tasche von ihrer Schulter, bewegt sich an ihrem Mann vorbei, stellt sich neben Minna und legt die Tasche unter den Tisch. Minna nimmt diese Bewegung und Änderung in der Positionierung mit einem kurzen Seitenblick wahr, d.h., der Körper bleibt nach vorn gerichtet, während sie den Kopf zur Seite zu den Kunden und sofort wieder nach unten wendet. Ein Seitenblick macht die Grundposition und dominante Orientierung deutlich (Schegloff 1998). 13 Der Einfluss der Kamera zeigt sich auch darin, welcher Ausschnitt der Interaktion dokumentiert wird. So fokussiert die Kamera bei dieser Aufnahme die oberen Körperteile der Beteiligten, was zur Folge hat, dass der Tisch, die darauf liegenden Objekte und das Hantieren mit den Objekten nicht im Bild sind. Von den Personen stehen die unmittelbar Involvierten im Mittelpunkt; der Kunde ist z.B. nicht die ganze Zeit zu sehen. Zur Bedeutung der Kamera für die Datenkonstitution siehe genauer Schmitt/ Fiehler/ Reitemeier (i.d. Bd.). Liisa Tiittula 236 Der Blick der Kundin ist nach unten auf den Tisch gerichtet, und als Minna ihren Kopf zu ihr hinwendet, richtet sie den Blick auf die Papiere vor Minna. 14 Der Kunde platziert sich nun neben seiner Frau, seitlich etwas hinter ihr, greift mit der linken Hand an den Tisch und beugt sich leicht über Minnas Unterlagen. Die Kundin legt beide Daumen auf den Tisch. Nun ist der Interaktionsraum etabliert, 15 die Beteiligten haben sich dicht aneinander in eine „side-by-side“-Konstellation positioniert. Auch die gemeinsame Ausrichtung ist abgeschlossen, und alle drei orientieren sich auf die Unterlagen (Abb. 2). Abb. 2: Grundposition und Orientierung auf gemeinsame Fokusobjekte Sehen wir uns nun das Transkript an: 08 (2.8) 09 Minna: ich habe eben kein tisch frei hier. 10 Kundin: ja. 11 Kundin: dann machen wir das jetzt hier. 12 Minna: ja. (.) 13 und das ist auch die falsche seite- 14 aber das macht ja nichts. 15 können wir auch damit anfangen. (.) 16 das ist (form)papier. (.) 17 so: . 14 Vgl. die Beobachtungen von Streeck (1993, 2003) zur Änderung der Blickrichtung in solchen „turns“, in denen die Aufmerksamkeit (und manchmal der Blick) des Interaktionspartners auf eine Bewegung gelenkt wird. 15 Zur Herrichtung eines Interaktionsraumes zur Durchführung bestimmter Aktivitäten siehe auch Mondada und Müller/ Bohle (i.d. Bd.). Blickorganisation in der side-by-side-Positionierung 237 Minna ist mit dem Einordnen der Papiere beschäftigt, was die lange Pause in Z. 08 erklärt. Vor der Äußerung (Z. 09) wendet sie ihren Kopf zu den Gesprächspartnern, so dass der Blick auch den Mann erreicht, der etwas hinter seiner Frau steht. Bei eben geht der Blick wieder nach unten. Die Äußerung ist die Begründung, die schon weiter oben mit weil (Z. 05) projiziert wurde. Die Änderungen der Körperposituren und Minnas Seitenblick zu den Kunden machen deutlich, dass die Begründung nicht an die Kamera sondern an die Kunden adressiert ist. Dadurch wird die Doppeladressierung der früheren Äußerung ich komme hier erkennbar: Neben der Implikation für die Kamera verbalisiert sie den relevanten Interaktionspartnern die Platzierung der gleich beginnenden geschäftlichen Transaktion. Minna ist also diejenige, die den Raum organisiert, und die anderen folgen ihr, auch verbal, wie man an der Bestätigung der Kundin in Z. 10-11 sieht. Ab die falsche seite (Z. 13) beugt sich Minna weiter nach vorn über die Papiere. Die Bewegung und die Äußerung fokussieren die Aufmerksamkeit noch stärker auf die Unterlagen. Mit der Partikel so am Ende des Beitrags (Z. 17) markiert Minna, dass sie mit den Vorbereitungen gleich fertig ist. Die Äußerung ist gedehnt, was mit der weiterhin gebeugten Körperhaltung und dem Blick nach unten den Übergangscharakter deutlich macht: Gleich kann es losgehen. Minna ist hier mit Vorbereitungs-Aktivitäten beschäftigt, denen die anderen zusehen. Diese Aktivitäten strukturieren die Situation und definieren den aktuellen Aufmerksamkeitsfokus. Auch die Kunden orientieren sich auf diese Aktivitäten, wodurch ein gemeinsamer Fokus etabliert wird. Dabei ist die Blickorganisation von besonderer Bedeutung; die Initiative geht von Minna aus, und die anderen folgen ihr. Der Blick wird auf den Katalog und die Bestellformulare, auf das Geschäftliche fokussiert. In dem bis jetzt analysierten Ausschnitt hat es noch keinen einzigen Blickkontakt zwischen Minna und den Kunden gegeben. 4.2 Beginn des Businesstalks: Etablierung des Präsentationsgegenstands Während Minna weiterhin mit den Papieren beschäftigt ist, stellt die Kundin eine Verstehensfrage zum Katalog und thematisiert den Gegenstand der Warenpräsentation. Liisa Tiittula 238 18 Kundin: das ist jetzt [<design] point.> ((engl. Ausspr.)) 19 Minna: [(el-) ] 20 eben- 21 Kundin: das ist ja jetzt [neu,] 22 Minna: [ja. ] Bei Beginn der Äußerung (Z. 18) hebt die Kundin ihren Kopf ein bisschen zu Minna. Die nach vorn gebeugte Minna dreht den Kopf bei jetzt schnell zu ihr, und die Kundin blickt darauf hin zu ihr. Nachdem sich die Blicke getroffen haben, schaut Minna sofort wieder nach unten, so dass der Blickkontakt nur ganz kurz bei der Silbe sign besteht (Abb. 3) und 0,2 Sekunden dauert. Die Äußerung ist nicht als Frage formuliert, fordert aber durch die Prosodie und den Blick zu einer Bestätigung auf. Minnas Blickzuwendung folgt der minimalen Körperbewegung der Kundin, und der Blick erreicht die Kundin vor deren Blick. Dieser kurze Blickkontakt reicht, um „availability“ zu signalisieren. Durch die Blickorganisation der beiden Frauen und die Positur der Kunden etabliert sich die Beteiligtenkonstellation als eine Dyade; der Mann legt die Arme auf den Rücken (Abb. 3) und nimmt eine Beobachterposition ein. de sign point Abb. 3: Die Kundin fragt: das ist jetzt <design point.> Nach dem Wort point wendet auch die Kundin ihren Blick ab, bückt sich nach unten zu ihrer Tasche, um eine Visitenkarte zu holen. Die Bewegung geht der verbalen Äußerung ich geb ihnen jetzt noch mal das kärtelchen voran, die in der folgenden Phase das Thema Sich-Kennen einleitet; die Geste bereitet die Szene für die kommende Handlung und Äußerung vor (Schegloff 1984). 4.3 Verdeutlichung der Geschäftsbeziehung Die Kundin sucht nach der Karte in der Tasche (Z. 23-28), findet sie aber nicht gleich. Die Phase beginnt mit ihrer Äußerung ich geb ihnen jetzt noch mal das Kärtelchen. Mit noch mal gibt sie einen impliziten „account“ für die Blickorganisation in der side-by-side-Positionierung 239 relevante Kategorie, die sie der gemeinsamen Interaktion zu Grunde legt, d.h. „bekannte Kundin“. Minna ratifiziert diese implizite Kategorisierung mit expliziten Äußerungen: Herr Kunze, der in Deutschland ansässige und für deutsche Kunden zuständige Vertreter, weiß natürlich, wer die Kunden sind; wir wissen das alles und wir wissen wer sie sind. Beide Beteiligte stellen überlappend die Unnötigkeit der Karte fest, und die Phase, bei der der Fokus auf der wechselseitigen Kategorisierung liegt, wird gemeinsam beendet. 23 Kundin: ich geb ihnen jetzt noch mal das 24 kärtelchen dass=wer das vielleicht 25 [(jetzt immer )] 26 Minna: [herr kunze weiß das natürlich alles; ] 27 wir [wissen] das alles; 28 Kundin: [genau ] 29 (sie wissen das [ja auch)] 30 Minna: [so das ] ist [eigentlich ] 31 Kundin: [alles klar.] 32 Minna: unwichtig- 33 [wir wis ]sen- 34 Kundin: [jajajaja.] 35 Minna: wer sie sin[d. ((lacht))] 36 Kundin: [jajaja. ] 37 okee. 38 Minna: so. 39 (2.0) Zu Beginn sind beide Frauen nach unten gebeugt: Minna zu den Papieren und die Kundin zu ihrer Tasche. Erst bei natürlich (Z. 26) wendet Minna den Kopf zu den Kunden und richtet sich auf. Der Blick ist zuerst an den Kunden gerichtet, der sie als erster ansieht, und geht bei alles zu der Kundin, wobei ihr Körper schon ganz aufgerichtet ist und sich etwas zur Kundin dreht. Die Körperpositur unterscheidet diese Phase deutlich von den vorangehenden. Die Kundin wendet den Kopf jetzt auch zu Minna, ihr Körper bleibt aber auf die Tasche gerichtet. Der Blickkontakt zwischen ihnen ist sehr kurz, 0,6 Sekunden, denn die Kundin wendet den Kopf bei wir (Z. 27) wieder zu ihrer Tasche. Minnas Blick geht jetzt zum Kunden (bei wissen Z. 27) und bei das wieder nach unten. Alle sehen nun nach unten, die Kundin stellt ihre Tasche zurück auf den Fußboden: Die Karte wird nicht gebraucht (Z. 29). In Z. 30 und 32 expliziert Minna die Unwichtigkeit der Identifikation mittels Karte Liisa Tiittula 240 und richtet den Blick bei eigentlich (Z. 30) wieder an die Kundin, bei unwichtig (Z. 32) an den Kunden und dann sofort wieder nach unten; die Blicke beider Kunden sind weiterhin nach unten gerichtet. Minna versichert noch einmal die Bekanntschaft (Z. 33) und wendet ihren Kopf bei wissen zu den Kunden. Der Kunde richtet seinen Blick zuerst an Minna, und bei sind (Z. 35) blickt auch die Kundin sie an; Minna jedoch wendet ihren Kopf nach unten, so dass sich die Blicke kaum treffen. Auch die beiden Kunden schauen gleich danach wieder nach unten: zuerst der Mann, dann die Frau. Während Minna ihren Kopf von der Kundin wegdreht, ist in ihrem Gesicht ein Lächeln zu sehen, das in der Stimme bei der Äußerung wer sie sind (Z. 35) auch zu „hören“ ist (weil sie von der Kamera abgewandt ist, lässt sich der Anfangspunkt des Lächelns nicht genau feststellen). Das Lachen setzt erst nach der Abwendung des Blicks an. 16 Die Kundin hat Minnas Lächeln wahrgenommen und lächelt jetzt auch. Gleichzeitig mit ihr beginnt auch der Mann zu lächeln. Die Kundin wendet bei jajaja (Z. 36) ihren Kopf nach unten, gleichzeitig löst sich das Lächeln in ihrem Gesicht. Ihre zustimmenden Rückmeldesignale werden hier so wie auch an anderen Stellen dieser Phase mit Nicken begleitet. So kann sie auch ohne Blickkontakt ihre Beteiligung durch mehrfache Rückmelder und Gestik deutlich machen. Mit den jajas, dem okee und der Blick- und Kopfwendung zu den Objekten initiiert die Kundin die Rückkehr zum Kerngeschäft. Minna dreht bei so (Z. 38), das die Beendigung der Phase markiert, ihren Körper noch etwas von der Kundin weg. Ihre Orientierung ist jetzt ebenfalls auf die Waren gerichtet, sie lächelt aber noch bei so. Der Übergang von der Beziehungsarbeit zum Kerngeschäft läuft fließend und überlappend. Die Interaktionsmodalität zeichnet sich hier durch eine Verdichtung der Blicke ins Gesicht der Gesprächspartnerin/ des Gesprächspartners und Lächeln bzw. Lachen aus. Die Blicke halten länger als in der vorangegangen Phase, treffen sich jedoch auch hier nur kurz. Die Messevertreterin richtet an allen Stellen zuerst ihren Blick an den/ die GesprächspartnerIn und sieht sie auch häufiger an als umgekehrt. Obwohl die Kundin sonst bei den geschäftlichen Gesprächen die primäre Interaktionspartnerin ist, wird hier durch einen „Mikroblick“ auch der Mann einbezogen und mitgemeint (wir wissen wer sie sind ). Die Dyade hat sich also erweitert; der Mann ist hier ebenfalls Ad- 16 Dies stimmt mit Kendons Befund ([1967] 1990) überein, dass je mehr gelächelt wird, desto geringer der gemeinsame Blickkontakt ist. Blickorganisation in der side-by-side-Positionierung 241 ressat. Allerdings ist sein Beteiligtenstatus auch hier anders als der seiner Frau. Er begleitet das Geschehen nur durch Blicke und Lächeln. Zusammen präsentieren sich die Kunden als Tandem mit klarer Arbeitsteilung, was an der Platzierung und ihren Körperposituren deutlich wird: Er hält die Arme hinten, sie nach vorne oder bewegt sie. Zu beachten sind auch Minnas Körperbewegungen: Bei ihrer ersten Äußerung richtet sie sich auf und wendet sich ein bisschen den Kunden zu (der Unterkörper und die Beine bleiben in der Grundposition), am Ende der Phase wendet sie sich ab, und alle sind wieder nach vorne auf die auf dem Tisch liegenden Objekte orientiert. Durch ihren Blick verschiebt sie den Fokus von den Objekten zu den Beteiligten und wieder zurück, wobei die Gesprächspartner ihren Fokussierungen folgen. Neben der Kürze des Blickkontaktes fällt das Timing der Blicke auf: Wenn die eine Partei die andere ansieht und diese den Blick ihr zuzuwenden beginnt, bewegt die erste Partei ihren Blick genau in dem Moment weg, so dass sich die Blicke kaum treffen (Abb. 4). Diese Form interpersoneller Koordinierung der Kopf- und Blickbewegungen wiederholt sich später systematisch. sin d heh ja Abb. 4: Kurzes Treffen der Blicke? wer sie sind hehheh - jajaja Von einer Koordinierungsleistung der Beteiligten zeugen ebenfalls Änderungen der Körperposituren: In dem Moment, wo Minna sich aufrichtet (Z. 26), hebt die Kundin ihren Kopf, und am Ende der Phase wenden sie sich gleichzeitig voneinander etwas ab. Auffällig ist eine kleine, schnelle Handbewegung (Abb. 5), mit der die beiden Frauen die Unwichtigkeit der schriftlichen Identifikation betonen: zuerst Minna (bei das Z. 27), dann die Kundin (bei auch Z. 29). Die Geste ist vergleichbar und wird im gemeinsamen Gestenfeld, im Blickfeld der nach unten schauenden Interaktionspartnerin durchgeführt. Liisa Tiittula 242 wir wissen das alles sie wissen das ja auch 17 Abb. 5: Gleiche Handbewegung: „die Identifikation ist nicht nötig“ 4.4 Businesstalk: Frage nach den Preisen Die Verdeutlichung der Geschäftsbeziehungen ist beendet. Minna ordnet Papiere, und die Kundin geht zur Preisfrage über (dies knüpft an den in der Phase 2 schon initiierten Gegenstand der Warenpräsentation an). Minna ist mit dem Ordnen der Papiere jedoch noch nicht fertig und schiebt die Antwort auf die gestellte Frage hinaus, projiziert zugleich jedoch das Zeigen: ich zeige ihnen gleich. Die Orientierung aller drei richtet sich die ganze Zeit auf die Papiere. 40 Kundin: jetzt ist einmal die frage (n bisschen) 41 [nach den prei: : ]sen? 42 Minna: [gucken wir mal- ] 43 ich zeige das gleich, 44 (1.5) 45 Minna: so- 46 (1.3) Minna ist mit den Papieren beschäftigt, das Ordnen verlangt nun größere Bewegungen: Heben von Objekten von einer Stelle zur anderen. Von ihrer Seite sind bei diesen Aktivitäten keine Blicke zur Interaktionspartnerin möglich. Der Blick der Kundin ist nach unten vorne gerichtet. Am Ende ihrer und Minnas sich überlappender Äußerungen beobachtet sie mit einem kurzen Seitenblick, was Minna macht. Der Blick hat einen deutlichen Monitoringcharakter (siehe Schmitt/ Deppermann i.d. Bd.) und stellt eine wesentliche Voraussetzung für ihre interpersonelle Koordinierung dar: Sie richtet ihr eigenes Verhalten auf den kommenden gemeinsamen Handlungszusammenhang aus. 17 Die Zuordnung von Abbildung und Gesprochenem wird durch fett markiert. Blickorganisation in der side-by-side-Positionierung 243 Minnas so in Z. 45 bezieht sich kommentierend auf ihre Aktivitäten, mit denen sie gerade beschäftigt ist. Da sie mit ihrer Selbstorganisation und der Vorbereitung der Präsentation okkupiert ist, steht sie an dieser Stelle für den verbalen Austausch mit den Kunden nicht zur Verfügung. Die Kundin ihrerseits blickt nach vorn, so dass die Frauen beide für sich da stehen (Abb. 6). Die Kundin wendet sich zu ihrem Mann und bildet mit ihm eine neue Dyade (Abb. 7). Abb. 6: Jede für sich Abb. 7: Dyade zwischen Mann und Frau 4.5 Nebensequenz: Enkelkinder Es folgt eine Nebensequenz, in der die Kundin ein privates Thema einführt: „leider sind die Enkelkinder für die vor den Beteiligten liegenden Kindersachen schon zu groß“. Durch das Bedauern werden die Produkte bewertet, und Minna wird zur Adressatin der weiteren Redebeiträge der Kundin. Sie beteiligt sich jedoch nur mit kurzen, ratifizierenden Rückmeldungen an diesem Thema, wobei ihre affirmativen Rückmeldesignale durch eine „empathische“ Prosodie zusätzliches Gewicht bekommen. 47 Kundin: schade. 48 jetzt sind die enkel[kinder zu groß; ne? ] 49 Kunde: [(ja die sind zu groß)] 50 Kundin: ((lacht)) 51 Minna: ach; 52 Kundin: könn wer das nich mehr (an) unsre enkelkindern vermachen; 53 Minna: ja: : [also- ] 54 Kundin: [(die sind)] schon zu groß. 55 Minna: eben; eben; (.) Nach dem Austausch der Äußerungen zwischen den Ehepartnern in Z. 47-49 wendet sich die Kundin von ihrem Mann ab und wieder nach vorne; auf den Liisa Tiittula 244 Tisch blickend, beugt sie sich etwas zu Minna und lacht. Dadurch markiert sie, dass das leise Tuscheln zwischen ihr und ihrem Mann einen persönlichen Charakter hatte, und bringt dafür einen „account“. Minna reagiert auf die Zuwendung und das Lachen der Kundin und wirft einen ganz kurzen Seitenblick in ihre Richtung, mit dem sie „availability“ signalisiert, und äußert bei der Zurückwendung des Kopfes lächelnd ach (Z. 51). Es sieht so aus, als hätte sie gar nicht mitbekommen, worum es geht, reagiert aber auf das angebotene Lachen. Das Lächeln bleibt im Gesicht beider Frauen bis zum Anfang der nächsten Phase und signalisiert die Interaktionsmodalität: Das Thema bewegt sich in einem privaten Bereich und kann auch delikat sein, da es das Alter der Kunden indiziert. Durch die Änderung der Körperposituren hat sich die Dyade zwischen Mann und Frau aufgelöst; unmittelbare Beteiligte sind jetzt wieder Minna und die Kundin. Der Mann beteiligt sich nicht an dem Wortwechsel, sein Blick ist nach unten auf den Katalog gerichtet. Die Kundin reformuliert - Minna adressierend - ihre Anfangsäußerung und wendet den Kopf bei unsre (Z. 52) nach vorn auf den Tisch. Minna schaut bei ja: (Z. 53) zu ihr, und die Kundin dreht ihrerseits den Kopf genau in dem Moment etwas in ihre Richtung, jedoch weiterhin nach unten blickend. Bei der „side-by-side“-Positionierung scheint zum Zeigen der gegenseitigen Orientierung die Zuwendung zu reichen: Sie wird wahrgenommen, auch wenn man sich nicht in die Augen sieht. Bei also wendet Minna den Kopf wieder ab, der Blick der Kundin bleibt auf den Papieren bis auf einen kurzen Moment, in dem er nach vorn gerichtet ist. Trotz der deutlichen körperlichen Orientierung aufeinander kommt es zu keinem Blickkontakt, da die Kundin nicht hochblickt. Diese Nebensequenz, in der der verbale Austausch nicht auf die Bearbeitung der geschäftsspezifischen Kernaktivität gerichtet ist, füllt die Zeit aus, die Minna für das Finden der richtigen Seite im Katalog braucht. Ihre kurzen Blicke zur Kundin mit den Rückmeldesignalen zeigen Rezeption und Ratifikation an, unterbrechen aber nicht ihre Aktivität beim Einordnen der Papiere. Sobald sie die richtige Seite gefunden hat, beendet sie die Sequenz mit eben eben (Z. 55) und kommt zum „Zeigen im Katalog“ zurück. Die dominante Orientierung von Minna ist also auch in dieser Nebensequenz auf das Geschäftliche gerichtet. Auch die Monitoringaktivitäten der Kundin beziehen sich ab Z. 52 auf Minnas Aktivitäten, so dass sie bereit ist, wenn die Blickorganisation in der side-by-side-Positionierung 245 Abwicklung der Geschäfte beginnt, was das Fehlen des Blickkontakts erklärt. Es handelt sich hier um eine Phase der Multiaktivität, in der die Beteiligten eine verbal eigenständige, von der Kernaktivität unabhängige Aktivität mit der Kernaktivität koordinieren. 4.6 Businesstalk: Katalog Nach dem ratifizierenden eben eben setzt Minna das „Zeigen im Katalog“ fort. Sie präsentiert den Kunden Produkte und beschreibt zugleich ihre Handlung. Die Beteiligten sind über den Katalog, das zentrale Fokusobjekt, gebeugt. 56 Minna: hier ist also die ganze kataloge? (.) 57 .hh die nur um diese kindersachen [geht? ] 58 Kunde: [hmm? ] 59 ja, 60 Kundin: hm? Mit ihrer Äußerung und Ausrichtung auf den Katalog zieht Minna die Orientierung der Kunden auf den Katalog. Die Kundin beugt sich etwas nach vorn, presst die Lippen zusammen und verzieht in konzentrierter Aufmerksamkeit den Mund. Bei um diese kindersachen (Z. 57) wendet Minna ihren Kopf zu den Kunden; sie scheint zuerst beide anzuschauen und dann die Kundin. Beide Kunden beginnen gleichzeitig zu nicken, und Minna wendet sich zurück zum Katalog. Das Nicken wird von beiden Kunden durch ein Rezeptionssignal ergänzt. Durch ihren Blick hat Minna den Mann einbezogen, der auch aktiv teilnimmt. 61 Minna: um das noch klarer zu machen; 62 und [bilder] so ein [biss]chen soideen- 63 Kundin: [achso.] [ja. ] 64 Minna: .hh noch- [und dann] kommen wir zur sache 65 Kundin: [ja? ] 66 Minna: porzellan, 67 Kundin: ja? Minna setzt ihre Präsentation fort, und alle konzentrieren sich auf den Katalog. Die Kundin beugt sich bei achso ja (Z. 63) noch weiter nach unten zum Katalog und legt ihren Finger auch kurz darauf (der Tisch und der Katalog sind im Bild nicht zu sehen, so dass eine genaue Beschreibung ausbleiben muss). Sie übernimmt hier die Rolle der primären Interaktionspartnerin, was Liisa Tiittula 246 an den häufigen Rezeptionssignalen und der Körperbewegung zu sehen ist: Durch ihr Vorbeugen läuft der Mann Gefahr, hinter ihrem Rücken zu verschwinden, und um den Katalog zu sehen, muss er ihrer Bewegung folgen. Nach dem Wort porzellan (Z. 66) kommt der Mann noch näher heran. Insgesamt manifestieren diese beugenden Bewegungen die konzentrierte Orientierung der Kunden. Das Zeigen im Katalog endet bei der Nennung eines Preises. 68 Minna: vierzehn fünfzig. 69 Kundin: das is richtig. 70 ja genau. (.) Mit vierzehn fünfzig beantwortet Minna die von der Kundin vor der Nebensequenz „Enkelkinder“ gestellte Frage nach den Preisen (Z. 40-41) für ein Kinderset, bestehend aus Tasse und Teller, das auf dem Tisch steht. Bei der Äußerung blickt sie kurz zur Kundin. Mit dem Ende ihrer Äußerung und dann kommen wir zur sache porzellan (Z. 64, 66) ändert sich die Blickorganisation der Kundin. Sie dreht den Kopf nach vorn, der Blick ist nach unten gesenkt. Beim Rezeptionssignal ja (Z. 67) blickt sie wieder zum Katalog. In dem Moment dreht Minna den Kopf zu ihr, und beide Frauen wenden sich gleichzeitig ab: Minna zum Katalog und die Kundin nach vorn. Beim Abwenden bestätigt die Kundin die Preisangabe mit das is richtig (Z. 69). Nach der zweiten Bestätigung ja genau (Z. 70) richtet sie den Blick wieder zum Katalog. Die sich verändernden Blickrichtungen indizieren eine Verschiebung des Fokus vom Katalog zu anderen Objekten. Die Phase endet mit dem Beginn der Bestellungshandlung. 71 da nehm wir vier stück? 72 (6.2) ((Minna schreibt)) Die Äußerung der Kundin ist mit einer steigenden Intonation realisiert, die Unabgeschlossenheit markiert: vier stück ist erst der Anfang der gesamten Bestellung, Fortsetzung folgt. Es ist aber das erste Paar eines „adjacency pair“, das eine Folgeaktivität (Annahme oder Abnahme) relevantsetzt. Minna nimmt die Bestellung kommentarlos auf: Sie bückt sich und beginnt zu schreiben. 18 18 Vgl. die Untersuchung von Clark/ Krych (2003) über Monitoring und Sprechen in einer Instruktionssituation. Die Untersuchung ergab, dass der Adressat weniger sprach, wenn der Instrukteur die Durchführung der Anweisungen beobachten konnte, als wenn der Arbeitsbereich für ihn verdeckt war. Blickorganisation in der side-by-side-Positionierung 247 An dieser Stelle konzentriert sich die Aufmerksamkeit der beiden Frauen auf die Schreibaktivität; die lange Pause ist also nur eine Sprechpause, keine Pause in der Interaktion (vgl. Schmitt 2004). Die Blicke der Kundin auf das Schreiben sind jeweils kurz; im Vergleich zu ihrem vorangehenden Blickverhalten handelt es sich hierbei um Kontrollblicke. In der ganzen Phase schaut Minna zweimal kurz ihre Gesprächspartnerin an. Die kurzen Kopfwendungen mit dem Blick erfolgen jeweils bei den wichtigsten Informationen, und zwar bei um diese kindersachen (Z. 57) und bei vierzehn fünfzig (Z. 68) (Abb. 8). Der Blick geht in den beiden Fällen vor dem Äußerungsende zurück, was vermuten lässt, dass dies nicht mit der „turn“-Organisation zu tun hat, sondern der Aufmerksamkeitsstrukturierung der Interaktionspartnerin dient. Bemerkenswert ist, dass in beiden Fällen sofort eine Reaktion kommt: 19 Nach dem ersten Blick nickt die Kundin dreimal, nach dem zweiten Blick einmal und gibt zudem explizite und expandierte verbale Rezeptionszeichen. Dieses Verhalten stimmt mit Goodwins (1981, 1984) Befund überein, dass Adressaten, die hinsichtlich ihrer freien Blickorientierung absorbiert sind, ihre Aufmerksamkeit und Zuhörerschaft auch durch Nicken und verbale Rückmeldesignale anzeigen. Abb. 8: diese Kindersachen Dieses Muster des Blickverhaltens, bei dem Minna die Interaktionspartnerin bei der Formulierung der wichtigsten Informationen kurz ansieht, diese jedoch nicht zurückblickt, wiederholt sich an vielen Stellen im weiteren Verlauf des Gesprächs und scheint systematisch zu sein. All diesen Phasen ist gemeinsam, dass es sich um kommunikative Routinen im Rahmen der Geschäftsabwicklung handelt. 19 Nach Bavelas/ Coates/ Johnson (2002) blickt der Sprecher den Hörer an den Schlüsselstellen der Erzählung an, um Rückmeldung von ihm einzuholen; siehe auch Kendon ([1967] 1990). Liisa Tiittula 248 5. Fazit der Analyse Am Anfang des Gesprächs ist der Auftritt Minnas, der zentralen Person, von besonderer Bedeutung. Die Art und Weise, wie sie die Objekte präsentiert und dabei ihre Hand hält, symbolisiert, worum es in dieser Situation geht. Das präsentative Tragen des Katalogs und der Papiere sowie ihre Blickrichtung lenken den Fokus auf das Objekt und organisieren die Orientierung der anderen Beteiligten. Schon in diesem kurzen Ausschnitt zeichnet sich ein systematisches Muster des Blickverhaltens ab, das sich im weiteren Verlauf des Gesprächs wiederholt. Die Gliederung in die verschiedenen Phasen sollte dazu beitragen, die lokale Spezifik der Blickorganisation herauszuarbeiten: In diesem Anfangsausschnitt wie im ganzen Gespräch besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem Blickverhalten und den durchzuführenden Aktivitäten. Vor allem die Phase der Verdeutlichung der Geschäftsbeziehungen unterscheidet sich von dem übrigen Geschehen, in denen die Beteiligten auf die vor ihnen liegenden Objekte orientiert sind und in denen es um Präsentieren, Zeigen im Katalog, Fragen nach Preisen und Bestellen geht. Die Beziehungsarbeit ist von der Orientierung auf die signifikanten Objekte entlastet; die Messevertreterin kann sich daher explizit auf die Kunden orientieren: Sie richtet sich auf, wendet ihren Oberkörper den Kunden zu und blickt beide mehrmals und auch länger an. Ausschlaggebend für die Blickorganisation ist die Orientierung: Sind die Beteiligten zueinander oder auf die Fokusobjekte orientiert? Die jeweilige Orientierung wird durch die Koordination unterschiedlicher Formen von Blickrichtung, Positionierung, Körperhaltung und Kopfhaltung und Kopfbewegung hergestellt und signalisiert. Da die Beteiligten dicht nebeneinander stehen, scheinen kleine Änderungen in der Körper- oder Kopfhaltung und minimale Zuwendung oder Nicken des Kopfes für die gemeinsame Koordination zu reichen: Man nimmt wahr, was der andere macht, auch wenn man ihn nicht ansieht. Durch die Blickorientierung und Körperposituren werden des Weiteren unterschiedliche Interaktionskonstellationen und Beteiligtenstatus etabliert und aufgelöst. Die Blicke der Einzelnen sowie die wenigen Momente der gemeinsamen Blickkontakte sind kurz. Dies erklärt sich durch die Form der Positionierung und die gemeinsame Orientierung: Die Interaktanten stehen ganz Blickorganisation in der side-by-side-Positionierung 249 dicht nebeneinander. Zum einen erfordert ein Blickkontakt weitere Bewegungen (Kopfwendung, Änderung der Körperpositur), und zum anderen ist die körperliche Nähe viel intimer als in der gewöhnlichen „face-fo-face“- Kommunikation. 20 Minnas kurze einseitige Blicke erfolgen an folgenden Stellen: bei der Vorbereitung der Besprechung nach der Positionierung ihrer Gesprächspartnerin (ein kurzer Seitenblick); in der scherzhaften Nebensequenz, wenn die Kundin sich ihr wieder zuwendet und kurz lacht und Minna ein Rezeptionssignal gibt; beim Zeigen des Katalogs bei den wichtigsten Informationen. Im ersten Fall registriert sie die entstandene Interaktionskonstellation (Wahrnehmung), im zweiten Fall zeigt sie Zuhören und Aufnahmebereitschaft an („display“ von Wahrnehmung und „availability“), und im dritten Fall versichert sie sich durch den Blick der Rezeption und der Aufmerksamkeit ihrer Gesprächspartnerin (Monitoring). Besonders typisch sind kurze Blickzuwendungen im Zusammenhang mit der Formulierung zentraler Informationen. Solche Zuwendungen kommen auch im späteren Verlauf des Gesprächs vor allem in den routinemäßigen Phasen des Geschäftabwickelns vor, z.B. bei Fragen (von beiden der sets oder-) und Vorschlägen (vielleicht auch schürzen? ). An diesen Stellen ist der Blick der Kundin auf die Objekte gerichtet, so dass es keinen Blickkontakt gibt. Der Blick wird typischerweise vor Beendigung der Äußerung zurückgewandt und scheint nicht im Dienste der Gesprächsorganisation zu stehen. Wenn die Kundin Unterlagen auf dem Tisch vor Minna anschaut, sind zwei Formen von Blicken zu unterscheiden: Monitoring, das für die interpersonelle Koordination eine zentrale Voraussetzung darstellt, und Kontrolle. Kontrollblicke unterscheiden sich von Monitoring vor allem durch ihre Kürze. Minnas Blickverhalten, bei dem eine antizipierende Orientierung deutlich wird, zeigt, dass die Beteiligten kontinuierlich Monitoring-Aktivitäten realisieren und das Verhalten der anderen auch dann verfolgen, wenn ihr Blick nicht explizit auf sie gerichtet ist. Diese Form der Koordination von 20 Das Distanzverhalten ist von Hall (u.a. 1959; [1964] 1972) recht ausführlich behandelt worden, danach jedoch kaum weiter entwickelt worden (Sager/ Bührig 2005). Liisa Tiittula 250 Blick und Körperhaltung kommt hauptsächlich an solchen Stellen vor, an denen die Interaktion von der routinemäßigen Abwicklung geschäftsspezifischer Kernaktivitäten abweicht. Momente des tatsächlichen Blickkontaktes sind kurz und selten. Dies deutet darauf hin, dass die Koordination der Beteiligten weder primär noch kontinuierlich auf Blickkontakt basiert. Gleichwohl erfolgen die Bewegungen der Interaktanten erstaunlich synchron. In Bezug auf die Blickorganisation ist es die Synchronie des An- und Wegblickens: Wenn der Blick der einen die andere erreicht hat, bewegt sich der Blick der anderen weg. Wenn man das Blickverhalten auf diese Weise beschreibt, mag es den Eindruck der Vermeidung tatsächlichen Blickkontaktes hervorrufen. Die Analysen haben jedoch gezeigt, dass die Kooperation der Beteiligten keinen kontinuierlichen Blickkontakt erfordert. Blickkontakt kann vielmehr die Kernaktivitäten der Geschäftsabwicklung verzögern. 6. Entlastung vom Businesszusammenhang: Konversation Als Kontrast zur arbeitsbezogenen Interaktion möchte ich noch eine arbeitsentlastete Phase präsentieren, in der eine Unterhaltung stattfindet. Der finnischen Messevertreterin wird das Wort Lätzchen „beigebracht“, das ihr unbekannt ist. Es handelt sich also um einen Ausschnitt, in dem die Interkulturalität bzw. Interlingualität der Begegnung relevant gesetzt wird. Die Rollen der Beteiligten wechseln in Bezug auf das Wissen: Jetzt sind die Kunden Experten. Auch die Interaktionsmodalität wechselt vom Ernsthaften zum Humorvollen. Auffällig ist das anders organisierte Blickverhalten. Der Ausschnitt stammt aus einer Phase der Geschäftsabwicklung, in der zu bestellende Artikel durchgegangen werden. Minna und die Kundin stehen nebeneinander, den Blick nach unten auf die auf dem Tisch liegenden Objekte gerichtet. Die Kundin nennt das folgende Produkt: das lätzchen. Ausschnitt 2 01 Kundin: [dann das ] lätzchen, 02 ja das fand ich natürlich 03 auch ganz schön, Minna nimmt das Lätzchen in die Hand und dreht ihren Kopf fragend zur Kundin: Sie kennt das Wort nicht, obwohl sie das Objekt schon identifizieren konnte. Blickorganisation in der side-by-side-Positionierung 251 Abb. 9: wie deutsch 04 Minna: wie war das wieder auf [deutsch? ] 05 Kundin: [ja? ] (.) Bei deutsch richtet Minna den Blick zur Kundin, die ihrerseits das Lätzchen ansieht. Die Kundin wiederholt das Wort, und es kommt zu mehreren, sich zum Teil überlappenden Wiederholungen, an denen alle drei beteiligt sind. Es entwickelt sich eine spaßige Lehrsequenz, in der die Nichtmuttersprachlerin die Gelegenheit bekommt, ihren Wortschatz um eine neue Vokabel zu erweitern. Abb. 10: [(das is ein-)] lätzchen. [lätz- ] lätzchen. 06 Minna: [(das is ein-)] lätzchen. 07 Kundin: [lätz- ] lätzchen. 08 lätzchen. [nennt man das.] Minna formuliert den Anfang der Antwort selbst. Da die Kundin ihre Antwort gleichzeitig beginnt, kommt es zu einer Überlappung; die Kundin bricht ab und setzt neu an. Minna wiederholt das Wort, und die Kundin bestätigt dessen Richtigkeit. Die Kundin wendet ihren Blick zu Minna in dem Moment, in dem sie ihre Lehraktivitäten startet. Minna blickt sie immer noch an; es ist aber nicht feststellbar, ob ihr Blick auf die Augen oder auf den Mund gerichtet ist. Als Minna das Wort aufnimmt, blickt sie nach unten auf das Lätzchen, das sie auf den Tisch legt, aber noch festhält. Der Blickkontakt zwischen ihr und der Kundin ist also relativ kurz. Nach Minnas Blickabwendung richtet die Kundin ebenfalls ihren Blick auf das Lätzchen. Während die Kundin das Wort lätzchen (Z. 07) ausspricht, beginnt sie zu lächeln. Minna nimmt dieses Lächeln beim Wiederholen des Wortes auf (Z. 06). Liisa Tiittula 252 Jetzt schließt sich der Mann an, und wiederholt auch das Wort (er ist im Bild nicht zu sehen), und Minna begründet ihre Unkenntnis. Abb. 11: das hab=ich eben 08 Kundin: lätzchen. [nennt man das. ] 09 Kunde: [lätzchen. ] 10 Minna: [krhm das hab=ich] eben nie gehört 11 noch. 12 Kundin: hehehe.hhh Als der Mann in das Gespräch einsteigt, wendet Minna ihren Kopf zu den beiden Kunden, wobei der Blick zuerst den Mann trifft, dann die Frau und gleich danach wieder nach unten geht; sie dreht sich jetzt von beiden etwas ab. Bei der Kopfzuwendung hebt die Kundin auch ihren Kopf hoch und blickt zu Minna. Die Blicke der Frauen treffen sich für einen ganz kurzen Moment (das hab=ich). Bei eben wendet auch die Kundin ihren Blick ab. Bei ihrem Lachen sind die Blicke wieder nach unten gerichtet. Minna produziert jetzt eine englische Variante für Lätzchen (bibe „bib“) und lacht ansatzweise. Simultan damit wiederholt die Kundin das deutsche Wort noch einmal, was von Minna ratifiziert und ebenfalls noch einmal wiederholt wird. Abb. 12: [bibe(h) ] ja. [lätzchen.] hng, 13 Minna: [bibe(h) ] ja. [lätzchen. ] 14 Kundin: [lätzchen.] [(heißt das.)] hng, Blickorganisation in der side-by-side-Positionierung 253 Minna dreht sich nach vorn, und die Kundin, in deren Gesicht immer noch ein Lachen ist, richtet ihren Blick auf sie (bibe) und schaut dann gleich nach unten. Minna ihrerseits wendet jetzt den Blick auf die Kundin (ja), dann nach unten. Als die Kundin hng äußert, mit dem sie den Übergang zum Geschäftlichen markiert, sind beide wieder nach unten orientiert. Beide lächeln noch, die Kundin beendet ihr Lächeln schließlich, aber Minna äußert noch lächelnd eine Evaluation (Z. 15). Sie fängt jedoch mit dem Schreiben an, ist also bereits wieder mit dem Geschäftlichen beschäftigt. 15 Minna: £das klingt ja [eigentlich ganz süß; £ heh] 16 Kundin: [ähm: : : ] 17 (1.0) 18 Kundin: dann nehm=wer da? 19 (1.1) ((M schreibt)) Im Vergleich zu den Phasen der routinemäßigen Kernaktivitäten verdichten sich hier die Blicke, und sie sind länger. Die Beteiligten sehen sich tatsächlich an, und der Blickkontakt dauert etwas länger als in den anderen Phasen. Bemerkenswert ist, dass der Körper beider Frauen auch bei der Zuwendung des Kopfes nach vorn gerichtet ist. Dadurch wird die Kurzfristigkeit der Orientierung aufeinander und das Nichtgeschäftliche signalisiert und die baldige Rückwendung zur Kernaktivität projiziert. Minnas Frage nach der Benennung des Objektes, das sie in die Hand genommen hat, leitet die Phase ein, an der alle - auch der Mann - beteiligt sind. Lachen und Lächeln markieren die Interaktionsmodalität als humorvoll, genau wie in der Nebensequenz „Enkelkinder“ (Abschn. 4.5). Der Wechsel der Interaktionsmodalität wird durch Zuwendung und Lächeln hergestellt. Die Beendigung der Phase wird von der Kundin durch Blickabwendung und mit hng (Z. 14) eingeleitet. Minna evaluiert das Wort noch (Z. 15), ist körperlich aber bereits auf die vor ihr liegenden Papiere orientiert und geht zum Schreiben über. Bei ihr folgt der Übergang von einer Interaktionsmodalität zur anderen überlappend, wie in den Phasen in 4.3 und 4.5 beschrieben. Während sie mit körperlichen Aktivitäten bereits beim Abwickeln der Geschäfte ist, reagiert sie verbal auf die Äußerung der Kundin und ist damit auf der Ebene der Beziehungskonstitution aktiv. Aus einer multimodalen Perspektive auf Interaktion wird also deutlich, dass Interaktionsbeteiligte die ihnen zur Verfügung stehenden Modalitätsressourcen für die gleichzeitige Bearbeitung unterschiedlicher Anforderungen und Aufgaben aufteilen Liisa Tiittula 254 können. Dies ist u.a. für die Frage der Segmentierung implikativ: Relativ zu dieser Aufteilung der multimodalen Ressourcen werden unterschiedliche Segmente konstituiert. Segmentgrenzen verlaufen also nicht parallel durch alle Konstitutions- und Modalitätsebenen, sondern - bezogen auf unterschiedliche Modalitätsebenen - an verschiedenen Stellen „quer“ durch den interaktiven Gesamtausdruck der Beteiligten. 7. Zusammenfassung Die räumliche Positionierung der Beteiligten ist für die Blickorganisation von zentraler Bedeutung. Im hier analysierten Fall sind sie „side-by-side“ positioniert, um etwas vor ihnen aus einem gemeinsamen Blickwinkel zu sehen. Dieses „Etwas“ ist ein arbeitsbezogenes Objekt, und die Kernaktivitäten sind vorrangig damit verbunden, wobei die Interaktion teilweise von diesem signifikanten Objekt mitstrukturiert wird. Gleichzeitig müssen sich die Beteiligten ihre wechselseitige Wahrnehmung und ihre eigene Wahrnehmbarkeit durch die andere Seite organisieren. Ein wichtiger Bestandteil der räumlichen Positionierung ist die Nähe. Im Beispielfall stehen die Beteiligten so dicht nebeneinander, dass sie die Körperpositur und damit die Grundorientierung der anderen wahrnehmen können, ohne den Kopf einander zuwenden zu müssen. Die Kopfzuwendung stellt hier somit ein deutliches „display“ von Wahrnehmung und „availability“ dar. In den analysierten Ausschnitten kommen unterschiedliche Formen von Blicken vor. Der Blick ist die meiste Zeit nach vorn bzw. nach unten auf ein Objekt gerichtet. Diese Blickrichtung - koordiniert mit Körperpositur und den verbalen Äußerungen - signalisiert die Grundorientierung und definiert den Aufmerksamkeitsfokus. Von dieser Grundposition wird nur kurzfristig abgewichen, wobei der Körper nach vorn gerichtet bleibt. Ein kurzer Seitenblick zum Gesprächspartner signalisiert, dass die Orientierung weiterhin auf das Objekt gerichtet ist. Er dient der Wahrnehmung einer Änderung der Partnerpositionierung oder der Wahrnehmungswahrnehmung (Hausendorf 2003), d.h. der Wahrnehmung, wie man wahrgenommen wird, und dem Monitoring, wie der Adressat den verbalen Äußerungen folgt. Dabei wird der Blick mit der Äußerung so koordiniert, dass die Zuwendung des Blicks auf den zentralen Gehalt der Äußerung erfolgt. Ein Seitenblick kann auch ein Kontrollblick sein, mit dem verfolgt wird, wie der Partner die ihm gegebene Aufgabe ausführt. Beim Seitenblick kommt es Blickorganisation in der side-by-side-Positionierung 255 nicht zum Blickkontakt zwischen den Beteiligten, denn ihre Orientierung ist nach vorn auf das Objekt gerichtet: Ein nach vorne auf das Objekt gerichteter Blick des Partners signalisiert Aufmerksamkeit auf die laufenden arbeitsbezogenen Handlungen. Wechselt die Orientierung der Beteiligten vom Objekt aufeinander, so ändern sich die Körperpositur und die Blickorganisation. Wenn sich ein Beteiligter aufrichtet und den Kopf zu einem anderen dreht, den Körper aber weiterhin nach vorn gerichtet behält, markiert er eine kurzfristige Änderung der Orientierung und dass die neue Orientierung der dominanten Orientierung untergeordnet ist. Bei dieser Positionierung und Orientierung aufeinander folgt das Blickverhalten dem Prinzip, dass der Adressat auf den anschauenden Sprecher reagiert. Die Blickkontakte sind von sehr kurzer Dauer und so zeitlich abgestimmt, dass der Beteiligte, der den anderen zuerst anblickt, seinen Blick in dem Moment oder gleich danach abwendet, in dem der andere ihm seinen Blick zuwendet. Bei der Orientierung aufeinander gab es in den analysierten Ausschnitten noch kurze Blicke auf den dritten Beteiligten, der durch einen solchen „Mikroblick“ mit adressiert und einbezogen wird. Die dominante Orientierung ist also objektbezogen, und die Änderungen in der Orientierung und der Blickorganisation sind handlungsschematisch bedingt. Am deutlichsten zeigt sich die objektorientierte Ausrichtung in Phasen der Warenpräsentation oder des Ausfüllens von Formularen. Aufeinander orientiert sind die Beteiligten, wenn es um ihre Beziehungen geht oder wenn die Interaktion zeitweilig von geschäftsbedingten Kernaktivitäten entlastet ist. Die Orientierung kann auch doppelt ausgerichtet sein und dabei hinsichtlich der jeweils relevanten Ausdrucksmodalität differenzieren, so dass verbale und andere körperliche Handlungen Teile verschiedener Aktivitätszusammenhänge sind (z.B. aufgabenorientiertes Hantieren mit dem Objekt und gleichzeitiges Reden über die Enkelkinder), wobei die körperliche Ausrichtung die dominante Orientierung markiert. Die Art und Weise, wie der Blick organisiert ist, hängt also sowohl mit dem Handlungsschema als auch mit der Interaktionsmodalität zusammen. Durch die Blickorganisation wird die Spezifik der Situation verdeutlicht: Die Interaktion ist primär objektbezogen und aufgabenorientiert. Der nach vorne auf das Objekt gerichtete Blick dient der Wahrnehmung und dem Monitoring der zentralen arbeitsbezogenen Handlungen. Ein Blick bzw. eine Kopfwendung zum Interaktionspartner ist nur an bestimmten Stellen notwendig Liisa Tiittula 256 (z.B. wenn er seine Positionierung ändert oder um bei zentralen Punkten verbaler Handlungen seine Wahrnehmung sicherzustellen) und bleibt kurz. Durch die Kontrolle der eigenen Aktivitäten wird intrapersonelle Koordination geleistet, durch das Monitoring der Partneraktivitäten interpersonelle Koordination: der an der geschäftlichen Handlung nicht aktiv teilnehmende Beteiligte betreibt Monitoring, um bereit zu sein, wenn seine aktive Teilnahme erforderlich ist; der Kunde beobachtet außerhalb der Dyade fortlaufend, was in der Dyade passiert, um bei Bedarf in seiner unterstützenden Rolle fungieren zu können. Die Blickrichtung nach vorne ist zugleich für die Beteiligten ein „display“ ihres Monitoring und ihrer Wahrnehmung. Die Wichtigkeit dieses „displays“ hängt von den aufgabenspezifischen Rollen ab. Für die Kunden, die die Produkte nicht kennen, ist die optische Wahrnehmung der Produkte besonders wichtig; zugleich zeigen sie durch die Blickrichtung Interesse an den Produkten. Das heißt, dass sie dadurch bei den objektbezogenen Aktivitäten auch „availability“ anzeigen und deshalb als Adressaten die Sprecherin nicht anblicken müssen. Die objektbezogenen Aktivitäten verlangen ebenfalls das Monitoring der Verkäuferin; das „display“ von Wahrnehmung der Kundenaktivitäten und „availability“ ihnen gegenüber muss aber durch die Zuwendung des Kopfes geleistet werden. Diese unterschiedlichen aufgabenspezifischen Anforderungen erklären, dass die Verkäuferin die Kunden häufiger ansieht als umgekehrt. Hinzu kommt, dass die Verkäuferin durch ihren Blick den Ablauf der Interaktion strukturiert und den anderen Beteiligten verdeutlicht, was der aktuelle Fokus ihrer Orientierung ist und wohin sie ihren Blick richten sollen. Über die Blickorganisation werden also ganz wesentliche Koordinationsleistungen erbracht. Die Analyse hat gezeigt, dass die Blickorganisation in einer „side-by-side“- Positionierung kaum „turn“-organisatorische Aufgaben erfüllt, jedoch bei der Konstitution von Beteiligtenstatus und Beteiligungsweisen von Bedeutung ist. Darüber hinaus hängt die Blickorganisation mit dem Handlungsschema und der Interaktionsmodalität zusammen. Die systematische Art und Weise der Blickorganisation und die konversationelle Synchronie (Erickson/ Shultz 1982, Keim/ Schmitt 1993, S. 148) 21 gleich von Anfang an in einem Ge- 21 Nach der Untersuchung von Erickson/ Shultz (1982) hat der gemeinsame Rhythmus der Beteiligten einen wesentlichen Einfluss darauf, wie positiv oder negativ der Gesprächspartner bewertet wird; siehe auch Johnston (2004). Blickorganisation in der side-by-side-Positionierung 257 spräch unter Beteiligten, die sich kaum kennen, lassen darauf schließen, dass die rekonstruierte Systematik rekurrent ist. Dies muss natürlich am weiteren Material untersucht werden. Die hochgradige Synchronie der Blickorganisation ist das Ergebnis fein abgestimmter, kontinuierlicher Koordinierungsleistungen. Diese fein abgestimmte Koordination ist ein wesentlicher Grund für den Eindruck, dass die Interaktion zwischen den Beteiligten durch eine besondere Kooperativität gekennzeichnet wird. Dies verdeutlicht unter anderem auch die Wichtigkeit und Notwendigkeit, bei empirischen Untersuchungen von Kooperation eine multimodale Sicht auf Interaktion einzunehmen, welche die detaillierte Analyse der koordinativen Leistungen der Beteiligten systematisch fokussiert. 8. Transkriptionszeichen Intonation ? hoch steigend , mittel steigend - gleichbleibend ; mittel fallend . tief fallend (.) Mikropause (1.5) Pause in Sekunden ja: Dehnung = Verschleifung ja auffällige Betonung < > langsamer im Vergleich zur direkt vorhergehenden und nachfolgenden Äußerung desselben Sprechers (ja) vermuteter Wortlaut [ ] simultanes Sprechen £ £ lächelnd bibe(h) Lachpartikeln beim Reden .hh Einatmen ((lacht)) Beschreibung von Lachen, nonverbalem Geschehen; Kommentare der Transkribierenden Liisa Tiittula 258 9. Literatur Argyle, Michael/ Cook, Mark (1976): Gaze and Mutual Gaze. Cambridge, UK . Bavelas, Janet Beavin/ Coates, Linda/ Johnson, Trudy (2002): Listeners' Responses as a Collaborative Process: The Role of the Gaze. In: Journal of Communication 52, S. 566-580. Beattie, Geoffrey W. (1981): The Regulation of Speaker Turns in Face-to-Face Conversation: Some Implications for Conversation in Sound-Only Communication Channels. In: Semiotica 34, S. 55-70. Bolden, Galina B. (2003): Multiple Modalities in Collaborative Turn Sequences. In: Gesture 3, 2, S. 187-211. 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Im Zentrum der Betrachtung stehen die Verhaltensweisen zweier Interaktionsteilnehmer, die phasenweise verbal nicht aktiv sind. Diese bezeichnen wir mit dem Terminus „verbale Abstinenz“. Unsere Daten stammen aus einem Lern- und Arbeitskontext, in dem sieben Beteiligte zielorientiert verbal miteinander kommunizieren. Sie generieren Ideen für einen Kurzfilm und sind - anders als beispielsweise bei der Koordinierung zweier unterschiedlicher Tätigkeiten wie Reden und Autofahren - gefordert, ihre kognitiven Anstrengungen sprachlich zu realisieren und sich mit den anderen Teammitgliedern zu koordinieren. Wir begreifen Koordination als permanente interaktive Anforderung und Leistung, die von Interaktionsteilnehmern auf sehr unterschiedlichen Ebenen erbracht werden muss. In unserem Beitrag konzentrieren wir uns darauf, wie jemand, der sich für eine gewisse Zeit verbal enthält, seine Verhaltensweisen zum interaktiven Geschehen 1 im Rahmen der Ideenentwicklung koordiniert (interpersonelle Koordination). 2 Die Koordinationsaktivitäten werden dabei in ihrer Genese herausgearbeitet und als Reaktion auf die verbale Interaktionsentwicklung konzeptualisiert. Koordination ergibt sich folglich aus der „Gleichzeitigkeit von Simultaneität und Sequenzialität als zentrale Ordnungsmechanismen des interaktiven Handlungsvollzugs“ (Schmitt 2005, S. 53). Die Beschäftigung mit dem Phänomen „verbale Abstinenz“ erfolgt aus einer multimodalen Perspektive, bei der nicht länger primär das Verbale im Mit- * Für kritische Lektüre und Diskussionen danken wir Reinhard Fiehler, Ulrich Reitemeier und vor allem Reinhold Schmitt. 1 Interaktives Geschehen bezieht sich hier sowohl auf die verbalen Beiträge einzelner Sprecher als auch auf die sonstigen multimodalen Verhaltensrealisierungen aller Beteiligten. 2 Zur Differenzierung von intrapersoneller Koordination und interpersoneller Koordination siehe Deppermann/ Schmitt (i.d. Bd.). Daniela Heidtmann / Marie-Joan Föh 264 telpunkt des analytischen Interesses steht. Ausgehend von der Beobachtung, „dass es für Interaktionsbeteiligte unterschiedliche Modalitäten gibt, sich in kommunikationsrelevanter Weise auszudrücken, Handlungsziele zu erreichen, soziale Bedeutung zu konstituieren und alle möglichen Arten interaktiver Arbeit zu betreiben“ (Schmitt 2004, S. 61), werden bei der Analyse dezidiert unterschiedliche Modalitäten berücksichtigt und systematisch zueinander in Beziehung gesetzt: Gestik, Mimik, Körperpositur, Körperkonstellation, Prosodie, Blickverhalten und Verbalität. Wie aber analysiert man ein Phänomen, das auf den ersten Blick - gemessen an der parallel stattfindenden dynamischen verbalen Interaktionsentwicklung - eher unscheinbar ist, und das erst durch die Videoaufnahme, welche die Grundlage der multimodalen Analyse darstellt, sichtbar und damit für die Analyse zugänglich gemacht wird? Ausgehend von einem auf Multimodalität und Koordination gegründeten Erkenntnisinteresse haben wir uns für einen Materialausschnitt entschieden, bei dem die Gruppe, die sich aus Studierenden und Dozenten zusammensetzt, nach der Rekapitulation des erreichten Arbeitsstandes dazu übergeht, eine neue Kernaktivität, nämlich die weitere Ideengenerierung, zu bearbeiten. Diesen Ausschnitt haben wir zunächst ohne Ton angeschaut, um uns dafür zu sensibilisieren, welche Modalitätsebenen für die Interaktion relevant sein könnten. Dabei fiel ein Student auf, der zwar verbal nichts beitrug, aber wiederholt und sehr systematisch seine Blickrichtung änderte. Ähnlich wie ein Zuschauer beim Tennis folgte er dem verbalen Interaktionsgeschehen, das sich jeweils rechts und links von ihm abspielte, über regelmäßige Wechsel der Blickrichtung: Auffällig war, dass er sich immer erst dann zum aktuellen Sprecher wandte, wenn dieser seine Äußerung bereits begonnen hatte. An einer späteren Stelle nahm der Student eine statische Körperhaltung ein, die auffällig mit der sich um ihn herum entwickelnden Dynamik kontrastierte. Unser Eindruck, dass sein Verhalten einer Systematik folgte und auf das verbale Geschehen bezogen werden konnte, machte es für uns als Untersuchungsgegenstand interessant. Auf eine visuelle Erstanalyse 3 folgte die konversationsanalytische Rekonstruktion der verbalen Struktur, die als Grundlage dafür diente, das Verhalten des Studenten systematisch auf diese beziehen zu können. Das Ergebnis 3 Zum Vorgehen bei der visuellen Erstanalyse siehe Schmitt (i. Vorb.a). Verbale Abstinenz als Form interaktiver Beteiligung 265 der beschriebenen Analyseschritte waren unterschiedliche, sich abhängig vom verbalen Geschehen entwickelnde Varianten verbaler Abstinenz als spezifische Beteiligungsweise des fokussierten Gruppenmitglieds. 4 Im Folgenden werden wir nach einer kurzen Material- und Kontextbeschreibung (Abschn. 2. und 3.) unsere Analyse vorstellen (Abschn. 4.). Um die Relevanz eines Konzepts wie „verbale Abstinenz“ zu verdeutlichen, kontrastieren wir unsere Analyseergebnisse in Abschn. 4.5 mit einem weiteren Interaktionsteilnehmer, der sich ebenfalls verbal enthält. Im Anschluss daran werden die Ergebnisse unter theoretischen und methodischen Gesichtspunkten diskutiert (Abschn. 5. und 6.). 2. Material und Gesamtsituation Der Ausschnitt, der im Folgenden analysiert wird, stammt aus dem „Hamburger Filmkorpus“: Dabei handelt es sich um eine umfangreiche Sammlung von Videoaufnahmen, die Daniela Heidtmann und Reinhold Schmitt im Rahmen einer Kooperation mit dem Filmstudium der Universität Hamburg erhoben haben. 5 In diesem Studiengang verteilen sich 24 Studierende in Sechsergruppen auf die vier Klassen „Drehbuch“, „Kamera“, „Regie“ und „Produktion“. Neben fachspezifischem Unterricht in ihren jeweiligen Klassen müssen die Studierenden während ihres Studiums drei Filme drehen, zu deren Produktion sie Teams aus jeweils einem Vertreter/ einer Vertreterin der jeweiligen Klasse bilden. Zu Beginn dieser Filmprojekte besteht die zentrale Aufgabe der Gruppe darin, ihre Ideen zu „pitchen“, d.h. in wenigen Sätzen auf den Punkt zu bringen, um was es in ihrer Geschichte geht. Anschließend müssen sie den Stoff der Geschichte „en detail“ vorstellen, um dann unter Anleitung der Dozenten das konkrete Konzept weiterzuentwickeln. Bei den Pitching-Sitzungen 6 4 Unsere Untersuchung versteht sich auch als ein Beitrag zu dem Konzept des „participants framework“ (vgl. u.a. Goffman 1981, Kendon 1970, Levinson 1988) und zeigt, dass Bezeichnungen, wie „Listener“, „Bystander“ oder „Hearer“, aus multimodaler Perspektive weiter spezifiziert werden können/ müssen. 5 Das Datenmaterial lässt sich insgesamt unterscheiden in so genannte Set-Aufnahmen (die Arbeit der Filmteams an unterschiedlichen Drehorten) und die oben beschriebenen Pitching-Sitzungen. Arbeiten, die aus den Materialien bereits hervorgegangen sind, betreffen sowohl die anwendungsbezogene Perspektive (vgl. Schmitt/ Heidtmann 2002, 2003a, b) sowie die primär wissenschaftliche Perspektive (vgl. Schmitt 2004, 2005). 6 Die Pitching-Aufnahmen werden von Daniela Heidtmann im Rahmen ihrer Dissertation „Kooperative Prozesse im Lehr-Lern-Diskurs“ aus multimodaler Perspektive systematisch untersucht. Daniela Heidtmann / Marie-Joan Föh 266 handelt es sich um dreistündige Arbeitssitzungen, die in der oben beschriebenen Teamkonstellation durchgeführt werden. In diesen wird eine klare Produktorientierung, bei der es darum geht, eine Filmidee zu entwickeln und anschließend unter professionellen Bedingungen umzusetzen, mit dem didaktischen Anliegen verknüpft, den Studierenden theoretische Hintergründe zu vermitteln und sie auf ihr zukünftiges Berufsfeld vorzubereiten. Das Beispiel, das im Folgenden untersucht werden soll, stammt aus einem solchen Pitching. 3. Kontext und Kurzcharakterisierung In dem ausgewählten Pitching-Ausschnitt ist das Team mitten in der Stoffentwicklung und gerade dabei, eine zentrale Szene zu entwerfen. Die Filmidee handelt von einem sehr erfolgreichen Musiker (Bassist), der bei einem Unfall einen Arm verloren hat. Da er nicht mehr in der Lage ist, Musik zu machen, will er sich das Leben nehmen. Bevor er dies in die Tat umsetzen kann, wird ihm sein Bass von einem Jungen entwendet, der vorab versucht hatte, den Musiker dazu zu bewegen, ihn als seinen Schüler anzunehmen. Als der Alte dies ablehnt, flüchtet der Junge mit dem Bass - es kommt zu einer Verfolgungsjagd. Der Ausschnitt, in dem die Gruppe über diese Szene diskutiert, befindet sich im letzten Drittel des Pitchings, zu einem Zeitpunkt also, an dem die Gruppe bereits zwei Stunden intensiv zusammengearbeitet hat. Er beginnt, nachdem einer der Dozenten die bis dahin erreichte Leistung der Gruppe in einer langen monologischen Sequenz problematisiert und evaluiert sowie den Entwicklungsstand der Geschichte plakativ zusammengefasst hat. Abb. 1: Sitzordnung Verbale Abstinenz als Form interaktiver Beteiligung 267 Wie anhand des Schaubilds zu erkennen ist, sitzen die Studierenden gemeinsam mit den beiden Dozenten in U-Form um einen Doppeltisch herum. Während die Dozenten (Ralf, RA und Hans, HA) an der einen Seite des Tisches sitzen, verteilen sich die Studierenden (Roland, RO, Ulla, UL, Silke, SI und Markus, MA) um die schräg rechts gegenüberliegende Ecke. Des Weiteren ist eine externe Dozentin (EX) zugegen, die nach dem Pitching die weitere Betreuung der Gruppe übernehmen wird. Sie beteiligt sich im Verlauf der gesamten Arbeitssitzung nur selten. Ihre Aufgabe ist es, sich über die für die weitere Arbeit der Studenten relevanten Reflexionsprozesse der Gruppe zu informieren. Als weitere Personen sind zugegen: Daniela Heidtmann, die aktuelle Beobachtungen in ein Notebook eingibt, und Reinhold Schmitt, der die Kamera bedient. Beide befinden sich ebenso wie die Externe an einem von der Gruppe separierten Tisch, der sich an der offenen Seite der U-Formation befindet. 4. Analyse In unserem Beitrag möchten wir exemplarisch ein Gruppenmitglied, das wir Roland genannt haben, in den Analysefokus rücken. Der von uns analysierte Ausschnitt zeigt eine grundsätzliche Anforderung an die Mitglieder von Pitching-Gruppen: Sie müssen sich darüber verständigen, wer verbal etwas beiträgt und wer nicht. In unserem Fall etabliert ein Dozent eine konditionelle Relevanz. Roland bleibt daraufhin verbal abstinent. Wir interessieren uns dafür, wie er verdeutlicht, dass er den „turn“ nicht beansprucht und wie er sich im Anschluss verhält, während zwei seiner Teammitglieder versuchen, der Aufforderung nachzukommen. Rolands Verhalten weist eine Struktur auf, die aus vier Segmenten besteht: Das erste Segment beinhaltet Rolands direkte Reaktion auf die konditionelle Relevanz und wird von uns als „let-it-pass-Technik“ (s.u.) rekonstruiert; das zweite Segment enthält Rolands Verhalten zu Beginn der Antwortbemühungen seines Teams; das dritte - im weiteren Verlauf dieser Antwortbemühungen - zeigt Rolands Ausdruck von Missfallen und Distanzierung; im vierten Segment beteiligt er sich verbal mit einer „passing-Technik“ (s.u.). Diese unterschiedlichen Beteiligungsweisen, die er im Kontext der kurz skizzierten unterschiedlichen Anforderungen realisiert, werden im Folgenden dargestellt. Daniela Heidtmann / Marie-Joan Föh 268 4.1 Rolands „Let it pass-Technik“ Im ersten Segment etabliert der Dozent (RA) eine konditionelle Relevanz, indem er die Studierenden auffordert, eine Verfolgungsszene zu entwerfen. RA: * so <gut> soweit sind wir RA: und äh: * wie kann das denn aussehen jetz diese *4* RA: >die< verfolgung *8* Er stellt eine offene Frage, die für das studentische Team mit spezifischen Reaktionsimplikationen verbunden ist. Die Anforderung, ausgehend vom derzeitigen Entwicklungsstand der Geschichte eine Verfolgungsszene zu entwickeln, ist sehr komplex und derjenige, der sie bearbeitet, muss einen längeren substanziellen Beitrag leisten (anders als beispielsweise bei einer kurzen Entscheidungsfrage). Die Studierenden zeigen zunächst keine Reaktionen auf die Frage des Dozenten. Die einzige körperliche Veränderung in dem ansonsten absolut statischen studentischen Team sieht man bei Roland, der - verortet man sein Verhalten in Relation zur Dozentenäußerung - kurz vor der viersekündigen Pause seine Hand zur Nase führt, darüber streicht, um sie dann vor den Mund in eine „Denkerpose“ zu heben. Abb. 2: Roland in Denkerpose Die Denkerpose ist eine Möglichkeit, sich in Reaktion auf die konditionelle Relevanz als kognitiv absorbiert darzustellen und damit anzuzeigen, dass man zwar inhaltlich auf die Anforderung orientiert (man denkt darüber nach), jedoch nicht zu einer Antwort bereit ist. Dieses Beteiligungsformat kann mit Schmitt (2003, S. 200) als Inszenieren wie folgt beschrieben werden: Der Interaktionsbeteiligte… Verbale Abstinenz als Form interaktiver Beteiligung 269 … realisiert nicht einfach nur die Handlung (nämlich Nachdenken) und verlässt sich auf die selbstexplikative Darstellungsqualität seiner Handlungsdurchführung. […] (er) formuliert auch nicht einfach, dass er nachdenkt, und verlässt sich somit auf einen expliziten Account. […] (er) inszeniert vielmehr seine kognitive Orientierung mit spezifischen Mitteln: Er stützt den Kopf in eine Hand, sitzt dabei etwas abgewandt, lässt seinen Blick zu einem in der Ferne liegenden Punkt schweifen und reagiert in dieser Phase nicht auf eventuelle Ansprache seines Gegenübers. Das Verhalten Rolands kann in gesprächsorganisatorischer Hinsicht und im Zusammenhang mit der durch die konditionelle Relevanz implizierten „kollektiven“ Fremdwahl als „let-it-pass-Technik“ beschrieben werden. ‘Let it pass’ ist eine Form zu zeigen, dass man lokal nicht in die Sprecherrolle eintreten will, ohne dazu die Reaktionsverpflichtung an einen anderen Beteiligten weiter zu geben (…). Letztlich handelt es sich hierbei um eine Form der Selbstabwahl. (Schmitt 2004, S. 67). Kurz nach Roland nehmen auch Silke und Markus gleichzeitig nach einer kurzen Selbstberührung eine Denkerpose ein. Nur Ulla blickt in die Richtung von Ralf und spielt deutlich mit beiden Händen. Nach der 4-sekündigen Pause liefert der Dozent eine Vervollständigung, die seine vorherige Projektion (wie kann das denn aussehen jetz diese) einlöst: >die< verfolgung. Danach entsteht eine 8-sekündige Pause, in der keiner der Studierenden in die verbale Ausführung einsteigt. Was aber passiert während der 8-sekündigen Stille? Leicht zurückgelehnt und abwartend blickt Ralf in die Richtung der Studierenden und untermauert damit körperlich deren Antwortverpflichtungen („jetzt seid ihr dran“). Abb. 3: Ralfs Blick zu den Studierenden Daniela Heidtmann / Marie-Joan Föh 270 Abb. 4: Ralfs Blick zu den Dozenten Nach sieben Sekunden, in denen die Studierenden ihre Haltungen nicht verändern (Roland, Markus und Silke in Denkerpose; Ulla körperlich statisch, aber mit den Händen spielend), dreht Ralf seinen Kopf in die Richtung der anderen beiden Dozenten. Sein Blick zur Dozentenseite löst eine schnelle und kurze Reaktionskette aus: Nach seiner Kopfbewegung reagiert Hans, der direkt neben ihm sitzt, und danach die externe Dozentin, die sich am Nebentisch auf gleicher Höhe von Hans und Ralf, allerdings einen halben Meter entfernt, befindet. Hans nickt minimal. Die Pause wird schließlich von der externen Dozentin mit einer Entscheidungsfrage beendet, die das Potenzial der Selbstdefinition, das in Ralfs Frage vorhanden ist, eng führt: kriegt er ihn oder kriegt er ihn nicht. Auch die Beteiligungsweisen der Studierenden verändern sich während der Reaktionen auf der Dozentenseite. War die Gruppe zuvor als „statisches Ensemble“ wahrnehmbar, das sehr ähnliche Verhaltensweisen und Körperposituren hervorbrachte, kann man zu dem Zeitpunkt, an dem Ralf seinen Kopf in Richtung der anderen Dozenten wendet, eine Veränderung bei zwei Studierenden feststellen: Ulla und Roland folgen der Interaktionsentwicklung auf der Dozentenseite, wobei Ullas Reaktion - als einzige, die nicht in der Denkerpose ist - auf Ralfs Blick viel deutlicher ist als Rolands: Sie hebt ihren Kopf erkennbar in die Richtung der beiden anderen Dozenten (Hans und Externe), während Roland nur aus der Denkerpose heraus seine Augen zu den beiden bewegt und dabei die Augenbrauen leicht hochzieht. Er reagiert minimal auf die interaktionsstrukturelle Entwicklung des aktuellen Geschehens, zeigt sich jedoch weiterhin kognitiv absorbiert. Kontrastiv zu Roland Verbale Abstinenz als Form interaktiver Beteiligung 271 kann man Ullas Verhalten als eine deutliche Form von Monitoring 7 bezeichnen. Sie verfolgt die Interaktionsentwicklung erkennbar und steht, da sie sich nicht als kognitiv absorbiert darstellt, eher für den „formal turn-by-turn-talk“ zur Verfügung. Es ist nicht überraschend, dass sie es ist, die die Frage der externen Dozentin im Folgenden beantwortet. 4.2 Rolands Verhalten während der Entwicklung der Verfolgungsszene Ullas Antwort auf die Frage der Dozentin erfolgt sehr schnell und benennt eine der beiden aufgeworfenen Alternativen (kriegt er ihn oder kriegt er ihn nicht) eindeutig. UL: er kriegt ihn * er muss ihn also ähm muss ihn also UL: ähm am besten wär=s wenn er an/ also mit dem bass UL: ist es ja nicht so einfach zum beispiel über #mauern K #RO UL: zu klettern oder an über #zäune rüber zu kommen und K GIBT DENKERPOSE AUF #SI GIBT DENKERPOSE AUF UL: er würde den bass niemals loslassen Abb. 5: Auflösen der Denkerpose bei Roland Als Roland seine Denkerpose aufgibt, wird Ulla aktiv. Sie kommt, nachdem sie die Frage der externen Dozentin beantwortet hat (er kriegt ihn) auf Ralfs Frage (wie kann das denn aussehen jetz diese *4* >die< verfolgung) zu sprechen und bearbeitet damit auch seine konditionelle Relevanz. Ihre 7 Zum Stellenwert von Monitoring-Aktivitäten bei der Koordination siehe Schmitt/ Deppermann (i.d. Bd.). Daniela Heidtmann / Marie-Joan Föh 272 Äußerung besitzt ein deutliches Expansionspotenzial. Nach den Regeln des „turn-taking“-Mechanismus 8 wird Roland nun - obgleich er seine kognitive Absorbiertheit nicht mehr über seine Handhaltung anzeigt - nicht „Gefahr laufen“, den nächsten „turn“ übernehmen zu müssen: Wenn nach einer möglichen Redeübergabestelle niemand aus der Gruppe den folgenden „turn“ beansprucht, gibt es die Erwartung, dass Ulla ihre Äußerung weiter expandiert. Rolands Beteiligungsweise ändert sich deutlich nach dem Erfolg seiner „letit-pass-Technik“. Sein kurzer Seitenblick zu Ulla wird durch einen Blick auf den Tisch abgelöst. Im Vergleich zur Denkerpose sieht man hier eine deutliche Reduktion seiner zuvor angezeigten kognitiven Absorbiertheit. Aus der „Sicherheit“ der antizipierbaren Interaktionsentwicklung heraus realisiert er ein Verhalten, das ihn als an den Belangen der gemeinsamen Arbeit interessiertes und arbeitsbereites Teammitglied kennzeichnet. Betrachtet man das Auflösen der Denkerposen bei Roland und auch bei Silke, wird deutlich, dass, sobald die gesprächsorganisatorische Frage entschieden ist und Ulla für das Team arbeitet, beide dazu übergehen, andere Verhaltensweisen zu produzieren. Sie zeigen nun eher Konzentration auf der Sachverhaltsebene an und wenden sich dabei interessiert zur aktuellen Sprecherin. Dies ist für die Verdeutlichung ihrer Teamorientierung relevant und ist damit für die Gruppendynamik ein wichtiger Verhaltensaspekt: Die Teilnehmer manifestieren erkennbar, dass sie den verbal aktiven Gruppenmitgliedern folgen, selbst wenn sie persönlich gerade verbal nicht beteiligt sind. Während Ulla im weiteren Interaktionsverlauf zusammen mit Silke und Ralf an der Entwicklung der Verfolgungsszene arbeitet, bleiben Roland und Markus weiter verbal abstinent. Betrachtet man Rolands Verhalten während der Szenen-Entwicklung, so sind seine Kopfbewegungen und sein Blickverhalten in spezifischer Weise auf das interaktive Geschehen abgestimmt: Er folgt immer deutlich verzögert den vollzogenen Sprecherwechseln. Dabei fällt auf, dass er nicht übergangslos von einem Sprecher zum anderen schaut, sondern zwischendurch kurze „Blickphasen“ auf den Tisch einlegt. Die folgende Reihe von Schaubildern zeigt Rolands Verhalten während der laufenden Interaktionsentwicklung. Da er seine Körper- und Blickorientie- 8 Siehe u.a. Sacks/ Schegloff/ Jefferson (1974). Verbale Abstinenz als Form interaktiver Beteiligung 273 rung immer über längere Zeit „einfriert“, gibt jedes Bild (auf der rechten Seite) Rolands statische Position während der von seinen Gruppenmitgliedern produzierten Äußerungen (auf der linken Seite) wieder. UL: am besten wär=s wenn UL: er an/ also mit dem UL: bass ist es ja nicht UL: so einfach zum beispiel UL: über mauern zu Abb. 6: [ RO BLICKT AUF TISCH ] UL: klettern oder an über Abb. 7: [ RO BLICKT ZU UL ] UL: zäune rüber zu kommen UL: und er würde den bass UL: niemals loslassen SI: aber SI: der junge hat jetz ne SI: wahnsinnige macht * Abb. 8: [ RO BLICKT AUF TISCH ] Das erste Bild (Abb. 6) zeigt Roland, der seinen Blick während der Äußerung von Ulla auf den Tisch gesenkt hat. Zwischendurch hebt er den Kopf in ihre Richtung und schaut, während sie an ihm vorbei zu Ralf blickt, kurz in ihr Gesicht (Abb. 7). Dies geschieht jedoch nur für einen Sekundenbruchteil, während Ulla die Wörter (klettern oder an über) äußert. Gleich darauf senkt er den Blick zurück auf den Tisch (Abb. 8) und bleibt in dieser Haltung, d.h., er folgt nicht unmittelbar der weiteren gesprächsorganisatorischen Entwicklung, bei der sich Silke im direkten Anschluss an Ulla als neue Sprecherin etabliert (aber der junge hat jetz ne wahnsinnige macht). Daniela Heidtmann / Marie-Joan Föh 274 SI: er hat nämlich den SI: bass er hat das SI: liebesobjekt dieses SI: alten das heißt der SI: alte is Abb. 9: [ RO BLICKT ZU SI ] Erst nachdem Silke den ersten Teil ihrer Äußerung verbalisiert hat, blickt Roland kurz in ihre Richtung (Abb. 9), um anschließend den Blick wieder zurück zum Tisch zu senken. Gesprächsorganisatorisch betrachtet erfolgt Rolands Änderung der Blickrichtung im weiteren Verlauf systematisch „post-transitional“, also immer dann, wenn ein neuer Sprecher bereits die ersten Teile seiner Äußerung produziert hat. 9 SI: erpressbar * der junge SI: könnte zum beispiel SI: sagen * äh * jetz Abb. 10: [ RO BLICKT AUF TISCH ] SI: plakativ an=er brücke SI: stehen und sagen okay SI: entweder du hörst SI: mir jetz zu oder der SI: bass fliegt |ins UL: |gut Abb. 11: [ RO BLICKT ZU SI ] 9 Die Blickzuwendung kann in Gesprächen grundsätzlich an verschiedenen Stellen erfolgen. Neben der hier beschriebenen Variante z.B. auch „turn-antizipatorisch“, also bevor der nächste „turn“ verbalisiert wird, oder aber gleichzeitig mit der Turnübernahme, quasi „turn-genau“. Zur Erarbeitung einer Koordinierungssystematik im Rahmen von „turntaking“ sind weitere Analysen nötig. Verbale Abstinenz als Form interaktiver Beteiligung 275 Das Abwechseln der Blickorientierung vom Tisch zur amtierenden Sprecherin und zurück setzt sich im Folgenden fort. Betrachtet man die Stellen in Silkes Äußerung, an denen Roland sich ihr zuwendet, sind es Erklärungen (er hat nämlich den bass; Abb. 9) oder exemplarische Ausgestaltungen der Szene (plakativ an=er brücke stehen …; Abb. 11). Im sechsten Bild (Abb. 11) erfolgt sein Blick simultan mit einer deutlichen Geste (hochgehobene Hand) der Sprecherin. SI: wasser | UL: aber da|für muss er UL: ihn erstmal stellen ** UL: also er müsste * der mü/ UL: der müsste ihn Abb. 12: [ RO SENKT AUGEN ] In Abb. 12 sieht man, dass Roland infolge eines Sprecherwechsels von Silke zu Ulla seinen Kopf zwar weiterhin in die Richtung der beiden gewandt hält, während Ullas Ausführungen die Augen jedoch nach unten senkt. Dies ist der einzige Fall, in dem er körperlich mit dem Kopf in Richtung der verbal Aktiven orientiert ist, sein Blick jedoch nach unten geht. Erinnert man sich an dieser Stelle daran, dass der Blick zu Ulla während ihres längeren Beitrags (Abb. 7) auch nur ausgesprochen kurz war, so liegt die Hypothese nahe, dass der deutliche Verzicht auf dauerhafte Blickzuwendung zu Ulla auf eine mögliche Nähe-Distanz-Regulierung und deren Implikationen zurückzuführen ist: Die Person, die sehr nah zu ihm platziert ist, blickt er kürzer an als Personen, die in einiger Entfernung von ihm sitzen. RA: +ja moment UL: erreichen RA: aber dafür muss ich RA: auch wissen ob der RA: junge das wirklich RA: ernst Abb. 13: [ RO BLICKT AUF TISCH ] Daniela Heidtmann / Marie-Joan Föh 276 RA: meinen kö“nn|te in| UL: |>könnte<| RA: dem er das in dem RA: moment bin bin ich ja RA: völlig Abb. 14: [ RO BLICKT ZU RA ] RA: orientierungslos an RA: der figur Abb. 15: [ RO BLICKT AUF TISCH ] Die letzten drei Bilder dieser Folge (Abb. 13-15) setzen das oben gezeigte Muster der „post-transitionalen“ Koordination und die anschließende Orientierung zum Tisch fort. Roland ist nun auf Ralf, den Dozenten, orientiert. Inhaltlich gesehen erfolgt Rolands Umorientierung, als Ralf in seiner Kritik auf die Glaubwürdigkeit von Silkes szenischer Idee zu sprechen kommt (dafür muss ich auch wissen ob der junge das wirklich ernst meinen kö “ nnte). Betrachtet man die eingefügten Bilder im sequenziellen Verlauf der Äußerungen, erkennt man bezüglich Rolands Verhalten vier systematische Aspekte: 1) Jeder Blick zu einem amtierenden Sprecher wird von einem Blick auf den Tisch abgelöst. Erst danach erfolgt eine erneute Zuwendung. 2) Die Blickorientierung zu einem neuen Sprecher erfolgt immer erst, nachdem dieser bereits erste Teile seiner Äußerung produziert hat („posttransitional“). 3) Exemplifizierungen (SI: plakativ), deutliche Gesten und Äußerungen von zentralen Kritikpunkten (RA: ernst meinen) führen zur Umorientierung. 4) Der direkte Blickkontakt zu denjenigen, die weiter von Ralf weg sitzen, geschieht über längere Zeit, der zu Ulla, die direkt neben ihm sitzt, nur sehr kurz, bzw. mit Kopfhinwendung und gleichzeitigem Augensenken. Verbale Abstinenz als Form interaktiver Beteiligung 277 Demzufolge lässt sich Rolands Verhalten in vielerlei Hinsicht als „verbale Abstinenz“, d.h. als eine Form interaktiver Beteiligung, charakterisieren: Die inhaltliche Motivierung seines Blickverhaltens gibt Hinweise auf die Aspekte, die er wahrnimmt und auf die er reagiert, wobei die Art und Weise seiner körperlichen Ausrichtung auch als Folge einer Nähe-Distanz-Regulierung interpretiert werden kann. 10 Ein solches Verhalten ist nicht ausschließlich gesprächsorganisatorisch gegründet, es hat jedoch spezifische gesprächsorganisatorische Implikationen: Roland signalisiert, dass er sich nicht als Sprecher zur Verfügung stellt, denn er reagiert nicht „turn“-antizipatorisch (z.B. körperliche Variante zur „caveatspeaker-Technik“) 11 und scheint außerdem immer wieder mit der Verarbeitung der Ideen anderer Gruppenmitglieder befasst. Dies zeigt sich dadurch, dass er die Orientierung auf die wechselnden Sprecher nicht konstant während ihres gesamten Beitrags aufrecht hält, sondern zwischenzeitlich immer wieder nachdenklich und konzentriert vor sich auf den Tisch blickt. Dieses Verhalten ist eine Möglichkeit, den verbal aktiven Gruppenmitgliedern zu verdeutlichen, dass er sich momentan zwar der verbalen Ideengenerierung enthält, bezüglich ihrer Aktivitäten und Vorschläge jedoch präsent, aufmerksam und damit in den gemeinsamen Arbeitsprozess integriert ist. Vergleicht man Rolands Verhalten an dieser Stelle mit dem Verhalten von Markus, dann wird deutlich, dass Ersterer viel aktiver ist, während Markus fast regungslos da sitzt. Dies hängt - so unsere Einschätzung - mit den Implikationen der Sitzplatzverteilung zusammen. Wie anhand der folgenden Skizze zu erkennen, kann Markus die Dozenten, die ihm gegenübersitzen, anschauen, ohne seine Körperposition verändern zu müssen. Roland hingegen sitzt so, dass er, um sowohl Ralf, als auch seine Kommilitoninnen Silke und Ulla anblicken zu können, den Kopf wenden muss. Dabei befindet er sich genau zwischen den verbal Aktiven und wird von der Interaktion der Dreiergruppe, die räumlich gesehen „knapp an ihm vorbei“ diskutiert, unmittelbar tangiert. Ausgehend von dieser Beobachtung liegt die Überlegung nahe, dass eine Interdependenz zwischen der Sitzposition und dem körperlichen Verhalten besteht, die zur Folge hat, dass Roland angehalten ist, deutlicher auf den „interaktiven Sog“ zu reagieren als Markus. Letzterer muss, um für die Dozenten wahrnehmbar Aufmerksamkeit zu signalisieren, nur die Augenlider heben. 10 Zu Auswirkungen körperlicher Nähe auf das Blickverhalten der Beteiligten siehe Tiittula (i.d. Bd.). 11 Siehe Jefferson (1993). Daniela Heidtmann / Marie-Joan Föh 278 Kamera Abb. 16: Sitzpositionen Ein weiterer Aspekt, der hinsichtlich der Implikationen spezifischer Sitzplätze zu reflektieren ist, ist die Position der Videokamera: Sie fokussiert Roland quasi „face-to-face“, was ein Grund dafür sein könnte, dass er nur nach rechts, links, auf den Tisch oder an die Decke blickt, nicht aber direkt zur Kamera. Markus hingegen, der die Kamera, die sich an seiner rechten Seite und damit am Rande seines Gesichtsfeldes befindet, nicht so unmittelbar wahrnehmen kann, muss sich tendenziell weniger zu ihr koordinieren (zu den möglichen Implikationen sichtbarer Ereignisdokumentation siehe auch Schmitt/ Fiehler/ Reitemeier i.d. Bd.). 4.3 Etablierung einer Interaktionsdyade zwischen Ulla und Silke: Rolands Distanzierungsverhalten Die Ausgestaltung der Verfolgungsszene lag - wie in den vorherigen Transkriptausschnitten deutlich wurde - hauptsächlich bei Silke und Ulla. In einem längeren Beitrag zeigt Ulla diese Beziehung auch durch eine deutliche UL SI HA RA MA RO EX Verbale Abstinenz als Form interaktiver Beteiligung 279 Zuwendung zu Silke an und etabliert mit dieser durch ihre körperliche Orientierung und verbal (direkte Adressierung: weißt du was ich meine) eine Interaktionsdyade innerhalb der Pitching-Gruppe. Inhaltlich wird die Ideenentwicklung, bei der Ulla versucht, zwei im Raum stehende Vorschläge zu verbinden, immer undurchsichtiger und die Referenzen auf die handelnden Personen immer unklarer. Die anderen Gruppenmitglieder sind währenddessen offensichtlich nicht auf die Dyade orientiert. 12 Abb.17: Interaktionsdyade von Ulla und Silke, Orientierung der Anderen Roland reagiert, nachdem er 27 Sekunden seine Bewegungen „eingefroren“ und vor sich auf den Tisch gestarrt hat, mit deutlichen Anzeichen von Nicht- Verstehen, aber auch von Missfallen und Distanzierung: UL: #is der so in die enge getrieben dass er dass er äh K #RO BLICKT DIE GANZE ZEIT UNBEWEGT AUF DEN TISCH UL: handeln muss also und zwar nich se/ sondern dass er UL: sagt okay“ dann i/ ihm vorspielt *3* also vielleicht UL: is es in der verbi“ndung also vielleicht is es in UL: der verbindung dass er *1,5* sich gemeinsam #damit K #RO HEBT UL: runterschmeißt ** aber er müsste sich also K HAND VOR DIE STIRN Roland hebt, während Ulla damit sagt, seine rechte Hand vor die Stirn und blickt dabei angestrengt nachdenkend an die Decke. Dann löst er seine Hand, 12 Ralf kann man aufgrund seiner Sitzposition nicht sehen. Daniela Heidtmann / Marie-Joan Föh 280 führt sie kurz vor die Augen, als wolle er durch das Ausblenden visueller Eindrücke seine Konzentrationsfähigkeit erhöhen und fährt sich anschließend durch das Haar. Danach bringt er die Hand weiter über den Kopf nach hinten, lässt sie kurz am Hinterkopf liegen und bewegt sie weiter Richtung Nacken. Er lehnt seinen Körper insgesamt weiter nach hinten und „entfernt“ sich damit von dem Arbeits-Geschehen am Tisch. 13 Abb. 18-22: Rolands Arm- und Handbewegungen Die Selbstberührung sowie die deutliche Dehnung des Oberkörpers stehen im deutlichen Kontrast zu Rolands vorherigen minimalistischen Blickwechseln und haben potenziell Kommentar-Qualität. 4.4 Rolands „passing“-Technik Simultan mit einer Nachfrage von Silke, die zeigt, dass auch sie Ullas Argumentation nicht mehr folgen kann (SI fragt: der junge ↑ ) formuliert Ralf, der Dozent, eine Frage: wo wollt ihr denn hin. Die Adressierung der Frage (ihr) ist in diesem Kontext mehrdeutig. Sie kann die Dyade „Ulla-Silke“ meinen, die im unmittelbaren Kontext verbal aktiv war, sie kann jedoch auch an das gesamte studentische Team gerichtet sein und wäre dann der Versuch, wieder alle Studenten verbal am Geschehen zu beteiligen. Roland wird nun selbst auch verbal aktiv, indem er die Frage des Dozenten zitiert: wo wollt ihr denn hin. Dabei wendet er sich körperlich Ulla und Silke, der Interaktionsdyade, zu. 13 Es ist in den Pitchings zu beobachten, dass die Arbeitsdynamik weitgehend mit der körperlichen Orientierung der Beteiligten synchronisiert ist. Diese Orientierung bildet sich u.a. in der Nähe-Distanz-Regulierung zum gemeinsamen Tisch ab. Der Tisch ist das Objekt, das die Teilnehmer verbindet und zugleich die „Gruppenmitte“ konstituiert. In Phasen engagierter Zusammenarbeit rücken die Beteiligten näher zusammen und stützen meist die Arme auf den Tisch und beugen den Oberkörper nach vorn in Richtung Tischmitte, den Kopf meist zu aktuellen Sprechern. Zurücklehnen vom Tisch und Körperöffnung (z.B. durch ausladende Positionierung der Arme hinter den Kopf) hat in den meisten Fällen auch mit einer Distanzierung vom aktuellen Arbeitsgeschehen zu tun. Verbale Abstinenz als Form interaktiver Beteiligung 281 Das Zitat ist in zweifacher Hinsicht implikativ: Zum einen scheint sich Roland auf unmarkierte Weise an den Dozenten „anzuhängen“. Dies kann für das gemeinsame Arbeiten durchaus problematisch sein, denn Ralfs Intervention ist didaktisch motiviert und hat damit spezifische Statusimplikationen. Für Rolands Position innerhalb des studentischen Teams könnte der unmittelbare Zitatcharakter seiner Äußerung durchaus negative Beziehungsimplikationen haben. Zum anderen gibt es eine klare Motivierung für seine Frage, die zwar nicht unbedingt das Zitat-Format erklärt, jedoch inhaltlich für Rolands Aktivität spricht: Auch er - als Mitglied des studentischen Teams - versteht Ullas szenische Argumentation nicht und „kämpft“ mit dem gleichen Verständnis-Problem, wie der Dozent. Dies kann ein Hinweis darauf sein, dass sich Roland durch das „Anhängen“ an den Dozenten temporär von der Arbeit seines Teams distanziert. Noch während Roland seine Frage formuliert, dreht er seinen Kopf in Richtung der Dyade, belässt die rechte Hand jedoch weiterhin im Nacken und hält damit seine deutliche Distanzierungshaltung für die Anderen präsent. Indem er als Teammitglied die Frage des Dozenten wiederholt, kommt es zu einer Reduktion möglicher Adressaten. Waren in Ralfs Frage noch potenziell zwei Adressatenkreise angelegt, nämlich zum einen die Dyade und zum anderen das gesamte studentische Team, so schließt sich Roland nun durch eine explizite Selbstabwahl als möglicher Adressat aus: Er reicht Ralfs Frage an die Dyade weiter. Hier erkennt man ein Phänomen, das Jefferson/ Schenkein (1978) als „passing“ bezeichnet haben. Sie begreifen „passing“ als Aktivität where the initiator of some sequence [...] is processed to alternative, legitimate, or in other ways preferred performers of the occasioned next action (ebd., S. 158). Durch das „passing“ gibt Roland indirekt zu verstehen, dass Ralfs Frage nicht an ihn, sondern nur an seine beiden Teamkolleginnen gerichtet sein kann und fordert ihn indirekt auf, bei den beiden nachzufragen („you might ask them, I don't know“; ebd., S. 157). Das „passing“ ist somit gesprächsorganisatorisch implikativ. Es verweist außerdem retrospektiv auf seine vorherige verbale Passivität während der Szenen-Gestaltung. Da er nicht aktiv in die Planung der Verfolgungsszene involviert war, kann er auch nichts zu deren Endpunkt sagen. Damit immunisiert er sich gleichsam gegen die in Ralfs Frage angelegte Kritik („Euer Ziel in der szenischen Argumentation ist Daniela Heidtmann / Marie-Joan Föh 282 nicht klar“) und macht sich unangreifbar. Er liefert einen expliziten Account dafür, dass er sich von einem Teil seines Teams distanziert und übernimmt keine Verantwortung für die Ideen seiner Kommilitoninnen. Dass Rolands „passing-Technik“ erfolgreich ist, sieht man in der nächsten Äußerung. Silke, die nun für die Dyade spricht, expliziert die Grundlage und Intention ihrer szenischen Überlegungen. 4.5 Fazit der Analyse und Kontrastierung Die Analyse zeigt, dass Roland sein körperliches Verhalten abhängig von unterschiedlichen Kernaktivitäten des Teams in jeweils spezifischer Weise mit dem verbalen Geschehen koordiniert. Seine Koordinierungsaktivitäten variieren in den vier herausgearbeiteten Segmenten von „let-it-pass“ mittels Denkerpose, über „aufmerksames Verfolgen des Verbalen“ und „Kommentierungsbzw. Distanzierungsverhalten“ bis zum verbalen „passing“. Dabei wird sein Verhalten, mit dem er im Kontext der „turn“-Aushandlung durch das Team anzeigt, dass er den „turn“ nicht übernehmen wird, zunehmend expliziter: Während das erste Segment eine implizite, auf einer Geste basierende Form der Selbstabwahl darstellt, ist das vierte Segment eine explizite verbale Selbstabwahl. Kontrastiv und ergänzend zu Roland möchten wir an dieser Stelle kurz die Beteiligungsweise von Markus, einem weiteren Studenten, betrachten, die in dem präsentierten Ausschnitt ebenfalls als „verbale Abstinenz“ charakterisiert werden kann. Im Gegensatz zu Roland sitzt Markus den Dozenten gegenüber. Auf den ersten Blick ist er viel unbewegter als Roland und scheint sich körperlich weniger ersichtlich mit dem Interaktionsgeschehen zu koordinieren. Die detaillierte analytische Betrachtung zeigt jedoch, dass auch sein Verhalten variiert und sich situationssensitiv und inhaltlich motiviert verändert. Dies geschieht immer kurz vor oder nach den erkennbaren Verhaltenswechseln bei Roland. Zuerst nimmt Markus, als die konditionelle Relevanz etabliert ist, ebenso eine Denkerpose ein, wie zuvor Roland und bleibt in dieser Haltung sehr lange unbewegt. Als Roland nach dem genauen Verfolgen der Interaktionsdynamik erste Distanzierungsaktivitäten durch das Einfrieren seiner Bewegungen und den langen Blick auf den Tisch signalisiert, führt Markus seine andere Hand zum Mund ohne dabei die Sitzpositur zu verändern. Kurz vor Verbale Abstinenz als Form interaktiver Beteiligung 283 Rolands deutlichen Selbstberührungen, bei denen er sich zurücklehnt und sich auffällig mit einer Hand durch die Haare fährt, zieht Markus langsam beide Augenbrauen hoch und lässt sie wieder sinken. Dieses Verhalten geschieht unmittelbar nachdem Ulla einen neuen inhaltlichen Aspekt formuliert hat und trägt somit erkennbar kommentierende Züge. Markus stützt danach sein Kinn auf die Handballen, während er die Finger vom Mund zu den Wangen führt. Kurze Zeit später, während der Frage des Dozenten (wo wollt ihr denn hin), die von Roland wiederholt wird, führt Markus eine Hand vom Gesicht zurück zum Tisch und spielt mit einer Mandarinenschale. Abb. 23: Sitzordnung Die Verhaltensänderungen und Koordinierungsleistungen von Markus sind zeitlich und strukturell gesehen mit denen von Roland vergleichbar; die spezifischen multimodalen Verhaltensrealisierungen der beiden variieren jedoch. Hierfür sind zwei Gründe maßgeblich, nämlich ihre Positionierung zu den Dozenten und zur Kamera (siehe auch die Darstellungen in Abschn. 4.2). Diese Positionierungen tragen dazu bei, dass Rolands koordinative Aktivitäten deutlicher zu sehen sind als die von Markus. Die Art und Weise, wie koordinative Anforderungen bearbeitet werden, und welche Ressourcen dafür eingesetzt werden, hängt also in diesem Beispiel deutlich von der räumlich-positionalen Konstellation ab. 14 14 Zur Adaptivität von Koordinationsressourcen an lokal-spezifische Bedingungen und Anforderungen siehe auch Deppermann/ Schmitt (i.d. Bd.). Daniela Heidtmann / Marie-Joan Föh 284 Ungeachtet der Varianz der von Markus und Roland eingesetzten Koordinationsressourcen sind die von ihnen realisierten Verhaltensweisen ein gutes Beispiel dafür, dass Gruppenmitglieder, die phasenweise verbal nicht zur Bearbeitung der Kernaufgabe beitragen, auf anderen Modalitätsebenen aktiv sein können. Um dieses Phänomen interaktionstheoretisch adäquat fassen zu können, möchten wir die folgende Differenzierung vorschlagen: Wir betrachten das vorliegende soziale Ereignis „Pitching“ als durch die Beteiligten konstituierte spezifische Form interaktiver Ordnung. Diese umfasst die Gesamtheit aller sequenziell und simultan hervorgebrachten Ausdrucksformen der Beteiligten in dem durch die Aufgabe definierten Kontext: Hierzu gehören zum einem die Durchführung verbaler Kernaktivitäten unter Berücksichtigung aller damit zusammenhängenden Ausdrucksmittel, zum anderen alle übrigen Verhaltensweisen, die nicht zur Bearbeitung der verbalen Kernaktivität beitragen, jedoch konstitutiver Bestandteil der aktuellen Situation sind. 15 Rolands und Markus' Beteiligungsweisen sind zwar systematisch auf die Kernaktivität bezogen, leisten aber keinen Beitrag zu deren Bearbeitung. Die traditionelle Perspektive der Konversationsanalyse war bisher in Zusammenhängen, in denen Verbalität die zentrale Modalität zur Bearbeitung der geltenden Kernanforderungen darstellte, auf die Analyse des verbalen Geschehens gerichtet. Der multimodale Blick erlaubt nun auch die analytische Fokussierung auf verbal abstinente Beteiligte und deren Wahrnehmungs-, Interpretations- und Analyseleistungen des laufenden Interaktionsgeschehens. In Bezug auf die Differenzierung zwischen interaktiver Ordnung und Kernaktivität lässt sich auch die begriffliche Bestimmung von Rolands Verhalten als „verbale Abstinenz“ reflektieren. Diese definiert sich in Bezug auf die verbale Kernaktivität. Nur hier ist Roland abstinent. Welchen theoretischen Stellenwert hat aber ein Konzept wie „verbale Abstinenz“ in unserem Erkenntniszusammenhang? Es ist zunächst ein heuristisches und in diesem Sinne auch sensitivierendes Konzept, dessen Potenzial darin liegt, eine Phänomenklasse zu umreißen, die anschließend systema- 15 Eine begriffliche Kategorisierung des zuletzt aufgeführten Aspekts steht noch aus. In konversationsanalytischer Tradion und damit konzentriert auf das Verbale und die Fokussierung des Inhaltlichen kann man Zusammenhänge wie die Bearbeitung einer verbalen Kernaktivität relativ eindeutig als solche bestimmen. Hingegen sind die oben beschriebenen Verhaltensweisen, die Bestandteil der interaktiven Ordnung sind, bislang nicht in systematischer Weise anhand von Videodaten untersucht und können demzufolge noch nicht angemessen kategorisiert werden. Verbale Abstinenz als Form interaktiver Beteiligung 285 tisch untersucht werden kann. Es fokussiert eine für die Konstitution interaktiver Ordnung wichtige, jedoch bislang weitgehend vernachlässigte Form interaktiver Beteiligung und fordert dazu auf, deren segmentale und sequenzielle Spezifik im Laufe der Analyse systematisch und aus multimodaler Perspektive umfassend herauszuarbeiten. Das Konzept macht zunächst keine Aussage darüber, ob es sich bei dieser spezifischen interaktiven Beteiligungsweise um ein „unauffälliges“ Schweigeverhalten handelt oder um ein demonstratives „Sich-Zurückziehen“. Eine methodische Implikation des Konzepts besteht in einem zweiteiligen Analyseverfahren: Der Ertrag der visuellen Erstanalyse liegt in der Erarbeitung der sequenziellen Entwicklung von Rolands Verhalten und der Unterscheidung einzelner Segmente. Der sich daran anschließende Bezug auf die verbale Kernaktivität führt zur Differenzierung von vier unterschiedlichen Aktivitäten, die von „passing“ über „aufmerksames Verfolgen des Verbalen“ und „Kommentierungs- und Distanzierungsverhalten“ bis hin zum verbal realisierten „let-it-pass“ reichen. Die dargestellte Vorgehensweise eröffnet neben den aufgeführten Erkenntnismöglichkeiten auch neue methodische Fragen und Analyseprobleme, von denen wir im Folgenden einige diskutieren werden. 5. Theoretische Implikationen der Analyse Die Ergebnisse unserer Analysen haben vor allem hinsichtlich zweier konversationsanalytischer Konzepte Implikationen. Hierbei handelt es sich um das Display-Konzept (5.1) und die „turn-taking“-Organisation (5.2). 5.1 Das Display-Konzept Eine zentrale Frage, die durch unsere Analyse aufgeworfen wird, ist die kategoriale Beschreibung von Rolands Verhaltensweisen im Kontext unseres Erkenntnisinteresses. In der konversationsanalytischen Literatur wird für unterschiedliche körperliche Koordinierungsaktivitäten eines Gesprächsbeteiligten zu seinem Gegenüber der Terminus „display“ 16 verwendet. Das Display- Konzept ist als Bezugspunkt für unsere Analyse deswegen interessant, weil es auch diejenigen betrachtet, die zeitweise verbal nichts zur laufenden Interakti- 16 Siehe Goodwin (1981) zu „engagement“- und „disengagement displays“ sowie Heath (1982) zu „recipiency“- und „availability displays“. Daniela Heidtmann / Marie-Joan Föh 286 on beitragen, jedoch über ihr sonstiges körperliches Ausdrucksverhalten ihren Beteiligtenstatus ausdrücken und die laufende Interaktion kommentieren. Bei genauer Betrachtung und dem Versuch, „display“ für unser Konzept „verbale Abstinenz“ nutzbar zu machen, werden jedoch theoretische und methodische Probleme deutlich, die wir im Folgenden kurz skizzieren und mit Bezug auf unsere Analyse reflektieren werden. 1. Adressiertheit und Anzeigequalität: Das Display-Konzept ist bei der Analyse dyadischer Interaktionszusammenhänge mit „face-to-face“-Positionierung der Beteiligten entstanden und daher nur bedingt auf Interaktion in Gruppen übertragbar. Goodwin und Heath mussten in den von ihnen untersuchten Zwei- Personen-Konstellationen nicht danach fragen, an wen körperliche Ausdrucksformen eines Beteiligten gerichtet sind und von wem sie wahrgenommen werden können: Der Gegenübersitzende war der einzige in Betracht kommende Adressat. Das Display-Konzept ist also auf implizite Idealisierungen sowohl in Bezug auf die Adressiertheit als auch auf die Anzeigequalität körperlicher Ausdrucksweisen zu befragen („for its recipient“; siehe Heath 1982, S. 154). Die von uns analysierten Koordinierungsaktivitäten Rolands sind, wie bereits deutlich wurde, hinsichtlich ihres Bezugspunktes nicht an jeder Stelle eindeutig bestimmbar und können sowohl auf Teammitglieder, Dozenten oder sogar auf die Kamera bezogen sein. In Abhängigkeit von ihrem jeweiligen Bezugspunkt und der Perspektive der anderen Gesprächsteilnehmer sind sie in der Terminologie Goodwins (1981) an ein und derselben Stelle sowohl als „engagement display“ als auch als „disengagement display“ beschreibbar. Eine grundsätzliche Frage ist demnach, ob körperliche Verhaltensweisen, die bislang als Display-Realisierungen konzeptualisiert worden sind, tatsächlich immer für jemanden sind? Der Aspekt des „Anzeigens“, der sich aus dem Englischen „to display“ ableitet, ist in dem von uns analysierten Ausschnitt nicht immer zu erkennen. Aufgrund der Fülle multimodaler Informationen kann man nicht entscheiden, welche der Verhaltens-Aspekte einer Person von anderen Beteiligten interaktiv relevant gesetzt werden. Das von uns herausgearbeitete „let-it-pass-Verhalten“ im Rahmen einer etablierten konditionellen Relevanz hat tendenziell Anzeige-Qualität, weil es auf Grund der interaktionsstrukturellen Bedingungen als Sequenzkomplettierung verstanden wird. Demgegenüber ist fraglich, ob dies z.B. für Blicke zu den amtierenden Sprechern in gleicher Weise gilt. Unter dieser Voraussetzung wäre für die Display-Qualität einer Aktivität auch der vorgängige Kontext bzw. die interaktive Spezifik entscheidend. Verbale Abstinenz als Form interaktiver Beteiligung 287 2. Analytische Präzision: Das Display-Konzept kann auf ein großes Spektrum unterschiedlicher Koordinierungsaktivitäten bezogen werden. Unser Material hat gezeigt, dass beispielsweise „Zuwendung zu einem Interaktanten“ abhängig von räumlich-personalen Gegebenheiten sehr unterschiedlich in Bezug auf Art und Dauer von Blickverhalten realisiert werden kann (zur Nähe-Distanz-Regulierung, siehe Abschn. 4.2). Diese verschiedenen Verhaltensrealisierungen lediglich als „engagement display“ zusammenzufassen, würde die analytische Präzision, die beim Auffinden dieses Aspektes zentral war, zum Großteil wieder aufheben. Ein weiterer Aspekt in diesem Zusammenhang ist der grundsätzliche interaktive Status von körperlichen Koordinierungsaktivitäten. Einige können eher der Selbstorganisation dienen und werden doch von anderen Anwesenden als an sie gerichtete Aktivitäten verstanden; andere Formen können in Richtung eines anderen Interaktionsbeteiligten eine Kommentarfunktion haben, werden aber entweder überhaupt nicht wahrgenommen oder von den Anwesenden als Selbstorganisation verbucht. Ein eindeutiger Zusammenhang von „kommunikativer Absicht“ und „kommunikativer Wirkung“ ist gerade aufgrund der simultan existierenden Fülle von körperlichen Ausdrucksformen nicht gegeben. Der interaktive Status von Koordinierungsaktivitäten kann in Gruppenkonstellationen mit der dyadisch gegründeten Display-Vorstellung nicht hinreichend konzeptualisiert werden. Dies liegt - neben den bereits angeführten Gründen - auch daran, dass die empirische wie theoretische Grundlage, den Display-Charakter von körperlichen Ausdrucksweisen als adressiertes und interaktiv relevant gesetztes Verhalten zu erfassen, im Moment noch nicht tragfähig ist. Eine wesentliche Voraussetzung einer solchen Klärung ist die systematische Reflexion des kategorialen Status von „in einer Interaktion beobachtbarem multimodalem Verhalten“ (auch koordinativer Art) und „zielgerichteten und damit adressierten multimodal realisierten Handlungen“. 17 Aus diesen Gründen verzichten wir daher darauf, Formen „verbaler Abstinenz“ als „display“ zu konzeptualisieren. 17 Hier stellt sich die Frage, ob für koordinative Aktivitäten, die auf unterschiedlichen Ausdrucksebenen realisiert werden, die für verbal basierte Aktivitäten angenommene Vorstellung von „accountability“ gilt, also der Annahme von untrennbarer Gleichzeitigkeit des Handlungsvollzuges und der Handlungsbeschreibung. Daniela Heidtmann / Marie-Joan Föh 288 5.2 „Turn-taking“-Organisation Aus unserer Analyse ergibt sich außerdem die Notwendigkeit, das klassische „turn-taking“-Modell 18 aus multimodaler Perspektive zu reflektieren. Dies wollen wir im Folgenden anhand von vier Aspekten verdeutlichen, die in dem klassischen Modell noch nicht oder nicht in der notwendigen Klarheit berücksichtigt sind: 1. „not taking turns in conversation“: Die Analyse des Ausschnitts hat gezeigt, dass Gesprächsteilnehmer nicht nur anzeigen, dass sie sich als Sprecher etablieren wollen, sondern auch, dass sie keinen „turn“ beanspruchen. Die verschiedenen Formen, mit denen sie „accountable“ machen, dass sie sich nicht als Sprecher etablieren wollen, führen mit Schmitt (2005) zu der Überlegung, das gängige „turn-taking“-Modell um eine Komponente „simplest systematics for not taking turns in conversation“ zu erweitern, „welche die typischer Weise sprachlosen Techniken der Selbstabwahl von Interaktionsbeteiligten beschreibt“ (ebd., S. 24f.). Nach Schmitt ist nicht nur die Etablierung als Sprecher „eine interaktive Leistung, die in Abstimmung mit anderen Beteiligten und mittels sequenzieller Einpassung in die lokalen Interaktionsstrukturen realisiert werden muss“, sondern „auch die situationsangemessene, sequenziell eingepasste Darstellung des Verzichts, die Sprecherrolle zu übernehmen“ (ebd.). 2. Sprecherstatus als „accomplishment“ aller Beteiligten: Die multimodale Analyseperspektive ermöglicht es, Aussagen darüber zu machen, inwiefern körperliche Ausdrucksformen von Interaktionsteilnehmern, die temporär nicht mit der verbalen Bearbeitung der Kernaufgabe befasst sind, für die Konstitution des Status des aktuellen Sprechers relevant sind. Zum Beispiel können sie, indem sie selbst in sozial ersichtlicher Weise den „turn“ nicht beanspruchen (siehe „let-it-pass-Technik“), dazu beitragen, dass der folgende Sprecher den „turn“ übernehmen kann. Sie können es ihm weiterhin ermöglichen, seinen Beitrag zu realisieren (siehe „Aufmerksames Verfolgen“) und sie können die Äußerung durch (auch nicht-verbale) Rückmelder kommentieren (siehe „Kommentierungsbzw. Distanzierungsverhalten“). Außerdem können sie über ihr Verhalten die Expansion der Äußerung mit beeinflussen. All dies sind für die interaktive Anerkennung und Absicherung des Status des aktuellen Sprechers konstitutive Aspekte. Der Sprecherstatus lässt sich 18 Siehe u.a. Sacks/ Schegloff/ Jefferson (1974). Verbale Abstinenz als Form interaktiver Beteiligung 289 demzufolge, ebenso wie der „turn“ und seine Konstruktion als „accomplishment“ aller Beteiligten verstehen (siehe Schmitt 2005, S. 51f.). Im Kontext der Gesprächsorganisation rückt eine solche Konzeption die Beteiligungsweisen aller Interaktionsteilnehmer relativ zu den verbal Aktiven in das analytische Blickfeld. In diesem Zusammenhang kann man danach fragen, wie sich die Vorstellung von Rückmeldern zu einer solchen weit gefassten, dynamischen Konzeption der Statusverdeutlichung des aktuellen Sprechers verhält. 3. Verfahren und Techniken der Vor-Selektion folgender Sprecher: Die multimodale Analyseperspektive auf diejenigen, die sich verbal nicht an der Bearbeitung der Kernaktivität beteiligen, legt es nahe, verbal basierte konversationsanalytische Regelungsmechanismen bei der „turn“-Vergabe und insbesondere das Konzept des „transition-relevance-place“ zu reflektieren. Unser Material hat gezeigt, dass sich die Bereitschaft zur „turn“-Übernahme und die Bekundung von „turn“-Verzicht lange vor dem eigentlichen Sprecherwechsel ankündigen. Solche weit vorgängigen Aushandlungen tragen sowohl zur Konstitution des „transition-relevance-place“ als auch zur Selektion des Folgesprechers bei. Hier wäre also zu überlegen, wie das Konzept von „transition-relevance-place“ erweitert werden kann, damit solche vorgängigen, multimodalen Aushandlungen adäquat integriert werden können. 4. Aushandlung der „turn“-Übernahme in einer Gruppe: Der letzte Aspekt betrifft die „turn“-Vergabe in Situationen, in denen eine Gruppe und nicht eine Einzelperson vor die Aufgabe gestellt ist, eine etablierte konditionelle Relevanz zu bearbeiten. Eine solche Reaktionsverpflichtung stellt die Gruppenmitglieder vor die Aufgabe auszuhandeln, wer den „turn“ übernehmen wird. Wie bereits dargestellt, zeigt sich, dass über die systematische Analyse von Videodaten ein wesentlich breiteres Repertoire an Aushandlungsvarianten und -schritten herausgearbeitet werden kann, als dies anhand einer rein verbalen Datengrundlage der Fall wäre. In Gruppenkonstellation tritt dabei verschärfend hinzu, dass Aushandlungsversuche so angezeigt werden müssen, dass sie von den relevanten Personen wahrgenommen werden können. Die multimodale Analyseperspektive zeigt in diesem Zusammenhang, dass die Bereitschaft und der Verzicht, die Sprecherrolle zu übernehmen, in vielen Fällen gerade nicht verbal erfolgen und sich darüber hinaus sehr komplex und über weite Strecken ausdehnen können. 19 19 Einen zwölfsekündigen, in einer Sprechpause ablaufenden Aushandlungsprozess bei der „turn“-Übernahme innerhalb einer Gruppe beschreibt Schmitt (2004). Daniela Heidtmann / Marie-Joan Föh 290 6. Zusammenfassung Im Folgenden möchten wir noch einmal zusammenfassen, welche Implikationen unsere Analyseergebnisse einerseits für Überlegungen zur Koordination, andererseits für die Konzeption einer multimodalen Vorstellung von Interaktion haben. Mit Blick auf die Koordinierungsleistungen von Interaktionsbeteiligten in Gruppenkontexten hat die Analyse gezeigt, dass sich nicht nur diejenigen koordinieren müssen, die verbal mit der Bearbeitung der Kernaufgabe befasst sind. Koordination ist vielmehr eine generelle Anforderung an alle Interaktanten, bei der diejenigen, die zwar an der verbalen Bearbeitung der Kernaktivität nicht beteiligt sind, dennoch einen wesentlichen und vor allem strukturierten Beitrag zur Konstitution interaktiver Ordnung leisten. Die Varianz von „verbaler Abstinenz“ als einer interaktiven Beteiligungsweise wird damit zum zentralen Untersuchungsgegenstand. Die multimodale Analyseperspektive wirft darüber hinaus ein neues Licht auf etablierte Konzepte wie „turn-taking“ und „display“ und sensibilisiert für neue Forschungsfragen, wie zum Beispiel die Wahrnehmung des Interaktionsgeschehens durch die Beteiligten. Letzteres eröffnet die Möglichkeit zu grundsätzlichen Erkenntnissen über Struktur, Form und Funktion von Wahrnehmungs-, Interpretations- und „Online-Analyse“-Prozessen 20 der Betroffenen hinsichtlich der laufenden Interaktion zu gelangen. Dies ist ein Bereich, in dem im Moment noch kaum systematische Untersuchungen vorliegen. 7. Verwendete Transkriptionszeichen Verzeichnis der Transkriptionszeichen nach DIDA (Diskursanalytisches Transkriptionssystem) des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim. ja |aber | simultane Äußerungen stehen untereinander |nein nie|mals + unmittelbarer Anschluss * kurze Pause (bis max. ½ Sekunde) ** etwas längere Pause (bis max. 1 Sekunde) 20 Erläuterungen zu dem Konzept der „Online-Analyse“, wie wir es hier verstanden haben wollen, finden sich bei Schmitt (i. Vorb.). Verbale Abstinenz als Form interaktiver Beteiligung 291 *3,5* längere Pause mit Zeitangabe in Sekunden = Verschleifung (Elision) eines oder mehrerer Laute zwischen Wörtern / Wortabbruch “ auffällige Betonung (z.B. aber ge “ rn) : auffällige Dehnung (z.B. ich war so: fertig) >vielleicht< leiser (relativ zum Kontext) <manchmal> lauter (relativ zum Kontext) IRONISCH Kommentar zur Äußerung (auf der Kommentarzeile) 8. Literatur Deppermann, Arnulf/ Schmitt, Reinhold (i.d. Bd.): Koordination. Zur Begründung eines neuen Forschungsgegenstandes. Goffman, Erving (1981): Forms of Talk. Oxford. Goodwin, Charles (1981): Conversational Organization. London. Heath, Christian C. (1982): The Displays of Recipiency: An Instance of a Sequential Relationship in Speech and Body Movement. In: Semiotica 42, 2/ 4, S. 147-167. Jefferson, Gail (1993): Caveat Speaker: Preliminary Notes on Recipient Topic-Shift Implicature. In: Research on Language and Social Interaction 26, 1, S. 1-30. Jefferson, Gail/ Schenkein, Jim (1978): Some Sequential Negotiations in Conversation. Unexpanded and Expanded Versions of Projected Action Sequences. In: Schenkein, Jim (Hg.): Studies in the Organization of Conversational Interaction. New York. S. 155-172. Kendon, Adam (1970): Movement Coordination in Social Interaction: Some Examples Described. In: Acta Psychologica 32, S. 100-125. Levinson, Stephen C. (1988): Putting Linguistics on a Proper Footing: Explorations in Goffman's Concepts of Participation. 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Aspekte der Emotionalität, der Affektivität, des Erlebens im Zusammenhang mit kommunikativem Handeln und Interagieren sind in der Konversationsanalyse und überhaupt in der Gesprächsforschung - wie Fiehler in seinem Forschungsbericht (2001) noch beklagt - vernachlässigt bzw. nur vereinzelt oder am Rande behandelt worden. 1 Sie finden erst in jüngster Zeit verstärkte Aufmerksamkeit (vgl. dazu etwa die grundlegenden Analysen und Überlegungen von Charles und Marjorie Goodwin 2000). 2 Auch Untersuchungen zu medizinischen und/ oder therapeutischen Interaktionen widmen sich - abgesehen von wenigen Ausnahmen wie Lalouschek (1993) - erst neuerdings Themen wie „Emotionen in der ärztlichen Sprechstunde“ (Koerfer/ Obliers/ Köhle 2004) oder „Erleben und Emotionalität im Arzt-Patient-Gespräch“ (Fiehler 2005). Dabei ist aus konversationsanalytischer Sicht allerdings zu betonen, dass es nicht um die Beschäftigung mit den Emotionen selbst gehen kann, sondern um deren Darstellung und Bearbeitung in der Interaktion, genauer gesagt: um die Rekonstruktion der kommunikativen Ressourcen, die Interaktionsteilnehmer einsetzen, um Affekte 1 Gleichwohl gibt es frühe Arbeiten aus der Konversationsanalyse oder der Gesprächsforschung, die emotionale Aspekte einbeziehen; ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien als Beispiele genannt: Jefferson/ Lee (1981), Heath (1988), Ochs/ Schieffelin (1989), Fiehler (1990), Selting (1994), Bloch (1996), Bamberg (1997), Niemeier/ Dirven (1997); speziell als Merkmale mündlichen Erzählens sind solche Aspekte in den Blick geraten (vgl. bereits Labov 1972, Quasthoff 1980). 2 Indizien für eine verstärkte Aufmerksamkeit sind z.B. das Symposium „Affect and Emotions in Interaction“ 2005 auf der AILA (Association internationale de linguistique appliquée) in Madison, Wisconsin und auf der „International Conference on Conversation Analysis“ 2006 in Helsinki der Vortrag Couper-Kuhlen (ersch. demn.) sowie eine Reihe von Sektionsvorträgen. Ein Sammelband zu Affekt und Emotion im Gespräch, herausgegeben von Marja-Leena Sorjonen und Anssi Peräkylä bedfindet sich in Vorbereitung. Elisabeth Gülich / Elizabeth Couper-Kuhlen 294 oder Emotionen bzw. die Art und Weise ihrer emotionalen Beteiligung darzustellen. 3 Um an Goodwin/ Goodwin (2000) anzuschließen: Die Aufmerksamkeit richtet sich auf Emotion als soziales Phänomen bzw. auf „emotion as situated practices lodged within specific sequential positions in interaction“ (2000, S. 33). Die Autoren zeigen in ihrer Untersuchung sehr deutlich, dass es für die Analyse der Darstellung emotionaler Beteiligung in Gesprächen unerlässlich ist, alle kommunikativen Ressourcen einzubeziehen, also nicht nur die sprachlichen, sondern z.B. auch den Einsatz von Stimme und Körper. Dazu sind detaillierte Analysen prosodischer, gestischer und kinetischer Phänomene mit Hilfe von Video-Aufnahmen erforderlich. Das zunehmende Interesse an emotionalen Aspekten von Kommunikation und Interaktion in der Gesprächsforschung mag auch damit zusammenhängen, dass für solche Analysen dank der technischen Entwicklungen heute ganz neue Möglichkeiten bestehen. Im Folgenden wollen wir in einer Fallanalyse sprachliche, stimmliche und körperliche Ressourcen bei der (re)konstruktiven Darstellung von Angsterfahrungen und -empfindungen im Arzt-Patient-Gespräch herausarbeiten. Wir stellen einen Gesprächsausschnitt in den Mittelpunkt, in dem ein Patient im Gespräch mit einem Arzt verschiedene Formen von Angst unterscheidet und „szenisch“ darstellt. Dabei orientieren wir uns an einem Konzept „szenischer Darstellung“, das an Goffmans Bemerkungen zum „replaying“ anknüpft. Damit meint Goffman dramatisierende sprachliche Verfahren, mit deren Hilfe Gesprächsteilnehmer anderen vermitteln - nicht nur berichten -, was sie erlebt haben, indem sie es „reproduzieren“ („to reproduce a scene, to replay it“): A tale or anecdote, that is, a replaying, is not merely any reporting of a past event. In the fullest sense, it is such a statement couched from the personal perspective of an actual or potential participant who is located so that some temporal, dramatic development of the reported event proceeds from that starting point. A replaying will therefore, incidentally, be something that listeners can empathetically insert themselves into, vicariously reexperiencing what took place. A replaying, in brief, recounts a personal experience, not merely reports an event (Goffman 1974, S. 504). 3 Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit Emotions- und Affektivitätskonzepten aus linguistischer Sicht vgl. Drescher (2003), die den Begriff „Darstellung emotionaler Beteiligung“ verwendet, um die diskursive und interaktive Seite von Emotion zu erfassen. Zur Entwicklung einer Differenzierung von Angstformen im Interaktionsverlauf 295 Verfahren der szenischen Darstellung sind im Anschluss an Goffman zunächst meist auf sprachliche Mittel beschränkt und vor allem beim Erzählen beobachtet worden. 4 Eins der besonders beachteten und vielfach beschriebenen Verfahren ist die Redewiedergabe in Form der direkten Rede (vgl. dazu vor allem die richtungsweisende Arbeit von Tannen 1991). 5 Aber auch andere sprachliche Mittel wie insbesondere das szenische Präsens 6 und bestimmte Wortstellungsmuster 7 tragen zur Technik der szenischen Vorführung bei. Lucius-Hoene/ Deppermann (2002), die mit „Re-Inszenierungen“ auf Erzählpassagen verweisen, „in denen das vergangene Geschehen so dargestellt wird, als ob es unmittelbar in der Gegenwart, vor den Augen der Gesprächspartner abliefe“ (S. 228), beschreiben als Darstellungsstrategien neben dem szenischen Präsens und der Dialogwiedergabe auch die Reaktualisierung der deiktischen Erlebnisperspektive und der früheren Wahrnehmungs- und Wissensbasis sowie die kleinschrittige und sehr detaillierte Wiedergabe von Handlungssequenzen. Bei der Redewiedergabe weisen sie darauf hin, dass nicht nur sprachliche Phänomene im engeren Sinne zu beachten sind, sondern auch die unterschiedlichen prosodischen Profile, die der Erzähler den Äußerungen der Beteiligten verleiht (ebd., S. 231). Durch die Berücksichtigung der Prosodie ist es bei Re-Inszenierungen oft möglich, mehrere „Stimmen“, und nicht nur die der dargestellten Figuren, zu erkennen. So kann z.B. die Tonhöhe einer wiedergegebenen Äußerung das Geschlecht bzw. das Alter der zitierten Figur darstellen, aber z.B. die Stimmqualität der Wiedergabe, etwa Nasalität oder starke Behauchung, auf eine Evaluierung dieser Figur seitens des Erzählers hinweisen. Die potenzielle Überlagerung von Figur- und Erzähl-„Stimmen“ ist somit eines der Hauptmerkmale der szenischen Darstellung im Gespräch (vgl. Couper-Kuhlen 1999, Günthner 1999, Klewitz/ Couper-Kuhlen 1999, Günthner 2000). 4 Z.B. Hausendorf/ Quasthoff (1996) stellen das „szenische Muster“ dem „Berichtsmuster“ gegenüber. 5 Vgl. auch Günthner (2000), die bei der Analyse von Vorwurfsaktivitäten ausführlich auf die Rolle der Redewiedergabe eingeht (vgl. bes. Kap. 4). Zum Thema Redewiedergabe im Gespräch gibt es eine fast unübersehbare Menge an Literatur, deren Darstellung den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde. Wir erwähnen hier lediglich einige der neueren Arbeiten, vor allem solche, die sich auf deutsche Daten beziehen. 6 Zum „szenischen Präsens“ und seiner Funktion in mündlichen Erzählungen im Englischen siehe auch Schiffrin (1981) und Wolfson (1982); zum Deutschen vgl. z.B. Günthner (2000), bes. Kap. 4.7. 7 Vgl. zur Verbspitzenstellung z.B. Günthner (2000), bes. S. 356ff. Elisabeth Gülich / Elizabeth Couper-Kuhlen 296 Besonderes Gewicht gibt Bergmann (2000) den Verfahren der szenischen Darstellung, da er sie als eine eigene Form der Rekonstruktion auffasst, die er als nicht-narrative von der narrativen Form der Ereignisrekonstruktion unterscheidet: „ […] das Erzählmuster [wird] durch inszenatorische Praktiken durchbrochen […]. Vergangenes wird mit Darstellungsmitteln eigener Art in Szene gesetzt, die narrative Darstellung geht in eine dramatische Darstellung über“ (S. 207). Da es als ein besonderes Charakteristikum des Erzählens gilt, dass die mit Erfahrungen und Erlebnissen verbundenen Affekte und Emotionen reinszeniert werden, wird diese Möglichkeit vor allem auch in psychotherapeutischen Zusammenhängen genutzt. 8 Allerdings entsprechen die Begriffe „szenische Darstellung“ oder „Inszenierung“ in Psychotherapie und Psychotherapieforschung nicht unbedingt den in der Linguistik verwendeten Begriffen, deren Verwendung im Übrigen aber auch nicht einheitlich ist. 9 Eine intensive Auseinandersetzung mit dem Konzept „Inszenieren“ als einem gesprächsrhetorischen Verfahren leistet Schmitt (2003), der dabei nicht von einzelnen sprachlichen Phänomenen wie direkte Rede oder szenisches Präsens ausgeht, sondern den Akzent auf konstitutionsspezifische Aspekte und interaktionsstrukturelle Bedingungen legt. Unter „Inszenieren“ versteht er eine Form interaktiver Bedeutungskonstitution, die von den Sprechern deutlich kontextualisiert wird. Inszenieren wird unter bestimmten Kontextbedingungen und lokal begrenzt zur Lösung spezifischer, zumeist klar erkennbarer interaktiver Anforderungen eingesetzt und verfügt über rekonstruierbare strukturelle Eigenschaften (Schmitt 2003, S. 188). Der Ansatz von Schmitt ist für uns insofern besonders interessant, als Inszenieren als Symbolisierung innerer Vorgänge der Sprecher in engen Zusammenhang mit Emotionalität gestellt wird (vgl. ebd., bes. Kap. 3.4) und das „Inszenieren emotionaler Beteiligungsweise“ im Zentrum der Analysen steht (ebd., Kap. 4). Zwar sind die zugrunde liegenden Daten kaum vergleichbar - 8 Vgl. bes. Streeck/ Streeck (2002), U. Streeck (2004), der besonders den interaktiven Aspekt des Inszenierens betont. 9 Die Termini „szenische Darstellung“ und „Inszenieren“ bzw. „Inszenierung“ werden - soweit wir sehen - von den meisten Autoren gleichbedeutend gebraucht oder zumindest nicht ausdrücklich voneinander unterschieden. Wir verfahren in diesem Beitrag ebenso; der Frage, ob eine systematische Unterscheidung sinnvoll wäre, können wir hier nicht nachgehen. Zur Entwicklung einer Differenzierung von Angstformen im Interaktionsverlauf 297 mediale Interaktion zwischen Politikern bei Schmitt, ein Arzt-Patient- Gespräch in unserem Beitrag - aber einige der konstitutiven Aspekte des Inszenierens, die Schmitt in seinen Beispielanalysen als Gemeinsamkeiten herausarbeitet (S. 240ff.), lassen sich auch für unseren Fall fruchtbar machen. So wird sich auch an unserem Gesprächsausschnitt die „Geordnetheit“ zeigen: „Inszenierungen haben eine klare Struktur und werden auch formulierungstechnisch als eigenständige Einheiten markiert“; sie werden konturiert, Beginn und Ende werden markiert (ebd., S. 240). Dadurch heben sie sich vom vorangehenden und vom nachfolgenden Kontext ab („Kontrastivität“). Da sie spezifische interaktive Anforderungen bearbeiten, weisen sie einen deutlichen lokalen Bezug auf („Lokalität“) und haben ein „konkretes rhetorisches Potenzial“ („Funktionalität“). Die sprachlichen Mittel, die in Inszenierungen eingesetzt werden, sieht Schmitt nicht als spezifisch an, sondern als Ausprägungen allgemeiner Verfahren. Als solche nennt er (S. 242f.): Verdichtung/ Redundanz, Konstanz und konvergierende Funktionalität von Darstellungsmitteln, Kontrastivität als Markierungsmittel, ikonische Bedeutung der Formulierungs- und Ausdrucksweise und lokales Außerkraftsetzen geltender Regularitäten des interaktiven Verhaltens. Durch diese verdichteten Ausdrucksmarkierungen werden Inszenierungen als Verhaltenseinheiten ausgewiesen. Wenn wir im Folgenden den Fall einer solchen „Inszenierung“ oder „szenischen Darstellung“ von Angst analysieren, so nehmen wir Anregungen aus den zitierten Arbeiten auf, setzen aber deutlich andere Akzente: - Es geht in unserem Fall nicht (wie bei Goodwin/ Goodwin 2000 und Schmitt 2003) um die Inszenierung emotionaler Beteiligung in der laufenden Interaktion, sondern um die (Re-)Konstruktion von Emotionen. - Dabei beziehen wir uns jedoch nicht auf einen narrativen Kontext (wie Lucius-Hoene/ Deppermann 2002), d.h., es wird nicht eine bestimmte mit Angst verbundene Episode chronologisch rekonstruiert (vgl. Labov 1972), sondern es werden typische Episoden oder Szenen konstruiert. - Gleichwohl spielt die „Redewiedergabe“ - in diesem Fall, die Wiedergabe von Gedanken oder möglichen Äußerungen 10 - dabei eine wichtige Rolle; wir betrachten sie als Kernelement einer Szene. 10 Vgl. Myers (1999), der verschiedene Fälle von „unspoken speech“ als rhetorisches Verfahren beschreibt, und Couper-Kuhlen (i. Dr.). Elisabeth Gülich / Elizabeth Couper-Kuhlen 298 - Wir stellen nicht die sprachlichen Verfahren in den Mittelpunkt (wie es in den meisten Arbeiten zur Redewiedergabe der Fall ist), sondern uns geht es (wie Schmitt 2003) um das Zusammenwirken der verschiedenen kommunikativen Ressourcen. - Auch wenn die Interaktion für das Zustandekommen der „Szenen“ sehr wesentlich ist, nehmen wir die Aktivitäten des Patienten als Ausgangspunkt und konzentrieren uns weitgehend auf die Verfahren, die er zur Differenzierung seiner Ängste einsetzt, da deren Darstellung im Gespräch seine Aufgabe ist. Soweit notwendig und möglich beziehen wir aber auch Aspekte der Interaktion zwischen Patient und Arzt in unsere Analyse ein. Unser Interesse an „Koordination“ richtet sich also primär auf die Art und Weise, wie der Patient im Bemühen, dem Arzt seine Angstempfindungen zu beschreiben, die verschiedenen kommunikativen Ressourcen aus den Bereichen Sprache, Stimme und Körper koordiniert. Damit handelt es sich im Sinne von Deppermann/ Schmitt (i.d. Bd.) in erster Linie um einen Fall von intrapersoneller Koordination, d.h. um die „Abstimmung der unterschiedlichen Ausdrucksmodalitäten seines Verhaltens“ bzw. um die „Selbstorganisation“, die der Patient vorzunehmen hat (ebd., Abschn. 5.1). Es wird sich zwar zeigen, dass dieser „selbstbezogene Aspekt von Koordination“ (ebd.) oft nicht streng von einem partnerbezogenen zu trennen ist, dass also „die intrapersonelle Koordination partnerorientiert gestaltet wird und somit auch interpersonelle Koordination involviert“ (ebd., Abschn. 5.3), aber der Akzent bleibt bei uns gleichwohl auf den intrapersonellen Koordinierungsaktivitäten. Unser Beitrag ist eine Einzelfallstudie. Wir werden lediglich am Ende die Frage aufwerfen, welche Perspektiven für vergleichende Untersuchungen sich aus der Fallanalyse abzeichnen, und versuchen, unsere Ergebnisse zu Ergebnissen anderer einschlägiger Untersuchungen in Beziehung zu setzen. 2. Das Gespräch mit Herrn Rasmus 2.1 Datengrundlage und methodisches Vorgehen Das Gespräch, aus dem wir einen Ausschnitt analysieren wollen, stammt aus dem Korpus der interdisziplinären Kooperationsgruppe „Kommunikative Darstellung und klinische Repräsentation von Angst. Exemplarische Unter- Zur Entwicklung einer Differenzierung von Angstformen im Interaktionsverlauf 299 suchungen zur Bedeutung von Affekten bei Patienten mit Anfallskrankheiten und/ oder Angsterkrankungen“, die vom 1.4.-30.9.2004 am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld gearbeitet hat. 11 Diese Gruppe hat ihre Aufmerksamkeit auf die subjektive Phänomenologie von Ängsten und Angststörungen gerichtet, die in der bisherigen Forschung ebenso wie in der Diagnostik und Therapie von Angsterkrankungen wenig beachtet worden ist. 12 Bei dem Gespräch mit „Herrn Rasmus“ (der Name ist ein Pseudonym), das Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sein soll, handelt es sich um ein Leitfaden-Gespräch mit dem behandelnden Arzt auf einer psychotherapeutisch orientierten Station im Epilepsie-Zentrum Bethel. Von dem Gespräch liegt eine Videoaufnahme vor; anschließend wurde ein Basistranskript nach erweiterten GAT-Konventionen (vgl. Anhang) erstellt. Zusätzlich wurde der ausgewählte Ausschnitt in einzelne prosodische Einheiten eingeteilt, die mithilfe von CLAN 13 in jeweils eigenen Zeilen mit untergeordneten Kommentarzeilen („dependent tiers“) versehen wurden. In den untergeordneten Zeilen wurden syntaktische, lexikalische, prosodische, gestische bzw. rhetorische Auffälligkeiten in der jeweiligen Turnkonstruktionseinheit festgehalten. Auf dieser Grundlage wurden die Beobachtungen dann in Form einer Tabelle systematisiert; dieser Arbeitsprozess kann aus Platzgründen hier nur exemplarisch vorgeführt werden (vgl. Abschn. 3.). Die Ergebnisse zur Angstdifferenzierung wurden schließlich in einer weiteren Tabelle zusammengefasst (vgl. Abschn. 3.2.7). Der Schwerpunkt unserer Analyse wird, wie oben erwähnt, auf der intrapersonellen Koordination der verschiedenen Ausdrucksebenen liegen, da die Daten für die Beobachtung interaktiver Aspekte nur eingeschränkt geeignet 11 Die Mitglieder der Gruppe waren: Brigitte Boothe, Arnulf Deppermann, Maria Egbert, Martin Driessen, Stefanie Gerhards, Matthias Lindner, Harald Rau, Marlene Sator, Meike Schwabe, Jürgen Streeck, Ulrich Streeck; wissenschaftliche Leitung: Jörg Bergmann, Elisabeth Gülich, Martin Schöndienst, Friedrich Wörmann. 12 Mit der Anlage der Untersuchung wurden Anregungen und Ergebnisse aus einem früheren DFG -Projekt aufgenommen („Linguistische Differenzialtypologie epileptischer und anderer anfallsartiger Störungen - diagnostische und therapeutische Aspekte“; vgl. http: / / www.uni-bielefeld.de/ lili/ projekte/ epiling (Stand: Dezember 2006)). 13 Es handelt sich um einen Editor zum Erstellen von CA -Transkriptionen im CHAT -Format http: / / childes.psy.cmu.edu (Stand: Dezember 2006). Elisabeth Gülich / Elizabeth Couper-Kuhlen 300 sind. Das hängt damit zusammen, dass im Epilepsie-Zentrum Bethel schon seit vielen Jahren Gespräche zur diagnostischen und therapeutischen Nutzung durch Videoaufnahmen dokumentiert werden; dies geschieht mit Hilfe einer fest installierten Kamera, die - den klinischen Interessen entsprechend - auf den Patienten gerichtet ist. Gleichwohl sind in begrenztem Umfang auch interpersonelle Koordinationsaktivitäten zu beobachten. Beispielsweise sind zeitweise Veränderungen der Beinhaltung beim ärztlichen Gesprächspartner erkennbar, die - ebenso wie dessen Rezeptionssignale - zur Strukturierung der Interaktion beitragen. Deutlich sichtbar sind auch in manchen Augenblicken die schreibende rechte Hand des Arztes und das Papier, auf dem er schreibt; und man kann sehen, dass der Patient die Schreibaktivitäten wahrnimmt. Ebenso ist beim Patienten oft durch die Blickrichtung die Orientierung auf den Adressaten erkennbar. Da es sich um ein Arzt-Patient-Gespräch handelt und die Anonymität des Patienten gewahrt bleiben muss, können in diesem Beitrag keine Standbilder aus der Video-Aufnahme gezeigt werden. Wir illustrieren daher die wichtigsten körperlichen und gestischen Ausdrucksmittel mit Hilfe von Zeichnungen. 14 2.2 Thematisierung von Angst und prozesshafte Entstehung der Angstdifferenzierung Der für die Analyse ausgewählte Ausschnitt beginnt nach rund achtzehn Minuten und zeichnet sich im Gesprächsverlauf durch den ungewöhnlich lebhaften und intensiven Einsatz stimmlicher und körperlicher Ressourcen aus; insofern heben sich Herrn R.s Aktivitäten als „Inszenierung“ vom vorangehenden und vom nachfolgenden Gesprächsverhalten ab (siehe das Merkmal der „Kontrastivität“ bei Schmitt 2003). Um die Besonderheiten differenziert erfassen zu können, ist der Interaktionsverlauf bis zu dieser Stelle zu berücksichtigen. Das kann hier allerdings nur in summarischer Form geschehen. Folgende Punkte sind festzuhalten: Für den Patienten ist es von Anfang an ein offenbar dringendes Anliegen, über Angst zu sprechen, denn er wartet keine Aufforderung zur Darstellung seiner Beschwerden ab, sondern führt das Thema selbst ins Gespräch ein. Dabei geht es zunächst konkret um die Angst vor der Erfolglosigkeit der Be- 14 Für die Anfertigung der Zeichnungen nach der Video-Aufnahme danken wir Anna Kuhlen. Zur Entwicklung einer Differenzierung von Angstformen im Interaktionsverlauf 301 handlung und um Nachteile, die er möglicherweise in Kauf nehmen muss. Später geht es auch um den Zusammenhang zwischen Angst und Schuld, der ebenfalls vom Patienten selbstinitiiert thematisiert wird. Hingegen ist die Notwendigkeit, die verschiedenen Ängste zu differenzieren, zunächst eher das Anliegen des Arztes. In mehreren Anläufen versucht der Arzt, die Konzentration auf diejenige Angst zu lenken, die in unmittelbarem Zusammenhang mit Anfällen steht. Durch interaktive Arbeit beider Gesprächspartner entsteht schrittweise eine Typologie der Ängste. Zunächst unterscheidet der Arzt drei Formen, die aber zuvor von Herrn R. als Beispiele genannt worden sind: Angst vor Anfallsfolgen, Angst bezogen auf den Ausbildungsgang und Angst im Anfall selbst; dabei benutzt er verschiedene Formulierungsvarianten für die einzelnen Typen. Der Patient unterscheidet dagegen nur zwei Formen; er fasst die Ängste mit konkretem Bezugobjekt (Anfallsfolgen, Studium) zusammen. Bei ihm ist aber zunächst keine klare Trennung zu erkennen, sondern eine eindeutige Differenzierung findet erst im ausgewählten Ausschnitt statt. Da eine deutliche Unterscheidung vorher gerade nicht erfolgte, kann die - unter Einsatz verbaler, stimmlicher und körperlicher Ressourcen - erarbeitete Differenzierung als Resultat eines Entstehungsprozesses betrachtet werden, zu dem beide Interaktionspartner ihren Beitrag leisten. Obwohl Herr R. sein „Vorgefühl“ zunächst als Angst davor, einen Anfall zu bekommen, schildert, finden sich im Laufe seiner Angstthematisierungen Elemente, die sich später als zentral erweisen und somit retrospektiv als „Proto“-Elemente eines anfallsbezogenen Angstzustands verstanden werden können. So werden hier Formulierungen und Darstellungstechniken verwendet, die später bei der Darstellung eines anfallsbezogenen Angstzustands auftauchen: wenn Herr R. „selber sehr in panik“ sei, „ANGST habe; =UNsicherheit; (- -) OB nun vor einem ANfall oder einfach ACH (- - -) kann ich mein leben MEIStern“, fühle er sich „SCHON anfallsgefährdet“. Ein Angstgefühl, das Teil des Anfalls ist, habe er nicht, weil er „bei den anfällen eigentlich wirklich immer ganz WEG“ sei. Obwohl die Qualifizierungen „anfallsgefährdet“ und „weg (sein)“ zunächst von Herrn R. verwendet werden, um das Vorhandensein von Angst-Auren 15 zu bestreiten, kommen exakt diese 15 Unter einer „Aura“ versteht man Vorgefühle, die einem epileptischen Anfall vorausgehen können; dabei kann Angst eine zentrale Rolle spielen. Elisabeth Gülich / Elizabeth Couper-Kuhlen 302 Ausdrücke später bei der Darstellung seiner epileptischen Angstzustände zum Einsatz. Ihre enge Verbindung mit einem unkontrollierbaren körperlichen Zustand kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass Herrn R.s Stimme bei „immer ganz WEG bin“ leicht wegbricht. Auch die Verwendung der direkten Rede bei der Beschreibung der unterschiedlichen Ängste, die hier bereits zu beobachten ist, nimmt Aspekte der späteren szenischen Darstellungen vorweg. Ein weiteres „Proto“-Element der anfallsbezogenen Angst lässt sich in Herrn R.s Prosodie erkennen, wenn er stellenweise von seinem üblichen Stimmregister zu einem höheren Register wechselt, das sich später als charakteristisch für die Darstellung eines epileptischen Angstzustands erweisen wird. Zudem verwendet Herr R. hier schon eine besonders auffällige Tonhöhenkontur, die als eine prosodisch „stilisierte“ Kontur beschrieben werden kann: Die Töne auf den letzten Silben der Einheit (Hauptakzent und ggf. darauffolgenden unakzentuierten Silben) werden konstant gehalten und bilden zusammen eine musikalische Terz (Ladd 1978). Für Laienohren hört sich Herrn R.s Stimme dann kindlich und weinerlich an. Obwohl in diesen Turneinheiten von einer Angst mit konkretem Bezugsobjekt die Rede ist, deuten die prosodischen Merkmale auf einen anfallsbezogenen Angstzustand hin, dem Herr R. am Beginn seiner Anfälle wehrlos ausgesetzt ist. Schließlich gibt es im Vorlauf zum ausgewählten Ausschnitt gestische Hinweise auf die später erfolgende szenische Darstellung von unterschiedlichen Angsttypen. Auffallende großflächige Armbewegungen von unten vor dem Bauch nach oben zum Hals stehen in deutlichem Gegensatz dazu, dass Herr R. zuvor bewegungslos in der Grundhaltung mit beiden Händen im Schoß saß. Solche großflächigen Bewegungen kommen später bei der Darstellung eines alltäglichen Angstzustands vor. Dass sie hier bei der Thematisierung eines Angstzustands auftauchen, den Herr R. als „kein Vorbote des Anfalls“ darstellt, obwohl er - verglichen mit anderen Aura- Beschreibungen - durchaus Charakteristika einer epileptischen Aura aufweist, deutet wiederum auf Herrn R.s zu diesem Zeitpunkt noch wenig differenzierte Auffassung von Angst hin. Die später emergierende Ausdifferenzierung liegt aber im Kern schon darin, dass charakteristische verbale, stimmliche und gestische Ressourcen bereits jetzt mobilisiert werden, auch wenn sie noch nicht zu einem koordinierten typendifferenzierenden Einsatz kommen. Zur Entwicklung einer Differenzierung von Angstformen im Interaktionsverlauf 303 3. Zur Angsttypologie im ausgewählten Ausschnitt 3.1 Die zwei Angsttypen im Überblick Im Folgenden wollen wir nun die von Herrn R. erarbeitete Angsttypologie rekonstruieren und ihre Entstehung in verschiedenen Phasen nachzeichnen. In der voll entwickelten Form wird Herrn R.s Typologie zwei Arten von Angst enthalten, die wir der Einfachheit halber mit „epileptischer Angst“ (Angst I) und „alltäglicher Angst“ (Angst II) etikettieren wollen. Herrn R.s Differenzierung beruht hauptsächlich auf der szenischen Darstellung von zwei lebensweltlichen Situationen, in denen er jeweils unterschiedliche Angstzustände empfindet. Statt verschiedener Benennungen 16 bietet er distinktive Bündel von verbalen, stimmlichen und körperlichen Mitteln an, um die zwei Angstsituationen zu rekonstruieren und differenzierend darzustellen. Diese Mittel sowie ihre zeitliche Koordinierung haben wir in einer „Angsttabelle“ festgehalten, die als Grundlage für die folgende Nachzeichnung gedient hat. Im Folgenden präsentieren wir den ausgewählten Transkriptausschnitt abschnittsweise in der CLAN-Version jeweils zu Beginn unserer Analyse. Um aber unser Vorgehen wenigstens an einem Fall exemplarisch zu verdeutlichen, geben wir für einige Transkriptzeilen aus der ersten Phase das CLAN- Transkript mit den Kommentarzeilen wieder und zeigen den entsprechenden Auszug aus der „Angsttabelle“. CLAN-Transkript: INT Interviewer, RAS Herr Rasmus 1 RAS: äso- 2 (-) 3 INT: u: nd- (1.2) die angst SELBST äh: m (1.0) 4 RAS: bei der angst selbst muss ich halt sagen dass: (.) also 5 (1.9) die angst selbs(.)t 6 (1.6) is: für mich kein vorbote der Übelkei 7 <<all, f> äh der> des ANfalls; 8 (3.4) äso (-) die angst selber macht mich UNsicher; 16 Für Angst II benutzt Herr R. zwar auch das Wort „Schock“, aber er differenziert nicht systematisch zwischen „Angst“ und „Schock“. Elisabeth Gülich / Elizabeth Couper-Kuhlen 304 9 (1.6) äso die angst selber mach (.) 10 stellt mich auf wacklige BEIne un (.) 11 macht mich auch anfallsgeFÄHRdet; 12 (2.6) aber ich=ich hab damit noch nicht das gefühl dass n anfall wirklich KOMMT; 13 (.) äso da=d da fühl ich mich: (.) anfallsgeFÄHRdet 14 aber es ist NICH so (.) ein VORbote; 15 (1.3) ich würd sagen da bin ich äh: : da (- -) 16 da müss muss ich mehr AUFpassen; 17 (- - -) aber es is nich so dass ich äh (1.1) 18 irgendwie: (- - -) 19 <<p, all> mhwie kann man SAgen; > 20 äso dass ich: s (.) 21 mit garantie sagen kann da wird einer KOMmen; 22 INT: hmhm 23 RAS: äso (2.5) Mit den entsprechenden Kommentarzeilen (%SYN: Syntax, %LEX: Lexis (Angst), %PRO: Prosodie, %GES: Gestik, %RHE: Rhetorik) sieht das Transkript für die Zeilen 5-12 folgendermaßen aus: 5 RAS: (1.9) die angst selbs(.)t 6 RAS: (1.6) is: für mich kein vorbote der Übelkei %PRO: charakterische Fallkontur auf "Übelkeit" (abgebrochen) 7 RAS: <<all, f> äh der> des ANfalls; %GES: schüttelt kurz den Kopf in Überlappung mit 'äh' %GES: blickt zum Interviewer am Ende der Einheit %RHE: Selbstreparatur 8 RAS: (3.4) äso (-) die angst selber macht mich UNsicher; %SYN: Einleitung durch "äso" %PRO: charakteristische Fallkontur auf "unsicher" %RHE: 1. Durchgang, Teil 1 "was die Angst macht" %RHE: Rasmus ist Objekt %GES: blickt zum Interviewer am Ende der Einheit 9 RAS: (1.6) äso die angst selber mach (.) %PRO: verzögert durch längere Pause %SYN: Einleitung durch "äso" %RHE: Abbruch mit darauf folgender Selbstreparatur Zur Entwicklung einer Differenzierung von Angstformen im Interaktionsverlauf 305 10 RAS: stellt mich auf wacklige BEIne un (.) %PRO: progrediente Kontur auf "Beine" 11 RAS: macht mich auch anfallsgeFÄHRdet; %RHE: 1. Durchgang, Teil 1, Reformulierung "was die Angst macht" %PRO: charakteristische Fallkontur auf "gefährdet" %GES: blickt zum Interviewer 12 RAS: (2.6) aber ich=ich hab damit noch nicht das gefühl dass n anfall wirklich KOMMT; %GES: blickt zum Interviewer %PRO: verzögert durch längere Pause %PRO: charakteristische Fallkontur auf "kommt" %RHE: 1. Durchgang, Reformulierung zu "sie ist kein Vorbote" %RHE: zugleich Bezugselement für die gesamte nachfolgende Sequenz %SYN: Einleitung durch "aber" Die Kommentarzeilen bilden die Grundlage für die systematisierte Darstellung in der Tabelle: „Angsttabelle“, Z. 5-12: Z e i l e ANGST I („epileptische“ Angst) Formulierungsverfahren Stimme Körper Tonhöhe: Plateau +Stufe nach unten 5-7 die angst selbs (.) t (1.6) is: für mich kein vorbote der Übelkei < äh der> des AN falls; (3.4) Bezugsausdruck I für nachfolgende Reformulierungen Selbstkorrektur <Allegro, Forte> 8 äso (-) die angst selber macht mich UN sicher; Bezugsausdruck II Tonhöhe: Plateau +Stufe nach unten Grundhaltung Hände im Schoß, linke Hand über rechte Hand Blickrichtung: zu Interviewer am Ende der Äußerungseinheiten Elisabeth Gülich / Elizabeth Couper-Kuhlen 306 progrediente Intonation 9- 11 (1.6) äso die angst selber mach (.) stellt mich auf wacklige BEI ne un (.) macht mich auch anfallsge FÄHRdet; Reformulierungsausdruck II a (abgebrochen) Reformulierungsausdruck II b (mit Expansion) Tonhöhe: Plateau + Stufe nach unten 12 (2.6) aber ich=ich hab damit noch nicht das gefühl dass n anfall wirklich KOMMT ; Reformulierungsausdruck I a (zu 5-7) Tonhöhe: Plateau + Rampe nach unten In diesem Ausschnitt aus der „Angsttabelle“ befinden sich Spalten für die verbalen, stimmlichen und körperlichen Mittel, die Herr R. für die Darstellung eines epileptischen respektive alltäglichen Angstzustands einsetzt. Vertikal betrachtet stellen die Kästchen die prosodisch-syntaktischen Konstruktionseinheiten von Herrn R.s „turns“ in der Reihenfolge ihres Vorkommens dar. In dem zitierten Ausschnitt beziehen sich alle Äußerungen auf dieselbe Art von Angst, in diesem Fall „Angst I“, während andere Äußerungen sich ausschließlich auf Angst II beziehen. Schließlich gibt es auch Konstruktionseinheiten, mit denen auf die Existenz beider Angsttypen Bezug genommen wird, z.B. durch Ausdrücke wie „eine andere angst“. Sie markieren den Übergang von der Darstellung eines Angsttyps zur Darstellung des anderen. Die Einheiten zwischen ihnen bilden die von uns unterschiedenen „Phasen“. 3.2 Die Phasen der Angstdifferenzierung 3.2.1 Erste Phase: Annäherung an eine Differenzierung (Z. 5-23) Was wir hier als die erste Phase bezeichnen, wird durch eine Frage des Interviewers „u: nd- (1.2) die angst SELBST? “ (Z. 3) eingeleitet. Diese Frage zielt auf die Angst im Anfall ab und macht erwartbar, dass Herr R. jetzt Zur Entwicklung einer Differenzierung von Angstformen im Interaktionsverlauf 307 Ausführungen zu seiner Krankheit liefern wird. Dass der Interviewer solche Erwartungen hegt, wird auch dadurch signalisiert, dass er Stift und Papier im Schoß bereithält, um relevante Informationen zu notieren. Während Herrn R.s folgenden Ausführungen (Z. 4-14) schreibt der Interviewer auch unentwegt mit. Auf die nochmalige Fokussierung der „Angst selbst“ seitens des Interviewers beteuert Herr R., dass die Angst „kein vorbote“ eines Anfalls sei (Z. 5-7). Anschließend schildert er, was die Angst stattdessen „macht“: Sie mache ihn „UNsicher“ (Z. 8), sie stelle ihn „auf wacklige BEIne“ (Z. 10), sie mache ihn auch „anfallsgeFÄHRdet“ (Z. 11). Diese dreifache Formulierung von dem „was die Angst macht“ wird anschließend kontrastiert mit dem „was die Angst nicht ist“: Herr R. habe „damit noch nicht das gefühl dass n anfall wirklich KOMMT“ (Z. 12). Der Kontrast zwischen „was die Angst macht“ und „was sie aber nicht ist“ wird nun unter Anwendung teilweise desselben Vokabulars reformuliert: Herr R. fühle sich „anfallsge- FÄHRdet“ (Z. 13) aber es sei „NICH so (.) ein VORbote“ (Z. 14). An dieser Stelle hört nun der Interviewer auf, mitzuschreiben und gibt damit zu verstehen, dass für ihn das Wesentliche gesagt ist. Herr R. reformuliert aber ein zweites Mal, obwohl mit deutlich mehr Disfluenzen: Er müsse „mehr AUFpassen“ (Z. 16), aber es sei nicht so, dass er „mit garantie sagen kann da wird einer KOMmen“ (Z. 21). Herrn R.s Disfluenzen an dieser Stelle sind sicher nicht losgelöst vom Rezeptionsverhalten des Interviewers zu betrachten. Dieses deutet darauf hin, dass seine Aufmerksamkeit nachlässt, da sein Stift von der Schreibhand in die andere Hand wechselt und er etwas in seiner Hosentasche zu suchen beginnt. Damit kündigt er schon körperlich ein potenzielles Ende der gegenwärtigen Aktivität an, was mit seinem „hmhm“ (Z. 22) anschließend verbal zum Ausdruck kommt. Wenn Herr R. nun mit „aber ich (.) kann deutlich unterSCHEIden“ (Z. 24-25, vgl. 3.2.2) fortführt, leitet er eine Wende im Gespräch ein. Damit ist die vorhergehende Phase endgültig zu Ende. Zu den für die erste Phase typischen Formulierungsverfahren gehören die mehrfache Verkettung und Einbettung von Reformulierungsstrukturen, die am Anfang von Versprechern (Z. 6), Abbrüchen (Z. 9) und Selbstreparaturen (Z. 12 u. 13) begleitet werden. Die Formulierungsschwierigkeiten nehmen ab der metadiskursiven Rahmung „ich würd sagen“ (Z. 15) sichtlich zu (an dieser Stelle ist die Aufmerksamkeit des Interviewers nicht Elisabeth Gülich / Elizabeth Couper-Kuhlen 308 mehr voll gewährleistet): es kommen vermehrt Verzögerungspartikel („äh“, „mh“), Vagheitsmarkierungen („irgendwie“, „wie kann man sagen“) und längere Pausen innerhalb syntaktischer Einheiten vor, die den Fluss der Rede teilweise zum Stocken bringen. Eines der Hauptmerkmale der anfallsbezogenen Angst - die Unmöglichkeit, sie in Worte zu fassen - kündigt sich hier durch Abbrüche, Reparaturen, Reformulierungen und Verzögerungen schon an. Stimmlich klingt eine anfallsbezogene Angst hier durch die repetitive Verwendung einer stilisierten Tonhöhenkontur an, die mit quasi identischen Tönen auf folgenden Äußerungen erscheint: - „is: für mich kein vorbote der Übelkei“ (Z. 6) - „die angst selber macht mich UNsicher“ (Z. 8) - „macht mich auch anfallsgeFÄHRdet“ (Z. 11) - „ich hab damit noch nicht das gefühl dass n anfall wirklich KOMMT“ (Z. 12) - „aber es is NICH so (.) ein VORbote“ (Z. 14) - „da müss muss ich mehr AUFpassen“ (Z. 16) und in einer leichten Variante: 17 - „mit garantie sagen kann da wird einer KOMmen“ (Z. 21) Phonetisch lässt sich diese Kontur so beschreiben: Anfangend mit der ersten Silbe der Intonationseinheit wird die Tonhöhe konstant auf einem Plateau von ca. 195-200 Hz gehalten. Dieser Hertzwert befindet sich etwa eine halbe Oktave (8 Halbtöne) oberhalb der Grundlinie in Herrn R.s Stimmumfang. Unmittelbar nach dem Hauptakzent gibt es einen steilen Sprung nach unten zu ca. 141-146 Hz, ein Wert, der etwa 2-3 Halbtöne oberhalb Herr R.s Grundlinie ist. Das zweite Tonhöhenniveau wird für den Rest der Intonationskontur beibehalten. Der Tonhöhensprung macht also ein Intervall von 5-6 Halbtönen oder einer musikalischen Quart aus. Er fällt auf, weil die Tonhöhe auf beiden Seiten des Sprungs konstant gehalten wird, wie die folgende schematische Darstellung zeigt (Abb. 1). 17 Die Variante zeichnet sich dadurch aus, dass die Tonhöhe nach dem Hauptakzent, statt eines steilen Sprungs, eher eine schräge Linie nach unten bildet. Zur Entwicklung einer Differenzierung von Angstformen im Interaktionsverlauf 309 100 200 50 500 die angst selber macht mich UN sicher Time (s) 0 2.56035 Abb. 1: Schematische Darstellung der rekurrenten Tonhöhenkontur in Z. 6-21 Als PRAAT-Bild sieht diese Kontur (z. B. bei „die angst selber macht mich UNsicher“ (Z. 8)) wie in Abbildung 2 aus. Abb. 2: Intonationsverlauf von „die angst selber macht mich UN sicher“ (Z. 8) Die Tatsache, dass hier eine stilisierte, „mechanische“ Intonationskontur quasi zwanghaft zum Einsatz kommt, deutet auf den Zustand der epileptischen Angst hin, bei dem der Patient sich starr und hilflos der Bedrohung durch einen bevorstehenden Anfall ausgesetzt sieht. Hinzu kommt die recht bewegungslose Körperhaltung während dieser ersten Phase des Ausschnitts. Herr R. verharrt in einer Stellung, die wir als Grundhaltung bezeichnen: Er sitzt gerade und mit angespanntem Oberkörper, zum Interviewer hin gewendet; seine Hände liegen im Schoß mit der linken Hand über die rechte geschlagen (siehe Abb. 3). 195-200 Hz Hauptakzent 141-146 Hz Elisabeth Gülich / Elizabeth Couper-Kuhlen 310 Abb. 3: Grundhaltung in „bei der angst selbst muss ich halt sagen dass: (.) also“ (Z. 4) Diese Haltung wird mit leichten Veränderungen während der ganzen ersten Phase beibehalten. Lediglich Herrn R.s Blick wendet sich regelmäßig am Ende von Turneinheiten zum Interviewer hin. Zusammenfassend zeichnen sich schon in dieser Phase des Ausschnitts durch das Zusammenwirken von Formulierungsverfahren, repetitiven mechanischen Intonationskonturen sowie bewegungsloser Körperhaltung Merkmale einer anfallsbezogenen Angst ab. In den Kontrastierungen, die Herr R. vornimmt zwischen dem, „was die Angst nicht ist“ und dem, „was die Angst stattdessen macht“, ist bereits eine Differenzierung angelegt. Diese Entwicklung lässt sich in den nächsten Phasen weiterverfolgen. 3.2.2 Zweite Phase: Möglichkeit der Unterscheidung von Angstsituationen (Z. 24-44) Transkriptausschnitt: 24 <<all, f> und es is aber ich> (.) 25 kann deutlich unterSCHEIden 26 es is ne andere ANGST als wenn vor mir einer STEHT .h 27 sa[gen wir der sagt ich verPRÜgel dich gleich, 28 INT: [<<p> hmhm> Zur Entwicklung einer Differenzierung von Angstformen im Interaktionsverlauf 311 29 RAS: oder ein bissiger HUND, 30 oder [ ( vo ’ - ) 31 INT: [ham sie sowas mal erLEBT? 32 RAS: (-) n äso=n (- -) 33 mal vielleicht einer der gesagt hat 34 ich SCHLAG dich 35 oder irgndwie sowas ich (.) 36 oder mir is irgndwas RUNtergefallen; .h 37 sagen wir ne (.) ne VAse oder so=ne 38 t=irgndwas was mir nich geHÖRte; .h 39 dann is ja im ersten moment so=n SCHOCK; 40 (- - -) 41 das ist aber ne gAnz andrer SCHOCK 42 oder ein ganz andre ANGST als wenn ich: 43 (- -) 44 SOwas hab; Hier wird eine vollkommen neue Phase des Gesprächs eingeleitet: Nach einer längeren Pause registriert Herr R. plötzlich: „aber ich (.) kann deutlich unterSCHEIden“ (Z. 24-25). Er bezeichnet nun die bislang geschilderte Angst als „ne andere Angst“, als wenn z.B. „vor mir einer STEHT“ (Z. 26) „der sagt ich verPRÜgel dich gleich“ (Z. 27) oder „ein bissiger HUND“ (Z. 29). Damit wird die Angstschilderung der ersten Phase rückwirkend von einer alltäglichen Angst unterschieden, die dann auftritt, wenn eine konkrete Gefahr droht. Auf Nachfragen des Interviewers, ob er so was mal erlebt habe, listet Herr R. weitere Beispiele von alltäglichen Angstsituationen auf: „vielleicht einer der gesagt hat ich SCHLAG dich“ (Z. 33-34) oder „mir ist irgndwas RUNtergefallen“ (Z. 36), „sagen wir ne ( . ) ne Vase; oder so=ne t=irgndwas was mir nich geHÖRte“ (Z. 37-38). In solchen Situationen gäbe es „im ersten moment so=n SCHOCK“ (Z. 39). Dies sei aber „ne ganz andrer SCHOCK oder ein ganz andre ANGST“ (Z. 41-42), als wenn er „SOwas“ (Z. 44) habe, wobei Herr R. zum Papier des Arztes zeigt. Dass die zweite Phase vorrangig dem Thema der alltäglichen Angst gilt, wird nicht allein von Herrn R. bestimmt: Vielmehr wird das von ihm angeschnittene Thema durch den Einwurf des Interviewers „ham sie so was mal erLEBT? “ (Z. 31) aufgegriffen und fokussiert. Diese Frage bringt Herrn R. dazu, seine Auflistung von Situationen der alltäglichen Angst abzubrechen (Z. 30) und lädt ihn implizit dazu ein, einen konkreten Fall zu schildern. Entsprechend hält der Interviewer Papier und Stift in Bereitschaft. Herr R. führt Elisabeth Gülich / Elizabeth Couper-Kuhlen 312 aber weiter allgemein erlebte Situationen auf, in denen er eine alltägliche Angst gespürt habe, im Gegensatz zu der epileptischen Angst, die er mit „SOwas“ (Z. 44) bezeichnet. Spätestens dann, wenn der Interviewer wieder eingreift, um zu einer Spezifizierung des Unterschieds zu gelangen, (Z. 45 u. 47, vgl. 3.2.3) wird eine neue Phase des Gesprächs eingeleitet und gleichzeitig die vorhergehende zu Ende gebracht. Die zweite Phase des Ausschnitts zeichnet sich also dadurch aus, dass Herr R. explizit eine Unterscheidung zwischen zwei Angstsituationen etabliert: die eine z.B. bei Bedrohung durch Prügel, durch bissige Hunde oder vor drohender Bestrafung, die andere bei epileptischen Anfällen. Beide Situationen lösen Angst aus. Doch die Angst in der ersten Situation hat ein konkretes Bezugsobjekt, das man benennen kann. Sie wird mit einem Menschen (prügelnder Junge), einem Tier (Hund) oder einem Objekt (Vase) in Verbindung gebracht. Die sich dabei ergebende Gefahr kann sich verbal (in Form direkter Rede) ankündigen: „ich schlag dich gleich“. Die Angst in der zweiten Situation dagegen ist bloß mit „so was haben“ in Verbindung zu bringen. Sie wird als etwas Unbestimmbares bzw. Unbenennbares behandelt. Die beiden Arten von Angstsituationen werden mit Hilfe verschiedener Formulierungsverfahren beschrieben: Für die erste Angst (in Phase 1) wendet Herr R. intensive Formulierungsarbeit auf (vor allem in Form komplexer Reformulierungsstrukturen, 18 während die zweite durch eine Listenkonstruktion 19 (Aufzählung von Beispielen) charakterisiert wird. Auffällige prosodische und gestische Veränderungen begleiten den Übergang zur zweiten Phase: „ich (.) kann deutlich unterSCHEIden“ (Z. 24-25) wird - im Vergleich mit Herrn R.s vorheriger Rede - plötzlich schnell und laut gesprochen. Gleichzeitig macht Herr R. mit der linken Hand eine großflächige Zeigegeste zum Interviewer hin. (Abb. 4). 18 Zur Analyse von Reformulierungen in Gesprächen mit Anfallspatienten vgl. Gülich/ Schöndienst (1999). 19 Das Verfahren der Listenbildung ist verschiedentlich in konversationsanalytischen Arbeiten beschrieben worden, vgl. z.B. Jefferson (1990), Selting (2004). Zur Entwicklung einer Differenzierung von Angstformen im Interaktionsverlauf 313 Abb. 4: „ich (.) kann deutlich unter SCHEI den“ (Z. 24-25) Bei „es is ne andere ANGST“ (Z. 26) gehen beide Hände in eine präsentative Geste über, die gewissermaßen die folgende Darbietung ankündigt. Bei „oder vo’- / “ (Z. 30), evtl. ein Ansatz zu „vor mir“, wird die konkrete Situation einer Gefahr von unten durch eine schnelle Handbewegung ikonisch dargestellt. Ähnlich wird „mir is irgndwas RUNtergefallen“ (Z. 36) durch eine schnelle Drehbewegung der rechten Hand nach unten ikonisch untermauert. Die Turneinheit „sagen wir ne (.) ne VAse“ (Z. 37) wird durch eine präsentative Geste beider Hände unterstrichen (Abb. 5). Abb. 5: „sagen wir ne (.) ne VA se oder so=ne t=irgndwas was mir nich ge HÖR te“ (Z. 37-38) Elisabeth Gülich / Elizabeth Couper-Kuhlen 314 Bei „dann is ja im ersten moment so=n SCHOCK“ (Z. 39) gehen beide Hände von Herrn R. in offene Bitthaltung vor den Mund und bleiben in dieser Position während der anschließenden Pause. Allgemein lässt sich also bei dieser Phase des Gesprächs eine prosodische und gestische Lebendigkeit feststellen, die beim Übergang zur anfallbezogenen Angst „das ist aber ne gAnz andrer SCHOCK oder ein ganz andre ANGST als wenn ich: “ (Z. 41-42) verschwindet. Während der letztgenannten Turneinheit geht Herr R. zurück in die Grundhaltung (Abb. 4) mit beiden Händen auf den Oberschenkeln. Es zeichnet sich also auch auf der prosodisch/ gestischen Ebene ein Kontrast zwischen den zwei Angstsituationen ab: Die alltägliche Angstsituation wird mit Lebendigkeit dargeboten, während sich die epileptische Angst eher durch körperliche Bewegungslosigkeit und Starre auszeichnet. 3.2.3 Dritte Phase: Darstellung einer alltäglichen Angst (Z. 45-62) Transkriptausschnitt: 45 INT: (1.2) könn=n wer den unterschied (1.7) 46 RAS: beSCHREIben, 47 INT: beZEICHnen; =ja; 48 RAS: (3.1) 49 (ich find) das eine ist wirklich hier im KOPF so; 50 .h äso (.) das rUnterfallen 51 <<all> da kommt gleich so=n geDANke> 52 <<imitierend> OH! 53 (.) .h (.) das war ja nich ↑ MEINS; 54 äh .h was kann ich jetz ↑ TUN; 55 (- -) äh 56 (- - -) muss ich jetz ä' (.) ne ↑ NEUe kaufen; 57 äh 58 INT: uhuh 59 RAS: wie wie kann ich (.) mich ent ↑ SCHULdigen; 60 .h da kommen gleich geDANKen; 61 was kann ich tun um das GUT zu machen; 62 INT: <<p> hmhm> Die vorherige Phase, die von gelegentlichen „mhms“ und einem nur kurzen Zwischenruf des Interviewers begleitet wurde, wird nun dadurch beendet, dass der Interviewer selbst das Rederecht beansprucht. Er schlägt als ge- Zur Entwicklung einer Differenzierung von Angstformen im Interaktionsverlauf 315 meinsame Aufgabe eine engere Fokussierung auf den Unterschied vor, der - wie Herr R. kooperativ ergänzt - als nächstes beschrieben werden soll (Z. 45-47). Herr R. fokussiert nun zuerst „das eine“ (Z. 49) (nachträglich als „das rUnterfallen-„ (Z. 50) präzisiert), womit die Situation mit der Vase gemeint ist: Die dabei empfundene Angst sei „wirklich hier im KOPF so“ (Z. 49), es komme „gleich so=n geDANke“. Er verdeutlicht nun diese Gedanken wiederum mit einer listenmäßigen Darstellung: In Form direkter Redewiedergabe werden mögliche Äußerungen eines Selbstgesprächs zitiert: 20 „OH! (.) .h (.) das war ja nich ↑ MEINS; “ (Z. 52-53), „äh .h was kann ich jetz ↑ TUN; “ (Z. 54), „äh (---) muss ich jetz ä’ (.) ne ↑ NEUe kaufen; “ (Z. 55-56), „äh wie wie kann ich (.) mich ent ↑ SCHULdigen; “ (Z. 57, 59) und - nach einer kurzen Rephrasierung der Einleitung „da kommen gleich geDANKen“ (Z. 60) - „was kann ich tun um das GUT zu machen; “ (Z. 61). Verschiedene Aspekte dieser von Herrn R. als alltäglich dargebotenen Angstsituationen werden mit prosodischen und gestischen Mitteln dargestellt: Bei „wirklich hier im KOPF so“ (Z. 49) und nochmals bei „kommt gleich so=n geDANke“ (Z. 51) gehen Herrn R.s Hände zu den Schläfen. Damit wird der Ort der Gedanken visuell lokalisiert. Bei „kommt gleich so=n geDANke“ (Z. 51) sowie bei „kommen gleich geDANken“ (Z. 60) spricht Herr R. deutlich schneller. Die plötzliche Beschleunigung des Sprechtempos stellt auf transparente Weise die Schnelligkeit dar, mit der die Gedanken kommen. Die Gedanken selber werden jeweils in einzelnen, syntaktisch und intonatorisch parallel gestalteten Einheiten aufgezählt. Die Gedanken in Z. 54-61 haben durchweg die Struktur „kann ich“/ „muss ich“; alle in Z. 53-59 genannten weisen ähnliche Akzenttypen mit immer höher werdenden Akzentgipfeln auf. Durch die prosodisch unabgeschlossene Listenbildung entsteht der Eindruck einer Vielzahl von Gedanken, die nur exemplarisch dargestellt werden können. Ihre Verbalisierung wird durch gestische Mittel unterstützt. Bei der Wiedergabe der ersten Gedanken nimmt Herr R. die Hände vor den Mund, schaut zum Boden hin und verharrt in dieser Stellung (Z. 52-59; s. Abb. 6). 20 Zu „hypothetical reported discourse“ bzw. „unspoken speech“ vgl. Myers (1999); auch Capps/ Ochs (1995, S. 58-60) beobachten bei der von ihnen beschriebenen Panik-Patientin „unspoken messages formulated as reflections adressed to herself“. Elisabeth Gülich / Elizabeth Couper-Kuhlen 316 Abb. 6: „ OH ! (.) .h (.) das war ja nich MEINS ; “ (Z. 52-53) Diese Geste lässt sich im gegebenen Kontext als Inszenierung eines Verlegenheitsausdrucks bzw. einer Denkpose deuten. Letztere Deutung wird durch die plötzlich zurückgenommene Lautstärke unterstützt (Gedanken sind leise). Insgesamt wird Herrn R.s alltägliche Angst als ein kognitiv und verbal fassbarer Zustand behandelt, was sich auch in einer durchweg flüssigen Darstellungsweise widerspiegelt. Diese Angst bzw. die sie auslösende Situation hat eine deontische Komponente. Sie beruht auf einer Differenzierung zwischen „dein“ und „mein“ (Z. 53), sie macht Handlungen wie „eine neue kaufen“ (Z. 56), „sich entschuldigen“ (Z. 59) oder „etwas gut machen“ (Z. 61) relevant - allesamt Handlungen, die „muss“- und „soll“-Erwartungen unterliegen. Die alltägliche Angst hat damit auch eine soziale Komponente; mit den Fragesätzen wird eine Form gewählt, die Appellcharakter hat und die Adressatenorientierung deutlich macht. Die soziale Dimension der geschilderten Situation wird auch durch Herrn R.s Blickverhalten unterstrichen. Am Ende jeder der ersten drei Fragen blickt er zum Interviewer hin und lässt Platz für eine Erwiderung. Nach der ersten Frage erfolgt eine kurze Pause, wobei Herr R. diesen Raum selbst mit „äh“ ausfüllt (Z. 55). Nach der nächsten Frage aber liefert der Interviewer ein „uhuh“ (Z. 58) und nach der vierten Frage erwidert er mit „hmhm“ (Z. 62). Seine Erwiderungen sind zwar nicht als Antworten auf Herrn R.s Fragen zu verstehen, aber sie tragen zur Konstruktion der Situation als einer grundsätzlich dialogischen bei. Der Interviewer macht sich also - freiwillig oder unfreiwillig - zum Kooperationspartner bei Herrn R.s Darstellung der alltäglichen Angst. Zur Entwicklung einer Differenzierung von Angstformen im Interaktionsverlauf 317 3.2.4 Vierte Phase: Darstellung einer epileptischen Angst (Z. 63-82) Transkriptausschnitt: 21 63 RAS: und bei dem andern ist das eher so (1.1) 64 <<imitierend> oh / (.) oh / (-) oh NEI / > 65 (.) da kommt kein geDANke; 66 (1.3) da denk ich nich NACH; 67 (.) da (bin) ich einfach so / 68 (- -) <<imitierend> oh nei / > 69 (-) so / (.) WEG; 70 INT: eh; 71 RAS: <<leicht lachend> also> 72 (-) da denk [ich nich NACH; 73 INT: [<<p> uhuh> 74 RAS: das ist einfach so: 75 (1.4) irgndwie 76 (- -) <<imitierend> ach weh / > 77 da wünsch ich mir wirklich viell- 78 d=ich glaub da hab ich das gefühl (.) 79 ich wünschte ich hätt ne abSENCE; 80 (- - -) da ↑ WILL ich weg <<leicht lachend> sei(h)n; > 81 (1.7) bei dieser andern ANGST; 82 INT: <<p> hmhm> Die Schilderung der alltäglichen Angst kontrastiert nun radikal mit „dem andern“ (Z. 63), einem Angstzustand, zu dessen Beschreibung Herr R. in der nächsten Phase des Ausschnitts übergeht. Bei der anderen Angst sei es „eher so (1.1)“ (Z. 63): „<<imitierend> oh / (.) oh / (-) oh NEI / >“ (Z. 64). Es komme „kein geDANke“ (Z. 65), Herr R. denke „nich NACH“ (Z. 66), sondern sei „einfach so“ (Z. 67): „<<imitierend> oh nei / “ (Z. 68). Er sei „so (.) WEG“ (Z. 69). Er denke „nich NACH“ (Z. 72), es sei „einfach so: (1.4) irgndwie (- -) <<imitierend> ach weh“ (Z. 74-76). Für die Beschreibung seiner Angst im Anfall verwendet Herr R. auch Mittel der szenischen Darstellung: Er setzt die Situation eines beginnenden Anfalls in Szene. Auch hier werden Empfindungen wiedergegeben, als ob sie gerade im Augenblick stattfänden. Allerdings sind sie im Vergleich zu denen der 21 Im folgenden Ausschnitt ist das Zeichen / für Glottalverschluss eingeführt worden, um die spezielle Realisierung des Auslauts bei Herrn R. anzudeuten. Elisabeth Gülich / Elizabeth Couper-Kuhlen 318 alltäglichen Angst kaum sprachlich verfasst. Herr R. verwendet in dieser vierten Phase dreimal die Einleitungsformel „so sein“ (Z. 63, 67, 74), eine Einleitung, die speziell für die Wiedergabe von nicht sprachlich verfassten Lauten und Geräuschen üblich ist (siehe z.B. Golato 2000). Auf diese Einleitungen folgen fragmentarische Ausrufe „oh / “ (Z. 64), „oh nei / “ (Z. 68), „ach weh / “ (Z. 76) - kleine expressive Partikel, die nicht Gedanken, sondern plötzlich auftretenden Gefühlen als Reaktion auf ein Ereignis Ausdruck verleihen: Goffman verwendet hierfür den Terminus „response cry“ (1981, S. 89; vgl. auch Goodwin 1996, S. 393). Mit anderen Worten: Herr R. inszeniert die Situation einer anfallsbezogenen Angst als eine, in der die Sprache selbst versagt. Dass Auren eigentlich „unbeschreibbar“ sind, wird in den Schilderungen von PatientInnen häufig thematisiert (s.u. Abschn. 4.2). Herr R. benennt die „Unbeschreibbarkeit“ nicht, er inszeniert sie und nutzt dafür nicht nur verbale Mittel. Das Versagen der Sprache und damit auch das Fehlen jeglicher sozialer Beziehung wird bei dieser Inszenierung auch körperlich dargestellt. Bei den Einleitungsformeln „ist das eher so“ (Z. 63) und „da (bin) ich einfach so / “ (Z. 67) gehen Herrn R.s Hände langsam vor dem Mund bzw. nach „das ist einfach so: (1.4) irgndwie“ (Z. 74-75) bis zur Kinnhöhe. Bei den Ausrufen „oh / (.) oh / (-) oh NEI / “ (Z. 64), „oh nei / “ (Z. 68) und „ach weh / “ (Z. 76) ist Herrn R.s Blick abwesend und in die Ferne starrend (siehe Abb. 7). Abb. 7: „oh / (.) oh / (-) oh NEI / “ (Z. 64) Zur Entwicklung einer Differenzierung von Angstformen im Interaktionsverlauf 319 100 300 OH Time (s) 0 0.377899 Zusammen lassen sich diese körperlichen Signale jeweils als Indiz eines tiefen Erschreckens deuten, bei dem andere Menschen entweder in den Hintergrund treten oder gänzlich abwesend sind. 22 Herr R. gibt dies nicht nur durch seinen abwesenden Blick wieder, er lässt auch keinen Raum nach seinen Schreien für eventuelle Erwiderungen. Er blickt zwar zum Interviewer hin bei „da kommt kein geDANke“ (Z. 65) und „so / (.) WEG“ (Z. 69), wonach dieser mit „eh“ (Z. 70) und „uhuh“ (73) erwidert, aber nach den Schreien werden Signale vom Gegenüber weder erwartet noch produziert. Indem der Interviewer während dieser Phase des Gesprächs mit seinem Stift spielt, liefert er ein weiteres Indiz dafür, dass er bei der Darstellung der epileptischen Angst nicht unmittelbar beteiligt ist. Das Versagen nicht nur der Sprache, sondern auch der Stimme kommt prosodisch dadurch zum Ausdruck, dass Herrn R.s „Schreie“ jeweils durch Glottalverschlüsse abrupt zu Ende gehen: „oh / (.) oh / (-) oh NEI / (.)“ (Z. 64), „oh nei / “ (Z. 68), „ach weh / “ (Z. 76). Diese Artikulationsweise steht im starken Kontrast zu der von z.B. „OH! “ (Z. 52), die bei der Darstellung der alltäglichen Angst benutzt wird: man vergleiche die Abbildungen 8 und 9. 23 Abb. 8: Realisierung von „ OH ! “ (Z. 52) 22 Fast unweigerlich denkt man an das Munch'sche Bild „Der Schrei“, weswegen wir im Folgenden den Ausdruck „Schrei“ für Herrn R.s „response cries“ verwenden werden. 23 Die Fenster in den Abbildungen 8 und 9 bilden jeweils eine Dauer von ca. 0.37 Sekunden ab, um einen sinnvollen Vergleich zu ermöglichen. Elisabeth Gülich / Elizabeth Couper-Kuhlen 320 100 300 oh Time (s) 0 0.379172 Abb. 9: Realisierung von „oh / “ (Z. 64) Bei „oh / (.) oh / (-) oh NEI / (.)“ (Z. 64) und „oh nei / “ (Z. 68) werden die Glottalverschlüsse im Auslaut über die nachfolgenden Pausen gehalten (Local/ Kelly 1986), so dass Herr R. am Ende der Schreie und während der sich anschließenden Pausen die Luft anhält und nicht atmet. Dadurch entsteht nicht nur der Eindruck, dass Herr R. keine Worte findet, sondern auch, dass er keine Stimme findet, Wörter zu artikulieren. Die Sprachlosigkeit der anfallsbezogenen Angst macht sich auch durch die Formulierungsarbeit bemerkbar, die Herr R. leistet. Das mag paradox klingen, ist aber ein typisches Charakteristikum der „Unbeschreibbarkeit“ der Aura (Gülich/ Schöndienst 1999, Gülich/ Furchner 2002). Herr R. versucht nach der ersten szenischen Darbietung der anfallsbezogenen Angst (Z. 63- 64) eine verbale Beschreibung, die sich aber lediglich auf eine negative Charakterisierung des Zustands beschränkt: „da kommt kein geDANke“ (Z. 65). Die anfallsbezogene Angst kann also höchstens über die Negativfolie der alltäglichen Angst beschrieben werden, die vorher charakterisiert wurde als „da kommt gleich so=n geDANke“ (Z. 51). Nach der zweiten szenischen Darbietung versucht Herr R. nochmals eine Beschreibung: er sei „so / (.) WEG“ (Z. 69) - ein Ausdruck, der für die Charakterisierung der Anfälle schon vor der Angstdifferenzierung verwendet wurde. Schließlich wird nach einem kurzen Rezipientensignal des Interviewers die Charakteri- Zur Entwicklung einer Differenzierung von Angstformen im Interaktionsverlauf 321 100 200 50 500 da kommt kein ge DAN ke Time (s) 0 1.25119 sierung seines Zustands im Anfall nochmals reformuliert: „da denk ich nich NACH“ (Z. 72), wiederum eine Beschreibung über die Negativfolie der alltäglichen Angst. Auffallend sind hierbei die verwendeten Parallelkonstruktionen mit „da“: „da kommt kein geDANke“, „da denk ich nich NACH“, „da (bin) ich einfach so“ (Z. 65-67). Diese Konstruktionen scheinen im übertragenen Sinne auf einen Ort bzw. eine Zeit zu referieren, die weit entfernt vom hic-etnunc des Interviews liegt. Sie sind also ein weiteres Indiz dafür, dass die anfallsbezogene Welt als außerhalb von erleb- und beschreibbaren Grenzen dargestellt wird. Bedeutsam ist neben der verbalen Beschreibung die stimmliche bzw. körperliche Darstellung der anfallsbezogenen Angst. Bei der Turneinheit „da kommt kein geDANke“ (Z. 65) klingt zum Beispiel die kindliche, quasi weinerliche Stimme durch, die Herr R. schon vorher bei der Thematisierung seiner Anfälle verwendet hat (vgl. 2.2). Auch hier wird die Intonation wie dort stilisiert: Die Töne auf dem Hauptakzent und der letzten Silbe werden gelängt und bilden eine kleine Terz (Abb. 10). Abb. 10: Intonationsverlauf von „da kommt kein ge DAN ke“ (Z. 65) Elisabeth Gülich / Elizabeth Couper-Kuhlen 322 Während bei der zweiten Reformulierung „da denk ich nich NACH“ (Z. 66) Herrn R.s Hände eine schnelle Flatterbewegung vor den Schläfen machen, fallen sie bei „so / (.) WEG“ (Z. 69) hörbar in die Grundhaltung zurück (Abb. 3). Nicht nur stimmlich, sondern auch körperlich stellt sich also Herr R. als seiner Angst im Anfall ausgeliefert dar. Der Interviewer interpretiert das etwas später so, dass Herr R. seinem Eindruck nach „WEHRlos“ sei und „keine möglichkeit“ habe, „etwas dage: gen (.) AUFzu(-)bieten“. Dieser Eindruck bestätigt sich noch in Herrn R.s nächsten Turneinheiten, die von einer Beschleunigung des Sprechtempos und einer kurzen Aufmerksamkeitsgeste begleitet werden. Bei der anfallsbezogenen Angst wünsche er sich „viell-„ (Z. 77), habe er „das gefühl“ (Z. 78), er „wünschte“, er „hätt ne ab- SENCE“ (Z. 79). Leicht lachend fügt er hinzu: „da ↑ WILL ich weg sei(h)n; “ (Z. 80). Wiederum wird die anfallsbezogene Angst mit Wünschen und Gefühlen statt mit Gedanken in Zusammenhang gebracht. „Weg sein“ erscheint jetzt als Desideratum, das Herrn R. die Angst im Anfall erspart. Die Darstellung seiner Empfindungen bei dieser Angst, die Herr R. in einem Nachtrag als die „ander(e) ANGST“ (Z. 81) bezeichnet, zeichnet sich nochmals durch Abbrüche, Selbstreparaturen und Formulierungsschwierigkeiten aus. Damit steht - erst zu diesem Zeitpunkt - eine von Herrn R. voll entwickelte „Angsttypologie“. Diese Typologie ist allein durch distinktive Bündel von verschiedenen kommunikativen Ressourcen erreicht worden, denn beide Typen werden als „Angst“ bezeichnet. Referenziell werden die alltägliche und die epileptische Angst lediglich durch eine unterschiedliche Deixis auseinandergehalten. Die alltägliche Angst steht als „das eine“ (Z. 49) im deiktischen Zentrum, die epileptische Angst verortet sich dagegen als vom deiktischen Zentrum entfernt: Sie ist „das andere“ (Z. 63, 81). Durch die angewendeten Formulierungsverfahren sowie durch die die Darstellung mitkonstituierende Prosodie und Gestik sind die zwei Angsttypen jedoch diametral entgegengesetzt: Die alltägliche Angst wird mit flüssiger Rede und lebendiger Gestik dargestellt, sie ist sprachlich verfasst und setzt sich mit Gedanken in Szene, die als adressatenorientierte Fragen gestaltet sind. In seinen Gedanken entwirft Herr R. Handlungen, die die Situation wieder in Ordnung bringen könnten. Die Darstellung der epileptischen Angst dagegen verursacht Abbrüche, Korrekturen und intensive Formulierungsarbeit; diese Angst ist kaum in Worte zu fassen; statt in Gedanken äußert sie sich nur in Gefühlen, die Stimme wird mechanisch oder versagt ganz, der Blick ist abwesend, der Körper verharrt in einer starren Position. Herr R. ist „weg“ und will gleichzeitig auch „weg“ (= tot) sein. Zur Entwicklung einer Differenzierung von Angstformen im Interaktionsverlauf 323 3.2.5 Fünfte und sechste Phase: Erste Wiederaufnahme der Darstellung einer alltäglichen (Z. 83-89) und einer epileptischen Angst (Z. 90-104) Transkriptausschnitt: 83 RAS: äso bei dieser: (.) wo mir irgndwas RUNterfällt; 84 wo=n (.) wo=n: (.) wo irgndwas pasSIERT is; 85 sa- (.) äso wo n: (.) sagen wir n bissiger ↑ HUND; 86 (-) da würd ich NACHdenken; = 87 was kann ich jetz TUN; 88 was MACH ich am besten; 89 INT: <<p> uhuh> 90 RAS: aber bei dieser: (.) bei der ANdern angst is nur noch so: 91 (- -) <<p> ich will WEG sein; > 92 INT: uhuh 93 RAS: äso vielleicht <<leicht ausatmend> mh! > <<p> wirklich> 94 (.) fast der wunsch vielleicht auch SELBSTmord; 95 mh- (.) überTRIEben; 96 (1.6) äso vielleicht wirklich der wunsch TOT; 97 (1.8) vielleicht is das ja auch n grund warum man manchmal <<leicht lachend> in ne abse(h)nce GEHT; > 98 (-) weil man SO stark <<leicht lachend> WEG se(h)in möchte; 99 .h ich WEIß es ja nich; > 100 [(h) äso <<leicht lachend, ausatmend> mh! > 101 INT: [<<pp> uhuh> 102 RAS: .h aber: <<leicht lachend, ausatmend, p> mh! > 103 (1.6) aber=d (.) 104 ich glaube das is (.) was ich so (.) SPÜren- Elisabeth Gülich / Elizabeth Couper-Kuhlen 324 Die Angsttypologie wird nun von Herrn R. in den darauf folgenden Phasen mehrfach wieder aufgenommen, wobei ihre Darstellung jedes Mal kürzer ausfällt. Die wesentlichen distinktiven Merkmale werden aber beibehalten, so dass die typologische Unterscheidung erkennbar bleibt. Herr R. kommt zuerst auf die Angst zurück, „wo mir irgndwas RUNterfällt“ (Z. 83). „wo=n (.) wo irgndwas pasSIERT is; “ (Z. 84), „wo n: (.) sagen wir n bissiger ↑ HUND; “ (Z. 85). Es bedarf nur einiger weniger Schlüsselwörter („herunterfallen“ bzw. „bissiger Hund“), um die Angstsituation mit konkretem Bezugsobjekt wieder aufzurufen. Dabei würde Herr R. „NACHdenken“ (Z. 86) “was kann ich jetz TUN“ (Z. 87), „was MACH ich am besten“ (Z. 88). Wiederum erscheint als Schlüsselbegriff das Nachdenken; wiederum werden adressatenorientierte Fragen, die wiedergutmachende Handlungen zum Gegenstand haben, in direkter Redewiedergabe als Liste dargeboten. Herrn R.s zunächst offene Handhaltung und die Hände, die sich dann zu Fäusten schließen (Z. 85-87), verleihen diesem Handlungsdrang lebhaften Ausdruck. Auch die prosodische und gestische Darbietung der ersten Inszenierung wird hier wieder aufgenommen. Präsentative Gesten begleiten „irgndwas RUNterfällt“ (Z. 83) und „bissiger ↑ HUND“ (Z. 85); die Lautstärke wird bei der Wiedergabe der Gedanken zurückgenommen; die Stimme wirkt konspirativ. Bei „der ANdern angst“ (Z. 90) hingegen - mit der Herr R. nun fortfährt - sei er „nur noch so: / “, er „will WEG sein“ (Z. 91), „fast der wunsch vielleicht auch SELBSTmord“ (Z. 94), „vielleicht wirklich der wunsch TOT“ (Z. 96). Hier erinnert nicht nur die Einleitung mit „so sein“ an Herr R.s erste Inszenierung der epileptischen Angst, sondern auch der gehaltene Glottalverschluss nach „so“ und die in der Lautstärke zurückgenommene Darstellung des Wunsches „ich will weg sein“. Neu ist jedoch bei der Wiederaufnahme die Reformulierung und Expansion des Todeswunsches, dessen Darstellung mit fragmentierter Syntax und Unsicherheitsmarkierungen („fast“, „vielleicht“, „wirklich“) einhergeht. Im Zusammenhang mit der Unsicherheit ist auch der Perspektivenwechsel zu sehen, bei dem Herr R. nun seinen leise zum Ausdruck gebrachten „wunsch vielleicht auch SELBSTmord“ gleichsam als „überTRIEben“ charakterisiert (Z. 94-95). Die Einheiten „WEG sein“ (Z. 91) und „vielleicht auch SELBSTmord“ (Z. 94) werden von repetitiven, bisweilen reflexartigen Körperbewegungen begleitet (Kopfschütteln, Schulterzucken, Schaukeln im Stuhl). Dadurch wird ein Körper vorgeführt, dessen Bewegungen nicht mehr ganz der intentionalen Steuerung unterliegen. Zur Entwicklung einer Differenzierung von Angstformen im Interaktionsverlauf 325 Nach einer längeren Pause reformuliert Herr R. nun seinen Wunsch, weg zu sein, als „n grund warum man manchmal <<leicht lachend > in ne abse(h)nce GEHT; >“ (Z. 97-98). Dieser Reformulierungsausdruck ist insofern bemerkenswert, als er eine eigene Aktivität suggeriert: Herr R. kann - wenn er will - „in eine Absence gehen“. Diese Möglichkeit thematisiert er aber jetzt aus einer eindeutig distanzierten, kommentierenden Perspektive, die durch ein leichtes Lachen und eine behauchte, knarrende Stimme indiziert wird. Er schließt mit einer Benennung seiner Unsicherheit diesbezüglich ab: „ich WEIß es ja nich“ (Z. 99). Das Ende der sechsten Phase, die verbal mit „ich glaube das is (.) was ich so (.) SPÜren-“ (Z. 104) abgebrochen wird, kündigt sich durch ein Zurücklehnen an, wobei die Hände zurück in die Grundhaltung gehen (Z. 102-104). 3.2.6 Siebte und achte Phase: Zweite Wiederaufnahme der Darstellung einer alltäglichen (Z. 105-109) und einer epileptischen Angst (Z. 110) Transkriptausschnitt: 105 <<all> äso auf alle fälle bei dem andern merk ich deutlich> 106 s gleich so geDANken erstmal; 107 .h äso: 108 (1.5) <<imitierend> oh; VAse kaputt; 109 wa' was MACH ich jetzt,> 110 (2.1) <<p> äso bei dem andern erstmal so- > 111 INT: .h undh (.) dann sind sie auch wenn (...) Zwei Tendenzen sind bei der mehrfachen Wiederaufnahme deutlich zu erkennen: 1) Die Detaillierung der ersten (alltäglichen) Angst nimmt ab, während die der zweiten (anfallsbezogenen) Angst zunimmt. 2) Fast unbemerkt verschiebt sich das deiktische Zentrum bei Herrn R. zugunsten der epileptischen Angst. Beim nächsten Übergang - zur zweiten Wiederaufnahme der Differenzierung (Z. 105) - wird die alltägliche Angst als „das andere“ bezeichnet. Begleitet durch prosodische Hinweise auf einen Neuanfang (Z. 105) kommt Herr R. jetzt ein drittes Mal auf die Angst mit konkretem Bezugsobjekt (= Vase) zu sprechen: Er merke deutlich „gleich so geDANKen erstmal“ (Z. 106): „<<imitierend> oh; VAse kaputt; wa’ was MACH ich jetzt>“ (Z. 108-109). Auffallend ist hier die äußerste Knappheit, mit der die die alltägliche Angst auslösende Elisabeth Gülich / Elizabeth Couper-Kuhlen 326 Situation evoziert wird. Sie wird mit nur zwei Worten wieder lebendig gemacht: „Vase kaputt“, wobei die zurückgenommene Lautstärke sowie die konspirative Stimme an die ursprüngliche Inszenierung erinnern. Die dabei gleich hervortretenden Gedanken bedürfen keiner Einleitung mehr, sondern werden mit einer einfachen (beschleunigten) adressatenorientierten Frage in direkter Rede „was MACH ich jetzt“ (Z. 109) exemplarisch dargestellt. Noch knapper gerät die sich anschließende (zweite) Wiederaufnahme der Darstellung der „andern“ (epileptischen) Angst: Sie wird mit leichtem Kopfschütteln und leiser Stimme durch „erstmal so-“ (Z. 110) angegangen. Unschwer lässt sich voraussagen, dass Herr R. seine Äußerung mit einer Charakterisierung der epileptischen Angst fortgesetzt hätte, wenn sein „turn“ nicht durch den Interviewer unterbrochen worden wäre. Die achte und letzte Phase des Ausschnitts geht damit vorzeitig zu Ende. 3.2.7 Tabellarische Ergebnisdarstellung der Angsttypologie Die szenischen Verfahren, die Herr R. koordinierend zum Einsatz bringt, um zwei unterschiedliche Typen von Angst zu differenzieren, haben wir im Folgenden in zwei „Ergebnistabellen“ zusammengefasst, die einen Überblick über die - in erster Linie - intrapersonellen Koordinierungsaktivitäten geben. Angst I („epileptische“ Angst) ohne konkretes Bezugsobjekt Formulierungsverfahren Stimme Körper intensive Formulierungsarbeit: komplexe Reformulierungsstrukturen durch Verkettung und Einbettung von Reformulierungen; fragmentierte Syntax, Unsicherheitsmarkierungen, viele Abbrüche und Selbstkorrekturen Beschreibungen über die Negativfolie der alltäglichen Angst Verwendung von „Schreien“ Fazit: Darstellung der Angst als „unbeschreibbar“ repetitive Verwendung einer stilisierten „mechanischen“ Tonhöhenkontur; „weinerliche“ Stimme Glottalverschlüsse am Ende der „Schreie“ Grundhaltung (Hände übereinandergeschlagen im Schoß oder nebeneinander auf den Oberschenkeln); recht bewegungslos, manchmal Verharren in starren Positionen punktuell abwesender Blick in die Ferne Zur Entwicklung einer Differenzierung von Angstformen im Interaktionsverlauf 327 4. Auswertung der Analysen 4.1 Kommentar zur Multimodalität Aus der Perspektive der Affekt- und Emotionsforschung ist die vorgestellte Episode vor allem deswegen interessant, weil zwei unterschiedliche Affektzustände unabhängig von ihrer sprachlichen Bezeichnung identifiziert und beschrieben werden. Damit wird ein plastisches Beispiel für das z.T. ungleiche Verhältnis zwischen Sprache und Denken (Gumperz/ Levinson 1996) vor Augen geführt, denn Herr Rasmus entwickelt zwei klar von einander differenzierte konzeptuelle Kategorien, die jedoch nicht lexikalisch unterschieden werden; in beiden Fällen spricht er von „Angst“. 24 Die Differenzierung der Affektzustände erfolgt durch eine szenische (Re-)Konstruktion typischer Situationen, in denen Angst unterschiedlich empfunden wird. Jedoch allein 24 Vgl. oben Abschn. 3.1. Die in theoretischen Arbeiten häufig getroffene Unterscheidung zwischen „Angst“ und „Furcht“ (für eine Überblicksdarstellung vgl. z.B. Fries 2000) wird in der Alltagskommunikation nach unseren Beobachtungen nicht praktiziert. Angst II („alltägliche“ Angst) mit konkreten Bezugsobjekten Formulierungsverfahren Stimme Körper Listenbildung: Auflistung von Beispielen für mögliche Situationen und gedankliche Reaktionen adressatenorientierte Fragen, direkte Redewiedergabe Fazit: sprachliche Verfasstheit der Angst intonatorisch parallel gestaltete Einheiten „lebendigere“ Sprechweise, flüssiger, häufig schnelles Sprechtempo, vollere Stimme Rücknahme der Lautstärke, „konspirative“ Stimme bei Gedankenwiedergabe lebhafte Handgestik, z.T. vor dem Kopf bzw. am Mund; häufig offene Handhaltung; präsentative Gesten szenische Darstellung von Gedanken; Blickkontakt mit Gesprächspartner Elisabeth Gülich / Elizabeth Couper-Kuhlen 328 die Bündelung von distinktiven verbalen, prosodischen und gestischen Verfahren ermöglicht eine klare Unterscheidung der zwei Angsttypen. Das Inszenieren zeigt sich als eine „funktionale, wohl strukturierte, klar begrenzte und an die Bearbeitung interaktiver Anforderungen gebundene Verdichtung von Ausdrucksmitteln“ (Schmitt 2003, S. 205). Diese Bündelungen sind nicht von vornherein als „fertige Packungen“ gegeben, sondern sie emergieren in der Situation und verfestigen sich im Laufe der Interaktion. Auch Herrn R.s Angsttypologie steht nicht von vornherein fest, sondern sie entwickelt sich erst in der Interaktion mit dem ärztlichen Gesprächspartner. So ist es auf dessen Initiative zurückzuführen, dass Herr R. sich überhaupt mit dem „Unterscheiden“ von verschiedenen Ängsten beschäftigt. Ebenso geht er nur auf Bitten des Interviewers auf die epileptische Angst ein, wobei er zunächst behauptet, er spüre keine Angst, die Teil des Anfalls wäre. Wenn der Interviewer aber etwas später die Rückfrage stellt „und was sie spüren is aber (-) eigentlich keine ANGST“, antwortet Herr R. „DOCH“ und fährt mit einer Beschreibung dieser Angst im Anfall fort. Das „Unterscheiden können“ von Herrn R. kommt also im Gesprächsverlauf erst allmählich zustande und wird mit „ich (.) kann deutlich unterSCHEIden“ (Z. 24-25) im gewählten Ausschnitt explizit gemacht und als eigene Differenzierungs-Initiative etabliert. Gleichwohl ist es wiederum der Interviewer, der Herrn R. nahe legt, diesen Unterschied zu beschreiben; erst dadurch wird die Inszenierung von zwei verschiedenen Angstsituationen ausgelöst. Somit muss die erarbeitete Differenzierung von Angst als Produkt der Interaktion betrachtet werden. Vor allem aus einer multimodalen Perspektive ist der untersuchte Ausschnitt erkenntnisreich. Berücksichtigte man nur Herrn R.s verbale Darstellung, wonach die Angst z.B. kein Vorbote des Anfalls sei (Z. 5-7), so müsste gefolgert werden, dass ihre Auswirkungen für Herrn R.s epileptische Anfälle irrelevant seien. Beachtet man aber sämtliche semiotischen Signalsysteme bei Herrn R.s Rede (Z. 5-21), einschließlich der prosodischen und körperlichen, so lassen sich wichtige Hinweise auf das Vorhandensein einer Angst- Aura erkennen, die für Diagnose und Therapie von Herrn R.s Anfallserkrankung relevant sind. Im vorliegenden Ausschnitt ist das Verhältnis zwischen den Modalitäten keineswegs zugunsten der Wörter gewichtet. So finden sich Stellen, bei denen die Gestik die (fehlende) Sprache ersetzt, z.B. wenn Herr R. eine von Zur Entwicklung einer Differenzierung von Angstformen im Interaktionsverlauf 329 „unten“ kommende Gefahr einführen will und dabei ganz auf die inszenierende Handbewegung „von unten“ zurückgreift (Z. 30). Eine ähnliche Ersatzfunktion hat die Prosodie bei der Darstellung der (sprachlosen) epileptischen Angst (Z. 64). Die Gestik ist ihrerseits aber auch nicht voll explizit, sondern wie die Prosodie im hohen Maße indexikalisch. So kann ein und dieselbe Hand-zum-Mund-Bewegung in dem einen Fall eine Denkbzw. Verlegenheitshaltung (Z. 39), in dem anderen Fall ein Erschrecken (Z. 63) darstellen. Ebenso kann eine Beschleunigung des Sprechtempos einmal mit der Darstellung der Gedanken einhergehen, die sich in der alltäglichen Angstsituation gleich einstellen (Z. 51), und ein anderes Mal mit der Veränderung der Perspektive von einem, der von Anfallsangst betroffen ist, zu einem, der die Anfallsangst kommentiert (Z. 97). Wie ausführlich von Kehrein (2002) dargestellt wird, bilden „prosodische Informationen [...] keine eindeutigen Ausdrucksmuster einzelner Emotionen, sondern tragen Bedeutungsanteile auf den emotionsrelevanten semantischen Dimensionen“ (S. 134). Dasselbe gilt natürlich auch für die Gestik. Die Modalitäten bilden also zusammen ein sich gegenseitig indizierendes bzw. kontextualisierendes Geflecht, das eine ganzheitliche Sicht der multimodalen kommunikativen Ressourcen erforderlich macht. 25 Multimodalität erweist sich hier in doppelter Hinsicht als konstitutiv: für das Konzept des „Inszenierens“ ebenso wie für Herrn R.s Angstdifferenzierung. 4.2 Kommentar zur Angsttypologie Die Frage, inwieweit sich die Beobachtungen zu Herrn Rasmus auf Angstdarstellungen anderer PatientInnen übertragen lassen, stellt sich unweigerlich am Ende einer Einzelfallstudie. Sie muss hier weitgehend offen bleiben, denn wirklich fundiert lässt sie sich nur durch weitere empirische Arbeiten beantworten. Eine linguistische oder gesprächsanalytische Angstforschung steht erst in den Anfängen. Als einzige größere Untersuchung aus diesem Forschungskontext ist uns Capps/ Ochs (1995) bekannt, die - ebenfalls an einem Einzelfall - eine Fülle sprachlicher Strategien bei der Darstellung von Agoraphobie beschreiben. Ihnen geht es - im Unterschied zu uns - hauptsächlich um die narrative Rekonstruktion von Panik-Episoden, und sie konzentrieren sich auf verbale Verfahren. Prosodische und körperliche Ressour- 25 Vgl. dazu auch Deppermann/ Schmitt (i.d. Bd., Abschn. 2.3); ferner: Dausendschön-Gay/ Krafft (2002) und Kehrein (2002). Elisabeth Gülich / Elizabeth Couper-Kuhlen 330 cen werden von Streeck/ Streeck (2002) und (aufbauend auf Bergmann 2002) von Egbert/ Bergmann (2004) einbezogen, die Fälle von therapeutischer Kommunikation mit Angst-PatientInnen analysieren. Auch in Deppermann/ Lucius-Hoene (2005), J. Streeck (2006) und Günthner (2006) werden eine Fülle kommunikativer Verfahren der Angst-Darstellung beschrieben, so dass der Beitrag, den gesprächsanalytische Arbeiten zur Angstforschung leisten können, deutlich erkennbar wird. Die Besonderheit unseres Falles liegt zum einen darin, dass es sich bei Herrn Rasmus um eine spezielle Form von Angst handelt, nämlich um eine in Verbindung mit epileptischen Anfällen auftretende „Angst-Aura“, und zum anderen darin, dass der Patient hier in der Interaktion mit dem Arzt eine Angstdifferenzierung vornimmt und eine konsistente Typologie erarbeitet. Damit steht Herr Rasmus im Gegensatz zu anderen AnfallspatientInnen (vor allem solchen mit nicht-epileptischen Anfällen), die zwar ausdrücklich sagen, dass sie verschiedene Typen von Anfällen unterscheiden, sie jedoch im Gespräch nicht konsistent charakterisieren. Die Art und Weise, wie Herr R. die Besonderheit seiner „epileptischen“ Angst herausarbeitet und von der „alltäglichen“ Angst abhebt, weist deutliche Parallelen zu anderen Epilepsie-PatientInnen auf und unterscheidet sich ebenso deutlich von der Art und Weise, wie Panik-PatientInnen (Capps/ Ochs 1995, Günthner 2006) oder PatientInnen mit sozialen Ängsten (J. Streeck 2006) ihre Angst darstellen. Dass es sich hier um eine grundlegend anders geartete Angst handelt, wird in der intensiven Formulierungsarbeit deutlich, die Epilepsie-PatientInnen auf die Darstellung ihrer Auren überhaupt und speziell ihrer Angst verwenden. Ein zentrales Kennzeichen dabei ist die schwere Beschreibbarkeit oder „Unbeschreibbarkeit“ (vgl. Gülich/ Furchner 2002, Gülich 2005), die auch von Epileptologen beobachtet worden ist (vgl. Janz 1969, S. 180f.). Zwischen dieser Unbeschreibbarkeit und der Darstellung von Emotionen einerseits und zwischen Aura und Angst andererseits hat Surmann (2005) in seinen Untersuchungen zur Metaphorik in Anfallsdarstellungen enge Beziehungen gefunden (vgl. bes. Kap. 3.1.3 und Kap. 6.2.2). Die Beobachtungen zu Herrn R.s Darstellung der epileptischen Angst fügen sich damit gut in die Ergebnisse der bisherigen Untersuchungen zum Sprechen von Epilepsie-PatientInnen ein. 26 Während andere Epilepsie-PatientInnen 26 Eine knappe Zusammenfassung dieser Ergebnisse gibt Surmann (2005, Kap. 4.1.3). Zur Entwicklung einer Differenzierung von Angstformen im Interaktionsverlauf 331 bei der Beschreibung ihrer Auren häufig die „Unbeschreibbarkeit“ in Form von metadiskursiven Kommentaren des Typs „das ist ganz schwer zu beschreiben“ zum Ausdruck bringen, 27 kommentiert Herr Rasmus seine Formulierungsanstrengungen nicht in dieser Form, sondern er inszeniert die Unbeschreibbarkeit mit Hilfe multimodaler Ressourcen. Er sagt nicht, dass er diese Angst nicht beschreiben kann, sondern er zeigt - beispielsweise durch die „Schreie“ (s.o. Abschn. 3.2.4) - dass er an die Grenzen des Beschreibbaren kommt. Die beiden Typen von Angst, die er unterscheidet, werden multimodal konstituiert. Sollte sich das durch weitere Untersuchungen an ähnlichen Fällen bestätigen, wäre das ein Novum für die Angstforschung. Erste Beobachtungen zu Angst-Darstellungen in Gesprächen zwischen Ärzten und Panik-PatientInnen lassen vermuten, dass im Unterschied zur intensiven Formulierungsarbeit hier häufig ein Rekurs auf vorgeformte Ausdrücke festzustellen ist. PatientInnen mit Panik-Attacken stellen keinen fundamentalen Unterschied zwischen der Panik und „alltäglicher“ Angst heraus (wie es Herr Rasmus für die „epileptische“ Angst tut), vielmehr gehen die Darstellungen oft ineinander über. Auch wenn Verallgemeinerungen verfrüht wären, so lassen sich doch bestimmte Aspekte der Angst-Darstellung und Kriterien zur Angst-Differenzierung für weitere Untersuchungen auf dem Gebiet fruchtbar machen. In der Zusammenarbeit mit ÄrztInnen und TherapeutInnen besteht von deren Seite ein ausgeprägtes Interesse am Erkennen und Beschreiben möglicher krankheitsspezifischer Muster. 28 Differenzierungen zwischen verschiedenen Angst-Typen sind für Diagnostik und Therapie unerlässlich. Sie werden zur Zeit vorwiegend mit Hilfe psychiatrischer Diagnose-Instrumente vorgenommen, denen zufolge die PatientInnen in vorgegebene Kategorien eingeordnet werden müssen. Die subjektiven Empfindungen und erst recht die Formulierungsmuster werden dabei kaum berücksichtigt. Die Symptome werden in der Regel für abfragbar gehalten; dass sie sich im Gespräch interaktiv konstituieren und somit in hohem Maße an die Interaktion gebunden sind, kommt auf diese Weise nicht in den Blick. 27 Günthner (2006) findet solche Kommentare auch in Alltagsgesprächen mit Menschen, die an Panik-Anfällen leiden, und stellt sie in den Zusammenhang der Beschreibung von Extremerfahrungen. 28 Zu den nachfolgenden Überlegungen wurden wir von Martin Schöndienst angeregt. Elisabeth Gülich / Elizabeth Couper-Kuhlen 332 Gerade bei Angststörungen ist die Diagnosestellung oft sehr schwierig. Es macht aber für die Behandlung eines Patienten/ einer Patientin einen entscheidenden Unterschied, ob er/ sie Angstanfälle oder epileptische Anfälle hat, ob ein Epilepsie-Patient Angst-Auren hat oder zusätzlich zur Epilepsie an einer Angststörung leidet. Die Ergebnisse gesprächsanalytischer Untersuchungen könnten hier eine wichtige Erweiterung des Spektrums diagnostischer Verfahren darstellen. Sie könnten darüber hinaus auch Konsequenzen für psychotherapeutische Interventionen haben: Aus der Analyse des Gesprächsausschnitts mit Herrn Rasmus ist zu erkennen, wie wichtig es ist, das Fremde, Nicht-Mitteilbare bei der epileptischen Angst ernst zu nehmen, den Reformulierungsaktivitäten Zeit zuzugestehen und ihnen aufmerksam zu folgen, anstatt sie als weitschweifig oder als unnötige Wiederholungen von schon Gesagtem abzutun. Die Bemühungen, unter Einsatz aller Ressourcen das schwer Beschreibbare zu beschreiben, zeigen, dass das Nicht-Mitteilbare eben doch mitgeteilt werden soll. 5. Anhang: Transkriptionskonventionen (GAT Basistranskript) [ ] Überlappungen und Simultansprechen = direkter Anschluss (.) Mikropause (-) kurze Pause (ca. 0.25 Sek.) (--) mittlere Pause (ca. 0.50 Sek.) (---) längere Pause (ca. 0.75 Sek.) (2.0) gemessene Pause in Sek. : ; : : ; : : : ; Dehnung, Längung, je nach Dauer ’ Abbruch durch Glottalverschluss ak ZENT Primärbzw. Hauptakzent ak! ZENT ! extra starker Akzent ! Ausruf, Emphase ? hoch steigende Intonation, Frageintonation , mittel steigende Intonation ; mittel fallende Intonation . fallende Intonation - gleichbleibende Intonation / \ steigend-fallende Intonation \/ fallend-steigende Intonation Zur Entwicklung einer Differenzierung von Angstformen im Interaktionsverlauf 333 ↑ auffälliger Tonhöhensprung nach oben ↓ auffälliger Tonhöhensprung nach unten ( )/ (das) unverständlicher/ vermuteter Wortlaut (das/ was) mögliche Alternativen <<lächelnd> na ja> interpretierende Kommentare mit Reichweite ((schnauft)) para- und außersprachliche Handlungen/ Ereignisse .h, .hh, .hhh deutliches Einatmen, je nach Dauer h, hh, hhh deutliches Ausatmen, je nach Dauer Ä: (na: . s=meld si niemand; ) Beschreibung von \_____________________/ nonverbalen/ sichtbaren \ Kommunikationsanteilen legt Hörer auf, wählt eine andere Telefonnummer Lautstärke- und Sprechgeschwindigkeitsveränderungen mit Reichweite: <<f> >/ <<ff> > = forte, laut / fortissimo, sehr laut <<p> >/ <<pp> > = piano, leise / pianissimo, sehr leise <<all> >/ <<acc> > = allegro, schnell / accelerando, schneller werdend <<len> >/ <<rall> > = lento, langsam / rallentando, langsamer werdend <<cresc> > = crescendo, lauter werdend <<dim> > = diminuendo, leiser werdend Sämtliche Personen- und Ortsnamen sind anonymisiert worden (z.B. A - STADT , ARZT 1, SOHN 1). Das Einverständnis der PatientInnen zur Aufzeichnung und wissenschaftlichen Auswertung des Gespräches ist zuvor eingeholt worden. 6. Literatur Bamberg, Michael (1997): Language, Concepts, and Emotions. The Role of Language in the Construction of Emotions. In: Language Sciences 19, S. 309-340. Bergmann, Jörg R. (2000): Reinszenierungen in der Alltagsinteraktion. In: Streeck, Ulrich (Hg.): Erinnern, Agieren und Inszenieren. Enactments und szenische Darstellungen im therapeutischen Prozeß. Göttingen. S. 203-221. Bergmann, Jörg R. (2002): Paradoxien der Angstkommunikation - Über Veralten und Modernität der Angst. In: Ardjomandi, Mohammad. E./ Berghaus, Angelika/ Knauss, Werner (Hg.): Der Andere in der Gruppe - Angst und Neugier. Heidelberg. (= Jahrbuch für Gruppenanalyse und ihre Anwendungen 8). S. 1-13. Bloch, Charlotte (1996): Emotions and Discourse. In: Text 16, S. 323-341. 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Vorbemerkung: Raum-Analyse als Forschungsfeld Der vorliegende Beitrag 1 fällt auf den ersten Blick gleich in mehrerlei Hinsicht aus dem Rahmen der übrigen Beiträge dieses Sammelbandes: Wir legen keine Interaktionsanalyse vor, wenn man Interaktion als eine Kommunikation versteht, die durch die Bedingung der Anwesenheit von Personen gekennzeichnet ist. In den Daten, die wir präsentieren, wird man vergebens nach Menschen in Aktion suchen: Weder wird gesprochen noch sonst etwas ‘getan’. Gleichwohl verstehen wir unsere Untersuchungen als Untersuchung von Kommunikation. Im Gegensatz zu den anderen Beiträgen dieses Sammelbandes richtet sich unsere Aufmerksamkeit auf solche Formen von Kommunikation, bei denen die Erzeugung sinnlich wahrnehmbarer Erscheinungsformen von Zeichen und ihre Aufnahme unwiederbringlich auseinander fallen. Voraussetzung und Ergebnis einer solchen Kommunikation sind Erscheinungsformen von Kommunikation, die es ermöglichen, über den Akt ihrer Hervorbringung hinaus wahrnehmbar und „aktiv(ierbar)“ zu bleiben. Das unter Anwesenden gesprochene Wort leistet diese „Verdauerung“ 2 offenkundig nicht - und es ist aufgrund der für Interaktion konstitutiven Gleichzeitigkeit von Erzeugung und Aufnahme bekanntlich auch nicht auf Verdauerung angewiesen. Mit unserem Konzept von Ausstellungskommunikation (s.u.) setzen wir genau an dieser Stelle an: Wir gehen davon aus, dass auch der von Menschen geschaffene, bearbeitete und gestaltete Raum, speziell der umbaute Raum, im Hinblick auf Erscheinungsformen von Kommunikation analysiert werden kann, die über den Augenblick ihrer Erzeugung hinaus wahrnehmbar und aktivierbar bleiben, dass man also, etwas plakativ gesagt, auch den Raum als eine Art von Text betrachten kann, und wir wollen erkunden, was das heißt. 1 Für zahlreiche anregende Hinweise und Kommentare zu diesem Beitrag danken wir den Organisatoren und TeilnehmerInnen des Kolloquiums sowie Andrea Bogner. 2 Der Terminus „Verdauerung“ stammt von Ehlich (1994). Er bringt u.E. sehr anschaulich den Gegensatz von Augenblicksinteraktion (mit Gleichzeitigkeit von Sprechen und Hören) und Dauer-Kommunikation (mit Zäsur zwischen Hervorbringung und Aufnahme von Sprache) zum Ausdruck. Wolfgang Kesselheim / Heiko Hausendorf 340 Auf diese Idee sind auch schon andere gekommen (s.u.), aber linguistisch instrumentierte Kommunikationsanalysen dazu gibt es erst in Ansätzen. Für die linguistische Konversationsanalyse dürfte es eine kleine Provokation darstellen, den Raum gewissermaßen losgelöst von der Interaktion thematisieren zu wollen. Und doch, so meinen wir, müsste gerade die Interaktionsanalyse von einer solchen Raum-Analyse profitieren können. Die raumbasierte Dauer-Kommunikation zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass sie die menschlichen Sinne im Moment ihrer Aktualisierung nicht gleichsam komplett in Anspruch nimmt. Vereinfacht gesagt: Wer ein Buch liest, kann sich nicht gleichzeitig mit jemand anderem unterhalten (jedenfalls kaum über einen Moment hinaus). Wer dagegen die in einem Raum angelegten Erscheinungsformen von Kommunikation aktualisiert - schon indem er ein Zimmer betritt und sich darin bewegt - kann das ohne weiteres mit anderen zusammen tun und dabei wie selbstverständlich mit Mitanwesenden kommunizieren. Dieser Vorgang ist für uns in einem Maße selbstverständlich, dass wir in der Regel überhaupt kein Gespür mehr für die dabei mitlaufende raumbasierte Kommunikation haben. Man könnte umgekehrt auch sagen: Raum-Analysen sind für Interaktions-Analysen schon deshalb vielversprechend, weil Interaktion immer schon räumlich situiert und in den allermeisten Fällen auch in von Menschen gestalteten Räumen stattfindet. Zu untersuchen, wie in und mit Interaktion an Raum-Kommunikation angeschlossen werden kann, ist also ein ausgesprochen vielversprechendes Forschungsfeld, das dem in diesem Band zentralen Thema der Koordination offenkundig sehr nahe steht. Hier ergibt sich also unabhängig von den eingangs skizzierten Besonderheiten unseres Beitrags eine unmittelbare Anschließbarkeit. Gleichwohl, das sei noch einmal betont, steuern wir im Folgenden das Feld der ausschließlich raumbasierten Kommunikation an - die man ausgehend allein von ihren Erscheinungsformen analysieren kann und muss. Und diese Erscheinungsformen sind eben nicht auf Anwesenheit angewiesen, sondern - wenn man so will - ausschließlich auf „Betretbarkeit“. Ob und wie ein solcher Raum-Text auch empirisch „benutzt“ und gelesen wird, ist demgegenüber ein anderes, eigenständiges Thema, das wir gesondert in späteren Analysen angehen werden. Wir handeln uns mit dieser Konzeption im Prinzip die gleichen methodologischen Probleme ein, vor denen jede Analyse schriftbasierter Kommunikation steht, die versucht, den Text selbst - und nicht seine Pro- Die Multimodalität der Ausstellungskommunikation 341 duktion oder Rezeption - zum Dreh- und Angelpunkt der Analyse zu machen, und die sich immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt sieht, den Text als Kommunikationsereignis zu verselbstständigen und zu hypostasieren. Dem kann man wirksam nur mit einer Kommunikationstheorie begegnen, die Kommunikation als eigenständiges Geschehen im Sinne eines sozialen Ereignisses sui generis zur Geltung bringt. Erving Goffman und die kalifornische Konversationsanalyse haben gezeigt, was man damit empirisch erreichen kann - Goffman sogar mit Bezug auf Raum-Beobachtungen losgelöst von Interaktion, die unserem Ansatz sehr nahe kommen (vgl. Goffman 1963). Das ist ein weiterer Berührungspunkt unseres Beitrags zu den anderen Arbeiten dieses Sammelbands. Allerdings ist dieses Credo - abgesehen von Goffman - bislang nur ganz vereinzelt auf Phänomene von Dauer-Kommunikation angewendet worden; speziell die Konversationsanalyse bleibt zumeist dem Fall der Augenblickskommunikation im Sinne der Interaktion treu, auch wenn ein objektsoziologischer Zugang gewählt wird (vgl. dazu z.B. die Arbeiten der Londoner Gruppe um Christian Heath, vgl. Heath/ Lehn 2001). Nicht nur allgemein für Interaktionsanalysen, sondern auch speziell für das Thema der Koordinierung (wie es im Einleitungsbeitrag skizziert wird), hat eine eigenständige Raum-Analyse unseres Erachtens einige Relevanz. Sie ergibt sich daraus, dass mit der Vorstellung von Raum-als-Text der Blick sofort geöffnet wird für das gesamte Spektrum dessen, was für Menschen sinnlich wahrnehmbar ist. Der schriftliche und speziell der gedruckte Text liefert dagegen bekanntlich eine nahezu einzigartige Reduzierung auf den Augensinn im Sinne eines durch und durch kognitiv orientierten Lesens (s.u.). Auch wenn Räume Schrift enthalten können - und speziell die Räume, die uns im Folgenden interessieren, auch tatsächlich Schrift in starkem Maße verwenden - bezieht die Lektüre eines Raumes zwangsläufig den gesamten Körper des Menschen mit ein (wir werden die unscheinbaren Details dieser Einbeziehung herauszuarbeiten versuchen). Das Problem der „Koordinierung“ wird hier also in einem ganz elementaren Sinn der Koordinierung von Bewegung(en) und der Koordinierung des mit unterschiedlichen Sinnen Wahrnehmbaren virulent. Mit dem Gesagten wollen wir auch der Vorstellung entgegentreten, es ginge uns mit unseren Analysen um so etwas wie die Vorstrukturierung der „tatsächlichen“ Kommunikation im Sinne der in unseren Räumen möglichen In- Wolfgang Kesselheim / Heiko Hausendorf 342 teraktionen. Unsere Überlegungen zielen nicht darauf ab zu beschreiben, was passiert, wenn Menschen ‘unseren’ Raum betreten. Vielmehr geht es um das, was als Erscheinungsform raumbasierter Kommunikation im Raum selbst seine nachweisbaren Spuren hinterlassen hat. Ob und wie diese Erscheinungsformen dann auch aktualisiert werden, ist eine ganz andere Frage. Der betretbare Raum schafft seine eigenen Kommunikationsstrukturen. Die herauszupräparieren ist, so meinen wir, allemal lohnend. Sie gehen sowohl über das hinaus, was die Ausstellungsmacher sich auch immer gedacht haben mögen (Produktion), als auch über das, was Besucher während ihrer Begehung dann daraus machen (Rezeption). Es ist schwierig, den Raum solchermaßen als Ausdruck von Kommunikation zu denken - aber es ist theoretisch ohne weiteres einzulösen mit einer leistungsfähigen Kommunikationstheorie, für die Kommunikation nicht mit Interaktion zusammenfällt, sondern die Interaktion als Spezialfall von Kommunikation versteht. Und es ist empirisch sofort fruchtbar. Vor allem Letztes wollen wir in unserem Beitrag zu belegen versuchen. Wenn man so ansetzt, ist natürlich noch nicht die Frage entschieden, auf welche Art von Raum man in der konkreten Analyse zugreifen soll. Aus heuristischen Gründen wird man aber wohl an Räume denken, die für eine spezifische Art von Kommunikation „gemacht“ sind, also etwa an einen Hörsaal, ein Großraumbüro, einen Supermarkt oder einen Kiosk. Die Vermutung ist, dass mit der Spezialisierung der Kommunikationszwecke auch die Raum- Kommunikation spezialisiert wird. Neben allen anderen schon genannten Gründen ist es gerade diese offenkundige Spezialisierung der Kommunikation in einer Ausstellung, die den Ausstellungsraum für uns interessant werden lässt. In welcher Richtung diese Spezialisierung liegt, wollen wir im Folgenden Schritt für Schritt verdeutlichen. Wir kommen damit nach diesen allgemeinen Vorbemerkungen zum eigentlichen Thema unseres Beitrags: der Multimodalität der Ausstellungskommunikation. 2. Ausstellungskommunikation als Gegenstand Wir wollen uns der Empirie raumbasierter Kommunikation in diesem Beitrag ausgehend von Räumen nähern, in denen Objekte, Gegenstände, Dinge aller Art, natürliche Materialien, aber auch durch Menschen bearbeitete oder gestaltete Artefakte präsentiert und als besonders beachtenswert „ausgestellt“ werden, in denen also aus Dingen „Exponate“ werden, deren vordringlicher Zweck in ihrer Betrachtung besteht. Der umbaute Raum, in dem so etwas Die Multimodalität der Ausstellungskommunikation 343 typischerweise geschieht, ist das Museum. 3 Mehr aus praktischen als aus theoretischen Erwägungen wollen wir dabei den Fall der Ausstellung von Kunstwerken zunächst ausklammern und uns auf das Feld der naturgeschichtlichen Ausstellung konzentrieren, für die nach unserem Eindruck Momente von Wissenskommunikation eine zentrale Bedeutung haben. Wer ein Museum betritt, gerät in eine spezifische Form der Kommunikation, für die es charakteristisch ist, dass sie weniger auf Sprache als vielmehr auf der Präsentation von Objekten beruht, die gesehen, angeschaut und betrachtet, manchmal auch angefasst, manipuliert und sogar betreten und „bedient“ werden sollen. Gleichwohl kommt auch diese Präsentation in der Regel nicht ohne Sprache aus. Sprache in der Ausstellung ist dabei mit den ausgestellten Objekten aufs engste verbunden. Sie markiert, was zur Ausstellung gehört und was nicht (so gerät z.B. all das, was von einem Objekttext begleitet wird, in den Verdacht, Exponat zu sein); sie deutet den oft unbestimmten Zeichencharakter der Exponate erst aus (Soll mir der ausgestellte Oberschenkelknochen nun etwas über die Gattung Triceratops oder über verschiedene Typen von Versteinerungen sagen? ); sie markiert die relevanten Aspekte eines ausgestellten Objekts (Soll ich mir den gesamten Knochen anschauen oder nur die schlecht verheilte Bruchstelle in der Mitte? ) und gibt so der Wahrnehmung und Bewegung im Raum alle möglichen Hilfestellungen. Sprache in der Ausstellung ist deshalb ein zentraler Bestandteil der Erscheinungsformen der raumbasierten Kommunikation in einem Museum. Aber unverkennbar ist auch, dass diese Kommunikation nicht auf die Lektüre von Beschriftungen reduziert werden kann, sondern im Gesamt des Betretens und Sich-Bewegens im Ausstellungsraum gesehen werden muss. Genau deshalb haben wir es hier mit einem Phänomen multimodaler Bedeutungskonstitution par excellence zu tun. Wir betrachten die raumbasierte Kommunikation im Museum, die allein auf der Wahrnehmbarkeit und Aktivierbarkeit raumgebundener Erscheinungsformen von Kommunikation beruht, als einen zentralen Bestandteil des Gesamtkomplexes von Ausstellungskommunikation 4 im Sinne der multimoda- 3 Erhellende Einblicke dazu bietet die Begriffsgeschichte des Wortes ‘Museum’ (vgl. dazu Blank/ Debelts 2000). 4 Der Begriff der „Ausstellungskommunikation“ ist wegen seiner Doppeldeutigkeit kritisiert worden (Parmentier 2001), weil er im Unklaren lasse, wer hier mit wem kommuniziere. Wir verwenden diesen Begriff hier als einen Oberbegriff, der jede Form der Kommunika- Wolfgang Kesselheim / Heiko Hausendorf 344 len Herstellung des Kommunikationsereignisses „Ausstellungsbesuch“. Mit der Konzentration auf raumgebundene Erscheinungsformen fokussieren wir insbesondere auf nichtsprachliche „Modi“ 5 wie die Anordnung der Objekte, Farben oder die Beleuchtung im Sinne von kommunikativ relevanten Bedeutungsressourcen. In dem Maße, in dem wir uns auf diese nichtsprachlich-objektgebundenen Ressourcen der Bedeutungskonstitution einlassen, betreten wir mit unserer Untersuchung methodisches Neuland: Wir unternehmen die Untersuchung der Kommunikation in der Museumsausstellung in diesem Beitrag ausschließlich auf der Grundlage von Fotos eines Museumssaals. Auf diesen Aufnahmen sind keine Besucher zu sehen. Auch benutzen wir keine Audio- oder Videoaufnahmen von Museumsgängern oder Fragebögen. Dennoch glauben wir, anhand solcher Dokumente etwas über Ausstellungskommunikation sagen zu können. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass der Raum mit allen in ihm enthaltenen (potenziellen) Zeichensystemen eine Kommunikationsstruktur sui generis bildet, die auf der Grundlage der Fotografien auf eine erkenntnisfördernde und empirisch fruchtbare Weise zumindest ausschnittweise rekonstruiert werden kann. Der Raum hat so gesehen tion einschließt, die dadurch zustande kommt, dass Objekte, Gegenstände, Dinge aller Art präsentiert und als besonders beachtenswert „ausgestellt“ werden. Das umfasst das einsame oder gesellige Durchwandern der Ausstellungsräume, bei dem die Kommunikation zwischen Ausstellungsmachern und Besuchern gewissermaßen durch die ausgestellten Objekte, gegebenenfalls auch durch erläuternde Beschriftungen und Texte vermittelt wird, genauso wie die Kommunikation zwischen Besuchern, die sich während ihres Museumsbesuchs über bestimmte Exponate unterhalten. Aus diesem Feld greifen wir für den vorliegenden Beitrag den Bereich der raumbasierten Ausstellungskommunikation heraus. 5 „Modus“ ist unsere Übersetzung des englischen Begriffs „mode“, der in der englischsprachigen Multimodalitätsforschung weithin Verwendung findet. Kress/ van Leeuwen (2001) definieren den Begriff als „a semiotic system with rules and regularities attached to it“. In der Forschungspraxis wird der Begriff wesentlich flexibler verwendet, als diese Definition und ihre Bezugnahme auf den Begriff des „Zeichensystems“ erwarten lässt. So setzt etwa Norris (2004, S. 12ff.) den Modus-Begriff für die Analyse von „face-to-face“-Interaktionen ein. In ihren Analysen stellt sie den flexiblen, heuristischen Charakter der einzelnen Modi heraus und unterstreicht, dass letztlich alle Modi in der Körperlichkeit verankert sind - selbst ein Modus wie das „layout“ (der Raum bzw. das räumliche Arrangement, in dem die Interaktion stattfindet). Damit scheint uns der Begriff des „Modus“ umfassender zu sein als der der „Modalität“, der in den übrigen Beiträgen dieses Sammelbands bevorzugt wird und der ausschließlich auf solche Modi angewandt wird, deren Körperbezug unmittelbar sichtbar ist. Die Multimodalität der Ausstellungskommunikation 345 nicht nur eine physikalisch-materiale Gegenwart, sondern auch eine sozialsymbolische: Er ermöglicht und offeriert Lesarten im Sinne charakteristischer Laufwege mit Bewegungsabfolgen, Betrachtungen und einem typischen Wechsel von Innehalten und Weitergehen. Besucher realisieren solche Lesarten in der Regel schon dadurch, dass sie wie selbstverständlich Räume in bestimmter Folge und auf bestimmte Weise betreten. Wie es auch sonst häufig der Fall ist, erregt die Kommunikation im Falle des Ausstellungsraumes erst dann Aufmerksamkeit, wenn diese automatisierte Begehung des Raums aus irgendwelchen Gründen nicht funktioniert - und man z.B. mit anderen darüber zu diskutieren beginnt, wo man denn nun den Rundweg starten soll. 6 Man kann an diesem Beispiel zugleich sehen, dass und wie mit Interaktion in einem solchen Raum an die raumbasierte Kommunikation angeschlossen werden kann, etwas pointierter gesagt: dass und wie mit raumbasierter Kommunikation bestimmte in dem betreffenden Raum ablaufende Interaktionen hochgradig erwartbar und wahrscheinlich gemacht werden können. 7 Durch die raumbasierte Kommunikation werden Relevanzstrukturen für die konkret im Raum stattfindenden Interaktionen geschaffen. Es entspricht diesen Überlegungen, dass Ausstellungsräume in der Regel immer auch ein bestimmtes Maß an „recipient design“ im Sinne der Konversationsanalyse realisieren. So werden z.B. allein durch die Höhe einer Schrifttafel und die Größe der aufgedruckten Schrift zahlreiche Erwartungen hinsichtlich möglicher und bereits implizierter Betrachter kommuniziert: - Die Anbringung der Tafel und die verwendete Schrift machen eine bestimmte Betrachtungsposition erforderlich, sie bedingen beispielsweise einen bestimmten Abstand zum Exponat; mitunter implizieren sie sogar eine bestimmte Rezeptionshaltung (‘von Ferne anschauen, aber nicht herangehen und berühren! ’ - vgl. Oakley 2001); - sie signalisieren eine bevorzugte Sichtweise des Exponats (die Tafel ist so angebracht, dass der Betrachter die als relevant angesehene Beobachtung am Objekt machen kann); 6 Aus der Museumspädagogik ist bekannt, dass und wie man derartige Irritationen zu didaktisch-pädagogischen Zwecken herbeiführen kann (s.u.). 7 Viele Beispiele dafür findet man speziell in der Ausstellung von Kunst, wenn die Kommunikation vor dem Kunstwerk und über das Kunstwerk gewissermaßen als Teil des Kunstwerkes selbst provoziert wird. Wolfgang Kesselheim / Heiko Hausendorf 346 - sie schränken den möglichen Adressatenkreis ein (Kinder können eine zu hoch angebrachte Tafel nicht lesen); - sie beeinflussen die Wege, die der Betrachter geht (vgl. die typische Choreografie der Bildbetrachtung im Kunstmuseum: Bild beim Herangehen kursorisch betrachten, herantreten, um das ‘Schildchen’ zu lesen, im Text implizite oder vom Bild erforderte Position einnehmen, um das Bild studieren zu können). Unsere Analyse der Aufnahmen von Ausstellungsräumen versucht in diesem Sinne also auch die Rekonstruktion des in der Ausstellung implizit ‘enthaltenen’ Betrachters und ‘Begehers’. 8 Mit anderen Worten: Wir versuchen die Kommunikationsstrukturen zu beschreiben, die für den Besucher der Ausstellung mittels verschiedener Modi immer schon präsent sind und die von ihm genutzt und in Beziehung gesetzt werden können, um aus der Ausstellung „Sinn zu machen“. Der Raum macht „Angebote“ an den Besucher, und diese lassen sich anhand des im Raum Sichtbaren und auf einem Foto Dokumentierbaren rekonstruieren. Aus der Strukturlogik solcher Angebote erwächst dann die Spezifik eines konkreten Ausstellungsraumes im Sinne eines konkreten Falles raumbasierter Kommunikation. Unsere Analyse steht und fällt deshalb nicht mit dem Interpretationsverhalten empirischer Besucher und ihrer Interaktion. Vor der Analyse konkreter Szenen mit Besuchern wollen wir uns so der „Sprache“ der Museumsausstellung selbst zu nähern versuchen. Die Fotos, auf denen unsere Analysen basieren, sind für uns selbstverständlich nicht das Primärdatum selbst. Wir verwenden sie vielmehr - ähnlich wie Transkripte - als Dokumente für räumlich arrangierte Bedeutungsangebote, die eine konkrete raumbasierte Kommunikation strukturieren. Wir sind uns dabei bewusst, dass Fotografien - ähnlich wie Transkripte - nicht einfach etwas Gegebenes dokumentieren, sondern einen bestimmten Blick auf den Raum darstellen. Jede fotografische Aufnahme stellt so gesehen bereits eine 8 Wenn man diesen „kommunizierten“ Betrachter den „empirischen“ Betrachtern gegenüberstellt, die im Laufe eines Tages eine Ausstellung durchwandern mögen, liegt die Nähe zu entsprechenden Überlegungen in Bezug auf den im Text bereits enthaltenen („impliziten“) und den im Nachhinein von außen feststellbaren („tatsächlichen“) Lesern auf der Hand (vgl. dazu z.B. die in Eco 1994 im Anschluss an die Vorstellung des ‘impliziten Lesers’ getroffene Unterscheidung von „Modell-Leser“ (und „Modell-Autor“) und „empirischem Leser“ (bzw. „Autor“)). Die Multimodalität der Ausstellungskommunikation 347 erste Interpretation des untersuchten Raums dar (Wo fängt der Raum an? Was ist im Raum wichtig, was gehört zum Hintergrund? Welche Exponate gehören zusammen? ). Auch sind mit dem Wechsel des Mediums (vom Sehen und Gehen im Raum zum Betrachten des Fotos) notwendigerweise Veränderungen verbunden, die Einfluss auf die Analyse haben und auf die man während der Analyse immer wieder stößt (Zweidimensionalität des Fotos statt Dreidimensionalität des Raums, Reduktion aller im Raum verwendeten Materialien auf Papier bzw. Bildschirmpunkte, Veränderung des Sehbaren durch Blitzlicht oder Blendenöffnung, Verzerrungen durch Weitwinkelaufnahmen, die technische Vorauswahl des Aufnahmestandpunkts usw.). Über die Analyse des Raumes erfahren wir deshalb auch immer etwas über das Medium, mit dessen Hilfe wir uns diesen Raum empirisch zugänglich machen. Bei den Aufnahmen, die wir für diesen Beitrag ausgewählt haben, handelt es sich um die fotografische Dokumentation eines Saales im Urweltmuseum Bayreuth. Der Saal ist der erdgeschichtlichen Epoche der Trias gewidmet, die aus den aufeinander folgenden Phasen des Buntsandsteins (250-240 Millionen Jahre vor der Jetztzeit), des Muschelkalks (240-230 Millionen Jahre) und des Keupers (230-205 Millionen Jahre) besteht. Zu dieser Zeit lag die heutige Region Oberfranken am Rand eines Meeres, weshalb es etwa in Bayreuth und Umgebung besonders viele Fossilien von im und am Meer lebenden Tieren gibt. Bevor wir zur Analyse des Trias-Saals kommen, möchten wir zunächst noch auf einige Charakteristika der Ausstellungskommunikation eingehen und dann einen kurzen Überblick über die Forschung zum Thema „Kommunikation im Museum“ geben. 3. Charakteristika der Ausstellungskommunikation Ausstellungsräume sollen nicht nur betreten und durchwandert, sondern auch „gelesen“ werden. Die Besonderheiten dieser raum- und bewegungsgebundenen „Lektüre“ werden besonders deutlich, wenn man sie mit der Situation der Lektüre eines gedruckten Textes in Form z.B. eines Artikels in einer Zeitung oder eines Buches vergleicht - wie wir das bereits einleitend angedeutet haben. In beiden Fällen handelt es sich um Fälle von „Dauer-Kommunikation“, bei denen die Kommunikation nicht - wie in der „face-to-face“-Interaktion - auf der gleichzeitigen Anwesenheit der Kommunikationspartner Wolfgang Kesselheim / Heiko Hausendorf 348 beruht und die daher auf dauerhafte Erscheinungsformen und Zeichen angewiesen ist, die die Flüchtigkeit des unter Anwesenden gesprochenen Wortes überdauern. Schon von daher kommt der Schrift, genauer gesagt: der Beschriftung, in der Ausstellungskommunikation eine besondere Bedeutung zu. Gleichwohl hat die Beschriftung (wie es die Bezeichnung schon verrät) primär dienende Funktion: Sie dient der Konstitution und der Behandlung von Objekten als Exponaten. Beschriftung erfolgt deshalb typischerweise am Objekt bzw. in der Nähe eines Objektes. Sie verweist uns darauf, dass im Falle der Ausstellungskommunikation der relevante Teil der Erscheinungsformen der raumbasierten Kommunikation unmittelbar objektbzw. exponat bezogen und objektbzw. exponat gebunden ist. Die herausragende Bedeutung von Objekten für die Ausstellungskommunikation lässt den Übergang von einem x-beliebigen im Raum vorhandenen Objekt zu einem ausgewählten und im Raum eigens ‘ausgestellten’ Exponat als besonders relevant erscheinen. Es ist deshalb nicht etwa schon durch die Beschaffenheit der Objekte selbst (z.B. durch die Tatsache, der Zahn eines Säbelzahntigers zu sein) vorentschieden, was „dazugehört“. Erst im Moment der Wahrnehmung und Behandlung von Gegenständen als wie auch immer informativer und illustrativer Exponate entsteht der für die „Ausstellungskommunikation“ konstitutive Übergang vom Objekt zum Exponat. Alles im Raum, was für diesen Übergang nachweislich funktional ist, betrachten wir als Erscheinungsformen der Ausstellungskommunikation. Wir werden noch sehen, welche vielfältigen und ausdifferenzierten Spuren diese Strukturlogik jedweder „Ausstellung“, die mit der Dekontextualisierung, der Rekontextualisierung und der Musealisierung bereits gegebener Dinge und Gegenstände zu tun hat, im Raum hinterlässt. Anders als die Lektüre eines Buchs erfordert die Rezeption einer Museumsausstellung Bewegungen innerhalb des Raumes. Dabei sind die Besucher prinzipiell frei, ihre Wege durch das Museum selbst zu wählen. Besucher bestimmen durch ihr Gehen, welche Exponate sie betrachten und in welcher Reihenfolge dies geschieht. Sie entscheiden durch ihr Stehenbleiben und ihre Positionierungen im Raum, welche Texte sie lesen und ob sie zuerst das Exponat und dann einen Begleittext zur Kenntnis nehmen oder umgekehrt. Auch die Tatsache, dass oftmals empfohlene Rundgänge markiert sind, ändert nichts an dieser Freiheit; sie zeigt im Gegenteil, dass auch im Raum - nicht anders als im gedruckten Text - Präferenzen für Rezeptionswege kommuniziert werden müssen. Dabei fällt für die raumgebundene Kommu- Die Multimodalität der Ausstellungskommunikation 349 nikation all das weg, was bei der Rezeption eines Textes aufgrund der Linearität der Zeilen (von links nach rechts, von oben nach unten) in mancherlei Hinsicht bereits durch den Druck bzw. die Typografie geleistet wird. Für den dreidimensionalen Raum ist die Linearisierung des Besucherstroms also eine kommunikative Aufgabe mit besonderem Gewicht: Die Linearisierung der Lektüre einer Ausstellung ist unmittelbar mit Bewegung im Raum verknüpft: Lesen bedeutet hier Gehen und Stehenbleiben, Verweilen und Weitergehen, impliziert also laufend (! ) Entscheidungen über Bewegungen, einzuschlagende Richtungen und Laufwege. Bei der Lektüre des gedruckten Textes findet die Linearisierung dagegen ausschließlich im Kopf statt: Der Buchdruck hat, wie gesagt wird, das Lesen zu einer primär kognitiven Fertigkeit gemacht, die auf hochspezialisierte Formen visueller Wahrnehmung angewiesen ist, den Körper aber ansonsten mehr oder weniger unbeteiligt lässt. 9 Während gedruckte Texte viel dafür tun, die Aufmerksamkeit auf den Modus der geschriebenen Sprache zu lenken und zu beschränken, 10 vollzieht sich die Kommunikation, die durch das Betreten von Ausstellungsräumen in Gang gesetzt wird, mit Hilfe von Zeichen aus den unterschiedlichsten Modi, zu denen die Architektur, die Aufteilung und Innenarchitektur der Museumsräume, die Gestaltung der Vitrinen, Fotos oder Grafiken und vieles mehr gehört, was im Raum neben - oder manchmal auch: statt - Sprache zum Medium der Kommunikation werden kann. Es gehört so gesehen zu den Besonderheiten dieser Zeichensysteme innerhalb der Ausstellungskommunikation, dass sie gewissermaßen erst durch die Bewegung des Betrachters und seine Position im Raum erfahren und „aktiviert“ werden. 11 Was der Betrachter wahrnehmen kann, ist von seiner Position und seinen Bewegungen im Raum abhängig. Während es für die Interpretation eines Buchs unerheblich ist, wo sich der Leser befindet oder 9 Ein vor allem im Anschluss an die Arbeiten von McLuhan viel besprochenes Thema der Medientheorie und -geschichte (vgl. Giesecke 1992). 10 Hier überspitzen wir absichtlich den Unterschied zwischen Buch und Ausstellungs-Text. Tatsächlich sind auch gedruckte Texte selten unimodal. Nicht nur, dass der geschriebene Anteil des Buchs oft durch Illustrationen, Grafiken usw. ergänzt wird (siehe etwa Fix/ Wellmann (Hg.) 2000). Auch lässt sich die Typografie als ergänzendes Zeichensystem verstehen (siehe beispielsweise Stöckl 2004). 11 Die Bewegung selbst kann im Museum Zeichencharakter gewinnen, wenn man z.B. daran denkt, dass und wie durch die Bewegung eines Besuchers beim Treppensteigen zeitliche Abläufe symbolisiert werden können. Wolfgang Kesselheim / Heiko Hausendorf 350 wohin er sich während des Lesens bewegt, wird der Ausstellungs-Text erst durch die Bewegung des Betrachters konstituiert. Museum ist in diesem Sinne ein „begehbares Medium“ (Zebhauser 2000). Begehbarkeit ist deshalb die konstitutive Bedingung für raumbasierte Ausstellungskommunikation. Aus der Vielfalt der beteiligten Bedeutungssysteme ergibt sich die Schwierigkeit, die äußeren Grenzen der Ausstellung zu bestimmen. Der gedruckte Text lässt uns dieses Abgrenzungsproblem der Kommunikation gar nicht mehr zu Bewusstsein kommen: Der Tisch, auf dem das Buch liegt, das wir lesen wollen, gehört unstreitig nicht zum Buch. Aber wo genau endet in einer Ausstellung der wahrnehmungsrelevante Raum? Gehört das Podest, auf dem ein Exponat steht, noch zum Museums-Text? , und der Raum, in dem das Exponat steht? , die Treppe, die zu dem Raum führt? , die Steckdosen, die im Raum angebracht sind? Offenkundig nicht, aber woher stammt diese Alltagsevidenz und wie kann man sie auf Erscheinungsformen raumbasierter Kommunikation zurückführen? Erschwert wird diese Grenzziehung noch dadurch, dass die Ausstellungskommunikation auf Zeichen zurückgreift, die ganz unterschiedliche Materialitäten besitzen. So steht im Museum buchstäblich alles, was sich wahrnehmen lässt, unter einem generellen „Ausstellungsverdacht“. Mit diesem generellen Ausstellungsverdacht ist die Tatsache verbunden, dass man, anders als bei der Lektüre eines Buches, neben den gerade fokussierten Gegenständen immer auch andere Dinge sieht, die potenziell zur Einordnung und Interpretation des Gegenstands beitragen können. Der Museumsbesuch erfordert also ein ganz anderes Sehen und eine ganz andere Koordinierungsleistung der Wahrnehmungskanäle als die Lektüre eines Buches mit ihrer Monopolisierung der visuellen Wahrnehmung. Trotz der großen Zahl der an der Ausstellungskommunikation beteiligten Kommunikationsmodi finden in einer Ausstellung nicht ebenso viele unabhängige Kommunikationsereignisse statt, wie es Modi gibt; vielmehr tragen alle zur Konstruktion eines einzigen multimodalen Kommunikationsereignisses bei. Wie genau das geschieht, soll in diesem Beitrag auf exemplarische Weise ermittelt werden. Bevor wir dazu anhand konkreter Materialien einen ersten Anlauf nehmen, wollen wir aber einen kurzen Blick auf den Forschungskontext unserer Untersuchung werfen. Die Multimodalität der Ausstellungskommunikation 351 4. Forschungskontext Für die linguistische Kommunikationsanalyse ist es keine Selbstverständlichkeit, den Ausstellungsraum als genuines Kommunikationsmedium zu betrachten und zu analysieren. Deshalb lassen sich Anregungen von solchen Ansätzen gewinnen, für die Ausstellungskommunikation ein etablierter Gegenstand ist. So gibt es z.B. unter dem Dach der Museumswissenschaften zahlreiche Ansätze, die sich dem Thema „Ausstellungen“ unter kommunikativem Gesichtspunkt gewidmet haben. Zunächst ist hier die lange Tradition einer „Kunst des Ausstellens“ zu nennen, die schon früh die Frage gestellt hat, wie die Materialität der Ausstellung - also Ausstellungsarchitektur, Beleuchtung, Einsatz von Inszenierungen, die Gestaltung von Objekttexten usw. - die Kommunikationsleistung der ausgestellten Objekte beeinflussen kann. 12 Die Arbeiten dieser Traditionslinie geben einen hervorragenden Einblick in das kommunikative Instrumentarium derer, die beruflich mit Museumskommunikation befasst sind. Einen ähnlichen Nutzen bringt auch die Beschäftigung mit museumspädagogischen Arbeiten mit sich, besonders wenn sie sich die Frage stellen, wie sich die Wissensvermittlung in der musealen Ausstellung durch den kombinierten Einsatz unterschiedlicher Zeichensysteme, Kommunikationsformen oder Medien optimieren lässt. Dabei darf man freilich nicht vergessen, dass die Reflexion aus der Perspektive der Ausstellungsmacher (Produzentenperspektive) keinesfalls mit der Analyse der Ausstellung selbst zusammen fällt: Wie in allen anderen Fällen von Kommunikation geht auch die Strukturlogik der raumbasierten Kommunikation grundsätzlich über das hinaus, was ihre ‘Macher’ intendiert haben mögen. Ein analytisches Gespür für die Besonderheiten des Mediums Museumsausstellung lässt sich auch durch die Lektüre von Literatur gewinnen, die sich ausgehend vom Interesse an künstlicher Intelligenz oder Mensch- Maschine-Kommunikation mit Systemen der „enhanced reality“ im Museum auseinandersetzt (Wakkary et al. 2004, Oberlander et al. 1998). Dieser noch junge Forschungsstrang geht ganz praktisch die Frage an, wie man die im Museum wahrnehmbare Realität mit Hilfe elektronischer Geräte (PDAs, Audioguides, u.Ä.m.) für das allgemeine Museumspublikum oder 12 Vgl. die Überblicksdarstellungen in Huber/ Locher/ Schulte (Hg.) (2002) oder Waidacher (1993). Siehe auch Oschmann (1971) zur langjährigen Auseinandersetzung über den angemessenen Einsatz von Sprache in musealen Ausstellungen. Wolfgang Kesselheim / Heiko Hausendorf 352 spezielle Zielgruppen „erweitert“ (z.B. für Blinde: Piety 2003) und wie man in diesem Zusammenhang verschiedene Wahrnehmungskanäle und Bedeutungssysteme praktisch kombiniert. Die interpretative Leistung der Museumsbesucher und ihre Benutzung verschiedener Bedeutungsressourcen zur Konstitution von Bedeutung untersuchen einige wenige Autoren aus dem Bereich der Museologie, der Soziologie und Ethnografie (McManus 1996, 1989; Heath/ Lehn/ Osborne 2005; Heath/ Lehn 2004; Lehn/ Heath/ Hindmarsh 2001; Véron/ Levasseur 1991), wobei in diesem Zusammenhang typischerweise der Schwerpunkt von der Produktion hin auf die Rezeption verlagert und die Eigenlogik der raumbasierten Kommunikation vernachlässigt wird. Auch die Semiotik ist zur Analyse von Zeichen und Zeichensystemen im Museum herangezogen worden (allerdings ohne dass dadurch eine eigene semiotische Subdisziplin entstanden wäre). Bei den Autoren handelt es sich einerseits um Semiotiker, andererseits um Museologen, die sich bei ihren Analysen semiotischer Modelle bedienen. 13 Ein Schwerpunkt der Analysen ist die semiotische Modellierung der Museumskommunikation. Allerdings kommen diese Arbeiten selten über die Anwendung ehrwürdiger Kommunikationsmodelle heraus und sind für die vorliegende Untersuchung nur von geringerer Bedeutung (vgl. Cameron 1968). Fruchtbarer erscheinen uns Arbeiten, die darauf fokussieren, was die Kommunikation im Museum von anderen Formen der Kommunikation unterscheidet und welche Bedeutungspotenziale in musealen Objekten enthalten sein können (s. etwa Parmentier 2001, Pearce 1994, Taborsky 1983, 1990; Schiele o.J.). 14 In diesem Zusammenhang kommt auch erstmalig aus theoretischer Perspektive die Benutzung vielfältiger Zeichensysteme in das Blickfeld, etwa in Jones (1999). Diese Arbeit ist auch die erste unter den bis hierher erwähnten semiotischen Arbeiten, die empirisch vorgeht. Erst mit einer Reihe von Arbeiten zur Multimodalität im Museum aus der Tradition der systemfunktionalistischen 13 Klassische semiotische Untersuchungen zum verborgenen Subtext von Museen sind Barthes (1970) oder Hodge/ D'Souza (1979), die hier allerdings nicht mehr als ferne Bezugspunkte sind. 14 Die Frage, wie Objekte als Zeichen funktionieren können, ist auch ausführlich im Rahmen von Studien zur „materiellen Kultur“ thematisiert worden, die ihren Ursprung in Sozialanthropologie und Geschichtswissenschaft haben (siehe z.B. Hahn 2003, Müller-Scheessel 2003, Pearce (Hg.) 1990). Die Multimodalität der Ausstellungskommunikation 353 Linguistik etabliert sich eine semiotische Forschungslinie zur Kommunikation im Museum, die mit empirischen Daten arbeitet und sich für Interaktion interessiert (Ventola/ Hofinger 2004, Pang Kah Meng 2004). Leitfrage ist in dieser Forschungsrichtung, wie verschiedene Genres oder „modes“ bei der Konstitution des Ausstellungs-Texts zusammenarbeiten. Wenn die Fruchtbarkeit der zitierten Arbeiten u.E. auch unter einem gewissen Schematismus bei der Durchführung der Analysen leidet, so stellen sie - und mehr noch andere systemfunktionalistische Arbeiten zur Multimodalität ohne Museumsthematik wie etwa Norris (2004), Saint-Georges (2004), Scollon/ Scollon (2003) - dennoch einen wichtigen Bezugspunkt für unsere Untersuchung dar. 5. Analyse In der folgenden Analyse des Trias-Raums im Urweltmuseum Bayreuth werden wir untersuchen, wie die - im Allgemeinen unbemerkt geleistete - Interpretationsarbeit des Begehers bzw. Besuchers eines Ausstellungsraumes von den durch sprachliche und nichtsprachliche Modi in den Raum „eingeschriebenen“ Bedeutungspotenzialen im Sinne einer eigenständigen Kommunikationsstruktur expliziert werden kann und wie die betreffenden Modi aufeinander bezogen sind. Aufgrund der großen Zahl relevanter Kommunikationsmodi werden wir uns auf die Analyse einiger weniger Fotos beschränken. Analysiert werden daher nur der Eingang in den Saal sowie der „Star“ des Triasraums, der Giraffenhalssaurier, der einmal direkt im Raum hängend und einmal innerhalb einer Vitrine präsentiert wird. Prinzipiell sind zwei Herangehensweisen an die Analyse dieses Raumes denkbar: - Man könnte alle mutmaßlich an der Ausstellungskommunikation beteiligten Bedeutungssysteme vorab klassifizieren und dann untersuchen, wo sie aufeinander Bezug nehmen. Dazu müsste man allerdings im Voraus wissen, welches die Zeichensysteme sind, die an der Museumskommunikation mitwirken. Das wirft praktische Fragen auf wie die, ob die Exponate als Ganzes als ein Zeichensystem zu analysieren sind oder ob ihre Farbe, ihr Material usw. als eigene Zeichensysteme gelten sollen. Auch wird ein solches Vorgehen dem multimodalen Charakter der Ausstellungskommunikation nicht gerecht. Eine Ausstellung scheint aus dieser Perspektive aus so vielen gleichzeitig ablaufenden, aber voneinander prinzipiell unabhängigen Kommunikationsereignissen zu bestehen, wie es Modi gibt (s.o.). Wolfgang Kesselheim / Heiko Hausendorf 354 - Alternativ dazu kann man versuchen, den Raum bis in die Details seiner Innenarchitektur, seiner Gestaltung und Möblierung als Lösung kommunikativer Probleme bzw. kommunikativer Aufgaben zu analysieren. Im Grunde genommen kann man überhaupt erst mit dieser Fokussierung auf die kommunikative Bearbeitung zugrunde liegender Aufgaben von raumbasierter Kommunikation im engeren Sinne sprechen. Das soll deutlich machen, dass wir hier von „Aufgaben“ sprechen, die man weder auf die Produktion noch die Rezeption einer Ausstellung beziehen darf. So wie die Konversationsanalyse mit Bezug auf ihre Daten postuliert, dass es darum geht, dokumentierte Äußerungen als Antwort auf zugrunde liegende Fragen zu analysieren, postulieren auch wir mit Bezug auf unsere Daten, dass es darum geht, dokumentierte Raumarrangements als Antwort auf zugrunde liegende Fragen sichtbar zu machen. Für den Nachweis solcher Fragen bzw. Probleme ist es bekanntlich irrelevant, ob die Teilnehmer (also Sprecher und Hörer bzw. Ausstellungsmacher und -besucher) sie auch als solche reflektieren. Typischerweise verläuft die Problem- und Aufgabenbearbeitung im kommunikativen Alltag weit unterhalb der Thematisierungsschwelle durch die Kommunikationsteilnehmer. Die Orientierung an kommunikativen Aufgaben, die wir ausgehend von ihrer Lösung im Raum zu rekonstruieren versuchen, hat überdies den Vorteil, dass wir auf eine künstlich anmutende Vorabunterteilung der relevanten Kommunikationsmodi und ihre nachträgliche Verbindung verzichten können. Stattdessen können wir versuchen, die Probleme so zu erfassen, wie sie sich aus der Strukturlogik der Zugänglichkeit und Betretbarkeit des Ausstellungsraumes ergeben, also idealiter mit der allmählichen Annäherung an das Ausstellungsgebäude, dem Zusteuern auf den Eingangsbereich, dem Betreten des Gebäudes, der Orientierung im Eingangsbereich, dem Zusteuern auf einen Ausstellungsraum, dem Betreten dieses Raumes und der Bewegung innerhalb dieses Raumes - bis zum Verlassen des Gebäudes. Aus Platzgründen können wir einen solchen Durchlauf hier nicht komplett nachzeichnen. Unsere Analysen werden sich deshalb auf die Sequenz konzentrieren, die mit dem Zusteuern auf den Ausstellungsraum beginnt, wenn der Eingangsbereich des Ausstellungsraumes, den wir ausgewählt haben, sichtbar wird. Diese sequenziell orientierte Vorgehensweise ist u.E. am besten geeignet, die Strukturlogik der raumbasierten Die Multimodalität der Ausstellungskommunikation 355 Kommunikation nachzuzeichnen - nicht weil sie der Bewegung eines empirischen Begehers entspräche, sondern weil der raumbasierten Ausstellungskommunikation mit ihrer Fokussierung auf Bewegung sehr wohl eine solche Sequenzialität möglicher Schritte innewohnt. Wir gehen deshalb in unserer Analyse diesen zweiten Weg. Dazu haben wir zunächst (klar erkennbare und mutmaßliche) Erscheinungsformen raumbasierter Kommunikation im Trias-Raum auf ihre kommunikative Leistung hin befragt. Das Ergebnis dieses ersten Analyseschrittes ist eine Reihe kommunikativer Aufgaben, die durch diese Erscheinungsformen bearbeitet werden. Die so identifizierten kommunikativen Aufgaben dienen als Ausgangspunkt für die Identifikation weiterer Erscheinungsformen raumbasierter Kommunikation, die vielleicht in der ersten Analyse gar nicht als solche in den Blick geraten waren. Die folgende Präsentation der Analyse verschiedener Aufnahmen ist nach diesen Aufgaben gegliedert. Dabei ist zu berücksichtigen, dass unsere Rekonstruktion der für den ausgewählten Fall raumbasierter Ausstellungskommunikation konstitutiven Aufgaben noch am Anfang steht und zurzeit vor allem heuristischen Wert hat. Zur Orientierung schicken wir die bislang identifizierten Aufgaben voraus: - Markierung der äußeren Grenzen der Ausstellung, - Scheidung von Figur und Hintergrund, - Organisation der Bewegung und Wahrnehmung, - Binnengliederung des Raums und der Ausstellung, - Vermittlung von Wissen. Dabei hat, wie wir nachzeichnen wollen, die letztgenannte Aufgabe einen besonderen Status: Während die ersten vier Aufgaben in mancherlei Hinsicht auf Probleme aufmerksam machen, die sich generell in der raumbasierten Kommunikation stellen, markiert die letztgenannte Aufgabe der Vermittlung von Wissen u.E. einen für den Ausstellungsraum charakteristischen Fluchtpunkt, auf den die anderen Aufgaben bezogen werden können. 15 15 Mit „Wissen“ meinen wir nicht nur explizites, begriffliches Wissen, sondern auch Anschauungswissen. Auch kann das Wissen, um das es hier geht, unterschiedlich starke Spuren seiner Erwerbs- oder Erfahrungssituation enthalten. Zu unterschiedlichen Zugängen zum Begriff „Wissen“ und zur linguistischen Konzeptualisierung von Wissen s. Antos (2005). Wolfgang Kesselheim / Heiko Hausendorf 356 5.1 Raumeingang Was gibt es zu sehen, wenn wir im Urweltmuseum Bayreuth den von uns gewählten Ausstellungsraum ansteuern? Abbildung 1 gibt davon einen Eindruck: Abb. 1: Ausstellungsraum: Eingang Welche kommunikativen Aufgaben werden hier sichtbar bearbeitet? Beginnen wir mit der Rekonstruktion der Formen, mit denen die grundlegendste Aufgabe realisiert wird: die Markierung der äußeren Grenzen der Ausstellung. Das wichtigste Mittel, mit dem diese Abgrenzung geschieht, ist erst im Vergleich zu den anderen Fotos des Museums zu erkennen: Es ist die konsequente Verbannung des Tageslichts aus der Ausstellung. Alle Ausstellungsräume des Urweltumuseums sind konsequent abgedunkelt, erhellt nur durch den gezielten Einsatz von Strahlern. Eine Ausnahme bildet lediglich das Treppenhaus, das durch verschiedene architektonische und ausstellungstechnische Elemente eindeutig als Übergangsbereich markiert ist. So sind zwar schon Exponate zu sehen (wenn auch nur zweidimensionale, v.a. Bilder und Grafiken) - man befindet sich also schon „irgendwie“ im Museum. Aber gleichzeitig wird signalisiert, dass es sich bei dem Treppenhaus um einen Bereich „zusammenfassender Vorausdeutung“ handelt. Auf einem durchgehenden Zeitstrahl sind Hinweise auf „Highlight[s] des Urweltmuseums Oberfranken“ angebracht, und zwar in der Nähe von grafischen Darstellungen, die so grob sind, dass es sich bei ihnen kaum um die angekündigten „Highlights“ handeln kann. Die Multimodalität der Ausstellungskommunikation 357 Auch innerhalb der Ausstellungsräume wird signalisiert, was zu sehen ist, und was übersehen werden soll. Woran ist beispielsweise erkennbar, dass die Steckdosen rechts unten auf dem Foto oder der Thermostat, der auf der Aufnahme hinter der linken Vitrine zu sehen ist, nicht Teil der Ausstellung sind? Sicherlich spielt dabei das Wissen eine Rolle, dass moderne menschliche Artefakte nicht in einer erdgeschichtlichen Ausstellung präsentiert werden. Aber die ebenso menschengemachten Leuchten, Vitrinen, Stellwände usw. sind Teil der Ausstellung und leisten einen klaren Beitrag zur Konstruktion der Ausstellungsbedeutung. Dass Steckdosen und Thermostat nicht zu den ausgestellten Objekten gehören, wird entscheidend durch ihre schwarze Farbe angezeigt, die sie mit der Wand teilen, auf der sie angebracht sind. Neben der Farbe, die auch einfach den kommunikativen „Hintergrund“ der Ausstellung markiert (s.u. zu Figur und Hintergrund), spielt auch die Position der Objekte eine Rolle. Die Steckdosen sind noch wesentlich tiefer angebracht als die Erläuterungen für Kinder (siehe Anhang). Es fällt schwer, einen „impliziten Betrachter“ zu ersinnen, dem durch diese Hängung die Wahrnehmung dieser Objekte ermöglicht würde. Vergleichbares gilt für den Thermostat, der so angebracht ist, dass er nur in einem ganz engen Winkel hinter der Vitrine sichtbar wird, der nicht beleuchtet wird und keinen Betrachtungsweg an sich vorbei zulässt (s.u zur Organisation der Bewegung). Lichttyp, Beleuchtung, Objektfarbe, Position und Gestaltung der Laufwege sind also (mindestens) die „Modi“, die Teil der kommunikativen Aufgabe der Grenzziehung zwischen einem Innen und einem Außen der Ausstellung sind. Eine verwandte Aufgabe ist die Scheidung von Figur und Hintergrund. Während es allerdings bei der soeben besprochenen Aufgabe darum geht zu verdeutlichen, was als Teil der Ausstellung wahrgenommen werden soll und was nicht, geht es bei der Scheidung von Figur und Hintergrund darum zu verdeutlichen, worauf die Wahrnehmung innerhalb der Ausstellung fokussieren soll, was im „kommunikativen Vordergrund“ ablaufen soll. So ist die Auswahl der Objekte, die sich eine Vitrine teilen, und deren Arrangement innerhalb der Vitrine sicherlich ein wichtiger Fingerzeig bei der Interpretation der Objektbedeutungen und der Gliederung der Gesamtbedeutung der Ausstellung, aber die Informationen, die der Betrachter aus diesen Quellen gewinnen kann, werden ausdrücklich nur „mitkommuniziert“, ohne dass ihnen ein eigenes Gewicht zuerkannt wird. Wolfgang Kesselheim / Heiko Hausendorf 358 Im Urweltmuseum werden Elemente der Ausstellung durch die Verwendung bestimmter Farben in den Hintergrund gerückt: schwarz (Stellwände, künstliche Trennwände, Beschriftungstafeln wie „Oberfranken vor 205-250 Millionen Jahren“ etc.) bzw. ein neutrales, unstrukturiertes Grau (Teppichboden). Die gleiche Aufgabe kann auch durch bestimmte Materialien geleistet werden. So signalisiert etwa das Glas der Vitrine links im Bild, der Vorsatzscheibe vor dem Fischwirbelexponat rechts und des „Aquariums“, das man im Hintergrund der Aufnahme erkennen kann: „Schau mich nicht an, sondern schau durch mich hindurch auf etwas Anderes! “ Damit definieren Vitrinen und Vorsatzscheiben gleichzeitig die Elemente, die durch sie gerahmt werden, als „Figur“. Andere Formen der Bearbeitung dieser Aufgabe sind die weiße Schriftfarbe, die Verwendung von kräftigen Farben (vgl. den „Fußabstreifer“, das „Aquarium“ und die bunten Fotos, Grafiken oder Erklärungstexte für Kinder - siehe Anhang) und besonders die Beleuchtung durch Spots. Die kommunikative Aufgabe, die Bewegung der Besucher zu organisieren, ist schon deshalb ein wichtiger Bestandteil der Ausstellungskommunikation, weil die Bewegung im Museum selbst „bedeutungsvoll“ ist. Jeder Schritt kann einen Zeitschritt bedeuten. So bewegt man sich im schon erwähnten Treppenhaus nicht nur physisch vor- und aufwärts. Jeder Schritt bringt - dank der Koppelung der Treppe mit dem Zeitstrahl - den Betrachter der Jetztzeit symbolisch um einige Jahrmillionen näher. Ein Schritt im Museum kann aber auch eine thematische Verschiebung repräsentieren, eine Positionsänderung in einer Taxonomie, eine Veränderung des theoretischen Standpunkts. Schritte sind deshalb fast immer auch bedeutsam, sie werden gleichermaßen in den Dienst der Ausstellungskommunikation genommen. Der gut sozialisierte Ausstellungsbesucher passt deshalb sein Schritt- und Körperverhalten dieser sozial-symbolischen Aufladung seiner Bewegungen an. Er weiß und zeigt, dass er sozusagen mit dem Körper liest - und eine ausgeklügelte Gestaltung der Gehwege im Raum kann ein solches Verhalten eigens befördern und belohnen. Denkt man die Gestaltung des Raums von diesem Problem der Bewegung möglicher Besucher her, die im Raumkonzept antizipatorisch berücksichtigt sind, werden zahlreiche Beobachtungen möglich, die wir als Besucher im Vorbeigehen automatisiert auswerten, aber als solche in der Regel nicht eigens registrieren oder gar thematisieren. So signalisiert z.B. die Größe der Überschrift über dem Eingang des Trias-Raums nicht nur einen thematischen Die Multimodalität der Ausstellungskommunikation 359 Einschnitt (s.u.), die Größe der Saalüberschrift macht sie von Ferne rezipierbar. Sie ermöglicht eine erste Wahrnehmung des Raumes und stellt damit den ersten Zug bei der Heranführung des Betrachters an den Raum dar. 16 Ein weiteres Element der Bewegungsorganisation, das sich auf Abb. 1 erkennen lässt, ist die Position der Vitrine, in deren Exponaten man ein erstes Kommunikationsangebot des Trias-Raumes vermuten kann. Durch ihre Schrägstellung, die von der normalen Regel des Ausstellens - „immer an der Wand lang“ - abweicht, werden die möglichen Besucherwege beim Nähertreten auf den Saaleingang hin gebündelt. Es entsteht ein „Trichter“ für die Bewegung (und damit die Wahrnehmung), der im Trias-Raum mündet. Dieser Trichter wird durch einen anderen Kommunikationsmodus verstärkt: die sich zum Durchgang hin verjüngenden Lichtbahnen. 17 Schließlich bearbeitet auch die betonte Verengung des Durchgangs die Aufgabe der Bewegungs- und Wahrnehmungsführung. Sie verhindert einen „Seitenblick“ in den Raum. Damit zwingt sie jeden, der das Kommunikationsangebot der Überschrift annehmen möchte, den Durchgang frontal anzusteuern. Der Durchgang kanalisiert also die möglichen Wahrnehmungen und setzt gleichzeitig einen spezifischeren Anfangspunkt für die Bewegung im Raum als dies eine breitere Raumöffnung hätte leisten können. 18 Die kommunikative Aufgabe der Binnengliederung des Raums und des Ausstellungs-Texts ist eng mit der Aufgabe der Vermittlung von Wissen verwoben (s.u.). Beide Aufgaben scheinen uns in einem Verhältnis zu stehen ähnlich den Mikro- und Makrostrukturen in einem sprachlichen Text. Die Aufgabe der Binnengliederung ordnet die durch einzelne Ausstellungs- 16 Diese Leistung für die Steuerung der Besucherbewegung haben Position und Größe der Überschrift unbeschadet der Tatsache, dass man ihnen auch andere Bedeutungen zuschreiben kann, etwa eine Konnotation des Sakralen. - Ganz ähnlich lassen sich übrigens auch die Fotos analysieren, die den Zugang zum Museum zeigen: als Mittel, das Eintreten in die Kommunikation zu bewerkstelligen. 17 Diese sind auf dem Foto leider nicht klar zu erkennen. Dort scheint der Lichtbereich rechts stärker zu sein als der linke „Lichttrichter“. Artefakte der Fotografie sind übrigens auch die blauen „Objekte“ in der Vitrine, die in Wirklichkeit nur Spiegelungen eines Monitors sind, der sich hinter der Kameraposition befindet. 18 Der Charakter der Verengung als Lösung einer Aufgabe wird daran offenbar, dass es sich deutlich um eine künstliche Verengung handelt: Man beobachte die Stellfüße am unteren Ende der Wand! Wolfgang Kesselheim / Heiko Hausendorf 360 Zeichen vermittelte Bedeutung in größere Strukturen ein. Sie bildet thematische Hierarchien, stellt unterschiedliche Typen von Verknüpfungen (additiv, chronologisch, argumentativ etc.) zwischen den Bedeutungen einzelner Zeichen her usw. In dem hier analysierten Raum bearbeitet der türartige Durchgang die Gliederungsaufgabe. Er symbolisiert einen thematischen Übergang, wobei die Türmetapher durch den „Fußabstreifer“, der genau auf der gedachten Türschwelle platziert ist, zusätzlich betont wird. Bei dem „Fußabstreifer“ handelt es sich um eine Landkarte, die die Region um das heutige Bayreuth zur Trias zeigt. 19 Die über dem Durchgang angebrachte Überschrift zeigt an, dass die Bewegung unter der Überschrift hindurch ein Eintreten in einen neuen thematischen Block ist, nämlich „Oberfranken vor 205-250 Millionen Jahren“. Zwei unterschiedlich große Überschriften („Saurier aus dem Bayreuther Muschelkalk[meer]“ in der Bildmitte und „[K]euper“ links) lassen schon vor dem Betreten des Raumes erkennen, dass das Thema weiter untergliedert ist. Gliederungselemente sind auch die Vitrinen, die einen thematischen Zusammenhang behaupten, der alle Elemente umfasst, die in ein und derselben Vitrine enthalten sind, oder z.B. die Vorsatzscheibe vor den Wirbelkörpern der prähistorischen Haifische rechts. Wichtig ist, dass man bei der kommunikativen Bearbeitung der Gliederungsaufgabe im Museum Bewegung und Position des Betrachters mitberücksichtigen muss. Im Fall der Museumsausstellung ist es durchaus bedeutungsvoll, was man gleichzeitig mit einem bestimmten Exponat wahrnehmen kann (s.o.). Blickrichtung und Gesichtsfeld erzeugen Bedeutungsaggregate, auf die bei der Rekonstruktion der Gliederungs-Aufgabe geachtet werden muss. 20 19 Durch die Platzierung auf der Schwelle wird der Status der Karte in der Schwebe gehalten: Gehört sie thematisch zu dem Raum, in dem die Kamera steht, oder schon zum Trias- Raum? Das gleiche gilt für das Exponat auf der künstlichen Verengung selbst (Wirbelkörper von prähistorischen Haifischen). Für den praktischen Erfolg der Wissensvermittlung (der uns in diesem Beitrag nur ganz am Rande interessiert) ist das sicher nicht ideal. Bei beiden Exponaten handelt es sich um Exponate der Triaszeit. 20 So ergibt sich die Tatsache, dass die Vorsatzscheibe direkt über dem Fischwirbel-Exponat angebracht ist, und nicht etwa in einem größeren Abstand, aus der Bearbeitung der Gliederungsaufgabe. Bei einem größeren Abstand „fallen“ Teile des Exponates „aus dem Rahmen“, sobald ein vorbeigehender Besucher das Exponat von der Seite zu sehen bekommt. Die Multimodalität der Ausstellungskommunikation 361 Damit erhält der soeben analysierte Durchgang eine zusätzliche Interpretation. Er erzeugt eine Struktur von Dingen, die als zusammengehörig wahrgenommen werden können, weil sie gleichzeitig sichtbar sind: Das Saurierskelett, das Sauriermodell in dem „Aquarium“ und die anderen sichtbaren Exponate können vom Betrachter, noch bevor er sie klassifizieren kann (! ), als Teile eines gemeinsamen thematischen Blocks wahrgenommen werden. Die Organisation der Gliederung wird also wieder von einer Kombination mehrerer Modi geleistet: Innenarchitektur (Stellwand, Durchgang), Exponate und deren Anordnung (Fußabstreifer, Vitrineninhalt als Gliederungseinheit), Sprache/ Schrift (Überschriften verschiedener Größe) usw. Selbst wenn man es schaffen würde, gleichsam unbefangen und ohne vorausorganisierende Hinweise an die Position zu gelangen, von der aus Abb. 1 entstanden ist: Die Darbietung von Wissen in Gestalt von Informationen, die Darstellungsfunktion der raumbasierten Kommunikation ist überwältigend und macht noch den zerstreutesten Besucher auf die Erwartung aufmerksam, den Aufenthalt in diesem Gebäude und das nahe gelegte Betreten unseres Ausstellungsraumes vorrangig in den Dienst der Wissenskommunikation zu stellen. Mit dem Ausdruck „Wissenskommunikation“ wollen wir darauf aufmerksam machen, dass die raumbasierte Kommunikation in ihren unterschiedlichen Facetten, die wir mit den bereits geannten Aufgaben illustriert haben, einen gemeinsamen Orientierungspunkt in der Benennung, Erläuterung und Vermittlung spezieller erd- und naturgeschichtlicher Informationen hat. Auf Abb. 1 zeigt sich das etwa an der Saalüberschrift, die eine zeitliche Verortung des Trias-Raums vornimmt, an den Exponaten, die vielfältige visuelle Informationen darüber liefern, welche Dinge und Lebewesen es zu jener Zeit gegeben hat, wie sie ausgesehen haben und wie sie sich dem Betrachter heute präsentieren. Genauer bestimmt werden die Exponate durch die Bereichsüberschrift „Saurier aus dem Bayreuther Muschelkalk[meer]“ und die ‘Fußmatte’, die ebendieses Muschelkalkmeer grafisch darstellt und das heutige Bayreuth in dem prähistorischen Meer verortet. Hier zeigt sich sehr anschaulich das gegenseitige Ausdeutungsverhältnis von Schrift und Exponaten. Die Exponate buchstabieren die Überschrift aus, sie lösen sie ein, indem sie direkte 21 Wahrnehmungsdaten darüber vermitteln, Klarer wird diese Gliederungsfunktion übrigens dort, wo hinter der Scheibe viele Einzelelemente präsentiert werden. 21 Tatsächlich ist die Relation komplexer. Die Wahrnehmung des Saurierskeletts deckt sich ja mit keiner der möglichen Weisen, auf die man einen wirklichen Saurier hätte wahrneh- Wolfgang Kesselheim / Heiko Hausendorf 362 welche Saurier es zur Trias in der fraglichen Region gegeben hat. Gleichzeitig ergänzt die Überschrift die Bedeutungen, die der betrachtende Laie aus den Skeletten bzw. Modellen konstruieren kann, sie macht aus „irgendwelchen“ Sauriern ‘Bayreuther’ Saurier aus der Zeit zwischen 250 und 205 Millionen Jahren vor unserer Zeit. Wie in einem Lehr- oder Schulbuch bietet also die Vermittlung spezifischen Wissens den übergreifenden Zusammenhang, der die einzelnen Exponate „sinnvoll“ macht. Anders als in einem Buch gewinnt die raumbasierte Ausstellung mit der Möglichkeit der Präsentation sicht- und z.T. greif- und berührbarer Gegenstände allerdings einen medialen Eigenwert. Hinzu kommt, dass die Vermittlung von Wissen hier verwoben werden kann mit dem Präsentieren „authentischer“ Objekte, deren Betrachtung auch einen Wert im Sinne der Suggerierung eines eigenständigen Anschauungswertes hat (ein „echtes“ Skelett). 22 All das ändert gleichwohl nichts an der Dominanz der Wissenskommunikation, die sofort zutage tritt, wenn man den Ausstellungsraum etwa mit dem Supermarkt vergleicht, in dem ebenfalls zahlreiche Informationen über die präsentierten Waren gegeben werden, deren Fluchtpunkt aber unübersehbar die Kaufentscheidung mit ihrer Fokussierung auf den Preis ist (kein „Objekt“ ohne Preisschild! ). Und auch die Ausstellung von Kunstwerken zeigt hier abweichend von dem Fluchtpunkt der Wissenskommunikation die Orientierung am Eigenwert der selbstgenügsamen, nicht weiter instrumentalisierten Wahrnehmung („Geschmackskommunikation“), so sehr auch im Rahmen von Kunstausstellungen immer auch Wissen über Kunst und Künstler vermittelt werden mag. men können (Innenansicht statt Außenansicht, Reduktion auf die Skelettknochen - die aber trotzdem so angeordnet sind, als befänden sie sich noch in einem Körper -, Versteinerung). Das Modell im „Aquarium“ ist nur eine Nachbildung des optischen Eindrucks, den ein bestimmter Typ von Saurier vermutlich auf einen zeitgenössischen Betrachter gemacht hätte (wenn es zu diesem Zeitpunkt schon Menschen gegeben hätte). Beide Exponate stehen als Zeichen für etwas anderes, das nicht sie selber sind. 22 Wir berühren hier den Gegensatz von Museum und Enzyklopädie, die seit der Aufklärung als „Modelle der Weltaneignung“, als „Medien von Wissenschaft und Bildung“ gelten können. Mit dem Fokus der Präsentation ‘authentischer’ Objekte macht das Museum dabei gewissermaßen die „Faszination des Sammelns und ‘Begreifens’“ deutlich, also seine eigenen „vorwissenschaftlichen Wurzeln“ (Zitate und weitergehende Hinweise dazu bei Blank/ Debelts 2000, S. 17ff.). Die Multimodalität der Ausstellungskommunikation 363 5.2 Giraffenhalssaurier Bis hierher haben wir gesehen, dass keine der kommunikativen Aufgaben der Museumsausstellung exklusiv durch einen einzigen Modus bearbeitet worden ist. Es hat sich nicht nur gezeigt, dass für die Bearbeitung einer Aufgabe abwechselnd Zeichen aus unterschiedlichen Modi herangezogen werden (Farbe, Licht, Material, Schrift/ Sprache usw.). Auch war zu sehen, dass im konkreten Fall gleichzeitig mehrere Modi zum Einsatz kamen: So wurde die Gliederung des Raums nicht nur durch die Stellwand (Innenarchitektur), sondern auch durch die ‘Fußmatte’ (Exponat), Schrift/ Sprache (Überschriften) usw. angezeigt. Die Behauptung, Ausstellungskommunikation sei multimodal, bezieht sich aber nicht nur auf die Gleichzeitigkeit der Modi. Mit dem Begriff Multimodalität ist auch gemeint, dass sich die einzelnen Modi gegenseitig ergänzen (oder mit entgegengesetzten Aussagen in Konflikt geraten). Das möchten wir mit Hilfe eines zweiten Beispiels illustrieren, und zwar mit einer Serie von Fotos, die dokumentieren, wie das Thema „Giraffenhalssaurier“ im Trias-Raum behandelt wird. Diese Fotos stellen wir hier en bloc der Analyse voran, um die einzelnen Analysebeobachtungen leichter in den Gesamtrahmen einordnen zu können. Abb. 2 gibt einen Überblick über die Vitrine, die dem Giraffenhalssaurier gewidmet ist. Die nummerierten Objekte sind in den Abb. 3 bis 5 im Detail zu sehen. Abb. 2: Gesamtansicht der Giraffenhalssauriervitrine Wolfgang Kesselheim / Heiko Hausendorf 364 Abb. 3: Teilansicht Ziffern 2-4 Abb. 4: Teilansicht Ziffern 5 und 6 Abb. 5: Teilansicht Ziffern 7 bis 12 Die Multimodalität der Ausstellungskommunikation 365 Das Thema Giraffenhalssaurier wird weiterhin durch ein an der Decke aufgehängtes Skelett behandelt (Abb. 6), dessen Schädel auf Abb. 2 zu sehen ist (Ziffer 13), und durch einen Aufsteller (Abb. 7) mit einem im Comicstil gehaltenen Erklärungstext für Kinder (in Abb. 2: Ziffer 14). Abb. 6: Raummitte Abb. 7: Teilansicht Ziffer 14 Die Texte, die den Giraffensaurier betreffen, werden im Anhang komplett wiedergegeben (s.u.). Wie angekündigt, möchten wir im Folgenden exemplarisch zeigen, auf welche Weise die verschiedenen Modi bei der Bearbeitung der oben beschriebenen kommunikativen Aufgaben zusammenspielen können und wie dieses Zusam- Wolfgang Kesselheim / Heiko Hausendorf 366 menspiel an der „Oberfläche“ der Kommunikation signalisiert werden kann. Unsere Analysen haben bisher folgende Arten der Verknüpfung verschiedener Modi ergeben, die wir mit den Begriffen „Nebeneinander“, „Miteinander“, „Ausdeutung“, „Konkretisierung“ und „Widerspruch“ belegt haben. Das einfache Nebeneinander verschiedener Modi lässt sich am Beispiel des Giraffenhalssauriers leicht demonstrieren. So wird die Aufgabe der Vermittlung von Wissen mit Hilfe von Text (1, 2, 4, 6, 8, 10-12, 14f.), Fundstücken (5, 9), dreidimensionalen Rekonstruktionen (7, 13), Rekonstruktionszeichnungen (2, 3) und grafischen Elementen (der beschriftete Maßstab in 2, rechts) bearbeitet. Alle diese Modi können vom Betrachter nacheinander oder alternativ zueinander als Ressourcen in Anspruch genommen werden, um unterschiedliche Aspekte des Wissens zum Giraffenhalssaurier zu gewinnen. In Abb. 2 lässt sich noch ein ähnlich gelagerter Typus des Zusammenspiels beobachten, den wir hier provisorisch Miteinander nennen wollen. Hier wird die Aufgabe der Gliederung gleichzeitig in zwei Modi angegangen: Die Glaswände der Vitrine fassen alle von ihnen eingeschlossenen Objekte zu einer Gruppe zusammen. Die gleiche kommunikative Leistung erbringt die im Vitrinendach integrierte Beleuchtung, die alle in der Vitrine befindlichen Objekte zunächst einmal in einen gleichförmigen Lichtteppich taucht, bevor dann Spotlichter die Akzentuierung des kommunikativen Vordergrunds bewerkstelligen. 23 Auch bei der Aufgabe der Scheidung von Figur und Hintergrund kann es ein Miteinander zweier Modi geben. Wie man in Abb. 2 erkennen kann, heben nicht nur die Spots die Exponate aus dem „bedeutungslosen“ Zwischenraum heraus, sondern auch die Texte, die durch ihre Positionierung direkt neben den Objekten anzeigen, dass es zu den beleuchteten Objekten etwas zu sagen gibt. 24 23 Die Lichtflecken links von Ziffer 2 sind fotografische Artefakte. 24 Zu untersuchen wäre, ob es in diesem Miteinander eine konstante Hierarchie der Modi gibt. Sind etwa im Museum Informationen, die man aus Exponaten erhält, grundsätzlich wichtiger - weil aus der Begegnung mit dem Authentischen erworben - als die aus Texten? Oder sind es die Texte, die grundsätzlich die Vermittlung von Wissen übernehmen, während die Exponate nur illustrative Funktionen haben? Möglicherweise ist das eine Frage der Ideologie jedes einzelnen Museums. Es wäre aber reizvoll, nach kommunikativen Formen zu fahnden, die die Über- oder Unterordnung von Modi leisten. Die Multimodalität der Ausstellungskommunikation 367 In einem anderen Verhältnis befinden sich beispielsweise der Text der Vitrinenüberschrift (1) und die Objekte in der Vitrine im Hinblick auf die Aufgabe der Vermittlung von Wissen. Die Interpretation der Objekte hängt direkt von der Interpretation der Überschrift ab. Erst durch die Überschrift wird deren Status als Belege für die Existenz und die materielle Gestalt eines bestimmten Sauriertyps deutlich. Die Überschrift „Giraffenhalssaurier Tanystropheus conspicuus H.v.MEYER“ ist dafür verantwortlich, dass die Knochen nicht als einmalige Objekte wahrgenommen werden („Seht, das sind die Knochen, die im Bayreuther Rathaus gefunden wurden! “ oder „Das sind Godzillas Knochen! “). Vielmehr wird aufgrund der Überschrift jeder Knochen als Repräsentant einer ganzen Klasse gleichartiger Objekte interpretiert, nämlich der (erwachsenen) Giraffenhalssaurier (siehe Tab. 1 im Anhang). Auch signalisiert die Überschrift „Giraffenhalssaurier Tanystropheus conspicuus H.v.MEYER“, dass alles in der Vitrine Befindliche Informationen zum Giraffenhalssaurier beitragen wird. Die Überschrift stellt also eine Art Anweisung dar, alles Wahrnehmbare als Information zum Giraffenhalssaurier zu interpretieren. Aus der Wahrnehmung von Knochen oder Wirbeln (9) wird die Wahrnehmung von „Knochen des Giraffenhalssauriers“. Diese Verhältnis wollen wir als Ausdeutung bezeichnen: Die Interpretation eines Zeichens hängt von einem Zeichen aus einem anderen Modus ab. Das Verhältnis der Konkretisierung ist in gewisser Weise das Gegenstück zur Ausdeutungsrelation. Hier wird in dem einen Modus das konkret gezeigt, authentifiziert, illustriert, was in einem anderen Modus präsentiert wird. So illustriert die Umrisszeichnung auf der Tafel mit der Nummer 2 (Grafik) die auf der gleichen Tafel lesbare Aussage: „Gesamtrekonstruktion von Tanystropheus“ (Sprache) oder das Exponat 7 (Objekt) den Text 8: „Baby von Tanystropheus“ (Sprache). Meist ist es die Sprache, die durch andere Modi illustriert, belegt, konkretisiert wird, und meist geht es um die Aufgabe der Vermittlung von Wissen. Das ist aber nicht zwingenderweise so. Die Spots in der Vitrine heben bestimmte Zonen hervor, ohne dort zwischen Vitrinenboden und Exponaten zu unterscheiden. Die Scheidung von Figur und Hintergrund wird erst durch die Objektkennungen konkretisiert, die signalisieren, dass es in ihrer unmittelbaren Nähe hinter (Boden) oder über ihnen (Wand) etwas Relevantes wahrzunehmen gibt. Wolfgang Kesselheim / Heiko Hausendorf 368 Gerade dieses intermodale Verhältnis der Konkretisierung ist für die Idee des Museums konstituierend. Die wichtigste Leistung der Museumsobjekte ist es (zumindest in einem Museumstyp wie dem Urweltmuseum), einen Zugang zu einem Wissensausschnitt zu schaffen, indem man dem Besucher die direkte Wahrnehmung authentischer Objekte ermöglicht - und ja gerade mit diesem Wert ausgestellter authentischer Objekte Besucher überhaupt in das Gebäude lockt (während die fraglichen Informationen ja auch auf andere Weise zugänglich sind). Die Modi, die sich in einer Relation des Neben- oder Miteinander, der Ausdeutung oder Konkretisierung befinden, sind oftmals strukturell miteinander verwoben. So kann signalisiert werden, dass in einem Modus die Leerstellen geschlossen werden, die in einem anderen Modus offen geblieben sind; oder dass mehr als nur ein Modus zur Herstellung von Kohärenz herangezogen werden soll. In dem von uns untersuchten Raum im Urweltmuseum sind allerdings solche expliziten Verbindungen zwischen Modi, die auf der „Oberfläche“ der Kommunikation zu beobachten wären, selten. So ersetzt etwa der Modus der Objektanordnung häufig die sprachliche Deixis. Ausdrücke wie „ Hier sehen Sie ein …“ oder „ Dies ist ein …“ fehlen. Sie werden ersetzt durch die regelhafte Platzierung der Objektkennung oder des Objekttextes in unmittelbarer Nähe zu dem jeweiligen Exponat. So heißt es beispielsweise „Alle Einzelknochen aus dem oberen Muschelkalk des Bindlach-Lainecker Höhenzuges“ (Text 12), und nicht: „Diese Einzelknochen …“. Bisweilen führt das aber zu Missverständnissen, nämlich wenn Nähe grundsätzlich als Codierung einer deiktischen Relation verstanden wird. So wird Text 4 aufgrund seiner Nachbarschaft zu den Grafiken 2 und 3 als Erläuterung derselben interpretiert. Der Inhalt des Textes - „Anhand des Bayreuther Materials wurde die Art Tanystropheus conspicuus zum ersten Mal wissenschaftlich beschrieben“ - macht eine solche Interpretation aber unmöglich. Gemeint sind, der im Modus Sprache vermittelten Information nach zu urteilen, eher die mit der Ziffer 9 nummerierten Fundstücke. Damit haben wir bereits ein Beispiel für die Relation des Widerspruchs gegeben, bei der sich die Informationen zweier Modi nicht vereinbaren lassen. Die Multimodalität der Ausstellungskommunikation 369 Im folgenden Beispiel widersprechen sich die Modi Text und Mobiliar im Bezug auf die Aufgabe der Gliederung. Die Vitrine erzeugt, wie weiter oben beschrieben, eine Gliederungseinheit, die alles, was sich innerhalb ihrer Glaswände befindet, von dem abgrenzt, was sich außerhalb der Vitrine befindet (z.B. die Nothosaurusknochen auf Abb. 2 ganz links zu erkennen). Liest man die Erläuterungen für Kinder (14), so erfährt man von zwei Giraffenhalssauriern: „Schau mal Basti, die beiden Giraffenhalssaurier sehen vielleicht seltsam aus mit ihrem langen Hals. Das ist ja Mutter Tanja mit ihrem süßen Baby! “. Um aber zwei Giraffenhalssaurier wahrnehmen zu können, muss man einmal in die Vitrine schauen (Objekt 7) und einmal an die Decke außerhalb der Vitrine. Was im Modus der Sprache durch eine Referenzform zusammengefasst ist („beide“), wird im Modus der räumlichen Anordnung durch das starke Signal der Glaswand getrennt. 6. Ergebnisse und Ausblick In diesem Beitrag haben wir exemplarisch untersucht, wie ein Museumsraum durch seinen Aufbau, die verwendeten Materialien, Beleuchtung, Mobiliar, Exponate, Texte usw. dem Besucher Bedeutungsressourcen zur Verfügung stellt, die von diesem dazu benutzt werden können, aus den ausgestellten Exponaten Sinn zu machen. Die Ausgangsidee war es, den „impliziten Besucher“ und die Kommunikation zwischen Besucher und Raum aus der Gestaltung des Raumes selbst zu rekonstruieren. Dabei geriet die Tatsache in den Blick, dass Ausstellungskommunikation auf dem Zusammenwirken zahlreicher Kommunikationsmodi beruht. Anstatt die einzelnen Kommunikationsmodi zunächst getrennt zu untersuchen und erst im zweiten Schritt ihre Verbindung der Modi untereinander zu untersuchen, setzte unsere Analyse bei der Rekonstruktion von kommunikativen Aufgaben an, die modusübergreifend gelöst werden: die Markierung der äußeren Grenzen der Ausstellung, die Scheidung von Figur und Hintergrund, die Organisation der Bewegung und Wahrnehmung, die Binnengliederung des Raums und der Ausstellung und die Vermittlung von Wissen. Diese analytische Perspektive hat den Vorteil, dass die Aufgaben einen Bezugspunkt zur Verfügung stellen, von dem aus man die einzelnen Modi Wolfgang Kesselheim / Heiko Hausendorf 370 aufeinander beziehen kann. Dies ist gerade deshalb nützlich, weil eine kommunikative Aufgabe nicht durchgehend einem bestimmten Modus übertragen wird, sondern im Regelfall bald durch den einen, bald durch den anderen Modus, bald durch die Kombination mehrerer Modi redundant bearbeitet wird. Ein weiterer Vorteil ist es, dass die Koordinierung der einzelnen Modi, also ihr Zusammenspiel in der Kommunikation, nicht als etwas Nachgeordnetes erscheint, sondern automatisch mitanalysiert wird. Hier konnten in der Analyse verschiedene Relationen zwischen den Modi unterschieden werden, die wir tentativ „Nebeneinander“, „Miteinander“, „Ausdeutung“, „Konkretisierung“ und „Widerspruch“ genannt haben. Mit dem vorliegenden Beitrag sollte vor allem eine Forschungsperspektive eröffnet und deren Fruchtbarkeit exemplarisch gezeigt werden. Die Analyse der Fotodaten ist selbstverständlich nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einem umfassenderen Verständnis der Ausstellungskommunikation. Die Untersuchung der Ausstellungskommunikation auf der Grundlage des Ausstellungsraums allein erscheint uns dabei als ein methodischer Kniff, um auf die Bedeutungsressourcen zu fokussieren, die der Raum und die im Raum enthaltenen Elemente dem Besucher immer schon in die Hand geben. In der nächsten Zeit sollen dann Videodaten erhoben werden, die nicht nur den Raum selbst, sondern auch seine „tatsächliche“ Begehung durch empirische Besucher analysierbar machen. Wir versprechen uns davon Einblicke in das Ge- und gegebenenfalls auch Misslingen der zuvor von uns rekonstruierten raumbasierten Ausstellungskommunikation und generell Antworten auf die Frage, ob und wie sich die Strukturlogik der raumbasierten Kommunikation auf das Bewegungsverhalten empirischer Besucher auswirkt. Dieses Interesse schließt die Beobachtung des „einsamen“ Durchwanderns der Ausstellung unter Ausschluss der Möglichkeit von Interaktion ausdrücklich ein, und es könnte auch in die Erhebung entsprechend experimentell induzierter Daten einmünden. Schließlich sollen dann in einem nächsten Schritt auch solche Audio- und Videodaten hinzugezogen werden, die Besucher im Ausstellungsraum zusammen mit anderen Besuchern zeigen und damit das gemeinsame Begehen und Besprechen einer Ausstellung analysierbar machen. Erst mit diesen Daten werden wir also auf das stoßen, was in einem engeren Sinne als Interaktion bezeichnet werden kann. Die Multimodalität der Ausstellungskommunikation 371 7. Literatur Antos, Gerd (2005): Die Rolle der Kommunikation bei der Konzeptualisierung von Wissensbegriffen. In: Antos, Gerd (Hg.): Wissenstransfer durch Sprache als gesellschaftliches Problem. Frankfurt a.M. S. 339-364. Barthes, Roland (1970): La grande famille des hommes. In: Barthes, Roland: Mythologies. Paris. S. 195-198. Blank, Melanie/ Debelts, Julia (2000): Was ist ein Museum? „… eine metaphorische Complication …“. Wien. Cameron, Duncan F. (1968): The Museum as a Communications System and Implications for Museum Education. 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Anhang Die folgende Tabelle gibt zur besseren Lesbarkeit die den Giraffensaurier betreffenden Texte wieder (die Ziffern entsprechen denen in Abb. 2, 6 und 7): Dokumentation der Texte zum Giraffenhalssaurier Nummer in Abb. 2 bis 7 Text 1 Giraffenhalssaurier Tanystropheus conspicuus H.v.MEYER 2 Gesamtrekonstruktion von Tanystropheus [Text teilt sich die Tafel mit der Grafik] 4 Anhand des Bayreuther Materials wurde die Art Tanystropheus conspicuus zum ersten Mal wissenschaftlich beschrieben (H.v.MEYER, 1855) 6 Fundplatte mit Skelett eines Babies von Tanystropheus Muschelkalk Monte San Giorgio (Kanton Tessin, Schweiz) 8 Baby von Tanystropheus 10 Schwanzwirbel eines erwachsenen Tieres 11 Halswirbel von erwachsenen Tieren 12 Alle Einzelknochen aus dem oberen Muschelkalk des Bindlach-Lainecker Höhenzuges 14 [Saurier mit Kamm: ] Wow, hier bei unseren Verwandten, den Muschelkalksauriern gefällt es mir am besten. Schau mal Basti, die beiden Giraffenhalssaurier sehen vielleicht seltsam aus mit ihrem langen Hals. Das ist ja Mutter Tanja mit ihrem süßen Baby! Ich finde mich natürlich viel schöner, ich bin ja auch ein Pflasterzahnsaurier! Mit den Vorderzähnen kratzten wir Schalentiere vom Meeresboden, die dann mit unseren breiten Pflasterzähnen im Maul aufgeknackt wurden. [Saurier mit langem Hals: ] Nun, Plax, ich bin ja noch viel schöner als du, denn ich bin ein Nothosaurier! Am liebsten schwammen wir im Meer, wo wir mit unseren Zähnen Fische fingen und sie uns schmecken ließen. Anschließend legten wir uns am Ufer zum Faulenzen in die Sonne. Die Multimodalität der Ausstellungskommunikation 375 15 „Tanya“ Tanystropheus Giraffenhalssaurier Abguss von oberfränkischen Originalknochen, die in verschiedenen Museen und Privatsammlungen lagern. Reinhold Schmitt / Reinhard Fiehler / Ulrich Reitemeier Audiovisuelle Datenkonstitution und Koordinationsprozesse 1. Fragestellung und Aufbau des Beitrags In unserem Beitrag untersuchen wir auf der Grundlage eines kurzen Videoausschnittes aus einer Schulstunde die manifesten Reaktionen und Verhaltensweisen, die ein Schüler angesichts der Kamera und der Aufnahmeaktivitäten produziert. Der Schüler ist zunächst auf das Unterrichtsgeschehen orientiert. Als er gewahr wird, dass die Kamera ihn erfasst, tritt für ihn diese Orientierung schlagartig in den Hintergrund, und die Kamera wird für ihn situativ relevant: Er blickt kurz in die Kamera, unterbricht dann aber den Sichtkontakt, indem er mit einer Hand, dann mit dem Hausaufgabenheft und schließlich wieder mit seitlich vor das Gesicht gehaltener Hand sein Gesicht bedeckt (Abschn. 2.). Wir gehen davon aus, dass das Aufeinanderabstimmen von stabilen Orientierungen auf Kernaktivitäten eines bestimmten Handlungsschemas und kurzfristigen situativen Relevanzen, die konkurrierend mit diesen Aufmerksamkeit absorbieren können, eine generelle Koordinationsaufgabe für Interaktionsbeteiligte darstellt. Wir konzeptualisieren das oben beschriebene Verhalten des Schülers dementsprechend als spezifischen Lösungsversuch einer solchen Koordinationsaufgabe: Er muss seine Primärorientierung auf den Unterricht mit einer situativen Relevanz vereinbaren, die dadurch entsteht, dass der Unterricht mit einer Videokamera aufgezeichnet wird. Für den konkreten Fall explizieren wir die Struktur der Koordinationsaufgabe und die Bedingungen, die zu ihrer Entstehung führen. Dabei wird deutlich, dass der Kameramann und die Kamera in unterschiedlicher Weise einen wesentlichen Beitrag zum Zustandekommen dieser Aufgabe leisten (Abschn. 3.). Wir wenden uns daher im Folgenden explizit der Frage nach den unterschiedlichen Konstitutionsbeiträgen des Kameramannes, der Kamera und des Aufnahmemediums zu (Abschn. 4.) und gehen in diesem Zusammenhang davon aus, dass in der Aufnahmesituation auch für den Kameramann - genau wie für den Schüler - eine Koordinationsaufgabe entsteht, die ihn „zwingt“, sich jeweils zwischen dem allgemeinen Unterrichtsgeschehen und den manifesten Reaktionen des Schülers (auf den Kameramann und seine Kamera) zu entscheiden (Abschn. 5.). Reinhold Schmitt / Reinhard Fiehler / Ulrich Reitemeier 378 Der thematische Abschluss des Beitrags besteht in einer Reflexion der Implikationen und Schwierigkeiten, die auftreten, wenn man solche auf die Aufnahme bezogenen Verhaltensweisen als Koordination konzeptualisieren und analysieren will (Abschn. 6.). 2. Fallanalyse Der im Folgenden analysierte Videoausschnitt stammt aus einer Unterrichtsstunde an einer Hauptschule und wurde im Rahmen eines Feldforschungsprojektes über die sprachliche Integration von russlanddeutschen Aussiedlern aufgenommen. 1 Die Sequenz stammt aus der Endphase des Erdkundeunterrichts und zeigt den Übergang von der inhaltlichen Arbeit zur Formulierung der Hausaufgaben für die nächste Stunde. Die Kamera ist im Klassenzimmer vor der ersten Tischreihe an der Fensterseite platziert und ermöglicht so einen seitlichen Blick auf die Erdkundekarte, die vorne an der Tafel hängt. Die Analyse rekonstruiert schrittweise Verhaltensweisen eines Schülers, den wir Waldemar genannt haben, als empirischen Ausdruck eines Koordinationsproblems, das darin besteht, Unterrichtsanforderungen mit der Faszination und Relevanz zu vereinbaren, die die Videokamera, mit der die Unterrichtsstunde aufgezeichnet wird, für ihn besitzt. 2.1 Unterrichtsorientierung Die Kamera gibt den Blick auf Waldemar frei und zeigt ihn zwischen dem links an der Karte leicht nach vorne und unten gebeugten Schüler und dem rechts etwas weiter im Vordergrund an der ersten Tischreihe in der Mitte sitzenden Schüler. Waldemar ist auf das Unterrichtsgeschehen unmittelbar vor ihm an der Karte orientiert, das sich zwischen dem Lehrer und dem Schüler entspinnt. Der Schüler zeigt mit einem großen Dreiecklineal auf eine Stelle in Südafrika. Waldemars Konzentration auf das Kartengeschehen erstreckt sich bis zur zweisekündigen Pause, die nach dem Äußerungsabschluss so “: gezeigt eben des Lehrers (LE) folgt. 1 Die Aufnahmen wurden von Ulrich Reitemeier gemacht; siehe Reitemeier (2006). Dokumentiert wurde ein ganzer Schultag einschließlich des Pausengeschehens. Das in diesem Beitrag analysierte Beispiel stammt aus einem Sample vergleichbarer Verhaltensweisen des Schülers, das wir aus dem Gesamtkorpus zusammengestellt haben. Audiovisuelle Datenkonstitution und Koordinationsprozesse 379 Waldemar hat seinen linken Ellenbogen auf die Tischplatte aufgestützt und seine linke Hand ist mit zur losen Faust eingerollten Fingern an seinem linken Ohr am Kopf angelegt (Abb. 1). 01 LE: das soll ein fluss 03 S1: das is doch 02 LE: sei“n ** 04 S1: en fluss 05 LE: ach da ja * 06 LE: du hast so“: gezeigt 07 LE: eben *2* Abb. 1: ach 2.2 Relevanz der Kamera Er führt dann seine lose Faust für einen kurzen Moment nach vorne zum Mund, streicht sich im unmittelbaren Anschluss mit den nunmehr geöffneten Fingern seine Haare hinter sein linkes Ohr und rollt seine Finger dann wieder zu einer losen Faust ein. Diese Faust legt er kurz neben seinem Hals auf der Schulter ab, führt die Faust dann jedoch erneut nach vorne seitlich vor Mund und Nase und dreht gleichzeitig seinen Kopf leicht nach links und blickt für einen kurzen Moment über seine Faust direkt in die Kamera. Er hat seine Aufmerksamkeit von den unmittelbar vor ihm stattfindenden Unterrichtsaktivitäten an der Afrikakarte gelöst. Für ihn wird jetzt die Kamera relevant (Abb. 2). 05 LE: ach da ja * 06 LE: du hast so“: gezeigt 07 LE: eben *2* 08 S2: LACHT KURZ Abb. 2: LACHT KURZ Reinhold Schmitt / Reinhard Fiehler / Ulrich Reitemeier 380 2.3 Reaktion auf die Kamerarelevanz („Ausblenden“ 2 ) Dieser kurze Blick in die Kamera bleibt nicht ohne Folgen, sondern führt im weiteren Verlauf dazu, dass der Schüler den Blickkontakt zur Kamera mit einer Hand unterbricht. Er öffnet dazu zuerst die Faust, stellt seine Finger auf, wodurch sein Gesicht hinter der Hand verschwindet und dreht gleichzeitig seinen Kopf nach rechts. Diese Position hält er konstant bei bis lernen. Beginnend mit hausaufgaben ordnet er mit seiner rechten Hand Unterlagen, die vor ihm auf dem Tisch liegen, ohne dabei jedoch seine Handhaltung zu verändern (Abb. 3). 09 LE: so * gut hausaufgaben 10 LE: für nächste woche das 11 LE: le“rnen * einschreiben * 12 LE: rum geht die Petra Abb. 3: so Gleichzeitig mit dem von der Tafel zu seinem Platz zurückkehrenden Schüler (der von links nach rechts durch das Bild läuft) hebt Waldemar seinen rechten Unterarm von der Tischplatte und führt diesen mit geöffneter, entspannter Hand über seinen Kopf und über seine „Schutzhand“ hinweg zu 2 Wir stoßen hier auf ein für die Analyse audiovisueller Daten grundsätzliches Problem: das der Interpretationshaltigkeit bzw. interpretativen Kategorialität der Beschreibung körperlicher Verhaltensweisen. Man hat bei der Problemlösung die Möglichkeit, sich - etwas verkürzt formuliert - zwischen zwei gegensätzlichen Polen zu verorten, die man in Anlehnung an Pike (1964) als „emisch“ und „etisch“ beschreiben kann. Die Begriffe fokussieren die Unterscheidung von einer auf äußerlich-physikalische Aspekte bezogenen Beschreibung (etisch) und einer auf symbolisch-wissensmäßige Strukturen gerichteten (emisch). Wir haben uns bei der Beschreibung und Konzeptualisierung des Verhaltens von Waldemar darum bemüht, motivzuschreibende und weitgehend von der Interaktionsstruktur abgehobene Begriffe zu vermeiden. Der interpretative Gehalt verschwindet bei unserer weiteren strukturanalytischen Auseinandersetzung mit Waldemars Verhalten jedoch nicht vollständig, sondern rutscht bei der Beschreibung beispielsweise als „Ausblenden“ oder als „Schutzhand“ in reflektierter Gestalt in doppelte Anführungszeichen. Audiovisuelle Datenkonstitution und Koordinationsprozesse 381 seinem linken Ohr, wobei er seinen Unterarm ganz hinter seinen Kopf bringt und die Hand hinter seinem Ohr platziert. Ginge es dem Schüler nur darum, sich hinter dem Ohr zu kratzen oder seine Haare hinter das Ohr zu streichen, hätte er für die Realisierung dieser Selbstberührung einfachere Möglichkeiten, bei denen er beispielsweise seine linke, vor das Gesicht gehaltene Hand einsetzen könnte. Die Tatsache, dass er dies nicht tut, verdeutlicht, dass die Kamera - obwohl er sich wieder von ihr abgewendet hat - immer noch ein relevanter Bezugspunkt für ihn ist, der sein Verhalten weiterhin bestimmt (Abb. 4). 10 LE: für nächste woche das 11 LE: le“rnen * einschreiben * 12 LE: rum geht die Petra Abb. 4: die 2.4 Reaktion auf Unterrichtsanforderungen In Reaktion auf die Ankündigung des Lehrers, dass gleich Petra in der Klasse herumgehen wird, um den Eintrag der Hausaufgaben in die Hausaufgabenhefte zu kontrollieren, ändert Waldemar seine Körperposition und seine Armhaltung. Er streicht sich zunächst mit der rechten Hand die Haare hinter sein linkes Ohr. Danach führt er seinen rechten Arm und die rechte Hand entlang seiner rechten Kopfseite wieder nach vorne und greift - als Reaktion auf die Unterrichtsanforderung, Hausaufgaben einzutragen - mit der rechten Hand sein Aufgabenheft, das vor seinem linken, aufgestützten Ellenbogen vor ihm auf dem Tisch liegt. Er hebt das Heft an und bringt es in Höhe seines Gesichtes, wobei er gleichzeitig seine linke, das Gesicht abdeckende Hand lockert und auch mit dieser das Heft ergreift, als sich dieses vollständig vor seinem Gesicht befindet. Dabei ist sein Kopf nach vorne ausgerichtet, und es sieht so aus, als würde er auf das vor seinen Augen befindliche Heft schauen. Jedoch sind seine Augen in dieser Position geschlossen (Abb. 5). Reinhold Schmitt / Reinhard Fiehler / Ulrich Reitemeier 382 10 LE: für nächste woche das 11 LE: le“rnen * einschreiben * 12 LE: rum geht die Petra 13 LE: *1,8* kontrollieren *2* Abb. 5: *1,8* 2.5 Funktionalisierung des Aufgabenheftes zum „Ausblenden“ der Kamera Waldemar hat zwar als Reaktion auf die Aufforderung des Lehrers wie die anderen Schüler auch zum Aufgabenheft gegriffen. Er setzt dieses jedoch nicht relativ zu dessen üblichem Gebrauch ein, sondern funktionalisiert es vielmehr dafür, sein Gesicht dahinter zu verbergen. Er lässt das Heft dann für einen kurzen Moment los, dreht es von der vorgängigen Draufsicht auf die schmale Seite, führt es gleichzeitig links an seinen Kopf und greift erneut mit seiner rechten Hand nach dem Heft. Dieses befindet sich nun - von beiden Händen gehalten - direkt zwischen seinem Gesicht und der Kamera (Abb. 6). 10 LE: für nächste woche das 11 LE: le“rnen * einschreiben * 12 LE: rum geht die Petra 13 LE: *1,8* kontrollieren *2* Abb. 6: *2* Dann drückt er das Heft mit beiden Händen etwas zusammen, wodurch für einen kurzen Moment ein Teil seines Gesichts sichtbar wird. Er schlägt dann das Heft auf, wodurch sein Gesicht und Kopf nun vollständig hinter dem Heft verschwinden (Abb. 7). Audiovisuelle Datenkonstitution und Koordinationsprozesse 383 12 LE: rum geht die Petra 13 LE: *2* kontrollieren *2* 14 S1: was ist hausaufgabe Abb. 7: hausaufgabe 2.6 Doppelausrichtung: Kamera und Unterrichtsanforderungen Danach senkt er das jetzt weniger weit geöffnete Heft, das er weiterhin in beiden Händen hält, vor seinen Oberkörper und dreht gleichzeitig seinen Kopf nach links in Richtung Kamera. Das sinkende Heft gibt nun vollständig den Blick auf sein Gesicht frei: Es ist zu sehen, dass Waldemar direkt in die Kamera blickt (Abb. 8). 14 S1: was ist hausaufgabe 15 LE: die begriffe- *1* frag 16 LE: ich nächstes mal 17 LE: schriftlich Abb. 8: begriffe Er senkt das Heft noch etwas mehr, sodass es fast auf der Tischplatte aufliegt. In der Folge nimmt er, ohne seinen Blick von der Kamera zu wenden, mit seiner rechten Hand ein Blatt aus seinem Heft heraus und legt es auf dem Tisch ab (Abb. 9). Reinhold Schmitt / Reinhard Fiehler / Ulrich Reitemeier 384 15 LE: die begriffe- *1* frag 16 LE: ich nächstes mal 17 LE: schriftlich Abb. 9: *1* Im Vergleich zur Funktionalisierung des Aufgabenheftes zum Unterbrechen des Blickkontaktes zur Kamera zeigt sich hier deutlich eine geteilte Ausrichtung des Schülers: Seine Körperorientierung und sein Blick sind zwar weiterhin auf die Kamera gerichtet, gleichzeitig bereitet er jedoch mit seinen Armen, Händen und Fingern das Aufgabenheft zum Eintragen der Aufgaben vor. 2.7 Rückkehr zur Unterrichtsorientierung Waldemar greift mit seiner rechten Hand wieder an das Heft und hebt es erneut etwas an. Dabei löst er seinen Blick von der Kamera und schaut in das Heft hinein. Gleichzeitig verdeckt der Lehrer, der von rechts durch das Bild läuft, den Blick auf Waldemar. Als Waldemar wieder sichtbar wird, blickt er wieder in die Kamera und blättert dabei in seinem Heft. Schließlich wendet er seinen Kopf nach rechts und dadurch seinen Blick von der Kamera ab. Er legt das Heft auf der Tischplatte ab und führt im Anschluss seine linke Hand mit ausgestreckten Fingern wieder seitlich an den Kopf, sodass seine Hand die Kamera nun wieder „abschirmt“ (Abb. 10). 18 LE: ab ** also ihr kriegt 19 LE: dann ne afrikakarte- 20 LE: ** und müsst dann 21 LE: alles einmalen selbst Abb. 10: afrikakarte - Audiovisuelle Datenkonstitution und Koordinationsprozesse 385 Mit der rechten Hand blättert er in seinem Heft, während die Kamera ruckartig nach rechts schwenkt und Waldemar dadurch aus dem Fokus wandert. Die gegebene Beschreibung des Schülerverhaltens zeigt, dass seine Aktivitäten durch den Widerstreit seiner Orientierung auf den Unterricht und seiner Reaktion auf die situative Relevanz der Kamera bestimmt werden: Einerseits ist er in dem Ausschnitt auf die Kernaktivität „Unterricht“ ausgerichtet, andererseits reagiert er jedoch auch wiederholt und ausgebaut auf die Anwesenheit der Kamera. Das Verhalten des Schülers in diesem Ausschnitt kann als Versuch beschrieben werden, seine Orientierung auf den Unterricht mit der Relevanz, die die Kamera für ihn darstellt und die mit der Unterrichtsorientierung konkurriert, zu koordinieren. Bei diesem Koordinationsversuch werden seine Aktivitäten einerseits sequenziert, sodass zunächst die stabile, ereignisbezogene Orientierung und dann die situative Relevanz für sein Verhalten bestimmend sind. Andererseits sind jedoch lokal auch Verhaltensweisen zu beobachten, die der simultanen Geltung von Orientierung und situativer Relevanz geschuldet sind. Diese Verhaltensweisen führen zu einer Aufteilung der in der konkreten Situation zur Verfügung stehenden körperlichen Ausdrucksmittel: Kopfhaltung und Blick sind auf die Kamera gerichtet, Hände und Finger folgen unterrichtsspezifischen Anforderungen. 3. Struktur und Spezifik der Koordinationsaufgabe Nachdem wir als Abschluss der Fallanalyse in allgemeiner Weise konstatiert haben, dass eine situative Relevanz im Kontext einer stabilen Primärorientierung zur Etablierung einer Koordinationsaufgabe führt, wollen wir uns nun a) die Struktur dieser Koordinationsaufgabe, b) die für ihr Zustandekommen relevanten Bedingungen sowie c) die Versuche ihrer Bearbeitung vergegenwärtigen. In dem von uns untersuchten Ausschnitt ist Waldemar der einzige Schüler, dessen Verhalten in dieser Deutlichkeit auf die Bearbeitung bzw. Lösung einer Koordinationsanforderung hindeutet. Aus unserer Sicht ist es jedoch sinnvoll, in Bezug auf Koordination als interaktionskonstitutivem Phänomen von einer kognitiven und einer empirisch-verhaltensspezifischen Komponente auszugehen. Im Sinne dieser Unterscheidung postulieren wir, dass die Anwesenheit der Kamera und des Kameramannes für alle in der Unterrichtssituation Anwesenden kognitiv eine allgemeine Koordinationsanforderung darstellt. Mit dieser allgemeinen kognitiven Anforderung gehen die einzel- Reinhold Schmitt / Reinhard Fiehler / Ulrich Reitemeier 386 nen Interaktionsbeteiligten - relativ zu ihren sozialen, biografischen und situativen Relevanzsystemen - in unterschiedlicher Weise um. Bei den einen (beispielsweise bei Waldemar) führt die Bearbeitung dieser Anforderung zu konkret beobachtbarem Verhalten, das dann in seiner Struktur und als Hinweis auf die Bearbeitung einer Koordinationsanforderung beschrieben werden kann. Bei anderen hingegen objektiviert sich die kognitive Auseinandersetzung nicht erkennbar in konkretem Verhalten. Ziel und Zweck der koordinativen Bemühungen Waldemars ist es, ein Verhalten zu zeigen, in dem weitgehend der Unterrichtsorientierung gefolgt wird und das damit den normativen schulischen Anforderungen entspricht. Solche Koordinationsversuche können mehr oder minder routinisiert erfolgen, sie können aber auch - wie in unserem Beispiel - die Qualität eines Problems bekommen, für dessen Lösung explizite Anstrengungen unternommen werden müssen. Die in der Fallanalyse behandelte Konstellation muss nicht automatisch zu einem Koordinationsproblem führen. Dies ist beispielsweise dann nicht der Fall, wenn aufgrund bestimmter Bedingungen die situative Relevanz verdrängt oder außer Kraft gesetzt werden kann. In dem von uns untersuchten Beispiel ist dies für den Schüler jedoch nicht möglich. Hier haben wir es mit einer Dilemmastruktur zu tun, die dafür sorgt, dass weder die Orientierung aufgegeben, noch die situative Relevanz ernsthaft ignoriert werden kann, sondern beide in der betrachteten Situation ihr Recht fordern und zu Verhaltensweisen führen, die als Lösungsversuche des Koordinierungsproblems verstanden werden können. Zunächst einmal kann sich Waldemar aufgrund seines Status als Schüler nicht für längere Zeit aus der auf das Kernereignis Unterricht bezogenen Orientierung lösen und sich von ihren Anforderungen frei machen. Tut er dies, muss er mit ernsthaften Sanktionen rechnen. Er kann aber auch nicht die Relevanz der Kamera vollständig ignorieren. Hierfür ist vermutlich eine persönliche Motivlage verantwortlich, zu der wir aus strukturanalytischer Sicht nichts sagen können, die wir jedoch für die Entstehung des Koordinationsproblems voraussetzen müssen. Vergleicht man Waldemars Reaktionen auf die Kamera mit denen der anderen Schüler, wird deutlich, dass die Aufnahmesituation für ihn eine deutlich höhere Relevanz besitzt als für seine Mitschüler, die der Kamera gegenüber bekannte Verhaltensweisen zeigen: Sie setzen sich in Position, winken kurz in die Kamera, schneiden Grimassen oder ignorieren sie. Audiovisuelle Datenkonstitution und Koordinationsprozesse 387 Neben dieser nicht zu klärenden motivationalen Lage gibt es jedoch auch situations- und interaktionsstrukturelle Hinweise darauf, dass die Kamera und der Kameramann, der sie bedient, einen wesentlichen Beitrag zur Etablierung, Aufrechterhaltung und situativen Relevantsetzung der Dokumentationssituation für Waldemar leisten. Wir kommen in Abschn. 5. explizit und ausführlich auf diesen Aspekt zu sprechen und wollen uns an dieser Stelle nur mit einer knappen, auf die Konstitution des Koordinationsproblems bezogenen Beschreibung begnügen. Die Kamera/ der Kameramann sind auch deswegen für Waldemar von besonderer Relevanz, weil die Kamera ihn immer wieder als Person fokussiert und sich dadurch als relevantes Situationselement „selbst ins Spiel bringt“. So taucht Waldemar nicht ab und an mehr oder weniger zufällig bei einem Schwenk durch den Klassenraum im Fokus der Kamera auf, sondern ist fokussiertes Objekt, zu dem die Kamera immer wieder zurückkehrt, das sie immer wieder sucht. Dies wird beispielsweise dann besonders deutlich, wenn die Kamera auf Waldemar gerichtet ist, während sich das Zentrum der Unterrichtsaktivitäten außerhalb des durch das Objektiv der Kamera definierten Ausschnittes befindet und nur akustisch präsent ist. Die Relevanz der Kamera für Waldemar und die Relevanz von Waldemar für die Kamera/ den Kameramann bedingen und verstärken sich wechselseitig und begründen so eine interaktive Struktur zwischen beiden. 3 Dieser Tatbestand führt dazu, dass Waldemar in besonderem Maße ein Koordinationsproblem hat, welches er aktuell in der Situation mittels unterschiedlicher Verhaltensweisen bearbeiten muss. Waldemars Primärorientierung auf den Unterricht zeigt sich zum einen darin, dass er sich die meiste Zeit über als Schüler verhält. Er ist durch den primären Aktivitätsrahmen des Unterrichtens über längere Zeitspannen kognitiv beansprucht, folgt den Ausführungen des Lehrers, schreibt mit, lacht über Witze, die der Lehrer macht usw. Zum anderen reagiert er auf die spezifische Situation, die durch die Aufnahmesituation entsteht, häufig auch im Rahmen kollektiver Relevanzstrukturen, die durch die Präsenz der Kamera und des Kameramannes für die gesamte Klasse etabliert werden: beispiels- 3 Es bleibt zu überlegen, inwieweit die Datenkonstitution in solchen Situationen, in denen die Aufzeichnung offen erfolgt und die Aktivitäten des Dokumentierenden für die Dokumentierten wahrnehmbarer Teil der Situation sind, nicht generell als Interaktionsprozess konzeptualisiert werden sollte. Reinhold Schmitt / Reinhard Fiehler / Ulrich Reitemeier 388 weise bei der Vorstellung des Beobachters durch den Lehrer, durch Erklärungen des Dokumentierenden zu seinen Forschungsinteressen und zum Zweck der Erhebungsaktion, und durch gelegentliche, auf die Kamera bezogene Kommentare des Lehrers. 4 Natürlich trägt schon die bloße Anwesenheit des Kameramannes und seiner sichtbaren Gerätschaften dazu bei, dass sich Schüler und Lehrer der Verfremdung des Unterrichtsalltags bewusst sind. Bei den anderen Schülern wird jedoch die vorhandene Relevanz der Kamera mit einer kognitiv-mentalen Routine des „Abwählens“ bearbeitet, die teilweise von minimalen Aktivitäten (kurzer Blick in die Kamera, Haare hinter das Ohr streichen, Zwinkern) begleitet wird, die verdeutlichen, dass für sie die Kamera punktuell relevant ist. Sie können also die Koordinationsanforderung in routinisierter Weise im Sinne der Aufrechterhaltung ihrer Orientierung auf die Primäraktivität lösen. Bei Waldemar hingegen funktioniert diese „Abwahlroutine“ in vielen Situationen nicht in vergleichbarer Weise. Bei ihm bildet sich vielmehr die Beschäftigung mit der Kamera als eine faktische Auseinandersetzung mit der konkurrierenden Relevanz explizit in seinem Verhalten ab. Sein „Ringen“ mit der situativen Relevanz der Kamera zeigt sich unter anderem auch im Einsatz von Hilfsmitteln - wie der aufgestellten Hand - zur Unterbrechung der optischen Wahrnehmung. Die kognitive Routine des Abwählens wird also durch einen körperlichen Vorgang des „Ausblendens“ unterstützt. Für Waldemar stellt die Auseinandersetzung mit der Relevanz der Kamera eine Herausforderung dar, die die Struktur einer aktuell durchzuführenden Problemlösung besitzt. Er muss die zu leistende Koordination von übergeordneter Orientierung und konkurrenter situativer Relevanz explizit und teilweise aufwändig bearbeiten. In diesem Sinne hat er ein Koordinationsproblem, das nach einer aktiven, lokal zu leistenden Lösung verlangt. Die Relevanz der Kamera wird nicht nur durch ihre Wahrnehmung erzeugt, sondern zugleich durch eine intrinsische Motivation gespeist: Waldemar wendet sich auch von sich aus der Kamera zu und startet Monitoring-Aktivitäten, um zu sehen, ob diese auf ihn gerichtet ist. 5 Waldemar versucht auf- 4 So etwa in einem Situationskommentar, in dem der Lehrer die Aufnahmesituation scherzhaft mit einer Fernsehsendung vergleicht, in der Prominente mit einer versteckten Kamera gefilmt werden. 5 Zur Bedeutung von Monitoring-Aktivitäten für die Organisation des eigenen Verhaltens siehe den Beitrag von Schmitt/ Deppermann (i.d. Bd.). Audiovisuelle Datenkonstitution und Koordinationsprozesse 389 grund der starken situativen Relevanz der Kamera im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden Mittel festzustellen, ob und wann sie auf ihn gerichtet ist. Zäsuren im Unterrichtsablauf oder unterrichtsbedingte Bewegungen im Klassenraum, etwa wenn Schüler an die Tafel gehen oder sich wieder setzen, sind hierfür gute Gelegenheiten. Waldemars Monitoring-Aktivitäten finden jedoch unter erkennbar erschwerten Bedingungen statt. Dafür ist die konkrete Position der Kamera ganz wesentlich verantwortlich. Er muss, um zu überprüfen, wo sich der Fokus der Kamera gerade befindet, seinen Kopf drehen und kann nicht aus den Augenwinkeln heraus sehen, ob er im Aufnahmebereich der Kamera ist oder nicht. Die Kamera trägt also nicht nur zur Etablierung des Koordinationsproblems bei, sondern ist darüber hinaus auch implikativ für die Art und Weise der konkreten Bearbeitung des Problems in der Situation (siehe Abschn. 4.2). Ein Teil der Monitoring-Aktivitäten Waldemars sind Ausdruck seines Koordinationsproblems und Ringens um Abwahl: Obwohl er sich mittels aufgestellter Hand selbst am weiteren Hinsehen zur Kamera hindert und bemüht ist, die Kamera „auszublenden“, ist deren Relevanz häufig so stark, dass er sich ihr erneut zuwendet und offen ins Objektiv blickt oder sie in verdeckter Form beobachtet, indem er durch die leicht gespreizten Finger schaut, die die Kamera aus seinem Gesichtsfeld ausblenden. Waldemar zeigt insgesamt ein Verhalten, das eingepasst ist in die Anforderungen des Unterrichts. Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass es sich hierbei um eine stabile Orientierung handelt, die weitgehend sein Verhalten bestimmt. Auch wenn er für kurze Zeit der situativen Relevanz der Kamera nachgibt, gestaltet sich die Rückkehr in die Unterrichtsorientierung nach der Phase des „Ausblendens“ in der Regel problemlos und so unauffällig, dass sie im Kontext des Unterrichtsgeschehens weder vom Lehrer noch von anderen Schülern bemerkt wird. Auch die deutlich selteneren Situationen, in denen er von der Kamera erfasst wird und sich entscheidet, der Relevanz des Dokumentationsmediums für kurze Momente offen nachzugeben, bleiben im Unterrichtszusammenhang unbemerkt. Wir haben es hier mit einem Verhalten zu tun, das an das Phänomen „Nebenkommunikation“ erinnert (vgl. etwa Baurmann/ Cherubim/ Rehbock 1981 und Götz 1994). Im Gegensatz zu dieser weist Waldemars Verhalten jedoch einen relevanten strukturellen Unterschied auf. Er besteht darin, dass Waldemar nicht mit einem anderen Schüler, sondern mit dem Kameramann/ der Kamera Reinhold Schmitt / Reinhard Fiehler / Ulrich Reitemeier 390 in Kommunikation tritt und diese ausschließlich mit visuellen, körpersprachlichen Mittel erfolgt, ohne das Ziel, eine Reaktion zu initiieren. An diesem Punkt wird deutlich, dass der Schüler zwar mit dem Kameramann interagiert, jedoch nicht mit ihm kooperiert. Mit der spezifischen Adressiertheit seines Verhaltens hängt ein konzeptionell interessanter Punkt zusammen, die Frage nämlich, inwieweit das manifeste Verhalten des Schülers „display“-Qualität 6 besitzt, also als tatsächlich an den Kameramann gerichtetes Verhalten zu interpretieren ist. Dieser Punkt verweist auf die für die Analyse koordinativer Aktivitäten grundlegende Frage, ob diese genau wie kommunikative Handlungen immer „account“-Qualität besitzen. Diese Frage ist aus unserer Perspektive zum jetzigen Zeitpunkt völlig offen und muss auf der Grundlage systematischer Untersuchungen aus einer multimodalen Perspektive heraus beantwortet werden. Nachdem wir uns mit der Struktur und der Konstitutionslogik des Koordinationsproblems und dessen Bearbeitung beschäftigt haben, kommen wir nun unter einer methodologischen Perspektive noch einmal systematisch auf einen Aspekt zu sprechen, der in den zurückliegenden Ausführungen an verschiedenen Stellen bereits aufgetaucht war: den Konstitutionsbeitrag der Kamera/ des Kameramannes 7 für das dokumentierte Ereignis und damit auch für die Spezifik von Waldemars Koordinationsproblem. 4. Dokumentation audiovisueller Daten als Konstitutionsprozess Fragt man im Detail danach, welche Beiträge die Dokumentationsaktivitäten zur Konstitution der aufgezeichneten Daten leisten und welches die einzelnen Agenten und Aspekte dieser Beeinflussung sind, dann kommen in unserem Fall die folgenden in den Blick: der Kameramann als Agens der Dokumentationsaktivitäten (4.1), die Kamera als sein Werkzeug, mit dem er in 6 Das Konzept von „display“ als empirische Manifestation der grundlegenden theoretischen „accountability“-Vorstellung von Garfinkel (1967) war im Rahmen konversationsanalytischer Untersuchungen ausgesprochen produktiv (siehe beispielsweise Heath 1982, Clayman 1988, Maynard 1989 und 1991, Atkinson 1992). 7 Wir haben uns dazu entschlossen - insbesondere dann, wenn es um den Konstitutionsbeitrag der Aufnahmeaktivitäten für die dokumentierte Situation geht - „Kamera/ Kameramann“ zu schreiben, auch wenn es den Lesefluss etwas behindert. Wie unsere Ausführung in Abschn. 4.2 noch zeigen werden, ist es nötig, die Videokamera neben dem Kameramann als Dokumentationsmedium, mit dem besondere Implikationen verbunden sind, bei der Reflexion des Datenkonstitutionsprozesses eigenständig zu berücksichtigen. Audiovisuelle Datenkonstitution und Koordinationsprozesse 391 spezifischer Weise dokumentierend und Daten konstituierend tätig wird (4.2) und - als eine wichtige Implikation seines Werkzeuges, die weitgehend von der Spezifik seines Einsatzes durch den Kameramann unabhängig ist - die Reflexivität des Dokumentationsmediums Video (4.3). Die Einflüsse dieser drei Aspekte wollen wir im Folgenden methodologisch reflektieren. 4.1 Der Kameramann als Agens der Datenkonstitution Der Kameramann hat zunächst ein primäres wissenschaftliches Erkenntnisinteresse, das seine Dokumentationsarbeit strukturiert. Dieses besteht aus allgemeinen theoriegeleiteten Vorannahmen hinsichtlich dessen, was es in der Situation Interessantes zu erfassen gibt. Im konkreten Fall waren dies Interaktionsprozesse in einer Hauptschulklasse, in der deutsche und russlanddeutsche SchülerInnen gemeinsam unterrichtet werden. Die Dokumentation der Interaktionsprozesse sollte die Möglichkeit eröffnen, die kommunikativen Beziehungen zwischen beiden Gruppen zu untersuchen. Bei der dokumentierenden Tätigkeit verfolgt der Kameramann die Ereignisse im Klassenraum zudem mit dem professionalisierten Blick des Interaktionsanalytikers, der auf einer strukturanalytischen Sensibilität gründet und kategorial ausgerichtet ist. 8 Es sind jedoch nicht nur diese allgemeinen Aspekte, die er als professioneller Beobachter mitbringt und die sein Dokumentationsverhalten strukturieren. Er reagiert gleichzeitig auch auf situativ-emergente Relevanzen, die in der aktuellen Situation, die er dokumentiert, entstehen. Diese können lokal durchaus in den Vordergrund treten und die professionelle Sicht überlagern und behindern. 9 Die das Dokument strukturierenden Auswirkungen dieser Relevanzen zeigen sich - darauf wurde bereits verschiedentlich hingewiesen - in der Fokussierung und Heraushebung des Schülers Waldemar aus dem Klassenkollektiv und führen zu dem in Abschn. 2. analysierten und in Abschn. 3. in seiner Struktur skizzierten Koordinationsproblem von Waldemar. Diese beiden Aspekte, a) die wissenschaftliche Orientierung auf die kommunikativen Beziehungen zwischen den deutschen und russlanddeutschen SchülerInnen in der Klasse und b) die Relevanz des individuellen Verhaltens eines Schülers generieren zusammen die Grundstruktur dieser Daten. 8 Siehe hierzu die Vorstellung einer „professional vision“ von Goodwin (1994). 9 Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der Kameramann mit der Kamera am Gesicht eines Beteiligten „hängen bleibt“ und diese Relevanz für einen Moment seine ursprüngliche Dokumentationsorientierung außer Kraft setzt. Reinhold Schmitt / Reinhard Fiehler / Ulrich Reitemeier 392 Bei der Rekonstruktion der Relevanz, die die Kamera für Waldemar besitzt, können wir uns unmittelbar auf sein (von der Kamera mitproduziertes) eingefangenes und so im Dokument beobachtbares multimodales Verhalten stützen und dieses detailliert beschreiben. Bei der Rekonstruktion der Relevanz, die Waldemar und sein Verhalten für den Kameramann besitzen, sind wir hingegen - von einzelnen verbalen Äußerungen des Kameramannes abgesehen, mit denen er spontan auf Vorgänge im Klassenzimmer reagiert - auf Hinweise angewiesen, die sich nur mittelbar in der Art und Weise zeigen, wie er die Videoaufnahme durch den Einsatz seiner Kamera konstituiert. Deutliche Hinweise in diesem Sinne sind: - die Rekurrenz der Fokussierung auf Waldemar (weitgehend unabhängig davon, was in der Klasse sonst gerade passiert), 10 - die Suche mit der Kamera nach Waldemar (beispielsweise in der Pause) und der wiederkehrende Schwenk auf Waldemar im Unterricht, - die Fokussierung und Hervorhebung Waldemars durch Zoomen, - die Dynamik und zunehmende Konzentration auf Waldemar, die zu einer Stabilisierung und Verstärkung seines Verhaltens führt, und - das Vermeiden des Kameramannes, Waldemar zu filmen, wenn er wahrnimmt, dass Waldemar merkt, er soll wieder in den Fokus gerückt werden („Zurückzucken“ der Kamera als Ausdruck des Ertappt-Werdens des Kameramannes durch Waldemar). Vor allem die beiden letzten Aspekte zeigen deutlich die für die Konstitution interaktiver Strukturen notwendige Bedingung wechselseitiger Wahrnehmung (siehe Hausendorf 2001) und deren Relevanz für die Strukturierung des Verhaltens des jeweils anderen. Beim Betrachten von Videoaufnahmen wird unmittelbar evident, dass der Kameramann nicht einfach nur dokumentiert, sondern dem Interaktionsgeschehen folgt, und dabei - relativ zur eigenen Orientierung oder zu situativ 10 Hinsichtlich dieses Aspektes kann man im Sinne von Schmitt/ Deppermann (i.d. Bd.) davon sprechen, dass der Kameramann/ die Kamera Waldemar zur „Fokusperson“ macht. Im Unterschied zur Vorstellung bei Schmitt/ Deppermann gilt dies jedoch nur hinsichtlich des aufzeichnungsstrategischen Aspektes, bei dem eine Person durch die Kameraführung oder durch andere Dokumentationstechniken (Verkabelung etc.) zum kontinuierlichen Bezugspunkt der Aufnahme wird. In unserem Falle liegt eine rollenbezogene Grundlage (wie sie bei Deppermann/ Schmitt mit der Funktionsrolle „Regie“ gegeben ist) jedoch nicht vor. Waldemar besitzt keine von der Kamera unabhängige herausgehobene Position im Klassenverband. Audiovisuelle Datenkonstitution und Koordinationsprozesse 393 emergenten Relevanzen - Ausschnitte festlegt. Dadurch können bestimmte Aspekte des Gesamtereignisses an den Rand rücken oder gänzlich ausgeblendet werden. Wenn Kamerabewegungen nicht nur der interaktiven Dynamik folgen, sondern ihr vorausgehen und das weitere Geschehen antizipieren, wird deutlich, dass die Aufnahme auch ein sichtbarer Beleg einer fortlaufenden Interpretation des Interaktionsgeschehens durch den Kameramann darstellt. 11 Wir haben es also bei Videoaufnahmen in einem doppelten Sinne mit einer vorinterpretierten bzw. vorgedeuteten Wirklichkeit 12 zu tun: Nicht nur die Deutungen der Interaktionsbeteiligten sind - inkorporiert in ihrem konkreten Verhalten - in den Daten enthalten. Auch die während der Aufnahme realisierten Deutungen und Interpretationen des Interaktionsgeschehens (und damit der Deutungen der Beteiligten) durch den Kameramann sind Bestandteil der Daten. Unter einer methodologischen Perspektive hat man es also mit einer Deutung der Deutungen der Interaktionsbeteiligten durch den Kameramann als beteiligtem Interaktionsteilnehmer zu tun. 13 4.2 Die Kamera als Werkzeug der Datenkonstitution Neben den verschiedenen Relevanzen, die aus den Wahrnehmungen des Kameramannes entstehen und die ihn dazu veranlassen, einen bestimmten Bildausschnitt aus dem Geschehen zu wählen, mit dem Zoom der Kamera einen bestimmten Schüler aus der Klasse herauszugreifen, einen Kameraschwenk durch die Klasse zu machen oder die Kamera für längere Zeit statisch in einer bestimmten Einstellung zu belassen, ist es - das wurde bereits in den zurückliegenden Ausführungen deutlich - vor allem die Position der Kamera, die sich auf die konkrete Struktur des dokumentierten Ereignisses auswirkt. In unserem Fall beeinflusst die Position der Kamera in erheblichem Maße sowohl Waldemars Monitoring-Möglichkeiten wie auch das Zustandekommen und die Bearbeitung seines Koordinationsproblems. Die Position der Kamera wurde während der Aufnahme - abgesehen von minimalen Modifikationen, die sich primär als „Wackler“ in den Videoaufnahmen erhalten haben - nicht verändert. Dadurch, dass die Kamera in der analysierten Sequenz seitlich versetzt, jedoch fast auf gleicher Höhe mit Waldemar platziert ist, ist es ihm nicht mög- 11 Mondada (2006a) spricht diesbezüglich von „online analysis“. 12 Zum Aspekt der immer schon vorgedeuteten Daten sozialwissenschaftlicher Untersuchungen siehe Schütz (1971). 13 Inwiefern sich die Deutungen des Kameramannes von den Deutungen der anderen, von ihm dokumentierten Interaktionsbeteiligten hinsichtlich ihres Status unterscheiden, soll als Frage formuliert, jedoch an dieser Stelle nicht behandelt werden. Reinhold Schmitt / Reinhard Fiehler / Ulrich Reitemeier 394 lich, sie ohne Veränderung der Blickrichtung und/ oder der Körperhaltung zu kontrollieren. Er muss, um zu überprüfen, ob die Kamera auf ihn gerichtet ist, seinen Kopf erkennbar drehen und kann nicht etwa unmerklich und aus den Augenwinkeln heraus sehen, ob die Kamera ihn erfasst. Die datenkonstitutiven Folgen der konkreten Kameraposition kann man sich gut verdeutlichen, wenn man die Kamera aus ihrer faktischen Position heraus einmal nach links und einmal nach rechts im Raum bewegt (vgl. Skizze). Skizze: Imaginierte alternative Kamerapositionen Bei einer Bewegung nach links rückt sie aus der Peripherie schrittweise ins Zentrum des Wahrnehmungsbereiches, in dem sie von Waldemar ohne auffälliges Kopfdrehen oder Veränderung seiner Körperpositur kontinuierlich gesehen und kontrolliert werden kann. Ist eine solche permanente Wahrnehmung ohne Probleme möglich, verschwindet jedoch auch das Moment der Überraschung und das Ausblenden der Kamera würde andere Aktivitäten erfordern. Bewegt man hingegen die Kamera nach rechts, verschwindet sie aus dem Grenzbereich der Wahrnehmung in eine Zone, in der sie nur noch durch Umdrehen kontrolliert werden kann, was unweigerlich zur Produktion auf- Audiovisuelle Datenkonstitution und Koordinationsprozesse 395 fälligen Verhaltens führen würde. Es müsste dem Lehrer zwangsläufig auffallen, würde sich Waldemar vergleichbar häufig umdrehen und nach hinten zur Kamera blicken. Täte er dies dennoch, könnte er das „Ausblenden“ der Kamera durch einfaches Wieder-nach-vorne-Drehen realisieren, ohne seine Hand oder ein Heft zwischen sich und die Kamera bringen zu müssen. Auch wenn man die Kamera in einer frontalen Position imaginiert, sind die Auswirkungen auf Waldemars Koordinationsverhalten offenkundig: Zum einen könnte er die Kamera immer beobachten, zum anderen könnte er sie nicht „ausblenden“, weil er dies nur tun könnte, wenn er sich die Augen zuhielte oder sie schlösse. Er könnte sie auch nicht durch Wegdrehen „ausblenden“, weil er damit klar erkennbar die körperliche Ausrichtung, die seine grundsätzliche Unterrichtsorientierung anzeigt (Ausrichtung und Blick nach vorne zum Lehrer), aufgeben würde. Der Versuch, die Kamera im Auge zu behalten, führt letztlich nur genau bei der faktischen Kameraposition mehrfach zu dem Erlebnis des Ertappt-Werdens mit dem darauf reagierenden reflexartigen, hektischen Verhalten. Nur bei dieser Platzierung entfaltet die Kamera ihre plötzliche Relevanz und führt für Waldemar zur Unmöglichkeit, sie mit der üblichen kognitiven Routine abzuwählen. 4.3 Video als reflexives Dokumentationsmedium Wir wollen uns jetzt zum Abschluss unserer methodologischen Reflexionen noch einmal aus einer etwas anderen Perspektive mit Implikationen des Dokumentationsmediums Video beschäftigen. Wie bereits mehrfach deutlich geworden ist, sind mit Video als Dokumentationsmedium ganz bestimmte Implikationen verbunden, die im Vergleich zu anderen Erhebungs- und Dokumentationsformen (Interview, Tonband, teilnehmende Beobachtung etc.) spezifiziert und reflektiert werden müssen. Wie alle offenen Formen der Dokumentation stellen auch Videoaufnahmen eine Veränderung der Situation dar und führen zu Veränderungen im Verhalten der dokumentierten Interaktionsbeteiligten. Ein Teil dieser Veränderungen ist in der Regel unmittelbar sichtbar: Lachen und Winken in die Kamera, das Zeigen des Stinkefingers oder das Sich-Abwenden von der Kamera gehören hierzu. Bei anderen Aspekten, wie etwa vorsichtigem oder stockendem Formulieren etc., sind die Einflüsse des Dokumentationsmediums hingegen weniger deutlich. Reinhold Schmitt / Reinhard Fiehler / Ulrich Reitemeier 396 Solche Aspekte sind in der Forschung im Zusammenhang mit dem Konzept des Beobachterparadoxons 14 beschrieben worden, das in zentraler Weise die Authentizitätsproblematik von Daten thematisiert. Unser Interesse an den Implikationen von Videoaufzeichnungen setzt im hiesigen Zusammenhang jedoch nicht an der Frage der Natürlichkeit der dokumentierten Aufnahmen und deren Wert für die Untersuchung bestimmter Fragestellungen an. Da es bei der Dokumentation audiovisueller Daten nicht mehr alleine um die Auswirkungen der Aufnahmesituation auf das Sprechen geht, ist eine Diskussion und Reflexion aller Faktoren erforderlich, die bei offenen Videoaufzeichnungen die je konkrete Gestalt der Dokumente bestimmen. Hierbei ist der Aspekt der Beeinflussung oder Nichtbeeinflussung (Authentizität) des Verhaltens der dokumentierten Personen nur einer von vielen, in denen sich das Dokumentationsmedium in das Dokument hineinschreibt. Wir wollen deshalb weitergehend auf einen Aspekt zu sprechen kommen, der bislang von der Authentizitätsfrage verdeckt wurde: die Reflexivität des Dokumentationsmediums. Video als Dokumentationsmedium macht nicht nur die sichtbare Seite interaktiver Ordnung zugänglich, Video ist gleichzeitig auch eine reflexive Technologie, die auf sich selbst verweist. Die Kamera hinterlässt in den Daten, die sie nur auf den ersten Blick scheinbar objektiv konserviert, unweigerlich ihre Spuren. Sie verdeutlicht im Akt der Abbildung kontinuierlich, dass es sich nicht um einen gegebenen Ausschnitt sozialer Realität handelt, sondern um eine Herstellung. Beginn und Ende von Aufnahmen, Schnitte, der mit der Begrenztheit des Objektivs und der Wahl des Kamerastandpunkts festgelegte Bildausschnitt, die dynamische Kameraführung mit Schwenks oder die Hervorhebung und Konzentration auf einzelne Personen oder Gegenstände durch Zoomen sind hier deutliche Spuren, die auf diesen Herstellungsaspekt verweisen. Nach unserem Verständnis handelt es sich beim Einsatz einer dynamischen Kamera für die Dokumentation von Interaktion zwar um eine „registrierende Konservierung“, im Sinne der von Bergmann (1985) eingeführten Dichotomie von „rekonstruierender“ und „registrierender Konservierung“. Aber seine Einschätzung, die „Fixierung eines sozialen Geschehens in Bild und Ton ist ein Vorgang, der ohne sinnhafte Erfassung und Bearbeitung dieses Ge- 14 Labov (1980, S. 17) hat folgende klassische Formulierung des Beobachterparadoxons geprägt: „Um die Daten zu erhalten, die am wichtigsten für die linguistische Theorie sind, müssen wir beobachten, wie die Leute sprechen, wenn sie nicht beobachtet werden.“ Audiovisuelle Datenkonstitution und Koordinationsprozesse 397 schehens auskommt und im Prinzip technisch automatisierbar ist“, 15 können wir in Bezug auf unsere Daten so nicht teilen. Vielmehr zeigt sich an verschiedenen Stellen des Videomaterials aus der Hauptschulklasse und auch in anderen Videoaufzeichnungen interaktiver Ereignisse, dass der/ die Kameraführende kontinuierlich auf der Grundlage seiner/ ihrer Interpretation des aktuellen Geschehens dieses aktiv mitkonstituiert. 16 Solche Fokussierungen mit der Kamera sind bereits ein Teil der Auswertung von Gesprächen und das Ergebnis der Tatsache, dass der Kameramann relevanten Aspekten des Gesamtgeschehens gefolgt ist, wodurch die Totalität der Situation reduziert wurde. Die so dokumentierten Daten, von der sich der Analytiker bei der Transkript- oder Video-Analyse später leiten lassen wird, sind also bereits selbst das Ergebnis einer ersten spontanen Auswahl und Auswertung zum Zeitpunkt der Aufnahme (vgl. auch Mondada 2006b). Die reflexive Qualität des audiovisuellen Dokumentationsmediums und die damit verbundenen datenkonstitutiven Implikationen gelten unabhängig davon, wie die Kamera vom Kameramann konkret eingesetzt wird. Die Ausschnittbildung als eigenständige Leistung des Kameramannes wird bei einer dynamischen Kameraführung, bei der der Kameramann dem Interaktionsgeschehen folgt, zwar wesentlich deutlicher, die Reflexivität des Dokumentationsmediums als konstitutiver Bestandteil der Daten ist jedoch auch bei einem statischen Einsatz der Kamera ersichtlich. Die Positionierung der Kamera beispielsweise erfolgt nicht auf der Basis automatisierter Prozesse, sondern - auch wenn es sich um eine statische Kamera handelt - auf der Grundlage von Kenntnissen und Situationseinschätzungen, die der Kameramann über das zu dokumentierenden Ereignis hat. Auf dieser Wissensgrundlage befindet er darüber, welche Ereignistypik erwartbar ist, wo das Interaktionszentrum zu lokalisieren ist, welches die zentralen Akteure sein werden, welcher Ausschnitt (ob Weitwinkel oder Teleeinstellung) angemessen bzw. notwendig ist etc. Folgt man dem ethnomethodologischen Diktum, sich bei der Konstitution von Fragestellungen und der Konzeptentwicklung von den Daten selbst leiten zu lassen, werden die Kamera bzw. der Kameramann und die Spuren, die 15 Bergmann (1985, S. 304). 16 Schmitt (2001, S. 13) formuliert den nicht hintergehbaren Aspekt der Mit-Konstitution durch das Aufnahmemedium am Beispiel von Fokussierungen und Ausschnittbildungen durch den Kameramann. Reinhold Schmitt / Reinhard Fiehler / Ulrich Reitemeier 398 er und das Dokumentationsmedium bei der Dokumentationsarbeit im Material hinterlassen haben, selbst zum Gegenstand der Untersuchung. Dieser Tatsache haben wir in diesem Abschnitt durch unsere methodologischen Reflexionen Rechnung getragen. Unsere Überlegungen führen jedoch nicht nur zur methodischen Klärung der in der Fallanalyse und bei der Explikation des Koordinationsproblems an die Oberfläche gekommenen Hinweise auf unterschiedliche Konstitutionsbeiträge des Kameramannes und der Kamera. Vor allem die Beschäftigung mit den Dokumentationsaktivitäten des Kameramannes und der Frage nach deren Einfluss auf das dokumentierte Ereignis führen letztlich zu einer neuen Sichtweise dieser Aktivitäten: Nicht nur die Aktivitäten des Schülers, sondern auch die sich in den Daten abbildenden Aktivitäten des Kameramannes sehen wir als Lösung einer Koordinationsaufgabe an. Diese Sichtweise wollen wir im folgenden Abschnitt skizzieren, aber - anders als bei Waldemar - dabei weniger die Struktur der Koordinationsaufgabe in den Mittelpunkt stellen, sondern die Frage nach den Erkenntnisimplikationen aufwerfen, die damit verbunden sind, die Dokumentationssituation nicht nur für den Dokumentierten, sondern auch für den Dokumentierenden als Koordinationsaufgabe zu konzeptualisieren. 5. Datenkonstitution als Lösung einer Koordinationsaufgabe Genau wie Waldemar hat es auch der dokumentierende Wissenschaftler unserer Daten mit einer Koordinationsanforderung zu tun. Auch er ist einerseits mit einer stabilen Orientierung ausgestattet, die kommunikativen Beziehungen zwischen deutschen und russlanddeutschen SchülerInnen zum Zwecke der späteren Analyse aufzuzeichnen. Diese Orientierung wird jedoch immer wieder durch widerstreitende situative Relevanzen gestört, die in einem rekurrenten Verhalten eines Schülers begründet liegen. Dass diese situativen Relevanzen weitgehend nichts mit dem Unterrichtsgeschehen zu tun haben, wurde mehrfach deutlich, ebenso wie die Tatsache, dass das Verhalten dieses Schülers dennoch wiederholt das Zentrum der aufgezeichneten Daten bildet. Dies spiegelt sich bei der Fallanalyse des behandelten Ausschnitts in der Beschreibung: „Die Kamera gibt den Blick auf Waldemar frei […]“. Im Fokus der Aufnahme steht hier ersichtlich die Person Waldemar, nicht das zentrale Unterrichtsgeschehen, von dem Teile am Rand des Blickfeldes erkennbar sind (ein an die Karte nach vorne gerufener Schüler, der etwas zeigen soll). Diese Ausrichtung hat sich durch die Wahl des Bildausschnittes der Aufnahme eingeschrieben. Audiovisuelle Datenkonstitution und Koordinationsprozesse 399 Dies ist eine Folge der Tatsache, dass der dokumentierende Wissenschaftler genau wie Waldemar sein Verhalten relativ zu widerstreitenden Aspekten koordiniert. Auch er muss sich jeweils situativ entscheiden, ob er mit der Kamera a) seiner Grundorientierung folgt und sich auf die kommunikativen Beziehungen zwischen den beiden Schülergruppen in der Klasse konzentriert, um hinterher ein aussagekräftiges Dokument hierfür zu haben, oder ob er b) situativ anderen Relevanzen folgt und seine Aufmerksamkeit auf das individuelle Verhalten eines Schülers fokussiert, obwohl dieses für die Primärorientierung ohne Belang ist. Auch wenn man damit zunächst einmal nur die konkrete, fallspezifische Struktur beschreibt, die in unserem Material für diesen Kameramann gilt, so eröffnet die Konzeptualisierung seiner Aufnahmeaktivitäten als Bearbeitung einer Koordinationsaufgabe doch weit reichende allgemeine Erkenntnismöglichkeiten. Der erste allgemeine Punkt betrifft den Beteiligungsstatus des dokumentierenden Kameramannes oder anders formuliert: den dokumentierenden Kameramann als auf situative Relevanzen reagierendes Subjekt. Es ist unrealistisch, sich den dokumentierenden Wissenschaftler als autonom gegenüber den aus dem dokumentierten Ereignis emergierenden Relevanzen vorzustellen. Durch seine wissenschaftliche Orientierung ist er keinesfalls davor geschützt, nicht auch anderes zu dokumentieren, was zu seinem Gegenstand in keiner erkennbaren Beziehung steht. Dies gilt unabhängig davon, welche sozialen Situationen mit der Kamera zum Zwecke der späteren Analyse dokumentiert werden sollen. Der zweite allgemeine Aspekt liefert eine Erklärung für den ersten Punkt und bezieht sich dabei auf strukturelle forschungsbedingte Aspekte: In der Regel ist davon auszugehen, dass der durch die wissenschaftliche Orientierung definierte Gegenstand hinsichtlich seiner faktischen Erscheinungsformen relativ unbestimmt ist und diese nur bedingt antizipierbar und prognostizierbar sind. Der Kameramann kann im Vollzugsmoment noch nicht wissen, ob der aktuell von ihm festgelegte Ausschnitt und das darin dokumentierte Verhalten der Beteiligten für seinen wissenschaftlichen Gegenstand relevant sind. Wahrscheinlich ist es häufig so, dass er in situ nicht bemerkt, dass er Phänomene dokumentiert, die emergenten situativen Relevanzen geschuldet sind und die mit seiner mitgebrachten wissenschaftlichen Grundorientierung nichts zu tun haben. Reinhold Schmitt / Reinhard Fiehler / Ulrich Reitemeier 400 Diese beiden Aspekte machen es erforderlich, sich diesen - bei jeder Form audiovisueller Dokumentation sozialer Situationen wirksamen - Strukturmechanismus zu vergegenwärtigen und sowohl antizipatorisch als auch in der Situation der laufenden Aufnahmen, vor allem aber bei der späteren Gegenstandskonstitution und Analyse der Aufnahmen zu reflektieren und explizit zu klären. In verschärfter Weise ist das dann notwendig, wenn Verhaltensweisen, die durch die vorgängige wissenschaftliche Orientierung in ihrer gegenstandskonstitutiven Bedeutung klar zu sein scheinen, und Verhaltensweisen, die aus situativen Relevanzen emergieren, ein scheinbares Passungsverhältnis haben. Die situativ emergenten Verhaltensweisen, die überhaupt nur durch die Koordinationsentscheidung des Kameramannes Teil der dokumentierten Daten sind, können dann als evidentes Dokument für den vorab definierten Gegenstand missverstanden werden, obwohl sie in ihrer Konstitutionslogik davon völlig unabhängig und Ausdruck eines ganz anderen interaktiven Zusammenhangs sind. Ein solches scheinbares Passungsverhältnis entstand auch bei der Dokumentation, aus der der in der Fallanalyse bearbeitete Ausschnitt stammt. Wir wollen die fallspezifische Struktur dieses Passungsverhältnisses kurz skizzieren, um die Brauchbarkeit unserer konzeptuellen Sicht, auch für den dokumentierenden Kameramann eine Koordinationsaufgabe anzunehmen, noch einmal von der empirischen Seite her zu verdeutlichen. Die übergeordnete wissenschaftliche Orientierung bei der Dokumentation bezog sich auf kommunikative Beziehungen zwischen Aussiedlern und Einheimischen. Die Aufzeichnungen in einer gemischt zusammengesetzten Schulklasse versprachen Daten, die Beobachtungs- und Analysemöglichkeiten für den sozialen und kommunikativen Umgang von alteingesessenen mit russlanddeutschen SchülerInnen eröffnen. Dieser, für das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse, zentrale Aspekt birgt jedoch die Gefahr in sich, das gesamte Geschehen in der Situation aus einer kulturalistischen Perspektive zu betrachten. Dabei kann das ganz wesentlich durch den Kameramann und die Kamera konstituierte Verhalten Waldemars als ein Dokument für „typisches Verhalten Russlanddeutscher“ missverstanden werden. Waldemars Verhalten versteht man dann beispielsweise als eines, das Spuren des „argwöhnischen Sowjetbürgers“ aufweist. Die Zeit sozialistischer Herrschaftsausübung in der ehemaligen Sowjetunion wird dabei als Erfah- Audiovisuelle Datenkonstitution und Koordinationsprozesse 401 rungshintergrund angesehen, der Überwachungsängste hervorgerufen hat und der verantwortlich dafür ist, dass Schutz- und Abwehrhaltungen auch gegenüber Aufzeichnungen mit der Videokamera ausgebildet wurden. 17 Eine solches Verständnis von Waldemars Verhalten würde jedoch den Blick dafür verstellen, dass es die im Kontext der existierenden Koordinationsaufgabe faktisch getroffenen Entscheidungen des Kameramannes sind, situativ emergierenden Relevanzen zu folgen, die im Kern das auf die Kamera bezogene Ausblendverhalten Waldemars produzieren. Die Konzeptualisierung der Aktivitäten des dokumentierenden Kameramannes als Bearbeitung einer Koordinationsaufgabe ermöglicht es, solche ethnisierenden Zuschreibungen durch die Rekonstruktion der jeweiligen Konstitutionsbeiträge des Kameramannes zu ersetzen. Waldemars auffälliges Verhalten erscheint dann als im engeren Sinne durch die Aufnahmeaktivitäten selbst hergestellt und mithilfe des Aufnahmegeräts für die spätere Analyse dokumentiert. Ein wichtiges methodologisches Ergebnis dieses Beitrages liegt unseres Erachtens gerade darin, zu betonen (und in die Liste zukünftig zu bearbeitender methodologischer Fragen aufzunehmen), dass audiovisuelle Dokumente sozialer Situationen kein realistisches Abbild derselben darstellen, sondern als Herstellungen zu begreifen sind. Faktische, zum Großteil nicht bewusst kontrollierte Dokumentationsentscheidungen des Kameramannes spielen für diese Herstellung - neben anderen Aspekten der Aufnahmesituation - eine ganz entscheidende Rolle und sollten daher in Hinblick auf diese Qualität systematisch reflektiert werden. 6. Implikationen audiovisueller Dokumente Unsere fallbezogenen und methodologischen Ausführungen haben verschiedene Aspekte deutlich gemacht, die für den analytischen Umgang und die theoretisch-konzeptuelle Auseinandersetzung mit audiovisuellen Dokumenten weit reichende Folgen haben. Diese Aspekte, die wir abschließend noch einmal zusammenfassen wollen, sind: 17 Eine zusätzliche Stützung könnte eine solche Sichtweise dadurch erfahren, dass sie als handlungsleitende Orientierung bei Einheimischen, die beruflich mit Aussiedler zu tun haben, nachweisbar ist. Im Rahmen des erwähnten Feldforschungsprojektes (vgl. Reitemeier 2006) lehnten professionelle Aussiedlerbetreuer Tonband- oder Videoaufzeichnungen ihrer Arbeitssituationen mit Russlanddeutschen mit der Begründung ab, dass bei ihnen Ängste und starke Vorbehalte gegenüber Aufzeichnungsgeräten bestünden, die auf Erfahrungen aus der Zeit sozialistischer Herrschaftsausübung zurückgingen. Reinhold Schmitt / Reinhard Fiehler / Ulrich Reitemeier 402 Ereignis- und dokumentationsbezogene Konstituenten audiovisueller Dokumente: Für audiovisuelle Dokumente ist konstitutiv, dass sie mindestens zwei unterscheidbare Konstituenten beinhalten: ereignisbezogene Aktivitäten und dokumentationsbezogene. Während der ereignisbezogene Aktivitätszusammenhang auch ohne seine Dokumentation existieren würde (vielleicht nicht ganz genau so, aber doch erkennbar seiner Struktur nach) sind die dokumentationsbezogenen Aktivitäten einzig und allein der Aufnahme geschuldet und somit Folge und Resultat derselben. Erkenntnismöglichkeiten dokumentationsbezogener Koordination: Man kann solche auf die Dokumentation bezogene Aktivitäten aus unterschiedlichen Perspektiven heraus zum Gegenstand machen. Zum einen kann man danach fragen, ob und in welcher Form es Auswirkungen dokumentationsbezogener Aktivitäten auf den primären Ereigniszusammenhang gibt (ob also die Aufnahmesituation die Schulstunde durcheinander bringt oder Schüler wegen ihres Interesses an der Aufnahmeaktion vom Lehrer getadelt werden; dies ist in unserem Material nicht der Fall). Man kann sich zum anderen auch dafür interessieren, welches Varianzspektrum von auf die Dokumentation bezogenen Aktivitäten sich in den Aufnahmen finden lässt und was auf dieser Grundlage über den gesellschaftlich etablierten und teilweise konventionalisierten Umgang mit audiovisuellen Dokumentationsmedien ausgesagt werden kann. Dies würde den Zugang zu impliziten Konzepten der Dokumentierten bezüglich Video als Dokumentationsmedium und bezüglich der Tatsache ihrer eigenen Dokumentation eröffnen. Man kann sich drittens auch - wie wir es getan haben - mit fallspezifischem und methodologischem Interesse um den Stellenwert von dokumentationsbezogenen Aktivitäten für den Prozess der Datenkonstitution kümmern. Dabei gelangt man beispielsweise zur Konzeptualisierung der Aktivitäten des Kameramanns als Bearbeitung einer Koordinationsaufgabe und gewinnt darüber wichtige Einsichten in die spezifische Qualität audiovisueller Dokumente. Dies führt zwangsläufig zur Sensibilisierung hinsichtlich des Einsatzes von Video als Dokumentationsmedium. 18 Analysemethodische Implikationen dokumentationsbezogener Koordination: Will man - beispielsweise in einem auf Koordination ausgerichteten Er- 18 Dies ist ein wichtiger Beitrag zur Methodisierung des Verhaltens von Kamerafrauen und Kameramännern in Richtung auf die Aufrechterhaltung einer auf ihren wissenschaftlichen Gegenstand bezogenen Perspektive bei der dokumentierenden Arbeit. Audiovisuelle Datenkonstitution und Koordinationsprozesse 403 kenntniszusammenhang - dokumentationsbezogene Aktivitäten als eigenständigen Gegenstand bearbeiten, dann bekommt man aufgrund der Spezifik solcher Aktivitäten gewisse Probleme. Diese Probleme wiederum sind geeignet, einen wichtigen Aspekt der Analyse koordinativer Aktivitäten zu verdeutlichen. Ein wesentliches Merkmal der auf den Ereigniszusammenhang Unterricht bezogenen Aktivitäten besteht darin, dass die sie auslösenden Impulse und ihre raumzeitlichen Vollzugsbedingungen im Videomaterial unmittelbar festgehalten, also hör- und sichtbar sind. Damit ist es möglich, Impulse für bestimmte koordinative Aktivitäten zu identifizieren, die Koordination selbst auf diese Bezugspunkte zu beziehen und eventuelle Anschlussaktivitäten anderer Beteiligter zu lokalisieren. Während also ereignisbezogene koordinative Aktivitäten im Material sichtbar sind, gilt dies für dokumentationsbezogene Aktivitäten nicht. Ihre situativ-pragmatische Einbettung ist nicht im Videomaterial enthalten und damit auch nicht als für die koordinativen Aktivitäten relevanter Bezugspunkt sichtbar, sondern nur ein Stück weit rekonstruierbar. Hinsichtlich dieses Punktes kontrastiert unser Videoausschnitt deutlich mit den Aufnahmen, die beispielsweise dem Beitrag von Krafft/ Dausendschön- Gay (i.d. Bd.) zugrunde liegen. Ihre Daten repräsentieren allesamt Fälle, in denen die handlungsschematische Rahmung explizit und manifest ist. Es sind Fälle, in denen die relevanten koordinativen Aktivitäten und Verhaltensweisen hinsichtlich ihrer simultanen und sequenziellen Relation zum dominanten handlungsschematischen Zusammenhang geklärt und verortet werden können. Gleiches gilt auch für den Videoausschnitt, welcher der Analyse des Beitrags von Heidtmann/ Föh (i.d. Bd.) zugrunde liegt. Auch bei ihnen liegt ein klarer Fall „ereignisbezogener Koordination“ vor, bei dem die koordinativen körperlichen Aktivitäten eines Beteiligten (dessen verbale Abstinenz) nicht nur sichtbarer Teil des dokumentierten Ereigniszusammenhangs, sondern auch klar auf diesen bezogen sind. Sie können daher präzise in ihrem Bezug auf diesen Zusammenhang rekonstruiert und somit überhaupt als eine spezifische Form interaktiver Beteiligung konzipiert werden. Im Unterschied zu beiden Daten erfolgen die koordinativen Aktivitäten, die wir analysiert haben, nicht im Rahmen der Kernaktivität und können folglich auch nicht als auf die verbalen Aktivitäten dieses Zusammenhangs bezogen rekonstruiert werden. Es handelt sich eben nicht um eine Form verbaler Abstinenz als eine spezifische, auf eine Kernaktivität bezogene zeitweilige interak- Reinhold Schmitt / Reinhard Fiehler / Ulrich Reitemeier 404 tive Beteiligungsweise. Waldemars Verhalten konstituiert vielmehr unabhängig von der Kernaktivität bzw. parallel dazu einen eigenständigen individuellen Handlungszusammenhang und Aufmerksamkeitsfokus mit einem „außerhalb“ liegenden Bezugspunkt. Fallübergreifend und allgemeiner formuliert hat man es mit einer spezifischen Materialqualität zu tun: Hinsichtlich der zeit-räumlichen, pragmatischen und sequenziellen Impulse bestehen keine Möglichkeiten, die für dokumentationsbezogene Aktivitäten ausschlaggebenden Einbettungszusammenhänge exakt zu erfassen und präzise zu analysieren. Bezugs- und Anknüpfungspunkte, die für dokumentationsbezogene Aktivitäten ausschlaggebend sind, werden nur insoweit sichtbar, als sie mit dem Ausdrucksrepertoire, das blickorganisatorisch, gestisch, mimisch oder körperpositional eingesetzt wird, gleichsam Relevanzmarkierungen erfahren. Es handelt sich dabei aber um Relevanzmarkierungen, die auf das Ausdrucks- und Symbolisierungsvermögen des einzelnen Beteiligten verwiesen bleiben. Methodologische Konsequenzen der „ dualen Struktur “ audiovisueller Daten: Auf Grund dieser Eigenschaften audiovisueller Dokumente ergibt sich zwangsläufig die Notwendigkeit, die Dokumentation audiovisueller Daten als Konstitutionsprozess unter aktiver Teilhabe der dokumentierenden Person zu konzeptualisieren. Die unterschiedlichen Aspekte der Herstellung des audiovisuellen Dokumentes müssen fallbezogen und methodologisch reflektiert werden, sodass insgesamt eine Sensibilität für die unterschiedlichen Herstellungsaspekte beim Prozess der Datenkonstitution entwickelt werden kann. Eine solche analytische Sensibilität muss sich zur Aufgabe machen zu klären, wie weit und aufgrund welcher Spuren im Material sich der Daten konstituierende Beitrag der Kameraarbeit in analyserelevanter Weise herausarbeiten lässt. Dabei ist der Analytiker in erster Linie als Fährtenleser gefragt und aufgefordert, seine Wahrnehmungskompetenz auszubauen bezüglich des ganzen Spektrums möglicher digitaler Abdrücke des Dokumentierenden und des Dokumentationsmediums in den Daten. 7. Zur Notwendigkeit methodologischer Reflexion der Arbeit mit audiovisuellen Daten Videoaufnahmen ersetzen seit einiger Zeit immer häufiger Tonaufnahmen als empirische Grundlage für Interaktionsanalysen. Es besteht hinsichtlich der Implikationen des Dokumentationsmediums inzwischen auch ein fächer- Audiovisuelle Datenkonstitution und Koordinationsprozesse 405 und disziplinenübergreifender Konsens darüber, dass die Dokumentation mit Video ein nicht hintergehbarer interpretativer Vorgang ist. 19 Gleichwohl gibt es bislang wenig systematische Reflexionen der methodischen und methodologischen Implikationen und Probleme, mit denen man es bei der Dokumentation, der Analyse und der Ergebnispräsentation von Videoereignissen zu tun hat. Unsere Analysen zeigen aber, dass hier ein ernsthafter Bedarf besteht, da Video ein reflexives Dokumentationsmedium ist, dessen Einsatz - egal wie er konkret vonstatten geht - weit reichende Implikationen für das zu analysierende Dokument hat. Beim Arbeiten mit Videomaterial stellt sich die methodologische Problematik in allen Stadien des Forschungsganges: bei der Datenkonstitution, bei der Analyse und auch bei der Ergebnispräsentation. 20 Mit jedem dieser Stadien sind spezifische Problemaspekte verbunden, die sich aus der audiovisuellen Qualität des Gegenstandes ergeben. Im Rahmen einer insgesamt dürftigen Methodologie-Diskussion liegen überwiegend Beiträge zur Reflexion methodologischer Probleme bei der Analyse von Videoaufzeichnungen vor (beispielsweise Heath 1997, Heath/ Hindmarsh 2002; siehe auch Knoblauch 2004 und seine Ausführungen zur „Video-Interaktions-Analyse“). Ausführungen zur Konstitutionsproblematik finden sich bei Knoblauch (2004, S. 126) in Form einer Differenzierung unterschiedlicher Datensorten. Auf die Problematik der Datenkonstitution, also auf die Implikationen des Dokumentationsmediums auf die aufgezeichnete Daten im engeren Sinne geht beispielsweise Mondada (i.d. Bd.; i. Dr.) ein. Sie thematisiert die Perspektivengebundenheit der Videokamera, die sich auch dann nicht vollständig aufheben lässt, wenn mit mehreren Kameras von unterschiedlichen Positionen aus aufgezeichnet wird, und zeigt so die Auswirkungen des Dokumentationsmediums auf das dokumentierte Ereignis auf. Schmitt/ Deppermann (i.d. Bd.) tragen der Tatsache, dass die Regisseurin als die zentrale Funktionsrolle als einzige Person der dokumentierten Situation verkabelt ist und dadurch immer im akustischen und visuellen Mittelpunkt des dokumentierten Geschehens steht, mit dem Konzept „Fokusperson“ Rechnung. Was neben den Implikationen der Konstitutionsspezifik audiovisueller Daten und der Rolle, die speziell die Kamera dabei spielt, bislang ebenfalls noch 19 Siehe hierzu auch Huhn u.a. (2000, S. 190), die darauf hinweisen, dass der mit der Videokamera erfolgende „Fixierungsprozeß selbst schon Interpretation beinhaltet“. 20 Vgl. hierzu Knoblauch et al. (2006), Schmitt (2006 und i.Dr.). Reinhold Schmitt / Reinhard Fiehler / Ulrich Reitemeier 406 nicht hinreichend problematisiert ist, jedoch einer methodologischen Reflexion bedarf, ist - um nur ein Beispiel zu nennen - der Status von Transkripten audiovisueller Dokumente. Ein relevanter Aspekt in diesem Zusammenhang ist die unterschiedliche Konstitutionslogik der jeweils ebenenspezifischen Informationen, die Eingang in die Verschriftlichung finden. Während nämlich der verbale Teil multimodaler Transkripte im klassischen Sinne tatsächlich die Grundlage für die Analyse darstellt, sind diejenigen Informationen, die Auskunft über die verschiedenen anderen körperlichen Ausdrucksformen (Gestikulation, Blickorganisation, Körperpositur, Mimik etc.) geben, bereits zu einem viel größeren Teil das Ergebnis vorangegangener Analysen der Daten. Wenn man es bewusst pointiert formulieren will, besitzen multimodale Transkripte sowohl einen voranalytischen als auch einen postanalytischen Status bzw. präsentieren gleichzeitig Informationen aus beiden Stadien. Dieser Problemzusammenhang gilt unabhängig von dem methodischen Prinzip der „awareness“ (vgl. etwa Heath 1986), das davon ausgeht, der Analysierende könne den Relevanzsetzungen der Beteiligten folgen, die sich wechselseitig verdeutlichen, was für sie interaktiv bedeutsam ist. So lange jedoch noch nicht klar ist, was von den Interaktionsbeteiligten selbst in der Situation überhaupt wahrgenommen und als relevant interpretiert wird, ist eine Orientierung an den Relevanzen der Beteiligten als Lösung für das Selektionsproblem bei der Notation relevanter körperlicher Verhaltensweisen nicht wirklich zufriedenstellend. Auch ein Rückgriff auf das Wissen der Beteiligten als Grundlage einer methodisch kontrollierten Lösung der grundsätzlichen Präsentationsproblematik kann nicht wirklich weiterhelfen. Der analysierende Wissenschaftler erfährt bei seinen Bemühungen, die Frage zu beantworten, welche sichtbaren Verhaltensaspekte in welcher Form (für die Analyse und/ oder die Ergebnispräsentation) notiert bzw. präsentiert werden sollen, keine wirkliche Unterstützung durch die Interaktionsbeteiligten. Weitere - ebenfalls mit der Transkript(ions)problematik zusammenhängende - Aspekte sind beispielsweise die nicht hintergehbare Kategorialität bei der Beschreibung körperlicher Verhaltensweisen, die sich - um bei der Begrifflichkeit von Pike (1964) zu bleiben - im Spannungsverhältnis „emischer“ und „etischer“ Problemlösungen entfaltet. Zur Lösung dieses Problems sind einerseits ausdifferenzierte Notationssysteme entwickelt worden (unter anderem Audiovisuelle Datenkonstitution und Koordinationsprozesse 407 Birdwhistell 1952, Hall 1963, Ekman/ Friesen 1978, Frey 1984 und Frey/ Hirsbrunner/ Pool/ Daw 1981), 21 andererseits gibt es die Lösung, auf die Notation oder Beschreibung körperlicher Verhaltensweise im Transkript vollständig zu verzichten und stattdessen mit einer Reihe motivierter Standbilder zu arbeiten, die - relativ zum Erkenntnisinteresse - wesentliche Informationen enthalten. 22 Insgesamt ist das Feld methodischer und methodologischer Implikationen und Probleme, die sich bei der Dokumentation, Analyse und Ergebnispräsentation audiovisueller Daten stellen, noch weitgehend offen und selbst in seinen grundlegenden Strukturen noch ausgesprochen konturlos. Hier wäre schon viel gewonnen, wenn Probleme, die bei fallspezifischen Fragestellungen auftauchen, auf ihre fallübergreifende, allgemeine Qualität reflektiert und explizit benannt werden würden. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für ihre Systematisierung, die angesichts der zu erwartenden schnellen Verbreitung von Videoaufzeichnungen als Grundlage für Interaktionsanalysen von immenser Bedeutung sein wird. Letztlich bedarf es jedoch einer die Forschung begleitenden Reflexion der interaktionsanalytischen „De-facto- Methodologie“ (Schmitt 2001, S. 141) des wissenschaftspraktischen Umgangs mit Video als Dokumentations- und Analysemedium, um über eine systematische Diskussion methodologischer Probleme zu einer Sensibilisierung, Systematisierung und Ökonomisierung des videogestützten interaktionsanalytischen Forschungshandelns zu gelangen. 8. Anhang Liste der verwendeten Transkriptionszeichen SA: Sigle zur Sprecherkennzeichnung K Sigle für einen sprecherbezogenen Kommentar SA: |ja aber | simultan gesprochene Äußerungen stehen RE: |nein nie| untereinander * kurze Pause ** etwas längere Pause (bis max. 1 Sekunde) *3,5* längere Pause mit Zeitangabe in Sekunden 21 Siehe den systematischen Überblick bei Müller (1998, S. 91-129); weitere Literatur findet sich in Key (1977, S. 55-91); neuere Versuche sind beispielsweise Sager (2005) und Büttner (2005). 22 So in diesem Beitrag; siehe beispielsweise aber auch Schmitt (2004, 2005). Reinhold Schmitt / Reinhard Fiehler / Ulrich Reitemeier 408 = Verschleifung eines Lautes oder mehrerer Laute zwischen Wörtern (z.B. sa=mer für sagen wir ) ↑ steigende Intonation (z.B. kommst du mit ↑ ) ↓ fallende Intonation (z.B. jetzt stimmt es ↓ ) schwebende Intonation (z.B. ich sehe hier- ) “ auffällige Betonung (z.B. aber ge“rn ) : auffällige Dehnung (z.B. ich war so: fertig ) K& Kommentar zu relevanten Interaktionsvorgängen unabhängig vom aktuellen Sprecher SA: |ach so: das war mir nicht klar| K& |KAMERA SCHWENKT NACH RECHTS | 9. Literatur Atkinson, Maxwell J. (1992): Displaying Neutrality: Formal Aspects of Informal Court Proceedings. In: Drew, Paul/ Heritage, John (Hg.): Talk at Work. Interaction in Informal Settings. Cambridge, UK . S. 199-211. Baurmann, Jürgen/ Cherubim, Dieter/ Rehbock, Helmut (1981) (Hg.): Nebenkommunikation. Beobachtungen und Analysen zum nichtoffiziellen Schülerverhalten innerhalb und außerhalb des Unterrichts. Braunschweig. Bergmann, Jörg R. 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Betrachtet man auf diese Weise Multi-Teilnehmer-Settings wie die Interaktion im Schulunterricht, so fällt auf, dass permanent eine Reihe verschiedener Aktivitäten gleichzeitig ablaufen: Parallel zur inhaltlich-thematischen Arbeit der Unterrichtsgruppe tauschen Sitznachbarn mehr oder weniger kurz Informationen aus, werden Mitschriften angefertigt, „Briefchen“ weitergereicht etc. In all diesen Fällen gibt es jeweils zwei eigenständige, aber systematisch aufeinander bezogene Aktivitäten, die die Interaktionsteilnehmer - hier: zumeist asymmetrisch - miteinander koordinieren. Wie genau solche Koordinierungen in der Interaktion erfolgen, ist Gegenstand des vorliegenden Beitrags. 1 Als Analysebeispiel wird das „Anfertigen von Mitschriften“ herangezogen, und zwar in bilingualem Geschichtsunterricht (d.h. in Geschichtsunterricht, der in der Fremdsprache der Schüler veranstaltet wird; vgl. Pitsch 2005, Pitsch i.Dr.). Dieser Untersuchungsfall bietet zwei methodische Vorteile für die Erforschung der Koordinierung von parallelen Aktivitäten: a) Mit den Heftaufzeichnungen der Schüler verfügen wir über gut zugängliche Produkte der interaktiven Koordinierungsleistung. b) Durch das fremdsprachliche Setting findet die Interaktion unter erschwerten Bedingungen statt, so dass tatsächliche praktische Probleme häufiger und expliziter auftreten und dadurch mitsamt der zu ihrer Bearbeitung mobilisierten Verfahren leichter der Analyse zugänglich sind („Lupen-Effekt“, Porquier 1984). Vergleicht man nämlich in solchen Geschichtsstunden den tatsächlich ablaufenden Unter- 1 Dieser Beitrag ist - in stark verkürzter Form - aus einem Kapitel-Teil meiner Dissertation (Pitsch 2006) hervorgegangen, die im Rahmen des Graduiertenkollegs „Aufgabenorientierte Kommunikation“ mit einem Stipendium der DFG sowie einem Auslandsstipendium des DAAD gefördert wurde. Ulrich Dausendschön-Gay und Ulrich Krafft sei herzlich gedankt für wertvolle Anregungen und ihre kritisch-konstruktive Kritik. Karola Pitsch 412 richtsdiskurs mit den Mitschriften der Schüler, so lässt sich eine Reihe von Fällen beobachten, in denen Schülermitschriften - trotz des Angebots einer Tafelskizze - sachlich falsche und in der Interaktion so nicht angebotene Zusammenhänge enthalten. Dieses ist nun insofern problematisch als das Notieren für die Schüler eine wichtige Form der Verarbeitung der neuen Sachverhalte darstellt und ihre Mitschriften als Grundlage für darauf aufbauende inhaltliche Aktivitäten sowie für die Klausurvorbereitung dienen. Aus einer interaktionistischen Perspektive heraus regen diese Beobachtungen dazu an, die problematischen Mitschreib-Fälle nicht a priori auf kognitive oder sprachliche Defizite der Schüler zurückzuführen, sondern danach zu fragen, wie die beiden Aktivitäten „Unterrichtsdiskurs“ und „Mitschreiben“ als eigenständige, aber aufeinander bezogene Aktivitäten organisiert und koordiniert werden. Wie werden auf der Ebene des Unterrichtsdiskurses angebotene Informationen zu notationsrelevanten Inhalten für die Schüler? Gibt es Orientierungshinweise in der Interaktion, die entweder die eine oder die andere der beiden Aktivitäten in den Vordergrund stellen? Lassen sich die Stellen strukturanalytisch beschreiben, bei denen Probleme auftreten? - Für die Gesprächsforschung stellt die Frage nach der Koordinierung paralleler Aktivitäten v.a. in konzeptueller Hinsicht ein relevantes Thema dar: In dem Maße, in dem der Mainstream der gesprächsanalytischen Forschung bislang ausschließlich an Audioaufnahmen gearbeitet hat, ist die Gleichzeitigkeit von Aktivitäten nur in Form von verbalem „overlap“ thematisiert worden. Lässt sich mit solchen - anhand von Audio-Daten entwickelten Konzepten - auch die multimodale Komplexität von Interaktion angemessen beschreiben? Im Anschluss an einen kurzen Überblick über die gesprächsanalytischen Konzepte zum Thema der Koordinierung gleichzeitiger Aktivitäten (Abschn. 1.) werden - ausgehend von einem Blick in die Schüler-Hefte (Abschn. 2.) - an einem ersten Beispiel grundlegende Aspekte der Koordinierung von parallelen Aktivitäten herausgearbeitet (Abschn. 3.). Darauf basierend wird eine problematische Schüler-Mitschrift in ihrem Entstehungsprozess untersucht (Abschn. 4.) und an die Koordinierung der beiden Aktivitätsebenen „Unterrichtsdiskurs“ und „Mitschreiben“ rückgebunden. Abschließend werden die Analyseergebnisse im Hinblick auf die Frage der Koordinierung ausgewertet und vorgeschlagen, das Repertoire der gesprächsanalytischen Beschreibungsinstrumente um ein Konzept der Koordinierung von Parallel-Aktivitäten zu erweitern. Koordinierung von parallelen Aktivitäten 413 1. „Koordinierung gleichzeitiger Aktivitäten“ als Thema der Gesprächsforschung Welche konzeptuellen Angebote bietet die gesprächsanalytische Literatur, um Phänomene der Gleichzeitigkeit von Aktivitäten - wie z.B. die Parallelität von „Mitschreiben“ und „Unterrichtsdiskurs“ - analytisch zu fassen? 1.1 Das Konzept des „overlap“: Gleichzeitigkeit als Störfaktor In dem Maße, in dem sich der Mainstream der gesprächsanalytischen Forschung auf die Untersuchung verbaler Aspekte von Kommunikation beschränkt hat, ist das Phänomen der „Gleichzeitigkeit von Aktivitäten“ nur in Form von verbaler Simultaneität und im Rahmen der Rederechtsorganisation behandelt worden. So rekonstruieren Sacks/ Schegloff/ Jefferson (1974) in ihrer „simplest systematics“ eine Grundkonstellation der Rederechtsverteilung in alltäglichen Settings, in der prinzipiell nur ein Gesprächsteilnehmer zur Zeit redet. Momente, an denen verbale Pausen auftreten, konzeptualisieren die Autoren als „pauses“, und für Fälle des „more than party talking at a time“ führen sie den Begriff des „overlap“ ein. Beide Fälle werden als Abweichungen von der Normalform, d.h. als Störfaktoren, beschrieben, die die Teilnehmer zu minimieren versuchen (S. 704). Spätere Analysen unterscheiden zwischen zwei Arten von „overlap“ hinsichtlich seines Störungspotenzials: Das Auftreten verbaler Gleichzeitigkeit wird dann vom Interaktionsteilnehmer als unproblematisch behandelt, wenn es am projizierbaren Turnende („terminal overlap“), als Hörersignal („continuer“), als Hilfe bei Formulierungsschwierigkeiten („conditional access to the turn“, Lerner 1996) oder in choralen Sprachformen wie z.B. Lachen oder kollektiven Begrüßungen erfolgt. Alle anderen Formen von „overlap“ hingegen werden von den Interaktionsteilnehmern bearbeitet und damit als problematisch ausgewiesen (Schegloff 2000; Schegloff 2001). Nimmt man demgegenüber eine multimodale Perspektive auf Interaktion ein, so stellt sich die Frage, inwieweit ein solches „overlap“-Konzept eine angemessene Beschreibung der durch das Vorhandensein von Videoaufnahmen der Analyse zugänglichen Komplexität multimodaler Phänomene darstellt. Am Beispiel der Meldeaktivitäten, die eine Studentin während eines längeren Gesprächsbeitrags ihres Dozenten aufrechterhält und nach und nach graduell steigert, diskutiert Schmitt (2005), inwiefern die „kinesische Turnbeanspruchung“ der Studentin in Anlehnung an das „overlap“- Karola Pitsch 414 Konzept als „multimodaler overlap“ beschreibbar ist. Ein Vergleich mit den von Sacks/ Schegloff/ Jefferson herausgearbeiteten Kriterien zeigt: Alle Aspekte des verbalen „overlap“-Konzepts gelten auch für die kinesische Turnbeanspruchung der Studentin, allerdings ist das Störpotenzial geringer als bei verbal-verbaler Gleichzeitigkeit. Anders als bei der von Sacks/ Schegloff/ Jefferson beschriebenen verbalen Gleichzeitigkeit scheint es hier also keine Normalformerwartung für Exklusivität von Aktivitäten zu geben. Schmitt kommt daher zu dem Schluss, dass die als „overlap“ konzeptualisierte Form simultaner Aktivitäten einen Sonderfall darstellt, weshalb der Begriff „overlap“ auf den Bereich verbaler Gleichzeitigkeit beschränkt bleibt, solange keine umfangreichen systematischen multimodalen Analysen zu simultanen Aktivitäten vorliegen. Hieran knüpft die vorliegende Untersuchung an. 1.2 Parallelität von Aktivitäten in institutionellen Lehr-Lern-Settings Ähnlich wie in der Gesprächsforschung wurden auch im Bereich der empirischen Erforschung von institutionellen Lehr-Lern-Settings simultane Aktivitäten zunächst nur als gleichzeitige Sprechereignisse in den Blick genommen und unter Kategorien wie „confusion/ Durcheinander“ (Flanders 1970) oder „Störung“ (Uttendorf-Marek 1976) subsumiert. Demgegenüber gibt es in den frühen 1980er-Jahren dann ein erstes exploratorisches Interesse an „Neben- Kommunikationen“, d.h. an „alle[n] nichtlernzielorientierten Interaktionen von Lehrern und Schülern im Unterricht, also solche[n], die entweder nicht oder nicht direkt auf Lehrplanung, Lernorganisation und Lernkontrolle zu beziehen sind“ (Baurmann/ Cherubim/ Rehbock 1981, S. 103). In diesem Rahmen hebt Jost (1981) am Beispiel der Hörerrolle im Unterricht die Orientierung von Schülern an zwei parallelen Aktivitätsebenen hervor: es gibt eine „permanente notwendigkeit [für die Neben-Kommunikations-Teilnehmer], ihr verhalten ‘doppeldeutig’ zu planen und auszurichten“ (S. 100). In weiteren Untersuchungen allerdings erweist sich das Konzept der „Neben- Kommunikation“ mit seiner inhaltlichen Bindung als problematisch und wird verworfen (Arbeitsgruppe Braunschweig 1983). 2 2 Parallel zum Unterrichtsdiskurs stattfindende Schüler-Gespräche - so die Feststellung der Autoren - beziehen sich häufig auf genau die Ebene der HK und, so vom Lehrer aufgegriffen, werden Elemente der NK nicht selten zum Bestandteil der Gruppeninteraktion (Arbeitsgruppe Braunschweig 1983). Koordinierung von parallelen Aktivitäten 415 Mitschreib-Aktivitäten von Schülern kommen bislang v.a. im Kontext von fremdsprachlichem Unterricht in den Blick (vgl. das Themenheft „La prise de notes en langue première et en langue seconde“, Piolat 2003). In methodisch-konzeptueller Hinsicht interessant ist dabei vor allem die Studie von Krafft (1997) zum Zusammenhang von verbalem Vortrag in einer universitären Vorlesung und den Mitschriften der Studenten. Darin wird in detaillierter prosodischer Analyse herausgearbeitet, dass unterschiedliche Sprechstile des Dozenten (Diktieren bzw. Detaillieren/ Improvisieren) von den Teilnehmern jeweils als Orientierungshinweise auf relevante Inhalte sowie deren Organisation im Heft behandelt werden. Ähnlich zeigen auch Branca-Rosoff/ Doggen (2003) notationsverstärkende und notationshemmende Faktoren für Mitschreibaktivitäten auf: Tafelnotation, meta-diskursive Kommentare, makro-textuelle Planung und hervorgehobene Intonation befördern Notationsaktivitäten, während Parenthesen und Einschübe diese eher bremsen. Das Konzept der „Orientierungshinweise“ (vgl. explizit Dausendschön-Gay/ Krafft 2000) ist für die Untersuchung paralleler Aktivitäten und ihrer Koordinierung insofern interessant, als damit ein analytisches Angebot für die interaktive Verbindung zwischen verschiedenen Aktivitätsebenen vorliegt. 1.3 Multimodale Perspektive: Koordinierung von parallelen Aktivitäten Versucht man die in der gesprächsanalytisch orientierten Literatur vorliegenden Konzepte zur Beschreibung von gleichzeitigen Aktivitäten auf den Fall des Mitschreibens im Unterricht anzuwenden, so stößt man auf Probleme. Die Begriffe des „overlap“ (Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974) bzw. „multimodalen overlap“ (Schmitt 2005) implizieren eine gegenseitige Störung der gleichzeitigen Aktivitäten; das Konzept von „Hauptvs. Neben-Kommunikation“ (Baurmann/ Cherumbin/ Rehbock 1981, S. 103) greift zwar die settingspezifische Asymmetrie vieler im Schulunterricht erfolgender gleichzeitiger Aktivitäten auf, legt diese jedoch voranalytisch fest und ist zudem inhaltlich gebunden. Das bedeutet: zur systematischen Beschreibung des vorliegenden Phänomens sind andere Konzepte als die bisher etablierten erforderlich. Daher wird zur Beschreibung von Phänomenen wie der Gleichzeitigkeit von „Mitschreiben“ und „Unterrichtsdiskurs“, bei denen aufeinander bezogene, aber eigenständige und von verschiedenen Teilnehmern ausgeführte Aktivi- Karola Pitsch 416 täten mit unterschiedlichem Fokus in Relation zueinander interaktiv organisiert werden, das Konzept der „Koordinierung von Parallel-Aktivitäten“ vorgeschlagen. „Koordinierung“ wird dabei verstanden als: − eine Aufgabe, die Teilnehmer an interaktiven Prozessen permanent zu bearbeiten haben. Diese gilt zunächst für jeden einzelnen Interaktionsteilnehmer, was insbesondere in unterrichtlichen Settings an der Koordinierungsasymmetrie beobachtbar ist: Die Ebene des Unterrichtsdiskurses ist - in den meisten Momenten - die zentrale Aktivität, an der sich die Schüler bei der Ausführung ihrer diversen parallelen Aktivitäten orientieren; Aktivitäten wie Mitschreiben o.Ä. sind dieser zumeist untergeordnet. − eine grundlegend interaktive Kategorie. Das heißt, Koordinierung erfolgt in Relation zu Aktivitäten anderer Interaktionsteilnehmer oder auftretenden Ereignissen („interpersonelle Koordination“ in der Terminologie von Deppermann/ Schmitt i.d. Bd.). − multimodal organisiert. Interaktionsteilnehmer verwenden und orientieren sich prinzipiell an allen in der jeweiligen Situation zur Verfügung stehenden kommunikativen Ressourcen, wie Verbalsprache, Prosodie, Körperdisplay, Orientierung im Raum und materiellen Strukturen in der Umgebung (Goodwin 2000). 2. Schüler-Mitschriften - das Produkt von Koordinierungsaktivitäten Den Ausgangspunkt für die Untersuchung der Koordinierung paralleler Aktivitäten bilden die Ergebnisse von Koordinierungsaktivitäten: die Mitschriften, die zwei Schüler während einer Unterrichtsstunde über den „Historischen Materialismus“ angefertigt haben. Im Heft von Andreas (Abb. 1, Umrandung durch die Autorin) z.B. findet sich in der unteren Hälfte seines Arbeitsblattes eine genaue Abschrift der Tafelskizze (Abb. 2), die die Teilnehmer im Verlauf ihrer Erarbeitung der marxistischen Theorie gemeinsam Schritt für Schritt entwickelt haben: auf der rechten Seite eine Skizze zur Gesellschaftsstruktur der Stadt im Mittelalter, die ursprünglich eingeführt wurde, um die Begriffe „Zunftbürger“ und „Geselle“ zu erklären; links daneben in horizontaler Anordnung eine Reihe weiterer Begriffspaare, die Koordinierung von parallelen Aktivitäten 417 im Text angeboten und von den Teilnehmern als „antagonistische Klassen“ identifiziert wurden: „Baron vs. Leibeigener“, „Patrizier vs. Plebejer“, „Freie vs. Sklaven“. Abb. 1: Heft-Inskription Andreas Abb. 2: Tafel-Inskription Die Mitschriften von anderen Schülern hingegen unterscheiden sich in unterschiedlichem Umfang von der in der Interaktion angebotenen Tafel- Inskription. Besonders auffällig ist Maritas Mitschrift (Abb. 3): Zwar sind auch hier die Grundelemente der Tafel-Skizze vorhanden (im Bild durch zwei Umkästelungen markiert), doch sind sie räumlich anders angeordnet. Die Skizze zur Sozialstruktur findet sich in der linken unteren Blattecke, die übrigen drei Begriffspaare sind darüber auf der rechten Seite festgehalten, und zwar so, dass das Notationsformat mit „vs.“ beibehalten, die horizontale und vertikale Struktur allerdings umgekehrt wurden. Damit einher geht eine andere - falsche und in der Interaktion so nicht angebotene - Zuordnung der Kategorien „Stadt“ und „Land“ zu den vorhandenen Gruppierungen: Laut Tafelskizze und ihrer interaktiven Bearbeitung sind nur „Baron“ und „Leibeigene“ auf dem „Land“ verortet, bei Marita hingegen ist diese Zuordnung auch auf „Freie vs. Sklaven“ sowie „Patrizier vs. Plebejer“ ausgedehnt. Die historisch-geografische Verortung der Begriffe (Feudalismus, Rom, Ägypten, Mesopotamien, Antike) entfällt größtenteils. Hinzu kommen aber eine Reihe weiterer Informationen, mit denen diese Skizze annotiert wird. Karola Pitsch 418 Abb. 3: Heft-Inskription Marita Will man verstehen, wie es zu derartig veränderten Mitschriften kommt, so ist es notwendig, den Entstehungsprozess von Notizen in der entsprechenden Unterrichtsstunde näher zu untersuchen. Gibt es interaktive Gründe für die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der in einer Unterrichtsstunde entstehenden Mitschriften? Gibt es Orientierungshinweise im Interaktionsablauf, die zum einen Tafel-Inskriptionen und zum anderen ausschließlich kommunikativ-verbal angebotene Informationen für die Schüler als notationsrelevant ausweisen? Lassen sich inhaltlich problematische oder gar falsche Notizen an interaktive Bedingungen bzw. an die Koordinierung der parallelen Aktivitäten „Mitschreiben“ und „Teilnahme am Unterrichtsdiskurs“ rückbinden? - Diesen Fragen wird in den folgenden Abschnitten systematisch nachgegangen. 3. Kopieren einer Tafel-Inskription: Koordinierung und Orientierungshinweise In den meisten Unterrichtsstunden des zugrunde liegenden Korpus werden im Verlauf der Interaktion Skizzen und Notizen an der Tafel hergestellt, die parallel zur inhaltlich-thematischen Fortentwicklung des Unterrichtsdiskur- Koordinierung von parallelen Aktivitäten 419 ses von den Schülern in ihre Hefte übernommen werden. Dabei ist das Kopieren dieser Inskriptionen zwar eine selbstständige Aktivität der Schüler, aber sie ist - so wird die Analyse zeigen - eng mit dem kollektiven Unterrichtsdiskurs verbunden: Der Unterrichtsdiskurs bietet Orientierungshinweise für den Einstieg in das Kopieren einer Tafelskizze, für die Re- Orientierung auf die Teilnahme an der gemeinsamen inhaltlichen Arbeit sowie für die Fortsetzung der Inskriptionstätigkeiten der Schüler. Als Analyse-Beispiel dient ein Interaktionsausschnitt, in dem die Schülerin Daniela beginnt, eine im Verlauf der Unterrichtsstunde von den Teilnehmern gemeinsam sukzessive hergestellte (und noch weiterzuführende) Tafel- Skizze zum „Historischen Materialismus“ auf ihr Arbeitsblatt zu kopieren. Es handelt sich dabei um eine Parallelstunde zu der in Abschn. 2. eingeführten Unterrichtsstunde, in der der gleiche Lehrer mit denselben Arbeitsmaterialien mit der zweiten Hälfte der Geschichtsklasse zum gleichen Thema arbeitet. Die Tafelskizzen in den beiden Unterrichtsstunden ähneln einander, sind jedoch interaktiv unterschiedlich entstanden (vgl. Pitsch 2006). Die Tafelskizze wird von den Schülern in ihre Hefte übernommen, wobei sie bei allen Schülern die gleiche - von der Tafel 1: 1 kopierte - Struktur aufweist (vgl. Abb. 4). Am Beispiel der Kopier-Aktivitäten der Schülerin Daniela wird im Folgenden die interaktive Organisation des Entstehungsprozesses dieses Teils ihrer Mitschrift untersucht. Abb. 4: Heft-Inskription Daniela 3.1 Einstieg in das Anfertigen einer Mitschrift Danielas Einstieg in das Anfertigen ihrer Mitschrift erfolgt zeitversetzt im Verhältnis zur Herstellung der Tafelskizze in der Gruppe. Ca. 4 Minuten nachdem der Lehrer, Herr Albert, begonnen hat, Informationen an der Tafel zu notieren, greift Daniela - die zuvor permanent aktiv an der inhaltlichthematischen Arbeit beteiligt war bzw. die Entstehung der Skizze (Abb. 5) beobachtet hat - zu ihrer Federmappe, wählt einen Stift aus (Abb. 6) und bringt ihre Hand in Schreibstellung (Abb. 7). Karola Pitsch 420 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Direkt im Anschluss an Danielas Griff zum Stift, der als Rascheln in der Aufnahme hörbar ist, bietet Herr Albert die Skizze explizit zur Mitschrift an: „ihr könnt RUhig mitschreibn; ich hab NICHTS dagegen; “. Und ein anderer Schüler, Henrik, beginnt im nächsten Zug, die vorhandene Skizze selbstinitiiert fortzusetzen, was vom Lehrer später in der vorgeschlagenen Form notiert wird. Diese Parallele in der Behandlung der entstandenen Skizze weist darauf hin, dass die Erkennbarkeit von Strukturhaftigkeit und Fortsetzungsmöglichkeiten der angebotenen Inskription von den Schülern als Orientierungshinweis auf den Einstieg in das Kopieren einer Tafel- Inskription behandelt wird. 3 Ebenso ist in nahezu allen Fällen eine vergleichbar explizite Reaktion des Lehrers erkennbar, so dass die Aktivität „Mitschreiben“ im Unterricht öffentlich als ein geduldetes oder erwünsch- 3 Eine Reihe anderer und z.T. differenzierterer Beispiele aus dem zugrunde liegenden ca. 60-stündigen Video-Korpus zur Interaktion im bilingualen Geschichtsunterricht stützen diese Beobachtungen. Siehe u.a. auch das Beispiel in Abschn. 4.1. Koordinierung von parallelen Aktivitäten 421 tes, in jedem Fall ratifiziertes Beteiligungsformat der Schüler etabliert wird. Mit dem Einstieg in das Mitschreiben entsteht eine Situation der Parallelität von zwei Aktivitäten: dem kollektiven Unterrichtsdiskurs sowie dem individuellen Kopieren der an der Tafel angebotenen Informationen. Als nächstes ist daher zu untersuchen, wie die Teilnehmer diese Parallelität von relevanten Aktivitäten organisieren. 3.2 Re-Orientierung auf die Teilnahme am Unterrichtsdiskurs Danielas Kopieren der Tafel-Inskription erfolgt in regelmäßigem Rhythmus von ca. 7 bis 15-sekündigen Schreibintervallen, die jeweils durch einen ca. 2 bis 5-sekündigen Blick zur Tafel unterbrochen werden. Während Herr Albert erläutert, entstehen so auf Danielas Zettel nacheinander von links nach rechts die Notationen „Freie vs. Sklaven“, „Patrizier vs. Plebejer“ und „Baron vs. Leibeigener“. Die folgende Skizze zeigt diese Intervalle: die obere Reihe repräsentiert die Ebene des Unterrichtsdiskurses, die untere Danielas Mitschreibaktivitäten, und zwar in grau die Schreibintervalle und in weiß die Momente des Hochblickens zur Tafel. Unterdrücker Freie Patrizier Baron vs. vs. vs. vs. Unterdrückte Sklave Plebejer Leibeigener 05: 44 06: 03 06: 10 06: 19 In dem Moment, in dem Daniela in Z. 05 ihre Hand in den noch freien Raum rechts neben der Inskription „Baron“ - in der Skizzenlogik an die Position „Zunftbürger“ - führt und zur Tafel blickt (Abb. 8), d.h., die Inskription des nächsten Elements einleitet, adressiert Herr Albert die Schüler mit der Frage: „wisst ihr noch als wir die STADTgründung gemacht haben von freiburg letztes jahr“ (Z. 05-06). Dieses wird von Daniela als ein Hinweis auf die lokale Relevantsetzung der Ebene „Unterrichtsdiskurs“ behandelt. Die Videoaufnahme zeigt, wie sie in zwei Schritten aus der Aktivität „Mitschreiben“ zur Aktivität „Gruppen-Interaktion“ wechselt: (1) Daniela unterbricht ihren Notationsrhythmus: Sie richtet den Blick weiterhin nach vorne und hält die Hand in der aktuellen Schreibposition. (2) Als nach einer kurzen Pause niemand auf seine Frage antwortet, setzt Herr Albert nach: „könnt ihr euch Karola Pitsch 422 noch erinnern,“ (Z. 10-11). Hierauf reagiert Daniela, indem sie ihre Hand aus der Schreibstellung in eine Ruheposition am Rande des Arbeitsblattes führt (Abb. 9). Transkript 1: „Zunftbürger“ (bahis_03_kl_Va, 06: 05-07: 00) 01 Hen: |was bedeutet das eu: h; | P-v: |(--)| PAl: |ich schreib nur mal PAl-ins: |im spä|ten Mit|telalter . Dan-ins: |Baron |vs. |Leibeigene ...................... 02 PAl: sch- (.) STADT im SPÄten mittelalter; | PAl-ins: . | Hen: |ah; | Dan-ins: ........................................... 03 PAl: stadt im späten mittelalter; man spricht hier vom Dan-ins: ................................................. 04 PAl: DREIzehnten VIERzehnten jahrhundert; |(--) Dan-ins: .....................................| 05 PAl: |wißt |ihr noch als wir die STADTgründung gemacht Dan-act: |rH: position ‚zunftbürger’ ..................... Dan-gaz: |> TF |Abb. 8 06 PAl: haben von freiburg |letztes jahr | |könnt ihr P-v: |(1.0) | Dan-act: ...................| 07 PAl: euch noch erinnern, | |die privilegien der stadt, P-v: |(0.8)| Abb. 8 Abb. 9 Koordinierung von parallelen Aktivitäten 423 Daniela beteiligt sich im Folgenden zwar nicht verbal an der Beantwortung der Frage, aber sie beobachtet aufmerksam das Interaktionsgeschehen und blickt zum jeweils aktuellen Sprecher. Die Frage des Lehrers, d.h. ein Gesprächszug, der eine konditionelle Relevanz aufbaut, wird also interaktiv wirksam als Orientierungshinweis für Daniela zur Aufmerksamkeitsorientierung auf die Gruppeninteraktion. 3.3 Wiedereinstieg in das Anfertigen der Mitschrift So wie der Übergang vom Mitschreiben zur Teilnahme am Unterrichtsdiskurs interaktiv organisiert ist, liefern die Gesprächsbeiträge des Lehrers auch Orientierungsangebote für den Wiedereinstieg in die Mitschrift. Im Anschluss an eine Frage von Tom (Z. 08) beginnt Herr Albrecht erneut, einen Teil der Skizze zu erläutern und kommt dabei erneut auf „Zunftbürger“ und „Geselle“ zurück: „es gab eineeine neue sozialordnung in der stadt; (--) und zwar (-) diedie sozialordnung von ZUNFTbürger und geselln,“ (Z. 11-13). Dabei tippt er parallel zu „ZUNFTbürger“ auf die Stelle „Zunftbürger“ an der Tafel (Abb. 10) und parallel zu „geselln; “ auf „Gesellen“ an der Tafel (Abb. 11). 08 PAl: |(xx) |ja, | |rechte; Tom: |ja; | |die: die RECHte; oder die: | 09 PAl: rechte und privilegien; |der stadt; |stadtmauer, Tom: |stadtmau: er, | 10 PAl: (.) die menschen waren FREI in der stadt, 11 PAl: (-) es gab eineeine neue sozialordnung in der 12 PAl: stadt; (--)|und zwar |(-) diedie sozialordnung von | PAl-act: |~~~~~~~~~|pt > Zunftbürger ..............| 13 PAl: |ZUNFTbür |ger |und geselln; |(.) |von DEnen, die die PAl-act: |tap > Z. |~~~~|tap > G. | Dan-act: |~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~| Dan-ins: |Zunftbürger ...... |Abb. 10 |Abb. 11 14 PAl: privilegien, (.) der ZÜNFte hatten, und denen die sie Dan-ins: ..................................................... 15 PAl: nicht hatten; |(-) |OKAY; |(-) STADT im mittelalter; Dan-ins: ..............| |vs. |Gesellen ................ Karola Pitsch 424 Abb. 10 Abb. 11 Auf Herrn Albrechts kombinierte Aktivität aus Benennen und Zeigen von „Zunftbürger“ an der Tafel reagiert Marita, eine andere Schülerin, indem sie ihre Hand aus der Ruhestellung am Heftrand zurück zu der Stelle im Heft - d.h. die Position „Zunftbürger“ - bringt, an der sie vor dem Einstieg in die Interaktionsebene in Schreibstellung gehalten worden war (Abb. 11). Anschließend notiert sie „Zunftbürger vs. Geselle“. Das bedeutet: Herrn Albrechts Verweis auf das Element „Zunftbürger“ an der Tafel ruft bei Daniela als nächste Aktivität das Notieren von „Zunftbürger vs. Geselle“ wieder auf, das sie zugunsten ihrer Teilnahme an der Interaktion abgebrochen hatte. wißt ihr noch ... ZUNFT bürger Unterdrücker Freie Patrizier Baron < Position Zunftbürger vs. vs. vs. vs. „Zunftbürger“ > vs. Unterdrückte Sklave Plebejer Leibeigener Gesellen 05: 44 06: 03 06: 10 06: 19 06: 28 06: 51 3.4 Fazit Anhand dieser Fallanalyse wurde sichtbar, dass selbst das „Kopieren von Tafel-Inskriptionen“ im Unterricht eine hochgradig interaktive Leistung darstellt: Schüler orientieren sich in der zeitlichen Gestaltung ihrer Mitschreib- Aktivität eng an der Ebene des Unterrichtsdiskurses. Im Rahmen dieser Koordinierungsleistung behandeln Schüler die kommunikativen Angebote, die auf der Ebene des Unterrichtsdiskurses erfolgen, als Orientierungshinweise Koordinierung von parallelen Aktivitäten 425 für den Einstieg in das Kopieren einer Tafelskizze (Strukturhaftigkeit einer angebotenen Skizze), für die Re-Orientierung auf die Teilnahme an der gemeinsamen inhaltlichen Arbeit (z.B. Fragen) sowie für die Fortsetzung der Inskriptionstätigkeiten der Schüler (multimodaler Verweis auf ein entsprechendes Element in der Tafelskizze als Ankerpunkt). Dabei erfolgt Danielas Gestaltung ihrer Mitschreib-Aktivität in einer Weise, die das Mitschreiben und das Beobachten der Unterrichtsebene soweit tatsächlich als parallele Aktivitäten nebeneinander laufen lässt, dass sie Herr Albrechts Fragen mitbekommt und darauf reagieren kann. 4. Problemfall: Koordinierung von „Mitschreiben“ und „Unterrichtsdiskurs“ während einer emergierenden Tafel-Inskription Auf diesen grundlegenden Beobachtungen zur Koordinierung von Mitschreibaktivitäten und Unterrichtsdiskurs aufbauend, soll in einem nächsten Schritt der eingangs dargestellte Problemfall untersucht werden: Maritas Mitschrift, in der ein Aspekt der an der Tafel angebotenen Informationen falsch - und in der Interaktion so nicht angeboten - wiedergegeben wird. Vor dem Hintergrund des herausgearbeiteten interaktiven Zusammenhangs von Unterrichtsdiskurs, Orientierungshinweisen und Mitschreib-Aktivitäten der Schüler stellt sich die Frage, wie Maritas Mitschrift im Verhältnis zum sequenziellen Ablauf der Interaktion entsteht. Lassen sich die Probleme in ihrer Mitschrift auf die kommunikativen Angebote und strukturellen Bedingungen der Interaktion zurückführen? - Die folgende Analyse schlägt vor, Maritas Mitschrift als ein Problem der Koordinierung paralleler Aktivitätsanforderungen zu beschreiben und in Auseinandersetzung damit exemplarisch Bedingungen für die interaktive Organisation von parallelen Aktivitäten herauszuarbeiten. 4.1 Einstieg in das „Kopieren einer Tafel-Inskription“: Angebot einer „in sich geschlossenen Struktur“ Ähnlich wie Daniela beobachtet auch Marita den Entstehungsprozess der Skizze, die Herr Albrecht an der Tafel zur Klärung des sprachlichen Problems „Zunftbürger“ und „Gesellen“ anbietet, und steigt mit fortschreitender Erkennbarkeit der Strukturhaftigkeit der Inskription in das Anfertigen einer Mitschrift ein. Karola Pitsch 426 (0) (1) (2) (3) Tafel- Inskription: Maritas Reaktion: Beobachterpose Führen der Schreibhand an den Heftrand Einnahme einer Schreibhaltung Beginn der Inskription Zum gleichen Zeitpunkt, zu dem Marita mit der Inskription beginnt, bietet Herr Albrecht (unabhängig von Marita, denn er steht mit dem Rücken zu ihr) die entstandene Skizze zur Mitschrift an: „ihr könnt mitschreiben; ne,“. Das heißt: die Interaktionsteilnehmer behandeln zu diesem Zeitpunkt die an der Tafel entstandene materielle Struktur als eine in sich geschlossene, sinn- und strukturhafte Skizze. Eine spezifische räumliche Aufteilung der Tafelfläche wird hingegen zu diesem Zeitpunkt nicht relevantgesetzt. Dementsprechend unterscheiden sich die räumlichen Startpunkte der Mitschrift auf den Arbeitsblättern der Schüler: Marita beginnt unten links auf der Seite, Andreas auf der rechten Seite unter dem Text und ein weiterer Schüler (Ferdinand) mittig unter dem Text. Marita Ferdinand Andreas Interessant ist in dieser Hinsicht: Während Marita und Ferdinand mit dem Kopieren der Skizze direkt nach ihrem Angebot als zu notierende Struktur beginnen, entsteht Andreas' Mitschrift erst deutlich später, und zwar nachdem die gesamte Skizze der linken Tafelseite entstanden ist. Das bedeutet: die Bedingungen, unter denen Andreas seine Mitschrift anfertigt, unterschei- Koordinierung von parallelen Aktivitäten 427 den sich deutlich von denen, unter denen Marita (und Ferdinand) ihre Notation beginnen. Während für letztere die an der Tafel angebotene Skizze als eine in sich fertige und konsistente Struktur erscheint, ist für Andreas zum Zeitpunkt seiner Mitschrift erkennbar, dass diese erste materielle Struktur zum Bestandteil einer größeren Skizze geworden ist, die sich über die gesamte Breite der linken Tafelhälfte erstreckt. Das bedeutet: Andreas verfügt beim Beginn seiner Mitschrift über eine Reihe von Orientierungshinweisen auf eine zu präferierende Stelle im Heft bzw. für die räumliche Gestaltung der Skizzennotation; für Marita und Ferdinand gibt es zum Zeitpunkt des Mitschriftbeginns keine vergleichbaren Orientierungsangebote. Am Anfang seiner Tafelinskription begibt sich Herr Albrecht ohne Kommentar an die aus seiner Sitzposition am Tisch nächste erreichbare Stelle an der Tafel und bietet die Skizze als eine in sich geschlossene Einheit zur Mitschrift an - ohne Hinweise auf eine etwaige spätere Weiterentwicklung, die sich erst aus den jeweils neuen materiellen Gegebenheiten funktional ergeben wird (vgl. Pitsch 2006, Kap. 3). Diese Wahl des räumlichen Startpunkts für die Notation im Heft hat wiederum Implikationen für die Fortsetzungsmöglichkeiten der Mitschriften der einzelnen Schüler: Andreas kann die sich an der Tafel sukzessiv entwickelnde Struktur auf seinem Arbeitsblatt 1: 1 nachvollziehen. Ferdinand und Marita hingegen können die späteren sukzessiven Erweiterungen der Skizze nicht analog von der Tafel übernehmen, sondern sie müssen die in der Gruppe erarbeiteten Informationen an die materiellen Bedingungen ihrer Arbeitsblätter anpassen, d.h., sie müssen die Skizze selbstständig restrukturieren. Wie dieser Prozess mit der weiteren Interaktion verknüpft ist, und auf welche Informationen und Orientierungsangebote sie dabei zurückgreifen können, ist im Folgenden zu untersuchen. 4.2 „Notieren kommunikativ verfügbarer Informationen“: Sequenzielle Abkopplung von Mitschreiben und Unterrichtsdiskurs Im Anschluss an das Kopieren der oberen vier Ebenen der Skizze zur „Struktur der Stadt im Mittelalter“ beginnt Marita mit dem Notieren ausschließlich kommunikativ verfügbarer Inhalte: sie erweitert bzw. annotiert ihre Skizze am rechten Rand mit der zweiteiligen Information „ → die Gesellen können manchmal zu Zunftbürger werden“ sowie „ → die Tagelöhner können NIE zu Gesellen werden“ (Abb. 12). Karola Pitsch 428 Abb. 12 Dieses „Notieren“ allerdings hat Auswirkungen auf Maritas Koordinierung der beiden Aktivitätsebenen „Mitschreiben“ und „Unterrichtsdiskurs“. Zum einen wird der zeitlich nahe sequenzielle Zusammenhang zwischen den beiden Aktivitätsebenen aufgebrochen, zum anderen steigt Marita in ein anderes Beteiligungsformat ein. Während beim „Kopieren einer Tafel- Inskription“ (siehe Abschn. 3.2) durch die kurzen, durch Blicke zur Tafel unterbrochenen Schreibintervalle ein konstantes Beobachten der Interaktion inkl. der aktuellen Entwicklung der Tafelskizze und etwaigen gestischen Bedeutungszuschreibungen zur materiellen Struktur ermöglicht und nahe gelegt wird, ist dieses beim „Notieren kommunikativ verfügbarer Inhalte“ nicht der Fall: es gibt lange (ca. einminütige) Notationsintervalle ohne einen Blick zur Tafel, in denen eine starke Fokussierung auf die Aktivität des Mitschreibens erfolgt. Während beim Fall des „Kopierens von Tafel-Inskriptionen“ (Abschn. 3.) v.a. auf die sequenziell-zeitliche Koordinierung von Mitschreiben und Unterrichtsdiskurs fokussiert wurde, bietet der Fall des „Notierens“ die Möglichkeit, näher zu explorieren, wie auch Informationen, die nicht explizit zum Aufschreiben angeboten werden, zu einem notationsrelevanten Inhalt für Schüler werden. - Die Analyse wird zeigen, dass in der Interaktion angebotene Informationen nicht nur im nächsten Zug zu notationsrelevanten Inhalten werden, sondern auch über einen längeren Zeitraum hinweg durch verschiedene - materielle Strukturen und gestische Darstellungsweisen umfassende - Verfahren eine strukturelle Parallelität von Inhalten aufgebaut wird, die als Orientierungshinweis für das Anfertigen einer Mitschrift fungiert. Koordinierung von parallelen Aktivitäten 429 Die von Marita notierten Inhalte werden auf der Ebene des Unterrichtsdiskurses in zwei Etappen angeboten: zunächst die untere Information („Die Tagelöhner können NIE zu Gesellen werden“; Transkript 2), knapp 1 Minute später die obere Information („die Gesellen können manchmal zu Zunftbürger werden“; Transkript 3, Z. 05-07). Marita beginnt mit der Notation dieser Inhalte erst im Anschluss an das kommunikative Zur-Verfügung-Stellen der zweiten Information, und zwar so, dass sie mit dieser letztgenannten beginnt (Transkript 3, Z. 07ff.) und anschließend die ursprünglich erstgenannte hinzufügt. Dieses wird im Folgenden ausführlich betrachtet. In einer ersten Interaktionsepisode ist Herr Albrecht damit beschäftigt, die soeben hergestellte Skizze zur Sozialstruktur der mittelalterlichen Stadt zu erläutern, von oben beginnend mit „Patrizier“, „Zunftbürger“ und „Gesellen“ (Z. 03-05). Parallel zur Äußerung von „konnte ein ZUNFTbürger werden; “ (Z. 03) notiert er auf der rechten Seite der Skizze eine Verbindung vom Kästchen „Geselle“ zum Kästchen „Zunftbürger“ (Abb. 13 und 14). Transkript 2: „Gesellen“ (bahis_0203_gr, 08: 10-08: 30) 03 PAl: aus einem |gesellen |konnte ein ZUNFT|bürger werden; | PAl-ins: |<pfeil> | Mar-ins: ..........| Mar-act: |> TF |Abb. 13 04 PAl: |MANCHmal; (-) |ein KLEIner teil der gesellen wurde zu Mar-ins: |Gesellen ............................................ PAl-act: |setzt sich ........................... 05 PAl: zunftbür|gern; | Mar: |und wo sind die barone und leibeigenen; Mar-ins: ........| Mar-act: |> TF Abb. 13 Abb. 14 Karola Pitsch 430 Marita ist währenddessen mit dem Kopieren der Tafel-Skizze beschäftigt, und zwar in dem am Beispiel von Daniela beschriebenen regelmäßigen Rhythmus aus Schreiben und Zur-Tafel-Blicken („Kopier-Format“). Auf ihrem Zettel befinden sich bereits das Gerüst der Skizze, die Begriffe „Patrizier“ sowie „Zunftbürger“. Als Marita die Inskription von „Zunftbürger“ beendet hat, blickt sie zur Tafel (Z. 03), und zwar genau in dem Moment, in dem Herr Albrecht das neue Element an der rechten Seite der Skizze hinzufügt (Abb. 13). Darauf reagiert Marita, indem sie fragt: „und wo sind die barone und leibeigenen“ (Z. 05) und leitet damit einen nächsten Schritt im Arbeitsprozess der Gruppe ein. Die von Herrn Albrecht verbal angebotene und durch den Pfeil in der Skizze strukturell verortete Information wird an dieser Stelle also von Marita nicht als notationsrelevant behandelt. Erst knapp eine Minute später, in einer zweiten Episode, werden die im ersten Ausschnitt angebotenen Informationen für Marita notationsrelevant. In der Abfolge von Maritas Mitschrift steht als nächstes die Beschriftung des vierten Kästchens an. Allerdings kann sie den Begriff „Tagelöhner“ nicht entziffern und fragt nach (Transkript 3, Z. 01-02). Herr Albrecht nennt nicht nur den problematischen Begriff (Z. 02), sondern fügt auch eine zweiteilige Erklärung hinzu: „TAgelöhner, das sind die: die morgens zur arbeit kommen und abends wieder weggeschickt werden“ (Z. 03-05) sowie „die stehen UNter den gesellen; (-) weil sie NIE eine chance haben, in dieser hierarchie aufzusteigen; “ (Z. 05-07). Transkript 3: „Tagelöhner“ (bahis_0203_gr, 09: 00 - 09: 26) 01 Mar: was steht da unten, unter 02 PAl: |TAgelöhner; <<dim> TAgelöhner; > Mar: gesellen, | 03 PAl: |(.) |TAgelöhner, |das sind | Mar: |<<p> aha; > | Mar-act: |nickt |~~~~~~~~~| 04 PAl: |die: die morgens zur arbeit kommen und abends wieder Mar-ins: |Tagelöhner ......................................... 05 PAl: weggeschickt werden; die stehen UNter den gesellen; Mar-ins: ................................................... 06 PAl: (-) weil sie NIE eine chance |haben, |in |dieser Mar-ins: .............................| Mar-act: |~~~~~~~|> TF |Abb. 15 |Abb. 16 Koordinierung von parallelen Aktivitäten 431 07 PAl: hierar|chie aufzusteigen; |(-) eh und dann die anderen, Mar-act: |nickt Mar-ins: |<Pfeil>................. |Abb. 17 08 PAl: die sozial marginalisierten, |die ausgegrenzten, das Mar-ins: .............................|Die Tagelöhner können 09 PAl: waren (.) befreite bauern, die vom land in die stadt Mar-ins: NIE zu Gesellen werden <> die Gesellen können manchmal 10 PAl: geflohen sind, (.) das warn auch die JUden, obwohl Mar-ins: zu Zunftbürgern werden ........................... Abb. 15 Abb. 16 Abb. 17 Marita reagiert hierauf in zwei Weisen: 1) Nach dem Angebot des Begriffs „tagelöhner“ nickt sie (Z. 03) und notiert „Tagelöhner“ in das entsprechende Kästchen ihrer Skizze (Z. 04-06). 2) Als Marita danach wieder zur Tafel blickt, ist Herr Albrecht bereits mit dem zweiten Teil der Erläuterung beschäftigt. Während er kommentiert „weil sie NIE eine chance haben, in dieser hierarchie aufzusteigen“ (Z. 06-07), führt er seine Hand an der linken Seite der Skizze nach oben (Abb. 16; Abb. 17) und blickt zu Marita. Diese nickt und beginnt, im Heft „Die Tagelöhner können NIE zu gesellen werden“ zu notieren, anschließend erfolgt die Notation von „ → die Gesellen können manchmal zu Zunftbürgern werden“. Erst durch Herrn Albrechts zweite Erläuterung wird auch die erste zu einer notationsrelevanten Information für Marita und ändert insofern ihren Status. In konzeptueller Hinsicht bedeutet dies: Die erste Information etabliert einen strukturellen Rahmen, vor dessen Hintergrund die zweite Information rezipiert und gemeinsam mit der ersten zu einem sinnhaften Ganzen wird. Dieses erfolgt auf zwei Ebenen: Karola Pitsch 432 1) als Angebot von Kontraststrukturen (1. Episode: betontes und syntaktisch extraponiertes „MANCHmal“; 2. Episode: betontes „NIE“) 4 sowie 2) als Parallelität auf materieller Ebene (1. Episode: die Notation des Pfeils/ der Klammer in der Skizze markiert eine Strukturstelle und bietet dadurch einen materiellen Verweis auf einen dazugehörigen Inhalt; 2. Episode: die aufwärtsgerichtete Zeigeaktivität auf der linken Seite der Skizze greift den materiell festgehaltenen Aufwärtspfeil der rechten Seite wieder auf und bildet damit sozusagen sein virtuelles Pendant). Im Hinblick auf die Koordinierung der beiden Aktivitäten „Mitschreiben“ und „Unterrichtsdiskurs“ bedeutet das: von den Schülern als solche behandelte Orientierungsangebote des Lehrers betreffen nicht nur die sequenzielle Organisation des Mitschreibens, sondern bieten auch Relevantsetzungen von kommunikativ angebotenen Inhalten, die nicht zur Mitschrift „designed“ sind, aber aufgrund struktureller Merkmale - die durch das Zusammenspiel von Verbalsprache, Körpergestik und materiellen Strukturen - im Verlauf der Interaktion entstehen. Das führt einerseits zu einer informationsreicheren Mitschrift, andererseits wird dadurch die parallele, zeitlich nur geringfügig versetzte Ankopplung des Mitschreibens an die Aktivitäten auf der Ebene des Unterrichtsdiskurses aufgebrochen. 5 4.3 Bedingungen einer emergierenden Tafel-Inskription: Re-Konzeptualisierung und Aufmerksamkeitsorientierung Aufgrund der sequenziellen Verschiebung des Mitschreibens im Verhältnis zum Fortschritt auf der Ebene des Unterrichtsdiskurses ist Marita noch mit dem Kopieren eines größeren Elements der Tafel-Inskription („andere: Freie, Bauern, Juden“) in den Momenten beschäftigt, in denen auf der Ebene der Unterrichtsinteraktion bereits konzeptuell relevante Manipulationen an der Tafelskizze erfolgen. Dies erweist sich insofern als Problem, als die Schülerin dadurch zentrale Aspekte der multimodal gestalteten Bedeutungszu- 4 Dass dieses für Marita relevant ist, zeigt sich an ihrer eigenen Hervorhebung in der Mitschrift: Marita notiert „ NIE “ in Großbuchstaben plus Unterstreichung. 5 Finden solche „zusätzlichen“ Notationen nicht statt, ist häufig in den Daten beobachtbar, dass die Dauer von der Lehrer-Inskription an der Tafel und seinen dazu erfolgenden Erläuterungen ungefähr der Zeit entspricht, die die Schüler benötigen, um die gerade entstehende/ entstandene Tafelinskription in ihre Hefte zu übernehmen. Inwiefern auch dieses interaktiv organisiert ist, kann an dieser Stelle nicht näher untersucht werden. Koordinierung von parallelen Aktivitäten 433 schreibung zur Skizze nicht mitbekommt und von daher nur bedingt ein kundiger Nutzer des Intermediären Objekts „Tafelskizze“ werden kann. 6 Im Folgenden sind deshalb die Momente näher zu untersuchen, in denen Re- Konzeptualisierungen in der Skizze erfolgen. Die Tafel-Skizze emergiert im Verlauf der Interaktion, wobei die vorhandenen Inskriptionen im nächsten Schritt jeweils in neue Strukturzusammenhänge eingebunden werden. Im vorliegenden Beispiel gibt es drei solche Etappen: 1) Skizze zur Sozialstruktur der Stadt im Mittelalter, eingeführt zur Klärung der sprachlichen Probleme „Zunftbürger“ und „Geselle“ (Abb. 18) 2) Gegenüberstellung von „Stadt“ vs. „Land“ (Abb. 19) 3) Unterscheidung zwischen „Mittelalter“ und „Antike“ (Abb. 20). Abb. 18 Abb. 19 Abb. 20 Auf interaktiver Ebene erfolgt die neue Bedeutungszuschreibung zur vorhandenen materiellen Struktur - d.h. die „Re-Konzeptualisierung“ - jeweils an systematischen Stellen: zu Beginn eines konzeptuellen Schritts sowie an dessen Ende. Es ergibt sich also eine dreigliedrige Struktur, bestehend aus: 1) Re-Konzeptualisierung Teil A: Veränderte Bedeutungszuschreibung zur vorhandenen Inskription; 6 Zum Konzept der „Intermediären Objekte“ vergleiche Jeantet (1998), Vinck (1999), Krafft (2005) und Pitsch (2006). Re-Konzeptualisierung I Re-Konzeptualisierung II Karola Pitsch 434 2) Anbieten neuer Informationen und ihre Inskription auf der Tafel; 3) Re-Konzeptualisierung Teil B: Wiederaufnahme der veränderten Bedeutungszuschreibung oder Angebot des kategoriellen Gegenstücks zur ersten Bedeutungszuschreibung. Beobachtet man nun Marita während dieser Re-Konzeptualisierungsphasen, so fällt auf, dass sie nur bei I-A, die sie selbst initiiert, tatsächlich zur Tafel blickt, bei allen anderen jedoch mit Mitschreiben beschäftigt ist. Das bedeutet: Während Marita an der ersten Re-Konzeptualisierung aktiv beteiligt ist, bekommt sie den Schritt der zweiten Re-Konzeptualisierung in seiner multimodalen Gestaltung als solchen nicht mit. In Bezug auf die interaktive Organisation der Mitschreib-Aktivitäten stellt sich daher die Frage: Ist die Schülerin einfach nur unaufmerksam oder sind die Orientierungshinweise des Lehrers auf das Stattfinden relevanter Aktivitäten an der Tafel nicht geeignet, um - unter den gegebenen Bedingungen - ihre Aufmerksamkeit zu erreichen? Während Marita mit dem Notieren von „Andere: Freie, Bauern, Juden“ beschäftigt ist, leitet Herr Albrecht den nächsten Schritt im Arbeitsprozess der Gruppe ein. Er blickt zunächst in sein Arbeitsblatt, dann zur Tafel (Abb. 21) und stellt fest: „wir haben aber noch andere gegensatzPAAre; merkt ihr das,“ (Z. 01-02). Dann steht er auf und dreht sich zur Tafel, an der er anschließend „MIttelalter“ unter die bisherige Inskription notieren und links davon auf der freien Tafelfläche zwei vertikale Linien ziehen wird. Transkript 4: „merkt ihr das“, (bahis_gr_0203, 10: 00-10: 30) 00 P-v: (5.0) |(1.0)|(2.0) Mar-gaz: > Heft |> TF |> Heft 01 PAl: wir haben aber noch ANdere gegensatzPAAre; Mar-gaz: .......................................... 02 PAl: |MERKT |ihr das, |ALso |DAS |war, |(.) |sagen wir mal PAl-act: |steht auf | Hen-gaz: |~~~~~~~~~~~|> TF ............. Ste-gaz: |~~~~~~~~~|> TF ............................... Mar-gaz: .......................|~~~~|> PAl |~~~~|Heft ........ |Abb.22 |Abb.23 |Abb.24 03 PAl: MIttelalter, | PAl-ins: |Mittelalter |Linie-waag. |Linie-waag. | Mar-gaz: ..................................................... 04 PAl: |was |steht NOCH |im text, |für'n gegensatzpaar, Mar-gaz: |~~~~|> TF |~~~~~~~~~|Text .............. Koordinierung von parallelen Aktivitäten 435 Abb. 21 Abb. 22 Abb.23 Die Schüler reagieren hierauf in unterschiedlicher Weise: Henrik und Stefan behandeln Herrn Albrechts Kombination aus direkter Adressierung („MERKT ihr das,“) 7 und Aufstehen (Z. 02) als einen Orientierungshinweis hinsichtlich ihres Beteiligungsstatus in der Gruppe. Sie stoppen die Mitschreib-Aktivität und blicken zur Tafel (Abb. 22 und 23), d.h., sie interpretieren Herr Albrechts Beitrag als eine Relevantsetzung der Aktivitätsebene „Gruppeninteraktion“ gegenüber der Ebene „Mitschreiben“ und sind so in der Lage, die multimodale Gestaltung der Re-Strukturierung an der Tafel vor ihren Augen zu sehen. Marita hingegen blickt nur kurz zur Tafel, nachdem Herr Albrecht aufsteht (Abb. 23), und führt sofort ihre Mitschrift weiter. Das heißt: Marita vollzieht die Relevantsetzung der Ebene „Gruppeninteraktion“ und den angebotenen Aktivitätswechsel nicht mit, sondern orientiert sich daran, ihre Mitschrift fertigzustellen. Das bedeutet: Herr Albrecht bietet Orientierungshinweise auf das Stattfinden relevanter Aktivitäten an der Tafel an, die im Rahmen der von ihm selbst nahe gelegten Beteiligungsweise am Unterricht funktionieren. So hat er eingangs das Kopieren der Tafelskizze als erwünschte Beteiligungsweise relevant gesetzt. Genau dieses führen Henrik und Stefan aus - sie sind schließlich diejenigen, die auf Herrn Albrechts Orientierungshinweise zum Blicken auf die Tafel reagieren. Für Schüler hingegen, die - wie Marita - eine andere Beteiligungsweise wählen, die stärker auf die Mitschreib-Aktivität fokussiert (hier: „Notieren“, „sequenziell abgekoppeltes Kopieren“ oder „Re-Organisieren“), sind die Orientierungshinweise des Lehrers nicht explizit genug. In diesem Sinne erweist sich Maritas Wahl des Notierens zusätzlicher Inhalte als die falsche Entscheidung, da sie es schließlich nicht mehr schafft, die beiden Aktivitäten „Teilnahme am Unterrichtsdiskurs“ und „Mitschreiben“ genügend aufeinander zu beziehen. Die abschließende Rahmung der Re- Konzeptualisierung (II-B) wird von Herrn Albrecht nicht als solche markiert 7 In den dokumentierten Unterrichtsstunden verwendet PAl die Äußerung „merkt ihr das,“ regelmäßig, wenn er eine Re-Konzeptualisierung von erarbeiteten Inhalten einleitet. Karola Pitsch 436 oder relevant gesetzt, so dass es keine weiteren Hinweise auf die neue Bedeutungszuschreibung zur Skizze gibt, an denen sich Schüler, die wie Marita stärker auf das Mitschreiben fokussiert sind, orientieren könnten. Zusammenfassend zeigt sich also, dass das in Maritas Heftaufzeichnungen entdeckte Problem auf die Koordinierung der parallelen Aktivitäten „Mitschreiben“ und „Teilnahme am Unterrichtsdiskurs“ zurückzuführen ist. 4.4 Re-Organisation von Inhalten in der Mitschrift Wenn Marita 30 Sekunden nach der Re-Konzeptualisierung II-A von ihrer Mitschrift aufblickt, dann findet sie an der Tafel eine veränderte Situation vor (Abb. 24): Sowohl auf der linken Seite als auch unterhalb der ersten Skizze sind weitere Elemente zur bestehenden Struktur hinzugekommen. Vergleicht man dies mit der Konstellation in ihrem Heft (Abb. 25), so wird eine Diskrepanz zwischen der Fortentwicklung der Tafelskizze und den räumlichen Möglichkeiten ihres eigenen Arbeitsblattes offensichtlich. Sowohl nach links als auch nach unten gibt es aufgrund des Blattrandes keine Expansionsmöglichkeit. Marita kann also die angebotene Skizze nicht - wie z.B. Andreas - in der angebotenen Form 1: 1 übernehmen. Dementsprechend sieht man in der Videoaufnahme, dass Maritas Blick in den folgenden 50 Sekunden mehrfach zwischen Tafel und Arbeitsblatt hin und her wandert und dass sie eine Notation beginnt, diese anschließend aber wieder ausradiert. Das heißt: Sie bemerkt die Diskrepanz zwischen der Tafelskizze und dem Platzangebot in ihrem Heft, sucht nach Möglichkeiten der Notation und stößt dabei auf Probleme. Dieses Problem wird bis zum tatsächlichen Beginn der Mitschrift noch verstärkt, da dann die anfangs nur projizierte Struktur mit weiteren Elementen an der Tafel gefüllt wird. Abb. 24 Abb. 25 Koordinierung von parallelen Aktivitäten 437 Marita steht also vor der Aufgabe, die Informationen der Tafel-Skizze für die Notation in ihrem Heft zu re-organisieren. Auf welche Informationen greift sie dabei zurück? - Die Mitschrift (siehe oben Abb. 3) zeigt, dass Marita als strukturierende kategorielle Zuordnung für ihre Skizze die Opposition zwischen „Stadt“ und „Land“ wählt, d.h. die erste vom Lehrer angebotene Re-Konzeptualisierung. Die Inhalte der zweiten Re-Konzeptualisierung hingegen sind für Maritas Re-Organisation nicht verfügbar. Es wird deutlich, dass die Schülerin während der Re-Konzeptualisierungen II-A und II-B nicht nur nicht zur Tafel blickt, sondern auch nicht über die zu diesem Zeitpunkt multimodal angebotenen Informationen verfügt, um als ein kundiger Benutzer des Intermediären Objekts agieren zu können. Maritas Re-Organisationsleistung lässt sich also rückbinden an ihre im Video beobachtbare Teilnahme bzw. Nicht-Teilnahme am Unterrichtsdiskurs in Kombination mit den vorhandenen Strukturierungsangeboten ihrer eigenen Inskription. 4.5 Anschlussmöglichkeiten der Mitschrift für die Notation neuer Inhalte Nachdem Marita diese Mitschrift hergestellt hat, erweist sie sich im Verlauf der weiteren Interaktion als anschlussfähig für das Notieren neuer Inhalte. Es gibt für sie also keinen Grund, an der Angemessenheit ihrer Mitschrift zu zweifeln. Dieses sei abschließend - ohne Transkriptbeleg - kurz referiert: In einem nächsten Schritt werden auf Gruppenebene die herausgearbeiteten „antagonistischen Klassen“ noch einmal „grob gegliedert“, und zwar in „Unterdrücker und Unterdrückte“. Diese Aufteilung erfolgt auf der Interaktionsebene unter Rückgriff auf die Tafel: Die Schüler benennen die jeweiligen Klassen und Herr Albrecht zeigt sie an der Tafel. Er resümiert, wobei er mit seiner Hand jeweils die oben-unten-Relation dieser Begriffspaare an der Tafel nachzeichnet (Abb. 26 und 27). Abb. 26 Abb. 27 Abb. 28 Karola Pitsch 438 Marita nimmt dieses Gliederungsangebot in ihre Skizze auf, indem sie oberhalb ihrer Liste von antagonistischen Klassen die Begriffe „Unterdrücker“ und „Unterdrückte“ jeweils mit geschweiften Klammern zuordnet (Abb. 28). Auch ihre Mitschrift bietet also materielle Strukturen an, die es ermöglichen, die verbal angebotene nächste Interpretation des Intermediären Objekts aufzunehmen und festzuhalten. Dass dabei horizontale und vertikale Ausrichtung im Vergleich zur Tafel-Inskription vertauscht sind, chronologische Reihenfolgen nicht berücksichtig werden oder die Zuordnung von „Stadt“ und „Land“ problematisch ausfällt, ist für diese Annotation der bestehenden Skizze nicht relevant. Das bedeutet: Maritas Mitschrift erweist sich insofern als anschlussfähig für die neuen Informationen, als sie die nächsten Inhalte in ihre Struktur integrieren kann. 4.6 Fazit Ausgangspunkt der Fallanalyse war die Beobachtung, dass die Mitschrift einer Schülerin (Marita) nicht nur in ihrer äußeren Gestaltung von der in der Interaktion angebotenen Tafelskizze abweicht, sondern auch sachlich falsche und interaktiv so nicht angebotene Zusammenhänge enthält. Vor dem Hintergrund der vorangehend herausgearbeiteten grundlegenden Zusammenhänge zwischen Unterrichtsdiskurs, Orientierungshinweisen und Mitschreib- Aktivitäten der Schüler (Abschn. 3.) lud dieser Befund dazu ein, danach zu fragen, ob bzw. inwiefern sich die Probleme in der Mitschrift auf die Koordinierung der parallelen Aktivitäten „Teilnahme am Unterrichtsdiskurs“ und „Mitschreiben“ zurückführen lassen. Die detaillierte, dem sequenziellen Ablauf der Interaktion folgende Analyse konnte aufdecken, dass die problematische Mitschrift tatsächlich auf ein Problem der Koordinierung von parallelen Aktivitäten zurückzuführen ist, das sich im Verlauf des Arbeitsprozesses - ähnlich einem Schneeball-Effekt - multipliziert. Die zentralen Schritte dieses Prozesses seien im Folgenden zusammengefasst: 1) Das Anfertigen einer Mitschrift wird vom Lehrer als erwünschtes Beteiligungsformat im Rahmen der Unterrichtsinteraktion relevant gesetzt. Der Einstieg in das Mitschreiben erfolgt zu einem Zeitpunkt, zu dem an der Tafel eine in sich geschlossene und sinnhafte Skizze angeboten wird, für die allerdings - zu diesem Zeitpunkt - keine Hinweise für eine präferierte Platzwahl im Heft vorhanden sind, so dass die Schüler die Skizze an unterschiedlichen Stellen ihres Arbeitsblattes notieren. Dies bildet die Grundlage dafür, dass Marita später die an der Tafel notierten Inhalte für die Übernahme in ihr Heft re-organisieren muss. Koordinierung von parallelen Aktivitäten 439 2) Über das erwünschte „Kopieren“ der Tafelskizze hinaus, beginnt Marita mit dem selbstständigen „Notieren“ kommunikativ angebotener Inhalte. Dadurch entsteht für sie eine sequenzielle Abkopplung der parallelen Aktivitäten „Mitschreiben“ und „Unterrichtsdiskurs“, d.h. eine substanzielle zeitliche Verzögerung ihrer Mitschreibaktivitäten. 3) Diese drei Faktoren - Startpunkt der Aufzeichnung und Platzwahl im Heft, „Notieren“ sowie die sequenzielle Abkopplung der beiden Aktivitätsebenen - werden problematisch im Zusammenspiel mit dem Angebot einer emergierenden Tafel-Inskription: Zu Beginn des Arbeitsprozesses wird eine Skizze an der Tafel eingeführt, die in folgenden Interaktionsschritten zu einem „Intermediären Objekt“ im Arbeitsprozess der Teilnehmer wird, d.h., mit dem Fortschreiten der inhaltlichen Arbeit werden die materiellen Strukturen nicht nur erweitert, sondern ihnen wird auch sukzessive eine unterschiedliche Bedeutung zugeschrieben. In dem Maße wie diese Bedeutungszuschreibung zur Skizze multimodal - d.h. verbal, körperlich und als Notation - erfolgt, liefert Herr Albrecht Orientierungshinweise, die den Schülern das Hochblicken von ihrer Mitschrift nahe legen. An dieser Stelle zeigt sich, dass diese für das vom Lehrer anfangs nahe gelegte Mitschreib- Format „Kopieren“ „designed“ sind (das zeigen die Reaktionen von Henrik und Stefan), in ihrem Grad an Explizitheit jedoch nicht für Schüler wie Marita funktionieren, die sich für eine stärker auf die Mitschreibaktivität fokussierende Beteiligungsweise (wie „Notieren“, „sequenziell abgekoppeltes Kopieren“ oder „Re-Organisieren“) entschieden haben. Marita bekommt die entscheidenden Momente der Re-Konzeptualisierung, d.h. der veränderten Bedeutungszuschreibung am Intermediären Objekt, nicht mit. 4) Wenn Marita im Anschluss an ihr eigenständiges „Notieren“ der kommunikativ angebotenen Inhalte wieder zur Tafel schaut, findet sie eine Diskrepanz zwischen der Fortentwicklung der Tafelskizze und den räumlichen Möglichkeiten ihres eigenen Arbeitsblattes vor, weshalb sie (wie auch Ferdinand) vor der Aufgabe steht, die an der Tafel angebotenen Strukturen selbstständig in ihrem Heft zu re-organisieren. Dabei stellt sich heraus, dass Marita nur in Teilen über die multimodal gestalteten Bedeutungszuschreibungen und Re-Konzeptualisierungsschritte der Skizze verfügt und somit nur beschränkt ein kundiger Benutzer des Intermediären Objekts ist. Für ihre eigene Re-Organisation greift sie auf die Informationen zurück, die in der letzten Etappe der Re-Konzeptualisierung angeboten wurden, in der sie aktive Teilnehmerin war. Karola Pitsch 440 5) Die so entstandene Mitschrift erweist sich im weiteren Verlauf des Arbeitsprozesses als anschlussfähig für das Notieren neu erarbeiteter Informationen, so dass es für Marita keinen Grund gibt, an der Angemessenheit ihrer Mitschrift zu zweifeln. Diese grundlegenden Beobachtungen zu den Bedingungen der Koordinierung von „Mitschreiben“ und „Teilnahme am Unterrichtsdiskurs“ bieten Anschlussmöglichkeiten für eine Reflexion der interaktiven Praktiken im Schulunterricht, die hier kurz skizziert werden sollen. Mit Blick auf das gesamte Korpus, das dieser Arbeit zugrunde liegt, haben sich insbesondere Situationen als problematisch für das parallel zum Unterrichtsdiskurs erfolgende Anfertigen von Mitschriften erwiesen, in denen eine Tafel-Skizze sukzessive im Verlauf der Interaktion emergiert (im Gegensatz zur Vorgabe einer fertigen Struktur). In Bezug auf die inhaltlich-thematische Arbeit im Unterricht hat sich dieser Umgang mit dem Intermediären Objekt „Tafel- Skizze“ als eine sehr dynamische Form der Erarbeitung neuer Inhalte erwiesen, bei der alle Teilnehmer (nicht nur der Lehrer) entsprechende Ressourcen zur Verfügung haben, um selbstständig nächste relevante Schritte für den Arbeitsprozess zu definieren (vgl. Pitsch 2006, Kap. 3). Allerdings - und das ist die Kehrseite für die Mitschreib-Aktivitäten der Schüler - ist in diesen Fällen zu Beginn des Arbeitsprozesses für die Teilnehmer nicht erkennbar, ob ein größeres Endprodukt entstehen wird und wie dieses ggf. aussehen könnte. Dieses Problem für das Anfertigen von Mitschriften lässt sich zwar nicht lösen, wenn man die Parallelität beider Aktivitäten aufrechterhalten will (anstatt sie zu sequenzieren), aber auf der Basis der vorangehenden Analyse lassen sich vier Kernpunkte festmachen, für die Interaktionsteilnehmer sensibilisiert werden können. Diese betreffen - den Planungsgrad der Skizze und den Zeitpunkt ihrer Notation; - interaktive Implikationen von Mitschreib-Formaten; - die Gestaltung von Orientierungshinweisen sowie - das Angebot von Überprüfungs-Gelegenheiten für die Mitschrift. 5. Fazit: Koordinierung von parallelen Aktivitäten Ausgangspunkt dieses Beitrags war die Beobachtung, dass - wählt man eine multimodale Perspektive auf Interaktion - ein bisher in der gesprächsanalytischen Forschung nahezu inexistenter Phänomenbereich in den Blick kommt: die permanente Gleichzeitigkeit von Aktivitäten. Als prototypisches Beispiel Koordinierung von parallelen Aktivitäten 441 für die Interaktion im Schulunterricht wurde das parallel zur inhaltlichthematischen Entwicklung des Unterrichtsgeschehens erfolgende Anfertigen von Mitschriften durch die Schüler untersucht. Ziel der Untersuchung war zu ergründen, wie die Interaktionsteilnehmer diese eigenständigen, aber aufeinander bezogenen Aktivitäten miteinander koordinieren. Darüber hinaus sollte exemplarisch überprüft werden, inwiefern die etablierten, ausschließlich anhand von Audio-Daten entwickelten konversationsanalytischen Konzepte auch zur Beschreibung der multimodalen Komplexität von Interaktion geeignet sind. Damit sollte ein generelles konzeptuelles Problem einer modernen, zunehmend an videobasierten Daten arbeitenden Gesprächsforschung (Schmitt 2004, 2005) adressiert werden. Ein Überblick über die gesprächsanalytische Literatur hat als zentrales Konzept zur Beschreibung gleichzeitiger Aktivitäten das Konzept des „overlap“ (Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974) bzw. in erweiterter Form des „multimodalen overlap“ (Schmitt 2005) herausgestellt. Die Analyse hat gezeigt, dass die hier untersuchte Form simultaner Aktivitäten nicht adäquat mit dem Begriff des verbalen „overlap“ fassbar ist: Die Parallelität von „Mitschreiben“ und „Unterrichtsdiskurs“ wird von den Teilnehmern nicht als Störpotenzial behandelt, sondern als ein erwünschtes Beteiligungsformat öffentlich relevant gesetzt; es gibt keine Orientierung an der Minimierung dieser Parallelität, und es liegt keine Interferenz der Aktivitäten auf der Ebene Schall-Schall, vor, sondern beide können - im Prinzip - ungestört voneinander ablaufen. Es handelt sich vielmehr um zwei eigenständige Aktivitätsebenen mit eigenen Logiken, die sequenziell aneinander gekoppelt und miteinander durch Orientierungshinweise verbunden werden. Für diese Art von Gleichzeitigkeit wurde das Konzept der Koordinierung von parallelen Aktivitäten eingeführt. Diese Orientierungshinweise können entweder explizit durch den Lehrer erfolgen oder aber Schüler behandeln die multimodale Gestaltung von Gesprächsbeiträgen als Orientierungshinweise auf relevante Aspekte. Sie betreffen sowohl die sequenziell-zeitliche Organisation der Mitschriften als auch die Auswahl relevanter Inhalte. Aktivität 1 Aktivität 2 Karola Pitsch 442 Im untersuchten Fall des Mitschreibens erfolgt diese Koordinierung im Wesentlichen asymmetrisch: Die Ebene des Unterrichtsdiskurses ist die zentrale Aktivität, an der sich die Schüler auf der Basis der Orientierungsangebote des Lehrers orientieren. Die Mitschreibaktivitäten sind diesem - in den meisten Momenten - untergeordnet. In einer Situation des „small-talk“ oder einer Diskussion zwischen mehreren - prinzipiell - gleichberechtigten Interaktionspartnern ist eine solche Koordinierungsasymmetrie eher nicht als „Normalfall“ zu erwarten, d.h. (in den Begriffen der Strukturskizze): die Pfeile zwischen den beiden Interaktionsebenen deuten dort in beide Richtungen. Neben dem im vorliegenden Beitrag vornehmlich auf die Koordinierungsleistungen der Schüler gerichteten Fokus stellt sich allerdings die Frage, inwieweit umgekehrt auch eine Koordinierung von Seiten des Lehrers mit den Mitschreib-Aktivitäten der Schüler erfolgt. In den untersuchten Beispielen setzt Herr Albrecht am Anfang ein spezifisches Beteiligungsformat „Kopieren“ relevant und gestaltet später seine Orientierungshinweise derart, dass sie genau für die Schüler funktionieren, die das von Herrn Albrecht nahe gelegte Format befolgen. In anderen Unterrichtsepisoden bzw. -gruppen hingegen lassen sich z.T. sichtbare Veränderungen in der Gestaltung der Aufgabenformulierung des Lehrers erkennen, wenn sich das Beteiligungsformat der Schüler ändert: Nachdem die Schüler mit dem Kopieren der Tafel-Inskription begonnen haben, tippt ein anderer Lehrer (Herr Zinnecker) bei der Formulierung seiner jeweiligen Aufgabenstellungen signifikant länger auf die aktuell relevante materielle Struktur an der Tafel als zuvor. Dieses wiederum ermöglicht den Schülern, entsprechend ihres eigenen Kopier- Rhythmus zur Tafel zu blicken und dabei jeweils die relevanten - multimodal gestalteten - Informationen mitzubekommen. In diesem Fall wird die Koordinierung als eine von allen Teilnehmern vollführte, wechselseitige interaktive Aufgabe erkennbar. Ein weiteres Beispiel von Parallel-Aktivitäten im Unterricht, die hier nicht näher behandelt werden, sind die sog. Privat-Gespräche zwischen Schülern. Wie schon Jost (1981, S. 100) festgestellt hat, koordinieren die in ein Privat-Gespräch involvierten Schüler diese Aktivität mit dem offiziellen Unterrichtsgeschehen. Eine Reihe ähnlicher Fälle finden sich auch im Korpus, das dieser Arbeit zugrunde liegt. Dieses ist besonders häufig der Fall, wenn einzelne Schüler im Rahmen des bilingualen Unterrichtssettings lokal auftretende Vokabel-Probleme, die sie beim Verstehen eines laufenden Gesprächsbeitrags haben, mit dem Sitznachbarn zu klären versuchen. Da- Koordinierung von parallelen Aktivitäten 443 bei ist eine minutiöse Koordinierung zwischen den beiden Aktivitätsebenen fassbar, bei der die Schüler z.B. verbale Gliederungssignale des Lehrers (Gülich 1970) als Orientierungshinweise für die Teilnahme an der einen oder anderen Aktivität behandeln. Über den simplen Status eines weiteren Belegs hinaus verweist dieses Beispiel darauf, dass das Konzept der Parallel-Aktivitäten nicht prinzipiell an unterschiedliche Modalitäten gebunden ist (wie es der Fall des Mitschreibens nahe legt), sondern dass vielmehr das Kriterium der Gestaltung der Aktivitäten wichtig ist: das Klären von Vokabeln mit dem Sitznachbarn erfolgt - ebenso wie der parallele Gesprächsbeitrag des Lehrers - verbal, ist dabei jedoch so gestaltet, dass er diese Aktivitätsebene nicht stört. Beispiel (a) Unterrichtsdiskurs: verbal Individuelle Aktivität: mitschreiben Beispiel (b) Unterrichtsdiskurs: verbal - laut Individuelle Aktivität: verbal - leise Anders herum kann auch das Mitschreiben so gestaltet werden, dass es die Ebene des Unterrichtdiskurses stört - ein Beispiel hierfür liefert Marita, wenn ihr Problem, den Begriff „Tagelöhner“ zu entziffern, aus der Interaktion mit Sebastian heraus vom Lehrer als offizielles Thema für die Gruppe übernommen wird. In Anbetracht dieser multimodalen Komplexität der Gleichzeitigkeit von Aktivitäten wird erkennbar, dass das ausschließlich auf der Basis von Audio- Aufnahmen entwickelte Konzept des „overlap“ nur einen - besonders gut dokumentierten - Sonderfall darstellt. Eine zunehmend auf Videodaten basierende moderne Gesprächsforschung hat es also nicht nur mit einer Bandbreite neuer analytisch zugänglicher Phänomene zu tun, sondern benötigt auch eine Erweiterung ihres konzeptuellen Repertoires, um angemessene Beschreibungsinstrumente für diese Phänomene zur Verfügung zu haben. 6. Anhang: Verwendete Transkriptionszeichen Die Transkripte folgen für den verbalen Aspekt der Interaktion dem Zeicheninventar der GAT-Konvention (Selting/ Auer/ Barde u.a. 1998), sind aber in Partiturschreibweise gestaltet, um die Gleichzeitigkeit von Ereignissen in den verschiedenen „semiotic fields“ (Goodwin) besser darstellen zu können. Karola Pitsch 444 Für die verschiedenen sichtbaren Ebenen der Interaktion habe ich die folgenden Notationen eingeführt, die jeweils in Kombination mit aus dem Video extrahierten Standbildern verwendet werden. Die Transkripte zielen dabei nicht auf eine vollständige Beschreibung aller dokumentierbaren sicht- und hörbaren Aktivitäten, Posituren etc. der Teilnehmer, sondern enthalten jeweils nur die in der Analyse besprochenen Aspekte. Während Richtungsangaben bei Blickbewegungen oder Zeigeaktivitäten relativ problemlos verschriftlicht werden können, ist eine lesbare Dokumentation von Aktivitäten, Gesten, Körperposituren etc. in einem „traditionellen“ Transkript nicht unproblematisch. Daher habe ich ein Verfahren gewählt, bei dem die sequenzielle Zuordnung dieser Ereignisse in einer Transkriptzeile mit stark verkürzter Verschriftlichung erfolgt (siehe Beispiele unten) und ihre inhaltliche Darstellung in einer Kombination von aus dem Video extrahierten Standbildern und Beschreibungen im Fließtext der Arbeit erfolgt. Lui: Notation verbaler Elemente des Teilnehmers 'Lui' Lui-gaz: Notation der Blickrichtung > Tisch Lui blickt zum Tisch >PAl |~~~~ |> Kir Lui blickt zu PAl, anschließend zu Kir, dazwischen bewegt sich ihr Blick Lui-act: Notation von Aktivitäten pt > Tafel Lui zeigt ("point") zur Tafel tap > Tafel Lui tippt ("tap") auf die Tafel tap > Lui tippt auf das 'Kästchen' (an der Tafel) hold Aufrechthalten einer Geste oder eingenommenen Positur Lui-ins: feudalismus Notation von Dingen, die aufgeschrieben werden; grau unterlegt 7. Literatur Arbeitsgruppe Braunschweig (1983): Zum Verhältnis von Haupt- und Nebenkommunikation im Unterricht. 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Vinck, Dominique (1999): Les objets intermédiaires dans les réseaux de coopération scientifique. Contribution à la prise en compte des objets dans les dynamiques sociales. In: Revue française de sociologie 40, 2, S. 385-414. Der Band präsentiert erstmals eine systematische Zusammenstellung von empirischen Analysen zu Koordination aus sprachwissenschaftlicher Sicht. Neben der thematischen Fokussierung auf den bislang bei der Untersuchung authentischer Interaktion „übersehenen“ Aspekt Koordination ist der zentrale theoretische Bezugsrahmen für alle Beiträge eine multimodale Konzeption von Interaktion. In einer systematischen Einleitung wird Koordination als neuer, eigenständiger Untersuchungsgegenstand der empirischen sprachwissenschaftlichen Interaktionsanalyse skizziert und hinsichtlich ihrer konstitutiven Aspekte, internen Differenzierungen sowie in ihrer kategorialen Differenz zu benachbarten Konzepten spezifiziert. Zwölf empirische Studien auf der Basis von Videoaufzeichnungen zeigen die formal-strukturelle Varianz, die interaktive Funktionalität sowie die konstitutive Bedeutung von Koordination für die lokale Herstellung interaktiver Ordnungsstrukturen und für die Konstitution sozialer Bedeutung. ISBN 978-3-8233-6293-7